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Die
alluemeiiie cliiriiraische
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Pathologie und Therapie
in
fünfzig- Vorlesungen.
Ein Handbuch für Stiidirende und Aerzte
Dr. Theodor Billroth.
Professor der Cliiniiui«' in Wien.
Siebente vermehrte Auflage.
Berlin.
Druck n lul Verlag von Georg Reimer.
1875.
0^9 V
Die Uebersetzung iu andere Sprachen wird vorbehalten.
Vorwort zur siebenten Auflage.
Mein Buch erscheint dies Mal in etwas veränderter Form,
indem ein Theil desselben in kleinerer Schrift gedruckt ist.
Ich erreichte dadurch, dass der sehr vermehrte Inhalt nicht viel
mehr Raum einnimmt als früher, und hoffe, dass dem Leser der
nach verschiedenen Richtungen behandelte Stoff schon beim
ersten Ueberblick recht plastisch vor Augen tritt. Manche Ab-
schnitte, z. B. über Entzündung, Amputationen und Resectionen,
sowie viele Holzschnitte sind neu hinzugefügt, Veränderungen
des Textes, hoffentlich Verbesserungen, finden sich in allen
Abschnitten.
Es ist ja nicht der Zweck dieser Vorlesungen, die abge-
handelten Gegenstände erschöpfend darzustellen; ich möchte
dem Leser rechte . Freude an wissenschaftlicher Forschung und
besonders ein recht warmes Interesse für die Chirurgie er-
regen; gelingt mir das, so ist damit auch schon der Drang in
ihm erweckt, die dargebotene Skizze durch weiteres Studium
zum vollendeten Bilde auszuführen. — Ich benutze diese Ge-
legenheit, den vielen Collegen, welche mir Ihre Freude über
die bis jetzt noch immer fortdauernde Wii'kung dieses Buches
und seine ausgedehnte Verbreitung in wohlwollendster Weise
ausgesprochen haben, hiemit auch öffentlich meinen herzlichsten
Dank zu sagen, den ich nicht besser zu bethätigen weiss, als
IV Vorwort.
indem ich mich fortgesetzt bemühe die vielen wissenschaftlichen
Anreg'ungen und Belehrungen, welche ich aus den Arbeiten
meiner CoUegen schöpfe, in den neuen Auflagen dieses Buches
für die studirende Jugend und die strebsamen Aerzte in mög-
lichst harmonisch gegliederter Form zu reproduciren.
Wien, November 1874.
Th. Billroth.
Inhalt,
Seite
Vorwort ,. III
Verzeichniss der Holzschnitte XIII
Vorlesung I 1
Einleitung.
Verhältniss der Chirurgie zur inneren Medicin. ■ — Nothwendigkeit, dass der
practische Arzt beides erlernt habe. — Historische Bemerkungen. — Art des
Studiums der Chirurgie auf den deutschen Hochschulen.
Vorlesung 2 20
Capitel I.
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Art der Entstehung und Aussehen dieser Wunden. — Verschiedene Formen
der Schnittwunden. — Erscheinungen während und unmittelbar nach der Ver-
wundung: Schmerz, Blutungen, — Verschiedene Arten der Blutungen: arte-
rielle, venöse Blutungen. Lufteintritt durch Venenwunden. — Parenchymatöse
Blutungen. — Bluterkrankheit. — Blutungen aus Pharynx und Rectum. —
Allgemeine Folgen starker Blutungen.
Vorlesung 3 31
Behandlung der Blutungen: 1) Ligatur und Umstechung der Arterien. Tor-
sion. — 2) Compression, Fingerdruck, Wahlstellen für die Compression grosser
Arterien. Tourniquet. Acupressur. Einwicklung. Tamponade. — 3) Styp-
tica. — Allgemeine Behandlung plötzlich eintretender Anämie. Transfusion.
Vorlesung 4 49
Klaffen der W^unde. — Vereinigung durch Pflaster: — Naht; Kopfnaht: um-
schlungene Naht. — Aeusserlich an der vereinigten Wunde wahrnehmbare
Veränderungen. — Entfernung der Nähte. — Heilung per primam intentionem.
VI Inhalt.
Seite
Vorlesung 5 58
Ueber Entzündung. — Die feineren Vorgänge bei der Heilung per primam
intentionem. — Gefassausdehnung in der Nähe der Wunde. Fluxion. Xer-
schiederie Ansichten über die Entstehungsursachen der Fluxion.
Vorlesung 6 •' 67
Vorgänge im Gewebe bei der Heilung per primam. — Plastische Infiltration.
Entzündliche Neubildung. Rückbildung zur Narbe. Anatomische Merkmale
des Entzündungsprocesses. • — Verhältnisse , unter welchen die Heilung per
primam nicht zu Stande kommt. — Anheilung völlig abgetrennter Theile.
Vorlesung 7 78
Mit freiem Auge sichtbare Vorgänge an Wunden mit Substanzverlust. — Fei-
nere Vorgänge bei der Wundheilung mit Granulation und Eiterung. Eiter. —
Narbenbildung. — Betrachtungen über „Entzündung". — Demonstration von
Präparaten zur Illustration des Wundheilungsprocesses.
Vorlesung 8 96
Allgemeine Reaction nach der Verwundung. — Wundfieber. Fiebertheorien. —
Prognose. Behandlung der einfachen Wunden und der Verwundeten. — Offne
Behandlung der Wunden.
Vorlesung 9 108
Combination der Heilung per primam und per secundam intentionem. — Zu-
sammenheilen von Granulationsfiächen. — Heilung unter einem Schorf. —
Granulationskrankheiten. • — Ueber die Narbe in den verschiedenen Geweben:
Muskelnarbe; Nervennarbe, kolbige Wucherung derselben; Gefässnarbe, Orga-
nisation des Thrombus, arterieller CoUateralkreislauf.
Vorlesung 10 131
Capitel II.
Von einigen Besonderheiten der Stichwunden.
Stichwunden heilen in der Regel rasch per primam. — Nadelstiche ; Zurück-
bleiben von Nadeln im Körper, Extraction derselben. — Stichwunden der
Nerven. — Stichwunden der Arterien: Aneurysma traumaticum, varicosum,
Varix aneurysmaticus. — Stichwunden der Venen, Aderlass.
Vorlesung 11 . 143
Capitel III.
Von den Quetschungen der Weichtheile ohne Wunde.
Art des Zustandekommens der Quetschungen. — Nervenerschütterung. —
Subcutane Gefässzei-reissungen. — Zerreissung von Arterien. — Sugillation,
Ecchymose. — Resorption. — Ausgänge in fibrinöse Tumoren, in Cysten, in
Eiterung, Verjauchung. — Behandlung.
Vorlesung 12 156
Capitel IV.
Von den Quetschwunden und Riss wunden der Weichtheile.
Art des Zustandekommens dieser Wunden, Aussehen derselben. — Wenig
Blutung bei Quetschwunden. — Primäre Nachblutungen. — Gangränescenz
der Wundränder, Einflüsse, welche auf die langsamere und schnellere Ab-
stossung der todten Gewebe wirken. — Indicationen zur primären Amputa-
tion. — Oertliche Complication bei gequetschten Wunden, Zersetzung, Fäul-
niss. Coccobacteria. Septische Entzündungen. — Arterienquetschungen,
. secundäre Nachblutungen.
Inhalt. VIT
Soitc
Vorlesnng 13 172
Progressive KitoruiiReii von Quetscliwundoii ausgehend. — Secimdäre Ent-
zündungen der Wunden: ilire l'rsiichcu : lo(;ile Tufection. — Fchrih' Keaction
hei Quetschwunden, Naciilieher, Kiterlieber, Kielierfrost, seine Ursachen. —
Behandlung der Quetschwunden: Immersion, Kishhisen, Irrigation; Kritik die-
ser Behandlungsmetlioden. — Incisionen, Gegenöffnungen. Drainage. Kata-
plasmen. Offne Beiiandinng der Wunden. — Prophylaxis gegen die secun-
dären Entzündungen. — Innerliche Behandlung Schwerverwundeter. Chinin.
Opium. — Risswunden, subcutane Zerreissung von Muskeln und Sehnen,
Ausreissungen von Gliedmaassen.
Vorlesung 14 193
Capitel V.
Von den einfachen K n o c h e ii b r ii c h e ii .
Ursachen, verschiedene Arten der Fracturen. — Symptome, Art der Dia-
gnostik. — Verlauf und äusserlich wahrnehmbare Erscheinungen. — Anato-
misches über den Heilungsverlauf, Callusbildung. — Quellen der entzünd-
lichen verknöchernden Neubildung, Histologisches.
Vorlesung 15 210
Behandlung einfacher Fi-acturen. Einrichtung. — Zeit des Anlegens des Ver-
bandes. Wahl desselben. — Gypsverbände, Kleisterverbände, Schienenver-
bände, permanente Extension; Lagerungsapparate. — Indicationen für die
Abnahme des Verbandes.
Capitel VI.
Von den offenen Knochenbrüchen und von der Kno che neiterung. 220
Unterschied der subcutanen und offenen Fracturen in Bezug auf Prognose. —
Verschiedenartigkeit der Fälle. Indicationen für die primäre Amputation.
Secundäre Amputation. — Verlatif der Heilung. Knocheneiterung. Nekrose
der Fragmentenden.
Vorlesung 16 227
Entwicklung der Knochengranulationen. Histologisches. — Sequesterlösung.
Histologisches. — Knochenneubildung um die gelösten Sequester. Callus bei
eiternden Fracturen. — Eitrige Periostitis und Osteomyelitis. — Allgemein-
zustände. Fieber. — Behandlung; gefensterte Verbände, geschlossene, aufge-
schnittene Verbände. Antiphlogistische Mittel. Immersion. — Principien über
die Knochensplitter. Nachbehandlung.
Vorlesung 17 238
Anhang zu Capitel 5 und 6.
1. Verzögerung der Callusbildung und Entwicklung einer Pseudarthrose. —
Ursachen oft unbekannt. Locale Bedingungen. Allgemeine Ursachen. —
Anatomische Beschaffenheit. — Behandlung: innere, operative Mittel; Kritik
der Methoden. — 2. Von den schiefgeheilten Knochenbrüchen; Infraction,
blutige Operationen. — Abnorme Calluswucherung.
Capitel Vn.
Von den Verletzungen der Gelenke 246
Contusion. — Distorsion. — Gelenkeröffnung und acute traumatische Gelenk-
entzündung. Verschiedener Verlauf und Ausgänge. Behandlung. Anato-
mische Veränderungen.
Vorlesung 18 2.56
Von den einfachen Verrenkungen: traumatische, angeborene, pathologische
Luxationen, Subluxationen. — Aetiologisches. — Hindernisse für die Ein-
richtung. Behandlung: Einrichtung, Nachbehandlung. — Habituelle Luxa-
tionen. — Veraltete Luxationen, Behandlung. — Von den complicirten Ver-
renkungen. — Angeborene Luxationen.
VIII Inhalt.
Seite
Vorlesung 19 269
Capitel VIII.
Von den Schusswnnden..
Historische Bemerkungen. — Verletzungen durch grobes Geschütz. — Ver.'^chie-
dene Formen der Schusswunden durch Flintenkugeln. — Transport und Sorge
für die Verwundeten im Felde. — Behandlung. — Complicirte Schussfracturen.
Vorlesung 20 282
Capitel IX.
Von den Verbrennungen und Erfrierungen.
1. Verbrennungen: Grade, Extensität, Behandlung. — Sonnenstich. — Blitz-
schlag. — 2. Erfrierungen: Grade. Allgemeine Erstarrung. Behandlung. —
. Frostbeulen.
Vorlesung 21 295
Capitel X.
Von den acuten nicht traumatischen Entzündungen der Weich-
theile.
Allgemeine Aetiologie der acuten Entzündungen. — Acute Entzündung:
1. Der Cutis, a. Erysipelatöse Entzündung; b. Furunkel; c. Carbunkel
(Anthrax. Pustula maligna). 2. Der Schleimhäute. 3. Des Zellgewebes.
Heisse Abscesse. 4. Der Muskeln. 5. Der serösen Häute: Sehnenscheiden
und subcutanen Schleimbeutel.
Vorlesung 22 322
Capitel XI.
Von den acuten Entzündungen der Knochen, des Periostes und
der Gelenke.
Anatomisches. — Acute Periostitis und Osteomyelitis der Röhrenknochen:
Erscheinungen; Ausgänge in Zertheilung, Eiterung, Nekrose. Prognose. Be-
handlung. — Acute Ostitis an spongiösen Knochen: Multiple acute Osteo-
myelitis. — Acute Gelenkentzündungen. — Hydrops acutus: Erscheinungen,
Behandlung. — Acute suppurative Gelenkentzündung: Erscheinungen, Ver-
lauf, Behandlung, Anatomisches. — Rheumatismus arliciilorum acutus. — Der
arthritische Anfall. — Metastatische (gonorrhoische , pyämische , puerperale)
Gelenkentzündungen.
Anhang zu Capitel I — XI. Rückblick. Allgemeines über den acuten Entzündungs-
process.
Vorlesung 23 350
Capitel Xn.
Vom Brande.
Trockner, feuchter Brand. Unmittelbare Ursache. Abstossungsprocess. —
Die verschiedenen Arten des Brandes nach den entfernteren Ursachen. 1. Ver-
nichtung der Lebensfähigkeit der Gewebe durch mechanische oder chemische
Einflüsse. 2. Vollständige Hemmung des Blutzuflusses und Rückflusses. In-
carceration. Continuirlicher Druck. Decubitus. Starke Spannung der Ge-
webe. 3. Vollständige Hemmung des Zuflusses arteriellen Blutes. Gangraena
spontanea. Gangraena senilis. Ergotismus. 4. Noma. Gangrän bei ver-
schiedenen Blutkrankheiten. — Behandlung.
Vorlesung 24 364
Capitel Xin.
Von den a c c i d e n t e 1 1 e n Wund- und E n t z ü n d u n g s k r a n k h e i t e n und
den vergifteten Wunden.
I. Oertliche Krankheiten, welche zu Wunden und anderen Entzündungs-
heerden hinzukommen können: 1. Die progressive eitrige und eitrig-jauchige
diffuse Zellgewebsentzündung. — 2. Hospital brand. Ulceröse Sehleimspeichel-
diphtheritis. Ulceröse Harndiphtheritis. — 3. Erysipelas traumaticum. —
4. Lymphangoitis.
Tiihalt. IX
Stitc
Vorlesung 25 ;^81
5. Phlebitis. Thrombose. Embolie. — ■ Ursachen (1(M' Veneiithrombosen. —
Verschiedene Metamorphosen des Tin-ombus. — Emijolie; rother Infarct, em-
bohsche metastatisehe Abscesse. — Behandlung.
Vorlesung 26 .'591
II. Allgemeine aecidentelle Krankheiten, welche zu Wunden und Entzündungs-
heerden hinzukommen können. — 1. Das Wund- und Entzündungsfieber;
2. das septische Fieber und die Septhämie; 3. das Eiterfieber und die Pyo-
hämie.
Vorlesung 27 420
4. Der Wundstarrkrampf; 5. Delirium potati)rum traumaticum; (]. Delirium
nervosum und Manie.
Anhang zu Capitel XIII.
Von den vergifteten Wunden.
Insectenstiche, Schlangenbisse; Infection mit Leichengift. — Kotz. Milzbrand.
Maul- und Klauenseuche. Hinidswuth.
Vorlesung 28 438
Capitel XIV.
Von der chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
Anatomisches: 1. Verdickung, Hypertrophie. 2. Hypersecretion. S.Eiterung,
kalte Abscesse, Congestionsabscesse, Fisteln, Ulceration. — Folgen chronischer
Entzündungen. — Allgemeine Symptomatologie. Verlauf.
Vorlesung 29 447
Allgemeine Aetiologie der chronischen Entzündung. Aeussere dauernde
Reize. — Im Körper liegende Krankheitsursachen; empirischer Begriff der
Diathese und Dyskrasie. — Allgemeine Symptomatologie und Therapie der
krankhaften Diathesen und Dyskrasien: 1. Die lymphatische Diathese (Scro-
phulosis). 2. Die tuberkulöse Dyskrasie (Tubercidosis). 3. Die artbritische
Diathese. 4. Die scorbutische Dyskrasie. 5. Syphilitische Dyskrasie. — Oert-
liche Behandlung der chronischen Entzündung: Ruhe. Hochlagerung. Com-
pression. Feuchte Wärme. Hydropathische Einwicklungen. — Moor-, Schlamm-
Bäder. Animalische Bäder. Sandbäder. — Resorbentia. • — Antiphlogistica. —
Derivantia: Fontanell. Haarseil. Moxen. Glüheisen.
Vorlesung 30 475
Capitel XV.
Von den Geschwüren.
Anatomisches. — Aeussere Eigenschaften der Geschwüre: Form und Aus-
breitung, Grund und Absonderung, Ränder, Umgebung. — Oertliche Therapie
nach öi-tlicher Beschaffenheit der Geschwüre: fungöse, callöse, jauchige, phage-
dänische, sinuöse Geschwüre. — Aetiologie der Geschwüre: dauernde Reizung,
Stauungen im venösen Kreislauf. — Dyskrasische Ursachen.
Vorlesungen 31 491
Capitel XVI.
Von der chronischen Entzündung des Periostes, der Knochen
und von der Nekrose.
Chronische Periostitis und Caries superficialis. Symptome. Osteophytenbil-
dung. Osteoplastische, suppurative Formen. Anatomisches über Caries.
Aetiologisches. Diagnose. Combination verschiedener Formen.
Vorlesung 32 .502
Primäre chi'onische Ostitis: Symptome. Ostitis malacissans, osteoplastica, sup-
purativa, fungosa. Chronische Osteomyelitis. Caries centralis. — Knochen-
abscess. Combiuationen. Ostitis mit Verkäsung. Knochentuberkeln. — Dia-
gnose. Verschiebungen der Knochen nach partieller Zerstörung derselben. —
Congestionsabscesse. — Aetiologisches.
X Inhalt.
Seite
Vorlesung 33 513
Heilungsprocess bei chronischer Ostitis, Caries und Congestionsabscessen.
Prognose. — Allgemeinzustand bei chronischen Knochenentzündungen. —
Secundäre Lymphdrüsenschwellungen. — Therapie der chronischen Ostitis
und Congestionsabscesse. — Resectionen in der Continuität.
Vorlesung 34 •• 528
Nekrose. Aetiologisches. Anatomische Verhältnisse bei der Necrosis totalis
und partialis. Symptomatologie und Diagnostik. Behandlung. Sequestrotomie.
Vorlesung 35 545
Anhang zu Capitel XVI.
Rhachitis. Anatomisches. Symptome. Aetiologie. Behandlung. Osteoma-
lacie. — Hypertrophie und Atrophie der Knochen.
Vorlesung 36 553
Capitel XVn.
Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
Allgemeines über die Verschiedenheit der Hauptformen. — A. Die granulös-
fungösen und eitrigen Gelenkentzündungen, Tumor albus. Erscheinungen.
Anatomisches. Ostitis granulosa sicca. Ostitis mit periarticulären und peri-
ostalen Abscessen. Atonische Formen. — Aetiologie. — Verlauf und Prognose.
Vorlesung 37 566
Behandlung des Tumor albus. — Operative Eingriffe. — Resectionen der
Gelenke. — Kritische Beurtheilung dieser Operationen an den verschiedenen
Gelenken.
Vorlesung 38 . • 577
B. Die chronische seröse Synovitis. Hydrops articulorum chronicus. Ana-
tomisches. Symptome. Behandlung. Typisch recidivirender Hydrops genu.
Anhang; Von den chronischen Hydropsien der Sehnenscheiden, der Syno-
vialhernien der Gelenke und der subcutanen Schleimbeutel.
Vorlesung 39 589
- C. Die chronisch-rheumatische Gelenkentzündung. Arthritis deformans. Malum
senile coxae. Anatomisches. Verschiedene Formen. Symptome. Diagnose.
Prognose. Therapie.
Anhang I 599
Von den Gelenkkörpern.
1. Fibrinkörper. 2. Knorplige und knöcherne Körper. Symptomatologie.
Operationen.
Anhang II 602
Von den Gelenkneurosen.
Vorlesung 40 603
Capitel XVIII.
Von den Anchylosen.
Unterschiede. Anatomische Verhältnisse. Diagnose. Therapie: Allmählige,
forcirte Streckung, blutige Operationen.
Vorlesung 41 616
Capitel XIX.
Ueber die angebornen, my o - und neuropathischen Gelenk Verkrüm-
mungen so wie über die Narbenc ontra cturen. Loxarthrosen.
I. Deformitäten embryonalen Ursprungs, bewirkt durch Entwicklungsstörungen
der Gelenke. II. Deformitäten nur bei Kindern und jugendlichen Individuen
entstehend, bedingt durch Wachsthumsstörungen der Gelenke. III. Deformi-
Iiihall. XI
Seite
täten, welche von Contractureii oder Lähmung lüii/.chicr Muskeln oder Muskel-
f^ruppen abhängen. IV. Bewegungsbesc.hränkungcn in den Gelenken, bedingt
dnreh Schrumpfung von Fascien und ßändcrn. V. Narhencontracturen. —
Therapie: Dehnung mit Maschinen. Streckung in der Narkose. Compression.
Tenotomien und Myotomien. Durchsi-luicidung von P'ascien und Gelenk-
bändern. Gymnastik. Elektricität. Künstliche Muskeln. Stützapparate.
Vorlesung 42 637
Capitel XX.
Von den Varicen und Aneurysmen.
Varices: Verschiedene Formen. Entstehungsursachen, verschiedene Oertlich-
keiten des Vorkommens. Diagnose. Venensteine. Varixfistel. Therapie. —
Varicöse Lymphgefässe. Lymphorrhoe. — Aneurysmen: Entzündungsprocess
an den Arterien. Aneui-ysma cirsoideum. — Atheromatöser Process. — Form-
verschiedenheiten der Aneurysmen. Spätere Veränderungen derselben. Er-
scheinungen, Folgen. Aetiolögisches. Diagnose. — Therapie: Compi'ession,
Unterbindung, Injection von Liq. Ferri. Exstirpation.
Vorlesung 43 658
Capitel XXI.
Von den Geschwülsten.
Begrenzung des Begriffes einer Geschwulst. — Allgemeine anatomische Be-
merkungen: Polymorphie der Gewebsformen. Entstehungsquelle für die Ge-
schwülste. Beschränkung der Zellenentwicklungen innerhalb gewisser Gewebs-
typen. Beziehungen zur Entwicklungsgeschichte. Art des Wachsthums. Ana-
tomische Metamorphosen in den Tumoren. Aeussere Erscheinungsformen der
Geschwülste.
Vorlesung 44 668
Aetiologie der Geschwülste. Miasmatische Einflüsse. Specifische Infection.
Specifische Reactionsweise der irritirten Gewebe ; die Ursache derselben ist
immer eine constitutionelle. Innere Reize; Hypothesen über die Beschaffen-
heit und Art der Reizeinwirkung. — Verlauf und Prognose : solitäre, multiple,
infectiöse Geschwülste. — Dyskrasie. — Behandlung. — Principien über die
Eintheilung der Geschwülste.
Vorlesung 45 681
1. Fibrome: a) die weichen, b) die festen Fibrome. Art des Vorkommens.
Operationsverfahren. Ligatur. Ecrasement. Galvanokaustik. — 2. Lipome:
Anatomisches. Vorkommen. Verlauf. — 3. Chondrome: Vorkommen. Ope-
ration. 4. Osteome: Formen. Operation.
Vorlesung 46 699
5. Myome. — 6. Neurome. — 7. Angiome : a) plexiforme, b) cavernöse. —
Operationsverfahren.
Vorlesung 47 709
8. Sarkome. Anatomisches, a) Granulationssarkom, b) Spindelzellensar-
kom, c) Riesenzellensarkom, d) Netzzellensarkom, e) Alveolares Sarkom,
f) Pigmentirte Sarkome, g) Villöses Sarkom. Perlgeschwulst. Psammom,
h) Plexiformes (cancroides, adenoides) Sai'kom. Cylindrom. — Klinische Er-
scheinungsform. Diagnose. Verlauf. Prognose. Art der Infection. — Topo-
graphie der Sarkome: Centrale Osteosarkome. Periostsarkome. Sarkome
der Mamma, der Speicheldrüsen. 9. Lymphome. Anatomisches. Beziehungen
zur Leukämie. Behandlung.
Vorlesung 48 735
10. Papillome. — 11. Adenome. — 12. Cysten und Cystome. FoUicular-
cysten der Haut, der Schleimhäute. — Cysten neuer Bildung. Schilddrüsen^
cvsten. Eierstockscvstome. Blutcvsten.
Xrr Inhalt.
Seite
Torlesung 49 751
13. Carcinome: Historisches. Allgemeines über die anatomische Structur.
Metamorphosen. Verschiedene Formen. Topographie: 1. Aeussere Haut
und Schleimhäute mit Plattenepithel. 2. Milchdrüsen. 3. Schleimdrüsen mit
Cylinderepithel. 4. Speicheldrüsen und Vorsteherdrüse. 5. Schilddrüse und
Eierstock. — Therapie. — Kurze Bemei'kungen über die Diagnose der
Geschwülste.
Kurze Bemerkiuigen über die klinische Diagnose der Geschwülste. 791
Vorlesung 50 793
Capitel XXII.
Ueber Amputationen, Exarticulationen und Resectionen.
Wichtigkeit und Bedeutung dieser Operationen. — Amputationen und Exar-
ticulationen. — Indicationen. — Methoden. — Nachbehandlung. — Pro-
gnose. — Konische Stümpfe. Prothese. Historisches. — Resectionen: Ge-
lenke. — Historisches. — Indicationen. — Methoden. — Nachbehandlung. —
Prognose.
Sach-Register ' 817
Namen-Register 824
Verzeichniss der Holzschnitte.
Seite
Fig. 1. Bindeeowebe mit Capillareii. Schematische Zeichnung •••;••;,• ^^
Fig. 2. Schnitt. Capillaren- Verschluss durch Blutgerinnsel. Collaterale Ausdeh-
nung. Schematische Zeichnung ,\ ' ' -oi ' 4.- 'i
Fig. 3. Vereinigung der Wundflächen durcli die entzündliche Neubildung. Plastisch
intiltrirtes Gewebe. Schematische Zeichnung : \; ' '■ '
Fig. 4. Vene mit Capillargefäss aus dem mehre Stunden freiliegenden Mesenterium ^^
eines Frosches ' „,
Fig. 5. Reihenfolge der Gefässbildungen ; nach Arnold \ ' . ' ' i i " n-
Fig. 6. Gefässanlagen aus dem Glaskörper von Kalbsembryonen; nach Arnold . io
Fil. 7. Wunde mit Substanzverlust. Gefässdilatation. Schematische Zeichnung . »^
Fig. 8. Eiterzellen aus frischem Eiter „^
Fig. 9. Granulirende Wunde. Schematische Zeichnung •• ;^ ••••■•■ " ^t
Fig. 10. Fettige Degeneration von Zellen aus Granulationen. Körnchenzelien . • ÖO
Fig. 11. Epithelien der Froschhornhaut; nach Heiberg ob
Fig. 12. Hornhautschnitt, 3 Tage nach der Verletzung ••■••■••••■
Fig. 13. Schnittwunde in der Wange eines Hundes, 24 Stunden nach der Ver- ^^
wundung ,' -i ' ö ü v^. \i "o'v,
Fig. 14. Narbe 9 Tage nach einem per primam intentionem geheilten Schnitt duicü ^^
die Lippe eines Kaninchens „g
Fig. 15. Granulationsgewebe n.^
Fig. 16. Junges Narbengewebe •. • / " '„'r,'. '-, '
Fig. 17. Horizontalschnitt durch eine Hundezunge; Gefässverhaltnisse 48 Stunden
nach der Verletzung; nach Wy wo dz off r.\^r '
Fig. 18. Gleicher Schnitt; Gefässbildung 10 Tage nach der Verletzung; nach ^^ y- _^
w o d z o f f i ' w
Fig. 19. Gleicher Schnitt; Gefässbildung 16 Tage nach der Verletzung; nach V\ y- ^^
wo dz off
95
Fig. 20. Granulationsgefässe ■ ,\ • "„ "
Fig. 21. Siebentägige Wunde in der Lippe eines Hundes. Heilung per primam. ^^
Iniection der Lymphgefässe ,' \r \ \j- ' a i i p.
Fig. 22. Narbe aus der Oberlippe eines Hundes. Verhalten der Muskelfaserenden 11^
Fig. 23. Muskelfaserenden und Muskelumbildung 8 Tage nach der Verletzung; nach
^ ,„ , IIb
Weber • , tt i \
Fig. 24. Regenerations Vorgänge quergestreifter Muskelfasern nach Verletzungen ; nach ^ ^^
G u s s e n b a u e r ^ ^ q
Fig. 25 u. 26. Regeneration der Nerven; nach Hjelt • • • " " '
Fig. 27. Kaninchennerv 17 und 50 Tage, Froschnerv 30 Tage nach der Durch- ^^^
schneidung; nach Eichhorst • • • '
Fig. 28. Kolbige Nervenendigungen an einem älteren Amputationsstumpt des Über- ^^^^
arms. Amputations-Neurome ■■■.■■' ,.^.-)
Fig. 29. In der Continuität unterbundene Arterie. Thrombus; nach I roriep • . i-^
Fig. 30. Frischer Thrombus im Querschnitt ^o
Fig. 31. Sechstägiger Thrombus im Querschnitt '^
XIV" Verzeichniss der Holzschnitte.
Seite
Fig. 32. Zehntägiger Thrombus ■ 124
Fig. 33. Vollständig organisirter Thrombus in der Art. tibialis postica des Menschen 124
Fig. 34. Längsschnitt des unterbundenen Endes der Art. cruralis eines Hundes;
nach 0. Weber 125
Fig. 35. Stück eines Querschnittes der V. femoralis vom Menschen mit organisirtem
vascularisirtem Thrombus 126
Fig. 36. A. carotis eines Kaninchens, 6 Wochen nach der Unterbindung injicirt;
nach Porta 129
Fig. 37. A. carotis einer Ziege, 35 Monate nach der Unterbindung injicirt; nach
Porta 129
A. femoralis eines grossen Hundes , 3 Monate nach der Unterbindung in-
jicirt; nach Porta 130
Seitlich verletzte Arterie mit Gerinnsel, 4 Tage nach der Verwundung;
nach Porta 137
Aneurysma traumaticum der Art. brachialis; nach Froriep 138
Varix aneurysmaticus ; nach Bell 139
Aneurysma varicosum; nach Dorsey 140
Körniges und krystallinisches Hamatoidin 150
Abstossungsprocess abgestorbenen Bindegevi^ebes bei Quetschwunden . . 163
Micrococcos, Coccoglia, Streptococcus, Bacterien, Vibrio, Streptobacteria 167
Ausgerissener Mittelfinger mit sämmtlichen Sehnen 191
Centrales Ende einer durchrissenen A. brachialis 191
Ausgerissener Arm mit Scapula und Clavicula 191
4 Tage alte Fractur eines Kaninchenknochens ohne Dislooation .... 200
15 Tage alte Fractur eines Eöhrenknochens 200
Fractur eines Kaninchenknochens nach 24 Wochen; nach Gurlt ■ . . 201
Stark dislocirte, 27 Tage alte Fractur einer Kaninchen-Tibia; nach Gurlt 203
Alter geheilter Schrägbruch der Tibia vom Menschen; nach Gurlt . . . 203
Längsschnitt durch ein Stück Corticalschicht eines Röhrenknochens in der
Nähe einer Fractur 204
Entzündliche Neubildung in den Haversischen Canälen 205
Verknöchernde entzündliche Neubildung auf der Knochenoberfläche und in
den Haversischen Canälen. Osteoplastische Periostitis 207
Fig. 57. Künstlich injicirter äusserer Callus von geringer Dicke an der Oberfläche
einer Kaninchen-Tibia in der Nähe einer 5 Tage alten Fractur .... 207
Fig. 58. Künstlich injicirter Quei-schnitt der Tibia eines Hundes aus der unmittel-
baren Nähe einer 8 Tage alten Fractur 208
Fig. 59. Verknöchernder Callus an der Oberfläche eines Eöhrenknochens in der
Nähe einer Fractur 209
Fig. 60. Lösung eines durch Verletzung entblössten , nekrotisch gewordenen , ober-
flächlichen Theils eines platten (z. B. Schädel-) Knochens 229
Fig. 61. Lösung eines nekrotischen Knochenstücks von der Corticalschicht eines
Röhrenknochens 229
Fig. 62. Bruch eines Röhrenknochens mit äusserer Wunde, Dislocation und Nekrose
beider Fragmentenden 230
Amputationsstumpf des Oberschenkels mit nekrotischer Sägefläche ... 231
Die Projectile der modernen Schusswaffen. Chassepot. Zündnadelgewehr.
Mitrailleuse 271
Splitterfracturen durch Chassepot- und Zündnadelgewehr-Projectile . . . 281
Blitzfiguren; nach Stricker 289
Epithelialschicht auf einer catarrhalisch afficirten Conjunctiva; nach
Rindfleisch 309
Entzündlich infiltrirtes Bindegewebe, Einschmelzung der Fasern .... 312
Abscessbildung 314
Eitrige Infiltration des Panniculus adiposus 314
Blutgefässe einer Abscesswand '. 316
Pilzfigur von der Kaninchencornea 370
Venenthrombose . . • 388
Wundfiebercurve 394
Wundfiebercurve nach einer Handgelenkssecretion 395
Fiebercurv^e bei Erysipelas ambulans 397
Fiebercurve bei Septhämie • • 401
Riesenzellen aus Tuberkeln in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung
nach Langhans . . • 457
Fig.
38.
Fig.
39.
Fig.
40.
Fig.
41.
Fig.
42.
Fig.
43.
Fig.
44.
Fig.
45.
Fig.
46.
Fig.
47.
Fig.
48.
Fig.
49.
Fig.
50.
Flg.
51.
Fig.
52.
Fig.
53.
Fig.
54.
Fig.
55.
Fig.
56.
Fig.
63.
Fig.
64.
Fig.
65.
Fig.
66.
Fig.
67.
Fig.
68.
Fig.
69.
Fig.
70.
Fig.
71.
Fig.
72.
Fig.
73.
Fig.
74.
Fig.
75.
Fig.
76.
Fig
77.
Fig
78.
Verzeichniss der Holzschnitte. XV
Seite
Fig. 79. Kleinste Tuberkel im Netz, kleinste Tuberkel an einer Hirnarterie; nach
Rindfleisch ' " ', fro
Fig. 80. Kleinster Tuberkel einer Hirnarteric; nach Rindfleisch 4.J9
Fig. 81. Unterschenkel-Hautgeschwür; nach Förster 476
Fig. 82. Blutgefässnetz üppiger Granulationsknöpfchen; nach Thierse h . . . . 482
Fig. 83. Caries superücialis der Tibia; nach Follin 494
Fig. 84. Durchschnitt eines cariösen Knochentheils 4%
Fig. 85. Ostitis malacissans ü n
Fig. 86. Schwund der Kalksalze aus den peripherischen Theilen der Knochenbalken
bei Ostitis malacissans; nach Rindfleisch 504
Fig. 87. Sklerosirte Knochen; nach Follin 505
Fig. 88. Verkäster ostitischer Heerd in den Rückenwirbeln eines Mannes ... JÜ9
Fig. 89. Caries vertebrarum anterior ^1^
Fig. 90. Nekrose der Tibia. Schematische Zeichnung J-jI
Fig. 91. Späteres Stadium von Fig. 90 -^^o
Fig. 92. Späteres Stadium von Fig. 91 •^•^f
Fig. 93. Totale Nekrose des Femur ',^^^
Fig. 94. Totale Nekrose der Tibia . . . . • ^ • ^«^^
Fig. 95. Nekrose der unteren Hälfte der Diaphyse des Femur mit Lösung des Epy- ^
physenknorpels und Perforation der Haut ^36
Fig. 96. Der extrahirte Sequester von Fig. 95 5üG
Fig. 97. Partielle Nekrose eines Röhrenknochens ^^7
Fig. 98. Späteres Stadium von Fig. 97 538
Fig. 99. Späteres Stadium von Fig. 98 ^^o
Fig. 100. Regeneration der Scapula nach Reseetion 5^9
Fig. 101. Typische Formen von rhachitischen Verkrümmungen der Unterschenkel j47
Fig. 102. Knochenverbiegungen bei Osteomalacie; nach Mo r and 551
Fig. 103. Granulös-fungöse Synovitis 557
Fig. 104. Degeneration des Knoi-pels bei pannöser Synovitis; nach Weber • . • oo9
Fig. 105. Atonische Knorpelulcerationen aus dem Kniegelenk 5o9
Fig. 106. Subchondrale granulöse Ostitis am Talus -^)bO
Fig. 107. Schematische Darstellung eines Ganglion J8o
Fig. 108. Synovialhernien am Kniegelenk; nach Grub er ^86
Fig. 109, Degeneration des Knorpels bei Arthritis deformans; nach Weber . . . o9ü
Fig. 110—112. Osteophytenauflagerungen auf Gelenkenden 592
Fig. 113. Vielfache Gelenkkörper im Ellenbogengelenk; nach Cr UV eil hier . . 600
Fig. 114. Bandartige Verwachsungen in einem resecirten Ellenbogengelenk ... 604
Fig. 115 u. 116. Anchylosen durch Bindegewebe und Knochennarben 605
Fig. 117 u. 118. Frontalschnitte des Schultergelenks in verschiedenen Stellungen . 606
Fig. 119. Schrumpfung der Fascia lata bei Coxitis 625
Fig. 120. u. 121. Narbencontracturen nach Verbrennungen • • • 626
Fig. 122. Subcutan durchschnittene Sehne am vierten Tag 630
Fig. 123. Varices im Gebiet der V. saphena 6o7
Fig. 124. Aneurysma cirsoideum der Kopfhaut; nach Bre sehet 644
Fig. 125. Fibrom des Uterus ^°^
Fig. 126. Aus einem Myo-Fibrom des Uterus 683
Fig. 127. Gefässnetze aus Fibromen 6^f
Fig. 128. Neuro-Fibrom ; nach Follin 68o
Fig. 129. Plexiformes Neuro-Fibrom; nach P. Bruns 68o
Fig. 130. Aussergewöhnliche Formen von Knorpelgewebe aus Chondromen ... 091
Fig. 131. Chondrome der Finder ' ' 693
Fig. 132 u. 133. Odontom •.-.... b^b
Fig. 134—137. Osteome ' ^^!
Fig. 138. Plexiformes Angiom (Teleangiectasie) " ^^^
Fig. 139. Cavernöses Angiom ' J^
Fig. 140. Granulationssarkom ^fj^
Fig. 141. Glio-Sarkom; nach Virchow j.||
Fig. 142. Spindelzellensarkom ^ A^
Fig. 143. Riesenzellen aus einem Unterkiefersarkom ''■^
Fig. 144. Riesenzellensarkom mit Cysten und Verknöcherungsheerden 71o
Fig. 145. u. 146. Myxosarkom ^|^
Fig. 147. u. 148. Alveolares Sarkom J.'^J
Fig. 149. Sarkom der pia niater; nach Arndt '||^
Fig. 150. Psammom; nach Virchow - '^6
XVI Verzeichniss der Holzsrlinitte.
Fig. 151. Hirngeschwulst; nach Arnold 717
Fig. 152. Cylindrombildung; nach Sattler 718
Fig. 153. Cylindrom der Orbita 718
Fig. 154. u. 155. Osteosarkom der Ulna 723
Fig. 156. u. 157. Otseosarkom des Unterkiefers 724
Fig. 158. Osteo-Cystosarkom des Femur; nach Pean 724
Fig. 159. u. 160. Osteosarkom der Tibia 725
Fig. 161. Adeno-Sarkom der Mamma 727
Fig. 162. Lymphom 730
Fig. 163. Hautwarze 736
Fig. 164. Adenomatöser Schleimpolyp des Rectums 740
Fig. 165. Kropfgeschwulst. Adenom der Schilddrüse 741
Fig. 166. Epithelialkrebs des rothen Lippensaums 758
Fig. 167. Flacher Epithelialkrebs der Wange 759
Fig. 168. Elemente eines wuchernden Hautcarcinoms 760
Fig. 169. Wuchernder Hautkrebs an der Hand ''61
Fig. 170. Gefässe aus einem Carcinom des Penis '61
Fig. 171. Zottenkrebs der Harnblase 766
Fig. 172. Acinöser Krebs der Mamma 769
Fig. 173. Aus einem weichen Krebs der Mamma 769
Fig. 174. Elemente aus einem Krebs der Mamma 770
Fig. 175. Bindegewebsgerüst aus einem Krebs der Mamma 770
Fig. 176. Tubulärer Krebs der Mamma 771
Fig. 177. Schrumpfender Krebs der Mamma 772
Fig. 178. Gefässnetz eines ganz jungen Brustdrüsenkrebsknotens '72
Fig. 179. Gefässnetze in einem Brustdriisenkrebs '72
Fig. 180. Bindegewebsinfiltration eines Krebsknotens der Mamma ^'^
Fig. 181. Infiltration des Fettgewebes in der Peripherie eines Brustkrebses . . . 778
Fig. 182. Krebs aus dem Innern- der Nase 781
Fig. 183. Krebs des Mastdarms 782
Vorlesung 1.
E i 11 1 0 i t U 11 g.
Yerliältiiiss der Clünivgie zur inneren Mediein. — Nothwendigkeit , dass der praktische
Arzt beides erlernt liabe. — Historisclie Bemerknngen. — Art des Studiums der Chirurgie
auf den deutscheu Hochschulen.
Meine Herren!
Das Studium der Chirurgie, welches Sie mit diesen Vorlesungen be-
ginnen, wird jetzt mit Recht in den meisten Ländern als ein nothwendiges
für den praktischen Arzt angesehen; wir preisen es als einen glücklichen
Fortschritt, dass die Trennung der Chirurgie von der Mediein nicht mehr
in der Weise besteht, wie es früher der Fall war. Der Unterschied
zwischen innerer Mediein und Chirurgie ist in der That ein rein äusser-
licher, die Trennung eine künstliche, wie sehr sie aucli in der Geschichte
und in dem grossen immer zunehmenden Inhalt der gesammten Mediein
begründet sein mag. Sie werden im Verlauf dieser Vorträge oft genug
darauf hingeleitet werden, wie sehr die Chirurgie auch auf die inneren
und allgemeinen Vorgänge im Körper eingehen niuss, wie die Erkran-
kungen der nach aussen liegenden und der im Körper liegenden Theile
einander durchaus analog sind, und wie der ganze Unterschied eben nur
darauf hinauskommt, dass wir in der Chirurgie die örtlichen Verände-
rungen der Gewebe meist vor uns sehen, während wir die örtlichen Er-
krankungen innerer Organe oft erst aus den Functionsstörungen erschliessen
müssen. Die Wirkungen der örtlichen Störungen auf den Zustand des
Gesammtorganismus niuss der Chirurg ebenso genau kennen, als Jemand,
der sich vorwiegend mit den Krankheiten der inneren Organe beschäftigt.
Kurz, der Chirurg kann nur dann mit Sicherheit und richtig
den Zustand seiner Kranken beurtheilen, wenn er zugleich
Arzt ist. Doch auch der Arzt, der sich vornimmt, chirurgische Patien-
ten von der Hand zu weisen und sich nur mit den Curen innerlicher
Krankheiten zu beschäftigen, muss chirurgische Kenntnisse haben, wenn
er nicht die unverantwortlichsten Missgriffe machen will. Abgesehen
BiUroth chir. Path. u, Ther. 7. Aufl. \
2 Einleitung.
davon, dass der Laiularzt nicht immer Collegen zur Seite bat, denen
er die chirurg-ischen Fälle überweisen kann, ist oft von der richtigen,
raseben Erkenntnis» einer cbirurgiscben Krankheit das Leben des Pa-
tienten abhängig, da hier ein rasches richtiges Handeln lebensrettend sein
kann. Wenn das Blut mit Gewalt aus einer Wunde hervorstilrzt, wenn
ein fremder Körper in die Luftrühre eingedrungen ist und der Kranke
jeden Augenblick zu ersticken droht, da heisst es chirurgiscli handeln
und zwar schnell, sonst ist der Kranke verloren! In andern Fällen
kann ein der Chirurgie völlig unkundiger Arzt durch Urtheilsunfähig-
keit über die Bedeutung eines Falles viel schaden; er kann die durch
chirurgische Hülfe früh zu beseitigenden Uebel zur Unheilbarkeit an-
wachsen lassen und so seinen Krauken durch mangelhafte Kenntnisse
unsäglichen Schaden zufügen. Es ist daher geradezu unverantwortlich,
wenn ein Arzt auf dem Gedanken trotzig beharren wollte, nur innere
Medicin zu treiben, noch unverantwortlicher, wenn Sie schon das Studium
der Chirurgie in dem Gedanken vernachlässigen wollten: ich will ja doch
nicht operiren, da ja so wenig in der gewöhnlichen Praxis zu operiren
ist, und ich meiner ganzen Persönlichkeit nach nicht dazu passe! Als
wenn die Chirurgie nur im Operiren bestünde! als ob die Chirurgen nur
geschickte Hände zu haben brauchten, um Tüchtiges zu leisten! Ich hoffe,
Ihnen eine andere bessere Anschauung über diesen Zweig der Medicin
beizubringen, als die erwähnte, die leider nur allzu populär ist. — Die
Chirurgie hat dadurch, dass sie vorwiegend mit zu Tage liegendeu
Schäden zu thun hat, allerdings einen etwas leichteren Standpunkt in
Betreff der anatomischen Diagnose; doch stellen Sie sich den Vortheil
davon nicht zu gross vor! Ganz abgesehen davon, dass auch chirurgisch
zu behandelnde Schäden oft tief und verborgen liegen, verlangt man
auch von einer chirurgischen Diagnose und Prognose, selbst von der
Therapie weit mehr als von dem therapeutischen Wirken der inneren
Medicin. — Ich verkenne nicht, dass die innere jMedicin in vieler Be-
ziehung einen höheren Reiz haben kann gerade durch die Schwierigkeiten,
welche sie bei der Localisirung der Krankheitsproeesse und der Erkennt-
niss der letzteren zu überwinden hat und oft so glänzend überwindet.
Es bedarf hier häufig sehr feiner Verstandesoperationen, um aus dem
Symptomencomplex und dem Ergebniss der Untersuchung zu einem
Resultat zu kommen. Mit Stolz können die Aerzte auf die anatomischen
Diagnosen der Brust- und Herzkrankheiten blicken, wo es dem uner-
müdlichen Forschungseifer gelungen ist, sich ein so genaues Bild von
den Veränderungen der erkrankten Organe zu entwerfen, als sähe man
dieselben vor Augen. Wie erhebend ist es, von der krankhaften Be-
schaffenheit ganz verborgener Organe, wie der Nieren, der Leber, der
Milz, der Därme, des Gehirns und Rückenmarks vermittelst Untersuchung
des Kranken und Combiuation der S3'mptome eine klare Vorstellung
zu gewinnen! Welch ein Triumph, Krankheiten von Organen zu
Voi-K-siiiii;- i. ;-3
(liaguosticireii , von dorcu ])li\ siolo^'isclior Fimctioii, wie /,. 15. von der-
]enii2,'(M\ der Nebennieren, wir luicli nield die leiseste Ahnung liaben.
Dies giebt eine Entschädigung dalur, dass wir uns in der inneren
Medicin verliältnissniässig häutiger als in der Ciiirurgic unsere Ohnmacht
in Bezug auf die Wirkung unseres Heilverl'aiirens gestehen müssen, wenn
wir auch in llüeksicht auf die Therapie gerade durch die Fortschritte
der anatomischen Diagnostik auch auf den Gebieten der inneren Medicin
bewusster und sicherer über die Ziele und Resultate unseres Handelns
geworden sind.
Der Eeiz des feineren, sinnigen Waltens unserer Fantasie und unseres
Verstandes auf dem Gebiete der inneren Medicin wird jedoch in der Chirurgie
durch die grössere Sicherheit und Klarheit der Erkenntniss und Behand-
lung reichlich aufgewogen, so dass beide Zweige des ärztlichen Wissens
durchaus gleichwerthig sind. Auch darf man nicht vergessen, dass die
anatomische Diagnostik, ich meine die Erkenntniss der pathologischen
Veränderungen des erkrankten Organs, nur erst ein Mittel zum Zweck,
nämlich zum Heilen der Krankheit ist. Die Ursachen der Krank-
heitsprocesse zu finden, den Verlauf richtig vorher zu be-
stimmen, ihn zum günstigen Ausgang zu leiten, oder ihn zu
hemmen, das sind die eigentlichen Aufgaben des Arztes, und
diese sind in der inneren wäe in der äusseren Medicin gleich
schwierig zu lösen. Nur eins wird von dem Cliirurgen von Fach
mehr gefordert: die Kunst des Opcrirens. Diese hat, Avie jede Kunst,
ihre Technik; die operative Technik basirt wieder auf genauer Kenutniss
der Anatomie, auf Hebung und persönlichem Talent. Auch das Talent
für die Technik kann durch ausdauernde Uebung ersetzt werden. Denken
Sie daran, w^ie Demosthenes es dahin brachte, die Technik der Sprache
zu überwinden!
Durch diese allerdings nothweudige Technik ist die Chirurgie lange
Zeit von der Medicin im engeren Sinne getrennt gewesen; historisch lässt
sich verfolgen, wie diese Trennung entstand, wie sie immer mehr sich
praktisch geltend machte und erst im Laufe dieses Jahrhunderts wieder
als unzweckmässig erkannt und beseitigt wurde. Schon in dem Wort
„Chirurgie" ist ausgedrückt, dass man damit ursprünglich nur das
Technische im Auge hatte, denn das Wort „Chirurgie" kommt von xsiq
und y.Qyov\ die wörtliche Uebersetzung ins Deutsche ist „Haudwirlamg"
oder wie es mit dem im Mittelalter beliebten Pleonasmus hiess „Hand-
Wirkung der Chirurgie."
So wenig es im Zwecke dieser Vorlesungen Hegt, Ihnen einen voll-
ständigen Abriss der Geschichte der Chirurgie zu geben, so scheint es
mir doch von Wichtigkeit und von Interesse, wenn ich Ihnen eine flüch-
tige Skizze von der äusseren und inneren Entwicklung unserer Wissen-
schaft gebe, aus der Ihnen manche der noch jetzt bestehenden, in den
verschiedenen Staaten verschiedenen Einrichtungen, das sogenannte „Heil-
1*
4 Einleitung.
personal" betreffend, erklärlich werden. Eine eingehendere Geschichte
der Chirurg'ie kann Ihnen erst später von Nutzen sein, wenn Sie schon
etwas Einsiclit in den Werth und Unwerth gewisser Systeme, Methoden
und Operationen gewonnen haben. Sie werden dann besonders in Betreff
der operativen Chirurgie den Schlüssel für manches Ueberraschende und
für manche abgeschlossene Erfahrung, auch für viele Unvollkommenheiten
in der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft finden. Mancherlei,
was zum Verständniss durchaus nothwendig ist, werde ich Ihnen bei den
verschiedenen zu besprechenden Krankheiten gelegentlich mittheilen ; vor
der Hand will ich nur einige Hauptmomente aus dem Entwicklungsgang
der Chirurgie und des chirurgischen Standes anführen.
Bei den Völkern des Alterthums stand die Heilkuust wesentlich mit
dem religiösen Cultus in Zusammenhang; sowohl bei den Indern, Ara-
bern, Aegyptern, als bei den Griechen galt die Heilkunst als eine den
Priestern von der Gottheit gemachte Offenbarung, welche sich durch
Tradition weiter verbreitete. Ueber das Alter der vor noch nicht langer
Zeit entdeckten Sanscritschriften waren die Philologen nicht immer einer
Meinung; man verlegte ihre Entstehung früher 1000 — 1400 Jahre vor
Chr., jetzt glaubt man sicher zu sein, dass sie im ersten Jahrhundert
der christlichen Zeitrechnung geschrieben sind. Der Ayur-Yeda (^Buch
der Lebenskunde") ist das für die Medicin wichtigste Sanscritwerk und
ist von Süsrutas abgefasst; gerade dies Werk ist sehr wahrscheinlich
erst zur Zeit des römischen Kaisers Augustus entstanden. Die Heilkunde
wurde als Ganzes aufgefasst, wie aus den Worten hervorgeht: „Xur die
Vereinigung der Medicin und Chirurgie bildet den vollkommenen Arzt.
Der Arzt, dem die Kenntniss des einen dieser Zweige abgeht, gleicht
einem Vogel mit nur einem Flügel." Die Chirurgie war zu jener Zeit
zweifelsohne der weitaus vorgeschrittenere Theil der Heilkunst; es ist
von einer grossen Anzahl ,von Operationen und Instrumenten die Rede,
doch heisst es sehr wahr, „das vorzüglichste aller Instrumente ist die
Hand;" die Behandlung der Wunden ist einfach und zweckmässig; mau
kennt bereits die meisten chirurgischen Krankheiten.
Bei den Griechen concentrirte sich der Inbegriff' alles ärztlichen
Wissens zuerst auf den Asklepios (Aeskulap), einen Sohn des Apoll,
einen Schüler des Centauren Chiron. Dem Asklepios wurden viele
Tempel gebaut, und bei den Priestern dieser Tempel vererbte sich die
Heilkunst zunächst durch Tradition; ■ es entstanden hier schon bei den
verschiedenen Tempeln verschiedene Schulen der Asklepiaden, und
wenngleich jeder, der als Priester des Asklepios in den Tempeldienst
eintrat, einen bis auf unsere Zeit aufbewahrten Eid schwören musste
(dessen Aechtheit in neuerer Zeit freilich sehr zweifelhaft geworden ist),
dass er nur den Nachkommen der Priester die Heilkunst lehren wolle,
so gab es doch, wie dies aus verschiedenen Umständen hervorgeht, schon
damals auch andere Aerzte neben den Priestern, ja es ergiebt sich aus
Vorlpsnng I. 5
einer Stelle des Eides, dass damals schon wie heute Aevzte vorkamen,
welche sich als Specialisteu nur mit einzelnen Operationen beschäftigten,
denn es heisst dort; „niemals werde ich ferner den 8teinsclinitt ausfüh-
ren, sondern das den Männern dieses Geschäfts überlassen." Genaueres
über die verschiedenen Arten von Aerzten wissen wir erst aus der Zeit
des Hippokrates; er war einer der letzten Asklepiaden, wurde 460 v.
Chr. auf der Insel Kos geboren, lebte theils in Athen, theils in thessa-
lischen Städten und starb 377 v, Chr. zu Larissa. Dass zu dieser Zeit,
wo in der g-riecliischen Wissenschaft die Namen eines Pythagoras,
Plato, Aristoteles glänzten, auch die Medicin bereits wissenschaftlich
behandelt wurde, dürfen wir erwarten, und in der That erregen die
Werke des Hippokrates, von denen viele bis auf unsere Tage erhalten
sind, unser grösstes Erstaunen. Die klare Darstellung, die Anordnung
der ganzen Materie, die hohe Achtung vor der Heilkunst als Wissenschaft,
die scharfe kritisclie Beobachtung, welche in den Werken des Hippo-
krates Avalten und uns auch auf diesem Gebiet zur Bewunderung und
Verehrung des alten Griechenthums liinreisseu, zeigen deutlieh, dass es
sich hier nicht um gläubiges Nachbeten überkommener medicinischer
Dogmen handelt, sondern dass es bereits eine wissenschaftlicli und künst-
lerisch ausgebildete Heilkunde gab. In der Hippokratischen Schule
bildete die Heilkunde ein Ganzes; Medicin und Chirurgie waren verbunden;
indess bestand das ärztliclie Personal bereits aus verschiedenen Klassen:
es gab ausser den Asklepiaden auch andere sowohl gebildete Aerzte, als
mehr handwerksmässig unterrichtete ärztliche Gehülfen, Gymnasten, Quack-
salber und Wunderthäter; die Aerzte nalimen Schüler an zur Belehrung
in der Heilkunst; auch gab es nach einigen Bemerkungen des Xenophon
schon besondere Aerzte beim Heere, zumal in den Perserkriegen; sie
hatten nebst den Wahrsagern und Flötenspielern ihre Stelle in der Nähe
des königlichen Zeltes. Dass in einer Zeit, wo so viel auf die Schön-
heit des Körpers gegeben wurde, wie bei den Griechen, den äusseren
Schäden besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist leicht begreif-
lich ; die Lehre von den Knochenbrüchen und Verrenkungen ist daher
bei den Aerzten der Hippokratischen Zeit besonders ausgebildet, doch
auch von manchen schwierigen Operationen wird berichtet, so wie von
einer grossen Anzahl von Instrumenten und sonstigen Apparaten. In
Betreif der Amputationen scheint man freilich sehr zurück gewesen zu
sein; wahrscheinlich starben die meisten Hellenen lieber, als dass sie
verstümmelt ihr Leben weiter fristeten; nur wenn das Glied bereits ab-
gestorben, brandig war, wurde es entfernt.
Die Lehren des Hippokrates konnten vorläufig nicht weiter aus-
gebildet w^erden, weil dazu die Entwicklung der Anatomie und Physio-
logie nothwendig war; zwar geschah in dieser Kichtung ein schwacher
Aufschwung in der Gelehrten -Schule in Alexandrien, die manche Jahr-
hunderte unter den Ptolemäern blühte, und durch welche nach den Siegen
Q Einleitung.
des grossen Alexandei- der gTiechische Geist wenigstens in einen Theil
des Orients, wenn auch vorübergeliend, verpflanzt wurde; indess die
Alexandrinischen Aerzte verloren sieh bald in philosophische Systeme
und förderten die Heilkunde nur wenig durch eigene neue anatomische
Beobachtungen. In dieser Schule wurde die Heilkunde zuerst in drei ge-
trennten Theilen bearbeitet als Diätetik, innere Medicin und Chirurgie. —
Mit der griechischen Cultur kam auch die griechische Heilkunst nach
Eom ; die ersten römischen Heilkünstler waren griechische Sklaven ; den
Freigelasseneu unter ihnen wurde gestattet, Bäder zu errichten, und in
den öffentlichen Bädern ihre Kunst auszuüben; hier treten zuerst die
Barbiere und Bader als unsere Rivalen und Collegen auf, und diese
Gesellschaft schadete dem ärztlichen Ansehn in Rom lange Zeit hindurch.
Erst nach und nach bemächtigten sich die philosophisch Gebildeten der
Schriften des Hippokrates und der Alexandriner, und übten dann
selbst auch die Heilkunde aus, ohne jedoch wesentlich Neues hinzuzu-
bringen. Die grösste Impotenz eigner wissenschaftlicher Production
zeigt sich dann in dem encyclopädischen Ueberarbeiten der verschieden-
artigsten wissenschaftlichen Werke. Das berühmteste Werk dieser Art
ist das von Aulus Cornelius Celsus (von 25—30 vor Chr. bis 45—50
nach Chr., zur Zeit der Kaiser Tiberius und" Claudius) .,de artibus^ ;
es sind davon acht Bücher „de medicina" auf unsere Zeit gekommen,
aus welchen wir den Zustand der damaligen Medicin und Chirurgie
kenneu lernen. So werthvoll diese Reliquien aus dem Römerthum
sind, so stellen sie doch, wie gesagt, nur ein Compendium dar, Avie sie
auch heute noch häufig geschrieben werden; es ist sogar bestritten Avor-
den, dass Celsus selbst Arzt war und die Medicin ausübte; dies ist
aber sehr unwahrscheinlich; man muss dem Celsus nach der Art seiner
Darstellung jedenfalls eignes Urtheil zugestehen; das siebente und achte
Buch, in denen die Chirurgie enthalten ist, würde wohl Niemand so klar
geschrieben haben, der gar nichts von seinem Gegenstande praktisch ver-
standen hätte. Man sieht daraus, dass die Chirurgie, zumal der operative
Theil, seit Hippokrates und den Alexandrinern nicht unerhebliche
Fortschritte gemacht hatte. Celsus spricht schon von plastischen Ope-
rationen, von den Hernien und giebt eine Amputationsmethode an, die
heute noch zuweilen geübt wird. Sehr berühmt ist eine Stelle aus dem
siebenten Buche geworden, in welcher er die Eigenschaften des voll-
kommenen Chirurgen schildert; da dieselbe ein Zeugniss für den im
Ganzen tüchtigen Geist ist, welcher in dem Buche herrscht, so theile
ich Ihnen dieselbe mit:
„Esse autem chirurgus debet adolescens, aut certe adolescentiae
propior, manu strenua, stabili, nee unquam iutremiscente, eaque non
minus dextra ac sinistra promptus, acie oculorum acri claraque, animo
intrepidus, immisericors, sie, ut sanari velit eum, quem accipit, non ut
clamore ejus motus vel magis, quam res desiderat, properet, vel minus.
Vorlesung T. 7
quam necesse est; secet: perindc faciat onmia, ac si niülus ex vagitibus
alterius adfectus oriretur."
Die cliirurg'isclien Instrumente, welche man in dem wenige Jahr-
zehnte nach Celsus verschütteten Pompeji fand, beweisen, dass die
technische Ausbildmig der operativen Hülfsmittel damals bereits sehr
entwickelt war; die Pinzetten, Zangen, Messer, Scheeren, Specula, Ca-
theter, Avelche im Museum in Neapel aufbewahrt werden, sind von
Bronce sehr zierlich und zweckmässig gearbeitet. Es machte mir einen
eingenthümlichen Eindruck, dieses bald 2000 Jahre alte armamentarium
chirurgicum eines römischen Collegen vor mir zu sehen, welches sich
in den Formen der gebräuchlichsten Instrumente wenig von denen
unserer Zeit unterscheidet. Ars longa, vita brevis !
Als eine der glänzendsten Erscheinungen unter den römischen Aerzten
muss Claudius Galenus (131—201 nach Chr.) bezeichnet werden; es
sind 83 unzweifelhaft ächte medicinische Schriften von ihm auf uns ge-
kommen. Galen ging wieder auf die Grundsätze des Hippokrates
zurück, nämlich dass die Beobachtung die Grundlage der Heilkunst sein
müsse, und förderte zumal die Anatomie in bedeutendster Weise; er
benutzte besonders Leichen von Affen zur Section, selten menschliche
Leichen. Die Anatomie des Galen, sowie überhaupt das ganze philo-
sophische System, in welches er die Medicin brachte, und welches ihm
doch höher stand, als die Beobachtung selbst — haben über 1000 Jahre
als allein richtig gegolten. Seine Bedeutung für die Geschichte der
Medicin ist eine ungeheure; die Chirurgie speciell förderte er wenig, übte
sie auch wohl wenig aus, da es zu seiner Zeit schon besondere Chirurgen
gab, theils Gymnasten, theils Bader und Barbiere, und damit leider
die Chirurgie sich vorwiegend handwerksmässig durch Tradition ver-
breitete, während die innere Medicin in den Händen der philosophisch
gebildeten Aerzte war und für lange Zeit blieb; diese kannten und
commentirten freilich auch die chirurgischen Schriften des Hippokrates,
der Alexandriner und des Celsus, doch befassten sie sich wenig mit
chirurgischer Praxis. — Wir könnten jetzt, da es sich hier nur um eine
flüchtige Skizze handelt, viele Jahrhunderte-, ja über ein Jahrtausend
überspringen, in welchem Zeitraum die Chirurgie fast gar keine Fort-
schritte, zum Theil sogar bedeutende Eückschritte machte. Die Byzan-
tinische Zeit des Kaiserthums war der Ausbildung der Wissenschaften
überhaupt ungünstig, kaum dass es zu einem kurzen Wiederaufblühen
der Alexandrinischen Schule kam. Selbst die berühmtesten Aerzte der
spätrömischen Zeit, wie Antyllus (im 3. Jahrhundert), Oribasius
(326—403 nach Chr.), Alexander von Tr alles (525—605 nach Chr.),
Paulus von Aegiua (660), leisteten relativ wenig in der Chirurgie.
Für die äussere Stellung der Aerzte und ihre schulgemässe Ausbildung
war Manches geschehen: es gab unter Nero ein Gymnasium, unter Ha-
drian ein Athenaeum, wissensch?iftlicbe Anstalten, in denen auch Mediciu
g Einleitung.
g-elehrt wurde, imter Trajan eine besondere Scbola medicorura. Das
Militärmedicinalwesen wurde unter den Römern g-epfleg't, auch- gab es
besondere Hofärzte „Archiatri palatini" mit dem Titel „Perf'ectissimus",
„Eques" oder „Comes arcbiatrorum", wie in unseren Zeiten die Hofräthe,
Geheimerätbe, Leibärzte, Ordensritter u. s. w. Dass in der Folge mit dem
Verfall der Wissenschaften im Byzantiuiscben Reich die Heilkunst nicht
ganz entartete, verdanken wir den Arabern. Der ungeheure Aufschwung;,
welchen dies Volk mit Mohamed vom Jahre 608 an nahm, trug auch
zur Erhaltung der Wissenschaft viel bei. Durch die Alexandrinische
Schule und ihre Ausläufer in den Orient, die Schule der Nestorianer,
war die Hippokratische Heilkunst in ihrer späteren Ausbildung zu den
Arabern gelangt; diese pflegten sie und brachten sie über Spanien,
wenn auch in etwas veränderter Form, wieder nach Europa zurück,
bis ihrer Herrschaft durch Carl Martell ein Ende gemacht wurde. Als
die berühmtesten, auch für die Chirurgie wichtigen arabischen Aerzte,
von denen uns Schriften aufbewahrt sind, gelten Rhazes (850—932),
Avicenna (980—1037), Abulcasem (f 1106); und Avenzoar (f 1162);
die Schriften der beiden letzteren sind für die Chirurgie am bedeutendsten.
Die operative Chirurgie litt durch die Blutscheu der Araber, di.e theilweise
ihren, Grund in den Gesetzen des Koran hat, in hohem Maasse; dafür wird
das Glüheisen in einer x4usdehnung angewendet, wie es für uns kaum
begreiflich erscheint. Die Unterscheidung der chirurgischen Krankheiten
und die Sicherheit in der Diagnostik hat bedeutend zugenommen. Die
wissenschaftlichen Institute werden bei den Arabern bereits sehr cultivirt;
am berühmtesten Avar die Schule zu Coi'dova; auch gab es an vielen Orten
schon öffentliche Krankenhäuser. Die Ausbildung der Aerzte Avar nicht
mehr vorwiegend Privatsache, sondern die meisten Schüler der Heilkunde
mnssten sich au wissenschaftlichen Anstalten ausbilden. Dies übte auch
seine Wirkung auf die Völker des Abendlandes; neben Spanien war es
besonders Italien, wo die Wissenschaften cultivirt Avurden; in Süditalien
entstand eine sehr berühmte medicinische Schule, nämlich zu Salerno,
in der südlich von Neapel so Avunderbar schön gelegenen noch Jetzt
herrlichen Stadt am Meerbusen von Salerno ; sie Avurde Avahrscheinlich
802 von Carl dem Grossen constituirt und stand etAva im 12. Jahrlnmdert
in der höchsten Blüthe; nach den neuesten Forschungen Avar es keine
Mönchschule, sondern alle Lehrer Avaren Laien, auch gab es Lelirerinnen,
die schriftstellerisch thätig Avaren; die bekannteste von diesen ist Trotula.
Originelle Forschungen Avurden dort Avenig oder gar nicht betrieben,
sondern man hielt sich an die Schriften der Alten. Interessant ist diese
Schule auch noch dadurch, dass Avir bei dieser Corporation zuerst das
Recht finden, die Titel ..Doctor" und „IMagister" zu verleihen. — ]\[ehr
und mehr nahmen sich bald die Kaiser und Könige der Wissenschaften
an, zumal indem sie Universitäten gründeten: so Avurden 1224 in Neapel,
1205 in Paris, 1243 in Salamanca, 1250 in Pavia und Padua, 1348 in
VurlesiiiiK I. 9
Prag" Universitäten oiiiiicriclilot mid ilmcu das IJcclit, Jicudoniisclic WUrdcn
zu verleihen, zuertheilt. Die lMiil()so|)lnc war diejenige Wissenschaft,
welche liauptsäclilicli betrieben wurde, und aucli die Medicin behielt nocli
lange Zeit auf den Universitäten ihr philosophisclies Kleid; man schloss
sich bald dem Galenischen, bald dem arabischen, l>ald neuen niedici nisch-
philosophischen Systemen an, nnd rcgistrirte alle Bcobaclitungen in die-
selben hinein. Dies war das llauptliinderniss für den Aufschwung der
Naturwissenschaften, eine geistige Fessel, der sich selbst bedeutende
Männer nicht entledigen konnten. Die von Mondino de Luzzi 1314 ver-
fasste iVnatomie ist, trotzdem dass der Verfasser sich dabei auf die Section
einiger menschlichen Leichen stützt, wenig von der des Galen abweichend.
"Was die Chirurgie betrifft, so ist von wesentlichen Fortschritten nicht
die Rede. Lanfranchi (f 1300), Guido von Cauliaco (im Anfang-
des 14. Jahrhunderts), Branca (aus der Mitte des 15. Jahrhunderts) sind
einige wenige der nennenswerthen Namen berühmter Chirurgen jener Zeit.
Bevor Avir nun zu dem erfreulichen Aufblühen der Naturwissen-
schaften und der Medicin im 16. Jahrhundert tibergehen, müssen wir
noch kurz resümiren, wie sich in der besprochenen Zeit der ärztliche
Stand gliederte, da dies für die Geschichte desselben von Wichtigkeit
ist. Es gab zunächst philosophisch gebildete Aerzte, theils Laien, theils
Mönche, welclie an den Universitäten und anderen gelelirten Schulen
die Medicin lehrten, d. h. die Schriften des Alterthums, anatomische,
chirurgische wie speciell medicinische commentirten; diese prakticirten,
übten aber wenig chirurgische Praxis aus. — Ein weiterer Sitz der
Wissenschaften war in den Klöstern; besonders die Benedictiner be-
schäftigten sich viel mit Medicin, und übten auch chirurgische Praxis,
wenngleich dies von den Oberen nicht gern gesehen wurde und zuweilen
specieller Dispens für eine Operation nachgesucht werden musste. —
Die eigentlichen praktischen Aerzte waren theils sesshafte, theils fahrende
Leute. Erstere waren in der Eegel an wissenschaftlichen Schulen ge-
bildet und bekamen die Berechtigung zur Praxis nur unter gewissen
Bedingungen. Kaiser Friedrich IL erliess 1224 ein Gesetz, nach welchem
diese Aerzte drei Jahre „Logik", d. h. Philosophie und Philologie, dann
fünf Jahre Medicin und Chirurgie studirt und endlicli noch einige Zeit
unter der Aufsicht eines älteren Arztes prakticirt haben mussten, bis sie
das Recht zur Praxis erhielten oder, wie sich ein Examinator vor Kur-
zem über die eben patentirten Aerzte äusserte, „bis sie auf's Publicum
losgelassen wurden." Ausser diesen sesshaften Aerzten, von denen ein
grosser Theil Doctor oder Magister war, gab es dann noch eine grosse
Anzahl „fahrender Aerzte", eine Art „fahrender Schüler", die auf einem
Wagen wohl auch in Gemeinschaft mit einem Hanswurst die Märkte be-
reisten und ilire Kunst feil boten. Diese Gattung der sogenannten Charla-
tans, die in der dramatischen Poesie des Mittelalters eine grosse Rolle
spielten und noch heute auf der Bühne mit Jubel vom Publicum be-
10 Einleitung.
gTüsst Averden, trieben ein g-ar arges Wesen im Mittelalter; sie waren
„unehrlicli" wie die Pfeifer, die Gaukler, die Scharfrichter; noch immer
sind diese fahrenden Schiller nicht ganz ausgestorben, wenngleich sie
im 19. Jahrhundert nicht auf den Jahrmärkten, sondern in den Salons
als Wunderdoctoren , zumal als Krebsdoctoren, Kräuterdoctoren, Som-
nambulisten etc. ihr Wesen treiben. — Fragen wir nun, wie verhielten
sich zu dieser gemischten Gesellschaft diejenigen Leute, welche chirurgische
Praxis trieben, so wurde dieser Zweig der Medicin zunächst fast von
allen den Genannten gelegentlich ausgeübt, doch gab es besondere
chirurgische Aerzte, welche sich zu Innungen zusammenthaten und eine
ehrliche bürgerliche Zunft bildeten ; sie holten sich ihr praktisches Wissen
zuerst von dem Meister, zu dem sie in die Lehre gingen, später theils
aus Büchern, theils an wissenschaftlichen Anstalten. Diese Leute, meist
sesshaft, zum Theil aber auch als „Bruchschneider", „Steinschneider",
„Oculisten" in der Welt herumreisend, hatten vorzüglich die chirurgisch-
operative Praxis in Händen; wir werden später unter diesen Altmeistern
unserer Kunst vortreffliche Männer kennen lernen. Ausser ihnen trieben
aber die „Bader" und später auch die „Barbiere", wie bei den Eömern,
chirurgische Praxis und waren für die „kleine Chirurgie" gesetzlich
berechtigt, d. li. sie durften schröpfen, zur Ader lassen, Beinbrüche und
Verrenkungen behandeln. — Dass sich bei den verschiedenen kaum
immer genau zu beschränkenden Gerechtsamen dieser einzelnen ärzt-
lichen Stände viel Streitigkeiten, zumal in grossen Städten, wo sich
alle Gattungen von Aerzten zusammenfanden, einstellten, ist begreiflich.
Besonders war dies in Paris der Fall. Die dortige Chirurgenzunft, das
„College de St.-Come", wollte die gleichen Eechte haben, wie die Mit-
glieder der medicinischen Facultät, vorzüglich strebten sie nach dem
Baccalaureat und Licentiat. Die „Barbier- und Baderzunft" wollte wieder
die ganze Chirurgie betreiben, wie die Mitglieder des College de St.-
Come; um nun die letzteren, nämlich die Chirurgen zu drücken, be-
förderten die Facultätsmitglieder die Wünsche der Barbiere, und trotz
gegenseitiger zeitweiliger Compromisse dauerten die Streitigkeiten fort,
ja man kann sagen, sie dauern noch heute da fort, wo es chirurgi puri
(Chirurgen erster Klasse und Barbiere) und medici puri giebt; erst etwa
seit einem Decennium ist in allen deutschen Staaten dieser Stände-
unterschied dadurch aufgehoben, dass weder chirurgi puri noch medici
puri patentirt werden, sondern nur Aerzte, welche Medicin, Chirurgie und
Geburtshtilfe zugleich betreiben. — Um hier gleich mit der äusserlichen
Stellung der Aerzte abzuschliessen, sei bemerkt, dass nur in England noch
eine ziemlich strenge Grenze zwischen Chirurgen (surgeous) und Aerzten
(physicians) besteht, zumal in den Städten, während auf dem Lande
die „general practitioners" Chirurgie und Medicin zugleich treiben und
auch zugleich eine Apotheke haben. — In Deutschland, in der Schweiz
und auch in Frankreich macht es sich durch die Umstände oft von
Vorlesung 1. 11
selbst, class ein Arzt mehr ('liinirgisclie als mcdicinische Praxis treibt;
das männliche Heilpersonal besteht aber gesetzlicli nur aus Aerzten
und Heilgehülfcn oder Bar1)ier- Chirurgen, welche für Schr()pfen, Ader-
lässen etc. patentirt werden, wenn sie das gesetzliche Examen gemacht
haben. Diese Einrichtung- ist denn endlich auch in die Organisation der
Heere übergegangen, in denen die sogenannten Compagnie- Chirurgen
mit Feldwebelrang früher eine traurige Rolle unter den Bataillons- und
Regiments- Aerzten spielten. Seit Kurzem ist im Deutschen Reich die
ärztliche Praxis ganz frei gegeben, d. h. es kann jeder ärztlichen Rath
ertheilen und sich dafür zahlen lassen, der will; es bleibt den vom Staat
Geprüften nur das Recht, sich ..praktischer Arzt" zu nennen; das kranke
Publikum kann nun frei wählen, ob es sich an einen solchen oder an
irgend einen Andern wenden will.
Nehmen wir jetzt wieder den Faden der geschichtlichen Entwicklung
der Chirurgie auf, so müssen wir, indem wir in die Zeit der „Renais-
sance" im 16. Jahrhundert eintreten, vor Allem des grossen Umschwungs
gedenken, welcher sich damals in fast allen Wissenschaften und Künsten
unter Vermittlung der Reformation, der Erfindung der Buchdruckerkunst
und des erwachenden kritischen Geistes in den Culturstaaten vollzog.
Es begann die Naturbeobachtung wieder in ihr Recht zu treten und sich
von den Fesseln der Scholastik, wenn auch langsam und allmählig, zu
lösen; die Forschung nach Wahrheit, als das eigentliche Wesen der
Wissenschaft, trat wieder in ihre Rechte! der Hippokratische Geist
erwachte wieder. Vor Allem war es die Wiederbelebung, man kann fast
sagen, die Wiederentdeckung der Anatomie, und die von nun an rastlos
fortschreitende Ausbildung dieser Wissenschaft, welche den Boden ebnete.
Vesal (1513—150-1), Falopia (1532—1562), Eustachio (f 1579) wur-
den die Begründer unserer heutigen Anatomie; ihre wie manche andere
Namen sind Ihnen aus den Benennungen einzelner Körpertheile schon
bekannt. Der skeptisch-kritische Ton wurde dem herrschenden Galenischen
und arabischen System gegenüber besonders durch den berühmten Bom-
bastus Theophrastus Paracelsus (1493 — 1554) angeschlagen und
die Erfahrung als Ilauptquelle des medicinischen Wissens hingestellt. Als
endlich William Harvey (1578 — 1658) den Kreislauf des Blutes und
Aseli (1581 — 1626) die Lymphgefässe entdeckte, rausste die alte Anatomie
und Physiologie vollkommen zurückweichen und den Platz der modernen
Wissenschaft einräumen, die von nun an sich continuirlich bis auf unsere
Tage erweiterte. Lange sollte es freilich noch dauern, ehe die prak-
tische Medicih in ähnlicher Weise wie Anatomie und Physiologie sich
vom philosophischen Zwang befreite. Systeme wurden auf Systeme ge-
baut, mit der jedesmal herrschenden Philosophie wechselten auch die
Theorieen der Medicin immer wieder von Neuem, Man kann sagen,
dass erst mit dem bedeutenden Aufschwung der pathologischen Anatomie
in unserem Jahrhundert die praktische Medicin den festen auatomiscli-
12 Einleitung.
pliYsiologischen Boden gewonnen hat, aof dem sie sicli "svenigstens im
Ganzen und Grossen jetzt bewegt, und der einen mächtigen Hchutzwall
gegen alle philosophisch-medicinischen Systeme bildet. Auch diese ana-
tomische Richtung bringt freilich die Gefahren der Uebertreibung und
Einseitigkeit mit sich! Wir sprechen später gelegentlich davon.
Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Ent-
wicklung der Chirurgie vom 16. Jahrhundert an bis auf unsere Tage
ungetheilt widmen.
Es ist ein interessanter Zug jener Zeit, dass die Förderung der
praktischen Chirurgie wesentlich von den zunftmässigen Chirurgen ausging,
weniger von den gelehrten Professoren der Chirurgie an den Universitäten.
Die deutschen Chirurgen rnussten sich ihr Wissen meist von ausländi-
schen Universitäten holen, verarbeiteten dasselbe aber zum Theil in ganz
origineller Weise; Heinrich von Pfolsprundt, Bruder des Deutschen
Ordens (geb. Anfang des 15. Jahrhunderts), Hieronymus Brunschwig
(geb. 1430), „gebürtig von Strassburg, des Geschlechts von Salern", Hans
von Gersdorf (um 1520), Felix Würtz (f 1576), Wundarzt zu Basel,
sind hier zunächst zu nennen; von Allen besitzen wir Schriften; Felix
Würtz scheint mir von ihnen der originellste zusein, er ist ein scharfer,
kritischer Kopf. Bedeutender in ihren Kenntnissen sind dann schon
Fabry von Hilden (1560 — 1634), Stadtarzt zu Bern, und Gottfried
Purman (1674—1679), Wundarzt zu Halberstadt und Breslau. Diese
Männer, in deren Schriften sich eine hohe Begeisterung für ihre Wissen-
schaft ausspricht, kannten vollkommen den Werth und die unbedingte
Nothwendigkeit genauer anatomischer Kenntnisse, und förderten diese
durch Schriften und privaten Unterricht an ihre Schüler und Gehülfen
nach Kräften.
Unter den französischen Chirurgen des 16. und 17. Jahrhunderts
glänzt vor Allen Ambroise Pare (1517 — 1590); ursprünglich nur Bar-
bier, wurde er später wegen seiner grossen Verdienste in die Chirurgen-
Innung des St.-Come aufgenommen; er war sehr viel als Feldarzt thätig,
war oft auf Consultations-Eeisen beschäftigt und lebte zuletzt in Paris.
Pare förderte die Chirurgie durch eine für die damalige Zeit sehr scharfe
Kritik der Behandlung, zumal auch des enormen Wustes abenteuerlicher
Arzneimittel; einzelne seiner Abhandlungen, z. B. über die Behandlung
der Schusswunden, sind durchaus klassisch; durch die Einführung der
Unterbindung blutender Gefässe bei Amputationen hat er sich unsterblich
gemacht; Pare kann als Reformator der Chirurgie dem Vesal als
Reformator der Anatomie an die Seite gestellt werden.
Die Arbeiten der genannten Männer, an die sich Andere mehr oder
minder begabte anschlössen, wirkten bis in's 17. Jahrhundert hinein, und
erst im 18. finden wir neue wichtige Fortschritte. — Die Streitigkeiten
zwischen den Mitgliedern der Facultät und denjenigen des College de
St.-Come dauerten in Paris fort; die hervorragendsten Persönlichkeiten
VorlosmiK 1- 13
des letzteren leisteten entschieden nielir als die Professoren der Cliirnri^ie.
Dies wurde endlich auch factisch dadurch anerkannt, dass im Jahre 1731
eine „Akademie der Chirurgie" gegründet wurde, welche in jeder Bezie
liung der medieinischen Facultät gleichgestellt war. Dies Institut schwang
sich bald zu einer solchen Höhe auf, dass es die ganze Chirurgie
Europa's fast ein Jahrhundert hindurch beherrschte; diese Erscheinung
war nicht isolirt, sondern hing eben mit dem allgemeinen französischen
Einfluss zusammen, mit jener geistigen Universalherrschaft, welche die
französische Wissenschaft und Kunst damals mit Recht durch ihre emi-
nenten Leistungen erworben hatte.
Die Männer, welche damals an der Spitze der Bewegung in der
chirurgischen Wissenschaft standen, sind Je au Loui s Petit (1674 — 1766),
Pierre Jos. Desault (1744 — 1795), Pierre Fran^ois Percy
(1754 — 1825) und viele Andere in Frankreich. In Italien wirkte vor
Allen Scarpa (1748 — 1832). Schon im 17. Jahrhundert hatte die
Chirurgie sich auch in England mächtig entw^ickelt, und erreichte im
18. Jahrhundert eine bedeutende Plöhe mit Percival Pott (1713 — 1768),
William und John Hunter (1728— 1793), Benjamin Bell (1749— 1806),
William Cheselden (1688-1752), Alex. Monro (1696—1767) u. A.
Unter diesen war John Hunter das grösste Genie, ebenso bedeutend
als Anatom, wie als Chirurg; sein Werk über Entzündung und Wunden
liegt noch vielfach unseren heutigen Anschauungen zu Grunde. — Im
Verhältniss zu dem Glanz dieser Namen müssen diejenigen der deutschen
Chirurgen des 18. Jahrhunderts bescheiden zurücktreten, so redlich und
ernst auch das Streben der Letzteren war. Lorenz Heister (1683— 1758),
Joh. Ulrich Bilguer (1720—1796), Chr. Ant. Thedeu (1719—1797)
sind die relativ bedeutendsten deutschen Chirurgen dieser Zeit. Mehr
Aufschwung bekommt die deutsche Chirurgie erst mit dem Eintritt in
unser Jahrhundert. Carl Casp. v. Siebold (1736—1807), August
Gottlob Richter (1742 — 1812) sind ausgezeichnete Männer; ersterer
wirkte als Professor der Chirurgie in Wtirzburg, letzterer in Göttingen;
von den Schriften Richter' s sind einige bis auf unsere Tage Averthvoll
geblieben, besonders sein kleines Buch über die Brüche.
Sie sehen hier an der Schwelle unsres Jahrhunderts wieder Pro-
fessoren der Chirurgie in den Vordergrund treten, und fortan behaupten
sie ihre Stellung, weil sie wirklich jetzt die Chirurgie praktisch ausübten;
ein Vorgänger des alten Richter in der Professur der Chirurgie zu
Göttingen, der berühmte Albert Hall er (1708—1777), zugleich Phy-
siolog und Dichter, einer der letzten Polyhistoren, sagt: „Etsi Chirurgiae
cathedra per septemdecim annos mihi concredita fuit, etsi in cadaveribus
difficillimas administrationes chirurgicas frequenter ostendi, non tamen
unquam vivuni hominem incidere sustinui, uimis ne nocerem veritus."
Für uns ist dies kaum begreiflich; so ungeheuer ist der Umschwung,
den die kurze Spanne Zeit eines Jahrhunderts mit sich bringt.
]^^ Einleitung.
Auch im Anfang unsres Jahrlmuderts bleiben die franzüsiselien
Chirurg-en noch am Ruder: Bover (1757— 1&33), Delpeeh (1777—1832),
besonders Dupuytren (1777 — 1835) und Jean Dominique Larey
(1776 — 1842) übten einen fast unbeschränkten aufgeklärten Absolutismus
in ihrer Kunst. Neben ihnen erhob sich in England die unangreifbare
Autorität des Sir Asthley Cooper (1768 — 1841). Larey, der stete
Begleiter Napoleon's I., hinterliess eine grosse Menge von Werken;
seine Memoiren werden Sie später mit dem grössten Interesse lesen;
Dupuytren wirkte vorwiegend durch seine höchst geistvollen und gediege-
nen Vorträge am Krankenbett. Cooper 's Monographien und Vorlesungen
werden Sie mit Bewunderung erfüllen. Uebersetzungen der Schriften
der genannten französischen und englischen Chirurgen regten zunächst
die deutsche Chirurgie an; bald aber trat auch hier eine selbstständige
Verarbeitung des Stoffes in der gediegensten Form auf. Die Männer,
welche den nationalen Aufschwung der deutschen Chirurgie ins Leben
riefen, waren unter Anderen Vi ncenz von Kern in Wien (1760 — 1829),
Job. Nep. Rust in Berlin (1775-1840), Philipp von Walther
(1782—1849) in München, Carl Ferd. von Graefe (1787—1840) in
Berlin, Conr. Job. Martin Langeubeck (1776 — 1850) in Göttingen,
Job. Friedrich Dieffenbach (1795—1847), Cajetan von Textor in
Würzburg (1782-1860).
Je mehr wir uns der Mitte unsres Jahrhunderts nähern, um so mehr
schwinden die schroifen Gränzen der Nationalitäten auf dem Gebiete der
Chirurgie. Mit der Zunahme der Communicationsmittel verbreiten sich
auch alle Fortschritte der Wissenschaft mit ungeahnter Schnelligkeit über
die ganze civilisirte Welt. Zahllose Zeitschriften, nationale und inter-
nationale ärztliche Congresse, persönliche Berührungen mannigfachster
Art haben einen regen Verkehr auch der Chirurgen unter einander her-
vorgebracht. Die Schulen, im älteren engeren Sinne des Wortes an einzelne
hervorragende Männer oder an Gruppen von solchen an einem Orte ge-
knüpft, hören auf. — Es scheint, dass eine Generation von Chirurgen jetzt
zu Ende gehen soll, auf deren grosse Verdienste die Gegenwart mit
Verehrung blickt: ich meine Männer wie Stanley (1791 — 1862), Law-
rence (1783-1867), Brodie (1783—1862), Syme (1799 — 1870) in
Grossbritanien, Roux (1780—1854), Bonuet (1809—1858), Leroy
(1798—1861), Malgaigne (1806—1865), Civiale (f 1867), Jobert
(1799—1868), Velpeau (1795-1867) in Frankreich, Seutin (1793 bis
1862) in Belgien, Valentin Mott (1785—1865) in Amerika, Wutzer
(1789—1863), Schuh (1804—1865) u. A. in Deutschland! Und auch aus
unserer Generation haben wir schon herbe Verluste zu beklagen, vor
Allen den sobald nicht zu ersetzenden Tod des so hoch begabten
unermüdlichen Forschers 0. Weber (1827 — 1867), des trefflichen Folliu,
eines der gediegensten modernen französischen Chirurgen (f 1867), Mid-
deldorpf s (1824 — 1868) des berühmten Erfinders der galvauokaustischen
Vorlesung 1. 15
Operationen! Unter den Lebenden wären noch Mnnelic zu nennen, auf
deren Schultern die jetzt herangewachsene Generation deutscher Chirurg-en
steht, doch sie gehören noch nicht der Geschichte an. Dennoch darf
ieh einen Gegenstand nicht unerwähnt lassen, nämlich die Einführung
der sclinierzstillenden Mittel in die Chirurgie; auf die Entdeckung des
Schwefeläthers und des Chloroforms als priiktiseh für Operationen aller
Art verwendbare Anaesthetica darf das 19. Jahrhundert stolz sein. Im
Jahre 1846 kam aus Boston die erste Mittheilung, dass der Zahnarzt
Morton auf Veranlassung seines Freundes Dr. Jackson Inhalationen
von Scliwefeläther zur Erzeugung von völliger Anästhesie mit glänzendem
Erfolge bei Zahnextractionen anwende. 1849 wurde dann von »Simpsou,
weiland Professor der Geburtshiilfe in Edinburgh (1811 — 1870), an Stelle
des Aethers das noch besser wirkende Chloroform in die chirurgische
Praxis eingeführt, und hat sich neben mannigfaclien Versuchen mit
anderen ähnlichen Stoffen bis jetzt in früher nicht geahnter Weise
bewährt. Dank! tausend Dank diesen Männern im Namen der leidenden
Menschheit !
Mit Rücksicht auf meine früheren Bemerkungen, betreffend die
deutsche Chirurgie, will ich schliesslich noch hinzufügen, dass dieselbe
jetzt auf einer Höhe steht, welche derjenigen der übrigen Nationen
wenigstens gleich ist, Dass es iudess trotzdem für jeden Arzt wiinschens-
werth ist, seine Erfahrungen und Anschauungen in andern Ländern zu
erweitern, liegt auf der Hand. In praktischer Beziehung scheinen mir
für die Chirurgie England, Amerika und Deutschland jetzt wichtiger als
andere Länder. Die englische Chirurgie hat seit Hunter etwas Gross-
artiges, Stylvolles bis auf die Neuzeit bewahrt. Den grössten Aufschwung
verdankt die Chirurgie des 19. Jahrhunderts in Deutschland dem Um-
stand, dass sie darauf hinzielt, das gesammte medicinische Wissen auf
der Basis tüchtiger anatomischer und physiologischer Vorbildung in sich
zu vereinigen; der Chirurg, der dies vermag und dazu noch die ganze
künstlerische Seite der Chirurgie vollkommen beherrscht, darf sich rühmen,
das höchste ideale Ziel in der gesammten Medicin erreicht zu haben.
Bevor wir nun in unseren Stoff eintreten, will ich noch einige' Be-
merkungen über das Studium der Chirurgie vorausschicken, wie es jetzt
an unseren Hochschulen betrieben wird oder betrieben werden sollte.
Wenn wir das in Deutschland meist übliche Quadriennium für das
Universitätsstudium der Medicin festhalten, so rathe ich Ihnen, die
Chirurgie nicht vor dem 5. Semester anzufangen. Es herrscht sehr häutig
unter Ihnen das Bestreben vor, möglichst schnell die vorbereitenden
Collegien zu absolviren, um rasch zu den praktischen zu gelangen. Dies
ist freilich etwas weniger der Fall, seitdem auf den meisten Hochschulen
für Anatomie, Mikroskopie, Physiologie, Chemie etc. Curse eingerichtet
'[Q Einleitung.
sind, wo Sie selbst schon praktisch thätig- sind; indess ist der Eifer,
mög'lichst früh in die Kliniken einzutreten, immerhin noch übergross ; es
g-iebt freilich auch einen Weg-, geAvissermaassen von Anfang an selbst
erfahren zu wollen; man denkt sich das viel interessanter, als sich erst
mit Dingen abzuquälen, deren Zusammenhang mit der Praxis man noch
nicht recht versteht. Doch Sie vergessen dabei, dass schon eine gewisse
Hebung, eine Schule der Beobachtung durchlaufen werden muss, um
aus dem Erlebten wirklich Nutzen zu ziehen. Wenn Jemand aus dem
Schulzwang erlöst, sofort in ein Krankenhaus als Schüler eintreten wollte,
so w^ürde er sich in den neuen Verhältnissen wie ein Kind verhalten,
das in in die Welt eintritt, um Erfalirungeu für's Leben zu sammeln. Was
helfen die Erfahrungen des Kindes für die spätere Lebensweisheit, für
die Kunst, mit den Menschen zu leben? Wie spät zieht man erst den
wahren Nutzen aus den gewöhnlichsten Beobachtungen , die man im
Leben täglich machen kann ! So wäre auch dieser Weg , die gesammte
Entwicklung der Medicin empirisch in sich durchzumachen, ein sehr
langsamer und mühevoller^ und nur ein sehr begabter, rastlos strebender
Mann kann es auf diesem Wege zu etwas bringen, nachdem er zuvor
die verschiedensten L-rwege durchlaufen hat. Man darf die Banner
„Erfahrung", „Beobachtung" nicht gar zu hoch halten, wenn man darunter
nicht mehr versteht, als der Laie; es ist eine Kunst, ein Talent,
eine Wissenschaft, mit Kritik zu beobachten, und aus diesen Beob-
achtungen richtige Schlüsse als Erfahrungen heraus zu ziehen ; hier ist
der heikle Punkt der Empirie; das Laienpul)likum kennt nur Erfahrung
und Beobachtung im vulgären, nicht im wissenschaftlichen Sinne und
schätzt die Beobachtung, Erfahrung eines alten Schäfers eben so hoch,
zuAveilen höher, als die eines Arztes. Genug! Avenn Ihnen ein Arzt oder
sonst Jemand seine Erfahrungen und Beobachtungen auftischt, so sehen
Sie zunächst zu, Avess Geistes Kind der Erzähler ist.
Es soll mit diesem Ausfall gegen die naive Empirie durchaus nicht
gesagt sein, dass Sie nothAvendiger Weise erst den ganzen Inhalt der
Medicin theoretisch lernen sollen, ehe Sie in die Praxis eintreten, doch
ein bcAvusstes Verständniss füv die Grundprincipien naturwissenschaft-
licher Erforschung pathologischer Processe müssen Sie in die Klinik
mitbringen; es ist durchaus nothAvendig, dass Sie eine allgemeine Ueber-
sicht über das besitzen, Avas Sie am Krankenbett zu erAvarteu haben;
auch müssen Sie das HandAverkszeug etAvas kennen lernen, bevor Sie
damit arbeiten sehen oder selbst es in die Hände nehmen. Mit andern
Worten, die allgemeine Pathologie und Therapie, die Materia medica
muss Ihnen im Umriss bekannt sein, ehe Sie anfangen. Kranke beobachten
zu wollen. Die allgemeine Chirurgie ist nur ein abgesonderter Theil
der allgemeinen Pathologie, und daher sollten Sie auch diese studiren,
bevor Sie in die chirurgische Klinik eintreten. Zugleich müssen Sie
womöglich mit der normalen Histologie, Avenigstens dem allgemeinen
Vorlesung 1. 17
Theil derselben im Reinen sein und die patliologisclie Anatomie und
Histologie mit der allgemeinen Cliirurgie etwa im 5, Semester 7Aigleicli
hören.
Die allgemeine Chirurgie, der Gegenstand, der uns in diesen Vor-
lesungen beschäftigen soll, ist, wie gesagt, ein Tlieil der allgemeinen
Pathologie; doch steht er der Praxis bereits näher als jene. Den Inhalt
bildet die Lehre von den Wunden, den Entzündungen und den Ge-
schwülsten der äusseren und äusserlich zu behandelnden Körpertheile.
Die specielle oder anatomisch -topographische Chirurgie beschäftigt sich
mit den chirurgischen Krankheiten der einzelnen Körpertheile, insoweit
dabei die verschiedenartigsten Gewebe und Organe je nach der Localität
zu berücksichtigen sind; während wir hier z. B. nur von Wunden im
Allgemeinen, von der Art ihrer Heilung, von ihrer Behandlung im
Allgemeinen zu sprechen haben, ist in der speciellen Chirurgie die Rede
von Kopf-, Brust- uud Bauchwundeu, w^obei dann die gleichzeitige Be-
theiligung der Haut, der Knochen, der Eingeweide speciell zu berück-
sichtigen ist. Wäre es möglich, das chirurgische Studium viele Jahre
hindurch an einem grossen Krankenhause fortzusetzen, und könnte dabei
die genaue klinische Besprechung des einzelnen Falles mit ausdauerndem
häuslichen Studium verbunden werden, so wäre es vielleicht unnöthig,
die specielle Chirurgie in besonderen Vorlesungen systematisch zu be-
handeln. Da es aber eine grosse Reihe von chirurgischen Krankheiten
giebt, die selbst in den grössten Kraukenhäusern im Lauf vieler Jahre
vielleicht niemals vorkommen, deren Kenntniss aber dem Arzt unbedingt
noth wendig ist, so sind auch die Vorlesungen über specielle Chirurgie,
wenn sie kurz und bündig gehalten werden, keineswegs überflüssig. —
Man hört jetzt oft das Wort fallen : wozu soll ich specielle Chirurgie
und specielle Pathologie hören? das kann ich ja viel bequemer auf
meinem Zimmer lesen! Das kann allerdings geschehen, geschieht
aber leider allzuwenig, oder erst in spätem Semestern, wenn das
Examen droht. Auch ist dies Raisonnement in anderer Hinsicht
falsch: die viva vox des Lehrers, wie der alte Langeubeck in
Göttingen zu sagen pflegte, — und er hatte in der That eine viva
vox in schönster Bedeutung des Wortes! — das beflügelte Wort des
Lehrers wirkt oder soll wenigstens immer eindringlicher, anregender
wirken als das gelesene Wort, und was die Vorlesungen über praktische
Chirurgie und Medicin besonders werthvoll für Sie machen muss, sind
die Demonstrationen von Abbildungen, Präparaten, Experimenten u. s. w.,
die damit zu verbinden sind. Ich lege den grössten Werth darauf, dass
jeder medicinische Unterricht demonstrativ sei, da ich aus eigener Erfah-
rung sehr wohl weiss, dass diese Art des Unterrichts die anregendste
und nachhaltigste ist. — Ausser den Vorlesungen über allgemeine
und specielle Chirurgie haben Sie dann noch die praktischen Uebungen au
der Leiche durchzumachen, die Sie auf die späteren Semester verschieben
BiUroth chir. Path. u. Therap. 7. Aufl. - 2
18 Einleitung.
können. Mir war es immer erwünscht, wenn die Hen-en Stndirenden den
chirurgischen Operationscurs im 6. oder 7. Semester neben der speciellen
Chirurgie nahmen, damit ich ihnen Gelegenheit geben konnte, selbst in der
Klinik einige Operationen, zumal auch Amputationen unter meiner Leitung
auszuführen. Es giebt Muth für die Praxis, wenn man schon während
der Studienzeit selbst Operationen an Lebenden ausgeführt hat.
Es ist ein grosser Vortheil kleinerer Universitäten, dass der Lehrer
dort jeden Schüler genau kennen lernt und weiss, was er der Geschick-
lichkeit des Einzelnen überlassen kann. An grösseren Kliniken ist dies
den Umständen nach leider nicht ausführbar. Fliehen Sie daher im
Beginn Ihrer klinischen Studien die grossen Universitäten! suchen Sie
dieselben erst in der letzten Zeit Ihrer Lehrjahre auf, und kehren Sie
später, wenn Sie bereits in der Praxis beschäftigt waren, von Zeit zu
Zeit auf einige Wochen an dieselben zurück!
So wie Sie die allgemeine Chirurgie gehört haben, treten Sie als Zuhörer
in die chirurgische Klinik ein, um dann im 7. und 8. Semester als Prak-
tikant sich selbst öffentlich Rechenschaft über Ihr Wissen im speciellen
Fall abzulegen und sich zu gewöhnen, Ihre Kenntnisse rasch zusammen-
zuholen, das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden zu lernen und
überhaupt zu erfahren, worauf es in der Praxis ankommt. Dabei werden
Sie dann die Lücken Ihres Wissens erkennen und durch ausdauernden
häuslichen Fleiss ausfüllen. Haben Sie auf diese Weise die gesetzmässige
Studienzeit absolvirt, die Examina bestanden und einige Monate oder
ein Jahr an verschiedenen grossen Krankenhäusern des In- und Aus-
landes Ihren ärztlichen Gesichtskreis erweitert, so werden Sie so weit
ausgebildet sein, dass Sie in praxi die chirurgischen Fälle richtig beur-
theilen können. Wollen Sie sich aber speciell zum Chirurgen und zum
Operateur ausbilden, dann sind Sie noch lange nicht am Ziel; dann
müssen Sie wiederholt sich im Operiren an der Leiche üben, zwei bis
vier Jahre als Assistent an einer chirurgischen Abtheilung fungiren, un-
ermüdlich chirurgische Monographien studiren, fleissig Krankengeschichten
schreiben etc. etc., kurz die praktische Schule von Grund aus durch-
machen; Sie müssen den Spitaldienst, selbst den Krankenwärterdienst
genau kennen, kurz Alles, auch das Kleinste, was den Kranken angeht,
praktisch lernen und gelegentlich selbst machen können, damit Sie die
volle Herrschaft auch über das Ihnen untergebene Heilpersonal behalten.
Sie sehen, dass es viel zu thun, viel zu lernen giebt; mit Ausdauer
und Fleiss werden Sie das Alles erreichen ; Ausdauer und Fleiss gehören
aber zum Studium der Medicin!
„Student" kommt von „studiren"; studiren müssen Sie fleissig; der
Lehrer macht Sie auf das aufmerksam, was ihm das Nothwendigste er-
scheint; er kann Sie nach verschiedenen Seiten hin anregen; das Positive,
was er Ihnen giebt, können Sie auch schwarz auf weiss nack Hause
tragen, doch dass dies Positive in Ihnen lebendig, dass es Ihr geistiges
Vorlesung 1. 19
Eigentimm wird, das können Sie nur durcli eigene geistige Ar1)eit be-
werkstelligen, dieses geistige Verarbeiten ist das wahre „Studium".
Wenn Sie sich nur ])assiv receptiv verhalten, können Sie freilich
nach und nach sich den Ruf eines sehr „gelehrten Hauses" erwerben,
doch wenn Sie Ihr Wissen nicht lebendig reproduciren können , Averden
Sie niemals ein guter „practischer Arzt" werden. Lassen Sie das Beob-
achtete recht in Ihr Innerstes eindringen, lassen Sie sich davon recht
erwärmen und davon so ei'filllcn , dass Sie immer wieder daran denken
müssen, dann wird auch die rechte Lust und Fi-eude an dieser geistigen
Arbeit über Sie kommen! Treffend sagt Göthe in einem Briefe an
Schiller: „Lust, Freude, Theilnahme au den Dingen ist das einzige
Reelle, und was wieder Reellität hervorbringt; alles andere ist eitel und
vereitelt nur."
2*
Vorlesung 2.
CAPITEL I.
Von den einfjicheii Sclinittwiiiiden der ^\^^iclltheile.
Art der Entstehimg und Aussehn dieser Wunden. — Verschiedene Formen der Schnitt-
wunden. — Erscheinungen während und unmittelbar nach der Verwundung: Schmerz,
Blutungen. — Verschiedene Arten der Blutungen: arterielle, venöse Blutungen. Luft-
eintritt durch Venenwunden. — Parenchymatöse Blutungen. — Bluterkrankheit. —
Blutungen aus Pharynx und Rectum. — Allgemeine Folgen starker Blutungen.
Die richtig-e Behandlung der Wunden ist nicht allein deshalb als
das erste Erforderniss für den Chirurgen zu betrachten, weil diese Art
der Verletzungen so sehr häufig vorkommt, sondern auch besonders des-
halb, weil wir bei Operationen so oft absichtlich Wunden machen, und
zwar nicht selten unter Umständen, wo wir nicht gerade wegen eines
lebensgefährlichen Uebels operiren. Wir sind daher insoweit für die
Heilung der Wunden verantwortlich, als überhaupt die erfahrungsgemässe
Beurtheilung über die Gefahr einer Verletzung reichen kann. Beginnen
wir mit der Besprechung der Schnittwunden.
Verletzungen, welche mit scharfen Messern, Scheeren, Säbeln, Schlä-
gern, Beilen mit einem Zuge beigebracht werden, bieten die Charaktere
reiner Schnittwunden dar. Solche Wunden sind meist kenntlich an den
gleichmässig scharfen Eändern, an welchen man die glatten Durchschnitts-
flächen der unveränderten Gewebe sieht. — Sind die oben genannten
Instrumente stumpf, so können sie bei rascher Führung auch noch ziem-
lich glatte Schnittwunden machen, während sie bei langsamem Ein-
dringen in die Gewebe den Sclmitträndern ein rauhes zerdrücktes Ansehn
geben; zuweilen spricht sich die Art der Gewebsverletzung erst im Ver-
lauf der Heilung der Wunden aus, indem Wunden, die mit scharfen, rasch
geführten Instrumenten gemacht sind, leichter und rascher aus weiterhin
zu erörternden Gründen heilen, als solche, die durch stumpfe, langsam ein-
dringende Messer, Scheeren, Schläger oder dergleichen veranlasst sind. —
Nur selten macht ein ganz stumpfer Körper eine Wunde, welche die
gleichen Eigenschaften besitzt, wie eine Schnittwunde. Dies kann dadurch
zu Staude kommen, dass die Haut, zumal an Stelleu, wo sie dem Knochen
Vorlesung 2. Capitel 1. 21
nahe liegt, unter der Gewalt eines stumpfen Körpers auseinanderrcisst.
So wird es Ihnen z. B. nicht so selten vorkommen, dass Wunden der
Kopfschwarte durchaus das Ansehn von Schnittwunden haben, obg'leich
sie durch Schlag- mit einem stumpfen Körper oder durch Aufschlagen
des Kopfes gegen einen nicht gerade scharfen Stein, einen Balken oder
dergleichen entstanden sind. Aehnliche sehr glatte Risswunden der Haut
kommen auch an der Hand, vorzüglich an der Volarfläche derselben
vor. Durch scharfe Knochenkanten kann endlich die Haut gleichfalls und
zwar von innen her so durchtrennt werden, dass sie wie zerschnitten aus-
sieht, z. B. wenn Jemand auf die crista tibiae- fällt und die Haut durch
letztere von innen nach aussen durchschnitten wird. Spitze, die Haut
durchbohrende Knocliensplitter können begreiflicherweise ebenfalls
Wunden mit sehr glatten Eändern machen. Endlich kann auch die
Ausgangsöffnung eines Schusskanals, d. h. desjenigen Canals, welcher
den Weg der Kugel darstellt, unter gewissen Umständen schlitzartig
scharf sein.
Die Kenntuiss dieser angeführten Verhältnisse ist deshalb von Wich-
tigkeit, weil Hmen z. B. vom Richter gelegentlich die Frage vorgelegt
wird, ob die vorliegende Wunde mit diesem oder jenem Instrument so
oder so erzeugt worden sein kann, was der Beweisführung in einem
Criminalprocess eine entscheidende Wendung zu geben im Stande ist.
Wir haben bislang nur solche Wunden im Sinne gehabt, welche mit
einem Zug oder Hieb gemacht sind. Es können aber durch wiederholte
Schnitte an einer Wunde die Ränder ein gehacktes Ansehn bekommen
und so die Bedingungen für die Heilung sich wesentlich ändern; von
solchen Wunden abstrahiren wir vorläufig ganz, sie fallen in Bezug auf
ihre Heilung und Behandlung mit den gequetschten Wunden zusammen,
wenn sie nicht auf kunstgemässe Weise durch Abtragung der zerhackten
Ränder in einfache Schnittwunden verwandelt werden können. — Die
verschiedene Richtung, in welcher das schneidende Instrument beim Ein-
dringen zur Oberfläche der Körpertheile gehalten wird, bedingt im
Allgemeinen nur geringe Verschiedenheiten, wenn die Richtung nicht eine
so schräge ist, dass einzelne Weichtheile in Form mehr oder weniger
dicker Lappen abgelöst sind. Bei diesen Lappen wunden oder Schäl -
wunden ist es von Bedeutung, wie breit die Brücke ist, mit welcher
das halb abgetrennte Stück noch mit dem Körper in Verbindung ge-
blieben ist, w^eil es davon abhängig ist, ob in diesem Lappen noch eine
Circulation des Blutes stattfinden kann, oder ob dieselbe völlig aufgehört
hat und der abgelöste Theil als todt anzusehen ist. Es sind zwar vor-
züglich Hiebwunden, die sich oft als Lappenwunden darstellen, doch nicht
selten auch Risswunden-, sie sind gar häufig am Kopf, wo etwa durch
zu starken Zug am Haarschopf ein Theil der Kopfschwarte abgerissen
wird. — In anderen Fällen kann eine Partie Weichtheile völlig heraus-
geschnitten sein; dann haben wir eine Wunde mit Substanzverlust
22 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
vor uns. — Unter penetrirenden Wunden versteht man solche, durch
welche eine der drei grossen Körperhöhlen oder ein Gelenk eröffnet ist;
sie entstehen am häufigsten durch Stich oder Schuss, und können durch
die Verletzung- der Intestina oder der Knochen complicirt sein. — Bei
der allgemeinen Bezeichnung Längs- und Qu er wunden bezieht man
sich, wie dies wohl selbstverständlich erscheint, auf die Längs- und
Querachsen des Eumpfes, des Kopfes oder der Extremitäten. Quer-
wunden oder Längswunden der Muskeln, Sehnen, Gefässe, Nerven sind
natürlich solche, welche die Fasern der genannten Theile in der Quer-
oder Längsrichtung treffen.
Die Erscheinungen, welche der Act der Verwundung mehr oder
weniger unmittelbar bei dem Verwundeten hervorruft, sind zunächst
Schmerz, dann Blutung und Klaffen der Wunde.
Da alle Gewebssysteme, die epithelialen und epidermoidalen Ge-
webe nicht ausgenommen, mit sensiblen Nerven versehen sind, so ruft
die Verletzung sofort Schmerz hervor.
Dieser Schmerz ist sehr verschieden je nach dem Nervenreichthum
der betroffenen Theile, dann je nach der Empfänglichkeit des Individuums
für das Schmerzgefühl. Die Finger, die Lippen, die Zunge, die Brust-
warzengegend, die äusseren Genitalien, die Analgegend gelten als die
schmerzhaftesten Theile. Die Art des Schmerzes bei einer Verwundung
z. B. am Finger wird wohl Jedem von Ihnen aus eigener Erfahrung
bekannt sein. Die Hautschnitte sind entschieden am schmerzhaftesten,
die Verletzung der Muskeln, der Sehnen ist weit weniger empfindlich;
Verletzungen des Knochens sind immer äusserst schmerzhaft, wie Sie
sich bei jedem Menschen überzeugen können, der sich einen Knochen-
bruch zugezogen hat; auch wird uns aus der Zeit, wo man ohne Chloro-
form die Gliedmaassen amputirte, berichtet, dass grade das Durchsägen
des Knochens der schmerzhafteste Theil der Operation gewesen sei.
Die Schleimhaut des Darmes zeigt bei verschiedenen Beizen, wie man
an Menschen und Thieren gelegentlich beobachten kann, fast gar keine
Empfindung; auch die portio vaginalis uteri ist fast empfindungslos
gegen mechanische und chemische Reize; man kann sie zuweilen mit
dem glühenden Eisen berühren, wie dies zur Heilung gewisser Krank-
heiten dieses Theiles geschieht, ohne dass die Frauen eine Empfindung
davon haben. Es scheint überhaupt, dass denjenigen Nerven, die eines
specifischen Beizes bedürfen, wie besonders die Sinnesnerven, wenige
oder gar keine sensiblen Nerven beigesellt sind. Wie sich in der Haut
die sensitiven Tastnerven zu den sensiblen Nerven verhalten, und ob
es überhaupt hier wesentliche Unterschiede giebt, ist auch wohl noch
nicht als ausgemacht zu betrachten. Für die Nase und die Zunge
haben wir freilich sensitive und sensible Nerven dicht nebeneinander,
so dass an beiden Theilen neben der jedem dieser Organe zukommen-
den specifischen Sinnesempfindung auch Schmerz wahrgenommen wird.
Vorlesnn.o; 2. Capitel I. 23
Die weisf^e Hirnmasse ist, wie man bei manchen scliAveren Kopfver-
letzungen sich überzeugen kann, ohne Em|yfindung', wenngleich sie clocli
viele Nerven enthält. — Die Durchschneidung von Nervenstämmen ist
Jedenfalls die schmerzhafteste Verletzung; das Abreissen der Zahn-
nerven beim Zalinauszielien mag Manchen von Ihnen im Gedächtniss sein;
die Trennung dicker Nervenstämme muss ein überwältigender Schmerz
sein. — Die Empfänglichkeit für den Schmerz scheint eine individuell
etwas verschiedene zu sein. Sie dürfen dies jedoch nicht zusammen-
werfen mit den verschiedenen Graden der Schmerzäusserungen und mit
der psychischen Kraft, diese Schmerzäusserungen zu unterdrücken oder
wenigstens in Schranken zu halten; dies hängt Jedenfalls von der
Willensstärke des Individuums ab, so wie von dem Temperament. Leb-
hafte Menschen äussern, wie alle übrigen Empfindungen, so auch ihre
Schmerzen lebhafter als phlegmatische. Die meisten Menschen geben
an, dass das Schreien, so wie die iustiuctive starke Anspannung aller
Muskeln, zumal der Kaumuskeln, das Zusammenbeissen der Zähne etc.
den Schmerz leichter erträglich macht. Ich habe an mir nicht finden
können, dass dies irgendwie erleichtert, und halte es für eine Einbil-
dung der Kranken. Ein starker Wille der Kranken kann viel thun, die
Schmerzäusserungen zu unterdrücken; ich erinnere mich noch lebhaft
einer Frau, welcher in der Güttinger Klinik, zur Zeit als ich dort
meine Studien machte, ohne Chloroform der ganze Oberkiefer wegen
einer bösartigen Geschwulst ausgesägt wurde, und die bei dieser schwie-
rigen und sehr schmerzhaften Operation, bei welcher viele Aeste des
N. trigeminus durchschnitten werden, nicht einen Schmerzenslaut von
sich gab. Frauen ertragen im Allgemeinen besser und geduldiger
Schmerzen als Männer. Der Aufwand von psychischer Kraft aber, der
dazu nöthig ist , führt nicht selten gleich nachher zu einer Ohnmacht,
oder zu einer hochgradigen, kürzer oder länger dauernden physischen
und psychischen Abspannung. Ich habe sehr starke willenskräftige
Männer gesehen, die bei einem heftigen Schmerz zwar Jede Aeusserung
desselben vermieden, aber bald ohnmächtig zu Boden stürzten. Doch,
wie ich vorher erwähnte, ich glaube, dass manche Menschen den
Schmerz überhaupt weit weniger intensiv empfinden als andere. Es
werden Ihnen gewiss Leute vorkommen, die ohne irgend welches Auf-
gebot eines energischen Willens bei schmerzhaften Verletzungen so wenig
Schmerz äussern, dass man nicht anders meinen kann, als dass sie
wirklich den Schmerz weniger lebhaft empfinden als andere; ich habe
dies meist bei sehr schlaffen böotischen Menschen beobachtet, bei denen
dann auch die ganzen Folgenerscheinungen der Verletzung auffallend
gering zu sein pflegen.
Je rascher die Verwundung geschieht. Je schärfer das Messer ist,
um so geringer ist der Schmerz; auf sichere rasche Messerführung be-
sonders bei Hautschnitten legt man daher im Interesse der Krauken stets
24 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
gTOSsen Wertb bei allen kleineren und g-rösseren Operationen, und gewiss
mit Keelit.
Das Gefühl in der Wunde unmittelbar nach der Verletzung ist ein
eigenthttmlich brennendes, man kann es kaum anders bezeichnen, als
das Gefühl des Wundseins. Nur wenn ein kleinerer oder grösserer Nerv
durch irgend etwas in der Wunde gedrückt, gezerrt oder auf andere
Weise gereizt wird, treten gleich nach der Verletzung heftige, w^ahrhaft
neuralgische Schmerzen auf, die, wenn sie nicht bald von selbst aufhören,
durch genaue Untersuchung und Hebung der örtlichen Ursachen, oder
wenn dies nicht thunlich oder erfolglos ist, durch innere Mittel beseitigt
werden müssen, da sie den Kranken sonst in einen Zustand von hoher
Aufgeregtheit versetzen und erhalten, der sich bis zu maniakalischen
Delirien steigern kann. — Um die Schmerzempfinduug bei Ope-
rationen zu vermeiden, wenden wir jetzt allgemein die Chi oro form -
Inhalationen an. Die Anwendungsweise dieses Mittels, die Prophylaxis
und Mittel gegen die Gefahren, welche die Chloroformnarkose mit sich
bringt, werden Sie weit schneller in der Klinik kennen lernen und dann
weit besser behalten, als wenn ich Ihnen darüber hier weitläufige
Expositionen machen wollte. In den Vorlesungen über Operationslehre
ist ausführlich darüber zu sprechen; ich erwähne hier nur beiläufig,
dass in neuerer Zeit der Schwefeläther wieder mehr in Anwendung ge-
zogen wird als im letzten Decennium, während Avelchem bei der enormen
Ausdehnung des Chloroformgebrauches sich auch die Todesfälle durch
Chloroform vermehrten. Ich brauche jetzt zu den Narkosen ausschliess-
lich eine Mischung von 3 Theilen Chloroform mit 1 Theil Schwefel-
äther und 1 Theil absoluten Alcohol, und habe den Eindruck, dass diese
Narkosen etwas weniger gefährlich sind, als die Narkosen, welche durch
das Chloroform allein erzeugt sind. — Die örtlichen Anaesthetica,
die den Zweck haben, den Schmerz in dem zu operirenden Theil vorüber-
gehend abzustumpfen, z. B. durch Auftupfen einer Mischung von Eis mit
Salpeter oder Salz, sind allgemein wieder verlassen, oder vielmehr nie
recht allgemein verbreitet gewesen. In neuester Zeit haben diese Versuche
wieder ein regeres Interesse hervorgerufen, da es schien, als wenn man
endlich doch eine zweckmässige Methode der localen Anästhesirung
gefunden hätte. Ein englischer Arzt Eichardson construirte einen
kleinen Apparat, durch welchen ein Strom absolut reinen Hydramyläthers,
eine Zeitlaug gegen eine Hautstelle geblasen wird, und dadurch eine
solche Kälte in dieser Hautstelle entsteht, dass hier nichts mehr empfunden
wird. Nachdem ich diesen Aether aus England habe kommen lassen,
habe ich mich von der höchst vollkommenen Wirkung desselben über-
zeugt. Die Haut wird in der That in w^euigen Sekunden kreideweiss
und so weit dies erfolgt, absolut gefühllos; doch reicht die Wirkung
kaum durch eine mitteldicke Cutis, und wenn man auch ohne Bedenken
den Aether fort und fort in die Schuitlfläche blasen und diese völlig
Vorlesung 2. Capitel I. 25
anaesthetiscli machen kann, so tritt bei so intensiver Kältewirkung- einer-
seits der Uebelstand ein, dass die völlig eisliarten Gewebe gar nicht
von einander zu unterscheiden sind, andrerseits bedeckt sich das Messer
mit einer Eishülle, so dass es nicht mehr schneidet. Die locale Anaesthesie
wird demnach selbst in dieser vervollkommneten Form nur bei wenigen
kleinen Operationen mit Vortheil für den Kranken anzuwenden sein.
Meine frühere Besorgniss, dass nach Application so intensiver Kälte auf die
Gewebe der folgende Heilungsprocess der Wunde wesentlich gestört werde,
hat sich als unrichtig erwiesen. — Zur Beruhigung des Schmerzes und als
Hypnoticum gleich nach grossen Verletzungen und Operationen
giebt es Nichts Besseres als eine Gabe von '/j gr. oder 0,02 Grammes
Morphium muriaticum oder aceticum, der Kranke wird dadurcli beruliigt
und, wenn er auch nicht immer danach schläft, fühlt er seine Wund-
schmerzen weniger. Auch kann man das Morphium in Form subcutaner
Injectionen anwenden. Injicirt man mit einer sehr feinen Spritze, an
welcher eine lanzettförmig zugespitzte Canüle so angebracht ist, dass
dieselbe leicht durch die Haut eingestochen werden kann, eine Lösung
von Vs — \/i Grau (0,009 — 0,018 Grammes) essigsauren oder salzsauren
Morphiums, so übt dies Mittel seine narcotisirende Wirkung anfangs
local auf die von ihm umspülten Nerven, dann aber auch auf das Hirn,
weil die Morphiumlösung resorbirt wird und ins Blut gelangt. Diese
Art der Application von Morphium hat in neuester Zeit ausserordentlichen
Beifall gefunden ; 'man macht eine solche Injection unmittelbar vor oder
nach einer Operation, oder nach einer zufälligen Verletzung gewöhnlich
in der Nähe der verletzten Stelle und dämpft dadurch sofort den Wund-
schmerz. — In neuester Zeit braucht man als Anaestheticum innerlich
auch das Chloralhydrat in Dosen von '/. — 1 Drachme oder 3,00 — 5,00
Grammes (in einem halben oder ganzen Glase Wasser) angewandt, dessen
narkotische Wirkung von Liebreich 1869 entdeckt wurde. Die Wirkung-
dieses Mittels ist hauptsächlich intensiv hypnotisch, übrigens ziemlich
ungleich; es kann das Chloroform nicht ersetzen, ist jedoch als ein neues
Narcoticum eine wesentliche Bereicherung unseres Arzneischatzes. — •
Oertlich wendet man endlich als schmerzstillendes Mittel die Kälte in
Form von kalten Umschlägen oder Eisblasen, die auf die Wunde appli-
cirt werden, an; wir kommen darauf bei der Behandlung der Wunden
zurück. ■ —
Bei einer reinen Schnitt- oder Stichwunde stellt sich als zweite Er-
scheinung sofort die Blutung ein, deren Maass von der Anzahl, dem
Durchmesser und von der Art der durchschnittenen Gefässe . abhängig
ist. Wir reden hier nur von Blutungen aus Geweben, die vor der Ver-
letzung- durchaus normal waren, und unterscheiden capillare, paren-
chymatöse, arterielle, venöse Blutungen, die wir gesondert be-
trachten müssen.
26 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Die verscliiedenen Tlieile des Körpers besitzen bekanntlicli einen
sehr verschiedenen ßeicbthum an Blutgefässen, zuraal finden die grössten
Unterschiede in Zahl und Weite der Capillaren Statt. Die Haut hat
an gleich grossen Stellen weniger und engere Capillaren, als die meisten
Schleimhäute; sie besitzt ausserdem mehr elastisches Gewebe, auch
Muskeln, wodurch (wie wir dies schon in der Kälte und bei der soge-
nannten Gänsehaut empfinden und sehen) die Gefässe leichter comprimirt
werden, als dies in den Schleimhäuten der Fall ist, die arm an elasti-
schem und Muskel-Gewebe sind; es bluten daher einfache Hautwunden
weniger als Schleimhautwunden, Die nur aus den Capillaren Statt fin-
denden Blutungen hören, wenn die Gewebe gesund sind, von selbst auf
eben dadurch, dass die Gefässmiindungen durch das sich contrahirende
verletzte Gewebe selbst zusammengedrückt werden. An kranken Theilen,
die sich nicht contrahiren, kann jedoch auch eine Blutung aus erweiterten
Capillaren recht bedeutend werden.
Die Blutungen aus den Arterien sind leicht kenntlic_h, theils da-
durch, dass sich das Blut in einem Strahl ergiesst, an welchem sich die
rythmischen Contractionen des Herzens zuweilen deutlich zu erkennen
geben, theils dadurch, dass das hervorspritzende Blut eine hellrothe Farbe
hat. Diese hellrothe Blutfarbe verwandelt sich allerdings bei mangelhafter
Kespiration in eine ganz dunkle; so kann z. B. bei einer Operation am
Halse, die wegen Erstickungsgefahr gemacht wird, so wie auch bei sehr
tiefer Chloroformnarkose, ganz dunkles, fast schwärzliches Blut aus den
Arterien hervorspritzen. Die Menge des sich ergiessenden Blutes ist
abhängig von dem Durchmesser der entweder total durchschnittenen
Arterie, oder von der Grösse der Oeffnung in ihrer Wandung. Sie dürfen
jedoch nicht glauben, dass der aus der Arterie hervorspritzende Strahl
genau dem Durchmesser des Gefässes entspricht; er ist gewöhnlich viel
kleiner, weil sich das Lumen der Arterie an der durchschnittenen Stelle
der Quere nach zusammenzieht; nur die grossen Arterien, wie die Aorta,
die Aa. carotides, femorales, axillares haben so wenig Muskelfasern,
dass sie sich wenigstens der Quere nach fast gar nicht merkbar zusammen-
ziehen. Bei den ganz kleinen Arterien hat diese Zusammenziehung des
durchschnittenen Lumens eine solche Wirkung, dass dieselben wegen der
dadurch erhöhten Reibungshindernisse für das Blut zuweilen weder
spritzen, noch pulsirend das Blut entleeren; ja es kann diese Reibung
für ganz kleine x\rterien so stark sein, dass der Blutstrom in dem Ende
derselben sehr bald äusserst schwierig und langsam wird, und das Blut
schnell gerinnt, so dass die Blutung von selbst steht. Je kleiner die
Durchmesser der Arterien durch die Verminderung der Gesammtmasse
des Körperbluts werden, um so leichter steht dann auch spontan die
Blutung von Arterien, die sonst der Stillung durch Kunsthülfe bedürfen
würde. Sie werden später oft Gelegenheit haben, in den Kliniken zu
beobachten, wie heftig das Blut beim Beginn einer grösseren Operation
Vorlesung 2. Capitel T. 27
spritzt, und wie gegen das Ende derselben die Blutung selbst bei Durch-
schneidung absolut grösserer Arterien als die anfangs durclischnittcnen
waren, eine bedeutend geringere ist. So kann die Verminderung des
Gesammtvoluniens des Blutes zu einer spontanen Blutstillung führen,
wobei besonders auch noch die schwächeren Herzcontractionen in Rech-
nung zu bringen sind. In der That benutzen wir bei inneren, für eine
directe Kunsthülfe unzugänglichen Blutungen die rasche Blutentziehung
aus den Arnivcnen (den Aderlass) als Blutstillungsmittel ; die künstliche
Hervorrufung einer allgemeinen Anämie, natürlich nur in Fällen, in
welchen eine solche durch die innere Blutung noch nicht eingetreten ist,
wird in solchen Fällen als Hülfsmittel gegen eine innere Blutung be-
trachtet, so paradox Ihnen dies auch auf den ersten Anblick erscheinen
mag. — Blutungen aus Schnittwunden der grossen Arterienstämme des
Rumpfes, des Halses und der Extremitäten sind immer so bedeutend, dass
sie unbedingt einer künstlichen Blutstillung bedürfen, es mtisste denn
sein, dass die Oeft'nung in ihrer Wandung nur äusserst fein wäre. Wenn
aber die Zerreissung eiiies arteriellen Extremitätenstammes ohne Wunde
der Haut zu Stande gekommen ist, dann kann allerdings durch den
Druck der umgebenden Weichtheile der Blutstrora aus der Arterie ge-
hemmt werden; derartige Verletzungen ziehen später anderweitige Folge-
zustände nach sich, auf die Sie bei anderer Gelegenheit aufmerksam
gemacht werden sollen.
Die Blutungen aus den Venen charakterisiren sich durch das con-
tinuirliche Ausfliessen dunklen Blutes. Dies gilt vorzüglich für die Venen
kleinen und mittleren Calibers. Diese Blutungen sind selten von grosser
Heftigkeit, so dass wir, um eine genügende Quantität Blut beim Ader-
lass aus den subcutanen Armvenen in der Ellenbogenbeuge zu erzielen,
den Blutabfluss nach dem Herzen zu durch Druck hemmen müssen.
Würde dies nicht gesclieheu, so würde aus diesen Venen nur beim Ein-
stich etwas Blut ausfliessen, die weitere Blutung jedoch von selbst stehen,
wenn sie nicht etwa durch Muskelaction unterhalten wird. Es kommt
dies hauptsächlich daher, dass die dünne Venenwandung zusammenfällt,
nicht klafft, wie die durchschnittene Arterie. Aus dem centralen Ende
der durchschnittenen Venen fliesst das Blut wegen der Klappen nicht
leicht zurück, so lange die Klappen sufficient sind; mit klappeulosen
Venen z. B. denen des Pfortadersystems haben wir es nur sehr selten
zu thun.
Die Blutungen aus den grossen Venen stammen gehören immer zu
den gefährlichsten Erscheinungen. Eine Blutung aus der V. axillaris, femo-
ralis, subclavia, jugularis interna wird in den meisten Fällen tödtlich werden,
wenn nicht rasche Hülfe zur Hand ist; die Verletzung einer V. anonyma ist
wohl als absolut tödtlich zu betrachten. Aus diesen grossen Venenstämmen
fliesst das Blut nicht continuirlich aus, sondern es macht sich hier schon
der Einfluss der Respiration erheblich geltend. Ich habe mehre Mal bei
28 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Operationen am Halse die Verletzung der V. jugularis interna erlebt: wäh-
rend der Inspiration fiel das Gefäss so zusammen, dass man es für einen
Bindegewebsstrang halten konnte , während der Exspiration quoll das
schwarze Blut hervor wie aus einem Quell, ähnlicher noch dem Hervor-
brodeln des Wassers aus einem herunter geschraubten Springbrunnen.
Es kommt bei den Venen, welche dem Herzen naheliegen, ausser dem
raschen bedeutenden Blutverlust noch etwas hinzu, was die Gefahr be-
deutend steigert, dass nämlich bei einer heftigen Inspiration, wo sich
das Blut nach dem Herzen zu entleert, mit einem zuweilen hörbaren
gurrenden Geräusch Luft in die Vene und in das Herz eintritt;
dadurch kann der sofortige Tod bedingt werden, wenngleich dies nicht
immer der Fall zu sein braucht. Ich kann hier nicht näher auf dieses
höchst merkwürdige Phänomen, welches in seinen physiologischen Wir-
kungen, wie mir scheint, noch nicht genügend aufgeklärt ist, eingehen;
Sie werden in den Büchern und Vorlesungen über operative Chirurgie
noch wieder darauf aufmerksam gemacht werden. Es wird also erzählt,
dass mit einem quirlenden Geräusch bei Eröffnung grosser Hals-
oder Axillarvenen der Verletzte sofort bewusstlos zusammenstürzt, und
nur in wenigen Fällen durch sofortige künstliehe Respiration und andere
Belebungsmittel wieder zum Leben zurückgerufen werden kann. Wahr-
scheinlich wird durch die eingetreteneu Luftblasen, welche bis in die
mittelstarken Aeste der Lungenarterie vordringen und hier feststecken,
der weitere Zutritt von Blut zu den Lungengefässen plötzlich gehemmt
und durch das Aufhören des Lungenkreislaufes und den dadurch ge-
hemmten Blutzufluss zum linken Herzen der Tod bedingt. Ich habe nie
etwas Aehnliches erlebt, wenn ich auch schon Luft in die Vena jugularis
interna habe eintreten und dann schaumiges Blut habe austreten sehen;
dies hatte keine Avahrnehmbare Wirkung auf den Allgemeinzustand des
Operirten. Es scheint, dass verschiedene Thiere sehr verschieden
empfänglich gegen Eintritt von Luft in die Gefässe sind: pumpt man
mit einer Spritze Kaninchen nur wenig Luft in die V. jugularis, so
sterben sie schnell, während man Hunden zuweilen mehre Spritzen voll
Luft einpumpen kann, ohne eine Wirkung zu sehen.
Wir unterscheiden ausser den genannten Arten der Blutungen noch
die sogenannten parenchymatösen Blutungen, die man unrichtiger
Weise mit den capillaren Blutungen zuweilen identificirt. Bei normalen
Geweben eines sonst gesunden Körpers kommen die parenchymatösen
Blutungen nicht aus den Capillaren, sondern aus einer grossen Anzahl
kleiner Arterien und Venen, die sich aus irgend welchen Gründen nicht
in das Gewebe hineinziehen und zusammenziehen, auch nicht durch das
Gewebe selbst zusammengedrückt werden. Eine Blutung aus dem Corpus
cavernosum penis ist ein Beispiel einer solchen parenchymatösen Blutung,
wie sie in ähnlicher Weise auch an den weiblichen Genitalien und in
der Damm- und Aftergegend, ferner an der Zunge und am spongiösen
Vorlesung 2. Capitel I. 29
Knochen vorkommen. Besonders liäufii;;' sind diese parencliymatüsen
Blntung'en an kranken Geweben; sie treten ferner nach Verletzungen und
Operationen nicht selten als s. g-. Nachblutungen auf, wovon später.
Eines müssen wir hier noch erwähnen, nänilicli, dass es nach den
glaubwürdigsten Berichten Menschen gel)en soll, die aus jeder kleinen
unbedeutenden Wunde so heftig bluten, dass sie sich aus einem Hautriss
oder aus einem Gefäss der Zahnpulpe nach Extraction eines Zahnes zu
Tode bluten können. Diese Allgemeinkrankheit nennt man Bluter-
krankheit (Haemophilia), die Leute, die damit behaftet sind, Bluter
(Hämophilen von alf.ia und cpiloo). Es besteht das Wesen dieser Krank-
heit wahrscheinlich in einer abnormen Dünnheit der Arterienwandung-en,
die in den meisten Fällen angeboren ist, vielleicht jedoch auch durch
krankhafte Degeneration mit Atrophie der Gefässhäute nach und nach
entstehen kann; auch mög-en abnorme Druckverhältnisse, durch relativ
zu grosse Enge der grossen Arterienstämme bedingt, zuweilen Ursache
solcher scheinbar räthselhaften Blutungen sein, worauf in neuester Zeit
besonders Virchow aufmerksam gemacht hat. Oft vererbt sich dies
schreckliche Leiden in bestimmten Familien, besonders auf die männlichen
Mitglieder derselben, Frauen sind seltener damit behaftet. Nicht allein
Verwundungen machen bei diesen Leuten Blutungen, sondern auch ein
leichter Druck kann Blutungen unter der Haut veranlassen; es treten
ganz spontan Blutungen z. B. aus der Magen-, der Blasen -Schleimhaut
ein, die selbst einen tödtlichen Ausgang nach sich ziehen können. Nicht
gerade nach grösseren Verwundungen, wobei bald oder sofort ärztliche
Hülfe geleistet wird, sondern zumal nach kleinen Verletzungen kommt es
bei soleheu Menschen zu continuirlichen Blutungen, die schwer zu stillen
sind, was theils, wie bemerkt, auf eine zu geringe Contractionsfähigkeit
oder gänzlichen Mangel der Muskulatur der Gefässe hindeutet, theils auf
eine mangelhafte Gerinnungsfähigkeit des Blutes. Letztere hat mau durch
die Beobachtung des ausgeflossenen Blutes freilich nicht constatiren können,
da dasselbe in den Fällen, wo die Aufmerksamkeit darauf gerichtet war,
ebenso gerann, wie das Blut eines gesunden Menschen.
Auf einige Eigenthumlichkeiten von Blutungen an gewissen Locali-
täten des Körpers will ich Sie noch aufmerksam m.acheu, nämlich auf
die Blutungen im Pharynx und in dem hintern Theil der Nase,
sowie auf die Blutungen im Rectum, obgleich das strenggenommen
in die specielle Chirurgie gehört. Wunden, die durch den geöffneten
Mund hinten im Pharynx oder hinten in der Nase durch Zufall gemacht
werden, sind selten; doch können die Blutungen hier aus Operations-
wunden kommen, denn nicht selten haben wir auch in diesen Regionen
mit Messer und Scheere zu schneiden, oder Geschwülste mit der Zange
abzureissen; auch kommen bei Infectionskrankheiten (z. B. beim Typhus)
zuweilen spontan intensive Nasenblutungen vor. Nicht immer entleeren
die Kranken das Blut direct aus Nase und Mund, sondern es kann vor-
30 Von den einfachen Schnittwunden der AVeichtheile.
kommen, dass ihnen das Blut am Pharynx entlang durch den Oesophagus
in den klagen läuft, ohne dass sie es merken: es treten dann nur die
allgemeinen Wirkungen eines raschen Blutverlustes hervor, die wir gleich
näher besprechen wollen, und man ist nicht im Stande, die Quelle der
Blutung, die hinter dem Yelum palatinum liegen kann, zu sehen; bald
erbrechen die Kranken und entleeren dabei auf einmal massenhafte Quan-
titäten Blut; sobald dies aufhört, tritt wieder eine Pause ein und die
Kranken, vielleicht auch der Arzt, meinen, die Blutung habe aufgehört,
bis eine neue Quantität Blut erbrochen wird, und der Kranke immer
matter wird. Wenn der Arzt diese Erscheinungen nicht kennt und das
richtige Verfahren verabsäiimt, so kann der Kranke verbluten. Ich
erinnere mich eines solchen Falles, wo mehre Aerzte wiederholt -Mittel
gegen Blutbrechen und Magenblutung nach einer kleinen Operation im
Halse darreichten und erst durch einen erfahrenen alten Wundarzt die
Quelle der Blutung richtig erkannt, durch locale Mittel das Blut gestillt
mid so das Leben des Kranken gerettet wurde. — Aehnlich kann es sieh
mit Blutungen aus dem Rectum begeben. Das Blut fliesst aus einer inneren
Wunde in die Excavatio Recti, die einer enormen Ausdehnung fähig ist ;
der Kranke bekommt plötzlich sehr lebhaften Drang zum Stuhl und entleert
massenhaft Blut. Dies kann sich mehrmals wiederholen, bis sich der
durch die Expansion gereizte Darm entweder zusammenzieht und so die
Blutung von selbst steht, oder bis dieselbe durch Kunsthtilfe gestillt wird.
Ein rascher starker Blutverlust übt bald wahrnehmbare Ver-
änderungen am ganzen Körper aus. Das Gesicht, besonders die
Lippen werden sehr blass, letztere bläulich; der Puls wird kleiner und
verliert anfangs etwas an seiner Frequenz. Die Körpertemperatur sinkt
am auffallendsten an den Extremitäten; der Kranke wird, besonders
wenn er aufrecht sitzt, leicht ohnmächtig, es schwindelt ihn, es wird
ihm übel zum Brechen, es flimmert ihm vor den Augen, in den Ohren
klingt es, alle Gegenstände um ihn herum scheinen sich zu drehen, er
rafft seine Kräfte zusammen, um sich zu halten, die Sinne schwinden,
endlich sinkt er um. Diese Erscheinungen der Ohnmacht deuten wir
auf rasche Anämie des Hirns. In der horizontalen Lage geht dieser
Zustand bald vorüber: es verfallen oft Leute in denselben bei ganz
geringem Blutverluste, zuweilen mehr aus Ekel und Entsetzen vor dem
fliessenden Blut als vor Entkräftung. Eine einmalige Ohnmacht dieser
Art giebt noch keinen Maassstab für die Bedeutung des Blutverlustes,
der Kranke kommt bald wieder zu sich. — Dauert die Blutung nun fort,
so stellen sich bald früher bald später folgende Erscheinungen ein. Das
Gesicht wird immer blasser, wachsartig, die Lippen hell und blassblau,
die Augen matt glänzend, die Körpertemperatur immer kühler, der Puls
immer kleiner, fadenförmig, enorm frequent, die Eespiration unvoll-
ständig, es tritt Erbrechen ein, der Kranke wird wiederholt ohnmächtig,
immer matter und angstvoller, endlich dauernd besinnungslos, schliesslich
Vorlosmiif ?>. Cnpitol T. 31
treten Zuckungen ein in Armen und l^>(Mnen, die sicli auf jeden leichten
Reiz, z. B. einen Nadelstich, erneuern; dieser Zustand kann in den Tod
übergehen. Starke Dvsi)U()e, SnüerstofChunger, ist eins der schlinnusten
Zeichen; doch darf man aucli dabei nie verzweifeln, oft kann man noch
helfen, wenn es auch sclion mit dem Leben aus zu sein sclieint. Zumal
junge Frauen können enorme Bhitverluste ohne umuittelbare Lebensgefahr
ertragen; Sie werden in der geburtshülf liehen Klinik s});iter Gelegenheit
haben, dies zu beobachten; Kinder und alte Leute können am wenigsten
viel Blut missen. Bei sehr alten Leuten kann ein starker Blutverlust,
wenn er auch nicht unmittelbar tödtlich wurde, 'einen unheilbaren und
nach Tagen oder Wochen in den Tod übergehenden Collaps nach sich
ziehen; es ist dies wohl leicht erklärlich dadurch, dass die Blutmenge
zunächst durch Serum wieder ersetzt wird und bei alten Leuten die
Blutkörperchenbildung wahrscheinlich nur sehr langsam nachrückt; das
stark verdünnte Blut reicht nicht hin, die in ihrem Stoffwechsel schon
sehr trägen Gewebe zu ernähren. — Kommt der Kranke nach einer
heftigen Blutung wieder zu sich, so empfindet er besonders sehr heftigen
Durst, als wäre der Körper ausgetrocknet, die Gefässe des Darmkanals
nehmen begierig das massenhaft getrunkene Wasser auf; bei gesunden
kräftigen Menschen werden bald auch die Zellenbestancltheile des Blutes,
woher, weiss man freilich noch immer nicht genau, ersetzt; nach wenigen
Tagen sieht man einem sonst gesunden Lidividuum wenig mehr von der
früheren Anämie an, bald spürt er auch in seineu Kräften nichts mehr
von der frühereu Erschöpfung.
Vorlesung 3.
Behandlung der Blutungen: 1) Ligatur und Umstechung der Arterien. Torsion. —
2) Compression, Fingerdruck, Wahlstellen für die Compression grosser Arterien. Tourniquet.
Acupressur. Einwicklung. Tamponade. — 3) Styptica. — Allgemeine Behandlung
plötzlich eintretender Anämie. Transfusion.
Sie kennen jetzt, meine Herren, die verschiedenen Arten von Blutungen.
Welche Mittel haben wir nun, eine mehr oder weniger starke Blutung
zum Stehen zu bringen? Die Zahl dieser Mittel ist sehr gross, und doch
wenden wir nur wenige von ihnen an, nur diejenigen, welche die sicher-
sten sind. Hier haben Sie gleich ein Feld der chirurgischen Therapie,
wo es darauf ankommt, rasch und sicher zu helfen, so dass der Erfolg
nicht ausbleiben kann. Docli die Anwendung dieser Mittel will geübt
sein; kaltblütige Ruhe und absolute Sicherheit in der betreffenden Ope-
rationstechnik, Geistesgegenwart sind in Fällen von gefährlichen Blu-
32 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
tungeil die ersten Erfordernisse. In solchen Situationen kann der Chirurg
zeigen, was er zu leisten vermag.
Die Blutstillungsmittel zerfallen in drei grosse Hauptgruppen : 1) der
Verschluss des Gefässes durch Zubinden oder Zudrehen desselben: die
Ligatur oder die Unterbindung und die Torsion; 2) die Coinpression;
3) die Mittel, welche rasche Blutgerinnung bewirken, die Styptica (von
aTvq>to^ zusammenziehen, hart machen).
1) Die Ligatur kann in drei verschiedenen Formen zur Anwen-
dung kommen, nämlich als Ligatur des isolirten blutenden Gefässes, als
Umstechung desselben mit umliegenden Weichtheilen, als Unterbindung
in der Continuität, d. h. als Unterbindung des Gefässes entfernt von
der Wunde.
Diese verschiedenen Arten der Unterbindung kommen alle fast nur
in Gebrauch zur Stillung von arteriellen Blutungen. Die venösen Blu-
tungen machen selten die Unterbindung nöthig; sie ist nur bei den ganz
grossen Venenstämmen zuweilen angezeigt, wir vermeiden sie, wenn
irgend möglich, da ihre Folgen gefährlich werden können: worin diese
Gefahr besteht, wollen wir später untersuchen und zunächst nur von der
Unterbindung der Arterien sprechen.
Nehmen wir den einfachsten Fall : es spritzt eine kleinere Arterie
aus einer Wunde, so ergreifen Sie zunächst eine s. g. Schieberpincette,
fassen mit deren Branchen die Arterie möglichst isolirt und zwar am
leichtesten der Quere nach, stellen jetzt den Schieber der Pincette fest
und die Blutung ist vollständig gestillt. Die Schieberpincetten sind am
besten von Neusilber gearbeitet, weil dies Metall weniger leicht rostet
als Eisen. Es giebt eine grosse Menge von verschiedenen Arten dieser
Pincetten, die alle das Gemeinsame haben, dass sie, wenn sie geschlossen
sind, in dieser Stellung fixirt werden; die mechanischen Hülfsmittel,
durch welche dieser Verschluss gebildet ist, sind sehr verschieden; je
einfacher diese Mechanik, um so besser. Es ist interessant, zu unter-
suchen, welche Entw^icklungsphasen dieses Instrument seit Ambroise
Pare durchmachte, um zu der einfachen Vollkommenheit zu gelangen,
wie es jetzt ist. ' In neuerer Zeit w^endet man auch zuweilen kleine
federnde Klammern an, um die blutenden Arterien zusammenzudrücken;
dieselben sind sehr wohl brauchbar, wenn sie stark gearbeitet sind.
Ausser diesen Pincetten kann man sich auch kleiner gebogener scharfer
Haken bedienen (Bromfield' scher Arterienhaken), um damit die Arterie
hervorzuziehen, doch ist dies weit weniger praktisch, da das Blut natür-
lich während des nun erfolgenden Zubindens immer noch herausspritzt.
Haben Sie die Arterie sicher gefasst, so kommt es darauf an, diesen
Verschluss zu einem nachhaltig wirksamen zu machen; dies geschieht
durch die Ligatur. Ueberzeugen Sie sich jedoch noch vorher, dass Sie
nicht etwa einen Nervenstamm mit gefasst haben, da durch das gleich-
zeitige Umschnüren eines Nerven nicht allein dauernde heftige Schmer-
Vorlcsuiifi; 3. Capitcl I. 33
zen, sondern auch gefährliche allgemeine Nervenzustände hervorgebracht
werden können. Zum Zubinden der Arterien benutzen wir Seidenfäden
von verschiedener Stärke, je nach dem Durclunesser der Arterien; es
niuss gute, feste Seide sein, damit die Fäden nicht beim festen Zu-
schnüren reissen; auch darf die Seide nicht leicht Flüssigkeiten auf-
saugen. — Die Pincette, welche an den Arterienenden hängt, lassen Sie
etwas erhoben halten, und legen nun^ am besten von unten her den Fa-
den so um die Arterie, dass Sie zunächst einen einfachen Knoten machen,
ihn dicht vor den Pincettenbranchen fest zuschnüren und dann einen
zweiten ebenso darauf setzen. Nun lösen Sie die Pincette, und wenn die
Ligatur gut schliesst, so muss die Blutung stehen. — Das Zuschnüren des
Knotens muss fest und sicher so gemacht werden, dass man mit den
beiden Zeigefingerspitzen die Fadenenden vorschiebt und stark anspannt.
Dies ist besonders nöthig, wenn man sehr tief liegende Arterien zu unter-
binden hat. Wenn die Fäden gut sind, so genügen zwei aufeinander
gesetzte einfache Knoten. Sie müssen auch diese kleinen Manipulationen
zuvor an der Leiche, oder an einem lebenden Thiere einüben. Liegt die
Ligatur fest, so schneiden Sie das eine Ende kurz ab und führen das
andere auf dem kürzesten Wege zur Wunde heraus.
Es gelingt nicht immer, die spritzende Arterie isolirt zu fassen und
sie isolirt zu unterbinden; zuweilen zieht sich dieselbe so stark in das
Gewebe, zumal in die Muskeln oder in verdicktes Zellgewebe hinein,
dass ein isolirtes Fassen unmöglich ist. Unter solchen Umständen ge-
lingt es dann schwer, die Unterbindung sicher auszuführen, besonders
bindet man dann leicht die Pincettenbranchen mit in die Ligatur, da
sich der Faden nicht weit genug vorschieben lässt. Hier ist dann das
Umstechen der Arterie am Platz. Nachdem Sie mit irgend einer
Pincette oder mit einem Haken die blutende Stelle vorgezogen haben,
fassen Sie eine starke halbkreisförmig gebogene Nadel in einen Nadel-
halter, stechen dieselbe neben dem blutenden Gefäss so ein, dass Sie
dasselbe von irgend einer Seite, am besten von unten umgehen, führen
die Nadel heraus, ziehen sie mit dem Faden hervor und schliessen nun
den Knoten so, dass Sie das ganze Arterienende kreisförmig umfassen;
dann schnüren Sie sehr fest zu, wie wir oben besprochen haben; so
ward ausser der Arterie etwas von der umliegenden Substanz umbunden
und die Arterienmtindung ebenfalls geschlossen. — Die Umstechung darf
nur als ein ausnahmsweises Verfahren angesehen werden, weil das um-
schnürte Gewebe, wenn auch in noch so geringer Masse, meist abstirbt;
die Ligatur schneidet sehr langsam durch, so dass die Lösung derselben
dadurch wesentlich verzögert wird. Dass man sich hüten muss^ einen
sichtbaren Nervenstamm in der Nähe der blutenden Arterie mit zu um-
schnüren, liegt wohl auf der Hand. — Noch summarischer verfährt man
bei der percutaueu Umstechung nach Middeldorpf; man nimmt
eine stark gebogene grosse Nadel und sticht z. B. bei einer Blutung aus
Billroth chir. Path. u. Therap. 7. Aufl. 3
34 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
der Art. radialis central von der blutenden Stelle einfach durch die Haut
tief hinein, geht mit der Nadel quer unter der Arterie fort auf die andere
Seite und sticht dort wieder aus; der zugesclmürte Faden drückt neben
vielen anderen Theilen auch die Arterie zusammen; der Faden bleibt
2 — 3 Tag-e liegen. Ich empfehle Ihnen diese Methode nicht; sie sollte nur im
Nothfall und nur als provisorisches Blutstillungsmittel gebraucht werden.
So lange die blutenden Arterien in der Wunde sichtbar sind, ist
immer zunächst die Unterbindung zu machen ; nur in den Fällen , wo
Arterien aus dem Periost spritzen, kann die Ausführung der Unterbindung
unmöglich werden, ebensowenig ist sie bei Arterien ausführbar, welche
aus dem Knochen hervorspritzen; hier kommen andere Methoden, zumal
die Compression in Anwendung. —
Haben Sie es mit ganz grossen blutenden Arterien zu tliun, so ist
das Verfahren ganz dasselbe, nur, dass Sie doppelt grosse Sorgfalt auf
das Isoliren der Arterie legen, indem Sie, nachdem das blutende Ende
gefasst ist, mit Hülfe eines kleinen Skalpells oder einer anatomischen Piu-
cette das umgebende Gewebe zurückstreifen und dann recht sorgfältig
und genau unterbinden; bei den meisten Arterien müssen Sie, wenn Sie
das centrale und peripherische Ende in der Wunde vor sich haben, auch
beide unterbinden, da die Anastomosen im arteriellen System immerhin
ausgedehnt genug sind, um, wenn auch nicht gleich, doch später bei Aus-
dehnung der Nebenäste auch das peripherische Ende bluten zu lassen.
Es kann der Fall vorkommen, dass die Wunde, aus welcher eine
heftige Blutung hervorkommt, nur sehr klein ist, z. B. eine "fetich- oder
eine Schusswunde. Geleitet durch Ihre anatomischen Kenntnisse müssen
Sie wissen, welches grosse Gefäss durch die vorliegende Wunde verletzt
sein kann. Haben Sie durch die Stärke der Blutung die Ueberzeugung
gewonnen, dass die Unterbindung das einzige sichere Mittel ist, die Blutung
zu stillen, so bietet sich folgende Alternative: entweder Sie erweitern
die vorliegende Wunde, suchen durch vorsichtig saubere Discision das
Gefäss in der Wunde auf, während Sie es oberhalb derselben comprimireu
lassen, nachdem Sie zuvor die Extremität durch die Esmarch'sche Eiu-
wicklung blutleer gemacht haben, wovon später — und unterbinden nun
die Enden der durschnittenen Arterie, oder Sie suchen, während Sie in der
Wunde das blutende Gefäss comprimiren lassen, oberhalb der Wunde
den centralen Theil des Gefässstammes der betreffenden Extremität auf,
und machen dort die Unterbindung in der Continuität des Gefässes.
Genaue anatomische Kenntnisse über die Lage der Arterien und Uebung
sind zu beiden Verfahren absolut nothwendig. Welches von beiden Ver-
fahren Sie wählen, hängt davon ab, durch welches Sie voraussichtlieh am
schnellsten zum Ziel kommen, und durch welche Manipulation eine ge-
ringere neue Verwundung gemacht wird. Glauben Sie ohne bedeutende
Nebenverletzungen die Arterie in der Wunde leicht freilegen zu können,
so wählen Sie dies Verfahren, als das absolut sichere; halten Sie dies
Vorlesung ?>. Capitol I. 35
jedoch für sehr schwierig-, licg't an der verletzten Stelle die Arterie z. 1>.
sehr tief nnter Muskel- und Fascienlagen, zumal bei sehr musculösen
oder sehr fetten Menschen, so machen Sie die schulgerechte Unterbindung
des Gefässstammes oberhalb (nach dem Herzen zu) der Wunde.
Auf diese durch viele, viele Jahre geprüften, aus theoretischen und
praktischen Gründen allgemein angenommenen Wahlstellen für die Unter-
bindung der Gefässstämme gehe ich hier nicht ein. In der operativen
Chirurgie, in den Handbüchern über chirurgische Anatomie und zumal in
den Operationscursen Averden Sie darüber belehrt und haben vor allem
Andern sich Uebung in dem sicheren Auffinden, sauberen Freilegen und
kunstgerechten Unterbinden der Arterien zu verschaffen, bei der Sie sich
nicht genug Pedanterie und uniforme Technik angewöhnen können.
Obgleich der hohe Werth der Ligatur von allen Chirurgen der
Gegenwart anerkannt wird, so hat man dennoch nicht aufgehört, noch
einfachere und dabei ebenso sichere Verfahren aufzuspüren; von Manchen
wurde es als ein besonderer, meiner Ansicht nach vielfach übertriebener
Uebelstand aufgefasst, dass ein Seidenfaden für eine Zeit lang in der
Wunde liegen bleibe, und ein Stück der Gefässe abgeschnürt und damit
zum Absterben und zur Fäulniss geführt werde. Ich übergehe hier die
Versuche und Vorschläge, die Ligaturen in die Narbe einheilen zu
lassen*), und erwähne nur die Torsion der blutenden Arterienenden als
ein Verfahren, um die Gefässe so lange mechanisch sicher zu schliessen,
bis dieser Verschluss durch das Zuwachsen des Gefässrohrs erfolgt. Man
fasst mit einer starken, sehr exact schliessenden Schieberpincette das
spritzende Gefäss isolirt in der Quer- oder Längsachse, zieht dasselbe
etwa einen halben Zoll hervor, und dreht nun die Pincette und damit
auch die Arterie etwa 5 — 0 Mal um ihre Längsachse; meist ziehe ich
das Gefäss so stark als thunlich hervor und drehe dann so lange, bis
es abreisst. Ich habe auf diese Weise blutende Arterien von dem
kleinsten bis zum Durchmesser der A. brachialis so fest zugedreht, dass
die Blutung sicher stand. Gehen dicht oberhalb des blutenden Arterien-
endes Aeste ab, dann ist das Gefäss nicht genügend beweglich, um die
Torsion sicher auszuführen ; aus diesem Grunde ist mir bei der A. femo-
ralis die Torsion erst einmal sicher gelungen.
2) Die Compression. Das Zudrücken des blutenden Gefässes zu-
nächst mit dem Finger ist eine so einfache, so nahe liegende Methode
der Blutstillung, wenn man es überhaupt Methode nennen will, dass man
sich wundern muss, wenn nicht jeder Laie sofort darauf verfällt; bei
Jedem, der ein paar Mal bei einer Operation zugegen gewesen ist, wird
*) Schon lange sucht man nach einem Material zur Unterbindung, welches sicher
in die Gewebe einheilt, respective nachträglich in demselben aufgesogen wird. Jetzt glaubt
man in den von Carbolöl durchtränkten Darmsaiten einen solchen Stoff gefunden zu haben:
das „carbolised catgut'' hat neuerdings viel Beifall gefunden, wenn auch bestritten wird,
dass es immer resorbirt werde.
3*
36 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
es. völlig- instinctiv, sofort den Finger auf das blutende Gefäss zu halten.
Und doch, wie selten findet man, dass die Leute bei einer zufälligen
Verwundung an dies einfachste Verfahren denken ! Da werden eher alle
Hausmittel vergeblich angewandt, die Wunde mit Spinnwebe, Haaren,
Urin und allem möglichen Dreck verschmiert, oder man holt ein altes
Mütterchen, w^elches durch einen Zauber die Blutung beschwören soll!
Und keiner von der Umgebung- verfällt darauf, die Wunde zuzuhalten!
Die methodische Compression kann in zweierlei Intentionen ange-
wandt werden, als provisorische, oder als dauernde.
Die provisorische Compression, die mau für so lange macht, bis
man sich entschieden hat, wie die Blutung im vorliegenden Falle am
sichersten definitiv zu stillen ist, macht man entweder dadurch, dass man
das blutende Gefäss in der Wunde mit dem Finger fest g'egen einen
Knochen drückt, eventuell die Wundränder fest aneinander drückt, oder
dadurch, dass man den centralen Theil des Arterienstammes mehr oder
weniger entfernt von der Wunde gegen den Knochen drückt; ersteres,
wie schon früher bemerkt, wenn man den Stamm, letzteres, wenn man
das blutende Ende der Arterie unterbinden oder die Wunde zunächst
genauer untersuchen will.
Wo sollen wir nun die Arterienstämme comprimiren und wie dies
am zweekmässigsten anfangen? Sie stellen sich für die Compression der
A. carotis dextra hinter den Kranken, nehmen den zweiten, dritten und
vierten Finger Hirer rechten Hand, legen sie zusammen, und drücken die
Fingerspitzen etwa in der Mitte der Halshöhle am vorderen Rande des
M. sternocleidomastoideus fest gegen die Wirbelsäule, indem sie mit dem
Daumen den Nacken umspannen und mit der linken Hand den Kopf des
Patienten leicht auf die verletzte Seite und etwas nach hinten biegen.
Sie müssen so die A. carotis deutlich pulsiren fühlen. Der feste Druck
ist hier recht empfindlich für den Kranken, da es unvermeidlich ist, dass
der N. vagus mitgedrückt und durch den tiefen Fingerdruck eine Span-
nung der Theile erzeugt wird, welche auch auf den Larynx und die
Trachea wirkt. Wegen der reichen Anastomosen beider Aa. carotides
ist überhaupt die Wirkung der einseitigen Carotis-Compression auf Stillung
von Blutungen der Kopf- und Gesichtsarterien nicht sehr bedeutend, und
die sichere vollständige beiderseitige Compression nimmt so viel Eaum
fort, dass man sich in den meisten Fällen mit einer Verringerung des
Arterienvolumens durch unvollständige Compression begnügen muss. Die
Compression beider Aa. carotides ist eine für den Kranken immerhin
schmerzhafte und angstvolle Manipulation, zumal durch den starken
mittelbaren Druck, welcher dadurch auf den Larjnx und die Trachea
ausgeübt wird ; sie kommt daher auch nur sehr selten in Anwendung. —
Die Compression der Art. subclavia kann schon öfter noth wendig wer-
den, besonders bei Verletzungen dieser Arterie in der Mohrenheim'schen
Grube und in der Achselhöhle. Auch hierbei stehen Sie am besten hinter
Vorlesung 3. Capitel I. 37
dem liegenden oder halbsitzenden Patienten, neigen mit Ihrer linken Hand
den Kopf des Patienten nach der verletzten (z. B. rechten Seite und setzen
dicht hinter dem äusseren Kande der Clavicularportion des erschlafften
M. sternocleidomastoideus den Daumen Ihrer rechten Hand fest ein, so
dass Sie die zwischen den Mm. scaleni hervortretende Arterie gegen die
erste Rippe fest andrücken. Der Druck ist auch liier wegen des theil-
weis leicht mit zu comprimirenden Plex. brachialis schmerzhaft, doch
kann man die Arterie hier vollständig comprimiren, so dass die Pul-
sation der A. radialis aufhört; es gehört dazu weniger physische Kraft
als Geschicklichkeit und sichere anatomische Kenntniss der Lage des
Gefässes. Indess ermüdet der angedrückte Daumen der comprimirenden
Hand doch bald, man fühlt dann auch bei starkem Druck mit dem
Finger nichts mehr und hat daher auf verschiedene Instrumente ge-
sonnen, durch die man den Finger ersetzen könnte. Eines der be-
quemsten Mittel ist ein kurzer grösserer Schlüssel, dessen Bart Sie
mit einem Taschentuch umwickeln und den Griff fest in Hire Vola manus
setzen; den Bart des Schlüssels setzen Sie auf die Arterie und drücken
ihn fest gegen die erste Rippe. — Die Art. brachialis ist ihrer
Localität nach leicht zu comprimiren. Stellen Sie sich dazu an die
Aussenseite des Arms, umgreifen Sie den Oberarm mit Ihrer rechten
Hand so, dass Sie die zusammengelegten zw^eiten, dritten und vierten
Finger an der Innenseite des Bauches des M, biceps in der Mitte des
Oberarms oder etwas höher gegen den Humerus anlegen, mit dem Daumen
den übrigen Theil des Arms umfassen und nun die Finger fest andrücken ;
es ist hierbei nur die Schwierigkeit, den die Art. brachialis an dieser
Stelle fast deckenden N. mediauus nicht mit zu comprimiren ; man kann
durch die Compression der A. brachialis den Radialpuls leicht zum Still-
stand bringen, und bedient sich dieser Compression mit grossem Vortheil,
wenn man wegen Verletzung der A. radialis oder ulnaris eine dieser
Arterien unterbinden will, so wie auch bei der Amputation des Vorder-
arms und des untern Theils des Oberarms. -^ Bei Blutungen der
Arterien der unteren Extremitäten macht man die Compression der
A. femoralis, wo sie anfängt, diesen Namen zu führen, nämlich dicht
unterhalb des Lig. Poupartii. Man drückt sie hier, wo sie genau in der
Mitte zwischen Tuberculum pubis und Spina anter. infer. crist. pss. iL
liegt, gegen den Ramus horizontalis ossis pubis. Der Kranke muss dazu
liegen; die Compression wird mit dem Daumen ausgeführt und ist leicht,
da die Arterie hier ziemlich oberflächlich gelegen ist. Bis gegen das
untere Dritttheil des Oberschenkels kann die A. femoralis noch gegen
den Oberschenkelknochen ganz wohl angedrückt werden, doch ist dies
nur bei sehr mageren Individuen mit den Fingern sicher ausführbar, in
den meisten Fällen bedient man sich dazu eines besonderen Com-
pressoriums, des s. g. Tourniquets.
Unter eineni Tourniquet verstehen wir einen Apparat, durch wel-
33 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
eben wir ein länglich -oval geformtes Stück Holz oder Leder, eine
Pelotte, vermöge eines Dreh-, Schrauben- oder Schnallen-Mechanismus
fest gegen eine Arterie und diese gegen den Knochen andrücken können.
Wir können dasselbe, da eine längere Compression der A. brachialis
oder femoralis äusserst ermüdend ist, für diese Arterien sehr wohl
als Aushülfe brauchen. — Die Form, deren wir uns jetzt bedienen,
ist das Schraub entourniquet von Jean Louis Petit. Die an einem
Band befindliche schiebbare Pelotte wird genau auf die der Arterie
entsprechende Stelle gelegt, gegenüber der Schraubenapparat, unter den
man einige dünne Lagen Leinwand legt, damit er nicht zu sehr die Haut
drückt. Jetzt schnallt mau das Band um die Extremität fest und kann
dann vermittelst der Schraube das Band, und mit diesem auch die
Pelotte fester anziehen, bis die unterhalb gelegene Arterie aufhört, zu
pulsiren. Sollte man die Arterienmündung z. B. in einer Amputations-
wunde nicht gleich sehen, so lüftet man den Apparat mit der Schraube ein
wenig, lässt aus der Arterie ein bischen Blut ausfliessen und ist sofort
orientirt; man lässt gleich wieder das Tourniquet mit der Schraube
schliessen und unterbindet. Darin liegt der grosse Vortheil der Schraube.
Wenn der Apparat gut gearbeitet und sicher angelegt ist, leistet er
vorzügliche Dienste. Freilich drückt man durch das die Extremität um-
kreisende Band auch die Venen, zumal die subcutanen unvermeidlicher
Weise etwas zusammen. Indess wirkt der Druck doch vermöge der
Pelotte vorwiegend auf die Arterie. Sie können sich mit Hülfe eines
breiten Bandes und eines Stückchen rundlichen Holzes, oder einer auf-
gerollten Binde und eines Knebels ein solches Tourniquet leicht impro-
visiren, doch würde ich rathen, wenn ein solches improvisirtes Com-
pressorium nicht sehr fest und sicher schliesst, lieber andere sicherere
Mittel der Compression anzuwenden, von denen wir gleich reden wollen. —
Die Bequemlichkeit, mit Hülfe des Tourniquets bedeutende Blutungen
zu stillen, könnte dazu verleiten, dasselbe längere Zeit liegen zu lassen,
bis etwa die Blutung von selbst steht , und sich der Mühe der Unter-
bindung dadurch zu entheben. Dies wäre ein grosser Fehler. Kaum liegt
das Tourniquet eine halbe Stunde, so wird die Extremität unterhalb des-
selben dunkelblau, schwillt au, wird gefühllos, ja es kann die Circulation
des Blutes in dem abgeschnürten Theit ganz aufhören und dann stirbt
derselbe ab; Sie würden sich Ihr ganzes Leben hindurch Vorwürfe
machen müssen über einen solchen Fehler, der das Leben Ihres Krauken
ernstlich bedrohen kann.
Es ist also die Anlegung des Tourniquets nur erlaubt zur
provisorischen Blutstillung. Mit dem Finger eine grössere Arterie
so lange comprimiren zu wollen, bis die Blutung von selbst sicher steht,
ist schwer ausführbar. Doch können Fälle vorkommen, wo die Com-
pression mit dem Finger das einzig sichere Mittel zur Blutstillung aus
kleineren Arterien ist, z. B. bei Blutungen im Kectum oder tief im
Vorlesung 3. Ciipitel I. 39
Pharynx, wenn andere Mittel im Stiche gelassen liaben; hier handelt es
sich zuweilen darum, % bis I Stunde und länger mit dem Fing-er zu
comprimiren, denn die Unterbindung- der A. iliaca interna in dem ersteren,
die der A. carotis in dem zweiten Fall würde ein ebenso gefährliches
als für die Dauer unsicheres Mittel zur Blutstillung sein.
Um die Gefahr zu vermeiden, welche nach der Umschniirung der
Glieder durch die Stauung des Venenblutes entsteht, kann man vor
Umlegung des Tourniquets die Extremität fest von unten her mit einer
Binde einwickeln, und so das Blut, welches in der Extremität ist, zurück-
drücken. Dies Verfahren wurde früher zuweilen an Gliedern in Anwen-
dung gezogen, welche gleich darauf amputirt werden sollten; man be-
schränkte auf diese Weise die Blutung auf ein äusserst geringes Maass.
Ein Arzt in Vicenza, Grandesso Silvestri, empfahl zu solchen Ein-
wicklungen eine elastische Binde und statt des Tourniquets ein dickes
Gummirohr zu brauchen, mit welchem die Extremität mehrfach umschnürt
wird. Esmarch kam, ohne von diesem wenig bekannt gewordenen
Verfahren Silvestri's Kenntniss zu haben, auf die gleiche Methode,
und machte auf die grossartige Wirkung derselben aufmerksam, die
seitdem mit Eeclit allgemein verbreitet ist. In der That kann man an
den so eingewickelten und dann umschnürten Gliedern nach Entfernung
der Binde bei liegenbleibender Schnur selbst lang dauernde Operationen
ausführen, ohne dass Blut fliesst; die Extremitäten können ganz blutleer
gemacht und bis zu einer Stunde blutleer erhalten werden, ohne dass
das Leben dieser Theile dadurch beeinträchtigt wird; nach Unterbindung
aller sichtbaren Gefässe wird die Schnur gelöst, und nun schiesst das Blut
sofort wieder in die Gefässe ein ; sind vorher durchschnittene Arterien über-
sehen, welche nun bluten, so werden sie sofort gefasst und unterbunden.
Gehen wir jetzt zu den Methoden der Compression über, welche
die dauernde Blutstillung zum Zwecke haben. In neuerer Zeit
ist eine Methode der Blutstillung empfohlen von dem Ihnen schon
durch die Einführung des Chloroforms bekannten genialen Chirurgen und
Geburtshelfer Simpson, weiland in Edinburgh, eine Methode, die ich als
vollständigen Ersatz der Unterbindung zwar nicht anerkennen kann,
die jedoch in manchen Fällen von praktischem Nutzen ist, nämlich das
Zusammendrücken des blutenden Arterienlumens durch eine Nadel, die
Acupressur. Man kann die Acupressur in verschiedener Weise zu
Stande bringen. Sie stechen z. B. an einem Amputationsstumpf eine
lange Insectennadel , wie man sie zum Nähen braucht, in Distanz von
V4 bis y. Zoll neben der Arterie ziemlich senkrecht von unten oder oben
in die Weichtheile ein, wenden die Nadel horizontal, indem Sie die Nadel-
spitze dicht über oder unter der Arterie fortführen, und stechen die Nadel
auf der andern Seite der Arterie in gleicher Entfernung, wie Sie die-
selbe eingestochen haben, wieder aus, fast vertikal, so dass die Arterien-
mündung durch die Nadel gegen die Weichtheile oder besser noch gegen
40 ^on den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
einen Knochen angedrückt wird; sollte diese Compression nicht völlig
wirksam sein, wie es bei grösseren Arterien selten der Fall sein dürfte,
so drücken Sie die Arterie mittelst einer Drahtschlinge gegen die oS^adel.
Am liebsten mache ich bei Amputationen die Acupressur durch Torsion:
ich steche die Nadel quer durch das vorgezerrte Arterienende, mache dann
mit der Nadel eine viertel, halbe oder ganze Drehung in der Eichtung des
Eadius der Amputationsfläche, bis die Blutung steht, und steche dann die
Nadelspitze tief und fest in die Weichtheile. Nach 48 Stunden kann
man diese Nadeln herausnehmen, ohne dass neue Blutung auftritt. Erst
die ausgedehnteren Erfahrungen englischer Chirurgen über das Gelingen
dieses kühnen Verfahrens haben mich ermuthigt, dasselbe anzuwenden;
es ist durch seine Einfachheit sehr praktisch, und lässt, geschickt
ausgeführt , nichts zu wünschen übrig. Dass die Acupressur die Unter-
bindung völlig verdrängen sollte, wie Simpson prophezeite, kann ich
vor der Hand noch nicht glauben. Ich führe diese Art der Blutstillung,
welche ich seit einigen Jahren bei den meisten Amputationswunden an-
wende, mit langen goldnen Nadeln mit dickem Kopf aus, weil anderes
Metall zu leicht rostet, und Silber zu weich, Platin zu theuer ist.
Von V. B r u n s sind in neuester Zeit kleine Ligaturstäbchen
angewandt, mit welchen um die vorgezogene Arterie Schlingen von
Seidenfäden umgelegt und fest angezogen erhalten werden ; man entfernt
die Stäbchen mit den Fäden wie die Acupressurnadeln nach 48 Stunden;
ich habe dies Verfahren neulich bei einer Oberschenkelamputation an
der A. femoralis mit vollkommenem Erfolg in Anwendung gezogen.
Bei Venenblutungen, bei Blutungen aus einer grösseren Anzahl von
kleineren Arterien, zumal bei den s. g. parenchymatösen Blutungen,
muss mit Hülfe von Binden, Compressen und Charpie die kunstgerechte
Einwicklung oder die Tamponade angewandt werden.
Ein pralles Ausstopfen der blutenden Wunde mit Charpie und ein
reifenartiges Umlegen von Bindentouren um eine Extremität würden eben
so schädlich auf die Dauer wirken als ein fest angelegtes Tourniquet.
Haben Sie eine Blutung' am Arm oder Bein, die Sie durch Com-
pression stillen wollen, entleeren sich z. B. grosse Blutmengen aus einer
stark ausgedehnten kranken Vene, oder hat eine Blutung aus vielen
kleinen Arterien Statt, so wickeln Sie mit einer Binde die Extremität
von unten herauf fest ein, nachdem Sie zuvor die Wunde mit einer
Compresse und Charpie bedeckt und der Länge nach mehrfach schicht-
weise zusammengelegte Leinwandwulste (graduirte Compressen) nach
dem Verlauf der Hauptarterie auf die Extremität aufgelegt haben. Es
ist gut, wenn Sie diesem Verbände, der den Namen der Thedeu' sehen
Einwicklung führt, noch eine Schiene anfügen, damit die Extremität
absolut ruhig gestellt wird, weil durch Muskelcontractionen die Blutung
leicht wieder angeregt werden kann, — Diese Involutionen, genau ge-
macht, kommen zumal im Felde bei Schuss- und Stichwunden in Anwen-
Vorlesung; 3. Capitcl I. 41
dung, und sind von bedeutender Wirkung; man kann dadurcli Blutungen
aus der A. radialis, ulnaris, tibial. postica und antica, seihst Blutungen
aus der A. femoralis und brachialis stillen. Bei den erstcren kleineren
Arterien kann dieser Verband, wenn er G bis 8 Tage liegen bleibt —
dies ist zulässig, weil durch die Art der Einwicklung das Venenblut wie
bei dem Esmarch' sehen Verfahren zurückgedrückt wird und deshalb
nicht stauen kann — die Blutung dauernd stillen, bei den letzteren hat
er meist nur die Bedeutung einer provisorischen Blutstillung; es muss
da später in der Eegel die Unterbindung folgen, wenn man vor baldigen
Wiederholungen der Blutung sicher sein will. Auch bei Blutungen am
Thorax kann man z. B. wiegen parenchymatöser Blutung nach der Ent-
fernung einer kranken Brustdrüse, die Compression anwenden, indem
man Compressen und Charpie auf die Wunde legt, und diese Verband-
stttcke durch um den Thorax fest angelegte Binden andrückt. Ein
solcher Verband belästigt indessen, wenn er recht wirksam sein soll, die
Kranken in hohem Maasse; es ist im Ganzen inmier besser, dass Sie
die blutenden Arterien, wenn es auch oft viele sind, regelrecht unter-
binden ; Sie sowohl wie Ihre Patienten werden sich besser dabei befinden,
indem Sie beide nicht so leicht durch die grade nach dieser Operation
in Folge eiliger Unterbindung und unvollkommener Compression ein-
tretenden Nachblutungen belästigt und beunruhigt werden.
An manchen Stellen des Körpers können ^5ie mit Hülfe von Com-
pressivbiuden nichts ausrichten, z. B. bei Blutungen aus dem Rectum, aus
der Vagina, aus der Tiefe der Nasenhöhle. Hier findet die Tamponade
(von Tampon, Zapfen) ihre iVnwendung. — Es giebt viele Arten von
Tampons, zumal für Blutungen aus der Vagina und aus dem Rectum.
Eine der einfachsten ist folgende: Sie nehmen ein viereckiges Stück
Leinwand, dessen Seiten etwa je 1 Fuss lang sein mögen; dies schieben
Sie, indem Sie es mit der Mitte über zwei oder drei, oder die fünf
zusammengelegten Finger Ihrer rechten Hand legen, in die Vagina oder
das Rectum hoch hinauf und füllen nun den durch die jetzt folgende
Entfernung Ihrer Hand entstehenden Raum mit Charpie fest aus, so viel
hineingehen will, so dass die Vagina oder das Rectum völlig von innen
ausgedehnt werden, und dadurch ein starker Druck auf ihre Wandungen
ausgeübt wird. Steht die Blutung, so lassen Sie den Tampon bis zum
anderen Tage oder je nach Bedürfniss etwas länger liegen und ent-
fernen ihn dann durch leichten Zug an der^ als Sack für die Charpie
dienenden Leinwand. Auch können Sie einen grossen Charpie- oder
Leinwandballen mit Fäden zusammenwickeln, und einen langen Faden
daran lassen, durch welchen Sie die ganze Masse wieder hervorziehen;
da ein solcher Tampon bald zu klein, bald zu gross ist, so würde ich
die erste Methode vorziehen, wobei man den vorgescliobenen Leinwand-
sack nach Bedürfniss füllen kann. Kommt die Blutung aus der Portio
vaginalis uteri z. B. nach einer Operation au diesem Theil, so ist es
42 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
freilich viel sicherer, mit einem grossen Sims 'sehen Speculum die hintere
Scheidenwand zurückzuhalten, die Portio vaginalis in Sicht zu stellen,
und einen Tampon unmittelbar und fest gegen die blutende Stelle anzu-
drücken, denn die Masse von Charpie, welche nöthig i^t, um die Vagina
einer Frau, die mehrfach geboren hat, so auszufüllen, dass kein Blut
mehr neben und durch den Tampon hindurch laufen kann, ist unglaub-
lich gross, und die Schmerzen, welche die Frauen dabei erleiden, sind
sehr bedeutend. — Bei heftigen Blutungen aus der Nase, die meist
aus dem hinteren Theil des unteren Naseuganges und gewiss nicht
selten aus dem nach hinten gelegenen cavernösen Gewebe der unteren
Muschel kommen, zeigt sich die Tamponade der Nase von vornher durch-
aus unzureichend und nutzlos; die Blutung dauert fort, und das Blut
wird entweder in den Pharynx entleert oder fliesst aus dem anderen
Nasenloch hervor, indem die Kranken durch i\.ndrücken des Velum
palatinum an die Pharynxwand den oberen Theil der Kachenhöhle ab-
sperren. Man musste also daran denken, die Nasenhöhle von hintenher
zu tamponiren, und dies erreicht man leicht mit Hülfe des B eil oc' sehen
Eöhrchens. Dies ausserordentlich zweckmässige Instrument besteht in
einer etwa fünf Zoll langen Canüle, deren eines Ende leicht gekrümmt
ist; in der Canüle liegt eine sie weit überragende Stahlfeder, an deren
Ende ein durchbohrter Knopf sitzt, Sie bereiten zuvor eine dicke Charpie-
wieke mit einem Faden daran, die stark genug ist, eine Choane aus-
zufüllen. Die Application dieses Apparats wird nun so gemacht, dass
Sie die Belloc'scbe Eöhre mit zurückgezogener Feder in den unteren
Nasengang einführen, sie bis hinten vorschieben, jetzt die Feder hervor-
drücken, so dass dieselbe unter dem Velum und im Munde zum Vor-
schein kommt. An den Knopf oder in das Loch desselben binden Sie
den Faden der Wieke fest ein und ziehen nun die Eöhre sammt der
Feder wieder aus der Nase hervor; der angebundene Faden und die
daran befestigte Wieke muss folgen, und Avenn Sie den Faden fest an-
ziehen, so wird dieselbe von hintenher fest in die Choane hineingepresst;
steht jetzt die Blutung, wie dies gewöhnlich zu sein pflegt, wenn die
Wieke (die nicht zu lang sein darf, damit ihr Ende nicht etwa auf dem
Larynx zu liegen kommt) nicht zu dünn war, so schneiden Sie den
Faden ab, lassen den Tampon bis zum folgenden Tage liegen und ziehen
ihn dann mit dem Faden hervor, was um so leichter geht, als er ge-
wöhnlich stark mit Schleim bedeckt, und dadurch glatt wird. Da man
dies Instrument nicht immer zur Hand hat, so kann man sich mit einem
elastischen Catheter, einem dünnen Stückchen Fischbein oder dergleichen
behelfen, indem man dieselben in die Nase vorschiebt, mit dem Finger
hinter das Velum palatinum greift, und das Ende in den Mund hervor-
zieht , um den Faden mit der Wieke daran zu befestigen. Die Anwen-
dung dieser Ersatzmittel erfordert jedoch mehr Geschick und Gewandtheit
als die Anwendung der Belloc'schen Eöhre.
Vorlesung 3. Capitel I. 43
3) Die Styptica sind Mittel, welche tlieils stark zusammenziehend
auf die Gewebe wirken, theils eine besonders rasche und feste Gerin-
nung- des Blutes erzielen. Die Zahl der empfohlenen Mittel ist ausser-
ordentlich gross; wir erwähnen nur diejenigen, welche unter gewissen
Verhältnissen erprobten Erfolg haben.
Durch die Kälte werden nicht allein die Arterien und Venenwan-
dungen zu Contractionen gereizt, sondern auch die übrigen Weichtheile
ziehen sich zusammen und comprimiren so die Gefässe; der Blutstrom
findet allmählig grössere Hindernisse und kann bei vollkommener Er-
frierung selbst vollständig stagniren. Die Vorstellung von der- Wirkung
der Kälte als Blutstillungsmittel scheint mir jedoch vielfach übertrieben;
ich rathe Ihnen, sich nicht zu sehr darauf zu verlassen. — Man kann
die Kälte in folgender Weise anwenden: zunächst kann man Eiswasser
gegen die blutende Wunde oder z. B. in die Vagina, das Kectum, in
die Blase durch einen Catheter, in die Nase, in den Mund spritzen; es
vereinigt sich hier der mechanische Reiz des kräftigen Wasserstrahls mit
demjenigen der Kälte; oder Sie nehmen Eisstiicke, die Sie unmittelbar
auf die Wunde legen, oder in Höhlen einschieben, oder z. B. bei Magen-
und Lungenblutungen herunterschlucken lassen; — oder endlich, Sie
füllen eine Blase mit Eis und legen sie auf die Wunde, um sie Stunden
oder Tage lang liegen zu lassen.
Die absolute Ruhe, die bei jeder Blutung zu beobachten ist, so wie
die Verkleinerung der Arteriendurchmesser in Folge des bereits Statt
gehabten Blutverlustes mögen oft grösseren Einfluss auf die Blutstillung
haben, als das angewandte Eis, welchem dann allein die Wirkung zu-
gesprochen wird. Ich will Ihnen nicht abrathen von der Anw^endung der
Kälte bei vorkommenden massigen parenchymatösen Blutungen, doch
erwarten Sie bei Blutungen aus stärkeren Arterien nicht zu
viel davon, und vergeuden Sie dabei nicht zu viel Zeit, denn hier
heisst es: Zeit ist Blut, Blut ist Leben!
Das Gleiche gilt von den örtlich oft angewandten adstringirenden
Mitteln, von dem Essig, der Alaunlösung und dergleichen, die auch die
Gewebe zusammenziehen und dadurch die Gefässe comprimiren; sie sind
recht gut, um etwa capillare Nasenblutungen zu stillen, grossartige Wir-
kungen dürfen Sie jedoch nicht davon erwarten.
Das glühende Eisen, ferrum candens, causticum actuale, wirkt
dadurch, dass es das Gefässende und das Blut verkohlt, und durch den
so entstehenden festen Brandschorf den Ausfluss des Blutes hindert.
Einen ganz weissgltthenden, in einen Holzstiel eingelassenen, vorn mit
einem kleinem Knopf versehenen Eisenstab brauchen Sie nur in die
unmittelbare Nähe der blutenden Stelle zu halten, um sofort einen
schwarzen Schorf zu bilden, ja zuweilen flammt das Gewebe schon durch
die strahlende Wärme eines weissglühenden Eisens. Ein rothglühendes
Eisen au die blutende Stelle angedrückt, hat dieselbe Wirkung, doch
44 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
verklebt es gern mit der gebildeten Eschara und nimmt sie wieder mit
fort. Diese gestielten Eisenstäbe pflegt man in einem Kohlenbecken durch
einen Blasebalg in die gehörige Hitze zu versetzen. — Das Glüheisen
kann unter Umständen recht bequem zur Blutstillung sein ; es war früher
das berühmteste Stvpticum, ehe man die Unterbindung kannte. Die
arabischen Chirurgen pflegten ihre Messer zur Amputation glühend zu
machen, ein Verfahren, welches selbst Fabricius Hildanus noch rühmt,
Avenngleich er es vorzog, mit feinen spitzen Glüheisen die Mündungen
der spritzenden Arterien isolirt zu brennen, worin er eine Geschicklich-
keit gehabt haben muss, um die man ihn beneiden könnte.
Noch in neuester Zeit ist man auf eine Methode verfallen, die sich
hieran anschliesst, nämlich das durch eine galvanische Batterie glühend
gemachte Platin zum Operiren zu benutzen. Dies ist die von Middel-
dorpf in Deutschland eingeführte s. g. Galvanocaustik, die unter
gewissen Umständen mit Vortheil angewandt werden kann. — Nicht
immer hat man begreiflicher Weise ein besonderes, für die Blutstillung
geformtes Glüheisen, wie Sie es in den chirurgischen Kliniken finden,
in der Praxis zur Hand, Dieffenbach, der genialste deutsche Opera-
teur dieses Jahrhunderts, der zugleich einer der originellsten Menschen
war, stillte einmal in Ermangelung aller übrigen Hülfsmittel allein in
einer elenden Wohnung eine heftige Blutung, die nach einer Geschwulst-
exstirpation am Eücken eingetreten war, mit einer Feuerzange, die er
schleunigst auf dem Heerd glühend gemacht hatte. Eine Stricknadel in
ein Stück Holz oder einen Kork gesteckt und am Licht erliitzt, kann
unter Umständen als Glüheisen dienen.
Ein Mittel, welches dem Glüheisen in. seiner Wirkung nicht nur
gleichzusetzen ist, sondern dasselbe zuweilen übertrifft, ist der Liquor
Ferri sesquiehlorati; diese Flüssigkeit bildet mit dem Blut ein so
festes lederartiges, anklebendes Coagukim, dass es sich dadurch vortreff-
lich als Stypticum eignet. Um es anzuwenden, nehmen Sie einen Charpie-
bausch, den Sie mit dem Liquor tränken, und drücken ihn, nachdem Sie
zuvor das Blut mit einem Schwamm fortgewischt haben, fest auf die
Wunde zwei bis fünf Minuten lang : so werden Sie selbst ziemlich starke
arterielle Blutungen damit stillen können. Hilft die erste Application
nichts, so wenden Sie es zum zweiten und dritten Mal an; dies Mittel
wird Sie selten im Stich lassen, doch macht es einen Aetzschorf, hinter
welchem sich nicht selten eine mit Gasblasen gemischte jauchige Eiterung
bildet; man wende daher auch dieses Stypticum nicht ohne dringende
Noth an. —
Feuers chwamm und Löschpapier auf blutende Wunden zu legen,
ist ein altes Volksmittel; der Feuerschwamm verklebt fest mit dem Blut
und der Wunde, wenn die Blutung niclit erheblich ist; ohne gleichzeitige
Compression ist er wirkungslos bei irgend stärkeren Hämorrhagien;
zuweilen thut er gute Dienste und wird von manchen Chirurgen sehr
Vorlcsuntf ?>. Capil(!l 1. 45
liocb g-elialten. Trockne, feste Cliai-])ie, auf die Wunde g'cdrückt, hat
nach meiner Erfahrung- dieselbe Wirkung-. Seit Kurzem habe ich einige
Male das Penghawar Djanibi angewandt, und kann bestätig-en, dass
es, fest auf die Wunde aufg-edriickt, gut styptisch wirkt, besser als Charpie ;
ob es so wirksam ist wie Liquor Ferri, lasse ich dahin g-estellt sein, doch
verschmiert es die Wunden weniger, wenn es ihnen auch mehre Tage lang-
fest anhängt. Penghawar Djambi besteht aus hellbraunen weichen Haaren
vomStammvonCibotiumCuminghii, eines inOstindien heimischenBaumfarren.
Andere Blutstillungsmittel sind das Terpentinöl und Aq. Binelli,
worin hauptsächlich das Kreosot wirksam ist; nur über das erste dieser
Mittel habe ich eigne Erfahrung und kann es Ihnen selir empfehlen; es
wurde, als ich in Göttingen studirte, besonders auch von meinem Lehrer,
Professor Baum, ang-erathen, und ich habe es einmal mit so eclatantem
Erfolg in einem verzweifelten Falle angewandt, dass ich eine gewisse
Pietät g-egen dieses Mittel habe. Freilich ist es ein sehr heroisches
Mittel, nicht allein, weil die Application des Terpentinöls auf die Wunde
einen sehr heftigen Schmerz macht, sondern auch, weil danach, sowohl
in der Wunde als in ihrer Umgebung, eine heftig-e Entzündung entsteht.
Ich will Ihnen den Fall mittheilen, wo ich es augewandt habe. Eine
junge, schwächliche Frau litt nach einer Entbindung schon seit vielen
Monaten an einer grossen Eiterung hinter der rechten Brust zwischen
der Brustdrüse und der Fascie des M. pectoralis ; es waren bereits viele
Incisionen durch die Brust und in ihrer Circuraferenz gemacht, um dem
in grosser Masse gebildeten Eiter freien Ausfluss zu geben; doch bald
schlössen sich die Oeffnungen wieder, und es mussten die alten erweitert
oder neue gemacht werden, weil in der Tiefe die Heilung nicht erfolgte.
Bei einer solchen Incision, die ich machte und ziemlich tief führte, trat
eine heftige Blutung ein; es quoll continuirlich aus der Tiefe der Eiter-
höhle Blut hervor, ohne dass ich im Staude war, das blutende Gefiiss
zu finden; ich füllte zunächst die Höhle mit Charpie und legte Bindeu-
touren darüber; bald kam das Blut durch den Verband hervor; ich ent-
fernte ihn, machte Injectionen mit Eiswasser in die verschiedenen Oeff-
nungen, die Blutung wurde massiger, ich machte wieder einen festen
Compressivverband, die Blutung schien zu stehen; kaum war ich in
meinem Zimmer im Hospital, als ich sofort von der Wärterin wieder
gerufen wurde, weil das Blut wieder durch den Verband quoll; die
Kranke war ohnmächtig geworden, sah leichenblass aus, der Puls sehr
klein. Sofort musste der Verband wieder entfernt werden; ich schob
jetzt Eisstücke durch die verschiedenen Oeffnungen in die Höhle unter
der Brust, doch stand die Blutung nicht. Die Kranke fiel von einer
Ohnmacht in die andere, das ganze Bett voll Blut und Eiswasser, die
Patientin mit kühlen Extremitäten und brechendem Auge liegt bewusst-
los vor mir, die Wärterinnen fortwährend bemüht, die Verblutende durch
Vorhalten von Ammoniak, Reiben der Stirn mit Eau de Cologne zum
46 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Leben ziirück/Airufen ; ich im Anfang meiner chiruTgischen Laufbahn
noch nicht durch ähnliche Scenen, die ich selbst veranlasst hatte, geübt
in Euhe und Geistesgegenwart! mir wird diese Situation unvergesslich
sein! Schon glaubte ich, es "würde unumgänglich sein, die Brustdrüse
rasch ganz zu amputiren, die blutende Arterie zu suchen und zu unter-
binden, als ich beschloss, noch einen Versuch mit dem Terpentin zu
machen. Ich tränkte einige Bauschen Charpie mit Terpentinöl, führte sie
in die Wundhöhle ein und sofort stand die Blutung, Die Patientin erholte
sich bald; es entstand durch das Terpentin, welches nach etwa 24 Stun-
den entfernt wurde, eine sehr heftige Eeaction in der Abscesshöhle, deren
Wandungen sich abstiessen; eine kräftig nachwachsende Granulations-
bildung bewirkte in drei Wochen jetzt die Heilung, an welcher Arzt und
Patientin Monate lang vergeblich mit Ausdauer und Geduld sich ermüdet
hatten. — Wodurch die Blutstillung bei Anwendung des Terpentinöls
und der Kreosotlösung zu Stande kommt, vermag ich Ihnen nicht anzu-
geben; eine besonders feste Coagulation des Blutes wird nicht dadurcli
erzielt, wahrscheinlich erfolgt durch den intensiven Beiz dieser Stotfe eine
besonders energische Contraction der durchschnittenen Gefässmündungen.
Im Ganzen w^erden Sie in der chirurgischen Klinik selten die
Styptica anwenden sehen; sie sind mehr ein Lieblingsmittel der prak-
tischen Aerzte, denen das Unterbinden und Umstechen der Arterien ein
ungewohntes Geschäft ist. Wo man unterbinden und comprimiren kann,
sollte man keine Styptica anwenden. Am Gesicht, am Halse, am Peri-
naeum kann man bei parenchymatösen Blutungen zur Anwendung der
wirksameren Styptica mit Vortheil schreiten, wenn nichts daran liegt,
ob die Wunde in der Folge eitert oder nicht; ist die Blutung aber be-
deutend, und haben Sie die Styptica im Stich gelassen, so ist die Unter-
bindung nachträglich viel schwieriger, da die Wunden durch die An-
wendung der Styptica oft schauderhaft verschmiert werden.
Von der Anwendung der innerlich zu gebenden, als Styptica empfoh-
lenen Arzneimittel haben Sie in der chirurgischen Praxis nichts zu
erwarten. Absolute Kühe, kühles Verhalten, Narcotiea, Abführungsmittel
bei congestiven Blutungen können gelegentlich recht zweckmässige Bei-
hülfen sein, doch die Wirkung ist für die Blutungen, mit denen wir es
in der Chirurgie zu thun haben, viel zu langsam.
Der allgemeine Schwächezustand bei profusen Blutungen
wird natürlich durch die Stillung der Blutung selbst am wirksamsten
bekämpft, doch können, während Sie damit beschäftigt sind, die sonst
zur Hülfe disponiblen Personen dazu verwandt werden, durch Riech-
mittel, Besprengen mit Wasser die Patienten aus den wiederholten Ohn-
mächten in's Leben zurückzurufen. Erst wenn die Blutung gestillt ist,
dürfen Sie sich selbst dieser Beschäftigung hingeben; man giebt starken
Wein, Rum oder Cognac, warmen Kaffee, warme Suppe, einige Tropfen
Spiritus aethereus , Essigäther , iässt Ammoniak und dergleichen
VorlosTinc; ?,. Capifol T, 47
ricclicii. Rasche künstliche Erwfirimini;' (hiicli llel)ercleckcn der Blutenden
mit dicken g'ewänuten 'l'iiclicrn ist sehr wirksam. Hehr zweckmässig
ist es auch, die Extremitäten mit elastisclien Binden einzuwickeln, um
das darin enthaltene Blut ins Innere des Körpers zu treiben, da die
Extremitäten das Blut elier eine Zeit lang- ganz entljehren können, als
das Hirn , das Herz und die Lungen. Es ist mir bis jetzt nicht vor-
gekommen, dass sich ein Patient unter meinen Händen verblutet hätte,
wohl aber sind mir mehre Fälle begegnet, in welclien 2 und 5 Stunden
nach grossen Operationen mit starkem Blutverlust die Kranken
unter Dyspnoe und krampfhaften Zuckungen, offenbar in Folge des
starken Blutverlustes, starben; es giebt für solche Fälle noch ein ex-
tremes Mittel, nämlich dem blutleeren Menschen Blut von einem andern
gesunden Menschen einzuspritzen. Diese Operation, welche man Trans-
fusion nennt, ist schon ziemlich alt; sie entstand in der Mitte des
17. Jahrhunderts, wurde, nachdem man eine Zeitlang über das Aben-
teuerliche derselben gestaunt hatte, bei Seite gelegt und bespöttelt, dann
aber am Ende des vorigen Jahrhunderts von englischen Aerzten, zumal
Geburtshelfern, wieder aus dem Dunkel der Vergessenheit hervorgezogen ;
nachdem Dieffenbach einige Versuche gemacht hatte, die Transfusion
in Deutschland wieder einzuführen, jedoch bald wieder davon abstand,
hat besonders Martin in neuester Zeit das Verdienst, auf diese Operation
als lebensretteude von Neuem hingewiesen zu haben, während Panum
den Gegenstand physiologisch experimeiitell gründlich behandelte. Der
Instrumentenapparat besteht aus Messer, Pincetten, Scheere, einer dünnen
Canüle und einer dahineinpassenden Giasspritze, die etwa 4 — 6 Unzen
Flüssigkeit hält. Man lässt einem gesunden, kräftigen, jungen Mann in der
gewöhnlichen, später zu besprechenden Weise aus einer Armvene zur Ader
und fängt das Blut, zunächst etwa 4 Unzen, in einem etwas hohen Topf auf,
welcher in einem Waschbecken steht, das mit Wasser von Blutwärme
gefüllt ist; das in den Topf fliessende Blut wird so lange mit einem
Quirl gepeitscht, bis sich der Faserstoff ausscheidet. Während dies ge-
schieht, wird am Verbluteten in der Ellenbogenbeuge die am deutlichsten
wahrnehmbare subcutane Vene durch einen Hautschnitt frei präparirt;
dann werden zwei Seidenfäden unter die Vene geführt, der untere wird
angezogen, ohne ihn zu schliessen, damit bei dem nun folgenden feinen
schrägen Scheerenschnitt in die Vene kein Blut ausfliesst; in die jetzt
klaffende Oeffnung der Vene wird die Canüle nach oben eingeschoben
und der obere Faden über der Canüle gekreuzt, ohne einen Knoten zu
machen; es muss etwas Blut aus der Canüle hervortreten, um diese zu
füllen und die Luft aus ihr auszutreiben. Der Assistent hat unterdessen
den Aderlass am Gesunden beendigt und das gequirlte Blut durch ein
feines Tuch filtrirt; mit dem Blut wird dann die zuvor erwärmte Spritze
gefüllt, umgekehrt, die Luft ganz ausgetrieben. Jetzt setzt man die
Spritze fest in die Canüle und injicirt das Blut sehr langsam. Die Er-
48 Von den einfachen Schnittwnnden der "Weichtheile.
fahrang hat gelehrt, dass es nicht rathsam ist, mehr als 4—8 Unzen
Blut zu iujiciren und dass dies auch völlig genügt, um das Lehen wieder
wachzurufen. Man muss die Spritze nie ganz entleeren und sofort auf-
hören, wenn der Kranke Dyspnoe hekommt. Ist die lujection vollendet,
so entfernt man die Ligaturfäden und die Caniile und behandelt die
Wunde wie nach dem Aderlass. — Yiel ist darüber gestritten, ob es
nothwendig sei, den Faserstoff des zu injicirenden Blutes zuvor aus-
zuscheiden, oder nicht. Durch Panum' s Versuche ist dies endgültig dahin
entschieden, dass der Faserstoif zur Wiederbelebung durch „Blutsubsti-
tution" nicht nothwendig ist und bei der grössten Vorsicht doch durch
die Gerinnsel schädlich werden kann. Die Zufuhr von Blutkörperchen
als Sauerstoffträger scheint das wesentlich Belebende bei dieser Operation
zu sein. — Vielleicht hat die Transfusion noch eine weitere Zukunft; ob
die Transfusion auch bei hochgradiger Anämie, die aus anderen, zuweilen
unbekannten Ursachen entstand, von Nutzen sein kann, ist nach den
Kesultaten von Panum's vorzüglichen Arbeiten, wonach das Blut nicht
selbst ernährt, sondern nur der Hauptträger und das Verbreitungsmittel
für die Ernährung i&t, wohl ziemlich zweifelhaft geworden. Die Ver-
suche, welche bei Verwundeten, die in Folge profuser Eiterungen anämisch
wurden, durch Keudörfer in dem letzten italienischen Kriege gemacht
sind , haben keine nachhaltigen Erfolge gehabt. Am eingehendsten hat
sich in neuester Zeit Hu et er mit der Transfusion beschäftigt; er.
zieht es vor und empfiehlt dringend das gequirlte und filtrirte Venenblut
in eine Arterie (A. radialis oder tibialis postica) in peripherer Richtung
zu iujiciren, v>'as schon früher von v. Graefe einmal ausgeführt war;
da Hueter durch Beispiele gezeigt hat, dass diese arterielle Transfusion
fast leichter auszuführen ist als die venöse, so verdient diese Methode
vorzüglicli deshalb den Vorzug, weil dabei die Gefahr der Embolie in
die Lungengefässe sicher vermieden wird; an Hand und Fuss sind bei
Hueter' s Operirten keine abnormen Erscheinungen während und nach
der Transfusion aufgetreten; es ist mir jedoch zweifelhaft, ob es in vielen
Fällen gelingen wird, eine Canüle in die genannten kleinen Arterien
eines Verblutenden zu bringen, man wird dann die A. brachialis wählen
müssen. — Die enorme Steigerung der Körpertemperatur, das Auftreten
blutigen Urins, Cyanose, Dyspnoe und andere Erscheinungen, welche
nach dieser Operation, zuweilen schon während derselben aufti-eten,
deuten darauf hin, dass dieselbe doch ein sehr bedeutender Eingritf in
die physiologische Thätigkeit des Organismus ist; ich bin daher jetzt
weniger für diese von mir und meinen Assistenten bisher stets vergeblich
angewandte Operation eingenommen als früher, wo ich dieselbe nur nach
den Berichten Anderer kannte. — In allerj üngster Zeit kommen die
directen Transfusionen mit Lammblut (die erste und älteste Form dieser
Operationsmethode) wieder in Aufnahme; es sind Todesfälle während
dieser Operationen vorgekommen. Die Berichte über die als erfolgreich
Yoricsiiiio 4. dupücl I. 4'J
bezeichneten Lanimbluttraiisfusioneii haben niicli bisher nicht Ijestimmen
können, meine Ansicht über diese Operationen zu ändern.
. Auf die Behandlung' der späteren Folg'c/ustände nach bedeutenden
Blutverlusten kann ich mich hier nicht einlassen; dass im Allgemeinen
das Siechthum, die mangelhafte Neubildung des Blutes dui'cli roborirende
und kräftig nährende, diätetische und medicamentöse B(;handlung be-
kämpft werden muss, wird Ihnen einleuchtend sein.
Vorlesung 4.
Klnflen der Wunde. — Vereinigung durch Pflaster. — Nalit; Knopfnalit; umsclilungene
Nalit. — Aeusserlich an der vereinigten Wunde wahrnehmbare Veränderungen. — Ent-
fernung der Nähte. — Heihmg per priman intentionem.
Nachdem Sie bei einer Wunde die Blutung- völlig- gestillt, durch
Auswaschen mit kaltem Wasser die Wundfläche gereinigt haben, über-
zeugen Sie sich von der Tiefe und von der Beschaffenheit der durch-
schnittenen Theile genau und achten dabei besonders darauf, ob ein
Gelenk o^er eine Körperhöhle eröffnet wurde, ob starke Nervenstämme
durchschnitten sind, ob ein Knochen entblösst oder verletzt ist etc. Nun
richten wir unsere Aufmerksamkeit auf die dritte Erscheinung an der
frischen Wunde, nämlich auf das Klaffen derselben. Haut, Fascien und
Nerven werden bei ihrer Trennung- theils in Folge ihrer Elasticität aus-
einander weichen, theils dadurch, dass sie mit Muskeln zusammenhängen,
die vermöge ihrer Contractilität sich sofort nach der Verwundung-
zusammenziehen, und deren Durchschnittsflächen also, zumal bei Quer-
wunden, mehr oder weniger weit von einander stehen werden.
Wir wollen zunächst nur solche Schnittwunden ins Aug-e fassen, bei
denen kein Verlust von Weichtheilen Statt gehabt hat, sondern die
Weichtheile nur einfach getrennt sind. Wenn eine solche Wunde rasch
zusammenheilen soll, so ist dazu erforderlich, dass die beiden Wund-
ränder genau wieder so aneinander gebracht werden, wie es vor der
Verwundung war, und um dies zu erreichen, bedienen wir uns theils
klebender Pflasterstreifen, theils der Naht.
Bei Wunden, welche die Cutis kaum durchtrennt haben, wie bei
den im gewöhnlichen Leben so oft vorkommenden kleinen Schnittwunden
an den Fingern, braucht mau bekanntlich mit Vortheil das Englische
Pflaster. Es besteht aus einer Auf lösung von Hausenblase in Wasser,
vermischt mit etwas rectificirtem Weingeist, womit ein Stück dünnen,
jedoch festen Seidenzeugs oder Papiers bestrichen wird; die Kückseite
bepinselt man oft noch mit Benzoetinctur, damit das Pflaster einen
angenehmen Geruch bekommt. Da sich das Pflaster unter feuchten
Ueberschlägen leicht löst, so ist es oft ganz zweckmässig, dasselbe,
Billroth cliir. Patli. u, Ther. 7. Anfl. 4
5Q Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
wenn es getrocknet ist, vermittelst eines Pinsels mit CoUodium zu
bestreichen.
Collodium ist eine Auflösung- von Schiessbaumwolle in einer
Mischung von Aether und Alkohol ; wird diese Flüssigkeit auf das Pflaster
und die nächste Umgebung der Haut gestrichen, so verdunstet sehr bald
der Aether und es bleibt eine feine, die Haut nicht selten stark zu-
sammenziehende Membran zurück, welche in "Wasser unlöslich ist. Von
der zusammenziehenden Wirkung des Collodiums kann man auch noch
einen weiteren therapeutischen Gebrauch machen, indem man es entweder
allein oder besser nach vorheriger Bedeckung des betreffenden Theils
mit dünnem weitmaschigem Baumwollenzeug (Gaze) auf die entzündete
Haut streicht und dadurch einen leichten gleichmässigen Druck auf die-
selbe ausübt. Hüten Sie sich, wenn Sie Collodium anwenden, um das
Pflaster damit zu fixiren, es unmittelbar auf die Wunde zu bringen; es
wird dadurch nicht allein unnöthig Schmerz verursacht, sondern es kann
auch Entzündung und Eiterung der Wunde dadurch veranlasst werden,
die gerade vermieden werden soll.
Wenn die Cutis durchtrennt ist und das Pflaster irgend welche
stärkere Spannung beseitigen muss, um die Wundränder an einander
zu halten, so reicht das englische Pflaster nicht mehr aus ; Sie brauchen
dann das eigentliche Heftpflaster. Wir haben davon zwei Arten, ab-
gesehen von unzähligen Modificationen und Versuchen, dies Pflaster theils
billiger, theils besser herzustellen. Das Emplastrum adhaesivum,
Emplastrum diachylon compositum, unser gebräuchliches Heftpflaster,
besteht aus Baumöl, Bleiglätte, Colophonium und Terpentin. Man streicht
es erwärmt auf Leinwand, und braucht es gewöhnlich in Form von
Streifen, die man über die Wunde legt und die Wundränder dadurch au
einander zieht und zusammenhält. Dies Pflaster klebt, wenn es frisch
bereitet ist, vortrefflich, löst sich indessen, wenn man längere Zeit darüber
feuchte Umschläge macht, ab; sehr empfindliche Haut wird durch dies
Pflaster, wenn es oft applicirt wird, seltener nach einmaliger Application
gereizt, und kann man dann zu dem andern Heftpflaster greifen, dem
Emplastrum cerussae (Emplastrum adhaesivum album), welches aus
Baumöl , Bleiglätte und Bleiweiss mit heissem Wasser bereitet wird.
Dies Pflaster klebt weit weniger fest, hat jedoch das Angenehme, dass
es die Wundränder weniger verschmiert, wie das gelbe Heftpflaster. —
Eine Mischung von beiden Arten Pflaster zu gleichen Theilen mildert
die Nachtheile und vereinigt die Vortheile beider.
Im Allgemeinen vermeidet man bei grösseren Wunden jetzt mehr
als früher die Anwendung der Klebepflaster und braucht dafür häufiger
die Naht. Wenn wir Wunden durch die Naht vereinigen wollen, wählen
wir in der Regel nur zwischen zwei Arten von Nähten, der Knopfnaht
(sutura nodosa) und der umschlungenen Naht (sutura circumvoluta).
Der Einwurf, dass wir durch das Einlegen eines fremden Körpers, näm-
Vnrlesniiir A. Cfipitel I. 51
lieh des Faclen^s oder einer Nadel, die Wundriindcr contiiiiiirlicli in einem
Reiz7Aistand erlialten, hat etwas Wahres, vei'mag- jedocli den ungeheuren
Vortheilen, welche wir durch die Sicherlieit der Aneinanderfügung- der
Wundflächen vermittelst der Naht erreichen , niclit Eintrag- zu thun. Es
sind daher ausser den Klebepflastern fast alle Surrogate für die Naht,
in denen sich die ältere und moderne Chirurgie erschöpft hat, nachdem
sie eine Zeitlang als Modesache vielfach angewandt wurden, wieder
verlassen. Die Naht ist noch nicht verdrängt, ebensowenig wie die Unter-
bindung, und wird schwerlich jemals verdrängt werden.
Es giebt gewisse Körpertheile, wie die behaarte Kopfliaut, die Hände
und die Füsse, wo man die Nähte gern vermeidet, weil hier etwa auf-
tretende Entzündungsprocesse, die man der Naht oft zugeschrie])en hat,
leicht einen gefährlichen Charakter annehmen; doch glaube ich, dass
dabei ein Vorurtheil im Spiel ist: Kopfwunden disponireu ül)erhaupt
leicht zu Entzündungen der Haut und des Unterhautzellgewebes; ob
diese Disposition durch die Suturen besonders erhöht wird, ist durch
statistische Nachweise in grossem Maassstabe nicht gezeigt. Es giebt
derartige Glaubensartikel, die sich von Lehrer auf Schüler, von Hand-
buch zu Handbuch fortpflanzen; viele von ihnen sind eine Art Hippo-
kratischer Traditionen voller praktischer Wahrheit, ihnen versage ich
meinen Respect nicht; — andere haben ihren Grund nur in kritiklosen
Beobachtungen und danach gebildeten Vorurtheilen; zu diesen rechne
icli das Verbot, Kopfwunden zu nähen. Wenn ich meine Erfahrung
durchlaufe, sind mir mehr Fälle von ungenähten Kopfwunden mit nach-
folgenden Hautentzündungen erinnerlich, als solche, wo Suturen angelegt
waren. Von grosser Wichtigkeit ist es jedoch, 'die Nähte am
Kopf nicht zu fest zusammen zu schnüren, auftretende Ent-
zündungen am Kopf rechtzeitig zu erkennen und unter solchen
Umständen die Suturen früh zu entfernen. — Es ergiebt sich die
Nothwendigkeit für die Anlegung einer Sutur aus dem Grade des
Klaffens der Wunde, aus der Form derselben, ob z. B. Lappeuwunde
oder nicht, von selbst; unnöthige Mühe wird man sich durch das An-
legen von Suturen überhaupt nicht machen, wenn man es nicht im ersten
chirurgischen Eifer zu weit treibt, doch wo aus den angegebenen Grün-
den Heftpflaster nicht verwendbar ist oder nicht genügt, muss die Sutur
angelegt werden.
Zur Knopfnaht brauchen wir chirurgische Nadeln und Seidenfädeu
oder Metallfäden. Die chirurgischen Nadeln unterscheiden sich von
den gewöhnlichen Nähnadeln dadurch, dass sie eine lanzettförmig ge-
schliifene Spitze haben müssen, weil diese leichter die Haut durchdringt,
als die runde Spitze der Nähnadel; ausserdem sind sie von etwas
weicherem Stahl als die englischen Nähnadeln, damit sie nicht so leicht
springen. Hire Dicke und Länge ist sehr verschieden, je nachdem man
starke Fäden tief durch die Wuudräuder legen rauss, z. B. bei grosser
4*
52 Von <äeii einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Spannimg' derselben, oder nur feine Fäden braucht, um die Hautränder
genau zu eoaptiren. Alle Nadeln müssen jedoch ein nicht zu eug-es Oehr
haben, damit man nicht mit dem Einfädeln unnütz Zeit verliert. Die
Form der Nadeln ist entweder eine ganz grade oder eine gekrümmte.
Die Krümmung soll nach den verschiedenen Localitäten, an denen mau
zu nähen hat, eine verschiedene sein; feine, sehr stark gekrümmte Na-
deln sind z. B. zum Nähen in der Gegend des inneren Augenwinkels
nöthig; grosse, stark gekrümmte Nadeln braucht man zum Nähen des
bei einer Entbindung zerrissenen Damms u. s. w. Die Krümmung be-
trifft entweder die ganze Nadel oder nur die Spitze; die Mannigfaltigkeit
ist sehr gross; zum Nähen der gewöhnlich in der Praxis vorkommenden
Wunden brauchen Sie nur einige dünnere und dicke, grade und ver-
schieden gekrümmte Nadeln.
Die Fäden sind in der Eegel von Seide verschiedener Stärke, welche
der Dicke der Nadeln entspricht; früher habe ich immer mit der lockeren
rothen Seide genäht, die seit langer Zeit zu diesem Zwecke verwandt
wird. In England habe ich jedoch eine Art ungefärbter, stark ge-
drehter Seide kennen gelernt, die bei eminenter Feinheit so fest ist,
dass man mit Fäden von der Feinheit eines Haares noch gut nähen und
Wundränder zusammenziehen kann; diese Seide ist ausserdem so wenig
imbibitionsfähig, dass sie viele Tage in der Wunde liegenbleiben kann,
ohne zu quellen, ohne zu reizen; ich brauche jetzt nur noch diese s. g.
chinesische Seide. Ein anderes Material zum Nähen ist von Amerika
und England aus in Schwung gebracht, nämlich Silber- oder Eiseu-
draht. Derselbe muss äusserst fein und weich sein; der Eisendraht
wird zu diesem Zweck sehr stark geglüht. Man ist zu der Anwendung
dieses Materials durch die Erfahrung gekommen, dass Metallstücke, wenn
sie im Körper stecken bleiben, oft keine Eiterung erzeugen, sondern ein-
heilen können. Man glaubte daher, die an den Stichöffnungen der Nähte
nicht selten eintretenden Eiterungen vermeiden zu können, wenn man
anstatt des animalischen Stoffes, der Seide, Metall wählte. Es ist in der
That nicht zu leugnen, dass eine solche Eiterung an den Stich Öffnungen
der Metallnähte viel weniger leicht eintritt, als bei den Seideufäden,
doch ist durch experimentelle Untersuchungen von Simon nachgewiesen,
dass die Eiterung der Nahtwunden wesentlich von der Dicke der Fäden
abhängig ist. Ich kann es aus eigener Erfahrung bestätigen, dass sehr
feine Seidenfäden ebensowenig Eiterung der Stichcanäle machen und
ebenso einheilen können, wie Metalldrähte.
Wir kommen nun zur Anlegung der Knopfnaht. Sie führen
dieselbe in folgender Weise aus: mit einer Hakenpincette ergreifen Sie
zunächst den einen Wundrand der Haut, stechen etwa zwei Linien davon
entfernt die Nadel ein durch die Haut bis ins Unterhautzellgewebe und
führen die Nadel in der Wunde wieder heraus; jetzt ergreifen Sie mit
der Pincette den andern Wundraud und stechen von der Wunde aus und
^ Vorlesung 4. Capifel T. 53
von unten nach oben die Flaut dcB eutg-egeng-esetzten Wundrandes durch,
genau gegenüber dem ersten Einstich, ziehen dann den Faden dui-cli,
schneiden soviel davon ab, dass er auf beiden Seiten lang genug ist,
um bequem einen Knoten schlingen zu können. Nun machen Sie einen
einfachen oder, wenn die Spannung der Wundrändor gross ist, einen
chirurgischen Knoten, schliesseu ihn fest und achten dabei darauf, dass
die Wundränder genau zusammenliegen, dann setzen Sie einen zweiten
einfachen Knoten darauf und schneiden beide Fäden dicht am Knoten
ab, damit nicht etwa längere Fadenenden sich in die Wunde legen.
Wollen Sie Draht gebrauchen, so fädeln Sie denselben wie
Seidenfäden in die Nadeln, knicken das kurz eingezogene Ende des
Drahts im Oehr der Nadel und machen nun das Durchziehen der Fäden,
wie oben beschrieben. Wenn der Draht recht schön weich ist, so kann
man damit vortrefflich einen Knoten schlagen, wie mit einem Seiden-
faden; doch ist diese ganze Manipulation mit dem Draht viel weniger
angenehm, als mit dem Seidenfaden, und beim Schluss des Knotens wirft
sich der Hautrand leicht um, oder es bilden sich beim Knotenschluss
Verschlingungen, die den Halt weniger sicher machen; zumal geschieht
dies leicht bei unserm deutschen Eisendraht, der in der Weichheit den
englischen noch nicht erreicht. Die angenehmsten Metallfäden sind aus
einem Gemisch von Gold und Silber und aus Platin, woraus man Drähte
von wunderbarer Feinheit, Weichheit und gleichzeitiger Festigkeit her-
stellen kann. Doch welche lächerliche Idee wäre es, diese theuren Sub-
stanzen der ordinären Seide substituiren zu wollen, durch welche Millionen
von Wunden vortrefflich geheilt sind und in Zukunft noch geheilt werden. —
Ich übergehe die vielen neuerfundenen Htilfsmittel, um die Drähte durch
Knoten oder kurze Umdrehungen zu schliessen; sie beweisen, dass sich
auch denen, welche lebhaft für die Metallsuturen schwärmen, manche
Schwierigkeiten im Schluss des Knotens dargeboten haben. Ich schlinge
mit dem Draht zuerst einen einfachen Knoten, dann ziehe ich denselben
an, mache 2 — 3 rasche kurze Umdrehungen und schneide nun beide
Enden dicht an der gedrehten Stelle ab. — Die Metallfäden schneiden,
je feiner sie sind, die Wundränder bei einiger Spannung ebenso durch,
wie die Seidenfäden.
Ich habe die vermeintlichen Naehtheile der Seidensuturen selten so
lebhaft empfunden, dass ich oft Gelegenheit nehmen sollte, sie durch
Metallfäden zu ersetzen, nur ausnahmsweise halte ich ihre Anwendung
von Vortheil, wovon mehr in der Klinik bei einzelnen Vorkommnissen. —
Man hat sich in früherer Zeit schon vielfach Mühe gegeben, die Seiden-
fäden durch noch andere Substanzen, z. B. durch feine Darmsaiten, durch
Pferdehaare und dergleichen mehr, zu ersetzen, doch haben diese Empfeh-
lungen wenig Beifall gefunden; wir wollen uns daher zunächst mit unsern
Seidenfäden begnügen.
Die Führung der gradeu Nadeln mit dem Finger ist am gebrauch-
54 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
lichsten. Die krummen Nadeln führt man indessen, besonders wenn sie
klein sind, besser und sicherer, zumal bei tiefliegenden Wunden, mit
besonderen Nadelhaltern. Es giebt deren eine grosse Menge; ich
pflege von allen nur einen zu gebrauchen, nämlich den von Dieffen-
bach. Er besteht in einer Zange mit kurzen dicken Branchen, zwischen
welchen man die Nadel fest und sicher hält, und sie in der Richtung
ihrer Krümmung in und durch die Haut führt. Dieses unendlich ein-
fache Instrument reicht fast für alle Fälle aus, und wird an Sicherheit
der Nadelhaltuug und Führung in einer geübten Hand von keinem
Instrument der Art übertroffen. Compiicirte Instrumente sind vorzüglich
für ungeschickte Chirurgen, sagt Dieffenbach in der schönen Ein-
leitung seiner operativen Chirurgie; nicht das Instrument, sondern die
Hand des Chirurgen soll operiren. — Uebung und G-ewohnheit in dem
Gebrauch des einen oder andern Instruments machen für den Einen dies,
für den Andern das entbehrlich. So ist es auch für Manche unbe-
quem und umständlich, mit der Pincette die zu nähenden "Wundränder
zu fassen, wie ich es Ihnen vorher zeigte; doch ist dies Verfahren weit
subtiler, als die Wundränder mit den Fingern zu halten ; mir würde dies
letÄere höchst unbequem sein; hier ist es erlau-bt, dass Jeder nach seiner
Weise und Gewohnheit verfährt, wie es ihm am bequemsten und besten
von der Hand geht. — Wenn ich in grosser Tiefe, z. B. am Velum
palatinum, im Eectum, in der Vagina nähen muss, brauche ich immer
gestielte Nadeln.
Die Zahl cler anzulegenden Nähte hängt natürlich von der Länge
der Wunde ab; in der Regel genügen Suturen in der Distanz von einem
halben Zoll, doch wo man sehr viel Gewicht auf genaue Apposition der
Wundränder und feine Narben zu legen hat, wie bei Wunden im Ge-
sicht, muss man dichter nähen, und mit starken, weiter von den Wund-
rändern entfernten tiefen und feinen, die Ränder nur schmal fassenden
Nähten abwechseln (Simon 's Doppelnaht).
Die zweite Art der Naht, die umschlungene, auch wohl Hasen-
schartennaht genannt, besteht darin, dass man eine lauge Stecknadel
mit lanzettförmiger Spitze durch die Wundränder schiebt, sie liegen
lässt und einen Faden, der aus starker Baumwolle oder Seide bestehen
kann, so um die Nadel legt, wie ich es Ihnen jetzt zeige. Sie fassen
den Faden mit beiden Händen, legen ihn parallel der Nadel unmittelbar
oberhalb derselben, also quer über die Wunde, ziehen an der Ein- und
Ausstichöffnung der Nadel die Fäden nach unten ziv an und schieben
dadurch die Wundränder genau zusammen (dies ist die s. g. Null-
tour); nun wechseln Sie die Fäden mit den Händen, und mit dem
rechten Faden in der linken Hand umgehen Sie von oben nach unten
das links hervorstehende Ende der Nadel, mit dem linken Faden in der
rechten Hand ebenso das rechts hervorstehende Ende der Nadel; jetzt
wechseln Sie wieder die Fäden und machen die gleichen s. g. Achter-
Vorlesiinp; 4. Capifel T. 55
toiiren, im Ganzen 3 — 4 Mal, dann kommt ein doppelter Knoten darauf,
die .Fadenenden werden diclit am Knoten abgeschnitten, und die beiden
, Enden der Nadel nach Bediirfniss mit einer eigens dazu bestimmten
kleinen schneidenden Zange abgekürzt, damit sie nicht in die Haut ein-
drücken, doch auch niclit zu kurz, damit man sie später leicht wieder
ausziehen kann.
Es giebt noch eine grosse Menge von anderen Nähten, die zum
grössten Theil nur historischen Werth haben, und die wir hier über-
gehen ; einige besondere Arten des Nähens kommen bei den Wunden
einzelner Theile z. B. des Darms in der speciellen Chirurgie zur Sprache.
Worin liegen nun die Vortheile der umschlungenen Naht vor der
Knopfnaht? Wann wenden wir die umschlungene Naht an? — Es lassen
sich diese Indicationen auf zwei Momente reduciren, wobei Sie die
Knopfnaht als die einfachere und gewöhnliche festhalten. Die um-
schlungene Naht kommt in Anwendung, 1) wenn die Spannung der
Wundränder sehr bedeutend ist, 2) wenn die zu vereinigenden Hautränder
dünn und ohne Unterlage sind, bei sehr schlaffer Haut, kurz, wo die
Wundränder grosse Neigung haben, sich nach innen einzurollen. Das
Liegenbleiben der Nadeln giebt für beide Fälle der Naht einen sicheren,
festeren Halt, die Nadel dient gewissermaassen als subcutane Schiene für
die Hautränder, sie werden von ihr getragen und durch die mehrfach
darauf liegenden Fäden auch von oben her sicherer in der Lage
erhalten. — Li vielen Fällen, wo man im Gesicht genau näht, wählt man
abwechselnd bald die Knopfnähte, bald die umschlungenen Nähte; letz-
tere dienen dann als Stützen und Entspannungsnähte, erstere zur noch
genaueren Vereinigung der schon fixirten Wundränder.
Ist die Blutung gestillt, ist die Wunde genau vereinigt, so ist vor
der Hand Alles geschehen, was zunächst nöthig war. Beobachten wir
jetzt, was an der geschlossenen Wunde weiter vorgeht.
Unmittelbar nach der Vereinigung sind die Wundrauder m der Kegel
blass durch den Druck, welchen die Suturen ausüben, indem durch die-
selben die Capillaren der Haut zusammengedrückt werden, in selteneren
Fällen ist die Färbung der Wundränder der Haut eine dunkelbläuliche-,
dies deutet dann immer auf einen stark behinderten Ettckfluss des Blutes
in den Venen, dessen Ursache der xlusfall eines Theils der Blutbahn
ist; die Durchschneidung einer grösseren Anzahl von Capillaren kann
begreiflicher Weise die Comnmnication zwischen Arterien und Venen
erheblich stören, so dass hier oder dort am Wundrand die vis a
tergo für den venösen Strom fehlt; im Ganzen ist diese dunkelblaue
Färbung der Wundränder selten'; sie gleicht sich entweder bald wieder
von selbst aus, oder es stirbt eine kleine Partie des Wundrandes ab,
5(3 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
eine Ersclieinung-, worauf wir bei den gequetschten Wunden zurück-
kommen, bei denen dieser Fall selir häufig- eintritt.
Nach 24 — 48 Stunden finden Sie die Wundränder nicht selten leicht
g-eseh wellt und zuweilen hellrosa gefärbt; diese Röthe und Schwellung
fehlt allerdings oft (zumal bei dicker Epidermis), breitet sich aber zu-
weilen, je nach der Grösse und Tiefe der Wunde, auch je nach der
Spannung der Haut, bald nur zwei bis drei Linien, bald zwei bis drei
Zoll um die Wunde herum aus; innerhalb dieser Breite bewegt sich die
gewöhnliche, s. g. örtliche Eeaetion im Bereich der Wunde. Die Wunde
schmerzt leicht, zumal bei Berührung. Bei Kindern und bei Frauen mit
zarter Epidermis lässt sich das Alles am besten beobachten. Um Wunden
im Gesicht findet man nach 24 Stunden nicht selten ausgedehntes Oedem,
besonders an den Augenlidern; dies erschreckt den Anfänger oft sehr,
hat jedoch meist keine Gefahr. In einer nicht unbedeutenden Anzahl
von Fällen, wenn die Nähte nicht zu fest angelegt sind, erscheinen die
Wundränder nicht nur unmittelbar nachher ganz unverändert, sondern
bleiben es auch bis zur Heilung; dies ist der günstigste, ideal normale
Verlauf.
Oft genug zeigen sich an der Wunde deutlich die Cardinalsymptome
der Entzündung : Schmerz, Eöthe, Anschwellung, auch vermehrte Wärme,
von der Sie sich durch das Auflegen des Fingers auf die Umgebung
der Wunde und vergleichsweise auf einen entfernteren Körpertheil, leicht
überzeugen können. Der Process, der nun an der Wunde vorgeht, und
durch welchen die Vereinigung der Wundränder erfolgt, gehört in die
Kategorie von Combinationen morphologischer und chemischer Metamor-
phosen der Gewebe, welche man mit der Bezeichnung Entzündung
zusammenfasst, und zwar spricht man im gegebenen Falle von einer
traumatischen Entzündung, d. h. eine Entzündung veranlasst durch eine
Verletzung (Tgavi-ia).
Wenn in 24 Stunden die genannten örtlichen Erscheinungen nicht
eine über die eben angedeutete Grenze hinausgehende Ausbreitung ge-
wonnen haben, so dürfen Sie v,or der Hand den Process als normal
verlaufend ansehen. Es ist eine wesentliche Eigenthümlichkeit
der traumatischen Entzündung, dass sie in reiner Form sich
durchaus auf die Wundränder beschränkt und auch ohne beson-
dere Veranlassung nicht progressiv wird. — Am nächsten und
selbst am dritten Tage können die Erscheinungen noch ziemlich auf
gleicher Höhe bleiben, ohne dass dies als etwas Aussergewöhnliches zu
betrachten wäre; gegen den dritten bis fünften Tag muss indessen die
etwa vorhandene Röthe, Geschwulst, Schmerz und erhöhte Wärme des
verletzten Theiles grösstentheils, wenn auch noch nicht ganz verschwinden.
Steigern sich die Erscheinungen noch am zweiten, dritten, vierten Tage,
oder treten einige von ihnen, z. B. heftiger Schmerz, starke Schwellung an
diesen Tagen erst recht stark hervor, nachdem sie bereits vorübergegangen
Vorlesiiiio- 4. Capitel I. 57
schienen, oder dauern sie mit steig-endcr Intensität bis über den fünften,
sechsten Tag' liinaus, so sind dies Zeichen, dass der Verlauf der Heikmg'
von dem gewünschten normalen abweicht. Das wird sich auch vor Allem
iu dem Allgemeinbefinden aussprechen. Der ganze Organismus reagirt
auf den ihm an einem Theile zugefügten Reiz, wenn aucli bei kleinen
Wunden in oft sehr geringem Grade. Auf diese allgemeine Eeaction,
„das Wundfieber", kommen wir am Schluss dieses Capitels. Zunächst
wollen wir uns noch ausschliesslicli an den Zustand des verwundeten
Körpertheils selbst halten.
Am dritten Tage, oft schon am zweiten (nach 24 Stunden) können
Sie mit Vorsicht die Nadeln der umschlungenen Nähte herausziehen, vor-
ausgesetzt, dass Sie ausserdem nocli Knopfnähte angelegt haben. Sie
nehmen zu diesem Zweck am besten die früher Ihnen gezeigte Dieffen-
bach'sche Nadelzange, mit welcher die Nadel gefasst wird, während
Sie einen Finger leicht fixirend auf die umschlungenen Fäden legen und
nun mit sanften Rotationen die Nadel ausziehen. Die Fäden bleiben
gewöhnlich auf der Wunde, mit der sie durch etwas getrocknetes Blut
verklebt sind, als eine Art Klammer liegen; sie lösen sich später von
selbst; durch ein gewaltsames Abreissen der Fäden würden Sie an der
Wunde unnöthig zerren und möglicher Weise die frisch verklebten Wund-
ränder aus einander reissen. Befühlt man in dieser Zeit vorsichtig die
Wundränder, so wird man sie, falls das Oedem bereits geschwunden ist,
etwas derber finden als die nächste gesunde Umgebung; dieser Zustand
derber Infiltration verliert sich erst in einigen Tagen.
Am dritten Tage entfernen Sie, wenn Sie viele Knopfnähte angelegt
haben, einige, die wenig zu halten haben, andere am vierten und fünften
Tage; nur an stark gespannten Hautstellen lässt man wohl ausnahms-
weise die Fäden acht Tage und darüber liegen oder lässt sie selbst die
Wundränder durchschneiden, wenn das längere Zusammenhalten der viel-
leicht theilweis auseinander geklafften Wundränder von irgend welchem
erheblichen Nutzen sein kann. Ueberschreitet die Ausbreitung der Ent-
zündung frühzeitig das Maass des Normalen, so muss man die Suturen
früher entfernen, damit sie nicht etwa den Reizzustand noch erhöhen; nicht
selten findet sich dann zersetztes oder mit Eiter gemischtes Blut in der Tiefe
der Wunde als Ursache der aussergewöhnlichen Reizungserscheinungen.
Bei der Entfernung der Knopfnähte haben Sie folgende kleine Cau-
telen anzuwenden. Sie schneiden den Faden an einer Seite des Knotens
durch, wo Sie am leichtesten mit einem feinen Scheerenblatt unter den-
selben eindringen können, ohne die Wundränder irgendwie zu zerren;
dann fassen Sie den Faden am Knoten mit einer anatomischen Pincette
und ziehen ihn nach der Seite hin aus, wo Sie den Faden durch-
geschnitten haben, damit Sie die Wundränder durch das Ausziehen der
Fäden nicht etwa von einander reissen.
Glauben Sie, dass nach Entfernung der Suturen die Verklebung der
58 YoTi den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Wunde noch zu schwach sei, um für sich das Auseinanderweichen der-
selben zu hindern, so können Sie durch Streifen von englischem Pflaster,
welche Sie durch die Stichöffuungen der Nadeln quer über die Wunde
legen und mit Collodium an den Enden (nicht auf der Wunde) fixiren,
für einige Tage noch einen Halt geben, der fest genug ist, die Zerrung
der Wundränder zu hindern, wie sie z. B. bei Wunden im Gesicht, bei
den mimischen Bewegungen unvermeidlich sind.
Am sechsten bis achten Tage sind die meisten einfachen Schnittwunden
fest genug verwachsen, um ohne weitere Stütze zusammen zu halten, ja bei
vielen ist dies schon am zweiten bis vierten der Fall. Ist allmählig im
Verlauf der folgenden Tage das neben der Wunde vielleicht hier und
da angetrocknete Blut durch vorsichtiges Abwaschen entfernt, so präsen-
tirt sich nun die junge Narbe als feiner rother Streif, als eine kaum
sichtbare feine Linie. — Den eben beschriebenen Process der Wund-
heilung nennt man die Heilung per primam intentionem.
Die Narbe verliert im Verlauf der nächsten Monate ihre röthliche
Farbe, ihre Härte, und wird dann zuletzt bekanntlich weisser als die
Haut und eben so weich als diese, so dass man sie nach Jahren noch stets
als feine, weisse Linie erkennt. Oft verschwindet sie nach mehren Jahren
fast völlig. Mancher von Hmen, der mit vielen noch stark sichtbaren
Narben im Gesicht die Universität verlässt, mag sich damit trösten, dass
dieselben nach 6 — 8 Jahren, wo sie dem Philistergesicht weniger an-
stehen als dem Burschen, kaum noch sichtbar sind. Tempora mutantur
et nos mutamur in illis!
Vorlesung 5.
Ueber Entzündung. — Die feineren Vorgänge bei der Heilung per primam intentionem.
— Gefässausdehnung in der Nähe der Wunde. Fluxion. Verschiedene Ansichten über
die Entstehungsursachen der Fhixion.
Meine Herren!
Sie kennen jetzt die mit freiem Auge sichtbaren Erscheinungen,
welche sich an der Wunde während ihrer Heilung darbieten; versuchen
wir nun einen Blick in die Vorgänge zu nehmen, welche in den Geweben
sich von der Verletzung an bis zur Bildung der Narbe entfalten. Man
hat diese Vorgänge schon seit langer Zeit genauer zu studiren und zu
erkennen gestrebt, indem man Thieren Wunden zufügte und diese Wunden
in den verschiedensten Zeiten untersuchte; doch erst die genaueste
mikroskopische Erforschung' der Gewebe und die directe Beobachtung
ihrer Veränderungen nach der Verletzung hat uns in den Stand gesetzt,
Vorlesuiiff 5. Capitel T. 59
ein vollständiges Bild des Wimdheilungsprocesses zu constmiren. Ich will
versuchen, Ihnen die Eesultatc dieser Untersuchungen, die ich bis in die
neueste Zeit vielfach zu meinem 8pccialstudium gemacht habe, in Kürze
übersichtlich darzustellen.
Die interessanten Resultate, zu denen man auf die erwähnte Weise
gelangt, haben wesentlich dazubeigetragen, dass man unter „ Entzündung"
der Hauptsache nach die Reihenfolge von Veränderungen zu verstehen
pflegt, welche man durch die mikroskopische Untersuchung an den
Geweben wahrzunehmen im Stande ist. Wir sind in neuerer Zeit ge-
wöhnt, diese morphologischen Vorgänge gradezu für das Wesentliche
des Entzündungsprocesses zu nehmen, ja an das Auftreten und typische
Ablaufen dieser histopoetischen Vorgänge die Bezeichnung „entzündlicher
Process" zu knüpfen. Ich möchte nicht Ihr Interesse an diesen Dingen
schon jetzt abschwächen, doch ist es grade der herrschenden Zeitströmung
wegen nöthig, dass ich Sie im Voraus darauf aufmerksam mache, dass —
wie bei allem organischen Wachsthum und bei jeder Umbildung und
Instandhaltung von Geweben des Körpers — die Form, die kleinste wie
die grösste, doch immer das Produkt der chemischen und physikalischen
Kräfte ist, welche der grade vorhandenen und ihr continuirlich zugeführten
Materie inhäriren; der entzündliche Process ist wie jeder physiologische
Process im Körper ein chemisch-physikalischer; ihn sehen wir niemals, auch
nicht mit den besten Mikroskopen; wir sehen nur die Resultate seiner
Wirkung. Diese Resultate, Zerstörung und Neubildung von Geweben,
haben zumal in ihrem typischen Ablauf manches Eigenthümliche, doch
bewegen sie sich in so weiten Grenzen wie Tod und Leben; auch die Ge-
webe können plötzlich absterben oder Jahre lang hinsiechen ; von zwei
Neubildungen völlig gleicher Structur kann die eine in wenigen Tagen
entstanden sein, die andere mehre Monate zu ihrer Entwicklung gebraucht
haben ; ganz verschiedene Grundursachen können zu ausserordentlich ähn-
lichen Gewebsneubildungen führen. Doch ich fürchte, Sie zu verwirren,
wollte ich jetzt noch weiter auf die Schwierigkeiten eingehen, die sich
immer darbieten, so wie wir von der Entzündung im Allgemeinen reden.
Lassen Sie mich daher gleich ins Detail eintreten; später wollen wir
wieder auf das Gesammtbild der Entzündung zurückkommen.
Die Vorgänge nach der Verletzung der verschiedenen Gewebe
machen sich vorzüglich geltend an den Gefässen, an dem verletzten
Gewebe selbst und au den Nerven desselben. Der Einfluss der
Nerven auf den entzündlichen Process, so wie der Einfluss des
letzteren auf die Nerven ist leider noch von einem solchen Dunkel
umhüllt, dass wir ihn ausser Acht lassen müssen. Die Frage, ob die
feinsten, in den verschiedenen Geweben sich verlierenden trophischen
(vasomotorischen) Nerven, denn nur von diesen kann hier die Rede sein.
60
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
einen unmittelbaren Einfluss auf die Vorgänge ausüben, die sich in dem
verletzten Gewebe und an den Gefässen selbst entwickeln, werden wir
als vorläufig unbeantwortbar bei Seite lassen müssen, um so mehr, als
man das Ende der Nerven bisher nur für wenige Körpertheile mit einiger
Sicherheit ermitteln konnte, während es für andere Theile noch durchaus
unbekannt ist, und man zumal die Art, wie die trophischen Nerven thätig
sind, ganz und gar nicht kennt, auch ebensowenig über die Beziehungen
der Nervenenden zu den Capillaren weiss. Auf die hier denkbaren
Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten werden Sie in den Vorlesungen
über Physiologie und allgemeine Pathologie bereits hingewiesen sein.
Wenn wir also in dem Folgenden wenig von den Nerven reden, so liegt
dies nur daran, dass wir nichts von ihrer Thätigkeit bei diesem
speciellen Process wissen, nicht daran, dass wir ihren Ein-
fluss negiren wollen.
Halten wir uns für unseren Fall zunächst an das einfachste Gewebe; nehmen Sie
Bindegewebe mit einem geschlossenen Capillarsystem , etwa an der Oberfläche der Haut,
im Verticaldurchschnitt bei 300 bis 400 maliger Vergrösserung! Hier haben Sie ein solches
System schematisch dargestellt;
Fig. 1.
Bindegewebe mit Capillaren. Schematische Zeichnung. Vergrösserung 350 — 400.
Es geht ein Schnitt von oben nach unten in das Gewebe hinein; die Capillaren
bluten, bald steht die Blutung, die Wunde ist genau wieder vereinigt, gleichgültig dm-ch
welche Mittel. Was geht hier zunächst vor?
Vorlesung 5. Capitel T.
61
Fig. 2.
Es gerinnt das Blut in den Capillaren etwa bis an die nächste Verzweigung, bis
an einen nächsten Knotenpunkt des Capillarnetzes. Fast immer bleibt auch etwas ge-
ronnenes Blut zwischen den Wundrändern liegen (Fig. 2). Von den bisherigen Wegen
für den Kreislauf in unserm schematischen System sind einige verstopft worden; das
Blut muss sieh bequemen , durch die vorhandenen Nebenwege um die Wunde herum zu
fliessen. Das geschieht begreiflicher Weise unter einem höheren arteriellen Druck als
zuvor; dieser Druck wird um so grösser, je grösser die Hemmnisse für den Kreislauf, je
weniger zahlreich die Nebenwege (der s. g. Collateralkreislauf). sind. Folge dieses
erhöhten Drucks ist die Ausdehnung der Gefässe , daher Röthung in der Umgebung der
Wunde und zum Theil auch Schwellung. Letztere hat aber noch eine andere Ursache;
je stärker die Capillargefässwandungen ausgedehnt werden, um so dünner werden sie;
lassen Sie schon bei den gewöhnlichen Druckverhältnissen, bei der normalen Dichtigkeit
ihrer Wandungen Blutplasnaa hindurch, um die Gewebe zu ernähren, so wird jetzt unter
erhöhtem Druck mehr Plasma als gewöhnlich durch die Wandungen hindurch treten
müssen, welches die vei-letzten Gewebe durchtränkt und von letzteren vermöge ihres
Quellungsvermögens aufgenommen wird.
' Sie haben liier in Kürze die Aufklärung- für die ä.usseiiicli walir-
nelinibaren Veränderungen der Wundränder gieicli nacli der Verletzung, die
Rötlie und vermelirte Wärme, bedingt durch die rasche Entwicklung des
Collateralkreislaufs, wodurch mehr Blutvolumen näher der Oberfläche
durch die Gefässe cireulirt; durch die Gefässausdehnung und die Quellung
des Gewebes, die wieder Ursache einer leichten Compression der Nerven
ß2 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
und somit Veranlassung' eines massigen Schmerzes wird, ist' die An-
schwellung der Wuudränder bedingt.
Diese, wie mir scheint, höchst einfache mechanische Erklärung würde
an Werth bedeutend gewinnen, wenn sie erschöpfend für den ganzen
weitereu Verlauf des Vorganges wäre, und wenn sie auf alle Ent-
zündungen übertragen werden könnte, die nicht traumatischen, nicht
mechanischen Ursprungs sind. Dies ist indessen nicht der Fall. "Weder
die in späteren Zeiten nach Verletzungen zuweilen auftretenden starken
Gefässausdehnungen, die sich in ausgebreiteter Röthung um die Wunde
kundgeben, noch die bei spontan entstandenen Entzündungen gleich von
Anfang au vorhandenen Capillardilatationen können auf mechanische
Behinderung des Kreislaufs redueirt werden. Ist die Kreislaufstörung
durch den Schnitt nicht eine ganz besonders hochgradige, so wird sie
merkwürdig schnell ausgeglichen; solche s. g. passive Hyperämien
sind noch nicht „Entzündung " ; ihre Ausdehnung ist ganz genau an die
mechanischen Verhältnisse geknüpft, während die Röthe bei progredienter
Entzündung sieh oft weit über den nächsten Bereich der mechanisch
gehemmten Circulation erstreckt; erst wenn sich die Capillaraus-
dehnung mit Reizungszuständen der G-ewebe verbindet, eventuell
durch letztere hervorgerufen wird, pflegt man von „Entzündung" zu sprechen.
Derartige, die Capillaren zur Ectasie veranlassende Reize giebt es mancher-
lei. Bleiben wir bei mechanischen Reizen. Sie sehen z. B. meine Conjunctiva
bulbi jetzt ganz rein weissbläulich, wie jedes normale Auge aussieht.
Jetzt reibe ich das Auge stark, dass es thränt; sehen Sie es jetzt an;
die Conjunctiva bulbi ist röthlich, vielleicht erkennen Sie mit freiem Auge
deutlich einige stärkere Gefässe, mit der Lupe werden Sie auch die
feineren Gefässe mit Blut erfüllt sehen. Nach spätestens 5 Minuten
ist die Röthung völlig verschwunden. Sehen Sie einmal in ein Auge, in
welches ein kleines Thierchen durch Zufall unter die Augenlider ge-
kommen ist, wie es unzählige Mal geschieht, man reibt, das Auge thränt,
wird ganz roth; das Thierchen wird entfernt, nach einer halben Stunde
sehen Sie vielleicht nichts Besonderes mehr an dem Auge. Würden die
erwähnten Reize fortwirken, so käme es zu einer acuten Entzündung.
Uns beschäftigen hier vorerst nur die Erscheinungen an den Gefässen;
sie sind plötzlich hervorgerufen, und rasch wieder verschwunden, weil
der Reiz aufhörte ; eine mechanische Hemmung des Kreislaufs lag nicht
vor. Was ist die unmittelbare Ursache dieser Erscheinungen? Warum
ziehen sich die Gefässe nicht zusammen, anstatt sich auszudehnen ? Diese
Fragen sind eben so schwer zu beantworten, als die Beobachtung leicht
zu machen und unzählige Male mit demselben Erfolge zu wiederholen
ist. Die Sache selbst ist bekannt, so lange man überhaupt beobachtet
;hat; der alte Satz: „Ubi Stimulus ibi affluxus" bezieht sich darauf. Der
stärkere Blutzufluss ist die Autwort des gereizten gefässhaltigen Theils
auf den Reiz.
Vorlesung 5. Capitel I. 63
Früher nannte man den Pi-ocess , welcher diene Art von liöthc her-
vorbringt, active Hyperämie oder active Cong-estion. Virchovv^
griff zu einem älteren Namen zurück und zog die Bezeichnung „Fluxion,
Wallung" w^ieder mehr in Gebrauch.
Sie werden jetzt so weit orientirt sein, um mit Hülfe Ihrer Kennt-
nisse aus der allgemeinen Pathologie zu wissen, dass es sich hier um
die theoretische Erklärung von Erscheinungen handelt, die zu allen Zeiten
einen der wichtigsten Gegenstände in der Medicin bildeten. Astle}^
Coope-r, ein englischer Chirurg von grösster Bedeutung, dessen Werke
Sie später liebgewinnen werden, wenn Sie sich mit dem Studium von
Monographien befassen, dieser so durch und durch praktische Chirurg
beginnt seine Vorlesungen über Chirurgie mit folgenden Worten: „Der
Gegenstand unserer heutigen Vorlesung ist: Reizung, welche Sie als
Grundstein der Chirurgie als Wissenschaft auf das sorgfältigste erforschen
und deutlich begreifen müssen, bevor Sie erwarten dürfen, die Grundsätze
Ihrer Kunst inne zu haben, oder im Stande zu sein, dieselbe zu Ihrer
eigenen Ehre und zum Nutzen derjenigen in Ausübung zu bringen, welche
sich Ihrer Behandlung anvertrauen!"
Hieraus werden Sie ersehen, welche Rolle die uns heute beschäf-
tigenden Gegenstände, die Ihnen als überflüssige Spielereien des Ver-
standes und der Phantasie erscheinen könnten, zu den verschiedenen
Zeiten gespielt haben, ja Sie werden später aus der Geschichte der Medicin
lernen, dass ganze Systeme der Medicin von den ungeheuerlichsten
praktischen Consequenzen auf Hypothesen basiren, welche man zur
Erklärung dieser Erscheinungen an den Gefässen, dieser Irritabilität, der
Reizbarkeit der Gewebe überhaupt aufbaute.
Es ist hier nicht der Ort, diesen Gegenstand historisch ausführlich zu behandeln,
ich will Ihnen nur einige wenige Hypothesen ins Gedächtniss zurückrufen, die in neuerer
Zeit bei bereits vorhandener Kenntniss der mikroskopisch noch sichtbai-en Gefässe und
-Gewebstheile über das Zustandekommen der Gefässerweiterung durch Eeiz aufgestellt sind.
Aus der Histologie und der Physiologie ist Ihnen bekannt, dass die Arterien und
Venen , bis sie sich in Capillaren auflösen , in ihrer Wand theils quer , theils längs ver-
laufende Muskelfaserzellen enthalten, und dass diese im Allgemeinen an den Venen spär-
licher sind, als an den Arterien, obgleich die grössten Mannigfaltigkeiten in dieser Be-
ziehung bestehen. Wenn nun auch an diesen kleinsten Arterien und Venen directe
Studien über die Wirkung eines Reizes mir sehr schwierig zu machen sind, so ist es doch
sehr einfach, den Effect einer solchen Eeizung am Darm zu sehen, wo wir wesentlicli
dieselben Verhältnisse haben, nämlich einen mit längs und quer verlaufenden Muskelfasern
versehenen Schlauch. Mögen Sie nun aber den Darm reizen, wie Sie wollen, eine Er-
weiterung werden Sie niemals an der gereizten Stelle erzielen, nur eine Verkürzung oder
eine Einschnürung und dadurch eine Bewegung des Inhalts des Darms, deren Geschwin-
digkeit von der wiederholten Schnelligkeit der Contractionen abhängig sein wird. Kann
aber durcli eine solche erhöhte Schnelligkeit der Gefässbewegung und des Blutstroms eine
Erweiterung der Capillaren bedingt sein? gewiss nicht. Sie finden in der allgemeinen
Pathologie von Lotze, dem berühmten medicinischen Philosophen in Göttingen, über
diese Frage einige so drastische Bemerkungen (wie überhaupt die ganzen betreffenden
Capitel den brillanten Geist und die kritische Schärfe dieses Mannes in glänzendster Weise
g4 "Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
zeigen), dass ich mich der von ihm gebrauchten Bilder bedienen will. Er sagt nämlich:
„Die Pathologen, welche durch die verstärkte Contraction der Arterien die Congestion
erklären wollen, übernehmen das undankbare Geschäft der Danaiden; sie können den
Stöpsel nicht aufweisen, der das Wiederauslaufen des mühsam eingepumpten Blutes ver-
hindert. Ueberfüllung entsteht, wenn in gleicher Zeit mehr eingeführt und das nämliche
ausgeführt, oder das nämliche eingeführt, aber weniger ausgeführt wird. Lassen wir nun
ein Stück eines Gefässes sich lebhafter, enger in einer schnelleren Aufeinanderfolge con-
trahiren, so hat dies doch so wenig, ein vermehrtes Zuströmen oder ein vermehrtes Ab-
fliessen zur Folge, als das Strampeln eines Menschen im Flusse die Menge des Wassers
regulirt."
Wenn sich die genugsam widerlegte Hypothese, dass die Erweiterung der Capillaren
nur von einer schnelleren und energischeren Contraction der Arterie ausgehe, doch
wenigstens auf dem Boden bekannter Beobachtungen bewegt, so scheint dagegen die von
Lotze selbst gegebene Erklärung so fern von jeglicher Analogie, ich möchte fast sagen
so metaphysisch, dass wir ihr unmöglich noch irgend welchen Werth beizumessen im
Stande sind. Lotze meint nämlich, es stehe nichts im-Wege anzunehmen, dass die
Capillaren sich auf einen Reiz anders verhielten, als die Arterien, sie könnten sich unter
der Einwirkung der Nerven auf einen Reiz activ ausdehnen, indem ihre Molecüle aus
einander rückten. Diese Behauptung ist freilich eine durchaus willkürliche Annahme,
die zum Theil mit neueren Beobachtungen in Widerspruch steht. Man kann bekanntlich
an der Schwimmhaut, am Mesenterium, an der Zunge der Frösche, an der Flughaut
von Fledermäusen den Kreislauf des Blutes in den kleineren Arterien und Venen, sowie in
den Capillaren mit dem Mikroskop verfolgen; doch der unmittelbare Effect eines leichteren
chemischen oder mechanischen Reizes äussert sich nicht nach früheren Beobachtern sofort
an den Capillaren, sondern zunächst in einer Contraction der kleinsten Ar-
terien, zuweilen auch an den Venen, ist aber ein sehr rasch vorübergehender, von kaum
Secunden Dauer, ja oft entzieht er sich der Beobachtung ganz, wobei man dann annimmt,
dass die Dauer der Zusammenziehung und der Grad derselben für unsere Beobachtung
nnmessbar gering ist. Auf diese kurze Contraction folgt dann die Ausdehnung, deren
unmittelbare Ursache auch bei der mikroskopischen Beobachtimg unklar bleibt. Wir
werden sehr bald sehen, dass wir nicht darüber hinauskommen, dass die Fluxion das
Resultat einer Art von Paralyse der Capillarwandungen ist, so activ die Erscheinung
auch hervortritt. Auch die neusten höchst interessanten Beobachtungen von Golubew,
welcher die Güte hatte mir zu zeigen, dass sich die Capillaren der Nickhaut des Frosches
in Folge starker electrischer Schläge quer zusammenziehen, scheinen mir, soviel ich auch
über die Beobachtung nachgedacht habe, für die Lehre von der Fluxion vorläufig nicht
recht verwendbar zu sein.
Virchow nimmt an, es trete auf den Reiz, dessen unmittelbare Ursache allerdings
die Contraction sei, eine rasche Ermüdung der Gefässmuskeln ein, nach einer tetanischen
Zusammenziehung eine Erschlaffung, wie an gereizten Nerven und Muskeln, eine Ansicht,
die durch eine Mittheilung von Dubois-Reymond über den schmerzhaften Tetanus der
Gefässmuskeln am Kopf als Ursache eines einseitigen Kopfschmerzes, einer s. g. Hemikranie,
eine Stütze finden dürfte, indem auf diesen supponirten und von einer starken Erregung
des Halstheils des N. sympathicus abhängigen Tetanus der Gefässmuskeln allerdings eine
Erschlaffung derselben und damit eine starke Ausdehnung der Gefässe. kurz die Erscliei-
nungen der Kopfcongestionen folgen.
Man darf indess bei dieser Auffassung, wodurch eine der Contraction folgende Er-
schlaffung oder vorübergehende Paralyse der Gefässwandungen und damit verringerter
Widerstand derselben gegen den Blutdruck allerdings erklärt wird, nicht vergessen, dass
es keineswegs bewiesen ist, dass die Gefässmuskeln, einmal gereizt und zu einer raschen
Contraetiun gezwungen, wirklich sofort erlahmen, während diese Ermüdung bei andern
Vorlcsimo- 5. f'iiphcl 1. ßf)
Muskeln ducli erst nacli läiii;er wiedcrliolteii Reizen eiiizuheteii pllegl. Man müsste in
der That hier ■willkülirlieli eine ganz besonders leiciite Ernu'idimg der Gefässmnskeln an-
nehmen, gegen welche das Experiment direet spricht. Sie wissen ans der Fliysiologie,
dass Claude Bernard nachgCAviesen liat, dass die Arterienverengerung und Erweiterung
am Kopfe unter dem Einfluss des Halstheils des N. sympathicus steht, wie ich schon an-
deutete. Keizt man das oberste Halsganglion dieses Nerven, so ziehen sicli die Arterien
zusammen; durchschneidet man den Nerven, so tritt eine P^rweiterung (eine Lähnning)
der Arterien und Capillaren ein. Diese Experimente können , was die Reizung betrifft,
öfter wiederholt werden, ohne dass die Gefässmnskeln sobald ermüden, falls nicht die
electrischen Ströme zu stark sind; hieraus dürfte hervorgehen, dass die Annahme einer
sofortigen Ermüdung nach einem einmaligen Reiz nicht so unbedingt acceptirt werden
kann. — Schiff nimmt dennoch an, wie Lotze, dass eine active Dilatation der Gefässe
möglich ist; er glaubt, dass dies aus gewissen Experimenten nothwendig liervorgehe;
mir bleibt dabei aber der Mechanismus völlig unverständlich , denn es giebt eben keine
Muskeln, welche die Gefässe activ auseinander ziehen können.
Wenn auf den angebrachten Reiz sich nur die Venen stark conti-ahirten , so würde
zweifelsohne eine Anfüllung der Capillaren durch die Stauung eintreten müssen und es
wäre dann kein Unterschied zwischen venöser (passiver) Hyperämie und Fluxion. Diese
Annahme ist jedoch ganz unhaltbar; es ist gar nicht abzusehen, warum eben nur die
Venen sich beim Entzündungsreiz zusammenziehen sollten. Dass sich die Venen auf
mechanischen Reiz contrahiren, können Sie z. B. an der V" femoralis eines eben ampu-
tirten Oberschenkels wahrnehmen, worauf Virchow besonders aufmerksam macht, und
zwar überdauert diese Reizbarkeit der Venenwandung die der Nerven.
Schon Heule hatte früher die Ansicht aufgestellt, die Erscheinungen der Gefäss-
ausdehnung auf Reiz seien direet durch Paralyse der Gefässwandungen bedingt. Wenn
Lotze dagegen zu Felde zieht, indem er anführt, dass bei einem in heftiger Action be-
griffenen gereizten Menschen, bei dem alle Muskeln angespannt sind und dessen Gesicht
glühend roth werde, nicht anzunehmen sei, dass seine Muskeln paralysirt sind, so ist
doch dieser Einwand nicht so schlagend. Auch der andere Einwand des sonst so scharf-
sinnigen Lotze scheint mir nicht stichhaltig, indem er sagt: „was sollen wir mit der
Blässe, der Contraction der Gefässe anfangen, die sich bei Schreck und Entsetzen ein-
stellt? Sieht das nach einer heftigen Muskelaction aus, wenn Röthe bef Zorn und Scham
der Effect einer Paralyse sein soll?" Ich meine, dies will nichts bedeuten. Bei einem
erschreckten Menschen dürften die Gefässmuskeln in einen tetanischen Zustand versetzt
sein, dem auch bald genug eine Gefässmuskelermüdung zu folgen pflegt; gleich nach einem
lieftigen Schreck pflegen wir, so wie wir anfangen, tief einzuathmen und uns von dem
Schrecken erholen, das Blut in die Wangen schiessen zu fühlen; wir werden bald wieder
roth und zwar zunächst röther, als es uns oft lieb ist, ja es ist gar nicht selten, dass
man bei manchen Menschen das Erblassen beim Schreck übersieht und nur das folgende
Erröthen wahrnimmt. Für die Blässe beim Sehreck lässt sich ausserdem auch dieselbe
Erklärung wie für die Erscheinungen des „Schock's" geben, worüber wir bei der Wir-
kung quetschender Gewalten auf den Organismus sprechen werden.
Doch abgesehen von diesen Einwürfen, wie soll man sich die activ, direet paraly-
sirende Wirkung eines gereizten Nerven vorstellen? In der That, wir kennen aus der
Physiologie solche Phänomene: die Hemmung der Herzbewegung durch Reizung' des N.
vagus, die der Darmbewegung durch Reizung des N. splanchnicus u. s. w. Man nimmt
hier ein Hemmungs-Nervensystem an, welches die Coiitractionen der Muskeln zum Still-
stand bringt; könnte nicht ein solches Hemmungs - Nervensystem auch für die Gefässe
bestehen? Nerven, deren Reizung den Tonus der Gefässmuskeln aufhebt und dadurch
die Gefässwandungen weniger widerstandsfähig gegen den Blutdruck macht? Das Gebiet
der Lehre von den Hemmungsnerven ist ein so ausserordentlich schwieriges für die Er-
Billroth chir. Path. u. Ther. 7. Aufl. 5
QQ Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
klärung, dass eine kurze Exposition über die wahrscheinlichen Möglichkeiten des Vor-
ganges hier schon zu weit führen würde. Ich muss mich daher begnügen, auf die ana-
logen physiologischen Vorgänge hingewiesen zu haben. Dass die Fluxionserscheinung
auf Paralyse der Gefässe beruht, darin stimmen die Anschauungen von Virchow^ und
He nie überein, wengleich sich beide Gelehrten das Zustandekommen dieser Parahse
verschieden denken. Im Allgemeinen gewinnt die Ansicht jetzt immer mehr Oberhand,
dass die Gefässmuskulatur wie das Herz unter dem Einfluss theils von sympathischen,
theils von cerebrospinalen Nerven steht und dass erstere die rythmische (automatische)
Zusammenziehung der Gefässe veranlassen, letztere regulirend und hemmend auf diese
Zusammenziehung wirken. Eeiz der sympathischen Fasern würde die Zusammenziehung
der Gefässe noch verstärken. Durchschneidung derselben würde Lähmung der Gefäss-
muskulatur und Erweiterung der Gefässe zur Folge haben; letzteres könnte aber auch
durch Reizung der cerebrospinalen Hemmungsnerven bedingt sein.
Die Entdeckung von Aeby, Eberth und Auerbach, wonach die Blutcapillaren
ganz aus Zellen zusammengesetzt sind, könnte zu neuen Hypothesen über die Reizbarkeit
der Capillarzellen und ihren Einfluss auf die ErM^eiterung und Verengung der Capillaren
Veranlassung geben, obgleich auch dabei die mechanische Schwierigkeit nicht gelöst ist,
welche sich der Vorstellung einer activen Gefässerweiteri^ng entgegenstellt. — Bei der
Einwirkung localer Reize und bei ganz localen Gefässerweiterungen bleibt es immerhin
zweifelhaft, ob man sich denken will, dass der Reiz die Gefässneiwen (oder auch die
lebendige Zellsubstanz der Capillarwandung) direct in ihrer Function stört, oder ob man
diese Störung auf reflectorischem Wege zu Stande kommen lässt. Die Forscher, welche sich
in jüngster Zeit aiisdauernd mit diesen Fragen beschättigt haben, lassen die später dauernde
Capillardilatation bei acuter Entzündung von Veränderungen der Capillarwandungen ab-
hängig sein, welche unmittelbar durch den Entzündungsreiz veranlasst werden sollen. C o h n -
heim meint, der Entzündungsreiz alterire die Gefässwandungen eben in einer ganz eigen-
thümlichen Weise so, dass sie nicht nur nachgiebiger gegen den Blutdruck werden, sondern
auch weicher, worauf wir später noch zurückkommen. Samuel findet das Wesen der
Entzündung in veränderten Verhältnissen des Blutes, der Gefässwand und der Gewebe
zu einander. Nähere Angaben über die chemischen und physikalischen Modalitäten dieser
Veränderungen der Gefässwand, die man nur an ihren Folgen erkennt, sind bisher nicht
möglich. Eg ist diese Auffassung in soweit ein Fortschritt gegenüber der Lotze' sehen
Ansicht, wonach die Moleküle der Capillarwandungen auf einen Nervenreiz auseinander-
rücken sollten, als eine Nervenaction auf die bei der acuten Entzündung in Frage kommen-
den Capillardilatationen überhaupt nicht Statt zu finden scheint; dies stimmt auch mit
den früher schon erwähnten Aeusserungen von Schiff überein, dass nämlich die nach
Sympathicusdurchschneidungen entstehenden Gefässdilatationen an sich weder Entzündung
seien, noch ohne Weiteres zu Entzündungen fühi-en.
Sie haben nun Stoff g-euiig- zum Grübeln! Keine von allen ang'c-
fiihrten Hypothesen kann Anspruch machen, die Erscheinung der Fluxion
wirklich vollständig' erklären zu wollen, wenngleich manche von ihnen
vielleicht den Keim zu einer vollendeteren Entwicklung- in sich trägt.
Doch auch die Erkenntniss dieser Wahrheit, die Sonderuug der Hypothese
von der Beobachtung- ist von Nutzen; sie hemmt nicht den immer weiter
dringenden Forschung-sgeist, sondern sie belebt ihn stets aufs Neue!
Freuen Sie sich, dass es Ihnen und den kommenden Generationen ver-
gönnt ist, sich auf diesem Gebiet zur vollen Klarheit durchzuarbeiten.
Wir verlassen dasselbe jetzt und wollen in der nächsten Stunde den Effect
der Verwundung an dem verwundeten Gewebe selbst studiren.
Vorlesimg G. (.';i|iil('l 1. 07
Vorlesung 6„
Vorgänge im Gewebe bei der Heihing per primam. — PlasMsche Infiltration. Entzündlielie
Neubildung. Rückbildung zur ISarbe. Anatomische Merkmale des Entziindungsprocesses.
— Verhältnisse, unter welchen die Heilung per primam nicht zu Stande konmit. — An-
heilung völlig abgetrennter Theile.
Die Dilatation der Capillaren und die gewölmlich damit verljundene
Exsudation von Blutserum, die wir bisher als nächsten Effect der Ver-
wundung kennen gelernt haben, kann für sich begreiflicherweise nicht
bewirken, dass zwei zusammengelegte Wundränder sich organisch mit
einander verbinden; es müssen Veränderungen an den Wuudflächen vor-
gehen, wodurch letztere gewissermaassen aufgelöst werden und in eins
verschmelzen; ähnlich, wie Sie zwei Enden Siegellack durch Erwärmung
verflüssigen, um sie dann zusammenzufügen, so muss auch hier die Sub-
stanz selbst zum Bindemittel werden, wenn es eine recht feste, innige
Vereinigung werden soll. In der That ist dies, wenn auch zuweilen
nach einigen Umwegen, das Schlussresultat jedes Heilungsprocesses,
sowohl an den Weichtheilen, wie am Knochen.
Behalten wir das früher gegebene Schema bei und nehmen an, es sei nur Binde-
gewebe mit Gefässen verletzt, und es handle sich um eine Wiedervereinigung dieser
Substanz! Das Bindegewebe besteht, wie Sie wissen, aus zelligen Elementen und meist
faserig erscheinender Intercellularsubstanz. Die zelligen Elemente sind theils die stabilen,
fixen, lange bekannten Bindegewebskör per eben, d. h. platte, kernhaltige Zellkörper
mit langen Fortsätzen, welche den Bindegewebsbündeln anliegen, theils die von v. Reck-
linghausen entdeckten wandernden Zellen, welche mit weissen Blutzellen und
Lymphzellen nach Form, Art und Lebenseigenschaften identisch sind, wahrscheinlich zum
grössten Theil in den Lymphdrüsen entstehen, durch die Lymphgefässe ins Blut gelangen,
aus Capillaren und feinen Venen gelegentlich ins umliegende Gewebe auswandern, dort
zu fixen Gewebszellen werden, oder wieder in Lymphgefässe (nach Beobachtungen von
Hering) und Blutgefässe zurückkehren, oder bisher unbekannte Metamorphosen eingehen.
Untersucht man das Gewebe der Wundränder einige Stunden nach der Verletzung,
so Avird man es ganz von wandernden Zellen erfüllt finden. Diese nehmen in ungeheurem
Maasse von Stunde zu Stunde zu, sie infiltriren das durch Quellung schon erweichte
Fasergewebe, und wandern auch wohl von einem Wundrand in den andern hinüber.
Während dies vor sich geht, Avird die bindegewebige Intercellularsubstanz der Wundränder
allmählig zu einer homogenen klebrigen Substanz umgeAvandelt; mit dem Zunehmen der
Anhäufung von Zellen schwindet diese Substanz wieder, Avird vielleicht von den Zellen
consumirt, so dass bald ein Moment kommt, avo die beiden aneinanderliegenden Wund-
flächen fast nur aus Zellen bestehen, die durch eine sehr geringe Quantität in der Folge
fester, schliesslich faserig werdenden Zwischengewebes zusammengehalten werden. Die
klebrige, theils im Gewebe und dessen Interstitien , theils zwischen den AVundrändern lie-
gende Substanz, der organische Wundkitt, welcher schon nach 24 Stunden zuweilen die
Wundränder so fest zusammenhält, dass sie nur mit Mühe von einander gezeiTt werden
können, ist wahrscheinlich Fibrin.
5*
ßg Von den einfachen Schnittwnnden der Weiohtheile.
In dem skizzirten Entwurf des nun weiter gefülirten früheren Schemas (Fig. 3) sehen
Fig. 3.
Vereinigung der AVundflächen durch die entzündliehe Neubildung. Plastisch infiltrirtes
Gewehe. Sehematische Zeichnung. Vergrösserung 300 — 400.
Sie im Durchschnitt die Wundflächen nun vereinigt durch das neugebildete Gewebe, welches
wir ein für alle Mal entzündliehe Neubildung oder primäres Zellengewebe
nennen wollen, Virchow nennt es Granulationsgewebe, Rindfleisch Keimgewebe.
Der entzündlichen Neubildung geht also ein Zustand voraus, in welchem das noch faserige
Bindegewebe von ausserordentlich vielen Wanderzellen infiltrirt ist, ein Zustand, der durch
Schwund oder Zurückwanderung dieser Zellen in die Gefässe leicht wieder zum normalen
zurükkehren kann. Dieses Stadium der zelligen oder plastischen Infiltration, in
welchem das Gewebe dem Gefühl eine festere Resistenz bietet als bei der serösen In-
filtration, findet sich immer, wenn auch in sehr verschiedenem Grade und in sehr
Avechselnder Ausdehnung an den Wundrändern, wenn es oft auch nur mikroskopisch nach-
weisbar ist. Man kann in jedem Präparat von frischen Wundrändern die Entwicklung der
entzündlichen Neubildung aus der plastischen (zelligen) Infiltration verfolgen, wenn man
bei der mikroskopischen Beobachtung von dem normalen Gewebe zur Wrmde fortschreitet.
Die Yerletzimg" repräsentirt einen Eudzündung'sreiz, dessen Wirkung-
sich in der Eegel kaum über die unmittelbare Nähe des Eeizbezirkes
verbreitet und dann sehr rasch abnimmt.
In den vorwiegend meisten Fällen wird zwischen den
Wundrändern eine, wenn auch noch so kleine Schicht g-eronnenen
Blutes liegen; diese erstreckt sich auch wohl etwas in die Gewebs-
interstitien der Wundflächen hinein. Ein solches Blutgerinnsel kann die
Vorlesung C CypiteT T. 69
Heilung' unter Umständen lienimeu, wenn es nämlich wegen seiner Grösse
oder aus andern Gründen fault, oder wenn es zu P]iter wird; doch kann
es auch ohne Eiterung- in Narbengewebe übergehen und mit der Neu-
bildung in den Wundrändern vollkommen verschmelzen, oder es wird
resorbirt, nachdem es zuvor eine mechanische Verklebung der Wunde
vermittelt hat; eines von diesen letzteren Ereignissen muss zutreffen,
wenn die Heilung per priman intentionem zu Stande kommen soll; wie
sich dies macht und welche Veränderungen das geronnene Blut bei dieser
Procedur erleidet, davon wollen wir später handeln.
Es muss uns jetzt die Frage beschäftigen: woiier kommen die unzähligen
Wander Zellen, welche alle entzündeten Gewebe sofort nach der Reizung
infiltriren, wie hier das Gewebe der Wundränder? Hierüber sind uns in
neuester Zeit folgende merkwürdige Aufklärungen geworden, welche noch vor einem
Decennium ohne Weiteres als Hirngespinnste eines Schwärmers betrachtet worden wären
Cohnheim machte folgende ausserordentliche Beobachtung: er brachte fein gepulvertes
Anilinblau in die Lymphsäcke am Hucken eines Frosches , reizte dann die Hornhaut des
gleichen Thieres durch Aetzung und fand nun , dass sich nach und nach an der geätzten
Stelle der Hornhaut eine Menge Anilin - haltiger Wanderzellen (Lymph - Eiterzellen) an-
sammelten; hieraus ergab sich der Schluss: an einer gereizten Stelle wandern
weisse Blutkörperchen aus den Ge fassen ins Gewebe aus; diese weissen
Blutkörperchen bilden die entzündliche zellige Infiltration. Nachdem
Stricker zuerst beschrieben hatte, wie er den Durchtritt von rothen Blutzellen durch
die Capillarwandungen einer frisch ausgeschnittenen Nickhaut des Frosches gesehen hatte,
beobachtete Cohnheim dann ferner am lebenden Mesenterium des Frosches, dass die
weissen Blutzellen durch die Gefässwandungen hindurch ins Gewebe einwandern, und
fügte hinzu, dass dies an den erweiterten Capillaren und Venen bei steigender Entzündung
durch die Freilegung und das Hei'vorzerren des Mesenteriums ganz besonders massen-
haft Statt finde. Wenngleich sich in der Folge zeigte, dass ein englischer Forscher-,
Aug. Waller, bereits vor vielen Jahren ähnliche Beobachtungen am Mesenterium der
Kröte und an der Froschzunge gemacht hatte, so sind doch die Arbeiten der deutschen
Beobachter Stricker, v. Recklinghausen und Cohnheim ganz unabhängig von
jenen entstanden, und es bleibt besonders Cohnheim's ungeschmälertes Verdienst, die
Bedeutung seiner bis in die neueste Zeit immer noch erweiterten Beobachtungen für den
Entzündungsprocess richtig erkannt und in einer alle moderne Pathologen mächtig an-
regenden und imponirenden Weise dargestellt zu haben. (Fig. 4.)
Es ist für Sie, meine Herren, schwer, sich vorzustellen, wie ausserordentlich der
Eindruck war, welchen diese neuen Beobachtungen, die ich Ihnen jetzt als sehr einfache
Facta mitgetheilt habe, auf alle Histologen hervorbrachten, weil Sie den früheren Stand-
punkt nicht kennen, von welchem aus die Entstehung der entzündlichen Neubildung und
auch diejenige complicirter organisirter Gewächse betrachtet wurde. Diese Angelegenheit
stand in rmsrer Vorstellung nach der früheren Beobachtung ungefähr so. Man nahm an,
dass die Zellen des Bindegewebes, von denen man nur eine Art, nämlich die fixen kannte,
sich in Folge eines Reizes massenhaft durch Theilung vermehrten, und so die zellige In-
filtration bei der acuten Entzündung zu Stande käme. Denken Sie sich Avenige Jahre
zurück in eine Zeit, in welcher man von den lebendigen Eigenschaften der jungen Zellen,
von ihren amöboiden und locomotorischen Actionen nichts wusste und allein darauf an-
gewiesen war, sich aus verschiedenen Stadien des erkrankten, aber abgestorbenen Gewebes
wie noch jetzt in der normalen Entwicklungsgeschichte , den Gang der pathologischen
Processe zu construiren , so werden Sie es begreiflich finden, dass man ohne Weiteres
schloss, dass die in den entzündeten Geweben dicht neben einander liegenden Zellen aus
70
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Fig. 4.
CH^H^ |!
Vene mit Capillargefäss aus dem mehre Stunden freiliegenden Mesenterium eines Frosches.
Rothe Blutzellen in Circulation. Wandstellung der weissen Blutzellen und Auswanderung
derselben in's lockere Bindegewebe des Mesenteriums. Vergrösserung etwa 300.
einander entstanden seien. Es war dies schon ein grosser Fortschritt, welcher erst nach
dem Umsturz der Generatio aequivoca möglich war, denn nicht lange zuvor glaubte man
sicher an die Urzeugung von Zellen und Geweben aus Lymphflüssigkeit, aus geronnenem
Blut , aus geronnenem Faserstoff! Die ersten Beobachtungen über Zeilentheilungen in
Folge von abnormer Eeizung wurden in England von Redfern am Knorpel gemacht;
dann folgten die Beobachtungen von Virchow und His über die entzündete Cornea;
man sah in beiden Fällen, dass nach Aetzung mit Argentum nitricum, oder nach Ein-
legen eines Fadens das Gewebe mit jungen Zellen erfüllt war; man sah in dep ursprüng-
lichen Gewebszellen bisquitförmige, dann doppelte Kerne, aus denen man auf Theilung
schloss; man sah gruppenförmig zusammenliegende junge Zellen, deren Entstehung aus den
Gewebszellen ZAveifellos erschien. Hieraus construirte sich die Vorstellung, dass die Ent-
zündung ein Vorgang in den Geweben sei, welcher direct unabhängig von den Gefässen,
in einer raschen üppigen Wucherung der Gewebszellen mit partieller Erweichung und
Zerfall des intercellularen Gewebes verbunden sei. — v. Recklinghausen's Entdeckung
der zwei Arten von Zellen, welche im Bindegewebe zu finden sind, wie seine Entdeckug
der verschiedenen Bewegungen der Eiterzellen konnte wohl die Frage anregen, ob die
Proliferation der Zellen bei Eeizung der Gewebe von den fixen oder den beweglichen
Bindegewebskörperchen ausgehe, stellte diese selbst aber nicht in Frage. — Nun aber
überstürzten sich Beobachtungen auf Beobachtungen: wir stehen jetzt axrf dem Standpunkt,
es für höchst wahrscheinlich zu halten, dass alle junge Zellen, welche wir beim
Vm-lcsimg C^. Capilcl T. 71
Beginn einer Enlz lindiing ah normer W c ise im Bindegewebe finden, aus-
gewanderte weisse Blutzellen sind. Nicht alle Forscher, welche sich in neuerer
Zeit mit diesen Beobachtungen beschäftigt haben, wollen sich zu diesem Ausspruch be-
kennen; es besteht bei Manchen derselben immer noch eine gewisse Neigung, den sta-
bilen Zellen des Bindegewebes im früheren Sinne einen Antheil an dem Eiterungsprocess
zuzuerkennen, v. Reckling hausen verhält sich sehr reservirt in dieser Beziehung;
Stricker hält daran fest, dass die stabilen Bindegewebs- und Hornhautzellen sich bei
Reizung mit neuem Plasma füllen, sich durch Furchung vermehren und zur Bildung der
Eiterzellen beitragen, ohne dass er daneben irgendwie den Auswanderungsprocess der
weissen Blutzellen in Abrede stellt. Gegen die Richtigkeit dieser Beobachtungen, oder
gegen die Richtigkeit der Deutung des von Stricker Beobachteten haben sich Cohn-
he'im, Key, Eberth u. A. ausgesprochen. Die Beobachtungen, um die es sich dabei
handelt, sind so mühsam, so schwierig, so zeitraubend, in ihren Deutungen so heikel, dass
man sich nicht wundern darf, wenn die Lösung der betreffenden, scheinbar so einfachen
Fragen nicht so schnell erfolgt.
Es ist klar, dass man bei den mannigfachen Täuschungen, denen die ausgezeich-
netsten Beobachter auf diesem interessanten Gebiet unterlagen, nur mit äusserster Vorsicht
Sätze von allgemeiner principieller Bedeutung aussprechen darf. In Betreff der entzünd-
lichen Vorgänge im Bindegewebe möchte ich dennoch, so weit meine Beobachtungen und
meine Kritik reichen, den oben aufgestellten Satz aufrecht halten. Was den Knorpel
anlangt,- so hat sich bisher nichts an der früheren Anschauung geändert. Da die hyaline
Knorpelsubstanz keine für Zellen passirbare Canäle besitzt, so bleibt doch kaum etwas
anderes übrig, als anzunehmen, dass die nach Reizung auftretende Vermehrung der Zellen
in den Knorpelhöhlen durch Theilung des Protoplasma der Knorpelzellen entsteht, worüber
ich Ihnen später Präparate vorlegen will; freilich ist hyaliner Knorpel bisher noch nicht
tagelang in lebendem und gereiztem Zustande beobachtet, und somit muss diese. Beobachtung
o-e'^crenüber den Studien am lebenden Bindegewebe etwas zurücktreten. In Betreff der
Bindegewebszellen und Hornhautzellen will ich noch hervorheben, dass ich nur für die-
jenigen dieser Gebilde eine Verjüngungs- und Proliferationsfähigkeit unwahrscheinlich
halte deren Protoplasma bis auf den Kern im Gewebe metamorphosirt ist, also den sta-
bilen Bindegewebs- und Hornhautkörperchen solcher erwachsener Thiere, deren Gewebe
einen Veroleich mit denen des Menschen zulassen. Dass das Protoplasma, wo es als
solches in Zellen noch existirt, also in noch wachsenden Geweben bei jungen Individuen,
sich auch als solches auf gewisse Reize hin vermehren und theilen kann, ist ja nie bean-
standet worden; vielleicht wurzeln in der Nichtbeachtung dieser Verhältnisse manche
Differenzen der oben angedeuteten Anschauungen. Die gleichen Verhältnisse bieten sich
bei den epithelialen Gebilden dar: noch nie ist behauptet worden, dass die Zellen der
fertigen epithelialen Gewebe, die Elemente des Haares, der Nägel, des Hornblattes der
Epidermis, der obersten Schicht der Plattenepithelien durch Reizung verjungt werden
und proliferiren können, während die continuirliche Vermehrung der jüngeren Elemente
dieser Gewebe eine physiologische Nothwendigkeit für das Wachsthum dieser Gebilde ist
und nicht beanstandet wird; es ist hier nur der Unterschied, dass das Wachsthum dieser
epithelialen Gewebe ein während des ganzen Lebens dauerndes, während das Wachsthum
der Bindesubstanzen ein auf gewisse Perioden des Lebens beschränktes ist, und sich daher
in den letzteren Geweben nach Ablauf des Wachsthums keine jugendlichen Gewebselemente
neben den fertigen vorfinden.
Wenn es nun keinem Zweifel mehr unterliegen kann, dass weitaus die meisten
iun-en Zellen, welche das entzündete Gewebe infiltriren, und unter Umständen aus diesem
in Form von Eiter, wie wir später sehen werden, auswandern, weisse Blutzellen, oder
sa-en wir, kurz Wanderzellen sind, so treten uns damit zwei Fragen entgegen, näm-
lich warum wandern so viele Zellen im entzündeten Gewebe aus, und wie
72 Von den einfachen Schnittwunden der "Weichtlieile.
kommen diese oft so enormen Massen von Wanderzellen ins Blut, wo entstehen sie?
— Ueber den Apt des Austretens der Wanderzellen durch die Gefässwandungen herrschen
differente Meinungen. Meine Ansicht darüber ist folgende: die erste Veränderung, welche
wir am lebendigen sich entzündenden Gewebe sehen, ist die Erweiterung der Gefässe;
diese hat eine vermehrte Transsudation und eine Anhäufung der weissen Blutzellen in der
peripherischen Schicht des Gefässlumens zur nächsten Folge. Nun wird die Gefässwand
nach und nach durch einen bei jeder Entzündung in bisher unbekannter Weise v/irkenden
chemischen Process weicher, so dass sich dann die weissen Blutzellen vermöge ihrer activen
Bewegung nach und nach in die Wandung ein- und endlich durchschieben können.
Erweiterung der Gefässe, Wandstellung der weissen Blutzellen und Erweichung der Ge-
fässwand scheinen mir also die nothwendigen Bedingungen für die massenhafte Emigration
der Zellen zu sein. In ähnlicher Weise haben sich in neuester Zeit auch Cohnheim
und Samuel über diesen Punkt ausgesprochen. — Woher die ungeheure Menge von
weissen Blutzellen kommt, welche bei der Entzündung austritt, ist eine in die Physiologie
hineinreichende und nur von dieser zu beantwortende Frage. Lymphdrüsen und Milz
sind die Organe, an welche man dabei vornehmlieh denkt; wenngleich es nicht bewiesen
■werden kann, dass mit der massenhaften AusAvanderung der Zellen auch nothwendiger-
"weise massenhaft Lymphzellen neugebildet werden, so ist dies doch sehr wahrscheinlich,
und da wir aus klinischer Erfahrung wissen, dass fast immer die Lymphdrüsen in der
Nähe eines Entzündungsheerdes schwellen, so liegt es wohl am nächsten, diese als die
Quelle der abnorm reichlich, gebildeten Wanderzellen zu betrachten. Ueber den morpho-
logischen Vorgang dieser Zellenbildung habe ich trotz eifrigster Bemühungen nichts Sicheres
eruiren können, wenngleich ich die Entstehung der Lymphzellen durch Sprossenbildung
an den Netzen der Lymphsinus in den Drüsen sehr wahrscheinlich halte.
Eines muss ich nachträglich noch zu dem Gesagten hinzufügen, dass nämlich bei
der Entzündung nicht selten auch rothe Blutkörperchen durch die Gefässwandung aus-
treten; auf diesen Vorgang hat der gesteigerte intravasculäre Druck nach Cohnheim's
Untersuchungen einen entschiedenen Einfluss.
Kommen wir jetzt wieder auf unsere Wunde zurück, und betrachten, was nun aus
dem zellig inliltrirten Gewebe, aus der entzündlichen Neubildung weiter wird, wie sich
daraus die Narbe entwickelt. Während in der weiteren Umgebung der Wunde die Zell-
infiltration nur noch langsam und träge sich weiter ausbreitet, nehmen die Zellen an den
bereits locker verklebten Wundflächen allmählig die Spindelform an, das Intercellularge-
webe wird dann wieder fester, die Spindelzellen bilden sich zu fixen Bindegewebszellen
um, und das junge Narbengewebe nimmt zuletzt immer mehr die Gestalt des normalen,
faserig sehnigen Bindegewebes an. Es scheint also, dass die weissen Blutzellen zu fixen~
Bindegewebszellen werden, doch ist dies ein noch fraglicher Punkt, denn es wäre doch
möglich, dass diese Regeneration des Bindegewebes von ihm selbst in einer noch nicht
erkannten Weise ausginge. — - Fragen mannigfacher Art treten dabei wieder an uns heran.
Sehr früh wird nämlich bei der Heilung per primam das neugebildete , verklebende , in-
einanderwachsende Gewebe fest; schon nach 24 Stunden finden wir, wie schon bemerkt,
die Intercellularsubstanz desselben ziemlich starr fibrinös, auch die Wundränder sind von
dieser starren Masse mehr oder weniger infiltrirt; nur durch diese frühe Erstarrung der
aus transsudirtem Serum und erweichtem Bindegewebe hervorgegangenen intercellularen
Bindemasse lässt es sich erklären, dass die Vereinigung schon am dritten Tage meist eine
so feste ist, dass die Wundränder auch ohne Naht schon zusammenhalten, denn ohne
solche Bindemasse würde das junge Zellengewebe keine solche Cohärenz haben können.
Diese erstarrende Bindemasse ist höchst wahrscheinlich Fibrin, welches aus dem Trans-
sudat der Gefässe stammend unter dem Einfluss der extravasirten Blutkörperchen vielleicht
auch der Wanderzellen entsteht. Es ist aus den vortreÖ'lichen Untersuchungen von
Alexander Schmidt bekannt, dass die meisten Exsudate die s. g. fibrinogene Substanz
Vorlesung fi. Capitel I. 73
enthalten, welche durch Verhindiin^; mit der librinoplastischen Substanz im Blute und in
andei-en Geweben das Fibrin bildet, wie wir es in f;er()nn(;nem Zustande kennen. Ks
gehören ganz bestimmte Proportionen von lihrinogener unfl fibrinoplastiseher Subslanz
da/u, um das Fibrin lierszutellen; diese günstigen Bedingungen linden sich bei vielen Ent-
y.iiiulungsprocessen vor. Schmidt hält es für wahrscheinlich, dass alle festen faserigen
(icwehe dadurch entstehen und erhalten werden, dass die fibrinogcnc Suhstanz aus dem
Blut durch den Gehalt der Gewehszellcn an librinoplastischer Substanz in fester Form
gewissermaassen um die Zellen herum praecipitirt wird, wobei freilich dann specifische
Zellenwirkungen hinzugedacht werden müssen, durch welche es bewirkt wird, dass hier
das Gerinnungsproduct die Form der Muskelfaser, dort die des Bindegewebes annimmt.
Diese Ansicht hat für unseren Fall grosse Wahrscheinlichkeit, wo es den Anschein hat, dass
aus dem intercellulären geronnenen Fibrin allmählig faseriges Bindegewehe wird. Die Menge
der Intercellularsubstanz ist freilich in der entzündeten Neubildung nicht gross, dennoch
ist wohl kein Zweifel, dass die kleinen Lücken zwischen den Zellen von einer solchen
ausgefällt werden. Einige Zeit später scheint das junge Narbengewebe noch vorwiegend
aus ganz eng aneinander gepressten Spindelzellen zu bestehen; dann aber verkleinern sich
die Spindelzellen besonders durch Abplattung in hohem Maasse, ja viele gehen auch wohl
ganz zu Grunde, und es tritt nun eine faserige, durchaus bindegewebige Intercellularsubstanz
hervor, welche theils als metamorphosirtes Fibrin, theils als metamorphosirtes Protoplasma
der Spindelzellen aufgefasst wird: in diesem Zustand bleibt endlich das Narbengewebe
stabil. — Thiersch, der kürzlich die Wundheilung wieder genau untersucht hat, hält
dafür, dass die scheinbar fibrinöse Zwischenmasse kein Fibrin, sondern nur metamorpho-
sirtes Bindegewebe sei. Dass eine wirklich unmittelbare Verklebung, ein sofortiges In-
einanderwachsen der weich gewordenen Wundränder vorkommen kann , will ich nicht
bestreiten, wenngleich es sehr selten sein dürfte. In jüngster Zeit veranlasste ich Herrn
Dr. Gussenbauer, mit Rücksicht auf diese Behauptungen von Thiersch die Heilung
per primam aufs Neue zum Gegenstand einer eingehenden Untersuchungsreihe zu machen.
Derselbe hat die Beobachtungen von Thiersch nicht bestätigen können, sondern ist, wie
auch Güterbock, der sich mit dem gleichen Gegenstand beschäftigte, zu Resultaten ge-
kommen, welche der Hauptsache nach mit der obigen Schilderung übereinstimmen, die
ich nach eignen früheren Studien entworfen habe.
Was ist während dieser Vorgänge im Gewebe aus den obturirten
Ge fassenden geworden? Das Blutgerinnsel in ihnen ist resorbirt oder
organisirt; die Gefässwandungen senden Sprossen aus, welche sowohl
mit den Gefässsehlingen des gegenüberliegenden "Wundrandes, als unter
einander in offene Communieation treten (Fig. 3). Auf diese Art wird
jedoch nur die anfangs ziemlich spärliche Verbindung der gegenüber-
liegenden Gefässsehlingen unter einander vermittelt; letztere
selbst waren bereits durch reichliche Schlängelungen und Windungen
von den nach der Verletzung schlingenförmig abgegrenzten Gefässen aus
entstanden; in das Detail dieser interessanten Gefässschlingenbildungen
einzugehen, ist hiei* nicht der Ort; ihre Entwicklung basirt jedenfalls
nicht nur auf Dilatation, sondern wesentlich auch auf interstitiellem
Wachsthum der Gefässwandungen. Die ursprünglichen, früher bestan-
denen Gefässverbindungen werden so durch ein zunächst weit reich-
licheres, neugebildetes Gefässnetz ersetzt.
Arnold hat den Process der Gefässentwicklung in neuester Zeit am sorgfältigsten
studirt, und am Froschlarvenschwanz das W^achsthum der Gefässe und die Bildung von
74
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Fig. 5.
Gefässschlingen direct unter seinen Augen vor sich
gehen sehen. (Fig. .5.)
Obgleich das Herz und die ersten Gefässe
des Embryo so zu entstehen scheinen, dass von
den dazu bestimmten Zellenhaufen des mittleren
Keimblattes die peripheren zur Gefässwandung, die
centralen zu Blutzellen werden, so scheint doch
diese Art der Gefäss- und Blutbildung später nicht
mehr vorzukommen, wenigstens haben die darüber
von Rokitansky vi. A. bis zur neuesten Zeit
(auch von früher von mir) angeführten Beobach-
tungen keinen rechten Glauben gefunden. Nach
Arnold's Untersuchungen scheint die Sprossen-
bildung an den Gefässen die einzige Art der Ge-
fässbildung im wachsenden Embryo zu sein.
Ich glaubte früher bei Bildung der Granu-
lationsgefässe und auch der Gefässe in manchen
pathologischen Neubildungen noch eine andei-e Ai-t
des Gefässwachsthums annehmen zu müssen,
nämlich eine Röhrenbildung durch Zusammenlegen
von Spindelzellen, wie es etwa bei a, b, c in
Fig. 6 erscheinen kann: ich nannte dies ,.secundäre
Gefässbildung'^, (als „primäre" habe ich die Ai-t,
wie das Herz und die Gefässe im mittleren Keimblatt
angelegt worden, bezeichnet). Die Sprossenbildung
bezeichnete ich als „tertiäre Gefässentwickluug. "
Ich gebe jedoch nach den neueren Untersuchungen
gern zu, dass der von mir als „secundäre Gefäss-
bildung" bezeichnete Modus vielleicht nicht existirt,
sondern dass mir der feine Plasmasti-ang (die
Sprosse), um welche isich die aus der jungen
Adventitia hervorwachsenden Spindelzellen lagern,
entgangen sein mag. —
In Folge der wiederhergestellten Cir-
culation durch die junge Narbe hindurch
sind die durch die Verletzung bedingten
Kreislaufsstörungen nun völlig wieder aus-
geglichen; die Röthung und Schwellung
der Wundränder ist verschwunden, die
Narbe erscheint wegen der reichlicheren
Gefässe als feiner rother Strich. —
Jetzt muss die Consolidation der Narbe
eingeleitet werden; dies geschieht dadurch,
dass einerseits die neugebildeten Gefässe
theilweis verschwinden, indem iln-e Wan-
dungen zusammensinken, und so zu
feinen
Bindegewebssträngen
Die Reihenfolge dieser Gefässbildungen SOliden ,
"' "'•'ir:US:lS'l:^::r''" ^^-'-^^i. -^««^ andererseits das Intei-cellu-
Vergrösserung 300, nach Arnold, largewebe immer fester, wasserarmer
Vorli'Siiii^i,' (\. (';i|)ilcl I.
75
Fig. 6.
Gefässanlagen aus dem Glaskörper von Kalbsembryonen. Vergrösserung etwa 600,
nach Arnold.
wird, die Zellen, wie erwähnt, die platte Form der Bindegewebskörperchen
annehmen oder verschwinden, vielleicht theilweis Wanderzellen bleiben
und in die Lymph- oder Blutg-efässe wieder zurückkehren. Auf dieser
Condensirung' und Schrumpfung des Narbengewebes beruht die erheb-
liche Contractionskraft desselben, durch welche grosse, breite Narben
zuweilen auf die Hälfte ihres ursprünglichen Volumens reducirt werden
können.
Es könnte Ihnen auf den ersten Eindruck widerstrebend sein, zu
glauben, dass ein scheinbar überflüssig grosses Capillaruetz in der jungen
Narbe angelegt wird, welches in der Folge wieder zum grössten Theil
obliterirt. Begründen können wir dies scheinbare Zuviel nicht, doch
Analogien finden sich in der embryonalen Entwicklung in ziemlich grosser
Anzahl: ich habe Sie eben daran erinnert, dass es eine Zeit der
Fötalperiode giebt, wo auch im Glaskörper ein Cappillarnetz existirt,
welches, wie sie wissen, fast spurlos verschwindet.
76 '' Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Ich verlasse jetzt, um Sie nicht mit sogenannten theoretischen. Gegen-
ständen zu ermüden, dieses Feld für kurze Zeit und will Ihnen, ehe
wir mit der Heilung per primam intentionem als einem uns jetzt genau
bekannten Dinge abschliessen, noch einige praktische Bemerkungen
machen über diejenigen Momente, welche diese Art der Heilung, wenn
auch die Wundränder zusammenliegen, verhindern können.
Die Heilung per primam kommt nicht zu Stande:
1. Wenn die Wundränder zwar mit Hülfe von Pflaster oder Nähten
zusammengebracht sind, doch aber die Spannung derselben, d. h. die
Neigung, sich wieder von einander zu begeben, sehr gross ist. Unter
diesen Umständen halten entweder die Pflaster die Wunde nicht genau
zusammen, die Suturen ziehen sich durch die W^undränder hindurch,
vielleicht wird auch durch die starke Spannung des Gewebes die Cir-
culation in den Capillaren gehemmt, und dadurch die Zellenauswauderung
und die Ausbildung der entzündlichen Neubildung gestört. Wie stark
eine solche Spannung sein muss, um die Heilung noch zuzulassen, welche
Mittel wir besitzen, eine solche Spannung zu heben, darüber können Sie
sich erst in der Klinik eine Anschauung bilden.
2. Eine weitere Hemmung der Heilung ist eine grössere Menge
von Blut, welches sich zwischen die Wundränder ergiesst; dies wirkt
einerseits als fremder Körper zwischen den Wuudrändern, andrerseits,
wenn es sich zersetzt, durch den Einfluss des Fäulnissprocesses hinder-
lich auf den Heilungsprocess.
3. Andere fremde Körper, z. B. Sand, Schmutz, alkalischer Urin,
Koth u. dergl., hindern ebenfalls theils mechanisch, theils chemisch die
Heilung, Diese Substanzen müssen daher sorgfältig vor der Vereinigung
der Wunde entfernt werden; bei Wunden der Harnblase versucht man
den Verschluss der Hautwunde gewöhnlich gar nicht; der Urin würde sich
in das Unterhautzellgewebe drängen und hier schreckliche Verheerungen
anrichten können; hier wäre es unter Umständen sogar ein Fehler, die
Wunde zu vereinigen.
4. Endlich kann durch eine quetschende Wirkung, deren Effect uns
an den Wundrändern bei der Untersuchung entgangen sein kann, eine
weitgehende Circulatiousstörung und feinste Gewebszertrümmeruug Statt
gehabt haben, die den partiellen Tod einzelner Theile oder der ganzen
Wundfläche zur Folge hatte. Weil dann in den Wundrändern keine
Zellenbildung Statt findet, sondern erst da, wo das Gewebe noch lebt,
so liegen die kleinen Fetzen des zertrümmerten Gewebes begreiflicher
Weise als todte fremde Körper zwischen den Wundrändern und müssen
die Heilung per primam verhindern. Betrifft diese Mortificirung der
Wundränder, bei welcher übrigens eine fibrinöse Verklebung vorüber-
gehend bestehen kann, nur ganz kleine minimale Partikelchen, so können
dieselben möglicherweise rascli. molecular zerfallen und resorbirt werden ;
dies mag nicht selten der Fall sein. Wir haben von dieser Mortificirung
VoricsutiK c. Ciipii.'i r. 77
von Gewebstlieilcn luul ilivcr Lo.sKisuui!,' vom (Jcsuiiden l)(;i den Qiicl-
scliung'en ausfülirliclicr zu sprechen.
Die durch viele licobnchtuui^eu sich ;uisl)ildcnde Uel)uufi,' in der l>e-
urtheilung der WundHüclieu Avird Sie später in den Stand setzen, in den
meisten Fällen vorherzusag-en, ob die lleiUnig i)er primani zu erwarten
steht oder nicht, und -Sic werden dadurch lernen, wann es nützlich sein
kann, auch in zweifelliaften Fällen noch diese Vereinigung mit lliilfe
A'on Verbandmitteln anzustreben.
Sie werden hier und da merkwürdige Fälle erzählen hören , in
welchen vollständig abgetrennte Theile des Körpers wieder
ang-eheilt sind. Das Faktum scheint in der That festzustehen; es hat
sich mir bis jetzt keine Geleg-enheit dargeboten, Beobachtungen darüber
anzustellen; doch haben noch in neuester Zeit sehr zuverlässige Männer
berichtet, dass sie es gesehen haben, wie kleine Hautstttcke der Finger
und der Nase, die sofort, nachdem sie 'mit einem Hieb oder Schnitt abge-
tragen w^orden, dann genau angelegt und mit Pflaster befestigt sind, wieder
anheilten. Ich habe die Möglichkeit solcher Anheilungen früher a priori
bestritten, muss aber jetzt auch aus theoretischen Gründen dieselben
zugeben, nachdem es durch die Bewegungen der Zellen denkbar geworden
ist, dass das abgetrennte Stück, w^enn es nicht zu gross ist, durch ein-
gewanderte Zellen sehr bald w^ieder belebt werden kann. Dass man
ein abgeschnittenes Reis auf einen andern Baum mit Erfolg transplan-
tiren kann, ist ja bekannt; doch da die Circulation bei den Pflanzen
keines Pumpwerkes bedarf, sondern die Saftströmungen nur durch cellu-
lare Kräfte vor sich gehen, so lag die Analogie doch noch fern; auf-
fallender war es freilich schon, dass man mit Erfolg Hahnensporen auf
Hahneukämme transplantiren kann ; doch auch zwischen Vogel und Mensch
sind die Unterschiede gerade in den formativen Processen immerhin noch
sehr bedeutend, und jede unmittelbare Uebertragung der Beobachtungen
auf die Praxis unstatthaft. Auf die Entdeckung von Reverdin, dass
man kleine Hautstückchen mit Epidermis auf Granulationsflächen einheilen
kann, und dass diese daselbst weiter wachsen, werden wir später bei
Besprechung der Benarbung von Wunden mit Substanzverlust näher ein-
gehen. — Zeis hat in seiner Geschichte der plastischen Operationen alle
in der Literatur beschriebenen Fälle von Anheilungen völlig abgetrennter
Körpertheile zusammengestellt. Rosenberger hat diese Zusammen-
stellung bis auf die neueste Zeit vervollständigt und theilt eine Anzahl
von ihm selbst sorgfältig beobachteten Fällen mit, in welchen abge-
hauene Nasentheile und Fingerspitzen nach sorgfältiger Anheftung wieder
anheilten. Er bestätigt die früheren Beobachtungen, dass die Epidermis,
zuweilen auch kleine Schichten der Oberfläche solcher anheilender Theile
in der Regel gangränös werden, w^ährend die Anheilung darunter erfolgt.
Von den einfaclien öclinittwunden der Weiclitlieile.
Vorlesung 7.
Mit freiem Auge sichtbare Vorgänge an Wunden mit Substanzverlust. — Feinere Vorgänge
bei der V/undheilung mit Granulalion und Eiterung. Eiter. — > Karbenbildung. — Be-
trachtungen über „Entzündung". — Demonstration von Präparaten zur Iliusti-ation des
Wundheilungsprocesses.
Es wird uns nun weiter obliegen, zu untersuchen, was aus der
Wunde wird , wenn unter den obig-en Verhältnissen die Heilung per
primam ausbleibt; wir haben dann eine offene Wundtläclie vor uns, da
die beiden Wundränder aus einander weichen-, es liegen dann a.lso die-
selben Verhältnisse vor, als wenn die klaffende Wunde gar nicht
vereinigt wäre, oder als wenn ein Stück herausgeschnitten wäre, wie
bei einer Wunde mit Substanzverlust. Die genaue Beobachtung solcher
Wunden, die man mit irgend welchen indifferenten Körpern, z. B. mit
einem in Oel getränkten Läppchen, mit geölter oder trockener Charpie
u. dgl. zu bedecken pflegt, zeigt, wenn wir täglich die Wunde besich-
tigen, (was in den ersten Tagen allerdings selten nöthig ist, sogar un-
zweckmässig sein kann), folgende Veränderungen. Nach 24 — 48 Stunden
linden Sie die Y\^undränder zuweilen von einem leichten, rothen Anflug,
etwas geschwollen, leicht schmerzhaft auf Druck, zuweilen bleiben sie
freilich völlig unverändert im Aussehen. Wie bei der Heilung per primam
intentionem können diese Symptome höchst unbedeutend sein, ja auch
ganz fehlen, z, B. an alter, schlaffer, welker Haut, auch au kräftiger
Haut mit dicker Epidermis; an der Haut von gesunden Kindern beo-
bachtet man diese Erscheinungen am schönsten; eine sehr weit ausge-
dehnte und sich steigernde Eöthung, Schwellung und Schmerz der Um-
gebung der Wunde ist schon als ein abnormer Verlauf zu bezeichnen.
— Die Wundf lache hat sich nach den ersten 24 Stunden noch wenig
verändert. Sie erkennen überall noch die Gewebe ziemlich deutlich,
wenngleich sie ein eigenthümlich gallertiges, grauliches Ansehen (durch
anhaftenden Faserstoff) erhalten haben ; ausserdem findet sich eine ziemliche
Anzahl von gelblichen oder grauröthlich gefärbten kleinen Partikelchen auf
der Wundfläche; wenn Sie diese genauer untersuchen, so werden Sie
finden, dass es kleine, abgestorbene Fetzen von Gewebe sind, die aber
noch fest adhärireu. — Am zweiten Tage bemerkt man bald mehr bald
weniger rothgelbliche, dünne Flüssigkeit auf der Wunde, die Gewebe
erscheinen mehr gleichmässig grauröthlich und gallertig, und ihre Grenzen
unter einander fangen an, sich zu verwischen. — Am dritten Tage ist
das Secret der Wunde schon reiner gelb, etwas dicker, die grösste Anzahl
der gelblichen, abgestorbenen Gewebspartikelchen fliesst mit dem Secret
ab, sie sind jetzt gelöst; die Wundfläche wird immer ebener und gleich-
massiger roth, sie reinigt sich, wie wir mit einem technischen Aus-
druck sagen. — Hatten Sie die Wunde (z. B. einen Amputationsstumpf)
Vorlcsiin.ti; 7. C';i])itc1 T. 79
g-ar iiiclit vcrbiiudoii und rangen das abliicssendc Beeret in einer unter-
gestellten Scliaale auf, so vyerden Sie dasselbe am ersten und zweiten
Tage blutig braunroth, dann gallertig schmutzig- graubraun, dann sclimutzig
gelb finden: an den Stellen, wo das Secret von den Wunden al)-
fliesst, bilden sich nicht selten erstarrende Tropfen von
Faserstoff. — Wenn Sie bei offenen Wunden recht genau zuselien
oder eine Lupe zu Hülfe nehmen, so sehen Sic schon am dritten Tage
viele kaum hirsekorngrosse, rothe Knötchen aus dem Gewebe hervor-
kommen, kleine Granula, Granulationen, Fleischwärzchen.
Diese haben sich bis zum vierten und sechsten Tage bereits viel stärker
entwickelt und confluiren allmählig zu einer feinkörnigen, glänzcndrotli
aussehenden Fläche : der Gran ulationsflä che; zugleich wird die von
dieser Fläche abfliessende Flüssigkeit immer dicker, von rein gelblicher
rahmartiger Beschafl'enheit ; diese Flüssigkeit ist Eiter, und zwar, wie
ich Ihnen die Beschaffenheit hier geschildert habe, der gute Eiter, pus
bonum et laudabile der alten Autoren,
Von diesem normalen Verlauf giebt es eine grosse Anzahl von
Varianten, die zumal davon abhängen, welche Gewebstheile und wie
sie verletzt sind; sterben grosse Fetzen von Gewebe an der Wundfläch c
ab, so dauert die Reinigung der Wunde viel länger und Sie können
dann zuweilen auf der bereits zum grössten Theil granulireudeu Fläche
die weissen, festanhängendeu, abgestorbenen Gewebsfetzeu noch mehre
Tage lang wahrnehmen. Zumal sind es Sehnen und Fascien, die leicht,
selbst durch einfache Schuittverletzuug so in ihren Kreislaufvei-hältnissen
gestört werden, dass sie von den Schnittflächen an in unerwartet grosser
Ausdehnung absterben, während vom lockeren Zellgewebe, vom Muskel
wenig verloren geht. Der Grund davon liegt unzweifelhaft einerseits
in der Gefässarmuth der sehnigen Theile, dann in ihrer Festigkeit, die
eine starke, rasch eintretende, collaterale Gefässdilatation nicht erlaubt;
ähnlich ergeht es bei Verletzung der Knochen, zumal der Corticalsub-
stanz, wo dann oft genug auch ein Absterben der verletzten Kuochen-
fläche erfolgt, die lauge zur Abstossung braucht. Andere Hindernisse
für eine kräftige Grauulations-Entwicklung liegen auch in allgemeinen
constitutionellen Verhältnissen des Körpers; so werden Sie z. B. bei sehr
alten Leuten, bei sehr geschwächten Personen, bei schlecht genährten
Kindern sehen, dass die Entwicklung der Granulationen nicht allein sehr
langsam vor sich geht, sondern auch, dass die gebildeten Granulationen
sehr blas und schlaff aussehen. Ich will Ihnen später am Sohluss dieses
Capitels noch eine kurze Uebersicht derjenigen Granulations-Anomalien
geben, die in das Bereich der täglichen Vorkommnisse an grösseren
Wunden gehören und gewissermaassen noch in die Breite des normalen
oder wenigstens des Gewöhnlichen fallen.
Kehren wir indess zu dem entworfenen Bilde der normal ent-
wickelten Granulationsfläche zurück, so nehmen Sie in der Folge bei
gQ Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
fortdauernder Secretion von Eiter wahr, dass die Granulationen
sich immer mehr und mehr aus ihrer Ebene erheben, und nach kürzerer
oder längerer Zeit das Niveau der Hautoberfläche erreichen, ja nicht
selten dasselbe überrag-en. Mit diesem Wachsthumsprocess werden die
einzelnen Granula immer dicker,' immer confiuirender, so dass sie dann
schwer als gesonderte Knöpfchen erkannt werden können, sondern die
ganze Fläche nun ein glasiges, gallertiges Ansehen erhalt. Auf diesem
Zustand erhalten sich die Granulationen zuweilen sehr lange : wir müssen
dann verschiedene Mittel brauchen, um die wuchernde Neubildung in
gewissen, der Heilung förderlichen Schranken zurückzuhalten; zumal
darf an der Peripherie die Granulationsmasse das Niveau der Haut
nicht überragen, denn hier muss jetzt die Vernarbung beginnen. —
Sie sehen jetzt allmählig folgende Metamorphosen eintreten: die ganze
Fläche zieht sich mehr und mehr zusammen, wird kleiner; an der
Grenze zwischen Haut und Granulationen wird die Eitersecretion etwas
geringer; „es bildet sich zunächst ein trockner, rother, etwa '/,'" breiter
Saum, der nach dem Centrum der Wunde vorrückt, und je mehr er
sich vorschiebt und die Granulationsfläche überzieht, folgt ihm ein hell-
bläulich weisser Saum unmittelbar nach, der in die normale Epidermis
übergeht. Diese beiden Säume entstehen durch die Entwicklung von
Epidermis, welche von der Peripherie nach dem Centrum zu vorrückt;
es tritt die Benarbung ein; der junge Narbenrand rückt täglich etwa
y,"' bis V" vor, endlich hat er die ganze Granulationsfläche bedeckt.
Die junge Narbe sieht dann noch ziemlich roth aus und setzt sich
dadurch sehr scharf von der gesunden Haut ab; sie ist fest anzufühlen,
fester als die Cutis und hängt mit den unterliegenden Theilen noch sehr
innig zusammen. Mit der Zeit, nach Monaten, wird sie allmählig blasser,
weicher, verschiebbarer, endlich weiss ; sie verkleinert sich noch im Ver-
lauf von Monaten und Jahren, behält aber oft durch das ganze Leben
eine weissere Farbe als die Cutis. Durch die starke Contraction, die
in der Narbe nach dem Centrum zu vorgeht, werden die naheliegenden
Hauttheile oft sehr stark verzogen, ein Effect, der zuweilen sehr will-
kommen, zuweilen indess sehr unwillkommen ist, wenn z. B. durch eine
solche Narbe an der Wange das untere Augenlid stark herabgezogen
wird, und so ein Ectropium entsteht.
Sie werden hier und da angeführt finden, dass die Benarbung der
Granulationsflächen auch zuweilen von einzelnen, mitten in denselben
sich bildenden Epidermis-Inseln entstehen kann. Dies hat nur für solche
Fälle Gültigkeit, wo mitten in der Wunde noch ein Stückchen von
Cutis mit Eete Malpighii stehen geblieben war, wie das z. B, bei Brand-
wunden leicht Statt haben kann, indem ja das kaustisch wirkende Agens
sehr ungleichmässig in die Tiefe eindringen kann. Unter solchen Ver-
hältnissen bildet sich von einem Stückchen stehengebliebener Papillar-
schicht der Haut mit einer, wenn auch noch so dünnen Bedeckung von
Zcllpn des Kclc Mali)igliii sofort wieder K|)ideriiiis; es sind an diesen
Stellen dann die i^'leiclien Yerliältnisse, ^vic wenn Sie etwa diircli ein
Cantharidenpflaster eine Blase aul" der Haut erzeugt hätten, ■wodiiicli
eine Abhebung- der Hornschicht von dei- Schleimschieht der Cutis durdi
das sehr rasch auftretende Exsudat erfolgt; es bilden sieh danacli keine
Granulationen, wenn Sie die Fläche niclit fortwährend reizen, sondern
von der Sehleinischicht aus entstehen sofort wieder verhornende Epidermis-
blättchen. Ist aber ein solclier Rest des Rcte Malpig-liii nicht vorhanden,
so entstehen auch nieinals Narbeninseln, sondern die Epiderrnisbildung
rückt nur von der Peripherie der Wunde allmählig- nach dem Centrum
vor. Dies steht für mich so vollkommen fest, dass ich glaube, Chirurgen,
die es anders gesehen zu liaben behaupten, sind in irgend einer AVeise
getäuscht worden. Die Transplantationen von Epidermis nach Rev erdin
scheinen mir ebenfalls sehr zu Gunsten der alleinigen Epithelentwicklung"
aus Epithel zu sprechen,
Naclidem wir die äusseren Verhältnisse der Wunde betrachtet haben,
die EntAvicklung der Granulationen, des Eiters, der Nai'be, müssen wir
uns jetzt zu den feineren Vorgängen wenden, durch welche diese äusseren
Erscheinungen hervorgebracht werden.
Es wird am eiiifaclisten sein, wenn wir uns wieder ein verliältnissmässig einfaclies
Capillarnetz im Bindegewebe entwerfen (Fig. 1, pag. 60). Denken Sie sieh ans demselben
ein Stück von oben lier halbkreisförmig ausgeschnitten , so wird znuäclist eine Blutung
aus den Gefässen erfolgen, die durch Bildung von Gerinnseln Ins zum nächsten Gx^fässast
gestillt wird. Es nniss sodann eine wenn aucli kurz dauernde Dilatation der um die
Wunde liegenden Gefässe entstehen, die theils durcii erliöhten Druck, tlieils durcji Fluxion
bedingt ist; eine vermehrte Transsudation von Blutserum, also eine Exsudation, ist auch
hier aus den früher besprochenen Gründen nothwendige Folge der Capillardilatation; das
transsudirte Serum enthält auch hier etwas fibrinogene Substanz, welche (vernuithlich
dm-ch die Einwirkung der neu entstehenden Zellen) in den oberflächlichsten Gewebs-
schichten zu Fibrin gerinnt, während das Serum mit Blutplasma gemischt al)fliesst. Das
Gefässnetz würde sich nun gestalten wie in Fig. 7, pag. 82.
Es wird meist der Fall sein, dass an der Oberfläche der Wunde mehr oder weniger
Gewebstheilchen zu Grunde gehen, da die Gefässverstopfung besonders in Geweben mit
schwacher Gefässentwicklung natürlicli tief in die Ernährung eingreifen muss, und zumal
in starren Geweben der Gefässdilatation Schranken entgegengesetzt werden; diese ober-
flächliche Necrose kann freilich für's freie Auge kaum wahrnehmbar sein. Nehmen wir an.
die oberste in der Zeichnung schraffirte Schicht der 'Wunde sei durch die Veränderung der
Circulationsverhältnisse abgestoi-ben. Was wird jetzt in dem Gewebe selbst vorgehen?
Wesentlich dieselben Veränderungen wie bei vereinigten Wundrändern: AusAvanderung
weisser Blutzellen durch die Gefässwandungen, massenhaftes Auftreten dieser Zellen im Ge-
webe mit den secundären Wirkungen auf das Gewebe: plastische Infiltration und
entzündliche Neubildung. Da aber hier keine gegenüberliegende Wundfläche ist, mit
der das neue Gewebe in eins verschmelzen könnte, um sich dann rasch zu Bindegewebe
umzuformen, so bleiben die aus den Gefässen ausgewanderten Zellen zunächst an der Ober-
fläche der Wunde liegen; die exsudirte fibrinöse Substanz an der Wundoberfläche wird
weich, gallertig; zugleich nimmt auch das zellig infiltrirte Gewebe der Wundoberfläche
die gleichen Eigenschaften an: die weiche Bindesubstanz, in welche in nächster Folge
BiUrotli chir. Path. n. Therap. 7. Aufl. (3
82
Von den einfachen Selmittwunden der Weicbtheile.
Fig. 7.
Wunde mit Substanzverlust. Gefässdilatation. Schematisohe Zeielmiinfi
. Verarösserunsf 300 — 400.
junge Gefässe hineinwachsen, hält, wenn auch nur in geringer Menge vorhanden, die
Zellen der entzündlichen Neubildung, deren Menge noch fortwährend wächst, zusammen.
— So entsteht das Granulationsgewebe. Granulationsgewebe ist also eine-
reichlich A-ascularisirte, entzündliche Neubildung, eine Neubildung angeregt
durch eine entzündliche Ernährungsstörung. Es ist anfangs in fortwährendem Waclisthum
begriffen: dies Wachsthum findet in der Eichtung vom Grunde der AVunde aus nach der
Oberfläche zu Statt: das Gewebe ist jedoch von verschiedener Consistenz in verschiedenen
Schichten, zumal .seine oberflächliche Schicht ist von weicher, ganz oben von flüssiger
Consistenz, indem hier die Intercellularsubstanz nicht nur gallertig, sondern flüssig
wird; diese oberste, dünnflüssige, fortwährend abfliessende und sich fortwährend aus dem
Granulationsgewebe durch Zellenauswanderung erneuernde Schicht ist der Eiter. (S. Fig. G-)
Der Eiter kommt hier also aus dem Granulationsgewebe hervor und bestellt aus
jungen Zellen. Avelche aus den Granulationsgefässen , wolil aucli aus dem Granulatiuns-
gewebe, herausgewandert sind. Man sagt: die AVunde secernirt den Eiter. Sammelt
mau Eiter in einem Gefässe, so sondert er sich bei ruhigem Stehen in eine obere, dünne,
helle Schicht und in eine untere gelbe; erstere ist flüssige Intercellularsubstanz. letztere
enthält vorwiegend die Eiterkorperchen. Diese zeigen sich bei mikroskopisclier Betrach-
tung als runde, fein punktirte Zellen von der Grösse der weissen Ehitkcu-iierchen . mit
denen sie ja identiscli sind. Doch Avährend diese Zellen, so lange sie in der Lvmplie
und im Blut sind, in der Kegel nur einen grossen Kern sehen lassen, verändern sie ^ich
nach Austritt aus den Gefässen der Art, dass sie dann 3 — 4 kleine dmikle Kerne zeigen,
die bei Zusatz von Essigsäure besonders deutlich hervortreten, weil die blassen Körnchen
des Protoplasma dadurch gelöst werden oder wenigstens so quellen, dass die Zellsubstanz
durchsichtig wird: dies ist die einzige, ziemlich constante Differenz, welche sich zwischen
V<irU'siin!;' 7. ( ':i|iilc'l f.
83
weissen Blutzellcn (die ja wiedcnini mii Lyin|ili/(llcii identiscli sind) und ICit^rzellcn
inovphologisc'li auriiiulen lässl. Die Krrue sind niclil in Essigsäure iöslidi, das ganze
Kfigelclien löst sicli leielil in Alkalien.
Fig. 8.
c
i (0)
Eiterzellen aus frischem Eiter bei 400 maliger Vergrössernng; a abgestorben ohne Znsatz;
h verschiedene Formen, welche die lebenden Eiterzellen bei ihren amöboiden Bewegungen
anneinnen; c Eiterzellen nach Znsatz von Essigsäure; d Eiterzellen nach Zusatz von Wasser.
Bei a sieht man die Eiterzellen, wie sie gewöhnlich zur Anschauung kommen, wenn
man einen Tropfen Eiter mit einem Deckglas bedeckt ohne allen Zusatz unter dem Mi-
kroskop betrachtet. Die schon erwähnten Beobachtnngeen von v. Recklinghausen
liaben gezeigt, dass diese runde Formen nur der todten Zelle zukommen; beobachtet man
die Eiterzellen in der feuchten Kammer auf erwärmtem Objecttisch (nach M. Schnitze),
so sieht man die amöboiden Bewegungen dieser Zellen aufs Schönste. Diese Bewegungen,
die bei Bluttemperatur nur langsam und träge von Statten gehen und durch welche die
sonderbarsten Formveränderungen (6) entstehen, werden bei höherer Temperatur viel
schneller, bei niederer noch langsamer. Die Menge der Eiterzellen im Eiter ist so gross,
dass man in einem Tropfen reinen Eiters iinter dem Mikroskop die flüssige Intercellular-
substanz gar nicht wahrnimmt. — Die chemische Untersuchung des Eiters laborirt zunächst
daran, dass die Körperchen nicht völlig von der Flüssigkeit getrennt werden können, ferner
daran, dass der in grossen Mengen zur chemischen Untersuchung zu gewinnende Eiter
gewöhnlich schon längere Zeit im Körper war, und sich morphologisch und chemisch
verändert haben kann, endlich daran, dass vorwiegend Proteinsubstanzen im Eiter ent-
halten sind, deren Scheidung bis jetzt nicht immer genau möglich ist. Lässt man "Wnnd-
eiter in einem Glase stehen, so nimmt das klare hellgelbe Serum bald etwas mehr, bald
etwas weniger Volumen ein, als der dicke, strohgelbe Bodensatz, welcher die Eiterzellen
enthält. Der Eiter enthält etwa 10 — 16% feste Bestandtheile, vorwiegend Kochsalz; die
Aschenbestandtheile sind im Ganzen denen des Blutserums nahezu gleich. Die neueren
Untersuchungen des Eiters haben nachgewiesen, dass Myosin, Paraglobulin, Protagon,
ausserdem Fettsäuren, Leucin, Tyrosin constant im Eiter enthalten sind. ^ Im Körper
angehäufter Eiter geht nicht leicht eine saure Gährung ein; der reine, frische, alkalisch
reagirende Eiter wird jedoch sauer, wenn man ihn, selbst in einem bedeckten Gefäss,
längere Zeit (mehre Wochen) stehen lässt.
Kehren wir jetzt zurück zu dem Granulationsgewebe, so haben wir darin noch einen
Hauptbestandtheil zu berücksichtigen, nämlich die reichlichen Gefässe, Avodurch dasselbe
sein rothes Ansehen bekommt. Die ausgedehnten Gefässschliugen. welche sich an der
Oberfläche der Wunde gestalten müssen und die in dem Schema (Fig. 9, pag. 84) viel zu
dünn und zu wenig zahlreich sind, fangen mit dem Wachsthum des sie umgebenden
Granulationsgewebes an, sich ebenfalls zu verlängern und sich mehr und mehr stark zu
schlängeln; gegen den vierten und fünften Tag kommt die Entwicklung neuer Gefässe,
6*
84
Von den einfachen Schnittwunden der "Weielitlieile
■wie bei der Heihmg per primam , in Form feiner seitlicher Capiilarverbindungen hinzu,
und bald ist das Gewebe in überreichem Maasse von Gefässen durchzogen , die einen so
wesentlichen Antheil an dem Aussehen der ganzen Granulationsfläche haben . dass man
an der Leiche dieselbe kaum wieder erkennt, indem dann die Füllung der Gefässe fehlt,
oder wenigstens schwächer ist als am Lebenden, und das ganze Gewebe daher blass,
schlaff und viel weniger dick erscheint. — Es drängt sieh die Frage auf, w'oher die mit
freiem Auge sichtbaren, merkwürdigen,' kleinen, allmählig confluirenden, rothen Knüpfcheii?
warum erscheint die Fläche nicht eben? Dies ist in der That oft genug der Fall; die
Granula sind keinenfalls immer scharf ausgeprägt; die Erklärung für die Ursache ihrer
Form ist indess nicht so einfach und leicht. Man nimmt gewöhnlich an, die Granula
seien als eine Imitation der Cutis -Papillen aufzufassen, doch abgesehen davon, dass es
unbegreiflich ist, wie im Muskel- und Knochengewebe solche Bildungen imitirt werden
sollen, und dass die Granula meist zehnfach grösser sind als die Hautpapillen , ist dies
doch keine eigentliche Erklärung. Es beruht die Erscheinung der Granula ohne Zw^eifel
auf der Anordnung der Gefässsehlingen zu förmlichen Büscheln und Schlingencomplexen,
auf gewissen Abgrenzungen dieser einzelnen Gefässcomplexe von einander. Man könnte
also annehmen, dass die Gefässsehlingen ohne bekannte Gründe diese Form bekommen.
Doch liegt es, scheint mir, nahe, hierbei an die circumseripten , bereits in den normalen
Geweben präformirten Capillardistricte zu denken, deren wir, zumal in der Haut und im
Fettgewebe, eine gTOSse Anzahl haben. Sie wissen, dass jede Schweiss- und Talgdrüse,
jeder Haarbalg, jedes Fettläppchen sein ziemlich geschlossenes Capillarnetz hat, und durch
die Vergrösserung solcher Capillarnetze könnten die eigenthümlich abgeschlossenen Ge-
fässformen der Granula sich hervorbilden. In der That werden Sie auch grade in der
Cutis und im Fettgewebe die einzelnen Flelscliwärzchen besonders scharf und deutlich
hervortreten sehen, während dies im Muskel, wo solche in sich abgegränzte Capillardistricte
Fig. 9.
Granulirende Wunde, Sehematische Zeichnung. Yergrilsserung 300—400.
Vi.rli-suiiK' 7. f'iipilrl r.
85
tVhlon, soUiior dor Kall is(. Die Kiitschciduiif;, oh diese Erklärung richtig isf, lics.so sich
nur durch l\inisllicli(> Iiij<'cl,ioii frisch gchildelcr (iranulationon liefcsrii : bis dahin bleibt
nieiiio Erklärung nur ein Versnch, diese |)a(hol()gische Neubildung auf iMiriiialc anatomische
Verhältnisse zurückzuführen.
Die vorstehende Skizze, an der mau lihrigens wegen der slarkcn V'ergrösserung und
des seiiematisirteu kleinen Gefässdistrictes nur in den kleinen (iru|i]ien der Gefässschiingeii
Anfänge der Granula erkemu'u kann, soll Ihnen die ICnl wickinng des (iranulationsgcwebes
mit seiner Gefässvertheilung, seinem ^^erhältniss zum ]<^iler und zu dem unterliegenden
jVIutterboden scheniatisch darstellen, wie es sich aus Fig. 7 entwickelt hat. —
Wenn dem foi'tsclireitenden Wachstluim der Granulationen nicht an
einer gewissen Grenze Halt geboten würde, so mildste daraus eine end-
los Avaclisende Granulationsgescliwulst werden. Dem ist nun zum Glück
nicht oder wenigstens nur äusserst selten so. Sie wissen schon aus der
Darstellung der äusseren Verhältnisse, dass die Granulationen, so wie
sie das Niveau der Cutis erreicht haben, ja zuweilen schon früher, in
ihrem Wachsthum aufhören, von Epidermis tiberzogen werden und sich
zur Narbe zurückbilden. Hierbei gehen folgende Veränderungen in dem
Gewebe vor sich.
Zunächst sind in dem Graiiulationsgewebe, wie in den AVuiidrändern bei der Heilung
per pi-imam, eine grosse Anzahl von Zellen vorhanden, die dem üntei-gang anheimfallen.
Nicht allein die Millionen von Eiterzellen auf der Oberfläche, sondern auch Zellen in der
Tiefe des Granulationsgewebes verschwinden durch Zerfall und Resorption; dass auch
Zellen aus dem Granulationsgewebe unversehrt wieder in die Gefässe zurückwandern, ist
sehr wahrscheinlich, wie wir später bei der Organisation der Gefässthromben sehen werden.
Fig. 10.
Fettige Degeneration von Zellen aus Granulationen. Körnchenzellen.
Vergrösserung etwa .500.
Bei der Kückbildung der Zellen treten allmählig feinste Fettkörnchen in immer
grösserer Zahl in ihnen auf, nicht allein in den runden, sondern auch in denen, die bereits
die Spindelform angenommen haben; man nennt im Allgemeinen solche Zellen, welche
aus lauter feinsten Fettkügelchen zusammengesetzt sind: Körnchen Zellen: sie linden
sich oft in den Granulationen. — Wenn schon auf diese Weise durch Schwund und Aus-
wanderung der Zellen das Granulationsgewebe verringert wird, und zu gleicher Zeit auch
die Neubildung von Zellen aufhört, -so muss doch noch etwas sehr Wesentliches hinzu-
kommen, nändich: die allmählige Consolidation des gallertigen Intercellulargew^ehes zu
streifigem Bindegewebe, die durch stetig zunehmende Abgabe von Wasser, was durch 'die
Gefässe abgeführt wird und von der Oberfläche verdunstet, zu Stande konmit: zugleich
nehmen dann die übrig bleibenden Zellen die Formen der gewöhnlichen Bindegewebs-
86
Von den einfachen Schnittwunden der Weichthfile.
körperchen an. Nach der Auffassung anderer Forscher schwindet die ursprüngliche Inter-
cellularsubstanz ganz und an ihre Stelle tritt das sich zu Fasergewehe umbildende Proto-
plasma der Granulationszellen. — Mit diesen Veränderungen, die von der Peripherie zum
Centrum vorschreiten , hört auch auf der Oberfläche die Eitersecretion auf; in der un-
mittelbaren Umgebung der Wunde entwickelt sich dann auf dem sich condeusirenden
Granulationsgewebe Epidermis, die sich sehr rascli in Hurnschicht und Schleimschicht
sondert; diese Epidermisbildung erfolgt nach J. Arnold durch Spaltung eines in der
unmittelbaren Nähe des bestehenden Epidermisrandes sich bildenden, anfangs ganz amorphen
Protoplasmas, nach Heiberg, Eberth, F. A. Hoffmann, Schüller, Lott durch
Sprossenbildung von den Epithelzellen, welche dem Wundrand am nächsten liegen.
Fig. 11.
Epithelien der Froschhornhaut, an dem Rande eines Defectes Sprosse* austreibend (a);
einzelne von einem solchen Rande abgelöste Zellen; Vergrösserung etwa 600. —
Nach Heiberg.
Endlich muss die Obliteration der überschüssig gebildeten Capillaren erfolgen, von denen
nur wenige zurückbleiben, um den Kreislauf durch die Narbe zu unterhalten. Mit ihrer
Obliteration wird das Gewebe immer trockener, zäher, zieht sich immer mehr und mehr
zusammen, und so gewinnt oft erst nach Jahren die Narbe ihren Abschluss, ihre dauernde
Beschaffenheit.
Der g'anze Process, weiingleicli in seinen feineren movphologis^chen
Verhältnissen (Invcli neuere Untersuchungen weit mehr aufgeklärt als
früher, behält, wie alle diese Heilungsproeesse, viel Merkwürdiges. Die
Möglichkeit ja die Nothweudigkeit (unter sonst normalen
Verhältnissen) ein gewisses typisches Ende zu erreichen, ist
das wesentlichste Me-rkmal derjenigen N eubildungen, Avelehe
durch einen entzündlichen Process hervorgerufen werden.
Wenn dieser natürliche Verlauf der Ausheilung nicht erfolgt, so liegt der
Grand davon darin, dass entweder die allgemeine Constitution, oder
örtliche Verhältnisse die Heilung indirect oder dircet hindern, oder dass
das befallene Organ für das Leben von solcher Wichtigkeit, die Störung
in ihren Folgen so eingreifend auf den ganzen Organismus wirkt, dass
Vdrlcsmii,' 7. ("apild I. 87
(ladiircli der '\\u\ des Ori^'nus, odei' diirdi die P'imctioiissliinini!' des
let/tercn dei" Tod des Individuiinis bedingt Nvird, Jene diireli lOidziiiidim;;'
veranlasste Neubildung;' bat stets in sieb die 'l^endenz, au gewissen
Punkten angekommen, sieb 7Airiickzubildcn und in den stationären Zustand
eines ausgebildeten typischen Gewebes überzugeben, zumal sieb zu Narben-
bindegeAvebe zu l)ilden, wäbrend andere Nculnldungcn einen solebcn natlir-
liebcn Absebluss in sieh nicht haben, sondern meist dauernd weiter waebscn.
So verscliiedcn auf den ersten Anblick der lleilungsprocess per
primani und per secnndam intentionem' zu sein scheint, so sind doeb die
morphologischen Vorgänge in den Geweben in beiden Fällen die gleiclien;
Sie brauchen nur die Wundränder in Fig. 3 (pag. 68) aus einander zu legen,
um dasselbe Bild wie Fig. 9 (pag. 84) zu bekommen; dass dies sich in der
That so verhält, lehrt die Beobachtung in einfachster Weise: wird eine fast
per primam verheilte, doch noch nicht consolidirte Wunde aus einander
gezerrt, so liegt sofort eine granulireude, bald auch eiternde Wunde vor;
Sie werden sich in praxi davon oft genug später überzeugen.
Wir haben die geschilderten Vorgänge der Wundheilung durch un-
mittelbare Verwachsung und durch Granulationsbildung als Effect einer
traumatischen Entzündung bezeichnet; es ist oben hervorgehoben,
dass eine wesentliche Eigenthü mlichke i t des traumatischen
Entzündungsprocesses darin liegt, dass sich dabei ohne neue
accidentelle Veranlassung die Reizung im Gewebe nicht über
die allernächsten Grenzen der Verletzung erstreck t. Diese sehr
wesentliche Beschränkung bitte ich, sich scharf ins Gedächtniss einzu-
prägen. Da wir über die chemischen Verändenmgen und über die
Nervenactionen in den entzündeten Geweben nichts Genaueres wissen,
die morphologischen Vorgänge jedoch ziemlich genau kennen, so klammern
wir uns vorläufig an letztere, wenn wir den Begrift' „Entzündung" definiren
und generalisiren wollen. Ich will für wenige Augenblicke die frühere
Betrachtung hierüber (pag. 63 u. 69) wieder aufnehmen. „Entzündung"
ist eine Modification der normalen physiologischen Vorgänge in den ver-
schiedenen Geweben des Körpers, eine „Ernährungsstörung'' (Virchow),
deren histopoetische Resultate Sie nun kennen, von deren zerstörenden,
deletären Wirkungen Sie später hören werden. Man hat ursprünglich
dem Worte nach einen Körpertheil „entzündet" genannt, wenn er heiss
und roth war; da er dann gewöhnlich auch gesell wollen und schmerzhaft
war, so ist dieser Name für Processe angewandt, bei w^elchen sich die
Combinatiou der eben genannten Erscheinungen vorfand. Das Wort
„Entzündung" stammt "aus einer Zeit, wo man eigentlich noch gar keine
pathologisch-anatomische Vorstellungen hatte; schon die ältesten Beob-
achter begriifen, dass dabei etwas Ausserordentliches in den Geweben
vorging, dass eine gewaltige Erhitzung in sie hinein fuhr (inflammatio),
88 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
und von Anfang- an hat man diesen Vorgang vorwiegend als eine inten-
sive Steigerung- der vitalen Vorgänge aufg-efasst. Da man ihn selbst
aber ebensowenig- erfassen konnte, wie wir es heute vermögen, so hielt
man sich an die Erscheinungen, unter w^elchen der Process verlief — wie
heute, so wie an die Eesultate und Folgen seiner Action — wie heute;
und so entstanden nicht selten Zweifel, ob man auch dann noch von
Entzündung- sprechen dürfe, wenn das eine oder das andere Symptom
fehlte, oder nicht recht ausgeprägt war — auch wie heute. Wir wissen
nun allerdings, dass die Entzündung kein Wesen ausser dem Körper
ist, welches als solches in einen Körpertheil hineinfährt, dort sein Wesen
treibt, und wie Beelzebub ausgetrieben werden muss, wir wissen viel-
mehr g-anz genau, wodurch „Tumor, Rubor, Calor, Dolor" bei der Ent-
zündung bedingt sind; doch, wenngleich jeder Laie eine acute Ent-
zündung meist als solche erkennt und richtig bezeichnet, so bleibt die
Schwierigkeit sowohl klinisch wie pathologisch-anatomisch immer noch
gross, ein Krankheitsbild „Entzündung" logisch scharf zu definiren. — •
Das Wort „Entzündung" ist nun einmal da, es bezeichnet denjenigen
Process, für den es zuerst gewählt wurde, so treffend, dass es vergeb-
liche Mühe wäre, dies Wort auszurotten. Wir verstehen darunter die
eben genauer erörterte Combination von Vorgängen in den Geweben,
welche in unserem Falle durch einen zunächst rein mechanischen, einmal
wirkenden Reiz (die Verwundung) zu Stande kommt. Wie viel Hyperämie,
wie viel Exsudation, wie viel Fibrinbildung, wie viel Gewebsneubildung
nöthig ist, damit wir den Vorgang als Entzündung bezeichnen müssen,
kann nicht vi^ohl festgestellt werden; darüber herrscht viel Willkür und
verschiedener Sprachgebrauch. Besonders beanstandet ist es, und zwar so-
wohl von Chirurgen als Anatomen, die rein regenerativen Vorgänge,
das heisst die Gewebsneubildungen, welche in Folge der durch das Trauma
bewirkten Ernährungsstörung direct oder indirect zur Verwachsung von
Wunden oder zu einem wenn auch unvollkommenen Ersatz des Substanz-
verlustes führen, schon als „entzündliche" zu bezeichnen, j^immt man den
Vorgang im modern histologischen Sinn, so kann man ihn nicht wohl von
den entzündlichen trennen, so wenig extensiv und intensiv derselbe auch
gelegentlich sein mag. Bei rein klinischer Betrachtung ist die Trennung
schon leichter, weil wir in der That sehr oft Fällen begegnen, wo wir
keines der oft genannten vier Cardinalssymptome an den Wuudrändern
ausgesprochen finden; doch ist die Differenz zwischen einer leichten
Röthung, Scliwellung und Empfindlichkeit der Wundränder bis zur inten-
sivsten progredienten Entzündung über den ganzen verletzten Körpertheil
nur eine dem Grade nach verschiedene. Der Sprachgebrauch hat hier
anders entschieden; wQwn eine Wunde ohne alle sogenannte Reactions-
(Entzündungs-) Erscheinungen heilt, so nennen Avir das nicht Entzündung
der Wunde, sondern brauchen diesen Ausdruck nur dann, wenn die Symp-
tome der Entzündung am verletzten Theil sehr deutlich hervortreten.
Vorlesung 7. Capitol I. 80
Ich hielt es für nöthi^', Sic schon jetzt in diese allgemeinen lictracli-
tungen über Entzilndiuii;', deren einzelne auyenrällige Momente icli
Ihnen früher au den Veränderungen der Gefässe und der Gewebe vor-
luhrte, einzuwcilien, damit »Sic sich früh gewölmcn, durch die Scliwicrig-
keiten derselben lilndurcli zu finden. Es wird im Lauf dieser Vorlesungen
stets mein Bestreben sein, Ihnen vor Allem die anatomisch- physiologischen
Störungen so klar auseinander zu setzen, als es nach unsern jetzigen
Ivenntnissen möglich ist, und daneben auf liistorischem Wege ihnen dar-
zulegen, Avie die jetzt noch gel)ränc]dic]icn klinischen Vorstellungen und
Ausdrucksweisen entstanden. Nur so ist es möglich, das innere Wesen
und Werden unserer Wissenschaft zu ergründen; ohne Vcrständuiss
desselben werden Sie stets an der Peripherie der Erscheinungen herum-
tappen und durch das Anklammern an einzelne derselben einem unheil-
baren Schematismus und Dogmatismus verfallen. Da die bedeutende
Mehrzahl der Menschen in naturwissenschaftlichen Dingen ganz dumm ist
und in dem Arzt mehr den Priester und Götzen als den naturkundigen
Berather sucht und sieht, so sind Sie sicher, auch mit einem würdevoll
zur Schau getragenen medicinischen Ultramontanismus grosse practische
Erfolge zu erzielen ; doch müssen Sie dann freilich verzichten, den Fort-
schritt und die immer freiere Entwicklung der gebildeten Menschen-Welt
verstehen oder gar fördern zu wollen.
Es liegt nicht im Zweck dieser Vorlesungen, Ihnen Schritt für Schritt
die morphologischen, mikroskopischen Veränderungen verletzter Gewebe
an Präparaten vorzuführen ; Sie werden in den praktischen Uebungen in
der pathologischen Histologie dazu Gelegenheit finden; damit Sie indess
nicht glauben, dass die Vorgänge, welche ich mit Ihnen besprochen habe,
nur an schematisirten Zeichnungen zu demonstriren seien, will ich Ihnen
wenigstens Einiges zeigen.
Die Zelleninfiltration des Gewebes nach Reizung durch Schnitt lässt sich am leich-
testen an der Cornea beobachten. Ich machte vor vier Tagen einem Kaninchen einen
Hornhautschnitt lege artis mit einem Lanzenmesser und Hess ihn einen Moment klafi'en,
damit die Reizung nicht zu gering werde; gestern war der Schnitt als feine Linie mit
schmaler milchiger Trübung sichtbar; ich tödtete das Thier, schnitt die Hornhaut vorsichtig
aus und liess sie bis heute Morgen in Holzessig quellen; nun nmchte ich einen feineu
Flachschnitt durch die Wunde und klärte denselben durch Glycerin.
Man sieht jetzt bei aa Fig. 12 (pag. 89) die Verbindungssubstanz zwischen den Wund-
rändern, in denen eine Ansammlung von Zellen zwischen den Hoi-nhautlamellen, da wo die
Hornhautkörperchen liegen, in ziemlicher Menge Statt gefunden hat; diese Zellen treten
hier nicht so scharf hervor wie bei der Carminfärbung, 'doch zeigt sich die Zwischensubstanz
zwischen den Wundrändern sehr deutlich; diese besteht fast durchweg aus Zellen; die
Zellen allein würden jedoch die Verbindung nicht fest halten können, wenn sie nicht
durch einen fibrinösen Bindekitt zusammengeklebt wären. Die jungen Zellen sind wahr-
scheinlich aus den Spalten zwischen den Hornhautlamellen aus den Wundrändern ausge-
wandert, sind nicht etwa zwischen den Wundrändern in der Bindemasse entstanden, letztei'e ist
wohl eher unter ihrem Einfluss von ihnen selbst gebildet. Diese feinen Hornhautnarben klären
90
Von den einfachen Schnittwunden der Weiehtheile.
sich, beiläufig bemerkt, später fast ganz auf, so dass sie fast spurlos verschwinden. Die
Zeilen, welche Sie hier im Präparat sehen, sind wahrscheinlich alle aus den Gefässschiingen
der Conjunctiva herausgekommen; es sind Wanderzellen,
Fio-. 12.
Hornhautschnitt, 3 Tage nach der Verletzung; aa die Verbindungssubstanz zwischen den
beiden Schnitträndern. Ve'i-grösserung 300.
Ich mnss zu diesem Präparat hinzufügen, dass ich es grade deshalb ausgewählt habe,
weil die Zwischenmasse breit urd sehr zellenreich ist. Bei sehr kleinen, mit schärfstem
Messer geführten Schnitten durch die Cornea ist die Zwischenmasse so gering, dass man
Mühe hat, sie zu sehen; dann sind auch die Veränderungen an den Wundrändern noch
geringer als hier, und mit freiem Auge ist eine so feine Narbe gar nicht sichtbar.
Fig. 13.
Schnitt\Vunde in der Wange eines Hundes, 24 Stunden nach der Verwumlung.
Vergrössei'ung 300.
V..rl.
7. f';i|iiici r.
Ol
Rio sollen hier (Fii;-. l-'l, p.'iu;. DO) cinrn (^iicriiiireiisriiiiiK rliin-li rinc i:! I SiiiikIcmi alir,
iViscii verklebte Sehiiiltwimde in dei- \V;ini;;e i'ino.s iriindes. Der Sdinin inarkirl sich dcuilirli
hei aa, die Wundränder sind diinli eine dunkle ZwiselKninms.so vnn einander f{etrerin(,
die theils aus hlassen Zellen, llieils niis reihen Blulki'irperehcn hesteht, letztere {^'ehilnni
dem zwiselien den W'iindrändcni nach der Verwiindun^f ausgetretenen I5lut an; die durch
den Schnitt i^elrolVcnen l>indegevvebs,spalten , in denen die TJindeKcwehs/.ellen liej^en, sind
bereits mit vielen jungen Zellen erfüllt, und diese Zellen haben siidi auch scbou in
das extravasirte Blut zwischen den Wundrändern liineingeschcdien. Das Präparat isl niil
Essigsäure behandelt, un<l daher sehen Sie die Fasernng des Bindegewebes nieht mehr,
die jungen Zellen um so deul lieber. Achten Sie auf gewisse zellenreiehc Stränge und
Züge, welehe von der Wunde nach beiden Seilen hinziehen {bbh); dies sind Blutgefässe,
in deren Seheiden besonders viele Zellen iniiltrirt sind, welche durch die Gefässwandung
auswanderten, oder im Begriff sind, auszuwandern. — Ueber die Umbildung des geronnenen
Blutes zwischen den Wundrändern, des „Wundthrombus", sprechen wir später noch genauer
bei den Gefässnarben am Ende dieses Capitels.
Das folgende Präparat (Fig. 14) zeigt Ihnen eine junge Narbe 9 Tage nach der
Verletzung.
Fig. 14.
Narbe 9 Tage nach einem per primam intentionem geheilten Schnitt durch die Lippe
eines Kaninchens. Vergrösserung 300.
Die Bindemasse («a) zwischen den Wundrändern besteht ganz aus gedrängt an ein-
ander liegenden Spindelzellen, welche mit deni Gewebe an beiden Wnndrändern in innigste
Verbindung treten.
Von dem frischen, eben von einer Wunde abgetragenen Granulationsgewebe kann
man keine feinen Durchschnitte machen: es ist überhaupt ein schwer zu behandelndes
Object für die feinere Präparation. Ei-härtet man das Granulationsgewebe in Alkohtd,
färbt die Schnitte mit Carmin und klärt sie dann durch Glycerin, so bekommt man ein
Bild wie Fig. 15 (pag. 92).
92
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Fig. 15.
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IWT^P
■^-Hi
w
Granulationsgewebe. Versfrösserunsr 300.
Das Gewebe scheint nur aus Zellen und Gefässen mit sehr dünnen Wandungen zu
bestehen; von der schleimigen Intercellularsubstanz , die immer an gesunden, frischen
Granulationen, v.enn auch spärlich voi-handen ist, sieht man hier gar nichts, weil das
ganze Gewebe durch den Alkohol geschrumpft ist.
Das Gewebe der jungen Narbe sehen Sie besonders schön an dem folgenden Prä-
parat (Fig. 16), welches aus einer breiten nach Granulation und Eiterung entstandeneu
Narbe aus dem Rücken eines Hundes genommen ist, etwa -i — 5 Wochen nach der Verletzung.
Fig. 16.
Junges Narbengewebe. Vergrösserung 300.
Das Präparat ist mit Essigsäure behandelt, um die Aiun-dnung der Bindegewebs-
zellen deutlich zu sehen, wie sie sieh aus dem Granuhitionsgewebe hervorgebildet haben;
(laa sind theils obliterirte , theils noch functionirende Blutgefässe: die Bindegewebszellen
sind noch relativ gross, succulent und deutlich spindelförmig, doch isl die Intercellular-
substanz reichlich entwickelt.
Vorl.
IL': 7. (';i|ii(ri r.
i);i
A'Vciui man das N'i'rliallcii <\r\- l>liili;crässi' an i\i-i\ Wiinilcii ^;l iidiicii will, iniiss man
Tnjoi'liiincn madicn. Ks isl /icnilirh scli wicriL;; und nl'i \nn] iHiicklidirn /nlall aldiäni^ij^,
wie liald man niil ilicsou ExporinuMiliMi zum Zirl kcjnuiil.
Wir besitzen ül)er diesen Gegenstand uns neuerer Zeil. Arbeiten von W'y wodzolT
nnd Tliierseli, deren l\esnlta(e tbcils unter einander, tlieils mit deiijenigen meiner Unler-
suebungen über diesen Oej^-ensland im Wesentlielien übereinsliimncn. W y \v n d z i> IT,
welelier an llundezungen operirle. i;iebl eine Reihe von AbbildniiL;cn iilH^r das N'ciballen
der Blutgefässe in verscliiedenen Stadien <b'r AN'nndlM'ilinig, von dciuMi ii-li Ibncn einige
deuiunsti-iren will, nbni' mich dalici aid' (bl^; frinerc Detail der (ierässbildani'' eiu'/idassen.
Fig. 17.
a{j^
Ilovizontalsehnitt dureli eine Hundeznnge nahe der Oberfiäehe dnrcli Einstich mit lireitem
^Messer erzengt. Frontalschnitt durch die Zunge nacii vorhergeganger Injection und Er-
härtung, 48 Stunden nach der Verletzung. Vergrösserung 70 — 80; uacJi 'vVYAvodzofi".
— an. Zwischenmasse zAvischen den Wundrändern aus faserig erseheinendem Klebestofl'
und Blutextravasat bestehend. Der Schnitt bat grade zwei sieli kreuzende Muskellagen
getroffen. Schlingenbildung der Gefässe mit Dilatation an Ijeiden Wundrändern; beginnende
Verlängerung der Schlingen und Bildung von Sprossen in die Verbindungsmasse liinein.
94
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtlieile.
Fiff. 18.
Gleicher Schnitt an der Himdezunge wie in Fig. 17. — Narbe (a) 10 Tage alt, überall
Anastomosen der Gefässe von beiden Wundrändern her. VergTüssening 70—80:
nach Wywodzoff.
Fig. 19.
Gleicher Schnitt an der Hundezuuge wie Fig. 17. — Narl)e (a) K, Tage alt. Di
bereits bedeutend verdünnt und geschwunden. Vergrösserung 70—80:
nach Wv wodzoff.
e Gefässe
95
Ciranulafionsgefässe. Vorgrösseruiig 40.
Dies (Fig. 20) ist ein Präparat von Granulationen vom Mensdien , deren Gefässe
durch natürliche Injeetion ziemlich gefiillt waren; die Complexe der Gefässschlingen sind
sehr dicht und Cfnnplicirt an der Oberfläche, in der Tiefe laufen die Gefässe alle parallel.
Fio-. 21.
Siebentägige AVunde in der Lippe eines Hundes. Heilung per primam. Iiijection der
I.iymphgefässe, n Schleindiaut: /> junge Narbe. Vergriisserung 20.
Zum Schluss noch ein Präparat von einer Lymphgefässinjection einer Hundelippe
(Fig. 21). Sie sehen daran, dass die junge Narbe am 7. Tage, wo dieselbe noch fast
ganz ans Zellen besteht, noch keine Lymphgefässe hat; letztere brechen unmittelbar an
der jungen Narbe ab; sie entstehen in der Narbe erst dann, wenn sich darin die fibrillären
Bindegewebsbündel ausbilden. Auch das Granulationsgewebe hat keine Lymphgefässe;
wo die entzündliche Neubildung, wo das primäre Zellengewebe entsteht,
werden die Lymphwege meist geschlossen, theils durch fibrinöse Gerinnungen,
theils durch Zellenneubildungen. Diese Beobachtungen sind in neuester Zeit von Lösch
in Petersburg auch durch Untersuchungen an traumatisch entzündeten Hoden bestätigt.
9ß Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Vorlesung 8.
Allgemeine Eeaction nach der Verwundung. — "Wundfieber. Fiebertheorien. — Prognose.
Behandlung der einfachen Wunden und der Verwundeten. — Offne Beiiandlung der Wunden.
Meine Herren!
Sie kennen jetzt die äusseren und inneren feinsten Vorgänge bei
der Wundll eilung, so weit es möglich ist, dieselben am Krankenbett,
dann durch das Experiment mit Hülfe unserer jetzigen Mikroskope zu
verfolgen.
Von den verwundeten Menschen haben wir noch gar nicht ge-
sprochen; Sie würden, wenn Sie ihren Zustand bisher schon ins Auge
gefasst hätten, an vielen von ihnen Veränderungen bemerkt haben, die
wir bis jetzt immer noch nicht ganz ergründen können.
Der Verwundete war möglicher Weise schon am ersten Tage gegen
Abend unruhig, fühlte sich heiss, hatte viel Durst, keinen Appetit, etwas
Kopfweh, erwachte in der Nacht oft und fühlte sich am andern ]Morgen
matt. Diese subjectiven Erscheinungen steigerten sich im Laufe und bis
zum Abend des folgenden Tages; wir fühlen den Puls: er ist frequenter
als normal, die Eadialarterie ist gespannter, voller als zuvor; die Haut
ist heiss, trocken, wir messen die Kürpertemperatur und finden sie
erhöht, die Zunge ist etwas belegt, wird leicht trocken. Sie werden schon
wissen, was dem Kranken fehlt: er hat Fieber. Ja er hat Fieber; doch
was ist Fieber, woher kommt es, wie hängen die verschiedenen, so auf-
fälligen, subjectiven und objectiven Erscheinungen zusammen ? Machen
Sie hier einen Halt mit den Fragen, denn schon die gestellten kann ich
Hmen kaum beantworten!
Wir kennen unter dem Namen „Fieber" den tausendfältig wieder-
kehrenden geschilderten Symptomencomplex, der sich fast immer mit
entzündlichen Krankheiten combinirt, ja von diesen in den meisten F-illen
oifenbar abhängig ist, wir kennen genau seine Dauer, seineu Verlauf iu
den verschiedensten Krankheiten, und doch ist die Ursache des Fiebers
noch nicht vollständig ergründet, wenn auch besser bel^annt als früher.
Die verschiedenen Fiebersymptome treten mit sehr verschiedener
Intensität hervor. Zw^ei dieser Symptome sind am constantesten , die
Steigerung der Pulsfrequenz und die Steigei-ung der Körpertemperatur.
Beides können war messen, ersteres durch Zählung, letzteres durch Be-
stimmung mit dem Thermometer. Die Frequenz des Herzschlages ist von
sehr vielen Dingen, zumal auch von allerlei psychischen Reizen, abhängig,
sie zeigt kleine Differenzen l)eim Sitzen, Liegen, Stehen, Gelieu. :\Ian
hat also auf eine Menge von Dingen zu achten, wenn man nicht Beo!)-
achtungsfehler machen will; dennoch kann man diese Fehler umgehen,
und hat Jahrhunderte lang mit grossem Erfolg die Pulsfrequenz als
Vorlrsmi,..; S. Ciipilcl T. 1)7
M.iass i'iir das Fieber heiiiil/,!; die i'iilsiiiilersucliuiii;' zeig't aucli uocli
sonst allerlei an, was wiclitii;' zu wissen ist, Menge des Blutes, S])an-
nung- der Arterien, Ifnregelnnlssigkeit des Uerzseldages u. s. w., und
ist aueli Jetzt, wo wir andere Maassbesti in um ii,i;en l'iii' das
Fieber haben, nielit zu vernachlässigen. Diese andere und in
mancher Ijezielmng aliei'dings bessere Maassbestinnnung fiii* den CIrad
und die Dauer des ricl)ers ist die Bestiunnung der Krn-perteniperalur
mit sehr genau gearbeiteten 'i'herniometern, d(n-en Scala nach Celsius
in 100 Grade und Jeder Gürad in 10 l'heile eingetheilt ist. Es ist ein
Verdienst von v. Bärens])rung, Tranbe und Wunderlich, diese
Beobachtungsmethode in die Praxis eingeführt zu haljen ; sie hat zugleich
den Vortheil, die Äfessungen , die in der Regel Morgens um 9 l'liv und
Abends 5 Uhr gemacht werden, als Curvc graphisch darstellen und dadurcdi
recht anschaulich machen zu können.
Eine Reihe von Beobachtungen des Fiebers bei normalem A-^erlauf
der Wunde lässt Folgendes erkennen: das Wuudfieber beginnt zuweilen
schon unmittelbar nach einer Verletzung, häufiger ei-st am 2., 3. oder
4. Krankheitstage. Die höchste Temperatur, welche dabei, wenn auch
nicht gar häufig, erreicht wird, ist 40—40,5"; in der Regel steigt sie
nicht viel über 38,5 — 39"^; das einfache Wundfieber pflegt nicht länger
als etwa 7 Tage lang zu dauern ; in den meisten Fällen dauert es nur
2, 3 — 5 Tage, Ja in sehr vielen Fällen fehlt es ganz, so z. B. in den
meisten Fällen von kleinen, oberfläclilichen Schnittwunden, von denen
wdr oben gesprochen hajjen, doch auch nach manchen grossen Operationen,
selbst zuweilen nach Amputationen der Oberschenkels, Ovariotomieen.
Das Wundfieber ist durcliaus abhängig von dem Zustande der AVunde;
es hat im Allgemeinen den remittirenden Typus ; der Fieberabfall erfolgt
bald schnell, bald langsam.
Bei diesen Beobachtungen kommt man sehr leicht auf den Gedanken :
das Fieber wird um so heftiger sein, je bedeutender die Verletzung; ist
die Verletzung gar zu klein, so bleibt es entweder wirklich aus, oder die
Steigerung der Temperatur ist vielleicht eine so geringe und so vorüber-
gehende, dass sie sieh unserer Messungsmethode entzieht; man wird
meinen, eine Scala von Verletzungen aufstellen zu können, nach denen das
Fieber z. B. nach Länge und Breite der Wunde länger oder kürzer
dauert und mit mehr oder weniger Intensität auftritt.
Dieser Schluss ist nur mit sehr bedeutenden Beschränkungen an-
nähernd richtig; es giebt Verwundete, die nach ganz geringen Verwun-
dungen heftig fiebern, andere, die nach grösseren Verletzungen gar kein
Fieber bekommen. Die Ursachen dieser Verschiedenheiten liegen der
Hauptsache nach darin, dass die Wundheilung mit mehr oder weniger,
endznndlichen Erscheinungen erfolgt; Je deutlicher, Je intensiver
die Entzündung um die Wunde, um so höher das Fieber; das
Fieber dauert so lange fort, als die Entzündung fortschreitet.
Billrotli chir. Pntli. ii. Therap. 7. Aufl. 7
98 Von den einfaclien Sclinittwiinden der Wcirlillicile.
Doch scheint es, als wenn aucli rein individuelle Verliältuisse, die uns
noch unbekannt sind, Elnfiuss auf Höhe und Dauer des Fiebers haben.
Bevor wir nun weiter darauf eingehen, 7.n nntersuclien, wodurch die Zustände der
Wunde mit dem Allgemeinzustand in Beziehung gesetzt werden, müssen wir auf diesen
selbst noch etwas näher eingehen. Das am meisten hervortretende und physiologisch
merkwürdigste Symptom des Fiehers ist die Erhüliung der Bluttemperatur und die
davon abhängige Erhöhung der Körpei-temperatur. Um die Erklärung dieser Erscheinung
drehen sich alle modernen Fiebertlieorien. Es ist kein Grund, anzunehmen, dass zu den
Bedingungen, welclie für die Erhaltung der constanten Körpertemperatur fortwährend im
Organismus thätig sind, absolut neue beim Fieber hinzukommen, sondern es ist walir-
scheinlich , dass die Fiebertemperatur durcli eine Veränderung oder Verschiebung der
normalen Temperaturbedingungen entsteht; letztere Ijefinden sich in einem leicht vei'änder-
lichen gegenseitigen Verhältniss. Wenn Sie 'bedenken, dass Mensch und Thier bei den
A^erschiedensten Wärmegraden der Luft, im Sommer und AVinter, im heissen und kalten
Klima nahezu dieselbe Bluttemperatnr halben, so wird es Ilnien einleuchtend sein, dass
die Bedingungen der AVärmeproduction und Wärmeabgabe sehr modificirbar sind und dass
innerhalb dieser Bedingungen sehr wolü die Möglichkeit denklnir ist. Abnormitäten der
daraus resultirenden Körpertempei-atur hervorzuln-ingen. - — Es ist a priori klar, dass eine
Temperaturerhöhung des Körpers sowohl durch Verminderung der Wärmeabgabe
bei gleichbleibender Wärmeproduction, — als auch durch erhöhte Wärme-
pro du etion bei gleichbleibender Wärmeabgabe zu Stande kommen muss. (Noch
andere Verhältnisse dieser Factoren zu einander sind möglich , die ich indess übergehe,
um Sie nicht jetzt schon über diese schwierigen Fragen zu verwirren.) Die Entscheidung
dieser physiologischen Cardinalfrage scheint bis jetzt nicht möglich; sie wäre möglich
durch Ermittlung und Vergieichung der beim Fieber und beim Normalzustande producirten
VVärmequantitäten, durch s. g. calorimetrische Versuche an warmblütigen grösseren Thieren
oder am Mensehen; diesen Versuchen stellen sich indess bis jetzt grosse Schwierigkeilen
in den Weg. Liebermeister und Leyden haben Methoden der Calorimetrie ersonnen,
welche mir richtig zu sein scheinen; doch darf ich Ihnen nicht verhehlen, dass die Methoden
und Schlüsse von Liebermeister durch Senator sehr energisch angegriffen sind. —
.Wir sind daher in Betreff der obigen Frage nojch gar viel auf Wahrscheinlichkeiten und
Hypothesen angewiesen. Da die Wärmeproduction hauptsächlich auf Oxydationsprocessen
von Körperbestandtheilen beruht, so würde eine Steigerung dieser Oxydationsprocesse eine
vermehrte Wärmeproduciion nothwendig zur Folge haben, vorausgesetzt, dass die Wärme-
abgabe gleich bleibt. Da nun' die Menge des im Urin vorgefundenen Harnstoffs haupt-
sächlich als Eesultat der A^erbrennung der stickstofflialtigen Körper betrachtet wird und
beim Fieber gewöhnlieh der Harnstoff vermehrt ausgeschieden wird, aucii das Körperge-
wicht sehr rasch abnimmt, wie sich aus den Lntersuchungen von 0. AVeber, Lieber-
meister, Schneider und Leyden ergiebt, so betrachtet man dies neben den erwähnten
calorimetrischen A^ersuchen als einen Hauptbeweis, dass die A'erbrennung beim Fiel)er
gesteigert ist, dass also wirklich mehr AA'ärme als im Normalzustande pv oducirt wird
mehr als vom Körper in gleicher Zeit wieder aligegeben wertlen kann. FAnc andere.
Ansicht über die Entstehung der Fieberhitze wird von Traube vertheidigt: er behauplet,
dass jedes Fieber mit energischer Contraction der Hautgefässe, zumal der kleineren Arterien
beginnt, dass dadurch die Abgabe der AA'ärme an die Luft verringert und m.^lir A\'äinie
im Körper angehäuft wird, ohne dass deshalb wirklich mehr producirt würd'V wenngleich
diese Hypothese von ihrem Autor mit bewuudernswerllieui Geist und Scliarfsinn vertheidigt
ist und in den .Arbeiten Senator's Stütze findet, so kann üh mich doch, wie die meisten
Patliologen. niilit damit einverstanden erklären, zumal weil die Prämisse, nämlich die
Contraction der Hautgefässe, nur für die Fälle zugegeben werden kann, in welchen das
Fieber mit Frost beginnt, ein solcher Frost diirchaus aber keine constante Erscheinung
Vdrlcsmin. S. ('jipil,'! f. 99
heim Fiolicr isl. — Wir w c r(l <■ ii ;ilsu im !■' i, I ;.■■(• n lii' n iliisun ;i ii s ^c li i' ii . du.s.s
l)oini Fiolier eine veriuchrle \\' ;i r m c p r<i d n r i i d ii Sl;ill, li;il. Wn die lliiii|iti|iiclli'
der AVärniebildmig ist, ob im IJliile, <ili in den ^i-dsseii rnlcririlisdiiiscii, oh in ilrn .Mii.-kriiij
das nu'issen wir den J'liysiologen überlassen, zn entsi-beiden.
Es stellt sieh für uns jetzt die Frag'e: wie wirkt der EutzLiiidiuig's-
process überliaiijtt, und hier s])eeiell die traumatische Entzündung- auf
die Steig'eruui;' der Körportcniiieratur? Diese Frage ist verseliieden
beantwortet.
1. In dem Entziindungslieerde Avird in Folge des dort lebliafteren
Stoflfweehsels Wärme producirt; das durch den Entzündungsheerd tiiessende
Blut wird hier stärker erwärmt und theilt die hier aufgenommene aij-
norme Wärmemenge dem ganzen Körper mit.
Dass der entzündete Tlieil wärmer ist al.s (b'r niclit entzündete, ist zumal für Ent-
zündungen an der Oberiiäolie, z. B. in der Haut, leiidit zu constatiren, beweist alier uielit,
dass bier nielir AVärme als sonst pruducirt wird, sondern ist vielleiebt nur davon ab-
biingig, dass in einer gegebenen Zeiteinbeit niebr Bhit dnrch die erweiterten Gefässe
fliesst: wenn der entzündete Theil nicht wärmer wird als das Bhit, welches ihm zufiiesst,
so ist es nicht wahrscheinlich, dass er Wilrme protbicirt. Die Untersuchungen ülier diesen
Punkt sind nicht zahlreich und unter sich widersprechend. Die von O. Weber und
Hufschmidt darüber angestellten thermometrischen Messungen liaben verschiedenartige
Resultate ergeben; meist war die Temperatur in der Wunde und im Rectum (welches
ziemlieh gleiche Wärme mit dem arteriellen Blut hat) gleich, zuweilen war die erstere
höher als die letztere, zuweilen umgekehrt; gross sind diese Differenzen nie; es handelt
sich dabei immer nur um wenige Zehntelgrade. Eine andere Messungsmethode hat
0. .Weber eingeschlagen, nämlich die thermoelectrische; durch diese sehr scliwierigen
Untersuchungen schien die Sache vorläufig dahin erledigt zu sein, dass der entzundere
Theil immer wärmer ist als das arterielle Blut, ja dass zumal das vom Entzündungsheerd
kommende venöse Blut wärmer ist, als das zu diesem Heerd zufliessende arterielle: später
sind diese Untersuchungen in Königsberg von H. Jacobson, M. Bernhardt und
G. Lau dien wiederholt worden, doch mit dem Schlussresultat, dass im Entzündung'sheerde
kein Plus von Wärme erzeugt werde; in neuester Zeit hat Mosengeil den Gegenstand
noch einmal behandelt mit Resultaten, welche in den wesentlichsten Punkten mit denen
von Weber übereinstimmen. Bei solchen Widersprüchen in den Beobachtungsresultaten
ist es vorläufig nicht möglich , sich ein Urtheil über diese Angelegenheit zu bilden. So
viel dürfte indess feststehen, dass in dem Entzündungsheerde nicht so viel Wärme erzeugt
Avird wie nötliig erscheint, um in ein bis zwei Stunden die Temperatur der ganzen Blut-
masse \im mehrere Grade zu erhrdien.
2. Der Reiz, w^elcher durch den Endzündungsprocess auf die Nerven
in dem entzündeten Gewebe ausgeübt wird könnte als fortlaufend zu den
Centren der vasomotorisciien (trophischen) Nerven gedacht w^erdeu; die
Erregung der Centren dieser Nerven würde eine Steigerung des gesammten
Stoffwechsels nach sich ziehen und damit eine Steigerung* der Wärme-'
production.
Diese Hypothese, für die manche Facta, z. B. die Verschiedenheit der s. g. febrilen
Reizbarkeit sprechen iind die ich früher vertheidigte, scheint mir jetzt nicht mehr haltbar;
es sprechen dagegen die experimentellen Untersuchungen von Breuer und Chrobak
durch welche dargethan wurde, dass Fieber auch dann noch entsteht, wenn alle Nerven
durchschnitten sind , welche die Leitung V(3n den peripherischen Verletzungen zu den
Nervencentren vermitteln könnten.
"{(X) Von den einfachen Sclmittwnnclen der "Weiclitlieile.
3. Da in dem Entzünduügslieercle, wie es das Wesen des Processes
mit sich bringt, die Gewebe bedeutende chemische Alterationen erleiden,
so ist es nicht unwahrscheinlich, dass von den Pi-oducten dieser Alteration
manche ins Blut gelangen, theils durch die Blutgefässwandungen hindurch,
theils durch die Lymphgefässe; solche Stoffe könnten gleich organischen
Giften Umsetzungen im Blut anregen, in Folge welcher in der gesammten
Blutmasse eine erhöhte Wärmeproduction Statt finden würde. Auch könnte
man einen complicirteren Weg der Wärmebilduug zugeben, der dadurch,
dass dabei das Nervensysten eingeschaltet wird, in mancher Beziehung
theoretisch brauchbarer w^ird; es könnte nämlich das durch die Aufnahme
von Entzündungsprodueten veränderte Blut der Art auf die Centren der
vasomotorischen Nerven wirken, dass von diesen aus in einer verschieden
denkbaren Y/eise eine Störung in der Wärmeregulation zu Stande
gebracht würde, in Folge deren die Bluttemperatur steigen müsste.
Die Entscheidung zwischen diesen verschiedenen Hypothesen ist
schwierig; sie haben vorläufig alle eine gewisse Berechtigung; die letz-
teren haben das gemein, dass dabei eine Verunreinigung des Blutes
durch Stoffe aus dem Entzündungsheerd, oder aus der Wunde voraus-
gesetzt wird, und dass diesen Stoffen eine Wirkung auf die Wärme-
bildung' zuerkannt wird, diese Stoffe müssten Fieber erregend, pyrogen,
wirken. Dies wäre zu beweisen. Es ist durch Experimente von 0. Weber,
mir und vielen Andern bewiesen, auf die ich hier nur ganz in der Kürze
eingehen kann. An den meisten offenen Wunden, zumal au den Quetsch-
wunden gehen immer Gewebsfetzen durch Fäulniss zu Grunde; bei vielen
spontanen Entzündungen hört in dem entzündeten Gew-ebe hie und da
die Circulation auf, es tritt Fäulniss dieser abgestorbenen Gewebe ein.
Faule Gewebe wären also ein Object, w^elches zunächst in Bezug auf
seine pyrogene Wirkung zu prüfen wäre. Injicirt man filtrirte Aufgüsse
davon Thieren ins Blut, so bekommen sie heftiges Fieber, ja sie sterben
nicht selten daran unter Erscheinungen von Schwäche, von Somnolenz
bei gleichzeitig auftretenden blutigen Diarrhoen. Die gleiche Wirkung
hat ganz frischer, ins Blut injicirter Eiter, unsicherer wirkt der aus ent-
zündeten Theilen ausgepresste Saft und Eiterserum ; als ausserordent-
lich wirksam erw^eist sich jedoch das in den ersten 48 Stunden
abgesonderte Wundsecret. Es sind also sowohl die Producte des
Zerfalles, als die Producte des Stoffwechsels in acut entzündeten Geweben,
welche, ins Blut gelangend, pyrogen wirken. Diese Producte sind sehr
complicirter und veränderlichen Natur: manche von den in ihnen vor-
kommenden chemischen Stoffen sind für sicli in Bezug auf ihre Fieber
erregenden Eigenschaften geprüft; man kann durch Injectionen von Leucin,
von Schwefelwasserstoff, von Schwefelannnoniuni, Schwefelkohlenstoff
und anderen bei der Fäulniss von Geweben entstehenden, chemischen
Körpern, ja zuweilen auch durch lujetion von Wasser Fieber erzeugen;
auch faulende Pflanzcnstoffe wirken Fieber erregend. Es a-iebt also
VorlcsmiM S. Ciipilrl I. 101
keinen s|)eciri,sclicn, Ficl)er erregenden Körper, .sondern die
Zalil der i)yrog'cncu Stoffe ist unendlich g-ross.
Naclidem die })yrog'ene Wirkung der Ent/Jindung's- und i'iiulniss-
producte über allen Zweifel festgestellt ist (man mag sich ihre Wirkung's-
weisc erklären, wie man will), wäre weiterhin noch zu beweisen, dass
die Steife aus dem Gewebe ins Blut aufgenommen werden können,
und wäre zu ermitteln, auf welchem AVeg'e dies geschieht. Zu diesem
Zweck injicirt man die erwähnten Stoffe ins Unterliautzellgewebe, wo sie
sich in die Maschen des Gewebes zertheilen; der Effect in Bezug auf
das Fieber • ist derselbe , als wenn Sie die Injection dircct ins Blut
machen; die pyrog'enen Gifte werden also vom Zellgewebe aus resorl)irt.
Hierbei ist noch eine weitere Beobachtung zu machen: es entsteht nämlich
nach einig-er Zeit an der Stelle, wo man faulig-e Flüssigkeit oder frischen
Eiter injicirt hat, eine heftige, niclit selten rapid progressive Entzündung-.
So injicirte ich z. B. bei einem Pferd '/, Unze fauliger Flüssigkeit am
Schenkel; nach 24 Stunden war das betreffende Bein von oben bis unten
geschwollen, heiss und schmerzhaft, das Thier fieberte dabei lebhaft;
das Gleiche machte ich bei einem Hunde mit ganz frischem (nicht fauligem)
Abscesseiter mit gleichem Erfolg ; Injection von frischem Wundsecret aus
Amputations wunden erzeugt fast constant jauchige Entzündung mit
Gangrän. Diese örtliche Entzündung erregende Wirkung des Eiters und
der fauligen Stoffe nenne ich die phlogogene. Kicht alle pyrogenen
Stoffe sind zu gleicher Zeit phlogogen ; manche sind es mehr als andere,
auch hängt es zumal bei den fauligen Flüssigkeiten sehr davon ab, ob
die giftigsten Potenzen, die wir nicht genau kennen, in grösserer oder
geringerer Menge in ihnen enthalten sind. — Ob die pyrogenen Stoffe
durch die Lymphgefässe oder Bluteapillargefässe ins Blut eintreten, ist
nicht mit Sicherheit zu entscheiden, übrigens könnten sie in dieser Hinsieht
verschieden sein. Manches spricht dafür, dass die Resorption vorwiegend
durch die Lymphgefässe erfolgt.
Noch erübrigt es, über den Verlauf der künstlich erzeugten Fieber
bei Thieren etwas zu sagen. Das Fieber beginnt sehr bald, oft schon
eine Stunde nach der Injection; nach zwei Stunden hat man immer
schon bedeutende Temperatursteigerung, z. B. bei einem Hunde, der 39,2"
im Rectum hatte, kann man zwei Stunden nach der Eiterinjection 40,2'\
vier Stunden nach der Injection 41,4° finden. Hierbei ist es gleich, ob
die Stoffe direct ins Blut oder ins Zellengewebe injicirt werden. Die
Acme des Fiebers kann 1 — 12 Stunden, vielleicht noch länger dauern.
Die Defervescenz erfolgt bald durch Lysis, bald durch Krisis; macht man
neue Injectioneu, so erhebt sich das Fieber von neuem; durch wieder-
holte Injectionen fauliger Stoffe kann mau die grössten Thiere in wenigen
Tagen tödten. Ob bei dem einzelnen Experiment die Thiere sterben,
hängt von der Menge und der Giftigkeit des injicirten Stoffes im Ver-
hältniss zur Grösse des Experimentalthiers ab. Ein mittelgrosser Hund
]^Q2 Von den einfachen Selinittwunden der \V''ii'lifheile.
kann nach Injection von 1 Scrupel filtrirter fauliger Flüssigkeit mehre
Stunden fiebern und nach 12 Stunden wieder gesund sein. Das Gift
kann also wieder durch den Stoffwechr^el climinirt werden; die Störungen,
welche durch seine Gegenwart im Blute veranlasst werden, können sich
wieder ausgleichen.
Ich will hier mit diesen Betrachtungen anhalten und wünsche nur,
Ihnen diesen wichtigen Gegenstand, der uns noch wiederholt beschäftigen
wird, recht anschaulich gemacht zu haben. Ich habe die Ueberzeugung,
dass das Wundfieber v/ie das Entzündungsfieber überhaupt
wesentlich auf einem Vergiftungszustaud des Blutes beruht
und durch verschiedene Stoff e, welche aus dem Entzünduugs-
heerd ins Blut gelangen, erzeugt wird. Bei den accidentellen
Wundkrankheiten werden wk diese Betrachtungen wieder aufnehmen.
Jetzt noch einige Worte über die Prognose und die Behandlung
der eiternden Wunden.
Die Prognose der einfachen Schnittwunden der Weichtheile hängt
im Wesentlichen von der physiologischen Wichtigkeit des verletzten
Theiles ab, und zwar kommt einerseits die Bedeutung desselben für den
ganzen Körper, andererseits die Störung der Function des Theils für
sich in Frage. Dass die Verletzungen der Medulla oblongata, die Ver-
letzung des Herzens und der in den Körperhöhlen tiefliegenden, grossen.
Arterienstämme absolut tödtlich sind, werden Sie leicht begreifen. Ver-
letzungen des Hirns heilen selten, ebenso Verletzungen des Kttckeumärks ;
sie ziehen fast immer weitgreifende Lähmungen nach sich und werden
durch verschiedene Nachkrankheiten tödtlich. Verletzungen grosser
Nervenstämme haben die Lähmung der unterhalb der verletzten Stelle
liegenden Körpertheile zur Folge. Eröffnungen der grossen Körperhöhlen
sind immer sehr gefährliche Wunden ; kommt nun noch eine Verletzung
der Lunge oder des Darms, der Leber, Milz, Nieren oder der Harn-
blase etc. hinzu, so steigert sich die Gefahr immer mehr, ja manche von
diesen Verletzungen sind absolut tödtlich. Auch die Eröffnung grösserer
Gelenke ist eine Verwundung, die nicht allein oft die Function des
Geh nks in der Folge aufhebt, sondern sehr häufig durch weitere Folgen
für das Leben gefährlich wird. — Aeussere Verhältnisse, Constitution
und Temperament der Kranken haben auch einen gewissen Einfluss auf
den Heilungsverlauf. — Eine andere Quelle der Gefahr liegt in acci-
dentellen Krankheiten, die sich im weiteren Verlauf zu den AVunden
hinzugesellen und deren es leider eine ziemlich grosse Anzahl giebt,
die wir später in einem besonderen Capitel besprechen wollen. — Sie
müssen sieh vorläufig mit diesen Andeutungen hier begnügen, deren
Aveitere Ausführung einen wesentlichen Theil der chirurgischen Klinik
bildet.
VcH-IcsniiK S. (•;!!, i(,.| r. 103
ITebor die Bcli;iii dl ii ii,:;' der cinruclicii Scliiiiliwiiiidcii krumcn wir
uns kurz lassen.
Die Vcrcinii;'uni;- der Wunden ohne Substanzverlnsl, die redilzcitige
Entfernung' der Nähte haben wir bereits besprochen, und das ist fast
Alles, was wir als directen Eingriff in den Ileilungsproeess betraehten
können. Wie bei aller rationellen Therapie ist aucli hier von der aller-
grössten Bedeutung: 1) die Sehädliclikeiten abzuhalten, welehc nachtlieilig-
auf den typischen Verlauf einwirken können, 2) genau zu beobachten,
ob sich Abweichungen von der Norm einstellen und diesen rechtzeitig;
therapeutisch entg-egenzuwirken, wenn es irgend möglich ist.
Bleiben wir zuvörderst bei der örtlichen Behandlung- stehen , so
haben wir keine Mittel, den Heilungsverlauf per primam intentionem,
oder durch Eiterung wesentlich abzukürzen, etwa auf die Hälfte der Zeit
oder noch weniger zu reduciren. Nichts desto weniger bedürfen die
meisten Wunden einer gewissen Pfleg'c, wenn auch leichte Verletzungen
unzählige Male heilen, ohne dass sie je einem Arzt zu Gesicht kommen. —
Die erste Bedingung für den normalen Heilungsverlauf ist absolute
Ruhe des verletzten Theils, besonders dann, wenn die Verletzung über
die Haut hinaus bis in die Muskeln g-eht. Es ist daher bei irgend welchen
tiefer gehenden Wunden durchaus nöthig-, dass die Patienten nicht
allein das Zimmer hüten, sondern auch eine Zeit lang- im Bett liegen
bleiben, denn dass Bewegungen verletzter Theile, zumal verletzter Mus-
keln, den Heilungsprocess stören müssen, liegt w^ohl auf der Hand. —
Das zweite Haupterforderniss ist das Beinhalten der Wunde und ihrer
Umgebung. — Früher hielt man es für nöthig, die Wunden immer bedeckt
zu halten, sie auf alle Fälle zu verbinden. Ich habe mich überzeugt,
dass dies nicht nur nicht nothwendig ist, sondern halte es in vielen
Fällen gut, die Wunden gar nicht zu verbinden. Bei vernähten
Wunden hat man schon oft beobachtet, dass es durchaus keinen Schaden
bringt, sie nicht zu bedecken. Will man vernähte Wunden bedecken,
etwa weil sie schmerzen, weil die Wundränder geröthet und geschwollen
sind, oder weil sie sich an einem Körpertheil befinden, auf dem der
Patient liegen oder der im Bett bedeckt werden muss, so kann ein solcher
Verband in verschiedener Weise gemacht werden : man bestreicht z. B.
die Wundränder mit reinem, feinem Oel, am besten mit Mandelöl und
legt darüber ein in Oel getränktes Leinwandläppchen, w^elches täglich
gewechselt wird, bis die Suturen entfernt sind, oder man legt eine öfters
zu wechselnde, mit Wasser oder .Bleiwasser angefeuchtete Leinwand-
compresse aus 4 — 6 Lagen, der Grösse der Wunde entsprechend, auf, und
fixirt darüber ein Stückchen Wachstaifet, Guttaperchazeug oder Firniss-
papier durch einige lockere Bindentouren.
Etwas mehr Sorge hat man bei offnen nicht vereinigten Wunden
anzuwenden. Nachdem die Blutung gestillt ist, bedecken die meisten Chi-
rurgen die Wundfläche oder Wundhöhle mit trockner Charpie oder Watte;
\Q4: Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
bei grossen Wunden ist es besser, zuerst ein durdilöchertes Stück Leinwand
(eine s. g. g'efensterte Compresse) oder feines grobraascliiges Bauriiwollen-
zeug (Mull) aufzulegen; darüber Charpie oder Watte, welche durch
Kochen in Kalilauge von Fett befreit, und dadurch imbibitionsfähiger
gemacht ist. Letztere Methode des Verbandes hat den Yortheil, dass Sie
mit der untergelegten Compresse sofort den ganzen Verband entfernen
können, während sonst bald hier, bald dort Charpiefäden auf der Wunde
kleben bleiben, und für sich besonders entfernt werden müssen. Die
zuerst aufgelegte Charpie verklebt, wenn Sie dieselbe nicht mit einem
wasserdichten Stoff bedeckt haben, durch eintrocknendes Blut und durch
das erste Wundsecret fest mit der Yv^undfiäche, und Sie brauchen
dieselbe selten eher zu entfernen, als bis sie sich von selbst
löst, was gewöhnlich am 2. oder 3. Tage Statt zu finden pflegt, wo Eiter
in grösserer Menge auf der Wunde erscheint. Sollte die Wunde nach-
träglich noch geblutet haben und die mit dem schon zersetzten Blute
durchtränkte Charpie übel riechen, so feuchten Sie dieselbe mit etwas
Wasser an und entfernen Sie früher vorsichtig, ohne zu sehr an der
Wunde zu zerren und ohne dem Kranken wehe zu thun. — Ist die
Wunde nach Entfernung der ersten Charpie bereits ziemlich rein, so
ist weiter nichts nöthig, als sie in der Folge täglich wieder in gleicher
Weise wie früher zu verbinden, nachdem sie jedesmal vorher gereinigt
ist. Zeigt sich die Wunde nach Entfernung der ersten Charpie mit
zersetztem Blut bedeckt, liegen auf derselben nekrotische Gewebsfetzen,
so können Sie zweckmässig die aufzulegende Charpie zuvor in etwas
verdünntes Chlorwasser oder in Chlorkalkwasser (1 Drachme Chlorkalk
auf 1 Pfund Wasser, oder 5 Grammes Chlorkalk auf 50 Grammes Wasser)
tauchen, ausdrücken und dann auflegen; hierdurch wird der Zersetzungs-
process auf der Wunde in der Eegel rasch coupirt, der übrigens bei
den einfachen Wunden überhaupt selten erhebliche Folgen nach sich zu
ziehen pflegt. Diese Verbandweise setzen Sie fort, bis die Wunde kräftig
granulirt und eitert. — Wie oft Sie auf einer eiternden Wunde die
Charpie erneuern müssen, hängt von der Quantität des secernirten Eiters
ab; es muss zu\veilen zwei bis dreimal täglich, braucht manchmal nur
einen Tag um den andern zu geschehen. Zum Abspritzen der Wunden
braucht man entweder einfache Wundspritzen oder die Esmarch'sche
Wunddouche, welche aus einem 25 Centimeter liohen, 12 Centimeter im
Durchmesser haltenden cvlindrischen Gefäss besteht, an dessen Boden
eine Oeffnung mit einer kurzen Röhne daran angebracht i*st, auf welche
ein Gummischlauch mit Spritzenansatz gezogen wird; so wie mau durch'
einen Krankenwärter das Gefäss erheben lässt, wirkt der kleine A])parat
als Spritze.
Wie eben bemerkt, bin ich in neuester Zeit zu der Ansicht gelangt,
dass es besser sei, frische Wunden, auch stark eiternde und jauchende
Wunden gar nicht zu verbinden, sondern solche Vorkehrungen zu treffen,
Vurlusiiii^' 8. <'.a|iilcl I. 105
dass Blut, Eiter und Jiuiclic in uiitcri;cstclltc Gcfässc abnicsscn können.
Mail maclit dabei die unerAvartete JJeohaelitun^', dans das anlan^'s al)-
iiiessende, mit Blut g'eniisclitc »Serum, von dessen besonders intensiver
plilog'ogcnen nnd ])yrogcncn Wirkung bereits die liede war, an und für
sich g'ar keinen Geiuch liat, ebenso wenig' der reine Eiter, und das
ierner diese Secrete in der gewölmliclien Zimmertemperatur 12 — 24 Stunden
im Gefäss stehen können, ohne stinkende Gase zu entwickeln. Dies
überrascht deshalb, weil man weiss, dass jedes Verbandzeug, welches
mit Blut oder Eiter durchtränkt ist, stinkt, selbst Avenu man es zweimal
täg-lich von der Wunde abnimmt, und dass dieser Geruch nur dann
einigermaassen zu tilgen ist, wenn man die Wunde mit sogenannten
antiseptischen oder desiuficirenden Verbandwässern deckt, und diese Ver-
bände sehr oft erneuert. Der Grund für diese leicht zu constatireude
Beobachtung- liegt wahrscheinlich darin, dass beim Abfliessen der Secrcto
letztere so rasch erkalten, dass sie sich deshalb weit schwieriger zer-
setzen, während die gleichen Secrete sich leicht zersetzen, wenn sie sich
auf der Wunde in einer Temperatur von 38^40° befinden, und auch das
Wasser aus ihnen nicht verdunsten kann, weil die Wunde sehr dicht mit
. Verbandzeug- umwickelt ist. Aus der klinischen Beobachtung, sowie aus
Experimenten geht hervor, dass die Eesorption fauliger und eitriger
Secrete sehr begünstigt wird, wenn der Entleerung, dem xlbfliessen dieser
Secrete ein mechanisches Hinderniss entgegengesetzt ist; auch aus diesem
Grunde kann man es nicht genug betonen, dass der Abfluss der Wund-
secrete, zumal der frischen, ein unbedingt freier sein soll. Freilich bilden
sich dabei Krusten und die Wunde sieht dann nicht schön aus; indess
dieser Nachtheil ist gering gegenüber den grossen Vortheilen, welche die
offne Behandlung der Wunden sonst bietet. Um einen ungehinderten
Abfluss aus einer vertieften, halb mit Haut bedeckten (Höhlen-) Wunde
zu ermöglichen bedarf es theils genauer Ueberlegung, wie eine Operations-
wunde am zweckmässigsten anzulegen ist, theils besonderer mechanischer
Hülfsmittel; häufig bedienen wir uns dünner Kautschuckröhreu, welche
wir in die Tiefe der Wunde einlegen, und sie an einer für den Secret-
abfluss zweckniässigen Stelle zur V\''unde herausführen. Dies wird um
so nothwendiger, M-emi man über Höhlenwunden die Haut vereinigen
will. Unter Andern hat Lister das Verdienst auf die Nothwendigkeit
aller dieser Cautelen unermüdlich aufmerksam gemacht und entsprechende
practische Verbandmethoden detaillirt angegeben zu haben, welche sich
vielfacher Verbreitung erfreuen.
Granulirt die Wunde vollständig, beginnt die Benarbung, wird das
Secret geringer, danu kann man ohne jeglichen Xachtheil die Wunden
wie gewöhnlich verbinden. Bei stark eiternden Wunden hat das Auflegen
von Charpie den Vortheil, dass sie den Eiter einsaugt; der Vortheil ist
etwas zweifelhafter Art, wenn wir an die Möglichkeit einer leichteren
Zersetzung des Eiters in der Charpie denken. Viele Chirurgen verbinden
105 Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
nur mit Leinwand- oder Baumwollenläppclien, viele mit ciitfetteler, desin-
ficirter Watte, auch hat mau Fliesspapier und mancherlei Anderes vor-
gesclilagen. Es kommt nicht so gar viel auf das Verbandmittel an, wenn
es nur weich ist und wenigstens etw^as imbibirt. In Krankenhäusern
würde ich frische Watte lieber zum Verband brauchen, als Charpie, welche
aus schlecht gev/aschenen Verbaudstücken von den Kranken oder Wärte-
rinnen mit schmutzigen Fingern bereitet ist; muss man sie brauchen,
so taucht man sie am besten in eine desinficirende Flüssigkeit, bevor
man sie anwendet. Verdünntes Chlorwasser, Chlorkalkwasser, Wasser
mit etwas hypermangansaurem Kali kirschroth gefärbt, Glycerin, Alkohol,
filtrirte Lösungen von unterschwef ligsauren Alkalien (Pol li), Bleiwasser,
essigsaure Thonerde (Alaun 3v, oder 20 Grammes, Essigsaures Blei 5j?
oder 40 Grammes, Wasser gviij, oder 300 Grammes, Burow) Lösungen
von Carbolsäure in V/asser (I3 auf 1 Pfd. oder 5 Grammes auf 500
Grammes) sind zu diesem Z'wecke empfehlenswerth.
In vielen Fällen ist nun nichts weiter nöthig; die Benarbung schreitet
allraählig' vor, die Wunde heilt ohne w-eiteres Zuthun. Indes« konmit
es, abgesehen von gewissen Krankheiten der Granulationen, die wir
nocli besonders besprechen wollen, sehr häufig vor, dass unter der stets
gleichbleibenden Behandlung die Heilung Stillstände macht, dass Tage
lang der Benarbungsprocess nicht vorwärts geht, und die Grauulations-
fiäche ein schlaffes Aussehen bekommt. Unter solchen Verhältnissen ist
es dann zweckmässig, die Verbandmittel zu wechseln, um die Granula-
tionsfläche durch neue Mittel zu reizen: derartige vorübergehende Er-
schlaffungszustände des Heilungsprocesses treten fast an jeder grösseren
Wunde zeitweilig ein. — Sie können unter solchen Verhältnissen z. B.
Fomentationen mit warmem Caraillenthee machen lassen, d. h. es werden
mehrfache Compressen in warmen Thee eingetaucht, ausgedrückt und
von Zeit zu Zeit frisch auf die Wunde gelegt, oder Sie lassen Umschläge
mit Bleiwasser anwenden, können auch mit einem in Höllensteinlösung
(2 — 5 Grcin auf eine Unze, oder 0,2 — 0,3 Gramme:^ auf 40 Grammes
Wasser) getauchten Pinsel die Wunde von Zeit zu Zeit bestreichen. Ist
die Wundfläche nicht mehr gross, so mögen auch schliesslich Salben-
verbände in Gebrauch gezogen werden; die Salben werden dünn ent-
weder auf Charpie oder Leinwand gestrichen; am zweckmässigsten sind:
die Königs salbe (Unguentum basilicuni), aus Baumöl, Waciis, Colopho-
nium, Talg und Terpentin bestehend; ferner eine Salbe mit Argentum
nitricum (1 Gran auf 1 Drachme, oder 0,1 Grammes auf 5 Grammes
eines beliebigen Salbenfettes mit Zusatz von etwas Balsanuim Peruvianum).
— Ist die Benarbung bereits sehr weit vorgeschritten, so kann man zuletzt '
Zinksalbe (Zinc. oxyd. 3j, Unguent. rosat. ^j, oder 5 Grammes auf
40 Grammes) brauchen, oder die trockene Charpie ankleben und das
letzte Stückchen der AVunde unter dem Schorf heilen lassen. Eine höchst
eigenthümliche, zuweilen recht gut Avirkende Methode, die Benarbung
VorlcsiiiifA- S. Ciipiirl 1. 107
(Ici- i;ra.iuilirciHlcu Wiiiidc zu lurdcni, ist vuu Kcverdiii ciiigcfülirt. Er
cntdockle, (hiss ein mit einer kleinen IJoliLscheere von der Oherflüclie
(U'S Körpers cntnoniiuencs iStiic.kcJicn Cutis, welclics man mit der A\'uiul-
fliieiie auf die Granulationen durch llcCt|)naster zweckmässii^' fixirt, nicht
nur hier anwächst, sondern, dass die transplantirte Epidermis anfäui^t
zu wuchern und das Centrum einer sog'cnannten Karbcninsel bildet, v(tn
\velcher aus die Ueberhäutung- der AVunde in gleicher Weise fortschreitet,
wie von den Eändern aus. AViv haben in der Klinik von dieser künst-
lichen Uebei'häutung' oder Pfropfung- der AA^unde mit Epidermis sehr häufig
Gebrauch gemacht, und selten ist diese kleine Operation ohne den ge-
wünschten Erfolg geblieben; man erkennt denserocn daran, dass sich,
nachdem am di-itten Tage das Pflaster entfernt wurde, um das trans-
plantirte Stück ein etwas vertiefter trockner rother Hof gebildet hat,
der sich allmählig vorschiebt und dem dann am 6. bis 8. Tage ein
bläulich weisser Hof folgt, ganz wde bei der Benarbung am Rande der
AYunde. — Ich unterschätze die practischc Bedeutung dieses Verfahrens
nicht, doch ist mir die Bereicherung unserer allgemein naturwissenschaft-
lichen Kenntnisse durch diese Beobachtung fast noch interessanter. Wir
haben hier den schlagendsten Beweis nicht nur von der Selbstständigkeit
des Zellenlebens in dem Gewebe des Menschen, sondern auch besonders
von der leicht erregbaren Bildungsthätigkeit des Epithels, welche hier
nur durch eine Veränderung des Ernährungsmaterials wach gerufen w^ird,
während das zugleich transplantirte Stückchen der Cutispapillarschicht
nicht wächst. Es liegen von Thiersch, Minnich und Menzel Beob-
achtungen vor, aus welchen hervorgeht, dass S Stunden nach dem Tode,
vielleicht noch länger die Epidermis noch mit Erfolg transplautirt werden
kann. Die feineren Details des liistologischen A^organges l)ei diesen
Transplantationen sind vonBeverdin selbst, besonders genau al^-er von
xVmabile und Thiersch studirt. Czerny hat nachgewiesen, dass aucli
Mundschleimhaut (mit Plattenepithel) und Schleimhaut der Nase (cylin-
drisches Flimmerepithel) mit Erfolg auf Wunden gepfropft werden kann;
das Epithel dieser Häute behält nur nocli kurze Zeit seinen Charakter,
wandelt sich dann aber in Epidermis um.
Was die Behandlung des Allgemeinzustandes eines Ver-
wundeten betrifft, so können wir durch innere Mittel fast nichts thun,
um das der Verletzung folgende Fieber völlig zu verhindern oder zu
coupiren. Doch sind gewisse diätetische Maassregeln nothwendig. Der
Verletzte darf sich nach der Verwundung den Magen nicht überladen,-
sondern muss, so lange er Fieber hat, eine knappe Diät führen. Dies
ergiebt sich in der Kegel von selbst, da fiebernde Kranke selten Appetit
haben; doch auch nach Aufhören des Fiebers darf der Kranke nicht
unmässig leben, sondern nur so viel geniessen, wie er bei ruhiger Lage
im Bett, oder bei dauerndem Aufenthalt im Zimmer, wo ihm die Be-
wegung fehlt, verdauen kann. — Ist das Fieber heftig, und hat der
108 ^'^on "^len einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Kranke das Bedürfniss , iu seinem Getränk neben dem gewöhnlich von
den Fieberkranken am meisten bevorzugten kalten Wasser eine Abwechf-e-
lung zu haben, so können Sie säuerliche Getränke als Limonaden oder
Arznei verordnen; die gewöhnliche Citronenlimonade "wird den Kranken
bald widerlich; besser ertragen sie Phosphorsäure, Salzsäure in Wasser
mit etwas Fruchtsaft, Himbeeressig in Wasser, mit Aepfeln abgekochtes
Wasser, Brodwasser (Aufguss von geröstetem Brod mit etwas Citronen-
saft und Zucker); manche Kranken lieben mehr Mandelmilch, in Wasser
aufgelöstes Fruchteis, Haferschleim, Gerstenabkochung u. s. v,\ Hier lassen
Sie dem Geschmack des Kranken und der Hausfrau unter Hirer Leitung
freien Spielraum; es ist indessen gut, wenn Sie sich auch um solche
Dinge später kümmern. Die Aerzte sollten in Küche und Keller ebenso
Bescheid w-issen, wie in der Apotheke; sie stehen auch nicht umsonst
im Euf von Gourmets.
Vorlesung 9,
Combination der Heihmg per primam und per secundani intenfionem. — Zusammenheilen
von Granulationsflächen. — Heihmg unter einem Sehorf. — Granulationskrankheiten. —
Ueber die Narbe in den verschiedenen Geweben: Muskelnarbe; Nervennarbe, kolbige
Wucherung derselben ; Gefässnarbe, Organisation des Thrombus, arterieller Collateralkveislauf.
Heute habe ich zunächst nur noch Weniges hinzuzufügen über ge-
wisse Abweichungen von dem gewöhnlichen Gang der Wnndheilung, die
so häufig vorkommen, dass man sie fast noch in das Bereich des Nor-
malen, jedenfalls des nicht Ungewöhnlichen zählen muss.
Es kommt gar nicht selten zur Beobachtung, dass sich an einer und
derselben Wunde die beiden beschriebenen Arten der Wundheilung per
primam und secundam intentionem combiniren. Sie vereinigen z. B. eine
Wunde ganz vollständig und können unter Umständen beobachten, dass
an einigen Stellen die Heilung per primam eintritt während an anderen
Stellen nach Entfernung der Nähte die Wunde aus einander klaft't und
erst durch Eiterung allmählig zuheilt.
Ingleichen kommt es nicht selten vor, dass die Wunde in der Tiefe
per primam verwachsen ist, während die Hauträuder nach Entfernung
der Kähte etwas aus einander weichen und durch Eiterung erst wieder
zusammenheilen, oder umgekehrt: die Hautränder verwachsen mit ein-
ander per primam, während aus der Tiefe der Wunde Eiter hei'voi-quillt
und die bereits verklebten Hautränder theilweise sich Aviedcr von einander
lösen. Diese beiden letzten Verhältnisse finden zumal- bei Aniputations.
wunden der Extremitäten nicht selten Statt, wenn man die "Wunde durch
Suturen vereinigt hatte. — Woran es liegt, dass in solchen Fällen die
VorlcSlIllL,' f). riipilrl I. 10!)
lloiliing' selbst hei jj,;iuz g'lattcn Scliiiiliwiindcii iiiclit iuiiiier crfoli;'!, lüsst
sicli kaum l'iir jeden einzelnen Fall mit Sicherheit feststellen. Wenn Sie
indessen überleg'en, wie eomjjlieirt die Vevliältnissc bei diesem Vorg-ang-
sind, wie sehr sie von der Art der verletzten (iewebe, von den Gefäss-
an Ordnungen, von der jedesmaligen Spannung der Wnndränder, dem
mehr oder weniger eng'en Aneinanderliegen derselben, von der Kühe der
Theile während des Verlaufs der Heilung, von der absoluten llciiilicit
aller gebrauehten Instrumente und Verbandstüekc, von den allgemeinen
eonstitutionellen \'erhältuissen des Kranken und endlieli von vielen
Dingen abhängen, die uns gar nicht genau bekannt sind, so diii-ren
wir uns nicht wundern, dass solche Störungen in dem lIeilungs])i-ocess
vorkommen, und würden herzlich froh sein, wenn den Kranken keine
anderen Zufälle treffen könnten, als das NichtZustandekommen der Heilung
per primam, was am Ende, mit Ausnalime der ])lastischen Oi)erationen,
für die meisten Fälle von einfachen Schnittwunden keine weitere Bedeu-
tung als die der längeren Zeitdauer hat. — Wie sich die histologischen
Verhältnisse gestalten, wenn eine anfangs geschlossene V\'unde nach-
träglich zu einer ganz oder theilweis offnen wird , ist nach dem Bilde,
welches ich Ihnen über die Vorgäng-e bei der Wundheilung- entworfen
habe, leicht zu verstehen; der ganze Unterschied des Heilungsprocesses
besteht ja wesentlich darin, dass die entzündliche Neubildung im einen
Fall sich sofort zu Bindeg-ewebe umwandelt, im andern die Zwischen-
stufe des Granulationsg-ewebes durchzumachen hat.
Es g-iebt noch eine Art der Verschmelzung- von Wundrändern, die
darin besteht, dass zwei einander dicht und eng- gegenüberliegende
granulirende Wundflächen unmittelbar mit einander ver-
wachsen. Diese Art der Heilung, die Sie, wenn Sie wollen,^ Heilung
per tertiam intentionem nennen können, kommt spontan leider ungemein
selten vor. Der Grund davon ist leicht einzusehen ; von der Oberfläche
der Granulationen Avird fortwährend Eiter secernirt und so lange dies
Statt hat, berüliren sich die Fläclien nur scheinbar vollständig, denn
zwischen ihnen liegt Eiter. Zuweilen gelingt es freilich, dass man durcli
Druck der beiden Granulationsflächen an einander dieselben an einer
weiteren Eitei-bildung verhindert, und dann können allerdings die beiden
Flächen mit einander verwachsen; man erzwingt dies entweder durch
festes Aueinanderzieheu der Wundflächen mit gut klebendem Heftpflaster
oder durch die Anlegung secundärer Suturen, zu denen man zweckmässig
Metallfäden wählt. Leider gelingt der Versuch, uachträglicli durch diese
Mittel noch eine rasche Heilung zu erzwingen, so selten, dass man nur
sehr ausnahmsweise dazu schreitet. Den meisten Erfolg erzielt man durch
die wenigstens 4 — 5 Linien von den Wundränderu entfernt ein- und aus-
geführten metallenen Secundärnähte dann, wenn man sie erst am 6.
oder 7. Tage nach der Verletzung anlegt, weil das Gewebe dann schon
wieder dichter, fester ist, und die Suturen weniger schnell durchschneiden.
WQ Von den einfaflieii Sclniilt\vim<l!^n der Weiditlir-ile.
Endlicli g\e]}t es nodi eine Art der Heilun.i^-, iiiimlich die Heilung-
einer Flächenwunde unter einem Schorf. Diese kommt nur bei kleinen
Wunden häufig- vor, die wenig Eiter absondern, denn nur in solchem
Falle vertrocknet der Eiter auf der Wunde zu einem festsitzenden Schorf;
bei profuser Eiterung- kann zwar die Oberfläche der Eiterscliicht durch
Verdunstung- des Wassergehalts eintrocknen, doch wenn darunter immer
neuer Eiter secernirt wird, so kann es keinen haftenden zusanmien-
hängenden Schorf geben. Hat sich ein solcher Schorf gebildet, so ent-
wickelt sich das Granulationsgewebe unter demselben nur in sehr
geringem Maasse, vielleicht weil es unter einem leichten Druck des
eingetrockneten Schorfs steht, und das Granulationsgewebe weniger
schleimig wird, so dass sich die Epidermis unter dem Schorf leichter
regeneriren kann; eine solche kleine Wunde kann vollständig benarbt
sein, wenn der Schorf abfällt.
Die Granulationsflächeu nehmen, zumal bei grösseren Wunden nicht
selten ein anderes Ansehen an, als das beschriebene normale. Es giebt
gewisse Granulat ionskrankheiten, deren ausgesprochene Formen
ich Hmen in Kürze ciiarakterisiren will, wenngleich der Uebergänge so
viele sind, dass Sie dieselben nur durch eigene Beobachtung genau
kennen lernen können.
Man kann etwa folgende verschiedene Arten von Granulationsflächeu
unterscheiden:
1. Die wuchernden fungösen Granulationen.- Der Ausdruck
,,fiingös" bezeichnet nichts weiter als „Schwamm-(Pilz-)artig"; unter fun-
gösen Granulationen versteht man daher solche, die über das Niveau
der Hautoberfläche stark hervorwachsen, und sich wie ein Pilz oder
Schwamm über die Wundränder lagern. Ihre Consistenz ist gewöhnlich
sehr Aveich; der abgesonderte Eiter schleimig, glasig, zäh; er enthält
weniger Zellen als der gute Eiter, und die meisten Eiter- wie Gi-anu-
latioriszellen sind dabei mit vielen Fettkörnchen und einem schleimigen
Stoff gefüllt, der auch als Intercellularsubstanz in grösserer ]\rasse als
normal vorhanden ist; auch finden sich in diesen Granulationen Heerde
von schön ausgebildetem Yirchow'sehen Schleimgewebe, wie Rind-
fleisch entdeckte. Die Gefässentwicklung kann sehr wuchernd sein;
das leicht zerstörbare Gewebe blutet oft bei oberflächlichster Berührung,
die Granulationen sehen zuweilen sehr dunkel blauroth aus. In anderen
Fällen ist die Gefässentwicklung spärlich, oft in solchem Maasse, dass
die Fläche hellrosa, stellemveise selbst gelblich gallertig erscheinen kann,
so bei selir anämischen Personen, oft auch bei kleinen Kindern und ganz
alten Leuten. — Die häufigste Veranlassung zur Entwicklung solcher
wuchernden Granulationen ist irgend ein locales Hinderniss für die Hei-
lung der Wunde, z. B. Starrheit der umgebenden Haut, so dass die
Vorlosiiiii,^ !). (';i|iilr| r. • 111
Narbcu('(»iilr;icliim sc'nvcr Aor sich ijclit, ein (Vciiulev KöriXT, der in (l(;i-
'riefe einer V("»lireiiförnii^'en ij;'vniuilireii(leii Wunde (einoi' Fistel) steckt:
l)esonders kommt diese n,l)norme Wiielierunii,' aueli bei i^'anz i^Tosseii
AViinden vor, die sicli nur laui^'sam zusanuiienzielien können: es selieint
als seien /Auveilen die (^^cwcbc in ihrer Thätii^'keit erschöpft und nicht
mein- reeht lahii^-, die c,'ehöriii'e Condensirnng- und Denarljunü,- herlieizii-
fiUiren, so dass e])en nur noeli das schlaffe, sehwaminig'e rJi-aniiiations-
^;ewebe ])rodueirt Avird. — So lang'e Granulationen bestehen, welehe die
besehriebene Ijesehaffenheit haben, und die llautränder überwuchern,
piieg't die Benarljuno- nielit vorzuschreiten. p]s würde freilieli endlieh
doch wohl zu einer Heilung- kommen, doch erst nach langer, langer
Zeit. AVir besitzen Mittel genug, den Ileilungsproeess unter solchen Um-
ständen abzukürzen, besonders sind es Aetzmittel, dnrcli Avelche wir die
Grannlationsfläche theilweis zerstören und so einen kräftigeren Nacliwuelis
aus der Tiefe hervorrufen. Zunächst können Sie mit einem Stift Höllen-
stein (Argentum nitricum) die Granulationsfläclic täglich besonders an
den Rändern cauterisiren, worauf sich rasch ein weisser Schorf bilden
wird, der sich nach 12 bis 24 Stunden, oft viel früher, bereits gelöst
hat; Sie Aviederholen diese leichte Aetzung' je nach Bedürfniss, ]>is die
Grannlationsfläche geebnet ist. Ein anderes recht gutes Mittel ist das
Bestreuen der Wunde mit gepulvertem, rothem Quecksilberpräcipitat
(Hydrargyrnm oxydatum rubrum), was ebenfalls täglich wiederholt
werden muss, um die Granulationsfläche zu verbessern. Sehr gut wirkt
auch zuweilen. die Compression mit Heftpflasterstreifen. Sind die Granu-
lationen gar zu übermässig dick und gTOss, so kommt man am raschesten
zum Ziel, wenn man einen Theil davon mit einer Scheere oder die ganze
Granulationsmasse mit einem scharfen Löffel entfernt; die eintretende
leichte Blutung stillt sich leicht durch Auflegen von Charpie.
2. Unter erethischen Granulationen versteht man solche, die
sich durch grosse Schmerzhaftigkeit bei jeder Berührung auszeichnen;
es sind gewöhnlich stark wuchernde Granulationen, die zugleich leicht
bluten; der Zustand ist äussert selten. Bei hochgradigem Erethismus
der Granulationen sind dieselben so empfindlicli, dass auch nicht die
leiseste Berührung und keine Art des Verbandes ertragen wird; ge-
ringere Grade von Schmerzhaftigkeit der Granulationen sind nicht so
selten. Worauf diese Empfindlichkeit beruht, ist nicht recht erklärlich;
das Granulationsgewebe selbst enthält gar keine Nerven; in den meisten
Fällen wird eine Berührung desselben gar nicht empfunden, nur durch
den auf die unterliegenden Nerven fortgeleiteten Druck kann die Be-
rührung wahrgenommen werden. Bei der geschilderten hohen Empfind-
lichkeit sind vielleicht die in dem Grunde der Wundfläche befindlichen
Nervenenden in einer besonderen W^eise degenerirt; vielleicht dass sich
ganz en minature ähnliche Verdickungen an den feinsten Nervenenden
bilden, wie wir solche später an grösseren Nervenstämmeu kennen lernen
J^|2 Von den einfaclien Schnittwunden der AVeielitlieile.
werden. Es wiire sehr daiikenswerth , darüber genaue Untersucliungen
anzustellen. Wir begegnen an Narben grösserer Xerven zuweilen älm-
licben Umständen und kommen darauf zuriiek. — Um dieser höchst
lästigen Schmerzhaftigkeit, die niclit allein die Heilung stört, sondern
auch die Patienten sehr aufregt, zu begegnen, versuchen Sie anfangs
Verbände mit milden Fetten, z. B. Mandelöl, Unguent. cereum (aus Oel
und weissem Wachs bestehend), oder mit einfachen Kataplasmen aus ge-
kochter Grütze oder Leinsamenmehl, oder mit warmen Wasserumschlägen.
Die narkotischen Ueberschläge oder Kataplasmen, denen man etwas
Belladonnakraut oder Folia Hyoscyami zusetzt, nutzen nichts Erhebliches.
Hilft dies nichts, so zögern Sie nicht, die ganze Granulationsfiächen oder
wenigstens die schmerzhaften Stellen mit Aetzmitteln (Argent. nitricum,
Kali causticum oder Gltiheisen) unter Anwendungen der Chloroformnar-
kose zu zerstören, oder selbst die ganze Grauulationsmasse mit einem
scharfen Löffel abzukratzen. Rührt die grosse Schmerzhaftigkeit und
Reizbarkeit von H3^sterie, Anämie u. dergl. her, so werden Sie mit den
örtlichen Mitteln überhaupt nicht viel ausrichten, sondern versuchen
müssen, durch innere Mittel wie Valeriana, Asa foetida, Eisenpräparate,
China, laue Bäder und dergleichen mehr die allgemeine Reiz1)arkeit
herabzustimmeu.
3. Es kommt ferner bei grossen Wunden, besonders auch bei Fistel-
granulationen vor, dass sich auf einem Theil der Grauulationstläche eine
gelbe Schwarte bildet, die sich leicht abziehen lässt, und sich bei ge-
nauerer Untersuchung als aus Eiterzellen bestehend erweist, welche
äusserst fest aneinander haften. Wenn ich auch in einigen Fällen zwi-
schen den Zellen Gerinnungsfasern fand, so ist dies doch nicht immer
der Fall und man muss daher annehmen, dass der Zellenleib, das Pro-
toplasma selbst in Faserstoff umgewandelt ist, wie dies beim wahren
Croup und besonders bei der Bildung der fibrinösen Membranen auf
serösen Häuten Statt hat. Es handelt sich auch hier um einen Croup
der Granulationen. Schon nach wenigen Stunden ist die croupöse
Membran nach ihrer Entfernung wieder neugebildet, und dies wiederholt
sich mehre Tage hindurch, bis sie entweder von selbst verschwindet,
oder nach Anwendung passender Mittel endlich ausbleibt.
Sehr ähnliche weisse Stellen linden sich zuweilen auf grösseren
Granulationsfiächen, die nicht durch Faserstoff- Auf- oder Einlagerung,
sondern w^ahrscheinlich durch localc Gefässverstopfungen bedingt sind.
Beide Zustände können unter ungünstigen, besonderen Verhältnissen in
einen Zerfall der Granulationen ausgehen, in eine wahre Diphtherie
der Wunde, wovon später. Zum Glück kommt es jedoch selten zu dieser
Erkrankung, sondern nach einiger Zeit besserst sich die Wunde wieder
in ihrer Beschaffenheit und die Heilung nimmt ihren gewöhnlichen Ver-
lauf. Ist eine solche Erkrankung der Granulationsfläche mit Schwellung,
erhöhter Schmerzhaftigkeit und Fieber verbunden, so liegt eine wirkliche
V(.i-I("sii)i-- i). Ciipilcl I. 115
acute Entziiii(luiig' der Wunde v(»i-; dabei i^eriuut die sehlciuiigc Orauu-
latioussubslauz nianclnual durch und durch zu fil)riHöser Masse; die
AVuudiläche sieht g-anz iixdb uud schmierig- aus. An\' die Ursaclien
solcher secuudäreu Eutziiuduugcu au Wunden komme ich später bei den
Quetschwunden zurück.
Es ist iiielit in Abrede zu stellen, dass die t;anz loeal aurtretende tiäclieiiliafie und
interstitielle Faserstoffaussclieidung sehr für die Ansicht spricht, die Virchow ül)er diese
cronpösen Frocesse überhaupt aufgestellt hat. Früher nafnn man nämlich an, dass bei
allen entzündliclien croiipüsen Processen, wohin ])esoiiders aiK'h die gewühnliclie Fornj
der acuten Lungenentzündung und Pleuritis gehört, das Bhit überreich an Faserstoff sid,
und sonnt eine Faserstoffkrase im Blute existire, in Folge deren der überschüssige Faser-
stolf, flüssig aus den Capillaren austretend, theils auf, tlieils in den entzündeten Geweben
gerinne und so zur Bildung dieser pseudomembranösen Ablagerungen führe. Virchow
stellte dagegen die Ansicht auf, dass durch den Entzündungsprocess die Gewebe in einen
Zustand versetzt werden können, in welchem sie die Fähigkeit bekommen, den sie durch-
tränkenden gelösten Faserstoff zur Gerinnung zu bringen. Ich kann hier nicht weiter
darauf eingehen , durch welche vielfachen Gründe Virchow diese Ansicht unterstützte,
sondern will eben nur dai'auf aufmerksam machen, dass es in dem vorliegenden Falle von
Faserstoffabscheidung der Granulationsflächen sieh jedenfalls nicht um eine rasch kommende
und vergehende Faserstoffkrase des Blutes handelt, sondern offenbar um einen localen
Process, der sich auch dur<'h rein locale Mittel leicht beseitigen lässt. Nach den schon
erwähnten (pag. 73) Beobachtungen von A. Schmidt darf man annehmen, dass bei ge-
wissen qualitativen und c|uantitativen Reizungen der Gewebe mehr fibrinogene Substanz
in ihnen gebildet wird als •sonst. Virchow hat schon früher darauf aufmerksam
gemacht, dass man durch wiederholten Reiz die einfache seröse Exsudation zu einer
fibrinösen, croupösen steigern kann. Legt man ein Spanisch-Fliegenpflaster auf die Haut,
so entsteht eine Blase mit serösem Lihalt, indem das Hornblatt der Epidermis von dem
Schleimblatt durch ein von unten her aus der Haut rasch hervortretendes seröses Exsudat
abgehoben wird; entfernt man die Blase und legt nun das Pflaster wieder auf, so wird
man in vielen Fällen nach einigen Stunden die Fläche mit einer fibrinösen Lage bedeckt
finden, die xrnzählige neugebildete Zellen eingeschlossen enthält, ja der Hauptsache nacli
aus ihnen besteht. Ein gleiches Resultat kann man erzielen , wenn man das Pflaster auf
schon entzündete Haut oder auf eine junge Narbe legt.
Die Behandlung- der croupösen Entzündung- der Granulationen ist
eine rein örtliche; man wird sorgfältig nach den etwaigen Ursachen der
neuen Reizung forschen und diese zu entfernen suchen. Ziehen Sie
täglich die Faserstoffschwavten ab und ätzen die freigelegten Flächen
etwa mit Argeut. nitricum, oder bestreichen sie mit Jodtinctur, so wer-
den Sie diesen abnormen Zustand der Granulationsfläche bald verschwin-
den sehen.
4. Ausser den genannten Erkrankungen der Granulationen kommt
endlich noch ein Zustand der vollständig-en Erschlaffung und des Collaps
au ihnen vor, wobei sie eine ebene, rothe, glatte, spieg-elnde Wund-
fläche darbieten, an der das höckerig-e, kornig-e Aussehen durchaus ver-
schwunden ist, und anstatt des Eiters ein dünnes, wässeriges Serum ab-
gesondert wird. Dieser Zustand tritt fast immer an den Granulationen
sub finem vitae ein; Sie finden ihn, wie schon früher bemerkt, constaut
an der Leiche.
Billrotli clür. Path. u. Ther. 7. Aufl.
J^j^4 Von den einfaflien Sclinittwnndpn der Weiclitheile.
Es ist nütliig- noch einiges über die Karben nachzutrag-en, über
gewisse nachträgliche Veränderungen an ihnen, ihre Wucherung, ihre
Gestaltung in den verschiedenen Geweben.
Die linearen Narben von Wunden, die prima intentione geheilt sind,
erleiden selten irgend welche spätere Degeneration. Breite grosse Nar-
ben, zumal wenn sie hart auf dem Knochen aufliegen, werden sehr
häufig wieder wund, weil durch Bewegungen, durch den geringsten Stoss
oder Reibung die anfangs noch zarte Epidermis abgerissen wird, und
eine oberflächliche Schrunde, eine Excoriation auf der Narbe entsteht;
zuweilen ist der Vorgang auch so, dass die junge Epidermis als Blase
emporgehoben wird, indem eine Exsudation aus den Narbengefässen,
auch wohl mit einer kleinen Blutung verbunden, auftritt, so dass die
Blase mit blutigem Serum gefüllt ist. Nach Entfernung der Blase haben
Sie dann eine Excoriation, wie nach einfachem Abreiben der Epidermis.
Derartiges Wundsein der Narbe kann, wenn es sich oft wiederholt, sehr
lästig für die Krauken werden. Sie beugen diesem Üebelstande am leich-
testen dadurch vor, dass Sie die Kranken veranlassen, die junge Narbe
noch eine Zeit lang durch Watte oder eine Binde zu schützen. Sind
Excoriationen eingetreten, so legen Sie nur ganz milde Verbandmittel,
Oel, Glycerin, Gerat, Zinksalbe u. dergl., oder Emplastrum Cerussae auf.
Reizende Salben vergrösseru in diesen Fällen die wunden Stellen und
sind daher zu vermeiden.
Ist die Granulationsfläche einmal vollständig mit Epidermis über-
zogen, so geht in der Narbe, wie wir oben besprochen haben, der Rück-
bildungsprocess zu solidem Bindegewebe vor sich, wobei die Narbe
schrumpft. In seltenen Fällen kommt es aber vor, dass die Narbe
selbstständig wächst und sich zu einer festen Bindegewebsgeschwulst
entwickelt. Dies begegnet fast nur bei kleinen Wunden, die lange ge-
eitert haben und sich mit schwammigen Granulationen bedeckten, über
w^elche die Epidermis sich ausnahmsweise schloss. Sie wissen, dass es
Sitte ist, die Ohrläppchen der kleinen Mädchen früh zu durchstechen, um
später Ohrgehänge darin anzubringen. Diese kleine Operation wird mit
einer starken Nadel von den Müttern oder von den Goldarbeiteru aus-
geführt, und dann in die frische Stichöffnung sofort ein kleiner Ohrring
eingelegt. In der Regel benarbt die kleine Stichüffnung bald, der ein-
liegende Ring hindert den Schluss der Oeffmmg. In anderen Füllen
tritt jedoch eine starke Entzündung und Eiterung ein; der Ring kann
dabei sogar das Ohrläppchen nach unten bei fortdauernder Vereiterung
des Gewebes durchschneiden; es bilden sich nun an der Einstichs- und
Ausstichsöffnung wuchernde Granulationen; cudlich wird die Prozedur
aufgegeben, der Ring wird entfernt; oft genug heilt die Oeffnung dann
rasch zu, in andern Fällen benarben die Granulationen, die Narlie Avächst
weiter, und es bilden sich an beiden Flächen des Ohrläppchens kleine
Bindegewebsgeschwülste , kleine Fibrome (Keloidc von xijllg Blutfleck,
Vorlcsinitr 9. Ciipilcl I.
15
Braiuliiial uiul slöog äJmlicli), die wie ein diircli das Olirlocli gczo^^eiier
dicker llemdknopf sicli ausnelimeii und ein selbststündig'cs Waclisthuin
haben, wie ein Tumor. Untersuclien Sie diese Gescliwülste, so finden Sie
dieselben auf dem Durcliscbnitt rein weiss, von seimigem Aussehen,
wie die Narbe selbst, ilir Gewebe aus Bindeg'ewebe mit vielen Zellen
bestehend; es ist eben weiter nichts als eine Wucherung-, eine
Hj^pertrophie der Narbe. Am Ohr habe ich diese Vorgänge zweimal
beobachtet, einen andern Fall erzählt Üieffenbach in seiner oi)crativen
Chirurgie. Aehnliche Geschwülste sali ich auch einmal am Nacken, wo
sie sieb an der Einstichs- und Ausstichsoffnung eines Haarseils gebildet,
und die Grösse von je einer Kastanie erreicht hatten; Sie müssen vor-
sichtig mit dem Messer abgetragen und die etwa nach wuchernden Gra-
nulationen durch Betupfen mit Argent. nitricum gehörig in Schranken
gehalten werden.
Wir haben uns in dem Vorigen bei der Schilderung der Granula-
tions- und Narbenbildung der Einfachheit wegen nur auf die Vorgänge
im Bindegewebe bezogen, müssen jedoch jetzt nachtragen, wie sicli die
Verhältnisse in andern Geweben bei der Vernarbung gestalten.
Die Narbe im Muskel ist zunächst fast nur Bindegewebe; in den
Enden der Muskelprimitivfasern findet anfangs ein Zerfall Statt dann an
einer gewissen Grenze eine Anhäufung von Kernen; es kommt darauf
zu einer Abruudung der Fasern, zuweilen von kolbiger, häufiger von
mehr konisch zugespitzer Form und die Mukelfaserstümpfe treten mit
dem Bindegew-ebe der Narbe in Verbindung, in ähnlicher Weise wie mit
den Sehnen : die Muskelnarbe wird zu einer Inscriptio tendinea.
«T/
Narbe aus der Oberlippe eines Hundes; Bindegewebe der Narbe bei a; die
schnittenen Muskelfasern sind eine kurze Strecke weit atrophirt und endigen
gespitzt. VergrcJsserung 300.
8*
hier durch-
krmiseh zu-
116
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Ich selbst habe nur Mnskelwunden studirt, welclie per primam gelieilf waren, und
habe dabei nie etwas gesehen , was ich als Neubildung von Muskelgewebe hätte deuten
können. O. Weber hat an eiternden Muskelenden einen geringen Grad von Muskei-
neubildung beobachtet; dieselbe seheint vorwiegend bei Granulationsbildung am Muskel
und in gewissen Geschwülsten vorzukommen.
Fig. 23.
Enden zerschnittener Muskelbündel aus dem M. biceps eines Kaninchens, 8 Tage nach
der Verletzung, ahe. Alte Muskelbündel: a die contractile Substanz aufgerollt und
zusammengeballt; ebenso an dem Bündel oberhalb d\ b ein gleiches mit spitz ausgezogenem
Sarkolemma; c in den spitz dütenförmig ausgezogenen Sarkolemmaschlauch hinein erstreckt
sich eine Reihe junger Muskelkörper, zwischen denen sehr zarte quergestreifte Sub-
stanz liegt; d Bindegewebsgrannlation; e desgleichen mit jungen, freiliegenden Muskelzellen
/ zwei junge bandförmige Muskelfasern; g ähnliche von verschiedener Grösse isolirt. —
Vergrösserung 450; nach O. Weber.
Weber ist"' der Ansicht, dass die jungen Muskelfasern typisch durch Zerspaltnng
der protoplasmatischen Substanz aus den alten Muskelfaserstümpfen entstehen, hält es
jedoch für unmöglich, bei diesen Vorgängen den Beweis zu liefern, dass gar keine
Muskelzellen aus andern jungen Zellen hervorgehen. Auch hält er nach seinen Unter-
suchungen von älteren Muskelnarben dafür, dass die Regeneration im Lauf der Zeit
immer noch fortschreitet und überhaupt in den meisten Fällen viel vullkommener ist, als
man gewöhnlich annimmt. Afaslowsky hat die Metamorphose tler Wanderzellen zu
Muskelzellen behauptet; icli lialte jedocb die von ihm angewandte Zinobermethode nicht
für ausreichend, um diese Behauptung zu beweisen.
Gnssenbauer hat bestätigt, dass meist ein schollenartiger Zerfall der contractilen
Substanz der Muskelfasern nach der Verletzung erfolgt, und dass sich dann wahrscheinlich
ausschliesslich aus den in den Muskelfasern enthaltenen Zellen, aus der alten Faser heraus
neu junge Muskelfasern nach deniT^pus der embryonalen Entwicklung bilden; die Menge
der Neubildung hängt wohl von Qualität und Dauer der Rei«ung ab.
Vorlcsmij^ I). Capilol T.
Fi-. 24.
117
Eegenerationsvorgänge quergestreifter Muskelfasern iiaeh Verletzungen.
etwa 500; nach Gussenbauer.
Vergrösseruug
Ist ein Nerv einfach durehschnitten , ao weichen seine Enden ver-
möge ihrer Elasticität etwas aus einander, seh wellen leicht an und
treten dann später durch Entwicklung- einer Neubildung von wirklicher
Nervensubstanz wieder mit einander in Verbindung, so dass die Nerven
durch die Narbe hindurch wieder leistungsfähig werden. Bei grossen
Flächennarben entwickeln sicli in die Narbe hinein neue Nerven, ja,
wenn Sie Hautstücke excidirt haben und durch Verschiebung entfernt
liegende Stücke zusammenbringen und zusammenheilen, so wachsen
neue Nerven durch die Narben hindurch , und es tritt mit der Zeit ein
vollständig richtiges Leitungsvermögen wieder ein, wie man dies bei
plastischen Operationen oft zu beobachten Gelegenheit hat. — Diese
Thatsachen sind höchst merkwürdig und physiologisch noch durchaus
räthselhaft. Bedenken Sie, wie wunderbar, dass die betreffenden Nerven-
fasern, also sensible und motorische, sich bei der neuen Verwachsung
wieder treffen sollen, ja dass sich, wie Avir vermuthen müssen, die
Stümpfe der Primitivfasern so wieder vereinigen sollen, wie sie vereinigt
waren, damit die richtige Leitung und Localisirung wieder eintritt, wie
es in der That der Fall ist!
Wir können nns hiermit diesen Gegenständen nicht eingehender befassen; ich -will
*nur erwähnen, dass der feinere Vorgang, der von Schiff, Hjelt u. A. sehr genau
verfolgt ist, sich im Allgemeinen so gestaltet, dass zunächst in den Nervenstiimpfeu ein
118
Von den einfachen Schnittwunden der Weiehtheile.
Zerfall der Markscheide, vielleicht auch des Achsencylinders bis auf eine gewisse Distanz
hin eintritt, dass zugleich im Neurilem eine Zellenanhäufung erfolgt, welche zur Entwick-
lung von spindelförmigen Zellen in der zwischen den Nervenenden liegenden, und in die
Nervenstümpfe hinein sich erstreckenden Substanz entstehen. Von diesen Zellen aus sollen
sich wie im Embryo neue Nervenfibrillen hinüber und herüber entwickeln: diese anfangs
sehr blassen Fasern bekommen in der Folge auch eine Markscheide, und sind dann nicht
mehr von den gewöhnlichen Nervenfasern zu unterscheideir.
Fig. 25.
Fig. 26.
m Mi-M'tiit
Eegeneration der Nerven. Fig. 25 vom Kaninchen, 15- Tage nach der Durchschneidung:
junge Spindelzellen im Nervenende, aus dem Bindegewebe entwickelt und innig mit dem
Neurilem zusammenhängend. Fig. 26 vom Frosch, 10 Wochen nach der Durchschneidung :
Entwicklung junger Nervenzellen aus den Spindelzellen. — Vergrösserung 300, nach Hjelt.
Die neuesten Untersuchungen über die eventuelle Bedeutung der Wanderzellen für die
Gewebsneubildung, so wie eigene Stixdien über Nervenbildung in den nach Verletzung regene-
rirten Stücken von Froschlarvenschwänzen haben mir die frühere Auffassung, wonach sich
die jungen, regenerirten Nervenfäden aus Spindelzellen zusammensetzen, sehr zweifelhaft
gemacht. Es ist mir viel wahrscheinlicher geworden, dass die durchschnittenen Achsen-
cylinder in junge Nervenfasern auswachsen und dass die in dem Nervencallus in gewissen
Stadien unzweifelhaft vorhandenen langgestreckten Spindelzellen entweder dem Bindegewebe
des Neurilems angehören oder dass es abgebrochene kernhaltige Stücke junger Nerven-
fäden sind. Diese Anschauung, deren Eichtigkeit durch neue Beobachtungen zu prüfen
ich nicht Zeit gewann, scheint der Wahrheit sehr nahe gekommen zu sein.
Die neuesten Untersuchungen von Neumann und Eich borst bestätigen in Betreff
der unmittelbaren Folgen der Durchschneidung die früheren Beobachnmgen, zeigen aber,
dass die jungen Nervenfasern in der ^That aus den Achsencylinderu sowohl des centralen
als peripheren Stumpfes direct hervorwachsen, sich begegnen und in einander übergehen,
wie die Sprosse einer Capillarwand sich in die Wandujig eines andern Gefässes einsenken
und so zum Verbindungscanal zwischen zwei Gefässen werden kann (Arnold). Der
Vorgang an den verletzten Nerven stimmt hiernach auch aufs Schönste mit den Vorgäugen
am verletzten Muskel überein. Sowohl an den Muskelfaserenden wie an den Nervenenden
kommt es ^ auch vor, dass mehre junge Fasern aus einer Primitivfaser aussprossen.
(Fig. 27 a, vergleiche dazu Fig. 24.)
Vurlesiiiiff 0. Capitol r.
Fig. 27.
HO
Kaiiinchennerv: a 17 Tage, b 50 Tage, c Frosehnerv 30 Tage nach der Durchschneidung.
Vergrösserung etwa 600. Nach E i c h h o r s t.
Somit wäre es uun für Muskeln, Gefässe, Nerven und Epithelien
(pag. 86) festgestellt, dass sie sich weder aus heerdweise proliferirenden
Bindegewebszellen, noch aus Wanderzellen regeneriren, sondern durch
Sprossenbildung aus ihrem Gewebe, respective aus Zellen, welche aus dem
Protoplasma ihres Gewebes hervorgegangen sind. Es liegt der Gedanke nahe,
dass auch Bindegewebszellen, zumal solche, welche noch Protoplasma in sich haben, in
ähnlicher Weise Sprossen an die verletzte Obei'fläche senden, in welchen sich etwa nach-
träglich ein Kern bilden könnte, wie sieh in den wachsenden Nerven des Froschlarven-
schwanzes ja auch erst nachträglich die Kerne in den Sprossen bilden; es sollten hierauf
die Untersuchungen aufs Neue gerichtet werden. Bis dahin ist es immerhin gestattet, auch
die WanderzeUen als die Bildner des jungen regenerirten Bindegewebes zu betrachten. —
Wir sind seit der Schw-ann'schen Lehre von dem Aufbau der Gewebe aus Zellen a priori
so überzeugt davon, dass jedes neu entstehende Gewebe immer nur wieder ans jungen
Zellen hervorgeht, dass die Vorstellung eines selbstständigen AVachsens eines fertigen Ge-
websstücks ohne Yei-mittlung von Zellen wenig Glauben findet; auch die Zellenvermehrung
durch Sprossenbildung mit nachti'äglicher Entwicklung eines Kerns in der Sprosse ist ein
Vorgang, welchen die Histologen lange ganz in den Hintergrund gedrängt haben, und an
seine Stelle fast überall die Zeilentheilung substituirten , während die Botaniker diesem
Modus der Gewebsbildung nach ihren Beobachtungen eine äusserst hervorragende EoUe
bei der Entwicklung pflanzlicher Gewebe zuweisen. Man sieht aus den neuesten, fiüiher
mitgetheilten Beobachtungen, dass die Capülarwand, der Achseneylinder der Nerven, der
Inhalt der Muskelfaser die Fähigkeit dieses Auswachsens ohne directe Betheiligung von
neuen Zellen in der That besitzen. Rokitansky hat früher auch dem Bindegewebe die
Fähigkeit selbstständigen Auswachsens zugesprochen; bei der erfreulichen, immer noch
fortdauernden Forschung auf diesem Gebiet wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis
wir auch über diesen Punkt die nöthige Sicherheit der Anschauung gewinnen.
Die Eeg'eneration der Nerven erfolg't beim Meusclien nur innerhalb
gewisser Grenzen, die sich freilich nicht auf genaue Maasse fixiren
lassen. Die vollständige Regeneration grosser Xervenstämme, ■wie des
N. ischiadieus, des N. medianus kommt nicht zu Stande, ferner bleibt
sie aus bei Excision von grösseren Nervenstücken, v/enn die Xervenstümpfe
120
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
etwa 3 — 4'" weit von einander getrennt bleiben. Eine mögliclist genaue
Apposition der Nervenenden ist also zur Vereinigung durchaus uothwen-
dig, indem offenbar die Umbildung des neugebildeten Zwischengewebes
zu Nervensubstanz nur unter Vermittlung der Nervenstiimpfe selbst Statt
findet, wenn auch über den Modus dieses Vorganges nocli Meinungsdiffe-
renzen Statt finden. Wir werden ähnliche Verhältnisse bei der Heilung der
Knochenbrtiche wiederfinden, wo auch eine knöcherne Vereinigung nur
bei genügender Coaptation der Fragmente erfolgt. Wie steht es nun in
dieser Beziehung mit dem Hirn- und Eückenmarksgew^ebe? Hier tritt
beim Menschen keine Eegeneration nach Verwundung oder nach Sub-
stanzverlust durch spontan entstandene Entzündungen ein, oder wenigstens
nicht so, dass sich das Leitungsvermögen wiederherstellte. Bei Thieren
freilich, wie Brown -Sequard an Tauben gezeigt hat, kann nach Durcli-
schneidung des Eückenmarks eine Eegeneration mit Ausgleichung der
Lähmung erfolgen, die natürlich in allen Theilen eingetreten war, welche
unterhalb der durchschnitte-
nen Stelle des Eückenmarks
lagen. Leider nimmt dies
Eegeucrationsvermögen der
Nerven mit der immer luihe-
ren Entwicklung der Wirbel-
thiere gradatira ab und ist
beim ^Menschen am gering-
sten. Bei jungen Salaman-
dern wachsen bekanntlich
ganze Extremitäten wieder
nach , wenn sie amputirt
waren. Es ist Schade, dass
dies beim Menschen nicht so
ist! Lidess scheint die Natur,
Avas die Nerven betrifft, zu-
weilen einen freilich frucht-
losen Versucli der Eegene-
ration zumachen. Es kommt
Kolbige Nervenendigungen an einem älteren
tationsstumpf des Oberarms
Ampu-
Nach einem Präparat in näm'lich ziemlich oft VOr,
dem anatomischen Museum zw Bonn. Copie nach
Froriep. Chirurgische Kupfertafeln. Bd. I. Taf. 113.
dass die Nervenenden in den
Amputationsstümpfen, an-
statt einfach zu benarben, sich zu kolbigen Knoten entwickeln. Diese
Kolben an den Nerven (Amputations-Neurome) bestehen aus in einander
gewirrten Nervenprimitivfasern, die sich von dem Nervenstumpf aus,
als wenn sie einem gegenüber liegenden Nervenende entgegenwachsen
wollten, entwickeln. Auch die Nervennarben in der Coutinuität bleiben
manchmal knotig , indem sich übej'schüssige knäuelartig unter einander
gewundene Primitivfasern darin bilden. Solche kleinen Nervengeschwülste
Vorlosiiiif; n. fapitcl F. J21
(wahre Neiiromc) sind zuweilen enorm schmcrzliaft, und mlisscn mit dem
Messer entfernt werden. Es gicbt jedoch auch traumatisch entstandene
Neurome, welche durcliaus nicht schmcrzljaft siiul, wie icii an alten
Amputationssttimpfen gesehen habe. — Im Allgemeinen sind diese Wuche-
rungen der Nervennarben mit den ei'wähnton Hypertrophien der Binde-
gewebsnarben und mit wuchernden Knochcnmasscn zu parallelisircn, die,
allerdings sehr selten, in zu grossem Ueberschuss bei der Heilung zer-
brochener Knochen gebildet werden.
Der Heilungsprocess nach Verletzungen grösserer Ge fasse,
besonders d e r A r t e r i e n s t ä m m e , ist sorgfältig durch das Experiment
erforscht. — Wird eine grössere Arterie unterbunden, sei es bei einer
Amputation, sei es wegen Blutung oder Arterienkrankheiten in der Con-
tinuität, so zerspringt beim festen Zubinden die Tuntca intiraa, und die
Tunica muscularis und adventitia werden zusammengeschnürt, so dass
sich ihre Innenflächen gefaltet genau zusammenlegen. Von dem häu-
figen, wenn auch keineswegs nothwendigen Zerspringen der Tunica in-
tima können Sic sich nicht allein beim Act des Unterbindens grösserer
Gefässstämnie überzeugen, indem Sie nicht selten ein leises Knirschen
oder Knistern beim Zuschnüren unter dem Finger verspüren werden,
sondern an der Leiche auch durch das Aufschneiden einer unterbundenen
Arterie nach Lösung der Ligatur.
Man nimmt gewöhnlich an, dass sich von der unterbundenen Stelle
an bis zu dem nächsten von dem Arterienstamm abgehenden Ast, sowohl
am centralen als peripherischen Ende, das Arterienlumen mit geronnenem
Blute, dem s. g Thrombus (von o d-QÖf-ißog, der Blutklumpeu) füllt.
Die umgelegte Ligatur ertödtet das gefasste Gewebe; dasselbe erweicht
nach und nach und Avenn dieser Process vollendet ist, fällt die Ligatur
ab, wie wir uns technisch ausdrücken; „die Ligatur hat durchgeschnitten'',
„ist gelöst". Wenn dies erfolgt ist, muss bereits das Arterienlumen
dauernd und sicher geschlossen sein, denn sonst würde ja sofort wieder
eine Blutung auftreten. Unter ungünstigen Umständen kann es sich
allerdings sowohl bei kleineren, als mittleren und grossen Arterien
ereignen, dass die Ligatur zu früh durchschneidet, und dann lebensge-
fährliche, plötzliche Nachblutungen entstehen; man kann dies voraus-
sehen, wenn die Arterienwand krank war; ganz stark verkalkte Arterien
lassen sich oft gar nicht unterbinden, weil die Ligatur entweder das
Lumen gar nicht zusammendrückt oder sofort durchschneidet; doch giebt
es auch derartige Erweichungszustände der Arterien (z. B., wenn die-
selben eine längere Strecke weit in der Wand einer grossen Eiterhöhle
gelegen haben) dass schon beim Zubinden des Fadens das Gefäss durch-
schnitten und deshalb die Unterbindung weiter entfernt von der blutenden
Oeffnung gemacht werden muss. — Leider erfolgen aber auch bei ganz
gesunden Menschen, wie ich mich im letzten Kriege zu überzeugen Ge-
legenheit hatte, nur allzuoft Blutungen aus den Ligaturstellen grosser
122 "^on den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Arterienstämme, weil auch die nach allen Eegeln der Kunst angelegten
Ligaturen die meclianische Trennung der Arterien zuweilen früher herbei-
führen, als der organische Verschluss solide genug zu Stande gekommen ist,
um der andrängenden Blutwelle erfolgreichen Widerstand zu leisten, was
den Werth solcher Operationen, die oft momentan lebensrettend sind, be-
dauerlicher Weise verringert.
Ziehen wir nun in Betracht, was in dem Gefässende von der
Blugerinnung an bis zum soliden Verschluss vorgeht, so haben
Experimente an Thieren und zufällige Beobachtungen am Menschen
Folgendes ergeben. Das anfangs locker im Gefäss liegende Blutgerinnsel
haftet allmählig immer fester und fester au der Gefässwand und wird
immer derber, bleibt aber noch lange roth; erst nach Wochen oder
-^. .,, Monaten entfärbt es sich, und zwar zuerst im Centrum,
so dass der Best nur noch eine leicht gelbliche Färbung
hat. Nach dem Abfallen der Ligatur ist der Thrombus
so derb und haftet so fest an der Gefässwandung, dass
das Lumen dadurch vollkommen verschlossen ist. Dies
Präparat (Fig. 29) zeigt Ihnen die Thrombusbildung in
einer Arterie nach Unterbindung in der Contiuuität; der
untere Thrombus reicht bis zum Abgang des nächsten
Astes, der obere nicht so weit; ersteres soll die Regel
sein, wie in den meisten Büchern steht, letzteres die
Ausnahme, die nach meinen Erfahrungen über Unter- -
bindung grosser Arterien doch recht häufig ist. Die
Verpfropfuug des Gefässes durch ein fest werdendes
Blutgerinnsel ist jedoch nur ein provisorischer Zustand,
insofern der Thrombus nicht für die ganze Folgezeit so
In der Continuität bleibt, sondcm wie Narbeugewebe schrumpft und atro-
unterbundene Ar- phirt; dies crfolgt im Verlauf von Monaten und Jahren,
terie. Thrombus; j^ welcher Zeit der Verschluss der Arterie an der durcli-
nach F r o r i e p. gc]inittenen stelle d u r c h V e r w a c h s u n g d e s L u m e n s
ein s 0 1 i d e r g e w 0 r d e n i s t. Untersuchen Sie eine solche Arterie einige
Monate nach der Unterbindung, so finden Sie nichts mehr vom Thrombus,
sondern die Arterie endigt konisch zugespitzt im Bindegewebe der Xarbe.
Die geschilderten Verhältnisse, welcha wir mit freiem Auge verfolgen können, zeigen,
dass in demUlntgerinnsel eine Veränderung eintritt, welche wesentlich in dem Festerworden
und in der zunehmenden Cohärenz an der Gefässwand besteht: worauf diese Umwand-
lungen des Blutgerinnsels beruhen, wollen wir jetzt mit dem Mikroskop studiren.
Untersuchen Sie das frische Blutgerinnsel, so finden Sie es aus rothen Blutkörperchen,
wenigen farblosen Blutzellen, und aus feinen, unregelmässig netzartig geordneten Fäserchen,
dem geronnenen Faserstoff, bestehend. Nehmen Sie einen Thrombus zwei Tage nach der
Unterbindung aus einer kleinen oder mittleren Arterie , so ist er schon starrer als früher
und lässt sich schwerer zerfasern; die rothen Blutzellen sind wenig verändert, die weissen
sind sehr vermehrt; sie zeigen theils zwei und drei Kerne, wie sonst, thcils einzelne
blasse, ovale Kerne mit Kernkörperchen; einige dieser Zellen sind fast doppelt so gross,
Vorlesung; '^. Cnpitol I.
123
als die weissen Bliitzelleii. Die feinen Fasern des Faserstoffs sind zu einer schwierig
spaltbaren, ziemlich h(ini(ip;eiien Masse verbunden. — Untersuchen Sie ferner einen fj Tage
alten Thrombus, so sind die rothen Bhitzellcn fast verschwunden; der Faserstoff ist fast
noch starrer und homogener, noch schwerer als früher zu zerkliiften; eine grosse M<mge
von spindelförmigen Zellen mit ovalen Kernen wird sichtbar. — Aus dem Mitgetheiiten
geht hervor, dass schon ziendich früh in dem Blutgerinnsel eine Menge von Bildungszellen
a\iftreten, deren weitere Entwicklung sich aus dem Folgenden ergeboi wird. Da man
eine genauere Einsicht in die Veränderungen des Thrombus und sein Verhäirniss zur
Arterienwandnng erhält, wenn man Querschnitte der thronibirlen Arterien macht, so wollen
wir uns dieser zu unseren weiteren Studien bedienen.
Nebenstehendes Präparat zeigt einen frischen Thrombus in einer kleinen Arterie
im Querschnitt :
Frischer Tbrombus
im Querschnitt.
Vergrösserung 300.
innen das zierliche Mosaik durch die zusammengedrückten rothen Blutkörperchen gebildet,
darunter wenige runde, weisse Blutzellen (die durch Carminfärbung sichtbar gemacht sind);
es folgt die in regelmässige Falten zusammengelegte Tunica intima, in welchen Falten
das Blutgerinnsel fest haftet, dann die Tun.-muscularis, dann die Tun. adventifia mit dem
Netz elastischer Fasern, rechts etwas lockeres Bindegewebe daran hängend. Das nächste
Präparat:
Fig. 31.
^-f^
Sechstägiger Thrombi^s
im Querschnitt.
Vergrösserung 300.
.^^>>3o£v%||C
ist der Querschnitt einer seit 6 Tagen thrombirten Arterie eines Menschen: von den rothen
Blutzellen sieht man nichts mehr, an ihrer Stelle findet man ein Netz feinster Gerinnungs-
124
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
fasern; die weissen sind sehr reichlich vermehi't, meist rund; in der Tunica adventitia und
dem umliegenden Bindegewebe hat aber bereits etwas Zelleniniiltration Statt gefunden.
Betrachten wir jetzt einen 10 tägigen Thrombus vom Menschen (Fig. 32 a) in einer starken
Muskelarterie des Oberschenkels (nach Amputation), so finden wir in demselben bereits
reichliche Spindelzellen, und sind dieselben theilweis in Zügen (spätere Gefässe) angeordnet;
die Intercellularsubstanz ist starrfaserig, hier durch Essigsäure durchsichtig gemacht. —
Endlich erfolgt auch in dem organisirten Thrombus Blutgefässbildung, wie Sie an den
folgenden Präparaten (Fig. 33 und 34) sehen.
'^^läl I
(m
Zehntägiger Thrombus. « organisirter
Thrombus. b Tun. intima. c Tun.
muscularis. d Tun. adventitia. Ver-
grösserung 300.
Fig. 33.
Vollständig organisirter
Thrombus in der Art. ti-
bialis postica des Menschen.
a Thrombus mit Gelassen,
mit der innersten Schicht
der Intima verschmolzen.
b Die Lamellen der Tun.
intima. c Die Tunica nuis-
cularis mit vielen Binde-
gewebs- und elastischen
Fasern durchsetzt, d Tun.
adventitia. Vergrösserung
300. Präparat nach Kind-
fleisch.
VdHesuii'!- il. Capili;! l.
125
'Diircli UiiltTsiicIimii'-cu vnn (). W'clici- isl es lestg^^stulll ,. 'lass (Ji(; (icfässn (Ji's
Tlirtmihiis llu-iLs mil dem Liiiiicii ilcs llnuiiiliirlrii (Jcfässstammes , tlieils mit (Jen Vasa
Viisoritiu dessellji'ii i'omiiiimirircn (^iy- ^li).
Fitr. 84.
Längssclinitt des unterbundenen Endes
der Art. cruralis eines Hundes, 50 Tage
nach der Unterijindung : der Thronibus
ist injieirt; n a Tuniea intinia und media;
i>l) Tuniea adventitia. Vergrüssevung 40;
nach 0. Weber.
b a
a b
Der Heilungsprocess an quevdurchsclmitteDen V^eiien scheint auf
den ersten Blick viel einfacher, als der an den Arterien; selbst die
grossen Venen an den Extremitäten fallen an ihren durchschnittenen
Enden zusammen, und sclieinen ohne Weiteres zusammenzuheilen, nach-
dem das Blut an der nilchst oben gelegenen Klappe zurückgestaut ist;
an diesen Klappen bilden sich Gerinnsel, oft viel weiter ausgedehnt als
wünschbar wäre; diese in der Richtung nach dem Herzen zu fortschrei-
tenden Gerinnselbildungen werden uns später noch ernst beschäftigen.
Ich habe in neuerer Zeit aber beobachtet, dass die Intima des durclischnittenen
Venenendes sicli keineswegs immer so ohne Weiteres zusammenlegt und verklebt, sondern
dass auch hier ein, wenn auch schmales, dünnes Gerinnsel entsteht, welches sicli analog
dem Arterienthrombus organisirt.
Ziehen Sie das Resultat aus diesen, wenn auch nur wenigen Ihnen hier
demonstrirten Präparaten, so ergiebt sich, dass in dem geronnenen Blut-
pfropf eine Zelleuinfiltration Statt tindet, die hier zu Bindegewebsentwick-
126
Von den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Fig. 35.
d
Stück eines Querschnittes der V. feraoralis vom Menschen mit organisirtem, vascularisirtem
Thrombus, 18 Tage nach der Amputatio femoris; aa Tun. intima; hh media; cc adven-
titia; dd umhüllendes Zellgewebe. Th. organisirter Thrombus mit Gefässen; die Schichtung
des Fibrins ist in der Peripherie des Thrombus noch deutlich sichtbar. Vergrösserung 100.
lung führt, kurz, dass der Tlirombus organisirt wird. — Der Thrombus
ist aber kein dauerndes Gebilde, sondern verschwindet nach
und nach wieder, oder wird wenigstens auf ein Minimum reducirt,
ein Geschick, welches er mit vielen bei der Entzündung auftretenden
Neubildungen theilt.
Es sind besondere Gründe, welche mich veranlassen, auf die Or-
ganisation des Thrombus genauer einzugehen. Die Tragweite" dieses
Factums ist eine ziemlich weite, was Sie freilich für jetzt noch Avenig
beurtheilen können, sondern erst später bei Besprechung der Gefäss-
krankheiten in ganzem Umfange zu würdigen im Stande sind.
Die Beobachtung, dass das geronnene Fibrin unter Beihülfe von Zellen in binde-
gewebige Intercellularsubstanz übergehen kann, glaube ich nach meinen Untersuchungen
bis jetzt nicht zurücknehmen zu dürfen, wobei ich freilich unentschieden lassen muss, ob
es sich dabei um eine wahre Metamorphose oder um eine allmählige Substitution schwin-
denden Faserstoft's durch Zellenprotoplasma handelt. Es ist von manchen Seilen der
VorlesiiiiK !l. Capilcl T. 127'
Vevsiioli ,ti,'pniaclit, die im 'riiriiiiiliiis nach und uarli in grcisserer Mengo aiil'Li'i'U'nd«!!
Zellen von der Gefüsawand her enisleheu zu lassen; die Arterien sind, wie die Venen,
niit einer innersten Epithelialhaut bekleidet, welclie gewisserniaassen die innerste Lamelle
der Tnn. intima darstellt. Diese Kpitlielialzellen vind auch die Korne der streifigen La-
mellen der Intima haben einige Autoren a priori in Anspruch genommen, um von ihnen
aus neue Zellen entstehen und sie in den Thrombus hineinwachsen zu lassen; auch
Thierseh neigt in seiner neuesten Arbeit zu dieser Ansicht Inn. Ich gestelie, dass ich
mich selbst früher sehr gegen die Annahme gesträubt habe, dass das Blut sich aus sich
selbst zu Bindegewebe mit Gefässen organisiren könne, neige aber nach den Untersuchungen
an Querschnitten thrombirter Arterien doch zu dieser Ansicht hin. Nachdem die Aiinahme
von Wuclierungen stabiler Gewebszellen bei der Entzündung etwas zweifelhaft geworden
ist, konnte man auch wohl an der Wuchernngsfähigkeit des Gefässendotiiels zweifeln.
Woher kommen denn aber die jungen Zellen? Ich zweifle nicht daran, dass sie theil weise
wenigstens von den weissen Blutkörperchen herstammen, welche theils im Trombus
eingeschlossen sind, theils nach Beobachtungen von v. Re cklingh aasen und Bubnoff
in denselben hineingewandert sein können. Was die rothen Blutzellen betrifft, so scheint
es, dass sie mit dem geronnenen Fibrin allmählig versclimelzen, in ihrer Form untergehen,
vorläufig zu Intercellularsubstanz werden imd ihren Farbstoff abgeben , der sicli dann als
Haematoidin körnig oder krystallinisch abscheidet. — So wenig wir im Allgemeinen über
das Woher und "Wohin der Blutzellen wissen, so steht doch das ,wohl unzweifelhaft fest,
dass die weissen Zellen dem Blut aus dem Lymphgefässsystem zugefüln-t werden und hier
in den Lymphdrüsen , vielleicht auch noch sonstwo in dem Bindegewebe entstehen ; es
sind Zellen, welche also direct von Bindegewebszellen oder von einer der Bindesubstanz
angehörigen Protoplasmamasse abstammen. Sind nun diese Zellen, wenn sie in ein Blut-
gerinnsel eingeschlossen sind, noch lebensfähig? Können sie, hier zu Ruhe gekommen,
sich zu Gewebe umbilden ? Es ist wohl vorläufig unmöglich , diese Frage unbedingt zu
bejahen oder zu verneinen; nachdem Bubnoff nachgewiesen hat, dass Wanderzellen in
den Thrombus eindringen und sich dort fortbewegen können, so liegt a priori keine
Nöthigung vor, anzunehmen, dass die in dem Thrombus bei der Gerinnung eingeschlossenen
weissen Blutzellen, welche doch mit den Wanderzellen identisch sind, sich dort nicht
mehr bewegen, sich nicht in Gewebe umbilden könnten. Ob die Wanderzellen mit gleicher
Leichtigkeit Arterienwandungen durchdringen wie Venenwandungen, darüber fehlt es zur
Zeit noch an Untersuchungen, da sicli Bubnoff s Untersuchungen nur auf Venenthromben
beziehen. Einige von mir in dieser Richtung angestellte Untersuchungen haben mir ge-
zeigt, dass feine Zinoberkörnchen wohl durch die Wandung z. B. der A. carotis eines
Hundes bis in den Thrombus eindringen, doch habe ich mich bis dahin nicht davon über-
zeugen können, dass diese Zinoberkörnchen durch Wanderzellen verschleppt sind. Es
bleibt also vorläufig unentschieden, woher die vielen Wanderzellen "in einem sicli organi-
sirenden Arterienthrombus stammen, und wie sie hinein gelangen. — Tschau soft hat
in einer unlängst erschienenen Arbeit darauf aufmerksam gemacht, dass von .grösseren
Thromben stets sehr viel durch Zerfall zu Grunde geht, was vollkommen richtig ist; er
geht jedoch zu weit, vv^enn er die provisorische Organisation des Thrombus ganz leugnet,
und annimmt, dass dem Zerfall des Gerinnsels die Verwachsung der Gefässwandungen, auf
die ich als definitives Endresultat des ganzen Processes stets hingewiesen habe, unvermittelt
folge. — Die neueren schon mitgetheilten Untersuchungen über Gefässbildung von Arnold
(pag. 74) , sowie die später zu erwähnenden Beobachtungen über Tuberkelbildung haben
wieder neues Material für die Anschauung beigebracht, dass die Substanz der Gefässwandung
selbst, sowie die Gefässendothelien wichtigen Antheil an der Gewebsneubildung nehmen.
Es gehören, wie sclioii ])emerkt, besonders günstige Ernfilirungs-
verliältnisse dazAi, damit die Organisation des Blutgerinnsels vor sicli
gehen kann. Es ist ein im menschliehen Organismus durchgreifendes
128 ^"^"i den einfachen Schnittwunden der Weichtheile.
Gesetz, dass gefässlose Gewebe, welche allein durch Zellenavbeit ernährt
werden, keine grosse Ausdehnung haben; nehmen Sie die Gelenkknorpel,
die Cornea, die Tunica intima der Gefässe, alle diese Gewebe bilden
stets dünne Schichten; mit anderen Worten: die Zellen des menschlichen
Körpers vermögen nicht wie die Pflanzenzellen die Ernährungsflüssigkeit
beliebig weit zu führen, sondern sind dazu nur in beschränktem Maasse
befähigt; in gewissen Distanzen müssen immer wieder neue Blutgefässe
auftreten, um die Ernährungsflüssigkeit zu- und abzuführen. Das aus
Zellen mit geronnenem Faserstoff bestehende Blutgerinnsel ist ein zu-
nächst gefässloses Zellengewebe, welches nur in dünnen Lagen seine
Existenz behaupten kann. Dies ergiebt sich aus Beobachtungen, die wir
später noch oft zu erwähnen haben werden, dass nämlich grosse Blut-
gerinnsel entweder gar nicht oder nur in ihren peripherischen Schichten
organisirt werden, im Centrum aber zerfallen. Für die Heilung per
primam geht daraus hervor, dass eine kleine Menge von Blut, welche
zwischen den Wundrändern gelegen ist, nichts schadet, eine grössere
Blutmasse jedoch die Heilung stört, sie eventuell ganz vereitelt, eine
Beobachtung, die Sie in der Klinik sehr bald verificiren können.
Die Lehre von der Bildung und Organisation der Thromben hat die
Chirurgen und Anatomen seit John Hunter intensiv beschäftigt, und ist,
wie Sie sehen, doch noch nicht als abgeschlossen zu betrachten; wir
niussten sie, zumal auch ihres allgemein histiogenetischen Interesses wegen
hier voran stellen, wenngleich es in neuester Zeit sehr zweifelhaft ge-
worden ist, ob sie für die Erfolge der Unterbindungen in praktischer
Beziehung wirklich von so exclusiv hervorragender Bedeutung ist, wie
man bisher anzunehmen geneigt war. Schon Porta hat darauf aufmerk-
sam gemacht, dass eine rasche Verklebung und Zusammenheilung des
Gewebes um die unterbundene Arterie herum von eben solcher Wichtig-
keit sei wie die Organisation des Thrombus; die Chirurgen haben diesen
Punkt wohl im Auge behalten, indem sie stets die Nothwendigkeit
betonten, durch möglichst sorgfältige Operationen und Pflege der Wunden
die Heilung per primam intentionem zu erstreben. Doch erst durch die
ausgedehnten praktischen Erfolge der Acupressur ist es so recht ein-
leuchtend geworden, dass die Verklebung der Gewebe durch gerinnendes
organisables Exsudat schon nacli 48 Stunden genügt, die mit der Nadel
zusammengedrückten oder gedrehten Arterienenden ganz zuverlässig fixirt
zu halten, selbst bei Arterien wie die femoralis. Wenngleich Kocher
nachgewiesen hat, dass der Thrombus in der Arterie auch nach der
Acupressur nicht fehlt, so ist er doch oft so klein, dass er unmöglich
der Blutwelle in einer grösseren Arterie 48 Stunden nach der Verklebung
Widerstand leisten könnte. Es sind daher auch von diesen Gesichts-
punkten aus die Bestrebungen, die Ligatur durch andere Methoden zu
ersetzen, bei welchen nicht Fäden in den Wunden liegen bleiben, son-
dern die vollständige Heilung der Wunde per primam möglich ist, zu
rlosi
(■';i|M(cl f.
120
iu)tersliit/(Mi iiiu] ilii-e KosuKalc der IjOitclitiiii^' /u wiirdi^'Cii, oliiie liaiiclx-ii
die ausserordeutlielieu Vortheile der Li^-atur iri^eiidwie in Abrede stellen
zu wollen.
Wenden wir unsein Bliek nun nocli auf das (Jescliick des Kreislaufs
naeli Unterbindung- einer stärkeren Arterie in der Continuität! Dcidcen
Sie sieb, man babe wegen einer Blutung- am Untersebenkel die Art. fe-
moralis unterbinden müssen; wie kommt das arterielle Blut jetzt in den
IJutersebeuker? wie wird sieb der Kreislauf gestalten? Ebenso wie bei
dem Verscbluss von Capillardistrikten das Blut sicli unter böberem Druck
durcb die näcbstgeleg-enen gangbaren Gefässe durclidrängt und diese
sieb dadurcb erweitern, kommt aucb derselbe Erfolg- nacb dem Verscbluss
kleinerer und grösserer Arterien zu Stande. Das Blut strömt unter stär-
kerem Druck als friiber dickt oberhalb des Tbrorabus durcb die Ne))en-
äste und g-elangt vermöge der vielen Arterienanastomosen, sowobl in der
Längsachse als in den verschiedenen Querachsen eines Gliedes, in andere
Arterien, durch welche es bald wieder in das peripherische Ende des
unterbundenen Stannnes einströmt. Es entwickelt sich mit Umgehung-
des unterbundenen und Ibrombirten Theils des Arterienstanunes durch
die Nebenäste ein arterieller Collateralkreisl auf. Ohne das Zu-
Fig. 37.
Fio'. 36.
'' /
A. carotis eines Ka-
ninchens, 6 Wochen
nach der Unterbin-
dung injicirt; nach
Porta.
/
A. carotis einer Ziege . 35 Monate
nach der Unterbindung injicirt; nach
Porta.
standekommeu eines solchen könnte der unterhalb liegende Körpertheil
nicht zureichend Blut mehr bekommen und würde absterben, er würde
vertrocknen oder verfaulen. Die arteriellen Anastomosen sind zum
Billroth chir. Patli. u. Thev.
9
130
Von den einfaclien Schnittwnnden der Weiehtlieile.
Glück SO reiclilicli , dass ein solcher Fall uacli der UnterbiDdung' selbst
ganz grosser Gefässstämme, wie der Art. axillaris und femoralis, nicht
leicht vorkommt; bei kranken Arterien, die sicli nicht gehörig dehnen,
kann indess Brand dex betreffenden Extremität nach Unterbindung des
Hauptarterienstammes entstehen. Die Art und Weise, wie sich diese
neuen Gefässverbindungen wiederherstellen, ist höchst vielgestaltig,
Porta hat vor Jahren sehr gründliche Untersuchungen darüber ange-
stellt und folgende Haupttypen des Collateralkreislaufes nach seinen
zahlreichen Experimenten aufgestellt.
1) Es bildet sich ein directer Collateralkrcislauf, d. h. es finden
sich stark entwickelte Gefässe, welche von dem centralen Ende der
Arterie direct zum pheripherischen hinübergehen.
Diese Verbiudsgefässe sind meist die erweiterten Vasa vasorum
und die Gefässe des Thrombus; hier könnte es sich ereignen, dass einer
dieser Verbindungsstämme sich so erweitert, dass es dadurch den An-
schein bekommt, als sei der Hauptstamm einfach regenerirt.
2) Es entsteht ein in directer Collateralkreislauf, d. h. es finden
sich die Verbindungsäste der nächsten Seitenstämme der Arterien stark
erweitert, so im folgenden Fall Fig. 38.
Für beide Arten von Collateral-
kreislauf sind hier die prägnantesten
Beispiele ausgewählt; wenn Sie indess
die zahlreichen Al)bildungen bei Porta
nachsehen und selbst diese Experi-
mente wiederholen, werden Sie finden,
dass sich der directe und indirecte
Kreislauf in den meisten Fällen mit
einander combiniren; die Eintheiluug
beansprucht auch keinen weiteren
Werth, als die verschiedenen Formen
in übersichtlicher Weise zu gruppiren.
Eine vortreffliche anatomische
Uebune," ist es, sich zu verge£,'enwärti-
gen, wie nach der Unterbindung der
verschiedenen Arterienstämme einer
oder beider Extremitäten oder des
Kumpfes das Blut in den jenseits der
Unterbindung liegenden Körpertheil
kommt; eine gute Hülfe bietet Ihnen
hierbei die Tafel der Artericnanasto-
mosen, die Sie in dem Handbuch der
Anatomie von Krause finden. In der
A. feuK.r. eines grossen Hundes, 3 Monate Chirurgie dcs alten Conrad Martin
naeli d. Unterbindung injiiirt: nach Porta. Langenbcck siud bci dem Capitcl
V.M-losimo- 10. C;ii)il('l TL 131
über vViieuryMiieu diese anatomischen \'ci'li:i]tnisf;c ganz genau ei'örlert.
— Die bei diesem Collateralki'cislauf nicht selten vorkommende lindiehi-
des Blutstromes gebt mit einer eminenten Geschwindigkeit vor sicli, wenn
die Anastomosen reielilicb sind; bat man l)eim Menschen z. V>. die Art.
carotis communis einfacb unterbunden und scbneidet peripberiscb von der
Unterbindung die Arterie durcb, so stürzt das Blut mit furcbtbarer Gewalt
aus dem peripberiscben Ende heraus, also zurück wie aus einer Vene.
In allen solchen Fällen, wo die zu unterbindenden Arterien reiche
Anastomosen haben, muss man also, wenn ein Stück aus der Arterie
herausgeschnitten werden soll, zuvor das centrale und peripherische
Ende unterbinden, um vor einer Blutung gesichert zu sein: ein für die
Praxis wichtiger, oft vernachlässigter Grundsatz.
Vorlesung 10.
CAPITEL IL
Von einige]] Besonderheiten der Stichwunden.
Stichwunden heilen in der Regel rasch per primam. — Nadelstiche; Zurückbleiben von
Nadeln im Körper, Extraction derselben. — Stichwunden der Nerven. — Stichwunden
der Arterien: Aneurysma traumaticum, varicosum, Varix aneurysmaticus. — Stichwunden
der Venen, Aderlass.
Die meisten Stichwunden gehören zu den einfachen Wunden und
heilen in der Pegel per primam intentiouem; viele von ihnen sind zu-
gleich Schnittwunden, w^enn das stechende Instrument eine gewisse Breite
hatte; manche tragen die Charaktere gequetschter Wunden an sich,
wenn das stechende Instrument stumpf war, in welchem Fall dann ge-
wöhnlich mehr oder weniger Eiterung eintritt. — Viele Stichwunden
machen wir mit unsern chirurgischen Instrumenten, mit den Akupunk-
tur nadeln, feinen langen Nadeln, deren man sich bisweilen bedient,
um z. B. zu untersuchen, ob und wie tief unter einer Geschwulst oder
unter einem Geschwür der Knochen zerstört ist; mit den Akupressur-
nadeln, welche wir zur Blutstillung verwenden; mit dem Trokar,
einem dreiseitig spitz geschliffenen Dolch, der mit einer enganschliessen-
den Canüle umgeben ist, einem Instrument, das wir brauchen, um aus
einer Höhle Flüssigkeit herauszulassen.
Die Dolch-, Degen-, Messer-, Bajonettstiche sind häufig gleichzeitig
als Stich- und Schnittwunden oder Stich- und Quetschwunden anzusehen.
— Wenn solche Stichwunden nicht mit Verletzung grösserer Arterien
oder Venen oder mit Verletzungen der Knochen verbunden sind, oder
9*
132 Yon einigen Besonderheiten der Stichwunden.
nicht etwa in die grossen Körperhölilen eingedrung-en ^Yal•eu, so erfordern
sie selten irgend welche Behandlung.
Am häufigsten kommen Stichwunden mit Nadeln vor, zumal bei
Frauenzimmern, und wie selten wird deshalb ein Arzt befragt! — Com-
plicirt wird eine solche Verletzung nur dadurch, dass etwa eine ganze
Nadel oder ein abgebrochenes Stück davon in die Y\^eichtheile so tief
eindringt, dass es ohne Weiteres nicht wieder herausgezogen werden
kann. Dies kommt an verscliiedeuen Theilen des Kiirpers gelegentlich
vor, indem Jemand z. B. sich zufällig auf eine Nadel setzt, auf eine
solche fällt, und durch dergleichen Zufälligkeiten mehr. Ist eine Nadel
durch, die Haut tief eingedrungen, so sind die Erscheinungen in der
Regel so unbedeutend, dass die Verletzten selten eine bestimmte Empfm-
dung davon haben, ja oft nicht genau anzugeben im Stande sind, ob die
Nadel überhaupt eingedrungen ist, und wo sie sitzt. Auch erregt dieser
Körper in den Weichtheilen gewöhnlich keine äusserlich nachweisbare
Entzündung, sondern kann Monate, Jahre, j.a selbst das ganze Leben
hindurch ohne Beschwerde im Körper getragen werden, wenn nicht etwa
die Nadel in einen Nervenstamm eindringt. Eine solche Nadel bleibt
selten an der Stelle liegen, wo sie eingedrungen war, sondern sie wandert,
d. h. sie wird nach andern Theilen des Körpers durch die Muskelcon-
tractiouen verschoben, und kann so einen weiten Weg durch den Körper
macheu und an einer ganz anderen Gegend zu Tage kommen. Es sind
Beispiele beobachtet worden, dass sich hj^sterische Weiber absichtlich,
aus der sonderbaren Eitelkeit, die Aufmerksamkeit der Aerzte auf sich
zu lenken, eine Menge von Nadeln in die verschiedensten Theile des
Körpers steckten; diese Nadeln kamen bald hier, bald dort zum Vor-
schein; ja selbst verschluckte Nadeln können die Magen- und Darmwände
ohne Gefahr durchwandern und an einer beliebigen Stelle der Bauchwand
zum Vorschein kommen. B. v. Langenbeck fand in dem Centrum eines
Blasensteins eine Stecknadel; bei genauerer Nachforschung ergab sich,
dass der Patient als Kind eine Nadel verschluckt hatte; die Nadel kann
durch die Intestina hindurch in die Harnblase gelangt sein; hier hatten
sich Tripelphosphate um dieselbe schichten weise abgelagert, und so ent-
stand der Blasenstein, Dittel hat ein gleiches Ereigniss beobachtet.
Wenn die Nadeln eine Zeit lang, ohne Schmerz zu erregen, in den
Weichtheilen gesteckt haben, oder wenn Nadeln, die von Innen nach
Aussen den Körper durchwandern, an die Oberfläche bis dicht unter die
Haut kommen, erzeugen sie hier oft eine kleine Eiterung : das stechende
Gefühl wird immer bestimmter; man macht eine Incision in die schmerz-
hafte Stelle, entleert wenig dünnen Eiter und findet in der kleineu Eiter-
höhle die Nadel, die mau nun leicht mit einer Pincette oder Kornzange
extrahiren kann, ^'arum dieser Körper, der Monate laug im Körper
hin- und liergeschoben wurde, unter der Haut angekommen, doch end-
lich Eiterung erregt, ist freilich nicht recht zu erklären. Sie müssen sich
VoilesiniR 10. Ciipilcl TL ]33
liier mit der Keniitniss der erwülintcn Bcohiiclitiiii^' beg-iirr^'eii. Folg-ender
interessante Fall ni.'ig- Iluicn den Verlauf sctlclicr Verletzungen noch
anschaulicher machen. In Zürich wurde ein etwa oOj'ihrig'es, völlig-
blödsinniges, taubstummes FraucnzimnuM- auf die Klinik gebracht, mit
der Diagnose: Typhus. AVeder aus der Patientin, noch aus der eben-
falls nicht sehr intelligenten Umgebung war etwas über die Anamnese
herauszubringen. Die Patientin, welclie oft Tage lang im Bett Idieb,
klagte seit einigen Tagen über Schmerz, der nach ilircm Hindeuten sei-
nen Sitz in der rechten Ileoeöcalgegend hatte ; dabei fieberte sie massig.
Die Untersuchung ergab eine Anscliwellung an der bezeichneten Stelle,
die 'in den nächsten Tagen zunahm und bei Druck äusserst schmerzhaft
war; die Haut röthetc sicli, es bildete sich deutliche Fluctuation aus.
Dass kein Typhus vorlag, war leicht zu erkennen, doch Sie können sich
denken , welche verschiedenen Diagnosen über den Sitz der offenbar
vorliegenden Eiterung, denn ein Abscess bildete sich unzweifelhaft aus,
gestellt wurden; es konnte eine Entzündung des Eierstocks, eine Durch-
bohrung des Froc. vermiformis, ein Abscess in den Bauclidecken etc. etc.
sein ; indessen gegen alles dies Hessen sich numche Bedenken erheben.
Nach Verlauf einiger Tage war die stark gerötliete Plaut sehr dünn
geworden, der Abscess hatte sicli etwa in der Plöhe der Spin. ant.
sup. crist. oss. iL, einige Querfingerbreit oberhalb des Lig. Poupartii con-
ceutrirt, und ich machte nun eine Incision in die Haut; es entleerte sich
ein stark nach fäcalen Gasen riechender, Gas-haltiger, bräunlicher. Jau-
chiger Eiter. Als ich mit dem Finger die Abscessiiöhle untersuchte,
fühlte ich einen harten, stabförmigen, festen Körper in der Tiefe des
Abscesses wenig in .denselben hervorragend: ich fing an, ihn mit einer
Kornzange zu extrahiren, zog und zog und förderte eine fast einen Fuss
lange, massig dicke Stricknadel zu Tage, welche etwas mit Rost bedeckt
war, und in der Richtung nach dem Becken zu steckte. Die Abscess-
höhle war mit schlaffen Granulationen ausgekleidet; als ich indess die
Oeffnung suchen wollte, welche die Nadel doch jedenfalls zurückgelassen
haben musste, fand ich sie nicht mehr, sie hatte sich sofort wieder ge-
schlossen und war durch die Granulationen verlegt. Der Abscess brauchte
,^ lange zur Ausheilung; dieselbe erfolgte schliesslich ohne weitere Zwi-
schenfälle, so dass die Patientin nach 4 Wochen entlassen wurde. Als
ich der unglücklichen Kretine die extrahirte Nadel zeigte, lächelte sie
in ihrer blödsinnig widerlichen Art; das Avar Alles, was darüber zu er-
mitteln war; vielleicht durfte man daraus auf eine schwache Erinnerung
an die Nadel schliessen. Es ist am wahrscheinlichsten, dass sich die
Patientin die Nadel in die Vagina oder in das Rectum hineingeschoben
hat, Proceduren, in denen leider die Frauenzimmer, aucli wenn sie nicht
blödsinnig sind, Unglaubliches leisten, wie Sie zumal in Dieffenb ach's
operativer Chirurgie bei dem Kapital über die Extraction fremder Körper
lesen können. Es ist nicht unmöglich, dass die Nadel in diesem Fall
]^34 ^on einigen Besonderheiten der Stichwunden.
neben der Portio vaginalis uteri den Weg" durch das Coecum nahm, da
man aus dem Umstand, dass der Abscesseiter Gas enthielt vielleicht auf
eine, wenn auch vorübergehende Communication mit einem Darm schliessen
kann. Dies darf freilich nicht als ganz sicher angenommen werden, da
sich Eiter in der Nähe der Gedärme unter Entwicklung stinkender Gase
zersetzen kann, auch wenn keine Verbindung mit der Darmhöhle besteht
oder bestanden hat.
Das Extrahiren von frisch eingedrungenen Nadeln kann oft sehr
schwierig sein, zumal da die Patienten nicht selten in ihren Angaben
unbestimmt über den Sitz des Körpers sind, zuw^eilen auch aus Scham
nicht eingestehen wollen, wie die Nadeln (z. B. in die Harnblase) ein-
gedrungen sind. Bevor man den Einschnitt in die Haut macht, muss
man mit der linken Hand die Stelle fixiren, an welcher man den fremden
Körper zu fühlen meint, und wo man dann einschneidet; dies ist nöthig,
damit sich die Nadel nicht während des Einschneidens noch verschiebt.
Zuweilen fühlt man mehr oder weniger deutlich den festen Körper, und
kann durch Druck darauf heftigen Schmerz erregen; solche und ähnliche
Manipulationen müssen entscheiden, wo man einzuschneiden hat. Ist die
Haut durchschnitten, so sucht man nun mit einer guten anatomischen
Pincette die Nadel zu fassen ; stark gespannte Stränge der Fascien können
besonders an den Fingern leicht zu Täuschungen Veranlassung geben,
denn man hat mit der Pincette immer -nur ein unsicheres Gefühl. Kann
man die Nadel nicht auffinden, so lässt man einige Bewegungen machen;
zuweilen verschiebt sich dann die Nadel in eine Lage, in der sie leichter
zu fassen ist. Die Extraction fremder Körper, welche sehr durch die
künstliche Blutleere nach Es march 's Methode (pag. 39) erleichtert wird,
erfordert überhaupt eine gewisse üebung und manuelle Geschicklichkeit,
die man sich erst mit der Zeit in der Praxis aneignet; ein angebornes
technisches Talent kommt hier ausserordentlich zu Statten. — Ausser
Nadeln heilen auch in seltenen Fällen feine Glassplitter ein. Vor Kurzem
zog ich einen sieben Linien laugen schwarzen Dorn aus, der dicht
unter der Unterschenlcelhaut eilf Jahre lang ohne erhebliche Schmerzen
zu erzeugen, gelegen hatte.
Die Stichwunden, welche mit weniger scharfen Instrumenten gemacht
sind, erleiden zuweilen Unterbrechungen in ihrer Heilung, indem näm-
lich die Stichöifnung aussen zwar per primam heilt, doch nach einigen
Tagen in der Tiefe Entzündung und Eiterung eintritt, und die AVunde
entweder aufbricht und nun der ganze Stichcanal eitert, oder an einer
andern Stelle der Eiter durchbricht. Es tritt dies besonders bei solchen
Wunden ein, in denen ein fremder Körper, z. B. eine Messerspitze, zu-
rückgeblieben ist, oder die mit sehr stumpfen Instrumenten beigebracht
sind. Auf solche etwa zurückgebliebenen fremden Körper müssen Sie
immer bei der Untersuchung Eucksiclit nehmen, und wo möglich sich das
Instrument zu verschaffen suchen, mit welchem die Verletzung gemacht
Vorlesung 10. Capitel IL 135
wurde, sowie g-enaue Ei-kiindigiuigcri einzielieii, in welcher Riclituiig das
Instrument eindrang-, damit Sie ungefähr orientirt sind, welche Tlieile
verletzt sein können. Indess auch in ungünstigen Fällen erfolgt zuweilen
doch eine auffallend geringe Entzündung und Eiterung des Stichcanals.
So kam vor einiger Zeit ein Mann in die Klinik, der Tags vorher von
einem Baum aus massiger Höhe auf den linken Arm gefallen war, indem
er beschäftigt war, die kleineren Zweige des Baumes abzuschneiden.
Der linke Arm war an der Uorsalseite, wenige Zoll unterhalb des Ellen-
bogens, etwas geschwollen; an der Volarseite dicht oberhalb des Hand-
gelenks war eine kleine Excoriation sicht])ar; der Arm konnte gebeugt
und gestreckt werden ohne Schmerz, nur Pro- und Supination waren be-
hindert und schmerzhaft. Eine Continuitätstrennung der Vorderarmkno-
chen war nicht vorhanden; die Knochen waren bestimmt nicht durchge-
brochen. An der erst bezeichneten Stelle der Anschwellung, an der
Dorsalseite, ein Zoll unterhalb des Ellenbogens, fühlte man jedoch dicht
unter der Haut einen festen Körper, der sich etwas zurückdrücken liess,
gleich aber wieder in seine alte Stellung zurückkehrte. Man hatte genau
das Gefühl, als sei ein Stück Knochen etwa tiieilweise losgesprengt,
und liege dicht unter der Haut. So unbegreiflich es auch erscheinen
musste, wie ohne Continuitätstrennung des Radius oder der Ulna, durch
einfaches Auffallen des Oberarms auf den Erdboden, eine solche Knochen-'
absprengung erfolgen konnte, liess ich doch den Kranken narcotisiren
und machte von neuem den Versuch, das vermeintliche Fragment zurück
zudrücken; indess es gelang nicht. Da nun dasselbe so dicht unter der
Haut steckte, dass es unfehlbar in kiu'zer Zeit die Haut durchbrochen
hätte, so machte ich einen kleinen Schnitt darauf in die Haut, um es zu
extrahiren. Zu unser aller Erstaunen zog ich aber kein Knochenfragment,
sondern ein 5 Zoll langes Stück eines dünnen Banmastes heraus, welches
zwischen den beiden Vorderarmknochen ziemlich fest eingekeilt war. Es
schien unbegreiflich, wie dieses Aststück in den Arm gekonmien war;
indess bei genauer Untersuchung zeigte sich an der früher erwähnten
excoriirten Stelle der Volarseite des Vorderarms eine feine bereits ge-
schlossene schlitzartige Wunde, durch welche der Körper offenbar mit
einer solchen Geschwindiglvcit hineiugeschlüpft war, dass der Patient das
Eindringen desselben gar nicht bemerkt hatte. — Nach der Extraction
verlor sich die sehr massige Anscliweliung vollkommen, die kleine Wunde
entleerte wenig Eiter und w^ar in 8 Tagen völlig geschlossen.
Diese günstigen Heilungsverhältnisse der Stichwunden haben zu den
sogenannten subcutanen Operationen geleitet, die zumal von Stromeyer
und Dieffenbach in die Chirurgie eingeführt wurden und darin be-
stehen, dass man mit einem spitzen, schmalen Messer unter die Haut
eindringt, und nun zu verschiedenen Heilzwecken Sehnen, Muskeln oder
Nerven durchschneidet, ohne eine andere Wunde in der Haut zu machen
als die kleine Stichwunde, durch welche man das Tenotom (Sehnen-
J^36 Von einigen Besonderheiten der Stichwunden.
messer) einfiilirt. Der Heilang'sprocess, der bei offenen Sehnenwunden
fast immer durch Eiterung-, oft sogar mit weitgehendem Absterben der
Sehnen erfolgt, findet unter diesen Umständen fast immer per primam
rasch Statt, wovon wir in dem Capitel von den Verkrümmungen (s. Cap. 18)
des Weiteren zu sprechen haben.
Ist der Stich in eine der Körperhöhlen eingedrungen und hat hier
Verletzungen angerichtet, so wird die Prognose immer zweifelhaft zu
stellen sein, mehr oder weniger bedenklich, je nach der physiologischen
Bedeutung und der geringeren oder grösseren Neigung zu gefährlichen
Entzündungen des betroffenen Organs. Nie ist im Allgemeinen eine der-
artige Stichwunde so gefährlich wie eine Schusswunde. Wir gehen
hierauf jetzt nicht weiter ein, sondern müssen noch über die Stichwunden
der Nerven- und Arterienstämme der Extremitäten etwas sagen.
Stichwunden der Nerven machen je nach ihrer Breite natürlich
Paralysen von verschiedener Ausbreitung, sonst verhalten sie sich ebenso
wie die Schnittwunden der Nerven; es erfolgt die Regeneration um so
leichter, wenn der Nervenstamm nicht in ganzer Breite durchstochen
war. — Anders ist es beim Zurückbleiben von fremden Körpern in den
Nervenstänimen, z. B. von Nadelspitzen, von kleinen Glasstücken, die hier
wie in anderen Geweben einheilen können. Die Narbe im Nerven,
welche diese Körper enthält, bleibt zuweilen bei jeder Berührung eminent
schmerzhaft, ja es können heftige, excentrisch ausstrahlende Nerven-
schmerzen, Neuralgien, auftreten. Noch mehr: es können von solchen
fremden Körpern die lieftigsten Nervenzufälle acuter und chronischer
Form zur Entwicklung kommen. Epileptiforme Krampfanfälle mit
einer Aura, einem den Krampfanfall einleitenden Schmerz in der Narbe,
sind nach solchen Verletzungen beobachtet worden; von einigen Chirur-
gen wird angenommen, dass auch der Wundstarrkrampf durch solche
Nervenreizungen hervorgerufen werden kann; mir erscheint das sehr
zweifelhaft, wovon später mehr. Durch die Extraction des fremden
Körpers kann die erstere Krankheitsform, die in die Kategorie der s. g.
Reflexepilepsie zu rechnen ist, meist geheilt werden.
Stichwunden grösserer Arterienstämme oder grösserer
Aeste derselben können verschiedene Folgen nach sich ziehen. Ein
sehr feiner Stich schliesst sich meist sofort durch die Elaslicität und
Contractilität der Häute, ja es wird nicht einmal immer eine Blutung
auftreten, ebensowenig wie ein feiner Stich in einen Darm immer Aus-
tritt von Koth zur Folge hat. Ist die Wunde schlitzförmig, so kann
auch in diesem Falle die Blutung vielleicht unbedeutend sein, wenn die
Oeffnung wenig klafft; in anderen Fällen aber ist eine heftige, arterielle
Blutung die unmittelbare Folge. Wird jetzt sofort comprimirt und ein
genauer Verband angelegt, so wird es meist gelingen, nicht allein die
Blutung sicher zu stillen, sondern auch die Stichwunde der Arterie Avie
die der Weichtheile in den meisten Fällen sicher zum Schluss zu bringen.
Vorlesun- 10. CapiUrl II. 137
Stellt die Blutung' nicht, so luuss, wie wir schon frliiier bcsprociien haben,
sofort die Unterbinduiia,- vorg'enomtnen werden, sei es nach zuvor erfolgter
Dilatation der Wunde ober- und unterhalb der verletzten Stelle, sei es
höher in der Continuität.
Der Verschluss der Arterienwunde gelit in folgender Weise vor sich:
es bildet sich ein Blutgerinnsel in der mehr oder minder klaffenden
Wunde der Arterienvy'and; dieses Gerinnsel ragt ein wenig- in das Lumen
des Gefässes hinein; aussen aber pflegt es etwas grösser zu sein und
sitzt wie ein breiter Pilz auf. Dies Gerinnsel wird, wie es früher bei
dem intravasculären Thrombus besprochen „. .„,
ist, zu Bindegewebe, und so entsteht
der dauernde orgauisclie Verschluss der
Oeffnung ohne Verengerung des Arterien-
lumens.— Dieser normale Verlauf kann ,.-,•. ,..*.- ■. r< ■
.Seitlich verletzte Arterie mit berinn-
dadurch compiicirt werden, dass sich an ^,1. 4 Tage nach der Verw,.nd,a.f<;
den in das Gefässlunien etwas hinein- nach Porta.
ragenden Pfropf neue Filjrinschichten vom kreisenden Blut absetzen
und es so zum Verschluss des Arterienlumens durch Gerinnsel, zur
vollständigen Arterienthrombose kommt; dies ist indess selten; würde
es Statt haben, so würde derselbe Erfolg eintreten, wie nach der Unter-
bindungsthrombose: Entwicklung eines CoUateralkreislaufs und eventuell
vorübergehende Obliteration des Gefässlumens durch Organisation des
ganzen Thrombus.
Nicht immer nehmen Stichwunden der Arterien einen so günstigen
Verlauf. In vielen Fällen bemerkt man bald nach der Verletzung eine
Geschwulst an der Stelle der jungen Hautnarbe, die allmählig sich ver-
grössert und isochroniscli mit der Systole des Herzens und mit dem
Arterienpuls sichtbar und fühlbar pulsirt. Setzen wir ein Stethoskop auf
die Geschwulst, so hören wir in derselben ein deutliches Brausen und
reibendes Schwirren. Comprimiren wir die Hauptarterie der Extremität
oberhalb der Geschwulst, so hört in derselben die Pulsation und das
Brausen auf, auch fällt die Gesehwulst etwas zusammen. Eine solche
Geschwulst nennen wir ein Aneurysma (von arsvQvvw, erweitern), und
zwar diese specielle nach Arterienverletzung entstandene Form ein
Aneurysma spurium oder traumaticum im Gegensatz zu dem spontan
durch anderw^eitige Erkrankung der Arterien entstehenden Aneurysma
verum.
Wie entsteht nun diese Geschwulst und was ist sie? Die Entsteb.ung
wird folgende sein: die äussere Wunde wird durch Druck geschlossen.
das Blut kann nicht mehr aus derselben ausfliessen; indessen bahnt es
sich jetzt durch die vom Gerinnsel noch nicht fest geschlossene Arterien-
öffnung hindurch einen Weg in die Weichtlieile, wühlt sich zwischen die-
selben hinein, so lange wie der Druck des Blutes stärker ist als der
Widerstand, welchen die Gewebe zu leisten im Stande sind; es bildet
138
Von einigen Besonderheiten der Stichwunden.
Fig. 40. sich eine mit Blut gefüllte
Höhle, die unmittelbar in
Communication mit dem Ar-
terienlumen steht; um das zum
Theil bald coag-ulirende Blut
entsteht eine leichte Entzün-
dung" des umliegenden Ge-
webes, eine plastische Infil-
tration, die zu Bindegeweb.s-
neubildung führt, und dies
verdichtete Ge^Yebe stellt nun
einen Sack dar, in dessen Höhle
das Blut ein- und ausströmt,
während die Peripherie der
Höhle mit Schichten geronne-
nen Blutes ausg-efüllt ist. Theils
durch das Ausströmen des
Blutes durch die enge Arterien-
öffnung, theils durch die Eei-
bung des strömenden Blutes an
den Blutcoagulis, so wie end-
lich durch das Regurgitiren des
Blutes in die Arterie zurück
entsteht das Brausen und
Schwirren, welches wir in
der Geschwulst wahrnehmen.
Es kann ein solches trau-
matisches Aneurysma auch
noch auf eine andere Art mehr secundär entstehen, indem nämlich die
Arterienwunde anfangs heilt, doch später nach Entfernung des Druckver-
bandes die junge Narbe nachgiebt, und nun erst das Blut austritt.
Nicht immer sind es gerade Stichwunden der Arterien, durch
welche solche traumatische Aneurysmen entstehen, sondern auch Zer-
rcissung ihrer Häute durch starke Zerrung und Quetschung
ohne äussere Wunde kann die Entwicklung eines solchen Aneurysma
7Air Folge haben. So erzählt A. Co oper in seineu chirurgischen Vorlesungen
folgenden interessanten Fall: ein Herr sprang auf der Jagd über einen
Graben und empfand dabei einen heftigen Schmerz in der Kniekehle, der
ihn sofort am Gehen hinderte. Bald entwickelte sich in der Kniekehle ein
Aneurysma der Art. poplitea, welches später operirt werden niusste. Die
Arterie war bei dem Sprung theilweise zerrissen. Es genügt schon, dass
die Tunica intima und muscularis zerreisst, um ein Aneurysma zu Stande
konmien zu lassen. Bleibt die Tunica adventitia dabei unverletzt, so
kann der Blutstrom diese letztere Haut von der Tun. media abdrängen;
Anenr3'sma traumati.cum der Art. brachialis; nach
Froriep, Chirurgische Knpfertafeln , Bd. IV.
Taf. 483.
VorlcsituK 10. Capitcl H.
Ui)
so entsteht eine Art des Aiieiiiy.siiiM, die iii;in Aneurysma dissecans
genannt hat. -- Die Fälle von Stichwundcii mit nachfolg'cndem Aiieit-
rysma kommen /Ainial in der Kriegs])ra.xis, doch auch nicht gar seitcn in
der Civilpraxis vor. Ich sah einen Kiial)cn mit eijieni hiihnereigrosseii
Aneurysma der Art. femoralis, etwa in der Mitte des Ohersciienkels,
welches durch den Stich mit einem Federmesser, auf welclies der Knal)e
fiel, entstanden war. Neulicli operirte ich ein Aneurysma der Art.
radialis, welches sich l)ei einem Schuster nach einem zufälligen Stich
nnfc einem Pfriemen entwickelt hatte.
Ein Aneurysma ist eine mittelbar oder unmittelbar mit
dem Lnmen einer Arterie communicirende Geschwulst. Das
ist die gebräuchliche Deiinition. Die Communication ist unmittelbar in
dem so eben beschriebenen Fall eines einfachen Aneurysma traumaticum.
Doch können sich die anatomischen Verliältnisse dieser Geschwulst auch
noch complicirter gestalten.
Es kommt z. B. vor, dass bei einem Aderlass am Arme in der
Ellenbogenbeuge, also bei dem absichtlichen /Vnstechen einer Vene
behufs einer Blutentziehung, ausser der Vene auch die Art. brachialis
verletzt wird; dies ist eine der häutigsten Veranlassungen für die Aus-
bildung "eines traumatischen Aneurysmas, oder war es wenigstens frü-
her, als mau sehr häufig zur Ader Hess. Man wird in einem solchen
Fall neben dem dunkeln Venenblut den hellrothen arteriellen Biutslrahl
leicht wahrnehmen ; es wird zunächst eine Einwicklung des ganzen Arms
Fiff. 41.
Varbc aneiirvsmaticus. a Art. brachialis: nacli Bell. Froriep, Chirurg. Kiipfertaf.
Bd. III. Taf. 263.
mit Compressiou der Arterie vorgenommen, und in manclien Fällen er-
folgt die Heilung heider Gefässöffnungen ohne alle weiteren Folgen.
140
Von einigen Besonderheiten der Stichwunden.
Zuweilen kommt es aber vor, dass sich danach ein Aneurysma bildet;
dies kann die einfache, oben beschriebene Form haben; doch können
auch die beiden Oeffnungen der Gefässe so an einander wachsen, dass
das arterielle Blut theilweis direct in die Vene wie in einen arteriellen
Ast abfliesst, und sich nun mit dem Strom des Venenbluts begegnen
muss. Hierdurch entstehen Stauungen des Blutstromes in der Vene
und dadurch Aussackungen, Dilatationen des Venenlumens, die wir
im x\llgemeinen als Varices bezeichnen; in diesem speciellen Fall
heisst man den Varix einen aneurysmaticus, weil er mit einer Ar-
terie wie ein Aneurysma communicirt. — Auch ein anderer Fall kann
sieh ereignen, nämlich: es tritt die Bildung eines Aneurysmas zwischen
Arterie und Vene ein; sowohl Arterie als Vene communiciren mit dem
Aneurysmasack.
Fig. 42.
AneniTsma varicosum, « Art. brachialis. h Ven. mediana. Der aneurysmati.?che Sack
ist aufgeschnitten; nach Dorsej'. Froriep, Chir. Kupiert. Bd. III. Taf. 263.
Dies nennen w^ir dann Aneurysma varicosum. — Es können
noch mancherlei Varietäten in dem Verhältniss des aneurysmatischen
Sacks, der Vene und der Arterie zu einander Statt finden, die indess
nur die Bedeutung einzelner Curiosa haben und weder den Symptomen-
complex noch die Behandlung ändern, auch zum Glück keine weiter zu
merkenden Namen bekommen haben. — In den meisten Fällen, in denen
arterielles Blut direct oder indirect durch einen aneurysmatischen Sack
in die Vene strömt, entsteht eine Ausdehnung der Venen und ein
Schwirren in denselben, welches sowohl fühlbar als hörbar ist und
das auch zuweilen an den Arterien wahrzunehmen ist; wahrscheinlich
entsteht es durch die sich begegnenden Blutströmungen. Entscheidend
ist jedoch dies Schwirren in den Gefässen nicht für das Bestehen eines
Aneurysma varicosum, weil diese Erscheinung ja auch zuweilen allein
durch Druck auf die Venen erzeugt werden kann und bei manchen
Herzkrankheiten vorkommt. Nimmt man aber ausserdem eine schwache
Vorlcsiiii- 10. (Jiipiicl ir. 141
Pulsatiou in den (lai-ch obig'c YcranhiMstuii;' ausgcdclmlcn \'cncii wulii-, so
wivd diese sclion eher auf die ri('lilii;e Diagnose liinleiten. Erst kiirzlicl)
hatte ich Gelegenlieit nielirc Aneurysmen zu beobachten, welche nach
Schusswunden entstanden waren; in drei Fällen, welche die A. femoralis
und A. iliaca externa hetrafen, hestand das erwähnte Schwirren in hohem
(li'ade, so dass man danach eine Zcrreissuni;- der Arterie und Vene und
Comnmnication derselben annehmen musste, die in einem Falle aucii
dtu'cli die Section bestätigt wurde; doch in keinem dieser Fälle hatten
sich Varices gebildet; die Entwicklung der letzteren scheint demnach
nicht immer nothwendige Folge von einer Connuunication zwischen Arterien
und Venen sein zu müssen oder die Varices entwickeln sich vielleicht
zuweilen erst im Lauf vieler Jahre.
Die Aneurysmen der Arterien, in welcher Form sie auftreten mögen,
würden, wenn sie klein blichen, kaum irgend w^elche erhebliche Be-
schwerden erregen. Indess in den meisten Fällen werden die aneurys-
matischen Säcke immer grösser und grösser; es treten Functionsstörun-
gen in den hetreffenden Extremitäten ein, endlich kann das Aneurysma
platzen und eine profuse Blutung- macht dem Leben ein Ende. Die
Behandlung wird in den meisten Fällen in der Unterbindung des aneu-
r3'sniatischen Gefässstammes bestehen müssen; doch davon erst später.
Ich habe es für zweckmässig gehalten, Ihnen schon hier die Entwicklung-
der traumatischen Aneurysmen zu schildern, da sie in der Praxis meist
nach Stichwunden vorkommen, während Sie dieselben in andern Hand-
büchern systematisch bei den Krankheiten der Arterien abgehandelt fin-
den. Wir sprechen später in einem besonderen Capitel von den spontan
entstehenden Aneurysmen und ihrer Behandlung.
Die Stichwunden der Venen heilen genau ebenso wäe diejenigen
der Arterien, so dass ich hierüber gar nichts zu dem oben Gesagten
hinzuzufügen brauche; nur das möge hier schon bemerkt sein_ dass sich
in den Venen weit leichter ausgedehnte Gerinnungen bilden als in den
Arterien: die traumatische Venenthrombose, z. B. nach Aderlass,
ist weit häufiger als die traumatische Arterienthrombose nach Stichwunden
der Arterienwand, und, was viel schlimmer ist, die erstere Art der
Thrombose hat unter Umständen Aveit ernstere Zustände zur Folge als
die letztere; hierüber werden Sie später noch mehr hören, als Ihnen
vielleicht lieb ist.
Wir haben jetzt schon öfter den Aderlass erwähnt, diese früher
ziemlich häufig vorkommende kleine chirurgische Operation. Wir wollen
die Technik derselben hier kurz durchgehen, wenngleich Sie diese Dinge
l)ei einmaligem Sehen schneller und genauer fassen, als ich es Ihnen
darzustellen im Stande bin. Wollte ich Ihnen angeben, unter welchen
Verhältnissen der Aderlass gemacht werden soll, so müsste ich mich
sehr tief in die gesammte Mediciu hineinbegeben; man könnte ein Buch
von ziemlicher Dicke sehreiben, wenn man die Indicationen und Contra-
142 ^'^f'" eini£fen Eesonderlieiten der Stidiwimdcn.
indicationen, die Zulässigkeit, Nützlichkeit imd Schädlichkeit des Ader-
lasses nach allen Seiten hin beleuchten wollte; ich ziehe es daher vor,
lieher ganz darüber zu schweigen, wie über so manche Dinge, die Sie
durch tägliche Beobachtung in den Kliniken in wenigen Minuten auf-
fassen, und zu deren theoretischer Exposition ohne speciellen Fall Stun-
den nothw^endig sein würden. Nur so viel sei in historischer Beziehung
bemerkt, dass man früher an den verschiedensten subcutanen Venen des
Körpers zur Ader Hess, während man sich heute allein auf die Venen
in der Ellenbogenbeuge beschränkt. Soll ein Aderlass gemacht werden,
so legen Sie zuerst am Oberarm einen Compressivverband an, der eine
Stauung in den peripherischen Venen veranlasst; als einen solchen Com-
pressivverband l)raucht man ein kunstgerecht applicirtes Taschentuch
oder die besonders dazu bestimmte scharlachrothe Aderlassbinde, ein
derbes 2 — 3 Finger breites Bindenstück mit einer Schnalle. Liegt die
Aderlassbiude fest, so schwellen die Vorderarmvenen bald an, und es
präsentiren sicli in der Ellenbogenbeuge die V. cephalica und basilica
mit ihren entsprechenden Vv. medianae. Sie wählen diejenige Vene zur
Eröffnung, welche am stärksten hervortritt. Der Arm des Patienten wird
im stumpfen Winkel flectirt; mit dem Daumen der linken Hand fixiren
Sie die Vene, mit der Lancette oder einem recht spitzen gradeu Scalpell
in der rechten Hand stechen Sie in die Vene ein und schlitzen sie der
Länge nach 2 — 3"' weit auf. Das Blut strömt im Sti-ahle aus; Sie
lassen so viel fliessen als nöthig, decken die Stichwunde mit dem
Daumen zu, entfernen die Aderlassbinde am Oberarm und die Blutung
wird von selbst stehen ; die Wunde wird durch eine kleine Compresse
und eine Binde gedeckt; der Arm muss 3 — 4 Tage ruhig gehalten wer-
den, dann ist die Wunde geheilt. — So leicht diese kleine Operation
in den meisten Fällen ist, erfordert sie doch Uebung. Der Einstich mit
Lancette oder Scalpell ist der Operation mit dem Schnepper vor-
zuziehen; letzteres Instrument war früher sehr gebräuchlich, kommt
jedoch jetzt sehr aus der Mode und mit Eecht; der Aderlassschnepper
ist eine sogenannte Fliete, die mit einer Stahlfeder in die Vene liinein-
getrieben wird; man lässt das Instrument operiren, anstatt dasselbe sicher
mit der Hand zu führen.
Es giebt eine Menge von mechanischen Hindernissen, die sich dem
Aderlass in den Weg stellen können. Bei sehr fetten Personen ist es
oft sehr schwer, die Venen durch die Haut hindurch zu sehen oder zu
fühlen; man nimmt dann wohl ausser der Compressiou ein anderes Mittel
zu Hülfe, nämlich dass man den Vorderarm in warmes Wasser halten
lässt; dadurch wird ein stärkerer Zufluss des Blutes zu diesem Körper-
theil bewirkt. Das Fett kann auch nach "der Eröffnung der Vene noch
hinderlicli für den Ausfluss des Blutes werden, indem sich Fettläppchen
vor die Stichötfnung legen; diese müssen dann mit der Scheere rasch
abgetragen werden. Zuweilen liegt ein Hinderuiss für den Abfluss auch
Vorh'sim..- II. ('M|Miri irr. 143
darin, (hiss der Ann nncli d(Mii !*j'uslic.li eine juidcre Stellung' diireli
Dreliung- oder Beugung- bekam und nun di(! Venenöffnung niclit jiielir
mit der Hautüffnung correspondirt; dies ist durch eine veränderte »Stel-
lung des Armes zu beseitigen. — Es giebt nooli andere Ursachen, wes-
lüilb das IJUit niclit reclit fliessen will: /.. 1>. die Sticliöffnung ist zu
klein, ein sehr häufiger Fehler bei Anfängern im Aderlässen; ferner:
die Compression ist zu schwacli; dies ist durch Anziehen der Binde zu
verbessern; oder umgekehrt: die Compression ist zu stark, so dass die
Arterie auch comprimirt ist und wenig oder gar kein Blut zum Arm
zufliesst; dies ist durch Lockerung der Aderlassbinde zu beseitigen. Ein
Hülfsmittel zur Beförderung des Blutabflusses ist auch das rlivthmische
active Oeffnen und Schliessen der Hand des Kranken, indem duvcli die
Muskelcontractionen das Blut ausgetrieben wird.
Vorlegung IL
CAPITEL in.
Von den Qiietscliiiiigen der Weichtheile ohn(3 Wunde.
Art des Zustandekommens der Quetsclmngen. — Nervenerschütterung. — Subcutane Ge-
fässzerreissungen. — Zerreissung von Arterien. — Sugillation, Ecchymose. — Eesorption.
— Ausgänge in fibrinöse Tumoren, in Cysten, in Eiterung, Verjaucliung. — Behandlung.
Durch die Einwirkung eines stumpfen Körpers auf die Weichtheile
wird in manchen Fällen die Haut zerstört, in andern nicht; wir unter-
scheiden danach Quetschungen mit Wunden und ohne Wunden. Letztere
wollen wir zunächst berücksichtigen.
Diese Quetschungen (Contusionen) werden theils veranlasst durch
das Auffallen oder gewaltsame Aufschlagen schwerer Gegenstände auf
den Körper, oder durch das Auffallen oder Gegenschlagen des letzteren
gegen einen harten, festen Gegenstand. Die unmittelbare Folge einer
solchen Quetschung ist ein Zerdrücken der Weichtheile, das in den
all erverschiedensten Graden Statt haben kann; oft nehmen wir kaum
eine Veränderung wahr, in anderen Fällen finden wir die Theile zu
Brei zermalmt.
Ob die Haut bei einer solchen Gewalteinwirkung eine Continuitäfs-
trennung erleidet, hängt von mancherlei Umständen ab, zumal von der
Form des quetschenden Körpers und der Kraft des Stosses, dann von
der Unterlage, welche die Haut hat; die gleiche Gewalt kann z. B. an
einem musculösen Oberschenkel eine Quetschung ohne Wunde machen,
während sie, auf die Crista tibiae applicirt, eine Wunde veranlassen
würde, indem hier der scharfe Knochenrand von innen nach aussen die
^44 ^"^^ 'l'-^ii Q^ietschnngen der Weichtheile ohne Wunde.
Haut gewissermaassen diivcbsclmeidet. Es kommt ferner die Elasticität
und Dicke der Haut in Betracht, welche nicht allein bei verschiedenen
Menschen sehr verschieden ist, sondern auch hei einem und demselben
Individuum an den einzelnen Stellen des Körpers sieh verschieden
verhält.
Bei einer Quetschung ohne Wunde können wir den Grad der Zer-
störung nicht unmittelbar erkennen, sondern nur mittelbar, und zwar aus
den Erscheinungen von Seiten der Nerven und Gefässe, dann
aus dem weiteren Verlauf nach der Verletzung.
Die nächste Erscheinung an den Nerven bei einer Quetschung ist
Schmerz, wie bei den Wunden, doch ein Schmerz mehr dumpfer, unbe-
stimmbarer Art, wenn er auch sehr heftig sein kann. In vielen Fällen
hat der Verletzte, zumal beim Gegenschlagen gegen einen harten Körper,
ein eigenthiimlich vibrirendes, dröhnendes Gefühl in den betroffenen
Theilen; dies Gefühl, welches sich ziemlich weit über den getroffenen
Theil hinaus erstreckt, ist durch die Erschütterung, welche die Nerven-
substanz erleidet, bedingt, Stösst man sich z. B. heftig gegen die Hand
oder gegen einen Finger, so wird nur ein kleiner Theil eigentlich ge-
quetscht, doch es tritt dabei nicht selten eine Erschütterung der Nerven
der ganzen Hand ein mit lebhaftem , dumpfem Schmerz und Zittern,
wobei man nicht gleich im Staude ist, die Finger zu rühren, und wobei
auch ziemlich vollständige Gefühllosigkeit für den Moment Statt hat;
dieser Zustand geht rasch, meist in wenigen Secuuden vorüber, und
nun empfinden wir erst speciell den brennenden Schmerz an der ge-
ciuetschten Stelle. Wir haben für diese vorübergehende Erscheinung
keine andere Erklärung, als dass wir annehmen, die Substanz der Nerven,
zumal der Achsencyliuder erleide durch den Stoss moleculäre Verschie-
bungen, die sich spontan wieder ausgleichen. Diese Erscheinungen der
Erschütterung, der Commotion, sind keineswegs mit allen Quetschungen
verbunden ; sie fehlen in den meisten Fällen, wo ein schwerer Körper ein
ruhendes Glied trifft; doch sind sie nicht selten von grosser Bedeutung
bei Quetschungen am Kopf: hier vereint sich dann die Commotio cerebri
zuweilen mit der Contusio cerebri, oder erstere tritt allein auf, z. B.
bei Fall auf die Füsse oder auf das Gesäss, von wo sich die Erschütte-
rung auf das Gehirn fortpflanzt und die schwersten Zufälle, ja den Tod
veranlassen kann, ohne dass man anatomische Veränderungen im Hirn
findet. Die Erschütterung ist ein Vorgang, den wir vorzüglich ins Nerven-
system verlegen; mau spricht daher hauptsächlich von einer Gehirn-
erschütterung, von einer Bückenmarkserschütterung. Doch auch die
peripherisclien Nerven können erscliüttei-t werden mit den angegebenen
Erscheinungen; da sich aber dabei die locale Quetschung vorwiegend
geltend macht, so lässt man diesen Nervenzustand vielleicht zu sehr aus
den Augen. Eine heftige Erschütterung des Thorax kann z. B. eben
durch die Erschütterung der Herz- und Lunffennerven die bedenklichsten
Vorlosinio' II. Cnpilcl TTI. 145
J''.r!sc]ieinuiigeu Jievvorrufen, •wenn dadurch die (Jireulation und Kespi-
ration, kürzer oder rascher vorübergeliend, g-estört wird. Audi eine Riick-
Avirkung- der erschütterten Nerven, zumal der synipathisclien , auf das
Hirn ist nicht ganz in Abrede zu stellen; gewiss wird es Einem oder
dem Andern von Ihnen früher auf dem Turnplatz beim Ringen und Boxen
passirt sein, dass er einen heftigen Stoss gegen den Bauch bekam; welch'
schauderhafter Schmerz! es überkommt Einen für den Augenblick fast
das Gefülil einer Ohnmacht! wir haben da eine Wirkung auf das Hirn
und auf das Hei'z; man hält den Athein an und muss seine Kraft zu-
sammenraffen, um nicht umzusinken. — Sehr häufig kommt auch die
Erschütterung des N. ulnaris vor, wenn man sich den Ellenbogen heftig
stösst; die heftige dumpfe Schmerzempiindung, die bis in den kleinen
Finger ausstrahlt, ist w^ohl den meisten von Ihnen bekannt. Zusammen-
schnüren sensibler Nerven soll Coutraction der Hirngefässe hervorbringen,
wie neuere Versuche an Kaninchen leliren; vielleicht ist dadurch die
Ohnmacht als Folge eines heftigen Schmerzes zu erklären.
Dies Alles sind Er seh ütterungsersch einungen an den periphe-
rischen Nerven. Da wir nun nicht wissen, was hierbei speciell in den
Nerven vorgeht, so können war auch nicht beurtheilen^ ob diese Vor-
gänge einen Einfluss und welchen auf den w^eiteren Verlauf der Quet-
schung und der Quetschwunden haben; wir können daher auch Jiier die
Nerven nicht weiter berücksichtigen. Es scheinen einige unzweifelhafte
Beobachtungen dafür zu sprechen, dass diese Erschütterungen peripherischer
Nerven motorische und sensible Paralysen, sowie Atrophien der Muscu-
latur einzelner Gliedmaassen zur Folge haben können, doch ist der Causal-
nexus wegen mannichfacher Complicationen oft sehr schwierig zu beweisen.
Von diesen Erschütterungen der Nerven unterscheiden sich die Quet-
sehung-en der Nerven dadurch, dass bei diesen einzelne Theile der
Nervenstämme, oder letztere auch in ihrer ganzen Dicke, in der ver-
schiedensten Ausdehnung und dem verschiedensten Grade durch die ein-
wirkende Gewalt zerstört werden, so dass wir sie mehr oder weniger
breiig erw^eicht finden. Unter diesen Umständen muss eine der Verletzung
entsprechende Paralyse auftreten, aus der wir dann auf den betroffenen
Nerv und die Ausdehnung der Einwirkung zurückschliessen. Im Ganzen
sind solche Quetschungen der Nerven ohne Wunde selten, da die Haupt-
nervenstämme tief zwischen den Muskeln liegen und daher weniger direkt
getroffen werden.
Es ist a priori zuzugeben, dass Erschütterungsvorgänge auch
an andern Geweben und Organen Statt finden können als gerade
an den Nerven, und dass dadurch nicht nur Störungen der functionellen
sondern auch der nutritiyen eventuell formativen Funktionen vorüber-
gehend oder dauernd hervorgerufen w^erden können. Solche Störungen
können auch einen wichtigen Einfluss auf den weiteren Verlauf der
reparativen Vorgänge nach den Verletzungen haben, und sind als Haupt-
Billroth chir. Patb. u. Ther. 7. Aufl. 10
l46 Von den Quetschungen der Weichtheile olme Wunde.
Ursache für die oft so stürmisch verlaufenden Entzündungen mit leicht
zersetzbaren Exsudaten und Infiltraten von manchen Chirurgen angesehen
worden. Icli bin weit entfernt, den Einfluss einer energischen Erschütte-
rung z. B. auf einen Knochen zu leugnen, dessen Mark und Gefässe
dadurch zerreissen, ohne dass er zusammenbricht; gCAviss werden die
Folgen einer solclien Verletzung unter Umständen viel ausgedehnter und
langwieriger sein, als die Folgen eines z. B. durch Ueberbiegung er-
folgten Bruches; doch darf man wohl diesem Moment allein nicht den
oft so schweren Verlauf gequetschter Wunden zuschieben. —
Ziemlich auffallend geben sich oft die Quetschungen der Gefässe
zu^ erkennen, indem die Wandung der feineren Gefässe, zumal der sub-
cutanen Venen, durch die Quetschwirkung zerstört wird und nun Blut
austritt. Die subcutane Blutung ist daher die fast regelmässig ein-
tretende Folge einer Quetschung. Sie würde noch viel bedeutender sein
müssen, wenn die Gefässwunden bei dieser Art der Verletzung scharfe
Bänder bekämen und klafften; doch dies ist meist nicht der Fall, die
Quetschwunden der Gefässe sind rauh, uneben, fetzig, und diese Un-
ebenheiten bilden Hindernisse für das Ausströmen des Blutes, die Rei-
bung ist so gross, dass der Blutdruck dieselbe bald nicht mehr über-
windet, es bilden sich Faserstoffgerinnungen zunächst an diesen Rauhig-
keiten, selbst bis ins Gefässlumen hinein, und damit ist dann eine
mechanische Verstopfung des Gefässes, eine Thrombose, gegeben; die
Quetschung der Gefässwand, durch welche eine Alteration ihrer Struktur
bedingt wird, kann schon für sich die Gerinnung des Blutes zur Folge
haben, da Brücke nachgewiesen hat, dass eine lebendige gesunde Intima
der Gefässe eine wichtige Bedingung für das Flüssigbleiben des Blutes
innerhalb der Gefässe bildet. Wir konnnen auf diese Vorgänge bei den
Quetschwunden noch wieder zurück. Der Gegendruck der Weichtheile
verhindert einen gar zu starken Blutaustritt, indem die Muskeln und die
Haut eine natürliche Compression ausüben; so kommt es, dass diese
subcutanen Blutungen, selbst wenn sie aus einem starken Gefäss kommen,
an den Extremitäten fast nie augenblicklich lebensgefährlich werden.
Anders verhält es sich natürlich mit Blutungen in den Körperhöhlen;
hier sind vorwiegend verschiebbare weiche Theile, die dem Ausfliessen des
Blutes aus dem Gefässe keinen genügenden Gegendruck leisten können;
diese Blutungen werden daher nicht selten tödtlich, und zwar auf
zweierlei Weise, theils nämlich durch die Menge des austretenden
Blutes, z. B. in die Brusthöhle, in die Bauchhöhle, theils durch die
Compression, welche das austretende Blut auf die in den Höhlen ge-
legenen Theile ausübt, z. B. aufs Gehirn, welches durch das aus starken
Gefässen ausströmende Blut nicht allein theilweis zerstört, sondern
auch nach verschiedenen Richtungen comprimirt und so functionsunfähig
wird; Blutungen im Gehirn machen daher rasch auftretende Lähmungen
und oft auch Störungen des Seusoriums; wir nennen im Gehirn diese
Voricsiiu- I I. (';i|.ilcl lir. 147
Blutergüsse selbst, sowie aucli die (hulurcli liervorg'ebraclite Kcilie von
Symptouieii Apoplexien (von urco und nh]aao)^ wegschlageu, nieder-
selilag-en). —
Ist an den Extremitäten eine g-rösserc Arterie zer(iuetsclit, so ge-
stalten sich die Verhältnisse wie ))ei einer vernähten oder eoni])riniirteii
Stichwunde. Es kann sich auf die in der vorigen Stunde beschriebene Weise
ein traumatisches Aneurysma, eine pulsirende Geschwulst bilden. Dies
ist indess im Verhältniss zu den vielen im täglichen lieben vorkonnuen-
den Quetsdiungen sehr selten, wolil deshalb, weil die grösseren Arterien-
stämme ziemlich tief liegen, und die Arterienhäutc fest und elastisch
sind, so dass sie bei weitem weniger leicht zerreissen als die Venen.
Vor einiger Zeit haben wir indess eine subcutane Zerreissung der Art.
tibialis antica in der Klinik beol)aehtet. Ein kräftiger, starker Mann
hatte den Unterschenkel gebrochen, die Haut war unverletzt. Der Bi-uch
■war ungefähr in der Mitte dei' Tibia, derjenige der Fibula etwas hölier;
die ziemlich bedeutende Geschwulst, welclie sich um die Bruchstelle sofort
nach der Verletzung gebildet hatte, pulsirte deutlicli sichtbar und fühl-
1)ar an der vorderen Fläche des Unterschenkels. Man hörte in derselben
sehr deutliches Brausen, so dass ich dies Phänomen meinen Herren Zu-
hörern demonstriren konnte. Der Fuss wurde mit Rinden und Scliienen
umgeben und al)sic]itlich kein inamovibler Verband angelegt, um zu
beobachten, wie sich das traumatische Aneurysma, welches hier offen])ar
enstanden war, weiterhin gestalten würde. Wir erneuerten den Verband
etwa alle 3—4 Tage, und konnten uns überzeugen, wie die Geschwulst
allmählig kleiner wairde und nach und nach immer schwächer pulsirte,
bis sie 14 Tage nach der Verletzung völlig- verschwunden war. Das
Aneurysma war durch die mit dem Verband ausgeübte Compression ge-
heilt. Auch die Heilung der Fractur unterlag keiner Unterbrechung, der
Kranke hatte 8 Wochen nach der Verletzung den vollständigen Gel)rauch
seiner Extremitäten.
Die häufigsten subcutanen Blutungen bei den Quetschungen entstehen
durch Zeireissung der subcutanen Venen. Diese Blutergüsse veranlassen
sichtbare Erscheinungen, die theils nach der Quantität der ausgetretenen
Blutmenge, theils nach der Vertheilung des Blutes in den Geweben ver-
schieden sind.
Je gefässreicher ein Theil ist, und je stärker er gequetscht wird,
um so grösser wird das Extravasat werden. Das extravasirte Blut
bahnt sich, wenn es langsam aus den Gefässen austliesst, zwischen die
Bindegewebsbündel, zumal des Unterhautzellgewebes und der Muskeln
Wege; es muss so eine Infiltration der Gewebe mit Blut entstehen, die
eine Schwellung derselben veranlasst. Diese diffusen und subcutanen
Blutungen nennen wir Sugillationeu (von sugillatio, die Blutunterlau-
fung), auch wohl Suffusionen. Je laxer und nachgiebiger, je leichter
aus einander zu schieben das Gewebe ist, um so ausgedehnter wird
10*
i4S ^'^O" *i®'"^ Quetschnngen der Weichtheile ohne Wunde.
diese Blutinfiltration werden, wenn das Blut allmählig, doch coutinuirlich
eine Zeit lang- aus den Gefässen ausfliesst. Wir finden daher in der
Eeg-el die Blutergüsse in den Augenlidern, im Scrotum sehr weit ver-
breitet, weil hier das subcutane Bindegewebe so sehr locker ist. Je
dünner die Haut ist, um so leichter und um so früher werden wir die
Blutinfiltration erkennen; das Blut schimmert durch die Haut blau durch,
dringt in dieselbe ein und giebt ihr eine stahlblaue Färbung Unter der
Conjunctiva bulbi erscheint dagegen das extravasirte Blut vollkommen
roth, da diese Membran so selir fein und durchscheinend ist. Blutextra-
vasate in der Cutis selbst stellen sich als rothe Flecken (Purpura) oder
Streifen (Vibices) dar; sie sind indessen in dieser Form fast niemals
Folge einer Quetschung, sondern durch spontane Gefässzerreissungen be-
dingt, sei es,' dass die Gefässwandungen bei manchen Individuen beson-
ders dünn sein mögen, wie bei den früher erwähnten Blutern, sei es,
dass sie durch ungekannte Zersetzungszustände des Blutes besonders
mürbe und zerreisslich werden, wie beim Scorbut, bei manchen Formen
des Typhus, beim Morbus maculosus etc. Die Quetschung der Cutis ist
gewöhnlich an einer stark dunkelblauen, ins Braune übergehenden
Färbung zu erkennen, zuweilen auch an Abstreifung der Epidermis, an
den sogenannten Schrunden, oder wie man in der Kunstsprache sagt,
an den Excor iationen.
Tritt auf einmal viel Blut aus den Gefässen und ergiesst sich in
laxes Zellgewebe, so entsteht eine mehr oder weniger abgegrenzte Höhle.
Diese Form des Blutergusses nennen wir eine Ecchymose, oder Ec-
ehymom, oder Haematom, Blutgeschwulst. Ob dabei die Haut ver-
färbt ist, hängt davon ab, wie tief das Blut unter derselben liegt; bei
tiefen Blutergüssen, den diffusen sowohl als den circumscripten, findet
man oft, zumal gleich nach der Verletzung, gar keine Verfärbung der
Haut. Man nimmt nur eine Geschwulst wahr, eieren rasches Entstehen
unmittelbar nach einer Verletzung schon gleich auf ihre Natur führt, und
diese Geschwulst fühlt sich weich und gespannt an. Der umgrenzte
Bluterguss bietet das sehr charakteristische Gefühl der Schwappung dar,
das Gefühl der Fluctuation. Sie können sich von diesem Gefühl am
leichtesten einen deutlichen Begriff machen, wenn Sie eine Blase mit
Wasser stark anfüllen und nun die Wandungen befühlen. Es ist die
Untersuchung auf Fluctuation in der chirurgischen Praxis von grosser
Bedeutung, da es unzählige Fälle giebt, wo'es wichtig ist, zu entscheiden,
ob man es mit einer Geschwulst zu thun hat, die von fester Consistenz
ist, oder einer solchen, die Flüssigkeit enthält. Ueber die Art, wie Sie
diese Untersuchung in den einzelnen Fällen am besten machen, werden
Sie in der Klinik belehrt werden.
Manche Arten dieser Blutergüsse haben je nach den Localitäten,
an denen sie vorkommen, besondere Namen erhalten. So nennt man die
Blutergüsse, welche nicht selten am Kopf der Neugebornen zwischen
Vorlesung U. Capilcl Ilf. 140
den verschiedenen Bedeckungen des Schädels und diesem seihst ent-
stehen: Cephalhaematoma (von nscpayt], Kopf", und mf-iarocü^ mit
Blut besudeln), Kopfl)luti>'eschwulst der Neugehonien; das Extravasat,
welches sich nach Contusion oder auch nach dem spontanen Bersten aus-
gedehnter Venen in den grossen Schamlippen bildet, hat den zierlichen
Namen: Episiohaematoma oder Episiorrhagia (von sneioiov, die
äussere Scham) bekommen. Auch die Blutergüsse in der Pleura- und
Pericardialhöhle haben besondere Bezeichnungen: Haematothorax,
Haematopericardium u. s. \v. Wir legen jetzt im Ganzen wenig
Gewicht auf diese schönklingenden lateinischen und griechischen Namen;
immerhin müssen Sie dieselben kennen^ theils um sie beim Lesen medi-
cinischer Bücher zu verstehen und nicht irgend etwas Mysteriöses da-
hinter zu suchen, theils weil sie dazu dienen, um uns kürzer auszu-
drücken und uns rascher verständlich zu machen.
Sehr charakteristich für diese subcutanen Blutergüsse sind ihr wei-
terer Verlauf und die Erscheinungen, die sich dabei kundgeben. Bleiben
wir zunächst einmal bei den diffusen Blutergüssen stehen, so sind wir
gleich nach der Verletzung selten in der Lage, zu bestimmen, von wel-
cher Ausbreitung die Blutung gewesen ist oder noch ist. Sehen Sie den
gequetschten Theil am zweiten und dritten Tage nach der Verletzung
an, so nehmen Sie schon eine weit grössere Ausdehnung der Hautver-
färbung wahr als am ersten Tag, ja später scheint sich dieselbe immer
noch zu vergrössern, d. h. sie wird immer mehr wahrnehmbar. Die Aus-
dehnung ist zuweilen ganz erstaunlich; so hatten wir einmal in der Klinik
einen Mann mit einer Fractur der Scapula: da war anfangs nur eine
sehr geringe Verfärbung der Haut vorhanden, wenngleich sich eine grosse
schwappende Geschwulst gebildet hatte; am 8. Tage sah der ganze
Rücken des Patienten vom Hals bis zur Gegend der Mm. glutaei dunkel
stahlblau aus und gewährte so allerdings einen sonderbaren, fast komi-
schen Anblick, da die Haut wie angefärbt erschien. Dergleichen weit-
gehende Blutunterlaufungen kommen grade bei Knochenbrüchen häufig
vor, zumal auch an Arm und Bein. Diese theils dunkelblaue, theils
blaurothe Färbung, wobei die Haut durchaus nicht besonders empfind-
lich, oft kaum geschwollen ist, bleibt aber zum Glück nicht so, sondern
es treten weitere Veränderungen , zunächst weitere Verfärbungen ein,
indem das Blau und Roth in ihrer Vermischung in Braun, dann in Grün
und endlich in ein helles Citronengelb tibergehen. Dieses höchst sonder-
bare Farbenspiel hat wohl zu dem Ausdruck „Jemanden braun und blau
schlagen" oder „durchbläuen" Veranlassung gegeben. Die zuletzt zurück-
bleibende gelbe Färbung bleibt gewöhnlich sehr lange, oft Monate lang
noch zurück, bis auch sie endlich verschwindet, und keine Spur mehr
von dem Extravasat äusserlich sichtbar bleibt.
Fragen wir uns, woher diese verschiedenen Färbungen der Haut
kommen, und haben wir Gelegenheit, Blutextravasate in verschiedenen
150
Von den Quetschungen der Weichtlieile ohne Wunde.
Stadien zu untersuchen, so finden wir, dass es der Farbstoff des Blutes
ist, welcher allmählig die Metarmorphosen und Farbennuanceu durch-
macht. Ist das Blut aus den Gefässen ausg-etreten und in das Binde-
gewebe eingedrungen, so gerinnt der Faserstoff. Das Blutserum dringt
in das Bindegewebe selbst und kehrt von hier in die Gefässe zurück,
wird resorbirt. Der Blutfarbstoff' verlässt die Blutkörperchen und ver-
theilt sich ebenfalls in gelöstem Zustande in die Gewebe. Der Faser-
stoff und die Blutkörperehen zerfallen grösstentheils zu feinen Molecülen
und werden als solche auch von den Gefässen resorbirt; einige weisse
Blutzellen mögen wie im Thrombus zur w^eiteren Gewebsentwicklung
gelangen. Der Blutfarbstoff, welcher die Gewebe durchtränkt, macht in
der Folge verschiedene, nicht genauer gekannte Metamorphosen mit
Farbenwechsel durch, bis er schliesslich in einen bleibenden Farbstoff
umgewandelt wird, der nicht mehr in den Flüssigkeiten des Organismus
löslich ist, in das Hämatoidin. Dies Fig. 43.
scheidet sich wie im Thrombus theils kör-
nig, theils krjstallinisch aus, ist in reinem
Zustande von dunkelorauge- oder rubin-
rother Farbe und giebt, spärlich vertheilt,
den Geweben ein gelbliches, stark auge-
häuft, ein tief orange Colorit.
Die Resorption des Extravasats findet
fast immer Statt bei der diffusen Sugillation,
da das Blut sich dabei sehr weit in das
Gewebe vertheilt, und die Gefässe, welche
die Resorption zu übernehmen haben, nicht
von der Quetschung mitgetroffen sind; es
ist der witnschenswertheste, und unter günstigen Verhältnissen der häufigste
Ausgang nach subcutanen und intermusculären Blutergüssen.
x4.nders verhält es sich bei den circumscripten Ergüssen, den Ecchy-
mosen. Es kommt bei ihnen zunächst auf die Grösse des Heerdes an,
dann auf die Beschaffenheit der den Bluterguss umgebenden Gefässe;
je reichlicher letztere entwickelt, je weniger sie durch die Quetschung
selbst beeinträchtigt sind, um so eher ist die Resorption zu erwarten.
Immerhin kommt die Resorption bei grossen Ergüssen der Art weniger
constant vor. Es sind verschiedene Momente, welche dies verhindern;
zunächst bildet sich nämlich um den Bluterguss, wie um einen fremden
Körper (wie auch beim Aneurysma traumaticum) eine Verdichtung des
Bindegewebes aus, durch welche das Blut völlig umkapselt wird; auf
die innere Fläche dieses Sackes lagert sich der Faserstoff' des ergossenen
Blutes schichtenweise ab, das flüssige Blut bleibt in der Mitte. So
können nun die Gefässe um die Blutgeschwulst herum nur sehr spärliche
Mengen von Flüssigkeit aufnehmen, da sie' von dem flüssigen Thcil des
Blutes durch die oft ziemlich dicke Lage Faserstoff' getrennt sind. Es
Körniges nnd krystallinisches
Hämatoidin von theils orange-,
theils rubinrother Farbe. Yer-
grösserung 400.
Voricsiins II. Capilel II F. l^{
liegen hier dieselben Verhältnisse vor, wie bei dem Erg'uss grosser
iaserstoffreicher Exsudate in die rieiuahöhle; auch dort hindern die an
den Wandungen abgelag-erten Faserstoffschwarten wesentlich die Re-
sorption. Dieselbe kann unter solchen Verhältnissen nur dann vollstän-
dig erfolgen, wenn der Faserstoff zu feinen Molcciilcn zerfällt, sich
verflüssigt und auf diese Weise resorbirbar wird, oder wenn er eventuell zu
Bindegewebe organisirt und mit Blut- und Lyni})hgefässen versehen wird;
dies kommt an den Schwarten der Pleui'a nicht so selten vor. — Doch
giebt es noch manches andere Geschick solcher Extravasate. Efi kann
z. B. der flüssige Theil des Blutes vollständig resorbirt werden, und eine
aus concentrischen Lagen zwiebelartig zusammengesetzte, feste Geschwulst
bleibt zurück. Dies ereignet sich so zuweilen mit den Extravasaten in
den grossen Schamlippen; es entstellt dadurch ein Tumor fibrinosus;
auch in der Höhle des Uterus bilden sich solche Faserstoffgeschwülste
gelegentlich aus. Manche Hämatome können theilweis zu Bindegewebe
organisirt werden, auch allmählig Kalksalze in sich aufnehmen und
völlig verkalken und verkreiden, ein im Allgemeinen seltener Vorgang,
der sich aber z. B. bei Blutergüssen in grossen Kröpfen ereignet. —
Ein anderer Modus ist die Umbildung der Blutgeschwulst zu einer
Cyste; man beobachtet dies im Hirn, auch wohl in weichen Ge-
schwülsten; manche Cysten in Kröpfen mögen neben anderen Entstebuugs-
vi^eisen solchen Ergüssen ihren Ursprung verdanken. Unter einer Cyste
oder Balggescliwulst versteht man Säcke, Bälge mit mehr oder weniger
flüssigem Inlialt; der Inhalt dieser aus Blutextravasaten entstehenden
Cysten ist je nach ihrem Alter dunkler oder heller, ja es kann das Blut-
roth ganz daraus verschwinden und der Inhalt wird ganz hell, nur leicht
getrübt durch Fettmolecüle. — Sie werden in den grossen circumscripten
Extravasaten seltner viele und schön ausgebildete Hämatoidinkrystalle
finden, als in den kleineren mehr diffusen, in ersteren wiegt der fettige
Zerfall der Blutelemente vor, daher es denn eher zur Ausscheidung von
Cholesterinkrystallen darin zu kommen pflegt. — Die Kapsel, welehe
diese alten Blutergüsse einschliesst, geht theils aus der Organisation des
peripherischen Theils des Blutklumpens, theils aus dem umliegenden
Gewebe hervor.
Weit häufiger als die beiden letztbeschriebenen Metamorphosen der
circumscripten Extravasate, doch nicht ganz so häufig als die Resorption
ist die Vereiterung derselben. Der Entzüudungsprocess in der Um-
gebung und die plastischen Processe in dem peripherischen Theil des
Extravasats, in Folge deren es in den beiden vorigen Fällen zur Ent-
wicklung von verdichtetem Bindegewebe kam, welches das Blut völlig
abkapselte, nehmen in dem jetzt zu bes])rechenden Falle einen mehr
acuten Charakter an; es bildet sich allerdings auch eine Umgrenzungs-
schicht, doch nicht langsam und allmählig, wie in den vorigen Fällen,
sondern mit rascher Zellenbildung; die plastische Infiltration des Gewebes
j^52 Von den Quetschungen der Weichtheile ohne Wunde.
fttlirt nicht zur Binclegewebsentwicklung , soudern zur Vereiterung; die
Entzündung- greift successive in die Cutis und diese vereitert endlich
auch allmählig von innen nach aussen; schliesslich entsteht eine Perfo-
ration derselben, das mit Eiter gemischte Blut entleert sich; die Wan-
dungen der Höhle legen sich später wieder zusammen, verschrumpfen
narbig und verwachsen; so kommt dann doch die Heilung zu Stande.
Auf diesen Heilungsprocess kommen wir noch wieder bei den Abscessen
zu sprechen; wir pflegen jede Eitergeschwulst, d. h. circumscripte Eiter-
ansammlungen unter der Haut in beliebiger Tiefe, einen Abscess zu
nennen, und man bezeichnet daher den eben geschilderten Vorgang auch
wohl als A b s c e d i r u n g eines B 1 u t e x t r a v a s a t s. Dieser Process kann
sich sehr in die Länge ziehen, kann 3 — 4 Wochen dauern, nimmt jedoch
in der Eegel, wenn er nicht etwa durch seinen Sitz gefährlich ist, einen
günstigen Verlauf. Wir erkennen die Abscediruug eines Blutextravasats
an der nach und nach stärker hervortretenden Entzitndungsröthe der
Haut, an der Zunahme der Geschwulst, einer sich steigernden Schmerz-
liaftigkeit, zuweilen mit etwas Fieber verbunden und endlich an der
Verdünnung einer Hautstelle, wo dann schliesslich der Durchbruch erfolgt.
Endlich kann auch eine rapide Zersetzung, eine Verjauchung des
Extravasats erfolgen, ein zum Glück seltener Fall Die Geschwulst
wird dabei sehr heiss und prall, äusserst schmerzhaft, das Fieber steigt
meist bis zu bedeutender Höhe, es können Schüttelfröste, so wie über-
haupt die bedenklichsten Allgemeinerscheinungen eintreten. Dieser Aus-
gang welcher nur bei sehr intensiven Quetschungen und darauf folgenden
sehr acuten Entzündungen vorkommt, ist der übelste und der einzige,
der schnelle Kunsthülfe erfordert.
Ob Resorption, Eiterung oder Verjauchung eines Extravasats eintritt,
ist nicht nur von der Menge des ergossenen Blutes abhängig, sondern
wesentlich bedingt durch den Grad der Quetschung, welchen die Ge-
webe erlitten haben; so lange sich dieselben noch zu ihrem integeru
Zustand zurückbilden können, so wird auch die Resorption des ergossenen
Blutes wahrscheinlich sein; sind die Gewebe zertrümmert und gehen dem
Zerfall und der Zersetzung entgegen, so Avird dadurch die Vereiterung
oder Verjauchung auch des Blutes angeregt; kurz das ergossene
Blut wird dieselben Schicksale haben wie das gequetschte
Gewebe.
Wie erheblich die Quetschung der Muskeln, Sehnen und Faseien ist,
können wir bei unverletzter Haut nicht genügend beurtheilen; die Grösse
des Extravasats kann zuweilen darüber etwas Aufschluss geben, doch
ist dies ein sehr unsicherer Maassstab ; eher ist der Grad der Fuuctions-
fähigkeit der betroffenen Muskeln zu prüfen, doch auch die daraus zu
machenden Folgerungen sind sehr vorsichtig zu verwenden; das Maass
Vorlesims M. Capitel in. 153
der Gewalt, welclic auf" die Tlicilc eingewirkt hatte, kann 7Ai einer an-
näheriulen ]»curtlieiluvii^' der vorliegenden subcutanen Zerstörung* leiten. —
Die Ausheilung- der Mukelqiietschung-en erfolgt, wie bei Wunden, indem
die zerquetschten Muskelelcmente vorlier niolecular zerfallen und resorbirt
werden; bei Vereiterung- des Extravasats ndt dem Eiter werden sie
eliminirt, worauf dann doch noch sowohl Bindegewebs- als auch Muskel-
neubildimg zu Stande kommen kann.
Die grössten Extravasate sind gemeiniglich mit Verletzungen der
Knochen verbunden, sowohl diffuse als circumscrii)te; wir betrachten
/jedoch die Knochenverletzungen besser in einem besonderen Abschnitt.
Ist ein Körpertheil so zermalmt, dass er entweder ganz oder zum
grössten Theil lebensunfähig ist, so wird er kalt, blauroth, braunroth,
dann schwarz; er fängt an zu faulen; die Fäulnissproducte gelangen
ins benachbarte Gewebe und ins Blut; die örtlichen Entzündungen so
wie das Fieber nehmen eigenthümliche schwere Formen an. Da dies bei
Quetschungen mit und ohne Wunde gleich ist, so sprechen wir erst
später mehr davon.
Die Behandlung der Quetschungen ohne Wunden hat zum Ziel,
den Process zum möglichst günstigen Ausgang zu führen, nämlich zur
Resorption des Extravasats; mit diesem Vorgang verlaufen dann auch
die Verletzungen der übrigen Weichttheile günstig, da die ganzen Pro-
cesse subcutan bleiben. — Wir beziehen uns hier nur auf solche Fälle,
w^o die Quetschung der Weichtheile und das Extravasat für sich Gegen-
stand der Behandlung sind; bei- Knochenbrüchen müssen eben diese vor
Allem behandelt werden, das Extravasat für sich wird dabei meist nicht
Gegenstand einer besonderen Berücksichtigung. Kommt man ganz un-
mittelbar zu einer eben geschehenen Quetschung hinzu, so kann es die
Aufgabe sein, die etwa noch fortdauernde subcutane Blutung zu hemmen.
Dies erreichen wir am besten durch die Compression, die, wo es geht,
mit gleichmässig umgelegten Binden auszuführen ist. Wenn ein Kind
auf den Kopf fällt, oder sich gegen die Stirn stösst, so nehmen in Nord-
deutschland die Mütter oder Wärterinnen einen LöÖ'elstiel oder eine
Messerklinge und drücken ihre Fläche sofort auf die verletzte Stelle, um
die Entstehung einer Blutbeule zu verhindern. Dies ist ein sehr zweck-
mässiges Volksmittel; es wird durch die sofortige Compression einerseits
der weitere Blutaustritt gehemmt, andererseits wird dadurch verhindert,
dass das Blut sieh an einer Stelle ansammelt, indem es durch den Druck
genötbigt ist, sich in das nebenliegende Gewebe zu vertheilen; eine ent-
stehende Ecchymose kann so in eine Sugillation übergeführt werden so
dass ^das Blut leichter resorbirt werden kann. Dasselbe erreichen Sie
auch zuweilen durch eine gut angelegte Binde.
Indess selten kommt man so früh zu der Verletzung, und in den
^54 V^ii ^^^ Quetschungen der Weichtheile ohne Wunde.
Überwiegend meisten Fällen liegt eine Knochen- oder Gelenkverletzung
vor und die Behandlung des Blutextravasats tritt dann in den Hintei-
grund.
Auch die Anwendung der Kälte in Form von aufgelegten Schweins-
oder Gummi-Blasen, die man mit Eis füllt, oder als kalte Ueberschläge,
denen man in der Volkspraxis aus alter Gewohnheit Essig oder Blei-
wasser hinzusetzt, kommen bei frischen Quetschungen als Mittel in An-
wendung die einer etwa zu heftig auftretenden Entzündung vorbeugen
sollen. Doch rechnen Sie nicht zu sicher auf die Wirkung dieser Mittel;
das Mittel, welches die Resorption von Blutextravasaten am besten be-
fördert, ist und bleibt die gleichmässige Compression und besonders die
Ruhe des Theils. Extremitäten wickeln Sie daher am besten mit
nassen Binden ein, und können darüber nasse Tücher umlegen lassen,
die alle o — 4 Stunden erneuert werden. — Andere Mittel, die bei acuten
Entzündungen der Haut sonst von guter Wirkung sind, wie die Anwen-
dung-der grauen Quecksilbersalbe, nutzen hier in der Regel w^enig. —
Doch dass ich der Arnica nicht vergesse! Dies Mittel wird von man-
chen Familien und Aerzten so verehrt, dass sie es unverzeihlich halten
würden, wenn man es bei Quetschungen versäumte, Umschläge mit Ar-
nicainfus oder mit Wasser, dem Arnicatinctur zugesetzt ist, zu machen.
Der Glaube ist mächtig; der eine glaubt an die Arnica, der andere an
das Bleiwasser, der dritte an den Essig als mächtiges äusserliches Re-
sorbens. In allen Fällen wirkt zweifelsohne nur die Feuchtigkeit und
die durch die Umschläge wechselnde Temperatur der Haut, wodurch die
Capillaren derselben in Thätigkeit erhalten, bald zur Contraction, bald
zur Dilatation gebracht und so auch geeigneter zum Resorbiren gemacht
werden, eben weil sie in Thätigkeit erhalten werden.
Die diffusen Blutextravasate mit massigen Quetschungen der Weich-
theile werden fast immer ohne viel Zuthun resorbirt werden. Verändert
sich ein circumscriptes Extravasat nicht erheblich im Verlauf von 14 Tagen,
so liegt trotzdem keine ludication zu einem weiteren Einschreiten vor.-
Man bepinselt dann täglich ein oder zw^ei Mal die Geschwulst mit ver-
dünnter Jodtinctur, comprimirt sie durch einen passenden Verband und
wird nicht selten noch nach mehren Wochen allmählig die Geschwulst
schwinden sehen. Wird dieselbe heiss, die Haut darüber entzündlich
geröthet und empfindlich, so ist allerdings zu erwarten, dass es zur
Eiterung kommen wird, selten wird dann selbst die continuirliche Ein-
wirkung der Kälte den Verlauf ändern, wenn auch oft mildern. Sie
können dann, um den nicht mehr zu hindernden Ausgang in Eiterung
zu befördern, warme Ueberschläge machen lassen, entweder einfach mit
zusammengelegten Tüchern, die in warmes Wasser getaucht sind, oder
mit Kataplasmen; jetzt beobachten Sie ruhig den weiteren Verlauf; tritt
keine Verschlimmerung des Allgemeinzustandes ein, sondern befindet
sich der Kranke wohl, so warten Sie ruhig den Durchbruch ab ; es wird
Vudcsuiif,' 1!. C-apitel llf.. 155
sich vielleicht erst nach Wochen die Haut an einer Stelle immer mehr
verdünnen, endlich entsteht eine OetTnung', der Eiter entleert sich, die
Wände der grossen llölile legen sich an einander, und in kurzer Zeit
ist der ganze Process ausgeheilt, — Ich habe im Anfang dieser Voi-
lesung eines Falles erwähnt, wo bei einer Fractur der Seapula sich ein
enormes, theils diffuses, tlieils circumscriptes Extravasat gebildet hatte;
hier war und blieb eine stark fluctuirende Geschwulst, die sich nicht
resorbirte, während der diffuse Erguss rasch zur liesorption kam; erst
in der fünften Woche nach der Verletzung kam die Eiterung zum Durch-
bruch, es entleerten sich etwa V/, — 2 Maass Eiter; acht Tage später
war diese enorme Höhle ausgeheilt und der Patient verlies« gesund das
'Hospital.
Sollte sich indess im Verlauf der Vereiterung des Blutextravasats
die Spannung der Geschwulst rasch vermehren, heftiges Fieber mit
Frösten auftreten, so dürfen Sie annehmen, dass das Blut und der Eiter
sieb zersetzen, dass eine Verjauchung der eingeschlossenen Flüssigkeiten
Statt findet. Bei solchen Erscheinungen müssen dann allerdings die
putriden Flüssigkeiten rasch entleert werden. Sie machen dann einen
grossen Schnitt durch die Haut, wenn dies nicht durch die anatomische
Verhältnisse verboten wird; in diesem letzteren Fall müssen mehre
kleinere Incisionen gemaclit werden, und zwar au solchen Stellen, dass
der Ausfluss frei und leicht Statt haben kann. — Mit diesen Incisionen
ändert sich nun freilich die Lage der Dinge wesentlich ; Sie haben jetzt
die subcutane Quetschung zu einer offenen Quetschwunde gemacht.
Es treten nun andere Verhältnisse ein, die wir in der nächsten Stunde
besprechen wollen. — Erwähnt muss noch werden, dass, falls brandige
Zersetzung der Weich theile in grösserer Ausdehnung nach solchen
Quetschverletzungen erfolgt, die x4mputation indicirt ist, wenngleich
dieser ungünstigste Fall ohne gleichzeitigen Knochenbruch sehr selten
vorkommt.
]^56 Von den Quetschwunden und Risswunden der Weichtheile.
Vorlesung 12.
CAPITEL IV.
Von den Quetschwunden und Eisswunden der Weichtheile.
Art des Zustandekummens dieser Wunden, Ausselien derselben. — Wenig Blutung bei
Quetschwunden. — Primäre Nachblutungen. — Gangränescenz der Wundränder, Einflüsse,
welche auf die langsamere und schnellere Abstossung der todten Gewebe wirken. — In-
dicationen zur primären Amputation. — Oertliche Complication bei gequetschten Wunden,
Zersetzung, Fäulniss. Coccobacteria. Septische Entzündungen. — Arterienquetschungen,
secundäre Nachblutungen.
Die Veranlassung'en zu gequetscliten Wimden, von denen wir heute
zu sprechen haben, sind dieselben, wie diejenigen zu den einfachen Quet-
schungen, nur dass im ersteren Falle die Gewalt gewöhnlich grösser als
im letzteren ist, auch kommt es darauf an, ob der einwirkende Körper
der x\rt geformt ist, dass er leicht die Haut und Weichtheile trennt, ferner
ob Theile des Körpers getroffen werden, auf denen die Haut besonders
dünn ist oder auf besonders fester Unterlage ruht.
Der Hufschlag eines Pferdes, ein Stockschlag, der Biss eines Thieres
oder Menschen, das Ueberfahrenwerden, Verwundungen mit stumpfen
Messern, mit Sägen u. s. w. sind häufige Veranlassungen zu Quetsch-
wunden. Nichts verursacht jedoch mehr gequetschte Wunden als die
schnell sich bewegenden Maschinenräder und Walzen, die Kreissägen,
die Spinnmaschinen, die vielen Getriebe mit Eädern und Haken. Alle
diese Instrumente, die Producte der immer mehr vorschreitenden Industrie,
richten viel Unheil unter den Arbeitern an. Männer und Frauen, Er-
wachsene und Kinder mit zerquetschten Fingern, zermalmten Händen,
zerfetzten Kisswunden am Vorder- und Oberarm finden sich fast immer
auf den chirurgischen Abtheilungen der Krankenhäuser in jeder grösseren
Stadt. Eine unsägliche Menge von Mensehen wird dadurch an Fingern,
Händen oder Armen verstümmelt, und eine grosse Anzahl von diesen
Kranken sterben an den Folgen dieser Verletzungen. Fügen wir noch
hinzu die allerdings in neuerer Zeit seltener werdenden Verletzungen
auf den Eisenbahnen, die Verletzungen, welche durch die Felsen-
sprengungen bei den Tunnelbauten u. s. w. entstehen, so werden Sie sich
vorstellen können, wie viel Schweiss nicht allein, sondern auch wie viel
Blut an vielen Erzeugnissen der modernen Cultur klebt. — Es ist dabei
allerdings nicht zu leugnen, dass die Hauptursache bei diesen Verletzungen
meist in der Unvorsichtigkeit, oft sogar Tollkühnheit der Arbeiter liegt.
Das tägliche Umgehen mit den gefährlichen Gegenständen macht die
Leute zuletzt sorglos und waghalsig und Mancher büsst es mit dem Leben.
VorlosiniK 12. f'apitcl TV. 157
Es gehören auch die Schusswiindeii im Wesentlichen /u den Quetscli-
Avnnden; da sie jedoch mancherlei Eii^-cnthiimliches für sich ha))en, so
Avevdeu wir sie in einem besonderen Al)sclinilt abhandeln. — Die Kiss-
wunden und vollständigen Ausreissungen von CUiedmaassen sollen am
Schlnss dieses Capitels beriicksichtigt werden.
Mit den durch alle genannten P^inwirkungen entstehenden Quetsch-
wunden vereinigen sich sehr häufig Knochenbriiche der verschiedensten,
oft gefährlichsten Art, doch zunächst lassen wir derartige Verletzungen
ausser Acht und halten uns nur an die Weichtheile.
Das Aussehen einer Wunde lässt in den meisten Fällen einen
Schluss zu, ob sie geschnitten oder durch Quetschung entstanden ist.
Die Charaktere reiner Schnittwunden kennen Sie bereits, auch habe icli
Ihnen früher schon einige Fälle angeführt, in denen eine gequetschte
Wunde das Ansehen einer gesclinittenen haben kann, und umgekehrt.
Die Quetschwunden können ebenso wie die Schnittwunden mit Substanz-
verlust verbunden sein, oder nur eine einfache Continuitätstrennung der
Weichtheile darstellen. Die Eänder dieser Wunden sind meist uneben,
fetzig, zumal die Ränder der Haut; die Muskeln sehen zuw^eilen wie
gehackt aus ; grössere und kleinere Fetzen von Weichtheilen, nicht. selten
grosse Lappen hängen in der Wunde und können durch das in ih.nen
stockende oder ergossene Blut eine blaurothe Farbe haben. Seimen sind
hier und da eingerissen oder herausgezerrt, Fascien zerrissen, die Haut
um die Wunde herum nicht selten in grosser Ausdehnung von den Fascien
abgelöst, zumal wenn sich mit der quetschenden eine zerrende und
drehende Gew^alt verband. Die Grade dieser Zerstörung der Weichtheile
sind natürlich sehr verschieden, und ilire Ausdehnung ist nicht immer
genau zu bestimmen, da man nicht immer sehen kann, wie weit die
Quetschung und Zerrung noch über die Wunde hinausgeht; oft genug
überzeugt man sich durch den w^eitern Verlauf, dass die Zerquetschung
viel weiter reicht, als es die Grösse der Wunde andeutet, dass Ausein-
anderlösungen von Muskeln, Abtrennungen von Fascien und Blutergüsse
sich noch weit unter die vielleicht nur in geringer Ausdehnung zerrissene
Haut erstreckten. Dass die Hautw-unden hier also durchaus keinen
Maassstab für die Ausdehnung und Tiefe der Quetschung geben, ist ein
sehr schlimmer Umstand; es ist dadurch die Beurtheilung einer solchen
Verletzung bei der ersten Untersuchung sehr erschwert; während das
äussere Aussehen dem Laien kaum zu Bedenklichkeiten Veranlassung giebt,
erkennt der erfahrene Chirurg schon früh die Gefährlichkeit des Falles.
Da die Verwundung zumal durch Maschinen gewöhnlich äusserst
schnell vor sich geht, so ist die Schmerzempfindung dabei nicht erheb-
lich; auch unmittelbar nach der Verletzung sind die Schmerzen der ge-
quetschten Wunden oft merkwürdig unbedeutend, um so unbedeutender,
je grösser die Verletzung und Zermalmung der Theile. Dies erklärt
sich leicht dadurch, dass die Nerven im Bereich der Wunde in solchen
158 ^'^OTi •^^ii Qiietsfhwnncleii und Bisswnnden äor "Weiclitlieile.
Fällen völlig- evdriickt iincl zerstört, daher leistungsiinfäliig sind; übrigens
kommt hier auch dasselbe in Betracht, was ich Ihnen in der vorigen
Stnnde von den localen Erschütternngszuständen der Nerven sagte, von
dem „Stupor" der verletzten Theile.
Etwas Auffallendes hat es für die erste Betrachtung, dass diese
Quetschwunden wenig oder gar nicht bluten, selbst wenn starke Venen
und Arterien zerquetscht und durchrissen sind. Es sind ganz sicher
constatirte Beobachtungen vorhanden, dass nach vollständigen Zerquet-
schungen einer Art. femoralis oder axillaris durchaus keine primäre
Blutung erfolgte. Das ist allerdings nicht häufig; in vielen Fällen
erfolgt bei einer vollständigen Continuitätstrennung so grosser Arterien
durch Quetschung doch ein contiuuirliches Aussickern von Blut, wenn
auch kein spritzender Strahl 5 ein solcher würde, wenn er z. B. aus einer
Art. femoralis käme, rasch, den Tod herbeiführen müssen. Wie diese
Beschränkung der Blutung an kleineren Arterien erfolgt, habe ich schon
früher angedeutet, doch wird Ihnen dies noch klarer an einem Beispiel
werden. Ein Eiseubahnarbeiter wurde von einer Locomotive so über-
fahren, dass ihm ein Rad derselben über den linken Oberschenkel un-
mittelbar unterhalb des Hüftgelenks ging. Der ungiückliehe ^Mensch
wurde sofort auf einer Bahre in das Hospital gel)racht; er hatte unter-
wegs ziemlich viel Blut verloren und kam sehr blass und anämisch,
doch bei vollem Bewusstsein an. Nach vollständiger Entfernung der
zerrissenen Kleidungsstücke fanden wir eine entsetzliche Zerquetschung
der Haut und Muskulatur an der erwähnten Stelle. Der Knochen war
in einige dreissig Fragmente zerschmettert, die Muskeln waren theils zu
Brei zerdrückt, theils hingen sie in Fetzen in der Wunde, die Haut war
bis zum Hüftgelehk hinauf zerrissen. An keiner Stelle dieser ungeheuren
Wunde spritzte eine Arterie, doch aus der Tiefe sickerte fortwährend
Blut in nicht unbeträchtlicher Menge aus, und der Allgemeinzustand des
Patienten zeigte deutlich, dass bereits ein erheblicher Blutverlust Statt
gehabt hatte. — Es lag auf der Hand, dass hier nichts anderes geschehen
konnte, als den Oberschenkel im Hüftgelenk zu exarticuliren ; doch in
dem Zustand, in welchem sich der Patient befand, war daran nicht zu
denken, der neue Blutverlust (die künstliche Blutleere war damals
noch nicht gebräuchlich) bei der sehr eingreifenden Operation hätte
unfehlbar sofort tödtlich werden müssen. Es musste also vor Allem die
Blutung gestillt werden, die voraussichtlich aus einem Eiss der Art. femo-
ralis stammte. Ich versuchte zunächst, die Art. femoralis in der Wunde
zu finden, während dieselbe oben comprimirt wurde; doch waren alle
Muskeln so verschoben, so verdreht, alle anatomischen Verhältnisse so
verändert, dass dies nicht rasch genug gelang, und ich scin-itt daher zu
der Unterbindung der Arterie unterhalb des Lig. Poupartii. Nachdem
dieselbe ausgeführt war. stand die Blutung grösstentheils. doch iuimer
noch nicht vollkomuicn wegen der reichlichen arteriellen Anastomosen,
Vorlesung 12. ('Mpilcl TV. 15<)
und da von einer regelmässigen Bindeneinwicklung- bei der vorliegenden
Zerschmetterung- nicht die Ivede sein konnte, so umschnürte ich dicht
unterhalb der Stelle, wo ich exarticuliren wollte, die ganze Extremität
fest mit einem Tourniquet. Jetzt stand die Blutung; wir wandten ver-
schiedene Mittel an, um den Kranken neu zu beleben; es wurde ihm
Wein, warmes Getränk u. s. w. gereicht, so dass er gegen Abend sicli
so weit erholt hatte, dass die Körpertemperatur wieder die nornialc vvai-
und der Radialpuls sich ganz gut wieder entwickelt hatte. Icli hätte
wolil mit der Operation noch bis zum folgenden 'Vage gewartet, wenn
nicht trotz Ligatur und Tourniquet mit der sich wieder liebenden Herz-
kraft eine wenn auch geringe Blutung aus der Wunde eingetreten
wäre, so dass ich die Besorgniss haben musste, der Kranke könnte sich
während der Nacht verbluten. So machte ich nun also die Exarticulatio
femoris unter geschickter Hülfe meiner Assistenten mit aller mir möglichen
Schnelligkeit. Die Blutung war bei dieser Operation absolut nicht sehr
bedeutend, doch für den schon sehr geschwächten Patienten jedenfalls
zu stark. Anfangs schien Alles gut zu gehen; die spritzenden Gefässe
wurden alle unterbunden, die Wunde vereinigt und der Patient ins Bett
gebracht; bald stellte sich grosse Unruhe und Respirationsnotli ein, die
sich immer mehr steigerte, schliesslich g-esellten sich Krämpfe hinzu und
zwei Stunden nach der Operation verschied der Kranke. — Die Unter-
suchung der Art. femoralis der zerquetschten Extremität zeigte Folgendes:
in dem oberen Drittheil des Oberschenkels fand sich eine zerquetschte
und zerrissene Stelle, welche etwa ein Drittheil des Arterienrohrs ein-
nahm. Sowohl die Fetzen der Tunica intima, als der übrig-en Gefässhäute
und auch das Bindegewebe der Gefässscheide hatten sich in das Arterien-
lumen hineingerollt, und das Blut konnte sich nur mühsam hindurch nach
aussen drängen; das umliegende Gewebe war vollständig mit Blut durch-
tränkt. — Es hatte sieh in diesem Falle kein Gerinnsel in der Arterie
gebildet, da der Ausfluss des Blutes doch noch zu frei war, um es dazu
kommen zu lassen; doch denken Sie sich, die Quetschung hätte die Ar-
terie in ihrer ganzen Circumferenz getroifen, so werden Sie sich vorstellen
können, wie die von allen Seiten in das Lumen derselben gedrängten
Fetzen der Gefässhäute das A.ustreten des Blutes noch schwieriger, viel-
leicht unmöglich hätten machen können; es hätte sich dann ein Thrombus
bilden müssen, welcher das Gefäss verstopft hätte und dann allmählig
organisirt wäre oder durch Fäulniss oder Eiterung zerfallen wäre.
Wäre bei der in diesem Falle vorliegenden theilweisen Quetschung
der Arterie gar keine Blutung erfolgt, wäre z. B. die ganze Quet-
schung ohne äussere Wunde gewesen, so hätte sich vielleicht nur ein
Gerinnsel an der durch die Quetschung rauh gewordenen Stelle gebildet,
ein wandständiges Gerinnsel, ein wandständiger Throm])us; in
diesem Fall hätte die Arterienquetschung mit Erhaltung des Lumens er-
folgen können, ein Vorgang, der in der That beobachtet sein soll.
160 ^ö" 'iß" Quetschwunden und Eisswunden der Weichtheile.
Uebertragen Sie die g-escliilderte Beschaffenheit einer gequetschten
grösseren Arterie auf kleinere Arterien, so wird Ilmen verständlich sein,
wie hier um so leichter theils durch das Einwärtsrollen der spröden,
zerrissenen Tunica intima, theils durch die Zusammenziehung der Tunica
muscularis und durch die Fetzen der Tunica adventitia eine vollständige,
s])ontaue Stopfung des Gefässlumens zu Stande kommt, und dass daher
die Blutung bei solchen gequetschten Wunden ganz fehlen kann. Diese
Erfahrungen haben einen französischen' Chirurgen Chassaignac ver-
anlasst ein Instrument zu erfinden, mit welchem man kranke Theile des
Körpers abquetschen kann: er nennt dies Verfahren ,,Ecrasemeut," das
Instrument „Ecraseur;" es besteht aus einer durch kleine verbundene
Glieder gebildeten starken Metallschnur, welche um den zu entfernenden
Theil umgelegt, und dann langsam mit Hülfe eines Zahnstangen-Mecha-
nismus in eine starke Metallhülse hineingezogen wird. In der That er-
folgt bei richtiger Handhabung des Instrumentes keine Spur von Blutung;
so wenig sympathisch die Methode jeden Chirurgen, anfangs berührte,
weil man Quetschwunden in der operativen Chirurgie so viel wie mög-
lich vermeidet, so ist die practische Brauchbarkeit derselben für aus-
gewählte Fälle ausser allem Zweifel ; die Heilung der durch Ecrasement
erzeugten Wunden erfolgt meist mit ä,usserst geringer örtlicher und all-
gemeiner Keaction; progrediente Entzündungen gesellen sich seltner
zu dieser Art von Wunden als zu reinen Schnittwunden; dennoch wird
das Ecrasement immerhin nur bei einer geringen Anzahl von Operationen
anwendbar sein.
Es ist noch ein Moment zu berücksichtigen, welches die Blutungen
bei ausgedehnten Quetschungen in Schranken hält, nämlich die durch
die Verletzung bedingte Abschwächung der Herzthätigkeit, die' wahr-
scheinlich auf reflectorischem Wege entsteht. Schwer Verletzte befinden
sich, abgesehen von dem Blutverlust und von der Verletzung der Nerveu-
centren, gewöhnlich eine Zeit lang in einem Zustande von Stumpfheit
oder Betäubung; wir haben kein besonderes Wort für diese Form des
Depressionszustandes; der englische Name, verdeutscht „Schock," ist
am meisten gebräuchlich, um diese Zustände grosser Schwäche nach
Verletzungen zu bezeichnen. Der Schreck über die Verletzung und alle
Gedanken darüber, die sich in rapider Folge daran anschliessen, mögen
mit dazu beitragen, eine bedeutende psychische Depression hervorzu-
bringen, die auf die Herzthätigkeit lähmend einwirkt. Doch auch bei
Leuten, die psychisch nicht sehr durch die Verletzung alterirt sind, wie
^man dies bei alten, schon öfter verwundet gewiesenen Soldaten oder bei
sehr phlegmatischen Menschen sieht, bleibt der Effect einer schweren
Verletzung nicht ganz aus, so dass man annehmen muss, dass dem Schock
doch rein reflectorisehe Zustände zu Grunde liegen. Mehr nocli wie die
Verwundungen der Extremität wirken Quetschungen der Baucheiugeweide
deprimirend auf die Thäligkeit der Nervencentren, wie ich Ihnen schon
Vdricsinii;' l^_'. ('Mpilcl IV. {('){
frülicr aiuleutete. — Interessant ist in dieser Beziehung der sogenannte
Klopfversucli von Golz: klopft man einen Frosch wiederholt stark mit
einem Soal])ellstiel auf den Bauch, so wird er wie paralytiscli; die Baucli-
gefässe dehnen sich in Folge Parese ihrer Wandungen stark aus und
nehmen fast alles Blut in sich auf, so dass alle übrigen Gelasse und
auch das Herz blutleer werden und letzteres sich nur ganz schwach zu-
sammenzieht.
So wie der Verletzte sich aus diesem Zustand psychischer und
physischer Depression erholt hat, und die llerzthütigkeit mit früherer
oder selbst mit verstärkter Energie agirt, können dann Blutungen aus
Gefässen auftreten, die anfangs nicht bluteten. Dies ist eine Art von
Nachblutungen, wie sie auch nach Operationen vorkommen, wenn die
Chloroformnarkose verflogen ist. Es muss also der Kranke in dieser Zeit
stets sorgfältig überwacht werden, um solchen nachträglichen Blutungen
sofort zu begegnen, besonders wenn man wegen der Localität der Ver-
wundung den Verdacht hegen kann, dass eine grössere Arterie ver-
letzt sei.
Zunächst w^ollen wir uns wieder mit den örtlichen Vorgängen
an der Wunde selbst etwas genauer beschäftigen.
Wenngleich ohne Zweifel die Processe, welche bei den gequetschten
Wunden Platz greifen, die Veränderungen an der Wundfläche und die
endliche Heilung der Wunde wesentlich dieselben sein müssen, wie bei
den geschnittenen Wunden, so bestehen doch in der Erscheinungsform
dieser Processe in beiden Fällen nicht unerhebliche Verschiedenheiten.
Ein sehr wesentlicher Umstand ist, dass bei den gequetschten Wunden
die Wundränder der Haut und Weichtheile eben durch die Quetschung
in ihrer Ernährung in grösserer oder geringerer Ausdehnung entw^eder
wesentlich beeinträchtigt, oder ganz lebensunfähig geworden sind. Dies
heisöt mit andern Worten mehr anatomisch ausgedrückt : die Circulation, die
Saftströmung und Nerveneinwirkung ist in den Wundrändern gequetschter
Wunden durch die Zerquetschung von Gefässen, Geweben und Nerven
mehr oder weniger aufgehoben. Hierdurch fällt schon die Möglich-
keit einer Vereinigung gequetschter Wundränder per primam
intentionem fort, denn diese verlangt eine vollständige Lebensfähig-
keit an den Wundflächen selbst. Gequetschte Wunden heilen also
immer mit Eiterung,
Diese Beobachtung hat zu der Consequenz geführt, dass man bei
gequetschten Wunden fast nie Nähte anlegt oder feste Vereinigung mit
Pflaster erzwingt. Dies dürfen Sie sich im Allgemeinen als Regel
merken. Es giebt Ausnahmen von dieser Regel, die Sie genauer erst
in der Klinik selbst kennen lernen können, und von denen ich Hmen
nur beiläufig bemerken wäll, dass man zuweilen grosse abgerissene
Billroth chir. Path. u. Ther. 7. Aufl. H
Iß2 Von den Quetschwunden und Risswunden der Weichtheile.
Hautlappen iu ihrer ursprüng-liclien Lage anheftet, nicht in der Erwar-
tung-, eine Heilung- per primam zu erzwing-en, sondern nur, damit solche
Lappen sich nicht gleich anfang-s gar zu weit zurückziehen und zu sehr
einschrumpfen.
Die Granulationsbildung' und Eiterung- kommt in der Folge im Wesent-
lichen wie bei den Wunden mit Substanzverlust zu Stande, nur mit dem
Unterschied, dass die Gewebsbildung langsamer, und man könnte sagen,
an vielen Stellen unsicherer vor sich geht. Es geht freilich auch bei
den geschnittenen Wunden mit Substanzverlust zuweilen eine dünne
oberflächliche Schicht der Gewebe verloren, wenn sie nicht mehr ge-
nügend ernährt wird; doch dies ist unbedeutend zu nennen im Yerhält-
niss zu den massenhaften Ablösungen von Gewebsfetzen, wie sie bei den
gequetschten Wunden eintreten. Viele Tage, oft Wochen lang hängen
hier zuweilen die Fetzen von abgestorbener (nekrotischer) Haut, von
Fascien, Sehnen an den Wundrändern, während andere Stellen bereits
üppig granuliren.
Dieser Ablösungsprocess der todten von den lebendigen Gewebs-
theilen erfolgt in der Weise, dass an der Grenze des unverletzten ge-
sunden Gewebes von diesem aus sich eine zur Granulationsentwicklung
führende Zelleninfiltration und Gefässbildung entfaltet; es entstehen au
der Grenze des Gesunden Granulationen, ihre Oberfläche verflüssigt sich
zu Eiter. Mit dieser Verflüssigung, gewissermaassen der Auflösung und
Schmelzung des Gewebes, muss dann natürlich die Cohäsion der Theile
aufhören und die todten Fetzen, die bis dahin wegen ihres Faserzu-
sammenhangs noch mit dem Lebenden in Coutinuität waren, müssen jetzt
abfallen.
Ein Theil der Wundoberfläche bei den gequetschten Wunden wird
also fast immer brandig, nekrotisch (von vfx^og, todt), gangränös
(von ri ycc/yganm^ der heisse Brand, ygaivco, zerfressen). Alles dieselben
Ausdrücke für Theile, in denen Circulation und Innervation aufgehört
haben, für Theile, die bereits todt sind. Die Stelle, an welcher die Ab-
lösung erfolgt, bezeichnet man mit dem technischen Ausdruck als De-
marcationslinie des Brandigen. Diese Termini technici, die sich auf
jede Art des Brandes beziehen, er möge entstanden seiü, wie er wolle,
mögen Sie sich hier vorläufig merken.
Ich will Ihnen diesen Abstossungsprocess nekrotischer Gewebe durch Eiterung iuhIi
deutliclier durch eine schematische Zeichnung zu machen suchen.
In dem gezeichneten Stück Bindegewebe sei der Wundrand so durcli die Quetsclumg
zerstört, dass die Circulation in ihm aufhört und er nicht mehr ernährt wird: das Blut
ist in den Gefässen geronnen , so weit die Schraffirung der Gefässe in der Zeichnung
reicht. .Jetzt beginnt die Zelleninfiltration und die entzündliche Neubildung sich an dem
äussersten Ende des lebendigen Gewebes zu entwickeln, an der Grenze zwischen a und h,
wo das Gefässsystem schlingenförmig abgegrenzt ist; diese Gefässschlingen erweitern sich,
wachsen durcli Sprossenbildung, vermehren sich; in dem Gewebe nimmt die Intiltration
duixh Wanderzellen immer zu, wie wenn hier der "Wundrand wäre; es entsteht
Vorlosiinn' 12. Cnpilcl IV.
Fig. 44.
//// ^\ /- ( ^^1 / ^ / /
IGl
Abstossungsprocess abgestorbenen Bindegewebes bei Quetschwunden. Vergrösserung 300.
Schematische Zeichnung, a zerquetschter nekrotischer Theil; b lebendiges Gewebe; die
Wundfläche ist an der oberen C4renze von a gedacht.
Granulationsgewebe; dies verflüssigt sich an der Oberfläche, also dicht am abgestorbenen
Gewebe zu Eiter und dann fällt natürlich der nekrotische Theil ab, weil die Cohärenz
mit dem lebendigen Gewebe aufgehört hat.
Durch den Entzündungsprocess mit Granulationsbilduiig-
und Eiterung- erfolgt also die Lösung der brandigen Fetzen.
Ist das todte Gewebsstück abgefallen, so kommt die darunter liegende,
jetzt eiternde Granulationsfläche sofort zu Tage, da sie ja schon vor Abfall
des Nekrotischen fertig ausgebildet war. — Was Sie hier am Bindegewebe
sehen, können Sie ohne weiteres auf die übrigen Gewebe, den Knochen
nicht ausgenommen, übertragen. —
Man kann in vielen Fällen den frischen Wundrändern ansehen, wie
viel von ihnen ungefähr absterben wird, doch bei weitem nicht immer,
und niemals kann man die Grenze des Todten gleich anfangs bis auf
Linien bestimmen.
Die völlig zerquetschte Haut hat meist ein dunkelblau violettes An-
sehen und ist kalt anzufühlen ; in andern Fällen sieht man anfangs nichts
an ihr, doch in wenigen Tagen ist sie weiss entfärbt, völlig gefühllos,
später wird sie grau, oder wenn sie ganz austrocknet, grauschwarz oder
11*
2ß4 Von den Quetschwunden nnd Risswnnden der Weiclitheile.
braunscliwavz. Diese verschiedenen Färbungen liängeu liäuptsiiclilich von
der Menge geronnenen Blutes ab, das in den Gefässen steckt, oder
wegen tlieilweiser Zerreissung derselben in das Gewebe selbst infiltrirt
war. Die gesunde Haut grenzt sich dagegen durch eine rosenrothe. sich
diffus verlierende Linie ab, eine Eöthung, die iliren Grund tlieils in der
collateralen Erweiterung der Capillaren findet, theils auch eine Fluxions-
und Entzündungserscheinung ist, wie wir dies früher genauer besprochen
haben; es ist die sclion früher erwähnte Eeactionsröthung um die Wunde;
denn die lebende Wundfläche beginnt ja erst da, wo das Blut noch in
den Capillaren fliesst.
Weit weniger, oft gar nicht, kann man bei den Muskeln, Fascien
und Sehnen aus ihrem Aussehen von Anfang an bestimmen, wie weil
sie sich ablösen werden.
Die Zeit, welche verfliesst, bis sich Todtes von Lebenden demarkirt
und ablöst, ist bei den verschiedenen Geweben äusserst verschieden. Es
hängt zuvörderst von dem Gefässreichthum der Gewebe ab; je reicher
ein Gewebe an Capillaren, je weicher es ist, je leichter sich Zellen darin
verbreiten und je reicher es seiner Natur nach an entwicklungsfähigen
Zellen ist, um so rascher wird die Granulationsbildung und die Ablösung
des Nekrotischen erfolgen. Alle diese Bedingungen treffen am besten
bei dem Unterhautzellgewebe und den Muskeln zu, am wenigsten bei
Sehnen und Fascien; die Cutis steht in dieser Beziehung in der Mitte.
Am ungünstigsten sind die Bedingungen für den Knochen; hier erfolgt
daher die Trennung von abgestorbenem und lebendem Knochen am lang-
samsten, wovon später. — Der Nervenreichthum scheint bei diesen Pro-
cessen wenig in Betracht zu kommen.
Doch es giebt noch eine Menge anderer Einflüsse, welche die rasche
Ablösung der todten Theile hindern, oder was dasselbe ist, der Granu-
lations- und Eiterbildung hemmend in den Weg treten. So z. B. eine an-
dauernde Einwirkung von Kälte auf die Wunde, wie wir sie durch Auflegen
von Eisblasen erzielen können. Die Gefässe werden durch die Kälte in
Contraction gehalten, die Zellenbewegung, Zellenvermehrung, der Austritt
der Zellen aus den Gelassen geht unter Einwirkung der niederen Tempe-
ratur äussert langsam vor sich. Umgekehrt wirkt die Behandlung mit con-
tinuirlicher hoher Wärme, wie wir sie durch Auflegen von Kataplasmen
erreichen können: hierdurch erhöhen wir die Fluxion in den Capillaren
und zwingen sie zur Erweiterung, wie Sie sich leicht durch die Eöthe
überzeugen können, welche auch in gesunder Haut entsteht, wenn Sie
ein heisses Kataplasma darauf legen; dass ausserdem die höhere Tem-
peratur die Zcllenbewegungen beschleunigt, ist bekannt.
Völlig im Voraus unberechenbar ist der Einfluss der Gesammtcon-
stitution des betrotTeneu Individuums auf die erwähnten localen Processe;
im Allgemeinen kann man zwar sagen, dass dieselben energischer auf-
treten bei kräftigen, starken, jugendlichen, massiger und schlafter bei
Vdi-IcsimR 12. Cipili'l IV. 105
seil wachen Iiidividiiou; (loch täuscht mau sich darin oi'i gemig-. Einen
besonders üblen Verlauf pHeg-en Quetschwunden bei älteren Potatoren
zu nehmen.
Aus dem bisher Gesagten werden Sie schon entnehmen können,
dass die gequetseliten Wunden viel länger zur Heilung- brauchen, als die
meisten einfach geschnittenen •, auch wird Ihnen klar sein, dass es Ver-
hältnisse geben kann, unter denen die Amputation des Gliedes noth-
wendig ist, weil alle Weichtheile der Extremität völlig zermalmt und
•zerrissen sind; es giebt Fälle, wo die Weichtheile so völlig vom Knochen
abgerissen sind, dass dieser nur allein noch vorhanden ist, so dass einer-
seits keine Benarbung erfolgen würde, andrerseits die Extremität, falls
wirklich Heilung nach vielen Monaten oder Jahren erfolgte, ein ganz
unbrauchbarer Theil des Körpers sein würde, und man deshalb besser
thut, ihn gleich zu entfernen. Docli aucli die alleinige vollständige Ab-
reissung der Haut von dem grössten Theil einer Extremität kann unter
Umständen, wenn auch selten, Veranlassung zur Amputation geben, wie
in folgendem Fall : ein etwa zehnjähriges Mädchen gerieth mit der rechten
Hand zwischen zwei Walzen einer Spinnmasclsine; sie zog den Arm
stark zurück, damit derselbe niclit ganz zwischen die Walzen gezerrt
Avürde. Die Hand kam wieder zum Voischein, doch die ganze Haut
vom Handgelenk an bis zu den Fingerspitzen blieb zwischen den Walzen;
die Haut war am Handgelenk rund herum gerissen und nun wie ein
Handschuh von der Hand abgezogen. Als die Patientin in das Spital
gebracht wurde, sah die verletzte Hand wie ein anatomisches Präparat
aus; man sab die Sehnen in ihren Scheiden bei den Flexions- und Ex-
tensionsbewegungen, die unbehindert ausgeführt werden konnten, spielen;
kein Gelenk war eröffnet, kein Knochen gebrochen; was sollte liier ge-
schehen? Eine ziemlich grosse Erfahrung über diese Maschinenverletzun-
gen hat mir gezeigt, dass Finger, die ganz vollständig von Haut entblösst
sind, immer gangränös werden; es wäre nun ein völlig wunder Hand-
stumpf übi'ig geblieben, der im günstigten Falle einen unbeweglichen
benarbten Klumpen dargestellt hätte; ob wirklich dauernde solide Narben-
bildung eingetreten wäre, war zweifelhaft; viele Monate wären darüber
hingegangen, um ein so zweifelhaftes Eesultat anzustreben; unter solchen
Umständen war es besser, die Amputation diclit oberhalb des Handge-
lenks zumachen; dies geschah, und nach 4 Wochen kehrte die Patientin
in ihre Heimath zurück; der Fabrikherr liess der Verletzten eine künst-
liche Hand mit einfachem Mechanismus machen, um den erlittenen
Schaden auszugleichen, so weit es möglich war.
Solche Fälle sind zum Glück nicht häufig; bei ähnlichen Verletzungen
einzelner Finger überlässt man den Process der Abstossung meist sich
selbst, wobei eben nicht mehr verloren geht, als wirklich lebensunfähig
ist; denn im Allgemeinen muss der Grundsatz für die Verstümmelungen
an der Hand festgehalten werden, dass jede Linie mehr oder weniger
\Qß Von den Quetschwunden und Risswunden der Weichtheile.
von gTosser Wichtigkeit ist, dass zumal einzelne Finger, vor allen der
Daumen^ wenn irgend möglich, erhalten werden sollen, da solche Finger,
wenn sie nur einigermaassen functionsfähig sind, für alle Fälle mehr
für den Gebrauch leisten, als die bestgearbeitete künstliche Hand; für
den Fuss und die unteren Extremitäten kommen andere Rücksichten in
Frage, wovon wir zu sprechen haben, wenn wir auf die complicirten
Knochenbrüche kommen.
Wären doch diese, wenn auch traurigen Verstümmelungen und die
langsame Heilung die einzigen Sorgen, die wir um unsere Kranken mit
Quetschwunden haben! Leider giebt es noch eine ganze Eeihe örtlicher
und allgemeiner Complicationen bei den Quetschwunden, die das Leben
direct oder indirect gefährden ! Wir wollen hier nur kurz von einigen
vorwiegend örtlichen Complicationen reden; Ausführlicheres über die
„accidentellen Wundkrankheiten", behalten wir uns für ein besonderes
Capitel vor.
Eine bedeutende Gefahr kann daraus erwachsen, dass die auf der
Wunde sich zersetzenden faulenden Gewebe einen schädlichen Einfluss
auf die benachbarten unverletzten Theile ausüben. Faulige Stoffe wirken
als Fermentkörper auf andere organische Verbindungen, zumal auf
Flüssigkeiten, die solche enthalten ; sie leiten die Zersetzung rascher ein,
als dieselbe spontan erfolgt wäre. Man darf sich wundern, dass eine
derartig ausgedehnte Fäulniss dei- verletzten, wenn auch nicht gleich
durch die Verletzung völlig ertödteten Theile nicht noch viel öfter Unheil
anrichtet, als es wirklich geschieht. In den meisten Fällen aber erfolgt
die Gerinnung und Verklebung der Weichtheile und die regenerative cellii-
läre Action an der Grenze der lebenden Gewebe so schnell, dass durch
sie bald eine Art von lebendigem Wall gegen aussen gebildet wird ;
diese Neubildung lässt nicht leicht faulige Stoffe durch, besonders
ist die einmal gebildete Granulationsfiäche ausserordentlich resistent
gegen solche Einflüsse. Es ist in vielen Gegenden im Volk gebräuch-
lich, Geschwüre mit Kuhmist und andern schmutzigen Stoffen zu be-
decken; fast nie entsteht dadurch ausgedehnte Fäulniss auf granulireuden
Wunden. Bringen Sie aber solche Substanzen auf eine frische Wunde,
binden Sie dieselben fest auf die Wunde, so dass der faulige Stoff auch
noch mechanisch in die Gewebe imprägnirt wird, so werden die Wunden
in vielen Fällen brandig werden bis zu der Tiefe, in welcher dann eine
energische Gewebsthätigkeit der Fäulniss entgegentritt.
Die Ursache, dass faulige Substanzen auf fi-ische Wunden so schädlich, auf graiiu-
lirende Wunden fast gar nicht einwirken, suche ich eines Theils in der sehleimigen Be-
schaffenheit des oft mehre Linien dicken Graniüationsgewebes, andern Theils darin, dass
die puti'iden Substanzen hauptsächlich durch die Lymphgefässe resorbirt
werden. Spritzen Sie einem Hunde eine Drachme fauliger Fhissigkeit in das Unter-
hautzellgewebe, SU wird heftige Entzündung, Fieber und Septhämie die Folge sein. Haben
Sie bei einem Hunde eine grosse Granulationsfläche erzeugt und verbinden diese täglich
mit in Jauche getränkter Charpie, so wird dies gar keine merklichen Folgen haben. An
VdrlcstuiK 12. rapitcl TV. 107
(lor Grenze der entzüiidlieheti Neuhildiiiig sind di(! LymphfjefH.sse gi;scldf)s.seii; an der
(iratiulafioiisolierfläehe sind keine oftenen Lynip?iffelTi,sse, daiier erfolgt, von liier ans keine
Resorption. Die letztere Anseiinuung ist lebhaft aiigi^griflen worden; man iiat i)esonders her-
vorgehoben, dass die pntriden Stoffe docli inuner nur in geiiistem Zustande wirksam sein
könnten, und dass kein Gnind vorliauden sei, warum sie dann nicht (hirdi die CapiMar- und
Venenwandungeu el)enso leicht durchdringen sollten, wie in die Lymphbahnen eindring(Mi.
Ic'-i kann dieRiclitigkcit dieser Reflexien zugeben, ohne deshalb d(Mi eben mitgethcilten Er-
klärungsversuch d(>r erwähnten allgemein bekannten Beobaclitungen ganz fallen zu lassen.
Die Fäulniss an der Luft ist immer vergesellschaftet mit der Entwicklung von kleinsten
Elementarorganismen, welche den niedersten Pflanzengattungen, den nur mikroskopisch
erkennbaren Filzen und Algen angehören. Es sind dies tlieils kleinste Kügelchen
(Mikrococcus , uix(>6s klein und ö y.6y.>!0s der Kern), theils kleinste Stäbehen (Bacterien,
von 10 i3(iy.T>'ii)io)' das Stäbchen), welche isolirt, oft zu zweien zusammenhängend gefunden
werden , zuAA^eilen Ketten von 4 — 20 und mehr Gliedern bilden (Streptococcos . von
6 (TTQfTJTo^ die Kette und 6 xöyaog), häufig durch eine von ihnen ausgeschiedene
Schleimmasse (Coccoglia, von r.öy.aog und >) ykia oder ykoiä der Leim) in unregelmässigen
kugligen und cylindrischen Formen zusammengeballt sind.
) Fig. 45.
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" -^^'''-"' .<!«f^- ^r
OOtfc ct„-o
C'-.
G
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.\
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a Microcbccos (Monaden Hueter, Microsporen Klebs); b Coccoglia oder Gliacoccos
(Zooglaea Cohn); c Streptococcos (Torula); d Bacterien; e Vibrio; / Streptobacteria
(Leptothrix Hallier). Vergrösserung 300 — 500.
Diese Elemente sind einerseits in ihrer Grösse sehr verschieden, indem sie zwischen
dem Durchmesser eines mit den stärksten Vergrösserungen kaum noch wahrnehmbaren
blassen Kügelchen und demjenigen eines Eiterzellenkerns schwanken, andererseits sind sie
bald beweglich, bald ruhend; sie finden sich immer, wenn auch oft nur in sehr geringen
Mengen in den gangränösen Fetzen, welche den Wunden vor ihrer vollständigen Reini-
gung anhängen. Man schreibt diesen kleinen Pilzen den grössten Antheil an dem Zu-
standekommen derjenigen Art von Zersetzung zu, welche man Fäulniss zu nennen pflegt,
und die sich vorzüglich durch Entwicklung stinkender Gase dokumentirt. Sie spielen bei
der Fäulniss die gleiche Rolle wie die Gährungspilze bei der Gährung des Traubensaftes
und vieler anderer Obstsäfte; sie scheinen die sogenannten Fermente, welche die Fäulniss
der Köi'persäfte in der allgemein bekannten Art, und mit den bekannten Endresultaten
erzeugen, aufzunehmen, und bei ihrer rapiden Vermehrung auch ebenso rasch zu vermehren.
XßS Von den Quetscbwimden und Risswunden der Weichtheile.
Ob die Fänlnissfennente nnr an sie gebunden sind, oder ob es aucb Fäulnissfermente
ausser ihnen giebt, Aveiss man nicbt. Ich übergebe die Theorien, welche man zur Er-
klärung dieser geheimnissvollen Processe lebendiger Action ersonnen hat sowie die Ein-
würfe gegen die Richtigkeit der Behauptung, dass nur durch die erwähnten Organismen
Fäulniss erzeugt werde, sondern begnüge mich damit, Ihnen zu sagen, dass seit den mit
so ausserordentlicher Genialität und staunenswerther Consecjuenz durchgeführten Versuchen
von Pasteur über Generatio spontanea, Gährung und Fäulniss, trotz des lebhaften Wider-
spruches V. Liebig's von vielen Chemikern angenommen wird, dass alle die Vorgänge,
welche wir allgemein als Fäulniss und Gährung bezeichnen, nur imter Vermittlung pflanz-
licher Organismen entstehen, womit natürlich das Vorkommen anderer Arten der 25er-
setzung ohne Fermentwirkungen, die auch mit Entwicklung stinkender Gase verbunden sein
können, nicht in Abrede gestellt Avird. — Hiervon ausgehend liegt es auf derHand, dass
diese Organismen leichter in offene Lymphräunie eindringen als Blutgefässwandungen durch-
dringen werden, und somit leichter in die Lymphbahnen als direct in die Blutbahnen
gelangen. Die Zersetzung, welche diese Organismen vermitteln können, ist mit Bildung
von Ammoniak, Milchsäure, Buttersäure und manchen anderen Stoffen verbunden, welche
eine durch Experimente nachgewiesene schädliche, stark phlogogene Wirkung auf die
Gewebe, so wie giftige Wirkungen auf den ganzen Körper ausüben ; das Eindringen dieser
Organismen, deren mechanische Irritation wegen ihrer Kleinheit für die meisten Gewebe
(ausser etwa für die Cornea) kaum in Betracht kommen dürfte, ist also eine Gefahr, welche
mit ihrer Vermehrung bedeutend zunimmt. Zu dieser Vermehrung ist neben vielen anderen
Dingen besonders viel Wasser nöthig.
Je mehr die Gewebe von Flüssig'keit durchtränkt sind, und je mehr sie
in ihrer lebendigen Thätigkeit durch den Act der Quetschung beeinträchtigt
sind, um so mehr sind sie bei ihrem Halbleben, ihrer vita minima zur Fäul-
niss disponirt. Die Fälle also, in welchen nach Quetschnngeu starke öde-
matöse Anschwellungen auftreten, sind die bedenklicheren in dieser Be-
ziehung; ein solches Oedem aber entsteht gar leicht, weil der Blutlauf in
den Venen und die Lymphströmungen in den Gewebsstücken und Lymphge-
fässen durch ausgedehnte Zerreissung und Zerquetschung gehemmt Avird,
und zwar oft in einer Ausdehnung, welche die der zufällig mit der Quet-
schung gesetzten Wunde weit überschreitet. Denken Sie sich, ein Vorder-
arm geräth unter einen viele Centner schweren Stein, so ist vielleicht eine
nur kleine Hautwunde da, doch ausgedehnte Zermalmung der Muskeln,
Quetschung von Sehnen und Fascien am ganzen Vorderarm, Quetschung
und Zerreissung der meisten Venen; eine starke ödematöse Ansch-wellung
wird die rasche Folge sein, da das Blut, von der Arterie in die Ca-
pillaren mit vermehrter Energie getrieben , nicht auf dem gewohnten
Wege durch die Venen zurück kann, und somit das Serum in grösserer
Menge, und unter stärkerem Druck, durch die Capillarwandungen in die
Gewebe austritt. Welch' ein Tumult im Kreislauf, in der ganzen Ernäh-
rung! Bald muss es sieh zeigen, wo das Blut iil)erhaupt noch circuliren
kann, und wo nicht; an der Wunde beginnt zunächst unter dem Einfluss
der Luft und der durch sie zugeführten Fermente eine Zersetzung der
lebensunfähigen Tlieile, diese setzt sich auf die stagnirende Säfte fort,
und im unglücklichen Fall greift sie immer weiter um sich, die ganze
Extremität bis zur Schulter schwillt fürchterlich an, die Haut wird gläu-
Vi.ilcsuii« ll'. Ciipiirl IV. lf)()
zend rotli , gespannt, sclinicrzhaft, bedeckt sich niit'Blasen, denn aiicli
unter die Epidermis tritt Serum aus den Capillarg-classen der Haut. Alle
diese Erscheinungen pflegen am dritten Tage nach der Verletzung oft
mit turchtbarer l\ai)idität sich zu entfalten. Die ganze Extremität kann
i\i Folge dieser Cirkulationsstörung brandig werden; in anderen Fällen
sterben nur die Fascien, Sehnen und einzelne llautfetzcn ab, es folgt
Zelleninliltration des gesammten Bindegewebes der Extremität, (des
Unterhautzellgewebes, des Perimysiums, Neurilems, der Gefässscheiden,
des Periosts u. s. w.), die zur Eiterung führt; gegen den 6. bis 8. Tag
kann die ganze Extremität Aollig von Eiter durclil rankt sein, der sich
auch bereits in vollster Zersetzung befindet. — Es wäre in solchen
Fällen theoretisch eine Heilung denkbar, d. h. man könnte sich vor-
stellen, dass der Process sich doch endlich begrenzt und bei geliörig
angelegten Hautöffnungen der Eiter und die abgestorbenen Gewebe sich
entleeren könnten. Doch dies ist selten so in der Praxis; besteht der
geschilderte Zustand in der beschriebenen Ausdehnung, so kann meist
nur schleunige Amputation den Kranken retten und auch diese nicht
immer. Man kann diese Art der Infiltration als jaucliig-seröse bezeichnen;
dies ist sie nur im Anfang, bald wird sie jauchig eitrig, endlich rein
eitrig. Im Wesentlichen ist es eine durch locale septische Infection er-
zeugte Zellgewebsentziindung, eine septische Phlegmone, deren
Producte wieder eine grosse Neigung zur Zersetzung haben, die schliess-
lich aber zu ausgedehnter Eiterung und Gevvebsnekrose führt, falls das
Individuum die Blutinfection, welche dabei nie ausbleibt, übersteht. Je
früher sich solche Processe begrenzen, um so besser ist die Prognose;
mit der Progression der örtlichen Erscheinungen steigert sich die Todes-
gefahr für den Verletzten.
Noch einmal müssen wir jetzt bei der Abstossung abgestorbener
Gewebstheile auf die Arterien zurückkommen. Es kann sich ereignen,
dass eine Arterie der Art gequetscht wird, dass ihre Continuität nicht
gerade getrennt ist, und das Blut in ihrem Lumen weiter fliesst, docli
aber ein Theil der Gefässwandung lebensunßiliig wird und sich am
6. bis 9. Tage, auch wohl noch später loslöst. So wie dies geschieht,
wird sofort eine der Grösse der Arterien und der Grösse der Oeffnung
entsprechende Blutung erfolgen. Diese in der Eegel plötzlich auftreten-
den späteren Nachblutungen sind äusserst gefährlich, weil sie den
Kranken unvermuthet, zuweilen im Schlaf treffen und nicht selten erst
bemerkt werden, wenn bereits viel Blut geflossen ist. Ausser auf die
erwähnte Weise kann eine späte arterielle Nachblutung auch noch durch
Vereiterung des Thrombus oder der Arterienwand erfolgen; einen Fall
letzterer Art beobachtete ich noch in der dritten Woche nach einer
grossen Operation in der unmittelbaren Nähe der Art. femoralis dicht
unter dem Lig. Poupartii, wobei die Arterie jedoch nicht verletzt wurde.
Die Blutung trat bei dem Patienten in der Nacht auf; da die Wunde
170 Von den Quetschwunden und Risswunden der Weichtheile.
durcliau>s gut aussali, der Patient sclion lange die ganze Naclit hindurch
g-esclilafen hatte, und wir noch Tags zuvor besprochen hatten, dass" er
am nächsten Tage aufstehen könne, war keine Wärterin in dem Privat-
zimmer des Kranken; er erwachte mitten in der Nacht (am 22. Tage
nach der Operation), fand sich im Blute schwimmend, schellte sofort
nach der Wärterin; diese holte augenblicklich den Assistenzarzt der Ab-
theilung, welcher den Kranken indess schon bewusstlos fand, er compri-
mirte sofort die Arterie in der Wunde und es geschah, während ich
geholt wurde, Alles, um den Kranken zu beleben: ich fand denselben
pulslos, bewusstlos, doch athmend, auch der Herzschlag war noch deut-
lich zu hören ; während ich mich anschickte, die Art. femoralis zu unter-
binden, verschied der Kranke ; er hatte sich verblutet. Ein sehr trauriger
Fall! Ein sonst kräftiger, gesunder Mann, in der Blttthe seiner Jahre,
kurz vor der Genesung, musste auf diese elende Weise sein Leben enden!
Mich hat selten ein Fall so deprimirt! Und doch konnte Niemand ein
Vorwurf gemacht werden, die Verhältnisse waren zufällig sehr günstig
gewesen; die Wärterin war wachend gerade im Nebenzimmer, der Arzt
nur eine Treppe tiefer in demselben Hause und in kaum 3 — 4 Minuten
bei dem Patienten; doch die Blutung musste schon längere Zeit bestan-
den haben, ehe der Patient erwachte, erst durch die Nässe, die er im
Bette fühlte, war er erwacht. Bei der Section fand sich eine kleine
Stelle der Art. femoralis vereitert und perforirt. — Zum Glück ist es
nicht immer eine Femoralis, die blutet, auch kommen die Blutungen nicht
immer gleich so toll, nicht immer in der Nacht; wir dürfen uns daher
nicht durch einen solchen seltenen Unglücksfall die Freude an unserer
Kunst verkümmern lassen. Gewöhnlich fangen solche arteriellen Blutun-
gen aus eiternden Wundhöhleu zuerst unbedeutend an und stehen bald
auf Styptica oder Compression; dann aber kommt die Blutung nach
einigen Tagen heftiger und ist schwieriger zu stillen; endlich wiederholen
sich die Hämorrhagien schneller und schneller, und der Kranke wird
immer aufgeregter, immer elender. — Bei allen starken arteriellen Nach-
blutungen ist sofortige Compression das erste Mittel; jeder Wärter
und jede Wärterin sollte die Arterienstämme der Extremitäten zu
comprimiren verstehen; diese Leute verlieren jedoch leicht den Kopf,
wie im obigen Fall, und laufen selbst in der ersten Angst zum Arzt,
anstatt selbst zu comprimiren und einen Andern zu schicken. Die Com-
pression ist hier nur ein palliatives Mittel; es kann sein, dass die Blutung
danach steht; ist sie aber bedeutend, und sind Sie sicher, woher
die Blutung kommt, so rathe ich Ihnen dringend, sofort die
Unterbindung des betreffenden Arterienstammes in der Wunde,
oder wenn dies nicht rasch ausführbar ist, in loco electionis
zu machen, denn dies ist das einzige sichere Mittel; Sie müssen um
so eher dazu schreiten, Avenn der Patient schon erschöpft ist; bedenken
Sie, dass eine zweite, eine dritte solche Blutung gewiss den Tod herbei-
I
Vurlcsmif,' 12. Capilul IV. 171
führen wird. Dni-uni sollen Sie in den Opcrationseursen vor allen an-
deren Operationen die Arterienunterbindungen Üben, damit »Sie dieselben
so sieher finden, dass Sie diese Operation halb im Schlaf machen können,
Orade in diesen Fällen wird viel gefehlt mit unnüthiger Zeitverschvvcn-
dung durch Styptica, die hier meist nur palliativ oder gar nicht wirken;
eine Arterienunterl)induug ist für denjenigen, der die Anatomie im
Kopfe und seine Zeit gut in den Operationscursen benutzt hat, eine
Kleinigkeit! Anatomie! meine Herren! Anatomie! und wieder Anatomie!
Ein Menschenleben hängt oft an der Sicherheit Ihrer Kenntnis» in dieser
Wissenschaft.
Da wir nun doch von Nachblutungen reden, so wollen wir auch
gleich hier die parenchymatösen Nachblutungen erwähnen. Das
Blut quillt aus den Granulationen wie aus einem Schwamm; nirgends
sieht man ein blutendes, spritzendes Gefäss, die ganze Fläche blutet,
zumal bei dem jedesmaligen Wechsel des Verbandes. Dies kann ver-
schiedene. Ursachen haben; eine grosse Brüchigkeit, eine leichte Zer-
stövbarkeit der Granulationen, also mangelhafte Organisation derselben
kann daran Schuld sein, und diese mangelhafte Organisation der Granu-
lationen kann wiederum ihre Grundursache in einer allgemeinen Krank-
heit des gesammten Organismus haben (Bluterkrankheit, Scorbut, sep-
tische, pyohämische Infection). Doch auch locale Gründe um die Wunde
herum sind denkbar, z. B. wenn sich nach und nach ausgedehnte Blut-
gerinnungen in den umliegenden Venen bildeten, würde die Circulation
in den Granulationsgefässen so beeinträchtigt werden, der Blutdruck so
zunehmen, dass nicht allein Serum aus denselben austreten könnte,
sondern auch Gefässrupturen entstehen würden; ich habe freilich bis
jetzt keine Gelegenheit gehabt, dies durch Sectionen bestätigt zu finden,
doch habe ich überhaupt sehr selten solche parenchymatösen Nachblutungen
gesehen. Die letzte Erklärung klingt sehr plausibel; sie stammt, so viel
ich weiss von Stromeyer, er nennt solche Blutungen „phlebostatische."
Je nach den Ursachen kann es schwieriger und leichter sein, solche
Blutungen zu stillen, in den meisten Fällen werden Eis, Compression,
Styptica hier am Platze sein, in bedeutenderen Fällen auch die Unter-
bindung des Arterienstammes, wenngleich diese zuweilen im Stich gelassen
hat. Diese. Art von Blutungen tritt meist bei sehr herunter gekommenen,
durch Eiterung und Fieber erschöpften Individuen auf und ist daher oft
von schlimmer Bedeutung für den allgemeinen Zustand des Kranken.
272 Von den Quetschwunden und Riss wunden der Weichtheile.
Vorlesung 13.
Progressive Eiterungen von Quetschwunden ausgehend. — Secundäre Entzündungen der
Wunden; ihre Ursachen: locale Infection, — Febrile Reaction bei Quetschwunden. Nach-
fieber, Eiterfieber, Fieberfrost, seine Ursachen. — Behandhing der Quetschwunden:
Immersion, Eisblasen, Irrigation; Kritik dieser Behandlungsmethoden. — Incisionen,
Gegenöifnungen. Drainage. Kataplasmen. Ofl'ne Behandlung der Wunden. — Prophylaxis
gegen die secundären Entzündungen. — Innerliche Behandlung Schwerverwundeter.
Chinin. Opium. — Risswunden, subcutane Zerreissung von Muskeln und Sehnen, Aus-
reissungen von Gliedmaassen.
Die Granulationsfläclie, welche sich bei einer gequetschten Wunde
ausbildet, ist meist sehr unregelmässig geformt und bildet oft viele
Ecken und Taschen; die Quetschwunde geräth ja nicht allein an ihrer
Oberfläche in Eiterung, sondern auch die umliegenden, gequetschten
Theile eitern; die Haut in der Umgebung der V\^unde wird sich also oft
von Eiter unterminirt zeigen; zwischen die Muskeln, an den Knochen
eutlang, in die Sehnenscheiden verbreitet sich manchmal unvermuthet die
Entzündung und Eiterung, sei es, dass auch diese Theile durch die Ver-
letzung betroffen waren, sei es, dass der gebildete Eiter von den Lymph-
gefässen resorbirt wird, sich zersetzt und dadurch selbst die Entzündung
erregt. Zum Glück stehen auch solche Processe nicht »selten am Ende
der zweiten oder dritten Woche still; doch kann sich die Progression
des destructiven Eiterungsprocesses auch noch protrahiren, er kriecht in
der Continuität der Sehnenscheiden und des Zellgewebes weiter, neue
Eiterheerde zeigen sich bald hier, bald dort in der Tiefe; der verletzte
Theil bleibt geschwollen, ödematös, die Granulationen sind auf der Ober-
fläche schmierig gelb, gequollen, schwammig; wo man in der Nähe der
Wunde drückt, fliesst Eiter aus kleinen oder grösseren Oeffnuugen, die
sich spontan gebildet haben, mühsam aus, und dieser Eiter, der in der
Tiefe stagnirt, ist, nicht selten dünn, übelriechend. Dauert dieser Process
lange, so wird der Kranke elender und schwächer, er fiebert lebhaft und
dauernd; eine anfangs vielleicht unbedeutend erscheinende Wunde, etwa
in der Nähe der Hand, hat eine erschreckend starke AnschAvellung ver-
anlasst, und einen schweren Allgemeinzustand herbeigeführt. Zumal
sind es die Sehnenscheiden in der Nähe von Hand und Fuss, wo gern
so heimliche, tiefe Eiterungen weiter und w^eiter um sich greifen, und
von denen aus sich die Entzündung auch wohl auf Hand- und Fuss-
gelenk ausbreiten kann, ebenso wie auch umgekehrt Gelenkentzündungen
an den Extremitäten leicht auf die Sehnenscheiden überspringen. Diese
Zustände können eine sehr bedenkliche AYcudung nehmen, und Sie
müssen dabei sehr auf der Hut sein. Durch dauerndes Fieber, sowie durch
täglichen bedeutenden Eiterverlust können auch die kräftigsten Menschen
Vorlosimn- 1?,. ('ni)ilol TV. 1 7;)
in einiii'en Woclicn f'iirclithar ;i])iii;iii,'('ni iiiul iiiitci- iM-scIiciiimi^i^'en von
lohrileni Marasmus sterlxMi.
Wir kennen nun zwei KntziiiKlung'sforniou, welche zu den (^uetscli-
AYunden liinziikonnnon können: 1) die, rai)id prog-ressive sejitisehe Zell-
g-ewcbecntziindung, welche im Laufe der ersten o — 4 Tage (selten vor
24 Stunden nach der Verletzung und ebenso selten nach dem 4. 'J^age)
in der Wunde auftritt, und welche thoils das unmittell)are Resultat der
Verletzung ist theils durch locale Infection mit faulenden Säften und
Fäulnissfermenten bedingt ist, die sich in den an der Wundfläche
nekrotisirenden Geweben entwickeln; 2) die progressive eitrige Zcll-
gewebsentziindung, welche zumal bei Hand- und Fusswunden nocli
während der Reinigung der Wunde von nekrotischen Gewebsfetzen zu
der Verletzung hinzukommen kann, ohne dass der Eiter dabei jauchig
faul wäre, wenn sich dabei auch oft Buttersäure in ihm biklet.
Wenn nun die Wunde bereits vollkommen g-ereinigt ist und granulirt,
Avenn der Entziindung'sprocess sich begrenzt hat, die Wunde schon anfängt
zu benarben, dann, werden Sie meinen, kann doch nichts mehr an ihr
geschehen; leider ist dem nicht so; auch jetzt kann neue Entzündung
mit schweren Folgen auftreten. Diese später, selbst mehre Wochen nach
der Verletzung, zuweilen so unvermuthet wie ein Blitz aus heitrer Luft
auftretenden secundären progressiven Entzündungen in und an
eiternden Wunden sind von grosser Wichtigkeit und oft von sehr
grosser Gefahr; sie haben fast immer den eitrigen Charakter und können
ebenso häufig wie die primären progressiven Eiterungen durch sehr inten-
sive, phlogistische, eitrige Allgemeininfection tödtlich werden, in manchen
Fällen auch zugleich durch die Gefahr der Localität, so besonders bei
Kopfwunden. Diese Fälle haben etwas so Frappantes, so Tragisches,
dass sie uns besonders beschäftigen müssen. Denken Sie sich, Sie haben
einen Fall von schwerer Quetschung des Unterschenkels mit Fractur
über die ersten Gefahren glücklich hinübergebracht: der Patient ist fieber-
frei, die Wunde granulirt vortrefflich, benarbt sogar schon. Da plötzlich
in der 4. Woche fängt die Wunde an zu schwellen, die Granulationen
werden croupös endlich fibrinös infiltrirt (diphtheritisch), der Eiter dünn,
die ganze Extremität schwillt, Patient hat wieder heftiges Fieber, viel-
leicht mit wiederholten Frösten; die Erscheinungen können vorübergehen,
und Alles kann wieder ins normale Geleis kommen, doch oft geht es
auch übel aus; in wenigen Tagen kann dabei der kräftigste gesunde
Mann eine Leiche sein. — Einen hierher gehörigen Fall beobachtete ich
in Zürich bei einem Commilitonen mit einer Kopfwunde; er möge Ihnen
als warnendes Beispiel dienen. Der junge Mann bekam eine Hiebwunde
über den' linken Scheitel, der Knochen war ganz oberflächlich ange-
schlagen ; die Wunde heilte in kurzer Zeit per primam, nur eine kleine
Stelle eiterte; da sich der Verletzte vollkommen wohl fühlte, so achtete
er der kleinen W^unde nicht, ging aus und betrachtete sich als völlig
174 Von den Quetschwunden und Eisswunden der Weichtheile.
gesund. Plötzlicli in der 4. Woche bekommt er nach einem Spaziergang
heftiges Kopfweh und Fieber, am folgenden Tage findet sich unter der
Narbe etwa ein Theelöffel von Eiter angesammelt, der durch eine Incision
entleert wurde; dies hatte nicht den gehofften günstigen Effect auf den
Allgemeinzustand, das Fieber blieb gleich heftig, am Abend traten
Delirien, dann Sopor ein, am vierten Tage war der blühende Mann todt.
Es war leicht zu diagnosticiren, dass hier eine eitrige Meningitis vorlag.
Dies bestätigte sich auch bei der Section; wenngleich der Knochen an
der erbsengross entblössten Stelle, die so lange eine unbedeutende
Eiterung unterhalten hatte, nur ganz wenig durch geringe eitrige Infil-
tration entfärbt war, so war doch die Eiterung auf, in und unter der
Dura mater grade an der der Wunde entsprechenden Stelle entschieden am
stärksten, so dass die neue Entzündung unzw^eifelhaft von der Wunde
ausgegangen war. Einen ganz ähnlichen, ebenfalls tödtlich verlaufenen
Fall sah ich vor kurzem hier in Wien in der Privatpraxis bei einem
Mann, der mehre Wochen zuvor eine scheinbar unbedeutende Wunde
durch Glasstücke einer gesprungenen Sodawassertlasche hoch oben arf
der Stirn an der Grenze des Haarwuchses erhalten hatte; er war bis
sechs Tage vor seinem Tode vollkommen wohl gewesen, und seinen
Geschäften nachgegangen.
Die Entzündungen, welche unter solchen Umständen eintreten,
tragen, wie bemerkt, meist einen diffus eitrigen Charakter, doch kommen
auch andere Formen hinzu oder treten selbstständig auf, nämlich eine
ulcerös diphtherische Form der Hautentzündung, der s. g. Hospital-
brand, die Entzündung der Lymphgefässstämme (Lj'-mphangoitfs) und
eine specifische Form von Capillarlymphangoitis der Haut, das Erysipel
oder die erysipelatöse Entzündung, endlich auch die Venenentzün-
dung (Phlebitis), nicht selten sind alle diese Processe gemischt neben
einander zu beobachten. Wir werden diese Krankheiten später bei den
accidentellen Wundkrankheiten genauer studiren. Hier müssen uns aber
noch die Ursachen der früher ermähnten secundären Entzündungen
beschäftigen, ehe wir zur Therapie der Quetschwunden übergehen ; freilich
greifen wir auch dabei etwas vor. Es hängen alle diese Entzündungs-
formen und auch ihre Rückwirkungen auf den Organismus unter ein-
ander so zusammen, dass es unmöglich ist, die einen zu besprechen, ohne
die andern zu erwähnen.
Als Ursachen für die secundären Entzündungen in und um eiternde,
in Heilung begriffene Wunden lässt sich Folgendes anführen. 1) Heftige
Congestion zur Wunde, eine solche kann durch eine starke Bewegung
des verletzten Theils oder durch starke allgemeine Körperanstrengung
veranlasst werden, ebenso durch aufregende Getränke, heftige Gemüths-
bewegung, kurz durch Alles, was eine heftige Excitation hervorruft; bei
den Kopfwunden sind solche Congestionen ganz besonders gefährlich.
Auch Stauungshyperämien, z. B. durch einschneidende Verbände können
VorlpsiiiiK 13. Ciipifcl TV. 175
in g'leiclier Weise sehr scluidlicli wirken. 2) I^ocale oder ailg-cmeine
Erlvilltung; über die Erkilltiing- als phlog-ogcnes rrincip wissen wir
fast niclits als die einfache Thatsache, dass unter gewissen nicht näher
7A\ definirenden Umständen eine plötzliolio 'reni}teraturverändening I^^nt-
zilndungen, zumal an einem locus niinoris resistcntiae eines Individuums,
erzeugt; bei einem Verletzten ist die Wunde inmier als ein s, g. locus
minoris resistcntiae zu betrachten. Die Gefahr der Erkältung- bei Ver-
letzten ist gewiss früher in hohem Grade überschätzt worden; ich weiss
kaum sichere Beispiele davon aufzubringen. 3) Mechani sehe Reizung
der Wunde. Diese ist von grosser Wichtigkeit. Durch die unverletzte
Granulation wird der gute, nicht ätzende, unzersetzte Wundeiter nie
resorbirt ; werden die Granulationen aber zerstört durch mechanische
Manipulationen, z. B. durch unzweckmässiges Verbinden, vieles Sondiren
und dergleichen Proceduren, bei denen die Wunde immer von Neuem
blutet, so können neue Entzündungen dadurch angeregt werden. Die
etwa in der Wunde steckenden fremden Körper spielen dabei auch eine
grosse Eolle, z. B. Glassplitter, scharfe Blei- oder Eisenstücke, scharfe
Knochensplitter; für die ersten Processe, die an der Wunde auftreten,
hat die Gegenwart solcher fremden Körper weniger Bedeutung, doch
wenn theils durch Muskelbew^egungen, theils durch die Bew^egung, welche
dem Gewebe von den Arterien mitgetheilt wird, die scharfen Kanten
eines Fremdkörpers fortwährend au dem Gewebe reibend sich bewegen,
dann tritt nach einiger Zeit doch eine heftige Entzündung auf. —
4) Chemische fermentartige Wundreize, hier nenne ich zunächst
die weichen fremden Körper, z. B. Zeugstücke, Papierpfröpfe, die bei
Schusswunden in die Gewebe mit eindringen; diese Substanzen impräguireu
sich mit den Wundsecreten, mit denen in Verbindung die organischen
Stoffe (Papier, Wolle) sich zersetzen und nun geradezu ätzend oder
fermentirend in der Wunde wirken. Ich möchte glauben, dass auch die
nekrotischen Knochensplitter mehr noch chemisch als mechanisch schädlich
"wirken; sie enthalten immer in den Haversischen Canälen oder im Mark
einige organische faulende Substanzen; alle solche nekrotische Knochen-
stücke stinken jauchig, wenn man sie extrahirt; wird durch die scharfen
Kanten eines solchen Knochenstücks die umgebende Granulationsmasse
theilweis zerstört, so tritt die Jauche aus dem Knochenstück in die
geöffneten Lymphgefässe oder vielleicht auch in die Blutgefässe ein,
' und erregt so nicht allein locale , sondern auch zugleich allgemeine
lufection. Necrotische Sehnen- und Fascienfetzen in der Tiefe eiternder
Wunden können die gleichen Folgen nacb sich ziehen, w^enngleich dies
seltner vorkommt. — Es finden sich zumal in Spitälern seltne Fälle, in
welchen man keine der genannten Ursachen aufzufinden im Stande ist;
solche Ereignisse erregen dann begreiflicherw^eise ganz besonderen
Schrecken, und man hat sie durch einen ganz besonderen schädlichen
Eiufluss der Spitalluft erklären wollen, zumal solcher Spitalluft, die mit
XIQ Von den Qnetschwnnden nnd Eisswunden der Weichtheile.
Eitevg-ei'uch erfüllt ist. Vielerlei Gründe sprechen dagegen, dass die
schädlichen Snbstanzen gasförmig sind; wenn man stark ventilirt, so ist
die Luft im Spital wohl rein zu halten, und doch schützt dies nicht
gegen die in Rede stehenden üblen Ereignisse; auch kann man durch
keines der aus Eiter oder fauligen Substanzen sich entwickelnden Gase
Entzündungen erzeugen, nur etwa durch Schwefelwasserstoff, wenn man
es in Wasser aufgefangen hat und dies ins Unterhautzellgewebe spritzt.
Faulige Flüssigkeiten und Eiter von anderen Kranken wird man nicht
absichtlich auf andere Wunden bringen; dass die Umgebung der Wunde
unter Umständen von dem Wundeiter inticirt und in neue Entzündung
versetzt werden kann, haben wir früher erörtert. Es bleibt also kaum
etwas übrig, als anzunehmen, dass die schädlich wirkenden Substanzen
trocken, staubförmig sind; sie können freilich in der Spitalluft schweben,
sie können aber auch im Verbandzeug, in der Charpie, in den Compressen
stecken, mit denen wir die Wunden verbinden, sie können an den
Instrumenten, an den Pincetten, Sonden, Schwämmen haften, mit denen
wir die Wunden berühren.
Sollten es Pilze oder irgendwelche organische Keime von bisher unergründlicher
Natur sein? Möglich wäre es wohl, denn die Luft enthält ja gelegentlich in jedem
Quadratfuss eine Menge solcher organischen Keime, und im Spital könnten sich grade in
den Wundsecreten, in den Sputis, in den Excrementen, in üringläsern solche Keime
organischer Wesen thierischer oder pflanzlicher Natur in Menge entwickeln und festsetzen,
um so mehr, je mehr solche leicht zersetzbaren Secrete und Excrete und zwar in schlecht
angelegten Abtritten nnd Ausgussröhren der Krankenhäuser angehäuft sind. Hierüber
kann man vorläufig nur Vermuthungen hegen. Experimente können wir dagegen mit
getrockneten putriden Substanzen und mit getrocknetem Eiter anstellen, wenn wir diese
Stoffe fein pulverisiren und sie dann in die gesimden Gewebe von Thieren bringen.
Solche Experimente sind von 0. Weber und mir ausgeführt, und es hat sich dabei ge-
zeigt, dass sowohl thierische und pflanzliche, faule, getrocknete Stoffe, als auch getrock-
neter Eiter unter gewissen Bedingungen phlogogen wirken; pulverisirt man diese Stoffe,
rührt sie schnell mit etwas Wasser an und injicirt sie dann ins Unterhautzellgewebe von
Thieren, so erregt auch dies progressive Entzündungen , ebenso wie die fauligen Flüssig-
keiten und der frische Eiter. Dass nun in einem Spital solche schädlichen staubförmigen
Körper gar leicht im Verbandzeug, im Bettzeug, auch Tielleicht an Instrumenten haften
können, muss a priori zugegeben werden. Kurz es ist möglich, dass die directe schäd-
liche Einwirkung der Spitalluft auf manche Wunden darauf beruht, dass ihr oder dem
Verbandzeug oder den Instrumenten zuweilen feinste staubförmige, putride oder eitrige
Materie anhaftet, in welche die Fermente mit eingeschlossen sind.
Dass schädliche infectiöse Stoffe auch auf anderem "Wege als durch Wunden in den
Körper eintreten können , zumal durch die Lungen , daran ist an und für sich nicht zu
zweifeln; wir erklären uns ja die Entstehung aller Infectionskrankheiten dadurch, dass
Substanzen in den Organismus gelangen, die als organische Gifte aufs Blut und auf den ganzen
Körper wii-ken ; ob aber diejenigen Krankheitsstoffe, welche die bei Verwundeten hauptsäch-
lich vorkommenden Infectionskrankheiten erzeugen, anders als durch die Wunde selbst
eintreten, darüber kann man je nach der Deutung der beobachteten Fälle verschiedener An-
sicht sein. Wir wollen später bei den accidentellen Wundkrankheiten darauf zurückkommen.
Sie werden mich nun auf einem AViderspruch zu ertappen glauben, wenn ich Ihnen
in der gestrigen Vorlesung sagte, dass durch eine unverletzte Granulationsfläche keine
V(u-i.'SMii-- i;;. (';ii,ii.>i IV. 177
uiolcriilarevi KiiriuM- iifs (icwchc cinlrclcii. Ich iiuiss dies mik'Ii jd/l, iincli als das Ge-
■wöliuliche diivi'liuus beliaiiplcii : ciiic kräl'li^c mncrlclzli' CJraiiMlaliniislläi'lic ist ein wesent-
licher Schutz gegen Infection durch die VVmidi'. Wenn ahor dii- iiilicirciide Stoff selljst
sehr irritirend, sehr intensiv reizend ist, so dass dadnrcli die Graniilationsdäclie zerstört
wird, in Zerfall gerätli, so ist damit avicli der Eintritt des Giftes in das Gewebe um die
Wunde geöffnet. Nocli mehr! es gieljt gewisse Stofl\3, welche von den l'iKciv.clIen in
das Granulationsgewebe und vielleicht noch weiter hineingeführt werden. üe,s(icii(;n Sie
die Granulationsfläche liei einem Hunde mit fein gepulvertem Carmin, so nehmen einige
Zellen die feinen Carminkörnclien auf und wandern damit in die Granulationssubstanz
hinein; Sie finden nach einiger Zeit Zellen mit Carmin in dem Granulationsgewebe. Dies
halte ich für eine abnorme retrograde Bewegung der Eiterzellen, von denen sonst anzu-
nehmen ist, dass sie aus dem Granulationsgewebe an die Wundoberfläche spazieren; ge-
sehen hat das freilich Niemand! Immerhin ist es aber durch das oben erwähnte Experi-
ment erklärlich, dass auch moleculare Stoffe von Aussen in das Gewebe der Wundränder
eindringen können, und wenn diese Stoffe sehr scharf zersetzend, ätzend sind, oder
phlogogene Gifte an sich oder in sich führen, so werden sie eben heftige Entzündung
erregen. — Sie werden nun bei diesen Betrachtungen ganz bange werden um das Geschick
der Verwundeten, denn eine absolute Abwehr gegen solche Schädlichkeiten scheint un-
möglich. Ich muss Ihnen jedoch hier gleich zum Trost bemerken, dass nicht alle mole-
ciilaren Organismen, welche zu Milliarden in der Atmosphäre enthalten sind, auf der
Wunde gedeihen und auch nicht alle phlogogen wirken. Meiner Meinung nach wirkt
nicht jeder Micrococcos als solcher phlogogen, sondern nur derjenige, welcher in gewissen
Entzündungsproducten in faulendem Eiter, in faulem Urin, in faulenden Gewebsflüssig-
keiten entstand, und dort das Ferment in sich aufnahm; dies ist nun freilich die häufigste
Art von Micrococcos, welche in Krankenhäusern vorkommt, und ihre Entwicklung ist daher
in Hospitälern mit besonderer Energie zu hindern. AVie dies zu bewerkstelligen ist,
davon später.
Die febrile Reactioii bei Quetsch wunden pflegt im Allgemeinen
heftiger zu sein als bei Schnittwunden; dies ist nach unserer Annahme
dadurch erklärlich, dass in Folge der Zersetzung, welche in den ge-
quetschten Theileu in viel grösserem Maasse Statt findet, als an zer-
schnittenen, weit mehr faulige Substanzen ins Blut gelangen. Hat das
faulige Gift in einem Fall ganz besonders intensive Eigenschaften, oder
wird besonders viel davon aufgenommen (zumal bei den diffusen septi-
schen Entzündungen), so nimmt auch das Fieber den Charakter der
sogenannten Faulfieber an; man nennt den auf diese Weise hervor-
gerufenen Zustand Septhämie; wir wollen uns später damit noch aus-
führlicher beschäftigen. — Wird der Entzündungsprocess von der Wunde
aus progressiv eitrig, so wird dadurch ein entsprechend dauerndes Ent-
zündungs-oder Eiterungsfieber unterhalten; ein solches hat den Charakter
einer Febris remittens, oder in schlimmeren Fällen einer Febris continua
remittens mit sehr steilen Curven und zeitweiligen Exacerbationen, die
meist von Progressionen der Entzündung, oder von Umständen abhängig
sind, welche die Eiterresorption begünstigen. Wenn wir das Fieber,
welches mit der traumatischen begrenzten Entzündung oft verbunden ist,
wenn auch nicht immer verbunden sein muss, als einfaches
Wundfieber bezeichnen, so können wir die später auftretenden Fieber
Billroth chir. ratli. ii. Therup. 7. Aufl. 12
j^78 ^'^*^ii ^'^" Quetschwunden und Risswnnden der Weiclitlieile.
„Nachfieber" oder ,.Eiterungsfieber" nemieu; ein solclies kann
sich dem Wimdfieher unmittelbar anschliessen, wenn der Eutzündungs-
process gleich progressiv wird; es kann aber das Wundfieber ganz auf-
gehört haben, die Wunde ist vielleicht schon in Heilung begriffen, und
wenn nun secundäre Entzündungen die Wunde befallen, von denen wir
eben ausführlich gehandelt haben, so verbindet sich mit diesen immer
gleich neues Eiterungsfieber, kurz Entzündung und Fieber gehen hier
immer parallel. Zuweilen scheint freilich das Fieber der secundären
Entzündung voran zu gehen, doch liegt dies oft genug darin, dass die
ersten vielleicht noch ganz minimalen Veränderungen an der Wunde
unserer Beobachtung entgangen sind. Jedenfalls müssen wir uns durch
jede neue Fieberbewegung, die wir am Kranken wahrnehmen, dringend
veranlasst fühlen, nach dem Entzündungsheerd zu suchen, der die Ur-
sache sein kann. — Ich bin weit entfernt, behaupten, zu wollen dass
die Messung der Temperatur bei allen Verwundeten uothwendig ist; un-
zweifelhaft wird jeder in Krankenbeobachtung geübte, erfahrene Chirurg
auch ohne Temperaturmessung wissen, wie es mit seinen Kranken steht,
so wie auch der erfahrne Kliniker ohne Auscultation und Percussion
eine Pneumonie diagnosticiren kann; dass aber die Temperaturmessung
unter Umständen eine sehr wichtige Beihülfe für Diagnose und Prognose
ist, daran zweifelt Niemand, der über die Bedeutung der Körpertempe-
ratur sich die gehörigen Kenntnisse erworben hat. Es ist damit wie mit
jedem andern Hülfsmittel der Beobachtung; einen matten Percussionston
am Thorax da, wo er nicht sein sollte, herauszupereutiren , ist nicht
schwer; aber die Bedeutung dieses matten Percussionstous im gegebenen
Falle richtig zu erkennen, muss gelernt werden; so ist es auch mit den
Temperaturmessungen: man muss es eben lernen, ob z. B. eine niedere
Temperatur im vorliegenden Fall etwas Gutes oder Schlechtes bedeutet.
Hierauf näher einzugehen, behalte ich mir für die Klinik vor.
Die Erfahrung lehrt,. dass die Nachfieber oft viel . intensiver sind
als das primäre Wundfieber; während es zu den grössten Seltenheiten
gehört, dass das Wundfieber mit Frost beginnt — ein leichtes Frösteln
nach starken Blutverlusten und heftigen Erschütterungen pflegt nicht mit
erhöhter Temperatur verbunden zu sein — wird ein Nachfieber gar nicht
selten durch einen heftigen „Schüttelfrost" eingeleitet. Wir Avollen
uns gleich hier mit diesem eigenthümlichen Phänomen etwas näher be-
schäftigen. Man hat den Schüttelfrost immer als eine Erscheinung be-
trachtet, welche wesentlich von Blutvergiftung abhängig sei; wenn wir
nun das Fieber überhaupt als Intoxicationszustand auffassen, so werden
wir für den Schüttelfrost noch eine besondere Ursache suchen müssen.
Die Beobachtung zeigt, dass der Fieberfrost, dem immer Hitze, dann
Schweiss folgt, stets mit einer sehr raschen Temperatursteigerung ver-
bunden ist, untersucht man thermometriseh die Bluttemperatur eines
Patienten im Fieberfrost, so findet man, dass dieselbe hoch ist und rasch
VorlosiniLf i:). (^apilc! IV. 179
aiisteig't; da« JJlul wird aus den lla.iiti;'(yrilss(;u licraiis in die inneren
Organe gedräiig't; Traube leitet, wie früher bemerkt, hiervon iil)crliaupt
die abnorme febrile Steigerung der Blutteniperatur ab: wir wollen das
jetzt auf sich beruhen lassen; jedenfalls entsteht eine so grosse Differenz
zwischen der Luft und der Körpertemperatur, dass der Kranke das Ge-
fühl des Frostes emptindet. Decken Sie einen fiebernden Kranken, der
im Bett eingehüllt liegt und nicht friert, ab, so wird er sofort anfangen
zu frösteln. Der Mensch hat eine Art von bewusstcm Gefühl für den
Gleichgewichtszustand, in dem sicli seine Körpertemperatur zur Tempe-
ratur der umgebenden Luft befindet; wird letztere schnell erwärmt, so
empfindet er gleich mehr Wärme, wird sie schnell abgekühlt, so empfindet
er gleich Kälte, Frösteln. Diese triviale Thatsache führt uns zu einer
weitereu Bemerkung:, diese Empfindsamkeit für Wärme und Kälte, dies
bewusste Gefühl für Temperaturdifferenzen ist individuell sehr verschie-
den, sie kann auch durch die Lebensweise sehr gesteigert und sehr ab-
gestumpt werden; manche Menschen haben immer zu heiss, andere
immer zu kalt, noch anderen ist die Temperatur der Luft ziemlich gleich-
gültig. Hier spielt das Nervensystem eine grosse Eolle. Genauere
Studien von Traube und Joch mann haben in der That ergeben, dass
die nervöse Reizbarkeit des Lidividuums sehr dazu beiträgt, ob bei einer
raschen Temperatursteigerung des Blutes der Wechsel sehr intensiv
empfunden wird oder nicht, dass daher bei torpiden Individuen, bei
comatösen Zuständen nicht so leicht Schüttelfrost beim Fieber auftritt,
als bei reizbaren, durch längere Krankheit schon geschwächten Subjecten.
Ich kann dies aus meinen Beobachtungen nur bestätigen. — Wenn ich
im Allgemeinen auch der Ueberzeugung l)in, dass hauptsächlich dann
rasche Temperaturerhöhung und damit Fieberfrost bei genügender Irrita-
bilität eintritt, wenn schubweise eine grössere Quantität pyrogener Stoffe
in's Blut eintritt, so möchte ich doch auch nicht in Abrede stellen, dass
auch die Qualität dieser pyrogenen Stoffe dabei in Frage kommt. Von
dieser Qualität wissen wir chemisch nichts, wohl aber können wir ihre
Verschiedenheit daraus schliessen, dass sowohl die Fiebersymtome als
auch ihre Dauer oft so sehr verschieden sind, dass es sich dabei wohl
nicht allein um verschiedene Widerstandsfähigkeit des erkrankten Indi-
viduums handelt; nach meinen Beobachtungen dispouirt beim Menschen
Resorption von Eiter und ganz frischen Entzüudungsproducten weit mehr
zu Schüttelfrösten, als Resorption von Jauche, die sonst viel giftiger und
gefährlicher wirkt. — Ich möchte Sie nicht mit zu vielen derartigen
Betrachtungen ermüden und will daher bei dem Abschnitt von den all-
gemeinen accidentellen Wund- und Entzündungskrankheiten darauf
zurückkommen, den Sie als Fortsetzung dieser Fieberreflectionen be-
trachten können. Nur das will ich noch bemerken, dass sowohl die
septischen, als eitrigen primären und seeundären Entzündungen mit dem
betreffenden Fieber auch bei Schnittwunden, zumal bei grösseren Ope-
12*
]_^Q Von den Quetschwunden und Eisswnnden der "NVeichtlieile.
rationswunden (naeli Amputationen und Resectionen) Yorkommen können.
Wenn wir die Besprechung dieser Zustände an die Quetschwunden an-
geschlossen haben, so liegt dies daran, dass letztere weit liJUifiger in
der beschriebenen Weise complicirt werden, als die gewöhnlichen Schnitt-
wunden.
Wenden wir uns jetzt zu der Therapie der Quetschwunden.
Eine Quetschwunde erfordert in sehr vielen Fällen keine weitere
Behandlung als eine Schnittwunde; die Bedingungen zur Heilung ohne
Kunsthiilfe sind in beiden Fällen vorhanden. Es handelt sieh nur darum,
bei einer Quetschwunde den Accidentien wo möglich von vornherein
vorzubeugen, oder sie wenigstens so zu beherrschen, dass sie nicht ge-
fährlich werden. In beiden Beziehungen vermögen wir Einiges. — Man
hat immer angenommen, und mit Eecht, dass die Luft mit ihrem Sauer-
stoff und ihren Fermentkörpern die Fäulniss todter, organischer Körper^
also auch der zerquetschten Theile ganz besonders begünstige; um in
dieser Beziehung vorbeugend zu wirken, wäre die Wunde von der Luft
abzuschliessen und, um auch die Wärme als ein Fäulniss beförderndes
Moment zu vermeiden, der verletzte Theil in eine kalte Temperatur zu
bringen. Wir erreichen beides zugleich, wenn wir die verletzten Theile
in ein Gefäss mit kaltem Wasser l)ringen, dessen Temperatur wir durch
eingelegte Eisstücke stets kühl erhalten können. Diese Behandlung nennt
man die „Immersion" oder das „kalte, continuirliche Wasserbad"; ich
habe dieselbe zuerst von meinem ersten Lehrer in der Chirurgie,
Baum in Göttigen, mit vortrefflicher Wirkung in Anwendung ziehen
sehen ; sie ist nur bei Extremitäten so recht practisch, am Bein bis zum
Knie, am Arm bis etwas über den Ellenbogen, anw^endbar. Man lässt
zweckmässig construirte Arm- und Fusswannen mit kaltem Wasser gefüllt
ins Bett des Kranken setzen und die verletzte Extremität continuirlich
Nacht und Tag darin liegen; die Lagerung des Kranken muss dabei so
sein, dass derselbe bequem liegt und die Extremitäten nirgends von den
Rändern der Wanne gedrückt werden; die Sache ist einfach, Sie werden
diese Apparate bei mir in der Klinik sehen; für die Verletzungen an
der Hand, die am häufigsten vorkommen, genügt ein Topf mit kaltem
Wasser in der Privatpraxis. — An Theilen, die man nicht auf diese
einfache Weise im Wasser erhalten kann, sucht man den Abschluss der
Luft durch Auflegen feuchter Leinwandcompressen zu erreichen, die sich
leicht dem verletzten Theil adaptiren; darauflegt man einen Kautseluik-
beutel (in Ermangelung eines solchen eine Schweinsblase) mit Eis ge-
füllt, und erneuert das Eis, wenn es geschmolzen ist. Noch wirksamer
ist es, ein Glied in einer Wanne in Eis völlig einzupacken, nachdem
es zuvor mit dicken Lagen Leinwand umgeben ist. — Eine dritte Methode,
kaltes Wasser zu appliciren, ist die sogenannte „Irrigation". Hierzu
Vorlesung 1^. CiipilH IV. 181
bedarf mau besonderer Apparate; die verletzte F^xtremität wird in eine
Huhlrinnc von Jilcch i;ele^t, au der sich ein Abflussrolir beiludet, lieber
der Extremität wird ein Apparat angebracht, aus welcliem man conti-
nuirlich kaltes Wasser aus mässiü,'er liölie auf die Wunde auftropfen
lässt. — Endlich kann man einfach von Zeit zu Zeit <lie AVunde mit
Compressen bedecken, die in Eisvvasser getaucht siiul.
Ich habe alle diese Behandlungsmethoden in (»i-axi kennen gelernt;
hier meine Ansicht iil)er dieselben: prophylaktisch sicher wirkt keine
derselben; bei Quetschwunden an Hand und Fuss leistet das Wasserbad
am meisten , indem bei dieser Behandlung am seltensten ausgedehnte
Nacheiterungen auftreten; will man dieselben günstigen Erfolge mit der
Eisbehandlung erzielen, so muss man nicht allein die Wunde, sondern
auch' die ganze Umgebung derselben mit Eisblasen bedecken, eine Eis-
einpackung machen. — Durch das Auflegen von kalten Compressen wird
man nur dann eine wirkliche Kältewirkung erzielen, wenn die Compressen
alle 5 Minuten erneuert werden, denn sie erwärmen sich sehr schnell, und
die gewöhnliche Behandlung mit kalten Uebersclilägen bedeutet nicht
viel anderes als ein Feuchthalten der Wundfläche; diese ist also streng
genommen keine besondere Behandlungsmethode; indessen heilen die
meisten kleineren Quetschwunden auf diese Weise spontan , wie ich
schon bemerkte, ohne dass wir sie durch die Kälte in unnatürliche Be-
dingungen versetzten. — Die Irrigation ist keine schlechte Methode der
Behandlung, doch sehr umständlich, und es ist oft nicht leicht, dabei
eine Durchuässung des Bettes zu vermeiden; das Verhalten der Wunden
unterscheidet sich im weiteren Verlauf nicht von demjenigen bei der
einfacheren Immersious- und Eis-Behandlung, so dass ich deshalb keine
Veranlassung genommen habe, mich mit der Irrigation weiter zu be-
schäftigen; in Frankreich wird diese Methode von einigen Pariser
Chirurgen gepflegt und sehr hoch gehalten.
Abstrahiren wir von der Prophylaxis übler Zufalle, in Betreff deren
alle unsere örtlichen Mittel hier von ebenso geringer Bedeutung sind,
wie etwa der prophylaktische Aderlass bei Pneumonie, so haben wir
immerhin in den erwähnten Behandlungsmethoden wichtige Hülfsmittel,
die üblichen örtlichen Zufälle erfolgreich zu bekämpfen. — Ueber das
Wasserbad habe ich noch einige speciellere Bemerkungen zu machen:
da wir hier von Knochen- und Clelenkwunden noch ganz abstrahiren, so
wüsste ich für Quetschwunden an der Hand, dem Vorderarm, Fuss und
Unterschenkel keine Contraindication zu nennen ; in den meisten Fällen
ist bei diesen Verletzungen die Blutung so unbedeutend und steht so
bald von selbst, dass der Verletzte sehr bald, oft gleich nach der Ver-
letzung die Extremität unter Wasser tauchen kann, ohne dass man zu
fürchten braucht, dass im Wasser Blutung auftritt; das an dem ver
letzten Theil anklebende Blut muss aber zuvor abgespült werden, das
Wasser selbst durchaus klar und durchsichtig sein und falls es sich
Xg2 Von den Quetschwunden und Eisswunden der Weichtheile.
durch das Wimd'secret trübt, durch öftere Erneuerung- in den Wannen
klar erhalten werden. Auch wenn die Verwundung- bereits zwei und
drei Tage her ist, kann das Wasserbad noch mit Vortheil in Anwendung-
g-ezog-en werden, später nützt es weniger. Liegen die Kranken mit den
Wannen bequem im Bett, so sind sie zufriedener und schmerzensfreier
bei dieser Behandlung-, wie bei jeder anderen. Was die Temperatur
des Wassers betrifft, so kann man dieselbe sehr verschieden sein lassen,
ohne dass der Zustand der Wunde sich sehr änderte; nur die Eistem-
peratur und die sehr hohen Temperaturen, welche man durch Kataplas-
men erzielt, bedingen ein etwas verschiedenes Aussehen der Wunde;
bei Temperaturen von + 10° bis + 27° + 30° E. sieht die Wunde nicht
verschieden aus; vielleicht entwickelt sich bei den höheren Temperaturen
die Eiterung- etwas schneller, doch ist die Zeitdifferenz jedenfalls eine
sehr unbedeutende. Hieraus ergiebt sich denn, dass wir die Temperatur
des Wassers dem Wunsche des Kranken adaptireu können. Im Durch-
schnitt lieben die Kranken anfangs mehr eine kühlere Temperatur (-f- 10°
bis 15° E.), später eine wärmere (+ 25° bis 28° E.), doch giebt es auch
Kranke, welche schon im Laufe des ersten Tages über Frösteln klagen,
wenn die Temperatur des Wassers unter -[- 15° E. sinkt. Man sieht
hieraus, dass es ziemlich gleichgültig ist, ob man das s. g. warme oder
kalte Wasserbad anwendet. Bei einigen Lidividuen kommt am dritten
und vierten Tage ein Uebelstand hinzu, der einzelnen Kranken die
Immersion unerträglich macht, nämlich das starke Quellen der Epidermis
an Hand und Fuss und die damit verbundenen, spannenden und bren-
nenden Empfindungen, die einige Aehnlichkeit mit der Einwirkung eines
Zugpflasters haben; je dicker, schwieliger die Epidermis war, um so
unangenehmer wird diese Unannehmlichkeit, sie lässt sich vermeiden,
wenn man die verletzte Hand vor dem Eintauchen mit Oel einreibt, und
eine Handvoll Salz ins Wasser Avirft; dies schadet der Wunde nichts, —
Eine wichtige Frage ist: wie lange soll die continuirliche Immersion
angewandt werden? Nur mit Hülfe einer ziemlich ausgedehnten Erfah-
rung kann man darüber Eegeln geben. Ich habe gefunden, dass 8 bis
12 Tage continuirlicher Immersion genügen. Nach dieser Zeit lässt man
zunächst die Kranken während der Nacht aus dem AVasser, und wickelt
die Extremität mit einem nassen Tuch ein, über Avelches man Wachs-
taffet deckt und befestigt; einige Tage weiter begnügt man sich auch
am Tage mit diesen Wasserverbänden, und benutzt nur am Morgen und
Abend, oder nur am Morgen das W asser b ad, um die Wunde eine
halbe bis ganze Stunde hindurch zu baden und zu reinigen. Endlich lässt
man das Wasser ganz fort und behandelt die granulirende, benarbende
Wunde nach den früher gegebenen einfachen Eegeln. — Die Verände-
rungen, welche bei dieser Behandlung der AVunde eintreten, sind etwas
verschieden von den früher geschilderten: zunächst geht alles sehr viel
langsamer; es kommt vor, besonders bei der Behandlung im kalten
Vorlesung 13. Capilcl IV. 183
Wasserbade, dat^s die gequetschte Wunde 4 ))is 5 Tag'c so tViscIi aus-
sielit, als sei sie erst vor Kurzem entstanden; dasselbe bemei-kt mau
aucli längere Zeit liiudm-ch bei der Behandlung- mit Eis))lasen; es ist
dies nicht so wunderbar, wie es anfangs scheint, da na(;h bekannte]-
Erfahrung tief im Wasser Fäiüuiss organischer Tlieilc langsamer fort-
schreitet als an der Luft. In der Folge l>leibt der Eiter gewölmlich
als eine flockige, halbgeronneue Schicht auf der Wunde liegen und
muss abgespült oder abgespritzt werden, um die darunter liegende, von
Wassei* imbibirte, häufig ziemlich blasse Granulationsfläche zu sehen.
Diese Beobachtung ist von grosser Wichtigkeit und schützt uns vor Illu-
sionen in Bezug auf die Wirksamkeit des Wasserbades bei tiefen Höhlen-
eiterungen; man könnte nämlich glauben, der Eiter fliesse von der
Wunde unmittelbar ins Wasser ab und diffundire sich in demselben, so
dass man nur den eiternden Theil ins Wasser zu bringen brauche, um
ihn stets rein zu haben; das Wasserbad begünstigt den Eiteraus-
fluss keineswegs, ist ihm sogar hinderlich; der auf der Granu-
lationsfläche oder in einer Höhle entstehende Eiter gerinnt sofort im
Contact mit dem Wasser und bleibt meist auf der Wunde liegen; man
muss ihn abspülen oder abspritzen, um ihn zu entfernen; durch die
Quellung der Granulationen wird dem Eiter der Ausfluss aus der Tiefe
ganz und gar unmöglich gemacht. Es ergiebt sich hieraus, dass bei
Höhleneiterungen das Wasserbad durchaus nichts nützt, sondern eher
schadet, und dass eine Extremität mit Quetschwunde sofort aus dem
Wasser entfernt werden muss, sobald sich tiefe, progressive Eiterungen
von der Wunde aus bilden; dabei ist ein vorübergehendes halbstündiges
Fuss- und Armband nicht ausgeschlossen. Treten keine progressiven
Eiterungsprocesse ein, und lassen wir die Wunden 14 Tage, 3 Wochen,
4 Wochen lang im Wasser, so wird daraus kein sehr wesentlicher Nach-
theil entstehen, doch die Heilung wird sehr verzögert; die Theile bleiben
im AV asser sehr geschwollen, die Granulationen sind wässrig imbibirt
(künstlich ödematös gemacht), blass und die Narbenbildung und Zu-
sammenziehung der Wunde will nicht kommen. Nehmen Sie dann die
Extremität aus dem Wasser, so fällt die Wunde bald zusammen, in
wenigen Tagen sieht die Granulation kräftiger, der Eiter besser aus,
und die Heilung schreitet vorwärts.
Jetzt muss ich Ihnen auch noch über die dauernde Eis behau dl ung
etwas sagen; ich nehme an, Sie lassen die Quetschwunde gleich von
Anfang an mit einem Eisbeutel bedecken. i\.uch hierbei werden Sie
finden, dass die Abstossung der gequetschen Theile sehr langsam vor
sich geht und sich kein Gestank au den Wunden entwickelt, falls nicht
etwa grosse Massen Gewebe gangränös werden; um den Gestank wo-
möglich ganz zu verhüten, lasse ich zunächst auf die Wunde in, Chlor-
wasser getränkte Charpie auflegen und auch diese öfter erneuern.
Setzt man nun die Behandlung fort, 4 Wochen, 6 Wochen laug, so
184 Von den Quetschwunden und Risswunden der Weich theile.
werden alle notliwendig-en Vorgänge an der Wunde langsam und träge
vorschreiten; ebenso erfolgt auch die Benarbung und Zusammenziehung
der Wunde sehr langsam unter der Einwirkung des Eises, und diese
Methode wird daher gradezu unzweekmässig, wenn es sich um die Be-
schleunigung des definitiven Heilungsprocesses handelt. Die meisten
Chirurgen sind der Ansicht, dass man durch das Auflegen von Eisblasen
auf die frische Wunde heftige Entzündungen verhindern könne; Sie
werden daher. finden, dass in den meisten Fällen bei gequetschten Wunden
sofort Eis aufgelegt wird. Dies ist zuweilen den Kranken als schmerz-
stillendes Mittel sehr willkommen, doch prophylaktisch-antiphlogistisch
wirkt es meiner Ansicht nach nur in sehr beschränktem Maasse; schon seit
Jahrhunderten sucht man nach einem solchen Mittel, wie auch nach einem
Prophylacticum bei Entzündungen innerer Organe. Wir können durch
Auflegen von Eis auf frische Wunden weder die jauchig-seröse Infiltra-
tion, noch die eitrigen Entzündungen ganz verhüten; das ist wenigstens
meine Ansicht ! Viele glauben, wie gesagt, an die prophylaktische Wirkung
des Eises und sind überzeugt, dass sie nur mit Hülfe dieses Mittels
Schwerverletzte retten können! Ich habe die Ueberzeuguug gewonnen,
dass die gefährlichen Zufälle, die zu Wunden hinzukommen, trotz des
Eises oft genug auftreten und nicht selten ohne Eis ausbleiben, wo man
sie aus der Art der Verletzung erwarten durfte. — Fast können Sie aus
dem Gesagten entnehmen, ich halte das Eis für ein entbehrliches unwirk-
sames Mittel, und doch werden Sie es viel in meiner Klinik anwenden
sehen; die Kälte ist auch in meinen Augen eines der mächtigsten Anti-
phlogistica und Antiseptica, zumal wo es sich um Entzündung äusserer
Theile handelt, auf welche die Kälte direct einwirken kann. Wo also
Entzündung, zumal Entzündung mit starker Fluxion und mit Tendenz
zur Eiterung um eine Wunde wirklick vorhanden ist, da ist das Eis am
Platz. Beginnt eine Entzündung des Zellgewebes, der Sehnen- und
Muskelscheiden oder eines nahe liegenden Gelenkes, dann legen Sie Eis
auf die entzündeten Stellen, verringern dadurch die Hyperämie und
hemmen dadurch die Steigerung der Entzündung. — Keineswegs gelingt
es immer, mit Hülfe des Eises die Ausbreitung der von den Wunden
ausgehenden Eiterungen zu hindern; zuweilen röthet sich die ödematöse
Haut immer mehr, wird sehr schmerzhaft, und so wie Sie darauf drücken,
entleert sich mühsam ein manchmal dünner, seröser, zuweilen jedoch
auch ziemlich consistenter Eiter aus einigen Wundwinkeln. Unter solchen
Umständen muss dem verhalteneu Eiter, zumal wenn er übelriechend,
jauchig ist, Luft gemacht werden, er muss bequem abfliessen können,
und zu diesem Behuf gilt es. Einschnitte oft ziemlich tief in die Weich-
theile hinein zu machen und diese Einschnitte offen zu erhalten. Wann
dies geschehen muss, wie man es am besten in den einzelnen Fällen
anfängt, und wo man die Einschnitte macht, das müssen Sie in der
Klinik sehen und lernen ; ich bediene mich zur Sondirung solcher Eiter-
Vorleaiing 13. Capitel IV. 185
lnUilen am liebsten eines wenig gebogenen silbernen Catlieters, den ich
von der Wnnde aus bis an das Ende des Eilercanals einführe, dann die
Spitze von unten her gegen die Haut andrücke und hier einschneide.
Zur Erweiterung dieser sogenannten Gegen Öffnungen, sowie auch
anderer Wunden ])raucht man ein Messer, welches zicndicli lang, grade
oder gebogen, vorn mit einem Knopf versehen ist (Pott'sches Messer).
Die Gegenöffnungen sollten im Allgemeinen nicht die Länge von 1 Zoll
überschreiten, man kann, wenn es nöthig ist, viele von dieser Länge machen;
es ist nicht zweckmässig, ohne dringende Veranlassung die Weichtheile des
ganzen Vorderarms oder Unterschenkels der Länge nach zu spalten, wie es
wohl früher gelehrt wurde, weil danach die Haut sich so retrahirt, dass
die Heilung der Wunden dann später aussergewölmlich viel Zeit in Anspruch
nimmt. — Um zu verhüten, dass die neuen Oeffnungen wieder schnell
verwachsen, was übrigens selten geschieht, können Sie mehrfache Seiden-
fäden durch die Eitercanäle hindurchziehen, dieselben zusammenbinden
und kurze Zeit lang liegen lassen. Anstatt dieser Setons von Seiden-
fäden oder Leinwandstreifen, hat man sich in neuerer Zeit Kautschuk-
röhren bedient, die eine grosse Anzahl seitlicher Oeffnungen besitzen;
sie haben den Namen der Drainager Öhren bekommen, ein Ausdruck,
welcher der Agriculturtechnik entnommen ist; diese Eöhren erleichtern
allerdings unter Umständen den Abfluss des Eiters ganz vortrefflich, doch
sind sie in ihrem Princip weder neu, noch richtet man durch sie solche
Wunder aus, wie ihr Erfinder Chassaiguac meint, der über die Drainage
ein Buch von zwei dicken Bänden geschrieben hat. -— Nicht selten werden
Sie bei der Anlegung solcher Gegenöffnungen auf abgestorbene Sehnen oder
Fascienfetzeu oder auf fremde Körper stossen, die dann zu extrahiren sind.
Die zweckmässige Anwendung der genannten Mittel ist eine
Kunst der Erfahrung; was Sie durch dieselben bei Eiterungen nicht
erreichen, werden Sie überhaupt nicht erreichen.
Bedenklich würde mancher ältere College den Kopf schütteln, wenn
er gehört hätte, dass wir so lange von der Therapie der Quetschwunden
und Secundäreiterungen gesprochen und noch der Kataplasmen nicht
erwähnt haben. Tempora mutantur! Früher gehörte das Kataplasma so
unzweifelhaft auf die eiternde Wunde, wie der Deckel auf die Schachtel,
und jetzt! es sind auf meiner Abtheilung Jahre vergangen, in denen
die Kataplasmaküchen aucli nicht einmal zu ihrem ursprünglichen Beruf
in Thätigkeit gesetzt wurden! Die Anwendung feuchter Wärme, sei es
in Form von Kataplasmen oder von dicken, in warmes Wasser getauchten
Tüchern vermag auch die Progression der Zellgewebseiterungen nicht
zu hemmen ; bei längerer Anwendung feuchter Wärme bekommen die
Granulationen ein schlaffes Ansehen, die Weichtheile quellen stark auf
und die Heilung wird nicht gefördert. Es kommt hinzu, dass die
Kataplasmen nur dann als feuchte Wärme energisch wirken können,
wenn sie oft erneuert werden; ihre Anwendung ist mühsam; der Brei
136 Von den Quetschwunden und Risswunden der AYeichtheile.
wird leicht sauer, bald ist er verbrannt, und die ganze Sclimiererei ist
in einem Krankenhause zuletzt nicht mehr zu überwachen; das eine
Kataplasma, mit Eiter bedeckt, wird abgenommen, neuer Brei wird ein-
gefüllt und oft unmittelbar wieder einem andern Kranken angelegt. In
manchen Krankenhäusern haben wenigstens die Hälfte der chirurgischen
Kranken Kataplasmen ; Centner von Grütze und Hanfsamen oder Species
ad Cataplasmata sind monatlich auf den chirurgischen Abtheilungen
verbraucht worden; sie sind auf meiner Abtheilung fast ganz verbannt;
ich werde Ihnen gelegentlich die Fälle angeben, wo man sich derselben
noch mit Vortheil bedienen kann, — So wenig ich hiernach die Anwen-
dung der feuchten Wärme als gewöhnliche Methode bei Behandlung von
Wuiiden empfehlen kann, so halte ich sie doch bei allen denjenigen
Formen für sehr zweckmässig, bei welchen eine ausgedehnte derbe (fibri-
nös-diphtheritische) Infiltration des Zellgewebes besteht. In diesen Fällen
ist die feuchte Wärme nicht nur den Kranken sehr angenehm, weil sie
die gespannte Haut weich und nachgiebig macht, sondern sie scheint
auch die Auflösung der geronnenen Entzündungproducte zu befördern,
sei es dass noch eine Eesorption derselben erfolgen kann, sei es dass
sie mit den nekrotisirten Geweben unter reichlicher Eiterung ausgestossen
werden müssen. Ich brauche in solchen Fällen Einwicklung mit warmen
nassen Tüchern, über welche ein Avasserdichter Stoff umgeschlagen wird.
Ich habe bisher noch gar nicht davon gesprochen, dass die absolute
Ruhe eines verletzten Körpertheils immer nothweudig ist; es mag llinen
sonderbar erscheinen, dass ich es überhaupt noch erwähne, man sollte
meinen, es verstände sich von selbst. Ich lege einen ganz besonderen
Werth darauf, denn da von der Wunde aus schädliche Substanzen in
das Blut aufgenommen werden können, so wird jede Muskelbewegung
an sich, so wie jede dadurch bedingte Congestion zur Wunde, kurz
Alles, was den Blut- und L3'mphestrom in der Nähe der Wunde stärker
antreibt, eventuell schädlich werden können. Selten sehe ich in neuerer
Zeit die QuetschAvunden so gut verlaufen, als bei den complicirten Frac-
turen der Extremitäten, wo immer gleich Gypsverbände angelegt werden;
es liegt daher der Gedanke sehr nahe, bei grösseren Quetsch v\'unden
der Weichtheile auch ohne Fracturen die ganze Extremität durch einen
gefensterten Gypsverband in absolute Euhe zu zwingen. Die Fälle, wo
ich dies gethan habe, sind auffallend günstig verlaufen; auch nach
Amputation von Hand und Fuss habe ich bei grosser Unruhe des
Patienten schon den Gypsverband mit vortrefflichem Erfolg angewandt
und glaube, dass die Behandlungsweise, auf die wir bei den com-
plicirten Fracturen näher eingehen werden, vielleicht noch weiter als
bisher auszudehnen ist.
Ferner ist auch die erhöhte Lagerung für den verletzten Theil
nicht zu vernachlässigen, wo sie ausführbar ist. Dass die Schwere bei
der Blutbewegung eine Rolle spielt, können Sie leicht an sich selbst
Vorlegung lo. Capilcl IV. 187
prüfen: lassen Sic einmal 5 Minuten lang' den Arm ganz schlaff ohne
alle Muskelspanuung hängen, so werden Sie eine bedeutende Schwere
in der Hand fiilden und die Venen auf dem Handrücken stark anschwellen
sehen; halten Sie dagegen den Arm längere Zeit in die Höhe, so erblasst
die Hand rasch und wird dünner. So lange sich schwächliche Personen
in horizontaler Lage im Bett befinden, sehen sie z. li. am Morgen weit
voller im Gesicht aus, als wenn sie den Tag- ül)er den Kopf aufrecht
getragen haben. Für Entzündungen an der Hand hat Volk mann die
verticale Suspension des Armes als ein mächtig-es Antiphlogisticum in
neuester Zeit dringend empfohlen; auch ich habe diese Methode in Folge
dessen angewandt und in Fällen von Hautentzündungen sehr wirksam
gefunden, für tiefe Entzündungen z. B. des Handgelenks scheint sie
weniger zu leisten.
Vielleicht werden in der Folge Wasserbad, Eisbehandlung und Kata-
plasmen immer mehr in den Hintergrund treten gegenüber der offenen
Behandlung der Wunden, von der ich bei den Quetschwunden wie
bei den Schnittwunden (pag. 103) sehr gute Resultate gesehen habe.
Der so viel gefürchtete Zutritt der Luft zur Wundfläche, selbst der Luft
in schlecht ventilirten Krankenzimmern ist meiner Ansicht nach nicht so
schädlich, wie Verbandstücke und Schwämme von zweifelhafter Sauber-
keit; der Behauptung, Luft sei den eiternden Wunden schädlich, liegt
vornehmlich die Beobachtung zu Grunde, dass Lufteintritt in Abscess-
höhlen mit starren Wandungen und in seröse Säcke in der Regel eine
Steigerung der Eiterung hervorbringt: abgesehen davon, dass es in vielen
dieser Fälle keineswegs erwiesen ist, dass es grade immer der Lufteintritt
ist, welcher eine Exacerbation des Entzündungsprocesses hervorbringt,
ist dabei wesentlich der Umstand zu beschuldigen, dass die Luft in den
Eitersäcken durch die Körpertemperatur erwärmt und mit Wasserdunst
aus dem Eiter geschwängert wird; diese abgeschlossene Luft wird nun
allerdings eine wahre Brutstätte derjenigen kleinen Organismen, welche
das Fäulnissferment so rapid vermehren und welche freilich fast immer
mehr oder weniger in der Luft enthalten sind. Jede gut beobachtende
Hausfrau weiss, dass frei in Zugluft hängende Fleischstücke oder Wild-
pret weit weniger faulen, als zugedecktes, in einen Schrank gelegtes
Fleisch, selbst wenn in letzterem die Luft durch Eis kühl gehalten wird.
Freie bewegte Luft schadet den Wunden nichts, abgesperrte Luft ist
freilich sehr gefährlich. Dass eine von Anfang an offen behandelte
Wunde, falls nicht grössere Fetzen au ihr gangränös werden, keinen
üblen Geruch verbreitet, habeich schon erw\ähnt (pag. 105); damit hängt
es auch zusammen, dass die Fliegen diese offenen Wunden nicht be-
nutzen, um ihre Eier darauf zu deponiren, während sie sonst gern in
die Verbände hineinkriechen, um dies zu executiren; ich muss gestehen,
dass mich diese Beobachtungen sehr angenehm überraschten, weil ich
fürchtete, dass die Fliegen die offne Behandlung der Wunden im Sommer
138 Von ^^''^ Quetschwunden und Risswunden der Weichtheile.
immöglicli maclieu würdeu. — Je länger ich die offne Wiuidbehaadlung
consequeut durclifübve, um so befriedigter bin ich davon; Sie werden
selbst Gelegenheit haben, sich davon in meiner Klinik zu überzeugen.
Eine absolute Garantie gegen accidentelle Wundkranklieiten bietet keine
Methode der Wundbehandlung; eine jede derselben v/ill studirt sein. So
können sich auch bei der offnen Wundbehandlung oberflächliche Ver-
klebungen einzelner Wundtaschen bilden, in welchen sich Zersetzungen
des Secretes entwickeln; man muss solche Zustände früh zu erkennen
und zu beseitigen wissen.
Von vielen Chirurgen wird jetzt die Methode der Occlusion der
Wunden durch gut desinficirte Verbandstücke mit frühzeitiger Einleguug
von Drainageröhren zur Ableitung des Wundsecretes besonders bevor-
zugt, eine Methode welche den Namen der „Lister'schen" führt, und
zweckmässig gehandhabt, gewiss auch gut wirkt. Ich habe früher bei
den vollständigen Occlusionen der Wunden, zumal der Amputations-
wunden, so wenig günstige Resultate gesehen, dass ich mich nicht ent-
schliessen kann, wieder zu denselben zurückzukehren.
Im Allgemeinen empfehle ich Ihnen für Ihre Lehrzeit, wie für Ihre
spätere Praxis : studiren und beobachten Sie eine der Ihnen emj)fohlenen
Behandlungsweisen ganz genau, lernen Sie eine Methode völlig be-
herrschen, und lassen Sie sich nicht ohne triftige Gründe in Ihren thera-
peutischen Principien beirren, nicht durch jede Zeitströmuug zu allzu-
häufigen Wechsel fortreissen. Ueben Sie in Ihrer Praxis aus, was Sie
gut gelernt haben! Glauben Sie mir, Ihre Patienten und Sie werden sich
dabei am besten befinden.
In Betreff der Behandlung der secundären Entzündungen ist vor
Allem eine sorgfältige Prophylaxis zu empfehlen: Vermeidung von Con-
gestivzuständen zur Wunde, von Erkältung, von aller mechanischen und
chemischen Irritation, besonders ängstliche Verhütung von Infection. Was
in letzterer Beziehung durch Ventilation, durch gehörige Benutzung der
disponiblen Spitalräumlichkeiten geschehen kann, soll später erörtert
werden, wenn wir von den accidentellen Wundkrankheiten im Ganzen
sprechen. Um die örtliche Infection der Wunde durch Verbandzeug oder
Instrumente zu vermeiden, ist Folgendes zu merken. Man beobachte
beim Verbände, beim Reinigen der Wunde, bei der Wahl der Com-
pressen, Charpie und Watte die grösste Sorgfalt; ich lasse mir hierbei
die philiströseste Pedanterie gefallen ; man achte immer auf die äusserste
Reinlichkeit der Matratzen, der Strohsäcke, des Bettzeugs, der Unter-
lagen, der Wachstuchstücke oder des Pergamentpapiers, kurz Alles dessen,
was den Kranken umgiebt. Das Bluten der Wunden beim Verbände ist
durch sorgfältiges Abspritzen mit den Esmarch' sehen Wunddouchen,
von denen in jedem Krankenzimmer 2 — 3 in Gebrauch sein sollten, und
durch langsames geduldiges Ablösen der Verbände zu verhüten; man
lege- nie trockne Compressen oder Charpie oder Watte auf die Wunden,
Vorlesung 13. Cnpilel TV. 189
soiuleni netze alle diese Tlieile zuvor mit (Jlilorkalkwasser oder anderen
Antisepticis, später, wenn die Wunde anfängt zu l)enarl)cn, mit Blei-
wasser; auch zum Abweichen von Eiter, brauche man nie Schwämme,
wo möglich auch nicht beim Operiren, sondern reinige Alles durch Ab-
spritzen oder durch Abwischen mit Watte, die mit Wasser oder stark
verdünntem Chlorwasser genetzt ist; kann man Schwämme nicht ent-
behren, so verwende man nur neue, und desinficire sie sofort mit hyper-
mangansaurem Kali oder Carbolsäure. In dem Chlorwasser (Aqua Chlori
zu gleichen Theilen mit Wasser) oder Chlorkalkwasser (Chlorkalk 2
Drachmen, Wasser 1 Pfd., oder 10 Grammes auf 500 Grammes) halten
sich auf die Dauer bei gewöhnlicher Zimmertemperatur keine organische
Wesen, ebenso wenig in Alkohol, in Bleiwasser, in der Lösung von
essigsaurer Thonerde (pag. 106), so wie in den stärkeren Lösungen von
hypermangansaurem Kali. Von Lister ist die Carbolsäure als besonders
wirksames Antisepticum empfohlen; man kann sie mit Oel oder mit
Glycerin oder mit Wasser verdünnen, auch mit geschabter Kreide zu
einer Paste verrühren, diese auf Staniol streichen und damit die Wunden
luftdicht abschliessen. Ich halte die Carbolsäure für ein ganz brauchbares
Antisepticum; dass sie vor den eben genannten Mitteln einen so ganz be-
sonderen Vorzug verdient, habe ich nicht finden können. — Besondere
Beachtung haben Sie auch der Reinheit der Instrumente zuzuwenden, mit
denen Sie die Wunden berühren, den Sonden, Pincetten, Kornzangen,
Messern, Scheeren; Alles ist vor dem Gebrauch abzuwischen, oder falls es
irgend verdächtig ist, schnell mit etwas Putzpulver abzureiben. Es gehört
die ganze, volle, innere Ueberzeugung von der Nothwendigkeit aller dieser
Cautelen dazu, um sie alle zu beobachten.
Sollen wir unseren Kranken in solchen Fällen ausser kühlenden
Getränken und Arzneien, Regelung der Diät etc. noch etwas verordnen?
Die bei solchen Eiterungen nicht selten bestehende Febris remittens macht
die Kranken matt, missmuthig, nicht selten schlaflos. Zwei Mittel sind
hier zweckmässig: Chinin und Opiate; Chinin als Tonicum und Febri-
fugum, Opium respective Morphium als Narcoticum, zumal am Abend,
um Nachtruhe herbeizuführen. Ich befolge gewöhnlich folgende Methode
bei solchen Kranken. So lange sie bei progressiven Eiterungen nicht
oder nur unbedeutend fiebern, gebe ich nichts; fiebern sie gegen Abend,
so gebe ich in Solutionen oder Pulvern am Nachmittag ein paar Dosen
Chinin (gr. 5 oder grms. 0,3 p. D.) und am Abend vor dem Schlafen
Ve — y4 — % gr. oder 0,01 — 0,02 grms. Morphium muriaticum, auch wohl
1 gr. oder 0,08 grms. Opium. Sobald das Fieber aufhört, lasse ich
diese Arzneien wieder fort; zumal seien Sie mit dem Opium nicht zu
freigebig, wenn es nicht nöthig ist, weil es Verstopfung macht.
290 Von den Quetschwunden und Eisswiinden der Weielitlieile.
Jetzt noch wenige Worte über die Riss wunden. Diese sind im
Allg-emeiuen stets von weniger sclilimmer Bedeutung als die Quetsch-
wunden, und zwar deshalb, weil sie meist klarer zu Tage liegen und
man keine Sorge zu tragen hat, dass die Ausdehnung der Verletzung
eine tiefere ist, als man übersehen kann; man sieht, wie Haut und
Muskeln, Nerven und Gefässe zerrissen sind, eine Heilung per primam
kann angestrebt werden und gelingt nicht so selten, meist wird freilich
Eiterung eintreten. — Doch halt! nicht immer liegen die Zerreissungen
zu Tage, es giebt auch subcutane Rupturen von Muskeln, Sehnen,
ja selbst von Knochen, ohne dass Quetschung dabei im Spiele wäre.
Es will Jemand über einen Graben springen und nimmt dazu den ge-
hörigen Ansatz, doch er verfehlt das Ziel, fällt und empfindet einen
heftigen Schmerz in einem Bein, er hinkt auf demselben. Man unter-
sucht und findet dicht oberhalb der Ferse (der Tuberositas calcanei) eine
Vertiefung, in welche man den Daumen hineinlegen kann, die Bewegungen
des Fusses sind unvollkommen, zumal die Streckung. Was ist geschehen ?
Bei der heftigen Muskelaction ist der Tendo Achillis vom Calcaneus ab-
gerissen. Aehnliches begegnet mit der Sehne des Quadriceps femoris,
welche sich an die Patella ansetzt, mit der Patella selbst, die mitten
durchreissen kann, mit dem Lig. patellae, mit dem Triceps brachii, der
vom Olecranou abreisst und meist dabei ein Stück von letzterem mit
fortnimmt. Da haben Sie einige Beispiele von solchen subcutanen Sehnen-
abreissungen; ich sah subcutane Rupturen eines M. rectus abdominis,
des Vastus externus cruris und anderer Muskeln. — Die einfachen sub-
cutanen Muskelzerreissungen sind keine Verletzungen von Erheblich-
keit; man erkennt sie leicht an der Funetionsstörung, an der sichtbaren
und noch mehr fühlbaren Vertiefung, welche sofort vorhanden ist, in der
Folge jedoch durch das Blutextravasat wieder maskirt wird. Die Be-
handlung ist einfach: Ruhe des Theils, Lagerung desselben, so dass die
abgerissenen Enden durch Erschlaffung des Muskels an einander geführt
werden; kalte Compressen, Bleiwasserüberschläge wenige Tage hindurch;
nach 8 — 10 Tagen können die Patienten meist ohne Schmerz wieder auf-
stehen ; es bildet sich anfangs eine bindegewebige Zwischensubstanz, die
sich bald durch Verkürzung und Schrumpfung so verdichtet, dass eine
sehnenartig feste Narbe entsteht; der Vorgang ist genau wie nach der
subcutanen Sehnendurchschneidung, wovon später im Capitel von den
Verkrümmungen.
Funetionsstörung bleibt selten in irgend erheblichem Grade zurück,
zuweilen allerdings eine leise Schwäche der Extremität und der Verlust
fein nuancirter Bewegungen, zumal an der Hand.
Um subcutane Muskel- und Sehnenzerreissungen genannter Art
durch Quetschung hervorzubringen, würde es bedeutender quetschender
Gewalten bedürfen; eine solche Quetschung würde wohl einen ziemlieh
bösartigen Verlauf nehmen: ausgedehnte Eiteruna-en und Nekrose der
VorlpsmiLC 13. Capilel IV
191
Fig. AG.
Fis. 47.
Fi'^ 48.
Centrales
Ende einer
durehrisse-
nen Art.
brachialis.
Ausgerissener Mittelfinger mit
sämmtlichen Sehnen.
Ausgerissener Arm mit Scapnia
und Clavicula.
192 ^o" ^^^1^ Quetschwunden und Eisswunden der Weiehtheile.
Seimen wären uiclit unwahrscheinlich. Sie sehen in diesem Fall wieder,
wie verschieden der Verlauf gleich erscheinender Verletzungen sein kann,
je nach der Art, wie dieselben entstanden. Bei den Maschinenverletzungeu
ist oft eine so wunderbare Combination von Quetseluing, Drehung, Eiss,
dass eben deshalb die prognostische Beurtheilung des Verlaufs solcher
Fälle auch bei grosser Erfahrung sehr schwierig ist. — Besonders
erwähnenswerth ist auch noch der meist günstige Verlauf Ton Aus-
reissungen kleinerer und selbst grösserer Gliedmaassen, wie z. B. der
Hand: mir sind bis jetzt zwei Fälle von Fingerausreissungen vorgekom-
men; einen davon theile ich Ihnen kurz mit: ein Maurer war auf einem
Gertist beschäftigt, und fühlte plötzlich dasselbe unter sich zusammen-
fallen; vom Dach des Hauses, gegen welches das Gerüst gelehnt war,
hing eine Schlinge herab; diese ergrifP der Fallende, gelangte aber nur
mit dem Mittelfinger der rechten Hand in die. Schlinge; so schwebte er
einen Moment, und stürzte dann auf den Boden, zum Glück nicht hoch,
so dass er sich keinen Schaden that, doch es fehlte ihm der Mittelfinger
der rechten Hand, er war im Gelenk zwischen erster Phalanx und Os
metacarpi ausgerissen und hing oben in der Schlinge. An dem Finger
befanden sich die beiden Sehnen " der Flexoren und die Sehne des Ex-
tensor, und zwar waren dieselben genau an der Muskelinsertion abge-
rissen; der Mann trocknete seinen Finger mit den Sehnen und trug ihn
später zum Andenken an das Ereigniss in seinem Portemonnaie bei sich.
Einen ganz gleichen Fall habe ich in der Klinik in Zürich beobachtet.
(Fig. 46.) Die Heilung erfolgte ohne erhebliche Entzündung des Vorder-
arms und bedurfte eigentlich gar keiner Kunsthülfe. — Zwei Ausreis-
sungen der Hand sah ich auch in Zürich: in einem Fall war genügend
Haut vorhanden, um die Heilung sich selbst zu überlassen, im andern
Fall musste die Amput. antibrachii gemacht werden. Beide Fälle ver-
liefen glücklich. — Im Kriege kommt es vor, dass Arme und Beine aus
den Gelenken durch grosse Kanonenkugeln fortgerissen werden. Ich
habe es auch schon erlebt, dass einem 14jährigen Knaben der rechte
Arm mit Scapula und Clavicula durch ein Maschinenrad vom Thorax so
vollkommen abgerissen wurde, dass er nur in der Schultergegend an
einer 2 Zoll breiten Hautbrücke hing (Fig. 48). Die Art. axillaris gab
keinen Tropfen Blut; das Ende war durch Drehung geschlossen (Fig. 47).
Der Unglückliehe starb bald nach der Verletzung. Die Ausreissungen
ganzer Extremitäten sind meist rasch tödtlich; doch kommen auch Manche
davon. Einer meiner Schüler, Eisenbahnarzt in Wien, stellte mir neulich
einen kräftigen jungen Mann vor, welchem der ganze Arm mit dem
Schlüsselbein, doch ohne Scapula ausgerissen war; die Heilung war ohne
Zwischenfälle erfolgt.
Vorlesung 14. Capild V. 103
Vorlesung 14.
CAPITEL V.
Von den einfachen knoclienhrüclien.
Ursaelieii, versclnedone Arten der Fractnren. — Symptome, Art der Diagnoslik. — Ver-
lauf und äusserJifh wahrnehmbare Erscheinungen. ■ — Anatomisches über den Heikingsver-
• lauf, CaHusbildung. — Quellen der entzündliclien verknöchernden Neubildung, Histologisches.
Meine Herren!
Wir haben uns bisher ausschliesslich mit den Verletzung-en der
Weichtheile beschäftigt; es ist Zeit, dass wir uns auch um die Knochen
bekümmern. Sie werden finden, dass die Vorgänge, welche die Natur
einleitet, um auch hier möglichst die Restitutio ad integrum zu erreichen,
im Wesentlichen dieselben sind, die Sie bereits kennen; dennoch sind
die Verhältnisse schon wieder complicirter und können erst ver-
ständlich werden, wenn man sich über den Heilungsprocess an den
Weichtheilen ganz klar ist. Im Allgemeinen weiss jeder Laie, dass
man sich die Knochen brechen kann, und dass sie wieder ganz solide
zusammenheilen; dies kann nur durch Knochenmasse geschehen, wie
Sie leicht a priori übersehen werden, und hieraus ergiebt sich weiterhin,
dass Knochengewebe hierbei neugebildet werden muss; die Narbe im
Knochen besteht gewöhnlich wieder aus Knochen: ein sehr
wichtiges Factum, denn wenn dies nicht der Fall wäre, wenn die Bruch-
enden nur durch Bindegewebe zusammenwüchsen, so würden zumal die
langen Röhrenknochen nicht fest genug werden, den Körper zu tragen,
und viele Menschen würden nach den einfachsten Knochenbrüchen für
ihr ganzes Leben Krüppel bleiben. Doch bevor wir die Processe der
Knochenheilung bis in ihre feinsten Details verfolgen, ein Studium, das
stets mit grosser Vorliebe von den Chirurgen getrieben ist, muss ich
Ihnen über die Entstehung und die Symptome der einfachen Knochen-
brüche noch Mancherlei bemerken; „einfacher oder subcutaner
Knochenbruch" sage ich im Gegensatz zu den mit Wunden der Weich-
theile complicirten Fractnren.
Der Mensch kann schon mit zerbrochenen Knochen auf die Welt
kommen; im Uterus können theils durch abnorme Conti-actionen des-
selben, theils durch Schlag und Stoss gegen den schwangeren Leib die
Knochen des Fötus zerbrechen, und meist heilt eine solche intrauterine
Fractur mit erheblicher Dislocation; die vis medicatrix naturae versteht
sich, wie wir auch bei anderen Gelegenheiten sehen werden, mehr auf
die innere Medicin, als auf die Chirurgie. — Es können ferner, wie
begreiflich, in jedem Lebensalter Knochenbrtiche vorkommen, doch sind
BiUroth chir. Path. u. Ther. -7. Aufl. 13
]^C)4 Von den einfachen Knoclienbrüchen.
sie in den Jahren von 25—60 am häufigsten, und zwar aus folgenden
Gründen. Die Knochen der Kinder sind noch biegsam und brechen daher
nicht so leicht; wenn ein Kind fällt, so fällt es nicht schwer. Alte Leute
haben, wie man wohl audi im gewöhnlichen Leben sagt, brüchige, morsche
Knochen, d. h. anatomisch ausgedrückt, im hohen Alter wird die ]\[ark-
höhle weiter, die Corticalsubstanz dünner; doch alte Leute kommen
seltner in Gefahr sich Knochenbrüche zuzuziehen, w^eil sie durch ihren
Mangel an Kräften verhindert sind, schwere und gefährliche Arbeit zu
thun. Das Alter, in welchem sich der Mann des Volkes der schweren
Arbeit aussetzen muss, ist es, wo am meisten Gelegenheit zu Verletzungen
überhaupt und so auch besonders zu Fracturen geboten wird. Dass bei
Frauen Knochenbrüche weit seltner vorkommen als bei Männern, hat
seinen Grund in der Art der Beschäftigung beider Geschlechter, wie leicht
zu übersehen. — Es liegt ebenfalls in rein äusserlichen Verhältnissen,
dass die langen Röhrenknochen der Extremitäten, zumal die rechtseitigen,
häufiger brechen als die Knochen des Rumpfes. — Dass kranke, an sieh
schon schwache Knochen leichter brechen als gesunde, ist selbstver-
ständlich ; gewisse Knochenkrankheiten disponiren daher sehr zu Fracturen,
zumal die sogenannte „englische Krankheit, Rhachitis", die in mangel-
hafter Ablagerung von Kalksalzen in den wachsenden Knochen beruht
und nur bei Kindern auftritt, ferner die Knochenerweichung oder „Osteo-
malacie", die auf abnormer Erweiterung der Markhöhle und Verdünnung
der Corticalsubstanz beruht, und die in höheren Graden totale Weichheit
und Biegsamkeit der Knoclien mit sich bringt.
Speciellere Veranlassungen für das Zustandekommen von Knochen-
brüchen giebt es folgende zwei :
1. Aeussere Gewaltthätigkeiten, die häufigste Ursache; die Einwir-
kung kann in folgender Weise verschieden sein: die Gewalt, z. B. ein
Schlag, ein Stoss trifft den Knochen so, dass letzterer grade an der ge-
troffenen Stelle zerdrückt oder zersprengt wird, — hier hat die Gewalt
direct den Bruch erzeugt; oder der Knochen, zumal ein Röhrenknochen,
wird stärker gebogen, als es seine Elasticität erlaubt, und bricht wie ein
zu stark gebogener Stab, — hier wirkte die Gewalt nur in direct auf
die Bruchstelle. Bei dem letzteren Mechanismus können Sie an Stelle
des einen Röhrenknochens auch eine ganze Extremität oder die Wirbel-
säule als ganzen, bis zu einem gewissen Grade biegsamen Stab setzen
und hierauf den Begriff der indirecten Gewalteinwirkung übertragen. —
Nehmen wir ein paar Beispiele, das Gesagte zu erläutern: fällt eine
schwere Last auf den ruhenden Vorderarm, so werden Radius und Ilna
dureli directe Gewalt zerbrochen; fällt Jemand auf die Schulter und das
Schlüsselbein bricht in der Mitte quer durch, so ist dieser Bruch durch
indirecte Gewalt entstanden. Bei beiden Entstehungsweisen ist in der
Regel Quetschung der Weichtheile vorhanden; in letzterem Fall aber
mehr oder weniger entfernt von der Bruchstelle, in ersterem an der
Vorlofuni!:'; 14. Capilcl V. ](95
Bruchstelle selbst, was hegreiriiclier Weise als etwas uiigünstig-er zu
betrachten ist. •
2. Muskelzug- kann, wenn auch unter seltenen Umständen, Ursache
für Fracturen sein: wie ich Ihnen schon bei den subcutanen IMuskel-
zerreissung-en andeutete (pag. 190), kann die Vatella, das Olccrauon,
auch wohl ein Theil des Calcaneus durch Muskelzug' abreissen, d. h.
quer durchbrechen.
Die Art und Weise, wie die Knochen bei diesen verschiedenen Oe-
walteinwirkung-en brechen, ist eine sehr verschiedene; doch sind dafür
einige Typen aufgestellt, die Sie kennen müssen: man kann zunächst
unvollständige und vollständige Fracturen auseinander halten. Bei den
unvollständigen Fracturen unterscheidet man wieder folgende ver-
schiedene Formen : Fissuren, d.h. Spalten, Risse; sie sind am häufigsten
an den platten Knochen, kommen jedoch auch an den Rohrenknoeheu,
besonders als Längsfissuren in Verbindung mit anderen Brüchen vor;
der Spalt kann klaffen oder als einfacher Sprung wie in einem Glas
erscheinen. Die Infraction oder Einknickung ist ein partieller Beuch,
der in der Regel nur bei sehr elastischen, weichen, zumal rhachitischen
Kinderknochen vorkommt ; Sie können diese Form am leichtesten imitiren,
wenn Sie den Schaft einer Federfahne biegen, bis die concave Seite des-
selben einknickt; auch am Schlüsselbein bei Kindern sind solche Knickun-
gen nicht selten. Was man unter Absplitterung Versteht, ist an sich
klar; Maschinenmesser, Säbelhiebe etc. geben am mefsten dazu Veran-
lassung. Der Knochen kaiin endlich durchbohrt sein, ohne dass seine
Continuität unterbrochen ist; so bei einer Stichwunde durch die Scapula,
bei einem reinen' Schuss durch den Humeruskopf ; letztere Art der Ver-
letzung nennt man wohl eine Lochfractur.
Bei den vollständigen Fracturen spricht man von Querbrü-
^lien, schiefen Brüchen, Längsbrüchen, gezähnten Brüchen,
einfachen und mehrfachen Brüchen desselben Knochens, Splitter-
brüchen (Comminntivbrttchen): Ausdrücke, die alle an sich verständlich
sind. Endlich ist zu erwähnen, dass bei Individuen etwa bis zum zwan-
zigsten Jahre auch eine Trennung der Continuität in den Epiphysen-
knorpeln Statt haben kann, wenngleich dies sehr selten ist und die
Röhrenknochen viel eher an einer anderen Stelle brechen.
Es ist häufig leicht zu erkennen, ob ein Knochen gebrochen ist, und
die Diagnose kann mit Sicherheit von Laien gestellt werden; in anderen
Fällen kann die Diagnose sehr schwierig sein, ja zuweilen kann man
nur mit Wahrscheinlichkeit auf eine Fractur schliessen.
Lassen Sie uns die Symptome nach einander kurz durchgehen:
Zunächst gewöhnen Sie sich, jeden verletzten Theil zuerst genau
zu betrachten, und mit dem gesunden zu vergleichen; dies ist nament-
lich bei den Extremitäten wichtig*. Sie können oft aus der ein-
fachen Betrachtung der verletzten Extremität schon ersehen, welche
13*
196 Voi'i ^^^'1 einfachen Knochenbrüchen.
Verletzung* vorliegt. Sie frag-en den Verletzten, wie er yeruuglttckt
ist, lassen ilm unterdessen vorsichtig' ausziehen, oder falls dies zu
schmerzhaft ist, die Kleider und Stiefel zerschneiden, um den ver-
letzten Theil genau sehen zu können. Die Art und -Kraft der Ver-
letzung" , das Gewicht der etwa aufgefallenen Last kann Ihnen schon
ungefähr andeuten, was Sie zu erwarten haben. Finden Sie jetzt die
Extremität krumm, den Oberschenkel z. B, convex nach aussen verbog-en
und angeschwollen, zeigen sich zugleich Sugillationen unter der Haut,
kann der Kranke die Extremität gar nicht oder nur unter den grössten
Schmerzen rühren, so können Sie mit Sicherheit auf eine Fractur schliessen;
hier brauchen Sie, um das einfache Factum des Knochenbruchs zu con-
statiren, gar keine weitere Untersuchung, Sie brauchen dem Kranken
deshalb keine Schmerzen zu machen; nur um zu wissen, wie und wo
die Fractur verläuft, müssen Sie noch mit den Händen untersuchen ; dies
ist weniger der einzuschlagenden Therapie wegen nöthig, als um vorher-
sagen zu können, ob und wie die Heilung erfolgen wird. — Sie haben
in diesem Fall mit einem Blick die Diagnose gestellt, und so wird es
Ihnen oft in der chirurgischen Praxis leicht sein, das Richtige schnell
zu erkennen, wenn Sie sich gewöhnen, ihre Augen denkend zu gebrauchen,
und wenn Sie sich eine gewisse Uebung in der Beurtheilung normaler
Körperformen aneignen. -Nichtsdestow^eniger müssen Sie sich klar sein,
wie Sie zu dieser schnellen Diagnose gekommen sind. Das erste war
die Art der Verletzung, ferner die Difformität; letztere ist dadurch
bedingt, dass die zwei oder mehre Bruchstücke (Fragmente) des
Knochens sich verschoben haben. Diese Dislocation der Fragmeute
ist die Folge theils der Verletzung selbst (sie werden in der Richtung
vorgetrieben, welche sie bei der abnormen Biegung des Knochens
erhalten), theils der Muskelcontraction, welche nicht mehr auf den ganzen
Knochen, sondern auf einen Theil desselben wirkt; die Muskeln werden
theils durch den Schmerz bei der Verletzung selbst, theils durch die
spitzigen Bruchenden zur Contraction gereizt: es wird z. B. das obere
Stück eines gebrochenen Oberschenkels durch die Flexoreu gehoben, das
untere durch andere Muskeln neben oder hinter dem oberen Bruchende
in die Höhe gezogen, und so muss der Schenkel verkürzt und difform
werden. — Die Anschwellung ist bedingt durch den Bluterguss
(wir sprechen hier von einer eben entstandenen Fractur); das Blut
kommt besonders aus der Markhöhle des Knochens, dann aber auch aus
den sonst zerquetschten oder durch die Knochenenden zerrissenen Ge-
fässen der umgebenden Weichtheile; es scheint bläulich durch die Haut,
falls es bis unter die Haut dringt, was nach und nach geschieht. — Der
Verletzte kann die Extremität, wie bemerkt, nur unter Schmerzen be-
wegen; die Ursache dieser Functionsst örung ist an sich klar, wir
brauchen darüber keine Worte weiter zu verlieren. — Betrachten Sie
jedes einzelne der angegebenen Symptome für sich, so giebt kein einziges,
Vorlesung 14. Ciipifcl V. 107
weder die .Vit der Verletzung, iiocli die Dirfoniiitiit, noch die AnscliwcUiing,
noch der Blutergiuss, iiocIi die l'nnctionsstöruiig nn und für sich den
Beweis für eine Fniclur, und doch ist die C(»nil)ination aller entsciieidend;
so werden Sic in der Praxis noch oft diagnosticircn lernen müssen. —
Indess alle diese Symptome können fehlen, und doch ist eine Fractur
vorhanden. Liegt eine Vei-letzung vor und keine der genannten Erschei-
nungen ist recht entwickelt, oder nur eine oder die andere ist deutlich
vorhanden, so nuiss jetzt die manuelle Untersuchung weiter helfen. —
Was wollen Sie mit den Händen fühlen? machen Sic sich ja gleich jetzt
darüber klar: so oft sehe ich, dass die Herren Praktil^anten lange mit
beiden Händen auf den verletzten Thcilen herumtasten, dem Kranken
unsägliche Schmerzen bereiten und doch schliesslich durch ihre Unter-
suchung nicht weiter gekommen sind. vSie können dreierlei mit den
Händen bei Knochenbrüchen fühlen: 1) abnorme Beweglichkeit,
das einzige so zu sagen pathognomonische Zeichen einer Fractur; hierbei
können Sie sehr häufig 2) erkennen, wie der Bruch verläuft, auch zu-
weilen, ob mehr als zwei Fragmente vorhanden sind ; 3) werden Sie bei
der Bewegung der Fragmente häufig ein Reiben und Knacken der Frag-
mente an einander verspüren, die sogenannte „Crep itation." Crepitiren
heisst eigentlich knarren; dies ist ein Geräusch, und doch sagt man:
man fühlt „Crepitation;" hieran dürfen Sie sich nicht stossen; es ist ein
Abusus dieses Wortes, der aber so in die Praxis tibergegangen ist, dass
er nicht mehr auszurotten wäre; auch weiss Jeder, was er darunter zu
verstehen hat. — Bei einem kunstgerechten Griff fühlen Sie meist in
einem Moment Alles, was Sie überhaupt durch das Gefühl ermitteln
können, und brauchen daher den Kranken zum Zweck dieser Unter-
suchung keineswegs lauge zu quälen. Die Crepitation kann fehlen oder
sehr undeutlich sein; sie entsteht natürlich nur dann, wenn die Frag-
mente bewegt werden können, und wenn sie ziemlich nahe an einander
liegen; verschieben sie sich seitlich in hohem Maasse, oder gehen durch
Muskelcontraction sehr weit auseinander, oder liegt viel Blut zwischen
den Bruchenden, so kann begreiflicher Weise keine Crepitation entstehen,
auch ist sie bei sehr tief liegenden Knochen oft schwer zu erzeugen.
Wenn man also keine Crepitation wahrnimmt, so beweist dies dem ge-
sammten Symptomencomplex gegenüber nicht, dass keine Fractur da ist.
Docli auch wenn Sie Crepitation fühlen, können Sic noch irren in Bezug
auf die Entstehung derselben; ein Gefühl der Reibung können Sie auch
bei anderen Gelegenheiten bekommen; unter gewissen Verhältnissen
kann z. B. das Zerdrücken von Blutcoagulis und Fibrinexsudationen das
Gefühl der Crepitation darbieten; diese weiche Crepitation, die dem
pleuritischen Reibungsgeräusch analog ist, dürfen und werden Sie bei
einiger Uebung im Untersuchen nicht mit der Kuochencrepitation ver-
wechseln; ich werde Sie bei Gelegenheit noch auf andere Aveiche
Reibungsgeräusche, die zumal im Schultergelenk bei Kindern und älteren
][Qg Von den einfachen Knochenbrüchen.
Leuten vorkommen, aufmerksam machen. — Für den Geübten kann bei
gewissen Fracturen der auf einen bestimmten Punkt fixirte heftige
Schmerz für die richtige Diagnose genügen, zumal da bei einfachen
Contusionen der Schmerz beim Angreifen des Knochens meist diffuser,
selten so heftig ist wie bei einer Fractur. Untersucht mau an den
Extremitäten, so umfasst man dieselben am besten mit beiden Händen
an der Stelle, wo man den Bruch vermuthet, und sucht hier eine Be-
wegung zu machen; man übt diese Manipulation sicher, aber natürlich
ohne rohe Gewalt aus. — lieber die Dislocation der Fragmente
muss ich noch etwas nachholen; dieselbe kann sehr verschiedenartig
sein , dennoch aber lassen sich die Verschiebungen in gewisse Arten
theilen, die von Alters her mit bestimmten heute noch gebräuchlichen
Terminis techuicis bezeichnet sind, mit denen ich Sie daher behelligen
muss. Die einfach seitliche Verschiebung der Fragmente nennt man
Dislocatio ad latus; bilden die Fragmente einen Winkel wie ein
geknickter Stab, so heisst dies Dislocatio ad axin. Ist ein Fragment
um seine Axe mehr oder weniger gedreht, so sagt man dazu: Dislocatio
ad peripher! am; sind die Bruchenden eins am andern in die Höhe
geschoben, so ist dies eine Dislocatio ad longitudinem. Die Aus-
drücke sind kurz und bezeichnend und leicht zu merken, zumal wenn
Sie sich durch ein paar schematische Zeichnungen die Verschiebungen
darstellen.
Wir gehen jetzt zur Schilderung des Verlaufes über, welchen die
Fracturheilung weiterhin nimmt. Was geschieht, wenn kein Verband
angelegt wird, Averden Sie selten zu beobachten Gelegenheit haben, da
die Verletzten in den meisten Fällen bald den Arzt rufen lassen. Doch
zuweilen wird von den Laien die Bedeutung der Verletzung unterschätzt;
es gehen mehre Tage darüber hin, bis endlich Schmerzhaftigkeit und
Dauer des Leidens den Kranken veranlassen, sich an den Arzt zu
wenden. In solchen Fällen finden Sie ausser den früher schon angege-
benen Symptomen der Fractur ein starkes Oedem, selten entzündliche
Röthung der Haut in der Umgebung der Bruchstelle; die Untersuchung
kann unter solchen Umständen sehr schwierig werden; zuweilen ist
die Anschwellung so bedeutend, dass an eine exaete Diagnose über
Verlauf und Art der Fractur gar nicht zu denken ist. Je früher mau
also zu einer Fractur hinzukommt, um so besser ist es. — An Knochen,
die oberflächlich liegen, und die man nicht mit einem Verband umgeben
kann, lassen sich die weiteren äusseren Veränderungen an der Bruch-
stelle am besten studiren; so beim Bruch des Schlüsselbeins. Hat nach
7 — 9 Tagen die entzündlich-ödematöse Schw^ellung der Haut abgenommen,
das Blutextravasat seine Verfärbungen durchgemacht, und schickt es
sich zur Resorption an, so bleibt eine feste unbeweglich um die Bruch-
stelle liegende Geschwulst von derber Consistenz zurück, die je nach der
Dislocation der Fragmente grösser oder kleiner ist; sie ist gleichsam um
Vorlesung 14. Capitel V. ■ 199
die Fragmente hermugegossen und wird im Laufe der folgenden 8 Tage
knorpelliart; man nennt dien den Oallus. Druck auf denselben (die
Fragmente sind nur schwer durchzufühlen) ist noch schnicrzhaft, wenn-
gleich weniger als früher. Später wird der Calius absolut fest, die
Bruchenden sind nicht meiir l)eweglicli, die Fractur ist als geheilt zu
betrachten; dies dauert bei der Clavicula etwa 3 Wochen, bei kleineren
Knochen kürzere, bei grösseren viel längere Zeit. Hiermit sind Jedoch
die äusseren Veränderungen nicht beendet; der Calius bleibt nicht so
dick wie er war; im Verlauf von Monaten und Jahren wird er noch
wieder dünner, und wenn keine Dislocation der Fragmente bestand, so
wird man später gar nichts an dem Knochen bemerken; Ijestand eine
Dislocation, die bei der Behandlung nicht gehoben werden konnte, so
heilen die Knochenenden schief zusammen und nach Schwund des Calius
bleibt der Knochen krumm.
Um zu- erfahren, welche Vorgänge hier in der Tiefe Platz greifen,
wie hier die Verwachsung der Brucheuden vor sich geht, greifen w^ir zu
Experimenten an Thieren; wir machen künstlich Fracturen an Hunden
oder Kaninchen, legen einen Verband an, tödten die Thiere zu verschie-
denen Zeiten und untersuchen dann die Fractur ; so können wnr uns eine
vollkommene Anschauung von den Vorgängen verschaffen.. Diese Ex-
perimente sind schon unzählige Male gemacht worden, die Resultate sind
im Wesentlichen stets gleich, doch bieten sich, wenn wir nur zunächst
beim Kaninchen stehen bleiben, einige Verschiedenheiten dar, w-elche,
wie sich bei einer grossen Keihe von Experimenten herrausstellt, von
dem Grade der Dislocation und von der Grösse des Blutextravasats
abhängig sind. Ehe ich Hmen daher eine Suite solcher Präparate
zeige, muss ich Ihnen das Gesammtresultat dieser Untersuchungen
vorlegen und durch einige schematische Zeichnungen erläutern, dann
werden Sie später die kleinen Modificatlonen an den Präparaten leicht
verstehen.
Wir halten uns zunächst an das, was wir mit freiem Auge und etwa
mit der Lupe sehen. Untersuchen Sie 3 — 4 Tage nach der Fractur das
Kauinehenbein und sägen den in einen Schraubstock gespannten Knochen
der Länge nach durch, so finden Sie Folgendes: die Weichtheile rund
herum um die Fracturstelle sind geschwollen, elastisch fest anzufühlen:
die Muskeln und das Unterhautzellgewebe von speckigem Aussehen;
diese geschwollenen Weichtheile bilden eine spindelförmige, nicht sehr
dicke Geschwulst um die Fracturstelle. Um die Bruchenden herum findet
man etwas extravasirtes Blut von dunkler Farbe, auch die Markhöhle
des Knochens ist an den Bruchenden etwas blutig infiltrirt; die Menge
dieses ausgetretenen Blutes ist sehr verschieden, bald sehr unbedeutend,
bald ziemlich erheblich; das Periost ist an den Brucheuden wohl zu
erkennen und hängt mit den andern geschwellten (plastisch iufiltrirteu)
Weichtheilen inniger zusammen; zuweilen ist es an den Brucheuden
- 200
Von den einfachen Knochenbrüc-hen.
etwas vom Knochen abgelöst. — Das Bild stellt sieh also im Ganzen
etwa in folgender Weise dar (Fig. 49):
,,, Untersuchen wir jetzt eine Fractur beim
hiEf. 41). "^
Kaninchen nach 10 — 12 Tagen, so finden wir,
dass das Extravasat entweder ganz verschwun-
den, oder nur nocu in geringen Resten vorhan-
den ist, wobei ich dahin gestellt sein lasse, ob
es wirklich total resorbirt, oder theilweis mit zu
Callus organisirt wird ; die spindelförmige An-
schwellung der Weichtheile hat zum grössten
Theil Aussehen und Consistenz von Knorpel,
verhält sich auch mikroskopisch so; auch in
der Markhöhle finden wir junge Knorpelbildung
in der Nähe der Fractur. Der gebrochene
Knochen steckt in diesem Knorpel so, als wenn
man die beiden Fragmente in Siegellack ge-
taucht und zusammengeklebt hätte ; das Periost
ist in der Knorpelmasse noch leidlich deutlich
kenntlich, doch ist es geschwellt und seine
Conturen sind verwischt. Wenngleich schon
jetzt junger Knochen im Callus gebildet ist, so kann derselbe in diesem
Stadium doch nur mit dem Mikroskop
erkannt werden; mit freiem Auge sieht
man nur Spuren von Knocheubildung;
erst nach einigen Tagen (etwa am 14.
bis 20. Tage nach der Fractur) nimmt
man dieselbe auch mit unbewaffnetem
Auge ganz deutlich wahr. Man erkennt
nun (s. Fig. 50) in der Nähe der Bruch-
enden jungen weichen Knochen und zwar
1) in der Markhöhle (a), 2) unmittelbar
auf der Corticalschicht (6), und zwar
ziemlich weit nach oben und unten, unter
dem Periost, welches in der ganzen
spindelförmigen Callusgeschwulst aufge-
gangen ist; 3) in der Peripherie des zum
grössten Theil noch knorpligen Callus
(c). Das Periost, w-elches früher inner-
halb des Callus lag, ist jetzt verschwun-
den, dafür hat sich aussen auf dem Callus
eine verdickte Gewebsschicht gebildet,
welche das neue Periost darstellt (r/).
Die junge Knochenmasse ist weich, weiss
und in ihr ist eine Art von Structur
4 Tage alte Fractur eines
Kaninchenknochens ohne Dis-
location. Längsschnitt; na-
türliche Grösse, a Blutextra-
vasat; b geschwollene Weich-
theile, äusserer Callus ;
c Periost.
Fi^. 50.
15 Tage alte Fractur eines Röhren-
knochens. Längsschnitt. Nach einem
Präparat schematisirte Zeichnung.
a Innerer Callus; b innere, c äussere
Verknöcherungsschicht des äusseren
Callus; d neues Periost. Die Di-
mensionen des Callus sind im Ver-
hältniss zur fehlenden Dislocation der
Fragmente viel zu gross gezeichnet;
doch erleichtert dies das vorläufige
Verständniss.
Vorlesung II. Capilel V.
201
Fiff. 51.
sichtbar, indem iiiimlicli kleine, |)anillcl liegende Knochenstiiekclien, der
Queraclise des Knochens cnts[)rechend , znnial I)ei der Betrachtung- mit
der Lupe deutlich zu erkennen sind. Der aus den sämmtlichen
undiegenden Weichtheilen hervorgegangene knorplige Callus, in welchem
auch das Periost mit einbezogen ist, bihlct jetzt ein abgeschlossenes
Ganze und verknöchert nun theils von aussen (c), theils von innen
(6) vollständig, i»is endlich die Knochenenden im knöchernen Callus
stecken, wie sie vorher im knorpeligen steckten. Diesen knöclicrnen
Callus, der durchweg aus spongiöser Knochensubstanz besteht, nennt
man nach Dupuytren den „provisorischen Callus"; mit seiner
Vollendung ist in den meisten Fällen der Knochen fest genug, um
wieder functionsfähig zu werden. Doch ebensowenig wie die kaum
fertige Narbe der Weichtheile ein stabiles Gewebe ist, ebensowenig
bleibt der Callus so wie er jetzt ist; eine Reihe von Veränderungen
gehen im Verlauf von Monaten und Jahren in ihm vor; denn bis jetzt
können Sie immer noch das Bild der yiegellackverklel)ung anziehen,
und das ist eigentlich noch keine wahre organische Verschmelzung. Die
starre Corticalsubstauz ist nur durch lockere junge Knochenmasse bis
jetzt verbunden, die Markhöhle ist mit Knochen verstopft; die Heilung
ist noch keine solide, die Natur thut weit mehr. Die Veränderungen,
welche in der Folge vor sich gehen,
wollen wir jetzt studiren: sie beziehen
sich auf die spongiöse Substanz des Callus.
Diese hört zu einer bestimmten Zeit auf,
sich zu vergrössern, und verändert sich
nun in der Weise, dass einerseits die in
der Markhöhle gebildete Knochensubstanz
resorbirt wird (Fig, 51), andrerseits auch
von dem äusseren Callus ein grosser Theil
verschwindet. Unterdessen ist auch eine
Neubildung von Knochen zwischen der
durchgebrochenen Corticalschicht einge-
treten, so dass diese solide verwachsen
ist, wenn der äussere und innere Callus
schwindet. Diese verbindende Knochen-
substanz zwischen den Fragmenten selbst
nimmt allmählig an Dichtigkeit in einem
solchen Maasse zu, dass eine Härte des
Knochens wieder erreicht wird, wie sie
sich sonst in der normalen Corticalsubstanz findet. Auf diese Weise wird
also, falls keine oder nur eine unbedeutende Verschiebung der Fragmente
vorhanden war, der Knochen bis zu einem solchen Grade vollständig Avieder
hergestellt, dass man weder am lebenden Individuum noch bei der
Untersuchung des Präparats die Fracturstelle zu bezeichnen weiss.
Fractur eines Kaninchenknoeheiis
nach 24 Wochen. Längsschnitt.
Fortschreitender Resorptionsprocess
des Calhis. Neubildung der Mark-
höhle; natürliche Grösse (nach Gurlt).
202 ^on den einfachen Knoehenbrüchen.
Die beschriebenen Veränderungen bilden sich bei einem Röhren-
knochen des Kaninchens, welcher mit möglichst geringer Dislocation
geheilt ist, in etwa 26—28 Wochen aus, dauern jedoch bei den Röhren-
knochen des Menschen bedeutend länger, so weit man im Stände ist,
dies aus Präparaten, die man zufällig hier und da zu untersuchen be-
kommt, zu erschliessen.
Der ganze Vorgang, so vortrefflich von der Natur eingerichtet, ist
im Wesentlichen auf Processe zurückzuführen, die wir auch bei der
normalen Entwicklung der Röhrenknochen beobachten, indem nämlich
auch dort ganz ähnliche Resorptious- und Verdichtungsprocesse in der
Markhöhle und Corticalschicht der Röhrenknochen vor sich gehen, wie
wir sie soeben am Callus kennen gelernt haben. Es giebt ausser der
Regeneration der Nerven keine so vollständige Wiederherstellung eines
zerstörten Theiles des menschlichen Körpers, als wie Avir sie am Knochen
kennen gelernt haben.
Noch einige Bemerkungen muss ich über die Heilung platter und
spongiöser Knochen hinzufügen. Was die ersteren betrifft, von denen
wir am häufigsten die Heilung von Fissuren an Schädelknochen zu
beobachten Gelegenheit haben, so ist bei ihnen die Entwicklung des
provisorischen Callus äusserst gering und scheint zuweilen selbst ganz
zu fehlen. Bei der Scapula, wo eher Dislocationen kleiner, halb oder
ganz ausgeschlagener Fragmente vorkommen, bilden sich schon leichter
äussere Callusbildungen, wenngleich sie auch hier niemals eine irgend-
wie erhebliche Dicke erreichen. — Die Aneinanderheilung der spongiösen
Knochen, bei denen in der Regel auch keine grosse Dislocation Statt zu
finden pflegt, ist ebenfalls mit geringerer äusserer Callusentwicklung
verbunden, als bei den Röhrenknochen, während dagegen die Räume der
spongiösen Substanz in der unmittelbaren Nähe der Fractur mit Kuochen-
substanz ausgefüllt werden, von der später allerdings ein Theil wieder
verschwindet.
Etwas complicirter werden sich begreiflicher Weise die Verhältnisse
gestalten müssen, wenn die Knochenenden sehr stark dislocirt sind, oder
wenn einzelne Fragmente ganz ausgebrochen und zugleich dislocirt sind.
In solchem Falle entsteht theils von der ganzen Oberfläche der dislo-
cirten Knochenstücke und von der Markhöhle aus, theils auch in den
Weichtheilen zwischen den Fragmenten eine so reichliche Callusentwick-
lung, dass hierdurch die gesammten Fragmente in einer gewissen Lauge
von Knochenmasse umgeben und organisch zusammengelöthet werden.
Je grösser durch die Dislocation der Fragmente der Reizungsbezirk wird,
um so ausgedehnter die formative Reaction.
Man hat am häufigsten Gelegenheit, die Callusbildung von stark
dislocirteu Fracturen an der Clavicula beim Menschen zu beobachten,
wobei sich leicht herausstellt, dass mit der Grösse der Disloca-
tionen auch der Umfang der neugebildeten Knochensubstanz
Vorlesung 14. Capitel V.
203
Fig. 52.
Fig. .5;').
Stark dislocirte, 27 Tage alte Fraetur
einer Kaninchen -Tibia mit reichlicher
äusserer Callusbildung; natürliche Grösse;
nach Skutsch bei Gurlt (Knochen -
brüche Bd. I. pag. 270).
Alter geheilter Schrägbruch der
Tibia vom Menschen; die Frag-
mentenden durch Resorption ab-
gestumpft, der äussere Callus re-
sorbirt; die Markhöhlenbildung
unvollendet; verkleinert; nach
Gurlt 1. c. pag. 287.
in gradem Verhältniss zunimmt. Sie begreifen wohl, wie auf
diese Weise mit grossem Aufwand von neugebildeter Knochensubstanz
eine vollständige Festigkeit selbst bei einer grossen Unförmlichkeit an der
gebrochenen Stelle zu Stande kommen kann. Doch glaubt man kaum,
ohne sich an derartigen Präparaten zu überzeugen, dass im Verlauf der
Zeit auch in solchen Fällen die Natur die Mittel besitzt, durch Resorptions-
und Verdichtungsprocesse nicht allein die äussere Form des Knochens
(mit Ausnahme der Biegung und Drehung), sondern auch eine Markhöhle
wieder herzustellen. Eine grosse Menge von Spitzen, Höckern, Uneben-
heiten und Rauhigkeiten aller Art, welclie sich an dem noch jungen
Callus in solchen Fällen vorfinden, verschwinden im Laufe von Monaten
und Jahren in solchem Maasse, dass auch hier nur eine etwas verdickte,
compacte Corticalsubstanz übrig bleibt. (Fig. 53.)
Es ist von Interesse, nachzuspüren, woher denn eigentlich die neu-
gebildete Knochensubstanz kommt, durch welche hier so vollständige
Resultate in Betreff der Knochenvereinigung erreicht werden; ist es der
Knochen selbst, ist es das Periost, sind es die umliegenden Weichtheile,
welche die neugebildete Knochenmasse produciren? oder verwandelt sich
204
Von den einfachen Knochenbviichen.
gar das Blutextravasat in Knochen, wie es von älteren Beobachtern be-
hauptet worden ist? Muss stets der Knochenbildung die Knorpelbildung
vorausgehen, oder ist dies nicht nöthig? Das sind Fragen, die bis auf
die neueste Zeit sehr verschieden beantwortet sind. Zumal hat man dem
Periost bald eine bedeutende Knochen producirende Kraft zugesprochen,
bald dieselbe verneint. Ich will Ihnen im Folgenden kurz das Eesultat
meiner Untersuchungen über diesen Gegenstand mittheileu.
Die Neubildung, welche nach der Fractur entsteht, findet sich in dem Mark und in
den Haversischen Canälen des Knocliens, im Periost und in den nahegelegenen Muskeln und
Sehnen infiltrirt; ob auch das Blutextravasat zur Callusbildung beiträgt, muss ich dahin
gestellt sein lassen; ein grosses Extravasat stört hier, wie hei der Heilung von Weich-
theilwunden, da nur ein kleiner Theil organisirt wii'd, der grösste Theil aber resorbirt
werden muss. Die entzündliche Neubildung selbst besteht auch hier zuerst aus kleinen
rundlichen Zellen, deren Zahl sich massenhaft vermehrt, und welche die genannten Ge-
webe infiltriren, dann fast ganz an ihre Stelle treten. Ehe wir das Schicksal dieser
Zellenbildung weiter verfolgen, muss ich kurz darauf eingehen, wie dieser Vorgang
sich in den Haversischen Canälen gestaltet; die Zelleninfiltration im Bindegewebe
des Knochenmarks bietet nichts Besonderes dar, nur dass die Fettzellen des Markes in
dem Maasse schwinden, als die Wanderzellen das Terrain erobern. Denken Sie sich
unter folgender Figur (Fig. 54) die Oberfläche des Knochens in der Nähe einer Fractur;
die Haversischen Canäle münden, wie Sie wissen, an die Oberfläche der Knochen, in
ihnen liegen Blutgefässe, um dieselben etwas Bindegewebe.
Fig. 54.
Längsschnitt durch ein Stück Corticalschicht eines Köhrenknochens in der Nähe einer
Fractur. a Oberfläche; ö Haversische Canäle mit Blutgefässen und Bindegewebe; c Periost.
Schematische Zeichnung. Vergrösserung 400.
Es treten zunächst massenhaft Zellen zwischen den Biudegewehsbündeln in den
Haversischen Canälen auf; würde diese Zelleninfiltration eine sehr rapide sein, so müssten
dadurch die Blutgefässe vollständig cumprimirt Averdcn und der Knochen würde hier ab-
sterben, ein Vorgang, den i'rir später noch kennen lernen werden. Erfolgt aber die
Zellenvermehrung in den Haversischen Canälen -langsam, so geht eine allmählige Resorption
der Wandungen dieser Canäle, und zwar, wie es scheint, durcli die ontzttndiicho Neu-
bildung selbst vor sich, die Canäle werden weiter, von Zellen ausgefüllt, und zugleich
vermehren sich die Blutgefässe durch Schlingenbildungen.
Nach den Beobachtungen von Cohnheim können wir annehmen, dass auch beider
Knochenentzündung die jungen Zellen in den Haversischen Canälen nicht alle neugebildet
Vin-losunf; 14. Ciipilel V.
205
sind, sondern zum grosscMi 'JMicil uns den Bliilgi^rilsscn uiisgetrolcne weisse liliiiy.cllcii
sind. Dies ändert für den weiteren Verlauf niclils.
Wenden wir uns den Formverändeningen zu, welelie wir nun .•ui d(U)i Knochen-
gewebe beobaeliten ! Da das Bindegewebe der KnoclKMieanäle sowohl iiiil dem Periost
als mit dem Mark in eontiiniirliehem Zusammenhange slclit, so iiäiigt auch die Zelleii-
infiUration, weleiie im Knoehen, Periost und Mark erfolgt, sofort continnirlieh zusammen.
Die Ursaehe des Knoehenschwundes an den Wandungen der Haversisehen Canäle , die
Lei dieser wie bei vielen anderen Neubildungen im Knochen Statt findet, ist sehr schwierig
zu erklären; dass das Bindegewebe und die Muskelsubstanz, so wie andere weiche Ge-
bilde schwiudon, wenn die entzündlii.-he Neubildung in ihnen Platz greift, frappirt weniger;
dass aber die harte Knochenmasse dabei aufgelöst wird, ist freilich sehr auffallend. Das
Bild, wie es sich nadi diesem Vorgang schematisch darstellt, ist folgendes (Fig. 55):
Fig. 55.
Entzündliche Neubildung in den Haversisehen Ganälen. a Oberi3äche; hh Haversiscbe
Canäle, erweitert, mit Zellen und neuen Gefässen erfüllt; c Periost.
Schematische Zeichnung. Vergrösserung 400.
Sie sehen, dass die Erweiterung der Knochencanäle keine gleichmässige ist, sondern
eine buchtige; der Knochen erscheint wie ausgenagt; dies ist nicht nothwendig immer so,
sondern der Schwund des Knochens kann auch ein mehr gleichmässiger sein; diese Aus-
buchtungen entstehen hier meiner Ansieht nach durch gnippenweise Anhäufung von Zellen,
meist Eiesenzellen, wie man sie auch im Mark normaler junger Knochen findet und die
nach Wegner's Beobachtungen häufig aus den Gefässwandungen hervorwachsen, oder
durch die Gefässschlingen selbst, welche sich gegen das Knochengewebe vorschieben
und es dabei zum Schwund bringen. Virchow und Andere sind der Ansicht, dass
diese Buchten den Ernährungsterritorien einzelner Knochenzellen, welche bei diesem
Process zur Resorption des Knochens mitwirken sollen, entsprechen; ich glaube dies
dadurch widerlegt zu haben, dass ich den Beweis lieferte, dass auch todte Knochen-
stücke und Elfenbein in gleicher Weise von der entzündlichen Neubildung angegriffen
werden, wovon mehr bei der Besprechung der Pseudarthrosen. — Wodurch die Lösung
der Kalksalze des Knochens bei dieser Resorption erfolgt, ist bis zur Zeit unbekannt; für
wahrscheinlich halte ich es, dass die Neubildung im Knochen Milchsäure entwickelt, dass
dadurch der kohlensaure und phosphorsaure Kalk in löslichen milchsaurem Kalk umge-
wandelt, nnd dieser durch die Gefässe resorbirt und fortgeführt wird; dies ist jedoch
nur Hypothese. Es wäre auch möglich, dass durch die entzündliche Neubildung zu-
nächst die organische Gi'undlage des Knochens, der sogenannte Knochenknorpel, aufgelöst
würde, worauf daiyi eine leichte Zerbröckelung der Kalksubstanz erfolgen müsste ,;- deren
Moleküle eventuell selbst in ungelöstem Zustande abgeführt werden könnten. Mit so
vielen Chemikern und Physiologen ich auch über diesen Gegenstand gesprochen habe,
206 ^'^'^'1 '^^'i einfachen Knnchenbrüchen.
so hat mir doch Keiner bisher eine einfache Erklärnng dieses Vorganges geben , auch
Keiner eine Methode des Experimentirens angeben können, dnrch welche man die be-
treffende Frage sicher zu lösen im Stande wäre.
Denken Sie in den vorgeführten Abbildungen an Stelle der Knochenobei-fläche die
Bruchfläche, wo natürlich kein Periost aufliegt, so werden Sie verstehen, wie aus dieser
Bruchfläche in der beschriebenen Weise die Neubildung (der junge Callus) aus den
Haversischen Canälen herauswächst, der gleichen Neubildung von dem andei-n Fragment
her begegnet und mit dieser verschmil'zt, wie bei der Zusammenheilung weicher Theile.
Es ist von selbst klar, dass der auf diese Weise von der entzündlichen Neubildung duroli-
wachsene Knochentheil in Folge der Eesorption, welche an den Wandungen der Canäle
Statt hat, porös werden muss; maceriren Sie einen Knochen in diesem Stadium, so dass
die ganze junge Neubildung herausfault, so muss der trockne Knochen da wo ihm aussen
und im Mark junge Knochenmasse angelagert ist , bis auf eine wenn auch meist sehr
geringe Tiefe porös sein.
Ich muss nochmals hervorheben, dass wir hier in Zeichnungen und Darstellung der
Deutlichkeit wegen die Ausdehnung der Callusbvldung weit grösser angenommen haben,
als sie in Wirklichkeit zu sein pflegt, und da§s auch hier wie bei den Weichtheilver-
letzungen die regenerativen Vorgänge nach einfachem Trauma sich unter normalen Ver-
hältnissen nicht sehr weit und nicht sehr tief zu erstrecken pflegen, sondern eben nur
das zur Heilung Nothwendige, äusserst selten einen Ueberschuss leisten.
Wir haben in dieser ganzen Darstellung der Knochenzellen oder sternförmigen
Knochenkörperchen nicht erwähnt; ich habe die Ueberzeugung, dass sie bei diesen Vor-
gängen ebenso wenig eine Rolle spielen wie die fixen Bindegewebszellen im Entzündungs-
heerd, dass sie vielmehr mit dem Knochengewebe, wie in anderen weichen Geweben '
bei einer gewissen Höhe des Entzündungsprocesses aufgelöst werden und keinen Antheil
an der entzündlichen Neubildung im Knochen haben. lieber diesen Punkt herrschen
Meinungs-Differenzen, indem von manchen Forschern angenommen wird, dass die Knochen-
zellen in den sternförmigen Knochenlücken selbst sich theilen und das Callusgewebe liefern,
wobei natürlich das Knochengewebe in der unmittelbaren Umgebung der Knochenkörperchen ^
schwinden muss. Ich gebe dies für die weichereu periostalen Knochenschichten wachsender
Thiere unbedingt zu; dass es bei dem fertigen Corticalgewebe ausgewachsener Eöhren-
knochen, mit dem wir uns hier beschäftigen, vorkommt, scheint mir nicht bewiesen.
Wir kennen bis jetzt diese Neubildung- nur in dem Zustand, in
welchem sie wesentlich aus Zellen und Gefässen besteht, wie unter
gleichen Verhältnissen an den Weich theilen; würde jetzt wie dort die
Kückbildung- in eine Bindegewebsnarbe erfolgen, so würden wir keine
solide Knoehenheilung, sondern eine Bindegewebsvereinigung, einePseud-
arthrose (von ipsvdt'jg, falsch, agd^giooig, Gelenk), ein falsches Gelenk
bekommen; diesen Ausnahmefall besprechen wir später. Unter normalen
Verhältnissen verknöchert hier die Neubildung vollständig, wie Sie schon
wissen. Diese Verknöcherung kann entweder direct erfolgen, oder nach-
dem zuvor die entzündliche Neubildung in Knorpel umgebildet war. Sie
wissen, dass beim normalen Wachsthum der Knochen auch beides vor-
kommt, directe Verknöcherung junger Zellen, wie sie z. B. in dem Periost
des wachsenden Knochens liegen, oder Knorpelbildung mit nachträglicher
Verkuöcherung , wie bei dem ganzen knorplig präformirten Skelet und
beim Längenwachsthum der Knochen. Der Callus bei Fracturen verhält
sich bei Thieren und Menschen in dieser Hinsicht sonderbar verschieden.
V..il.-;mi<.; 14. Capilvl V.
Fi-. 5G.
207
VerkiKk-hernde entzüiulliehe Neubildung auf der Knoeheuoberfläche und in den Haver-
sischen Canälen. Osteoplastiscbe Periostitis und Ostitis. Scbematische Zeichnung.
Vergrösserung 400.
Der junge Callus bei Kaiiinclien pflegt stets in Knorpel umgebildet zu
werden, elie er verknöchert, ebenso bei Kindern. Bei älteren Hunden
verknöchert gewöhnlich der Callus direct, ebenso beim erwachsenen
Menschen ; wir sind weit entfernt, die ursächlichen Momente dieser Ver-
schiedenheiten zu kennen.
Kehren wir, um uns eine vorläufige histologisclie Vorstellung von diesen Vorgängen
zu machen, vorläufig wiedei" zu unsrem früheren schematischen Bilde zurück (Fig. 55),
so müssen Sie sich vorstellen, dass die Zellen, welche in den durch Resorption entstan-
denen Lücken der Haversischen Canäle und der Knochenoberfläche liegen, sehr bald
verknöchern und zunächst diese Lücken (Fig. 56) füllen, dann aber sich auf der Ober-
fläche und im Mark anhäufen, und so den äusseren und inneren Callus bilden. Eine
Periostitis und Ostitis, welche vorwiegend oder ausschliesslich zur Bildung von neuem
Knochen führt, nennen wir eine osteoplastische; im vorliegenden Fall ist der Callus
das Resultat einer traumatischen osteoplastischen Ostitis.
Fig. 57.
Künstlich injicirter äusse-
rer Callus von geringer
Dicke an der Oberfläche
einer Kaninchen -Tibia in
der Nähe einer 5 Tage
alten Fractur. Längsschnitt.
a Callus; b Knochen. Ver-
grösserung 20.
{>' t ) r ^
^ r
208
Von den einfachen Knochenbrüchen.
Künstlich injicirter Querschnitt der
Tibia eines Hundes aus der unmittel-
baren Nähe einer 8 Tage alten Fractur.
n innerer Callus ; b äusserer; ccCor-
ticalschicht des Knochens. Vergrösse-
run£c 20.
Fig. 58. Das Periost geht, wie schon früher be-
merkt, in der Neubildung und im verknöchernden
Callus auf, dafür bildet sich aussen um den Callus
ein dichtes Bindegewebe aus, welches zum neuen
Periost wird. Zur Erläuterung der Vorgänge am
Periost will ich Ihnen noch einige Präparate de-
monstriren. Sie sehen (Fig. 57) den eigenthümlich
gestreckten, fast rechtwinklig auf den Knochen
gerichteten Vex'lauf der stärkeren Gefässstämmchen,
welche durch den jungen äusseren Callus in den
Knochen eintreten. Die V^rknöcherung des Callus
tritt zunächst mantelartig um diese Gefässe hei'um
ein, und so entstehen die kleinen Knochensäulchen,
welche sich zuei'st im äusseren Callus zeigen
(vergl. die Bemerkungen zu Fig. 50).
Eine gute Uebersicht für die Bildung des
äusseren (periostalen) und inneren (endostalen)
Callus gewinnen Sie durch folgenden (wenn auch
nicht ganz vollständigen) Querschnitt der Tibia
eines Hundes, aus der unmittelbaren Nähe einer
8 Tage alten Fractur, wobei Sie auch die Gefässe der
Corticalsubstanz beachten müssen, die im Verhält-
niss zum Normalen ziemlich erweitert sind (Fig. 58).
Endlich betrachten Sie noch das folgende
Präparat. Es ist ein bereits verknöcherter, äusserer
Callus an der Oberfläche eines Eöhrenknochens
in der Nähe einer Fractur (Fig. 59).
Fassen wir den ganzen Vorgang noch einmal zusammen, so ergiebt
sich, dass sowohl das Zelleninfiltrat im Knochen selbst, als in
sämmtlichen umliegenden Theilen zur Callusbildung beiträgt,
und somit das Periost dabei keine exclusiv osteoplastische
Eolle spielt. Man hätte dies eigentlich schon a priori daraus schliessen
können, dass, falls das Periost allein den äusseren Callus bildete, wie
man früher annahm, die periostfreien Stellen des Knochens, z. B. Stellen,
wo sich Sehnen am Knochen ansetzen, keinen Callus bilden könnten,
was der Beobachtung direct zuwiderläuft. Auch bei dem normalen
Wachsthum spielt das Periost keineswegs die ausschliesslich osteoplasti-
sche Rolle, die ihm von manchen Autoren zuertheilt wird, indem man
die Schicht junger Zellen, welche der Oberfläche des Knochens anliegt
und sich in die Haversischen Canäle fortsetzt, mit ebenso viel Recht dem
Knochen als dem Periost angehörig betrachten kann. Neuere Unter-
suchungen über Knochenwachsthum von J, Wolff machen es sogar sehr
wahrscheinlich, dass die Knochen auch durch interstitielle Einlagerung
jungen Knochengewebes nach allen Richtungen hin zunehmen, und somit
das Appositionswachsthum der Knochen durch die Epiphysenknorpel
und das Periost nicht mehr die einzige Quelle für die Längen- und
Dicken-Zunahme der Knochen sein würde; dass letztere Art des Knoehen-
wachsthums zweifellos besteht, e-eht zumal auch aus einer vortrefflichen
VorlosiiiiiT 14. Canilcl V'
209
Flg. 59.
-///:
Verknöeliernder Callus an der Oberfläche eines Röhrenknochens in der Nähe einer Fraetnr.
Längsschnitt, Vergrösserung 300. Man sieht, dass der verlvnöchernde Calhis niclit auf
das Periost bescliränkt ist, sondern zwisclien die Muskeln hineinreiclit.
Arbeit von Wegner über die osteoplastische Wirkung' des Phosphors
auf wachsende Knochen hervor, so wie aus einer neuesten experimentellen
Arbeit des gleichen Autors, welche ebenso wie eine Arbeit von Maas
die Anschauungen über Kuochenwachsthum von Flourens wieder ganz
in ihre alten Rechte einsetzt.
Icli will Ilinen nicht verhehlen, dass die von mir besonders hartnäckig vertheidigte
Ansicht, wonach die Knochenzellen bei den Neubildungen innerhalb des Knocliens nicht
proliferiren, sondern sich ganz passiv verhalten, vielfach angegriffen ist; nachdem Cohn-
heim die Passivität der stabilen Bindegewebskörperchen im Entzündungsheerd nachgewiesen
hatte, befremdet freilich jene von mir schon vor vielen Jahren ausgesprochene und auf
zahlreiche Beobachtungen gegrihidete Ansicht nicht melir; dennoch ist die Deutung der
betreffenden Präparate nicht immer so einfach, nm nur einer Auffassung Raum zu geben.
Lossen hat neuerdings durch sehr sorgfältige Untersuchungen über die histologischen
Vorgänge bei Umbildung des provisorischen in den definitiven Knochencallus darzuthun
gesucht, dass die Knochenzellen des ersteren an der Bildung von Gefässcanälen für den
letzteren durch Erweiterung und Lageänderungen activen Antheil nehmen. Ich kann dies
als vollkommen richtig zugeben, ohne von meiner obigen Ansicht abzugehen, denn der
provisorische Callas ist wie das junge Osteophyt verkalktes Bindegewebe, wie gewisse
Grenzschichten zwischen Knorpel und Knochen verkalkter Knochen sind. Dass die Zellen
dieses „Osteoidknorpels" (Virchovvr) wie die Zellen des hyalinen Knorpels zmnal auch
Billroth chiv. Path. n. Therap, 7. Aufl, X4
210 Von den einfaelien KnoplienbrüfliPii.
vor der definitiven Umbildung zu wahren Knochen proliferiren , daran zweifle ich nicht.
Weiter anf die liistologischen Details einzugelien, die bei allem Interesse, das sie an nnd
für sich haben, doch ohne wesentlichen Einflnss auf die definitiven Gestaltungen der Neu-
bildungen im Knochen sind, ist hier nicht der Ort.
Vorlesung 15.
Bejiandlung einfacher Fracturen. Einrichtung. — Zeit des Anlegens des Verbandes.
Wahl desselben. ■ — G)'psverbände, Kleisterverbände, Schienenverbände, permanente Ex-
tension ; Lagerungsapparate. — Indicationen für die Abnahme des Verbandes.
Wir wollen jetzt gleich zur Behandlung- der einfachen oder subcu-
tanen Fracturen übergehen und haben dabei vorzüglich Fracturen der
Extremitäten im Sinn, denn diese sind die überwiegend häufigeren, und :
bedürfen auch vorwiegend einer Behandlung durch Verbände, während
man die Fracturen im Bereich des Truncus und des Kopfs weniger
durch Verbände, als durch zweckmässige Lagerung zu behandeln hat,
wie es in den Vorlesungen über specielle Chirurgie und in der chirur-
gischen Klinik gelehrt wird.
Die Aufgabe, Avelche wir uns zu stellen haben, ist einfach die,
etwaige Dislocationen zu beseitigen und die gebrochene Extremität in
der anatomisch richtigen Lage so lange zu fixiren, bis die Fractur
geheilt ist.
Zunächst muss die Repositi on der Fragmente gemacht werden;
sie kann unter Umständen ganz unnöthig sein, wenn nämlich keine
Dislocation vorliegt, wie z. B. bei manchen Fracturen der Ulna, Fibula
u. s. w. In andern Fällen ist es ein äusserst schwieriger Act, der
sogar nicht immer vollkommen ausführbar ist. Die Widerstände, welche
sich der Reposition entgegenstellen, können in der Lagerung der Frag-
mente selbst ihren Grund haben: es kann z. B. ein Fragment fest in
das andere eingekeilt sein, oder ein kleines Fragment legt sich so
hinderlich zwischen die beiden Hauptfragmente, dass man letztere nicht
genau an einander bringt; sehr hartnäckig sind in dieser Beziehung die
Fracturen des untern Geleukendes des Humerus, avo sich kleine Frag-
mente derartig dislociren können, dass weder die Flexion noch die
Extension im Ellenbogeugelenk vollständig ausgeführt werden kann, und
somit die Function des Gelenks für immer beeinträchtigt bleibt. Ein
zweites Hinderniss für die Reposition der Fragmente bildet die Muskel-
spannung; der Kranke contrahirt unwillkürlich die Äluskeln der ge-
brochenen Extremität, reibt dadurch die Fragmeute an einander oder
drückt sie in die Weichtheile und bereitet sich auf diese Weise selbst
den heftigsten Schmerz; diese Muskelcoutractiouen sind zuweilen fast
Vdrlcsmi.u; 1.1. (!,-ipilc1 V. 211
tciaiiiscli, so (lass es sclbsl hei grosser Ge\v;ill kaiiui i:,'eling't, den Wider-
stand zu ül)erwiiiden. in derTliat waren diese Seliwierigkeiten friilicr zum
Tlieil ganz uniiberwindlicli, und wenn man auch liier und da versuclite,
durch Sehnen- und Muskeldurclisclineidungen zum Ziele zu komuien,
so Avar man docli oft genug' genotliigt, sicli mit einem unv()]lkoninienen
Resultat der ]ve])osition zu begnügen. Durch die EinnUirung des Chloro-
forms als Anaestlicticnm waren mit einem Mal alle diese Schwierigkeiten
gehoben. In allen Fällen, wo uns jetzt die Reposition niclit leicht gelingt,
l)etäul)en wir den Kranken mit Chloroform l)is zur völligen Muskel-
erschlaflung und maclien dann gewtdmlich ohne Schwierigkeit die Re-
position der Fragmente. Manche Chirurgen gehen so weit, dass sie fast
bei allen Fracturen, theils zur Untersuchung, theils zum Anlegen des
Verbandes Chloroform anwenden. Dies ist unnöthig; es kann die An-
wendung des Chloroforms sogar die grössten Unannehmlichkeiten nach
sich ziehen, wenn man auf Leute trifft, zumal auf Trinker, Avelche in
einem gewissen Stadium der Narkose von krampfhaften Zuckungen der
Extremitäten befallen werden, so dass trotz der sorgfältigsten Fixirung
von Seiten kräftiger Assistenten die Bruchenden mit ungeheurem Krachen
sich einander reiben und man die grösstc Besorgniss haben muss, dass
ein spitzes Fragment die Haut perforirt. Dies soll Sie nicht abschrecken,
bei Fracturen das Chloroform anzuwenden, wenn es nöthig ist, doch
davor warnen, allzu freigebig mit dem Mittel zu verfahren. Die Art
und Weise, wie die Reposition ausgeführt wird, ist im Allgemeinen die,
dass der zerbrochene Theil der Extremität von zwei kräftigen Assistenten
an den Gelenken oberhalb und unterhalb der Fractur erfasst und nun
ein gleichmässiger, ruhiger Zug ausgeübt wird, während der behandelnde
Arzt die Extremität an der gebrochenen Stelle umfasst und durch i'uhigen
Druck die Fragmente in ihre Lage zu schieben sucht. Alles plötzliche,
ruckweise, forcirte Anziehen ist nutzlos und entschieden zu vermeiden.
Zwei Kunstausdrücke haben Sie sich hier noch zu merken, man nennt die
Ausdehnung an dem untern Theil der Extremitäten die Extension, die
Fixirung am obern Theil die Contraextension. Beides wird bei den
Fractui-en mit den Händen ausgeübt, während man bei den Verrenkungen
sich allerdings zuweilen noch anderer mechanischer Hülfsmittel bedienen
muss. Bei dem angegebenen Verfahren wird nur dann eine genaue
Reposition unmöglich sein, wenn man theils wegen zu starker Geschwulst,
theils wegen besonders ungünstiger Dislocation der Fragmente ausser
Stande ist, die Art der Verscliiebung richtig zu erkennen.
Nach unsern jetzigen Priucipien, die sich auf eine sehr grosse Reihe
von Erfahi-ungen stützen, ist es um so günstiger, je unmittelbarer nach
der Fractur wir die Reposition machen; wir legen dann sofort den Ver-
band an. Nicht immer war man dieser Ansicht, sondern w^artete früher
sow^ohl mit der Einrichtung der Fractur, als mit der Anlegung des Ver-
bandes, bis die Anschwellung, welche fast immer eintritt, wenn man
14*
212 Yon den einfachen Knochenbrüchen.
nicht sofort einen Verband angelegt, sicli verloren hatte. Mau hatte die
Besorgniss, dass unter dem Druck des. Verbandes die Extremität brandig
werden könne und die Bildung des Callus verhindert werden würde.
Das erstere ist bei gewissen Cautelen in der Anlegung des Verbandes
sehr leicht zu vermeiden, an dem zweiten ist etwas Wahres. Was
die Wahl des anzulegenden Verbandes betrifft, so ist auch in dieser Be-
ziehung in neuester Zeit eine fast vollständige Einigung in den Ansichten
der Chirurgen erzielt worden. Als Eegel ist zu betrachten, dass
in allen Fällen von einfachen, subcutanen Fracturen der Ex-
tremitäten so früh wie möglieh ein solider, fester Verband
angelegt wird, der im Ganzen etwa 2 — 3 Mal gewechselt werden kann,
in sehr vielen Fällen jedoch gar nicht erneuert zu werden braucht. Man
nennt diese Art des Verbandes den unbeweglichen oder festen Ver-
band, im Gegensatz zu den beweglichen Verbänden, die alle paar
Tage erneuert werden müssen und jetzt nur noch die Bedeutung von
provisorischen Verbänden haben.
Es giebt mehre Arten von festen Verbänden, von denen der Gyps-
verband, der Kleisterverbaud und der Wasserglasverband die
gebräuchlichsten sind. Ich will Ihnen zunächst den Gvpsverband be-
schreiben und seine Anlegung zeigen, da es derjenige ist, welcher am
häufigsten zur Anwendung kommt und allen Anforderungen in einer
Weise entspricht, dass kaum eine Vervollkommnung möglich erscheint.
Gypsverband. Wenn nach erfolgter Eeposition der Fragmeute die
gebrochene Extremität von zwei Gehülfen durch Extension und Coutra-
exteusion fixirt ist, nimmt man eine oder selbst mehre Schichten von
Watte und legt diese theils um die Fracturstelle, theils auf Stelleu, au
welchen die Haut unmittelbar auf dem Knochen liegt, z. B. auf die
Crista tibiae, die Condylen und Malleolen des Unterschenkels. Jetzt
nimmt man am besten eine neue feine EoUbinde von Flanell und wickelt
damit das Glied ein, so dass überall ein gleichmässiger Druck ausgeübt
wird und alle Theile bedeckt werden, welche von dem Gypsverband
umgeben werden sollen. In Spitälern und in der Armenpraxis, wo man
nicht immer über gute Flanellbinden zu disponireu hat, nimmt man an
der Stelle derselben Aveiche Baumwollenbinden oder Gazebinden (Mull-
oder Kalliko-Biuden), Jetzt kommt das Umlegen der zu diesem Zweck
vorbereiteten Gypsbinde; die Gypsbinde, welche ich hier habe, ist aus
einem sehr dünnen, Gaze ähnlichen Stoff dem eben erwähnten JMull
oder Kalliko geschnitten; nian bereitet sie in der Weise vor, dass man
auf die unaufgeroUte Binde feingepulverten Gyps (sogenannten ModelHr-
gyps) gleichmässig aufstreut und dann die Binde aufrollt. Für die Privat-
praxis kann man sich eine ziendiche Anzahl kleinerer und grösserer
Binden dieser Art vorbereiten lassen und dieselben in einer gut schliesscu-
den Blechkapsel aufbewahren. Hier im Spital, wo ein sehr bedeutender
Verbrauch dieser Gypsbiuden Statt findet, werden dieselben 2—3 Mal
Voi-lcsKii-; 15. Ciipilel V. 213
in der AVoclic in Vorralh migcfci-tig't. Eine solche Binde also lei^'en Sic
in eine Schale voll kalten Wassers, lassen sie darin ganz durchCencliten,
nehmen sie aus dem Wasser heraus und legen sie jetzt wie jede andere
Rollhinde um die in oben beschriebener Welse vor])crcitcte Extremität.
Eine drei-, höchstens vierfache Lage dieser Gypsl)inden reicht hin, eine
Festigkeit des Verbandes zu erzielen, wie Sie für den Zweck erforderlich
ist. Es dauert ungefähr 10 Minuten, bis guter Gyps soweit erstarrt ist,
dass man die Extremität loslassen und auf das Lager legen kann; in
einer halben bis ganzen Stunde pflegt der Verband steinhart und trocken
zu sein; die Dauer der Erliärtung ist theils von der Güte des Gypses,
theils davon abhängig, wie stark Sie die Binden haben durchfeuchten
lassen. Taugt der Gyps nicht, ist er feucht, grobkörnig- unrein, dann
wird er gar nicht fest; will man die Erhärtung des Gypses beschleuni-
g-en, so werfe man eine halbe Hand voll Alaunpulver in das Wasser, in
welchem man die Gypsbinde anfeuchten will. Feucht gewordenen Gyps
kann mau durch starkes Austrocknen im Ofen wieder ])rauchbarer
machen, doch bekommt er nie wieder ganz seine frühere Beschaffenheit.
Die beschriebene Methode des Gypsverbandes habe ich nach vielfachen
Vergleichsbeobachtungen mit andern Methoden als die praktischste l)e-
funden. Ich muss Ihnen iudess einige Modificationcn, die sich vorzüglich
auf die Handhabung des Gypses und des Materials der Binden bezielien,
erwähnen. Man kann nämlich auch in die gewöhnlichen Baumwollen-
binden, selbst in Flanellbinden den Gyps hineinreiben, wodurch der
Verband etwas schwerer und fester wird ; doch ist dies nicht nothweudig,
und das lockere Gasezeug ist ausserordentlich viel billiger als die ge-
webten Baumwolleubindeu, Erscheint die Festigkeit des Verbandes noch
nicht genügend, so kann man über den ganzen Verband eine Lage Gyps-
brei auftragen; diesen Gypsbrei muss man vorsichtig mit Wasser an-
rühren und sehr schnell mit der Hand oder einem Löifel auf den Ver-
band auftragen und verreiben; man darf den Gypsbrei nicht eher ein-
rühren, als bis man ihn gebrauchen will, weil er äusserst schnell erstarrt.
Der Gypsverband, mit Eollbinden ausgeführt, ist zuerst von einem hollän-
dischen ArztMathysen angegeben und in Gebrauch gezogen; die erste
Veröffentlichung dieser Methode erfolgte schon 1832; doch ist die Methode
erst seit den fünfziger Jahren bekannter geworden ; in Deutschland ist
sie hauptsächlich durch die Berliner Schule verbreitet worden. — Etwas
abweichend ist das Verfahren, den Gypsverband mit einzelnen von ein-
ander getrennten Verbandstücken anzulegen; Pirogoff kam wohl zuerst
aus Mangel an Verbandmaterial im Felde auf diese Modification, irgend
welche beliebige Zeugstucke, die einigermaassen zu Schienen und Lon-
guetten zugeschnitten wurden, durch dünnen Gypsbrei zu ziehen und um
die gebrochene Extremität zu legen, dann das Ganze noch mit Gypsbrei
zu überstreichen und auf diese Weise eine allerdings sein- feste Kapsel
herzustellen. Später machte derselbe Chirurg hieraus eine besondere
214 ^'^'^ ^^'^^ einfachen Knochenbrüchen.
Methode, indem er altes, rolies Segeltuch nach bestimmten Regeln für
jede Extremität zusclmeideu Hess und dies in der oben angegebenen
Weise umlegte. Endlich hat man auch die sogenannten vielköptigen
Scultet'schen Binden in derselben Weise zum Gypsverband gebraucht. —
Ferner ist die Unterlage des Verbandes verschieden modificirt; mau hat
sogar liier und da gar keine Watte und gar keine Unterbinden angelegt,
sondern nur die ganze Extremität mit Oel dick bestrichen, damit der
unmittelbar darauf gelegte CTvpsverband nicht an die Haut mit ihren
feinen Härchen anklebt. Andere haben endlich nur sehr dicke Lagen
von Watte ohne besondere Unterbinden benutzt. Endlich hat man in
neuerer Zeit Einlagen von dünnen Holzschienen (Schusterspännen) oder
von dünnen Blechstreifen gemacht; für die gefensterten Verbände kann
das, wie wir später sehen werden, gewisse Vortheile haben.
Alle diese Modificationen des Gypsverbandes habe ich Ihnen ab-
sichtlicli nur als ausnahmsweise Verfahren dargestellt, die alle gewisse
Nachtheile haben, gegenüber der Ihnen als Eegel zuerst angeführten
Methode. Eine genauere Kritik dieser Modificationen behalten wird uns
für die Klinik vor.
Die Entfernung des Gypsverbandes hat für den Nichtgeübten grosse
Schwierigkeiten, und doch werden Sie sehen, dass jede meiner Wärte-
rinnen dies in kürzester Zeit und auf die schonendste Weise zu Stande
bringt. Es wird dies einfach auf folgende Weise gemacht ; man schneidet
mit einem concaven, starken, scharfen Gartenmesser die Gypsbinden
durch und zwar nicht in ganz senkrechter, sondern viel leichter in etwas
schräger Richtung bis auf die Unterbinde und nimmt nun den ganzen
Verband wie eine Hohlkapsel aus einander; auch kann man die von
Szyraanowski oder die von v. Bruns, Leiter u. A. angegebenen
Gypsscheeren gebrauchen. Die abgenommenen Kapseln kann man zu
provisorischen Verbänden zuweilen anderweitig noch wieder verwenden.
Klei st er verband. Bevor man die Gypsverbände kannte, besass
man bereits in dem Kleisterverband ein sehr ausgezeichnetes Material für
die unbeweglichen Verbände. Der Kleisterverband wurde hauptsächlich
von Seutin zum höchsten Grade seiner Vollkommenheit ausgebildet
und in die Chirurgie eingeführt; er ist erst seit etwa 20 Jahren durch
den Gypsverband verdrängt worden, kommt jedoch hier und da noch
in Anwendung. Die Anlage der Watte und der Unter])inde ist diesellie
wie beim Gypsverband, dann aber nimmt man vorher zugeschnittene, in
Wasser ganz erweichte Schienen von massig dicker Pappe, legt diese
um die Extremität und befestigt sie durch Binden, Avelche zuvor voll-
ständig in Kleister getränkt worden sind. Man nmss nun, bis dieser
Verband erhärtet ist, was bei gewöhnlicher Zimmertemperatur etwas über
24 Stunden dauert, Holzschienen anlegen, w^elciie später wieder abge-
nommen werden. Dieser Verband hat gegenüber dem Gypsverband den
Nachtheil, dass er ausserordentlich viel langsamer erhärtet; man kann
VorlcsiiMK 15. (JMpiU'l V. 215
dies etwns ))cs.scni, indem iiuiii uiisintt der rji])i)Scliioiicii CTiitt;ij)er(di a-
stilckc benutzt, diese in lieissem Wasser erwciclit und nun ;i^euau der
Extrendtät adaptirt. Cuttapereliarienien, wie sie in den i^'al)riken benutzt
werden, sind als Schienen selir brauchbar. Es ist niclit zu leug'nen, dass
die Einführung- der Guttaperclia in die chirurgische Yerbandtechnik als
ein grosser Vorthcil l)etraclitct werden nutss; doch ist der Preis des
Materials zu lu)ch, um in der Si)itali)raxis für den Verl)and Itei jeder
einfachen Fractur verwendet zu werden ; dicke Guttaperchaschienen er-
liärtcn fast noch schneller als Gyps. Der Verband nnt eingegypsten
Eollbinden zeichnet sich so sehr durch die Leichtigkeit des Aidegens,
durch seine Billigkeit und Festigkeit aus, dass er, jetzt einmal in die
Praxis eingeführt, gewiss nicht wieder durch den Kleisterverband ver-
drängt werden wird.
Anstatt des Kleisters hat man früher wohl Auflösungen von Dextrin,
auch reines Hühnereivveiss, oder einfach Mehl mit Wasser angerührt
benutzt; beides ist -ausser Gebrauch, indess ist es gut, wenn Sie die
Brauchbarkeit solcher Substanzen kennen, die in jeder Haushaltung vor-
zufinden sind und die mau daher zu provisorischen Verbänden recht wohl
verwerthen kann.
Wasser glas verband. Anstatt des Kleisters kann man sehr wohl
die käufliche Auflösung von Wasserglas (kieselsaures Kali) verwenden.
Man streicht dasselbe beim Anleg'en des Verbandes mit einem grossen
Pinsel auf die bauniwollnen Eollbinden, nachdem man zuvor eine Unter-
lage von Watte g-emacht hat, wie früher beschrieben. Das Wasserglas
trocknet schneller als der Kleister, doch nicht so schnell wie Gyps, wird
auch nicht so fest wie letzterer; dieser Verband genügt für Fracturen
ohne Neigung zu Dislocation; will man durch den Wasserglasverband
dislocirte Bruchenden fixiren, so muss derselbe durch eingelegte Schienen
verstärkt werden.
Ich zweifle nicht daran, dass es sehr bald dahin kommen wird,
dass jeder Landarzt einige Gypsbinden in Vorrath hat; trotzdem behalten
die provisorischen Verbände ihre praktische Bedeutung. Diese
bestehen aus Binden, Compressen und Schienen von sehr verschieden-
artigem Material; Sie können Schienen von dünnen Holzbretteru,
Schachteldecken, Cigarrenkisten, von Pappe, von Blech, von Leder, von
fest zusammengewickeltem Stroh, von Baumrinden u. s. w. anfertigen
und müssen sich zum Verband oft mit alten Lumpen, streifenweise
zerrissener und an einander genähter Leinwand in der Hütte des Armen
begnügen; es ist deshalb nothwendig, dass Sie sich in den praktischen
Verbandkursen üben, mit dem verschiedenartigsten Material umgehen
zu lernen.
Hier ist es nicht die Aufgabe, Alles, was aus dem grossen Arma-
mentarium der Verbandlehre etwa noch brauchbar ist, Ihnen vorzuführen,
doch muss ich noch Einiges wenigstens kurz andeuten. Die Schienen-
216 Von den einfachen Knuchenlu-üelieu.
vei'hände halien, wie leicht zu überselien ist, den Zweck, mit festen
Stützen von einer oder meliren Seiten den Knochen fest und unheweg-lich
zu stellen; man kann dies durch aussen, innen, vorn und hinten ang-e-
leg'te schmale Holzschienen erreichen; man kann sich jedoch auch aus-
gehöhlter Schienen, sogenannter Ilohlrinnen oder KUrasse bedienen. Die
Hohlschienen sind nur dann vortheilhaft, wenn sie aus einem biegsamen
Material bestehen, aus Leder, dünnem Eisenblech, Drahtgeflechten ; eine
absolut starre Ilohlschiene würde eben nur für einzelne Individuen
passen. — Gegenüber diesen erwähnten mechanischen Hülfsmitteln giebt
es noch eine andere Methode, die gel)röcheneu Gliedmaassen zu fixiren,
nämlich durch eine permanente Extension. Der Gedanke hierzu
lag besonders für diejenigen Fälle sehr nahe, in denen eine grosse
Neigung zur Verkürzung, zur Dislocatio ad longitudiuem besteht. Man
hat diese Extension zu erzielen gesucht theils durch angehäugte Gewichte
mit verschiedener mechanischer Vorrichtung, theils durch einen dauernden
Zug, den man dadurch ausübte, dass man an der kranken Extremität
Gewichte anhängte, theils durch die doppelte schiefe Ebene, wobei man
die Schwere des Unterschenkels als extendirendes Gewicht benutzt.
Nachdem ich im Verlauf der letzten beiden Jahre ganz unerwartet
bedeutende Wirkungen von der permanenten Extension mit Gewichten
bei sehr schmerzhaften Coutracturen an Hüft- und Kniegelenken gesehen
habe, habe ich diese Methode auch für die allmählige Einrichtung
von dislocirten Bruchenden verwandt, und sehr brauchbar befunden.
Unter den mir bekannten Vorrichtungen dieser Art erfüllt der von
V. Dumreicher angegebene sogenannte Eisenbahnapparat den Zweck
der permanenten Extension am besten; doch ist er zu kostbar und
zu complicirt, um in grosser Ausdehnung in der Privatpraxis der
Aerzte zur Anwendung zu kommen; es ist auch wohl die Absicht des
Erfinders, diesen Apparat vorwiegend bei Fällen mit schwer zu über-
windender Dislocation anzuwenden. Die doppelte schiefe Ebene, durch
ein dickes, unter die Kniekehlen applicirtes EoUkissen dargestellt, kann
für die Fractura colli femoris bei ganz alten Leuten zuweilen als zweck-
mässiger Fixationsapparat angewandt werden, wenn man keinen Ver-
band anlegen Avill. Am practischsten hat sich der Heftpflaster-Extensions-
verband bewährt, wie er von amerikanischen Chirurgen zuerst in An-
wendung gezogen, und in Deutschland zumal durch Volkmanu's Be-
mühungen verbreitet worden ist; er leistet namentlich bei Oberschenkel-
fracturen oft vorteffliche Dienste.
Noch sind einige Hülfsmittel zu erwähnen, deren man sich bedienen
nmss, um die gebrochene Extrcnrität, nachdem sie eingebunden ist, zweck-
mässig zu lagern; für die oberen Extremitäten genügt in den meisten
Fällen ein einfaclies, kunstgerecht angelegtes Tucli, in welches der Arm
hineingelegt wird, eine Mitella. Man kann Kranke mit einem Gyps-
verband und einem solchen Armtuch bei gebrochenem Ober- und Vorder-
Vorlcsims 15. CapKel V. 217
arm ganz iinlicschadct der giliistig-cn Heilung während der ganzen Cur
ausser Bett sein lassen.
Für die Lagerung gebrochener Unterextremitäten giel)t es eine grosse
Eeilie meclianisclier Hülfsniittel, von wclclicn folgende die gebräuchliclistcn
sind: die Sandsäcke, d, li. schmale, mit Sand gcCiilltc Säcke, etwa von
der Länge eines Unterschenkels; dieselben werden zu beiden Seiten des
festen Verbandes angelegt, damit das Glied niclit hin und her wankt;
'für denselben Zweck braucht man dreiseitig prismatisch zugeschnittene
lange Plolzstücke (falsche Strohladen), die nach Art einer Hohlrinne
zusammengelegt werden. Für manche Fälle genügt ein locker gefüllter
Häckerling sack oder ein Spreukissen; in ein solches macht man
mit dem Arm der Länge nach eine Vertiefung, in welche der Unter-
schenkel hineingelegt wird. Bedarf man festerer Stützmittcl, so wendet
man die Bein laden an: dünne, lange, hölzerne Kästen, an denen die
obere kurze Wand fehlt, um das Bein hineinzuschieben, und an denen
die anderen Seitenwände nach unten abgeklappt werden können, um beim
Verband die Extremität genau besichtigen zu können, ohne sie aufzuheben;
man kann diesen Beinladen eine bald höhere, bald niedere Stellung
geben, je nach der Bequemlichkeit des Patienten. Noch sind die
Schweben zu erwähnen, welche gewöhnlich aus einem Galgen oder einem
starken Bügel bestehen, der über dem Fussende des Bettes angebracht
wird und an welchem die in irgend einer Art von Beinlade oder Hohl-
schiene eingefügte Extremität in schwebender Stellung aufgehängt wird,
eine Vorrichtung, welche besonders bei unruhigen Patienten gewisse
Vortheile bietet. — Sie müssen mit allen diesen Apparaten, welche, wenn
auch jetzt seltener als früher, doch von Zeit zu Zeit zweckmässig ange-
wandt werden, umgehen lernen, wozu in der chirurgischen Klinik die
Gelegenheit geboten wird. — In neuerer Zeit haben wir alle diese
Lagerungsapparate für die Fracturen der unteren Extremitäten weniger
gebraucht, indem mein früherer Assistent, Herr Dr. Ris, der es in
der Application und Eleganz der Gypsverbände zu einer aussergewöhn-
lichen Vollkommenheit gebracht hat, an der unteren Seite des Unter-
schenkels eine 3—4 Zoll breite, gut gepolsterte Holzschiene mit Gyps-
binden applicirte, welche etwas über die Ferse hinaus und bis ans
Knie, oder bei Oberschenkelbrüchen bis zur Mitte des Oberschenkels
reicht. Auf diesem Brett liegt die Extremität sehr fest, wenn die Matratze
nicht schlecht ist; will man die Festigkeit noch weiter treiben, so legt
man in das untere Drittheil des Bettes ein lirett von der Breite des
Bettes auf die Matratze und darauf die eingegypste Extremität mit
Lagerungsschiene. Bei den vielen Doppelfracturen beider Uuterextremi-
täten, die im Zürcher Spital vorkamen, leistete dieser Lagerungsapparat
besonders vortreffliche Dienste.
Die ältere Form des Gypsgusses ist von M. Müller in neuerer Zeit
wieder empfohlen worden; wir haben uns daraufhin von Neuem damit
218 Von den einfachen Knochenbriichen.
beschäftigt, doch hält der Gypsguss den Vergleich mit dem Gypsverbaude
nicht aus; er ist weit complicirter in Application und Ueberwachung.
Seutin versuchte die Vortheile der festen Verbände auch noch da-
durch zu steigern, dass er Htilfsmittel angab, durch w.elche es möglich
wird, Kranke mit gebrochenen unteren Glicdmaassen, wenn auch in be-
schränktem Maasse umhergehen zu lassen. Man kann z. B. einen Krauken
mit gebrochenem Unterschenkel mit Hülfe eines über die Schulter gehen-
den breiten Lederrieraens, der dicht oberhalb des Knies angeschnallt
wird, so dass der Fuss den Boden nicht berührt, mit Krücken gehen
lassen. Ich rathe Ihnen jedoch, diese Experimente mit Ihren Kranken
nicht zu sehr zu übertreiben; jedenfalls erlaube ich meinen Patienten
derartige Gehversuche nicht vor dem Ablauf der dritten Woche nach
Entstehung der Fractur, weil sonst leicht Oedem in der gebrochenen
Extremität auftritt, und manche Kranke so unbehülflich im Gebrauch der
Krücken sind, dass sie leicht fallen und sich eine, wenn auch vielleicht
nur leichte Commotion der kranken Extremität zuziehen können, was
immerhin schädlich wirken kann.
Schliesslich wäre noch zu erörtern, wie lange der Verband liegen
bleiben soll und welche Umstände dazu veranlassen können, ihn vor der
definitiven Heilung abzunehmen. Das Urtheil darüber, ob ein Verband
zu fest angelegt ist, ist lediglich Sache der Erfahrung; folgende Er-
scheinungen müssen hier den Arzt leiten. Schwillt der untere Theil
der Extremität, also Zehen oder Finger, die man in der Regel frei
lässt, an, werden diese Theile bläulich roth, kalt oder gar gefühllos,
so muss der Verband sofort entfernt werden. Klagt der Patient über
heftige Schmerzen unter dem Verband, so thut man gut, den Verband
zu entfernen, selbst für den Fall, dass man nichts Objectives wahr-
nehmen kann. Man muss in Bezug auf die Schmerzensäusseruugen
die Kranken kennen; es giebt unter ihnen solche, die immer klagen,
und andere, die höchst indolent sind und wenig über ihre Empfindungen
äussern; jedenfalls ist es gerathener, mehrmals umsonst den Verband zu
erneuern, als einmal seine rechtzeitige Entfernung zu versäumen. Ich
kann Ihnen für die Praxis nicht dringend genug ans Herz legen, sich
ein für alle Mal es zum Gesetz zu machen, jeden Kranken, bei welchem
Sie einen festen Verband angelegt haben, spätestens nach 24 Stunden
wieder zu sehen; dann wird Ihren Patienten gewiss kein Unglück be-
gegnen, wie es leider bei allzugrosser Sorglosigkeit und Bequemlichkeit
von Seite des behandelnden Arztes öfter geschehen ist. Es sind eine
Reihe von Fällen bekannt geworden, wo nach Anlegung von festen Ver-
bänden die betroffene* Extremität brandig wurde und amputirt werden
musste; man schloss von diesen Fällen merkwürdiger Weise, dass die
festen Verbände überhaupt unzweckmässig seien, während die Schuld
doch wesentlich am Arzte lag. Bedenken Sie, wie gering die Mühe bei
der Behandlung der Fracturen jetzt ist gegen früher, wo Sie einen
Vorlesung IT). Capilcl V. 210
Scliienenverbaud alle ;> -4 Tag'c erneuern nuissten! jetzt hrauclien Sie
oft nur einmal einen Verband anzulegen. Glauben Sie indess nicht,
dass Sie dadurch der Mühe überhoben sind, «icli in dem Anlegen von
Bandagen zu üben. Es bedarf die Aulcgung der festen Ver-
bände ebenso viel Uebung-, Geschicklichkeit und Umsicht,
"wie früher die Anlcg'ung- der Schienenverbändc. Werden Sie
zu einer Fractur erst am zweiten oder dritten Tsge hinzugerufen, wenn
bereits bedeutende entzündliche Anschwellung besteht, so können Sie
auch jetzt noch den festen Ver])and in Anwendung ziehen, müssen jedoch
denselben locker und mit Hülfe vieler Watte anlegen. Ein solcher
Verband ist natürlich nach 10—12 Tagen, wenn die Weiclitheile abge-
schwollen sind, zu weit und locker und muss dann wieder entfernt und
erneuert werden. Von der Lockerung des Verbandes und von der
grösseren oder geringeren Neigung zur Dislocation wird es wesentlich
abhängen, wann und wie oft der Verband bis zur definitiven Heilung
abgenommen werden muss. Starke Anschwellung, wenn sie nicht mit
bedeutender Quetschung verbunden ist, bildet keine Coutraindication für
die Anlegung eines vorsichtig gehandhabten festen Verbandes; ebenso-
wenig bieten grössere oder kleinere Blasen mit klarem oder leicht blutig
gefülltem Serum ein wesentliches Hinderniss; solche Blasen entstehen
nicht so selten bei Quetschfracturen mit ausgedehnter Zerreissung der
tiefen Venen, indem bei gehemmtem Rückfluss des Veuenblutes das
Serum leicht aus den Capillaren austritt und das Hornblatt der Epidermis
blasig in die Höhe treibt; man sticht solche Blasen mit einer Stecknadel
ein, drückt die Flüssigkeit leicht aus und legt Watte darauf, die sehr
bald antrocknet. — Ebenso macht man es bei leichten, oberfiächlichen
Hautexcoriationen; nur selten ist man genöthigt, wenn unter dem Ver-
band neue Blasen auftreten, was sich durch Schmerz ankündigt, deshalb
den Verband zu entfernen und zu erneuern.
Wie lange bei den Brüchen der einzelnen Knochen ein fester
Verband überhaupt liegen muss, werden Sie theils in der Klinik, theils
in der speciellen Chirurgie erfahren; ich erwähne Ihnen hier nur als
äusserste Grenzen, dass ein Finger etwa 14 Tage, ein Oberschenkel bis
60 Tage und länger zu seiner Heilung bedarf. Appliciren Sie die Gyps-
verbände gleich nach der Fractur bei vollkommen gehobener Dislocation,
so wird der provisorische äussere Callus immer sehr klein, und deshalb
die Festigkeit später eintreten, als bei etwas Dislocation und späterer
Application des Verbandes; auf die Bildung des definitiven Callus, des
eigentlichen Zusammenheilens der Fracturenden mit einander, hat das
indess keinen Einfluss.
220 Von den offenen Knochenbrnchen und von der Knocheneiterung.
CAPITEL VI.
Voü den otteiieü Kiiochenbrücheii imd von der
Knocheneiteriing.
Unterschied der subcutanen und offenen Fracturen in Bezug auf Prognose. — Verschieden-
artigkeit der Fälle. Indicationen für die primäre Amputation. Secundäre Amputation. —
Verlauf der Heilung. Knocheneiterung. Nekrose der Fragmentenden.
Wir wollen jetzt zu den eomplicirteu oder offenen Fracturen über-
g'clien.
Wenn man kurzweg von complicirten Fracturen spricht, so ver-
steht man darunter meisteutheils solche, die mit Hautwunden verbunden
sind. Dies ist, streng- genommen, nicht ganz exact, weil es noch man-
cherlei andere Complicationen giebt, von denen einige von weit grösserer
Bedeutung sind, als eine Hautwunde, Wenn der Schädel zerbrochen
und ein Thcil der Hirnsubstauz dabei zerquetscht ist, oder wenn Eippeu
gebrochen sind und ein Theil der Lunge zerriss, so sind dies auch
complicirte Fracturen, selbst wenn die Hautbedeckuugen dabei iutact
sind. Weil jedoch in diesen Fällen die Complication an sich von viel
grösserer Bedeutung für den gesammten Organismus ist, als der Knocheu-
bruch, so bezeichnet man solche Fälle gewöhnlicher als Hirnquetschuug
oder Lungeuzerreissung, durch Schädel- oder Püppenfractur bedingt. Auf
die Verletzungen innerer Organe durch Knochenfragmeute wollen wir uns
aber hier noch gar nicht einlassen, weil dadurch ein nicht selten recht
complicirter Krankheitszustand bedingt wird, dessen Analyse erst später
für Sie verständlich werden kann. Beschränken wir uns für jetzt auf
die mit Hautwunden verbundenen Fracturen der Extremitäten, die wir
als offene Fracturen bezeichnen wollen, und die uns schon genug
Sorge in Bezug auf ihren Verlauf und ihre Behandlung macheu Averden.
Ich habe Sie schon früher, als wir von dem Verlauf der einfachen
Quetschungen ohne Wunden und der eigentlichen Quetschwunden
sprachen, darauf aufmerksam gemacht, wie leicht in so vielen Fällen
die Eesorption von Blutextravasaten und die Ausheilung gequetschter
Theile erfolgt, sobald der ganze Process subcutan verläuft, wie sehr
sich aber die Verhältnisse ändern, wenn auch die Haut zerstört ist. Die
Hauptgefahren in solchen Fällen sind, wie Sie sich erinnern werden, Zer-
setzungsprocesse an der Wunde, ausgedehnte Nekrotisirung zerquetschter
und ertödteter Tlieile, progressive Eiterungen und damit verbundene, lang-
dauernde, erschöpfende Fieberzustände, wobei wir noch die schwersten
Allgemeinerkrankungen, die Wundrose, die faulige Intoxication des Blutes,
die Pyohämie, den Wundstarrkrampf, den Säuferwahnsinn bisher nicht
Vorlos.in;,^ IT.. Capit,<'l VT. 221
erwähnt lial)cn. Die Geg'citsätzc der siihcutaiiou Verletzung' und der
Verwundung- sind nun in T^ezug auf den Verlauf und die Prognose bei
den einfaclien, subcutanen Fractiu-en gegen iil)eT den offenen FractuTcn
nocli viel seliärfer ausgeprägt, wie bei Quctscluuigen gegenüber den
Quetsclnvunden. Wälii'end man einen Mensclien mit einfacher Fractur
in vielen Fällen kaum als krank bezeichnen möchte (wir lialjen vom
Fieber dabei gar nicht gesprochen, weil es selten eintritt), und eine
solche Verletzung bei der jetzigen bequemen Behandlung nu;hr als eine
Unannehmlichkeit, denn als ein Unglück zu betrachten ist, kann jede
offene Fractur eines grösseren Extremitätenknochens, ja selbst unter Um-
ständen eines Fingerkuochelchens eine schwere, leider noch immer zu
häutig tödtliche Krankheit anregen. Um Sie jedoch nicht gar zu sehr
zu erschrecken, will ich gleich hier hinzufügen, dass einerseits sehr viele
Gradunterschiede der Gefahr auch bei diesen offenen Fracturen bestehen,
und dass andererseits die Behandlung der complicirteu Fracturen in
neuerer Zeit sich sehr wesentlich vervollkommnet hat.
Es ist eine der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben, die freilich
nicht immer zu lösen ist, eine offene Fractur gleich anfangs prognostiscli
vollkommen richtig zu beurtheilen. Leben und Tod des Individuums
kann hier zuweilen von der Wahl der eingeschlagenen Behandlung inner-
halb der ersten Tage abhängen, und wir müssen deshalb schon jetzt auf
diesen Gegenstand etwas genauer eingehen. Die Symptome einer offenen
Fractur sind natürlich wesentlich dieselben, wie bei der subcutanen, nur
dass die Färbung durch das Blutextravasat oft fehlt, w^il sich das Blut
aus der Wunde wenigstens theilweis entleert. Die Bruchenden stehen
nicht selten aus der Wunde hervor oder liegen frei in derselben zu Tage,
so dass ein Blick hinreicht, die Diagnose einer offenen Fractur zu stellen.
Doch dies genügt bei w^eitem nicht, sondern wir müssen so genau wie
möglich zu erfahren suchen, wie die Fractur entstand, ob durch directe
oder indirecte Gewalt, wie bedeutend die Kraft etwa gewesen, ob mit
der Quetschung Zerrung und Drehung verbunden war, ob Arterien und
Nerveustämme zerrissen sind, ob der Kranke viel Blut verlor, und wie
er sich jetzt in Bezug auf seinen allgemeinen Zustand befindet. Es giebt
Fälle, bei denen man gleich auf den ersten Blick sagen kann, dass hier
keine Heilung möglich ist, sondern nur die Amputation gemacht werden
kann. Wenn eine Locomotive ül)er das Knie eines unglücklichen Eisen-
bahuarbeiters lief, wenn eine Hand, ein Vorderarm in die Räder oder
zwischen die Walzen einer sich bewegenden Maschine gerathen war,
wenn durch zu frühzeitige Explosionen beim Steinspreugen Glieder zer-
schmettert und zerrissen sind, wenn zentnerschwere Lasten einen Fuss
oder ein Bein vollständig zermalmen, so ist es nicht schwer für den Arzt,
sich schnell zur sofortigen primären Amputation zu entschliessen und
ist in der Regel der Zustand solcher Extremitäten der Art, dass auch die
Krauken sich schnell, wenn auch mit schwerem Herzen zur Operation
222 Von den oifenen Knoflienbrüchen und von der Knoclieneiterung.
bestimmen lassen. Dies sind nicht die scliwierigen Fälle. Eben so leicht
kann es unter Umständen in anderen Fällen sein, die Wahrscheinlichkeit
der g'ünstig-en Heilung mit ziemlicher Sicherheit vorauszusagen. Ist z. B.
der Bruch eines Unterschenkels durch indirecte Clewalt, etwa durch über-
mässige Biegung der Knochen erfolgt , so kann dabei das gebrochene,
spitze Ende der Crista tibiae die Haut durchbohren und hervordringen;
in einem solchen Fall besteht gar keine Quetschung, sondern nur ein
einfacher Eiss durch die Haut. Auch wenn ein halbscharfer Körper eine
kleine Stelle der Extremität mit grosser Gewalt trifft, und Knochen und
Haut verletzt werden, so kann zwar die ganze Extremität dabei heftig
erschüttert sein, indess der ganze Bereich der Verletzung ist doch nur
ziemlich klein, und in den meisten solcher Fälle wird ein günstiger Aus-
gang eintreten, wenn die Behandlung zweckmässig geleitet wird. — Die
schwierig zu beurtheilenden Fälle liegen in der Mitte der beiden ange-
führten Extreme. In Fällen, bei denen allerdings ein gewisser Grad von
Quetschung Statt gehabt hat, doch aber wenig davon sichtbar und die
Haut nur an einer kleinen Stelle verletzt ist, wird die Entscheidung', ob
man die Heilung versuchen oder sofort zur Amputation schreiten soll,
sehr schwierig sein, und nur die Besonderheit des einzelnen Falles kann
hier entscheiden. In neuerer Zeit hat sich mehr und mehr die Tendenz
herausgebildet, in diesen zweifelhaften Fällen lieber die Erhaltung der
Extremität anzustreben, als ein Glied zu amputiren, welches möglicher-
weise noch erhalten werden könnte. Dies Princip ist gewiss aus allge-
mein humanistischen Gründen zu rechtfertigen; indess lässt sich nicht
leugnen, dass man es mit dieser conservativen Chirurgie der Glieder auf
Kosten des Lebens zu weit treiben kann, und dass man sich doch nicht
ungestraft gar zu weit von den Principien der älteren, erfahrenen
Chirurgen entfernen darf, die bei diesen zweifelhaften Fällen mit wenigen
Ausnahmen der Amputation den Vorzug zu geben pflegten. Ausser der
Art und Weise der Verletzung und den damit mehr oder weniger verbun-
denen Quetschungen ist die Bedeutung des einzelnen Falles auch ganz
besonders davon abhängig, ob man es mit tiefen Wunden, mit tief in der
Musculatur liegenden Knochenbrüchen zu thun hat, oder mit Knochen,
die mehr oder weniger unmittelbar unter der Haut liegen, da von der
Tiefe und Ausdehnung der Knochenverletzung die Gefahr der Eiterung
wesentlich abhängig ist. So ist z. B. eine offene Fi-actur am vorderen
Theil des Unterschenkels prognostisch günstiger, als die gleiche Verletzung
am Vorder- und Oberarm; am ungünstigsten sind die offenen Fracturen
des Oberschenkels, ja es giebt Chirurgen, welche bei dieser Verletzung
stets die Amputation machen. — Die Zerreissung grösserer Nervenstämme
bei Fracturen kommt nicht sehr oft vor, scheint übrigens auch in Bezug
auf die Heilung keinen sehr wesentlichen Einfiuss zu haben; auch zeigen
Experimente an Thieren, sowie Erfahrungen an Menschen, dass die
Knochen an gelähmten Extremitäten in normaler Weise heilen können. —
VDi-icsmi- 15. Cnpiici vr. 223
Die Verletzung grosser Vcncnstänimc, z. V>. dov Vena femoralis, gielit zu
Blutungen Anlass, die freilich leicht durcli den coniprimirenden Verl)and
gestillt werden können, al)er doch dann gefährlich werden, wenn das
in ziendiclier Menge zwischen die Muskeln und unter die Haut diffun-
dirte Blut in Zersetzung übergelit. — Die Zcrreisssung des llauptarterien-
stammes einer Extremität führt zuweilen sofort zu hedeutcnden, arleriellen
Blutungen; notliW'Cndig ist dies jedocli nicht, da in zerquetscliten Arterien,
wie früher auseinandergesetzt, sich leiclit ein Tlirondjus bildet, so dass
es nicht immer zu ergiebiger Blutung konnut. Erkennt man aber aus
der Art der Blutung die Zeri-eissung eines Arterienstammes, so wird man
nach den früher angegebenen Principien entweder von der Wunde aus
die Unterbindung zu machen suchen, oder man wird den Arterienstamm
am Locus eleetionis unterbinden müssen. Zerreissung der A. femoralis
mit gleichzeitiger Fractur des Oberschenkels führt erfahrungsgemäss
immer zu Gangrän, ist also unbedingte Indication für primäre Amputation;
bei entsprechender Verletzung am Oberarm kann vielleicht ein Cur-
versuch glücken, jedoch auch durch Gangrän vereitelt werden; die
Heilung von Vorderarm- und Unterschenkelfracturen kann trotz gleich-
zeitiger Zerreissung einer oder vielleicht auch beider Ilauptarterienstämme
erfolgen. — Endlich ist bei der Frage, ob Amputation, ob Heilungs-
versuch, noch zu berücksichtigen, in wie weit nach erfolgter Heilung und
nach der eventuellen Ueberwindung aller schlimmen Chancen die geheilte
Extremität noch brauchbar ist. Diese Frage kann sich, zumal bei
complicirten Fracturen am Fuss und unteren Theil des Unterschenkels
aufdrängen, und es ist wiederholt vorgekommen, dass man genöthigt
war, Füsse zu amputiren, die bei der Heilung nach offenen Comminutiv-
fracturen Formveränderungen und Stellungen bekommen hatten, wodurch
sie für den Gebrauch beim Gehen durchaus untauglich wurden. Das
Gleiche ist auch zu berücksichtigen, wenn man bei massig ausgedehnter
Gangrän am Fuss entscheiden will, ob er amputirt werden soll oder
nicht. Es kann die Loslösung der abgestorbenen Theile des Fusses in
einer so unzweckmässigen Weise erfolgen, dass der zurückbleibende
Stumpf weder zum Auftreten noch zur Coaptation an eine künstliche
Extremität brauchbar ist. In solchen Fällen rauss amputirt w^erden; alle
unsere Amputationsmethodeu sind mit auf die spätere Anfügung von
Stelzfüssen oder künstlichen Gliedmaassen berechnet-.
Da wir durch die Natur des Gegenstandes unmittelbar auf die
Indication zur Amputation bei Verletzungen geführt worden sind, will ich
hier gleich erwähnen, wie es sich mit den secundären Amputationen
nach Verletzungen verhält. Sie könnten sich leicht über die Frage, ob
bei einer complicirten Fractur amputirt werden soll oder nicht, mit dem
Gedanken trösten, dass man später immer noch die Amputation machen
könne, wenn sich die Besorgnisse über den ungünstigen Verlauf realisiren
sollten. In dieser Beziehung zeigt eine aufmerksame Beobachtung^ dass
224 V*^" <^P" offenen Knochenbrüchen und von der Knocheneiterimg.
man zwei Zeitraomeute für diese secundären Amputationen unterscheiden
muss. Die erste Gefahr droht dem Kranken von einem acuten Zer-
setzung-sprocess um die Wunde lieruni und der damit sich yerbindendeii
jauchigen Intoxication des Blutes. Ob diese Gefahr eintritt, entscheidet
sich bis etwa zum vierten Tage; ist dieselbe eingetreten, und amputiren
Sie jetzt (und zwar muss dies selir hoch oberlialb der jauchigen Infil-
tration geschehen), so ist dies wohl der ung-iinstigste Äloment für die
Amputation, indem es leider nur sehr selten geling-t, einen solchen
Kranken zu retten. Etwas günstiger, wenngleich im Verhältniss zu den
Primäramputationen (solche, w-elche innerhalb der ersten 48 Stunden
gemacht werden) immer noch sehr ungünstig, gestalten sich die Resultate
der Amputationen, welche Sie vom 8. bis etwa 14. Tage wegen be-
ginnender acuter Eiterinfection, Pyohämie, machen. Hat der Kranke
zwei oder drei Wochen überstanden, und sollte jetzt noch durch eine
sehr profuse, erschöpfende Eiterung ohne Schüttelfröste, bei massigem
Fieber oder durch rein locale Gründe die Indieation zur Amputation
gegeben sein, so sind die Resultate wieder relativ günstig, falls die
Kräfte des Verletzten durch Eiterung und Fieb-er nicht schon zu sehr
erschöpft sind; wenn von manchen Chirurgen behauptet worden ist, die
secundären Amputationen geben überhaupt bessere Resultate als die
primären, so haben sie dabei fast ausschliesslich Secundäramputationen
unter diesen Verhältnissen im Sinne gehabt. Berücksichtigen wir aber
dabei, wie viele Kranke mit offenen Fracturen innerhalb der drei ersten
Wochen zu Grunde gehen, wie wenige also einen günstigen Zeitpunkt
für die Secundäramputation überhaupt erleben, so kann es in meinen
Augen keinem Zweifel unterliegen, dass die Primäramputationeu ganz
entschieden den Vorzug verdienen. Ich habe bis jetzt nur äusserst selten
Indieation für späte Secundäramputationen gefunden.
Die Heilung einer offenen Fractur kann auf sehr verschiedene Weise
vor sich gehen. Es kommt vor, dass Hautwunde und Fractur ohne
Eiterung per primam heilen; dies ist jedenfalls als der allergünstigste
Fall zu betracliten, bei der modernen Behandlungsweise tritt dies Ereig-
niss öfter ein, wenngleich die Bedingungen dazu der Xatur der Sache
nach nicht sehi- häufig gegeben sind. Weit häufiger ist es (auch dies
ist als sehr günstig zu betrachten), dass die Wunde nur bis in geringe
Tiefe eitert, und dass sich die Eiterung nicht zwischen und um die
Bruchenden erstreckt, sondern der lleilungsprocess am Knochen wie bei
einer einfachen subcutanen Fractur vor sich gellt. Die Fälle, wo die
Wunde nur die Haut betrifft und mit der Fractur gar nicht conniuiniciit,
sollte man gar niclit zu den complicirten Fracturen rechnen; indess sind
da die Grenzen schwer zu ziehen. .
Vorlcsim- 15. C.'ipilrl VI. 225
Ist die iriui(:vviiu(lc" gross, sind die Wciclitliciic^ slark gcqiictsclit, so
(hiss sich Fetzen von ihnen a])lösen, erstreckt sieh die Verletzung in die
'.riete zwiselien die Muskeln und die Knochen, seihst l)is in die Mark-
liöhle des Knochens hinein, liegen die Fragmente 'ganz schief aneinander,
linden sicli hier und dort halb lose Knochenstücke, dringen Längsspalten
weit in den Knochen hinein, so niuss der Heilungsprocess sich in nianch(;r
Beziehung von demjenigen ohne Eiterung unterscheiden. Die Thätigkeit
der Weiehtheile v^^ird wesentlich dieselbe bleiben, wie bei den sub-
cutanen Fracturen, nur mit dem Unterschiede, dass in diesem Fall die
entzündliche Neubildung nicht direct zu Calius wird, sondern dass nacli
Ablösung der zerquetschten nekrosirten Fetzen Granulationen und Eiter
entstehen, von denen sich erstere in verknöchernden Callus umAvandeln.
Die Form des Callus wird sich nicht wesentlich ändern, ausser dass dort,
wo die offene eiternde Wunde längere Zeit bestand, so lange eine Lücke
im Callusriug bleibt, bis dieselbe durch die nachwachsenden, in der Tiefe
verknöchernden Granulationen geschlossen wird. Der Process wird also
weit langsamer zum Abschluss konunen als bei einer subcutanen Fractur,
grade wie die Heilung durch Eiterung viel längere Zeit braucht, als die
Heilung per primam.
Doch was wird aus den Fragmentenden, welche theilweise oder
ganz vom Periost entblösst in der Wunde liegen? Was wii'd aus grösseren
oder kleineren Knochenstücken, welche vollständig vom Knochen ab-
getrennt, nur noch locker mit den Weichtheilen zusammenhängen? Zwei
Möglichkeiten sind hier wie bei den Weichtheilen gegeben, je nachdem
die Knochenenden lebensfähig oder abgestorben sind. Im ersteren
häufigeren Fall wachsen direct aus der Knochenoberfläclie Granulationen
hervor. Im letzteren erfolgt die plastische Thätigkeit im Knochen wie
bei den Weichtheilen an der Grenze des Lebendigen; es bilden sich
interstitielle Granulationen und Eiter; es schmilzt der Knochen, das todte
Knochenende, der Sequester, fällt ab. Die Ausdehnung, bis zu welcher
dieser Abstossungsprocess vor sich geht, hängt natürlich von der Aus-
dehnung ab, in welcher der Kreislauf am Bruchende oder in den aus-
gebrochenen Stücken in Folge der Verstopfung der Gefässe aufgehört
hatte. Diese Ausdehnung kann sehr verschieden sein; sie kann sich
vielleicht nur auf die oberflächliche Schicht des verletzten Knochens er-
strecken, und da. man den ganzen Process der Loslösung Necrosis
nennt, so heisst man diese oberflächliche Loslösung eines Knochenblätt-
chens Necrosis sup erficialis, während man die Ablösung des ganzen
Bruchendes einer Fractur als Necrosis totalis der Bruchenden be-
zeichnen kann ; der Ausdruck Necrosis totalis ist indess mehr gebräuch-
lich, wenn man bezeichnen will, dass die ganze Diaphyse eines Eöhren-
knocheus oder wenigstens ihr grösster Theil abgelöst wird ; der Gegensatz
dazu ist die Necrosis partialis. Der Gegensatz zu der obererwähnten
Necrosis superficialis, die man auch wohl als Exfoliation bezeichnet,
BUlroth ehir. P;üh. u. Ther. 7. Aufl. 15
226 Von dpn offeiiPii KnochenbrücliPii und von dor KnocliPiieitfriing.
ist eigentlicli die Necrosis centralis, d. li. der Ablüsuiigsprocess eines
inneren Theils des Knochens. Die Necrosis superficialis und die Nekrose
der Bruch enden, sowie der partiell abgelösten Knochenhruchstücke ist
mit den hier 7a\ besprechenden eiternden Fracturen so häufig- combinirt,
dass wir ihre Besprechung schon hier nicht umgehen konnten. — Es
Avird Ihnen vorläufig noch wunderbar erscheinen, dass aus der harten
glatten Corticalsubstanz eines Rührenknochens gefässreiche Granulationen
üppig hervorspriessen sollen ; dass das harte Knochengewebe unter dem
Einfluss dieser plastischen Processe aufgelöst wird, und eine Conti-
nuitätstrennuug zwischen Todtem und Gesundem spontan erfolgen kann,
wird Ihnen aus dem früher Mitgetheilten möglich erscheinen. Diesen
Processen der Granulationsbildung im Knochen und der Knochen-
eiterung wollen wir jetzt gleich in ihren feineren Verhältnissen
nachgehen.
Sie werden sich aus der ausführlichen Darstellung des traumatischen
Eiterungsprocesses in Weichtheilen erinnern, dass dieser Vorgang sich in
histologischer Beziehung hauptsächlich auf eine rasche und bedeutende
Gefässausdehnung, und eine wahrscheinlich direct aus dem Blut stammende,
massenhafte Zelleninfiltration concentrirt; die Intercellular'substanz wird
dann weich, wird sehr reichlich vascularisirt und so entsteht das
Granulationsgewebe, aus welchem an die Oberfläche fortdauernd Eiter-
zellen auswandern. Diese Vorgänge können sich im Knochen, zumal
in und an der festen Corticalsubstanz eines Piöhrenknochens nur in
sehr geringem Grade entfalten, weil die starre Knochensubstanz
eine starke Ausdehnung der Knochencapillaren, die in den Haversischen
Canälen eingeschlossen sind, und eine übermässige acute Zelleninfiltration
in die letzteren verhindert. Ich mache Sie hier gleich aufmerksam, dass
es bei dieser geringen Ausdehnungsmöglichkeit der Gefässe innerhalb
der Knochencanäle begreiflicherweise viel leichter als bei den Weich-
theilen zum Absterben einzelner Knochentheile kommen kann, weil bei
etwaigen Blutgerinnungen selbst in kleineren Capillardistricteu die Er-
nährung nur sehr unvollkommen durch die Dilatation collateraler Cai)il-
laren ausgeglichen werden kann, und es würde noch viel häufiger und
ausgedehnter Nekrose erfolgen, wenn nicht durch die vielen queren
Anastomosen der Kuochengefässe die Gefahr der Stase gemildert Aväre.
Es kann im Verlauf der Eiterung auch dadurch noch zur Nekrose
kommen, dass das Bindegewebe und die Gefässe in den Haversischen
Canälen ganz aus eitern und damit natürlich die Circulatiou im
Knochen ganz aufhört. Soll es zur Entwicklung eines gefässreiehen
Granulationsgewebes an der Oberfläche des Knochens oder mitten in der
compacten Knocheusubstanz kommen, so ist dies auf keine andere Weise
möglicli, als dass, wie früher beschrieben, zuvor die Knochensubstanz
(Kalksalze sowohl als organische Materien) dort verschwindet, wo das
neue Gewebe an seine Stelle treten soll ; es muss ebenso eine Auflösung
ViirlcsuiiK K;. (';i|.il,'l Vf. 227
und ein Schwuiul des Knoelieni^'ewebes , wie der Wcielillicilc unter
gleichen Bedingung-cn erfolgen (vergl. Fig. 44 ])ag. 103). Der Unter-
schied maclit sich hauptsflchlicli in der Vei'schiedenhcit der Zeit geltend ;
die Granulationsentwicklung am und im Knochen dauert al)er sehr viel
länger, als an den Weichtheilen. Schon früher lial)e icli erwähnt, dass
der gleiche Process an den gefässarmeu Seimen und Ffiscicn viel länger
dauert, als am Bindegewebe, an den Muskeln und an der Haut; am
Knochen dauert er noch länger als an den Sehnen. Uel)rigens niuss
auch die Lebensenergie des ganzen Individuums und der davon ab-
hängige sogenannte Vitalitätsgrad der Gewebe dabei in Anscidag ge-
bracht werden.
Vorlesung 16.
Entwicklung der Knocliengranulationen. Histologisches. — Sec{nesterlösung. Histologisches.
— Knochenneubildimg um die gelösten Sequester. Callus bei eiternden Fracturen. —
Eitrige Periostitis und Osteomyelitis. — Allgemeinzustände. Fieber. — Behandlung; ge-
fensterte Verbände, geschlossene, aufgeschnittene Verbände. Antiphlogistische Mittel.
Immersion. — Principien über die Knochensplitter. Nachbehandlung.
Wenn ein völlig entblösster Knochentheil sich anschickt, Granulationen
auf seiner Oberfläche hervorspriessen zu lassen (was wir freilich bei
complicirten Fracturen nur dann sehen können, wenn die Fragmentenden
bei grossen Hautwunden, z. B. an der vorderen Fläche des Unter-
schenkels frei zu Tage liegen) — • so erkennen wir dies mit freiem Auge
an folgenden Veränderungen. Die Knochenoberfläche behält in den
ersten 8—10 Tagen nach der Entblössung vom Periost meist ihre rein
gelbliche Farbe, die innerhalb der letzten Tage des genannten Zeit-
raums schon etwas ins liellrosa überspielt. Wenn wir dann die Knochen-
fläche mit einer Lupe betrachten, so können wir schon eine grosse
Anzahl sehr feiner, rother Pünktchen und Streifchen w-ahrnelimen, welche
einige Tage später auch dem blossen Auge sichtbar werden. Diese
Pünktchen und Streifchen w^erden rasch grösser, wachsen der Fläche
und der Höhe nach, bis sie untereinander confluiren nnd dann eine voll-
ständige Granulatiousfläche darstellen, welche unmittelbar in die Granu-
lationen der umgebenden Weichtheile tibergeht und sich später auch an
der Benarbung betheiligt, so dass eine solche Narbe fest an dem Knochen
adhärirt.
Verfolgen wir diesen Process in seine feineren, histologischen Details, was haupt-
sächlich mit Hülfe von injicirten und entkalkten Knochen auf experimentellem Wege ge-
15*
228 Von (Ion oftVnPii KnofhenbriicliPii und von der Kiinelieneitfruiig.
scheheu miiss, so kommen ^vil• zu folgenden Kesultaten: wenn der Kreislauf im Knochen
bis nahe an die Oberfläche erlialten ist, so erfolgt in dem die Gefässe begleitenden Binde-
gewebe in den Haversischen Canälen eine reiche Infiltration" von Zellen ; dies Gewebe
wächst dann mit den nach der Oberfläche zu sich entwickelnden Gefässschlingen an den-
jenigen Stellen ans dem Knochen hervor, an denen die Haversischen Canäle sich nach
aussen hin öffnen. Die Phitwicklung dieser jungen Granulationsmasse in die Breite erfolgt
auf Kosten von resorbirter Knochensubstanz. Macerirt man einen solchen Knochen mit
oberflächlichen Granulationen, so wird er auf seiner Oberfläche wie von Würmern zerfressenes
Holz erscheinen; in den vielen kleinen Löchern, welclie alle mit mehr oder weniger Haver-
sischen Canälen connnuniciren, sass am frischen lebendigen Knochen das Granulationsgewebe.
So bleibt indessen die Knoehenoberfläche nicht, sondern während die Knochengranulationen
an ihrer Oberfläche sich zu Bindegewebe condensiren und benarben, verknöchern sie in
der Tiefe ziemlich schnell, so dass am Schlüsse des ganzen Ausheilungsprocesses der ver-
Avundet gewesene Knor-lien an seiner Oberfläche nicht etwa defect, sondern im Gegentheil
dnrch Auflagerung und Einlagerung junger Knochenmasse verdickt erscheint. Sie sehen,
dass die Verhältnisse sich auch hier genau so gestalten, wie bei der subcutanen Entwick-
lung der entzündlichen Neubildung. Wenden Sie Ihren Blick zurück auf Fig. 55 pag. 2Ü5.
denken Sie sich von der Knochenoberfläche das Periost entfei-nt, so wird die Neubildung
(in dem vorliegenden Fall als~ Granulation) aus den Haversischen Canälen pilzartig her-
vorwachsen. Es wird Ihnen dies gleich noch vei-ständlicher werden, wenn wir jetzt den
Process der Ablösung nekrotischer Knochenstücke genauer veifolgen.
"Kehren wir zu dem zurück, was uns die Beobachtung mit freiem
Aug-e lehrte, und nehmen wir etwa an, wir haben ein zum Theil von
Weichtheilen entblösstes Scheitelbein vor uns, so werden sich, falls
keine Granulationen, wie oben Jbeschrieben, aus dem Knochen hervor-
wachsen, folgende Erscheinungen darbieten; während die umgebenden
Weichtheile und auch die Stellen des Knochens, welche von Periost be-
deckt geblieben sind, bereits reichlich Granulationen producirt haben und
Eiter secerniren, bleibt der abgestorbene Knochentheil rein weiss oder
bekommt wohl eine graue , selbst schwärzliche Färbung. Er verharrt
viele Wochen, manchmal zwei Monate und darüber in diesem Zustande;
um ihn herum wuchern die Granulationen in üppigster Weise; die Be-
narbung ist in der Peripherie der Wunde schon eingeleitet, und man
übersieht vorläufig noch gar nicht, wie die Sache werden soll, da die
Knochenoberfläche vielleicht noch in der sechsten Woche grade so aus-
sieht, wie am ersten Tage nach der Verletzung. Da endlich fühlen wir
eines Tages den Knochen an und finden ihn beweglich; nach einigen
Versuchen gelingt es, an seiner Grenze die Branche einer Pincette unter-
zubringen, und siehe da! wir heben eine dünne Knochenplatte ab, unter
welcher sich üppige Granulationen befinden; die untere Fläche dieser
Knochenplatte ist sehr rauh, wie zerfressen. Jetzt geht die Heilung
schnell vor sich. Es dauert freilich oft lange, bis eine solche Narbe
dauerhaft und solide ist, so dass sie allen Schädlichkeiten, wie Druck
und Reibung wiederstehen kann; doch kommt die Ausheilung oft zu
einem günstigen Ende. Dies ist derjenige Vorgang den wir Necrosis
superficialis oder Exfoliation eines Knochens nennen. (Fig. 60.)
Vorl.'siiMg K;. <',i|m(cI vi.
220
Fi«. (iO.
ff/
Lösung eines durch Verletzung eutblössten, nekrotisch gewordenen, t>bei'flachiichen Theils
eines platten (z. B, Schädel-) Knochens. Necrosis superlicialis. a Die von dem lebendigen
Theil des Knochens ausgewachsenen Granulationen unterminiren das abgestorbene (vertical
schraffirte) Stück, den Sequester, h Der Sequester ist von unten her stark von den
Granulationen ausgefressen, welche ihn an mehren Stellen durchbrochen haben. —
Schematische Zeichnung; natürliche Grösse.
An den Weich theilen kennen
wir diesen Vorgang' schon; grosse
Gewebsfetzen fallen im Lauf der
ersten Woche von den gequetschten
Wunden ab, indem an der Grenze
des Gesunden eine interstitielle Gra-
nulationsentwicklung auftritt und
dadurch das Gewebe aufgelöst wird 5
ebenso ist der Vorgang hier. An
einem entkalkten Knochen können
wir diese Vorgänge anatomisch
leicht untersuchen. Es entwickelt
sich die entzündliche Neubildung,
das Granulationsgewebe, an der
Grenze des Gesunden in den Haver-
sischen Canälen. Die folgende Ab-
bildung (Fig. 61) mag Ihnen diesen
Process in seinem histologischen
Detail veranschaulichen.
Wenn Sie das Gesagte richtg
aufgefasst haben, so bedarf es nur
noch einer geringen Anstrengung
Ihrer Phantasie, um sich zu veran-
schaulichen, wie derselbe Loslösungsprocess eines Knochenstttcks sich
Lösung eines nekrotischen Knochenstiicks
von der Corticalschicht eines Röhren-
knochens. Schematische Zeichnung. Ver-
grösserung 300. a Nekrotisches Knochen-
stück; b lebender Knochen; c Neubildung
in den Haversischeu Canälen, durch welche
der Knochen aufgelöst Avird. Vergl. Fig. 39,
pag. 163.
230
Von den offenen KnochenbrÜL-lieu und von der Knoclieneitenmg.
Fhj. 62.
(liircli die ganze Dicke eines Knochens erstrecken kann, wie also (und
hiermit kommen wir wieder auf die complicirten Fracturen zurück) das
Bruchende eines Knochens sich in toto in hliig-crer oder kürzerer Aus-
dehnung- ablösen kann, wenn es nicht mehr lcl)en8fäliig- ist. Ein solcher
-Process dauert, wenn die Dicke des betreffenden Knochens sehr be-
deutend ist, viele Monate lang, doch kann man schliesslich auch selbst
grössere Knochenstücke ebenso beweglich in der Wunde finden und
herausheben, wie eine oberflächliclie Knochenplatte.
Was die ganz von Knochen abgetrennten, nur mit Weichtheilen
nocli zusammenhängenden Knochensplitter betrifft, so wird ilir ferneres
Schicksal dadurch bcstinnnt, wie weit der Kreislauf in ihnen noch erhalten
ist, wie weit sie noch lebensfähig sind. »Sind sie gar nicht lebensfähig,
so lösen sie sich in der Folge vollständig durch Vereiterung der an
ihnen haftenden Weichtheile ab und unterhalten oft als fremde Körper
eine Eeizung und starke Eiterung der AVunde. Sind Sie noch lebens-
fähig, so producircn sie au den freiliegenden Flächen Granulationen, die
später verknöchern und mit dem gesammten, um die Bruchenden herum
entstandenen Callus verschmolzen.
Um uns zu veranschauliclien
wie sich nun zu diesem Lösungs-
process nekrotischer Bruchenden die
Callusbilduug verhält, habe ich
Ihnen folgendes Bild entworfen
(Fig. 62).
Die Fragmente des gebrochenen
Knochens sind nicht genau coaptirt,
sondern etwas seitlich dislocirt; die
Enden der Fragmente sind beide
nekrotisch geworden und durch in-
terstitielle Granulationswucherung
an der Grenze des lebenden Kno-
chens der Lösung nahe. Die ganze
AVunde ist durch Granulationen aus-
gekleidet, welclie Eiter seccrnircn^
der sich bei d nach aussen entleert.
In l)eiden Fragmenten hat sich ein
innerer Callus [bb) gebildet, der
jedoch wegen Eiterung der Bruch-
flächen noch niclit mit einander ver-
schmolzen ist; der äussere Callus
(cc) ist unrcgel massig und unter-
brochen bei r/, weil hier von An-
fang an der Eiter nach aussen Ab-
fluss hatte, AVeun nun die Granu-
T^iiiich eiiR's Kührenknoflieus niif äusserer
Wunde. Dislocation und Nocrose beider
Fragnientenden , Längsdurcliselinitt. Selie-
nialiselio Zeielumng. Nat.ürliehe Grösse.
ee Kntieheu. ffff Weiclillieile der Extre-
nnliU. aaaa nekroliselie Bruclionden' Dtis
sein- dunkel Scliraflirte stellt die Granula-
tiinuMi vor, welelie die naeli aussen (d)
niündoude Wundliölile auskleiden und Kiler
secerniren. bö innerer Callus in beiden
etwas disloeirlen Bruclienden. c c äusserer
Callus.
V(n-|(
IC. Ciipilrl \I.
231
lülidiion so stark wncliscn, <l;iss sio die i;aii'/c llülilo ausfüllen und nacli-
li;ii;li('li vevkuöclicrn , so Aviirdc damit die Heilung' erreicht uud das
Scidussresultat ^enau dasselbe sein, wie hei der lleiluuü,- suhculauer
Fractureu. Damit dies i;'es('helieu kaiiu, müssen die nekrotischen Knoclien-
stitekc entfernt werden, denn dieselben können crfahrun^sgeniäss \\u:\\t
in die Knocliennarbc einheilen. Diese Elimination der scquestrirtcn
Frai^niente erfolg't entAveder durch Kesorption oder durch künstliche Ent-
fernung- nach aussen; erster es ist das häufig'crc bei kleineren,
letzteres bei grösseren Sequestern; so lange aber die Sequester
zwischen den Granulationen der Fragmente stecken, ei'folgt die Heilung
sicher nicht. Da die Oetfnung bei (/ durch starke Entwicklung des
äusseren Callus sehr eng werden kann, so ist die künstliche Entfernung
der nekrotischen Fragmentenden zuweilen sehr schwierig-. Dass über-
haupt solche Sequester in der Tiefe stecken und ob sie bereits gelöst
sind, erkennen wir durch die Untersuchung mit der Soiule. — Denken
Sie sich die Sequester aa (Fig. 62) aus der Wundhölde entfernt, so ist
kein Ilinderniss mehr für die Ausfüllung der Wunde mit Granulationen
und ihre nachfolg-ende Verknöeherung. Solche Sc(|uester bei complicirten
Fracturen sind sehr häutig- die Ursache nicht allein von neuen Exacer-
bationen der acuten eitrigen Entzündungspi-ocesse, sondern auch von
subcutanen und chronischen Periostitiden mit laugdauerndem festem Oedem
der Extremität uud lästigen eczematösen Eruptionen auf der Haut der-
selben, so wie auch von lang bestehenden Knochenfisteln und ulcerativcn
Processen an den Fragmentendeu. Es combinirt sich
in der Wirkung dieser Sequester der doppelte Eiufluss
des fremden Körpers und der bald mehr localen, bald
mehr allgemeinen Eiterinfection.
Wir können hier beiläufig gleich die Verhält-
nisse besprechen, wie sie sich am Knochen
nach der Amputation ausbilden. Denken Sie sich
die Fig. 62 an der Stelle, wo die Fractur ist, quer
durchschnitten und die untere Hälfte entfernt, so sind
die Verhältnisse wie nach einer Amputation. Der
Knochen treibt jetzt entweder unmittelbar Granulationen
aus seiner Wundfiäche, oder es wird ein Stück (die
Sägefläche) in grösserer oder geringerer Ausdehnung
nekrotisch (Fig. 63). Mag dem nun sein, wie ihm
wolle, so wird jedenfalls, sowohl in der Markhöhle?
als aussen am Knochen eine Neubildung (ein halber
Callus) entstellen, Avelche in der Folge verknöchert;
untersuchen Sie nach Monaten einen Amputations-
stumpf, so finden Sie den Knochenstumpf in seiner
Markhöhle durch Knochenmasse verschlossen, wie auch
durch äussere Auflagerung verdickt. Hierbei sei noch
(;;).
Ampiitatiüiisstumpf
des Oberschenkels
mit nekrotischer
iSaliofiäche.
232 ^'^'^ ^*^^^ oifenen Knochenbriichen und von der Knocheneiterung.
bemerkt, dass der Name Callas fast ausscliliesslieh für die kuöclierne
Neubildung- bei Fracturen gebraucht wird, während man sonst die aussen
auf dem Knochen auf lagernden jungen Knochenneubildungen, wie sie
unter den verschiedensten Verhältnissen entstehen können, „Osteophyten"
(von oOTSov, Knochen und cpv^ia, Geschwulst) nennt; Callus und Osteo-
phyten sind also keine wesentlichen Unterschiede, sondern beides Be-
zeichnungen für junge Knochenbildungen.
Zwei Bestandtheile des Knochens haben wir bis jetzt bei Besprechung
des Eiterungsprocesses unberücksichtigt gelassen, nämlich das Periost
und das Knochenmark, Wir haben bei Betrachtung der Callusentwick-
lung gesehen, dass auch das Periost thätig bei der Bildung der neuen
Knochenmasse mitwirkt. Greift aber bei offenen eiternden Fracturen
die eitrige Entzündung in Folge ausgedehnter Quetschung weit um sich,
so kann auch ein grosser Theil des Periosts theils nekrotisiren, theils
durch Vereiterung zu Grunde gehen, und wir finden in solchen Fällen
ausgedehnte suppurative Periostitis (suppurare, eitern); der grösste
Theil eines Köhrenknochens, z. B. der Tibia kann von Eiter umspült sein.
Es wird dadurch dem ausser Verbindung mit den umgebenden Weich-
theilen gesetzten Knochen die Blutzufuhr von der Oberfläche her entzogen,
und gerade auf diese Weise kann in Folge der eitrigen Periostitis aus-
gedehnte Nekrose des Knochens entstehen. Diese localen Gefahren sind
jedoch gering anzuschlagen im Verhältniss zu den Gefahren, welche
solche tiefliegenden Eiterungen für den ganzen Organismus nach sich
ziehen und die wir später noch sehr ausführlich zu besprechen haben.
Nicht minder kann sich das Knochenmark sowohl eines Piöhren-
knochens als eines spongiösen Knochentheils an der Eiterung betheiligen.
Aus dem früher Gesagten wissen Sie, dass sich im Verlauf des normalen
Heilungsprocesses der Fracturen in der Markhöhle ebenfalls neue Knochen-
masse bildet und dass durch diese für eine geraume Zeit die Mark-
höhle geschlossen bleibt. Bei den offenen, eiternden Fracturen tritt nuu
auch zuweilen eine Eiterung des Knochenmarks ein, die sich mehr oder
weniger weit ausbreiten kann. Eine solche suppurative Osteomyelitis
ist von nicht geringerer Gefahr, sowohl für die Existenz des Knochens,
als auch für den gesammten Organismus, wie die suppurative Periostitis.
Sie kann aus verschiedenen Ursachen auch einen jauchigen Charakter
annehrüen; die grösseren Knochenvenen, welche aus dem Mark heraus-
treten, können sich an dem Eiterungsprocess betheiligen, und es ist diese
Krankheit von um so verderblicheren Folgen, ,weil sie ganz in der Tiefe
verläuft und sehr häufig erst au der Leiche sicher erkannt werden Icann.
Auch die eitrige Osteomyelitis für sich kann zur partiellen und selbst
zur totalen Nekrose eines Knochens führen, um so eher, wenn sie sich
mit der eitrigen Periostitis verbindet.
Vorlosimf;- 1 H. Clapih^l Vf. 233
Wenni;'lcicli es nöthii!," war, Sic mit jillcn den angeCülivten örtlichen
Complicationen bei den offenen Fracturcn bekannt zu machen, bo kann
ich doch zu Ihr^r Beruhigung liin/Aifiigen , dass dieselben nur in den
seltneren Fällen in der g-eschilderten Ausdehnung- vorkommen;
weder totale Nekrose beider Bruchenden, nocii ausgedehnte eitrige Pe-
riostitis und Osteomyelitis sind nothwendige Folgen dieser Fracturen,
sondern oft genug erfolgt zum Glück die Heilung in der Tiefe auf ganz
einfachem Wege, und nur aussen besteht eine länger dauernde Eiterung.
Ob eine zur Eiterung führende, traumatische Entzündung über die
Grenzen der Keizung (der Verletzung) hinausgeht, hängt hier, wie bei
den einfachen Quetschwunden, von der Art und dem Grade der Verletzung,
und später von allen den Umständen ab, die wir als directe oder in-
directe Veranlassung für die secundären Entzündungen an Wunden
kennen gelernt haben. Je ausgedelmter die Knochenzertrümmerung (zumal
bei Schussfracturen) , um so grösser sind auch alle unmittelbaren und
mittelbaren Folgen der Verletzung.
Jetzt noch einige Worte über den Allgemeinzustand , besonders über
das Fieber der Kranken bei complicirten Fracturen. Während es bei
den subcutanen Fracturen als eine Seltenheit zu betrachten ist, wenn einer
von diesen Krauken überhaupt Fieber bekommt, so gilt es umgekehrt als
eine Ausnahme, wenn Kranke bei offener Fractur kein Fieber bekommen.
Wenn irgendwo, so ist gerade hier die Abhängigkeit des Fiebers von
der Ausdehnung und Intensität des örtlichen Processes recht in die Augen
fallend. Wie wir schon bei den gequetschten Wunden erwähnt haben, so
ist auch hier mit jeder Ausdehnung der Entzündung eine Fiebersteigeruug
verbunden, und zwar ist dieselbe, ganz allgemein betrachtet, um so be-
deutender, je tiefer die Eiterungsprocesse liegen. Crrade bei accidenteller
Osteomyelitis und Periostitis steigt die Körpertemperatur Abends nicht
selten bis über 40" Gels.; rasche intensive Temperatursteigerungen mit
Schüttelfrösten verbunden gehören zu den leider nicht seiteneu Erschei-
nungen: Septhämie und Pyohämie, Trismus und Delirium potatorum ver-
binden sich besonders gern mit den eiternden Fracturen, so dass ich
hier nur darauf zurückkommen kann, was ic!i Ihnen bereits am Eingange
des Capitels bemerkte, dass jede offene Fractur in den meisten Fällen
eine schwere und gefährliche Verletzung sein oder werden kann. Es
ist daher die grösste Umsicht und Sorgfalt nothwendig. Ich kann Sie
aus eigener Erfahrung versichern, dass die gelungenste operative Our
mir niemals eine solche Freude bereitet, wie die gelungene Heilung einer
schweren complicirten Fractur.
Gehen wir jetzt zu der Behandlung der offenen Fracturen
über. Nachdem man sich im Lauf der letzten Jahre ganz allgemein
von der vorzüglichen Wirkung der festen Verbände tiberzeugt hatte, lag
234 Von den offenen Knoc'henbrüeli(;n un<l von 'ler Knocheneiterung.
es nahe, dieselben in modificirter Form auch bei offenen Fracturen in
Anwendung zu ziehen; in der That hat bereits »Seutin, der Erfinder
des Kleisterverbandes, die sogenannten gefensterten Verbände in An-
wendung gezogen, d. h. er etablirte in dem festen Kleisterpappverband
eine Oeffnuug, welche der Wunde der Weich theile entsprach, so dass/
letztere der Beobachtung wie der Behandlung zugänglich war und blieb.
Diese gefensterten Kleisterverbände, sowie die. gefensterten Gypsverbände,
welche jetzt sehr oft angewendet werden, hatten in ihrer primitiven Form
allerdings grosse Uebelstände, die aber jetzt als völlig überwunden zu
betrachten sind. Der Hauptiibelstand der gefensterten Verbände war
der, dass die Unterbinden und die Watte, die unter dem Kleister- oder
Gjpsverband liegen müssen, immer sehr leicht von Eiter durchtränkt
wurden, und der so unterhalb des Verbandes in die Verbandstücke im-
prägnirte Eiter sich zersetzte und zu Gestank Veranlassung gab.- Aus-
gedehnte Erfahrungen haben mich überzeugt, dass mau diese Nachtlieile
beseitigen kann; man muss nur die Oeifuungen gross genug machen, die
Bänder der Fenster durch Umsäumung mit Leinwandstreifen, die man mit
Gyps und CoUodium befestigt, abrunden, dem Verband durch Bis'sche
Lagerungsschienen, durch eingelegte Holzspäne und Bügel genügende
Festigkeit geben, und das Wundsecret in untergesetzten Schalen auffangen.
Bleibt ein solcher Verband fest und sauber, so ist die Mühe, die seine
erste Anlegung kostet, nicht nur durch den glänzenden Erfolg dieser
Behandlungsweise, sondern auch durch die grosse Zeitersparniss belohnt,
die man bei der späteren Besorgung des Verwundeten gewinnt. — Eine
Zeit lang habe ich die Gypsverbände bei offenen Fracturen fast aus-
schliesslich in der Weise gebraucht, dass ich sie anfangs ganz geschlossen,
Avie bei einer einfachen Fractur anlegte und sie bald der Länge nach
aufschnitt, etwas aus einander bog, die Wunden, je nachdem sie es
bedurften, alle zwei Tage. oder täglich verband, ohne dass die Fragmente
dabei gerührt wurden und dies so lange fortsetzte, bis die Wunde ge-
heilt war, um dann zum Schluss, wenn es nöthig sein sollte, für einige
Zeit noch einen vollkommen geschlossenen Verband neu anzulegen.
Auch diese Methode ist für manche Fälle verwendbar und hat gute Er-
folge aufzuweisen. Das Wesentliche bei diesen verschiedenen Verfahren
ist und bleibt, dass man auch die complicirtesten Fracturen,
wenn man sich entschieden hat, nicht zu amputiren, sofort
nach der Verletzung in den Gypsverband legt, grade so wie eine
einfache Fractur, nur mit dem Unterschiede, dass man diese Wunde mit
Charpie oder Compressen, die zuvor in Bleiwasser oder Chlorkalkwasscr
oder Carbolsäurelösung getaucht sind, zu decken hat, und dass man
sehr viel Watte (zwei Finger dick) auf die Extremität legt, ehe man
den Verband applicirt, damit aucli für den Fall, dass Schwellung eintritt,
keine Einschnürung des Gliedes durch den Verband erfolgen kann.
Ein Umstand, der die Anlegung irgend eines festen Verbandes für
VorlosiiHo- IC. rapifcl VI. 235
alle Fälle gleich erscliwcrt, ist eine sehr grosse (»der viele Wunden
zu i;'leieher Zeil. Tritt in solchen Fällen ansi!,e(lehnte uiul in die '{'iere
Hebende Eiterung- ein, so dass viele (üegenötrnungcn gemacht werden
müssen und dadurcli die Zahl der Wunden bedeutend vermehi-t wird,
so wird es eben unniöglicli sein, den gleichen Verband lange zu behal-
ten, und man wird dann vielleicht genötliigt sein, zu den Sciiienen und
l^einladen zeitweilig- zurückzukehren, die dann alle Tage vollständig er-
neuert werden müssen. Uebrigens stehen gerade diese schwersten Fälle,
wie Sie aus dem- früher Gesagten entnehmen werden, liäutig- an der
Grenze der Amputation, d. h. ihre Heilung- ist überhaupt problematisch.
— Je mehr Uebung- man in der Application der Gypsverbände bekommt,
um so seltner werden schlimme Accidentieu eintreten. Seitdem ich bei
den complicirten Fracturen in der erwähnten Weise die Verbände appli-
cire, kommen mir die diffusen septischen Entzündung-eu und secundären
Eiterungen viel seltener zur Beobachtung als früher. Ich bin von der
Ueberzeugung durchdrungen, dass die Behandlung- der offnen Fracturen
mit Gypsverbänden die beste ist; aber man muss diese Methode der
Behandlung- studiren, und sich nicht einbilden, man verstehe sie a priori.
Wenn ein Chirurg- ans der älteren Schule unsere heutige Behand-
lung- sowohl der einfachen, als der complicirten Fracturen sieht, so wird
er dieselbe nicht allein für irrationell, sondern auch für sehr tollkühn
halten, denn man behandelte früher die Knochenbrüche, wie jede an-
dere Verletzung-, vor Allem erst antiphlogistisch und stellte dieser Auf-
gabe g-eg-entiber alles andere in zweite Linie. Man hielt e^ daher für
nöthig-, an die gebrochene Extremität in der Gegend der Fractur Blutegel
anzulegen, kalte Ueberschläge oder Eisblasen zu appliciren und den
Kranken reichlich zu purgiren. Später ging man bei den offenen Fractu-
ren, wenn die Wunden in Eiterung- kamen, gewöhnlich zu Kataplasmen
über, die man fast bis zur vollendeten Heilung anwandte. Daneben
wurde ein Schienenverband applicirt und derselbe etwa alle 2 — 3 Tage
erneuert, während die Wunde, je nach der Eiterung, mehr oder weniger
häufig verbunden wurde. Einer der ersten, welcher sich gegen den so
häufigen Wechsel der Verbände bei Wunden überhaupt und zumal bei
offenen Knochenbrüchen aussprach, war Larrey. — Tu neuester Zeit ist
man Avohl allgemein zu der Ueberzeugung gekommen, dass bei der Be-
handlung der offenen, wie bei derjenigen der subcutanen Fracturen die
genaueste Fixirung- der Fragmeute diejenige Bedingung ist, die zuerst
erfüllt werden muss, wenn die Heilung in günstiger Weise vorschreiten
soll, und dass nichts mehr die Entzündungen um die Wunde anzuregen
im Stande ist, als die Bewegungen der Fragmente. Die sichere Fest-
stellung derselben ist daher das wichtigste und wirksamste Anti-
phlogisticum, welches wir hier in Anwendung ziehen können. Wir
wiederholen hier die schon früher gemachte Bemerkung, dass Kälte und
Blutentziehungeu durchaus nicht prophylaktisch antiphlogistisch wirken,
236 ^•-"1 '^L'n oflenen Knoeheubriic-lHM) und von der Knochenciterung.
wie man es früher anuahm. Halte ich es für nöthig', bei auftretenden
progressiven Entzündungen um die Wunde Eis zu appliciren, so entferne
ich ein Stück von dem Gypsverhand der Stelle entsprechend, an Avelcher
die Eisblase aufgelegt werden soll. Was die neben der Wunde auftre-
tenden Eiterungen betrifft, so ist durch Einschnitte für den Abfluss des
Secrets zu sorgen. Das allgemeine Princip, welches in Bezug auf die
Wahl der einzuschneidenden Stellen gilt, ist, dass man dort die Gegen-
öffnungen anlegt, avo man am deutlichsten Fluctuation fühlt, wo man am
Avenigsten Weichtheile zu durchschneiden hat, wo der Eiter, ohne dass
man durch Fingerdruck nachliilft am leichtesten abfliesst. Muss man
Fenster aus dem Verband ausschneiden, so geschieht dies am leichtesten
2 — 3 Stunden nach Anlegung des Verbandes. Nachdem man die Oeflf-
nungen entsprechend den Wunden aus der Gypsbindenlage ausgeschnitten
hat, ohne dabei die Extremität zu rühren, zupft man die Watte von ein-
ander, entfernt die aufgelegte Charpie und umsäumt die Fenster sorg-
fältig ; dann schiebt man unter die Fensterränder mit einem Spatel Watte,
um das Eindringen von Wundsecret in den Verband zu verhindern. Seit
mehren Jahren lasse ich auch alle Wunden und Abscessöff-
nungen bei complicirten Fracturen ganz offen und bin sehr
erfreut von den glücklichen Erfolgen dieser Methode. — Jeden-
falls gehört zur Behandlung der complicirten Fracturen mit Gypsverbäuden
eine sehr sorgfältig zu übende Technik und die Kenntniss einer grossen
Menge von Details, die man nur am Krankenbett gewinnen kann; auch
ist eine Gabe der Erfindung von Modificationen verschiedener Verband-
typen uothwendig. Die Behandlung einer offenen Fractur ist oft sehr,
sehr schwierig; jeder verwende dabei die Methoden in seiner Praxis, die
er gelernt hat; ob Gypsverhand, ob Kleisterverband, ob Wasserglasver-
band, daraufkommt es nicht an; das Wesentliche ist, dass die Fragmeute
ruhig und fest liegen, und dass dieselben bei den Verbänden nicht
bewegt werden; dann wird sich der Verletzte wohl und schmerzfrei
befinden und gesund werden.
Die günstigen Erfahrungen, Avelche mau mit der Immersion bei ge-
quetschten Wunden an Hand und Fuss machte, haben manche Chirurgen
veranlasst, auch die complicirten Fracturen, wenigstens des l'nterschen-
kels und Vorderarmes, ajiif gleiche AVeise zu behandeln. Man hat in der
Berliner chirurgischen Klinik versucht, die gebrochenen Extremitäten mit
einem gefensterten Gypsverhand in das permanente Wasserbad zu brin-
gen; zu diesem Zweck muss der Gypsverband durch Bestreichen mit
Cement, Schellacklösung, AVasserglas, Collodium u. dgl. wasserfest ge-
macht werden. Die Eesultate dieser Behandlung sind gerühmt. Sollten
dabei eitrige Entzündungen um die AA'unde herum auftreten, bei denen
schon an sich das continuirliche AVasserbad von übler AVirkuiig ist, so
scheint mir diese Methode durchaus unzweckmässig.
Bei der Behandlung offener Fracturen mit Schienenverl)äudeu be-
Vorlcsmi!'- Ii;. (',-i|,ilrl VI. 2P>7
dient man sich i;-c\völnili('!i i;rn(ler sclinuUcr llolzscliicneii, die lur den
Gcbvaneli am IJntersclionkel mit einem Fussstlick versehen sind.
Da wir die Ik'sprcclinng' der Beliandlnni;' ('onijdieirter Fracturen
gleich mit den Vevhänden begonnen haben, so muss ich noch etwas
über die erste Untersuchung- hinzufüg-en. Die Diagnose der complicirten
Fractuven wird wie die der einfachen gemacht. Ein Fing- eben mit
den Fingern in die Wunde ist in vielen Fällen völlig unnöthig
und schädlich; nur wenn man lose Knochensplitter zu erwarten
hat, z. B. bei Sehussfracturen, wenn man Splitter durchzufühlen glaubt,
oder solche sieht, sollen dieselben ausgezogen werden; je weniger Sie
nöthig' haben, an der Wunde zu manipuliren, um so besser.
Alle fest adhärenten Knochensplitter lässt man liegen; das Abtragen
spitzer Fragmentenden (die primäre Resection der Fragmentenden) kann
gelegentlich von Vortheil sein; ich habe dazu nur dann Veranlassung-
genommen, wenn die Reposition und Fixation solcher Fragmente auch
in der Chloroformnarkose unmöglich war. Die Reposition der Fragmente
muss eben vor der Anlegung des Verbandes aufs Genaueste gemacht
werden, späteres Biegen und Ziehen ist entschieden zu verwerfen, und
wenn es wegen bedeutender Dislocation nöthig werden sollte, bis zur
Heilung der Wunde zu verschieben. Ebenso ist frühzeitiges Zerren an
halbanhängenden Knochensplittern ganz unzweckmässig und nutzlos;
ein an dem Periost oder andern Weichtheilen adhärentes abgestorbenes
Knochenstttck fällt nach und nach von selbst ab, dann nimmt man es
fort. Zuweilen treten mehre Wochen nach der Verletzung noch be-
deutende Schwellung, profuse Eiterung mit heftigem Fieber auf; in
solchen Fällen kann partielle Nekrose scharfer Fragmentstücke die Ur-
sache sein; es ist dann in der Narkose ein Versuch zu macheu, die
betreffenden Knochensplitter zu extrahiren. — Sind keine solche besondere
Veranlassungen zu neuer Untersuchung der Wunden gegeben, so forsche
mau nicht eher durch Sondiren nach nekrotischen Knochensplittern als
bis die Wunde sich so reizlos wie eine chronisch entstandene Knocheu-
fistel verhält, und auch dann mit grösster Vorsicht und mit absolut
reinen Instrumenten. Ist eine ausgedehntere Nekrose eines ocler beider
Bruchenden eingetreten, so kann die Extraction der abgestorbeneu
Knocheustücke Schwierigkeit darbieten; man würde dann dasselbe Ope-
rationsverfahren anwenden, wie bei der Operation der Nekrose überhaupt,
wovon später bei den Knochenkrankheiten zu sprechen ist, dies darf
aber nicht früher geschehen, als bis der Process in ein ganz chronisches
Stadium getreten ist.
Was die Dauer des Heilungsprocesses complicirter Fractureu betrifft,
so ist dieselbe immer eine längere, wie bei den einfachen Fractureu, ja
sie kann bei lauger Eiterung gelegentlich weit über das Doppelte der
für eine einfache Fractur genügenden Zeit in Anspruch nehmen. Man
wird hierüber durch die manuelle Untersuchung zu entscheiden haben
238 Von (Ion Psciidartliroseii.
und den Kraiikeu jedenfalls iiielit fi'iiliei- zu Gcbversuclien auffordern,
als bis die Fractur vollständig consolidirt ist. Die Hückbilduug- des
Callus, seine Verdicbtuug, sein äusserer Scbwuud und seine Resorption
bis zur Wiederberstelluug der Markböble, finden in ganz gleicber Weise
Statt, wie bei den einfacben snl)cutanen Fracturen. — Die Bebandlung
der complieirten Fracturen ist einer der scbwierigsten Gegenstände in
der gesammten Cbirurgie; man lernt darüber nie ans.
Vorlesung 17.
ANHANG ZU CAPITEL V. UND VI.
1. Verzögerung der Calliisbiklting und Entwicklung einer Pseudarthrose. — Ursaclien oft
unbekannt. Locale Bedingungen. Allgemeine Ursachen. — Anatomische Beschaffenheit.
— Behandlung: innere, operative Mittel; Kritik der Methoden. — 2. Von den schief-
geheilten Knochenbrüchen; Infraction, blutige Operationen. — Abnorme Calluswncherung.
1. Verzögerung der Callusbildung und Entwicklung eines
falscben Gelenks, einer „Pseudartbrosis".
Es kommt unter mancben, uns nicbt immer bekannten Verbältnissen
vor, dass eine Fractur bei der gewöbnlicben Bebandlung nacb dem Ab-
lauf der gewöbnlicben Zeit nocb nicbt consolidirt ist; ja es kann sieb
ereignen, dass es gar nicbt zur Consolidation kommt, sondern dass die
Fraeturstclle ganz scbmerzlos wird und sebr beweglicb bleibt, wodurcb
begreif lieberweise die Function der Extremität bis zur völligen Unbraucb-
barkeit beeinträcbtigt sein kann. Vor einiger Zeit kam ein kräftiger
Bauernburscbe mit einfacber subcutaner Fractur des Unterscbenkels obne
Dislocatioji in das Krankenbaus ; es wurde wie gewöbnlicb ein Gyps-
verband angelegt und derselbe nacb 14 Tagen erneuert. Secbs "Wocben
nacb gescbebeuer Fractur wurde der Verband ganz entfernt in der Er-
wartung, dass der Knocbenbrucb gebeilt sei; indess die Fracturstelle war
nocb vollkommen beweglicb; aucb war gar keine Callusbildung von
aussen zu fiiblen. leb griff bicr zunäcbst zu dem cinfacbsten ^Mittel in
solcben Fällen, indem icb den Patienten narkotisirte und dann die
Fragmente stark an einander rieb, bis man recbt deutlicb Crepitation
wabrnabm; jetzt legte icb wieder einen Gypsverband an und fand nacb
Entfernung desselben 4 Wocben später die Fractur bereits ziemlicb fest.
Icb lagerte den Patienten in eine Beinlade und Hess dann täglicb den
Untcrscbcnkel, obne ibn mit Binden einzuwickeln, auf seiner vorderen
Fläcbe mit starker Jodtinktur bestreicbeu, ein Verfabren, welcbes aucb
Voricsiiiii;' 17. Aiiliant;- zu C:\\,\ir\ V. iiiul V^f. 239
olmc V(>rlicviii,os llcilicii der Fragiiicutc zuwcüeii zum Ziel führt. Nticli-
dem dies 14 Tage laug- fortgesetzt war, f;iiid ich die Fractiir ganz fest;
der Kranke stand jetzt mit Hülfe von Krücken auf und konnte in kurzer
Zeit geheilt entlassen werden. — Mehre Fälle sind n)ir aus der Praxis
anderer Collegen bekannt, in denen ganz einfache Fracturcn l)ei sein-
kräftigen jungen Leuten gar nicht zur Consolidation kamen, sondern
eine Pseudarthrosis entstand. Dergleichen Vorkommnisse sind im Ganzen
als sehr selten zu heti-achten; meist sind es ganz bestimmte Veranlassun-
gen, zuweilen Knochenkrankheiten, durcli welche die Entstehung einer
Pseudarthrosis bedingt ist. Es giebt gewisse Fracturcn am menschlichen
Skelet, die aus verscliiedenen Gründen erfahrungsgemäss fast niemals
durch knöchernen Callus vereinigt werden: hierin gehören die intra-
capsulären Fracturcn des Collum femoris und Collum Immeri, die Brüche
des Olecranon und der Patella. Die beiden letzten Knochen weichen,
wenn sie quer abbrechen, so weit aus einander, dass die von beiden
Enden gebildete Knochenmasse sich nicht begegnen kann, und deshalb
sieh nur eine narbige Bandverbinduug zwischen diesen Knochentheilen
bildet. Das Caput femoris besitzt, wenn es innerhalb der Kapsel abge-
brochen ist, freilich noch eine Blutzufuhr durch eine kleine Arterie, welche
durch das Lig. teres in den Kopf eintritt, indess ist doch diese Ernäh-
ruugsquelle sehr gering, und es wird daher die Knochenproduction von
Seiten des kleinen Fragmentes eine geringe sein. Bei einem Bruch des
Caput humei-i innerhalb der Gelenkkapsel wird, falls der seltene Fall
eintreten sollte, dass ein Stück des Kopfes ganz vollständig von den
übrigen Knochen abgetrennt ist, dieses Knochenstück gar kein Blut zu-
geführt erhalten und sich daher wie ein fremder Körper dem Organismus
gegenüber verhalten: eine Anheilung desselben ist kaum zu erwarten.
Bei den angeführten Beispielen betrachten wir die Nichthe.ilung so selir
als Eegel, dass wir sie für gewöhnlich kaum noch als Pseudarthrosen-
bildung bezeichnen. Indess wollte ich Ihnen hieran zeigen, dass es rein
örtliche Verhältnisse geben kann, welche zu einer Pseudarthrose dispo-
niren: dahin gehört zumal das vollständige Ausbrechen grösserer Knochen-
stücke, nach deren Entfernung bei offenen Fracturen ein so grosser
Defect entstehen kann, dass er nicht ganz durch neugel)ildete Knochen-
masse wieder ausgefüllt wird. Eine sehr lange dauernde Eiterung mit
geschwüriger Zerstörung und weitgehender Auflösung der Fragraentenden
könnte ebenfalls zu Entstehung einer Pseudarthrose Veranlassung geben.
Ferner wird die Behandlung zuweilen als Ursache angeldagt: ein zu
lockerer oder gar kein Verband, zu frühzeitige Bewegung sind Momente,
die in Betracht kommen können. Auch hat man behauptet, dass eine
zu andauernde Application intensiver Kälte, die gleichzeitige Unter-
bindung grosser Arterienstämme, und endlich auch ein zu fest angelegter
Verband einer genügenden Entwicklung von knöchernem Callus hinder-
lich sei. Alles dies ist für sich allein keine nothwendige Bedingung
OA-O ^^°" *^^" Pseudarthrosen.
für die Eutsteliung einer Pseudarthrose, kann aber als zweites Moment
mitwirken, wenn durch die allg-emeinen Ernührungsverliältnisse des
Org-anismus eine Pseudartlirosenbildung nach Fractur begünstigt wird.
Von allg-emeinen Dispositionen und allgemeinen Knochenkranklieiten
werden folgende als zu Pseudarthrosen disponirend bezeichnet: eine sehr
schlechte Ernährung, Entkräftung' durch wiederholte Blutverluste, speci-
fische Krankheiten des Blutes, wie Scorbut, sehr intensive Krebskrank-
lieit. Von den Krankheiten der Knochen ist es hauptsächlich die
Osteomalacie , ein Schwund der Corticalsubstanz mit Vergrösserung der
Markhöhle, bei welcher, wie früher schon erwähnt, in gewissen Stadien
nicht allein eine bedeutende Fragilitas ossium besteht, sondern bei
welclier auch die Chancen für die Wiedervereinigung sehr gering sind.
Ich habe dies Alles Ihnen angeführt, weil es ziemlich allgemein ange-
nommen wird, obgleich sich bei schärferen kritischen Untersuchungen
einige der genannten, für die Pseudarthrose disponirenden Momente
von sehr zweifelhaftem Werth herrausstellen, während die Bedeutung
anderer wohl constatirt ist. So ist es auch unter Anderem eine sehr
verbreitete Ansicht, dass bei Schwangeren die Fracturen nicht zur Con-
solidation kommen. Dies ist nicht für alle Fälle richtig; ich sah selbst
mehrfache Fracturen bei Schwangeren vollständig heilen, nur einmal ver-
längerte sich das Festwerden des Callus bei einer spät erkannten
Fractur des unteren Endes des Radius um einige Wochen, was übrigens
auch bei nicht schwangeren Frauen und bei Männern vorkommen kann.
Das Abnorme des Heilungsproeesses bei dem Zustandekommen von
Pseudarthrosen beruht nicht darin, dass überhaupt keine jSIeubildung
Statt findet, sondern dass die entzündliche Neubildung nicht verknöchert.
Die Verbindungsmasse der Fragmente wird zu einem mehr oder weniger
straffen Bindegewebe, durch welches die Knochenenden je nach ihrer
Distanz in längerem oder kürzerem Abstand zusammengehalten werden.
Liegen die Fragmeute so nahe an einander, dass sie sich bei Bewegungen
der Extremität gegenseitig berühren und an einander reiben, so entsteht
zwischen ihnen in der verbindenden Baudmasse eine mit etwas serös-
schleimiger Flüssigkeit gefüllte Höhle mit glatter Wandung; an den
Bruchenden hat man in einzelnen Fällen auch wohl Knorpel gefunden,
so dass in der That eine Art von neuem Gelenk entstanden war. So sehr
häufig kommt dies indessen nicht zu Staude, sondern in den meisten Fällen
hat man es nur mit einer straffen Bandmasse zu thun, welche sieh unmittel-
bar wie eine Sehne in die Fragmente einsenkt. ■ — So lange eine solche
Pseudarthrose an kleinen Knochen, wie z. B. an der Clavicula oder auch
selbst an einem der Vorderarmkuochen, etwa am Radius oder der Ulna
besteht, ist die Functionsstörung immerhin erträglich. Ist aber die Con-
tinuitätstrennung am Oberarm, Oberschenkel oder Unterschenkel, so müssen
natürlich bedeutende Functionsstörungen eintreten. In manchen Fällen
ist es möglich, durch passende Stützapparate den Extremitäten die uöthige
Vorlosiiiii;- 17. Anliaiiij; zu Cnpilvl V. imd VI. 241
Fcstii^'keit va\ gehen; in luidern Fällen geling-t dies nicht oder docli
nur höchst unvollkonmien, s^o dass man sclion seit zicmlicli langer Zeit
sicli damit bcschäftig-t hat, die l'seudarthrosen auf operativem Weg'e zu
heilen, d. h. sie zur Vei-knöchcrung zu zwing'cu. Elie wii' zur IJcspi-cchung-
der zu diesem Zweck angewandten Verfahren eingehen, müssen wir noch
der Versuche gedenken, durch innere Mittel entweder der Pseudarthrose
vorzubeugen, wenn man sie aus oben genannten Gründen erwarten darf,
oder dieselbe zu heilen, wenn sie einmal etablirt ist. Es sind hauptsäclilich
Kalkpräparate, die man zu diesem Zwecke in Anwendung zog. Man
Hess theils den phosphorsauren Kalk in Form von Pulvern innerlich
nehmen, theils Kalkwasser mit Milch vermischt trinken, ohne jedoch da-
durch wesentliche Erfolge zu erzielen. Es wird von dem auf diese Weise
eingeführten Kalk nur sehr wenig resorbirt, und von diesem überschüssig
etwa ins Blut aufgenommenen Kalk wieder viel durch die Nieren aus-
geschieden, so dass der Pseudarthrose dadurch fast nichts zu Gute kommt.
Mehr hat man allenfalls von allgemeinen diätetischen Vorschriften und von
Nahrungsmitteln zu erwarten, die an sich sehr kalkhaltig sind; wir konnnen
bei der Rhachitis darauf zurück. Aufenthalt in guter Landluft und Milch-
diät sind zu empfehlen; doch, hoffen Sie nicht zu viel von diesen Mitteln,
zumal nichts bei einer vollständig ausgebildeten, seit Jahren bestehenden
Pseudarthrose. In einer kürzlich veröffentlichten interessanten Arbeit von
Wegner ist durch eine ausgedehnte Reihe von Experimenten gezeigt,
dass bei fortgesetzter Darreichung kleinster Dosen von Phosphor die
Calluswucherung um Fracturen eine besonders üppige und derbe wird,
so wie dass bei wachsenden Thieren die während des Phosphorgebrauchs
neu gebildete Knochenmasse aussergewöhnlich dicht und hart, ausser-
gewölmlich reich an Kalksalzen wird; diese Versuche fordern dringend
auf, bei Patienten mit Pseudarthrose. zumal in den früheren Stadien,
den Phosphor zu versuchen, natürlich mit äusserster Vorsicht und sorg-
fältigster Beachtung der eventuell auftretenden schädlichen Neben-
wirkungen dieses bei unvorsichtigem Gebrauch so gefährlichen Mittels.
— Die örtlichen Mittel zielen alle darauf hin, die Knochenenden und
ihre Umgebung in einen Zustand von Entzündung zu versetzen, weil
erfahrungsgemäss die meisten, zumal subcutanen traumatischen Ent-
zündungsprocesse im Knochen und in der nächsten Nähe desselben zur
Knochenbildung führen. Die Mittel, welche man in Anwendung zieht,
sind graduell ausserordentlich verschieden.
Das Freilassen der Extremität vom Verband, um die Entwicklung
des äusseren Callus nicht etwa durch den Druck des Verbandes und
Beschränkung der Circulation zu hemmen, das Aneinanderreihen der
Fragmente und das Bestreichen mit Jodtinktur haben wir bereits
erwähnt; ebenfalls in der Absicht, die Fragmente zu irritiren wendet
man auch Blasenpflaster und Ferrum candens auf die der
Fractur entsprechende Stelle der Extremität an. — Durch die folgenden
Billrotl] chir. P;Uh. n. Tliornp. 7. Aufl. ■ 1 6
242 ^'^"" *^'-^" Pseudavthrosen.
Mittel wirkt man mehr auf die Narbenmasse ein: man stüsst lang-e, dünne
Acupuiikturnadeln in die Bindeg-ewebsuarbe zwischen den Fragmenten
ein und lässt diese Nadeln einige Tage lang liegen, um dadurch die Narbe
zu reizen; auch kann man die freien Enden zweier eingesteckter Nadeln
mit den Polen einer Batterie in Verbindung setzen, um den electrischen
Strom als Eeizmittel durch die Verbindungsmasse der Fragmente hindurch-
gehen zulassen: dies Verfahren nennt man Elektropunktur; es ist wenig-
gebräuchlich , doch hat es sich in einigen Fällen bewährt. Man kann
ferner ein dünnes schmales Band oder mehrfach zusammengedrehte
Seidenfäden, ein sogenanntes Haarseil, oder eine starke Ligatur
durch die Narbeumasse hindurchziehen und solche Schnüre so lange
liegen lassen, bis um sie herum eine reichliche Eiterung entstanden ist.
— Die jetzt folgenden Operationsmethoden nelimen mehr direct den
Knochen in Angriff; es giebt deren eine grosse Anzahl. i\lan sticht
z. B. ein dünnes, schmales, aber starkes Messer bis au das Fi-agment
ein und schabt mit der Spitze in der Tiefe, ohne die Hautwunde zu
vergrössern, die Narbeumasse erst von dem einen, dann von dem andern
Knochenfragmeut al). Man nennt dies die subcutane blutige An-
frischung der Fragmente. Man kann ferner einen Schnitt machen bis
auf den Knochen, präparirt die beiden Fragmente frei, durchbohrt die-
selben dicht an den Bruchenden und führt durch die Bohrlöcher einen
entsprechend dicken Bleidraht liindurch, dreht die Enden zusammen,
um dadurch die Fragmente dicht an einander zu stellen. Man kann
ferner, nachdem man wie vorher einen Schnitt gemacht hat, von den
beiden Fragmenten ein dünnes Stück absägen und die gemachte Ver-
letzung wie eine offene Fractur behandeln; auch kann man zu diesem
Verfahren, der Resection der Fragmente, die Anlegung der Knochen-
naht hinzufügen. Das folgende Verfahren stammt von Dieffeubach:
er machte den Fragmenten entsprechend zwei kleine Schnitte, die bis
auf den Knochen vordrangen; jetzt durchbohrte er die Fragmente dieltt
an ihren. Rändern, und trieb in die Bohrlöcher mit einem Hammer ent-
sprechend dicke Elfe nbeiustäbchen hinein. Der Erfolg ist der,
dass um diese fremden Körper im Knochen eine Neubildung junger
Knochenmasse entsteht, die, wenn sie reichlich genug ist, was man durch
die Wiederholung dieser Operation im Laufe der Zeit allerdings zuweilen
erzwingen kann, genügt, um eine feste Vereinigung herzustellen. Lli
erwähne bei dieser Gelegenheit, dass diese Elfenbeinzapfen, wenn man
sie nach einigen Wochen herauszieht, an demjenigen Theil, mit welchem
sie im Knochen gesteckt haben, rauh und wie angefressen aussehen,
während das Bohrloch, in welchem sie sich befanden, grössteutheils mit
Granulationen ausgefüllt ist; zuweilen bringt man die Zapfen gar nicht
wieder heraus und die Oeflfnungen, durch welche sie eingeschlagen sind,
heilen darüber zu. Es geht daraus der unzweifelhafte Beweis hervor,
dass das todte Knochengewebe, als welches das Elfenbein doch zu
Vorlcsim;:^' 17. Anliaiiif /ii ('';i|iilrl V. iiiul Vf. 243
betvaclitcii ist, von den wiiclisciulcn X iioelicn t;,'ranulationen aui'-
g-elost und resorbirt werden kann. Wir werden auf diesen früher
vielfacli bestrittenen Satz, der von grosser Wi<'.litigkeit i'nr manche Knoolien-
krankheiten ist, später noch öfter zuriickkonnuen, hal)cn auch schon fi-iilier
von den hypothetischen Ursachen dieser Resorjjtion gesprochen (pag. 205).
13. V. Langenbeck hat diese Methode von Üieffcnbacli in der Weise
niodificirt, dass er anstatt der Elfenbeinstäbe MetalLschraubcn wählte zu
dem Zweck, gleich nach der Operation diese Schrauben an cineiii Ver-
l)andapparat mit Stalüljügel zu befestigen, der die Fragmente vollkommen
feststellt. Es ist überhaupt zu allen den genannten Methoden hinzu-
zufügen, dass ihnen später oder früher die Anlegung eines geeigneten
Verbandes, durch welchen die Fragmente festgestellt werden, folgen nuiss.
Die Operationsverfahren bei der Pseudarthrosis, von denen ich Ihnen
nur die hauptsächlichsten genannt habe, sind, wie Sie sehen, sehr zahl-
reich, und wenn die Heilresultate der Menge der Mittel entsprächen, so
gehörte die Pseudarthrose zu denjenigen Krankheiten, die leicht heilbar
sind. Meist dürfen Sie indess in der Medicin annehmen, dass mit der
Zahl der Mittel gegen eine Krankheit der Werth derselben sehr sinkt,
und so ist es auch hier. So leicht und sicher einzelne Arten von Pseud-
arthrosen zu heilen sind, so schwierig ist es mit andern; auch eignen
sich die verschiedenen Verfahren nicht alle für die gleichen Fälle. Die
Operationen sind zunächst von sehr verschiedener Gefahr, und zwar
sind sie an Extremitäten mit sehr dicken Weichtheilen, zumal am Ober-
schenkel, sehr viel gefährlicher als an den übrigen Theilen der Extre-
mitäten; ausserdem sind begreiflicherweise die unblutigen Verfahren
immer weniger gefährlich als die blutigen, die mit kleiner Wunde weniger
gefährlich als die mit grosser. Was die Wirksamkeit und Sicherheit
betrifft, so halte ich die Anlegung einer Knochennaht und die
Eesection für diejenigen Verfahren, wxlche selbst in den schwierigsten
Fällen verhältnissmässig am schnellsten zum Ziele führen, doch auch
freilich alle Gefahren der mit Wunden complicirten Fracturen in sich
tragen. Die Behandlung mit Elfenbeinstäb chen ist mit Ausnahme
des Oberschenkels, au welchem jede Pseudarthrosenoperation bedenklich
ist, weniger gefahrvoll und würde, glaube ich, in den meisten Fällen
zum Ziele führen, wenn man die Operation genügend oft wieder-
holte. Ich selbst habe von dieser Behandlung, sowie von der Knochen-
uath gute Eesultate gesehen. Freilich giebt es auch Fälle, in welchen
aus unbekannten Gründen nach intensiven Reizen der Knochen immer
erweicht, statt zu sclerosiren und Osteophyten zu bilden ; Pseudarthrosen
bei solchen Individuen sind unheilbar.
Bei Pseudarthrosen des Oberschenkels kann mit Ernst die Frage in
Betracht kommen, ob man nicht die für diese Fälle prognostisch günstige
Amputation an der Stelle der Pseudarthrose jeder andern gefährlichen
und zweifelhaften Operation vorziehen soll, eine Frage, über welche nur
16*
244 yrl^^ den scliicfüjeliciltf^n Kiioflieiilirüclieii.
die Individualität des einzelnen Falles entscheiden kaini. In manchen Fällen
wird ein passender Schienenapparat jeder Operation vorzuziehen sein.
2. Von den schief geheilten Knochenbrächen.
Wenngleich bei den Fortschritten, Avelche man in Betreff der Be-
handlung von Fracturen gemacht hat, der Fall jetzt selten eintritt, dass
die Heilung eines Extremitätentheils in einer so schiefen Stellung erfolgt,
dass derselbe durchaus functionsunfähig ist, so kommen doch von Zeit
zu Zeit Fälle vor, in welchen trotz der grössten Sorgfalt von Seiten
des Arztes eine Dislocation nicht umgangen werden kann, oder durch
Sorglosigkeit oder sehr grosse Unruhe der Patienten, bei zu locker
angelegten Verbänden n. s. w. eine bedeutende Schiefheit in der Stellung
der Fragmente zurückbleibt. In vielen Fällen ist dieselbe so gering,
dass die Patienten keinen Werth darauf legen, diesen Schönheitsfehler
des Körpers auszugleichen ; nur in solchen Fällen wird eine Verbesserung
der Stellung gewünscht, wo durch bedeutende Schiefstellung oder Ver-
kürzung etwa eines Fusses oder einer Hand die Bewegungen wesentlich
beeinträchtigt sind. Wir besitzen eine Eeihe von ]\Iitteln, mit Hülfe deren
wir diese Difformitäten erheblich bessern und selbst ganz ausgleichen
können. Bemerkt man während des Heilungsprocesses, dass die Frag-
mente nicht genau coaptirt sind, so kann man bei einfachen subcutanen
Fracturen zu jeder Zeit eine Richtung der Fragmente vornehmen. Ist
bei einer offenen Fractur im ersten Verband eine Schiefstellung der Frag-
mente erfolgt, so rathe ich Ihnen dringend, nicht vor Heilung
der Wunde mit gewaltsamen Graderichtungen daran zu mani-
puliren; Sie würden dadurch die Granulationen in der Tiefe zerreissen
und es könnten aufs Neue die heftigsten Entzündungen eintreten. Grade
bei Fracturen, die lange geeitert haben, bleibt der Callus lange weich,
so dass Sie immer später noch eine allmählige Stellungsverbesserung
durch zweckmässige, bald hier, bald dort gepolsterte Schienen vielleicht
auch durch continuirliche Extension mit Gewichten zu Wege bringen. —
Ist die Fractur in schiefer Stellung völlig consolidirt: so haben wir
folgende Mittel, diesen Fehler zu bessern:
1) Die Graderichtung durch Einknickung des Callus, durch In-
fraction; man betäubt zu diesem Zwecke d( n Kianken mit Chbiroforni
und sucht nun mit den Händen die betreffende Extremität an der Bruch-
stelle grade zu biegen; ist dies gelungen, so legt man in dieser neuen
verbesserten Stellung einen festen Verband an. Diese vidlig ungefähr-
liche Metliode hat nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der Callus noch
weich genug ist, um sich biegen zu lassen; sie gelingt daher nur eine
gewisse Zeit lang nach der Fractur.
2) Das vollständige Zerbrechen des verknöcherten Callus. Auch
dies kann unter Umständen durch einfache Händekraft erzielt werden,
VorlcsiiiiK 17. Aiihaii.i^ zu (.'■.i]nir\ V. und Vf. 215
oft wird iiijiu jedoch andere mccliaiiisclic Mittel zu iliill'e iielimcii iiiiisscn.
Man hat hierzu verschiedene Apparate construirt, z. 1). llehcl und
Scliraubmaschinen A'on l)edeutender Kraft, von denen eine den entsetz-
lichen Namen „])ysniori)hosteo])alinklastes" führt! Alle diese A])paratc
ditrCeii nur mit der gTÖssten Vorsicht ang-ewandt werden, dandt nicht
durch zu lieftig'en Druck an der Stelle, wo die Maschine einwirkt, oder
wo die Extremität aufliegt, zu starke Quetschung und Nekrose der Haut
entsteht. Ganz so verwerflich, wie sie von manchen Chirurgen angesehen
Avcrden, sind sie niclit. Den Osteoklasten von Ivizzoli habe ich zwei
Mal bei alten scldef geheilten Fracturen des Unterschenkels mit seiir
günstigem Erfolge angewandt.
3) Für die nicht so selten sehr schiefgeheilten Brüche des Ober-
schenkels ist die gewaltsame Extension (mit Hülfe des Apparats
von Schneider und Meuel, den wir auch zur Einrichtung älterer Ver-
renkungen benutzen) von A. Wagner mit sehr günstigem Erfolg ge-
braucht worden. Den mcclianischen Erfolg einer solchen Extension
können Sie sich leicht durch folgendes Beispiel klar machen: haben Sie
einen massig stark gekrümmten Stab, lassen an jedem Ende einen kräftigen
Mann anfassen und ziehen, so wird der Stab an der Stelle seiner stärk-
sten Biegung zerbrechen. Ist in dieser Weise also an einem Ober-
schenkel eine neue Fractnr durch indirecte Gewalt an der gekrümmten
Stelle erzeugt und sind dann die Fragmente in grader Kichtung coaptirt,
so legt man sofort einen Gypsverband an, während die Extremität noch
in der Maschine ausgespannt ist. Diese Methode scheint nach den bis-
herigen Erfahrungen durchaus ungefährlich zu sein, jedoch sich nur für
den Oberschenkel zu eignen; in einem Fall von sehr schiefwinklig ge-
heilter Fractur des Unterschenkels, in welchem ich diese Methode empfahl,
erfolgte der Bruch durcli die Extension nicht in der alten Fracturstelle,
sondern daneben.
4) Eingreifender, wenngleich am Unterschenkel bei weitem nicht so
gefährlich, wie man früher glaubte, sind die blutigen Operationen an
den Knochen, von welchen zwei im Gebrauch sind; zunächst die sub-
cutane Osteotomie nach B. v. Langcnl)eck. Diese besteht darin,
dass Sie der gekrümmten Stelle des Knochens entsprechend einen kleinen
Einschnitt bis auf den Knochen machen, dann dui'ch diese Oeffnung
einen Bohrer mittleren Kalibers ansetzen und nun den Knochen durch-
bohren, ohne jedoch auf der gegenüberliegenden Seite die Weichtheile
zu perforiren; jetzt ziehen Sie den Bohrer wieder heraus und führen in
den Bohrcanal eine sehr schmale, feine Sticlisäge ein, sägen dann mit
dieser erst nach der einen, dann nach der andern Querrichtung des
Knochens hin, bis Sie mit der Hand den liest des Knochens durchbrechen
können; jetzt wird der Knochen grade gerichtet und die Verletzung wird
wie eine complicirte Fractur behandelt. Diese Operation ist bisher nur
am Unterschenkel, jedoch so weit es mir bekannt ist, stets mit günstigem
246 "^'^'i '^^^ Verletzungen der Gelenke.
Resultate g-eraacht worden. Man kann dieselbe aueli in der Weise aus-
führen, dass man die C4radericlitung' erst dann vornimmt, wenn die
Eiterung- bereits eingetreten und der Callus durcli dieselbe erweicht und
theilweise resorbirt ist; auch kann man sich mit Vortlieil statt des
V. L an genbeck' sehen Instrumenten -Apparates nach der Empfehlung
von Crross feiner Meissel zur Durclitrcnnung des Callus von einer kleinen
freigelegten Stelle des Knochens aus bedienen.
5) Endlich kann man auch die IMethode von Ehea Bar ton an-
wenden, welche darin besteht, dass man der scliiefgeheilten Fractur ent-
sprechend mit einem grossen Hautschnitt den Knochen frei legt und nun
ein keilförmiges Stück so aus demselben heraussägt, dass der breite
Theil des Keils der Convexität, die Spitze der Concavität der abnormen
Knochenbiegung entspricht. Auch diese Methode hat günstige Resultate
aufzuweisen.
Im Ganzen sind die unblutigen Methoden, wenn dieselben nicht mit
zu grosser Quetschung verbunden sind, den blutigen vorzuziehen.
Ist die Difformität, zumal eines Fusses, nach verschiedenen Rich-
tungen hin so gross, dass die erwähnten Methoden alle keine genügende
Aussicht auf Heilung darbieten, so wird man in einzelnen Fällen selbst
zur Amputation schreiten müssen.
In seltnen Fällen kommt es vor, dass der Callus ganz abnorm
dick und gross wird, ähnlich wie dies auch bei Haut- und Nerveu-
narben sich ereignet. Man eile nicht zu sehr mit operativen Eingriffen
in solchen Fällen, weil ja eine langsame spätere Resorption bei jedem
Callus zu erfolgen pflegt. Die Entfernung solcher Callusmassen könnte
nur mit Meissel oder Säge geschehen; ich würde mich indessen nur
ungern zu solchen Operationen entsehliessen.
CAPITEL VII.
Von den Verletzungen der (lelenke.
Contusion. — Distorsion. — Gelenkeröfinung und acute traumatische Gelenkentzündung.
Verschiedener Verlauf und Ausgänge. Behandhing. Anatomische Veränderungen.
Nachdem wir bisher meist mit den Verletzungen einfacherer Ge-
webstheile zu thuu hatten, müssen wir uns jetzt mit etwas complicirteren
Apparaten beschäftigen.
Die Gelenke werden bekanntlich zusammengesetzt aus zwei mit
V.M-Icsmi-;- 17. (";ipi(cl VII. 247
Knorpel iibcrzog'cnon KiioclicnciKlcn, aus ciiioni liüiifi^' mit vielen vVn-
liäng'cn, T{i>?elicn und Au.sbuelitung'en verbundenen ^'ack, der Synovial-
nienÜH-an, die zu den serösen Häuten gereelmet wird und aus der
fibrösen Gelenkkai)sel mit iliren Verstärkungsbändern. Alle diese Tlieilc
nehmen unter Umständen an den Erkrankungen der Gelenke Theil, so
dass also zu gleicher Zeit Erkrankungen einer serösen Membran, eines
fibrösen Kapsclgevvebes , sowie des Knorpel und Knocliengewebcs vor-
liegen können. Die Betheiligung dieser verscliicdenen Bestandtheile an
der Erkrankung ist nach Intensität und Extensität aussei-ordentlich Aer-
schieden; doch will ich hier sclion bemerken, dass die Synovialmcnd)ran
die wesentlichste Holle dabei spielt, und dass die l'^igenthiindichkeit der
Gelenkkrankhciten hauptsäclilich auf der Geschlossenheit und der buch-
tigen Form des Synovialsacks beruht.
Zunächst einige Worte iil)er die Quetschung, die Oontusion
der Gelenke. Bekommt Jemand einen heftigen Scidag gegen ein
Gelenk, so kann dasselbe in massigem Grade anschwellen; indess in
den meisten Fällen wird nach einigen Tagen der Kulie, wo])ei man etwa
Ueberschläge mit Bleiwasser oder auch einfach mit kaltem Wasser machen
lässt, Anschwellung und Schmerz vergehen, und das Gelenk zu seiner
normalen Function zurückkehren. In anderen Fällen bleibt eine geringe
Schmerzhaftigkeit mit Steifheit zurück; es entwickelt sich ein chronischer
Entziindungsprocess, der in der Folge allerdings zu ernstlichen Erkran-
kungen führen kann, über die wir uns vorläufig nicht weiter verbreiten
wollen. Hat man Gelegenheit, ein massig contundirtes Gelenk zu unter-
suchen, wenn der Kranke vielleicht an einer zu gleicher Zeit erhalteneu
schweren Verletzung eines andern Körpertheils starb, so wird mau
kleinere oder grössere Blutextravasate in der Synovialmembran finden,
auch wohl Blut in der Gelenkhöhle selbst; ' selten sind bei diesen
Quetschungen ohne Fractur die Blutergüsse so bedeutend, dass die Ge-
lenkhöhle prall mit Blut ausgefüllt wird; indessen kann auch dies vor-
kommen. Man nennt diesen Znstand Hämartliron (von alf^icc, Blut und
aqd^Qov, Gelenk). Bleibt ein gleich nach der Verletzung stark an-
schwellendes Gelenk längere Zeit sclimerzhaft, fühlt es sich heiss an, so
ist eine etwas eingreifendere antiphlogistische Behandlung indicirt. Die-
selbe besteht in Anlegung von Blutegeln, gleichmässiger Einwicklung des
Gelenkes mit einer nassen Rollbinde, wodurch man eine massige Com-
pression ausübt, bei starken Sclimerzen und ausgedehntem Extravasat
auch wohl in der Application einer Eisblase auf das Gelenk. In der
Regel sind Entzündungsprocesse dieses Grades durch die angegebeneu
Mittel leicht zu beseitigen, wenngleich chronische Erkrankungen und
eine gewisse Reizbarkeit des verletzt gewesenen Gliedes nicht so selten
nachfolgen. Von grosser Wichtigkeit ist es, festzustellen, ob mit der
Gelenkquetschung nicht etwa eine Fractur oder Fissur der Knochenenden
verbunden ist, in welchem Falle der Gypsverbaud zu appliciren und die
248 ^'^'^ ^^1^ Verletzungen der Gelenke. Penelrirende Wunden.
Prognose für die spätere Function des Gelenks je nach Art der Ver-
letzung* mit Vorsicht zu stellen wäre; in neuerer Zeit habe ich bei stär-
keren Gelenkcontusionen, auch wenn keine Fractur im Gelenk war, den
Gypsverband applicirt und von aller antiphlogistischen Behandlung ab-
strahirt; die Erfolge waren ausserordentlich günstig.
Eine den Gelenken eigenthümliche Art der Verletzung ist die Dis-
torsion (wörtlich: Verdrehung). Es ist eine Verletzung, die besonders
häufig am Fuss vorkommt, und die man im gewöhnlichen Leben als
Umknickung des Fusses bezeicluict. Eine solche Distorsion, die übri-
gens an fast allen Gelenken möglicli ist, besteht im Wesentlichen in
einer Zerrung, zu starken Dehnung und auch tlieilweisen Zerreissung
von Gelenkkapselbänderu mit Austritt von etwas Blut in das Gelenk
und die umgebenden Gewebe. Die Verletzung kann für den Moment
sehr schmerzhaft sein und ist nicht selten in ihren Folgen ausserordent-
lich langwierig, zumal wenn die Toehandlung nicht richtig geleitet wird.
Gewöhnlich wendet man auch unter diesen Umständen Blutentziehungen
und Kälte an, jedocli mit vorübergehendem Nutzen. Von viel grösserer
Wichtigkeit ist es, die Gelenke nach solchen Verletzungen absolut ruhig
zu stellen, damit die etwa eingerissenen Gelenkbänder wieder ausheilen
und wieder zur normalen Festigkeit gelangen können. Wir erreichen
dies auf die einfachste Weise durch die Anlegung eines festen Verbandes,
z. B. eines Gypsverbandes , mit welchem Avir dem Patienten erlauben
können, umherzugehen, falls er keine Schmerzen dabei empfindet. ISI^ach
10, 12, 14 Tagen, je nach der Heftigkeit der Verletzung, können wir
den Verband entfernen, erneuern denselben jedoch sofort, sobald der
Kranke noch Schmerz beim Gehen empfindet. Es kann unter Umständen
nothwendig sein, einen solchen Verband 3 — 4 Wochen lang tragen zu
lassen. Dies scheint eine sehr lange Dauer für eine solche Verletzung;
indess kann ich Sie versichern, dass ohne die Anlegung eines festen
Verbandes die Folgen solcher Distorsioneu sich oft viele Monate hindurch
hinziehen, wobei dann die Gefahr späterer chronischer Entzündungen des
Gelenks sich noch steigert. Sie dürfen daher, die Prognose für die
schnelle Heilbarkeit der Distorsioneu nicht so günstig stellen und müssen
die Behandlung dieser oft scheinbar unbedeutenden Verletzungen stets
mit Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt lenken. Leider kommt es ziemlich
häufig vor, dass trotz der sorgfältigsten Behandlung der Distorsioneu
chronische Entzündungen folgen, welche nicht nur durch ihre Dauer lästig
sind, sondern langsam, nach und nach im Verlauf von Jahren zur Zer-
störung des Gelenkapparates führen; zumal tritt dies nicht so selten bei
Kindern und bei schwächlichen erwachsenen Individuen von scrophulös-
tuberculöser Diathese ein; wir kommen später bei der Aetiologie der
chronischen Entzündungen darauf zurück.
V.irlcsiiHo- !7. fiipild VIl. 249
Gelenke rüCriiuii^- und acute trau nuiti sehe Entz i'indu iii;- der
G elenkc.
Indem wir jetzt zu den Wunden der Gelenke überg'ehen, nmclieu
wir in Bezui^" auf die Bcdcutuni;' der Verletzung einen ung-eheuren S|)ruiig.
AVälircnd eine Conlusion und Distorsion der Gelenke von vielen Patienten
kaum geachtet wird, ist die Eröffnung- des Synovialsacks mit Ausfluss
von Synovia, mag die Wunde aucli inclit gross sein, immer eine scliwcre,
oft die Function des Gelenks beeinträchtigende, in niclit seltenen Fällen
eine für das Lelien gcfälirliclie Verletzung. Es macht sich hier wieder
der schon früher ])ei Gelegenheit der Quetschungen erwähnte Unterschied
zwischen subcutan verlaufenden und nacli aussen offenen traumatisclicn
Entztindungsprocessen geltend, den wir ja auch bei dem Unterschied
der subcutanen und offenen Fracturen haben hervortreten sehen. Dazu
kommt a1)er noch, dass wir es hier bei den Gelenken mit geschlossenen
ausgebuchteten Säcken zu thun haben, in denen sich der einmal gebil-
dete Eiter anstaut, und dass ausserdem die Entzündung der serösen
Häute in ihrem acuten Zustande häufig einen sehr schlimmen Einfluss
auf das Gesammtbefinden der Verletzten ausübt, in günstigeren Fällen
mindestens in sehr langwierige Processe ausgehen kann.
Wir sprechen hier nur von einfachen Stich-, Schnitt- oder Hieb-
wunden der Gelenke ohne weitere Coniplication mit Verrenkungen und
Knochenbrttchen und wählen als Beispiel das Kniegelenk, wobei jedoch
bemerkt werden muss, dass die Verletzung grade dieses Gelenkes als
eine der schwersten Geleukverletzungen überhaupt betraclitet zu werden
pflegt. Ich glaube Ihnen am schnellsten ein Bild von dem fraglichen
Processe zu geben, wenn icli einen Fall als Beispiel anführe. Es kommt
ein Mann zu Ihnen, der sich beim Behauen des Holzes eine halb Zoll
lange, wenig blutende Wunde neben der Patella zugezogen hat. Dies
ist vielleicht schon vor einigen Stunden oder schon am Tage vorher ge-
schehen. Der Patient achtet die Verletzung wenig, will von Ihnen nur
einen Rath in Betreff eines passenden Verbandes. Sie betrachten die
Wunde, finden, dass sie der Lage nach wolil der Knicgelenkkapsel ent-
spreche, und sehen in der Umgegend der Wunde auch vielleicht etwas
seröse, dünnschleimige, klare Flüssigkeit, welche bei Bewegung des Ge-
lenks in grösserer Menge hervortritt. Dies wird Sie im höchsten Grade
aufmerksam auf die Verletzung machen; Sie examiniren den Kranken
und erfahren von ihm, dass gleich nach der Verletzung zwar nicht sehr
viel Blut, doch eine Flüssigkeit wie frisches Hühnereiweiss ausgeflossen
sei. In solchen Fällen können Sie sicher sein, dass die Gelenkhöhle er-
öffnet ist, da sonst Synovia nicht ausgetreten sein könnte. Bei kleinen
Gelenken ist freilich der Austritt von Synovia so gering, dass er kaum
bemerkt wird, woher es denn kommt, dass mau bei Verletzungen au den
kleinen Fingergelenken, und auch selbst bei Verletzungen des Fuss-,
Ellbogen- und Handgelenks einige Zeit lang zweifelhaft sein kann, ob die
250 Von den Verletzungen der Gelenke. Penetrirende Wunden.
Wuiicle bis in die Gelenldiölile penetrirt oder nicht. Ist also eine pene-
trirende Gelenkwunde constatirt oder wenigstens im höchsten Grade
waiirscheinlich, so sind fortan folgende Maassreg'eln zu treffen: der Kranke
muss sofort eine ruhige Lage im Bett annehmen, die Wunde muss so
schnell als möglich vereinigt wei-den; wir schliessen daher die Hautwunde,
wenn sie Neigung- zum Klaffen hat, am besten durch g-enau angelegte
Suturen; für manche kleine Wunden der xA.rt geniigen genau angelegte
Heftpfiasterstreifen oder eng-lisehes Pflaster mit Collodium bestrichen. Es
kommt nun darauf an, das Gelenk absolut ruhig zu stellen; dies können
Sie dadurch erreichen, dass Sie die Extremität von unten herauf mit
nassen Kollbinden gleichmässig fest einbinden: jedenfalls ist es nöthig,
dass in unserem Fall das ganze Bein in gestreckter Lage in einer Hohl-
schiene befestigt oder zwischen zwei Sandsäcken sicher und fest gelagert
werde. Fügen Sie diesen Anordnungen innere Mittel , etwa ein leichtes
Purgans hinzu, so ist damit, meiner Ansicht nach, vorläufig genug ge-
than. In den meisten Handbüchern der Chirurgie werden Sie freilich
angeführt finden, dass man gleich eine Anzahl Blutegel anlegen und
continuirlich eine Eisblase appliciren solle, um einer etwa zu stark auf-
tretenden Entzündung vorzubeugen. Ich kann Sie aber versichern, dass
die örtlichen Blutentziehungen und die Kälte diese pjophylaktisch- anti-
phlogistische Wirkung auch hier nicht besitzen, und dass es immer noch
Zeit genug ist, in einem etwas späteren Stadium zu dem Eis zu greifen.
Doch tadle ich es keineswegs , gleich von Anfang an Eis bei Gelenk-
verletzungen anzuwenden, sondern empfehle sogar, dies zu thun, damit
der richtige Moment dazu nicht verpasst wird. An Stelle des oben
heschriebenen Verbandes habe ich auch wohl den Gypsverband ge-
braucht; ich applicire denselben wie bei einer Fractur im Kniegelenk
vom Fuss an bis über die Mitte des Oberschenkels mit einer Lagerungs-
schiene; dann schneide ich der vorderen Fläche des Kniegelenks und der
Wunde entsprechend ein Fenster aus; die Eesultate dieser Behandlung
sind gegenüber der früher schulgemässen Antiphlogose ohne festen Ver-
band brillant zu nennen. — Kehren wir zu unserem Patienten zurück!
Sie werden finden , dass er am dritten oder vierten Tage etwas über
spannenden Schmerz im Gelenk klagt und leiclit fiebert; das Gelenk
fühlt sich bei aufgelegter Hand heisser an als das gesunde. Wenn Sie
dann am fünften oder sechsten Tage die Nähte an der Wunde entfernt
haben, so kann sich nun der Verlauf in den lx)lgendeu zwei Tagen nach
zwei Eichtungen hin durchaus verschieden gestalten. Nehmen wir zuerst
den günstigsten Fall, der bei frühzeitiger Behandlung mit festem Verband
häufig ist, so wird die Wunde vollständig per primam heilen, die
leichte Schwellung und Schmerzhaftigkeit des Gelenkes wird im Laufe
der nächsten Tage abnehmen, endlich ganz verschwinden. Entfernen Sie
nach 4 — 6 Wochen den Verband, so wird das Gelenk wieder beweglich;
es erfolgt die vollständige restitutio ad integrum.
Vorlcsmif,' 17. Caphd VIL. 251
In anderen Füllen jcdocli, zumal wenn der Verletzte erst «pät in
Behandlung- kommt, gestaltet sich die Sache schlimmer. Gegen Ende
der ersten Woche nach der Verletzung- scliwillt nicht allein das Gelenk
stark an und wird selir hciss, sondern es bildet sicli auch Ocdem des
Unterschenkels aus ; der Kranke empfindet lebhafte Schmerzen, sowohl
bei jeder Berührung-, als auch bei Jedem Versuch zur I>cweg-ung-; er
fiebert zumal gegen Abend stärker, verliert den Ai)petit, langt an abzu-
magern. Da1)ei kann die Wunde per primam geheilt sein oder es fliesst
mehr eine serös-schleinu'ge, dann eitrige Fliissig-keit aus. Docli wenn
auch dies nicht der Fall nicht, so deuten doch die genannten Erscliei-
nungen, nämlich die Schwellung- des Gelenks mit deutlicher Schwappung,
die g-rosse Schmerzhaftigkeit, die gesteigerte Temperatur, das Ocdem des
Unterschenkels, das Steigen des Fiebers auf eine acute, ziendich intensive
Gelenkentzündung. Ist in solchen Fällen das Glied nicht fixirt, so ninjmt
es nach und nach eine flectirte Stellung an, die sich im Kniegelenk bis
zu einem vollständig spitzen Winkel steigern kann. Es ist nicht ganz
leicht, den Grund für diese Flexionsstellung der entzündeten Gelenke
anzugeben; mir ist es inmicr noch am wahrscheinlichsten, dass diese
Stellung auf reflectorischem Wege zu Stande kommt, nämlich so, dass
von den sensiblen Nerven der entzündeten Synovialmembran der Reiz
hauptsächlich auf die motorischen Nerven der Mm. flexores übertragen
wird. Eine andere Erklärung ist die, dass jedes Gelenk in der flectirten
Stellung mehr Flüssigkeit enthalten könne, als in der extendirten, was
auch auf experimentellem Wege durch Injectionen in die Gelenke von
Bonnet in so weit nachgewiesen ist, als er durch forcirte Injection von
Flüssigkeit in die Gelenke an der Leiche meist die flectirte Stellung
hervorgebracht hat. Diese Experimente scheinen mir jedoch nichts für
die erwähnten Flexionsstellungen zu beweisen, weil letztere auch bei
Gelenkentzündungen vorkommen, bei denen durchaus keine Flüssigkeit
in der Geleukhöhle angesammelt ist, auf der anderen Seite da sehr häufig-
fehlen, wo sehr viel Flüssigkeit in den Gelenken sich befindet. Jeden-
falls lehrt die Beobachtung sicher, dass acute schmerzhafte Synovitis
am meisten zu Flexionsstellungen disponirt.
Ist es zu den beschriebenen Erscheinungen gekommen, so treten
dann die antiphlogistischen Mittel in ihr altbewährtes Eecht; dabei ist
jedoch nicht zu vergessen, dass ausserdem auch die Stellung des Ge-
lenkes nicht vernachlässigt werden darf, damit, wenn absolute Steifheit
des Gelenkes eintreten sollte, dieses sich in einer Stellung befindet,
welche für die Function relativ am günstigsten ist, also für das Knie
die vollkommen gestreckte, für den Fuss, den Ellenbogen die recht-
winklige Stellung u. s. f. Ist es versäumt, gleich von Anfang der Behand-
lung an hierauf Eücksicht zu nehmen, so müssen Sie diesen Fehler ver-
bessern, indem Sie den Patienten narkotisiren, um dann ohne Schwierig-
keit dem kranken Gliede die passendste Stellung zu geben. Von den
252 Von den Verletzungen der Gelenke. Penetrirende Wunden.
antiphlog-istischen Mitteln lege ich am meisten Gewicht auf die Appli-
cation einer oder mehrer Eisblasen auf das entzündete Ge-
lenk und auf das Bestreichen desselben mit Jodtinktur.
Nimmt die Flüssigkeit im Gelenk sehr rasch zu und "wird die
Spannung dem Kranken unerträglich, wobei dann, falls der Eiter durch
die wiedergeöffnete Wunde keinen freien Ausfluss hat, die Gefahr vorliegt,
dass von innen her eine Ulceration der Kapsel erfolgt und sich der Eiter
aus dem Gelenk in das Zellgewebe ergiesst, so kann man den Eiter mit
einem Trokar vorsichtig ablassen, wobei mau sich natürlicii zu hüten hat,
dass keine Luft in die Gelenkhöhle eintritt. Die Functionen des Geleukes,
welche für solche Fälle besonders von E. Volkmann empfohlen sind, habe
ich früher mit gutem Erfolg angewandt und dadurch, wie ich glaube,
hinter einander vier Fälle von schwerer, acuter, traumatischer Knie-
gelenkentzündung mit vollkommener Herstellung der Bew^eglichkeit ge-
heilt. Seitdem ich auch bei einfachen penetrirenden Gelenk-
wunden den Gypsverband anlege, habe ich freilich diese
Functionen nicht mehr gebraucht. Der Kranke bedarf keiner
inneren sogenannten antiphlogistischen Medicamente; wenn er wegen
Schmerzen die Nächte schlaflos zubringt, giebt man ihm kleine Dosen
Morphium am Abend. — Mit Hülfe der genannten Mittel kann es ge-
lingen, auch in diesem Stadium den Frocess in seiner Acuität abzu-
schneiden; doch wird es bei diesem Verlauf schon vorkommen, dass
die Gelenkfunction nicht vollkommen hergestellt wird, wenngleich dies
auch jetzt noch möglich ist, falls nämlich die Eiterung der Synovial-
membran eine vorwiegend oberflächliche (catarrhalische)
bleibt. Häufig geht jedoch der Frocess von dem acuten in einen chroni-
schen Verlauf über, die Eiterung greift tiefer ins Gewebe ein und es
wird dann nach der Ausheilung mehr oder weniger Steifheit zurück-
bleiben.
Doch leider schreitet die Entzündung und zumal die Eiterj^roduction
im Gelenk und um dasselbe herum zuweilen unaufhaltsam fort. Es bleibt
schliesslich nichts übrig, als die Wunde zu dilatiren, bald hier bald dort
neue Oeffnungen zu maclicn, Drainagerühren durchzuleiten, fleissig alle
Wundhöhlen auszuspritzen, kurz dem Eiter möglichst freien conlinuir-
lichen Ausfluss zu verschaffen und dabei das Gelenk doch in ruliiger
Fixation zu erhalten. Unter diesen Verhältnissen bei dieser „Fanar-
t h r i t i s " kommt es dann freilich zu einer v o 1 1 s t ä n d i g e n V e r e i t e r u n g
und Zerstörung des Syuo vials ackes. Nicht alle anhängenden
Synovialsäcke nehmen an der Eiterung immer in gleichem Grade Theil;
es kann vorkonunen, dass Sie durch die Function an einer Stelle des
Gelenkes Serum, an einer anderen Eiter entleeren; dies kommt wahr-
scheinlich daher, dass durch die geschwollene Synovinlmcuibran die oft
engen Conmiunicationsöft'nungen, welche von der Gelenkhöhle in die
adnexen Säcke führen, ventilartig verlegt werden. — In schlimmen
A^M-Iosmi- 17. Cnpil.'I VIT. 2r)-i
Fällen verbreitet sieh die l^iiterung- his in die Weielitlieilc des Ober- und
TJntersclienkels, und der Kranke kcnnnit dabei immer melir liernnter, l)e-
sonders aucli durcli lieftige Anfalle von Fieberfrösten; seine Züge ver-
fallen, und wir stehen jetzt ziemlieh rathlos mit unserer 'riiera])ie da.
Eine Heilung- ist allerdings aueh in diesem Stadium möglieli, indem
endlich die acuten Eiterungen auChüreu uml dei* l'rocess noeli in (;in
chronisches Stadium ti'itt, wobei die ganze Afi'aire dann gewöhnlich mit
vollständiger Steiflicit des Gelenkes nacli Monaten endet. Tu vielen
Fällen bemühen wir uns vergeblich, mit Hülfe von tonischen und.
roborirenden Mitteln die Kräfte des Patienten zu erhalten; er geht in
Folge immer neu auftretender Eiterungen, die sich aucii an Stellen
bilden, die mit der Wunde gar niclit zusammenhängen, völlig erschöpft
zu Grunde. Diesem üblen Ausgang können wir nur vermittelst der
Amputation vorbeugen, dieses traurigen, aber für diese Fälle zuweilen
lebensrettenden Mittels. Die Schwierigkeit liegt hier in der richtigen
Wahl des Zeitpunkts für den operativen Eingriff; Beobachtungen am
Kraukenbett, die Sie in der Klinik machen werden, müssen Sie beleliren,
wie viel Sie in dem einzelnen Falle den Kräften Ihrer Kranken zutrauen
dürfen, um danach zu bemessen, wann der äusserste Zeitpunkt für die
Amputationen gekonnnen ist. In Spitälern werden Sie innnerhin eine Reihe
von solchen Fällen mit und olme Amputation an Eiterinfection (Pyohämie)
sterben sehen.
Da wir uns bei der Beschreibung der traumatischen Gelenkent-
zündung an die Darstellung eines speciellen Falles gehalten haben und
dabei Symptome und Therapie unmittelbar auf einander folgen Hessen,
so müssen wir noch einige Bemerkungen über die patliologisch-anato-
mischen Verhältnisse hinzufügen, wie man sie theils an der Leiche, theils
an amputirten Gliedern, theils mit Hülfe von Experimenten sehr genau
studirt hat. Die Erkrankung betritft hauptsächlich, ja man kann sagen,
in der ersten Zeit ausschliesslich die Synovialmembran. Diese stellt
man sich, wenn man nicht beim Präpariren besonders darauf geachtet
hat, wie ich aus eigner Erfahrung weiss, gewöhnlich viel zu dünn und
unbedeutend vor. Sie können sich jedoch leicht bei der Untersuchung
eines Kniegelenks überzeugen, dass dieselbe an den meisten Stellen
dicker und saftiger ist als Pleura und Peritoneum, und von dei- tibröseu
Gelenkkapsel durch eine lockere, subseröse, zuweilen sehr fettreiche
Zellgewebsschicht getrennt ist, so dass Sie den Synovialsack eines Knie-
gelenkes bis an die Knorpel leicht als eine selbstständige Membran aus-
lösen können. Dieselbe besteht bekanntlich aus Bindegewebe, trägt an
ihrer Oberfläche ein meist einfaches Pflasterendothel und enthält ein nicht
unbedeutendes, der Oberfläche nahe liegendes Capillarnetz; über die
Lymphgefässe der Synovialmendn-anen liegen Untersuchungen von Hueter
vor, nach welchen diese Häute selbst keine Lymphgefässe haben, während
das subsyuoviale Gewebe sehr reich daran sein soll. Dies Eesultat ist
254 ^'^"'i *^*^" Verletzungen der Gelenke. Penelrirende Wunden.
übeiTascliencl imd bedarf daher der wiederliolten Nacliuntersuchung' mit
allen verschiedenen Httlfsmitteln moderner anatomischer Technik. Da
die Synovialmembrauen seröse Häute sind, so ist es im höchsten Grade
wahrscheinlich, dass Lymphgefässe darin sind, und dass sich dieselben
ähnlich verhalten, wie sie von v. Eeckling- hausen am Peritoneum
und andern serösen Häuten beschrieben sind, nämlich, dass sie ganz
oberflächlich liegende, mit Epithel ausgekleidete Netze bilden und theilweis
an der Oberfläche der Membran ausmünden. Die Oberfläche der Synovial-
membrauen zeigt besonders an den Seitentheilen der Gelenke eine Menge
von zottigen Fortsätzen ; diese Fortsätze haben ziemlich ausgebildete, oft
sehr complicirte Capillarschlingen. Die Synovialmembranen theilen mit
den übrigen serösen Membranen die Eigenthümlichkeit, dass sie bei
Reizung zunächst eine nicht unerhebliche Quantität von Serum absondern.
Zu gleicher Zeit hiermit werden die Gefässe dilatirt und fangen an,
nach der Oberfläche hin sich zu schlängeln; die Membran verliert dabei
ihr glänzendes, glattes Aussehen und wird zuerst trüb gelbroth, dann
später immer mehr roth und sammetähnlich auf der Oberfläche. In den
meisten Fällen bildet sich auf dieser Oberfläche bei den acuten Ent-
zündungen eine mehr oder w^eniger dicke faserstoffige Auflagerung, eine
sogenannte Pseudomembran, ähnlich wie bei der Entzündung der Pleura
und des Peritoneum.
Die mikroskopische Untersuchung der Synovialmembran in diesem Zustand ergiebt,
dass das ganze Gewebe derselben sehr reicldich zellig infiUrirt ist, und dass an der
Oberfläche die Zellenhäufung so bedeutend wird , dass das Gewebe hier fast ganz aus
kleinen runden Zellen besteht, von denen die oberflächlichsten ganz den Charakter von
Eiterkörperchen tragen; in der unmittelbaren Nähe der colossal ausgedehnten Gefässe
findet man die Anhäufung von Zellen besonders massenhaft, was wohl darin seinen
Grund haben mag, dass bei der acuten Synovitis viele weisse Blutzellen durch die Gefäss-
wandnngen ins Gewebe auswandern, und in der Nähe der Gefässe liegen bleiben; auch
rothe Blutkörperchen scheinen bei diesen Processen in sehr reichlicher Menge aus den
Gefässen zu treten. Die Pseudomembranen sind ganz aus kleinen runden Zellen zusammen-
gesetzt, welche durch eine geronnene fibröse Substanz verbunden gehalten werden, über
deren Entstehung aus fibrinogener und fibrinoplastischer Substanz wir früher (pag. 72)
gesprochen haben. Das Bindegewebe der Membran hat seine streifige Beschaftenheit
theilweis verloren und hat eine gallert-schleimige Consistenz, so dass es eine grosse Aelm-
lichkeit mit der Intercellularsubstanz des Granulationsgewebes darbietet: in der allmählii;
trübe und eiterähnlich werdenden Flüssigkeit im Gelenk finden sich zuerst in geringer
Menge, später immer mehr Eiterkörperchen vor, bis dieselbe allmählig ganz und gar den
Charakter des Eiters an sich trägt. Noch etwas später ist die ganze Oberfläche der
Synovialmembran so stark vascularisirt, dass sie auch für das Ansehen mit freiem Auge
wie eine schwammige, wenig gekörnte Granulationsfläche aussieht, an deren Oberfläche
sich der Eiter stets neu bildet, wie auf einer gewöhnlichen Granulationsfläche.
Der Zustand, in welchen die Synovialmembran hierbei geräth, ist
in seinen Anfangsstadien am meisten dem acuten Katarrh der Schleim-
liäute analog. So lange es sich dabei nur um Oberflächeneiterung ohne
Erweichung des Gewebes (ohne Ulceratiou) handelt, kann die Membran zum
Normalzustand zurückkehren; ist aber die Reizung so stark, dass nicht
VorlcSinin- 17. (';||,i|c| VII. 255
nur Psciidoiucuihraiicn i;cl)il(lut werden (die nucli iiocli wieder zei-rulleii
können), sondern das CJewcbe der Synovialniemljrnn sellist vereitert,
dann kann nur Navl)e]d)i!dung' daraus rcsultiren. — Wir lial)en vorher
bei Schilderung- eines typisclieu Falles von Kniegelenkeiterung- ange-
deutet, dass aus der CÜeleukhöhle Eiterdurchl)riiehc ins Unierhaut/x'll-
g-ewebe erlblg-en; dies konunt unzweifelhaft vor und zwnr fast immer
an denselben, anatomisch besonders dazu prädisponirten Stellen, doch
treten periavti culäre Unterhautzellge webseiterungeu nach
penetrircnden Gelenkwunden aucli zuweilen auf, ohne dass
sie von Eiterdurehbrüchen al)liäng'ig- sind; man trifft sie sowohl
bei acuten wie bei chronischen Gelenkeiteruugen au, oline immer einen
directen Zusammenhang- mit der Gelcnkhöhle nachweisen zu können.
Ich glaube dies nach meinen Anschauungen ü])cr die phlogogene
Wirkung- des Eiters so erklären zu müssen , dass hier der im Gelenk
acut gebildete giftige Eiter von den Lymphgefässen der Syuovialmembran
resorbirt und ins periarticuläre Zellgewebe gefiilirt, Entstehungsursache
für diese Zeilgewebseiterungen wnrd; Anschwellungen der nahgelegenen
Lymphdrüsen fehlen dabei nie. Wir werden bei der Lymphangoitis
darauf zurückkommen müssen. — Der Knorpel nimmt erst spät an dem
Entzündungsprocess Antheil; seine Oberfläche wird g-etrül)t, und wenn
der Process recht acut ist, so fängt er an, zu feinen Molecülen zu
zerfallen oder selbst in grösseren Stücken nekrotisch zu werden, sich
theilweis vom Knochen abzulösen, indem sicli Entzündung- und Eiterung
zwischen Knoriiel und Knochen (subchondrale Ostitis) einstellt. Wenn-
gleich das Knorpelgewebe mit seineu Zellen bei diesen Entzündungen
morphologisch nicht ganz unthätig ist, so halte ich die Mitleidenschaft
des Knorpels bei acuter Pauarthritis im Wesentlichen doch für einen
vorwiegend passiven Erweichungsprocess, eine. Art von Maceratiou, wie
sie sich unter ähnlichen Umständen an der Cornea bei starker Blenorrhoe
und Diphtheritis der Conjuuetiva findet. Es giebt überhaupt kaum
zwei Theile des menschlichen Körpers, die in pathologischer Beziehung
so viel analoge Verhältnisse darbieten , wie die Conjuuetiva in ihrem
Verhältniss zur Cornea und die Synovialhaut in ihrem Verhältniss zum
Knorpel. Wir werden noch öfter Gelegenheit haben, darauf zurückzu-
kommen, und wollen diese pathologisch -anatomischen Studien hier jetzt
abbrechen, mit denen wir uus später noch sehr ausführlich beschäftigen
müssen. Tritt der acute Process in das chronische Stadium, und bildet
sich schliesslich ein steifes Gelenk, eine Anchylosis (von aynvlri,
Biegung) aus, so geschieht dies bei allen eitrigen Gelenkentzündungen
stets auf die gleiche Weise. Wir wollen darauf näher eingehen, wenn
wir von den chronischen Gelenkentzündungen sprechen.
256 Von den Verletzungen der Gelenke. VeiTenkiingen.
Vorlesung 18.
Von den einfachen A''errenkiingen : tranmatisclie, angeborene, patliologisclie Luxationen,
Subluxationen. — Aetiologisches. — Hindernisse für die Einrichtung. Behandlung: Ein-
richtung, ISachbehandlung. — Habituelle Liixationen. — Veraltete Luxationen, Behand-
lung. — Von den complicirten Verrenkungen. — Angeborene Luxationen.
Von den einfachen Verrenkungen.
Unter einer Verrenkung- (Luxatio) versteht man denjenigen
Zustand eines Gelenkes, in welchem die beiden Gelenkenden entweder
ganz vollständig oder zum grössten Tlieil aus ihrer gegenseitigen Lage
gewichen sind, wobei in der Regel die Gelenkkapsel theilweis zerrissen
ist; wenigstens ist dies fast immer der Fall bei den traumatischen
Luxationen, d. h. bei denjenigen, welche an gesunden Gelenken in
Folge einer Gewalteinwirkung entstanden sind. Man unterscheidet
nämlich ausserdem noch die an g eb ornen Luxationen und die spon-
tanen oder pathologischen Luxationen. Die letzteren kommen
dadurch zu Stande, dass sich in Folg'^e von allraähliger ulcerativer Zer-
störung der Gelenkenden und Gelenkbänder Verschiebungen ausbilden,
weil die Gelenkenden dem Muskelzug keinen genügenden Widerstand
mehr leisten, wir reden erst später davon, denn dies gehört wesentlich
zu den Ausgängen gewisser Gelenkkrankheiten. Ueber die angebornen
Luxationen wollen wir am Ende dieses Abschnittes einige Bemerkungen
machen.
Für jetzt haben wir es nur mit den traumatischen Luxa-
tionen zu thun. Sie werden auch von Subluxationen sprechen
hören; man bezeichnet damit Fälle, in welchen die Gelenkflächeu sich
nicht ganz, sondern nur theilweise verschoben haben, so dass die Luxation
eine unvollkommene ist. Unter complicirten Luxationen verstehen
wir diejenigen, mit denen entweder Knochenbrüche oder Wunden der
Haut oder Zerreissung grosser Gefässe und Nerven verbunden sind.
Ferner haben Sie noch zu merken, dass man allgemein übereingekommen
ist, den untern Theil eines Gliedes als den verrenkten zu be-
zeichnen, so dass man also z. B. im Schultergelenk nicht von einer
Luxation der Scapula, sondern von einer Luxation des Humerus spricht,
im Kniegelenk nicht von einer Luxation des Femur, sondern der
Tibia u. s. f.
Die Luxationen gehören im Allgemeinen zu den seltenen Verletzun-
gen; in manchen Gelenken kommen, sie so selten vor, dass die Znld
der bekannt gewordenen Fälle zuweilen kaum ein hall)es Dutzend be-
trägt; es wird angegeben, dass die Frncturen 8 Mal häutiger sind als
die Luxationen; mir scheint dies Verhältuiss für die Luxationen fast
V.irlcsimt!; 18. ('.'ipil.'l VIF. 257
noch zu liäufiii'. Die Vcrilieiluiii;' der Ijuxatioiicu auf die verscliicdeneu
Gelenke ist eine ung'laublich verseliiedenc; icli will Ilinen dies durcli ein
l)aar Zahlen anschaulich machen: nacli einer Statistik von Malgaigne
befanden sich unter 489 Luxationen 8 am Trnncus, (52 an den untern,
419 an den obern P^xtremitäten und unter den letzteren 321 an der
Schulter. Sie sehen also hieraus, dass die Schulter ein für die Ver-
renkung- besonders bevorzugtes Gelenk ist, was sich übrigens aus seiner
vielfachen Benutzung und seiner freien Beweglichkeit wold erklären lässt.
Die Luxationen sind häufig-er bei Männern als bei Frauen aus denselben
Gründen, die wir schon früher für die grössere Häufigkeit der Fracturen
bei Männern erörtert haben.
Luxationen kann man sich durch Verletzungen und durch eigne
Muskelaction zuziehen; letzteres kommt selten vor, doch sind Fälle
beobachtet, avo z. B. bei Epileptischen Verrenkungen durch krampfhafte
Muskelcontractionen entstanden. Die äusseren Veranlassung-en w^erden
wie bei den Fracturen in directe und indirecte eing'etheilt. Füllt z. B.
Jemand auf die Schulter und zieht sicli eine Luxation zu, so bezeichnet
man diese als durch directe Gewalt entstanden : dieselbe Luxation könnte
bei indirecter Gewalteinwirkung zu Stande kommen, wenn z. B. jemand mit
erhobenem Arm auf die Hand und den Ellbogen fiele. Ob in dem einen
Fall eine Verrenkung, in einem andern ein Knochenbruch entsteht, ward
hauptsächlich von der Stellung- des Gelenkes sowie von der Richtung und
Kraft der einwirkenden Gewalt abhängig sein; jedoch kommt auch viel
darauf an, ob die Knochen oder die Gelenkbänder leichter nachgeben; man
kann z. B. durch die gleichen Manöver an Leichen von Menschen ver-
schiedenen Alters bald eine Fractur, bald eine Luxation hervorrufen. — Es
g-iebt wie bei den Fracturen eine grosse Anzahl von Symptomen einer
Statt g-ehabten Luxation, von denen einige sehr in die Augen fallend sein
können, und zwar um so mehr, je rascher man nach der Verletzung
hinzukommt und je weniger die Verschiebung an den Gelenken durch
entzündliche Schwellung- der darüber liegenden Weichtheile verdeckt
ist. Die veränderte Form des Gelenkes ist eines der wichtigsten
und eclatantesten Symptome, welches aber nur dann schnell und sicher
zur Diagnose führt, wenn man das Auge geübt hat, Differenzen von
der normalen Form leicht zu erkennen. Ein richtiges Augenmaass,
genaue Kenntniss der normalen Form, kurz etwas Sinn für Plastik und
plastische Anatomie, sogenannte Künstleranatomie, sind hier ausser-
ordentlich nützlich. Handelt es sich um äusserst geringe Formab-
weichungen, so wird auch der Geübteste des Vergleiches "mit der
normalen gesunden Seite nicht entbehren können, und ich muss Ihnen
daher dringend rathen, wenn Sie auf diesem Gebiete keinen Fehler
machen wollen, stets den ganzen Ober- oder Unterkörper entblössen zu
lassen und die beiderseitigen Formen mit einander zu vergleichen.
Am besten verfolgen Sie mit dem Auge die Richtung des vermuthlich
Billroth chir. P;itli. u. Tlier. 7. Aufl. 17
258 Von den Verletznngen der Gelenke. Verrenknugen.
dislocirten Knochens, und wenn dann diese Linie nicht gerade genau
auf die Gelenkpfanne trifft, so werden Sie in den meisten Fällen mit
Wahrscheinlichkeit eine Luxation annehmen dürfen, falls Sie es nicht
mit einer Fractur dicht unterhalb des Gelenkkopfes zu thun haben, was
durch die manuelle Untersuchung entschieden werden muss. — Die Ver-
längerung oder Verkürzung eines Gliedes, seine Stellung zum Truncus,
die Entfernung gewisser hervorragender Punkte des Skelets von einander
helfen auch oft schnell, wenigstens zur Wahrscheinlichkeitsdiagnose einer
Luxation. — Ein anderes von dem Auge wahrzunehmendes Symptom
ist die blutige Unterlaufung der Weichtheile, die Sugillation. Diese
tritt freilich selten im Anfang deutlich liervor, weil das aus der zer-
rissenen Gelenkkapsel ergossene Blut erst allmählich, oft erst im Ver-
laufe einiger Tage unter die Haut dringt und sichtbar wird; in manchen
Fällen ist der Bluterguss so unbedeutend, dass mau nichts davon wahr-
nimmt. Die Symptome, welche der Kranke selbst angiebt, sind Schmerz
und Unfähigkeit, das Glied in normaler Weise zu bewegen. Der Schmerz
ist niemals so stark wie bei Fracturen und tritt erst deutlich hervor,
wenn man versucht, Bewegungen zu machen. In manchen Fällen kann
der Patient bei Luxationen gewisse Bewegungen mit dem luxirten Gliede
ausführen; doch sind dieselben nur nach bestimmten Eichtuugen und in
beschränktem Maasse möglich. — Die manuelle Untersuchung muss
schliesslich in den meisten Fällen die Entscheidung geben; es muss
durch dieselbe constatirt werden, dass die Gelenkpfanne leer und der
Kopf sich an einer andern Stelle daneben, darunter oder darüber be-
findet. Diese Untersuchung kann bei schon angeschwollenen Weichtheileu
recht schwierig sein, und bedürfen wir nicht selten der Chloroform-
narkose, um dieselbe recht exact zu machen, woran uns sonst der
Kranke durch seine Schmerzensäusserungen und Bewegungen hindert.
Bei der Bewegung der luxirten Extremität, die wir federnd oder wenig
beweglich finden, nimmt man zuweilen ein Gefühl von Reibung, eine
undeutliche weiche Crepitation wahr. Diese kann theils durch das
Reiben des Gelenkkopfs an zerrissenen Kapselbäudern und Sehneu ent-
stehen, theils durch Zerdrücken fester Blutcoagula. Man darf daher bei
solchen Arten von Crepitation sich nicht sofort zur Annahme einer
Fractur verleiten lassen, sondern wird nur aufgefordert, um so genauer
zu untersuchen. Fracturen einzelner Theile der Gelenkenden mit Dislo-
cation sind am leichtesten mit Luxationen zu veiwechseln. Auch war
der Sprachgebrauch, zumal früher, in dieser Hinsicht nicht ganz exact,
indem man Verschiebungen im Bereiche des Gelenkes, welclie mit
Fracturen verbunden und nur durch diese bedingt waren, auch wohl
als Luxationen bezeichnete. Jetzt unterscheiden Avir diese Fracturen
innerhalb des Gelenkes mit Dislocation schärfer von den eigentlichen
Luxationen.
Sollten Sie zweifelhaft sein, ob Sie es mit einer stark dislocirten
V<.rl(>smi.i,' 18. C-ipilrl Vfl. 259
GclcnkfVficiur oder mit einer J^uxulion zu Ihiiii haben, ro können Sic
dies sein- leiclit durch das Einrichtung'smanöver cntsclieiden. ]/ässt sieh
eine solclie Disloeation bei einem mässigxni Vavj; leicht ansi^'leielien und
stellt sich sofort wieder her, während Sie mit dem Zug-e nacldassen, so
haben Sie es sichei' mit einer Fractur zu thnn; denn einerseits gehören
7Air Einriclitung- einer Luxation in der Ivcg'el ganz bestimmte kunstge-
rechte llandg-riffc, andrerseits gelien die l^ixationeii, einmal eing-eriehtet,
meist nicht so leicht wieder zurück, w'enngdeich in dieser Beziehung
Ausnahmen vorkommen.
Auch mit einer Contusion und Distorsion des Gelenkes kann man
die Luxationen yerwecliseln, wird jedoch diesen Fehler bei rcclit sorg-
fältiger Untersuchung umgehen können. Veraltete traumatische Luxa-
tionen können unter Umständen mit Dislocationen verwechselt werden,
w^elche in Folge von Contracturen zu Stande kommen. Endlich können
auch bei paralytischen Gliedern, bei denen zu gleicher Zeit eine Er-
schlaffung der GelenkkajDsel besteht, die Gelenke so ausserordentlich
beweglich werden, dass sie in gewissen Stellungen wie verrenkt er-
sclieinen. Die Anamnese und genaue locale Untersuchung wird auch in
diesen Fällen das Richtige erkennen lassen.
Was den Zustand der verletzten Theile gleich nach der Verletzung
betrifft, so hat man in denjenigen Fällen, in denen man Gelegeulieit
hatte, dies zu untersuchen, gefunden, dass die Gelenkkapsel mit dem
Synovialsack zerrissen ist. Der Kapselriss ist sehr verschieden gross,
zuweilen ein Spalt wie ein Knopfloch, zuweilen dreieckig, mit mehr oder
weniger zerfetzten Rändern; auch Muskelzerreissungen und Zerreissungeu
von Sehnen, die unmittelbar auf dem Gelenk liegen, sind beobachtet
worden. Die Quetschung der Theile ist sehr verschieden und damit auch
der Bluterguss von sehr verschiedenem Umfang. Der Gelenkkopf steht
nicht immer an derjenigen Stelle, an welcher er durch den Kapselriss
herausgeschlüpft ist, sondern in vielen Fällen steht der Kopf höher, tiefer
oder zur Seite, weil die Muskeln, welche an ihm anhaften, sich con-
trahiren und ihn verschieben. Es ist von grosser Wichtigkeit, zu wissen,
dass wir oft den luxirten Gelenkkopf zunächst in eine andere Stellung
bringen müssen, ehe es gelingt, ihn durch den Kapselriss in die Gelenk-
höhle zurückzuführen.
Zuweilen kommt es vor, dass die Verletzten mit Luxationen durch
irgend welche zufällige Muskelbewegungeu selbst die Einrenkung be-
werkstelligen. Dies ist besonders an der Schulter mehrmals beobachtet.
Solche spontanen Einrenkungen sind indess sehr selten und zwar deshalb,
weil gew^öhnlich der Einrenkung gewisse Hindernisse im Wege liegen,
die eben bei der kunstgerechten Reposition überwunden werden müssen.
Diese Hindernisse bestehen wieder theilweis in der Contraction der
Muskeln, wobei der Gelenkkopf auch w^ohl zwischen zwei contrahirten
Muskeln eingeklemmt sein kann. Ein anderes, bei weitem häufigeres
17*
2Q() Voll den Verletzungen der Gelenke. Verrenkungen.
Hinderniss ist eine kleine Kapsel Öffnung- oder auch eine Verlegung
derselben duix*h liineingeklemmte Weicbtlieile. Endlich können gewisse
Spannungen der Kapsel- oder Hülfsbänder Hindernisse für die
Einrichtung frischer traumatischer Luxationen sein.
Die Behandlung einer Luxation muss zunächst in ihrer kunst-
g-erechteu Einrichtung bestehen, der dann Mittel folgen müssen,
welche die Herstellung der Function des verletzten Gliedes unterstützen.
Wir wollen jetzt hier nur von der Einrichtung frischer Luxationen
sprechen, worunter wir diejenigen verstehen, welche höchstens seit
8 Tagen bestehen. Der günstigste Zeitpunkt für die Einrichtung- einer
Luxation ist unmittelbar nach der Verletzung; dann haben wir die
geringste Schwellung der Weichtheile und noch wenig oder keine Ver-
schiebung- des luxirten Kopfes; der Verletzte ist noch psychisch und
physisch durch den Eindruck des Ereignisses erschlafft, so dass die Ein-
richtung- nicht selten ausserordentlich leicht geling-t. Später werden wir
fast immer zur Erleichterung der Einrichtung der Chloroformnarknse
bedürfen, um durch dieselbe jeden Widerstand von Seiten der JMuskeln
aufzuheben. Was die eigentlichen Eeductionsmanöver betrifft, so lässt
sich darüber im Allg-emeinen nur wenig sagen, weil diese Manöver
begreiflicherweise von der Mechanik der einzelnen Gelenke vollständig
abhängig- sind. Es bestand früher eine allgemeine Vorschrift für die
Eeduction der Luxationen: man solle nämlich das Glied in diejenige
Stellung bringen, in welcher es im Momente der Luxation stand, um
durch Zug den Gelenkkopf in derselben Weise wieder zurückzuführen,
wie er herausgetreten sei. Dieser Satz hat nur noch für wenige Fälle
seine vollständige Gültigkeit; vielmehr bedienen wir uns jetzt bei den
verschiedenen Luxationen sehr verschiedenartiger Bewegungen, wie z, B.
Flectiouen, Hyperextensionen, Adductionen, Abductionen, Erhebungen
u. s. f. Gewöhnlich dirigirt der behandelnde Chirurg diese von den
Assistenten ausgeführten Bewegungen und schiebt dann selbst mit der
Hand den Gelenkkopf in die Pfanne, wenn er durch die angedeuteten
Manöver dicht vor dieselbe geführt ist.
Oft genug kann der Chirurg allein die Reposition machen und es
ist mir schon mehre Mal begegnet, dass ich allein eine Schenkelluxation
einrichtete, au welcher sich bereits verschiedene Collegeu mit Aufgebot
kräftiger Bauernhände Stunden lang abgemüht hatten. Es kommt nämlich
hierbei Alles auf ein richtiges anatomisches Vorstellungsvermögen an,
auf Uebung in anatomisch-plastischer Phantasie; Sie werden begreifen,
dass mau nicht selten in einer gewissen Eichtung mit geringer Kvai't
den Kopf leicht zurückschlüpfen macht, während es in einer andern
Eichtung ganz unmöglich ist, ihn* in die Pfanne zu bringen. Wenn
der Kopf in die Gelenkhöhle hineintritt, so geschieht dies zuweilen mit
einem deutlich hörbaren schnappenden Geräusch; doch ist das nicht
immer so der Fall: der vollständige Beweis für die gelungene Eepo-
VorlcSMii^^ 18. (';i|iilrl VII. 261
sitioii wird immer erst (lurcli die iler.stelliiii^' der ii<»i-mMjcii l)e\v<'glicli-
keit geg'eben .sein.
Kommt nian mit eiiilaclicr oder mehrCaelier IlMiidekraft nicht aus,
so kann man melire rcrsoiicn in der Weise verwenden, dass man lanye
Sclding-entlicher an die Extremität anlegt und meine Assistenten in einer
bestimmten Richtung- ziehen lässt. Dieser Zug, dem man natürlich einen
Gegenzug-, eine Contraextcnsion am Rumpf entgegensetzen muss, darf
nie ruckweise auftreten, sondern muss g-leichmässig ausg-eführt werden. —
Konmit man auch mit diesen Mitteln niclit zum Ziel, so müssen Maschinen
zu Hülfe g-enommen werden, welclie die Kraft verstärken. Hierzu
bediente man sich früher sehr verschiedenartiger Instrumente: Hebel
Schrauben, Leitern u. s. w. Jetzt brauclit man fast nur noch den
Flaschenzug- oder den S c h n e i d e r - M e n e 1 'sehen Extensions-Apparat. Der
Flaschenzug, ein Hmen aus der Physik bekanntes Instrument zur Ver-
stärkung der Kraft, das in der Mechanik ausserordentlich häufig- in Ge-
braucli ist, wird in der Weise angewandt, dass das eine Stück an der
Wand an einem starken Haken befestigt wird, während das andere an
der betreffenden Extremität mit Hülfe von Riemen und Schnallen appli-
cirt wird. An dem Körper des Patienten wird die Contraextcnsion so
ang-ebracht, dass derselbe nicht durch die Wirkung- des Flaschenzuges
fortg-ezog-en werden kann. Ein Assistent zieht an der Schnur des
Flaschenzuges, dessen Kraft bekanntlich je nach der Zahl der ange-
brachten Rollen an Stärke progressiv zunimmt. Der Schneider-
Menel'sche Apparat besteht aus einem grossen starken Galgen; in dem
einen Pfosten desselben, an seiner Innern Seite ist eine bald höher, bald
tiefer anzubringende Winde, welche mit Hülfe einer Kurbel gedreht und
durch ein Zahnrad festgestellt werden kann, angebracht; über diese
Winde läuft ein breiter Riemen, der mittelst eines Hakens in die au
der luxirten Extremität angebrachte Bandage angehängt wird. Der Kranke
liegt bei Luxationen der unteren Extremitäten auf einem zwischen den
Pfosten des Galgens der Länge nach g-estellten Tisch oder sitzt bei
Einrichtung- einer Armluxation auf einem Stuhl, der in gleicher Weise
gestellt wird: die Contraextension wird durch Riemen bewerkstelligt, mit
denen der Kranke an den der Winde gegenüberlieg-enden Pfosten des
Galgens befestigt wird. — Beide Apparate haben gewisse Vorzüge, beide
sind mühsam zu appliciren. Sie w^erden in Ihrer Praxis wenig- damit
zu thun haben, da diese Apparate fast ausschliesslich bei veralteten
Luxationen in Anwendung kommen, deren Behandlung seltener in der
Privatpraxis als in Spitälern und chirurgischen Kliniken unternommen
zu werden pflegt.
Wenn wir jetzt derartige g-ewaltsame Einrichtungen vornehmen, so
geschieht dies immer nur, nachdem der Patient zuvor narkotisirt ist.
262 Von den Verletzungen der Gelenke. Verrenkungen.
Diese Narkosen müssen, wenn sie eine vollständige Erschlaffung der
Muskeln hervorbring-en sollen, ausserordentlich tief sein, und da die Brust
sehr häufig mit Eiemen und Gurten bedeckt ist, um die Contraextension
zu bewerkstelligen, so bedarf es der allergrössten Vorsicht mit der
Quantität des einzuathmenden Chloroforms, um gefährliche Erstickungs-
erscheinungen zu vermeiden. Es giebt aber ausser dieser noch andere
Gefahren, welche schon den älteren Chirurgen, die das Chloroform nicht
anwandten, bekannt waren. Diese bestehen darin, dass der Kranke,
wenn er zu lauge mit diesen gewaltsamen Mitteln bearbeitet Avird, plötz-
lich collabirt und in diesem Collaps sterben kann, ferner, dass die be-
treffende Extremität durch den Druck der angelegten Eiemen in der Folge
brandig wird oder dass subcutane Zerreissung von grosseren Nerven- und
Xjefässstämmen erfolgt und danach Lähmung*, traumatische Aneurysmen,
ausgedehnte Eiterungen und andere bedenkliche örtliche Zufälle entstehen.
Was die Folgen des Drucks der angelegten Bandagen betrifft, so vermeidet
mau dieselben am besten dadurch, dass man die Extremität mit einer
nassen Kollbinde von unten bis oben herauf einwickelt und erst über diese
Binden die Bandage applicirt. Da auf diese Weise ein ziemlich starker,
auf das ganze Glied gleichmässig vertheilter Druck ausgeübt wird, so
wird der Druck durch die Bandagen dicht über den Gelenken nicht
mehr so schädlich wirken. Was die Zeitdauer betrifft, wie lange mau
solche gewaltsamen ßepositionsversuche fortsetzen darf, so ist eine hall)e
Stunde wohl als das Maximum zu betrachten; auch kann mau ziemlich
sicher sein, dass man mit der angewandten Methode nicht zum Ziel
kommt, w^enn dies nicht nach halbstündigen Versuchen geschehen ist.
Will man in solchen Fällen noch Weiteres unternehmen, so muss mau
eine andere Methode anwenden. — Ueber die Kraft, welche man ohne
bestimmte Gefahr anwenden darf, hat man keine recht bestimmten
Maasse und begnügt sich in dieser Beziehung mit ungefähren Ab-
schätzungen. Es scheint kaum möglich, mit Hülfe der oben angege-
benen mechanischen Mittel einen Arm oder ein Bein ganz auszureissen;
und doch hat sich dies schon öfter ereignet, kürzlich noch in Paris
in einem Fall, in welchem nur mit Händekräften gezogen wurde! Im
Allgemeinen reissen eher die Eiemen oder verbiegen sich die Schnallen.
Subcutane Nerven- ujad Gefässzerreissuugen würde man au völlig ge-
sunden Armen durch gleichmässigen Zug an der ganzen Extremität wohl
kaum zu Stande bringen; sie können aber zerreissen, wenn sie mit
Narben in der Tiefe verwachsen und so geschrumpft sind, dass sie ihre
normale Elasticität eingebüsst haben. Wenn man in solchen Fällen die
Verhältnisse vorher immer genau beurtheilen könnte, so würde mau ge-
wiss manchmal ganz von Eepositionsversuchen abstellen; denn in solchen
Fällen kann eine Nerven- oder Gefässzerreissung eben so wohl bei
dem Versuch, den Kopf mit Händekraft zu lösen, entstehen, und mau
kann nicht so sehr die Ursache solcher Unglücksfälle auf die Maschinen
Vnrlrsiilli;- IS. Cjipilrl \'|l. ^03
scilichcn. Es gicU ein Jiistnuiieiil:, mit IlüHc dessen immii die Kra/'t,
welche mau hei der Extension anwendet, hemessen i<an)i; dies wird
in die Extensionsriemen eingeschaltet und zeigt die ungewandte Kraft
in Gewicliten an, wie es in der Physik Uhlicli ist. Nach Malgaigjic
soll man mit diesem Dynamometer nicht über 200 Kilogranmies hinaus-
g-elien; solche Angaben sind natiirlicli immer nur u]>pro\ima,tiv.
Ist auf irgend eine Weise die Reposition der Luxation gelungen,
so ist allerdings damit die Hauptsache gethan, indessen bis zur voll-
endeten Functionsfähigkeit des Gliedes bedarf es nocli langer Zeit. Die
Wunde der Kapsel muss heilen, und liierzu ist vollkommene Rulie des
Gelenkes von bald längerer, bald kürzerer Zeit erforderlich. Es tritt
nach der Reposition stets eine massige Entzündung der Öyuovialmembran
mit geringem Erguss von Flüssigkeit ins Gelenk ein, und letzteres bleibt
eine Zeit laug schmerzhaft, steif und unbeholfen. Ist die Reposition
bald nach der Verletzung erfolgt, wie wir vorläufig angenommen haben,
so muss das Gelenk zunächst ganz ruhig gestellt werden; man umgiebt
es mit nassen Binden, macht kalte Ueberschläge, selten wird die An-
schwellung so gross, dass andere antiphlogistische Mittel nöthig werden.
Beim Schultergelenk fängt man nach 10 — 14 Tagen an, passive Be-
wegungen zu machen und setzt diese fort, bis dann auch active Be-
wegungen und Uebungen vorgeschrieben Averdeu; oft dauert es viele
Monate, bis die Bewegungen ziemlich frei werden, wobei die Erhebung
des Arms immer am längsten auf sich warten lässt. Bei andern Gelenken,
die eine w^eniger freie Beweglichkeit haben, kann man die activen Be-
w-egungen viel früher gestatten; so bilden sich z. B. die activen Be-
w^egungen im Ellenbogen- und Hüftgelenk auffallend früh wieder aus.
Auch kann man bei den letzteren Gelenken den Krauken viel eher ge-
statten, Bew^egungen zu versuchen, da sich die Luxation dabei nicht so
leicht wieder herstellt.
Gestattet man die activen Bewegungen nach einer eingerenkten
Luxation zu früh, zumal bei solchen Gelenken, bei denen die Verrenkung
leicht wieder eintritt , wie z. B. an der Schulter und dem Unterkiefer,
und stellt sich, noch ehe der Kapselriss vollständig geheilt war, die
Luxation ein oder mehre Mal wieder her, so erfolgt zuweilen gar keine
vollständige Ausheilung der Kapsel oder eine so grosse Dehnbarkeit der
Kapselnarbe, dass der Patient nur eine etwas ungeschickte Bewegung
zu machen braucht, um sofort das betreffende Glied wieder zu luxiren.
Es entsteht dann derjenige Zustand, den man habituelle Luxation
neunt, ein höchst lästiges Uebel, z. B. grade am Unterkiefer. Ich kannte
eine Frau, die sich früher eine Luxation des Kiefers zugezogen und sich
nach derselben nicht die gehörige Zeit geschont liatte, so dass bald
264 "^^n den Verletzungen der Gelenke. Verrenkungen.
nachher die Luxation wieder eintrat und von Xeuem eingerichtet werden
musste. Die Kapsel war so erweitert, dass bei dieser Frau, wenn sie beim
Essen einen etwas gTossen Bissen zwischen die Backzähne bekam, sofort
der Kiefer luxirte; sie hatte sich selbst auf das Manöver der Einrenkung
so eingeübt, dass sie dasselbe mit der grössten Leichtigkeit ausführte.
Li ähnlicher Weise kann sich eine solche habituelle Luxation auch au
der Schulter ausbilden. Mir ist ein junger Mann in der Praxis vorge-
kommen, der bei grosser Lebhaftigkeit des Gesticulirens mit grosser
Aengstlichkeit eine rasche Erhebung des linken Arms vermeiden musste,
weil er bei dieser Bewegung fast immer den Arm verrenkte. Solche
Zustände sind sehr lästig und sehr schwer zu heilen; nur durch längere
Euhe des Gelenks wäre eine Heilung möglich; zu einer solchen Cur
haben jedoch die Patienten selten Lust and Ausdauer. Nützlich ist es
für solche Patienten, eine Bandage zu tragen, welche die zu starke Er-
hebung und Rückwärtsbeuguug des Arms hemmt; ist die Luxation einige
Jahre lang vermieden, dann wird sie nicht so leicht wieder eintreten.
Wird eine einfache Verrenkung nicht erkannt und nicht eingerichtet,
oder gelingt die Reduetion aus verschiedenen Gründen nicht, so bildet
sich allmählig doch ein gewisser Grad von Beweglichkeit aus, welcher
durch regelmässige Uebung noch bedeutend gesteigert w'crden kann.
Je nach der Stellung des Gelenkkopfes zu nebenliegenden Knochenfort-
sätzen und je nach Verschiebung der Richtung der Muskeln sind begreif-
licherweise gewisse Bewegungen aus rein mechanischen Gründen un-
möglich; andere können jedoch der normalen Beweglichkeit annähernd
gleichkommen. Erfolgt eine methodische Ausbildung der Bewegungen
nicht, so bleibt das Glied steif, die Muskeln werden atrophisch und die
Brauchbarkeit der Extremität bleibt eine geringe. — Die Veränderungen,
welche das Gelenk und seine Umgebung erleiden, sind anatomisch be-
trachtet folgende; das Blutextravasat wird resorbirt, die Kapsel faltet
sich zusammen und verschrumpft; der Gelenkkopf steht gegen irgend
einen Knochen in der Nähe der Pfanne, z. B. bei einer Luxation des
Schulterkopfes nach innen gegen die Rippen unter dem M. pectoralis
major, die Weichtheile um den dislocirteu Kopf werden plastisch infiltrirt,
verwandeln sich dann in narbiges Bindegew^ebe, welches theilweis ver-
knöchert, so dass sich eine Art von knöcherner Gelenkpfanne wieder
bildet, während der Kopf von einer neugebildeten Biudegewebskapsel
umgeben wird. An dem Knorpel des Gelenkkopfes treten folgende, für
das freie Auge sichtbare Veränderungen ein: der Knorpel wird rauh,
faserig und verwächst durch ein narbiges, festes Bindegewebe mit den
Theilen, auf denen er aufliegt. Diese Verwachsung wird mit der Zeit
ausserordentlich fest, zumal wenn sie nicht durch Bewegungen gestört
wird. Die Metamorphose des Knorpels zu Bindegewebe geht, wenn wir
sie mikroskopisch verfolgen, folgendermaassen vor sich; die Kuorpelsub-
stanz zerspaltet sich direct in feine Fasern, so dass das Gewebe zuerst
VorloHuiio- 18. ('a|,i(,.| Vif. 265
(las Ansehen von Faserknorpel, dann von gewölinlichcni narbigem Rinde-
gewebe bekommt, welches mit dcv neuen Umgebune,- verschmilzt. in
Fällen, in Avclchen das neue Gelenk lleissig gebraucht wird, kann es
in der neng-ebildetcn Pftinne zu einer sehr ausgebildeten Knorpclschicht
kommen, und auch die Knorpelfläche des verrenkten Koijfcs kann
sich dann recht gut erhalten, eventuell neu bilden. So fand ich es
kürzlich bei einei' Scction; der M. deltoideus war g-elblicli durcli fettige
Deg-eneration, die übrigen Muskeln waren gut ausgebildet geblieben.
In einem solchen Zustand nennen wir die Luxationen veraltet, und
bei ihnen besonders kommen die schon oben erwähnten Kraftmethoden
der Reduction in Anwendung". Die Frag-e, wie lange eine Luxation
bestanden haben muss, um ihre Reposition für unmög'lich zu erklären,
ist seit dem Gebrauch des Chloroforms nicht mehr zu beantworten und
stellt sich auch für die verschiedenen Gelenke verschieden. So gelingt
z. B. die Reduction an der Schulter noch nach Jahren, während sie an
der Hüfte nach 2 — 3 Monaten schon ausserordentlich schwierig ist. Das
Haupthinderniss liegt eben in den festen Verwachsungen, welche der
Kopf an seiner neuen Stelle eingegangen ist, und darin, dass die Muskeln
durch ihren Verlust an contractiler Substanz und durch ihre Degeneration
zu Bindegewebe ihre Dehnbarkeit verloren haben. — Eine andere Frage
ist dann noch, ob bei solchen veralteten Luxationen die Reposition, wenn
sie wirklich gelingt, den gewünschten Erfolg für die Function hat, so
namentlich bei der Schulter. Denken Sie sich, dass die kleine Gelenk-
pfanne durch die verschrumpfte Kapsel ganz gefüllt und bedeckt ist,
und der Gelenkkopf seinen Knorpel verloren hat, so wird für den Fall,
dass es wirklich gelingt, den Kopf an die normale Stelle zu bringen,
doch die Wiederherstellung der Function nicht möglich sein, und ich
kann Sie aus eigener Erfahrung versichern, dass das Endresultat einer
höchst mühseligen und langen Nachbehandlung in solchen Fällen durcii-
aus nicht dem Aufwand von Mühe und Ausdauer von Seiten des Patienten
und Arztes entspricht. Das Resultat wird in solchen Fällen kaum
günstiger sein, als wenn der Patient durch methodische Uebungen die
Extremität in ihrer abnormen Stellung, in der sie sich vielleicht seit
Monaten oder Jahren befand, möglichst brauchbar zu machen sucht.
Man kann solche Uebungen erleichtern und fördern, wenn man in der
Chloroformnarkose durch kräftige Rotationsbewegungen die Verwachsungen
des Gelenkkopfs zerreisst. Wenn der Kopf, wie dies zuweilen in seltenen
Fällen bei der Schulter vorkommt, in seiner abnormen Stellung auf den
Plexus brachialis so drückt, dass dadurch eine Paralyse des Arms be-
dingt wird, so kann es, falls keine Reduction mehr möglich ist, iudicirt
sein, einen Schnitt auf den Gelenkkopf zu machen, ihn loszupräpariren
und abzusägen, d. h. eine kunstgerechte Resection des Caput humeri zu
machen. Ich habe einen Fall gesehen, in welchem bei vollständig para.
lysirtem Arm nach einer Luxatio humeri nach unten und innen durch
265 Von den Verletzungen der Gelenke. Verrenkungen.
die erwähnte Operation eine bedeutende Verbesserung- in der Function
des Arms, wenn auch keine vollständige Heilung der Paralyse erreicht
wurde.
Von den complicirten Verrenkungen.
Eine Verrenkung kann in verschiedener Weise complicirt sein; am
häufigsten mit Fracturen einzelner Tb eile oder des ganzen Gelenkkopfs.
In solchen Fällen, die sehr schwierig zu beurtheilen sind, und in denen
die Reposition oft nur theilweise und unvollständig gelingt, muss bei
der Behandlung doch immer vorzüglich auf die Fractur Rücksicht ge-
nommen werden, d. h. es muss so lange ein Verband getragen werden,
bis die Fractur geheilt ist. Dabei ist es zweckmässig, den Verband
öfter, vielleicht alle 8 Tage zu erneuern und ihn jedes Mal in etAvas
anderer Stellung anzulegen, damit das Gelenk nicht steif wird. Indess
gelingt es doch nicht immer, eine vollständige Beweglichkeit wieder zu
erreichen, so dass ich Ihnen nur empfehlen kann, in Ihrer Praxis die
Prognose für die Herstellung der Beweglichkeit in solchen Fällen stets
als zweifelhaft hinzustellen.
Eine andere Complication ist die mit gleichzeitiger Wunde des Ge-
lenks. Es kann vorkommen, dass z. B. das breite Gelenkende der un-
teren Epiphyse des Humerus oder des Radius mit solcher Gewalt aus
dem Gelenk herausgeschleudert wird, dass es Weichtheile und Haut
durchreisst und frei zu Tage tritt.
Die Diagnose ist natürlich in solchen Fällen leicht; die Reposition
wird nach den früher gegebenen Regeln gemacht, doch hat man jetzt
eine Gelenkwunde von einer nicht unbedeutenden Ausdehnung. Es treten
alle diejenigen Chancen ein, die wir bei Gelegenheit der Gelenkwuuden
besprochen haben, so dass ich Sie in Bezug auf die Prognose, die A'er-
schiedenheit der möglichen Ausgänge und die Behandlung auf das früher
Gesagte verweisen kann (pag. 251). Am schlimmsten ist es natürlich,
wenn offene Gelenkbrüche vorliegen; hier ist weder ein rascher Schluss
der Gelenkwunde, noch eine Wiederherstellung der Function des Ge-
lenkes zu erwarten, und man geht allen Gefahren entgegen, welche sich
bei complicirten offenen Fracturen und bei Gelenkwunden drohend in
den Weg stellen. Die Entscheidung über das, was in solchen Fällen
geschehen muss, ist da leicht, wo zu gleicher Zeit eine bedeutende Zer-
quetschung oder Zerreissung der Weichtheile Statt hat: unter solchen
Verhältnissen muss die primäre Amputation gemacht werden. Ist die Ver-
letzung der Weichtheile nicht bedeutend, so kann man unter Umständen
die mögliche Heilung durch Eiterung mit der sicher folgenden Steifiieit
des Gelenkes abwarten. Dies ist jedoch der Erfahrung gemäss stets ein
ziemlich gefährliches Experiment. Nach den Grundsätzen der modernen
Chirurgie umgeht man die Amputation in solchen Fällen dadurch, dass
Vurlcsims IB. C;ipiü;l Vit. 2G7
man die zerbrüchcncii Gclcnkcudeii Irei prilpaiirt und ah.säi^t, lan auf
diese Weise eine einfache Wunde 7ä\ schaflcn. Dies ist die kunstgerechte
totale Resection eines Gelenkes, eine Operation, über welche nrian im
Verlauf der letzten 20 Jahre sehr ausg'iebig-e Erfahrungen gemacht hat,
und auf welche die moderne Zeit mit Eeclit stolz ist; man hat dadurch
in vielen Fällen schon Extremitäten erhalten, die man nach den Gruiul-
sätzen der älteren Chirurgie jedenfalls hätte amputircn müssen.
Diese Eesectionen haben in Bezug auf ihre Gefahr eine sehr ver-
schiedene Bedeutung, je nach den Gelenken, an welchen sie gemacht
werden, so dass sich schwer darüber etwas Allgemeines sagen lässt.
Indessen wollen wir in einem späteren Abschnitt (bei der Therapie der
chronischen fuugös-granulöseu Gelenkkrankheiten) uns doch etwas genauer
mit diesem höchst wichtigen Gegenstande beschäftigen; das Gesagte wird
genügen, damit Sie sich vorläufig eine Vorstellung von einer Gelenk-
resection machen.
Von den angeborenen Luxationen.
Die angeborenen Luxationen sind seltene Missbildungen, und man
muss von ihnen sehr wohl Luxationes inter partum acqui sitae
unterscheiden, d. h. solche, die während der Geburt bei gewissen Ma-
növern behufs der Extraction des Kindes entstehen können, und die
durchaus die Bedeutung einfacher traumatischer Luxationen haben, ein-
gerichtet und geheilt werden können. Wenngleich über die meisten Ge-
lenke der Extremitäten Beobachtungen von angeborenen Luxationen vor-
liegen, so sind dieselben doch ganz besonders häufig an der Hüfte und
kommen hier nicht selten auf beiden Seiten zugleich vor. Der Gelenk-
kopf steht dabei etwas nach oben und hinten von der Pfanne, kann
jedoch in vielen Fällen mit Leichtigkeit in die Pfanne zurückgeführt
werden. Die Krankheit wird in der Piegel erst bemerkt, wenn die Kinder
anfangen zu gehen. Das dabei zunächst auffallende Symptom ist ein
eigenthümlich wackelnder Gang, der dadurch entsteht, dass der Gelenk-
kopf hinter- der Pfanne steht, das Becken also mehr vornüber geneigt
wird und ferner dadurch, dass der Schenkelkopf bei den Gehbewegungen
sich nicht selten auf und ab bewegt; Schmerzen finden dabei nicht Statt.
Um das Kind genauer zu untersuchen, lassen Sie es vollständig ent-
kleiden und beobachten genau den Gang; dann legen Sie es horizontal
auf den Rücken und vergleichen die Länge und Stellung der Extremi-
täten. Ist die Luxation einseitig, so wird die luxirte Extremität kürzer
als die andere, und der Fuss etwas nach innen gedreht sein; fixiren Sie
das Becken, so können Sie in vielen Fällen die Luxation durch einfachen
Zug nach unten einrichten. Die anatomische Untersuchung solcher Ge-
lenke hat zu folgenden Resultaten geführt: der Gelenkkopf ist nicht
allein aus der Pfanne luxirt, sondern die Pfanne selbst ist unregelmässig
2ß3 ^'^" '^^" Verletzungen der Gelenke. Verrenkungen.
geformt, zu wenig- vertieft, in späterer Zeit bei Erwachsenen stark zu-
sammengedrückt und mit Fett ausgefüllt; wenn das Lig. teres vorhanden
ist, so ist es abnorm laug; der Gelenkkopf liat nicht seine gehTirige
Entwicklung; er ist in manchen Fällen kaum halb so gross als normal,
der Grelenkknorpel gewöhnlich vollständig ausgebildet, die Kapsel sehr
weit und schlaff.
Unter solchen Umständen können Sie sich vorstellen, dass es ausser-
ordentlich unsicher, in den meisten Fällen unmöglidi ist, diese Zustände
zu heilen. Wenn der Kopf schwach entwickelt ist, der obere Rand dei-
Pfanne fehlt, die Kapsel enorm ausgedehnt ist, wie soll man da die
normalen Verhältnisse wieder herstellen? Wodurch diese eigenthümliche
Missbildung entsteht, darüber hat man die verschiedensten Hypothesen
aufgestellt; niemals hat man bis .jetzt die Gelegenheit gehabt, beim
Embryo diese Krankheit zu studiren. Es handelt sich um eine Hemmungs-
bildung, indem durch irgend welche Hindernisse die normale Entwick-
lung gestört wurde. Man nimmt an, dass diese Störungen durch frühere
pathologische Processe beim Fötus erfolgen, und von den vielen Hypo-
thesen hat diejenige einige Wahrscheinlichkeit, wonach in einer sehr
frühen Zeit des embryonalen Lebens das Gelenk mit einer abnormen
Quantität Flüssigkeit gefüllt und dadurch ausgedehnt wurde, so dass
vielleicht eine Ruptur oder wenigstens eine abnorme Ausweitung der
Kapsel entstand. Roser glaubt, dass abnorme intrauterine Lagen Ver-
anlassung zu diesen Missbildungen geben können.
Eine Heilung dieser Zustände ist in denjenigen Fällen angestrebt
worden, in welchen man sich durch die directe Untersuchung von der
Existenz eines leidlich entwickelten Gelenkkopfes überzeugen konnte.
Man hat in solchen Fällen die Luxation reponirt und mit Hülfe von Ver-
bänden oder Bandagen ein oder mehre Jahre lang bei absolut ruhiger
Lage des Kindes die normale Stellung des Schenkels zu erhalten ge-
sucht. Die Erfolge dieser Behandlung, die von Seiten des Arztes und
der Eltern des Kindes eine sehr grosse Ausdauer verlangt, sind nach
den bisherigen Erfahrungen zuverlässiger Chirurgen nur theilweis be-
friedigend, indem nach einer solchen Cur nur eine Verbesserung des
Ganges, doch sehr selten eine vollständige Heilung erzielt wurde, und
wenn Sie später Gelegenheit haben werden, in orthopädischen Flug-
schriften von häutigen Heilungen angeborener Luxationen zu lesen, so
können Sie versichert sein, dass in den meisten Fällen diagnostische
Lrtliümer oder absichtliche Täuschungen zu Grunde liegen.
Die angeborenen Httftluxationen werden dem Leben nie gefährlich,
haben jedoch, weil damit eine Veränderung des Schwerpunktes des
Körpers verbunden ist, im Laufe der Zeit eine Einwirkung auf die
Stellung und Krümmung der Wirbelsäule; dies und ein hinkender oder
wackelnder Gang sind die einzigen Nachtheile, welche dadurch entstehen.
Von einem Curversuch kann nur in der allerfrühesten Jugend die Rede
Vorles.m-- 19. Kapitel VTTT. 209
li
! .
1^ sein; da aber der Arzt auch bei einer 1 -»jährigen (Jur nie einen
siclieren Erfolg* versprechen l<cann, so g-ebeii sich nur selten Patienten zu
dieser Behandlung- lier.
Vorlesung 19.
CAPITEL VIII.
Von den 8('lni8SAVUii(len.
Historische Benierkiingen. ■ — Verletzungen diircli grobes Geschütz. — Verscliiedene Formen
der Sclmssvvunden dnrcli Fiintenkugehi. — Transport und Sorge für die Verwundeten im
Felde. — Beliandlung. — Complicirte Scliussfraeturen.
Es kommen im Kriege eine grosse Menge von Verletzung-en vor,
welche den einfachen Schnitt-, Hiel)-, Stich- und Quetschwunden Ijeizu-
zälilen sind; die Schusswunden selbst müssen zu den Quetschwunden
g-ereclmet werden; sie haben aber doch so manches Eigenthündiehe,
dass sie eine besondere Besprechung- verdienen, wobei wir dann, w^enn
auch nur ganz kurz, das Gebiet der Militairchirurgie überhaupt berühren
müssen. So lange Schusswaffen im Kriege gebraucht werden (seit 1338),
sind die Schusswundeu von den chirurgischen Schriftstellern speciell
abgehandelt worden, so dass die Literatur über diesen Gegenstand sehr
bedeutend angewachsen ist; ja es hat sich die Militairchirurg-ie in neuerer
Zeit fast als ein besonderer Zweig der Chirurgie selbstständig gemacht,
indem sie die Pflege des Soldaten im Frieden und im Kriege, die
speciellen hygieinischen und diätetischen Maassregeln, welche in den
Kasernen, in den Friedens- und Kriegsspitälern, in der Bekleidung und
Beköstigung des Soldaten eine nicht unwichtige Rolle spielen, mit in ihren
Bereich zog. ■ — Obgleich die Römer, wie wir in der Einleitung erwähnt
haben, bereits vom Staat angestellte Aerzte bei dem Ileere hatten, wurde
es doch im Mittelalter mehr Sitte, dass jeder Heerführer eines Fähnleins
privatim einen Arzt mit sich nahm, welcher, wenn auch in sehr unvoll-
kommener Weise, mit einem oder mehren Gehülfen die Soldaten nach
der Schlacht verband, dann aber gewöhnlich mit dem Heere weiter zog
und die Verwundeten der Pflege mitleidiger Leute überliess, ohne dass
der Heerführer oder Staat dafür die Garantie übernahm. Erst mit der
Einrichtung der stehenden Heere wurden den einzelnen Bataillonen und
Gompagnien bestimmte Aerzte zugetheilt, und die Pflege der Verwun-
deten durch allerdings noch sehr unvollkommene Maassregeln und Ein-
richtungen geordnet. Die Stellung der Militärchirurgen war damals eine
ganz unwürdige und unerhörte ; so wurde noch zur Zeit des Vaters
Friedrichs des Grossen der Feldscheer öflentlich durchgeprügelt, wenn
er einen von den langen Grenadieren sterben Hess. Zu jener Zeit, als
270 ^''^ ^*^" Scliiisswnnden.
noch die Truppen im Parademarsch dem Feinde gegenüher in die Schlacht
marschirten, war die ganze Bewegung- des Heeres eine enorm langsame
und schwerfällige; es bestand ein kolossaler Train bei den grossen
Heeren; im 30jährigen Kriege z.B. führten die Lanzknechte häufig ihre
Weiber und Kinder auf einer Eeihe von unzähligen Wagen mit; so trat
denn auch in den zum Train gehörigen ärztlichen Einrichtungen kein
Bedürfüiss zu einer leichteren Beweglichkeit hervor. Durch die Taktik,
welche Friedrich der Grosse ausbildete, wurde eine grössere Beweglich-
keit des schwerfälligen Trains nothwendig, die jedoch erst in der fran-
zösischen Armee unter Napoleon zur praktischen Entwicklung kam. So
lange ein kleines Ländchen oder eine Provinz fast während des ganzen
Feldzuges Kriegsschauplatz blieb, mochte die Einrichtung einzelner grosser
Lazarethe in nahe gelegenen Städten genügen. Als aber die Heere rasch
nach einander vorrückten, bald hier, bald dort eine Schlacht geschlagen
wurde, ergab sich die Nothwendigkeit, leichter bewegliche, sogenannte
Feldlazarethe einzurichten, welche sich nicht weit entfernt vom Schlacht-
platze befanden und mit Leichtigkeit bald hier, bald dort eingerichtet
werden konnten. — Diese Ambulancen oder fliegenden Feldlazarethe sind
die Schöpfung eines der grössten Chirurgen, des schon früher erwähnten
Larrey. Da ich Hmen später kurz schildern will, was mit den Ver-
wundeten von dem Schlachtfeld bis ins Hauptfeldlazareth gemacht wird,
so breche ich hier von diesem Gegenstande ab und nenne Ihnen nur
einige von den vielen vortrefflichen Werken über Militärchirurgie. Beson-
ders interessant nicht allein in ärztlicher, sondern auch in historischer
Beziehung sind die freilich etwas langen Memoiren von Larrey, aus
denen ich Ihnen besonders die Feldzüge nach Aegypten und Russland
zum Lesen empfehle. Diese Memoiren erstrecken sich auf alle Feldzüge
Napoleon's. Ein anderes vortreffliches Buch besitzen wir aus der engli-
schen Literatur: „Principles of military surgery" von John Hennen;
ferner in der deutschen Literatur ausser manchen älteren trefflichen
Werken: „Die Maximen der Kriegsheilkuust" von Stromeyer,
welche sich hauptsächlich auf Erfahrungen aus dem Schleswig-Holsteini-
schen Kriege stützen ; endlich „Grundzüge der allgemeinen Kriegs-
chirurgie nach Remiuiscenzen aus den Kriegen in der Krim und im
Kaukasus und aus der Hospitalpraxis" von Pirogoff, so wie aus
neuester Zeit die kriegschirurgischen Werke von v. Langenbeck, Beck,
Löffler, Fischer u. A.
Die Wunden, welche durch die grossen Geschosse entstehen, durch
Kanonenkugeln, Granaten, Bomben, Shrapnels, und wie diese ]\Iord-
waffeu sonst heissen mögen, sind zum Theil der Art, dass sie unmittel-
bar tödten, in anderen Fällen ganze Extremitäten abreissen oder wenig-
stens so zerschmettern, dass nur von einer Amputation die Rede sein
kann. Die ausgedehnten Zerreissuugen und Zerquetschungen , welche
durch diese Geschosse entstehen, unterscheiden sich im Wesentlichen
Voi-losiins II). Ca]nir] VflT.
271
FiK- <J4.
a Chassepot - Projectil. — b Projectil des
preussisclieii Zünduade] - Gewelir.s. — c Mi-
trailleiisen -Projectil. — Natürliclie Grösse.
niclit von nndeni g-iosseu Qiietscliwundeii, wie sie tluvch Mascli inen Ver-
letzungen in der jetzig'en Zeit nur allzuliäufig auch in der Civilpraxis
vorkommen.
Die Flintenkugeln, welclie in der modernen Kriegs])raxis angewandt
werden, sind in mancher Hinsicht unter einander vcrscliieden. Oijgleich
hier und da die älteren Formen: ganz runde, ovale, zugcsi)itzte, h;ill)
hohle Projectile vorkommen, so
ist doch die Form der Projectile
in der Patrone der meisten mo-
dernen Hinterladungsgewehre
(Chassepot-, Ziindnadel-, Werder-
Gewehre) eine längliche; das
Projectil ist nicht ausgehöhlt,
sondern bestellt durch und durch
aus Blei, Das Chassepot-Projectil
ist 25 Grammes schwer, 2'/^ Cen-
timetres laug, cylindrisch, vorn
abgerundet, hat etwa 12 Milli-
metres im Durchmesser. Das
preussische Laugblei ist 31 Gram-
mes scliwer, eicheiförmig, auch 2'/2 Centimetres lang, doch etwa 15 Milli-
raetres dick. Das Projectil der Mitrailleusen ist noch einmal so schwer
als das des Chassepotgewehrs, 4 Centimetres lang, c_ylindrisch, 14 Milli-
metres im Durchmesser. Sie müssen nicht glauben, dass die Projectile,
wie wir sie in der Wunde finden, dieselben Formen haben, wie Sie die-
selben in die Flinte hineinladen, sondern das Blei kommt theils schon
in veränderter Form aus den Zügen des Gewehrs, theils wird es in der
Wunde an Knochen platt gedrückt, so dass man sehr häufig einen uu-
förmliclien zerrissenen Bleiklumpen, an dem man kaum noch die Form
des Projectils erkennt, in der Wunde findet. Wir wollen jetzt die ver-
schiedenen Arten von Verletzungen, welche durch ein Flintenprojectil ent-
stehen können, kurz durchgehen, wobei wir uns natürlich auf das Haupt-
sächlichste beschränken müssen.
In einer Reihe von Fällen macht die Kugel gar keine Wunde, son-
dern es entsteht nur eine Quetschung der Weichtheile mit starker
Sugillation und zuweilen mit subcutaner Fractur verbunden. Die ein-
fachen subcutanen Fracturen sollen nach Versicherung neuerer Autoreu
gar nicht so selten im Kriege vorkommen. Solche Verletzungen ent-
stehen meist durch matte Kugeln, d. h. durch solche, die aus sehr grosser
Entfernung kommen und nicht mehr die Kraft besitzen,, die Haut zu
perforiren; eine solche Kugel, die Lebergegend treifend, kann z. B. die
Bauchhaut handschuhfingerförmig vor sich her treiben, einen Eindruck
oder eine Ruptur in der Leber veranlassen und dann nach aussen zurück-
fallen, ohne dass eine äussere Verwundung entsteht. Andere solche
272 ^'^o'i *^*^" Schusswimden.
Quetscliimgen sind bedingt dureli Kugeln, welche stark seitlicli untei'
einem sehr stumpfen Winkel die Hautoberfläche treffen. Feste Kürijci-
können ebenfalls das Eindringen der Kugel verhindern, etwa eine Uhr.
ein Taschenbuch, Geldstücke, Lederstiicke der Uniform u. s. w. Diese
Art von Quetsch -Verletzungen, die, wenn sie den Unterleib oder den
Thorax treffen, von sehr bedenklichen Folgen sein können, haben von
jeher die Aufmerksamkeit der Aerzte und Soldaten auf sich gezogen;
man hielt dieselben früher allgemein für sogenannte „Luftstreifschüsse"
und stellte sich vor, sie entständen dadurch, dass eine Kugel in unmittel-
barer Nähe vor dem Körper vorbeifliege. Die Idee, dass auf diese Weise
wirklich Verletzungen erzeugt werden könnten, war so vollständig ein-
gebürgert, dass selbst sehr gescheidte Leute sich damit abquälten,
theoretisch zu erklären, wie die Verletzungen durch Luftdruck zu Stande
kämen : bald sollte die Luft vor und neben der Kugel in solchem Grade
comprimirt sein, dass durch diese comprimirte Luft die Verletzung ent-
stände, bald glaubte man, dass die durch die Eeibung im Flintenlauf
vielleicht elektrisch gewordene Kugel in unbekannter Weise auf eine
gewisse Distanz hin eine Quetschung und Verbrennung veranlassen
könne. Wenn man sich etwas früher davon überzeugt hätte, dass die
ganze Lehre von den Luftstreifschüssen durchaus aus der Luft gegritfen
war, so hätte man sich diese phantastischen Theorien ersparen können. —
Die Quetschungen durch matte und schief auifallende Kugeln sind nach
den früher angegebenen Grundsätzen wie die Quetschungen überhaupt
zu behandeln.
Der zweite Fall ist der, dass die Kugel freilich nicht tief in die
Weichtheile eindringt, aber doch einen Theil der Haut von der Ober-
fläche des Körpers mit fortnimmt, so dass eine mehr oder weniger tiefe
Hohlrinne, ein sogenannter Streifschuss entsteht. Diese Art von Schuss-
verletzung ist jedenfalls eine der leichtesten, w^eun nicht, wie es am Kopf
geschehen kann, zugleich auch der Schädel oberflächlich durch die Kugel
gestreift ist, und etwa Stücke von Blei in dem Schädel zurückgeblie-
ben sind. *•
Der dritte Fall wäre der, dass die Kugel die Haut perforirte, ohne
an einer anderen Stelle wieder herauszutreten. Die Kugel dringt also
ein und steckt in den meisten dieser Fälle in den Weichtheileu. Es ent-
steht eine röhrenförmige Wunde, ein blinder Schusscanal. In diesen
können verschiedene andere fremde Körper mit hiueingerissen werden,
so besonders Theile der Uniform, Stücke von Tuch, Knöpfe, Lederstüeke,
Kugelpflaster etc. ; ausserdem kann ein Knochen zersplittert werden, die
Knochensplitter können in die Wunde hineingetrieben werden und zer-
reissen dieselbe in der Tiefe. Möglich wäre auch, dass die Kugel, nach-
dem sie Haut und Weichtheile perforirt hat, an den Knochen anprallt
und aus derselben Oeflnnng wieder herausfällt, so dass man sie, trotz-
dem man nur eine Oeftuung hat, nicht in der Wunde flndet. Die AA^unde,
Vorlosmii;- 11». Capilol VI 11. 273
welelic die Kugel beim ElH(li-iiiii,'eii in den Köi-})er luiiclil:, ist gcwöliulicli
dem Quersclinitt der Kugel entsprecliend rund, ilirc Ränder sind g-e-
(juetsclit, zuweilen von etwas l)lau-scliwärzliclier Farbe, aucli etwas ein-
gedrückt. Diese Kennzeichen der EingangsülTnimg gelten wold füi- die
grössere Anzahl dersell)en, sind jedocli durcliaus nicld untriiglicli.
Der vierte Fall endlich ist der, dass die Kugel an einer Stelle ein-
tritt und au einer andern nieder hei'ausgeht. Dann hat man einen pei--
torirendeu Scluisscanal mit Eingangs- und Ausgangsöffuung, einen soge-
nannten llaarseilschuss. Geht der Schusseanal nur durch Weichtheile
und hat die Kugel keine fremden Körjjer vor sich hergetrieben, so pflegt
die Ausgangsöfinung etwas kleiner zu sein als die Eingangsöffnung, und
erstere gleicht mehr einem Riss. Hat die Kugel den Knochen getroffen
und Knochensplitter oder andere fremde Körper vor sich hergetrieben,
so kann die Ausgangsöffnung viel grösser sein als die Eingangsöffnung;
es können auch durdi Zersprengung der Kugel in mehre Stücke und
durch mehrfache Knochensplitter zwei- und vielfache Ausgangsöfl'nungen
entstehen. Endlicli können durch vorgetriebene Knochensplitter Aus-
gangsöffnungen der Kugel simulirt werden, während ein Theil der Kugel
oder die ganze Kugel noch in der Wunde steckt. — Auf die Unter-
scheidung der Aus- und Eingangsöffnungen hat man verhältnissmässig
einen viel zu grossen Werth gelegt. Diese Unterscheidung hat eine
Bedeutung nur in forensisclien Fällen, indem es hier von Wiclitigkeit
sein kann, zu wissen, ob bei einer gewissen Stellung des Verletzten
die Kugel von dieser oder Jener Seite gekonunen ist, weil man viel-
leicht je nach der Richtung der Kugel die Spuren des Thäters aufsuchen
kann. — Höchst eigenthümlich ist der Gang, welchen die Kugel zuweilen
in der Tiefe nimmt. Dieselbe wird nämlich sehr häufig von ihrem Lauf
durch den Knochen oder durch gespannte Sehnen und Fascien abgelenkt,
so dass man sich sehr täuschen würde, wenn man annähme, dass die
Verbindung der Ein- und Ausgangsöffnung in grader Linie stets den
Verlauf des Schusscanals darstelle. Am sonderbarsten sind in dieser
Beziehung die Umkreisungen des Schädels und des Thorax; es dringt
z. B. eine Kugel auf dem Sternum schief von einer Seite ein, jedoch
nicht mit einer Kraft, die hinreichend wäre, diesen Knochen zu perfo-
rireu; die Kugel kann jetzt unter der Haut an einer Rippe entlang
fortlaufen und kommt an der Seite des Thorax oder erst hinten an der
Wirbelsäule wieder heraus; der Lage der Aus- und Eiugangsöffnung
nach sollte man meinen, dass die Brust schräg oder gerade durchschossen
sei, und erstaunt, wenn solche Patienten ohne Athembeschwerden aus
der Schlacht auf den Verbandplatz kommen.
Die Complication der Schusswunden mit Pulververbrennung, wie
sie bei Schüssen aus allernächster Nähe erfolgt, wird im Kriege sel-
tener vorkommen. Bei Unglücksfällen, welche sonst wohl bei unvor-
sichtiger Handhabung der Schusswaffen durch Zerspringen von Gewehren
Billroth cliir. Patli. ii. Therap. 7. Aufl. 18
274 Von den Sfliusswnndcn.
und beim Felsenspreng-en entstehen, ist diese Combination nicht selten
lind können dabei die versdiiedenartig-stcn Verbi-ennungsgrade zu Stande
kommen. Die Kohlenpartikelclien des Pulvers dringen liäufig sehr fest
in die Obeifläcbe der Cutis und heilen hier ein, so dass die betroffenen
Hautpartien für die ganze Dauer des Lebens eine grau-scliwärzliclie
Färbung belialteu. Mehr darüber bei den Verbrennungen.
Der Schmerz soll bei der Schussverletzung fast gleich ^'ull sein;
die Geschwindigkeit, mit welcher die Verletzung erfolgt, ist eine so
grosse, dass der Verletzte fast nur einen Schlag von der Seite her em-
ptindetf von der die Kugel kommt, und erst später die blutende TVunde
und den eigentlichen Wundschmerz empfindet. Es existirt eine grosse
Anzahl von Beispielen, wo Kämpfende einen Schuss, zumal au den
oberen Extremitäten erlialten hatten und dessen so w^enig bewusst waren,
dass sie erst von Anderen oder durch das ausfliesseude Blut auf die
Wunde aufmerksam gemacht wurden.
Die Blutung ist bei den Schusswunden wie bei den Quetschwunden
in der Regel geringer, als bei den Schnitt-, Hieb- und Stichwunden,
indess würde man doch sehr irren, wenn man glaubte, dass die zer-
schossenen grösseren Arterien nicht bluten; vielmehr bleibt eine grosse
Menge Soldaten auf dem Schlachtfelde, weil sie ihren Tod durch schnelle
Verblutung aus grösseren Arterienstämmeu finden. Wenn man Gelegen-
heit gehabt hat, eine völlig durchtrennte Arteria carotis, subclavia oder
femoralis bluten zu sehen, so wird man die Ueberzeuguug gewinnen,
dass der Blutverlust in kurzer Zeit ein so eminenter sein nuiss, dass
nur im Fall augenblicklicher Hülfe an Rettung gedaclit werden kann,
so dass eine Blutung aus diesen Arterien etwa von zwei Minuten
Dauer den Tod unfehlbar herbeiführen wird ; trotzdem bleibt es richtig,
dass zerschossene Arterien, selbst von dem Durchmesser einer Femo-
ralis, zuweilen gar nicht bluten. Schon die ersten Chirurgen, welche uns
Beschreibungen von Schusswunden geben, machen auf diesen Gegenstand
aufmerksam.
Ehe wir nun zu der eigentlichen Behandlung der Schusswunden
übergehen, werde ich Hmen ganz kurz schildern, wie der Gang des
Transports und der ersten Hülfeleistung bei Verwundeten in der Schlacht
zu sein pflegt. Als nächste Hülfe für die Verwundeten werden in kurzer
Entfernung hinter der Schlachtreilie, gewöhnlich hinter den Kanonen, au
einer möglichst gedeckten Stelle Verbandplätze etablirt, welche durch
das internationale Zeichen der Neutralität, eine weisse Fahne mit rothem
Kreuz bezeichnet sind; zu diesen Verbandplätzen müssen die Ver-
wundeten zuerst hingescliaift werden; dieser Transport wird entweder von
den Soldaten selbst, oder von besonders dazu eingericliteten Sanitäts- oder
Krankenträgercompagnieu beso'rg't. Die Einrichtung dieser Sauitätscom-
pagnien liat sich in den letzten Kriegen so sehr bewährt, dass sie gewiss
eine immer weitere Verbreitung finden wird; die Sanitätscompagnien be-
Vorlcsniin' II). Ciipilcl VI 11. 275
stehen aus Krnnkeiiwärtei'ii, Avelclie durcli hesoiulcirc M.'uiiiver diiriii ,ueii))t
werden, die Ivinnlcen niis der Schla.clillinie luü-anszubrin^'en nml ilnuni,
falls CS nötliii;' ist, eine palliative llillfe aiiii'edeilien zu lassen, z. ii. durcli
Comi)vession von Arterien hei stnrk blutenden Wunden u. s. w. Sie sind
vorher geübt, zu Zwincn einen Verwundeten zu tragen, tlieils mit (Iqu
Armen ohne weitere Unterstützung, tlieils indem sie schnell eine 'l'rag-
bahre improvisiren. Zu diesem Zweck führen sie gewöhnlich eine Lanze
und ein grosses Stück Zeug von etwas mehr als Körperlänge und Breite
bei sich; die Lanzen werden in einen an der langen Seite des Tuches
befindlichen Canal hiucingesehobeu und auf diese Weise wird eine Trag-
bahre hergestellt; Bajonette oder Hirschfänger können provisorisch als
Schienen zur Unterstützung einer zerschossenen Extremität verwandt
werden. So kommen die Verwundeten auf dem Verbandplatz an; hier
wei-den die ersten Verbände angelegt, welche die Verletzten beibehalten,
bis sie in das nächste Feldlazareth gelangt sind. Blutungen müssen auf
dem Verbandplatz sicher gestillt, zerschossene Extremitäten der Art ge-
lagert werden, dass der Transport dem Verwundeten nicht schädlich
wird, oberflächlich liegende Kugeln, fremde Körper und ganz lose
Knochensplitter werden hier entfernt, sobald sich dies leicht und schnell
thun lässt. Extremitäten, die durch grobe Geschütze zerschmettert sind,
werden hier schon amputirt, falls der Verband nicht so angelegt werden
kann, dass der Transport möglich wird. Es ist überhaupt der Ver-
bandplatz wesentlich dazu bestimmt, die Verwundeten trans-
portabel zu machen, und ist es daher nicht zweckmässig,
hier viele und zeitraubende Oper ationen zu unternehmen. Bei
dem grossen Andrang der aus der Schlachtreihe in immer grösserer Zahl
kommenden Verletzten kann nur das Nothwendigste geschehen, und so
grausam es erscheint, ist doch gewiss der Rath Pirogoffs sehr wichtig,
dass die Aerzte ihre Kräfte nicht durch Beschäftigung mit den absolut
tödtlich Verletzten und Sterbenden erschöpfen. Wenn irgend möglich,
sollte aber jeder Verwundete ein kurze Notiz über das Ergebniss der
ersten Untersuchung mitbekommen, wenn er ins Feldlazareth transportirt
wird; ein Zettel mit wenigen Worten, der dem Kranken in irgend eine
Tasche seiner Bekleidung gesteckt wird, genügt. Es handelt sich haupt-
sächlich darum, ob die Kugel extrahirt, ob eine Wunde an Brust oder
Bauch perforirend ist, und dergleichen, wodurch dem Arzt im Lazareth
Zeit und Mühe und dem Verletzten Schmerzen erspart werden. Bis jetzt
hat jedoch eine solche Maassregel nicht consequcut durchgesetzt werden
können. Ein Theil der Sanitätscompagnie hat ferner die Aufgabe, die
Verletzten in dem zum Weitertransport befindlichen Wagen unter Anleitung
von Aerzten zweckmässig zu lagern. Zu diesem Zweck sind eigene
Kraukentransportwagen vorhanden, welche in der verschiedensten Weise
construirt sein können und theils liegende, theils sitzende Patienten auf-
nehmen müssen. Diese Wagen reichen freilich selten aus, sondern mau
9'7A Von den Sfrhnsswnnden.
muss sicli oft genug- mit Leiterwagen belielfen, welche mit Brettern, Heu,
Sti-oli, Matratzen so gut wie raüglieli für den Krankentransport einge-
richtet werden. Diese Wagen führen die Verwundeten in das nächste
Feldlazareth ; ein solches ist in einer nahen Stadt oder einem Dorf etablirt
und man wählt dazu die besten und grössten Räume, die man haben
kann: Schulhäuser, Kirchen, Scheunen werden gewöhnlich zunächst belegt,
obgleich nur die letzteren empfehlen swerth sind. In diesen Localen
sind mit Hülfe von Stroh, wenigen Matratzen und Decken Lager her-
gerichtet; Aerzte und Krankenwärter sehen mit Spannung dem ersten
Wagen Verwundeter entgegen, nachdem mau schon durch den nahen
Donner der Geschütze und durch einzelne Nachrichten von dem Beginne
der Schlacht Kunde erhalten hat. Hier beginnt nun die genauere Unter-
suchung derjenigen Patienten, die auf dem Verbandplatz nur provisorisch
verbunden wurden, und liier entwickelt sich die ausgedehnteste operative
Thätigkeit: Amputationen und Resectionen, Extractionen der Kugeln u. s. w.
werden massenhaft gemacht und der junge Arzt, welcher sich sehnte, seine
ersten Operationen am Lebenden zu machen, hat hier bis zur körper-
lichen Erschöpfung den gauzen Tag zu thun; bis in die Nacht hinein
geht es fort; die Schlacht dauerte bis zum späten Abend und erst gegen
Morgen kommen die letzten Wagen mit Verwundeten im Feldlazareth
an. Bei schlechter Beleuchtung, auf provisorisch hergerichtetem Ope-
rationstisch, nicht selten mit ungeschickten Wärtern als Assistenten muss
der Arzt jeden Verwundeten bis zum letzten gleich sorgfältig untersuchen,
eventuell operiren und verbinden. Ln Feldlazareth haben die Ver-
wundeten eine Zeitlaug Ruhe und sollten wo möglich die Operirten und
schwer Verletzten nicht eher in ein anderes Lazareth übergeführt
werden, als bis eine gute Eiterung erfolgt und die Heilung wenigstens
eingeleitet ist. Nicht immer kann dies erreicht werden; zuweilen muss
der Ort, in dem das Feldlazareth etablirt war, geräumt werden. Gehört
man der besiegten Partei an, ziehen sich die eigenen Truppen zurück
und dringt der Feind in den Ort vor^ wo das Lazareth etablirt war, so
bleiben die Aerzte bei den Verwundeten; selbst bei der grössten Humanität
eines Feindes ist doch oft der Mangel an Aerzten nach grossen Schlachten
so erheblich, dass die Aerzte der feindlichen Partei ausser Stande sind,
die Verpflegung aller Verwundeten gehörig zu überwachen. Vor einigen
Jahren wurde in Genf eine Convention der Europäischen Mächte ge-
schlossen, nach welcher Aerzte und Sauitätsmaterial auf alle Fälle neutral
erklärt wurden. Obgleich sich der practischen Ausführung dieses Friucips
und seiner Consequenzen mancherlei Hindernisse in den AVeg stellen, so hat
diese Convention in den Kriegen der letzten Jahre doch schon segensreiche
Folgen gebracht, und ist einer weiteren Entwicklung fähig. Jedenfalls
ist das Inncip, den verwundeten Feind nicht mehr als Feind, sondern
als Kranken zu betrachten, als eine schöne Frucht fortschreitender
Humanität und Bildung zu schätzen und zu wahren.
Vorlesiiiig U). Ciipili-I Vm. 277
Sind die Verletzten nllr vorlüiidg- unter Dach gebraelit und i^elaycrt,
sind die nötliigen Operationen i^'cmacht, und i;st auch in anderen Be-
ziehungen, z. 1). für die Verköstig'ung und Pflege der Verwundeten das
Notliwendigste geschelien, so muss sich der ärztliche Stab nun soioi-i
damit befassen, eine zweckmässige Oi'dniing unter den Verwundeten zu
schaffen. Die Anliäufung vieler Verletzten an einem Ort ist schädlich,
und wenn das Kriegstheater ein armes Land ist, in welches keine Eisen-
bahnverbindungen führen, dann ist auch die Verpflegung der Kranken
mit ungeheuren Schwierigkeiten verbundeii. Man muss daher die Ver-
wundeten möglichst bald Aveiter scliaflen, was sich mit den Eisenbahnen
in gut vorbereiteten Lazaretliziigen selbst bei scliAver Verwundeten aus-
führen lässt; bei weniger bequemen Transportmitteln kann man wenigstens
die leicht Verwundeten bald weiter befördern. Dies Zerstreuungssystem,
Avelches in neuerer Zeit mit ausgezeichnetem Erfolg durchgeführt ist,
bedarf grosser Umsiclit und vieler Mühe von Seiten der obersten ärzt-
lichen und militärischen Behörden, hat sich jedoch als sehr segensreich
bewährt. — Kanu mau für die zurückbleibenden Schwerverletzten Holz-
häuser (Baracken) neu bauen lassen, so ist das am besten; ist das nicht
ausführbar, so kann man die leicht Verwundeten, welche keiner besonderen
chirurgischen Behandlung bedürfen, auch in Privathäusern uuterbriugen;
es hat sich unzweckmässig erwiesen, die Verwundeten in den Kirchen
und Schulhäuseru lange zu belassen, weil diese Locale selten gut
ventilirt werden können.
Der Krieg in Nordamerika, sowie der österreichisch-preussische
Krieg des Jahres 1866 und der französisch-deutsche Krieg 1870 hat ge-
zeigt, dass man fortwährend an den Einrichtungen des Militärsauitäts-
wesens zu bessern hat. Es ist ein Moment noch hinzugekommen, was
früher nicht mitwirkte, nämlich die ausgedehnte Hülfe von Seiten von
Vereinen, barmherzigen Schwestern, Civilärzten und vielen andern Per-
sonen, welche sich selbst oder Geld und Materialien zur Verpflegung der
Verwundeten zur Disposition stellen. Wenn diese Privathülfe gehörig
organisirt ist, so kann sie unter zweckmässiger Leitung der Militär-
behörden ausserordentlich viel leisten, Avie sich im letzten Krieg ge-
zeigt hat.
Ueber die Behandlung der SehussAvunden haben sich im Laufe
der Zeit die Ansichten ausserordentlich verschieden gestaltet, je nach-
dem man dieselben von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtete.
Die ältesten Chirurgen, von welchen uns darüber Mittheilungen vorliegen,
hielten die SchussAvunden für vergiftet und glaubten demzufolge, dass
sie mit glühendem Eisen oder siedendem Oel ausgebrannt Averden
müssten. Der erste, av elcher dieser Ansicht mit Erfolg entgegentrat,
war Ambroise Pare, den Sie schon von den Unterbindungen her
kennen. Er erzählt, dass ihm beim Feldzuge nach Piemont (1536) das
Oel zum Ausbrennen der Wunden ausgegangen sei, und dass er nun
278
Von den Schiis,swunden.
erwartet habe, dass alle die Kranken, die nicht nach den damaligen
Reg-eln der Kirnst behandelt waren, sterben würden. Dies sei aber nicht
o-eschehen, vielmehr haben sich die letzteren viel besser befmiden, als
die wenig-en Auserwählten, bei denen er noch den Rest seines Oels ver-
braucht hatte. So befreite ein glücklicher Zufall die Medicin schon
ziemlich früh von diesem Aberglauben. Später beobachtete man ganz
richtig, dass eine der Hauptschwierigkeiten bei dem Heikmgsprocess der
Schusswunden in der grossen Enge des Schusscanals liege, und suchte
diesem Umstand dadurch entgegenzuwirken, dass man die Wunde mit
Charpie oder Enziauwurzcl, sogenannten Quellmeisseln, vollständig aus-
stopfte. Verständige Chirurgen sahen jedoch bald ein, dass dadurch der
in der Tiefe angesammelte Eiter noch weniger ausfliessen konnte. Auch
hatte sich bereits die richtige Ansicht Bahn gebrochen, dass die Schuss-
wunde eine röhrenförmige Quetschwunde sei. Dies suchte man nun
wieder auf eine sonderbare Weise zu verbessern, indem man als
allgemeine Schulregel aufstellte, dass jeder oberflächliche Schusscanal
vollständig gespalten, die Oeffnung eines in die Tiefe führenden Canals
durch einen oder mehre Einschnitte erweitert werden müsse; man setzte
sonderbarer Weise hinzu, dass durch diese Einschnitte die Quetschwunde
in eine einfache Schnittwunde verwandelt würde, während man doch
eigentlich nichts Weiteres that, als dass man der Schusswunde noch eine
Schnittwunde hinzufügte. Etwas anderes war es freilich, wenn man die
Regel gab, einen Schusscanal ganz auszuschneiden, die Wunde durch
Nähte und Compression zu schliessen, um eine Heilung per primam zu
erzielen, ein Verfahren, welches selten anwendbar ist und auch wenig
Anklang gefunden hat. In neuerer Zeit, wo sich die Behandlung aller
Wunden so sehr vereinfacht hat, ist ein Gleiches auch mit den Schuss-
wunden geschehen, welche im Ganzen nach den gleichen Priucipien zu
behandeln sind, wie Quetschwunden. Das Erste, was man bei einer
Schusswunde zu thun hat, ist, wie bei andern Wunden, eine etwaige
arterielle Blutung zu stillen. Dies geschieht nach den früher schon
gegebenen Regeln, indem man die blutende Arterie entweder in der
Wunde selbst, oder den betreffenden /Vrterienstamm in seiner Continuität
unterbindet; behufs des ersteren Zwecks muss man fast immer die
Eingangs- oder Ausgangsöffnung dilatiren, weil man sonst die blutende
Arterie nicht finden wird. Ist keine Blutung vorhanden, so hat man
sofort die Wunde, zumal die blind endigenden Schusscanäle nach
etwaigen fremden Körpern, besonders nach einer etwa darin steckenden
Kugel zu untersuchen. Diese Untersuchung nimmt man am sichersten
mit dem Finger vor; falls dieser nicht lang genug ist oder der Schuss-
canal zu eng, so gebraucht man am besten einen silbernen Katheter,
mit welchem man genauer und sicherer fühlt, als mit einer Sonde; fühlt
man die Kugel, so sucht man sie auf dem kürzesten Wege zu entfernen,
d. h. man zieht sie entweder aus der Eingaugsöff'nung heraus , oder
Vni-Irsmit; l:i. C';i|.il,.| VI IT. 270
wenn sie mit einem blinden ScIiusscaiiMl bis unter die Maut vorgedrungen
ist, so wird man auf sie einen Ilautsclinitt machen und sie durch diesen
extrahiren, wodurch zugleich der l)linde Scliussc;iii;il in einen \(dl-
ständigen umgewandelt wird. — Die Extraction der Kugel von dar
Eingangsöffnung aus kann mit lliilie von löfici- odei- zangenfönnigen
Instrumenten gcsclielien. Die Kngelzangen mit dünnen, langen Branchen
sind deshalb oft schwierig anzuw^Miden, weil sie in dem engen Hclniss-
canal nicht geliörig geöffnet werden können , um die Kugel zu fassen,
und es werden daher von vielen Militärcliirurgen die löfrelförmigen In-
strumente zur Extraction vorgezogen. Empfehlcnswerth ist die ameii-
kanisclie Kugelzangc, welclic sich besonders daduix'h auszeichnet, dass
sie sich aucli in engen »Schusscanälen gut öffnen lässt und sehr sicher
fasst, doch sind die meisten derartigen Zangen zu dünn gearbeitet; ich
finde, dass sich nichts besser zu Kugelextrationen eignet, als lange
starke Kornzangen und Poly])enzangen. Sitzt die Kugel in einem
Knochen fest, so bedient man sicli eines langen ßohrers, den mau in
das Blei hineintreibt und vei'sucht so die Kugel zu extraliireu. Gelingt
es nicht, durch die Eingangsöff'nung Kugeln oder andere Körper heraus-
zubringen, so schreitet man zu einer Dilatation derselben, u)u melir
Platz zu gewinnen und die Instrumente besser zu applicireu. Es ist
allerdings wiederholt beobachtet worden, dass Kugeln eingeheilt sind, ohne
Eiterung zu erzeugen, doch ist es Aveit häufiger, dass sie Eiterung hervor-
rufen; man soll natürlich keine zu gewaltsamen oder gar gefährlichen
Manipulationen unternehmen, um Kugeln zu extrahiren, doch soll man
sich auch nicht zu sehr scheuen, ein Projectil ei'ustlich zu suchen, wenn
es fortdauernde Eiterung unterhält. — Blutung und schwierige Ex-
traction fremder Körper sind die beiden Hauptindicationen für die
Dilatation der Schusswunden. An sich bedarf jedoch die Schusswunde
keineswegs der Dilatation zu ihrer Heilung. Diese erfolgt so, dass sich
von der Eingangsöffnung langsam eine kleine Eschara ringförmig ab-
stösst, dann auch aus dem Schusscanal selbst gangränöse Fetzen sich
ablösen, bis eine gesunde Granulation und Eiterung eingetreten ist, und
der Canal dann von innen nach aussen sich allmählich schliesst. In den
meisten Fällen vernarbt die Ausgangsöflfnung früher als die Eingangs-
öff'nung. Diesem normalen Verlauf können sich freilich mancherlei
Schwierigkeiten -in den Weg stellen; es können progressive Eiterungen
in der Tiefe auftreten, durch welclie neue Incisiouen und die Anwendung
des Eises nothwendig w^erdeu, wie bei den tiefen, gequetschten Wunden
überhaupt.
Der erste Verband einer Schusswunde im Felde besteht gew^öhnlich
in dem Auflegen einer nassen Compresse, über welche ein Stüclf Wachs-
tuch, Krankenleder oder Pergamentpapier gedeckt wird, welches mit
Hülfe einer Binde oder eines Tuches zu befestigen ist. Später ist oft
nichts weiter nöthig, als einfaches Feuchthalteu und Bedecken der
230 y<m den Schiisswunden.
Wunde mit etwas lockerer Charpie, Ueberscliläge mit Bleiwasser, Chlor-
wasser u. dgl. Auch die Behandlung- von Schusswunden ohne Xer-
baud ist im letzten Krieg- viel geiil)t, und zwar mit gleich g-iinstigera
Erfolg-, wie bei andern Wunden. Die Heilung- einer Schusswunde per
prim'am ist in seltenen Fällen beobachtet worden, g-ehört jedoch immer
zu den Seltenheiten; in der Keg-el eitern alle Schusswunden, bald
kürzere, bald längere Zeit. Als eine der Hauptursaehen für tiefere Ent-
ziinduug-eu ist das Zurückbleiben fremder Körper, besonders von Zeug,
Lederstücken etc. anzusehen. Weniger g-efährlichi ist das Zurückbleiben
der Kugel oder eines Stücks derselben. Das Blei kann von der Narben-
masse ganz umwachsen und völlig- eingekapselt werden; die Wunde
schliesst sich vollständig darüber; der Verwundete behält die Kugel bei
sich. Diese Kugeln bleiben aber nicht immer auf derselben Stelle liegen,
sondern senken sich theils in Folge ihrer Schwere, theils werden sie
auch wohl durch die Muskelbewegungen verschoben, so dass sie nach
Jahren sich oft an einer andern, meist tiefern Stelle befinden; z. B. kann
in die Hüftgegend eine Kugel eindringen, welche, schon fast vergessen,
später unter der Waden- oder Fersenhaut fühlbar wird und hier mit
Leichtigkeit herausgeschnitten werden kann. Aehnliches habe ich Hmen
bereits von Nadeln mitgetheilt. Nichtmetallische Körper scheinen jedoch
niemals auf diese Weise unschädlich im menschlichen Körper zurück-
bleiben zu können, und müssen daher immer extrahirt werden, wenn
ihre Gegenwart in der Wunde sicher ist.
Das Fieber bei den Schussw^unden wird im Allgemeinen von ihrer
Grösse und Ausdehnung abhängig sein, sowie von den accidentelleu
Eiterungsprocessen. In dem vortrefflich eingerichteten Lazareth des
Badischen Generalarztes Beck, welches ich auf dem süddeutschen
Kriegsschauplatz (18G6) in Tauberbischofsheim besuchte, wurde auch die
Thermometrie zur Bestimmung des Fiebers verwandt, ebenso 1870 in
den Lazarethen in Mannheim, welche unter der Leitung der Herren
Prof. Bergmann und Dr. Lossen standen. Die Eesultate sind im
Allgemeinen übereinstimmend mit denjenigen gewesen, welche sich auch
bei andern Verletzungen in Betreff des Fiebers herausgestellt haben.
Ueber die besonderen Maassregeln, die bei perforireuden Schädel-,
Brust- und Bauchwundeu zu treffen sind, werden Sie in der speciellen
Chirurgie belehrt werden; hier nur noch einige Bemerkungen über die
Fracturen, die bei Schusswunden entstellen. Dass aucb im Kriege durch
matte und schief auffallende Kugeln einfache subcutane Fracturen vor-
kommen, ist schon früher bemerkt. In den meisten Fällen werden
jedoch die Fracturen mit AA'nnden der Weichtlieile combinirt sein. Die
weichen, aus spongiöser Substanz bestehenden kurzen Knoch.en und Epi-
ph3-sen können von einer Kugel einfach durclibohrt sein, ohne dass eine
Splitterung des Knochens dabei einzutreten brauclit. Diese Verletzung
ist, wenn nicht durch den Schuss das naheliegende Gelenk erötiuet ist,
Vorlesimj; 10. C'apiiol VIII.
281
ji^ vevhältnissniässig" giinstii;'; die Kui;cl kann im Knochen stecken bleiben
und wird dann eine intentivc Ostitis nnterlialten ; Einlicilungen im
Knoclien sind ancli l)cobaclitct, docli ist es immerliin ein Cunosum. Nach
rcrforationsscliüsycn kommt der ganze Canal in Eiferung', füllt sieli mit
Craiuilationen, die zum Theil nacliträglicli vci'knöcliern, so dass die
l'cstigkeit des Knochens nicht darunter leidet. — Hat die Kug'el die
!)iaphyse eines Röhrenknochens getroffen, so entstehen meistens Splitter-
iVacturen und zwar so complicirt, wie bei keiner andern Veranlassung;
die grosse Zahl der spitzen Splitter, so wie die grosse Ausdeimung der
iSplitterung" im Verhältniss zum Durchmesser des Projectils ist mit das
Auffallendste für denjenigen Arzt, welcher zuerst eine grosse Anzahl
von Schusswunden sieht.
Fiff. 65.
Oberschenkelknochen eine*: fran-
zösischen Soldaten, durch ein
preiissisches Ziindnadelgewehr-
Projectil getroffen.
Tihia eines deutschen Siddaten,
durch ein Chassepotgewehr-
Projectil getrofien.
Ich halte es für nöthig, und sein- wichtig-, jede Schussfractur der
Extremitäten bald nach der Verletzung mit dem Finger genau zu unter-
suchen, um die losen oder nur in geringer Verbindung mit den Weich-
theilen stehenden Knochensplitter zu entfernen; das Abkneifen oder Ab-
sägen sehr spitzer Fragmentenden kann hie und da zweckmässig- sein,
9J^9 Vnii den Verbrennungen mikI Erfrierungen.
WO es sich ohne erhebliche neue Verletzung, ohne grosse Incisionen
durch dicke Weichtlieile leicht machen lässt. Ich möchte jedoch diese
sogenannten Resectionen in der Continuität nicht als regelmässige,
nicht als immer nothwendige Operation empfehlen, da die Erfahrung
lehrt, dass sehr viele solcher Fälle auch ohne operative Eiugi-iffe günstig
verlaufen.
Ist durch den Schuss eine complicirte Fractur in einem Gelenk ent-
standen, so ist von einer zuwartenden Behandlung nach den vorliegenden
Erfahrungen, die auf statistischen Zusammenstellungen basirt sind, nicht
viel Gutes zu erwarten; vielmehr wird es sich meisteutheils darum han-
deln, ob es zweckmässiger ist, die primäre Resectiou oder Amputation
zu machen, worüber nur die Beschaffenheit jedes einzelnen Falles ent-
scheiden kann.
Endlich muss noch erwähnt werden, dass Nachblutungen bei Schuss-
wunden besonders häufig sind, wie bei Quetschungen überhaupt.
Die Beliaudlung der Schussfractureu mit gefensterten Gypsverbänden
ist (vielleicht mit Ausnahme der hohen Oberarm- und Oberschenkelschüsse)
meiner Ansicht nach eine sehr zweckmässige; dagegen lässt sich nur
sagen, dass diejenigen Aerzte, welche nicht schon offene Fracturen mit
Gypsverbänden behandelt haben und nicht die ganze Gypstechnik be-
herrschen, gut thun, ihre ersten Versuche nicht an Schussfractureu zu
machen, sondern nur solche Verbände appliciren sollten, mit denen sie
umzugehen gelernt haben.
Secundäre eitrige Entzündungen kommen bei den Schusswunden fast
noch häufiger vor, wie bei den sonstigen Quetschwunden; die gleichen
Schädlichkeiten, die wir als Ursache dieser gefährlichen Accidentien
früher kennen gelernt haben, wirken leider auch oft genug bei den
Schusswunden.
Vorlesung 20.
CAPITEL IX.
Voll den Verbreiinungeu und ErMeningeii.
1. Verbrennungen: Grade, Extensität, Behandlung. — Sunnen?tiob. — Blitzschlag. —
2. Erfrierungen: C4rade. Allgemeine Erstarrung. Behandlung. — Frostbeulen.
Die Folgeerscheinungen von Verbrennungen und Erfrierungen haben
zwar sehr viel Achnlichkeit mit einander, unterscheiden sich jedoch
genugsam, um sie besonders zu betrachten. Sprechen wir daher hier
zunächst von den
Vurlosiing 20. Cupilvl LX. 283
I Vcrbrcnnuiig'cii.
Dieselben entstehen durch die Flanniic selbst, /.. F). wenn die Kleider
anbrennen, häufiger nocli durch heisse Flüssii^'keitcu z. l». bei Kiiidcni,
welche Gefiisse nnt hcisscni Wasser, Kjiffee, Sujipc etc. vom Tische her-
unter ziehen und sich damit iibergiesscn. Ferner sind in den Fabriken
Verbrennungen nnt heissen ]\Ietallen, mit flüssigem Blei, Fison und der-
gleichen leider niclit selten, sowie im gewöhnlichen Leben leichtere Ver-
brennnngen mitScliwefelhölzchen und Siegellack rcclit häufig vorgekommen
und gewiss schon Mancliem von Ilinen begegnet sind, Ansserdem be-
wirken aber auch concentrirte Säuren und kaustische Alkalien gar niclit
selten Verbrennungen verschiedener Grade, welche denjenigen analog
sind, die durch heisse Körper entstehen.
Es ist bei den Verbrennungen die Intensität und die Extensität der
Verletzung zu berücksichtigen; letztere wird uns später beschäftigen. Die
Intensität der Verbrennung hängt wesentlich von dem Hitzegrade und
der Dauer der Einwirkung ab; je nach den Folgen dieser Einwirkung
unterscheidet man verschiedene Grade von Verbrennungen. Diese gehen
freilich in einander ü))er, können jedoch ohne Schwierigkeiten nach den
damit verbundenen Erscheinungen auseinandergehalten werden, die ja
nur den Zweck einer raschen Verständigung haben. V/ir nehmen drei
verschiedene Grade von Verbrennungen an :
Erster Grad (Hyperämie): Die Haut ist stark geröihet, sehr schmerz-
haft und leicht geschwollen. Diese Erscheinungen iteruhen in einer Aus-
dehnung der Capillaren mit geringer Exsudation von Serum in das Ge-
"webe der Cutis. Es ist ein leichter Grad von Entzündung, wobei eine
reaktive Zellenvermehrung nur im Rete Malpighii Statt hat, was wir daran
bemerken, dass eine Abschuppung der Epidermis wenigstens in vielen
Fällen nacliträglicii erfolgt. Röthung und Schmerz dauern zuweilen nur
wenige Stunden, in andern Fällen mehre Tage. Doch ist es nicht uöthig
und durchaus nicht -practisch, deshalb schon hier wieder verschiedene
Grade zu unterscheiden.
Zweiter Grad (Blasenbildung): Es kommt zu den Erscheinungen
des ersten Grades die Entstehung von Blasen an der Hautoberfläche
hinzu, welche, wenn sie noch nicht geplatzt sind, entweder ganz klares
oder wenig mit Blut vermischtes Serum enthalten. Diese Blasen ent-
stehen entweder unmittelbar oder auch einige Stunden nach der Ver-
brennung und können in ihrer Grösse ausserordentlich verschieden sein.
Bei anatomischer Betrachtung finden wir, dass in den meisten dieser
Fälle sieb das Hornblatt von dem Schleimblatt der Epidermis gelöst hat,
so dass die aus den Capillaren rasch ausgetretene Flüssigkeit sich zwi-
schen diesen beiden Schichten befindet, grade so wie dies nach der Ein-
wirkung des Canthariden- und Blasenpflasters der Fall ist. Diese Ijlase
platzt oder wird künstlich eröffnet; von dem zurückgebliebenen Rete Mal-
pighii aus bildet sich rasch eine neue Hornschicht der Epidermis, und
234 ^on den Verbrennungen und Erfrierungen.
in sechs bis acht Tagen ist die Haut wieder wie zuvor. Es kann jedoch
aucli vorkommen, dass nach Entfernung der Blase die eutblösste Haut-
stelle ganz excessiv schmerzhaft ist und sich eine mehre Tage, selbst
zwei Woclicn lang dauernde oberfläcliliclie Eiterung ausbildet; der Eiter
trocknet endlich zu einem Schorf ein, und untei- diesem bildet sich die
neue Epidermis. Audi diesen Zustand können Sie künstlich hervorrufen,
wenn Sie ein Spanisch-Fliegenpflaster längere Zeit auf ein und derselben
Stelle liegen lassen. Es ist jedoch auch hier nickt nothwendig, wegen
dieser Verschiedenlieiten neue Grade der Verbrennung zu unterscheiden,
da dieselben nur von einer etwas geringeren und grösseren Zerstörung
des Kete Malpighii abhängen, sowie die grössere oder geringere Schmerz-
liaftigkeit dadurch bedingt ist, dass die Nerven in den Papillen der Haut-
oberfläche mehr oder weniger frei liegen.
Dritter Grad (Escharabildung) : Als solchen kann mau im Allge-
meinen die Escharabildung bezeichnen, d. h. diejenigen Fälle, in welchen
ein Theil der Haut und selbst der tiefer liegenden Weichtheile durch
die Verbrennung mortificirt sind. Hier können natürlich die Verschie-
denheiten sehr gross sein, indem es sich in dem einen Fall vielleiclit
nur um die Verbrennung und Verkohlung der Epidermis und der Pa-
pillenspitzen, in einem andern um das Absterben eines Stückes Cutis,
in einem dritten um Verkohlung der Haut, ja einer ganzen Extremität
handeln kann. In allen Fällen, in Avelchen die Papillarschicht mit dem
Pete Malpighii zerstört wird, wird es zu einer mehr oder weniger aus-
gedehnten Eiterung kommen, durch welche das mortificirte Stück ab-
gelöst wird, wobei sich natürlich granulirende Wunden bilden müssen,*
die den gewöhnlichen Gang der Heilung nehmen. Ist nur die Epidermis
und die Oberfläche der Papillen verkohlt, so erfolgt auch nur eine kurze
Eiterung mit raschem Ersatz der Horuschicht aus den Pesten des Pete
Malpighii.
Aus dem Gesagten werden Sie begreifen können, dass mau auch
wohl 4 — 7 und mehr Grade der Verbrennung aufstellen kann; doch
reicht es für die Verständigung vollkommen aus, wenn wir die 3 Grade
der Röthung, Blasenbildung und Escharabildung unterscheiden. Bei aus-
gedehnteren Verbrennungen finden wir diese verschiedenen Grade der
Intensität vielfach neben einander, und wenn dann die verletzte Stelle
durch verkohlte Epidermis und Schmutz verdeckt ist, so ist es oft
schwierig, gleich im /Vnfang an jeder Stelle den Verbrennungsgrad
riclitig zu bestimmen. Tritt Eiterung ein, so ist dieselbe bald oberfläch-
lich, bald tiefgehend; es entsteht hierbei zuweilen der Anschein, als
wenn mitten in einer granulirenden AVunde sich Inseln von junger Narbe
bildeten, und dies hat zu der falschen Auflassung Veranlassung gegeben,
als könne die granulirende Wunde nicht nur von den Rändern her,
sondern auch von einzelnen Punkten in der Mitte der Wunde vernar-
ben. Solche Narbeniuseln aber entstehen niemals da, wo der üanze
Vovlo.siniK 20. Cai)i(:('l TX. 285
Papillarköiprr der Ihiut fclill;, soiuk-iu iiiir von einzelnen IJesten des
i übrig- gebliebenen Rete Malpigliii, wie dies g'rade l)ei Verl)rennung'en
und bei gewissen später zu besprechenden (Jescliwiirsbiidung-en vorkoni-
iiien kann.
Die Prognose für die Function der verbrannten Tlieile ergiebt sich
aus dem Gesag'ten von selbst. Es ist jedoch noch hinzuzufügen, dass
nach ausgedehnten Verlusten der Haut, wie sie zumal durch Verbrennun-
gen mit lieissen Flüssigkeiten am Hals und an den oberen Extremitäten
vorkommen, sehr bedeutende Narbencontractionen eutstelieu, durcli w-elche
z. B. der Kopf ganz auf die eine Seite des Halses oder nach vorn auf
das Sternum gezogen, oder der Arm in der Flexionsstelluug durch eine
Narbe in der Ellenbogenbeuge fixirt wird. Diese Narben werden frei-
lich mit der Zeit im Laufe von Jahren dehnbarer und nachgiebiger, je-
doch selten in dem (Jrade, dass die Functionsstörung und Entstellung
ganz gehoben würde, so dass es in vielen Fällen plastischer Operationen
bedarf, um diese Zustände zu bessern. — Man hat iVülier merkwürdiger-
weise die Behauptung aufgestellt, dass die Narben nach Verbrennungen
sich stärker contrahirten , als alle übrigen Narben. Das ist jedocli nur
scheinbar der Fall, indem durch andere Arten von Verletzungen kaum
je so grosse Stücke Haut verloren gehen, wie grade bei Verbrennungen;
indess kann man sich leicht überzeugen (zumal bei plastischen Opera-
tionen und nach grossen Hautzerstörungen durch geschwürige Processe),
dass die Narbencontraction dort ganz ebenso stark wirkt.
Die Extensität der Verbrennung ist quoad vitam von der aller-
grössten Bedeutung, ganz abgesehen von den verschiedenen Graden der
Intensität. Man pflegt anzunehmen, dass, w^enn etw^a zwei Drittheile der
Körperoberfläche auch nur im ersten Grade verbrannt sind, der Tod
ziemlich schnell eintritt auf eine Weise, die bis jetzt pln^siologlsch noch
nicht ganz erklärbar ist. Die so Verletzten verfallen in einen Zustand
von Collapsus mit kleinem Puls, kühler, abnorm niedriger Körpertempe-
ratur, bekommen Dyspnoe und sterben innerhalb weniger Stunden oder
Tage. In anderen Fällen dauert das Leben etwas längere Zeit ; es tritt
der Tod zuweilen unter Hinzukommen von starken Diarhöen, in seltenen
Fällen mit Bildung von Geschwüren im Duodenum dicht hinter dem
Pylorus ein, eine Complication, welche auch bei Septhämie gelegentlich
vorkommt. Man hat den rasch eintretenden Tod bei ausgedehnten Ver-
brennungen auf verschiedene Weise zu erklären versucht: zuerst, indem
mau annahm, dass die gleichzeitige Reizung fast aller peripherischen
Nervenendigungen in der Haut als Ueberreizung auf das centrale Nerven-
system Avirke und daher Paralyse erzeuge, dann, dass durch die Ver-
brennung die Hautperspiration aufhöre und der Tod in analoger Weise
zu erklären sei, w^ie bei den Thieren, denen man die ganze Körper-
oberfläche mit einer luftdichten Schicht etwa von Oelfarbe, Kautschuk
oder Harzmasse überzieht. Man nimmt bei letzterer Hypothese an, dass
9Q(] Von den Verbrennungen nnd Erfrierungen.
die Aussclieiduiig' g-ewisser Substanzen durch die Haut, namentlich von
Ammoniak durch den impermeabeln Ueberzug (wie durch die Hautver-
brennung) verhindert wird, und so eine für den Organismus tüdtliche
Blutvergiftung entsteht. Endlich könnten die Erscheinungen auch die
Folge einer intensiven phlogistischen oder septischen (bei Escharabildung)
Intoxication sein. — Sollte die Ausdehnung der Verbrennung an sich
nicht tüdtlich wirken, so kann doch in manchen Fällen die grosse Aus-
dehnung der Hautverluste mit der dadurch bedingten Eiterung, beson-
ders für Kinder und ältere Leute, gefährlich w^erden, so wie endlich die
bei vollständiger Verkohlung einzelner Extremitäten nothwendigen Am-
putationen auch eine Eeihe von Gefahren nach sich ziehen, die um so
bedeutender werden, als sie Individuen treffen, welche durch die Ver-
brennung bereits stark angegriffen sind.
Bei der Behandlung der Verbrennungen kommt es für den ersten
und zweiten Grad mehr darauf an, den subjectiven Beschwerden des
Kranken lindernd entgegen zu kommen, als irgendwie energisch einzu-
greifen; denn man kann auf keine Weise die Rückkehr der Hautbe-
schaffenheit zum Normalen beschleunigen, sondern muss den Gang der
Abheilung ganz der Natur tiberlassen. Sind Blasen vorhanden, so ist
es nicht rathsam, die abgelöste Epidermis zu entfernen, sondern man
öffnet die Blasen mit ein paar Nadelstichen, drückt das Serum vorsichtig
heraus, um das durch die Blasen veranlasste spannende Gefühl zu ver-
mindern. Am nächsten liegt es nun wohl, die verbrannten Hautstellen
durch Auflegen kalter Compressen oder durch Eintauchen in kaltes
Wasser abzukühlen. Indess findet dies gewöhnlich nicht sehr viel An-
klang bei den Verletzten, da die angewandte Kälte eine durchaus con-
tinuirliche und ziemlich intensive sein muss, wenn dadurch die Schmerzen
erheblich gelindert werden sollen. Die aufgelegten, in warmes Wasser
getauchten Compressen erwärmen zu schnell, und die Immersion in kaltes
Wasser ist nur für Extremitäten anwendbar; wollte man diesen Ver-
letzten ganze Extremitäten oder den ganzen Stamm alle 5 Minuten (denn
nur so könnte von Kältewirkung die Eede sein) kalt einwickeln, so
würden sie durch diese fortwährende Beunruhigung bald in einen Zustand
grosser iVufregung gerathen und dann collabiren; so kommt es, dass die
Anwendung der Kälte bei Verbrennungen verhältnissmässig wenig in
Gebrauch ist. — Es giebt eine sehr grosse Menge von ]\Iitteln, welche
bei Verbrennungen angewandt werden, Mittel, welche im Wesentlichen
nichts anderes bewirken, als eine genaue Bedeckung der entzündeten
Haut: das Bestreichen der Haut mit Oel und das Auflegen von Wntte
ist ein sehr allgemein gebrauchtes und beliebtes Älittel; als schützende
Decke wird auf die verbraunte Haut auch vielfach Kartoffelbrei, Kleister
und Collodiuni angewandt. Erstere sind mehr als Volksmiltel zu be-
trachten; das Collodium kann ich bei grossen Brandflächen nicht sehr
rühmen: die Collodialdecke reisst leicht ein, und in diesen Rissen wird
Vorlosmio- 20. Cnpifol TX. 287
die Haut wund und scliv cniplindlicli. Von inanclicn Acrzlcn werden
1' besondere Uraudsalben und l^iinnuMde anstatt des Oeles i;'el)r;ui('lit, z. I>.
ein Liniment aus Kalkwasser und Leinöl zu i;'leielien Tiieilen liesteliend,
Salben aus Ikitter und Wachs zu gleichen Theilcn, Schweineschmalz,
Aufbinden einer Speckschwarte u. s. w. — Eine andere Art der Be-
handlung- ist dann die mit einer Solution von Argentuin nitricum, welche
10 Gran auf die Unze Wasser (0,500 Grms. auf 50,00 Grms.) enthält;
man bestreicht hiermit die verbrannten Hautstellen, legt Compressen
darauf und hält diese durch häufiges Betupfen mit der genannten
Lösung- fortwährend feucht. Ln Anfang ist der Schmerz von der durch
den Höllenstein bedingten Aetzung auf den von Epidermis entblössten
Stellen zuweilen sehr heftig; es bildet sich indess bald ein dünner,
schwarzbraun g-efärbter Schorf, und die Schmerzen liören dann vollkommen
auf. Diese Behandlung empfehle ich Hmen besonders für diejenigen
Fälle, in welchen alle drei Grade der Verbrennung- auf eine geringe
Ausdehnung mit einander combinirt sind.
Die Behandlung des dritten Grades der Verbrennung unterscheidet
sich für den Fall, dass man es nur mit einer Verbrennung- der Cutis zu
thun hat (die Cutis pflegt, wenn sie durch stralilende Wärme oder
siedendes Wasser verbrannt und nicht verkohlt ist, eine ganz weisse
Färbung- anzunehmen), nicht von der bisher erwähnten. Ist es später
wttnschenswerth, die Loslösung' der Eschara zu beschleunigen und den
Gestank zu verringern, so kann man antiseptische Umschlag-swässer in
Anwendung- ziehen; die Behandlung mit Arg-entum nitricum kann man
bis zur vollständigen Ablösung der Eschara fortführen. — Bleiben nun
sehr grosse Granulationsflächen zurück, zumal an Körperflächen, welche
vielfach bewegt werden, und an denen die Nachbarhaut nicht sehr ver-
schiebbar ist, so kann die Heilung- dieser granulirenden Flächen eine
sehr lange Zeit, nicht selten viele Monate in Anspruch nehmen. Es bil-
den sich sehr üppig wuchernde Granulationen, bei denen die Tendenz
zur Vernarbung stets eine geringe zu sein pflegt. Von den früher schon
ang-egebenen Mitteln, durch w^ eiche wir die Heilung solcher Wunden
zu befördern streben, empfehle ich Ihnen hier ganz besonders die Com-
pression dieser Wunden mit Hülfe von Heftpflasterstreifen , welche in
vielen dieser Fälle vortrefi'liche Dienste leistet. — Auch bei der Behand-
lung der nach diesen Verbrennungen zurückbleibenden Narbeneontracturen
ist die Compression der Narbensträng-e mit Heftpflaster eines der wich-
tigsten Mittel, und Sie W' erden immer gut thun, dies erst consequent
anzuwenden, ehe Sie zum Ausschneiden der Narbe oder zu plastischen
Operationen ihre Zuflucht nehmen.
Handelt es sich bei Verbrennungen dritten Grades um die Verkohlung
ganzer Gliedmaassen, so w^ird es in vielen Fällen zweckmässig- sein,
gleich die Amputation vorzunehmen; nicht nur w^eil die Abstossung-
grosser Körpertheile an sich nicht ohne Gefahr ist, sondern weil dadurch
9QÖ Von dpii YerbreiiiiiingPTi und Evfrir-rnngen.
auch Stümpfe entstellen können, welclie zait Ai)plicatiou einer kdnstlielien
Extremität untauglicli sind.
Werden Sie zu einem Fall hing-erufen, bei dem eine Verbrennung-
über den grössten Theil des Körpers Statt gefunden hat, so haben Sie
Ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Allgemeinzustand des Kranken zu
f'oncentriren, und müssen sich bemühen, durch Anwendung leichter Keiz-
mittel: Wein, warmer Getränke, warmer Bäder, Aether, Ammoniak, dem
CoUapsus der Kräfte A^orzubeugen. Leider sind in den meisten dieser Fälle
unsre Bemühungen für die Erhaltung des Lebens vergeblich. Hebra rülnnt
für die Behandlung ausgedehnter Verbrennungen die coutiuuirlichen warmen
Bäder, die man bei geeigneten Vorrichtungen Wochen lang fortsetzen kann.
Durch die Sonnenstrahlen können bei zarter Haut und dauernder
Exposition des Gesichts und Halses geringe Grade von Verbrennungen
erzeugt werden. Bei Gebirgs- Reisenden liat man oft Gelegenheit, dies
zu beobachten; wenn Leute, die sonst nicht den ganzen Tag in der
Sonne sind, besonders Damen, mehre Tage bei hellem Himmel im
Sommer reisen und Gesicht und Hals nicht sorgfältig schützen, so wird
die Haut roth, geschwollen, sehr schmerzhaft; die Epidermis trocknet
nach drei bis vier Tagen zu l)räunlichen Krusten ein, bekommt Risse
und blättert ab. Bei andei-n Individuen mit noch reizbarerer Haut bilden
sich auch wohl Bläschen, die dann später abtrocknen, ohne jedoch
Narben zu hinterlassen (Eczema solare). Ausser der Prophylaxis durch
Schleier, Sonnenschirme u. s. w. ist es gut, die Haut auf solchen Berg-
reisen mit Gold Cream oder Glycerin zu bestreichen; die gleichen Mittel
wendet man auch bei ausgebildetem Sonnenbrand an; sind die ver-
brannten Stellen sehr schmerzhaft, so macht man kalte Umschläge.
Ferner müssen wir hier des Sonnenstichs oder Hitzschlags
erwähnen. Diese Krankheit kommt in unserm Klima fast nur bei jüngeren
Soldaten vor, wenn sie in voller Uniform bei sehr grosser Hitze und
klarem Himmel sehr anstrengende Märsche machen müssen. Es treten
heftiges Kopfweh, Schwindel, Unbesinnlichkeit, Ohnmacht, zuweilen nach
einigen Stunden der Tod ein. Im Orient, besonders in Indien ist diese
Krankheit bei den englischen Soldaten nicht selten; es giebt ganz acut
verlaufende, mit tetanischen Krämpfen endigende Fälle; andere treten
mit längeren Prodromi auf und ziehen sich in die Länge unter Erschei-
nungen von heftigem Kopfweh, brennend heisser Haut, unendlicher j\Iat-
tigkeit und Abgeschlagenheit, Herzklopfen, einzelnen Muskelzuckungen;
auch wenn dieser Zustand in Genesung übergeht, kommen leicht Rück-
fälle. Die an Sonnenstich Erkrankten sind zu behandeln, wie Kranke
mit starken Hirneongestioneu. Kalte Uebergiessungen, Eisblase auf den
Kopf, Aufenthalt in einem kühlen Zinnner, Abführmittel, Blutegel hinter
den Ohren (Aderlässe sollen nach den Erfahrungen englischer Aerzte
schädlich sein), Sinapismen im Nacken sind anzuwenden.
Vorlcsuiii,^ 20. Capil,'! \\.
Auch über eleu JUitzsehla
289
iiiusseu wir Iner eniiiic;
Ijeinei-kiiiig'cu
machen, Sic huheu wolil Alle sc]u)u eiiiniMl II;iuser oder Ijiluiiie ge-
sellen, in welche der Blitz eino'cschlai;,eu hatte; mau sieht gewöhnlich
einen grossen Riss, einen Spalt mit verkohlten liändern. Auch Meuschen
und Thiere können so getroft'cu werden, dass einzelne Glieder von
ihnen ahgelrennt werden; dies ist jedoch nicht immer der Fall; meist
fährt dev Blitz am Körper entlang hald hierhin, l)ald dorthin, die Kleider
werden zerrissen, auch wohl ganz heruntergerissen und weggeschleudcrt;
es finden sich am Körper eigenthiindich verzweigte braunrothe Zickzack-
linien, die nuin bald für das Bild in der Nähe stehender Bäume, bald
für durchschinunernde IMutgeriunungen in den Blutgefässen gehalten hat;
Fi"-. ()(;.
Blitzfigureu (iiaeli Stricker).
Billroth chir. P;it1i. u. Ther, 7. Aufl.
19
9C)Q Von den Verbreiiünna-pn und Erfriernngen.
beides ist uuriclitig-: man weiss iiiclit, wanuii der Blitz diese eig-entbiua-
lieheu Wege in der Haut iiimivit. Wird ein Mensch direct vom Blitz
g-etrotfen, so ist er meist auf der Stelle todt. Schlägt der Blitz in
grosser Nähe ein, so finden sich am Verletzten Erscheinungen von Hirn-
commotion höheren oder geringeren Grades. Paralysen einzelner Glieder
oder Sinnesorgane, auch wohl hie und da Verbrennungen und Extra-
vasate. Letztere heilen wie andere Verbrennungen je nach Grad und
Ausdehnung; die Blitz-Paralysen geben im Allgemeinen keine schlechte
Prognose, die Nerven- und Mushelthätigkeit kann nach längerer oder
kürzerer Zeit wiederkehren.
Von den Erfrierungen.
• Man kann ganz analog den Verbrennungen auch drei Grade der
Erfrierungen unterscheiden, von denen der erste wieder durch Röthung
der Haut, der zweite durch Blasenbildung, der dritte durch Eschara-
bildimg charakterisirt sind. Der erste r^rad der Erfrierung ist ziemlich
bekannt; als geringste Stufe desselben können Sie das sogenannte Ab-
sterben der Finger betrachten, w^as wohl Jeder von Hmen einmal im kalten
Bade oder bei kalter Luft gehabt hat. Die Finger werden weiss, die
Haut runzlich, das Gefühl ist beschränkt; nach einiger Zeit lassen diese
Erscheinungen nach, die Haut wird roth, die Finger schwellen, und es
stellt sich ein eigenthümliches Jucken und Prickeln ein. Dies steigert
sich um so mehr, je schneller die Wärme auf die Kälte folgt. Die Röthung
der Haut bei diesem Grade der Erfrierung unterscheidet sich von der-
jenigen bei der Verbrennung durch eine mehr violette Färbung.
Diese Erscheinungen lassen nach einiger Zeit wieder nach und die
Haut wird Avieder normal. Man pflegt für gewöhnlich nichts bei diesen
geringen Graden der Erfrierungen anzuwenden, widerrätli jedoch in der
Volkspraxis ein zu schnelles Erwärmen; es wird Reiben mit Schnee
empfohlen, dann allmählige Erhöhung der Temperatur; die erwähnten
Erscheinungen sind so zu erklären , dass zunächst die Capillaren durch
die Kälte sich stark contrahiren und dann für eine Zeit lang paralytisch
werden.
Eine nach einer Erfrierung folgende Röthe kann unter Umständen
auch bleibend werden, d. h. die Capillaren bleiben dauernd erweitert.
Dies erfolgt besonders leiciit bei Erfrierungen der Nase und der Ohren,
ist in vielen Fällen fast ganz unheilbar. Ich behandelte in Berlin einen
jungen Manu, der nach einer Erfrierung eine dunkel blaurothe Nase
zurückbehalten hatte und auf alle Fälle von dieser Entstellung geheilt
sein wollte. Er setzte die verschiedeneu Cureu mit grosser Consequeuz
VorlosmiK ^>(). fiipilcl IX. 291
fort; Aiiüing'S lics.s er sicli die Nase iiiil Collodiiun hestreiclicii, woiiacli
dieselbe wie Inokirt aiissali, uud so laiii^c die CollodiunideelsC darauf
lag-, etwas blasser wurde, indess auf die Dauer half es iiielit. Dann ^vnrdc
die Nase mit yerdiinnter Salpetersäure bestrichen, ein vielfa(tli ,:^eriihnites
Mittel, wouach die Nase eine g'elblielie Färbung- bekam. Naelidem sich
die Epidermis losgelöst batte, schien das Uel)el wieder auf kurze. Zeit
gebessert-, indess bald kehrte es zu dem Status (|uo ante zurück. Es
wurden jetzt noch Curen mit Jodtiuctur und Argcntum uitricum gemacht,
wodurch die Nase eine Zeit lang" l)raunroth, dann l)raunseliwarz gefärbt
wairde. Alle diese Farbenveränderungen trug der Patient mit heroischer
Geduld zur Schau; indessen die widerspenstigen Capillaren bliel)cn er-
weitert und die Nase bliel) zuletzt blauroth, wie sie gewesen war. Ich
dachte noch daran, einen Versuch mit Ai)plication von Kälte zu machen,
indessen fürchtete ich doch, den Zustand möglicherweise noch zu ver-
schlimmern, und musste dem Patienten bei dieser tragikomischen Ge-
schichte nach mehrmonatig'er Cur leider bekennen, dass ich seineu
Zustand nicht heilen könne. — Ebenso g-rosse Schwierigkeiten wie die
Heilung- solcher Erfrierungen kann die Cur der eigentlichen Frostbeulen
und Frostbeulengeschwüre bieten, wovon wir gleich noch besonders
sprechen wollen.
Von viel grösserer Bedeutung ist eine Erfrierung, wenn aussei- der
Hautröthe auch Blasen entstanden sind, womit dann nicht selten eine
vollständige Gefühllosigkeit der betroffenen Theile verbunden ist und
die Gefahr einer vollständigen Mortitication immer sehr nahe liegt. Die
Blasenbildung bei Erfrierungen ist pi-ognostisch viel übler, wie die
Blasenbildung bei Verl)rennung-en. Das in den Frostblasen enthaltene
Serum ist selten klar, meist von blutiger Färbung und zwar durch Blut-
farbstoff den die rothen Blutzellen an das Serum abgeg-eben haben ;
gefrornes und wieder aufgethautes Blut bleibt roth (lackfarben. Rollet)
doch trennt sich dabei immer das Blutroth von den Zellen. — Ein
vollständig- erfrornes Glied soll ganz starr und spröde sein und
kleinere Gliedtheile sollen bei unsanfter Berührung' wie Glas abbreclieu
können. Ich habe nicht Gelegenheit gehabt, dies selbst zu prüfen,
entsinne mich aber, als Student in der Götting-er ehirurg-ischen Klinik
einen Mann gesehen zu haben, dessen beide Füsse erfroren waren und
sich beim Transport ins Krankenhaus in den Fussg'elenkeu spontan
abgelöst hatten, so dass sie nur an ein paar Seimen hingen; es
musste die doppelte Amputation des Unterschenkels oberhalb der Malleoleu
gemacht werden. Wie weit ein Glied vollständig- erfroren ist, so dass
die Circulation in ihm vollständig- aufgehört hat, lässt sich oft eine Zeit
lang gar nicht genau bestimmen; man muss in Rücksicht darauf nicht
zu voreilig mit der Amputation sein. Ich habe in Zürich zwei Fälle
erlebt, wo beide Füsse ganz dunkelblau und gefühllos waren und bei
einem tiefen Nadelstich sich nur ein Tropfen schwarzen Blutes entleerte,
19*
PQ9 Von Jp'i Verbreiiiiiinü;ou imd Erfriprnngeii.
trotzdem belebte sieli der ganze Fuss und es stiessen sich nur wenige
Zehen ab; spätere Erfahrungen liaben mich freilich belehrt, dass dies
selten ist. Tu einem dritten Falle, wo bei einem sehr heruntergekonnue-
neu Subject die beiden Füsse bis zur Wade dunkel l)laurotli und mit
Blasen bedeckt waren, wurden dieselben Yollständig- gangränös. Ist
ausgedehnte Hautgaugrän als unzweifelhaft erkannt, so muss man nicht
mit der Amputation zögern, weil diese Patienten sonst leicht pyohämisch
werden. Ein Fall traurigster Art kam im Spital in Zürich zur Beob-
achtung; ein junger, kräftiger Mann erfror beide Hände und beide Füsse,
so dass alle Extremitäten gangränös wurden; der Patient konnte sich
nicht zur vierfachen Amputation entschliessen, auch konnte ich es nicht
über mich gewinnen, ihn zu dieser furchtbaren Operation zu überreden;
er starb an Pyohämie.
Besonders die Enden der Extremitäten, die Nasenspitze und die
Ohren sind am leichtesten der Erfrierung ausgesetzt; eng anliegende
Kleidungsstücke, welche den Kreislauf geniren, befördern die Disposition
zur Erfrierung. — Bei kaltem Wind und bei Kälte, die mit Nässe ver-
bunden ist, entstehen leichter Erfrierungen als- bei hohen Kältegraden
und gleichzeitig ruhigem trocknem Wetter.
Es giebt auch eine totale Erfrierung" oder Erstarrung des ganzen
Körpers, wobei der Mensch besinnungslos wird und in einen Zustand
von äusserst beschränkten Lebenserscheinung-en verfällt: der Eadialpuls
ist nicht mehr fühlbar, der Herzschlag- kaum zu hören, die Kespiration
kaum wahrnehmbar ; der ganze Körper eisig kalt. Dieser Zustand kann
unmittelbar in den Tod übergehen; es kommt dann zu einem voll-
ständigen Erstarren aller Flüssigkeiten zu Eis. Eine solche allgemeine
Erfrierung findet besonders dann Statt, wenn die Individuen, etwa durch
langes Gehen und durch die Kälte selbst ermattet, sich im Freien nieder-
legen; sie schlafen bald ein, um in manchen Fällen nie mehr zu er-
wachen. Wie lange ein Mensch in einem solchen Erstarrungszustande
bei minimalen Lebenserscheinungeu verbleiben kann, um dennoch wieder
zum Leben zurückzukehren, ist nicht genau festgestellt. Man findet
erw^ähut, dass ein solcher Erstarrungszustand bis 6 Tage gedauert habe.
Mag dies nun richtig sein oder nicht, so sind jedenfalls die Belebungs-
versuche so lange fortzusetzen, als noch eine Spur von Herzschlag
wahrzunehmen ist.
Beginnen wir die Behandlung der Erfrierung gleich mit diesen
.allgemeinen Erstarrungszuständen, so ist hier zu bemerken, dass nach
weitverbreiteter Annahme (ich selbst besitze gar keine Erfahrung über
diese sogenannte Kälte -Asphyxie) jeder jähe Uebergang zu höherer
Temperatur vei-mieden werden soll, die Temperatur vielmehr ganz all-
mählig gesteigert werden nuiss. Man bringe einen solchen Menschen in
ein ganz kaltes Zimmer, lege ihn in ein kaltes Bett und mache
Frottirungeu des ganzen Körpers mehre Stunden laug. Als geringe
Vorle.-^mii.' l>0. {■n[>\{v\ IX. 21)3
Eeizniittcl , wclclic hier i^ccignct .siiul, nenne ich Klysliere v(tn kaltem
Wasser, Vorhallen von Anniioniak. Erst allniählig', wenn der Kranke
zum Bevvusstsein g-ekoraiiien ist, erhöht man die umii,cl)cndc Temperatur,
liält ilin nodi eine Zeit lang- in einem schwacli ervväi'mten Zimmer, gie))t
innerlieh vorlänlig nnr lauwarme Getränke. So wie sicli min die ver-
schiedenen Theile des Körpers nacli einander Avieder hcleljen, treten
/Aiweilen nicht unerliebliche Schmerzen in den Gliedern auf, zumal wenn
die Erwärmnng' eine etwas zn schnelle ist, nnd man thut gnt, in diesem
Fall die schmerzhaften Körpertheilc mit ganz kalten, in Wasser ge-
tränkten Tüchern einznwickcln. Stunden und Tage lang kann sicli der
Patient noch in einem etwas benonnnenen und unbesinnliclien Zustande
befinden, der sich ganz allmählig verliert. Man hat über die Wieder-
belebung erstarrter Thiere in neuerer Zeit Experimente angestellt, aus
denen hervorzugehen scheint, dass die Thiere sicherer vom Tode er-
rettet werden bei raschem als bei langsamem Erwärmen; ich würde
mich vorläufig nicht entschliessen können, nach diesen Experimenten an
Thieren von den Regeln abzugehen, wie sie sich für die Behandlung
erstarrter Menschen bisher empirisch ausgebildet haben, doch ist die
Sache einer weiteren Prüfung werth. — Es Avird bei solchen allgemeinen
Erfrierungen selten ohne Verlust einzelner Gliedmaassen oder Theile
derselben abgehen, und ich kann Ihnen in Bezug auf die Behandlung
dieser erfrorenen Theile nur noch wenig hinzufügen. Die Blasen werden
aufgestochen und entleert; Einwicklungen der Füsse und Hände mit
kalten nassen Tüchern sind am Platz; man muss nun abwarten, ob und
wie weit sich Gangrän ausbildet. Geht die blaurothe Färbung allmählig
in eine dunkle, kirschrothe über, so sind die Chancen für eine Wieder-
belebung äusserst gering, vielmehr wird meistenthcils in einem solchen
Falle Gangrän eintreten. Auch durch die Untersuchung des Gefühls bei
Nadelstichen und je nach dem Ausfluss von Blut ans diesen feinen Stich-
öffnungen sucht mau darüber klar zu w^erden, Avie weit das Glied als
todt zu betrachten ist; indess eine bestimmte Entscheidung spricht sich
erst dann aus, wenn sich die Demarcationslinie bildet, d. h. w^enn sich
das Todte vom Lebendigen scharf abgrenzt, und sich an der Genze des
Brandigen die rosige Entzündungsröthe der Haut entwickelt. Es kann
jedoch der Allgemeinzustand schon vor der exacten Demarcation recht
gefährlich werden, man zögere daher nicht zu lange mit der Amputation,
wenn die nach der Erfrierung auftretende Entzündung einen phlegmonös
progredienten Charakter annimmt. Man kann die AJ)lösung einzelner
Zehen und Finger sehr wohl sich selbst überlassen, während )iei
brandigem Absterben eines grösseren Theils von Hand und Fuss die
Amputation entschieden vorzuziehen ist.
Es geht aus den neueren Versuchen von Samuel hervor, dass nach gewissen Graden
von Erfrierungen eine ganz ächte Entzündung eintritt, welche dann in Entzündungsbrand,
in ächte Gangrän übergeht. Aus klinischen Beobachtungen war es mir wohl bekannt,
294
Von den Verbrennungen und Erfrierungen.
dass hier ein Vorgang Statt findet, wie man ihn bei Verbrennungen nicht findet, weil die
starlt verbrannten Gewebe, auch wenn sie nicht verkohlt sind, schrumpfen, und das Blut
in den Gefässen coagnlirt, so dass das nachströmende arterielle Blut nicht in die Gcfäss-
canäle eindrino-en kann, wenn diese auch noch in ihrem Zusammenhang existiren. Thaut
ein erfrorenes Glied auf, so kann eine Zeit lang das arterielle Blut wieder in die Gefäss-
bahnen eintreten, und es wird nun davon abhängen, ob die Gefässwandungen das Blut noch
flüssio- zu erhalten und das Gewebe die ihm zukommenden Bluttheile noch zu verarbeiten
im Stande sind oder nicht. Wo dies der Fall ist, kann sieh das erfrorene Glied wieder
beleben wo es nicht der Fall ist. tritt Gangrän ein. In diesem Uebergangsstadium bleiben
die Venen besonders stark ausgedehnt, und dies mag die Stase und Thrombose in ihnen
wesentlich fördern. Bergmann empfiehlt besondere Aufmerksamkeit der Behandlung
auf dieses Stadium zu verwenden ; er hat durch Anwendung der den Rückfluss des Venen-
blutes so mächtig fördernden vertikalen Suspension der Extremität ausserordentlich günstige
Resultate erzielt.
Ich will liier anhangsweise auf die Frostbeulen (Perniones)
zurückkommen, nicht weil sie grade besonders gefährlich werden können,
sondern weil sie ein höchst lästiges und in manchen Fällen ausser-
ordentlich schwierig zu heilendes kleines Uebel sind, für welches Sie
als guter Haus- und Familienarzt eine ßeihe von Mitteln in Bereitschaft
haben müssen. Die Frostbeulen sind bedingt durch Paralyse der
Capillaren mit seröser Exsudation in das Gewebe der Cutis ; es sind, wie
den meisten von Ihnen bekannt sein wird, blaurothe Anschwellungen
an Händen und Füssen, welche durch ihr heftiges Brennen und Jucken
und dadurch, dass sich auf ihnen zuweilen Geschwüre bilden, äusserst
lästig sind. Sie entstehen durch wiederholte leichte Erfrierungen an
einer und derselben Stelle und treten nicht bei allen Menschen gleich
häufig auf; sie sind weniger quälend bei recht intensivem Frostwetter,
als beim Uebergang vom Frost- zum Thauwetter. Legt man sich Abends
ins Bett, Vv^erden Hände und Fasse warm, so wird das Jucken zuweilen
so fürchterlich, dass man sich Stunden lang die Hände und Füsse zer-
kratzen muss. Im Allgemeinen ist das weibliche Geschlecht mehr den
Frostbeulen ausgesetzt als das männliche, das jugendliche Alter mehr
als das höhere. Beschäftigungen, welche zu vielfachem Wechsel der
Temperatur Veranlassung geben, disponiren besonders dazu: Handluugs-
gehülfen, Apotheker, die bald im warmen Zimmer, bald im kalten Laden
ihren Aufenthalt haben, bekommen am häufigsten Frostbeulen. Kein
Stand ist jedoch davon ausgeschlossen; sowohl Leute, die fortwährend
Handschuhe tragen und selten im Winter ausgehen, als solche, die
niemals Handscliulie angezogen haben, können davon befallen werden.
Bei dem weiblichen Geschlecht scheinen Chlorose und Meustruations-
störungen zuay eilen dazu zu disponiren; überhaupt scheint häufige Wieder-
kehr von Frost])eulen mit Constitutionsauomalien zusannnenzuhängen.
AA^as die Behandlung betritit, so ist es gewöhnlich ausserordentlich
V<iilrsmi<r 2[. Capik'l X. 295
scliwicrii;', die in Constitution iiinl nescliäftigTing' liegenden ursiu-liliclicn
Momente ym I)ck:ini|)t('n; iii;m ist dalier vorwiegend uiil' örtliclie Mittel
angewiesen. In Italien, wo die Frostbenlen zienilieli liäiitig vorkonmien,
so wie einmal ein vei'liältnissmässig kälterer Winter eintritt, iässt man
Abreibungen mit Seliuee und Eisüberschläge machen. I>ei uns ist dies
weniger anwendbar und liilft niclits, oder mildert liöelisteus das Jucken
auf kurze Zeit. Eine Salbe mit weissem Quecksilbcrpräcipitat (1 Drachme
auf 1 Unze Fett oder 5,000 Grms. auf -10,00 tJrms.), Einreiben mit
frischem Citronensaft, Bestreichen mit Salpetersäure in Zimmtwasser
(1 Drachme in 4 Uuzen oder 5,000 Grms. auf 150,00 Grms.), eine 10 Gr.
in 1 Unze (oder 0,500 Grms. in 50,00 Grms.) Wasser enthaltende Solution
von Argentum nitricum, auch Tinetura Cantharidum sind Mittel, die Sic
nach einander anwenden können; bald hilft das eine, bald das andere
mehr; Hand- oder Fussbäder mit Salzsäure (etwa 1% oder 2 Unzen oder
40,00 — 60,00 Grms. zu einem Fussbad 10 Minuten lang gebraucht),
Waschungen mit lufusum Seminum Sina})is werden cl)enfalls gerühmt.
Werden die Frostbeulen auf der Oberfläche wund, so sind dieselben mit
Ungueutum Zinci oder Argenti nitrici (1 Gr. auf 1 Dr. Fett oder 0,050 Grms.
auf 5,000 Grms.) zu bestreichen. Ich habe Ihnen hier nur einen kleinen
Theil der empfohlenen Mittel erwähnt, deren Wirkung ich grösstentheils
selbst erprobt habe, wenngleich es deren nocli eine ganze Menge giebt;
indess werden Sie im Anfang Ihrer Praxis für dieses kleine Uebel
genug an den genannten haben. —
Vorlesung 2L
CAPITEL X.
Voll den aiiiteu iiiriit traiiniati^^fliMi EutziliKhuigen der
W eiehtiieile.
Allgemeine Aetiologie der acuten EiUzundiingen. — Acute P^lnfziindinig: 1. Der Cutis.
a. Erysipelatöse P:ntzüiidiing; b. Furunkel; c. Carbiinkel (Antlu-ax. Pu-^tula maligna).
2. Der Schleimhäute. 3. Des Zellgewebes. Heisse Abscesse. 4. Der Muskeln, b. Der
serösen Häute: Sehnenscheiden und subcutanen Schleimbeutel.
Meine Herren!
Nachdem wir uns bis jetzt ausschliesslich mit den Verletzungen be-
schäftigt haben, wollen wir nun zu den acuten Entziindungsproccssen
übergehen, welche nicht traumatischen Ursprungs sind. Von diesen
fallen diejenigen der Chirurgie zu, welche in äusseren Körpertheilen
vorkommen, und diejenigen, welche, wemigleich in inneren Organen
296 ^0" ^^^ acuten nicht tranmatischen Entzündungen der Weiclitheile.
entstanden, einer chinivgischen Behandlung- zug-änglich sind. — Obgleich
ich voraussetzen miiss, dass Ihnen die Ursachen der Krankheiten im
Allgemeinen bereits bekannt sind, so erscheint es mir doch nöthig, mit
besonderer Rücksicht auf den zu besprechenden Gegenstand einige
ätiolog-ische Bemerkungen vorauszuschicken.
Die Ursachen der acuten, nicht traumatischen Entzündungen lassen
sich etwa in folgende Kategorien bringen :
1. Wiederholte mechanische oder chemische Reizung.
Dies Causalmoment scheint auf den ersten Blick mit dem Trauma zu-
sammenzufallen ; es ist indess doch ein wesentlicher Unterschied, ob ein
einmaliger derartiger Reiz auf das Gewebe einwirkt, oder ob derselbe
schnell wiederholt wird, denn in letzterem Falle trifft jedes folgende
Reizmoment ein schon vorher gereiztes Gewebe. Ein Beispiel wird
Ihnen dies klar machen. Nehmen Sie an, dass Jemand durch einen im
Stiefel oder Schuh vorspringenden scharfen Nagel fortwährend an der
gleichen Stelle am Fuss gerieben wird, so wird anfangs eine leichte
Verwundung entstehen mit ganz circumscripter Entzündung, dann wird
sich aber, so lauge der Reiz fortdauert, die Entzündung ausbreiten und
zugleich imnler intensiver werden. Halten wir daneben ein Beispiel
wiederholter chemischer Reizung: wenn jemand spanischen Pfeffer isst,
so entsteht bei einem nicht an scharfe Speisen gewöhnten Menschen eine
leicht vorübergehende Hyperämie und Schwellung der Mund- und Magen-
schleimhaut; wollte Jemand den Genuss einer so scharfen Speise längere
Zeit rasch hintereinander fortsetzen, so würde er sich eine heftige
Gastritis zuziehen können. — Solche rasch wiederholten Reizungen
kommen freilich mit Ausnahme des zuerst erwähnten Beispiels nicht
grade häufig in Praxi vor; dieselben haben aber eine grosse Bedeutung
für die Entstehung chronischer Entzündungsprocesse, wenn sie nämlich,
an sich vielleicht unbedeutend, auf mehr oder weniger geschwächte
Theile wirken , wir müssen später darauf zurückkommen.
2. Erkältung. Jeder von Ihnen w^eiss , dass man sich durch
Erkältung mancherlei Krankheiten, zumal acute Catarrhe, Gelenkent-
zündungen, Lungenentzündungen zuziehen kann. Worin aber eigentlich
das Schädliche bei einer Erkältung beruht, welche Veränderungen dabei
unmittelbar in den Geweben vor sich gehen, das wissen wir nicht. Man
beschuldigt hauptsächlich den raschen Temperaturwechsel als wesentliclte
Ursache der Erkältung, und doch kann man dadurch experimentell weder
eine Entzündung noch eine andere Erkältungskrankheit erzeugen; man
erkältet sich, wenn man erhitzt ist und dann längere Zeit hintereinander
vom kalten Zugwind getroffen Avird, das ist eine bekannte Sache; wer
sieh genau beobachtet, weiss zuweilen genau den Moment zu bestimmen,
wann die Erkältung bei ihm gehaftet hat. — Es giebt rein locale Wir-
kungen der Erkältung : z. B. es sitzt Jemand lange am Fenster und wird
an der dem Fenster zugewandten Seite des Gesichts von kaltem Zug-
Vorlosimi;- 1*1. Capilrl X. 207
wind g'etroffon; n.icli ciiiii^'cn Stmidcn lickonmit ci" eine Läliniung' des
N. racialis; wir dürfen annehmen, dass hiev in der Nervensiibsfanz niolo-
cnlare Veränderungen vor sicli gegangen sind, durch welche das Lei-
tungsvernu")gcn dieses Nerven aufgelioben ist; — ein Anderer bckouimt
in gleichem Falle eine Conjunctivitis duvcli die längere Einwirkung der
Zugluft. Das sind rein localo Erkältungen. — Häufiger ist ein nndci-cr
Fall, dass nändich nacli einer Erkältung derjenige Tlicil erkrankt,
welcher bei dem beti-eft'enden liulividuum am meisten zu Erkrankungen
überhaupt disponirt ist; der „locus niinoris rcsistentiae". Es giebt Leute,
welche nach jeder Art der Erkältung acuten Catarrli der Nase (Schnupfen)
bekommen, andere, welche aus gleicher Ursache stets Magencatarrh, andere,
welche Muskelschmerzen, andere, welche Gelenkentzündungen u. s. w.
bekommen. Da nun diese Theile keineswegs immer direct von der
Schädlichkeitsursache betroffen werden (z. R. wenn Jemand nasse Füsse
hat und den Sclmupfcn bekommt), so muss man wohl annehmen, dass
der Körper als Ganzes dabei betheiligt ist, und sich die Wirkung der
schädlichen Ursache nur an dem locus minoris resistentiae geltend macht.
Ob man für die Vermittelung und Vertheilung solcher Schädlicld^eits-
ursachen auf einen si)cciellen Körpertheil mehr die Nerven oder mehr
das Blut und andere Flüssigkeiten des Körpers verantwortlich zu machen
hat, ist eine bis jetzt nicht zu entscheidende Frage, nach welcher sich
die Aerzte in die grossen Heerlager der Neuropathologen und Humoral-
pathologen tlieilen; für beide Annahmen lassen sich Gründe anführen;
ich neige mich durchaus mehr zur humoralen Auffassung, und halte es
für möglich, dass z. B. in der schwitzenden Haut durch plötzlich ein-
wirkende Zugluft chemische Umsetzungen entstehen oder zurückgehalten
werden, deren Aufnahme ins Blut nach Art eines Giftes bald auf dieses,
bald auf jenes Organ phlogogen wirkt, wovon gleich mehr zu reden
sein wird. Man nennt älterem Sprachgebrauch gemäss diejenigen p]nt-
zündungen, welche durch Erkältung entstanden sind, „rheumatische" (von
Qsviiia^ derFluss); dieser Ausdruck ist indessen so viel missbraucht und
so in Misskredit gekommen, dass man besser thut, ihn nicht zu häufig
zu verwenden.
3. Toxische und miasmatische Infection. Wir haben schon
früher (pag. 175) davon gesprochen, dass feuchte und trockne, eitrige und
putride Substanzen auf eine Wunde gebracht, heftige progressive Ent-
zündungen erregen , wenn solche Substanzen entweder unmittelbar nach
der Verletzung ins gesunde Gewebe eindringen, oder durch die Granu-
lationen einer Wunde hindurch unter gewissen, früher erörterten Bedin-
gungen ins Gewebe gelangen. Wir haben dabei bereits erwähnt, dass
möglicher Weise kleinste Pilzvegetationen Träger und Verbreiter solcher
Stoffe sein können, ohne aber anzunehmen, dass die Verbreitung der
acuten Entzündungen etwa nur durch solche Vegetationen bedingt seien.
— Der Körper ist auf seiner Oberfläche durch die Epidermis, auf seinen
90^ Von dfn acuten nicht traumatischen Entzündungen der Weichtheile.
Schleimhäuten durch den Schleim und dicke Epitheliallager gegen den
Eintritt solclier giftigen, Entzündung und Blutvergiftung erregenden
Stoffe so ziemlich geschützt, doch keineswegs gänzlich davor bewahrt.
Es giebt eine Anzahl von giftigen Stoffen, welche bald durch die Haut,
bald durch die Schleimhäute in den Körper eindringen; manche von ihnen
bezeichnen wir direct als Gifte, z. B. das Secret von den Rotzgeschwitren
der Pferde, oder von den Milzbrandpusteln der Rinder; andere ken-
nen wir nur aus ihrer Wirkung, aus einigen Bedingungen ihrer Entstehung:
es sind unsiclitbare Körper, die wir „miasmatische Gifte" oder kurzweg
„Miasmen" nennen {i.tiaoi.ia^ Verunreinigung); man nimmt an, dass sich
diese Miasmen aus faulenden organischen Körpern entwickeln; Einige
halten sie füi" Gase, Andere für staubförmige Körper, noch Andere wie
erwähnt, für kleinste Organismen oder Keime derselben. — Die "Wirkung
dieser Gifte ist insofern eine verschiedene, als manche von ihnen direct
phlogogen wirken, andere mehr indirect, nämlich so: es giebt Gifte,
z. B. fauler Eiter, Leichengift, welche an der Stelle, wo sie in den
Körper eintreten (an dem lufectionsatrium), heftige Entzündung erregen ;
andere erregen keine Entzündung da, wo sie in den Organismus ein-
dringen, sondern w^erden unbemerkt in die Blutmasse aufgenommen und
wirken nun, mit dem Blute durch alle Organe circulirend, nur auf einen
oder einige Körpertheile phlogogen; diese Gifte sind gewissermaassen nur
für ganz bestimmte Organe schädlich, sie wirken „specifisch" auf diese. Von
der Wirkung dieser Gifte auf etwaige Umsetzungen der Gesammtblutmasse
spreche ich hier noch nicht. — Wir kennen die chemisch wirksamen
Bestandtheile der meisten dieser speci fisch auf ein Organ oder auf
bestimmte Gewebe wirkenden Gifte nicht, wir können sie nicht eirculiren
sehen, wir können nicht immer sehen, wie sie ihre Wirkung äussern.
Sie werden mich daher mit vollem Recht interpelliren , wie es kommt,
dass man sich über die Existenz dieser Dinge mit solcher Sicherheit aus-
sprechen kann. Freilich schliessen wir hier aus der Beobachtung des
Krankheitsprocesses auf die Ursachen uud stützen uns dabei wesentlich
auf die Analogien mit andern dem Körper absichtlich zugeftthrten Giften,
namentlich auf die Art der Wirkung unserer kräftigsten Arzneien.
Nehmen Sie die Gruppe der narkotischen Mittel: sie wirken alle bald
mehr, bald weniger, bald früher, bald später betäubend, d. h. lähmend
auf die psychischen Functionen, daneben al)er treten die sonderbarsten
specifischen Wirkungen hervor; die Belladonna wirkt auf die Iris, die
Digitalis aufs Herz, das Opium auf den Darmcanal etc. Aehnliches be-
obachten wir bei andern Mitteln; wir k(tnnon durch wiederholte G;il)en
von Cantharidin Nierenentzündung, durch Quecksilber Entzündung der
Mundschleimhaut und der Speicheldrüsen machen u. ;>. w., mögen wir
diese Mittel durch den Magen, durchs Rectum oder durch die Haut ins
Blut bringen. So giebt es nun auch eine endlose Zahl bekannter und
unbekannter organischer, septischer Gifte, von denen viele, wenn auch
Vorlesung 21. Capilcl X. 209
•
» niclit alle, 8))C('ifis('li plilogogciic Eigciii-cluincn Imhcir, icli nenne nur
ein Bci!<})icl : spritzen Sie einem Hunde Jniicliige FlüH.sigkeit ins lUul,
so wird er in vielen Fällen aui^ser der direeten IJlulintoxication Enlerilis,
rieuritis, auch vielleielil, rericarditis bekoninieu; niiissen wir da niclit
annehmen, day,s in der injieirten Fliisisigkeit ein odej' vielleiclit mehre
Stot'l'e enthalten sind, welehe spccifiseh phlogogen aui' die Darmsehleiui-
liaut, auf Pleura und Perieardiunv wirken? — So lange wir nun den
Ort des Gifteintritts kennen, und so lange wir iil)cr das Gift selljst schon
Erfahrungen hal)en, wird iU)cr die Ursache und Wirkung selten ein
Zweifel sein. Doch wie viele Eälle g-iebt es, wo weder das eine noch
das andere vorliegt! Ich glaube, dass die Infection eine noch viel häu-
figere Quelle für Entzündungen, sowohl im Gebiet der Chirurgie als der
internen Medicin ist, als man bisher anzunehmen pflegt.
Auch über die Formen und den Verlauf der nicht traumatischen
Entzündungen möchte icli nocb einige allgemeine Bemerkungen machen.
Ich hal)e Ihnen früher gesagt, dass das Charakteristisclie der trauma-
tischen Entzündungen darin liege, dass sie au und für sich innner auf
den Bezirk der Verwundung beschränkt bleiben; werden sie progressiv,
so haben meist neue mechanische oder toxische (septische) Beize ein-
gewirkt. Darin liegt schon, dass die durch wiederholte mechanische
Beizungen und toxische Wirkungen primär erzeugten Entzündungen eine
Neigung zur Progression oder wenigstens zu diffusem Auftreten haben;
ebenso verhält es sich mit den meisten durch Erkältung entstandeneu
Entzündungen, welche entweder ein ganzes Organ oder einen grösseren
Bezirk eines Körpertheils befallen. Es ist dabei natürlich die Intensität
des mechanischen Bcizes von entscheidender Bedeutung, bei den toxischen
Entzündungen die Qualität und Quantität des eingedrungenen Giftes, zu-
meist seine mehr oder weniger fermentirende Wirkung auf die das Ge-
webe durchtränkenden Säfte. Was die durch w'iederholte mechanische
Reizung und Erkältung entstandenen Entzündungen betrifft, so hat man
nicht immer Grund anzunehmen, dass die Producte derselben irritirender
wirken, als die Producte einfach traumatischer Entzündung; doch wenn
bei letzterer der betrotfene Theil absolut ruhig gestellt wird, und durch
die Infiltration des Gewebes in der Umgebung der Wunde die Lymph-
gefässe und Gewebsinterstitien abgeschlossen werden, so ist die Weiter-
verbreitung der Entzündungsproducte in die Umgebung äusserst erschwert;
bei wiederholter mechanischer Reizung aber kommt das Gewebe gar
nicht in Ruhe, und die Entzündungsproducte verbreiten sich daher ohne
Hinderniss in die Umgebung der gereizten Stelle und regen hier wie-
der Entzündung an; bei der durch Erkältung entstehenden Entzündung
ergiesst sich nach meiner humoralen Auffassung die materia peccaus etwa
in ein ganzes Organ oder einen bestimmten Gewebsbezirk, und dalier
300 ^"" '^^'" acuten nicht traumatischen Entzündungen der AVeichtheile.
sind diese Entzündung-en meist gleich von Anfang- an diffus. Uehcv die Ur-
sachen der AYeiterverbreitung acuter Entzündungen sind wir
noch keineswegs ganz im Klaren; dass die anatomischen Verhältnisse
der Gewebe, die Anordnung ihrer Fasern etc. eine Eolle dabei spielen,
ist zweifellos; doch auch individuelle Dispositionen und das Verhalten
der Kranken (ob sie z. B. eine schon entzündete Hand trotz heftigster
Schmerzen noch zur Arbeit brauchen) kommen dabei in Betracht. Vielleicht
entwickelt sich bei allen acuten Entzündungen im Entzüudungsheerd ein
Ferment- ähnlicher Körper (ein Zymoid, von C<^'/"?? Sauei-teig-, Hefe)
welcher, in die Gewebe fortgeleitet, nicht nur immer neue Entzündung
erzeugt, sondern in den neuen Entzündungsheerden immer wieder aufs
Neue reproducirt wird. Ohne diese Hypothese müssten wir annehmen,
dass der phlogogene Stoff, welcher den ersten Anfang der Entzündung
hervorg-erufen hat, so intensiv giftig- ist, dass er, in stärkster Verdünnung-
in das Gewebe verschleppt, immer noch Entzündung- erzeugt; für die
acuten Entzündungen, welche durch mechanische Irritation hervorgerufen
sind, würde diese Annahme niclit w^ohl zulässig sein. Es ist sehr wichtig
über diese Dinge nachzudenken, weil die Progression acuter Entzün-
dungen eines der schlimmsten Vorgänge in der gesammteu Pathologie
ist. — Ist aus einem bestehenden Eutzündungshe erd ein phlo-
gogener Stoff ins Blut eingetreten und wirkt von hier aus specifisch auf
ein beliebiges anderes Organ, so nennen wir eine auf diesem Wege se-
cundär entstandene Entzündung eine ,, metastatische"; solche meta-
statischen Entzündungen können aber auch noch auf eine viel gröbere
Weise unter Vermittelung von inficirten Blutgerinnseln, die aus den A'eneu
irgend wohin gelangen, entstehen, Avovon das Näliere bei dem Abschnitt
von der Thrombose, Enibolie und Phlebitis. — Die niclit traumatischen
Entzündungen können ihren Ausgang in Zertheilung, in feste Organi-
sation der Entzündungsproducte, in Eiterung, in Brand nehmen. Wir
wollen dies jedoch hier nicht mehr allgemein behandeln, sondern jetzt
auf die Entzündungen der einzelnen Gewebssysteme übergehen.
1. Acute Entzündung der Cutis.
Die einfaclien Formen acuter Entzündung der Cutis (Flecken, Quad-
deln, Papeln, Bläschen, Pusteln), welche unter dem gemeinsamen Kamen
der „acuten Exantheme" zusammengefasst werden, gehören der inneren
Medicin an. Nur die erysipelatöse Entzündung, die Furunkel und Car-
Ituidvel, pflegt man in der Chirurgie zu besprechen. — Während man
von den sogenannten acuten Exanthemen annimmt, dass ihnen die Blut-
intoxication immer vorausgeht, dass sie also „deuteropathisch" cnlstelien,
setzt man von den letztgenannten Formen der Dermatitis im Allgemeinen
voraus, dass sie reine Localleiden sind, und ..protopathisch" entstehen;
in wie weit dies richtig ist, werden wir später sehen. ^ Es ist jedoch
hier sclion zu erwähnen, dass die Cutis sehr häufk- in Mitleidenschaft
VorlosuiiM- 21. Cnpihtl X. 301
f g-erätli (liircli Aiisl)rciUmi>' eiil/.iiiulliclici- Procosso nuf dem Wege der
Contimiitüt, zumal solclier, welche im riiteiliaulzcll^^ewebe, in den
Muskeln oder selbst im Teriosl und in den Knochen ihre erste Knt-
steluing- liaben.
a) Die erysipelatöse (sQVolnslag^ rotli ausseilende ilautenlziin-
dung, von sqv&qoq roth und nslag Fell) Entzündung liat ihren Sitz
vorziiglieli in der ra])il]arscliielit und im Kete Maljjighii der ('utis; starke,
scliarf begrenzte llöthung der Cutis, üdematöse Seliwellung derselben,
Schmerz bei leiser Berührung, naclifolgende Abschilferung dei- Epidermis
sind die localen Sym})tome, zu denen ein zuweilen sehr heftiges, zu der
Ausbreitung der örtlichen Erkrankung ausser Verhältniss stehendes Fieber
sich liinzugesellt; die Dauer der Krankheit schwankt zwischen einem
Tage und 3 — 4 Wochen; jeder Theil der Haut kann davon befallen
werden, doch ist das spontan auftretende Erysipel besonders häufig im
Gesickt und am Kopf. Nach Ansicht mancher Pathologen ist das Ery-
sipelas Faciei et Capitis, ähnlicli wie Scharlach, Masern etc., auch als
symptomatische Hautentzündung aufzufassen, d. h. der locale Process
wäre nur ein Symptom der acuten Allgemeinkrankheit neben anderen.
Es hätte somit die Chirurgie mit der erysipelatösen Entzündung ebenso
wenig zu thun, wie mit Scharlach, Masern etc.; da aber die erysipelatöse
Entzündung gerade bei Verwundeten, und zwar um die Wunde herum
besonders häutig vorkommt, also eine von den accidentellen Wundkrank-
lieiten ist, so müssen wir uns doch genauer damit beschäftigen. Ich für
meine Person und mit mir die meisten modernen Kliniker halten das
E r y s i p e 1 a s t r a u uj a t i c u m nicht für eine symptomatische Hautent-
zündung, sondern für eine Dermatitis, welche immer durch Infection ent-
steht, sei es, dass diese Infection dem Kranken von einem Entzündungs-
oder Fäulnissheerd zugellt, den er selbst au sich trägt (z. B. von faulendem
in einem Tlieil einer Wunde eingeschlossenem Blut) sei es dass sie von
aussen an ihn kommt. Wir wollen diese Krankheit später bei den acciden-
tellen Wundkrankheiten genauer abhandeln und begnügen uns daher hier,
sie wegen des anatomischen Zusammenhangs mit den übrigen Formen der
Dermatitis vorläufig berührt zu haben.
b) Der Furunkel oder Blutschwär ist eine eigenthümliche
Entzündungsform der Cutis von meist typischem Verlauf. Manchem von
Ihnen mag sie aus eigener Anschauung schon bekannt sein. Es ent-
steht zuerst ein erbsen- bis bohnengrosser Knoten in der Haut, roth
gefärbt und ziemlich empfindlich; bald zeigt sich auf seiner Höhe ein
kleiner, w^eisser Punkt, die Geschwulst dehnt sich um dieses Centrum
herum aus und erreicht für gewöhnlich etwa die Grösse eines Thalers,
auch etwas darüber; zuweilen bleibt der Furunkel auch ganz klein, etwa
wie eine Kirsche gross. Je grösser der Furunkel ist, um so schmei'z-
hafter wird er, und reizbare Menschen können dabei fieberhaft werden.
Ueberlässt man die Sache ganz sich selbst, so löst sich gegen den fünf-
302 Yon den ariiten nicht traumatisflifn Entziindnnpion der Weichtlieile.
ten Tag der oentralc, weisi^e Punkt als kleiner Zapfen herans, uufl ein
mit Blut und abgestossenen Zellstotffetzen g-emiscliter Eiter entleert sich
hei leiclitem Druck; 3 — 4 Tage später hört die Eiterung ganz auf, Ge-
schwulst und Rötliung verlieren sicli allmäldig, und es bleibt scliliesslicL
eine punktförmige, kaum sichtbare Narbe zurück.
Man hat sehr selten Gelegenheit, einen solchen Furunkel in der
Zeit seiner ersten Entstehung zu untersuchen, da nicht leicht Jemand
an einem Furunkel stirbt; so viel man aber aus der ganzen Entwicklung
und bei Einschnitten in einen solchen Furunkel wahrnimmt, scheint das
Absterben eines kleinen Stückes Cutis den Ausgangspunkt und das Centruui
eines Entzündungsprocesses zu bilden, bei welchem schliesslich das Blut
in den erweiterten Capillargefässen stockt, das Gewebe der Cutis durch
plastische Infiltration theils zu Eiter verflüssigt, theils gangränös abge-
stossen wird. Schon öfter ist die Meinung ausgesprochen, dass das
nekrotisirende Centrum der Furunkel eine Hautdrüse sei; nacli Unter-
suchungen von Koch mann soll es vorwiegend häufig eine Schweissdrüse
sein, in und um welche sich eine fibrinöse Entzündung bildet, ohne dass
auch gleiche Erkrankungen der Talgdrüsen ausgeschlossen sind. Das
Eigenthümliche dabei ist, dass ein solcher Heerd für die gewöhnlichen
Fälle w^enigstens keine grosse Disposition zu einer diffusen Verbreitung
hat, sondern der ganze Process cireumscript abläuft und mit der Ab-
lösung des erwähnten kleinen Hautzapfens zu Ende zu sein pflegt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass in sehr vielen Fällen die Ursache
für die Entstehung einzelner Furunkel eine rein locale ist. Einzelne
Hautstellen, an denen die Secretion der Hautdrüsen besonders stark ist,
wie das Perinäum, die Achselhöhlen, sind ganz besonders zur Furunkel-
bildung disponirt. Auch kommen Furunkel gerade häufig bei solchen
Leuten vor, welche sehr weite Talgdrüsen und dadurch sogenanute
Finnen, Mitesser oder Comedones haben. Unzweifelhaft giebt es aber
auch allgemeine Körperzustände, Krankheiten des Blutes, welche zur
Bildung einer grossen Menge Furunkel an den verschiedensten Körper-
theilen disponiren. Man nennt diese krankhafte Diathese Furunculosis;
sie kann bei längerem Bestehen sehr erschöpfend auf den Organismus
wirken. Die Leute werden dabei mager, durch Schmerzen und schlaf-
lose Nächte sehr angegriffen; Kinder und ältere schwächliclie Leute
können daran sterben. Es ist sehr populär, die Furunkelbildung mit
Vollblütigkeit und Fettleibigkeit in Verbindung zu bringen; mau glaul)t,
dass sehr fette Nalirung dazu disponirt mache. Bei mir zu Hause, im
Pommernlande, nennt mau Leute, die viel an solcheu Pusteln und
Furunkeln leiden, „süchtig". Ob die Annahme, dass fette Nahrung be-
sonders zur Furunkelbildung disponirt, i-ichtig ist, möchte ich sehr be-
zweifeln. Sie w^erden finden, dass oft gerade recht elende atrophische
Kinder und magere kranke Leute von Furunculosis ergriffen werden, und
wenn auch die mangelhafte Pflege der Haut hierbei in Anschlag zu
Vorlcsnn.n- 21. Cnpilcl X. 303
l)rini!,'eii ist, so ist sie keincswc^'S die einzige Ursache für die Eiilsteliimg-
der Furunkel. Es ist richtig', dass soiir wohlgenährte Fleischer häutig
von Furunkeln befallen werden; dies kann ninii sich jedoch auf andere
Weise als durcli zu fette Fleisehnahrung erkläi-en, denn es lässt sich nicht
selten nachweisen, dass die Entstehung der Furunkel l)ei diesen Leuten
durcli Intoxication mit Thierleichengift oder irgend einem Gifte von
kranken Thieren bedingt ist, wenigstens muss man hierauf stets seine
Aufmerksamkeit lenken. Uebertriel)en lialte ich es dagegen, anzunehmen,
dass jeder Furunkel durch Infection bedingt ist und immer als eine
Theilerscheinung einer allgemeinen eitrigen Diathese, einer Pyohämie,
betrachtet werden muss. Koch manu vermuthet, dass die allgemeine
Furunkulosis meist ein Symptom von Diabetes ist; wir sprechen Ijeim
Carbunkel gleich mehr davon.
Die Behandlung des einzelnen Furunkels ist eine einfache. Man hat
versucht, durch frühzeitiges Auflegen von Eisblasen auf den Furunkel
den ganzen Process abzuschneiden, so dass es nicht zur Eiterung kommt.
Indessen gelingt dies einerseits selten und ist andererseits eine mühsame,
bei den Kranken selten beliebte Behandlungsweise. Ich halte es immer
noch für das Beste, durch Avarme feuchte Ileberschläge die Eiterung
möglichst rasch zu befördern, und falls sicli der Furunkel nicht zu weit
ausbreitet, die Loslösung des centralen Zapfens ruhig abzuwarten, dann
den Furunkel sanft auszudrücken und keine weitere Kunsthttlfe anzu-
wenden. Ist der Furunkel sehr gross und sind die Schmerzen bedeutend,
so macht man mitten durch die Geschwulst einen oder zwei sich kreu-
zende Schnitte; es wird dann durch die Entleerung von Blut und durch
die jetzt schneller eintretende Eiterung der Process in seinem natürlichen
Gange befördert werden. Vom Volke werden, weil das Kataplasmiren
umständlich ist, ruhiges Verhalten im Hause nöthig macht und mit Arbeits-
verlust verbunden ist, oft Pflaster (Seifenpflaster, Honig mit Mehl und
Safran und Aehnliches) gebraucht, denen die mysteriöse Eigenschaft zu-
gesprochen wird, den Eiter herauszuziehen; ich habe nicht gefunden,
dass solche Pflaster schädlich wirken, und unterlasse es deshalb, viel
gegen ihren Gebrauch zu reden; einen besonderen Nutzen haben sie nicht.
Die allgemeine Furunkulose ist eine sehr schwierig mit Erfolg zu
bekämpfende Krankheit, zumal w'eil wir wenig über ihre Ursache wissen.
Man giebt in der Regel innerlich Chinapräparate, Mineralsäureu, Eisen.
Ausserdem sind allgemeine warme Bäder, eine Zeit lang consequent fort-
gesetzt, zu empfehlen. Ferner ist eine streng geregelte Diät, besonders
eine gute kräftige Fleischkost mit gutem Wein rathsam. Die einzelnen
Furunkel W'Crden in der schon erwähnten Weise behandelt.
c) Der Carbunkel und die carbunculöse Entzündung
Anthrax (Carbunculus, Kohlenbeule, spätere lateinische Uebersetzung
von dem älteren av^gaB^ Kohle) verhält sich anatomisch wie ein Comples
mehrfacher, dicht an einander liegender Furunkel. Der ganze Process
304 ^'^"" ^"^^ acuten niclit iraumatisolien Eiitzünd\m!^eii der Weiclitlieile.
ist extensiver und intensiver, mehr zur allmäliligen Prog-ression geneigt,
so dass auch andere Theile dureli eontinuirliclie Verbreitung- der Ent-
zündung in Mitleidenschaft gezogen werden. — Viele Carbunkel sind
wie die meisten Fnrunkel eine nrsprünglicli rein locale Krankheit; ihr
Hauptsitz ist in der derben Rückenhaut, znmal älterer Individuen. Ent-
stehung und erste Ausbreitung ist wie ))eim Furunkel. Es ijildeu sicli
jedoch Itald eine grössere Menge weisser Punkte neben einander, und
in der Peripherie vergrössert sieh die Anschwellung, Pöthe und 8ehmerz-
haftigkeit in manchen Fällen so unaufhörlich, dass die ganze Ausdehnung
des Carbunkels bis zur Grosse eines Suppentellers gedeihen kann, und
während in der Mitte die Auslösung der weissen brandigen Cutiszapfen
erfolgt, schreitet in der Peripherie der Process nicht selten fort; diese
Neigung zur peripheren Progred ienz des Processes ist charak-
teristisch für den Anthrax, und unterscheidet ihn klinisch
vom Furunkel. Die Ausstossung gangränösen Gewebes ist beim Car-
bunkel eine viel bedeutendere als beim Furunkel. Die Haut erscheint
nach dem Ausfall der Cutiszapfen siebförmig durchlöchert, vereitert
jedoch nicht selten in der Folge ganz, so dass nach einem Carbunkel
stets eine sehr grosse Narbe zurückbleibt. Der ganze Process bleibt
aber selbst bei der grössten Intensität fast immer auf Haut und Unter-
hautzellgewebe beschränkt; es gehört zu den Seltenheiten, dass dabei
die Fascien und Muskeln durch Gangrän zerstört werden, so dass bei
einem grossen Carbunkel in der Nähe grosser Arterienstämme die Gefahr
einer Zerstörung der Gefässwände mehr gefürchtet wird, als dass sie
erfahruugsmässig vorliegt.
Es ist diese Beschränkung des Processes auf die Haut und das Unterhautzellgewebe
für die übrinösen (diphtheritiselien) Entzündungen sein- charakteristisch, so dass ich aus
diesem Grunde, so wie wegen der harten Infiltration und der constanten Necrose des
einmal infiltrirten Gewebes niclit anstehe, den Carbunkel als diphtheritische Entzündung
der Haut zu bezeichnen. Ob sich in dem frisch ansgepressten Saft von Carbunkeln
Microeoccos findet, hatte ich bisher keine Gelegenheit zu untersuchen; dass sich in den
nekrotischen zu Tage liegenden Fetzen spärliche Vegetationen der Art finden, kann nichts
für die Beziehung der Anthrax -Entstehung zum Microeoccos beweisen. — Koch mann
ist der Ansicht, dass auch die Carbunkel wie die Fmunkel ursprünglich um eine Schweiss-
drüse herum entstehen, oder zugleich um mehre nahe bei einander liegende Drüsen.
J. Neumann unterscheidet zwischen einem Hautdrüsencarbunkel und einem Zellgewebs-
carbunkel. Ich vermag nicht zu entscheiden, ob solche Unterschiede gerechtfertigt sind,
da ich zu selten Gelegenheit hatte, C'arlninkel in ilircii Anfangsstadien zu sehen.
Nach der ausgedehnten Abstossung des Zellgewebes und dem end-
lichen Stillstand des Processes in der Peripherie bildet sich dann eine
gesunde, meist sehr üpjjige Granulation aus; es erfolgt die Heilung
in gewöhnlicher Weise in einer der Grösse der Granulatioustiäche ent-
sprechenden Zeit.
Der Verlauf der gewöhnlichen Carbunkel am Rücken ist ein lang-
wieriger und schmerzhafter, doch tritt selten der Tod ein. Es giebt aber
N'oricsiiii!.:; :! I . (';i|,iicl \. ;»()5
KüUc, besonders wenn der Curl)uiikel oder eine dilTiise, carl)iinkul<)se
Mnlziindung- im IJereielie des Cesielites oder Kopfes luillriti, die iViili/.eili.i;-
nüt septischen, wie uian iVillier zu s;ii;'en p(lei;'l:{!, „typhösen" lu-seheiiuin,:;-en
(nicht iiinncr mit lioheu Fieherlemperaturen) verhnndeii siml und selir
ü,er;ihrlieh, meist lödtlicli verhuifen (C;irhLincidus in;ilii;'nr.s, l'ustulu
mnlii^'na). Nicht alU; Cai-bunkel im (Jesichi sind von diestir ))('»sartii4'en
Ik'schairenheit; einige nehmen den i;'anz i;ewöliidichen Verhiul" und lassen
eben nur eine entstellemle Narbe zurück; da, es indess sein- scll^vieri,^•,
oft yanz unmöi^iich ist, im ersten Antang- vorauszusai;en, \\ie die Sache
verlauleu wird, so rathc ich llinen, stets vorsichtiii,' mit der l'rog-m)se zu
sein. Ich habe leider über diese Carbunkel im Ijereiche des Cesichts
einig'e so traurii;-e Erl'ahrung-en i^'emacht, dass ich jede Ai'l'ection der Art
mit der g'rössten Sori^'c und Angst um das Leben des Patienten beti-achte.
Lassen Sie mich kurz solche Fälle mittlieilen. Ein jnnger, kriU'tiger,
l)lühcnder Mensch bekam auf einer Iveise nach Berlin oime bekannte
Veranlassung- eine schmerzhafte Anschwellung an der Unterlippe; die-
selbe vergrösserte sich rascli und verbreitete sich bald über die g-anze
Lippe, während der Patient heftig fieberte. Der zugerufene Arzt Hess
Kataplasmen maclien und schien die Bedeutung- der Krankheit nieht
hoch genug gescliätzt zu liaben, da er den Patienten zwei Tage gar
niclit besuchte. Am dritten Tage, nachdem das Gesiclit stark ang-e-
schwollen war und der Kranke einen heftigen Schüttelfrost gehabt hatte,
daneben viel delirirte, w^urde er in die chirurgische Klinik gebracht. Ich
fand die Lippe dunkel blauroth und von einer grossen Menge weissei"
gangränöser Hautstellen durchsetzt. Sofort wurden selir viele Einschnitte
gemacht, die Wunden mit Chlorwasser verbunden, darüber Kata])lasmen
applicirt und eine Eisblase auf den Kopf geleg't, weil Meningitis im
Anzüge war. Ich hatte den Zustand schon, als ich den Patienten sah,
für hoffnungslos erklärt. Der Kranke verfiel bald in einen tiefen Sopor
und starb 24 Stunden später, 4 Tag-e nach dem Anfang- des Carbunkels
an der Unterlippe. Die Section wurde leider verweigert.
Nocli einen andern Fall will ich erwähnen: Kin Student in Zih'i<'li erhielt; einen
Schlägerhieb auf die linke Seheitelbeingegeud. Die Wunde heilte, dhne irgend etwas
Auffallendes zu zeigen; doch dauerte der definitive Sehluss derselhini sehr lauge. Es blieb
eine kleine offene Winide lange Zeit zurück, die so unbedeuti'iid war, dass der Kranke
ihrer nicht achtete. Starke Anstrengungen bei den Feehtübungcn und vielleicht eine
hinzugekomniene Erkältung niügen die Gelegenheitsursaehe fiir ' die folgende Katastrophe
abgegeben haben. Der junge Mann erwachte eines Morgens mit ziendich heftigem Schmerz
in der Narbe und allgemeinem KranklieitsgefüliI; eine rosige liotlie und im Anfang massige
Anschwellung der Kopfhaut Hessen die Entwicklung eines einfachen Erysipelas capitis
erwarten. Indess steigerte sich doch das Fieber, ohne dass sich die Eitthung über den
ganzen Kopf ausbreitete, in einer ungeAvöhnlichen Weise. Es trat ein Schüttelfrost ein
und der Kranke delirirte heftig. Als derselbe am dritten Tage in das Spital gebracht
wurde, fand icli in der Umgebung der Narbe eine Menge kleiner weisser Funkte, die
mich sofort erkennen Hessen, dass es sich hier um eine carbunkulöse Entzündung handle;
da der Patient vollständig besinnungslos war und eine Complieation mit Entzündung der
liiUrotli cliir. ratu. u. Tlicrap. 7. AuU. ^(J
SOG ^'^"" ^'"" '"■"*'"" 'i''''i* traiiiiiatisclien E)i(ziirH]iiiiL';i'n dfv "Wi-iclitlif-ile.
Hiriiliäute mir au.s verschiedenen Gründen selir walirsclieinlich erscliien, inaclite ich nur
wenir^e Hoffnuii!:; auf Genesung, traf die nüthigen Anordnungen, fand aber schon am
f()h"-enden 'J'ag den Ivranken nii-ht mein- lebend. Die Sectinn zeigte in der entzündeten
Kopfliaulnarbe verseliiedene weisse gangränöse Heerde: bei weiterer Untersucliung fanden
siili die nächstgelegenen Venen durch Gerinnsel verstopft und an ihnen entlang das um-
u-ebende Zellgewebe geschwellt und theilweise mit Eiterpunkten durchsetzt. Ich konnte
diese Venenerkrankung nach vorn bis an die Augenhöhle verfolgen, nnterliess jedoch hier
die weitere Untersuchung, w^eil ich das Auge nicht verletzen wollte. Nach Eröfiriung des
Schädels zeigte sich, sobald das Hirn herausgenommen war, in der vorderen linken Schädel-
höhle eine etwa thalergrosse, massig entzündete Stelle; die Erkrankung beti-af sowohl die
harte als die Aveiche Hirnhaut, drang auch noch etAvas in die Oberfläche der Hirnsubstanz
selbst ein. Es unterlag keinem Zweifel, dass die Entzündung von der Narbe am Kopfe
ausgegangen, sich an einer Stirnvene entlang bis in das Zellgewebe der Orbita und von
hier durch das Foraniem opticum und die Fissura orbitalis superior in den Schädel hinein
verbreitet hatte.
Die hier beschriebene Entzündung kann nicht gradezu als Anthrax bezeichnet werden,
sondern eher als eine dem Anthrax-Process ähnliche Entzündungsform der Cutis und des
Unterhautzellgewebes, die ich nach meineii jetzigen Erfahrungen diphtheritische Plilögmone
nennen möchte; auch die damit verbundene erysipelatöse Eöthe stimmt zu Diphtheritis.
Wir haben später mehr davon zu sprechen.
In vielen Fällen von bösartigem Carbunkel im Gesicht wird man
bei recht g-enauer Untersuchung eine solche Verbreitung der Entzündung
in die Schädelliöhle und eine dadurch vermittelte Erkrankung des
Gehirns finden. Indess muss ich Ihnen doch dabei bemerken, dass die
Ausdehnung dieser Entzündung ,^ wie wir sie an der Leiche finden,
durchaus in keinem Verhältniss steht zu der enormen Heftigkeit der
allgemeinen Erscheinungen, so dass letztere durch den Sectiousbefund
keineswegs ganz aufgeklärt werden. Ja es giebt Fälle, und gerade
zuweilen die am schnellsten verlaufenden, in welchen der Tod eintritt,
ohne dass man überhaupt irgend etwas Krankliaftes am Gehirn findet.
Hier hat nun die Hypothese einen weiten Spielraum; bei dem raschen
stürmischen Verlauf und bei dem schnellen Uebergang der carbunkulösen
Entzündung in brandigen Zerfall denkt man besonders an eine rasch
eintretende Blutzersetzung, wobei man den Carbunkel selbst schon als
Folge oder als Ursache ansehen kann. Da nun die Blutzersetzung
wiederum eine Ursache haben muss, so hat man supponirt, dass etwa
z. B. ein lusect, welches auf irgend einem Aas oder an der Xase eines
rotzigen Pferdes, auf einer milzbraudigen Kuh u. dgl. gesessen hat,
gleich darauf den Menschen berührt und ihn auf diese ^^^eise inficirt habe ;
denn dass besonders durch Milzbrandgift bösartige Carbunkel entstehen,
werden Sie später erfahren. Es sind mir keine Fälle bekannt, in
welchen dieser Vorgang wirklich coustatirt gewesen wäre, indessen halte
ich dieselben als einzelne Vorkommnisse nicht für unmöglich; es spricht
für eine solche Annahme der Umstand, dass diese Carbunkel besonders
an gewöhnlieh entblössten KÖrpertheilen vorkommen. Jedenfalls ist das
heitige Fieber und die tödtliche Blutinfection schon Folge des örtlichen
Processes; man muss daher wohl annehmen, dass in diesen Carbuukelu
unter g'ewisscn, nicht näJicr bekannten Verliültnisscn Stoffe von Ije.sondei-s
intensiver Giftig-keit gebildet werden, duicli deren llesorjjtion der Tod
lierbeiyefiilirt wird. Ininierliin l)leibt die Entsteluuii^'sur.saclie dieser
bösartigen Carbunkel, für die meisten Fälle äusserst dunkel. - Die
grosse Differenz der Allgenieinerseheinung-en beim Anthrax stimmt nach
meinen jetzigen Erfahrung-en auch sehr gut zu der Annalime, dass diese
Erkrankung- in die Kateg'orie der diphtlieritischen Proeesse g-chört, bei
denen es grade cliarakteristisch ist, dass ihre locale Ausbreitung- durchaus
nicht immer zur Intensität der allgemeinen toxischen >]i-scheinuiigen
steht. Ob Lähmungen imch Anthrax vorgekommen sind, wie sie nach
Eachen- und Kehlkopfdiphtherie so oft beobachtet werden, ist mir nicht
bekannt. — Auch bei Diabetes mellitus und Uraemie kommt die Ent-
wicklung von Carbunkeln vor', so wie bei den spontan an gesunden
Menschen sich entwickelnden Furunkeln und Carbunkeln Zucker im Harn
beobachtet ist (Wagner), räthselbafte Dinge! Nach Seegen sind diese
letzteren Beobachtungen so zu deuten, dass die an Carbunkel Erkrankten
nur scheinbar gesund waren; es sei wahrscheinlich, dass sie schon vorher
Diabetes milderen Grades hatten, ohne dass es ihnen oder ihrem Arzte
bekannt war. — Zum Glück sind die Carbunkel nicht sehr häufig; auch
die einfachen gutartigen Carbunkel sind so selten, dass ich selbst in der
ausgedehnten chirurgischen Poliklinik Berlins, wo in jedem Jahre
zwischen 5 — 6000 Kranke an mir vorübergingen, nur etwa alle zAvei
Jahre einen Carbunkel gesehen habe. Auch in Zürich waren Carbunkel
äusserst selten. Ueber die Häufigkeit dieser Krankheit hier in Wien
habe ich kein Urtheil, da diese Fälle meist auf die Abtheilung für
Hautkrankheiten verwiesen werden. — Die Diagnose des gewöhnlichen
Carbunkels ist nicht schwer, zumal wenn man das Ding erst einmal
gesehen hat; eine diffuse carbunkulöse Entzündung kann erst nach
einiger Beobachtungszeit erkannt werden; sie zeigt anfangs nur das
Bild des Erysipels.
Die Behandlung der Carbunkel muss eine recht energische sein,
wenn das Uebel nicht zu weit vorschreiten soll. Wie bei allen Entzün-
dungen, die zu Gangrän disponiren, müssen frühzeitig viele Einschnitte
gemacht werden, damit die zersetzten fauligen Gew^ebe und Flüssigkeiten
sich entleeren können. Sie machen daher bei jedem Carbunkel grosse,
die ganze Dicke der Cutis durchdringende, sich kreuzende Schnitte, die
so lang sein müssen, dass die infiltrirte Haut ganz durch, bis in die gesunde
Haut hinein gespalten wird. Reicht dies noch nicht aus, so machen Sie
daneben noch einige andere Schnitte, besonders da, wo sich die Gangrän
der Haut durch die weissen Punkte zu erkennen giebt. Die Blutung ist
bei diesen Schnitten verhältnissmässig unbedeutend, Aveil das Blut in den
meisten Gefässen des Carbunkels geronnen ist. In die Schnitte legen
Sie Charpie, die in Chlorwasser getränkt ist und alle 2 — 3 Stunden
erneuert wird. Beginnt das Gewebe sich zu lösen, so ziehen Sie täglich
20^^=
H08 Von den aciifcii nicht IraiiiiialisclM-ii iMilzündiniL^eii di-r AW-ichtlieile.
mit einer Pincette die lialba1)g-clüsten Fetzen ab, schneiden sie, ohne
Blutung- zu evzeug-en fovt, und suchen dadurch die Reinig-ung; der
Wunde mög-lichst zu l>eschleunigen. — Bald wei-dcn sich hier und dort
kräftige Granulationen zeigen; endlich lösen sich die letzten Fetzen ab
und es bleibt eine bienenwabenartige, löcherige Granulationsfläche zurück,
die sich bald ebnet und später auf gewöhnliche Weise benarbt, so dass
sie nur wenig Unterstützung zur Heilung durch Lapis infernalis Avie
andere Granulationsflächen bedarf. — Was die bösartigen Carbunkel
betrifft, so ist die locale Behandlung ganz dieselbe, wie die eben be-
schriebene. Gegen die schnell auftretenden Hirnaffectionen kann man
nichts anderes thun, als eine Eisblase auf den Kopf appliren. Innerlich
giebt man gewöhnlich Chinin, Säuren und andere antiseptische Mittel.
Leider muss ich Ihnen Jedoch gestehen, dass die Erfolge dieser Thera])ie
ausserordentlich gering sind; mir ist aus eigener Erfahrung kein Fall
bekannt, in welchem es gelungen wäre, bei einiger Maasseu entwickelter
Septhaemie den tödtlichen Ausgang abzuwenden, was um so deprimiren-
der ist, als diese bösartigen Carbunkel gewöhnlich jugendliche kräftige
Individuen befallen. Selbst für den Fall, dass der Ausgang quoad
vitam ein günstiger ist, wird jedenfalls ein bedeutender Verlust der
Haut entstehen und bedeutende Entstellungen werden zumal bei car-
bunkulöser Entzündung der Augenlider, der Unter- und Oberlippe
zurückbleiben, indem dieselben durch Gangrän zum grössten Theil zu
Grunde gehen. Auch ein sehr frühzeitiges Einschneiden, Ausschneiden
und Ausbrennen des Carbunkels ist, wie ich mich in einigen bösartigen
Fällen überzeugen konnte, von geringem Erfolg in Bezug auf den
weiteren Verlauf der Krankheit. Lassen sie sich jedoch durch diese
trostlosen Aussichten der Therapie nicht verhindern, frühzeitig grosse
Einschnitte zu machen, da es doch auch Fälle giebt, wo Carbunkel im
Gesicht den gewöhnlichen Verlauf durchmachen, wenn sie auch antaugs
mit heftigem Fieber verbunden sind; von französischen Chirurgen sind
einige günstige Eesultate durch frühzeitiges Ausbrennen der Pustula
maligna berichtet.
2. Acute Entzündung der Schleimhäute.
Während die traumatische Entzündung an den Sehleindiäuten nichts
Besonderes darbietet, ist der „acute Catarrh" oder die „acute catarrba-
lische Entzündung" eine diesen Häuten eigenthündiche Erkraukungsform,
welche anatomisch durch starke Hyperämie, etwas ödematöse Schwellung
und reichliche Absonderung eines anfangs mehr serösen, dann schleimig-
eitrigen Secrets charakterisirt ist, und vorwiegend häutig durch Erkältung
und durch Infection erzeugt wird. Die „Blennorrhoe" (von ßUvru
Schleim, und ^6w liiessen) ist eine Steigerung des Catarrhs bis zu dem
Grade, dass reiner Eiter in grösseren Mengen abgesondert wird. Catarrh
und Blennorrhoe können chronisch werden. — Schon die einfache
Vorlcsiiri'.
C'ipilrl X.
ano
Rcobaelituni;- nn cntan-linliscli ariicirloii, v.w 'l';i-o lio-ondon ScIiIoirnliiiiiU'ii
lehrt, das« diese llrocesso laii,i;-(Mni(l sehr injonsiv hcslolicii kruiiuMi, ohne
da8S die Sul)slaiiz der Mernhran (hihei erheldich leidet; di(! Oherfläfhe
der Hehleindiäiite bleibt dabei hy])er;iniis('h und i^vsciiwolleu, (jtwas
verdickt und i^'ewulstet; es kommt in seltenen l<';ill('n wohl zu ober-
(l'ichliehen Kpithelverhistcn und kleinen Substanzdeleeton (cnJüTrlialiKfdie
(Tesehwiii-(>), doch hat aueli das nur in den seltensten Kiillcn ans^^-e-
dehntere Zerstöruiiii'en zur Foli^e. Diese Heobaelitun,^- wird durch die
Befunde nii der Leiche und durch die histolo^ü'ische Untersuchung- unter-
stützt. .Mau g'elang'te zu der Anschauung-, dass beim Catarrh nur eine
raschere Abstossung- der p]])ithelialzellen erfolg-e, welche als Eiterzellen
an die Oberfläche treten, und dass das Bindeg-ewebslager der Schleim-
häute daran gar keinen Antlieil lia))e. Obg-leich man sich vielfach be-
mühte Theilungsprocesse in den tiefei-en Epitliellag-en bei catarrhalisch
erkrankten Schleimhäuten zu liiulen, so wollte dies doch nicht recht ge-
lingen, bis endlich Kemak, Buhl und Ilinclfleisch g-rosse Mutter-
zellen im Epitheliallager solcher Häute entdeckten.
Fig. 67.
r>Mrl
'%-
Epithelialsehicht auf einer catarrhalisch afficirten Conjimctiva nach Rindfleisch.
VeroTössernnsr etwa 400.
Es lag- am nächsten, diese Beobachtung so zu. deuten, dass die
Mntterzellen sich aus den Epithelzellen durch endog-ene Furchung- des
Protoplasma bilden, und später die Zellenbrut (als Eiterzellen) durch
Platzen der Mutterzellenmembran frei werde. "Wenn gegen diese Auf-
fassung- schon wiederholt g-eltend gemacht wurde, dass dabei die Mutter-
zellen ganz constant auf catarrhalischen Schleimhäuten gefunden werden
miissten, wiihrend sich dieselben nur im Beginn der Erkrankung und
auch dann nur spärlich auffinden lassen, — so haben diese Mutterzellen
in neuester Zeit noch eine ganz andere Deutung- erhalten. Steudener
und Volk mann sprachen zuerst den Gedanken aus, dass die jungen
Zellen hier nicht in älteren entstehen, sondern dass sie in letztere a'ou
aussen unter gewissen mechanischen begünstigenden Verhältnissen ein-
310 Von '^*'" acuten nidil (lanmatisclifii Enfzüiidunsen der Weiehtheile.
dringen, aber mit der Entstellung des Catavrliciters nichts zu tliun
haben. Wenngleich diese Behauptung äusserst schwierig zu beweisen
ist, so erhält sie doch für mich bei wiederholtem Nachdenken und
Combiniren bekannter Beobachtungen einen sehr hohen Grad von Wahr-
scheinlichkeit. Es ist hier nicht der Ort auf das Detail dieser Dinge
einzugehen; doch, da es durch die Zinobermethode erweislich ist,
dass die weissen Blutzöllen aus den Gefässen der entzündeten Schleim-
haut auswandern, und niclit nur zwischen die Epithelien einwandern,
sondern auch als Eiterzellen im catarrhalischen Secret gefunden werden,
so möchte ich glauben, dass der Catarrheiter die gleiche Quelle hat, wie
anderer Eiter, dass er nämlich auch direct aus dem Blute stamme.
Ausser der catarrhalischen Entzündung ist den Schleimhäuten auch
noch die Croup ose (von „Croup" häutige Bräune) und die diph-
therische (von „ÖKfdsQa" Fell) Entzündung eigen. Wenn bei Ent-
zündung der Schleimhäute die auf die Oberfläche tretenden Entzündungs-
producte (Zellen und Transsudat) Faserstoff bilden, und dadurch zu einer
der Oberfläche anhaftenden Älembran werden, welche sich nach einiger
Zeit zu Schleim und Eiter auflöst, oder durch Eiter abgehoben wird,
der hinter ihr von der Schleimhaut producirt wird, so nennt man das
eine „croupöse Entzündung"; die Schleimhaut bleibt dabei mit
ihrem Epithel intact; es folgt vollständige restitutio ad integrum. — Die
Diphtherie ist dem eben beschriebenen Vorgang ganz ähnlich, doch
haftet die Faserstofi'lage nicht allein dem Gew^ebe fester au, sondern
auch das Serum, welches die Substanz der erkrankten Schleimhaut durch-
tränkt, gerinnt; dadurch wird die Circulation der Gewebssäfte und des'
Blutes in solchem Maasse beeinträchtigt, dass zuw^eilen der erkrankte
Theil in toto gangränös wird. — Die Allgemeinerkrankung, das Fieber
kann bei ausgedehnter croupöser Entzündung (z. B. der feinsten Bronchien
und Lungenalveolen : croupöse Pneumonie) sehr heftig sein, hat jedoch
bei Diphtherie mehr den Charakter einer septischen Infection; Diphtherie
ist daher die w^eitaus bösartigere Krankheit. — Die Sehleimhaut des
Pharynx und der Trachea ist beiden Krankheitsformen häufig ausgesetzt.
Die so unendlich häufig catarrhalisch-erkrankte Conjunctiva kann von
Diphtherie befallen werden, leidet selten durch Croup. Die Schleimhaut
des Darmcanals ist nur selten Sitz dieser Krankheiten, ebenso die Schleim-
haut der Genitalien, welche um so häufiger von contagiöser Blennorrhoe
(Tripper, Gonorrhoe, von yovog Same) befallen wird.
Fast inmier iiiidot. sieli in dem diphlheritischen Belag der Schleimhäute Micrococcos
in grosser Menge; dass dieser eine besondere Art bilde, und die Krankheit erzeuge, ist
wiederholt behauptet, doch vorläufig nicht bewiesen; dass das diphtlieritische Contagium
sich an diese Vegetationen anhängen, oder auch in dieselben eindringen kann, ist höchst
wahrscheinlich. Wir werden später bei Gelegenheit einer Form von ulceröser AVund-
.lipluhcritis, des sogenannten Hospitalbrandes auf diese Frage zurückkommen.
Vorlosiiii- 21.. Ciipilcl X. 311
.'). Aciüc I'hit/, ii ndii II,:;- dos Zclli;'cvvcl)cs.
Die |)li l<\£;'iiionöse Eutz iiiid II iiij,'. Diese I>eiieiiii(iii;;' eiilliHlt einen
rieoiiasnini^, indem .^(playuövif schon „I^jiiziindiinii,'" licisst; sie wird Mber im
pi-aktisclien Si)racligcl)riiuch so exelusiv aiiC die zur Eiterung' tendirende
Entzündung des Zellgewebes angewandt, dass jeder Arzt weiss, was
man darunter versteht; ein anderer Name für die gleiche Krankheit ist
J?s eudocry sii)clas, er ist ebenso gebräuchlich, doch, wie mir scheint,
noch weniger bezeichnend. Der in England übliche Ausdruck „ Cellu-
li tis" statt ., Inflannnatio telac cellulosae" ist freilich kurz imd bequem,
steht jedoch zu sehr mit dem, was wir heutzutage unter .,cellula" ver-
stehen, im AViderspruch , als dass ich ihn cmpfehleu möchte. • — Die
Ursachen dieser Entzündungsprocesse sind für sehr viele Fälle durchaus
unklar; nur selten ist eine heftige Erkältung als Ursache festzustellen;
oft genug mögen, solche Entzündungen durch Infection auch bei unver-
letzter Cutis entstehen, doch ist das nur eine Hypothese; als Accidens
bei Verletzungen, zumal in Folge von localer Infection durch gaugränesci-
reude Gewebsfetzen bei Quetschungen und Quetschwunden haben wir
diese progressiven acuten Entzündungen schon kennen gelernt. — Die
spontane Entzündung des Zellgewebes ist am häufigsten an den Extre-
mitäten, häufiger oberhalb als unterhalb der Fascien; besonders gern
tritt sie an den Fingern und an der Hand auf; hier führt sie den Namen
Panaritium (verdorben aus Paronychia, Entzündung am Nagel, von ovv'^)
und zwar zum Unterschied von tiefer liegenden, ebenfalls an Fingern
und Hand vorkommenden Entzündungen: Panaritium subcutaueum. Trifft
die Entzündung die Umgebung des Nagels oder das Nagelbett selbst,
so braucht man wohl auch die Bezeichnung Panaritium subungue. — Be-
trachten wir als Beispiel einmal die Erscheinungen einer Phlegmone am
Vorderarm, so pflegt dieselbe mit Schmerzhaftigkeit, Geschwulst und
Eöthung der Haut, gewöhnlich zugleich mit heftigem Fieber zu beginnen ;
die Haut ist dabei etwas ödematös und stark gespannt. Bei einem sol-
chen Anfang, der jedenfalls eine acute Entzündung am Arm ankündigt,
kann der Sitz derselben ein sehr verschieden tiefer sein; Sie werden
innerhalb der ersten Tage nicht immer gleich ins Klare darüber kommen,
ob sie es mit einer Entzündung des Unterhautzellgewebes, mit einer
perimusculären Entzündung unterhalb der Fascien oder selbst mit einer
Entzündung des Periosts oder Knochens zu thun haben. Je stärker das
Oedem, je bedeutender die Schmerzen, je geringer die Hautröthuug, je
intensiver das Fieber, um so eher haben Sie einen tiefliegenden Ent-
zündungsprocess mit Ausgang in Eiterung zu vermutlien. Betrifft die
Entzündung nur das Unterhautzellgewebe, und kommt es wie in den
meisten Fällen zur Eiterung (wenngleich Ausgang in Zertheilung beob-
achtet wird), so zeigt sich dies in einer Weise, dass schon im Verlauf
weniger Tage die Haut sich an einer Stelle stärker röthet und deutliche
Fluctuation wahrnehmbar ist. Der Durchbruch des Eiters erfolgt dann
312
Von den acuten nicht tranmatischen Entzündungen der Weiohtlieile.
entweder spontan oder wird durch eine luclsion befördert. Betrifft die
Entzündung- Körpertlieile, au welchen die Haut und ZAimal die Epidermis
besonders dick ist, wie an Händen und Füssen , so ist im Anfang von
einer Eöthung der Haut wenig- siclitbar, weil dieselbe durch die sehr
dicke Hornschiclit der Epidermis verdeckt wird. Eine sehr bedeutende
ki'chmerzhaftigkeit, ein eigenthümliclies Spannen und Klopfen in dem
entzündeten Theil kündet die unter der Haut entstellende Eiterung an.
In manchen Fällen gelit bei diesen Processen ein Stück der Haut dui-ch
Gangrän verloren, indem durch die Intensität des Entzündungsprocesses die
Circulation so gestört wird, dass eine Partie der Haut lebensunfäliig wird.
Auch die Existenz der Fascien ist zuweilen bei diesen Entzündungspro-
cessen bedroht; sie kommen dabei in Form grosser, weisser, zusammen-
hängender, fadiger Fetzen aus den Oeffnungen der Cutis zum Vorschein.
Besonders ist dies bei den Entzündungen unter der Kopfschwarte der
Fall, die sieh nicht selten über den ganzen Schädel ausbreiten; die
ganze Galea aponeurotica kann dabei verloren gehen.
Gehen wir nnn zn den feineren anatomischen Vorgängen über, welche bei
der acuten Entzündung des Zellgewebes Statt haben. "Wir wollen hier nicht auf den Streit
znrücklvomnien , ob zuerst Gefässe, Gewebe oder Nerven bei dem Entzündungsprocess
krankhaft afficirt werden, sondern wollen uns iiur mit demjenigen befassen, was wir bei
der anatomischen Untersuchung direet beobachten können. Eine Eeihe von Untersuchungen
an Leichen von Individuen, die an solchen Entzündungen gestorben sind, oder an Gliedern,
die deswegen amputirt wurden, und an denen man bald hier bald dort das Zellgewebe
Fig. 68.
Entzündlich infiltrirtes Bindegewebe vom Präputium. Zelluläre Gewebsinültratiun: Uni-
Avandlung des Bindegewebes in entzündliche Neubildung. Die fasrige fibrilläre Beschatl'en-
heit des Gewebes ist fast ganz geschwunden; die Gefässws|<idungen sind gelockert uiul
wie durchlöchert. — Vergrösserung etwa 500.
in diesem oder jenem Stadium der Entzündung antrifft, belehrt uns ziemlich vollständig
iiber diese Vorgänge. — Das Erste, was wir finden, ist die Ausdehnung der Capillaren
und die Qucllung des Gewebes durch seröses, aus den Gefässen ausgetretenes Exsudat.
Vorlesung '21. Ciipiicl X. 313
und ZU fvleiclicr Zeil (Miie je nncli dcMvi Slndinni v(>rscliic(l('n rriclilicho, plasfifiolic rn(il(r;itiiin,
(1, Ii. iilso, (I.MS r5iii(l('j;('\V(>li(' is(, (IiirclisiM'/r \(m riiicr ciKirini'n Masse jniiff<M- /eilen: so
lialx'ii Sio sii'li im Aiir;nii;'<' di'ii aiialnmiscIuMi Ziisdiiid <\ry, (Icwelics imler dei' rideiiiatiis
e(>Sc'll\vnll(Mieii, s(ark eiTiKllcliMl , selir seliilicrzli;irieil Hau; viii-y.iis(i'lleii. Im weilel'll \'er-
NmiI' liill di(> mas.'^enliafli^ ZclIcuaiilirMirmie' im eiil/rni(l('(<'ii Diiide- iiiui l'"e(l;i;e wehe immer
mi^lir lind mehr ia den Viirdcreriiiid. Hiese (iewelie werden iHall .uespunnl und an mehren
SlolKai trilt (-iia^ Rlnlslneknn!.'; in den (JelVissen, iiesundiM'S in den Capilhiren und N'enen
ein; der Kreislanf In'ui sielleiiweise i'an/. aal". I)ies(^ T>hiis(i)ei<iini;' , dnreli wideiie ziktsI.
eine diiai\olhlaui'olhe. dann dnn-li vasi-hc^ l'lnll'iii'hnn^' der rnllien IJIntzelhMi eine e;-in/ weisse
l'Mrhuni'; (hn* erkraidvteu '^l'iieile zu Stande kounui., kann sieli so weil aushreilen, duss du:;
(iewid)o massenhaft liraiulip; ahsliriit, ein AuSL;'anj;', i\cn wii- sclmn ulieu erwrdinl haheu.
In den nu^islen Phallen gescliieht dies indessen nicht, sondern wälir<'ud die Z(dleu sieh
nieliren , schwindet die fihrilläre Intercclhdarsnl.istanz und stirlit tlieilwi-is zu kleiiuM'en
Fetzen und Partikehdien ah, (heilweis nimnmit sie allmähÜL!; eine j:;'allertarli,i;'e Beseiiaff'en-
heit an. wird endlich Wdhl auch e'anz flüssif;-.
Bei dein Fortsclircitcn dieser Vorg'äiiii'e Avird zuloi/i der g'anze Eut-
ziindung'sliecrd zu Eiter umg-ewandelt, alno zu fiiissig'ctn Gewebe, welches
aus Zellen mit etwas seröser Interccllularflüssig'keit bestellt und dem hier
viele abgestorbene Zellg'ewebsfetzen beigemischt sind. Denken 8ie, dass
der ganze Process in dem Unterhaut Zellgewebe seinen Ausgang bat,
nach allen Richtungen sich ausbreitet und zwar am schnellsten dort, wo
das Gewebe am gefässreichsten und lockersten ist, so wird der eitrige
Zerfall des Gewebes, die Vereiterung, nach und nach auch in die
Cutis von innen nach aussen vordringen, dieselbe an einer Stelle durch-
brechen und der Eiter sich aus dieser Oeffnung nach aussen entleeren.
Ist dies geschehen, so hat damit die Ausbreitung des Processes oft das
Ende erreicht. Das Gewebe, welches den Eiterlieerd umgiebt, ist reich-
lich von Zellen durchsetzt und reichlich vascularisirt; es glciclit anato-
misch einer Granulationsflächc (ohne immer deutliche Granula zu zeigen),
welche also die ganze Eiterhöhle auskleidet. Ist der Eiter ganz entleert,
so legen sich die Wandungen der Höhle an einander und verwachsen
in den meisten Fällen ziemlich schnell. Eine Zeit lang besteht noch das
plastische Infiltrat und die Haut i)leibt dadurch fester und starrer als
normal. Allmählig indess kehrt auch dieser Znstand tlieils durch Zerfall
und Resorption der infiltrirteu Zellen, theils durch Umbildung derselben
zu Bindegewebe wieder zur Norm zurück.
Sie sehen wohl ein , dass für den Process als solchen anatomisch
kein grosser Unterschied darin besteht, ob derselbe diffus oder circum-
script verläuft; es sind die feineren Vorgänge im Gewebe ganz dieselben
bei einer diffusen Entzündung des Unterhautzellgewebes wie bei der
circnmscripten. In Praxi unterscheidet man jedoch zwischen eitriger
Infiltration und Abscess; ersterer Ausdruck ist an sich deutlich;
unter Abscess pflegt man einen abgegrenzten Eiterhe^rd zu verstehen,
und damit gewöhnlich eine w-eitere Progression des Entzündungsprocesses
auszuschliessen ; durch acute Entzündung rasch entstandene Abscesse
nennt man heisse, im Gegensatz zu den durch chronische Entzündung
314
Von den acuten nicht traumatischen Entzündungen der Weichtheile.
entstandenen kalten Abseessen. Folgendes Bild mag Ihnen den Process
der Abscessbildung noch mehr veranschaulichen (Fig. 60).
Eitrige Infiltration des Cutis -Bindegewebes in der Mitte zum Abscess confluirend.
Schematische Zeichnung. Vergrösserung etwa 500.
Sie sehen hier, wie die jungen Zellen sich ins Gewebe infiltrirt haben, während
das Zwischengewebe immer abnimmt, wie ferner in der Mitte der Zeichnung im Centrum
des Entzündungsheerdes die Zellengruppen unter einander confluiren, und einen Eiterheerd
darstellen; jeder Abscess hat in seinem Anfang aus solchen gesonderten Eiterheerden be-
standen, er wächst durch periphere Ausbreitung des Eiterungsprocesses. Früher meinte
man, dass überall da, wo die Eiterzellen so heerdweise, gi'uppenweise auftreten, die-
selben alle als eine Production der Bindegewebszellen anzusehen seien; nach den jetzigen
Anschauungen ist es zweifellos, dass diese junge Zellen fast alle ausgetretene weisse Blut-
zellen sind, und sich nur aus mechanischen Gründen zuweilen eigenthfimlich heerdartig
gruppiren. — Das Fettgewebe, welches in dem Unterhautzellgewebe gewöhnlich in reich-
Fig. 70.
Jl^itrige Inültration des ranniculus adiposus. Vergrösserung 350; nacii einem in Alicohol
e rh ä rte te n Prä p a rat.
VdiK-smi.t;- "J I . Ciipild X. lilf)
lii'licr Mi'ii.m". ciilliahcti is( , t;t'lil. lioi den iiciilcn ICii(/,i"ni'limfi;spr<)i;c,s,scii meist zu Ciiiiiidi',
imd zwar so, dass die KeH/.cllcu von den iumk'ii ZclIciimasMcn ^ewissermaas.soii crdriii'kt,
werden nnd da,s Fell; sicli vei'fliissigt; man (indel; es zuweilen in Form von OeKropl'm
späler dem Eiter beif^eniischt. Das mikrosi^opiselie Bild liei Knizündiing des Pannieuiiis
adiposus Icönnen Sie in diesem Präparat; sehen. (KiK- 70.)
Man iindel nield seilen bei Unlersneluing soieiier ]'r;i[i!nalc aucli (iciiiiniingsrasern,
wie im geronneneu Faserstoff, im CJevvelie iiililtrirt; es kann s(mm, dass sich derselbe schon
im Anfang des Entzünchingsprocesses, wie früher erörtert, I)iidei ; indcss ist es andi
iiiöglieh, dass diese Fasern erst dem fertig gebildeten Kiter angeluiren, in imserni l'r;lparai
vielleicht vorwiegend Knnstproducte des Alkohol sind.
Ich iniiss Sie iiocli ganz besonders darauf au(nicrkf?ani machen,
dass wir es hier bis zum Stillstand des Froccsses stets mit einer pro-
gressiven Erweichung- des mit Eiter infiltrirten Gewel)cs, mit einer Ver-
eiterung desselben zu thuu haben, im Gegensatz zu der einmal aus-
gebildeten Granulationsfläche, welche aus ihrer Oberfläche Eiter
absondert, ohne selbst dabei Verlust an Gewebe zu erleiden.
Alle suppurativen parenchymatösen Entzündungen wirken zerstörend
(deletär oder destruirend) auf das Gewebe.
Was das Verhältniss der Blutgefässe zu der Neubildung des jungen
Gewebes nnd dessen baldigem Zerfall nnd Verflüssigung betritft, so ist
schon erwähnt, dass sie anfangs dilatirt sind und dass dann das Blut
in ihnen stockt; ist der Kreislauf in gewissen Gewebsdistricten ganz auf-
gehoben, wobei zuweilen die Blutgerinnung in den Venen eine ganz be-
sonders weite Ausdehnung annimmt, so vereitern dann auch die Gefäss-
wandnngeu und die Blutgerinnsel oder zerfallen in Fetzen bis an die
Grenze, wo die Circulation wieder vor sich geht. Wie wir früher bei
der Abstossuug nekrotischer Gewebsfetzen gesehen haben, müssen sich
an dieser Grenze des lebendigen Gewebes Gefässschlingen bilden; die
ganze Innenfläche einer Eiterhöhle verhält sich also in Betreff der Gefäss-
anordnuugen wie eine sackförmig zusammengelegte Granulationsfläche.
In Betreff der Lymphgefässe ist aus Analogie zu schliessen, dass
sie hier wie in der Nähe der Wunden durch die entzündliche Neubil-
dung geschlossen werden; specielie Untersuchungen darüber wären sehr
wünschenswerth. So bald und so lange ein Abscess von einer lebens-
kräftigen Schicht plastisch infiltrirten Gewebes umgeben ist, wird aus
früher erörterten Gründen eine Resorption eitriger und putrider Sub-
stanzen aus der Abscesshöhle nicht leicht Statt finden. Den praktischen
Beweis kann ich Ihnen liefern, wenn Sie in der Klinik Abscesseiter
aus der Nähe des Rectum oder aus dem Munde riechen werden; dieser
Eiter hat einen furchtbar penetranten Fäulnissgeruch, und doch wird er
nicht oder nur in äusserst geringer Menge durch die Venenwandungen
resorbirt; Erscheinungen allgemeiner Sepsis pflegen dabei nur selten
einzutreten. Im Beginn des Entzttudungsprocesses aber und dann später,
wenn sich derselbe mit rapidem Zerfall der Gewebe combinirt, wie
bei manchen progressiven Entzündungen um Quetschwunden, auch bei
»16 ^'^o" den afuten nicht traumatischen Entzündungen der Weichtheile.
Fi!?. 71.
'W.-.
Gefässe (künstlich injicirt) von den Wandungen eines künstlich in der Zunge eines Hundes
erzeugten Abscesses. Vergrösserung 25.
spontaner Phlegmone des Unterhautzellgewebes ii. s. f. , — sind die
Lympligefässe nicht oder noch nicht durch Zellen- und Gewelbsneubildung-eu
verstopft, es kommt vielleicht g-ar nicht oder erst spät bei Begrenzung des
gangränösen Zerfalls zur organisirten entzündlichen Neubildung; vorher
dringen dann die Zersetzungspro ducte des zerfallenden GcAvebes in die
offnen Lymphräume ein und wirken auf das Blut, es entsteht Fieber.
Obgleich die Entzündung der Tela cellulosa überall am Körper ge-
legentlich vorkommen kann, so findet man sie doch an Hand, Vorderarm,
Kniegelenkgegend, Fuss und Unterschenkel am häufigsten, Lymphangoitis
(^Yorüber später bei den accidentellen "Wundkrankheiten zu sprechen ist)
corabinirt sich häufig mit Phlegmone, geht oft ihrer Ausbreitung voran.
Von der Quantität und Qualität der so resorbirten Stoffe hängt die
Intensität und Dauer des Fiebers ab, welches diese Entzündungen be-
gleitet. Im Anfang gelangt gewisscrmaassen ein ganzer Schub solcher
EntzUndungsproducte ins Blut, es kommt daher gleich anfangs gewöhn-
lich zu heftigem Fieber, zuweilen mit Schüttelfrost; mit der Progression
der Entzündung cTauert das Fieber fort, es hört auf, wenn eine weitere
Resorption von Entzündungsproducten durch die geschilderten Gewebs-
metamorphosen gehemmt wird, wenn der Process sistirt, wenn die Ab-
scessl)ildung vollendet ist. Die Qualität der bei Zellgewebsentzündungen
entstehenden pyrogenen Stoffe ist gewiss sehr verschieden; es giebt
Fälle von Phlegmonen, z. B. tief am Halse bei ältereu Leuten, bei denen
eine so intensive phlogistische Intoxication erfolgt, dass die Krauken ohne
Hinzukommen neuer Erscheinungen rasch zu Grunde gehen. Es verhält
Voi-Icsini-; 21. C^MplIcl X. ;}17
sich damit ähiilicli wie mit dun (Jai-l)Liiikclii, v(»ii denen cinig'e ^venig•
Fieber maclien, Jindei'e ein tüdtliclies sei)tisc]ie>s Fiebei- nueli sich ziehen.
Ist eine Phleg'inene durch ein g'et'ährliches Gift, z. Ji. Jlotzg'il't vei-aidasst,
so verwundert man sich nacli den vorlieg'enden Erf'ahrunyen nicht iil)er
den tödtliehen yVnsgan^'; flir die spontan, ohne bekannte Ursaclie ent-
standenen Phlei;'mouen a,ber bleibt es immerhin oft .ü,'enua,' räthselhaft,
warum einige Fälle so ausserordentlicb schwer, die meisten relativ leicht
verlaufen.
Die Prognose der phlegmonösen Entzündungen ist eine unendlich
verschiedene, je nach der Localität, Ausdehnung und Entstellungsursache.
Während die Krankheit, wenn sie als Metastase bei allgemeinei" phlo-
gistischer oder Eiterdiathese, oder als Folge von Kotzvergifiung auftritt,
wenig Hoffnung auf Heilung gicbt, während tiefliegende Abscesse z. H.
in den Bauchdecken, im Becken mindestens einen sehr langsamen Verlauf
nehmen, und durch die Localität lebensgefährlich oder durch Zerstörung
von Fascien, Sehnen und Haut beeinträchtigend auf die Function wirken
können, sind die meisten Fälle von Phlegmone an den Fingern, Hand,
Fuss, Vorderarm etc. nur massige Erkrankungen von kurzer Dauer,
wenn auch mit vielen »Schmerzen verbunden. Je rascher Eiterung ein-
tritt, je circumscripter der ganze Entziindungsheerd ist, um so besser
die Prognose.
Was die Behandlung betrifft, so geht dieselbe beim Anfang der
Krankheit darauf aus, den Process wo möglich noch in der Entwicklung
zu sistiren, d. h. die möglichst frühzeitige vollständige Resorption des
serösen und plastischen Infiltrats zu erzielen. Hierzu giebt es ver-
schiedene Mittel, zunächst die äusserliche Anwendung des Quecksilbers:
man lässt die ganze entzündete Hautstelle dick mit Quecksilbersalbe be-
streichen, den Patienten im Bett liegen und die entzündete Extremität in
warme, nasse Tücher einwickeln oder mit grossen Kataplasmen be-
decken. Auch die Application von Eis ist im Anfang anwendbar für
den Fall, dass die ganze entzündete Partie mit mehren Eisblasen bedeckt
werden kann. Die Compression durch Einwicklung mit Heftpfiaster-
oder Bindeustreifen würde ebenfalls ein sehr wirksames, die Aufsaugung
beförderndes Mittel sein, wird jedoch gerade bei den in Rede stehenden
Entzündungen wenig gebraucht, einestheils, weil die Compression dieser
entzündeten Theile sehr schmerzhaft ist, anderntheils, weil das Mittel
auch nicht ganz ohne Gefahr ist, indem durch einen etwas zu starken
Druck leicht Gangrän befördert werden könnte. Tritt nach der An-
wendung der genannten Mittel nicht bald eine Mässigung des Processes
ein, sondern steigern sich vielmehr alle Erscheinungen, so wird man von
dem Ausgang in Zertheilung abstrahireu und Mittel anwenden müssen,
welche die jetzt nicht mehr zu verhindernde Eiterung möglichst be-
fördern; hierher gehört vor Allem die Application der feuchten Wärme,
besonders in Form von feuchten warmen Einhüllungen. So wie mau
318 ^'^•'" ^*^" aciitPH niclit tramuatisL-lien Entzüntiimgcn der Weiditlieile.
daiiu an einer Stelle deiitliclie Fluctuation Avalirninimt, überlässt man
den Dui-clibrucb in der Kegel nicht der Natnr, sondern spaltet die Haut,
um dem Eiter Austluss zu verscliaffen; verbreitet sieb die Eiterung auf
eine weite Strecke bin unter die Haut, so macbt man an mebren Stellen
Oettnungen, wenigstens ziebe icb dies den kolossalen Scbnitten durcb
die Haut, z. B. vom Ellenbogen bis zur Hand, vor, weil bei letzteren
die Haut sebr weit aus einander klafft, und die Heilung sebr viel
längere Zeit erfordert. Erfolgt der Eiterausfluss aus den geraacbten
Oeifnungen in normaler Weise, so ist nur eine sorgfältige Reinigung
notbwendig, welcbe am zweckmässigsten durch locale, warme Bäder
unterstützt wird. Sie werden häufig hören, dass man durch frühzeitige
Incisionen bei Phlegmonen verhindern könne, dass die Haut in ausge-
dehnter Weise gangränös werde oder vereitere. Icb kann dies leider
nicht bestätigen, weil icb oft genug sah, dass Hautgaugrän und Haut-
vereiterung auch nach frühzeitigen Incisionen eintrat; nach meinen
Beobachtungen hängt dies weit mehr von der Intensität des Entzündungs-
processes ab, als von der Spannung der Haut durch die subcutane Eiter-
ausammluug. Dennoch halte ich frühe Incisionen bei Phlegmonen für
zweckmässig, weil es mir scheint, dass man durch vorsichtiges Auspressen
des Serum's aus dem entzündeten Gewebe zuweilen die Progression des
Processes hemmen kann.
Während die Eröffnung von Unterbautzellgewebseiterungen eine sehr
einfache ungefährliche Sache ist, erfordert die „Oncbotomie" (von oyxog
Biegung, Erhöhung, Geschwulst) bei tief liegenden Abscesseu je nacli
den anatomischen Verhältnissen der Localität grosse Umsicht; die Diagnose
kann z. B. bei diesen Eiterungen am Halse, im Becken, in den Bauch-
decken schon grosse Schwierigkeiten bieten, meist kann mau sie erst
nach einer längeren Beobachtungszeit stellen; dennoch kann es theils
zur Erleichterung des Patienten, theils um einen spontanen Durchbruch
etwa in die Bauchhöhle zu vermeiden, wttnschenswerth sein, frühzeitig
den Eiter zu entleeren. In solchen Fällen darf man dann nicht so ohne
Weiteres das Scalpell einsenken, sondern man geht praeparando, Schicht
für Schicht trennend vor, bis man auf die fluctuirende Decke des Ab-
scesses gelangt; dann senkt man vorsichtig eine Sonde ein, und dilatirt
die Oeffnung durch Auseinandersperren einer in den Abscess eingeführten
Kornzange, um alle Blutungen aus der Tiefe zu vermeiden. — Zuweilen
bildet sich durcb Zersetzung des Eiters so viel Gas in einem Abscess,
dass er einen tympanitischen Percussionston giebt; solche jauchigen Ab-
scesse müssen früh eröffnet werden; man muss sie nach der Entleerung
oft ndt Chlorwasser ausspritzen und verbinden.
4. Acute Entzündung der Muskeln.
Die idiopathische acute Entzündung der Muskelsubstanz ist relativ
selten. Sie konnut vor in den Zungenmuskeln, im M. psoas, im M. pecto-
Vorlesmifi; 21. (^ipilel X. .'jllf
ralis, g'lutaeus, jmi Olterscliciikel, in der Wade; der i;c\völinlif'lie Aiisg-aiig-
ist in Abscessbilduiiii;', obi^'leicli aucli Ausii,'a-iii;' in Z(;i-lli(!ilLiiii^' ))C(d)achtet
Avovdeu ist. Metastatische Muskelabscessc sind sehr häufig' bei Rotz-
iutoxicatioii. — Was die spcciellen histologisclien Verhältnisse beti-ifft,
so ist das interstitielle Bindegewebe der Muskeln, das Perimysiuin, hier
wie bei der traumatischen Myositis der llaiq)tsitz der eitrigen Infiltration;
die Kerne der Muskelfasern zerfallen bei den ganz acuten Vorgängen
mit der contractilen Substanz und dem Sarcolemma: nur an den Muskel-
faserstümpfen in der Abscesskapsel finden sich die Sarcolemmakerne
(Muskelkörperchen) massenhaft angehäuft und verwachsen so mit der
Abscessuarbe; dabei kommt nach 0. Weber eine nicht unbedeutende Neu-
bildung jung-er Muskelfaserzellen vor. (Fig. 32, pag. 116.) — Die Symptome
eines Muskelabscesses unterscheiden sich nicht von denen anderer tiefer
Abscesse; ihre Entwicklung und ihr Durchbruch nach aussen dauern je nach
Grösse und Ausdehnung- sehr verschieden lange. In vielen Fällen stellt
sich Contractur desjenigen Muskels ein, in dessen Substanz sich ein Abscess
entwickelt, so z. B. bei Psoitis; ob dies die physiologische Folge des
entzündlichen Reizes ist, oder halb willkührlich, instinctiv vom Kranken
bewirkt wird, muss ich dahin gestellt sein lassen, möchte indess eher
das letztere glauben, da bei weniger schmerzhaften kleinen Abscessen
der Muskeln, auch bei traumatischer Muskelentzündung keine Contractur
einzutreten pflegt, sondern nur bei grösseren Abscessen, welche unter
dem Druck starker Fascien stehen. — Man eröffnet die Muskelabscessc,
sobald man deutliche Fluctuation fühlt und die Diagnose sicher ist.
Eine ganz eigenthümliche Art der Muskelerkrankung, die meiner
Ansicht nach zu den subcutanen Entzündungen zu zählen ist, hat Zenker
neuerdings entdeckt und beschrieben ; sie kommt vorzugsweise bei Typhus
abdominalis in den Mm. adductores des Oberschenkels vor; die con-
tractile Substanz zerfällt dabei innerhalb des Sarcolemmaschlauchs in
einzelne Bröckel; diese verschwinden nach und nach durch Resorption,
während sich neue Muskelzellen zum Ersatz der alten bilden. So erfolgt
in den meisten Fällen die restitutio ad integrum ; in andern Fällen bleibt
die Atrophie der erkrankten Muskelsubstauz dauernd. Ob diese Er-
krankung auch zu Eiterung führen kann, darüber liegt keine specielle
Beobachtung vor, obgleich Muskelabscessc nach Typhus z. B. in den
Bauchdecken beobachtet sind.
5. Acute Entzündung der Sehnenscheiden und subcutaueü
Schleimbeutel (seröse Häute).
Die Seh-nenscheiden bilden bekanntlich geschlossene seröse Säcke,
welche um einige Sehnen an Hand und Fuss gelagert sind. Sie können
durch Quetschung, selten auch spontan in den Zustand acuter Entzün-
dung gerathen. Wie alle acut entzündeten serösen Häute, exsudireu
320 ^''•" '^''" :i<'"'''" "''■''' liiiiiiii.ilisriii'ii Kii(/,üii'1iiiil;cii d<T Wi-irlithcik?.
auch diese Säcke /imäcli.st eine Quantität fihrinreiclien Serums; die aus
\Vaii(lci-z(^lleu /Aisannneni;esetzten Irisch entstandenen librinüsen l^seudo-
iiKuilnMiien können sich wieder auflösen, sie können aber auch zu v(ji-
iil)eri;'chcnden oder dauernden Verklehunii-en der Selmcnscheiden mit den
Sehnen i'iihren; endlich kommt es niclit selten zur Eiterung- der Membranen
und dabei kann die Sehne nekrotisch zu Grunde gehen. — Schmerz bei
Bewegungen und leichte Ansclnvellung sind die ersten Zeichen einer
solchen Entzündung; zuweilen tritt daJjci ein lieibungsgeräusch, ein Knar-
ren in den Selmensclieiden auf, welches durch die aufgelegte Hand, noch
deutlicher mit aufgelegtem Ohr wahrzunehmen ist. üies Geräusch ent-
steht dadurch, dass die Oberilächen der Sehnenscheide und der Sehne
durch Eibrinauflagerung rauh geworden sind und sich an einander reiben,
sowie diese Seimen bewegt A\erden; am Handrücken ist diese subacute,
fast inuner in Zertheilung ausgehende Selmenscheidenenlziindung am
häufigsten. (Tendovaginitis crepitans). — Selten sind die meist aus un-
bekannten Gründen entstehenden, sehr acuten, in Eiterung übergehenden
Sehnenscheidenentzündungen, sie l)eginnen wie eine acute Phlegmone:
das Unterhautzellgewebe nimmt schnell Antheil an dem Entzüuduugs-
process; das Glied schwillt stark, auch die nahe gelegenen Finger- oder
Handgelenke können mit in den Entzündungsprocess hineingezogen wer-
den. Wie die Synovialmembran der Gelenke scheint auch die gleiche
Membran der Sehnenscheiden bei der acuten Entzündung zuweilen Pro-
ducte zu liefern, welche die Umgebung besonders intensiv inticiren. Kommt
es bei passender Behandlung nicht zum Aufbruch der Eiterung, oder ent-
steht nur ein kleiner Abscess, so erfolgt der Ausgang in Zertheilung langsam;
das Glied bleibt noch lange steif; die gebildeten Verklebungen zwischen
Sehne und Sehnenscheiden lösen sich erst nach Monate langem Gebrauch. —
Erlblgt eine ausgedehnte Eiterung der Seimenscheiden, die man au der
Hand mit der Bezeichnung „Panaritium tendinosum" belegt hat, so
werden in der Kegel die betreffenden Sehnen nekrotisch und können nach
einiger Zeit als weisse Fäden und Fetzen aus den Abscessöffnungen aus-
gezogen Averden ; die Sehnenscheidenmembran degenerirt dann zu schwam-
migen Granulationen. Kommt es nun zu einem Stillstand des l'rocesses,
so sind ein oder mehre Finger steif und bleiben es fürs Leben. Sind
auch die Gelenke ergriffen, so konnnt es an den Fingern wohl zu einer
Ausheilung mit Anchylose; ist aber das Hand- oder Fussgelenk in Mit-
leidenschaft, so ist die Existenz des Gliedes in hohem Grade gefährdet. —
Bei der acuten eitrigen Sehnenscheidenentzündung ist zuweilen das Fie-
ber Anfangs unbedeutend, doch kann die Krankheit in schweren Fällen
auch mit einem Schüttelfrost beginnen. — Je weiter sich Entzündung
und Eiterung ausbreiten, je weniger der Process zur abschliessenden
Abscessbilduug lendirt, um so dauernder Avird das Fieber und nimml
enuMi (leuUieh ivuiittireuden Charakter an; dabei kommen die Patienten
enorm rasch herunter; die kräftigsten Männer maii-ern in wenigen \\'(.chen
Vuiicsiiiit.', 21. ('iipiici X. ;}21
zum Skelett iil). Von sein- iihlcr Prognose ist es, wenn (law Fiebei' mit
intermittircnden Anfrilhm und Frösten verlüuf't.
Die lU'li and] uni4' der suhacMtcn knarrenden »Selinensclieidenenl'/iin-
dung- am ihuidiiiekcn besteht darin, dass man die Hand siiif eine Schiene
ruliig- stell! und die erkrankte Stelle mit .lodtinctnr hcstrcichcn h'isst;
hilft dies nieht bald, dann legt man ein IJlasenpdaster; ich liahc nach
dieser Ijcliandlung- diese Form der Sehnenselieidenentziindung innncr in
einiii,'en Taü,'en vcrseliwindcn sehen. — Sind die lürsclieinun^^cn i^icich
von Anfang' an heftig, so ist vor Allem Kidie der Hand notliwcanlig;
A])i)lication von Queeksill)ersa]l)e und mehren Eisblasen müssen hinzit-
konnnen. Mit dieser Ijehandlung fährt man consequent ein bis zwei
Wochen fort; sj)äter wendet man dann feticlit-warme Einwickliingen und
lauwarme lhindl)äder an. Kommt es zur Abscessljildung, so sind Im-i-
sionen zu maelien und Gegenöff'nungen reichlich anzulegen; liier sind
die Drainageröhren sehr zweckmässig zu verwenden, weil die ans den
Abscessöffnungen liervor(|uellenden flranulationen sehr häufig den Fiter-
ausfluss hemmen. — Will die Eiterung kein Ende nelinum, bleibt die
schwammige Schwellung des Gliedes, zeigt sich Crei)itation in dt^i Gelenk(;ii
zwischen den ITandwurzelknochen (ein Zeichen, dass die Knor|)eliil)erziig(;
dieser Knochen vereitert sind), kommt der Kranke immer melir hei-unter,
so ist wenig Ilofifnung auf den günstigen Ausgang mit Anchylose des
Handgelenks, sondern die Gefahr fürs Leben ist so gross, dass die
Amputation des Vordcrai'ms gemacht werden muss. Geschielit dies recht-
zeitig, so kann der Kranke mit dem Leben davonkommen und wird
si(;h bald wieder erholen.
Weniger gefährlich sind die acuten Entzündungen der subcutanen
Schleirabeutel: am häufigsten erkranken die Bursa praeiiatellaris und
ancouea sowohl nach Quetschung, als auch spontan; sie hängen weder
mit dem Gelenk, noch 'mit Sehnenscheiden zusammen; unter Schmerz-
empiindung füllen sie sich mit fibrinhaltigem Serum, auch rütliet sich die
Haut und das parabursale Zellgewebe nimmt an der Eutzfindung 'Plieil;
es kommt jedoch nicht immer zur Eiterung, wenn die ratienten frühzeitig
behandelt werden. Die Behandlung besteht in Bestreiclieii mit Queck-
sill>ersalbe oder .Jodtinctur, Fixirung des Gliedes und Kompression der
geschwollenen Bursa durch Einwicklung mit massig fest angezogener
nasser Binde. Die Function ist meist unnöthig, schadet eventuell, indem
Eiterung dadurch angeregt wei'den und eine lästige Fistel lange zuriick-
bleiljen kann.
Eilh-i41i tliir. Patli. u. Ther. 7. Aufl. 'Jl
ßOO Von den acuten Entziin'lnn'jen (h-r Knoc]ien etc.
Vorlesung 22.
CAPITEL XL
Von den acuten Entzündungen der Knochen, des Periostes
und der Gelenke.
Anatomisches. — Acute Periostitis und Osteomyelitis der Röhrenknoclien:
Ersclieinnngen; Aiisgänge in Zertlieilung, Eiterung, Nekrose. Prognose. Beliandhmg. —
Acute Ostitis an spongiösen Knochen: Multiple acute Osteomyelitis. — Acute
Gelenkentzündungen. — Hydrops acutus: Erscheinungen, Behandlung. — Acute
suppurative Gelenkentzündung: Erscheinungen, Verlauf, Behandlung, Anatomisches.
— Rheumatismus articulorum acutus. — Der arthrotische Anfal I. — Meta-
statische (gonorrhoische, pyämische, puerperale) Geleiik entz ündungen. — Anhang
zu Capitel I — XL Rückblick. Allgemeines über den acuten Entzündungsprocess.
Das Periost und die Knochen stehen in einem so innig-en physiolo-
gischen Verhältnisse zai einander, dass die Erkrankung des einen Theils
fast immer eine Mitleidenschaft des andern bedingt; wenn wir trotzdem
aus praktischen Gründen gezwungen sind, die acuten und auch später
die chronischen Entzündungen des Periostes und der Knochen wenigstens
theilweise für sich zu betrachten, so \verden wir doch oft auf den Zu-
sammenhang beider zurückkommen müssen. Einige anatomische Vor-
bemerkungen muss ich hier vorausschicken, weil sie für das Verständniss
der folgenden Processe von Wichtigkeit sind. — Wenn man so kurzweg
vom Periost spricht, so pflegt man sich dabei gewöhnlich nur die gefäss-
arme, weisse, sehnenartig glänzende, dünne Haut zu denken, welche
den Knochen unmittelbar umgiebt; hierzu muss ich bemerken, dass dies
nur einen Tlieil des Periostes vorstellt, der in pathologischer Hinsicht
von relativ geringem Werth ist. Auf dieser eben beschriebenen, inneren
Schicht des fertigen Periostes liegt an den Stellen, wo sich nicht gerade
Sehnen oder Bänder inseriren, eine Schicht lockeren Zellgewebes, welche
ebenfalls noch zum Periost zu rechnen ist und in welcher hauptsächlich
die Gefässe sich verbreiten, die in den Knochen eindringen. Diese
äussere Schicht des Periostes ist der häufigste Sitz primärer, sowohl
acuter als chronischer Entzündungsprocesse; das Zellgewebe, aus
welchem diese Schicht besteht, ist sehr locker und sehr gefässreich, da-
her viel geeigneter für die Entwicklung von Entzündungsprocessen, als
der dichte gefässarme, sehnige Theil des Periostes, welcher dem
Knochen unmittelbar anliegt. Was die Ernährungsgefässe, zumaf der
l{(dironknochen l)etrifft, so haben die Epiphysen ihre eigenen Gefässe,
welclie so lange, als der Epiphyseuknorpel noch besteht, im Knochen
selbst niclit mit den Aesten der Arteriae nutriciae der Diaphyseu commu-
niciren. Es erklärt sich aus dieser Gefässvertheiluug, dass die Entzüu-
Yorlo.'nni- )>2. (';i|.i(cl Xf. 323
düngen der Dinjjliyi^en bei Jun^-cn IndiA'iducn selten auf die Epipliysen
tibergehen und luugekeln-t. - Die CJlelenkkapsel ist, genetisch l)etrMclitet,
eine Fortsetzung des l'eriostes, und ein gewisser Zusannnenliang der
(k'lenkkrankheiten mit den Periostkranklieiten ist insofern liäutig ei-kenn-
bar, als vice versa die Krankheiten des einen Theils besonders leicht
auf den andern übergehen. Wir werden noch nianclierlei (lelegeidieit
haben, im Verlauf der folgenden Betrachtungen auf diese anatomischen
Verhältnisse zurückzukommen.
Zunächst lassen Sie uns von der acuten Periostitis und Osteo-
myelitis (von öozeov Knochen, und f.ivel6g Mark) sprechen, von der
Sie schon Einiges bei der Knocheneiterung in dem Capitel von den
offenen Fracturen gehört haben (vgl. pag, 232), Diese Krankheit ist
im Ganzen nicht sehr häufig, kommt vorwiegend bei jugendlichen
Individuen und in ihrer exquisitesten Form fast ausschliesslich an den
langen Röhrenknochen vor. Am hfiufigsten werden der 01)erschenkel,
demnächst die Tibia, seltener der Oberarm und die Vorderarmknochen
befallen. Ich sah die Krankheit nach starken Erkältungen primär, oder
secundär in der Nähe acut entzündeter Gelenke auftreten, ferner nacli
starken Quetschungen der Knochen und nach Erschütterungen derselben.
Vielleicht ist die acute Osteomyelitis zuweilen das Pvcsultat einer unbe-
kannten allgemeinen Infection, wie der acute Rheumatismus und manche
Phlegmonen. Roser und Lücke haben auch diese Meinung.
In vielen Fällen ist es nicht nachweisbar, ob nur das Periost
oder nur das Knochenmark betheiligt ist, eine solche Unterschei-
dung wird meist erst durch den weiteren Verlauf und durch den Aus-
gang sicher gestellt. Die Erscheinungen, welche sich bei der in
Rede stehenden Krankheit darbieten, sind folgende: unter heftigem Fieber,
nicht selten mit einem Schüttelfrost beginnt die Krankheit; in der be-
troffenen Extremität stellen sich heftige Schmerzen ein und dieselbe
schwillt anfangs ohne Hautröthung. Der Kranke kann wegen heftiger
Schmerzen das erkrankte Glied nicht bewegen; jede Berührung, jede
leichte Erschütterung ist in hohem Grade schmerzhaft; die Haut ist ge-
spannt, meist ödematös, und zuweilen schimmern die stark ausgedehnten
subcutanen Venen hindurch, ein Zeichen, dass der Rückfluss des Venen-
blutes in der Tiefe nur mühsam vor sich geht. Die Entzündung betrifft
entweder den ganzen Knochen oder nur einen Theil desselben. — Aus
solchen Erscheinungen lässt sich nun vor der Hand nichts
weiter diagnosticiren, als die Existenz eines intensiven, tief-
liegenden, acuten Entzündungsprocesses. Da aber idiopathische
Entzündung des perimusculären und peritendinösen Zellgewebes sehr
selten ist und auch nicht mit so enormen Schmerzen auftritt, so wnrd man
in den meisten Fällen nicht irren, wenn man unter den angegebenen Ver-
hältnissen eine acute Periostitis, vielleicht mit Osteomyelitis verbunden,
annimmt. Fehlt bei gleicher Schmerzhaftigkeit und gleichen heftigen
2V'
994- Von d?" afntf" EntziiiKliiiigen der Knoclien etf.
Ficberersclieinungeii, oder bei vollständig'er Fmictinnsunfäliig'keit des
Gliedes diircli die Selmierzen die Anscliwellimg mehre Tage hindurch
fast ganz und tritt erst sehr spät ein, so ist man berecljtigt anzunehmen,
dass der Entziindungsprocess seinen primären Sitz in der ]\rarkhölile des
Knochens liat nnd das Periost anfangs weniger betheiligt ist. Wir
liaben uns in diesem Stadium den Zustand der erkrankten Theile etwa
folgendermaassen zu denken: die Gefässe des Knochenmarks nnd des
Periostes sind stark ausgedelmt und strotzend mit Blut gefüllt; yielleicht
ist hier nnd da eine Stasis des Blutes eingetreten. Das Knochenmark
hat statt seiner gewöhnlichen hellgelblichen Farbe ein dnnkel blaurothes
Ansehen, ist auch wohl mit Extravasaten durchsetzt; das Periost ist stark
serös iufiltrirt, und zu gleicher Zeit^finden Sie bei mikroskopischer Unter-
suchung in demselben eine grosse Zahl junger Zellen, ebenso in dem
Knochenmark; es besteht also schon eine plastische Infiltration. — In
diesem Stadium ist eine völlige Rückbildung ad integ-rum möglich, welche
zumal bei einer frühzeitig eingeleiteten Behandlung nicht so ganz selten
vo]-kommt, besonders in den mehr subacut verlaufenden Fällen. Das
Fieber lässt nach, die Anschwellung nimmt ab, die Schmerzen hören
auf; vierzehn Tage nach dem Beginn der Krankheit kann der Patient
wieder hergestellt sein. — Auch wenn der Process noch etwas weiter
vorgeschritten ist, kann er zum Stillstand kommen, wobei dann ein Theil
der entzündlichen Neubildung an der Oberfläche des Knochens ver-
knöchert und so für eine Zeit lang wenigstens eine Verdickung des be-
troffenen Knochens entstellt, die freilich später nach Verlauf von ]\Ionaten
wieder schwindet.
In den meisten Fällen ist der Verlauf der Periostitis kein so gün-
stiger, sondern die Krankheit schreitet weiter fort und nimmt den Aus-
gang in Eiterung. Die äusseren Erscheinungen sind dabei folgende;
die Haut des sehr gescliwollenen, gespannten und schmerzhaften Gliedes
nimmt erst eine röthliche, dann eine fast braunrothe Färbung an; das
Oedem breitet sich weiter und weiter aus, die nahe gelegenen Gelenke
schmerzen und schwellen an, das Fieber bleibt auf gleicher Höhe; nicht
selten wiederholen sich die Schüttelfröste. Der Kranke ist sehr erschöpft,
da er fast niclits geniesst und wegen der Schmerzen die Xächte schlaf-
los zubringt. Nicht selten treten profuse Diarrhöen auf; das Fieber
bleibt gleich hoch, das Sensorium dabei benommen, der Patient macht
zuweilen den Eindruck wie ein Typhuskranker. Gegen den 1:?. bis 14.
Tag der Krankheit, selten viel früher, oft aber später, spürt man end-
lich deutliche Fluctuation und kann Jetzt den Zustand des Kranken wesent-
lich erleichtern, wenn man durch eine oder mehre Oeftnungen den Eiter
kttnstlicli entleert, falls die Haut über den Abscess bereits genügend ver-
dünnt ist; denn die Eröffnung tiefer, starrwandiger, nicht zusanimen-
lalleiider Abscesse ist immer ein Eingriff", der CA-entuell durch Zersetzung
von Blut uud Eiter in dem noch nicht genügend abgekapselten Abscess
Vorirsmi- l'J. Capild XI. 325
gefährlich werden kann. Der s|)(»ii(aiic Diirehhnich, die Verciiei'iin;4' der
Fascien zumal, daneri ficilich zuweilen sehr hini;e, und i;cwöhnlieh .sind
aucli die ()efruun,i;'en , die dadurch eidsteheii, zti klein; eine Nachhidle
\iit daher meist indicirl. Führen Sie durch eine der künstlich gemachten
Oeffnung'en den Finger in die Eiterhöhle, so konnncn Sic nnt demselben
direct auf" den Knochen und linden in sehr vielen Fällen, da.s.s derselbe
vom Periost entblösst ist. Die Ausdehnung, in welcher diese Entblössung
erfolgte, hängt von der Ausdehnung der Periostitis ab. Es kann die-
selbe die ganze Länge der Diaphyse betreffen und in diesen schlimmsten
Fällen sind die Erscheinungen am heftigsten. Vielleicht ist jedoch mu*
die Hälfte oder ein Dritttheil des Periostes afficirt; ausserdem bi'aucht
auch nicht die ganze Circumferenz des Knochens betroffen zu sein, son-
dern vielleicht nur der vordere, seitliche oder hintere Theil; besonders
an den Ausatz- oder Ursprungsstellen starlvcr Muskeln begrenzt sich die
Periostitis nicht selten. In solchen Fällen von geringerer Ausdehnung
wird dann die ganze Reihe der Erscheinungen weit milder auftreten.
Auch jetzt noch kann sich der Verlauf in zweierlei Weise ver-
schieden gestalten; es ist möglich, dass nach Entleerung des Eiters die
Weichtheile sich dem Knochen schnell wieder anlegen und mit demselben
verwachsen, w^ie die Wandungen einer acut entstandenen Abscesshöhle.
Dies habe ich einige Male bei Periostitis des Oberschenkels an 2 — 3
dreijährigen Kindern gesehen. Es entleerte sich nach der Eröffnung nur
noch kurze Zeit hindurch eine geringe Quantität Eiter; bald schlössen
sich die Oeffuungen ganz, die Geschwulst bildete sich zurück und es
erfolgte die vollständige Heilung. Ein solcher Ausgang kommt jedoch
nach meiner Erfahrung e))en nur bei ganz jungen Kindern vor. Das bei
weitem häufigere ist, dass der Knochen, in Folge der Vereiterung des
Periostes seiner ernährenden Gefässe zum grössteu Theil beraubt, theil-
weis oder ganz abstirbt, und dadurch der Zustand gegeben ist, den man
als Nekrose (von veKgög der Todte, Leichnam) .des Knochens, als
Knochenbrand bezeichnet. Die x\usdebnung dieser Nekrose wird im
Wesentlichen von der Ausdehnung der Entzündung abhängig sein; die
ganz oder theilweis abgestorbene Diaphyse des Ptöhrenknochens muss
als todter Körper vom Organismus in derselben Weise abgelöst werden,
wie wir dies bei dem Brand der Weichtheile und bei der traumatischen
Nekrose gesehen haben. Hierzu braucht es aber lange Zeit: der Process
der Nekrose, die Auslösung des todten Knocheustttcks , des Sequesters,
mit Allem, was ihn begleitet, ist daher immer ein chronischer, über den
wir später noch zu sprechen haben. Bevor die Entzündung in diesen
chronischen Zustand übergeht, besteht die acute Eiterung noch geraume
Zeit nach der ersten Eröffnung des Eiterheerdes. Mancherlei Compli-
cationen können sicli hinzugesellen; so lange diese Kranken nicht fieber-
los sind, schweben sie immer noch in Lebensgefahr.
Wir müssen uns jetzt wieder zu dem Knochenmark wenden,
Q2ß Von den acntc-n Entzündungen der Knochen etc.
welclies wir im ersten Stadium der Entzündung verlassen haben. Auch
hier kann die Entzündung den Ausgang in Eiterung neiimen ; ist die
Osteomyelitis eine diflusc, totale, so kann das ganze Knochenmark ver-
eitern. Es kann diese Eiterung selbst einen jauchigen Charakter an-
nehmen und sich von hieraus Septhäniic entwickeln. Bestellt eine weit-
gehende, eitrige Osteomyelitis mit eitriger Periostitis, so ist der Tod der
biaphyse des Knochens sicher. Bildet sich nur eine partielle Eiterung
des Markes aus, oder tritt eine solche überhaupt nicht ein, so kann die
Circulation des Blutes im Knochen zum grössten Theil erhalten und der
Knochen lebensfähig bleiben. IS^icht selten mag es vorkommen, dass unter
solchen Verhältnissen der Knoclien eine Zeit lang gewissermaassen zwischen
Tod und Leben ringt, indem die sehr schwach bestehende Circulation das
Knochengewebe zwar in einem sehr unvollkommenen Maasse, doch so
lange ernährt, bis der Collateralkreislauf genügend entwickelt ist. —Eine
acute eitrige Osteomyelitis ohne jede Betheiligung des Periostes dürfte kaum
vorkommen; mit der Osteomyelitis combinirt sich nicht selten auch Osteo-
phlebitis {cpUw Blutader, Vene) die mit Verjauchung oder puriformer
Schmelzung der Thromben einhergehen kann, und erfahrungsgemäss beson-
ders leicht metastatische Abscesse vermittelt. Eine weitere, nicht gar seltene,
wenn auch durchaus nicht constante Zugabe zur Osteomyelitis ist die
Vereiterung der Epiphyseuknorpel bei Individuen, bei denen
solche noch bestehen, also etwa noch bis zum 24. Jahr. Der Vorgang
ist nicht schwierig zu erklären; der Entzündungsprocess kann sich eben
theils vom Knochenmark, theils vom Periost aus auf den Epiphyseu-
knorpel fortsetzen; ist derselbe erweicht, so hört damit die Continuität
des Knochens auf, und es tritt an der Stelle der Epiphyse eine Beweg-
lichkeit desselben ein, wie bei einer Fractur; auch Dislocationen sind
durch die Zusammenziehungeu der Muskeln möglich. Meist tritt nur
eine solche Epiphysentrenuung am erkrankten Knochen auf, oben oder
unten, in den selteneren Fällen ist die Epiphysentrennung doppelt. Ich
sah bis jetzt einmal diese doppelte Epiphysentrennung an der Tibia,
mehre Epiphysentrennungen an dem unteren Ende des Femur, eine am
oberen Ende dieses Knochens, eine am unteren Ende des Humerus, zwei
am oberen desselben. In einem Fall sah ich eine Epiphysenerw^eichung
mit Luxation-ähnlicher Dislocation am oberen Ende des Femur, ohne dass
es zur Eiterung kam. Es ist schon oben bemerkt worden, dass auch Ent-
zündungen der nächst gelegenen Gelenke sich leicht zu Periostitis hin-
zugesellen. Diese Gelenkentzündungen haben in der Regel mehr einen
subacuten Verlauf. Die seröse Flüssigkeit, die sich dabei in massiger
IMcngc im Gelenk ansannnclt, pflegt mit dem Aufhören des acuten Ver-
laufs des Knochenleidcns rcsorbirt zu werden; es bleibt jedoch eine
Schwellung des Gelenkes sehr häufig zurück, nicht selten bildet sich eine
dauernde Steifheit aus. Auch sah ich mehre Male acute Periostitis und
Osteomyelitis des Femur zu acutem Gelenkrheumatismus des Knies hin-
Voi-Ie.suns 22. Capil^l XI. 327
zAikommen; endlich miiss nocli er\v;ihiit werden, d;iBS diese Osteom^'elitis
ancli an mehren Knochen zugleich auftreten kann.
Als seltne Erscheinung- ist zu erwähnen Gasentwicklung in dem mit-
erkrankten Gelenk, in manchen Fällen nocli vor F,r(')iTnung des Eiter-
heerdes; dies ist immer ein sehr übles Hymptom und zeigt Fäulniss der
E ntz ii nd u ngsp r o d uc te a,n .
.Die Diagnose, in wie weit in dem Einzellälle Periost und Knochen
an dem acuten Entzündungsprocess betheiligt sind, lässt sich durchaus
nicht sicher stellen, sondern erst dai-aus erschliessen, ol) und wie weit
später Nekrose auftritt, obgleich auch dies nicht ganz maassgebend
ist, da sehr wohl die Periostitis den Ausgang in Eitei'ung nehmen kann,
während zugleich der Entziiudungsprocess im Knochen sich zertheilt
oder nur zu einiger interstitieller Knochenneubildung führt. Der Ent-
zündungsprocess kann seinen Ausgang nehmen: 1) in der lockeren Zell-
gewebsschicht des Periostes; diese vereitert; beschränkt sich die Eite-
rung nur auf diese Schicht, so gelaugt man mit dem nach der
Abscessöffnung untersuchenden Finger wohl direct auf die Knochenober-
fiäche, findet diese aber von dem granulirenden sehnigen Theil des
Periostes bedeckt; vereitert dann auch die letztere Schicht, wie dies nicht
selten vorkommt, so liegt der Knochen frei, die Eiterung kann sich in
denselben hinein fortsetzen. So gesellt sich die Osteomyelitis zur Peri-
ostitis. Will man die lockere Zellgewebsschicht nicht als Periost gelten
lassen, sondern dieselbe nur als Theil des intermuskulären Zellgewebes
betrachten (was insofern nicht passend wäre, weil diese Schicht haupt-
sächlich die austretenden Knochengefässe enthält), so giebt es überhaupt
keine acute Periostitis, denn der sehnige Theil des Periostes entzündet
sich ebenso selten primär, als die Fascien und Sehnen. 2) Die Entzün-
dung beginnt im Knochen und verbreitet sich von hier ins Periost und
Zellgewebe, die Osteomyelitis ist das primäre, die Periostitis das secun-
däre; der Eiter findet sich dabei nicht nur im Knochen, sondern auch
an dessen Oberfläche dicht unter dem sehnigen Teil des Periostes;
dieser wird durch den Eiter abgehoben, so weit es seine Elasticität er-
laubt, dann durchbrochen, der Eiter ergiesst sich ins Zellgewebe, macht
hier neue Eiterung, und so kommt der Process an die Oberfläche. Roser
giebt an, dass in diesen Fällen flüssiges Marlvfett aus der Knochenhöhle
durch die Haversischen Canäle der Corticalsubstanz auf die Knochen-
oberfläche in Folge des starken arteriellen Druckes in der Markhöhle
durchgepresst werde, so dass man aus einem solchen aus der Tiefe unter
dem Periost hervorkommenden, mit Fetttröpfchen gemischten Eiter die
Osteomyelitis diagnosticiren könne. Ferner fand Roser in einigen
Fällen eine auffallende Verlängerung des Knochens und eine Schlaffheit
des dem Process nächsten Gelenkes nach Osteomyelitis. Er leitet dies
von einem zu raschen Wachsthum der Gelenkbänder und der Epiphysen-
knorpel während der Entzündung ab.
ooQ Von den aciitPn Entzündungen der Knochen etc.
Was die Prognose bei der acuten Periostitis und Osteomyelitis
betritft, so ist dabei die Gefalir für die Existenz des Knochens und die
Gefahr für das Leben zu unterscheiden. Zieht die Kranklieit eine par-
tielle oder totale Nekrose des Knocliens nach sicli, so kann dieselbe
viele Monate, selbst Jahre dauern. Eine acute Periostitis und Osteomye-
litis, zumal wenn dieselbe am Oberschenkel und g-ar doppelseitig auftritt,
ist stets für das Leben durch die leicht hinzutretende Pyohäniie, für
Kinder auch durch die sehr profuse Eiterung sehr gefährlich, um so ge-
fährlicher, je länger der Process acut bleibt, je weiter er sich ausbreitet
und je grössere Knochen befallen werden.
Man kann in der Beh and lung dieser Krankheit am meisten leisten,
wenn man mögliclist früh gerufen wird; eines der kräftigsten Mittel ist
das Bestreichen des ganzen Gliedes mit starker Jodtinctur. Es wird
dies Mittel so lange applicirt, bis sich ausgedehnte Blasenbildung zeigt.
Der Kranke nuiss natürlicli im Bett bleiben, was man ihm übrigens in
den meisten Fällen kaum zu sagen braucht, da er es wegen der Schmerzen
schon von selbst thut. Seit ich diese Behandlung mit Jodtinctur in An-
wendung gezogen habe, bin ich von den Erfolgen derselben so be-
friedigt, dass ich den übrigen antiphlogistischen Apparat: Schröpfköpfe,
Blutegel, Einreiben mit grauer Salbe, fast ganz bei Seite gelegt habe.
Ableitung auf den Darmcanal durch Purgantia salina sollen die Cur wie
bei allen acuten Entzündungen unterstützen, wie wenigstens von älteren
Practikern versichert wird. Von manchen Chirurgen wird die örtliche
Application von Eis gleich im Beginn der Krankheit sehr gerühmt.
Kommt es trotzdem zur Eiterung und nimmt man deutliche Fluctuation
Avahr, so macht man an den dünnsten Hautstellen mehre Oeffnungen
möglichst so, dass sich der Eiter, ohne dass man zu drücken braucht,
entleert; in der Eegel schwillt hiernach die Extremität sehr bald ab;
am günstigsten ist es, wenn das Fieber bald aufhört, und die Krankheit
in den chronischen Verlauf übergeht. Dauert das Fieber fort, bleibt die
Eiterung profus, halten die Schmerzen an, so sucht mau diesen Uebel-
ständen durch sorgfältigste Beförderung des Eiterausfiusses mittelst ein-
gelegter Drainageröhren und durch häufiges Ausspülen der Eiterhöhlen
entgegen zu Avirken, und sucht dnrch Application von Eisblasen die etwa
hinzutretenden Gelenkentzündungen zu mildern. Auch die Application
eines gefensterten Gypsverbandes hat sich mir in Fällen, in denen
Epiphysenlösung eintrat, zur Fixiruug des Gliedes, bei dem täglichen
Verband bewährt; irgend eine Art der Fixirung des Gliedes ist in solchen
Fällen absolut nothwendig. Von dieser Therapie, die auf eine Keilie von
günstigen Erfolgen gestützt ist, weichen viele Chirurgen ab. :\[anclie
empfehlen, schon gleich im Anfange grosse tiefe Einschnitte bis auf den
Knochen zu machen, oder Avenigstens bei beginnender Eiterung möglichst
grosse Incisjonen zu macheu. So ausgedehnte Verwundungen sind bei
fiebernden Kranken übel angebracht; ich bin überzeus-t, dass man unter
Vorlesim- 22. Capitfl XT. 329
diesen Umständen durch eine ullzii Iievoiselie Therapie den Zustand nur
verschlimmert, die Disposition zur Pyohämie stei^'ert. Noch weit fehler-
hafter scheint es mir, Avenn man die Kehauptuni;- aufstellt, dass man
hei acuter Osteomyelitis sofort die F.xarticulation maelien müsse, weil
der Ausgang in Pyoliämie unvernieidlich sei. Dies ist jedenfalls ganz
falsch, und die Amputation unter solchen Umständen nicht indicirt,
erstens weil die Diagnose der Osteomyelitis im ersten Anfang keines-
wegs eine absolut sichere ist, da man es möglicherweise auch mit einer
einfachen acuten l^eriostitis zu thun haben könnte; zweitens weil die
Prognose bei der Exarticulation grösserer Gliedniaassen, wenn letztere
vA^egen acuter Processe am Knochen vorgenommen werden muss, immer
eine sehr zweifelhafte sein wird. — Ich Avürde mich z. B. bei einer
acuten Periostitis mit Osteomyelitis an der Tibia nur dann zur Ampu-
tation des Oberschenkels entschliessen, wenn die Eiterung eine besonders
grosse Ausdehnung erreicht hätte, und wenn acute Eiterung des Knie-
gelenks hinzukommen sollte. Sollte die besprocliene Erkrankung am
Oberschenkel vorkommen und einen üblen Verlauf nehmen, so würde
ich in der schon an sicli sehr lebensgefährlichen Exarticulation des
Oberschenkels kaum ein Mittel sehen, Avelches den Kranken zu retten
im Stande wäre. Man kann bei sorgfältiger Pflege der fast immer
jugendlichen Patienten viel wagen. Ein junges Mädchen mit Osteomyelitis
und Periostitis an der Tibia hatte in 12 Tagen 16 Schüttelfröste, und
genas doch, wenn auch ein Theil der Tibia nekrotisch und das Fuss-
gelenk anchylotisch wurde.
Ich will hier noch einige kurze Bemerkungen anschlieBseu über die
eitrige Periostitis der dritten Phalanx der Finger, welche vielleicht die
häufigste ist, die überhaupt vorkommt. Da man die Entzündung an der
Hand und den Fingern geAvöhnlich mit dem Namen Panaritium zusammen-
fasst, so nennt man diese Periostitis der dritten Phalanx: Panaritium
periostale. Die Krankheit ist sehr schmerzhaft wie jede Periostitis;
es dauert lange, zuweilen 8 bis 10 Tage, bis der Eiter nach aussen
durchbricht. Der Ausgang in Nekrose dieses kleinen Knochens, s.ei
dieselbe partiell oder total, ist gewöhnlich und kann aucli durch einen
frühzeitigen Einschnitt nicht verhütet werden, wenngleich man sich hier
oft veranlasst findet, einen solchen zu machen, um die sehr unangenehmen,
klopfenden, brennenden Schmerzen theils durch die locale Blutentleerung,
theils durch die Spaltung des Periostes zu lindern. Da hier der Ausgang
in Eiterung fast niemals zu vermeiden ist, so sucht man dieselbe durch
Kataplasmen, durch Handbäder und dergl. zu befördern, um den ganzen
Verlauf möglichst zu beschleunigen. —
Wir haben bisher nur von der acuten Entzündung des Periostes
und Knochenmarkes der Köhrenknochen gesprochen, haben dabei aber
QQQ Von den acuten Eiirzitii<liiiiurMi der Gelenke.
die Entzündung' der spongiösen Knochen ausser Acht gelassen. Es
kam in der bisherigen Auseinandersetzung auch die Entzündung der
eigentlichen Knochensubstanz nicht in Betracht. Giebt es überhaupt eine
acute Entzündung des KnochengewebesV AVenn man davon ausgeht,
dass die Gefässcrweiterung, Zelleniniiltration und seröse Durchträukung
des Gewebes in ihrer, wenn auch quantitativ verschiedenen Combinatiou
das Wesen des acuten Eiitzündungsprocesses bedingen, so nuiss man eine
acute Entzündung im coin})actcn fertigen Knochengewebe leugnen, da
alle diese Vorgänge z. B. in der Corticalschicht eines Röhrenknochens
nicht denkbar sind. Die Capillargefässe sind in den Haversischen Ca-
nälen an vielen Stellen wenigstens so eng eingebettet, dass sie sich
nicht erheblich ausdehnen können; eine verschieden starke Durchtränkung
des Knochengewebes mit Serum ist denkbar, doch düi-fte die Quellungs-
möglichkeit des starren Knochengewebes nicht sehr bedeutend sein.
Verallgemeinert man den Begrifl" der Entzündung so dass man darunter
in erster Linie eine besondere quantitative und qualitative Störung der
Ernährung versteht, so nmss man freilich zugeben, dass eine solche
im Knochengewebe ebenso gut statt haben kann wie in weichen
Geweben. Jedes Gewebe, in welchem Entzündung Platz greift, ver-
ändert seine physikalischen und chemischen Eigenschaften und dies
geschieht an den weichen Geweben 1)ei acuter Entzündung schnell: das
Bindegewebe zumal Avird sehr schnell in eine gallertige eiweissreiche
Substanz umgewandelt, auch das Gewebe der Cornea und des Knorpels
können ihre Beschafl'enheit relativ sehr schnell ändern. Dies ist aus
chemischen Gründen beim Knochengewebe nicht möglich; es braucht
Zeit, bis die Kalksalze des Knocliens gelöst sind, und der zurückbleibende
Knoclienknorpel einschmilzt wie andere Gewebe. Die Entzündung des
compacten Knochengewebes kann dalier, so heftig der Process auch an
sicii sein mag, nicht rapid verlaufen, sie wird stets längere Zeit zum
Verlauf brauchen. — Das Gesagte bezieht sich jedoch nur auf die com-
pacte Knochensubstanz; in dem spong lösen Knochen als ganzem
Organ ist eine acute Entzündung sehr w'ohl möglich, d. h. eine Ent-
zündung des in den spongiösen Knochen enthaltenen starkes, welches
dieselben Eigenschaften besitzt, wie das Mark der Röhrenknochen, nur
dass es nicht so angehäuft ist wie dort, sondern in den Maschen des
Knochens vertheilt ist; jeder Maschenraum enthält eine grosse Anzahl
Capillaren, Bindegewebe, Ecttzellen, auch Nerven; in diesen Maschen-
räumen verläuft zunächst die acute Entzündung des spongiösen Knochens,
die alhuählig dann auch auf das eigcntliclie Knocliengcwcbe wirkt.
Was mau acute Ostitis eines spongiösen Knochens lieisst, ist zu-
nächst auch nur acute Osteomyelitis. Eine spontan entstehende Entzündung
der Art konnut ausserordentlich selten acut vor, gewöhnlich chronisch,
zuweilen subacut. Dagegen giebt es eine traumatische acute Osteomyelitis
spongiöscr Knochen, über die wir hier einige Bemerkungen macheu
VurlesuuK 22. rnpitcl XT. 331
^V(>lle^, wenngleich vvii' das \Vi('li(i:;s(r, (Inriiher schon früher bei der
Knocheneiterung' besprochen iiabcn. Denken Sie sich eine Amputations-
wnnde dicht unterlialb des Kniegelenks; dir, "^ribin, ist in iiireni oberen
spongiösen llieil durchsägt. VjH wii'd in (U'ni Knochenmark, in (b'n
Masclien des Knochengewebes traumatische Entzündung eintreten mit
Gefiisswuchcrnng, Zellenintiltration etc., und dies wird zur liildung von
Grannlationen führen, welche aus dem Knochenmark hervoi'vvuchern und
bald eine conlbiirende CJrannlationstb'iche darsicllcn; die Ib-narbniig der-
selben erfolgt auf gewöhnlichem Wege. Nachträglich fniden Sie aber,
wenn Sie später Gelegenheit haben, einen solclien ^Stumpf zu untersuciien,
dass an der SägeHäche des Knochens die Maschen mit Knochensidjstanz
ausgefüllt sind, und die äiisserste Schicht des spongiösen Knochens in
compacte Knochensubstanz umgewandelt ist; die Narl)e im Knochen ist
also nachträglich noch verknöchert. Dies ist der normale Abschluss
nicht allein der traunuitischen, sondern auch der s})ontanen Ostitis; die
Knochennarbe verknöchert. — Auch eine Vereiterung, Verjauchung des
Markes spongiöser Knochen kann vorkommen, wie bei den Röhren-
knochen; Osteophlebitis mit ihren Folgen kann sich auch hier hinzu-
gesellen, Ueber die Vorgänge nach Entblössung des Knochens vom
Periost, über die Granulationsentwicklung an der Oberfläche compacten
Knochengewebes, über die oberflächliche Nekrose, die dabei vorkommt,
haben wir schon bei Gelegenheit der Knocheneiterung und des Heilungs-
processes offner Fracturen ausführlich gesprochen, und icli verweise Sie
deshalb auf jenes Capitel (pag. 229). —
Nur das will ich hier noch erwähnen, dass es Fälle von acuten
multiplen Knochenentzündungen giebt, ähnlich den multiplen acuten
Gelenkentzündungen (acuter polyarticulärer llheumatismus) und zwar
treten selbige Knochenentzüudungen theils an den beiden correspon-
direnden Knochen der unteren Extremitäten zugleich auf, oder sie folgen
nach einander, meist ascendirend; z. B. Osteomyelitis der Tibia, eitrige
Kniegelenkentzündung, Osteomyelitis des Femur, eitrige Hüftgelenkent-
zündung; in einem Fall kam dann noch Osteomyelitis des andern Olier-
schenkels und eitrige Coxitis der andern Seite hinzu. Auch solche Fälle
können möglicher Weise noch glücklich ablaufen, doch ist dies äusserst
selten, meist enden sie tödtlich. —
Es hat zu mancherlei Missverständuisseii Veranlassung gegeben, dass ieh gesagt
habe, ieh könne mir keine Vorstellung von einer acuten Entzündung des Knochengewebes
machen. In der That lassen sich auch bei acuter Entzündung der Knochen keine A'er-
änderungen des (fertigen ausgewachsenen) Knochengewebes erkennen, sondern nur \'er-
änderungen des Knochenmarkes und seiner Gefässe und des Periostes und seiner Getasse.
Ich unterschätze die chemischen Veränderungen (Ernährungsstörungen), welche bei der
Entzündung in den Gewehen vorgehen, keineswegs; doch wir kennen sie nicht, wir er-
schliessen sie nur aus den Veränderungen der Gewebe, welche wir sehen. Wir sehen,
dass das entzündete Bindegewebe quillt, wir sehen, dass es trübe wird, wir sehen, dass
es von Wanderzellen inliltrirt ist, wir sehen, dass es erweicht, endlich zu Eiter zerfliesst;
009 Von den acuten Entzinidiingen der Gelenke.
wir sehen, dass dies Alles in wenigen Tagen vor sich geht. Am Knochengewebe sehen
wir nichts von allen diesen Veränderungen: dass es bei acuter Entzündung quillt, sehen
wir nicht, dass seine Gewebslii-ken (mit Ausnahme der Haversischen Kanäle), seine Kanäle
mit Wanderzollcn erfüllt sind, sehen wir nicht; dass es nicht acut eitrig erweicht, wissen
wir. Wir kennen nur einen Ausgang der acuten Knothengewebsentzündung: den Tod, die
Nekrose. Es lässt sich daher nur sagen: es ist wahrscheinlich, dass auch bei der acuten
Entzündung des Knochengewebes Ernährungsstörungen vor sich gehen, wie bei der Ent-
zündung des Bindegewebes; doch einen morphologischen Ausdruck dafür giebt es nicht,
oder kann es vielmehr der Natur des Knochengewebes nach nicht geben.
Wiv kommen mm zu den acuten Gelenkentzündungen. Da
wir schon von der traumatischen Gelenkentzündung g-esprochen haben,
so sind Sie im Allgemeinen über manche Eigeuthümlichkeiten erkrankter
Gelenke orientirt. Ausserdem ist Ihnen schon von den serösen Häuten
bekannt, dass sie grosse Neigung haben, flüssiges Exsudat bei Eeizungs-
zuständen abzuscheiden, dass aber ausserdem dies Exsudat auch Eiter
enthalten kann, wenn die entzündliche Reizung eine sehr intensive ist.
Wie es eine Pleuritis mit Erguss von serös-fibrinöser Flüssigkeit (die ge-
wöhnliche Form) und eine Pleuritis mit eitrigem Erguss (das sogenannte
Empyem) giel)t, so sprechen wir auch bei den Gelenken von seröser
Synovitis oder Hydrops und von eitriger Synovitis oder Empyem ; beide
Krankheitsformen können chronisch oder acut sein, und ziehen auch
weiterhin verschiedene Erkrankungsformen des Knorpels, des Knochens,
der Gelenkkapsel, des Periostes und der umliegenden Muskeln nach sich.
Sie werden sehen, dass es immer verwickelter mit diesen Krankheits-
processen wird, je complicirter der erkrankte Theil ist. Man hat in
neuerer Zeit viel Gewicht darauf gelegt (besonders die französischen
Chirurgen), den anatomischen Verhältnissen entsprechend, erst von den
Krankheiten der Synovialmembran, dann von den Krankheiten der
Knorpel, dann der Gelenkkapsel, dann der Knochen zu sprechen. So
berechtigt diese Eintheilung sein würde, wenn es sich hier allein um
eine Darstellung der pathologisch-anatomischen Veränderungen handelte,
so wenig ist diese Art der Behandlung des Gegenstandes praktisch
brauchbar. Dem Arzt tritt immer die Gelenkerki-ankung als Ganzes vor
Augen, und wenn er auch Avissen muss, ob diese oder jene Theile des
Gelenkes mehr leidend sind, so ist dies doch nur ein Theil der von
ihm aufzuwendenden geistigen Thätigkeit; Verlauf, Art der Erscheinungen,
Allgemeinzustand nehmen seine Aufmerksamkeit in gleichem Grade in
Anspruch und bestimmen sein therapeutisches Handeln. Die gesammte
klinische Erscheinungsform wird daher bestimmend sein auf die Ein-
theilung dieser, wie vieler anderer Krankheiten.
"Wir sprechen jetzt nur von den scheinbar spontan entstehenden
acuten Gelenkentzündungen. Die Ursache ihrer Entstehung ist in vielen
Fällen eine nachweisbare starke Erkältung, in andern Fällen erfährt man
V.u-lcsun- 22. Cui)ilcl Xr. 383
gar niclits darüber. Eiiiig'c der iiielir siihacuten l'^ällc «lud metaatati.sflier
Natur und treten mit dem Cesammt))ilde der i^yoliämic auf. .letzt
handelt es sieh aber zunäclist nielit um letztere, sondern um die
idiopatliiseli entstehenden Entzündungen, die man im Gegensatz zu den
traumatischen ^Yohl als rheumatische bezeichnen bürt, weil sie oft
durch Erkältung entstehen. — Die Kranken, welche wegen solcher acutei-
Gelenkentzündungen Ihre Hülfe in Ansjji'uch nehmen, werden etwas vei"-
schiedene Erscheinungen darbieten. Halten wir uns beispielsweise wieder
an das Kniegelenk, so bietet sich Hmen etwa folgendes Bild dar: ein
kräftiger, übrigens ganz gesunder Mensch hat sich ins Bett gelegt, weil
seit ein oder zwei Tagen sein Knie geschwollen, heiss und sclimerzliaft
ist; Sie constatiren dies bei Untersuchung des Knies, fühlen zugleicli
deutliche Fluctuation im Gelenk und linden, dass die Patella etwas
erhoben ist, und dass dieselbe immer wieder emporsteigt, wenn sie
heruntergedrückt wird; die Haut des Kniegelenks ist nicht gerüthet, der
Kranke liegt mit ausgestrecktem Bein im Bett, ist fieberfrei und kann
auf Geheiss das Knie, wenn auch mit etwas Beschwerde, beugen und
.strecken; die ganze Untersuchung ist massig schmerzliaft. Sie haben
es hier mit einer acuten serösen Syuovitis zu thun, einem Hydrops
genu acutus. Anatomisch verhält sich dabei das Gelenk folgender-
maassen; die Synovialmembran ist leicht geschwollen und massig
vascularisirt; die Gelenkhöhle mit Serum erfüllt, welches sich mit der
Synovia gemischt hat, in der Flüssigkeit befinden sich einige Fibrin-
flocken; alle übrigen Theile des Gelenks sind gesund. Der Zustand
verhält sich anatomisch genau so, wie bei einer subacuten Bursitis
tendinum oder bei einer massigen Pleuritis. Diese Krankheit der Ge-
lenke ist gewöhnlich leicht zu heilen: ruhige Lage, wiederholter Anstrich
mit Jodtinctur oder einige Vesicantien, auch Compressivverbände mit
nassen Binden genügen, um den Zustand in einigen Tagen zu beseitigen,
oder wenigstens ihm seine Acuität zu nehmen ; denn es kann sich ereignen,
dass alle Erscheinungen des acuten Processes verschwinden, der Kranke
geht umher und hat kaum irgend eine Beschwerde, doch bleiljt zu viel
Flüssigkeit im Gelenk, es bleibt ein Hydrops chronicus des Gelenks
zurück, wovon später. —
Sie werden zu einem andern Kranken, wieder mit Kniegelenkent-
zündung gerufen. Der junge Mensch hat sich vor einigen Tagen sehr
heftig erkältet, er verspürte bald darauf Schmerzen im Knie, bekam
heftiges Fieber, vielleicht einen tüchtigen Fieberfrost, das Gelenk wurde
immer schmerzhafter. Der Kranke liegt im Bett mit fiectirtem Knie,
und zwar so, dass er den Oberschenkel zugleich stark nach aussen rotirt
und abducirt hat; er widersteht jedem Versuch, das Bein aus dieser
Lage zu bringen, weil er furchtbare Schmerzen hat, so wie man das
Bein nur zu bewegen versucht. Das Kniegelenk ist stark geschwollen,
sehr heiss anzufühlen, doch ist keine deutliche Fluctuation wahrnehmbar,
gcj^ Von den acuten Enlzündnngen der f4e]enke.
die Haut ist leif-lit ödeiiiatüs und aul' dem Knie auch wold etwas geröthet,
auch dei- ganze Unterschenkel ist ödematös geschwollen; das Knie zu
strecken oder Aveiter zu beugen ist wegen der Schmerzen unmöglich. —
Welch ein anderes Bild im Vergleich zu dem friilieren! Haben Sie
Gelegenheit, ein Gelenk in diesem Zustand zu uutersuclien, so finden
Sie starke Schwellung der Synovialmembran ; dieselbe ist intensiv roth,
gewulstet, und zeigt sich bei mikroskopischer Untersuchung stark
plastisch und serös intiltrirt; in der Gelenkhöhle ist gewöhnlich wenig
mit Synovia gemischter flockiger Eiter, auch wohl ziemlich reiner Eiter.
Der Knorpel sieht auf seiner Oberfläche ein wenig trüb aus, zeigt aber
bei mikroskopischer Untersuchung kaum Veränderungen ausser einer
Trübung der hyalinen Substanz, vielleicht sind die Knorpelhöhlen etwas
vei'grössert, und die Zellen darin etwas undeutlicher als im normalen Zu-
stande. Das Gewebe der Gelenkkapsel ist ödematös durchtränkt. Sie
haben hier eine parenchymatöse eitrige sehr acute Synovitis vor
sich, an der sich schon der Knorpel mit zu betheiligen droht; dauert der
Zustand etwas länger und nimmt der Eiter im Gelenk zu, so können
Sie mit Piecht von einem Empyem des Gelenks reden.
Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Form acuter
Synovitis bestellt wesentlich darin, dass bei der zweiten das Gewebe der
Synovialmembran tief mitleidet, w^ährend bei der ersteren die erhöhte
secretorische Leistung in den Vordergrund tritt. Zwischen beiden For-
men liegen Fälle mit subacutem Verlauf, in welchen das Secret eitrig
wird und sich in grosser Menge im Gelenk ansammelt, ohne dass eine
tiefere Destruction der Synovialmembran eintritt. E. Volk mann nennt
das „catarrhalische Gelenkentzündung"; die Schmerzhaftigkeit ist dabei
etwas grösser wie beim gewöhnlichen acuten Hydrops, aus welchem die
catarrhalisch eitrige Form wohl hervorgehen kann, wenn dies auch un-
gemein selten der Fall ist. Ueber Verlauf und Behandlung des acuten
Hydrops habe ich bereits das Nöthige gesagt. Was den weiteren Ver-
lauf und Ausgang der mehr parenchymatösen, zur Eiterung disponirenden
Synovitis betrifft, so kommt dabei sehr viel darauf an, wann die Be-
handlung und welche Behandlung eintritt. Gewöhnlich werden einige
Blutegel an das Gelenk gesetzt, und Kataplasmen gemacht in der Idee
der alten Schule, dass rheumatische Gelenkentzündungen mit Wäiine
behandelt werden müssen. Die Blutegel halte ich für ganz nutzlos bei
diesen Zuständen; über das Warmhalten des Gliedes lässt sich vielleicht
noch streiten, den Kranken ist die Wärme oft sehr angenehm, sie mil-
dert entschieden die Schmerzen bei der Entzündung der serösen Häute,
oft mehr als die Kälte, wenigstens muss diese längere Zeit eingewirkt
haben, bis der günstige Einfluss erfolgt. Ich erkläre^ mir dies folgeuder-
maassen; durch die warmen Umschläge wird ein Blutzufluss zu den Ge-
fässen der Haut unterhalten und dadui-ch entleeren sich die Gefässe der
Synoviiiluicuihran nielir oder weniger nach aussen, diese Wirkung- wird
aber nicht gar larig'c aiilialteu, 1):il(l Avird sich (li(^ Miixioii zu (l(;ii ciit-
zliiuletcii ticfer(Mi Thoilcii "wicdci' liorstclIcMi wit; IViilicr, und stHrkur wcidiMi
als 7Ai der kiiiistlicli crwärmlen llaiii. Dagegen ziehen sieh bei der
Application einer grossen Eisblase auf ein Gelenk die Gefässc der Haut
zusammen, und treiben anfangs vielleiclit stärker als zuvor das P)lut in
die tiefer liegenden entzündeten Tlicile, bis alhnählig aucb auf diese sieb
die contraliirendc Wirkung der Kälte äussert und bei fortgesetzter Kälte
andauert. Rationeller bleibt es immer in diesen Fällen, Kälte anzuwenden;
bei recht acuten Gelenkentzündungen bewährt sicli die Anwendung
der Eisl)lasen auch praktisch in hohem Maasse. Sie können ne1)eu der
Kälte noch durch einen starken Jodanstrich eine kräftige Ableitung auf
die Haut erzielen, oder dasselbe durch ein Vesicatoire monstre zu er-
reichen suchen. Neben diesen Mitteln, ja noch A^or ihrer Anwendung
ist es aber von der allergrössten Wichtigkeit, das Gelenk
in eine zweckmässige Stellung zu bringen und darin zu
erhalten, denn wenn es nicht gelingt, eine llestitutio ad integrum
des Gelenkes zu erreichen, wenn das Gelenk steif l)leibt, so ist die
oft sehr stark flectirte Stellung des Knies eine sehr ül)le ljeigal)e zur
Steifheit, weil das Bein dann nicht oder nur wenig gebraucht werden
kann. Warum die acut erkrankten Gelenke, besonders bei intensiver
suppurativer Synovitis fast immer unwillkührlich in die flectirte Stellung
gerathen, ist eine schwierige Frage, die in verschiedener Weise beant-
wortet worden ist: man hat gemeint, dass durch die Entzündung der
Gelenke in Folge der starken Reizung der sensiblen Nerven der Syno-
vialmembran eine Art reflectorische Wirkung auf die motorischen Muskel-
nerven erfolge, und so die Muskeln zur Zusammenziehung veranlasst
werden. Bonnet, ein französischer Chirurg, der sehr grosse Verdienste
um die Behandlung der Gelenkkraukheiten hat, glaubte, dass bei starker
Anfüllung des Gelenks mit Eiter oder auch durch die Schwellung der
Synovialis das Gelenk aus mechanischen Gründen die flectirte Stellung
annehme, indem die Gelenkhöhle geräumiger sei in der Flexionsstellung
als in der Extensionsstellung ; er hat dies dadurch zu beweisen gesuclit,
dass er an Leichen Injectionen von Flüssigkeiten in die Gelenke maclite
und durch starke Füllung die Gelenke in die flectirte Stellung l)raehte.
Hiergegen lässt sich einwenden, dass bei Hydrops acutus, wo viel mehr
Flüssigkeit im Gelenk zu sein pflegt, als bei der eitrigen Synovitis, die
Flexionsstellung nicht eintritt, dass ferner bei acuten Gelenkentzündungen,
in welchen ich mich von der vollkommenen Abwesenheit von Flüssigkeit
zu überzeugen Gelegenheit hatte, doch Flexionsstellung eintrat. Mich
will es bedünken, dass die acute wulstige, sehr schmerzhafte Schwellung
der Synovialmembran die hauptsächlichste Veranlassung zu der Flexions-
stellung giebt, und ich möchte daher die Erklärung für richtiger
halten, nach Avelcher der Schmerz der Reiz ist, in Folge dessen sich
die Muskeln der Extremitäten zusammenziehen: auch andere Muskeln,
QQß Von den acuten Entziindungen der Gelenke.
in deren Nähe acute sclimerzliafte Euipiiuduugeu auftreten, ziehen sich
zusammen, z. B. die Halsmuskeln bei tiefliegenden Abscessen am
Hals. -- Die fehlerhafte Stellung- muss beseitigt Averden, und ZAvar für
jedes Gelenk so, dass die Stellung desselben für den Fall vollkommener
Steifheit relativ am günstigsten ist für die Function. Das Hüft- und
Kniegelenk sind also zu extendiren, das Fussgelenk ist in einen rechten
Winkel zu stellen, ebenso das Ellenbogengelenk; die Hand- und Schulter-
gelenke verstellen sich selten; ersteres bleibt gewühnlicli extendirt;
letzteres stellt sich gewöhnlich so, dass der Arm am Thorax liegt. Ich
will hier gleich bemerken, dass die verschiedenen grösseren Gelenke
äusserst verschieden häufig acut erkranken; das Kniegelenk erkrankt am
häufigsten, dann folgt das Ellenbogen- und Handgelenk ; acute Entzündung
des Hüft-, Schulter-, Fussgelenks sind schon Seltenlieiteu. Die acuten
Gelenkentzündungen sind häufiger bei jungen Leuten als bei älteren,
kommen bei Kindern fast nie vor. — Doch kommen Avir jetzt wieder
auf die Verbesserung der Stellung der Gelenke! Sie werden mir ein-
wenden, dass dies wegen der Schmerzen wohl unmöglich sein dürfte.
Hier hilft das Chloroform; dies Mittel ist gerade für die Behandlung der
Gelenkentzündungen von der allergrössten Bedeutung geworden. Sie
narkotisireu den Kranken tief, und können jetzt ohne Mühe das
Glied bewegen; die Muskeln, welche sich früher bei der leisesten Be-
rührung des Beines stark zusammenzogen, geben jetzt ohne Weiteres
nach. Bleiben wir bei unserem früher supponirten Fall, so extendiren
Sie also das Knie, hüllen dasselbe mit einer dicken Schicht Watte ein, und
legen nun einen Gypsverband an, vom Fuss bis etwas über die Mitte des
Oberschenkels hinauf. Wenn der Kranke aus der Narkose erwacht, so
wird er anfangs über ziemlich heftigen Schmerz klagen; Sie geben ihm
'/ Gran (oder 0,02 Grammes) Morphium und appliciren über dem Gyps-
verband auf das Knie eine oder zwei grosse Eisblasen; die Kälte wirkt
langsam aber zuletzt doch durch, und nach 24 Stunden findet sich der
Kranke leidlich behaglich in seiner neuen Lage. Die leichte Compression.
welche durch den stark wattirten Gypsverband ausgeübt wird, wirkt auch
günstig antiphlogistisch; Sie können bei bestehendem Fieber innerlicli
kühlende Mittel, auch Purgantia reichen; einer weiteren Behandlung bedarf
jedoch der Kranke nicht. Bevor Sie den Verband a])pliciren, kCumen Sie
das Glied stark mit grauer Quecksilbersalbe einreiben lassen , oder mit
Jodtinctur bestreichen. Doch selbst in dem acutesten Zustand ist es Pflicht,
den Verband anzulegen, natürlich mit äusserster Vorsicht, mit Vermeidung
jedes strangulirenden Druckes. In neuerer Zeit hat sich ergeben, dass
auch bei sehr acuten Gelenkentzündungen durch die moderne Methode
der Gewichtsextension ganz Ueberraschendes geleistet wird; es ist in der
That h()chst interessant zu beobachten, wie durch einen continuirlichen
massigen Zug der Schmerz im Gelenk gemildert wird und die lAIuskeln
nachgeben; dabei kommt aber viel auf Vehims; im Anle£en solcher
Vorlosmifr 9i>. C;i|,i(cl Xf. P^37
E\tciisionsvcrl);iiHlo an, iiiul kann icli Ilincn nic.lit g-cnng- empfehlen, Ilire
Anfnievksamkeit luicli nuf diese siclieiiibar so einfViclien mcclianisclien
Ding'e zu verwenden, deren ganze Wiclit.igkeit Sie erst sr-liätzen wei-dcn,
wenn Sie in der Praxis selbstständig- handeln, und Alles bis auf das
kleinste Detail selbst machen sollen.
Werden Sie reclit früh zu dem Patienten gerufen, so wird es Ihnen
in manchen Fällen gelingen, nicht allein die Acuität des Zustande« durch
die angeführte Behandlung' zu brechen, sondern auch Ihrem Kranken ein
bewegliches Gelenk zu erhalten. Doch auch wenn Sie erst spät hinzu-
gerufen werden, ist die angegebene Tliera})ie zunächst in Anwendung
zu ziehen. Mildern sich die Schmerzen, hört das Fieber auf, so können
Sie nach wenigen Wochen den Verband entfernisn; denn mehre Wochen
dauert der Zustand unter allen Umständen: vielleicht dauert es 3 — 5 Mo-
nate, bis der Entziindungsprocess vollkommen erloschen ist; allmählig
wird der normale Zustand, die frühere Beweglichkeit wieder eintreten,
wobei Sie den Patienten vor neuen Erkältungen, vor zu forcirten Hebun-
gen der Bewegung- sehr ernstlich warnen müssen, denn ein zweites Mal
möchte die Sache nicht so gut ablaufen.
Setzen wir jetzt den Fall, der acute Entzündungsprocess würde bei
der eingeschlagenen Behandlung- nicht regressiv, sondern bliebe progressiv,
so kann diese Progression in chronische Form übergehen oder acut blei-
ben; von ersterem Falle haben wir später zu sprechen. Für jetzt nehmen
wir einmal an, die Schmerzen Hessen nicht nach, sondern werden heftiger
und Sie sind dadurch genöthigt, den Verband der Länge nach vorn auf-
zuschneiden; Sie tinden das Knie mehr geschwollen, zumal deutliche
Fluctuation, starkes Schwappen der Patella; dabei fiebert der Patient
heftig-. — Lassen *Sie jetzt die Sache gehen, so kann es sich ereignen, dass
sich die Schwappung weiter und weiter, z. B. nach dem Oberschenkel
hinauf verbreitet, und dass das Unterhautzellgewebe des Oberschenkels
und Unterschenkels an dem eitrigen Entzündung-sprocess Theil nimmt.
Man suchte die Ursache zu dieser Ausbreitung- früher in der Regel in
einer subcutanen Berstung oder partiellen Vereiterung der dem Gelenk
adnexen Synovialsäcke, besonders des g-rossen Synovialsacks unter der
Sehne des Quadriceps femoris und der Bursa poplitea; um diesem sehr
üblen Ereigniss zuvorzukommen, hielt man es wohl zweckmässig-, in dem
beschriebenen Stadium der Gelenkerkrankung mit einem Trokar in die
Gelenkhöhle einzustechen, den Eiter zum grössten Theil auszulassen und
die Oeffnung- dann sorgfältig zu schliessen. Ich halte nach meinen eige-
nen Erfahrungen den eben angedeuteten Vorgang mindestens für sehr
selten, denn ich glaube mich durch sorgfältige Untersuchung am Kranken-
bett wie gelegentlich an Leichen davon überzeugt zu haben, dass diese
bei acuter Synovitis und auch bei Ostitis der Geleukeuden entstehenden
periarticulären Zellgewebsabscesse isolirt entstehen, und, wenn überhaupt,
erst spät ins Gelenk durchbrechen. Mit der Entwicklung dieser Abscesse
BilhutU uliir. Path. u. Tlier, 7. Aufl. 22
öoo Von (Ion aciilen P^nt^rmdunffcn der Gclfiikp.
})liegt sich der AUg'emeinzustand des Kranken sehr zu veri^clilimmern.
Diese Verschlimmerung besteht in sehr hohem Fieber mit intercurrenten
Scliiittelfrösten, Verfall der Gresichtsziige, Abmagerung, vollständiger Ap-
petitlosigkeit und Schlaflosigkeit. Clünin und Opiate sind zuletzt -wir-
kungslos, und der Kranke Avird durch die erschöpfende Eiterung und
das dauernde heftige Fieber, vielleicht auch unter Hinzutritt metastati-
sclier Eiterungen zu Grunde gehen, wenn sie den örtlichen Process nicht
rechtzeitig durch die Amputation des Oberschenkels coupiren. Gelingt
es Ihnen, durch Eisbehandlung, Functionen oder Einschnitte behufs Ent-
leerung des Eiters, durch Chinin und Opium den Zustand noch jetzt in
seiner Acuität zu brechen und ihn in einen chronischen überzuführen, so
"\Verden Sie kein bewegliches Glied mehr erhalten, doch ein, wenn auch
in gradem Winkel anchylosirtes, ganz wohl brauchbares Bein; dies ist
der schönste Erfolg, den wir nach vielen Tagen oder V/ochen der Angst
und Sorge um unsern Kranken erreichen können, wenn die Entzündung
zu dem beschriebenen Grade gediehen ist. — Die anatomischen Verän-
derungen, welche wir an einem Kniegelenk finden, welches sich in die-
sem Grade der Entzündung befindet, sind folgende: das Gelenk ist mit
dickem, gelbem Eiter gefüllt, der mit Fibriuflocken untermischt ist; die
Synovialmembran ist mit dicken eitrig-fibrinösen Schwarten bedeckt, dar-
unter stark geröthet und gewulstet, zum Theil ulcerirt, der Knorpel ist
theilweis erweiclit, theilweis ist er nekrotisch geworden und löst sich in
kleineren oder grösseren Fetzen ab, der darunter liegende Knochen ist
stark geröthet, aucli wohl eitrig infiltrirt (Osteomyelitis; meist in diesen
Fällen als secundäre, seltner als primäre Erkrankung).
Die Prognose dieser Krankheit ist bei jüngeren kräftigen Leuten
nicht so übel, wenn Sie früh die zweckmässige Behandlung einleiten,
sehr schlecht, fast absolut letal bei alten decrepiden Individuen.
Ich habe Ihnen in dem Vorigen die beiden Formen der Synovitis,
nämlich die serosa und pareuchymatosa (purulenta) an typischen Fällen
gescliildert, und bin überzeugt, dass Sie in Ihrer Praxis diese Bilder
leicht wieder erkennen werden; es wird Ihnen keine Schwierigkeiten
machen, das am Kniegelenk Geschilderte auf andere Gelenke zu über-
tragen. — Nun muss ich hinzufügen, dass es noch eine andere acute
oder subacute Entzüudungsform an den Gelenken giebt, welche manche
Eigcnthümlichkeiten bietet, ich meine den Rheumatismus articulo-
rum acutus. Diese höchst eigenthümliche Krankheit, welche ausführ-
licher in den Vorlesungen über innere Medicin behandelt wird, zeichnet
sich dadurch aus, dass sie meist mehre Gelenke zugleich befällt und
dass dabei eine grosse Disposition zu Entzündun-en anderer seröser
Haute besteht, so des Peri- und Endocardium, der Pleura, sehr selten
des lerit(niaum und der Arachnoidea. Durch diese gleichzeitige Er-
Vc.rlosim-- '■>■>. Capiicl XI. )>,))[)
kmiikuiii»' der i^'ciiamileii Tlicilc inid der Ckdcnkc kcnnzciclmct sieli die
Krankheit als eine solche, die von vorn herein den g'anzen Körper l)c-
trifft; in der Tliat tritt der Wiehtig'keit des Organs weisen die l*ei'icar-
ditis nnd Endoearditis oft so sehr in den Vorderij,'rund und bestimmt so
sehr die Leituiii^' der i>'aiizen Behandlung', dass die ('hirurg-isclie Tliera})ie
der (ielenke von untergeordneter Bedeutung Avird; dies ist um so melir
der Fall, als diese Geleukkrankheit, wenngleich äusserst sehmerzhaft,
selten einen für das Glied oder für das Leben gefährlichen Verlan i' zu
nehmen pflegt. Grosse Schmerzhaftigkeit der Gelenke bei jedem Ver-
such der Bewegung- und bei Druck, Oedem der Weichtlicile um die-
selben, in seltneren Fällen mit gleichzeitiger Röthung der Haut sind die
riauptsymptome des örtlichen Leidens, über v\' eiche hinaus der Process
selten geht. Aus den wenigen Sectionsresultaten, welche von diesem
Krankheitsprocess vorliegen, ergiebt sich, dass die Synovia etwas ver-
mehrt, zuweilen mit Eiterflocken vermischt, und die Synovialmembran
geschwollen und geröthet ist; der Knorpel leidet sehr selten mit; auch
ist die Ansammlung von Flüssigkeit selten so bedeutend, dass man Fluc-
tuation wahrnehmen könnte. — Der Blieumatismus acutus kommt sehr
häulig vor; da er aber selten tödtlieh ist, so ist die pathologisch -anato-
mische Ausbeute nicht gross. Nach allen den Ersclieinungen, welche
diese Krankheit bietet, ist es klar, dass sie eine ganz specifische, abgegrenzte
Krankheit eigener Art ist, deren Verlauf aber so atypisch ist, und deren
Ursachen so dunkel sind, dass man ihr eigentliches Wesen bisher nicht
ergründet hat. Es ist mir zweifelhaft, ob man neben diesem polyar-
ticulären Rheumatismus acutus von einem uiouarticulären
Rheumatismus acutus spreeheu darf, weil grade iu der Multiplicität
der Entzündungsheerde und in der geringen Neigung dieses Entzüudungs-
processes zur Eiterung etwas Charakteristisches für das Wesen der Krank-
heit zu liegen scheint; jedenfalls würde ich eine auf ein Gelenk be-
schränkte Entzündung nicht eher als Theilerscheinung des ganzen
Krankheitscomplexes des Rheumatismus acutus bezeichnen, bis sich etwa
Pleuritis oder Pericarditis oder sonstige Processe hinzugeseilen, welche
dem Rheumatismus acutus eigenthümlich sind; ist dies nicht der Fall,
so haben wir es eben mit einem rein localen Process, einer einfachen
Gelenkentzündung zu tliuu, die wir nur deshalb vielleicht rheumatisch
nennen, weil sie durch Erkältung entstanden sein soll. ~ Was den Ver-
lauf der Gelenkentzündungen bei Rheumatismus acutus betrifft, so ist
der Ausgang in Zertheilung und vollständige Herstellung des Gelenkes
in seiner Function so sehr das Gewöhnliche, dass man selten einen an-
deren Ausgang wahrnimmt. Dass die Krankheit sich sehr in die Länge
zieht und meist 6—8 Wochen dauert, ist nicht so sehr in der Dauer der
Affection au den einzelneu Gelenken begründet, sondern darin, dass bald
dies bald jenes Gelenk befalleu wird, und auch leicht wieder Exacer-
bationen des Processes in Gelenken auftreten, die schon wieder ganz
OyAQ Von dou arntoii Eiitziindiiiigcn der fielciikc.
lievgestellt waren; dadurch wird diese Krankheit für den Patienten wie
für den Arzt selir langweilig-, und doch bedarf dieselbe der strengsten
Ueberwachung und Sorgfalt, um alle einwirkenden Schädlichkeiten ab-
7.uhalten, die den Process aufs Neue anregen könnten. — Dass eines
der befallenen Gelenke dabei zu intensiverer Eiterung, zum Empyem
kommt, ist äusserst selten; elier kommt es vor, dass ein Gelenk, trotz
Ablauf des ganzen Krankheitsprocesses, schmerzhaft und steif bleibt und
eine chronische Gelenkentzündung sich weiterhin ausbreitet. Sie sehen,
dass die Prognose dieser Krankheit, so weit es die Gelenke betrifft,
äusserst günstig zu nennen ist; es laufen diese Gelenkentzündungen meist
ohne Zuthun des Arztes von selbst günstig ab. Alles, was wir daher
gegen den örtlichen Process unternehmen, ist, dass wir es durch Ein-
hüllen mit Watte, Flachs, Werg oder Wolle vor Temperaturdifferenzen
zu schützen suclien. Leichte äussere Hautreize, Bestreichen mit der ofti-
cinellen Jodtinctur können hinzugefügt werden. Zur Linderung der
Schmerzen in den Gelenken und zur Beschleunigung des Ablaufs des
Processes ist von Stromeyer u. A. die Anwendung der Eisblasen und
überhaupt ein mehr kühles als Avarmes Verhalten empfohlen. Ich glaube
indess kaum, dass diese Behandlung viele Anhänger finden wird, weil
sie mühsam durch die Beschaffung und die Unterhaitang der Eisblasen
ist, und weil erfahrungsgemäss diese Gelenkentzündungen auch ohne
eine solche Eisapplication gut verlaufen. — Innerlich giebt man Diure-
tica, Diaphoretica oder kühlende Salze, bei Herzaffectionen ist örtliche
Antiphlogose, Digitalis u. s. w. iudicirt, wie Ihnen dies in der speciellen
Pathologie und medicinischen Klinik genauer gelehrt werden wird.
Dem Rheumatismus acutus ähnlich ist der acute Anfall der
artliritischen Gelenkentzündung. Der Anfall von Podagra oder
Chiragra ist ebenfalls specifisch und gehört eben nur der ächten, wahren
Gicht an, die Gelenkentzündung ist auch hier eine acute, seröse Synovitis,
jedoch mit äusserst wenig Secretion von Flüssigkeit im Gelenk; was aber
der acuten arthritischen Entzündung ganz eigenthümlich ist, das ist die
nie fehlende gleichzeitige Entzündung der umgebenden Theile des Ge-
lenkes, des Periostes, der Sehnenscheiden, besonders aber der Haut; diese
röthet sich immer, wird glänzend, stark gespannt, wie beim Erysipelas
und ist äusserst schmerzhaft, desquamirt auch zuweilen nach dem Anfall;
die acute arthritische Gelenkentzündung ist noch weit schmerzhafter als
die Gelenkentzündungen bei Rheumatismus acutus, lieber die Behandlung
der Arthritis und die arthritische Diathese wollen wir später sprechen.
Es erübrigt noch, eine Art von acuter Gelenkentzündung zu erwähnen,
nämlic'h die metastatische, über deren Entstehung wir später bei der
Voricsims 22. C-ipilrl \f. 34 J
Pyolinniie weiteres zu sag'on haben. Die ;icute (xler subacute mefasta-
tische Oelenkontziindung- ist g-ewülinlicli eine aulaiigs mehr seröse, bahl
aber rein suppiirative Synovitis. Es hissen sich hier mehre Formen
unterscheiden :
1. Die gonorrhoische Gelenkent/iindung; sie tritt auf bei
Männern, welclie an Tripper leiden, kommt aucli zuweilen voi- nach
häufigem Einführen von Boug'ies in die llanirühre und befällt fast aus-
schliesslich die Kniegelenke. Es wird von manclien Autoren ])e!iaui)tet,
dass diese Gelenkent/äindungcn besonders dann zur Entwicklung konmien,
wenn ein Tripper schnell unterdrückt wird; dies kann icli nacli meinen
Erfahrungen nicht finden; die Krankheit ist im Verhältniss zu dem un-
säglich häufig- vorkonmiendeu Tripper selten, doch habe ich sie mehre
Male bei ganz tloiidem Tripper nach Erkältungen entstehen sehen. Man
könnte vielleicht den unverständlichen Zusammenhang zwischen dem
eitrigen Katarrh der Harnröhre und den Kniegelenkentziindungen ganz
ableugnen, und das gleichzeitige Vorkonmien beider Krankheiten für ein
rein zufälliges halten; doch spricht die Erfahrung zu vieler Aerzte für
einen solchen Zusammenhang', und auch die Fälle, in welchen Knie-
gelenkentzündungen nach anderen Reizungen der Harnröhre, z. B. durch
Bougies, entstehen, sprechen dafür. — Die gonorrhoische Gonitis tritt
meist beiderseitig auf und ist eine subacute seröse Synovitis, die sich
in der Regel bei gehöriger Ruhe des Patienten, Vermeidung von neuen
Reizungen der Harnröhre, Anwendung von Vesicantien, Jodtinctur, leichter
Compression auf die erkrankten Gelenke bald wieder verliert und nach
Resorption der Plüssigkeit mit vollständiger Genesung des Gelenkes
endigt. Indess bleibt eine Reizbarkeit der Kniegelenke leicht zurück,
und es ist nicht selten zu beobachten, dass dieselben Individuen bei
einem neuen Tripper wieder von den Gelenkentzündungen befallen werden.
In manchen Fällen soll sich chronischer Gelenkrheumatismus nach go-
norrhoischer Gonitis ausbilden.
2. Die pyohämische Gelenkentzündung etablirt sich auch
sehr häufig in einem oder dem andern Kniegelenk, doch auch im Fuss-
gelenk, Schulter-, Ellenbogen- und Handgelenk, selten in der Hüfte; sie
ist eine purulente Synovitis in optima forma, später auch mit Vereiterung
des periarticulären Zellgewebes verbunden, doch meist mit subacutem
Verlauf und daher nicht immer vollständig entwickelt, wenn die Patienten
zur Section kommen. Nicht immer gehen die Pyohämischen mit Gelenk-
eiterung zu Grunde; ich habe auch schon Resorption in solchen Fällen
beobachtet, in denen die Kranken die Eiterinfectiou überhaupt über-
standen. Die Behandlung ist keine andere, als die oben erwähnte; bei
zu starker Ansammlung von Eiter macht man die Function mit gutem
Erfolg in Betreff der Schmerzen. — Die Gelenkeiterungen, welche bei
Verletzungen, Zerreissungen der Harnröhre durch unvorsichtiges Cathe-
terisiren vorkommen und meist mit Schüttelfrösten verbunden sind, ge-
?A2
Von df'n aciih'ti Eiity.iin'lnn.m'n 'li^r fielciik'
lir»ren selbstverständlich niclit zw den gonorrlioisclien, sondern zu den [lyo-
liäniiselicn. Ich l)chandcltc in ßerlin einen jung-en i\rann, dem eine Eup-
tur der Harnröhre beim Jjougiren beigebracht war, und (]er darauf einen
Abscess an der linl^en Schulter bekam mit Vereiterung des Acromial-
ü-elenkes der Clavicula und dadurch bedingter Subluxation dieses Knochens.
Der Kranke wurde vollkommen hergestellt, und da der Abscess nicht
gross war, wurde er nicht eröffnet. Ich sali den jungen Mann nach
einem Jahr wieder; der Abscess war etwas kleiner geworden, man fühlte
ganz deutlich die Fluctuation; da jedoch durch denselben gar keine
Functionsstörung, überhaupt keinerlei Beschwerden veranlasst wurden,
und der Patient blühend und gesund war, so hütete ich mich wold, den
Abscess zu öffnen , und rathc Ihnen , dasselbe in ähnlichen Fällen bei
solchen kalten Abscesseu, die nachw^eisbar mit Gelenken communiciren,
zu thun, da man wenig durcli die Eröffnung nutzt und viel schaden
kann, weil sich dann möglicher Weise eine sehr acute Entzündung- des
Gelenks aus bilden und diese unangenehme Folgen nach sich ziehen kann.
3. Die puerperale Gelenkentzündung. Das Puerperal- oder
bösartige Wochenfieber ist eine Form der Pyohämie, welche sich im
Verlauf des V/ochenbettcs entwickeln kann. Die dabei vorkommenden
eitrigen Gelenkentzündungen fallen daher unter die eben besprochene
Kategorie der pyohämischen, suppurativen Synovitis. — Es kommt indess
nach abgelaufenem Puerperium in der 3., selbst noch in der 4. Woche
nach der Entbindnng nicht selten eine acute eitrige Entzündung-, besonders
des Knie- nnd Ellenbogengelenks vor, die in Bezug auf ihre Entstehung
verschiedener Deutung unterworfen ist. Manche nehmen an, es sei eine
einfache Form von acuter Gelenkentzündung, welche in Folge von Erkäl-
tungen entstellt, wozu V>'öchnerinnen besonders disponirt sind, ^veil sie
viel und stark transpiriren. Andere sind der Ansicht, dass auch diese
späteren Gelenkentzündungen eine Avenn auch verschlei>pte und gewM"ilin-
lich isolirte Theilerscheinung der Pyohämie sind, und rechnen dieselben
daher zu den metastatischen. Mag dem nun sein, wie ihm wolle, so ist
jedenfalls sicher, dass diese spät auftretenden Gelenkentzündungen bei
Wöchnerinnen durchaus nichts Sp,ecifisches darbieten; sie verlaufen bald
acut, bald subacut, und können unter passender Behandlung nicht selten
so in Schranken gehalten werden, dass das Gelenk beweglich bleibt;
doch kommt es freilich auch vor, dass später ein mehr chronischer Ver-
lauf eintritt und der Ausgang in Anchylose erfolgt; im Ganzen ist die
Prognose bei diesen Gelenkentzündungen nicht so übel; sie erreichen
selten den höchsten Grad der Acuität. Die Behandlung ist dieselbe, wie
wir sie frülicr schon bei der acuten eitrig-en Synovitis besprochen haben.
Erwähnen will ich hier noch, dass auch bei der Pyohämie Neug-e
bor euer citrige Gelenkentzündungen vorkommen, ja zuweilen Kinder
nnt solchen Entzündungen geboren werden, wie es von mir und Anderen
gesehen worden ist; es können Gelenkentzündungen während des Fötal-
Vurlcsiiii-; H. AiiIiaiiK /n <'';i|iil''l T- XI. J}-.]:-)
lebens entstehen, sogar vollstüiidii!,- HJ>l;uircii , wie ;uis (lenjcni^cn
•' hervorg'cht, in woIcIkmi KindcM- mii vollkoimiKMi juis^childcü
anchylosirtcu Gelenken zur Welt kouunen.
' ;illcii
'II, (loci)
ANHANG ZU CAPITEL I — XL
Rückblick. Allgemeines über den acuten Entzünclungsprocess.
Meine Herren!
Ich ha.be Ihnen bisher eine Anzahl klinisch-chirnrgischer Bilder vor-
gefiilirt, dnrch Avelche der acnte EntzUndnngsprocess in verscliiedenen
Formen repräsentirt war. Wir haben die Verletzungen und ilire Folgen,
so wie die ohne Verletzungen auftretenden acuten Erkrankungen, welche
ins Gebiet der Chirurgie fallen, an nnserer Fantasie vorübergehen lassen
und dabei die gestörten physiologischen Frocesse, die Mittel ihrer Aus-
gleichung und die Vorgänge dieser Ausgleichung studirt. Diese Art
der Betrachtung scliien mir anregend für Sie, und schien mir erlaubt,
da ich voraussetze, dass Sie bereits einige Kenntnisse der allgemeinen
Pathologie mitbringen , und Sie in Ihre Vorstellung somit bereits An-
knüpfungspunkte für gelegentliche pathologisch - pliysiologische und
histologische Exeursen hatten. Es dürfte Inders nicht überflüssig sein,
wenn ich Ihnen hier zum Schluss dieses ersten und umfangreichsten Ab-
schnittes unserer Aufgabe noch ein kurzes Gesammtbild von dem heu-
tigen Stand der Entzündungsichre gebe, welche durch neuere bedeutende
Arbeiten von Cohnheim, Samuel, Arnold u. A. wieder erlieblich
gefördert wurde. Ich kann mich dabei kurz fassen und an bereits
Gesagtes anknüpfen.
Auch hier muss ich mit der Bemerkung beginnen, dass wir leider
wegen unserer geringen Kenntnisse über die Mitbetheiligung der Nerven
am Entzündungsprocess, diese ausser Betrachtung lassen müssen. Gefässe,
Blut und Gewebe bilden fast ausschliesslich die Objecte unseres Studiums.
Die Erweiterung der Blutgefässe ist ein wesentliches Moment bei der Entzün-
dung; doch weder die Hyperämie durch Behinderung des BUitstroms in den Venen (Stauungs-
hyperämie), noch die Erweiterung der Arterien durch Paralyse der Geta.sswandungen (z. B.
am Ohr des Kaninchens in Folge von Durchschneidung des Halssynipathicus), noch die
plötzlichen primären Gefässerweiterungen nach mechanischen und chemischen Irritationen
(primäre Irritations-Fluxion) führen nothwendig und direct zur Entzündung. — L'eber
die letzterwähnte Art der Gefässerweiteruug habe ich noch Einiges zu dem früher Gesagten
hinzuzufügen. Die Erscheinung, um die es sich handelt, ist folgende: Sie reiben z.B.
das Auge, es wird roth; Sie reilien die Haut, sie wird roth: Sie appliciren warmes Wasser
auf die Haut, sie wird roth; Sie legen Schnee auf die Haut, sie wird blass, dann roth.
Alle diese Hautröthungen gehen sehr bald wieder vorüber, wenn die Ursachen ihrer
p I I Kiickhiick. All.i,'<'iii('iiies iihi'r dcii aciitcMi EiitziiiKluiigsprocess.
J^iLslL-liuii" nur kiirzo Zeit wirkten nnd l)al(l beseitigt wurden. Auf die Eulstehuug.^weise
dieser Hyperämien beziehen sich die vielen früher (pag. 63) erwähnten, jetzt als unzu-
reichend erkannten Erklärungsversuche. Die Erscheinung selbst ist von Cohnheini voll-
kommen "-ewürdigl; doch wenn man auch hei Einwirkung von Hitze und Kälte und bei
clieniischen Einwirkungen an einen direct und momentan lähmenden Einfluss auf die
Gcfässwaudungen denken wollte, so ist nach unsern bisherigen Vorstellungen denn doch
die Anschauung etwas befremdend, dass von einer circumscript gedrückten oder gezerrten
Stelle aus sich eine lähmende Wirkung auf eine erhebliche Strecke des umliegenden Gefäss-
"■ebietes nach Art einer ijlrschütterung oder Wellenbewegung ausdehnen sollte. Mir scheint,
wir wissen über die Ursachen dieses ..al'fluxus" zum „Stimulus" auch jetzt nicht mehr als
früher. Wichtig ist es aber, dass C oh n he im gezeigt hat, dass in Fällen, wo nach phy-
sikalischen und ehemischen Einwirkungen zweifellose lilntzündungen entstehen, diese
prinTären Fluxionshyperämieu bereits längere Zeit vorübergegangen sein können, ehe
die zur Entzündung führende, mit der Entzündung fortdauernde neue Hyperämie auftritt:
auch kann die erwähnte primäre Fluxion unter gewissen Verhältnissen an manchen
Beobachtungsobjecten ganz ausbleiben und doch folgt eine reguläre Entzündung mit
specifischer Entzündungshyperäune. Hieraus geht hervor, dass die fluxionäre Blutströmung,
welche dem Reiz unmittelbar auf dem Fusse folgt, kein absolut nothwendiges Moment bei
der Entzündung ist.
Ein Kaninchenohr, dessen Gefässe in Folge von Sympathicus -Durchschneidung ge-
lähmt und erweitert sind, geräth dadurch nicht in Entzündung; sein Gewebe fühlt sich
durch massiges Oedem wohl etwas praller an, doch es kommt zu keinem weiteren Process.
zu keiner weiteren Ernährungsstörung in den Gefässen und im Gewebe.
Schwerere Folgen hat freilich eine ausgedehnte Stauungshyperämie. Dass eine leichte
intravasculäre Drucksteigerung, wie sie nach massig ausgedehnten Verletzungen vorkommt,
rasch vorüber geht und nicht für die Entzündung als solche verwei-thet wei'den kann, ist
früher (pag. 62) erwähnt. Erstreckt sich aber die Blutstauung auf ein' sehr ausgedehntes
Gebiet, und kann unter den gegebenen Verhältnissen nicht ausgeglichen werden, dann
folgt reichlicher Austritt von Serum in das Gewebe (Oedem) , so reichlich , dass es auch
von den vielleicht noch functionirenden Lymphbahnen nicht abgeführt werden kann; zu-
gleich kommt es zu reichlichem Austritt rother Blutkörperchen durch die Wandungen der
Capillargefässe (Diapedesis) ins Gewebe. Schon Cohnheim hatte es für wahrscheinlich
erklärt, dass die Diapedesis durch präformirte Oeffnungen der Capillargefässe erfolge. Arnold
hat dies nicht nur bestätigt, sondern geradezu die sogenannten Stigmata (d. h. die kleinen
Oeffnungen, welche nach Silbertinction zwischen den die Capillaren zusaumiensetzenden
Zellen sichtbar werden) als diese Austrittsstellen bezeichnet und hinzugefügt, dass auch das
Blutserum stromweise aus diesen Stigmata ausfliesse. Ist das Circularionshlnderniss der
Art, dass dabei doch dauernd das Blut fliessen kann, so erfolgt nichts Weiteres als Oedem
und Diapedesis; hört die Circulation ganz auf und gerinnt das Blut, dann folgt Gangrän.
Kommen wir nun endlich zu derjenigen Hyperämie, wie sie bei Entzündungen besteht,
so ist sie also weder die unmittelbare Folge des vorübergehenden Reizes, noch die Folge
einer Lähmung der Gefässnerven, noch das Resultat von Circulationshindernissen, sondern sie
ist die Folge einer eigenthiunlichen Alteration der Gefäss- (zumal der Capillar- und Venen-)
waiulungen; es lässt sich nicht sagen, welche chemische oder physikalische Veränderung
dabei in den Gefässwandungen vorgeht: wir schliessen aber daraus, dass die Gefässe des
Entzündungsbezirks dauernd erweitert sind und dass sie den massenhaften Durchtritt der
weissen Blutkörperchen (uichl nur durch die präformirten Stigmata, sondern an jedem
Punkt ihrer Wandung) gestatten, — dass die Substanz dieser Gefässe sich in einem wei-
clieren nachgiebigeren Zustand befinden. AVarum sie in diesen Zustand gerathen, das
isi freilich nicht für alle Fälle so leicht zu begreifen; nuin nimmt es als direcren, wenn
auch meist erst nach Stunden auftretenden Effekt der Entzündungsursache oder des Ent-
zündungsreizes. Es erhel'on sich hier fiir die Erklärung des Zustandekommens der wenn
Vorlosmii^ 'i'i. AiiIiiuil; /.ii C-ipild f - XL 845
aiii'li iii'cli so t:;(>riiiK uiisftiMlolnilon lCii(/,iiii(lmijfsräii(l('r odor 10ii(/,ü)i(liiiif;sli((IV! nach j^hii/,
scliair li('!;i'('ir/.f(;Mi Yorlcl/iniRoii durcli Scliiiilt imd Sticli die j^Icic-licii S('liwicrij^l<(!i(:('ii, wie
lu'i der Erklärung der priuiänii l''lii\iiiii. Alan niiiss elien willkührlifli ann(dinicn, dass
sich M\ (Ion (/let'iissen iil)eriiau|il nie eim' SliuMiiig genau ;inl' (his direcl ge(r(i(ilene (iel)i('l
lieschränken kann, sondern das,s sie nnter aUen Unisfändini sicli eivvas aiishreilen rruiss,
am geringsten iiei Sclmilt, Slicli nnd cii'cunisci'ipfen schnellen N'ci'kohinngcn , am nicislen
liei gewissen clunnisclien l'^inwirkungen. Dnrh dies isl eigenllicli keine lOrklärnng. sondern
nur eine Umsehreihnng (U'r Beohachinng seihsl.
Berüeksiciiligen wir jel/.l das Blut nnd st'ine Slrrinning in enf/.üiKlcIcn (iewehcn.
Die primäre b'iuxion isl. mit einer erhehlicli gesteigerten (Jeschwindigkeit der Bliilhewcgnng
verlninden, zumal in den Arterien ; diese geht zum normalen Modus dei- Bewegung y.uriick,
wenn die primäre Gefässdilatation zurückgehl. In den Cieh'issen, welciu' dauernd sich
dilatiren, im Bereich des Entzündnngsheerdes oder Enlzünduiigshofes nimmt nach und
nach die Geschwindigkeit der Circnlation ab, zumal in den Venen: das Bhit gehl auch
wohl stossweisc hin nnd znrück, staut da nnd dort gelegenllicli vollständig. Diese Stase,
die zunächst nocli nicht mit Blutgerinnung verhunch^n ist, wurde friiher als ein sehr wesent-
liches Zubehör zu einer äcliten Entzündung lietrachtet, und liat viele Erkiäi-nngen hervor-
gerufen, die für uns kaum noch Interesse haben, da wir wissen, dass viele Entzündungen ohne
Stase verlaufen, sowie dass diese Stase sich oft trotz fortschreitender Entzündung vvrieder
löst; wenn sie dauernd bleibt, tritt endlich Gerinnung des Blutes im Gefäss (Thrombosis)
ein, mit ihren Consequenzen nach den localen Verhältnissen nnd nach der Ausdehnung
der Thrombose; durch coUaterale Dilatation kommt es entweder zur restitutio ad integrum
des in der Ernährung bedrohten Gewebsgebiets, oder es konnnt zur Gangrän desselben.
Bei der anfangs langsamen und nnregelniässig werdenden, später wieder normalen Cir-
culationsgeschwindigkeit des Blutes in dem Entzündungsgebiet häufen sich nach und nach
viele weisse Blntzellen an den Wandungen der kleinen Venen und Capillaren an. und
haften hier fest; man nennt dies „Randstellung der weissen Blntkr.rperchen" ; nun beginnt
die Auswanderung derselben durch die Gefässwandung ins Gewebe, die interstitielle An-
fallung des letzteren mit den Wanderzellen (zellige, bei massenhafim- Znnalnne eitrige
Infiltration), eventuell die Auswanderung der Zellen auf Oberflächen (Flächeneiterung,
eitriger Catarrh, Eitersecretion).
Wir haben nun das vollständige Bild der acuten Entzündung vor uns; doch so wie
der Process schon ^zur Zelt der Gefässdilatation und Randstellung der weissen Blnt/.ellen
zurückgehen kann, so kann er auch noch in späteren Stadien bei schon ziendich vor-
geschrittener zellulärer Infiltration zurückgehen, ohne dass an dem infiltrirt gewesenen
Gewebe und an den dilatirt gewesenen Gefässen eine sichtbare Verändernng zurückbleibt.
Bei einer gewissen Höhe der eitrigen Infiltration aber verschwindet das infiltrirte Gewebe
völlig, der Eiter tritt ganz an seine Stelle, es entw'ickelt sich ein Abscess; — oder es
kommt zu einer interstitiellen Gewebsneubildung (Granulationsgewebe, entzündliche Neu-
bildung), welche cJie Stelle des entzündet gewesenen Gcwel>es einninunt, und welches
sich, falls es nicht durch nekrobiotische Processe nachträglich zu Grunde geht, zu Binde-
gewebe (Narbe) mit Gefässen und Nerven umbildet.
Es fragt sich, wodurch wird dieser Schwund des entzündlichen Gewebes bedingt;
war derselbe schon durch die directe Einwirkung der Entzündungsursache vorbereitet,
oder ist er das Kesultat der zelligeu Infiltration? Wir konnnen damit auf den dritten
wichtigen Punkt bei der Entzündung: nämlich auf das Verhalten des Gewebes selbst
bei den geschilderten Vorgängen. Bleiben wir zunächst bei den durch bekannte chemische
und phj'sikalische Ursachen hervorgerufenen Entzündungen stehen, so ist es keinem Z\veifel
unterlegen, dass dieselben unmöglich auf Gelasse und Blut wirken können, ohne zugleich
auch das Gewebe zu treffen. Samuel geht in erster Linie von den chemisch angeregten
Processen aus und erklärt den Process der Entzündung für das Resultat einer Verbindung
der Entzündungsursaehe mit dem Gewebe , der Blntgefässwandungen und dem Blut. Die
ß^ß riiukfitick. Allgemeines über den acuten Eiitziindiingsprocess.
Auswanderung der Blutzellen, ihre Inültratioii ins Gewebe und die sich anschliessenden
histopoetischen Vorgänge, sind für ihn ganz secundäre Processe. Fuhrt die Einwirkung;
concentrirter Schwefelsäure auf das Gewebe zu einer Metamorphose des letzteren, bei
welcher Blut- und Saftcirculatiun nicht mehr möglich sind, so ist das Gewebe direct ge-
tödtet; der veränderte Zustand aber, in welchem sich ein Gewebe befindet, welches eine
ganz verdünnte Schwefelsäure in sich aufgenommen hat (sei es am Rand einer Aetzung
mit concentrirter Säure, sei es, dass überhaupt nur sehr diluirte Säure angewandt wurde),
diese Störung des Gewebschemismus durch die hinzukommende Säure, bei welcher
Blut- und Saftcirculation doch noch existiren können, soll das Wesentlichste bei der
Entzündung sein. Danach würde also, wenn ich die Auseinandersetzungen Samuel's
richtig verstanden habe , der gestörte Chemismus in den entzündeten Geweben für jeden
speciellen Fall ein anderer sein, ein anderer bei Einwirkung von Säuren, ein anderer bei
Einwirkung von Alkalien, ein anderer bei Einwirkung von ätherischen Oelen (z. B.
Terpentinöl), ein änderer bei Einwirkung von scharfen Oelen (z. B. Crotonöl) u. s. f.
Der Zustand der entzündeten Gewebe wäre auch wieder ein anderer bei Einwirkung
niederer Kältegrade, ein anderer bei Einwirkung hoher Hitzegrade, ein anderer nach Ein-
wirkung von Quetschung, ein anderer nach Wasserverdunstung an freigelegten Flächen seröser
Häute u. s. f. — So würden wir ganz darauf verzichten müssen, uns eine einheitliche Vor-
stellung von den chemischen Vorgängen in dem entzündeten Gewebe zu machen. Ich weiss
nicht, ob diese Anschauung in dieser Fassung viel Anklang finden wird. Bisher haben
wir diese veränderten Gewebszustände in das Gebiet der Entzündungsreize mit einge-
schlossen, etwa so wie wir unter Hirnerschütterung nicht nur den Moment des Erschütterns,
sondern auch die unmittelbaren Folgen dieses Vorgangs auf das Hirn und seine Function
zu verstehen pflegen; folgt auf eine Hirnerschütterung eine Hirnentzündung, so kann der
durch die Erschütterung bedingte veränderte Zustand des Hirns einen Einfluss auf Art
und Ausbreitung der folgenden Entzündung haben; man pflegt indess nicht zu sagen, das
erschütterte Hirn sei schon ein entzündetes. Aehnlich verhält es sich mit den Quetschungen:
ist durch eine quetschende Wii'kung ein Gewehe in seiner normalen Function gestört,
doch die Function nicht ganz aufgehoben, so werden darauf die Vorgänge in der Blut-
und Saftcirculation sich anders gestalten, als unter normalen Verhältnissen, und diese
modificirte Form des Gewebsiebens pflegen wir Entzündung zu nennen, nicht aber das
unmittelbare Resultat der Quetschwirkung. — Die im Wesentlichen gleichen, nur nach Ex-
tensität und Intensität differenten Vorgänge, welche auf chemische, physikalische und
mechanische Eingriffe in rascher Folge in den Geweben ablaufen, sind das, was wir ge-
meiniglich unter Entzündung zu verstehen pflegen, und dabei spielt das Gewebe selbst
freilich eine wichtige Rolle, welche chirch die Art, wie die Entzündungsursache bereits
direct aufs Gewebe eingewirkt hat, gewiss sehr modificirt, doch im Wesentlichen nicht
geändert werden kann.
Als constantes sichtbares Resultat des acuten Entzündungsprocesses sehen wir jetzt
die Erweiterung der Venen und Capillaren mit Auswanderung weisse» Blutzellen und mit
gewissen Störungen in der physiologischen Function der betroffenen Gewebe an. Damit
dies Alles zu Stande kommt, muss freilich eine Function der Gefässe, nämlich die Function,
die zelligen Elemente, das Blut in den von ihnen geformten Bahnen zu erhalten, gestört
sein; sollte sich aber eine derartige Functio laesa in der That nur auf die Gefässwan-
dungen und gar nicht auf das dicht anliegende Gewebe erstrecken? Dies ist nicht sehr
wahrscheinlich. Die körnigen Trübungen, welche im entzündeten Muskel zu Stande kommen,
das undeutlicher AVerden der Fasern im entzündeten Bindegewebe, der körnige Zerfall in
entziuideten Nervenfasern, die rasche Entfärbung der rothen Blutzellen in acut entzündeten
Geweben: Alles das deutet darauf hin, dass auch in dem Gewebe gewisse constante Ver-
änderungen vorgehen, welche da, wo nicht rasch direct durch immer höhere Steigerung
dieser Vorgänge Gangrän eintritt, zur allmähligon Auflösung der Gewebsformen, oder nach
und nach;, zu ihrem Tode zu führen pflegen. Ich gebe zu, dass ein Beweis dafür nicht
Vorlesmio; l>2. AhIimii- zii ('A\<Hr\ I -XT. P,47
vurlies' ! (la,s.s diese (lowelisveräiidciiiimcii i;- 1 c i c li /.i' i (,i y; iiiil diwi (ictaKSverüii'lcniti'jjcr)
iiiifliclcn , (liiss man sie ain'li als rasclic miiiiiKilharc l<'nlL!;i' di'i' Icl/Icrcii ans(di('ii kann;
(leim wenn man diese GewebsaileralJoncn allein xdi-lindiM. dline Gefässdilalalinn und
Zelieneniigration (kIit wenn man snlclie ne(lin;j,iin!^eii kiinsilhli iMTvorinfl dni'i-li Ü'-liin
dernn.ü; der Blnt/.nl'idir /.um verlel/li'n Theil (Samuel), so kann man wiedrnim di-n
Zweifel erhellen, oli sidelie /nstäiide der Gewebe aueli als l'/nlzfindnni^' im lililiclien Sinne,
zu bezeichnen sind (Coh nliei ni). Auf der amleii'n Seile bal man aber auch den ver-
änderten Zustand der Getasse, welcher die massenbafle Aiiswandernnp; weisser Blutzellen
zidässt, (die Eiterinif;) , von der Kntziiiuhing trennen wollen. Wir werden bei dn- I'e-
traehtung der chronischen Entzündung sehen, dass in der 'i'bat alle diese^ MonnMife, allein
vor sieli gehen können, und dass sie nur in ilux'u C'ombiuationen eias darstellen, was
wir acute Entzündung zu nennen pflegen.
Virchow hatte die Erage früher hei'eits in dem Sinne entschieden, dass er den
Vorgang der entzündlichen Ernährungsstörung wesentlich und in erster Linie ins Ge-
webe verlegte; er wurde dazu tlieils durch die eben erwähnten, mit dem Mikroskop
sichtbaren Gewebsveränderungen veranlasst, theils durch die Beobachtung, dass aui-h in
gefässlüsen Geweben, v^'ie in Hornhaut und Knorpel, auf Reize junge Zellen im Gewebe
auftreten, wie dies ebenso bei Entzündungen gelasshaltiger Gewebe der Fall ist. Diese
letzteren Beobachtungen, welche zu einer Zeit gemacht wurden, in welcher die Emigration
der weissen Blutzellen noch nicht bekannt war, unterliegen jetzt einer anderen Deutung wie
früher (pag. 69). Wir zweifeln heute ebenso wenig daran wie früher, dass eine Knorpelzelle
und manche andere Arten von Zellen, wie gewisse Endothelien seröser Häute (Rindfleisch,
Kundrat), junge Epitlnjlialzellen (Remak, Buhl, Rindfleisch) etc. auf gewisse Rei-
zungen neues Protoplasma und neue Zellen in sich bilden, sich theilen und auf dem Wege
einer solchen Verjüngung zur Gewebsneubildung beitragen können, — (ob alle so entstan-
denen Zellen selbstständige Bewegungen haben wie die Eiterzellen, ist noch zweifelhaft) —
doch glauben jetzt nur noch sehr wenige Beobachter, dass den fertigen fixen Bindege-
webs- und Hornhautkörperchen und den Knnehenkörperchen diese Eigenschaft zukommt;
ziemlich allgemein hat man sich überzeugt, dass die Eiterbildung meistens nicht durch
heerdweise Wucherung der fixen Bindegew^ebszellen nach Virchow 's früherem Schema zu
Stande kommt. — Wie weit sich die Wanderzellen an der entzündlichen Gewebsneubildung
betheiligen, wird von Vielen als noch nicht entschieden betrachtet; ich kann nach meinen
Beobachtungen kaum daran zweifeln, dass das Gewebe, welches die Heilung per primam
vermittelt, sowie das Granulationsgewebe aus den Wanderzellen hervorgehen kann, wenn-
gleich auch ein anderer Modus (Sprossenbildung, directes Auswachsen der Gewebe, pag. 74)
möglich ist. Mir erscheint die Umbildung der Wanderzellen in Bindegewebe deshalb ganz
plausibel, da diese Zellen auch nach meinen Untersuchungen höchst wahrscheinlich von
Bindegewebszellen abstammen, nämlich von den Sternzellen und Netzfasern der Lymph-
drüsensinus.— Warum die früher genannten Gewebszellen, z.B. die Knorpelzellen, nach
gewissen Reizungen anfangen sich zu vergrössern, zu theilen und eventuell neues Gewebe
zu produciren, hat man in neuerer Zeit durch die Hypothese zu verstehen gesucht, dass
jedes Protoplasma, welchem geeigneter Nahrungssaft znfliesst, ungehindert wachsen und
sich theilen würde, wenn es nicht durch den Druck des Gewebes, in welches sich das
Protoplasma von der Peripherie zum Centrum vorschreitend umbildet, daran verhindert
würde; das theilweise Freiwerden des Kernes z. B. durch Vei-letzungen, oder eine grössere
Nachgiebigkeit des Gew^ebes, soll bei übrigens guten Ernährungsverhältnissen genügen,
dass der vorhandene Zellenrest sofort wieder zu wachsen anfinge. Ich finde diese von
Thiersch bei einer anderen später zu erwähnenden Gelegenheit hingeworfene Hypo-
these, welche Samuel mit grosser Wärme aufgenommen und verallgemeinert hat. sehr
geistvoll, und glaube, dass sie als Basis für weitere Forschungen fruchtbringend werden
kann ; immerhin dürfte damit nicht die oben aufgeworfene Frage endgültig beantwortet
sein, da die Bedingungen der Gewebsentwicklung noch von manchen anderen wichtigen
348 Rückblick. Allgemeines iibei- den acuten Knlziindungspi'üces's.
Faktoren ausser den Ernährungs- und Druckverhältnissen, z. B. von den ererbten Eigen-
schaften des Protoplasma abhängig sind; auch passt diese Hypothese nicht auf alle Fälle
z. B. nicht auch auf die endogene Zellenentwicklung der Endothelien nach entzündlicher
Eeizung des Netzes.
Ob es eine primäre, von den Blutgefässen und ihrer Function unabhängige, in- ihnen
selbst zu Stande kommende Ernährungsstörung in den Geweben giebt, welche ihrerseits
die specifisch entzündliche Alteration der Gefässe zur Folge haben muss, ist nicht bekannt^
Man pflegt als eine solche Erkrankung die Ablagerung harnsanrer Salze ins Gewebe ge-
wisser Körpertheile bei Arthritis zu bezeichnen; doch dürfte schon bei der Ablagerung
selbst eine Mitbetheiligung der Gefässe nicht anszuschliessen und somit Gefässe und Ge-
webe gleichzeitig verändert sein. Es ist ferner durch ein Experiment von Cohnheim
festgestellt, dass eine langdaiiernde Absperrung des Blutes auf die Gefässwandungen so
wirken kann, dass nach der dann folgenden Zuleitung von Blut eine reichliche Emigration
erfolgt. Dass anhaltende Stase diesen Erfolg auf die Gefässwandungen derjenigen Ge-
fässe, in welchen das Blut stagnirt, nicht hat, ist früher (pag. 343) erwähnt; doch ist es
aus klinischen Beobachtungen wahrscheinlich , dass der Druck, welchen stark und rasch
ausgedehnte Gefässe auf ihre Nachbargewebe ausüben, in diesen entzündliche Zustände ge-
ringen Grades veranlassen.
Im Allgemeinen ist es doch höchst wahrscheinlich, dass nicht nur chemische, physi-
kalische und mechanische Momente, welche von aussen direct auf gewisse Körpertheile
w'irken, Entzündungen erregen können, sondern dass auch primäre Ernährungsstörungen
in den Geweben und Circulationsstörungen, welche sich im Körper selbst ohne erkenn-
bare äussere Veranlassung entwickeln, zu Entzündungsursachen werden können.
Eine Erscheinung darf ich hier nicht vergessen zu erwähnen , welche früher eine
so grosse Rolle bei der Entzündung spielte, in den neueren Arbeiten über diesen Gegen-
stand indessen fast todtgeschwiegen wird, ich meine nämlich die Fibrinbildung bei
manchen Entzündungen. Sie kommt vorwiegend, ja man kann fast sagen ausschliesslich
bei Entzündung des Bindegewebs vor, und erfolgt zuweilen nur auf der Oberfläche von
serösen Säcken, von frischen und granulirenden Wunden, von Schleimhätiten (zumal
Rachen-, Kehlkopf-, Luftröhren- und Bronchial-Schleimhaut); in andern Fällen erstarrt
der im Bindegewebe enthaltene Ernährungssaft fibrinös. Dass die Fibrinbildung nicht
von einem Ueberschuss von Fibrin im Blut, sondern von chemischen Alterationen in den
entzündeten Theilen abhängig ist, ist früher (pag. 72) schon erwähnt. Das Fibrin ent-
steht im entzündeten Gewebe; es ist ein freilich nicht constantes Resultat der entzündliehen
Gewebsalteration. Auffallend ist in klinischer Beziehung die grosse Differenz der mit den
fibrinösen Entzündungen sonst verbundenen Erscheinungen. Während rasche Fibrinbildung
von massiger Ausdehnung den günstigen und raschen Verlauf der Heilung per primam,
so wie die partielle Verklebung der Oberflächen seröser Membranen aufs Glücklichste
vermittelt, und dabei oft kaum eine Spur entzündlicher und febriler Erscheinungen am
Kranken wahrzunehmen ist, führt in anderen Fällen aus oft räthselhaften Ursachen eine
nicht immer übermässig ausgedehnte fibrinöse Erstarrung des Gewebes — mit etwas
fibrinöser Auflagerung, z. B. auf die Schleimhaut des Rachens (Diphtheritis) — zum Tode.
Es ist wohl an sich klar, dass eine fibrinöse Erstarrung der Gewebsflüssigkeit eine der
schwersten Alterationen ihrer Ernährung ist; dieselbe endet ja auch erfahrungsgemäss
häufig genug mit Nekrose des erstarrten Gewebes. Doch die schweren Allgemeinerschei-
nungeii uiul die intensive und extensive Entzündungsröthe bei diesen Processen können
doch nicht wohl durch die Fibrinbildung als solche bedingt sein, sondern seheinen von
der Resorption der Zersetzungsproducte in den so erkrankten Geweben abhängig zu sein,
welche besonders rasch vergiftend wirken. Es scheint mir, dass unter den mit Fibrin-
bildungen verlaufenden acuten Entzündungen eine ähnliche Scala der Bösartigkeit existirt,
wie unter den ohne Fibrinbildung verlaufenden entzündlichen Processen, so dass die Fibrin-
bildung danach nur als ein mehr durch die Art des Gewebes und der Localität bedingtes
Vorlesimg 22. Aiiliiuio- z,, C:ii)i(cl T~XT. 349
Accidens wilre, clesnoii kliiiisclu' BcihMil.iiiüj; sclir wicliliü; ist;, (l;is iilirr dein I';til/,iiii(liiii,ü;s-
procoss ;ils solclicm iiiclits Wcsoiidiclics liiii/iilliiit, ikicIi ilin wcsciirlicli ;iii(]crl. -- y\iirli die
seröso 'rr;iiissii(l;i I i «Ml , welclic dio iinilcn l'hif /iiiidiiiincii iiicisf: lioffleitct , licdüi'!'
noch einer kurzen BesprceliiiiiL;'. Sie ist, in vielen l'YdIen gewiss die Folge veränderler
Drnekverhälhiisse in den (iel'äs.sen des Enlzündiing.slieerdes , doeli liiiiigf sie eben so scdir
nii(, der Fiinetio l;ies;i der (ieriisswandiingen und des Gewebes ziisaninicn ; sie li'id: i»rk;uin(-
lieli bei Entzündungen des Bindegewebs, zuniul seröser H;iii(e, oft sein- in den Vorflcrgrund.
Die Gefässwandnngen vernir)gi'n das Blidseriim nicht zu ballen, das CJewebe verarbeitet
es nicht, Venen und l^ymphgefässe ITdiren es iinvollkomnien ali, zumal wenn sie mit Fibrin
(bei Entzündung seröser Flächen, an welchen die Lymphgefässe offen ausmünden) Ixdegt
nnd davon verstopft sind. Das Sernm in acut entzündetem Gewebe ist von dem Serum,
welches ohne Entzündung die Körpertheile hydropisch macht, wesentlich verscbie(Jen,
denn es sind ihm nicht nur Wanderzellen und zerfallende (entfärbte) rothe Blutkrirperclieii
beigemischt, sondern auch die in ihm löislichen Producte der entzündlichen Ernäliritngs-
störimg der Gewebe. Die wenn auch langsame Abfuhr dieser Flüssigkeit durch die
Venen uud Lymphgefässe, entlastet freilich einerseits die Gewebe von einem nicht uner-
heblichen Druck, imd schwemmt somit die schädlichen Zersetzungsproducte fort, doch
geschieht diese Abfuhr zum Theil wenigstens ins Blut, und veranlasst dadurch nach meiner
Ansicht das Entzündungsfieber. Ich brauche das hier nicht weiter auszuführen, da ich
es früher ausführlicher besprochen habe.
Noch wäre endlich von den Ursachen zu reden, aus welchen ganz circumscript auf eine
kleine Stelle des Körpers einwirkende, oft rein mechanische Eeizungen zuweilen so intensiv
progrediente Entzündungen erzeugen, und aufweichen Wegen diese Entzündungen
fortschreiten. Ich will Sie jedoch damit jetzt nicht weiter liehelligen; Einiges habe ich
Ihnen früher (pag. 310) angedeutet. Anderes werde ich in späteren Vorlesungen zu
erwähnen haben.
Die pathologischen Anatomen haben diesen Fragen bisher noch wenig Beachtung
geschenkt; den Chirurgen tritt die Wichtigkeit derselben nur allzu oft vor Augen, und
vergeblich suchen wir oft nach Mittel, diesen progredienten Entzündungen momentan Halt
zu gebieten. In der Klinik werde ich oft Gelegenheit haben, Sie auf diesen wichtigen
Gegenstand aufmerksam zu machen.
Es lieg't iu der Strömung unserer Zeit, class solche sogenannten tbeo-
retisclien Reflexionen, mit denen icli vielleicht Manchen von Ihnen ermüdet
habe, ungebührlich in ihrer Bedeutung- und Wirkung- auf die Praxis
unterschätzt werden, und diese Strömung reisst aucli Viele von Ihnen
mit sich, und behindert Manche, sich mit dem Erlernen und Nachdenken
über diese Dinge zu befassen. Docli ich versichere Sie, dass Sie später,
wenn Sie erst einige Jahre in der Praxis sind, kaum im Stande sein
werden, ein medicinisches Werk zu lesen und zu verstehen, wenn Sie
nicht während Ihrer Studienzeit die Basis gewonnen haben, auf welcher
von nuu an weiter und weiter gebaut wird. Ich bin überzeugt, dass sich
nach einigen Jahren der Praxis Mancher von Ihnen, der heute übersättigt
von Vorlesungen ist, gar sehr darnach sehnen wird, einmal wieder einen
zusammenhängenden wissenschaftlichen Vortrag über wichtige Krankheits-
processe zu hören. Es soll mich freuen, wenn Sie sich iu solcher
Stimmung dieser Stunde erinnern.
550
Vmhi Brande.
Vorlesung 23.
CAPITEL XII.
Y 0 111 B r a ii d e.
Trockner, feuchter Brand. Unmittelbare Ursache. Abstossungsproces.s. — Die ver-
schiedenen Arten des Brandes nach den entfernteren Ursachen. 1. Ver-
nichtnng der Lebensfähigkeit der C4ewebe dnrch mechanische oder chemische Einflüsse.
2. Vollständige Hemmnng des Blutzuflusses und Rückflusses. Incarceration. Continuirliclier
Druck. Decubitus. Starke Spannung der CTCwebe. 3. Vollständige Hemmung des Zu-
flusses arteriellen Blutes. Gangraena spontanea. Gangraena senilis. Ergotismus. 4. Noma.
Gangrän bei verschiedenen Blntkrankheiten. — Behandlung.
Wir haben schon oft Yoni Brand und Brandigwerdeu gesprochen;
Sie wissen, was man im Allgemeinen darunter versteht, und nahen schon
eine Reihe von Fällen kennen gelernt, in denen der Incale Tod der Ge-
wehe eintrat; es giebt jedoch noch eine grosse Menge anderei-, Urnen
noch unbekannter Umstände, unter welchen der Brand erfolgt; in diesem
Cai)itel wollen wir das Alles zusammenfassen.
Als mit „Brand" vollständig synonyme Bezeichnung kennen Sie
bereits das Wort ,, Gangrän"; dies wurde ursprünglich nur angewandt
für das Stadium, wo die ersterbenden Theile noch schmerzhaft und heiss,
also noch nicht ganz ertödtet sind; dies Stadium nannte man den „heissen
Brand" ; er stellt gewissermaassen den höchsten Grad acuter Entzün-
dungen vor. Ausserdem wird als Bezeichnung für den feuchten ,, kalten
Brand" von älteren Autoren das Wort „Sphacelus" gebraucht. Den
Process des trockenen Brandes nennt man auch „Mumification". Der
feuchte Brand ist von dem Moment au, in welchem die Circulation
aufgehört hat, ein dem gewöhnlichen Fäulnissprocess vollständig analoger
Vorgang. Wenn man auch nicht immer mit der grössten Bestimmtheit
angeben kann, weshalb in dem einen Fall feuchter Brand, in dem andern
trockner eintritt, so kann man im Allgemeinen doch sagen, dass diejenigen
Theile, in welchen die Circulation schnell aufhört, besonders wenn sie
vorher vielleicht entzündet oder ödematös waren, dem feuchten Brande
verfallen. Der trockne Brand, das mumienähnliche Eintrocknen und
Verschrmnpfen der Theile, ist häutiger die Folge eines allmähligeu Ab-
sterbens, wobei der Blutlauf in den tieferen Theilen, wenn auch mit
äusserst geringer Kraft, noch eine Zeitlang bestand, und das Serum
aus den allmählig ersterbenden Theilen durch die Lymphgefässe und
Venen abgeführt wurde. Auch die schnelle Verdunst^ung der Flüssig-
keiten nach aussen trägt dazu bei, eine allmählige ^'ertrocknung der ab-
g-estorbruen Theile herbeizuführen. Es ist richtig-, dass man eine ober-
fläcliliclie Vei-trockmiiii;' der Haut nucli l)ciiii fciic]it(3n Ijrandc zinvcilcii
daduvcli erreichen kann, dass man die leiclit abzieliljare HornHchielit der
Kl)idcrmis von dem faulenden Gliede entfernt; auch kann man durch Ueber-
sch];iii,-e oder Bcpinselung'en der faulenden 'rheile mit stark Wasser ent-
ziehenden Substanzen, wie Alkohol, Sul)lini;itlösung-, Schwefelsäure und
dergleichen das Vertrocknen der faulig-en Theilc sehr begünstig-en; aber
eine so A^ollständige Mumification, wie sie mitunter spontan erfolgt, lässt
sich dadurch doch niclit erzwingen. Der trockne I5rand ist eben keine
einfache Fäuluiss, sondern ein ziemlicli complicirtcr, allmählig zum Auf-
hören der Circulation fiilirender Process.
Die nächste Ursache des Absterbens einzelner Körper-
theile ist immer das völlige Aufhören der Ernährungssaft-
strömuugen meist in Folge aufgehobener Circulation in den
Capillaren; es kann unter Umständen der Hauptarterien- und Venen-
stamm einer Extremität stellenweise verschlossen sein, und dennoch fin-
det das Blut durch Nebenäste einen Umweg in den untern oder obeiii
Theil solcher Gefässstämme. Es wird daher die Verstopfung eines Ar-
terienstammes erst dann zur unmittelbaren Ursache für die Entstehung von
Brand, wenn ein Collateralkreislauf nicht mehr möglich ist. Dies kann theils
durch besondere anatomische Verhältnisse bedingt sein, theils durch
grosse Starrheit der Wände der kleinereu Arterien, theils durch eine
sehr ausgedehnte Verödung des Hauptarterienstammes, z. B. wenn die
A. femoralis von der Schenkelbeuge an bis in die feineren Verzwei-
gungen am Fuss verstopft ist; erst wenn durch diese Verhältnisse der
capilläre Kreislauf unmöglich wird, hört die Ernährung auf. Es ist jedocli
nicht immer nothwendig, dass bei dem Aufhören des Kreislaufs in einem
kleineren Capillardistrict oder in dem Bereich einer kleinen Arterie
ein wirklicher Fäulnissprocess entsteht, sondern die Ernährungsstörung
kann unter solchen Verhältnissen eine mildere Form annehmen, zumal
wenn diese ganz beschränkte Kreislaufsstörung langsam nach und nach
erfolgt. Hierbei entsteht dann ein molecularer Zerfall der Gewebe, ein
Einschrumpfen und Vertrocknen zu einer gelben, käsigen Masse, kurz
eine grosse Reihe von den Metamorphosen, welche sich an der Leiche
als „trockne, gelbe Infarcte" darstellen ; diese sind im Wesentlichen nichts
Anderes, als Gewebstheile, welche durch eine Art von trocknem Brand,
der auf eine kleine Strecke beschränkt war, zu Grunde gegangen sind.
Hat eine solche Ernährungsstörung und molecularer Zerfall der Gewebe
an einer Oberfläche Statt, so bezeichnet mau diesen Process als nekroti-
sirende Versch wärung oder Ulceration; die ganze Reihe der so-
genannten atonischen Geschwüre, auf die wir später zurückkommen, hat
ihre Ursachen grösstentheils in solchen quantitativen Ernährungsstörungen.
So nahe sich also die trockne Gangrän und manche Formen der Ge-
schwürsbildung ihrem ursächlichen Moment nach stehen, so ist doch das
Bild des Brandes in seinen verschiedenen Formen ein durchaus bestimmtejs
352 Vom Brande.
und eigenthümliches, wie Sie! aus dem Folgenden crselicn werden, in-
dem es sich dabei gewöhnlich nicht nur um einen molecularen Zerfall
der Gewebe, sondern um das Absterben ganzer Gewebsfetzen, selbst
ganzer Extremitäten handelt. Es ist freilich a priori denkbar, dass die
vollständige Verstopfung aller Venen, welche das Blut z. B. von einer
Extremität zurückführen, zu einer vollständigen Stase in den Capillaren
fuhrt; indessen kommt ein solcher Umstand in praxi uiclit leicht vor,
weil die Venen so ungemein reichlich vorhanden sind, und sich fast
überall am Körper doppelte Wege des Venenrückflusses vorfinden, näm-
lich durch die tiefliegenden und die subcutanen Venen-, beide Systeme
communiciren vielfach untereinander; ist der eine Weg versperrt, so
wird der andere wenigstens theilweise noch offen sein. — Wenn in der
Haut und den tiefer liegenden Weichtheilen trockncr Brand eintritt,
so pflegen diese Theile in den meisten Fällen eine grauschwärzliche,
dann kohlschwarze Färbung anzunehmen. In denjenigen Fällen, in
welchen die Theile vorher entzündet waren, erscheint die Haut anfangs
dunkelviolett, dann weissgelblich, und nur im Fall theilweisen Eintrock-
nens wird sie bräunlich oder grauschw^ärzlich ; abgestorbene Sehnen und
Fascien verändern ihre Farbe äusserst wenig. Wenn es entschieden ist,
dass auf eine weite Strecke das Gewebe in Folge der Kreislaufsstörung
nicht mehr ernährt wird, so markirt sich die Grenze zwischen Todtem
und Lebendigem nach und nach immer deutlicher ; es entsteht rings um
die abgestorbene Haut herum eine lebhaft rosige Röthe, eine sogenannte
Demarcationslinie. Diese Rothung ist durch die Ausdehnung der
Capillargefässe bedingt, welche theils eine Folge des Collateralkreislaufes
in den Capillaren, theils eine durch die fauligen Säfte erzeugte Eut-
zünduugshyperämie ist. Zugleich mit diesen Gefässveränderuugen geht
eine lebhafte Zelleninfiltration in der Demarcationslinie der Haut vor
sich, mit welcher das Gewebe selbst, welcherlei Art es auch sein mag,
theilweise erweicht und aufgelöst wird. Es treten an der Grenze des
lebendigen Gewebes überall die Wanderzellen in Form von Eiter an die
Stelle der festen Gewebe und damit hört die Cohärenz der Theile auf.
So löst sich das Todte vom Lebenden, und am Rande des Letzteren
befindet sich ein durch plastische Infiltration und Geiassektasie verän-
dertes Gewebe: Granulationsgewebe. Drückt man dies einfach praktisch-
chirurgisch aus, so sagt man: das Todte muss vom Lebenden durch
eine kräftige Eiterung abgestossen werden, und mit dieser Ablösung der
abgestorbenen Gewebe erfolgt eine kräftige Granulationsbildung, die in
gewöhnlicher Weise benarbt. Dieser Vorgang wiederholt sich nach Be-
grenzung des Brandes an allen Geweben, bei allen Formen von Brand,
bald sclmcUer, bald laugsamer in vollkommen identischer Weise, selbst
auch beim Knochen, wie Sie das ja schon von der Nekrose der Frag-
menteuden bei complicirten Fracturen wissen. Auf den Knochenbrand
gehen wir jedoch hier nicht ein, weil derselbe mit anderen chronischen
Vnrli'smiu,' 'i."!. ('iiiMirl \lf. ;;r,;>
Kuoclieiilcraiikliciloii so iniiiy vei-biuulon ist, dass wir ihn dort abliaiidclu
iniissen. Die Zeit, wolclie dazu crrordcrlicli ist, mii ciuc Al)lÖ8uiig' der
a)»g'Cstorbencii Cetebe zu crroiclicu, kann eine sehr -N'erschiedcn lauge
seiu. Sic ist abhäugig 1) von der Crosse des a1)gcstorbeucu Stücks,
2) von dem Gefässreiclithuui uud der Consistenz des Gcwel)es, o) vou
dem Kräftezustaud uud der Lebeuseuergie des Patienten.
Da der Braud gewöhulicli die Folge anderer Kraukheiten ist, S(» ist
es nicht immer leielit, die Symptome richtig zusammenzufassen, welche
als Folgen des Brandes auf den Allgemeinzustand zu beziehen sind. Ist
die Demarcationslinie einmal gebildet, und wird der Abstossungsprocess
durch die sich entwickelnde Eiterung vorbereitet, so ist nur dann in
einigen Fällen eine Einwirkung auf den Allgemeinzustand wahrnehnd)ar,
wenn der Brand grössere Theile von Extremitäten l)etrift't. Pls tritt hiei-ltei
ein marantischer Zustand ein, ein alhnähliges Nachlassen aller Functionen,
Sinken der Körpertemperatur unter das Normale, sehr kleiner J'uls,
Irockene Zunge, ein halb soporüser Zustand, bei welchem die Kranken
immer scliAvächer und schwächer werden, endlich sterben, ohne dass man
au der Leiche eine besondere Destruction einzelner Orgaue nachzuweisen
imstande wäre, wälirend freilich in anderen Fällen auch jauchige meta-
statische Abscesse in der Lunge gefunden werden. Man hat es hierbei mit
einer Form von subacuter oder chronischer Septhämie zu thun ; es ist für
mich zweifellos, dass die wiederholte Aufnahme fauliger, während der
Entwicklung des Brandes bei noch theilweis bestehender Blut- uud Lymi)h-
circulation resorbirter Stoffe Todesursche werden kann. Ich behalte es
mir vor, auf diese Dinge im nächsten Abschnitt zurückzukonnnen.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen sind jetzt die einzelnen Arten
des Brandes nach ihren entfernteren und näheren Veranlassungen und
nach ihrer praktischen Bedeutung genauer zu erörtern.
1. Vollständige Vernichtung der Lebensfähigkeit der
Gewebe durch mechanische oder chemische Einwirkungen,
wie Zermalmimgen , Zerquetsch ungen, Zerstörungen durcli hohe Hitze-
und Kältegrade, durch ätzende Säuren oder Alkalien. Dauernder Con-
tactmit ammouiakalischem Urin, mit Milzbrandgift, mit gewissen Schlangen-
giften, mit fauligen Stoffen, die als Ferment wirken etc., gehört eben-
falls hierher. Ueber alle diese Arten von Brand haben wir theils ge-
sprochen, theils kommen wir bald darauf.
2. Vollständige Hemmung des Blutzuflusses und Ptück-
flusses durch circuläre Compresssion oder andere mechanische Verhält-
nisse wird in vielen Fällen die Ursache von capillärer Stase uud von
Brand sein. Umschnüren Sie z. B. eine Extremität sehr fest mit einem
Band, so wird zunächst venöse Stase, dann Oedera und endlich Brand
eintreten. Nehmen wir ein praktisches Beispiel: ist die Vorhaut zu eng,
uud wird gewaltsam hinter die Eichel zurückgezogen, so dass eine Pa-
raphimosis (von (pif.i6g^ Maulkorb) entsteht, so kann die eingeklemmte
Bilh-oth chir. Path. u. Tlierap. 7. Aufl. 23
OR^ Vom Brande.
Eiclicl otler in diesem Beispiel häufigei- der einklemmende Eing- brandig-
werden. Auf dem g-leiclien Umstand l)erulit das Bn^ndigwerden einge-
klemmter Brüche.
C 0 n t i n u i r 1 i eil e r D r u ck kann el)enfalls dureli Hemmung- von Blut-
Zufluss und Abfluss Gangrän erzeugen, besonders bei solchen Individuen,
bei denen die Herzthätigkeit durch längere Krankheit abgeschwächt ist.
oder welche durcli allgemeine septische Intoxication schon zu Gangrän
disponirt sind.
Der Decubitus, das sogenannte Durch- oder Aufliegen der Kranken
ist eine solche durch continuirlichen Druck veranlasste Gangrän, wobei
jedoch zu bemerken ist, dass nicht jede Art des sogenannten Duroh-
liegens von vorne herein gangränöser Katur ist, denn dasselbe besteht
in vielen Fällen zunächst in einer allmähligen Maceration der Epidermis
und Cutis, Avelche in Folge der gleichmässigen continuirlichen Lage in
einem durch Schweiss, Urin und andere Feuchtigkeiten durchnässten
Bett entsteht. Decubitus erfolgt besonders häufig in der Gegend des
Os sacrum, und kann dort zuweilen eine erschreckliche Ausdehnung ge-
winnen, indem alle Weichtheile in der genannten Gegend bis auf den
Knochen gangränös werden; ausserdem kann auch an der Ferse, dem
Trochanter des Oberschenkels, dem Caput fibulae, der Scapula, den
Processus spinosi der Wirbelsäule je nach der Lagerung der Kranken
Decubitus entstehen. Ebenso kann man einen solchen durch den Druck
schlecht applicirter Maschinen hervorbringen. Der Decubitus ist um so
mehr eine sehr unangenehme Erscheinung, als er gewöhnlich zu anderen
erschöpfenden Krankheiten hinzu kommt. Obgleich keine Krankheit, bei
der ein Kranker zu langer, absoluter Ptuhe verdammt ist, eventuell von
der fatalen Beigabe eines Decubitus ausgeschlossen ist, so giebt es doch
Krankheiten, welche besonders zu Decubitus disponireu, und dahin ge-
hört vor allen der Tjphus; auch bei Kranken mit Septiiämie tritt sehr
frühzeitig, oft schon nach 3—5 Tagen ruhiger Lage brandiger Decubitus
auf, der gewöhnlich durch eine ganz cireumscripte Stase in der Haut
über dem Kreuzbein eingeleitet wird, während Schwindsüchtige bei ge-
höriger Pflege Monate und Jahie lang das Bett hüten, ohne Decubitus
zu bekommen. Das Aufliegen wird für die Kranken dadurch besonders
quälend, dass es, zumal bei chronischen Krankheiten, mit sehr lebhaften
Sehmerzen verbunden sein kann; in acuten Fällen von Typhus und
Septhämie dagegen verspüren die Kranken manchmal nichts davon, wenn sie
bereits einen grossen brandigen Decubitus haben. Es wird diese Form
des Brandes besonders gefährlich, wenn die veranlassende Ursache nicht
vollkommen beseitigt werden kann, so dass die Gangrän eine progressive
wird. Die Prognose beim Decubitus ist um so schlimmer, je erschöpfter
der Patient ist; nicht selten wird ein Decubitus Todesursache, indem er sich
trotz aller Behandlung immer mehr und mehr vergrössert oder der Aus-
gangspunkt eines schweren pyohämischen Processes wird.
Eine zu starke Si)ainiung' der Dcwche, woddrcli die Gefässc
sein- ausgcdelnit und zum Tlieil ganz zusiuunu'ngedriickt werden, liat
zum Tlieil einen verminderten IMutgelialt l)ei steigenden Ernälirungs-
))edürfnissen, zum Theil eine Blutgerinnung in den Ca])illa,i'en in Folge
erhöhter Iveibungswiderstände zur Folge. Hierauf l)eruhen wohl manche
Gangränen, welche bei p]ntziindung voi'kommen, und deren wir bei
Gelegenheit der Phlegmone bereits Erwähnung getlian haben; essoll je-
doch damit nicht gesagt sein, dass jede Stase des Blutes in den Capil-
laren, welche gelegentlich bei der Entzündung vorkommen kann, auf zu
starke Spannung des Gewebes zurückgcfühi't werden muss, da auch
andere Momente zu berücksichtigen sind. Es würde mich zu weit führen,
hier noch einmal auf das Verhältniss des Blutes zu den Gefässwänden
zurückzukommen, wovon wir bereits ausführlich bei der Entzündung ge-
sprochen haben, um so mehr, als wir bei Erörterung der Venenthromljose
und Phlel)itis doch noch wieder davon zu sprechen haben.
3. Die vollständige Hemmung des Zuflusses arteriellen
Blutes, welche besonders durch Herz- und Arterienkraukheiten bedingt
Avird, muss ebenfalls unter gewissen Verhältnissen Gangrän zur Folge
haben; es gehören hierher diejenigen Formen von Gangrän, welche man
speciell als Gangraena spontauea und noch häufiger als Gangraena
senilis bezeicbnet, weil dieselben besonders oft bei alten Leuten vor-
kommen. Diese Gangraena spontanea kann auf verschiedene Weise ent-
stehen und in verschiedenen Formen zur Erscheinung kommen. Die
Ursachen können insofern ganz verschieden sein, als die Blutgerinnung
in den Capillargefässen (als marantische Thrombose in Folge von Herz-
schwäche oder insufficienter Leistung der kleineren Arterien) beginnt,
oder eine autochthone Thrombose mit Weiterverbreitung in dem Haupt-
arterienstamm entsteht, oder endlich die Thrombose durch Embolie be-
dingt ist; auch eine sehr hochgradige, dauernde Anämie mit enormer
consecutiver Verengerung der Arterien und Herzschwäche, endlich
dauernde spasmodische Contractionen der Arterien können zu Gangrän
führen. Die eigentliclie sogenannte Gangraena senilis ist eine Krank-
heit, welche ursprünglich an den Fusszehen, sehr selten, wie ich es in
einem Fall sah, an den Fingerspitzen entsteht. Es giebt zwei Haupt-
formen; bei der einen bildet sich an einer Zelie ein brauner, bald schwarz
werdender Fleck, welcher sich nach und nach ausbreitet, bis eine Zehe
vollständig vertrocknet ist. Im günstigen Falle erfolgt die Deniar-
cation in dem Phalango-Metatarsalgelenk, die Zehe fällt ab und es tritt
Vernarbung ein. Es kann jedoch die Mumification auch höher hinauf
gehen und sich bald in der Mitte des Fusses, bald über den Malleolen,
bald in der Mitte der Wade, bald dicht unter dem Knie abgrenzen. —
In einer anderen Eeihe von Fällen beginnt die Krankheit unter Erschei-
nungen von Entzündungen mit ödematöser Schwellung der Zehen, sehr
intensiven Schmerzen und anfangs dunkel blanrother, später schwarzer
23*
or^ß Vom Brande.
Färbung- der l'heile; es giebt dabei Stadien, in denen mau au der blau-
roth marmorirt aussehenden Haut deutlich erkennen kann, wie der Kreis-
lauf hier mit den grössten Schwierigkeiten zu kämpfen, dort bereits auf-
g-ehört hat; die Franzosen haben dieses Fiingen der erkrankten Theile
zwischen Leben und Sterben nicht unpassend mit dem Erstickungstode
verglicheil, und als „Asphyxie locale" bezeichnet. Bei dieser Form des
feuchten heissen Brandes betrifft die Erkrankung- gewöhnlich mehre
Zehen zu gleicher Zeit und breitet sich auf den Fuss aus, bis im Verlauf
einiger Wochen der ganze Fuss, vielleicht auch der Unterschenkel
gangränös ist; dabei erstreckt sich die Zersetzung früh auch auf das
ödematöse Unterhautzellgewebe, und die Gefahr der Jaucheresorption
durch die Lvmphgefässe ist dabei viel grösser wie bei dem Process der
Mumificatlon. — Der Sitz der zur Gangraena spontanea führenden Er-
krankung im arteriellen System ist ein verschiedener; bei der ächten
(marantischen) Gangraena senilis findet die primäre Gerinnung in
Folge eines sehr abgeschwächten Kreislaufs in den Capillaren Statt und
erstreckt sich von hier rückwärts bis in die Arterien hinein. Die Ab-
schwächung des arteriellen Kreislaufs kann durch verschiedeue Momente
bedingt sein: 1) durch eine verminderte Energie der Herzthätigkeit,
2) durch eine Verdickung der Arterienwandungen, verbunden mit Ver-
engerung des Lumens, 3) durch eine Degeneration der Muskelhaut der
kleineren Arterien. In manchen Fällen kommen alle diese Umstände
zusammen, indem grade bei älteren Individuen mit schAvacher Herz-
energie Krankheiten der Arterien sich am häufigsten entwickeln, ausser-
dem Herz- und Arterienerkrankungen gewöhnlich auf einer gleichen
Allgemeinursache basirt sind. Es ist hier nicht der Ort, weitläufig zu
erörtern, inwieweit die Eigidität und der atheromatöse Process in den
Arterienhäuten zur clironisclien Entzündung zu rechnen ist, oder als eine
besondere Krankheit aufgefasst werden muss; auch kann ich mich hier
nicht auf die Auseinandersetzung der feineren histologischen Verhält-
nisse, von denen wir Einiges bei Gelegenheit der Aneurysmen zu be-
sprechen ha])en, weiter einlassen, sondern erwähne nur so viel, dass
bei älteren Leuten die Arterienhäute sehr häufig verdickt werden und
dass sich in ihnen Kalkablagerungen bilden bis zu einem solchen Grade,
dass das ganze Arterienrohr vollständig verkalkt, das Lumen durch die
Verdickung der Wände erheblich verrengt wird, und sich Rauhigkeiten
an der Inneufiäche der Arterien bilden, welche zur Entstehung und
Fixirung von Blutgeriunseln besonders disponiren. Es geht hierbei die
ursprüngliclie Bcschalfenheit der Avterienhaut in solchem Grade verloren,
dass das (Jcfäss zuletzt weder elastisch, nocli contractu ist, und daher tlieils
durch die Verengerung, tlieils durch die mangelnde Contraction des Ge-
lasses der Fort1)ewegung des Blutes, welches schon wegen Mangel der
Hei-zenergie mit weniger Kraft bewegt wird, erhebliche Schwierigkeiten
entgegenstehen; nuvu kann leicht begreifen wie in solchen Fällen, be-
Vorlesung 2^,. Ciipild \\T. 357
sonders in Tlieilen, welche dem Herzen weit entfernt liegen, die rürciihition
endlich ganz aufhört.
Während die so el)cn beschriehenen Fälle mit einem g'cwissen Keclit
als Gang-raena senilis bezeichnet werden, und ihr Zusammenhang' mit
Arterienkrankheiten seit Dupuytren allgemein anerkannt worden ist,
g'iebt es andere Formen von spontanem Brand, welclie freilich auch bei
älteren Leuten vorkommen, doch aber von der eben beschriebenen
Form sich darin unterscheiden, dass auf einmal ein grosses Stück einer
Extremität, z. B. ein ganzer Unterschenkel bis zur Wade oder bis zum
Knie gangränös wird. Der Vorgang ist hier folgender: in dem Ilaupt-
arterienstamm, z. B. in der Arteria femoralis, sei es in der Schenkel-
oder Kniebeuge, bildet sich ein festes, an der Gefässwand adhärirendes
Gerinnsel, Avelches sich an Rauhigkeiten der inneren Arterienwand nach
vorausgegangener atheromatöser Erkrankung anhängt oder sich in buch-
tigen Erweiterungen des Arterienrohrs bildet und allmählig durch Appo-
sition neuen Faserstoffs so wächst, dass dadurch nicht allein das
Arterienlumen verstopft wird, sondern auch das ganze peripherische Ende
der Arterie und ein Stück des centralen durch das Fibringerinnsel ver-
schlossen wird. Die Folge dieser von einem autochthonen wandstän-
digen Thrombus ausgegangenen vollständigen Arterienverstopfung, durch
welche nach und nach auch der arterielle Collateralkreislauf unmög-
lich gemacht wird, ist gewöhnlich eine Gangrän des ganzen Fusses und
eines Theils des Unterschenkels, die je nach der Schnelligkeit, mit der
die Geriunselbildung erfolgt, bald mehr feucht bald mehr trocken ist;
er ist hierbei zuweilen ganz deutlich zu verfolgen, wie bei dem Wachsen
des Thrombus auch die Gangrän allmählig weiter schreitet. Ich beob-
achtete im Krankenhause in Zürich einen alten Mann, welcher mit spon-
taner Gangrän des Fusses ins Krankenhaus aufgenommen wurde. Bei
der sehr abgemagerten Musculatur und der sehr rigiden Beschaffenheit
der Arterien konnte man die Pulsation der Arteria femoralis sehr deut-
lich bis zur Kniekehle verfolgen. In der Folge schritt die Gangrän weiter
und zugleich hörte die Pulsation in dem unteren Theil der Arterie auf;
als etwa vierzehn Tage später, kurz vor dem Tode, die Gangrän bis
zum Kniegelenk vorgeschritten w^ar, hatte auch die Pulsation der A. fe-
moralis unter dem Lig. Poupartii aufgehört. Die Section bestätigte die
Diagnose der vollständigen Arterien-Thrombose. Das gangränöse Bein
war so vollständig mumificirt, dass es von der Leiche abgeschnitten
nur mit Firniss überzogen w^erdcn brauchte, um es so ohne Weiteres
aufzubewahren; es befindet sich in der cliirurgisclieu Sammlung in
Zürich.
Ein weiterer Fall von Arterienthrombose ist der, dass die primäre
Verstopfung des Arterienrohrs durch einen' Embolus veranlasst wird.
Ein Fibringerinusel, welches sicli etwa bei Endocarditis oder aus einem
aneurysmatischen Sack iosreisst, kann sich in den Arterieustamm einer
QXg Vom Tjiaii'Ii'.
Exti-oiiiitüt einklenimcn; dadurcli ist dann die Veranlassimg- zu weiteren
Fibrinaiisätzen gegeben. i\fan ist in neuerer Zeit selir geneigt, den
g-rössten Tlieil der Erwcicliiings- und Vertrocknungsproeesse, z. B. im
Hirn, in der Milz u. s. w. , auf solche Emboli zurückzuführen. Einen
selir interessanten typischen Fall der Art sahen wir in unserer Klinik.
Eine junge Fiau bekam G Wochen nacii einer Entbindung eine starke
Anschwellung des linken Untcrsclienkels, zu welcher sich sclincll eine
dunkelblaue Färbung- der Haut und dann vollständig-e Fäuluiss dieses
Körpertheils hinzugesellte; als die Patientin ins Spital kam, bestanden
schon allg-emeine septische Intoxicationserscheinungen. Da keine hoch-
gradige Anämie, keine Arterienkrankheit irgendwo am Körper nachzu-
weisen war, so stellte ich die Diagnose auf Endocarditis mit fibrinösen
Vegetationen an der Mitralklappe und Loslösung- einer dieser Vege-
tationen, Embolic derselben an der ßifurcationsstelle der linken Art. fe-
moralis in der Kniebeuge; ich beharrte auf dieser Diagnose, obgleich
am Herzen kein abnormes Geräusch nachweisbar war, da es bekannt
ist, dass manche Endocarditis fast symptomlos verläuft; die rasch auf-
tretende Fäulnis« des Unterschenkels musste eine plötzlich aufgetretene
Ursache haben. Da sich die Gangrän nicht demarkirte und der Allge-
meinzustand täglich schlechter wurde, war von der Amputation nichts
für die Erhaltung des Lebens zu erwarten, der Tod erfolgte etwa zwölf
Tage nach den ersten Erscheinungen der Gangrän ; die Section bestätig-te
die detaillirte Diagnose vollkommen. — Es hat immerhin etwas Auf-
fallendes, dass sich in solchen Fällen kein Collateralkreislauf entwickelt
wie nach der Unterbindung der Art. femoralis; ich kann mir dies nur
dadurch erklären, dass die Herzaction bei der Endocarditis doch Avohl
beträchtlich abgeschwächt sein wird, und der Blutdruck daher nicht zu-
reicht, die kleineren Collateralarterien genügend zu erweitern.
Sehr selten sind die Fälle, bei welchen in Folge von hochgradiger
Anämie einerseits die Arterien so bedeutend sich verengern, dass durch
die kleineren derselben nur äusserst wenig Blut circulirt, andrerseits die
Erregung des Centralnervensystems für die Herzbewegung dadurch so
schwach ist, dass die Contractionen nur sehr unvollkommen sind. Die
so entstehende Form von Gangraena spontanea kommt häufiger bei sehr
gracilen chlorotischen Frauen mit Amenorrhoe vor als bei Männern; die
meist jüngeren Individuen leiden oft an Erstarrung der Hände und Füsse,
au Ohnmächten und bedeutender Mattigkeit; in Frankreich scheint diese
Krankheit häufiger zu sein als in Deutschland und England; wir be-
sitzen darüber eine ausgezeichnete Arbeit von Rainaud unter dem Titel:
de l'asphyxie locale et de la gangrene symetrique des extremites 18G2.
Wie schon dieser Titel besagt, tritt die Gangrän dabei meist symmetrisch
an beiden Extremitäten auf. Ich habe bis jetzt nur einen'' Fall beob-
achtet, der in diese Kategorie gehört; ein junger, höchst anämischer
Mann bekam ohne irgend welche bekannte Ursache zuerst eine Ganarän
Vorlcsimg t?;'.. CUipilcl XU. 359
der Nasenspitze, dann Gangrän der l)eidcn Fiisse; nacli Monate langem
Leiden erfolgte der Tod ; wie am Lebenden fand sicli auch in der Leiche
ausser der colossalcn, ursächlich nicht erklärbaren lilutarniutli nichts
Krankhaftes.
Auf einer dauernden spasmodischen Contraction der kleineren Ar-
icrien soll die Form von Gangrän ))eruhen, welche bei dem Gennss von
Mutterkorn beobaclitet wii'd; diese Substanz bewirkt erfahi-iingsgemäss
eine Steigerung der Contraction der organischen Muskelfasern l)esonders
derjenigen des Uterus, und wie man glaubt auch der Uterusarterien.
Das Mutterkorn, Seeale com u tum, ist ein in den Aehren des
IJoggens (Seeale cereale) krankhaft auswaclisendcs Korn, in welchem
sich ein eigenthiimliclier Stoft", das Erg'otin, l)ildet. Wird von solchem
erkrankten Korn Brod gebacken, so treten bei denjenig-en, welche von
dem Brode essen, eigeuthiindiche Ersclieinung-en auf, welche unter dem
Namen Kribelkrankheit oder Erg'otismus zusammeugefasst werden.
Da die genannte Krankheit des Kornes gewöhnlich sicli auf bestimmte
Gegenden erstreckt, so tritt die Krankheit begreiflicherweise bei Menschen
und auch bei Thieren epidemisch auf. Man kennt dieselbe schon seit
sehr langer Zeit und l)esitzt darüber die ersten genaueren Besclirei-
bungen einer Epidemie in Frankreich vom Jahre IGoO. In Deutschland
scheint die Krankheit selten gewesen zu sein, ebenso in England und
in Italien. In neuerer Zeit kommt sie fast nicht mehr vor, was wohl
dadurch zu erklären ist, dass man das erkrankte Korn besser kennt und
nicht mehr zum Brodbacken verwendet, und dadurch, dass wegen der
ausgedehnten Kartoffeleultur weniger Korn gebaut wird. Aus den bisher
bekannten Beschreibungen lassen sich verschiedene Formen und Ver-
laufsweisen der Krankheit annehmen, von welchen bald die eine, bald
die andere in den verschiedenen Epidemien vorwiegend häufig beobachtet
wurde; vielleicht ist das Gift nicht immer dasselbe oder wenigstens von
sehr verschiedener Intensität. — In den ganz acuten Fällen werden die
Vergifteten sehr bald von heftigen, allgemeinen Krämpfen befallen und
der Tod erfolgt in 4 — 8 Tagen; andere Fälle haben einen weit lang-
sameren Verlauf; es treten nur von Zeit zu Zeit Krampfanfälle auf; zu
gleicher Zeit und vorher im Prodromal-Stadiura ein heftiges Jucken und
Kribeln in der Haut, besonders aber in den Händen; dazu kommt ein
Gefühl von Taubheit, Anästhesie in den Fingerspitzen, Avomit sieh dann
trockne, selten feuchte Gangrän der Haut, dann auch ganzer Extremitäten
verbindet. Bei den mehr chronischen Fällen ist der Ausgang meistens
ein glücklicher, wenn aucli mit Verlust von einigen Fingern oder Zehen.
4. Es erübrigt noch, von einigen Formen von Gangrän zu reden,
deren Ursachen nicht genau bekannt sind und bei denen wohl mehre
Einflüsse concurriren. Hierher ist der sogenannte Wasserkrebs, Noma,
zu rechnen, eine spontan bei Kindern besonders häufig in der Wange
auftretende Form von Gangrän, welche zumal in den Städten der Ost-
gßQ V..ni Urandc
seeküste weit seltener im Binnenlande beobaelitet wird. Selir heruuter-
"•ckonnnenc Kinder, welche in kalten, feuchten Wohnungen leben, sind
dieser Krankheit besonders ausgesetzt, die darin besteht, dass ohne be-
kannte Geleg'cnheitsursache ein brandiger Knoten mitten in der Wange
oder Lippe sich bildet und hier in rapidester Weise sich ausdehnt, bis
die Kinder schliesslich an Erschöpfung sterben. Ob dabei nur Anämie
mit Herzschwäche die Ursache der Gangrän ist, ob ausserdem mias-
matische Einflüsse, ob besondere Bluterkrankungen etwa mitwirken, ist
zweifelhaft. — Dass gewisse krankhafte Blutqualitäten zu Gangrän dis-
poniren, haben wir schon früher bei gelegentlichen Bemerkungen über
die Septhämie erwähnt. Man muss ferner hierher das Auftreten von
Gangrän nach Typhus, Intermittens und exanthematischen Fiebern, ferner
bei Diabetes mellitus, Morbus Brightii u. s. w. rechnen. Xach und bei
diesen Krankheiten kommt Gangrän an der Nasenspitze, am Ohr, an
den Lippen, an der Wange, an Händen und Füssen Tor. Auch kann in
seltenen Fällen ein Hautexanthem selbst in Gangrän übergehen. Man
kann annehmen, dass in solchen Fällen das Miasma, welches z. B. den
Typhus hervorrief, auch noch auf das Zustandekommen der Gangrän
Einfluss ausübt; indess lässt sich auf der andern Seite auch die Be-
hauptung aufrecht halten, dass diese Gangrän, zum grössten Theil die
Folge einer durch die lange Krankheit abgeschwächten Herzthätigkeit
ist, indem letztere nicht mehr ausreicht, das Blut bis in die entferntesten
Theile des Körpers mit der gehörigen Energie hinzutreiben; diese Gan-
grän wäre danach als die Folge einer marantischen capillären Thrombose
aufzufassen. Von Estland er ist in neuester Zeit aus sehr sorgfältigen
interessanten Beobachtungen über Brand an den unteren Extremitäten bei
exanthematischem Typhus der Schluss gezogen, dass diese Gangrän zum
Theil durch Emboli bedingt werde, welche wahrscheinlich von maranti-
schen Thromben im linken Herzen abstammen. Es wirken wohl ver-
schiedene Umstände in den einzelnen Fällen bald mehr bald weniger
ein, so dass sick keine uniforme Aetiologie für diese seltneren Formen
von Gangrän aus inneren Ursachen schematisiren lässt. — Erwähnen
will ich noch, dass die Stomatitis, welche nach übermässigem Gebrauch
von Quecksilber entsteht, auch grosse Disposition zu Gangrän hat. Ueber
eine eigenthündiche Form von Gangrän an Wunden, den sogenannten
Hospitalbrand, sprechen Avir später.
Ich habe Eingangs dieses Kapitels gesagt: „die nächste Ursache des Abstevhens
einzehier Körpertheile sei immer das völlige Aufhören der Ernährungssaftströniungen
meist in Folge aufgehobener Circulation in den Capillären^. Dies lässt die Möglichkeit
zu, dass auch bei bestehender Circulation in den Capillären Gangrän der Gewebe möglich,
ist; mir schien das früher nicht denkbar, d. h. ich konnte nur kein todtes gangränöses
Gewebe mit Capillarcirculation vorstellen. Beobachtungen am Krankenbett in Verein mit
dem Enidruck, welchen Samuel" s Arbeiten über Entzündung auf mich machten, haben
es mn- indess ziendich wahrscheinlich gemacht, dass die entzündliche Ernährungsstörung
in den Geweben, von welchen wir früher gesprochen liabcn, zuweilen so intensiv auftritt
Vorlcsmi-- 2:5. Ciipild XI f. 3ßl
und .sirli so rascli vcrlircilcl, (last; «io diix'i-l^ zur VrniicIilrUn;^ di'S IcbciHlif^oi Stofl'wcclitjcls
im (Jewebc fiihrl;, rnilicr uucli als Stasc und Geriaiunifj; in den Capillarcn erlolgt; das
niut circulirt dann noch in Gowcl)on , die sclion keine normalen Fiinefioneu des Stoff-
wechsels vollziehen, sondern in welchen die darin enthaltenen Gewcbssäfte sieh schon
nach einem vom normalen StolVworhsel unahhängi^en Modus zersetzen, der in seinen
nächsten Prodneten des Zerfalls vielleicht sclnm nnt Käulniss identisch ist. Ks kommen
Tanaritien, seltener rhlegmonen mit so vaseliem Uehergang in Gangrän vor, dass es nach
Analogien mit anderen Vorgängen höchst nnwahrseheinlich ist, dass sie in Ff)lge von
arteriellen Thrond)t)sen entstanden sein sollten; freilich hört auch wohl der Capillarkreis-
lauf bald auf, wenn das Gewebe primär gangränös geworden sein sollte, doch dann nicht
in Folge von Cireulationsstörung in den Arterien und N^?nen, wie bei Incarcerationsgangrän,
sinidern in Folge der Functions vernichtrxng ihrer Wandungen durch den Entziindungs-
process, welches ich als ein höheres Stadium der entzündlichen Alteration (C oh n heim)
ansehe, die in solchen Fällen rasch durchlaufen, fast übersprungen wird. — Ein solcher
rapider Uebergang von entzündlicher Alterati(Jn zur Vernichtung der Gewebe scheint auch
besonders durch septische Gifte veranlasst werden zu können; vielleicht wirkt das Schlangen-
gift ebenso, wovon später mehr zu sagen ist. Dann sind auch die fibrinösen Infiltrationen
des Zellgewebs (die diphtheritischen Phlegmone) Iner noch einmal zu neinicn; es scheint
aus manchen klinischen Beobachtungen hervorzugehen, dass durch die Gefässe von Ge-
weben, deren Saft nahezu vollständig erstarrt ist, eine Zeit lang noch flüssiges Blut läuft,
und dass die Thrombose in manchen dieser Fälle nur die Folge der Gewebsinfiltration
ist, so wie dass das Gewebe dabei zuweilen früher abstirbt, als die Circulation völlig
erloschen ist. — Es ist bis jetzt nicht möglich , exacte Entscheidungen in Betreff der
Deutung dieser Erscheinungen zu treffen; ich wollte Sie durch diese Bemerkungen nur
dazu veranlassen, diesen praktisch höchst wichtigen Vorgängen bei vorkommenden Gelegen-
heiten Ihre Aufmerksamkeit zu widmen. Neu ist die Anschauung nicht, denn die älteren
Chirurgen betrachteten die Gangrän recht eigentlich als höchst potenzirtc Entzündung.
Es giebt mit Rücksicht auf das Entstehen von GaugTÜn, zumal des
Decubitus und anderer Formen von Druckbrand wichtige prophylak-
tische Maassregeln; selbst der Gangrän bei Entzündung kann man
unter Umständen vorbeugen, wenn man nämlich bei sehr starker Span-
nung der Gewebe und bedeutender venöser Stauung die iutiltrirten Eut-
zündungsproducte durch einen rechtzeitigen entspannenden Einschnitt
entleert. Als Verhtttuugsmaassregel gegen das Durchliegen merken Sie
sich Folgendes: vergessen Sie nie bei allen Krankheiten, welche irgend
wie zu Decubitus disponiren, frühzeitig Ihre Aufmerksamkeit darauf zu
lenken; eine gut gepolsterte Eosshaarmatratze ist das beste Krankenlager;
die darüber gelegten Leintücher müssen stets glatt erhalten werden, damit
der Kranke nicht auf Falten liegt. Sowie sich eine Röthung der Haut
in der Gegend des Kreuzbeines zeigt, bedarf es vor Allem einer dop-
pelten Vorsicht bei den Urin- und Kothentleerungen, um das Bett nicht
zu durchnässen. Man lasse dann eine Citrone halbireu und mit dem
frischen Saft der Schnittfläche die gerötheten Hautstellen täglich einreiben.
Zeigt sich eine Excoriation am Kreuzbein, so lege man sofort dem Kran-
ken ein Kranzkissen unter, oder wenn man es haben kann, ein gutes
Luft- oder Wasserkissen von Kautschuk. Die excoriirte Stelle kann man
362
111
Vom Brande.
it Höllenstein bepinseln oder ein auf Aveiches Leder gestriclienes Eni-
plastruni Cerussae auflegen. Ist der Decubitus von Anfang an gangränös
und nimmt die Gangrän an Ausdehnung zu, so tritt die gewöhnliche Be-
handlung gangränöser Tlieile ein, die wir gleich besprechen wollen. —
Die örtliche Behandlung der eingetretenen Gangrän hat wesent-
lich zwei Aufgaben zu lösen : 1) die Abstossimg des brandig Gewordenen
durch Hervorrufung einer kräftigen Eiterung zu befördern, womit dann
zugleich der Stillstand der Gangrän verbunden ist, 2) zu verhindern,
dass die brandigen Theile durch ihre Fäulniss dem Kranken schädlich
werden und das Zimmer zu sehr verpesten.
Zur Erfüllung der ersten Aufgabe bediente man sich früher der
feuchten Wärme in Form von Kataplasmen. Ich kann jedoch nicht finden,
dass dieselben für diese Fälle von so ganz besonderer Wirkung sind.
Ist der Brand ein feuchter, und sind die brandigen Theile sehr zur Zer-
setzung geneigt, so Avird dies durch die Application der Kataplasmen
nur begünstigt; handelt es sich um die Ablösung einer trockenen Eschara,
welche keinen üblen Geruch verbreitet, und ist die Demarcationslinie
bereits gebildet, so lohnt es kaum der Mühe, die Ablösung der Eschara
durch Wärme um kurze Zeit zu beschleunigen. Ich pflege daher viel
lieber die gangränösen Theile und die Bänder des Gesunden mit Com-
pressen oder Charpie, die in Chlorwasser reichlich getränkt sind, zu be-
decken, und erreiche dadurch zu gleicher Zeit beim feuchten Brande eine
Verringerung des üblen Geruches der fauligen Substanzen. Zu gleichem
Zweck kann man auch Kreosotwasser oder Carbolsäure, oder verdünnten
gereinigten Holzessig, sehr starken Alkohol, Kamphorwein oder Terpeutin-
spiritus verwenden. Ein Mittel, welches die von den faulenden Sub-
stanzen sich entwickelnden Gase absorbirt, ist feines, dick aufgestreutes
Kohlenpulver, welches indess, weil es Wunden, Verband und Bett-
wäsche schwarz macht, vielleicht zu wenig augewendet Avird. Als kräftig
antiseptische Mittel sind ausserdem noch die essigsaure Thonerde (Alu-
men 3 v oder 25,000 Grms. Plumbum aceticura 5 j oder 50,000 Grms. Aqua
g'j oder 500,000 Grms.) und Steinkohlentheer mit Gyps empfohlen; beide
Mittel sind sehr brauchbar, müssen aber, Avie alle ähnlichen, mehrmals
am Tage und in der Nacht frisch applicirt Averden, Avenn sie den Geruch
der faulenden Theile völlig beseitigen sollen. In neuerer Zeit ist das
übermangansaure Kali (gr. v auf^j Wasser oder 0,500 auf 50,000 Grms.)
als örtliches antiseptisches und desinficirendes Mittel sehr augepriesen
Avorden; ich habe ziemlich ausgedehnte Versuche damit angestellt, finde
aber, dass es den früher genannten »littoln Aveit nachsteht. Concentrir-
tere Lösungen von Carbolsäure in Olivenöl z. B. 3 ij in fr j oder 10,000
in oOO,()00 Grms. machen schon Intoxicationserscheinungen (olivengrünen
Harn) und sind daher mit Vorsicht zu verAvenden. — Sowie das Brandige
einigerniaassen gelöst ist, entfernt man die Fetzen mit der Scheere, ohne
ins Gesunde zu schneiden, Avas zumal bei dem oft sehr ausgedehnten
Vori.'sim.i,' 2:]. Ciipiici xrr. l-jGo
Bniiid de« Uiitei-lmutzclli;'cwcl)cs, z. 15. iiacli IJrlninfilti-ation, von g'rösstei-
Wi('litii;kcit ist; dabei setzt man die övtlielicn antiseptisclieii ]\[ittel fort,
bis yute Gi-auulatiou ciiigeti-etcn ist. — Mau hat, geleitet dureli die aiiato-
uiischen Befunde bei spontaner Gangrän, gcratlien, im Beginn der Er-
krankung durch Ötreicbcn und l\eiben der Glieder die l>lntgerinnungen
womöglich zu lösen; es ist dies wegen des Schmerzes und der Anschwel-
lung der Thcilc nur in wenigen Fällen ausfiihrl)ar; in den Fällen, in
denen ich es habe ausführen lassen, hatte es keinen Erfolg in Betreff
des Fortschreitens der Gangrän.
Betrifft der Brand die Gliedniaassen, wie bei den verschiedenen
Formen der Gangraena spontanea und senilis, so rathe ich Ihnen drin-
gend, nicht frülier etwas zu unternehmen, als bis sich die Demarcations-
linie ganz scharf gebildet hat. Handelt es sich dal)ei um die Gangrän
einzelner Zehen, so warten Sie die Abstossung ab; betrifft die Gangrän
den ganzen Fuss oder Unterschenkel, so richten Sie die notliwendige
Amputation so ein, dass dieselbe nur eine Unterstützung des normalen
Abstossungsprocesses darstellt, d. h. Sie suchen an der Grenze des
Gesunden nur so viel Haut abzulösen, wie zur Bedeckung der Ampu-
tationsfläche absolut nothwendig ist, und durclisägen den Knochen an
einer der Demarcationslinie möglichst entsprechenden Stelle. Bei diesen
Cautelen wird es Hmen zuweilen gelingen, das Wiederausbrechen der
Gangrän zu verhüten und den Kranken am Leben zu erhalten. Wenn
der Kranke stir])t, bevor sich eine scharfe Demarcationslinie gebildet
hatte (was der häufigere Fall sein wird), so brauchen Sie sich keine
Vorwürfe über die unterlassene Amputation zu machen, denn Sie können
versichert sein, dass der Kranke, wenn Sie ihn amputirt hätten, gewiss
noch früher gestorben wäre. Die Prognose ist überhaupt bei der Gan-
grän aus inneren Ursachen (wie sich die älteren Chirurgen ausdrückten)
im Allgemeinen schlecht.
Was die allgemeine innere Behandlung solcher Krankheiten mit
Gangrän betrifft, so muss dieselbe eine roborirende, in manchen Fällen
selbst eine excitirende sein. Eine kräftige Diät, etwas Chinin, Säuren,
zuw^eilen einige Dosen Kamphor kommen dabei in Anwendung. Die
heftigen Schmerzen bei Gangraena senilis machen oft grosse Dosen Opium
nothwendig; auch die subcutanen Injectionen von Morphium leisten da-
bei gute Dienste, Was die Gangrän bei Stomatitis nach Quecksilber-
vergiftung betrifft, so besitzen wir kein bestimmtes Antidotum; der Ge-
brauch des Quecksilberpräparats muss sofort ausgesetzt werden; ist die
graue Salbe applicirt worden, so kommt der Kranke in ein Bad, wird
in ein frisch gelüftetes Zimmer gelegt, mit neuer Leib- und Bett\väsche
versehen, und bekommt ein Gurgelwasser, etwa mit Kali oxymuriaticum
oder mit etwas ChlorAvasser versetzt. — Auch gegen das Ergotin, welches
die Kribelkrankheit verursacht, besitzen wir kein bestinmites Gegen-
gift; Brechmittel, Chinapräparate und kohlensaures Ammoniak sind am
364 ^'*J" '!*-"" aLLidentelleu AVuiid- und Eiitzündiingskraiikheiten efc.
meisten dabei empfohlen. — Wir könnten die fortgesetzte Aufnahme
faulig-er Stoffe ins Blut nur durch die Amputation abschneiden ; dass dies
aber ein bei spontaner Gaug-rän sehr precäres Mittel ist, haben wir
schon erwähnt.
Vorlesung 24.
CAPITEL XIII.
Von den accidentelien V> und- und Entzündiingskrauk-
heiten und den vergifteten \A'unden.
I. 0 ertliche Krankheiten, welche zu Wunden und anderen Ent zun düng» -
heerden hinzukommen können: 1. Die progressive eitrige und eitrig-jauchige diffuse
Zellgewebsentzündung. — 2. Hospitalbrand. Ulceröse Schleimspeicheldiphtheritis. Ulceröse
Harndiphtheritis. — o. Erysipelas traumaticum. — 4. Lymphangoitis.
Meine Herren!
Als wir früher von der traumatischen Entzündung sprachen, habe
ich den Satz aufgestellt, dass dieselbe nicht über die Grenzen der Ver-
letzung hinausgehen dürfe, und dass dies nur dann scheinbar der Fall
sei, wenn mau die Verletzung nicht genau übersehen könne. Ich halte
diesen Satz durchaus aufrecht. Wir haben indess schon hinzugefügt,
dass durch verschiedene Accidentien dennoch sowohl unmittelbar nach
Verletzungen, z. B. bei Quetschwunden sehr heftige, progressive, mit ver-
jauchenden Producten verbundene Entzündungen entstehen können, als
auch, dass sich später um die bereits granulirendeu Wunden secundäre
Entzündungen entwickeln können aus Ursachen, die wir dort (pag. 174)
ebenfalls erörtert haben. Ich muss Sie jetzt damit bekannt machen, dass
gelegentlich noch eine Eeihe anderer eigenthümlicher, entzündlicher und
gangränöser Processe zu den Wunden hinzukommen, und dann Aviederum
schwere, meist fieberhafte Allgemeiuk rankheiten nach sich ziehen
können; einige der letzteren können freilich auch auftreten, ohne dass
an der Wunde immer etwas Besonderes sichtbar ist. Endlich können
in eine bestehende Wunde oder zugleich mit deren Entstehung z. B.
durch Biss eines giftigen oder kranken Thiers, Substanzen eindringen,
welche sowohl locale heftige Entzündungen, als schwere allgemeine
Blutvergiftungskrankheiten nach sich ziehen. Von allen diesen Dingen
soll in diesem Ciipitel die Bede sein; ich will versuchen, Ihnen dieselben
in einer übersichtlichen Form zusammen zu stellen. Wir AvoUen zuerst
von den örtlichen Erscheinungen reden, welche sich als Accidentien zu
einer Wunde oder einem aus andern Gründen bestehenden Entzündungs-
heerd hinzugesellen.
VorlosiMiK 24. Cupilcl XITI. fiOf,
I. Oertliclie Kranklieiten, welclic zu Wunden und andern
E n t z ü n d un g- s li e e r d c n lii n z uk o m m c u k ö n neu.
1. Wir erwähnen hier nocli einmal der Vollständig-keit -wei^'cn die
progressiven j auchig'cn, eitrigen und fil)rinösen (di])htli(Ti-
tisclien) diffusen Zellgewebsentzündungen, welche frülier selion
besproclien wurden (pag. 173 u. 311). Faulige Zersetzungen, welche sich
an der frischen Wunde bilden und sich rasch in die Maschen des Zellge-
webes diffundiren können, veranlassen am zweiten, dritten oder vierten Tag
diejenige Entziindungsform des Zellgewebes, welche sich durch eine so
besonders rapide ditfuse Verbreitung auszeichnet, und deren Producte sich
auch so besonders rasch, während sie noch in dem Gewebe sind, zersetzen;
erlebt der Kranke die Begrenzung einer solchen Phlegmone, so endigt der
Process immer mit Necrose des eitrig intiltrirten Zellgewebes und panni-
culus adiposus. Ebenso verhält es sich mit der fibrinösen (diphtheritischen)
Phlegmone. Beide Processe sind meist mit besonders schweren Allgemein-
erseheinungen verbunden. — Bei bereits entstehender Eiterung kann dann
auch später noch durch mechanische Irritation, durch fremde Körper, durch
starke Congestion zur Wunde, durch Eiterverhaltung und Eiterzersetzung
in Wundtaschen, durch Infection der Wunde mit phlogogenen Körpern
verschiedener Natur zu jeder Zeit, so lange die Wunde offen ist, eine
phlegmonöse Eiterung um die Wunde sich ausbreiten (pag. 296).
2. Der Hospitalbrand, Gangraena nosocomialis. Ulceröse (pha-
gedänische) Wunddiphtheritis. Pourriture des hopitaux. Ich will Ihnen
die Krankheit zunächst beschreiben, dann über die Aetiologie einige Be-
merkungen hinzufügen. Zu einer gewissen Zeit bemerkt man, besonders
in Spitälern, dass eine Anzahl von Wunden, sowohl frische Operatious-
wunden, als solche, die sich bereits in bester Granulation und Benarbung
befanden, ohne bekannte Veranlassung in eigenthttmlicher Weise er-
kranken. Es verwandelt sich die Granulationsfläche theilweis oder ganz
in einen gelblich-schmierigen Brei, der sich von der Oberfläche unvoll-
kommen abwischen lässt, dessen tiefere Schichten aber festsitzen. Diese
Metamorphose erstreckt sich jedoch nicht allein auf die Granulations-
fläche, sondern bald auch auf die nächste bis dahin durchaus gesunde
Haut, w^elche in der Umgebung der Wunde rosig geröthet ist; auch diese
nimmt successive eine schmierig-gelbgraue Färbung an und die ursprüng-
liche Wunde vergrössert sich der Fläche nach in 3— (3 Tagen fast um
das Doppelte; der Fortschritt in die Tiefe ist bei dieser sogenannten
pulpösen Form des Hospitalbrandes ein relativ geringer, w^euigstens
leisten ihm Fascien und Muskeln einen gewissen Widerstand. — In an-
dern Fällen nimmt eine frische Wunde oder auch eine Granulationsfläche
sehr schnell eine kraterförmige Beschaffenheit au, sondert eine serös-
jauchige Flüssigkeit ab, nach deren Entfernung die Gewebe frei zu Tage
liegen; die Haut ist im Umfang leicht geröthet. Der Fortschritt dieses
}ßG
Von den accidentellen AVinid- und Entzündnngskranklieiten etc.
raoleculareu Zerialls mit Jaucliimg erfolgt gewöliulicli in ziemlich scharf
abgeschnittenen Kreisformen, wodurch die Wunde hufeisenförmig oder
kleeblattförmig werden kann. Diese u leer ose Form des Hospital-
brandcs schreitet rapider fort, als die pulpöse, und erstreckt sich nament-
lich mit grösserer Geschwindigkeit in die Tiefe der Gewebe. — Ob-
gleich beide beschriebenen Formen zuweilen ganz getrennt von einander
vorkommen, so wird doch auch eine Combination derselben beobachtet.
Die pulpöse Form habe ich häufiger gesehen, als die ulceröse, bekenne
indess, dass meine eigene Erfahrung über Hospitalbraud auf einer ver-
hältnissmässig geringen Anzahl von Beobachtungen basirt ist. — Xicht
die grösseren Wunden sind dem Hospitalbrand besonders ausgesetzt,
sondern vorzüglich unbedeutende Verletzungen, wie Blutegelstiche,
Schröpfwunden, selbst die durch Vesicatore von der Oberhaut entblössten
Hautstellen können gangränös werden, während niemals diese Brand-
form an einer unverletzten Hautstelle auftritt. — Die Aehnlichkeit der
von Hospitalbrand befallenen Wunden mit diphtheritisch erkrankten
Schleimhäuten ist von vielen Autoren hervorgehoben. Nachdem ich eine
von Schleimhautdiphtherie inficirte Wunde gesehen habe, bin ich doch zu
der Ueberzeugung gekommen, dass Diphtherie und Hospitalbrand sich durch
die Art ihres Verlaufs als zwei dififerente Processe kundgeben, wenn sie auch
beide mit fibrinöser Gewebsinfiltration beginnen. Eine von Diphtherie be-
fallene Wunde belegt sieh mit dicker Fibrinschwarte, die ganze Wunde wird
infiltrirt, ihre Umgebung wird intensiv erysipelatös ; dann wird ein grosser
Theil der stark infiltrirten Gewebe nekrotisch und zerfliesst entweder
oder fällt in Fetzen aus. Dabei findet aber nicht die täglich unaufhalt-
sam in runden Figuren fortschreitende pulpöse Degeneration der Wund-
ränder der Haut Statt, mit Wulstung derselben, mit ihrer grossen Empfind-
lichkeit und ihrer Neigung zum Bluten, wie das Alles so charakteristisch
für Nosocomialgangrän ist. — Nach Schleimhautdiphtlierie kommen be-
kanntlich nicht selten eigenthümliche Lähmungen vor ; nach Hospitalbrand
sind solche Lähmungen noch nicht beobachtet.
Beim Hospitalbrand leidet der Körper zu gleicher Zeit im Allge-
meinen; das Fieber ist allerdings in den meisten Fällen anfangs nicht
heftig; doch besteht ein mehr oder weniger stark ausgesprochener
Gastricismus , die Zunge ist belegt, dabei allgemeine Abgesclilagenheit.
Aelteren und entkräfteten Leuten kann der Hospitalbi-and gefährlich wer-
den, besonders wenn durch denselben kleine Arterienstämme angefressen
werden und arterielle Blutungen entstehen. Die grossen Gefässstännne
widerstehen erfahrungsmässig dem Hospitalbrand oft in wunderbarer
Weise: so sah ich einmal bei einem Manu, dem ein LeistendrUsenabscess
aufgeschnitten war, Hospitalbrand entstehen, und zwar in der pulpösen
Form; es wurde die Haut der Leistengegend etwa in der Ausdehnung
einer Hand zerstört; der Process war so weit in die Tiefe gedrungen,
dass die A. lemoralis, welche man deutlich pulsiren sah, in der Ausdeh-
Vorlcsimi^- 24. Capilrl Xlfl. ;)f;7
nung' von 1'/. Zoll >'ollständig- eiUblösst in dci- Wunde lai^'. Ich hatte
einen Wärter ani^e.stellt, welclici- den Kranken nie verlassen durfte,
um sofort, wenn eine Blutung- eintreten sollte, was Jeden Augenblick
geschehen konnte, die Compression auszuüben. Der puljnlse Brei stiess
sich ab, die Wunde granulirte wieder kräftig, nnd es erfolgte, wenngleich
nach langer Zeit, die vollständige Heilung. Die erysipelatösen liöthun-
gen, welche sich zur diphtheritischen Phlegmone und zum llosi)itall)rand
hinzugesellen, sind zuweilen ebenso scharf abgegrenzt und führen ebenso
zur Desquamation, wie bei einem Erysipel, welches zu guten Wunden
hinznkommt; während letzteres aber eine entschiedene Neigung zur Aus-
breitung (zum Wandern) hat, bleibt das zu Diphtheritis und Nosocomial-
gangrän hinzukommende Erysipel meist stabil oder breitet sich nur in
geringem Maass aus. — Die septische Tntoxication des Gesammtorga-
nismus ist bei Diphtheritis immer schwerer als bei Hospitalbrand.
Die Ansichten über die Ursachen der Hospitalgangrän sind ge-
theilt, was hauptsächlich darin seinen Grund hat, dass viele lebende
Chirurgen das Glück oder Unglück gehabt haben, diese Krankheit nie-
mals zu sehen; so ist z.B. in Zürich während der sieben Jalire, in welchen
ich dort war, Hospitalbrand und diphtheritische Phlegmone niemals gesehen
worden, obgleich es sonst an accidentellen Wundkrankheiten nicht fehlte;
Chirurgen, welche diese Krankheit gar nicht oder nur sporadisch beob-
achteten, glauben, dass dieselbe durch enorme Vernachlässigung, schmutzige
Verbände u. dergl. entstehe und nicht viel anders aufzufassen sei, wie
ein durch Schmutz und Vernachlässigung oberflächlich gangränös gewor-
denes Fussgeschwür. Andere Chirurgen nehmen an, dass der Hospital-
brand eine Krankheit sei, welche, wie der Name besagt, manchen Ho-
spitälern ganz eigenthümlich ist, und dass durch Vernachlässigung der
Verbände seine Entstehung nur unterstützt wird. Eine dritte Ansicht
endlich ist die, dass diese Form von Brand durch epidemisch-miasmatische
Einflüsse entsteht und insofern ihren Namen Hospitalbrand mit Unrecht
trägt, als sie auch ausserhalb der Spitäler in derselben Zeit vorkommt,
in welcher sie sich in den Hospitälern findet. In letzteren Avird sie dann
aucli wohl durch Impfung weiter ausgebreitet, indem ich wenigstens nicht
daran zweifle, dass durch Pincetten, Charpie, Schwämme etc. von den
gangränösen Wunden Stofi'e auf die gesunden übertragen werden, W'Clche
auf diesen die Krankheit erzeugen können, v. Pitha und Fock haben
sich dahin ausgesprochen, dass der Hospitalbrand eine epidemisch-
miasmatische Krankheit ist; ich beobachtete mit Fock zusammen in
der chirurgischen Klinik zu Berlin eine Epidemie von Hospitalbrand,
während die gleiche Krankheit zu gleicher Zeit nicht allein in anderen
Krankenhäusern Berlins, sondern auch in der Stadt bei Kranken beob-
achtet wurde, von welchen es nicht mit Sicherheit nachgewiesen w-erden
konnte, dass sie mit einem Hospital in Berührung kamen. Der Hospital-
brand trat ziemlich plötzlich auf und verschwand nach wenigen Monaten
3G8 ^'^"'^ <^^" accidcntollon Wimd- und KiitziiiKliiiigskraiikheiten etc.
wieder vollständig-, obgleich die Beliandlung- der Wunden sich durchaus
in nichts verändert hatte, und mit dem Spital selbst ebenfalls keine Ver-
änderungen vorgenommen werden konnten. Aus diesem Umstand seheint
hervorzugehen, dass die Ursachen nicht in den Verhältnissen des Spitals
an sich liegen. Es wäre denkbar, dass der epidemisclie Hospitalbrand
durch ganz bestimmte, nur selten zur Entwicklung kommende Arten klein-
ster Organismen entsteht, welche auf der Wunde und in dem Granula-
tionsgewebe nach Art der Gährungserreger eine Zersetzung erzeugen;
ich möclite daher diese Krankheit der Wunden am liebsten mit der blauen
Eiterung vergleichen, die freilich der Wunde keinen Schaden bringt, doch
nach Lücke's Untersuchung wie die blaue Milch durch kleinste Orga-
nismen bedingt und ebenfalls auf andere Vfuudeu impfbar ist. Die Be-
dingungen für das Gedeihen dieser kleinsten zweifellos pflanzlichen We-
sen sind wahrscheinlich unter gewissen atmosphärisclien Verhältnissen
besonders günstig und daher mag die epidemische Verbreitung der Krank-
heit kommen. Zw^eifellos ist, dass sich in jedem Hospitalbrandbrei
ebenso constant grosse Mengen von Micrococcos und Streptococcos finden,
wie im Secret einfach diphtheritischer Wunden. Dass sie vor dem breiigen
Zerfall bereits im Gewebe sind, in dies etwa hinein wachsen, das-
selbe gewissem! aassen zu Brei zerfressen und verdauen , lässt sich
bis jetzt nicht mit Sicherheit feststellen; ebenso wenig lässt sich be-
weisen, dass dieser Micrococcos eine besondere Art sei. — Sicher ist
aber, dass die Uebertragung von Hosijitalbrandpulpa oder Hospital-
brandjauche auf gesunde Wunden meist (wenn auch nicht immer
nach Fischer) Hospitalbrand erzeugt, und dies ist für die Praxis
vor Allem wichtig. Nach meinen neueren Beobachtungen im Wiener
allgemeinen Krankenhause hat sich mir die Ueberzeugung immer
mehr aufgedrängt, dass diese Krankheit ganz unabhängig von Pyo-
hämie, Septhämie, Erysipelas und Lymphangoitis aus ganz specifi-
schen Ursachen entsteht, wenngleich sie eine oder mehre der
letzteren Krankheiten zur Folge haben kann.
Die Behandlung muss zunächst in strenger Absonderung der Er-
krankten bestehen, für die ein besonderer Wärter, besonderes Verband-
zeug und Instrumente beschafft werden müssen. Wenn dies auch nicht
ganz vor der Verbreitung der Krankheit schützt, da das Contagium viel-
leicht auch durch die Luft von einer kranken Wunde auf eine gesunde
übei-tragen werden kann, so liindert es doch erfahrungsmässig die Aus-
breitung; bei einigen Epidemien in Militärspitälern musste man gewisse
Localitäten gang räumen. Oertlieh ist Verband mit starkem Chlorwasser,
Kamphorspiritus oder Terpentin empfohlen; ganz besonders günstig Avirkt
zuweilen zweistündliches Bepinseln mit Jodtinctur, auch essigsaure Thon-
erde liat sich mir sehr bewährt, wenn der Verband oft damit übergössen
wird, SU dass die AVunde ganz davon durchtränkt bleiljt, bis sie rein
ist. Erweist sieh das Alles als wirkungslos, so soll man die Wunden
VdrlcsmiK 'il. Cnpil.'l XI FT. p,(]()
tief bis ins Gesunde liincin ausl)rennen, so dass der SclioiT wie an
gesunden Geweben (!- 8 Tag'c liaftet. — Ich finde, dass es am wirkungs-
vollsten ist, die Wunde mit rauchender Salpetersäure oder Phenylsäiire
auszuätzen, doch nmss man die Aetzungen auch auf die gesunden
Wundränder ausdcbnen, und sie so oft wiederhohlen, bis der Schorf fest
haftet; am sichersten gelingt dies, wenn man die erkrankten Stellen der
Wunde mit Charpie oder Watte fest abwischt oder abreibt, um den
jinlpösen Brei ganz zu entfernen, und erst dann ätzt, wenn die Blutung
steht; man muss diese Operation in der Narkose machen, führt man sie gut
aus, so ist damit auch gewöbnlich die Krankheit beseitigt. — Die allgemeine
Behandlung muss eine roborirende, selbst cxcitirende sein. Das beim
Hospitalbrand auftretende Fieber ist durch Besorptiou fauliger Steife be-
dingt und unterscheidet sich also nicht von andern Formen von Faulfieber.
An Wunden zweier Körperstellen entwickelt sich besonders liäufig, aucli ohne von
aussen hinzukommende Infection , die eben beschriebene pulpöse phagedänische Gangrän,
nämlich an Wunden im Mund und an Wunden der Harnblase. Ich erwähne
das hier, weil diese Ei-krankungen zweifellos in die Kategorie der phagedänischen Diph-
theriten gehören, wenngleich ihre Besprechung wegen ihrer Beschränkung auf bestimmte
Körperregionen mehr in die specielle Chirurgie und in die Klinik gehören. — Nach Ex-
stirpation von grösseren Zungentheilen und nach Resectionen des Unterkiefers sah ich einige
Male einen raschen breiigen Zerfall der Wunde nach vorhergegangener brettharter, ziemlich
weit gehender Zellgewebsinfiltration; hier liegt zweifellos eine Combination von diplitheri-
tischer Phlegmone mit phagedänischer Ulceration vor. Die meisten dieser Fälle endigten
letal durch Sepsis , andere kamen zur Heilung , nachdem das ganze infiltrirte Zellgewebe
nekrotisch geworden und unter reichlicher Eiterung ausgestossen war. Wenngleich der
Schleim und Speichel, welcher mit diesen Wunden in Berührung kommt, keineswegs als
solcher phlogogene oder septisch -infeetiöse Eigenschaften besitzt, so können ihm doch
Fäulnissfermente beigemischt sein, welche sich in dem schmierigen Belag auf dem Zahn-
fleisch und zwischen den Zähnen zumal solcher Kranken finden , welche ihren Mund
schlecht reinigen und bei schmerzhaften Geschwüren im Mund die Reinigung desselben
ganz unterlassen. So wird allerdings den Wunden im Mund mit dem Schleim und Speichel
dieses Ferment zugeführt und deshalb die Bezeichnung Schleim -Spei che Idiphth er itis
gestattet sein. Diese Krankheit bedroht die Operirten nur in den ersten 5 Tagen, später
kommt sie nicht mehr zur Entwicklung; nur die frischen Wunden im Mund werden von
dem fraglichen Ferment -Contagium inficirt; haben sich einmal gute Granulationen ent-
wickelt, dann tritt diese Diphtherie nicht mehr ein, es sei denn, dass eine Infection von
aussen komme, oder die Wunde mechanisch insultirt und dadurch das Granulationsgewebe
theilweis zerstört werde. Die Allgemeinerscheinungen können bei dieser Erkrankung sehr
schwer sein, zmnal ist ein rascher Collaps dieser Kranken sehr auffällig, der um so ge-
fährlicher wird, als die Operirten wegen der oft schon seit längerer Zeit vorausgegangenen
Ernährungsschwierigkeiten gewöhnlich schon sehr heruntergekommen sind.
Nach Steinschnitten, Urethrotomieen , Operationen der Blasenscheidenfistel und der
Ectopia vesicae kommt pulpöser Zerfall der Wundränder mit fibrinösem Belag der Schleim-
häute der Blase, eventuell auch der Vagina nicht so selten vor, zumal wenn der Harn
alkalisch ist. Da diese Erkrankung zweifellos mit der Zersetzung des Harns zusammen-
hängt, so nennt man sie Harndiphtheritis. Diese Form der Diphtherie ist in sofern
die mildeste unter den oben beschriebenen, als sie im Ganzen relativ wenig Neigung zur
Ausbreitung hat, und auch ganz ohne Allgemeinerscheinungen verlaufen kann, falls die
Wimden nur reinlich gehalten werden. Es kommt in seltenen Fällen vor, dass die Schleim-
Billroth chlr. Path. u. Ther. 7. Aufl. 24
370
Von (Ion apridontellen Wniul- und Entziindnn.tjskranklieiten etc.
häute dabei auch auf eine gewisse Distanz hin zerfallen, häufiger ist es freilich, dass sich
der Process in Form einer jauchig-eitrigen Phlegmone auf das retroperitoneale Zellgewebe
Tcrbreitet; diese Eetroperitonitis führt dann secundär zur Peritonitis und verläuft wohl
immer tödtlich. Auch kann sich die diphtheritische Entzündung der Vagina in Form
einer oberflächlichen Eiterung auf die Innenfläche des Uterus und von dort durch die
Tuben aufs Peritoneum fortpflanzen ; diese eitrige Peritonitis ist auch meist tödtlich.
Fibrinöse Phlegmonen sah ich unter solchen Verhältnissen nie. In den letzterwälinten.
nach Entbindungen leider nicht so seltenen, nach Blasenscheidenfisteloperationen zum
C41ück seltenen Fällen treten schon früh schwere Allgemeinerscheinungen auf.
Sowohl in dem Brei bei Schleim-Speicheldiphtheritis wie bei Hamdiphtheritis findet
sich constant Micrococcos und Streptococcos; dieselben finden sich ebenso constant in
jedem Zahnschleim und Zungenbelag, Avie in jedem ammoniakalisch gewordenen Urin,
scheinen sich aber mit besonderer Rapidität in dem erwähnten Brei weiter zu entwickeln.
Das diesem Brei inhärirende Contagium ist bis jetzt nicht von dem Micrococcos zu trennen,
und es lässt sich daher vermuthen , dass letzterer den contagiösen zymoiden Stoff in sidi
oder an sich habe; ein Beweis, dass jeder Micrococcos, der irgendwo gewachsen ist.
diese Processe erzeugen könne, liegt bis jetzt nicht vor. doch sprechen viele Beobach-
tungen dafür, dass diese Vegetationen gewisse contagiöse Stoffe besonders leicht in sich
aufnehmen und dadurch Träger von Contagien und Fermenten werden. Impft man mit
Flüssigkeiten, welche Micrococcos enthalten, z. B. auf die Cornea von Kaninchen, so
wächst der Coccos, wie die interessanten Versuche von Nassilo ff, Eberth, Leber,
Stromeyer, Dolschenkow, Orth, Frisch u. A. ergeben, meist bis zu einer gewissen
Ausdehnung weiter und wirkt in einigen Fällen (wenn er keine besonders schädliche
Substanzen mit sich bringt) vorwiegend mechanisch irritirend, indem er die Hornhaut-
lamellen auseinandertreibt, so dass die kleine Coccoscolonie nach U7id nach ganz von
Eiter eingehüllt und dann mit dem Eiter ausgestossen wird, — in andern Fällen aber
(wenn der überimpfte Stoff sehr deletäre Eigenschaften besitzt) , kann in 24 Stunden die
ganze Hornhaut gangränös sein, wobei die Coccoswucherung kaum die Ausdehnung er-
reicht hat, wie im ersten Fall. Endlich kommen auch Fälle vor, in welchen die kleine
Coccoswucherung (die Pilzfigur) gar keine Reaction in der Cornea erzeugt, sondern ohne
Spuren zu hinterlassen, bald Avieder verschwindet. Bei Impfungen auf die Hornhaut von
Hunden ist dies sogar die Regel.
Fig. 72.
o. Pilzfigur von der Kaninchencornea: Coccoswucherung zwischen den Lamellen der Horn-
haut, durch Impfting erzeugt. Schwache Vergrösseruug. — b Eine Spitze dieser Pilz-
lignr bei starker Vergrösseruug. GOÜ. — Nach Frisch. —
Hieraus geht also hervor, dass die Intensität und Art der durc-h solche
Contagien erzeugten Entzündungen nicht \on der Coccoswucherung als
I
Vorlc'simo' 21. Ciipilrl XIII. ;J7 ]
' tiolelior, .sdiuleni vom der S c li ■! d I i c li k c i I der S I o Cl'c u li li :i ii ;.; ' ; wcldie sie
f 111 i( br i 11 ;i;t , o d o i- erzoiiptt.
Icll i;!;iulil(' Iliiicu diese Milllieilniii;'i'ii nielil vnren(li;dlcn zu diii-feii, d;iiiiil Sic
WOni<i;stciis einige Aiiliallspiinklo l'ür diese jetzt .so viellacli disiMiliileii Vnv>riU\jfc liuljen. —
So eben ist eine vorfreü'iiclie Monoifmpbie über liospiddliraiid von ('. Heine erseliienen,
deren Sliidiiiin ieb lliuen angeleü,('nl;lieli.s( einpfeble.
3. Die Wundrose, Erysipelas traumatieum, wird wie fViilicr
(pag'. 301) erwälmt, zu den acuten Exantlicnien gcrcclmet, und ist durcli
eine massige Schwellung-, rosige Kötliung der Haut und Schnierzliaftig-
keit derselben cliarakterisirt, sowie durcli das damit verl)undene, meist
lieftige Fieber. Das Erysipelas nimmt eine eigenthiimliclie Stellung zu
den übrigen acuten Exanthemen ein; einerseits dadurch, dass es sehr
häufig zu Wunden hinzukommt, wenngleich es auch scheinbar spontan
auftreten kann; andererseits dadurch, dass es gewöhnlich nicht durch
ein so oft haftendes Contagium verbreitet zu werden pflegt, wie Masern,
Scharlach u. dgl.; endlicli auch noch dadurch, dass man, wenn man
diese Krankheit gehabt hat, nicht nur nicht vor neuer Ansteckung ge-
sichert ist, sondern in manchen Fällen sogar ganz besonders dazu
disponirt wird. Da ich kaum voraussetzten darf, dass Sie sich bereits
eingehender mit den Hautkrankheiten befasst haben, so müssen wir hier
kurz die Symptome dieser Kraukeit durchgehen.
Der Beginn kann insofern verschieden sein, als entweder das Fieber
dem Aufblühen des Exanthems vorausgeht oder Fieber und Exanthem
zugleich erscheinen. Nehmen Sie an, Sie haben einen Kranken mit einer
eiternden Wunde am Kopf, und Sie finden ihn, naclidem er sich bis
dahin wohl befunden hatte und die Wunde bereits in Heilung begriffen
war, in sehr heftigem Fieber, vielleicht mit einem vorangegangenen,
intensiven Schüttelfrost. Sie untersuchen den Patienten überall genau
und können durchaus nichts Anderes auffinden, als leichten Gastricimus,
der sich durch etwas belegte Zunge, Übeln Geschmack im Munde, zu-
weilen mit Brechneigung verbunden und Appetitlosigkeit anzeigt. Ein
solcher Zustand kommt im Beginn so vieler acuter Krankheiten vor,
dass Sie eine Diagnose durchaus nicht gleich stellen können. Abgesehen
von der Möglichkeit einer zufälligen Complication mit irgend einer
innern acuten Krankheit werden Sie an Phlegmone, an Lymphangoitis
und an Wundrose denken. Vielleicht erst 24 Stunden später finden Sie
die Wunde trockner, wenig seröses Secret absondernd, die Umgebung
derselben in ziemlicher Ausdehnung geschwollen, geröthet und schmerz-
haft, oder auch die Granulationen stark geschwollen und croupös; die
Farbe der Haut ist rosiger roth, und die Eöthe ist überall scharf be-
grenzt, das Fieber ist noch ziemlich intensiv; jetzt ist die Diagnose
eines Erysipels nicht mehr zu verfehlen, und man ist zufrieden, dass
man es mit einer, w^enn auch nicht ganz ungefährlichen, doch im Ganzen
nicht allzu gefiihrlichen Wuudkrankheit zu thuu hat. In einer zweiten
24*
9-79 Von den affitlentellen Wund- und Entzündnng.skrankln'itf-n ctc
Reihe von Fällen erscheint das Erysipelas sofort mit dem Fieber zu-
gleich. Man kann eine kurze Zeit laug- schwanken, ob man es mit einer
Lymphangoitis , mit einer Entzündung des Unterbantzellgewebes oder
mit einem Erysipelas zu thun hat. Der Verlauf der Krankheit wird
dies jedoch bald zeigen; die Ausdehnung, welche die erysipelatöse Ent-
zündung der Haut am ersten Tage hatte, bleibt selten dieselbe, sondern
nimmt nach und nach zu, und zwar so, dass sich die abgerundeten,
zung-enförmig hervorragenden Ränder der entzündeten Hauttheile immer
sehr deutlich abgrenzen und dass man g-enau verfolg-en kann, wie sich
dieselben bald mehr nach der einen, bald mehr nach der andern Seite
hin vorschieben, die Röthe schreitet in vielen Fällen in ganz ähnlichen
Figuren vor, wie Flüssigkeit in Fliesspapier. So kann der Process sich
immer weiter und weiter ausbreiten, vom Kopf auf den Xacken, von
dort auf den Rücken oder an die vordere Seite des Stammes oder auch
nach dem Arm zu heruntergehen und zuletzt auch noch die unteren
Extremitäten überziehen. Pfleger hat nachgewiesen, dass die Art
der Verbreitung des wandernden Erysipels fast immer die gleiche ist,
und wahrscheinlich von gewissen Saft- (Lymph-) Strömungen abhängig
ist, welche wiederum durch die Anordnung der Cutisfaseruugeu bedingt
sind. So lange in dieser Weise das Erysipel sich ausbreitet, bleibt das
Fieber gewöhnlich auf ziemlich gleicher Höhe, und dadurch werden
zumal ältere und schwächere Leute leicht erschöpft. Die meisten
Erysipele dauern 2 — 10 Tage, die Dauer über 14 Tage ist eine grosse
Seltenheit; die längste Dauer einer Wundrose, die ich beobachtete, war
32 Tage mit Ausgang in Genesung. Sie bemerken bei diesem Ery-
sipelas ambulans oder serpens noch, dass ein und derselbe Grad
von Hautentzündung nur eine gewisse Zeit lang an derselben Stelle be-
steht, so dass also, wenn das Erysipel fortschreitet, nicht zugleich die
ganze Hautoberfläche, sondern immer nur ein Theil derselben sich in der
Akme der localen Entzündung befindet.
Nachdem die Entzündung etwa drei Tage lang auf einem und dem-
selben Punkte gestanden hat, verblasst die Röthe, schilfert sich die Haut
oberflächlich ab, theils in Form eines kleienartigen Pulvers, theils in zu-
sammenhängenden Schuppen und Fetzen von Epidermis. In manchen
Fällen erhebt sich schon beim Beginn des Erysipels die Epidermis blasig;
es entstehen kleinere oder grössere mit Serum gefüllte Blasen: Ery-
sipelas bullosum. Diese Blasenrose hat jedoch nicht die Bedeutung
einer besonderen Abart dieser Krankheit, sondern ist nur der Ausdruck
einer rascheren Exsudation. Man sieht gar nicht selten, dass im Gesicht
bei Erysipelas Blasen auftreten, während am übrigen Körper die Wund-
rose die gewöhnliche Form hat. Wenn diese Krankheit die behaarte
Kopfhaut befällt, so fallen nicht selten sämmtliche Haare aus, wachsen
jedoch ziemlich schnell wieder. Nach meinen Beobachtungen geht Ery-
sii)el am häufigsten von den unteren Extremitäten aus, dann vom Gesicht
V(>rl(\sniiK 2A. CapUd Xfl). 373
von den oberen Extremitäten, von lirust und Rücken, vom Kopf, Hals
und Baiicli. Diese lläufig'keitascalji ist walirsclieinlicli \vcscntlicli ab-
hängig' von der lläu(ig-keit der Yerlet/.uugen an den verschiedenen
Körpertheilen.
Zum Erysipel können wie zu den auderii acuten Exanthcnieii, ver-
schiedenartige innere Krankheiten liin/.ukoninicn, z. 15. Pleuritis, bei Ery-
sipelas capitis auch wohl Meningitis. Im Ganzen sind jedoch bei der
Wundrose diese Complicationen selten, und dann meist die Folge eines
Weiterkriechens der Entzündung- in die Tiefe.
Was sonst den Verlauf des Erysipels betrifft, so ist derselbe in den
meisten Fällen ein günstiger. Von 137 Fällen von Wundrose (oline
Complicationen), welche ich in Zürich beobachtete, starben 10; Kinder,
alte Leute und solche Kranke, die schon durcli andere Krankheiten ge-
schwächt waren, sind am meisten gefährdet, und zwar sterben dieselben
nach meinen Erfahrungen meistens an vollständiger Erschöpfung durch
das continuirlich andauernde Fieber; man findet in der Leiche durchaus
keine stark auffallende Veränderung- eines bestimmten Organs, welche
als Todesursache gedeutet werden könnte. Trübe Schwellung und theil-
weis auch körniger Zerfall der Leber- und Nieren-Epithelien, Weichheit
der Milz sind Befunde, welche allen intensiven Bluterkrankungen zu-
kommen und auch nach tödtlich abgelaufenem Erysipel gefunden werden.
— Der Frocess der Rose ist insofern nicht ganz verständlich, als die
Ursache seines Entstehens und die Art seines Fortschreitens nicht völlig
klar ist. Erweiterung der Capillaren in der Cutis, seröse Exsudation in das
Gewebe derselben, lebhaftere Entwicklung der Zellen des Rete Malpighii
und zellige Infiltration zwischen die Cutisfasern lassen sich anatomisch
nachweisen. Auf das Unterhautzellgewebe dehnt sich die Krankheit meist
nur in geringem Masse aus. Dasselbe schwillt zwar an manchen Stellen
wie an den Augenlidern , am Scrotum enorm an , indem es sehr stark
von Serum durchtränkt wird; doch bildet sich dieses Oedem in den
meisten Fällen zurück, ohne dass etwas Weiteres darnach erfolgt. In
seltenen Fällen erreicht dieses Oedem einen solchen Grad, dass in Folge
der starken Spannung der Gewebe die Circulation des Blutes in diesen
Theilen aufhört und einzelne Theile, z. B. die Augenlider, ganz oder
partiell gangränös werden. Sollte die ganze Haut eines oberen oder
unteren Augenlides auf diese Weise verloren gehen, so würde freilich
eine bedeutende Entstellung erfolgen. Gewöhnlich mortificireu indessen
nur kleine Stücke, und die Haut ist zumal am oberen Augenlid bei den
meisten Menschen so reichlich entwickelt, dass man nachträglich wenig
von dem Defect sieht. — In anderen Fällen bleibt nach Ablauf der
rosigen Entzündung an einzelnen Stellen eine Geschwulst des Unter-
hautzellgewebes zurück, an der man bald deutlich Fluctuation wahr-
nimmt, und wo sich dann nach gemachtem Einschnitt Eiter entleert, —
374 ^^"" ''•-"" accidentelli'ii Wiiiid- in\<\ EiilzündungskraTikheiten etc.
Ueber die Ursaclien für die Entstellung- des Erysipels g-iebt es so
manclierlei Anschauungen. Das angeblich ohne Wunde auftretende,
spontane Eiysipelas capitis soll am liäufigsten nach heftiger Erkältung
entstehen. Manche ältere Individuen sollen diese Krankheit alle Jahr,
im Frühjahr oder Herbst, bekommen; auch psychische Einflüsse sind
beschuldigt, namentlich soll durch Schreck, zumal bei Frauenzimmern
während des Menstruationsflusses, Kose entstehen können. Verdauungs-
störungen werden ebenfalls als Ursache genannt. Ich bin sehr miss-
trauisch gegen alle diese Behauptungen, die keineswegs auf besonders
genauen Beobachtungen, sondern mehr auf Traditionen zu beruhen
scheinen; ja es ist mir sehr zweifelhaft, ob sich überhaupt Rose ent-
wickelt, ohne von einer Wunde oder einem bereits bestehenden Ent-
ztindungsheerd ausgegangen zu sein.
Nach dem, was ich bis jetzt über das Erysipelas traumaticum in
Spitälern beobachtete, habe ich mir folgende Anschauung über diese
Krankheit gebildet: den örtlichen Process des Erysipelas halte ich für
eine Entzündung der Cutis, bei welcher der Entztindungsreiz durch die
Lymphgefässnetze allmählig weiter verbreitet wird; die Art, wie sich
die Entzündungsröthe ausbreitet und scharf abgrenzt, macht es unzwei-
felhaft, dass das Vorschreiten derselben an gewisse Gefässdistricte ge-
bunden ist; man kann bei aufmerksamer Beobachtung sehen, dass sehr
häufig dicht an der Grenze der Eöthung ein anfangs circumscripter, rother,
runder Fleck entsteht, welcher bald mit dem bereits bestehenden gerö-
theten Hauttheil zusammenfliesst, diese neu entsteheudeu rothen Flecke
repräseutiren offenbar einen Gefässdistrict; man sieht etwas ganz Aehn-
liches, wenn man die Haut von einer x4.rterie aus künstlich injicirt; auch
dabei tritt die Injectionsfärbung erst in Flecken auf und confluirt erst
bei stärkerem Druck mit der Injectionsspritze; da nun die Venen- und
Lymphgefässdistricte den arteriellen Gebieten in der Haut einigermaassen
analog sind, so könnte das reizende Gift, welches die Blutgefässektasie
bedingt, in einem dieser Gebiete circuliren. Die Arterien- und Veuen-
gebiete in der Cutis haben nur spärliche, der Fläche nach verlaufende
Verbindungsäste, während die Lymphgefässnetze sehr viele Verbindungen
in dieser Eiclitung besitzen und weniger abführende Stämmchen ins
Unterhautzellgewebe: so kann das excitirende Gift leicht sich durch die
Lymphgefässe der Fläche nach in der Cutis verbreiten, wie Flüssigkeit
in Fliesspapier, tritt daneben aber auch in die subcutanen Lymphstämme
ein und macht auch hier, so wie in den nächsten Lymphdrüsen oft genug
Entzündung (streifige Röthung der Haut und Schwellung der nächsten
Lymphdrüsen). Wenn ich hier von einem septischen oder einem phlo-
gistischen Gift als Ursache eines Erysipels spreche, so beziehe ich mich
dabei nur auf das Erysipelas traumaticum, indem ich mich durch Beob-
achtung überzeugt zu haben glaube, dass dies immer toxischen Ursprungs
ist, sei es, dass das Gift sich in faulendem Blut oder in gewissen Ent-
Vorlesung 24. Cupitel XIIT, 375
zündungsproducten bildet, welche in einer Wimdhölilc eingeschlosHCii sind,
«ei es, dass das Gift einer g-anz gesunden Wunde von aussen zugelillirt
wird, lieber die Art dieses Giftes kann ich Folgendes aussagen: es ist
wahrscheinlich ein trockner staubförmiger StotF, welclicr die Wunden in
jedem Stadium inficiren kann; der Stoff haftet besonders an Scliwänimen
und am Verbandzeug'. Ich habe wiederholt beobachtet, dass Kranke,
welche hintereinander am gleichen Morgen im gleiclien Operationssaal,
überhaupt unter g-leichen Verhältnissen operirt wurden , alle an der
frischen Wunde wenige Stunden nach der Operation, olme Vorhaltung- von
Wuudsecret, Erysipel bekamen, wenngleich sie in ganz g-etrennten Alj-
theilungen des Spitals lagen. Auf diese Weise wird das Erysipel dann
heimisch im Spital; es kann der inficirende Stoßt' an den Röcken der
verbindenden Aerzte transportirt werden, kann an Instrumenten, an den
Betten, zum Theil selbst an den Wänden haften. Je genauer ich die
Erysipelasfälle im Ziirclier Spital und auch in meiner Klinik in Wien
notirt habe, um so deutlicher ist das gruppenweise Auftreten derselben
klar geworden, ein Auftreten, welches ganz unabhängig von allen an-
dern krankmachenden Potenzen ausserhalb des Spitals ist. Durch eine
auf zwei Jahre sich erstreckende Statistik habe ich, unterstützt durch
Mittheilungen der Aerzte des Cantons Zürich, ermittelt, dass das Erysipel
w^ährend dieser Zeit auf dem Lande und in der Stadt nicht epidemisch
aufgetreten war, sondern dass es wie andere acute Krankheiten im
Herbst und Frühjahr ganz besonders häufig vorkommt; es müssen also
die Erysipelasepidemien im Spital von Bedingungen abhängig sein, die
im Spital selbst zu suchen sind, und die ich bereits angedeutet habe. —
Hieran schliesst sich die Frage, ob das Gift, welches das Erysipel er-
zeugen soll, immer das gleiche, ob es ein specitisches ist. Dies ist nicht
genau zu entscheiden; dafür spricht, dass die Art der Hautentzündung,
welche erregt wird, immer die gleiche ist, wenngleich verschieden au
Intensität und Extensität; dagegen ist anzuführen, dass achtes Erysipel
möglicherweise durch Fäulnissproducte verschiedener Art, durch Miasmen,
vielleicht auch durch manche Thiergifte veranlasst werden kann. Es
wäre freilich denkbar, dass in allen diesen giftigen Stoffen eine ganz
bestimmte Substanz wäre, welche von allen verschiedenen Formen der
Entzündung gerade Erysipel erzeugen muss, ein Stoff oder eine Art von
Stoffen, von Pilzelementen, die in den Cutislymphgefässen besonders
günstige Bedingungen für ihre Vegetation finden; auch ist zuzugeben,
dass sich solche Stoffe unter gewissen, zu einer Zeit bestehenden Bedin-
gungen leichter und massenhafter entwickeln mögen als zu einer anderen.
Schon öfter ist die Meinung ausgesprochen und in neuester Zeit besonders von
Orth verfochten, dass das Erysipel durch Micrococcosvegetationen auf die Wunden und
von diesen in die Haut verbreitet werde. Obgleich die Ausbreitung und Wiedererzeugung
des Erysipelascontagiums sehr viel Aehnlichkeit mit Verbreitung und Wiedererzeugung eines
Fermentes hat, so lässt sich doch bis jetzt der Beweis nicht herstellen, dass Micrococcos der
Träger eines solchen Fermentes sei, noch weniger, dass es nur Micrococcos sein könne;
37G ^^J" ''•^'1 accidentelleii Wund- und Entzündungskrankheiten etc.
ich beanstande keineswegs die Richtigkeit der Befunde, ich habe selbst einige Male Coccos
und Streptococeos im Serum von Erypelasblasen gefunden: doch das findet sich gelegent-
liil) auch in Brandblasen, in Schweissbläschen, in Pocken etc. und ist an sich noch kein
Beweis, dass diese Erkrankungen durch Micrococcos entstehen oder verbreitet werden.
Ob die von Orth durch Impfung mit Serum aus Erysipelasblasen auf Kaninchenhaut er-
zeugten Eiterungen mit Erysipelas des Menschen identisch sind, erscheint zweifelhaft. Die
neueste Arbeit über Erysipel von Lukowsky stellt in ganz besonders anschaulicher "Weise
die nahen Beziehungen von Micrococcoswucherungen zum Erysipel dar.
Die Krankheit beg'innt immer mit rasch ansteigendem Fieber, das
Fieber hält dann so lange an, wie die Hautentzündung- besteht, es ist
bald mehr continurlich, bald stark remittirend, endigt bald mit Krisis,
bald mit Lysis. — Ueber das sogenannte spontane Erysipelas capitis et
faciei habe ich keine ausgedehnten Erfahrungen; nach dem, was ich
beobachtet habe, ist es mir im höchsten Grade wahrscheinlich, dass auch
dies fast immer von leichten Verwundungen (Exeoriationen im Gesicht
oder am Kopfe) oder Entzündungen (Xaseucatarrh, Angina) ausgeht und
auch vorwiegend toxischen Ursprung's ist.
Die Behandlung ist beim Erysipelas eine vorwiegend expectative.
Man kann prophylaktisch dahin wirken, dass man durch sorgfältige
Eeinigung der Wunden Alles verhindert, was die Entstehung des Erysipels
begünstigen könnte, und hat, zumal wenn mehre solche Fälle im Spital
vorkommen, sorgfältig darauf zu achten, dass nicht zu viel solcher
Kranker in einem Zimmer zusammen liegen, muss auch zuweilen einzelne
Krankensääle einige Zeit lang ganz leer stehen und ventiliren lassen, um
die Entwicklung eines intensiveren Erysipel -Contagiums zu verhindern.
Was die örtliche Behandlung betrifft, so hat man eine Eeihe von
Mitteln versucht, um das Fortschreiten der erysipelatösen Entzündung
zu verhüten und die Krankheit schon im Anfang zum Stillstand zu
zwingen. Zu diesem Zwecke braucht man das Umziehen der Grenze
mit einem in Wasser getauchten Höllensteinstift oder das Umziehen der
Erysipelasgrenze mit einem starken Jodanstrich. Dieser Hölleuzwang
nützt, meiner Erfahrung nach, nichts, so dass ich diese Manipulationen
in neuerer Zeit ganz unterlassen habe. Ebensowenig habe ich einen
Nutzen von Anpinselungen von Theer, die in neuester Zeit empfohlen
und wiederholt auf meiner Klinik angewandt wurden, beobachten können.
— Die älteren Aerzte glaubten, dass mau die Hautentzündung etwa
durch Kälte gewaltsam zurückdrängen, und so die Entstehung von Ent-
zündung innerer Orgaue ganz besonders begünstigen könne. Wenn dies
nun auch als nicht bewiesen betrachtet werden muss, so giebt es doch
eine Reihe von Umständen, welche die Anwendung der Kälte bei Ery-
f^ipelas als unbequem erscheinen lassen. Wir haben besonders schon
erwähnt, dass bei starkem Oedem hier und da Gangrän entstehen kann,
was natürlich durch intensive Kälte nur begünstigt werden würde; auch
ist die Application von Eisblasen auf eine grosse Fläche, wie auf den
Rücken oder das ganze Gesicht, kaum ausführbar; endlich nützt die
Voriosiiii- i'i. ('apiici xrii. ;-577
Kälte nichts, indem das Erysipelas docli seinen typischen Verlauf nimmt,
da örtlicher Process und allgemeine Infcction hier fast noch mehr wie
bei anderen Entzündungen Hand in Hand gehen. T3ie Beschwerden,
welche der Kranke in den afflcirten Ilautstellen empfindet, sind unan-
genehme Spannung, leiclites Brennen, sowie grosse Empfindlichkeit gegen
Luftzug und jede Veränderung der äusseren Temperatur. Es ist daher
zweckmässig, die kranken Ilautstellen zu bedecken und dadurch von
der Luft abzuschliesseu. Dies kann man auf verschiedene Weise er-
reichen. Das einfachste Mittel, dessen ich mich gewöhnlich bediene, ist,
die Haut fett mit Oel zu bestreichen und Watte darauf zu legen; die
Kranken pflegen damit gewöhnlich zufrieden zu sein. Andere bestreuen
die entzündeten Hautstellen mit Mehl oder Puder, oder streuen fein ge-
riebenen Kamphor in die aufzulegende Watte, in der Meinung, dadurch
noch besonders auf den örtlichen Process einzuwirken. Bestehen Blasen,
so eröffnet man sie mit feinen Nadelstichen und lässt dann die abgelöste
Epidermis vertrocknen. Bildet sich irgendwo Gangrän, so macht man
einen Verband mit in Chlorwasser oder andere antiseptische Verband-
wässer getränkter Charpie. Abscesse, die sich nach einem Erysipelas
im Unterhautzellgewebe bilden, eröffnet man frühzeitig und behandelt
sie wie jede andere eiternde Wunde.
Innerlich reichen Sie nur die gewöhnlichen kühlenden Getränke.
Zeigen sich Erscheinungen von beginnender Ermattung der Kräfte, und
zieht sich die Krankheit längere Zeit hin, so müssen Sie mit tonisirenden
und excitirenden Mitteln eingreifen ; einige Gran Kamphor täglich, Chinin,
Wein sind hier am Platze. »
Die zu Erysipelas zuweilen hinzutretenden Entzündungen innerer
Organe sind lege artis zu behandeln, und dürfen Sie sich nicht scheuen,
bei Meningitis dauernd eine Eisblase auf den Kopf zu appliciren, selbst
wenn die Kopfhaut von der erysipelatösen Entzündung ergriffen ist.
4. Die Entzündung der Lymphgefässe, Lymphangoitis
(von lympha, klares Wasser und ayyeiov Gefäss) oder Lymphangitis,
eigentlich Entzündung der Lymphgefässstämme, tritt häufig an den Extre-
mitäten unter verschiedenen, gleich zu erörternden Umständen auf. Die
Erscheinungen sind z. B. am Arm folgende : es besteht eine Wunde an der
Hand; der ganze Arm wird schmerzhaft, zumal bei Bewegungen, die Achsel-
drüsen schwellen und sind sehr empfindlich, auch bei leiser Berührung.
Inspicirt man den Arm genau, so findet man besonders an der Beuge-
seite rothe Streifen, welche der Länge des Arms nach von der Wunde
bis zu den Drüsen hinaufziehen; diese gerötheten Hautstellen sind
empfindlich. Zu gleicher Zeit besteht Fieber, oft belegte Zunge, Uebel-
keit, Appetitmangel, allgemeine Abgeschlagenheit. — Der Ausgang kann
nach zwei Eichtungen verschieden sein; bei gehöriger Pflege und Be-
handlung tritt gewöhnlich Zertheilung der Entzündung ein; die Streifen
verschwinden allmählig, ebenso die Schwellung und Schmerzhaftigkeit
378 Von den accidentellen AViind- und Entzündungskrankheiten etc.
der Achseldrtisen. Damit hört auch das Fieber auf. — In anderen Fällen
kommt es zur Eiterung-; die Haut am Arm röthet sich nach und nach,
und wird in grosser Ausdehnung- ödematös. Die Schwellung der Achsel-
drösen nimmt zu, das Fieber steigt, selbst Schüttelfröste können auftreten.
Im Lauf einiger Tage stellt sich, am häufigsten in der Achselhöhle, zu-
weilen auch am Arm irgendwo deutlich Fluctuation ein, es kommt zum
spontanen Aufbruch, oder man macht eine Incision und entleert den
gewöhnlich in einer umschriebenen Abscesshöhle angesammelten Eiter.
Hierauf lässt das Fieber nach, ebenso die Schmerzen und die Geschwulst;
der Kranke ist dann bald von seinem zuweilen sehr schmerzhaften und
quälenden üebel hergestellt. — Nicht immer ist der Ausgang ein so
günstiger, sondern mit Lymphangoitis bei vergifteten Wunden kommt
auch hier und da Pyohämie zur Entwicklung, und zwar am häufigsten
die subacute Form, worüber später mehr. In einem Falle habe ich bei
einem Kranken, der zu gleicher Zeit eine chronische Nierenentzündung
hatte, beobachtet, dass bei einer Lymphangoitis am Bein die Inguinal-
drüsen mit der darüber liegenden Haut, nachdem sie enorm angeschwol-
len waren, brandig wurden. Dieser Ausgang ist sonst äusserst selten,
wenngleich der Eiter bei diesen Lymphgefässentzündungen, besonders
nach Intoxication mit Leichengift zuweilen eine üble, jauchige Beschaf-
fenheit hat. — Die acute Entzündung der Lymphdrüsen (Lymphadenitis,
ddijv Drüse) mit Ausgang in Zertheilung oder Eiterung kommt auch
Avohl als idiopathische Krankheit vor; wir schliessen das in solchen
Fällen, in welchen wir eben nicht im Stande sind, die Verbindung
zwischen einer Wunde oder einem andere Entzündungsheerd und den
entzündeten Lymphdrüsen durch rothe Lymphgefässstreifeu nachzu-
weisen. Doch ist es zweifelhaft, ob dieser Schluss immer richtig ist:
nur die oberflächlichen Lymphgefässe treten als rothe Stränge in der
Haut hervor, wenn sie entzündet sind, während die tieferen in diesem
Fall weder für das Auge noch das Gefühl erkennbar sind. Wir kennen
am Kranken also eigentlich nur die oberflächliche Lymphangoitis. Es
gehört zu den Eigenthümlichkeiten dieser Krankheit, dass sie, wenn sie
an den Extremitäten vorkommt, fast niemals sich über die Achsel- und
Leistendrüsen hinaus erstreckt. Einmal sah ich bei Lymphangoitis des
Arms und Adenitis in der Achsel eine Pleuritis derselben Seite hinzu-
kommen, die möglicherweise durch Fortleituug vermittelst der Lympli-
gefässe entstanden sein kann.
Ueber die pathologisch-anatomischen Verhältnisse bei Lymphangoitis
des Unterhautzellgewebes wissen wir ausserordentlich wenig, kaum mehr,
als was wir mit freien Augen am Krauken sclicn, da diese Krankheit,
so lange sie sich nur auf die Lymphgefässe erstreckt, fast nie mit dem
Tode endet, und da man sie bei Thieren durch Experimente nur unvoll-
kommen erzeugen kann. Jedenfjills ist das nächste Zellgewebe um die
Lymphgefässe wesentlich mit dabei betheiligt, die Capillaren sind da er-
Vorlcsmii.^; l>t. (';i|,i(cl Xllf. H71)
wcilcrt und stark mit IJlut erfüllt. Ob das Lymphgcfilss in späteren Stadien
der Eutzündung- durch gerinnende Lymphe verstopft wird, oder ob gleich
von Anfang an sich Gerinnsel in der schwerer als Blut gerinnenden
Lymphe bilden und nun die Gefässwand in lvei7Aing versetzen, müssen
wir dahingestellt sein lassen. Wenn wir die Beobaclituugcn iiher Lymph-
angoitis uterina, wie sie so oft im Puerpcralfiel)er vorkommt, auf die Haut
übertragen, so dürfte man erwarten, in den erweiterten Lymphgefässen
in gewissen Stadien reinen Eiter zu finden ; die Umgebung der periuterinen
Lymphgefässe ist trüb infiltrirt ; die plastische Lifiltration des Zellgewebes
steigert sich zur eitrigen Lifiltration, ja bis zur Abscessbildung, in welcher
die dünnwandigen Lymphgefässe selbst aufgehen; je enger die Lymph-
gefässnetze sind, um so weniger ist eine Lymphangoitis von einer
Zellgewehsentzündung zu unterscheiden. Nach den Abbildungen von
Cruveilhier (Atlas Livr. 13. PI. 2. u. 3.) kann man sich ein anschau-
liches Bild von der Lymphangoitis puerperalis machen und dies auch
auf die Lymphangoitis an andern Theilen übertragen. — Die rothen
Streifen, welche wir in der Haut sehen, können nur durch Ektasie der
Blutgefässe um die Lymphgefässe herum bedingt sein, nicht aber durch
Eindringen von Blut in die Lymphgefässe; wir sehen also am Kranken
eigentlich nur die Erscheinungen der Perily mphangoitis, entstanden
durch den Contact mit dem in den Lymphgefässen strömenden Gift.
Was die Lymphdrüsen betrifft, so kennen wir hier die Vorgänge etwas
genauer. In ihnen dehnen sich die Gefässe sehr stark aus und das
ganze Gewebe wird stark von Serum durchtränkt; reicldiche Zellen-
massen füllen die Alveolen prall an, wodurch dann wahrscheinlich die
Bewegung der Lymphe innerhalb der Drüse anfangs gehemmt wird,
später ganz stockt, und durch diese Verstopfung der Drüsen wird die
spätere Weiterverbreitung des krankhaften Processes bis auf einen ge-
wissen Grad gehemmt.
Zu jeder Wunde, zu jedem Entzündungsheerd kann gelegentlich
Lymphangoitis hinzukommen; immerhinist dieselbe meiner Ansicht nach
stets das Eesultat der Keizung von einem durch die Lymphgefässstämme
strömenden Gifte. Dies Gift kann sehr verschiedenartig sein: zersetztes
Secret an der Wunde, putride Stoffe allerlei Art (besonders Leichengift),
Stoffe, welche sich durch gesteigerte Keizung in einem Entzündungs-
heerd bilden. Wir haben schon früher angeführt, dass durch Reiben
eines Stiefelnagels eine anfangs einfache Excoriation zu einem diffusen
Entzündungsheerd werden kann, in welchem sich ein (phlogistisches)
Gift bilden kann und oft bildet, welches Lymphangoitis erzeugt; mit
Entzüudungshecrden aus anderen Ursachen kann es ebenso gehen; bei
gesteigerter Reizung wird eben im Entzündungsheerd ein auf die resor-
birenden Lymphgefässstämme und ihre Umgebung sehr irritirend wirken-
der Stoff erzeugt; auch ein im Entzündungsheerd abgekapseltes Gift
kann durch gesteigerten Blutdruck in die Lymphgefässe und von da
380 V"" ^^" accidentellen Wund- und Entzündungskrankheiten etc.
ins Blut eingetrieben werden, ohg-leicli es ohne solche Veranlassung ruhig
im Entzündungsheerd geblieben und entweder allmählig ausgeschieden
oder durch Eiterung eliminirt wäre; als Beispiel möge Ihnen folgender
Fall dienen: einer meiner Collegen hatte eine kleine Entzündung am
Finger in Folge von Berührung mit Leichengift; dieser Entzündungsheerd
war ein rein lokales, kaum beachtetes Leiden; auf einer kleinen Alpen-
tour erhitzte sich, der Verletzte sehr stark, Abends hatte er eine Lymphan-
goitis am Arm und sehr heftiges Fieber: in Folge der starken Bewegung
und der damit verbundenen stärkeren Herzaction war das im circum-
scripten Entzündungsheerd bis dahin ruhig liegende Gift durch die Lymph-
gefässe ins Blut gelangt, — Warum nun in den verschiedenen Fällen
bald diffuse phlegmonöse Entzündung, bald Erysipel, bald Lymphangoitis
auftritt, kann in rein localen Ursachen oder in der Beschaffenheit des
intoxicirenden Stoffes liegen; etwas Bestimmtes lässt sich darüber nicht
aussagen. Nach den jetzt bekannten Beobachtungen über die Auswan-
derung von Zellen aus den Gefässen ist es denkbar, dass Eiterzellen,
welche in der Wunde erzeugt und von dort in den Lymphstrom gelangt
sind, durch die Wandung des Lymphgefässes auswandern und als Träger
irgend eines irritirenden Stoffes Perilymphangoitis erzeugen, während die
im Centrum des Lymphgefässes rascher strömende intoxirte Flüssigkeit
ins Blut gelangt und so vielleicht Fieber hervorruft, bevor der örtliche
Entzündungsprocess erheblich ausgebreitet ist.
Die Behandlung der Lymphangoitis strebt bei den frischen
Fällen immer dahin, wo möglich eine Zertheilung zu erzielen und den
Uebergang in Eiterung zu verhindern. Der Kranke muss das beti'offene
Glied mögliehst ruhig halten; bei stark hervortretendem Gastricis-
mus thut ein Emeticum vortreffliche Dienste, Die Krankheit bildet sich
nicht selten nach dem in Folge des Emeticum eingetretenen Abführen
und Schwitzen zurück. Von örtlichen Mitteln ist besonders das Ein-
reiben der ganzen Extremität mit grauer Quecksilbersalbe wirksam;
ausserdem deckt man den Arm warm zu, so dass eine etwas erhöhte
gleichmässige Temperatur entsteht. Zu diesem Zwecke kann mau sich
der Einwicklung mit Watte oder auch der feuchten Wärme bedienen.
Nimmt die Entzündung trotz dieser Behandlung zu, und tritt eine diffu-
sere Röthung und Schwellung ein, so wird es an irgend einer Stelle zur
Eiterung kommen; es sind dann anhaltende, warme, feuchte Eiuwick-
lungen an ihrer Stelle. Eine solche diffuse Entzündung beschränkt sieh
später keineswegs mehr auf die Lymphgefässe, sondern das ganze Un-
terhautzellgewebe nimmt daran in geringerer oder grösserer Ausdehnung
Theil. ^ Sowie sich an einer Stelle deutliche Fluctuation zeigt, macht
man eine Incision, um den Eiter zu entleeren. Verzögert sich der Hei-
lungsprocess, so kann man ihn durch tägliche, warme Bäder sehr unter-
stützen, zumal sind dieselben auch in denjenigen Fällen wirksam, wo
sich eine grosse Neigung zu recidiver Lymphangoitis an dem einmal
Vorlesung 25. Capitcl Xfll. 331
' erkrankten Tlieile zeigt. Ein in den Lyni])li(lriiscn eingekapseltes septi-
t selies Gift kann, wenn es clnvcli Fluction zu den Drüsen wieder in dan
Kreislanf gctrieljen wird, aufs Neue r.}nipli;ing()itis und phlegmonöse
Periadenitis erzeugen; so sind die wicderliolten Recidiverkrankungen
und ein langes Latentbleil)en der Kranklieit nach Infectionen, zumal mit
Leichengift, zu erklären.
Vorlesung 25.
5. Phlebitis. Thrombose. Embolie. — Ursachen der Venenthrombosen. — Ver-
schiedene Metamorphosen des Thrombus. — Embolie; rother Infarct, embolische metastatische
Abscesse. — Behandlung.
5. Phlebitis. Thrombose. Embolie. Embolische metasta-
tische Abscesse. Ausser den bisher beschriebenen Entziindungsformeu
zeigt sich oft noch ein anderer von einer Wunde oder von einem Ent-
zünduugsheerd ausgegangener, zuerst örtlicher, dann aber in eigenthüm-
licher Weise auf mehre Organe sich verbreitender Process, nämlich die
Phlebitis und Thromhose. Man findet bei den an dieser Krankheit ver-
storbenen Individuen Eiter, bröcklig eitrige oder jauchige Gerinnsel in
den verdickten oder theilweis vereiterten Venen in der Nähe der ver-
letzten Theile. Neben diesem Befunde kommen dann auch oft Abscesse
in den Lungen, seltner in Leber, Milz und Nieren vor. Dass diese
metastatischen Abscesse mit dem Eiter in den Venen zusammenhängen,
hat bereits Cruveilhier festgestellt; die Art dieses Zusammenhangs ist
freilich erst weit später aufgeklärt.
Was ich Ihnen heute darüber mittheile, ist das Resultat einer grossen
Reihe von Untersuchungen und Experimenten, welche wir Virchow
verdanken und welche von vielen Seiten so häufig wiederholt und be-
stätigt sind, dass an ihrer Richtigkeit nicht gezweifelt w^erden kann ; ich
habe mich selbst vielfach mit dem Gegenstande beschäftigt und werde an
den betreffenden Stellen hervorheben, wo ich zu anderen Resultaten ge-
kommen bin als Virchow. Es würde mich gar zu weit führen, wenn ich
Ihnen historisch den Gang jener grossartigen Arbeiten Virchow's ent-
wickeln und dieselben gewissermaassen im Auszug wiedergeben wollte;
ich muss es Ihrem eigenen Fleisse überlassen, diese Arbeiten zu studi-
ren, und mich begnügen, Ihnen die positiven Resultate in kurzer Ueber-
sicht vorzuführen.
Die erste Frage von grösster Wichtigkeit ist die: wie verhält sich
die Blutgerinnung zur Gefässentzündung? Wir wissen aus der
Untersuchung über die Bildung des Thrombus nach Unterbindung der
382 Von den accidentellen Wund- und Entziindimgskrankheiten etc.
Arterien und aus der Uuter.sucliung über den Heilungsprocess verletzter
Venen wanduug-en, dass dabei sofort Blutgerinnungen in dem verletzten
Gefäss entstellen, ehe etwas von Entzündung der G-efässwand zu Ijemer-
ken ist. Das Blutgerinnsel, welches sich nach Verletzungen von Venen
in diesen bildet, und den Thrombus darstellt, ist freilich in den meisten
Verhältnissen ein sehr kurzes, indessen ist es doch leicht denkbar, dass
dasselbe durch fortdauernde Anlagerungen von neuem Faserstoff sicli
sehr vergrössern kann. Aus der Physiologie ist Ihnen bekannt, dass
mau den Faserstoff aus dem Blut durch Peitschen und Schlagen des
Blutes zur Gerinnung bringen kann. Bei der Bewegung des Blutes setzt
sich gerinnender Faserstoff ähnlich wie Krystalle an rauhe Körper fest,
und Sie können sich durch das Experiment leicht tiberzeugen, dass ein
solcher, z. B. ein Baumwollfaden, in eine Vene eines lebenden Thieres
eingeführt, bald mit Faserstoff bedeckt wird. So werden also Rauhig-
keiten verschiedener Art im Gefässsystem Veranlassung zu mehr oder
weniger ausgedehnten Blutgerinnungen geben können. Solche Rauhig-
keiten können allerdings durch Erkrankung der Venenwandung an der
inneren Venenhaut entstehen und auf diese Weise kann die Blutgerin-
nung eingeleitet werden. Es können durch kleine Abscesse in der
Venen wand Vorsprünge in das Lumen entstehen; ja man nahm früher
an, es bilde sich auf der Innenfläche der entzündeten Vene eine fibrinöse
Gerinnung, wie auf einer entzündeten Pleura : ob dies vorkommt, ist wohl
kaum zu entscheiden; was man früher dafür hielt, hat sich als periphe-
rische entfärbte Schicht des Blutgerinnsels ergeben. Jedenfalls kommen
solche Abscesse der Gefässwand ganz ausserordentlich selten vor, und
können daher nur sehr selten die Gerinnung veranlassen; viel häufiger
bildet das nach der Verletzung entstandene Blutgerinnsel im
Gefäss unter gewissen nicht immer genau zu eruirenden Be-
dingungen den Ausgangspunkt für weitere Gerinnungen, und
eventuell für die Entzündung der Gefässwand. — Nächst Ver-
letzungen kommt ein zweites Moment in Betracht, durch welches Blut-
gerinnung in den Gefässen entstehen kann, nämlich die durch Reibungs-
widerstände z. B. Gefässverengerung bedingte Verlangsamuug des Bliit-
laufs; diese Art von Gerinnselbildung kann man als Compressions-
thrombose bezeichnen. Auch sie ist nicht direct abhängig von Entzündung
der Venenwand, kann aber durch Entzündung des perivenösen Gewebes
entstehen; es kann nämlich bei einer sehr heftigen Entzündung ein Gewebe,
zumal, wenn es durch eine Fascie unter einem gewissen Druck steht, so
stark schwellen, theils durch seröse, theils durch plastische Intiltratiou,
dass dadurch die Gefässe zusammengedrückt und so Stase und Gerinnung
des Blutes herbeigeführt werden. Diese Compressionsthrombose
bei sehr acuter Entzündung und besonders bei acuter acci-
denteller Zellgewebsentzüudung um Wunden herum ist noch
weit häufiger, als die primäre traumatische Thrombose; sie
Vorlosiniff 25. Capitol XTTI. 383
ist die g'efälirlicbstc Art der 'riiroinboscii, weil (lal)ci am li;iii-
fig'sten purironne Schniclzuiia,- der Thrombosen eintritt. Ausser
dem meebanischcn Moment der Compression, welches die Gerinnselbildiing
begünstigt, konuut bei der Entzündung jeden Gewebes nocli ein
anderer Factor hinzu, welcher die g'leiche Folge hat, nämlicli
die Veränderungen, welche dabei die lutinui der Gefässc
zumal der Venen erleidet. Wenn wir auch die positiven chemischen
Bedingung-en , unter welchen das Blut in den Gefässen gerinnen muss,
nicht kennen, so wissen wir doch seit den classischen Untersuchung-en
Brücke's, dass der normalen lebendigen Intima der Gefässe ganz
speciell die Eigenschaft inhärirt, das Blut flüssig zu erlialten, und dass
die Gerinnung eiuti-itt, so wie die Intima ihre normale Beschaffenheit
verliert. Sie verliert aber in den Venen wie in den Capillarwandungen
ihre normale Beschaffenheit durch den Entzündungsprocess selbst, wie
aus den neuesten Untersuchungen über Entzündung (siehe pag. 345)
hervorgeht. Diese Untersuchungen zeigen freilich, dass die entzündliche
Alteration der Gefässwände als solche anfangs weder vollkommene Stase
noch Thrombose nach sich zieht; es ist jedoch nicht unwahrscheinlich,
dass das Zustandekommen des letzteren durch jene Alteration der Gefäss-
wandungen mindestens begünstigt wird. So würde denn durch die neuesten
Phasen der Entzündungslehre die ältere Anschauung, dass die Entzündung
der Venenwand Thrombose bedingen könne (auch wenn es nicht zu
Abscessen in der Venenwand kommt) für manche Fälle wenigstens wieder
zur Geltung kommen; jedenfalls sind weitere Untersuchungen in dieser
Richtung sehr erwünscht. Klinische Beobaclitungen sprechen auch dafür,
dass ein solcher Vorgang vorkommt, denn es ist wohl constatirt, dass
der Phlebitis und Thrombose oft eine periphlebische Phlegmone, eine
Periphlebitis (analog der Perilymphangoitis) voraufgeht. — Auch bei
rascher Erweiterung eines Gefässes wird der Blutstrom nach physika-
lischen Gesetzen erheblich verlangsamt, und es kommt dann in der
kranken erweiterten Stelle ebenfalls zu Gerinnungen, wie wir dies später
bei den Aneurysmen und Varicen sehen werden: man nennt dies Dila-
tationsthrombosen. — Ferner kann der Blutstrom erheblich verlang-
samt sein wegen mangelhafter und energieloser Herz- und Arteriencon-
traction; da dies vorwiegend bei Personen vorkommt, die durch Alter
oder schwere, erschöpfende Krankheiten sehr geschwächt sind, so be-
zeichnet man diese Art der Blutgerinnung als marantische Throm-
bose. Diese scheint ganz unabhängig von Venenentzündung zu sein
und kommt am häufigsten in Theilen vor, welche vom Herzen weit ab-
gelegen sind.
Sie haben sich bei allen diesen Thrombosen zu denken, dass die-
selben zuerst einen kleinen Distrikt einnehmen und allmählig durch An-
legung von immer neuem Faserstoff anwachsen. Weshalb bei Veneu-
verletzungen in manchen Fällen die traumatische Thrombose sich so
384 Von Jen acfidentellen Wund- und Entzündungskrankheiten etc.
abnorm weit erstreckt, können wir nur in denjenigen Fällen begreifen,
wo dui-cli ausgedehnte Quetschungen auch ausgedehnte Venenzerreissungen
und dadurch ausgedehnte Störungen des Kreislaufs überhaupt bedingt
sind. Für diejenigen Fälle jedoch, in welchen von einer einfachen
Stich- oder Schnittwunde (z. B. auch nach dem Aderlass) einer Vene
weitverzweigte Thromben entstehen, ist die Erklärung der Ursache
äusserst schwierig und nicht für alle Fälle möglich. Die traumatische
und Compressionsthrombose mit ihren Folgen werden uns besonders
beschäftigen müssen, während die Dilatations- und marantisclie Throm-
bose bei chirurgischen Fällen im Ganzen seltener begegnen. Man hat
die Behauptung aufgestellt, dass in Hospitälern, die Venenthrombosen
mit Ausgang in Eiterung weit häufiger sind, als in der Privatj^raxis,
und hat die Neigung zu Blutgerinnungen auf die Spitalluft und die
darin suspendirten (wie früher besprochen, staubförmigen) Miasmen be-
ziehen wollen. Dass das Spitalmiasma (ein an und für sicli undefinir-
bares, jedenfalls sehr verschiedenartiges Ding) als solches direct Blutge-
rinnungen erzeuge, ist ein nicht zu beweisender und nicht zu widerlegender
Satz. Meiner Ansicht nach ist nur ein indirecter Zusammenhang wahr-
scheinlich: durch toxisch-miasmatische Infection einer Wunde, sei diese
Infection durch Instrumente, Verbandstücke, oder sonst wie zu Stande
gebracht, werden, wie früher erörtert, acute eitrige Entzündungen um die
"Wunde erzeugt, bald in Form gewöhnlicher Zellgewebsentzündung, bald
in Form von diffus werdender Lymphangoitis und ähnlicher Processe;
erst diese Entzündungen vermitteln die Thrombosen in den Venen, ebenso
wie bei sehr acuten Phlegmonen, welche ausserhalb des Spitals entstanden
sind; der Einfluss der miasmatischen Intoxication auf die Entstehung
von Venenthrombosen ist daher kein directer, sondern nur ein indirecter,
durch die Infection der Wunden und der dadurch bedingten Entzün-
dung vermittelter.
Die nächste Aufgabe wird nun sein, zu erforschen, was aus dem
in den Gefässen geronnenen Blut wird, und wie sich die Ge-
fä SS wand dazu verhält. Wir kennen bisher von den Verletzungen
der Arterien und Venen her nur eine Metamorphose des Thrombus,
nämlich die Organisation zu Bindegewebe. Diese kommt bei ausgedehnten
Venenthrombosen ausserordentlich selten vor und führt dann natürlich
zur vollständigen Obliteration der Venen. Halten wir uns an einen
ganz einfachen Fall, an die Aderlassthrombose. Nach einem Aderlass,
etwa an der Vena mediana, entsteht eine acute mehr oder weniger aus-
gebreitete Zellgewebsentzündung, gewöhnlich bedingt durch Operation
mit unsauberen Instrumenten oder Verbandstücken. Bei dieser Zellge-
websentzündung, die sich periphlebisch ausbreitet, entsteht eine Blut-
gerinnung, sowohl in der verletzten Vene, als in der Vena cephalica und
basilica, nach unten bis zum Handgelenk, nach oben bis zur Achselhöhle.
In Folge der dadurch bewirkten Kreislaufsstörung steigert sich das Oedcm
Vurh'smio- iT,. ('.■i|,iic| XIII. P,,Sf,
des ganzen Annes bcdeiiteiid, und wenn diese Scliwelhnig nhgeiionnnen -
liat, frddt man die snbentaneii Venen ganz deutlich als harte Stränge
durch. Der Verlauf kann sidi dabei verschieden geslallcn ; zunächst ist
ein Ausgang in Zertheilung möglieh und bei fViihzeitiger i>eliandlung
gewöhnlich; der Kranke muss das Bett hüten, da er in der Hegel fiebert;
der Arm muss absolut ruhig gehalten werden und wird mit einer Com-
presse belegt, welche dick mit graner Quecksill>ersalbe bestrichen ist.
Unter dieser Behandlung wird oft die Gesehwulst des Armes al)nehmeu,
das Fieber aufhören. Es lassen sich eine Zeit lang noch deutlich die
festen Venenstränge fühlen, die im Verlauf von G— 8 Tagen weicher
werden und schliesslich gar nicht mehr walirnehinbar sind. — Man hat
selten Gelegenheit, Fälle dieser Art in frühen Stadien anatomisch zu
untersuchen. Es lässt sicli dalier nicht bestimmen, in welchem Grade
nnd ol) ül)erliau})t die Venenwandungen während der l>lutgerinnungen
schon krank sind; jedoch scheint sicli so viel aus den Erscheinungen
und Untersuchungen am Kranken zu ergeben, dass der in den Gefässen ge-
ronnene Faserstoff allmäldig wieder aufgelöst wird und sich ohne Sehaden
für das Blut demsel])en Avieder beimengt wie anderes Blut, welches als
diffuses Extravasat im Gewebe verbreitet war und dann resorbirt wird.
— Die zweite Art des Ausganges, welche bei den Entzündungen des
Arms nach Aderlass vorkommt und sich mit Thrombose combinirt, ist
die Abscessbildung. Die ersten Erscheinungen sind wie oben beschrieben ;
dann aber erfolgt entweder in der Ellenbogenbeuge oder am Vorder-
oder Oberarm eine mehr circumscripte Entztindungsgeschwulst, welche
immer mehr zunimmt und endlich deutliche Fluctuation erkennen lässt.
Nach gemachtem Einschnitt entleert sich aus einer grösseren oder klei-
neren Höhle Eiter, die Geschwulst des Arms nimmt dann al), der Abscess
heilt aus und es kann vollständige Heilung erfolgen. Die anatomische
Untersuchung dieser Fälle ergiebt, dass sich hier eine suppurative Ent-
zündung, zunächst in dem umliegenden Zellgewebe um die Venen aus-
gebildet hat. Man überzeugt sich ferner, dass die Häute der thrombirten
Venen stark verdickt sind, was von Einigen als Folge, von Andern als
Ursache der Thrombose betrachtet wird. Ich will hier gleich hinzufügen,
dass die Diagnose einer Venenthrombose darauf hin, dass man die Vene
hart strangartig fühlt, nicht inmier gemacht werden kann, da der Ent-
zündungsprocess in dem Zellgewebe sich zuweilen, wde erwähnt, genau
und zunächst nur um die Veneu herum und an diesen entlang, zumal
central, weiter verbreitet und so eine Verdichtung und röhrenartige
Verdickung der Gefässscheiden entsteht, die sehr leicht zu einer Ver-
wechslung mit Thrombose Veranlassung geben kann, doch keineswegs
immer zu einer solchen führen muss. Mir ist diese Verw^echslung einer
periphlebitischen Zellgewebsinduration mit Thrombose bei der Vena
saphena schon zwei Mal begegnet, und ich halte es für unmöglich, in
allen Fällen die Diagnose sicher zu stellen. Dass eine solche Periphle-
Billroth chir. Patli. n. Therap. 7. Aufl. 25
^8(1 ^^"" <^'^" accideiitpllen Wund- iiml Kntziindiingskrankheiten etc.
bitis bei der doch die Venenhäute gewiss nicht imbetheiligt sind, oline
Thrombose bestehen kann , beweist auch noch zum üeberfluss, dass die
letztere nicht immer nothwendig- die Ursache der Venenentzündung- zu
sein braucht, wie früher behauptet wurde. — Eine weitere Metamorpliose,
welche der Thrombus eingehen kann, ist der bröcklige Zerfall. Es be-
ginnen dabei die Erweichungen des Gerinnsels gewöhnlich an der Stelle,
wo die Thrombose anfing-, also an dem ältesten Theil des Gerinnsels.
Der Faserstoff zerfällt zu einem Brei, der bald eine mehr gelbliche, bald
mehr bräunliche Farbe und schmierige Consistenz bekommt. Dieser Zer-
fall breitet sich in der Folge immer mehr und mehr aus; auch die
Tunica intima der Venen bleibt dabei nicht unbetheilig-t, sie wird runzlich
und verdickt. Es bildet sich so der Thrombus zu Eiter um, welcher sich
mit dem Detritus des Faserstoffs mischt, während die Venenwandungen mit
dem umliegenden Zellgewebe stark verdickt werden; auch kommt es
dabei vor, dass innerhalb der Venenwandungen kleine Abscesse entstehen;
indess ist dies doch schon etwas Seltenes; der Eiter, welchen man dabei
in der Vene findet, ist nicht etwa von der Wunde her resorbirt (die
ältere Idee), sondern in der Vene selbst aus dem Blutgerinnsel entstanden.
Oftmals ist die eitrig aussehende (puriforme) Flüssigkeit nichts anderes
als flüssiger Faserstoffdetritus (bei reinen marantischen Thrombosen olnie
Phlegmone), während in vielen Fällen ein guter dicker Eiter mit ausge-
bildeten Eiterzellen in diesen Venen zu finden ist. Bei jauchiger Be-
schaffenheit der Wunde kann auch der Faserstoffdetritus in der Vene
einen jauchigen Charakter annehmen, indem wahrscheinlich durch die
Capillarität des Thrombus jauchige Flüssigkeit aus der Wunde aufg-e-
nommen wird und den zerfallenen Faserstoff inficirt. Durch diese
Capillarität des Thrombus könnte allerdings auch eine Einwirkung- des
zersetzten Wundsecrets auf das Blut gedacht werden. Von einem mecha-
nischen massenhaften Einfliessen von Eiter oder anderem Secret der
Wunde durch die Vene ins fliessende Blut kann begreiflicherweise nicht
die Rede sein, weil die Gefässöftnung durch den Thrombus verstopft ist.
Sollte es einmal zu einem rapiden Zerfall des Venenthrombus bis an
das peripherische und centrale Ende kommen, was in dieser Ausdehnung
sich selten ereignet, so müsste zunächst eine venöse Blutung und dann
die Bildung eines neuen Thrombus erfolgen, so dass auch dabei ein
Einfliessen des Wundeiters in die Vene und des Veneneiters ins Blut
nicht Statt finden könnte. Der in der Vene entstandene und angesam-
melte Eiter ist ferner durch das centrale Ende des Thrombus immer so
abgeschlossen, dass er mit dem Blute sich nicht vermischen kann;
wenigstens könnte dies nur geschehen, wenn das centrale Ende des
Throm1)us ganz zerfiele; das geschieht aber wahrscheinlich nur äusserst
selten, weil sich in den meisten Fällen immer wieder neue Faserstofflagen
ansetzen, während der Zerfall von dem ältesten Theil des Thrombus an
vorschreitet. So werden Sie begreifen, dass das Eindringen von Eiter
Vorlcsuiiu- 2.'). ("apih'l \lll. 3^7
in die verletzten Vcnenlumina im Ganzen niclit Icielit zu Stande kommen
kann, sondern dass ganz besondere bald zu crwälmende Verliältnisse
auftreten müssen, um dies möglich zu maclicn. — Ich muss liier den
Gang der Darstellung kurz unterbrechen, um zu erwälinen, dass Virchow
die Ihubilduug des Thrombus zu Eiter nicht bestimmt aiUM-kcnnt; liii-
mich ist dies keinem Zweifel unterworfen; haben die Pdutzellen im
'riirond)us überhaupt die Fähigkeit, sich zu vermehren und zu Gewebe
umzul)ilden, wie mir dies immer noch wahrscheinlich ist, so liegt kein
Grund vor, ihnen die Vermittlung der Eiterbildung im Thrombus uiclit
ebenso zuzusprechen, als den aus dem Gefäss auswandernden weissen
Zellen des tliessenden Blutes; denn die Coagulation des Blutes ist keines-
wegs eine so ausserordentlich feste, dass sie die Zellenbewegungen völlig
hindern sollte. — Dass durch Theilung der weissen Blutzellen der
Thrombus zu wirklichem Eiter werden kann, betrachte ich vorläutig als
nicht widerlegt; dass dieser meist abgekapselte Eiter nicht,
oder nur äusserst selten in den Kreislauf gelangen wird und somit
meist in keiner directen Verl)induug zur Pyohämie steht, haben wir
schon erwähnt. Wenn ich meine Erfahrungen über die Venenthrombosen
und das Geschick der Thromben resumiren soll , so gehen dieselben
darauf hinaus, dass die meisten Venenthrombosen das Resultat
sehr acuter Zellgewebsentzüuduugen (besonders unter Fas-
cien, straffer Haut und im Knochen) sind, und dass das Ge-
rinnsel die gleiche Metamorphose eingeht, wie das entzün-
dete Gewebe. Führt die Entzündung rasch zur Gewebsbildung, so
werden auch die Gefässthromben zu Bindegewebe organisirt; geht die
Entzündung in Eiterung oder in Jauchung über, so vereitern oder ver-
jauchen auch die Thromben und zerfallen zu Bröckeln. Dies hat jetzt
um so weniger Schwierigkeit für das Verständniss, als wir durch v. Beck-
linghausen's und Bubnoff's Untersuchungen wissen, dass die Zellen
aus dem Gew^ebe durch die Venenwandungen in die Throml)en einwandern
können. Die Venenwandungen selbst haben dabei das gleiche Geschick
wie der Thrombus und das umliegende Gew^ebe; sie werden plastisch
iutiltrirt und verdickt, oder vereitern.
Es könnte nun eine Thrombose mit Phlebitis als rein localer Process
ablaufen, wie es auch gar nicht selten bei der Aderlassi)hlebitis und in
manchen anderen Fällen vorkommt. Eine weitere Gefahr kann nur aus
den Thrombosen mit bröckligem, eitrigem oder jauchigem Zerfall des
Gerinnsels entstehen. Es ragt nämlich das centrale Ende des Thrombus,
wie wir auch schon früher bei Gelegenheit des Arterienthrombus be-
sprochen haben, gewöhnlich bis an den nächsten eintretenden Gefäss-
stamni mit leicht zugespitztem konischem Ende; letzteres überragt auch
wohl das Lumen des ersteren um ein geringes (Fig. 66 a)^ und wenn
das Gerinnsel nicht mehr ganz feste Zusanuiiensetzung hat, so kann ein
25*
388
Von den afcidpiitelJen Wmid- inid Eiifzündiniji;skraHkluMtcii etc
Stück davon durch das vorbeiströmende Blut losgerissen werden und in
den Kreislauf gelangen. Es kommt in immer grössere Venen, endlich
in das rechte Herz, von hier in die Arteria pulmönalis, in deren Aeste
es sich schliesslich gewöhnlich an einer Bifurcationsstelle einklemmt,
Aveil es seiner Grösse wegen nicht weiter vordringen kann. Die be-
treffende Verzweigung der Lungenarterie ist nun durch das Fibi-in-
n Centrales Ende eines Venenthronibus,
in einen grösseren Stamm hineinragend:
h ein nicht thrombirter Nebenast; das
durch ihn strömende Bkit kann die Spitze
des Thrombus a loslösen und in den
Kreislauf führen.
Schematische Zeichnunt;.
gerinnsei wie durch einen Pfropf, einen sogenannten E mbolus (o sinßnXng
der Keil, Pflock) verstopft, und die Folge wird zunächst die Blutleere
des von dem betroffenen Arterienaste versorgten Theils der Lunge sein.
Diese locale Blutleere (Ischämie von Yaxoj hemmen, ai^ua Blut, Vir-
chow) hält jedoch meist nicht lange an, sondern es tritt in die blut-
leeren Arterienäste Blut ein und zwar meist durch rückläufige Bewegung
des Venenblutes, wieCohnheim gezeigt hat; unter Umständen wird so
das ischämische Gebiet mit Blut strotzend gefüllt, und gerinnt; es
kommt dabei auch wohl zu Gefässzerreissungen, zu Blutungen; da sich
die Arterien der Lunge, Milz, Niereu in immer feinere Aeste auflösen,
und so sich das Gefässgebiet nach der Peripherie hin immer mehr ver-
grössert, und einem mit der Spitze in das betreftende Organ keilförmig
hinein ragenden Kegel gleicht, so muss das Gebiet, in welchem auf die
beschriebene Art die Gerinnung zu Stande kommt, die Form eines
Keils oder Kegels haben. Man hat in der pathologischen Anatomie für
diese auf enibolischem Wege entstandenen Gerinnungen den Namen
„rother oder hämorrhagischer keilförmiger Infarct'^ einge-
führt. — So häufig nun auch diese keilförmigen Infarcte entstehen, so
ist doch ihre Entstehung keine absolut nothAvendige Folge der Embolie;
Vorlesung 25. Capifc^l Xiri. 3f^9
denn wenn die Embolie niclii ,i>radc einen nrleriellen Endasl hcirifCt
und der arterielle Collalernlkreislanr kräfli.i;- gcnuü,- ist, das Bliil in
die Arterie hinter dem Kmboliis durclizutrciben , wie dies bei sonst
gesunden Individuen und bei 'i'liicren, ho wie Itei raeclianiscli und
cheiniscli das (Jewebe wenig' irritireuden Fjnbolis (tft genug der Fall ist,
so entstellt kein Infarct, überhaupt keine erhebliehe Kreislaulsstörung-,
sondern man hat es dann nur ndt den localen Processen um den Em-
bolus als fremden, in dem Arterienast steckenden Körper zu thun. Diese
localen l^rocesse sind von der Beschaffenheit des End3olus abhängig-; be-
steht letzterer aus einem ganz reinen Faserstoffg-erinnsel,
so entsteht eine leichte Verdickung der Gefässwand, da wo
der Embolus sitzt, und letzterer kann, indem er von neuen
Gerinnseln umlagert wird, sich zu Bindeg-ewebe org-anisiren,
auch wohl resorbirt werden. Besteht der Embolus aus einem
mit Eiter oder Jauche imprägnirten Faserstoffg-erinnsel, so
erregt er nicht allein in der Gefässwand, sondern aucli in
deren Umg-ebung eine eitrige oder jauchige Entzündung. —
Die Metamorphose des rothen Infarctes ist also theils abhängig- von seiner
Grösse, theils von dem Grade von Circulation, die etwa hie und da noch
in ihm besteht, theils aber, wie oben bemerkt, von dem die ganze Ge-
gend inticirenden Embolus. Ist letzterer ganz indifferent, und ist der
Infarct sehr klein, oder wird er noch durch einige nicht thrombirte Ge-
fässe ernährt, so kann auch die den Infarct bildende Gerinnung sich
wieder auflösen, oder auch wohl zu Bindegewebe, zur Narbe orgauisirt
werden. Ist der Embolus indifferent, die Gerinnung im ganzen Infarct
aber ganz vollständig, so zerfällt Gewebe und Gerinnung langsam zu
einem gelben, körnigen, trocknen Brei, der rund herum eingekapselt
wird und selbst verkalken kann; das ist der gelbe trockne Infarct.
Ist der Embolus von Jauche oder Eiter imprägnirt, so erregt er jauchige
oder eitrige Entzündung in der ganzen Gegend; auch der Infarct zer-
fällt dann jauchig oder eitrig, es giebt eitrige oder jauchige Ab-
scesse. Da wir hier zunächst von der Lunge sprechen, so können wir
gleich erwähnen, dass diese meist an der Peripherie liegenden Abscesse
oft Pleuritis erzeugen, dass sie am häufigsten multipel in beiden Lungen
vorkommen und selbst zur Vereiterung der Lungenpleura an der dem
Abscess entsprechenden Stelle führen können und damit gelegentlich zu
Pneumothorax.
Sie mögen sich schwerlich vorstellen können, meine Herren, was es
für x\rbeit gekostet hat, diesen Zusammenhang der Venenthrorabosen mit
den Lungenabscessen so klar zu beweisen, dass ich Ihnen denselben liier
als einfache Thatsache hinstellen kann. Sie werden die classischeu
Arbeiten über diesen Gegenstand von Virchow, Panum, 0. Weber,
Cohnheim u. A. mit Bewunderung lesen; es würde mich zu weit führen,
hier näher darauf einzugehen ; w^r nehmen uns hier das Recht, aus die-
300 Vini den acci(lciitell''i: Wund- mid Kiity.rniiIiint(.'^kraiikli(Mteii cfc.
sem üppigen Wald von Arbeiten nur die reifsten Früchte zu brechen. —
Mit den enibolischen Lung-eninfareten und Lungenabcsessen Avären wir
nun im Jleinen, doch wie steht es mit den Infarcten und Abscessen,
welche unter gleichen Verhältnissen in der ]Milz,' in der Leber, in den
Nieren, in den Muskeln, wenn auch viel seltener gefunden werden; sind
auch diese immer von Emboli abhängig? Diese Frage konnten wir
vor einigen Jahren noch nicht mit Sicherheit beantworten; jetzt können
wir sie bejahen. Es steht durch experimentelle Unters uchuug-en, zumal
von 0. Weber, fest, dass gewisse Arten von Emboli, besonders Eiter-
flocken durch die Lungencapillaren ohne Hindernisse durchgehen, in das
linke Herz, von hier in den g-rossen Kreislauf gelangen können, und in
Milz, Leber, Nieren oder sonst wo stecken bleiben und Abcsesse veran-
lassen. So erklären sich diejenigen seltnen Fälle, in welchen man bei-
Venenthrombose keine Abscesse in den Lungen, wohl aber solche in an-
deren Organen findet. Hat man neben Abscessen in den Lungen em-
bolische Lifarcte oder Abscesse im Gebiet des grossen Kreislaufs, so ist
noch die weitere Erklärung zulässig-, dass auch durch die Luugenabscesse
Venenthrombosen mit eitrigem oder jauchigem Zerfall gebildet sind, und
von diesen aus ^_tiicke ins linke Herz und von da weiter gelangen.
Die embolische Entstehung der metastatischen Abscesse ist jetzt
so unzweifelhaft darg'ethan, dass man von der Existenz dieser Abscesse
sichere Eiickschlüsse auf Venenthrombosen mit eitriger oder jauchiger
Schmelzung macht. Was den Nachweis eines solchen Zusammenhanges
im einzelnen Fall betrifft, so kann derselbe manchmal sehr leicht, oft
aber auch sehr schwierig sein: sehr leicht da, wo man es mit Thrombosen
grösserer Venenstämme und Embolien in stärkere, mit der Scheere
erreichbare Aeste der Lungen arter ie zu thun hat; sehr schAver da,
wo es sich nur um Gerinnungen in kleinen Venen netzen (z. B. bei
Phlegmonen, bei gangränösem Decubitus), und um Embolien in Capillar-
gebieten der Lunge, Milz, Nieren, Leber, Muskeln etc. handelt,
und doch sind gerade diese letzteren Fälle unendlich häufig f dass es
Capillarembolieu giebt, ist unzweifelhaft in einzelnen Fällen an besonders
günstigen Objecten (z. B. an den Hirucapillaren) nachgewiesen, dass
kleinere Venen bei allen eitrigen Entzündungen thrombirt werden, ist
auch zweifellos; dies in jedem einzelnen Fall exact anatomisch nachzu-
weisen ist sehr schwierig, oft unmöglich. — Aus welchen Erscheinimgen
Avir schliessen, ob ein Gerinnsel alt oder frisch ist, wird in den Vor-
lesungen über pathologische Anatomie gelehrt; Sie werden da auch auf-
merksam gemacht, wie Sie kleine lobuläre Infiltrate der Lungen, wie sie
zumal bei eitriger Bronchitis vorkommen, von metastatischen Abscessen
unterscheiden können. — Wir sprechen hier nur von den metastatischen
circumscripten Entzündungen, von den Infarcten und Abscessen;
nur diese hängen mit der Venenthrombose und Embolie zusammen. AVas
die diffusen metastatischen Entzündungen betriffst, so muss dafür eine
Vnrlosiiii^' 2(i. Capilcl Xllf. 31)1
andere Erklärnnii' i'csucht werden, ^v()^'(»ll iiielir hei der Sei)tl);iniie mid
ryoliüniie. — Wir wollen uns liier nucli nicht weiter tuif die Fieher-
verhältnis.se ))ei der Thlehitis und hei der Uildung- metiistatischer ProcesHC
aufhalten. Da die Phlehitis mit ihren Folgen nieist nur ein Accidens
zu hereits hestelienden acuten Entzündungen ist, so kann man schwer
dariiher artheilen, inwieweit die erstere an und für sich Fieher macht;
die metastatischen Abscesse werden unzweifelhaft wie alle übrigen Ent-
zündungsheerde Fieber nach sieh ziehen; von einer einfachen Gefass-
thrond)ose als solcher ist kaum Fieber zu erwarten. Bei Hunden kann
man durch llervorrufung von vielfachen kleinen end)olischen Ilcerden
in der Lunge mittelst Injection von Aniylum oder feiner Kohle in die
Vena jugularis allerdings Fieber erzeugen, wie Bergmann, iStricker
und Albert gezeigt haben; es gelingt dasselbe aber nicht sicher bei
Embolien in anderen Gefässgebieten, und dürfte vielleicht von anderen
bisher nicht genauer gekannten Verhältnissen abhängig sein.
Was die Behandlung der Phlebitis und Thrombose betrifft, so fällt
diese mit der Behandlung der Lymphangoitis und anderer ähnlicher acuter
Entzündungsprocesse zusammen. Vorsichtige Einreibung mit Quecksilber-
salbe, oder, wo man Loslösung des Gerinnsels fürchtet. Bedecken des
entzündeten Theils mit einer mit Quecksilbersalbe bestrichenen Compresse,
Eisblasen, absolute Ruhe des erkrankten Theils sind indicirt. lieber die
Diagnose und Behandlung- der metastatisclien Abscesse am Krankenbett
wollen wir später bei der Pyohämie sprechen. Geht die Phlebitis und
Thrombose örtlich in Eiterung aus, so müssen die Abscesse so früh ge-
spalten werden, als man sie diagnosticiren kann.
"VorleBiing 26.
II. Allgemeine acci den teile Krankheiten, welche zu Wunden und Ent-
zün du ngshe erden hinzukommen können. — 1. Das Wund- and Entziindungs-
fieber; 2. das septische Fieber und die Septhämie ; 3. das Eiterfieber und
die Pyohämie.
IL x411gemeine accidentelle Krankheiten, welche zu Wunden
und anderen Entzttndungsheerden hinzukommen können.
Die bisher beschriebenen örtlichen aecidentellen W^uidkrankheiten
sind immer mit allgemeiner Erkrankung verbunden; diese allgemeine
Erkrankung ist vorwiegend eine fieberhafte, w'euu auch nicht immer.
Das Fieber ist ein so zusammengesetzter Complex von Erscheinungen,
gQ2 Yon den acTidenfiM'Mi Wmid- inid Enlziindiin^skranklieiten efc.
dass es je iiacli dem Hinzutreten des einen oder andern Symptoms sehr
verschiedenartig- erscheinen kann. Man ist jetzt allg-emein darüber über-
eingekommen, nur da Fieber anzunehmen, wo Temperaturerhöhung- des
Blutes bestellt, und nach der Hölie dieser Temperatur die Intensität des
Fieberprocesses zu bemessen. Ich halte es nicht für zweckmässig, an
diesem Satz viel zu rütteln, weil wir mit Aufgabe desselben eine ein-
heitliche Auffassung für das, was wir Fieber nennen, verlieren und das
Fieber wieder in das alte Chaos zurückwerfen würden. Ich muss Sie
jedoch jetzt schon darauf aufmerksam machen, dass es viele und zwar
sehr gefährliche allgemeine Erkrankungen bei Verwundeten und bei
Leuten mit anderen Ehitzündungsheerden giebt; bei welchen durchaus
kqine Temperaturerhöhung des Blutes nachweisbar ist, letztere ist daher
nur in bedingter Weise ein Maassstab für den Grad von Gefahr, in
welchem sich der Kranke befindet. Ausser der Temperaturerhöhung des
Blutes haben wir beim Fieber folgende Hauptsymptome : Beschleunigung
des Herzschlages und der Kespiration, Appetitmangel, häufig mit Uebel-
keit verbunden, Gefühl der Schwäche, starke Seh weisse, nicht selten
heftiges Zittern gewisser Muskelgruppen (beim Schüttelfrost), mehr oder
weniger psychische Aufregung und Benommenheit des Sensoriums. —
Das Fieber ist eine Allgemeiukrankheit, welche aus sehr vielen Ursachen
entstehen kann; mit anderen Worten: die Zahl der pyrogenen Stoffe
ist wahrscheinlich eine sehr grosse, ebenso wie die Zahl der phlogo-
genen Stoffe. Je nach der Qualität und Quantität dieser ins Blut ein-
dringenden Stoffe, die man wohl als Gifte bezeichnen darf, treten bald
diese, bald jene Erscheinungen mehr hervor: so giebt es Fieber mit sehr
hohen Temperaturen bei Zurücktreten aller anderen Erscheinungen, Fie-
ber mit vorherrschender Benommenheit des Sensoriums bei wenig gestei-
gerter Körpertemperatur, Fieber mit vorwiegend heftigen Krampfanfällen,
sogenannten Schüttelfrösten, Fieber mit vorwiegender Störung der Magen-
functionen , Fieber mit vorwiegendem Gefühl von ]\Iattigkeit u. s. f.
Warum sollte man nicht auch Fieber — nach meiner Auffassung: lutoxi-
cationszustände , bedingt durch Stoffe, welche von Wunden oder Enzün-
dungsheerden aufgesogen sind — annehmen, bei denen alle anderen
Symptome, mit Ausnahme der Temperaturerhöhung des Blutes, vorhanden
sind? Grade dies Symptom könnte ja auch einmal aus irgend welchem
Grunde verdeckt oder verliindert sein, zur Erscheinung zu kommen.
Doch, wie gesagt, wir wollen uns in die jetzt gebräuchliche Auffassung
des Fiebers fügen und nehmen also nur da Fieber an, wo Temperatur-
erhöhung des Blutes nacliweisbar ist, müssen aber dann hinzufügen, dass
es Fälle von schweren, allgemeiueu, accidentellen Wund- und Entzün-
dungskrankheiten giebt, welche afebril verlaufen.
Ein anderes einheitliches Moment dürfen wir jedoch für die jetzt zu
besprechenden Allgemeiukrankheiten festhalten, nämlich dass sie alle
durch Resorption von Stoffen entstehen, welche au der Wunde
Voiiosiiii^' 2c^. ('iipiiri Mir. 393
oder (leren Uing'ebnng', oder (was zicnilicli identisch ist) in einem
Entz iiudiingslieerd entstehen; diese Ivcsorplion erfolgt durch die
Lyniphgefässc und Venenwandungen liindurch.
Ich sicllo mir \(ir, dass die rosorliiiicii. tlicils L;('l('istcii , llirils \ irllridit sein- IV'jii-
kiiniii;!'!! (woim auch (hirch F'illrirpaiiicr L^i'hciKh'ii) SlolTc inil dnii I5hil,sli(jiM im CciifniDi dov
Vciu'ii rascli v(>rriii'l<(Mi , au ihreu Wamhiui^cu ah(M- und iu drii Lynipliffefässen nur sehr
lau,i;sam vorwärts komiDeii, da ja auch der Blutstrom an den Wandungen der Gefässc sehr
lanj;sani vorrückt. Dadurch kommt es, dass die toxischen Stoffe nai'li und nach in die
Wanchmgen und (hireh dieselhen ins umliegende Gewebe eindringen, wo sie di<: Tnihcr
erwähnten periphlebischen nnd perilymphangisclien Entzündungen erzeugen.
liiemit stehen wir mit der jetzigen AutTassung in Einklang, so weit
es das Wundfieber, das Entzündungsfieber, die Septhäniic und l'yohänne
betrifift, weniger vielleicht, wenn auch der Tetanus, das Delirium pota-
torum. Delirium nervosum und die acute Manie mit in Frage kommen.
Es sprechen jedoch gewichtige Gründe dafür, dass auch die letzteren
Krankheiten humoralen Ursprungs sind, und so will ich denn keine wei-
teren Abtheilungen unter den genannten Krankheiten machen.
1. Das Wund- und Entzündungsfieber.
Es ist schon früher ipag. 100) auseinandergesetzt, dass das Fieber,
welches bei Verwundeten auftritt, theils durch Aufnahme von Stoffen
bedingt ist, welche durch Zerfall mortificirter Gewebe an den Wuudflächen
entstehen, theils durch die Aufnahme von Stoffen, welche bei den trauma-
tischen oder accidentellen Entzündungsprocessen in den Geweben gebildet
werden; für den letzteren Fall deckt sich also das Wesen des Wund-
und Entzündungsfiebers vollständig. Unter dieser Voraussetzung, die
wir früher kurz zu begründen versucht haben, wird es theils von den
localen Bedingungen für die Resorption, theils von der Qualität und
Quantität der betreffenden resorbirten, pyrogenen Stoli'e abhängen, wie
stark die Intoxication sein wird. Es giebt Fälle, in w^elchen ein so
rascher Verschluss der durch die Verletzung geöffneten Gefässe und ein
so rascher Abschluss des ganzen traumatischen Entzündungsheerdes er-
folgt, dass zunächst gar keine Allgemeininfection, gar kein Fieber ein-
tritt; ja dasselbe kann auch in der Folge ganz ausbleiben; diese Fälle
sind bei grösseren Verletzungen selten, es sind die ideal normalen: das
plastische Infiltrat an den Wuudrändern führt dabei rasch und zwar in
ganzer Ausdehnung der Wunde zur soliden, in die Wundränder fest ein-
gefügten, organisirten Gewebsneubildung, sei es mit unmittelbarer Um-
bildung zur Narbe, sei es mit vorgängiger Granulationsbiidung. Nehmen
wir diese Fälle als normale Typen, so ist jedes Wundfieber ein
pathologisches Accidens. Wir müssen das in theoria zugeben, doch in
der Mehrzahl der Fälle tritt früher oder später zu irgendwie grösseren
Wunden Fieber hinzu, und darum hielten wir es für angemessen, bei
der früheren Schilderung des x\llgemeinzustandes der Verwundeten auch
394
Von den accidenlellen Wund- und Enfziindiuigskrankheiten etc.
(las Wundfieber schon zu besprechen. — Es erübrigt jedoch, noch Man-
ches zu dem früher Gesagten hinzuzufügen, was Ihnen früher schwer
verständlich gewesen sein Avürde. Sprechen wir zunächst von dei-
Zeit, in welcher das Wundfieber aufzutreten pflegt, und von
dem Verlauf desselben. In vielen Fällen, zumal in denjenigen, wo
die Verletzung- bis dahin g-esunde Gewebe getroffen hat, beginnt das
Fieber erst am zweiten Tage, steigt rasch an, hält sich mit Abendremi.s-
sionen einige Tage auf einer gewissen Höhe, um dann allmählig (selten
innerhalb 24 Stunden) ganz aufzuhören. Nach meinen sehr zahlreichen
Beobachtungen beginnt das Wundfieber weitaus am häufigsten innerhalb
der ersten 48 Stunden nacli der Verletzung, Mau pflegt diese Fieber-
bewegungen in folgender Weise graphisch darzustellen:
Fig. 74.
Fiebercurve nach Amputatio brachit. C4enesung. Die Ordinaten dieser und der folgenden
Fiebercurven zeigen die Scala des Thermometers nach Celsius an, jeder Grad ist in 10
Ihede gethedt, die Abscisseu bedeuten die Krankheit.tage; die Curve ist nach ^en
Messungen eingetragen, welche täglich Morgens und Abends gemacht sind; die beiden
starken Striche bedeuten das Maximum der höchsten und Minimum der niedrigsten
Normaltemperatur gesunder Menschen.
Die Curve zeigt an, dass nach einer wegen Verletzung- nothweudigen
prmiaren Amputatio brachii (wobei am ersten Tage zufällig- keine Messuno-
gemacht war) das Fieber erst am 3. Tage begann, dami vom 4. bis f.
lauere; dann blieb dieser Patient vom 8. Tage an fieberfrei, während
iut-t In"' 'f ' ff'" ^'■"^^' ''''^' Amputationen oft genug Xachfieber
auttieten. Ein solcher Verlauf des Wundfiebers ist ziemlich häufig;
Voi-IcsiiiK-- :U\. C-ipilc! XIII.
■m
ich iiuu'lic mir foliiendc Erlcläning dazu: gleich nach der Verletzung war
das CiCAvebe der Wundräudcr durcli phisti.sclic Jidiltration geschlossen;
diese ling am dritten Tage au, eitrig zu zerdiessen, sicli nnt zerfallenen
Fetzen an der Wundfläche zu vermischen, und so entstand eine massig
ausgebreitete Eutziimlung des Amputatiousstumpfes mit ]{csorption von
Eiter und andern Eroducten der Zersetzung und Entzündung; diese Ue-
sorptiou dauerte so lange fort, bis sie aus irgend welchen nu^chanisehen
eirunden (vernun<lerter Druck, Vei'dickung und tlieilweiser Verschluss der
Gelasse etc.) aufhören nuisste. — In andei'en Fällen beginnt das Fieber
schon am Tage der Verwundung; dies lindet man einerseits, wenn 151ut
zwischen vernähte Wundränder eingeschlossen war, das sieh rasch zer-
setzte, ziemlich häutig, dann auch wenn man Operationen in chronisch
entzttndlieh infiltrirteu Geweben gemacht hat. Folgender Fall mag als
Beispiel für diesen zweiten Fall gelten (Fig. 75):
Fig. 75.
Fiebercurve nach Eesection eines cariösen Handgelenks mit starker Infiltration der
Weichtheile. Genesung.
In chronisch entzündlieh infiltrirfcen Gewebstheilen mögen die feinsten Lymphcapillaren
verengert und theilweis verschlossen sein und deshalb schon seit längerer Zeit nicht ge-
hörig Serum aus dem Gev^ebe abgeführt haben, doch die mittleren Lypjphstämme sind
unzweifelhaft ebenso wie die mittleren Venenstämme, welche lange unter erhöhtem Druck
bei chronischer Entzündung standen, ausgedehnt, wegen der Starrheit des Gewebes
vielleicht theilweise klaffend, und so nehmen sie, wenn sie nicht sehr schnell von festem
plastischem Infiltrat erfüllt werden, gleich anfangs viel von den Wundsecreten auf. —
Diese meine Erklärung für die spätere und frühere Entstehung des Wundfiebers ist eine
rein hypothetische; doch ist sie von zahlreichen Beobachtungen hergenommen und hat sich
39g Von den accirlentellen Wund- und P^ntzündnngskrarikheiten etc.
aus diesen bei mir entwickelt. Man könnte übrigens auch annehmen, dass in einem Falle
die ins Blut aufgenommenen Stoffe sehr langsam, im andern Falle sehr rasch wirken;
das hat aber nicht viel Wahrscheinlichkeit. So lange man früher glaubte, dass das Fieber
immer durch eine Nervenreizung vermittelt wurde, mnsste mqn daran denken, dass eben
diese Eeizbarkeit sehr verschieden und daher der febrile Effect in sehr verschiedener Zeit
eintreten könne; ich bin von dieser Theorie zurückgekommen, ohne den wichtigen Antheil,
den das Nervensystem an der Entstehung und den Erscheinungen des Fiebers hat, zu
unterschätzen.
Die Dauer des Wundfiebers pflegt bis 7 Tage zu sein, Aveuigstens
ist sie selten länger ohne sichtbare örtliche Complication.
Wenn um die Wunde eine accidentelle Entzündung, sei es des Zell-
gewebes, der Lymphgefässe oder Venen auftritt, so kommt das Fieber
(welches nun als entzündliches Nachfieber entweder in unmittel-
barem Anschluss an das Wundfieber oder nach Ablauf mehrer, oder gar
vieler fieberfreier Tage erscheint) gleich mit dieser Entzündung oder geht
ihr scheinbar vorauf; ich sage scheinbar, weil uns die ersten Anfänge
des örtlichen Processes in solchen Fällen oft entgangen sein können,
indem sie vielleicht gar keine sinnfällige Erscheinungen darboten, oder
weil der giftige Stoff schneller die Blutmasse als das umliegende
Gewebe inficirte. — Der Verlauf solcher Nachfieber ist ganz abhängig
von dem Verlauf der örtlichen Entzündungsprocesse; mit Beginn und
Ausbreitung der letzteren steigt die Temperatur schnell, häufig mit
Initialfrost; je länger sich solche Nachfieber hinziehen, je länger also
die Intoxication anhält, um so gefährlicher wird der Zustand: rasche
xVbmagerung, viel Seh weiss, Schlaflosigkeit, dauernder Appetitmangel
sind üble Symptome. — Recht ausgesprochenes Erysipel oder recht
prägnante Entzündung der Lympligefässstämme und Lymphdrüsen sind
die relativ günstigsten Formen der accidentellen Entzündungen, weil sie
in der Regel zu einem bestimmten meist günstigen Abschluss in kürzerer
oder längerer Zeit führen und dadurch einigermaassen etwas Typisches
haben, obgleich die Dauer eines Erysipels zwischen drei Tagen und
dreissig Tagen und darüber schwanken und die Kräfte enorm mitnehmen
kann; die Fiebercurve zeigt anfangs ein rasches Austeigen, dann ein
Verbleiben auf einer gewissen Höhe, meist mit Morgenremissiouen, und
nicht selten einen raschen Abfall der Temperatur; ebenso verhält es sich
bei Lymphangoitis. Es gehört zum Glück zu den Seltenheiten, dass ein
Erysipel und eine Lymphangoitis sich tief ins Unterhautzellgewebe und
unter die Fascien verbreiten; damit würde der Fall dann in die Reihe
der schweren Phlegmonen treten und seinen einigermaassen typischen
Charakter völlig verlieren.
Das Fieber bei ditfuser, tief greifender Zellgewebsentztindung mit
oder ohne Venenthrombose tritt nicht immer so plötzlich auf, hat aber
immer von Beginn an einen sehr ausgesprochen remittirenden Typus
und ist in seinem weiteren Verlauf wie der örtliche Process unbe-
rechenbar; die Abnahme der Kräfte, die Abmagerung, die Empfindlich-
VorleHim-;,- -2V,. (laiiilt-l XI II.
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Fiebercni've bei P^rysipelas traumaticum ambulans faciei, capitis et colli, nach der Exsrir-
pation eines Lippenkrebses entstanden. Genesung.
keit, Aufg-ereg-theit der Kranken erreicht die liöclisten Grade. Inter-
mittirender Fiebertypus und metastatiselie Entzündungen, diese Haupt-
symptome derjenigen bösartigen Wundfieber, welche wir „Pyohämie"
nennen, sind in solchen Fällen immer sehr zu fürchten. —
Bei allen diesen Fiebern ist immer die Quantität des Harnstoffs ver-
mehrt und übertrifft meist den Stickstoffgehalt der aufgenommeneu Nah-
rung. Zugleich nimmt dabei nach neueren Untersuchungen das Körper-
gewicht nicht unerheblich ab.
So lange sich die Allgemeinerscheinungen, zumal die mit dem
Fieber zusammenhängenden, nicht über das Beschriebene hinaus erstrecken,
und zumal so lange nicht Exitus letalis eintritt, pflegt man sich mit der
Bezeichnung „Wundfieber, Eiterfieber, Nachfieber" zu begnügen. Treten
aber andere Erscheinungen hinzu und erfolgt der Tod, so sind für solche
schwerste Infectionen zwei andere Krankheitsnamen jetzt allgemein ge-
bräuchlich, nämlich „Septhämie" und „Pyohämie". Wir folgen diesem
allgemeinen Sprachgebrauch.
2. Das septische Fieber, die Septhämie.
Man versteht unter Septhämie eine meist acute Allgemeinkraukheit,
welche durch die Aufnahme verschiedenartiger putrider Substanzen ins
Blut entsteht, und glaubt, dass diese putriden Substanzen das Blut so
verderben, dass es seine physiologischen Functionen nicht erfüllen kann.
Man kann diese Krankheit bei Thiereu erzeugen, wenn man Jauche
398 ^'"" '^'^" aecidentellen Wund- und Entziindiingskrankheiten etc.
ins Dliit oder ins Unterliautzellgewebe einspritzt, und hat dabei die Er-
faliniug geniaclit, dass zumal gTössere Tliiere (g-rosse Hunde, Pferde)
die jaucliige Blutvergiftung unter gewissen Be-dingungen überstehen
können, wenn sie auch sehr schwer krank dadurch werden. — "^Venn
beim Menschen jauchige Stoffe ins Blut aufgenommen werden sollen, so
gehören dazu besondere Bedingungen; eine Aufnahme solcher Substanzen
durch die gesunde Haut und Schleimhäute erfolgt nur dann, wenn die
putriden Substanzen zugleich zerstörend, ätzend wirken oder eventuell eine
active Penetratiouskraft besitzen, wie vielleicht manche Bacterien. Er-
krankte Häute, wunde Flächen nehmen dagegen solche jauchigen Stoffe
leichter auf, doch auch wieder nur unter besonderen Verhältnissen; diese
Stoffe pflegen z. B. durch wohlorganisirte nicht verletzte Granulationsflächen
nicht leicht einzudringen. Man verbinde eine gut granulirende Wunde
bei einem Hunde mit Charpie, die in die scbeusslichst stinkende Jauche
getränkt ist; enthält letztere keine ätzenden Stoffe, welche etwa die
Granulationsfläche zerstören, so wird das Thier nicht erkranken; die
Jauche wird nicht resorbirt. Hieraus schliesse ich, dass das schädlich
wirkende Gift in irgend einer Weise verhindert sein muss, in die an der
Oberfläche der Granulationen liegenden Blutgefässe einzudringen. Aus
diesen besonderen Bedingungen, unter welchen die Infectiou durch
putride Stoffe zu erfolgen pflegt, scheint mit Evidenz hervorzugehen,
dass das betreffende Gift die schleimige Substanz der Granulationen
nicht zu durchdringen vermag oder hauptsächlich durch die Lymphge-
fässe aufgenommen wird, wie ich schon früher erwähnte. Bedenken Sie
ferner, dass bei Quetschwunden oft noch lange Zeit faulende Fetzen von
festem Bindegewebe, zumal von Sehnen und Fascien auf der übrigens
gut granulireuden Wunde liegen, ohne dass aus ihnen septisches Gift
durch die oberflächlichen Blutgefässe der Granulationen ins Blut dringt,
so ergänzt diese Beobachtung das angeführte Experiment am Hunde.
Ich will nicht in Abrede stellen, dass vielleicht unter gewissen Quellungs-
verhältnissen der Blutgefässwaudungen, so wie vermöge der Capillar-
attraction auch durch Gefässthromben infectiöse Stoffe ins Blut gelangen
können; dass ferner auch Zellen septische moleculare Stoffe aufnehmen
und damit in Blutgefässe einwandern können; im Ganzen möchte ich
jedoch diesen Gang der Infection für die Ausnahme halten, zumal, wenn
die infectiösen Stoffe nicht gelost sind, sondern in kleinsten Körnehen
bestehen, und z. B. in Staubform aufgenommen werden. Man hat gegen
diese Keflexionen eingewandt, dass ungelöste Körnchen im Blut nicht
schädlich wirken könnten, weil nur gelöste Körper das Blut intoxiren
können; das ist ganz richtig; doch wir wissen ja dass regulinisches
Quecksilber auch nicht löslich im Blut ist, und doch in Form von grauer
Salbe dem Körper beigebracht Intoxication z. B. recht heftigen Speichel-
tiuss erzeugen kann. Wir wissen nicht, ob und wie sich das Queck-
silber m den Geweben löst, doch wir sehen, dass es, auch ungelöst den
Geweben beig'ebraclit, wirkt. Eines imiss ich nocli iiinziirii.^'cii , djiss
nämlich diirob starken Druck scptisclic Stoffe zwciFcUoH Jiiicli (iiiicli
Granulationsflficlien und Abscesswanduiigcu ins Cewcl)C in die J^iynipli-
geliisse und Venen eing-etriel)en werden können. Die Druckverliältnisse
an Wunden und in Entzündung-slieerden und in Abscessliöhlen sind von
grosser klinischer Bedeutung' und es ist sehr wichtig sie genau zu be-
achten und zu Studiren. Dies geschieht indess besser am Krankenl)ett
als hier.
Was die der Luft exponirten gesunden Körpertheile betrifft, so steht
es bis jetzt nur von der Lunge fest, dass in sie staubförmige Körper
(Kohle) eindring-en und von da in die Bronchialdrüsen (von da auch
wohl ins Blut) gelangen können, während ähnliclie Aufnahmen vom
Darm aus bis jetzt nicht beobaclitet sind und experimentell nicht erzeugt
werden konnten.
Man hat in neuerer Zeit viele Versuche gemacht, zu ermitteln, wel-
; eher Stoff in den faulen thierischen Gew^el)en das eigentlich giftige*Princip
I ist, und hat zu diesem Zweck faulende Flüssigkeiten so lange chemisch
behandelt, bis man einen Körper übrig- behielt, welcher noch in kleinster
I Dosis die Ersclieinungen der septischen Intoxication hervorrief. So hat
I Bergmann aus faulender Bierhefe einen Körper der Art hergestellt, den
er Sepsin nennt. Um zu beweisen, dass nur dieser Körper, den
^ Fischer aus faulendem Serum und aus faulendem Eiter nicht dar-
stellen konnte, das Giftige sei, müsste man die Schadlosigkeit aller
übrigen beim Fäulnissprocess entstehenden chemischen Körper nach-
weisen können. Dies ist aber nicht der Fall; Schwefelwasserstoff,
Schwefelammonium, Buttersäure, Leucin und manche andere bei der
Fäulniss organischer Körper entstehende Stoffe wirken, ins Blut injicirt,
auch mehr oder weniger septisch, so dass ich mich immer noch nicht
recht für die mühevollen Bestrebungen, einen Körper in den fauligen
Flüssigkeiten aufzusuchen, der die alleinige Verantwortung für die
Schädlichkeit derselben auf sich nehmen soll, begeistern kann. Es ist
sehr wahrscheinlich, dass in faulenden Flüssigkeiten je nach ihrer Be-
schaffenheit, ihrem Concentrationsgrad, der Temperatur etc. sehr viele
verschiedene giftige Körper sieh bilden, die ich mir ausserdem bis zu
einem gewissen Endstadium in fortwährender Veränderung denke; ob
dieses Endstadium dann immer dasselbe ist, das wäre ja auch noch erst
festzustellen. Es ist hier nicht der Ort, diese schwierigen Fragen weit-
läufig zu discutiren; soweit meine Erfahrungen, Beobachtungen und
Studien reichen, halte ich es mindestens für im höchsten Grade wahr-
scheinlich, dass die septischen Stoffe bereits in den entzündeten und
gangränösen Geweben fertig gebildet und dem Blut als fertiges Gift
; zugehen. Dieser Ansicht steht eine andere gegenüber, nach welcher
I dem Blut aus den Geweben (eventuell aus der Luft) nur das Ferment
zugeht, welches im Blut erst recht seine zersetzende gährungs- oder
A^^x Von den accidputelleii Wund- und EntzündunL'skranklicitfii etc.
fäuluiss-en-egeiide Kraft äussert (0. Weberj; danach wären die resor-
birten septiselien Stoffe nicht an sich giftig-, sondern sie erzeugten das
Gift erst im Blute aus Bestandtheilen des Blutes.
In neuester Zeit ist diese Hypothese von Einigen dahin präi-isirt. dass die Gährungs-
erreo-er Coccos (Monaden, Hue t er) oder Baeterien seien. Ich kann dieser Hypothese schon
deshalb meine Zustimmung nicht geben, weil ich weder im Blut lebender Menschen,
welche an Septhämie starben, noch in dem Blut dieser an Septhämie Verstorbenen bald
nach dem Tode Micrococcos finden konnte. Ich muss noch hinzufügen, dass ich auch
im Blute von lebenden Thieren, welchen ich putride Flüssigkeiten mit Coccos und Baeterien
eino-espritzt hatte und welche an der septischen Intoxication starben, einige Zeit nach der
Iniection die erwähnten Organismen im Blut wiederzufinden nicht im Stande war; ehen.so
weni" konnte ich sie im Blute dieser Thiere einige Stunden nach dem Tode finden. Es
scheint hiernach, als wenn Coccos und Baeterien im lebendigen Blut niclit nur nicht
weiter wachsen, sondern bald darin ausgehen. Nach diesen Beobaclitungen ist es wohl
nicht o-erechtfertigt, bei der Septhämie einen hämatozymischen Process durch Organismen
anzunehmen, der sich nach Analogie des Gährungsprocesses in erster Linie doch auf eine
enorme Vegetationsenergie der pflanzlichen Gährungserreger stützen müsste.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wollen wir diejenigen chirur-
gischen Fälle in Betracht ziehen, welche Gelegenheit zu septischer In-
fection gehen. Zunächst sind es Fälle, in welchen an frischen "Wunden
eine Zersetzung Statt findet; oh dabei intensive, über das Gewöhnliche
hinausgehende, örtliche und allgemeine Infection eintreten wird, pflegt
sich innerhalb der ersten drei Tage zu entscheiden, Aeussert sich die
örtliche Infection in nur massiger Entzündung, die bald zu guter circuni-
scripter Eiterung führt, hat die allgemeine Infection ein nur massiges
Fieber zur Folge, so fällt die Erkrankung ins Gebiet des einfachen
Wundfiebers. Ist die örtliche Infection aber sehr ausgedelmt, bildet sicli
Phlegmone mit verjauchenden Producten aus, nimmt damit der Allgemein-
zustand einen besonderen, gleich näher zu erörternden Charakter an, so
nennen wir den Zustand „'Septhämie". — In anderen Fällen ist es ein
traumatisch oder spontan entstandener ausgedehnterer Brandheerd (z. B.
Gangrän in Folge von Arterienerkrankung), von welchem aus die Re-
sorption fauliger Stoffe erfolgt, und zwar ist dies häufiger und intensiver
der Fall bei feuchtem als bei trocknem Brand. In ähnlicher Weise ist
die Bedingung für die Resorption putrider Substanzen gegeben, wenn
nach der Geburt des Kindes die Placentarfläche des Uterus gangräues-
cirt; ein Theil der Puerperalfieber sind Septhämien.
Es wird Ihnen einleuchtend sein, dass der Krankheitsbegriff
„Septhämie" wesentlich auf ätiologischer Basis berulit, wie
z. B. auch die Krankheitsgruppe „Typhus", und dass sich das leichtere
septische Wundfieber zur Septhämie verhält, wie die typhöse Febricula
zum Typhus: auch ist in der That der Name „septische Febricula" vor-
geschlagen. Doch wie der Typhus in seinen einzelnen Formen aucli
symptomatologisch und pathologisch-anatomisch charakterisirt ist, so ist
dies auch bei der Septhämie der Fall, wenngleich dabei die patho-
logisch-anatomische Ausbeute gering ist. — Wodurch ist nun die
Vorl.'siiiiK '-^(1. Cai.ilcl MI
401
Septliümic in ihrem Verhiuf churaktcrisirtV Wann sollen wir ein scliweres
Wundiiebcr als ein septliämisclies bezeichnen? Hier sind zunächst die
Ersclieinung-cn von Seiten des Nervensystems hervorzuheben; die Kranken
sind apathisch, schlafsüchtig', Avenn auch nicht ganz comatös; seltener ist
eine furchtbare Aufregung; fiiribunde maniacalische Delirien kommen
vor. Dabei ist das subjeetive Gefühl gut; die Kranken leiden nicht sehr.
Die Zunge ist trocken, oft holzig hart, wodurcli die Spraclie dieser
Kranken etwas eigenthümlich Scliwerfälliges bekommt; die Kranken
haben Durst, befriedigen denselben aber selten, weil sie ihn wegen der
allgemeinen Apathie wenig- empfinden. Nicht immer, doch häufig- treten
profuse Diarrhöen auf, seltener Erbrechen. Anfangs kann starker
Schweiss vorhanden sein, später ist die Haut trocken, welk. Der Urin
Fig. 77.
Fiebercm've bei Septhämie nach Exstirpation eines colossalen Lipoms zwischen den Obev-
schenkehnuskehi. Tod.
ist sparsam, sehr concentrirt, zuweilen eiweisshaltig-. — Bei vorschreiten-
der Krankheit lassen die Kranken Urin und Koth unter sich gehen. Es
tritt sehr früh gangränöser Decubitus am Kreuzbein auf — Das Fieber
steigt (nach der Körpertemperatur bestimmt) anfangs meist hocli; inter-
currente Fröste im Verlauf der Krankheit kommen bei einer acuten rei-
nen Septhämie nie vor; auch Initialfröste gehören zu den grössten Selten-
heiten; im weiteren Verlauf sinkt die Körpertemperatur bis aufs Nor-
male, selbst darunter, der Kranke stirbt in der Regel im vollkommensten
Billruth clür. Path. u. Ther. 7. AuH, 26
409 Von den accidentellen Wnnd- und Entzündiingskrankheiten etc.
CoUapsus bei fadenförmig-em, äusserst frequentem Puls; die Beschaffen-
heit des Pulses und der Zunge sind bei der Prognose des septhämisclien
Zustandes wichtiger als die Temperatur. Zusammengezogener frequeuter
Puls und trockne Zung-e sind üble Symptome; normale Temperatur dabei
hat keinen prognostischen Werth, während allerdings sehr hohe und sehr
niedere Temperaturen dabei die Prognose noch verschlimmern. Die
Agonie dauert oft über 24 Stunden.
Dieser Verlauf ist der regelmässige bei den acuten, nach frischer
Verletzung" auftretenden reinen Septhämien; der Kranke kann jedoch auch
in dem ersten Stadium mit steigender Temperatur sterben. Es giebt
ferner Fälle, in welchen der Fieberanfang kaum durch eine Temperatur-
erhöhung markirt ist, und endlich Fälle, die ganz afebril oder mit ab-
norm niedriger Temperatur verlaufen; letzteres kommt mit siibacutem
Verlauf besonders bei älteren Individuen mit spontaner Gangrän vor;
dabei sind aber dann die andern erwähnten Symptome meist alle vor-
handen. Man sieht daraus, wie auch besonders aus der obigen Curve,
dass das Sinken der Temperatur keineswegs an und für sich
ein Zeichen der Besserung ist, sondern dass daneben auch die
andern Allgemeinerscheinungen (Kräftezustaud, Sensorium, Zunge, Puls)
berücksichtigt werden müssen. Die allerschwersten Fälle sind diejenigen,
in welchen etwa gegen die Mitte oder gegen das Ende des zweiten Tages
rasch ein enormer Collaps mit Cyanose auftritt, der dann gewöhnlich
rasch zum Tode führt. Solche Patienten machen genau denselben Ge-
samrateindruck wie Cholerakranke im Stadium algidum, nur dass bei
Septhämie selten Erbrechen und anhaltende Diarrhoe vorkommt; die Krau-
ken sind, wie wenn sie plötzlich vergiftet wären, nachdem sie sich in
den ersten 24 Stunden nach der Operation vielleicht ganz wohl befanden.
Das Wundsecret ist gerade in diesen Fällen (die auch wohl mit Diph-
therie combinirt sein können) keineswegs übelriechend ; die Nase merkt
noch nichts von der Zersetzung. Es ist nicht erweisbar, ob der intoxi-
rende Stoff in diesen Fällen ein anderer ist als gewöhnlich, oder ob die
entzündliche Gewebsalteration hier eben besonders massenhaft giftige
Producte liefert. Die Verschiedenheit des Krankheitsbildes bei Septhämie
ist nach dem Mitgetheilten ziemlich gross; dies bew^eist iudess nichts
gegen die Annahme, dass das septische Gift immer dasselbe sei, denn
es giebt ähnliehe Differenzen der Erscheinungen bei der Cholera, beim
Milzbrand, bei Diphtheritis, beim Schlangenbiss, bei welchen Krankheiten
Avir desshalb doch auch nicht dift'erente Arten, sondern nur Diffe-
renzen in der Intensität und Quantität des aufgenommeneu Giftes und
Differenzen in der Widerstandsfähigkeit des Erkrankten sehen.
Ich hoffe, dass Sie sich aus dem Gesagten ein richtiges Bild von
der Septhämie gebildet haben. Die Prognose ist bei den ausgesproche-
nen Symi)tonicn der Krankheit ausserordentlich schlecht; über die Be-
handlung wollen wir am Ende dieses Abschnitts sprechen.
Vorlesmij,' 2(i. Caiiilcl XI [I. 403
Kommen wir jetzt zu dem Lcicliciibefund. Zuweilen Laben wir
Mühe, die ödematöse Infiltration, die bläuliclie und bräunliche Verfärbung-
der Haut, die wir in der Umgebung- der Wunde am Lebenden sahen,
an der Leiche wiederzufinden. In anderen Fällen, die einen läng-eren
Verlauf hatten (G — 8 Tage), finden wir das Unterhautzellg-evvebe mit
blutig- seröser Flüssigkeit durchtränkt, bei noch längerem Verlauf (zwei
Wochen und darüber) der Krankheit zeigt sich meist sehr ausgedelinte
Vereiterung- des Zellgewebes mit mehr oder weniger ausgedelmter Gan-
grän der Haut. Die inneren Organe bieten oft gar nichts Krankhaftes
dar. Bestanden im Leben anhaltende profuse Diarrhöen, so zeigt sich
wohl Schwellung der solitären und conglobirten Darmfollikel. Die Milz
ist oft vergrössert und erweicht, selten normal gross und fest; die Leber
meist blutreich, schlaff, auch wohl auffallend brüchig, doch ohne weitere
Veränderung. Im Herzen ist das Blut häufig klumpig, halb geronnen,
theerartig, in seltneren Fällen fest geronnen, speckhäutig; die Lungen
in den meisten Fällen normal. Manchmal findet man ditfuse, einseitige
oder doppelseitige massige Pleuritis, auch wohl Spuren von Pericarditis •
die Nieren sind oft geschwellt, das von ihrer Schnittfläche abstreichbare
Seren trübe. Ueber diese diffusen, nicht von Embolie abhängigen, me-
tastatischen Entzündungen wollen wir bei der Pyohämie ausführlicher
sprechen; hier ist dies nichts sehr Wesentliches, ebensowenig wie die
embolischen Infarcte und jauchigen Abscesse, welche sich ausnahmsweise
auch bei Septhämie finden, wenn die Individuen der Krankheit längere
Zeit widerstanden, und es zu Venenthrombosen um die Wunde oder deu
gangränösen Heerd gekommen war.
Da bis jetzt durch chemische Analyse des Leichenblutes in diesen
Fällen nichts Besonderes herauszubringen ist, so niuss zugegeben werden,
dass der Leichenbefund nicht viel Charakteristisches zu dem Krankheits-
bild hinzuthut; dasselbe ist eben ein wesentlich ätiologisch-symptomatolo-
gisches; hat man den Kranken im Leben nicht beobachtet, so wird man
an der Leiche oft vergebens nach einer palpablen Todesursache suchen.
Manche Aerzte ziehen es voi- zu sagen, der Verletzte oder Operirte sei einem
schweren typhösen Wundfieber erlegen, statt den Ausdruck „Septhämie'' oder „Septichämie''
zu brauchen. Es ist dagegen sprachlich nichts einzuwenden, wenn ich es auch nicht
praktisch halten kann; man verwendet dann eben den Ausdruck „typhös" im älteren
Sinne, wie Tvqog von Hippokrates für „Stumpfsinn, Blödsinn" gebraucht wird; später
hat man dann mit dem Ausdruck typhöse Fieber ganz allgemein solche Fieberzustände
bezeichnet, bei welchen die Kranken „stumpfsinnig" sind; erst im Lauf der letzten beiden
Decennien hat man unter „Typhus" genau charakterisirte verwandte Infectionskrankheiten
zusammengefasst. Es ist wohl besser, dies jetzt so zu belassen, und den Ausdruck
„typhös" nicht wieder zw verallgemeinern. ■ — Virchow braucht wohl auch „Ichorrhämie"
in dem Sinne, wie ich Septhämie brauche; i/ioq heisst Blutwasser, Lymphe, Wundserum;
ältere Chirurgen bezeichnen damit dann auch gelegentlich „dünnen, schlechten Eiter" und
„übles Wundsecret". Es will nicht recht gelingen, diesen Ausdruck in den modernen
Sprachgebrauch zurückzuführen.
26^^
^Q^ Von den accideiitellcn Wund- und Eiilzüudiiiig.skranklieiteii etc.
3, Das Eiterfieber, die Pyoliämie,
Die Pyohämie (der Name ist von Pyorry slus tivov, Eiter, und uiiia,
Blut, gebildet) ist eine Krankheit, die wir uns durch Aufnahme von
Eiter oder Eiterbestandtheilen ins Blut entstanden denken; sie verhält
sich zum einfachen Entzündung-sfieber und Nachfieber wie die Septhämie
zum einfachen primären Wundfieber, ist symptomatologisch durch inter-
mittirend auftretende Fieberanfälle, pathologisch -anatomisch durcli das
so überaus häufige Vorkonnnen von metastatischen Abscessen und meta-
statischen diffusen Entzündungen besonders auffallend. Gleichbedeutende
Bezeichnungen für diese Krankheit sind: metastasirende Eiterdyscrasie,
Eitersucht, purulente Diathese.
Damit Sie sich vorläufig ein ungefähres Bild von dieser Krankheit
entwerfen können, will ich Ihnen einen Fall von Pyohämie schildern.
Es kommt ein Verletzter ins Spital, bei welchem Sie eine mit
ausgedehnter Quetschwunde complicirte Fractur des Unterschenkels dicht
oberhalb des Fussgelenks constatiren. Die Verletzung sei durch das
Auffallen einer sehr schweren Last entstanden. Sie untersuchen die
Wunde, finden eine quere Fractur der Tibia, halten jedoch die Verletzung
der Art, dass eine Heilung wohl möglich ist. Sie legen daher einen
Verband an; der Kranke befindet sich anfangs vortrefflich, fiebert wenig-
etwa bis zum dritten oder vierten Tage; jetzt beginnt die Wunde sich
stärker zu entzünden, secernirt verhältnissmässig- wenig- Eiter; die Haut
in der Umgebung wird ödematös, roth, der Kranke fiebert heftiger, be-
sonders am Abend, die Schwellung in der Umgebung der Wunde nimmt
zu und verbreitet sich langsam weiter; der ganze Unterschenkel ist ge-
schwollen und geröthet, das Fussgelenk sehr schmerzhaft, bei Druck auf
den Unterschenkel fliesst aus der W\mde mühsam ein dünner, übelrie-
chender Eiter aus; die Anschwellung bleibt auf den Unterschenkel be-
schränkt; keine Betheiligung des Sensoriums, kein Zeichen von intensiver
acuter Septhämie; der Kranke ist äusserst empfindlich bei jedem Verband,
ist verstimmt und verzagt; es hat sich eine Febris coutiuua remittens
ausgebildet mit ziemlich hohen Abendtemperaturen und erheblicher Puls-
frequenz; der Puls ist voll und gespannt; der Appetit hat sich ganz
verloren; die Zunge ist stark belegt. Wir befinden uns jetzt ungefähr
am zwölften Tage nach der Verletzung. Aus der Wunde fliesst sehr viel
Eiter von verschiedenen Seiten her; etwas entfernter oberhalb dersell)eu
ist deutliche Fluctuation wahrzunehmen; diese Eiterhöhle lässt sich zwar
nach der Wunde hin durch mühsames Drücken entleeren, doch der Ab-
fluss ist sehr gehemmt, und es ist daher nothweudig, an der genannten
Stelle eine Incision zu machen. Dies geschiet, es wird eine massige
Menge Eiter entleert ; einige Stunden darauf bekommt der Kranke einen
heftigen Schüttelfrost, dann trockene, brennende Hitze, endlich sehr
starken Schweiss. Das Aussehen der Wunde bessert sich etwas: doch
Voiip.simft- 2(;. Ciipiici xrir. 405
dauert dies iiiclit lange; man bcmcrl<.l; bald in den- Nähe derselben mehr
nach hinten in der Wade eine neue Eiterhöhle; es kommt ein neuer
Sehiittelirost; neue GciAenölTnungcn sind bald hier, bald dort nöthig, um
dem massenhaft sieh bildenden Eiter überall g-ehörig-en Ausfluss zu ver-
schaffen. Das linke Bein ist das verletzte; der Kranke klagt eines
Morgens über heftige Scbmerzen im rechten Kniegelenk; dasselbe ist
etwas geschwollen und bei jeder Bewegung schmerzhaft. Die Nächte
sind schlaflos; Patient geniesst fast nichts, trinkt selir viel und konmit
sehr herunter, magert ab, besonders im Gesicht, die Hautfarbe bekommt
einen Stich ins Gelbliche, die Schüttelfröste wiederholen sich; der Kranke
fängt jetzt an, über Druck auf der Brust zu klagen; er hustet etwas,
wirft jedoch nur wenige schleimige Sputa aus; durch die Untersuchung
der Brust constatiren Sie ein bis jetzt massiges pleuritisches Exsudat auf
einer oder beiden Seiten, Patient leidet jedoch davon nicht viel; um so
mehr klagt er über das rechte Knie, welches jetzt sehr stark geschwollen
ist und viel Flüssigkeit enthält; da der Kranke viel schwitzt, wird der
Urin sehr concentrirt und enthält zuweilen Eiweiss. Es kommt nocli
endlich Decubitus hinzu; der Kranke klagt darüber jedoch nicht sehr,
liegt ruhig da, zum Theil jetzt halb betäubt und leise vor sich hin mur-
melnd. Wir sind jetzt ungefähr am zwanzigsten Tage nach der Ver-
letzung; die Wunde ist trocken, der Kranke sieht entsetzlich elend aus;
das Gesicht, der Hals ist besonders abgemagert; die Haut von stark
icterischer Farbe, die Augen matt, die zitternd hervorgestreckte Zunge
ganz trocken, die Haut kühl, die Temperatur niedrig, nur Abends
erhöht, der Puls sehr klein und frequent, die Respiration langsam, der
Athem von eigenthümlich cadaverösem Geruch; der Kranke wird ganz
bewusstlos und kann in diesem Zustande vielleicht noch 24 Stunden ver-
bleiben, bevor der Tod eintritt. ■ — Sie machen die Section; in der
Schädelhöhle nichts Pathologisches; Herzbeutelinhalt und Herz normal,
im rechten Ventrikel und Vorhof ein festgeronnenes, weisses Fibrin-
gerinnsel; beide Pleurahöhlen sind mit einer trüben serösen Flüssigkeit
gefüllt; die Lungenoberfläche mit netzförmigen, icterischen Fibrinlagen
bedeckt; Sie ziehen dieselben ab und finden darunter in der Substanz
der Lunge, jedoch besonders an ihrer Oberfläche ziemlich feste Knoten
von Bohnen- bis Kastaniengrösse. Dieselben befinden sich vorwiegend
in den unteren Lappen; Durchschnitte durch dieselben zeigen, dass es
meistentheils Abscesse sind. Das etwas verdichtete Lungenparenchym
bildet die Kapsel einer Höhle, welche mit Eiter und zerfallenem Lungeu-
gewebe erfüllt ist. Andere von diesen Knoten sehen blutigroth auf dem
Durchschnitt aus, ihre Schnittfläche ist etwas körnig, in ihrer Mitte findet
sich hier und da Eiter in verschiedenen Mengen, und es erhellt, dass
aus ihnen die Abscesse hervorgehen. Sie haben hier die Ihnen schon
bekannten rothen Infarcte mit Ausgang in Abscessbildung vor sich.
Einige von diesen Abscessen liegen der Oberfläche so nahe, dass da-
40ß Von den accidentellcn Wimd- und Entzündungskrankheiten etc.
durch die Pleura in Mitleidenschaft gezog-en wurde, so dass also die
Pleuritis secundär entstanden ist. — Die Leber ist ziemlich blutreich und
von brüchiger Consistenz; übrigens lässt sich nichts Abnormes in ihr
entdecken. Die Milz, etwas vergrössert, zeigt auf dem Durchschnitt
einige feste keilförmige Knoten, mit ihrer Spitze nach innen, mit ihrem
breiten äusseren Ende der Oberfläche zu gelegen; sie verhalten sich
ähnlich wie die rothen Infarcte in den Lungen und sind auch zum Theil
in der Mitte eitrig zerfallen. — Der ganze Tractus intestinalis, sowie
die Harn- und Geschlechtswerkzeuge zeigen nichts Abnormes. Durch
einen Schnitt ins rechte, während des Lebens schmerzhafte Kniegelenk
wird eine grosse Masse flockigen Eiters entleert; die Sjnovialmembran
ist geschwellt und theilweise hämorrhagisch, injicirt, der Glanz der Ge-
lenkknorpel vermindert. — Die Untersuchung der Wunde ergiebt nicht
viel mehr, als was man schon beim Lebenden fand, nämlich eine aus-
gedehnte Vereiterung des tiefen und subcutanen Zellgewebes, sowie Eiter
im Fussgelenk; die Wandungen aller dieser Eiterhöhlen bestehen gröss-
tentheils aus zerfallendem Gewebe, eine rechte Granulationseutwicklung
ist erst an wenigen Stellen erfolgt. Die Fractur ist jedoch complicirter,
als man geglaubt hatte, indem theils eine Längsfissur bis ins Fussgelenk
reicht, theils an der hinteren Seite der Tibia, wo man nicht beim Le-
benden untersuchen konnte, mehre abgetrennte Knochenstücke gelegen
sind. In den Venen des Unterschenkels finden sich hier und dort ältere
Fibrinpfröpfe, auch wohl gelber puriformer Detritus, und an einigen
Stellen reiner Eiter.
Lassen Sie uns an diesen Fall einige vorläufige Reflexionen an-
knüpfen und stellen Sie sich vor, dass Sie eine Reihe ähnlicher Fälle
beobachtet hätten, so dass es Ihnen klar geworden ist, dass es sich
nicht um eine zufällige Combination verschiedener Krankheiten, sondern
um etwas durchaus Zusammengehöriges handelt. Sie haben eine ausge-
dehnte und stets zunehmende Eiterung an einer Extremität mit sehr in-
tensivem, continuirlichem und ausserdem in Anfällen auftretendem Fieber
vor sich. Es gesellt sich eine Eiterung in einem ganz entfernten Gelenk
hinzu, dann treten circumscripte Entzündungen mit Ausgang in Abscess-
bildung in den Lungen und in anderen Organen auf. Diese multiplen
Entzündungsheerde unterhalten das Fieber dauernd, und ausserdem, dass
die Functionen der betreffenden Organe gestört werden, geht der Orga-
nismus unter den Erscheinungen der Erschöpfung zu Grunde. Das Eigen-
thümliche und Wesentliche liegt, wie Sie leicht sehen, in dem Auftreten
vielfacher Entzündungsheerde, nachdem die primäre Eiterung einen ge-
wissen Höhegrad erreicht hatte. Für die Entstehung der metastatischen
Abscesse kennen Sie die Erklärung; sie Averden immer durch Venen-
thrombose und Emboli vermittelt, ich brauche darauf nicht zurückzu-
kommen. Schwieriger sind die diffusen metastatischen Entzün-
dungen zu erklären, welche sowohl bei Septhämie als bei Pyohämie
Vorlcsiiiifj; 2(]. Cnpifol XFTf. 4()7
vorkommen; sie liäiigen kciiicswcg-s immer wie die Pleuritis in doii er-
wähnten Falle von Abscessen der Lunge al); es g-iebt mctastatisclie diffuse
Entzündung-cn des Auges, der Hirnhäute, des Unterhautzellgewebcs, dei-
(kdenke, des Periostes, der Lcl)er, der Milz, der Nieren, der Pleura, des
Herzbeutels etc., die uuabhäng-ig- von Abscessen, soviel wir bis jetzt
wissen, unabhängig- von Embolien sind. Eine exacte Erklärung- für das
Zustandekonnnen dieser Metastasen lässt sich kaum für alle Fälle geben.
Wenn der metastatische Erkrankung'sheerd in einer nahen Verbindung
mit dem ursprünglichen Eiterheerd steht, so kann der erstere als durch
Fortleitung' der Entzündung- von letzterem aus etwa unter Vermittclung-
der Lymphgefässe entstanden gedacht werden; so in Fällen, wo nach
Amputatio mammae oder Exarticulatio humeri Pleuritis der betreffenden
Seite auftritt, oder zu einer Fractur des Unterschenkels im unteren Dritt-
theil sich eine Eiterung- des Kniegelenks derselben Seite hiuzugescllt.
In anderen Fällen ist die Annahme zulässig-, dass ein bereits kranker
oder zur Entzündung- schon vorher disponirter Theil in Folge des febrilen
Allgemeinzustandes acut erkrankt: es kommt z. B. vor, dass ein bereits
ziemlich fester, ganz normal gebildeter subcutaner Fracturcallus, etwa
des Radius, noch in der dritten und vierten Woche vereitert, wenn das
betreffende Individuum von einer coraplicirten Fractur am Unterschenkel
oder von einem Decubitus aus pyohämisch wurde. Es bleibt aber immer
noch eine grosse Anzahl von Fällen übrig, in welchen solche Erklärungen,
wie die oben angedeuteten, nicht passend sind. Mau sucht sich dann
mit der Annahme zu beruhigen, dass eben eine Disposition zu Entzün-
dungen, besonders zu Eiterbildung in gewissen Organen mit der Eiter-
vergiftung nothwendig verbunden sei, dass das im Blut circulirende
Eitergift specifisch phlogogen auf bestimmte Organe wirke. Ich kann
Ihnen hierüber keine weitere Aufklärung geben, doch möchte ich Ihnen
diese Hypothese durch Vergleich ung mit analogen Beobachtungen plau-
sibler machen, ich meine nämlich durch Vergleichung mit der specifisch
phlogogenen Wirkung gewisser Arzueistoffe, auf die wir schon früher
bei der Aetiologie der Entzündung und zwar bei den toxisch-mias-
matischen Ursachen und ihrer Wirkungsweise hingewiesen haben
(pag. 298).
Man hat sich schon verschiedentlich bemüht, diese mystische Wirkung verschiedener
mit dem Blut circulirender Stoffe zu erklären. So meint Samuel, das Geheimniss der
specilischen Wirkung solcher Stoffe liege darin, dass sie aus mechanischen Gründen in
den Capillargefässen dieses oder jenen Organs zurückgehalten werden, und deshalb in
diesen Organen ihre phlogogene Wirkung entfalten; doch mir scheint, man kommt damit
über die Schwierigkeit des Verständnisses nicht hinaus, denn es bleibt dann ebenso unklar,
warum das Cantharidin grade in den Nierencapillaren, das Quecksilber in den Parotis-
capillaren, septisches Gift in der Milz, Oleum Crotonis in den Darmcapillaren etc. stecken
bleibt, übrigens müsste auch dieses Steckenbleiben noch erst bewiesen werden.
Im Ganzen gehört das Vorkommen diffuser metastatischer Ent-
zündungen in inneren Organen zu den seltneren Erscheinungen, wenn
408 Von den acridcntelleii Wiiiul- und Entzümliinf^skrankheiten etc.
man niclit die diffuse Scliwellung- der Milz daliin zählen will, die aller-
dings bei Pyoliämie ziemlich häufig, wenn auch nicht constant ist.
Di e Diagnose der metastatischen Abscesse und Entz ün dün-
gen ist da leicht, wo sie an der Oberfläche des Körpers und an den Ex-
tremitäten liegen; auch eine metastatische Meningitis und Choroiditis ist
relativ leicht zu erkennen. Die Diagnose von Lung-enmetastasen kann
schwierig sein , die Heerde sind oft so klein und so zerstreut in der
Lunge, dass sie durch Percussion nicht zu finden sind; der accidentelle
pleuritische Erguss hilft oft zur Diagnose von metastatischen Lungen-
abscessen; sind blutige Sputa und starker Bronchialcatarrh nachweisbar,
so kann die Diagnose sicher gestellt werden; die subjectiven Symptome
sind oft auffallend unbedeutend; erhebliche Dyspnoe entsteht hier nur
bei ausgedehntem pleuritischera Erguss. — Icterus entwickelt sich oft in
geringerem oder stärkerem Grade bei Pyohämie; ob sich dabei der
Gallenfarbstoff im Blut aus dem Blutroth ohne Vermittelung der Leber
bildet, oder ob Icterus überhaupt nur mit Beihülfe der Leber entstehen
kann, ist noch nicht ganz entschieden, wenngleich sich die Mehrzahl der
neuereu Beobachter dafür aussprechen, dass Icterus immer hepatogenen
Ursprungs sei. Jedenfalls erlaubt der Icterus bei Pyohämie keine
Diagnose auf Leberabscesse; dieselben können bei bedeutender Schmerz-
haftigkeit der Lebergegend mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden,
doch ist es mir dabei auch schon begegnet, dass ich anstatt der
erwarteten Leberabscesse eine acute diffuse Erweichung der Leber fand,
die mit fast broncefarbenem Icterus verbunden war. — Die Vergrösserung
der Milz kann durch Percussion zuweilen diagnosticirt werden. —
E eichlicher Eiweissgehalt des Harns mit Epithelial- und Gallertcylindern
und Beimischung von Blut berechtigt zumal bei gleichzeitiger bedeutender
Verminderung der Harnabsonderung zur Annahme einer acuten metasta-
tischen Nephritis; ob dabei aber die Niere von vielen metastatischen
Abscessen durchsetzt oder diffus entzündet ist, was auch metastatisch
vorkommt, lässt sich nicht mit Sicherheit am Lebenden eruiren. — Am
häufigsten sind Lungen- und Milzabscesse, sowie metastatische Gelenk-
entzündungen, weit seltener Leber- und Nierenabscesse und Metastasen
in allen übrigen früher genannten Theilen.
Auf ein Symptom der Pyohämie müssen wir noch näher eingehen,
nämlich auf die Schüttelfröste. Sie treten in unregelmässiger Weise
auf, selten in der Nacht, doch zu jeder Zeit des Tages, und ihre Dauer
und Intensität ist ganz ausserordentlich verschieden; bald klagt der
Kranke nur über leises Frösteln und vorübergehende Schauer, bald
zittert er so heftig und klappert mit den Zähnen, wie beim Wcclisel-
fieber. Anfangs kommen die Fröste seltener, dann häufiger, zwei uud
drei l\Ial am Tage; gegen das Ende lassen sie wieder nach. Die Anfälle
selbst gleichen denen bei Intermitteus in Bezug auf Frost, trockene
Hitze und Schweiss; doch es tritt nach dem Anfall kein vollständiges
Vorlcsmi^,^ L>(;. (•■A\u\r\ XIII. 409
Aullinrcii des Fiebers ein, sondoni etwas Fieber bleibt fast immer
zurück. Was gclit nun cigentlicb bei diesen Scbüttcl frosten vor? Wenn
man an sich selbst Beobachtungen darüber zu machen Gelegenheit hat,
so empfindet man dabei ein eigenthümliches krampfhaftes Ziehen in der
Haut; man muss auch Avider seinen Willen die Zähne krampfhaft zu-
sammenschlagen; hört dies einen Moment auf, so fühlt man sich nicht
kalt, sondern sogar ziemlich heiss, und es liegt das Gefühl des Frostes
mehr in der Einbildung, weil wir ähnliche Empfindungen und ähnliches
krami)fhaftes Zittern sonst nur bei Einwirkung bedeutender Kälte
empfinden. Das Anfühlen der Extremitäten und die Hautoberfläche
selbst während des Scliüttelfrostes zeigt zwar eine verminderte Tempe-
ratur, weil durch den Krampf der Hautmuskeln das Blut aus den
Capillaren herausgetrieben wird. Machen Sie aber eine Messung der
Körpertemperatur mit dem Thermometer vom Beginn des Frostes an,
so finden Sie, dass die Temperatur fortwährend und zwar sehr rasch
steigt, zuweilen 2 — 3° C. innerhalb '/^ — '/j Stunde. Am Ende des
Frostes und während der Zeit der trocknen Hitze erreicht die Körper-
temperatur gewöhnlich ihren höchsten Grad; sie kann bis 42° C. steigen,
kommt jedoch selten viel über 40,5° C. hinaus; von da an nimmt sie
allmählig wieder ab. Die rasche Steigerung der Körpertemperatur steht
jedenfalls in Beziehung zum Phänomen des Schüttelfrostes; ausserdem
scheint zu seiner Entstehung auch eine gewisse Reizbarkeit des Nerven-
systems nothwendig zu sein, indem bei torpiden oder durch Narcotica
abgestumpften Individuen Schüttelfröste viel seltener zur Entwicklung
kommen, als bei sehr reizbaren Menschen (vergl. p. 178).
Die verschiedenartigsten acuten Krankheiten beginnen mit Fieber-
frösten, besonders acute Exantheme, Pneumonien, Lymphangoitis etc.,
seltner die miasmatischen Infectionskrankheiten wie Typhus, Pest, Cho-
lera. Gewöhnlich wiederholen sich aber diese Fröste nicht, sondern
nur der erste Anhub der Krankheit ist mit diesem Phänomen verbunden :
es scheint, als wenn der erste Erguss gewisser phlogogener Substanzen
ins Blut bei sonst gesunden Individuen besonders zum Fieberfrost dis-
ponirt, oder als wenn gewisse Infectionsstoffe , ins Blut gelangend, be-
sonders intensives Fieber mit Frost erregen. Wenn wir daher den
Schüttelfrost als solchen nicht als charakteristisch für die Pyohämie be-
zeichnen können, so ist doch seine häufige Wiederkehr, so wie über-
haupt der intermittirende Fiebertypus dieser Krankheit eigenthümlich.
Wir kennen etwas Aehnliches nur beim Wechselfieber: da haben wir
intermittirende Fieberanfälle mit regelmässigen Intervallen; wovon diese
Intervalle abhängig sind, weiss man nicht, doch als unmittelbare Ur-
sache der Fieberanfälle möchte ich den schubweisen Erguss von Krank-
heitsproducten aus der Milz ansehen; dass bei Intermittens aus der Milz
Stoffe ins Blut eintreten, dafür hat man anatomische Beweise durch die
Melanämie und Pigmentmetastasen; dass in Pancreas und Milz An-
410 Von den accidentellen Wund- und Entzündungskrankhoiten etc.
liäufimgen (Ladungen, Schiff) mit normalen Secreten erfolgen, und sich
diese bei der Verdauung- schubweise entleeren, ist bekannt; es scheint
mir daher nicht zu kühn, anzunehmen, dass mit diesen physiologischen
Entleerungen gewisser Stoffe aus der Milz auch pathologische Producte
ins Blut übergehen. — So, meine ich, werden auch bei der Pyohämie
von Zeit zu Zeit Eiter oder Eiterbestandtheile ins Blut ergossen, und
dadurch unter sonst günstigen Bedingungen Fieberanfälle mit Frost er-
zeugt. Als Hauptquelle für solche wiederholte Eiterinfection muss eine
ausgedehntere progressive Entzündung um die Wunde betrachtet werden :
Zerstörung der Grauulatiousflächen durch wiederholte Insulte der Wunde,
rascher Zerfall der Granulationen durch chemische Einflüsse, alle neu
zur Wunde hinzukommenden progressiven Entzündungen können dem
Eiter Eintritt in die bereits geschlossen gewesenen Lymphgefässe und
Venen geben; dann kann bei neuer Entzündung ein eitriger Zerfall der
Gerinnsel in den Lymphgefässen und von da Eintritt dieses Eiters ins
Blut Statt finden; ferner wäre es auch denkbar, wenngleich schwer
nachweisbar, dass bei Venenthrombose das central gelegene, den Eiter in
den Venen abschliessende Geriunselstück losgerissen und dieser Eiter
durch einen tiefer einmündenden, gangbaren, collateralen Venenast ins
Blut geschwemmt würde, was z. B, durch gelegentliche Muskelcoutractionen
zu Stande kommen könnte. Endlich geben die metastatischen Entzün-
dungen, mögen sie nun durch Embolie oder ohne dieselbe entstanden sein,
auch wohl Veranlassung zu neuen Fieberanfällen; dass dies nicht die
einzige Quelle für dieselben ist, geht daraus hervor, dass man gelegentlich
Fälle von intermittirendem Eiterfieber seciren kann, wo 10 — 12 Fröste
beobachtet waren, und dann doch keine metastatischen Entzündungen ge-
funden wurden; die Ursache der wiederholten Fröste kann dann in der
Art der Ausbreitung des örtlichen Processes gelegen haben, oder ist im
Knochen oder sonstwo verborgen. Die Statistik spricht sehr zu Gunsten
der Annahme, dass die Schüttelfröste von immer neuen Entzünduugspro-
cessen abhängen, denn es lässt sich nachweisen, dass die Fröste (oder
wenigstens die intermittirenden Fieberanfälle, die auch ohne Fröste ver-
laufen können) weit häufiger bei solchen Individuen vorkommen, bei denen
sich später in der Leiche Entzündungsprocesse innerer Organe nachweisen
lassen als bei solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Als Beobach-
tungsfactum muss hervorgehoben werden, dass die Frostanfälle fast aus-
schliesslich im Beginn acuter Entzündungen, intermittirend nur beim
Wechselfieber und bei Kesorption von Eiter vorkommen, während sie
bei acuter Septhämie fehlen. Wahrscheinlich spielen also auch die
chemischen Qualitäten des Infectionsstoffes dabei eine wichtige, bisher
unbekannte Rolle. — Leider lässt uns hier das Experiment ganz im Stich ;
es ist mir nie gelungen, bei Kaninchen, Hunden und Pferden durch
Injeetion von putriden Stoffen oder gutem Eiter Schüttelfröste oder inter-
mittirende Anfälle hervorzubringen: Eiter und Jauche wirken auf die
Vorlesung 2(1. (lapilrl Xllf. 411
Tliici-c in Hctreir des Fiebers gleich; nur wenn man die Jnjectioii wie-
derholt, kann man künstlich den intermittircndeu Gang des Fiebers hei
Thicren erzeugen. —
Sie werden nach dem eben Geliörten begreifen, dass die gewöhn-
liche Methode der Teniperaturmcssung am Morgen und Abend kein Bild
des Fieberverlaufs bei Pyohämie geben kann; da auf diese Weise die
Messung bald in die Acme, bald in die Defervescenz eines Ficl)eranfalls,
l)ald in die Zeit der Remission (eine vollständige Intermission des Fie-
bers kommt bei Pyohämie selten vor) fallen kann, so bekommt man
natürlich höcht unregelmässige Fiebercurven. Wollte man sich ein
genaues Bild des pyohämischen Fiebers verschaffen, so müsste man den
Thermometer continuirlich liegen lassen und die Temperatur jede Viertel-
stunde notiren ; da dies die Kranken sehr quälen würde, und wir andere
Zeichen genug haben, um die Prognose und Therapie zu bestimmen, so
habe ich mich dazu noch nicht entschliessen können. — Die Nachfor-
schungen darüber, ob sich in dem Eiter der Pyohämischen besondere
Stoffe vorfinden, oder ob die qualitative Zusammensetzung ihres Eiters
eine andere ist als des Eiters von Menschen, welche ohne alle Zwischen-
fälle genesen, hat bis jetzt zu keinen Resultaten geführt. Auch hat der
Eiter der Pyohämischen nicht immer einen üblen Geruch; ebensowenig
finden wir in allen Fällen Coccos im Eiter dieser Krauken; doch sind
die Fälle, in welchen an den Wunden zersetzter, gefaulter Coccos-haltiger
Eiter in die Blutbahn eintritt, die bei weitem häufigeren. Ob der Eiter-
coccos dann im circulirenden Blut weiter wächst, weiss man nicht. Ich
habe bei Pyohämischen ebenso wenig Coccos und Bacterien im Blut ge-
funden wie bei Septhämischen und muss in dieser Beziehung auf das
früher Gesagte verweisen.
Die Art und Weise, wie die Pyohämie auftritt, ist in mancher Hin-
sicht verschieden; am häufigsten beginnt diese Krankheit, die wir als
eine bösartige eigenthümliche Form des Eiterfiebers auffassen, in der
Zeit, wo die Eiterung beginnt, oder später, wenn neue Entzündungen zur
Wunde hinzukommen, sei es dass sich dieselben unmittelbar an die
traumatische Entzündung anschliessen, sei es dass sie später nach bereits
geschehener Abgrenzung des traumatischen Entzündungsheerdes acciden-
tell auftreten; dabei entwickelt sich das pyohämische Fieber dann aus
dem Wundfieber oder aus dem Nachfieber und diese sind in solchen
Fällen von manchen Beobachtern als Prodromalstadien der Pyohämie
aufgefasst; der Moment, wann der Kranke pyohämisch ist, kann
dabei ebenso wenig genau bestimmt werden, wie der Ueber-
gang des primären Wundfiebers in Septhämie. Ich halte die
Bezeichnung „Pyohämie" vorläufig fest für die eben geschilderte Krank-
heit, und habe Ihnen die Eiterresorption als Ursache, den intermittiren-
den Fieberverlauf mit rasch zunehmendem Marasmus als Hauptsymptom,
die metastatischen Entzündungen als sehr wesentlichen anatomischen
412 Von den accidentellen Wund- und Entzundungskrankheiten etc.
Befund bezeicbnet; dennocli ist es manchmal sehr schwer, sich zu ent-
scheiden ob man einen gegebenen Fall nur als schweres "Wundfieber
oder Septhämie, ob als schweres Eiterfieber odßrPyohämie bezeichnen
soll: die Schüttelfröste können fehlen, der intermittirende Fieberverlauf
ist dann schwer zu ermitteln; die Metastasen können am Lebenden uu-
diagnosticirbar sein. Haben Sie einen Fall von Osteomyelitis mit sehr
häufigen Frostanfällen, stirbt der Kranke und finden Sie keine Meta-
stasen, ist das Pyohämie? Oder es hat ein alter marantischer Mann eine
complicirte Fractur, er stirbt unter Erscheinungen völliger Erschöpfung
in der vierten "Woche, ohne sehr hohes Fieber, ohne Schiittelfröste ge-
habt zu haben; Sie finden keine Metastasen; ist das Pyohämie? Für
den Anfänger, der gern Alles recht schön systematisirt haben möchte,
haben diese Fragen und ihre schwankende Beantwortung etwas sehr
Beunruhigendes; Sie werden Chirurgen finden, welche die gegebeneu
Fälle Pyohämie nennen, andere, welche sie einfach als intensive Eiter-
fieber oder als febrilen Marasmus bezeichnen. Wenn Sie sich an die
früher gegebene Schilderung halten und die Infection in ihrem Verhält-
niss zur Phlebothrombose und Embolie richtig aufgefasst haben, so wer-
den Sie dann hoffentlich auch mit den Namen fertig werden. Es ist in
der That kaum möglich, für jede "Verbindung, welche zwischen Sepsis,
Eiterinfection, diffusen metastatischen Processen, Thrombose, Embolie etc.
vorkommt, einen Namen zu machen. Es giebt z. B. Sepsis ohne jede
Spur von Metastasen, Sepsis mit diffusen Metastasen, Sepsis mit Throm-
bose und Embolie; Eiterinfection ohne jede Spur von Metastasen, Eiter-
infection mit diffusen Metastasen, Eiterinfection mit diffusen Metastasen
und Thrombosen, mit Thrombosen allein, mit Thrombosen und Embo-
lien; es giebt Thrombosen mit localen Folgeerscheinungen ohne Embolien,
mit Embolien, mit hämorrhagischen Ergüssen, mit Apoplexien etc. etc. —
Ausser den bereits gebrauchten Worten hat man noch einige andere, um
Combinationen der verschiedenen erwähnten Processe zu benennen; für
die reine Eiterinfection (Infection mit dünnem schlechtem Eiter, Ichor)
wünscht Virchow, wie schon erwähnt (pag. 403) den Namen Ichor-
rhämie einzuführen. 0. Weber braucht den Namen Embolhämie
für die Zustände, in welchen sich Emboli im Blut befinden. Sehr prak-
tisch erscheint mir die Classification, welche Hueter in seiner vortreff-
lichen Arbeit über diesen Gegenstand gebraucht. Er nennt die Krankheit
in Fällen von reiner Eiterinfection ohne Metastasen „Pyohaemia
Simplex", in Fällen von Metastasen „Pyohaemia multiplex".
Erst im Verlauf des letzten Decenninms hat die Difterenzining von , Septhämie"
und „Pyohämie" einigermaassen festen Fuss gefasst; sie ist auf ätiologische, klinische und
anatomische Erscheinungen basirt, wie ich es Ihnen geschildei't habe. Jetzt erheben sich
schon wieder Stimmen, welche diese Differenzirung tadeln; es wird behauptet, der in-
toxirende Stoff sei immer derselbe beim Wundfieber, bei Septhämie, bei Pyohämie; es sei
immer das Product der Coccoswucherung. Ich kann Sie versichern, dass wir darüber
gar nichts Bestimmtes wissen; vielleicht ist es richtig, vielleicht nicht. Das klinische Bild
Vorlosiins '^C. Capild XIII. 41 ;j
• iher der oben genannten Zustände ist in den meistern K;ill(!ii vcrscliiedcsn geinig, um si(!
I)is auf Weiteres auseinander zu halten; sollte sich einmal herausst(!ll(Mi, dass die Ver-
schiedenheit nur durcli die mehr oder Aveniger intensive Wirkung eines und desselhen
chemischen Processes bedingt sei, so wird dies eine seliöne wissenschaftliche Errungen-
schaft sein, doch wird es den klinischen, zumal prognostischen Werth der aufgestellten
Krankheitsbilder nicht schmälern. — Dass es Fälle giebt, für welche der von Hueter
proponirte Ausdruck „Septo-Pyohämie" sein- gut passt, d. h. wo die klinisclien Erschei-
nungen der Septhämie und Pvobämie ineinander übergehen, nniss icli nach meiner Er-
fahrung bestätigen. Die \()n älteren Chirurgen, z. B. von Stromeyer gebrauchte
Bezeichnung „peracute Pyohamic" entspricht dem modernen Ausdruck „.Septliänne". Was
die Franzosen „Gangrene traumatique foudroyante" nennen, ist ein mit starker Gasent-
wicklung bis in die Tiefe der Muskeln, mit grüner Verfärbung rapid fortschreitendes
Verfaulen von Gliedmaassen am noch lebenden Menschen; es ist sehr selten: ich sah bisher
erst zwei solche Fälle nach Oberschenkelamputationen wegen schwerer Verletzungen.
Was den Verlauf der Eiterinfection betrifft, so ist derselbe meist
ein acuter (8^ — 10 Tage), oft ein subacuter (2 — ^4 Wochen), selten ein
chronischer (1—3 — 5 Monate). Die acuten Fälle verlaufen theils durch
die Intensität und häufige Wiederholung- der Infectiou, theils durch die
ausgedehnten Metastasen so schnell. Bei den chronisclien Fällen handelt
es sich gewöhnlich nur um eine massig intensive Infection bei sehr kräf-
tigen oder sehr zähen Individuen, die sich niclit oft wiederholt, und um
Metastasen an äusseren Theilen, Zellgewebsabscesseu , Vereiterung von
Gelenken, durch welche die Patienten krank erhalten werden, nachdem
die übrigen Folgen der Eiterinfection geschwunden sind. Von dem Ver-
lauf ist die Prognose wesentlich abhängig. Je häufiger sich die Fröste
wiederholen, je rascher die Kräfte verfallen, je früher die Symptome
innerer Metastasen auftreten, um so rascher wird der Kranke sterben.
Je längere Intermissiouen die Fieberanfälle machen , je besser sich die
Kräfte halten, je länger die Zunge feucht bleibt, um so eher hat man
Hoffnung, dass der Kranke durchkommt; er ist nicht ausser naheliegen-
der Gefahr, bevor die Wunde wieder ganz gut aussieht, bevor er mehre
Tage vollkommen fieberfrei ist und sonst das Verhalten eines Eecon-
valescenten darbietet. Es gehört leider zu den grossen Seltenheiten, dass
ein Kranker, der alle früher angegebenen Erscheinungen ausgesprochener
Pyohämie darbietet, durchkommt.
Wir müssen jetzt noch einmal auf die Aetiologie der traumatischen
Infectionsfieber zurückkommen. Dass dieselben meist durch Resorption
von Entzündungsproducten, von Jauche und Eiter von der Wunde oder
vom Entztindungsheerd aus entstehen, darüber herrscht jetzt wohl kaum
ein Zweifel; dass sie immer so entstehen, wird freilich von Manchem
beanstandet. Es giebt Chirurgen, welche behaupten, dass die Pyohämie
auch durch ein Miasma entstünde, und zwar durch ein Miasma, wel-
ches in Krankenzimmern sich aus den Wunden vieler zusammenliegender
Kranken entwickelt; diese Ansicht stützt sich hauptsächlich auf das Factum,
dass da, wo viele schwere chirurgische Fälle (in grossen Hospitälern,
zumal in Kriegshospitälern) zusammenliegen, viele dieser Fälle an Pyo-
414 ^'^1 <^*^" accidentellen Wund- und Entzündungskrankheiten etc.
hämie zu Grunde gehen, ja dass auch leichtere Fälle, Kranke mit be-
narbendeu Granulationswunden unter solchen Umstünden pyohämisch
werden sollen. Es ist hier nicht der Ort zur Polemik, und ich muss mich
daher damit beg-nügen, Ihnen meinen Standpunkt dieser Ansicht gegen-
über darzulegen. Ich kann die miasmatische Entstehung der Pjohämie
durchaus zugeben, wenn man das unter Miasma versteht, was ich für
den vorliegenden und manche andere Fälle darunter verstehe, nämlich
staubförmige, getrocknete Bestandtheile von Eiter und Jauche vielleicht
auch in Form kleinster, damit verbundener Organismen, welche in
schlecht ventilirten Krankensälen in der Luft suspeudirt sind, oder an
den Wänden, am Bettzeug, am Verbandzeug, an schlecht gereinigten
Instrumenten hängen. Diese in mancher Beziehung verschiedenartigen
Körper, welche meist phlogogene Eigenschaften besitzen, werden natür-
lich sich dort am meisten anhäufen, wo zu ihrer Bildung und zu ihrer
Haftung am meisten Gelegenheit ist, also in schlecht ventilirten Kranken-
säälen, bei flüchtiger Besorgung der Kranken, bei mangelhafter Reini-
gung, bei permanentem Verbleiben der Kranken in den gleichen Räumen.
Ob jeder Eiter, feucht oder trocken, gleich schädlich wirkt, das ist un-
möglich zu sagen; das , Experiment an Thieren giebt uns darüber keine
Auskunft. — Ich halte die Idee von den belebten und den staubförmigen
Miasmen für eine sehr fruchtbare, und wenn bei Einem von Ihnen dadurch
neue Gedanken wach gerufen werden, die zu ausdauernden Studien führen,
so ist ein Hauptziel meines Strebens als Lehrer erreicht. Die alte Lehre
von den gasförmigen Miasmen hat uns immer nur wieder in den Sumpf
geführt; viel kluge Leute haben sich darüber ausgedacht und es ist nicht
viel dadurch gefördert. — Eine andere vielfach ventilirte Frage lautet: ist
diePyohämie contagiös? Diese beantwortet sich von selbst in ge-
wissem Sinne bejahend und verneinend bei meiner eben gegebeneu Auf-
fassung von dem pyohämischen Miasma. Ein fixes staubförmiges Miasma,
welches von einem eiternden pyohämischen Kranken stammt, muss zu
gleicher Zeit als fixes Contagium bezeichnet werden; dies Miasma kann
aber meiner Ansicht nach ebenso gut von einem nicht pyohämischen
Kranken kommen; dann ist es freilich nicht als Contagium im Sinne der
Specifiker zu bezeichnen, denn ein Contagium erzeugt immer nur die
gleiche Krankheit. Sie sehen, dass der Streit über die Contagiosität und
Mcht-Contagiosität der Pyohämie auf die Grundannahmen über das Wesen
der Krankheit zurückgehen muss; er hat nur Bedeutung für diejenigen
Chirurgen, welche die Pyohämie als specifische, nicht mit dem Eiterfieber
zusammenhängende Krankheit ganz eigner Art betrachten, eine Annahme,
die ich für unbegründet und praktisch nutzlos halte, und gegen die ich
schon seit längerer Zeit, wie ich hoffen darf, nicht erfolglos kämpfe. —
Mit allen diesen Dingen hängt dann auch noch die Frage zusammen, ob
die pyohämische Infection nur durch die Wunde oder auch
durch Haut und Schleimhäute in den Körper eintritt; obgleich
Vorlesung 2C,. CapKol XIIT. 415
letzteres nicht immög-lich wäre, so lial)c icli doch noch keine sicliere
Beobachtung- gemacht, durch welche eine solclie Annalime bewiesen oder
auch nur wahrsclieinlich geniaclit würde, vielmehr nniss ich nacli meinen
Erfahrungen daran fest lialten, dass nur von der Wunde die Infection
des ganzen Körpers erfolgt, mag das betreffende Gift nun i]i der Wunde
und ihrer Umgebung die Bedingungen zu seiner Entstehung finden oder
mag es fertig von aussen der Wunde zugefülirt werden. In dieser Auf-
fassung beirren mich selbst solche seltnen Fälle nicht, in welchen keine
oder nur geringe Veränderungen an der Wunde bei beginnender Pyohämie
sichtbar sind, da der inficirende Körper möglicherweise sehr geringe
phlogogene Eigenschaften besitzt, und daher von der Wunde aus ins Blut
eingedrungen sein und hier heftig pyrogen wirken kann, ohne dass an
der Wunde bei seinem Eitritt etwas vorging. — Das Geschlecht scheint
keinen besonderen Einfluss auf die Häufigkeit der hieher gehörigen In-
fectionskrankheiten zu haben; vielleicht hat eher das Temperament,
die Energie und Frequenz der Herz- und Arteriencontractionen einen
Einfluss auf die Resorption der deletären Stoffe. Nach allgemeinen Ein-
drücken zu urtheilen, scheint das kindliche Alter weniger disponirt zu
Pyohämie zu sein, als das Mannesalter. Statistik hierüber zu machen ist
unendlich schwer, weil bei Frauen und Kindern so wenig schwere Ver-
letzungen vorkommen im Vergleich zu den Männern ; dass in Folge dessen
die Zahl der au traumatischen Infectionsfiebern sterbenden Männer viel
grösser ist, als die der Frauen und Kinder, beweist natürlich nichts für
die Prädisposition der einen oder andern Individuen für diese Krank-
heiten. — Besonders disponiren offne Knochenwunden zu Pyohämie;
nach Berechnungen aus meinen Erfahrungen sind die an den unteren
^Extremitäten Verwundeten am meisten, die am Rumpf Verwundeten am
wenigsten in Gefahr, pyohämisch zu werden. — Die Jahreszeit und
die Anhäufung von Schwerverletzten in Spitälern hat nach
meinen Erfahrungen, wenn überhaupt, so nur einen indirecten Einfluss
auf die Entstehung von Pyohämie, indem sich dadurch die inficirenden
Stoffe im Verbandmaterial etc. in grösseren Mengen anhäufen, und die
Gelegenheit zur Infection dadurch häufiger wird.
Endlich muss ich noch der sogenannten spontanen Pyohämie er-
wähnen. Es giebt Fälle, in welchen multiple Abscesse z. B. im Unter-
hau tzellgewebe, oder auch Venenthrombosen mit embolischen metasta-
tischen Abscessen auftreten, ohne dass man mit Sicherheit einen primären
Eiterheerd nachweisen kann; diese Fälle, besonders wenn sie dann acut
verlaufen, nennt man spontane Pyohämie. Es liegt kein Grund vor, für
diese seltnen Fälle, wo eben nur der Nachweis des primären Entzün-
dungsheerdes fehlt, eine neue Theorie zu entwerfen; ich zweifle nicht,
dass von diesen Erkrankungen, die nach den früheren Theorien etwas
sehr Räthselhaftes hatten, immer weniger die Rede sein wird, weil man
416 ^"" *^''" accidentellen Wund- und Entziindun^skrankheiten etc.
immer genauer beobachten lernt und den Zusammenhang- der Erschei-
nungen bei eifrigem Suchen meist finden wird.
Bei dem innigen Zusammenhang, in welchem nach unserer Auf-
fassung Wundfieber, Septhämie und Pyohämie stehen, ist es wohl gerecht-
fertigt, die Therapie dieser Krankheiten zusammenzufassen. Dieselbe
zerfällt in die Prophylaxis und in die Behandlung der ausgebildeten
Krankheitszustände ; erstere ist der bei weitem wichtigere Theil; es
handelt sich dabei darum. Alles zu verhüten, was der Entwicklung jener
Krankheiten förderlich ist. Schon bei den Operationen selbst ist Man-
cherlei zu beobachten; alle Instrumente, die gebraucht werden, die Hände
des Operateurs, der Assistenten, die Schwämme (die entweder ganz zu
vermeiden und durch angefeuchtete Compressen zu ersetzen, oder nur
ganz neu anzuwenden sind) müssen durchaus sauber und rein sein; die
Blutungen müssen sehr exact gestillt werden, zumal wenn man bei tiefen
Wunden Nähte anlegen will; für den Abfluss der ersten schädlichsten
Secrete muss doch die Form, welche man der Operationswuude giebt.
durch gleich anfangs angelegte specielle Abflussöflfnungen, Einlegen von
Drainageröhren aufs Sorgfältigste gesorgt werden. Soll die W^unde durch
Eiterung heilen, so sind die aufgelegten Compressen mit schwachem
Chlorwasser zu tränken. Was die zufälligen Verletzungen betrifft, so
müssen alle tieferen Wunden, zumal alle Quetschwunden, durch Verbände
ruhig gestellt werden; für die mit Wunden complicirten Fracturen ist
das Nöthige bereits früher gesagt; Alles, was spätere secundäre Ent-
zündungen erregen kann (pag. 175), muss sorgfältigst vermieden werden;
der Kranke muss ruhig und möglichst behaglich liegen; ich erinnere Sie
an die früher erörterte Therapie der Quetschwunden. Dass auch beim
Verband die grösste Sorgfalt und Schonung den Wunden und den Kranken
zugewandt werden muss, ist fast selbstverständlich, die grösste Pedanterie
kann hier sehr segensreich wirken, — Ein besonderes Interesse bieten
die Hospitalverhältnisse, die ich hier nur flüchtig berühren kann.
Wenn auch Wenige von Ihnen das Glück haben werden, in Civilspitälern
praktisch thätig zu sein, so kann doch Jeder von Ihnen dazu kommen,
im Kriege gelegentlich auch über diese Dinge etwas wissen zu wollen.
Man legt natürlich Spitäler nur da an, wo nicht schon am Grund und
Boden Sumpfmiasmen haften ; auf die Lage, auf einen freien, mit Bäumen
bepflanzten Raum um das Spital, auf die zweckmässige Anlegung geruch-
loser Abtritte müssen die Techniker aufmerksam gemacht werden. Von
allen künstlichen Ventilatioussystemen scheint sich bis jetzt nur das
van Heke'sche einigermaassen zu bewähren; die Wände des- ganzen
Hauses werden dabei von Canälen durchzogen, welche je in ein Kranken-
zimmer einmünden; alle diese Canäle gehe^F^'on kreuzweis gelegten
Gängen unter dem Gebäude aus, in deren Schneidepunkten eine Art von
V.irlcsimi;- 'H\. <';ii.i(.'l XII f. 417
Wiiulmülilc stellt, welche durcli eine Dampfniascliinc g'ctriebcn wird, so
dass auf diese Weise fortwährend neue T^uft in die Krankenzimmer ein-
getrieben wird (Pnlsionssystcni). Die ausserordentliclie Wirksamkeit
dieses Ventilationssystems können Sic im Opernhaus hier in \A'icn in .
den verschiedenen Jahreszeiten wahrnehmen. — Hat man keine künst-
liche Ventilationsvorrichtung-, so muss man sich so gut wie möglich
durch die sogenannte natürliche Ventilation liclfcn, d. h. man legt in
den Krank ensäälen corrcspondirende Zuglöcher oben und unten in Tliiiren
und Fenstern an, so dass die Kranken in iliren Betten mögliclist Avenig
vom Zug' betroffen werden; diese Zuglöcher dürfen nie ganz geschlossen
werden. Ein ausgezeichneter englischer Chirurg, Spencer Wells
sagte: „es gicbt nur eine Art von wirksamer Ventilationsvorriclitung:
die Unmöglichkeit, Thüren und Fenster zn schliessen!" Für ebenso
wichtig- als die Ventilationsvorrichtungen halte ich die zvv^eckmässige
Benutzung der Krankensääle. Kein Krankensaal sollte länger als 4 Wochen
hinter einander belegt sein, dann muss er auf einige Tage geleert und
aufs Sorgfältigste gereinigt werden ; die Wände sollten mit Oelfarlje
gestrichen sein, um sie leicht abwaschen zu können oder im Jahr wenig-
stens 2 — 3 Mal, nötbigenfalls noch häufig-er, geweisst werden; die Betten
werden oft gelüftet, geklopft, gesonnt, das Stroh in den Strohsäcken
werde häufig erneuert; am besten sind Strohsäcke ganz zu vermeiden.
Jede chirurgische Abtheilung sollte ein oder besser zwei überzählige
Krankenzimmer haben, um einen regelmässigen Turnus im Wechsel der
Zimmer zu ermöglichen; zu gleichem Zweck sollten nicht mehr wie
G — 8 Betten in einem Zimmer sein, um jede Woche so viel Kranke ent-
lassen zu können, dass ein Zimmer leer wird; die neuen Kranken werden
immer in das zuletzt gereinigte Zimmer gebracht. Will man möglichst
günstige Resultate im Spital erzielen, so muss man viel Raum hal>en,
und an Geld für Wärterpersonal, Wäsche etc. darf es nidit fehlen. Auf
diese Weise kann man auch schlecht angelegte Spitäler brauchbar machen.
Grosse Krankenzimmer mit 20 — 30 Betten, die man wegen zu grossen
Andranges von Kranken und aus sonstigen Gründen nicht beliebig leeren
kann, sind im höchsten Grade unzweckmässig. Der Director einer
chirurgischen Abtheilung sollte vor Allem eine grosse Anzahl gut ventilir-
barer mittelgrosser Zimmer zur Disposition haben, deren Evacuation und
Reinigung nach bestimmten Principien vorgenommen wird. Wir dürfen
es jetzt wohl schon als ausgemacht betrachten, dass die schlimmsten
Infectionsstoffe geruchlos sind; es wäre aber ein grosses Unglück, wenn
man daraus die Consequenz ziehen wollte, der Gestank in den Kranken-
zimmern sei den Verletzten und Kranken unschädlich. Schlechte Luft
bleibt Gesunden wie Kranken gefährlich. Schlechte Spitäler, besonders
schlecht gereinigte Zimmer für chirurgische Kranke, sind schlimmer als
die ärmlichste Proletarierwohnung, sie können durch die Corabination
verpesteter Luft mit Anhäufung von Infectionsstoffen zu Mordgruben für
Billroth chir. Path. ii. Thcr. 7. Aufl. 27
^]^g Von dem accideiilellen Wiiiid- und Eiitzündiuiicskraiiklieiten etc.
die Verletzten werden. Möcliten doch die Chirurgen nie von dem Gedanken
lassen, dass sie in vielen Fällen selbst mehr oder weniger Schuld sind,
wenn ihre Kranken von Erysipelas, Hospitalhrand, Pyohämie etc. befallen
werden, denn wenn man Alles nach altem Schlendrian dem unsichtbaren,
allgegenwärtigen, ungreifbaren, luftgeistigen Miasma und Genius epi-
demicus und den constitutiouellen Verhältnissen der Kranken zuschieben
wollte, so wäre dies der Tod für allen Fortschritt unserer Kunst!
Kommen wir nun zur Behandlung des Wundfiebers, der Septhämie
und Pyohämie selbst, so ist zu bemerken, dass man gegen einfaches
Wund- und Eiterfieber, welches die gewöhnlichen Grenzen nicht über-
steigt, nichts anzuwenden pflegt, ausser kühlenden Getränken, Fieberdiät,
Abends etwas Morphium, um für die Nacht Euhe zu schaffen. Dauert
das Fieber länger, oder nimmt es einen besonderen Charakter an, so
kann man die Febrifuga in Anwendung ziehen. Digitalis ist wegen der
langsamen und unsicheren Wirkung hier wenig brauchbar. Veratrin
bringt wohl die Temperatur herunter, scheint jedoch bei den toxischen
traumatischen Fiebern wenig zu nützen; iudess sind darüber zumal bei
Pyohämie weitere Beobachtungen anzustellen; nach den genauen Studien
von Bier m er über dieses Mittel bedarf dasselbe eine ganz besondere
Sorgfalt in der Anwendung. Aconit wurde früher von Textor sehr gegen
Pyohämie empfohlen, ich habe keine günstigen Wirkungen von diesem
Mittel sehen können. Chinin ist das wirksamste Mittel gegen die inter-
mittirenden Eiterfieber, zumal in Verbindung mit Opium; 6—8 — 16 Gran
(oder 0,500-1 ,00 Gramme) Chinin im Verlauf des Nachmittags, dann Abends
1 Gran (oder 0,08 Grms.) Opium unterdrücken sehr oft die Schüttelfröste;
ich wende die Mittel mit Erfolg bei schweren Eiterfiebern an, bei aus-
gesprochener Pyohämie nützen sie weniger; Li eher meist er fand
bei sorgfältigen Studien , dass das Chinin seine antifebrile Wirkung
bei Typhus und andern Infectionskrankheiten erst dann sicher entfalte,
wenn man es bis zu 15 Gran pro die (oder 1,00 Grms.) gebe. —
Es fehlt nun auch nicht an Beobachtungen über Mittel, welche direct
der Blutintoxication entgegenzuwirken bestimmt sind: die antiseptischen
innerlichen Mittel, die Säuren, das Chlorwasser, die schwefligsauren
Alkalien (von Polli sehr gerühmt) sind mir durchaus wirkungslos er-
schienen. Man kann aber auch noch andere Älittel anwenden, welche
zum Zweck liaben, mit einem gesteigerten Stoffumsatz auch das organische
Gift im Blute auszuscheiden. Wenn man die starken Diarrhöen l)ei Hunden
sieht, die man künstlich septhämisch gemacht hat, und die nach diesen
Diarrhöen nicht selten genesen, so sollte man meinen, das Gift werde
durch den Darmcanal am natürlichsten ausgeschieden. In der That hat
Breslau bei Puerperalfieber durch starke wiederholte Gaben von Lax-
antien günstige Erfolge beobachtet; ich kann dasselbe in Betreff der
Pyohämie leider nicht sagen; profuse Diarrhöe bei Pyohämischen ist
meist eine rasch zum Collapsus führende schwere Complicatiou. Mau
Vdrlcsim,!;- 'iC. (';i|ii(cl XIII. 419
könnte aucli danm denken, dureli wiedcrliolte lireelmiitlcl alle Secretions-
tliätii;'keiten in vcrmelirte Arbeit zu l)rini;-en; doch foli^'t aneli danacli ein
solcher Colhii)s, dass man vorsiclitig' mit diesen Mitteln sein muss, —
l>ei Septhämie habe ieh wiederliolt versucht, starken Sch^veiHS hei-\'f)r-
/Airulen, wenn die Haut trocken war; es gelingt dies zuweilen durch ein
Avarmes Bad von einer Stunde Dauer und nachlieriger Eiuwicklung- in
wollene Decken; man erzielt dadurch zuweilen Besserung-, ja ich glaube
in einigen Fällen dadurch Kranke am Leben erhalten zu haben, die
nach meinen früheren Erfahrungen unrettbar seidenen; man sollte )uit
dieser Behandlung weitere Versuche anstellen. Auf eine starke Diurhese
kann man durch viel Getränk hinwirken, es maelit das jedoch keinen
sonderliehen Effect auf das Allgemeinbefinden dieser Kranken. — Endlich
könnte man noch daran denken, durch die Amputation, wenn eine solche
im Bereich gesunder Theile möglich ist, die fernere Aufnahme schäd-
licher Substanzen aus dem verletzten oder entzündeten Theil abzuschnei-
den, selbst wenn bereits Erscheinungen schwerer Allgemeinerkrankung
vorliegen. Dies hat bei den acuten Fällen von Septhämie und Pyohämie nur
äusserst selten einen dauernd günstigen Erfolg, wenn auch vorübergehend
fast immer Besserung eintritt. Bei subacuter und chronischer Pyohämie
kann die Amputation wirklich lebensrettend wirken; diese Fälle sind
aber leider ziemlich selten.
So kommen wir schliesslich zu dem anfangs aufgestellten Satz zu-
rück, dass man sehr viel zur Verhütung von schweren Wund- und Eiter-
fiebern thun kann, dass dagegen die Behandlung dieser Krankheiten,
wenn sie ausgebildet sind, w^enig Aussicht auf Erfolg giebt. Man sucht
den Grund vornehmlich darin, dass der einmal ins Blut aufgenommene
septische Stoff fermentirend auf das Blut wirke, und so eine kleine
Quantität genüge das ganze Blut der Menschen und alle seine Säfte in
eine faulige Gährung zu versetzen. Ich halte diese hämatozymische
Wirkung des septischen Gifts, wie früher schon erwähnt, nicht für be-
wiesen. Vielmehr bin ich der Ansicht, dass das septische Gift, wie das
diphtheritische Gift, Milzbrandgift und ähnliche Stoffe deshall) oft so lang-
dauernd und vielfach im Körper wirken, selbst wenn sie in geringerem
Maasse aufgenommen worden sind — weil sich gerade der mensch-
liche Organismus (Avie auch manche Thierart) nur sehr schAver
dieses Giftes entledigt, und AA^eil es an den Stellen, avo es im Or-
ganismus festgehalten Avird, oft neue Erkrankungsheerde erzeugt, in
welchen das Gift Avieder (wenn auch vielleicht in abgeschAvächter Inten-
sität) neu entsteht. Hunde z. B, können meiner Meinung nach deshalb
so viel septisches Gift vertragen, Aveil sie es so ausserordentlich schnell
durch den Darmcanal ausscheiden; sie überAvinden auf diese Weise selbst
sehr schwere putride Infectionen. — Die Fähigkeit, die aufgenommenen
Infectionsgifte mehr oder Aveniger rasch auszuscheiden, kann bei den
Menschen in geAvissen Grenzen auch individuell sehr verschieden sein.
27"
^90 Von den affidentdlon Wund- und Entzruiduiigskninklicifon etc.
Ich halte diese Betrachtung'sweise auch in Rücksicht auf Typhus, Cholera
und die acuten Exantheme für sehr fruclitbar.
Vorlesung 27.
4. Der Wundstarrkrampf; 5. Delirium potatoruni traumaticum; C>. Delirium nervosum
und Manie. — Anhang zu Capitel XIII. Von den vergifteten Wunden: Lisecten-
stifhe, Schlangenbisse; Infection mit Leichengift. — Rotz. Milzbrand. Maul- und Klauen-
seuche. Hundswutli.
Die Gruppe von Krankheiten, welche zu den traumatischen und
phlogistischen Infectionszuständen gehören und welche zu besprechen
noch erübrigt, enthält den Wundstarrkrampf, den Säuferwahnsinn
und die äusserst seltenen psychischen Störungen nach Verletzungen
und Operationen. Ueber ihre Entstehung herrschen die verschiedensten
Anschauungen; da es sich um Processe handelt, die ihren Symptomen
nach auf Reizung des Hirns und Rückenmarks bezogen werden müssen,
so sucht man die Ursache derselben gewöhnlich in den Nervencentren
selbst. Es ist aber bekannt, dass auch durch Blutintoxicatiou, z. B. mit
Strychnin heftige Starrkrämpfe, mit Alcohol psychische Störungen (Be-
trunkenheit) zu Stande gebracht werden können, und somit ist es wohl
denkbar, dass auch die gleich näher zu besprechenden Formen der Er-
krankung durch Intoxication mit eigenthttmlichen Stoffen, welche viel-
leicht sehr selten und unter ganz besonderen Verhältnissen
in den Wunden gebildet und von da resorbirt werden, entstehen, während
beim Säuferwahnsinn schon eine Reihe von den gewöhnlichen pyrogeneu
Stoffen im Staude ist, in dem abnormen, von Alcohol bereits intoxicirteu
Organismus eigenthümliche Störungen hervorzubringen, nämlich eiu Fieber
mit vorwieg:end psychischen Störungen eigenthümlicher Art. Die Symptome,
welche wir bei diesen Krankheiten kennen lernen werden, sind alle auch
beim gewönlichen Fieber vorhanden, Avenn auch in weit gering-erem und
wenig hervortretendem Grade; der Schüttelfrost hat in der Combinatiou
der betheiligten Muskelgruppen eine unzweifelhafte Aehulichkeit mit dem
Trismus und Tetanus, psychische Störungen bis zu maniakalischeu An-
fällen finden sich theüs als sogenannte Fieberdelirien bei manchen Fällen
von Septhämie, besonders aber bei Typhus, sehr ausgeprägt. Wir kommen
bei der Beschreibung der einzelnen Krankheiten gelegentlich auf diese
Betrachtungen zurück, für die wir leider keine experimentelle Basis haben.
4. Der Wundstarrkrampf, Trismus und Tetanus.
Diese Krankheit, welche in Krämpfen theils der Kiefermuskeln allein ij
(Trismus), theils aller Körpermuskeln (Tetanus) besteht, wobei bald "
mehr die Extremitäten, bald mehr die Muskeln des Rumpfes an der
V(.rlcsimf,' 27. Cupilcl XMI. 42)
vorderen oder liinlereii Seite betlieili^t .sind, Irilt zuweilen, wenn^leicli
im Verliältniss zu den früher besprochenen accidcntellen Wundkrank-
heiten selten, bei Verwundeten auf und kommt noch .seltener bei Leuten
vor, die keine Wunde an .sich liaben. Es köimen in einem gro.ssen
Si»ital Jahre vergehen, in denen sich der Wundstarrkrampf gar nicht
zeigt, während dann ^vieder zu g-ewissen Zeiten eine grös.serc Anzahl
von Fällen rasch hinter einander vorkonnnt, so dass man geneigt wird,
eine epidemiselie Ursache zu vermutlien. Die Krankheit ist keineswegs
nur in Spitälern beobachtet, sondern kommt in und ausserhalb der Spi-
täler zur Entwicklnng-. Ehe wir jedoch auf diese ätiologischen Verhält-
nisse eingehen, will ich Ihnen kurz das Krankheitsbild eines acuten
Falles zu schildern versuclien.
Am 3. oder 4. Tage nach einer Verletzung, selten früher, oft später,
finden Sie, dass der Kranke den Mund beim Sprechen nicht recht öffnet
und über reissende, ziehende Schmerzen und Steifheit in den Kau-
muskeln klagt. In sehr acuten Fällen ist schon jetzt heftiges Fieber
mit dieser ersten Erscheinung verbunden , in andern linden Sie die
Kranken in diesem Stadium fieberlos. Die Gesichtszüge des Patienten
nehmen allmählig einen eigenthündichen starren Ausdruck an, indem die
Gesichtsmuskeln theilweisc sich in krampfhafter Contraction befinden.
In der Folge kommen bald mehr am Stamm, bald mehr an den Extre-
mitäten tetanische Krämpfe hinzu, welche in einzelnen Anfällen von
mehren Secuuden oder Minuten Dauer auftreten und durch alle äusseren
Reize, ähnlich wie bei der Wasserscheu hervorgerufen werden. Diese
Krämpfe sind mit heftigen Schmerzen verbunden. Einige jMuskelgruppen
bleiben zuw^eilen von Anfang bis zu Ende gleichmässig, doch schmerzlos
contrahirt, ja bei manchen Kranken fehlen die Zuckungen (Stösse Rose)
ganz und es findet nur eine dauernde Contraction mehr oder weniger
ausgebildeter Muskelgruppen Statt. Der Körper ist nicht selten wie in
Sehweiss gebadet, der Kranke bei klarem Bewusstsein; der Urin enthält
zuweilen Eisweiss; das Fieber steigt manchmal bis zu einer Höhe, wie
sie nur selten vorkommt, bis über 42 ' C. Ich habe indess Fälle von sehr
rasch tödtlich verlaufenem Trismus gesehen, welche ganz ohne Tempera-
turerhöhung verliefen; gleiche Beobachtungen hat auch Rose gemacht.
Der Tod kann innerhalb der ersten 24 Stunden nacli Beginn der Krank-
heit eintreten, doch kann der Zustand auch mit zieudicher Heftigkeit
3—4 Tage andauern und sind auch solche Fälle noch zu den acuten zu
rechnen. — Es giebt ausserdem eine mehr subacute oder chronische
Form von Trismus allein, und auch von Trismus und Tetanus, wobei
es nur allmählig zur Ausbildung eines massigen Trismus kommt und
zu Contracturen , die sich nur auf einige Muskelgruppen des verletzten
Gliedes erstrecken , dabei schmerzlos sind. Fieber pflegt bei diesen
chronischen Fällen ganz zu fehlen. Dass ein acuter Fall den Uebergang
zum chronischen Verlauf nimmt, ist im Ganzen selten.
4^9 Von ilcn acridciilclli'n Wiiiifl- nii'l Eiif/.inifliii)i;skraiikhi'itpn etc.
Alle Erscheinungen, welßhe sich darbieten, deuten darauf hin, dass
wir es mit einer Reizung des Eückenraaiks und der Portio minor des
N. quintus zu thun haben. Das Kranklieitsbild* bietet eine wenn auch
entfernte Aehnlichkeit dar mit demjenigen, welches wir durch Vergiftung
mit Strychnin künstlich erzeugen können. Leider sind die Resultate,
welche die Sectioneu dieser Kranken ergeben, meist sehr unbcfricfligend;
zumal lässt sich in den recht acut verlaufenden Fällen nichts im Rücken-
mark auffinden; in den Fällen von einigen Tagen Dauer will Rokitansky
im Rückenmark die Entwicklung jungen Bindegewebes nachgewiesen
haben, wonach es scheint, als wenn man es mit einem entzündlichen
Process dieses Nervencentrums zu thun hätte. Meine Untersuchungen
des Rückenmarks und der Nerven bei Tetanus haben bis jetzt nur negative
Resultate ergeben. An Präparaten, welche von Querschnitten des Rücken-
marks durch ausgezeichnete Specialisten im Fach der Untersuchung des
centralen Nervensystems (Dr. Goll in Zürich und Professor Meynert
in Wien) gemacht und mir gütigst mitgetheilt waren, sah ich allerdings
an manchen Stellen des Rückenmarks die bindegewebigen Partien auf-
fallend entwickelt; doch da dies nicht mit Anhäufung junger Zellen ver-
bunden war, so blieb es mir immer zweifelhaft, ob diese Bindegewebs-
vermehrung wirklich auf Neubildung und nicht etwa auf mehr zufälliger
Quellung beruhe, die ja freilich während des Lebens bestanden haben mag.
Die Erscheinungen am Lebenden bei einer wirklich nachweisbaren Ent-
zündung des Rückenmarks sind doch so verschieden von Tetanus, dass
es auch dadurch unwahrscheinlich wird, dass letzterer auf einer zu ^iye-
litis spinalis führenden Neuritis ascendeus beruhe. — Dass man hier
und da in den Muskeln und auch in den Nervenscheiden kleine Blut-
extravasate bei den Sectionen findet, will für das Wesen der Krankheit
nicht viel bedeuten, da diese durch Zerreissung von Capillaren in Folge
der heftigen Muskeleontractionen entstanden sein können.
Ueber die Entstehuugsursache dieser Krankheit giebt es eine Menge
von Ansichten, wie gewöhnlich bei allen solchen Processen, die keinen
pathologisch-anatomischen fassbaren Anhaltspunkt darbieten. Zunächst lag
es nahe, sich bei der Untersuchung an die Nerven zu wenden, und da
giebt es denn eine Anzahl von Fällen, in denen bei der Verwundung
Nervenstämme gequetscht, zerrissen oder durch fremde Körper gereizt
erschienen. Ich selbst habe einzelne solcher Fälle beol)achtet; so vor
einigen Jahren einen sporadischen Fall, in welchem bei einer oifeuen
Splitterfractur am unteren Ende des Radius der Nervus medianus zur
Hälfte eingerissen w^ar, und am dritten Tage plötzlich ein Trismus und
Tetanus auftrat, der innerhalb 18 Stunden tödtlich verlief. Es nützt nun
nichts, Theorien darüber zu bilden, weshalb diese Art von Ncrvenver-
letzung gerade tetanische Krämpfe zur Folge habe, während solche nach
einfachen Durchschneidungen von Nerven höchst selten vorkommen, weil
es eine ganze Reihe von Fällen giebt, in denen theils bei einfachen
Vdllcsiilij^r l'?. (';i|iil(l XIII. .12;*,
Wimdcii (1er Haut, Ihcils I)oi nusii'cbildcicti mid in \'cni;ii-l)iin,n' Itci^rilTcnon
Graiiulatiüiisflächeii , oder seihst iimcIi Appücalioii aoii I')l;iseii|)(l;isf(Mii,
naeli einem Bienenslieli w. deri;'!. A\'imdstMri-ki-aiii|)r /iir Kiilwickhii),!;- kam.
Auffallend ist es jedoeli, dass die Krankheit sich hesuii(lt;rs li^iiitii;- nach
Yerletzuni^'en an r'xtremitättm, besonders an iländeu und l'Tisscn ent-
wickelt, während dieselbe nach bedeutend eini;reilenderen ^'erletzllni;•en
höher oben an den Extrenutäten nnd am IJiimpf im (ianzen selten beob-
achtet wird. Ich i;laube forner beobachtet zu Imben, dass diejeni^'cn
Fälle, in Avelehen der Starrkrampf bei bereits g-ranulirenden Wunden
auftritt, ehi-onischer und milder verlaufen als diejcnig'en, in denen die
Krankheit sieh kurze Zeit nach der Verletzung- entwiekelt. liosc meint,
dass Starrkrampf besonders bei Wunden auftrete, welcbe gar nieht oder
schlecht behandelt sind; ich kann dies nach meinen Erfahrung-en nieht
zugeben. — Nachdeju man nun an die Nerven und aucli an die sehni-
gen Gebilde vergeblich appellirt hatte, nahm man seine Zuflucht zu den
verschiedenen Temperatureinflüssen-, es bildete sich bei Einigen die An-
sicht heraus, dass eine heisse, schwüle .Temperatur die Entstehung des
Tetanus besonders begünstige. Von dieser Ansicht kann ich mich auch
nicht ganz lossagen, da ich eine Anhäufung von Fällen von Wundstarr-
krampf bisher nur bei hoher, schwüler Gewitter-Temperatur sah, indessen
sind auch Epidemien von Wundstarrkrampf im Winter beobachtet
worden. — Andere schieben der Erkältung durch Zugluft oder überhaupt
durch rasch wechselnde Temperatur die Hauptschuld zu, so neuerdings
wieder Heinecke. Noch Andere endlich glauben nicht, dass das
Nervensystem primär afficirt sei, sondern dass das Blut zunächst er-
kranke und erst secundär auf das Nervensystem wirke. Eoser hat
vor Kurzem eine alte x\nsicht wieder ans Licht gezogen, dass der
Wundstarrkrampf der Wuthkranklieit analog als primäre Blutkrankheit
aufzufassen sei. Es ist nicht zu leugnen, dass die beiden Krankheiten
grosse Aehnlichkeit darbieten ; ein Beweis dafür, dass dieselben wirklich
analog sind, würde am schlagendsten dadurch gegeben werden, wenn
man durch Impfung von Blut oder Secret tetani scher Menschen auf
Thiere Wnthkrankheit erzeugen könnte. Von Impfungen auf Menschen
kann natürlich nicht die Eede sein. Ich neige jetzt sehr zu der
humoralen Auffassung des Tetanus als einer eigeuthümlichen Intoxications-
krankheit, ohne freilich dafür Beweise bringen zu können. Jedenfalls
sollte man einmal Blut eines tetanischen Menschen einem Hunde injiciren,
um zu ermitteln, ob Tetanus durch das Blut von Mensch auf Hund
übertragbar ist, ferner ob das Blut des Tetanischen pyrogen wirkt;
sollte beim operirten Hunde Tetanus eintreten, so dürfte als bewiesen
l)etrachtet werden, dass der Tetanus eine humorale Krankheit sei; hat
der Versuch negativen Erfolg, so ergiebt sich daraus freilich nichts gegen
die humoralen Ursachen des Tetanus, weil ja der Versuch dann nichts
beweist, als class das Blut eines tetanischen Menschen iu einem Hunde
424 ^^011 den accidciitcllcii AViind- und Kiilziindimgskrankhir'iren ntc.
nicht Tetanus erzeugt; es bliebe dann noch zu untersuchen, ob das Blut
eines tetani scheu Hundes auf einen Hund übertrag-en ebenso
wirkungslos ist. — Die Beobachtung-, dass der Tetanus auf eine Extre-
mität ja, wie ich es gesehen haben, auf die Hand allein beschränkt
sein kann, spricht freilich sehr für einen localeji, auf die Nerven be-
schränkbareu Grund; indess giebt es ja aucli ganz localisirte Lymph-
angoitis, localisirte Erysipele etc.; man könnte grade auch die Beob-
achtung, dass z. B. Amputirte nicht selten zuerst Zuckungen im Stumpf
bekommen, bevor die Krämpfe allgemein werden, dahin deuten, dass
sich das Tetanusgift in der Wunde bildet, zuerst die Muskeln und Nerven
des Stumpfes, dann erst später das Eückenmark reizt. Noch Vieles ist
auf diesem Gebiet zu ergründen! — Das hohe Fieber bei den meisten
Fällen von acutem Tetanus und der Umstand, dass auch noch nach dem
Tode der Tetanischen die Temperatur steigt, hat die Pathologen sehr
beschäftigt; es gewann dies noch höheres Interesse, als Leyden durch
die Hervorrufung' eines künstlichen Tetanus des ganzen Körpers, den
man dadurch zu Stande bringt, dass man starke elektrische Ströme
durch das ganze Kückemnark eines Hundes gehen lässt, ebenfalls sehr
hohe Bluttemperaturen erzeugte. A. Fick wies nach, dass dabei ein
Wärmeüberschuss in den Muskeln gebildet und von da dem Blut mit-
getheilt wird, sowie dass die im Eectum beobachtete Temperatursteige-
rung nach dem Tode ein Phänomen der Wärmeausgleichung zwischen
den Muskeln und der übrigen Körpermasse ist. — Wenn es nach diesen
Versuchen, die ich mitgemacht habe, unzweifelhaft ist, dass durch
tetanische Muskelzusammenziehung die Körperwärme bedeutend erhöht
wird, so ist damit noch nicht bewiesen, dass beim traumatischen Tetanus
des Menschen die hohen Fiebertemperaturen allein oder vorwiegend
durch die Muskelzusammenziehungen bedingt sein müssen: es spricht
die Beobachtung dagegen, dass sehr acut verlaufende Fälle von Tetanus
fast ohne Fieber verlaufen können, wenngleich dies selten ist; auch in
dieser Beziehung sind noch viele Käthsel zu lösen.
Die Prognose ist leider in den meisten Fällen eine schlechte; von
den acuten Erkrankten genesen nur ausserordentlich Wenige, von den
chronischen, die sich über 14 Tage hinziehen, genesen Manche. Leider
sind die letzteren Fälle au sich selten.
Bei den mangelhaften Kenntnissen der Aetiologie dieser Kranklieit
kann man in Betrefi' der Therapie nur symptomatisch verfahren. Eine
grosse Menge von Mitteln ist zu verschiedenen Zeiten empfohlen Avorden.
Im Allgemeinen wird die Behandlung mit Narcoticis, mit Opium und
Chloroform, die auch ich adoptirt habe, am meisten geübt. Man giebt
das Opium in sehr grossen Dosen bis zu 15 Gran (1,000 Gramme) und
mehr in einem Tag, oder eine entsprechende Quantität Morphium am
besten durch subcutane Injectionen; zuweilen hören die Krämpfe darnach
auf, zuweilen nützen diese Mittel indessen gar nichts ; jedenfalls werden
Voil.'smi-' 27. (',i|iiirl Nlll. 4^5
die Kr;Mikcu (hKlnrcli snbjcctiv orlci('li(,crt. Uci (Icii ciiizcliicii AiiC-illcn
wendet man ziii- gTOsseu Evlcicliternni;- der Kranken ChlovororminliMla-
tionen bis /Air vollständiii'en Narkose an; Chloralliydrat ist mit eiiii.^cn
Erlbli^-en beim Tetanus gcgeb-cn worden, innerlicli zu 1 — 1 '/^ Draclnnen
(1,000—5,000 Grammes) in einem liall)en Glase Wasser, odei- als Klysma
ein Ins zwei Mal in 24 Stunden, bis anlialtende liypnotisclie Wirkung-
erfolgt. Mehre Fälle sind bei dieser Behandlung durehgekonmien. Im
Ganzen erstreben wir, den acuten Verlauf zu mildern und in einen
mehr clironisclien iiberzufiiliren , Aveil dann melir Hoffnung auf Ge-
nesung- ist. Von anderen Beliandlungsweisen nenne icli Ihnen noch
die Anwendung liäufiger warmer Bäder; ferner die Application von
starken Reizmitteln an der Wirbelsäule entlang, grosse Blasenpflaster,
Moxen, Ferrum candeus, Mittel, von 'denen ich mir keinen günstigen
Erfolg versprechen kann; endlich das in neuerer Zeit hier und da ge-
brauchte Curare, welches indess die gehegten Erwartungen auch nicht
erfüllte.
In den chronischen Fällen brauchen Sie keine besondere Behand-
lung einzuleiten; der Kranke bleibt im Bett und mnss sich durchaus ruhig
verhalten; man liütet ihn vor allen Schädlichkeiten, zumal vor allen
physischen und psychischen Aufregungen.
5. Der Säuferwahnsinn. Delirium potatorum traumaticum.
Delirium tremens.
Wir kommen jetzt zu einem Feind der Verwundeten, der zum
Glück nur wenigen gefährlich ist. Sie haben gewiss schon vom Säufer-
delirium gehört, diesem acuten Ausbruch der chronischen Alcoholver-
giftung, welcher theils ganz spontan, theils aber auch bei manchen
acuten Krankheiten, besonders bei Pneumonie auftreten kann. Ver-
letzungen sind eine nicht seltne Gelegenheitsursache zum Ausbruche des
Delirium tremens. Sie w-erden diese Krankheit in den Vorlesungen
über innere Medicin genauer kennen lernen, da sich die Anfiille, durch
welche veranlassende Momente sie auch hervorgerufen sein mögen,
nicht wesentlich von einander unterscheiden ; ich will mich kurz darüben
fassen. —
Gewöhnlich zeigt sich schon innerhalb der ersten zwei Tage nach
der Verletzung, selten später der Ausbruch der Krankheit. Es werden
nur Kranke davon befallen, w^elche Jahre lang an reichlichen Genuss
von Alcohol, zumal an Schnaps und Eum gewöhnt sind; doch ist es
eine irrige Ansicht, dass Bier- und Weintrinker vor Delirium geschützt
sind. Schlaflosigkeit, grosse Unruhe in den Bewegungen, zitternde Hände,
unsteter Blick, Hin- und Herwerfen im Bett, ScliAvatzhaftigkeit sind die
zuerst hervortretenden Symptome; dann folgt das Delirium. Die Kranken
faseln fortwährend vor sich hin, sehen kleine Thiere, Mücken, Fliegen
vor sich her schwärmen; unter ihrem Bett krieche^ Mäuse, Ratten,
426 Von den aecidentelleu Wund- und p:nlxiindungskraiikheiten etc.
Marder, Füchse hervor; sie g-lauben iu einer rauchigen Atmosphäre zu
sein oder haben auch wohl das Gefühl des Auf- und Abschwankens.
Die Delirien haben oft die komischsten Formen : ein Soldat, den ich in
Zürich am Delirium tremens behandelte, sah eine grosse Menge anderer
Soldaten in seinem Wasserg-lase ; wenn ich ins Zimmer trat, sprach er
leise zu meinem Assistenten, weil er mich für seineu Major hielt u. s. w.
Im Allgemeinen sind die Wahnvorstellungen heiterer Natur; trozdem
sind die Kranken von einer unsäglichen Unruhe geplagt, werfen sich
fortwährend im Bett umher und wollen davon laufen. Wenn man nicht
zwei kräftig-e Wärter zur Disposition hat, um diese Kranken zu halten,
so bleibt leider zuweilen nichts anderes übrig-, als sie in eine Zwangs-
jacke zu legen und sie im Bett anzubinden. Dabei sind diese Kranken
in ihrem Delirium meist gutmüthig gestimmt, und wenn man recht
kräftig in sie hineinredet, so geben sie ganz vernünftige Autworten, ver-
fallen jedoch gleich wieder in ihre Wahnvorstellungen. Von allen Arten
der Verletzung geben Fracturen und besonders offene Fracturen am
häutigsten Gelegenheit zum Ausbruch der Krankheit, und bevor man für
solche Kranken feste Verbände hatte, war es eine schwierige Aufgabe,
die gebrochenen Extremitäten zu fixireu, da die Verletzten der Schmerzen
nicht achtend, die Bruchenden mit solcher Heftigkeit bewegten, dass
jeder Schienenverband in v^enig Stunden gelöst war. Die Prognose ist
selbst bei ausgebröchenem Delirium nach der Ansicht der meisten
Chirurgen eine nicht ungünstige; ich kann diese Ansicht nach meiner
freilich kleinen Zahl von Beobachtungen nicht theilen; von den im
Ganzen wenigen Kranken mit acutem Delirium tremens, die ich be-
handelte — hier in Wien ist die Krankheit sehr selten — , sind wenig-
stens die Hälfte zu Grunde gegangen ; sie eollabirten oft ganz plötzlicli,
wurden besinnungslos und starben bald darauf. Andere kamen durch,
zumal wenn es gelang, sie eine Zeit lang in Schlaf zu bringen; hierauf
richtet sich auch die Therapie; Opium in grossen Dosen ist fast das
allgemein angewandte Mittel, das man auch noch mit kleinen Dosen
von Tartarus stibiatus versetzen kann. Hiernach verfallen schliesslich
die Kranken in einen komatösen Zustand, aus welchem sie im günstigen
Faile geheilt erwachen, zuweilen aber auch ins Jenseits hinüber-
schlummern. Ich kann Hmen kein besseres Mittel als das Opium beim
Delirium tremens empfehlen, wenngleich ich zugestehen muss, dass ich
dasselbe, in grossen Dosen angewandt (gr, ij — vj oder 0,100— 0,400
Grammes alle zwei Stunden, bis Schlaf erfolgt), nicht für ungefährlich
halte. Es lassen sich auch Stimmen zumal aus England hören, welche
das Opium uud die Behandlung mit Tartarus stibiatus ganz entfernt
wissen wollen und eine mekr expectativo Behandlung empfehlen. Andere
haben gute Erfolga mit Digitalis erzielt; die meisten Chirurgen sind
sehr zufrieden mit der Opiumbehandlung, sowie auch die gleichzeitige
Darreichung von starkem Wein und Cognac gerühmt wird. Auch das
VorlOKlIM!,^ 1'7. f'.ipilrl XIII. 427
C'lil«>r;illiv(lr;ii in ii,'r<)f^son Doscmi ist i)i iicueslci- Zeit Itci dieser Kraiiklicit
selir angepriesen worden. \^)n etwas g'iinstigercr Prognose sind mir
die nielir clironiselien Fälle von Delirium potatoruni ohne maniakalisclie
Anfälle erschienen-, starker Grogk thut dabei gute Dienste; ich lasse
folgende Mischung-: ! Eigelb, 1 Unze (35,00 Grainmes) Arrac, 4 Unzen
(110,00 Grammes) Wasser, 2 Unzen (70,00 Grammcs) Zucker, die nicht
übel sclmieckt, auch sonst als excitirende Arznei l)ei älteren Leuten
(^stündlich 1 Esslöffel) brauchen. Warnen muss ich Sie noch vor dei'
Anwendung von Blutentziehungen, welche den Säufei-n in hohem firade
gefährlich sind und nicht selten schon einen rasch in den Tod über-
gehenden Collaps herbeigeführt haben.
Die Eesultate von Sectionen l)ei Krauken, die an Delirium tremens
verstarben, ergeben in Bezug auf die unmittelbare Todesursache keine
besondere Aufklärung; man findet die gewöhnlichen Veränderungen wie
bei der Säuferdyskrasie: clironischen Magencatarrh, Fettleber, Bright'sche
Nieren, verdickte Hirnhäute, doch nichts Constantes in der Hirnsubstanz
selbst.
6. Delirium nervosum und psychische Störungen nach Verletzungen.
Unter Delirium nervosum traumaticum versteht man einen
Zustand höchster nervöser Exaltation ohne Fieber nach Verletzungen,
wie er zumal bei hysterischen Personen vorkommen soll; ich habe bis
jetzt nur einen Fall gesehen, den ich mit diesem Namen ])ezeichnen
möchte: ein etwa 24 jähriger Mann (aus dem Lande des Biruenmostes
und Birnenweines, aus dem Canton Thurgau), der nie viel getrunken
hatte, bekam bald nach einer mit leichter Wunde complicirten Unter-
schenkelfractur Delirien ohne Fieber, wie ein alter Säufer; die Fantasien
bezogen sich auf ähnliche Dinge wie beim Delirium potatorum, verliefen
bei beruhigender Behandlung und unter Einwirkung von Opjum ohne
maniakalische Anfälle; nach vier Tagen hörten die Delirien auf, dann
blieb Patient völlig vernünftig. — Schliesslich muss ich noch diejenigen
interessanten und seltenen Fälle erwähnen, in welchen nach Operationen
bei sonst ganz gesunden Menschen psychische Störungen sich entwickeln,
Fälle, die sicli jedem Erklärungsversuch entziehen und ihre Analogie
nur darin finden, dass auch nach anderen acuten Krankheiten, z. B. nach
Pneumonie, nach acutem Rheumatismus, nach Typhus die Entwicklung
wahrer Manie beobachtet ist. Ich habe zwei solche Fälle in der Berliner
chirurgischen Klinik gesehen, wo in beiden Fällen nach totaler Ehino-
plastik Melancholie mit religiösen Wahnvorstellungen auftrat. Beide
Kranke waren katholisch; der eine, ein junger Mann, quälte sich unauf-
hörlich damit ab, über den Begriff der Dreieinigkeit klar zu werden;
die andere Patientin, ein junges Mädchen, suchte sich durch Gebete und
Kasteiungen dafür zu strafen, dass sie ihrer Eitelkeit so weit nachgegeben
4,99, Von den vergifteten Wunden.
liatte, sich eine Nase bilden zu lassen, naclidem dieselbe durch Lupus
ganz zerstört worden war. Bei dem jungen Mann kam es wiederholt
zu heftigen Wuthausbrtichen; beide Kranke genasön nach Verlauf einiger
Wochen vollständig. Aus mündlicher Mittheilung ist mir bekannt, dass
V. Langenbeck in Berlin wiederum nach einer plastischen Operation,
und V. Gräfe und Esmarch nach einer Augenoperation Anfälle von
Manie beobachtet haben. Im Ganzen gehören jedoch diese Fälle zu den
grössten Seltenheiten.
ANHANG ZU CAPITEL XIII.
Ton den vergifteten Wunden.
Wir haben uns jetzt noch mit einigen Arten von Verletzungen zu
beschäftigen, bei denen zu gleicher Zeit mit der Verletzung Gifte ein-
geimpft werden, welche theils sehr heftige örtliche Erscheinungen, theils
gefährliche Allgemeinkrankheiten hervorrufen. — Ein solches Gift ist
kekauntlich manchen Thieren eigenthümlich, bei anderen entwickelt es
sich in Folge gewisser Krankheiten und wird dann von diesen kranken
Thieren auf den Menschen übertragen.
Die Stiche einer grossen Eeihe von kleinen Insecten stehen in
ihren Folgen kaum in einem Verhältniss zu dem geringen mechanischen
Reiz, welchen sie mit ihren Stacheln veranlassen; theils kann es aller-
dings auch in einer besonderen Reizbarkeit der Haut beruhen, wenn
Leute nach Wanzen-, Mücken-, Flohstichen ausgedehnte, wenn auch
kurz vorübergehende Entzündungen der Haut bekommen, während auf
Andere derselbe Reiz gar keinen Einfluss übt. Ein Stich mit einer
Stecknadel ist eine viel grössere Verletzung als ein Flohstich, und den-
noch folgt dem letzteren ein Jucken und Brennen mit Entstehung von
Quaddeln auf der Haut, während die Folgen des ersteren gleich Null
sind. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass bei den erwähnten
Insectenstichen zu gleicher Zeit mit dem Stich eine reizende Substanz
in die Haut eindringt. — Die Stiche von Bienen und Wespen erregen
bekanntlich noch viel heftigere Erscheinungen; es tritt eine zuweilen
ausgebreitete, sehr schmerzhafte Entzündung der Haut mit starker Rö-
thung und Schwellung ein, die freilich gewöhnlich in Zertheilung über-
geht und dem Organismus nicht gefährlich wird, doch aber höchst be-
lästigend sein kann. Eine grosse Anzahl von solchen Stichen zu gleicher
Zeit ist nicht ganz ohne Bedenken; Stiche der Art auf die Zunge, im
Gaumen, an den Augenlidern, können durch ihre Ocrtlichkeit gewisse
Gefahren durch starke Schwellung dieser Tlieile nach sich ziehen. Da
aber in verhältnissmässig kurzer Zeit diese Entzündungen vorübergehen,
Vorlcsiiiii,^ 27. Anliaii';- zu Ciipild XTIF. 429
SO wird selten ein Arzt zu Ratlie g'czoi^cn; mau wendet im Volke dabei
verschiedene kühlende Mittel an, welche deu Schuierz linderu, vou dou-u
icli Ihnen nur das Aufleii-en von nassem Lelim, vou n»hem Kartoffellirei,
von Kolilhlättern u. derg'l. nenne. Bei stärkeren Eut/>ün(lun,i;cn werden
Umschläg'e von Bleiwasser und andere antiphlogistische Mittel in vVnwen-
dung- kommen. Nocli heftiger als die Bienen- und Wespenstiche wirken
diejenigen der in südlichen Ländern vorkonnuenden Taranteln und
Skorpione. Es entsteht darnach eine nocli ausgedehntere Entzündung-
der Haut mit sehr heftigen, brennenden Schmerzen, zuweilen mit Blasen-
bildung; Eieber kann hinzutreten, doch gefährlich werden auch diese
Zustände g-ewöhnlich nicht, wenn nicht durch die besondere Oertlichkeit
der Verletzung'. Die Behandlung- muss der oben erwähnten g-leich sein.
Zum Glück besitzen wir in unseren Gegenden wenige Arten von
Giftschlang-en, und auch diese sind nicht häufig-. Unter ihnen sind
zu nennen Vi per a Berns (die Kreuzotter) und Vipera Redii mit zwei
hakenförmig- gekrümmten Giftzähnen, in denen sich die Ausführungsgänge
kleiner Drüsen befinden, welche beim Biss ihren Saft in die Wunde er-
giessen. Der Biss dieser Schlang-en ist nicht ganz so gefährlich, wie
man glaubt; nach statistischen Berechnungen sterben unter 60 Gebisseneu
etwa 2. Der Schmerz ist sehr heftig; es tritt eine starke Entzündung,
Spannung und Schwellung der Haut ein, dabei heftiges Fieber, grosses
Angstgefühl, Mattigkeit, Brechen, zuweilen leichter Icterus. Was die
Behandlung betrifft, so wird es am besten sein, wenn die Wunde sofort
ausgesogen wird, was ohne Schaden geschehen kann, indem das Gift
nach allgemeiner Annahme vom Magen und von der Mundschleimhaut
aus nicht resorbirt wird. Die Wunde wird gleich ausgewaschen; auch
giebt man den Rath, um die Resorption zu verhindern, das vorletzte
Glied oberhalb der Wunde mit einem Tuche fest zu umschnüren. Bis
der Kranke zum Arzt kommt, wird in den meisten Fällen das Gift
resorbirt sein; ob jetzt noch das Aufsetzen eines Schröpf kopfs , das
Aetzen, Brennen oder Ausschneiden der Wunde etwas nützt, darüber
sind die Ansichten verschieden, doch würde ich die Ausätzung der
Wunde für zweckmässig erachten. Die örtliche Hautentzündung wird
hauptsächlich mit Rücksicht auf den spannenden Schmerz behandelt:
Einreibungen mit Oel, graue Salbe, Abschluss der Haut gegen die Luft
durch verschiedene Mittel, die wir bei der Behandlung oberflächlicher
Verbrennungen kennen gelernt haben. Innerlich giebt man ein Emeticum,
dann antiseptische Mittel, z. B. Mineralsäuren; auch Ammoniak soll nützen.
Es ist von amerikanischen Aerzten gegen Schlangenbiss empfohlen.
Putz injicirte eine Pravaz'sche Spritze voll Liq. Ammonii caustici zu
gleichen Theilen mit Wasser subcutan in die Nähe der Bisswunde einer
Natter und gab innerlich 12 Tropfen der gleichen Mischung mehre Mal
am Tage. Die Gebissene, ein Mädchen von 8 Jahren, die bereits schwere
Erscheinungen darbot, genas. Der Liq. Ammonii wäre künftig wohl
^QQ Von den vergifteten Wunden.
besser mit 2 — 3 Tlieilen Wasser zu verclimnen, da an der Injeetions-
stelle ein Abscess entstand. — Von allen Schlangenbissen in südlichen
Ländern sind die der Klapperschlang-e am gefährlichsten; sie sind
zuweilen in wenigen Stunden tödtlich; die örtliche Entzündung der Haut,
die dabei sehr heftig ist und sich weit verbreitet, geht nicht selten rascli
in Gangrän über und zwar, soweit ich es aus den besseren Beschrei-
bungen zu entnehmen vermag, ganz direct, ohne dass es zuvor zu Arterien-
uud Venenthrombose käme; die mit dem Gift in Berührung kommenden
Gewebe werden in ihrer chemischen Beschaffenheit gleich so alterirt, dass
sie ihren normalen Stoffwechsel nicht mehr vollziehen, sondern direct ab-
sterben. Die Gebissenen gehen unter Delirien, soporösem Zustand und
raschem Collaps zu Grunde. Kommt sehr viel Gift auf einmal in die
Wunde und wird sofort resorbirt, so tritt der Tod nach ganz kurzer
Zeit ein, noch bevor es zu erheblicher Entzündung gekommen ist; die
Haupterscheinungen dabei sind Cyanose, Dispnoe und Collaps, zuweilen
auch Zuckungen, also ähnlich wie bei Blausäurevergiftung.
Eine sehr phlogogen wirkende, in ihrer chemischen Zusammen-
setzung wahrscheinlich variable Substanz ist das sogenannte Leichen-
gift. Mancher von Ihnen mag bereits darüber auf dem Präparirsaal
Erfahrungen gemacht haben. Dieses putride Gift entwickelt sich bei
der Fäulniss thierischer und menschlicher Leichen; kommt bei Be-
schäftigung mit diesen etwas von dem Saft der todten Gewebe in kleine,
oft unbedeutende und kaum bemerkbare Verletzungen der Haut, so
können sich daraus zuweilen höchst unangenehme Erscheinungen ent-
wickeln. Die daraus entstehenden Zustände sind verschiedenartige. Es
kommen Fälle vor, die besonders in England früher häufig beobachtet
wurden, in welchen anfangs wenig Schmerz in der Wunde empfunden
wird, indessen bald eine starke Abgeschlagenheit, Kopfweh, Fieber,
Uebelkeit auftreten ; dann folgen Delirien, Sopor, und in einzelneu Fällen
trat der Tod schon nach 40 Stunden ein. Es wird behauptet, dass
gerade diese schlimmsten Fälle von Septhämie am häufigsten vorkämen
bei Sectionen, die sehr früh nach dem Tode au noch warmen Leichen
gemacht Avurden, wobei es dann freilich zweifelhaft bleibt, ob nicht in
diesen Fällen ein schon im lebenden Körper entwickelter Krankheitsstoft"
in die Wunde des secirenden Arztes geimpft wurde, indem wenigstens
der Zustand, den man gewöhnlich als Fäulniss bezeichnet, der sich
durch Gestank kund giebt, noch nicht eingetreten war. Als Gegensatz
zu dieser bösartigen, acuten Form sind diejenigen Fälle zu betrachten,
in welchen das Gift nur eine rein locale Wirkung übt. Es entsteht
an dem verletzten Finger im Verlauf von 24 Stunden massiger
Schmerz und eine leichte Induration; dann bildet sich auf der Wunde
ein trockner Schorf, unter welchem sich stets eine, wenn auch sehr
geringe Quantität von Eiter befindet. Der Schorf bildet sich, so oft
man ilm entfernt, von Neuem, die Stelle bleibt schmerzhaft, hart; mit
Vorlesung 27. Aiiluni- zu (';.|nlcl XTII. 431
der Zeit verdickt sicli die Epidermis (luraiif und es wird daraus <'iii ;ml'
der Oberfläelie nässender, sehnierzliafter, warzenälinlielier Knoten, den
man g-ewölinlich mit dem Namen Leielientu])erkel hezeielmet. Wer
Neigung- zn diesen rein örtliclieii Bildungen liat, ist meist zu allgemeiner
Infection wenig- disponirt. — In der Mitte zwischen diesen Leiden
gescliilderten ])eracuten und mehr chronischen Wirkungsweisen des
Leichengiftes steht eine dritte, wol)ei sicli zu der örtliclien Entzündung-
eine Entzündung der Lymphgefässe und Achseldrüsen hinzugesellt, die
bei frühzeitiger Behandlung in Zertheilung iihergchen kann, oft aber
zur Bildung von Abscessen am Arm l'ülirt; in seltenen Eällen kann sich
auch eine solche Lymphangoitis mit Abscessbildungen Monate lang hin-
ziehen.
Was die erste Behandlung der durch Leichengift intoxirten Haut-
stelle betrifft, so rathe ich Ihnen, zunächst kaltes Wasser längere Zeit
über die Wunde laufen zu lassen und die Blutung-, wenn eine solche
vorhanden ist, nicht zu hemmen. In sehr vielen Fällen wird dann der
schädliche Stoff gleich ausgespült und es erfolgt keine weitere Infection.
Kommt es zur Köthung- um die Wunde, dann ätzen Sie stark mit
Argent. nitric. oder mit rauchender Salpetersäure; dies ist freilich sehr
schmerzhaft, doch Avirkt es sehr gut; es bildet sich nicht selten unter
dem Aetzschorf von Neuem Eiter; dann heben Sie den Schorf ab und
ätzen wieder, und so fort, bis sich kein Eiter mehr unter dem Schorf
bildet. Die sofortige Aetzung nach der Berührung mit Leichengift halte
ich nach einer ziemlich reichlichen Erfahrung- an mir selbst und meinen
Schülern im Operationscurs nicht für zweckmässig. Kleine nicht blutende
Risswunden und excoriirte Plautstellen sind immer gefährlicher für die
Infection als tiefere Schnittwunden; dies hat seinen Grund darin, dass
das strömende Blut das putride Gift mit aus der Wunde herausschwemmt.
Die Empfänglichkeit für das Leichengift ist übrigens verschieden bei
verschiedenen Individuen; w^iederholte Infectionen scheinen die Disposition
dazu eher zu steigern als zu mildern. — Tritt Lymphangoitis auf, so
ist der Arm vor Allem durch einen Verband mit Schienen ruhig zu
stellen, und dann die früher erwähnte Behandlung der Lymphangoitis
einzuleiten. Den Hergang bei dem Auftreten der geschilderten Krank-
heitserscheinungen können Sie sieh folgendermaassen vorstellen : es wird
eine kleine Quantität Saft aus der Leiche (oder aus faulem Eiter von
Lebenden) in die Wunde eingeführt; hier nehmen die eröffneten Lymph-
capillaren diesen fauligen Stoff auf und fördern ihn in die Stämme der
Lymphgefässe: jetzt kann in diesen rasch eine Gerinnung eintreten, und
der faulige Stoif wirkt dann specifisch reizend nur auf einen kleinen
Bezirk. Im anderen Falle gerinnt die Lymphe erst in den nächsten
Lymphdrüsen, oder es werden durch die starke Sclnvellung der Drüsen
die intraglandulären Lymphwege zusammengedrückt, und so die Passage
durch die Drüse verhindert; auch in diesem Fall bleibt die Erkrankung
J^Q9 Von den vergifteten Wunden.
local, wenn auch auf eine weite Strecke au,sge(lelint, und nicht selten zu
Eiterung- mit Fieber (wie auch bei anderen uicht specifischeu Lyniph-
g-efäss-Entzimdungen) führend. Endlich der seltenste Fall: die vergiftete
und selbst jetzt als Gift weiter wirkende Lymphe gelangt ins Blut und
regt hier ebenfalls chemische Wandlungsprocesse an, dann haben wir
eine Septhämie durch Leichengift. — Aus den Fällen, welche in Ge-
nesung tibergehen, lässt sich ersehen, dass die bei dem ganzen Process
gebildeten schädlichen Stoffe wieder durch die Se- und Excretionen aus
dem Körper elimiuirt werden können, doch weiss man auch nicht genau,
auf welchem Wege dies besonders geschieht. — In manchen Fällen wird
etwas putride Substanz in Lymphdrüsen oder in einem anderen Entzün-
dungsheerde förmlich eingekapselt, kann hier unschädlich liegen bleiben
und später allmählig eliminirt werden; bei heftigen Bewegungen kann
das Gift jedoch auch durch die Steigerung des Blutdrucks in die Lymph-
gefässe wieder eingetrieben werden und neue, acute, örtliche und allge-
meine Infection nach sich ziehen. Bleiben solche harten Lymphdrüsen
nach Infection mit Leichengift zurück, so sind tägliche warme Bäder am
besten, um den Giftstoff am schnellsten zur Ausscheidung zu bringen.
Jetzt haben wir noch einige Gifte zu besprechen, die sich bei ge-
wissen Krankheiten einiger Thiere entwickeln und von den Thieren auf
die Menschen übertragen werden können. Hierher gehört der Rotz, der
Milzbrand, die Maul- und Klauenseuche und die Hundswuth.
Zum Glück werden diese Infectionen in Folge der immer besser wirken-
den Sauitäts- Polizei in den cultivlrten Ländern inmier seltner, so dass
Sie es als einen glücklichen Zufall ansehen müssen, wenn Sie auf den
Kliniken während Ihrer Studien eine der genannten Krankheiten zu be-
obachten Gelegenheit haben.
Der Rotz (Maliasmus, Morve) ist eine Infectionskrankheit, welche
besonders bei Pferden und Eseln vorkommt und sich auf viele Thiere,
nur nicht auf Rindvieh übertragen lässt.
Charakteristisch ist eine Entzündung der Nasenschleimhaut mit Bildung kleinerer
oder grösserer Knoten: es wird ein dicker, zäher Eiter abgesondert, die erwälmten Knoten
werden käsig, zerfallen, so dass sich Geschwüre mit käsigem Grund bilden; Anschwellungen
der Lymphdrüsen, tuberkelartige Knoten in den Lungen, allgemeiner Marasmus konnuen
hinzu, und der Ausgang ist fast in allen Fällen ein tödtlicher. Die mein- clironisch und
milder verlaufende Form des Rotzes wird auch als „AVurm'' bezeichnet; sie ist seltner,
es entstehen dabei Knoten in der Haut, welche sich durch allmähligen Zerfall zu Ge-
schwüren ausbilden. Der Eotz kann acut in 10— 20 Tagen tödtlich verlaufen; chronischer
Rotz kann sich viele Monate, bis zu einem Jahre hinziehen. — Die Lifection erfolgt von
Thier zu Thier theils durch Impfung excoriirter Hautstellen mit dem Secret der Ge-
schwüre, häufiger fast durch ein von den kranken Thieren ausgehendes flüchtiges Con-
taguim, welches durch die Lungen oder den Darmtractus aufgenommen wird: die Krankheit
localisirt sich nicht immer zuerst in der Nase, sondern zuweilen zuen-t in der Lunge, so
dass sie dann anlangs sehr schwer diagnosticirbar ist.
Voi-lcsiin-- 27. Aiiliaii- zu ('.Mpilcl XIII. 433
Die Jvolz- 1111(1 Wunukniuklicit der 'riiicrc wird vorwic^L^oiid durch
7Ai fällige Iniiifiiiiü,' .'luf Mciisclieii iil)CTti'ng'en. Kommt von dem Eiter eines
rotzig-eu Pferdes etwas in eine Wunde oder excoriirte Stelle dci' üjuit
des Mensclicii, oder kommt ein selir intensiv g'iftig'cr Rotzeitcr nur auf
die unverletzte Haut oder Selileimliaut des Menschen, so kijnnen sehr
acute Entzündungen mit septischer Allg-emeinkranklieit auftreten , die in
den meisten Fällen tödtlich werden. Es giebt auch Fälle, in welchen eine
locale Infection nicht nachzuweisen ist, und in w^elchcn man eine Tnfection
durcli die Eespirationsorgane oder den Darratractus annimmt. Die
chronische Form des Rotzes heim Menschen ist selten; die Erscheinungen
sind vorwiegend: pustulöse Entzündungen der Haut, Ahscess- und Ge-
schwürsbildungen bald hier bald dort im Unterhautzellgewebe; die Gefalir
ist dabei nicht so gross. In einigen Fällen l)ildet sich bei einer acuten
Rotzintoxication eine auf die verletzte Extremität sicli beschränkende
Lymphangoitis und Eiterung; in anderen entwickelt sich sehr schnell eine
diffuse erysipelatöse Röthung der Haut mit starker Schwellung, während
zu gleicher Zeit ein sehr intensives Fieber hinzukommt. Die örtliche Ent-
zündung kann in Brand übergehen; es kommt zu Delirien, bald zu einem
comatösen Zustand; Diarrhöen, eitriger Ausfluss aus der Nase ist meist
eine spätere Erscheinung; Schmerz in den Muskeln können sich hiuzu-
gesellen, und unter diesen Erscheinungen tritt der Tod ein. Die ganze
Krankheit kann in sehr kurzer Zeit verlaufen; so erinnere ich mich als
Student in der Göttinger Klinik einen kräftigen, rüstigen Mann gesehen
zu haben, der in wenigen Tagen an Rotzvergiftung starb; doch kommt
es auch vor, dass die Kranken bei dieser acuten Rotzvergiftung noch
10 — 14 Tage leben, und dass bei ihnen alle Erscheinungen der Pyohämie,
zumal eine Menge von hämorrhagischen Ab sc essen in den Muskeln
entstellen, die so charakteristisch für Rotzpyohämie sind, dass
von ihnen aus der Rü ckschluss auf Rotz gemacht werden
kann. Es kann sich in seltneren Fällen aus dem chronischen Rotz die
acute, rasch tödtliche Rotzkrankheit entwickeln; umgekehrt ist auch
beobachtet, dass die acnte Rotzkrankheit in chronischen Verlauf übergeht.
Leute, die viel mit Pferden umgehen, sind natürlich dieser Krankheit,
die nie primär bei Menschen entsteht, vorzüglich ausgesetzt; es ist daher
in diesem Sinne eine Berufskrankheit. — Von Behandlung ist leider bei
dieser Vergiftung w^enig die Rede; man behandelt die Zustände je nach
den hervorstechendsten Symptomengruppen wie die acute Pyohämie. Jod,
Arsenik, Kreosot sind als Gegengifte gegen Rotz empfohlen.
Der Milzbrand (Anthrax, Pustula maligna) ist eine am häufigsten
beim Rindvieh vorkommende Infectionskraukheit.
Die Krankheit liat ihren Namen davon, dass man in den Leichen der daran ver-
storbenen Thiere die Milz enorm gescliwollen, sehwarzroth, wie brandig findet; ausserdem
ist die Darmschleimhaut blutig roth und geschwollen; das lockere subperitoneale Zellge-
^"webe ist oft sulzig ödematös infiltrirt; in der Darmschleimhaut, sowie auch zuweilen in der
Billroth cliir. Path. n. Tliernp. 7. Aufl. 28
A'^A Von den vergifteten Wunden.
äusseren Haut finden sich Carbunkel-artige, rasch brandig werdende Inliltrationen. Die Krank-
heit verläuft, wie alle Infectionskrankheiten , verschieden schnell je nach der Menge und
Intensität des aufgenommenen Giftes und je nach der Resistenz- der ei-krankten Individuen;
der Verlauf kann fondroyant (apoplectiform) sein, sich aber anch auf mehi'e Tage aus-
dehnen. Pflanzenfresser werden leichter davon inficirt, als Omnivoren und Camivoren.
Das Contaginm ist ein fixes an den Producten der Krankheit und an dem erkrankten
Individuum hängendes.
Die Uebertragung- der Krankheit auf den Menschen erfolgt am häu-
fig'sten durch das Secret der Milzhrandpusteln. Kommt dassel1)e oder die
getrocknete Haut des getödteten Thieres mit der Haut des Menschen in
Berührung-, so kann das Gift auch bei unverletzter Haut in einen Haar-
balg- oder eine Schweissdrüse eindringen; es entsteht eine anfangs un-
scheinbare doch stark juckende dann brennende Pustel, in deren Centrum
sich bald ein schwarzes Blutbläschen bildet; dazu gesellt sich bald be-
deutendes Fieber. Die Hautentzündung nimmt sehr bald die Beschaifen-
heit eines Carbunkels mit raschem Ausgang in Brand an; der Verlauf
gestaltet sich wie beim früher beschriebenen bösartigen Carbunkel, und
die Krankheit endigt, sich selbst überlassen, meist tödtlich. Man reicht
innerlich die bekannten Antiseptica. Der Anthrax selbst ist energisch
mit Einschnitten, Excisionen, Kali causticum, rauchender Salpetersäure
anzugreifen ; kommt der Kranke früh zur Behandlung, und ist noch keine
intensive Blutinfection ausgebildet, so ist^Hoffnung auf Genesung; bei
vollkommener Entwicklung des Milzbrandcarbunkels und septhämischen
Erscheinungen ist der Tod sicher. Von Leube und W. Müller sind
in jüngster Zeit Fälle beschrieben, in welchen sich nach Geuuss von
Fleisch an Milzbrand verstorbener Thiere eine schwere Darmentzündung
mit tüdtlichem Ausgang entwickelte. Nach Bollinger soll auch die
Milch milzbrandiger Kühe infectiös auf den Menschen wirken. — Ob
der Milzbrandcarbunkel auch beim Menschen sich primär entwickeln
kann, ob der früher beschriebene (pag. 305) bösartige Carbunkel beim
Menschen immer durch Infection oder auch spontan aus gleichen ätiolo-
gischen (wenig bekannten) Bedingungen hervorgehen kann wie bei Thieren,
darüber streitet man noch ; ausgezeichnete Chirurgen und Thierärzte haben
sich mit diesem Gegenstande beschäftigt; die Impfversuche von Secret
des bösartigen Carbunkels des Menschen auf Thiere sind sehr unsicher
in ihrer Wirkung gewesen, die Beobachtungen widersprechen sich zum
Theil, kurz das Verhältniss dieser verschiedenen Carbunkel- und Fustel-
formen zu einander ist in Bezug auf ihre Aetiologie noch nicht völlig
aufgeklärt.
In neuester Zeit gewinnt die Ansicht, dass diese Krankheit auf Infection durch ge-
wisse kleinste Organismen beruhe, immer mehr an Boden; zumal hält Davaine dafür,
dass die im Blute lebender, an Milzbrand erkrankter Thiere ziendieh constanr beobachteten,
von rollender (1855) zuerst beschriebenen Bacterien die Krankheit veranlassen. Da
aber auf der anderen Seite behauptet wird, dass man auch mit Milzbrandblut, welches
keine Bacterien enthält, erfolgreich andere Thiere inficiren kann, so darf man vielleicht
Jio.h daran zweifeln, ob die Bacterien wirklich so wesentlich beim Milzbrand sind. In
Vorlcsimf^ '21. Auliiin-- zu ('.■ii.iM'l Xllf. ^^f)
den vorluM- crwj'üiiiU'ii l<\'illi'ii von Ivciilic rimdcii sich zahllose; Coc(:os und IJai'ici-ii'ii in
der rnlcslinalscIiK'iinlniid (M ykosis inicslinalis, I! n h I ). Dass die lud im Alilzhrand [^rl'iindrncn
Uaricricn von andcrci' Art: sind, als dit' l'';iuhiissliaclri-icn , isl viidCarh l)cliaii|ili-l , dui-li
niciil hcwifscn. Holiini^cr licdniuplcl., dass sich kleine Coccos (HacIcricMkeiine) in dem
IJliit jedes an Milzhrund erkrankten 'Phieres linden, dass sie aber wegen iiirer Kieiidicil
den Beobaeliteni oft entgangen sind; er iiält die Veget-ution dieser rilzidenicrile l'iir die
wesentlichste Ursaelie der Kranklieit, wtdche freilidi durch r)is])osilion einzelner 'l'hierarten,
Nalinnig derselben und BesclialVenbeit des iJodens und der Stallungen sehr iiegünsfigl
wird. Was Bollinger als eliarakteristiselie Milzhrandbaeterien ahbiidel. ist nach nieiiu-r
N<Hnen(datur als Streptocoeeos zu I)ezeie.hnen.
Audi die Maul- und Klauenseuche des liindvieli's nuissen wir
erwähnen, da ihre Uel)ertrag'barkeit auf Menschen durcli neuei'e Unter-
suchungen festgestellt ist.
Die Krankheit besteht beim Eindvieb darin, dass sieh an der Mvindschleinihaut und
an der Wurzel der Hufen, dann auch am Kuter der Kühe Bläschen und l'usteln bilden,
welche nach Ablauf von 5 — 14 Tagen spontan wieder heilen. Somit ist die Krankheit,
welche sich epidemisch theils durch das Secret der Pusteln und durch die Milch, theiis
auch, wie angenommen wird, durch ein flüchtiges Contagium verbreitet, gewöhnlich ab-
gelaufen; weimgleich die Thiere daliei oft stark abmagern, so sterben doch nur junge
Kälber daran.
Die Uebertrag'ung' dieser Kranklieit auf den Menschen erfolgt dui'cli
Contact von verletzten Hautstellen mit dem Secret der Thierpusteln oder
durch reichlichen Genuss ungekochter Milch kranker Thiere. Ist die
Krankheit in letzterer Weise entstanden, so bilden sich Bläschen und
Pusteln im Munde, auch an Händen und Füssen wie beim Rind. Angina
und Magencatarrh kann hinzutreten. Die Therapie besteht in häufiger
Reinigung des Mundes, Bepinseln der Bläschen im Munde mit Borax-
lösungen (3j auf §j Honig), Betupfen der Hand- und Fusspusteln mit
Argent. nitricum. — Durch das Kochen der Milch wird der Infections-
stoff zerstört. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass manche aphthöse Erkran-
kungen kleiner Kinder durch lufection mit Milch entstehen, welche von
Kühen mit Maul- und Klauenseuche stammt. Die Krankheit verläuft
beim Menschen ebenso ungefährlich wie beim Rindvieh, nur ganz junge
schwächliche Kinder könnten dadurcli gefährdet werden.
Bekannter und auch wohl häufiger als die eben beschriebenen beiden
Krankheiten ist die Hundsv^-utli oder Wasserscheu (Hydrophobia,
Lyssa), welche von Thieren auf Menschen übertragen wird. Dass sich
die Krankheit jetzt noch primär entwickelt, wird von Bollinger be-
stritten. Sie wird nur durch den Biss der erkrankten Thiere und den
in die Wunde fliessenden Speichel übertragen, und haftet das Gift bei
allen warmblütigen Thiei-en; es nimmt bei den Impfungen nicht an Wirk-
samkeit ab, sondern ist immer mit gleicher Kraft weiter zu übertragen.
Es beisst z. B. ein toller Hund eine Katze; bei dieser entwickelt sich
die Krankheit und sie beisst einen Menschen; der Speichel des kranken
Menschen, auf ein Thier übergeimpft, erzeugt wieder die Krankheit u. s. f.
28*
A0(^ Von den vergifteten Wunden.
Auch durch Impfung mit Blut der wuthkrauken Thiere kann man die
Krankheit erzeug-en.
Die Jh-scheinungen beim Hunde werden von den Thierärzten in folgender Weise
geschildert. Man unterscheidet eine rasende und eine stille Wuth; vor beiden ist der
Hund etwa 8 Tage lang traurig und geniesst wenig; nun beginnt die rasende Wuth; der
Hund läuft zwecklos umher mit unstetem Blick, scheinbar von innerer Angst getrieben,
beisst, wenn er gereizt wird, auf Alles ein, was ihm in den Weg kommt: zuletzt tritt
Abmagerung ein, wankender Gang, dann Lähmung der hinteren Extremitäten, das Bellen
geht in eine Art von Heulen über, Zuckungen stellen sich ein, und 3 — 4 Tage nach den
letzten Erscheinungen erfolgt der Tod. Bei der stillen W^uth tritt sehr bald Lähmung
der Unterkiefermuskeln ein und damit die Unfähigkeit, zu beissen und zu fressen. Die
übrigen Erscheinungen sind wie eben beschrieben. Von Einigen werden nicht diese beiden
Formen der Krankheit als solche unterschieden, sondern dieselben als vei-schiedene, nur
bald rascher, bald langsamer vorübei'gehende Stadien bezeichnet. Bei der Section solcher
Thiere findet man nach Bollinger als das Wesentlichste: eine dunkle, dickflüssige und
theerartige Beschaffenheit des Blutes, Hirnödem, mehr oder weniger ausgesprochene
catarrhalische Veränderungen sämmtlicher Schleimhäute, besonders des Athmungs- und
Verdauungscanais, öfters verbunden mit Hyperämie und Ecchymosen, Hyperämie und
cyanotische Fäi'bung der parenchymatösen Organe, Mangel normaler Futterstoffe im Magen
und Darm und die Gegenwart unverdaulicher Fremdkörper daselbst, endlich die vorge-
schrittene Abmagerung dez ganzen Thieres. — Es ist mir nicht bekannt, ob mikroskopische
L^ntersuchungen des Hirns und Rückenmarks bei dieser Krankheit angestellt worden sind:
es ist doch in hohem Grade wahrscheinlich, dass in den Fällen, wo längere Zeit deutliche
Lähmungen hervortraten, eine Degeneration des Rückenmarks vorhanden ist, wenn auch
sonst die Krankheit einen vorwiegend humoralen Charakter trägt.
Was die Uebertragung- des Hundswuthgiftes auf den Menschen be-
trifft, so ist es zuvörderst beruhigend, dass von den Gebissenen nicht alle
erkranken, sondern dass das Gift unter 100 Fällen nur etwa 47 Mal haftet.
Meist heilt die Bisswunde leicht zu; seltner eitert sie längere Zeit, was
als günstiger betrachtet wird; niemals ist die örtliche Reaction der Art,
dass von ihr aus eine Gefahr droht und in dieser Beziehung unterscheidet
sich das Hundswuthgift sehr wesentlich von den bisher besprocheneu
thierischen Giften; es ist kein phlogogenes Gift. Der Ausbruch der
Krankheit erfolgt selten vor der 6. Woche nach dem Biss, häutig noch
später; es existirt aus neuester Zeit eine Beobachtung, wo die Krankheit
erst nach 6 Monaten auftrat. Aeltere Schriftsteller geben noch eine
viel längere Dauer des Incubationsstadiums an; im Volk besteht viel-
fach der Glaube, dass die Zahl 9 dabei eine Rolle spiele; mau erzählt
sich, dass die Krankheit am 9. Tage oder in der 9. Woche oder im
9. Monat nach dem Biss auftrete, und dass man vor dem Ablauf des
neunten Jahres immer noch nicht sicher vor dem Ausbruch der Krank-
heit sei. Dies ist nun jedenfalls als ein Mährchen zu betrachten, was
sich leicht dadurch erklären lässt, dass die lauge Dauer des Incubations-
stadiums an sich ja etwas sehr Wunderbares hat und deshalb wohl zu
diesen Erzählungen Veranlassung gab. Wo das Gift während der langen
Dauer stecken bleibt, ob in der ^\arbe, in den nächsten Lymphdrüsen,
im Blute, das ist völlig unbekannt. Nur in wenigen Fällen hat mau
Vorlesung 27. Anliiin- /n (';i|nlrl XIII. 437
beobachtet, das.s die Verletzteii kiir/ vor (lern Aiisbiiidi der Krankheit
öehnicrzeii uiid eine ^•eriiii^'e Iiöthun,!;' der Narbe bemerkten; dann treten
zunächst grosse Reizbarkeit, An(Ve,i;im,^- und l'nrnlie und in scilcne)! Fällen
sclion jetzt Krämpfe beim ►Sehhicken ein. Die Keiz1)arkeit steigert si(;h
immer mehr; das Lieht, jedes (leräuseh, jeder TiuCtzii^' (|uält diese lui-
yliicklieheii Kranken und kann bei ihnen allgemeine Zuckungen und die
sclunerzhaften Scldundkrämpte anregen. Jetzt konnnt erst nach und nach
die eigentliclie A\'asserscheu die bei Hunden ganz fehlt; die Kranken
liaben unsäglichen Durst, und so wie sie etwas Fliissig-es sehen, werden
sie von entsetzlicher Angst und Kränipi'en l)efallcn; zuweilen folgen An-
fälle von tiefer kram})fartigcr Inspiration; der Schlaf höi't vollkommen
auf, die Kranken befinden sich in fortwährender Angst vor dem geringsten
Geräusch, weil alles dies sofort die schmerzhaften Krämpfe anregt, die
sich zuletzt über den ganzen Körper verbreiten und dann auch zu förm-
lichen Wuthanfällen mit dem Ausdruck der furchtbarsten Angst führen.
Im Ganzen sind diese Unglücklichen jedoch durch Ruhe und Zuspräche
leicht zu besänftigen, entweder vollständig resiguirt oder auch tief melan-
cholisch. Zuweilen mahnen sie ihre Umgebung, ihnen nicht zu nahe zu
kommen, damit sie jene nicht beissen, sind aber durchaus nicht bösartig,
wie man sie früher geschildert hat. Erst gegen das Ende tritt starke
Speichelabsonderung und dann Schaum vor dem Mund ein; der Tod folgt
in einigen Fällen, nachdem zuvor die heftigsten Starrkrämpfe voraus-
gegangen sind, in anderen ausserordentlich ruhig, nachdem die Krämpfe
und die Wasserscheu vollständig aufgehört und Patient und Arzt sich
einer trügerischen Hoffnung hingegeben hatten. — Die pathologische
Auatonue giebt uns leider gar keine Aufklärung über diese merkwürdige
und fürchterliche Krankheit. Es ist nicht daran zu zweifeln, dass das
Rückenmark dabei afficirt ist; ob aber die Nervensubstanz selbst erkrankt
ist, hat sich bis jetzt noch nicht ermitteln lassen.
In Betreff der Prognose müssen wir leider bekennen, dass es für
diejenigen Kranken, bei denen die Krankheit zum Ausbruch gekommen
ist, keine Rettung giebt. Es dürfte für alle Fälle zweckmässig sein, die
Bisswunden toller Thiere tief auszuätzen oder auszubrennen und sie
lange in Eiterung zu erhalten, wenigstens ist dies noch das Einzige,
was man rationeller Weise unternehmen könnte; ob die Excision einer
solchen Narbe noch etwas helfen kann, wenn die Krankheit schon aus-
gebrochen ist, lässt sich aus den bisherigen Beobachtungen nicht fest-
stellen; es wäre jedenfalls zu versuchen. Bei ausgebrochener Krankheit
hat man fast alle kräftigen Mittel des Arzneischatzes und der Chirurgie
erschöpft; alle Narcotica sind in kleineu und grossen Dosen angewandt
worden; besonders hat man Belladonna und Opium fast bis zur Vergif-
tung gegeben und durch die künstliche Betäubung den Kranken wohl
Linderung iln-er Leiden, wenn auch keine Hülfe geschafft. Man hat das
Glied mit der Narbe amputirt; vergeblich! Dieffenbach machte bei
438 '^"'^" ^^'^^' ••l'i'<^"'i'^t^h'^'" Eiitzüiidiing. hesuiiders cU-r VVeichrheile.
einem solclieu Kranken die Transfusion; verg-eblicb ! — Bei vorluindener
Wasserscheu kann man den Kranken etwas Flüssigkeit durch eine Köhre
einflössen; die Patienten befinden sich am besten bei absoluter Euhe in einem
halbverfinsterten Zimmer: zur Bekämpfung- der Krampfanfälle haben sich
wiederholte Chlorofornmarkosen am zweckniässigsten erwiesen, und die
Kranken, welche dieses Mittel einmal kennen gelernt haben, dringen
immer von Neuem darauf. Dies ist aber auch das Wenige, was man
für diese unglücklichen Menschen thun kann.
Leider ist trotz der rigorosesten Sanitätsgesetze auch in civilisirten
Ländern die Zahl der jährlich an Lyssa sterbenden Menschen eine nicht
unbedeutende. Nach 12— 18jährigen Durchschnittbereclmungen sterben
jährlich in Preussen 71, in Oesterreich 58, in Frankreicli 24, in Bayern
17 Menschen an der Huudswuth.
Die letzerwähnteii Krankheiten reichen so sehr in das Gebiet der Veterinärkunde,
der Sanitätspolizei und der inneren Mediein hinein, dass ich Ihnen hier nur eine kurze
Skizze davon geben konnte. Genauere Belehrung darüber finden Sie in Vircliow's
specieller Pathologie, Bd. II. Abschnitt: Zoonosen, wo auch die Specialliteratur angegeben
ist. Auch in der von v. Pitha und mir herausgegebenen Chirurgie finden Sie im Bd. I.
Abth. 2. ausführliche Abschnitte über die Zoonosen. Ganz besonders mache ich Sie auf
den soeben erschienenen von Bollinger bearbeiteten Abschnitt: Zoonosen in dem von
V. Ziemssen hei-ausgegebenen Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie auf-
mei'ksam.
Vorlesung 28.
CAPITEL XIV.
Voü der chronischen Entz(uidiing, besonders der
Weichtheile.
Anatomisches: 1. Verdickung, Hypertrophie. 2. Hypersecretion. 3. Eiterung, kalte
Abscesse, Congestionsabscesse, Tisteln, Ulceration. — Folgen chronischer Entzündungen. —
Allgemeine Symptomatologie. — Verlauf.
Meine Herren!
Nachdem wir uns bisher fast allein mit acuten Processen beschäftigt
haben, kommen wir jetzt zu den chronischen, und zwar zunächst zur
chronischen Entzündung. Ich will jedoch dabei einen anderen Weg
einschlagen, wie bisher, indem ich nicht sofort auf die einzelnen, in
der chirurgischen Praxis hauptsächlich vorkonnnenden Erscheinungsformen
der chronischen Entzündung eingehe, sondern Ihnen zunächst eine all-
gemeine Exposition über den Process als solchen gebe.
Auch bei der chronischen Entzündung handelt es sich wie bei der
acuten um chemische und morphologische Alterationen der Gewebe, um
•Ernährung'sstörung-en derselben; ihnen folgt tlieils Krvveieliuug' und Anl-
Insnng-, tlieils nioleluilarer Zerfnll oder ausgedehntere langsam yai Stande
koniniendc Nekrose der Gewebe. Zu diesen Proeessen kommt die Ge-
fässdilatation, die Exsudation, die Gewebsneubildimg hinzu. Diese Com-
bination von Ti-oeessen kann sieh sehr mannichf altig gestalten; die eliro-
nisehe Entzündung führt zu sehr viel complieirtcren Bildern, je nachdem
dieses oder jenes Stadium des Processes mehr oder weniger stabil bleil)t,
je nach dem Zerfall, Erweichung-, Verhärtung des leidenden Gewebes
eintritt, und je nach den ebenso manniclifaltigen Schicksalen der ent-
zündlichen Neubildung'. Auch in ätiologischer Beziehung sind die Ver-
hältnisse beider chronischen Entzündung viel verwickelter; denn es han-
delt sich da meistens nicht um einen einmal wirkenden Keiz, nicht immer
um eine einfache Verletzung-, eine Verbrennung, eine Quetschung- und
Mire typisch ablaufenden Folg-en, sondern 1. um die Erklärung, weshalb
die vorliegende Entzündung-, über deren directe Ursachen man oft nichts
von den Kranken erfährt, überhaupt entsteht, und 2. warum sie einen
chronischen Charakter annimmt.
Ich will Ihnen zunächst auseinander setzen, welcherlei anatomische
Vorgänge bei den chronischen Entzündungsprocessen im Gewebe Statt
haben, wobei wir auch hier wie bei der acuten Entzündung hauptsächlich
von dem Bindegewebe als dem gewöhnlichen Sitz der Krankheit ausgehen
wollen. Neben der Ausdehnung und Vermehrung der Capillargefässe
durch Schling-enbildungen haben wir bei der acuten Entzündung die se-
röse und plastische Infiltration des Gewebes als die wesentlichsten ana-
tomischen Erscheinungen kennen gelernt. Bei der chronischen Entzün-
dung tritt die Ausdehnung der Capillargefässe, die Fluxion symptoma-
tologisch mehr in den Hintergrund, während die morpholog-ische Alte-
ration der Gewebe zumal durch die in sie intiltrirte Neubildung, sowie
die seröse Infiltration eine grössere Eolle zu spielen bestimmt sind.
Die Zelleninfiltration des Gewebes erfolgt wie bei der acuten Entzündimg,
die einzelnen Zellen entwickeln sich aber oft zu einer etwas vollkomme-
neren Ausbildung-. Dabei verlieren die Bindegewebsfasern ihre zähe,
faserig-e Beschaffenheit; das Unterhautzellgewebe büsst seine Dehnbarkeit
und Elasticität ein, und die Folge davon ist, dass das Gewebe dem
freien Auge geschw^ellt, gallertig-speckig, sulzig und weniger verschiebbar
erscheint, als im normalen Zustande. Dies ist das Aufangsstadium einer
jeden chronischen Entzündung. Der Verlauf kann nun in folgender
Weise verschieden sein :
1. Das Gewebe bleibt dauernd auf diesem Zustand der serösen
und zum Tlieil plastischen Infiltration; Haut und Unterhautzellgewebe,
Gelenkkapseln, Sehnen, Bänder, Fascien, kurz alle diese bindegewebigen
Bestandtheile des Körpers, welche sich in dem geschilderten Zustand
befinden, bieten eine auf dem Durchschnitt ziemlich homogene, speckige
Beschaffenheit dar. Bei Krankheiten der Gelenke und ihrer Umgebung
440 Von der chronischen Entzündiinjf, besonders der Weirhtheile.
sieht mau dies am liäufig-sten, und weil diese Auschwellung- der Ge-
lenke ohne jegliche Hautröthimg- vor sieh geht, so hat. man sie frülier
mit dem Namen Tumor albus bezeichnet, ein Käme, der freilich für
das Wesen des Processes nichts aussagt, dennoch aber, auf gewisse
Formen von Gelenkkrankheiten beschränkt, praktisch brauchbar ist. —
Sie können sich selir wohl denken, dass das im Ganzen bisher wenig
alterirte Gewebe aus diesem Zustand der Erkrankung fast vollständig
zum normalen zuriickkehreu kann. Das iufiltrirte Serum wird resorbirt,
die ins Gewebe neu eingetretenen, eventuell dort neu gebildeten Zellen
werden theils zu Bindegewebskörperchen, theils gehen sie durch Zerfall
zu Grunde; das Bindegewebe selbst kehrt zu seiner früheren Beschaffen-
heit zurück, und wenn auch der Zustand nicht ganz genau wieder so
wird, wie er war, so ist es doch annähernd der Fall. Ein Zustand von
narbiger Verdickung bleibt noch eine Zeit lang zurück; auch können
im Lauf der Zeit während der Entwicklung der chronischen Entzündungs-
processe hier und da im Gewebe kleine Extravasate oder Durchtretungen
von rothen Blutzelleu durch die Gefässwand in Folge erhöhten Druckes
Statt gefunden haben; diese wandeln sich zu einem bräunlich -rothen
Pigment um, welches, wenn es in reichlicher Menge vorhanden ist, dem
erkrankt gewesenen Gewebe eine gelbliche oder graue Farbe giebt. —
Erfolgt keine Rückbildung, sondern dauert der Process in gleicher Form
fort, so werden mit unter dem Eiufluss des fortwährenden Ueberschusses
von Ernährungsniaterial, welches den erkrankten Theilen in Folge von
Stauung des Blutes zufiiesst, die Gewebselemente immer grösser und
dicker, das ganze Gewebe wird immer massiger; aus den infiltrirten
jungen Zellen bildet sich neues Bindegewebe zwischen den alten Binde-
gewebsfasern, so dass z. B. die Haut auf diese Weise um das Drei-,
Vierfache und mehr verdickt wird ; diese Einlagerung neuen, gleichartig
gebildeten Gewebes in das alte hinein nennt man in der pathologischen
Anatomie „Hyperplasie" (yoii vneQ über und nläöoco hMen). Wenn
die Verdickung der Haut eine knotige Form annimmt, pflegt man sie
als Pachydermie (von naxvg dick und ösQfia Haut) zu bezeichnen;
es pflegen dann auch Secretionsanomalieu und A'eränderungen der Epithel-
bildung als Folgezustände hinzuzukommen; denn bei der erwähnten
Cutiserkrankung wird die Epidermis entweder massenhaft gebildet und
verhornt auch schnell, oder die Verhornung erfolgt nur unvollkommen,
das Hauptepithel gelangt nicht zur vollen Reife.
In letzterem Falle veranlasst also die entzündliche Ernährungsstörung
grade keinen Zerfall, keine Vernichtung des Gewebes, doch wie sie selbst
in geringem! Grade fortdauert, so unterhält sie auch dauernd die rege-
nerativen Processe in einem mittleren Grad von Thätigkeit, lässt sie aber
nur unvollkommen zur Bildung fertiger Gewebe kommen. Hier liegt
der Uebergang zur GeschAvulstbildung vor, auf welchen wir später zu-
rückkommen.
Vm-l.'siiii!:,' ^_>S. (';i|iiirl MV. 441
2. Denken Hie sich <len Trocess dw cliroiiisclieii Fiiitziiiuliiii^-, so
weit Sie lim jetzt kennen, auf eine Sclilciinliaiit odcv sei-öse ll;iiit iil)ei--
tr.iii'en, so werden Sie bea,Teiien, dass hei den pMtliolo^'isehen Veründe-
rnnii'en, welche in dem Gewebe dieser lläntc Vhü'A i;-reifen, aueli die
Secretion nicht normal l)Icil)en kann. CUnvr)hnlich tritt eine Steig'ernn^'
derselben, onne llyi)ersecretion, ein; die chronische Entzündung- /. V>.
einer SynoYialniend)ran oder einer Seldeindiaut kann sich sog'ar vorwie-
g'end in dieser Hypersccretion äussern.
Die chronischen Catarrlie der Scldeindiäute können bald mebr die
epithelialen, bald nielir die bindeg'cw^ebig-en Lagen, bald mehr die Drüsen
der Schleimhaut betreffen; in vielen Fällen leiden alle drei zugleich in
gleichem Maasse. In manchen Fällen sondern die Schleindiäute bei die-
sen Zuständen fast reinen Eiter ab, ohne selbst sehr erheblich dabei
alterirt zu sein. Bei diesen chronischen Bleuorrhöen sind wahr-
scheinlich die Gefässwandungen dauernd in einem solchen Zustand der
Erschlaffung, dass sie continuirlich eine grosse Anzahl von Wanderzellen
durchlassen. — EtAvas anders sind die Verhältnisse an den Synovial-
membranen der Gelenke: es giebt Formen chronischer Gelenkentzündun-
gen, die sich hauptsächlich in einer sehr reichlichen Secretion einer sehr
wasserreichen Synovia ohne Beimischung von Eiter äussern (Gelenk-
wassersucht, Hydrops articulorum), andere, die mehr in einer Verdickung-
der Synovialmembran mit nur wenig- vermehrter Secretion bestehen.
3. Die chronische Entzündung kann auch mit Eiterinfiltration
und Abscessbildung verlaufen, und zwar sind die feineren Vorgäng-e
dabei ebenso wie bei dem acuten Process, nur dass Alles langsamer
vor sich g-eht. Es entsteht z. B. an irgend einer beliebigen Stelle des
Körpers eine nach und nach immer bedeutender werdende Gewebs-
infiltration mit Wanderzellen, wobei das Gewebe, in welches sich diese
Zellen infiltrirten, erweicht und molecular zerfällt. Das dem ersten
Krankheitsheerd anliegende Gewebe wird nach und nach in gleicher
Weise von Zellen infiltrirt und schickt sich an, ebenfalls zu flüssigem
Zellengewebe mit dem Charakter des Eiters zu w^erden; das infiltrirte
Gewebe ist um so eher zur Vereiterung und zum Zerfall disponirt, wenn
keine erhebliche Gefässentwicklung in demselben erfolgt und kein
qualitativ und quantitativ genügendes Ernährungsmaterial geliefert wird,
um die Weiterentwicklung der übermässig angehäuften Zellen zu unter-
halten. Auf diese Weise entsteht langsam ein Abscess, eine circum-
scripte Eiterhöhle, deren Wandungen fortwährend im Begriff sind, zu
Eiter umgewandelt zu werden, 'zu vereitern. Dies geht nun hier
Alles sehr allmählig vor sich und oft ohne die sonst bei Entzündungen
hervortretenden Erscheinungen, oft ohne Schmerz, ohne Röthung, ohne
erhöhte Temperatur des betroffenen Theils, gewöhnlich auch ohne Fieber.
Man nennt daher diese Art von Abscessen, die auf chronischem Wege
entstehen, kalte Abscesse; für diesen chronischen Process der Ver-
Ai^2 Von der chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
eitemng- braucht man auch den Ausdruck „Verschwäruug". Man
könnte auch sehr wohl die ganze so entstandene Eiterhöhle als „Hohl-
g-e schwur" bezeichnen; indess hat man sidr diesen Ausdruck dem
allgemeinen Sprachgebrauch nach vorwiegend für kleine Höhlen der
Art vorbehalten, während man die grösseren, langsam entstandenen
Eiterhöhlen eben kalte Abscesse heisst. Untersuchen Sie den Eiter aus
einem solchen Abscesse mit dem Mikroskop, so werden Sie finden,
dass derselbe sehr reich an feinen Molekeln, ziemlich arm aber an aus-
gebildeten Eiterzellen ist. Dies kommt daher, dass der Eiter schon
sehr lange im Körper eingeschlossen war und nun einerseits durch
Zerfall der Eiterzellen zu Molekeln, andererseits durch chemische
Umsetzungsprocesse modificirt ist; besonders bilden sich durch letztere
auch oft reichlich Ausscheidungen von Fett, zumal von krystalliuischem
Cholesterin. Auch das Aussehen des Eiters für das freie Auge ist
durch diese Metamorphosen verändert, indem ein solcher Eiter gewöhn-
lich dünner, heller ist, als bei acuten Processen, auch wohl Fibrinflocken
und Fetzen necrotisirter Gewebe beigemischt enthält. Der kalte Abscess
braucht zuweilen viele Monate, selbst Jahre, bis die Vereiterung seiner
Wandungen von innen nach aussen so weit vorgeschritten ist, dass die
Haut durchbrochen wird. In manchen Fällen kommt es sogar vor, dass
ein solcher Abscess Jahre laug sich nur äusserst wenig vergrössert, dass
der Verschwärungsprocess in seinen Wandungen endlich still steht und
dass letztere sich zu einer Narbenkapsel einer sogenannten Abscess-
membran umbilden und der Eiter so vollständig eingebalgt wird. Hat
man Gelegenheit, solche Abscesse zu untersuchen, so findet man in ihnen
eine Emulsionsflttssigkeit , zum Theil mit krystallinischem Fett und zu-
weilen ohne eine Spur von Eiterzellen, so dass man aus dem anatomischen
Befunde selbst schwerlich deducireu könnte, dass der vorliegende Sack
ein Abscess gewesen sei, wenn nicht der ganze Verlauf dafür beweisend
wäre. Viel seltener noch ist der Fall, dass im Lauf der Zeit, wenn der
Abscess aufhört zu wachsen, eine Resorption der Flüssigkeit eintritt, mit
Zurücklassung eines käsigen Breies. — Ist der Abscess nach aussen
durchgebrochen, so entleert sich der Eiter, und es kann unter sonst
günstigen Verhältnissen die Heilung auf gleich näher zu beschreibende
Weise erfolgen. Damit dies zu Stande komme, muss jedoch zunächst der
Verschwärungsprocess an der Innenwand der Eiterhöhle aufhören, was
nur dann zu geschehen pflegt, Avenu in den Abscess wanduugen ent-
sprechende Gefässentwicklung erfolgt; unter dem Einfluss derselben
bildet sich die Innenfläche des Abscesses zu einem kräftigen Granu-
lationsgewebe um, und es tritt dann theils eine ^>rdichtung und
Schrumpfung desselben zu Narbengewebe, theils eine Verwachsung der
gegenüberliegenden Höhlenwanduugcn, wie bei der Heilung der acuten,
heisscn Abscesse ein; es entleert sich immer weniger Eiter aus der
geöffneten Höhle und schliesslich heilt dieselbe vollständig aus. Eine
Vorl. 'Sims 28. CuyUr\ XFV. 443
Zeit lauü,' iKU-lilici- riilill inaii iiocli die siibeuüiiie Narbe des Absecsses
als seliwielig'C Vcrdickimg-; mit dvr Zeit al)er verliert sieh aiieli diese
lind die Abscessiiarbc nimmt Avieder die Beseliaffeidieit des gewöhidiclieri
Bindegewebes an. — leli will Sie hier gleieh noeh mit einem teehniselien
Namen bekannt maclien, den man für solche Al)seesse braucht, welche
nicht an derjenigen Stelle ursprünglich entstanden sind, an welcher sie
zur ]>C()baclitung konnnen, sondern tlieils durch Senkung des Eiters,
theils dureli den hauptsächlicli nach einer Richtung hin intensiver vor-
sclireitenden Verschwärungsprocess eine Locomotion erlitten haben. Es
kann z. B. an dem vorderen Theil der Wirbelsäule eine Eiterung ent-
stehen, welche sich, dem lockeren Zellgewebe hinter dem Pcritonäum
folgend und der Scheide des M. psoas nachgehend, immer weiter nach
unten erstreckt und schliesslich unter dem Lig. Poupartii als Abscess
zum Vorschein kommt. Solche und ähnliche Abscesse nennt man
Senkungs- oder Congestionsa bscesse. — Der oben angedeutete
Ausheilungsprocess erfolgt nicht immer in wünschenswerth schneller
Weise, sondern leider sind die allgemeinen und localen Verhältnisse zu-
weilen der Art, dass nach der Entleerung des Eiters entweder eine sehr
acute Entzündung mit lieftigem Fieber in dem Abscess Platz greift, und
Pyohämie oder febriler Marasmus sich hinzugesellt, oder dass der
chronische Verschwärungsprocess trotz der Entleerung des Eiter>< in den
Höhlenwandungen langsam, doch unaufhörlich sich weiter verbreitet. In
solchen Fällen secerniren die Oeft'uungen dieser grossen, oft tiefliegenden
Höhlen continuirlich einen dünnen, schlechten Eiter, die Oeffnungen
solcher Höhlengeschwüre von kleinerem und grösserem Durchmesser
nennt man Fisteln. —
Sie können sich den eben geschilderten Eiterungs- oder Verschwä-
rungsprocess, die chronische Erweichung und den Zerfall eines zellig
infiltrirten Gewebes auch auf eine Fläche, eine Haut tt])ertragen denken,
und wir kämen damit auf das Flächengeschwür oder offene Ge-
schwür; da dies jedoch ein Gegenstand von besonders grosser praktischer
Bedeutung ist, so müssen wir demselben später noch ein eignes Capitel
widmen.
4. Die chronische Entzündung kann noch einen anderen, der Ver-
eiterung sehr ähnlichen Verlauf nehmen, nämlich den in Verkäsung
der entzündlichen Neubildung, Tyrosis (von zvQog Käse, wobei
der primitive Milchkäse, Quark zum Vergleich gewählt ist). Denken Sie
sich wiederum eine starke Anhäufung von jungen Zellen im Gewebe,
und denken Sie sich ferner, dass dieser Zellhaufen im Centrum ohne
Hinzutreten von Exsudat molecular zerfällt und dadurch ein käsiger
Brei entsteht. Die plastische Infiltration schreitet in der Peripherie des
käsigen Heerdes durch Anhäufung von Wanderzellen langsam weiter,
das infiltrirte Gewebe geht jedoch ebenfalls bald in die käsige Meta-
morphose ein, und so vergrössert sich der centrale Heerd immer mehr
444 Von der chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
und mehr. Auch hier ist, wie bei der Vereiterung, Mangel an einer
mit der Zellenbildung gleichen Schritt haltenden Vascularisation oder
o-ar rasche vollständige Verödung der vorhandenen Gefässe die locale
Ursache des Zerfalls; auch hier liegt ein Process der Verschwärung vor,
den man als trockne oder „käsige Versclnvärung" (avasculäre, trockne
Necrotisirung) bezeichnen kann. Wenn man solche gelben Heerde in
der Leiche vorfindet, so Avird vielfach angenommen, dass sie immer einem
vertrockneten Eiterheerd entsprechen; das ist jedoch nicht so, oder doch
nur in äusserst seltenen Fällen ; die meisten dieser käsigen Heerde waren
von Anfang an das, was sie zur Zeit sind, in welcher sie gefunden werden,
waren niemals flüssiger Eiter. Dass diese käsigen Heerde direct ohne
Eiterung aus der entzündlichen Neubildung hervorgehen können, lässt sich
experimentell sehr leicht nachweisen. Erzeugen Sie z. B. durch Einlegen
eines fremden Körpers (z. B. eines Haarseils) in das Unterhautzellgewebe
eines Kaninchens einen dauernden Entzünduugsprocess, so bildet sich rnn
den fremden Körper im Verlauf einiger Tage eine gelbe, käsige Masse,
Avelche für das Kaninchen freilich dasselbe darstellt, wie der Eiter beim
Menschen, doch aber niemals zuvor flüssiger Eiter war. So giebt es
nun auch krankhafte Verhältnisse beim Menschen, unter denen beim
chronischen Entzünduugsprocess statt der Vereiterung diese Verkäsung
auftritt. — Das weitere Schicksal dieser Heerde beim Menschen ist ein
sehr verscliiedenes. Findet der Process in einem nicht gar zu weit unter
der Oberfläche liegenden Theile Statt, so kann derselbe, von innen
nach aussen fortschreitend, einen Durchbruch veranlassen; der Brei
entleert sich und die Höhle kann sich wie ein kalter Abscess nach und
nach schliesseu. Auch kommt es vor, dass sich um alte verkäste
Heerde oft noch nach Monaten und Jahren Entzündung und Eiterung
entwickelt, und dann die alten Massen mit dem frischen Abscesseiter
sich mischen und mit ihm ausgestossen werden. Der eben beschriebene
Vorgang ist besonders häufig bei chronischen Entzündungen der Lymph-
drüsen zu beobachten; an ihnen erfolgt jedoch die spontane Aus-
stossung der verkästen Heerde nur äusserst langsam und es bleiben
daher solche Lymphdrüscnfisteln oft Monate und Jahre lang auf dem-
selben Punkte stehen.
Ein anderer Ausgang ist der, dass der käsige Heerd nur eine kleine
Ausdehnung erreicht, dann völlig zusammenschrumpft und eine solche
Menge von Kalksalzen in sich aufnimmt, dass schliesslich ein kalkiges
Concrement daraus entsteht, welches von einer Xarbe conceutrisch
umschlossen ist. Dieser Ausgang kommt jedoch, wie sclion bemerkt, nur
bei kleinen käsigen Heerden vor ; er ist in den IMesenterialdrüsen. Drüsen
des Älilzhilus und Bronchialdrtisen häufig, äusserst selten an allen
übrigen Lymphdrüsen des Körpers.
Es giebt noch eine Art von chronischer Entartung einiger Organe,
welche mit der Ablagerung cinei- eigenthümlicheu Substanz aus dem
VorlosniiK 28. Capitcl XTV. 445
Blute, dem sog'cnaimtcn Si)C('kst(>rr oder Amyloid vci-lmiidcu int,
deren Bezielmng' zur ('lir(mis('.lieii l'hdziiiidiuii;- rix^ilicli sclioii eine cut-
ferutere ist. Ich g-clie darauf hier nicht uiihcr ein, weil diese Art von
Erkrankung' hau|)tsächlicli den inneren Organen zukommt und deswegen
für uns nur ein indirectes Interesse dai'bietet.
Was die Folgen des chronischen ICntzilndungsproccsses
zunächst nur in rein histologischer Hinsicht betrifi't, so sind diese man-
cherlei Art. Es geht das Zelleninfiltrat und der Neubildung'sprocess der
Hauptsache nach im Bindegewebe vor sich, und das Schlussresnltat nach
Ablauf desselben ist entweder eine Restitutio ad integrum oder nach
Destruction der Theile durch den Erweichungs- oder Verschwärung's-
process eine Narbe. Wenn dieser Vorgang- im Muskel oder im Nerven
Platz greift, leiden die Gewebe in hohem Grade secundär mit. Die
contractile Substanz im Muskel, sowie der Axencylinder und die Mark-
scheide der Nervenfaser gehen dabei nicht selten durch molecularen
Zerfall oder fettige Degeneration in Folge der Ernährungsstörung zu
Grunde. Atrophie der Muskeln und Paral3'sen können daher die Folgen
chronischer Entzündung- sein. Wie weit unter solchen Umständen die
Eegenerationsfähigkeit der Muskeln und Nerven geht, ist nicht festzu-
stellen; im Allgemeinen scheint sie unter diesen Verhältnissen sehr
g-ering- zu sein. Molecularer Zerfall und fettige Deg:eneration können
sehr wohl auch ohne Entzündung- des die Muskeln und Nerven um-
hüllenden Bindegewebes erfolgen. Es scheint mir daher nicht praktisch,
den fettigen Zerfall des Protoplasma allein schon als Entzündung- des
Muskels und der Nerven zu bezeichnen, wie es vonVirchoAv wenigstens
für die Muskeln geschehen ist. Ich möchte diese Zustände lieber unter
die verschiedenen Formen der Atrophieen einreihen, doch gebe ich nach
meinem jetzig-en Standpunkt gegenüber der Entzüudungslehre g-ern zu,
dass es wesentlich Sache der Convenienz ist, wie weit man zumal auf
dem Gebiete der chronischen Processe den Ausdruck „Entzündung-"
ausdehnen will. Ich hoffe Sie werden nach dem Gesagten das Sachliche
richtig aufgefasst haben.
Nach diesen allgemeinen anatomischen Erörterungen lassen Sie uns
kurz die Symptome der chronischen Entzündung durchgehen. Es
sind dieselben wie bei der acuten Entzündung, nur dass sie oft in an-
derer Reihenfolge, in anderen Combinationeu auftreten und eine geringere
Intensität darzubieten pflegen.
Die Anschwellung des erkrankten Theils ist die gewöhnlich zu-
erst auffallende Erscheinung ; sie beruht zum Theil auf der serösen, zum
Theil auf der plastischen Infiltration, Die Theile fühlen sich teigig und
resistenter als im normalen Zustande au; kommt es zur Abscessbildung,
was im Verlauf von Wochen und Monaten geschehen kann, so findet
4^ß Von (lor chronisfhen Entzündung, besonders der Weichtlieile.
man nacli und nach deutlicher werdende Fluctuation. Eine Rüthuno;
der eutziiiideten Theile werden wir, da dieselbe wegen der zuweilen
o-eriiio-en Ausdehnung- der Gefässe nicht sehr intensiv und ausgebreitet
ist nur dann deutlich wahrnehmen, wenn die entzündeten Tlieile an der
Oberfläche des Körpers liegen. Eine chronische Entzündung der Nasen-
schleimhaut oder der Conjunctiva wird sich uns leicht durch Schwellung,
Röthung und vermehrte Secretion kund geben. Auch bei chronisch ent-
zündeter Haut wird sich nacli und nach eine bläuliche oder bräunliche
Röthe zeigen. Liegen die entzündeten Theile jedoch tief, so ist die Haut
gar nicht verfärbt und wird erst dann geröthet werden, wenn die chronische
Entzündung aus der Tiefe von innen her endlich auch die Haut in ]\Iit-
leidenscliaft zieht, wie z. B. beim Durchbruch kalter Abscesse. — Der
Schmerz ist eines der Symptome der clironischen Entzündung, welches
die grössteu Verschiedenheiten darbietet; er fehlt bei vielen recht schlei-
chenden Entzündungen gänzlich, kann jedoch unter anderen Umständen
sehr heftig sein, einen reissenden, bohrenden Charakter haben, bald
mehr spontan, bald melir auf Druck oder auf leise Berührung auftreten.
Von dem Schmerz und von den anatomischen Veränderungen, welche die
Theile erleiden, hängt die Functionsstörung wesentlich ab und ist
daher auch bald gering, bald bedeutend. Hitze, eine für die aufgelegte
Hand erhöht scheinende Temperatur in den chronisch entzündeten Theilen,
ist häufig nicht oder nur in sehr geringem Grade vorhanden.
Das Fieber ist kein zur chronischen Entzündung nothwendig ge-
hörendes Symptom; es pHegt sich nur dann hinzuzugesellen, wenn die
chronische Entzündung einen etwas acuteren Charakter annimmt, wie
dies nicht selten im Verlaufe vorkommt, zumal wenn der Körper durch
lange dauernde Eiterungsprocesse aufs Höchste geschwächt ist. Dann
tritt das sogenannte hektische Fieber ein, eine Febris continua oder
einfache remittens mit sehr grossen Differenzen in den Morgen- und
Abendtemperaturen des Körpers, ein Fieber mit steilen Curven. Nach
meiner Auffassung entsteht dieses hektische Eiter- oder Consumptions-
fieber in Folge dauernder Aufnahme von Entzündungsproducten . zumal
von Producten des Zerfalls; daher ist es auch am häufigsten und inten-
sivsten bei raschem Zerfall an den luneuwandungen grosser Abscesse
und bei rasch progressiven Ulcerationsprocessen. Diese Fieber verlaufen
oft mit rapider Abmagerung, Nachtschweissen, Diarrhöen. Xur wenige
Individuen ertragen solche remittirenden chronischen Eiteruugsfieber lange;
so habe ich einen Knaben von 14 Jahren mit einer nach Resectio capitis
femoris zurückgebliebenen Fistel und allgemeiner Speckkrankheit ein
volles Jahr beobachtet, während dessen er eine dauernde Febris remittens
hatte; er erlag später unter Hinzutritt eines allgemeinen Hydrops.
Der Verlauf der chronischen Entzündung lässt sich im Allgemeinen
unter zwei Rubriken bringen; in den ersten Fällen ist schon der Beginn
dei- Krankheit undeutlich markirt und kann vom Patienten kaum mit
Vorlosiiniv 2;). Capilrl XIV. 447
Bestimmtlieit a.n^'eg'ol)cii werden; \r.\.\(\ ist es eine rjesclnvnlsl , Icild
massiger Sclmievz, l)a.kl leichte Functioiisstöniiii;', ^v;ls aiiC einen krank-
haften Zustand aufiuerksani niaelite. I^'älle, welche so anhenierkt
schleichend angefang-en haben, pflegen auch diesen Charakter im weitern
Verlauf beizubelialten. In anderen Fällen ist die chronische Entzündung-
ein Residuum eines acuten Processes; der chronische Verlauf wird von
Zeit zu Zeit durcli acute Attacken uiit Fieber unterl)roc-hen. Am wenigsten
ist etwas Bestinnntes über die Daner der chronischen Entziindnng- im
Allgemeinen zu sagen, indem diese vor allen Dingen von den nrsäcli-
lichen Momeuten abliängt, auf die wir gleich kommen; nur das bitte ich
Sie hier schon im Auge zu behalteu, dass die chronischen Entziin-
dungsprocesse, wie die acuten, in sich doch immer die l'en-
denz zu einem Abschluss, zu einem typischen Ende liaben, indem
nämlich die Neubildung bei der chronischen Entzündung schliesslich
niemals über die Entwicklung ganz bestimmt charakterisirter Gewe])s-
metamorphosen hinausgeht, welche, wenn das erkrankte Gewebe nicht
durch Zerfall zu Grunde geht, zur Bindegewebsbildung, zur Narbe auf
die eine oder die andere Weise führen; weshalb es wichtig ist, dies im
Auge zu behalten, wird Ihnen klarer werden, wenn wir über die Ab-
grenzung anderer Neubildungen, der eigentlichen Geschwülste, von der
chronischen Entzündung sprechen, Dass die chronisch-entzündliche Neu-
bildung kein typisches Ende erreicht, wenn ihre Ursachen nicht gehoben
werden köunen oder nicht von selbst erlöscben, und wenn Organe zerstört
werden, welche zum Leben nothwendig sind, oder wenn durch Eiterung
die Kräfte erschöpft werden, versteht sich von selljst.
Vorlesung 29,
Allgemeine Aetiologie der chronischen Entzündnng. Aenssere danernde
Reize. — Im Körper liegende Krankheitsnrsachen; empirischer Begriff der Diathese und
Dyskrasie. Allgemeine Symptomatologie und Therapie der krankhaften
Diathesen und Dyskrasien: 1. Die lymphatische Diathese (Scropliulosis). 2. Die
tuberkulöse Dyskrasie (Tuberculosis), o. Die arthritische Diathese. 4. Die scorbutische
Dyskrasie. 5. Syphilitische Dyskrasie. — O ertliche Behandlung der chronischen
Entzündung: Ruhe. Hochlagerung. Compression. Feuchte Wärme. Hydropathische
Einwicklungen. ~ Moor-, Schlamm-Bäder. Animalische Bäder. Sandbäder. — Resor-
bentia. — Antiphlogistica. — Derivantia: Fontanell. Haarseil. Moxen. Glüheisen. —
Wir kommen heute zu einem der wichtigsten Theile nicht allein
dieses Abschnittes, sondern der gesammten Medicin, nämlich zu den
Ursachen der chronischen Entzündung. Wir salien die acuten
Entzündungen nacli einem einmal wirkenden Reiz entstehen und dann
je nach den anatomischen Verhältnissen der gereizten Theile und nach
^^Q Von der fhronischen Entziindnng. besonders der Weiehtheile.
der Art und Aiisdelmung des Reizes verschieden, aber doch relativ kurz
und typisch verlaufen und ablaufen. Jetzt haben wir es mit Entzlmdungs-
processen zu thun, welche viele Monate, oft viele Jahre lang dauern;
da muss es sich wohl um eine dauernde Ursache, eineu anhaltend wir-
kenden Eeiz oder auch um abnorme Reaction auf einfache Reize han-
deln. Die dauernden Reize können rein örtlicher Art sein;
bleiben wir vorläufig einmal dabei stehen. Wenn sich kleine Thierchen
wie die Krätzmilben in der Haut einnisten, indem sie in den oberfläch-
lichen Schichten der Cutis sich wie Dachse ihre Gänge graben, Eier
legen und hier ihr arbeitsames Leben führen, so ist dies ein dauernder
Reiz für die Haut; es kommt noch das Kratzen hinzu, und so entsteht
und dauert eine chronische Entzündung der Haut: die Krätze. Lagern
sich Pilzsporen in der Epidermis ab, fangen hier an zu wacksen,
sich zu Millionen kleiner pflanzlicher Bildungen zu vermehren, so wird
die Haut auch durch diese fremden Eindringlinge in einen Zustand
dauernder Reizung versetzt; es entstehen chronische Hautausscliläge
z. B. Favus, Herpes tonsurans, Pityriasis versicolor u. s. w. — "Wirkt
ein dauernder Druck oder eine Reibung in massigem Grade, doch con-
tinuirlich auf die Haut ein, so ist dies ebenfalls ein chronischer Reiz,
welcher besonders eine Verdickung der betroffenen Theile zur Folge zu
haben pflegt. Die Schwielen an unserer Ferse, ein grosser Theil der
Leichdörner oder Hühneraugen sind die Resultate von coutinuirlicher
Reibung und Druck, welche durch unsere moderne Fussbekleidung aus-
geübt werden. Li gleicher Weise bekommt der Arbeiter, welcher haupt-
sächlich mit Hammer und Axt beschäftigt ist, Schwielen in der Hand,
der Schuster Schwielen aussen am kleinen Finger und am Rand der
Hand, wo er täglich den Pechdralit anzieht u. s. w. — Weiterhin sind
es im Gewebe steckende fremde Körper, welche eine dauernde chro-
nische Entzündung in ihrer Umgebung unterhalten können. Dauernde
oder oft wiederholte chemische Einflüsse auf die Gewebe können eben-
falls chronische Entzündung erzeugen ; so kann z. B. chronischer Magen-
catarrh durch häufig wiederholten Genuss von Schnaps oder scharfen
Liqueuren bedingt sein. Dauernde Stauung von Blut und Lymphe, so
wie auch Gerinnung dieser Flüssigkeiten in den Gefässen erzeugt zu-
nächst hyperplastische Processe in den Gefässwanduugen und in deren
nächster Umgebung, Ausdehnung und Schlängelung der Collateralgefässe,
zuweilen auch difl'use Verdickung der Gewebe; besonders ist die Unter-
schenkelhaut dieser Erkrankung ausgesetzt, wenn dem Abfluss des ve-
nösen Blutes aus den Extremitäten irgendwelche Schwierigkeiten dauernd
entgegentreten.
Wenn es sich darum handelt, chronische Entzündungen zu beseiti-
gen, welche auf eineu solchen äusseren dauernden Reiz zurückzuführen
sind, deren Beispiele leicht noch vermehrt werden könnten, so wird der
Erfolg , der Cur ein günstiger sein. Man entferne die thierischen und
Vorl.'Sim-' L'!). (';i|Mlfl XIV. 449
])(laiizliclicu r.'irasilxni, die rreiiulcii Krirpcr, den ('(»uliimirliclieii iJnick,
die clieniiselieu EinHüssc etc., und dcv cliroHiselie Eiit7Jnidimg'8])i'0cess
-wird in vielen F;illen v(»n selbst erlöselien, — Wir haben bis jetzt einen
örtlielicu Jieiz dauernd auf g-esundcs Gewebe wirken lassen; denken Sie,
dass ein cinnialig'er, vielleielit ziemlich hertii*'er lieiz aiiC ein bereits
krankes Gewebe wirkt, so werden Sie nicht erwarten können, dass in
einem solchen Falle die Verhältnisse sich ebenso gestalten werden, wie
beim einfach traumatischen Entzündung'sprocess in gesunden Geweben;
es ist vielmehr wahrscheinlich, dass die Folgen auch des einmaligen
Keizes jetzt andere, vielleicht langdauernde sein werden, weil die Be-
dingungen zur typischen Ausgleichung der Störung auf Seite des Ge-
Avebes nicht mehr vorhanden sind. Stellen Sie sich vor, eine bereits
chronisch entzündete Haut wird durch Quetschung ol)erfiächlich ge-
scliunden; die Entstellung einer chronischen Eiterung, sogar einer all-
mählig um sicli greifenden Ulceration kann die Folge dieses einmaligen
Keizes sein, der bei normalen Verhältnissen der Haut rasch zur Neul>il-
dung von Epidermis und damit zur Heilung geführt hätte. —
Leider gelingt es nur in verhältnissmässig seltenen Fällen, solche
rein örtlichen Ursachen für Entstehung und Dauer eines chronischen
Entzündungsprocesses aufzufinden. In den weitaus meisten Fällen liegt
die Ursache nicht so nah, sondern es musste erst lange und wiederholt
beo])aclitet nnd geprüft werden, ehe man auch nur einige Anhaltspunkte
für die Aetiologie der meisten chronischen Entzündungen und der chroni-
schen Krankheiten überhaupt autfand. Vv^ir haben aus dem Vorrath der
allgemeinen Aetiologie die Miasmen und Coutagien hier noch nicht
herbeigeholt; wir können sie auch ganz bei Seite liegen lassen, da
durchaus nichts dafür spricht, dass chronische Entzündungsprocesse durch
eine einmalige miasmatische oder contagiöse Einwirkung entstehen. Es
giebt freilich chronische Malariakraukheiten, wie Intermittens u. a. ;
dabei wirkt aber die Schädlichkeit dauernd, und nicht selten ist die
Krankheit nur dadurch zu heilen , dass die Patienten die miasmatische
Atmosphäre verlassen; dieser Fall entspricht also einem dauernden
äusseren Keiz. Ebenso ist es mit wiederholten Erkältungen, von denen
die neue innner wieder den noch von frülier her kranken Körper trifft
und so zur Chronicität des krankhaften Zustandes führt. — Das Alles
genügt nicht für die Aetiologie der chronischen Entzündungen; wir
suchen daher die Ursachen auch in gewissen Schwächezuständen, in an-
geborenen oder erworbenen Anlagen einzelner Organe oder des ganzen
Organismus. Lassen Sie uns hören, was die Erfahrung darüber lehrt.
Es fällt bei einer sorgfältigen Beobachtung zunächst ins Auge, dass
gewisse Formen chronischer Entzündungsprocesse in ganz bestimmten
Organen und an bestimmten Stellen des Körpers immer wieder und
wieder vorkommen, dass zugleich diese Entzündungsprocesse sich vor-
wiegend in einem gewissen Alter und bei Individuen zeigen, welche
Billroth cUir. Puth. u. Therap. 7. Auü. 21)
AKf) Von 'lor flircniisrlion Entziiiidiiii.£;. Ijcsondprs der 'Weiclitlieile.
auch in ihrem äusseren Verhalten einige Aehnlichkeit unter sich dar-
bieten. So beobachtet man z. B. gleichartige kindliche Individuen,
welche besonders an chronischen Anschwellung-en und Eiterungen der
Lymphdrüsen, der Gelenke, der Knochen erkranken, andere Individuen,
welche vorwiegend von schleichenden Lungenentzündungen befallen
werden, andere, welche in ganz merkwürdiger Weise zu Erkältung
disponirt sind und bald hier, bald dort Schmerzen in Muskeln und Ge-
lenken bekommen. Man beobachtet ferner, dass von Individuen dieser
Art, welche immer wieder auf analoge Weise erkranken, die individuell
pathologischen Eigenschaften oft auf die Nachkommenschaft übertragen
werden, dass die Väter solche Erbschaften schon von ihren Vätern oder
Müttern überkommen haben etc. Um in diesem Chaos individueller
Krankheitsdispositionen zu einer etwas klareren Uebersicht zu kommen,
brachte man die zu gewissen chronischen Krankheiten disponirten Men-
schen in gewisse Gruppen: so entstand rein empirisch die Eintheilung
der Menschen nach krankhaften Dispositionen oder Diathesen in lympha-
tische, scrophulöse, tuberculöse, rheumatische Individuen u. s. w. , Aus-
drücke, durch welche man zunächst nur bezeichnen wollte, dass z. B.
die Scrophulösen besonders zu Drüsenkranklieiten, die Tul)erculüsen zur
Entwicklung ulcerirender Knötchen disponirt sind etc. Man bildete
diese Gruppirung in der Folge weiter aus und schloss, dass einer solchen
Disposition zu bestimmten Krankheiten eine ganz bestimmte krankhafte
Beschaffenheit der physiologischen Processe im ganzen Körper zu Grunde
liegen müsse. Mau substituirte einen krankhaften Stoff, ein krankhaftes
Wesen, eine materia peccans im Körper; als Träger desselben boten
sich Blut und Lymphe als das bequemste Material dar, indem dies sich
durch den ganzen Körper verbreitet und seine Beschaffenheit allerdings
einen Maassstab für die mehr oder weniger normale oder pathologische
Beschaffenheit des ganzen Organismus abgiebt. Das Wort Dyskrasie
(schlechte Mischung von duo xeQccvvvf-ii) bezeichnet eine solche patholo-
gische Beschaffenheit des Blutes: man spricht demnach von scrophulöser,
tuberculöser Dyskrasie u. s. w. Es ist jedoch ein eigenes Ding, dem
Blute allein die Last der pathologischen Veränderungen des ganzen
Organismus aufzubürden und gewissermaassen anzunehmen, dass von ihm
aus eine Infection des ganzen Körpers erfolgt. Es wäre dies nur für
solche Fälle zuzugestehen, wo ein abnormer Stoff' von aussen direct in
das Blut geführt wird, Avie Sie das z. B. bei den vergifteten Wunden
kennen gelernt liaben. Das ist aber bei den hier vorliegenden Dyskra-
sien nicht oder nur theilweise der Fall, vielmehr entwickeln sich die
Krankheitsdispositionen aus wenig bekannten Ursachen im Organismus
selbst, wenn sie nicht schon als Erbtheil von den Eltern her mitgegeben
sind. Das Blut ist ebenso wenig wie irgend ein anderes Gewebe des
Körpers quantitativ und qualitativ absolut stabil; es wird fortwährend
erneuert, theilweise wieder verbraucht und wieder erneuert, und so fort:
WO die Quelle l'iir die Mnieiieruiii;' der l^lulkörperclieii ist, wissen w'w
iiiclit I)estiinnit ; dass dus Ululseruiii iortwiilirend aus i\v\- Lymphe und
diese hauptsäcldieli aus den Cliylusg'eCässcu voiu Dai'ineiina.i her rc^^e-
uerirt wird, dass vom iilut wieder eine Mcrig-e gelöster Materie mit
Salzen, Extractivstolfeii, Gasen und AVasser dureli Nieren, Lung-e, Ihiiit
u. s. w. ausgeschieden wird, ist Iliuen aus der Physiologie bekannt. Wie
wenig- Avissen wir vcrhältnissmässig" von diesen Dingen , und wie eoni-
plicirt sind schon diese wenigen Verhältnisse! Ich führe Sie deshalb auf
diese Betrachtung, um Sie darauf aufmerksam zu machen, dass ein nor-
males P)lut nur aus einem normalen Körper hervorgehen kann und um-
gekehrt, dass man also von einer einseitigen Erkrankung des Blutes,
welche ausser Beziehung- zu den Geweben stehen sollte, physicdogiscli
gar nicht reden kann. Es ist jedoch zwecklos, wenn wir aus diesen
Gründen g-eg-en die im niedicinischen Si)rachgebrauch vollständig' einge-
bürgerten Worte Dyskrasie und Diathese (diä^sGig, Anordnung-, Anlage)
zu Felde ziehen und dieselben g-anz verbannen wollten. Es wird der
Wissenschaft keinen Schaden bringen, wenn wir diese Ausdrücke fort
und fort in der gegebenen Auffassung brauchen; es ist vorläufig noeli
opportun, für diese Dinge gelegentlich eine Bezeichnung zu haben, da
dieselben nicht aus der Luft gegriffen, sondern auf durch Jahrhunderte
hindurch wohl constatirte Beobachtungen beruhen, wenn sich auch ihre
Deutung unendlich verschieden gestaltet hat und nach den wissenschaft-
lichen Zeitströmungen bald so bald so gestalten wird. — Mau kann
freilich mit der Rubriciruug der Individuen in dieser Richtung zu weit
gehen, wenn man nämlich jedem Menschen eine pathologische Diathese
andichten oder jeden Kranken unter eine der bekannten Hauptrubriken
unterbringen will. Wenn es auch theoretisch einen Anschein von Rich-
tigkeit haben mag, dass es bei unsern jetzigen Culturverhältnissen keinen
absolut normalen Menschen mehr giebt, so wäre es doch unsinnig, dies
für die Praxis aufrechthalten zu wollen. Sie dürfen tiberliaupt nicht
annehmen, dass es immer so einfach ist, jeden Kranken seiner Indivi-
dualität nach in eine der aufzustellenden Gruppen unterzubringen, Avie
man etwa eine Pflanze analysirt und nach dem System bestimmt, denn
da alle Arten von Menschen unter einander zeugungsfähig sind, ausser-
dem manche abnorm angelegte Individuen im Lauf der Zeit fast voll-
ständig normal werden können und umgekehrt, so entsteht natürlich
eine Menge von Mittelformen, die jeder Classification widerstreben. Dass
trotzdem nicht alle physischen und psychischen Eigenschaften der Men-
schen nach und nach gewissermaassen zu einem mittleren Durchschuitts-
typus confluiren, liegt in den Erhlichkeitsgesetzeu aller organischen We-
sen, wonach unter den gegebenen Verhältnissen die Typen immer wieder
und wieder unvertilgbar zum Vorschein kommen. Dies Gesetz gilt
natürlich auch für diejenigen Eigenschaften und Dispositionen, welche
wir als pathologische bezeichnen müssen. — Es giebt nun freilich Aerzte
29*
452 Von (lor flirnnisflien Ent;^iiiidiin», besonders der Weifhtheile.
und hat es aller Zeiten g-egeben, welche mit iil)ertriebenem Skepticismus
die Existenz einer allgemeinen Krankheitsdisposition für bestimmte Er-
krankung-sformen g-anz ableug-nen und .überall nur örtliche, zum Theil
nur zufällig-e Reize als Krankheitsursachen ansehen. Eine solche hyper- *
skeptische Strömung- ging auch vor Kurzem durch die moderne IMedicin
und hatte vollkommen ihre Berechtigung, als die Krasenlehre so über-
wucherte, dass es fast keinen Entzündungsprocess, ja man kann sagen,
fast gar keine Krankheit gab , für die man nicht eine specifische Krase
substituirte. Wer vorurtheilsfrei und sorgfältig beobachtet, und dabei
Gelegenheit hat, viele verschiedenartige Kranke zu sehen, wird gewiss
zu den richtigen Anschauungen mit der Zeit gelangen, und sich weder
zu rückhaltslos der Krasenlehre in die Arme stürzen, noch alle darüber
im Laufe der Jahrhunderte gewonnenen Erfahrungen als Illusionen und
Täuschungen bei Seite setzen. Eine Frage ist es, ob es einen praktischen
Werth hat, Namen wie: scrophulöse, syphilitische etc. Entzündung über-
haupt noch zu gebrauchen, ob es nicht vielmehr besser sei, die chronisch-
entzündlichen Processe ohne alle Rücksicht auf ihren Ursprung zu be-
trachten. Die Zukunft wird darüber entscheiden; für Jetzt glaube ich
doch als Lehrer die Pflicht zu haben, Ihre Anschauungen über diese
Dinge möglichst zu klären, und Sie in die Lage setzen zu sollen, sich
in Betreff dieser Dinge mit allen Collegen, welcher Schule sie auch
angehören, verständigen zu können. In der Klinik werden Sie freilieh
von mir nur noch selten von Scrophulöse u. s. w. reden hören. — Doch
genug jetzt von diesen allgemeinen Erörterungen; lassen Sie uns von
den einzelnen Diathesen und Dyskrasien, wie man sie jetzt auffasst,
eine flüchtige Skizze entwerfen.
1. Die lymphatische oder scrophulöse Diathese, Scro-
phulosis. (Die Entstehung dieser Bezeichnung ist unklar; meist wird
es von „scrofa", eine Sau mit vielen Jungen, abgeleitet; man meint der
Vergleich liege in der grossen Fruchtbarkeit : immer wieder neue Drüsen-
schwellungen, so viel wie junge Schweine!). Diese Krankheitsanlage
besteht vorwiegend im kindlichen Alter, doch sind die späteren Lebens-
alter keineswegs ganz davon ausgeschlossen. Wir supponiren diese
Diathese bei Individuen, zumal bei Kindern, welche sehr zu chronisch-
entzündlichen Anschwellungen der Lymphdrüsen disponirt sind selbst
nach unbedeutenden Reizen, zu gewissen catarrhalischeu Entzündung-en
der äusseren Haut (Ekzem, Impetigo), besonders des Gesichts und des
Kopfes, zu catarrhalisehen Entzündungen der Schleimhäute, zumal der
Conjunctiva, seltener des Tractus intestinalis und der Respirationsorgaue,
zu chronischen Entzündungen des Periostes und der Synovialhäute der Ge-
lenke. Was die Anschwellung der Lymphdrüsen, vorzüglich der Glandulae
submaxillares und occipitales betriö't, so hat man behauptet, dass die-
selbe nur die Folge einer Reizung z. B. durch die Dentition sei, oder
in Folge von ekzematösen Ausschlägen am Kopf, Augenentzünduugen,
Vorlcsiin-- '2;». Capilcl XIV. 453
Ohreitenmg- etc. entstelle; dies ist zmii Tlicil richtig', doch sdhsf, wenn
wir der Aiisiclit beitreten, dnss jille Lyni|)h(lriisenansch\vclliiii,g'cn secun-
d:ire Erkr;i,nkiini;'cn sind, so lic-t doch eben duriii, dass z. ß. in l^olg-e
der Dentition die Drüsen anscliwellen, eine abnorme formative Keizbar-
keit des lymphatischen Systems, Avelclie keineswegs bei allen Kindern
bestellt; ausserdem sind für die fast ebenso häufii;-eii Erkrankung-en dei-
I>roncliial- und iMcsenterialdrüsen nicht immer solclie örtlicben Reize
nachzuweisen. Auch ist es etwas Krankhaftes, dass die Lyniphdrüsen-
schwellung-en bei diesen Individuen die Eeize überdauern, ja sogar,
scheinbar ohne Ursache, siiäter noch zunehmen können. Es mag- zuge-
geben werden, dass manche der genannten Krankheiten, z. B. ein Tlieil
der Gelenkkrankheiten bei Kindern durch eine leichte Verletzung, eine
Contusion und dergleichen angeregt sind; dass sie aber einen chronischen
und zum Theil ganz eigenthitmlichen constanten Verlauf durchmachen,
hat seinen Grund in abnormen Zuständen der Gew^ebe, welche Abnor-
mität so über den ganzen Körper verbreitet ist, dass sie nicht als rein
örtliche, sondern als universelle betrachtet werden rauss. Man hat ver-
schiedene Versuche gemacht, diese locale und universelle Abnormität zu
erklären, zumal die Ursache des „chronisch Werdens" immer in die Fort-
dauer des Reizes zu verlegen, um dem Räthselhaften zu entgehen, was
immerhin darin liegt, dass ein Organismus auf einen Reiz anders rea-
giren soll als ein anderer. Man hat daher angenommen, dass die Stoffe,
welche aus irgend welchem Grunde durch eine chemische Gewebsalte-
ration in den Organen entstanden, nicht von den Lympli- und Blutbahnen
aufgenommen und nicht aus den erkrankten Organen entfernt werden,
sondern in ihnen liegen bleiben und den dauernden Entztindungsreiz
abgeben. Ich bin weit davon entfernt, leugnen zu wollen, dass sich dies
zuweilen so verhält; doch zugegeben, dies sei für alle Fälle gleich richtig,
so bleibt auch die eben erwähnte Eigenthümlichkeit dieser oder jener Or-
gane immer eine Abnormität bei diesen Individuen oder eine Eigenthüm-
lichkeit der unter ganz bestimmten Verhältnissen bei diesen Individuen
auftretenden Entzttndungsformen. Kurz wir kommen auch auf diese Weise
nicht darüber hinaus, dass wir es dabei mit Individuen zu thun haben,
welche, sei es in einzelnen Geweben und Gewebssystemen, sei es in
toto, anders sind als die Mehrzahl der Menschen. Kinder fallen unzählige
Male auf Knie, Hüfte, Ellenbogen etc., meist erfolgt keine Erkrankung,
oder die Resultate der Contusion sind in wenigen Tagen überwunden;
selbst wenn gar keine Behandlung Statt gefunden hat, und selbst wenn
die Quetschung, wie sich aus den ausgedehnten Extravasaten, der in-
tensiven Schwellung und dem Schmerz ergab, eine erhebliche war.
Einige Kinder aber bekommen selbst nach leichten Quetschungen chro-
nische Gelenkentzündungen; diese sind Ausnahmen: es ist wohl nichts
dagegen einzuwenden, wenn man sie als eine besondere pathologische
^^zj. Von der chronischen lilnlziindung, besonders der Weichtheile.
Menschenrage betraclitet, dieser einen Xamen giebt und sie nach ihren
sonstigen Eigenschaften naturgeschichtlich zu charakterisiren sucht.
Man hat versucht, die scrophulöse Diathese schon aus dem ganzen
Aussehen und Verhalten, aus dem Habitus der Kinder zu diagnosticiren.
Folgendes Bild pflegt man gewöhnlich als Typus für ein scrophulöses
Kind zu entwerfen: blonde Haare, blaue Augen, sehr weisse Haut mit
starkem Panniculus adiposus, dicke Lippen, aufgetriebener Bauch, Ge-
frässigkeit, Neigung zu Stuhlverstopfung (torpide Scrophelu). Zu die-
sem Portrait "werden Sie manche Originale in Hirer Praxis finden, indess
auch viele Kinder, welche keine Aehnliclikeit mit demselben haben und
doch in exquisiter Weise an chronischen Entzündungen gleicher Art lei-
den, wie die eben geschilderten Individuen. Ich lege im Ganzen nicht viel
Gewicht auf diese äusseren Erscheinungen. — In Betreff" des Verlaufes
und Ausganges der chronischen Eutzündungsprocesse, welche bei scro-
phulösen Kindern vorkommen, ist Folgendes zu bemerken. In wenigen
Fällen bildet sich die chronisch-entzündliche Anschwellung nach kürzerer
oder längerer Zeit vollkommen zurück bis zur vollständigen Restitutio
ad integrum. Am liäutigsten ist der Verlauf mit Eiterung, und kann
dieselbe je nach der Verschiedenheit der Fälle einen ziemlich acuten
Charakter annehmen, wie dies bei der Entzündung der submaxillaren
Lymphdrüsen und bei den Gelenkkrankheiten vorkommt. Sehr oft be-
hält der Process Jahre lang einen chronischen Charakter; es entstehen
Abscesse, Fistelbildungen, Geschwüre u. s. w. Frühzeitige Eiterung kommt
besonders bei etwas abgemagerten, schwächlichen, schlechtgenährten, sehr
leicht. febril werdenden Kindern vor (erethische Scropheln, xon sqs^co
anreizen, aufregen) und ist von besonders schlechter Prognose. In man-
chen Organen, wie in den Lymphdrüsen, in der Lunge ist der Ausgang
der chronischen Entzündung in Verkäsung besonders häufig;
von dem seliädlichsten Einflüsse auf die ganze Ernährung muss es be-
greiflicher Weise sein, wenn die Mesenterialdrüsen auf diese AVeise de-
generiren und dadurch die Chylusbahnen zum grossen Tlieil verlegt
werden; eine unlieilbare Atrophie des ganzen Körpers kann die Folge
davon sein. — Die lymphatische Diathese ist in den meisten Fällen
angeboren und vererbt sich von Generation zu Generation. Jedoch kann
dieselbe auch in Folge unzweckmässiger Lebensweise erworben Averdeu,
unter besseren Verhältnissen wieder schwinden, sich wieder einstellen und
so fort. Als Hauptschädlichkeitsmomente giebt man an : vorwiegende oder
ausschliessliche Nahrung von Kartoff"eln, Mehl, gesäuertem Brod; ungesunde,
feuchte Wohnungen; Mangel an Reinlichkeit, frischer Luft und derglei-
chen mehr. Es ist sehr schwer zu constatiren, ob dies Alles richtig ist;
jedenfalls würde die Scrophulosis unter den Armen noch viel mehr aus-
gebreitet sein, als sie es in der That ist, wenn die genannten Umstände
immer scrophulöse Diathese hervorrufen müssteu.
Soll ich in wenig Worten zusammenfassen, was man heut zu Tage
Vorlcstiug 29. Capitel XIV. 455
unter lymphatischer Constitution oder »Scritphiilosis zu vorstehen pfifft,
so lässt sich dieselbe l)a]s eine Disposition zu chronischer Imi t-
zlindung der Häute, Knoclien und Gelenke hetrachten, wobei
der entzündliche Process zur Entwickluni;- von GranulMtions-
massen, von Eitei" und zur Vcrkäsung führen knim; 2) nennt
man auch so 1 die Individuen vorwi eisend gern lynipliati seh
oder scrophulös, bei welchen I^yniphdrüsenanschwellungen,
wenn aucli durch vo rüberg-ehcnde Heize entstanden, lang-e
stabil bleiben, oder sog-ar selbstständig ohne neue periphe-
rische Reizung* zunehmen.
Wir wollen hier g"leich auf die Behandlung der Scrophulose im
Allgemeinen eingehen. Vor Allem ist eine liegulirung' der Diät noth-
wendig; gute Fleischnahrung, Eier und Milch, gut ausgebackenes Weizen-
brod, von Zeit zu Zeit Bäder, Aufenthalt in frischer, gesunder Luft, eine
kräftige, nicht verweichlichende Erzielmng sind die wichtigsten, aber
freilich oft der Umstände wegen am wenigsten anwendbaren Mittel; bei
den diätetischen Verordnungen ist sehr auf den einzelnen Fall Rücksicht
zu nehmen, zumal ob Neigung zur Fettsucht oder Atrophie vorhanden
ist, ob die Verdauungsorgane normal oder durch unzweckmässige Kost
von Jugend auf ruinirt sind. Da die Krankheit sehr vielfach bei Armen
vorkommt (ohne dass sie jedoch bei den Reichen ausgeschlossen wäre),
so sind gerade diese diätetischen und hygieinischen Mittel am wenigsten
durchführbar. Die Zahl der Innern, gegen Scrophulose anzuwendenden
Mittel ist eine ausserordentlich grosse, es handelt sicli daljei nicht, wie
man früher meinte, um das Aufnehmen eines specifischen Arzneimittels
als Gegengift gegen ein unbekanntes, im Blut circulirendes Gift, denn
letzteres existirt nicht, — sondern um eine rein symptomatische, meist
allgemeine Behandlung. Sie sehen aus der obigen Darstellung, dass
„Scropheln" keine Materia peccans sind, welche im Blut circulirt, son-
dern nur eine Schwäche der Organisation nach einer bestimmten Rich-
tung, eine bald mehr bald weniger intensive Anlage zu besonderen Er-
krankungsformen. Dies ist ein wesentlicher Unterschied, ein wesentlicher
Fortschritt gegen frühere Auffassungen der Krankheit. Nach meiner
Auseinandersetzung würden Sie sich auch mit denjenigen neueren Skep-
tikern verständigen können, welche der Ansicht sind, dass alle chro-
nischen Entzündungsprocesse bei Kindern gleichartigen Ursprungs sind,
und dass es daher völlig unnöthig sei , in jedem Fall von chronischer
Lymphdrüsenanschwellung, oder von chronischer Gelenkentzündung hin-
zuzufügen, sie seien scrophulös, beruhten auf lymphatischer Diathese. Es
ist möglich, dass diese Ausdrücke im Lauf der Zeit verschwinden, weil
sie bei Klärung der Anschauungen unnöthig werden; doch ist es nicht
richtig, dass bei Kindern alle chronisch-eutzündliclieu Processe gleichen
Ursprungs sind, denn es kann ja auch z. B. ererbte oder erworbene
Syphilis in Frage kommen; und bei Erwachsenen giebt es noch so man-
^^g Vuii der cliroiiischen Eutzüiiditng, besonders der Weiehtheile.
clicrlei andere constitutionelle Dispositionen ausser derjenig-en, welche
man bisher als die scropliulös-tuberculöse bezeichnet hat, und welche
eben in der Disposition zu chronischen Entzündungen mit Ausgang in
Eiterung-, Verkäsung und Verschwärung besteht. Dass sich diese Pro-
cesse in einem gewissen Gegensatze zu anderen chronischen Entzündungs-
formen befinden, z. B. zu denen, welche auf interstitieller Bindegewebs-
Avucherung (Lcbci'cirrliose, Morbus Brightii, graue Degeneration des
Eückenmarks etc.) beruhen und zu Sclerosirung führen, scheint mir zwei-
fellos.
Um die lymphatische Diathese zu bessern, ist Vielerlei versucht;
früher wandte man von Zeit zu Zeit Abführmittel, in England besonders
auch das Quecksilber in kleinen Dosen an: dies ist ganz passend bei
fetten scropliulösen Kindern; der gebrannte Badeschwamm, die Folia
Juglandis regiae, Herba Jaceae, Eichelcaffee, auch die bittern Mittel
wurden empfohlen und werden heute noch viel gebraucht. In unsern
Tagen gilt der Leberthran am meisten als Antiscrophulosum, indem man
ihm nicht allein eine specifische Wirkung gegen die scrophulöse Diathese
zuschreibt, sondern ihn auch mit Recht als ein kräftiges Nutriens schätzt
und deshalb bei mageren scrophulösen Kindern besonders gern an-
wendet; bei fetten Kindern dürfte er eventuell schädlich sein. Von den
Jodmitteln wird auch vielfach Gebrauch gemacht bei Scrophulöse; doch
sind sie mit Vorsicht und eher bei fetten, als bei atrophischen Kindern
anzuwenden; am meisten Lob verdient das Jodeisen bei blassen, doch
zugleich fetten Kindern mit fungösen Gelenkentzündungen. Auch die
leicht verdaulichen Eisenpräparate sind bei Scropheln und Anämie sehr
werthvolle Mittel. Eine günstige Wirkung haben ferner die Öalzbäder,
die man entweder an dem Ort der Quelle, in Deutschland z. B. in Kreuz-
nach, Rheme, Wittekind, Coblenz, Tölz, Reichenhall, in Oesterreich in
Hall, Ischl, in der Schweiz in Rheinfelden, Schweizerfiall, Lavey, Bex
brauchen lässt, oder sie zu Hause künstlich bereitet, indem man 1 — 3 Pfd.
Salz, je nach der Grösse des Bades zu einem lauen Bad zusetzt. Für
etwas grössere Kinder sind Seebäder zu empfehlen; für schwächliche
Kinder warme Bäder mit Zusatz von Malz und aroumtischen Kräutern.
Bei fetten scrophulösen Kindern rühmt Niemeyer hydropathische Ein-
wicklungen des ganzen Körpers, Avovon ich auch in einigen Fällen
guten Erfolg sah. — Von vielen Aerzten werden auch Schwefelquellen,
besonders die heissen, bei scrophulösen Geleukleiden empfohlen; man
nuiss die dazu geeigneten Fälle mit Vorsicht aussuchen, da die lieissen
SchAvefclthermen bei sehr sclnnorzhaften subacuten Gelenkleiden und
heruntergekonunenen Allgemeiuzustand auch schaden können. — Sie
sehen, dass es an Mitteln nicht fehlt, und dennoch gelingt es nur selten,
die Constitution dadurch zu bessern und dem AViederausbruch neuer
localer Processe in allen Fällen vorzubeugen. Auch erreicht manchmal
der örtliche Proccss einen solchen ITöhegrad, dass er für sicli dem Leben
Voricsuiii,' 2:). Capilcl XfV.
457
gdnlirlicli wird, und die ürlliclioii Milicl in den Verde ri;' rund treten
müssen. Im L;uif der Jalire verrinii,'evl sich die Disposition zn diesen
Erkrnnkuni;-en, wie bemerkt, erlieblicli; docli g-elien viele Kinder ;iii
scvopluilösen Knoelien- und Gelenlvkranklieiten zu Oi-unde.
2. Die tuberkulöse Dyskrasic. Tuberculosis. Der Name
dieser Krankbeit ist von 'l''u!)crculum, das Knötcbcu, lierii-eleitet, weil
das Froduct dieser Krankbeit in Form von ganz kleinen, anfang-s grau,
später gelblicb aussebenden, im Beginn kaum birsekorngrossen, oft
mikroskopischen Knötchen, den Tuberkeln, auftritt.
Aiuilysireii »Sie ein .solelie« Kiiötclien mit dem Mikroskop, so lindem Sie, dass dasselbe
aus einer Menge mittelgrosser, runder Zellen besteht, die in der l'eripherie den Knötchens
sehr deutlich sind, während in der Mitte ein feiner, molecularer, trockner Brei liegt,
welcher bei grösserer Ausdehnung des Knötchens eine gelbe , käsige Beschaffenheit
bekommt.
Die neueren Untersuchungen von Schüppel, Langhans, Rindfleisch u. A.
stimmen darin überein, dass sehr häufig im Centrum ganz junger Tuberkel sich grosse
vielkernige Protoplasmamassen finden, sogenannte Eiesenzellen, wie wir sie später besonders
auch bei den Neubildungen im Knochen zu besprechen haben; doch sind die Kerne in
den Riesenzellen der Tuberkel sehr häufig exquisit peripherisch angeordnet.
Fig. 78.
Riesenzellen aus Tuberkeln in verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung nach Lan ghans.
Vergrösserung etwa iOO.
C-Tanz constant ist jedoch das Vorkommen dieser Riesenzellen in den Tuberkeln
nicht. Oft sieht man, zumal am Netz, eine ziemlich ungeordnete Anhäufung von grossen
und kleinen Zellen als Anfang der Tuberkelbildung, und neben solchen, bald deutlich
458
Von der chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
runden , bald sehr unregelmässig gestalteten , immerhin noch scharf umschriebenen Neu-
bildungen dieser Art finden sich dann auch wohl mehr diffuse Infiltrate (tuberkulöse
Infiltrate), welche kaum noch von gewöhnlichen entzündlichen Infiltrationen zu unterscheiden
sind, ausser dadurch, dass die Zellen wohl bis auf das Doppelte grösser sind, als die
Wanderzellen, welche die erste zellige Infiltration bei der acuten Entzündung bilden.
Fig. 79.
a Kleinste Tuberkel im Netz; b kleinste Tuberkel an einer Hirnarterie; a und b Loupen-
"vergrösserung jvon Präparaten von Eindfleisch. — c Entwicklung von kleinsten
Tuberkeln am Netz nach Kundrat. Vergrösserung etwa 500.
Eine ganz besondere, zumal von Rindfleisch hervorgehobene Eigenthüm'liehkeit
der Tuberkel ist es, dass sie sich häufig an und in den Wänden kleiner und kleinster
Arterien und in Lymphgefässeu bilden, doch finden sie sich äusserst selten an Venen.
Voricsimi;- 1>1). Cjipilfl XIV.
Fi«'. 80.
459
a Kleinster Tiiherkcl riner Hiniarleiie.
Vergrö.sseriiHg 100. - b Krsfer Beginn
der Zellen\einielirinig in einer kleinsten
Hirnarterie. Ob die vielkernigen Zellen
Wanderzellen, Bindegewebszellen, Endo-
thelzellen, Muskelzellen sind, oder (ib
sie aus Umwandlung der Intinia zu
Protoplasma entstanden sind, balle icb
vorläufig nicbt für erweisiieb.
Vergrösserung etwa 1000. — Beide
Zeichnungen nach Präparaten von Rind -
fleisch.
Ueber den Ursprung der Zellen, welche den Tuberkel bilden, kann man ver-
schiedener Meinung sein. Sind es Wanderzellen, so müssten sich diese bald nach ihrem
Austritt aus den Capillareii und Venen sehr rasch vergrössern; im Ganzen sind die
modernen Forscher dieser Ansicht wenig geneigt. Rindfleisch, Kundrat u. A. halten
460 "^^^ ^^^' chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
dafür, dass die Tuberkelzellen meist durch Wucherung von Endothelien entstehen, und
zwar von Endothelien der Gefässe und ihrer Lymphscheiden, ferner der Endothelien der
Lymphgefässe und der serösen Häute. Rindfleisch ist der Meinung, dass sich auch
aus den Muskelzellen der Arterien Tuberkelzellen entwickeln können.
Was nun das weitere Schicksal dieser kleinen Neubildungen beti-ifft, so ist das
Wesentlichste und Eigenthümlichsre an ihnen, dass sich in der Regel keine Gefässe in
sie hinein bilden, eben so wenig wie in die rein epithelialen Neubildungen, obgleich
ihre Peripherie reichlich vascularisirt wird. Nur äusserst selten kommen Fälle vor, in
welchen die Tuberkel nach und nach zu Faserknötchen werden. AVährend sonst jede
Neubildung mit Gefässwucherung verbunden ist, fehlt diese dem Tuberkel, wie in neuester
Zeit wieder von Rindfleisch, Heitzmann u. A. besonders urgirt wurde, ganz und
gar, und dies hat zur Folge, dass die junge Neubildung nicht lange lebendig bleiben kann:
sie stirbt im Centrum ab, nur die Zellen der Peripherie erhalten sich. Das abgestorbene
Centrum zerfällt zuweilen mit fettiger Degeneration, zu einer feinen punktförmigen amoi-phen
Substanz, welche dem freien Auge als ein trockner, käsiger Brei erscheint, kurz, der
Tuberkel geht regelmässig in Folge seines Mangels an Blutgefässen in Vei-käsung über. —
Die Vergrösserung eines Tuberkels könnte möglicher Weise durch immer neue zellige In-
filtration des Gewebes um den primären Heerd bis in infinitum fortschreiten ; dies geschieht
indess selten. Die grössten käsigen Heerde, welche man im Hirn, im Hoden etc. findet,
sind in den meisten Fällen durch Confluenz vieler kleiner Knötchen entstanden, deren man
oft auch nicht selten eine grosse Anzahl in der Nähe grösserer verkäster Knoten findet. —
Wir kommen hiemit auf das Verhalten des umliegenden Gewebes zii den in dasselbe
gewissermaassen hineingesäeten Tuberkeln, wozu ich noch bemerken muss, dass das Auf-
treten der miliaren Knötchen in einem Organ oder in einem Theil eines solchen gewöhnlich
ein sehr massenhaftes ist. In der Umgebung der Tuberkel pflegt eine subacute Entzündung
aufzutreten, mit reichlicher zelliger Infiltration und reichlicher Vascularisation. Dies kann
zu eitriger Erweichung des Gewebes, zur chronischen Abscessbildung, zu ulcerativen
Processen führen ; so entsteht eine Höhle, welche Eiter, erweichte Gewebsfetzen und ver-
käste Tuberkel enthält. In der Lunge nennt man das eine Caverne. — Es kann aber
auch die Entzündung um die Tuberkel mit in den Process der Tyrose hineingezogen
werden und so ein grosser käsiger Heerd entstehen, welcher die primären Tuberkel in
sich einschliesst; dieser kann später durch peripher eintretende Eiterung erweichen oder
auch nach fester Abkapselung verkreiden. Tritt in Schleimhäuten Tuberkelbildung auf.
wie so oft in der Larynx-, Darm-, Ureteren-, Blasen- und Uterinschleimhaut, so entstehen
neben den tuberkulösen Infiltrationen und Ulcerationen eitrige Catarrhe, reichliche Epi-
thelialabstossung, zumal auch in den Lungenalveolen (Desquamations-Pneumonie Buhl).
In allen diesen Fällen kann, was leider selten geschieht, der Krankheitsheerd, nachdem er
diese oder jene Metamorphose durchgemacht hat, durch eine dei'be Bindegewebsneubildung
eingekapselt werden und dann nach Entleerung des Inhaltes oder Verkreidung desselben
diese Kapsel zu einer festen Narbe schrumpfen. Bei serösen Häuten, zumal beim Peri-
toneum kommt es aber auch sehr häufig vor, dass die durch die Tuberkeleinstreuung
liervorgerufene Entzündung sofort zur Bindegewebsneubildung führt und durch diese nicht
nur eine rasche Abkapselung jedes Knötchens, sondern auch eine so innige Verwachsung der
Därme untereinander und mit der Bauchwandung entsteht, dass es bei der Section fast
unmöglich werden kann, die Intestina auseinander zu lösen.
Was das Vorkommen der Tuberkel iu den verscliiedeneu Organen
des Körpers betrifft, so ist keines derselben g-auz davon ausgesclilossen,
doch sind einige besonders dazu prädisponirt, Sie finden sich am
häufigsten in der Lunge, besonders entwickeln sie sich gern in den
Lungenspitzen; es entsteht gewöhnlich eine grosse Anzahl zu gleicher
Zeit; sie confluiren mit einander, die Waiidiui^eii der Broiicliieu werden
mit in den Proeess liineingezogcn, zeistört, und der käsii^'e, ziun 'V\wÄ\
erweichte Inhalt der Tuljerkeln wird ausgeliustet; Gefässe werden diireli
den ProcesR erweicht, bersten und geben zum Bluthusten und sog-e-
nanntem Blutsturz Veranlassung-. Es ist hier nicht die Aufgabe, dies
weiter zu detailliren; Sie werden von dieser unseeligen Krankheit später
in den Kliniken noch genug' hören. Nächst den Lungen ist die Tuberkel-
bildung' am häutigsten in der Kehlkopfschleimhaut, dann in Schleindiaut
der Harnweg-e, in der Darmschleimhaut, selbst im Kectum, wo diese tuber-
kulösen Geschwüre und Abscesse auch ein chirurgisches Interesse l)e-
kommen. — Tuberkeln kommen auch in den Knochen, namentlich in den
spongiüsen vor, besonders im Calcaneus, in den Wirbelkörpern, in den
Epipliysen der Tibia; im Ganzen selten sind sie in den Synovialmem-
branen der Gelenke. Obgleich die Lymphdrüsen bei Tuberkulose häutig
erkranken, so ist es doch oft schwer eigentliche Miliartuberkel in ihnen
nachzuweisen; doch Schüppel fand sie auch dort.
Die Anschaunng-en über die Aetiolog'ie der Tuberkulose haben sich
im Lauf der letzten Jahre ganz ausserordentlich verändert. Man hat
früher nicht daran gezweifelt, dass die Tuberkelbildung' theils eine selbst-
ständige spontan entstehende Krankheit sei, theils dass eine Disposition
dazu sieh vererbe. Man sprach daher von einer tuberkulösen Diathese,
wie man von einer scrophulösen Diathese sprach, und hielt beide wohl
mit einander verwandt, doch immerhin nicht für identisch. Von
Laennee stammt die Anschauung, dass die kleinen knotigen Neu-
bildungen (die grauen Miliartuberkel) immer die primäre Erkrankungs-
form seien und durch Confluenz und Wachsthum zur Zerstörung des
befallenen Gewebes führen. Die Unterscheidung der Tuberkel in miliare
graue Knötchen und in käsigen Knoten, die höchst merkwürdige acute
Miliartuberkulose mit ihrer typhusälmlichen klinischen Erscheinungsform,
der Zusammenhang der Tuberkelbildung mit anderen, namentlich
chronisch-eitrigen und verkäsenden Entzündungen waren immerhin ver-
wickelt und blieben in vielen Stücken dunkel, wenn auch der Begriff
der Tuberkulose durch Virchow mehr eingeengt und präcisirt wurde,
und so wenigstens nicht mehr jede verkäste Neubildung als Tuberkel
bezeichnet wurde. — Es war Buhl vorbehalten, auf Grund sorgfältigster
Prüfungen zu dem Gedanken vorzudringen, die acute Miliartuberkulose
sei eigentlich der Typus der tuberkulösen Erkrankung; er fand sie in
den meisten Fällen combinirt mit älteren verkästen oder eitrigen Ent-
zündungsheerden; er stellte die damals sehr kühne Behauptung auf,
dass sie immer durch Eesorption von Substanzen aus diesen Heerden
und Verschleppung der kleinsten Partikel in alle Organe des Körpers
entstünde. Die Tuberkulose wäre hiernach eine Infectionskrankheit, eine
Art knotigen Exanthems auf und in inneren Organen, bedingt durch die
Aufnahme einer schädlichen Substanz, zumal aus alten verkästen Ent-
^ß2 Von der eliroiiisclien Entzilnclnng, liesonclers der Weichtheile.
zündung'sheerden in den Lymphdrüsen, in der Lunge, im Knoclien etc.
wobei einige dieser Partikelchen als Emboli in Blut und Lymphgefässeu
specifiseh infectiös wirken mögen. Die Untersuchungen der letzten
Jahre liaben in der That gezeigt, dass sehr viele Zerstörungen, z. B. in
der Lunge, welche man bis dahin ohne weiteres als durch miliare
Tuberkelknötchen entstanden betraclitete, eingedickte käsige und theilweis
erweichte Heerde sind, welche als Eesultate eines einfachen chronisch-
ulcerösen Entziindungsprocesses betrachtet werden müssen, da man bei
ihnen keine Miliartuberkel findet, sondern nur relativ grosszellige (tuber-
kulöse) Infiltrationen. Danach scheint es, als wenn auch bei der Lungen-
phthise die Entstehung der wahren Tuberkel als etwas secundäres, häufiges,
aber keineswegs nothwendiges zu betrachten ist. Niemeyer hat sich
grosse Verdienste um die praktische Verwendbarkeit dieser neuen An-
schauung erworben, nach welcher dann wohl eine Diathese zu
chronischen verkäsenden Entzündungen gewisser Orgaue
angeboren sein würde, doch nicht gradezu^ die Disposition
zu primärer Tuberkelbildung. Diese Auffassung ist in neuester
Zeit noch sehr wesentlich dadurch unterstützt, dass es gelungen ist,
Thiere, zumal Meerschweinehen und Kaninchen tuberkulös zu machen.
Bei diesen Thierchen erzeugt nämlich jeder kleinste dauernde Eeiz eine
Entzündung mit käsig-eitrigen Producten, und dann erfolgt von diesem
Heerde aus eine tuberkulöse Dyskrasie, welche sich in der Production
theils von Miliartuberkeln zumal auf den serösen Häuten, theils von
gelblichen Knoten in Lunge, Leber, Milz etc. kundgiebt und zum Tode
führt. Diese höchst interessanten Experimente, welche von Villemiu
begonnen, von Leb ert und Wy SS, Fox, Klebs, Cohnheim, "V^"aldeu-
burg, Menzel u. A. stets mit gleichen Resultaten, wenn aucli mit ver-
schiedenen Deutungen wiederholt sind, scheinen mir zu beweisen, was
ich stets festgehalten habe, dass der Tuberkel nur eine eigenthümliche
Form der entzündlichen Neubildung ist, so wie, dass die Buhl' sehe
Auffassung richtig sein dürfte. Sehr wichtig ist es aber, hervorzuheben,
dass die erwähnten Lnpfungen nur bei Thiereu gelingen, welche eine
gewisse Disposition zu Verkäsuug aller Eutzündungsproducte haben, wie
ich dies schon früher (pag. 444) vom Kaninchen ausdrücklich hervorhob.
Eind fleisch bemerkt sehr richtig, dass diese Thiere sich selbst tuber-
kulisiren, wenn einmal eine Entzündung mit dauerndem Charakter bei
ihnen zur Entwicklung gekommen ist. Bei Hunden z. B. gelingt die
Tuberkelimpfung nicht.
Wenn wir nun auch durch das eben j\Iitgetheilte den grossen Fort-
schritt, welchen die Lehre von der Tuberkulose in neuerer Zeit gemacht
hat, in vollstem Maasse anerkennen, so dürfen wir uns dabei doch nicht
verheldcn, dass dadurch die interessanten Beziehungen zwischen manchen
chronischen chirurgischen Krankheiten und der Tuberkulose innerer
Organe, zumal der Lungen, keineswegs vollkommen aufgeklärt sind. Wenn
Vorlcsim^r 29. Ciipitd XTV. 4ß3
aucli die Zalil der Fälle, in welclicii iiacli cliroiiisclioii Oeleiik- und
Knociicneitening'eii, iiadi Verkäsiiiii^ei) von i^cscliwolleiicii Lyniiilidrüscn
Lung'entuberkulose folgt, ziemlicli gross ist, so ist es iiiiridestens ebenso
liäufig', dass der Tod bei Individuen mit (Jelenk- und Knoelieneiterungen
von vieler Jahre Dauer dureli Erschöpfung erfolgt, und man bei der
Section keine Spur eines Tuberkels findet. Es giebt also bestimmte
. Verhältnisse, unter welchen eine Resorption der verkästen Massen ent-
weder nicht erfolgt, oder unter welchen diese, wenn auch resorbirt,
keine Tuberkel erzeugen. Dies würde dafür sprechen, dass niclit nur
eine Disposition zu Verkäsung von Entzündungsheerden, sondern auch
eine Disposition zur Disseminirung respective Tuberkulisirung vorhanden
sein muss, und dass beide Dispositionen nicht nothwendig so combinirt
sein müssen, wie sie es bei Kaninchen und Meerschweinchen sind.
Grade darin, dass sich um einen kleinen Impfpunkt ein käsiger Heerd
bildet, und dass sich von diesem einen käsigen Heerde aus eine auf die
Innern Organe disseminirte Erkrankung entwickelt, liegt doch etwas den
genannten Thieren, wne eben auch manchen Menschen selir Eigenthüm-
liches. Diese Eigenthündichkeit nennt man eben tuberkulöse Diatliese.
Auch will ich Ihnen nicht vorenthalten, dass von manchen Pathologen
nur die häufige Coincidenz von chronischen Eiter- und Verkäsungs-
heerden mit Tuberkeln zugegeben und beides auf eine verwandte, wenn
auch unbekannte Ursache zurückgeführt wird. — Alles dies kann mich
jedoch nicht beirren, die eminente Tragweite der eben besprochenen
neueren Untersuchungen anzuerkennen, und sie als einen der erfreulichsten
Fortschritte der modernen Pathologie zu betrachten.
Eine eigenthümliche und auf den ersten Blick veränderte Stellung
scheint bei der neueren Aetiologie der Tuberkulose die Therapie zu
bekommen. Man hätte sich jetzt folgende Frage zu stellen: giebt es
Mittel oder Verfahren, durch welche wir verhindern können, dass sich
Jemand, der käsigen Eiter an oder in sich trägt, tuberkulös inficirt?
Dies müssen wir vor der Hand durchaus verneinen; es ist auch der
Modus der Infection so wenig bekannt, dass wir schon aus diesem
Grunde nicht von Verhinderung dieses Vorganges reden können. Auch
der Zeitraum, welcher zwischen der Entwicklung des primär entstandenen
Entzündungsheerdes und der eventuell folgenden tuberkulösen Infection
liegt, ist völlig unberechenbar. Es scheint Fälle zu geben, in welchen
z. B. die Tuberkelbildung in den Lungen den chronischen Bronchial-
catarrh und die Desquamativpneumonie veranlasst, andere, in welchen
letztere Erscheinungen das primäre sind und die Tuberkelbilduug den-
selben fast auf dem Fusse folgt, andere, in welchen viele Jahre zwischen
dem Auftreten dieser beiden Erkrankungsformen liegen. Kurz die
Mannichfaltigkeit des Processes ist eine sehr grosse. Alles das ist aber
kein directer Angriffspunkt für die Therapie. Was die Erblichkeit
anlangt, auf die man mit Recht bei der Tuberkulose so grosses Gewicht
4ß4 Vdii der clironischen Entziindnng, besonders der Weiditheile.
legt, so sind in dieser Beziehung- manche Beziehungen durch die neuere
Auffassung etwas verständlicher geworden und manclie früheren Er-
fahrungen lassen sich ohne Zwang- den modernen Anschauungen an-
passen. Wenn die wahren Tuberkeln nur durch Selbstinfection entstehen
können , so kann von einer directen Vererbung- der Tuberculosis im
strengeren Sinne des Begriffes nicht die Rede sein, sondern nur die
Neigung zu chronisch-entzündlichen Processen mit Ausgang in Eiterung
und Verkäsung' etc. ist erblich, mit anderen Worten: nur die scrophulüse
Diathese, nicht die Disposition, Tuberkel zu produciren, ist erblich. Wir
wollen dies vorläufig- im Auge behalten, die Erfahrung- der Familien-
ärzte stimmt im Ganzen wohl damit überein; docli müssen wir uns
darüber klar bleiben, dass solche Sätze nur sehr im Allgemeinen richtig
sind. Die Erblichkeit von Dispositionen zu Erkrankungen bestimmter
Organe und zu Erkrankung-en an berstimmteu Processen ist schon wieder
ein so complicirter Vorg-ang-, dass man darüber nur mit aller möglichen
Eeserve bestimmte Behauptung-en aufstellen kann. —
Die Tuberkulose führt zum Tode abgesehen von g-elegeutlicheu
accidentellen Erkrankungen, wie diffuse Meningitis, Lungenblutuugen,
Pneumothorax, Empyem, Peritonitis in Folge von Darmperforation,
Pyohämie etc., theils durch die ausgedehnten Eiterungsprocesse und den
relativ starken, continuirlichen mit febrilem Marasmus combinirten Ver-
lust an Eiter, theils durch amyloide Degeneration der inneren Organe,
welche sich zu diesen Eiterungen hinzugesellen, theils endlich durch
acute Miliartuberkulose, d. h. durch eine colossal massenhaft auftretende
Eruption von Tuberkeln in inneren Organen, welche mit einer allgemeinen
Intoxication verbunden ist, bei welcher die Kranken sich in einem
typhus-ähnlichen Zustande befinden. In den früheren Stadien der Krank-
heit kann Heilung eintreten, freilich mit zurückbleibender Neigung zu
Kecidiven.
Fassen wir zusammen, was sich über die Angriffspunkte der The-
rapie der Tuberkulose sagen lässt, so wird dies wohl lauten: wir
können weder die Entstehung von Tuberkeln noch ihre Ausbreitung mit
Sicherheit verhüten. So trostlos dies klingt, so ist doch hinzuzufügen,
dass die ärztliche Sorgfalt Manches vermag, um die Entwicklung der-
jenigen Processe zu hemmen, w^elche so oft Tuberkulose nach sich zie-
hen. Die frühzeitige sorgfältige allgemein diätetische und locale Be-
handlung von chronischen Knochen- und Gelenkkrankheiten, ja selbst die
rechtzeitige Amputation von Gliedmaassen oder Resection kranker Kno-
chen vermag eventuell die Entwicklung von Tuberkeln zu verhindern.
Ebenso ist die ängstliche Pflege bei Catarrheu aller Art, und die mög-
lichst vollständige Beseitigung derselben unzweifelhaft das Wirksamste,
was wir thun können, um eine tuberkulöse Infection zu verhindern. Es
ändert sieh schliesslich nichts in der Therapie der Tuberkulösen. Alle
Mittel, alle Bäder und Kurorte, alle Verhaltungsmaassregeln, welche man
Voricsimn- 2\). ('M|.il.-1 XFV. 405
ilineu g'icl)t, Ijcziclicn und l)oz(>i;-ou sich imiiior damiif: 1) die hestdicu-
dcii CmImitIio (»der sonsliii'cn priniäi-on Kranklieiten zu heseitigeu (uh-.v
zu vorniiudcru, "2) die Eninliruiii;' der meist abg'euKti^-ertcn Krardveii zu
heben, ->) Alles zu veruu'iden, was diesen Individuen entziindliclie l'ro-
eesse veranlassen und sie fieberhaft machen könnte. - Ich muss es
den Vorlesung-en über klinische Medicin überlassen, Sie detaillii-ter mit
den wichtigen Principien der Therapie, dieser so häidigen und so schreck-
lichen Krankheit bekannt zu maclien.
3. Die Arthritis {cigOgov Glied, Gelenk) oder Giclit ist eine
Kranklieitsanlag-e, welche gewöhnlich erst gegen das 30., sell)st 45. T.e-
bensjahr und später als Krankheit ausbricht; sie wird sehr vielfach nut
dem chronischen Rheumatismus zusammeng-eworfen, ist jedoch von dem-
selben ziemlich verschieden. Die wahre Gicht ist eine bei uns sehr
seltene Krankheit und zeichnet sich dadurch vor dem Klieumatisnius aus,
dass sie anfallsweise, oft jährlich nnr einmal nnd zu bestimmten Zeiten
wiederkehrt, während die Individuen in der Zwischenzeit gesund sind.
Die Gicht ist eine Krankheit der reiclicn, und wie alte Aerzte, welche
selbst daran litten, w^ohl hinzusetzten, der klugen Leute. Sie entsteht
lianptsächlich bei Männern, welche ein beliagliches, Ijequemes Wohl-
leben führen, und vererbt sich nicht selten auf die folgenden Genera-
tionen, tritt jedoch meist erst im höheren Mannesalter auf; Harvey,
Sydenham, Romberg- und viele andere berülimte Aerzte litten an
Gicht. Die Entzündungen, welche bei der Gicht auftreten, sind besonders
auf einige bestimmte Gelenke und ihre umlieg-endeu Theile beschränkt.
Das Gelenk zwischen Metatarsus und der ersten Phalanx der ^'rossen
Zehe wird besonders häufig ergriffen: hier sitzt das wahre Podagra
(nodäyQa^ Fussfalle, dann gichtische Lcähmung- der Füsse; von Troi'g Fuss
und ayQa das Gefangene, die Beute). x4.uch die Handgelenke und Pha-
langalgelenke können bei der Gicht afficirt sein; hier führt sie den Na-
men Chiragra (von xsi'q Hand und ayqa). Bei diesen Entzündungen ist
auch die Haut um die Gelenke betheiligt; sie wird bei den Gichtanfällen
glänzend geröthet, geschwollen und sehr empfindlich wie beim Erysipelas;
auch können in seltneren Fällen sich bei diesen Processen Geschwüre
ausbilden, Arterienverdickuugen (das Atherom der Arterien) mit ihren
gelegentlichen Folgen: Hirnapoplexien und Gangraena senilis sind nicht
selten bei Arthritikeru zu finden. Fettleibigkeit, Erkrankungen der
Leber und Nieren können die Gicht ebenfalls begleiten, zumal kommt
Harngries, eine feinkörnige Ausscheidung harnsaurer oder oxalsaurer,
von den Nieren in die Blase gelangter Salze in Form von Hirse- oder
Grieskorn-grosseu, runden, glatten, rothen, auf den Durchschnitt viele
Schichten zeigenden Kügelchen nicht selten vor, ebenso häufig aber auch
die Entwicklung grösserer Nieren- und Blaseusteine. In den erkrankten
Gelenken und Sehnenscheiden hat man eine nicht unerhebliche Quanti-
tät von hamsaureu Salzen nachgewiesen, zuweilen in solcher Menge,
BiUruth chir. Puth. u. 'ilicr. 7. Autl. 30
Af>n Yoii Jer cliroiiisclK^n Eiityündnn.!^, besonders der Weichtlieile.
dass sie die Gelenkfläclien und Gelenkkapseln als ein Aveisskörnigev
Ueberzuo- bedecken. Einem Gichtanfall geht gewöhnlich kürzere oder
läno-ere Zeit ein allgemeines Unwohlsein voraus, welches zu verschwin-
den pflegt, sowie der Entzündungsprocess in einem äusseren Theile,
o-ewöhnlich in einem Gelenk, Platz greift. Diese Entzündungen dauern
14 Tage bis G Wochen und verschwinden dann oft mit Hinterlassung
einer Verdickung des Gelenkes, welche für immer zurückbleibt; doch
bleiben in andern Fällen die erkrankten Glieder viele Jahre lang ohne
Veränderung. Bei manchen alten Arthritikern findet man solche stein-
harten Gichtknoten neben den Gelenken und den Sehnenscheiden, auch in
der Haut, z. B. im Ohr. Brechen diese Knoten auf, so kann man mit
einem Ohrlöffel die Kalk- und Harnsäuremassen auslöffeln: die völlige
Auseiterung und der Schluss solcher offnen und dann sehr empfindlichen
Gichtknoten dauert dann Monate lang; blutige operative Eingriffe sind
dabei dringend zu widerrathen. Der gewöhnliche Podagraaufall endigt
nie in Eiterung, sondern immer in Zertheilung. — Wegen dieser ätio-
logischen Beziehung der abnormen Harnsäureablageruug zu den Gelenk-
erkrankungen, hat man die Gicht auch als Arthritis urica (von nvoov
Urin) bezeichnet.
Die Behandlung des Gichtanfalls, der gichtischen Gelenkentzündung,
ist zu trennen von der Behandlung der i'Trthritis im Allgemeinen. Die
arthritische Gelenkentzündung nimmt fast immer einen typischen Verlauf,
welcher durch therapeutische Eingriffe nicht Avesentlich zu ändern ist.
Die Hauptaufgabe der ärztlichen Kunst ist dabei, die sehr schmerzhaften
Beschwerden durch Ermässigung der Entzündung zu erleichtern; hier
würde nun das Eis sehr gute Dienste leisten, wenn man die Anwendung
desselben nicht aus gewissen Gründen fürchtete, und zwar deshalb, weil
man bei der sehr häufig bestehenden Atheromasie der kleineren xlrterieu
durch die anhaltende Anwendung hoher Kältegrade Gangrän hervor-
rufen könnte. Gegen die Application kalter Compressen, kalter Fomen-
tationen mit Bleiwasser, schwacher Höllensteiulösungeu, von Blutegeln
ist nicht viel einzuwenden; doch ziehen es manche Arthritiker vor, sich
die entzündeten Gelenke mit einem milden Fett bestreichen und mit
Watte umhüllen zu lassen. Starke Schweisserzeugung, z. B. durch den
Genuss von vielem heissen Thee, und hydropathische Einwicklungen
sollen oft den Anfall abkürzen. — Bei der Behandlung der arthritischen
Diathese stehen Bruunencuren obenan. Der innere Gebrauch von Karls-
bad, Kissingen, Homburg, Vichy und anderen salinischen Quellen sind
nützlich, auch die Thermen von Teplitz, Eagatz, Gastein, Wiesbaden,
Aachen sind den Arthritikern zu empfehlen. Doch muss man darauf
gefasst sein, dass beim Gebrauch der warmen Bäder ein acuter Gicht-
anfall ausbricht.
4. Die seorbutische Dyskrasie äussert sich in einer grossen
Fragiiität oder Weichheit der Capillargefässe und dadurch bedingten
VorlosiiiiK -J'.). Capilcl XIV. 407
subcutanen Bluluiii^cii, wclelic tlicils in Folge von Zevreissungen von
Gefässen, tlieils per Diapedesin entstehen. Als Wesen dieser Kranklieit
nimmt man einen Dissolutionszustand des Blutes an, oline die Art der
Blutveränderuni^' näher bezeichnen zu können. iJie Krnnkheit kommt
fast nur endemisch, z. B. an den Ostseekiistcn vor, und hat in cliinir-
g'isclier Hinsicht weniger Interesse; bei Gelegenheit der Gcscliwiire im
nächsten Capitel wollen wir darauf zurückkommen.
5. Die syphilitische Dyskrasie. Wenngleich es nicht meine
Absicht ist, die Syphilis mit in das Bereich dieser Vorlesungen zu ziehen,
muss ich Ihnen doch der Vollständigkeit halber auch darüber einige
kurze Bemerkungen mittheilen. Die Syphilis ist freilich aucli einmal im
Menschen entstanden, wie die früher besprochenen Diathesen; jetzt aber
verbreitet sie sich nur durch Impfung; der Geimpfte ist von dem Moment
an, wo das Virus gehaftet hat, syphilitisch, dyskrasisch. Wenn man von
syphilitischen Krankheiten im Allgemeinen spricht, so wirft man dabei
gewöhnlich dreierlei Krankheiten zusammen :
1) den Tripper, eine Blennorrhoe der Vagina, dann der Harnröhre,
welche sich von hier gelegentlich auf die Ausführungsgänge der Hoden
und Prostata verbreiten kann und zu einer gonorrhoischen Prostatitis
und Orchitis Veranlassung giebt; Wucherungen des Papillarkörpers in
Form der sogenannten spitzen Condylome (von xovdvXog, knopfartiger
Vorsprung am Knochen, hier als Vorsprung überhaupt), entstehen oft da,
wo Trippereiter stagnirt;
2) den weichen Chancre, einen circumscripten geschwürigen Pro-
cess, gewöhnlieh an der Eichel und Vorhaut, welcher häufig durch Ver-
mittlung der Lymphgefässe eine Entzündung der Leistendrüsen anregt,
die eine grosse Disposition zum Ausgang in Eiterung hat;
3) das eigentlich syphilitische Geschwür, den indurirten
Chancre. Lues. Bei diesem erfolgt zugleich mit der Impfung die allge-
meine Erkrankung, während die erste und zweite Form relativ local bleibt.
Bei einer Impfung mit dem Secret eines wahren syphilitischen Geschwürs
ward gleich der ganze Organismus iuficirt, es treten eine Keihe von
chronischen entzündlichen Processen in den verschiedensten Organen
auf, welche im Anfang einen mehr productiven Charakter liaben, dann
aber bald zum Zerfall der infiltrirten Gewebe führen und einen ulcerativ-
destructiven Charakter annehmen. Folgende Erscheinungen können bei
der Syphilis auftreten: fleckige, papulöse, desquamirende, knotige Aus-
schläge der Haut, Geschwüre in den Fauces, an den Lippen, an der
Zunge, am After; osteoplastische und ulcerative Periostitis und Ostitis,
zumal an der Tibia, an den Schädelknochen, am Sternum u. s. w.; chro-
nische entzündliche Processe der verschiedensten Art, gewöhnlich mit
Verkäsung: in den Hoden, in der Leber, im Hirn, vielleicht auch in der
Lunge. Das knotige circumscripte Product der Syphilis nennt Virehow
„Gummigeschwulst", E. Wagner „Syphilöma". — Die Syphilis kann
A(\Q Villi (liT rlii-DiiiscIirii lOiil/iilKliltiL;. liosoiirliTS der W'riclilliciic.
Hicli aiicli vcrcrboii ; es Avcrdcn Kinder mit Svpliilis ii;('lM»reii ; die Dys-
kmsic kfiiin init dem Speniifi nuf diis Ei Uhertrui^eii werden, auch g-elit
Hie von der Müller muI' dns Kind, sowie vom Kölns anf die Mutter über.
Der Tripper und dar weielu^ dlianere sind örtlielie Kranklieiten und
als solelie zu hcliandein. ]Maneli(> Syi)liilid(»lo,i;'(Mi linlten den weidirn
Olianere nnd den indnrirten Cluinere nur l'iir zwei Acrscliicdeiie uuiunieli
fncli iu eiu.'inder iil>er^'elicnde Formen der Syphilis; der Dnalisnnis dvr
sy|)iiililiselien (Jil'te hat indess sehr viel Anhänj^er; es wird noeh sehr
viel darüber hin nnd her disentirt. (Jei;-en die Sypldlis als Dyskrnsie
,i;;ilt für Viele das Quecksilber ;ils Specilieum naeh Art eines Antidotnms.
I);iss sieh dies nielit i;!ni7, so Acrluilt, seheint dnreli die n(MHM'eu
riit(^rsnehuni;-en IxMviesen. Die (■ouslilnlion(dle Syphilis, nou der jeder
Mensch nur ('inui;il beinllen wird, k;niu nur im Laufe dvr Zeil durch
den StolTweclisel i;-ewisserm;i;isseu Musi;-es('liieden werden, und ;ill(> Mitlei,
AV(dche den StolTwechsid in hohem (!i';ide bel'ördern, sind daJier in i;'e-
Avissem Sinne ;ils Antisyphililica /,u verweuihm. vVm häuiii2,'sten werden
Scliwil/cnren und (?nren mit Abriilnuni;smilteln in Anwendunii,' ^-ezoiicn ;
zu^veilen ist di(^ Sy|»hilis naeh einer s(M'liswrK'h(MiHiclu'n Vnv i;'elili;'t; in
m;Miclien l'';illeu müssen solch(> (hiren mit l 'nterbrechuiii^en sehr oft wie-
deiholl werden, bis si(^ endlich l'h-foli;- haben, nnd endlieh j;iid»t es
l*':ille, die überhaupt nicht lieilbnr sind. D;is (^>neeksilber, in Form von
Schnncrcuren oder innerlieh in verschied(Mien rräparaton längere Zeit
hinter ein;inder ;ini!,ew;indt, vernnii;' zuweilen in überraschender )\'eise
die l'j-scheinuni;(Mi der Syphilis schnell zu beseitiii'en, und es wird dnher
in stdchen l'\illen seinen W(M-tli als Antisyi)hiliticuni behalten, wo es sich
durum Immlell, gewisse ideei'ntive l'ornien, zumnl an den Knoehen, so
schnell :i,ls möglich zum Stillstand zu bi-ingen. Ob das Quecksilber an
sich im Sl.'inde isl , die Syphilis zu tilgen, ist in neuerer Zeit vielfach
bezweifelt werden, und zu gleicher Zeil sind dii' Schfidlichkeilen hervor-
gehobcMi, w(dche durch dauernde (^)iu'cksilbe-rcureu, durch eine Art chro-
niscluM- Qm'cksilbervergil"tung (llydrargyrosis) erzeugt werden. Die Par-
teien d(>r IM(M('uri;ilisten und Antinu'rcuri:ilislen bi-fehdiMi sich schon seit
hinger Zeil. Ich für nuMue Person mugt» mich nudir zu den Ansichten
der AntimeicnriMlistcn. lU^brigens werden Sie im \'(Ml!uife ihrer Studien
noch ninnclicrh'i über diesen A\icliligen und interess;inten (iegenstand
liören. Als eines (h'r wichligsten und wirksiimstiMi Mittel g(>gen die
syphilitischen Knocheukrankheileu und die syphilitischen iMkr.'inkuugeu
der Driisen ist d;(s .lodkalium von mIUmi Seilen ;inerk;nnit worden,
wiihrcnd es gegen :inderi> syphilitische Erkranknugoi weiug nützt.
Voilostmo- 1",). Capii,'! XIN'. .\{\()
VjS oriibrii;'! noch, ;mii Scliliissi dos C:i|ul('ls von dvv clirdnisclicii Mnl.
/.iindnni;- (lirjcnig'on i\Ii((ol (Inrclizn^'t^luMi. \\(>lcli(> wir dalxM iirllicli ;in
zuwenden ludten und welclie, je nueli der HescIiMniMilicil dcv Källe, l»;ild
mehr, bald Aveniiivv in den N'ordcM-^ruud Ireleu. ^\o es der IJeoItacIi-
tnui;- nielil i;'elini;'(, die nlli^euuMuen IrsMchen cMucr clironisclicu l'lul'/iinduui;-
.•inl/uliiulen, sind wir allein nul' die örtlichen Midel Iteschrüukl.
Absolute Ruhe di>s ent/iindet(Mi TIumIs ist in allen Fällen noih
wendig", wo Schmerzen und eoni;esliM' l-j-scheiniingen Atnhandcn sind.
iMa.n verhindert sie ^vonlöl;•lich mit Hoc h lai^'c ru u g' des (M-kranklcn Tlici
les, die man durch iSnspensionAorrichtungen oder rntcrlaiierunucn \(in
Polstern hewerkstellig't. Sie hat den Zwecl;, die n enöse Spannung, W(Mch(>
durch die absolute K*uhe cdu'r begünstigt >vird, durch Erleichterung des
lilutrückilusses in den \'enen zu vernuinhM'u, eAeutuell aufzuheben und
ist daher in allen den Fällen \ou besoud(M-er >\ichtigkeit , in ^vclchcu
die venöse Stauung zur Entstehung oder Steigerung chroniscii cutzünd
lieber Proccsse beitrug.
Compression. Dieselbe \\\V(] durcii l^in^vickluugen der erkrai\klen
Theile mit b'lanellbiuden, baunnvolbMUMi o(Um- IcintMUMi, (!_v|)S-l)iuden,
llel'tpthisterstreit'en, zuweilen auch durch Aufbinden von rdotten, selbst
durch das Anliegen massiger CuMvichte (z. \\. in Form von lUndeln, die
mit llaaseuschrot gefüllt sind, zur (\)uii)ressi(»n geschwollener Inguinal-
driisen) ausgeführt. Die Compri^ssiou ist eins der allerAvichligsten, und
wo sie gleichmässig' wirkend a,ngebraclit werden kann, das sicherste
örtliche Mittel /Air Beseitigung' ehronisch-cMitzüudlicher luliltrationen.
Sehr wirksam ist auch die feuchte A\'ärni(> in Form von Kat;i-
plasmen continuirlich auge\va)ult, ferner die hydropathischen l'^in-
Wicklungen; sie bestehen darin, dass mau ein uudirfach znsanunen-
g'efaltetes Tuch in kaltes Wasser eintaucht, ausringt, den betretfeuden
Theil damit umwickelt, darüber eine luftdicht schliessend(> Schicht durch
AVachstatfet oder Gutta-rerchazeug herstellt und diesen \'erband alle
2 — 3 Stunden erucMU'rt. Die anfangs stark abgekühlte Haut erwärnd
sich bald in sehr hohem (^n-ad(>; (binn wird dei- N'erband erneuert, so
dass die llautgefässe durch den ^Vechsel \o\\ Kälte und W'änue in steter
Action erhalten und dadurch zur resorbiriMuK'u Thätigkeit besonders
g-eeignet werden. Diese Finwicklungen sind in vielen Fällen von sehr
grossem Nutzen. Eine zuweilen äussiM'st günstige AN'irkung auf die
rasche Resorption älterer torpider lniiltrat(\ so wie auf ueuralgisciie
Afil'ectionen in chronisch entzündeten 'IMumIcu haben zuweilen die warmen,
respective heissen locahMi Sclilannn- und Moorbäder. In Tystian, Oi'vn
(Ungarn) münden heisse Qmdlen in den Schlamm kleiner Flüsse; in die-
sen natürlich heissen Schlannn, der in Arm- und Fusswaunen gefüllt
wird, wei-den die erkrankten Glieder täglich ein oder zwei Mal liinein-
g'estcekt. In mehren Thermen bereitet man diese Schlannnbäder jetzt
künstlich. Von ebenso <rrosser AVirkuni;' sind die Moorbäder in Frauzen-
470 V"" ^^^' L'hrunitschea Entzündung, besunders der Weiclitlieile.
bad und Marieubad; der von Eisen-haltigen stark sauren Quellen durch-
tränkte Moor wird erwärmt und wie vorher vom Schlamm erwälint,
angewandt. Ob dabei die gelösten Mineralsalze mitwirken, weiss man
nicht, vielleicht wirken diese Localbäder nur wie grosse Kataplasmen. —
Auch die Umschläge mit dem Therm alwas^ser der Jod- haltigen Salz-
quellen haben einen günstigen Ruf als Resorbentia. Sie erzeugen meist
nach kurzer Zeit Hautausschläge, und können somit auch unter die de-
rivirenden Mittel kategorisirt werden. — Im Volk sind auch die Thier-
bäder oder animalischen Bäder sehr beliebt, welche darin bestehen,
dass die kranke Extremität zwischen die Eingeweide (Kutteln, Wampen)
eines eben getödteten Thieres gesteckt und darin gehalten wird, bis der
Cadaver abgekühlt ist; man sucht einen besonderen Zauber in der
thierischen Wärme, von dessen Wirkung ich mich nicht überzeugen
konnte. Endlich sind noch die früher sehr beliebten heissen Sand-
bäder zu erwähnen, die kaum einen Vorzug vor der feuchten Wärme
haben.
Resorbirende Arzneimittel. Als zertheilende Ueb erschlage
haben die Formeutationen mit Bleiwasser, Arnica-Infus, Cha-
millenthee u. s. w. einen gewissen Ruf, den sie jedoch nur als feucht-
warme Ueberschläge, nicht wegen der Zusätze zum Wasser verdienen;
sie fallen mehr in die Kategorie der indiiferenten Hausmittel. Es kann
zweckmässig sein, dergleichen zu verordnen, da man vielen Patienten
auf das Wasser allein gar kein Vertrauen beibringen, und sie daher
überhaupt nicht zur cousequenten Anwendung der feuchten Wärme brin-
gen kann, wenn man ihnen nicht etwas dazu aus der Apotheke ver-
schreibt. Die graue Quecksilbersalbe, das Quecksilberpflaster,
die Jod kaliumsalbe und Jodtinctur sind ebenfalls Resorbentia, welche
man abwechselnd bei chronischen Entzündungen braucht. Ich bin weit
entfernt, ihnen alle Wirkungen bei chronischen Entzündungen absprechen
zu wollen; allzuviel dürfen Sie jedoch nicht von ihnen erwarten. Die
Jodtinctur hat man in neuerer Zeit auch in das Parenchym von
Lymphdrüsen injicirt, in Dosen von 5 — 10 Tropfen, doch mit sehr un-
gleichem Erfolg. Eine Reihe von sogenannten zertheilenden Pflastern
übergehe ich hier; sie haben als solche wenig "Werth, wirken theils auf
die Haut leicht reizend, theils nur als gleichmässig einhüllende, vor
schädlichen Einflüssen schützende Bedeckungen; ich verordne solche
Pflaster in manchen Fällen, um zu verhüten, dass die Patienten selbst
schädliche Dinge anwenden; die im Volke beliebtesten Pflaster sind;
Emplastrum Minii adustum (Empl. noricum, fuscum), Emplastrum oxycro-
ceum, Emplastrum saponatum (Empl. saponato-camphoratum), Emplastrum
Conii maculati (Empl. Cicutae), Emplastrum de Meliloto; nur die längere
Anwendung von Quecksilberpflaster hat wohl eine medicamentöse ^Ein-
wirkung. ErAv ahnen will ich noch die Electricität als zertheilendes
Mittel; sehr gross scheint die Wirkung nicht zu sein, immerhin sind Fälle
Vorl.vsilii;^' 2\). f';i|)ilrl XIV. 47 [
mitg-etlieilf, in welclicii sie mit Nutzen nn.^evvandt wm-(Ie; man sollte
flfiriiber nocli weitere Untersuchungen anstellen.
Die eig-entlicli antiplilog-istischen Mittel; das Eis, die Blut-
egel, die Schröpfküpfe kommen selten und nur mit geringem, voriiher-
g-eliendem Erfolg- bei den clironiscli-scldeiclicnden Entzündung'cn zur An-
wendung-, sind jedocli bei allen intercurrenten, acuten Anrällen von ebenso
grosser Hcdeutung, wie bei den primär acuten Eutzünduiig-s})rocesscn.
Das Eis wird >'on einigen Chirurgen der Neuzeit, besonders von Esmarch
dauernd auch Ixn g-anz cJironischen torpiden Entzündungen angewandt und
der Erfolg dieser Behandlung g'criihmt. Kann man es dahin l)ring-en, dass
es Monate lang' mit äusserster *Sorgfalt und Conseqiienz applicirt wird,
so ist es zuweilen von giinstig-er Einwirkung auf die Resorption chronisch-
entzündlicher Infiltrate, zumal bei Gelenk- und Knochenerkrankung-en.
Ich habe auch einige auffallend günstig-e Fälle der Art beobachtet, wäh-
rend in anderen Fällen jeder Erfolg ausblieb.
Die ableitenden Mittel. Derivantia. Diese spielten früher
bei der Behandlung der chronischen Entzündung eine grosse Rolle. Sie
haben ihren Namen davon bekommen, dass sie den Entzündungsprocess
von seinem Sitz auf eine andere weniger gefährliche Stelle ableiten sol-
len; es sind Mittel, durch welche man Hautentzündungen sehr verschie-
denen Grades anregen kann, Mittel, die nach Erfahrungen guter Beobachter
in vielen Fällen sich trefflich in ihrer Heilwirkung bewährt liaben sollen.
Eine bisher ungelöste, wenn auch vielfach angestrebte Aufgabe ist es,
die Wirkungsweise dieser Derivantia physiologisch zu erklären. Man
stellt sich die Sache ungefähr so vor, dass durch die genannten Mittel,
weiche in der Nähe eines etwa im Gelenk oder Knochen liegenden chro-
nisclien Entztindungsprocesses applicirt werden, das Blut sowohl als die
Säfte nach aussen auf die Haut hingeleitet werden. In manchen Fällen
von sehr torpiden, mit geringer Energie und geringer Vascularisation
verlaufenden Entzündungsprocessen wirken die Derivantia gewiss mehr
zuleitend, d. h. der neue, acute Entzündungsprocess, welcher in grosser
Nähe des chronischen angelegt wird, veranlasst eine stärkere Fluxion
nach diesen Theilen überhaupt, und es kommt dadurch der chronisch-
torpide Entzündungsprocess in eine energische, lebhaftere Thätigkeit.
Wir wollen uns jedoch hier nicht abquälen mit dem Aufsuchen des phy-
siologischen Weges, auf welchem diese Mittel wirken; es ist dies stets
ein sehr undankbarer Gegenstand gewesen. Ich brauche diese Kategorie
von Mitteln nur noch äusserst selten, doch werden die milder wirkenden
von anderen Chirurgen noch vielfach in Anwendung gebracht, daher
führe ich sie hier der Reihe nach an:
Das Argentum nitricum, in concentrirtester Lösung (etwa 3j
auf 5j Fett) mit einem Fett vermischt und auf die Haut ein paar Mal
am Tage verrieben, bewirkt eine dunkelbraune, silberglänzende Färbung
der Haut und eine langsame Abblätterung der Epidermis. Es ist eines
J79 Von der ilironisclieii Entzündung, besundei-s der Weictitlieile.
der mildesten ableitenden Mittel, welches sicli bei Gelenkkrankheiten
reizbarer Kinder besonders zur Anwendung- eignet. — Die Jodtinctur
und zAvar die Tinct. Jodi fortior (1 Drachme oder 5,000 Gramraes Jod
in einer Unze oder 35,00 Gramnies absolutem Aleohol mit Aetlier ge-
löst) bewirkt, wenn sie Morgens und Abends auf die Haut gestrichen
wird, einen ziemlich lebhaften, brennenden Sehmerz; wenn man diese
Bepinselung 2 — 3 Tage fortsetzt, entsteht eine blasige Erhebung der Epi-
dermis, zuweilen in der ganzen Ausdehnung, in der das Mittel ange-
wandt ist. — Schneller wirken die Blasenpflaster; sie bestehen aus
zerstossenen Canthariden (Lytta vesicatoria, Melöe vesicatorius), welche
mit Wachs oder Fett verrieben, auf Leinwand, Leder oder Wachstaffet
gestrichen werden. Das gutbereitete Emplastrum Cantharidum ordinarium
wird in Stücken von Franken- oder Thalergrösse auf der Haut fixirt,
und es entsteht unter denselben nach 24 Stunden eine Blase, die man
aufsticht und dann am besten ein Stückchen Watte darauf legt, welches
fest antrocknet und nach 3 — 4 Tagen abfällt, in welcher Zeit das abge-
löste Hornblatt der Epidermis sich von dem zurückgebliebenen Rete 3Ial-
pighii aus regenerirt hat. ]Man kann dieses Spanisch-Fliegenpflaster ent-
weder in grösserer Form einmal anwenden, oder man lässt n*ch einander
täglich ein kleines, neues Pflaster appliciren ; diese letztere Anwendungs-
methode nennt man Vesicatoires volants. Endlich kann man auch ein
Pflaster anwenden, welclies nur eine sehr geringe Quantität Canthariden
enthält und nur eine contiuuirliche Röthung veranlasst. Es ist dies das
Emplastrum Cantharidum perpetuum oder Emplastrum Euphorbii; es wird
mehre Tage oder Wochen nach einander getragen. Wenngleich die zu-
weilen günstige Wirkung der bis jetzt genannten ableitenden Mittel bei
chronischer Entzündung nicht zu leugnen ist, so will ich Sie doch hier
gleich aufmerksam machen, dass zumal die Jodtinctur und die Vesica-
tore viel mehr bei subacuten Entzündungen leisten und bei den kleineu
acuten Attacken, welche die chronische Entzündung unterbrechen, als
bei den ganz schmerzlosen, torpiden Formen.
Die jetzt noch zu nennenden Mittel sind solche, deren Application
eine länger dauernde Eiterung zur Folge hat, eine Eiterung, welche
durch künstliche, äussere Reize nach dem Willen des Arztes längere
Zeit unterhalten wird. Hire Anwendung hat im Lauf des letzten
Decenniums so abgenonnneu, dass die Zahl der Chirurgen, welche sie
überhaupt noch verwenden, äusserst gering ist. Ich brauche sie gar
nicht mehr.
Unguentum Tartari stibiati und Oleum Crotonis. Beide
erregen, wenn sie längere Zeit wiederholt auf die Haut aufgestrichen
werden, etwa nach 6—8 Tagen, bei reizbarer Haut früher, einen pustu-
lösen Ausschlag, dessen Hervorbrechen nicht selten mit sehr lebhaften
Schmerzen verbunden ist. Fangen diese Pusteln an, deutlieh hervorzu-
treten, so unterbriclit man die Application der genannten 3Iittel und lässt
Voilcsmi.i; 1".). (';i|nlrl XIV. AI;]
die Pusteln wieder lieileii. Es bleiheu iiielit selten zieiidicl) bedeutende
Narben darnach zurlick; die örtliche Wirkiini-- dieser Mittel ist eine
ziendich ungleiche, zuweilen iihermässii;' licl'tii;-, dann anch wieder sehr
gering-.
Unter Fonticulus oder Fontanelle (von Ions, Quelle) versteht
man eine absichtlich erzeugte, in Eiterung erhaltene Wunde der Haut.
Man kann dieselbe auf sehr verschiedene Weise hervorbringen. liegen
Sie z. li. zuerst ein gewöhnliches Blasenpflaster , schneiden dann die
Blase ab und verbinden die der Epidermis beraubte Hautstelle täglich
mit Unguentum Canthariduni oder andern reizenden Salben, so erzeugen
Sie dadurch eine dauernde p]iterung, so lange Sie die genannten Ver-
bandmittel fortsetzen. Eine andere Art, eine Fontanelle anzulegen, ist
die, dass Sie einen Schnitt in die Haut machen und zwar durch die
Dicke der Cutis hindurch, und in diese Wunde je nach der Grösse, in
der Sie die Fontanelle unterhalten wollen, eine Anzahl Erbsen hinein-
legen, die durch ein iiberg-elegtes Heftpflaster in der Wunde fixirt werden.
Die aufquellenden Erbsen, w^ eiche täg-lich erneuert werden, reizen als
fremde Körper die Wunde; es wird auf diese Weise künstlich ein ein-
faches Geschwüir erzeugt. Es bleibt immer am einfachsten, die Fontanelle
mit einem Schnitt anzulegen; man kann indess auch eine vollständige
Hautverbrennung- durch irgend ein Aetzmittel erzeugen und die Wunde,
welche nach Ablösung des Aetzschorfes entsteht, durch Einlegen von
Erbsen in Eiterung erhalten.
Das Haar seil (Setaceum, von Seta, Borste, Haar) bestellt aus
einem schmalen Streifen Leinwand oder einem gewöhnlichen, baum-
wollenen Lampendocht, welcher mit Hülfe einer besonderen Nadel
unter die Haut hindurchgezogen wird. Die Haarseilnadel ist eine
massig breite, ziemlich lange Lancette, welche an ihrem untern Ende
ein grosses Oehr trägt, um da hinein das Haarseil einzufädeln. Man
applicirt das Haarseil gewöhnlich im Nacken und zwar auf folgende
Weise: Sie bilden mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand eine
möglichst hohe Hautfalte, durchstechen dieselbe an der Basis mit der
armirten Haarseilnadel und ziehen letztere hindurch. Nachdem das
Haarseil einige Tage unangerührt gelegen hat und die Eiterung beginnt,
ziehen Sie es vor, schneiden das mit Eiter imprägnirte Stück ab und
wiederholen diese Procedur täglich. In dem ganzen Canal, in welchem
das Haarseil liegt, bilden sich Granulationen, welche reichlich Eiter ab-
sondern. Das Haarseil wird Wochen oder Monate lang getragen und
entfernt, wenn man die Eiterung aufhören lassen will. —
Eine andere Art, andauernde Eiterung zu erzeugen, ist die, mit
Hülfe der Glühhitze einen Brandschorf auf der Haut zu bilden und die
zurückbleibende granulirende Wunde je nach der beabsichtigten Wirkung
längere oder kürzere Zeit durch reizende Verbandmittel oder eingelegte
Erbsen an der Vernarbung zu verhindern. Man bedient sich hierzu zwei
474 Von der chronischen Entzündung, besonders der Weichtheile.
verschiedener Apparate, der sogenaunten Moxa oder des glühenden
Eisens. Die Moxen bereitet man z. B. so, dass man eine mit Seiden
fäden zusammengewickelte Wattekugel mit Spiritus tränkt, sie mit einer
Kornzange auf der Haut fest anhält und dann anbrennt. Je nach der
kürzeren oder längeren Einwirkung kann man verschiedene Grade der
Verbrennung erzeugen. Es giebt noch andere Ai'ten, sich Moxen zu
bereiten, die ich indess hier nicht weiter durchgehen will, weil die Moxen
überhaupt in neuerer Zeit kaum noch gebraucht werden. Wollen Sie
auf der Haut einen Brandschorf erzeugen, so geschieht das am ein-
fachsten durch die starken Aetzmittel mit Aetzpasten, oder durch das
Ferrum candens. Die in der Chirurgie gebrauchten, schon früher bei
den hämatostyptischen Mitteln, erwähnten Glüheisen sind ein Fuss lange,
mit einem Holzgriff versehene, dünne Eisenstangen, an deren Spitze sich
ein kolbiges, kuopfförmiges , cylindrisches oder prismatisches Ende be-
findet, welches in ein mit glühenden Kohlen gefülltes Becken gelegt und
so lange angeblasen wird, bis es roth- oder weissglühend wird. Man
kann damit verschiedene Grade der Verbrennung bis zu Verkohlungen
der Haut in verschiedener Grösse, Form und Tiefe erzeugen, je nachdem
man eine sehr ausgedehnte Eiterung oder mehre einzelne, kleinere Eiter-
heerde erzielen will.
Fast alle Klassen von Heilmitteln haben eine Zeit lang einmal, je
nach der Strömung theoretischer Reflexionen, grossen Anhang gefunden
und so gab es auch eine Zeit, in welcher Moxa oder Glüheisen oder
Fontanelle als Universalmittel gegen jede chronische Krankheit gerühmt
Avurden. Man liess sich am Arm eine Fontanelle appliciren, um sich
gegen Rheumatismus, oder gegen Hämorrhoidalbeschwerden, oder gegen
Tuberkulose, oder gegen Krebskrankheit zu schützen, in der Idee, dass
mit dem Eiter der Fontanelle alle krankhaften Säfte, die materia peccans,
aus dem Körper abgeleitet würden. In derselben Weise brauchte man
früher die jährlich zu bestimmten Zeiten wiederholten Curen mit Ab-
führuugsmitteln , Brechmitteln, Aderlässen u. s. w. Sie werden noch
heute von älteren Praktikern vielfach betheuern hören, wie dieser oder
jener ihrer Kranken durch die Application einer Fontanelle vor einer
Menge von Krankheiten bewahrt geblieben sei. Ich will mich nicht
vermessen, über die Grenzen der Möglichkeit in der Therapie eine Kritik
ausüben zu wollen, denn wir sind, wie schon erwähnt, grade bei den
ableitenden Mitteln weit entfernt davon, ihre Wirkung physiologisch be-
messen zu können ; indessen muss man doch wohl gegen die Wirkung
solcher Mittel misstrauisch werden, welche als Universalraittel gegen alle
möglichen Krankheiten empfohlen werden.
Vurlesmi},' .'iO. Capilol XV. 475
Vorlesung 30.
CAPITEL XV.
Von den Gescliwäreii.
AiiMfoniisches. — Aciisseie Eigenschaften (ier Geschwüre: Fnim und Ausbreitung, Grund
und AbsondernuK, Ränder, Umgebung. — Oertliclie Therapie nach örtlicher Beschaffen-
lu'i( der Geschwüre: fnng<'ise, callöse, jauchige, pliagechiuisrhe , sinuöse Gesuliwiire. —
Aetiülugie der Geschwüre: dauernde Heizung, Stauungen im venösen Kreislauf. —
Dyskrasische Ursachen.
Die Lelire von den Gescliwitren sehliesst sicli an die von der chro-
nischen Entzündung- naturgemäss an. Was ein Geschwür ist, ob eine
vorliegende Wundfläche als solches zu betrachten ist, darüber sind die
Aerzte in praxi fast immer einig; eine kurze Definition von einem Ge-
schwür zu geben, ist jedoch ebenso schwierig, als einen Gegenstand aus
irgend einem anderen Gebiet der Medicin oder den Naturwissenschaften
zu definiren. Um Ihnen eine ungefähre Vorstellung davon zu geben, so
wollen wir sagen: ein Geschwür ist eine Wundfläche, welche keine
Tendenz zur Heilung zeigt. Sie sehen hierbei schon ein, dass auch jede
grössere granulirende Wunde mit stark wuchernden Granulationen, die
einen Stillstand in ihrem Heilungsprocess macht, ebenfalls als Geschwür
betrachtet werden kann, und in der That hat auch Rust, dem die
detaillirteste, wenn auch jetzt nur noch wenig gebi-auchte Nomenclatur
über die Geschwüre gemacht hat, die granulirende Wunde als Ulcus
Simplex bezeichnet.
Nach meinen eigenen Beobachtungen und Untersuchungen glaube
ich die Ansicht aufrecht halten zu müssen, dass die Geschwürsbildung
meist ans einem chronisch -entzündlichen Process hervorgeht, und zwar
so, dass der Gewebszerfall erst eintritt, wenn in Folge der entzündlichen
Alteration dasselbe schon zellig infiltrirt war. Einen einfachen Gewebs-
zerfall etwa in Folge von Mangel an erneuter Ernährungsflüssigkeit
kann man doch wohl nur als Nekrose bezeichnen. Ich gebe jedoch zu,
dass hier wie überhaupt bei allen Entzünduugsprocessen Ernährungs-
störung, Infiltration mit Wanderzellen und Gewebsregeneration (bald mehr
bald weniger vollkommen) sich oft so mit einander combiniren, dass es
kaum möglich ist, sie in jedem einzelneu Fall streng aus einander zu
halten.
Der Sitz eines chronischen Entzünduugsprocesses, welcher zur Ge-
schwürsbildung führt, kann in der Tiefe der Cutis, im Zellgewebe,
in den Drüsen, im Periost, im Knochen sein; tritt im Centrum eines
solchen Heerdes Eiterung oder Verkäsung oder eine andere Art von
Erweichung und Zerfall mit allmähliger peripherischer Progression und
Perforation der Haut von innen nach aussen ein, so entsteht das
476
Von den Geschwi'u-en.
Hohlg-escbwiir; es ist, wie schon früher (pag-. 442) erwähnt, ein kalter
Abseess im Kleinen.
Selir häufig' ist der Sitz des chrünisch-entziindlieheu Processes in
den obersten Schichten einer Haut; dann entsteht das offene Haut-
und Schleimhautgeschwür. Wir wollen uns dies an einem Beispiel
klar machen. Es sei durch irgend eine der früher genannten Ursachen.
ein chronisch -entzündlicher Process an der Haut des Unterschenkels,
etwa an der vorderen Fläche im unteren Dritttheil desselben entstanden.
Die Haut ist von erweiterten Gefässen durchzogen, dadurch röther als
normal, sie ist geschwollen theils durch seröse theils durch zellige In-
filtration, und auf Druck etwas empfindlich. Es sind Wauderzellen,
zumal in die oberflächlichen Theile der Cutis infiltrirt, dazu mehr Serum
als normal: die Gefässe vermehren und erweitern sich; so werden die
Papillen grösser, succulenter; auch die Entwicklung der Zellen des Pete
Malpighii erfolgt reichlicher, die oberflächliche Schicht desselben erlangt
kaum mehr recht den gehörigen Grad der Verhornung ; das Bindegewebe
der Papillarschicht ist weicher, zum Theil fast horniger geworden. Eine
leichte Reibung genügt nun, das weiche dünne Hornblatt der Epidermis
an einer Stelle zu entfernen. Die Zellenscbicht des Pete Malpighii wird
damit freigelegt; es kommen neue Reizungen hinzu, und es entwickelt
sich eine eiternde Fläche, die in ihrer oberen Schicht aus Wanderzellen,
in ihrer unteren aus den bereits stark degenerirten vergrösserten Haut-
papillen besteht. Würde in diesem Stadium gehörige Ruhe der Theile
beobachtet und Schutz vor neuen Reizen gewährt, so würde sich all-
mählich die Epidermis regeneriren und das bis jetzt noch ganz ober-
flächliche Geschwür würde benarbeu. Indess die geringe, oberflächliche
Wunde wird gewöhnlich zu wenig geachtet, neue Schädlichkeiten ver-
schiedener Art kommen hinzu; es kommt zu Vereiterung und molecularem
Zerfall des entzündeten freiliegenden Gewebes, zunächst also der Papillen,
und so entsteht allmählich ein theils tiefer, theils breiter werdender De-
fect: das Geschwür ist nun vollständig ausgebildet. Die folgende Figur
ist der Durchschnitt eines sich vergrössernden Hautgeschwürs, welchem
die Schilderung dieses Processes entnommen ist (Fig. 81):
Fiff. 81.
,'-■'" ^o/^- ^^•'' "^^ '^^///y^^i^v ,:^:-^/.^~/riSJ,=^m(i''!n;'>^
Unterschenkel-Hautgesclnvür. Vergrösserung 100; nach Förster. Atlas Taf. XI.
Vuil.'smif^r l'.ü. ('iipilcl XV, 477
Sic seilen bei a die l)(M-cits etwas verdickte Cutis, deren rjipilieii
sich in der Riclitunii- nach b vevgrösscni, wrdirciid die Cefässschliiigeii
zunehmen und das Bindei;cwebe immer reichliclicr von Zelh-n durelisetzt
wird; bei b die ausg-ebiUIcte Geschwiirsfläche; c stark verdickh- {''pidcr-
mis, den harten Eand des Gescliwürs bildend.
Ganz ähnlich haben Sie sich den Process auf den Schleimhäuten
zu denken; zuerst tiitt eine lebhaftere Auswanderung- junger Zellen an
die Obertläche auf; sehr bald gesellt sich seröse und plastische Tnlil-
t]-ation massigen Grades in dem Bindegewebe mit Vermehrung der Ge-
fässe der Schleimhaut hiirzu, die Schleimdrüsen secerniren reichlicher.
AYie früher bemerkt, g-laubte man bis vor Kurzem, dass der catarrlia-
lisehe Eiter rein epithelialer Natur sei; jetzt neig't man sich mehr zu der
Ansicht, dass auch die Elemente des catarrhalischen Secretes zum
grösseren Theile ausgewanderte weisse Blutzellen sind. Durch dauernde
Eeizung- einer chronisch catarrhalisch afficirten Schleimhaut erfolgt Er-
weichung- und Zerfall des Gewebes wie früher bei der Cutis gescliildert
wurde: wir haben dann ein catarrhalisches Gesell wür vor uns.
Es giebt noch eine andere, mehr acute Entstehungsart von Geschwü-
ren, nämlich aus Pustebi, welche nicht zur Heilung- kommen, sondern
sich nach Entleerung des Eiters vergrössern und dabei einen acut ent-
zündlichen Charakter behalten, so z. B. die weichen Chancregeschwüre.
Besonders kommen auch ohne erkennbar specifisch-dyskrasische Ursachen
solche aus Ekthyma -Pusteln entstehenden Geschwüre am Unterschenkel
junger, oft sehr vollblütiger, sonst ganz gesunder Leute vor, über deren
Ursache man nichts Bestimmtes weiss; sie nehmen oft eine wuchernde,
fungöse Form an, in anderen Fällen sind sie aber auch mit schnellem
Gewebszerfall verbunden. Diese mehr acute Entstehungsart der Ge-
schwüre ist übrigens sehr viel seltener als die chronische. — Manche
1 Erkrankungen tragen halb mit Unrecht den Namen „Geschwür", so z. B.
das „Typhusgeschwür"; beim Typhus abdominalis bildet sich eine acute
progressive Entzündung- der Peyer'schen Plaques aus, und diese Entzün-
dung endet in sehr vielen Fällen mit Gangrän, mit Nekrose der entzün-
deten Schleimhautstücke; was nach Abstossung der Schorfe zm-ückbleibt,
ist eine Granulationsfläche, welche gewöhnlich bald vernarbt; diese Gra-
nulationsfläche ist kein Geschwür im strengeren Sinne des Wortes, sie
wird erst dazu, wenn die Heilung nicht normal von Statten geht; das
„lentescirende", in der Heilung verzögerte Typhusgeschwür ist eigentlich
erst ein wahres Geschwür. Dies mehr beiläufig; es ist leicht, sich frei
mit diesen Ausdrücken zu bewegen, wenn man über die Processe selbst
im Klaren ist.
Sie sehen aus dieser Darstellung, dass zweierlei Vorgänge entgegen-
gesetzter Art sich bei der Vers ch war ung wie bei der Entzündung
überhaupt mit einander verbinden: Neubildung und Zerfall; letzterer
erfolgt durch Erweichung des Gewebes, durch Vereiterung, dann auchi
478 ^'^'" '^^'^ fieseliwfiren.
durch iiioleculare Nekrotisirimg oder durch beides zAigleich. Das gegen-
seitige Verhältniss, in welchem Neubildung und Zerfall zu einander
dabei stehen, kann in den angezogenen Beispielen keinem Zweifel unter-
liegen, denn es ist klar, dass hier die Neubildung dem Zerfall voraus-
ging. Indess könnten Sie sich auch vorstellen, wie ich bereits vorher
andeutete, dass in einem bis dahin gesunden Theil der Haut eine Er-
nälirungsstörung der Art einträte, dass zunächst ein Zerfall des Gewebes
vor sich geht, wie Sie dies schon aus dem Absclmitt über Gangrän ken-
nen. An der Grenze der gesunden, lebensfähigen Hauttheile würde sich
dann eine Neubildung junger Zellen entwickeln, und wenn die Theile
in der Umgebung der primär nekrotisirten Stelle gesund wären, so würde
es hier zur Ausbildung einer Granulationsfläche und Narbe kommen
müssen; sind die Theile nicht gesund, nur in geringem Maasse lebens-
fällig, so wird aucli in ihnen statt kräftiger entzündlicher Neuljildung
von Neuem Zerfall auftreten, und auf diese Weise ein Geschwür ent-
stehen und sich allmählig ausbreiten. Ein solcher Vorgang, bei welchem
also ein Geschwür primär mit molecularem Zerfall ohne vorhergegangene
zellige Infiltration entsteht, kommt in praxi nur selten vor. Molecularer
Zerfall und Gangrän sind, streng genommen, freilieb nur quantitative
Varietäten desselben Processes, nämlich des Absterbens einzelner Ge-
webstheile; es kann Fälle geben, in welchen der ulcerative Process und
die Gangrän sich ausserordentlich nahe stehen, wie beim Hospitalbrand,
wovon wir bereits gesprochen haben, auch z. B. bei Entstehung der
runden Magengeschwüre, bei welchem Necrose der Schleimhaut gewöhn-
lich in Folge eines Extravasats das Primäre zu sein pflegt; doch in den
meisten Fällen geht, wie gesagt, dem Zerfall immer eine entzündliche
Infiltration voraus.
Die eben mitgeth eilten Bemerkungen, aus welchen Sie ersehen, in
welcher Verwandtschaft der Geschwürprocess theils mit der Neubildung,
theils mit der Gangrän steht, werden Ihnen veranschaulicht haben, wie
schwer es ist, im Gebiet dieser Krankheitsprocesse Alles systematisch
scharf auseinander zu halten. Sie dürfen jedoch nicht befürchten, dass
ich Sie hiermit verwirren werde; wir wollen gleich auf die specielleu
Eigenschaften der Geschwüre eingehen, da werden Sie schneller zum
Verständniss kommen; nur so viel sei hier noch bemerkt, dass die Ge-
schwüre nach dem vitalen Vorgang sich im Ganzen und Grossen in zwei
Hauptgruppen bringen lassen, nämlich in solche, bei denen der Neubil-
dungsprocess vorwiegt: wir wollen sie kurzweg als wuchernde Ge-
schwüre bezeichnen, und in solche, bei denen der Process der Vereite-
rung und des Zerfalls mehr in den Vordergrund tritt: diese nennen wir
atonische oder torpide Geschwüre. Zwischen diesen beiden äusser-
sten Grenzpunkten der anatomischen und vitalen Eigenschaften der Ge-
schwüre liegen dann eine grosse Menge von Formen in der Älitte. —
Wenn der Heilungsprocess eines Geschwürs eingeleitet werden soll, so
Vorlcsinii'- :iO. Cnpilol XV. 47(.)
ist die erste Bcdiuguiii;' dazu, dass der Zerfall an der Oherfläclie auC-
liört, demiiäelist muss der Grund des flescliwiirs wenigstens annäliernd
die Beschaffenheit einer gesunden Granulationsfläclie annehmen, deren
Benarbung- in der gewöhnlichen Weise erfolgt. Iki den torpiden ato-
nischen Gescliwüren ist dazu die Entwicklung reichlicher (Jelnsse und
kräftiger Zellen, die nicht mehr zur Vereiterung, sondern zur Bindege-
websneuhildung fiilircn, unbedingt nothwendig. Bei den wuchernden Ge-
schwüren dagegen nuiss die Neubildung auf das noi-male Maass zurück-
geführt werden. Es liegt hierin, A¥ie Sie bei weiterem Naclidcnken Iciclit
finden werden, eine Andeutung für die in dem einen und dem anderen
Falle einzuschlagende örtliclie 'J'lierapie, worauf wir auch sehr bald
kommen werden.
Die Nomenclatur der Geschwüre ist je nach den Eigenschaften,
die mau an ihnen besonders hervorsucht, eine sehr vers(;hiedenartige.
Der Entstehung nach kann man wie bei der chronischen Entzündung
überhaupt zweierlei Arten, zwei Hauptgrup})en unterscheiden, nämlich
die idiopathischen und die symptomatischen Geschwüre. Die idiopa-
thischen (oder protopathische]!, proteropathischen, von ngcoTog,
nQOEiQng der erste, zuerst, und näoxF.iv, nad-slv leiden) Geschwüre
sind solche, welche in Folge rein localer Reize entstehen; man kann
sie auch als Reizgeschwüre bezeichnen. Die symptomatischen
(oder deuteropathischen, von devTsgog^ der zweite) Geschwüre sind
solche, welche aus Innern dyskrasischen Ursachen als Symptom einer
Allgemeinkrankheit auftreten, ohne dass an der erkrankten Stelle ein
localer Reiz eingewirkt hätte.
Lassen wir vorläufig die ätiologischen Verhältnisse bei Seite, und
suchen wir zuvörderst uns durch die Betrachtung der äusseren Verhält-
nisse, welche ein Geschwür darbieten kann, den Begriff eines solchen
noch prägnanter vor Augen zu führen. — Wenn man ein Geschwür be-
schreiben will, so unterscheidet man daran folgende Theile:
1. Form und Ausbreitung des Geschwürs. Dasselbe kann
kreisrund, halbmondförmig, ganz unregelmässig, ringförmig, flacli, tief
sein; es kann einen Canal darstellen, welcher in die Tiefe führt; es kann
röhrenförmig sein, eine Fistel (von fistula, die Röhre) bilden; diese
Fisteln entstehen, wie ich Ihnen schon früher angegeben habe, dadurch,
dass sich in der Tiefe, sei es nun in der tiefen Schicht der Cutis, im
Unterhautzellgewebe, in den Muskeln, im Periost oder Knochen, oder
auch in drüsigen Theilen Entzündungsheerde bilden, welche durch lang-
same Verschwärung allmählig an die Oberfläche gelangen. Die Bildung
eines Hohlgeschwürs, eines mehr oder weniger tiefliegenden Verschwä-
rungsheerdes geht also der Fistelbildung immer voraus.
2. Der Grund und die Absonderung des Geschwürs. Der
Grund kann flach, vertieft oder hervorragend sein; er kann mit schmutzi-
ger, stinkender, seröser, jauchiger Flüssigkeit, selbst mit gangränösen
4^0 Von den Geschwüren.
Fetzen des Gewebes (jauchige g-angrän ose Geschwüre) bedeckt sein;
eine amorphe, speckig aussehende, schmantige oder sclnnierige Substanz
kann ihn bedecken. Doch kann der Boden des Geschwürs auch allzu
üppige Granulationen mit schleimiger Eiterabsonderuug zeigen (fun-
göse Geschwüre).
3. Die Ränder des Geschwürs sind flach oder erhaben, wall-
artig, hart (callöse Geschwüre), weich, ausgebuchtet (sinuöse Ge-
schwüre), gezackt, umgeworfen, uuterminirt u. s. w.
4. Die Umgebung des Geschwürs kann normal sein oder ent-
zündet, ödematös, indurirt, pigmentirt u. s. w.
Diese allgemein gebräuchlichen technischen Bezeichnungen reichen
hin, um jedes Geschwür einem Collegen gegenüber genau zu beschreiben.
Da aber die Bezeichnungen je nach der Vitalität des geschwürigen Pro-
cesses, also: torpid, atonisch, wuchernd, fungös etc., im Allgemeinen
kürzer sind, so bedient man sich derselben häutiger; vielfach braucht
man auch Bezeichnungen, welche sich auf die entfernteren Ursachen,
zumal bei den symptomatischen Geschwüren beziehen. Man spricht
dann kurzweg von scrophulösen, tuberkulösen, syphilitischen Geschwüren
u. s. f. Da wir jedoch jetzt die localen Beschaffenheiten des Geschwürs
noch frisch im Gedächtniss haben, so wollen wir gleich die localen
Mittel durchgehen, insoweit ihre Anwendung von der Beschaffenheit
des Geschwürs abhängig ist. Eine grosse Reihe von Geschwüren, zumal
alle diejenigen, welche durch wiederholte örtliche Reizung entstanden
waren, heilen ungemein leicht. Sowie die kranken Theile nur unter
günstigere, äussere Verhältnisse kommen und keine neuen Schädlich-
keiten auf sie einwirken, beginnt oft ganz spontan die Benarbung. Es
ist erstaunlich, wie schnell zumal die häufigen Unterschenkelgeschwüre
ein sehr viel besseres Ansehen annehmen, so wie der Kranke ein war-
mes Bad genommen hat, das Geschwür einfach mit einer in Wasser ge-
tauchten Compresse bedeckt ist, und der Kranke 24 Stunden ruhig im
Bett gelegen hat. Das Geschwür, welches vorher schmutzig, graugrün
aussah und einen verpestenden Geruch um sich her verbreitete, erscheint
jetzt ganz anders : es hat eine leidlich, wenn auch noch nicht sehr kräftig
granulirende Oberfläche, secernirt guten Eiter ; 14 Tage lang fortgesetzte
Ruhe und grosse Reinlichkeit genügen in manchen Fällen, eine voll-
ständige Vernarbung solcher Geschwüre herbeizuführen. Indess kaum
ist der Patient entlassen und in seine alten Verhältnisse zurückgekehrt,
so wird die Narbe wieder wund und in wenigen Tagen ist der Zu-
stand wieder, wie er war. So geht es fort, der Patient kommt wieder
in das Spital, wird bald wieder entlassen, um in kurzer Zeit wieder
aufgenommen zu werden. Indess giebt es auch gegen diese Wiederkehr
einige Schutzmittel, wovon später. Nicht alle Geschwüre sind so schnell
zur Heilung geneigt, viele bedürfen mancherlei Behandlung und sehr
lange Zeit zur Heilung. Wir wollen nun die einzelnen Formen nach
Vorlesung nU. Oapilcl XV. 481
ihren örtliclicii Ersclieiuuiii^'cii in IxiicksicliJ: jiiiC die jur/iiwendciidoii ört-
lichen Mittel dnrclniclmien.
1. Das Gesclnviii- mit cutziindeler I) ini;'cl)iin i;' und (his
er etil i s c li c G e s cli vv ii r.
Es kommt sehr häufig- vor, dass ein Gcs(Mnviir bei der ersten Bc-
sielitig'ung-, wenn der Kranke damit fortwährend umherging, stark ge-
röthet und sehr sclimerzliaft ist, und dass dieser leiclite Grad von Ent-
zündung- nach einer gewissen Zeit der Kuhc von seihst wicT-lor vergelit.
Andere Gescliwiire giebt es aber, deren Umgebung dauernd eine selir
intensive Rötlie und Enipfindlicbkeit zeigt, das Geschwür ])lutet leiclit
und selbst die Granulationen sind bei der Berülirung schmerzhaft. iMan
nennt ein solches Geschwür ein er ethisch es; die höchsten Grade von
Erethismus der Geschwürsflächen sind äusserst selten: ich hatte in Zürich
einen Patienten, welcher in Folge einer sehr intensiven Phlegmone am
Oberschenkel ein grosses Stück Haut durch Gangrän verloren hatte; nach
Ablösung 'der Eschara bildete sich eine sehr üppig wuchernde Granula-
tionsliäche mit wenig Tendenz zur Heilung, deren leise Berührung so
schmerzhaft Avar, dass der Patient dabei schrie und zusammenzuckte.
Wodurch diese enorme Schmerzhaftigkeit in solchen Fällen bedingt sein
kann, ist bereits früher bei Besprechung der Nervennarbeu erwähnt. —
Was die Behandlung der entzündeten und erethischen Geschwüre betrifft,
so versucht maii zunächst Salben aus einem milden Fett und Wachs,
Unguentum cereum, dann sogenannte kühlende Salben, wie Zinksalben,
Bleisalben, auch wohl Fomentationen mit Bleiwasser; bleiben bei dieser
Behandlung die Granulationen schmerzhaft und schlecht aussehend,
während die Entzündung in der Umgebung abgenommen hat, so würde
eine starke Cauterisation der Geschwürsfläche mit Argentum nitricum,
besser noch mit Ferrum candens anzuwenden sein; letzteres Mittel und
später Compression mit Heftpflaster führte schliesslich in dem eben er-
w^ähnten Fall zur Heilung. Es wird gewöhnlich in solchen Fällen die
örtliche Anw^enduug der Karcotica empfohlen, und zwar Kataplasmeu
mit Zusatz von Belladonna, Hyoscyamus, Opium und dergleichen ; indess
nützen diese Mittel so ausserordentlich w'enig dass man meiner Ansicht
nach damit nur Zeit verliert. —
2. Die fungösen Geschwüre, d. h. solche, deren Granulationen
])ilzartig, wuchernd sind und das Niveau der Hautoberfläche überragen.
Diese Geschwüre sondern einen schleimigen Eiter ab und sind äusserst
gefässreich.
Man l^ann hier die adsfringirenden Mittel, Ueberschläge mit China-
oder Eichenriudeudecoct, in Anwendung ziehen, was jedoch nur von
massiger Wirksamkeit ist. Am besten ist es, die Oberfläche solcher
Granulationen durch Aetzmittel zu zerstören; tägliches Bestreichen mit
Argentum nitricum in Substanz reicht in den meisten Fällen aus; w^o
dies nicht genügt, kann Kali causticum, selbst Ferrum candens in Au-
Billrotli chir. Tuth. u. Tlicr. 7. Auli. 3i
482
Von den Geschwüren.
Fig. 82.
uiÜUftjin
Blutgefässe zweier üppiger Grannlationsknöpfchen eines gewöhnlichen (nicht krebsigen)
Unterschenkelgeschwürs, künstlich injicirt von Thiersch (Epitheliallvrebs Taf. XI. Fig. 4).
Wendung' kommen. Audi die Compression mit Heftpflaster wirkt liier
oft vortrefflicli. Das einfachste ist es, solche Granulationen, so oft als
nöthig- mit der Scheere zu beschneiden.
3. Die callösen Geschwüre sind die vom Arzte wegen ihrer
langen Heilungsdauer g-eftirchtetsten; es sind solche, deren Basis, Eänder
und Umgebung durch sehr lange Zeit bestandene chronische Entzündung
verdickt und knorpelhaft geworden sind. Das Geschwür, von sehr tor-
pidem Charakter, liegt in der Regel tief unter der Oberfläche, die Ränder
sind scharf abg-egränzt. Die Therapie hat hier zwei Aufgaben, nämlich
eine Erweichung des sehnig-festen, sehr gefässarmen Gewebes der ver-
härteten Eänder und des Geschwürgrundes zu erzielen und eine gehörige
Vascularisation, sowohl in den Rändern als im Grund des Geschwürs
herbeizuführen. Es giebt Geschwüre dieser Art, welche 20 Jahre und
darüber bestanden haben; folgende Mittel zieht man dabei in Anwendung:
Compression und zwar mit Heftpflasterstreifen, die man nach bestimmten
Regeln, wie sie es in der Klinik lernen werden, anlegt. Ein solcher
Heftpflasterverband, welcher uiclit allein das Geschwür, sondern den
ganzen Unterschenkel bedecken muss, kann im Anfang 1 bis 2 Tage,
später, wenn das Geschwür in Heilung begriffen ist, 3 bis 4 Tage und
länger unberührt liegen bleiben. Es sind diese sogenannten Baynton'-
schen Heftpflastereinwicklungen bei Unterschenkelgeschwüren von sehr
grosser Wichtigkeit, zumal, für diejenigen Fälle, in welchen die Kranken
nicht geneigt sind, eine ruhige Lage einzuhalten, sondern zugleich ihren
Geschäften nacligehen müssen. Ich habe über diese Behaudlungsweise
der Uuterschenkelgeschwürc in der chirurgischen Poliklinik in Berlin
manche Erfahrung gemacht, kann jedoch über dieselben als Heilmittel
bei Unterschenkclgeschwüren nicht so günstig urtheilen, wie dies von
Vorlesung 30. Ciipilcl XV. 483
Seiten anderer Cliirurg'cn gcscliielit, die in diesen Einwicklungcn fast ein
Uuiversalniittel l)ei allen Untersclienkeli^escliwiiren sollen wollen. Ich
schätze diese Einwicklnngen bei poliklinisclier Behandlung- als Deckver-
bände sehr hoch, indem sie dazu dienen, das Umherg-ehen zu ermögliclien,
ohne dass sich das Geschwür zu sehr vergrössert; dass jedoch alle Ge-
schwüre unter diesen Verbänden besonders leicht heilen, und dass die
Eimvirkung-en des Heftpflasters auf die callöse Umgebung des Geschwürs
mehr Einfluss hat als die später zu erwähnenden Mittel, kann ich nicht
finden. Das beste Mittel, um eine dauernde Cong-estion zu dem Geschwür
zu unterhalten und dadurch die Gefäss- und Gewebsbildung zu steigern
ist die feuchte Wärme, die Sie entweder in Form von Kataplasmen oder
besser noch als continuirliches warmes Wasserbad anwenden können.
Letzteres, durch welches zugleich eine künstliche Quellung und Erwei-
chung- der verhärteten wasserarmen Umgebung des Geschwürs hervor-
gebracht wird, empfehle ich Ihnen ganz besonders. — ■ Zuweilen ist es
nöthig-, die callösen Ränder ganz zu zerstören oder in einen hohen
Grad von eitriger Entzündung zu versetzen. Ersteres können Sie am
schnellsten durch Ferrum candens erreichen, letzteres am besten durch
wiederholtes Aufiegen des Unguentum Tartari stibiati oder des Emplastrum
Cantharidum. Ist nach der Anwendung der letztgenannten Mittel eine
pustulöse oder selbst zum Theil brandige Entzündung des Geschwürs und
seiner Umgebung entstanden, so bringen Sie dann den Fuss ins Wasser-
bad und werden eine auffallend schnelle Heilung in vielen Fällen erzielen.
— Nicht immer gelingt es, eine Heilung der callösen Unterschenkel-
geschwüre zu bewirken, zumal sind die Geschw^üre, welche der vorderen
Fläche der Tibia entsprechen und in der Tiefe bis auf das Periost drin-
gen, zuweilen unheilbar; auch solche Geschwüre, welche den ganzen
Unterschenkel ringförmig umgeben, pflegen zu den unheilbaren gerechnet
zu werden; sie werden als Indication für die Amputation betrachtet,
wenn sie das Individuum dauernd unfähig zum Gehen und überhaupt
arbeitsunfähig machen. — Ausser den schon erwähnten Verhältnissen
ist es noch ein Umstand, der die Heilung von Geschwüren mit stark
indurirter Umgebung besonders erschwert, nämlich der, dass die heilende
Granulationsfläche und Narbe sich nicht in der gewöhnlichen Weise
durch starke Contraction verkleinern und verdichten kann, weil die
Festigkeit der umgebenden tiauttheile keine Verschiebung zuiässt, während
jede granulirende Wunde, wie Sie wissen, sich durch Zusammenziehung
fast auf die Hälfte ihrer Ausdehnung verkleinert und dem entsprechend
auch die Vernarbungsfläche eine kleinere wird, muss die Granulations-
fiäche dieser Geschwüre in vielen Fällen in der ganzen ursprünglichen
Ausdehnung benarben, weil sie sich eben nicht zusammenziehen kann.
Um dies dennoch zu ermöglichen, hat mau rund um die Geschwüre tiefe
Einschnitte in die Haut gemacht und diese Schnitte durch eingelegte
Charpie klaffend erhalten; ich habe bisher keine grosse Wirkung davon
^g^ Von den Geselnviiren.'
gesehen. Audi die Epiderniistransplaiitatiouen nach Eeverdin sind bei
diesen Geschwüren mit Vortheil für die Beschleunigung der Heilung in
Anwendung gezogen, doch macht man leider oft die Erfahrung, dass
diese transplantirten Hautstücken, nachdem sie vortrefflich angeheilt und
das ganze Gescliwiir vernarbt war, wieder zerfallen, und so der grüsste
Theil des mühsam errungenen Vortheils wieder verloren geht. — Eine
Folge der Starrheit des Gewebes ist es auch, dass die nicht gehörig
verdichtete junge Narbe sehr leicht wieder wund wird, und deshalb das
geheilte Geschwür sich sehr schnell wieder entwickelt. Um dies zu ver-
hindern, ist es am besten, nach erfolgter Heilung die Narbe mittelst
"Watte zu decken, und den Unterschenkel mit Kleisterbinden einzuwickeln.
Diesen Verband lässt man 6 — 8 Wochen und länger tragen, bis die
Narbe definitiv organisirt und fest ist. Ich habe diese Praxis schon seit
längerer Zeit bei den meisten Unterschenkelgeschwüren nach ihrer Hei-
lung befolgt und habe Grund, damit zufrieden zu sein.
4. Die jauchigen gangränösen Geschwüre. Die Ursachen von
Zersetzungsprocesseu an der Oberfläche eines Geschwürs liegen sehr
häufig nur in den ungünstigen äussern Umständen. In andern Fällen
jedoch besteht aus allgemein dyskrasischen Gründen Neigung zu rasche-
rem Zerfall des Gewebes an der Oberfläche des Geschwürs. Chlorkalk-
wasser, Holzessig, Terpentin, Kamphorwein, Carbolsäure, essigsaure
Thonerde sind die hier anzuwendenden Mittel. Erreicht der Zerfall des
Gewebes einen ganz auffallenden Grad von Schnelligkeit, so dass von
einem Tag zum andern die Vergrösserung des Geschwürs sehr zunimmt,
so nennt man dies ein fressendes oder phagedäuisches Geschwür
(cpayiöaiva, von cpaysiv fressen), eine Form, welche dem früher genann-
ten Hospitalbrand sehr nahe steht. Das Aufstreuen von gepulvertem
rothem Quecksilberpräcipitat thut in manchen Fällen dem Zerfall rasch
Einhalt. Wirkt dies Mittel nicht, so würde ich rathen, niclit mit der
Zerstörung des ganzen Geschwürs zu zögern: eine kräftige Aetzung mit
Kali causticum oder die energische Anwendung des Ferrum candens mit
Zerstörung der Geschwürsränder bis ins Gesunde sind in diesen Fällen
fast immer von sicherer Wirkung.
5. Die sinuösen und fistulösen Geschwüre. — Geschwüre
mit unterhöhlten Rändern und Fisteln. Sie entstehen stets als Hohlge-
schwüre, die allmählig von innen nach aussen durchbrechen, besonders
häufig durch chronische Verschwärung von Lymphdrüsen. Ein solches
Geschwür wird stets am schnellsten heilen, wenn Sie es in ein offenes
dadurch verwandeln, dass Sie die gewöhnlich dünnen, unterminirteu
Hautränder wegschneiden, oder wo dies wegen zu grosser Dicke der
Ränder und der Geschwürshöhle nicht angeht, wenigstens die Höhlung
spalten und das tiefliegende Geschwür freilegen. Diese Behandlung gilt
auch für die fistulösen Geschwüre, sofern dieselben zu einem tieferlie-
genden Hohlgeschwüre führen. Letzteres muss zuerst ausheilen, ehe sich
Vi.rlosmiK ."0. rfipirnl XV. 485
die Fistel solid schlicssen knnii, ]]q\ den li(>ld^',<^s('livviiieii der Haut an
den AYang'en und den Vereiterungen obevnäcliliclier Lyni|)lidrii,sen, wie
sie so oft am Halse voivkoninien, schneide ich zuerst die dünne Haut
i;anz fort, kratze den Grund des ({eschwiirs nnt einem scharfen Löffel
MUS, und lei;e Charpie in Liq. Ferri sesquichlorati getaucht auf; die Heilung-
erfolgt gewöhidich rasch und mit weiuger entstellcudeu Narhen, als wenn
mau die Ausheilung sieli seihst iiberlüsst, was Monate uiul Jahre dauern
kann. — Das Wort „Fi-^'tcr' Iiat übrigens, beiläufig hier bemerkt, auch.
no(di eine andere Bedeutung, indem num damit jede röhrenförmige, ab-
norme Oefifnung bezeichnet, welche zu einer Höhle des Körpers fiUirt;
so spricht man z. B. von Brust-, Hirn-, Gallenblasen-, Darm-, Scheiden-,
Harnblasen-, Harnröhrenfisteln u. s. w. —
Wir haben uns nun noch mit einem selir wichtigen Tlieil des Ca-
pitels von den Geschwüren zu beschäftigen, nämlich mit der Aetiologie.
Ich habe Ihnen schon bemerkt, dass man örtliche und allg-emeine djs-
krasische Ursachen, wie bei der chronischen Entzündung überhaupt zu
unterscheiden hat. Es M'ären daher alle Momente, welche chronische
Entzündung- erzeugen, hier wieder zu nennen; wir heben davon nur
einige besonders heraus. Betrachten wir zuerst die localen Ursachen
der Geschwüre näher, so ist vor Allem die continuirliche örtliche
mechanische oder chemische Keizung- zu erwähnen. Dauernde
Keibung und Druck sind häufige Ursachen solcher Reizgeschwüre:
ein drückender Stiefel, der harte Rand eines Schuhes können Ge-
schwürsbildungen an den Füssen veranlassen; — so ist z. B. der so-
genannte eing-ewachsene Nagel fast immer die Folg-e von dauernder
Compression durch uuzweckmässig gearbeitete Stiefel; ein scharfer
Zahn oder scharfe Weinsteinstticke an den Zähnen können die Ursache
von Geschwüren der Mundschleimhaut und der Zunge sein u. s. w. Ge-
schwüre dieser Art tragen gewöhnlich die Erscheinungen der Reizung-
an sich: die Umgebung- ist geröthet und schmerzhaft, ebenso wie das
Gesclnvür selbst. — Als chemischer Reiz wirkt z. B. der Genuss von
Schnaps und Rum auf die Mag'enschleimhaut : die Säufer haben in der
Regel dauernden Magenkatarrh, in dessen Verlauf sich nicht selten Ge-
schwüre verschiedener Art ausbilden. —
Eine zweite, noch häufigere Ursache für chronisch-entzündliche Processe
mit Ausgang in Ulceration sind die auch früher schon erwähnten Stauun-
gen besonders im v e n ö s e n K r e i s 1 a u f und der Druck, welchen diese Aus-
dehnungen der Venen, die Varicosi täten auf die umliegenden Gewebe
• ausüben. Diese stehen in sehr inniger Beziehung zur Entstehung der
Unterschenkelgeschwüre; wir W' erden darüber später (Cap. XIX.) sprechen.
Hier sei nur so viel erwähnt, dass in Folge der dauernden Ausdehnung
der kleinen Hautvenen eine chronisch seröse Infiltration der Haut ent-
steht, zu der sich nach und nach zellige Infiltration, Verdickung, endlich
oft genug auch Eiterung und Zerfall hinzugesellt. Die Geschwüre, welche
AüQ Von den Gescliwiiren.
sicli iu Folge der Variccii entwickeln, und v/elelie kurzweg- als varicöse
Fussg'eschwttre bczeiclmet zu werden pfleg-en, können von sehr ver-
schiedener Beschaffenheit sein. Im Anfang- sind es g-ewühnlich einfache,
oft wuchernde Geschwüre, erst später nehmen sie einen mehr torpiden
Charakter an, und zu gleicher Zeit bilden sich Callositäten der Ränder
aus. Wie sich solche Geschwüre schnell verändern, wenn sie nur mit
Ruhe und Reinlichkeit g-epflegt werden, ist schon erwähnt. Was die Be-
handlung derselben betrifft, so sind die früher schon g-erühmten Heft-
pflastereinwicklung-en sehr empfehlenswerth , sowolil die Heilung- des
Geschwürs einzuleiten, als der weitern Entwicklung- der Varicen entge-
g-enzutreten. Für die meisten Fälle ziehe ich indessen eine Behandlung
bei ruh ig- er hoher Lag-e im Bett nach den früher aufg-estellten Prin-
cipien vor und applicire erst nachher den oben erwähnten Verband, um
die weitere Ausbildung- der Varicositäten in Schranken zu halten.
Wenn wir die Varicositäten der Venen der Erfahrung- gemäss in
so nahe Beziehung- zu den Geschwüren gebracht und damit zugleich
die wichtigste praktische Bedeutung- dieser Venenkrankheit schon hier
hervorgehoben haben, so dürfen Sie daraus doch nicht schliessen, dass
Varicen immer von Geschwürsbildung-en gefolgt sein müssen; es giebt
vielmehr eine nicht unbeträchtliche Anzahl von Fällen, in
welchen enorme Varicositäten ohne secundäre GeschAvürs-
bildungen bestehen. Dass die venöse Stauung an sich nicht direct
zu Entzündung führt, ist früher (pag. 344) erörtert. Doch wenn Monate
und Jahre lang ein immer steigender Druck von innen auf den Gefäss-
wandungen lastet, und die stark erweiterten, prallgefüllten Gefässe einen
Druck auf das Gewebe ausüben, so entsteht eben durch diese Druck-
wirkung eine leicht entzündliche Gewebsalteration mit chronischem Oedem
und etwas interstitieller Gewebsbildung (indurirtes Oedem). Warum diese
Wirkung- in manchen Fällen ganz ausbleibt, vermag ich freilich nicht
anzugeben.
Wir kommen jetzt zu einer kurzen Besprechung derjenigen Ge-
schwiirsformen, welche aus Innern Ursachen entstehen und Beziehun-
gen zu dyskrasischen Zuständen des Körpers haben, zu den sympto-
matischen Geschwüren.
1. Hierher gehören zunächst die scrophulösen Geschwüre. Es
bilden sich diese Geschwüre besonders häutig am Hals meist von innen
nach aussen, indem sich in der Substanz der Cutis oder des Unterhaut-
zellgewebes langsam abgeschlossene Eiterheerde entwickeln, welche
von innen her die Haut allmählig durchbrechen. Es müssen dadurch
natürlich kleine Hautdefecte entstehen, deren Ränder in der Regel etwas
geröthet und sehr verdünnt sind und zu tiefer liegenden Höhlungen führen,
aus denen sich verkäste Gewebssubstanz oder dünner Eiter entleert.
Die Räuder dieser Hautgeschwüre sind unterhöhlt, was man durch die
VorlcsmiM' ;;(). (';,i.i(cl XV. 4p,'J
Untersuchung- mit der Sondo sehr Iciclit conslalirfMi kaiiii. In der l{ege]
sind es Geseliwiirc von exquisit atoiiisclicni Charakter. Sie sehen aus
dieser iSelnlderung-, dass diese Form von unterminirten, siiuulscn Ge-
schwüren allerdings nur dui-eh die Art der Entstehung- bedingt ist, die
g-elegentlich unter den verschiedensten allgemein -constitutionellen Ver-
hältnissen vorkommen kann ; die Erlalirung lehrt Jedoch, dass sich diese
Art von Gescliwiircn vorwiegend häufig bei scrophulöscn Individuen
tindet, und dies hat die Veranlassung- g-egeben, von solclicn atonischen Ge-
schwüren mit unterminirten Rändern auf Scroi)hulose zurückzuschliessen.
Dieser Öchluss wird in den meisten Fällen richtig- sein, wenngleich nicht
immer unbedingt.
2. Die lupösen Geschwüre. Unter Lupus (Wolf, wegen des
fressenden Charakters der Geschwüre) versteht man eine Krankheit,
welche sich in der Entwicklung- kleiner Knötchen in der oJjerflächlichen
Schicht der Haut zu erkennen g-iebt; diese Knötchen können sich in ver-
schiedener Weise weiter ausbilden. Sie bestehen aus Anhäufungen von
kleinen runden Zellen mit g-leichzeitiger Gefässektasie und meist mit Er-
weichung- des infiltrirten Gewebes. In manchen Fällen scheint auch
eine zapfenartig- in die Lupusknoten hineinwachsende Epithelialwuche-
rung vorzukommen. Die Lupusknötchen können sich verg-rössern und
confluiren, so dass sie g-rossknotige Verdickungen der Haut bilden (Lupus
hypertrophicus) ; auf ihrer Oberfläche bildet sich zuweilen eine reichliche
Abschilferung- der Epidermis (Lupus exfoliativus), auch wohl ein Ver-
schwärung-sprocess aus (Lupus exulceraus). Alle diese Formen können
sich mit einander combiniren, auch kann man deren wohl noch einige
mehr unterscheiden. Die Geschwüre, welche bei der letzteren Form
entstehen, können mit der Entwicklung stark wuchernder Granulationen
verbunden sein (Lupus exulcerans fungosus), oder sie disponiren mehr
zu einem rapiden Zerfall der Gewebe (Lupus exedens, vorax). Die Krank-
heit etablirt sich besonders häufig- im Gesicht, vorzüglich an der Nase,
den Wangen und Lippen; die furchtbarsten Zerstörungen werden dadurch
hervorgebracht. Die ganze Nase kann durch lupöse Ulceration verloren
gehen, ebenso auch die Lippen. Ich sah einen Fall, in welchem die
ganze Gesichtshaut, Nase, Lippen, Augenlider zerstört waren; die beiden
Augen waren durch Vereiterung zu Grunde gegangen und der zu Tage
liegende Gesichtstheil des Schädels bot den entsetzlichsten Anblick dar.
Dieffenbach beschreibt einen solchen Fall von einer polnischen Gräfin
und vergleicht den Anblick ihres Gesichts mit einem Todteukopf. — Die
lupösen Geschwüre bieten in ihrem Aussehen keine durchaus constanten
Erscheinungen, indessen ihre Umg-ebung und das Gesammtbild der er-
krankten Hauttheile erleichtern die Diagnose in hohem Grade. Nur wenn
der Lu])us an andern Körpertheilen, z. B. an den Extremitäten vorkommt
oder an Schleimhäuten, etwa im Eachen, an der Coujunctiva, ist die
Diagnose schwierig und nicht immer sicher zu stellen; an den Extre-
AQQ Von den Geschwüren.
initäten sind Verwech.slungen mit gewissen Formen von Leprosen, im
Eachen Verweclislungen mit syphilitischen Geschwüren niclit nnr verzeih-
lich sondern oft kaum zu umgehen. Der Lupus muss wohl in vielen
Fällen als Allgemeinkrankheit augesehen werden, die sich auf der Haut
localisirt. Ob man berechtigt ist, eine besondere lupöse Dyskrasie auf-
zustellen, ist zweifelhaft, indem sich sehr häufig Lupus bei scrophulösen
Individuen entwickelt, so dass man ilm als eine und zwar sehr bösartige
Erscheinungsform der Scrophulose auffassen kann. Ausserdem tritt der
Lupus auch als Theilersch einung der Syphilis auf, so dass man einen
Lupus syphiliticus und einen Lupus scrophulosus aufgestellt hat. — Der
Lupus pflegt sich am häufigsten in den Jahren der Pubertät zu entwickeln
und ist bei weiblichen Individuen häufiger als bei männlichen; seltener
kommt er im spätem Lebensalter zur Entwicklung; jenseits der vierziger
Jahre ist man ziemlich gesichert gegen diese Krankheit.
Was die Behandlung betrifft, so legeich das grösste Gewicht zu-
nächst auf die örtliche Behandlung, besonders bei der ulcerativen Form,
indem es hier darauf ankommt, durch alle uns zu Gebote stehenden
Mittel das Fortschreiten der Zerstörung zu verhindern, weil durch das-
selbe die ganze Gesichtshaut in Gefahr ist, und die innerlich anzuwen-
denden Mittel nur äusserst langsam wirken. Es handelt sich, wie bei
allen rasch um sich greifenden Geschwürsprocessen, auch hier um eine
gründliche Zerstörung des Geschwttrsgrundes und der Geschwürsränder,
um eine Aetzung, welche bis in das gesunde Gewebe hineinreicht; man
bedient sich gewöhnlich des Cauterium potentiale und wendet Argentum
nitricum oder Kali causticum in Form eines Stiftes an, den man in die
durch Lupus erweichten Hauttheile einsenkt. Auch kann man Aetzmittel
in Pastenform gebrauchen, vorzüglich die Chlorzinkpaste, w^elche am ein-
fachsten so bereitet wird, dass man Chlorzink mit Mehl oder Amyluni
vermischt und mit einigen Tropfen Wasser zu einem Brei anrührt,
den man auf das Geschwür aufstreicht. Um rascher zum Ziel zu kommen
und das Aetzmittel intensiver einwirken zu lassen, ist es zweckmässig,
mit dem Myrthenblatt einer Sonde oder einem kleinen scharfraudigen
Löffel (Volkmann) den Geschwürsgrund auszukratzen, die Blutung zu
stillen und erst dann das Aetzmittel wirken zu lassen. Ich ziehe von
den gebräuchlichen Aetzmitteln das Kali causticum entschieden vor, weil
es sich am schnellsten mit den Geweben verbindet und daher der Schmerz
am kürzesten dauert. Man kann eine, solche Aetzung sehr wohl in der
Chloroformnarkose vornehmen, so dass der Kranke, wenn er erwacht,
nur noch ein massiges und erträgliches Brennen empfindet. Das Argentum
nitricum verursacht am längsten Schmerz, hat aber dadurch, dass es
weniger rasch zerfliesst als das Kali causticum für die Aetzung mancher
Körpertheile entschiedene Vortheile. — Ist der Aetzschorf abgestosseu,
so bildet sich, falls die Aetzung genügend war, eine gute Granulations-
fläche, welche in der gewöhnlichen Weise benarbt. In dieser Narbe ent-
VorlosmiK- ."-n. Ciipilol XV. 489
stellt nicht Iriclit ein iioiior Lupus; (l:iss sich ;il)cr in der Umgebung' neue
Knötchen entwickeln, kann die Aet/jiug niclit vcrliindern. — P'lir die
exfoliative und liy})ertr()[)hischc Koini des Lupus ist die Tjcstreichuug
mit Jodtinctur das ))este örtliche Mittel; dieselbe wird zweckmässig mit
etwas Glycerin Aermischt, um die Einwirkung weniger intensiv zu maehen.
Ich liabe wohl Lu])usknoten unter dieser Ikdiandlung schrumpfen scdien,
A'or Recidiven schützt dieselbe Jedoch nicht. Ludlich kann man in
numchen Fällen die lupösen Ilautstellcn mit Vortlieil excidiren. — Von
den Innern Mitteln habe icli nur bei einer conscrpuMiten Cur mit Leber-
thran, der etwa zu 4 — 6 Esslöft'eln im Tage genommen wird, P^rfolg ge-
sehen, doch muss eine solche Cur Jalire lang fortgesetzt werden. Die
Curen mit Holztränken sind nur bei Lupus syphiliticus wirksam. Curen
mit Arsenik, einem bei andern chronischen Hautkrankheiten sehr schätz-
baren Mittel, helfen beim Lupus fast nichts. In der Schweiz war der
Lupus sehr selten. Meine Erfahrungen stützen sich liauptsächlich auf
die Berliner Klinik, und wenn ich Ihnen mein Glaubcnsbekenutniss
in Bezug auf die Wirkung der inneren Mittel geben soll, so geht dies
dahin, dass die lupöse Dyskrasie in vielen Fällen wie die Scrophulose,
im Lauf der Jahre von selbst erlischt, in einigen Fällen jedoch un-
heilbar ist.
3. Die scorbutischeu Geschwüre. Beim Öcorbut oder Scliar-
bock (pag. 466) entstehen an vielen Stellen der Haut, und besonders auch
in den Muskeln Blutextravasate; das Zahnfleisch schwillt an, wird,
bläulichroth, es bilden sich Geschwüre darauf, welche sehr leicht bluten;
Blutungen aus dem Darm, eine allgemeine Abmagerung und ^:'chwäche
kommen hinzu, und viele dieser Kranken sterben in einem elenden Zu-
stande. In dieser schlimmen Form kommt der Scorbut besonders
endemisch an den Küsten der Ostsee und bei Schiffsmannschaften vor,
die eine lange Seereise machen oder gemacht hal)en. In letzterem Fall
schiebt man die Krankheit gewöhnlich auf den andauernden Genuss von
gesalzenem Fleisch. Im Binnenlande zeigt sich eine Art von acutem
Scorbut, wohin der Morbus maculosus, die Purpura und Aehnliches
gehört. Ein auf das Zahnfleisch und die Mundschleimhaut localisirter
Scorbut ist in allen Ländern sehr häufig bei Kindern: das Zahnfleisch
schwillt an, wird dunkel blauroth, blutet bei der leisesten Berührung,
und es bilden sich Geschwüre darauf, welche mit einem gelben,
schmierigen, aus Eiter, Pilzen und Gewebsfetzen bestehenden Belag be-
deckt sind. Diese Form xler Krankheit ist, wenn sie nur in dieser
Weise auftritt und frühzeitig behandelt wird, gewöhnlich rasch zu be-
seitigen. Man bepinselt das Zahnfleisch täglich zwei Mal mit einem aus
Vo — 1 Drachme Salzsäure oder Borax und 1 Unze (oder 3,000—5,000
auf 35,000 Grammes) Honig bestehenden Saft, giebt innerlich Mineral-
säuren in einer dem kindlichen Alter entsprechenden Dosis und Form
und ordnet eine leicht verdauliche Diät an; wenn diese Mittel gewissen-
^OQ Von den Geschwüren.
liaft g-ebrauclit werden, wird die Krankheit sehr bald schwinden. —
Der allgemeine endemische Scorbut ist sehr schwer lieilbar, besonders
weil es in den meisten Fällen unmöglich ist, die Kranken den schäd-
lichen endemischen Verhältnissen zu entziehen. Die Behandlung- mit
Säuren wird auch hier besonders empfohlen.
4. Die syphilitischen Geschwüre. Die Merkmale, welche man
als besonders charakteristiscli für die syphilitischen Geschwüre anzu-
geben pflegt, beziehen sich vorwiegend auf das primäre Chancregeschwür,
und zwar auf den weichen Chancre. Dasselbe beginnt als Bläschen
oder Pustel, entwickelt sich zu einem etwa Erbsen-grosseu Geschwür
mit gerötheter Umgebung und gelblichem, speckigem Grund. Das
Geschwür des indurirten Chancre sieht anders aus; es entsteht dabei
zuerst ein Knötchen in der Haut der Eichel oder des Präputiums, und
dieses Knötchen ulcerirt von der Oberfläche her nach Art anderer Haut-
geschwüre; es nimmt in der Regel einen atonischen, torpiden Charakter
an, häufig mit vorwiegender Neigung zum Zerfall des Gewebes. Die
breiten^ Condjdome, eine mildere Erscheinungsform der constitutionellen
Syphilis haben einen entschieden wuchernden Charakter und stellen,
genau genommen, nichts anderes als kleine, oberflächliche, sehr circum-
scripte, fungöse Hautgescliwüre dar, welche besonders am Perinäum, am
After und au der Zunge vorkommen. Die in späteren Perioden bei
allgemeiner Lues auftretenden Geschwüre der Haut haben häufig eine
stark iudurirte, braunroth gefärbte Umgebung, Kreis- oder Hufeisenform
und tragen Avieder mehr den atonischen Charakter an sich. Sie sehen
hieraus, dass auch das Aussehen des syphilitischen Geschwürs ausser-
ordentlich wechselnd sein kaun, und daher der Rückschluss von dem
Aussehen des Geschwürs auf constitutionelle Syphilis nicht immer so
sicher zu machen ist. — Die Behandlung des syphilitischen Geschwürs
muss eine vorwiegend innerliche sein und sich gegen die constitutionelle
Syphilis richten. Oertlich muss man intensive x\etzmittel anwenden,
wenn die Zerstörung sehr rasch vor sich geht.
Von älteren Chirurgen sind noch eine Reihe bisher nicht erwähnter
Geschwürsformen unterschieden, welche charakteristisch für die ursäch-
lichen Momente sein sollten. Sie finden z. B., dass bei Rust in seiner
Geschwürslehre (Helkologie) von rheumatischen, arthritischen, hämor-
rhoidalen, menstrualen, abdominellen, herpetischen u. s. w. Geschwüren die
Rede ist. Jedoch ist es so wenig mir, als andern Chirurgen der Neu-
zeit gelungen, in die Mysterien dieser Art von Diagnostik einzudringen;
es ist wohl jetzt ziemlich anerkannt, dass dabei mehr ein g:eküusteltes
System zu Grunde gelegt wurde, welches in der älteren Humoralpatho-
logie seine Wurzel hatte, als kritisch scharfe Beobachtung. Wenn man
ganz vorurtheilsfrei beobaclitet, so wird man allerdings zugestehen, dass
Vniifsiin.i; ;;i. c'jipiici xvr. 401
gewisse (jioschwiirsroniieii, zunml weiiii sie an hcstimtiitcn Localitätcri
vorkommen, einen Öcliluss anf die ursächlichen Momente zulassen; incless
ist das Aussehen und die Form der Cieschwüre aucli wieder sehr ab-
hängig von den anatomischen Verhältnissen der erkrankten Thcile (z. B.
auch von dem Faserverlauf in der Haut; AVerthcim) und von den vei'-
schiedcnartig'sten äusseren Einflüssen, so dass ni;ni sehr vielen Täu-
schungen und Irrthümern unterliegen würde, wenn man gar zu sehr das
Aussehen des Geschwürs als einen stets unverfälschten Ausdruck einer
specifischen, constitutionellen Ursache betrachten wuUte.
Vorlesung 31.
CAPITEL XVI.
Von der clironischen EntzüiKhiüg des Periostes, der
Knochen und von der Nekrose.
Chronische Pei-i Ostitis und Caries s up erfi'ialis. Symptome. Osteophytenbildung.
Osteoplastische, siippurative Formen. Anatomisches über Caries. Aetiologisches. Diagnose.
Combination verschiedener Formen.
Meine Herren!
Die chronischen Entzündungen der Knochen und des Periostes, zu
denen wir jetzt übergehen, sind weit häufiger als die acuten; am häu-
figsten ist die chronische Periostitis, nicht selten verbunden mit
Ostitis (Caries) superficialis. Dieselbe kann in den frühen Stadien
in Zertheikmg, dann in Eiterung mit Geschwülrsl)ildung auf der Ober-
fläche des Knochens übergehen; damit verbindet sich meist eine Auf-
lagerung von neugebildeter Knochenmasse auf die Oberfläche des
Knochens; eine längere Zeit bestehende Periostitis wird niemals ohne
Einfluss auf den Knochen bleiben.
Betrachten wir zunächst die Symptome einer chronischen Pe-
riostitis. Eine geringe Schmerzhaftigkeit und massige Anschwellung
der nächsten Umgebung des betroffenen Knochens werden in den meisten
Fällen die ersten Symptome sein, mit denen sich geringe Functions-
störung verbindet, zumal wenn die Krankheit an einer der Extremitäten
auftritt. Die spontanen Schmerzen sind gewöhnlich sehr gering oder
können ganz fehlen; Druck veranlasst heftigeren Schmerz, und zugleich
vnrd man finden, dass der Eindruck des untersuchenden Fingers eine
Zeit lang in der Haut markirt bleibt, wodurch sieh die Anschwellung
der Haut als vorwiegend ödematöse kund giebt. In diesem Stadium
kann der Zustand lange bestehen und ebenso allmählig, wie er ent-
492 Von der chronischen Entzündung des Periostes, der Knochen etc.
standen ist, sich wieder zurückbildeu. Sie haben sich dabei vorzüglich
die äussere lockere Bindegewebsschicht des Periostes als afficirt zu
denken; in dieser besteht Gefässausdelmuiig, seröse und zellige Infil-
tration.
Unter ganz gleichen Symptomen wie den angegebenen kann jedoch
auch eine Periostitis verlaufen, welche zu gleicher Zeit mit Ostitis
verbunden ist, nur dass in letzterem Fall die spontanen Schmerzen zu-
Aveilen intensiver sind; es treten dabei auch wohl heftige, bohrende,
reisseude Schmerzen zur Nachtzeit auf. Hat ein solcher Process Monate lang
bestanden und bildet sich dann wieder zurück, so findet sicli der afficirte
Knochen verdickt, höckerig auf der Oberfläche. Hal)en Sie Gelegenheit,
einen solchen Fall anatomisch zu untersuchen, so finden Sie Folgendes:
die beiden Schichten des Periostes sind nicht genau von einander zu
unterscheiden, beide sind zu einer speckig aussehenden Masse von ziemlich
derber Consistenz geworden; bei mikroskopischer Untersuchung finden
Sie das Gewebe aus einem reichlich von Zellen durchsetzten, und von
erweiterten, mehr oder weniger vermehrten Capillaren durchzogenen
Bindegewebe bestehend. Dieses krankhaft verdickte Periost ist von der
Knochenoberfläche leichter abziehbar als im Normalzustande; der darunter
liegende Knochen (wir nehmen einen Röhrenknochen an, z. B. die Tibia)
ist auf seiner Oberfläche mit kleinen Höckerchen von eigenthümlicher,
zuweilen Stalaktiten-ähnlicher Form besetzt. Sägen Sie jetzt den Knochen
hier durch, so finden Sie, dass diese Höckerchen auf der noch sehr
deutlich zu erkennenden Oberfläche der compacten Corticalsubstauz eine
je nach dem Falle sehr verschieden dicke Lage poröser, offenbar junger,
neugebildeter Knochensubstanz ist, die freilich sehr innig mit der Corti-
calschicht zusammenhängt, jedoch, wenn der Process noch nicht gar zu
alt ist, etwa mit einem Meissel in zusammenhängenden Stücken abge-
brochen werden kann. Hat der Process bereits sehr lange Zeit bestanden,
und ist die Verbindung bereits sehr innig geworden, so findet man, dass
die aufgelagerte poröse Knochenmasse sieh mehr zu einer compacten
umgewandelt hat, zumal, wenn der Krankheitsprocess wirklich abge-
laufen ist.
Bleiben wir einen Augenblick bei diesen Verhältnissen stehen und
fragen wir, woher diese neugebildete Knochenmasse kam. Sie kann
entweder an der unteren Fläche des Periostes von diesem oder von der
Oberfläche des Knochens aus entstanden sein; das erstere ist die allge-
meine Annahme, und man sieht darin gewissermaassen eine neuange-
regte Thätigkeit des Periostes, wie sie vor dem beendeten Wachsthum
des Knochens bestand, wo ja an der Innenfläche des Periostes stets
neue Knocheumassen in regelmässigen Schichten gebildet werden. Mau
kann diese mit Bildung von Osteophyten (so heisst man nämlich die
bei entzündlichen Processen aufgelagerte junge Knochenmasse, von ooxiov
Knochen und (fvxov Gewächs) sich combinirende Form der Periostitis als
VorlosiiiiK .".I. Ciipilcl XVT. 49;-}
osteoplastische (von wrsov und nlaoan) Itildcii, (ornien) hczcirlinen,
ein Name, den ieli der Kürze halber i^ehranehen werde. Indess theile
ich die eben entwickelte Ansicht, dass die Osteophyten allein vom Periost
ausg-ehen, nicht, sondern bin iiberzeui;-t, dass dieselben wirklich aus iU^v
Knochenoberthiche liervorwachsen, wie es der /^•riechisclie Name besagt.
Die nnkroskopische Untersuchung' zeigt nämlich, dass auch in diesem
Falle, wie bei der Eiterung- und Granulationsentwicklung- an dei- Ober-
fläche des Knochens das umhüllende Bindeg-ewehe der kleinen ein- und
austretenden Gefässe Sitz der Neubildung ist, welche aus den an der
Oberiläche des Knochens mündenden llaversischen Canälen hervorkommt,
und die ersten Ansatzpunkte für die junge Knochenbildung' giebt, die sich
dann unter dem Periost ausbreitet. Es wachsen diese verknöchci'nden
Granulationsknö])lchen von Innen nach Aussen gewissermaassen in das
Periost hinein und letzteres nimmt dann erst, wie mir scheint, einen
secundären Antheil an den ganzen Process. Die Form der Osteophjien,
die höchst sonderbar ist, hängt von den Gefässanlagen, um welche sich
die junge Knochenbildung' absetzte, al). Es soll hiermit keineswegs
die unzweifelhaft feststehende Thatsache angegriffen werden, dass auch
das Periost und el)enso die übrigen dem Knochen naheliegenden Theile
neue Knochenmassen produciren können, doch möchte ich hervorheben,
dass die osteoplastische Periostitis, genauer genommen, eine osteoplastische
Ostitis superficialis ist. Praktisch hat diese subtilere Unterscheidung
bisher keinen Werth. Die Osteophyten sind das Product einer
entzündlichen Reizung des Periostes und der Knochenober-
fläche; sie sind genau dasselbe, was wir bei Fracturen Callus
nennen, und entstehen auf gleiche Weise. Ich will gleich hier be-
merken, dass die mit Osteophytenbildung ohne Eiterung verlaufende
Periostitis besonders manchen Formen von constitutioneller Syphilis
eigenthümlich ist. Die Dolores osteocopie, welche bei inveterirter Lues
ausserordentlich heftig im Kopfe und im Schienbein wnthen können, sind
fast immer durch osteoplastische Periostitis und Ostitis bedingt.
Nach meinen P>eobachtungen ist fast jede chronische Periostitis im
Anfang eine osteoplastische; alle übrigen Ausgänge gehen bald früher,
bald später daraus liervor; mit anderen Worten: die chronisch- ent-
zündliche Ernährungsstörung im Periost und an der Ober-
fläche des Knochens führt nicht direct zur Zerstörung des
Gewebes, sondern sie regt sofort eine zellige Infiltration an,
welcher die Gewebsbildung auf dem Fusse folgt.
Demnächst häufig ist die suppurative Form der Periostitis;
sie kann ohne wesentliche Betheiligung des Knochens verlaufen. Rufen
Sie sich die früher erwähnten Symptome zurück: ödematöse Schwellung
der Haut, Schmerz bei tieferem Druck, in geringem Grade auch bei Be-
wegungen der Extremität; dieser Zustand blieb lange Zeit unverändert;
dann aber tritt nun allmählich stärkere Anschwellung hervor, eine nicht
494
Von der chronischen Entzündung des Periostes,, der Knochen etc.
ganz genau, doch ziemlich umgrenzte unverschiebhare Gesehwulst von
teigiger Cousistenz; nach und nach wird auch die Haut geröthet und
die Geschwulst bietet deutliches Fluctuationsgefiihl dar ; hiermit können
vielleicht 4—6 Monate vergehen und wieder bleibt die Geschw^ulst län-
gere Zeit unverändert. Der Schmerz hat sich wohl etwas gesteigert
und die Function ist mehr gestört. Ueberlässt man die Sache ganz sich
selbst, so wird sich der jetzt offenbar entwickelnde kalte Abscess eröff-
nen, und es wird ein dünner, mit Flocken gemischter Eiter ausfliessen.
Führen Sie durch die enge Abscessöffnung eine Sonde ein, so gelangen
Sie mit derselben in eine mit Granulationen ausgekleidete Hölile. ^'avten
Sie die spontane Eröffnung des Abscesses nicht ab, sonderu machen
früher einen Einschnitt in die dünne Haut, so ist es möglich, dass sich
gar kein Eiter entleert, sondern dass Sie die ganz deutlicli fluctuirende
Geschwulst aus gallertiger, rother Granu-
Fig. 83. lationsmasse bestehend finden; in andern
Fällen befindet sich im Centrum der Ge-
schwulst etwas Eiter; in noch andern Fällen
besteht die ganze Gescliwulst aus Eiter. —
Aus dem, was ich Hmen früher über die
anatomischen Verhältnisse bei der chroui-
scben Entzündung gesagt habe, können Sie
diese Verschiedenheiten bei der Eröffnung
solcher Entzündungsheerde sehr leicht ab-
leiten. Denken Sie sich in dem serös und
plastisch infiltrirten Periost eine reichliche
Gefässentwicklung mit gleichzeitiger Infil-
tration von Wanderzellen und Umwandlung
des Bindegewebes zu einer gallertigen In-
tercellularsubstanz auftretend , so wird
dasselbe zu einer schleimigen Grauulations-
masse metamorphosirt; diese kann bald
früher, bald später zu Eiter verflüssigt
werden, und es entwickelt sich daraus
finaliter ein Abscess. Geht der ganze Process
der Infiltration nur das Periost und die
darüberliegenden "Weichtheile an, so bleibt
der Knoclieu ziemlich unverändert; etwas
Neigung zur Gewebsneubildung an seiner
Oberfläche äussert sich in der Productiou
einer Osteophytenlage unter und in der
Peripherie des periostitischen Heerdes. Die
Möglichkeit ist iudess vorhanden, dass der
Abscess langsam ausheilt nach Entleerung
des Eiters und der frühere Normalzustand
Caries superficialis der Tibiu
nach Folli n.
V()rl(!Siiiig .".I. (;;i|.i((>I XVI. 405
nahezu wieder eintritt. Eine solclic abscodircndc Periostitis ohne Mit-
Icidcnscliaft des Knochens kommt in praxi /.iiwcilon vor, docli ist sie
selten. Bei weitem ]i;lufiü,'cr ist es, dass der Kiioclieii, wenn aucJi nur
ohertläclilich, mit orkr;inkt, dass sich also Ostitis mit der Tei-iostitis ver-
bindet, und zwar nicht eine ossificireude, sondern chronisch su[)|)iir;itive,
ulcerative Ostitis, eine Caries superficialis. Die Symptome einer
solchen Caries sind, bevor der Abscess nach Aussen aui'l)i-ic]it, kaum
amlere als diejenigen der suppurativeu Perictstitis; ist der Abscess al)er
geöffnet, so kann man die Sonde in die Knochenobei'lläclie einstossen
man fühlt den zerfressenen, rauhen, morschen Knochen; die Caries l)e-
stand aber sclion lange, bevor der Al)scess erölfnet wurde, heimlicli in
der Tiefe drang der Process in den Knochen vor; sie ])estand vielleiclit
schon, als das Periost nur noch infiltrirt erschien, als es sich noch in
dem Stadium gallertiger Granulationsmasse befand. Eiterung ist also
nicht nothwendig mit Caries verbunden, wenn sie auch oft hinzutritt.
Um uns dies nun Alles klarer zu machen, müssen wir au Präparaten
die chronische Ostitis studii-en: der ganze Entwicklungsgang und Verlauf
ist durchaus analog dem chronischen Entzündungsprocess in den Weich-
theilen, doch sind durch die Härte und schwierige Auflösbarkeit der
Knochen etwas andere Bedingungen gegeben.
Wir haben im Lauf dieser Vorlesungen sclion unendlich oft wiederholt, dass sich
die durch die entzündliche Ernährungsstörung angeregte Gewebsneubildung in ixnd aus
dem afficirten Gewebe entwickelt, dass die straffe Bindegewebsfaser unter reichlicher
Zelleninfiltration sich in gallertige, selbst in flüssige Intercellularsubstanz umbildet. Wie
soll nun dies im Knochen bewerkstelligt werden? An den sternförmigen Knoclienkörperchen
ist, so lange sie in der Kalkmasse fest eingeschlossen sind, ebensowenig etwas von pro-
liferer Wucherung sichtbar, wie an den stabilen Bindegewebskörperchen im Entzündungs-
hof (pag. 209). Die entzündliche Neubildung infiltrirt sich auch hier wie in den meisten
Geweben des Körpers ins Bindegewebe, und zwar in das Bindegewebe, welches die in
den Haversischen Canälen und im Mark liegenden Gefässe des Knochens umhüllt. Doch
der Raum für die massenhaft auftretenden Zellen ist eng, und wenn die Zellenauswan-
derung sehr energisch vor sich ginge, so würde dadurch ja das Gefäss im Knochencana}
ganz zusammengedrückt werden; hört die Circulation dann auf, so hört damit auch die
Ernährung der jungen Zellenbrut auf, und der Tod des betreffenden Knochentheils
(Nekrose) müsste die Folge sein. Oder es könnte ja auch die Ernährungsstörung im
Knochengewebe aus anderen Gründen so intensiv werden, dass das Leben darin aufhört.
Ganz recht! so kann es gehen; oberflächliche Nekrose kann sich auf diese Weise mit
Periostitis combiniren, wovon später. Gewöhnlich ist die Zelleninfiltration in den Haver-
sischen Canälen keine so rapide, dass das Gefäss zugedrückt wird; wir haben es ja mit
einem chronischen Process zu thun; es giebt der Knocheir allmählig nach, die Haversischen
Canälchen werden weiter und weiter, die feste Corticalsubstanz des Knochens wird porös^
in den zu Maschen erweiterten Canälen liegt die junge Zellenbrut, mit gallertigem Liter-
cellulargewebe und mit reichlichen Gefässen versehen, eine interstitielle intraostale
Grauulationswucherung. Denken Sie sich, der Process schreite so weiter und weiter,
so verschwindet immer mehr und mehr Knochen, ja das ganze infiltrirte Stück kann auf-
gelöst werden, und an die Stelle des Knochens ist die entzündliche Neubildung getreten.
Maceriren Sie einen solchen Knochen, so finden Sie an der erkrankten Stelle einen
Defect mit rauhen, porösen, wie angefressenen W'änden; in diesem Defect lag die ent-
496
Von der clii-onisehen Entzündung des Periostes, der Knofhen etc.
zündliche Neubildung, welche den Knochen aufgefressen hat und an seine Stelle getreten war
(Fig. 55 pag. 205). Bemerken Sie hierbei wohl: von Eiter ist bis jetzt noch keine Rede;
doch kann die entzündliche Neubildung natiirlicli später vereitern, und wenn wir bei
unserer Annahme beharren, dass der Process im Periost entstand, so haben Sie dann
einen oberflächlich auf dem Knochen liegenden kalten Aljscess, dessen Wandungen
ganz mit Granulationen ausgekleidet sein können.
AVeun Sie mir bisher aufmerksam folgten, so haben Sie sclion gemerkt, dass bei
dem ganzen Process das Knochengewebe sich völlig passiv verhält: es wird aufgezehrt,
und man könnte mit einem gewissen Recht sagen : die chronische Ostitis oder Caries ist
eigentlich nur eine chronische Entzündung des Bindegewebes im Knochen mit Auflösung
desselben. Die entzündliche Ernährungsstörung im Knochen äussert sich dabei nur da-
durch, dass er allmählig entkalkt und dann auch seine organische Grundlage von den
Gefässen der entzündlichen Neubildung resorbirt wird. Ich leugne damit ja nicht die
Ernährungsstörung im Knochen, nicht die Ostitis, sondern betone nur, dass an den histo-
poetischen Processen bei der Ostitis das Knochengewebe selbst keinen Antheil hat. Dies
ist meine Ansicht, die jedoch von manchen Chirurgen und Anatomen nicht getheilt wird.
Keine der darüber veröifentlichten Arbeiten hat mich bisher überzeugen können, dass
meine Ansieht unrichtig ist. — Wie geht nun die Verzehrung des Knochens vor sich?
sollte nicht die mikroskopische Untersuchung Aufschlüsse darüber geben können, ob die
Knochenzellen sich dabei verändern oder nicht? Nehmen Sie ein Knochenpartikelchen,
ein möglichst dünnes Blättchen aus einem cariösen Heerde mit der Pincette heraus und
betrachten es unter dem Mikroskop, so werden Sie die Ränder und Oberflächen desselben
in vielen Fällen wie ansgebissen finden; die Knochenkörperchen sind unverändert; die
Intercellularsubstanz vielleicht etwas trüber als sonst, doch niclit auffallend verändert; ein
Kuoclienschlifl:' aus der Nähe eines solchen cariösen Heerdes zeigt niciits Anderes. Sägen
Fig. 84.
Dmclisihnitt eines cariösen Knoclientheils. Caries granulosa sen fungosa,
Vergrüsserung 350-
Vorlesung :;i. Ciipilcl xvf. 4<^7
(idor sclmeidi'U Sic ciiu'ii 'l'licil eines curirisiMi Ileerdes aus, und eiil/.ielieii dem Kiioelieii
seine Kulicsiilzo langsam diireli Chronisäiire, iime.lieii dann durch densidljcMi Schnitte, die
Sic dnrch Glycerin klären, so I)ek()niinen Sie etwa, vorslxdiendes Ulhl (V'i'j;. S4):
Die Knoehenstnckchen sind an ihren Iv;indern in nll zieniJieh refreIni;issi,i;(M' Weise
wie ausgel)issen; in diese Defeele wäelisl. die jnnu'e Nenhildunn- liinein. mit ihrer weiteren
Kntwickhmg gellt glcichmässig die Auflösung der Kalksalze und die Uesmiiiidu der orga-
nischen Gewebsgnindlage des Knochens Hand in Hand; die i\n(iehenkrj||ierilien hieihiii
dahei unverändert, von ihnen aus erfolgt keine Anflösung, man sitdit sie zuweilen hall)
/(M'slürt am Rande eines Knoehenstückchens. Was aus den Zellen wird, die in ihnen
liegen, lässt sieh kaum sagen, sie sind Tuiter den unzähligen jungen /idlen der entzünd-
liehen Nenhildiing, nnter die sie gerathen, nicht mehr zn kennen; möglich, dass sie, eiinnal
ans ihrem Käfig befreit, znr Vermehrung der Zellenbrnt durch Theilnng beitragen, wie
von einigen Beobachtern (0. Weber, Volkmann, Heitzmann, u. A.) angenonunen
wird, möglich, dass sie zu Grunde gehen; jedenfalls tragen sie, soweit man dies aus den
Kormenveränderungen überhaupt bestimmen kann , nicht zu der Auflösung des Knochens
hei. Wodurch aber der Knochen hierbei aufgelöst wird, das ist ein bisher nicht gelöstes
Räthsel. Lebende wie todte Knochen können bis zu einem gewissen Grade von den
interstitiellen Knochengranulationen aufgezehrt werden. Ich habe Ihnen früher, wenn Sie
sich an die Operation der Pseudarthrose durch Einschlagen von Elfenbeinzapfen erinnern
wollen (vergl. pag. 242), erzählt, dass die Elfenbeinzapfen auf ihrer Oberfläche raidi
cai'iös werden; der Process ist dort ganz derselbe, und gerade diese Beobachtung ist,
ausseiest interessant und wichtig als Stütze dafür, dass der aufzusaugende Knochen selbst
zu seinem Anflösungsprocesse bei Caries nicht nothwendig etwas beizutragen braucht, son-
dern eine ganz passive Rolle dabei spielen kann; obgleich in den Lacunen dieser Elfen-
beinzapfen die Granulationen fest und eng haften , so gehen dieselben doch sicher nicht
aus dem todten Elfenbein, sondern aus dem gereizten Knochen um dasselbe hervor.
— ■ Sehr häufig findet man in diesen Gi'anulationen , und zwar einer lacunäi-en
Erosion unmittelbar anliegend , vielkernige Eiesenzellen in besonders üppiger Bildung.
Kölliker, welcher diese Zellen auch an der Markhöhle wachsender Knochen fand, wo
ebenfalls , wie ich schon früher beobachtet hatte , lacunäre Erosionen als Ausdruck eines
Resorptionsprocesses vorkommen , bringt sie in eine ganz innige Beziehung zur Knochen-
resorption und nennt sie daher „Osteoklasten" (von hattov und xläco, xkc'caau) brechen).
Wegener wies nach, dass sich diese Riesenzellen zumal von den Wandungen der Ge-
fässe aus bilden und von den Gefässen der Pacchionischen Granulationen aus die so häufig
an der Innenfläche des Schädels sich vorfindenden kleinen löchrigen Defecte durch Auf-
sai;gung der Knochensubstanz zu Stande bringen. — Um dem Vorwurf entgegenzutreten,
als statuire ich nur diese Form der Knochenverzehrung, bei welcher die erwähnten
Bildungen an der Oberfläche vorkommen, muss ich anführen, dass ich früher schon darauf
aufmerksam gemacht habe, dass die Elfenbeinzapfen bei der Pseudarthrosen- Operation
nicht immer an ihrer Oberfläche rauh werden, sondern glatt bleiben können und doch
an Masse eingebüsst haben, wie sich durch Wägung der Elfenbeinzapfen vor und nach
der Operation nachweisen lässt. —
Die obige Scliilderimg- der morpliologisclien Veräuderuugeu cariöser
Knochen, die R. Volkmann sehr treifend als lacunäre Corrosion
bezeichnet, und die zuerst durch Howship bekannt wurden, ist jetzt
wohl allgemein als richtig- anerkannt, wenngleich hierüber auch andere
Anschauungen herrschen, die Sie, wenn Sie der Gegenstand specieller
interessirt, in der Cellularpathologie von Virchow, dem Atlas von
Förster und den classischen Arbeiten Volk mann 's über Knochen-
krankheiten nachlesen mögen.
Billruth cliir. l'iUIi. u. Tlier. 7. Aufl. 32
498 ^•'•'i '^'^'' flii'i'i'isflion Eiirziindung «les Periostes, der Knoolien etf.
Eins müssen wir jedoch noch ins Auge fassen. Es wäre nämlich
sehr wohl denkbar, dass die Knochensnbstanz, in ihrer Ernährung beein-
trächtigt, anfinge, in ganz minimale Partikelchen feinster Pulverform zu
zerfallen und zu zerbröckeln; dies würde zumal leicht zu Stande kommen,
wenn dem Knochen zuvor die organische Substanz entzogen ist. ■Man
könnte sogar geltend macheu, dass dies das Primäre bei der Knochen-
verschwär ung oder Caries sei, und Diejenigen, welche bei den Ge-
schwüren der Weichtheile den Zerfall des Gewebes als das Primäre, die
entzündliche Neubildung als das Secundäre betrachten, w^erden dieselbe
Anschauung auch auf den Knochen anwenden. Gegen die Verallgemeine-
rung einer solchen Auffassung des Verschwärungsprocesses sprechen meine
Beobachtungen ganz entschieden, w'ie ich Ihnen sclion früher (pag. 478)
bemerkte, und ich kann das, was ich an den Weichtheilen nicht stich-
haltig fand, auch au den Knochen nicht gelten lassen. Indess, dass
einzelne Knochenpartien auch wohl zerbröckeln und bei einer eitrigen
Ostitis solche kleinen Knochenpartikelchen im Eiter gefunden werden,
ist ganz zweifellos. Hier hätten wir es dann mit einer Nekrose in
kleinster Form zu thun; ein solches Absterben von Gewebspartikeln
kommt ja auch an den Weichtheilen vor, sowohl beim acuten als beim
chronischen Entzündungsprocess ; Sie w'erden sich wohl erinnern, dass
wir davon gesprochen haben ; als Eegel bei Caries ist es keinesfalls auf-
zustellen : es wird nur gelegentlich bei Caries mit Eiterung oder Verkäsuug
vorkommen. Hier kann es sogar begegnen, dass selbst grössere Knochen-
stückchen wirklich nekrotisch werden, und für diese Combiuation von
Caries mit Nekrose hat mau dann den besonderen Namen Caries
necrotica.
Wir haben bisher die Bezeichnung Caries durchaus synonym mit
chronischer Ostitis und Knochenauflösung gebraucht, und so geschieht
es jetzt sehr vielfach; indess früher brauchte man den Namen Caries
nur für den mit Eiterung verbundenen Verschwärungsprocess, für offnes
Kno chengeschw'ür. Der innige Zusammenhang zwischen chronischer
Entzündung und Verschwärung, den wir früher (pag. 475) an den ATeich-
theilen nachgewiesen haben, besteht ebenso zwischen Ostitis chronica und
Caries. Am besten wäre es vielleicht, den Namen Caries nach und nach
ganz fallen zu lassen und ihn durch Ostitis mit verschiedenen Beisätzen, wie
rareficirend, osteoplastisch, ulcerös, granulös etc. zu ersetzen; — oder den
Ausdruck Caries nur für Knochendefecte zu brauchen, welche durch
lacunäre Erosionen entstanden sind; an macerirteu Knochen ist das immer
leicht zu erkennen; da ist man auch nie zweifelhaft ob man den vorlie-
genden Knochen cariös nennen soll, denn da nennen wir alle solche De-
fecte cariös, Avelche wie ausgefressen aussehen; man könnte sie wohl ganz
passend lacunäre oder Corrosious-Defecte nennen. Bei der Unter-
suchung au Lebenden bedarf es aber schon genauerer Kenntnisse und
reiclier Erlahrung, um mit Sicherlieit zu entscheiden, ob ein Knochen., in
Vdrlcsmi-- :\\. (';ipilcl XVI. 4<)lJ
Avclclicn wir mit einer Sonde IimcIiI ein(lrini;'en nur ei'Mciclil isi, (»der ol)
er aueli g'rössere lacimäre DeCecte hat. — ])is jetzt li.'ihen wir nur oIxt-
tläelilielic Carics kennen ü,'elernt, später werden wir auch auf die cen-
trale Caries konnnen, die sich zur oberfhieldiclien verhält, wie das llold-
i^eschwür zum riäclieng'esehwür. Sie hal)en zunächst am Knochen eine
Ostitis fung'osa oder granulosa kennen gelernt (Virchow's und
Volkmann's Caries sicca soll heissen Caries mit Granulationswiu;he-
rung und Knochenzerstörung' ohne Pjiterung), bei der vom Zerfall der
chronisch- entzündlichen Neul)ildung noch nicht die l!ede war, sondern
wo der Knochen von interstitiellem Granulationsgewebe (^'om Granulom)
durchwachsen wird. Keineswegs ist dies immer in solchem
Maasse der Fall, wie wir es jetzt angenommen haben. Denken Sie
an das atonische, torpide Geschwür der Weichtheile, wie dort die Neu-
bildung schnell sich entweder zu Eiter verflüssigt, oder verkäst, oder
molecular zerfällt, und übertragen Sie dies einfach auf die Neubildung
im Knochen, so sind Sie leicht orientirt; auch die Caries erhält dadurch
einen anderen Charakter; es giebt sehr torpide, atonische Formen
der Caries, bei denen die Neubildung nur wenig Knochensubstanz zur
Auflösung bringt, dann zerfällt oder verkäst und so am lebenden
Organismus eine Art von Maceration des erkrankten Knochens
eintritt; die Weichtheile im Knochen vereitern; geschieht dies, bevor
der Knochen aufgelöst ist, dann wird das ausgeeiterte Knochenstück
nekrotisch. Mangelhafte Vascularisation der Neubildung trägt auch
liier die meiste Schuld am Zerfall. Weshalb aber hier eine fungöse,
waichernde, dort eine atonische Caries auftritt, dafür müssen wir die
Ursachen im kranken Organismus selbst suchen. —
Andere Formen von Ostitis werden wir bald noch kennen lernen,
wenn wir von den primär im Knochen selbst entstehenden chronischen
Entzündungen zu "sprechen haben.
Die chronische Entzündung des Periostes und der Knochen hat
ihre Ursachen hauptsächlich in constitutionellen Leiden, und wenn
auch eine Verletzung, Stoss, Fall u. dgl. Gelegenheitsursaehe zu solchen
Krankheiten werden kann, so muss doch das Hauptmoment im verletzten
Theil oder im ganzen Organismus liegen, denn ohne dies würde der
Process seinen gewöhnlichen Ausgang nehmen, wie bei allen trauma-
tischen Entzündungen, und bald zu einem Abschluss konuuen. AVenn
ein Trauma schleichende, chronische Entzündungsprocesse hervorruft,
so muss dies entweder in einer ganz eigenthümlichen, örtlichen schwer
ausgleichbaren Störung, oder in einer allgemeinen Disposition seinen
Grund haben; von diesen früher (pag. 448) erörterten Anschauungen abzu-
weichen, habe ich bisher keinen Grund. — Besonders sind es Scrophulose
und Syphilis, w^elche zu chronischer Periostitis und Ostitis disponiren,
und zwar entstehen im Allgemeinen bei Kindern häufiger die fungösen,
bei Erwachsenen häufiger die atonischen Formen der Caries. Es giebt
500 '^'^"" '^<''' flii'O'ii^f'^''" Entziimlimc; iles PeriostPS. dpr KiiodiPii etc.
aiicli wahre Tuberkeln ira Knochen, doch so weit mir Ijekannt ist,
nicht im Periost und der Corticalschicht der Rührenknochen. — Selir
oft kommt aber chronische Periostitis auch vor, wo nichts von den
o-euannten Dyskrasien nachweisbar ist, wo man durchaus gar keine
Ursache nachweisen kann-, zumal bei alten Leuten tritt Periostitis mit
Caries manchmal nach ganz leichten Verletzungen auf, und zwar in den
unangenehmsten torpiden Formen. — Die entzündliche Neubildung im
Knochen wird Avesentlich mitleiden, wenn der ganze Organismus ver-
fällt- bei Kindern, die an Caries gestorben sind, werden Sie fast immer
die atonischen Formen finden, denn da ist vor dem Tode, gegen Ende
des Lebens, als die Ernährung schon schleclit war, die Neubildung auch
zerfallen, der kranke Knochen schon bei Lebzeiten durch Eiterung und
Jauchung macerirt. Die pathologischen Anatomen, welche die Caries
nur am Secirtisch sehen, kennen die granulös-fungöse Form selten genau
oder halten sie für die seltnere; wenn man aber die an Lebenden aus-
geschnittenen cariösen Knochenstücke, zumal resecirte Gelenkenden von
Kindern, oft untersucht, wo der Process noch so recht lebendig in der
Entwicklung ist, da lernt man die Sache anders beurtheilen als in den
anatomischen Sammlungen, wo fast nur macerirte Knochen aufbewahrt
werden. — Wenn ich hier nur von fungöser und atonischer Caries ge-
sprochen habe, so wissen Sie wohl, dass ich damit nur die Extreme der
wuchernden und der rasch zerfallenden Neubildung bezeichne; dass da-
zwischen noch mancherlei verschiedene Vitalitätsgrade liegen, versteht
sich von selbst. — Es ist nicht der Zweck dieser Vorlesungen, alle
vorkommenden Nüancirungen dieses Processes zu erörtern, wie es in
der Klinik geschehen wird, sondern hier sollen Ihnen die Krankheits-
bilder an prägnanten T3'pen klar werden, Sie sollen zunächst eine
geistige Herrschaft über das Material im Ganzen und Grossen bekommen,
und ich führe Sie daher nur so weit in das Detail der Processe ein, als
mir dies zur richtigen Auflassung derselben nothwendig erscheint.
Woran soll man nun aber erkennen, ob der vorliegende cariöse
Process, den wir bisher nur mit der Sonde diagnosticirt haben, einen
mehr wuchernden, oder torpiden Charakter hat? werden Sie jetzt mit
Recht fragen ; es wird doch wohl auf die Therapie einen Einfluss aus-
üben, wie bei der Behandlung der Geschwüre an den Weichtheilen.
Allerdings; nicht allein für die Therapie ist es wichtig, sondern auch
für die Prognose; denn die recht torpide Caries bietet entschieden
schlechtere Chancen als die fungüse Form, schon weil sie mehr bei
elenden, schlecht genährten und bei alten Personen vorkommt. Die
Unterscheidung ist nicht schwierig: bei den mehr Avuchernden Formen
ist die Anschwellung der Weichtheile, des Periostes, der Haut, zumal
der Gelenkkapsel, wenn die Caries an den Gelenkenden ist, oft sehr
bedeutend, alle diese Theile fühlen sich schwammig weich an; sind
Hautöftnungen vorhanden, so quellen aus ihnen wuchernde Granulationeu
Voi-Icsmi- ;;i. Capilcl XVT. 501
liervor mid es fli(;ssl, S(*lilciinii;'er, ziUiCr Syiiovia-äliiiliclicr l'jicr ans.
Untcrsuclicn Sic iiiil; der Soiidc, so fühlcii Si<' uWUi .^•l(;i^*ll oiitblösstcii
Knochen, sondern müssen die Sonde in die (üi'iinnlalitni hineinstecken,
oft ziendieli tief, nni in den morschen Knochen ein/,ndi-ini^en. - I5ei den
reclit atonischen l^'ormen ist die Haut dünn, roth , oft unterminii-t. Die
K'i'inder der Üefinnng'cn sind scharf, wie mit einem J^ocheiscn aus^'C-
schlag'cn, ein dünner, seröser, zuweilen übel rieclicnder, auch wohl
Jauchig'er Eiter Hiesst ans; Haut und Zellgewebe sind oft stark ödcmatös;
führen Sic die Sonde ein, so kommen Sie sofort auf den cntblösslcn,
raulien Knochen, aus welchem die Wciclitlieile bereits ausg'ccitcrt, ans-
macerirt sind. So ist es in den extremsten Fällen einer grossen licihe;
manches liegt dazwischen.
x\lles zusannnengenonnnen, werden Sie sich jetzt, denke ich, ein
richtiges Bild von der Periostitis und Caries superficialis gemacht haben. —
Fassen wir kurz zusammen, was wir jetzt von den chronischen
Periost- und Knoclienkrankheiten kennen. Wir hatten chronische osteo-
plastische Periostitis (mit Osteophytenbildung ohne Eiterung), ferner sup-
purative Periostitis für sich, ferner mit Caries superficialis conibinirt.
Jetzt kann sich aber osteoplastische Periostitis mit snppurativer Periostitis
und Ostitis conibiniren, und diese Combination ist sogar ziemlich häufig,
d. h. um einen cariösen Heerd am Knochen l)ilden sich rund herum
Osteophyten. Betrachten Sie eine Peihe von Präparaten cariöser Gelenke,
so finden Sie rund um die zerstörten Pai-tien die von der Oberfläche des
Knochens ausgehenden Osteophyten; die Periostitis, welche an einer Stelle
zur Zerstörung des Knochens führte, vermittelte in der Umgebung die
Knochenneubildung. Sie können dies ganz passend mit einem Geschwür
mit callösen Rändern vergleichen: Verdickung durch Neubildung in der
Peripherie, Zerfall im Centruni. Doch nicht bei den atonischen Formen
der Caries giebt es viel Osteophytenbildungen in der Peripherie, sondern
nur bei denjenigen, die wenigstens eine Zeit lang den wuchernden Cha-
rakter an sich trugen, ebenso wie sich bei den torpiden, scrophulösen
Hautgeschwiiren keine verdickten Ränder finden, sondern nur dort, wo
die Haut längere Zeit vorher plastisch infiltrirt und verdickt war. Also
auch am Knochen wieder diese Combination von "Wucherung und Zerfall,
wie wir sie bei der Entzündung schon so oft kennen gelernt haben.
502 Vüii der chrouischeii Eiitzündimg des Terioste-s. der Knoclien etc.
Vorlesung 32.
Primäre ehrouische Ostitis: Symptome. Ostitis malacissans, osteoplastica, suppurativa.
fimgosa. Chronische Osteomyelitis. Caries centralis. — Knochenabscess. Combinatiouen.
Ostitis mit Verkäsnng. Knochentuberkehi. — Diagnose. Verschiebungen der Knochen
nach partieller Zerstörung derselben. — Congestionsabscesse. — Aetiologisches.
Wir haben bis hierher von der chronischen Ostitis nur so weit gespro-
chen, als sie von Periostitis abhängig' ist; dies wird bei den Röhreuknoclien
sich meist so verhalten, indem die Corticalschicht der Eöhrenknochen
nicht sehr dis])onirt ist, primär zu erkranken ausser etwa bei Syphilis.
Anders verhält es sich jedoch mit den spong-iöseu Knochen und Knochen-
theilen; in ihnen kann selbstständig ein chronisch-entzündlicher Process
auftreten, sowie auch in der Markhöhle eines Röhrenknochens eine circum-
scripte chronische Osteomyelitis entstehen und von innen her die Cortical-
substanz in Mitleidenschaft ziehen kann. Diese Fälle bezeichnet man
einfach als Ostitis; sie kann zum Knochenabscess, dann auch zu
Caries centralis führen. Die Symptome einer solchen, tief im Knochen
entstehenden, chronischen Entzündung sind in vielen Fällen anfangs
ausserordentlich wenig prägnant. Ein dumpfer, massiger Schmerz und
eine dadurch bedingte, geringe Functionsstörung besteht sehr häufig als
das einzige Symptom. Die Anschwellung kommt erst spät hinzu und die
Krankheit kann Monate lang bestehen, ehe man eine sichere Diagnose
zu stellen im Stande ist. Gesellt sich dann aber stärkerer Schmerz bei
Druck und Oedem der Haut hinzu, nimmt secundär auch das Periost
an dem chronischen Entzündungsprocess Theil, so wird man nach und
nach auf die richtige Diagnose geleitet werden, um so leichter, wenn
der Process ein circumscripter ist, und es schliesslich zum Aufbruche
nach aussen kommt, so dass man dann durch die Oeffnung mit einer
Sonde tief in den Knochen hineingelangt, und so die Krankheit unmittel-
bar zur Erkenntniss kommt. In vielen Fällen ist lange Zeit die Periostitis
das Hauptsymptom der Ostitis; erstere kann so bedeutend in den Vorder-
grund treten, dass sie die eigentliche alleinige Krankheit zu sein scheint,
bis man durch die lange Dauer des Processes, dann durch Defecte, die
von innen nach aussen im Knochen entstehen, vielleicht endlich auch
durch Auslösung kleinerer Knochenstttckchen darauf aufmerksam wird,
dass die dauernde Eiterung ihren Grund in einem tieferen Knochen-
leiden hat.
Es ist schon früher erörtert worden, dass die chronisch-entzündliche
Ernährungsstörung im Knochen sich zunächst in seiner chemischen Zer-
setzung der Art äussert, dass seine Kalksalze in einen löslichen Zustand
umgeändert werden. Bisher haben wir nur Fälle betrachtet, in welchen
Vorlcsuujj; o'i. Ca[)il;i;l XVf.
503
sich die Erkraiikim^^' .-mf circuinscriptc Stellen l)es('lii-ii,iikte und von aussen
uaeli innen vordrani:,'. Jcl/.t deidceii Sie sieli in einem siiongiöscn Knoelicii
z. 1). in einem FussAvurzelkiioelien oder in dev Diapliyse eines llöliren-
knoeliens, z. 11. in der unteren Dia])liyse der Tibia entwickelte sich eine
Ostitis, hei welcher die Kalksalze aus dem Knoclieni;'ewel)e schwinden,
während die Gefässe des Markes innnor reieldicher werden, und das
Mark von Wanderzellen infiltrirt, an Stelle des nacli und nach auch
innner mehr und mehr schwindenden Knocheni»'e wehes tritt. Wir haheii
da das Bild einer reinen Ostititis malacissans (von oortov und
/tialaKigio, lateinisch malacisso, weich machen), eine Osteomalacia iii-
llammatoria, eine rareiicirende Ostitis (Volk mann). Die Knochen
werden dabei enorm leicht, ihre Corticalsubstanz sehr dünn.
X
4lr
Ostitis malacissans. « Calcaneus im vertifalen Durchsclmitt, an seinem vorderen und
hinteren Ende erlirankt, in der Mitte normal. — b Obei-es Ende der Tibia im vertiealen
Durchschnitt, ziemlich hochgradig porotisch.
Wie unter diesen Verhältnissen der Schwund zu Stande kommt, hat Rindfleisch
gezeigt, indem er nachwies, dass die Kalksalze zunächst gelöst werden und in gleicher
Weise schwinden , wie bei der lacimären Corrosion. Während aber bei dieser zugleich
mit den Kalksalzen des Knochens auch das Knochengewebe schwindet, bleibt letzteres in
dem jetzt vorliegenden Fall noch eine Zeitlang in dem extrahirten Zustiind bestehen; es ist
aus den älteren Fällen, in welchen auf diese Weise endlich jede Spur von KnochengeAvebe
innerhalb des Periost verschwand, ersichtlich, dass das entkalkte Knochengewebe schliesslich
dann auch resorbirt wird'. Ob dies alier immer der Fall ist, oder ob es wieder mit
Kalksalzen imprägnirt und wieder zu normalen Knochen werden kann , mag vorläufig
dahin gestellt bleiben; man weiss indess nichts darüber.
504 Von der chronisdien Enfzüiiduiig des reriostes. der KiKuhen etr-,
Fig. 86.
Schwxmd der Kalksalze aua den peripherischen Theilen der Knochenbalken bei Ostitis
malacissans. Vero;rösseriing 350. Nach Rindfleisch.
Ob immer diese xVrt des Schwundes, die man mit Recht als Halisteresis ossium
(von cilg Salz und ßrf'o»;fT/f Beraubung, Kilian) bezeichnen kann, so vor sich geht, wie
sie sich in Fig. 86 zeigt, ist noch nicht genügend untersucht; es könnte doch auch vorkom-
men, dass bei diesem Schwund des entzündeten Knochengewebes Kalksalze und Gewebe
zugleich resorbirt werden. Dass an den Knochenkörperchen des entkalkten Gewebes auch
keine Spur von Wucherung sichtbar ist, scheint mir wiederum zu beweisen, dass die
Knochenzellen nicht zu Proliferation disponirt sind.
Wir lialjen hier also eine Form der Kuoclieneiitzündimy, bei welelier
der Schwund desselben Aveseutlich in den Vordergrund tritt; auch am
Knochen tritt dabei nur eine meist äusserst geringe Osteoplivtenbildung-
auf, die auch wohl ganz felilen kann. Im Innern des Knochens kommt es
gar nicht zu regenerativen Processen ; das durch reichliche Vascularisation
sehr röthliche Mark bleibt meist Fett-haltig, ist aber reichlicher, als es sonst
das Knochenmark Erwachsener zu sein pflegt, von jungen Zellen durch-
setzt und ähnelt dadurch mehr dem Mark von Kinderknochen. In diesem
Zustande kann diese Ostitis malacissans fortdauernd bleiben; in ihrem
langsamen Fortschritt miisste sie zur vollständigen Auflösung des Knochens
führen , so dass nur Mark und Periost übrig bleibt und der Knochen
seiner Weichheit wegen allen Zug- und Druckwirkungen nachgiebt; dies
ist selten. — Nach meinen Erfahrungen ist es ebenso selten, dass das
Mark in diesen Knochen ohiie äussere Veranlassung zur Eiterung oder
Verkäsung kommt; freilich giebt es mancherlei solche Veranlassungen,
wodurch dies gelegentlich herbeigeführt wird: gewaltsame Sondirungen,
Sondirungen mit unreinen Sonden, Quetschung, Stoss, operative Eingriife.
Eine Ausheilung dieser Ostitis durch Neubildung von Knochen in die
Lücken des alten liinein, konnnt bei geringereu Graden gewiss oft vor;
Viirlt'Siiiu
ciiihii,'! xvr.
n05
sie yicli in Ivölirenknochcn mächtig' ent-
Via. 87.
Iiolio Orjulc dicsci- l\i';Mikliei( lici in;iraiiti,sclicii fiulividiieii sind milicübiir
iiuliciron die Aui})ut;ili(»ii.
Die Ostitis ()stc<»])lnsti(';i ist dus WidcM'spicl der Ostitis iii;i,l;i
ciissJiiis ; ob die I'^niäliruni^sstöriuii;', dui'cli welche sie n,ng'ereg't wird ii
allerfrühesteii Studien auch mit Kntkalkiini;' des Knochengewebes be
i;-tnid:, weiss man nicht; der llau[»tef('eet der Störung ist abnorme Ken
bildung vom Knochengewebe im Mark nnd in den Ikiversischcn Canälen
Die Erkranknng pflegt, weini
wickelt, den ganzen Knochen zu
gleicher Zeit zu befallen, auch wohl
an mehren Knochen des Skelets zu
gleicher Zeit aufzutreten. Die Folge
einer solchen Krankheit kann die voll-
ständige Ausfüllung der Markhöhle mit
einer ziemlicli compacten Knochen-
masse, fernei- die fast vollständige
Ausfüllung der Haversischen Canäle
mit Knocheusubstanz sein; meist ist
auch Anbildung von Knochen an der
Oberfläche damit verbunden. Der ganze
Knochen wird dadurch enorm schwer
und dicker als normal; man bezeiclinet
diesen Process auch wolil als diffuse
Hypertrophie des Knochens, häu-
figer noch als Sclerosis ossium (von
0KXt]q6g trocken, hart, coudensirende
Ostitis, R. Volkmann). Es werden
übrigens nicht allein Eöhrenknochen,
sondern auch andere Knochen des
Skelets gelegentlich ergriffen, z. B. die
Gesichtsknochen und die Becken-
knochen ; dabei sind die Knochenauf-
lagerungen dann auch wohlschw^ammig,
waüstig, knotig, so dass ein solcher
Knochen mit der durch Elephantiasis
degeuerirten Haut Aehnlichkeit be-
kommt; die Processe haben in der
That grosse Verwandtschaft (Leontiasis
ossium Virchow). Die iVusfüllung
der Diploe zwischen der Tabula interna
und externa der Schädelknocheu mit
T^ , . . p ... 1 . Sklerosirte Tibia und Femvir: erstere
Knochenmasse ist ireilich eine so , i. ,,• , . , • t> -
iiaen l'ollin; letzteiei- em Präparat
ausserordentlich häufige, schon im ^us der Wiener pathologisch -anato-
höheren Mannesalter sich entwickelnde mischen Sammhmg.
506 Von der chronischen Entzündung des Periostes, der Knochen etc.
Veränderung' dieser Knochen, dass man sie kaum als etwas Pathologisclies
betrachten kann, geliört aber doch hierher. — Die Ursachen der Knochen-
sklerose als eines primären Krankheitsprocesses sind völlig- dunkel;
Syphilis mag in manchen Fällen ein veranlassendes Moment dazu sein,
indess gewinnen die Knochenbildungen, welche bei Syphilis vorkommen,
selten eine solche Festigkeit, wie bei der eigentlichen Sklerose. Mau
wird die Krankheit nur in seltenen Fällen am Lebenden sicher diagnosti-
ciren, weil diese Knochen beim Anfühlen durchaus nichts anderes dar-
bieten, als eine etwas grössere Dicke und eine meist unbedeutende
Unebenheit der Oberfläche.
Die Caries interna suppurativa circumscripta d.h. die Ent-
stehung lacunärer Defecte im Innern des Knochens fängt in einem
Röhrenknochen meist primär als Osteomyelitis an. Der En tziindungs-
heerd verbreitet sich allmählig auf die Innenfläche der Corticalsubstanz?
dieselbe wird aufgelöst, wie wir es früher bereits besprochen haben,
und endlich an einer Stelle vollständig verzehrt. Im Centrum der ent-
zündlichen Neubildung kann in solchen Fällen schon ziemlich früh Eiter
entstehen und sich in der Folge nach aussen entleeren. Dies ist diejenige
Krankheit, welche man speciell als Knochenabscess bezeichnet. Das
Periost bleibt dabei nicht unthätig, es wird verdickt und auf der anfangs
noch nicht durchbrochenen von innen her gereizten Knochenoberfläche
bildet sich auch in diesem Falle sehr häufig neue Knochenauflagerung.
Dadurch wird der Eöhrenkuochen au der Stelle, wo sich der Abscess
in seinem Innern bildete, nach aussen verdickt, und so macht es den
Eindruck, als wenn der Knochen hier aus einander getrieben, gewisser-
maassen aufgeblasen wäre. Es ist schwer, oft unmöglich, einen solchen
Knochenabscess am Lebenden von einer circum Scripten osteoplastischen
Periostitis zu unterscheiden, und man sei daher nicht zu voreilig mit
operativen Eingriflen. Diese chronische eitrige centrale Osteomyelitis
kann sich nach und nach auch auf die ganze Markhöhle des Knochens
erstrecken. Vor Kurzem sah ich einen solchen Fall bei einem l5jährig-en
Mädchen: das Mark des ganzen Radius war langsam vereitert, die Cor-
ticalsubstanz des Knochens stark verdünnt. Ich resecirte die ganze
Diaphyse mit Zurücklassung des verdickten Periostes und der beiden
Epiphysen; die Heilung erfolgte in 3 Monaten, doch war die Regene-
ration eine äusserst geringe. —
Mit diesem centralen, cariösen Process kann sich aucli eine partielle
Nekrotisirung einzelner Knochenpartikel an der Innenfläche der Cortical-
substanz verbinden, so dass eine Caries necrotica centralis vorliegt.
Endlich giebt es nun noch Fälle schlimmster Art, avo sich chronische,
innere und äussere Caries mit Necrosis und mit theils eitriger, theils
osteoplastischer Periostitis, theils condensirender, theils rareficirender
Ostitis verbinden. Alles au einem und demselben Röhrenknochen zugleich
entwickelt; an Aa^rschiedeuen Stellen des Knochens kommen dabei Abscesse
Vorlrsim.-; :V2. Capilcl XVT. 507
zum Vorschein; inaii k(immt mit der Sonde 1)ald in das morsclic Knoclien-
g'cwebe, bald auf einen Sequester ; liier dringt man bis in die Markhölilc
des Knoeliens hinein, dort sclieint nur die Oberlhlclie erkrankt; der ganze
Knoelien ist verdickt, ebenso das Periost und aus den Fistelöffnungen ent-
leert sich dünner Eiter. Das macerirte rrä})arat eines solchen Knochens
bietet einen sehr eig-enthümlichcn Anblick dar: die Oberfläche ist bald mehr
bald weniger mit porösen Osteophyten bedeckt; zwischen diesen findet man
hier und da nekrotische Stücke, welche der Oberfläche des Knochens an-
gehören; einige Oeft'nungen führen in die Markhölile hinein; durchsägen
Sie diesen Knochen der Länge nach, so finden Sie auch die Markhölilc
zum Theil mit poröser Knochcnmasse ausgefüllt; die Corticalschicht hat
ihre gleichmässige Dichtigkeit verloren und ist ebenfalls porös, so dass
sie von den Osteophytenauflagerungen nur noch an wenigen Stellen unter-
schieden werden kann; in der ursprünglichen Markhöhle findet man hier
und da grössere, rundliche Höhlen, in einigen davon nekrotische Knochen-
stücke. Diese Knochen befinden sich in einem Zustand, dass eine Hei-
lung in solchen Fällen meist nicht zu erwarten ist, und entweder die
Exstirpation derselben oder die Amputation des Gliedes gemacht wer-
den muss.
Ganz ähnlich gestalten sich die Verhältnisse bei Caries in den kurzen
spongiöseu Knochen; in ihnen kommt es bei wuchernder, entzünd-
licher Neubildung verhältnissmässig schnell zui- Auflösung des Knochens
meist mit consecutiver oft suppurativer Periostitis, wenngleich eine solche
durchaus nicht nothwendige Folge sein muss. Es giei)t Fälle von Ostitis
der kurzen, spongiöseu Knochen an Hand- und Fussgelenk, besonders
auch der Epiphysen von Röhrenknochen, wobei ohne erhebliche An-
schwellung (die gewöhnlich erst durch die hinzukommende Periostitis
bedingt wird) die Knochen durch eine sie durchwachsende interstitielle
Granulationsmasse ganz aufgelöst werden, ohne dass auch nur die ge-
ringste Spur von Eiterung sich hinzuzugesellen braucht (Ostitis interna
granu\losa seu fungosa). Die Folge solcher Knochenauflösungen an
den genannten, sowie auch anderen Gelenken ist, dass durch Muskelzug
die Knochen in die Richtung hin verschoben werden, in welcher die
Zerstörung der Knochen am meisten vorgeschritten ist. Nach den so
entstandenen Verkrümmungen kann man dann auch die Ausdehnung der
Knochenzerstörung annähernd bestimmen. So habe ich einmal die Am-
putation eines Fusses machen müssen, welcher in Folge einer solchen
Knochenzerstörung ohne Eiterung an der inuern Seite des Talus und
Calcaneus in solchem Maasse verkrümmt wai-, dass der innere Fussi-aud,
wie bei einem hochgradigen, angeborenen Klumpfuss ganz in die Höhe
gezogen war und der Kranke auf dem äussern Fussrand höchst unsicher
ging. Es hatte sich noch ausserdem ein ziemlich grosses Geschwür am
äusseren Fussrand ausgebildet, welches das Gehen zuletzt ganz unmög-
lich machte. Einen ähnlichen Fall sah ich am Handgelenk : ein Mädchen
508 Von der chronischen Entzündung des Periostes, der Knochen etc.
von 20 Jahren litt schon seit längerer Zeit an Schmerzen am linken
Handgelenk ohne Anschwellung der Weichtheile; Druck auf die Hand-
wurzelknoclien war ausserordentlicli empfindlick; allmälilig stellte sich,
ohne dass Anschwellung und Eiterung hinzugekommen wäre, die Hand
sehr bedeutend in Abduction; chloroformirte mau die Patientin, so konnte
man diese Stellung wieder in die normale zurückführen und fühlte dann,
dass ein Theil der Handwurzelknochen ganz geschwunden war. — In
den grösseren spongiösen Knochen, wie z. B. im Calcaneus und in den
Epiphysen grosser Röhrenknochen, kann es auch zur Bildung einer cen-
tral gelegenen Höhle, eines Knochenabscesses kommen, und es kann
sich damit eine Nekrosis centralis verbinden. In den weitaus meisten
Fällen combinirt sich jedoch mit der Ostitis eine eitrige Periostitis, zu-
mal ist dies das Häufigste an den kleinen Hand- und Fusswurzelknoehen;
dieselben sind so klein, dass, wenn das Periost erkrankt, sich die Er-
krankung sehr leicht auf den ganzen Knochen und seine Gelenkflächen
überträgt, und dass umgekehrt die primäre Erkrankung dieser Knochen
sehr schnell ihre Rückwirkung auf das Periost und die Gelenkflächen
äussert. Es kommt dabei ferner zur Mitleidenschaft der Sehnenscheiden,
der Haut, welche an verschiedenen Stellen durch Ulceration von innen
nach aussen durchbrochen wird. An der Hand können dann Radius
und Ulna, so wie die Gelenkenden der Metacarpalknochen in Mitleiden-
schaft gezogen werden, am Fuss das untere Ende der Tibia und Fibula,
so wie die hinteren Enden der Metatarsalknochen. So wird das ganze
Hand- und Fussgelenk unförmlich aufgetrieben; an vielen Stellen fliesst
dünner Eiter aus den Fistelöffnungen, und die Hand- und Fusswurzel-
knoehen sind dabei theilweis aufgelöst und durch schwammige Granu-
lationswucherung ersetzt, oder sind ganz oder stückweise nekrotisch. —
Ich brauche Ihnen wohl kaum besonders zu bemerken, dass der Verlauf
auch dieser Form von primärer suppurativer Ostitis mit Caries in seinen
Vitalitätsverhältnisseu ebenso variabel ist, als die chronische Periostitis,
und dass Sie auch hier solche Fälle unterscheiden können, die einen
exquisit atonischen, andere, welche einen fungösen Charakter an sich
tragen, während eine Reihe von Fällen zwischen diesen Extremen steht.
Einer Form von chronischer Ostitis muss ich noch besonders erwähnen,
nämlich der Ostitis mit Verkäsung der entzündlichen Neubildung,
gewöhnlich mit langsam sich entwickelnden lacunären Defecten, oft
mit partiellen Nekrosen verbunden. Diese Art der chronischen Ent-
zündung ist Ihnen schon von früher her bekannt; sie gehört im Allge-
meinen zu den atonischen Formen mit geringer oder ganz fehlender
Vascularisation. Sie kommt hauptsächlich in den spongiösen Knochen
vor; in dem käsigen Brei, welcher die Höhle in dem Knochen ausfüllt,
linden sich fast immer abgestorbene, nicht aufgelöste Knocheustücke.
Die Wirbelkörper, die Epiphysen grösserer Röhrenknochen und der Cal-
caneus sind am häufigsten der Sitz dieser Ostitis interna caseosa.
Vorlcsiiiu
C;ii)il('l XVI".
mj
Zu erkcmieu ist diese Form am Lebenden ''^'k- ''^^•
nur in wenig'en Fällen; man kommt all-
mählig' zur Diagnose der Ostitis interna,
kann jedoch die specielle Form dersell)en
nur in solchen Fällen bestimmen, in
welchen ein Aufbruch nacli aussen erfolgt
und der halb verflüssigte käsige Brei ent-
leert wird. Fonfick hat naclig'ewiesen,
dass zumal bei Typhus circumscripte cen-
trale Ostitis nicht so selten zur Ent-
wicklung kommt; auch nach Exantliemen
wie Scharlach, Variola, Älasern kommen
nicht selten Knochenkrankheiten vor,
welche mit dem gesammten acuten Krank-
heitsprocess zusammenhängen. Diese
Entziindungsformeu neigen ])esonders zur
Verkäsung- und Caries necrotica. —
Schliesslich darf nicht unerwähnt bleiben,
dass in seltenen Fällen, meist in der
Nähe von verkästen Heerden, auch wirk-
liche Miliartuberkeln, kleine, anfangs
graue, später verkäsende Knötchen in der
spong'iösen Knochensubstanz der Epiphysen, in den Fusswurzelknochen
und in den Wirbelkörpern vorkonnnen. Eine Diagnose dieser wahren
Knochentuberkulose ist am Lebenden nicht zu stellen, höchstens da zu
vermuthen, wo ausgesprochene Lungen- oder Larynxtuberkulose vor-
handen ist.
Verkäster ostitischer Heerd in den
Rückenwirbeln eines Mannes.
Aus den gelegentlichen Bemerkungen, welche ich über die Diag-nose
der chronischen Periostitis und Ostitis gemacht habe, werden Sie schon
ersehen haben, dass die Erkenntniss dieser Krankheiten im Allg-emeinen
nach einer g-ewissen Zeit des Verlaufs nicht g-ar so schwierig- ist, dass
aber die g-enaue Bestimmung der in einem einzelnen Fall vorliegenden
Form und Ausdehnung nicht immer im Bereiche der Möglichkeit liegt.
Zwei Momente sind es, welche in denjenigen Fällen, in Vv eichen die
directe Untersuchung des Knochens mit der Sonde nicht gemacht werden
kann, die Diagnose wesentlich unterstützen, nämlich die Verschie-
bungen der Knochen, welche in Folge ihrer theilweisen Auflösung,
wenigstens an vielen Stellen des Körpers auftreten müssen, und die
Abscessbildung, welche sich häufig damit verbindet.
Eine cariöse Zerstörung der grösseren Röhrenknochen wird selten
so tief greifen, dass eine Continuitätstrennung auftritt; wo dies allenfalls
eintreten könnte, wird es oft dadurch verhindert, dass aussen am Knochen
510
Von der clironisclien Entzündung des Periostes, der Knoclien etc.
Osteophyten zug-leicli mit dem inneren Zerstörungsprocess wachsen und
so der Knochen auch an der erkrankten Stelle verdickt wird. Bis
jetzt habe ich es nur einmal gesehen, dass bei einer ganz atonischen
Caries an der Tibia eines alten decrei)iden Individuums der Knochen an
einer Stelle ganz durchg-efressen war, so dass die Continuität ganz auf-
gehoben wurde und spontane Fractur eintrat; bei Eippencaries habe icb
schon zwei Mal spontane Fractur zu Stande kommen sehen; bei der Un-
tersuchung post mortem ergab sich, dass auch keine Spur von Osteophyten
gebildet war. Nahezu ist auch der in Fig. 83 pag. 494 abgebildete
Knochen durcbfressen. — An den kleinen Eöhrenknochen der Phalangen
und des Metacarpus kommt eine vollständige Auflösung des Knochens
nicht so selten vor; man nennt die scrophulöse Caries an diesen Knochen
von Alters her Paedar-
throcace (von näig
Kind, agdQov Glied, xaxla
schlechte Beschaffenlieit)
oder Spina ventosa Wind-
dorn, alte Namen, die
nichts anderes bezeich-
nen, als Caries an den
Fingern oder Zehen mit
spindelförmiger Auftrei-
bung. Werden dabei die
Knochen ganz zerstört,
theils durch die Granu-
lationswucherung , theils
durch partielle Nekrose
der kleinen Diaphyseu,
so schrumpfen die Finger
zusammen und werden
durch die Sehnen stark
zurückgezogen , so dass
sie unförmliche Finger-
rudimente darstellen. —
Weit häufiger ist die
Knochenverschiebung bei
den spongiösen Knochen,
wenn diese zerstört sind;
ich habe darüber schon
bei den Hand- und Fuss-
'^^" -'^ÄÄl Wurzelknochen gespro-
Zerstörnng der Wirbel durch multiple Periostitis .ind f^^^»' "^''"^^^ ^S komuit
Ostitis anterior. Präparat aus der pathologisch -anato- il^ Weit ausgedehnterer
mischen Saiumlunii zu Basel. WcisC UOCh llU anderen
Vorlosmii;- Vä. V:\\n[v\ XVI. 511
Knoclien vor; wird z. 1>. der Ko])!' des l'eiiinr und der oherc IJniid der
rfainic diireli Caries zerstört, so wird der l<\'iiiiir alliiirddii;- der ZerstruMiiii;'
eüts])rcelicnd iiacli ol)eii i;'ezo,i;-eii und bekommt eiiu', äJinlicIie .Stellung;-,
wie l)ci der Verreidvun»- im Jliil'tii'elenk naeli oben. Aelmlielie Disloeationen,
wenng'leicli wenig'er auffallend, entstehen aucli im Sclndtergelcnk, im
F.nenl)Og'eii- und Kniegelenk. — Fast am auffallendsten sind die Dislo-
eationen an der AVirl)elsäule nach cari(»ser Zerstörung der Wirbelkör])e]';
wird ein oder werden mehre Wirbelkörper durch Caries aufgelöst, so
hat der oberhalb liegende Thcil der AVirbelsäulc keinen festen Halt
mehr, er muss heruntersinken; da aber die Wirbelbögen und Processus
spiuosi selten mit erkranken, so sinkt die Wirbelsäule nur in ihrem
A'orderen Tlieil herab, und es entsteht hier eine Knickung nach vorn,
damit notliwendigerw^eise eine Ausbieguug nach hinten, ein sogenannter
Pott'scher Buckel, so benannt nach dem englischen Chirurgen Per-
cival Pott, der diese Krankheit zuerst genau beschrieb. In jeder
anatomischen Sammlung finden Sie Präparate von dieser leider ziemlich
häufigen Krankheit. Die Entstehung eines solchen Buckels einer Kyphosis
(von xv(f)6cü vorwärts biegen, krümmen) der Wirbelsäule, ist zuweilen
das einzige, aber freilich sehr sichere Zeichen einer Zerstörung der
Wirbelknochen.
Ein zweites wichtiges Zeichen für Knocheuzerstörung sind die in
vielen, ja in den meisten Fällen dabei vorkommenden Eiterungen in Form
von kalten Abscessen. Der Eiter sammelt sich um den kranken
Knochen herum in der Tiefe an, bleibt aber nicht immer an dem Ort
seiner Entstehung, sondern verbreitet sich zuweilen weiter und weiter;
die Eichtung, nach welcher diese Verbreitung erfolgt, wird durch den
geringeren oder stärkeren Widerstand der verschiedenen Weichtheile,
seltner durch die Gesetze der Schwere allein bestimmt; sie ist für alle
wichtigsten Erkrankungsheerde eine typische durch die anatomischen
Verhältnisse bedingte; König hat in neuerer Zeit mit besonderem Er-
folge an der Hand sorgfältiger mit Henke gemeinsam angestellter Stu-
dien auf die Wege aufmerksam gemacht, welche diese Abscesse bei ihrer
Vergrösserung und Ausbreitung einschlagen oder viel mehr aus anato-
mischen Bedingen einschlagen müssen. Caries der Wirbelsäule ist eine
der häufigsten Quellen solcher Senkungs- oder Congestionsabscesse;
da die Erkrankung am häufigsten als chronische Periostitis an der vor-
deren Seite der Wirbelkörper beginnt, so bildet sich auch hier zuerst der
Abscess, der Eiter senkt sich hinter dem Peritouäum am M. psoas entlang
und kommt in der Regel unter dem Lig. Poupartii in der Richtung nach
innen zum Vorschein; auch andere Richtungen der Verbreitung, z. B.
nach hinten, sind möglich, doch weit seltener. Diese Congestionsabscesse
sind von grosser diagnostischer und noch grösserer prognostischer Be-
deutung; sie sind in der Regel ein übles Zeichen; ihre Behandlung, wo-
von später, ist eine der schwierigsten Gegenstände der chirurgischen
512 ^'^f'" <^'''' plu'oiiisc'lioii Entziindinig des Periostes, der Kiioflien eto.
Therapie. Dass der Eiter, dem Gesetz der Schwere folgend, einfach
mechanisch heruntersinkt, eine Anschauung-, zu welcher der Ausdruck
„Senkungsabscess" leicht verleiten kann, ist, wie gesagt, nicht richtig;
er verbreitet sich am leichtesten dahin, wo nur lockeres Zellgewebe vor-
handen ist und Fascien, Muskeln und Knochen keinen Widerstand leisten,
denn es ist im Wesentlichen ein ulcerativer Vereiterungsprocess, der in
einer bestimmten, nur in geringem Maasse durch den intracavären Eiter-
druck bestimmten Eichtung vor sich geht, eine Art der Abseessver-
grösserung, wie sie auch sonst vorkommt: ist der Eiter z. B. von der
vorderen Fläche der Wirbelsäule entsprungen, hat sich auf dem erwähnten
Wege bis zur Innenseite des Oberschenkels Bahn gebrochen, ist dann
unter der Schenkelhaut angekommen, so erfolgt meist sehr langsam ein
Durchbruch der Haut, nicht durch den mechanischen Druck des Eiters,
sondern durch ulcerative Zerstörung von innen nach aussen, wie bei dem
Aufbruch aller Abscesse und Hohlgeschwüre ; ein solcher Congestions-
abscess kann möglicherweise l'/^ — 2 Jahre und länger bestehen, ehe er
sich spontan öffnet.
Wir kommen jetzt auf die Aetiologie der Ostitis und Caries
interna, wobei wir uns sehr kurz fassen "können, weil dieselben Ur-
sachen, welche der chronischen Periostitis, ja der chronischen Entzündung
überhaupt zu Grunde liegen, auch hier die Hauptrolle spielen.
Es ist im Ganzen selten, dass bei sonst gesunden Menschen ein
Trauma zur Entwicklung einer primären Ostitis chronica Veranlassung giebt.
Indess kann es vorkommen, dass sich in den grösseren Röhrenknochen
eine solche durch starke Erschütterung und Quetschung mit Blutextra-
vasaten in der Markhöhle unter der Form einer chronischen Osteomyelitis
entwickelt. Auch nach Quetschungen der kurzen Hand- und Fusswurzel-
knochen kann dasselbe sich ereignen. Es wird jedoch immer häufiger
sein, dass nach solchen Veranlassungen acute Processe, z. B. acute Peri-
ostitis entsteht. Kommt nach Verletzungen des Hand- und Fussgelenks
eine Vereiterung desselben zu Stande, wird der Knorpel dabei zerstört
und pflanzt sich die Eiterung auf die Knochen fort, so kann es zu einer
fungösen Ostitis der kleinen spongiösen Knochen bis zur vollständigen
Auflösung derselben kommen. Selbst bei ganz gesunden, kräftigen Indi-
viduen kann bei einer langdauernden, traumatischen Gelenkeiterung ein
Zustand von Anämie und Kachexie eintreten, in Folge dessen die trau-
matische Entzündung nicht zu ihrem normalen Abschluss kommt, sondern
in einen chronischen Zustand übergeht. — Am häufigsten sind Scrophu-
lose und Syphilis die Ursachen chronischer Knochenentzüudungen, und
zwar kommen bei der Scrophulose vorwiegend die fungösen Formen
vor, so lange die Kinder noch fett und sonst gut genährt sind. Bei
mageren, schwach genährten, anämischen, scrophulösen Kindern entwickelt
sich dagegen nicht selten die verkäsende Ostitis, sowie auch die ganz
atouischen Formen; beide letzteren combiniren sich dann auch wohl
Voricaiiiif,' ;'.'3. Capil.-I XV f. r,];}
mit partieller Nekrose. Die AVirbelköipcr, die fjleleiikei)ii)liyseu, die
IMinlniiii'en und die MetacnrpMlkuoclicii sind die liänfii^sten Sitze der
ser()j)liiiir)sen Ostitis und Periostitis; seilen erkranken die Ivicter und die
g'rösseren Krdirenknoclien. IJei Syphilis ist die Ostitis und Periostitis
osteoplustica am Scliienhein und am Schädel häulig'; auch die Curies
sieea funi^osa, konunt tlieils [)rim;ir in der Diploc der Scli;i,delkiH»elien,
tlieils nach Periostitis zur Entwicklung'; das Sternum, der Processus |);i,-
latinns und die Nasenknoelicn sind oft afticirt; Nekrose eomhinirt sich
sehr häulig mit sypliilitisehcr Caries. Manche neuere vXutoren z. P».
II. Volk manu, stellen die Knocheusyphilis unter dem Namen Ostitis
gummosa als etwas Eigenartiges hin; ich gebe zu, dass gewisse Com-
hinationen dabei besonders häufig- vorkommen und so tyi)isclie Krank-
heitsbilder entstehen; in anatomischer Beziehung- bleibt die Knochen-
syphilis immer chronische Ostitis und Periostitis. Während bei Syi)hilis
•fast nie ein äusseres Moment den localen Proeess veranlasst, ist dies bei
Scrophulose wohl als Regel anzusehen. Contusionen und Distorsionen, an
sieh unbedeutenden Grades erzeugen bei Scrophulösen Störungen, welche
nicht ausgeglichen werden, sondern zu immer weiterer Ausbreitung und
Steigerung gelangen. In vielen Fällen ist man allerdings ausser Stande,
auch bei der genauesten Untersuchung- örtliche oder allgemeine Ursachen
für die Entstehung einer vorliegenden Caries zu ermitteln, und ich halte
es für besser, sich dies dann zuzugestehen, als mit aller Gewalt irgend
etwas in den Kranken hinein zu examiniren.
Vorlesung 33.
Heilinigspvocess bei chronischer Ostitis, Caries imd Congestionsabscessen. Prognose.
— Allgemeinzustand bei chronischen Knochenentziindungen. — Secundäre Lymphdrüsen-
schwellungen. — Therapie der chronischen Ostitis und C(nigestlonsabscesse. ^
Resectionen in der Coiitinuität.
Ehe wir zur Behandlung- der chronischen Periostitis und Ostitis
übergehen, müssen wir noch einige Bemerkungen ül)er den Heiluug-s-
process bei diesen Krankheiten und über die Prognose derselben
hinzufügen. Ersterer wird sich je nach der Vitalität des Proeesses etwas
verschieden gestalten, wie auch bei den Hautgeschwüren. Nehmen wir an,
die entzündliche Neubildung- (die Granulombildung-) höre endlich auf
üppig fort zu wuchern, so wird dieselbe allmählig- zusammenschrumpfen
und sich in Narbengewebe umbilden. Dieser Proeess wird, histologisch
betrachtet, darin bestehen, dass das Granulationsgewebe sich zu festem,
faserigem Bindegewebe zurückbildet, indem seine sehr reichlich ent-
wickelten Capillargefässe zum grossen Theil obliteriren uml die Zellen
BUlroth chir. Fütb. u. Tht-r. 7. Aufl, 33
■j'{4: Von (Ipr flironisrlion Entzüntlmir;- dps Poriostes. der Kiioclion etc.
ZU Bindegewebe und Bindege\vebskörpevclieii werden. "War die Caries
mit offener Eiterung- verl)unden , so hört letztere albnälilig- auf, die
Fisteln scliliessen sich. War durch die Ostitis bereits ein Theil des
Knochens zerstört, und waren Verschiebungen eiug-etreteu, so gleichen
sich die letzteren nicht mehr aus, sondern der Knochendefect wird zu-
nächst durch eine stark eingezogene Bindegewebsnarbe ausgefüllt, und
die an einander verschobenen Knochen verwachsen durch eine solclie
Narbe in der fehlerliaften Stellung mit einander; später verknöchert
gewöhnlich diese Bindegewebsnarbe im Knochen. Auch die narbige Ver-
bindung zweier an einander verschobener Knochen, z. B. zweier Wirbel-
körper, die durch die Zerstörung eines früher zwisclien ihnen gelegenen
Wirbels auf einander zu liegen kamen, wird knöcliern, und dadurch
werden die Wirbel fest mit einander verlöthet; ein eigentlicher Ersatz,
etwa eine Neubildung von Knochenmasse in dem Grade, dass die Wirbel
sich wieder aufrichteten oder ein anderer Knoclien ganz oder theilweis
wieder hergestellt würde, erfolgt bei der Caries niemals. — Soll ein
ganz atonisches Knocliengescliwür zur Ausheilung konnuen, so kann dies
auf zweierlei Weise geschehen: entweder müssen zunächst die etwa
nekrotisch gewordenen Knochenstttcke abgestossen und entfernt werden;
dann muss unter Entwicklung einer reichlichen Gefässbildung sieli eine
kräftige Neubildung von den Wandungen des Defectes aus bilden, und
wenn es sich um grössere Hohlgeschwüre, um Abscesse in den Knochen
handelt, so muss der ganze Eaum zunäclist durch Granulationsmasse aus-
gefüllt werden, um eine Ausheilung zu ermöglichen; diese Granulationen
müssen zur Narbe werden und verknöchern, um dadurch die Heilung zu
vervollständigen; — oder durch Granulationen, welche hinter der kranken,
nekrotisirten Knochenpartie aus dem gesunden Theil des Knochens hervor-
wachsen, Avird der nekrotische, noch nicht gelöste Knochenthcil aufgelöst;
damit verwandelt sich der torpide Process in einen kräftig wuchernden
und führt dann später ebenso, wie in dem früheren Falle zur Narbe, welche,
wenn alles günstig zum Ende kommt, verknöchert. — Die Knochen-
defecte, z. B. im Centrum eines Eöhrenknocliens, können sich durchaus
nicht durch Schrumpfung verkleinern, was die Heilung l»ei den Weich-
theilen so sehr abkürzt, sondern müssen vollständig durch Neubildung
ausgefüllt werden ; dies ist der Punkt, woran die Heilung der Knochen-
geschwüre so oft scheitert. Die allgemeinen constitutionellen Verhält-
nisse, welche den ganz torpiden Formen der Caries zu Grunde liegen,
sind schwer zu beseitigen; es ist deshalb nicht allein sclnvierig, dem
Process der Verschwärung Stillstand zu gebieten, sondern ebenso schwierig,
eine energische Neubildung an den erkrankten Theilen hervorzurufen. —
Gelingt es wirklich, den Ulcerationsprocess zum Stillstand zu bringen
und verdichtet sich der erweicht gewesene Knochen wieder zur normalen
Bcschaflenheit, so l)leiben doch nicht selten schmerzlose Knochenlistelu
zurück, welche viele Jahre lang fortbestehen, oft niemals ausheilen.
TvuIgss sind solclie Knoclieii fisteln, wenn der KvanklicitsproccsR still stellt,
in den meisten Fällen ziemlicli nnseliädlieli. 1ljil)en Sie Gclei;cnlicit,
solelic Fisteln anntoniiseli an niaeerirten Knochen zu untevsuelicn, so
werden Sie linden, das« die Ijöelier, welelie in den Kin)elien liincinfiiliren,
von einer ausserovdentlieli dichten, skleiosivten Knochcnsehicht ausg'eklei-
det sind, i;anz; ähnlich, wie hei alten Fisteln der Weiehthcile, deren Wan-
duni^'en aus einer sehr liarten, narbig'en Masse bestellen. -- Es erüljrig-t
noch, des Heiluiigsprocesses der chronisch entstandenen, kalten Weieh-
theil-Abscesse bei diesen Krankheiten zu erwälmen. Diese Abscesse
werden in den meisten Fällen, wenn sie nach aussen eröffnet sind, niclit
eher ausheilen, als bis das Knochenleiden selbst sich zur Ileiluni^- an-
schickt. Sind dann die Abscessliöhlen mit einer kräftigen Granulation
ausgekleidet, was übrigens selten der Fall ist, so können die Wandungen
allerdings unmittelbar mit einander verwachsen. Häufiger ist es aljer,
dass ein solcher Äbscess, wenn er sieb nicht mehr vergrössert, durch
Schrumpfung seiner Innenwandung sich 7Ainächst sehr wesentlicli ver-
kleinert und auf diese Weise allmählich geschlossen wird. Jedoch ist
auch dazu erforderlich, dass an dieser Innenwandung der Pj-ocess des
Zerfalls aufgehört hat und das Gewebe gehörig vascularisii't ist. Kommt
ein kalter Abscess nicht zur Erötfnung, sondern bleibt subcutan, während
das Knochenleiden ausheilt, so ist das Häutigste, dass ein grosser Theil
des Eiters, dessen Zellen zu feinen Molecülen zerfallen, resorbirt wird,
während die Innenwandung des Abscesses in ein narbiges Gewelje um-
gewandelt wird, welches als fibröser Sack die puriforme Flüssigkeit ein-
schliesst. In diesem Stadium bleiben solche Eitersäcke oft Jahre lang;
eine vollständige liesorption, wenn auch nur bis auf den Best der zu
käsigem Brei schliesslich eingedickten Flüssigkeit, ist leider viel seltener,
als man wünschen möchte und als gewöhnlich angenonnnen wird. Es
ist überhaupt dieser ganze Vorgang von subcutaner Auitheilung kaltei-
Abscesse durch Eesorption äusserst selten.
Bei der Prognose, welche für einen Fall von Caries zu stellen
ist, hat man zunächst aus einander zu halten das Geschick, welches
dem erkrankten Knochen bevorsteht, und den Zustand, in welchen
der Gesammtorganismus durch eine lange Eiterung der Knochen und
Weichtheile versetzt wird. Was das Geschick des erkrankten Theiles
betrifft, so haben wir darüber bereits genügend gesprochen, indem wir
einerseits die Art der Zerstörung und ihre Folgen auf die Umgebung,
andererseits die Art der möglichen Ausheilung aus einander setzten.
Ich will hier nur noch die Bemerkung hinzufügen, dass bei der Cai-ies
der Wirbelsäule begreiflicherweise das Rückenmark in Gefahr kommen
kann, mit von der Eiterung betroffen zu werden, oder durch die Ver-
biegung der Wirbelsäule in eine Krümmung zu gerathen, welche die
weitere Functionsfähigkeit aufhebt: Lähmungen der unteren Extremitäten,
der Blase, des Rectum können daher bei Cai-ies der Wirbel auftreten.
33*
516 ^'^" ^^^' i'lii-onisclien Entzündung des Periostes, der Knochen etc.
Erfaliiungsg-emäss ist dies seltener der Fall, als man a priori erwarten
sollte weil das Rückenmark durch die derbe dura Mater sehr geschützt
liegt und auch einen ziemlich hohen Grad von allmähliger Krümmung
verträgt, ohne in seiner Function beeinträchtigt zu werden. — Von all-
gemein prognostischer Bedeutung ist die constitutionelle Beschaffenheit
des Körpers, der Grad und die Art der febrilen Reaction. Selten
beginnen die chronischen Knochenkrankheiten mit Fieber, ja in vielen
Fällen, besonders wenn man örtlich gar nichts unternimmt, Avenn man
die Eröffnung der consecutiven Abscesse ganz sich selbst tiberlässt, wird
der Patient mit seltenen Ausnahmen überhaupt gar nicht fieberhaft.
Dieser ganz afebrile Verlauf ist indess nicht dauernd; wenn die Krauken
auch bis zur Eröffnung des Abscesses nicht fieberten, so tritt doch mit
derselben in der Regel Consumptionsfieber auf, und zwar meist einfache
Febris remittens mit steilen Curven, d. h. mit niederen Morgen- und ziem-
lich hohen Abendtemperaturen, zuweilen aber auch intermittirendes pyohä-
misches Fieber. Je früher die Eröffnung grösserer Senkungsabscesse
herbeigeführt und die Abscessöffnung offen erhalten wird, um so eher
geht der fieberlose Zustand in den fieberhaften über; meist bildet sich
eine sehr intensive erschöpfende Febris remittens eontinua aus; der
chronische Verschwärungsprocess geht nicht selten dann rasch in einen
acuten Entzündungsprocess mit Neigung zu Diphtherie der inneren Ab-
seesswandungen über; nachdem der dünne, flockige, doch nicht übel-
riechende Eiter entleert ist , tritt zuweilen , wenn auch vorübergehend,
eine seröse, dann jauchige Eiterung ein. Pyohämie kann in verschiedeneu
Stadien der Krankheit hinzukommen und der Finalprocess der ganzen
Krankheit sein. — Wodurch die üble Wendung im Verlauf nach der
Eröffnung der Congestionsabscesse bedingt ist, wodurch die chronische
Entzündung so schnell in eine peracute umschlägt, das ist schwer zu
sagen. Die gewöhnliche Annahme ist die, dass durch den Eintritt der
JAift in den Abscess eine heftige Entzündung in den schon zum Zerfall
disponirten Wandungen der grossen Abscesshöhle Platz greift, und dass
der Sauerstoff der Luft besonders die Veranlassung zur Zersetzung gebe.
Die Annahme mag für viele Fälle berechtigt sein, doch nicht die Luft
als solche, nicht der Sauerstoff ist das Schädliche, auch nicht die in dei-
eintretenden Luft immer enthaltenen organischen Keime sind es, welche
die acute Entzündung der Abscesswandungen erregen. Die weitere Aus-
einandersetzung dieser Verhältnisse, die keineswegs ganz klar sind,
würde mich hier zu weit führen. Sicher ist es wohl, dass zuweilen die
Function oder sonstige Art der Eröffnung schon Reiz genug ist, um
in den im Allgemeinen meist schlecht organisirten Abseesswandungen
eine acut sich verl)reitende entzündliche Ernährungsstörung anzuregen.
In vielen Fällen nuigen auch infectiöse Stoffe mit den Instrumenten
und beim \'erbaiKle eingeimpft werden; auch kann unter Umständen
die in den Abscess eintretende Luft solche lufectiousstoffe enthalten;
Vdrlcsmiy ;-53. Capit.-I XVI. 517
ül)cr die Frag'e ob solche Infectionsstott'e immer um- ;iii i<k;iiicii Orga-
nismen haften, habe ich ihnen schon früher meine Meinung- gesagt. — Es
giebt nun immerhin ziemlich viele Fälle, in welchen die Eiterung, wenn
auch profus, doch gut bleibt, nicht faulig wird, und dennocli heftiges
Fieber auftritt und der \'erlaul' dniin ohne stürmisclie i^rscheinungen in
den chronischen zurückkehrt. Wir dürfen uns nicht verhehlen, dass liier
noch Einflüsse vorhaiulen sind, Avelclie sich unserer Erkenntniss völlig ent-
ziehen. — Dass auf die früher erwähnte Weise der chronische Process oft
acut endigt, ist eine Erfahrung, die uns zu dem i)rognostischen Ausspruch
berechtigt, dass sich nnt der Erüft'nung der Abscesse die Gefahr des Zu-
standes steigert. Wir wollen hier gleich hinzufügen, dass überhaupt der
Organismus erst wesentlich durch die offne Eiterung in Mitleidenschaft
gezogen wird; die Ostitis granulosa, sei es, dass sie als sicca verläuft oder
mit geringer subcutaner Eiterung verbunden ist, wdrd daher für das
Leben weniger gefährlich, als die Ostitis atonica mit grosser Disposition zu
Eiterung und zum Aufbruch nach aussen. Dieser prognostische Satz hat
auch darin seine guten Gründe, dass die wuchernde entzündliche Neubildung
häufiger unter verliältnissmässig günstigen constitutionellen Verhältnissen
vorkommt, wie wir oben bemerkt haben. Zerfallen die fungösen Wuche-
rungen ohne äussere Veranlassung schnell, wird die Eiterung profuser,
dünner, so ist dies ein Zeichen, dass auch die allgemeine Ernährung-
schlecht geworden ist. — Die Kräfte werden theils durch die Eiterpro-
duction, tlieils durch das Fieber consumirt, und w'erden nur sehr mangel-
haft ersetzt, weil keine rechte Resorption vom Magen aus, keine rechte
Verdauung und Assimilation Statt findet; dies wirkt dann wieder auf die
localen Processe zurück; so steht der allgemeine und locale Zustand in
der innigsten Wechselbeziehung. — Je kleiner der cariöse Heerd, um so
weniger ist er allgemein gefährlich; doch giebt es gewisse Localitäteu
am Körper, welche unabhängig von der Ausdehnung der Caries früher
von sich aus den Organismus ruiniren als andere; so sind Wirbel-
eiterungen mit grossen Congestionsabscessen sehr gefährlich, Caries
der Phalangen, selbst wenn mehre zugleich ergriffen sind, von geringerer
Bedeutung für den Organismus; ein grosser Unterschied in der Gefahr
für das Leben besteht namentlich, je nachdem das eine oder amlere
grössere Gelenk mit den Diaphysen ergriffen ist; Caries au Hüfte, Knie
und Fuss sind weit gefährlicher als an Arm, Ellenbogen und Hand,
worüber Genaueres bei den Gelenkkrankheiten. — Von grosser pro-
gnostischer Bedeutung für die Caries ist ferner das Alter; je jünger das
Individuum ist, um so eher ist Hoffnung auf Ausheilung; je älter es ist^
um so geringer ist diese Hoffnung; jede Caries, die jenseits der fünfziger
Jahre, sei es nach Periostitis oder primär als Ostitis auftritt, giebt eine
äusserst zweifelhafte Prognose für die Heilung, so unliedeutend der lo-
cale Process anfangs auch sein mag; ich erinnere mich nicht, je so
häufig Caries bei alten Leuten gesehen zu haben, als iu Zürich, — Eud-
518 Vun der elironiseheii Eiitzüuduiig des reriostes. der Knochen etc.
lieh ist die Prognose sehr abliängig- von den constitutionellen Leiden,
durch welche die Krankheit entstand. Eelativ am günstigsten ist die
syphilitische Caries, weil wir gegen die Syphilis als solche am meisten
therapeutisch vermögen. Scrophulöse Caries bei gut genährten Kindern
ist auch selten quoad vitam gefährlich, da die Scrophuiosis entweder
nach Gebrauch der passenden Mittel oder spontan erlischt. Caries bei
scrophulöseu zugleich atropliisclien Kindern ist aber gefährlich, denn
solche Kinder gehen leiclit an Erschöpfung zu Grunde. Am ungünstigsten
ist die Prognose für Caries bei bereits ausgebrochener Tuberkulose; sie
heilt äusserst selten aus, gewölmlich schreitet die Lungentuberkulose
rasch vor, es kommt gelegentlich acute Miliartuberkulose der serösen
Häute hinzu und macht dem Leben bald ein Ende.
Was die Gesci lichte der in Folge von chronischen Eiterungen lang-
sam zu Grunde gehenden Kranken Ijetritft, so werden dieselben allmählig
immer magerer und magerer, blass, äusserst anämisch, bekommen zuletzt
in der Regel Oedem der unteren Extremitäten, essen immer weniger und
gehen nach Jahre langem Leiden marantisch zu Grunde, oft in schreck-
lich langsamer Weise, zuweilen ganz ruhig einschlafend, zuweilen Tage
lang mit dem Tode ringend. — Man nahm früher gewöhnlich an, dass
der Tod hier nur durch ailmählige Erschöpfung bedingt sei; genauere
Sectionen haben indessen nachgewiesen, dass die Erschöpfung und die
immer schlechter werdende Blutbereitung häufig sehr palpable Ursachen
haben. Man findet nämlich sehr oft in diesen Leichen dje Leber, Milz und
Meren in dem Zustande der speckigen oder amyloiden Degene-
ration (liyalinose 0. Weber), eine Art der Entartung, welche darin
besteht, dass in die Substanz der genannten Organe von den kleineren
Arterien aus ein eigenthümlichcr Stoff ausgescliieden Avird, der sicli
einerseits durch das speckige Aussehen und die speckige Cousistenz,
welche er den erkrankten Organen verleiht, andererseits durch seine
Reaction auszeichnet: auf Zusatz von Jod und Schwefelsäure färbt sich
nämlich dieser Stoff th.eils tief rotlibraun, theils schmutzig braunviolet,
mit Farbenwechsel in grün und blassroth. Ueber die Natur dieser Stofte
herrschen verschiedene Ansichten, über die Sie genauer in der patholo-
gischen Anatomie belehrt werden. Ich will Ihnen hier nur so viel niit-
theilen, dass die genannte Reaction gegen Jod und Schwefelsäure der-
jenigen des Cholesterins ähnlich ist, und dass Heinrich Meckel von
Hemsbach daher glaubte, der Speckstoff verdanke seine Reaction seinem
reichlichen Gehalt an Cliolesterin. Andere meinten, dass der fragliclie
Stoff mit dem Amylum verwandt sei, und Virchow, der diese Ansicht
vertrat, nannte denselben daher Amyloid. Kühne wies nach, dass
beide Ansichten unhaltbar seien; das sogenannte Amyloid ist ein eigen-
thümlichcr, dem Eiweiss nahe verwandter Körper; es untersclieidet sich
vom Eiweiss besonders dadurch, dass es in pepsinhaltigen Säuren un-
löslich ist. Der Stoff ist wegen der Art seines Auftretens imm^-hin
Vorlcsmi-- 3o. CiipiU'l XV f. 519
sehr interessant und mcrkwiirdii^'; er und das Fil)rin sind die cinziii'cn
uns bekannten ori^-anischen Köri)er, wclclie in flüssigcv Form die Gel'äsH-
wandung-en duvcbdi-ingend, aussci-lialb dersell)en im lel)on(len Körper feste
Consistenz gewinnen, olnie dass dabei die lebendige Tliütigkeit von Zellen,
wie bei der Oewebsbildung' nötliig ersclieint. — Die Durditränkuiig der
Leber, Milz und Nieren, sowie auch der Arterienliäute des Darmeanals und
der Lymphdrüsen mit SpeckstotC nuiss begreiflicherweise einen sehr grossen
Einfluss auf die Blutbereitung haben, dieselbe schliesslich ganz aufhel)en.
Ausgedehnte chronische Eiterungen disj)oniren in hohem Grade zur öi)eek-
kranklieit; diese ist also l)ei (km Kraid<;en mit ausgedclmter Caries leb-
haft zu besorgen, leider in vielen Fällen nicht abzuwenden. — Ausser
Tuberkulose und Speekkranklieit, die sich zum Unglück auch noch gar
nicht selten combiniren, di'olit diesen armen Kranken zuweilen auch noch
die gewöhnliche Form der acuten und chronischen diffusen Nephritis,
des Morbus Brightii, bald mit acutem, bald mit chronischem Verlauf.
Erwähnen will ich noch, dass gerade bei den chronischen Entzün-
dungen des Periostes und der Knochen die nächst gelegenen Lymph-
drüsen sehr oft in Mitleidenschaft gerathen. Wie bei den acuten Ent-
zündungen die Lymphdrüsen durch Steife, welche aus den entzündeten
Theilen zu ihnen gelangen, so häufig inficirt und ebenfalls acut ent-
zündet werden, so geht auch das Gleiche aus gleichen Ursachen bei den
chronischen Entzündungen vor sich. Die Lymphdrüsen schwellen lang-
sam, schmerzlos, aber oft im Lauf von Monaten und Jahren sehr be-
deutend; das Gewebe ihrer Balken verdickt sich, einzelne Lymphbahnen
obliteriren, andere werden auch wohl erweitert; selten geht es über
diese hyperplastische Schwellung hinaus; zuweilen kommt es zu kleinen
Abscessen und Verkäsungsheerden.
Es wird endlich Zeit, nachdem wir die chronische Periostitis und
Ostitis von allen Seiten beleuchtet haben, auch an die Therapie zu
denken. Wir müssen dabei, nachdem wir diese Krankheiten in ihrer
verschiedensten Ausdehnung und Combination besprochen haben, wieder
mit der einfachen, chronischen Periostitis beginnen. Die Behandlung
muss zugleich eine örtliche und allgemeine sein; in allen Fällen, wo
dyskrasische Ursachen nachweisbar sind, müssen diese vorzüglich be-
handelt werden, und in dieser Hinsicht muss ich Sie auf das verweisen,
was ich bei Gelegenheit der allgemeinen Besprechung dieser Dyskrasien
in dem Capitel von der chronischen Entzündung gesagt habe. Wir werden
uns hier also besonders mit den örtlichen Mitteln zu befassen
haben. Als eine erste allgemeinste Regel für die Behandlung chroni-
scher Knochenentzündung ist die Ruhe des erkrankten Körpertheils zu
empfehlen; denn Bewegung, zufällige Stösse, Fall und dergleichen ge-
legentliche Schädlichkeiten können den vielleicht milden, unschädlicheren
Verlauf wohl in einen acuten, gefährlicheren umändern; für die Knochen-
520 ^'^''J" '^^^' c^i'Oiii''^''l'en Eiitziinduns 'les Periostes, der .Knochen etc.
krankheiten der unteren Extremitäten ist daher in den meisten Fällen
ruhiges Liegen eine der ersten Hauptbedingungen, für die oberen Extre-
mitäten die Ruhe in einem Armtuch. Von besonderer Wichtigkeit ist
diese Ruhe bei den Knochenkrankheiten in der Nähe der Gelenke, wo
sich übrigens die Ruhe häutig von selbst ergiebt, weil die Beweguugeu
zu schmerzhaft sind. Manche Formen von fistulöser Caries an den
Diaphysen der kleineren und grösseren Röhrenknochen treten aller-
dings, wenn einmal die Eiterung nach aussen etablirt ist, in ein so
reizloses, schmerzloses Stadium, dass die Bewegung ohne Einfluss auf
die kranken Knochen ist, und in solclien Fällen mag eine massige
Bewegung gestattet sein. Hohe Lagerung des entzündeten Körper-
theils ist ein gutes Unterstützungsmittel für die Heilung, indem dadurch
jede venöse Stauung vermieden wird; diese mechanische Lmterstützung
für den Abtluss des venösen Blutes ist keinenfalls zu unterschätzen. —
Sie werden schon mit dieser ersten principiellen therapeutischen For-
derung in der Praxis wenig durchdringen; zumal werden Sie erfahren,
dass Erwachsene so lange mit und auf ihren kranken Knochen umher-
gehen, so lange sie es können, d. h. so lange der Schmerz nicht zu
heftig ist; da Sie dem Patienten nicht garantiren können, dass die
Krankheit sicher heilt, wenn er einige Wochen liegen bleibt, sondern
diese Krankheiten selbst bei sorgfältigster Behandlung Monate und Jahre
dauern, so wird er seinen Geschäften so lange nachgehen als er kann;
ist Hir Patient ein Mann oder eine Frau, von dessen täglicher Arbeit die
Existenz einer Familie abhängt, dann ist seine Lage eine besonders üble.
Handelt es sich um Kinder, so ist es nicht minder schwierig, diese in
fortwährender Lage zu erhalten; es müsste ein Erwachsener den ganzen
Tag das Kind überwachen. Das ist nicht nur nicht in armen Familien
durchzusetzen, sondern ebenso wenig in kinderreichen Familien, die in
gut bürgerlichen Verhältnissen leben. Denken Sie selbst an die Ver-
hältnisse Hires Familienkreises! es ist sehr leicht verordnet: das Kind
soll mehre Monate unausgesetzt liegen, doch täglich mit Vorsicht in einen
Wagen in die frische Luft gebracht werden, oder im Garten iu einer
schattigen Laube so lange es die Witterung erlaubt, liegen. Das kostet,
wenn es Jahre lang durchgeführt werden soll, sehr viel Geld, ausser
dass ein solches Kind fast die ganze Arbeitskraft eines sorgsamen er-
wachsenen Menschen, einer Pflegerin erfordert. Grade diese tägliche,
ja stündliche Sorge zur Beschaffung der besten hygienischen und diäthe-
tischen Verhältnisse eines chronisch kranken Kindes erfordern eine ausser-
gewöhnliche Ausdauer und Intelligenz. Viel eher Averden Opfer für
theure Arzneimittel, für eine Badekur etc. aufgebracht, „um der Sache
endlich einmal ein Ende zu machen", wie sich die Familienväter gern
ausdrücken, wenn sie der langen täglichen Plackerei mit dem kranken
Kinde, der Störung des Haushaltes und der häuslichen Bequemlich-
keit müde sind. — Man muss in solchen Fällen den Verhältnissen Rech-
Voricsuui; :\:\. Cjipilrl XVF. 521
iHiiii;- trafen, um wenigstens das möglichst Beste vai erreichen, und ver-
ordnet dann niechanisclie Stützapparate, durch welclie die Körperlast von
den kranken Knochen abg-ehalten wird. Ich Hess Sie diesen Blick voraus
in Uirc kiinf'tiye Praxis fluni, damit Sie später nicht i^'ar zu sehr enttäuscht
werden. Sie werden noch oft zu der Uebcrzcuyung- kommen, dass es
viele zumal chronische Krankheiten g'iebt, welche keineswegs urdicilhar
sind, doch aus socialen Gründen fast nie geheilt werden.
Treten die ersten Erscheinungen einer chronischen Periostitis und
Ostitis auf, so geht die Behandlung dahin, die Zertheilung der Infiltrate
zu bewerkstelligen. Hierzu leisten die streng anti]jhlogistischen Mittel
äusserst wenig. Die Application von Blutegeln oder Schröpfköpfen, die
innere Darreichung von Abführungsmitteln, die Anwendung von Eisblasen
sind in meinen Augen Mittel, welche nur bei acuten Exacerbationen chro-
nischer Entzündungen wirksam sind; ihre Wirkung ist stets eine rasch
vorübergehende, und die Application der örtlichen Blutentziehungen und
Abführungsmittel kann sogar, wenn sie oft wiederholt wird, schädlich
wirken. Die wiederholt gesetzten Blutegel und Schröpfköpfe reizen
örtlich und machen den Kranken endlich anämisch, und ein fortgesetztes
Laxiren erschöpft die Kräfte des Kranken; man gehe daher sparsam
mit diesen Mitteln um und behalte sie für die acuteren Exacerbationen
des Processes vor. Die continuirliche Application von P^isblasen ist von
Esmarch bei chronischer Entzündung in neuerer Zeit sehr angelegent-
lich empfohlen worden; ich habe in Fällen, welche mit heftigen
Schmerzen verbunden waren, sehr gute Wirkung von dieser
Behandlung gesehen ; in anderen Fällen finde ich keine rechte Indication,
sie anzuwenden.
Am häufigsten kommen bei den ersten Anfängen chronischer Knochen-
entzündungen die resorbirenden und die leichteren ableitenden Mittel
in Anwendung: die officinelle Jodtinctur, Jodkaliumsalbe, Quecksilber-
salbe, durch Zusatz von Fett etwas gemildert, Quecksilberpflaster, Salben
mit concentrirter Lösung von Argentum nitricum, hydropathische Ein-
wicklungen, leichte Compressivverbände. Mit diesen Mitteln und den
geeigneten hygienischen Vorschriften beginnt man in der Kegel den
Feldzug gegen die abgehandelten Krankheiten, so lange dieselben noch
im Beginn sind, und zuweilen gelingt es, den Process auf einer frühen
Entwicklungsstufe zu henmien; es erfolgen die rückgängigen Metamor-
phosen in den frühen Stadien entweder ohne eine Spur von krankhafter
Veränderung zu hinterlassen, oder vielleicht mit Zurücklassung einer
massigen Verdickung des Knochens durch niclit mehr rückgängig zu
machende Osteophyten. Am erfolgreichsten ist die Behandlung der
syphilitischen Knochenkrankheiteu in diesem Stadium durch eine kräf-
tige antisyphilitisehe Cur. — Schreitet der Process fort, und verläuft die
Caries ohne Eiterung, so fährt man mit den genannten Mitteln fort,
denen man bei geeigneten, sonst kräftigen Individuen noch die stärkeren
522 Vuii der cliroiüsclK'ii Eiitzündim.n' (lo8 Pcriu^tet;. dor Knochen etc.
iiiif die Haut ableitenden Mittel liinzutiii:cn kann. Stellen sich die
Zeichen der Eiterung- ein, kommt es zur Bildung- von Abscessen, !>o
können Sie eine Zeit lang noch mit den resorbirenden Mitteln fortfahren,
in der Hoffnung-, auch jetzt noch die xYufBaugung- des Eiters zu erzwin-
gen ; dies wird freilich in den meisten Fällen nicht gelingen, sondern es
wird sich bald die Frage aufdrängen : soll der Abscess künstlich eröffnet
Averden, oder soll man die Eröffnung abwarten? Hierüber gebe ich
Ihnen im Allgemeinen folgende Kegel: kommen die Ab sc esse von
Knochen her, an welchen ein operativer Eingriff nicht mög-
lich oder nicht wüuschenswerth ist, z. B. von den Wirbeln, vom
Kreuzbein, vom Becken, von den Rippen, vom Kniegelenk etc., so
rühren Sie den Abscess nicht an, sondern freuen sich im Interesse
ihrer Patienten jeden Tag, wo derselbe noch geschlossen ist, warten Sie
ruhig ab, bis die Oeffnung von selbst erfolgt, danach werden relativ
am wenigsten gefährliche Erscheinungen auftreten. Wenn ich von
diesem Princip abgewichen bin, hat es mich noch immer gereut: es ist
mir eine grosse Freude gewesen, als ich las, dass Pirogoff sich fast
mit den gleichen Worten darüber ausgesprochen hat. Die Erfahrung
hat genugsam gelelirt, dass alle unsere Operationsmanöver, welche zum
Zweck haben, die langsame spontane Eröffnung dieser Abscesse zu
imitiren, doch nicht so schonend wirken, als der langsame Durchbruch
der Haut von innen nach aussen auf dem Wege der Ulceration. — Man
hat verschiedene Verfahren besonders für die Eröffnung der grossen
Congestionsabscesse vorgeschlagen, je nach den Ideen, von denen mau
ausging. Eine Zeit lang glaubte man, der Eiter müsse langsam aus-
fliessen, um die Entzündung der Abscesswandungen zu vermeiden: dies
zu erreichen, legte man mit einer Nadel Schnüre (Setons) durch den
Abscess und Hess den Eiter an den Stichöffnungen aussickern. Dann
hielt man dafür, ausser diesem langsamen Ausfliessen müsse auch die
Haut langsam durchbrochen werden, und applicirte zu diesem Behuf
ein Aetzmittel auf die dünnste Stelle des Abscesses, bildete dadurch
einen Brandschorf, der sich langsam loslöste, und nach dessen Los-
lösung der Eiter langsam ausfloss. Später war man der Ansicht, man
müsse auf jeden Fall den Eintritt der Luft verhüten, denn dies sei das
Gefährliche an der Sache: man stiess also einen Trokart ein, entleerte
mit grosser Vorsicht nur einen Theil des Eiters und schloss dann die
Oeffnung wieder genau, oder man machte die sogenannte subcutane
Function nach Abernethy, d. h. man nahm ein dünnes, feines Messer,
schob die Haut über den Abscesssack z. B. stark in die Höhe, stach
jetzt ein und Hess einen grossen Theil des Eiters aus, zog dann das
Messer schnell zurück, und Hess die Haut wieder in die natürliche Lage
zurückgleitcn, so dass die Stichöff'nung in der Haut also nicht direkt
mit der Oeffnung im Abscesssack comnuinicirtc, sondern letztere von der
Haut gedeckt wurde; die Hautöönung wurde sorgfältig geschlossen.
Vorii'sim^- :;;;. ('..piid xvr. 523
(iiit'riii liclli mit cinci- Ö])rit/(' dc-ii lOilcr diircJi eine 'rf<»k;iiicaiiiil(; auK-
/usaugcn, ein Vcrfalircii, das in iioiiostci' Zeit wieder mit vervollkonini-
iietcni Apparat unter dem Namen As[)irMti()n pneumatique Hous-entaiicje
(Dieulafoy) in Anwendung gezogen ist. - In der Folge legte man
grosses Gewicht daiMuC, die AVandungen der Abscesshöhle in einen Zu-
stand zu versetzen, (hiss die Eiterbildung aufliöi-e; dies glaubte man
durcli Injcction von Jodbisung zu erzielen, nachdem der Eiter entleert
wai-; in Frankreich (and diese Methode grossen ßcifiill. Ein französi-
scher Chirurg, Chassaignac, kam mit grossem Enthusiasmus auf die
Setons zurück; er wühlte jedoch statt solchei- dünne iJöhrcn von
Kautsclmck, deren Wandungen durchlöchert waren, so dass dadurch
der Eiterabfluss wesentlich erleichtert wurde (Drainage, siehe pag. 185).
Der schottische Chirurg List er legt besonderen Wcrth darauf, dass bei
Eröffnung und beim Verbände dieser Abscesse Instrumente und Verband-
stiicke vorher mit Carbolsäure desinticirt werden und auch der Eintritt
von Luft sorgfältig vermieden werde; sein Verfahren hat, wie alle
früheren, begeisterte Anhänger gefunden. — Es ist nicht ganz leicht,
sich über die Bedeutung aller dieser therapeutischen Methoden zurecht
zu finden; doch das können Sie fast immer aus einer so reichen Anzahl
von empfohlenen Mitteln und Methoden schliessen, dass es sich dabei
um Krankheiten handelt, die sehr schwer heill)ar sind, und dass keines
von diesen Mitteln für alle Fälle verwendbar ist. Wir wollen die er-
wähnten Methoden kui-z kritisiren. Die einmalige Entleerung des Eiters,
man mag sie vornehmen, wie man will (von grossen Spaltungen der Con-
gestionsabscesse sehen wir als von einer nur für wenige Fälle anwendbaren
Methode ab), hat, wenn sie langsam und vorsichtig gemacht wird, sei es mit
dem Trokart oder su1)cutan mit dem Messer mit oder ohne Lister'sche Car-
bolpaste, zunächst einen ganz leidlichen Erfolg; ist die Oeffnung gut ge-
schlossen und heilt sie zu, so erfolgt gewöhnlich noch kein Fiebei-, doch
der Abscess füllt sich auffallend schnell wieder; ein Abscess, der viel-
leicht 10 Monate zu seiner Entstehung brauchte, kann sich in 10 Tagen
wieder vollständig füllen. Man punktirt jetzt wieder, noch einmal heilt
die Oeffnung zu; der Kranke fängt an, leicht zu fiebern; die Eiteran-
sammlung erfolgt wieder schnell. Man punktirt zum dritten, vielleicht
zum vierten und fünften Male, immer wieder an neuen Stellen: schon
fiebert der Kranke melir, der Abscess ist innncr heisser und daher
schmerzhaft geworden; der Kranke sieht matt, angegriffen aus. Jetzt
wollen die Stichwunden nicht mehr heilen, die ersten brechen auch wold
wieder auf, es bildet sich ein continuirlicher Ausfiuss von Eiter, auch
tritt wohl gelegentlich trotz aller Vorsicht Luft ein, zumal wenn die
Abscesswandungen starr sind und nicht collabircn; nun besteht eine
Fistel, das Fieber bleibt continuirlich und der Verlauf ist weiter, wie
wir ihn früher geschildert haben, meist ein ungünstiger. — Fügen Sie
zur Function die Jodinjection hinzu, so wird dadurch der Verlauf nach
524 "^ön der chronischen Entzrui'äung des Periostes, der Knochen etc.
meinen Erfahrungen nicht wesentlich verändert, wenngleich ich in
einigen wenigen Fällen rasche Heilung kalter subcutaner Abscesse zu
Stande kommen sah. — Nicht viel anders ist es, wenn Sie die Eröff-
nung und Eiterentleerung mit Setons, mit Drainage oder mit Cauterien,
mit Spritzen machen; ich habe von allen diesen Methoden nichts gesehen,
was den Empfehlungen ihrer Urheber auch nur annähernd gleich käme.
Ist der Kranke durch die fortdauernde Zunahme des Abscesses durch
Schmerzen, Spannungsempfindungen etc. sehr beunruhigt, so machen Sie
7A\ seiner Beruhigung eine Eiterextraction mit der Spritze von Dieu-
lafoy; dies schadet verhältnissmässig am wenigsten. — Der geschil-
derte traurige Verlauf kann sich freilich unter Umständen ganz ebenso
gestalten, wenn Sie gar nichts am Abscess machen und ihn sich selbst
überlassen, die Eröffnung abwarten; doch verläuft dann Alles viel milder,
langsamer; das Fieber tritt später ein. Heilungen sind sicher beobachtet
bei allen genannten Operationsmethoden: mehr Heilungen, glaube ich,
sicher aber weniger Todesfälle durch Pyohämie kommen bei der abwar-
tenden Behandlung vor; ich habe die Ueberzeugung, dass da, wo nach
Jodinjectionen, Drainage u. s. w. Heilung erfolgte, dieselbe auch einge-
treten wäre, wenn man den Verlauf nicht künstlich unterbrochen hätte;
von einer Beweisführung, dass ein solcher Fall so und so hätte verlaufen
müssen, v/enn dies und das nicht geschehen wäre, kann überhaupt nicht
die Eede sein. — Ziehe ich die Summe meiner Erfahrungen, die ich in
meiner klinischen und Consultations-Praxis zu sammeln Gelegenheit hatte,
zusammen, so kann ich Sie versichern, dass ich unter einer sehr grossen
Anzahl von Fällen kunstgerecht meist von andern Collegen eröffneter
grosser Congestionsabscesse von der Wirbelsäule her nur sehr wenige
weiss, in denen der Verlauf günstig war; alle andern Avurden nur
schneller ihrem Ende entgegengeführt. Ich muss daher zu dem oben
aufgestellten Grundsatz zurückkommen, dass die Abscesse genannter
Art, zumal die Congestionsabscesse bei Wirbelsäulencaries, ein Noli nie
tangere sind. Es ist freilich oft eine sehr schwierige Aufgabe, in solchen
Fällen immer zu warten; die Patienten werden ungeduldig, besonders in
der Privatpraxis; man drängt den Arzt, etwas zu thun, man macht ihm
Vorwürfe, dass er nichts unternimmt; das Publikum glaubt einmal fest,
wenn der Eiter nur ganz heraus wäre, dann müsse die Heilung erfolgen.
Auch dem Arzt wird es endlich zu lauge; es ist trostlos, so zuzusehen,
wie der Abscess von Woche zu Woche, von Monat zu Monat grösser
wird; alle örtlichen und allgemeinen Mittel sind erschöpft, endlich weicht
der Arzt von seinen Grundsätzen ab, die Eröffnung wird gemacht; an-
fangs ist es nun ganz gut, doch die Freude dauert nicht lange; wie es
dann nachher geht, wissen Sie bereits. Sie mögen in solchen Fällen
machen, was Sie wollen, immer wird Ihneu das Publikum die Schuld
des meist ungünstigen Ausganges zuschieben.
Etwas anders gestalten sicli die Verhältnisse, wenn es sich um
v<>ri(>smi<{ ;;■'>. Ciipiici xvt. 525
kleinere Abscesse liaiulclt, die von K iioclicii I ei d c ii der Exli-eiiii.
tüten ausg-elien; bei denjeiiii^en Eiteruiig'en, weh-lie mit den i;r(")sseic'ii
(Gelenken zusanunenliüiii^eii , zögert ni;ni auch gern mit der liirötTnung',
wir wollen s]>üter bei den Kranklieiten der Gelenke davon spreelien.
Bei kalten Abscessen an den Diapliysen nützt eine Zögerung- niclit viel;
liier balte ich frühzeitiges Eröffnen für statthaft, mit Ausnahme der syphi-
litischen Gummata, bei denen auch in dem Stadium deutliclier Fluctuati(»ii
noch Resorption erfolgen kann, und l)ei ausgesprochen tul)erkidr)sen oder
sehr schwächlichen Individuen, bei denen keine operativen Eingriffe in-
dicirt sind, und die Eröffnung der Abscesse somit uui- eine stäi-kere
Eiterung zur Folge haben würde, ohne etwas zu nützen. In den ül)rig
bleibenden Fällen bin ich dafür, den Abscess zu spalten, uiul zwar mit
grosser Oeft'nung, damit man eine klare Einsicht in Art und Ausdehnung
des Processes gewinnt; die Keaction, welche unter diesen Umständen
auftritt, ist unbedeutend, oft folgt gar kein Fieber, oft nur massiges
Fieber kurze Zeit lang. Nehmen wir einmal eine chronische Periostitis
mit Caries superficialis an der Diaphyse eines Röhrenknochens an : es
kam zur Abscedirung, der Abscess ist gespalten, die Wunde wird anfangs
mit Charpie bedeckt und man wartet nun ab, wie sich die Geschwürs-
fläche gestaltet. Je naclidem sich nun ein mehr wucherndes oder mehr
mit Zerfall verbundenes Geschwür zeigt, wird man die örtliche Behand-
lung modificiren, und ich wäirde mich nur wiederholen, wenn ich auf die
hier etwa anzuwendenden Mittel zurückkommen w^ollte. Die Cur wird
durch Localbäder unterstützt. Hydropathische Einwdckeluugen , Kata-
plasmen, Charpieverbände , mit verschiedenen F'lüssigkeiten getränkt,
dienen als Verband. Es wird sich im weiteren Verlauf der Beobachtung
immer mehr herausstellen, in welchem Grade das Knochenleiden von
dem Allgemeinzustand abhängig ist. Haben Sie es mit einem miserablen,
tuberkulösen Individuum zu thun, so sind alle örtlichen Mittel vergeblich;
. ist der Allgemeinzustand gut, so können Sie schon an eine energische,
örtliche Behandlung denken : tägliches Bestreichen des Geschwürs mit
Jodtinctur, Application von Salben mit rothem Präcipitat, häufiges ener-
gisches Aetzen mit Argentum nitricum, Verband mit verdünntem Liq.
ferri. sesquichlorati. In anderen Fällen abstrahirt man von einer Unter-
stützung der spontanen Ausheilung ganz und entfernt die ganze kranke
Knochenpartie. Hierzu giebt es verscliiedene Arten schneidender Knochen-
Zangen und Sägen von verschiedenster Form; ich ziehe die Ausschabung
der kranken Knochenpartie mit scharfen Löffeln allen übrigen Verfahren
vor. Ist auf irgend eine V^^eise das Knochengeschw ür bis auf die gesunde
Umgebung rein entfernt und ist die allgemeine Constitution sonst leidlich
gut, so ist zu hoffen, dass die jetzt gemachte Knochenwunde in normaler
Weise durch gesunde Granulation und Eiterung ausheilt, wie andere
Kuochenwunden. — Handelt es sich um eine Ostitis interna, eine Caries
centralis eines Röhrenknochens, oder eines grösseren spongiösen Knochens,
526 Von der chronischen Entzündung des Periostes, der Knoclien etc.
wie des Caleaiieus, so kann es unter Umständen indieirt sein, wenn durch
sehr heftige Sclimerzen und durch andere früher genannte Erscheinungen
der Knochenabscess sich nach und nach zu erkennen gieht, den Knochen
aufzumeisseln oder die Knoclienhöhle zu eröffnen, um dem Eiter einen
Ausweg zu bahnen; dies Verfahren empfehle ich Ilmen jedoch nur für
diejenigen Fälle, wo sie Ihrer Diagnose gewiss sind, denn es ist keine
geringe Verletzung für einen Patienten, wenn man ihm eine gesunde
Markhöhle aufmacht. Sehr acute Osteomyelitis mit ihren oft gefährlichen
Consequenzen kann die Folge eines solchen Eingriffes sein, während eine
gleiche Verletzung am kranken Knochen keine scliwere Erscheinungen nach
sich zu ziehen pflegt. — In andern Fällen werden Sie die spontane Eröffnung
des Abscesses durch die Knochenwandungen hindurch abwarten können;
dann können Sie sondireu und den Fall sicherer beurtheilen. Welche
Schwierigkeiten sich der Heilung solcher Knochenhöhlen entgegensetzen,
ist schon früher besprochen ; ' bleibt der Process lange Zeit hindurch in
dem gleichen Stadium, so kann es zweckmässig sein, die Oeffnung am
Knochen zu erweitern, das Hohlgeschwür zu Tage zu legen und die
Wandungen desselben ebenfalls zu entfernen. Eine solche Eröffnung
der Abscesshöhle wird um so nöthiger, wenn etwa kleine nekrotisclie
Knochenstückchen in derselben liegen und die Heilung verhindern, wenn
also die Caries eine necrotica ist. Alle diese Manipulationen sind aber
überhaupt nur indieirt, so lange der constitutionelle Zustand noch gut
ist; wenn ausgesprochene Tuberkulose oder hochgradiger Marasmus vor-
handen, wenn der tödtliche Verlauf jedenfalls zu erwarten ist, dann wird
es keinem Chirurgen einfallen, Operationen vorzunelimeu, deren Erfolg
ja nur günstig sein kann, wenn die locale Umgestaltung der neuen
Knochen wunde auf normalem Wege vor sich gehen kann. — Das Grau-
same, Entsetzliche haben diese Operationen, die man zum Theil wenig-
stens unter die partiellen Eesectionen in der Continuität zählen
kann, verloren, seitdem wir das Chloroform anwenden, mit Hülfe dessen
die Patienten nichts von dem Meissein, Hämmern und Sägen am Knochen
empfinden. —
In denjenigen Fällen, wo die Caries so ausgedelmt ist, dass sie die
ganze Dicke eines Röhrenknochens an einer Stelle l)etritft, könnte man
an eine Aussägung des ganzen kranken Stückes in der ganzen Dicke
des Knochens denken. Dieser Fall ist erstens sehr selten, und zweitens
ist eine solche Operation von sehr zweifelhaftem Erfolg. Aus der Fil)ula,
aus dem Eadius oder der Ulna, aus den Metacarpal- und jMetatarsal-
knochen kann man allenfalls ein Stück aus der Mitte ganz aussägen,
ohne dass die Function der Extremität sehr beeinträchtigt würde; ver-
führe man ebenso am Humerus, am Femur, an der Tibia, und er-
folgte wirklich die Heilung, so würde die Function der Extremität nur
h(tchst unvollkommen hergestellt werden können und durch eine Schienen-
vorrichtung untei-stützt werden müssen; für die unteren Extremitäten
Vnrlosnns .".■'.. Ciipilol XVT. 507
(Uii-fte (laiiii ein StelzCu^s l)c,sacrc Dienste leisten als ein Fnss, dessen
Knochen in der dontinnitfit auf eine i^ivissere Rtvceke unterljvoclien ist.
Man hat g'Cg-Iaubt, dass in solchen F;illen das vor der Operation ahge-
löste und in der Wunde zurückgelassene Periost Knochen neu l)ildo; doch
ist nach Operation wegen Carics der Diaphysen der Knochenersatz nur ein
äusserst dürftiger, so dass auf denselben niclit viel gerechnet werden kann.
Was endlich diejenigen Fälle betrifft, wo ein Rölirenknoclien durcli
Pei'iostitis , äussere und innere Caries, partielle innere und äussere Ne-
krose durch und durch krank ist, Fälle, die im Ganzen selten sind, so
könnte hier nur von Exstirpation des ganzen Knochens, oder von
der Amputation des betroffenen Gliedes die Rede sein. Fälle, in
welchen die ganze Ulna oder der ganze Radius exstir])irt sind, sind zu-
weilen glücklich verlaufen, wie icli Ihnen vorher auch aus meiner Praxis
einen Fall mi-ttheilte (pag. 508); die Exstirpation des ganzen Os metatarsi
primum etc. ist (ifter mit Glück gemacht worden. Ich kenne auch einen
Fall, wo der ganze Humerus mit Zurücklassung des verdickten Periostes
herausgenommen wurde; der Kranke starl) al)er nach Verlauf von einigen
Monaten nach der Operation an einer inneren Krankheit, wenn ich nicht
irre, an Morbus Brightii, so dass man über die etwaige Bi-auchbarkeit
der Extremitäten nicht urtheilen konnte; die Hand hätte fuuctionii-en
können trotz des feldenden Humerus, und dies wäre doch immer ein
grosser Vortheil für den Patienten gewesen. — Die Caries der kurzen
spongiösen Knochen und der Gelenkepiphysen ist so innig mit den Ge-
lenkkrankheiten verknüpft, dass wir erst später davon sprechen können.
Die Behandlung des allgemein marantischen Zustandes, welcher
schliesslich bei Knochenkrankheiten mit ausgedehnten Eiterungen eintritt,
ist nach den allgemeinen Regeln der Kunst zu leiten ; es geht das Be-
streben dahin, diesen gefürchteten Zustand nicht eintreten zu lassen oder
möglichst zu verschieben. Der Arzt hat unter allen Umständen die
Pflicht, das Leben so lange als durch die Kunst möglich, zu erhalten.
Es ist also Pflicht, auch bei den fast sicher verlorenen Kranken Alles
aufzubieten, was die Kräfte erhalten kann. Ro])orirende, tonisirende,
kräftige Diät sind hier anzuwenden schon von der Zeit an, wo sich die
ersten Erscheinungen der Abmagerung, des Verfalles der Ernährung
zeigen; später nützt es nichts mehr. Leider haben wir nicht die Macht,
auch nicht durch die sorgfältigste Art der Nahrung nach physiologischen
Principien, den Muskel-, Nerven-, Blutzustand solcher marantischer Indivi-
duen beliebig zu reguliren. Damit ein Organismus durch kräftige Nahrung
stärker und stärker werde, muss er die Fähigkeit besitzen, die dargebotene
Nahrung assimiliren zu können; sein Verdauungsprocess muss regelmässig
sein, seine Chylusgefässe, seine Darmmuskeln müssen energisch functio-
niren. Ist die Ernährungssubstanz auf diese Weise wirklich in normaler
Form ins Blut gelangt, dann hängt es wiederum von der Energie des
Kreislaufs und der Thätigkeit der Gewebe ab, ob sie das Dargebotene
5^3 Von der chronischen Entzündnng des Periostes, der Knochen etc.
annelimeii und zu eigner Substanz umbilden oder es einfach durch sich
hindurch passiren lassen. Endlich müssen auch die der Ernährung-
schädlichen Auswurfsstoffe in regelmässiger Weise entfernt werden. Der
menschliclie Organismus ist eine enorm complicirte Maschine, die nicht
nur durch Heizungsmaterial bewegt wird, sondern auch ihre eigne Sub-
stanz durch dieses Heizungsmaterial erhalten, die schadhaften Stellen
ausbessern , die Kader und Getriebe schmieren soll. Wir können einen
kranken und gesunden Menschen durch Entziehung von Nahrung wohl
schwach machen und ihn endlich verhungern lassen, doch wir können
weder einen kranken noch einen gesunden Menschen nach Beliel)en fett
machen.
Bei Kindern und jungen Leuten kann sich der junge Arzt auch gar
leicht iil)er den Kräftezustand täuschen, und Sie werden selbst noch die
Erfahrung genugsam machen , dass ganz elende Individuen, abgemagert
zum Skelett, anämisch im höchsten Grade, sich wunderbar und unerwartet
erholen, wenn die kranke Extremität, die ihnen das Leben zu verzehren
schien, amputirt wurde, denn dass unter solchen Umständen von Ee-
sectionen selten Erfolg zu erwarten ist, liegt auf der Hand. Wie weit
man hier mit dem Princip der Erhaltung der Gliedmaassen durch Aus-
sägung der kranken Knochentheile gehen darf, lässt sicli nui- in einem
individuellen Fall und auch da nur annäliernd sicher prognosticiren.
Vorlesung 34.
Nekrose. Aetiologisches. Anatomische Verliältnisse bei der Necrosis totalis und partialis.
Symptomatologie und Diagnostik. Behandlung. Sequestrotomie.
Meine Herren!
Wiederholt ist schon die Rede gewesen von „Nekrose" (von vexQog
Leichnam), und Sie wissen bereits, dass man darunter den Brand der
Knochen versteht, den Tod eines Knochens oder Knochentheils; auch
habe ich Ihnen schon mitgetheilt, dass der abgestorbene Knochen den
Namen Sequester hat. Ferner ist Ihnen bereits bekannt, dass die
Nekrose sowohl als Folgezustand acuter Processe auftreten kann, als
dass sie auch in Gemeinschaft mit Verschwärungsprocessen vorkommt,
als „Caries necrotica".
Wie bei jedem Absterben eines Körpertheils ist das Aufhören der
Circulation auch die unmittelbare Ursache der Nekrose, während das
Aufhören der Nerventhätigkeit diesen Process nicht zur Folge hat, wenn
auch eine Ernährungsstörung, eine Atrophie der Knochen an gelähmten
Theilen zuweilen beobachtet wird. Mittelbar kann die Nekrose durch
verschiedene Vorgänge bedingt sein; wir wollen dieselbe hier kurz zu-
sammenstellen:
Vorlesung 34. Capitel XVI. 529
1. Traumatische Einflüsse. Hierliin g-eliören starke Erscliütte-
rung- und Quetschung- des Knochens auch ohne äussere Wunde; der Vor-
gang- ist folgender; in Folg-e der genannten Verletzung entstehen Extra-
vasate im Knochenmark, auch in den spong-iösen Knoclien, vielleicht
auch in der compacten Knochensu1)stanz, zuweilen unter dem Periost;
sind diese Gefässzerreissung-en von einer solchen Ausdehnung-, dass ihre
Folg-eu durch den im Knochen schwierig herzustellenden Collateralkreis-
lauf nicht ausg-eglichen werden, so wird ein Theil des Knochens kein
Blut mehr erhalten; er wird absterben und es kann je nach Umständen
eine Nekrosis centralis oder superficialis oder totalis (letzteres am leich-
testen bei kleinen Knochen) entstehen. Das todte Knochenstück liegt
als fremder Körper im Organismus, doch ist es noch in Continuität mit
dem gesunden Knochentheil; wie die Lösung des Sequesters durch Ein-
schmelzung- der Knochensubstanz an der Grenze des Lebendigen erfolgt,
ist schon früher (pag-. 229) erörtert. — Eine andere Art der Verletzung*
ist die Freilegung* der Knochenoberfläche oder die Durchsägung" eines
Knochens, wobei die Sägefläche zur Knochenoberfläche wird; bei com-
plicirten Fracturen kann ein Knochenstück so von den Weichtheilen ent-
blösst und dadurch so der Circulation beraubt sein, dass es nekrotisch
wird. Dass der entblösste Knochen nicht immer nekrotisch wird, ebenso
wenig- wie die Säg-eflächen der Knochen, dass der Knochen vielmehr
ebenso wie die Weichtheile unmittelbar Granulationen produciren kann,
ist auch schon früher aus einander gesetzt. Dennoch kommt nach den
genannten Veranlassungen oberflächliche und partielle Nekrose oft genug
vor, indem entweder ausgedehnte Gerinnungen in den Enden der ver-
letzten Knochengefässe entstehen, oder die Gefässe bei sehr acuter Eite-
rung in den Haversischeu Canälen comprimirt werden und auseitern.
2. Acute Periostitis und Ostitis, Osteomyelitis sind sehr
häufige Ursachen von zuweilen sehr ausgedehnten, besonders von totalen
Nekrosen langer Röhrenknochen. Bei der Vereiterung des Periostes
wird die Blutzufuhr durch diejenigen Gefässe, w^elche vom Periost aus
in den Knochen eintreten, aufgehoben; auch setzt sich die Eiterung in
und durch die Haversischen Canälchen fort bis zum Mark; vereitert
auch letzteres, so ist die Nekrose unvermeidlich und wird sich so weit
erstrecken, als der entzündliche Process reichte. Ganz dieselbe Folge
wird bei primärör acuter Ostitis und Osteomyelitis mit secundärer Peri-
ostitis eintreten.
3. Chronische Ostitis und Periostitis können sich mit Ne-
krose combiniren, indem ganz in analoger Weise wie beim acuten Pro-
cess Eiterung, Zerfall der entzündlichen Neubildung zu Detritus oder
Verkäsung derselben sich in den Knochen hinein erstreckt und die Cir-
culation in letzterem so beeinträchtigt, dass ein Theil des Knochens gar
nicht mehr ernährt wird und daher nekrotisiren muss; die atouischen
Billrotli cliir. l'ath. u. Ther. 7. Aufl. O-t
530 ^"^^ ^^'' Nekrose.
Formen der Caries führen leichter zu Nekrose als die fungösen, was
auch schon früher erörtert wurde.
Von mehr theoretischer als practisch erwiesener Bedeutung ist die
Nekrose, welche nach Thrombose oder Embolie des Hauptstammes einer
Art. nutritia ossis entstanden gedacht wird. Durch Sectionen an ]Men-
schen ist diese Art von Nekrose bisher kaum sicher festgestellt; sie ist
auch höchst unwahrscheinlich, weil der arterielle Zufluss im ausgewachsenen
Knochen von so vielen Seiten erfolgt, dass die Verstopfung eines von
den vielen zuführenden Gefässstämmen nicht genügt, die Circulation
in einem irgendwie erheblichen Theil de» Knochens völlig zu unter-
brechen. Wenn der Collateralkreislauf im Knochen aus mechanischen
Gründen auch nicht sehr wesentlich durch Erweiterung der Gefässe sich
bemerklich machen kann und daher bei ausgedehnten capillaren Stasen
immer die Gefahr partieller Nekrosen eintritt, wie früher hervorgehoben
wurde, so ist doch durch den Zusammenhang, die Anordnung und gleich-
massige Vertheilung der Capillaren selbst in der festen Corticalsubstanz
dafür gesorgt, dass, wenn der Zufluss von einer Seite her unterbrochen
wird, er von einer andern Seite her erfolgen kann; es giebt im Kno-
chen keine so abgegrenzten Capillarnetze und Capillargruppen wie z. B.
in der Haut, sondern alle Capillaren hängen continuirlich innig nach
allen Eichtungen zusammen wie auch im Muskel. — Man hat zwar Ex-
perimente an Kaninchen angestellt der Art, dass man mit einem kleinen
Stift das Foramen nutritium im oberen Theil der Tibia. verstopfte und
sah darnach partielle Nekrose um den Stift herum eintreten; ich habe
diese Experimente nachgemacht und denselben Effect erzielt, wenn ich
den Stift an irgend einer anderen Stelle des Knochens einschlug, und
glaube daher, dass diese experimentell hervorgebrachte Nekrose ihre
Erklärung nur in der besonderen Art der Knochenverletzung findet.
Es wird zweckmässig sein, jetzt zuerst auf den anatomischen Vor-
gang der Nekrose, besonders derjenigen nach acuter Periostitis und
Osteomyelitis näher einzugehen. Schon früher habe ich Ihnen bei ver-
schiedenen Gelegenheiten, sowohl bei dem Heilungsprocess der Fracturen
als bei der chronischen Ostitis und Periostitis gesagt, dass die Umge-
bung solcher Eiterheerde fast immer in der Art in Mitleidenschaft ge-
zogen wird, dass sich auf und im Knochen Osteophyteu bilden, an deren
Entwicklung das Periost (nach Fracturen auch die umgebenden Theile)
einen sehr wesentlichen Antheil haben. Während nach Fracturen diese
Knochenneubildung unter dem Namen „Callus" die solide Heilung ver-
mittelt, ist dieselbe bei der chronischen Ostitis und Periostitis mehr ein
beiläufiges Reizungsproduct, das in der Folge keine weitere Bedeutung
gewinnt. Aehnlich ist es auch bei den oberflächlichen Nekrosen: wenn
sich um den Krankheitsheerd, sei es bei der Exfoliation eines platten
Schädelknochens, sei es bei der Sequestrirung einer Sägefläche, der
Knochen durch neue Auflagerungen von Osteophyten in der Nähe des
Voviosiins ?A. Cupilcl XVT.
531
ScqneRters verdickt, so liat dies keine weitere practische Consequenz.
Andci'S ist es sclioii bei com])licirten Fracturen; wenn liier Nekrose der
Bruclienden oder i^'rösstentlieils gelöster Fragmente eintritt, so liilft die
in der Umgebung- auftretende Knoelienneubildung niclit allein die künftige
Festigkeit des Knochens vermitteln, sondern es kann auch wohl kommen,
dass das sequestrirte Knochenstück ganz von den jungen Knochen-
wucherungen umschlossen wird und zum Theil künstlich wieder entfernt
werden muss. Die höchste Bedeutung gewinnt aber die er-
wälmte Knochenneubildung bei der totalen Nekrose ganzer
Diapliysen; sie ist dazu bestimmt, den Knochen, der ver-
loren geht, wieder zu ersetzen. Diesen äusserst wichtigen und
von der Natur so wundervoll eingerichteten Process müssen wir jetzt
nälier ins Auge fassen. Wir gehen dabei von einer acuten totalen Peri-
ostitis und Osteomyelitis mit Nekrose der Diaphyse etwa der Tibia aus.
Das ganze Periost und das Knochenmark ist vereitert; im Innern des
Knochens zerfällt der Eiter zu Detritus oder fault geradezu; der Periost-
eiter hat an mehren Stellen die Haut nach aussen durchbi-ochen, in der
genannten Diaphyse hat die Circulation aufgehört; die ganze Dia-
physe ist Sequester; im Längenschnitt stellt sich das Verliältniss.
folgendermaassen heraus (Fig. 00):
Totale Nekrose der Diaphyse der Tibia. Schematisciie Zeiclnuing.
a der sequestrirte Knochen; b, h die obere und untere Grenze desselben;
c, c Eiter, welcher den Sequester umspült, bei d, d nach aussen durch-
gebrochen und entleert. Die dunkelste Schicht e, e ist die Wandung
der grossen Eiterhöhle, welche aus plastisch infiltrirtem Gewebe (Binde-
gewebe, Sehnengewebe, auch wohl Muskel) besteht und an ihrer Innen-
fläche, welche dem Sequester zugewandt ist, wie jede Eiterhöhle eine
Granulationsschicht trägt, an deren dem Sequester zugewandter Fläche
stets neuer Eiter producirt wird. Ich will hier gleich erwähnen, dass
diese Darstellung wie schon bei der acuten Periostitis von derjenigen
anderer Chirurgen und Anatomen dadurch etwas abweicht, dass jene
annehmen, der sehnige Theil des Periostes werde wie eine Blase vom
34*
^32 ^"^^ ^*^^" Nekrose.
Knochen durch den Eiter abgehoben; dies ist deshalb unrichtig', weil
der sehnige Theil des Periostes nicht so elastisch ist, dass er sich wie
eine Epiderraisblase rasch abheben lässt, und weil diese Abhebung dann
an denjenigen Stellen fehlen mtisste, wo das Periost fehlt, d. h. wo sich
Sehnen an den Knochen ansetzen; letzteres ist nicht der Fall. Die Ent-
zündung und Eiterung beginnt theils aus der Oberfläche des
Knochens, theils in dem weicheren Theil des Periostes, Inder
äusseren Schicht desselben; die sehnige Schicht nimmt wenig Antheil
daran, geht vielmehr zum grossen Theil durch Zerfall zu Grunde; ich
habe hiefür ganz schlagende Sectionsbefunde. Diejenigen Anatomen und
Chirurgen, welche an eine Abhebung des Periostes glauben, halten
demzufolge die schraffirte Schicht e, e für infiltrirtes verdicktes Periost;
dies ist nur bedingt richtig: es kann sein, dass ein Theil des Periostes
nicht vereitert und diese Schicht mitbildet; indess können auch andere
umliegende Theile durch plastische Infiltration ganz so indurirt werden,
dass sie eine feste Abscessmembran bilden, wie man dies an Abscessen
von Weichtheilen häufig genug sieht. Wer au der ausschliesslichen
Fähigkeit des Periostes, Knochen zu produciren, festhält, wird auch hier,
wo in dieser Schicht e, e in der Folge die Knochenbildung vor sich
geht, aus theoretischen Gründen nur verdicktes Periost sehen wollen.
Wir haben aber schon bei der Callusbildung nach Fracturen gesehen,
dass auch in andern Weichtheilen, die dem Knochen nahe liegen, unter
Umständen Knochen in ziemlicher Menge producirt wird, und sind
daher nicht gebunden, in dieser verdickten Schicht noth wendig nur
verdicktes Periost sehen zu müssen. — Doch wir gehen zu schnell!
Kommen wir wieder auf unser Beispiel zurück. Die Eiterhöhle um den
Sequester kann sich nicht eher schliesseu, als bis der Sequester heraus
ist; dieser hängt aber noch an beiden Enden fest. Wie die Lösung er-
folgt, wissen Sie schon; bei h, b tritt in der Grenze des lebenden
Knochens eine interstitielle Granulationswucherung auf, durch welche der
Knochen hier auf eine kleine Strecke weit verzehrt wird, so dass endlich
die Knochensubstanz an diesen Grenzen ganz durch weiche Granulations-
masse ersetzt ist, und damit ist dann die Lösung des Sequesters gegeben
(vergl. pag. 229); auch die hier entstehenden Granulationen zerfliessen
bis zu einem gewissen Grad, erweichen zu Eiter, und nun liegt der
Sequester lose in der ganz mit wuchernden Granulationen ausgefüllten
Eiterhöhle. Diese Lösung des Sepuesters braucht bei den dicken
Röhrenknochen lange Zeit, gewöhnlich mehre Monate, zuweilen über ein
Jahr; bis dahin floss der Eiter immer aus den Stellen ab, wo der
Durchbruch durch die äussere Haut früher erfolgt war; führen Sie durch
diese Oeffnungeu die Sonde ein, so fühlen Sie während der ganzen Zeit
immer die meist glatte Oberfläche der Diaphyse. Während dieses Lö-
sungsprocesses des Sequesters hat sich aber in der nächsten Umgebung
etwas Anderes begeben, was jetzt unsere Aufmerksamkeit in Anspruch
Vorlcymi;^- ;'.1. (';i|)ilcl XVf.
533
nelimen soll. In der verdickten Scliidii <lcr EiterliöliJc c, c hat sieh
niindieh juni;c Knoehcnmasso g'ebildet, und zwar überall ylciehniässig"
rund um den Sequester herum und seiner J>iänü,c cntspreelicnd: d;i wo
die Verdiekunij,'ssehiclit sich wieder an das Periost der Epiphysen und
die Gelenkkapsel anschlicsst, hat sich die Knochenneuhilduni^- ebenlalls
hin erstreckt, so dass die Knochcnkapsel ol)en und unten innig* mit den
Epiphysen zusammenhängt. Je länger der Sequester in der Höhle drin
steckt, um so mehr nimmt die Knochcnkapsel an Dicke zu; dieselbe er-
reicht mit der Zeit eine bedeutende Stärke, sie kann nach Jahren, wenn
der Sequester inzwischen nicht herauskommt, über /{, Zoll dick gcwoi'den
sein und besteht anfangs aus einer mehr porösen, später sich jedoch
immer compacter gestaltenden Knochenmasse von grosser Festigkeit. Um
den Sequester hat sich also ein förmlicher Abguss gebildet, wie man
ihn mit Gyps macht, wenn man einen Körper abformen will; doch die
Knochenform hat einige Löcher, nämlich da, wo der Eiter ausfliesst;
diese wachsen deshalb- nicht zu, weil dies eben durch den fortwährenden
Ausfluss des Eiters verhindert wird. Das obige Bild (Fig. 90) hat sich
jetzt folgendermaassen gestaltet (Fig. 91):
Fig. Ol.
Totale Nekrose der Diaphyse eines Röhrenknochens mit gelöstem Sequester und neuge-
bildeter Knochenlade. Schematische Zeichnung.
Der Sequester a ist gelöst und von Eiter umspült, der von den
fridier schon erwähnten Granulationen secernirt wird; d, d die Fisteln,
welche in die Eiterhöhle führen (sie haben den Namen Kloaken be-
kommen); e, e ist die aus der Verkhöcherung der verdickten Abscess-
wandungen hervorgegangene Knochenkapsel, die sogenannte Kn och en-
]j^f[e. — Die Verdickung derselben würde nun fort und fort schreiten,
wenn der Reiz, welcher durch den Sequester ausgeübt wird, immer fort-
dauerte. Setzen Sie jetzt den Fall, der Sequester wird aus seinem
Käfig herausbefördert (wie dies geschieht, davon später), so ergiebt sich,
dass, obgleich jetzt dem Knochen die ganze Diaphyse fehlt, doch keine
Störung in der Continuität desselben vorliegt, weil die neugebildete
Knochenkapsel den entfernten Knochentheil ersetzt.
534
Von der Nekrose.
Fig. 92.
Fig. 91 nach Entfernung des Sequesters.
Doch was geschieht jetzt? wird die Höhle, in welcher der Sequester
lag, fort und fort eitern? Nein; wenn iVlles seinen normalen Gang geht,
so füllt sich diese Höhle, wie ähnliche Knochenhöhlen bei centraler
Caries, mit Granulationen aus; diese Granulationen verknöchern, und
der Knochen ist vollständig restituirt, wenigstens der Form nach; ob
sich in solchen Fällen auch eine Markhöhle wieder bildet, wie nach
Heilung von Fractureu, darüber fehlen Beobachtungen; es ist dies jedoch
der Analogie nach nicht unwahrscheinlich. Die Ausheilung dieser
Höhlen dauert nach der Entfernung des Sequesters oft Monate und Jahre
lang, zuweilen erfolgt sie niemals ganz, zumal, wenn die betreffenden
Individuen allgemein krank sind oder allgemein krank wurden bei der
langdauernden Eiterung, welclie mit dem ganzen Process verbunden ist.
Albuminurie entwickelt sich nicht selten bei diesen langdauernden Knochen-
eiterungeu, wenn auch in ziemlich milder Form; ob dieselbe nach Aus-
heilung der Knochenhöhle mit der Zeit spontan verschwinden kann, weiss
ich nicht; es wäre interessant und prognostisch wichtig, Beobachtungen
darüber zu sammeln. Ist der Sequester entfernt, dann hört die Ver-
dickung der Knochenkapsel auf, und der knochenbildende Process etablirt
— Was ich Ihnen
sehen Sie nun an
diesen schönen Präparaten der anatomischen und chirurgischen Samm-
lung von Zürich. (Fig. 93 u. 94).
Sie kennen jetzt den gewöhnlichen Normalverlauf einer totalen
Nekrose. Ich muss Sie noch mit einer Abweichung von dieser Norm
bekannt machen. Sie werden sich erinnern, dass ich Ihnen bei Gele-
genheit der acuten Periostitis erzählt habe, dass zuweilen dabei auch
der Epiphysenknorpel (wo ein solcher noch existirt, also bei jugendlichen
Individuen) vereitert. Wenn sich dies zugleich am oberen und unteren
Ende ereignet (ein übrigens sehr seltener Fall), so ist begreiflicher Weise
der Sequester damit gelöst, und zwar sehr früh gelöst, so früh, dass
noch keine Knochenbildung um die Eiterhöhle entstanden sein kann, oder
sich nun in der mit Granulationen gefüllten Höhle,
hier in schematischen Zeichnungen demonstrirt habe.
Vurlcijuiig 31. Cupitcl XVT.
Fig. 93. Fig. !)t.
535
a. Totale Nekrose der Diaphyse des Femur mit
bedeutender Knochenlade , durch welche das ab-
gestorbene Knochenstück ersetzt ist; durch diese
Knochenlade führen mehre ziemlich grosse Oeff-
nungen nach innen auf den Sequester. h. Das
gleiche Präparat im Längsschnitt.
a. Tibia eines jungen Mannes nach
totaler Nekrose der Diaphyse: etwa
zwei Jahre zuvor hatte ich den Se-
quester h. extrahirt; die Höhle hat
sich fast ganz mit Osteophyten erfüllt.
Patient starb an einem Karbunkel.
dieselbe wenigstens sehr seliwacli ist. Wird jetzt der Knochen extraliirt,
so hat sich also noch kein Ersatz gebildet, bildet sich auch ferner nicht,
weil es an dem nothwendigen Reiz fehlt, denn diesen Reiz zur Knochen-
production giebt eben der Sequester, so lange er noch als fremder Körper
im Knochen steckt; unter den erwähnten Umständen kann daher die
Extremität knochenlos, unbrauchbar werden, w^enn der Sequester sehr
früh extrahirt wird. Bei einseitiger Vereiterung des Epiphysenknorpels
z. B. am unteren Ende des Femur, sitzt der Sequester oben noch fest
und muss hier langsam die Knochcnschmelzung folgen wie sonst. AYird
der Sequester nicht zu früh entfernt, so kann sich die um ihn gebildete
536
Von der Nekrose.
Kiiocbenlade doch sehr fest an das Epiphyseuende anlagern und, wenn
auch später als sonst, so fest Averden , dass das verloren gegangene
Knochenstiick vollkommen dadurch ersetzt und auch seine Verhindung
mit der Diaphyse vollkommen fest und stark wird. Noch vor Kurzem
beobachteten wir diesen g'ttnstigen Ausgang- an einem Burschen von 16
Jahren. Es kann sich jedoch auch ereignen, wie ich einen Fall an der
gleichen Stelle des Oberschenkels sah, dass das untere, im Epiphysen-
knorpel gelöste Ende stark von innen an die Haut drängt und diese
allmählig' durchbohrt, so dass es zu Tage kommt; die untere Epiphyse
des Femur wurde dabei durch die Muskeln heraufgezogen, so dass fol-
gendes Bild entstand (siehe Fig. 95).
Fis. 95.
Nekrose der unteren Hälfte der Diaphyse des Femur mit Lösung des Epiphjsenknorpels
und Perforation der Haut.
Der später entfernte Sequester hat folgende Form (siehe Fig. 96):
Fi^. 96.
Der extrahirte Sequester von Fig. 95.
Die Knochenueubildung
war stark genug, um später
den Körper zu tragen, das
Knie wurde in der Chloro-
formnarkose grade gestreckt
und es erfolgte vollständige
Heilung. Einen ganz glei-
chen Fall sah ich am un-
teren Ende des Humerus.
In beiden Fällen hatte das
Gelenk, wie gewöhnlich bei Nekrosen in der Nähe der Gelenke,
stark mit gelitten , und es trat vollkommene Steifheit ein. — Doch auch
ohne dass durch die Erweichung des Epiphysenknorpels eine besonders
frühzeitige Lösung des Sequesters erfolgt, kann unter Umständen, die
wir nicht näher kennen, die Knochenneubildung sehr sclnvach sein, so
dass nach Lösung des Sequesters der neue Knochen an einer Stelle
nicht fest, sondern ganz biegsam ist; so liegt dann also eine Fseudar-
throse des neugebildeten Knochens vor; ich sah zwei Fälle der Art;
einen heilte ich vollkommen dadurch, dass ich an die schwache Stelle
V.)rl(
'M. (';i|.iiri xvr.
■y'M
des iioui^'obildclcii Kiioclions von Zeit /,ii Zeil imiiior wieder Elfeiibein-
znpi'eii cinsehliii;' und so den Kuoelieii zu inniier n(!ii(;i- rrodiietion zw;ui,^';
der Zweck wurde im VerlaiiC von S jAlonMleii \(»llkoinnien crrciclit, nnd
der diimaly 12jälirig'c Knabe i^'iiii;' dann vollkonnnen wie ein gesu)ider.
Es luuss lierv(»ri;'eh()beii werden, dass na,cli Ablauf einer Osteomyelitis
mit Nekrose in der Nälio eines Gelenkes (viel seltener nar-li Fraeturcn
in der Nähe eines Gelenkes) ein iibei-mässiges J^ilng'swaclistham (Iqv
Knochen beobachtet worden ist, so dass diese Knochen in einzelnen
Fällen um einen Zoll läng'cr werden als die normalen Knochen der
andern Seite. Leidet das Gelenk nicht erheblich mit, so wird es nach
Osteomyetitis zuweilen auffallend schlaff und abnorm beweg-lich, vielleicht
durch zu starkes Wachsthum der Gelenkbänder; dieser Zustand pflegt
iudess den Gebrauch der Extremität nicht wesentlich zu stören, und sich
im Lauf der Zeit wieder zu verlieren.
Häufiger als die vorher geschilderten Neki'osen der ganzen Diaphyse
sind die partiellen Nekrosen derselben, die entweder die ganze Dicke
oder nur die halbe Circumferenz betreffen können, je nach der Ausdeh-
nung' des osteomyelitischen und des periostitischen Processes. Sie können
das Gesagte leicht auf diese partiellen Nekrosen übertragen. Hier noch
ein Beispiel davon : an einem Fcmur sei eine Periostitis über einen Theil
der Diaphyse und danach Nekrose der letzteren aufgetreten; die Ver-
hältnisse können sich folgcndermaassen gestalten (siehe Fig. 97 und 98j:
Partielle Nekrose eines Röhrenknochens. Schematisehe Zeichnung.
a Sequester, b, b seine Grenzen, c, c die Eiterhöhle, d der Durchbruch
nach aussen, e, e die verdickte verknöchernde Wandung der Eiterhöhle.
Einige Monate später: (Fig. 98) a gelöster Sequester, der zu ent-
fernen ist, e, e neugebildete Knochenmasse als Ersatz für das verloren
gehende Knochenstück; die Knochenneubilduug deckt natürlich auch von
vorne den Sequester, musste aber, wie in Fig. 90, 91 und 92 in der
Zeichnung fortgelassen werden, um den Sequester sichtbar zu macheu.
Die Vorgänge, welche wir hier kennen gelernt haben, können auch
auf die Nekrose an platten und spongiösen kurzen Knochen
538
Von der Nekrose.
Fig. 98.
Fig. 96 im späteren Stadium der Knochenneubildung. Schematisehe Zeichnung.
Fig. 99.
Fig. 98 nach Entfernuirg des ^Sequesters.
Übertragen werden; doch ist dabei zu bemerken, dass bei der Nekrose
dieser Knochen die Neubildung viel geringer ist, oft sogar ganz fehlt.
In der Kegel nimmt die entzündliche Neubildung bei Erkrankung der
spongiösen Knochen mit Nekrose sehr bald den ulcerativen Charakter
an, und dabei kommt es eben wenig zu ausgedehnten Kuoehenneubil-
dungeu; ganz acute, nicht traumatische Periostitis ist ausserdem an
spongiösen Knochen etwas sehr Seltenes.
Auch nach der ursprünglich rein ossificirenden Periostitis und Ostitis
kann ausgedehnte Nekrose entstehen, wenn nämlich die neugebildete
Knochenauflagerung an der Stelle, wo sie mit dem erkrankten Knochen
zusammenhängt, resorbirt wird, vereitert und verjaucht; dadurch wird
der Knochen allmählig in seiner Ernährung sehr beeinträchtigt; er lebt
oft noch längere Zeit in der Markhöhle fort oder führt vielmehr eine
Halbexistenz zwischen Leben und Sterben; diese Art von Periostitis und
Nekrose kommt besonders an den Kieferknochen nach der chronischen
Vergiftung durch Phosphordämpfe vor, eine Krankheit, welche den Ar-
beitern in den Züudhölzchenfabriken eigenthümlich ist, Ich kann hier
auf diese Phosphorperiostitis und Phosphornekrose, die viele bemerkens-
iverthe Eigenthümlichkeiten besitzt, nicht näher eingehen, weil ich Sie
VorlcsuDR- 84. Cupilcl XVT.
530
dabei mit 7a\ vielen Details übcrscli litten niüsste, die Sie jetzt noch ver-
wirren würden. — Halten Sie vorläufig die g-escliilderten Verhältnisse
der Nekrose an den Röhrenknochen fest, die Abweichung-en , welche
durch die besonderen Umstände in diesem oder jenem Fall vorkonmien,
werden Sic Gelegenheit haben, in der Klinik genugsam kennen zu lernen,
da die Nekrose zu den verhältnissmässig liäufigeren Knochcnkrankliciten
gehört,
Icli kann die Anatomie der Nekrose und die dabei Statt findenden
Knochenregenerationen nicht verlassen, ohne eines vortrefflichen franzö-
sischen Chirurgen zu erwähnen, welcher viele Jahre auf das Studium der
osteoplastischen Thätigkeit des Periostes verwandt hat, und die früheren
Arbeiten über diesen Gegenstand von Troja, Flourens, B. Heine,
A. "Wagner u. A. in geistreicher Weise weiter geführt hat: ich meine
Ollier, welcher mit unermüdlichem Eifer nach experimenteller und
klinischer Seite diese Studien gefördert und für lange Zeit abgeschlossen
hat; ich habe einen Theil seiner Experimente nachgemacht und kann
nach denselben bestätigen, dass bei jungen Thieren die Erlialtung des
Periostes bei Knochenexstirpationen die Regeneration der Kuoclieu unter
gewissen Verhältnissen wesentlich befördert.
Fio-. 100
Seapulaeiiies jungen Hundes, 150 Tage nach Scapula eines jungen Hundes von gleichem
Entfernung des beigezeichneten Stückes, Wurf, 150 Tage nach der gleichen Operation,
welches zur Zeit der Resection den ganzen die am gleichen Tage ausgeführt wurde,
knöchernen Theil der Scapula ausmachte; doch Avurde in diesem Fall das Periost mit
die Gelenkfläche und die Knorpelränder so- entfernt. — Gestörtes Wachsthum; gar keine
wie das ganze sorgfältig afelöste Periost war Regeneration des resecirten Stückes.
erhalten. — Ungestörtes Wachsthum des
Knochens, fast vollständige Regeneration des
resecirten Stückes.
540 ^*^" *l^^' Nekrose.
Was die osteoplastische Kraft des menscldiclien Periostes zumal im Ver-
hältniss zu andern den Knochen umgebenden Weichtheilen betrifft, so habe
ich mich darüber im Verlauf dieser Vorlesungen wiederholt ausgesprochen,
und finde' die darüber aufgestellten Ansichten bisher durch jede neue
Erfahrung bestätigt. Neue interessante Gesichtspunkte über Knochen-
wachsthum sind in neuester Zeit von J. Wolff aufgestellt. Er sucht
durch mannichfach modificirte Versuche und Eeflexionen darzuthun, dass
das Wachsthum der Knochen Avesentlich interstitiell sei und durch eine
Art langsamer Expansion zu Staude komme. Seine Darstellung und
Auffassung dieser Verhältnisse haben eine lebhafte Discussion hervorge-
rufen, und zu wiederholten Prüfungen der älteren von Flourens schema-
tisirten Auffassung Veranlassung gegeben, nach welchen das Wachsthum
der Eöhrenknochen im Wesentlichen durch die Epiphysenknorpel ver-
mittelt wird. Die neuesten Versuche von Maas und Wegen er haben
diesen älteren Anschauungen wieder ihre vollständige Haltung verschafft.
Wir gehen zu den Symptomen und der Diagnose der Nekrosen
über. Man nennt eine Knochenkrankheit von der Zeit an Nekrose, wo
es entschieden ist, dass ein Theil des Knochens oder ein ganzer
Knochen abgestorben ist, bis dahin, wo der Sequester extrahirt ist; die
spätere Ausheilung der Knochenhöhle ist meistens eine einfache, gesunde
Granulationsentwicklung mit Eiterung, die freilich auch den geschwürigen
Charakter annehmen kann. — Es wird sich also darum handeln, wie
erkennen wir, dass ein Theil nekrotisch ist? Dies kann in manchen
Fällen sehr einfach sein, nämlich da, avo der nekrotische Knochen zu
Tage liegt, also in allen Fällen, wo Nekrose nach Entblössung des
Knochens folgt: der abgestorbene Knochen sieht ganz Aveiss aus, wird
jedoch in manchen Fällen wohl auch schAvärzlich, wie andere vertrock-
nende, nekrotisirende Gewebstheile. Der Knochenbrand kann, soweit
er die KnochensuBstanz betriffst, immer nur ein trockner sein; die weichen
Theile im Knochen, die Gefässe, das Bindegewebe und Mark können
jedoch, wie andere Weichtheile, dem trocknen oder feuchten Brand
verfallen; eine vollkommene Vertrocknung tritt fast in allen Fällen ein,
wo der Knochen der Luft exponirt ist, frei zu Tage liegt; mit dieser
Necrosis superficialis ist daher selten ein Fäulnissprocess, selten übler
Geruch verbunden. Bei tiefer liegender Nekrose, z. B. der ganzen
Diaphyse oder bei nekrotisirenden Säge- oder Bruchflächen, welche tief
unter den Weichtheilen stecken, erfolgt gewöhnlich Fäulniss des Markes-
der Gestank, welchen ein grosser, extrahirter Sequester verbreitet, ist
zuweilen äusserst penetrant. Dies faulende Knochenmark ist so lauge
für den Organismus gefährlich, als sich noch keiae Demarcationslinie
gebildet liat, so lange die Lymphgefässe der unmittelbaren Umgebuug
noch offen sind; ist die Gewebswucherung im Knochen an der Grenze
Vorlosiiiis .".'1. Capilel XVT. 541
des Gesunden erfolgt, dann bildet die Omnulationsscliielit einen Wall,
durch welelien liindureli niclit leielit ]vesori)tion eribli^'t so lange das
Ovanulationsgewebe gesund ist, und nicht etwa selbst der Entzündung
und Gangrän verfällt. — Wie erkennt man nun einen in der Tiefe
steckenden Sequester? Dies kann in exacter Weise nur durch die Soinle
geschehen. Man führt durch die Oeffnungen, aus welchen der Eiter aus-
fliesst, eine möglichst starke Sonde ein, und wird mit dieser die meist
glatte, feste, seltner rauhe, weiche Oberfläclie des Sequesters fühlen; man
sucht die Sonde auf demselben entlang zu schieben, um sich von der
Länge des Sequesters zu überzeugen; ferner drückt man die Sonde fest
auf den Sequester an, um womöglich zu ermitteln, ob der Sequester l)eweg-
lich, gelöst ist, oder ob er noch ganz fest sitzt; dies ist, wie Sie schon
begreifen, wichtig für die Frage, ob man schon an die Extraction des
Sequesters denken kann. — Eine weitere Beihülfe zur Diagnose ist, dass
die betreffende Extremität erheblich verdickt ist, man fühlt die massen-
hafte Knochenneubildung; aus den Oeffnungen fliesst ein dicker, gelber,
oft schleimiger Eiter: der Knochen ist auf Druck nicht besonders schmerz-
haft; das vorsichtige Sondiren ist in der Kegel auch nicht schmerzhaft,
wenn es auch von den Kranken oft sehr gefürchtet wii-d, weil es von
manchem Arzt unnöthig oft, gewaltsam und doch resultatlos ausgefülirt
wird. Der Kranke ist fieberfrei.
Hiernach werden Sie in vielen Fällen die Nekrose leicht diagnosti-
ciren können; so lange keine Oeffnungen nach aussen bestehen, ist die
Diagnose auf centrale Nekrose eines Knochens inmier sehr misslich. —
Verwechselt kann die Nekrose fast nur mit der Caries werden; die Art
der Entstehung, die Localität thut hier schon sehr viel zur Entscheidung,
denn Nekrose entsteht häufiger in Folge acuter oder subacuter Entzün-
dung an Röhrenknochen (Femur, Tibia, Humerus), Caries häufiger lang-
sam an spongiösen Knochen oder Knochentheilen ; — doch auch die
objectiven Symptome sind verschieden: bei Caries wenig Knochenbildung
in der Umgebung des Geschwürs, oft gar keine solche zu fühlen, bei
Nekrose viel Knochenbildung; bei Caries dünner, schlechter, seröser
Eiter, bei Nekrose meist dicker, oft guter, häufig schleimiger Eiter; bei
Caries stösst man mit der Sonde in den morschen Knochen hinein, und
dies ist gewöhnlich ziemlich schmerzhaft, bei Nekrose stösst die Sonde
meist auf den festen Sequester, die Sondirung ist oft schmerzlos. — Aus
diesem Vergleich der Erscheinungen, die sich aus dem verschiedenen
Wesen beider Krankheiten ergeben, werden Sie die Möglichkeit der
Diagnose zugeben müssen, und in sehr vielen Fällen ist sie in der That
äusserst leicht und einfach. Andere Fälle sind schwieriger in ihren ana-
tomischen Verhältnissen zu verstehen: wenn sich Nekrose mit Caries
combinirt, sprechen alle Erscheinungen mehr für Caries mit Ausnahme
davon, dass man das nekrotische Knocheustück durch die Sondirung
erkennt. Bei Caries centralis der Röhrenknochen kommen ausnahms-
54^ Von der Nekrose.
weise enorme Verdickungen des Knoeliens vor, auch kann dabei die
lunenwandung der Knoclienliöhle sehr fest und hart wie ein Sequester
anzAifühlen sein; diese Fälle können zu Irrthümern Veranlassung geben;
man öffnet die Höhle und findet keinen Sequester, wie man Ternuithet
hatte ; möglich ist, dass in diesen allerdings seltenen Fällen der vielleicht
nicht sehr grosse Sequester resorbirt war, worüber gleich mehr. — Diese
Ausnahmefälle stossen aber die allgemeinen Regeln nicht um, und Sie
haben sich daher vorläufig an die oben aufgestellte vergleichende Dia-
gnostik zu halten. —
Jetzt iioch einige Bemerkungen über das Schicksal des Sequesters.
AVas meinen Sie? sollte das abgestorbene Knochenstiick nicht resorbirt
werden können? habe ich Ihnen nicht wiederholt bemerkt, dass todter
Knochen durch die Granulationen aufgelöst und verzehrt werden kann?
Man sollte also erwarten, das die Elimination des Sequesters keiner
Hülfe bedarf. Es unterliegt nach meinen Beobachtungen gar keinem
Zweifel, dass kleinere Sequester von kräftig wachsenden Granulationen
vollständig verzehrt werden können; doch Granulationen, welche sieh in
fortwährendem Zerfall befinden oder verkäsen, besitzen keine Knochen
auflösende Kraft; wir haben schon früher bei der Caries besprochen,
dass gerade deshalb bei atonischer eitriger und verkäsender Ostitis so
leicht partielle Nekrose vorkommt, weil die entzündliche Neubildung,
welche wegen Gefässmangel gleich wieder zerfällt, den Knochen nicht
auflöst, letzterer vielmehr im Organismus gewissermaassen macerirt wird.
— Die Resorption der Sequester hat ihre Grenzen: zunächst erfolgt na-
türlich keine Resorption da, wo der Knochen frei zu Tage liegt, denn
hier wirken die Granulationen gar nicht ein ; ferner hört die Resorption
auf, so bald sie auf ihrer Oberfläche Eiter secerniren; der Sequester,
welcher nach acuter Periostitis entsteht, wird also an der Stelle, wo das
Periost vereiterte und wo nun während des ganzen Processes Eiter se-
cernirt wird, gewöhnlich nicht resorbirt werden, weil er nicht mit den
Granulationen in engen Contact kommt; an allen Stellen aber, wo der
Sequester gelöst wird, tritt eine Resorption durch die an der Grenze
des lebendigen Knochentheils sich bildende interstitielle Granulationsmasse
ein; producirt zuletzt, wenn der Sequester gelöst ist, auch diese Granu-
lationsmasse Eiter, so hört auch hier die Resorption auf, und der jetzt
von Eiter umspülte Sequester wird dann nicht mehr verkleinert; die von
allen Seiten auf den Sequester zuwachsenden Granulationen der Eiter-
höhlen verändern sich übrigens auch chemisch im Lauf der Zeit, sie
werden gallertig, schleimig und erleiden sehr häufig eine fettige Dege-
neration. — Der Sequester muss aber doch schliesslich heraus! Kann er
wohl von selbst herauskommen ? Dies kommt vor; woher die bewegende
Kraft, welche ihn herausschiebt? Denken Sie sich eine centrale Nekrose,
etwa der Tibia; ein Sequester löst sich von allen Seiten ab, ist dann
aus den eben angeführten Gründen erheblich kleiner als die Höhle, in
VoriosiniK ?,\. Ciipiffi xvr. 543
welcliev er lici^'t; das Kuocliciistiick ist Jetzt i^-aiiz lose; von allen Seiten
wachsen (Tranulationen auf lim zu, nur nielit von der Seite her, wo die
Eiterlnilde naeli aussen mündet; liier ist kein Widerstand; ist die Oettnung-
gross genug- und entspricht sie dem einen Knde des Se(|uestcrs, so treiljcn
die nachwachsenden Granulationen den Sequester hier heraus. - Kieizii
gehören also ganz bestimmte mechanische Bedingungen, die seilen i-v['i\\\\
sind; kleine Sequester werden öfter von selbst ausgestossen, grosse Se-
quester, die nicht aus den bestehenden Oeffnungen heraus können, müssen
künstlich herausgeholt werden.
Die Behandlung der Nekrose wird anfangs einfach im Reinhalten
der Fisteln bestehen. An eine künstliche chemische Aufb'isung des Se-
questers kann nicht gedacht werden. Gössen Sie täglich Salzsäui'c in
die Fistelöffnungen, so würde diese ebenso sehr, ja 'mehr die neugebil-
dete Knochensubstanz von innen her auflösen, als den Sequester, und
das wäre sehr übel, denn die Knochenneul)ildung muss ja den Sequester
ersetzen. Es bleibt also nichts als die mechanische Entfernung des
Sequesters. Diese soll nicht eher gemacht werden, als bis
der Sequester gelöst ist. Ein sehr wichtiger Satz, der erstens darin
begründet ist, dass die Lossägung des todten Knocheustücks selten mög-
lich ist, ohne vom gesunden und vom neugebildeten Knochen viel zu
entfernen, was beides vom Uebel ist, und zweitens, weil die Knocheu-
neubildung selten fest genug ist, ehe der Sequester gelöst ist. In der
Regel erfolgt die Lösung- des Sequesters nicht eher, als bis die Knochen-
neubildung- stark genug ist, das verlorene Knochenstück zu ersetzen. Die
Kunst darf dies practisch wichtige Resultat der Beobaclituug nicht durch
zu grosse Geschäftigkeit beeinträchtigen. — Nur wenige specielle Aus-
nahmen giebt es von der obigen Regel, zumal bei der Phosphornekrose;
diese ist eben keine reine Nekrose, sondern sehr oft mit jauchiger Ostitis
combinirt, wovon mehr in der speciellen Chirurgie und in der Klinik. —
Dass man zuweilen mit der Sonde erkennen kann, ob ein Sequester lose
ist, habe ich Ihnen schon gesagt; doch nicht immer ist dies der Fall;
der Sequester kann so von den Granulationen eingepresst sein, dass er
desshalb nicht l)eweg-lich gefühlt wird; die Beweglichkeit eines sehr
grossen Sequesters ist ebenfalls sehr schwer zu constatiren; auch kann
die gebogene Form des Knochens (z. B. des Unterkiefers) die Entschei-
dung über Beweglichkeit des Sequesters sehr erschweren. In solchen
zweifelhaften Fällen ist die Dauer des Processes und die Dicke der
Knochenlade eine wichtige Beihülfe zur Entscheidung, ob der Sequester
gelöst ist oder nicht. In 8 — 10 Monaten pflegen die meisten Sequester
gelöst zu sein, in einem Jahr pflegt selbst eine ganze nekrotische
Diaphyse als loser Sequester in der neugebildeten Knochenlade zu liegen.
Dies sind approximative leitende Bestinnnungen, die natürlich Ausnahmen
erleiden können. Ist die Knochenbildung noch schwach und doch der
Sequester schon lose, so thut man gut, an Humerus, Tibia, Femur, die
544 ^o" *isi' Nekrose.
Extraction noch zu verschieben, damit die Knocheubildimg noch stärker
wird, vorausgesetzt, dass das Allgemeinbefinden nicht leidet. Tritt Al-
buminurie ein, so ist die Sequesterextraction zu beschleunigen.
Die Extraction der Sequester, zumal wenn sie vorbereitender Erwei-
terungen der Kloaken (der Fisteln, welche in die Kuochenlade hinein-
führen) bedarf, nennt man die Operation der Nekrose oder Se-
questrotomie. Diese Operation kann sehr einfach sein; ist eine der
Oeffnungen der Knochenlade ziemlich gross und der Sequester klein, so
nimmt man eine gut fassende Zange, führt dieselbe in die Knochenhöhle
ein, sucht den Sequester zu fassen und zieht ihn heraus. Ist wie bei
Caries necrotica keine Knocheuneubildung vorhanden, so erweitert mau
die Fistelöffnung mit einem Schnitt durch die Weichtheile und zieht das
nekrotische Knochenstück heraus. Sind aber die Oeffnungen klein und
der Sequester gross, so muss ein Theil der Knochenlade entfernt werden,
um sowohl Instrumente zur Extraction einführen als den Sequester her-
ausziehen zu können. Selten genügt es, mit Trepan, Meissel und Hammer
u. s. w. eine der Oeffnungen zu erweitern; gewöhnlich mache ich die
Operation folgeudermaassen : ich führe mit einem' kurzen starken Ee-
sectionsmesser einen Schnitt durch die Weichtheile bis auf die Knochen-
lade von einer Fistelöffuung zu einer andern nahegelegenen; dann
nehme ich ein gestieltes Schabeisen, ein Easpatorium, und ziehe damit
die verdickten Weichtheile von der höckrigeu Oberfläche der Knochen-
lade ab, so dass man diese in einer gewissen Breite und Länge vor
sich hat; dies Stück der Knochenlade soll nun entfernt werden, um eine
Oeffnung zu bekommen, durch welche der Sequester herausgebracht
werden kann. Hierzu kann man Sägen verschiedener Art, das Osteotom,
die Stichsäge u. s. w. gebrauchen; ich bin in der letzten Zeit immer mit
Meissel und Hammer ausgekommen; die Arbeit ist mühsam, mau mag
Instrumente nehmen, welche man wolle; das zu entfernende Stück der
Knochenlade sei so klein als möglicli, um der Festigkeit der letzteren
keinen Eintrag zu thun. Ist die Lade eröffnet, so sieht man den Se-
quester vor sich liegen; mit hebelartigen Instrumenten, Elevatorien,
oder mit starken Zangen sucht man den Sequester zu entfernen, eine
ebenfalls zuweilen sehr mühsame Arbeit. Ist dies vollbracht, so ist da-
mit die Aufgabe der Kunst gelöst. — Findet man wider Erwarten deu
Sequester noch nicht gelöst, so hüte man sich, unnöthig daran herumzu-
brechen, sondern warte wieder einige Wochen oder Monate, bis mau
sich von der Lösung des freigelegten Sequesters überzeugt hat. Nach
der Operation wird die eiternde Knochenhöhle reingehalten, der Kranke
hütet einige Zeit das Bett, die Fisteln secerniren weit weniger als früher;
doch dauert es zuweilen noch sehr lange, bis endlich die Ausfüllung der
Sequesterhöhle mit ossificirenden Granulationen erfolgt. Mau kann nicht
viel thun, dies zu befördern, und die Fisteln, welche unter solchen Um-
ständen lange zurückbleiben, machen in der Eegei so wenig Beschwer-
Vorlesung 'My. Aiiliiiii^- zu <,'a|jil(>l XVI. 545
den, dass man gar niclit bcisonders veranlasst Avird, dcslialb cnei-g-iseli
ein/AigTcifen. Zuweilen bleibt jedoch ein gar /u grosses Loch lange
ofVen, die Wandungen desselben slderosireii und di(! (iranubationen
wollen nicht mehr nachAvaclisen; hier tritl diiim die Ilcli.'iiKliiing des
atonischen Knochengeschwiirs ein; die A])])licalion (b-s Fciriini candens
in solche alten Knochenhöhlen und das Ausnieisseln dw Kn(.chenlisteln
ist das einzige Mittel, von dem ich Iner und da einigen iM'lbIg siili; ni;inclie
derartige Knochenfisteln sindw'ohl unheilbar, machen aber keine Fiinctions-
störungen und bleiben besser unangerührt.
Die Sequestrotomie ist in ihrer ganzen grossen Bedeutung erst im
Laufe der letzten Jahrzehnte richtig gewürdigt. Sie fand erst recht alb
gemeinen Eingang, seitdem das Chloroform in vVnwendung kam, denn
die Operation ist eine sehr gewaltsame; dies Meissein, Sägen, Hämmern
an der Knochenlade ist scliauderhaft für einen unbefangenen Beobachtei-
anzuseilen, um so mehr, als diese Operationen sehr lange dauern können;
eine Amputation ist eine Kleinigkeit dagegen. Früher am])utirte man
aucli sehr häufig wegen totaler Nekrosen auch wenn keine Complication
mit Gelenkleiden vorlag, was jetzt wohl keinem Chirurgen einfallen würde.
Sie finden daher in den älteren Museen die schönsten Präparate ausge-
dehnter Nekrosen; diese sind jetzt nur noch selten zu finden, weil fast
alle Sequester rechtzeitig extrahirt w^erden. — Der Eingrift' ist local ein
sehr bedeutender, doch die febrile Reaction nach demsel])en gewöhnlich
sehr unbedeutend. So heftig die Entzündungserscheinungen und das
Fieber sein würden, wenn Sie in ähnlicher Weise an einem gesunden
Knochen herumarbeiten v/ollten, so wenig Einfluss hat dies auf die
Knochensubstanz der Sequesterlade; mir ist nur ein einziger Fall vorge-
kommen, w^o. nach einer solchen Operation ein übler Ausgang er-
folgte; ich habe die Ueberzeugung, dass die Operation der Nekrose
eine der segensreichsten Operationen ist, wodurcli vielen Menschen das
Leben gerettet würd, die früher nach Amputationen oder an den allge-
meinen Krankheiten zu Grunde gingen, welche im Verlauf langer Knoclien-
eiterungen aufzutreten pflegen.
Vorlesung 36.
ANHANG ZU CAPITEL XVL
Rliachitis. Anatomiselies. Symptome. Aetiologie. Behandlung. Os teomalacie. —
Hypertrophie und Atrophie der Knochen.
Ehachitis und Osteomalacie.
Wir müssen noch zwei Allgemeiukrankheiten kurz berühren, welche
sich hauptsächlich in gewissen Veränderungen an den Knochen, nämlich
in Erweichung derselben kund geben. Diese beiden Krankheiten heisseu
BillrotU cUh-, Piith. u. Thcr. 7. Aufl. 35
546 Von der Eliachitis und Osteomalacie.
Ehacliitis und Osteomalacie; sie sind in ihrer Wirkung auf die Ver-
änderung- der Knoolienformen nahezu gleich, doch in ihrem Wesen etwas
verschieden; es sind multipel auftretende chronische Entzündungen mit
eigentliiimlichem Charakter.
Beginnen wir mit der Rhachitis; der Name kommt von Qayjg^ das
Riickgrath, bedeutet eigentlich Entzündung des Rtickgratlis; die Wirbel-
säule leidet aber selten erheblich bei der Ehachitis; es ist daher nicht
recht klar, wie der Name entstand; später nannte man die Ehachitis
oft „englische Krankheit", weil sie durch englische Schriftsteller besonders
bekannt wurde und auch vielleicht in England besonders häufig ist. —
Das Wesen der Krankheit besteht darin, dass die Ablagerung der
Kalksalze in de-n wachsenden Knochen sehr mangelhaft er-
folgt, und die Epiplivsenknorpel auffallend dick sind. Sie
sehen hieraus schon, dass diese Krankheit dem kindlichen Alter eigen-
thümlich sein muss, es ist eine Entwicklungskrankheit der
Knochen, die aber gewöhnlich so viele Knochen betrifft, dass es sich
nicht um locale Störungen, sondern um eine allgemeine Kranklieit han-
deln muss, die Sie zu den Ihnen schon bekannten Dyskrasien hinzu-
rechnen mögen. Die ungenügende Ablagerung von Kalksalzen in die
wachsenden Knochentheile bei der Ehachitis ist aber auch mit ausser-
gewöhnlicher Gefässentwicklung und zumal auch mit aussergewöhnlich
ausgedehnter Eesorption des bereits fertigen Knochengewebes — ein
geringer Grad von Eesorption erfolgt beim Wachsthum der Knochen
an der inneren und äusseren Seite der Corticalschicht immer — so wie
endlich auch mit ungewöhnlich starker Wucherung der Epipliysenknorpel
verbunden; reclmen Sie noch die jungen Osteophytenbildungen hinzu,
welche sich aussen an den Eöhrenknoehen finden, so ist nicht zu
leugnen, dass diese Ernährungsstörung der entzündlichen in ihren Folgen
ganz gleich ist.
In vielen Fällen findet man Ehachitis bei scrophulösen Kindern,
und es ist in der That von einigen Aerzten die Ehachitis als Theil-
erscheinung der Scrophulosis aufgefasst; dies ist jedoch nicht ganz
richtig, denn einerseits finden sich bei vielen rhachitischen Kindern keine
Symptome von Scrophulose, zu denen doch ganz besonders auch Disposition
zu Lymphdrüsenschwellungen, Eiterung und Verkäsuug zu rechnen Aväre,
— andererseits hat der rhachitische Process anatomisch wenig Verwandt-
schaft mit den Formen von Periostitis und Ostitis, wie wir sie bei
scrophulösen Kindern sonst beobachten, denn Ehachitis führt nie zu
Caries. Das Missverhältniss zwischen Wachsthum der Knochen und
mangelhafter Imprägnirung des Knochengewebes mit Kalksalzen hat zur
Folge, dass die Knochen keine genügende Festigkeit bekommen; sie
biegen sieh, zumal diejenigen, welche die Last des Körpers zu tragen
haben; bei hohen Graden der Knochenweichheit wirkt auch die ]\Iuskel-
contraction auf die Knochen der Art ein, dass letztere dadurch verbog-eu
Vorlesung 3G. Anluint,' zu Capitel XVI.
547
werclen. Am liäufig'stcn treten diese Ver1)ieg-uiigen an den unteren
Extremitiiten ein; die Obcr.selienkelknoelien l)iei;('n sieh eonvex naeli
A'orn nnd innen aus, die llntcrselienkelknoelien in ilireni unteren Dritt-
tlieil eonvex naeli vorn, aussen oder innen. Der IJrustkorl) wii'd seitlieli
Fi"-. 101.
Typische Formen von rhacliitischeu Verkrümmungen der Unterschenkel.
ZAisammeng-edriickt, so dass das Brustbein scharf hervortritt und die sog-e-
nannte Hühnei'brust oder Kielbnist (Pectus earinatuni) entsteht. Ver-
krümmimg-en des Beckens, der Wirbelsäule, auch der oberen Extremi-
täten kommen bei hohen Graden von Rhachitis hinzu. Der Hinterkopf
bleibt bei solchen Kindern sehr lange weich und eindrückbar, die Den-
tition erfolg't später als sonst. Die Weichheit des Hinterkopfes tritt in
manchen Fällen als einziges Symptom der Ehachitis auf, so dass man
diese Affection auch wohl als g-anz unabhängig von allgemein rhachi-
tischer Störung betrachtet hat. Die Verkrümmungen an den unteren
Extremitäten beruhen nach Virchow meist auf einer Anzahl kleiner
Einknickungen (Infractionen) des ganzen Knochens oder einzelner Theile
der Corticalschicht. Vollständige Fracturen kommen selten vor; wenn
sie eintreten, so erfolgt die Heilung unter der gewöhnlichen Behandlung
in der Regel ganz solide durch Kuochencallus. — Ausser diesen Ver-
krümmungen an den Knochen entstehen durcli die Rhachitis noch andere
Veränderungen an denselben, nämlich die Verdickung der Epiphysen
und der Uebergänge von den Rippenknorpelu zu den knöchernen Rippen.
Die Verdickung der Epiphysen kann z. B. am unteren Ende des Radius
so stark sein, dass oberhalb des Handgelenkes, entsprechend der Stelle
35^
548 ^^o" ^^^' Rhachitis und Osteomalacie.
dicht hinter dem Epiph3^senknorpel des Radius eine zweite Einschnürung
der Haut zu Stande kommt; dies Ansehen der Gelenke hat zu der Be-
zeichnung- „doppelte Glieder" Veranlassung gegeben; die knotigen Ver-
dickungen, welche an dem vorderen Ende der knöcliernen Rippen ent.
stehen, sind oft sehr augenfällig, und da sie alle regelmässig unter ein-
ander lie|:en, so hat man dies den „rhachitischen Rosenkranz" genannt.
— Liegen die erwähnten Veränderungen der Knoclien vor, so diagnosti-
cirt man daraus ohne Weiteres die Rliachitis. Ehe eine der genannten
Erscheinungen deutlich hervortritt, ist die Diagnose sehr misslich. Es
giebt freilich einige Prodromalerscheinungen: grosse Gefrässigkeit,
dicker Leib, Abneigung gegen Stehen und Laufen; indess sind diese
Erscheinungen immerhin zu unbestimmt, um daraus auf eine allgemeine
Knochenkrankheit schliessen zu können. — Die Krankheit beginnt am
häufigsten im zweiten Lebensjahre und tritt bei gut genährten, oft sogar
fetten Kindern auf; Verdauungsstörungen, Neigung zu Verstopfung sind
hie und da nachweisbar, doch nicht immer vorhanden. Von ursächlichen
Momenten, welche auf die Entstehung der Rhachitis wirken, weiss man
sehr wenig; die Krankheit kommt bei uns in Deutschland in allen Stän-
den ziemlich häufig vor, wenn auch häufiger bei Kindern der ärmeren
Klasse ; Erblichkeit mag hier und da von Einfluss sein ; eine Störung
in der Blutzusammensetzung, in der Assimilation der eingeführten Nah-
rungsstoffe kann man hypothetisch annehmen. Beweise haben wir dafür
nicht. — Den Verlauf der Krankheit anlangend ist zu ])emerken, dass
dieselbe bei passender Behandlung oft bald erlischt, d. h. die Knochen-
verkrtimmungen nehmen nicht mehr zu, die Kinder, welche aufgehört
hatten zu gehen, zeigen wieder Lust dazu. Ln weiteren Verlauf des
normalen Knochenwachsthums werden die Knochenverkrümmungen immer
weniger bemerkbar, sie verschwinden oft ganz vollständig; dies lässt
sich übrigens aus der Art des Appositionswachsthuras der Knochen ganz
wohl verstehen. Ehe die Knochen wieder die normale Beschaffenheit
bekommen, kommt es am Ende des rhachitischen Processes meist eine
Zeit lang zu einer abnorm reichlichen Knochenablagerung, so dass die
rhachitisch gewesenen Knochen in gewissen Stadien ganz abnorm hart
und fest sind, sich in einem sklerotischen Zustand befinden. — In sel-
tenen Fällen dauert der Rhachitismus bis zur Vollendung des Skelets
fort, und gerade diese Fälle geben zu den hochgradigen Verkrümmun-
gen und Verschiebungen der Knochen Veranlassung, die man gewöhn-
. lieh als Typen für diese Krankheit aufstellt. In jeder pathologisch-
anatomischen Sammlung finden Sie Exemplare von solchen ganz ab-
normen, durch Rhachitis veränderten Skeletten. Je grösser meine Er-
fahrung wird, um so mehr neige ich mich zu der Ansicht, dass auch
die Plattfuss -Bildung, die Entwicklung des Gcnu valgum und
varum, auch wohl die seitlichen Verkrümmungen der Wirbelsäule
(Skoliosen) durch eine Schwäche der Knochen, die von leichtem Grade
Vtirk',siiii;j,- ;3(). Auluui- zu Capilirl XVI. 549
der Uhachitis nicht 7ai imtci-.sclicidcu «ein dürfte, wcsentlicli iiiithedin^^'t
werden. Dieser verschieden loculisirte Ifliacliitisnins koninit freilicli in
späteren Jahren, d. li. meist im zweiten Dcceiiuium des Jx'bens voi-,
während die als Rhachitis knrzw<\i;' bezeichnete Kranivlieit des g-esammten
Knocliensystenis sich, wie erwälmt, meist bei g-anz jnngen Kindern
etwa bis znm (>. Jahre findet; doch, liandelt es sich in beiden Fällen um
ein Weicherbleiben nnd eine gewisse Kachgiebigkeit wachsender
Knochen, auf welche dann freilich nocli mancherlei Gelegcnhcitsursachen
einwirken müssen, um die ei'wälmten Formen von Verkrünimungcn her-
vorzubringen. Sie werden später häutig hören , dass von manchen
Aerzten die Khachitis in ganz directe Bezieliung zu Erkrankungen des
Hirns, zumal zu Lälimungen, Krämpfen und psychischen Störungen bei
Kindern gebracht wird. Ich will nicht in Abrede stellen, dass der ge-
sammte uns doch immerhin ziendicli dunkle Krankheitsprocess auch
direct auf die Entwicklung des Hirns influenziren kann, doch in den
meisten Fällen sind diese Beziehungen indirccte. Dem rhachitischen
Process in den Schädelknoohen folgt oft eine rasche Sklerosirung, eine so
intensive und extensive Knochenneubildung', dass auch die Nähte manclier
Schädelknochen verknöchern. Dadurch wird die weitere gleichmässige
Ausbildung des Schädels gestört; der Schädel v/ird schief, da nnd dort
zu eng für das wachsende Hirn, und so kommt es dann zu Störungen
in der Function des Hirns, weil dies Organ in seiner normalen Ent-
wicklnng durch den rhachitischen Schädel beeinträchtigt wird.
Die rhachitischen Kinder werden selten früher zum Arzt gebracht,
als bis entweder den Eltern die dicken Glieder oder die Verkrümmun-
gen auffallen, oder bis sie, wie die Mütter sich häufig ausdrücken, ,,von
den Beinen kommen" , d. h. sie wollen nicht mehr gehen und stehen,
nachdem sie es vorher schon konnten; die Krankheit ist so häufig und
so populär, dass es oft kaum eines Arztes bedarf, sie zu erkennen.
Die Behandlung hat in der Regel nur eine Aufgabe, nämlich die all-
gemeine Krankheitsdiathese zu beseitigen: sie ist daher vorwiegend
medicinisch, besonders diätetisch. Was letzteres betrifft, so ist zu ver-
meiden: allzu reichlicher Genuss von Brod, Kartoffeln, Mehlbrei und
blähenden Gemüsen; zu empfehlen ist: reichlicher Genuss von Milch
und Eiern, Fleisch, gutem weissem Brod, dazu stärkende Bäder mit
Malz, Kräutern u. dgl. Innerlich verordnet man Leberthran., Eisen und
ähnliche roborirende und tonisirende Mittel. Phosphorsaurer Kalk ist
bald empfohlen, bald als nutzlos proclamirt worden. Benecke hat dies
Präparat als besonders günstig auf die Ausheilung der Rliachitis befunden;
ich wende es auf seinen Rath an, und gebe davon zu gleichen Theilen
mit gezuckertem Eisenoxyd einige Mal täglich eine Messerspitze voll in
Milch oder Wasser; die Kinder nehmen es im xVllgemeinen leicht.
Auch vom Phosphor allein hätte mau nach der schon erwähnten expe-
rimentellen Arbeit von Weg euer Heilung der Rhachitis zu erwarten.
550 ^o" '^'^^' Rliachitis und Osteomalacie.
Es ist immerliin eine ziemlich einseitige Anscliaimng, wenn wir bei
Beurtbeilung' des rliacliitisclien (und aucli des osteomalacischen) Processes
nur daran denken, dass Mangel an Einfuhr von Kalk die Ursache sei,
weshalb die Kalkablagerung in den wachsenden Knochen ausbleibt,
oder der bereits abgelagerte Kalk wieder schwindet. Es wäre doch
auch möglich, dass der in den Magen gelangende Kalk wegen fehler-
hafter Verdauungsprocesse über:iaupt nicht ins Blut gelangt, oder dass
er von den Nieren in ganz besonders massenhafter Weise ausgeschieden
wird, oder dass das Wesen der Rhachitis darin beruht, dass das neu
entstehende Knochengewebe den ihm in normaler, vielleicht in über-
schüssiger Menge zugefülirten Kalk nicht annimmt. Alle diese Momente
bieten nun freilich keine directen Anhaltspunkte für die Therapie; doch
führe ich sie an, damit es Ihnen möglichst klar wird, dass wir auch in
diesem Falle keine physiologische Berechtigung haben, die Ernährungs-
störung ganz einseitig von dem Mangel an Einfulir abzuleiten. — Sehr
häufig verlangen die Eltern nach Schienen, um die Verkrümmungen der
Kinder zu beseitigön , oder wenigstens ihre weitere Ausbildung zu ver-
hüten; auch wird man Sie als Arzt fragen, ob man die Kinder zum
Gehen anhalten oder sie ruhig liegen lassen solle. Was letzteres be-
trifft, so ist es am besten die Kinder sich selbst zu überlassen; so lange
sie nicht Lust zum Gehen haben, treibe man sie nicht dazu; wenn sie
mehr liegen als umhergehen, so müssen sie doch möglichst viel in
freier, frischer Luft sein; oft genügt es, ein Kind aus der dumpfigen
Stadtwohnung einige Zeit lang aufs Land zu bringen, um die Ehachitis
zu heilen. — Was die Anwendung von Schienenstiefelchen und ähnlichen
Apparaten, welche die Fasse beschweren, betrifft, so sind sie nur in
solchen Fällen sehr hochgradiger Verkrümmung in Anwendung zu ziehen,
wo die Stellung der Füsse mechanisch das Gehen erschwert; dies ist
selten und die Anwendung solcher orthopädischer Apparate ist daher bei
Ehachitis sehr beschränkt. — Ist die Ehachitis erloschen, so kann in
seltenen Fällen eine so starke Verkrümmung zurückbleiben, dass es
nöthig ist, dagegen etwas zu unternehmen; in den bei weitem meisten
Fällen ist es ganz unnöthig, da sich die Verkrümmungen, wie schon
früher erwähnt, von selbst im Verlauf des Wachstliums des Skelets aus-
gleichen. — Nur am Unterschenkel bleiben hier und da Verkrümmungen
zurück, bei denen der Fuss so verstellt ist, dass nur der innere oder
äussere Fussrand auf den Boden auftreten kann; bleibt dies Jahre lang
auf demselben Punkt, so muss eine Gradriclitung vorgenommen werden.
Diese kann auf zweierlei Weise geschehen. Man chloroformirt das Kind
und macht vorsichtig eine künstliche subcutane Infraction des Knochens,
lässt den Unterschenkel in grader Stellung halten, legt einen Gypsver-
baud an und behandelt die gemachte Verletzung wie eine einfache
Fractur; die Heilung erfolgt gewöhnlich leicht. In manchen Fällen ist
jedoch der Knochen so enorm fest nach Ablauf der Ehachitis geworden,
Vorlesüiiy ?>(\. Aiilinn^' y.w CMpild XVr.
551
(lass eine solche Knickung- niclit g-eling't. I);uni ist die siibciitjiiic
Osteotomie ang'ezeigt (vgl pag. 245). Die Ivesulfate dieser Operation,
die ich öfter /u machen genöthigt war, sind l)is jetzt äusserst g'ünstig-e
gewesen; in einigen Fällen heilte die Hautwunde ])er primam und die
Behandlung war dann wie bei einer einfaclien Fractur. Die Operation
wird immerhin eine seltne bleiben, weil die liociigradigen rhachitisclien
Verkrümmungen überhaupt selten sind.
Jetzt noch einige Worte über die Osteomalacie, die Knochen-
erweichung xai s^o%rjv. Die Krankheit charakterisirt sicli ebenfalls
durch Verkrümmungen der Knochen; hier erfolgt aljer wirklich eine
massenhafte Resorption bestehender Knochenmasse. Das Mark nimmt
mehr und mehr zu, die Corticalsubstanz der Röhrenknochen wird immer
dünner und dünner, die Knochen dadurcli schwächer, biegsamer, es kann
schliesslich zu einer vollkommenen Aufsaugung- des Knochens konniien,
so dass nur das Periost übrig- bleibt, welches einen geringen Antlieil
an dem Process nimmt, da nur spärliche Osteophyten von ihm ausgehen.
Fio-. 102.
Frau mit hochgradiger Osteomalaeia nach Morand. Die Knochen bestehen meist nur
aus häutigen Cvlindern oder ganz dünnen Knochenröhren,
j^FjO Von der Rhachitis und r)stenmalaeie.
Die spong-iösen Knochen werden ebenfalls immer schwächer, die Knochen-
balken immer dünner; auch sie werden so Aveich, dass sie bei der
Maceration verschrumpfen. - Das Mark sielit röthlich, gallertig- aus,
besteht aber nicht wie bei der fungösen Caries allein aus Granulations-
raasse, sondern enthält seht viel Markfett-Gewebe. Die sichtbaren Erschei-
nungen bei diesem Vorgang- sind bereits bei der Ostitis malacissans beschrie-
ben (pag. 505). Bei der Osteomalacie ist in dem Mark der Röhrenknochen
Milchsäure nachgewiesen, so dass es im höchsten Grade wahrscheinlicli
ist, dass der Knochen durch sie aufgelöst wird. Der ins Blut überge-
führte Kalk wird durch den Urin oft in grossen Mengen als oxalsaurer
Kalk ausgeschieden. — Sie ersehen aus dem Gesagten, dass es sich hier
um eine Ostitis malacissans handelt, welche in ihren anatoinischen Ver-
hältnissen nichts Absonderliches darbietet, sondern welche nur dem Um-
stände ihre gesonderte Stellung verdankt, dass sie an vielen Knochen
des Skelettes zugleich unter oft ganz besonderen Verhältnissen auftritt,
und nie zu Eiterung- oder N^erkäsung- führt.
Was die Aetiologie der Osteomalacie betrifft, so weiss man darüber
sehr wenig; die Krankheit kommt in bestimmten Geg-enden Europas
und besonders häufig bei Frauen vor, bei welchen sie sich zumal im Puer-
perium entwickelt; zuw^eilen gelien ziehende Schmerzen, Schmerzhaftigkeit
bei allen Bewegungen und Berührungen voraus und beg-leiten die Krank-
heit im weiteren Verlauf. Die Verkrümmungen treten primär, selbst
ganz isolirt am Becken auf; dasselbe bekommt dadurch eine eigenthüm-
liche, seitlich zusammengedrückte Form, worüber Sie mehr in der Ge-
burtshtilfe hören werden. Verkrümmungen der Wirbelsäule, der unteren
Extremitäten, mit Muskelcontracturen verbunden, kommen hinzu. Die
Krankheit kann Pausen machen und bei einem neuen Puerperium exacer-
biren und so fort. — Gering-e Grade und localisirte Formen von Osteo-
malacie, z. B. Osteonmlacic des Beckens, heilen nicht selten spontan
aus; ist die Krankheit in hohem Grade entwickelt, so tritt allgemeiner
Marasmus hinzu und die Kranken gehen daran zu Grunde. Die Behand-
lung ist ähnlich wie bei Khachitis, die Aussichten auf Erfolg- sind jedoch
weit g-eringer.
Erwähnen will ich noch der Hypertrophie und Atrophie der
Knochen, die freilich mehr anatomisches als klinisches Interesse haben.
Man kann anatomisch jeden Knochen, der im Längs- oder Dickeu-
durchmesser vergrössert ist, als hypertrophisch bezeichnen. Es giebt
sehr selten Fälle, wo einzelne Eöhrenknochen, z. B. ein Femur oder eine
Tibia übermässig in die Länge wachsen und so Ungleichheit der Extre-
mitäten entsteht; für dies excedirende Wachsthum lasse ich mir den
Namen „Knochenhypertrophie" allenfalls noch gefallen, besser ist „Riesen-
wuchs"; doch jede Verdickung, jede Sklerose so zu bezeichnen, mag
anatoraisch bequem sein , hat aber practisch keinen Werth, weil diesen
V(.r!csmi-' .'W;. ('.•ipilrl xvii. 553
Znstä.iulen (1cm- Kikm-Iicu sclir vcrscliicdcnarti^'C KrJiiiklicilsproccHsc zu
Crunde lici^-cii köuiicii, die thcils iiocli in Vroi^Tcssion, Ihcil.s Ji.h^-'oliuiroii
sind. — Fiiat iiocli imbostiiiiiiitcr ist der lU'ii'rilT A Irojdiic de« Knochens;
mau bezeielmet zuweilen anatoniiseli d;uiiil; einen earinsen, einen (»sleo-
nialaeisclion, einen halb zerstörten Knochen etc., dies hat keinen [)rac-
lischen Werth. — Dass es einen Knoelienscliwiind ohne eig'entlich ent-
ziiudliche Pj-ocesse i;'iebt, soll dainit niciit angetastet werden. Der senile
Knoclienscliwund, z. B. der Troe. alveolares der Kiefer, ist ein echitantes
Beispiel dafür; liier mag- die Bezeichnung „Knoclienatro])liie" beibehalten
w^erden. Auch mag diese Bezeichnung- da gelten, wo et^va in Folge von
Nichtgebrauch der Glieder (z. B. bei Paralytisclien) die Knochen dünner
und markhaltiger (porotischer) werden, ohne dass diese Resorption mit
reichlicher Vascularisation und Osteophytenbildung verbunden wären;
auch bleiben sie im Längs wachsthura erheblich zurück, wenn die Pa-
ralyse aus frühester Jugend stammt. Für die übrigen Fälle wird man
besser thun, den Process zu bezeichnen, welcher die Atrophie erzeugt.
Vorlesung 36,
CAPITEL XVII.
You der chroiiischeii Eiitzüiidimg der (Teleiike.
Allgemeines über die Verschiedenheit der Hanptformen. — A. Die granu lös -fungös e n
und eitrigen Gelenkentzündungen, Tumor albus. Erscheinungen. Anatomisches. Ostitis
granulosa sicca. Ostitis mit periarticidären und periostalen Abscessen. Atoiiische Formen. —
Aetiologie. — Verlauf und Prognose.
Bei den chronischen Entzündungen der Gelenke ist w^thl in der
Hälfte der Fälle die Syuovialmembran derjenige Theil, welcher zuerst
erkrankt, in der anderen Hälfte geht die Erkrankung vom Knochen und
von den Gelenkbändern aus. Die Erkrankung der Synovialmembran
kann mit mehr oder weniger Secretion von Flüssigkeit verbunden sein,
und diese Flüssigkeit selbst kann wiedenun rein seröser oder mehr
eitriger Natur sein. Der Hydrops articulorum chronicus ist eine Krank-
heitsform, w^elche sich hauptsächlich in seröser Exsudation ohne erheb-
liche Destruction der Synovialmembran kundgiebt und ohne besondere
äussere Veranlassung niemals in citrige Öynovitis übergeht, ebenso wenig
als die chronische rheumatische Gelenkentzündung, bei welcher fasrige
Verdickungen der Bänder, Destructionen und Anbilduugen von Knorpel
und Knochen vorkommen. Andere Formen von chronischer Gelenkent-
zündung aber können von Anfang- an mit Eiterung verbunden sein, oder
sind, wenn dies nicht der Fall ist, doch durch die Bildung reichlicher
Granulationsmassen charakterisirt und zum Uebergang in Eiterung dispo-
554 Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
uirt; die Synovialinembrau kann dabei allmählig* ganz in eine schwammig
wiichemde (fungöse) Granulationsmasse umgewandelt werden, die wenn
auch nicht immer, Eiter erzeugt, Eiterdurchbrüche (Fisteln, kalte Abscesse)
nach aussen vermittelt und den Knorpel und Knochen verzehrt, also
gelegentlich zu peripherer Caries der Epiphysen führt. Diese letztere
Gruppe, die wieder in etwas verschiedenen Formen auftreten kann, wollen
wir die granulös-fungösen und eitrigen Gelenkentzündungen
nennen; sie sind die bei weitem häutigsten von allen Arten der Gelenk-
erkrankungen überhaupt und werden uns daher längere Zeit beschäftigen.
Zum genaueren detaillirteren Studium der Gelenkkrankheiten überhaupt
empfehle ich Ihnen besonders die vortrefflichen Werke von Bonnet,
Volkmaun und Hueter.
A. Die granulös-fungösen und eitrigen Gelenkentzündungen.
Tumor albus.
Tumor albus, white swelling, ist ein alter Name, der früher fast
für alle Gelenkanschwellungen gebraucht wurde, die ohne Rötliung der
Haut verliefen; jetzt hat man sich dahin geeinigt, diesen Namen, wenn
man ilin braucht, nur für die hier zu schildernden Formen von Gelenk-
entzündungen anzuwenden, die man ausserdem auch wohl (zumal in Eng-
land) als scrophulöse (strumöse) Gelenkentzündungen bezeichnet.
Die Krankheit ist sehr häufig bei Kindern, besonders am Knie- und
Hüftgelenk; sie beginnt meist sehr schleichend, seltner subacut. Ist z. B.
das Kniegelenk erkrankt, so bemerken gewöhnlich die Eltern zuerst ein
leichtes Nachziehen oder Hinken mit dem kranken Bein; das Kind klagt
von selbst oder auf Befragen wegen des Hinkens über Schmerz nach
längerem Gehen und bei Druck aufs Gelenk; am Knie ist für den Laien
anfangs durchaus nichts Abnormes zu sehen. Der Arzt wird beim Ver-
gleich beider Kniee schon ziemlich früh finden, dass die beiden Furchen,
welche sich im extendirten Zustand normaler Weise neben der Patella
befinden und dem kräftigen gesunden Kniegelenk die so schön modellirte
Form geben, am erkrankenden Knie verstrichen oder wenigstens weit
seichter sind, als am gesunden: sonst nimmt man nichts w^eiter wahr.
Die Behinderung beim Gehen kann so unbedeutend sein, dass die Kinder
Wochen und Monate lang massig hinkend umhergehen und so wenig
klagen, dass die Eltern sich erst spät veranlasst sehen, den Arzt zu be-
fragen; dies pflegt häufig erst dann zu geschehen, wenn das Glied nach
einer längeren Anstrengung stärker zu schmerzen und zu schwellen an-
fängt. Die Gescliwulst, welche anfangs kaum wahrnelunl)ar war, ist nun
schon leichter erkennbar, das Kniegelenk ist jetzt gleichmässig rund und
recht empfindlich bei Druck. Nehmen wir an, die Therapie greife jetzt
niclit ein, sondern die Krankheit verlaufe ungehindert weiter, so gestaltet
sich dieselbe ungefähr folgendermaassen: der Kranke schleppt sich viel-
leicht noch einige Monate fort; dann aber kommt eine Zeit, wo es nicht
Vorlosims ?,{]. C:i|iilcl XVri. 555
luolir g'clit; er muss fast Inniicv licitoii, weil das CilelcTils zu sclmiorzliaff
ist, g-ewöhnlich stellt es sich iiadi und uaeli aueh iniiuer iiielir im Winkel,
besonders nach jeder subacuten Exacerljation. Nun werden einzelne
Partien des Gelenkes besonders sclnuerzliaft an der Innen- oder Aussen-
seite oder in der Kniekehle; an einer dieser Stellen bildet sich deutliche
Fluctuation, die Haut röthet sich hier, vereitert endlich von Innen nach
Aussen und Avird nach einigen Monaten durchbrochen; es entleert sich
ein dünner, mit fibrinös käsig-en Flocken untermischter Eiter. Jetzt
lassen die Schmerzen nach, der Zustand wird wieder besser; doch diese
Besserung dauert nicht lange, bald bildet sich ein neuer Abscess, und
so geht es fort. — Unterdessen sind vielleicht 2 — 3 Jahre verflossen, der
allgemeine Zustand hat stark gelitten, das Kind, welches früher gesund
und kräftig war, sieht jetzt blass aus, ist mager geworden, die Eiter-
durchbrtiche sind nicht selten mit Fieber verbunden oder davon gefolgt;
bei der Entwicklung jedes neuen Abscesses exacerbirt das Fieber; da-
durch wird der Kranke erschöpft, er verliert den Appetit, die Verdauung
wird träge, Diarrhöen kommen hinzu und die Abmagerung steigert sich
von Woche zu Woche. — Die Kranklieit kann sich auch jetzt nocli,
wenngleich selten, spontan zurückbilden ; häufiger schreitet sie weiter und
führt zum Tode durch Erschöpfung in Folge der starken Eiterung und
des continuirlichen hektischen Fiebers. Erfolgt die Heilung, so kündigt
sie sich dadurch an, dass die Eitersecretion abnimmt, die Fistelöffnungen
eingezogen werden, das Allgemeinbefinden sich bessert, der Appetit
wieder eintritt u. s. w.; schliesslich heilen die Fisteln, das Gelenk stellt
freilich im Winkel oder sonst irgendwie verkrümmt oder verdreht, wird
schmerzlos, und der Kranke kommt mit dem Leben und mit einem
steifen Bein davon; dieser Ausgang der chronischen Gelenkeiterung in
Anchylose (von ayxvlog ^ krumm) ist das Günstigste, was sich bei
schwerem Verlauf ereignen kann; die Anchylose selbst kann eine voll-
ständige oder eine unvollständige sein, d. h. das Gelenk kann völlig
unbeweglich oder in geringerem Grade beweglich sein. Der ganze Pro-
cess mag 2 bis 4 Jahre gedauert haben. — Zu den örtlichen Erschei-
nungen muss ich noch nachträglich hinzufügen, dass nach und nach
gewisse Muskeln bei jedem Gelenk permanent in Zusammenziehung blei-
ben; gewöhnlich sind es die Flexoren, beim Hüftgelenk auch wohl die
Adductoren und Rotatoren, durch welche der Kranke das Gelenk dauernd
so stellt, dass er keinen oder möglichst wenig Schmerz empfindet; diese
pathologischen Stellungen, welche sich je nacli der Individualität des
Falles mehr oder weniger hochgradig ausbilden, können , wenn sie nur
durch die Muskelcoutractur bedingt sind, und nicht zu lange liestanden
haben, in der Chloroformnarkose sofort verbessert werden; doch nach
Monaten und Jahren treten dann zuerst in den Fascien, später auch in
den Muskeln Schrumpfungen ein, welche dann auch in der Narkose nur
mit einiger Gewalt zu zerreissen sind. Bei langem Nichtgebrauch der
556 Vo" ^"^i" chronischen Entzündung der Gelenke.
Extremität werden endlich die Muskeln durch fettige Degeneration und
narbige Schrumpfung in hohem Maasse atrophisch. Auch die Gelenk-
kapsel, welche stark infiltrirt und geschwollen war, sowie die accesso-
rischen Bänder schrumpfen besonders an der Seite des Gelenkes, nach
welcher hin dasselbe gebogen war, zusammen; am Kniegelenk wird diese
Schrumpfung also in der Kniekehle am stärksten sein.
Verhältnissmässig selten sind Fälle, in welchen die Krankheit mit
einem serös-eitrigen Erguss ins Gelenk beginnt (katarrhalische, blennor-
rhoisehe Synovitis); ich habe dies vorwiegend bei tuberkulösen Individuen
gesehen. Die Erscheinungen sind dann anfangs wie beim chronischen
Gelenkliydrops, doch ist das Gelenk schmerzhaft und mehr in der Func-
tion gestört. Ziemlich häufig giebt Ostitis und Periostitis in der Nähe
des Gelenkes die Veranlassung zur Synovitis. Die eine oder andere
Seite der Condylen des Femur oder der Tibia oder des unteren Endes
des Humerus, oder die hintere Fläche des Olecranon werden schmerz-
haft; der Schmerz bleibt lange auf einen bestimmten Funkt concentrirt;
da entsteht teigiges Oedem, endlich ein Abscess. Dabei bleibt das Ge-
lenk zuweilen viele Monate lang ganz intact in seiner Function, bis die
Eiterung, zuweilen unter acut entzündlichen Erscheinungen ins Gelenk
durchbricht, und nun der gleiche Verlauf, wie eben geschildert eintritt.
In manchen Fällen bleiben diese Abscesse inmier periarticulär, und heilen
bevor es zur Perforation ins Gelenk kommt; das führt dann wohl zu
periarticulären Narbencontractionen bei völlig gesunden Gelenken.
Endlich können auch die Knochen primär in Form der Ostitis ma-
lacissans erkranken; zumal kommt dies bei schwächlichen Individuen
an den Hand- und Fusswurzelknochen vor und am Schenkelkopf; dabei
bleiben die Gelenke auch oft lange intact, wenn sich auch periostale
Abscesse mit starkem Oedem und reichlich eiternden Fisteln ausbilden.
Bei primärer Erkrankung der Aussenseite der Epiphysen pflegen sich
weniger leicht Muskelcontracturen zu entwickeln als bei primärer Er-
krankung der Synovialmembran und bei primärer subchondraler Ostitis.
Diese kurzen Schilderungen mögen Ihnen als Typen vorläufig einen
Begriif von der vorliegenden Krankheit und ihrer Bedeutung geben; um
die verschiedenen Formen, in denen dieselbe auftreten kann, zu ver-
stehen, halte ich es jedoch nothwendig, Ihnen erst eine klare Vorstellung
von dem anatomischen Vorgang bei diesen Geleukkrankheiten zu geben.
Diesen Vorgang hat man Gelegenheit, theils an ausgeschnitteneu Gelenken,
theiis an amputirten Gliedern, theils auch an der Leiche in verschiedenen
Stadien zu beobachten; ich habe mich speciell mit diesem Gegenstande
so genau beschäftigt, dass ich im Stande bin, nach Originaluntersuchungen
Ihnen die anatomischen Veränderungen genau zu schildern. Dieselben
haben in allen Fällen viel Gemeinschaftliches, und nach dem, was Sie
bereits über die chronische Entzündung anderer Theile wissen, werden
Sie schon im Voraus sich denken können, dass es sich schliesslich wieder
VorlesiniK ?>C,. Capitol XVTl.
557
lim eine Variation des alten Themas von der sertiseii und [tlastiselicn
Infiltraticm mit verscliicdenen Graden der Vaseularisation, um Wuelieiuiiu'
und Zerfall u. s. w. handeln wird.
Studiren wir diese Gelenke in verschiedenen Stadien der PL-kran-
kung vorläufig- mit dem freien Auge. Setzen wir zuerst den liäiingon
Fall, dass der Process mit clironisclier Synovitis anfängt; zuerst liii(l(;t
man eine Seliwellung und Eötliung der Synovialmeml)ran; letztere ist
an den seitlichen Theilen des Gelenks, an den Falten und in den adnexen
Säcken bereits verändert; ihre Zotten sind wulstig dick, noch wenig
verlängert, doch sehr weich und saftig; die ganze Mendiran untersclieldet
sich und löst sich leichter als im normalen Zustande von dem festen
G'ewebe der Kapsel, welcher sie innen aufliegt. Die Synovia i^t bei
diesem Zustande selten vermelirt, doch trübe, auch wolil schleimigem
Eiter ähnlich. — Allmählig nehmen die genannten Veränderungen der
Synovialmembran zu; dieselbe wird dicker, ödematöser, weicher, röther;
die Zotten sind zai dicken Wülsten herangewachsen, und sclion liaben
dieselben hier und da das Aussehen schwammiger Granulationen. Der
Knorpel verliert auf der Oberfläche seinen bläulichen Glanz, ist jedoch
noch nicht sichtbar erkrankt; die Synovialauswüchse aber fangen an, den
Knorpel von den Seiten her 7a\ überwachsen und sicli zwischen die l>ei-
den gegenüberliegenden Knor-
pelflächen hineinzuschieben. Pio io3.
Mittlerweile ist auch die Ge-
lenkkapsel verdickt und hat
ein gleichmässig speckiges
Aussehen bekommen, ist auch
stark ödematös; diese Schwel-
lung und das Oedem erstreckt
sich nach und nacli auch auf
das Unterhautzellgewebe und
auf die Haut. — In der Folge
nehmen nun die Veränderungen
des Knorpels am meisten unsere
Aufmerksamkeit in Anspruch:
die Synovialwucherungen krie-
chen als röthliche Granulations-
masse allmählig ganz über die
Knorpeloberfläche fort und ver-
decken diese vollständig, in-
dem sie sich wie ein Schleier
darüber legen (Fig. 103); su-
chen wnr diesen Schleier abzu-
ziehen, so finden wir ihn stellen-
weise sehr festhafteud und zwar
Scliematischer Dnrcliselniitt eines Kniegelenks (die
Zwischenknorpel sind fortgelassen, die Gelenkknor-
pel schraffirt) mit granulöser Gelenkentzündung.
a, a Fibröse Kapsel; h Ligg. cruciata; c Feraur:
d Tibia; e, e fungöse wuchernde Synovialmembran
in den Knorpel hineinwachsend, bei / bis in den
Knochen; bei g isolirte Granulationswucherung im
Knochen an der Grenze zwischen Knochen und
Knorpel.
5^g ■ Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
diircli Fortsätze, welche diese Wucherungen in den Knorpel hineingetrieben
haben, und die am besten mit den Wurzeln, welche eine Epheuranke
treibt und in den Boden einsenkt, zu vergleichen sind (ähnlich auch bei
der Bildung des Pannus auf der Cornea: Synovitis hyperplastica laevis
s. pannosa Hueter); doch diese Wurzeln verlängern sich nicht allein,
sondern sie verbreitern sich auch und verzehren allmählig den Knorpel;
dieser erscheint, wenn der überdeckende Schleier der fungösen Wuche-
rung abgehoben ist, zuerst hier und da rauh, dann durchlöchert, später
aber schwindet er ganz, und dann dringt die granulöse Wucherung in
den Knochen ein und fängt an, diesen zu verzehren ; es bildet sich gra-
nulöse Caries aus, wie wir sie schon von früher her kennen; der Knochen
wird in der Folge von der chronisch -entzündlichen Neubildung in be-
kannter Weise resorbirt, und so haben Sie nun den Uebergang und
Zusammenhang der granulösen Gelenkentzündung mit der Caries. Der
Krankheitsprocess schreitet bald hier bald dort mehr vor; ein Condylus
eines Gelenks kann fast verzehrt sein, während ein anderer seine Knorpel-
fläche noch zum Theil behalten hat. — Was die übrigen Theile der ver-
änderten Synovialmembran betrifft, so können dieselben auch nach aussen
zu nach der Kapsel hin in starke Wucherung gerathen; Kapsel, Unter-
hautzellgewebe, Haut gehen bald da bald dort in fungöse Granulations-
masse mit oder ohne Eiterbildung über, und so kommt es zu Aufbrüchen
nach aussen, zu Fisteln, welche entweder direct mit dem Gelenk oder
mit einer Synovialtasche communiciren.
Hier wollen wir einen Augenblick Halt machen, um nachzuholen, was wir mit dem
Mikroskop an den erkrankten Theilen sehen; ich kann Ihnen darüber am wenigsten
Neues mittheilen. Die normale Synovialmembran besteht aus lockerem Bindegewebe mit
massig reichlichem Capillarnetz , welches in den Zotten zu complicirteren Schlingencom-
plexen auswächst; auf der Oberfläche der Membran findet sich eine einfache Lage Endothel
von platten polygonalen Zellen, wie auf den meisten serösen Häuten. Das Gewebe der
Membran wird allmählig von Zellen durchsetzt, wird zugleich weicher, verliert seine strafte
Faserung, und die Gefässe erweitern und vermehren sich erheblich. Das Endothel geht
als abgegränzte Lage platter Zellen zu Grunde ; an seine Stelle treten kleine, runde, neu-
gebildete Zellen, welche bald mit dem sich immer weiter umformenden Gewebe der Syno-
vialmembran verschmelzen und dann nicht mehr als besondere Lage zu unterscheiden sind.
Die Synovialmembran verliert durch die immer fortschreitende plastische Lifiltration nach
und nach ganz ihre frühere Structur; das Bindegewebe, von unzähligen neuen Zellen
durchsetzt, wird allmählig homogen, und bei der immer fortschreitenden Yascularisation
gleicht das Gewebe jetzt auch histologisch vollkommen demjenigen der Granulationen.
In diesen schwammigen Granulationen bilden sich hie und da kleine weisse Knötchen,
welche sich theils wie Schleimgewebe (pag. 110) verhalten, theils vorwiegend Eiterzellen
und auch Riesenzellen enthalten. Diese Knötchen „Tuberkel" zu nennen (Köster), da-
gegen liesse sich anatomisch nichts einwenden, doch wird man vorläufig Bedenken ti-agen,
sie schon als den Ausdruck derjenigen Infectionskrankheit zu betrachten, welche man jetzt
als „Tuberkulose" begränzt hat. — Ganz ähnliche Processe gehen an der Oberfläche des
Knorpels vor, zumal an denjenigen Stellen, an welchen derselbe von der granulös-fungösen
Wucherung überdeckt wird. Die Knorpelzellen fangen an sich schnell zu theilen, wäh-
rend die hyaline Intercellularsubstanz einschmilzt und aufgelöst wird (Fig. 104); schneiden
Vorlesung 3G. Capitel XVfl.
559
Vi'j. 101.
Sie von der Oberfläche eines sol-
chen veränderten durchlöcherten
Knorpels der Fläche nach ein
Stiickclien ab, so linden 8i(! in
der Umgebnng der Defecte stets
eine Menge \o\\ Knorpelzellen,
welche in Wnchernng begriii\'n
sind, was natürlicli mit gleichzei-
tigem Schwund der Knorpelsnb-
stanz verbunden ist. ' An den
Stellen , wo sieh der Knorpel in
dieser M''eise zu einem bis jetzt
noch nicht vascularisirten ^Zellen-
gewebe umwandelt, verschmilzt er
mit der darüber liegenden Syno-
vial Wucherung ; letztere senkt Ge-
fässschlingeii ein, und je besser
dadurch die Neubildung ernährt
wird, um so schneller verzehi-t sie
die ganze Knorpelsubstanz, und zwar in ähnlichen Formen, wie bei der lacunären Cor-
rosion der Knochen. Sie sehen aus dieser Schilderung, dass der Vorgang der Knorpel-
auflösung ähnlich erfolgt, wie am Knochen, doch mit dem Unterschiede, dass die Knorpel-
zellen selbst durch Wucherung lebhaft mitwirken zur Auflösung der Intercellularsubstanz,
während die Knochenzelle unthätig bleibt, und die Resorption allein durch die Wucherung
der Zellen in den Haversischen Canälen erfolgt. Indess muss ich hier schon bemerken,
dass auch zuweilen am Knorpel Bilder vorkommen, aus denen man ersieht, dass auch
die Knörpelzellen gelegentlich sehr wenig activ eingreifen, d. h. wenig an der Zellen-
wucherung Theil nehmen, so dass dabei wohl eine mehr passive Aufsaugung der Knorpel-
substanz durch die Synovialwucherung vorkommt. Ob durch Vermehrung der Knorpel-
Fig. 105.
Degeneration des Knorpelgewebes bei pannöser Syno-
vitis. n Granulationsgewebe auf der Oberfläche. Ver-
grösserung 350; nach 0. Weber.
mm.^
§
@
§ (S*
Atonische Knorpelulcerationen aus dem Kniegelenk eines Kindes; die nur in geringem
Maasse wuchernden Knorpelzellen verfetten und zerfallen sehr schnell mit der Intercellular-
substanz. Vergrösserung 250.
Zellen auch bewegliche Eiterzellen entstehen, ist zweifelhaft. Bei peracuter Ostitis und
Synovitis (Panarthritis) kann der Knorpel auch noch nekrotisch werden, zu Blättern und
Fetzen zerfallen, ohne dass seine zelligen Elemente vorher in Wucherung geriethen, wie
dies ebenso auch bei peracuter Panophthalmie an der Hornhaut vorkommt. — Was die
histologischen Veränderungen in der Gelenkkapsel und in den Hülfsbändern betrifft, so
bestehen dieselben in seröser und plastischer Infiltration, die aber nur an wenigen Stellen
einen hohen Grad erreicht, sondern meist nur zu Bindegewebsneubildung führt, die sich
für das freie Auge als speckige Verdickung kund giebt.
560 Von der chronischen Entziindung der Gelenke.
Beginnt die Erkrankung- allein vom Knochen aus oder wird dieser
früh in Mitleidenschaft gezogen, so kann es sich ereignen, dass zugleich
mit der fungösen Wucherung der Synovialis unter dem Knorpel an der
Grenze zwischen ihm und dem Knochen eine Wucherung selbstständig
sich entwickelt (Fig. 103 g) und diese sich später mit der von oben her
kommenden verbindet, so dass der Knorpel theilweis beweglich zwischen
der oberen und unteren Granulationslage liegt. Dies ist ziemlich häufig,
zumal am Hüft-, Ellenbogen- und Fussgelenk: durch diese primäre
Ostitis der Gelenkeuden oder subchoudrale Caries wird der
Knorpel so gelöst, dass er wie eine Membran sich scheinbar ziemlich
intact von dem darunter liegenden, sehr gefässreichen, weichen Knochen
abziehen lässt. — Dass durch acute Periostitis und Osteomyelitis eine
Gelenkentzündung angeregt werden kann, ist schon erwähnt wor-
den; die Entzündung setzt sich dabei vom Periost auf die Gelenk-
kapsel und von hier auf die Synovialmembrau fort; die anatomischen
Veränderungen sind dieselben, wie oben geschildert. Die Infiltrate, welche
wir oft z. B. am Fussrüeken um die Sehnenscheiden und neben den jlalleo-
len finden, sind zuweilen ganz selbstständige Erkrankungen des periostalen
und peritendinösen Zellgevs^ebes, oft aber ist ihre Entstehung durch Ostitis
der Fusswurzelknoclien vermittelt. — Auch wenn eine acute traumatische
Gelenkentzündung oder eine spontan auftretende acute eiti-ige Synovitis
in das chronische Stadium tritt, gehen dieselben anatomischen Yerände-
Fip. 106.
I
Snbcliondrale granulöse Ostitis am Talus. Durchbruch der Granulationswuclierung ins
Gelenk. Vergrösserung 20. — a Knorpel, h Granulationsmassen, c Normaler Knochen
mit Mark.
rungen vor sich, wie sie eben bei der fungösen Gelenkentzündung be-
schrieben sind. — Traumatische Periostitis in der Nähe der Gelenke kann
ebenfalls Gelenkentzündung nach sich ziehen, wenn die Eiterheerde ins
Gelenk durchbrechen; ebenso chronische Granulationswucheruugen in der
Kapsel, z. B. Residuen schlecht gepflegter Distorsionen der Gelenke.
Von grossem Einfluss , zumal für die äussere Erscheinungs-
form der kranken Gelenke, ist der Umstand, wie weit sich die Theile
Vorlesung .■)(;. Capilel XVIL 501
in der unmittelbaren Nälio des Gelenkes an der Entzündung' betlieilig-en;
nimmt die Kapsel selir lebhaften Antlieil an der Erkrinikung-, so wird
das Gelenk g-leich massig- dick und rund anseWellen. Zu dieser An-
scliwellung- des Gelenkes tragen weiterhin die Osteoi)liy tcubildung-en
nicht umvesentlieli bei, welche sieh auf den Gelcid^cnden ansetzen;
diese werden um so bedeutender sein, je mehr die Gcleidd^apscl und
das Periost der Gelenkcnden mitleidet, und je wuchernder, je productiver
der Process überhaupt ist; während vom Gelenk aus die Coudylen und
die Gelenkpfannen zerstört werden, bildet sieh aussen neuer Knochen
an, wie Sie dies schon bei der clironisehen Ostitis früher kennen g-eleint
haben. Es giebt aber auch eine nicht unbedeutende Anzahl von Fällen
von Caries der Gelenkenden, bei welchen sich gar keine Osteophyten
bilden. — Für die Caries der Gelenke braucht man zuweilen noch einen
alten Namen, den ich Ihnen schon (pag. 510) genannt habe, nändich Ar-
throcace; man verbindet dies Wort mit den Namen der verschiedenen
Gelenke und spricht demgemäss von: Gonarthrocace, Coxarthrocace,
Omarthrocace etc. Rust hat ein Buch über die Gelenkkrankheiten ge-
schrieben und dies mit dem fürchterlichen Namen: Arthrocacologie be-
zeichnet, den Sie sich jedoch nicht weiter zu merken brauchen; ich führe
ihn nur der Merkwürdigkeit halber an, er stammt aus einer Zeit, wo
auch die Augenheilkunde fast nur in dem Auswendiglernen der entsetz-
lichsten griechischen Namen bestand, eine Zeit, die glücklicherweise
hinter uns liegt. — Von grosser Wichtigkeit ist es, wie weit die Muskeln
bei Tumor albus mitleiden; in der Nähe der entzündeten Gelenke, oft
sehr weit hin, schwindet die contractile Substanz in den Primitivfasern
allmählig, meist nach vorangegangener fettiger Entartung, und so magert
das kranke Glied immer mehr und mehr ab, bei einigen Kranken mehr
als bei anderen; je magerer es wird, um so mehr fällt die Dicke des
Gelenkes auf, die oft gar nicht so erheblich ist, wenn sie das kranke
Gelenk mit dem gesunden durch Messung der Circumferenz vergleichen. —
Sie werden hier und da von Auftreibungen und Anschwellung der Ge-
lenkenden der Knochen bei Tumor albus hören und lesen; dies ist ein
falscher Ausdruck: die Knochen blähen sich bei der Gelenkcaries niemals;,
wenn sie verdickt erscheinen, so ist die Verdickung von den Weichtheilen
oder von den Osteophjteuauflagerungen abhängig. —
Eine weitere Verschiedenheit in dem Verlauf des Gelenkleidens liegt
in der geringeren oder grösseren Disposition zur Eiterung;
Abscesse und Fisteln gehören keineswegs noth wendig zur fungösen
Gelenkentzündung, sie sind vielmehr immer Accidentieu. Sie wissen von
der Ostitis granulosa schon, dass sie nicht selten ohne Eiterung ver-
läuft. Die granulös fungöse Gelenkentzündung verbindet sich oft genug
mit einer solchen Ostitis sicca; Jahre lang kann der Process dauern,
zumal bei sonst gesunden Erw^achsenen, ohne dass sich Abscesse bilden;
ausgedehnte Zerstörungen des Knorpels und der Knochen mit den con-
Billrntli cliir. Putli. u. Ther. 7. Autl. o(j
56^ Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
secutiven, früher bei der Caries schon erwähnten Verschiebungen können
sich ausbilden , ohne dass ein Tropfen Eiter sich ansammelt. Unter-
suchen Sie in einem solchen Fall die Granulationsmassen im Gelenk
und im Knochen, so werden Sie dieselben fester als sonst, zuweilen fast
von knorpeliger Consistenz finden, wie Granulationen, die sich zur Ver-
schrumpfung-, zur Benarbung anschicken; und in der That, es erfolgt in
ihnen theilweise eine Verschrumpfung, doch dabei geht die Wucherung
oft weiter, und somit die Zerstörung des Knochens; der Process als sol-
cher ist dann der Cirrhosis verwandt. — Die Eiterung ist also durchaus
kein absolut sicherer Maassstab für die Ausdehnung des Processes im
Knochen, im Gegentheil, je üppiger die Wucherung der Granulations-
massen, um so ausgedehnter kann die Zerstörung der Gelenkenden sein.
Die Verschiebung der Knochen, die Ditformität der Gelenke ist der
wichtigste Maassstab für die Ausdehnung des Processes im Knochen und
in den Bändern; fängt bei einem kranken Knie der Unterschenkel an,
sich nach aussen zu rotiren, schiebt sich die Tibia nack hinten, dann ist
meist eine Portion des Knochens und ein grosser Tlieil der Gelenkbänder
zerstört. — In sehr vielen, ja man kann wohl sagen, in den meisten
Fällen verbindet sich allerdings die fungöse Gelenkentzündung früher
oder später mit Eiterung; die Granulationen produciren entweder den
Eiter in sich, oder er wird auf der Oberfläche eines noch nicht stark
erkrankten Synovialsacks secernirt; zuweilen tritt in einzelnen dieser
Säcke eine subacute Synovitis ein, während ein anderer Theil der Syno-
vialmembran noch intact, ein anderer schon völlig degenerirt ist; das
Knie- und Ellenbogengelenk ist besonders disponirt zu solchen abge-
schlossenen Separaterkrankungen einzelner Synovialsäcke, die nur durch
kleinere Oeffnungen mit der Gelenkhöhle in Zusammenhang sind. — Solche
Eiterungen sind dann meist mit acuten Exacerbationen der Schmerzen
und mit Fieberbewegungen verbunden, zumal wenn sieh der Abscess
nach aussen entleert und bis dahin wenig an der Entzündung betheiligte
Synovialsäcke schubweise acut oder subacut erkranken. Eine frühe pro-
fuse Eiterung im Gelenk ist in manchen Fällen ein Beweis für die
bis dahin geringe Degeneration der Synovialmembran, denn der meiste
Eiter wird von den serösen Membranen im Stadium des eitrigen Katarrhs
abgesondert. Der Eiter, welchen die Synovialgranulationen absondern,
ist meist von geringer Quantität und von seröser oder schleimiger Be-
schaffenheit. — Anders kann sich die Sache gestalten, wenn die Eiterung,
wie es häufig geschieht, auch in dem Zellgewebe um das Gelenk sich
etablirt, und periarticuläre Abscesse (welche freilich ganz für sich
ohne Gelenkerkrankung bestehen können) sich zu den fungösen Gelenk-
erkrankungeu hinzugesellen. — Alle diese Eiterungen werden dadurch
von Bedeutung, dass sie den Allgemeinzustand verschlimmern, theils
durch den Säfteverlust, theils durch das Fieber.
Schliesslich müssen wir uns auch noch mit dem Vitalitätszustaud
V(.i-iosiiii!>: ;;g. Cnpiici xvn. 50^
dev entziindlieli eil Ncuhildinii;- und den dnraus (oliiciideii .'iiialitini-
selien Coiisequeiizcn kurz beseh;U'tii;eii. Die Ijchcnsfäliit^-keit, die lJe])])i^-
keit des Waclistliurns und die weiteren Scliieksale der clironiseli eutziind-
liclien Neubildungen luing'en, wie Sie schon wissen, sehr von den un-
gemeinen, eonstitutionellen Verhältnissen des Individuums ul), und zwar
in solchem Maasse, dass man von den Vitalitätszuständen der öitlichen
Processe oft Kiickschliisse auf den allgemeinen Gesundheitszustand machen
kann. Eine fungöse Gelenkentzündung mit Caries sicca und Disposition
zur narbigen Schrum])fung der Neubildung wird meist bei sonst gesunden
Individuen vorkommen, und wir sind in diesen Fällen oft in Verlegen-
hölt, überliaupt eine Ursache der Chronicität des Frocesses aufzufinden,
wo als erster Ueiz vielleicht eine Erkältung, eine llebermüdung, ein
Trauma irgend einer Art angegeben w-ird. — Die üppigste Production
schwammiger Granulationen mit Absonderung eines schleimigen Eiters
finden wir ebenfalls bei leidlich gesunden oder wenigstens gut genälirten
Individuen, bei fetten scrophulösen Kindern, aucli als chronische Fort-
setzung einer acuten Gelenkentzündung bei Leuten, die bis dahin ganz
gesund waren und erst durch die lange Eiterung in einen anämischen
Zustand verfielen. — Eine grosse Neigung der Neubildung zu eitriger
Einschmelzung oder selbst zu molecularem Zerfall ist in der Regel ein
Zeichen schlechter Ernährung; dünner stinkender profuser Eiter mit
ausgedehnter ulcerativer Zerstörung der Haut, mit Fistelöffnungen, die
wie mit einem Locheisen ausgeschlagen scheinen, zeigt sich bei Gelenk-
entzündung mit und ohne Caries an alten kachektischen Individuen, an
schlecht genährten Tuberkulösen, an atrophisch -scrophulösen Kindern.
Es kann hier derselbe Fall eintreten, wie bei der torpiden Caries; die
Neubildung ist sehr kurzlebig, kaum entstanden, zerfällt sie wieder; so
entstehen neben der Caries nekrotische Processe, z. B. an den kleinen
Handwurzelknochen, seltener freilich in den Epiphysen, auch mit Ver-
käsung der Neubildung. Wir könnten diese atonische Form der
chronisch suppurativen Gelenkentzündung eigentlich von der fungösen
abzweigen, thun dies jedoch nicht, eiiierseits, um die Uebersicht nicht
zu stören, andererseits, weil auch diese Form sehr häufig als exquisit
fungöse Sjnovitis beginnt und erst später bei sinkendem Ernährungs-
zustand des Individuums in die torpide Form übergeht; diese finden wir
dann vorwiegend in den Leichen ])ei Obductionen und würden den frü-
heren Zustand ganz verkennen, wenn wir nicht Gelegenheit nähmen, ihn
sonst an resecirten und amputirten Gliedern zu studiren.
leb will hier einhalten mit der anatomischen Detaillirung, die aller-
dings noch viel w^eitergeführt werden könnte, doch wird das Gesagte
genügen, Sie in jedem einzelneu Falle zu orientiren. Es ist nicht un-
möglich die verschiedenen Modalitäten der beschriebenen Processe in
einigermaassen abgrenzbare Formen zu gruppiren und gesondert zu ana-
lysiren ; doch scheint mir das keine besondere practische Bedeutung
36*
564 ^oj^ d^r chronischen Entzündung der Gelenke.
ZU haben; "da diese einzelnen Formen weder zweifellos ätiolog-ische, noch
prognostische, nocli therapeutische Augriifspunkte bieten. Ich meine,
wenn Sie den anatomischen Vorgang- richtig erfasst haben und bei allen
Fällen, welche sie an Lebenden wie an der Leiche, an resecirten Ge-
lenkenden, an amputirten Gliedern etc. zu sehen Gelegenheit haben,
immer wieder sich meine Schilderung ins Gedächtniss zurückrufen, so
werden Sie bald zu völliger Klarheit über diese Krankheit kommen und
einer weiteren Systematisirung- ihrer Erscheinungsformen nicht bedürfen.
Ueber die Ursachen der chronischen fung'ösen Gelenkentzündungen
ist im Allgemeinen wenig mehr zu sagen, als was Sie schon wissen.
Scrophulöse Diathese disponirt ganz besonders dazu; acute, spontane
oder traumatische Gelenkentzündungen (seien letztere durch Wunde, Cou-
tusion oder Distorsion veranlasst) gehen in die chronische Form zuweilen
über; scrophulöse Kinder, etwa von dem 3. Jahre an, neigen ganz be-
sonders zu diesen Gelenkkrankheiten ; ein Fall, eine Zerrung am Gelenk,
Ermüdung geben wohl oft Gelegeuheitsursache zum Ausbruch der Krank-
heit. — Es bleibt eine Reihe von Fällen übrig, in welchen wir gar keine
örtlichen oder allgemeinen Ursachen nachzuweisen im Stande sind; so
habe ich in der Schweiz auffallend häufig sehr atouische Formen von
fungös-purulenten Gelenkentzündungen der unteren Extremitäten bei
alten Leuten getroffen, ohne irgend eine Ursache ausser etwa der Er-
müdung durch Bergsteigen dafür auffinden zu können.
Der Verlauf der in Rede stehenden Krankheit ist ein ganz ausser-
ordentlich verschiedener, immer aber ein chronischer von Monate,
meist mehre Jahre langer Dauer, oft mit Pausen, Stillstand und
Rückbildung, dann wieder mit Exacerbation verbunden. Li jedem Sta-
dium der Krankheit kann Stillstand, Heilung erfolgen, diese kann in
den Anfangsstadien eine vollkommene sein, d. h. die vollständige Be-
weglichkeit des Gelenkes kann sich wieder herstellen, oder sie ist eine
unvollkommene, d. h. es bleibt bald ein grösserer, bald geringerer Grad
von Steifheit zurück. So lange der Knorpel noch nicht überwuchert
oder von unten her durch die etwa aus dem Knochen hervorwachsende
Neubildung- zerstört wurde, ist die Herstellung einer leidlichen Beweg-
lichkeit möglich, die freilich durch narbige Schrumpfung der degenerirteu
Synovialis und der iufiltrirten Kapselbänder, sowie durch die secun-
dären Coutracturen der Muskeln beeinträchtigt werden kann. Ist der
Knorpel theilweis oder ganz zerstört, ist nach und nach oder gleichzeitig
mit dem Beginn des Leidens Caries eingetreten, so ist nur eine Heilung
mit Anchylose möglich, denn Knorpel bildet sich hier nicht wieder;
die Granulationen der gegenüberliegenden Knorpelflächeu verschmelzen
allmählig mit einander, und es entstehen oft sehr straffe Verwachsungen,
die sogar verknöchern können. Ob es so weit kommt, oder ob die Zer-
störung des Gelenkes unaufhaltsam fortschreitet, hängt sehr viel von
der Widerstandsfähigkeit des erkrankten Individuums ab; die Behand-
Vorlosnng T,«. Capitpl XVTT. 505
lung- kann viel tlnm, wenn sie frülizeitig eingeleitet wird und das Indi-
viduum nicht g-ar 7ai elend ist. Der Urad, in welchem die Muskeln in Mit-
leidenschaft gezog-en werden, ist ebenfalls ein sehr verschiedener; der
höchste Grad von Muskelatrophie bildet sich nacli meinen Iilrfahrung-cn
in denjenigen Fällen ans, in welchen keine Gelenkeiterung, sondern
Caries sicca eintritt, und in welchen das Gelenkleiden von primärer
Ostitis ausgellt. — Jetzt noch eine kurze Kritik einzelner Symptome:
jede Form dieser Krankheit kann mit mehr oder weniger Schmerzen
verlaufen; worin dies liegt, weiss ich Ihnen nicht zu sagen; es giebt
Fälle, in denen der Knochen in hohem Grade zerstört ist, ohne dass
eine Spur von Schmerzen auftritt, andere, in denen solche in hohem
Maasse bestehen : die acuteren Exacerbationen mit Entwicklung neuer
Abscesse sind immer ziemlich schmerzhaft. — Bei der Sondirung der
Fisteln kommen wir bald auf Knochen, bald nicht; ob wir den Knochen
fühlen oder nicht, hängt davon ab, ob er von Granulationen bedeckt ist
oder ganz frei liegt; ich muss Sie in dieser Beziehung auf das bei der
Caries Gesagte verweisen; ebenso verhält es sich mit dem Gefühl der
Eeibung in kranken Gelenken: die Crepitation hat als Zeichen für
Caries der Gelenkenden nur Werth, wenn sie vorhanden ist; fehlt sie, so
ist daraus für die späteren Stadien kein Beweis zu entnehmen, dass der
Knochen nicht erkrankt ist. Die Difformität, die Verschiebung der
Gelenkenden, die pathologischen oder spontanen Luxationen
sind der einzige, ziemlich sichere Anhaltspunkt für den Grad der Knochen-
zerstörung: hier kann man sich nur täuschen, wenn die Kapsel früh
geborsten, und der Gelenkkopf wirklich luxirt ist, ein sehr seltener Fall,
der jedoch an der Hüfte beobachtet ist, möglicherweise auch an der
Schulter vorkommen kann. — Wir sind in Bezug auf die Beurtheilung
des anatomischen Znstandes des Gelenkes fast nur auf das Gesagte an-
gewiesen, helfen uns aber durch die Aetiologie, zumal durch die Zeit-
dauer des ganzen Processes. Profuse Eiterung aus dem Gelenk selbst
ist immer ein Zeichen, dass ein Theil der Synovialmembran noch nicht
ganz degenerirt ist oder grosse Abscesse mit dem Gelenk com-
municiren; das Secret der fungösen Granulationen ist weniger reichlich,
meist serös oder schleimig. — Für den Grad der Knorpelzerstörung
haben wir keine sicheren Zeichen. — lieber die Diagnose des Leidens
und die Prognose noch etwas Besonderes hinzuzufügen, würde nur zu
einer Wiederholung des Gesagten führen, in welchem Sie alle Mittel
zur Beurtheilung vollständig zur Hand haben. Ich glaube noch Fol-
gendes aus meinen Beobachtungen sagen zu können; wenig Anschwel-
lung des Gelenkes, verbunden mit grosser Schmerzhaftigkeit und früher
Muskelatrophie bei anämischen Kindern, dabei keine oder sehr geringe
Eiterung deutet auf primäres Knochenleiden und ist von übelster Pro-
gnose. Guter Ernährungszustand ist der Hauptanhaltspunkt für eine
pyCQ Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
giinstig-e Prognose, welche auch durch früh eintretende, selbst ausge-
dehnte Eiterung nicht erheblich beeinträchtigt wird.
Vorlesung 37.
Behandlung des Tumor albus. — Operative Eingvifie. — Resectionen der Gelenke. —
Kritische Beurtheilung dieser Operationen an den verschiedenen Gelenken.
Wenden wir uns jetzt zur Behandlung. Dieselbe muss, wie bei
allen chronischen Entzündungen, eine allgemeine und locale sein, und
zwar muss die allgemeine Behandlung um so mehr in den Vordergrund
treten, je deutlicher das constitutionelle Leiden ist; über diese allgemeine
Behandlung selbst brauchen wir keine Yforte mehr zu verlieren; sie ist
Ihnen in den Hauptztigen bekannt, Ernährungszustand des Patienten,
Blutarmuth desselben, die allgemeinen hygienischen und diätetischen
Verhältnisse, unter denen er lebt, müssen die Hauptangriifspunkte für
die Therapie bilden. Sie haben die Pflicht nach bestem Wissen und
Gewissen den Patienten in dieser Beziehung zu rathen, werden jedoch
bald die Erfahrung machen, dass Sie grade in diesen Dingen auf die.
grösste Gleichgültigkeit stossen , und Rathschläge in dieser Richtung
äusserst selten befolgt werden. Zumal vermögen wir nichts über die
schlimmsten Einflüsse, nämlich die erheblichen Dispositionen, denn dass
nur die allerkräftigsten Menschen aus gesunden Familien zur Fortpflanzung
des Menschengeschlechts ausgewählt und allen schwächlichen Menschen
aus kränkelnden Familien das Heirathen verboten wird, das werden wir
ja doch nicht durchsetzen. —
Was die locale Behandlung und ihre Erfolge betrifft, so ist im All-
gemeinen zu bemerken, dass dieselbe um so wirksamer ist, je acuter
der Zustand verläuft; es macht in der Regel keine Schwierigkeiten,
subacute Exacerbationen oder subacute Anfänge des Processes zu be-
schwichtigen. Hier wirken die schon früher oft genannten Mittel vor-
trefflich: starke Salben mit Argent. nitricum (1 Drachme auf 1 Unze
oder 5,000 Grammes auf 40,000 Grammes Fett), Bepinseln mit Jod-
tinctur, Vesicatoires volants. Eis, hydropathische Einwicklungen, leichte
Compression mit Bindenein Wicklungen; hierzu muss eine absolute Ruhe
des Gelenkes kommen, die an den unteren Extremitäten nur durch
dauernde ruhige Lage im Bett erreicht werden kann. — Ist der Process
durchaus chronisch und bessert sich nach einiger Zeit der Ruhe und
Anwendung der genannten Mittel nicht, so kenne ich kein besseres
Mittel, als durch einen festen Verband, geAvöhnlich einen
Gypsverbaud, auf das geschwollene Glied einen continuir-
lichen, massigen Druck anzuwenden, und zu gleicher Zeit
dadurch das Gelenk in einer passenden Stellung vollkommen
Vorlesung ;i7. Capilcl XVII. 5(37
ruhig- zu stellen. Man kann den l?jiticntcn gcsüitten, mit einem
solchen Verband umherzugehen, wenn «ie keine »Sclimerzen dabeihaben;
ein Stock oder Krücken, je nach dem Grade der Schwäche, die der
Patient in dem kranken Bein emi)findet, dienen zur Unterstützung-.
Sollen dabei Bäder g-ebraucht werden, so wird der Verband der Länge
nacli aufg-eschnitten, vor dem Bade abg'cnommcn, nach dem Bade wieder
angelegt. Wenn es die pecuniären Mittel des Patienten erlauben und
wenn man einen verständigen g-eschickten Bandagisten zur Hand hat,
so lassen sich die Verbände vielfach durch leichte Schienenapparatc
ersetzen, welche nicht nur die Kuhig'stelluug- des Gelenkes bedingen,
sondern auch zugleich so construirt sein müssen, dass sie das erkrankte
Gelenk möglichst von der Körperlast befreien; die Mechanik macht auch
in dieser Eichtung sehr erfreuliche Fortschritte. Mit diesen Hilfsmitteln
kann man auch bei Erkrankung der unteren Extremitäten vielen Kran-
ken gestatten, sich täglich einige Bewegung zu verschaffen; dies hat den
Vortheil, dass der Kranke die Muskeln der Extremität wenigstens etwas
braucht, und diese daher nicht so erheblich atrophiren; man muss nicht
glauben, dass in Folge des längeren Tragens von Gypsverbänden und
Schienenapparaten nothwendig Steifheit des Gelenkes eintreten muss ;
man erlebt gar nicht selten das Gegentheil, nämlich, dass ein vor der
Anlegung des Verbandes sehr wenig bewegliches Glied nach Entfernung
desselben beweglicher ist, als zuvor; dies hat seinen Grund darin, dass
die Schwellung der Synovialmembran sich oft unter dem Verbände^
zurückbildet. Bevor der Verband angelegt wird, lässt man das Glied
stark mit grauer Quecksilbersalbe einreiben, oder ein Quecksilber-
pflaster auflegen, oder auch die Salbe mit x4rgent. nitricum einreiben.
Ich kann Ihnen die Gypsverbände bei den fungöseu Gelenkentzündungen
nicht genug empfehlen für alle Fälle mit sehr chronischem Verlauf;
diese Behandlung erscheint sehr nichtssagend und ist doch von grosser
Wirkung allen übrigen Mitteln gegenüber, die wir zur Bekämpfung
dieser Krankheit besitzen. Ich kann Sie versichern, dass mir, seitdem
ich diese Behandlung mit Consequenz durchführe, die Fälle mit Eite-
rung und Fistelbildungen weit seltener vorkommen. Selbst wenn schon
deutliche Fluctuation bestellt, müssen Sie noch den Verband anlegen;
Sie werden freilich sehr selten erleben, dass diese Abscesse resorbirt
werden, doch wenn die Eröffnung spontan unter dem Verbände erfolgt,
was der Patient an der Durchtränkung des Verbandes leicht bemerkt,
so erfolgt dies auf eine so milde, so unmerkliche Weise ohne jede Ver-
schlimmerung des Leidens und der Schmerzen, wie bei keiner anderen
Behandlung. Ist Fistelbildung eingetreten, so bleibt der Verband nach
wie vor; er wird nur aufgeschnitten und neu mit Watte gepolstert;
täglich wird er abgenommen und die Vv'unde gereinigt, dann wieder
angelegt; dabei wird die allgemeine roborirende diätetische Cur con-
sequent fortgesetzt. Ist das Glied sehr schmerzhaft, so wendet mau bei
ggg Von der chronischen Entziindung der Gelenke.
vorhandenen Fisteln gefensterte Verbände an. Ich habe auf diese Weise
noch zuweilen leidlich bewegliche Gliedmaassen in guter, brauchbarer
Stellung erhalten in Fällen, die anfangs die schlechteste Prognose zu
geben schienen, und bin in der That oft selbst von den Erfolgen dieser
Behandlung aufs Freudigste itberrascht worden. Die Streckung eiternder
oder überhaupt sehr hochgradig erkrankter Gelenke ist immer mit
grosser Vorsiclit, und falls sich auch in der Narkose noch Widerstände
finden, nie auf einmal vollständig zu machen, sondern nur so weit zu
treiben, wie es ohne starken Druck der Gelenkenden auf einander
möglich ist. Bei Knie- und Hüftleiden wende ich mit vortrefflichem
Erfolge die oft schon empfohlene langsame Extension mit Gewichten an,
und bereite dadurch zuweilen die Patienten, zumal die Kinder, für die
Anlegung des Verbandes vor. Volkmann hat sich durch die energische
Empfehlung dieser von ihm Distractionsmethode genannten Behand-
lung aufs Neue grosse Verdienste um die Behandlung der Gelenkkrank-
heiten erworben. Er legt einen besonderen Werth darauf, dass durch
die Extension der durch Muskelzug und Bänderschrumpfung hervorge-
brachte Druck der Gelenkflächen auf einander möglichst gemindert werde.
Die Art und Weise, Avie die Extension ausgeübt wird, ist von so ausser-
ordentlicher Bedeutung für die practische Verwendbarkeit dieser Methode,
so dass ich Sie besonders auffordern muss, der dabei anzuwendenden
Technik in der Klinik ihre specielle Aufmerksamkeit zuzuwenden. —
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Distractionsmethode in den meisten
Fällen beginnender und progredienter Gelenkkrankheiten noch wirksamer
ist, als die mit Gypsverbänden und Sie werden dieselbe daher in meiner
Klinik besonders häufig anwenden sehen; doch einerseits werden Sie
nicht alle Patienten in der Privatpraxis dahin bringen, dass sie sich
gleich niederlegen, andererseits erfordert die Methode doch so viel sorg-
fältige Ueberwachung von Seiten des Arztes, dass ihre Brauchbarkeit
dadurch leider etwas beeinträchtigt wird. Ein sehr ingeniöser amerika-
nischer Chirurg Taylor hat für die unteren Extremitäten Maschinen
construirt, mit welchen die Distractionen ausgeführt und das Gelenk
entlastet w'ird, und die Patienten zugleich damit umhergehen können:
diese Apparate wirken oft vortrefflich, doch sind sie nicht nur schwierig
anzufertigen, sondern ihre Anwendung erfordert aucli eine gewisse Er-
fahrung von Seiten des Arztes. Alle erwähnten mechanischen Hilfs-
mittel: Gypsverbände, Stützapparate, Distractionsverbände, Taylor'sche
Maschinen bedürfen fortdauernder ärztlicher Beaufsichtigung, damit niclit
durch Druck und Reibung Wunden entstehen, und damit nicht durch
Verschieben der Apparate gar schädliclie Wirkungen derselben eintreten.
Bei Kindern zu beurtheilen, ob die Extensionswirkung genügend ist,
oder zu stark, sie an die Unbequemlichkeit der Apparate zu gewöhnen,
die überängstlichen Eltern zu beruhigen, wenn das Kind vor Unart oder
Lang-erweile schreit, die Kinder in richtiger Weise bald durch freund-
Vorlesung 'M. Ciipifcl XVTT. 509
liclies Zureden hald diircli .strcugcii Ernst zum CJcliorsam zu erzielien,
sie daran zu Inndern, dass sie selbst die Apparate lösen etc., dazu ge-
hört unermüdliche Geduld und Ausdauer. — Consequenz von Ihrer Seite
und von Seite der Patienten ist zu den Curen der chronischen Gelenk-
entzündung-en absolut nothwcndig; stellen Sie den Patienten gleich anfangs
vor, dass es sich um einen Process handelt, der mindestens mehre
Monate, vielleicht Jahre lang- dauert, und dass die Behandlung-
erst sistirt werden darf, wenn das Glied ganz frei von Schmerzen und
zum Gehen wieder erstarkt ist, sei es mit oder ohne Beweglichkeit. —
Was die kalten Abscesse betrifft, so wiederhole ich den Rath, die-
selben nur dann zu öffnen, wenn Sie eventuell eine Operation folgen
lassen wollen; kann dies nicht sein, oder liegt dies nicht in Ihrer Ab-
sicht, so warten sie die spontane Eröffnung ab, und wenn es Jahre lang
gehen sollte. —
Wenn ich Ihnen bisher meine Maximen ))ei Beliandlung der fungöseu
Gelenkentzündung in Kürze mitgetheilt habe, so darf ich doch nicht unter-
lassen, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass andere Chirurgen anderen
therapeutischen Principien folgen. Es gie1)t immer noch Anhänger der
streng dogmatischen, antiphlogistischen Behandlung, Aerzte, welelie auch
bei den chronischen Gelenkentzündungen von Zeit zu Zeit Blutegel oder
Schröpfköpfe setzen, kalte Umschläge maclien lassen und Abführmittel
geben ; später gehen sie dann zu Kataplasmen über und enden mit Moxen
und Ferrum candens. Geht die Krankheit dabei immer vorwärts, haben
sich Fisteln hier und dort gebildet, ist der Kranke sehr anämisch ge-
worden, so ist die Indication für die Amputation fertig, zumal wenn
Crepitation im Gelenk nachweisbar ist. Dies war der frühere Standpunkt,
die Erfolge waren im Allgemeinen ungünstig oder günstig, wie man es
nennen will, letzteres nämlich insofern, als die Amputationen, welche
unter solchen Umständen meist ziemlich früh gemacht wurden, in der
Regel günstig abliefen. Ich bin sehr geneigt, die günstigen Resultate,
die seltnere Indication für Amputationen der grösseren Beachtung der
mechanischen Verhältnisse bei der Behandlung der Gelenkkrankheiten
zuzuschreiben, und glaube sicher, dass dadurch eine grosse Menge von
Gliedmaassen in relativ gut brauchbarem Zustande erlialten werden, die
früher unzweifelhaft amputirt worden wären. — Was die localen Blut-
entziehungen bei chronischen Gelenkkrankheiten betrifft, so kann ich sie
Ihnen durchaus nicht empfehlen; von leidlichem Nutzen können sie nur
bei subacuten Exacerbationen sein, doch besitzen wir grade für solche
Fälle w^eit bessere Mittel, die nicht zugleich so schädlich wirken; denn
Blutentziehungen, und gar oft wiederholte Blutentziehungen bei Leuten
vorzunehmen, die schon durch das Leiden selbst zu Anämie disponirt
sind, ist gewiss unzweckmässig. — Die Kälte ist bei subacuten Attacken
chronischer Gelenkentzündungen unter Umständen von grossem Vortheil-
ich brauche auf Esmarch's Rath das Eis in solchen Fällen jetzt viel
570 ^'^*5n der chronischen Entzündung der Gelenke.
und mit gutem Erfolg; doch ist es schwierig' durclizufilliren, einen Kranken
Jahre lang' im Bett in gleicher Lage mit einer Eisblase auf einem Knie
zu erhalten, zumal wenn ihm das Glied nicht sonderlich schmerzt. —
Noch muss ich von der Anwendung- der continuirlichen hohen
Wärmegrade sprechen, die man durch sorgfältig- applicirte Kataplas-
men, warme Wasserumschläg-e, Umschläge von heissem Moor (z. B. in
Franzenshad) oder Schlamm (in Pystian), erzielt. Diese Behandlung
kann dann indicirt sein, wenn der Verlauf des Processes ein äusserst
torpider ist, wenn bei schlecht aussehenden fistulösen Hohlgeschwüren,
bei mangelnder Vascularisation der Granulation, bei schlechtem dünnem
Secret überhaupt eine massige Irritation indicirt ist. Jedenfalls dürfen
die höheren Wärmegrade, wenn sie angewandt werden, nicht zu lange
einwirken, weil sonst der Effect wieder verloren geht, und aufs Neue
anstatt der Fluxion, die Sie hervorrufen wollen, eine völlige Erschlaffung
eintritt. —
Sie dürfen nach den geschilderten Leistungen der Therapie anneh-
men, dass die Curerfolge bei der fungösen Gelenkentzündung im Allge-
meinen leidlich günstig sind, wenn man von den zurückbleibenden ge-
ringeren oder höheren Graden von Gelenksteifheit absieht, und vor Allem,
wenn der Patient früh zur Behandlung- kommt. Doch aber bleibt
eine lange Eeihe von Fällen übrig, weiche trotz der sorgfältigsten Therapie
nicht geheilt werden oder nach kurz andauernder Besserung wieder
exacerbiren; die Ursachen hiervon liegen theils in der anatomischen
Beschaffenheit des ergriffenen Gelenkes, theils im Allgemeinzustand des
Patienten. Die Gelenkkrankheiten an Hand und Fuss sind aus anato-
mischen Gründen am ungünstigsten: wegen der vielen kleineu Knochen
und Gelenke, welche hier in Betracht kommen, ist der Process meist
furchtbar langwierig ; die Krankheit beginnt vielleicht ganz chronisch an
einem der kleinen Hand- und Fusswurzelknochengelenke, bleibt hier eine
Zeit lang stationär oder bildet sich sogar theilweis zurück; nun aber
erkrankt wieder ein neues Gelenk; es kommt bald hier, bald dort zur
Eiterung; die Kranken werden anämisch, schwach, sind Jahre laug zur
Ruhe verdammt und wünschen schliesslich selbst sehnlichst die Amputation
des kranken Gliedes, um nur endlich wieder einmal sich gesund zu
fühlen nach langem, langem Leiden. — In anderen Fällen tritt bald ein
kachektischer Zustand ein, Avelcher mit Anämie, vollständiger Störung
der Verdauung verläuft und mit Speckkrankheit der inneren Organe,
oder Tuberkulose der Lungen etc. endet, so dass wegen dieser allge-
meinen constitutiouellen Verhältnisse nicht an Heilung zu denken ist.
Lässt man die Krankheit unter solchen Umständen ruhig fortschreiten,
so gehen die Patienten bald früher, bald später zu Grunde, um so
früher, je grösser das afficirte Gelenk ist (Knie, Hüfte) und je mehr
Gelenke zu gleicher Zeit erkrankt sind, was nicht selten der Fall ist. —
Es giebt zwei Mittel, unter solchen Umständen noch zu helfen: 1) das
Vorlcsim;j; oT, Cupilrl XVIl. 571
Glied aufzug-eben, um das Leben zu retten, also die Amputation zu
machen, 2) die Heilung des Gclcnkleidens aufzugeben, die krankeu
Knoclicnenden auszuschneiden, um so das Glied und das Leben zu er-
halten, also die Resection des kranken Gelenkes zu machen. —
Wenn man diese beiden Mittel a priori mit einander vergleicht,
so kann es keinem Zweifel unterliegen, dass man die llesection der
Amputation vorziehen wird, und im Princip ist dies durchaus richtig;
die moderne Chirurgie ist mit Kecht auf die Ausbildung der Gelenk-
resectionen stolz. — Indess manche Uebelstände können hinzukommen,
welche trotzdem der Amputation in einem vorliegenden Fall den Vorzug
geben; hierhin ist vor Allem der Grad der Allgeineinerkraukung des
Patienten zu rechnen. Nach der Resection der Gelenke behalten wir
eine grosse Wunde mit zwei Sägeflächen der Knochen zurück, die auf
alle Fälle noch Wochen, zuweilen noch viele Monate lang- eitert; es
können Eiterungen des Unterhautzellgewebes, der Sehnenscheiden, eitrige
Periostitis und Nekrose, ja selbst Caries der Sägefläche hinzukommen,
Dinge, die alle vom Patienten vielleicht tiberwunden werden können,
die aber jedenfalls Zeit und Kräfte in Anspruch nehmen. Giebt also
die Entkräftung bei elenden, kachektischen Lidividuen die Indication zu
einem operativen Eingriff, so ist die Amputation oft ein sichreres Mittel,
das Leben zu erhalten, als die Resection. Die Erhaltung des Lebens
muss dem Arzt immer höher stehen, als die der Glieder. Wir
hätten also zu entscheiden: wird der Patient die Resection mit ihren
Folgen gut ertragen können? Die Antwort auf diese Frage ist so im
Allgemeinen schwer zu geben, selbst im einzelnen Falle kann die Ent-
scheidung schwierig sein; wir besitzen keine Mittel, die Widerstands-
fähigkeit der Menschen gegen Krankheiten zu messen. Man hat zu
untersuchen, ob der Kranke nur sehr abgemagert, anämisch und durch
den Säfteverlust einfach geschwächt ist, oder ob tiefere Erkrankungen
innerer Organe vorliegen; in letzterem Falle wird die Amputation vor-
zuziehen sein, oder es ist überhaupt gar nicht mehr zu helfen ; denn dass
man bei atrophischen Kindern mit mehrfachen Gelenkleiden, kalten Ab-
scessen, Diarrhöen, Aphthen etc., dass man bei Individuen mit tuber-
kulösen Lungencavernen, dass man bei Kranken mit verhärteter, speckiger
Leber und Milz überhaupt nicht mehr operirt, ebenso wenig bei alten,
vollkommen marantischen Individuen, versteht sich von selbst; wir dürfen
uns in solchen Fällen nicht über die Ohnmaclit unserer Kunst täuschen.
Es kommt aber noch mehr hinzu, was zu überlegen ist, nämlich welche
Operation ist die weniger gefährliche für das Leben? Dies ist im All-
gemeinen gar nicht zu beantworten, hier müssen wir die einzelnen
Gelenke berücksichtigen, um deren Resection es sich handelt und sie
in Parallele mit derjenigen Amputation setzen, welche im gegebenen
Fall eventuell in Frage käme. Bei Caries des Schultergelenkes ist
die Resection weniger gefährlich, als die Exarticulatiou des x4rnies iii
572 ^"^on der chronischen Entzündung der Gelenke.
der Schulter; ebenso verhält es sich für das Hüftgelenk: die Exarti-
eulation des Beines im Hüftgelenk ist eine der gefährlichsten Operationen,
die Kesection des Caput femoris ist bei jugendlichen Individuen nicht so
sehr gefährlich. Bei Schulter und Hüfte kann also von den Exarticula-
tionen wegen Caries gar nicht die Kede sein; hier handelt es sich nur
darum : ist der AUgemeinzustaud der Art, dass man die Krankheit ihren
Gang gehen lassen kann, oder sollen wir versuchen, den Process durch
die Kesection zu coupiren; im günstigsten Falle wird bei der spontanen
Heilung Anchylose in schlechter Stellung folgen; erfolgt die Heilung
nach den Eesectionen, so bleibt die Extremität in Schulter und Hüfte
meist beweglich, das Glied in günstigen Fällen leidlich brauchbar. Diese
Chancen sprechen sehr für die Kesection, zumal an der Schulter; man
könnte sich sogar hier ziemlich früh für die Kesection entscheiden, um
den Kranken schnell und gut herzustellen. Was die Hüfte betrifft, so
leidet die Kesection dieses Gelenks an einem wichtigen Uebelstand:
man kann die meist gleichzeitig erkrankte Pfanne nicht oder nur in sehr
ungenügender Weise reseciren: so bleibt die Kesection bei hochgradiger
Erkrankung des Gelenks unvollständig; geringere Grade heilen auch
ohne Operation. — Weit günstiger, vielleicht am günstigsten, stellen sich
die Erfahrungen für das Ellenbogengelenk: die Kesection dieses
Gelenks ist nicht gefährlicher, als die Amputation des Oberarms; nach
der Kesection erhält man in günstigen Fällen ein ziemlich brauchbares
Gelenk, nach der spontanen Heilung fast immer Anchylose; hier ist die
Wahl leichter ; man wird sich eher zur Kesection des Ellenbogengelenks
entschliessen, nicht weil die Operation wegen dringender Lebensgefahr
gemacht werden müsste, denn Caries des Ellenbogengeleuks bedroht
nur bei sehr langer Dauer das Leben, sondern weil sie bei relativ
geringer Gefahr in kürzerer Zeit die Chancen eines bewegliehen brauch-
baren Gelenks bietet, während beim Zuwarten erst nach Jahre langer
Dauer Anchylose einzutreten pflegt, ^fan ist so weit gegangen, selbst
die anchylosirten Gelenke auszusägen, um ein bewegliches Pseudogelenk
zu erzielen; dies würde ich nicht empfehlen, denn die Erfahrungen über
die Brauchbarkeit der Arme mit resecirten Gelenken haben gelehrt, dass
die Pseudogelenke, welche sich nach der Operation bilden, im Verlauf
von Jahren oft immer laxer werden, so dass die operirte Extremität
schliesslich doch nicht so brauchbar bleibt, wie man früher annahm;
man ist leider nicht ganz Herr über den Schlusserfolg in Betreff der
Brauchbarkeit einer resecirten Extremität, wenn man auch durch Unter-
sttitzungsapparate, gymnastische Uebungen und Electricität viel thun
kann, um die Kesultate zu bessern. — Ganz anders stellen sicli die
Verhältnisse fürs Kniegelenk; die Kesection des Kniegelenks ist eine
gefährlichere Operation als die bisher erwähnten Gclenkresectionen, sie
steht etwa mit den tiefen Amputationen des Oberschenkels auf gleicher
Linie der Gefährlichkeit; nach Kesection des Kniegelenks wollen wir
Vork-.siiiiK 37. Capilcl XV[I. 57;j
nur Auchylose erreidien, die wir bei spontaner Ausheilung des Gelenks
auch bekommen; diese Operation darf also, Aveil sie ])ei ziemlicher Ge-
falir nicht mehr erzielt, als was durch die nielit operative chirurgische
'Pherapie aucli erreicht werden kann, falls der Proccss stillstelit, nur
dann vorgenonunen werden, wenn sie lehensrettend wirkt; bisliei- habe
ich mich nicht allzuhäufig zu einer Operation wegen Kniegelenkcaries ent-
schlossen, ebenso ungern zur Amputation als zur Resection; mir wenn
alle Therapie Jahre lang fruchtlos bleibt, wenn der Kranke al)magert
und sehr leidet, kann. von einer Ami)utation die Rede sein, oder wenn
es ältere Leute betrifft, bei denen iiberhau])t eine Auslieilung liocligrudi'^'er
Kniegelenkcaries unwahrs"cheinlicli ist. Eine Resection kann nur bei ganz
jugendlichen Individuen von guter Constitution mit Erfolg gemacht werden ■
sie ist meist nur ein Mittel zur Beschleunigung der Heilung in Fällen
mit relativ leidlichen Chancen. Dies sind meine persönlichen Grundsätze,
die sich immer mehr und mehr befestigen, je mehr solcher Knieleiden
ich spontan ausheilen sehe. Ich habe schon viele Kinder an Coxitis zu
Grunde gehen sehen und bin daher für die Resection der Hüfte eher
günstig gestimmt, trotzdem meine Operationsresultate in dieser Hinsicht
bisher nicht günstig sind; nach Kniegelenkcaries habe ich wohl alte und
marantische Leute und Individuen mit Lugeutuberkeln und ausgedehnten
Cavernen, seltner Kinder zu Grunde gehen sehen. Andere Chirurgen
haben darüber ganz andere Ansichten, zumal in England ist man so für
die Resection des Kniegelenkes eingenommen, dass man die Operation
dort sehr häufig und in frühen Stadien der Krankheit vornimmt. Viele
deutsche Chirurgen werden, glaube ich, meine Ansichten üljer diesen
Gegenstand theilen, andere stehen mehr in der Mitte, indem sie nach
einigen günstigen Resultaten von Kniegelenkresectionen günstiger über
diese Operation urtheilen; ich war früher geradezu gegen die Kniegelenk-
resectionen eingenommen, bin jedoch auch etwas umgestimmt durch eine
Reihe günstiger Resultate, die ich in den letzten Jahren mit dieser
Operation erzielte. — Wenn man sich die Fälle mit günstigen Chancen
zur Operation auswählt, ungünstige oder zweifelhafte nie operirt, so wird
man nicht viel aber meist glücklich operiren, freilich auch nur Wenige
durch die Operation heilen. Es verhält sich mit vielen grossen Opera-
tionen ganz analog; hat man einige Erfahrung und liegt einem nichts
daran, die meisten Fälle ungeheilt fortzuscliicken, interessirt man sich
vorwiegend für die günstigeren Fälle, dann wird man sich bald den Ruf
eines äusserst glücklichen Operateurs und Arztes verschaffen. Es giebt
viele bedeutende Chirurgen, die sich auf diese Weise über die für hohe
Ansprüche immerhin geringen Leistungen unserer Kunst behaglich täu-
schen. Ich gehöre leider nicht zu diesen glücklichen Optimisten. — Wir
kommen zum Handgelenk: die Resection des Handgelenkes wird in
den meisten Fällen in der Exstirpation sämmtlicher Handwurzelknochen,
mit Absäg'ung der unteren Gelenkfläche des Radius, vielleicht auch der
574 Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
Gelenkflächen der Ossa metacavpi bestehen. Ich habe diese Operation
mehre Male gemacht, zum Theil mit brillantem Erfolge; die Hand wurde
wieder vollkommen beweglich, die Finger brauchbar; zwei der Patien-
tinnen waren Nähterinnen, und setzten beide ihre Arbeiten fort, wie
früher; ein dritter und vierter Patient verloren leider die Geduld: als
nach der Resectiou die Wunde bis auf zwei Fisteln gesclilossen war,
als die Schmerzen aufgehört hatten, entzogen sie sich der weiteren Be-
handlung; es waren noch einige cariöse Stellen an den Metacarpal-
knochen zurückgeblieben, und diese hätten noch exstirpirt werden müssen,
dann wäre gewiss der Erfolg ebenso gut gewesen, als in den vorigen
Fällen. Ich hätte gern die Reseetion der Hand noch häufiger gemacht,
bin aber mehre Male an dem entschiedenen Willen der Kranken, am
Vorderarm amputirt zu werden, gescheitert. Es muss sonderbar er-
scheinen, dass ein Kranker nicht gern einwilligt, wenn der Arzt ihm
vorschlägt, durch eine ziemlich ungefährliche Operation, denn eine solche
ist die Eesection des Handgelenkes, die Hand zu erhalten; ich musste
freilich immer bemerken, es würde mehre Monate dauern, bis die Hand
ausheilte, damit die Patienten nicht mehr erwarteten, als die Kunst zu
leisten im Stande ist; darauf erhielt ich die Antwort, das sei ihnen zu
lange; sie hätten nun 4 — 5 — 8 Jahre die Hand nicht mehr gebraucht
und immer Schmerzen gehabt, seien des Curirens jetzt müde und haben
sich entschlossen, die Hand abnehmen zu lassen, wollten sich daher nicht
noch einmal wieder auf eine lange Cur einlassen. Ich habe Ihnen dies
mitgetheilt, damit Sie daraus ersehen, welchen Schwierigkeiten zuweilen
der Arzt entgegengeht, wenn er sich noch so redlich bemüht, das Beste
zu leisten. Keineswegs alle Fälle von Caries des Handgelenkes eignen
sich zur Reseetion; ehe eine erhebliche Zerstörung der Knochen erfolgt
ist, wird man sich überhaupt nicht zu einer Operation entschliessen, wenn
man auch vorhersagen kann, dass gerade die Handgelenkcaries sehr
selten spontan mit Beweglichkeit zur Heilung kommt. Handcaries ist
überhaupt nicht so sehr häufig im Vergleich zur Gonarthrocace und
Coxarthrocace, kommt zumal selten bei Kindern, häufiger bei Erwacliseneu
vor. Die Ursache, weshalb die Heilung so schwierig erfolgt, liegt zum
Tlieil in den örtlichen Verhältnissen, wie wir schon früher besprochen
haben. Es kommt hinzu, dass um die Hand so viele Sehnen liegen, deren
Scheiden fast alle in Mitleidenschaft gezogen werden, oft in grosser
Ausdehnung; die Finger stehen ganz steif in Extension, die Metacarpal-
knochen, Radius und Ulna sind häufig mit erkrankt, wenn auch nur
eine Periostitis an ihnen besteht. Die Weichtheile um das Handgelenk
sind gewöhnlich von einer grossen Menge Fisteln durchbrochen, selbst
in grosser Ausdehnung zerstört, so dass dadurch auch die günstigen
Bedingungen für die Resectiou wegfallen; bei sehr ausgedehnter
Handcaries mit bedeutender Degeneration der umliegenden
Weichtheile wird also die Amputation des Vorderarms in ihre
Voi-losiiiiK r.7. ('iipilrl XVTT. 575
alte Rechte treten. Die Kxtraetion eiii/cliici- llimdwiirzelkiioclicii
oder die alleinige Absäguiig des lludiuM liilnt selten zum Ziel; niii- sind
freilieli Fülle vorgekoninion, wo sicli die ErkvankiniA' tinC ein ()d(;r zwei
Handwurzelknoclien hesclininkt hatte; diese wai-en nekivttiscli geworden
und der Proeess war damit abgeschlossen: ieh extraJiirte die Knoclien,
es erfolgte die lleilnng in einem Falle sehr sdincll; der Kranke war mir
zur Amputation der Hand zugeschickt und war sclir froh, als icli ihm
nach der ersten Untersuchung erklären konnte, dass liier von Amputation
gar nicht die Rede sein könne. Diese Fälle sind aber selten; in der
Regel geht der Krankheitsprocess weiter und wird durch die Exstirpation
einzelner vorwiegend erkrankter Knochen nicht in seiner Progression
gehindert. Im Ganzen bin ich der Ansiclit, dass die totale Reseetion
des Handgelenkes noch zu wenig geübt wird, sie scheint mir nach meinen
Beobachtungen wirklich im höchsten Grade die Aufmerksandceit der
Chirurgen zu verdienen. Auf diese Operation, sowie auf die gleichen
Operationen am Fuss, von denen Avir gleich zu sprechen haben werden,
passt am Besten ein Raisonnement, welches man sonst mit Unrecht auf
die Resectionen im Allgemeinen anwendet, indem man sagt: wenn die
Reseetion nicht zur Beendigung des localen Krankheitsprocesses führt,
bleibt ja die Amputation immer noch als ultimum refugium; für Hand-
und Fnssresectionen, bei denen doch nur selten Pyohämie in Aussicht
steht, passt dies, nicht aber für Schulter, Hüfte, Ellenbogen und Knie;
haben diese Operationen keinen Erfolg, wird die Eiterung erschöpfend
oder tritt Pyohämie hinzu, so ist von den Amputationen, respective
Exarticulationen, wenig mehr zu hoffen. — Wir kommen endlich zum
Fussgelenk und fassen dabei alle Gelenke der Fusswurzel, so wie das
Tibio-Tarsalgelenk zusammen. Die Verhältnisse sind äusserst ähnlieh
wie beim Handgelenk; wenngleich die Caries einzelner Fusswurzel-
knochen, z. B. die nicht seltene Caries necrotica des Calcaneus, mit der
Zeit besonders bei Kindern fast ebenso sicher spontan ausheilt, wie die
scrophulöse Caries der Finger, Zehen, Metatarsal- und Metacarpalkuoclien,
so heilt doch selbst bei jugendlichen Erwachsenen die Caries der Gelenke
am Fuss und den grösseren Fusswurzelknochen selten spontan, bei
älteren Leuten fast niemals. Hier wird daher häufig ein operativer Ein-
griif früher oder später indicirt sein und man sollte bei flüchtiger Be-
traelitung glauben, die Resectionen und Knochenexstirpationen haben
hier ein weites Feld; doch zwei Gründe sprechen erfahrungsgemäss gegen
die allzu weite Ausbreitung der genannten Operationen bei Caries am
Fuss, nämlich 1) die Erfahrung, dass nach Exstirpation eines Knochens
die Krankheit sehr häufig auf einen andern übergeht, also keine totale
Heilung erfolgt, 2) der Umstand, dass der Fuss doch immer so viel
Festigkeit behalten muss, dass der Mensch darauf gehen kann; mau kann
also wohl die Ossa cuneiformia, das Os naviculare und Os cuboideum
exstirpiren, auch wohl den Talus oder den Calcaneus, doch Talus und
576 Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
Calcaneus zu exstii-pireu und dazu vielleicht auch die CTelenkfläelie der
Tibia abzusägen, das würde, selbst wenn die Heilung einträte, zu einem
ziemlich unbrauchbaren Fuss führen, der schlechter ist, als ein guter
Aniputationsstumpf. Die Narben, welche an die Stelle der exstifpirten
Knochen treten, schrumpfen mit der Zeit sehr stark zusammen, und wenn
sich auch in dieser Narbe etwas Knochen bildet, so tritt keineswegs eine
Eeg-eneratiou wie nach Nekrose ein, sondern der Fuss verschrumpft stark
au der Stelle, wo der Knochen fehlt, und durch diese Schrumpfung wird
er verkrümmt und unbrauchbar. Dies sind also erhebliche Hindernisse,
zu denen noch hinzukommt, dass ein guter Stumpf, wie z. B. nach
Syme's oder Piro g off 's Methode der Exarticulation oft ebenso gut,
Ja sicherer vielleicht fürs Geben ist, als ein schwacher verkrümmtcr Fuss,
und dass es zur Herstellung des letzteren meist vieler Monate, zur
Erreichung des ersteren 6 — 8 Wochen bedarf. Ich habe in einem Falle
alle 3 Ossa cuneifoimia und das Os cuboideum mit sehr günstigem Er-
folge exstirpirt, in andern Fällen bei Knaben die Exstirpation des Talus
gemacht; die Tibia articulirte dann auf dem Calcaneus, das neue Gelenk
blieb beweglich, und das Gehen war nicht einmal hinkend; solche Er-
folge sind sehr einnehmend für diese Operationen, Ein anderes Mal
wollte ich den Calcaneus allein wegen Caries exstirpiren, fand dann aber
wider Erwarten auch den Talus von unten her stark erkrankt, und
musste nun auch diesen Knochen mitnehmen; der Erfolg war miserabel;
der junge Bursche lag 6 Monate auf der Abtheilung und die Heilung wollte
durchaus nicht zu Stande kommen; dann machte ich die tiefe Amputation
des Unterschenkels, die Heilung erfolgte per primam; einige Wochen
später verliess der Patient mit einem guten Stelzfuss, froh, seinen kranken
Fuss los zu sein, geheilt das Spital. Vor Allem machen die äusserst
günstigen Erfolge der Pirogoff 'sehen Amputation den Fussgeleuk-
resectionen stark Concurrenz, und ich glaube, die Erfahrung wird bald
allgemeiner als jetzt Avider die zu grosse Ausdehnung der Fusswurzel-
knochenexstirpatiouen und für die Amputationen im Bereich des Fusses
entscheiden.
Die Eesectionen der Gelenke, die erst in den letzten 30 Jahren so
recht in Schwung gekommen sind, hatten im Anfang etwas so Blenden-
des durch die günstigen Erfolge an einzelnen Gelenken, wie zumal am
Ellenbogen- und Schultergelenk, dass man wohl hier und da ihre An-
wendung übertrieben haben mag; dies ist das Schicksal aller Dinge,
welche der menschliche Geist erfindet; erst allmählig kommt man jetzt
zu immer sicheren Indicationen für diese Operationen; es mussteu natür-
lich erst Erfahrungen gesammelt werden, und man wurde bald gewahr,
dass die Resection jedes einzelnen Gelenks sehr verschiedeneu Werth
habe; wenngleich ich nun keineswegs behaupten will, dass schon jetzt
diese Erfahrungen als vollständig abgeschlossen zu betrachten sind, so
Vorlosiiii!.- .".8. Ciipilcl XVII. r,77
glaube ich docli, llnicii in dein Gesagten ein riclitiges Resume iiljer deu
Stand der Dinge gegeben zu haben.
P^ine Bemerkung kann ich liier am Scliluss dieses Capitels niclit
unterdrücken. Seitdem mir im Canton Ziiricli die wegen Caries diirrli
Resection oder Amputation gliicklicli Geheilten später öfter Avieder zu
Gesicht kamen, maclite ich die traurige Beobachtung, dass doch Viele
von denen, welche nach Jahre langem Leiden ganz geheilt und kräftig
das Spital verliessen, nach 1 — 2 Jahren mit Caries an anderen Knochen
oder mit Lungentuberkulose wieder ins Spital zurückkehrten, um es oft
nicht wieder zu verlassen. Die definitiven Ausgänge der Knochen- und
Geleukkraukheiten fallen leider weit ungünstiger aus, als man im All-
gemeinen anzunehmen geneigt ist. Auch sind leider Recidive der Er-
krankung sdibst an Gelenken, die seit vielen Jahren schon mit Anchylose
geheilt waren, nicht allzu selten. Es ist nicht häufig dass Individuen,
welche an den beschriebenen Formen der chronischen Gelenkentzündungen
litten , alt werden ; Sie werden wenige Menschen über 40 und 50 Jah-
ren mit Anchjlosen nach scrophulösem Tumor albus finden. Ich finde
grade in diesem Umstände auch wieder einen Beleg dafür, dass diese
Krankheiten mit constitutionellen Verhältnissen des Körpers zusammen-
hängen, so schwer es auch ist, dies in allen Fällen herauszubringen
und Denen zu demonstriren, welche geneigt sind alle Diathesen und
Dyskrasien für die unnütze Erfindung theoretisirender nlter Aerzte zu
erklären.
Vorlesung 38.
B. Die clironisehe seröse Synovitis. Hydrops artieuloriim ohronic-us.
Anatomisches. Symptome. Belianclluiig. Typiscli recidivireiider Hydrops geiui. Anliang.
Von den chronischen Hydropsien der Sehnensclieiden, der Synovialhernien der Gelenke
lind der subcutanen Schleimbeutel.
B. Von der chronischen serösen Synovitis. Hydrops articu-
lorum chronicus. Hydarthron.
Die chronischen Gelenkkrankheiten, welche wir jetzt noch zu be-
sprechen haben, sind alle viel seltener als die beschriebene granulös-
fungöse Synovitis mit ihren geschilderten Folgen und Combinationen,
der Ostitis und Caries der Gelenkenden; die folgenden Erkrankungen
sind alle zusammengenommen kaum so häufig als die frühereu, und sind
insofern als zusammengehörige Gruppe den fungös- eitrigen Gelenkent-
zündungen entgegen zu setzen, als sie durchaus nie spontan zur Eiterung
führen, ausser wenn etwa wiederholte Reize, Verletzungen u. dergl. auf
sie einwirken. So langwierig und qualvoll sie auch für den Patienten
oft sind, so haben sie doch keine Beziehung zu den schwersten Äuge-
's 7
BillrotU chir. P:itli. u. Thor. 7. Aiifi. Ol
5Y8 Von der chronischen Entzündung der Gelenke.
meiiikranklieiteu, zu Tuberkulose und SjDeckkranklieit, sie führen daher
selten zum Tode, sind auch wenig'er Krankheiten der Jug'end als des
Mannes alters.
Wir beg-innen mit der einfachsten dieser Formen, mit der chro-
nischen serösen Syuovitis oder Hydrops chronicus articulorum
oder Hydarthron (von vöcoq Wasser, cxq&qov Gelenk). Die Krankheit
besteht in einer abnormen, sehr langsam sich vermehrenden Ansammlung
einer ziemlich dünnen Synovia; die Synovialmembran verändert sich
dabei sehr wenig-, sie wird allmählig etwas dicker, fester, das Binde-
gewebe nimmt zu, doch ohne erhebliche Vascularisation ; die Geleuk-
zotten verlängern sich, in ihren Spitzen nehmen aucli wohl die Gefässe
etwas an Schlingenbildung zu, doch die Substanz bleibt bindegewebig"
fest, während sie ja bei der fungösen Synovitis durch plastische und
seröse Infiltration erweicht und den Granulationen ähnlich w^ird; das
kommt bei der in Rede stehenden Synovitis serosa nicht vor; die ganzen
pathologischen Veränderungen des Gewebes sind äusserst gering, selbst
bei langem Bestand dieser Krankheit. Manche Chirurgen wollen diese
Hydropsien der Gelenke, so wie auch die gleichen Krankheiten der
Schleimbeutel gar nicht zu den chronischen Entzündungen rechnen, son-
dern sie als eigenartige Krankheiten betrachten. Mir scheint dies nicht
gerechtfertigt. Es wird Niemand daran zweifeln, dass die chronischen
Catarrhe der Schleimhäute mit vorwiegender Hypersecretion zu den
chronischen Entzündungen zu zählen sind; der chronische Hydrops der
Synovialmembranen ist dem chronischen Catarrh der Schleimhäute durchaus
analog.
Was die Entstehung des chronischen Hydrops der Gelenke beti-ifft,
so ist er sehr oft ein Ueberbleibsel eines acuten Hydrops articuli nach
Contusion, Erkältung u. s. w., wie es früher besprochen wurde, auch tritt
er zuweilen in Gelenken auf, die früher irgendwie chronisch erkrankt,
und ausgeheilt waren; in vielen Fällen tritt indess die Krankheit gleich
in sehr chronischer Form auf und bleibt chronisch. Ob Gonorrhoe eine
Beziehung zu dieser Krankheit hat, lasse ich dahin gestellt sein; die
Fälle von Kniegelenkentzündungen bei Gonorrhoe, welche ich sah, trugen
einen mehr subacuten Charakter. — Das Hydarthron kommt spontan
vorwiegend bei jungen Männern, bei weitem am luiufigsten am Knie vor,
oft doppelseitig; sehr selten ist es an der Schulter, Hüfte und Ellen-
bogen; an anderen Gelenken sah ich es in reiner Form niemals. Wenn
die Krankheit in hohem Grade ausgebildet ist, so ist sie sehr leicht zu
erkennen; das Volk kennt sie unter dem Namen „Gliedwasser". Das
Gelenk ist stark geschwollen, fluctuirt überall; am Knie kommt das
Schwappen der Patella hinzu, welche von der Flüssigkeit in die Höhe
gehoben wird und leicht auf die Fossa intercondylica zuweilen mit hör-
barem klappendem Geräusch aufgedrückt werden kann. Da die Gelenk-
fiäclien mit einander durch feste Haltbänder verbunden sind (im Knie
Vorlcsmif;- ,')8. ('.-ipiicl W'il. r,7()
(liircli die Lig'g-. l;itcnili;i und cnicial.Ji), wclclic sich iiiclit S(. Icidil (Iclnicn,
so sammelt sich die Fliissig-keit bcsoudors in den udiicxcii SchlcinilxMilcIn
des Gelenks an, und dadurcli ist auch die Art der yVnschwcIliiii- oi'i
schon vom vVnsclien als ll_ydv(»ps zu diagnosticiren, so Ixisondcrs um
Knie, wo die Bursae untei- der Sehne der Extensorcn /u hcidcn ,Soit(;ii
der Patella und in der Fossa i)oi)litea stark durch die Flüssigkeit aus-
g-edehnt sind, während dagegen bei gleichmässiger Schwelluiiir der Kai)sel
die Anschwellung mehr gieichmässig rund ist. Es kommt hinzu, dass
die Patienten mit solcliem Hydrops ihr Gelenk ziemlich frei und oline
Schmerz beweg-en können, oft weite Märsche damit machen und zuweilen
so wenig- Beschwerden haben, dass sie gar keinen Arzt um Ilatli fragen;
auch die Untersuchung- des Gelenks durch die Palpation ist schmerzlos.
Nach grösseren Anstreng-ung-en tritt bei hochgradigem Hydrops articuli
leicht Ermüdung der Extremität und auch wohl etwas Sclnnerz mit ver-
mehrter .Exsudation auf; dies verg-eht jedoch nach einiger Ruhe wieder,
und so sind im Allgemeinen die Beschwerden sehr gering. —
Die Prognose ist insofern immer eine gute, als diese Hydro])sie
der Gelenke zu nichts Weiterem führt; die Flüssigkeit kann enorm zu-
nehmen, doch dabei bleibt es dann auch, und wenn niclit Ueberanstren-
gungen und Verletzungen hinzukommen, so bleibt es, wie es ist. Was
die Heilbarkeit des Leidens betrifft, so ist die Prognose in dieser Be-
ziehung- für alle diejenigen Fälle am günstigsten, in welchen die Krank-
heit naeh einem subacuteu oder acuten Anfang zurückblieb; in diesen
Fällen tritt in der Eegel, w^enn auch langsam, vollständige Heilung
durch Resorption ein. Sehr hartnäckig- sind dagegen die Fälle, in
denen die Krankheit ganz chronisch auftritt und verläuft; sie sind oft
sehr schwer zuwTilen gar nicht zu heilen.
Die Behandlung besteht in der Application der Hmen bereits be-
kannten bei chronischen Entzündungen auch sonst angewandten Mittel,
die mit Consequenz bei vollkommener Ruhe des Gelenkes gebraucht
w^erden müssen: Jodtinctur, Vesicatoires volants, hydropathische Ein-
w^icklungen des Gelenkes, Compression. Die Compression ist das wirk-
samste Mittel, doch muss sie stark gemacht und consequent fortgesetzt
werden (forcirte Compression nach Volkmann): man macht feste Ein-
wicklungen mit nassen oder elastischen Binden, unter welchen die Gefässe
der Kniekehle durch eine leicht gebogene und schwach gehöhlte Schiene
vor Druck geschützt werden; der Kranke muss während der mehrwöchent-
lichen Cur liegen; tritt dabei etwas Oedem des Unterschenkels ein, so
schadet dies nichts; wenn aber die Fusszehen blau und kalt werden, muss
der Verband entfernt werden. Wollen sich die Kranken nicht einer solchen
Cur hingeben bei der man den Erfolg auch keineswegs mit absoluter Sicher-
heit versprechen kann, so lässt man sie ein Quecksilberpflaster ums Knie
und darüber eine lederne Kniekappe tragen, welche zu starke Bewegungen
des Gelenks verhütet und dem Glied Sicherheit beim Gehen verleiht. —
37 *
580 ^^^'^ ^^1' chroniscbeii Entzündung der Gelenke.
Hilft Alles dies nach Monate oder Jahre langer Anwendung nichts oder wa-
ren die Curerfolge immer mir vorütergehend, so bleibt noch die einfache
Function und die Function mit nachfolgender ComjDression, oder mit nach-
folgender Jodinjection übrig. Die einfache Function hilft gewöhnlich nicht
viel: Sie nehmen einen feinen Trokart, stechen neben der Fatella in das
Gelenk ein, lassen die Flüssigkeit langsam ausfliessen, schliessen jedoch
die Canäle etwas früher, als bis Alles ausgeflossen ist, damit nicht Luft
in das Gelenk eintritt; jetzt verkleben Sie die Wunde mit Fflaster; be-
pinseln Sie nun sofort das Gelenk mit Jodtinctur und machen eine feste
Einwicklung des Gelenks mit nassen Binden, oder einen Collodialverband,
so kann es sein, dass Sie in einzelnen Fällen Heilung erreichen; es
wird eine rasche Ansammlung von Serum mit etwas Schmerz verbunden
im Gelenk auftreten, und diese neue Flüssigkeit kann dann allmählig
vollkommen resorbirt werden. — Wenn diese Operation nichts geholfen
hat , wenn die Flüssigkeit sich wieder in früherem Maasse ansammelt
und unverändert bleibt, dann können Sie noch die Function mit nach-
folgender Jodinjection machen. Diese Operation ist freilich nicht ganz
ohne Gefahr; sie wird folgendermaasseu ausgeführt: man macht zunächst
die Function mit Vorsicht, wie oben erwähnt, dann füllt man eine gut
gearbeitete Spritze mit einer Mischung der officinellen Jodtinctur mit
destillirtem Wasser zu gleichen Theilen, oder wollen Sie besonders vor-
sichtig sein, mit 1 Theil Jodtinctur und 2 Theilen Wasser; von dieser
Mischung injiciren Sie, nachdem Sie sich genau überzeugt haben, dass
keine Luft in der Spritze ist, etwa 1 — 2 Unzen (40 bis 80,000 Gram-
mes), je nachdem das Gelenk ausgedehnt w^ar, halten die Flüssigkeit
3—5 Minuten entsprechend der Heftigkeit des Schmerzes im Gelenk zu-
rück und lassen sie dann wieder ablaufen; jetzt folgt der exaete Ver-
schluss der Wunde, dann eine Einwicklung und Fixirung des Gliedes. Kun
tritt eine neue acute seröse Exsudation auf und diese bleibt etwa acht
Tage lang auf demselben Funkt stehen, dann wird das Exsudat laugsam
resorbirt und damit kommt es dann meist zur vollständigen Heilung. Dass
der Kranke bei splcher Cur, wie nach der einfachen Function, absolut ruhig
liegen muss, versteht sich von selbst, denn es tritt ja jedenfalls eine
Entzündung ein, und bei allen Gelenkentzündungen ist Ruhe die erste
Bedingung für die Heilung. Wie es kommt, dass die Jodtinctur, wenn
sie auch nur kurze Zeit mit einer serösen Membran in Berührung ist,
welche zu excessiver Secretion disponirt war, so umstimmend und hem-
mend auf die w^eitere Secretion wirkt, ist nicht so ganz klar; früher
glaubte man, es trete nach diesen Injectionen, die man bei vielen chro-
nischen Hydropsien seröser Häute mit Vortheil anwendet, eine adhäsive
Entzündung, eine Verwachsung der Flächen der serösen Säcke ein, und
dadurch eine vollständige Obliteration des serösen Sackes ; dies ist keines-
wegs der Fall, am wenigsten nach der erfolgreichen Jodinjection bei
Hydrops articuli ; entstünde danach eine solche Verwachsung, dann würde
Vorlcsimg 38. Capifcl XVTT. 5^1
das Gelenk steif werden. Der Vorgaii£>- ist ein andei'Cr: das Jod s(;lil;i;^-t
sicli in der Oberfläche der Menil)ran nud in den Endotlielialzellen nieder,
bleibt hier zuweilen Monate lan:;' lioi^cu und scheint durch seine Ge-
genwart eine weitere Secretion zu hemmen. Anfangs tritt eine starke
Fluxion mit seröser Exsudation auf (eine acute seröse Synovitis), das
Serum wird aber von den nocli ausg-edehnten Gcfässen resorbirt, und
später schrumpft die Membran durcli Verdichtung des ?>indegewebes zu-
sammen bis auf das normale Volumen; eine Verdickung derselben bleibt
immer zurück. So hat man sich den Heilungsvorgang' ungefähr zu den-
ken nach Analog-ie des gleichen Processes, der oft in der Tunica vagi-
nalis propria testis auftritt und die Hydrocelc tunicae vaginalis, den
Wasserbruch, zu Wege bringt; nach Jodinjectioneu bei der Hydrocele
hat man mehre Untersuchungen zu machen Gelegenheit gehabt, aus denen
der Weg der Heilung so zu sein scheint, wie er eben geschildert ist;
die Schrumpfung der serösen Membran mit Neubildung des Endothels
scheint mir schliesslich die Hauptursache zu sein, weshalb die Secretion
nicht fortdauert. Die Jodinjection bei Hydarthron wird von wenigen
Chirurgen häufig geübt; ich habe sie dreimal machen sehen, zweimal
selbst gemacht, der Erfolg war stets ein günstiger; dies ist aber nicht
immer der Fall; es ist eine Reihe von Fällen bekannt, in denen die
Operation erfolglos war; sie musste dann wiederholt werden: dabei warne
ich Sie, diese Wiederholungen zu schnell auf einander folgen zu lassen ;
jedenfalls sollen Sie das acute Stadium nach der Operation erst vorüber-
gehen lassen. — Ferner sind Fälle bekannt, in welchen nach diesen Jod-
injectionen, die man besonders in Frankreich viel übte, weil sie eine
französische Erfindung (von Boinet undVelpeau) sind, sehr heftige
Gelenkentzündungen eintraten; die seröse acute Synovitis wurde
wie so oft bei der traumatischen Gelenkentzündung zu einer acuten
suppurativen , es erfolgte im günstigsten Falle Heilung mit Anchylose,
in einigen Fällen musste amputirt werden, in anderen Fällen
starben die Kranken an Pyohämie. Diese unglücklichen Ausgänge
nach einer Operation, die man wegen einer freilich hartnäckigen, aber
keinesfalls lebensgefährlichen Krankheit unterninnnt, haben mit Recht
sehr von den Jodinjectioneu in die Gelenke abgesehreckt, und ich bin
daher weit entfernt, Ihnen diese Operation dringend auzu-
rathen; sie ist und bleibt mit Gefahr fürs Gelenk und fürs Leben
verbunden und sollte daher nicht ohne dringende Indication gemacht
werden.
Die Diagnose des Hydarthron ist in den meisten Fällen einfach,
und die Krankheit ist, wie erwähnt, eine ganz andere als die chronische
fungös-purulente Synovitis; dennoch will ich Sie darauf aufmerksam
machen, dass im Beginn des Tumor albus auch zuweilen seröse Exsu-
dationen in geringem Maasse und selbst Fluctuation im Gelenk vor-
kommt, so dass die differentielle Diagnose im Anfang nicht immer exact
532 ^'on '^^^ chronischen Entzündung <lei' Gelenke.
ZU stellen ist; eine Beobaclitung- von einig-en "Wochen genügt jedoch, um
über die Natur des Leidens klar zu werden, wozu noch der Umstand
hilft, dass der Hydrops articulorum yorwiegend hei jugendlichen Er-
wachsenen, der Tumor albus dagegen besonders häufig bei Kindern
vorkommt.
Eine sehr seltne sonderbare Krankheit ist der typisch recidivirende
Hydrops genu; dieselbe ist schon wiederholt beschrieben; ich sah sie
vor Kurzem zum ersten Male bei einem jungen Mann; derselbe bekam alle
9 Tage unter subacuten Erscheinungen einen Hydrops genu; die Flüssig-
keit wurde bei einfach ruhiger Lage in 5 Tagen vollständig resorbirt,
dann w^ar das Gelenk 4 Tage völlig normal; dies hatte sich innerhalb
4 Monate bis ich ihn sah immer so wiederholt; Patient hatte nicht lauge
vor Beginn der Krankheit einen Tripper gehabt. Ich hatte keine Ge-
legenheit den Verlauf weiter zu beobachten.
ANHANG.
Von den chronischen Hydropsien der Sehnenscheiden, der
subcutanen Schleimbeutel und von den Synovialhernien.
Wir wollen jetzt hier anhangsweise von den chronischen Hy-
dropsien der Sehnenscheiden sprechen. Die Krankheit besteht
darin, dass die Synovia, welche von den Sehnenscheiden abgesondert
wird, um die Bewegung der Sehnen leicht und glatt zu erhalten, in
grösserer abnormer Menge sich ansammelt und die Sehnenscheidensäcke
in hohem Grade ausdehnt. Eine solche Hydropsie befällt am häufigsten
die Sehnenscheiden der Flexoren der Hand. Es bildet sich nach und
nach eine Anschwellung, theils in der Hohlhand, theils an dem untern
Ende der Volarseite des Vorderarms, und man fühlt ganz deutlich, wie
sich eine Flüssigkeit in den Sehnenscheiden von der Vola manus zum
Vorderarm unter dem Lig. carpi volare hindurch hin und wieder
fortdrttcken lässt. Die Finger stehen dabei gewöhnlich in Flexion,
können nicht ganz extendirt werden; die Kraft der Hand- und Finger-
bewegungen ist etwas verringert; Schmerzen bestehen durchaus nicht,
und die Patienten stellen sich dem Arzte gewöhnlich erst vor, wenn
das Uebel bereits einen hoben Grad erreicht hat.
Eine andere Form dieser Krankheit ist die partielle herniöse
Ektasie der Sehnenscheiden mit Hydropsie. Es bildet sich an
einer Sehnenscheide eine sackartige, 1)is Taubenei- grosse Ausstülpung
mit abnormer Ansammlung von Sehnenscheidensyuovia.
Dies nennt man im gewöhnlichen chirurgischen Sprachgebraucli ein
Ganglion; wenn es auf dem Handrücken vorkommt, auch wohl ein
„Ueberbein". Es ist eine weit häufigere Krankheit als die Hydropsie
der ganzen Selmenscheiden, doch ist das Vorkommen auf einii^-e besondere
Vurlcsuiig ;iS. Auliaii;^ zu Cliipilc'! XVII. 5M3
Fig. 107.
Sclu'nuilisL'lic Darstelluiii;- dor gewülmlichsleii Art von (Janglini. a Scliiic. /> Si'lini'n-
scheide mit liydropischer lierniöser Aiissdilpung uacli oben, c Haut.
Stellen beschränkt. Am häutig-steu sind die Ganglien auf der Dorsal-
seite des Handgelenks, von den Sehnenscheiden der Extensoren aus-
g-ehend; selten sind sie an der Volarseite der Hand und höher hinauf
am Vorderarm, noch weit seltener endlich am Fuss, wo ich sie verhält-
nissmässig' am häufigsten an der Scheide der Sehnen der Mm. peronaei
ang-etroifen habe. Der Inhalt eines solchen Gang-lion besteht in den
meisten Fällen in einer dickschleimigen, glasig-klaren Gallerte. — Nicht
immer entsteht das Ganglion durch Ektasie der Sehnenscheiden, sondern
es scheint, dass in anderen Fällen die Gallertmasse auf eine bisher noch
nicht näher bekannte Weise in der unmittelbaren Nähe der Sehnen-
scheiden entsteht, und dann erst in Communication mit denselben tritt. —
Der Inhalt der vorher besprochenen grösseren Sehnenscheidenausdehnun-
gen kann ebenfalls aus ganz klarer Gallerte bestellen, jedoch kommt es
oft vor, dass daneben eine ungeheure Menge weisser, Reiskorn- oder
Melonenkern-ähnlicher Körper vorgefunden wird, welche durchaus nicht
organisirt sind, sondern aus reinem amorphem Faserstoff zu bestellen
pflegen. Diese Körper können in so colossaler Masse vorhanden sein,
dass man deshalb Avenig oder gar keine Flüssigkeit durch einen Einstich
in diese Säcke entleert. Man kann die Gegenwart dieser Fibriukerne in
manchen Fällen mit Sicherheit vorher diagnosticiren, indem durch dieselben
wie bei der subacuten Entzündung der Sehnenscheiden ein sehr starkes,
reibendes Geräusch entsteht.
Bei der Behandlung ist hauptsächlich der Umstand im Auge zu
behalten, dass man unter allen Umständen vermeiden muss, durch irgend
einen operativen Eingriff eine eitrige Sehnenscheidenentzündung hervor-
zurufen, durch welche der bis dahin wenig von seiner Sehnenscheiden-
geschwulst gestörte Patient längere Zeit aufs Krankenlager geworfen
würde und möglicherweise eine ganz steife Hand zurückbehalten könnte.
Die Mittel, welche bei acuten und subaeuten Entzündungen so mächtig
die Resorption zu befördern im Stande sind, wie das Quecksilber, die
Jodtinctur, leisten bei diesen Zuständen fast nichts. Die einfachste und
darum am häufigsten gebrauchte operative Eneheirese ist das Zerdrücken
des Ganglion. Für den Fall, dass das Ganglion wie gewöhnlich auf
der Dorsajj^eite der Hand liegt, nimmt man die flectirte Hand des Pa-
tienten vor sich, setzt die beiden Daumen dicht neben einander auf das
584 Von dem chronischen Hydrops der Sehnenscheiden.
Ganglion und übt mm einen lieftig-eu Druck aus, wobei zuweilen der
Sack des Ganglion gesprengt wird, und die Flüssigkeit sich in das
Unterliautzellgewebe ergiesst, um liier dann leicht resorbirt zu werden.
Gegen diese Methode ist für diejenigen Fälle, avo sie leicht gelingt, nicht
viel einzuwenden, nur dass das Uebel dadurch nicht immer radical ge-
heilt ist. Die kleine subcutane Oeffnung des Sackes schliefst sich bald
wieder von selbst, die Flüssigkeit sammelt sich wieder an, und das Uebel
besteht in derselben Weise wie früher. Gelingt es nicht, mit den
Fingern den Sack des Ganglion zu sprengen, so hat man gerathen,
diese Sprengung durcli einen kräftigen Schlag mit einem breiten Hammer
zu bewerkstelligen, ein Verfahren, welches ich, trotzdem es hier und da
zum Ziel führt und ich es zuweilen selbst anwende, Ihnen nicht empfehle,
weil bei ungeschickter Ausführung desselben ausgedehnte Quetschungen
entstehen können, über deren Folgen wir nicht immer Herr sind. Ich
wende in denjenigen Fällen, in welchen der Sack zu dick ist, um ihn zu
zersprengen, die Methode der subacuten Discision an; ich nehme
ein sehr dünnes, kurzes, krummes, spitzes Messer (Dieffenbach'sches
Tenotom), steche mit demselben in horizontaler Kichtung in den Sack ein
und mache mit der Spitze des Messers gegen die Innenwand des Sackes
verschiedene Schnitte: dann ziehe ich das Messer langsam zurück und
drücke während dessen die Flüssigkeit aus dem Sacke heraus. Nun lege
ich sofort eine Compresse darauf, wickle die Hand und den Vorderarm
in eine nasse Binde ein, so dass keine ausgiebigen Bewegungen gemacht
werden können, und lasse den Vorderarm 4 — 5 Tage in einer Armbinde
tragen. Jetzt wird der Verband entfernt, die kleine Stichwunde ist ge-
heilt, und das Ganglion kehrt gewöhnlich nicht wieder, während nach
der einfachen Entleerung durch die Function das Ganglion gewöhnlich
recidivirt. — Die Exstirpation des ganzen herniösen Sackes mit Haut-
schnitt ist wiederholt gemacht worden, einige Mal mit Glück, ohne nach-
folgende, erhebliche Entzündung, in einigen Fällen jedoch mit Vereiterung
der betroffenen Sehnenscheiden oder mit Verlust der Beweglichkeit der
Finger, so dass ich Ihnen diese Methode nicht empfehle. Die Ungleich-
heit der Erfolge nach den Exstirpationeu dieser Säcke mag davon ab-
hängen, ob eine weite oder eine sehr feine oder gar keine Commu-
nication mit der Sehnenscheide besteht; dass letzteres vorkommt,
davon habe ich mich bei gelegentlichen Untersuchungen au der Leiche
auch überzeugt; ob in solchen Fällen der Sack neben den Sehneuscheiden
neugebildet ist, oder ob die Oeffnung, durch welche die meisten dieser
Sehnenscheiden - Hernien mit der Höhle der Scheiden in Verbindung
stehen, im Lauf der Zeit obliterireu können und so der herniöse Sack
etwa ganz von der Sehnenscheide abgeschnürt werden kann, darüber
vermag ich Ihnen nichts Bestimmtes anzugeben. —
Die Behandlung der ausgedehnten Sehnenscheiden -Hydropsien in
der Hohlhand und am Vorderarm ist ausserordentlich viel schwieriger;
VorlcsmiK ;^)S. Aiili;iii'j; /ii f'apilcl XVfT. 585
(l;i die subcutane Discision hier aus vcrscliicdcncn Gründen nicht anwend-
bar ist, die Anwendung der Resorbentia selir wenig- leistet, so }>leibt
nichts anderes übrig, als zu MetlK)den zu greifen, welclie wenigstens in
vielen Fällen eine, wenn auch geringe Eiterung nach sicli zielien können.
Ueberlegen Sie sich daher vorher, ob es überhaupt notliwendig ist,
irgend etwas Eingreifendes zu unternehmen. Wenn, die Functionsstörung
nicht so beträchtlich ist, dass der Patient dadurch wesentlich in seinen
Geschäften gestört wird, so lassen Sie diese Dinge lieber unbcriilirt.
Muss aber etwas geschehen, so haben Sie fast nur zwisclien zweierlei
zu wählen, nämlich zwischen einer grossen Incision und einer Punctio))
mit nachfolgender Injectiou von Jodlösung. Wenn Sie die Punction
machen, was ich Ihnen mehr als die Incision rathe, so müssen Sie dazu
einen mittelstarken Trokart wählen, weil durch einen sehr feinen Trokart
die Fibrinkörper nicht heraustreten. Sie werden oft schon Mühe haben,
dieselben durch eine dicke Canüle herauszubringen, wobei Sie sich die
Sache sehr erleichtern, wenn Sie von Zeit zu Zeit etwas lauwarmes
Wasser durch die Canüle in den Sack einspritzen und auf diese Weise
durch die vermehrte Flüssigkeit den Austritt der schlüpfrigen Fibrin-
körper befördern. Die Quantität der ausgeleerten Massen ist, wie be-
merkt, oft eine sehr grosse ; ich habe einmal 1 '/g Wassergläser voll aus
einem Selmenscheidensack entleert. Hat man Alles vollständig heraus-
gebracht, so füllt man die Spritze mit einer Unze halb mit Wasser ver-
dünnter Jodtinctur oder mit einer entsprechenden Quantität Jod-Jod-
kaliumlösung und injicirt diese Flüssigkeit laugsam, lässt sie 1 — 2 Minuten
in dem Sack und lässt sie dann wieder abfliessen. Jetzt zieht man die
Canüle heraus, deckt die Wunde mit einer kleinen Compresse, wickelt
die Hand und den Vorderarm sorgfältig ein und fixirt denselben auf
einer Schiene. Der Patient bleibt mehre Tage im Bett. Es wird zu-
nächst wieder eine ziemlich erhebliche Anschwellung durch Ansammlung
von Flüssigkeit in Folge der acuten Entzündung des serösen Sackes
entstehen. Wird die Anspannung sehr bedeutend, so muss man die
Binde entfernen, die Stichwunde sorgfältig durch ein Pflaster schliessen
und die geschwollenen Theile mit starker Jodtinctur bestreichen. Im
günstigsten Falle wird die Geschwulst dann allmählig abnehmen, weniger
schmerzhaft werden und im Verlauf von 2 — ^3 Wochen ganz verschwin-
den. In vielen anderen Fällen jedoch wird eine, wenn auch kurz-
dauernde Eiterung erfolgen, die mit Eis erfolgreich in Schranken ge-
halten und überwunden werden kann. Im schlimmsten Fall kann es
jedoch auch hierbei zu einer ausgedehnten, tiefen vSehneuscheideneiterung
mit Nekrose der Sehnen und ihren Cousequeuzen kommen. — Die Er-
öffnung des ganzen Balges durch eine grosse Incision ist in neuerer
Zeit wiederholt gemacht, und zwar mit gutem Erfolg: massige Eiterung,
Heilung mit ziemlich guter Beweglichkeit der Finger. Freilich kann es
auch zu ausgedelmter progredienter Vereiterung der Sehnenscheiden
586
Von dem chroni.schen Hydrops der Sehnenscheiden.
kommen mit ungünstig-em Ausgang für die Function der Hand, auch
wolil mit tödtlicliem Ausgang durch Pyohämie.
Bei dieser Gelegenlieit muss ich noch nachholen, dass auch an
Gelenkkapseln ganz ähnlich wie an den Sehnenscheiden her ni ose
Ausstülpungen vorkommen, welche für sich hydropisch werden, ohne
dass sich die Hydropsie auf die ganze Synovialmembran erstreckt. Die
Fasern der Gelenkkapsel weichen aus einander, und aus diesem Schlitz
tritt die Synovialmembran wie ein Haudschuhfinger heraus in das Unter-
Obgleich sich gelentlich an allen Gelenken solche
hautzellgewebe
Fie-. 108.
Herniöse Ansstülpungen der Synoviahuembran des Kniegelenks nach hinten (nach
W. Grnber). Aa M. semimembranosns. b M. biceps. cd M. gastrocnemius. e M. plan-
taris, ff Synovialhernien. — J3a Kniegelenkkapsel, cd M. gastrocnemius.
// Synovialhernien.
Bildungen von rundlichen, gestielten, länglich gewundenen und anderen
Formen entwickeln können, so sind dieselben doch vorzüglich nur am
Knie-, Hand- und Ellenbogengelenk bekannt; an letzterem Gelenk habe
ich die isolirte Hydropsie dieser mit dem Gelenk commuuicirenden Sy-
novialsackhernien wiederholt beobachtet; geringe Steifigkeit des Gelenks
und massiger Grad von x4.rthritis deformans war damit verbunden.
Ich widerrathe dringend, diese Gelenkganglien operativ anzugreifen;
Vereiterung des Gelenks kann die Folge solcher Operationen sein.
Knorpelkörper, Chondrome, zum Theil selbst verknöchernd,
kommen in Zotten der Sehnenscheidensäcke vor; auch Lipombildung
Vorlesung P,S. Aiiliiiiio- /.„ Capii,.! XV U. 587
(Lipoma arborescens J. Müller) ist in den Zotten l)e()1)aclitct worden.
Diese Ncubildung-en sollen nur dann cxstirpirt werden, ^venn sie bedeu-
tende Beschwerden machen.
Wir wollen gdeicli hier von den chronischen llydropsieii der sul)-
cutanen Schleinibcutel sprechen. ]>ei der Krüffnung einer sdh'lien
Bursa durch eine g'leiclizeitige Hautwunde entwickelt sich oft eine ziem-
lich lang-dauernde Eiterung aus dem Sack, die freilich selten Gefall reu
nach sich zieht, wenngleich sich auch von hier aus eiiie Eiterung in das
Unterhautzellgewebe hinein erstrecken kann, die durch ilire lange Dauer
lästig wird; es bleibt eben nach der Heilung des grössten Theils der
Hautwunde eine feine Oeffnung zurück, durch welche man mit einer
Sonde in den Sack hineindringt; aus dieser S chl eim beut elf ist el
entleert sich täglich eine massige Quantität Serum. Die Heilung dieser
Fisteln kann man zuweilen durch Aetzung mit Höllenstein und Com-
pression mit Heftpflaster bewirken ; in manchen Fällen widerstreben die-
selben jedocli hartnäckig der Heilung; Sie können dann versuchen,
durch Einspritzung von Jodtinctur eine etwas intensivere Eiterung der
Innenfläclie des Sackes und eine Verödung durch Schrumpfung oder
Verwachsung desselben zu erzielen; ein kürzeres Verfaliren ist es jedocli,
durch die Fistel ein geknöpftes Messer in den Sack einzuführen und
denselben mit der darüber liegenden Haut vollständig zu spalten, so
dass seine ganze Innenfläclie zu Tage liegt; aus derscllien werden dann
allmählig Granulationen Ijervorwachsen, der Sack wird schruiupfeu, und
die Wunde wird schliesslich vernarben. Ich gebe diesem kürzeren und
dabei gefahrlosen Verfahren entschieden den Vorzug. —
Ganz analog der eben besprochenen Hydropsie der Sehnenscheiden
ist die Hydropsie der subcutanen Schleinibeutel. Druck und
Stoss sind vielleicht hier und da Entstehungsursachen; in vielen Fällen
ist es jedoch nicht möglich, irgend eine Veranlassung zu finden. Wenn-
gleich die Hydropsie an allen constanten, sowie gelegentlich neugebil-
deten subcutanen Schleimbeuteln vorkommen kann, so ist sie doch ganz
besonders häufig an der Bursa praepatellaris, welche nach Untersuchungen
von Linhart in vielen Fällen aus zwei und drei auf einander liegenden,
theils vollkommen abgeschlossenen, zuweilen miteinander communicireuden
Schleimbeuteln besteht. Die Hydropsie der Bursa praepatellaris ist sehr
leicht zu erkennen, indem die Geschwulst, w^elche etwa die Grösse eines
kleinen Apfels erreicht, sehr deutlich auf der Patella aufsitzt, und sich
durch die Untersuchung leicht nachweisen lässt, dass der Sack, in
welchem die Flüssigkeit enthalten ist, nicht mit dem Kniegelenk coni-
municirt. Häufig tritt diese Krankheit anfangs als acute oder subacute
Entzündung auf: die Ansammlung von Flüssigkeit erfolgt schnell, die
Geschwulst ist schmerzhaft, die Haut daiiiber etwas geröthet, der Kranke
588 Von dem chronischen Hydrops der Sehnenscheiden.
im Gehen sehr behindert. Die Ausg-äng-e können verschiedenartig- sein;
oft erfolg't die vollständig-e Resorption und der Znstand kehrt zum Kor-
malen zurück; iu andern Fällen erfolgt die Resorption theilweis, die
Erscheinungen der acuten Entzündung- verlieren sich und der Zustand
g-eht allmählig' in den chronischen über. Zu den seltensten Ausgängen
gehört das Bersten des Sackes; dies kann auch subcutan geschehen:
die Flüssigkeit entleert sich in das Unterhautzellgewebe und wird dort
resorbirt, oder es entsteht eine diffuse Zellgewebsentzündung. Am sel-
tensten ist die Ruptur des Sackes und der Haut zugleich; der weitere
Verlauf ist dann derselbe wie bei einer Stich- oder Schnittverletzung der
Bursa, worüber wir schon gesprochen haben.
Häufiger als die acut anfangende Form ist die gleich von vornherein
chronische. Sie entsteht ganz schmerzlos, sehr langsam, öfter bei
älteren, als bei ganz jungen Leuten. In England hat man diesen chro-
nischen Hydrops bursae praepatellaris den Namen „chambermaid-knee"
gegeben. Er soll dort besonders bei den Zimmermädchen vorkommen,
welclie in knieender Stellung täglich die Teppiche abzubürsten haben.
Mir erscheint es jedoch im höchsten Grade zweifelhaft, ob dies irgend
einen Einfluss auf die Entstehung des Leidens haben kann, indem schon
von mehren Anatomen darauf aufmerksam gemacht worden ist, dass bei
der knieenden Stellung nicht die Patella, sondern die Condylen der Tibia
die Stützpunkte für den Körper abgeben; um mit der vorderen Fläche
der Patella den Erdboden zu berühren, müsste man sich fast vollständig
auf den Bauch legen. Doch ist es möglich, dass^die starke Anspannung
der Haut über der Patella bei vielem Knieen eine Gelegenheitsursache
für die Entstehung dieser Krankheit ist.
Was den Inhalt dieser hydropischen Säcke betrifft, so ist derselbe
sehr viel weniger zäh, als derjenige der Seimenscheiden; jedoch
enthalten auch diese Säcke nicht selten Fibrinkörper, welche bei der
Palpation des Sackes mit den Fingern sich aneinander reiben, und knittern,
wie wenn man Stärkemehl zwischen den Fingern zerreibt. Der Sack
selbst wird mit der Zeit stark verdickt, um so mehr, je länger die Krank-
heit besteht. —
Bei acuten Fällen haben Sie folgende Behandlung einzuleiten: vor
allen Dingen muss der Patient ruhig liegen; dann machen Sie eine
starke Bepinselung mit Jodtinctur und wiederholen dieselbe. Gewöhnlich
schwindet so der Hydrops bald; den noch zurückbleibenden Rest suchen
Sie durch Compression zu beseitigen, welche Sie mittelst Heftpflaster-
streifen oder Binden appliciren. Auch können Sie von Anfang an die
Compression mit nassen Binden in Anwendung ziehen oder das Knie
mit einer hydropathischen Einwicklung umgeben; die Anwendung der
Quecksilbersalbe und des Quecksilberpflasters thut ebenfalls gute Dienste.
Der chronische Hydrops bursae praepatellaris macht so wenig Be-
schwerden, dass er dem Arzt gewöhnlich erst spät gezeigt wird. Die
Vorlosmi',^ :V.). Anliiiiij; zu Capilcl XYIT. 589
meisten Leute sind dadurcli in ilircn CJclilxiwe.^im^'cn kaiiiii ^•ciiirt.
Andere geben an, dass sie eine rriilicre Eniiiidinig als sonst in dem !)(;-
treffenden Gliede spüren. Die Kranklicit ist meist einseitig, kann Jcihtcli
aucli do|)])elseitig' vorkonnnen. Einen clironiselien Hydrops l)ni-sa(; ])rae-
patelkiris durch die oben angegebenen Mittel znr Uesorption zu Nringcn,
gelingt ausserordentlich schwierig. Soll das Ucl)el beseitigt \vci(h.'n, so
kann dies auf operativem Wege geschehen. Die einfaclie Function niil/t
auf die Dauer hier eben so wenig, als l)ci anderen llydro})sien, weil
sich wieder neue Flüssigkeit ansammelt; soll die Function wirksam ge-
macht werden, so muss ihr die Injection von Jodtinctur nachfolgen.
Dieselbe ist gefahrlos, wenn der Kranke bei der Cur Jluhe hält; die
Heilung erfolgt in der Regel radical. Eine andere Behandlung ist die
Spaltung des Sackes, wonach eine Vereiterung desselben erfolgt. Ist der
Sack sehr dick, so ist es gerechtfertigt, ihn vollständig zu exstirpiren,
dies muss jedocli immer mit grosser Vorsicht geschehen, damit man
nicht die nahe liegende Gelenkkapsel verletzt. Volkmann hat eine
Behandlungsmethode empfohlen, die ich wiederholt mit sehr gutem Er-
folg angewandt habe, nämlich die forcirte Compression: man legt eine
Hand-hoch gepolsterte Hohlschiene von Blech oder Holz an der Rück-
seite des Kniees an, gegen welche das Knie durch sehr feste Flanell-
binden mit aller Kraft angezogen wird; diese Art der Compression, welche
meist Oedem des Fusses und manchmal heftige Schmerzen zur Folge
hat, wird mehre Tage lang fortgesetzt. Kleine Hygrome (von vyQng
feucht) werden in 2 — 3 Tagen, grössere sehr alte in 6 — 8 Tagen zur
Resorption gebracht. Ich habe sehr gute Wirkungen von dieser Methode
bei Hygroma praepatellare gesehen; unsichrer ist dieselbe bei Hydrops
genu (pag. 579); bei Hydrops der Sehnenscheiden nützt sie selten.
Vorlesung 3 9.
C. Die ehroniscli -rheumatische Gelenkentzündung. Arthritis deformans.
Malum senile coxae. Anatomisches. Verschiedene Formen. Symptome. Diagnose.
Prognose. Therapie. — Anhang I: Von den Gelenkkörpern: 1. Fibrinkörper.
2. Knorplige und knöcherne Körper. Symptomatologie. Operationen. — Anhang II:
Von den Gelenk neurosen.
C. Die chronisch-rheumatische Gelenkentzündung. Chroni-
scher Gelenkrheumatismus. — Arthrite seche. Rheumatic
gout. — Arthritis deformans. — Chondritis hyperplastica
tuberosa. — Malum senile coxae. —
Sie werden zurückschrecken vor dieser Menge von Namen, die alle
denselben anatomischen Krankheitsprocess bezeichnen, und werden mit
Recht fragen, warum so viele Namen für dasselbe? Wenn eine Krank-
heit so viele Bezeichnungen bekommen hat, so ist dies oft ein Zeichen,
590
Von der chronischen Entzündiino- der Oelenke.
dass dieselbe in ihrem Wesen noch nicht recht verstanden oder zu ver-
schiedenen Zeiten sehr verschieden aufgefasst ist; dies ist nun hier
gerade gar nicht der Fall, sondern der Process selbst ist stets in gleicher
Weise aufgefasst, und alle Untersucher stimmen in den Resultaten voll-
kommen überein. — Es wird am besten sein, hier mit dem Anatomi-
schen anzufangen. Die Krankheit betrifft ganz besonders den Knorpel,
secundär auch die Synovialmembran, sowie das Periost und den Knochen;
in den meisten Fällen dürfte die Erkrankung des Knorpels das Primäre
sein. Die Veränderungen, welche wir am Knorpel finden, sind folgende :
der Knorpel wird an einzelnen Stellen höckrig, dann rauh an der Ober-
fläche, lässt sich zu Fasern zerzupfen, bei höhereu Graden der Krank-
heit fehlt er hie und da ganz, und der Knochen liegt stellenweise ganz
glatt, wie polirt, frei.
untersuchen Sie den zerfaserten Knorpel, so finden Sie auch an dem mikroskopischen
Object, dass die Intereelhilarsubstanz faserig ist, die ja ganz homogen hyalin sein muss.
Sie finden ferner, dass die Knorpelhöhlen rergrössert sind und Zellen enthalten, welche
in Theilung begriffen sind; diese Zellen sind jedoch nicht so klein, nicht so wenig ent-
wickelt, wie dies sonst bei den mit Entzündungen auftretenden Zellenbildungen der Fall
ist, sondern sie sind gut ausgebildet und zum Theil als neue Knorpelzellen erkennbar; der
Process geht unendlich langsam, und die ueugebildeten Zellen kommen zu einem höheren
Grade von Ausbildung (Fig. 109) als bei der früher beschriebenen Entzündungsform
Fig. 109.
Degeneration des Knorpels bei Arthritis deibrmans; bei a Verfettung der Knorpelzellen.
Vergrössernng 350 nach 0. Weber.
Voi'losmi;;- ■'>!). Anhaiif;- zu ("iiiiilcl XVTf. f)()l
(Fig. 104 pug. 559); ps erfolg! (I;il)(>i niidi iiirlil, wie. sonst !„•! i\rr lOnlzrnuliing i-im- K,-
weichung des Tnterceiriilargewebos, .sondern eine Z( rl;iscrmig; liindiii-cli ist der l'nx^ess srlinn
in seiner EigenthiimJiclikeit oharaklerisirf; doeli es konunt norh vidi'S Sond.'rhmr liiiizii.
Der rauli i>-ewordene Knorpel widersteht, den K'eihung-en dar (ieleiik-
cnden an einander nicht; er wird allniäldig- zerriel)en und scliwindet
durcli diese Usur selbst bis auf den Knoelien. llnniittelbar unter dein
Knorpel liegt stets eine wenn auch sehr dünne Schiclit einer zicmlicli
compacten Knochensubstanz, auf welche sofort das spongiöse Epi])liysen-
eude folgt; auf diese Schicht setzt sicli die Reibung nach Verlust des
Knorpels zunächst fort, ja in dieser Schicht bildet sich in Folge der
mechanischen Reizung durch die Reibung wieder Knochensubstanz; das
Mark der spongiösen Substanz verknöchert in geringer Ausdehnung unter
der Stelle, wo die Reibung erfolgt. Dennoch sclüeifen sich allmählig durch
die Bewegungen im Gelenk die gegenüberliegenden Knochen immer mehr
und mehr ab; da aber zugleich durch die Reibung innner wiedei- die
Bildung neuer Knochenmasse veranlasst wird, so bleibt die abgeriebene
Stelle meist fest und glatt, weil die Sklerosirung- dem Seil wund durcli
Reibung immer vorausgeht; so kann allmählig, w^enn das Gelenk be-
weglich bleibt, ein beträchtlicher Tlieil des Knochens verrieben werden,
und das sehr defecte Gelenkende des Knochens bleibt dabei immer glatt.
Diese Schliffflächen liegen in der Hüfte an der oberen Fläche des Femur-
kopfes und der Pfanne, am Knie au den beiden Condylen und so fort.
Die spongiöse Substanz des Collum femoris kann bei diesem Vorgang-
steil enweise osteoporotisch w^ erden, während an der SchlifPfläche Sklero-
sirung erfolgt; das Collum femoris kann zugleich von Osteophyten um-
wachsen werden und bekommt so eine höchst sonderbare Form. Dieser
Vorgang wird Ihnen höchst eigenthümlich vorkommen : hier Knochen-
schwund, dort Knochenneubildung bei demselben Process, dicht neben
einander au demselben Knochen! Die Krankheit beginnt nicht selten
als höckrige Knorpelwucherung und endigt mit Knorpelatrophie! Ich
denke, Sie sind an diese Combination von Schwund und Neubildung bei
chronisch-entzündlichen Processen schon gewöhnt; rufen Sie sich nur die
Caries ins Gedächtniss zurück, ^leu Ulcerationsprocess überhaupt, wir
haben ja auch da Zerfall an der Geschwttrsfläche, Neubildung in der
Umgebung in ausgedehntem Maasse kennen gelernt.
Zu den beschriebenen Erkrankungen des Knorpels und des Knochens
kommen einige Veränderungen an der Synovialmembran, die jedoch nicht
viel anders sind als beim chronischen Hydrops der Gelenke; die Gelenk-
höhle enthält eine wenig vermehrte, doch trübe, dünne, mit den verrie-
benen Knorpelpartikelchen untermischte Synovia. Die Membran selbst ist
verdickt, wenig vascularisirt, nur die oft sehr verlängerten Zotten sind
in den Spitzen mit vermehrten Gefässschlingen versehen. — Doch auch
die T heile um das Gelenk können an der Erkrankung Theil nehmen:
das Periost, die Sehnen und Muskeln, In diesen tritt nämlich sehr laug-
592
Von der clironischen Entzrmdnncf der Gelenke.
sam zuweilen Verkuöcherung auf, so dass die Geleukenden aussen stark
mit neugebildeter Knochenmasse bedeckt werden; diese Kuoclienwuclie-
rungen erreichen in einzelnen Fällen eine sehr grosse Ausdehnung.
Die Form dieser Osteophyten ist eine ganz andere, Avie wir sie bisher
kennen; sie sind hier glatt, rundlich, haben nicht die Form spitzer Sta-
laktiten, sondern sind mehr wie aufgegossen, wie eine dicke, im Fluss
erstarrte Flüssigkeit geformt; sie sind ausserdem nicht so porös wie
andere Osteophyten, sondern bestehen in allen Schichten aus mehr com-
pacter Knochensubstanz und sind meist mit einer dünnen Schicht Knorpel
bedeckt, wie das bei anderen Osteophyten nicht vorkommt. Durch diese
Eigenthümlichkeiten , die Sie nach Betrachtung einer Suite von Präpa-
raten leicht auffassen werden, ist diese Art der Gelenkkrankheit schon
von aussen so charakterisirt, dass man sie selbst an macerirten Knochen-
präparaten sehr leicht, ohne etwas über den speciellen Fall zu wissen,
erkennt (s. Fig. 110, 111, 112).
Fii?. 110.
Fig. 111.
Fis-. 112.
f
1 '.■• "
yM
l
?;^^^r
Fig. 110 nnd 112: Osteophyten
bei JDeginnender Arthritis defor-
mans. Fig. 1 10 : unteres Ende des
Humerus. Verkleinert, a Osteo-
phyten, h Schlifffläche des
Knochens.
Fig. 111: Cariöses Ellen-
bogengelenk, fungöse Ge-
lenkentzündung , Stalakti-
ten - ähnliche Osteophyten.
Verkleinert.
Fig. 112: Os meta-
carpi I. a nnd b
wie in Fig. 110,
Weshalb die Knochenneubildung bei dieser Krankheit einen so ganz
eigenthttmlichen Charakter annimmt, liegt wahrscheinlich einerseits in
dem langsamen Entwicklungsprocess, andererseits darin, dass hier der
Verknöcherung keine besonders reichliche Yascularisation vorausgelit,
wie l)ei den Osteophyten, welche sich bei Fracturheilung , bei Caries,
Nekrose, Ostitis etc. bilden; ist ein Gewebe sehr reichlich vascularisirt,
Vorlosmif;' ."'.). AiiliiiiiL; zu Ciipiirl XVII. f)();)
bevor es vorkuöduM-t, so iniiss sieh eine poröse Knoclieiisiihstjniz bilden,
denn je nielir GeHissc, luii so nielir iJiclaMi im Knochen. Uei der Ar-
thritis defornmns aber ii'eht der Kiioebcnbibbinii' keine bedenleii'b' (!(;-
fässneubildiini;- voraus, die Gewebe verknorpeln und verknöchern )neist,
wie sie da sind: das Periost, die Seliuen, sel))st C! eleu kkapsel,
Bänder und Muskeln, und Alles dies i^'eht äusserst lan^-sani \(»r sich;
so kommt es denn, dass ein mehr fester Knochen gebildet wird. Ks er-
eignet sich hierbei auch wohl, dass mitten im subserösen Zellgewebe in
der Nähe des Knochens ganz isolirte Knochenpunkte entstehen, welche
für lange Zeit isolirte, runde Stücke bleiben; erst spät verwaclisen sie
vielleicht mit der übrigen Knochenmasse, sehen dann wie angeleimt nus,
so dass man oft noch an der Form der Knochenneubildung die Art der
Entstehung verfolgen kann. Durcli diese periarticulären Knochenneubil-
dungen können die Gelenkenden ganz verschoben Averden und in eine
ganz abnorme, halb luxirte Stellung gerathen; das Gelenk kann da-
durch ganz unbeweglich werden. In manchen Fällen wachsen
diese Knochenbildungen auch in das Gelenk hinein, lösen sich ab
und werden zu freien Gelenkkörpern, wovon später mehr. — Endlich ist
noch zu 1)emerken, dass auch chronischer Hydrops sicli zu dieser Krank-
heit hinzugesellen kann, und so begreifen Sie w^ohl, dass unter allen
diesen concurrirenden Umständen die Gelenke so dilform werden können,
dass die Krankheit mit Eecht den Namen „Arthritis deformans" führt.
Ich bemerke j edoch hier noch einmal, dass alle diese patho-
logischen Veränderungen niemals zur Eiterung führen.
Wir kommen jetzt zum klinischen Bild dieser eigenthttmlichen
Krankheit; ich muss da nach meiner Erfahrung drei Formen unterschei-
den; eine Form, die meist polyarticulär und mit Muskelcontractureu
verbunden zu sein pflegt, eine zweite, die bei Individuen jugendlichen
und mittleren Lebensalters monarticulär auftritt, und eine dritte, die nur
im Alter vorkommt. Combinationen dieser Formen unter einander findet
man auch.
1. Der polyarticuläre chronische Rheumatismus (Arthrite
seche, Eheumatismus nodosus, rlieumatic gout, rheumatische Gicht) tritt
bei Menschen mittleren und jugendlichen Alters auf, häutiger bei Frauen
als bei Männern, häufiger bei xArmen als bei Reichen; schlecht genährte,
anämische Individuen werden davon vorzüglich befallen, wenn sich die
Krankheit auch gelegentlich bei sehr fetten Frauen entwickelt ; ein Rheu-
matismus articulorum acutus oder eine gonorrhoische Gelenkentzündung
können den Ausgangspunkt bilden, oft sind gar keine Ursachen zu ermit-
teln; nachdem der acute oder subacute Zustand der genannten Gelenkkrank-
heiten vorübergegangen ist, bleibt in einzelnen Gelenken, am häufigsten
in den Knieen, oft doppelseitig Steifigkeit, Schmerzhaftigkeit und leichte
Schwellung zurück. Die Krankheit kann aber auch ganz allmählig
chronisch mit massigen unstäten Schmerzen in den Gelenken anfangen.
Billroth chir. Path. n. Thcr. 7. Aufl. OO
594 ^'^•^^ '^'^1' flii'onisohen Entzfindung der Gelenke.
Anfangs brauchen die Kranken ihre Extremitäten noch g-anz gut; im
Verlauf von Monaten und Jahren jedoch nimmt die Beweglichkeit sehr
allmählig ab; intercurrent treten nach Anstrengungen und Erkältungen
subacute Hydropsien der Gelenke auf, docli resorbirt sich ein Theil der
ergossenen Flüssigkeit wieder; das Gelenk bleibt aber immer ein wenig
steifer nach jeder Exacerbation, zuweilen auch dicker. Morgens, wenn
die Patienten aufstehen, sind die Glieder so steif, dass sie fast gar nicht
bewegt werden können; nach einigen vorbereitenden Bewegungen geht
es dann im Laufe des Tages wieder besser, doch gegen Abend werden
die Gelenke wieder schmerzhafter. Es kommt nun ganz allmählich ein
neues Symptom hinzu: die Muskeln schwinden, die Beine werden dünner,
stellen sich auch wohl in Flexionsstellung; die atrophirendeu ^Muskeln
haben grosse Neigung, sich zusammen zu ziehen, was nach und nach
durch abnorme Stellung des Gelenkes begünstigt wird. Dabei bleibt das
Allgemeinbefinden vollkommen gut; die Patienten haben guten Appetit
und gute Verdauung, werden zuweilen fett und fiebern nur dann, wenn
neue acutere Exacerbationen des Gelenkleidens auftreten. Bei Druck auf die
Gelenke ist wenig Schmerz; ist die Bewegung der Gelenke möglich, so
fühlt und hört man ein sehr starkes Reiben und Knarren. — So geht
es Jahre lang fort. Endlich schwinden die Muskeln fast ganz, die Ge-
lenke werden unförmlich und steif, die Krauken werden, wie sich der
Laie ausdrückt, „ganz contract" ; betrifft das Leiden die Hüften oder die
Knie, so sind die Patienten für immer ans Bett gefesselt, können jedoch
nach Jahre langem Leiden bei gehöriger Pflege noch lange leben; am
häufigsten leiden die Knie-, Hüft-, Hand-, Finger-, Fuss- und Schulter-
gelenke.
2. Die Arthritis deformans ist fast immer monarticulär, selten
biarticulär in gleichartigen Gelenken, und kommt bei sonst vollkommen
gesunden, starken Menschen vor ; ich sah sie etwas häufiger bei Männern
als bei Frauen. Diese Form hat ihren Namen davon erhalten, dass bei
ihr die periostealen periarticulären Knochenbildungen und die Abschlei-
fungen so ins Colossale gehen, dass das Gelenk dadurch ganz unförmlich
wird. Ich sah diese im Ganzen seltne Krankheit an einer Hüfte, an bei-
den Knieen eines Individuums, au einem Fuss, an einem Ellenbogen, zwei-
mal an der Schulter. Meist ist keine Eutstehungsursache anzugeben ; iu
einigen Fällen waren Luxationen oder Distorsioneu voraulg-egangen; diese
Gelenke sind gewöhnlich schmerzlos, steif, zugleich hydropisch, und oft
sind freie knöcherne Körper darin, auch kann die Synovialmembran ganz
mit Fettzotten besetzt sein.
3. Mal um senile coxae. Tritt die Krankheit bei älteren Leuten
auf, so geschieht dies in der Regel in etwas milderer Form als bei den
schlimmen Formen des chronischen Rhe\imatismus. Die Hüfte ist dann
hauptsächlich oft der Sitz der Krankheit, daher der Name ,.]\Lilum coxae
senile", doch auch in der Schulter, in den Knieen, im Ellenbogen, be-
Vtirlcsmi';- ;;;). Anlimii,' zu Ciipilil XVII. r^i^r^
sonderst liäulii^- aber aucli an dou Fini;cni mul am ^tossoh Zclicn koinnil
diese AfCcetion bei alten Leuten oft i^'enu.i;- vor. Si(! Ijc.ü'iiiiit meist sehr
cbroniscb mit wenig Scbnierzon, oft in der lM»nii dci- lsclii;is, (b.di mii
ii'rosser Steifii^'keit, seltener mit aeiitem Initi;vlst;ulimii; die Shnli-keit ist
oft das einzig-e, worüber die Patienten anfaniis kl;i,i;(!ii, bcsoiKh-rs ;iiii
Morgen; ist das Gelenk im Gang, dann wird nncli und ii;icli die JMiucliMii
etwas besser, das Reiben in den Gelenken ist oft so deutlich, dass (Nt
Kranke den Arzt darauf aufmerksam macht. Anfälle mit lieltigeicii
Schmerzen und leichter Fieberbewegung sind 1)esonders in den Fälb-n
bemerkbar, wo der Process an den Fingern stark entwickelt ist; diese
werden dann im Lauf der Jahre ganz unförmlich dick an den Gelenken ;
die grosse Zehe schiebt sich ganz nach aussen, und der mit Knochen-
autlagernngen bedeckte Kopf des Os metatarsi primum tritt stark hervor.
Ist die Krankheit an der Hüfte entwickelt, so hinken die Patienten
leicht; die Kuochenauflageruugen sind bei den alten Leuten gewöhnlich
unbedeutend; doch der Schenkel wird allmählig kürzer, weil der Femur-
kopf und die Pfanne oben abgerieben werden; die Muskeln atrophiren
stark, die Hüfte wird endlich ganz steif, indess vergeht darüber manches
Jahr. Die Krankheit ist viel häufiger bei Männern als bei Frauen, be-
sonders häufig bei mageren Individuen. Leiden anderer, zumal innerer
Organe sind selten dabei zu constatiren, doch konnnt diese Krankheit
nicht selten bei Individuen vor, die überhaupt sehr zu Kalkablagerungen
und abnormen Verknöcherungen disponirt sind; Rigidität der Arterien,
Verknöcheruug der Rippen und der Zwischen wirb eis cheiben mit
Verknöcherung des vorderen Wirbelsäulenbandes sind Befunde,
welche sich nicht selten bei solchen Patienten darbieten, die am Malum
senile mehrer Gelenke leiden. — Die Diagnose des Malum senile ist
sehr leicht; nach der gegebenen Schilderung werden Sie dieselbe nicht
leicht verfehlen. —
Tritt die beschriebene Krankheit bei jüngeren Leuten monarticulär
auf, so kann man im Anfang zweifelhaft sein, ob man es mit einer fun-
gösen Gelenkentzündung oder mit Arthritis deformans zu thun hat; doch
bei weiterer Beobachtung wird die Entscheidung leicht sein. Eine weitere
Verwechslung wäre in späteren Stadien mit fungöser Gelenkentzündung
und Caries sicca möglich, bei der auch Muskelatroi)hie und das Reiben
im Gelenk Statt hat, und die auch grade bei jungen, sonst gesunden
Leuten mit sehr chronischem Verlauf vorkommt; doch bei Caries sicca
bilden sich nie so ausgedehnte Auflagerungen um das Gelenk, wie bei
Arthritis deformans; letztere zeigt auch bei langer Dauer nie Disposition
zur Eiterung und ist viel weniger schmerzhaft. — Wenn die chronisch-
rheumatische Gelenkentzündung doppelseitig oder an mehren verschiedeueu
Gelenken zugleich vorkommt, und die von Reizung der Synovialmembran
abhängigen Reflexcontracturen der Muskeln hinzutreten, so ist die Krank-
heit nicht zu verkennen. Der Rheumatismus nodosus wird sehr häufig
a8*
596 ^'^'^ii ^^''■' chronischen Entzündung der Gelenke.
mit der Gicht confunclirt, weil er in seinen Resultaten an Hand und
Fuss etwas Aelmlichkeit mit jener bietet. Die Gicht ist jedoch durch
ihre specifischen Anfälle und durch die Harnsäureausscheidungen so
charakterisirt, dass sie für eine Krankheit ganz anderer Art zu halten
ist; wir haben darüber ja schon früher (pag-. 465) gesprochen.
Die Prognose des polyarticulären Gelenkrheumatismus ist, was die
Heilbarkeit betrifft, sehr schlecht; tritt die Krankheit bei alten Leuten
auf, so halte ich sie gradezu für unheilbar. Bei jugendlichen Individuen
kann man bei äusserst sorgfältiger, ausdauernder Behandhing die Krank-
heit in manchen Fällen auf einem bestimmten Punkte zum Stillstand
bringen und eine geringe Besserung erzielen; doch selbst dies ist sehr
schwer erreichbar, nur wenige Fälle werden ganz hergestellt. Die Ur-
sache dieser ungünstigen Verhältnisse liegt eben in den anatomischen
Producten dieser Krankheit; der abgeschliffene Knorpel und Knochen
wird nicht wieder ersetzt, die Knocheuauflagerungen werden nicht resor-
birt, sie sind gar zu fest, zu solid angelegt; die Ernährung der Muskeln
findet in der natürlichen Bewegung der Glieder keine Unterstützung,
denn die schwachen Muskeln können die steifen, wenig beweglichen
Glieder kaum noch in Action setzen. Wenn Sie einen solchen Kranken
behandeln müssen, wappnen Sie sich mit Geduld und wundern Sie sich
nicht, wenn er bald diesen, bald jenen Collegen, schliesslich alle erreich-
baren Quacksalber consultirt und endlich Ihnen die Entstehung und hoch-
gradige Ausdehnung seiner Krankheit in die Schuhe schiebt. Ich wiederhole
noch einmal, dass sich marantische, febrile Zustände, Tuberkulose und
Amyloidkrankheit nie mit diesen Krankheitsformen verbinden. Eher dürfte
eine Beziehung zu Herz- und Arterienkrankheiten, so wie zu sklerosirenden
Processen innerer Organe existiren.
Behandelt müssen selbstverständlich auch diese Patienten werden;
der Arzt kann sich nicht nur die günstigen Fälle auswählen, auch der
unheilbare, auch der sterbende Kranke hat Anspruch auf seine Hülfe,
und wo er nicht helfen kann, soll er wenigstens zu mildern, zu lindern
bestrebt sein. Die chronisch-rheumatischen Gelenkentzündungen bekunden
durch ihr gleichzeitiges Auftreten an verschiedenen Gelenken, dass ihnen
nicht grade eine locale, auf ein specielles Gelenk von aussen einwirkende
Schädlichkeit, sondern häufig wenigstens eine allgemeine Krankheit zu
Grunde liegt: die in vielen Dingen so räthselhafte rheumatische Diathese,
diese Disposition zu Entzündungen der serösen Häute und zu Exsudativ-
processen in den Gelenken und Muskeln; sie wird oft als Ursache an-
geklagt, und wir wenden daher auch die antirheumatischen Mittel hier
an. Der dauernde Gebrauch von Kalium jodatum, von Colchicum mit
Aconit, die Diaphoretica und Diurhetica werden empfohlen, so wenig
Erfolge man auch davon aufzuweisen hat; doch es giebt eben nicht viel
Besseres, wenigstens nichts Anderes, was speciell auf den Eheumatismus
wirken könnte. Der innere Gebrauch der Carlsbader Quellen soll auch
VorJosuiiK ."V.). Aiihiiii;^' zu (,'apiU'l XN'IT. 507
bei dieser Krankheit, wie l)ci der üclitcn Gicht ziiwcih;)i ,u(;milzl Iwihcii.
Ausser diesen Mitteln und denjenigen, welche Je nach dw Individualität
des Kranken nach spcciellcn Indicationen in Anwenduni;' koniinen, werden
vorziii;-lich die warmen Bäder eni^jlbhlen, besonders die indifferenten
Thermen: Wildbad in Würtemberi;-, Wildbad-G astein im SalzkammergMit,
AA^iesbaden, Baden bei Zliricli, Bayatz in St. Gallen, Baden-Baden, 'J'cjilitz
(Böhmen), Krapina Teplitz in Croatien, Mehadia in Ungarn; ausserdem
aber können auch die Salzbäder g-ebraucht werden, zumal die etwas
erregenden bei beginnender Muskelatropliie. Auf das Klima der Bade-
orte muss besonders Kücksicht genommen werden, da alle diese Kranken
sehr sensibel gegen feuchte, kalte T\^itterung' sind. Die lieissen Schwefel-
quellen sind nur mit A^orsicht zu brauchen und sofort zu verlassen, sowie
sich darnach eine subacutere Exacerbation ausgebildet. Leben solche
Kranken in einem Klima, w^o ein kalter, nasser AVinter herrscht, so lasse
man dieselben im AVinter nach Italien gehen, doch nur an Orte, wo es
g'ute, g'eg-en eine eventuell eintretende Kälte eingerichtete Häuser giebt,
wie in Nizza, Pisa, Palermo. — Feuchte AVohnungen sind vor Allem
zu vermeiden. Die Kranken müssen sich warm halten, stets AVoUe auf
dem Körper trag-en ; auch die kranken Gelenke müssen stets mit Flanell
bedeckt sein. — AA^assercureu sind vielfach empfohlen worden und haben
einige günstige Resultate aufzuweisen ; sie sind, wenn sie vernünftig an-
gewandt und von w^irklichen Aerzten, nicht allein von Besitzern von
Wasserheilanstalten geleitet werden, gewiss zweckmässig und oft in der
Hinsicht besonders vortheilhaft, dass die Patienten durch diese Curen
abgehärtet und weniger impressionabel für alle äusseren Einflüsse, zumal
für Erkältung werden, auch wirkt das viele Wassertrinken und die Ein-
wickkmg nach den Bädern theils diurhetisch, theils diaphoretisch; end-
lich haben diese Curen den Vortheil, dass sich der Patient ihnen mit
Gewissenhaftigkeit und Consequenz hingiebt, während er des Arznei-
gebrauches bald überdrüssig wird ; die AVasserpatienten Averden bekannt-
lich bald ganz enragirt für ihre Cur und sind sehr dankbare Patienten,
selbst in den Fällen, wo der Erfolg der Cur gleich Null ist. Ist daher
die Allgemeinconstitution des Patienten nicht zu schwach und hat der
Kranke keine zu grosse Abneigung gegen solche Curen (was aucli vor-
kommt), so sind dieselben gewiss anzuwenden, doch sie müssen mindestens
ein Jahr fortgesetzt werden, wenn sie wirklicli nützen sollen. — Auch
die russischen Dampfbäder sind in einigen Fällen mit Erfolg gebraucht,
ebenso die Fichtennadelbäder. — Bei schlecht genährten Individuen ist
diese Krankheit auch schon mit Leberthran, Chinin und Eisen gebessert
worden. — Was die locale Behandlung betrifft, so können hier Ein-
reibungen verschiedener Art gemacht av erden, bei welchen das Frottiren
freilich das AA'ichtigere bleibt; Sie können Jodsalbe, reines Fett, Lini-
mentum ammoniacatum und Anderes dazu brauchen lassen. Die stärkeren,
ableitenden Mittel nützen durchaus nichts, und selbst die Jodtinctur kommt
^gg Von der ehronischeu Entzüiidunjj,' der Gelenke.
nur bei den subaciiten Attacken in Anwendung-, wo auch die ßlasen-
pflaster versucht werden mögen. Mit allen stärkeren Eeizmitteln auf
die Gelenke seien Sie vorsichtig : Douchen können hei den sehr chronisch
und torpid verlaufenden Fällen von vortrefflicher Wirkung sein; selbst
heisse Douchen, Danipfdouchen und loeale Schwefelbäder, Schlamm- und
Moorbäder haben sich in einigen Fällen" nützlich erwiesen; doch in an-
deren Fällen können selbst die sanftesten Regendouchen, die kaum einen
Fuss hoch fallen, schon zu reizend wirken; man kann die Wirkung nicht
immer vorhersagen, die Kranken müssen dies mit Vorsicht an sich unter
Leitung des Arztes ausprobiren; sowie Schmerzen eintreten, müssen die
Douchen ausgesetzt und nach einiger Zeit der Ruhe mit erneuerten
Vorsichtsmaassregeln wieder angefangen werden; treten immer wieder
und immer mehr Schmerzen auf, so bleiben die Douchen am besten
ganz fort.
Sollen nun die Glieder ganz in Ruhe gehalten oder bewegt werden?
Vollständige Ruhe ist aus verschiedenen Gründen hier nicht zweckmässig,
einerseits, weil die Gelenke sonst ganz steif werden, und zwar in einer
oft höchst unzweckmässigen Stellung, andererseits, weil die absolute
Ruhe die Atrophie der Muskeln nur noch mehr befördert. Massige Be-
wegungen, wenn auch niemals bis zur Hervorrufung von starken Schmerzen
oder bis zur Erschöpfung, sollen gemacht werden, und zwar sowohl passiv
als activ; die passiven Bewegungen kann der Kranke selbst mit den
Händen machen oder zweckmässiger mit den von Bonnet höchst ingeniös
zu diesem Zwecke construirten Maschinen. — Wir müssen endlich noch
etwas über die Muskelatrophie hinzufügen; wir können die Muskeln zu
stärken suchen durch Frottirungen, durch Elektricität und durch geregelte
Bewegungen, theils active, theils passive; die Heilgymnastik hat hier
ein nicht ganz undankbares Feld. Alle diese Curen müssen indess, wenn
sie irgend etwas nützen sollen, mit Consequenz Monate und Jahre lang
durchgeführt werden.
Sie sehen aus dieser therapeutischen Uebersicht, dass wir nicht arm
an Mitteln sind, die wir beim Rheumatismus chronicus mit Nutzen an-
wenden können, doch alle diese Curen sind theuer, oft unerschwinglich
für arme Leute, und da die Krankheit ganz besonders oft ärmere Leute
häufig befällt, so sind diese sehr, sehr unglücklich daran; denn in den
Hütten der Armen, sind trockne, warme Luft, gute iSTahrung, Schutz vor
Erkältungen, Bäder meist ein unerreichbares pium desiderium, und wenn
diese Grundbedingungen für die Cur fehlen, dann ist die Anwendung
theurer Arzneien reine Geldverschwendung. Ich komme auf das früher
Gesagte zurück: je früher Sie diese Kranken in Behandlung bekommen,
je jünger dieselben sind, um so mehr können Sie durch die Therapie
leisten, Sie können zuweilen den Stillstand der Krankheit erreiclieu.
Ist dieselbe bereits auf einer gewissen Höhe, dann ist auch der Still-
stand des TJebels schon schwieriger zu erzielen, von einer Heilung ist
Vorlosim«,' ']!). Aiiliaiif,' zu C.ipili'l XVTT. 5^)9
dann selten die Rede. — Das Maluni coxao senile halte ich in den meisten
Fällen für unlieilbai-, doch sind die ol)en i;ena.nnten Mittel, zumal wnrme
Bäder in den Tliernien rationellerweise auch dal)ei anzuwenden und
■lindern die Beschwerden oft sehr erhehlich. — Die Arthritis defornians
monarticularis ist unheilbar; stört das Gelenk selir, so kann es dui-ch
Kesection oder Amputation entfernt werden. —
A N II A N G I.
Von den Gelenkkörpern. Mures articulares.
Unter Gelenkkörpern verstehen wir mehr oder weniger feste
Körper, welche in einem Gelenk entstehen. Fremde Körper also, die
von aussen ins Gelenk eindringen, etwa eine Nadel, eine Kugel etc.,
oder einzelne losgesprengte Knochenstücke, welche lose im Gelenk liegen,
schliessen wir aus. — Es kommen zwei Arten von Gelenkkörpern vor:
1) kleine, ovale, Melonenkern -ähnliche oder unregelmässige Körper,
welche sich gewöhnlich in grosser Menge bilden und. sich bei mikrosko-
pischer Untersuchung als aus Fibrin bestehend zeigen. Diese entstehen
in Gelenken mit chronischem Hydrops und sind Niederschläge aus der
qualitativ und quantitativ abnormen Synovia wie die gleichen Körper in
hydropischen Sehnenscheiden; vielleicht können auch Blutgerinnsel zur
Entstehung solcher Körper Veranlassung geben. Diese Art von Gelenk-
körpern giebt an und für sich niemals Veranlassung zu operativen Ein-
griffen, sondern ist eine accidentelle Beigabe des Hydrops articulornm
chronicus; zuweilen kann man ihre Existenz vorherbestimmen, indem
man in solchen Fällen das Gefühl weicher Reibung bei der Palpation
der Gelenke bekommt; doch verändert dies nichts in der früher ange-
gebenen Therapie der chronischen Gelenkwassersucht, und complicirt
dieselbe nur insofern, als die eventuelle Reduction des Gelenks auf den
normalen Umfang dadurch erschwert werden muss.
2) Die andere Art von Gelenkkörpern ist knöchern, immer mit
dünnem Knorpelüberzug, zuweilen adhärent, zuweilen ganz gelöst im
Gelenk; die Form ist sehr verschiedenartig, oft höchst sonderbar; der
Name „Gelenkmaus" mag durch eine zufällige Form entstanden sein,
die mit einer Maus Aehnlichkeit hatte; diese Körper sind selten gleich-
massig oval oder rund, sondern oft höckrig, warzig, die Form ist die-
selbe wie diejenige der Osteophyten bei Arthritis deformans. —
Sie bestehen, wenn man sie mikroskopisch untersucht, aus einem dünnen Ueberzug
von wahrem, faserigem oder hyalinem Knorpel, der vom Centnun aus verknöchert, zu-
weilen jedoch nur verkalkt ist; diese Körper können also, da sie meist als Gewebe orga-
nisirt sind, nicht als Niederschläge aus der Synovia entstanden sein, sondern sie müssen,
selbst wenn sie ganz lose gefunden werden, früher mit Gewebe zusammengehangen haben,
in demselben entstanden sein und sich später losgelöst haben. So verhält es sich auch
600
Von den Geleiikkörpern.
Fig. 113.
in der That: diese Körper sind meist Osfeo-
phyten, welche von aussen in das Gelenk
eingedrungen sind; selten entstehen sie in
den Spitzen der Synovialzotten. — In den
Zotten liegen zuweilen schon im Xornial-
zustande Knorpelzellen; diese könnten zu
wuchern anfangen, und so würde in der
Zottenspitze ein Knorpelkern, eine Knorpel-
geseliwulst, ein Chondrom entstehen, welches
später central verknöchert; eine Zeit lang
bliebe diese Gesehwulst im Zusammenhang
mit der Zotte, endlich aber reisst sie ab und
liegt dann frei im Gelenk. Die viel häufi-
gere Art der Gelenkkörperbildung ist aber
die, dass sich in der Gelenkkapsel dicht
unter der Synovialmembran verknöchernde
Knorpelkörper (Osteophyliten) bilden, welche
sich ins Gelenk hineinstülpen und schliess-
lich abreissen und frei werden können. Wahr-
scheinlich kann der einmal losgerissene, frei
im Gelenk liegende Körper nicht mehr
wachsen; undenkbar wäre es freilich nicht,
dass er sein Ernährungsmaterial aus der
Synovia zieht. Amabile ist der Meinung,
dass diese Gelenkkörper anfangs immer
knöchern sind, und der knorplige üeber-
zug auf ihnen eine secundäre Bildung ist.
Neben der Entwicklung- der Ge-
lenkkörper bestellt immer ein »-e-
wisser Grad von Gelenkhydrops ;
letzterer ist vielleicht zuweilen die
primäre Krankheit. Die Gelenkkörper kommen fast ausschliesslich oder
doch vorwiegend im Kniegelenk und zwar nur bei Erwachsenen vor- sie
sind überhaupt äusserst selten, vielleicht die seltenste Gelenkkrankheit
Es existirt ein unzweifelhafter Zusammenhang- zwischen der Gelenkkörper-
bildung- der Arthritis deformans und dem Hydarthron; diese Erkrankun-
gen g-ehören ihrem Wesen nach zusammen und bilden einen mödicher-
weise auf ang-eborener oder erworbener allgemeiner Diathese beruhenden
Gegensatz zu den fungösen und fungös-eitrigen Gelenkentzündunii-en.
Die Symptome, welche für die Existenz eines freien Geleukkörper^
als charakteristisch betrachtet werden, sind folgende: der Patient leidet
schon längere Zeit an massigem Hydrops genu, vielleicht ohne es zu be-
achten; er empfindet plötzlich beim Gehen einen sehr empfindliclien
fecimerz im Knie, der ihn für den Augenblick verhindert, weiter zu
gehen; das Knie steht dann in halber Flexion oder Extension fest und
kann nur erst nach gewissen streichenden Bewegungen über das Knie-
gelenk wieder beweglich gemacht werden. Diese Erscheinung ist bedingt
durch das Emgeklemmtwerden des Gelenkkörpers zwischen die das Knie-
Vielfache Gelenkkörper im Ellenbugenge-
lenk nach Cru veilhier. Ein sehr seltner
Fall; meist kommen diese Gelenkkörper im
Kniegelenk vor.
Vürl.'siiiijr ;;;). Anliann /,,, ('Mpiid XVII. 001
gclcnk constituireiKlen Knoclicii, zwisclicn die Menisci oder in eine
der Syuüvinltiiselien. Doch schon elie diese Einklcniniiingscrschcinun;,-en
auftreten, klagen diese Leute zuweilen Woclien oder Monate hing über
Schwäche oder leichte Schmerzen im Knie, und die Untersucliung wird
in den meisten Fällen, wie schon erwähnt, einen leichten Grad von Hy-
drops genu constatiren. Die Kranken kommen durch die eigoitliiindiclie
Art, wie der heftige Schmerz eintritt, und durcli die Art, wie er wiedci-
verschwindet, sehr häufig selbst auf den Gedanken, es sei in ihrem Knie-
gelenk ein beweglicher Körper, und niclit selten fühlen sie denselben
ganz deutlich und wissen ihn durch gewisse Ijewegungeu des Gelenks
auch dem Arzte deutlich zu machen. In anderen Fällen fühlt zuerst dei-
Arzt bei wiederholter Untersuchung den Körper im Gelenk und kann
ihn bald hierhin, bald dorthin scliieben ; oft verschwindet dcrsell)e wieder^
und es kann mehre Tage und Wochen dauern, bis er eine Stellung ein-
nimmt, in welcher er wieder von aussen gefühlt werden kann. Alle
diese Symptome werden nur dann recht deutlich hervortreten, sobald der
Körper gelöst ist; so lange er noch adhärent ist, auch wenn er so
gross ist, dass er sich nicht einklemmen kann, macht er wenig oder
gar keine Beschwerden.
Wenngleich also die Beschwerden eines Geleukkörpers und eines
massigen Hydrops genu nicht immer sehr gross sind und sich spontan
nicht grade steigern, sich auch keine eitrigen Entzündungen, sondern
nach Gelegenheitsursachen nur von Zeit zu Zeit subacute Entzündungen
mit serösem Erguss ausbilden, so sind doch in anderen Fällen die
Schmerzen bei der Einklemmung, die Angst, jeden Augenblick diesem
heftigsten Schmerz ausgesetzt zu sein, so gross, dass viele damit behaf-
tete Individuen dringend Hülfe verlangen. — Die Versuche, diese Körper
durch Erregung einer adhäsiven Entzündung zu fixiren, was man durch
Compressionsverbände, Jodtinctur oder Vesicantieu anstrebt, haben wenig
Erfolg gehabt. Die Operation besteht in Extraction des Gelenkkörpers;
man macht dieselbe folgendermaassen : der Geleukkörper wird stark
unter die Haut an eine Seite des Gelenks vorgedrängt; jetzt schiebt man
die Haut darüber stark nach oben, spannt sie dadurch noch stärker,
schneidet dieselbe und die Kapsel bis auf die Geleukkörper ein, und
lässt letzteren hervorspringen oder hebt ihn mit einem kleinen Eleva-
torium (etwa einen Ohrlöffel, wie es Fock sehr practisch gemacht hat)
heraus; sofort schliesst man die Wunde mit dem Finger, extendirt das
Bein, lässt die Haut wieder in ihre normale Lage zurückgehen, so dass
der Schnitt in ihr tiefer liegt, als in der Kapsel, beide Wunden also
nicht direct communiciren; jetzt wird die Hautwunde mit Pflastern ge-
schlossen und dann das Glied auf einer Schiene extendirt gelagert; auch
ein Gypsverbaud kann hier zweckmässig angelegt w^erden; man könnte
einen solchen, mit grossem Fenster versehen, schon vor der Operation
appliciren. — Je nach den nachfolgenden Entzündungserscheinungen ist
(3Q2 Von den Gelenkneurosen.
die Behaudlung- der traiimatisclieii Gelenkentzimdimg- einzuleiten und
durch zuführen. — In früheren Zeiten hat man viel Unglück mit diesen
Operationen gehabt, es folgten nicht selten heftige Gelenkentzündungen,
und man durfte sich zuweilen gratuliren, wenn das Leben des Kranken
durch Amputation des Oberschenkels erhalten wurde. — Die Operations-
methoden wurden oft gewechselt; endlich hat das einfachste, oben be.
schriebene Verfahren den Sieg davon getragen. Fock hat auf diese
Weise 5 Mal die Operation ausgeführt und stets vollständige Heilung
erzielt. Die Entzündungserscheinungen waren unbedeutend, und meist
konnten die Patienten wenige Wochen nach der Operation ihren Ge-
schäften wieder nachgehen; es kommt wie bei der Staarextraction und
bei der Extraction eines Blasensteins wesentlich darauf an, dass die
Operation glatt und leicht ohne erhebliche Blutung und ohne Hindernisse
von Statten geht. Macht ein Gelenkkörper gar keine Beschwerden, so
applicirt man nur eine Kniekappe, um den Gelenkhydrops in Schranken
zu halten und dem Gelenk einen gewissen Grad von Festigkeit zu geben,
so dass keine zu ausgiebigen Bewegungen damit gemacht werden; der
Patient ist dadurch schon oft sehr beruhigt.
ANHANG II.
Von den Gelenkneurosen.
Unter Neurosen und Neuralgien versteht mau Erkrankungen,
welche sich durch mehr oder weniger intensive bald typisch bald atypisch
auftretende Schmerzen äussern, und deren Ursache nicht in Veränderun-
gen der Gewebe zu finden ist. Man vermuthet dabei eine functionelle
Störung in den Nerven ohne morphologische Veränderungen. — Dass es
rein functionelle Störungen, die wir als Schwäche und Ueberreizung zu
bezeichnen pflegen, in den Geweben und zumal in den Nerven giebt,
bei denen für unsere Sinne, wenn wir sie auch mit allen modernen Hülfs-
mitteln verstärken, morphologische und chemische Veränderungen weder
während des Lebens noch nach dem Tode aufzufinden sind, ist ausser
Zweifel; ob solche Veränderungen dennoch existiren, das zu entscheiden,
können wir uns nicht vermessen, denn was wir nicht mit unseren Sinnen
wahrnehmen, existirt für uns eben nicht. — Hiernach nennt man Zustände
der Gelenke, welche mit Schmerzen in denselben verbunden sind, und
wobei mau nichts Krankes an den Gelenken objectiv findet, „Gelenk-
neurosen". Typisch, d. h. zu bestimmten Tageszeiten, in Anfällen wie
bei den Neuralgien etwa des N. trigeminus treten die Schmerzen dabei
nie auf. Brodie hat zuerst die Gelenkneurosen als besondere Krank-
heitsgruppe abgegrenzt; Esmarch, Stromeyer und Wernher haben
sich in neuerer Zeit mit diesen Zuständen beschäftigt, und sie klinisch
weiter entwickelt. Nach den Auffassungen dieser Autoren sind aber
Voi-Irsmi-- 10. Cipilcl wTir. 003
aiicli solclic Gclciikcrkrankmig'cii (l;iniutor zu Itcgi-oircn, wclclio, wciin-
g'leich mit i^xu-ing'oii (loch nacliwcisharcn auatoiiiisc^licn Vcr;uulci-iiiii;-cn
verbunden, sich vorwiegend duvcli sclinicrzliafte Empfindungen iiiid
Functionsstörung-en äussern, und in Ijctraclit iliver licftigkcit ganz ausser
Verliältniss zu dem geringen erkennbaren Grade von Erkrankung stehen.
Hierdurch werden die Gelenkneuroscn in das Gebiet der sensitiven, sen-
suellen und psychischen Hyperästhesien mit ilircn refiectoi-ischen Com-
plicationen, kurz in das grösstentheils zu den Psychosen gehörige Gebiet
der Hysterie und Hypochondrie hineingeschoben. Die Fälle, welche ich
in meiner Praxis sah, und die nach den Schilderungen der genannten
Autoren als Gelenkneurosen zu bezeichnen wären, habe icli früher tlieils
als leichte Gelenkerkraukungen aufgefasst, deren Symptome bei hysteri-
schen Frauen und Mädchen ins Ungeheuerliche übertrieben, ja oft grade-
zu simulirt waren, theils als beginnende noch nicht deutlich erkennl)are
Gelenk- und Knochenkrankheiten, tlieils endlich als grosse Empfindlich-
keit, welche nach abgelaufenen Erkrankungen zurückgeblieben war. Es
ist ganz practisch , einen Namen für diese Gruppe von Fällen zu haben,
doch sind dieselben weder von einem Gesichtspunkt aus zu beurtheilen,
noch nach einer Schablone zu behandeln. — Allgemeine ärztliche Er-
fahrung und Menschenkenntniss müssen bei den Hysterischen am meisten
zur Behandlung helfen; der Eigensinn und die Consequenz von Weiliern
in der Durchführung von simulirten Contracturen und Krampfzuständen
ist für Jeden, ausser für einen erfahrenen Arzt unglaul)lich. Die Hysterie
ist eben wesentlich eine Geisteskrankheit, oft unheilbar, oder nur vor-
übergehend heilbar. — Handelt es sich um die Abstumpfung von grosser
Empfindlichkeit der Gelenkflächen, so mögen kalte Douchen, Kaltwasser-
kur, Seebäder in Anwendung gezogen, und fleissige Hebungen der Ge-
lenke gemacht werden, die zumal Esmarch empfiehlt. Doch sah ich
auch grade bei solchen Neurosen, welche nach früheren Gelenkkrank-
heiten zurückgeblieben waren, günstige Wirkungen von den Thermen,
Moorbädern und der Electricität.
Vorlesung 40.
Von den Anchylosen. Unterschiede. Anatomische Verhältnisse. Diagnose.
Therapie: Allmählige, forcirte Streckung, blutige Operationen.
CAPITEL XVIII.
Von den Anchylosen.
Dass man unter einer Anchylose (von c(yKv?^og knmim) ein steifes
Gelenk versteht, wissen Sie schon; ich muss jedoch hinzufügen, dass mau
9iese Bezeichnung nur dann zu brauchen pflegt, wenn der acute oder
604
Von den Anchylosen.
cln-onische Krankheitsprocess, welcher die Steifheit der Gelenke bedingt,
abgelaufen ist, wenn also die beschränkte oder vollkommen mangelnde
Beweglichkeit des Gelenks das einzig Krankhafte ist, was vorliegt.
Bildet sich z. B. während einer Entzündung des Knie- oder Hüftgelenks
eine stark flectirte Stellung der Extremität durch unwillkürliche, dauernd
bleibende Muskelcontractionen, und kann dann das Gelenk der Schmerzen
wegen nicht gestreckt werden, obgleich die mechanische Möglichkeit vor-
handen ist, so sprechen wir hier nicht von Anchylose des Gelenks, son-
dern von Gelenkentzündung mit Contractur der Muskeln. — Die Ursache,
weshalb ein Gelenk, trotzdem dass kein florider Entzündungsprocess mehr
vorhanden ist. nicht gestreckt werden kann, wird bald in mechanischen
Hindernissen, die ausserhalb des Gelenks, bald in solchen, die innerhalb
des Gelenks liegen, oder in den zum Gelenk wesentlich zugehörenden
Theilen zu suchen sein. Ein durch Atrophie und Schrumpfung ver-
kürzter Muskel, eine stark zusammengezogene Narbe der Haut, beson-
ders wenn sie an der Flexionsseite liegt, kann die Beweglichkeit des
übrigens normalen Gelenks sehr wesentlich beeinträchtigen; solche Ur-
sachen pflegt man nicht im Sinne zu haben, wenn man kurzweg von
Anchylose dieses oder jenes Gelenks spricht, man bezeichnet das als
Muskel- oder Narbencontracturen. Will man auch diese Art von Be-
schränkungen der Beweglichkeit als Anchylosen tituliren, so ist es gut,
sie gleich näher zu kennzeichnen als Anchylose durch äussere Ursachen,
Anchylosis spuria und dergleichen. — Es werden nun diejenigen Gelenk-
steifigkeiten übrig bleiben, welche durch pathologische Veränderungen
von Theilen bedingt sind, die wesentlich zum Gelenk gehören ; hier haben
wir es mit folgenden Dingen zu thun:
1. Narbige Verwachsungen zwischen den gegenüberliegenden Ge-
lenkflächen selbst; diese können quantitativ und qualitativ sehr ver-
schieden sein; sie entstehen nach Ausheilung der fungösen Gelenkentzün-
dung durch Verwachsung der wuchernden Granulationsmasse; hierdurch
werden bandartige Adhäsionen gebildet, etwa wie zwischen Pleura
Fic;. 114.
Bandartige Verwachsungen in einem resecii-ten Ellenbogengelenk von einem
Erwachsenen, fast natürliche Grösse.
Vorlosiinn- •10. Ciinilcl XYIIf.
r;or
pulmonalis und costalis, oder diclitc ausi^'cdelintc; Fliiclic.nvcrwaclisiui.ncii ;
dabei kann der Knorpel tjieilwelse erliallcii sein, meist ist sowohl
der Knorpel über/Aig- als aueli ein Tlieil des Knoclicns zei-slört. (Je-
wölinlich bestehen diese Verwaclisung-en wie andere Narlxiii aus Hiiide-
g-ewebe (s. Fig. 115); in luanchen Fällen vei-kiiöcliert dieses Narbeii-
g-ewebe nnd die beiden Gelenkendeii sind dann diu-cli kiiöclienie l>riickeii
verbnnden oder auch der ganzen Fläche nach ^()llständig■ verscliiiiol/.cn
(s. Fig. IIG):
Fiff. Uli.
Fio-. 115
Vollständige narbige Verwachsung der Ge-
lenkfläclien eines Ellenbogengelenks eines
Kindes , die Trocblea hnmeri so wie ein
Theil des Olecranon zerstört. Längsdurcli-
schnitt. Natürliche Grösse.
Anchj'losirtes durch knöcherne Brücken ver-
bundenes Ellenbogengelenk von einem Er-
wachsenen resecirt; fast natürliche Grösse.
2. Weitere Hindernisse für die Beweglichkeit sind die narbigen
Schrumpfungen der Gelenkkapsel und der accessorischen Hiüfsbäuder,
auch w^ohl der Menisci, die auch ganz zerstört w^erden können. Diese
narbigen Schrumpfungen treten nicht allein an denjenigen Stellen auf,
wo Fisteln sich gebildet hatten, sondern auch ohne jegliche Eiterung,
indem jedes Gewebe, welches lange plastisch infiltrirt und dadurch mehr
oder weniger erw^eicht war, später nach Ablauf des Eutzünduugsprocesses
mehr oder w^eniger schrumpft.
3. Ein nicht unbedeutendes Hinderniss für die Bew^eglichkeit und
zumal die Ursache, weshalb nach fuugösen Gelenkentzündungen ausge-
dehnteren Grades die Beweglichkeit zuweilen niemals wieder hergestellt
wird, liegt darin, dass die nothwendiger Weise verschiebbaren Wandungen
der dem Gelenk adnexen Synovialsäcke verwachsen und schrumpfen.
Um Ihnen dies klar zu machen, muss ich kurz die normalen Verhält-
nisse bei der Bewegung der grösseren Gelenke berühren. Die Gelenk-
606
Von den Anelilvosen.
kapsel hat niemals einen so liolien Grad von Elasticität, class sie sich
jeder Stellung- des Gelenks ohne Weiteres adaptirte. Denken Sie sich
einen Humerus an den Thorax gelegt, so müsste unten am Gelenk die
Kapsel sehr stark zusammengezogen, oben sehr stark ausgedehnt sein:
denken Sie sich den Arm stark erhoben, so müsste sich der obere
Kapseltheil stark zusammenziehen, der untere stark dehnen; die Gelenk-
kapsel müsste so elastisch sein wie Gummi; dies ist keineswegs der
Fall; sie zieht sich bei den yerschiedenen extremen Stellungen des Ge-
lenks nicht oder nur ^Yenig zusammen, sondern faltet sich nach ganz
bestimmten Eichtungen; wird die Stellung des Gelenkkopfes eine andere,
so dehnt sich die Falte wieder aus, und an der entgegengesetzten Seite,
die früher glatt war, bildet sieh eine neue Falte der Kapsel. Sie sehen
hier im senkrechten, der vorderen Körperfläche parallelen Durchschnitt
(Frontal schnitt nach He nie), das Schultergelenk in erhobener (Fig. 117)
und in gesenkter (Fig. 118) Stellung.
Fiü-. 117.
Fio-. 118.
^ t*-/
.^\-
Frontalsehnitte des Schultergelenks.
Fig. 117. Die Kapsel oben bei a gefaltet. Fig. 118. Die Kapsel unten bei a gefaltet.
Erkrankt die STnovialniembran , so bleibt das Gelenk gewöhnlich
in einer bestimmten Stellung stehen , der Humerus ist meist gesenkt ;
dabei kann die Synovialtasche unten (Fig. 118«) vereitern, versehrumpfeu,
verwachsen, und wenn auch das Gelenk übrigens ganz normal wäre,
würde doch keine Erliebung des Armes mehr möglieh sein, weil die
Kapsel an der unteren Seite des Gelenks sich nicht mehr entfalten kann.
So entstehen Anchylosen bei vollständig vorhandenem Knorpelüberzug;
die Seeretion der Synovia hört auf, die Knorpel können in der Folge
im Lauf von Jahren zu Bindegewebe degeneriren (wie bei veralteter
tixirter Luxation) oder selbst verknöchern, und damit wird die Anchylose
immer mehr fixirt. — Gleiche Verhältnisse existiren fast für alle Gelenke ;
die besten Abbildungen darüber tinden Sie in Henle's Anatomie. —
Volk mann hat schon früher diese Arten von Anchylosen, welche be-
sonders oft bei jugendlichen Individuen nach subacuter Coxitis (vorwie-
gend nach rheumatischen und puerperalen Gelenkentzündungen) ohne
Vorl.'siin-- .10. Ciipilcl Will. 0O7
Eiterung- aber mit starker Muskelspjunuiiig entstellen, unter dem Xanu'U
„knorpelige Ancliylosen" liescliriebeii ; der Name ist wohl dcsluill» ge-
wälilt, weil dabei der Knorpel lange völlig erhalten bleibt.
4. Ein weiteres mechanisehes llinderniss kann in Knoclienjuifhigc-
rungen liegen, welche sicli um das Gelenk aussen auf den (Jeknikcnden
der betreffenden Knochen bilden; füllt sicli z. 15. die Fossa sigmoidoa
anterior oder posterior des unteren Endes des llumerus init neugebilde-
tem Knochen, so kann entweder der Processus coronoideus odei- anco-
naeus der Ulna nicht eingreifen, und in ersterem Falle kann der Arm
nicht vollständig flectirt, in letzterem nicht vollständig extendirt werden.
Dies Hinderniss tritt besonders bei der Arthritis deformaus, selten bei
der fungösen Gelenkentzündung auf (vergl. Fig. 110, pag. 592).
5. Endlich können in Folge von Caries der Gelenkenden solche
Defecte entstanden sein, dass die Epiphysen ganz scliief zu einander
stehen und nicht zurückgeführt werden können, weil sie in ihren Fläclien
zu verändert sind und gar nicht mehr auf einander passen, in der ab-
normen (pathologisch luxirten) Stellung also gar nicht gegen einander
bewegt werden können. Betrachten Sie noch einmal Fig. 115: in Folge
der Zerstörung der Trochlea humeri ist die Ulna so an den Humerus
angezogen , dass bei einer gewissen Bewegungsmöglichkeit doch die
vollständige Flexion nicht gemacht werden kann, weil der Proc. coro-
noideus ulnae vorn an den Humerus anstösst, da die Fossa sigmoidea
anterior dort fehlt. — So kann ferner die Tibia bei Kniecaries halb
nach aussen und hinten verschoben werden, wobei die freiliegenden Cou-
dylen des Femur zuweilen stärker zu wachsen scheinen, so dass die zu-
sammengehörigen Gelenkflächen bald gar nicht mehr aufeinander passen.
Zu diesen mehr oder weniger im Gelenk liegenden Ursachen der
Unbeweglichkeit können äussere Ursachen hinzukommen, besonders die
schon erwähnten Muskelcontracturen und auch Narben, welche mit den
Muskeln, Sehnen und mit den Knochen verwachsen sein können, und
so zur Fixation in der falschen Stellung wesentlich beitragen. Auch
Verwachsungen oder Verklebungen der Sehnen mit der Innenfläclie der
Sehnenscheiden können Steifheiten und absolute Unbeweglichkeiten zur
Folge haben; dies kommt besonders an der Hand vor z. B. nach lang-
wierigen Phlegmonen, ohne dass Eiterung in den Sehnenscheiden be-
standen hätte; alle Finger stehen z. B. steif, unbeweglich, gewöhnlich
gestreckt, und doch sind die Gelenke dabei intact; eine geschickte Lö-
sung dieser Verklebungen durch passive Bewegungen kann dabei einen
zauberhaften Effect haben, die Finger können danach sofort wieder be-
weglich sein.
Die Diagnose der Anchylose überhaupt ist nicht schwierig; wohl
aber kann es sehr schwierig sein, zu bestimmen, welche der vorerwähn-
ten Verhältnisse die Schuld der mangelhaften oder völlig fehlenden Be-
weglichkeit tragen. Bei einer vollkommenen Steifheit ist mau leicht der
ßQg Von den Aneliylosen.
Ansiclit, dass es sich um eine knöcherne Auehylose handle; dies ist
keineswegs immer der Fall; sehr kurze, straffe Adliäsionen, zumal sehr
breite, flächenhafte Verwachsungen müssen auch eine absolute Unbeweg-
lichkeit bedingen. Je länger eine solche Anchylose ganz unbeweglich
besteht, je mehr ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine knöcherne
Verwachsung ausgebildet ist: selbst wenn das Gelenk verhältnissmässig
wenig erkrankt ist; ja wenn der grösste Theil des Gelenkknorpels nor-
mal ist, so wird doch, wenn das Gelenk viele Jahre ruhig steht (viel-
leicht nur in Folge von Kapselschrumpfungen), oft eine vollständige
knöcherne Anchylose nach und nach erfolgen, denn sogar ein ganz ge-
sundes Gelenk würde, wenn es Jahre lang unbeweglich erhalten würde,
schliesslich anchylotisch werden. Hierfür liegen experimentelle Nach-
weise voT; nach Untersuchungen von Menzel beginnt bei dauernder
Gelenkruhe eine Wucherung der Knorpelzellen, mit Vascularisation, die,
sich selbst überlassen, zur Grauulationsmetamorphose des Knorpelüber-
zugs führt, während die Synovialsecretion ganz aufhört. — Für die ge-
sunde Fortexistenz der Synovialmembran und des Knorpels ist Bewe-
gung eine Lebensbedingung; dies können Sie schon daran sehen, dass
alle Gelenkverbindungen des Körpers, welche wenig ausgiebige oder
gar keine Bewegungen zu machen haben, wie die Zwischeuwirbel-, die
Becken-, die Steruum- Gelenke eine sehr wenig entwickelte Synovialmem-
bran und einen höchst mangelhaften Knorpel haben. — Wir sind hierauf
gekommen, indem wir darauf aufmerksam machen wollten, wie man aus
der Dauer einer unbeweglichen Anchylose allerdings begründete Schlüsse
auf die Festigkeit derselben machen kann. Ist die Anchylose aber be-
weglich, wenn auch in geringem Grade, so ist die Synovialmembran
selten ganz zerstört; auch ein Theil des Knorpels pflegt in solchen
Fällen noch fort zu existiren. Ueber die Beweglichkeit und Unbeweg-
lichkeit einer Anchylose kann man sich sehr täuschen, wenn man den
Spannungsgrad der Muskeln, den der Patient auch nach abgelaufenen
Gelenkentzündungen zuweilen noch bewahrt, unbeachtet lässt; eine klare
Einsicht in diese mechanischen Hindernisse erhält man oft nicht eher,
als bis man die Muskelwirkung durch eine tiefe Chloroformnarkose ganz
eliminirt hat.
Was ist nun bei diesen Anchylosen zu thun? Kanu mau
das steife Gelenk wieder beweglich machen? Diese Frage ist für die
meisten Fälle zu bejahen. Kann man diese Beweglichkeit dauernd
erhalten und die normale Function, wenn auch nur annähernd,
wiederherstellen? Dies ist leider sehr selten möglich, gewöhnlich
nicht. Was soll aber dann geschehen? wozu dann eine Behandlung?
Diese letztere Frage ist für gewisse Fälle berechtigt, doch für die meisten
nicht. Wir haben früher wiederholt erwähnt, dass bei den Gelenkent-
zündungen die Glieder in der Eegel eine für die spätere Brauchbarkeit
unzweckmässige Stellung annehmen; ein Bein, welches im Knie recht-
V.irlcsiiii-- K). CJni.ilrl Will. (;()()
winklig" stellt, ist eine mibrauclibarc, uniKithig'c Last, man aniputirtc
dalier früher solche Beine, weil die Leute besser auf einem g'uten Stelz
als mit zwei Krücken gehen konnten. Ein Arm, der im Ellenbogen
ganz extendirt oder sehr schwach flectirt ist, ist ebenfalls ein höchst
unbequemer, zum Ergreifen und Fassen von Gegenständen unbrauch-
barer Körpertheil, und so fort. Man kann nun dadurch, dass man die
ancbylotischen Glieder in eine Stellung bringt, in welcher sie relativ am
brauchbarsten sind, also ein Hüftgelenk, ein Kniegelenk in ganz exen-
dirte, einen Arm in eine rechtwinklig gebogene Stellung, dem Patienten
schon sehr viel nützen, und dalier sind diese Operationen, diese Streckun-
gen oder Beugungen der Anchylose doch höchst dankbare Operationen.
Die Anchylosen in unzweckmässiger Stellung waren eine Zeit lang un-
endlich häufig, werden immer seltner und w^erden ganz aufhören, sobald
das von uns lebhaft verfochtene Princip, die Gelenke schon bei der Be-
handlung der acuten oder chronischen Entzündungen in die für die
eventuelle Anchylose passendste Stellung zu bringen, allgemeiner durch-
gedrungen sein wird. Selten wird es einem Chirurgen der modernen
Zeit begegnen, Auchylosenoperatiouen, die nur eine Verbesserung der
Stellung zum Zweck haben, an Kranken zu machen, die er während
der Gelenkentzündung selbst behandelte. Doch es giebt noch immer
eine ganze Menge von Fällen, welche auf dem Lande unter den un-
günstigsten Verhältnissen beliandelt werden müssen, und wo es denn
doch zu einer Winkelanchylose im Knie- und Hüftgelenk kommt, so dass
die Anchylosenstreckungen immer noch zu den ziemlich häutigen Ope-
rationen gehören.
Die Bestrebungen, krumm und steif geheilte Glieder grade zu richten,
sind sehr alt. Schon in den chirurgischen Schriften der Aerzte des
Mittelalters findet man Abbildungen und Beschreibungen von Maschinen,
welche zu diesem Zweck construirt sind, denn die Methode, durch lang-
same Streckungen mit Hülfe von Mascliinen die Krümmungen zu besei-
tigen, ist die ältere; man hat eine grosse Menge von Apparaten für die
verschiedenen Gelenke construirt, mit Hülfe deren man die Streckung
und Beugung der Extremitäten durch Schraubenwirkung forciren kann.
Diese Apparate finden jetzt vorwiegend in denjenigen Fällen Anwendung,
in welchen man glaubt, mit der Graderichtung der Gelenke auch die
Beweglichkeit erhalten zu können: da diese Fälle aber äusserst selten
sind und auch sie doch wesentlich durch die schnelle Streckung gefördert
werden, so ist die Anwendung der Maschinen sehr in Abnahme ge-
kommen. Der langsamen Streckung der Anchylosen gegenüber steht
die schnelle, gewaltsame Streckung, das fälschlich sogenannte brise-
ment force. Diese Operation hatte, bevor man das Chloroform kannte
und in diesen Fällen anwandte, sehr viele Schattenseiten; sie war sehr
schmerzhaft und nicht ungeftihrlich ; es bedurfte enormer Gewalt, um die
gewaltsame Streckung der Anchylosen, das Zerbrechen und Zerreisseu
Billrotli chir. Putli. u. Tlier. T. Aufl. ^^
Q^Q Von den Anohylosen.
derselben auszufiilireu imil nicht allein die Hindernisse im Gelenk waren
Schnld, sondern auch besonders die Muskeln, welche sich sofort lebhaft
Contrahirten, sowie Schmerz eintrat; man war daher oft genöthigt, die
Sehnen der sich anspannenden Muskeln zu durchschneiden, bevor man
zur Anchylosenstreckung- schritt; dadurch wurde die Operation compli-
cirter; die Folg-en der Streckung- wusste man auch noch nicht recht zu
behandeln, man band die gestreckten Glieder auf Schienen, oder zwängte
sie in Maschinen fest; heftige Entzündungen und starke Anschwellungen
waren die Folgen; die Metliode wollte keinen allgemeinen Anklang
finden. Bouvier und Dieffenbach waren fast die Einzigen, welche
sie von Zeit zu Zeit übten; andere Chirurgen zogen vor, diese Patienten
als unheilbar zu betrachten, oder sie den Orthopäden zur allmähligen
Streckung zuzuschicken, oder falls die Patienten arme Teufel waren, das
Glied zu amputiren, damit sie mit einem Stelzfuss sicherer umhergehen
konnten. So stand die Sache, als B. v. Langenbeck 1846 die ersten
Versuche machte, unter Anwendung einer tiefen Chloroformnarkose die
Anchylose, zunächst des Kniegelenks, zu strecken; es ergab sich dabei
das höchst interessante damals ganz neue Factum, dass die contrahirten
Muskeln bei dieser Narkose völlig lax und nachgiebig werden und sich
wie Gummi ausdehnen lassen; hierdurch wurden Tenotomien und Myo-
tomien für diese Operation unnöthig. Da die Operation durch die Chlo-
roformnarkose schmerzlos wurde, so konnte mau sie verhältnissmässig
langsam und vorsichtig und ganz allein mit Händekraft ausführen. Die
Erfolge waren so ausserordentlich günstige, dass diese Methode, die in
ihrer neuen Form kaum noch den etwas brutalen Namen „brisement
force" verdient, bald allgemein verbreitet wurde und eine Zeit lang die
allmählige Streckung durch Maschinen und Gewichtsextension vielleicht
zu sehr verdrängt hat. Die Methode der Operation, die Indicationen
dazu, die Vorsichtsmaassregeln , die Nachbehandlung wurden durch
B. V. Langenbeck selbst nach und nach so ausgebildet, dass diese
Operation als eine der sichersten und einfachsten angesehen werden darf.
Damit Sie, durch den Namen „brisement force" verleitet, sich keine zu
grässliche Vorstellung von dieser Operation machen, will ich Ihnen die
Streckung eines im rechten Winkel gebogenen Kniees beschreiben: der
Kranke liegt anfangs auf dem Rücken und wird nacli und nach so tief
chloroformirt, dass alle Muskeln schlaff sind und keine Spur von Reflex-
bewegungen auftritt; ist dieser Zustand eingetreten, so wird der Patient
auf den Bauch gelegt; ein Gehülfe hält den Kopf, ein anderer legt
seinen Arm unter die Brust des Patienten, um so das Athmeu zu er-
leichtern. Puls und Respiration werden genau beobachtet, da die Opera-
tion sofort unterbrochen werden muss, sowie bedenkliche Erscheinungen
durch die tiefe Narkose auftreten. Der Kranke wird in der Bauchlage
so weit an das untere Ende des Operationstisches gezogen, dass das
Knie auf den Rand des Tisches zu liegen kommt; auf dem Operations-
ViirlcsiiM!.;; K). l 'iiinlrl Will. Ol 1
tisch iiiuss ein fest g'cpolstcrtcs liossliaarkisscu hcrcstigi sein, .letzt
stutzt sicli ein (Jeliiilfc mit l)ei(lcii Münden mit g-anzcr Kraft auf den
Oberselienkel, der Operateur stellt an der Ansscnscite dos linken (ancliy-
losirten) Kniees, leg't seine linke Hand in die Fossa poplitea, so dnss sie
den Oberselienkel lierunterdriiekt, die rechte setzt er auf die hintere
Seite des Unterschenkels, der hinteren Fläche der Tibiacondylcn ent-
sprechend, also dicht oberhalb der Wade, und mit dieser rechten Hand
drückt er nun den aufwärts g-erichteten Unterschenkel herab. Ist die
Anchylose noch frisch, nicht zu fest, so wird unter einem hörbaren wei-
chen Krachen und Reissen der Unters(dienkel allmählig nachgelicn und
nach und nach in ganz grader Stellung angelangt sein. — Gelingt die
Streckung niclit so leicht, so setzt der Operateur seine Hand etwas
tiefer am Unterschenkel au, etwa an der Wade oder dicht unterhalb
derselben; hier darf aber keine so grosse Gewalt angewandt werden,
als an der früheren Stelle, w^eil auf diese Art, zumal bei einer gewissen
Weichheit des Knochens, die Tibia leicht unterhalb der Condylen brechen
könnte; die Kraft muss hier mehr ziehend, exteudirend wirken. • —
Kommt man auf die eben beschriebene Weise auch nicht weiter, so ver-
sucht man zunächst die Adhäsionen im Gelenk durch eine stärkere
Flexion zu sprengen: man fasst den Unterschenkel von vorn und sucht
ihn langsam, doch unter gleichmässigem , stetigem Druck zu flectiren,
hierbei reissen zuweilen die Adhäsionen leichter, als bei der Streck-
bewegung: sind nur erst einige Adhäsionen gesprengt, dann geht es ge-
wöhnlich leicht auch mit der Extension, Alles leidenschaftliche Euckeu
und Stossen ist entschieden schädlich und führt auch fast nie zum Ziel.
— Ist man endlich mit der Streckung so weit gekommen, wie man es
für den einmaligen Operationsact für zweckmässig erachtet, oder ist der
Unterschenkel wirklich vollkommen gestreckt, so kehrt man den Pa-
tienten wieder auf den Eücken um, lässt den Oberschenkel durch Ge-
httlfen mittelst Hu et er 'scher Bindenzügel stark herunterdrücken, den
Unterschenkel am Fuss stark extendiren, und legt nun vom Fuss bis 1
Zoll weit vom Perinäum einen starken Gypsverband an, nachdem man
zuvor um das Knie, an den Enden des Gypsverbandes (unten und oben,
wo der stärkste Druck später Statt finden wird), dicke Lagen Watte
umgelegt hat. Weil aber der Gypsverband doch nicht immer so schnell
erhärtet, wie der Patient aus der Narkose erwacht, bindet man über
den Gypsverband an der Flexionsseite eine ol)en und unten stark ge-
polsterte feste Hohlschieue mit einigen Bindetouren fest, damit sich das
Knie nicht wieder zusammenzieht; diese Hohlschiene muss nach 3 — 4
Stunden wieder entfernt werden; dann ist der Verband fest genug-, um
den sich contrahirenden Muskeln Widerstand zu leisten. — Die Schmer-
zen, welche der Patient, nachdem er aus der Narkose erwacht ist, im
Gelenk empfindet, sind nicht immer sehr heftig, oft im Verhältniss zu
der aufgewandten Kraft auffallend gering. Der Fuss schwillt zuweilen
39*
ß|2 Von den Anchylosen.
etwas ödematös an, wenn man ihn nicht recht eingewickelt hat; ist dies
aber der Fall, oder geschieht es gleich nach der Operation, so erfolgt
daraus keine weitere Beschwerde. Sollten die Schmerzen gleich nach
der Operation sehr heftig sein, so legt man über den Gypsverband eine
Eisblase und macht eine subcutane Morphiuminjection. Kach 8 — 10
Tagen kann man dem Wunsch des Patienten, mit dem Verband aufzu-
stehen und mit Krücken oder Stöcken umherzugehen, nachgeben. Kach
8—12 Wochen ist die Anchylose in der neuen Stellung geheilt; der Pa-
tient hat mittlerweile seine Krücken fortgeworfen und geht mit einem
Stock, vielleicht schon ganz frei ohne Alles, wenn auch mit steifem, doch
gradem Knie; jetzt kann der Verband abgenommen und der Patient als
geheilt betrachtet werden.
Bei dem geschilderten Fall haben wir angenommen, dass eine
Operation genüge, die vollständige Streckung des Kniees zu erreichen.
Dies ist jedoch nicht immer der Fall, sehr häufig darf man bei der ersten
Operation nicht so weit gehen, wenn man nicht riskiren will, starke und
folgenschwere Verletzungen zu machen. Welche Umstände können uns
denn hindern, die Operation gleich in einer Session zu vollenden? Be-
sonders sind es ausgedehnte Karben der Haut, die zur äussersten Vor-
sicht mahnen ; zumal Narben in der Kniekehle sind oft sehr schwer und
nur allmählig zu dehnen, sie würden reissen, wenn man die Extension
forciren wollte. Die Narben liegen zuweilen auch wohl um die grösseren
Gefäss- und Nervenstämme, deren Scheiden mit in die frühere Ulceration
hineingezogen sein können, und eine Zerreissung dieser Theile würde
eine sehr bedeutende, vielleicht lebensgefährliche Complicatioii sein.
Nach jeder Narbenzerreissung kann Eiterung, selbst Verjauchung folgen;
und man darf daher die Narben der Haut nie bis aufs Aeusserste, bis
zur Zerreissung spannen. Ist man mit der Streckung auf dem Punkt
angekommen, wo die Narben sehr gespannt sind, so muss man einhalten,
legt jetzt den Verband an und wiederholt in 4 — 5 Wochen die Ope-
ration, und so fort, bis man die Streckung erreicht hat. — Ein fernerer
Umstand, der zur Vorsicht auffordert, ist die fehlerhafte Stellung der
Tibia, welche im Verlauf der Kniecaries entstanden sein kann, zumal
die Neigung der Tibia zur Luxation nach hinten; es ist unter allen Um-
ständen schwer, zuweilen unmöglich, diese Stellung der Tibia zu besei-
tigen, doch geht es noch am besten, wenn man die Streckungen sehr
allmählig macht; eine forcirte Streckung würde in solchen Fällen die
völlige Luxation nach hinten zur Folge haben: dann ist eine vollstän-
dige Graderichtuug überhaupt nicht möglich. — Sie müssen nun nicht
erwarten, dass diese Kniee, wenn sie auch ganz gerade gestreckt sind,
die normale, schöne Form wieder bekommen; das ist niemals der Fall.
Auch kann sich nach vollendeter vollkommen gelungener Gradrichtuug
ergeben, dass das Bein etwas zu kurz ist, tN^eil es vom Beginn der
Krankheit an etwas im Wachsthum zurückblieb. Doch da wir nicht,
Voii.'siitiK to. Ciipii.'i xvm. r;i3
wie die Seliolteu, mit nackten Kniecn zu gelten bnuiclien, so l<(»niiiil es
nicht so sehr auf die Form an, wenn dns Knie iini- i^rade ist uiul Fcstj^--
keit genug- zum Gelien l)ietet. — Weunglcicli die mil Tiimor nllnis he-
iiaf'teten Gelenke fast zu allen Zeiten, seihst woiii Fistehi vorhanden
sind, in die für den Gebrauch passendste Stclhing gohrncht werden
können, und in einen geschlossenen oder Kapselvcrhand zu hringeii sind,
so dürfte doch die Zeit, wo eben die Fisteln geschhtssen uiul die Narben
frisch, dick und ])riichig sind, am ungünstigsten für die Streckung sein,
weil in dieser Zeit Hautnarl)cnzcrreissungen und neue Eiterungen am
ehesten zu erwarten sind. In solchen Fällen mache ich jetzt nie mehr
einseitige Streckungen in der Cldoroformnarkose, sondern weiule da immer
Gewichtsextension an. —
Was hier in Betreff Graderichtung der Kniegelcnkanchylosen gesagt
ist, lässt sich auch ohne Weiteres auf Hüfte und Fuss übertragen. Die
Anchylosen der Schulter und des Ellenbogens haben eine ganz andere
functiouelle Bedeutung; bei ihnen handelt es sich meistens um die
Wiederherstellung der Beweglichkeit, und diese ist durch die Anchy-
losenzerreissung nüt nachfolgendem Gypsverband nicht zu erreichen.
Will man nach der Streckung des Kniees bei wenigen Verwachsungen
und leidlicher Gesundheit des Gelenks den Versuch machen, eine Be-
weglichkeit zu erzielen, so darf man natürlich nach der Operation keinen
Gypsverband anlegen oder einen solchen wenigstens nicht lange liegen
lassen, sondern muss Maschinen appliciren, mit welclien man einige Zeit
nach der Streckung Bewegungen anstellt oder die Bewegungen mit den
Händen machen. Ich will nicht in Abrede stellen, dass es Fälle giebt,
in welchen man auf diese Weise in der That eine leidliche Beweglichkeit
erreicht; sie sind aber selten, und es sind Fälle, in welchen entweder
nach Gelenkfracturen oder nach kurz vorübergehenden Gelenkentzündungen
eine Steifigkeit zurttckblieb ; ich möchte fast glauben, dass in den ersteren
dieser Fälle sich die Beweglichkeit im Lauf der Zeit auch von selbst
durch den täglichen Gebrauch hergestellt hätte; nach rheumatischen und
puerperalen Gelenkentzündungen ist es allerdings sehr wichtig, dass die
oft ausgedehnten, doch anfangs nicht sehr festen Verwachsungen zumal
der Synovialsäcke rechtzeitig nach Ablauf der Entzündung gelöst werden,
denn später werden nicht nur die Vei-wachsungen immer fester, sondern
auch die schrumpfenden Kapselbänder werden weniger nachgiebig und
der Knorpel wird atrophisch, degenerirt zu Bindegewebe und verknöchert.
Man mache sich im Allgemeinen keine zu günstigen Illusionen über das
durch die Anchylosenstreckungen Erreichbare; es ist in der That schon
ein grosser Triumph der älteren Chirurgie gegenüber, dass wir jetzt
die Anchylosen fast ganz aus den Indicationen für die Amputation
streichen können, womit jedoch der Weg zu weiteren Ausbildungen der
neuen Methode, zur Erreichung noch besserer Resultate keineswegs
versperrt ist.
Q\4: ^on den Anchylosen.
Bei Ancliyloseii , welche noch einen g-ewissen Grad von Beweglich-
keit des Gelenkes zulassen, kann man immer zuerst die Streckung- mit
Gewichtsextension und Maschinen versuchen. Es ist kein Zweifel, dass
durch die verbesserte Technik dieser Methoden das Terrain der forcirten
Streckung- in neuerer Zeit wieder etwas eingeengter geworden ist.
Es g-iebt Fälle, wo die meckanischen Verhältnisse des Gelenks der
Art sind, dass die Gelenkenden überhaupt nicht mehr in eine andere
Stellung- g-ebracht werden können. Icli habe Ihnen schon früher das
Präparat eines Ellenbogengelenks als Beispiel angeführt; es liegt z. B.
eine Arthritis deformans vor, die Gruben am unteren Ende des Humerus
oberhalb der Trochlea sind mit neugebildeter Knochenmasse angefüllt;
hier ist es unmöglich, die Ulna zu bewegen, weder vorwärts noch rück-
wärts; ähnliche Verhältnisse kommen gerade bei Arthritis deformans
auch an anderen Gelenken vor ; die Anchylosen, welche dabei entstehen
sind daher eben so wenig als bei Gelenkdifformitäteu nach wahrer
Arthritis beweglich zu machen; beide Krankheiten werden daher meist
Contraindicationeu für die Anchylosenstreckungen sein. — Endlicli kann
aber, wie früher erwähnt, die Verwachsung der Gelenkenden eine
knöcherne sein, es kann eine Anchylosis ossea vorliegen; nur selten,
und zwar nur bei einzelnen verknöcherten Brücken wird es möglich sein,
solche Anchylosen zu sprengen, in den meisten dieser Fälle wird die
Anchylose unverrückbar fest stehen. Was ist hierbei zu thun? Man
kann auf zweierlei Weise die Stellung eines solchen Gelenks verändern:
nämlich durch Einknickung des Knochens ober- oder unterhalb des an-
chylosirten Gelenks, oder durch Aussägung eines Stückes aus dem Gelenk
oder aus dem Knochen. — Was das erstere betrifft, so würde mancher
Chirurg die Achsel zucken, wenn man es zur Methode erheben wollte,
und doch ist diese Einknickung des Knochens, selbst die vollständige
Fractur, z. B. des äusseren oder inneren Condylus femoris bei Knie-
gelenkstreckung oft unabsichtlich gemacht und meist gut abgelaufen. Mir
ist es mehre Mal bei Streckung der Kniegelenkanchylosen, einmal bei
Streckung einer Plüftanchylose begegnet, dass ich eine Infraction oder
vollständige Fractur des Knochens machte, ohne es zu wollen; das Gelenk
selbst blieb stehen wie zuvor, doch am Knie oberhalb, am Hüftgelenk
unterhalb desselben knickte der Knochen ein bis zu einem Winkel, welcher
den Winkel der Geienkstellung compensirte, und die Graderichtung war
factisch erreicht, wenn auch nicht durch Sprengung der Anchylose. In
allen Fällen legte ich sofort den Gypsverband an, der Verlauf war wie
bei jeder einfachen subcutanen Fractur, die Schmerzen noch geringer
wie nach Anchylosensprengungen und der Schlusserfolg vollkommen be-
friedigend. — Ich sehe nun gar nicht ein, warum man diese Art, die
unmögliche Anchyioseustreckung durch Infraction des Knochens erfolg-
reich zu umgehen, verwerfen sollte, und Avüi-de dieselbe, wo sie leicht
ohne bedeutende Gewalt, allmählich ohne starken Ruck vor sich geht,
Vorlcsimo- 40. (.'apilcl XVIIL f;]5
entschieden jeder Gelenkresection im Kiii(; und lliil'lc^ vor/Jchcn : i« li l»iii
sog-ar der Ansicht, dass man stets vcrsuclien sollte, mindestens die Knie-
g-elenki-esection , man mag- sie nun ausfülircn, wie man will, durcli die
Infraction des Obersclienkels zu umgehen, falls dieselbe sich leicht aus-
führen lässt; bei anderen Gelenken ist natürlich die Kescction aus ver-
schiedenen Gründen A'orzuziehen.
Es g'iebt drei verschiedene Arten, hei knöch(M-uen Anchvloseu zu
reseciren :
1. Nach lihea Barton (die Methode ist l(S2r) veröfl'entliclit) : man
schneidet bei winkliger Kniegelenkanchylose nach vorgängigem ^\'ei(•Il-
theilschnitt mit der Säg-e ein Stück aus dem Oberschenkel dicht obcili;iII)
des Gelenks, und zwar ein dreieckiges Stück, dessen Basis nach oben
liegt, und dessen nach unten liegender Winkel sich mit dem Winkel der
Auchylose zu einem graden compensiren muss (man könnte übrigens
dies Stück auch aus dem anchylosirteu Gelenk selbst ausschneiden)-
dann wird der Schenkel gerade gerichtet, das Gelenk bleibt intact, die
Krümmung wird in den Oberschenkel verlegt, wie bei der Infraction.
Diese Operation ist mehrfach mit gutem Erfolg ausgeführt bei Hüft- und
Kniegelenkanchylosen.
2. Man macht die subcutane Osteotomie durch das anchylosirte
Gelenk nach B. v. Langenbeck; dies Verfahren, welches wir früher bei
den schief geheilten Fracturen und Rhachitis (siehe pag. 245 u. 551) als sehr
brauchbar kennen gelernt haben, ist für die knöchernen Auchyloseu ))is
jetzt wenig angewandt, und deshalb kann man darüber noch kein Urtheil
fällen. In modificirter Form hat sie Gross mit sehr günstigen Erfolgen
ausgeführt; er durchbohrt die Anchylosen mehrfach quer und trennt die
Verwachsungen mit feinen Meissein.
3. Die totale Resection des Gelenks. Ich habe schon oben
meine Bedenken über die Zulässigkeit der Resection bei Auchyloseu
des Knie- und Hüftgelenks geäussert und würde dieselbe nur als ultimum
remedium und valde anceps betrachten; früher empfahl man die Resection
sehr dringend zur Beseitigung einer Anchylose im Ellenbogengelenk: hier
kann man allerdings durch die totale Resection für das anchylosirte Ge-
lenk ein bewegliches, zuweilen auch ziemlich brauchbares Pseudogeleuk
eintauschen, wenn Alles gut abläuft; das ist es aber, worauf es an-
kommt und worüber wir nicht immer Herr sind! Wer wird sein Leben
für ein steifes Ellenbogengelenk aufs Spiel setzen wollen? Die Resultate
sind gerade nach Resectionen wegen Anchylosen im Ellenbogengelenk
nicht immer gut gewesen, weder für die Beweglichkeit noch quoad vitam,
wenn auch einzelne Fälle eine gewisse Zeit hindurch sehr brillant in
ihrem Erfolge erschienen. Man wird daher die Resectionen auch hier nicht
übertreiben dürfen. — Was die Schulter betrifft, so liegen hier ganz
eigenthümliche Verhältnisse vor; die Erfahrung lehrt nämlich, dass Leute
mit steifer Schulter durch consequente Uebung ihr Schulterblatt so be-
616 Ueber die angebornen, myo- und nem-opathischen Gelenkverki-iimmiingen etc.
weglicli machen können, class die Steifheit im Schultergelenk verhältniss-
mässig wenig- g-enirt, und da wäre es doch Thorheit, in solchen Fällen
zu operiren. — Die Kranken mit Caries des Handgelenks sind gewöhn-
lich so froh, wenn die Krankheit nach vielen Jahren endlich ausheilt,
dass sie sich nicht über ihre steife Hand beklagen, doch sind erfolgreiche
Eesectiouen anchvlosirter Handgelenke in neuerer Zeit gemacht worden;
über die Endresultate solcher Operationen ist freilich noch wenig be-
kannt. — Was den Fuss betrifft, so wird hier von Eesection bei An-
chylose in schlechter Stellung nicht die Eede sein; gewöhnlich ist Defect
der Fusswurzelknochen die Hauptursache von Fussverkrümmungen nach
Gelenkentzündungen. Es wird von der Art des einzelnen Falles ab-
hängen, ob der Fuss zum Gehen brauchbar ist, ob eine Graderichtung
in zweckmässige Stellung möglieh und erfolgreich sein kann, oder ob
ein guter, sicherer Amputationsstumpf vorzuziehen ist.
Vorlesung 4 1.
CAPITEL XIX.
Ueber die angebornen, myo- und neuro])atl]is(3lien Gelenk^
verkrüinnmogeii so wie über die Narbencontracturen.
Loxarthrosen*).
I. Deformitäten embryonalen Ursprungs, bewirkt durch Entwicklungsstörungen der Ge-
lenke. IL Deformitäten nur bei Kindern und jugendlichen Individuen entstehend, bedingt
durch Wachsthumsstörungen der Gelenke. III. Deformitäten, welche Ton Contocturen
oder Lähmung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen abhängen. IV. Bewegungsbeschrän-
kungen in den Gelenken, bedingt durch Schrumpfung von Fascien und Bändern! V. Nar-
bencontracturen. - Therapie: Dehnung mit Maschinen. Streckung in der Narkose.
Compression. Tenotomien und Myotomien. Durchschneidung von Fascien und Gelenk-
bändern. Gymnastik. Elektricität. Künstliche Muskeln. Stützapparate.
Meine Herren!
Wir haben heute über diejenigen Deformitäten zu sprechen, welche
nicht grade immer in primären Erkrankungen der Gelenke ihren Grund
haben, doch aber zu abnormen mechanischen Verhältnissen der Gelenke
führen, sei es dass die Gelenkflächen aus verschiedenen Gründen abnorme
Formen annehmen, sei es dass bei normaler Form die Beweg-uuo-en nach
«iner oder mehren Richtungen gehemmt werden durch Hindernisse, welche
m abno]-men Zuständen der Muskeln, Fascien, Sehnen und Haut bedingt
sind. Es handelt sich da meist um Steifheiten, Verkrümmungen, Be-
wegungsbeschränkungen in den Gelenken, welche ausserhalb des Synovial-
==•) Loxarthrosis von Xo^og schief, (iQOoov Glied, Gelenk.
saekes lieg'CMi. Tcli ibli;c in dicscni Abscliiiill; vorvvie;>-cnd der Eintliciluiif;-
Volkniann's, dessen vortrefriiclic Arheit über diesen Ge^-enstand in
der von v. Pitlia und mir lierausg'eg-el)cnen riiirnri^ie ich Ihnen nichl
i;enug- zum Studium cmpfclilcn kann.
1. Deformitäten embryonalen Ursprungs, bedingt dnich i^nt-
wicklung-sstörungen der Gelenke.
Diese Verkrümmungen sind innner angeboren; sie konnnen bei weitem
am häufigsten am Fuss vor und zwar besonders oft in Form des soge-
nannten „Klumpfusses, Fes varus s. equino-varus". Wenngleich
man jede Fussverkriimnuing- , bei welcher der Fuss zu einem „Klunii)"
zusammengezog-en ist, als Klumpfuss bezeichnen kann und früher be-
zeichnet hat, so versteht man darunter jetzt doch nur diejenige Form-
veränderung des Fusses, bei welcher der innere Fussrand erhoben ist;
der Fuss steht dabei gewöhnlich auch etwas in Plantarflexion, und lässt
sich bei Kindern entweder gar nicht oder nur mit grosser Mühe unvoll-
kommen mit den Händen in die normale Stellung bringen. Lernen die
mit solchen Füssen (meist ist diese Missbildung doppelseitig) gebornen
Individuen gehen, so treten sie mit dem äusseren Fussrand auf; dieser
rollt sich nach und nach immer Aveiter nach einwärts, wird platt, die
Fusssohle zieht sich zusammen, der mittlere und vordere Theil des Fusses
bleibt im Wachsthum zurück, die Gelenke werden anchylotisch und die
Füsse werden so in der That zu einem unförmlichen Klumpen; der
äussere Theil des Fussrückens wird zur Gehfläche, es bildet sich da eine
dicke Schwiele, unter derselben ein Schleimbeutel; da der Fuss gar nicht
bewegt wird, atrophiren die Muskeln des Unterschenkels, so dass fast
nur Knochen und Haut übrigbleiben: so entsteht die Aehnlichkcit mit
dem Pferdefuss. Man hat verschiedene Grade des Klumpfusses unter-
schieden, ausgehend von der noch unbedeutenden Deformität unmittelbar
nach der Geburt als erster Grad bis zu der eben geschilderten Miss-
gestalt. Es ist dazu zu bemerken, dass die höheren Grade des Klump-
fusses nur durch das Gehen entstehen; würde ein solches Individuum
gar nicht auf den Füssen auftreten, so würde sich die angeborne Stellung
derselben wahrscheinlich nur wenig oder gar nicht ändern.
Ueber die Ursachen der angebornen Klumpfussbildung hat man
sich die verschiedenartigsten Vorstellungen gemaclit. Die typische fast
immer gleiche Form dieser angebornen Verkrümmung scheint von vorn-
herein darauf hinzuweisen, dass es sich um die Störung eines typischen
Entwicklungsactes der unteren Extremitäten handelt; denn wenn foetale
Krankheiten, Störungen irritativer Natur, abnorme Druckverhältnisse im
Uterus die Schuld trügen, dann würden sich doch wohl Differenzen der
Fälle untereinander zeigen, wie wir solche später noch kennen lernen
werden. Mir scheint daher folgendes in neuester Zeit Erforschte von
höchster Bedeutung für die Entstehung der in Rede stehenden Miss-
618 Ueber die angebornen. niyo- und neuropathischen Gelenkverkrüminimgen etc.
bilclimg- zu sein. Escliriclit liat gezeigt, class die imteren Extremitäten
im Beginn ihrer Entwicklung der Art an der Bauclifläelie des Embryo
hinaufwachsen, dass ihre Ettckseiten, also die Kniekehlen dem Bauch
zugewandt sind; noch im Lauf früher Entwicklungsmonate müssen die
Beine eine Achsendrehung machen, so dass die anfangs nach rückwärts
stehenden Füsse sich nach vorn drehen. Liegen die Extremitätenaus-
wüchse so nahe, dass sie unter gemeinschaftlicher Hautdecke zu einer
Exti-emität verschmolzen erscheinen, oder wirklich verschmelzen, so kann
die erwähnte Achsendrehung nicht erfolgen und bei solchen Missbildungen
(Sirenen), sind dann die Füsse ganz nach rückwärts gerichtet. Diese
typische unter den eben erwähnten Verhältnissen gehemmte, sonst aber
sich immer regelmässig vollziehende Achsendrehung steht höchst wahr-
scheinlich der Art in Verbindung mit dem angebornen Klumpfuss, dass
bei diesem die Achsendrehung im Fusstheil der Extremität nicht ganz
zur Vollendung kommt. Der angeborne Klumpfuss würde danach in
die Klasse der Hemmungsbildungen gehören; über die Gründe dieser
Hemmungsbildung vermögen wir bis jetzt freilich ebenso wenig auszu-
sagen als über andere Missbildungen dieser Kategorie. Als eine Con-
sequenz der fehlerhaften Eichtung, in welcher der Fuss nun im Uterus
stehen bleibt, und in welcher er weiter wächst, sind die von Hueter
constatirten abnormen Formen, zumal Schiefheiten der Fusswurzelknochen,
so wie die abnormen Läugenverhältnisse der Muskel anzusehen, von welchen
letzteren die zu kurze Bildung des M. gastrocnemius am auffallendsten
und am längsten bekannt ist. — Diese ganze auf genaue Beobachtungen
basirte Erklärung für die Entstehung des angebornen Klumpfusses ver-
dient so sehr den Vorzug vor allen anderen früheren rein hypothetischen
Erklärungsversuchen, die meist von einer supponirten foetalen Myelitis
mit consecutiven Paralysen und Contracturen ausgingen, dass letztere
kaum noch mehr als historischen Werth beanspruchen können.
Einige andere angeborne Verkrümmungen der Füsse sind nachge-
wiesener Maassen von abnormen Lagerungen zumal abnormen Druck-
verhältnissen abhängig. Volkmann hat darüber höchst interessante
Beobachtungen gesammelt; diese Fälle sind indess alle unter einander
etwas verschieden, ein Beweis, dass dabei mancherlei Zufälligkeiten ob-
walten. — In noch anderen Fällen sind grössere Knochenstücke gar
nicht zur Entwicklung gekommen, z. B. das untere Ende der Tibia oder
Fibula, das untere Ende des Kadius oder der ganze Radius (manus
vara). — An der Wirbelsäule bleiben zuweilen einzelne seitliche Hälften
der Wirbelkörper im Wachsthum zurück, oder es sind solche Stücke
überzählig eingeschaltet, was eine seitliehe Verbiegung der Wirbelsäule
(Scoliosis) zur Folge hat; diese Fälle von angeborner Scoliose sind indess
ganz ungemein selten ; die Wiener Sammlung besitzt einige solche seltne
Wirbelsäulen -Exemplare. — Endlich ist auch noch die in der Länge
mangelhafte Entwicklung des M. sternocleido-mastoideus hier zu er-
Vorlesung -11. Capitcl XIX. Ollj
wähnen, die nicht so gar selten angeboren vorkommt, und auch eine
ziemlieh typische Form darbietet; die Wirbclknoclien sind dabei, so weit
bekannt, normal; über die Ursache dieser Missbildung-, die meist erst
nach Ablauf einiger Jahre auffallend wird, weiss man niclits ; die darüber
aufgestellten mir bekannten Hypothesen haben für mich kaum irgend
welche Wahrscheinlichkeit.
II. Deformitäten, nur bei Kindern und jugcndliclien Indivi-
duen entstehend, bedingt durch Wachsthumsstörungen der
Gelenke.
Alle Körperhaltungen, wie Stehen, Gehen, Sitzen etc. werden theils
durch die Formen der Gelenke und durch die sie zusammenhaltenden
Bänder, theils aber auch durch die Muskelwirkungen bedingt. Wie be-
deutend letztere bei allen unseren Stellungen, ja selbst bei der Art des
Liegens mitbetheiligt sind, wird Ihnen am leichtesten klar werden, wenn
Sie versuchen, einer Leiche, bei der die Muskelstarre aufgehört hat, be-
stimmte Stellung zu geben; Sie werden dann sehen, dass wir die natür-
lichen durch die Formen der Gelenke und Bänder bedingten Henmiungen
selten benutzen, sondern ihnen meist durch Muskelactionen zuvor und zu
Hülfe kommen. Individuen, deren Muskel rasch ermüden, sei es dass
letztere zu schwach gebildet, sei es dass sie in Folge von Krankheit
erschöpft, sei es dass sie nicht geübt sind oder aus Trägheit nicht ge-
braucht werden, suchen begreiflicher Weise bei jeder Stellung, die sie
einnehmen müssen, solche Lagen für die jedesmal in Betracht konnnenden
Glieder, bei denen die Muskelthätigkeit möglichst unnöthig wird und die
natürlichen Hemmungen eingreifen können. Der articuläre Druck, welcher
durch die Muskelwirkungen stets gleichmässig auf die ganze Gelenk-
fläche vertheilt erhalten wird, erleidet durch das Nachlassen oder Auf-
hören der Muskelthätigkeit eine derartige Veränderung, dass einzelne
Theile der die Gelenke constituirenden Knochenenden den Druck ganz
allein zu tragen haben. Diese abnorme Belastung würde nun, w^enn sie
von kurzer Dauer wäre, und wenn die Knochen ihre vollkommene Aus-
bildung und Festigkeit erreicht haben, keine w^eiteren Folgen haben.
Doch wenn Knochen ~ die noch im Wachsthum begriffen sind, die noch
weich sind und noch eine Zeit laug weich bleiben, bis ihre Formen zur
höchsten Vollendung entwickelt sind — wiederholt und in immer län-
gerer Dauer einem einseitigen immer wieder auf den gleichen Punkt
wirkenden Druck ausgesetzt bleiben, dann verändert sich nach und nach
die Form der Gelenkflächeu und der Gelenkbänder; auch die Knochen
gerathen dann secundär durch den Druck in Entzündung und in einen
pathologischen Erweichuugszustand, der oft mit Schmerzen verbunden
ist, und mit raschen Schritten nehmen die in Folge der abnormen Be-
lastung eingetretenen Wachsthumsstörungen in den Gelenkeuden zu ; ihnen
adaptiren sich die Bänder und Muskeln, und die an einem Theil des
620 Ueber die angebornen, myo- und neuropathischen Gelenkverkrümmungen etc.
Skelettes begonnenen abnormen statischen Verhältnisse wirken mit Con-
sequenz nach physikalischen Gesetzen auf die Form und Entwicklung
des ganzen Skelettes. Als wichtigste Beispiele dieser Categorie führe
ich Ihnen die Scoliose, das Genu valgum und den P es planus an.
Unter „Scoliosis" (von oyioliog gekrümmt) versteht man den Zu-
stand der Wirbelsäule, in welchem sie dauernd auf eine Seite gebogen
ist, und zwar so dass diese seitlich gebogene Stellung eine stabile ge-
worden ist. Es ist schon erwähnt, dass eine solche Stellung die Folge
von abnormen Bildungen der Wirbelkörper sein kann; sie kann ferner
durch enorme Ausdehnung einer Brusthälfte in Folge von pleuritischem
Exsudat zu Stande kommen, auch durch starkes Zusammenfallen einer
Thoraxhälfte nach Kesorption oder Entleerung solcher Exsudate, endlich
auch durch Fixirung des Beckens in schiefer Stellung, sei es dass diese
Beckenschiefheit durch scheinbare oder reelle Verkürzungen eines Beins
nach Gelenk- und Knocheukrankheiten oder durch andere Dinge bedingt
sind. Alle diese Verhältnisse sind relativ selten die Ursache der Sco-
liosen, welche wir hier im Sinne haben, und welche bei jungen Mädchen
kurze Zeit vor der Pubertätsentwicklung aufzutreten pflegen. Diese
Scoliosen haben eine ganz typische Form : in der Eegel ist der Lumbal-
theil der Wirbelsäule convex nach links und der obere Dorsaltheil convex
nach rechts ausgebogen. Man streitet darüber ob die untere oder obere
Krüminung zuerst entsteht, ob die erste die primäre und die zweite die
secuncläre (compensatorische) ist, oder umgekehrt; in der Kegel findet
man die beiden Krümmungen von Anfang an, beide entstehen wohl
ziemlich zu gleicher Zeit. Bleibt die fehlerhafte Stellung ohne Be-
achtung und ohne Behandlung und steigern sich die ungünstigen Um-
stände continuirlich, so wird das rechte Schulterblatt erhoben (das erste
den Angehörigen auffallende Symptom) und indem sich die Wirbelkörper
allmählich drehen, erreicht die Verkrümmung immer höhere Grade ; der
obere Theil der Wirbelsäule tritt bucklig hervor, die Kopfhaltung muss
sich dementsprechend ändern, der Brustkorb wird verschoben, kurz es
bildet sich ganz und gar das Bild eines Buckligen hervor, wie sie solche
gewiss schon gesehen haben. Es kommt aus anatomischen Gründen,
die zumal von H. Meyer sorgfältig erörtert sind, die Ausbiegung der
Wirbelsäule nach hinten (Kyphosis von xvcpog Buckel) immer zu hohen
Graden von Scoliosis hinzu, so dass man diese Missbildung auch wohl
„Kypho -Scoliose" nennt. Die meisten älteren Individuen mit Höckern,
welchen sie im Leben begegnen, gehören in diese Kategorie; die Kranken
mit Caries der Wirbelsäule werden selten alt; den durch Caries bedingten
sogenannten Pott'schen Buckel sieht man daher fast nur bei Kindern
und ganz jungen Leuten. — Die Hauptursache der Scoliose ist Schwäche
der Rückenmuskel oder Trägheit im Gebrauch derselben; so lange schwäch-
liche Kinder ganz sich selbst überlassen bleiben, und liegen, sitzen,
gehen, laufen können, wie sie wollen und so lange sie wollen, pflegt
Voi-lcsiinj.; .11. ('••ipilcl XIX. 02 1
sich keine Scoliose zu entwickeln; docli sowie man sie zwingt, Stunden
lang- Stellungen cinzunelunen, die enniidend l"lir ,sie niiul, z. li. um zu
schreiben, zu lesen, Handarbeiten zu maclicn, Klavier zu spielen elc, su
werden sie sich bei allen diesen Beschäftigungen Stellungen iiussuclicu,
in denen die Muskeln zur Aulrechthaltung des Körpers möglichst wenig-
gebraucht werden, und die natürlichen llemnumgen mil constanten
Druckpunkten eing-reifen. Diese Stellungen werden tlann zur Gewohn-
heit, sie werden „habituell". Wenn die Kinder sitzen, auch ohne etwas
vorzunehmen, und sie sich aus Anstand nicht anlehnen dürfen, so stützen
sie sich mit einer Hand auf den Sitz; stehen sie, so lehnen sie sich so
an, dass der Oberkörper nicht gelialten zu werden braucht; gewöhnlich
stehen sie auf einem Bein, um das andere ausruhen zu lassen etc. Ist
einmal die Schiefheit der Wirbelsäule Monate oder Jahre stabil geworden,
dann verändert sich die Schwerpunktslage des Rumpfes und Kopfes im-
mer schneller, die Verkrümmung nimmt in beschriebener Weise i-asch
zu. — Anfangs sind wohl nur die Zwischenbandscheiben einseitig com-
primirt, dann lockern sie sich auf der andern Seite auf, werden dicker,
nun werden die Wirbelkörper einseitig' comprimirt, immer mehr und
mehr, bis aus den Cylindei-n ein Keil geworden ist. Diese Compression
führt auch zuweilen zu entzündlichen Neubildungen, massigen Osteophyten-
auflagerungen, gelegentlich auch zu Verknöcherungen der Bänder.
Genu valgum, Bäckerbein, Kniebohrer nennt man eine Defor-
mität des Kniegelenks, bei welcher der Unterschenkel sich im Knie-
gelenk so stellt, dass er mit dem Oberschenkel einen stumpfen Winkel
nach aussen bildet; liegen diese Individuen auf dem Rücken und legen
die Innenseite der Kniegelenke aneinander, so stehen die Füsse weit
von einander; wollen sie die inuern Fussränder zusammen legen, so
müssen sie die Kniee kreuzen. Bei jugendlichen männlichen Individuen
entwickelt sich diese Verkrümmung am häufigsten, wenn sie genöthigt
sind den ganzen Tag im Stehen mit Oberkörper und Armen kräftige
Bewegungen auszuführen und dabei in den Kniegelenken oft einknicken;
Bäcker-, Schlosser-, Tischler-Lehrlinge sind am meisten in Gefahr, diese
Verkrümmung im Knie zu bekommen, die bei höheren Graden und
rascher Zunahme sich auch mit lebhaften Schmerzen verbinden kann. —
Es wird dabei nach und nach der Condylus exteruus stark zusammen
gedrückt, das Lig. laterale iuternum wird stark ausgedehnt, das Lig.
laterale externum schrumpft zusammen, der M. biceps verkürzt sich auch
in der Folge etwas, und tritt gespannt hervor.
Der Plattfuss, Pes planus ist eine nicht seltne Missgestalt des
Fusses, an welcher junge Mädchen häufiger als Knaben kurz vor der
Pubertätszeit leiden, zumal wenn sie genöthigt sind, viel zu stehen. Die
Knochen, welche vermöge ihrer Form am Innern Fussrand ein Gewölbe
bilden, senken sich dabei herunter, so dass die Fusssohle ganz platt
wird, ja sogar etwas convex nach unten vortreten kann; dann hebt
622 lieber die angehornen, inyo- und neuropathischen Gelenkverkrümmimgen etc.
sich der äussere Fussrand (pes valgus) und die Mm. peronei, deren Au-
satzpunkte genähert werden, verkürzen sich. Diese Fussverkrümmung
ist ganz besonders häufig ; sie ist oft Folge von Genu valgum, tritt aber
noch öfter für sich allein, und zwar manchmal ziemlich rasch und unter
heftigen Schmerzen auf. —
Wenn ich auch aus voller Ueberzeugung die erwähnten dauernden
Druckwirkungen auf die wachsenden Knochen als wesentliche Entstehungs-
ursache der Scoliose, des Genu valgum und Pes planus anerkenne, so
drängt sich doch aus der practisch ärztlichen Thätigkeit sehr bald die
Beobachtung auf, dass doch nur bei relativ wenigen Individuen, welche
den erwähnten Schädlichkeiten ausgesetzt sind, die betreffenden Ver-
krümmungen wirklich zur Entwicklung kommen, und es schliesst sich
daran natürlicher Weise die Vermuthung, dass dazu doch ausser der
Muskelschwäche noch eine individuelle Schwäche des Knochensystems,
eine individuelle Knochenweichheit nöthig sei; ich kann mich in der
That nicht ganz von der Meinung frei machen, dass ein geringer Grad
von Khachitismus hier mit im Spiele sei (pag. 548). Es ist diese An-
schauung von manchen Autoren, wie z. B. Lorinser bei der Aetiologie
der Scoliose sehr in den Vordergrund gerückt. Auch ist von einigen
Autoren, wie von Hueter und Henke vornehmlich betont, dass die
Gelenkflächen bei allen diesen Deformitäten schief und ungleich wachsen ;
gewiss spielt auch das eine wesentliche Eolle bei der immer zunehmen-
den Steigerung dieser Verkrümmungen, doch ist es als primäre Ur-
sache wohl kaum annehmbar. — Dass Contracturen und Relaxationen
der Gelenkbänder als idiopathische Processe diese Deformitäten veran-
lassen, wie ich früher zuzugeben geneigt war, hat nach den Resultaten
der neueren Untersuchungen keine Wahrscheinlichkeit mehr, wenngleich
sie bei den Verschiebungen und Umformungen der Gelenkköpfe nicht
ausbleiben können. —
III. Deformitäten, welche von Contractur oder Lähmung
einzelner Muskeln oder Muskelgruppen abhängen.
Die Zahl von Fällen, welche in diese Gruppe gehören, ist auch ausser-
ordentlich gross. Zunächst können acute entzündliche Processe, welche
in der Muskelsubstanz oder in der unmittelbaren Nähe von JMuskeln
unter stark gespannten Fascien ihren Sitz haben, Ursache von Con-
tracturen werden, welche nur dadurch bedingt sind, dass die Ausdehnung
des entzündeten Muskels sehr heftigen Schmerz macht. So ist es etwas
Gewöhnliches, dass bei tief liegenden Abscessen am Hals der Kopf auf
die erkrankte Seite geneigt gehalten wird, und der Kranke selbst
bei Aufgebot aller seiner Willenskraft und mit Gewalt nicht dazu zu
bringen ist den Kopf grade zu richten; nur durch die Chloroformnarkose
ist dies zu ermöglichen und gelingt dabei leicht. So sah ich einen Fuss
VorloHiin-i; 11. Oai)i(c| X[\. (\2?}
in der Stellung- eines Pes equinus lixiil, (Imcli einen Ahseess der sieh
in der Muskulatur der Wade gebildet hatte. Acute Entzündung- des
M. psoas (Psoitis mit Pcni)S()itis) hat si)itzwinklige Flexionsstellung- i)ii
Hüftg-elenk zur Folge. Mit der Entleerung des Eiters werden diese
Contracturen g-eringer, oi't hören sie nach und nach ganz auf; zuweilen
aber ist die Abscessnarbe so gross, dass durch ihre Zusanimenziehiing
die Contractur erst recht fixirt wird, und dann später äusserst scliwierig
zu beseitigen ist. — In zweiter Eeihe können directe Nervenreizungen
durch Erkrankung der nervösen Centren dauernde Contracturen hervor-
rufen; diese Fälle bieten, wenn sie vom Hirn ausgehen, äusserst geringe
Angriffspunkte für die Therapie. Bei Caries der Wirbelsäule und Ueber-
gang des Entzündungsprocesses auf die vorderen Stränge des Rücken-
marks treten zuweilen Muskelcontracturen und Muskellähmungen der Ex-
tremitäten zugleich auf; in einem solchen Falle sah ich spontan nahezu
vollständige Heilung eintreten, — Ferner können reflectorisch Contracturen
eintreten; ich sali dies an Hüfte, Hand, Fuss, vorwiegend bei jugendlichen
weiblichen Individuen; diese Contracturen waren in einigen Fällen durch
Fall auf den betreffenden Theil angeregt, und oft durch Hysterie com-
plicirt (siehe Gelenkneurosen pag. 602). Sie sind dadurch charakterisirt,
dass sie im Schlaf und in der Narkose vollständig aufhören. — Endlich
kommen wir zu den häufigsten aller Fälle dieser Gruppe zu den soge-
nannten paralytischen Contracturen, wie sie sich bei partiellen
oder totalen Lähmungen nach Meningitis und Encephalitis besonders bei
Kindern entwickeln. Essentielle Kinderlähmungen. — Diese Con-
tracturen kommen einseitig oder doppelseitig- fast nur an den unteren
Extremitäten vor. Ein vollständig gelähmtes Bein hängt und liegt ver-
möge seiner mechanischen Construction immer so, dass der Fuss gestreckt
und etwas nach innen gedreht ist; Sie können sich an jeder Leiche
ohne Todteustarre davon überzeugen. Wird der Fuss nicht absichtlich
aus dieser Lage gebracht, sondern verharrt immer in derselben, so wird
diese Stellung dadurch allmählig fixirt, dass die Bänder an der hinteren
Seite des Fusses, die Wadenmuskeln, Teudo Achillis, die bedeckenden
Fascien theils schrumpfen, theils langsamer wachsen; nach und nach
verändern sich auch die Gelenkflächen und die Formen der Knochen in
Folge ungleichmässigen Druckes wie früher erörtert, und es wird immer
schwieriger, endlich unmöglich den Fuss in die rechtwinklige Stellung
zu bringen. Bei dem Versuch dazu ist der Widerstand, welchen Mus-
keln und Sehnen leisten, am leichtesten fühlbar, und so entstand die
Meinung, der M. gastrocnemius mit dem Tendo Achillis sei contrahirt,
auch in Fällen, in welchen er ebenso gelähmt ist wie die übrigen Mus-
keln des Beins. Man meinte dann ex post, es müssten doch wohl nur
die Mm. extensores ganz vollständig gelähmt gewesen sein, und die
Antagonisten etwas Innervation behalten haben, so dass sie allein auf
den Fuss wirkten, gewissermaassen das Uebergewicht bekommen hätten.
624 Ueber die angebornen, myo- und nenropathischen Gelenkverkrümmungen etc.
So entstand die zumal von Delpech ausgebildete Lehre von den anta-
gonistischen Contracturen, die sich ganz besonders an diejenigen Fälle
anklammerte, in welchen in der That eine ungleichmässige Vertheilung
von Parese und Paralyse auf die einzelnen Muskelgruppen bestand.
Hueter war es, der zuerst darauf hindeutete, dass es vor Allem die
durch die Schwere der gelähmten Glieder Ijedingte dauernde Lage sei,
welche zu den Contracturen führten, und dass diese sogenannten anta-
gonistischen Contracturen durchaus keine activen Muskelwirkungen seien,
sondern wie beim angebornen Klumpfuss auf Nachlass im Wachsthum
und Atrophie beruhen, Nachdem ich dieser Auffassung meine Aufmerk-
samkeit zugewandt habe, muss ich ihre Richtigkeit durchaus bestätigen.
Es w^aren mir .schon oft Fälle begegnet, in welchen mir die Theorie
von den antagonistischen Contracturen zweifelhaft geworden war z. B.
ein Fall, in welchem ein Soldat in der Schlacht bei Sadowa einen Schuss
durch den rechten Vorderarm bekommen hatte mit Zerreissung des X.
radialis ; 4 Jahre später bestand die totale Paralyse aller vom N. radialis
versehenen Theile immer noch, doch keine Spur einer antagonistischen
Conti'actur. Gehen wir den Beobachtungen, welche wir an paralytischen
Gliedern machen, Aveiter nach, so finden wir, dass in denjenigen Fällen,
in w^elcheu die Individuen den ganzen Tag mit herabhängenden flec-
tirten Unterschenkeln und in der Hüfte flectirten Oberschenkeln sitzen,
sich Flexionscontracturen in der Hüfte und im Knie ausbilden. Haben
die Patienten mit theilweis paralysirten Gliedern noch so viel Kraft, dass
sie mit Unterstützung einhergehen können, so gehen die Bewegungen
in den Gelenken so weit, bis sie durch ihre natürlichen Hemmungen
fixirt werden; Sie können das wieder an einer Leiche ohne Todtenstarre
am besten ausprobiren: der auf die Erde gesetzte mit der Körperlast
belastete Fuss weicht nach aussen aus (Pes plano-valgus paralyticus),
das Knie biegt sich nach vorn aus (Genu antecurvatum), in der Hüfte fällt
der Oberkörper vornüber, bis er durch das noch gesunde Bein, durch
Krücke oder Stock gestützt wird. So entstehen auch durch die Körper-
last (Volkmann) Gliedstellungen, die nach und nach fixirt werden und
die bei jugendlichen Individuen auf die Formen der Gelenkflächen all-
mählig einen nachweisbaren Einfluss ausüben. — Alle diese Verhält-
nisse erklären sich aufs Natürlichste nach mechanischen Principien, wäh-
rend man früher die complicirtesten Theorien mit Hülfe relativ weniger
thatsächlicher Momente componiren musste, wenn man sich überhaupt
auf eine Erklärung einlassen wollte. —
IV, Bewegungsbeschränkungen in den Gelenken, bedingt
durch Schrumpfungen von Fascien und Bändern.
Jede langdauernde fixirte Stellung eines Gliedes, auch wenn sie
nicht wie in den oben besprochenen Fällen von Muskeln und Nerven-
krankheiten abhängig ist, kann zur Schrumpfung der Fascien führen.
Vurlcsniio- H. Ciipilcl Xl\.
(\2r)
Ein Mann, der 1'/^. Jalire weisen Kiterun^- der Ingiiinaldrlisen mit dem
linken Bein in Hüfte nnd Knie llectirt ,i;('le,i;en liatt<', wiii'de n;i('li lleiliiii;^-
des Bubo anf unsere Klinik ^cbraclit , weil er ausser Shiiide uiir, d;is
Bein 7A\ streeken, (Janz besonders ist es die Faseia hil;i, wi.lclie iu
wenigen Monaten l)ei ruhiger Lag-e so rigide werden kann, dnss (-s
unter Umständen unmöglich ist, sie wieder aus/juh'iuieii; ii;mIi abge-
laufener Coxitis kann auch bei vollständig wieder gesund gewordenem
Gelenk diese Contractur des Fusses eine dauernde llennnun;:' für di(;
A'^ollkommcne Streckung abgeben, so dass solche Individuen /.uwcib'U
ihr ganzes Leben liindureh hinkend l)leil>en, ein neuer gewichtiger Grund,
die Stellung- der Gliedniaassen bei den Gelenkentzündungen ganz be-
sonders in Obacht zu nehmen.
Fi--. 119.
Sclirunipfving (Contractur) der Fascia lata bei Coxitis. Copie nach Froriep.
V. Narbencontracturen.
Von der Narbencontractiou ist früher schon wiederholt die Rede
gewesen; sie ist die Folge davon, dass die entzündliche Neubildung^
welche in der- Wunde entsteht, allmählig immer mehr und mehr Wasser
abgiebt, indem die ursprünglich gallertige reichlich vascularisirte Bil-
dung nacb und nach zu trocknem Bindegewebe einschrumpft und sich
bei gleichzeitiger Obliteration des grössten Theils der Gefässe stark zu-
sammenzieht. Auf eine je grössere Fläche die Narbe sich erstreckt, um
so stärker wird nach allen Richtungen hin die Contraction wirken; alle
Wunden mit ausgedehnter Hautzerstörung werden besonders ausgedehnte
Narbencontracturen zur Folge haben, und weil selten so grosse Haut-
flächen zerstört werden als nach Verbrennungen, so sind die Brandnarben
meist diejenigen, welche die stärksten Verkrümmungen zur Folge haben.
Es kommt begreif lieber Weise sehr auf die Lage der Narbe an, ob sie
nachtheilige Folgen, ob sie Verkrümmungen oder Verzerrungen nach
Billrotli oliir. ratlu u. Tliw'. 7. Aufl. ^^
626 tJeber die aiigebovneii, myn- und neiiropatlnscheii Gelenkverkrümmiingen etc.
sich zieht. Narben an der Beug-eseite der Gelenke, wenn sie sich weit
in die Läng-enachse des Gliedes erstrecken, können Ursache werden, dass
das Glied nicht ganz gestreckt werden kann. Ausgedehnte Narben am
Halse haben die Verziehnng und Fixation des Kopfes nach der verletzten
Seite hin zur Folge (Fig. 120), Narben der Wange können den ]\[und,
das untere Augenlid verziehen, Narben auf dem Hand- *und Fussrücken,
in der Nähe der Fingergelenke können Ursache werden, dass der be-
trefiende Finger fixirt und nur unvollkommen gebeugt werden kann
(Fig. 121).
Fio-. 120.
Fig. 121.
Narbencontracturen nacli Verbrennungen.
Doch auch Narben tieferer Theile, so der Muskeln und Sehnen,
können wie erwähnt zu Verkrümmungen Anlass geben, wie leicht be-
greiflich; da nach Sehnenverletzungeu leicht Nekrose der Sehnen folgt,
und an die Stelle der Sehne Narbeugewebe tritt, so wird ein der Art
verletzter Theil, z. B. ein Finger, dann für immer krumm und steif. —
Wenngleich in dem Vorigen hauptsächlich von den ätiologischen
Momenten für die Entstehung von Verkrümmungen die Rede war, so
liegt doch darin schon das Diagnostische des Gegenstandes enthalten,
so dass wir uns damit nicht weiter zu bescliäftigen brauchen. — Was
die Prognose bei den Verkrümmungen betrifft, so hängt natürlich
Alles davon ab, in wie weit es möglich ist, die Ursachen der Verkrüm-
mungen zu heben, vmd eben nach diesen Ursachen wird die Therapie
eine sehr verschiedene sein.
Das Nächste, worauf man bei Beseitigung von Contracturen verfällt,
ist der Versuch, die contrahirten Theile wieder auszudehnen; dies
VurlcsMiiM- 11. C-ipilcl XIX. 027
küiiiito irinn dndui'cli zu bcw(M-l<stollii!,'cn siiclicii, da.ss jn;iii lilglicli (iiiiific
Mal die zusjiinniciu*'cz()ii,cu(Mi (Jlicdiiiajisscii dcliiieu l;isst. Zu diesen
Manövern, den S()i;-en;uinten Man i])ulati()neii, die von gTOSser Wirkung-
sind, g-eliört iudess viel Kraft und Ausdauer, und es erscheint daher
zweckniässig'er, diese Delmung-en durch die gleichniässigc Wirkung einer
Masclrine zu niaclien. Die Streckniaschinen, welche man jetzt ainveiulet,
beruhen meist auf der vereinigten Wirkung der Schraube und des Zahn-
rads, ein Mechanismus, der schon seit den ältesten Zeiten für chirurgische
Instrumente im Gel)rauch ist; die Maschinen können sehr verscliicdenartig
construirt, müssen aber leicht und fest gearbeitet und gut gepolstert sein,
nirgends stark drücken und in jeder Stellung fixirt werden können, am
leichtesten sind solche Maschinen für das Knie- und Ellenbogengclenk
zu construiren, für Schulter- und Hüftgelenk hat es grosse Schwierig-
keiten, das Schulterblatt und das Becken zu fixiren. — Die Streckung
in der Chloroformnarkose kann zu Hülfe genommen werden, um
von Zeit zu Zeit etwas schneller vorwärts zu kommen, doch hüte man
sich dabei vor zu starker Kraftanstrengung und berücksichtige zumal,
dass die narbig geschrumpften Muskeln weniger dehnbar sind als normale,
dass sie eben nur sehr allmählig gedehnt w^erden können. — Für die-
jenigen Muskelcontracturen, w^elche von Neurosen abhängig sind, kann
die mechanische Dehnung kaum in Anwendung gezogen oder höchstens
als Unterstützungsmittel der Cur benutzt werden; die Hauptbehandlung
muss auf das Nervenleiden gerichtet sein, welches die Muskelcontractur
verursacht. — Für die Contracturen von Bändern und Fascien kommt
die graderichtende Behandlung mit Maschinen (die Orthopädie von
oQ&og grade, naidela Erziehung) besonders in Anwendung. An Stelle
der Maschinen ist in dem letzten Decennium für sehr viele Fälle der
Gypsverband und die permanente Extension getreten, wodurch
diese Cureu sehr vereinfacht und dem practischeu Arzt w^eit zugäng-
licher gew^orden sind als früher. Ich muss mir vorbehalten in der Klinik
mich weiter über die Vortheile der einen oder andern Behandlungs-
methode in den einzelnen Fällen auszulassen. — Die Narbencontractureu
können durch Dehnung der Narben ebenfalls gebessert, selten vollkommen
geheilt werden; mächtiger als die Dehnung wirkt bei Narben ein con-
tinuirlicher Druck, den man durch Corapressivverbände mit Heftpflaster
oder durch Binden oder Compressorien ausübt, welche für die einzelnen
Fälle besonders anzufertigen sind. Es wird dadurch die im Lauf der Jahre
spontan sich ausbildende Atrophie der Narben sehr befördert. Die Deh-
nung der Narben verbindet man mit der Compression bei der Behand-
lung ringförmiger narbiger Verengerungen von Canälen, sogenannter
Stricturen, wie sie besonders häufig in der Harnröhre und in der
Speiseröhre vorkommen, durch die Einführung elastischer Sonden (Bou-
gies, w^eil sie früher aus Wachskerzen gemacht waren) von allmählig
zunehmender Dicke.
40*
628 Ueber die angebornen, myo- und neuropatbischen Gelenkverkriimmungen etc.
Die bislier erwüliiiteu oitliopädisclien Curen führen nicht immer oder
oft wenigstens nur sehr langsam zum Ziel, und man ist daher schon
im Mittelalter dazu geschritten, die Sehnen der contrahirten Muskeln
oder diese selbst zu durchschneiden; man nennt diese Operation ,,Teno-
tomie und Myotomie" (von tsvcov Sehne, juvg Muskel, TSfxvw schnei-
den); erstere kommt viel häufiger in Anwendung als letztere. Früher
machte man die Operationen einfach so , dass man zuerst die Haut bis
auf die Sehne und dann diese durchschnitt, und die Wunde durch Eite-
rung heilen liess; die Erfolge waren grade keine sehr brillanten; die
Eiterungen konnten sehr bedeutend werden, es bildeten sich dicke Xar-
ben, die dann auch nur langsam gedehnt werden konnten. Eigentlich
brauchbar wurde diese Operation erst durch Stromeyer gemacht, der
die Operation der Sehnendurchsclmeidung subcutan zu machen lehrte,
eine Methode, die dann durch Dieffenb ach 'in weitester Ausdehnung in
die Praxis eingeführt wurde und jetzt allein geübt wird. — Ich will Ihnen
diese Operation zuerst kurz beschreiben, ehe wir zu den Erfolgen der-
selben übergehen: nehmen wir als Beispiel die am häufigsten vorkoni-
raende Tenotomie der Achillessehne. Sie bedienen sich dazu am besten
des Dieffenb ach 'sehen Tenotoms; es ist wie ein leicht gebogenes
spitzes Federmesser geformt. Der Patient liegt auf dem Bauch, sein
Unterschenkel wird vom Assistenten in der Wadengegend festgehalten;
Sie selbst umfassen mit Ihrer linken Hand den in Klumpfussstellung be-
findlichen Fuss, nehmen in die volle rechte Hand das Tenotom, stechen
es neben der Sehne in die Haut und schieben es unter der Haut über
der Sehne mit nach unten gewandter Scheide vor, bis Sie über die Sehne
hinaus sind, ohne jedoch die Haut zum zweiten Mal zu perforiren; jetzt
wenden Sie die Schneide des Messers auf die Sehne, und drücken die-
selbe durch die gespannte Sehne hindurch, wobei Sie ein knirschendes
Geräusch vernehmen und nach Vollendung des Sehnenschnittes einen Kuck
in der linken Hand verspüren, indem sofort nach Lösung der Sehne der
Fuss etwas beweglicher wird; jetzt ziehen Sie das Messer vorsichtig zu-
rück. Es bleibt aussen nur die Einstichwunde des Messers sichtbar, die
Durchneidung der Sehne ist ganz subcutan geschehen. — Diese eben
beschriebene Methode der subcutanen Tenotomie von aussen nach
innen ist die leichtere für Anfänger im Operiren, weil dabei keine Ge-
fahr ist, die Haut mehr zu durchschneiden als nöthig. Eleganter und
für manche Fälle geeigneter ist die subcutane Tenotomie von innen
nach aussen. Die Haltung ist wie vorher, ebenso der Einstich, doch
führt man das Messer unter der Sehne fort, richtet dann die Sch.eide
desselben gegen die Sehne, setzt den Daumen der schneidenden Hand
an die der Messerspitze entsprechende Stelle, um deren Tiefe zu contro-
liren und zu fühlen, dass sie nicht durch die Haut kommt; dann drückt
und zieht man das Messer von innen nach aussen durch die Sehne hin-
durch, wobei man sich hüten muss, den Fuss zu stark anzuspannen,
Vorlcsiiiif,' H. Capilcl XIX. f^2f)
damit das Messer bei dem Ruck, wclclior iiacli vollendeter Diirclisclniei-
diiiig- der Seluic erfolgt, niclit durch die Haut licrau.sfulirt. Diese Methode
scheint schwieriger als sie ist, doch erfordert sie natürlich wie das Ope-
riren überhaupt Vorstudien am Cadaver. — Ist die Tenotomie vollendet,
so tritt in der Eegel nur wenig lilut aus der Stichöffnung; zuweilen kann
die Blutung indess ziendicli erheblich sein, indem ein bei manclien Indi-
viduen ziemlich starker Ast der Art. tibialis postica, welcher nel)en der
Selinc läuft, mit durchschnitten wird. Bei un])edcutender Blutung gentigt
das Aufkleben eines Stückchens englisclien Ptlasters, welches durch Col-
lodium noch mehr fixirt wird; ist stärkere Blutung vorhanden, so deckt
man die Stichwunde mit einer kleinen Compresse und macht eine Binde-
einwicklung des Fusses bis zur Wade, dann steht die Blutung immer.
Dieser Verband wird nach 24 Stunden entfernt und durch Pflaster ersetzt.
Die Heilung erfolgt fast inmier per primam; nach 3—4 Tagen ist die
Stichwunde geschlossen. — Es kann jedoch Eiterung eintreten; dann
wird die ganze verletzte Gegend roth, geschwollen, empfindlich, aus der
Stichwunde fliesst Blut mit Eiter, auf der entgegengesetzten Seite bildet
sich auch wohl ein Abscess, der eröffnet Averden muss, und wenn diese
Eiterung auch keine gefährlichen Folgen hat, so kann sie sich doch 2 bis
3 Wochen hinzielien und den Erfolg der Operation sehr in Frage stellen,
weil es lange dauert, bis die hierbei entstehende, ziemlich dicke Narbe
zur Extension geeignet wird. — Unmittelbar nach der Tenotomie fühlen
Sie an der durchschnittenen Stelle eine Vertiefung, weil der Muskel
sich nach der Sehnendurchschneidung contrahirt ; diese Vertiefung schwin-
det nach 24 Stunden schon und macht in den folgenden Tagen sogar
einer Anschwellung Platz; die Anschwellung vermindert sich nach und
nach, und längstens 14 Tage nach einer normal geheilten Tenotomie
sclieint die Sehne vollkommen wieder hergestellt. Der Vorgang dieses
Heilungsprocesses ist durch Experimente sehr vielfach studirt; man v/ollte
darin früher eine ganz besonders vollkommene Art der Regeneration er-
kennen; ich habe diese Experimente an Tliieren sehr oft gemacht und
finde, dass die Heilung wie überall erfolgt, und am meisten der Hei-
lung der Nerven und Knochen ähnlich ist. Wenn die Sehne durch-
schnitten ist und der Muskel sich zusammenzieht, so müsste ein leerer
Raum an der durchschnittenen Stelle entstehen, wenn nicht sofort durch
den äusseren Luftdruck das umliegende Zellgewebe in den Raum zwi-
schen den beiden Sehnenenden hineingedrückt wülrde; dadurch wird
derselbe nun ausgefüllt; dies Gew^ebe wird dann wie bei jedem Trauma
plastisch und serös infiltrirt und reichlich vascularisirt; das Zellgew^ebe
um die Sehnenstümpfe wird in gleiclier Weise metamorphosirt und so
werden letztere durch die entzündliche Neubildung, w^ eiche sich in und
aus dem umliegenden Zellgewebe bildet, umgeben und verbunden, ähn-
lich wie die Fragmeute des Knochens durch den äusseren Callus (der
sich hier aber auch zwischen die Sehnenstümpfe drängt; ein innerer
ggQ Ueber die angeborneii, mvo- und iieuiopathischen Gelenkverkriimmungeu etc.
Subcutan durch-
schnittene Sehne
am vierten Tag.
Schemati t^che
Zeichnung.
Fig. 122. Callus kann bei den Selmeu ja nicht entstehen, -weil
, . i dieselben keine Marldiolüe liaben). Das Bild ist in
diesem Stadium (etwa am vierten Tage) folgendes
(Mg. 122):
Diese provisorische Verbindung wird bald eine
definitive, indem die entzündliche Xeubildung sich zu
Bindegewebe metamorphosirt; unterdessen hat sich
auch in den Sehnenstümpfen etwas Neubildung ent-
wickelt, die mit der Zwischenmasse confluirt. Die ge-
sammte neugebildete Zwischenmasse zieht sich nach
und nach stark zusammen, wird sehr fest, so dass sie
ganz den Charakter des Sehnengewebes annimmt; die
Sehne regenerirt sich auf diese Weise vollkommen. —
Dieser Vorgang- geht freilich nicht immer so schnell
vorüber, wie wir es hier geschildert haben, sondern
wird (wie auch bei den Fractureu) zuweilen durch
ein sich zwischen die Selmeustümpfe lagerndes stär-
keres Blutextravasat g-estört ; dies wird von der ent-
zündlichen Neubildung umschlossen, wird nur theilweis
organisirt, muss aber zum grösseren Theil resorbirt
werden, ehe die vollendete Kegeneration der Sehne
erfolgen kann. Ausgedehnte Blutextravasate können
die Heilung sehr stören, indem sie nicht nur durch ihre Grösse und
die lange Dauer ihrer Resorption den regelmässigen Heiluugsvorgang
hindern, sondern auch dadurch, dass sie gelegentlich in Verjauchung
oder Vereiterung übergehen. — Ueber die Myotomie gilt in Betreff der
Operation und des Heilungsvorganges ganz dasselbe wie das eben Ge-
sagte.
Sie haben soeben gehört, dass die Sehnen sich vollkommen wieder
regenerireu und die narbige Zwischensubstanz sich sehr stark zusam-
menzieht, also auch verkürzt, und Averden sich jetzt mit Eecht ver-
wundern, weshalb man denn diese Operation nach solchen Erfahrungen
überhaupt noch macht, da die Sehne ja nicht so sehr viel länger dadurch
wird. Hierauf entgegne ich Ihnen, dass die Tenotomie an und für sich
allerdings von keinem oder höchst geringem Nutzen für die Pleilung
von Contracturen ist, dass aber die Sehnennarbe w^eit leichter g'edehnt
werden kann als die Sehne des contrahirteu Muskels oder als dieser
selbst-, nur durch die orthopädische Nachbehandlung wird die Teno-
tomie erfolgreich, sie dient zur wesentlichen Förderung der Cur, macht
dieselbe oft allein möglich, wenn die contrahirteu Muskeln, Fascien oder
Bänder durchaus jeder Dehnung widerstehen. Man darf es also nicht
zu der vollständigen Narbencoutraction an der durchschnittenen Sehne
kommen lassen, sondern muss schon die junge Narbe dehnen; 10—12 Tage
nach der Durchschneidung der Sehne beim Klumpfuss kann die ortho-
Voricsiiii-- 11. ('iipiiri xrx. (;;-',!
pädisclie Beliandlung- schon l)ci;'inncii , sei es (hiss Sie dieselbe (liirch
Extensionsiiuuiipulation und iMaseliineii , oder durcli (Jraderielitiiii;;'eii
und Anlei^'uiig' von (!y[)sverl)äiid(Mi diirelirüliren wollen, dcrade diireli
die subcutane Tenotomie wui'den die -iiiistiii'en F.i-folg-e erst niög'licii;
hier geht die lleiluni;' äusserst schnell vor sich, und es bildet sich
eine dehnbare Narbe; gerätli die AVundc ivi lani;e l^jitcruui^-, leidet die
Haut mit, so ist die spröde Narbe vielleicht erst nach G bis 8 AVochen
ausdehnbar, d;i sie vorher mit der Haut zusammen einreissen und Avieder
eitern kann, Dass nicht jeder Klumi)russ, zumal nicht die geringeren
Grade, der Tenotomie zur Heilung bedilrien, liegt auf der Hand; el)enso
unzweifelhaft bleibt es jedoch , dass die 'J'enotomie die orthopädische
Cur bei liöheren Graden dieser Verkrümmung fördert. — Aus dem
Gesagten werden Sie sclion ermessen können, dass die Indicationen für
die Tenotomie mit denen für die orthopädische Behandlung sehr liäuhg
zusammenfallen; im ganzen Umfange ist dies freilich nicht der Fall;
die Tenotomie hat bald ein beschränkteres, bald ein weiteres Feld, üass
man eventuell jede gespannte Sehne sul)cutan durchschneiden kann, ist
an sich klar; eine andere Frage ist es, ob diese zweckmässig ist; alle
möglichen Fälle können hier nicht erschöpft werden, doch will ich Ihnen
die Sehnen nennen, die am häufigsten durclischnitten werden: am Hals
die beiden Portionen des M. sternocleidomastoideus an ihrem Ansatz an
das Schlüsselbein und das Sternum; am Arm sind Tenotomien selten
gemacht; Tenotomien an den Fingern und Zehen widerrathe ich Ihnen
entschieden; alle Sehnen mit ausgebildeten Sehnenscheiden
sind ungeeignet für die Tenotomie; die Heilung kann hier aus
anatomischen Gründen, die Sie sich leicht selbst entwickeln können, nicht
so einfach zu Stande kommen, wie bei Sehnen, die nur von lockerem
Zellstoff umgeben sind; gewöhnlich tritt Eiterung mit oft sehr unange-
nehmen Folgen ein, oder die Sehueustümpfe bleiben unvereinigt. Am
Oberschenkel kann nach Coxitis der contrahirte M. adductor an seinem
Ursprung durchschnitten werden, wenn seine Contractur unüberwindlich
in der Narkose ist; dasselbe gilt vom M. biceps femoris und vom Semi-
tendinosus und Semimembranosus, welclie diclit an ihren Ansatzpunkten
an Fibula und Tibia durchschnitten werden. Am Fuss wird der
Tendo Achillis am häufigsten, dann auch, wemigleicli meiner Ansicht
nach mit Schaden für die spätere Beweglichkeit des Fusses, die Sehne
des zuweilen coutrahirten M. tibial. anticus und posticus und die Sehnen
der Mm. peronaei durchschnitten. — Bei der Streckung von Auchylosen
machte man früher einen sehr ausgedehnten Gebrauch von Tenotomien;
die Operation ist aber gerade hier jetzt ganz entbehrlich geworden;
wenn z. B. bei einer Kniegelenkanchylose die genannten jMuskeln nicht
gerade mit einer Narbe verwachsen sind, werden sie sich nach und nach
in der Chloroformnarkose immer ausdehnen lassen, falls sie überhaupt
noch Muskeln und nicht schon reine Biudegewebsstränge sind, was doch
63'^ Ueber die aiigebornen, myo- und neuropathischen Gelenkverkriimmungen etc.
selten der Fall ist. — Von der Teuotomie der contrahirten Augenniuskelu,
der Schieloperation , die aucli liierlier gehört, rede idi nicht, da sie in
der Ophthalmologie abgehandelt wird. — Man kann sich auch zuweilen
veranlasst sehen, bei paralytischen Contracturen Sehnen zu durchschnei-
den, und zwar in der Absicht, dadurcli, dass man den Zug der verkürzten
Muskeln durch die Tenotomie für eine Zeit lang eliminirt und später
ihre Sehnen durch Dehnung verlängert, den paretischen Antagonisten
mehr Spielraum, leichtere Wirksamkeit zu verschaffen; es wirkt letzteren
dann keine Kraft mehr entgegen oder wenigstens schwächer, so dass
das Gleichgewicht hergestellt wird. Bei vollkommener Paralyse kann
die Tenotomie der contrahirten Muskeln nur den Zweck haben, dem
Fuss eine derartige Stellung zu geben, dass Stützmaschinen applicirt
werden, durch welche die Körperlast getragen wird.
Was die subcutanen Fasciendurchschneidungen betrifft, so
haben dieselben keine grosse Ausdehnung ; mit Erfolg macht man häufig
die Durchschneiduug des Stranges der Fascia lata, welcher sich bei
Flexionsstellung des Schenkels ausbildet, da er sich sehr schwer aus-
dehnen lässt; auch die Fascia plantaris ist mit gutem Erfolg beim Klump-
fuss zuweilen zu durchschneiden, wenn sie gespannt ist. — Wo man die
Fasciendurchschneidung am meisten brauchen könnte, lässt sie im Stich,
nämlich bei der Contractur der Fas cia palmaris, einer bisher noch
nicht von mir erwähnten Schrumpfung dieser Fascie, über deren Ur-
sache nichts Sicheres bekannt ist. Durch die Schrumpfung der genannten
Fascie werden bald einige, bald alle Finger nach und nach in die Hohl-
hand hineingezogen, so dass die Hand sehr in ihrer Brauchbarkeit be-
schränkt wird. Ich habe mich einmal durch Dupuytren's Schilderung
von den Erfolgen dieser Operation trotz der Warnung meiner früheren
Lehrer zu dieser Fasciotomie verleiten lassen; es erfolgte aber eine so
ausgedehnte Eiterung, dass ich froh war, als dieselbe endlich aufhörte;
die Hand blieb trotz aller orthopädischen Nachcur schliesslich wie sie
war; geringe Besserungen schwanden bald wieder, und ich glaube über-
haupt, dass diese Krankheit, in ihren höheren Graden wenigstens, un-
heilbar ist.
Durch sehne idungen von Bändern kommen nicht häufig vor;
indess habe ich doch bei Klumpftissen öfter schon kleine Bänder an
den Fusswurzelknochen durchschnitten, wenn sie gespannt waren, und
trotzdem dass ich dabei gewiss häufig subcutan die kleinen Gelenke
eröffnete, keine üblen Folgen gesehen. Durch B. v. Langen b eck ist
die Durchschneidung des Lig. genu laterale externum bei Genu valgum
eingeführt, wobei immer das Kniegelenk momentan eröffnet wird; es
findet diese Operation nur bei den höchsten Graden des Uebels statt,
fördert aber die Cur zuweilen ganz mächtig; ich hatte es früher nicht
gesehen und selbst auch nicht gewagt, in der Besorguiss, es könnte doch
Kniegelenkeiterung erfolgen; vor einigen Jahren machte ich die Operation
I
VorK'siiii- 41. f'M|ulcl XIX. ()']';]
in einem Fall an beiden Kniccn bei einem sciir lioeligradi^-en i:^enii val-
gum an einem jun^-en Menschen; es evlblgtc die Heilung der Operations-
wunde olinc irgend welclie Entzündung des Kniegelenks, und die ortlio-
pädische Cur hatte einen anft'alUnid sclincllen Verlauf. Der Kranke ging
mit völlig graden Beinen aus dem Spital. Im Ganzen dürfte die Ope-
ration selten indicirt sein. — Andere Banddurchschneidungen sind, so
weit mir bekannt, nicht gemaclit.
Es liegt nahe, daran zu denken, auch die contraliirtcu Karhcii
zu durchsclmeiden, um die neue Narbe zu dehnen. Doch wäre es da
nicht viel weiser, die Narbencontractur überhaupt gar niclit auf ({('.n
Punkt kommen zu lassen, bis dadurch Functionsstörungen entstehen V
wäre es nicht am besten, schon während des Heilungsprocesses einer
grossen Wunde, z. B. an der Ellenbogenbeuge, den Arm in Extension
zu fixiren, damit er durch die Narbe nicht zusammengezogen würde?
Die Absicht ist gewiss gut, doch der Erfolg entspricht selten einer so
mühsamen Cur; zuvörderst nämlich heilen solche Wunden, bei denen
keine Narbencontraction wirken kann, sehr schwer, und wenn sie end-
lich geheilt sind, und man lässt das Glied frei, so kommt nun die Con-
traction doch nach. Ich entsinne mich sehr wohl eines Kindes mit einer
solchen Wunde nach Verbrennung in der Ellenbogenbeuge, welches ich
als Assistent in der Klinik in Berlin täglich zu verbinden hatte; der
Arm wurde continuirlich durch eine Schiene in Extension gehalten und
die Heilung dauerte etwa 6 Monate ; endlich wurde das Kind mit völlig
beweglichem Arm und geheilter Wunde entlassen, und ich war sehr
stolz auf die gelungene Cur; nach zwei Mouaten sah ich das Kind wieder
mit völlig contrahirter Narbe; der Arm stand im spitzen Winkel fast
unbeweglich; später verlor ich die kleine Patientin aus den Augen und
weiss nicht, was daraus geworden ist; das war mir aber klar, dass
ich das Kind und mich Monate laug vergeblich gequält hatte. Ich für
meine Person bin durch mehre ähnliche Fälle gründlich von der Idee
curirt, man könne schon während der Beuarbung der Wunden wesent-
lich viel durch orthopädische Mittel nützen; ich rathe Ihnen, lassen Sie
zunächst die Wunde völlig heilen, wie sie will, die grossen Brandwunden
bei Kindern werden Ihnen doch schon so wie so genug zu thun geben,
da sie immer schwer heilen und leicht einen ulcerativen Charakter
annehmen. Im Lauf von Monaten, oft erst von Jahren, verliert die
Narbe, je mehr ihre Gefässe obliteriren und je melu- ihr Gewebe dem
Unterhautzellgewebe ähnlich wird (wenn sich in ihr erst eine Art Cutis
und Unterhautzellgewebe abgesondert hat), ihre Starrheit, sie wird
dehnbarer, zäher, elastischer. Hieraus folgt dann, dass die Beweglich-
keit mit der Zeit yon selbst besser wird, falls die Narbe eine Bewegung
gehemmt hat. Wie Sie diesen Schwund der Narbe durch Compression
und Dehnung unterstützen und etwas beeilen können, ist schon früher
erwähnt. Ist nun endlich die Narbe auf das kleinste Maass zurück-
634 lieber die angebonien. myo- vmd neuropathisehen Geleiikverkriimmungen etc.
gebildet, dann können Sie dieselbe zuweilen mit Vortlieil ganz oder
theilweis nach und nach excidiren, doch so, dass Sie nach jeder Excision
eiue Heilung per priniam erzielen, so dass also an Stelle des dicken,
kaum dehnbaren Narbenstranges eiue feine, lineare Hautnarbe entsteht,
die weit leichter als die alte Narbe gedehnt werden kann; bekommen
Sie iüdess Eiterung und weites Auseinauderklaffen der Wundränder
nach diesen Operationen, dann ist der Erfolg sehr zweifelhaft (wie unter
gleichen Verhältnissen bei der Tenotomie), es entsteht dann wieder eine
breite, granulirende Wunde und laugsame Heilung mit einer Narbe, die
an Breite, Länge und Festigkeit der früheren nicht nachsteht. Es ergiebt
sich also, dass Sie die Excision von Narben mit Vortheil nur bei ganz
Contrahirten, strangartigen, dünnen Narben in Anwendung ziehen können.
Handelt es sich um die Beseitigung fertiger, breiter Narben, wie sie
am Hals nach Verbrennungen vorkommen, dann reicht die Excision
nicht aus , dann muss man dadurch zu helfen suchen , dass man an die
Stelle der Narbe ein Stück Haut aus der Nähe einheilt, was dehnbar ist;
dies kann durch Verschiebung benachbarter Haut oder durch Trans-
plantation eines Hautlappen nach den Eegeln der plastischen Operationen
geschehen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. — Die Versuche,
durch Handtransplantationen nach ßeverdin die verloren gegangene
Haut zu ersetzen, sind gewöhnlich in soweit gelungen, als durch die
aufgeheilten Hautstücke der Schluss der primären oder durch Trennung
der Narben erzeugten Wunden rasch erzielt wurde; doch nach 2 — 3
Wochen zerfallen meist ohne bekannte Ursachen die transplantirten
Stücke, und die Wunden sind dann wieder in ihrem früheren Zustande.
Es würde sich jetzt noch um die Behandlung solcher Verkrüm-
mungen handeln, welche nach Paralysen entsanden sind, wobei die
Paralyse bald vollständig, bald unvollständig fortdauert; ich habe
Hmen bereits gesagt, dass auch unter diesen Umständen die Tenotomie
in Anwendung kommen kann, doch ist dieselbe immer nur eine Unter-
stützung der Cur; im Yv^esentiichen wird sich die Behandlung auf die
Beseitigung der Paralysen zu richten haben. Von der Heilbarkeit der-
selben wird die Heilbarkeit dieser Contracturen und der dadurch be-
dingten Verkrümmungen abhängig sein. Hier eröffnet sich nun das
weite Feld der Nervenpathologie, welches Sie in den Vorlesungen über
innere Medicin und in der medicinischen Klinik genauer kennen lernen
werden. Es giebt da eine grosse Keihe von Fällen, in welchen Sic
a priori jede Therapie der Paralysen aufgeben werden; bei Tumoren
im Gehirn, bei Apoplexien, bei chronischer Encephalitis, nach traumati-
schen Rüekenmarkszerreissungen, nach ausgedehnten Nervenzerrcissungeu
u. s. w. wird überhaupt die Therapie ziemlich machtlos sein. Andere
Fälle von Etiekenmarkcrkrankungen mit Paresen der unteren Extremitäten,
zumal bei Kindern, geben zu\veilen eine relativ leidliche Prognose.
Einestheils kann hier die innere Behandlung mit Leberthran und Eisen,
Vurlcsiin- 11. C;i|.il<'l XIX. TkJ.O
sowie Bäder mit Zusalz von Mah oder SjiIz, ))eH(n\(lcrs a])ei' die Zeit,
sehr vortheiliiaft cuifdie KUckl)ilduiig' der im Uliekeiimark voi-yegaiigeuen
Veränderung-en wirken, die wir leider nocli wenig- kennen, andcrerüeitB
können aueli auf die Muskeln selbst Heize angcl^raelit werden, welche
dieselben wieder beleben; besonders vers})reciicn die Fälle Erlbig, i)i
^velcllen keine vollständigen Paralysen, keine Paraplegicn, sondern nur
Paresen einzelner Muskelgruppeji bestehen. Dal)ci konmien hauptsächlich
noch zwei äussere Mittel in Anwendung : 1 ) die gy m n a s t i s c h c n C ii r c n ;
2) die Elektricität. Was die gymnastisclien Curen betriffi, so be-
stehen dieselben darin, die schlummernde, wenig entwickelte Contrac-
tiousfähigkeit durch den auf die paretischen Muskeln concentrirten Willen
wach zu rufen. Bestimmte Bewegungen werden regelmässig zu be-
stimmten Zeiten ausgeführt; dies geschieht ganz zweckmässig durch die
in neuerer Zeit eingeführte „schwedische Heilgymnastik", welche darin
besteht, dass der Kranke aufgefordert wird, bestimmte, auf gewisse
Muskeln berechnete Bewegungen auszuführen, während der Gynmast
diesen Bewegungen einen leichten Widerstand entgegensetzt. Ich halte
Ihren Arm z. B. in der Extension fest; jetzt beugen Sie ihn, während
ich dieser Bewegung durch einen leichten Druck entgegenarbeite; für
jeden einzelnen Fall müssen natürlich die passenden Bewegungen aus-
gesucht werden. Diese Art der Gymnastik hat in neuerer Zeit viele
Verbreitung gefunden und sich als wirksam erwiesen; dass sie wie
alle Gymnastik bei vollständiger Paralyse nicht anwendbar ist, ist an
sich klar.
Das zweite Mittel, das uns zu Gebote steht, ist die Elektricität.
In der Anwendung dieses Mittels sind in neuerer Zeit bedeutende Fort-
schritte gemacht. Die Apparate, die man dazu braucht, sind selir ver-
einfacht, leichter transportabel gemacht und so eingerichtet, dass man
den Strom nach Belieben verstärken und abschwächen kann. Ferner
sind die Methoden, nach welchen man die Elektricität anwendet, bedeu-
tend verbessert; früher nämlich elektrisirte man beliebig bald einen
Muskel, bald mehrere Muskelgruppen einer Extremität, indem mau die
Pole bald hier, bald dort ansetzte; jetzt versteht mau es, die einzelnen
Muskeln isolirt zu elektrisiren ; der französische Arzt Duchenne de
Boulogne hat sich um diese Sache sehr verdient gemacht. Die Stelleu,
an welchen man die Pole oder einen Pol aufsetzen nniss , um diesen
oder jenen Muskel zur Contraction zu bringen, sind von Duchenne zu-
erst rein empirisch gefunden; später wies Ilemak nach, dass es in der
Eegel diejenigen Stellen sind, an welclien der stärkste motorisclie Nerven-
stamm in den Muskel eintritt. In neuester Zeit hat sich Ziemsse n am
erfolgreichsten mit der Elektrotherapie beschäftigt; sein Buch zeichnet
sicli durch practische Brauchbarkeit und wissenschaftliche Bedeutung und
vor Allem durch Zuverlässigkeit aus. — Die Cur wird so gemacht, dass
täglich gewöhnlich eine oder zwei Sessionen abgehalten werden, in wel-
636 Ueber die angehonien. mvo- und nearopathisohen Gelenkverkrümmungen etc.
chen bald dieser, bald jener Muskel methodisch elektrisirt wird; dies
kann '/, — V^ Stunden fortgesetzt werden, jedoch niclit zu lange, damit
die schwache Nerventhätigkeit nicht durch zu starken Reiz ertödtet wird.
Man könnte auch sehr schaden durch ein übermässiges Elektrisiren; ein
Arzt muss stets die Cur leiten und ganz bestimmte Angaben über die
Dauer der Sessionen und die anzuwendenden Stromstärken geben. Ge-
wöhnlich sieht man bald, in wie weit die Muskeln, welche spontan
vielleicht gar nicht gerührt werden können, sich noch auf den elektri-
schen Reiz contrahiren ; man darf selbst nicht verzagen, wenn mau in
den ersten Sitzungen gar keine Zuckungen bekommt; zuweilen erscheinen
dieselben erst nach einiger Zeit, wenn die Elektricität bereits einge-
wirkt hat. —
Eine sehr ingeniöse Methode, Contractureu zu beseitigen, ist in
neuerer Zeit von Barwell mit Erfolg benutzt worden, nämlich einen
continuirlichen Zug in der Richtung anzubringen, in welcher die Muskeln
mangelhaft wirken : man applicirt z. B. beim Klumpfuss mit Heftpflaster-
streifen einen am äusseren Fussrande und an der Innenseite der Tibia
dicht unter dem Knie befestigten starken Gummistreifen, der wie ein
„künstlicher Muskel" dauernd ziehend wirkt. Es scheint mir dies sehr
rationell und sollte in ausgedehnter Weise geprüft werden. Ich habe
diese Methode in mehren Fällen mit auffallend raschem Erfolge benutzt;
auch Lücke und Volk mann rühmen dieselbe. —
Bei Paresen kann eine Bewegung weniger Muskeln zuweilen ge-
nügen, um das Gehen möglich zu machen, wenn nämlich das ganze
Bein durch irgend einen Schienen apparat eine gewisse Festigkeit
bekommt, die es durch die Muskeln allein nicht hat. Solche Schieneu-
apparate, die zur Stütze der Extremität dienen, sind nicht immer als
ultimum refugium zu betrachten, sondern sie können die Cur in so fern
unterstützen, als der Kranke mit Hülfe solcher Apparate und mit Stöcken
Avirklich gehen kann, wenn auch unbeholfen. Die GehbcAvegungen aber
selbst, welche durch die paretischen Muskeln ausgeführt werden, wirken
vortrefflich gymnastisch; [der Kranke braucht auf diese Weise, wenn
auch künstlich aufrecht gehalten, doch seine Muskeln, während, wenn
er continuirlich liegt oder sitzt, die Muskeln völlig unthätig bleiben und
immer mehr atrophiren. Audi dienen die Maschinen wesentlich dazu,
die Beine' gestreckt und die Füsse im rechten Winkel zu erhalten, avo-
durch dann die Entwicklung von Contractureu verhindert wird.
Gymnastik, Elektricität, künstliche Muskeln und Schienenapparate,
verbunden mit zweckmässigen inneren Curen, zumal auch mit passenden
Badecuren, können in der That sehr fördernd bei diesen Kranken wir-
ken ; und wenn auch viele dieser Fälle unheilbar sind, so sind darunter
doch auch manche heilbare und manche, die wesentlich gebessert wer-
den können.
Vorlcsiiil!..; -12. r;i|,i|,.l XX.
Vorlesung 42.
CAVVVVA. XX.
Von den Yariccu iiiul Aiioiiiysincii.
Varices: Verscliiedene Fonucn. Kiilslc'liimgsnr.saclicn, vcrscliicdoic Ocrtlicliki'ili'ii dos
VorkoninuMis. niiii>'iios(>. VeiuMistciiic. Viii'ixH.slel. 'l'licrapic. — Variciisc l^viiipli-
>^ e ITi n ,s e. Lynipliorrliüo.
Aiieiir vs>inen : Kiitzüiuluiii^sproce^'s au den Arterien. Aneurysma i-irsoidciuii. Atliero-
niatüser Frocess. — Fornixersrliiedenheiten der Aneurysmen. Siiälere VerüncU'ruui^cn dei"-
selben. Erseheiniingen. Folgen. Aetlologisehes. Diagnose. — Therapie: (,'oiu])ression,
Unterbindung, Injection von Liq. Fcrri. Kxstirpation. —
Unter Varicen versteht man Venenausdehnungen; diese können ver-
schiedene Foi-men haben und betreffen gewöhnlich gieiclimässig- sowohl
den Durchmesser als die Länge des Gefässes. Eine Verlängerung' des-
selben ist nur in der AVeise möglich, dass das Gefäss sich seitlicli aus-
biegt und einen geschläng-elten Verlauf annimmt, wie dies l)ei der Ent-
zündung- der kleineren Gefässe auch der Fall ist. In manchen Fällen
ist die Verlängerung weniger auffallend und auch der Durehmesser des
Canals nicht gleichmässig, sondern das Gefäss ist an
verschiedenen Stellen, besonders an denen, wo Klappen
liegen, spindelförmig oder sackartig erweitert. Am
häufigsten erkranken die grösseren Venen des Unter-
hautzellgewebes in erwähnter Weise, zuweilen vor-
wiegend die tiefen Muskelvenen, in vielen Fällen beide
zugleich. Es giebt aber auch Varicositäten an den
kleinsten, kaum noch für das freie Auge sichtbaren
Venen der Cutis selbst, die gar nicht selten für sich
allein erkranken; es entstellt dadurch ein gleich-
mässig hellbläuliches, höckeriges Aussehen der Haut.
In Folge dieser Veneuausdehnungen, die sehr allmählig
nach und nach entstehen, wird mehr Serum als ge-
wöhnlich von den Capillargefässen durchgelassen, weil
wegen der starken Ausdehnung der Venenwandungen
und der dadurch bedingten Insufficienz der Klappen
der Seitendruck in den Haargefässen bedeutend steigt.
Die Verdünnung der Gefässwandungen und der trans-
sudirte Ueberschuss an Ernährungsmaterial kann nach
und nach Hypertrophie der umliegenden Gewebe zur
Folge haben; es kommt eine seröse, dann zellige In-
filtration und Verdickung der mit Varicen durchzoge-
nen Gewebe zu Stande; auch können rothe Blutkör-
perchen durch die Capillarwandungen austreten. Der Druck der beim
Stehen und Gehen prall gefüllten Venen auf das umliegende Gewebe
Varices im Gebiet der
V. saphena.
gßg • Von den Varicen und Aneurysmen.
mag- auch dazu beitragen, letzteres in den Zustand entzündlicher Rei-
zung zu versetzen. Wie durch ein weiteres Fortschreiten dieses Pro-
cesses das Gewebe mehr und mehr verändert, chronische Entzündung
und Ulceration eingeleitet wird, haben wir früher (pag. 485) erörtert.
Es entstehen auf diese Weise übrigens nicht allein Geschwürsbildungen,
sondern auch manche andere Formen chronischer Hautentzündungen, zu-
mal ein chronischer Bläschenausschlag, das „Ekzem" am Unterschenkel.
Jetzt müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wodurch ist die
Entstehung der Varicen bedingt. Es ist a priori wahrscheinlich, dass
die Ursache ein Hinderniss in dem Rückfluss des Venenblutes sei, ein
Druck, eine Compression der Vene oder eine Verengerung des Venen-
lumens irgend welcher andern Art. Das Hinderniss darf indess nicht
plötzlich auftreten; denn ein plötzlich verhinderter Rückfluss des Venen-
blutes veranlasst gewöhnlich nur Oedem; so die Unterbindung eines
grossen Venenstammes und die rasch auftretenden Thrombosen. Der
Druck rauss also allmählig auf den Venenstamm wirken. Doch auch
dies genügt noch nicht; oft veranlasst ein ganz allmählig sieh verstär-
kender Druck doch keine Varicositäten der Venen, sondern es bilden
sich reichlichere Collateralabflüsse aus, so dass entweder nichts oder ein
ganz geringes indurirtes Oedem erfolgt. Eine Disposition zu Gefäss-
ausdehnungen muss zu gleicher Zeit vorhanden sein, eine gewisse Schlaff- .
heit, Dehnbarkeit der Venenwandungen, vielleicht ein Reizungszustand
in denselben. —
Genauere Untersuelumgen über ectatische Venen von Soboroff haben ergeben,
dass sich die Wandung derselben sehr verschieden verhält. Soboroff untersuchte be-
sonders die V. saphena und ihr Gebiet; dabei fand sich, dass diese Venen bei verschie-
denen Menschen im normalen Zustand in Betreff der einzelnen Schichten wesentlich diffe-
riren , ja dass_ zuweilen' nahe einander liegende Stellen dergleichen Venen ungleichartig
zusammengesetzt sind. Dies ist höchst interessant, weil es erklärt, warum das Auftreten
von Varicositäten bei gleichen Gelegenheitsm-sachen doch so ungleich, und in rein indi-
viduellen Verhältnissen begründet ist. Man kann bei den ectatischen Venen solche mit
dünnen, und solche mit dicken "Wandungen unterscheiden. Gemeinsam ist allen die
Vergrösserung der einzelnen Muskelfasern und die Unveränderlichkeit rnid Integrität der
Endothelien. Die Verschiedenheit der Durchmesser der Venenwandungen ist also der
Hauptsache nach durch Vei'dickung der Adventitia, deren Gefässe auch sehr zunehmen und
der Kittsubstanz, welche die Muskelfasern bindet, in geringerem Grade auch durch Verdickung
der Intima bedingt; eine sklerotische Verdickung der letzteren wie bei der Arteriensklerose
findet sich indess äusserst selten. — Die anatomischen Verhältnisse gestalten sich demnach in
den Venenwandungen bei gesteigertem Druck ganz ähnlich wie in den AVandungen der
Harnblase und des Herzens unter ähnlichen Verhältnissen. Zimächst scheinen die Muskel-
fasern in Folge gesteigerter Functionsforderung grösser zu werden; kommt dann reicli-
lichere Ernährung durch zunehmende Vasa vasorum hinzu, so wii-d das Bindegewebe, zu-
mal der Adventitia erheblich vermehrt; bleibt die gesteigerte Nutrition der Gefässwandung
aus, dann kommt es zur Atrophie und vollständigen Erschlaffung.
Die Disposition zu Varicen ist in vielen Fällen angeerbt; Gefäss-
krankheiten vererben sich überhaupt gar nicht selten , sowohl Krank-
heiten der Arterien als auch der Venen und Capillareu, durch deren
Vorlcsiiii',^ 4-2. <';i|,ilcl X\. OP/I
kvaiiklinftc Erweltcnuig- die (Icf'ässinillcr, die HO£>T,naniitcn Matten tiäl er
bedingt sind, deren Evbliclikcit selbst den Laien ])ekannt ist. Wir
können daher die glcicli zn nennenden Ursaeben der Varicositätcn mir
als Gelcg'enheitsursaeben bei vorliandener Disposition l)etraclitcn. i)i(!
Varicen sind bei Frauen liäufigcr als bei Männern; innn scliiebt die l'i--
saclic besonders auf wiederliolte Schwangerscbaften : der allni;ihlig sieh
vergTÖsseriide Uterus drückt auf die Vv. iliacae communes, dann s|);iter
auch auf die V. cava, uud es entwickelt sich dabei /Aiweilen sogar (Jedem
der Füsse in Folge des Druckes auf diese Venen. ITüulig entstehen
Varicen im ganzen Gebiet der V. saphena, doch auch zuweilen im Be-
reiche der Vv. pudendales, so besonders in den grossen Schamli])])en.
Weit schwieriger sind die Ursachen für die seltener vorkommenden Va-
ricositäten bei Männern aufzufinden. Starke Anhäufung von Fäcalmassen
können freilich durch Druck der Kotld)allen auf die Unterleil)svenen ein
veranlassendes Moment für die Entstehung von Varicen sein; indessen
lässt sich dies doch selten nachweisen. Bei vielen Männern mitVarico-
sitäten werden Sie ganz unverhältnissmässig lange untere Extremitäten,
zumal sehr lang-e Unterschenkel finden; dies mag in einzelnen Fällen
als begünstigender Umstand für Stauungen in den Venen gelten. Ferner
wäre es denkbar, dass massenhafte Anhäufung von derbem Fett oder
auch Schrumpfunggprocesse an dem Processus falciformis der Fascia lata
Veranlassung zu Blutstauungen in der V. saphena werden krtnncn , da
letztere sich gerade hier in die V. femoralis einsenkt. Anatomische Un-
tersuchungen liegen, so viel mir bekannt ist, über diesen Punkt nicht
vor. Das Hinderniss für den Blutabfluss braucht übrigens gar nicht
immer direct in dem Gebiet der erweiterten Venen zu liegen: es wäre
z. B. sehr wohl denkbar, dass bei allmähliger Verengerung und schliess-
licher Obliteration der V. femoralis unterhalb des Eintritts der V. saphena
die Wurzeln der letzteren durch Collateralcirculationen enorm ausgedehnt
würden. — Es kommen noch an manchen andern Orten des Körpers
Varicositäten vor, so besonders am untern Theil des Piectum und am
Samenstrang. Die Varicen der Vv. haemorrhoidales im untern Theil
des Eectum stellen die Hämorrhoiden (von ai'^ia Blut, qsco fliessen)
dar, welche bekanntlich vorzugsweise bei Leuten entstehen, die eine
sitzende Lebensweise führen. Varicositäten an andern Theilen des Kör-
pers gehören zu den grossen Seltenheiten; sie kommen gelegentlich am
Kopf vor, meist ohne bekannte Ursache, können sich nach einer Ver-
letzung bilden, wenn in Folge derselben eine Verwachsung der arte-
riellen und venösen Gefässwandungen und ein Einströmen arteriellen
Blutes in die Venen erfolgt; das nennt man dann einen Varix aneurys-
maticus, wovon wir schon im zweiten Capitel gesprochen haben (pag. 139).
In dem pathologisch - anatomischen Atlas von Cruveilhier finden Sie
als grosse Seltenheit eine Abbildung grosser Varicositäten der Bauch-
Q4J0 Ton den Yaricen und Aneurysmen.
venen; ein ülinliches Präparat findet sicli in der patliologiscli - anatomi-
scheu Saminlimg- in Wien.
Die Diagnose der Yaricen ist nielit schwer, sowie die Hautveuen
betroffen sind; Yaricositäten der tiefern Muskelvenen kann man fast
niemals mit Gewissheit diagnostieiren ; am Unter- und Oberschenkel
markiren sich die geschlängelt verlaufenden Yeneu in ihrem ganzen Yer-
lanf oft so deutlich durch die Haut hindurch, dass sie leicht als solche
zu erkennen sind; in andern Fällen aber sieht man nur einzelne, leicht
bläulich gefärbte, fluctuirende, zusammendrückbare Knoten; diese ent-
sprechen vorwiegend den sackförmigen Erweiterungen der Yenen und
den Stellen, wo Klappen liegen. Hier findet man zuweilen sehr harte,
feste, rundliche Körper: Yenensteine, Phlebolithen (cflaip Yene, li^og
Stein), sie zeigen sich bei der anatomischen Untersuchung als geschichtete
Klümpchen, welche anfangs immer aus Faserstoff' bestehen, dann aber
vollkommen verkalken können, so dass sie das Ansehen von kleinen
Erbsen haben. — Die Yaricen der untern Extremitäten machen in den
vorwiegend meisten Fällen für sich gar keine Beschwerden, ausser
vielleicht nach anstrengendem Gehen oder langem Stehen ein Gefühl
von Spannung und Schwere in den Beinen. In beiden Fällen treten
aber zuweilen Thrombosen in einzelnen Yenenaussackungen ein: es folgt
Entzündung der Yenenwandung und des umgebenden Zellgewebes, und
wenn auch bei frühzeitiger Behandlung gewöhnlich der Ausgang des
Eutzündungsprocesses in Zertheilung erfolgt, so kann eventuell auch
eine Eiterung, ein Abscess sich daraus entwickeln. Die Behandlung
ist dieselbe, wie wir sie schon früher bei ti'aumatischer Thrombose und
Phlebitis besprochen haben. Eine andere Fährlichkeit, welche der Yarix
mit sich bringen kann, ist das Platzen desselben, ein ausserordentlich
seltener Yorfall; die Blutimg ist bei ruhiger Lage durch Compression
leicht zu stillen, und eine Gefahr droht nur dann, wenn ärztliche Hülfe
nicht bald zur Hand ist. Aus einem solchen geplatzten Yarix kann sich
auch ein varicöses Geschwür im strengsten Sinne des Wortes entwickeln,
indessen ist dies selten. Auch kann es vorkommen, dass sich die feine
Oeffnung eines geplatzten Yarix nur vorübergehend schliesst. dann wie-
der aufbricht, blutet, sich wieder schliesst, und dies eine lange Zeit so
fortgeht. Man nennt das eine Yarixfistel: die Heilung erfolgt bei
ruhiger Lage durch Druck oder man exstirpirt den Yarix. Ist die ganze
Haut und das Unterhautzellgewebe eines Unterschenkels sehr stark in-
durirt, und hat diese Induration auch die Adventitia der Hautvenen er-
griffen, so liegen dieselben ganz unbeweglich und erscheinen in der
festen, lederartigen starren Haut beim Betasten mit dem Finger als
Halbcanäle. Ich mache Sie hierauf besonders aufmerksam, weil Sie
sonst sehr leicht in solchen Fällen von Induration der Haut die Yarico-
sitäten ganz übersehen könnten.
Bei der Behandlung der Yaricen müssen wir uns insofern gleich
VuilcMiiii; 12. Ca|.ii.l XX. 041
als zienillcli olinmäclitig' crklürcn, als wir keine Mittel kennen, welche die
Disposition zu diesen Vencnerkrankung-eu zu vernichten im Stande wären.
Auch über die Druckursachen sind wir in den meisten Fällen nicht Herr, und
so werden wir eigentlich zu dem Schlüsse kommen, dass die Yarieen über-
haupt nicht heilbar sind, d. h. wir besitzen keine jMittel, die krankliaft
ausg-edehnten Venen auf ihr normales Maass zurückzuführen. \\\r müssen
uns für manche Fälle sagen, dass die Entstehung- der Yarieen, i)hysio-
logisch betrachtet, eine naturgemässe Ausgleichung abnormer Druckver-
hältuisse im Gefässsystem ist, und dass wir so lauge keine Aussieht
haben, die Yarieen zu beseitigen, als wir die Ursache derselben nicht
beseitigen können; denn falls wir aucli eine oder mehre dieser er-
krankten Yenen entfernen, so würden sich dafür bald andere Wege aus-
bilden. Schon aus diesem Grunde verwerfe ich alle Operationen, welche
zum Zweck haben, einen oder mehre varicöse Knoten am Unterschenkel
zu beseitigen. Bedenken Sie, dass die einzelnen Yarieen an sich fast
gar keine Beschwerde machen, dass jede Operation an den Yenen durch
Complication mit Thrombose und Embolie lebensgefährlich werden kann,
so werden Sie mir beistimmen, wenn ich die Operation der Yarieen für
vollkommen unmotivirt halten muss. Dennoch werden diese Operationen
besonders oft in Frankreich und nicht selten mit tödtlichem Ausgange
ausgeführt; es giebt eine sehr grosse Menge von Operatiousmethoden;
nur wenig Worte darüber. Die älteste Methode, die schon von den
Griechen geübt wurde, besteht darin, die varicösen Yenen frei zu legen
und entweder heraus zu schneiden oder heraus zu reissen. Später
wurde vielfach das Glüheisen applicirt und dadurch eine Gerinnung des
Bluts in den Yenen erzeugt, welche die theilweise oder vollständige
Obliteration der Gefässe zur Folge hatte. Auch kann man mit einer
sehr feinen Spritze durch eine nadeiförmig zugespitzte Cauüle Liquor
Ferri sesquichlorati (perehlorure de fer) injiciren, welches, wie Sie wissen,
sehr schnell Gerinnung des Blutes erzeugt. Endlich kam auch die Li-
gatur der Yenen in Anwendung, besonders die subcutane Ligatur nach
Eicord, und das subcutane Aufrollen, das Enroulement nach Yidal,
kleine operative Handgriffe, die ich Ihnen im Operatiouscurs zeigen
werde, sehr sinnig erdachte Methoden, nur Schade, dass sie zwecklos
und nicht ganz gefahrlos sind.
Soll man nun aber nichts gegen die Yarieen thun? Doch man soll
sie in gewissen Schranken zu erhalten suchen und ihre Folgewirkungeu
dadurch verhindern oder auf den geringsten Grad zurückführen. Hier-
für giebt es nur ein Mittel, nämlich die dauernde Compression,
welche jedoch nur in einem solchen Grade ausgeübt werden darf, dass
sie für den Patienten leicht erträglich ist. Wir bedienen uns zweierlei
verschiedener mechanischer Hülfsmittel zur Ausübung von Compression
in diesen Fällen, der Schnürstrümpfe und der kunstgemässen Einwicklung
mit Rollbindeu. Die Sehuürstrümpfe bestehen entweder aus einem gleich-
ßilh-otli chir. Putli. ii. Ther. 7. Aufl. 41
(342 Von den Varicen und Aneun^smen.
massig" genau gearbeiteten, überall fest anliegenden Lederstrumpf, welcher
au einer Seite gespalten ist und liier wie ein Sehnürleib zugeschnürt
wird, bis er fest genug liegt, oder aus einem Gewebe von Gummifäden,
welche mit Seide oder Baumwolle übersponnen sind; Sie kennen diese
Art von Zeug, da ein grosser Theil der Hosenträger daraus besteht.
Diese Schntirstrümpfe , welche mit grosser Sorgfalt gearbeitet und con-
tiuuirlich getragen werden müssen, sind leider ziemlich theuer und
müssen, da sie nicht gewaschen werden können, auch oft neu ange-
schafft werden, so dass sie eigentlich nur für bemittelte Leute practisch
brauchbar sind. Für die meisten Fälle reicht ein sorgfältig angelegter
Verband mit Eollbiuden aus. Sie nehmen dazu am besten baumwollene
Binden von 2 — 3 Finger Breite, welche in gutem Buchbiuderkleister
eingeweicht sind, und wickeln damit vom Fuss an mit Umgehung der
Ferse den ganzen Unterschenkel bis zum Knie ein: ein solcher Verband
kann 5 — 6 Wochen lang getragen werden, wenn er sorgfältig geschont
wird, und die Entstehung von Geschwüren selbst bei schon ziemlich
infiltrirter Haut verhindern, indem er zu gleicher Zeit die Weiteraus-
bildung der Varicen hemmt.
In sehr seltenen Fällen kommen auch Varicosi täten der sub-
cutanen Lymphgefässe an den Extremitäten vor; die innere Seite
des Oberschenkels im oberen Dritttheil ist der Locus praedilectiones die-
ser Erkrankung, die schon eine sehr hochgradige sein muss, um deut-
lieh sichtbar zu werden. In den meisten der bekannt gewordenen Fälle
entstanden Convolute von ectatischeu Lymphgefässen, die auch wohl zu
cavernösen Räumen confluirten. Dabei kommt es nicht selten zu einer
Perforation der Haut; es bildet sich eine Lymphfistel aus, d. h. es
entleert sich täglich eine grosse Menge von Lymphe, die meist rein
serös ist, in einigen Fällen milchartig aussah. Die Heilung durch Com-
pression gelingt selten, meist kam man schliesslich dazu, das ganze
Convolut ectatischer Lymphgefässe zu exstirpiren.
Es ist ziemlich lange her, dass wir von dem Aneurysma trauma-
ticum gesprochen haben; Sie werden sich jedoch erinnern, dass bei den
Stichwunden davon die Rede war (pag. 136), und dass ich Ihnen damals
sagte, ein Aneurysma sei eine Hohle, ein Sack, welcher direct oder in-
direct mit einem Arterienlumen communicirt; dass solche Höhlen nach
Verletzungen der Arterien durch Stich, nach subcutanen Zerreissungeu
und Quetschungen derselben sich ausbilden können, wissen Sie bereits.
Jetzt haben wir aber nicht von diesen traumatischen, sogenannten falschen
Aneurysmen zu sprechen, sondern von dem Aneurysma verum, welches
durch Krankheit der Arterienwaud sich allmählig ausbildet. Um Ihnen
eine klare Vorstellung zu geben, wie dies geschieht, ist es am besten,
dass wir von den anatomischen Verhältnissen ausgehen. Sie wissen ])is
Vorlcsimi;' 42. Cai)ilcl XX. f;4;>
jet/i iiocli iiiclit viel von Avlci-icncrki-aiikiiii^cn; ausser der 'J'liroinbiiH-
l)il(luiig- naeli Verletzung-, der Eutwickluu- des Collater;i,lkreislaufes und
dem bei Geleg^enlieit der Gang-raena senilis Iliiclitig- besj^roclienen atliero-
matöscn Process sind bis daliin noeli keine weiteren Erkraidamgen ei--
wälint. Dieselben sind aucli mit den genannten an sich fast erscliöj)!"!,
nur dass wir die Folgen der atheromatösen Erkrankung ))is jetzt erst
sehr einseitig beriieksicbtigt haben. — Von den verschiedenen Theilen,
aus welchen das Arterienrohr zusammengesetzt ist, sind es besonders
die Tunica rauscularis und intima, welche am häufigsten erkranken, und
zwar, wie es scheint, primär erkranken. Die Tunica media ist aus
Mnskelzellen und etwas Bindegewebe zusammengesetzt, die Tunica intima
besteht aus gefässlosen, elastischen Lamellen, gefensterten Mendji-anen
und aus der sehr dünnen Endothelialhaut. — Nach Verletzungen von
Arterien lässt sich leicht coustatiren, dass die Arterieuwandung anscliwillt
und eine Zeit lang verdickt bleibt; es kann die plastische Infiltration dei-
Gefäss Wandung auch zur Eiterung führen, so dass sich in derselben ein-
zelne kleine Eiterheerde bilden, ein Vorgang, der freilich seltner bei
Arterien als bei Venen beobachtet wird. Bei diesen Processen tritt eine
Lockerung der Häute ein, die Litima löst sich leichter als sonst von
der Media, letztere wird weicher, die Muskelzellen k(3nnen durch ZQrfall
theilweis zu Grunde gehen, und es kann in Folge dieser verminderten
Resistenz der Gefäss wandung zur Erweiterung des Arterienrohrs kommen.
— Solche acuten entzündlichen Processe mit plastischer Neubildung und
theilweiser Erweiterung können spontan auftreten, und wenn man darüber
auch keine speciellen Beobachtungen besitzt, so unterliegt es doch nach
der Analogie mit anderen Geweben keinem Zweifel, dass eine spontane,
idiopathische, acute und subacute Entzündung- der Arterien auf diese
Weise wird verlaufen können und wahrscheinlich neben acuten Ent-
zündungsprocessen anderer Gewebe vorkommt. Auf alle Fälle sind diese
acuten spontanen Arterienentzündungen äusserst selten, viel häufiger
sind die chronischen. Nur eine Form der Aneurysmen beruht vielleicht
auf einem solchen subacuten diffusen Entzündungsprocess der Arterien mit
Verminderung der Resistenz ihrer Wandungen, nämlich das Aneurysma
cirsoideum oder Aneurysma per anastomosin, auch Angioma
arteriosum racemosum benannt. Diese Art der Arterienerweite-
rung ist total verschieden von den später zu erwähnenden Aneurysmen;
es handelt sich hier nicht um die circumscripte Erweiterung eines Theils
einer Arterie, sondern um die Erweiterung einer grösseren Menge von
dicht zusammenliegenden Arterien, welche ausserdem auch noch stark
geschlängelt sind, ein Zeichen, dass auch die Länge der Arterien be-
deutend zugenommen hat. Das Aneurysma cirsoideum ist also
ein Convolut von erweiterten und verlängerten Arterien.
Damit diese Veränderung zu Stande kommt, muss in der Arterienwan-
dung eine bedeutende Neubildung, auch in der Längsrichtung erfolgen;
41*
644
Von den Varicen und Aneurysmen.
Fic?. 124.
Aneurysma cirsoideura der Kopfhaut bei einer alten Frau; eine kleine Geschwulst soll
angeboren gewesen sein und sieli nach und nach zu diesem Umfang ausgebreitet haben;
nach Breschet.
die Erweiterung ist vielleicht durch Atrophie der Muscularis bedingt; ge-
wöhnlich nimmt man (freilich ohne es beweisen zu können) als Ent-
stehungsursache dieser Art von Aneurysmen eine Paralyse der Arterien-
wandungen an; indess wenn auch die Paralyse allenfalls eine massige
Erweiterung der Arterien wird erklären können, wobei die Ursache der
Paralyse selbst ganz unerklärt bleibt (bei totaler Paralyse z. B, der
unteren Extremitäten erfolgt keine Erweiterung der Arterien), so ist
doch die Verlängerung des Arterienrohrs, die nur auf einer Neubildung
von Wandungselementeu beruhen kann, dadurch nicht verständlicher
gemacht. Ich glaube, wie gesagt, dass diese Art der Arterieuerweite-
ruug, welche sehr viel Aehnlichkeit mit der entzündlichen Gefässerwei-
terung und Schlingenbildung hat, auf einen Entziindungsprocess der
Arterien zurückgeführt werden muss, und zwar nicht auf die später zu
besprechende chronische Entzündung mit Atherombildung, sondern auf
eine mehr subacute diffuse Entzündung mit vorwiegender Gewebsueu-
bildung. Hierfür sprechen auch mehre ätiologische Momente: diese Aneu-
rysmen entstehen gar nicht selten nachweisbar nach Schlag, Stoss, Ver-
wundung ; sie sind am häutigsten an Stellen, wo viele kleinere Arterien
auastomosireu, so besonders am Hinterhaupt, in der Schläfen- und
Vorlcsims l'i. Ciipifcl XX. Qdt)
Schcitclbcing-og'cnd ; mau könnte diese Art des Aneuiy.sni.i als einen znni
Ucberaiaass ausg-el)ildeten Collateralkreislaiir auCfassen; aiieli die cdlla-
teral sich erweiternden Arterien werden, ausser dass sie sieh erweitern,
stark gescliläng-elt, der zur Erweiterung- und Sehl:ni.-cliin.- di^y befasse
führende Proeess ist offenbar in beiden Fällen der gleielie. Kerncr isl
zu erwälmen, dass dies Aneurysma sich besonders l)ei jugendlichen In
dividuen entwickelt, avo die clironisclien, zu anderen Aneurysn)cn fühicn
den Artcrieuerkrankungen selten vorkommen. — Die Diagnose des Aneu-
rysma cirsoideum ist sehr cinfacli, wenn es, wde gewöhnlich, unter der
Haut liegt; es sind freilieli auch tiefere Aneurysmen der Art, z. B. an
der Art. glutaea, l)eobachtet worden, indess am häufigsten kommen sie
am Kopf vor; hier fühlt man die geschlängelten ])ulsirenden Arterien
deutlich und sieht sie pulsiren, so dass die Krankheit leicht zu erkennen
ist; im Ganzen ist sie nicht häufig. —
Es muss hier noch erwähnt werden, dass die Arterien wandung acut
und chronisch dadurch erkranken kann, dass sich ein Eiterungs- oder
Ulcei-ationsprocess von der Umgebung aus zunächst auf die Adventitia,
dann auch auf die anderen Häute ausbreitet und letztere in Mitleiden-
schaft zieht; seltner ist dies bei acuten Abscessen der Fall, häufiger bei
chronischen Ulcerationsprocessen. Um ein Beispiel anzuführen, so kommt
es bei der Bildung von Cavernen in den Lungen gar nicht selten vor,
dass der Verschwärungsprocess auf die Wandungen der kleineren Ar-
terien übergreift, und dass die Adventitia theilweis zerstört und erweicht
wird, oder dass die ErAveichung durch Tuberkelbildung in den Arterien-
wandungen zu Stande kommt. Die Folge davon ist dann, dass an dieser
Stelle die Arterie sich erweitert und so ein kleines Aneurysma entsteht,
dessen Platzen zu heftigen Lungenblutungen Veranlassung giebt. Auch
andere Ulcerationsprocesse können, wenn dies auch im Ganzen niclit sehr
häufig ist, ihren Weg auf eine Arterie zu nehmen und die Wandung der
letzteren zerstören, so dass die Arterie berstet und dass dadurch, wenn
es einen grösseren Stamm betrifft, eine tödtliche Blutung erfolgt. Ich
habe mehr solche Fälle erlebt; bei einem alten Manne hatte sich ein
Abscess in der Tiefe des Halses gebildet, welcher sich in den Pharynx
eröffnet hatte; dies war aus der allmählig entstandenen sclmierzhaften
Anschwellung am Halse und aus reichlichem Auswurf eines stinkenden
Eiters zu diagnosticiren; Patient war kaum einige Stunden im Spital, als
er plötzlich eine enorme Masse Blut auswarf, sehr schnell asphyktisch
wurde und starb; die Section zeigte, dass in Folge einer Zellg-ewebs-Ver-
eiterung- um die Art. thyreoidea superior diese Arterie viel Blut ergossen
hatte und dies direct in den Laryux geströmt war, so dass dadurch der
Erstickungstod eintrat. Li einem andern Falle erfolgten bei einem jungen
Mann, der an Caries des rechten Felsenbeins litt, wiederholte arterielle
Blutungen aus dem rechten Ohr ; ich diagnosticirte einen Abscess an der
unteren Seite des Felsenbeins mit Vereiterung der Art. carotis interna,
RAR Von den Varicen und Aneurysmen.
Die Bliitung-en waren durcli Tamponade des Ohrs nicht zu stillen; ich
machte die Unterbindung der Art. carotis communis dextra. Die Blu-
tungen hörten 10 Tage lang auf, dann begannen sie von Neuem; nach-
dem wiederum Tamponade und dann Digitalcompression der linken
Art. carotis ohne dauernden Erfolg gemacht war, unterband ich auch
die Art. carotis communis sinistra; zwei Tage darauf .-tavb der Kranke
doch an profuser Blutung aus dem rechten Ohr, aus Nase und Mund;
der Abscess, der mit Blut gefüllt war und jetzt als Aneurysma spurium
betrachtet werden konnte, hatte sich auch nach dem Pharynx eröffnet.
Die Section bestätigte die Diagnose vollkommen.
Kommen wir aber jetzt zu den ächten Aneurysmen. Im höheren
Alter ist es eine sehr gewöhnliche Erscheinung , dass die Arterien auf-
fallend dick und hart, zuweilen auch geschlängelt werden, besonders
die Arterien von dem Durchmesser der Eadialis an und kleinere. Un-
tersucht man solche rigiden Arterien genauer, so findet man die Tunica
intima verdickt, knorpelig fest, das Lumen des Gefässes starrer als sonst,
klaffend; hier und da ist die Arterie sogar kalkig fest, selbst ganz ver-
kalkt, verknöchert. Diese kalkigen Partien sind nicht diffus in beliebige
Stellen der Gefässwandung eingelagert, sondern in Form von Kreisen,
entsprechend den queren Muskellagen der Tunica media; es sind die
Gefässmuskeln, welche hier verkalken. Bei Individuen mit solchen Ar-
terien findet man dann in der Aorta und den von ihr zunächst abgehen-
den grösseren Stämmen an der Innenfläche weisslich gelbe Flecken,
Streifen, Platten, zum Theil kalkig fest, zum Theil rauh, wie zerfressen,
mit unterwühlten Rändern. Schneidet man diese Stellen ein, so zeigt
sich die ganze Intima entweder knorplig hart, weiss gelblich, auch w^ohl
ganz verkalkt und knochenhart, oder bröcklig, körnig, breiig. Wo diese
Erkrankung einen hohen Grad erreicht hat, sind die Arterien buchtig
erweitert. — Dies ist das Bild des Arterienatheroms, wie wir es an der
Leiche vorfinden. Frischere und ältere Stadien finden wir oft neben ein-
ander oder in verschiedenen Arterien.
Prüfen wir diese Stellen genauer mit dem Mikroskop , besonders an feinen Quer-
schnitten durch die verschieden aussehenden Stellen, so ergiebt sich, dass der feinere
Vorgang folgender ist: die ersten Veränderungen finden in den äusseren Lagen der
Intima, und zwar an der Grenze gegen die Media hin statt; hier beginnt eine massige
Zellenanhäufung. Die jungen Zellen können zu Bindegewebsnenbildung und schwieliger
Verdickung der Arterienwand führen; meist sind sie aber sehr kurzlebig; während in der
Peripherie des Erkrankungsheerdes neue erseheinen, zerfallen die ersten zu einem körni-
gen Detritus, einem aus feinen Molecülen und Fett gebildeten Brei, der wie beim Ver-
käsungsprocess ziemlich trocken bleibt; so schreitet die Zerstörung langsam der Fläche
nach fort, es leidet die Ernährung der Media sowohl als auch der innersten Lagen der
Intima; die Muskelzellen der ersteren zerfallen körnig und fettig, ebenso die elastischen
Lamellen der Intima; so geht es nach innen fort bis zur Perforation der letzten Lamelle
und der Epithelialhaut, und dann ist die mit Atherombrei gefüllte Höhle nach dem Lu-
men der Arterie hin eröffnet. Der atheromatöse Process, als HohlgeschAvüi- beginnend,
hat zum offenen Geschwür mit unterhöhlten Rändern geführt; Sie sehen, es ist derselbe
V.irIcsiiriK -12. C'iipil.'l XX. f547
Mechanismus, wie Sie ihn hcrciis an der IImii( mid :iii <l.-ii LymphdrÜKon kennen: >-^ ih(,
eine chronische Entefindmi},' mit Aus^fui- in V.TkiisiiiiK. url<T wie man hier dicM-n F{rci
nennte, in A(hcr<uiil)il(lnni;' (liOdnrt, (<.')i'j()ii C,yi\[7.r , (Jriiiipcn).
Dies wäre nmi das Wesentliche des Processen, so weit oy für dio
Aiievnysmenbildiing Interesse hat; derselbe erleidet indcss nodi nniiiiii-
fache Abweicliimgen, und ist durcli den verschiedenen |{;iii (U-\- Aii.ii.n
wesentlicli in seinem Verlauf niodificirt. Je wenig-er die hilinia ciilw ickdl,
ist, um so weniger atlieromatöser ßi'ei wird sicli entwickeln, denn dieser
gellt hauptsächlich aus dem Zerfall der Intima heiwor. Betrachten wir
zunächst die kleinen Arterien, deren Erkranknng' wir besonders an den
mikvoskopisclien Hirnarterien stndiren können: hier findet man die Zellen-
auhäufungen am meisten in der Adventitia, die an grösseren Arterien
wenig- und nur secundär bei dieser Erkrankung betheiligt ist. Die ganze
Adventitia geht fast in Zellen auf, die wenigen Muskelzellcn atrophiren,
die feine Glashaut, welche als Intima fungirt, ist äusserst elastisch, nnd
so führt dann die durch die Zelleninfiltration bedingte P'rweichung der
Adventitia bald zur blasigen Erweiterung der Arterie, eventuell zur 15er-
stung, weil die Wandungen nicht mehr fest genug sind , um dem lUut-
druck widerstehen zu können. Zuweilen tritt auch eine plastische Pro-
duction in der Adventitia auf; es bilden sich kolbige Vegetationen, welche
theils aus neugebildetem faserigem, theils aus homogenem Bindegewebe
bestehen. Dies können wir hier nicht weiter verfolgen, um so weniger,
als es für die Chirurgie niclit weiter von Belang ist. — Eine Verfettung
und Verkalkung der Muscularis kommt neben den plastischen Infiltra-
tionen der Adventitia an den kleinen Hiruarterien auch wohl vor, doch
ist sie nicht so gar häufig. — Gehen wir weiter zu den Arterien von den
Durchmessern einer Basilaris, einer Radialis u. s. w. Hier coucurrirt der
plastische Process in der Adventitia zuweilen noch erfolgreich mit dem-
jenigen in den andern beiden Häuten, wenngleich schon breiiger Zerfall
und Verkalkung der letzteren vorkommt. Es kommt bald mehr zu einer
Verdickung und Schlängelung dieser Arterien, bald mehr zum Zerfall
und zur Erweichung und damit zur Erweiterung, zur Aueurysmenbildung;
denn wenn die Media und Intima an einer Stelle zu Atherombrei er-
weicht ist, dann ist die Adventitia nicht mehr stark genug, dem Blut-
druck Widerstand zu leisten, es entsteht eine Ausbuchtung. — Berück-
sichtigen wir nun endlich die grossen Arterienstämme, die Aorta, Aa. ca-
rotides, subclaviae, iliacae, femorales, so wissen Sie, dass an ihnen die
Muscularis auf ein Minimum reducirt ist, ja zum Tlieil ganz fehlt, dass
dagegen die Intima aus einer grossen Anzahl elastischer Lamellen zu-
sammengesetzt ist und fast unmittelbar an die mehr oder weniger an
elastischen Fasern sehr reiche Adventitia stösst. Hier ist der plastische
Process in der Adventitia am geringsten; die pathologische Veränderung,
die Ernährungsstörung äussert sich vorwiegend in raschem Zerfall oder
Verkalkung der pathologischen Neubildung, welche theils an der Grenze
g^g Von den Varicen und Aneurysmen.
der Intinia, tlieils in dieser Haut selbst eutsteht. Freilicli giebt es auch
Fälle wo in der lutima ausgedehntere cireumscripte Bindegewebsneu-
bildungen in Form von knorpligen Schwielen auftreten, wie schon
erwähnt: immerhin ist dies seltener als die Metamorphose zu Atherom-
brei. An den letztgenannten grossen Arterien entwickelt sich der Atherom-
brei am häufigsten, und daher kommen au ihnen auch Aneurysmen
vorwiegend vor.
Untersuchen Sie diesen ausgebildeten Atherombrei mikroskopisch , so linden Sie
ausser den erwähnten molecularen und Fettkörnchen darin Fettkrystalle, besonders krystal-
linisches Cholesterin, ferner Bröekel von kohlensaurem Kalk und auch wohl Hämatoi-
dinkrvstalle, welche dadurch hineinkommen, dass sich an den Eauhigkeiten der Arterien
Blutgerinnsel ansetzen, aus deren Farbstoff sich das Hämatoidin entwickelt.
Sie haben nun eine allgemeine Uebersicht und Vorstellung von dem
atheromatösen Process an den Arterien verschiedenen Calibers und ver-
stehen jetzt, wie derselbe durch Erweichung der Gefässwanduug zur
partiellen Erweiterung des Arterienrohrs, zur Aneurysmenbildung führen
kann. Die Form dieser Erweiterung kann etwas verschiedenartig sein,
je nachdem die Arterie in ganzer Peripherie gleichmässig oder ungleich-
massig erkrankt ist, je nachdem hier Erweichung, dort Verkalkung mehr
vorwiegt.
Die Erweiterung der Arterie kann nämlich eine Strecke weit eine voll-
kommen gleichmässige sein; dann heisst man sie ein Aneurysma cylin-
dri forme; ist die Erweiterung mehr spindelförmig, ein Aneurysma
fusiforme. Ist die Erweichung der Arterie nur auf eine Seite der
Arterienwanduug beschränkt, so entsteht eine sackartige Erweiterung,
das Aneurysma saccatum, welches durch eine grössere oder kleinere
Oeffuung mit dem Arterienlumen communiciren kann. — Eine fernere
Verschiedenheit in dem Bau des Aneurysma kann darin bestehen, dass
entweder alle Häute gleichmässig an der Aneurysmenbildung Theil
nehmen, oder dass die Intima und Media völlig erweicht und zerstört ist,
und nur die sich allmählig verdickende Adventitia und die infiltrirteu
umgebenden Theile den Sack bilden. Endlich kann sich das Blut bei
letzterem Verhältniss zwischen Media und Adventitia drängen , beide
Häute aus einander schieben, als wenn man die Schichten der Arterie
anatomisch präparirt hätte; dies heisst dann ein Aneurysma disse-
cans. Man kann diese Unterscheidungen noch weiter führen, doch
für die Praxis haben dieselben äusserst geringen Werth. Nur das will
ich noch erwähnen, dass bei subcutaner Berstung eines aus allen
Arterienhäuteu zusammengesetzten Aneurysmas letzteres mehr die ana-
tomischen Eigeuscliaften eines Aneurysma traumaticum seu spurium be-
kommt. Ich sah noch vor Kurzem einen Fall, wo bei einem scheinbar
gesunden Mann von 50 Jahren sich plötzlich beim Umdrehen im Bett
eine enorme Geschwulst am Oberschenkel entwickelte, die sich bald
leiclit als diffuses traumatisches Aneurysma erkennen Hess; ich zweifelte
VorlcsmiK -VI. Ciipilol XX. 040
nicht daran, dass die Artcvia fciiioralis erkrankt und an einer Stelle
in der Mitte des Oberschenkels plötzlich geborsten sei. Nachdem lange
Zeit die Compression vergeblich angewandt war, wurde die Art. fe-
moralis unterbunden, die sich bei dieser Operation mit gelblichen
Flecken gesprenkelt zeigte; die Ligatur hielt gut und tiel nach vier
Wochen ab, doch das Aneurysma wurde grösser und sclimerzliaft; in
der sechsten Woche nacli der Unterbindung trat Gangrän des Fusses
ein; ich machte nun die hohe Amputation des Oberschenkels; Patient
ist geheilt. Es fand sich ein colossales Aneurysma spurium und ein
Zoll langer Riss in der atheromatös erkrankten, nicht aneuiTsmatischcn
Art. femoralis.
Von grosser Bedeutung ist das weitere Schicksal des Aneurysma
nud sein Einfluss auf die betreffenden Nachbargebilde oder auf die bc-
_ treffende Extremität. Was die anatomischen Veränderungen betrifft,
welche in der Folge in und an einem Aneurysma Statt haben können,
so bestehen dieselben darin, dass das Aneurysma nacli und nach gn'lsser
wird, und die Naclibartheile nicht allein verschiebt, sondern auch durch
Druck und durch das Pulsiren zum Schwund l)ringt; dies bezielit sich
nicht allein auf Weichtheile, sondern auch auf Knochen, die von den
Aneurysmen allmählig durchbrochen werden; l)esonders konnnt letzteres
vor bei Aneurysmen der Aorta und Auonyma, welche theils die Wirbel-
körper, theils das Sternum und die Rippen in Form der lacunären Cor-
rosiou (wie bei Caries) zum Schwund bringen können. Ein weiteres
Ereigniss, welches sich zu den x4.neurysmen hinzugesellt, sind Entzündungs-
processe in ihrer unmittelbaren Umgebung, die freilich selten zur Eiterung
fuhren, oft chronisch werden, sehr selten Gangrän des Aneurysma zur
Folge haben. — Endlich konnnen in den Aneurysmen sehr häufig Blut-
gerinnungen vor; es können sich schichtenweise ganz derbe Lagen von
Gerinnseln an der Innenfläche des Sackes bilden, und diese können den
ganzen Sack schliesslich ausfüllen und auf diese Weise eine spontane
Obliteration, eine Art Heilung des Aneurysma zu Wege bringen. — Das
schlimmste Ereigniss ist, wenn das Aneurysma bei zunehmender Ver-
grösserung schliesslich platzt; dieses Platzen kann nacli aussen erfolgen«
häutiger, zumal bei den grossen Arterien des Stammes, erfolgt die Ber-
stung nach innen, etwa in den Oseophagus, in die Trachea, in die
Brust- oder Bauchhöhle: ein rascher Tod durch Verblutung ist natürlich
die Folge.
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier zu erörtern, welche Folgen ein
Aneurysma an Arterien innerer Organe haben kann; ich will davon nur
erwähnen, dass von den Gerinnseln, welche in den aneurysmatischen
Erweiterungen sich bilden, oder auch an den Rauhigkeiten. der athero-
matösen Arterien anhaften, Partikel losgelöst und mit dem arteriellen
Strom in peripherische Arterien als Emboli verschleppt werden können;
diese Emboli werden dann gelegentlich Ursache von Gangrän. Dieser
g50 ^°n den Varicen und Aneurysmen.
Voi'g-ang ist indess nicht so häufig, als man glauben sollte, weil im
Ganzen doch die Gerinnsel in den Aneurysmen sehr fest anzuhaften
pflegen.
Wir haben uns nun genauer mit den Aneurysmen der Extre-"
mitäten zu beschäftigen. Sie veranlassen im Anfang leichte Muskel-
ermfidung und Schwäche, seltner Schmerz in der betreffenden Extre-
mität; sowie Entzündung um den Sack entsteht, tritt natürlich Schmerz,
starke Röthung der Haut, Oedem und bedeutende Functionsstörung
hinzu, die so weit gehen kann, dass bei dauerndem Wachsthum des
Aneurysma und dauernder chronischer oder subcutaner Entzündung um
dasselbe herum die Extremität völlig unbrauchbar wird. Bei Bildung
ausgedehnter Gerinnungen in dem Aneurysma eines grossen Arterien-
stammes kann Gangrän der ganzen Extremität unterhalb des Aneurysma
erfolgen.
Schon früher bei Gelegenheit der Gangrän ist davon gesprochen,
dass dieselbe in Folge von xlrterienatherom entstehen kann, als sogenannte
Gangraena spontanea; dort handelte es sich aber um etwas Anderes,
nämlich um die Erkrankung der kleineren Arterien, welche durch De-
sti-uction ihrer starken Muscularis functionsunfähig werden und das Blut
nicht mehr weiter treiben können, w^eil sie sich nicht mehr contrahiren.
Hier aber handelt es sich um Obliteration eines Hauptarterienstammes
durch Gerinnsel an einer aneurysmatischen Stelle. Ich will Ihnen einen
Fall mittheileu, der in der chirurgischen Klinik in Zürich beobachtet
M'urde. Ein Manu von 22 Jahren, abgemagert und elend, wurde in das
Spital gebracht; sein rechter Unterschenkel war fast bis zum Knie
blauschwarz, die Epidermis löste sich in Fetzen ab, die Gangrän war
unverkennbar. Die Untersuchung der Arterien ergab ein Aneurysma
der Art. femoralis sinistra dicht unter dem Lig. Poupartii, spindelförmig,
deutlich pulsirend; ein zweites 3 Zoll tiefer an der gleichen Arterie,
sackförmig, fest anzufühlen, ein drittes in der Kniekehle, ebenfalls fest,
die Form jedoch wegen der Anschwellung der umgebenden Weich-
theile nicht deutlich wahrnehmbar; zwischen dem zweiten und dritten
Aneurysma pulsirte die Arterie noch während der ersten Tage, welche
der Patient im Spital zubrachte; die Pulsation hörte indess von unten
nach oben täglich mehr auf; die Gangrän war nicht recht demarkirt,
schien sich noch weiter hinauf erstrecken zu wollen; nach und nach
verschwand die Pulsation in der Arterie ganz bis zum Lig. Poupartii
hinan; der Patient starb etwa 14 Tage nach seiner Aufnahme ins Spital.
Die Section bestätigte die schon im Leben erkannten Aneurysmen und
wies eine ausgedehnte Atheromasie fast aller Arterien nach. — Wenn
Sie mit diesem Fall das zusammenhalten, was ich Ihnen bei der Unter-
bindung grosser Gefässstämme über die Entwicklung des Collateral-
kreislaufs gesagt habe, so werden Sie hier einen Widerspruch zu finden
meinen. Warum tritt nicht Gangrän ein, wenn Sie die Arterie mit
VorlosiinK 42. C'apil.-I XX. 65 1
einer liigatuv schliessen, ebenso wie nacli der Obturation (IiiitIi TJc-
rinnsel? Die Antwort ist folgende: ein ausgiebiger, für die Ernälirimg
der peripherischen Theile genügender Collateralkreislanf entsteht nur
bei gesunden, der Ausdehnung fälligen Arterien; das lilut läuft auf
Umwegen um die Ligatur herum in das peripherische Ende des ligirten
Arterienstanuues hinein. Erfolgt aber von einem Aneurysma aus eine
Gerinnselbildung in den Arterienstanuu hinein , so bestellen dabei ge-
wöhnlich kranke, zum Tiieil verkalkte oder schon früher thcilweis ob-
turirte, nicht ausdehnbare Nebenarterien. Ferner ist der Verschluss (h;s
Stammes nicht wie bei der Ligatur auf eine kleine SteUe beschränkt,
sondern erstreckt sich auf eine ganz weite Strecke, vielleiclit sogar,
wie in dem erwähnten Fall, auf die ganze Arterie; da ist dann freilich
weder auf der Hauptbahn noch auf den Nebenwegen ein ICreislauf mög-
lich! — Es müssen schon die Arterien sehr allgemein erkrankt und die
Gerinnung sehr ausgedehnt sein, wenn es zur Gangrän kommen soll,
so dass im Ganzen doch dieselbe nicht so gar häufig liei Aneurysmen
ist; es wäre das auch sehr traurig für die Therapie, die doch, wie Sie
später sehen werden, wesentlich auf Obturation des Aneurysma mit oder
ohne Unterbindung des Arterienstammes ausgeht.
Wir kommen jetzt zur Aetiologie der Aneurysmen. Wenngleich
das Arterienatherom eine ganz enorm häufige Alterskrankheit ist und
überall vorkommt, so sind doch die Aneurysmenbildungen keineswegs
allein eine Alterskrankheit, In Zürich ist Arterienatherom, bei älteren
Leuten Gangraena senilis ziemlich häufig, selten aber Aneurysmen der
Extremitäten. Das Voi'kommen der Aneurysmen ist merkwürdig über
Europa vertheilt: in Deutschland kommen Aneurysmen an den Extre-
mitäten sehr selten vor; etwas häufiger sind sie in Frankreich und
Italien, am häufigsten in England. Es ist schwer, dafür besondere
Gründe anzugeben, nur das steht fest, dass Arterienkrankheiten in Ge-
meinschaft mit Rheumatismus und Gicht in England häufiger sind als
in allen übrigen Ländern Europas. — Was das iVlter betriift, so sind
Aneurysmen (es ist hier natürlich nicht von den traumatischen Aneu-
rysmen die Rede) vor dem 30. Lebensjahre selten, häufiger zwischen
30 und 40 Jahren, jenseits 40 am häufigsten. Männer sind mehr den
Aneurysmenbildungen unterworfen als Frauen. Besondere Gelegenheits-
ursachen sind wenig bekannt; am häutigsten ist an den Extremitäten
das xAneurysma popliteum; man hat in der oberflächlichen Lage der
Art. Poplitea, in der Spannung, welcher sie bei schnellen Bewegungen
des Kniees ausgesetzt ist, in Contusionen u. s. w. Gründe für die häufige
Erkrankung grade dieser Arterie finden wollen ; so soll dies Aneurysma
in England besonders häufig bei Bedienten vorkommen, welche hinten
auf der Kutsche stehen; ich muss indess gesteheu, dass mir diese
Geschichte grade so unwahrscheinlich ist wie die Entstehungsursache
des Chambermaid-knee. Ich möchte glauben, dass die Anlage zu
g52 ^"^"^ '^®" Varicen und Aneurysmen.
Arterienkranklieiten wie die zu Gicht liauptsächlich auf Erblichkeit
dieser Krankheit Ibasirt ist; auch nimmt man an, dass schwere Arbeit
und viel Branntweing'enuss dazu disponirt; letzteres soll zumal in Eng-
land häufig zu Erschlaffung der Arterienwandungen führen, auch ohne
Atheromasie.
Die Diagnose eines Aneurysma an den Extremitäten ist nicht
sehr schwer, wenn man genau untersucht und das Aneurysma nicht gar
zu klein ist. Es ist eine elastische, härtere oder weichere circumscripte
(bei falschen Aneurysmen und geplatzten Aneurysmen ditfuse) Geschwulst
vorhanden, welche mit der Arterie zusammenhängt; die Geschwulst
pulsirt sichtbar und fühlbar; setzen Sie das Stethoskop auf, so hören
Sie ein pulsirendes Brausen darin, eigentlich ein Eeibungsgeräusch,
welches durch Reibung des Blutes an den Gerinnseln oder in der mehr
oder weniger engen Oetfnung des Aneurysmasacks oder durch das
Eicochettiren des Blutes in dem Sack entsteht. Die Geschwulst hört
auf zu pulsiren, wenn sie den Arterienstamm oberhalb derselben com-
primireu, — Diese Symptome sind freilich so prägnant, dass man
meinen sollte, man könnte die Diagnose gar nicht verfehlen, und doch
ist sie nicht selten selbst von sehr erfahrenen Chirurgen verfehlt worden
in Momenten, wo sie gar nicht an die Möglichkeit eines Aneurysma
dachten und übereilt handelten. Das Aneurysma kann nämlich, wenn
die Umgebung stark entzündet ist, sehr maskirt werden durch starke
Schwellung der Weichtheile; es kann unter Umständen für eine ein-
fache Entzündungsgeschwulst, für einen Abscess imponiren, auch wohl
aus einem Abscess hervorgegangen sein, wie früher erwähnt wurde.
Grade die Verwechslung mit Abscess ist am häufigsten begangen worden;
man sticht ein, doch weh! eine unangenehme Ueberraschung! anstatt
Eiter kommt ein arterieller Blutstrahl! Nichts ist jetzt zur Hand, die
starke Blutung zu stillen; die Situation ist fatal, wenn auch der ruhige,
kaltblütige Arzt sich sofort durch Compression vorläufig zu helfen weiss,
bis er sich entschieden hat, Avas nun geschehen soll. Doch ich will
Ihnen die Sache nicht gar zu schwierig vorstellen und wiederhole es,
wenn genau untersucht wird, dürfte ein solcher diagnostischer Irrthum
nicht leicht passiren. — Ist das Aneurysma stark mit Gerinnseln erfüllt,
dann kann die Pulsation der Geschwulst fehlen oder sehr unbedeutend
sein, ebenso das Eeibungsgeräusch; eine weitere genauere Beobachtung
wird jedoch auch hier zur riclitigen Erkenn tniss führen. — Auf der an-
deren Seite kann es auch begegnen, dass man eine Gesoliwulst für ein
Aneurysma hält, welche keines ist. Es giebt besonders in den Knochen,
zumal im Becken, eine Art von weichen GeschAvülsten (meist weiche
alveoläre Sarcome), welche sehr reich an Arterien sind und deshalb
deutlich pulsiren; an diesen Arterien können sich viele kleine Aneurymen
bilden in Folge von Erweichung der Geschwulstmasse und der Arterien-
wanduugen; die Summe der Geräusche au diesen kleinen Aneurysmen
Vorlesung 42, Ciipiü^l XX. Or,;.*
kann zu einem ganz exquisiten ancurysuiati.sclien Gerüuscli flilireii;
auch hier kann nur die genaueste Untersucluing' und Beobaclitiing das
Richtige erkennen lehren. Diese pulsirenden Knocliengescliwiilsie sind
vielfach für wahre Aneurysmen in Knochen gehalten; ich glaiilx; nicht,
dass es spontane Aneurysmenbildung im Knochen gicbt, sondern glauhe,
dass all© diese sogenannten Knochenaueurysmen sehr Arterien -reiche
weiche Sarkome im Knochen waren. — Endlich kann man auch versucht
sein, eine Geschwulst, welche dicht auf einer Arterie liegt und mit dem
Arterienpuls gehoben wird, für eine selbstständig i)ulsircnde Ges(;hwulst,
für ein Aneurysma zu halten; das Fehlen des aneurysmatischcn Ge-
räusclies, die Consistenz der Geschwulst, die Möglichkeit, dieselbe von
der Arterie zu isoliren, die weitere Beobachtung des Verlaufs wird auch
hier vor Irrthümern bewahren.
Die Prognose der Aneurysmen ist je nach ihrem Sitz enorm ver-
schieden, so dass sich darüber im Allgemeinen nichts sagen lässt.
Wir wenden uns jetzt zur Therapie, wollen jedoch zuvor bemerken,
dass in seltenen Fällen die Ausheilung eines Aneurysma spontan erfolgen
kann, nämlich durch vollständige Obturation des Sackes und eines Theils
der Arterie durch Gerinnsel; die Geschwulst hört auf zu wachsen und
verschrumpft allmählig; auch ist, wie schon erwähnt, beobachtet worden,
dass die Entzündung um das Aneurysma zur localen Gangrän führen
kann; ist dann zuvor die Arterie obturirt, so kann das ganze Aneurysma
gangränös ausgestossen werden, ohne dass Blutung erfolgt. Diese Natur-
heilungen sind ausserordentlich selten, zeigen aber doch den Weg, wie
man therapeutisch die Krankheit in Angriff nehmen kann. — Von der
medicinischen Behandlung innerer Aneurysmen sehe ich hier ab und will
nur einer Behandlungsweise erwähnen, der Valsalva'schen Methode;
diese hat zum Zweck, das Blutvolumen des Körpers auf das Minimum
zu reduciren, dadurch den Herzschlag abzuschwächen und die Gerinnsel-
bildung zu befördern. Wiederholte Aderlässe, Abfülirmittel, absolut
ruhige Lage, knappe Diät, dann Digitalis innerlich, und örtlich auf die
Gegend des Aneurysma Eis, das sind die Mittel, mit welchen man die
Kranken nach dieser Methode behandelt; die Erfolge dieser Curen sind
sehr zweifelhaft; man bringt die Patienten fürcliterlich herunter, und
die Erscheinungen mögen dann geringer sein; doch so wie sich die
Kranken wieder erholen, dann kehrt auch der frühere Zustand meist
wieder zurück. Man kann die genannten Mittel wohl zur Linderung
heftiger Erscheinungen innerer Aneurysmen in massigem Grade an-
wenden; doch eine wirkliche Heilung wird man dadurch nicht erreichen;
die inneren Aneurysmen müssen leider fast immer als unheilbare Uebel
angesehen werden. — Wenden wir uns zu der chirurgischen Behand-
lung der äusseren Aneurysmen, so kann dieselbe von zwei verschie-
denen Absichten geleitet werden; sie kann nämlich entweder die Ver-
ödung des Aneurysma oder die völlige Entfernung desselben zum Zweck
g54 Von den Varicen und Aneixrj'smen.
haben. Für die meisten Fälle wird die Verödimg' der Geschwulst
ausreiclien. Die Mittel, welche wir hier iu Anwendung- ziehen, sind
verschieden:
1. Die Compression. Diese kann in verschiedener Weise an-
gewandt werden, und zwar a) auf das Aneurysma selbst, b) auf den
erkrankten Arterienstamm oberhalb der Gescliwulst. Letzteres ist das
bei weitem zweckmässigere Verfahren, weil selbst ein massiger Druck
auf das Aneurysma oft schon schmerzhaft ist und zu Entzünduugspro-
cessen in dessen Umg-ebung- Anlass geben kann. Die Art, wie man den
Druck anwendet, ist wiederum verschieden: derselbe kann dauernd und
zugleich vollständig- oder unvollständig-, sie kann vorübergehend, doch
dann ziemlich vollständig-, d. h. bis zum vollständigen Aufhören der
Pulsation angewandt werden. Die Methoden der Compression sind etwa
folgende: a) die Compression mit dem Finger besonders von Vanzetti
empfohlen, und von ihm so wie von vielen anderen Chirurgen mit Erfolg-
geübt; sie wird vom Arzt, von Krankenwärtern oder vom Patienten
selbst mit Zwischenpausen ausgeführt, einige Stunden hindurch bis zum
völligen Aufhören der Pulsation; dies wird, wenn es der Patient er-
tragen kann, Tage, Wochen, selbst Monate lang fortgesetzt, bis das
Aneurysma gar nicht mehr pulsirt, hart und klein geworden ist; b) die
Compression des Aneurysma durch forcirte Flexion der Extremität; dies
Verfahren, von Malgaigne zuerst geübt, ist besonders geeignet für
das Aneurysma popliteum; die Extremität wird in stärkster Flexion
durch eine Bandage nxirt und in dieser Stellung so lange erhalten, bis
die Pulsation in dem Aneurysma aufgehört hat; c) die Compression mit
besonderen Apparaten, Pelotten, Compressorien, die so gearbeitet sein
müssen, dass der Druck möglichst isolirt auf den Arterienstamm wirkt,
damit nicht durch gleichzeitigen Druck auf die Venen Oedem entsteht;
der Druck braucht nicht so stark zu sein, dass die Pulsation vollständig
aufhört, sondern hat nur den Zweck, den Zufluss von Blut zu verrin-
gern. — Die Ansichten über die Wirksamkeit der Compression bei der
Behandlung der Aneurysmen sind sehr getheilt; die irischen Aerzte sind
sehr dafür eingenommen; die französischen und italienischen Chirurgen
haben sich besonders nach den vorzüglichen Arbeiten von Broca auch
in neuerer Zeit mehr dieser Methode zugewandt als früher, zumal hat
die intermittirende Digitalcompression glänzende Resultate aufzmveisen.
Ich glaube, dass man in den meisten Fällen die Compression zuerst bei
Behandlung der Anemysmen iu Anwendung ziehen soll; indess geht
doch schon aus den bisherigen Erfahrungen darüber hervor, dass diese
Methode nicht für alle Fälle gleich geeignet ist, und nicht in allen
Fällen radical hilft.
2, Die Unterbindung- des Arterienstammes, Dieselbe kann in
verschiedener Weise ausgeführt werden: a) dicht oberhalb des Aneurysma
(nach Anel); b) entfernter oberhalb des Aneurysma au einem Locus
Vorlesiinf,' 42. Ciipicd XX. 05;")
•electionis (J. Hunt er); c) diclit untcrlialb des Aneurysma, d. li. am
periplierisclien Ende desselben (nach Wardrop und Brasdor). Von
allen diesen Methoden ist die Unterbindung- dicht oberlialb des Aneu-
rysma die verliältnissmässig- sicherste, die ünter])indung- diclit unterhalb
die unsicherste. Bei der Unterbindung- entfernt vom Aneurysma wird
freilich für eine Zeit lang-, zuweilen auch definitiv, die Heilung- ein-
treten, d. h. die Pulsation im Aneurysma Avird aufhöi-en, doch wenn
sich der Collateralkreislauf ergiebig- herstellt, so kann auch die Bul-
sation im Aneurysma wieder beginnen. Ich ha()e einen solchen Fall
selbst beobachtet : ein etwa zwölf] ährig-er Knabe hatte in Folge eines
Stiches mit einem Federmesser in den Oberschenkel ein stark Wallnuss-
grosses Aneurysma der Art. femoralis etwa in der Mitte des Obersclien-
kels bekommen; es wurde die Unterbindung- der Art. femoralis dicht
unterhalb des Lig. Poupartii gemacht; nach 10 Tagen war die Ligatur
durchgeschnitten und es trat eine starke Blutung auf, die jedoch gleich
gestillt wurde; nun wurde eine zweite Ligatur nach Spaltung des Pou-
partischen Bandes \'^ Zoll hoher angelegt; diese Ligatur hielt gut; die
Wunde heilte ; als der Patient das Spital verliess, war in dem nach der
Unterbindung völlig hart gewordenen, nicht mehr pulsirenden Aneurysma
aufs Neue Pulsation zu bemerken. — Trotz solcher Recidive wird
dennoch die Unterbindung entfernt vom Aneurysma ihre Bedeutung be-
halten und die Hauptmethode bleiben, weil die Arterien in der unmittel-
baren Nähe des Aneurysma zuweilen so erkrankt sind, dass es nicht
räthlich ist, dort die Unterbindung zu machen. Die rigiden und ver-
kalkten Arterien können nämlich so schnell von der Ligatur durch-
schnitten werden, dass der Thrombus zur Zeit, wo die Ligatur abfällt,
noch nicht fest genug ist, dem Blutandrang Widerstand zu leisten.
3. Mittel, von denen man annimmt, dass sie direct Ge-
rinnung des Blutes im Aneurysma veranlassen. Von diesen ist
in neuerer Zeit die Injection von Lig. Ferri sesquichlorati nach Pravaz
und Petrequin relativ am meisten in Anwendung gekommen; sie muss
sehr vorsichtig gemacht werden; man bedient sich dazu einer kleinen
Spritze, deren Stempel mit einer Schraube getrieben wird; durch Um-
drehung dieser Schraube tritt je ein Tropfen aus. Dieser kleine Apparat
wird mit einer sehr feinen Canüle in Verbindung gesetzt, welche vorn
spitz ist, so dass man sie in das Aneurysma einstechen kann. Man
treibt damit sehr vorsichtig einige Tropfen des Liq. Ferri in die Ge-
schwulst ein. Es kann und soll hiernach einfache Gerinnung und
Schrumpfung des Aneurysma erfolgen; doch hat die Erfalirung gelehrt,
dass häufiger Entzündung, Eiterung und Gangrän nach dieser Operation
folgt. Ich glaube, dass man sich über die Wirkung des injicirteu Li-
quor Ferri im Irrthum befindet; es hat nämlich sehr wenig Wahrschein-
lichkeit, dass ein von Liq. Ferri durchtränktes Gerinnsel sich organisirt,
sondern es irritirt wahrscheinlich nur die Gefäss wandung , diese ent-
ß56 ^"^^^ den Varicen und AneuiTsmen.
zündet sicli, verliert dadurcli die Fälligkeit, das vorbeifliessende Blut
flüssig' zu erhalten und so wird Gerinnung und Schrumpfung der Arte-
rienwandung erst secundär eingeleitet. — v. Lang enb eck injicirte in
die unmittelbare Umgebung von Aneurysmen eine Lösung von Ergotiu
und erzielte auch dadurch Heilungen; ich erkläre mir die Wirkung
dieser Behandlung auch dadurch, dass eine Entzündung der Gefässwand
mit den oben erwähnten Folgen angeregt wird. — Die Electropunc-
tur, eine Zeit lang wenig beachtet, ist jetzt wieder von Ciniselli mit
recht günstigen Erfolgen selbst bei Aneurysmen der Aorta angewandt
worden; die Methode besteht darin, dass man eine Nadel in das Aneu-
rysma einsticht und den negativen Pol einer galvanischen Batterie damit
in Verbindung bringt, während der positive Pol irgendwo am Körper
angesetzt wird. Man meinte früher, der galvanische Strom besitze die
Eigenschaft, das Blut direct gerinnen zu machen ; dies ist nach physiolo-
gischen Untersuchungen nicht der Fall, sondern es entsteht durch die
thermische Wirkung des Stroms eine kleine Eschara um die ins Aneu-
rysma eingesenkte Nadel und an dieser bildet sich das Gerinnsel an. —
Senkt man mehre feine Nadeln ins Aneurysma ein und lässt diese
24 — 28 Stunden liegen, so wird man auch dadurch Gefässentzüu-
dung und Gerinnselbildung veranlassen; dies Verfahren nennt man
Acupunctur. —
4. Wir kommen jetzt zu derjenigen Behandlung der Aneurysmen,
welche sich die völlige Zerstörung derselben zur Aufgabe macht;
gelingt dieselbe, so ist sie natürlich sicherer in Betreff der radiealen
Heilung als alle vorher beschriebenen Behandlungsweisen; doch ist sie
als Operation viel eingreifender. Man kann dieselbe nach Antyllus
folgendermaassen machen; der Arterienstamm wird oberhalb des Aneu-
rysma comprimirt; jetzt spaltet man den ganzen Sack, räumt die Ge-
rinnsel aus, führt von der Innenfläche desselben eine Sonde in das
obere und untere Ende der Arterie, und unterbindet nun die beiden
Enden; die eingeführten Sonden werden dann natürlich zurückgezogen,
sie dienen nur dazu, die Arterien leichter und schneller zu finden; diese
Operation, welche ich mehrmals ausführte, ist nicht immer so einfach,
wie es scheint, weil es keineswegs immer leicht ist, die Arterienöffnung
in dem mit Gerinnsel erfüllten Sack zu finden; auch bluten oft mehr
Arterien als der Hauptstamm, weil auch Collateraläste zuweilen in das
Aneurysma einmünden. Nach der Operation tritt die Vereiterung des
ganzen aneurysmatischeu Sackes ein; in mehren Fällen von traumati-
schen Aneurysmen der Art. femoralis, brachialis, radialis sah ich Hei.
lung ohne Zwischenfall eintreten. — Ist das Aneurysma klein und sehr
deutlich abgegrenzt, so könnte man erst oberhalb und unterhalb unter-
binden und das Aneurysma wie eine Geschwulst exstirpiren. — Die
Methode nach Antyllus ist mit glücklichem Erfolg auch bei spontanen
Aneurysmen sehr grosser Arterien von Syme angewandt worden. Es
Voi-lc.smi!r ■]■>. Cipilrl \.\. (;r,7
unterlieg't keinem Zweifel, dass sie Jetzt wieder liäufi^-ei- aii;^ewuiidt
werden wii'd, wo wir nach Esmareli 's Methode das (Jlied, ;iii welclicm
wir operiren, ganz blutleer machen und auch diese 0[)erati(>ii viel riiliiger
und siclierer machen können als früher.
Bei diesen vielfachen Operationsmethoden möchte icli Ihnen gern
einige bestimmte Piathschläge für Ihre zukünftig-e Praxis geben; in-
dess ist dies deshalb kaum möglich, weil nach der verschiedenen Imli
vidualität der Fälle bald diese, bald jene Methode den Vorzug verdient.
Im Allgemeinen kann ich nur wiederholen, dass in neuerer Zeit wieder
so sehr viele günstige Erfolge von der Compressionsmethode von den
verschiedensten Seiten mitgetheilt sind, dass dieselbe jedenfalls nicht zu
früh aufgegeben werden darf. Besteht jedoch, wie gewöhnlich bei trau-
matischen Aneurysmen, starke diffuse Geschwulst, so scheint mir die
Methode des Antyllus allen anderen vorzuziehen: sie ist jedenfalls die
sicherste und würde überhaupt allen anderen Methoden vorzuziehen sein,
wenn nicht die Gefahr der Ligaturblutung-en bestände. Die Unterbindung
nach Anel oder Hunter ist zu machen, wo man nicht nach Antyllus
operiren wall oder kann. — Man würde sich zur Unterbindung der
grösseren Gefässstämme, als dem einfachsten und sichersten Verfahren
zur Heilung der Aneurysmen, viel leichter und schneller entschliessen,
wenn es nicht doch zu oft vorkäme, dass früher oder später, wne be-
merkt, starke Blutungen aus den unterbundenen Stellen der Arterien
eintreten; vielleicht wird man noch Methoden der Arterienclausur finden,
welche die gleiche Wirkung- wie die Ligatur haben, ohne die Nachtheile
derselben zu besitzen. Der Injection mit Liq. Ferri möchte ich für die
gewöhnlichen Fälle von Aneurysma spontaneum und traumaticum am
wenigsten das Wort reden. — Beim Aneurysma varicosum und Varix
aneurysmaticus wird die Unterbindung der Arterie oberhalb und unter-
halb der Oeffnung das sicherste sein.
Es erübrigt noch, einige Bemerkungen über die Behandlung des
Aneurysma cirsoideum anzufügen. Die erwähnten Operations-
methoden sind auf dasselbe nur sehr theilweis anwendbar, Directe Com-
pression der ganzen Geschwulst kann mit Hülfe von Bandagen und be-
sonders für den speciellen Fall gearbeiteten Compressorien angewandt
werden; war haben dabei die häufigst vorkommenden derartigen Aneu-
rysmen am Kopf im Sinn; die Compression hat aber fast nie Erfolg ge-
habt. Die Injection von Liq. Ferri kann hier sehr wohl am Platze sein,
da die Vereiterung und Gangränescirung des ganzen Arterieuconvolutes
nicht so zu fürchten ist, als bei den Aneurysmen an den grossen Arterien
der Extremitäten. Vor Kurzem habe ich ein thalergrosses Aneurysma
cirsoideum an der Stirn durch Acupuuctur geheilt. Die Verödung könnte
man durch Unterbindung aller zuführenden Arterien erzielen; dies ist
aber sehr mühsam und von unsicherem Erfolg; ebenso zweifelhaft und
nicht ohne Gefahr ist die Unterbindung einer oder beider Aa. Carotides
Üiliroth chii-. rath. u. Tlier. 7. Aufl. ^^
Von den Geschwülsten.
externae bei Aneurysma cirsoideum am Kopf; diese BehandluDg ist g-anz
zu verlassen. Eine andere Methode, die denselben Zweck verfolgt, ist
die, dass man rund um die Gesclnvulst herum Insectennadelu hier und
da durch die Haut ein- und aussticht, und einen Faden wie bei der um-
schlungenen Naht anlegt; Eiterung und Obliteration wird die Folge sein,
vielleicht theilweise Gangränescenz der Haut. Die totale Exstirpation
ist das sicherste Verfahren; sie ist folgendermaassen auszuführen; mau
macht um die Geschwulst herum eine grosse Menge von percutanen
Umstechungen, eine dicht neben der anderen; dann kann man das
Hauptsttick mit den erweiterten Arterien ohne Blutung ausschneiden;
dies wird immer die sicherste und radicalste Operation sein, ist jedoch
bei Geschwülsten von grosser Ausdehnung nicht wohl anwendbar;
man könnte aber dann einzelne Theile umstechen und durch partielle
Exstirpation nach und nach doch zum Ziele kommen. Heine spricht
sich nach seinen sehr gründlichen Untersuchungen über die Behand-
lung dieser Aueurvsmen auch sehr entschieden zu Gunsten der Exstir-
pation aus.
Vorlesung 43.
CAFITEL XXI.
Von den Geschwülsten.
Begrenznng des Begriffes einer Geschwulst. — Allgemeine anatomische Be-
merkungen : Polymorphie der Gewebsformen. Entstehungsquelle für die Geschwülste.
Beschränkung der Zellenentwicklungen innerhalb gewisser Gewebstypen. Beziehungen
zur Entwicklungsgeschichte. Art des Wachsthums. Anatomische Metamorphosen in den
Tumoren. Aeussere Erscheinungsformen der Geschwülste.
Meine Herren!
Wir treten heute in das sehr schwierige Capitel ein, welches von
den Geschwülsten handelt. Wenn wir bisher von Anschwellungen
gesprochen haben, so waren dieselben nur von wenigen Bedingungen
abhängig: abnorme Ansammlung von Blut in und ausser den Gefässen,
Durchtränkung der Gewebe mit Serum, Durchsetzung derselben mit
jungen Zellen (plastische Infiltration) waren einzeln für sich oder in
Verbindung mit einander die Ursachen. Im Gegensatz zu diesen Schwel-
lungen nennt man nun im klinischen Sinne solche Neubildungen Ge-
schwülste, Tumore s, welchen meist andere grösstentheils unbekannte
Enstehungsursachen zu Grunde liegen als die der entzündlichen Neu-
bildung, und welche ein Wachsthum besitzen, dass in der Eegel zu keinem
typischen Abschluss kommt, sondern gewissermaassen in infinitum fort-
g-eiit; ausserdem bestehen die meisten Gewächse aus einem Gewebe,
Voricsiiiii,^ •i:;. <',i|,iiri XXI. (\ry()
welches vollkomiiieiicr, (laiierliarier orgaiiisirt zu sein ])i\c}i;t als die ciit
ziindliclie Neiil)ilduiii^'. Ik'traclitoii wir dies etwas i^-ciiaiicr: Sie kennen
bis jetzt nur diejeni^'e Art der Neubildung-, weleiie durch den Knt/iin-
dung-spvocess angeregt wird; diese entzündlielie Neubildung \\;ir nidil
allein iu der Art ilirer Entwicklung, sondern auch in ihrer weiteren
Ausbildung äusserst uniform; sie konnte durch Zerfall , Yertrocknnng',
schleimige Auflösung etc. in ihrer Ausbildung gehemmt werden ; sie
konnte übermässig- wuchern, jedoch so, dass sie im Wesentliclien dabei
ihren Charakter nicht änderte; schliesslich aber, wenn nicht besondci-s
ungünstige locale oder allg-emeine Bedingungen vorlagen, oder \\i-\\\\
.nicht ein fürs Leben wichtiges Organ eben durch die Neubildung zer-
stört wurde, bildete sich dieselbe wieder zurück, sie wurde wieder zu
Bindegewebe: der Entzündungsprocess schloss mit der Narben
bildung ab. Hierbei trat nun schon, wenn es sich um Entzündungs-
processe an Oberflächen handelte, die Entwicklung von Epitliel- und
Epidermiszellen unter Vermittlung der Epidermis hinzu, die Knochen-
narbe verknöcherte, in der Nervennarbe entstanden neue Nervenfasern;
die Entwicklung neuer Blutgefässe spielte bei allen diesen Vorgängen
eine bedeutende Rolle: doch wie gesagt, der Entzündungsprocess hatte,
sei es dass er acut oder chronisch, auf der Fläche oder interstitiell
verlief, in der Narbe seinen typischen Abschluss. ■— Wenn nun auch
aus Bindegewebs-, Nerven- und Knochennarben ausnahmsweise Binde-
gewebs-, Nerven- und Knocliengesehwülste entstehen können, so bilden
diese doch nur einen unendlich kleinen Theil von den mannigfaltigen
Gewebsbildungen, welche sich in Geschwülsten vorfinden; Foi-men der
mannigfachsten, der complicirtesten Art: z. B. neugebildete Drüsen,
Zähne, Haare etc. sind zuweilen in den Geschwülsten zu finden; ja es
giebt darin Gewebe, welche in dieser besonderen Anordnung nirgends
sonst im Körper, welche auch im fötalen Leben im Lauf der Entwick-
lung so nicht vorkommen. Damit Sie sich vorläufig eine riclitige Vor-
stellung von der anatomischen Beschaffenheit der Geschwülste machen,
will ich Hmen einige allgemeine Sätze über die Entstehung der Neu-
bildungen aus der allgemeinen Pathologie ins Gedächtniss zurückrufen;
sehr ausgezeichnete und ausführliche Darstellungen über diese Verhält-
nisse finden Sie in den grossen Arbeiten über diesen Gegenstand von
Virchow und 0. Weber.
Man unterscheidet bei einem abnorm vergrösserten Körpertheil zunächst, ob die Yer-
grösserung nur bedingt ist durch eine abnorme Volumenzunahme der einzehien Ele-
mente (einfache Hypertrophie) oder durch eine Neubildung von Elementen,
welche zwischen die alten eingelagert sind. Diese Neubildung kann dem erkrankten
Muttergewebe (Matrix) analog sein (homöoplastisch), oder nicht (heteroplastisch).
Die homöoplastische Neubildung geht entweder hervor durch einfache Theilung der be-
stehenden Elemente (z. B. aus einer Knorpelzelle werden durch Furchuug zwei, dann
vier Knorpelzellen), dann nennt man sie hyperplastiseh (numerische Hypertrophie)
— oder aus den bestehenden zelligen P^lementen bilden sich zunächst scheinbar indiUe-
42 *
QQQ Von den Geschwülsten.
rente kleine rnnde Zellen nnd aus diesen enwickelt sich dann ein dem Mntterboden ana-
loges Gewebe: homöoplastische Neubildung im engeren Sinne. Die hetero-
plastischen Neubildungen beginnen immer mit Entwicklung primären Zellengewebes,
sogenannter indifferenter Bildungszellen (Granulationsstadium der Geschwülste Virchow),
und aus diesen entsteht dann das j}.er Matrix heterologe Gewebe (z. B. Knorpel im Ho-
den, Muskelfasern in der Mamma etc.).
Dies von Virchow aufgestellte Schema erschien in rein anatomischer Beziehung
vollkommen ZM^eckmässig und natürlich; ich kann es auch jetzt noch acceptiren, wenn
der Begriff der Heteroplasie in der Weise beschränkt wird, wie es später besprochen
werden soll, und wenn man den Nebengedanken, homöoplastiseh mit gutartig und hetero-
plastisch mit bösartig zu identificiren, aufgiebt. Es muss aber auch in Betracht gezogen
werden, ob auch die aus den Gefässen austretenden Wanderzellen zur Geschwulstbildung
beitragen, wenigstens zur Bildung von Geschwülsten aus der Reihe der Bindesubstanzen.
Doch, davon abgesehen, würde man irren, wenn man sich einbildete, dass sich in obiges
Schema alle Fälle der Neubildung, wenn wir sie auch nur rein anatomisch betrachten,
ohne Weiteres rubriciren Messen, wie in bezifferte Fächer eines Eepositoriums. Die ein-
fache numerische Hypertrophie und Hyperplasie, wenngleich in manchem einzelnen Fall
schwierig zu unterscheiden, sind wenigstens theoretisch leicht auseinander zu halten; eben-
so diejenigen Neubildungen, welche durchweg aus gleichen, wohl ausgebildeten, Gewebsele-
menten bestehen; eine aus Bindegewebe bestehende Geschwulst wird man, wenn sie im
Bindegewebe vorkommt, immer als eine homöoplastische, wenn sie im Knochen, dem
Hirn oder in der Leber vorkäme, als eine heteroplastische bezeichnen und so fort. Auch
das ausgebildete alveoläre Krebsgewebe bietet meist keine Schwierigkeiten für die Classi-
ficirung, denn es kommt als solches normaler Weise nirgends im Körper vor, es ist über-
all heterolog. Doch was fangen wir mit den Neubildungen an, welche durchweg keine
ausgebildeten normalen und auch keine ganz abnormen Gewebsformen zeigen, sondern
aus Elementen bestehen, denen man überhaupt noch gar nicht ansehen kann, was aus
ihnen wird oder ob überhaupt noch etwas aus ihnen werden kann (indifferente Bildungs-
zellen, Wanderzellen, primäres Zellengewebe, Granulationsgeschwülste)? wohin sollen wir
ferner diejenigen Neubildungen bringen, Avelche gar kein fertiges Gewebe sind, wohl
aber deutlich sich als bekannte Entwicklungsformen normaler Gewebe zu erkennen geben?
Nach dem aufgestellten Typus von Heterologie und Homologie ist die entzündliche Neubil-
dung im Anfang überall heterolog; gut! die daraus sich entwickelnde Bindegewebsnarbe wird
aber im Bindegewebe später zur homologen Neubildung, im Muskel bleibt sie heterolog,
ebenso im Hirn, auch im Knochen, wenn sie nicht verknöchert. Sie sehen, dass hier das nach
Wesen und Entstehungsart natürlich Zusammengehörige durch das anatomische Schema ganz
auseinander gerissen wird. Doch lassen wir die entzündliche Neubildung aus dem Spiel!
Jede Geschwulst, welche aus indifferenten Bildungszellen hervorgeht, muss, wenn diese
sich zu einer oder mehren Gewebsarten umgestalten, eine Reihe von Entwicklungsstadien
zeigen. Die indifferenten Bildungszellen sind überall, wo sie angehäuft vorkommen,
heterolog; zeigt eine Neubildung nur solche Elemente, so wollen wir sie als heterologe
gelten lassen; zeigt sich aber, dass eine Anzahl dieser Zellen sich in Spindelzellen um-
wandelt, so fragt sich nun, wohin diese Neubildung gehört: man kann sagen: Spindelzellen
massenhaft angehäuft sind überall im Körper eine Heteroplasie; doch Spindelzellen kom-
men im fötalen Bindegewebe, in fötalen Muskeln, in fötalen Nerven vor; was wäre even-
tuell aus den Spindelzellen dieser Geschwulst geworden? sollte diese Geschwulst, wenn
wir sie im Muskel finden, doch nicht eine homologe Bildung zu nennen sein? Ja da-
rüber kann man oft nur willkürlich entscheiden! Sie können das von verschiedenen
Gesichtspunkten beti-achten. Wenn man nun gar Geschwülste findet, welche die verschie-
denartigsten fertigen und unfertigen Gewebe enthalten, wohin damit? — Ich will hier
abbrechen, um Sie nicht jetzt schon zu skeptisch zu machen; auch soll ich Ihnen ja das
Lernen erleiihtern . nicht erschweren.
Vorlosiiti},' i;>. (Japifcl XXI. ßf^-j
Da. der Vorgang der VergrösKonmg der cinzi^liicn KIcmciile (einfiiclie Hyperfruphio)
nicht Gegenstand der Beobachtung sein kiinn \\u(\ die Vernichrmig (hr lOifniente aus sich
seihst (Hyperplasie) ein oft heol)aehtetcr, hciui physiologischen VV;ichsthum fortwährend
sich vollziehender Act ist, so kann es sich nin- ni>ch um die K n ts te hungsquelle der
indifferenten Bildu ngsze llcn und ihr weiteres Gcsciiick handeln. Hier befinden
wir uns nun in der gleichen Lage wie bei der Entzündung, (h)ch wir können in Betreff
der Geschwulstentwickiungen leider keine experimentelle riiiliirig vornehni('ri. Fnificr
zweifelte man nicht, dass jede Art von Bindegeweliszellen prolifcriren kann und nahm
diese als Quelle für die P^ntwicklung der meisten Gechwülstc; jetzt müssen wir zugchfu,
dass viele von diesen indifterenten Zellen ausgewanderte weisse Blutzellen sein können.
Man hat sich in dieser Beziehung früher wohl vielfach getäuscht, indem man aus der
gruppenweisen Anordnung und den Metamorphosen der indifferenten Bildungszelleii zu
rasch Rückschlüsse auf die Entstehung derselben machte; ich selbst kann mich nicht, von
dergleichen Irrthüraern frei sprechen: wenn man z.B. in Sarkomen kleine indifferente
Zellen mit einem, zwei, dann mit mehren Kernen nebeneinander fand, — wenn man
zwischen den Fasern des Bindegewebes, da wo die Bindegewebszellen liegen, eine an-
fangs kleine, dann daneben eine grössere Gruppe von indifterenten Zellen liegen sah, —
so schien der Schluss unverfänglich, dass die neuen Zellengruppen Abkömmlinge der Binde-
gewebszellen seien, und dass aus diesen indifferenten Zellen immer grössere vielkernige
Zellen bis zu den sogenannten Riesenzellen entständen. Nachdem man jetzt weiss, dass
eine kleinzellige Infiltration des Gewebes auch durch Austritt von weissen Blutzellen
aus den Gefässen ins Gewebe zu Stande kommen kann, wird man, wie bemerkt, auch
in Betreff des Ursprunges der indifferenten Bildungszellen in den Geschwülsten zweifel-
haft; ich suche in neuerer Zeit zumal bei Drüsen- und Epithelkrebsen meist vergeblich
nach proliferirenden Bindegewebszellen , obgleich das ganze Bindegewebslager dieser Ge-
schwülste von jungen Zellen inliltrirt zu sein pflegt. Das tiefe Dunkel, welches bis vor
Kurzem die Entstehung der jüngsten Epithelialzellen umhüllte, ist erst in neuester Zeit ge-
lichtet; man weiss aus den neuesten Untersuchungen, dass sich diese Zellen durch eine
Art Sprossenbildung vermehren (pag. 86). — Ich muss hier nun auch noch auf die frü-
heren Bemerkungen über die Regeneration der Gewebe beim Entzündungsprocess (pag. 347)
erinnern; wir müssen auf Grund der erwähnten Beobachtung Arnokrs doch daran den-
ken, dass auch möglicher Weise bei der Geschwulstbildung vollkommen zu Gewebe umge-
bildetes Protoplasma in einen körnigen Zustand übergeht, in sich einen Kern bildet
und nun auch zur Proliferation gelangt, eine Ansprossung des Gevi'ebes, analog der
Sprossenbildung an Zellen, wobei dann freilich die Bildung neuen Gewebes erst zu Stande
kommt, wenn das körnige Protoplasma sich zu Zellen difterenzirt hat, so dass das
bisher gültige Princip Schwann's, wonach sich alle Gewebe aus Zellen aufbauen, nicht
beeinträchtigt wird, wenn auch der Satz „orimis cellula ex cellula"' dadurch stark modi-
ficirt wird.
Wir haben hier immer ohne Weiteres von indifferenten Bildungszellen geredet, ohne
diesen Begrifi' genügend präcisirt zu haben : man bezeichnet dannt die kleinen runden
Zellen, welche sich überall nach Reizung der Gew'ebe zuerst vorfinden, und welche wir
von der entzündlichen Neubildung her kennen. Ich lial)e bis vor w-enigen Jahren ge-
meint, dass diese jungen Zellen wirklich ebenso indifferent seien, Avie die ersten Fur-
chungskugeln des Eies, d. h. dass jedes beliebige Gewebe der Menschen eventuell aus
ihnen hervorgehen könne, zumal habe ich geglaubt, dass aus den Abkömmlingen
der Bindegewebszellen nicht allein alle Formen der Bindesubstanzen (Bindegewebe,
Knorpel, Knochen), Gefässe und Nerven hervorgehen könnten, sondern auch Epithelial-
gebilde, Drüsen etc. Diese von Virchow aufgestellte Anschaiiung wird auch jetzt noch
von vielen Forschern auf diesem Gebiet aufrecht erhalten. Gegen diese Auflassung hat
Thiersch in einer ausgezeichneten Arbeit „über den Epithelialkrebs" so gewichtige Gründe
erhoben, dass ich ihm durchaus beistimmen muss. Indem ich mir vorbehalte, auf diesen
QQ2 Von den Geschwülsten.
Punkt später bei Besprechung der Cysten , Drüsengeschwülste und des Epithelialkrebses
wiederholt zurückzukommen, deute ich nur die allgemeinsten Umrisse meiner jetzigen An-
schauungen hier an. Aus der Entwicklungsgeschichte ist Ihnen bekannt, dass der Kör-
per des jungen Embryo sehr bald drei- verschiedene Lagen, sogenannte Keimblätter zeigt.
Sobald die Dilierenzirung der zelligen Embryoanlage in die drei Keimblätter gegeben ist,
lässt es sich nach üebereinstimmung aller Forscher aufs Unzweifelhafteste darthun, dass je-
des dieser drei Keimblätter nur eine ganz bestimmte Reihe von Geweben producirt. Aus
dem Hornblatt bilden sich: das Nervensystem, die Epidermis und ihre Derivate, die Haut-
drüsen, die Geschlechtsdrüsen, das Labyrinth des Ohrs, die Linse; aus dem mittleren
Keimblatt entstehen die Bindesubstanzen, die Muskeln (?), das Gefässsystem, die Lymph-
drüsen, die Milz; aus dem unteren oder Drüsenblatt werden das Epithel des Darmtractus,
das Lungenepithel, alle secernirenden Elemente der Leber, Pancreas, Nieren etc. gebildet.
Es scheint hier ein Naturgesetz vorzuliegen, um dessen Auffindung sich Remak, Reichert,
Kölliker, His, Waldeyer U.A. ausserordentliche Verdienste erwoi-ben haben, und
welches vielleicht bis auf die Zusammensetzung des Eies zurückgeführt werden kann. Im
ganzen weiteren Entwicklungsverlauf kommt es nun niemals vor, dass sich aus dem Deri-
vat des einen Keimblattes ein Gewebe entwickelt, welches ursprünglich von einem andern
entstand; mit andern Worten: ist die DilFerenzirung der Embryoanlage zu den drei Keim-
blättern eingetreten, so giebt es keine ganz indiffei-enten Zellen mehr, sondern alle neu-
gebildeten, aus den früheren hervorgegangenen Zellen können sich nur zu Geweben aus-
bilden, die innerhalb des Productionsbereiches desjenigen Keimblattes liegen, von dem sie
abstammen ; Zellen, die von wahren, ächten Epithelien stammen, können nie Bindegewebe
produciren, und aus den Derivaten von Bindegewebszellen können nie wahre Drüsen pro-
ducirende Epithelien werden. Es liegt kein Grund vor, anzunehmen, dass dies Naturge-
setz aufgehoben werde, wenn die zelligen Elemente des fertigen Organismus durch irgend
welche Reizung zur Production angeregt werden; die junge Brut kann sich nur zu be-
stimmt vorgeschriebenen und von der embryonalen Abstammung der Mutterzellen abhängigen
Gewebstypen entwickeln ; die Erblichkeit ist das mächtigste Gesetz in der leben-
digen Natur. Wenn wir bisher von indifferenten Zellen gesprochen haben und sprechen
werden, so haben Sie jetzt diesen Ausdruck immer durch die eben entwickelten Principien
zu beschränken. — Gehen wir nun wieder auf das früher entwickelte System der Neu-
bildung nach Virchow zurück, so giebt es unserer Ansicht nach überhaupt keine ächte
Heteroplasie, denn die von den Derivaten des einen Keimblattes entstandenen Keimzellen
können sich nur innerhalb gewisser Grenzen von Gewebstypen verschiedenartig entwickeln,
nicht aber in die Gewebstypen eines andern Keimblattes übergehen. — Bei der lebhaften
literarischen Bewegung, welche fortwährend noch auf dem Gebiet der Histiogenese
Statt hat, läuft jede zu sicher ausgesprochene Behauptung die Gefahr, dass sie sich viel-
leicht bald einer Modification nach dieser oder jener Richtung unterwerfen muss; den-
noch muss ich es wiederholen, dass es mir im höchsten Grade wahrscheinlich ist, dass
auch ein grosser Theil der bei Geschwulstentwicklungen massenhaft auftretenden jungen
Zellen im Gewebe, bewegliche, wandernde Bindegewebszellen, also ausgetretene weisse
Blutzellen sind. Ich spreche jedoch darum nicht allen stabilen Bindegewebszellen die
Betheiligung an der Gewebsneubildung ab. Von der Betheiligung des Muskel- und
Nervengewebes, der Knorpelzellen, Epidermiszellen und Endothelien an der Gewebs-
bildung war schon früher die Rede. Woher die wandernden Zellen (die mit weissen
Blutzellen und Lymphzellen identisch sind) ins Blut kommen, das bleibt vor der
Hand unklar; wahrscheinlich stammen sie schliesslich auch von stabilen Elementen der
Lymphdrüsen und Milz; jedenfalls dürfen sie nur als Elemente des mittleren Keimblattes
betrachtet werden, und ihre eventuelle Entwicklungsfähigkeit ist daher wohl auch inner-
halb der Gewebe dieses Blattes zu denken. — Mit Stolz darf unsere Zeit auf die Fort-
schritte der modernen Morphologie blicken, deren Bedeutung sich grade dadurch recht
VorlcsmiR- 4."). Capitvl XX F. ß(53
erweist., dass sio so aussorordcntlicli zcrstürciid auf dio, IViilicnni Aiischuuimj^cti inid so
befrachtend nach den verschiedensten ]lichtunf(en hin wirken! —
Wenn von einigen Forschern auf diesem Gebiet besonders betont wird, dass di(; eben
entwiciielten Verhältnisse der en)bryonalen Entwicklung einerseits keinen Anspruch haben als
unumstössliche Naturgesetze zu gehen, sondei-n nur als Kegel für die Entwicklung höher
organisirter Thiere gelten, so muss ich es den Enibryologen überlassen, dies festzustellen.
Den Einwand aber, dass Bildnngstypen, welche in der Embryologie als richtig anerkannt
sind, keine Geltung für die Neubildungen zu Iiaben brauchen, welche, nach verschiedenen
auf die ausgewachsenen Gewebe ausgeübten Reizen entstehen, möchte ich entschieden von
der Hand weisen-, denn die ganze moderne Histiogencse basirt auf dem seit Johannes
Müller's bahnbrechender Arbeit über Geschwülste allgemein angenommenem Princip, dass
die Entwicklung der pathologischen Neubildungen nur ehie Wiederholung typischer Ent-
wicklungsweisen normaler Gewebe ist. Wir würden jeden Halt auf diesem Gebiet ver-
lieren und in das alte Chaos der Parasiten (von nccQct neben, und ahog Speise, einer
der mit isst) und Pseudoplasmen (von i/jevSog falsch, unwahr, und nXäacxo formen) ver-
fallen, Avollten wir von diesem Princip lassen.
Kehren wir jetzt zw den Geschwülsten selbst zurück. Das Leben,
das Wachsthum, welches sich in ihnen entfaltet, kann sehr mannig-
faltig' sein. Zunächst kann der erkrankte Theil des Glewebes , der erste
Geschwulstknoten, in sich selbst weiter wachsen, ohne dass neue Er-
krankungen in der Umgebung dieses Heerdes entstehen: in der Mitte
der Geschwulst, aus den an einer circumscripten . Stelle angehäuften
Zellen entstehen immer wieder neue mit derselben Entwicklungsrichtung,
gewissermaassen prädestinirt fiir den in der Neubildung eingeschlagenen
Entwicklungstypus. Man hat früher geglaubt, dass die Gefässausdeh-
nuug ein sehr wesentliches Kennzeichen für die entzündliche Neubildung
sei; vielfache Studien in dieser Richtung haben mir gezeigt, dass die
Gefässausdehnung und Gefässneubildung bei der Entwicklung der ersten
Geschwulstknoten derjenigen bei der Entzündung nichts nachgiebt. Dass
dabei eine ähnliche erweichende Alteration der Capillar- und Venen-
wandungen erfolgt wie bei der Entzündung, ist bisher nicht nachge-
wiesen. — Es kann jedoch auch der ursprüngliche Erkrankungsheerd
dadurch wachsen, dass in seiner unmittelbaren Umgebung immer neue
Erkrankungsheerde entstehen; das einmal in dieser Weise erkrankte
Organ wird nicht nur von der Geschwulst bedrückt und seine Elemente
von einander geschoben, sondern es erkrankt in sich selbst mit immer
neuen Heerden weiter und weiter, und wird so durch die Geschwulst
infiltrirt und zerstört, geht in dieselbe auf; denn dass da, wo in nor-
malen Geweben Neubildung auftritt, das Muttergewebe als solches auf-
hört und sich theils in das neue Gewebe umbildet, theils von letzterem
verzehrt wird, haben Sie schon früher bei der entzündlichen Neubildung
erfahren. — Wir haben es also in dem ersteren Falle mit einem iso-
lirten Krankheitsheerd zu thun, der, einmal vorhanden, die Mittel zu
seiner Vergrösserung nur aus seinen eigenen Zellen bestreitet, im zwei-
ten Fall mit einer Ausbreitung des Erkrankungsheerdes durch stets neu
entstehende secundäre Krankheitsheerde in der Nähe des primären.
664
Von den Geschwülsten.
Die erstere Art: das gewissermaassen rein centrale Wachsthum ist für
(las erkrankte Organ entscliieden weniger nngimstig als die letztere:
das periplierische Wachstluim, die fortdanernd sich ins Gewebe
infiltrirende Neubildung muss, wenn es in infinitum fort-
schreitet, zur vollständigen Zerstörung des betroffenen Orgaus führen,
gleich als wenn ein entzündlicher Process, eine entzündliche Neubildung
progressiv bleibt. Am ungünstigsten ist die Conibination beider Arten
des Waclisthums, leider aber ziemlich häufig. — Wenn wir weiter das
Leben der GescliAvulst selbst ins Auge fassen, so finden wir, dass das
neugebildete Gewebe keineswegs immer stabil bleibt, sondern selbst
wieder manchen Veränderungen unterworfen ist, Veränderungen, wie sie
sich z. B. beim Entzündungsprocess auch zeigen. In den Geschwülsten
können sich aus verschiedenen Gründen acute und chronische Entzün-
dungen etablireu, d. h. unter Schmerzen, Schwellung und Gefässausdeh-
nung in Folge einer entzündlichen Ernährungsstörung kommt eine klein-
zellige, selbst zur eitrigen Schmelzung führende Infiltration mit Wander-
zellen im Gesell wulstgewebe zu Stande. Geschwülste, in denen der
Zellbildungsprocess so überstürzt, so rapid foitschreitet, dass die Gefäss-
bildung nur langsam dem Wachsthum des Tumor entsprechend nach-
rückt, sind am wenigsten lebensfähig; geringe Störungen genügen dann,
den ganzen Bildungsprocess hier oder da zum Stocken, oder, da ein
Stillstand nicht Statt findet, zum Zerfall zu bringen. Wir müssen auf
die Metamorphosen der Geschwulstgewebe in Kürze etwas näher ein-
gehen. Dieselben können acut oder chronisch auftreten; acute Entzün-
dungen der Geschwülste sind im Ganzen selten, doch Verletzungen, Stoss,
Quetschung können dazu Veranlassung geben; der Ausgang dieser trau-
matischen Entzündung kann bei vascularisirten, bindegewebsreichen Tu-
moren sehr wohl in Zertheilung mit oder ohne narbige Schrumpfung
erfolgen; häufiger aber kommen mehr oder weniger ausgedehnte Extra-
vasate, Gangrän, auch Avohl Eiterung darnach vor. — Chronisch-entzünd-
liche Processe sind bei weitem häufiger in den Geschwülsten, sowohl
solche mit vorwiegender Production entzündlicher Neubildung, mit Bil-
dung fungöser Ulcerationen mit bedeutender Vascularisirung, als auch
solche mit torpiden Ulcerationen. Die Verkäsung und Verfettung des
Gewebes, auch die schleimige Verflüssigung desselben sind niclit seltne
Vorkomnmisse. Bei diesen Erweichungsprocessen tritt Gefässthrombose
und collaterale Gefässectiisie um den Erweichuugsheerd ein, wie bei der
Umbildung eines Entzündungsheerdes zum Abscess oder zur Vei'käsung. —
Durch alle diese erwähnten Vorgänge der Entwicklung und Erkrankung
der Geschwülste kann das anatomische Bild derselben in solchem
Maasse complicirt sein, dass es nicht immer ganz leicht ist, im einzelnen
Falle bei der Untersuchung des Präparates sofort das ursprüngliche Ge-
webe der Geschwulst richtig zu beurtheilen. — Endlich kommt noch
hinzu, dass zuweilen die Geschwülste im Laufe der Zeit ihre anatomi-
Voi-Ifsmi^; ■]?,. Capilcl XXI. f)65
sehen VcrliäHnissc äudeni, z. 1>. dass eine lUiHleg'Cweh.sg'Cschwiilst, welche
lange als solche bestand, durch rasche Zellenwucheriing-en und stärkere
Yascularisirung weicher wird, oder umgekehrt eine weiche Geschwulst
durch Schwund der Zellen und narbige Contraction des in der Ge-
schwulst befindlichen Rindegewebes hart wird. — Sie sehen wohl, dass
eine Summe von Kenntnissen und Erfahrungen nothwendig ist, uui nur
allein diese anatomischen Verhältnisse in jedem einzelnen Falle richtig
zu beurtheilen, welche der ganzen Geschwulstlehre als Basis dienen ; ja
es wird zuweilen vorkommen, dass es unnu'jglich ist, dem voi'liegenden,
genau untersuchten Object einen Namen zu geben, durch welchen es in
eine der aufgestellten Gruppen einfach rubricirt wird. Was die Nomen-
clatur bei Geschwülsten betrifl't, welche aus verschiedenen Arten von
Geweben zusammengesetzt sind, so wählt man den Namen gewöhnlich
nach dem Gewebe, welches in grösster Menge in der Geschwulst
vorhanden ist.
Im Allgemeinen hat man sich geeinigt „w,u«" an die Bezeichnung des betreffenden Ge-
webes anzuhängen, um eine Geschwulst histiologisch zu charakterisiren, also : Sarkoma, Car-
cinoma etc. Ein Wort „w^tm" gab es aber bei den Griechen nicht; es entstand daraus, dass
man gewissen Hauptworten die Endung ..ow" anhing, um sie zu Zeitwörtern zu machen,
z. B.: (TKol Fleisch, ffo;();<dw Fleisch erzeugen, zu Fleisch machen; xceoxirog Krebs, y.agy.ivoc)
dem Krebs ähnlich machen, krümmen, biegen. Die Griechen brauchten schon die Ausdrücke
oänxiojua Fleischgeschwulst, xa()y.ivaf.ici Krebsgeschwür (Hippocrates). Nach diesen Tjpen
hat sich die moderne Nomenclatur entwickelt und ist zumal von Virchow consequent
durchgeführt. Der alte griechische Ausdruck für Geschwulst im Allgemeinen ist ,,oyy.ug''
ursprünglich: Bug, Biegung, Krümmung, Höcker; daher der von Virchow auch ge-
brauchte Name „Onkologie", die Lehre von den Geschwülsten. Der auch von Hippo-
crates gebi-auchte Ausdrück (fvfxa, q^vröv, Gewächs wird jetzt splten verwandt. — Von
Gels US wird auch der Ausdruck „struma" von „stuere anfeinanderschichten", zuweilen
allgemein für Geschwulst gebraucht, dann aber besonders von Drüsengeschwülsten am
Hals; die Engländer haben das noch beibehalten; was wir als „lymphatisch, scrophulös"
bezeichnen, nennen sie „strumös". Jetzt wird der Ausdruck ,,struma „bei uns ganz exclusiv
für Geschwülste der Schilddrüse verwandt.
Ueber die äussere gröbere Erscheinungsform der Geschwül-
ste habe ich nur wenige Bemerkungen zu machen. In den meisten
Fällen sind die Gewächse rundlich knotige von der Umgebung durch
das Gefühl und Gesicht mehr oder weniger leicht abgrenzbare Gebilde.
Dies ist freilich nicht immer entsch.eideud ; auch die Tuberkel sind, we-
nigstens in ihren kleinsten Verhältnissen, al>gegreuztc rundliche wenn
auch gefässlose Gebilde, die ich ebensowenig zu den Gewächsen rech-
nen möchte, wie die Papeln und Pusteln der Haut. — In den Häuten
kann ein Gewächs auch als deutlich geformter Knoten auftreten, ebenso
wie sich darin ein Abscess bilden kann, der ja auch als Knoten anfangs
erscheint. Doch wie die chronisch -entzündliche Neubildung an Ol)er-
flächen auch häufig in Form von papillären Wucherungen (Zotten)
auftritt, so kann auch ein Gewächs, welches sich in Häuten bildet, die
papilläre Form annehmen, ja es kann die Oberfläche eines Geschwulst-
666
Von den Geschwülsten.
knotens oder aucli die Innenfläche eines Sackes, einer Cyste, welche
Flüssigkeit oder Brei einschliesst, papilläre Wucherung-en selbstständig
producircu, Sie sehen auch hieraus, dass durch die rein äusserlichen
anatomischen Verhältnisse das Gebiet der Gewächse und der entzünd-
lichen Neubildungen nicht genau abgegrenzt werden kann.
Es giebt eine Anzahl von Bezeichnungen verschiedener Eigenschaf-
ten der Geschwülste, welche auch heute noch vielfach gebräuchlich sind,
obgleich sie nicht immer sich auf wesentliche Dinge beziehen. So pflegt
man eine Geschwulst, welche in einer Höhle mit kleinerer oder grösse-
rer Basis, mit längerem oder kürzerem Stiel festsitzt, einen Polypen
(von nolvg viel, und novg Fuss, Vielfuss) zu nennen; man spricht dem-
nach von Nasenpolypen, Uteruspolypen etc., muss aber dann seine histo-
logischen Eigenschaften (z. B. fibrös, sarcomatös, myxomatös etc.) hin-
zusetzen. Gewächse, welche ulcerirt sind, wie ein Pilz hervorquellen
und auch die Form eines Pilzes haben, nennt man wohl Schwämme,
Fungi; doch braucht man den Namen „schwammig, fungös" auch um
die Schwamm -ähnliche Weichheit erkrankter Gewebe zu bezeichnen.
Will man bezeichnen, dass eine Geschwulst sehr reich an Gefässen und
Blut sei, so hängt man das Wort „haematodes" an, oder „telan-
giecta tisch" (von relog Ende, dyyslov Gefäss, exTaaig Ausdehnung)
oder „cavernös". War eine Geschwulst sehr fest, fasrig (nicht knorp-
lig, nicht knöchern), so hiess man sie früher, „Scirrhus" {oxiQQog
hart); dieser Ausdruck wird wenig mehr verwandt, noch weniger das
Adjectivum „scirrhös", welches nur so viel wie „fest" bedeutete und
von entzündlichen Infiltrationen ebenso gebraucht wurde wie von Kreb-
sen. Medullär h^isst man eine Geschwulst, w^elche Farbe und Con-
sistenz des Hirns hat, wobei die Structur derselben sowohl einem Sarkom
als einem Carcinom als einem Lymphom entsprechen kann. Da Ge-
schwülste von diesem Aussehen als besonders bösartig bekannt sind,
so sind die Bezeichnungen „Medullarsarkom", „Medullarcarcinom" auch
zur Bezeichnung der bösartigsten Geschwulstformen überhaupt ohne jede
Kücksicht auf die Structur gebraucht worden. — Manche Gewächse sind
gefärbt: hellbraun, gelblich, braunschwarz, blausclnvarz ; diese Pigmente
können aus Extravasaten hervorgegangen sein, oder specifischen Zellen-
thätigkeiten ihre Entstehung verdanken. Diese Melanome (/.islag
schwarz), oder Melanosen sind seltne, theilweis oder ganz schwarz
oder braunschwarz gefärbte Geschwülste, Avelche ihrer Structur nach zu
den Sarkomen oder Carcinomen gehören und gewöhnlich von höchst
übler Prognose sind. — Früher begnügte man sich vielfach mit diesen
und ähnlichen Bezeichnungen und Vergleichen mit diesem oder jenem
Gewebe; für Sie mag es genügen, die Bedeutung der erwähnten Aus-
drücke zu kennen.
Kommen wir jetzt, nachdem Sie schon etAvas orientirt sind, noch
einmal auf den Begriff „Geschwulst" zurück. Die reine Anatomie sollte
VoilcsmiK i:;. ('apiicl XXT. Hfi?
diesen BegrilT einlach ziu-iick weisen; iXw sie ^ieht es nur GewehsMI-
dnngen (organisirte Neubildungen liokitansky) einfacher oder zusaiii-
niengesetzter 7\.rt; sie kann aus einer Jieihe von IJeobachtung-en nach-
weisen, wie diese Gebilde entstellen und was aus ihnen wird; auf diese
AVeise kommt man aber nicht zu dem üeg'rilf „Geschwulst" in dem
Sinne, wie wir ihn in der Tatliologie brauchen. „Geschwulst, Gewächs,
Tumor" ist in der heutigen Tathologie ein wesentlich ätiologischer
und meist zugleich prognostischer Begriff; er ist, Avie wir schon
im Eingang dieses Absclmittes liervorgelioben haben, eine Neubildung,
welche gewöhnlich nicht aus denjenigen Ursachen hervorgegangen ist,
welche Entzündungen erzeugen, sondern aus andern meist unbekannten
oder nur dunkel zu vermuthenden; der Process im Organismus i^local
oder allgemein), welcher Geschwülste producirt, wird meist als ein
anderer angenommen, als der Entzündungsprocess ; beide Processe werden
sogar von Manchen (mit wie vielem Recht wollen wir dahingestellt sein
lassen) als in einem gewissen Antagonismus stehend betrachtet. Können
wir es in einem gegebenen Fall nicht in Abrede stellen, dass j\Ionjiento,
welche fiir gewöhnlich Entzündung hervorrufen (traumatische, ther-
mische, chemische Reize etc.) in ursächlicher Bezieliung zur Gesciiwulst-
bildung stehen, so ist dies immer ein so aussergewölmlicher Fall, dass
wir dabei einen aussergewöhulichen Organismus anzunehmen geneigt
sind. — Diese, ich möchte sagen, pathologisch-physiologische Auffassung
hat früher nicht bestanden, doch ich glaube nicht zu irren, wenn ich die
Ueberzeugung ausspreche, dass sie ziemlich allgemein bei den Patho-
logen bewusst oder unbewusst vorhanden ist. Alle Schriftsteller über
Geschwülste vermeiden es möglichst, über diesen Punkt zu sprechen,
weil nichts Weiteres darüber zu sagen ist. Man weiss eben nicht, wie
und wo man die ätiologischen Momente z. B. für chronische Entzündung
und Geschwulstentwicklung, scheiden soll. Es ist ebenso wenig möglich,
dem Begriff „Geschwulst" nur anatomisch beizukommen, w-ie man z. B.
auch den Krankheitsbegriff „ Typhus " rein anatomisch nicht defiuiren
kann; mau muss sich da behufs des Verständnisses mit einem Compro-
miss zwischen Aetiologie und ..pathologischer Anatomie helfen. — In
dem ätiologischen Begriff „Geschwulst - bildender Process" liegt auch
schon, dass das Geschick des Productes „Geschwulst" ein anderes sein
wird, als das der „entzündlichen Neubildung"; wir konnten von den Ge-
schwülsten sagen, dass sie die Bedingung zu einem typischen Abschluss
meist nicht in sich tragen, wie die entzündliche Neubildung. Ich für
meine Person möchte nicht behaupten, dass der Entzündungsprocess zu
dem Geschwulst - bildenden Process wirklich in einem antagonisti-
schen Verhältniss steht; vielmehr glaube ich, dass die Beobachtung
lehrt, dass beide Processe in manchen Fällen zusammentreffen, zumal in
manchen Formen der chronischen Entzündung und der Sarkombildung,
während freilich eine acute Metritis und ein Uterusfibrpid weit genug in
668
Von den Geschwülsten.
ätioloo-ischer und anatomischer Beziehung- auseinander liegen. — Dass
die Geschvvulstbildung specifische Ursachen habe, die man bald inner-
lialb, bald ausserhalb des Organismus sucht, ist im Ganzen wenig ange-
griflen, und diese Angriffe sind wenig ernst gemeint. Virchow meint,
dass die Geschwulstbildung Avohl aus einer potenzirten entzündlichen
Diathese hervorgehen könne; so entständen Polypen der Schleimhaut
nach lang dauernden Catarrhen; die Syphilis producire zuerst Entzün-
dungen, .dann Geschwülste, wozu ich beiläufig bemerke, dass ich kein
Product der Syphilis eine Geschwulst nenne; ein Gummiknoten, ein kä-
siger Knoten, der durch Syphilis entsteht, lieilt entweder durch Resorp-
tion oder nach Spaltung durch Auseiterung und Narbenbildung, während
dies bei einem angeschnittenen Gewächs zu den allergrössten Selten-
heiten gehört. H. Meckel von Hemsbach stellte die gegentheilige
Idee auf; er sagte z. B., die Chondrome der Finger seien der mildeste
Ausdruck einer scrophulösen Diathese, der an den Fingern die Päd-
arthrocace entspreche u. s. f. — Zieht man die Producte der Entzün-
dung mit den histologisch entwickelteren Geschwulstformen in Vergleich,
so muss man zugeben, dass den Geschwülsten als den laugsamer ent-
Avickelten Neubildungen wahrscheinlich ein schwächerer, dem normalen
Wachsthum mehr verwandter Reiz zu Grunde liegt als der Entzündung.
— Alle erwähnten Betrachtungen Ijeziehen sich nur auf die eigentlichen
Gewächse; nur von diesen werden Avir in der Folge handeln; wenn
Virchow eingekapselte Blutextravasate und Hydropsien seröser Säcke
auch zu den Geschwülsten rechnet, so stellt er sich damit ganz aus der
Reihe unserer ärztlichen Anschauungen.
Vorlesung 44.
Aetiologie der Geschwülste. Miasmatische Einflüsse. Specifische Infection. Speci-
iische Reactionsweise der irritirten Gewebe ; die Ursache derselben ist immer eine consti-
tutionelle. Innere Reize; Hypothesen über die Beschaffenheit und Art der Reizeinwirkung.
— Verlauf und Prognose: solitäre, multiple, infeetiöse Geschwülste. — Dyskrasie. —
Behandlung. — Principien über die Eintheilung der Geschwülste.
Gehen wir jetzt etwas näher auf die Aetiologie der Gewächse
ein. Hier sollte man meinen, den Unterschied und die Verwandtschaft
derjenigen Processe finden zu können, welche der Entstehung der ent-
zündlichen Neubildung und der Geschwülste zu Grunde liegen. Lassen
Sie uns von den Ursachen der Entzündung ausgehen und mit ihnen die
Ursachen der Geschwulstbilduug parallelisireu.
Mele acute entzündliehe Processe (Exantheme, Typhus etc.) und manche chronische
(lutemüttens, Scorbut) entstehen durch Miasmen und Contagien, welche in den Kör-
per von aussen eindringen. — Acute miasmatische Gesehwulstbildungen kenne ich nicht:
als chronische endemisch-miasmatische Geschwulstbildimg muss die Entwicklung der Kröpfe
bezeichnet werden; man kann die Kropfbildung nicht wohl als Entzündungsproduct auf-
VorlotiiMip; -IL Ciipilcl XXf. (^09
fassen, da si(^li die Kröpfe weder sponlnn ziirückljildcii, noch spontan vereitern, noeli zur
Narbe völlig ziisiinimensolirumpfen ; die Irsinhc isl. jcdcnlHlls eine speeifisclie, von aussen
kommende, der gelegentlicli jedes, zumal jüngere Individuum ausgesetzt ist, welches in eine
Gegend kommt, in welcher Kropf endemisch ist, nicht jeder ist gleich dazu disponirt,
erbliche Anlage mag hinznkommen ; die Inferlion erfolgt wahrscheinlich durch dii' Vcnuilt-
lung des Blutes, wenigstens kann man sich nicht wohl vorstellen, wie die Gl. thyrcoidea
örtlich von Miasma inficirt werden sollte. Die Kropfhildung ist also vielleicht der locale
Ansdrnck einer allgemeinen Infeetion, welche sich znweilen im ganzen Ernährungszustand,
zumal auch in anomaler Entwicklung des 8kelets vmd ihren Folgen (Cretinismus) äussert.
Als chronisch-miasmatische Infeetion kann man au(;h die orientalische Ele))hantiasis gelten
lassen, wobei sich grosse Massen von knotigen FasergeschwiUsten in der Haut, an ver-
schiedenen Körpertheilen bilden meist mit Anästhesie verbunden; doch gebe ich zu, dass
hier ein streitiges Gebiet ist, und dass man auch Gründe anführen kann, welche dafür
sprechen, diese Afl'ection nicht zu den Geschwulstkrankheiten, sondern zu den cbronisclien
Entzündungen zu rechnen. — Was die örtKche Infeetion oder die Ueb er tragung
fixer Contagien von aussen betrifft, so wissen wir, dass Entzündungsprocesse verschie-
dener Art so erzeugt werden. Durch faulige Stoffe werden nur entzündliche Processe er-
zeugt, ich rechne dahin auch die sogenannten Leichentuberkel, die mir deshalb nicht als
Geschwülste imponiren, weil sie von selbst verschwinden, sowie keine neuen Infectionen
mehr erfolgen. Durch Einimpfung von Eiter aus gewissen Stadien einer f^ntzTindung
wird wieder Entzündung erzeugt, je nach der Beschaffenheit des Eiters Entzündung mit
specifischem Charakter; mit dem Eiter kann auch eine Allgemeinkrankheit eingeimpft
werden , die sich dann wieder in vielfach localisirten Entzündungsprocessen ausspricht,
z. B. Syphilis. Kann durch Einimpfung von Geschwulstsäften oder kleinen Geschwulst-
bestandtheilen auch eine Geschwulstkrankheit erzeugt werden? Dies ist ein bis jetzt strei-
tiger Punkt; ich halte es für möglich, doch nicht sichergestellt; die Schwierigkeit der
Entscheidung liegt darin, dass es nicht erlaubt ist, solche Experimente an Menschen zu
machen. Wenn dergleichen Uebertragungen von Menschen auf Thiere oft fehl schlagen,
so beweist dies nur, dass Geschwülste vom Menschen nicht auf Thiere impfbar sind; man
mnss von Geschwülsten der Thiere auf Thiere gleicher Art impfen; es liegen einige solche
Versuche bis jetzt nur von D outre lepont vor, in welchen die Impfung von Carcinomen
von Hunden auf Hunde keine Erfolge hatte. Jedenfalls kann man durch Impfung mit
Eiter keine Geschwülste erzeugen, was wiederum die specifische Differenz der Produete
zu beweisen scheint. Vielleicht wird mir hier mancher Pathologe erwidern, es sei in
dem „Moluscuni contagiosum" der Beweis gegeben, dass auch Geschwulstsäfte oder Be-
standtheile von Gewächsen auf andere Individuen mit Erfolg impfbar sind. Diese durch
Ebert und Virchow festgestellte Thatsache ist höchst interessant; doch ist die Conta-
giosität dieser Neubildung vorläufig noch zu isolirt, um daraus allgemeiner gültige Schlüsse
zu ziehen. — Den schlagendsten Beweis für die Specifität der Entzündungsproducte und
der Geschwülste bietet die Beobachtung, welche man bei Entzündung und Geschwulst-
bildung über die locale und allgemeine Infeetion unzählige Male zu machen Gelegenheit
hat. Wir haben früher viel gesprochen von den progressiven und secundären Entzündungen,
von der fast immer secundären (deiiteropathischen Virchow) acuten Lymphangoitis, von
den secundären, acuten und chronischen Schwellungen der Lymphdrüsen bei acuten und
chronischen Entzündungen, zumal der Extremitäten; ich habe Ihnen damals gesagt, dass
ich es für wahrscheinlich halte, dass zellige Elemente aus dem Entzttndungsheerd in die
Lymphdrüsen gelangen und durch ihre specifisch phlogogenen Eigenschaften Entzündungen
in den Drüsen hervorrufen , welche den primären peripherischen Entzündungsprocessen
analog sind: nie entstehen durch solche locale Infectionen von Entzündungsheerden aus
Gewächse; ist der primäre Entzündungsheerd beseitigt, so vergehen auch meist die Lymph-
drüsenschwellungen; chronische Lymphdrüsenschwellungen vei'schwinden freilich nicht so
leicht. Gleich infectiöse Eigenschaften kommen auch vielen Gewächsen zu. und zwav
(i'7(\ Von den Gesohwiilsten.
besonders denjenigen, welche wie die entzündliche Neubildung sehr zahlreich sind: nicht
allein dass die nächste Umgebung inficirt wird, und dass sich zahllose neue Heerde un-
mittelbar um den ersten Geschwulstknoten bilden können, sondern sehr häufig werden
auch die Lymphdrüsen afficirt, und es entstehen dann in denselben secundäre Geschwülste,
welche die gleiche Beschaffenheit haben als die primären; ebensowenig wie letztere spontan
vergehen, verschwinden erstere, wenn auch die primäre periphere Geschwulst entfernt ist:
im Gegentheil, sehr häufig treten nun auch in andern ganz entfernten Körpergegenden
o-leichartige Geschwülste auf: metastatische Geschwülste. Hier haben Sie wieder die
Analogie mit dem Verlauf der Infection bei Entzündung, und doch wieder die specifische
Verschiedenheit; denn niemals entstehen durch phlogistische Infection metastatische Ge-
wächse, und ebensowenig durch Infection von einer Geschwulst aus metastatische Abscesser
in inneren Organen. — Nicht alle Geschwülste sind infectiös, wenngleich leider die über-
wiegende Mehrzahl; man nennt sie bösartige im Gegensatz zu den nicht infectiösen
gutartigen. Worin diese Unterschiede begründet sind, das ist freilich schwer zu sagen;
theils liegt es wohl in der Art und speciflsehen Beschaffenheit der Elemente, in der
leicbten Beweglichkeit derselben, und darin, dass sie wie die Samen mancher niederen
Pflanzen fast überall geeigneten Boden für ihre Fortentwicklung finden, in den meisten
Geweben des Körpers sich weiter ausbilden und zu neuen Gewächsen werden können ;
theils liegt es auch wohl darin, dass die Bedingungen für die Aufnahme der Geschwulst-
elemente in die Lymph- oder Blutgefässe bald mehr, bald weniger günstig sind; so ist
es z.B. auffallend, dass oft ganz weiche, fast nur aus Zellen bestehende Geschwülste
(Medullarsarkome) , wenn sie von einer festen Bindegewebskapsel umschlossen sind, so
häufig keine Lymphdrüseninfectionen machen; Aehnliches finden wir auch bei manchen
grossen abgekapselten Abscessen. In Betreff der metastatischen Abscesse habe ich Ihnen
früher bemerkt, dass sie nach meiner Ansicht alle embolischen Ursprungs sind; in Betrefi'
der diffusen metastatischen Entzündungen mussten wir zu einer andern Erklärung greifen.
Diffuse metastatische Gewächse sind nun freilich äusserst selten, ich möchte nur wenige
Formen pleuraler und peritonealer Carcinome oder Sarkome so bezeichnen. Was den
Entstehungsmodus der metastatischen Tumoren, den eigentlichen Vorgang der Infection
betrifft, so liegt es aus Analogie sehr nahe, dass auch sie wie die secundären Lymph-
drüsentumoren durch ein Semen von den primären Geschwülsten oder von den Lymph-
drüsengeschwülsten aus entstehen. Ich bekenne, dass ich sehr geneigt bin, dies anzu-
nehmen. Obgleich mir früher die Idee nicht eingehen wollte, dass die Zellen aus einem
Entzündungsheerd oder aus einer Geschwulst so selbstständig sein sollten, wie Schwärm-
sporen von Algen, so glaube ich doch, dass man bei den jetzigen Kenntnissen gerade
über das selbstständige Leben der pathologisch neugebildeten Zellen nicht mehr an der
Möglichkeit solcher Vorgänge zweifeln darf. Es ist in neuester Zeit grade eine Beobach-
tung bekannt geworden, welche einen neuen Beweis für den hohen Grad von Selbstständig-
keit liefert, den die Gewebselemente , zumal die Zellen des Bete Malpighii besitzen, ich
meine die schon öfter erwähnten Epidermistransplantationen von Reverdin. Hiernach
hat es nun noch viel mehr Wahrscheinlichkeit als früher bekommen, dass losgerissene
zellige Elemente einer Neubildung in andere Gegenden des Körpers durch den Säfte- und
Blutsti-om verschleppt, dort eventuell weiterwachsen. Wenn auch bei der ersten Ent-
wicklung eines Tumors wie bei der Entstehung einer entzündlichen Neubildung die Lymph-
gefässe theilweis verschlossen und durch Zellen erfüllt werden dürften, so könnten sich
doch sehr wohl im weiteren Verlauf durch Compressionsstenose capillare Lymph- und
Gefässthromben bilden, in welche specifische GescliAVulstelemente einwandern, und kleinste
Thrombenbröckel, welche sich zumal bei Erweichungsprocessen in den Geschwülsten bil-
den dürften, könnten in den Kreislauf gelangen, sich bald hier, bald dort festsetzen und
sich zu neuen Gewächsen heranbilden. An kleineren und grösseren Venen ist die Bil-
dung solcher mit specifischen Geschwulstelementen durchsetzten Thromben wirklich
beobachtet und zugleich sind analoge Geschwülste in den Aesten der Lungenarterie luuli-
Vorlcsmi-- 4L Ciipilcl XXF. 071
gewiesen. Grade der Umstand ist nic^lit gering anziisclilagen , dass metastatisclie Ge-
schwülste wie metastatisclie Abscesse vorwiegend in Lunge und Leber gefunden werden,
abgesehen von den Fällen, wo die Vermittlung der Geschwulstmetastasen auf directeui
Wege nahe liegt, wie bei Fleuragescliwülsten, welche neben primären Mannuagescliwülsten
entstehen, wie bei Lebergeschwülsten, welche neben Geschwülsten des Darms oder des
Magens gefunden werden; in diesen Fällen ist eine directe Wanderung der Geschwulst-
elemente durcii die Lymphgefässe leicht denkbar. Auf diesem Gebiet ist noch Viel, und
ich glaube, mit Erfolg zu forschen! — Die Producte der acuten Entzündung wirken, wie
wir gesehen haben, meist pyrogen; die der chronischen Entzündung besitzen die.se Eigen-
schaft fast in ebenso geringem Grade wie diejenigen der Geschwülste; nur wenn in letzte-
ren Neubildungen Zerfall eintritt, und die Producte dieses Zerfalls in den Kreislauf ge-
rathen, tritt. Fieber ein. — Fassen wir das über Contagiosität der Geschwülste Gesagte
zusammen, so ergiebt sich, dass die Uebei-tragbarkeit von geeigneten Geschwulstelementen
eines Individmims auf ein anderes manche Wahi-scheinlichkeit für sich hat, docli nicht
bewiesen ist; dass aber nicht mehr daran gezweifelt werden kann, dass beim gleichen
Lidividuum von verschiedenen Arten von Geschwülsten aus die Lymphdrüsen und auch
andere Organe nach und nach angesteckt werden können. Ueber die Art dieser An-
steckung sind verschiedene Ideen verlautbart. Der einfachste Vorgang wäre der eben
auseinandergesetzte, dass nämlich die von einer primären Geschwulst abgelösten in ein
Gefäss eingeklemmten Emboli aus sich selbst weiter wachsen, und das anliegeiide Gewebe
sich dabei nur verhält wie gegenüber einem andern fremden Körper mit der Ausnahme
freilich, dass sie Gefässe in den zur Geschwulst heranwachsenden Embolus hineinsenden.
Andere sind der Meinung, die Geschwulst inficire das umgebende Gewebe der Art, dass
dies nun auch die gleichen Geschwulstgewebe producire. Noch Andere hegen die Vor-
stellung, dass es nur des Saftes aus den Geschwülsten bedürfe, um ein Gewebe zur gleichen
Geschwulstbildung zu erregen. Wir kommen später bei der Entwicklungsgeschichte der
Carcinome darauf zurück. —
Was die locale und allgemeine Erkältung als Entzündung erregende Potenz be-
trifft, so finden sich im Vergleich dazu keine Beobachtungen, nach welchen die Ent-
stehung von Geschwülsten auf eine analoge Ursache zu beziehen wäre. Ich wüsste nicht,
dass Jemand je behauptet und nachgewiesen hätte, dass Geschwülste durch Erkältung
entstehen.
Ueber die mechanischen und chemischen Einwirkungen, als Ursachen
von Geschwulstbildungen, sind die Ansichten sehr verschieden. So mannigfaltig die Reize
sein können, und so vielfach man damit experimentirt hat, so liegt doch kein einziger
Versuch vor, bei welchem es gelungen wäre, eine Geschwulst willkürlich durch mecha-
nische oder chemische Reize zu erzeugen; die auf solche Weise entstandene entzündliche
Neubildung überdauert den äusseren Reiz nicht lange. Wo und wie wir auch mechanische
und chemische Reize anbringen und einwirken lassen , immer bringen wir nur Entzün-
dungen hervor; Avenn es also specifische mechanische und chemische (ich meine
hier von aussen auf den Organismus einwirkende iind nicht von Geschwülsten bereits
herstammende) Reize giebt, d. h. solche, nach deren Einwirkung eine Ge-
schwulst entstehen niUSS, so sind sie bisher unbekannt. Es wäre dann weiter
die Frage, ob Gründe vorhanden sind, die trotzdem mit Nothwendigkeit zwingen, solche
specifischen mechanischen und chemischen Reize ausserhalb des Organismus anzunehmen.
Ich kann das nicht zugeben: freilich giebt es eine Reihe von Fällen, in welchen nach
Schlag, Stoss, Verwundung eine Geschwulst entstanden ist, doch ist die Zahl dieser Fälle
verschwindend klein im Verhältniss zu denjenigen, in welchen nach den gleichen Ur-
sachen entweder die typisch rasch ablaufende acute traumatische Entzündung oder bei
dauerndem Reiz chronische Entzündung ebenfalls mit typischem Verlauf aufti-itt. Dies
müssen wir also als Regel betrachten: wenn ein Lastträger auf den Processus spinosi des
Rückens eine Hautverdickung und darunter einen neugebildeten Schleimbeutel, oder wenn
G72
Von den Geschwülsten.
er an o-leicher Stelle ein Geschwür bekommt, so ist dies eine gewissermaassen normale
Folo-e es sind Frodncte einer chronisch-entzündlichen Reizung, sie verschwinden, sowie
der Reiz aufhört; l)ekommt aber ein Individuum aus gleichen Ursachen, bei gleichem
chronischen Reiz an gleicher Stelle eine Fettgeschwulst, die nicht wieder verschwindet,
soo-ar noch weiter wächst, wenn der Reiz aufhört, so können wir hier nicht wohl den
Reiz als specifisch beti-achten, sondern müssen die Eigenthümlichkeit in dem gereizten
Theil suchen. Wir haben früher bei den allgemeinen und localen Infectionen die Spe-
cifität des Reizes erkannt, jetzt müssen wir auch zugeben, dass es eine spe-
cifische, qualitativ abnorme Reactionsweise der Gewebe giebt. Dass über-
haupt bei der I'^ntwicklung primärer Geschwülste eine loeale Irritation von aussen eine
wichtige Rolle spielt, ist von Virchow und 0. Weber ganz besonders hervorgehoben;
es oeht das wohl unwiderleglich daraus hervor, dass primäre Gesehwülste grade an den
Stellen des Körpers am häufigsten sind, an welchen äussere Reize am meisten einwirken.
Aus statistischen Arbeiten ergiebt sich nämlich, dass am häufigsten der Magen, dann die
portio vaginalis uteri, dann Gesicht und Lippen, dann die Brustdrüse, Mastdarm etc. Sitz
von Geschwulstbildungen w^erden. Dass aber grade Geschwülste und nicht chronische
Entzündungen in solchen Fällen entstehen, muss doch in der speci fischen Disposition
dieser T heile bei gewissen Individuen seinen Grund haben. Leute, die viel Spiri-
tuosa trinken, bekommen gewöhnlich Magencatari-h ; wenn unter tausend Trinkei'u einer
oder selbst zehn statt dessen einen Magenkrebs bekommen, so müssen diese als abnorme
Subjecte der grossen Masse gegenüber betrachtet werden. Bis hierher gehe ich durchaus
einig mit Virchow; er spricht sich folgen derma assen darüber aus: ^Wenn ich also auch
nicht angeben kann, in welcher speciellen Weise die Irritation stattfinden muss, durch
welche grade in einem gegebenen Fall eine Geschwulst hervorgerufen wird, während in
einem anderen Falle vielleicht unter scheinbar ähnlichen Verhältnissen nur eine einfache
Entzündung erregt wird, so habe ich doch eine ganze Reihe von Thatsachen mitgetheilt,
welche lehren, dass in der anatomischen Zusammensetzung einzelner Theile gewisse blei-
bende Störungen existiren können, welche das Zustandekommen regulatorischer Processe
liindern, und welche bei einem Reiz, welcher an einem andern Orte nur eine einfache
entzündliche Affection zu Stande gebracht haben würde, eine Reizung erzeugt, aus welcher
die specifische Geschwulst hervorgeht." Als Thatsachen, „welche lehren, dass in der
anatomischen Zusammensetzung einzelner Theile gewisse bleibende Störungen
existiren können", die zur Geschwulstbildung disponiren, werden von Virchow angeführt:
ein höheres Lebensalter; es ist vollkommen richtig, dass gewisse Geschwulstformen
an bestimmten Localitäten im höheren Lebensalter besonders häufig sind, z. B. der Lippen-
krebs; Thiersch macht darauf aufmerksam, dass in den Lippen alter Männer das Binde-
gewebe so bedeutend geschwunden sei, dass dadurch die epithelialen Gebilde (Talg-,
Schweiss-, Schleimdrüsen, Haarbälge) sehr hervorti'eten und gleichsam das Uebergewicht
in der Ernährung erhalten; daher äussere sich eine Reizung grade vorwiegend in der
Wucherung dieser epithelialen Bildungen, und es sei mit dadurch das häufige Vorkommen
der Epithelialkrebse an den Lippen alter Männer zu erklären. Ich erkenne die geist-
reiche Combination dieser Beobachtungen vollkommen an, indess muss ich dazu bemerken,
dass ein höhe res Lebensalter mindestens eine ebenso allgemeine als loeale
Eigenschaft des Körpers ist, also nicht als loeale Reizwirkung angesehen werden
kann. Ferner führt Virchow an: Stellen, welche früher der Sitz einer entzündUchen
Krankheit gewesen sind, durch welche der Theil eine bleibende Schwäche behielt, ferner
Narben kommen als Heerde für Geschwulstentwicklung vor: dies ist unbestreitbar richtig:
wenn man aber dagegen die unzähligen Fälle vergleicht, in welchen sich in acut erkrankt
gewesenen Theilen einfach chronische Entzündungen ausbilden, und in welchen sich an
Narben einfache Ulcerationen entwickeln, so wird die Zahl derjenigen Fälle, in welchen
an solchen Stellen Geschwülste auftreten, wieder versehwindend klein, und man muss
zugeben, dass bei diesen wenigen Individuen specifische Dispositionen angenommen
VnrIcsimK -ll. Cnpilc-I Wf. 073
werden dürfen, welclie nun grade zur GoscliwulslhildunK führen. Dasselbe gilt für die
Tiiatsaohe, dass in Organen, welclie ihre volle Aushiidung und Kntwieklung erst in spä-
terer Z(m( des Lehens orhmgen, gern (Jeschwulsthildungen zur Entwieklung kommen:
Vireliow nennt hier die Gelenkenden der Knochen (die ührigens im Vcrliilltniss zu den
chronischen Entzündungen äusserst seilen Sitz von (lesi'hwiilsten werden), die Milchdrüse,
den Uterus, den Eierstock, die Hoden. — ]5ci aller Anerkennung des Aufwandes von
Beobachtung und geistreichen Ideen, durch welche die rein localc Disposition zur Oe-
scliwulstbildung bewiesen werden soll, kann ich diese Beweise selbst keineswegs als
schlagend bezeichnen, sondern bleibe vorläufig immer noch der Ansicht, dass es ebenso
sehr eine specifisch al 1 genic in e Diath ese fü r Geschwulstbild u n g giebt, wi(!
eine Disposition zu chronischen En tz ündungen mit Wucherung der entzünd-
lichen Neubildung, mit Eiterung, mit Verkäs ung etc.
Es muss zu dem Gesagten noch hinzugefügt Averden, dass man keineswegs im Stande
ist, immer einen localen äusseren Reiz bei der Geschwulstentwicklung nachzuweisen,
ebensowenig, wie dies immer bei localen Erkrankungen scrophulöser Individuen möglich
ist. Indem ich Sie hier auf das bei der Aetiologie der chronischen Entzündung Gesagte
verweise , bemerke ich , dass man auch in Betreff der primär entstehenden Geschwülste
für viele Fälle annehmen kann, dass es auch speci fische, im Körper selbst ent-
stehende, sogenannte innere Keize giebt. Dies geben wieder die meisten Patho-
logen zu, doch denken Sie sich die Art der Entstehung und Entwicklung solcher Reize
verschieden. Virchow lehrt vorwiegend: die locale Erkrankung muss eine locale Ur-
sache haben, und nimmt an, dass am Orte der Erkrankung gewisse örtliche Zustände der
Schwäche existiren. Hierbei niüsste man nun eine specifische locale Schwäche für die
verschiedensten Ernährungsstörungen und für Gesch vv'ulstbildungen annehmen. Rindfleisch
spricht sich über die inneren Reize ganz bestimmt in folgender Weise aus: „Durch den
Stoffwechsel in den Geweben entstehen fort und fort gewisse Excretstoffe, welche sowohl
aus den Geweben und Organen, in denen sie entstehen, als aus der Säftemasse des ganzen
Körpers fort und fort ausgeschieden werden müssen, wenn der Lebensprocess des Individuums
ungestört bleiben soll. Diese Körper haben ihre chemische Stellung zwischen den organo-
poetischen Körpern einei'seits und den Excretstoffen der Nieren, der Haut, der Lungen
andrerseits; sie fallen also in die grosse Lücke, welche die organische Chemie an dieser
Stelle hat; sie sind auf jeden Fall für die verschiedenen Gewebe etwas verschieden, und
auf dieser Verschiedenheit beruht die Verschiedenheit der pathologischen Neubildungen.
Werden sie nämlich nicht in normaler Weise umgewandelt und ausgeschieden, so häufen
sie sich zunächst an dem Orte ihrer ersten Entstehung, darauf in der Säftemasse des Orga-
nismiTS an, und diese Anhäufung ist die nächste Ursache für die Anregung jener progressiven
Processe, welche mit Kernvermehrung im Bindegewebe beginnen und mit der Bildung von
Tuberkel-, Krebs-, Cancroid-, Fibroid-, Lipomknoten u. s. w. endigen." Ich kann dieser
Auffassung durchaus beistimmen, muss aber hinzufügen, dass es mir scheint, als wenn
man sich darüber täuscht, dass man hier von vorwiegend localen Vorgängen spricht. Die
Gallen- und Harnproduction ist freilich auch ein localer Vorgang, doch dass sie grade
in dieser Quantität und Qualität möglich wird, dazu gehören ausser dem drüsigen Organe
so viele, vom ganzen Organismus abhängige Bedingungen, dass man die Grundursache
für die Harn- und Gallensecretion nicht mehr allein im Blute, sondeini noch weiter zurück
im ganzen Organismus, ja in seiner durch die Abstammung, wenn Sie wollen, bis Adam
hinauf, bedingten Eigenart suchen muss. Im gleichen Sinne glaube ich auch, dass man
die Grundursachen für die localen Bedingungen der Geschwulstbildung
in specifischen Eigenschaften des gesammten individuellen Organismus
suchen muss; im gleichen Sinne sprechen wir ja auch von einem scrophulösen, von
einem tuberkulösen Individuum; wir bezeichnen damit, wie ich schon sagte, die patho-
logische Ra^e, in w'elche dasselbe hineingehört.
Ich muss endlich noch hinzufügen, dass die Annahme, die Krankheitsursache, der
Billroth cliir. Pnth. ii. Tliev. 7. Anfi. 43
674
Von den Geschwülsten.
Reiz für die Geschwülste entstehe local da. wo in der Folge auch die Geschwulst ent-
steht, ebenso hypothetisch ist, wie jede andere bisher aufgestellte. Nehmen wir als Ana-
loo-ie die Arthritis: Zaleski hat die ausgezeichnetste Arthritis bei einer Gans durch
Unterbindung der Uretheren hervorgebracht: eine Gelenkkrankheit in Folge von Störungen
der Nierenfunetion ! Ebenso gut könnten vielleicht in irgend einem Gewebssystem Ge-
schwülste nach Störung der Leberfunction entstehen! Hier ist sehr Vieles möglich! Man
weiss darüber gar nichts Sicheres, und bewegt sich ganz auf dem Gebiet der Hypothesen!
Ich für mein Theil finde es ebenso zulässig, hier wie bei der scrophulösen, arthritischen etc.
Diathese anzunehmen, dass aus theils unbekannten, theils bekannten Gründen der allge-
meinen Körperernährung imd allgemeinsten Lebensbedingungen abnorme Stoffe hervorgehen,
welche specifisch irritirend auf diese oder jene Körpertheile wirken , nach Analogie der
specifisch wirkenden Arzneistoffe. — Fügen wir endlich noch hinzu, dass die Diathese
zur Geschwulstproduction erblich ist, wenn auch nicht in dem Grade wie die
Diathese zu chi-onischen Entzündungen etc., so scheint mir die Lehre von den auf einzelne
Gewebssysteme oder einzelne Körpertheile loealisirten Schwächen durchaus unhaltbar. Dass
die Glieder einer Familie grosse Nasen haben, hat gewiss einen localen Grund: sie sind
nämlich im Verhältniss zum Gesicht grösser gewachsen, als bei andern Menschen, doch
die grosse Nase des Vaters kann sich doch nicht als solche, sondern nur vermittelst der
Spermatozoen des Vaters vererben: dort ist also jedenfalls die Gi'undursache zu suchen:
alle Eigenschaften, die sich vererben, sind doch wohl unbestritten als constitutionelle zu
bezeichnen.
Ich habe Sie hier lange mit Reflexionen beschäftigt, die Manchem von Ihnen recht
langweilig erschienen sein mögen; diese werden mich fi-agen: was soll das für die Praxis
nützen? Da muss ich Ihnen nun leider bekennen, dass die Praxis auf diese Dinge, eben
weil sie so sehr hypothetisch sind, fast gar keine Rücksicht nimmt, sondern von viel
concreteren Beobachtungen im einzelnen Fall ausgeht; das mag Sie beruhigen! Denjenigen
unter Ihnen, welche Ideen der Art, Avie wir sie eben besprochen haben, gar nicht zu
Sinn kommen, rathe ich, sich nicht weiter damit zu befassen; über die letzten LTrsachen
der Dinge nicht nachdenken zu müssen, ist im gewissen Sinne ein beneidenswerthes
Glück! —
Fassen wir zur leicliteren Uebersiclit das über die Aetiologie Ge-
sagte in einige kurze Sätze zusammen:
Die Gewächse entstehen wie die entzündliche Neubildung in Folge
von Reizung der Gewebe; die Differenz der ursächlichen Momente liegt
1) in den specifisch en Qualitäten des Reizes. Hierfür ist die Infection
des gesunden, einer Geschwulst benachbarten Gewebes, der nächstgele-
genen Lymphdrüsen etc. als vollgültiger Beweis anerkannt. Hypothetisch
wird angenommen, dass unter unbekannten Umständen auch local im
Gewebe solche specifisch eu, gleich an Ort und Stelle wirkenden Reiz-
Stoffe gebildet werden können (Rindfleisch). Ich bin der Ansicht,
dass theils durch erbliche, theils durch erworbene Disposition, also bei
vorhandener Diathese, die Entstehung von Stoffen in der Säftemasse des
Organismus denkbar ist, welche specifisch iritirend auf dies oder jenes
Gewebe wirken. 2) Auch ein beliebiger, in den meisten Fällen Entzün-
dung erregender Reiz kann ein Gewächs erzeugen, falls das gereizte
GcAvebe specifisch für die Bildung von Gewächsen disponirt ist. Yir-
chow, 0. Weber, Rindfleisch u. A. nehmen an, dass solche speci-
fischen Eigenschaften ganz local auf einen grade zufällig' o-ereizten
I
VorIrsunK ■][. ('.-iiulrl XXI. 075
Körpertlieil oder auf ein gewisses System des Körpers (Knochen, Haut,
Muskeln, Nerven etc.) bescliränkt sind. Für niicli ist die Localisation
solcher specifischen Eigenschaften nicht denkbar; für midi ist es dalicr
auch bei dieser Hypothese walirscheinlich, dass die scheinbar localen spc-
citischen Eig-enschaften ihren Grund in Eigenthümli(;lds.citen haben, welche
in dem innigsten Zusammenhang mit dem gesammten Organismus stehen.
Sie können aus dieser Zusammenstellung sehen, dass eine Differenz
der verschiedenen Ansichten nur in dem rein hypothetischen Tlieil liegt.
Wenn ich deunocli ausführlicher darauf einging, als es für diese Vor-
lesungen noth wendig scheinen mag, so hat dies darin seinen Grund,
dass dieser für die allgemeine Pathologie so wichtige Gegenstand in
neuester Zeit von Virchow, 0. Weber, Rindfleisch, Lücke,
Thiersch, Klebs, Waldeyer u. A. so ausführlich und ausgezeichnet
behandelt ist, dass ich es für nöthig fand, denjenigen Theil meiner An-
sichten genauer zu entwickeln , in welchem ich von den genannten
Autoren abweiche, deren vortreffliche Schriften ich Hmen nicht genug
zum Studium empfehlen kann.
In Betreff der Prognose und des Verlaufs der Geschwülste
können Sie aus dem Mitgetheilten entnehmen 1) dass dieselben weder
spontan zu heilen pflegen, noch Arzneimitteln zugänglich sind, und
2) dass sie theils infectiös wirken, theils nicht. Dieser letztere Punkt
ist besonders frappant für die unbefangene Beobachtung. Es giebt Ge-
schwülste, welche nach der Exstirpation nicht wiederkehren, und solche,
die nicht allein in der Operationsnarbe und ihrer unmittelbaren Umge-
bung wiederkehren, sondern in der Folge auch in gleicher Weise in den
nächsten Lymphdrüsen, dann auch in inneren Organen auftreten, wie
schon früher angedeutet wurde. Erstere nennt man von Alters her die
gutartigen, letztere die bösartigen Geschwülste oder Krebse.
Diese Beobachtung ist so einfach, dass es nur darauf anzukommen scheint,
die Eigenschaften der einen und der anderen Geschwulstart genau zu
studiren, um eine sichere Prognose zu stellen. Ein genaues klinisches
und anatomisches Studium führte aber nicht zu dem gewünschten ein--
fachen Resultat dieses Dualismus, sondern es ergab sich, dass letzterer
gar nicht existirt, sondern dass die Verhältnisse viel complicirter sind.
Nachdem man sich in der äusseren anatomischen Betrachtung und Schil-
derung der gutartigen und bösartigen Gewächse erschöpft hatte, unter-
suchte man sie mit dem Mikroskop und in der Retorte; bald glaubte
man so, bald so die charakteristischen Merkmale gefasst zu haben, und
schnell ergab sich eine Entdeckung nach der andern als Irrthum; es
stellte sich heraus, dass ein Gegensatz von absoluter Bösartigkeit und
Gutartigkeit in dem angedeuteten Sinne doch nicht so existire, und dass
man nicht allein solitäre, multiple und infectiöse Geschwulstbildungen zu
43*
ana Von den fieschwiilsten.
imtevsclieiden habe, soudern dass auch in den Graden der Infeetiosität
noch eine Scala aufgestellt werden müsse. Hierauf müssen wir etwas
näher eingehen. Solitär nennen wir eine solche Geschwulst, welche
nur in einem Exemplar am Körper vorkommt und nur rein locale Er-
scheinungen macht; dies sind gewöhnlich Gewächse, welclie aus irgend
einem ausgebildeten Gewebe bestehen: Fibrome, Chondrome, Osteome
und so fort. Wir sprechen von multiplen Geschwülsten, wenn eine
Keihe gleichorganisirter Gewächse nur an einem bestimmten Gewebs-
system auftritt, wenn also z. B. viele Chondrome nur au den Knochen,
oder viele Lipome nur im Unterhautzellgewebe, oder viele Fibrome nur
in der Haut vorkommen und so fort. Es liegt dabei, wie allgemein
zugegeben, eine Prädisposition des erkrankten Systems zu Grunde,
welche Virchow als rein local ansieht, die ich aber, wie früher be-
sprochen, auf allgemeine constitutionelle Verhältnisse beziehen zu müssen
glaube. Im Allgemeinen kann man sagen, dass jede Art von Geschwulst
gelegentlich solitär und multipel vorkommen kann, wenngleich letzteres
bei einzelnen Geschwulstformen nur äusserst selten der Fall ist. Infectiös
nennen wir eine Geschwulst, welche nicht allein in ihre nächste Um-
gebung hineinwächst, diese infiltrirt und fortwährend durch Apposition
neuer Heerde wächst, sondern auch die nächsten Lymphdrüsen und end-
lich auch andere Organe inficiren kann. Li dieser Beziehung bestehen
ausserordentliche Verschiedenheiten; bei manchen Geschwülsten geht die
Infection regelmässig nur bis zum nächsten Lymphdrüsenpaket (Lippen-
Gesichts-Carciuome): bei andern geht sie von hier aus weiter, besonders
auf innere Organe (Brustdrüsencarcinome) ; endlich kommt auch Infection
des ganzen Körpers mit metastatischen Geschwülsten vor ohne Infection
der Lymphdrüsen (manche Sarkomformen). Ausserdem ist die Schnel-
ligkeit, mit der die Infection erfolgt, ausserordentlich verschieden. —
Prüft man die Umstände, unter welchen sich die infectiösen Geschwülste
entwickeln, und die anatomische Structur solcher Gewäclise selbst, so
muss in Bezug auf ersteres hervorgehoben werden, dass besonders im
höheren Mannesalter, bei Frauen und Männern ziemlich gleich oft, an
gewissen Organen besonders häufig infectiöse Geschwülste vorkommen;
dass das Kindesalter zu infectiösen Gewächsen, zumal an bösartigen
Sarkomen wohl disponirt, während im Jünglings- und ersten Mannesalter
überhaupt wenig Tumoren und besonders- wenig infectiöse Tumoren zur
Entwicklung kommen. Lebensweise, gute, schlechte Ernährung, Armuth,
Reichthum, Charakter, Nationalität, Cultureinflüsse scheinen keinen be-
sonderen Einfiuss auf die Entwicklung von Tumoren überhaupt zu haben;
ein Einfiuss dieser Potenzen specifisch auf die Entwicklung von infec-
tiösen Tumoren ist ebenfalls nicht erkennbar. — Das Studium der ana-
tomischen Structur der Gewächse ist mit besonderer Vorliebe in neuerer
Zeit betrieben worden, und es ergiebt sich daraus, dass allerdings eine
grosse Beihe der bösartigen Tumoren charakteristische, durch niakro-
Vorlesung II. (Japilcl XXI. f;77
skopische und mikroskopische Analyse zu bestimmende EigenscIiaCtcn
besitzen, dass aber dadurch keinesfalls immer die Prognose siclier zu
ergründen ist; im Allg-emcinen lässt sich aber sagen, dass es gewöhnlich
sein- zellenreiclie , zu ulcerativen Processen disponirte Gewcbsbildungen
sind, welche sich im Vorlauf als iufcctiös erweisen. Da es im höchsten
Grade wahrscheinlich ist, dass die Inlection durch die Locomotion spe-
cifischer Geschwulstelemente erfolgt, so werden aucli manche auf die
Resorption bezügliche Momente herangezogen werden können. Der
Reichtham an Blut- und Lymphgefässen in dem Gescliwulstheerd und
in seiner nächsten Umgebung, die Verhältnisse, welche auf Eröffnung
und Öchluss dieser Bahnen Bezug haben, die Energie des Kreislaufs
überhaupt sind in Betracht zu ziehen.
Die infectiöseu Geschwülste treten gewöhnlich anfangs solitär auf,
fast nie multipel in dem früher angedeuteten Sinne. Geschwülste, welche
gleich von Anfang an multipel auftreten, werden nur selten infectiös. —
Wenn man gefährlich, bösartig und infectiös synonym gebraucht, so
abstraliirt man dabei von der speciellen Localität, an welcher die Ge-
wächse zur Entwicklung kommen. Eine solitäre gutartige Gescliwulst
wenn sie im Gehirn entsteht, ist quoad vitam immer bösartig durch ihren
Sitz ; eine infectiöse Geschwulst an gleicher Stelle kommt vielleicht, weil
sie früh tödtet, nie über die locale Infection hinaus. Alles dies ist
genau zu berücksichtigen, wenn man sich Klarheit über diese Dinge
verschaffen will.
Besonders sind auch nicht alle Geschwülste deshalb infectiös (bös-
artig, krebsig) zu nennen, weil nach der Operation ein Recidiv an der
operirten Stelle entsteht. Es ist hierbei wohl zu unterscheiden, ob die
Recidivgeschwulst aus Theilen der ursprünglichen Geschwulst hervorge-
gangen ist, welche bei der Operation zurückgeblieben waren (continuir-
liche Recidive Thiersch), oder ob nach einer vollständigen Operation
in der Narbe oder in ihrer Nähe vielleicht erst nach Jahren eine neue
Geschwulst aus gleichen Ursachen wie die erste entstand (regionäres
Recidiv). Bleibt die operirte Stelle frei und treten n/ich der Operation
Lymphdrüsengeschwülste von gleicher Art wie die exstirpirte Geschwulst
auf (Infections-Recidive) , oder entwickeln sich unter gleichen Verhält-
nissen ohne Lymphdrüsenerkrankungen Gewächse in den Organen, so
ist als sicher anzunehmen, dass diese Lymphdrüsen und sonstigen Organe
zur Zeit der Operation bereits inficirt waren, wenn dies damals auch
nicht durch die Untersuchung fesgestellt werden konnte.
Wenn ein Individuum von einer Geschwulst aus inficirt ist, so nennen
wir es dyskrasisch, ebenso wie wir ein von Entzüuduugsheerden
aus inficirtes Individuum dyskrasisch (pyohämisch) nennen. Es circu-
liren bei solchen Individuen fremde Materien in den Säften, welche eine
pathologische Beschaffenheit der letzteren zur Folge haben. Diese
Dyskrasie äussert sich bei infectiösen Geschwülsten durch allgemeine
678
Von den Geschwülsten.
Störungen der Ernährung- : Abmagerung, Marasmus ; wie bald und in wie
holiem Grade das eintritt, hängt sehr wesentlich von dem Sitz der Ge-
schwülste und ihren Eigenschaften (Erweichung, Gangränescirung, Ul^e-
ration Blutungen etc.), sowie von dem Kräftezustand und Alter der er-
krankten Individuen ab.
Ueber die Behandlung der Gewächse im Allgemeinen will ich
hier nur so viel bemerken, dass sie nur durch Eliminirung aus dem
Körper heilbar sind, sei es, dass diese durch das Messer, durch Ligatur,
durch Ecraseur, durch Aetzmittel oder sonst in einer andern Art ge-
schieht. Die Entfernung intensiv und rasch inficirender Geschwulste ist
meist nur ein Mittel, das Leben etwas zu verlängern oder die Leiden
des Kranken zu mildern; bei den unoperirbaren Tumoren kann es sich
nur um symptomatische Behandlung, zur Linderung der Leiden handeln.
Ueber die Indicationen für die verschiedenen Operationsweisen will ich
bei den einzelnen Geschwulstarten reden.
Indem wir nun zur Besprechung der einzelnen Geschwulstformen
übergehen wollen, schrecken wir zurück vor der grossen Masse von
Material, das uns vorliegt. Wir bedürfen eines leitenden Principes, um
die vielen einzelnen anatomisch und klinisch vo verschiedenen Geschwulst-
formen ordnen und für sich, sowie in ihrem gegenseitigen Verhältniss
zu einander und im Verhältniss zum gesammten Organismus übersehen
zu können. Die Principien, nach denen man die Geschwülste eintheilt,
waren von jeher ebenso verschieden, wie die Principien, nach denen
man die Krankheiten überhaupt eingetheilt hat und noch eintheilt. Alle
Krankheitssysteme, die man bisher schuf, haben sich nicht lange ge-
halten. Die Pathologie wird jetzt in sehr verschiedenartigen Gruppen
von kleineren Systemen gelehrt, und die Principien zur Bildung solcher
Gruppen sind verschiedenartig gewählt. Bevor die pathologische Ana-
tomie zur Entwicklung kam, hielt man sich nur au einzelne hervor-
stechende Symptome ; davon haben wir noch in der Medicin die Krank-
heitsbilder: Icterus, Apoplexie, etc.; so haben wir noch in der Geschwulst-
lehre die Ihnen schon bekannten Bezeichnungen „Polyp, Scirrhus, Fuugus,
Carcinom" etc. — Sowie nun die Symptome Icterus und Apoplexie, als
von sehr verschiedenen anatomischen Ursachen herrührend, analysirt
wurden, verwarf man diese Bezeichnungen im System und setzte die
anatomischen Zustände an ihre Stelle. Das pathologisch -anatomische
System der Krankheiten, wie es z. B. Rokitansky aufgestellt hat, ist
unbezweifelt als solches vollkommen wissenschaftlich, ebenso das System
der allgemeinen Pathologie von Virchow; dennoch ist weder das eine
VdricsiiiiK 11. ('Mpiici xxr. ß79
noch das audei'c von den Klinikern oimo "VVcilercs ühoiiunnnicn. Man
möchte die Krankheiten nacli ilirciii eigentlichen Wesen imdilireii IJrsjicIien
l)egreifcn und cintheilcn; Scliönlein's Versuch, ein System in dieser
Iviclituuü,' aufzustellen, ist ahev clxuilalls al)i;-elelint, denn unsere Kennt-
nisse über die Ursaclicu und das Wesen der Krankhcitsprocesse sind niclil
iicnüi-end, um damit überall i;chörii>' schalten zu können. Was ist nun
f^'eschehen? Die practische Medicin und Chirurü,-ic g'chen theilweis von
dem anatonnschcn System aus, setzen dies als im Allgemeinen l)ek;innt
voraus und benutzen es zur Unterabtheilung grösserer, vom ätiologischen,
])roguostischen, symptomatologischen, physiologischen Standpunkte aus
aufgestellter Krankheitsbilder. Es wäre gewiss nicht unwissenschaftlich,
auch jetzt noch eine Monographie über Icterus, über Apoplexie zu schrei-
ben; man lässt dabei die anatomischen Verhältnisse in zweite lleihe
treten, man benutzt die pathologische Anatomie, wie man andere llülfs-
wissenschaften, wie man Chemie, Physik benutzt; man sucht dabei immer
im Auge zu behalten, dass das Ziel in der Ergründung des ganzen
Krankheitsprocesses liegt, nicht in der alleinigen Ergründung der mor-
phologischen Verhältnisse; man will nicht nur den anatomischen Vorgang,
sondern auch die Art und Ursache der physiologischen Störung begreifen.
Es wäre geradezu unwissenschaftlich, im Typhus, wenn man auch eine
Menge von palpablen Veränderungen findet, nichts als eine eigenthüm-
liche Art von Darmentzündung sehen zu wollen ; diesen Standpunkt dür-
fen wir als einen überwundenen betrachten. Könnte man alle Krank-
heiten vom ätiologischen Standpunkt aus gruppiren, so wäre dies ein
ungeheurer Fortschritt; es würde dann eben die pathologische Physiologie
an die Stelle der pathologischen Morphologie treten, während wir uns
bei unseren jetzigen Kenntnissen schon viel darauf einbilden, wenn wir
die morphologische Entwicklungsgeschichte des Krankheitsproductes genau
erkannt haben, weil wir uns sagen dürfen, dass wir damit w^enigstens
einen wichtigen Factor des pathologischen Processes kennen. Im Grunde
sind wir übrigens mit der normalen Entwicklungsgeschichte nicht weiter,
es ist wohl noch lange keine Aussicht auf eine Physiologie des wachsen-
den Fötus.
Wir dürfen nach diesen Betrachtungen an die Einth eilung der Ge-
schwülste nicht grössere Ansprüche machen als an die Eintheilung der
Krankheiten überhaupt; wir müssen uns darin finden, dass eine Ent-
scheidung zu treffen ist, ob wir Aetiologie, Symptomatologie, Prognose,
Morphologie als Eintheilungsprincip wählen wollen. Die Aerzte haben
früher die Geschwülste am liebsten nach der Prognose der einzelnen
Geschwulstformen in bösartige und gutartige eingetheilt, und dazu einige
Unterabtheilungen nach dem äusseren Ansehn der Gewächse, nach ihrer
Consistenz oder nach dem Aussehen der Durchschnittsfläche gemacht.
Dies genügte allenfalls, so lange die Beobachtungen über diese Gegen-
stände mehr in Bausch und Bogen gemacht wurden und die Aerzte au
680
Vun den Geschwülsten.
die Stellung- der Prognose keine allzuholien Ansprüche machten. Je
genauer aber die Beobachtung-en am Krankenbett wurden, und in je
vielfachere Formen sich die neugebildeten Gewebe unter dem Mikroskop
auflösten um so unmöglicher wurde es, die anatomischen Eigenschaften
der Geschwülste mit den älteren Anschauungen über Bösartigkeit und
Gutartigkeit zu vereinen. Während es nun die meisten Chirurgen und
pathologischen Anatomen aufgaben, die Prognostik der Geschwülste
bei der Eintheilung derselben eine Eolle spielen zu lassen, und seit
Johannes Müller's Arbeiten auf diesem Gebiet ihr Hauptaugenmerk
auf eine immer feiner ausgebildete Anatomie und Entwicklungsgeschichte
der Pseudoplasmen richteten, versuchte ich noch einige Male die klinisch
so hervorragenden Erscheinungen der Gutartigkeit und Bösartigkeit in
erweiterter Form als Princip der Eintheilung der Geschwülste beizu-
behalten und diesen die modernen Errungenschaften der pathologischen
Histologie unterzuordnen. Sei es, dass ich nicht die richtige Form und
die richtigen Ausdrücke für meine Gedanken fand, sei es, dass die Auf-
gabe, welche ich mir gestellt hatte, wirklich unlösbar ist — kurz ich
bin allein mit meinen Betrachtungen in dieser Eichtung geblieben, und
habe sie aufgegeben. Wenn ich auch heute noch der Ansicht bin, dass
man nicht aufhören darf, nach einer physiologischen (ätiologisch-pro-
gnostischen, klinischen) Erkenntniss der Processe zu streben, welche der
Geschwulstbilduug zu Grunde liegen, und eine Eintheilung der Geschwülste
nach physiologisch-genetischen Principien auch heute noch weit höher
halten würde, als eine solche nach anatomisch-genetischen (von welchen
Virchow in seinem wunderbaren, classischen Werk über Geschwülste
ausging) — so begebe ich mich dennoch weiterer Versuche in dieser
Richtung und folge den anatomischen Principien bei der Eintheilung,
indem ich von den aus einfachen Geweben gebildeten Geschwülsten nach
und nach zu den complicirter zusammengesetzten Tumoren vorschreite.
Endlich muss ich noch erwähnen, dass ich meine Vorlesungen will-
kürlich und absichtlich auf diejenigen Fälle von Geschwülsten beschränke,
welche sich wenigstens im Anfang der Krankheit an Körpergebieteu
localisiren, die der Chirurgie zugehören. Diese Beschränkung ist von
keiner so grossen Bedeutung, wie es scheint; man kann sogar behaupten
dass man die Geschwulstkrankheiten in ihrem eigenthümlichen Verlauf
nur da rein studiren kann , wo die Localisation zunächst in Theilen
erfolgt, welche für das Leben nicht direct gefährlich sind; denn die
Erscheinungen, welche z. B. bei Leber-, Magen-, Hirngeschwülsten auf-
treten, sind nicht diejenigen der Geschwulstkrankheiten als solcher,
sondern hauptsäcldich der Störungen in den Functionen der betroffenen
Organe. Wenn jeder Typhus sich mit tödtlichen Darmblutungen oder
Perforation des Darmes combinirte, so würden wir gar kein reines Bild
von dem Krankheitsprocess als solchem bekommen, weil derselbe immer
in seinem Verlauf gestört würde. Wir werden hier und da Andeutungen
Vorlesung in. C;ipilcl XXI. ßgl
über die relative Iliiufig-kcit i)rimärer Localisationcii der Geschwulst-
krankheiten in inneren Organen geben, können uns dabei jedoch nicht
in die Symptomatologie und Histologie der erkrankten Organe einlassen,
worüber Sie in der patiiologisclien Anatomie und in der medicinischcn
Klinik belehrt werden.
Vorlesung 45.
I.Fibrome: a) die weichen, b) die festen Fibrome. Art des Vorkommen.';. Opfrations-
verfahren. Ligatnr. Eerasement. GalvanokanstiL — 2. Li pome: Anatomisehes. Vor-
kommen. Verlauf. — 3. Chondrome: Vorkommen. Operation. 4. Osteome. Formen.
Operation.
1. Fibrome. Fascrgcschwülstc. Biiidegewebsgesclnvülste.
Geschwülste, welche vorwiegend aus ausgebildeten Bindegewebsfasern
bestehen, nennt man Fibrome. Es giebt davon folgende Formen:
a) D i e w e i ch e n F a s e r g e s c h w ü l s t e oder Bindegewebsgeschwülste.
Sie sind ziemlich häufig und haben ihren Sitz fast ausschliesslich in der
Cutis, bestehen aus einem sehr zähen, auch wohl etwas ödematösen,
weissen Gewebe und sind meist mit einer wenn auch oft sehr dünnen
Papillarschicht der Cutis bedeckt.
Die mikroskopische Untersuchung zeigt lockeres Bindegewebe wie in der
Cutis, auf der Oberfläche der Geschwulst fast immer spitze Papillen, selbst wenn diese
Geschwülste an Stellen der Haut sich entwickehi , wo die Cutis normaler Weise keine Pa-
pillen trägt; in dem Eete Malpighii dieser Bildungen findet sich häufig ein bräunliches
Pigment, selten tiefer im Gewebe der Geschwulst; auch können sie stark entwickelte
Gefässe führen und abnorme Haar- und Schweissdrüsenvergrösserungen an ihrer Ober-
fläche tragen.
Es sind gewöhnlich schlaff hängende (Cutis pendula, Moluscum fibro-
sum), oft deutlich gestielte Tumoren ; man kann sie auch wohl als partielle
Hauthyperplasien bezeichnen, da sie wesentlich aus den Elementen der Cu-
tis bestehen. Das Wachsthum ist ein sehr langsames, durchaus schmerz-
loses und geht häufig bis zur Bildung enormer Tumoren. Zuweilen sind
solche Geschwülste angeboren; sie kommen multipel vor; hunderte von
solchen Geschwülsten können an der Körperoberfläche entstehen. Am
häufigsten ist die abnorme Cutis- Wucherung angeboren im Gesicht, meist
halbseitig, diffus oder in Form weicher Hahnenkamm-ähnlicher Vegeta-
tionen. Die massigen Leberflecken, die behaarten Muttermäler mit
Pigmentirung (Mausefell, gutartige Melanosen, Melanome, pigmentirte
Fibrome) gehören hierher. — Diese Geschwülste entwickeln sich gern
am Ende des Mannesalters; bei Frauen findet man nicht selten lappig
hängende Geschwülste der Art an den grossen Schampillen ; da Ge-
wächse an diesem Ort so lange als möglich verheimlicht werden, so
sind sie gewöhnlich schon recht gross, wenn sie zur Beobachtung des
682
Von den Geschwülsten.
Fig. 125.
Arztes korameu. — Vircliow bezeichnet die Krankheit, bei welcher
sich solche multiplen, weichen Fasei-geschwülste bilden, als Leontiasis;
es gesellen sich dazu im Lauf der Zeit zuw^eilen allgemeine Ernährungs-
störungen. Wenn diese Neubildungen auch nicht infectiös in dem früher
besprochenen Sinne genannt werden können, so führen sie doch zu-
weilen zu einem kachektischen Zustand und im Lauf von Jahren zum
Tod durch Marasmus. Auch besteht eine anatomische Verwandtschaft
dieser Krankheit mit der sogenannten „Elephantiasis Arabum", obgleich
man unter diesem Namen eine mehr knotige, doch dabei auch zugleich
diffuse Hypertrophie der Cutis einzelner Körpertheile (Cutis pendula,
Scrotum, Unterschenkel) versteht, die mit wiederholten Erisypelen ver-
läuft. Es dürfte am wenigsten zu Missverständnissen führen, wenn
man diese Bildungen kurzweg als Hauthypertrophie oder Pachydermie
bezeichnet. Die Elephantiasis Graecorum ist eine in Betreff der Haut-
verdickung ähnliche, doch streng endemische und mit manchen anderen
Erscheinungen von Seiten des Nervensystems (Hypperästhesie und An-
ästhesie, Blödsinn) verbundene Allgemeinkrankheit, welche in Griechen-
land, Kleinasien und Norwegen (unter dem Namen Spedalsked) vorkommt,
und nach langen Leiden meist zum Tode führt.
b) Die festen Fibrome, Fibroide,
Desmoide erscheinen dem freien Auge
aus einem sehr festen, eng in einander
gefügten Fasergewebe zusammengesetzt.
Sie sind immer von sehr harter Consi-
stenz und rundlicher, knolliger Form,
auf der Durchschnittsfläche rein weiss
oder blassröthlich; viele von ihnen zeigen
auf der Schnittfläche dem freien Auge
eine ganz eigenthümlich regelmässige
Schichtung und concentrische Anordnung
der Fasern um deutliche Achsen (siehe
Fig. 125); dies kommt nach meinen Un-
tersuchungen dadurch zu Stande, dass
die Faserbildung um Nerven und Gefässe
herum entsteht, und letztere also in der Mitte der Faserlagen eingebettet
sind; die Nerven gehen dabei nicht selten zu Grunde.
Bei den eben beschriebenen äusseren Eigenschaften macht der histologische Befund
einige Schwierigkeit in Betreff der Stellung dieser Geschwülste im System. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, dass diejenigen von ihnen, av eiche vorwiegend aus festem
Bindegewebe bestehen, wie z. B. alle älteren Uterusgeschwülste der Art Fibrome genannt
werden müssen; die jüngeren Geschwülste dieser Art zeigen indess bei gleichem Aussehen
lind gleicher Consistenz wenig Bindegewebe, sondern viel spindelförmige Zellen. Die
Deutung dieser Zellen ist verschieden; Virchow hält sie für Muskelfaserzellen, er rech-
net daher die bisher immer als Uterusfibroide bezeichneten Geschwülste nicht zu den
Fibromen, sondern zu den Myomen und bezeichnet diese Geschwulstform als „Myoma
Kleines Fibrom (Myo -Fibrom) des
Uterus; natürliche Grösse des
Durchschnitts.
VorlcMiu«^ 10. C.'ii[)itL'l XXI.
683
laevicellularo". Nimnil nuiii die Fig. 126.
Faserzellen als junges Binde-
f^ewebe , so muss man diese
Geschwülste Spindelzellcnsar-
kome oder Fibro - Sarkome
faiifen. Sie sehen, wir kom-
men schon hier beim scheinlnir
so einfachen Fasergewebe mi).
der Histologie nnd Histogenese
ins Gedränge. Zwei Momente
sind es , welche mich bestim-
men würden , Faserzellenge-
schwülste für Myome zu hal-
ten ; nämlich die deutlieh her-
vortretende stäbchenförmig
wellig gekrümmte Form der
Kerne und die deutliche An-
ordnung der Faserlagen zu
Bündeln bei sehr schwer, viel-
leicht nur mit Hülfe der be-
kannten chemischen Mittel
herstellbarer Isolirbarkeit der
einzelnen Faserzellen. Da-
neben wird der Boden, in
welchem die Geschwulst ent-
standen ist, sehr wesentlich zu
berücksichtigen sein; die Wahr-
scheinlichkeit für ein Myom wird sehr gross sein, wenn die Neubildung sich in der Sub-
stanz des Uterus vorfindet.
Die Fibrome sind mancher anatomischen Metamorphosen fähig. Par-
tielle schleimig-e Erweichung-, stark seröse Infiltration (sulziges Ausehn
und Consistenz), Verkalkung, auch wahre Verknöcherung derselben
beobachtet man nicht so selten. Oberflächliche Ulceration ist etwas
Häufiges bei denjenigen Fibromen, welche dicht unter einer Schleimhaut
liegen ; sie erfolgt unter Einfluss äusserer Schädlichkeiten in der gewöhn-
lichen Weise; das so entstehende Geschwür zeigt oft gute Granulationen
und Eiterung, auch kann es unter günstigen Bedingungen sehr wohl
zur Vernarbung gebracht werden. Das fasrige Gewebe, wenngleich an-
scheinend sehr gefässarm, enthält dennoch, wie man sich durch Injec-
tion überzeugen kann, oft sehr viele Gefässe, sowohl Arterien als Venen :
zuweilen bildet sieb ein sehr weites cavernöses Venennetz darin aus
(siehe Fig. 127); Arterien und Venen verwachsen so innig mit dem
Geschwulstgewebe, dass ihre Adventitia darin meist aufgegangen ist, so
dass die Gefässe bei einer eventuellen Verletzung sich weder der Quere
noch der Länge nach zurückziehen können, ihre Lumina also dauernd
klaften müssen; dies ist der anatomisch - mechanische Grund, weshalb
Blutungen aus Fibromen so profus und oft nicht ohne Kunsthülfe zum
Stillstand zu bringen sind; die starre klaffende Gefässöffnung erschwert
Aus einem Myo- Fibrom des Uterus. Vergrösse-
rung 350. Quer- und Längsschnitte von Muskel-
zellenbündeln.
684
Von den Ge.«chw nisten.
FUj. 127.
a und b Gefässe eines Cutisfibroms (Myoms?) vom Oberschenkel, von einer Arterie aus
injicirt: b cavernöse Venen — c eigenthümlich regelmässig gestaltete Venen eines Cufis-
fibroms (Myo-Fibroms?) von den Bauehdecken, von einer Vene aus injicirt. —
Vergrösserung 60.
die Bildung- des Thrombus im höchsten Grade. Man findet zuweilen in
grösseren Uterus- sowie auch in Periostfibromen lacunäre Spalträume,
die mit dünnem Serum angefüllt sind; yielleieht sind dies ektatisehe
pathologisch neugebildete Lymphsinus; bestimmte Beobachtungen liegen
darüber nicht vor; auch Kopf-grosse mit Serum gefüllte Höhlen kommen
in Uterusfibromen vor (Spencer Wells).
Die Localisation der Fibrome ist eine sehr verschiedene; von
allen Organen ist der Uterus (vorausgesetzt dass wir unter dem allge-
meinen Ausdruck „Fibroid" die Myo-Fibrome einschliessen) am häufigsten
davon befallen; hier erreichen die Geschwülste zuweilen eine enorme
Grösse und verkalken dann nicht selten. Sie haben in der Regel eine
runde Form, sind deutlich und scharf von der Umgebung abgegrenzt,
entstehen im Körper des Organs am häufigsten, seltener im Hals, fast
nie an den Labien der Portio vaginalis ; die Richtung ihres Waehsthums
geht nach unten oder oben, also in der Bauchhöhle mit allmähliger
Dehnung des Peritonäum oder durch das Orificium vaginale in die Va-
gina. Die Geschwülste wachsen in letzterer Richtung weiter und weiter,
werden gestielt und geben gerade hier oft Anlass zu heftigen Blutungen:
man nennt sie fibröse Uterus polypen. —
Recht häufig sind dann die vom Periost ausgehenden Fibrome; sie
sind fast immer Fibro- Sarkome, d.h. sie sind aus Faser- und Spiudel-
zellen zusammengesetzt, letztere können sogar vorwiegend sein (faseriges
Sarkom Rokitansky). Das Periost der Schädel- und Gesichtskuochen
VorleHimi^f 15. (!;ipilr'1 XXf.
G85
ist voriiclimlich dieser Kraiiklieit jiusgesctzt, besoudei'S
die untere Flüche des Keilbeiiikörpers; die Fibrome
treten von liier als polypöse Gesclnvülste in die Nasen-
liölile und in die Scldundliölde liinein (fibröse Nasen-
raelienpolypen); sie können die Knoclien durdi
Druck resorbiren und in die Scliädelliöhle oder in das
Antruni Ilig'lnnori liineinwaclisen; gerade sie sind oft
besonders reich an ca\ ernösen Vcnensystenien. Aussci--
dem habe ich Fibrome an dem Periost der Tibia, aucli
an der Clavicula g-eselien, ferner im Knochen selbst,
z. B. im Oberkiefer, wo mir auch schon sonderbare
Combinationen von Chondrom und Fibrom vorge-
kommen sind. — Endlich ist noch zu erwähnen, dass
in und an den kleineren und grösseren Nerven-
stämmen Fibrome nicht zu den Seltenheiten gehören
(Fig-. 128); man nennt oft alle in den Nerven vor-
kommenden Geschwülste Neurome, muss dieselben
dann aber nach ihrer anatomischen Beschaffenheit
unterscheiden; die meisten Neurome sind Fibrome oder Fibro- Sarkome
in den Nervenstämmen, andere bestehen zum Tlieil oder ganz aus neu-
gebildeten Nervenfasern (wahre Neurome). Manchmal gehen die
Nervenfibrome den Nervenstämmen nach und bilden knotige Stränge
(plexiforme Neurome Verneuil Fig. 129), auf deren Confluenz, wie
Nfiitrdfibroni iiadi
Fol Uli.
Fig. 129.
Plexiformes Neuro -Fibrom vor der Wange nach P. Bruns. Natürliche Grösse.
schon erwähnt, das eigenthtimliche Aussehen der Durch schnittsfläche der
Fibrome zuweilen beruht (Fig. 125); sie sind meist angeboren. — Die
Entwicklung von Fibromen im Unterhautzellgewel)e gehört zu den Selten-
ßoß Von den Geschwülsten.
heiten- in den Drüsen kommen Fibrome etwa mit Ausnahme der Mamma
fast niemals vor.
Die Entwicklung- der eben besprochenen Faserg-eschwülste ist
dem mittleren Lebensalter (von 30 — 50 Jahren) ])esonders eigen; sie
g'clang-en selten in früher Jugend, noch weniger im hohen Alter zur Ent-
wicklung; wenn wir sie im Uterus älterer Frauen finden, so bestehen
sie dort meist seit vielen, vielen Jahren. Nur die fibroiden Neurome
und die Knochen- und Periostfibrome finden sich wohl auch bei jugend-
lichen Individuen. — Im Allgemeinen sind die Fibrome wohl etwas
häufiger bei Frauen als bei Männern; die Uterusfibrome entwickeln sich
etwa im 35. bis 45. Jahre, wenn sie auch oft erst später Beschwerden
machen; sie sind fast häufiger multipel als solitär; die Periostfibrome
l)leiben in der Regel solitär, kehren jedoch, wenn auch nach Verlauf
von Jahren, nicht selten wieder (regionäre Recidive; Verwandtschaft mit
den Sarkomen). Meist wachsen die Fibrome rein central und sind nicht
infectiös; doch sollen infectiöse Fibrome vorkommen: mehre solche Ge-
schwülste neben einander verschmelzen, wachsen infiltrirend in die Um-
gebung und es erfolgt auch wohl gelegentlich eine fibroide Degeneration
der nächst gelegenen Muskeln, Knochen und Lymphdrüsen. Die infec-
tiösen Fibrome, welche ich sah, waren immer Fibro-Sarkome; sie können
wie die reinen Sarkome metastatisch in der Lunge auftreten. — Die
Neuro - Fibrome treten recht häufig multipel auf, und zwar vorwiegend
in dem Gebiet eines und desselben Nerven; ich habe vor einiger Zeit
sechs Neurome bei einem Manne exstirpirt, drei vom linken Arm und
drei von der linken unteren Extremität; es sind Fälle beobachtet, in
welchen 20 — 30 Neurome zugleich bestanden.
Die reinen Fibrome wachsen im Allgemeinen sehr langsam und
machen im Alter zuweilen einen Stillstand im Wachsthum. Am bekann-
testen ist dies von den Uterusfibromen, die nach der Involutiousperiode
meist zu wachsen aufhören und dann verkalken. Combinationen mit
anderen Gewebsbildungen, zumal mit Sarkomen, wie bemerkt, kommen
vor, und zwar so, dass die primären Geschwülste eine mehr fibröse Be-
schaffenheit zeigen, während die Recidive und die durch Infection ent-
standenen secundären Tumoren sich als weiche celluläre Sarkome er-
weisen. Ich habe solchen Fall gesehen; ein etwa 25 jähriger Manu von
blühendem Aussehen trug ein Fibrosarkom an den Bauchdecken von
stark WallnussgrÖsse ; dasselbe wurde ganz rein exstirpirt; schon in der
"Wunde trat eine neue Geschwulst auf, später an anderen Stellen der
Körperoberfläche mehre weiche Geschwülste; dabei wurde der Patient
marantisch und ging nach einigen Monaten zu Grunde; die ganze Lung-e
fand sich durchsetzt von weichen sarkomatösen Geschwülsten.
Die Diagnose der Fibrome ist nach dem Gesagten nicht schwer;
Consistenz, Localität, Alter, Art der Anheftung, Form der Geschwulst
leiten fast immer ganz sicher zur richtigen Erkenntniss derselben.
I
\^)rlosim^' 45. Ciiiiilol XXf. . 087
Die Beliandlung- kann nur in (l(;r Eiitf(!i-nunü,' der rrcscliwülste
bestellen. Diese wird sicli, wenn iil)ei'liaui)t,, i^ewölinlicli mit dem Messer
bewerkstelligen lassen; die KutCernuni^' der gestielten oder liäng-enden
Bindeg'ewel)sges('l\wiUste und (il)rösen lN)ly])en lässt indess andere Ope-
rationsmetlioden zu. Früliei- wandte man in solchen Fällen sehr liüulig
die Ligatur an, d. li. man uuiscliniirte den Stiel der Gescliwulst fest luit
einem Faden, so dass dieselbe brandig wurde, faulte und endlicli aliiiel;
man wäldte diese Methode vorzüglich in solchen Fällen, wo man sich
vor der Blutung aus den Schnittflächen fürchtete. Das Abbinden liat
den grossen Nachtlieil, dass die Geschwulst im oder am Körper fault,
und dass die Ligatur in manchen Fällen wiederholt angezogen werden
muss, bis sie völlig durchschneidet. Hierbei können Blutungen heftiger
Art auftreten; die Ligatur lässt sich mit dem Schnitt so vereinigen, dass
man vor dem fest angelegten Faden die Geschwulst abschneidet und
nur einen Theil des Stiels der spontanen Ablösung überlässt. In der
Nasen- und Rachenhöhle, sowie in der Vagina, hat man natürlich grosse
Schwierigkeiten, eine Ligatur anzulegen, und hat zu diesem Zweck eine
grosse Menge von Instrumenten einfacher und complicirter Art, sogenannte
Schiingenträger, construirt, mit denen man die Ligatur über die Ge-
schwulst hinüber bis an den Stiel führt. Die Ligatur ist jedoch jetzt
so ziemlich allgemein verworfen und wird so wenig gebraucht, dass alle
diese zum Theil höchst sinnreich construirten Schiingenträger nur noch
historischen Werth haben. — Der Wunsch, die gestielten Geschwülste
ohne Blutung zu entfernen, ist jedoch immer noch sehr lebhaft und hat
in der neuesten Zeit zu neuen Instrumenten und Methoden geführt, die
freilieh erst durch die Einführung des Chloroforms populär werden
konnten. Das Abquetschen und Abbrennen ist jetzt an die Stelle
der Ligatur getreten. Das Ecrasement nach Chassaignac haben wir
schon (pag. 160) erwähnt; es erfolgt bei Anwendung dieser Operations-
methode in der That, wenn sie vorsichtig geübt wird, keine Blutung,
selbst aus Arterien, welche dem Durchmesser einer Art. radialis nahe
stehen; die Wunde, welche dadurch entsteht, ist durchaus glatt und
scharf und heilt vollkommen gut ohne erhebliche Gangränescenz an der
Oberfläche; wenn auch nicht in allen Fällen die Blutung vollkommen
sicher steht, so verhält es sich doch in den meisten so; man hat das
Instrument in verschiedenen Grössen; das kleinste Format lässt sieh
bequem in die Nase schieben, man kann damit ohne grosse Schwierig-
keit kleinere gestielte Nasenrachenpolypen abquetschen. — Eine Methode
von ähnlicher Wirkung ist die Galvanokaustik, von Middeldorpf
in die Chirurgie eingeführt; sie besteht darin, mittelst einer galvanischen
Batterie eine Schlinge von Platindraht, welche zwischen die beiden Pole
eingeschaltet ist, glühend zu machen und mit dieser die Geschwulst an
ihrer Basis durchzubrennen; der Erfolg ist der einer Durchtrenuung
und Blutstillung zugleich; die Blutstillung lässt ungefähr ebenso oft als
nnn Voii den Geschwülsten.
bei dem Ecrasemeiit im Stich, also im Ganzen sehr selten, und die Me-
thode ist dalier ebenfalls für geeig-uete Fälle erapfeblenswerth. Die
Umständlicbkeit für einen Arzt, eine starke wirksame (ziemlich theure)
Batterie herzurichten, ist so gross, dass die Galvanokaustik yorläufig
wenig Zukunft in Betreff einer allgemeineren Anwendung hat; sie ist
trotz ihrer Eleganz durch die Einführung des Ecraseur verdrängt; das
ärztliche Publikum hat entschieden; die meisten operirenden Aerzte be-
sitzen einen Ecraseur, galvanokaustische x\pparate finden sich nur in
wenigen Krankenhäusern.
Was die Operation der nicht gestielten, tiefer sitzenden Fibrome
l)etrifft, so sind manche von ihnen überhaupt der chirurgischen Behandlung
nicht zugänglich. Obgleich in einigen Fällen von Köberle, Pean und
Anderen Uterusfibrome zuweilen mit auffallend günstigem Erfolg aus dem
Baucli gesclinitten sind, so möchte ich dies doch vorläufig noch nicht zu
unbedingt empfehlen, nicht nur, weil die Operation doch gefährlich ist, son-
dern weil diese Geschwülste im Lauf der Zeit einen Stillstand zu machen
pflegen, und die Beschwerden den Preis des Lebens selten aufwiegen. Auch
was andere Fibrome betrifft, die durch ihren Sitz und ihr Wachsthum nicht
lebensgefährlich sind, deren Operation jedoch mit Gefahr für das Leben des
Patienten verbunden ist, muss man immer daran denken, dass diese Ge-
schwülste sehr langsam wachsen, im späteren Lebensalter oft einen Still-
stand machen, und sollte man daher solche Operationen nicht voreilig unter-
nehmen oder sie gar zu dringlich vorstellen. Es bleiben immer noch
eine Menge von Fällen übrig, wo man die Operation ohne Weiteres
unternehmen kann und muss; zumal sind erhebliche, oft wiederkehrende
arterielle Blutungen aus einem ulcerirten Fibrom, drohende Zerstörung
der Knochen, Vordringen in die Schädelhöhle etc. dringende Indicationen.
Bei den Neurofibromen sind zuweilen die Schmerzen so enorm, dass
die Patienten heftig auf die Operation dringen, selbst wenn man ihnen
sagen muss, dass eine Lähmung des betreffenden Muskelbereichs unver-
meidlich darnach eintreten wird; denn fast immer muss man ein Stück
des erkrankten Nerven, der vielleicht nocli theilweis oder ganz func-
tionirt, excidiren. Sind die Neurome schmerzlos, so wäre es ein thörich-
tes Unternehmen, sie auszuschneiden.
2. Lipome. Fei(gesclnv«ilste.
Die Disposition zur Fettbildung wird bekanntlich, wenn sie nicht
über ein gewisses Maass hinausgeht, nicht als krankhafte Diathese be-
trachtet, sondern vielmehr als ein Zeichen besonders guter Ernährungs-
verhältnisse angesehen und ist in den verschiedenen Lebensjahren sehr
verschieden entwickelt, am meisten zwischen dem 30. und 50. Lebens-
jahre, seltener im kindlichen Lebensalter; durch ruhiges behagliches
Vorlostinj^ 45. C'apifcl XXT. 089
Leben und plileg-matischen Cliavaktcr wird Fcttbildung wesentlich l)e-
g'iinstigt. Als Krankheit fassen wir dieselbe erst dann auf, wenn durch
sie Functionsstorung-en einzelner Org-ane oder des gesammten Organismus
bedingt werden, oder wenn sich die Fettbildung auf einen kleinen 'IMieil
des Körpers beschränkt, wenn sie als Fettgeschwulst erscheint.
Die anatomische Beschaffenheit der Fettgeschwülste ist ein-
fach; sie bestehen aus Fettgewebe, welches wie das Unterhautfett durch
Bindegewebe in einzelne Läppchen getheilt ist. Dies Bindegewebe ist
bald mehr, bald weniger entwickelt, und die Geschwülste erscheinen
darnach bald fester (fibromatöses Lipom), bald weicher (einfaches Lipom).
Die äussere Form ist gewöhnlich rund, lappig, und die neugebildete
Fettmasse ist durch eine verdichtete Schicht von Bindegewebe von den
Nachbargeweben abgegrenzt (circumscriptes Lipom, die gewöhnliche
Form) und leicht von der Umgebung abzulösen; seltener tritt das Lipom
als auf einen Körpertheil beschränkte Fettsucht, als Anschwellung ohne
deutliche Abgrenzung auf (diffuses Lipom), ja ich beobachtete einen
Fall, in welchem das neugebildete Fettgewebe bei einem jungen Mädchen
die Muskeln des rechten Oberschenkels so durchwachsen hatte, dass die
begonnene Operation der Exstirpation nicht vollendet werden konnte,
— Der Sitz der Lipome ist am häufigsten im Unterhautzellgewebe, be-
sonders des Stammes; am häufigsten sind diese Tumoren am Rücken
und an den Bauchdecken; Lipome an den Extremitäten sind seltener;
in den Synovialfalten und Zotten der Gelenke, sowie auch an den
Sehnenscheiden kann eine abnorme Fettbildung vorkommen, so dass
diese Fettmassen baumförmig verzweigt erscheinen (Lipoma arborescens
J. Müller): es ist dies eine Analogie zu der Fettwucherung in den
Fortsätzen des Peritonealüberzugs des Dickdarms (Appendices epiploicae)
und anderer seröser Häute, ist jedoch enorm selten. — Das Wachsthum
der Lipome ist immer ein sehr langsames, ihre Entwicklung fast nie
mit Schmerz verbunden, wenn dieselbe nicht dicht an Nervenstämmen
erfolgt und diese zerrt oder drückt, was freilich in seltenen Fällen vor-
kommt. Die Fettgeschwülste können eine enorme Grösse erreichen; die
Patienten, wenig von denselben belästigt, fühlen sich selten veranlasst,
frühzeitig die Entfernung vornehmen zu lassen und so wachsen die
Lipome zu enormen Geschwülsten heran ; vor Kurzem entfernte ich ein
Lipom vom Eücken einer Frau, welches unter der rechten Scapula an-
geheftet war und bis zu den Waden herabreichte: es hatte obenan der
Basis den Umfang wie ein ziemlich starker Oberschenkel dicht unter
den Hüften, unten war der Umfang fast doppelt so gross wie oben.
Secundäre Veränderungen in diesen Geschwülsten sind nicht gar häufig,
indess kann es vorkommen, dass die dickeren Bindegewebsbalken in
der Geschwulst verkalken oder wirklich verknöchern und zugleich das
Fettgewebe zu einer Oel- oder Emulsion-ähnlichen Flüssigkeit zerfliesst.
Die Haut, welche die Fettgeschwülste bedeckt, wird sehr allmählig
Bilh-oth chir. Pntli. u. Ther. 7. Aufl. 44
gQQ Von den Geschwülsten.
expaiidirt und anfang-s g-ewöbulich sehr verdickt, dabei auch wohl zu-
weilen bräunlich pigiuentirt und papillär, bleibt aber in der Eegel ver-
schiebbar auf der Geschwulst; ausnahmsweise erfolgt eine innigere Ver-
wachsung- derselben mit dem neugebildeten Fett, und dann auch wohl
eine oberflächliche Ulceration der in solchen Fällen völlig atrophirenden
Cutis; diese Verschwärung, welche durch äussere Irritationen hervorge-
rufen werden kann, pflegt selten tief zu gehen, wenngleich Theile des
Fettgewebes dabei gangränös werden können; es bilden sich unter
solchen Verhältnissen fast immer Geschwüre mit wenig entwickelter
Granulation, mit serösem stinkendem Secret aus. Combination von
Lipom mit weichen Fibromen, mit myxomatösen Sarkomen und mit
Lymphomen kommt vor, wenn auch selten. Eine bedeutende cavernöse
Ektasie der Venen habe ich mehre Mal in Lipomen beobachtet.
Eine Disposition zur Lipombildung besteht am häufigsten in
derselben Lebenszeit, in welcher überhaupt die Disposition zur Fett-
bildung am häufigsten ist, also zwischen dem 30. und 50. Lebensjahre;
bei Kindern entwickeln sich äusserst selten Lipome, doch kommen sie
angeboren am Bücken, Hals, Gesieht, auch an den Zehen mit gleich-
zeitiger Hypertrophie der Knochen (Riesenwuchs) vor; sie wachsen nach
der Geburt nicht mehr viel weiter. In der Regel entsteht nur ein Lipom,
und dies wächst äusserst langsam, ja es kann auf einem gewissen Sta-
dium zumal im hohen Alter stehen bleiben. Multiple Lipombildung ist
öfter im Unterhautzellgewebe beobachtet worden; man hat Fälle gesehen,
wo 50 und mehr meist kleinere Lipome zugleich sich ausbildeten ; später
blieben sie dann im Wachsthum stehen. Die multiplen Lipome sind oft
gemischte Geschwülste. Das einfache Lipom ist niemals infectiös; es
kommen daher nie Recidive nach Exstirpation dieser Geschwülste vor.
Als Gelegenheitsursache zur Entwicklung von Fettgeschwülsten wer-
den Druck und Reibung zuweilen beobachtet; es besteht auch ein massiger
Grad von Erblichkeit der Fettsucht überhaupt.
Die Diagnose der Lipome ist in den meisten Fällen leicht; die
Consistenz, der oft durchzufühlende lappige Bau, zuweilen ein deutlich
fühlbares Knittern, welches beim Zerdrücken einzelner Fettläppchen ent-
steht,^ sind die objectiven Zeichen; dazu kommen die Verschiebbarkeit
der Geschwulst, das langsame Wachsthum, das Alter des Fatieuten, vor
Allem die Körpergegeud als wesentliche Hülfsmittel zur Sicherung der
Diagnose. Verwechslungen mit sehr weichen Fasergeschwülsten, mit
Sarkomen, mit lipomatös-cavernösen Blutgeschwülsten sind möglich.
Die Therapie besteht in der Entfernung der Geschwulst" mit dem
Messer. Die Heilung erfolgt gewöhnlich erst nach sehr reichlicher Ab-
stossung von gangräneseirendem Gewebe an der Wunde; bei sehr grossen
Lipomen nimmt man am zweckmässigsten immer einen Theil der die
Gescuwulst bedeckenden Cutis mit fort; Ervsipele sind grade nach Ex-
stirpation v„i, Lipomen häufig, besonders wenn man es "mit sehr fetten
Vorlesung 45. CnpiCel XXT.
GOl
Personen zu tliim hat. Es kann übrigens die Exstirpation der grösstcn
Lipome mit g-utem Erfolg aiisgefiiliit werden, da man es in der Regel
mit sonst gesunden Menschen zu thuu liat. Ungünstiger als die Exstir-
pation der circumscripten ljii)ome ist diejenige der diffusen; die locale
und allgemeine Reaetion pflegt bedeutender 7m sein, docli lial)c ich
mehre solche Excisioneu mit günstigem Erfolge gemacht.
3. Chondrome. Kiiorpelgeschwiilste
sind Geschwülste, welche aus Knorpel bestehen, und zwar aus hyalinem
oder aus Faserknorpel.
Die mikroskopischen Elemente des pathologisch neugebildeten Knorpels können
verschiedenartig gestaltet sein : man sieht zuweilen ausserordentlich schöne, runde Knorpel-
zellen, wie man sie besonders im Embryo, in etwas kleinerer Form auch in den Gelenk-
und Rippenknorpeln findet; eine so vollständige Verschmelzung der hyalinen Intercellular-
Fig. 130.
Aussergewöhnliche Formen von Knorpelgew^ebe aus Chondromen vom Menschen und
vom Hund. — Vergrösserung 350.
44*
692
Von den (Treschwnlsten.
Substanz zu einer homogenen Masse, wie sie in dem noi-malen Knorpel Eegel ist, findet
sich jedoch in den Chondromen seltener; oft ist die den einzelnen Zellengnippen ange-
hörio-e Intercelhilarsubstanz von einander differenzirt, und zwischen den grösseren Zellen-
o-ruppen bildet sich die hyaline Substanz zu feinen Fasern um. Letzteres ist die Ursache,
dass die Knorpelgeschwülste im Durchschnitt meist von kapselartig angeordneten, zu-
sammenhängenden Bindegewebsmaschen durchzogen erscheinen, die sich auch dem freien
Auo^e als netzförmige Zeichnung darstellen; zwischen diesen Bindegewebszügen erscheint
der bläulich oder gelblich schillernde Knorpel eingebettet. Ausserdem unterscheidet sicli
das Gewebe des Chondroms von demjenigen des normalen Knorpels auch noch dadurch,
dass ersteres in den erwähnten Faserzügen meist vascularisirt ist, während letzterem be-
kanntlich Gefässe fehlen. Die mikroskopischen Verhältnisse in den Chondromen bieten
noch manches andere Abweichende von dem normalen Knorpel. Es kommt gar nicht
selten vor, dass die Intercellularsubstanz , sei sie hyalin oder leicht gefasert, anstatt der
gleichmässig festen Consistenz des normalen Knorpels eine mehr gallertige oder bröcklige
Beschaffenheit zeigt, vielleicht auch manchmal secundär in dieselbe übergeht. Verkalkungen
des Knoi-pels, so wie wahre Verknöeherungen sind in den Chondromen etwas Häufiges;
die Zellenformen können äusserst verschiedenartig sein (Fig. 130).
Was die äussere Form der Clioudrome anlangt, so sind es meist
nindlicb knollige, scharf begrenzte Geschwülste, welche unter Umständen
über Mannskopfgrösse erreichen können. Ihr Waehsthum ist im
Anfang ein fast rein centrales; im weitereu Verlauf wird jedoch theils
durch das Auftreten neuer Krankheitsheerde in der unmittelbaren Um-
gebung, theils durch Umwandlung der zunächst gelegenen Gewebe in
Knorpel (locale Infection) die Vergrösserung der Geschwulst bewerk-
stelligt. Von den anatomischen Metamorphosen ist die breiige und
schleimige Erweichung und die Verknöcherung einzelner Theile schon
erwähnt; durch den ersteren Process entstehen Schleimcysten in diesen
Geschwülsten, wodurch die sonst sehr hart anzufühlenden Chondrome
theilweis Fluctuation darbieten können. Es wäre denkbar, dass mit
einer vollständigen Verknöcherung des Chondroms die Geschwulst zum
Abschluss käme und zu wachsen aufhörte; dies ist auch in einzelnen
Fällen beobachtet worden, wenngleich sehr selten. Ein oberflächlicher
Ulcerationsprocess kommt bei grossen Chondromen leicht vor und ent-
steht besonders bei sehr stark gespannter Haut und gelegentlichen
traumatischen Reizen, ist jedoch ohne weitere Bedeutung. Ulcerative
centrale Erweichung und Aufbruch nach aussen sind selten, ich habe
es jedoch bei einem sehr schön ausgebildeten, stark apfelgrossen Chon-
drom einer Sehnenscheide am Fuss beobachtet. — Virchow nennt die
verknöchernde Zellenlage zwischen Periost und wachsendem Knochen
Osteoidknorpel: er tauft daher periostale und ossiticirende Geschwülste,
welche einen diesem Osteoidknorpel ähnlichen Bau haben „Osteoid-
Chondrome". Es ist mir etwas bedenklich, wie man solche Geschwülste,
die ich mehrfach untersucht hahe, von periostalen ossiticirenden Rund-
zellen- und Spindelzellen -Sarkomen unterscheiden soll; ich möchte da-
her das Osteoid -Chondrom Virchow's lieber nicht von den Sarkomen
trennen.
Vorlesung 45. Cnpilcl XXT. ß03
Vorkommen. Die Knorpclg'cscliwülstc entstellen ganz besonders
häufig' an den Knochen. Die I'halangcn der Hand und die Mctacaipal-
knoclien worden am häufigsten Sitz von Chondromen; viel seltener die
analogen Knochen am Fuss. An der Hand treten die Chondrome iVist
inuner multipel auf, selbst in solcher JMeng'e, dass kaum ein Fing-cr
davon frei ist; dann sind der Oberschenkelknochen und das Becken der
131.
Chondrome der Finger.
Chondrombikkmg- besonders ausgesetzt; hier erreichen diese Geschwülste
die gTÖsste bekannte Ausdehnung und führen zur vollständigen Destruc-
tion dieser Knochen. Seltener schon sind die Chondrome an den Ge-
sichtskuochen, sehr selten am Schädel, etwas häufiger dagegen wieder
an den Rippen, an der Scapula. In den Sehnenscheiden entwickeln sich
gelegentlich Chondrome, doch selten. — Auch in Weichtheileu und zwar
besonders in Drüsen (Hoden, Eierstock, Mamma, Speicheldrüsen) sind
Knorpelbildungeu beobachtet, und zwar theils vollkommen entwickelte
Chondrome, theils einzelne Knorpelstückchen neben vorwiegender Sar-
kommasse oder neben Carcinom.
Die Entwicklung von Chondromen ist vorwiegend dem jugendlichen
Alter eigenthündich; nicht dass sie grade bei Kindern vorkämen, doch
aber in den Jahren kurz vor der Pubertät; die meisten Chondrome sind
auf diese Zeit zurückzuführen, selbst wenn wir sie erst in viel späteren
Jahren zur Beobachtung bekommen. Diese Geschwülste entstehen zu-
weilen nach Trauma, wachsen ausserordentlich langsam, 20 — 30 Jahre,
und scheinen von Zeit zu Zeit vollständige Stillstände machen zu kön-
nen; es ist mir begegnet, dass Patienten behaupteten, die Geschwülste
haben seit vielen Jahren unverändert bestanden, und mehr zufällige
Gründe veranlassten sie, jetzt noch die Entfernung derselben zu wün-
schen. Manchmal wachsen sie schneller und werden iufectios; es sind
Fälle bekannt, in welchen schliesslich Knorpelgeschwülste auch in den
Lungen (embolisch) auftraten und dadurch der Tod herbeigeführt wurde ;
0. Weber hat auch Erblichkeit von Chondrom-Diathese beobachtet. —
Bei den erwähnten Combinationen von Knorpclbildung mit Sarkom oder
Carcinom übt die Knorpelbildung keinen Eiufiuss auf die prognostische
Beurtheilung der Geschwulst im Ganzen,
nqA Von den Geschwülsten.
Die Diagnose und Prognose ergiebt sich aus dem Gesagten leicht
von selbst. Nur muss noch erwähnt werden, dass die erweichten und
cystoiden Formen der Chondrome in älteren Werken vielfach unter dem
Namen Colloidgeschwülste, Gallertkrebse, Alveolarkrebse etc. cursiren.
Da sowohl in Fibromen, Chondromen, Sarkomen als in Adenomen und
Drüsenkrebsen die epithelialen Elemente und auch das Bindegewebs-
gerüst gallertig (schleimig, coUoid, myxomatös) werden können, so wird
man immer erst sehr genau nachsehen müssen, was man vor sich hat;
oft genug wird man hier über die Deutung der histologischen Elemente
und ihre Metamorphosen, sowie demnach auch über den zu wählenden
Namen in Zweifel sein.
Was die Behandlung betrifft, so kann dieselbe nur in Entfernung
der Geschwülste bestehen, falls eine solche ohne directe Lebensgefahr
ausführbar ist. Die in der Kegel sehr grossen Chondrome des Beckens
wird man begreiflicherweise meist unberührt lassen müssen, die Ge-
schwülste des Oberschenkels, die ebenfalls sehr gross za sein pflegen,
wenn der Kranke in Behandlung kommt, kann man nur durch Exarti-
culation des Oberschenkels fortschaffen, und hierzu wird man kaum eher
Indication finden, als bis die Extremität durch spontane Fractur des Ober-
schenkels in Folge der Knocbenzerstörung unbrauchbar ist. Am häufigsten
kommen die Chondrome an den Fingern zur Operation, nicht weil sie
Schmerzen machen, vielmehr sind sie meist schmerzlos, sondern weil sie
die Function beeinträchtigen; dies geschieht freilich sehr langsam und
allmälig, und müssen die Geschwülste dazu bereits eine gewisse Grösse
erreicht haben. So lange die Patienten ihre knollig angeschwollenen
Finger noch brauchen können, verlangen sie weder die Operation, noch
kann man ilinen dringend dazu rathen. Was die Art der Operation
betrifft, so liegt für viele Fälle in denen die Geschwulst, wenn auch
fest adhärent am Knochen, doch mehr seitlich aufsitzt, der Gedanke
nahe, diese Geschwülste nach Spaltung und Zurückschiebung der Haut
mit vorsichtigem Beiseitschieben der Sehnen einfach vom Knochen abzu-
tragen, sei es mit dem Messer oder der Säge. Dies ist jedoch nur in
wenigen Fällen ausführbar, wenn man wirklich die ganze Geschwulst
entfernen will, was durchaus nöthig ist; die Knorpelmasse durchwuchert
nämlich sehr häufig den ganzen Markcanal des Knochens; es können
ausserdem nach solchen Operationen sehr heftige Sehnenscheidenentzün-
dungen entstehen, in Folge deren der betreffende Finger steif bleibt.
Ueber die von Dieffenbach ausgesprochene Ansicht, dass der etwa
zurückbleibende Rest des Chondroms nachträglich verknöchere und dieses
Knochengewebe stabil bliebe, liegt keine genügende Anzahl sorgfältig
beobachteter Fälle vor; es ist daher die Abtragung der Chondrome vom
Knochen nur auf wenige Fälle zu beschränken, und zwar auf solche,
wo die Geschwulst noch sehr klein ist; sie kann jedoch glücklich ab-
laufen; in zwei Fällen, in welchen mir diese Operationsmethode gelang,
Vork-sim.rr .in. fnpiiri xxr.
005
ist kein Recidiv cing-etrctcn. nal)cn die Gescliwlilstc bereits eine bedeu-
tendere Grösse crreidit, so wird man die notliwcndige Exarticulation der
Finger bis auf einen Zeitpunkt versdiicbcn, wo die Hand durcli die Ge-
scliwttlste vollkommen unbrauchbar geworden ist.
4. Ost('lOl»u^ Exostosen,
Man bezeichnet mit diesem Namen abnorm gc1)ildete Knoclienmasse,
welche in umschriebener Form für sich eine Geschwulst darstellt, ihr
eigenes selbstständiges Wachsthnm hat und nicht von einem chronischen
Entzündungsprocess abhängig i-t. Knochenbildung kommt gelegentlich
auch wohl in manchen andern Geschwülsten vor, zumal in solchen, die
im Knochen selbst entstehen, wie wir es bereits beim Chondrom bemerkt
haben. Man beschränkt indess den Namen Osteom gewöhnlich auf Ge-
schwülste, welche vollständig aus Knochengewebe bestehen. Ich will
hier gleich erwähnen, dass nicht allein Neubildung'en von ganzen, wenn
auch höchst unregelmässig; geformten Zähnen, theils in Eierstockcysten,
theils im Antrum Highmori vorkommen, sondern dass auch an den
Zähnen selbst Auswüchse von wirklicher Elfenbeinsubstanz, wahre Elfen-
bein-Exostosen (Odontome von odovg Zahn, Virchow) beobachtet
w^orden sind; es gehört dies jedoch zu den allergrössten Seltenheiten und
hat mehr die Bedeutung eines Curiosums. — Was die auatomisclie Structur
Fis. 133.
Fio-. 13-2.
Otlontom eines Backzahns
Natürliche Grösse.
Schliff aus einem Odontom. Vera-rosserung 100.
nqn Von den Geschwülsten.
der Osteome betrifift, so bestehen dieselben tlieils aus spongiöser, mit
der g-ewölmliclien Art des Knochenmarkes durchsetzter Knochensubstanz,
theils aus elfenbeinartiger, in der Anordnung regelmässiger Lamellen-
systeme der Corticalsubstanz der Röhrenknochen analoger Knochenmasse;
wir wollen danach spongiöse Osteome und Elfeub ein-Osteome
unterscheiden. Eine dritte Art von Osteomen bilden die Sehnen-,
Fa seien- und Muskel verknöcherungen, deren Einreibung unter
die Geschwülste freilich problematisch ist.
a) Die spongiösen Osteome mit knorpligem Ueberzug
(Exostosis cartilaginea). Diese Geschwülste kommen fast ausschliesslich
an den Epiphysen der Röhrenknochen vor; sie sind Auswüchse des Epi-
physenknorpels, weshalb sie von Virchow ganz passend als „Ecchon-
drosis ossificans" bezeichnet sind (Fig. 134). Auf ihrer rundlichen,
höckerigen Oberfläche befindet sich eine etwa 1 — 1 y, Linien dicke Schicht
eines schön ausgebildeten hyalinen Knorpels, welcher offenbar theils in
sich selbst, theils peripherisch aus dem Periost, respective Perichondrium
wächst, dann nach dem Centrum hin rasch verknöchert. Die neugebil-
dete Knochenmasse selbst ist von ihrer Entstehung an auf das Innigste
mit der spongiösen Substanz der Epiphysen verschmolzen, so dass also
die harte Geschwulst dem Knochen unbeweglich aufsitzt. Es liegt in
der Natur dieser Osteome, dass sie nur bei jugendlichen Individuen
vorkommen können. Tibia, Fibula und Humerus sind nach meinen Be-
obachtungen ihr häufigster Sitz.
b) Die Elfenbein-Osteome. Sie bestehen aus compacter
Knochensubstanz mit Haversischen Canälen und Lamellensystemen, ent-
wickeln sich an den Gesichts- und Schädelknochen (s. Fig. 134 u. 136),
am Becken, am Schulterblatt, an der grossen Zehe etc., und bilden rund-
liche, theils kleinhöckrige, theils glatte Geschwülste.
Eine dritte Art von abnormer geschwulstähnlicher Knochenbildung
ist die abnorme Sehnen-, Fascien- und Muskelverknöcherung,
Avelche in der Regel zu gleicher Zeit an einer Reihe von Sehnen und
Fascien nach vorausgehender starker Schrumpfung derselben erfolgt, so
dass das Skelet solcher meist jungen Menschen mit 20 — 50 langen,
spitzen Knochenfortsätzen überall dort versehen ist, wo sich Sehnen an
die Knochen ansetzen (s. Fig. 137); zuweilen tritt die Verknöcherung,
wie in einem Fall, der in Zürich beobachtet wurde, auch primär an den
Fascien der Muskeln auf. Es sind Fälle von einer solchen Ausdehnung
dieser Verknocherung beobachtet worden, dass z. B. die ganzen Schulter-
und Armmuskcln verknöcherten, und jede Bewegung der oberen Extre-
mitäten unmöglich wurde. — Diese Knochenbildungeu, sowie der soge-
nannte Exercirknochen sind wohl als Product eines chronisch ent-
zündlichen Processes zu betrachten, sowie die wahren Knochenbildungen,
welche sich abnormer Weise in den Hirn- und Rückenmarkshäuten aus-
bilden. Unter Exercirknochen versteht man die Entwicklung von Kno-
Fig. 134.
Vorlesung 45. Ciipilrl XXT. 607
Fig. 135.
Gestieltes spongiöses Osteom am unteren
Ende des Femur nach Pean,
Elfenbein-Osteome des Schädels.
Fig. 137.
Fig. 136.
Muskelansatz-Osteome
nach 0. Weber,
Knochenschlift' aus einem EU'enbein-Osteom des Schädels.
ggg Von den Geschwülsten.
chenmasse im M. deltoideiis, und zwar an derjenigen Stelle, wo das
Gewehr beim Exerciren angeschlagen wird. Es bildet sich dieser Knochen
jedoch nur bei wenigen Soldaten aus, und setzt die Entstehung derselben
immer schon eine Disposition zur Knochenbildung voraus. Die aus un-
bekannten Ursachen zuweilen vorkommende Verknöcherung der Sehnen,
besonders der Sehnenansätze an einen Knochen, ist ebenfalls etwas
höchst Merkwürdiges, und erinnert an den gleichen, bei den Vögeln voll-
kommen normalen Process.
Die Disposition zu Osteombildung ist derjenigen zu Chondrombil-
dung verwandt; auch sie kommt vorwiegend bei jugendlichen Individuen,
und zwar häufiger bei Männern als bei Frauen vor, während das kind-
liche Alter fast ganz davon ausgeschlossen ist. Was die Epiphysen-
Osteome betrifft, die man ebenso gut als verknöchernde Chondrome be-
zeichnen könnte, so liegt es hier in der Natur der Sache, dass diese
Geschwülste nur etwa bis zum 24. Jahre entstehen können. Indess auch
die andern Osteome finden sich gewöhnlich noch vor dem 30. Jahre
ein; die Beobachtungen darüber sind allerdings nicht sehr zahlreich,
weil die Krankheit eine seltne ist. Die Erfahrungen über das Vor-
kommen von Osteomen im jugendlichen Alter sind um so merkwürdiger,
als sie in gewissem Contrast zu dem sonst dem höheren Alter angehören-
den Verknöcherungsprocess stehen. Die Rippen- und Kehlkopfsknorpel,
auch die Bänder der Wirbelsäule verknöchern häufig im hohen Alter,
die Kalkablagerungen in den Arterien alter Leute gehören ebenfalls zum
fast naturgemässen senilen Marasmus; dennoch kommen Osteombildungen
bei alten Leuten nur selten zur Entwicklung, und wenn sich bei
denselben dergleichen Geschwülste finden, so sind sie in der Regel in
der Jugend entstanden. — Die Osteome treten ebenso häufig multipel als
solitär auf; ihr Wachsthum ist im Allgemeinen ein sehr langsames und
pflegt mit dem beginnenden Alter zu erlöschen. Die Epiphysenexostosen
hören nach Vollendung des Skelet- Wachsthums auf, und es verdickt
sich die spongiöse Knochensubstanz zu compacterer. Nur in seltenen
Fällen schreitet die Verknöcherung in den Sehnen und Muekeln so weit
vorwärts, dass dadurch die Bewegungen vollständig beeinträchtigt werden.
In einzelnen Fällen hat man auch Knocheneutwickluug in den Lungen
beobachtet. — Die Beschwerden, welche durch die Osteome bedingt
werden, sind in den meisten Fällen nicht sehr erheblich; Sehmerzen sind
nicht mit der Entwicklung dieser Geschwülste verbunden, auch ist die
Berührung derselben nicht empfindlich. Die in der Nähe der Gelenke
sitzenden Osteome beschränken indess häufig die Function. Die an den
Gesichtsknochen vorkommenden Gescliwülste der Art machen unangenehme
Entstellungen; die Exostose der grossen Zehe kann das Anziehen der
Schuhe verhindern; die Verknöcherungen der Sehnen und Muskeln beein-
trächtigen die Bewegung oder heben dieselbe vollständig auf; leider sind
die letzteren wegen ihrer grossen Ausdehnung und Zahl am wenigsten
Vorlesung -15. f'fipil.'I XXI. 690
der operativen Chinivi;'ie /ugäiiglieh , um so weniger, so lange die Dis-
position zur krankhaften Knoclicnbildung- noch fortbesteht. — Was die
Operation der Exostosen betrifft, so besteht dieselbe in der Absäg'ung
oder Abmeisselung- der Geschwülste von den betreffenden Knochen. Da
dieselben jedoch, wie erwähnt, ZAiweilen in der Nälic der Gelenke sitzen,
so kann dabei wohl eine Eröffnung der Gelenkhölde vorkommen: es
ist durchaus nicht nothwendig und rathsam, solche Operationen
vorzunehmen, ausser wenn die Functionsstörung eine so erhebliche wäre,
dass dadurch selbst eine für das Gelenk und das Leben gcfälirliche
Operation aufgewogen wird. Man wird sich um so weniger für eine
derartige Operation ohne besondere Indication entschliessen , als diese
Geschwülste mit der Zeit im Wachsthum stehen bleiben. Auf den
Epiphysenexostosen finden sich zuweilen Schleimbeutel und
darin parietal adhärirende oder gelöste verknöchernde Chondrome;
diese Schleimbeutel communiciren in der Regel mit dem Gelenk, in
dessen Nähe diese Exostose sitzt. Nach Untersuchungen von Rindfleisch
sind diese Schleimbeutel immer abnorm ausgezogene Ausstülpungen der
Gelenksynovialmembran. Ich liess mich einmal auf dringendes Bitten
des Patienten verleiten, eine solche Exostose am unteren Ende des
Femur mit grossem Schleimbeutel zu reseciren und den abnormen Sy-
novialsack zu exstirpiren; Patient starb an Septhämie. In einem andern
Falle hatte sich der Schleimbeutel auf einer Exostose am unteren Ende
des Humerus spontan unter massigen Entzündungserscheinungen eröffnet;
es erfolgte Vereiterung des Ellenbogengelenks mit Ausgang in Anchylose.
Vorlesung 46.
b. Myome. — 6. Neuro nie. — 7. Angiome: a) plexiforme, b) cavernöse. —
Operations verfahren.
5. Myome.
Ob es Myome, welche nur aus quergestreiften Muskelfasern
oder Muskelfaserzellen bestehen, giebt, muss vorläufig dahin gestellt
bleiben, mir ist keine derartige Beobachtung bekannt; das Vorkommen
von neugebildeten quergestreiften Muskelfasern ist eminent selten in Ge-
schwülsten beobachtet worden, niemals bestand eine Geschwulst ganz
daraus; gewöhnlich war es ein zufälliger Befund in Sarkomen oder
Carcinomen (des Hodens, der Eierstöcke, der Mamma) oder in sehr
complicirt zusammengesetzten Geschwülsten. Gesclnvülste, in welchen
sich deutliche Entwicklungsstufen von Muskelfasern finden, habe ich
untersucht, indess hat man die Berechtigung, solche Geschwülste „Myome"
zu heissen, bestritten. Ich darf um so weniger etwas dagegen einwen-
yAQ Von den Geschwülsten.
den, als wir ja auch Geschwülste, welche nur aus Entwicklungsstufen
von Bincleg-ewebe bestehen, nicht Fibrome nennen dürfen, und als ich
früher (pag. 682) meine Bedenken erhoben habe, die aus Spindelzellen
bestehenden Uterusfibrome „Myome" zu taufen, wenn wir unserer Sache
in Betreff der Deutung der Spindelzellen als Muskelfaserzellen nicht
ganz sicher sind. Bei älteren Leuten kommen in der Prostata massen-
haft neugebildete glatte Muskeln vor, welche theils in Form von
einzelnen Knoten, theils als diffuse Vergrösserung des Organs auftreten.
Es hat gewiss kein Bedenken, diese sogenannte Prostatahypertrophie
(gewöhnlich ist etwas Drüsenvergrösserung dabei) als Myom zu bezeich-
nen. Aelmliche Myomkuoten sind in der Tunica muscularis des Oeso-
phagus und Magens beobachtet. Vor Kurzem exstirpirte ich mit Glück
ein gestieltes Myom aus der Harnblasse eines Knaben; es schien von
der Muscularis der Blase zu entspringen. — Klinisch lässt sich über die
Myome unter diesen Verhältnissen durchaus nichts Sicheres sagen; die
Geschwülste, welche ich als jugendliche Myome im Muskel deutete,
waren von markigem Aussehn auf dem Durchschnitt, fasciculär, von untilg-
barer localer Eecidivfähigkeit und führten dadurch zum Tode.
6. Neurome.
Es ist schon erwähnt worden (pag. 685), dass man oft den Namen
„Neurom" für alle Geschwülste braucht, welche an Nerven vorkommen;
dies ist, wenn Sie wollen, ein practischer Missbrauch, der jedoch schwer
auszurotten ist. Unter einem „wahren Neurom" versteht man eine Ge-
schwulst, welche ganz aus Nervenfasern und zwar vorwiegend aus dop-
pelt contourirten Nervenfasern zusammengesetzt ist; solche Bildungen
scheinen nur an Nerven vorzukommen; sie sind äusserst selten. Die,
Neurome an Amputatiousstümpfen sind schon früher (pag. 120) erwähnt;
ob es andere wahre Neurome giebt, wird mehrfach bezweifelt. Die
wahren Neurome sind immer sehr schmerzhaft. — Viele von den Fi-
bromen an und in Nervenstämmen enthalten sehr eigcuthümlich bündel-
artig angeordnete feine, mit Kernen reichlich besetzte Fasern, welche
man sehr wohl für graue marklose Fasern nehmen kann, wie es Vir-
chow thut, welcher demgemäss den ächten Neuromen eine grosse Aus-
dehnung giebt und sie in myelinische und amyelinische Formen theilt.
Ich getraue mich nicht, immer ein amyelinisches Neurom von einem
Fibrom im Nerven zu unterscheiden, und mochte dies daher auch nicht
von Andern verlangen. Bündelartig angeordnete Spindelzellengeschwülste
sind wahrscheinlich weit häufiger junge Myome und Neurome als junge
Fibrome, doch der Beweis für das eine oder andere wird schwer zu
liefern sein. — Multiplicität und Neigung zu regionären Kecidiven ist
den Neuromen sehr eigen, und daher die Prognose immer mit Keserve
Vnrlesiiiis A(l Capitr-l XXT. 701
ZU stellen. — Selten ist es mög-licli, ein Neurom von einem Nerven-
stamm al)zui)r;ii)a,riren; meist muss von letzterem ein Stück mit ent-
fernt werden.
7. Aii^ioiuo. GeCüssgcscIiwülsfe.
Man verstellt darunter Gescliwülste , welche last einzig- und allein
aus Gefässen zusammengesetzt sind, die nur durch eine geringe Meng-e
von Bindegewebe zusammengehalten werden; man hat sie auch wohl
„erectile Geschwülste" genannt, weil sie je nach Füllung der Gefässe
mit Blut bald fester bald schlaffer, bald grösser bald kleiner sind. Die
gewöhnlichen Formen der varicösen Ausdehnungen der Venen und die
Aneurysmen einzelner Artevienstämme sind durch diese Definition aus-
geschlossen. Das Aneurysma cirsoideum könnte indess hierher gerechnet
werden, sowie einige Formen des Varix aneurysmaticus; da dies aber
nicht üblich ist, so haben wir diese beiden Krankheiten ])ereits früher
abgehandelt.
Es sind hier zwei verschiedene Arten von Gefässgescliwülsten zu
betrachten.
a) Die plexiformen Angiome oder Telangiektasien (von
xslog, dyys7ov, sxraaig). Es ist die häufigste Form; diese Neubildung
ist ganz aus erweiterten und mit sehr starker Schlängelung gewucherten
Capillaren und Uebergangsgefässen zusammengesetzt und tritt, je nach-
dem nielir die Wucherung der Gefässe oder die reine Ektasie vorwie-
gend ist, bald mehr als Geschwulst, bald mehr als rother Fleck in der
Haut auf. 'Die plexiformen Angiome der gleich noch näher zu beschrei-
benden Art finden sich fast ausschliesslich in der Cutis. Sie haben bald
ein dunkel kirschrothes, bald ein stahlbläuliches Ansehen, sind bald von
der Ausdehnung eines Stecknadelknopfes, bald eines Handtellers, die
einen massig dick, die andern kaum eine leichte Erhebung der Cutis-
oberfläche zeigend. Selten sind die Formen, in welchen man es nicht
mit einem gleichmässig rothen Fleck oder einer Geschwulst zu thun hat,
sondern mit einer über einen grösseren Oberflächentheil des Körpers
diffusen Röthe, in welcher man schon mit'*freiem Auge die ausgedehnten
und geschlängelten feinen Gefässe an der Oberfläche der Cutis durch
die Epidermis hindurchschimmern sieht.
Die anatomische Untei-suchung der exstirpirten massigen Angiome dieser Art ergiebt,
dass sie aus kleinen, hanfkorn- bis erbsengrossen Läppchen zusammengesetzt sind, und
wenn man nach vorausgegangener künstlicher Injection oder mit andern Präparations-
methoden die mikroskopisciie Untersuchung macht, wird man finden, dass diese
lappige Form dadurch entsteht, dass die in der Cutis so eigenthümlich abgegrenzten Ge-
fässgebiete der Schweissdrüsen , Haarbälge, Fettdrüsen und Fettläppchen alle für sich er-
krankt sind, und dass die einzelnen kleinen wuchernden Gefässsysteme die schon erwähnten,
mit freiem Auge sichtbaren Läppchen bilden. Die bald ganz blutrothe, bald blassbläuliche
702
Von den Geschwülsten.
Farbe dieser Geschwülste
ist davon abhängig, dass
im ersteren Fall die Ca-
pillaren der oberflächlich-
sten Cutisschicht. im zweiten
die tiefer liegenden Gefässe
erkrankt sind. In der Regel
schreitet diese Gefässwuche-
rung nicht über das Unter-
hautzellgewebe fort, nur in
seltenen Fällen dringt die-
selbe in tiefer liegende Ge-
webe , z. B. in Muskeln,
ein, woraus hervorgeht, dass
diese Neubildungen nicht
allein central, sondern vor-
wiegend peripherisch wu-
chern und den befallenen
Theil destruiren. —
Die meisten die-
ser Geschwülste las-
Gefässconglomerate aus einem plexiformen Angiom. Ver- seil sich durch Druck,
grösserung 60. a Wucherndes Gefässknäuel um eine Schweiss- wpniio'leiph lano-«nm
drüse (die nicht mitgezeichnet ist, um die Zeichnung nicht '=' * ?
zu sehr zu compliciren). b Wuchernde Gefässknäuel in den entleeren, Uin sich SO-
Papiiien der Mundschleimhaut. fort nach Aufhörendes
Druckes wieder zu füllen. Indessen g-iebt es auch massige Telangiek-
tasien, in denen sich neben der Gefässwucherung auch Binde- und
Fettgewebe neubildet, so dass dieselben also nicht ganz auszudrücken
sind. Wenn diese Neubildungen oberflächlich in der Cutis lagen, uud
sich das Blut aus ihnen nach der Exstirpatiou entleert hat, so sieht man
mit freiem Auge an dem exstirpirten kranken Hautstück fast nichts
Abnormes; eine massige Neubildung dieser Art zeigt sich auf der
Durchschnittsfläche als eine blassröthliche, weiche, kleinlappige Substanz,
an der man aber mit freiem Auge keine Gefässe wahrnimmt, weil über-
haupt der ganze Erkrankungsprocess sich nur auf die Capillaren und
die Uebergangsgefässe, sowie auf einzelne kleine Arterienstämmchen zu
erstrecken pflegt.
b) Die cavernösen Angiome oder cavernösen Venenge-
schwülste. Wir wollen zunächst ihre anatomische Beschaffenheit fest-
stellen, damit Sie den Unterschied von den plexiformen Angiomen gleich
richtig erfassen. Das exstirpirte cavernöse Angiom ist schon dem freien
Auge auf dem Durchschnitt dadurch kenntlich, dass es fast genau das
Bild des Corpus cavernosum penis darbietet. Man sieht ein weisses,
fest zähes Maschenwerk, welches leer erscheint oder wenigstens nur
stellenweise mit einzelnen rothen oder entfärbten Gerinnseln, vielleicht
auch mit kleinen, runden, kalkigen Concrementen , sogenannten Veuen-
steiueu, gefüllt ist; das Mascheng-ewebe hat mau sich aber vor der
Vorlesung 40. Capitel XXT.
703
Exstirpation als mit Blut strotzend g'cfüllt zu (lenken. Die Begrenzung
dieses cavernösen Gewebes, welclies sich in allen Geweben des Körpers
ausbilden kann, ist in manchen Fällen durch eine Art Kapsel eine voll-
kommen deutliche; in anderen Fällen dagegen ist diese cavernöse De-
generation nur sehr unvollkommen ])egrenzt und geht in wenig bestimm-
ter Weise bald hier, bald dort in die Gewebe über.
Die mikroskopische Untersuchung dieses Maschenwerks, welches bald iiiir
aus dünnen Fäden, bald aus membranartigen Kapseln gebildet ist, zeigt, dass die Balken
selbst aus Resten desjenigen Gewebes bestehen, in welchem die cavernöse Ektasie Platz
griff. Die Innenwand der mit Blut gefüllten Räume ist in den meisten Fällen mit einer
Lage von platten zusammenhängenden Endothel - Zellen belegt, die an den Rändern der
Balken spindelförmig hervortreten, so dass auch schon diese anatomischen Verhältnisse
dafür sprechen, dass man es vorzüglich mit ausgedehnten Venen zu thun hat. Die Art
und Weise, wie dieses eigenthümliche Gewebe zu Stande kommt, hat man sich verschieden
Fig. 139.
Balkennetz aus einem cavernösen Angiom der Lippe (das Blut ist in den grossen Maschen
zwischen den Balken zu denken). Vergrösserung 350.
erklärt. Wenn wir über die Entwicklung des Corpus cavernosum penis genaue Unter-
suchungen besässen, so würde man daraus bei der grossen Analogie beider Gewebe be-
stimmte Schlüsse ziehen können. Die drei hauptsächlichsten Hypothesen, welche über die
Entwicklung der cavernösen Geschwülste vorliegen, sind folgende: 1) Man nimmt an,
dass sich zuerst die cavernösen Räume aus dem Bindegewebe entwickeln und dann secundär
mit den Gefässen in Verbindung treten, wobei man sogar daran gedacht hat, dass in
diesen cavernösen Räumen aus den Derivaten der Bindegewebszellen Blut ausserhalb des
Kreislaufes neugebildet werden könnte; die Balken des Maschengewebes würden sich
durch selbstständiges Wachsthum, durch sprossen- und kolbenartiges Auswachsen des
Bindegewebes vermehren (Rokitansky). Die Hypothese der Bildung von Blut ausser-
halb des Ki-eislaufes hat Manches gegen sich, wenngleich die neueren Untersuchungen
von A. V. Win i warter über die cavernösen Lymphangiome die Annahme unterstützen,
dass sich in der unmittelbaren Nähe der Gefässe , vielleicht selbst in ihren Wandungen
Zellenhaufen ansammeln, die in der Mitte erweichen und secundär mit dem Innern der
Gefässe in Verbindung treten, wie wir ähnliche Vorgänge später an den villösen Sarkomen
704
Von den Gescli-wülsten.
kennen lernen -werden. 2) Man nimmt an, es entstehen dicht neben einander umschriebene
Erweiterungen kleiner venöser Gefässe, deren allmählig verdünnte oder selbst ganz ver-
schwindende Wandungen an den Stellen, wo dieselben an einander stossen, resorbirt
werden. Für diese Annahme spricht die Beobachtung, dass man solche allmähligen Aus-
dehnuno-en der Venen, sowohl an der Cutis wie am Knochen, bei der Entwicklung dieser
Geschwülste zuweilen sehr deutlich verfolgen kann. 3) Rindfleisch hebt besonders hervor,
dass der Gefässektasie , zumal bei den cavernösen Tumoren, welche sich im Orbitalfett^
bilden, immer kleinzellige Infiltration des Gewebes vorangeht, und dass dieser dann eine
Art narbiger Schrumpfung des Gewebes und so Auseinanderzerrung der Gefässe folge,
deren Lumina bei fortgesetzter Schrumpfung des Zwischengewebes auf diese Weise immer
weiter werden müssten.
Dass sowohl beim plexiformen als beim cavernösen Angiom ein Process waltet,
welcher dem entzündlichen ähnlich ist, habe ich aus manchen Gründen erwartet, doch
weder die letzte (für die cavernösen Tumoren im Knochen kaum verw^endbare), noch die
ersten beiden Hypothesen scheinen mir für die Erklärung der Ursachen und der eigen-
thümlichen Verschiedenheiten in den Gefässausdehnungen vollständig zu genügen. —
Ein Unterscliied ist noch hervorzuheben, den die cavernösen Tu-
moren unter sich darbieten: dieselben hängen nämlich entweder den
grösseren Venenstämmen, z. B. den subcutanen Venen sackartig an,
oder es senkt sich eine grössere Anzahl sehr kleiner Arterien und Venen
in die Kapsel des cavernösen Gewebes ein. Endlich ist noch zu erwähnen,
dass diese cavernöse Venenektasie auch in anderen Geschwülsten, z. B.
in Fibromen und Lipomen accidentell vorkommen kann, wie schon früher
erwähnt wurde. Ich exstirpirte vor einigen Jahren ein lappiges Lipom,
welches unter der Scapula eines kräftigen jungen Mannes entstanden
war, und dessen Lappen alle im Centrum zu cavernösem Gewebe dege-
nerirt waren. — Die cavernösen Angiome entwickeln sich besonders
häufig im Unterhautzellgewebe, seltner in der Cutis und in den Muskeln,
sehr selten in den Knochen, ziemlich häufig dagegen in der Leber, be-
sonders an ihrer Oberfläche, zuweilen auch in der Milz und in den
Nieren. Sie sind in einigen Fällen sehr schmerzhaft, in anderen voll-
kommen schmerzlos.
Die Diagnose der cavernöseu Angiome ist nicht immer leicht;
wenn dieselben in der Cutis vorkommen, so ist immer noch eine Ver-
wechslung mit tiefer liegenden Telangiektasien möglich, wenngleich sich
das Blut aus den cavernösen Venengeschw^ttlsten leichter ausdrücken
lässt, als aus den Telangiektasien, Die tief liegenden Geschwülste dieser
Art sind immer schwierig mit Sicherheit zu erkennen ; sie bieten ge-
wöhnlich deutliche Fluctuation dar, sind etwas zusammendrüekbar,
schwellen bei anhaltender Exspiration; die beiden letztgenannten Symp-
tome sind jedoch nicht immer sehr deutlich und eine Verwechslung mit
Lipomen, Cysten und anderen w^eichen Geschwülsten ist daher leicht
möglich, manchmal nicht zu umgehen.
Von den Angiomen ist wohl die Hälfte angeboren oder sehr bald
nach der Geburt entstanden. Wenn sie sich im Laufe des Lebens ent-
wickeln, so geschieht dies in der Regel im kindlichen oder jugendlichen
Voi-icsiiiii!,- ir,. ('Mpiici XXI. 70.')
Alter; es g'eliört /u den Selteiiliciteii, das,« im Mannes- und CJ reisenalter
(lerässg'eseliwiils(e entstehen, was insolern liöehst auffallend ist, als
ii'erade mit dem ludiei-en Mannesalter die Dispositidn zu riefilsscrkran-
kuug'en, l)esonders zu Aneurvsmeu bedeutend zuninnnt. Aueli zeigen
die kleinen Ueberg'anii'Sü'efässe und (';)j)illaren an gewissen Localitätcn
deutlieli dureli die Haut sielitbare Ki-Aveiterungen: in dem Angesicht
eines rüstigen, gesunden (greises benu'i-kt ni.'ui gerötliete Wangen wie
bei der Jugend, jedoch ist es nicht die gleiehmässig rosige Köthe wie
auf der Wange eines jungen Mädchens, sondern es ist eine mehr bläu-
liche Röthung, und wenn Sie genauer zuschauen, werden Sie linden,
dass sich auf der Wange solcher älteren Leute eine Menge stark ge-
schlängelter, dem freien Auge sichtbarer Gefässe 1)etinden; bei manchen
tritt diese Röthung fleckenweise auf. Indessen finden sieb diese klei-
neren Gefässektasien auch nicld bei allen älteren Leuten, so dass man
annehmen muss, dass auch dazu besondere Disposition besteht. Trotz-
dem also, wie gesagt, das höhere Mannesalter an sich mehr zu Gefäss-
erkrankungen disponirt ist als jede andere Lebenszeit, so kommen doch
die eigentlichen Gefässgesehwiilste fast ausschliesslich in der Jugend
zur Entwicklung. Dass zumal die Telangiektasien, welche im Volke
vielfach mit dem Namen „Muttermal" bezeichnet werden, erblieh sind,
unterliegt keinem Zweifel. Eine Anzahl von Sagen und Mährchen,
in denen verloren gegangene Kinder an einem von der Mutter oder
dem Vater ererbten ^lal später wieder erkannt werden, deutet auch
darauf hin. Man würde unzweifelhaft noch weit mehr über die
Erblichkeit der Gefässgeschwülste erfahren, wenn man die Erblichkeit
der Gefässerkrankungen im Ganzen und Grossen berücksichtigen wollte.
Wenn auch plexiforme und cavernöse Angiome als anatomisch verschie-
den betrachtet werden müssen, und diese wieder von den verschiedenen
Arten der Varicen und Aneurysmen verschieden sind, so ist doch klar,
dass allen diesen Erkrankungen die Disposition zur Gefässerweiterung
zu Grunde liegt; diese seheint mir in ziemlich hohem Grade erblich zu
sein, und die genannten Krankheiten dürften nur als verschiedene Er-
scheinungsformen einer solchen Disposition in den verschiedenen Lebens-
altern aufzufassen sein. Man hat sich bis jetzt so exclusiv mit den
anatomischen Verhältnissen der Geschwülste beschäftigt, dass man die
damit zusammenhängenden Krankheitsgruppen als Ganzes leider noch
zu wenig kennt.
Was das weitere Geschick der Angiome betrifft, so treten die Te-
langiektasien, die fast inmier angeboren sind, sowohl solitär wie
multipel auf. Ihr Wachsthum ist stets ein langsames, schmerzloses und
geschieht theils vorwiegend der Fläche, theils vorwiegend der Tiefe
nach, gewöhnlich auf Kosten des erkrankten Gewebes. Es ist unzwei-
felhaft, dass diese Geschwülste zuweilen nach Verlauf von Jahren in
ihrem Wachsthum stillstehen, jedoch dabei sich unverändert erhalten.
P.illrotli ohir. Path. n. Ther. 7. Aufl. 45
'7Aß Von den Geschwülsten^
In anderen Fällen g'escliielit jedocli das Wachstlium fortdauernd, so dass
die Geschwülste, wie ich es einmal bei einem 5jährigen Knaben am
Halse sah, fast die Grösse einer Mannesfaust erreichen können. Es ist
häufio- dass zwei bis drei Telangiektasien besonders auf der behaarten
Kopfhaut angeboren werden oder rasch nach einander entstehen, seltener,
dass ihre Zahl G— 8 übersteigt. Ich habe zwei Fälle von flachen, ange-
borneu plexiformen Angiomen der linken Gesichtshälfte gesehen, welche
an manchen Stellen theils in Folge von Ulcerationen, theils aus unbe-
kannten Gründen ausheilten, d. h. es traten narbige weisse Stellen hier
und da auf, in welclien die Gefässe obliterirt waren, während freilich
in der Peripherie die Wucherung kräftig fortschritt. — Die cavernösen
Angiome sind selten angeboren, sondern entstehen meist im Kindes-
und im jugendlichen Alter, seltener im späteren Leben. Ihr Sitz ist,
wie schon früher bemerkt, vorwiegend im Unterhautzellgewebe, häufiger
im Gesicht, seltener am Truncus und an den Extremitäten. Auch sie
kommen häufig in grösseren Mengen vor, jedoch so, dass in der Eegel
ein bestimmter Gefässdistrict als der erkrankte anzusehen ist, so dass
also ein ganzer Arm, Fuss, Unterschenkel, das ganze oder halbe Gesicht
der Sitz solcher Geschwülste ist. Die Erscheinungen, welche dadurch
bedingt werden, sind ausser der Entstellung eine gewisse Schwäche der
Äluskeln und zuweilen auch Schmerzhaftigkeit im Bereich der erkrankten
Theile. Die Geschwülste können eine sehr bedeutende Grösse erreichen
und dadurch zumal am Kopf gefährlich werden, um so mehr, als sie
beim weiteren Vordringen auch in die Knochen eintreten und dieselben
zerstören. Aus einigen mir bekannten Beobachtungen geht hervor, dass
in diesen Geschwülsten in Folge von Thrombose der cavernösen Räume
Schrumpfung und Rückbildungen erfolgen können (besonders in den
cavernösen Geschwülsten der Leber; ein vollständiges Verschwinden der
Angiome durcli spontane Obliteration ist jedoch nicht beobachtet wor-
den. — Die Therapie, welche man gegen Gefässgeschwülste anwendet,
ist eine sehr vielfache. Kleine angeborne Gefässausdehnungen können
im Verlauf einiger Monate spontan schwinden. Die Operationen gehen
von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus.
1. Methoden, welche die Blutgerinnung mit nachfolgen-
der Obliteration und Schrumpfung der Geschwülste zum Ziel
haben. Hierher sind zu rechnen die lujection von Liquor Ferri sesqui-
ehlorati in die Geschwülste oder das Durchziehen von Fäden die in Liq.
Ferri getaucht sind; ferner das Durchstossen derselben mit glühenden
Nadeln oder dem Galvanokauter und das Durchziehen eines Platindrahtes,
welcher nachträglich durch den galvanokaustischen Apparat glühend ge-
macht wird (galvanokaustisches Setaceum). —
2. Methoden, w^elehe die Entfernung der Angiome be-
zwecken:
a) Durch Unterbindung, die bei den breit aufsitzenden Telangiek-
V(.rl<-simf^ -H;. ('iipilcl XXI. 707
tasieii eine doppelte und nielirfaclie sein nins«. Man sticlit dabei eine
Nadel mit d()p[)elteni Faden unter die (Jescliwulst liindurcli und knii])ft
nun den einen Faden nacli der einen, den andern Faden nach der an-
dern Seite um die IJasis der Geschwulst zu,
1)) Dureli Einimpfun,^' von Poeken auf die Geschwulst, wohel mit
der Ausstossung- der Fockenpusteln das erkrankte Gewebe eliminirt wird.
e) Durch die Cauterisation; hierzu bedient man sieh am l)esten der
rauchenden Salpetersäure, indem man dieselbe mit einem quer abge-
schnittenen Stäbchen von der Dicke eines Stahlfederstieles so lang-e auf
das Ang'iom auftupft, bis letzteres eine gelbgrüne Farbe angenommen
. hat. Auch mit concentrirter Schwefelsäure kann man die gleichen Er-
folge erreichen.
d) Durch die Exstirpation mit Messer oder Scheere.
Bei einiger operativer Erfahrung ist die Wahl dieser Methoden für
die einzelnen Fälle nicht schwierig. Für die oberflächlichen Angiome,
wenn sie nicht eine gar zu grosse Ausdehnung haben und nicht an
Stellen gelegen sind, wo durcli die nachträgliche Narbenzusammenziehung
eine erhebliche Entstellung entsteht, wie an manchen Stellen im Gesicht,
betrachte ich die Cauterisation mit rauchender Salpetersäure als die
Normalmethode. Für die massiven plexiformen und die cavernösen
Angiome ist die Exstirpation mit Messer und Scheere die sicherste Ope-
ration. Vor allzu starken Blutungen bei einer solchen Operation sichert
theils die Compression der ganzen Umgebung durch geschickte Assisten--
tenhände und die schnell angelegte Naht, theils kann man sich durch
mehrfache Umstechung der ganzen Peripherie der Geschwulst vor allzu
starker Blutung schützen. Ausserdem ist auch für Angiome im Gesicht
in vielen Fällen die Exstirpation der Cauterisation vorzuziehen, weil
man dabei die Schnitte so anlegen kann, dass in Folge der Narben-
zusannnenziehung keine Verziehung der Augenlider und Mundwinkel
entsteht. Es giebt iudess Fälle, in welchen die Exstirpation durchaus
unausführbar ist, theils wegen der Grösse, theils wegen des Sitzes oder
der sehr grossen Anzahl solcher Geschwülste. Ich behandelte ein Kind
mit einer noch wachsenden cavernösen Geschwulst, welche sich von
der Glabella herab durch die ganze Nase hindurch und noch durch die
Oberlippe in ihrer ganzen Dicke zog. Hätte man da die Exstirpation
machen wollen, so hätte dieselbe nur in der Entfernung der ganzen
Nase und Oberlippe bestehen können; hieran war natürlich nicht zu
denken, und ich habe daher in diesem Falle eine Cauterisation mittelst
glühender Nadeln eingeleitet. Die Behandlung hatte bereits 3 Monate
gedauert und würde wohl noch ebenso lange Zeit in Anspruch genom-
men haben, obgleich ein grosser Theil der cavernösen Bäume bereits
obliterirt war, die Mutter des Kindes verlor dann leider die Geduld,
und ich habe dasselbe später nicht wieder gesehen. Ausserordentlich
günstige Erfolge habe ich im Laufe der letzten Jahre bei diesen diffusen
4;") -■'
nr)Q Von den Gosrliwülsten.
Ano-iomen von tiefen Punctionen mit dem Galvanokauter und
von dem Setaeeum candens gehabt; es erfolgt ausser partieller Zer-
störung der Neubildung zweifellos aucli Selirumpfung; schliesslicli kann
aucli noch mit kleinen Excisionen hie und da nachgeholfen werden. —
Ich ziehe diese Art der Cauterisation der Injection von Liquor Ferri vor,
weil nach der letzteren doch Fälle von ausgedehnter Vereiterung und
Gangrän vorgekommen sind, und weil die Injection mir zuweilen grosse
Schwierigkeiten dadurch bot, dass die feine Canüle sich durch Gerinnsel
verstopfte. Ueber das Durchziehen von Fäden, die mit Liq. Ferri getränkt
sind (Koser), habe ich noch wenig Erfahrung sammeln können. Wäh-
rend einige Chirurgen enorm heftige Reactionen danach sahen, erregten
dieselben in den Fällen, in welchen ich die Fäden bis 14 Tage liegen
liess, nur geringe Entzündung; es trat dann sehr langsam Schrumpfung
ein; ich bin noch nicht sicher, ob diese Behandlung vor Eecidiven schützt.
Die übrigen erwähnten Methoden sind durchaus von secundärer Bedeu-
tung: die Pockenimpfung dringt sehr häufig nicht tief genug ein, und
die Ligatur ist ein langweiliges, nicht immer sicheres, auch keineswegs
vor Nachblutungen sicherstellendes Verfahren,
Anhangsweise erwähne ich hier noch
L Die cavernöse Lymphgeschwulst (Lymphangioma caver-
uosum), eine sehr seltene Form von Neubildung, welclie anatomisch ganz
ebenso eonstruirt ist, wie die cavernöse Blutgeschwulst, jedoch mit dem
T'nterschiede, dass sich anstatt des Blutes Lymphe in den i\Lnschen be-
findet. Diese Art von Geschwülsten kommt angeboren in der Zunge als
eine Form der Makroglossia (es giebt noch eine fibröse Form) und am
Halse als sogenanntes Cystenhygrom vor; ich beobachtete beides zusam-
men an einem Kinde. Ausserdem sah ich diese Gc scliwulstform auch bei
jüngeren Individuen an verschiedenen andern Stellen des Unterhautzell-
gewebes (Lippe, Wange, Kinu\ Dass die Varicen der Lymphgefässe
am Oberschenkel oft in Form cavernöser Lymphangiome übergehen, ist
schon früher (pag. 642) erwähnt, ebenso die neueren Fntersuchungen
A. V. Winiwarter's über die Entstehung der cavernösen Lymphan-
giome (pag. 703).
2. Den Naevus vasculosus, das sogenannte Feuermal; es ist
dies ein plexiformes Angiom der oberflächlichsten Cutisgefässe, das je-
doch vom Moment der Geburt an in seinem Wachsthura stillsteht. Ein
weiterer Unterschied zwischen dem Feuermal und dem wachsenden An-
giom existirt nicht. Dass sich in diesen angebornen Malern Haut-
hypertrophie, Pigmentirung, Gefässektasie und Haarbildung sehr mannig-
faltig mit einander combiniren können, habe ich schon früher erwähnt.
Wenn diese Maler im Gesicht sitzen und nicht gar zu aus^-edehnt sind
Vorlesung 47. r;i|,i(ol XXT. 709
(sie erstreckeil sich iiätiilicli zuweilen über die i;anze Hälfte des Ge^ielits),
so kauu man die totale oder partielle Exstirpation mit naclifol,i;ei)dor
plastischer Operation, je nach Umständen aucli die Cautorisation in An-
wendung zielten; manche dieser Maler, l)ci doion ii;'cwöhnlich nur die
Papillenspitzen betrofl'en sind, lassen sich durch ein ,i:,auz (ihcrdächliciies
Abschälen der Cutis bedeutend bessern, eventuell bcseitig'en.
V o r 1 e s II II g 4 7.
8. Sarkome. Anatomisches, a) CTraiiulationssarkom. b) Spiridelzellensarkom. c) Eiesen-
'zellensarkom. d) NetzzeJlensarkum. e) Alveolares Sarkom, f) Pigmentivte Sarkome,
g) Villöses Sarkom. Pei'lgeschwulst. fsamniom. h) Plexiformes (cancroides, adenoides) Sar-
kom. Cvlindrom. — Klinische Erscheinungsform. Diagnose. Verlauf. Prognose. Art der
Infection. — Topographie der Sarkome: Centrale Osteosarkome. Periostsarkome. Sar-
liome der Mamma, der Speicheldrüsen. 9. Lymphome. Anatomisches.
Beziehungen zur Leukämie. Behandlung.
8. SarkoMif.
Ueber keine Gruppe von Geschwülsten hat so lauge und so viel Un-
sicherheit in der anatomisclien Bestimmung und Begrenzung geherrscht,
wie über diejenige der Sarkome. Die ziemlich alte Bezeichnung, von
öocQ^ das Fleisch hergenommen, sollte wohl nichts Anderes bedeuten,
als dass diese Geschwülste auf dem Durchschnitt ein fleischähnliches
Ansehn haben ; hiernach Hess sich natürlich keine Diagnose machen,
denn es Avar schon sehr willkürlich, was man Fleisch nennen wollte.
Der Versuch, den Namen „Sarkom" nur für Geschwülste zu verwenden,
welche aus Muskelfasern bestanden (Schuh), ilm also mit dem zu iden-
tiliciren, was man jetzt „Myom" nennt, fand wenig Beifall. In der Folge
wurde der anatomische Begriff „Sarkom" insofern etwas bestimmter, als
man alle zellenreichen Geschwülste dahin zählte, die keinen ausgepräg-
ten alveolären Bau hatten und keine Carcinome waren. Erst im letzten
Decennium hat folgende histologische Definition allgemeineren Anklang
und zum Theil bereits sehr bestinunte Anwendung gefunden; ein Sar-
kom ist eine Geschwulst, welche ans einem Gewebe besteht,
das in die Entwicklungsreihe der Bindesubstanzeu (Bindege-
webe, Knorpel, Knochen), Muskeln und Nerven gehört, wobei es
in der Regel gar nicht oder nur theilweis zur Ausbildung
eines fertigen Gewebes, wohl aber zu eigenthümlichen Dege-
nerationen der Entwicklungs formen kommt. Aus dieser Defini-
tion werden manche Pathologen „Muskeln und Nerven" gern gestrichen
sehen, doch werde ich bei Besprechung des Spindelzellensarkoms die
Gründe anführen, aus welchen ich dies nicht billigen kann. Wenn man
710
Von eleu Gescliwülsten.
die entziliidliclie Neubildung- in ihren verscliiedenen Stadien als Para-
dio-ma der Sarkome bezeichnen will (Rindfleisch), so kann ich mich
auch damit einverstanden erklären, weil sieb diese Auffassung- mit mei-
ner Definition ziemlich deckt. Dass auch die zelligen Elemente der Ge-
fässe zuweilen als Matrix für Sarkombildungen dienen, ist zweifellos
und durch Untersuchungen von Köster, Tillmann, Arndt, u. A, in
neuerer Zeit besonders hervorgehoben; es scheint mir jedoch verfrüht,
die Behauptung- aufzustellen, dass alle Sarkome einen solchen Ursprung
haben. In einigen Sarkomen hat man coutractile Zellen gefunden
(Lücke, Grawitz), doch sind die meisten Untersuchungen der Art
negativ ausgefallen, so dass diese Beobachtungen noch nicht weiter zu
verwerthen sind.
Nachdem diese anatomisclie Basis für die Bezeichnung- „Sarkom".,
gefunden war, zeigte sich bald, dass auch mit freiem Auge Sarkome
diaguosticirbar sind, und dass sich auch klinisch Einiges über den eigen-
thümlichen Verlauf dieser Geschwülste sagen lässt. Da ich der Ansicht
bin, dass bis jetzt für die Diagnose der Sarkome am Lebenden die nach
histologischen Eigenschaften aufzustellenden Unterabtlieilungen dieser
Gruppe weniger Bedeutung haben, und die Diagnose, Prognose und der
Verlauf dieser Geschwülste so sehr von dem Ort ihrer Entstehung, der
Schnelligkeit des Wachsthums etc. abliängen, so ziehe ich vor, die kli-
nischen Bemerkungen über die Sarkome später zusammenzufassen und
hier zunächst nur das Histologische weiter zu entwickeln. Wir wollen
folgende Formen von Sarkomen unterscheiden.
a) Graimlationssark Olli. Rundzelleiisarkom Virchow's: Dies Gewebe ist
dem der oberen Schicht der Granulationen gleich oder sehr ähnlich: es enthält immer vor-
wiegend kleine runde Zellen wie Lymphkörperchen, doch ist die Intercellularsuhstauz
bald in kaum walunehmbarer Menge, bald reiohlicli vorhanden und kann völlig homogen
sein, wie in der ;Neuroglia (Virchow's Gliom und Glio -Sarkom), oder sie ist leicht
streifig (Fig. 140) oder selbst fasrig , dabei auch wohl ödematös sulzig (z.B. in grossen
Fig. 140.
Gewebe eines Granulationssarkoms. Vergrösserung 400.
Mammasarkomen); endlich kann sie auch netzförmig sein und so in nahe Beziehung zum
Gewebe der Lymphome treten (Fig. 141).
V(M-Icsim.' 1:7. Capilcl XXI.
711
Gewebe eines Glio-Sarkoms nach Virehow. Vei'gi'össerung 350.
b) Spindelzellensarkom: Dicht aneinander gelagerte, meist dünne langgestreckte
Spindelzellen, sogenannte Faserzellen, gewöhnlich in Bündel angeordnet, bilden dies Ge-
webe. Meist fehlt jede Intercellnlarsubstanz: zuweilen ist etwas davon vorhanden, sie
kann homogen vi?eich, auch fasrig sein: überwiegt die Fasermasse, so tauft man die Ge-
schwulst Fibro - Sarkom oder Fibrom. Man hat dies Spindelzellengewebe früher immer
ohne Weiteres als junges Bindegewebe bezeichnet (Tissu libroplastique Lebert): doch
habe ich nacli meinen histogenetischen Untersuchungen an Embryonen schon seit langer
Zeit gegen diese Auffassung protestirt. weil ein solches Spindelzellengewebe, wie wir es
meist in diesen Sarkomen finden, zu keiner Zeit im embryonalen Bindegewebe vorkonunt,
auch nicht einmal in den Sehnen; das physiologische Paradigma für dies Gewebe ist das
junge Muskel- und Nervengewebe; diese Spindel-
zelleiisarkouie wären demnächst junge Myome oder
Neurome. Virehow hat die gleiche Anschauung
weiter clurchgefiihrt, zumal so weit es die faserigem
L'terusgeschwülste betrifft (pag. 682). Ich habe
mich gegen jene Virchow'sche Auffassung und
Gonsequenzen ausgesprochen, weil die Diagnose
im speciellen Fall immerhin sehr precär ist. Wenn
in einem Nerven eine Geschwulst entsteht, welche
aus langgestreckten Spindelzellen besteht, deren
Enden in feine Fasern auslaufen, so liegt es sehr
nahe, eine solche Gesehwulst als ein Neurom auf-
zufassen, dessen Elemente an keiner Stelle zur
vollen Entwicklung gekommen sind. Wenn eine
Spindelzellengeschwulst im Muskel entstanden ist,
und die Faserzellen zeigen vielfach deutlich band-
artige Formen, selbst feine Körnung wie beim Be-
ginn der Querstreifung, so wird man es nicht tadeln
können, diese Geschwulst „Myom"' zu benennen
in der Annahme, dass man hier ein junges, nicht
über gewisse Grenzen der Entwicklung hinaus-
gekommenes Muskelgewebe vor sich hat. So weit
Gewebe eines Spindelzellensarkoms
712
Von den Gesclnviilsten.
hat diese Auffassung gar keine Bedenken. Wenn aber in der Cutis oder am Penis (wie
ich ■ kürzlich einen merkwürdigen Fall der Art sah) ein Spindelzellensarkom vorkommt,
so kann man sehr zweifelhaft werden, ob man ein junges Neurom, Myom oder Fibrom
vor sieh hat; Nerven. Muskeln und Bindegewebe finden sieh ixi Cutis und Penis. Wenn
dann weder die Anordnung noch die Gestalt der Zellen etwas Typisches hat, wenn die
histologische Entstellungsart nicht sicher ermittelt wei'den kann, — dann muss man eben
bei der Bezeichnung .. Spindelzellensarkom" bleiben. — Fnv alle Fälle hat man es mit
einem Fasergewebe zu tliun, dessen Entwicklung nicht über die Producte von .Spindel
Zellen hinausgekommen ist. Ich glaulie übrigens ans meinen Beobachtungen versicherl
zu können, dass die Verlaufsweise und Prognose dieser Geschwülste kaum von der Er-
mittlung ihres directen Ursprungs abhängig ist, sondern weit mehr von ihrer Localisirung
am Körper, der Schnelligkeit ihres Wachsthums, ihrer Consistenz und andern klinischen
Verhältnissen.
c) Riese II zel 1 ensarkom nennt man nach Virchow eine Art von Sarkom, in
welchem sich ganz eolossale Zellen vorfinden, welche tbeils rund, theils vielgestaltig und
mit vielen Ausläufern versehen sind (Fig. 14o). Diese Zellen, welche normaler Weise im
1
Fig. 143.
Riesenzellen aus einem Unterkiefersarkom. Vergrösserung 400.
fötalen Knochenmark vorkommen, wenn auch nicht ganz so gross wie in Geschwülsten,
haben wegen ihrer Grösse höchstes Erstaunen erregt; es sind die grössten ungeformten
Profoplasmahaufen, welche bis jetzt am Menschen beobachtet sind; sie können bis oO und
mehr Kerne enthalten, und ihre Entstehung aus einer einfachen Zelle ist durch eine Reihe
von Uebergangsstufen meist leicht zu verfolgen. Diese Rieseuzellen kommen sowohl in
iSpindelzellen als in Fibro -Sarkomen vor, werden sporadisch und kleiner auch wohl in
Granulationssarkomen und Myxosarkomen gefunden. Am häuligsten sind sie in den cen-
tralen, seltner schon in den periostalen Osteosarkomen beobachtet, doch habe ich sie auch
in Muskelsarkomen gesehen. Sie geben durch ihre Grosse dem Gewebe zuweilen eine
Art alveolarer (P"ig. 144) Structur. und können durch Erweichung zu Cystenbildungen (a)
fuhren, auch verknöchern (b). Durch die Untersuchungen von Külliker und Wegner
ist es inzwischen bestätigt worden, dass diese Riesenzellen bei der Resorption von
Knochengeweben besonders häufig vorkommen (pag. 497). Auch ist schon hervorgehoben
(pag. 457), dass sie oft den Kern eines kleinsten Tuberkels bilden. Sie kommen also
nicht allem an diesen Geschwülsten vor. wie von Einigen irrig aufgeführt wurde, sind aber
inimerhm hier so massenhaft angesammelt und so mächtig entwickelt, dass es vollkommen
bereclitigt erscheint, eine Unterart der Sarkome nach ihnen zu benennen.
Vuvk'LiUiig -17. Capitel XXL
Fi-. 144.
713
Eiesenzellensarkom mit Cvsteii und Verknöcherungsheerdon aus dem Unterkiefer.
Vergrösseriing 350.
d) Netzzeil ensarkoni. Sehleimsarkom. (Gallertiges Sarkom Rokitansk.y.)
Wenn die Ausläufer von Zellen recht zur Entwieklung kommen und recht deutlich sicht-
bar sein scjlleii, so muss zieuilicli viele und vv-eiche durchsichtige Intercellularsubstanz vor-
handen sein. Es werden daher die Sarkome mit gallertiger sclilcimiger Intcreellular-
suhstanz am schönsten die in ihnen etwa vorhandenen Sternzellen zeigen. Immer trifft
dies indess nicht zu; es giebt auch Granulationssarkome, die den Anspruch haben, als
Schleim- oder Gallertgeschwülste bezeichnet zu werden. -AVill man die Geschwülste aus
der bisher aufgestellten Reihe, wenn sie in gallertiger sulziger Form erscheinen, unter
dem Gesichtspunkt zusammenfassen, dass sie dann alle viel Schleim (urga) enthalten, so
kann man sie Myxome (Virchow) nennen oder auch den alten Namen CoUonema
(J.Müller) von „Colla" Leim, beibehalten. — Das ächte 'Schleimgewebe Virchow"s
(Fig. 145 u. 146) gehört unzweifelhaft der Entwickluiigsreihe des Bindegewebes an: es
Fig. 145. Fig. 146.
-/
Schleimgewebe aus ciueiu ]vf\ .\o><arkom
der Kopfhaut. Vergrösserung 400.
Schleimgewebe aus einem Myxom der
Manmia. Vergrösserung 400,
714
Von den Geschwülsten.
kommt zuweilen auch in schleimigen Granulationen vor. Oft genug findet man aber auch
SpindelzeUen und runde Zellen in den Myxomen, und wenn daneben ausgebildeter Knorpel
o-efunden wird, so kann das Schleimgewebe auch als junges oder erweichtes Knorpelgewebe
aufgefasst werden, was um so mehr Wahrscheinlichkeit bekommt, wenn sich in einem
Myxom ähnliche wabenartige Septa finden wie in Chondromen. Man hilft sich mit Be-
zeichnungen wie Myxosarkom, Myxochondroni etc.
e) Alveoläres Sarkom. Diese im Ganzen seltene (in der Cutis, im Muskel und
im Knochen vorkommende) Geschwulstform ist sehr schwer anatomisch zu charakterisiren,
sie kann wegen Grösse und Anordnung der Zellen dem Carcinom stellenweise so ähnlich
sein, dass ich mich nicht getrauen möchte, jedes mir unter dem Mikroskop vorgelegte Stück
aus einer solchen Geschwulst sofort richtig zu deuten. Die Zellen dieser Elemente sind viel
grösser als Lymphzellen, etwa so gross wie Knorpelzellen oder massig grosse Platten-
epithelien, und haben gewöhnlich einen oder mehre grosse Kerne mit glänzenden Kern-
körperchen. Die Zellen sind in eine meist faserige, seltner homogene gering entwickelte
Intercellularsubstanz von exquisit alveolarem Typus eingebettet und zwar so, dass sie vor-
wiegend einzeln, seltner gruppenweise zusammenliegen (Fig. 147 u. 148); sie stehen mit
Fig. 148.
f
I
% ^
y^ \yK&-
Alveolares Sarkom aus dem M. deltoideus.
Vergrösserung 400.
Alveolares Sai-kom aus der Tibia.
Verorösserung 400.
den Fasern in äusserst inniger Verbindung und sind scliwer aus der Fasermasse auszulösen.
Die beiden letzteren Eigenschaften sind wichtig zur histologischen Diagnose „Sarkom",
denn sie zeigen, dass die erwähnten grossen Zellen selbst Bindegewebszellen, nicht Epithel-
zellen sind, wie beim ächten Carcinomgewebe. Zuweilen liegen die zelligen Elemente
dieser Sarkome auch ganz unmittelbar aneinander ohne Intercellularsubstanz; die Aehn-
lichkeit mit Epithelialcarcinom kann täuschend sein. Virchow hat diese Sarkomform
aus weichen Warzen der Cutis beschrieben und abgebildet.
f) Pignientsarkome. Me lano tische Sarkome. Melanome. Alle diese Namen
besagen, dass wir es mit Pigmentbildung in Sarkomen zu thun haben; dies meist körnige,
selten diffuse Pigment ist braun oder schwarz, liefet fast immer nur in Zellen, selten in
VürlcsuHK 47. Cupilcl XXI.
715
der Iiitercellularsubslanz. Bald i«t, die ganze Geschwulst, l)ald nur ein Tiieii, bald schwaeli,
bald stark pignientirt. Jede lUir genannten Arten von Sai-kimicn kann wolil gelegenllich
mit Pigment vurkonnnen, doch liahe ich am liäiiligsten die Ict/t erwähnte l'^orni und die
Spindelzellensarkonie pignientirt gefunden. Die Melanome cntwiciudn sieh am häuligslen
in der Cutis, vornehmlieh an Fiiss inid Hund, docli uiicii an Kopl', Hals und Rumpf.
Die Anordnung der zelligen EU?niente in den Sarkomen hängt einerseits von gewissen
Kielitungen der Fasern oder Faserzellen im Geseliwulstgewebe ah, andrerseits von den
Formen der Gefässnetze; durch diese Verhältnisse sowohl wie durch die Entwicklung von
Eiesenzellen oder ähnlichen Gebildeu kann eine Architektonik des Geschwulstgewehes zu
Stande kommen, welciie von dem früher für das Cjircinomgewebe reservirten areoiären
Bau kaum noch verschieden ist. Dies darf nicht verwundern, da wir ja auch im Knorpel
einen Typus von Höhlen mit eingeschlossenen Zellen haben , und ausserdem die Netze
der Lymphdrüsen, welche unzweifelhaft zum System der Bindesnbstanzen gehören, doch
auch als alveolare Gebilde bezeichnet werden müssen. Die folgenden Sarkomformen sind
schon complicirter ausgebildete Gewebe, deren Gestaltung wesentlich von den Gefässen
abhängig ist.
g) Das (intiltrirte und oberflächliche) villöse Sarkom (Zottensarkome), die Perl -
gesch Wülste und das Psammom. Die serösen Häute haben bekanntlich die Eigen-
Fig. 149.
Aus einem villösen Sarkom (Cancroid nach Arndt) der pia mater: a Beginnende Zellen-
infiltration in der Capillarwandscheide; 6 zottige kolbige Wucherungen, von der Gefäss-
scheide auswachsend; c die gleichen Bildungen mit einer dicken Lage Endothelien bekleidet:
cl Endothelial -Zellen höchster Entwicklung, nicht von Epithelzellen zu unterscheiden:
e Conglomeration dieser Zellen zu kugligen Haufen, E ndo {he 1 perlen. Vergrösserung 400.
716
Von den Geschwülsten.
Schaft bei manchen pathologischen Vorgängen zottige Wucherungen zu bilden, deren Grund-
masse Binde.wewebe und eventuell Gefässe sind, deren zelliger Belag aus stark vermehrten
und vergrösserten Endothelzellen besteht. Stark entwickelte Zotten der Synovialmembranen
bei Arthritis defornians, zottige Wucherungen des Pericardium und Endocardium an den
Klappen, die Plexus choricoidei und die Pacchionischen Granulationen der weichen Hirn-
häute sind die Typen dieser Neubildungen,' Nur im Bexeich der Hirnhäute und der von ihnen
unmittelbar ausgehenden Nervenscheiden sind diese Geschwulstbildungen bisher beobachtet,
welche gewissermaassen als höchste conglomerirte Ausbildungsstufen der genannten Formen
betrachtet werden können: manche dieser Neubildungen tragen den zottigen (villösen) Charak-
ter wenigstens nach aussen, andere bilden auch wohl compacte Massen, indem die dendritischen
Gebilde in einander und durch einander wachsen. (Fig. 149.)
Die Entstehung dieser Geschwulstformen ist folgende : in der Adventitialscheide der
Gefässe beginnt eine eircumscripte zellige Infiltration (o), die hier zu kolbigen, zottigen
Auswüchsen fühi-t, welche bald zu hyalinem oder fasrigem Bindegewebe werden, bald
einen Hohlraum in sich büden, welcher nachträglich mit dem Gefässlumen in Verbindung
tritt (b). Ein Theil der Zellen bildet sich zu epithelioiden Formen um und umhüllt die
erwähnten kolbigen Neubildungen (c). Zwischen diesen Zellenmassen findet man Kugeln,
welche aus platt zusammengedrückten Zellen bestehen («) und theils zu trocknen Kugeln
werden, unter Umständen auch wohl verkalken.
Ob die von den Hirnhäuten ausgehenden Perlgeschwülste (Virchow), welche
ans perlglänzenden, hirse- bis erbsengrossen, nicht vascularisirten Knoten zusammengesetzt
sind, aus solchen Endothelkugeln entstehen, oder ob das ächte Epithelialbildungen sind,
muss ich dahin gestellt sein lassen, da es mir an eignen Untersuchungen darüber fehlt und
in jüngster Zeit nichts Neues darüber bekannt geworden ist. Nach früheren Untersuchungen
A^'irchow's entstehen die Perlen der intracraniellen Tumoren aus Bindegewebszellen; es
wären demnach diese Tumoren auch in die Reihe der Sarkome einzufügen. Die Thymus-
perlen sind das physiologe Paradigma dieser Formen, die durch ihre Gefässlosigkeit auch
eine Beziehung zum Tuberkel bekommen.
Fig. 1.50
Psammom nach Virchow. Vergrösserung etwa 200.
Vorl.
('apifcl XXI.
717
Nocli (Mue von Virchow hcschricluMii' mtd iiciilii'iiamili' (icscliwiilstronn f^cliört
liierlior, (his Ps ii in in o ni : es ist eine liislicr inuli nur im ilini und in der <)i-lii(;i beob-
achtete Bildiiii<;', vvcloiie sich thciis an das viliiisc, iheils an das j;h'irh zu Ijc^schn-ihcnde
plexiforme Sariconi ansohliesst.
Diese Geseiiwnistforni ist dnreh das Vorkonnnen \i>n vcriiulivtcTi Ku^^idii cliarakteiisirl,
welche die Gestalt solcher Coma-eiuerite anuehnicn, wie sie n.trniaicr Weise in der Zirijcl-
drüse gefunden werden, wo sie als Ilirnsand {nauiifiöq Sand) [Jnieu ans der Analmnie
bekannt sind. Diese Bildungen liängen wie die Tliymusperlen meist an den fierässen und
sind wahrscheinlich grösstentheils verkalkte lOndothelialperlen, doeji meini \'ir<iio\v, dass
auch directe Verkalkung des Bindegewebes zu den gleichen Formen tiiliren kiinne.
h) Die plexiformen (cancroiden, adenoiden) Sarkome. Aneii diese Sarkoni-
formen sind vorwiegend in der Orhita und im Hirn, doch auch in der l'amtis gefiinden.
Sie sind nur bei sehr sorgfaltiger Untersuchung von nian.'hen si)äter zu l)eschi-eihenden
Formen von Carcinom zu unterscheiden. Plexiform ausgebreitete Cvlind(!r, Kfilhen und
Kugeln aus kleinen Zellen zusammengesetzt, breiten sich im Bindegewebe aus, drängen
die Bündel und Balken desselben auseinander und erfüllen alle Zwischenräume zwischen
denselben, wobei sie natürlich auch in die Lymphbahnen und in die perivasculären Lymph-
ränme dringen. Ob die zuerst sich vermehrenden Zellen fest haftende Wanderzellen , ob
Zellen des Bindegewebes, ob Zellen der Gefässwände , ob Endothelien oder Perithelien
sind, lässt sich nicht immer entscheiden, vielleicht nehmen die genannten Elemeure alle
zugleich oder nach einander an diesen sonderbaren Gewebsbildungen Tiieil.
Fig. 1.51.
a Aus einer Hirngeschwulst nach Arnold. — h aus einer Hirngeschwulst nael
Rindfleisch. — Vergrösserung 300 — 400.
Die zuerst gewucherten Zellen sind in der Regel klein, rund oder unregelmässig
polygonal. Nach und nach gehen folgende oft sehr complicirte Metamorphosen in diesen
Zellencylindern vor. Es wachsen Gefässe in sie hinein, der mittlere Theil der Zellen
nm die Gefässe wird zu hyalinem oder fasrigem Bindegewebe, die äusseren Zellen bilden
einen Mantel um das Gefäss und die central gelegenen neugebildeten Bindegewebsfäden. So
stellen diese Bildungen gewissermaassen villöse Formen dar, welche ins Gewebe hineinge-
Avachsen sind (interstitielle papilläre Wucherungen, interstitielles papilläres Myxom, Rind-
fleisch). Dabei können die Umhüllungszellen so exquisit epitheliale Formen und Stel-
lungen annehmen, dass die Verwechslung solcher Bildungen mit Durchschnitten von
Drüsen, zumal bei schwächeren Vergrösserungen sehr verzeihlich ist. (Fig. 1,51 h.)
718
Von den Geschwülsten.
Zu höchst sonderbaren Formen kommt es, wenn einzelne der central in den primären
ZellencvHndern gelegene, zusammenhängende Zellencomplexe durch UmAvandlung ihres
rrotoplasinas zu einer völlig hyalinen Bindesubstanz werden (Fig. 1.52 a a a).
Fig. 152.
Beginnende hyaline Metamorphose in den Anfängen eines plexiformen Sarkoms. Anfang
der Cylindrombildung nach Sattler. Vergrösserung 500.
Es entstehen dann zusammenhängende, mit Zellen umhüllte, doch von diesen zu be-
freiende dendritische, Kaktus -ähnliche Bildungen: in dieselben können Gefässe hinein-
wachsen, wenu nicht die Neubildung gleich anfangs von den Gefässen ausging, oder die-
selben umwuchs.
Fig. 153.
Aus einem Cylindrom (plexiformes Sarkom mit hyalinen Vegetationen) der Orbira.
Vergrösserung 300.
Diese sonderbaren hyalinen Kolben und Cylinder sind früher für Lymphgefässe ge-
halten. Ich erkannte diesen Irrthum frühzeitig und nahm sie für hyaline, wie ich früher
glaubte, vollständig auswachsende Bindesubstanz und nannte nach den hyalinen Cyliudern
uie Geschwulst „Cylindrom''. Die Anfänge dieser Formen blieben mir aber unklar: ich
nahm die ganz oder vorwiegend aus Zellen bestehenden Cylinder für Drüsen -ähnliche
Bildungen; so blieb mir und manchen andern Forschern, welche Gelegenheit hatten, solche
Gescliwülste zu untersuchen, die Entwicklung dieser Neubildung zweifelhaft; ich schwankte
spater vielfach über die Deutung dieser Dinge und ihre genetischen Combinationen. Erst
Vorlcsinig 47. Ciipitcl XX f. 719
duvdi Sattler's 'Uiitersiiclningcn is(, völlige Klarlicil in diese Materie gfkfiniiiicii. Die
eben gegebene Darstellung luilte icli iini so imdii- liir die richtige, als sie den Srhliissel
zur Erklärung der vitden Varietäten dieser Geschwulstl'orin gieht.
Kommen wir imii zu den mit freiem Aug-e Avalirnc lim baren
Erscliei nung'sformen der Sarkome, so muss zunächst liervorgelioben
werden, dass diese Neubildungen in den meisten Fällen eine rund-
liche scharf abgegrenzte Gestalt haben, ja g-ewöhnlich deutlich
abgekapselt siiul; dies ist ein zur Unterscheidung- von den iufiltrirten
Carcinomen sehr wichtiges Zeichen. Nur selten tritt das Sarkom an
Oberflächen (sei es an freien oder sackartig geschlossenen Häuten) in
papillärer oder polypöser Form auf, doch giebt es driisenlose
Nasen- und Uteruspolypen, auch weiche Warzen der ITaut und Schleim-
häute, w^elche ihrer histologischen Structur nach nur in die Reihe der
Sarkome eingefügt werden können. Endlich kommen auch zuweilen
infiltrirte Sarkomformen vor, zumal bestehen die villösen und
plexiformen Sarkome nicht selten als Gewebsinfiltration. — Consistenz
und Farbe sind bei den Sarkomen von einer solchen Mannigfaltigkeit,
dass sich darüber so im Allgemeinen nichts sagen lässt, denn es giebt
in diesen Beziehungen die extremsten Verschiedenheiten. Es giebt sehr
feste, ja knorpelharte Sarkome und es giebt solche von gallertig sul-
ziger, nahezu flüssiger Consistenz. Die Farbe des Geschwulstdurch-
schnittes kann hell, rosa, weiss, gelblich, braun, grau, schwarz, dunkel-
roth sein, ja alle diese Farben in verschiedenen Nuancen können in den
Schnittflächen einer und derselben Geschwulst vorkommen; es ist das,
abgesehen von Pigmenten, besonders abhängig vom Gefässreichtlium
des Gewebes und von etwaigen Blutextravasaten älteren und jüngeren
Datums in der Geschwulst. Der Gefässreichthum ist enorm verschieden;
bald existirt nur ein spärliches Gefässnetz, bald ist die Geschwulst wie
ein Schwamm von cavernösen Venen durchzogen (cavernöse, telan-
giektatische Sarkome). Noch eine Eigenschaft der Sarkome müssen
wir hervorheben, nämlich dass sie zuw^eilen so rein weiss aussehen,
dass sie bei gleichzeitig sehr weicher Consistenz eine grosse Aebnlichkeit
mit Hirnmasse haben. Diese Medullarsarkome (Encephaloide) haben
zugleich meist die bösartigsten Eigenschaften der Sarkome im aller-
höchsten Grade und sind daher sehr gefürchtet: sie können übrigens
jede der oben angeführten histologischen Structureu haben. Geschwülsten,
welche nach gewissen Richtungen hin besonders leicht in Bündeln zer-
reissbar sind, hat man ausserdem auch noch den Namen Sarconia fasci-
culatum, Bündel Sarkom (früher Carcinoma fasciculatum) gegeben. —
Die anatomischen Metamorphosen, welche in den Sarkomen vor
sich gehen können, sind mannigfaltig; die verschiedenen Arten der Er-
weichungsprocesse wiegen dabei vor; schleimige Erweichung bis zur
Bildung von Schleimcysten, fettige, käsige Degenerationen sind häufig.
In den mit Knochen zusammenhängenden Sarkomen ist Ossification etwas
720
Von (Ion fTesch-wiilsten.
sehr Gewöhnliches und kann bis 7Air mehr oder weniger vollstfindigen
Umbildung- des Sarkoms in Osteom gedeihen. Narbige Schrumpfung
kommt in Sarkomen fast nie vor, und dies ist wiederum ein wichtiger
Unterschied vom Carcinom. Ulcerative Processe, von innen nach aussen
kraterförmig aufbrechend, sind selten; die Sarkome der Cutis ulceriren
früh, ohne jedoch zu ausgedehntem Zerfall dadurch zu gelangen; die
Ulceration harter Sarkome trägt zuweilen gut ausgebildete Granulationen.
Die Diagnose der Sarkome an Lebenden setzt sich aus der
Berücksichtigung folgender Momente zusammen. Die Sarkome entstehen
ganz besonders häufig nach vorausgegangenen loealen Reizungen, zumal
nadi Verletzungen; auch Narben werden nicht selten der Sitz von Sar-
komen; aus gereizten Leberflecken können schwarze Sarkome werden.
Haut, Muskel, Nerven, Knoclien, Periost, seltner Drüsen (darunter Mamma
und Parotis relativ liäufig), sind Sitz dieser Geschwülste. — Am sel-
tensten treten Sarkome bei Kindei-n auf, selten im zweiten Decennium,
am häufigsten im mittleren Lebensalter, seltner wieder bei Greisen.
Frauen und Männer sind nach meinen Beobachtungen gleich häufig zu
Sarkombildung disponirt. Wenn diese Geschwülste nicht grade in oder
an Nervenstämmen sitzen, so sind sie in der Regel so lange schmerzlos,
bis sie etwa aufbrechen. Wenn die Sarkome im Unterhautzellgewebe
oder in der Brustdrüse liegen, sind sie als abgekapselte bewegliche Ge-
schw^ilste fühlbar. Ihr Wachsthum ist bald schnell bald langsam, ihre
Consistenz so verschieden, dass das diagnostisch kaum verwendbar ist.
Verlauf und Prognose. Ein Sarkom kann solitär entstehen,
solitär bleiben und nach der Exstirpation nie wiederkeliren. Ein Sarkom
kann solitär oder multipel auftreten, nach wiederliolten Exstirpationen
im Verlauf von 10 — 20 — 30 Jahren wiederkehren; es können meta-
statische Geschwülste in Lunge oder Leber auftreten, und so kann diese
Krankheit vielleicht in 3 Monaten zum Tode führen. Sie sehen, dass
die grösste Gutartigkeit und höclistc Bösartigkeit des Verlaufs in dieser
einen Gruppe von Gewebsneubildungen vereinigt sein kann; Ja ich kann
Sie versieliern, dass zwei Sarkome von der gleicliartigsten histologischen
Beschaffenheit (freilich meist bei verschiedener Consistenz dei- Gescliwulst-
masse) vollkommen verschieden im Verlauf sein können. Aus diesem
Umstände hat man der pathologischen Histologie die grössten Vorwürfe
entwickelt; es muss zugestanden werden, dass die histologische Structur
einer Geschwulst keinesw^egs immer sich mit einem bestimmten Schema
des klinischen Verlaufs deckt; doch daraus der Anatomie einen Vorwurf
zu machen, wäre ebenso sonderbar als es ihr vorzuwerfen, dass man
die mikroskopischen Präparate einer Speicheldrüse, Thränendrüse,
Schleimdrüse eventuell nicht von einander unterscheiden kann, obwohl
sie docli ganz verschiedene Bedeutung für den Organismus haben. Der
Standpunkt, überall für specifische Function specifische anatomische For-
men finden zu wollen, musste auch erst überwunden werden. — Es
Vorlcsim- -17. Capilcl XXT. 721
folilt indoss kcincswcii's an A u li altspuiik tcn für die prog-notisclie
JJeiirtlieiluii ij;' einer vorliei^enden Sarkom <i,'e!^(*li\vulst. Uel)er die in
dieser Richtung- sehr wiehtige Loealisation der OesclnviilsJe sjtreclien wir
später; demnächst ist die Consisten/. von Wichtigkeit: alle festen Sai--
kome sind von besserer Prognose als die ^^'eicllen; von besonders übler
Prognose sind die alveolaren Sarkome, von übelster die weichen Gi-a-
nulations- und S])indelzellensarkome, welche meist unter dem Bilde me-
dullärer Geschwülste auftreten; sehr gefährlich sind auch die schwarzen
Sarkome, die festeren weniger als die weicheren. Wichtig- für die Prognose
ist ferner die Schnellig-keit des Wachsthums der zuerst entstehenden Ge-
schwulst, welclie übrigens meist zu derConsistenz der Geschwulst im Verhält-
niss steht; hat ein Sarkom 4 — 5 Jahre gebraucht, um die Grösse eines Hühner-
eies zu erreichen, so ist die Prognose nicht so übel; ist es in 4 — 5 Wochen zu
Faustgrösse angewachsen, so ist die Prog-nose sehr schlecht. Es kann vor-
kommen, dass ein Sarkom so rasch entsteht, dass es für einen kalten Abscess
g-ehalten wird ; ich kenne einen Fall, in welchem ein Sarkom der ßauch-
decken so schnell wuchs, dass anfangs die Diagnose auf Furunkel
gestellt war. Die Patientin wurde in wenigen Monaten von Sarkomen
übersät und starb etwa 3 Monate nach Entstehung der ersten Geschwulst
an Lungeusarkomen. Es kommt aber auch vor, dass auf ein langsam
gewachsenes festes Sarkom ein rasch wachsendes folgt, doch das Umge-
kehrte ist wohl nicht beobachtet. — Gewöhnlich entstehen Sarkome bei
kräftigen gut genährten, oft auffallend gesunden und fetten Individuen;
ich sah bei einem blülienden, kräftigen, üppigen Mädchen von 18 Jahren
ein Medullarsarkom der Mamma, sie starb wenige Monate nach der
Operation an Lungensarkomen. Bei kräftigen gesunden Männern kommen
ohne alle Veranlassung schwach pigmentirte, reichlich vascularisirte, zu-
weilen in Form von Blutblasen beginnende Sarkome der Haut zumal
an den unteren Extremitäten vor, die sich im Verlauf von 72—2 Jahren
über die ganze Körperoberfläche verbreiten, dann auch in inneren Or-
ganen zur Entwicklung ko)nmen und immer in wenigen Jahren zum
Tode führen. — Die Art wie die Entwicklung der nach einander auf-
tretenden Sarkome erfolgt, ist sehr charakteristisch. Die erste Ge-
schwulst wird z. B. vollständig exstirpirt; es vergeht einige Zeit, dann
kommt in, unter oder neben der Nar1)e,eine neue Geschwulst; diese
wird wieder vollständig entfernt; es tritt wieder an der operirten Stelle
oder in einiger Entfernung davon eine neue Geschwulst auf, daneben
immer mehr neue; der Kranke fängt an abzumagern, weitere Opera-
tionen sind nun vielleicht nicht mehr ausführbar; es tritt Marasmus ein,
vielleicht entstehen Lungen- oder Lebergeschwülste mit entsprechenden
Symptomen, Exitus entweder in Folge von Jauchung aus den primä-
ren Geschwülsten oder in Folge der Erkrankung innerer Organe. Li
seltneren Fällen (z. B. bei Hautsarkomeu am Thorax, an den Bauch-
decken, am Hinterhaupt) kann sich dieser Verlauf mehre Deeennien hin-
Billroth cliir. Pntli. n. Ther. 7. Aufl. 46
722
Von den Gesc'hA\-in5f-en.
(lurcli hinzielien. — Dieser eben g-escliilclerte Verlauf unterscheidet sich
von clemjenig-en der Careinome dadurch, dass bei letzteren die conti-
nuirlichen Reeidive die häufigsten sind, während bei Sarkomen die
regionären vorwiegen, vorausgesetzt, dass die Geschwulst vollkommen
exstirpirbar war. Dies ist leicht dadurch zu erklären, dass die Grenzen
der infiltrirteu Careinome viel schwieriger zu bestimmen sind als die-
jenigen der eingekapselten Sarkome, letztere sind daher ceteris paribus
sicherer ganz zu entfernen; lässt man Reste vom Sarkom zurück, so er-
folgen natürlich auch continuirliche Reeidive. Es können bei den Re-
cidiven von vollständig exstirpirten Sarkomen, wie schon bemerkt, viele
Jahre zwischen der Exstirpation und der Entstehung der regionären
Reeidive liegen, es kann überhaupt ein Sarkom viele Jahre lang, viel-
leicht bis zum Tode ein rein locales Uebel bleiben. Ich kenne einen
Fall von Fibrosarkom des Hinterhaupts, in welchem von der Entstehung
der ersten Geschwulst bis zum Tode durch Recidivgeschwülste 23 Jahre
verliefen; inzwischen war Patient 5 Mal operirt und jedes Mal für eine
längere Zeit geheilt. Bei einer älteren Frau exstirpirte ich ein Medullar-
sarkom (alveolare krebsähnliche Form Fig. 147 pag. 714) aus dem M.
deltoideus; kaum war die Wunde geheilt, so entstand in derselben ein
neues Sarkom wie das erste; nun blieb die Frau 4 Jahre lang voll-
kommen gesund; dann neue Geschwulst im Deltoideus; es folgte eine
Avahrscheinlich unvollständige Operation, Recidiv in der noch nicht voll-
endeten Narbe, Exarticulation des Arms; Recidiv im M. pectoralis und
latissimus, Tod durch Lungensarkom und Pleuritis. Vor drei Jahren
exstirpirte ich ein melanotisches grosszelliges Sarkom der Kopfhaut bei
einem älteren Mann, bei welchem Schuh vor 6 Jahren eine gleiche Ge-
schwulst entfernt hatte; bis jetzt ist kein Recidiv erfolgt. Wenn man
wegen Sarkom der Tibia die Amputation des Oberschenkels macht, so
kann in der Amputationsnarbe nach Jahren ein Recidiv eintreten mit
folgenden Lungensarkomen. Die locale Recidivfähigkeit wäre nur dann
durch ein in die LTmgegend einer Geschwulst verbreitetes Seminium zu
erklären, wenn die Reeidive rasch aufeinander folgten ; wenn aber Jahre
zwischen den einzelnen Recidiven liegen, so lässt sich diese Erklärung
wohl nicht mehr verwenden, man müsste dann annehmen, dass Ge-
schwulstzellen Jahre lang ruhig im Gewebe liegen sollten, um dann
plötzlich aufzugehen wie eine alte Saat; wer weiss? über Carcinom-
recidive besitze ich eine Beobachtung, welche für eine solche Verlaufs-
weise spricht. — Höchst eigenthümlich für die Sarkome ist der Gang
der Infection; ich glaube einer der ersten gewesen zu sein, welcher
hervorhob, dass es eine wesentliche Eigenschaft der Sarkome sei, dass
sie die Lymphdrüsen gar nicht oder erst sehr spät inficiren.
Der Weg der Sarkominfection geht nicht wie der der Careinome vorwie-
gend durch die Lymphbahnen, sondern vorwiegend, weun auch nicht
ausschliesslich durch die Venen, und dies ist freilich ein Moment, das
Vdi'lcsiniij;
CiipKci XX r.
723
zu Gunsten (lorjenig'en Fovselicv s])riclit, wclclie die OcfäRsc seihst nls liäu-
lig'Sten Ausg-ang'spunkt der Sarkome l)etracliten. Die I^iini;'cnsarkoine sind
nachweisbar meist embolisehen Tlrspmng-s; es sclieint, dass die Venenwan-
dung'en in den Sarkomen besonders leicht von der Gesehwulstmasse dinvh-
wachsen und ihre Lumina A'on bröekliclicn Fetzen derselben erfüllt werden,
welche von dort fortgerissen in die Lungen gelangen. — Die Menge der se-
eundären Sarkome ist oft ganz colossal, die ganze Pleura, das ganze Perito-
neum kann übersäet sein mit Sarkomen. Die mclanotisclien Formen schei-
nen in dieser Beziehung den medullären fast noch den Kang streitig zu
macheu. Auf primäre, nur theilweis pigmentirte Geseliwiilste folgen zu-
weilen ganz schwarze, doch auch ganz weisse secundäre Tumoren. Die
Lungensarkome sind meist Granulationssarkome. In der Leber habe ich
secundäre, sehr schön pigmentirte Spindelzelleusarkome beobaclitet; so
wechseln die Formen der primären und secundäreu Sarkome mannigfaltig.
Topographie der Sarkome. Da die bisherigen allgemeinen Be-
merkungen Ihnen für die Praxis zu wenig Anhaltspunkte geben, so ist
es nothwendig, auf einzelne Sarkomformen in bestimmten Geweben und
an bestimmten Körpertheileu etwas näher einzugehen.
Die Sarkome kommen ziemlich oft mitten in Röhrenknochen
(Myloidgeschwtilste oder centrale Osteosarkome) vor, und
zwar sind dies meist Riesenzellensarkome; sie entwickeln sich vorwiegend
häufig im Unterkiefer (Fig. 150 u. 157), dann aber auch in Tibia, Radius,
Fig. 154. Fig. 1.Ö5.
Centrales Osteosarkom der Ulna: aus der
Sammlung der chirurgischen Universitäts-
klinik zu Berlin.
Durchschnitt vom Präparat Fig. 15-1.
40*
Von den (reschwülsten.
124
rina (s. Fig'. ir)4 u. 155). In diesen Gescliwillsten iiuden sicli oft Sclileim-
cysten imd KDochenbikliuigeu in kugligev oder' verästelter Form; es sind
Fit;-. 15(1. Fig. 157.
Centrales O.steufaikom de-^ Unterkiefer;
\on einem 9jähri^en Mädchen.
Dni
linitt vom Präparat Fig. 15G.
eireumscripte, meistentheils in der Markbölile entstehende Knoten, dureli
welche der Knochen allmälilig- aufgezehrt wird, doch so, dass sich vom
Periost her stets neuer Knochen anbildet, so dass die Geschwulst, wenn-
gleich 7A\ erheblicher Grösse angewachsen, doch in vielen Fällen noch
ganz oder theilweise von einer Knochenschale bedeckt ist; der erkrankte
„. 1-0 Knochen erscheint dann blasig aufgetrie-
Flg. l.'jb. _ ....
ben und seine Continuität ist durch die
Geschwulst nicht immer vollständig unter-
)rochen. Wenn diese Sarkome an den
unteren Extremitäten vorkommen, so er-
folgt eine sehr reichliche Gefässbildung
in ihnen; es entstellen darin eine Menge
leiner, traumatischen Aneurysmen und es
kann sich ein wirkliches aneurysmatisches
Reibungsgeräusch in ihnen hören lassen,
so dass sie oft für reine Knochenaneurys-
meu gehalten und als solche beschrieben
sind. Die Cystosarkome und zusammen-
gesetzten Cystome, welche in Knochen,
besonders im Unterkiefer, gelegentlich
auch in grösseren Eöhrenkuochen beobach-
tet werden, sind in der Regel aus Riesen-
zellensarkome hervorgegangen (Fig. 158)
indem Gruppen von Riesenzellen zur
schleimigen Erweichung kommen. Die
centralen Osteosarkome sind meist solitär,
sehr selten allgemein infectiös. Im Unter-
kiefer oder Oberkiefer kommen sie gern
zur Zeit der zweiten, selten der ersten
Dentition zur Entwicklung; in langen
j^^
Ziisauuiu'iigcsi t7t
lien
V.M-Icsimo- 47. CiipiM'l \\T.
725
Röhrenknoclieii sali ich sie, iiiii' im iiiiillci'cn Lebensalter. - Von den
Gcsclnviilstcn, nelelie man als l'4)ulis bczeiclmet (das Worl: bedeutet:
auf dem Zaliu fleisch aufsit/end xon tni auf nvXig Zahiilh'.iseh), .u'ehörl
ein grosser Theil zu diesen Ivieseiizellensarkomcn; ihr Aufsitzen auf dem
Zalmfleisch ist meist nur sclieinbar; i;'e\völinlicli kommen sie jius ZmIiu-
liicken Iservoj-, und sind ^■on Granulationen um eariöse Zalnnviirzeln
ausi!,'eg'ang'en. Auch Epitlie]ialkrel)se Averden \o\\ ]\!anchen als Epnlis
bezeichnet; es ist gut, solche Ausdrücke entweder gar nicht zu gebrauchen
oder sie mit beslinnnten Beiwörtern zu verseilen : z. ]j. sarkomatöse, fibro-
matöse, carcinomatöse Epulis etc. — Ziemlich '^(isartig sind die jKu'iplierisch
entstehenden Osteosarkome oder Periostsarkom c (Osteoid-Chondrome,
Vir eil ow); sie bestellen entweder aus Granulntionsgewebe mit jungen
Kuoelieubildungen wie in Osteophyten und verknöchern mehr oder Aveniger,
Fi"-. Kio:
Periostsarkom der Tibia von einem Kna-
ben; aus der Sammlnng der cbirnrginehen
Universitätsklinik zn Berlin.
Durchschnitt vom Präparat Fiu;. !■')'.
oder es sind sehr gross -spindelzellige Myxosarkome ebenfalls mit theil-
weiser Verknöcherung. Die Schnelligkeit des Verlaufs ist selir verschie-
den; Luugensarkome sind danach beobachtet Avorden.
lu Muskeln,- Fascien und Cutis werden besonders häufig Sjsin-
delzellensarkome gefunden, die örtlich sehr infectiös sind und nach der
Exstirpation oft wiederkehren. Myxosarkome finden sich in der Cutis
und im Unterhantzellgewebe und sind mit freiem Auge oft schwer von
ödematösen weichen Fibromen zu unterscheiden. Ausserdem sind die
726
Von den Geschwülsten.
Nerven relativ liäufig Sitz multipler Sarkome. Je sclmeller die primären
Geschwülste gewachsen sind, und je mehr sie „medullär" aussehen, um
so "-efälirlicher sind sie. Ich finde, dass jedes Alter, etwa mit Ausualime
des Kindesalters, gleich für diese Geschwülste disponirt ist.
Wenn in einer Drüse ein Sarkom entsteht, so enthält es far?t immer
Drüsenelemente eiugescidossen, die vielfach in ihrer Form verändert sein
können, von denen manche aucli vielleicht neugebildet sein mögen, selten
geht das Drüsengewebe in diesen Sarkomen vollständig unter. So kommt
es, dass die reinen Adenome (die übrigens sehr selten sind) zuweilen
schwer von den in Drüsen entstandeneu Sarkomen unterschieden werden
können. Bei Aveitem nicht alle Drüsen sind in gleicher Weise zu Sar-
kombildungen disponirt ; wir wollen die Localitäten, an welchen dieselben
am häufigsten gefunden werden, kurz durchgehen.
Die Avei bliche Brustdrüse ist besonders von diesen Geschwülsten
bevorzugt. Die Sarkome der Mamma sind rundlich - lappige , höckrige
Geschwülste von fest elastischer Consistenz ; die Erkrankung befällt bald
einen grösseren, bald einen kleinereu Theil der Drttsenlappeu; in der
Regel erkrankt nur eine Brust und zwar nur an einer Stelle ; in anderen
Fällen entstehen mehre kleine Knoten zugleich in einer Drüse. Diese
Geschwülste wachsen äusserst langsam, verursachen keinen Schmerz,
sind wie alle Sarkome von der gesunden Umgebung scharf abgegrenzt,
daher innerhalb des Drüsenparenchyms verschiebbar; wenn sie gross
werden (sie können im Verlauf mehrer Jahre zu Mannskopfgrösse an-
wachsen), so bilden sie sich fast immer zu Cystosarkomen um, werden
mit der Zeit weicher und veranlassen Schmerzen; es kommt wohl auch
zu Ulceration.
Die anatomische Beschaffenheit dieser Geschwülste hat von jeher das Inter-
esse vielfach angeregt. Da man in denselben die Drüsenelemente , die Acini sowohl als
die Alisführungsgänge, wieder fand, so glaubte man früher, dieselben seien in der Ge-
schwulstmasse immer neu entstanden, und bezeichnete daher diese Geschwülste als partielle
Hypertrophien der Mamma. Diese Auflassung halte ich nicht für richtig, sondern glaube
mich durch die Untersuchung einer grossen Anzahl dieser Geschwülste überzeugt zu haben,
dass es sich dabei primär und hauptsächlich um Sarkombildung in dem Bindegewebe um
die einzelnen Acini handelt, Avobei die letzteren erhalten bleiben, wenn sie sich auch in
verschiedener Weise verändern können. Durch die Ausdehnung der Drüsengänge ent-
stehen nämlich in diesen Geschwülsten zuerst spaltartige, später mehr rundlich geformte
Cysten mit schleimig -serösem Inhalt, deren EntAvicklung wir gleich nachgehen wollen."
Was das Gewebe der Neubildung selbst betrifft, so ist dasselbe gewöhnlich aus kleinen,
rundlichen, spindelförmigen, selten verästelten Zellen mit ziemlich reichlich entwickelter,
faseriger, zuweilen gallertiger Intercellularsubstanz zusammengesetzt. Das Fasergewebe
kann in manchen dieser Geschwülste so vorherrschend sein, dass der ganze Tumor durch
Consistenz und Beschaffenheit sich durchaus dem Fibrom nähert. . Accidentelle Knorpel-
und Knochenbildungen werden hier gelegentlich beobachtet, sind jedoch äusserst selten
und für den Verlauf des Kranklieitsprocesses unwesentlich. Wenn das Wachsthum dieser
Neubildungen in allen Thcilen ein gleichmässiges wäre, so müssten Ausführungsgänge und
Acini der Drüse sich in gleicher Weise vergrössern oder zusammengedrückt werden ; denn
denken Sie sich einen Theil der Drüse, etwa ein Drüsenläppchen, als Fläche ausgebreitet
Vdrli'sini!" 47. ('Miiitd XXr.
727
und die Unterlage, auf der diese Flärhe fest ciugeiieftot ist, sicl-i vergrösscrud, su umss
auch die Epithelialfläehe selbst an Aiisdeiinung /.unehnien. Die Drüsen können alici- hc-
kanntlieli als viell'arh ansgel]iii'lilclc mit Kpilln-lien i'ihcr/.dgcnc I''läciicii hrd-jirlilrl werden,
so dass alsi) dies lüld viilllvniuiHen ]iassl. i'",in sdiclics gleiclnnässiges Waclisilumi in allen
'l'heilen der Ts'eulnlduni;' lindef nielit oder mir selir seilen StatI : die i'^ulge davon ist. dass
oft nur die Ausführungsgänge sieh stark verlängern oder verbreitern, wodureli die spalt-
artig länglieben, für das freie Auge siebtbaren Cysten entstehen, dureh gleiehzeitige Aus-
dehnung der Drüsenaeini werden aber aiu'b ofr rundliebe Cysteni'äunie geldldel. 13ei dieser
Dehnung der ausgebuchleten Drfisenfläi'be veriuebiM sieb das Kpitbel und entwickelt sich
zu höherer Ausbildung, insofern die kleinen rniidlichen I'",|)illii'lial/,ellen der Acini i-eiidi-
lieh zunehmen und sieh zu einem gescldicbteteii ('ylin(lere])irhcl ninwaudeln. Die so ver-
änderte Drüsensubstanz secernirt ein schleimig- seröses Secret. welches sich nui' zun»
geringsten Tbeil spontan ans der Brustwarze entleert, meist in der Geschwulst zurück-
gehalten wird und zur Ausdehnung der schon erweiterten Drüsenräume dient (Retentions-
Fig. 161.
Aus Adeno- Sarkomen der weiblichen Bnist^: n Dilatation der Austiihrungsgänge . h der
Aeini. Vergrösserung 60. — c Ein dilatirter Brustdrüsenaeinus mit Cylinderepithel.
Grannlationsähnliehes Zwisehengewebe. Vergrösserung 350.
und Secretionseysten). In diese Cysten hinein wäclist dann wieder die Geschwulstmasse
seihst in Form von lappigen, blätterartigen Wucherungen (Cystosarcoma phyllodes. von
(IvkXop Blatt), proliferum (von proles Sprössling, Job. Müller), so dass dadurch das
Ansehen auf dem Durchschnitt ein ziemlich complicirtes werden kann.
Das Verhältniss dieser Cystenbildungen zur Sarkommasse (durch erstere wird übrigens
Wesen und Verlauf der Krankheit nicht w^esentlich bestinnnt) variirt in diesen wie in
allen Cystosarkomen in hohem Grade.
728
Von den Geschwülsten.
Ob auch plexiforme Sarkome in der Mamma vorkommen; dafür fehlt es mir. seit
ich diese Sarkomform genauer präcisiren konnte, an Beobachtungen.
Die Bnistdviisensavkome und Cystosarkome sind nicht so ganz
selten, docli aber treten sie g-eg-enüber den später zu besi^reclienden
Brustkrebsen durchaus in den Hintergrund. Die Krankheit ist am häu-
figsten bei jungen Frauen, kommt jedoch auch kurz vor der Pubertät
vor selten nach dem 40. Lebensjalire. Das Wachsthum dieser Ge-
schwülste ist ein sehr langsames, und so lauge die Geschwulst noch
nicht gross ist, ein schmerzloses; später kommen jedocb auch stechende
Schmerzen hinzu; da die Geschwülste Maunskopf- gross werden und
ulceriren können, so sind die Beschwerden unter Umständen recht un-
angenehm. Manclie dieser Sarkome besitzen die Eigenthümlichkeit, dass
sie kurz vor der Älenstruation und während derselben etwas anschwellen
und in leichterem Grade schmerzhaft werden. Das Allgemeinbefinden
bietet bei dieser Krankheit keine weiteren Erscheinungen dar; nur bei
sehr grossen ulcerirten Geschwülsten magern die Kranken wohl ab, wer-
den anämisch und bekommen einen leidenden Gesichtsausdruck. Der
Verlauf der Krankheit kann ein verschiedener sein; es giebt eine nicht
kleine Anzahl von Fällen, in welc^.ien kleine Sarkomknoten der Brust,
Avelche vielleicht nach der ersten Entbindung entstanden, im Lauf der
Zeit spontan versclnvanden oder unbeschadet das ganze Leben hindurch
getragen wurden; in den meisten Fällen jedoch wachsen diese Geschwülste
allmählig, bis sie operirt werden; geschieht dies erst sehr spät, nachdem
die Geschwulst eine grosse x4usdehnung erreicht hat, und die Frauen in
ein höheres Alter kommen, so w^erdeu diese Geschwülste auch wohl in-
fectiös. Bei jungen Mädchen und Frauen pflegt ein langsam gewachse-
nes Brustdrüsensarkom nach der Exstirpation nicht wieder zu erscheinen.
Ist das Sarkom jedoch erst zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre auf-
getreten, so ist allgemeine Sarkominfection zu befürchten, auch wirkliche
Umbildung in Carcinom durch epitlieliale Wucherung möglich. Ich halte
es für alle Fälle rathsam, diese Brustdrüsensarkome frühzeitig zu ex-
stirpiren, da man durchaus nicht genau Avissen kann, wie sich diese
Geschwülste im weiteren Verlauf gestalten werden. — Die Diagnose ist
oft recht schwer; es können kleine knotig-lappige Verhärtungen in der
Milchdrüse auch durch chronisch -entzündlichen Process, besonders wäh-
rend und nach der Lactation entstehen, die spontan oder nach Anwen-
dung von Jodeinreibungen vergehen. Ob in einem vorliegenden spe-
ciellen Fall chronische Entzündung mit Rückbildungsfähigkeit, ob wirk-
liche Geschwulstbildung vorliegt, ist oft nur durch den Verlauf und da-
durch zu bestinnnen, dass chronisch -entzündliche Processe in der Mamma
enorm selten sind. Auch die feinste anatomische Untersuchung leistet
hier so viel als nichts, denn junges Sarkomgewebe ist von entzündlicher
Neubildung nicht zu unterscheiden. Es liegt hier wieder ein Fall vor,
Vurifsiiiig 47. CapiU-,! XXI.. 720
WO die Grenze zwischen clironiscli - entzündlicher Neid)ildun,:;- und Gc-
scliwulst nicht immer g-iuiz genau zu ziehen ist.
Ein zweites Org'tin, in welcliem sieh Sarkome entwickeln, sind die
Speicheldrüsen. Die Geschwülste, welche sich hier bilden, sind in
der Regel von ziendicli fest elastisclier Consistenz, sitzen ziendich beweg-
lich in der Speielieldrüse und besitzen ein ausserordentlich langsames
Wachsthum; sie kommen liäutiger in der Parotis als in der Glandula
subniaxillaris vor, äusserst selten in der Gl. subungualis. Die anatomi-
sche Bescliaffeuheit ist, vom freien Auge betrachtet, ausserordentlich ver-
schieden; die Geschwulstnui.sse ist immer von einer Kapsel dcutlicli um-
grenzt, letztere hängt sehr innig mit dem Drüsengewebe zusammen.
Die Geschwulstsubstanz kann breiigweich, knorplig oder fibrös sein, mit
accessorischer Verknöcherung oder Verkalkung ; Cysten mit bräunlicher,
gallertiger oder seröser Flüssigkeit finden sich oft darin.
Die lii.stologische Uiitersucliiing diesei' Geschwülste ergiebt, dass dieselben
in ihren weicheren Tlieilen aus Spindelzelleu und sternförmigen Zellen bestehen, mit bah.l
ganz fehlender oder in geringerer Menge vorhandener, bald sehr in den Vordergrund
tretender fasriger, schleimiger oder knorpliger Intercellularsubstanz; ausserdem finden sich
neugebildete Drüsenschläuche. Die Cysten darin gehen theils aus schleimiger Erweichung
des Sarkomgewebes hervor, theils aus Dilatationen der neugebildeteu Drüsenschläuche.
In selteneren Fällen besteht auch wohl die ganze Geschwidst fast allein aus Kni)rpel-
masse, jedoch fast innuer mit etwas Beigabe von kSarkomgewcbe. Was man in diesen
Geschwülsten von Drüsengewebe zu finden meint, ergiebt sich hei genauerer Untersuchung
in der Regel als plexiforme und interstitiell villöse Sarkomhildung (sielie Fig. 151 pag. 717)
wie sich in neuerer Zeit Sattler bei Untersuchung mehrer von mir e.\stirpirter Farotis-
tnmoren überzeugte.
Diese Geschwülste können von der Zeit der Pubertät an bis etwa
zum 40. Lebensjahre entstehen, wachsen ganz ausserordentlich langsam
und durcliaus schmerzlos, um so langsamer, wenn sie sich erst im Mannes-
alter entwickeln. Wenngleich sie sich niemals zurückbildeu, so können
doch kleine, etwa eigrosse Tumoren dieser Art im späteren Lebensalter
im Wachsthum durchaus stehen bleiben. Exstirpirt man diese Geschwülste
bei jungen Leuten, so kehren sie in der Regel nicht wieder. Li spä-
teren Jahren jedoch recidiviren dieselben nach der Exstirpation häufig
und zwar mit solcher Schnelligkeit, dass sie allmählig in die Tiefe des
Halses hineinwachsen und schliesslich dem Messer unzugänglich werden;
auch die nächstgelegenen Lymphdrüsen des Halses werden dabei inficirt,
und das ganze Bild des Krankheitsprocesses wandelt sich immer mehr
in dasjenige der Carcinomkrankheit um. Aus dem angegebenen Verlauf
dieser Geschwulstbildungen dürfte man sich die Regel entnehmen, diese
Geschwülste frühzeitig zu exstirpiren. Im Ganzen sind die Speichel-
drüsensarkome nicht häutig. — Li der Schleimhaut des Mundes
entwickeln sich zuweilen ähnliche Myxo-Sarkome und Myxo-Chondrome
wie in den Speicheldrüsen.
"JQQ Von den Geschwülsten.
9. Lymphome.
Diese Neubildimg-en sind sowohl anatomiscli als klinisch äusserst
schwierig- zu umgrenzen. Man kann der Entstehung- nach eine secun-
däre, durch Infection entstandene entzündliche Schwellung- der Lymph-
di'üsen und eine idiopathische Hyperplasie annehmen. Bei Erkrankungen
aus den verschiedensten Ursachen bieten die Lymphdrüsen fast immer
ein ziemlich gleiches Aussehen; sie sind verg-rössert, saftiger, praller
als normal.
Die mikroskopische Untersuchung der Lj^mphome zeigt, wenn man an
erhärteten zweckmässig behandehen Präparaten untersucht, Folgendes: alle zelligen Ele-
mente der Drüsen sind vermehrt, auch wohl vergrössert, die Lymphzellen in den Alveolen,
die Bindegewehszellen der Trabekeln, der Kapseln der Alveolen uird Sinusnetze; so ver-
liert sich allmählig die Structur der Drüse vollständig, denn das ganze Organ wird zu
einem Complex von Lymphzellen , wenn auch meist mit Beibehaltung eines feinen Netz-
werkes, in welches auch das derbere Bindegewebe der Kapsel und der Trabekel umge-
wandelt wird; auch die Bhitgefässe bleiben, ihre Wandungen verdicken sich oft erheblich
(s. Fig. 162 o); das zellige Iniiltrat kann ein so massenhaftes werden, dass eine exacte
Unterscheidung zwischen Lymphom und Glio- Sarkom (Fig. 141 pag. 711) stellenweise
misslich wird; hie und da kommt er zur Entwicklung grosser vielkerniger Zellen. —
Fig. 162.
Aus der Corticalschicht einer liypei-plastischen Cervicallymphdrüse. Vergrösserung 350.
«« Durchschnitte von Gefässen mit verdickten Wandungen. Ausgepinseltes Alkoholpräparat.
Gewöhnlich hat man Drüsen von sehr verschiedener Grösse vor sich
und findet die grösseren von gleicher Structur Avie die kleineren. Welche
Ursachen der Hyperplasie zu Grunde liegen, ob sie idiopathisch, ob
durch chronische Entzündung deuteropathisch entstanden ist, das lässt
sich weder aus den makroskopischen noch mikroskopischen Verhältnissen
genau ermitteln; nur das lässt sich im Allgemeinen sagen, dass die
durch chronische Entzündung stark verg'rösserten Drüsen häufiger Abscesse
und käsige Heerde enthalten, als die scheinbar weuig-stens idiopathischen
Hyperplasien dieser Drüsen. Ich brauche die Bezeiclnumg „idiopathische
Erkrankung der Lymphdrüsen" aus vielleicht übertriebener GcAvissen-
haftig-keit; man kann nämlich in vielen dieser Fälle durchaus keine
peripherische Reizung nachweisen, wenngleich sonst Vieles dafür spricht,
Vorlesung 47. Capitel XXL 731
dass aiicli diese Lymphdrilsencrkrankung-en secundiir sind; irinrici- kanti
CS sein, dass kleine voi'iUjcrücliende cnt/Jindliclic Reize vorhanden waren,
welelie die Lyinplidviisenevkrankuiii^cn anr(>g(en, nnd znr Zeit, wenn
letztere zur Beobachtung kommen, bereits verscliwunden sind. In einem
solchen Ucberdauern des secundären })lastischcn Proccsses in den Lymph-
drüsen über den })rim;iren peripheren Heiz haben wir früher einen
Hauptausdruck der scrophulösen Diathese g'efunden, und dürften daher
grade die Lymphome als typische scro})hulöse Ocscliwülste (scrophulöse
Sarkome B. v. Langenbeck) bezeichnen. Betrachten wir dieselben
anatomisch und klinisch noch etwas genauer.
' Längere Zeit Ideibt die nierenähnliche Form der Drüse im Ganzen
und Grossen erhalten, bis endlich auch diese sich beim Wachsthum ver-
' liert und die nahe gelegenen Drüsengeschwülste mit einander zu einem
lappigen Geschwulstconglomerat verwachsen. Aeusserlich mit freiem
Auge betrachtet zeigen sich die exstirpirten Geschwülste also von rund-
licher, ovaler oder Nierenform, auf dem Durchschnitt von hell graulich-
gelber Farbe, die sich an der Luft zu einer gelblich-röthlichen verän-
dert. — Die Consistenz dieser Geschwülste ist fest elastisch; sie sind
durch ihren Sitz leicht diagnosticirbar. — Nicht alle Lymphdrüsengruppen
sind in gleicher Weise für diese Erkrankung disponirt; die Plals-Lymph-
drüsen hypertrophiren am häufigsten, bald einseitig, bald doppelseitig;
seltener kommt diese Art der Erkrankung an den Achsel- und Inguinal-
drttsen vor, am seltensten au den Abdominal- und Bronchialdrüsen,
Angeboren finden sich diese Geschwülste fast niemals, doch v(mi Ablauf
des ersten Lebensjahres bis etwa zum 60. können sie vorkonmien, wenn-
gleich sie sich am häufigsten zwischen dem 8. bis 20. Lebensjahr ent-
wickeln. Nicht selten tritt die Hyperplasie der Lymphdrüsen multipel
auf. Es können aber auch eine oder wenige Drüsen am Halse allein
erkranken; ist dies der Fall, so läuft die Disposition zu solchen Neu-
bildungen wohl nach Verlauf von Jahren ab, wobei die Geschwülste, die
schmerzlos gewachsen waren und schmerzlos sind, im Wachsthum stehen
bleiben und bis ans Ende des Lebens getragen werden können. In sel-
teneren Fällen tritt die Neubildung fast zugleich in allen Lymphdrüsen
des Halses auf einer oder beiden Seiten ein, so dass der Hals sich ver-
dickt und die Bewegungen des Kopfes sehr genirt werden; nehmen diese
Geschwülste dauernd an Umfang zu, so kommt es zuletzt zu Compression
der Trachea und es erfolgt der Erstickungstod; doch auch in diesen
schweren Fällen findet zuweilen ein spontaner Stillstand der Krankheit
Statt und man kann dann noch mit günstigem Erfolge selbst grosse Ge-
schwulstmassen der Art exstirpiren; auch gehen manche dieser Drüsen
schliesslich doch noch durch chronische Verschwäruug und Verkäsnng
zu Grunde.
Die schlimmsten Fälle sind diejenigen, in welchen die Geschwülste
schnell zu bedeutenden, bis Mannskopf-grossen medullären Tumoren
»732 Von den Geschwülsten.
(nicht selten unter der Form fasciculirter JMarkschwänime) anwachsen,
und auch die Nachbargewebe zu Lymphomg-ewebe umgewandelt werden.
Kranke mit solchen Geschwülsten kommen selten davon, es tritt bedeu-
tende Anämie ein, die Ernährung wird selir schlecht, auch Milzhyper-
trophie kann sich hinzugesellen und der Tod erfolgt unter Erscheinun-
gen von liochgradigster Anämie und Marasmus. Diese bösartigen Lym-
phome, von Lücke als Lymp ho- Sarkome bezeichnet, sind wieder
anfangs noch später anatomisch von den gutartigen Formen zu unter-
scheiden. Doch sind sie dadurch bald kenntlich, dass sie rasch wuchern,
zumal sehr rasch mit der nächsten Umgebung verwachsen. Sie sind, w^ie
es mir scheint, von unbezwingbarer Recidivfähigkeit und gehören zu iden
allergefährlichsten Geschwulstformen. In jüngster Zeit sah ich mehre
Fälle, in welchen sich bei der Section metastatische Lymphome in Lungen *
und Milz vorfanden.
In einigen Fällen ausgedehnter Lymphome hat man exquisite Leu-
cocythäraie beobachtet, und Virchow glaubt, dass dabei die Vermeh-
rung der weissen Blutkörperclien im Blut abhängig sei vou dem Ueber-
schuss, der aus den hyperplastischen Lymphdiitsen dem Blute zugeführt
wird. Ich theile diese Ansicht nicht ganz, erstens weil die Leuco-
cythämie selbst bei ausgedehnten Lymphdrttsentumoren doch im Ganzen
selten vorkommt, und zweitens, weil es höchst unwahrscheinlich ist,
dass die Lymphdrüsen bei der schliesslich vollkommenen Destruction
ihres normalen Baues noch physiologisch und sogar hyperplastisch
functiouiren. Da jetzt bereits eine Reihe von Versuchen von Frey,
0. Weber und mir vorliegen, die Lymphgefässe solcher Lymphdrüsen
zu iujicireu, und dies entweder gar nicht oder nur sehr unvollkommen
gelaug, fällt dies schon mit in die Wagschale für die Ansicht, dass
diese hypertrophischen Lymphdrüsen physiologisch insufficient werden,
wenn auch solche negativen lujectionsresultate grade bei Lymphdrüsen
sehr vorsichtig zu beurtheilen sind. Damit soll jedoch das interessante
Factum, dass die Leucocythämie besonders bei Lymphdrüsen- und Milz-
tumoren vorkommt, nicht in Abrede gestellt werden, nur ist der Zusam-
menhang kein so unmittelbarer, es muss sich zu den Lymphdrüsen-
und Milztumoren noch etwas Anderes bis jetzt Unbekanntes hinzugesellen,
damit es zur Leucocythämie kommt. In neuester Zeit ist die Leuco-
cythämie nach den Untersuchungen von Bizozero und Neu mann in
nähere Beziehungen mit Erkrankungen im Knochenmark gebracht, wo
nach Ansieht dieser Forscher die Unnvaudlung farbloser Blutzelleu in
gefärbte normaler Weise vor sich gehen soll; danach würde die Leuco-
cythämie dadurch veranlasst, dass sich diese Umw^andlung im Knochen-
mark aus irgend einem Grunde nicht vollzieht.
Die Prognose des Lymphoms ist nach dem Gesagten sehr ver-
schieden; und erst nach einiger Zeit der Beobachtung über die Schnel-
ligkeit des Wachsthums mit einiger Sicherheit zu stellen; im Ganzen darf
VorJosmi.tc 47. Capitol XXT. 733
man amielimcn, dass die Kranklicit um so ^•orälivliclicr werden wird, in
je friilicrcn Lehens jaliren und je ausg'edelinter sie gleich anfangs auf-
tritt. Jenseits 30 Jahren sah ich sie selten entstehen, und g'laul>te
friilier, sie konnne dann fast g-ar niclit melir zur Entwicklung-; indess
ist mir vor nicht lang-er Zeit ein Fall begegnet, wo icli bei der Section
einer 4r)jährigen, sehr stark l)cleibten Frau, welche seit 5 Jaliren an Asthma
litt, ein grosses Lyrapliom der Broncliialdrüsen in reinster Form fand, wcl-
elies schliesslich Erstickung lierbcigcfiihrt hatte, und ein anderer i^'all,
in Avelchem sich ein colossales Lymi)liom der Acliseldrüsen bei einem
etwa r)r)jährigen Mann entwickelte.
A. Y. Wini warter hat in einer neueren Arbeit eine schärfere
Grenze zwischen den malig-nen, rasch wachsenden Lymphomen
und den primären medullären Sarkomen in Lymphdrüsen (Lymphosar-
kome) gemacht. Die efsteren sollen immer in meliren Lymplidriisen einer
Region (zumal am Hals) zugleich auftreten, sind lange beweglich, con-
flnireu aber endlicli doch zu einem Geschwulstconvolut; später werden
dann andere Lymphdrüsengruppen ergriffen und endlich kommt es
auch zu gleichen Tumoren in inneren Organen. Man kann zwei For-
men unterscheiden, eine weicliere, auf dem Durchschnitt grauröthlichere,
und eine festere, fibröse, auf dem Durchschnitt mehr weisse Art;
letztere ist die rascher verlaufende; beide Formen maligner Lymphome
führen immer zum Tode. Die Lymphosarkome sind entweder Eund-
zellen- oder Spiudelzellensarkome ; sie entstehen zunächst in einer Drüse;
die umliegenden Gewebe werden nach und nach mit in die Peripherie der
Geschwulst einbezogen, dadurch wird der Tumor bald unbeweglich, es
folgen oft Metastasen in Lungen und Milz. — Ich halte diese Unter-
scheidungen im Allgemeinen für vollkommen richtig, und in sorgfältiger
Beobachtung begründet, möchte jedoch glauben, dass Combinationen
beider Formen nicht allzu selten sind.
Die Behandlung der in Rede stehenden Lymphdrüsenkrankheiten
wird im Anfange oft eine innere sein, mau wendet gewöhnlich Le1)er-
thran, Soolbäder und, wenn es die Constitution der Kranken nicht cou-
traindicirt, Jodmittel au, bei hervortretender Anämie ist Eisen indicirt,
entweder für sich allein oder in Verbindung mit Jod. In seltenen
Fällen bilden sich frische, eben entstandene Lymphtumoren bei dieser
Behandlung zurück. In einigen Fällen schwanden bei Behandlung mit
Tinct, Fowleri grosse rasch entstandene (maligne weiche) Lymphome au
beiden Seiten des Halses, in beiden Achselhöhleu und in der Inguinal-
gegend in 8 Wochen fast vollständig. Leider ist die Zahl der durch
Medicamente heilbaren Fälle gering, und gerade in denjenigen Fällen,
in welchen man am meisten von diesen Innern Mitteln verlangt, weil
die Geschwülste schon zu gross für die Operation sind, lassen diese
Mittel oft vollständig im Stich; ja ich habe sogar den schädlichen Ein-
fluss sehr energischer Jodcuren bei rasch wachsenden Geschwülsten dieser
qo4 Von den Geschwülsten.
Art cinioe Male constatireu können, nämlich den Eintritt einer rajjiden
Erweichung- des grüssten Theils der Geschwülste, begleitet von heftigen
febrilen Erscheinungen. — Von Lücke sind parenchymatöse Injectionen
von Jodtinctur in diese Geschwülste mit günstigem Erfolg gemacht; ich habe
durch diese Behandlung wohl kleine Abscesse und unbedeutende narbige
Schrumpfungen entstehen sehen, doch keine gleichmässig- fortschreitende
Phthise der Tumoren. Die gleichen Erfahrung-en habe ich mit dem con-
stanten Strom g-emacht. Czerny hat aucli parenchymatöse Injectionen
von Tinet. Fowleri mit Erfolg* angewandt. Ich kann die günstige "Wir-
kung dieser Methode bestätigen; ich injicirte täglich 1 — 3 Tropfen. —
Von den äusseren Mitteln wirkt das Jod noch am meisten, das Queck-
silber fast nichts; günstige Erfolge sind besonders von Baum durch die
Compression mit eigens für den betreffenden Fall construirten Appa-
raten erzielt worden; ich habe Besserung damit"ferreicht, zuweilen eine
geringe Verkleinerung oder theilweise Abscedirung, doch keine voll-
ständige ?Ieilung. Von der Operation ist nur in denjenigen Fällen Hei-
lung zu erwarten, wo es sich um eine abgelaufene Erkrankung einzelner
Drüsen handelt; man ist freilich wegen der Lagerung dieser Geschwülste
dicht um die Trachea zuweilen genöthigt, diese Geschwülste noch im
floriden Stadium des Wachsthums zu operiren, indess man wird dann
immer auf örtliche Eecidive oder Erkrankung anderer Lymphdrüsen-
gruppen gefasst sein müssen. Die genaue Erwägung aller einzelnen
Umstände muss für den speciellen Fall die Frage entscheiden, ob eine
Operation günstigen Erfolg verspricht oder nicht. Der Eingriif der
Operation selbst wird in den Fällen, wo man isolirbare Drüsen mit
noch erhaltener Kapsel vor sich hat, im Ganzen merkwürdig gut er-
tragen; ich habe schon zwanzig und mehr isolirte Drüsen am Halse
bei einem und demselben Individuum mit Glück und ohne nachfolgende
Recidive exstirpirt, oder besser gesagt, mit dem Finger wie Kartotfeln
ausgegraben; wenn aber die Drüsen zu einer Geschwulstmasse confluiren
und sehr weich sind, so ist dies einerseits ein Zeichen rapiden Wachs-
thums und örtliche Recidive sind mit Sicherheit zu erwarten, anderer-
seits wird die Operation dadurch kolossal erschwert. Es giebt medulläre
Lymphome, welche bei jungen sonst kräftigen Leuten am Hals entstehend
in die Tiefe, dann hinter dem Kiefer fort bis in die Rachenhöhle hinein-
wachsen und die Tonsillen und den Pharynx in Älitleidenschaft ziehen ;
sie bringen in der Regel bald den Tod; die hier noch möglichen Ope-
rationen sind mit so bedeutenden Gefahren verbunden, dass man dadurch
selten das Leben verlängert.
Von den übrigen Drüsen, welche nach den neueren Untersuchungen
zum Lymphdrüsensystem zu rechnen sind, unterliegen nur die Tonsil-
len einer hyperplastischen Erkrankung; docli ist diese gewöhnliche und
bei Kindern und jugendlichen Individuen sehr häufige Tonsillarhyper-
trophie mehr der chronisch -entzündlichen secundären Lymphdrüsen-
Vorlesung 18. Capiiol XXl'. 735
scliwellung- vergleichbar, meist die Folge chroniaclicr Katarilie des Plia-
rynx, während fälschlicli oft das llmgekclirtc aiigcnoniinen wird, näirdich
dass die liypertrophisclieu Tonsillen die Ursachen der iMiarynxkatarrlie
sind: die Exstirpation nützt daher in solchen Fällen für das Hauptleiden,
die häufigen Anfälle von Halsentzündungen, so gut wie niclits. — Hyper-
trophien der Thymusdrüse konnnen vor, sind jedocli immerhin sehr
selten. — Die analogen Erkrankungen der Peyer'schen Plaques und der
Milz haben kein besonderes Interesse für die Chirurgie.
Es giebt aucJi Lympliome in Geweben, welche nicht zu den
Lymphdrüsen gehören; ich fasse dabei alle diejenigen meist weichen
medullären Geschwülste als Lymphome auf, in welclien sich ein den
Lymphdrüsen analoges Netz durch sorgfältige Erhärtung und Präparation
darstellen lässt. In diesem Sinne habe ich Lymphome im Oberkiefer,
in der Scapula, im Zellgewebe, im Auge etc. gesehen, Geschwülste,
welche in ihrer Structur oft nur sehr undeutlich von den Granulations-
sarkomen (zumal von Virchow's Gliosarkomen) abgrenzbar sind, und
meist wegen ihrer gewöhnlich medullären Beschaffenheit kurzweg unter
dem Titel „Markschwamm" passiren. Nach meiner Erfahrung pflegt die
Vermischung der eben erwähnten Formen keine prognostischen Fehler
nach sich zu ziehen, insofern diese Tumoren gleich bösartig-, gleich
infeetiös zu sein scheinen; doch soll damit keineswegs die Bedeutung
der detaillirtesten Untersuchung aucli dieser Tumoren herabgesetzt oder
unterschätzt werden; wir haben in Betreif der schärferen Sonderung von
Sarkomen und Carcinomen im Lauf der letzten Jahrzehnte auch schon
interessante und wichtige klinische Unterschiede gelernt. Es wäre noch
vor zehn Jahren unmöglich gewesen, sich so entschieden über die Gruppe
Sarkom und Lymphom auszusprechen, Avie das jetzt der Fall ist. Was
wir jetzt unter die Gruppe „Lymphom" zusammenfassen, ist früher
theils bei den Drüsenhyperplasieu, theils bei den Sarkomen, theils bei
den Markschwänimen abo-ehandelt.
Vorlesung 48.
10. Papillome. — 11. Adenome. — 1"2. Cysten und Cysto nie. Folliculareysten
der Haut, der Sclileimliäute. — Cysten neuer Bildung. Schilddrüsencysten. Eierstocks-
cystonie. Bluteysten.
10. Papillome. Papillär- Hypertrophien.
Es ist bis jetzt ausschliesslich die Rede gewesen von Neubildungen
aus der Reihe der Bindesubstanzen, der Muskeln und Nerven. Jetzt
gehen wir zu den Neubildungen über, bei welchen die aus dem oberen
und unteren Keimblatt des Embryo hervorgegangenen wahren Epithelieu
eine mehr oder minder wichtige Rolle mitspielen.
736
Von den Geschwülsten.
An zwei normalen Gebilden haben die Epithelien einen wesentlichen
Antheil, nämlich an den Papillen der Haut und der Sclileimhäute (Darm-
zotten) und den Drüsen; erstere sind wellig-e oder fingerförmige Er-
hebungen, letztere buchtig'« oder cylindrische Einsenkungen der Häute,
welchen die epitheliale Decke genau folgt. Beide ge1)en das physiolo-
gische Paradigma für gewisse Geschwulstformen ab, von denen wir die
rein hyperplastischen Formen der ersten Eeihe Papillome, die der
zweiten Eeihe Adenome (von ddtjv Drüse) nennen wollen; mit beiden
ist entsprechende Bindegewebs- und Gefässneubildung verbunden.
Die verhornenden Papillome kommen ausschliesslich auf der
Cutis, selten in der Wandung von Talgdrüsencysten vor. Mau kann
zwei Hauptformen unterscheiden:
a) Die Warzen. Diese sind anatomisch dadurch charaktcrisirt, dass
sie aus einem übermässigen Längs- und Dickenwachsthum der Papillen
hervorgehen. Auf diesen abnorm grossen Papillen verhornt dann die
Epidermis in Form von kleinen Zapfen, aus denen jede Yrarze zusam-
mengesetzt ist (Fig. 163). Diese Warzen, welche ohne bekannte Ver-
anlassung besonders an den Händen oft massenhaft auftreten, sind selten
o-rösser als Linsen oder Erbsen.
Fio-. I(i3
Warze, a Längsschnitt, h Querschnitt. Vergrüssernng 20.
b) Die Hauthör uer sind gewissermaassen vergrösserte Warzen;
die Epidermismasse der vergrösserten Papillen verklebt hier zu einer
festen Substanz, welche sich in enormem Grade vermehrt, so dass das
Hörn, sei es, dass es gerade oder gewunden ist, eine Länge von
o— 4 Zoll und darüber erreichen kann. — AVenn auch die äusserliche
Beschaffenheit dieser Hörner, die eben nur aus verhornten Epidermis-
zellen bestehen, grosse Aehnlichkeit mit den Hörnern mancher Thiere
hat, so ist doch die anatomische Structur eine andere, indem ja den
Hörnern der Thiere Kuochensubstanz zu Grunde liegt. Die Farbe der
Vorlesiinn- 4S. Cnpilol XXI. 737
ITauthönier ist in der Ue^c] eine selinuitziy])i'üunli(',lie; es kommen diese
merkwiirdijj;en Bilduni!,'en lin.ii])ts;i<'lili('li im (Jesiclit und ;ini Xopf, dünn
aber aueh am Penis und an anderen K()r})ei-stel]en voi', aLicli waelisen
sie zuweilen aus Atlierom('yst(Mi lieraus.
Den Warzen- und llornbildung-cn liegt entseliieden eine allgemeine
Disposition der Haut zu Grunde. Diese spricht sich haui)tsäclilich darin
aus, dass gar nicht selten die Warzen nmssenhaft zu 20 — 50 an beiden
Händen erscheinen, besonders bei Kindern zumal kurz vor der Zeit der
Pubertätsentwickluug'. Irritirende äussere Einwirkungen spielen hier
offenbar mit, wofür z. B. aucli der Umstand spricht, dass gerade auf
die Hände mancherlei von aussen einwirkt; dass die Epidermis an den
Händen schon normaler Weise besonders dick ist, mag- auch zur Ent-
stehung dieser Bildungen disponiren. Die Disposition zur Hauthornbil-
dung, so selten sie aucli beobaclitet ist, gehört mehr dem höheren Man-
nesalter an, sowie auch sonst die meisten, später, zu erwähnenden epi-
dermoidalen Neubildungen vorwiegend in der letztgenannten Zeit zur
Entwicklung kommen. In anatomisclier Beziehung wäre zu den er-
wähnten Formen der Hornwucherungen auch noch der Hystricismus
(vGTQi^, Schweinsborste, Igel) zu rechneu. Der Hystricismus oder die
stachelschweinähnliche Bildung der Haut ist eine besondere Art von Pa-
pillarhypertrophie mit Verhornung der Epidermis in der Art, dass sich
stach elartige Bildungen an der Hautoberfläche entwickeln. Diese Affec-
tion ist wie die Ichthyosis (eine schuppenartige Verdickung der Epi-
dermis über den ganzen Körper, von lyßvg Fisch) meist angeboren.
- Die Disposition zu Warzen ist eine durchaus ungefährliche, tritt
immer nur in der Jugend auf und hört in vielen Fällen ganz spontan
auf. Im Volke hält man die Warzen für ansteckend, vielleicht nicht
ganz mit Unrecht: ich sah einen Fall, in welchem sich eine gewöhnliche
Warze an der Seite einer Zehe gebildet hatte, und wo dann an der ge-
genüberliegenden Fläche der anliegenden Zehe auch eine Warze ent-
stand. — Die Bedeutung der Hauthörner ist schon eine grössere; wenn
diese Hörner auch zuweilen spontan abbrechen und abfallen, so wachsen
sie doch wieder nach, sobald nichts Operatives dagegen unternommen
wird, ja in manchen Fällen entsteht an der Stelle, wo früher ein Haut-
horn sass, später ein Epithelialkrebs.
Die Warzen kann mau in den meisten Fällen sich selbst überlassen.
Wie bei allen Krankheiten, welche mit der Zeit von selbst vergehen,
giebt es auch für die Warzen eine grosse Menge sympathetischer Volks-
mittel: das Auflegen einer solchen mit Warzen bedeckten Hand auf die
Hand eines Todten, das Ueberschlagen einer Picihe von Blättern und
Kräutern wird von alten Frauen als ein unzweifelhaftes Mittel angesehen.
Wollen Sie einige grössere Warzen, welche den betreffenden Inhabern
besonders störend und unangenehm sind, wegbringen, so geschieht dies
am leichtesten mit Aetzmittelu. Ich brauche dazu die rauchende Sal-
ßiUvoth ebir. Piith. u. Ther. 7. Aufl. 47
"OQ Von den Geschwülsten.
petersäure oder Scliwefelsäure ; mit derselben betupfe ich die Warze,
trao-e dann am folgenden Tage die geätzte Scliicht mit dem Messer ab,
bis ein Tropfen Blut fliesst, und wiederhole darauf die Aetzung. Dieses
Verfahren muss so lange fortgesetzt Averden, bis die Warze vollständig
verschwunden ist.
Die Hauthörner kann man nur dadurch radical beseitigen, dass
man das Stück Haut, an welchem sie aufsitzen, herausschneidet. —
Unter weichen, sarkomatösen Papillomen wollen wir solche
Neubildungen verstehen, welche die Form von Papillen haben, aus
weichem Binde- oder Sarkomgewebe bestehen und von einer Epithelial-
decke belegt sind, welche derjenigen des Grundbodens analog ist.
An der Cutis kommen sarkomatöse zuweilen sehr reichlich vascula-
risirte Papillome (weiche Warzen) im Ganzen selten, doch zuav eilen an-
geboren als Hahnenkamm-förmige Wuclierungen an der einen oder an-
dern Gesichtshälfte fast immer nur einseitig vor. Die breiten und
auch die spitzen Condylome an den Schleimhäuten sind Producte der
Syphilis und des specifisch irritirenden Trippereiters ; wir zählen sie
nicht zu den Tumoren im specielleren klinischen Sinne.
Viel häufiger entwickeln sich an den Schleimliäuten sarkomatöse
Papillome, zumal an der Portio vaginalis, seltener schon in der Rectum-
und Nasenschleimhaut. Sie fallen bei der bisher üblichen chirurgischen
Nomenclatur in die Kategorie der Schleimpolypen. Es sind häufig com-
plicirtere Gescliwülste, bei denen Drüsenwucherung und Drüsenektasie,
Bildung von sarkomatösera Zwischengewebe und Papillombildung neben
einander hergehen. Meist sind es gestielte Geschwülste, zuweilen er-
krankt eine grössere Fläche der Schleimhaut gleichzeitig.
Selten werden diese Papillome iufectiös, doch kommen sie nach der
Exstirpation zuweilen wieder. Die ausgedehnten Papillome, welche sich
manchmal im Kehlkopf bei Kindern finden, sind vielleicht immer syphi-
litischen Ursprungs.
11. Adenome. Partielle Drüsen -Hypertrophien.
Neubildung von ächten, regelmässig ausgebildeten Drüsen oder
Drüsentheilen ist nicht so gar häufig, während wir später die unvoll-
kommenen Drüsenbildungen beim Krebs als eine der gew^ihnlichsten
Formen der Neubildung kennen lernen werden.
Während man früher die Sarkome der Mamma vielfach als par-
tielle Hyperplasien der Drüse angesprochen hat, weil man Drüsen darin
fand, ist man in neuerer Zeit sehr zweifelhaft geworden, ob in den
früher beschriebenen Sarkomen in Drüsen (pag. 726) wirklich Drüsen-
aciui neugebildet werden; ich muss nach meinen Beobachtungen das
wahre Adenom der Brustdrüse für sehr selten halten. Förster und
Vorlesimo- 4fi. Cnpilcl XXT. 739
Andere bcsclivcibcu aciiK'lsc Adenome der Mnnnnn,. Bei diesem seltenen
Vorkommen Ifisst sieli über die i)roii'nos1isclie Bedentung dieser g'ewölin-
lieli klein l)leil)cnden Tumoren niclit viel sagen. Man hält sie meist
l'iir durehaus gutartig; doch scheint es mir aus anatomischen (jlriin(h'ii
wahrscheinlich, dass sie den Carcinomen auch in prognostischer Hinsicht
nicht so fern stehen dürften.
Die sogenannte Hypertrophie der Prostata ist, so weit meine Unter-
suchungen reichen, nie mit Adenombildung, sondern nur mit l^^ktasie der
Acini und epithelialer Hyperplasie verbunden; im Wesentlichen beruht
die so häufig beobachtete Vergrösserung dieser Drüse wie schon be-
merkt (pag, 700) auf diffuser oder knotiger Myombildung.
Die Drüsen der äusseren Haut und mancher Schleimhäute
können auch zur Entwicklung von Adenomen und Adeno - Sarkomen
Veranlassung geben; es sollen durch Auswachsen des Drüsenepithels
analog der Drüsenentwicklung im Fötus, Geschwülste der Haut entstehen
können, welche als reine Adenome aufzufassen sind. Verneuil beschrieb
zuerst ein Adenom der Schweissdrüsen. Ich habe solche Geschwülste
bisher nicht beobachtet, zweifle jedoch nicht mehr an ihrer Existenz,
nachdem mir von Rindfleisch ein Adenom der Art demonstrirt ist. —
Etwas häufiger sind diejenigen Drüsenbildungen, welche in der Schleim-
haut der Nase, des Dickdarms und des Uterus vorkommen, und welche
in ein gallertiges ödematöses Bindegewebe, seltener in andere Formen
des Sarkomgewebes eingebettet sind. Es entstehen dadurch Geschwülste,
welche man im Allgemeinen als Schi eirapolypen zu bezeichnen pflegt:
theils faltenartig breit aufsitzende, theils kolbig gestielte Geschwülste;
sie haben die Farbe und Consistenz der Schleimhaut, welcher sie ent-
sprungen sind, tragen auch deren Epithel, wobei nur die weichen Po-
lypen des äusseren Gehörganges eine Ausnahme machen, welche häufig-
sonderbarer Weise mit Flimmerepithel bekleidet sind. Nicht alle diese
Schleimpolypen enthalten Drüsen; sie fehlen gewöhnlich den Ohrpolypen
und den kleinen blätterartigen Wucherungen der weiblichen Harnröhre,
den sogenannten Harnröhrencarunkeln. Die letzterwähnten Neubildungen
bestehen einzig aus ödematösem und gallertigem Bindegewebe mit einer
Ephithelialdecke. Die meisten Schleimpolypen der Nasenhöhle, des Dick-
darms und besonders des Rectums bestehen aber zum grossen Theil aus
hervorgezerrten und auch neugebildeten Schleimhautdrtisen , deren ge-
schlossene Enden sich unter Umständen zu Schleimcysten erweitern.
Die Schleimpolypen können daher im anatomischen System je nach
ihrem Gehalt an Drüsen theils zu den reinen Adenomen (z. B. die Rec-
tumschleimpolypen bei Kindern Fig. 1(34), theils zu den Sarkomen (viele
Nasenschleimpolypen), theils zu den ödematöseu Fibromen, theils endlich
zu den Myxo-Sarkomen gezählt werden. — Die Disposition zu Schleim-
polypen reicht vom Kindesalter bis etwa in das 50. Lebensjahr. Bei
Kindern ist die Localisation der- Krankheit auf das Rectum und den
47*
740
Von den Geschwülsten.
Fii,^ l(J4.
v/i fr^MSj!^^^^^^
■^ \ W\
Ans einem Sclileinipdlyp (Adenom) des Kectnms von einem Kinde.
Vergrösserung (iO.
Dickdarm beschränkt, und zwar so, dass tlieils einzelne Geschwülste
der iVrt, theils viele derselben zu gleicher Zeit entstehen; letzteres kommt
jedoch fast nocli häufig'er bei Erwachsenen als bei Kindern vor. Von
der Zeit der Pubertät an bis etwa zum 30. Jahre herrscht die Localisa-
tion auf der Kasensclileimhaut vor; theils mit Productiou einzelner Po-
lypen, theils mit gleichzeitiger Wucherung in beiden Nasenhöhlen; letz-
teres ist das Häufigere. In den beiden letzten Jahren des dritten Jahr-
zehntes treten dann die Sclileimpolypen des Uterus auf, welche unter
Umständen später den Uebergang zu krebsigen Bildungen machen können.
Bei allen diesen Polypen besteht eine grosse Hartnäckigkeit zu localen
Recidiven, besonders ist dieselbe bei den i^asenpolypeu ausgesprochen,
deren Wachsthum oft erst nacli 3 — 4 maliger Entfernung aufhört. In
den meisten Fällen erlisclit im Lauf der Jahre die Disposition zu diesen
Neubildungen von selbst, indem endlicli die Recidive aufhören, oder
auch die kleineren Polypen, wie z. B. die am Uterus, in ihrem Wachs-
thum stehen bleiben. Die mikroskopische Untersuchung dieser Geschwül-
ste kann insofern Aufschluss über Verlauf und Prognose geben, als die-
jenigen GeschAvülste, deren Gewebsmasse nur aus ödematösem Binde-
gewebe besteht, weit Aveniger Aussicht auf Recidive geben, als diejenigen,
welche aus Spindelzellengewebe bestehen oder aus einem Gewebe, wel-
ches der entzündlichen Neubildung analog ist; endlich kann in einigen
luulen nur durch die anatomische Untersuchung Verwechselungen mit
Epithelialcarcinom vorgebeugt werden.
IS. Cnpiici xxr.
741
Die Öclilcinipolypeii clor Nase ontfonit man um Icicliteslfii dm-cli
(las vVusveissen mit den dazu l)Ostinmitcii IVdypcii/an^^'on, ebenso vcrrülirl,
ninn mit den r<)l}|)Oii dos äusseren Geliörgaug'es; die 1'olypen des l'terus
und des lieetums schneidet man an der IJasis mit der Sclieere ab; wvnn
mau lilutuug- fürchtet, so leg-t man zuvor eine Ligatur an oder l)raucht
den Ecraseur.
Von den Drüsen ohne Ausrülu'ung'Sgang' beriicksiclitigen wir liier
nur die Schilddrüse, weil sie eine ächte E])itiu'liaJdrnse ist; die Ade-
nome des Eierstocks g-ehen so überwiegend häufig in die cystoiden
Formen über, dass sie zweckmässiger im nächsten Al)schnitt besjirochen
werden. — Geschwülste der (Uandula thyreoidea nennt man seit langer
Zeit Struma, Kropf (im Mittelalter bedeutete „strumös" das, was wir
heute „scrophidös" heissen). Wenn wir das anatomische Verhalten dieser
Geschwülste zur Drüse betrachten, so giel)t es diffuse Anschwellungen
der Schilddrüse, -Avelche einen oder gleiclizeitig beide Lappen betreti'en
und Geschwülste, welche deutlich umgrenzt in die Drüse eingelagert sind,
wobei letztei'e noi'mal ist oder auch in g-eringem Grade hypertro])hisch
sein kann. Schliessen wir die einfaclien Cysten der Schilddrüse, die
sog-enannte Struma cystica, aus, so sind die meisten übrigen Formen
der Kröpfe reine Adenome oder Cysto-Adenome. Falls das Gewebe
dieser Geschwülste, welche von äusserst verschiedener Consistenz sein
können, noch nicht durch secandäre Veränderungen metamorphosirt ist,
so zeigt es auf dem Durcbschnitt für das freie Auge fast dieselbe Be-
schaffenheit, wie die Schnittfläche der normalen Schilddrüse.
Auch mikr(),skopisch ist das Verhalten ein sein- ähiiliches; fast alle festen Krcipf-
geschvvi'ilste lassen bei der niikniskopisclien Untersuchung eine grosse Menge von Binde-
gewebska.pseln erkennen, in welchen eine klare, mit mehr oder weniger runden, blassen
Zellen durchsetzte Gallertsubstanz enthalten ist (Fig. 165). Die Grösse dieser Kapseln
Fig. 165.
A' ■:'k
f^b^:tMA
s^^-^^^-' 's>ri^
Aus einer gewöhnlichen festen Kropfgeschwulst. Adenom der Schilddrüse.
Partielle Iniection. Vergrösserung 100.
742
Von den Geschwülsten.
variirt. ungemein, indem die jüngsten derselben, welche noch keine Gallerte, sondern nur
Zellen enthalten, den fötalen Thyreoideablasen analog sind, während die grössten den
6— lOfachen Durchmesser jener haben. —
Eiue der häiifig'sten Veränderungen in den Kropfgeschwülsten ist
die Cystenbildung-, welche dadurch zu Stande kommt, dass bei der Er-
weiterung- der Drüsenblasen eine Anzahl derselben confluirt und der
dickg-allertige Inhalt sich mehr und mehr verflüssigt. Ausser dieser
Cystenbildung- in den Kröpfen giebt es jedoch noch andere, ebenso häu-
fige Veränderungen der Kröpfe, welche bei längerem Bestehen derselben
fast regelmässig einzutreten pflegen, nämlich Blutextravasate, die freilich
zum grössten Theil resorbirt werden, aber Pigmentirungen in geringerer
oder grösserer Menge zurücklassen. Ausserdem ist die Verkäsung und
Verfettung mit Bildung von Cholestearinkrystallen in alten Kröpfen häu-
fig; endlich tritt auch gar nicht selten Verkalkung hinzu, so dass durch
alle diese secundären Metamorphosen das ursprüngliche Bild der Ge-
schwulst sehr verändert werden kann. Die Kropfgeschwülste, welche
theils in der Mitte des Halses, theils auf beiden Seiten in grösserer An-
zahl oder solitär entstehen, können eine bedeutende Grösse erreichen,
die Luftröhre erheblich zusammendrücken und durch Erstickung tödten.
Viel seltner erreicht die gleichmässige doppelseitige Hypertrophie der
Schilddrüse einen sehr hohen lebensgefährlichen Grad. — Die Kropf-
krankheit ist hauptsächlich . durch ihr endemisches Vorkommen merk-
würdig; es sind besonders Gebirgsländer, in denen sie sich findet: sie
wird im Harz, in Thüringen, in den schlesischen und böhmischen Bergen
und in den Alpen beobachtet, wenngleich hier nicht in allen Theilen
mit gleicher Häufigkeit. Einzelne Thäler der Schweiz und der öster-
reichischen Alpen sind sogar vollkommen davon frei. Im Himalaya-
Gebirge und auch in den gebirgigen Theilen Brasiliens kommen Kröpfe
häufig vor. Man hat die verschiedensten Umstände, besonders das
Wasser und den Erdboden als Ursache dieser Krankheit angeklagt,
ohne dass jedoch durch exactere Untersuchungen ein bestimmter wissen-
schaftlicher Anhalt gewonnen wäre. Unzweifelhaft spielen die geologi-
schen und klimatischen Verhältnisse bei dieser Krankheit eine grosse
Rolle. Eine durchgehende Gleichartigkeit in der (vielleicht auch erb-
lichen) Constitution der Kropf kranken lässt sich kaum aufstellen; ein
. gewisser Zusammenhang mit dem Cretinismus ist nicht zu verkennen,
insofern die meisten Cretins mit Kröpfen behaftet sind; doch wird Kropf
noch viel häufiger bei Individuen mit völlig gesund entwickelten Knochen
und Hirnen gefunden. — Die Kropfbildung kann in sehr seltenen Fällen
angeboren sein, entwickelt sich jedoch meistens erst mit dem Beginn der
Pubertät stärker; das Wachsthum des Kropfes überdauert selten das
50. Jahr; die Kröpfe, welche bis dahin unschädlich getragen sind, pflegen
im Wachsthum still zu stehen, auch später keine Beschwerde zu machen ;
hiervon giebt es nur wenige xlusnahmefälle , in welchen sich aus der
Voricsimo- -IS. (.'apilrl XXt. 743
beHcliricbeiicii liyi)eri)la8tisclicn Gcscliwul.stfbnii ein krcbsii^'cr Kr()|)r
entwickelt mit Iiifcetioii der näcb.sti;'olei;oneii LyniphdriisciT, (ludiiicli cr-
iolgt fast iiiiuicv ein tödtliehcs EikU; diircli I'j-.stickimi;'. Es ist k;iuiu
nötliii;', die Struma a,neiirysmaticM, als eine I)es()ndere Art abzu-
g'renzen, indem dieselbe nichts Anderes darstellt, als einen mit starker
Erweiterung- der zul'ülirenden Arterien verbundenen Kro])!". — Degen
die Kropfkraidvheit Avendet man Inder Regel ,lodi»rä[)arate an; dieselben
haben jedoch nur bei der ersten Entwicklung eine entschiedene AVirk-
samkeit; später nützen sie so gut Avie nichts; man brauclit sie indess
sowohl innerlich wie äusserlich, weil man keine anderen Mittel besitzt.
Die Exstirpation der hypertrophi-chen Schilddrüse, sowie sehr grosser
Kropfgesclnvülste ist innnerhin noch gefährlich ; sie kann in Folge von
Blutungen oder auch zuweilen in F<dge des kolossalen operativen Ein-
griffes zu raschem Tode führen, so dass es sich nur um die Exstirpation
kleiner, beweglicher Kröpfe bei jugendlichen Individuen handeln kann.
Es bedarf einiger Erfahrung, um vorher entscheiden zu können, welche
Kropfgeschwülste ohne Gefahr zu exstirpiren sind und welche nicht. Im
Allgemeinen warne ich Sie, Kropfgeschwulstoi»erationen aus kosmetischen
Gründen zu machen; droht Erstickungsgefahr, so sieht man sich aller-
dings genöthigt, auch gewagtere Operationen der Art zu unternehmen.
Die besten Chancen bieten die beweglichen Kropfgesehwülste in der
Mittellinie des Halses bei jungen Eeuten, während selbst kleine Kröpfe,
welche tief in die hypertrophirten Seitenlappen eingebettet sind, schwie-
rig und nicht ohne Gefahr zu entfernen sind. Auch die kleinsten Ope-
rationen der Art müssen mit der grössten Vorsicht, zumal in Bezug auf
die Blutstillung der Arterien und Venen (durch Umstechung vor der
Dnrchschneidung) ausgefülu-t werden; es ist vorzuziehen, sich beim Her-
vorholen der abgekapselten Geschwulst mehr des Fingers, eines Myrthen-
blattes, einer Hohlsoude oder anderer stumpfer Instrumente zu bedienen,
als zu viel mit Messer und Scheere zu arbeiten. Bei Auswahl der Fälle
haben sich die Resultate meiner Kopfoperationen fortwährend gebessert.
Auch Kocher berichtet über eine Reihe günstig verlaufener Operationen
dieser Art. — Lücke, Störk und Schwalbe loben sehr die parenchy-
matöseu Injectionen von Jodtinctur und auch von reinem Alkohol in die
Kropfgeschwülste; es soll danach eine bedeutende zuweilen totale
Schrumpfung der Struma eintreten. In den ersten Fällen, in welchen
ich diese Methode der parenchymatösen Injection von Jodtinctur anwandte,
blieb sie erfolglos; ein Fall, in welchem ich Alkohol iujicirte, verlief
durcli Verjauchung der Kropfgeschwnlst und Septhämie tödtlich. In
neuester Zeit habe ich in einigen Fällen be.deutende Verkleinerungen
der Kröpfe durch consequent fortgesetzte Jodinjectionen erzielt; ich
injicire zwei Mal in der Woche je eine Spritze voll (etwa 1 Scrupel)
reine Jodtinctur. Das muss mehre Monate hindurch fortgesetzt werden.
Einige Patienten magerten dabei bedeutend ab, so dass ich diese Kur
IAA Von den Geschwülsten.
bei scliwäclilichen zumal tuberciüösen Personen nicht empfehlen möchte.
Die Alkoholinjcctioneu habe ich nach dem erwähnten ungläcklicheu Fall
nicht wieder in Anwendung gezogen. Auch Störk theilte mir mit,
dass die Alkoliolinjectionen zuweilen starke entzündliche Reactionen her-
vorrufen, während nach den Jodinjectionen nur eine rasch vortiberg-ehende
Schwellung- und Schmerzhaftigkeit vorkommt; vorsichtig- ist es, zuerst
eine drittel, dann eine halbe Spritze zu injiciren um die individuelle
entzündliche Reizbarkeit zu prüfen.
12. CystejJ und C'ystome. Balggeschwülste.
Eine Geschwulst, welche durcJi einen mit Flüssigkeit oder Brei an-
gefüllten Sack (Balg) g-ebildet wird, nennt man eine Cyste oder Balg-
geschwulst. Diese Geschwülste können sich aus bereits vorgebildeten
Säcken entwickeln (Cysten), oder sie sind durchaus neugebildet (Cystome).
Ist eine Geschwulst von einem Convolut sehr vieler solcher Balgge-
schwülste gebildet, so nennt man dieselben „zusammengesetzte
Cysten oder Cystome". Finden sich in einer der besprochenen Ge-
schwülste oder in Carcinomen zugleich Cysten und bilden diese einen
wesentlichen Theil der Geschwulst, so bildet man Namen, wie Cysto-
Fibrom, Cysto-Sarkom, Cysto-Chondrom, Cysto-Carcinom etc.
Virchow rechnet, wie früher bemerkt, auch die eingekapselten
Blutextravasatc , die bereits früher besprochenen Hämatome (Extrava-
sationscysten), ferner die hydropischen Ergüsse und Hypersecretionen
seröser Säcke (Hydrocele, Meningocele, Hydrops der Gelenke, Gang-
lion etc.) als Exsudations Cysten zu den Geschwülsten. Nach Vir-
chow's Eintheilung- bilden dann die Retentionscysten die dritte
Categ-orie der ßalggeschwülste. Von diesen überlassen wir die Reten-
tionscysten grösserer Canäle und Blasen, wie den Hydrops vesicae
felleae, processus vermiformis, tubarum, uteri der inneren Medicin und
Gynaekologie und beschränken uns auf die Gruppe derjenigen Tumoren,
welche Virchow unter dem Namen Follicularcysteu zusammenstellt.
Sowohl die Drüsen der äusseren Haut als diejenigen der Schleimhäute
sind zur Cystenbildung disponirt. Die Schilddrüsencysten haben eine
etwas zweifelhafte Stellung zwischen den Exsudations-, Follicular-
Cysten und den Cysten neuer Bildung. Die geschlossenen Lymph-
drüsenfollikel scheinen niemals Veranlassung zur Entstehung von Cysten
zu werden.
Von den Drüsen der Cutis sind es allein die Talgdrüsen, aus
welchen sich Cysten bilden; es ist mir nicht bekannt, dass Schweiss-
drüsencysten beschrieben worden wären. Die Ursachen, weshalb sich
das Secret in den Talgdrüsen ansammelt, sind: a) Eindickung desselben,
b) Verschluss der Ausführungsgänge. Wird aus einem dieser Gründe
V(irlpsuii;j; IS. f';i|iilr! XXT. 745
das Secret znriickiiclinlton und liäuft es sich in der Drüse an, so wird
die in Form von Acini aiisii'el)uclitete Secretionsfläclie zu einer einfaclicn
Kug-el expandirt; das ang-eliäufte Secret bildet einen lueclianisclien Keiz
auf das nächstundici;-cnde J}indei''ewel)e, welches in Folg-e dessen ver-
dichtet wird und das Secret als IJali^- uiug-iebt. Lässt sich bei An-
wendung- von kräftig-eni Druck der noch nicht sehr gross g'ewordenc
Sack ausdrücken, so pflegt man eine solche kleine offne Cyste einen
„Coniedo" (comedo Fresser, Schlemmer, Mitesser) zu nennen. — Ist in
Folg'e irg-end eines irritativen entzündlichen Processcs die Ausgangs-
öffnung einer Talgdrüse geschlossen, so kann freilich danach Atrophie
der Drüse erfolg-cn, wie dies z. B. nach Verbrennungen mit ganz ober-
flächlicher Zerstörung der Cutis öfter geschehen mag; doch in anderen
Fällen dauert die Secretion der Drüse fort, und diese dehnt sich nun
zu einem sehr laugsam grösser werdenden Sack aus. Solche mit Fett-
brei und Epidermis gefüllten Cysten nennt man „Grützbeutel, Atherom".
Diesen Brei findet man bei mikroskopisclier Untersuchung aus Fett-
tropfen, Fettkrystallen, besonders Cholestearin, Epidcrmiszellen und
Plättohen zusammengesetzt. Er hat sehr verschiedene Farbe und Con-
sistenz; die meisten Atherome am behaarten Kopf, welche im höheren
Mannesalter entstehen, haben einen schmutzig-graubräunlichen stinkenden
Inhalt von breiiger, blättriger, stückiger Beschaffenheit. — Die Bälge
dieser Cysten sind in der Regel dünn, aus Bindegewelje bestehend; ihre
innere Fläche zeigt meist eine deutliche Abgrenzung eines Rete Mal-
pighii und ist wellig oder papillär erlioben. — Der Inhalt dieser Cysten
erleidet manchmal die Metamorphose der Verkalkung. In Folge von
Trauma, äusserst selten spontan, kann ein Atherom aufbrechen; der
Brei entleert sich, die Ränder der Oeffnung werfen sich um und die
Innenfläche des Sackes wird zu einer übel aussehenden Ulcerationsfläche.
— Ausser am Kopf und im Gesicht, wo sie häufig sind, kommen diese
Geschwülste nicht oft vor.
Eine zweite Form dieser Cysten sind die De rmoi d Cysten, welche
meist einen rein weissen Inhalt haben, der neben Epiderniiszellen reich-
lich Cholestearin enthält (Cholesteatome). In der Wand dieser
Cysten finden sich Haare mit Haarbälgeu, auch wohl Schweissdrüsen; der
Balg ist also sehr Haut-ähnlich, dermoid (von deona und £l'dt]g). Diese
zumal am Kopf im Bereich des Orbitalrandes häufig vorkommenden
Cysten sind in ihren ersten Anfängen immer angeboren. Man hält sie
für aberirte, zu tief gewachsene und abgeschnürte Stücke von Haut-
drüsen, welche sich in beschriebener Weise selbstständig entwickeln. —
Am Halse können inwendig und auswendig geschlossene, doch in der
Mitte, offengebliebene Kiemengänge, welche mit Epidermis ausgekleidet
sind, im Lauf von Jahren durch Epidermisanhäufung zu grossen Chole-
steatomcysten werden, welche im Munde (als Ranula) oder aussen am
Halse über und hinter der Schilddrüse zum Vorschein kommen.
n^Q Von den Geschwülsten.
Auch in Sclileimhäiiteii mag Eindickimg des Drtisensclileinis und
in Folge dessen schwierige Entleerung desselben Ursache für die Ent-
stehung von Schleimcysten geben können; iudess ist hier wohl häufiger
Verschluss des Ausfiihrungsganges der Grund für die Entwicklung von
Retentiouscysten. Das Secret in denselben ist meist ein zäher, oft selir
dicker Schleim von honiggelber (Meliceris) oder rothgelber, selbst cho.
coladenbrauner Farbe; es finden sich bei mikroskopischer Untersuchung
dieses Cysteninhalts viele grosse, blasse, oft Fettkörnchen enthaltende,
meist runde Zellen in homogenem Schleim, auch Cholestearinkrystalle
oft in grosser Menge. — In der Nasenschleimhaut sind diese Cysten sehr
selten, doch finden sie sich in Nasenschleimpolypen, ja manchmal so
zahlreich, dass man diese Geschwülste auch als Blasenpolypen bezeichnet
hat. In der Schleimhaut des x\ntrum Highmori fand Luschka oft viele
kleine Cysten. In der Mundschleimhaut kommen die Schleimcysten vor.
wiegend au der Innenseite der Lippen, seltner der Wangen vor. In der
Uterusschleinihaut und in Uterusschleimpolypen sind Schleimcysten ein
gewöhnlicher Befund.. In der Rectumschleimhaut dagegen finden sich
keine Schleimcysten, auch gehören dieselben an den tiefer im Innern
des Körpers liegenden Schleimhäuten zu den grossen Seltenheiten.
Cysten neuer Bildung. Diese entstehen meist durch einen Er-
weichungsprocess vorher durch Zelleninfiltration erkrankter Gewebe, oder
durch Erweichung fester Geschwulstmasse. So wie sich die Neubildung
in Sack und flüssigen Inhalt gesondert hat, tritt dann in manchen Fällen
eine Secretion an der Innenwandung des Sackes ein, so dass die Erwei-
chungscyste zur Secretions- oder Exsudationscyste wird und sich so ver-
grössert. Jedes zellenreiche Gewebe kann durch die schleimige Meta-
morphose des Protoplasmas, oder wie es von Andern aufgefasst wird,
durch Abscheidung der schleimigen Substanz durch Zellen — in eine
Cyste umgewandelt werden, ohne dass dies mit Schleimdrüsenbildung
irgend etwas zu thun hätte. Wir kennen beim Fötus eine Entstehung
von Höhlen durch schleimige Erweichung von Knorpelgewebe, nämlich
die Entwicklung der Geleukhöhlen. Grade in Knorpelgeschwülsten
kommt oft eine schleimige Erweichung einzelner Partien vor, wodurch
Chondrome mit Schleimcysten entstehen. Ebenso ist in Myxomen die
theilweise Verflüssigung und Abkapselung zu Cysten nichts Ungewöhn-
liches; das Gleiche kommt in Sarkomen, zumal in Eiesenzelleusarkomen
vor. Die oft spaltartigen, äusserst glattwandigen Cysten mit serösem
oder serösschleimigem Inhalt, welche sich in Uterus-Myomen finden, sind
vielleicht enorm dilatirte Lymphräume. Die Knochencysten entstehen
anfangs immer durch Erweichung, doch mag es sein, dass die oft sehr
glänzend glatten Membranen, welche Räume der Art auskleiden, im
Laufe der Zeit wirklich secerniren können.
Während alle eben angeführten Arten von neugebildeten Cysten
J^eine Beziehungen zu Drüsenneubildungen haben, gehen die jetzt zu er-
Vurlesiiiifr 48. Cu[)ilcl XXf. 747
wäliiuiiulcn aus Adciioiucu hervor. Eine etwas unsiclierc Stellung' in
(lieser Jieilie haben die schon (p;iii'. 74!:^) erwähnten Cysten der Schihl-
driise, die Cy stenkröpl'c oder IJali^'kr r)])rc; unsicher insofern, ;ils
sie nicht ii'rade ;uis nenyehihleten Driisenbeeren oder Driisenröliren hcr-
vori;'ehen, sondern durcli Ausaniuduni;- von meist schleindy'eju »Sccret in
einem oder einii;en Thyreoidalbläsclicn; wenn man den Inhalt diesei'
Hläsclien als Secret bezeichnen will, wozu manchcidei berecliti^'en diiri'te,
so miisste man diese Cysten als Jietentionscystcn catei^orisiren. Da man
aber auch auf der andern Seite sagen kann, dass es doch bedenklicli
sein dürfte, von einem Secret der Schilddrüse zu reden, da der Inhalt der
Thyreoidalbläschen von manchen Anatomen als normaler AVeisc nur aus Zel-
len bestehend bezeichnet wird, so kann man die durch schleimige Erwei-
chung des Bläscheninhaltes entstandene Cyste' auch wiederum als neu-
gebildet betrachten. Mag man das nun so oder so nehmen, so steht
fest, dass die Cysten der Schilddrüse ganz solitär auftreten und recht
gross werden können. Uebrigens kommen fast in jedem grösseren, auch
in manchem kleinen, sonst festen Kropf ein oder mehre Cysten vor, deren
Wandung gewöhnlich sehr glatt ist. Grade die grossen und isolirten
Cysten dieser Art machen den Eindruck, dass sie vorwiegend Secretions-
cysten sind, während alle solche Höhlen in den ül)rigen Theilen sehr
grosser Kröpfe durch ihre erweichten, wie zerfetzten Wandungen weit
mehr den Eindruck von Erweichungscysten machen. Der Erweichungs-
process in der Schilddrüse endigt in der Kegel mit der Bildung einer
schleimigen Flüssigkeit; es giebt aber auch Cysten in dieser Drüse,
welche einen grauen bröckligen Brei enthalten, welcher wie Talgdrüsen-
brei aussieht und doch sich wesentlich dadurch unterscheidet, dass er
nur Detritus von Schilddrüsengewebe enthält-, ächten Atherombrei sah
ich noch nicht in Schilddrüsen.
Zu den complicirteren Cystengeschwülsten gehören die Cysto-
sarkome der Brustdrüse, von denen wir schon früher (pag. 727) ge-
sprochen haben, die Eierstocks- und Hodencystome, Cysto-Ade-
nome, Cysto-Sarkome und Cysto-Carcinome. Nach den neueren
Untersuchungen handelt es sich in den weitaus meisten dieser Fälle um
neugebildete Drüsenbeeren oder Drüseuröhven, von welchen sich End-
kolben abschnüren, wie dies normaler Weise bei der Bildung der Schild-
drüsen- und Eierstocksfollikel erfolgt. In diesen neugebildeten Follikeln
(vielleicht auch in den normalen Eierstocksfollikeln) wird eine schleimige,
weingelbe, bräunlichrothe oder dunkelbraune Flüssigkeit secernirt, durch
welche der anfangs nur mit dem Mikroskop sichtbare Follikel allmählig
immer mehr und mehr ausgedehnt wird. Entweder aus einem solchen
Follikel oder durch die Confluenz mehrer zu einer grösseren gemeinsamen
Höhle entstehen manchmal colossale Eierstockscysten^ Avelche den Leib
einer Frau mehr als im neunten Monat der Schwangerschaft ausdehnen
können. In andern Fällen entwickeln sich Hunderte bis Tausende solcher
nAQ Von den Gef^chwülsten.
Follikel und so eutstelien die miiltilociilären Cystengescliwülste des
Ovarium. — Der letztere Process kommt auch im Hoden vor, wenn-
gleich weit seltener als im Eierstock. In diesen beiden Organen, wie in
der Mamma und in der Schilddrüse ist schleimiger Inhalt der Cysten als
Eeg-el zu betrachten; doch es kommt in den neugebildeten Follicular-
cysteu des Eierstocks und des Hodens auch gelegentlich zu Fettsecretion
und zu massenhafter Epidermisproduction ; es bleibt dann bei der Bil-
dung von kohlkopfartig zusammengelagerten Hirsekorn- bis Erbsen-
grossen Epidermis -Perlen, wie ich dergleichen in Hodengeschwülsten
sah, oder es entwickeln sich grosse, Fettbrei enthaltende Cysten. Die
Wandung dieser Cysten, welche bis Kindskopfgrösse, ja in seltenen
Fällen noch grösser im Eierstock älterer Frauen gefunden werden, ist
gewöhnlich weit höher organisirt als die Wandung der Dermoidcysten
der Haut; denn grosse Mengen von Haaren, Talgdrüsen, ScliAveissdrüsen,
Papillen, selbst warzige Auswüchse befinden sich oft in der Wandung
dieser Cysten. Ja Knorpel- und Kuochenplatten mit Zähnen verschie-
denster Form werden darin gefunden, so dass der Gedanke nahe liegt,
es handle sich dabei um einen verunglückten Fötus, um eine unvoll-
kommene Befruchtung und Ovarialschwangerschaft mit einem nicht zur
regelmässigen Entwicklung gekommenen Individuum !
Ausser an den genannten Stellen kommen angeboren auch in der
Gegend des Os sacrum zusammengesetzte Cystengeschwttlste vor, welche
oft Flimnierepithel und neben mancherlei andern Geweben gelegentlich
auch drüsige, follikuläre Bildungen enthalten. Die Mannigfaltigkeit der
Gewebsformen in diesen angeborenen „Tumores coccygei" ist von den
verhältnissmässig einfachen Formen der Cystosarkome bis zu dem foetus
in foetu eine enorm grosse und lässt sich, ohne ganz in Details und
Casuistik einzugehen, hier nicht weiter erörtern. Vir c ho w nennt solche
Geschwülste, bei welchen ganze Organe oder vollkommen ausgebildete
Organtheile entstehen „Teratome" (von tsgag, Wunderwerk, Missgeburt).
Ich muss endlich noch der hier und dort in der Literatur beschrie-
benen Cysten er av ahnen, welche vollkommen flüssiges, venöses
Blut enthalten und mit glatten Wänden ausgekleidet sind. Manche
von ihnen füllen sich nach der Punction schnell wieder, andere langsam;
solche Cysten sind in der Achselhöhle, am Thorax, am Halse beobachtet.
Wenn wir diejenigen Fälle ausschliessen, in welchen Blutergüsse einem
schleimigen oder serösen Cysteniniialt ganz die Farbe dunkeln Blutes
gaben, und nur die Fälle berücksichtigen, in welchen es sich wirklich
allein um Blut oder Cysteninhalt gehandelt hat, so können diese Blut-
cysten kaum etwas Anderes als grosse Säcke an Venen, oder cavernöse
Venengeschwülste mit totaler Atrophie des Balkenwerks gewesen sein.
Alle die bis jetzt bekannt gewordenen Fälle sind durch Punction und
Jodinjection geheilt, so dass man nichts über die pathologische Anatomie
dieser Geschwülste sagen kann.
VdrlesuiiK '18. Ciipitcl XXI. 740
Die Diag'uosc cinev Cyste ist leicht, wcini mau die Gcscliwulst
sicher i)al|)ireii kann; man wird die Fluctuation nUilen; tiefliegende
Cysten sind oft sehr schwer als solche zu erkennen. Vcrwechslung'cu
mit andern abg-ekapselten Flüssigkeitsliöhlen sind möglich; ein I'rolje-
einsticli mit einem sehr feinen Trokart ist erla.ul)t, um die Diagnose
sicher zu stellen, wenn dies nämlich nothwendig ist, um darnach dies
oder jenes therapeutisclie Verfahren einzuschlagen. Es giebt verscliiedene
Dinge, mit w^elclien man eine Cyste verwechseln kann, z. B. kalte
Abscesse sind auch schmerzlose, zuweilen sehr langsam sich vcrgrösscrnde
fluctuirende Geschwülste. Auch die BlasenwUrmer, von denen zwei
Arten in äusseren Theilen des Körpers, nämlich im Unterhautzellgevvebe
vorkommen, Cysticercus cellulosae, die Finne, und Echin ococcus
hominis entwickeln sich, wenn auch sehr selten, im Unterhautzellgewehe
(noch seltner im Knochen); erstere ist eine kleinere, letztere eine
grössere Blase, welche melire kleinere entlialtcn kann; die Blase, aus
der das Thier besteht, liat immer noch einen neugebildeten Binde-
gewebssack um sich ; das Ganze maclit begreiflicherweise den Eindruck
einer Cystengeschwulst. Ich sah Cysticerkenblasen von der Nase und
von der Zunge exstirpiren, Eehinococcenblasen aus dem Unterhaut-
zellgewebe des Eückens und des Oberschenkels entfernen; in allen
Fällen wurde die Diagnose auf Cyste gestellt, nur in einem der letz-
teren Fälle auf Abscess, und in der That war hier anstatt der gewöhn-
lichen Abkapselung Eiterung um die abgestorbene Echinococcenblase
eingetreten. Ich liabe dies hier anhangsweise eingeschoben, weil wir
sonst gar keine Veranlassung haben, uns besonders mit den Parasiten
zu beschäftigen. Die zu Milliarden in den Muskeln des Menschen zu-
weilen eingestreuten Trichinen können nicht Gegenstand chirurgischer
Behandlung werden, w^enn auch nach den glänzenden Untersuchungen
von Zenker die Diagnose in vielen Fällen gestellt werden kann und
jetzt schon oft gestellt ist. — Die Hydropsien der subcutanen Schleim-
heutel und der Sehnenscheiden so wie die Spina bifida lassen sich auch
leicht mit Cystengeschwülsten verwechseln, wenn man nicht auf den
anatomischen Sitz dieser Anschwellungen Acht giebt. — Cystome können
auch mit andern gallertig weichen Sarkomen und Carcinomen und mit
sehr weichen Fettgeschwülsten verwechselt werden. Wie gesagt, wenn
die operativen Pläne die sichere Diagnose nothwendig verlangen, macht
mau die Probepunction. Was uns aber bei der Diagnose der Geschwülste
überhaupt vorwiegend leitet, ist die Erfahrung über ihren relativ häu-
figeren Sitz au diesem oder jenem Körpertheil; die Summe dieser Er-
fahrungen habe ich Ihnen bei jeder Cystenform immer angegeben und
werde auch in der Klinik später Ihre Aufmerksamkeit besonders auf
diesen Punkt richten.
Da die Prognose der Cystengeschwülste, die alle langsam wachsen,
wenn sie allein als Cysten ohne Complication entstellen, bereits in dem
750
Von den Geschwülsten.
früher Gesagten lieg-t, so können wir gleicli zur Behandlung derselben
tibergehen. Man kann auf zwei Arten die Cysten beseitigen, nämlich
durch Entleerung des Inhalts und örtliche Application von Mitteln,
welche eine zur Verschrumpfung des Cysteusacks führende Entzündung
anregen, oder durch die Exstirpation des Cystensackes ; das letztere ist
immer die einfachste und am schnellsten zum Ziele führende Operation,
und wir werden diesem Verfahren überall dort den Vorzug geben, wo
es leicht und ohne Lebensgefahr ausgeführt werden kann. Doch bei
den Eierstockscysteu, bei den Cysten der Gland. thyreoidea und anderen,
welche einen tiefen oder sonst gefährlichen Sitz haben, ist natürlich
eine andere ungefährliche Methode sehr willkommen, wenn sie nur
einige Aussicht auf Erfolg bietet. Wir können eine Schrumpfung des
Sackes nach vorgängiger Entleerung des Inhalts theils durch einen sup-
purativen, theils durch einen milderen, mehr trockenen Entzttndungs-
process erzielen. Spalten Sie die Cystenwandung der ganzen Länge
nach und halten Sie die Schnittränder auseinander, so wird sich eine
Eiterung und Granulationsbildung auf der zu Tage gelegten Innenwan-
dung der Cyste etabllren mit Ausstossung der daran haftenden Geschwulst-
elemente oder des Epithels ; der Sack verschrumpft dann allmählig nar-
big, und so kommt er erst zur Verkleinerung, dann zur Heilung; doch
kann dies zuweilen viele Monate dauern. Sie können dasselbe Ziel
auch auf mehr subcutanem Wege erreichen, wenn Sie durch die Ge-
schwulst an einer oder mehren Stellen Ligaturen oder Röhren legen;
durch die eintretende Luft und den Eeiz der durch die Bälge gelegten
Röhren oder Ligaturen tritt an der Innenwandung derselben ebenfalls
eine Eiterung und Granulationsbildung auf, welche im günstigsten Falle
auch zur Verschrumpfung führt; oft freilich erfolgt dies nicht in der
gewünschten Weise oder erfordert wenigstens Monate und Jahre zum
Abschluss, so dass von diesen beiden Methoden die erstere vorzuziehen
ist; sie findet besonders bei den Cysten am Halse Anw^endung. Eine
Verschrumpfung der Cyste und ein Versiegen ihrer Secretion kann man
noch auf eine andere Weise erreichen, nämlich durch Function mit
nachfolgender Injection von Jodtinctur; wir haben über die Wirkung
dieser Behandlung schon früher (pag. 580) gesprochen. Das Resultat
der Jodinjection besteht auch hier darin, dass zunächst nach der Injec-
tion eine heftige Entzündung des Sackes mit sero-fibrinöser Exsudation
erfolgt; das Serum wird dann resorbirt und der Sack zieht sich zu-
sammen. Die Jodinjection ist besonders da anzuwenden, wo man es
nicht mit erweichtem Gewebe als Inhalt, sondern mit einer von dem
Sack vorwiegend secernirten Flüssigkeit zu thun hat, also besonders
bei Cysten mit serösem Inhalt und einzelnen Arten von Schleimcysten.
Bei Cystenkröpfen macht man die Function und Jodinjection oft mit
glänzendem Erfolg; es kommt aber sehr darauf an, welche Methode Sie
dabei in Anwendung ziehen, w^ovon mehr in der Klinik. Die aus er-
Vorlosnno' 41). Capilcl XXT. 751
weiclitem Gallertgewebe hcrvorg'cgang'cnon Cystoiuo und die Fettcystcii
eig-iieu sicli nicht recht für die Jodiiijcctioiicn; es erfolgt danacli leicht
sehr heftige Entziiiiduiig iiiul Jauchimg mit Gasentwicklmig, so dass
man nacliträglicli zur Spaltung des ganzen Sackes gezwung-en werden
kann. Auch sehr dicke Wandungen des Sackes, welclie gar nicht oder
wenigstens nur sehr langsam zur Schrumpfung kommen können, eignen
sich nicht für die Jodinjection. So findet man zumal unter den Hals-
cysten manche, welche für diese Behandlung passend sind, andei-e
welche es wegen zu dicker Wandung nicht sind. Auch von den Ovarial-
cystomen passen leider nur wenige für die Behandlung mit Injection,
so dass man in neuester Zeit die Behandlung dieser Geschwülste mit-
telst Laparotomie fast als das einzige sichere operative Verfahren auf-
stellt, wobei man im Lauf der letzten Jahre immer günstigere Resul-
tate erzielt hat, — Endlicli ist noch zu erwähnen, dass es Fälle giebt,
in welchen man am besten thut, jeden operativen Eingriff zu unterlassen;
ich würde es z. B. für eine Thorheit halten, einen alten Mann, der eine
Anzahl von Atheromen am Kopf trägt, zu überreden, sich diese Ge-
sehwülste exstirpiren zu lassen; ein etwa hinzuti'ctendes Erysipelas ca-
pitis könnte unter solchen Verhältnissen tödtlich werden.
Vorlesung 4 9.
13. Carcinome: Historisches. Allgemeines über die anatomische Structur. Metamor-
phosen. Verschiedene Formen. Topographie: 1. Aenssei'e Haut und Schleimhäute mit
, Plattenepithel. 2. Milchdrüsen. 3. Schleimdrüsen mit Cylinderepitliel. 4. Speicheldrüsen
und Vorsteherdrüse. 5. Schilddrüse und Eierstock — Therapie. — Kurze Bemerkungen
über die Diagnose der Geschwülste.
13. Carcinome. Krebsgeschwülste.
Um Ihnen eine Vorstellung zu geben, wie man früher Geschwülste
diagnosticirte , und wie viele der jetzt noch gebräuchlichen Namen ent-
standen sind, will ich Ihnen einen betreftenden Passus aus dem elassi-
schen, weil in seiner Zeit auf dem höchsten Standpunkt stehenden Werk
von Lorenz Heister mittheilen, einem. Buch, dessen dritte Auflage
vom Jahre 1731 ich vor mir habe. Doi-t heisst es (pag. 220): „Ein
Scirrhus wird genannt eine uuschmertzhaffte Geschwulst, welche in
allen Theilen des Leibes, sonderlich aber in den Drüsen zu entstehen
pfleget, und hat zur Ursach eine Stockung und Vertrucknuug des Ge-
blüts in dem verhärteten Theil." — pag. 306: „Wenn ein Scirrhus weder
resolvirt, noch in Ruhe kan erhalten werden, noch bey Zeiten ist veg-
genomraen worden, so werden dieselben entweder von selbsteu, oder
durch üble Curation, bösartig, das ist, schmertzhafft und entzündet, in
752
Von den Geschwülsten.
welchem Stande man es anfängt Krebs oder Carcinoma, auch Cancer
zu nennen; wobej offt die dabey liegenden Adern dicke aufschwellen,
und sich gleichsam wie die Füsse eines Krebses ausdehnen (welches
aber doch nicht bey allen geschiehet), als wovon dieser Affect seinen
Namen bekommen hat; welcher in Wahrheit einer von den schlimmsten,
bescliwerlichsteu, grausamsten, und schmertzhafftesten Krankheiten ist.
Wenn derselbe noch die gantze Haut über sich hat, wird er ein ver-
borgener (Cancer occultus) genannt; wenn aber die Haut geöffnet, oder
exulcerirt ist, nennt man es einen offenen oder exulcerirten Krebs,
und folget dieser ordentlich auf jenen."
Es ist noch gar nicht lange her, dass man sich in dem naiven
Glauben befand, man habe an dieser Art von Vergleichungen und Be-
sehreibungen etwas Reelles, etwas practisch Brauchbares. Wird man in
hundert Jahren über unsere jetzigen anatomisclien und klinischen Defini-
tionen lächeln, wie wir es jetzt thun, wenn wir den guten alten Heister
reden hören? Wer weiss? Die Zeit gelit mit Riesenschritten, und ehe
man sichs versieht, kommen Dinge zu Tage, welche die mühsamen
Arbeiten der rüstigsten jungen Forscher in kürzester Frist- historisch
machen.
Wir gehen immer in den Naturwissenschaften höchst ungern daran,
kurze Definitionen zu geben, weil dies in der That wegen des Uebergau-
ges des einen Processes in den andern und der einen Bildung in die
andere oft nahezu unmöglich ist. — Ueber die Carcinome kann man in
klinischer Beziehung sagen, es sind Geschwülste, welche in hohem Grade
infectiös sind, und zwar wird diese Infectiou, welche sich zunächst auf
die Lymphdrüsen, später eventuell auch auf andere ferner liegende Or-
gane erstreckt, wahrscheinlich vorwiegend durch die Verschleppung von
Elementen (ob nur von Zellen oder auch von Saft, bleibt noch dahin-
gestellt) aus der Geschwulst durch die Lymphgefässe und Venen ins
Blut zu Stande gebracht.
Diese schon seit langer Zeit bestehende Vorstellung, welche man
sich von Carcinom (von icaQxivog Krebs) gebildet hat, sollte nun durch die
anatomische Structur dieser Geschwülste controlirt werden und man suchte
nach Mitteln, die Carcinome von ähnlich aussehenden Geschwülsten sicher
zu unterscheiden. Die classischen Monographien eines As tley Cooper
über die Krankheiten des Hodens und der Brustdrüsen (letztere leider
unvollendet) zeigen, dass man durch ein sorgfältiges Studium der mit
freiem Auge wahrnehmbaren Merkmale sehr Bedeutendes erreichen kann,
wenn man sich auf ein bestimmtes Organ beschränkt; eine Verallge-
meinerung ist indess allein mit den Hülfsmitteln der anatomischen Prä-
paration nicht durchführbar, ja sie ist, wie wir es im Laufe dieser Vor-
lesungen oft genug gefühlt haben, auch mit unseren jetzigen Hülfsmitteln
schwierig, so dass ich es Virchow nicht verargen kann, wenn er in
seinem grossen Werk über Geschwülste eine möglichst genaue Detailliruug
Vorlosmig 49. Capifd XXT. 753
der einzelnen Gescliwulstformen an bestimmten Localitäten zu geben sucht,
und den allgemeinen sclnvicvigen kliuisclieu Fragen gern aus dem Weg3
g-elit. Hier, wo wir uns kurz fassen müssen, um unseren Vorstellungen eine
vorläufige anatomische Basis zu g-eben , sind wir genöthigt, uns etwas
bestimmter und summarischer auszudrücken. — Nachdem das freie Aug-e
nicht melir zur Diagnose der Geschwülste ausreichte, nalim man das
Mikroskop zu Hülfe und suchte nach charakteristischen Theilchen, welche
allen denjenigen Gesell wülsten in g-leicher Weise zukommen sollten,
deren klinische Eigenschaften wir oben erwähnt haben. Doch man
mochte das Charakteristische der zelligen Elemente in den Forsätzen
derselben, in der Grösse der Kerne oder der Kernkörperchen suchen,
es wollten die klinischen und anatomisclien Eigenschaften sich nicht
immer congruent bleiben. Als sich nun die Krebszellen als Steck-
briefe für die Carcinome unbrauchbar erwiesen hatten, suchte man die
charakteristischen Eigenschaften in der ganzen Architektonik der Ge-
schwülste: die alveoläre Structur sollte das anatomische Merkzeichen
sein. Auch damit stösst man bald hier bald dort an: die netzartige
Formation neugebildeten Lymphdrüseugew^ebes kann man auch als „al-
veolär" bezeichnen, und wenn man auch zugiebt, dass die Lymphom-
netze so eigenthümlich durch ihre Form charakterisirt sind, dass sie
leicht auszuschliessen sind, so bleiben doch noch manche Chondrome
und Sarkome, zumal die Riesenzellen- und andere grosszelligen Sarkome,
Formen, welche wir gradezu als alveolare Sarkome bezeichnet haben
(pag. 714 und 717), besonders aber die interstitiell villösen und die plexi-
formen Sarkome als Doppelgänger der Carcinome übrig. Dennoch halten
selbst pathologische Anatomen von Fach daran fest, die alveolare und
adenoide Structur und die Infiltration der neuen Bildung in das be-
stehende Gewebe als allein entscheidend für die Bezeichnung „Carcinom"
zu halten.
Seitdem die anatomischen Studien, zumal die Genese der neuge-
bildeten Gewebe durch Virchow eingeführt und als wesentliches Ein-
theilungsprincip anerkannt ist, sind wir aller eben erörterten Schwierig-
keiten entledigt. Jetzt entscheidet nur die anatomische Ent-
wicklung, was ein Krebs zu nennen ist: der Kliniker untersucht
dann, wie sich die so und so entstandenen und zusammengesetzten
Krebse verhalten, wo sie infectiös sind, wo nicht, ob sie rasch oder
langsam verlaufen, ob sie gewöhnlich multipel oder solitär vorkommen,
wo sie am häufigsten entstehen, wie sie erfahrungsgemäss am besten zu
behandeln sind etc. und es ist höchst interessant, wie mit der im-
mer detaillirteren anatomischen Ordnung auch entsprechende klinische
Differenzen immer deutlicher hervortreten. Die meisten modernen patholo-
gischen Anatomen und Chirurgen sind übereingekommen, nur diej enigen
Geschwülste ächte Carcinome zu nennen, welche einen den
ächten Epithelialdrtisen (nicht den Lymphdrüsen) ähnlichen
Bülrotli chir. Pnth. u. Ther. 7. Aufl. 48
>7{^A Von den Geschwülsten.
Bau imitiren uud deren Zellen Abkömmlinge achter Epi-
tlielien sind.
Ich bin überzeugt, dass diese Auffassung immer mehr Anhänger finden wird und
dadurch die Differenzen über die Begrenzung des anatomischen Begi-iffes ^Carcinom''
völlio' schwinden werden. Diejenigen Forscher, welche im Lauf der letzten Jahre mit
allen modernen Hülfsmitteln ohne Vorurtheile auf diesem Gebiet der Geschwulstlehre ge-
arbeitet haben, erkeimen die grosse Bedeutung der Epithelwucherungen für diejenigen
Geschwülste, welche Avir Krebs zu nennen pflegen, an, doch die meisten suchen noch nach
einem Compromiss zwischen den verschiedenen histogenetischen Anschauungen und wollen
die Entstehung von wahren Drüsen- und Epithelzellen aus Bindegewebe (eigentliche
Heterologie) noch modificirt zulassen (Rindfleisch, Volkmann, Klebs, Lücke,
Eberth, Biesiadecki, Gussenbauer), nur T hier seh und in neuster Zeit Waldeyer
halten, wie ich, die strenge Grenze zwischen Epithelial- und Bindegewebszellen fest.
Waldeyer, der mit hervorragendem Erfolge auf diesem Gebiet gearbeitet hat, definirt
das Carcinom als eine atypische epitheliale Neubildung. Es muss jedoch gleich
hier bemerkt werden, dass sich in den Krebsgeschwülsten ausser den Epithelien auch noch
sehr viele junge kleine runde Zellen finden, welche, in den Bindegewebstheil der Geschwulst
infiltrirt, einen nicht unwichtigen Theil dieser Neubildungen ausmachen. Diese kleinzellige
Bindegewebsinfiltration, welche sich bald mehr, bald weniger, doch überall findet, wo
epitheliale Wucherungen in das Gewebe hineinwachsen, scheint durch eine Art von
Reaction veranlasst und eine Folge des Vordringens der Epithelbildungen ins Gewebe zu
sein; sie führt je nach der Menge der infiltrirten Zellen und ihrem ferneren Schicksal,
sowie nach dem Grade der Vascularisation , wie beim Entzündungsprocess bald zur Er-
weichung, bald zur Schrumpfung und nai'bigen Verdichtung des Gewebes. In manchen
Fällen wird diese kleinzellige Infiltration so bedeutend, dass sie die epithelialen Neu-
bildungen, — von welchen sie, wenn letztere klein sind, sehr schwer unterscheidbar sein
können, — fast völlig verdecken ; man kann dann zweifelhaft werden, ob sie nicht als völlig
selbstständige, auch gelegentlich vielleicht allein sicher zu erkennende Bestandtheile der
Krebsgeschwülste betrachtet werden sollten. Ich habe dies selbst früher zugeben zu müssen
geglaubt, und auch eine selbstständige Infectionsfähigkeit dieses Bestandtheils der Carcinome
für nicht unwahrscheinlich gehalten; weitere Beobachtungen mit neueren Hülfsmitteln
haben es mir jedoch immer wahrscheinlicher gemacht, dass auch in den kleinsten Ki-ebs-
knoten die epithelialen Elemente in proliferer Action sind. Die Epithehalzellen und der
Boden , auf welchem sie wachsen und von welchem sie ihren Ernährungsstoff beziehen,
stehen im innigsten Verhältniss zu einander. Es giebt viele Beobachtungen, welche es
zweifellos darthun, dass die zellige Infiltration des Bindegewebsbodens eine vermehrte
Wucherung des aufliegenden Epithels zur Folge haben, und es wäre somit nicht undenkbar,
dass der erste Anstoss zur atypischen adenoiden Wucherung durch einen irritativen Zu-
stand des epithelialen Bodens gegeben wäre. Es ist jedoch ebenso möglich und wahr-
scheinlich, dass die Epithelwucherung der erste formative Vorgang bei der Carcinom-
entwicklung ist, wie wir es anzunehmen pflegen. Directe Beobachtungen darüber kann
es nicht geben; die Bindegewebsinfilti-ation ist immer gleichzeitig mit der Epithelialwucherung
da; dies erschwert die Untersuchung der ersten Stadien bis in die neueste Zeit so ungemein,
dass man nur bei Auswahl günstiger Objecte (z. B. beim flachen Krebs der Haut) eine
bestimmte Ueberzeugung von der Richtigkeit unserer Anschauung gewinnt, während man
benn Studium so schwieriger Objecte, wie z.B. infiltrirter Lymphdrüsen, in denen sich
die verschiedenartigsten Zellen während des Lebens rasch regellos untereinander schieben,
genug Bilder finden wird, welche mehr der früher auch von mir getheilten Virchow'sehen
Anschauung entsprechen, die darin besteht, dass die epithelialen Krebszellen auch durch
A\ucherung von Bindegewebszellen entstehen können, eine Anschauung, die auch in der
Jüngeren Schule wieder Anhänger findet, welche die typischen Formen der Gewebsbildung
Vorlesung 41). Ca])itcl XXL 755
ans den Keimbläf-tern entweder iilicrlinu])! nitlil inirrkcmicii ddcr ilirc iiidjcdingte Gelliini^- für
die patliolugi.sclien Neid)ilduiig(>n inclil /.iigclicn will. Si'ildciii diese l<'rago Ofiisthan dis-
ciilirl isf, liat sie iiielilr mir in einzelnen (Jeneralionen, sondern aiicli in (■inzelneu ICclpfen
schon wiederlioll; einen Kreislauf dnrcligenuicld.. Ich kann liier luelit, Alle.s wiederiiolen,
was ich früher (pag. 86) über die Bildung und Vcrnielirmig walirer Kpithelien gesagt
habe; nur das will ich noch hinzufügen, dass die Carcinoni- und Epithclialformen, welclie
sich in den primären Carcinonien finden, auch immer in den Infectionsges(;hwülsten der
Lymphdrüsen gefunden werden. Dies scheint mir in holiem Grade für die Verschleppung
zelliger Elemente 7.11 sprechen, denn dass z. B. Saft aus einem Cylinder-Epithelkrebs die
Fähigkeit haben sollte, die Zellen der Lymphdrüsen zu bestimmen, Cylinderepithelien zu
prodnciren, ist doch kaum denkbar.
Besonders wichtig und schwierig ist es, in anatomischer Beziehung eine Grenze
zwischen Adenomen und Carcinomen, sowie auch zwischen den complicirten Formen der
Sarkome und den Carcinomen zu ziehen, da die GescliAvulstformen Mancherlei mit ein-
ander gemein haben, ja in einzelnen Theilen, abgesehen von ihrer Genese, vollständig
gleich aussehen können. Die reinen Adenome sind aus neugebildeter Drüsenmasse zu-
sammengesetzt, welche der normalen vollkommen analog ist oder wenigstens ausserordent-
lich nahe steht; das die neugebildeten Acini umgebende Bindegewebe verhält sich zu
den nengebildeten Acini wie zu den normalen, es ist ganz unverändei't, oder nur in sehr
geringem Maasse kleinzellig infiltrirt. Bei den Sai-komen in Drüsen ei'folgt in der
Eegel keine Neubildung von Drüsenacini, sondern die Sarkommasse schliesst die ent-
weder normal gebliebenen oder erweiterten Drüsenräume mit Epithelzellen, die bedeutend
vermehrt und vei-grössert sein können, nur ein. Das Carcinom ist aber dadurch charak-
terisirt, dass die epitheliale Decke einer Haut oder Schleimhaut, oder die epitheliale Aus-
kleidung von Drüsenhöhlen in Form von rundlichen Kolben und Beeren (acinös) oder in
Form von runden Cylindern oder Walzen (tubulös) in das Gewebe der Haut und tiefer
hineinwächst, in gleicher Weise, wie dies im Fötus der Fall ist. Die Epithelialzellen
pflegen in den meisten Fällen dabei ihre Form beizubehalten, nur oft weit grösser als
normal zu werden. Die Form der Drüsen, von welchen diese Bildungen ausgehen, bleibt
auch für die Neubildung im Allgemeinen typisch; doch es bleibt eben bei unregelmässigen
Formen von Drüsenanlagen, nur äusserst selten kommt es zur Bildvmg von Hohlräumen
und zu einer eigentlich secretorischen Thätigkeit in diesen Hohlräumen. Neben diesem
epithelialen Theile dieser Geschwülste verhalten sich das Bindegewebe, die Knochen, die
Muskeln etc., in welche die Einbrüche von Seiten des Epithels erfolgen, folgendermaassen :
man findet dasselbe bald von normaler, bald von abnormer Festigkeit, bald äusserst weich,
fast schleimig, in der Regel im Verhältniss zu den Epithelialmassen an Menge zurück-
stehend. Es pflegt von kleinen runden (Wander-) Zellen durchsetzt zu sein, oft in so
hohem Maasse, dass kaum noch Fasergewebe übrig bleibt; in seltnen Fällen kann es sogar
den Bau von Granulations-, Spindelzellen-, selbst alveolaren Sarkomen haben und dem
Untersucher grosse Verlegenheiten in Betreff der Classification bereiten; meist sind die
inflltrirten kleinzelligen Elemente diffus im Krebsgerüst (Bindegewebsgerüst) zerstreut;
sehr selten findet man mehre Zellen gemeinschaftlich in einem Spalt zwischen den Binde-
gewebsbündeln angehäuft. Beim Vordringen in den Knochen wird letzterer aufgezehrt
wie bei der Cai-ies. Ich habe mich nicht überzeugen können, dass bei den knotigen und
inflltrirten Formen ächter Krebse eine Neubildung von Bindegewebsfasern Statt hat,
ebensowenig wie ich dabei Knochenneubildungen fand; dass aber bei den später noch
besonders zu besprechenden papillären und zottigen Formen eine solche Neubildung Statt
hat, ist ausser allem Zweifel. — Sie sehen aus dieser Schilderung, meine Herren, dass
der Ausdruck Waldeyer's, die epitheliale Neubidung in den Carcinomen sei
eine atypische (tissu heteroadenique Eobin) , auch sehr treffend ist, um die Carcinome
von den Adenomen, als tvpischen epithelialen Neubildungen, abzugrenzen.
48*
Ygg Von den Geschwülsten.
Was die Gefässe bei der Carcinomentwicklung betriift, so kann man sich durch
künstliche Injection überzeugen, dass die Gefässerweiternng nnd Neubildung durch Schlän-
»eluno-en und Schlingenbildungen eine sehr bedeutende ist; nur die bindegewebigen
Theile der Geschwülste sind vascularisirt , die epithelialen bleiben frei; dies
ist ein sehr wichtiges anatomisches Kriterium, ebenso, dass die wahren epithelial,en
Krebszelle n nie mit einander verschmelzen, wie es bei den grossen epitheloiden Zel-
len mancher Sarkome vorzukommen scheint; auf letztern Umstand hat mit Recht Waldeyer
ein o-rosses Gewicht gelegt. — Durch die eben hervorgehobenen Eigenschaften finden wir
selbst in den schwiei'igsten Fällen doch immer die genetischen Diffei-enzen zwischen Sar-
komen und Carcinomen heraus. Die ersten Anfänge plexiformer Sarkome und Carcinome
sind oft kaum von einander zu unterscheiden (man vergleiche Fig. 1.51 mit Fig. 176 u.
177), in beiden Fällen sind die Formen äusserst drüsenähnlich. Doch im Lauf der wei-
teren Entwicklung ändert sich das: die Zellencylinder der Sarkome sind entweder schon
von Gefässen ausgegangen, oder es wachsen bald Gefässe in sie hinein, während dies
bei den Carcinomen nie geschieht, sondern die Cylinder selbst, wenn sie sehr gross
werden, gefässlos bleiben, oder sich in ihnen ähnlich wie bei Entstehung von Drüsen
ein Hohlraum bildet. (Man vergleiche Fig. 151 6 mit Fig. 183.)
Weiter glaube ich hier nicht in der allg-emeinen histologisehen
Skizzirung' dieser Geschwülste gehen zu dürfen und hoffe, dass Ihnen
dieselben hiernach wohl erkennbar sind. — Ich muss es meiner ganzen
histogenetischen Auffassung nach für unzulässig erklären, dass ein Epi-
tlielialkrebs primär in einem Knochen oder in Lymphdrüsen entstehen
kann. Die mir bekannten Beobachtungen der Art (am Unterkiefer, an
der vorderen Fläche der Tibia, in den Lymphdrüsen des Halses) sind
für mich wegen der grossen Nähe der Haut und Schleimhaut nicht be-
weisend genug ; es könnte eine unbedeutende carcinomatöse Erkrankung
der Haut oder Schleimhaut bestanden haben und der Ausgangspunkt
der Erkrankung gewesen sein, ohne dass dies beachtet wäre.
Das Aussehen des Durchschnittes dieser Geschwülste und ihre Con-
sistenz ist so verschieden , dass sich darüber im Allgemeinen nichts
sagen lässt.
In den weitaus meisten Fällen treten die Carcinome als Knoten auf;
auch als Infiltration und Induration sonst weicher Gewebe oder in Form
von papillären Wucherungen, Selten sind die erkrankten Partien vom
gesunden Gewebe durch eine Bindegewebskapsel streng gesondert; in
den meisten Fällen ist vielmehr der Uebergang vom Gesunden zum
Kranken ein allmähliger. Es giebt Fälle, in welchen man überhaupt
nicht von einer Krebsgeschwulst, sondern nur von einer krebsigen Infil-
tration sprechen kann, weil keine Vergrösserung, sondern vielleicht
sogar eine Verkleinerung des betroffenen Organs damit verbunden ist.
Es ist ferner charakteristisch für die Carcinome, dass ein Theil der Neu-
bildung oft sehr kurzlebig ist, direct oder nach vorhergegangener fettiger
Degeneration zerfällt, resorbirt wird und nun sich das infiltrirte Faser-
gewebe zu einer festen Narbe zusammenzieht. Ausser dieser narbigen
Schrumpfung und nicht selten neben derselben kommen aber Erweichungs-
processe sehr häutig, vielleicht noch häufiger als Schrumpfung, jeden-
Vorlesung' ID. Capitcl XXT. 757
falls in ausgedehnterer Weise vor. Diese Erweichung' wird meist durch
fettigen Zerfall der Zellen und käsige Metamorphose eingeleitet; centrale
Erweichung mit Aufbruch nacli aussen, Entwicklung eines jauchigen
Gescliwiirs mit pilzartig umgelegten Rändern ist sehr charakteristisch
für Careinome. — Auch die Schleimmctairiorplu)SC des Zellenprotoplasmas
ist ein Vorgang, der sicli in manchen Drüsencarcinomen, relativ am
häufigsten in denen der Leber, des Magens, des Rectum einstellt; selten
befällt diese Schleimmetamorphose auch das Bindegewebsstroma. Man
"nennt diese Schleimkrebse auch Gallertkrebse oder Coli oid krebse.
— Wenn sich krebsige Degenerationen an der Oberfläche von Häuten
entwickeln, so kann sich dabei die Papillarschicht so vergrössern , die
einzelnen Papillen können so enorm hypertrophisch werden, dass diese
Bildungen wesentlich in den Vordergrund treten, wie bei manchen Pa-
pillär krebsen (destruireude Papillome) der Lippen- und Magenschleim-
haut, der Portio vaginalis und wie bei den Zottenkrebsen, welche
in Form deutritisch verzweigter grosser Papillen auf der Harnblasen-
schleimhaut sich entwickeln. Herrscht die narbige Schrumpfung in einem
Carcinom vor (wie das in manchen Brustdrüsenkrebsen der Fall ist), so
entstehen sehr harte Geschwülste oder Indurationen, welche man von
Alter her Scirrhus nennt. — Manche Careinome sind braun oder
schwarz pigmentirt; doch sind im Ganzen Melano-Carcinome
äusserst selten. Die meisten weichen Melanome sind Sarkome. —
In Betreff des Verlaufs der Careinome habe ich schon bei den
Sarkomen (pag. 721) Einiges angeführt, um den Unterschied hervorzu-
heben; hier betone ich noch einmal, dass die Careinome immer zuerst
die näclistgelegenen Lymphdrüsen inficiren. Oft geht die Infection nicht
darüber hinaus; in anderen Fällen kommt es auch zu metastatischen
Geschwülsten in inneren Organen und in den Knochen. In den Lymph-
drüsen scheinen indess die kleinen epithelialen Keime den günstigsten
Boden zu ihrer Entwicklung zu finden. Die Schnelligkeit des Verlaufes
ist eine äusserst verschiedene, wir werden bei der Topographie der Car-
einome darauf näher eingehen. — In den meisten Fällen werden keine
Gelegenheitsursachen für die Entwicklung der Careinome bekannt, in
seltenen Fällen sind Verletzungen und Ulcerationsprocesse vorausge-
gangen. — Was man unter Krebskachexie und specifisch kachectischem
Aussehen der Krebskranken hört und liest, kann ich nach meinen Beob-
achtungen wenig bestätigen. Ein Krebskranker wird, endlich marantisch,
wie jeder andere Mensch der an einer schweren Störung in der Func-
tion wichtiger Organe leidet und welcher aus zerfallenden Gewebspar-
tikeln Zersetzungsstoffe in sich aufnimmt; er wird anämisch durch
Blutungen, Störungen der Verdauung und durch Nahrungsmangel; dann
magert er rasch ab und bekommt die wachsgelbe, bräunliche, auch wohl
bräunlich-grünliche Farbe, je nach der Farbe seiner Haut, wie andere
Individuen unter gleichen Verhältnissen; etwas Besonderes habe ich dabei
758
Von den Geschwülsten.
nicht finden können. — Dass solche Kranken einen Ansteckungsstoif
verbreiten, wie hier und da die Meinung- herrscht, dafür liegt nichts vor.
Sie werden jetzt schneller zur Uebersicht der verschiedenen Krebs-
formen gelangen, wenn wir sie mit Eücksicht auf ihren Ursprung und
die Localitäten, wo sie am häufigsten vorkommen, genauer betrachten
wobei wir sowohl in die histologischen Details als in den klinischen
Verlauf der Carcinome näher eingehen können.
1. Aeussere Haut (Cutis) und Schleimhäute mit Pflaster-
epithelien. Hautkrebse. Vulgäre Epithelialcarcinome (speciell
so genannt, weil man an ihnen zuerst und bis vor Kurzem allein erkannte,
dass die Hauptmasse des Krebsgewebes aus Epithelien bestand). Can-
croide (krebsähnliche Geschwülste; man wählte diesen Namen früher,
weil man diese Hautkrebse nicht für so bösartig hielt, wie diejenigen
Krebsformen, welche man in den Brustdrüsen beobachtete, welche fast allein
als Typus ächter Krebse galten).
Die Cutis ist von einer Epithelialschicht bedeckt, von welclier beim Fötus verschie-
dene Einwachsungen ins unterliegende Gewebe erfolgen, nämlich die Haarbälge mit Haa-
ren und Talgdrüsen und die Schweissdrüsen. In gleicher Weise entstehen die Schleim-
drüsen an den Schleimhäuten. Es wird zwar vielfach behauptet, dass alle diese Gebilde
epitheliale Auswachsungen machen können, und ich will nicht daran zweifeln, doch ist
der Nachweis von epithelialen Einwachsungen am leichtesten immer für das Rete Mal-
pighii zu führen. Demnächst ist eine bedeutende Anhäufung von Epithelien in den Talg-
drüsen und Mundschleimhautdrüsen und eine Vergrösserung derselben ebenfalls häufig zu
Fig. 166
t \{^
y- y
Beginnender EpithehaUu-ebs des rothen Lippensaums, Einwachsungen des Rete Malpi^hii
ins Gewebe der Lippe. Verhornter Schorf. Die Blutgefässe injicirt. Vergrösserung ^30.
Vorlcsmi-.- 1!). Cnpifel XXF.
759
constatiren; weniger oft kümmf dagegen eine Betlieiiigiing der Ilaarbälge und der Seliweiss-
driisen vor. Die jungen Zellen des Kete bcluiKeii im Anlang hei diesen Einwaeiisungen
durchaus ihre Form und Grösse; selbst ihr Verhällniss zum Bindegewebe der Cutis bleibt
dasselbe, indem diejenigen Zellen, welche dem Bindegewebe am nächsten liegen, wie auf
den normalen Papillen der Cutis die cyliudriscbe Form und Richtung behalten.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die epithelialen driisenähnliclien Einwachsungen
niciit selten in Räume zwischen die Bindegewebsbündel hineinwachsen, in welchen Lymphe
circulirt, denn hier bietet das Gewebe am wenigsten Widerstand. Küster glaubt nach"
Fig. IGT.
Flacher Epithelialkrebs der Wange; drüsige Einwachsungen des Rete Malpighü in das
kleinzellige infiltrirte Bindegewebe. Vergrösserung 400.
gewiesen zu haben , dass alle diese Schläuche und Cylinder in den Lymphgefässen und
nur in ihnen liegen. Wenngleich seine Beweise für diese Ansicht nicht alle stichhaltig
sind, so hat dieselbe Immei-hin etwas sehr Bestechendes, weil man auf diese Weise leicht
verstehen würde , warum grade bei diesen Carcinomformen die nächstgelegenen Lymph-
drüsen zuweilen schon sehr früh inficirt werden.
Im weiteren Verlauf treten nun in diesen Epithelialschläuchen Veränderungen auf;
es ballen sich einzelne Zellenhaufen zusammen und formiren Kugeln , welche nach und
nach durch neu umlagerte Zellen von der Form der Plattenepithelien wachsen und so
die kohlkopfartig zusammengesetzten Epidermiskugeln (globules epidermiques, Cancroid-
kugeln, Epithelialperlen) bilden, welche das Erstaunen der ersten Untei-sucher in höchstem
Maasse erregten.
Es ist am wahrscheinlichsten, dass diese Kugeln, die wir sclion an Sarkomen kennen
gelernt haben (pag. 715), wo wir sie Endothelialperlen nannten, so entstehen, dass eine
Quantität von zusammengeballten Zellen aus sich heraus durch Theilung sich vermehren
und dass die peripherischen Zellenlagen durch Druck gegen eine wenig dehnbare Um-
gebung abgeplattet werden; je grösser dann diese Perlen werden, um so mehr treten sie
aus den Zellencylindern hervor und erscheinen daher häufig an den Endpunkten der
drüsigen Kolben. Unter den Zellen im Innern der Perlen, vv^ie auch sonst in den übrigen
epithelialen Theilen dieser Geschwülste sieht man oft solche mit vielen Kernen, auch grosse
Zellkörper, welche Tochter- und Enkelzellen eingeschlossen haben. In manchen dieser
Carcinome hat man auch Stachel- und Riffzellen in grosser Menge gefunden, wie in den
Grenzschichten zwischen Schleimschicht und Hornschicht der Epidermis; leider sind die-
760
Von den Geschwülsten.
selben nicht constant und bei jungen Epithelzellen noch nicht ausgebildet, so dass man
diese Stacheln und Riffe an den Zellen nicht als Merkmal für ächte Epithelialzellen be-
trachten kann. Sind die Epithelialmassen tief ,ins Gewebe hineingewuchert, und macht
Fig. 168.
Elemente eines wuchernden Hautcarcinoms der Lippe. (Frische Präparate mit Zusatz
von ganz diluirter Essigsäure.) a Einzelne Zellen mit endogenen Kerntheilungen. —
6 Ein Cancroidzapfen mit concentrischen Kugeln und äusserem cylindrischem Epithel. —
Eine aus einander gequetschte Epithelialperle. — Vergrösserung 400.
man dann in diesen tieferen Lagen durch eine erhärtete Geschwulst der Art einen Ab-
schnitt, so erhält man ungefähr folgendes Bild (Fig. 169), an welchem die mit Epithel
gefüllten Alveolen sehr wohl von dem wabenartig gewordenen Bindegewebe zu unter-
scheiden sind.
Die Gefässe in diesem Bindegewebssti'oma gestalten sich etwa wie in Fig. 170a,
während Fig. 170 i eine Gefässwucherung in vergrösserten Papillen einer Glans penis
zeigt, wie sie gleich bei Entwicklung der ersten epithelialen Wucherungen erfolgt war.
Während im letzterwähnten Fall die Papillarhypertrophie , wie es öfter vorkommt,
gleich beim Anfang der Geschwulstbildung als wesentlicher charakteristischer Theil auftritt,
ist sie m anderen Fällen durchaus secundärer Natur, d. h. die epithelialen Zapfen an der
Oberfläche der Haut oder Schleimhaut erweichen, fallen aus und es bleibt der gefäss-
reiche bindegewebige Theil in Form eines buchtigen Geschwürs zurück, aus welchem
Vorlesung 40. Capili'l XXI.
Fig. Iü9.
761
/ I M
B;
'^m
Von eiuem wuchernden Hautkrebs an der Hand, die Blutgefässe unvollkommen injicirt.
Vergrösserung 400.
einzelne papilläre Büschel hervorstehen oder nachträglich hervorvrachsen. Wenn Jemand
die Behauptxing aufstellte, dass beim Beginn der oberflächlichen Hautkrebse der Process
immer mit Hypertrophie und reichlicherer Vascularisation der Papillen beginne, an
welchen die sich entsprechend vermehrenden Epithelialzellen haften und zwischen
denen sie fest liegen bleiben, so Hesse sich gegen diese Auffassung, so weit es eben die
Anfänge der Bildung betrifft nichts einwenden ; bei den tief greifenden sehr zellenreichen
Formen von Carcinomen würde diese Deutung des Verhältnisses zwischen Papillen und
Epithelien fi-eilich nicht mehr zureichen.
a Fig. 170. b
Gefässe aus einem Carcinom des Penis. Vergrösserung 60. — a Aus dem ausgebildeten
Geschwulstgewebe , Gefasskreise um die Epidermisperlen. — h Gefassschlingen von der
Oberfläche der stark indurirten, doch noch nicht ulcerirten Glans penis.
Yß2 ^"" ^^n Geschwülsten.
Das Hautcarcinom kann als indurirtes Papillom, als Warze beginnen,
doch ist es ebenso häufig-, dass es als Knoten anfängt, wenn die Wuche-
rung anfangs circumscript bleibt, in die Haut einwächst, sich nun von
sich aus langsam vergrössert, ohne durch A]3position neuer kleiner Car-
cinomknoten zu wachsen. Gewöhnlich dringt die carcinomatöse Wuche-
rung von einer allmählig sich vergrössernden Fläche aus in die Cutis
ein, durchwächst dieselbe, manchmal ohne eine sehr auffallende Erhaben-
heit zu erzeugen.
Ein wesentlicher Unterschied der Hautkrebse untereinander besteht
darin , dass die epitheliale Wucherung bald mehr bald weniger tief in
die Cutis eindringt, es giebt Krebse der Haut, welche ganz oberflächlich
bleiben, kaum ins Unterhautzellgewebe dringen und enorm langsam
wachsen (flache Epithelialkrebse, Thiersch), andere, welche
rasch wachsen und tiefer in das Gewebe zerstörend einbrechen (infil-
trirte Epithelialkrebse, Thiersch), Die obige Schilderung der
Hautkrebse ist zunächst nach der infiltrirten Form gemacht; beim flachen
Epithelkrebs dringen die auswachsenden Zellencylinder selten tiefer als
bis in die tieferen Lagen der Cutis und bestehen vorwiegend aus den
kleineren runden Zellen des Eete. Neben diesen Wucherungen werden
die Talgdrüsen grösser, füllen sich mit ausgebildeten grosszelligen Epi-
thelien und das Bindegewebe wird von kleinzelligen Elementen reichlich
infiltrirt. Es kommt in diesen Neubildungen verhältnissmässig selten zur
Bildung von Epidermisperlen. Das Ganze bildet, am Kranken be-
trachtet, in diesem Anfangsstadium eine harte, wenig erhabene Infiltra-
tion der Cutis mit darüber verschorfender Epidermis, Diese epitheliale
Wucherung ist jedoch wenig solide, es kommt gelegentlich zum Zerfall,
zur Erweichung und Ausstossung der drüsigen Wucherungen und der
Talgdrüsen. Das reichlich vascularisirte Bindegewebe bleibt zurück
und kann nun als Granulation weiter wachsen oder auch theilweis
vernarben. Während dies im Centrum der Neubildung vor sich
geht, schreitet letztere in der Peripherie weiter und weiter, wenn auch
sehr langsam vor.
Die Hautkrebse sind auf dem Durchschnitt im allerersten Anfang
von blassrother Farbe und harter Consistenz, bald werden sie weiss,
grobkörnig auf der Schnittfläche; bei den üppig gewucherten infiltrirten
Formen sieht man zuweilen die grossen Epithelialperlen und grossen
Epithelialzapfen mit freiem Auge. Ulceration erfolgt fast häufiger von
aussen nach innen als durch markige Erweichung von innen nach aussen,
gewöhnlich ziemlich bald nach der Entstehung, Schleimige Erweichung
ist bei diesen Formen sehr selten.
In Betreff der Topographie dieser Carcinome ist hervorzuheben,
dass folgende Körpergegenden der häufigste Sitz dieser Geschwülste sind:
a) Kopf und Hals; hier sind es die Augenlider, die Conjunctiva,
die Nasen- und Gesichtshaut, die Unterlippe, die Mundschleimhaut, das
VorlcsmiK 1',). (;;i|.ih'l XX f. 763
Zalmfleiscli, die Wange, dicZmii^e, der Kehlkopf, der Ocsophag'UH, das Ohr
und die behaarte Kopfhaut, an welclien diese Geschwülste sich besonders
gern bilden. Die erste Entstehung- ist sehr verschieden : die schlimmsten
Fälle beginnen gleich als Knoten in der Substanz der S(;1ileimhaut oder
Haut, und kommen durch centrale Erweichung rascli xur Ulceration;
andere Fälle beginnen auf der Oberfläche: es entstellt eine Schrunde,
ein Riss, eine iudurirte Excoriation, eine epidermoidale Verschorfung,
eine weiche Warze; diese anfangs leicht erscheinenden Erkrankungen
können längere Zeit hindurch auf der Oberfläche bleiben, breiten sich
langsam der Fläche, weniger der Tiefe nach mit massig indurirten llän-
dern aus. Entwickelt sich das Carcinom aus einer warzenartigen Bil-
dung, so behält es zuweilen dauernd den papillären Charakter. Die
einmal erkrankten Theile sind durch die Metamorphose in Krebsgewebe
für immer zerstört; in recht exquisit wuchernden Epithelialcarcinomen
kommen keine narbigen Schrumpfungen vor; die Geschwüre, welche
schnell aus diesen Neubildungen hervorgehen, sind verschiedenartig wie
andere krebsige Geschwüre auch; bald gangränescirt das Geschwür in
kleineren oder grösseren Fetzen in die Tiefe liinal), und so entsteht ein
kraterförmiger Defect, bald wuchert die Neubildung stark, und es bilden
sich Geschwüre mit pilzartig überwaclisenden Räudern. Aus diesen Ge-
schwürsflächen lässt sich nicht selten ein käsiger, auch wohl eiterähn-
licher Brei ausdrücken, der wurmähnlich, wie der eingedickte Talg aus
einer dilatirten Hautdrüse (einem Comedo oder Mitesser) hervorquillt;
dieser Brei ist ein Gemisch von erweichten Epithelialmassen und Fett.
Bald früher, bald später tritt eine nicht selten schmerzhafte Anschwel-
lung der nächstgelegenen Lymphdrüsen am Hals ein, die allmählig zu-
nimmt; es confluiren nach und nach die Drüsengeschwülste theils unter
einander, theils mit der primären Geschwulst; neue Stellen brechen auf
und die locale Zerstörung greift immer weiter um sich; auch in der
Tiefe auf die Gesichts- oder Schädelknochen breitet sich die Neubildung
aus: die Knochen werden durch dieselbe zerstört; letztere tritt an die
Stelle des Knochengewebes. Der Tod kann durch Erstickung oder Ver-
hungerung in Folge von Druck der Geschwulstmassen auf die Luft- oder
Speiseröhre, auch durch Betheiligung des Hirns nach Perforation des
Schädels erfolgen; am häufigsten tritt er nach allmählig zunehmendem
Marasmus durch völlige Erschöpfung der Kräfte, unter dem Bikle hoch-
gradiger Kachexie ein. Bei den Sectioneu findet man fast niemals me-
tastatische Geschwülste in inneren Organen. — Alle diese Carcinome
am Kopf, Gesicht und Hals sind bedeutend häufiger bei Männern, als bei
Frauen. Die durchschnittliche Lebensdauer der an Zungen- und Mund-
schleimhautkrebs Erkrankten ist 1 — V/.^ Jahre. — Die Lippe n krebse
sind, so lange die Lymphdrüsen noch nicht mit erkrankt
sind, durch sehr frühe und vollständige Exstirpation radical
heilbar.
Yß^ ^0^ ^^^ Geschwülsten.
Ich habe in früheren Arbeiten die eben erwähnte Foi-m des „flachen
Hautkrebses" als „vernarbenden, schrumpfenden Epithelialkrebs oder
Scirrhus cutis" bezeichnet, um sie von dem gewöhnlichen rasch wuchern-
den Epithelialkrebs schärfer abzugrenzen. Es scheint mir jedoch jetzt
besser, daraus keine besondere Unterabtheilung- zu machen und ich hebe
daher hier gleich hervor, dass dieser flache Hautkrebs die mildeste Form
von Krebsen überhaupt ist, von welcher mit wenigen Ausnahmen nur
alte Leute befallen werden; die Erkrankung beginnt zuweilen als klein-
knotige Infiltration der Papillarschicht, immer aber ganz oberflächlich;
gewöhnlich entstellt zuerst eine ganz localisirte Anhäufung von gelblich
gefärbter Epidermis, ein kleiner Schorf, nach dessen Entfernung die
Haut anfangs nur wenig geröthet, kaum infiltrirt erscheint; der Schorf
bildet sich wieder, wenn man ihn ablöst; nach wiederholter Ablösung
findet man bald darunter eine kleine rauhe, fein papilläre trockene Ge-
schwürsfläche zuweilen jetzt schon mit etwas harten, wenig erhabenen
Rändern ; das kleine Geschwür, auf dem sich immer wieder neue trockne
Schorfe bilden, greift zwar durch die Dicke der Cutis hindurch, doch
selten in das TJnterhautzellgewebe; es hat mehr die Tendenz, sich der
Fläche als der Tiefe nach zu verbreiten, ja zuweilen heilt es, wie schon
früher augedeutet, im Centrum vollständig mit Bildung einer Narbe und
neuer gesunder Epidermis, während eine massige Induration und Ulceration
in der Peripherie äusserst langsam vorschreitet. Es giebt Fälle, in welchen
gar keine Ulceration erfolgt, sondern nur Infiltration der Haut mit Epi-
dermisverschorfung und nachfolgender Narbenschrumpfung.
Der häufigste Sitz des flachen Epithelkrebses ist im Gesicht, zumal
an Wange, Stirn, Nase, Augenlidern; doch auch andere Theile der Haut,
welche vom Epithelialcarcinom überhaupt ergriffen werden, können in
dieser Form erkranken; zwischen dem 50. und 60. Jahre kommt dieser
flache Hautkrebs am häufigsten und, wie ich finde, ebenso oft bei Frauen
wie bei Männern vor. Oft zeigt die gesammte Hautoberfläche, zumal
des Gesichts und der Hände eine auffallend trockene Beschaffenheit und
eine Menge von trocknen, flachen, gelblichen Epidermisschorfen, auch 'zu-
gleich eine grössere Anzahl meist sehr kleiner, durch Verschrumpfung
oft wieder verschwindender Infiltrationen. Die Ausbreitung dieser
Krebsinfiltration geht äusserst langsam vor sich; es braucht wohl zuweilen
6 — 8 Jahre, bis ein Thaler- grosses Stück Haut, oder ein Nasenflügel,
oder ein Augenlid, oder ein Stück Ohr etc. zerstört ist; tritt diese Krebs-
torm bei jüngeren Individuen auf, so ist der Verlauf ein weit schnellerer,
es geht die Neubildung dann auch wohl in die tief greifende Form
über. Da die Erkrankten meist alt sind, so sterben sie gelegentlich an
anderen Krankheiten hin, und auch deshalb kommt es nach Operationen
oft nicht zu Eecidiven. Doch auch in Fällen, wo nicht operirt wird,
wo überhaupt dagegen nichts gescliieht, zeigen sich diese Carcinomformen
mir in wenigen Fällen sehr infectiös: über Lymphdrüseninfiltrationen,
Vorlosnns 49. Capifol XXT. 765
die erst spät zu Stande kommen, und dann chenso langsam, ebenso mit
Verselii-umpfung" verlaufen, wie die primäre Infiltration, kommt die In-
fection wohl niemals hinaus. — So hat man denn diese flache Form des
Hautkrebses ganz aus der Eeihe der Carcinomc streichen und in die
clironisch-entzündlichen Processe als Ulcus rodens (Hutchinson) oder
als eine besondere Lupusform alter Leute einreihen wollen. Die vielfach
vorkommende Combination dieser Neubildung- mit deutlich charakterisirtera
Krebs in einigen Stellen der infiltrirten Ränder, die Uebergangsmöglichkeit
derselben in wuchernden Hautkrebs, und manche anderen anatomischen
und klinischen Eigenthtimlichkeiten lassen es für mich nicht zweifelhaft,
dass die beschriebene Form der Infiltration und Ulceration zu den
krebsigen gehört, wenn sie auch, wie bemerkt, die mildeste, am schwächsten
infectiüse Form in der Eeihe der carcinomatösen Neubildungen ist.
b) Die zweite Körperstelle, an welcher die in Rede stehenden Carci-
nome häufig sind, ist die Gegend der Genitalien. Die Portio vaginalis
uteri, die Scheide, die kleinen Labien und die Clitoris, der Penis, zumal
die Glans und das Präputium sind die häufigst afficirten Stellen. Von
allen diesen Theileu ist die Portio vaginalis uteri besonders bevorzugt,
auch hier ulcerirt das Carcinom schnell, und da die Geschwulstoberfläche
dabei stark zerklüftet erscheint und so eine Aehnlichkeit mit der Ober-
fläche eines Blumenkohlkopfes entsteht, so nennt mau diese Krebse auch
wohl Blumenkohlkrebse (Cauliflower-cancer) ; da aber auch sarkomatöse
Papillome die gleichen Formen produciren können, so ist diese Bezeich-
nung unsicher. An allen genannten Stellen kann die ulcerirte Geschwulst
bald mehr einen destructiv-ulcerirenden, bald mehr einen fungösen Cha-
rakter haben, ausserdem infiltrirt oder oberflächlich sein. Die Absonde-
rung der Uteruskrebse ist mit einer ganz besonders stinkenden Jauchung
und oft mit continuirlichen parenchymatösen Blutungen verbunden. — •
Was den weiteren Verlauf der Krankheit betrifft, so erkranken bald
früher, bald später die inguinalen oder retroperitonealen Lymphdrüsen;
der Tod erfolgt gewöhnlich durch Marasmus; auch in diesen Fällen
finden wir nur sehr selten metastatische Geschwülste in inneren Or-
ganen, ausser in den nächstgelegeuen direct inficirten Drüsen. —
c) Von andern Körperstellen, welche für die Chirurgie in Betracht
kommen, ist noch die Hand, zumal der Handrücken, zu erwähnen. Ich
sah vor Kurzem ein Epithelialcarcinom am rechten Oberarm, welches
sich aus einer durch Erbsen 10 Jahre lang unterhaltenen Fontanelle
entwickelt hatte. Auch beobachtete ich ein Fussgeschwür, welches
nach jahrelangem Bestand ohne bekannte Veranlassung krebsig ge-
worden war.
d) Es wären hier nun noch die Carcinome zu erwähnen, welche von
der Harnblasenschleimhaut ausgehen, die auch ein Pflasterepithelium
ti'ägt. So wenig sie für die chirurgische Therapie zugänglich sind,
müssen sie doch grade von den Chirurgen wegen der Differentialdiagnose
766
Von den Geschwülsten.
besonders g'ut gekannt sein. Wiederholt ist schon erwähnt, dass beim
Carcinom papilläre Wucherungen vorkommen; dies ist nun ganz beson-
ders häufig der Fall bei den Krebsen an der Innenfläche der Harnblase,
welche oft in Form baumähnlich verzweigter Zotten auswachsen, und
daher den besonderen Namen „Zottenkrebse" bekommen haben.
Die von den Hautepithelien und Drüsen ausgehenden Krebse stehen
zu den Zottenkrebsen in gleichem Verhältniss wie die Adenome zu den
Papillomen. Sowie das Papillom einen besonders üppig wuchernden
Charakter annimmt, und zu gleicher Zeit dabei auch Epithelmassen in die
betreffende Haut hineinwachsen, so dass das Bindegewebe oder Muskel-
gewebe dadurch infiltrirt wird, kurz sowie die Geschwulst einen deutlich
destructiven Charakter annimmt, kann man sie als carcinomatöses Pa-
pillom oder Zottenkrebs betrachten. Die Grenzen zwischen einem ein-
fachen Papillom und einem Zottenkrebs können gelegentlich sehr schwierig
zu ziehen sein.
Fig. 171.
Papilläre Bildungen von einem Zotteukrebs der Blase nach Lambl. a ohne, h mit
Epithel; c isolirte Epithelialzellen der Zotten. Vergrösserung 350.
Auf der Innenfläche der Harnblase bildet sich, wie bemerkt, eine
wie Algen in die Blasenhohlung hineinwachsende, im Urin flottirende
Geschwulst, die sich an ihrer Basis zur Blasenwand wie ein Carcinom
verhält, und dessen oft sehr lange baumartig verzweigte Zotten mit sehr
grossen Epithelialzellen belegt sind, während der Grundstock der Papillen
aus Bindegewebe besteht, in dessen Maschen sich epitheliale Zellencylinder
wie im Carcinom befinden (Fig. 171). Die Analogie mit villösen Sarkomen
ist in der That sehr gross; nur dass dort (Fig. 715) die Zotten mit Eu-
dothelien, hier mit Epithelien bekleidet sind.
Vorlesung 4!). Capilol XXI. 767
Jetzt uocli einig-e Worte über den Verlauf der erwähnten Carcinome
im Ganzen. Sie treten meist bei älteren Individuen auf und zwar im
höheren Maunesalter, also vom 40. bis 60. Jahr, sehr selten später, doch
leider nicht so selten früher; ich habe Zungenkrebs bei einem ISjährig-en
Burschen, Uteruskrebs bei 20jährigen Frauen gesehen. Im Ganzen sind
die Landbewohner dem so sehr Iiäufigen Lippenkrebs mclir ausgesetzt
als die Stadtbewohner. Je früher diese Carcinome auftreten, um so
wuchernder pflegt nicht allein die örtliche Geschwulst, sondern auch nm
so früher die Betheiligung der Lymphdrüsen und um so schneller der
ganze Verlauf zu sein. Es ist schon öfter beobachtet, dass "nacli voll-
ständiger Entfernung der Geschwulst kein Eecidiv eintritt. In einigen
Fällen verläuft die Krankheit in einem Jahr mit grosser ßapidität, in
andern dauert sie 3 — 5^ — 10 Jahre und länger (flache Hautkrebse); es
kommt auch vor, dass das Eecidiv nur in den Lymphdrüsen erscheint,
wenn z. B. ein Lippenkrebs vollkommen exstirpirt war, doch zur Zeit
der Operation sich schon Krebskeime in den Halslymphdrüsen befanden
(Infections-Recidive). — Die Neubildung in den Lymphdrüsen sieht an-
fangs blassroth aus, ist ein ziemlich hartes diffuses Infiltrat oder ein
weisses Korn, wird aber mit der Zeit weicher, auch wohl theilweis
breiig und eitrig zerfliessend. Die krebsig infiltrirten Lymphdrüsen am
Hals haben grosse Neigung zur Ulceration. Die mikroskopische Structur
der inficirten Drüsen ist wie die der primären Krebse. — Ich halte es
für zweifellos, dass die secuudären Krebse in den Lymphdrüsen immer
durch Transplantationen von Krebskeimen aus dem primären Heerd ent-
stehen. Ueber die Lymphdrüsen gehen die beschriebenen Krebsformen
fast nie hinaus; Infection innerer Organe (Leber, Lunge, Milz, Nieren)
gehört dabei zu den äussersten Seltenheiten. — Die Constanz, mit welcher
das Carcinom an gewissen Theilen, besonders an den Uebergängen von
Schleimhaut in Cutis (Vagina, Penis, Lippen) vorkommt, hat mit Eecht
stets besondere Aufmerksamkeit erregt. Es liegt nahe, in dem Bau dieser
Theile, in den Irritationen, welchen diese Ostien ausgesetzt sind, Ur-
sachen der Erkrankung zu suchen; bei der Abneigung, welche sich bei
den meisten modernen Pathologen gegen die Annahme specifischer, völlig-
unbekannter Eeize findet, hat man bald diese, bald jene Momente hervor-
gesucht, um das Dunkel, welches über die specifische Gescliwulsterkrankung
dieser Theile herrscht, aufzuhellen. Thiersch legt in Betreff der Lippe
alter Leute grosses Gewicht darauf, dass in den Lippengeweben wie
überhaupt in der Cutis im Lauf des Alters nicht unerhebliche Verände-
rungen vorgehen: es finde ein bedeutender Schwund des Bindegewebes
und der Muskulatur Statt, so dass die Epidermisgebilde, wie die Haar-
drüsen, Talgdrüsen, Schweissdrüsen, Lippendrüsen von einem gewissen
Druck entlastet werden (vergleiche pag. 314), bedeutend hervortreten und
im Verhältniss zum Bindegewebe gewissermaassen das Uebergewicht
in der Ernährung erhielten; so komme es, dass alle ßeize, welche auf
YßQ Von den Geschwülsten.
die Lippe einwirken (seWecbtes Easiren, Tabaki-auchen , Wind und
Wetter etc.), hauptsächlich eine reactive Proliferatiou in den drüsigen
Theilen der Lippe erregen und diese in h}q)erplastische Reizung ver-
setzten. In England kommt EpithelialkreTbs ziemlich häufig bei Schorn-
steinfegern am Scrotum vor (Scliornsteinfegerkrebs), wie behauptet wird,
als Folge der Einwirkung des Steinkohlenrusses. Gewiss können diese
Verhältnisse mitwirken, doch es ist dadurch immer nocli nicht erklärt,
warum in Folge davon grade Krebse, infectiöse Geschwülste, warum
nicht ebenso oft chronische Entzündungen, katarrhalische Aifectionen etc.
entstehen. Ich will dies hier nicht weiter verfolgen, und verweise Sie
auf das früher bei der Aetiologie der Geschwulstbildung in der Ein-
leitung zur 'Geschwulstlehre Gesagte.
2. Milchdrüsen. Ich schliesse den Krebs der Mamma gleich hier
au, weil diese Drüse auch ein Abkömmling von der Epidermis ist, eine
Hautfettdrüse in grossem Maassstab. Dennoch weichen die Formen des
Brustdrüsenkrebses von der beschriebeneu des Hautkrebses etwas ab, und
wenn auch ächte Epidermiskrebse an der Brustdrüse, zumal von der
Haut des Warzeuhofes ausgehend, vorkommen, so sind sie doch immer-
hin äusserst selten.
Der leider sehr häufige Brustdrüsenkrebs beginnt, wie mir scheint,
fast immer gleichzeitig mit Vermehrung der kleinen runden Epithelial-
zellen in den Acini und mit kleinzelliger Infiltration des Bindegewebes
um dieselben. Es ist, wie schon früher bemerkt, mit Hülfe unsrer jetzigen
Untersuclmngsmethoden nicht wohl möglich, herauszubringen, ob sich
die ersten Veränderungen an den Drüsenzellen oder am Bindegewebe
zeigen ; denn bald ist die Anhäufung kleiner runder Zellen um die Acini
so enorm, dass es immer schwieriger wird, sich von dem fernem Geschick
der Drüsenbeeren zu überzeugen. Ich glaube indess nach meinen ziem-
lich zahlreichen Beobachtungen über diesen Gegenstand mit Hülfe der
besten neueren Methoden Folgendes über die weiteren Vorgänge aus-
sagen zu können:
Die Anhäufung von Zellen in den Acini führt zunächst zu einer Yergrösserung
derselben, wobei zuweilen sogar eine Spur von Secretion aufti'itt (was sich auch in dem
Ausfiuss von Serum aus den Warzen kund giebt). Bei fortschreitender Zellenanhäufung
erfolgt nun eine weitere Yergrösserung der Acini in so verschiedener Weise, dass man
im Ganzen eine acinöse (häufig zugleich grosszellige) und eine tubuläre (vorwiegend klein-
zellige) Form der Brustdrüsenkrebse unterscheiden kann. Die erstere führt zur Entwick-
lung von grossen lappigen drüsigen Knoten; ich gebe ihr deshalb den Namen „acinöse
Form'', weil dabei die Form von Drüsenbeeren, wenn auch nur in groben Umrissen,
leidlich gewahi-t ist. Bei schwacher Vergrösserung entsteht in den Grenzen einer solchen
Geschwulst folgendes Bild (Fig. 172;:
Die vergrösserten und zu dicken Drüsenkolben ausgewachsenen Epithelialzellen-
haufen sind von infilti-irtem Bindegewebe umhüllt und von einem feinen Netzwerk von
Bindegewebe (Stroma) durchsetzt, welches ich für den Rest der früheren Scheidewände
zwischen den Acini halte, welches aber von Anderen als grossentheils neugebildet ange-
nommen wird. Macht man durch ein erliärtetes Präparat eines acinösen weichen Brust-
Voil.'sim-- ■};). Capilcl XXf.
Fi«. 172.
769
Brnstdrüsenkrebs. Aciuüse Form. Yergrösserung 50.
krebses einen Schnitt, so erscheint das Gewebe bei mittlerer Yergrösserung wie in Fig. 173.
Die Zellen in den grossen Bindegewebsmaschen halte i<"h alle für epithelialen Ursprungs.
Fig. 173.
'4r^^'"' <^ A/^/^^
Weicher Brustkrebs. Alveoläres Gewebe des Carcinoms. Alkoholpräparat.
Yergrösserung 100.
Diese Art von Brustdrüsenkrebsen ist meist weich, auf dem Durch-
schnitt körnig, grauweiss (medullär). Streicht man mit einem Messer über die
Schnittfläche einer solchen Krebsgeschwulst, wobei sich leicht ein dicker weisser Brei
entleert, untersucht dann diesen Brei frisch, so findet man drüsig-kolbige Zellenklumpen,
sehr blass , aus grossen vielgestaltigen Zellen mit grossem Kern zusammengesetzt; viele
dieser Zellen enthalten mehre Kerne, sind vielleicht in Theüung begrifi'en.
BUlroth chir. Path. u. Ther. 7. Aufl. 49
770
Aus einem Brustkrehs. Vergvösserung 300. a Zellen mit mehrfachen Kernen (frisches
Präparat mit Zusatz von etwas Wasser), b Drüsige Zellencvlinder (frisches Präparat).
Das Bindegewel)sgerüst. in welchem diese Elemente gesteckt haben, sieht im leeren
Zustande bei stärkerer Vergrösserung folgendermaassen aus:
Fig. 175.
Bmdegewebsgerüst eines Brustkrebses; die dickeren Balken sind reichlich mit jungen
Zellenbildungen infiltrirt. Ausgepinseltes Alkoholpräparat. Vergrössernng 100.
Die zweite im Ganzen häufigere (härtere, auf dem Durchschnitt blassrothe)
Form kann man als die ,, tubuläre" bezeichnen, weil dabei die Acini nicht ihre Form
behalten, sondern als sehr dünne Zellencvlinder in das Bindegewebe hineinwachsen,
wuhreud letzferes zugleich zeUig infiltrirt wird. Da nun die von den Epithelien ausge-
Vnrlosung 4i). Capitol XXI.
771
fe'
,....., 1
Briistdrüsenkrebs. Tubuläre Form. Verorrössernntc löO.
gangenen Zellen bei dieser Form Fig. 17ß.
von Krebs meist nicht die Grösse - ,ii'5'^!^?>: -
wie im vorigen Fall erreichen, ^0
und da sich die im Bindegewebe
angehäuften Zellen auch zuweilen
sehr dicht zusammenlageni ; so
ergiebtsich, dass es äusserst schwie-
rig sein muss. in diesen Krebsen
zu unterscheiden, welche von den
Zellenmassen vom Drüsenepithel
abstammen, und welche reine Bin-
degewebsabkömmlinge eventuell
Wanderzellen sind.
Es sind daher auch noch
nicht alle Forscher überzeugt, dass
auch diese häufigen Fonnen von
Mammacarcinomen ächte Krebse
sind, indem von Planchen alle hier
vorkommenden Zellen als vom
Bindegewebe abstammend beti-ach-
tet werden. Es kann darüber in
letzter Instanz nur die Entwick-
lungsgeschichte dieser Bildungen
entscheiden; so lange "^'ir aber
keine Mittel besitzen, die jungen Abkömmlinge der Epithelialzellen unter allen Umständen
von den ausgewanderten weissen Blufzellen und den Abkömmlingen der Bindege-
webszellen zu unterscheiden, dürfte die Entscheidung, ob diese Form von Brustkrebs
mehr epithelialer oder mehr bindegewebiger Natur sei. kaum in jedem Präparate mög-
lich sein.
Obgieicli alle Formen von Brustdrü-senkrebsen Neigung ziir Ulee-
ration üaben, so ist dies docli in höherem Maassc bei den weicheren
als bei den härteren Formen der Fall. Für die Härte eines Brustkrebses
ist nicht immer die Zellenarmuth entscheidend, sondern auch sehr
zellenreiche acinöse Krebse können hart sein, wenn die Zellenhaufen in
viele kleine stark gespannte Bindegewebskapseln, wie die normalen Acini,
eingeschlossen sind. Die Erweichung erfolgt centi'al in einem der Haut
nahe liegenden Knoten oder bei der härteren Form häufiger von aussen
nach innen an Stellen, wo die Geschwulst mit der vorgedrängten Haut
yerwachsen ist. Schleimige Erweichung des Stroma und Schleim-
metamorphose der Drüsenzellen kommt selten vor; Doutrelepont hat
vor Kurzem einen solchen Fall beschrieben. — Die erweichten Stellen
erscheinen dem freien Auge weissgelblich körnig (käsige, fettige Er-
weichung) oder durch reichlichere Yascularisation grauröthlich oder
dunkelroth, besonders wenn Extravasate erfolgt sind. — Es kann durch
Erweichungsprocesse und Abkapselung der vielleicht tiefgelegenen Er-
weichungsheerde zu Cystenbildungen in diesen Carcinomen kommen;
auch können sich Eetentions- und Secretionscysten in der Brustdrüse
neben oder in den Krebsgeschwülsten bilden.
49*
772
Von den Geschwülsten.
Ti-. l"7 Schrumpfung'sprocesse sind
in Brustdrüsenkrebsen sehr häufig,
die Warze oder andere Stellen wer-
_^^ den dadurch nabelartig eingezogen.
T ^-.'^ Bei mikroskopischer üntersuchnng die-
^ ser geschrumpften Theile sieht man Binde-
gewehsstränge mit gesclirunipften Bindege-
,^^ webskörperclieii, und dem Durchschnitte
s=- von verzweigten sclimalen Canälen (ge-
schrumpften Alveolen Fig. 177). welche
■^^^^ mit Zellendetritus oder Fett gefüllt sind.
Diese Schrumpfung der Neu-
bildung ist bei manchen Brustdrii-
senkrebsen ein so wesentliches Mo-
ment, dass man danach eine besondere Form von Krebs, „den
schrumpfenden, vernarbenden Krebs", unterschieden hat. Es ist nicht
zu leugnen, dass diese Krebsart in ihrer reinen Form gewisse Eigen-
thümlichkeiten darbietet, durch welche sie sich von den gewöhnlichen
häufigsten Brustkrebsen unterscheidet; wir ziehen daher vor, sie später
für sich noch etwas genauer zu besprechen.
Die ^Entwicklung von Brustdrüsenkrebsen ist mit nicht unerheblicher Gefässausdehnung
und wohl auch Gefässneubildung verbunden. — Im Bereich der jüngsten Theile der Neubildung
finden sich sehr reichlich feine Gefässe und Gefässnetze (Fig. 178), in den älteren, zumal
erweichenden Theilen Averden die Gefässe bald weiter (Fig. 179); finden sich dann später
"%4^
Biustdi ii^cnkieh>
ten Partie
ib Clin. 1 iiaibig geschlumpt
Versrösserung 200.
Gefässnetz eines ganz jungen Brustdrüsenkrebsknotens. Vergrösserung 50.
thrombirt und gehen zu Grunde, so dass sich um p:rweichungsheerde in Geschwülsten
gleiche Netze von erweiterten Gefässen bilden, wie bei der Entstehung der Abscesse.
Vorlesung' 49. Capilcl XKF. 773
Fiir. 179.
Gefässnetze um Ei-weiehungsheerde in einem Briistdnisenkrebs. Vergrösseniiig ÖO.
Ueber die klinisclien Ersclieinung-en, welclie der gewöhnliche
Bmstdrüsenkrebs bei seiner Entwicklung- und in seinem Verlauf
macht, ist Folg-endes zu bemerken: Die Kranklieit tritt in der Regel
zwischen dem 30. und 60. Jahre auf, selten früher oder später; die
betroffenen Frauen sind sonst meist vollkommen g-esund, zu-
weilen sogar von blühendem Aussehen, fett und wohl conservirt; ver-
heirathete und unverheirathete Personen, fruchtbare und unfruchtbare
Frauen aller Stände werden davon befallen. Nicht selten sind die Eltern
oder Grosseltern an Carcinom gestorben. Am häufigsten bildet sich nur
in einer Brust, zumal in dem unteren und äusseren Theile derselben,
eine anfangs kleine schmerzlose Geschwulst, die zuweilen Monate lang-
unbeachtet bleibt; sie ist von harter Consistenz, liegt in der Drüse in-
filtrirt, doch anfangs beweglich unter der Haut und auf den Brustmuskeln;
ihrWachsthum ist im Beginn ein massig rasclies; es vergeht müg-licher-
weise ein Jahr, bis der Tumor die Grösse eines kleinen Apfels erreicht;
sein Volumen ist nicht immer gleich, zuweilen ist die Geschwulst grösser
und empfindlich, zumal vor dem Eintritt der Menses und während der-
selben, auch bei neuen Schwangerschaften pflegt ein stärl^eres Waclis-
thum einzutreten; zuweilen aber fällt die Geschwulst etwas zusammen
und ist ganz indolent. Diese Erscheinungen sind zum Theil abhängig
von Congestionen zur Brustdrüse, zum Theil von Sehrumpfungs- und
Vernarbungsprocessen in dem Tumor selbst. — Mit der Zeit, im Verlauf
etlicher Monate, wächst die Geschwulst immer mehr; die Haut darüber
wird unbeweglich und in der Tiefe erfolgt eine Verwachsung mit dem
M. pectoralis. Die Patienten merken oft selbst den ersten Anfang der
Lymphdrüsenschwellung in der Achselhöhle nicht, und wenn nicht von
Zeit zu Zeit die ärztliche Untersuchung auf diesen Gegenstand gerichtet
wird, kommt die Geschwulstbildung in den Lymphdrüsen, die sich auch
zunächst als harte Anschwellung dieser Theile kund giebt, erst spät
774
Von den Geschwülsten.
zur Beobachtung-; auch lieg-en diese Drüsen zum Theil so hoch in der
Achselhöhle und so tief unter dem M. pectoralis, dass sie erst gefühlt
werden wenn sie schon ziemlich gross sind. Die Lymphdrüsen am
Halse sind seltner beim Brustkrebs afficirt; wenn es der Fall ist, so
steio-ert dies die Ungünstigkeit der Prognose. Lässt man nun der weite-
ren Entwicklung der Geschwulst ungestörten Fortgang, so gestaltet sich
in den Fällen von massig raschem Verlauf die Sache etwa folgender-
maassen. Die Geschwulst der Brustdrüse und die Achseldrüsengeschwülste
confluiren allmählig, so dass daraus ein höckriger, gewölbter, unbeweg-
licher Tumor entsteht, der an einigen Stellen mit der Haut verwachsen
ist- durch den Druck der Geschwulst auf die Nerven und Gefässe in
der Achselhöhle werden neuralgische Schmerzen im Arm und Oedem
desselben veranlasst; die Patienten, welche bis dahin sich vollkommen
wohl fühlten, werden jetzt durch die Schwellung des Arms und auch
durch Schmerzen, welche besonders zur Nachtzeit auftreten und einen
stechenden, bohrenden Charakter haben, bald genöthigt, das Bett dauernd
zu hüten, während sie bis dahin vielleicht noch ihren häuslichen Ge-
schäften gut vorstehen konnten, — Eine andere Erscheinung pflegt in
diesem Stadium (wir nehmen etwa zwei Jahre nach der Entstehung der
ersten Geschwulst an), schon aufgetreten zu sein oder erfolgt jetzt, näm-
lich die Ulceration. Diese kündigt sich gewöhnlich unter folgenden
äusseren Symptomen an: ein Theil der Geschwulst wölbt sich kuglig
hervor, die immer dünner werdende Haut wird roth, von sichtbaren
Gefässverzweigungen durchzogen, endlich bildet sich ein Riss oder ein
Bläschen auf dem erhabenen rothen, bis zum Fluctuationsgefühl erweich-
ten Geschwulsttheil; jetzt wird ein Theil der Krebsmasse, welche der
Luft exponirt ist, gangränös, stösst sich in Fetzen ab und es entsteht ein
kraterförmig vertieftes Geschwür, welches, wenn die Umgebung und der
Grund noch sehr hart sind, die Kraterform lange beibehält; ist die Um-
gebung des Geschwürs indess auch schon weich, so beginnt die Ge-
schwulstmasse an den Rändern und aus der Tiefe hervorzuwuchern und
sich pilzartig über die Umgebung zu lagern. So entsteht ein Ulcus,
zuweilen mit torpidem, zuweilen mit fungösem Charakter; die Secretion
des Geschwürs ist serös jauchig, stinkend, gangränöse Fetzen stossen
sich häufig ab. Was aber noch schlimmer ist: aus der Geschwürsfläche
treten zuweilen parenchymatöse, auch wohl arterielle Blutungen auf,
durch welche die Kräfte der Kranken erschöpft werden. — Wir hatten
den Zustand der Kranken verfolgt, bis sie ganz oder theilweis bettlägrig
werden; jetzt kommen wir bald zur Katastrophe: die Kranken werden
blass und magern stark ab; der Appetit verliert sich, die Kräfte nehmen
ab, die Nächte sind oft schlaflos, weil die Schmerzen heftiger werden;
schon muss man mit Opiaten nächhelfen, um den Kranken zeitweise
Schlaf und Milderung der Schmerzen zu verschaffen. Wir haben jetzt
das ausgeprägte Bild der sogenannten Krebsdyskrasie oder Krebs-
Vorlesung 4',l. (^ajiif.-l XXF. 775
kacliexie, von welcher wir früher (pag-. 757) sprachen, vor uns. So
g-eht es vielleicht noch Monate lang; der Gestank, der sich von dem
Krebsgeschwür entwickelt, verpestet das Zimmer, die Kranken werden
immer schwächer, die Hautfarbe wird graulich-gelb, erdfahl. Schmerzen
beim Athemholen und in der Lebergegend treten liinzu, auch wolil in
den Extremitätenknochen. Die Kranken verfallen in Marasmus und
gehen nach langem, qualvollem Leiden mit langer Agonie zu Grunde,
wenn nicht eine Pleuritis oder Peritonitis das Ende beschleunigt. Wir
machen die Section und finden in den meisten Fällen carcinomatöse Ge-
schwülste der Pleura und der Leber, zuweilen auch wohl der Rippen
an der Seite, wo die Brustgesehwulst sitzt. — Die ganze Krankheit
hatte 2/2 Jahre gedauert.
Diese Schilderung wird für viele Fälle von Brustkrebsen ganz genau
passen, doch giebt es manche Modificationen dieses Verlaufs. Zunächst
ist die Schnelligkeit des örtlichen Verlaufs verschieden; die Geschwulst
kann Jahre lang allein auf die Brustdrüse beschränkt bleiben, ohne
Affection der Lymphdrüsen: ein äusserst seltner Fall. — Oder die
Drüsenerkrankung tritt fast gleichzeitig mit der Brustgeschwulst auf:
dies lässt immer einen rapiden Verlauf der Krankheit erwarten, wäh-
rend umgekehrt eine sehr späte und massige örtliche Verbreitung auf
die Lymphdrüsen einen milderen, lang-sameren Verlauf der ganzen Krank-
heit anzeigt. — In beiden Brüsten können zugleich oder bald nach ein-
ander Carcinome entstehen, dies verschlimmert die Prognose des Ver-
laufs sehr. — In manchen Fällen entsteht keine isolirte Geschwulst in
der Brust, sondern die ganze Drüse mit der Haut wird zugleich krank.
Prognostisch von sehr übler Bedeutung- ist es, wenn sich über dem
Mammacarcinom viele einzelne Knötchen in der Haut bilden und sich
von hier ausbreiten; der Verlauf ist in solchen Fällen, selbst wenn es
nicht zur Ulceration kommt, und die Geschwulst sehr derb ist, gewöhn-
lich ein ziemlich rascher. — Endlich kann auch ein Adenom oder Sar-
kom vielleicht seit 8 — 10 — 15 Jahren bestanden haben und nimmt rasch
den Charakter eines Krebses an, d. h. es wird unbeweglich, schmerz-
haft, und es treten Lymphdrüsenverhärtungen hinzu. — Es kommen auch
Fälle vor, wo sich die Brustgeschwulst so verkleinert und so zusammen-
schrumpft, dass man meint, sie verschwinde ganz; dies hindert leider
den allgemeinen Ausbruch der Krankheit nicht, scheint ihn jedoch zu
verzögern oder nur bei mild verlaufenden Fällen vorzukommen, bei
Fällen, die 4 — 6 Jahre zum Ablauf brauchen. Manche Kranke gehen
schon früh durch die Ulceration und Blutungen an Anämie zu Grunde,
ohne dass es zu metastatischen Geschwülsten kommt. — Was den Zeit-
punkt des Auftretens metastatischer Krebsgeschwülste in den inneren
Organen betrifft, so ist auch dieser manchen Schwankungen unterworfen ;
im Allgemeinen ist es richtig-, dass bei langsamem, örtlichem Wachsthum
der Geschwülste auch der Ausbruch metastatischer Tumoren spät erfolgt;
YYg Von den Geschwülsten.
doch g'iebt es Ausnahmen von dieser Regel. Die Localisation der ört-
lichen Tumoren ist beim Brustkrebs merkwürdig gleichmässig; wie ge-
sagt: Pleura, Leber, Knochen (Humerus, Femur) sind am häufigsten der
Sitz der metastatischen Geschwülste.
Der verschiedene Verlauf der Brustdrüsenkrebse macht es sehr
schwierig, ja fast unmöglich, den Erfolg früherer oder späterer Opera-
tionen der Krebsgeschwülste mit denjenigen Fällen in Vergleich zu
setzen, welche ohne Operation ablaufen ; schon das Alter bietet grosse
Verschiedenheiten: bei älteren Individuen verläuft die Krankheit fast
immer langsamer als bei jüngeren; eine Menge völlig unbekannter Ein-
flüsse kommen ins Spiel. Es sind von den erfahrensten Chirurgen die
entgegengesetztesten Principien in Betretf der Operationen aufgestellt,
indem die Einen behaupten, der Verlauf der Krankheit würde durch
die Operation verzögert, Andere, er würde beschleunigt. Die bis jetzt
veröffentlichten statistischen Tabellen können wenig beitragen, um diese
wichtige Frage zu entscheiden, weil in diesen Tabellen alle Fälle ver-
schiedenster Art zusammengeworfen sind; man mtisste erst die Fälle
nach bestimmten Principien sondern, um auf diese Weise zu einem rich-
tigen Resultat zu kommen. Doch was kann dies viel helfen? Es wird
sich immer in dem einzelnen Fall besonders darum handeln, ob wir
dem Kranken durch die Operation Erleichterung verschaffen können, ob
nicht. Die Geschwülste werden fast immer wiederkehren, in der Narbe
selbst, in ihrer Nähe oder- in den Lymphdrüsen, weil sie meist zu spät
zur Operation kommen; die Kranken werden dann, w^enn nicht früher
an der Jauchung, an Blutungen oder an acuten Krankheiten, sicher an
raetastatischen Geschwülsten zu Grunde gehen, das ist leider unbezwei-
felt und die Prognose mit wenigen Ausnahmefällen leicht zu stellen.
Wie viel leidet der Kranke durch die Geschwulst? welche Gefahr bringt
sie örtlich? Das sind die zunächst sich aufdrängenden Fragen. Doch
ich greife vor, indem ich schon hier der Therapie erwähne, auf die wir
erst am Ende dieses Abschnittes von den Krebskrankheiteu näher einzu-
treten gedenken. Die Untersuchung der vergrösserten und theilweis
unter einander verwachsenen Lymphdrüsen ergiebt, dass die kleineren
succulenter und gefässreicher sind als normal; die grösseren enthalten
härtere weisse oder grauweisse Knoten, die grössten sind zuweilen er-
weicht, verkäst und haben eine körnige Schnittfläche. Im Ganzen zeigen
die Lymphdrüsen die gleichen Charaktere wie die primären Krebsformen;
dies erstreckt sich auch auf die mikroskopische Textur. Obgleich es
wohl nur bei pigmentirten Carcinomen bewiesen werden könnte, dass die
erste Schwellung der Lymphdrüsen schon auf einem Transport von Ge-
schwulstzellen in die Lymphdrüsen beruht, so halte ich dies doch für alle
Carcinome richtig; in manchen Fällen ist die epitheliale Natur der Neu-
bildung in den Lymphdrüsen ebenso eclatant wie die der primären
Brustdrüsengeschwulst, in anderen ist eine solche Unterscheidung un-
Vc.rl.-su.i- \'.\ C;ipilcl XXF. 777
möglich. Was die nach Bvustcarcinoincn diircli dii'ccte Fortleitung des
Seminiiim entstehenden Krebsknoten dQv Pleura betrifft, so sind diese
meist hart, rein weiss und kleinzellig-; ebenso verhält es sich mit der
äusseren Beschaffenheit der secundären Lungen- und Leberkrebse; letz-
tere sind aber nicht selten g-rosszellig und acinüs. So wahrscheinlich
ich es halte, dass auch diese Carcinome durch directe Auswanderung-
von Carcinomzellen oder durch Transport der letzteren durcli Lymph-
oder Blutgefässe entstehen, so lässt sich dies doch nicht beweisen.
Von dem geschilderten Verlauf weichen manche Fälle ab, welche
sich durch frühzeitige und continuirliche Schrumpfung der Neubildung
auszeichnen. Man nennt diese schon kurz erwähnte Form Scirrhus
mammae, atrophirendes , vernarbendes, verschrumpfendes Carcinom
(pag. 762 u, 772), Bindegewebskrebs. Das Bild der Erkrankung und des
anatomischen Vorganges wird aus Folgendem hervorgehen:
Es entsteht in der Brustdrüse, selten vor dem .50. Jahre, eine ver-
härtete Stelle, man kann nicht sagen eine Anschwellung, sondern mit
der Verhärtung ist vielmehr eine partielle, auch wohl totale Verkleine-
rung der Drüse verbunden ; diese Verhärtung bildet sich meist ganz ohne,
selten mit sehr heftigen Schmerzen, doch äusserst langsam im Verlauf
von Jahren mehr und mehr aus. Nehmen wir an, die verhärtete Drüse
würde nun entfernt und wir untersuchten die erkrankte Stelle, so tinden
wir ein Gewebe von einer Consistenz, dass wir es kaum mit dem Messer
durchschneiden können; die Schnittfläche zeigt für das freie Auge eine
derb faserige Narbe, allmählig mit ausstrahlenden Bindegewebszügen in
die ziemlich normale Umgebung übergehend. Bei den recht prägnanten
Fällen wird man ausser dieser Narbe kaum etwas Pathologisches mit
freiem Auge erkennen; an manchen dieser Geschwülste sieht man jedoch
in der Peripherie, bald hier bald dort mehr ausgeprägt, eine blassröth-
liche, speckig glänzende Partie, welche zwischen der Narbe und dem
gesunden Gewebe liegt und in beide übergeht.
Untersucht man mikroskopisch an feinen Abschnitten nach vorgängiger weiterer
Erhärtung des Präparates in Alkohol zunächst das narbige Gewebe, so findet man fast
nichts als Bindegewebe mit elastischen Fasern; die Bindegewebszüge haben jedoch nicht
den eigenthümlich regelmässigen Verlauf wie beim Fibrom, sondern sind unregelmässig
durch einander geschoben und, wie bemerkt, von vielen elastischen Fasern begleitet, was
beim Fibrom selten vorkommt. Die Untersuchung des Grenzgewebes ergiebt aber Fol-
gendes: hier findet Zelleninfiltration Statt, freilich in sehr geringem Maasse; es kommt
zur Entwicklung kleiner Gruppen blasser einkerniger Lymphzellen-ähnlicher Gebilde, wie
im Beginn jeder Neubildung. Ein Theil dieser Zellen ist in langgestreckten Gruppen
(tubulär) angeordnet, etwas grösser als die übrigen, diese sind wohl Abkömmlinge der
Epithelialreste der geschrumpften Drüsenacini. Alle Zellen der Neubildung scheinen jedoch
äusserst kurzlebig zu sein, denn kaum entstanden, beginnen sie schon wieder zu zerfallen,
ohne weiter ausgebildet zu werden; dann zieht sich das etwas aus einander gedehnte Binde-
gewebe wieder zusammen, und wir haben als Resultat dieses Processes die Narbe; peripherisch
breitet sich aber diese geringe Zelleninfiltration immer weiter aus, und so kommt es eben
778
Von den Geschwülsten,
Fig. 180.
2»
Bindegewebsiniiltratiou von der Grenze eines Krebsknotens der Mamma in die Cutis vor-
dringend : die dunklen Zeichnungen entsprechen der vorrückenden kleinzelligen Infiltration.
Vergrösserung 50.
doch nie oder wenigstens äusserst selten zur vollständigen, spontanen, narbigen Ausheilung
der Neubildung. Betrachtet man die Grenzen dieser Geschwulstbildungen bei schwacher
Vergrösserung, so sieht man, wie die kleinzellige Infiltration sich zwischen die Maschen
des Bindegewebes vorschiebt und diesen streng folgt.
Die Verbreitung dieser Infiltration ins Fettgewebe ist genau wie bei der Entzündung;
es finden sich die meisten jungen ZeUen immer in der Nähe der Gefässe, so dass der
Gedanke kaum abzuweisen ist, dass es auch in diesen Fällen aus den Blutgefässen aus-
getretene weisse Blutzellen sind, welche die zellige Infiltration hervorbringen.
Fig. 181.
Zellige Infiltration des Fettgewebes in der Peripherie eines harten Brustkrebses. Die
Blutgefässe injicirt. Vei-grösserung 200.
Da hierbei die Infiltration des Bindegewebes mit lymphoiden Zellen sehr entschieden
als vorwiegender Erkrankungsprocess in die Augen fällt, und daneben die epitheliale
Vorlesung 4'J. Capitcl XXI. 770
Wucherung sehr in den Hintergrund tritt, so habe ich früher für diese Krebsform der
Brust den Namen „Bindegewebskrebs" einzuführen versucht. Da dies aber zu Miss-
deutnngen in Betreff der modernen anatomischen Begriffsbestimmung der Carcinome ge-
führt hat, so beharre ich nicht auf Beibehaltung dieser Bezeichnung.
Der erwähnte eigentliümliclie anatomische und klinische Verlauf liat
manche Chirurgen veranlasst, diese Neul)ildung'en überhaupt aus der
Eeihe der GeschAviilste, und speciell aus der Rcilie der Krebse streichen
zu wollen. Fassen wir zunäclist den klinischen Verlauf dieser Fälle
näher ins Auge, so haben wir darüber schon bemerkt, dass gewöhnlich
nur ältere Individuen von dieser Krankheit betroffen M^crden, und dass
die örtliche Affection ausserordentlich langsam vorschreitet; es giebt
Fälle, in welchen es 7—8 Jahre dauert, bis die eine Hälfte einer Brust-
drüse völlig verschrumpft ist. Das Allgemeinbefinden ist dabei stets
-vollkommen ungestört. Die Lymphdrüsen nelnnen gelegentlic]i Antheil
an der Krankheit, und zwar geht der Process daselbst in gleicher Weise
vor sich wie in der Brustdrüse: es tritt sehr geringe Vergrösserung,
doch starke Verhärtung und narbige Verschrumpfung ein. Je rascher
und vollständiger die Neubildung zur Schrumpfung kommt und je lang-
samer sich der Process ausbreitet, um so unschädlicher ist er; es erfolgen
nach Exstirpation oder Aetzung dieser Art von Krebsen sehr spät, zu-
weilen gar keine localen Recidive. Metastatische Geschwülste kommen
bei diesen Krebsen nur äusserst selten vor; die Art der Infiltration scheint
anatomisch der Hauptsache nach nicht sehr von derjenigen bei chronischer
Hepatitis und Nephritis mit nachfolgender Schrumpfung verschieden zu
sein; warum daher diesen Scirrhus von jenen Processen trennen? Wernher
bezeichnete diese Erkrankung der Brustdrüse geradezu als Cirrhosis
mammae. — Ich erkenne vollständig die Berechtigung an, bei manchen
Fällen von Scirrhus mammae an ihrem carcinomatösen Wesen zu zwei-
feln, muss indess doch darauf beharren, sie im Ganzen den Krebsen
zuzuzählen und zwar aus folgenden Gründen. Der Schrumpfungspro cess
ist unter den Geschwülsten, wie Sie schon wissen, den Krebsen eigen-
thümlich; besonders aber ist hervorzuheben, dass die verschrumpfenden
Krebse gar nicht selten mit dem gewöhnlichen Carcinom combinirt sind;
es ist sogar das Häufigere, dass neben den cirrhösen Massen eine gerin-
gere oder grössere Krebswucherung einhergeht, während die Formen des
vollständig vernarbenden Krebses relativ seltner Sind. Diese Combination,
welche weder bei der Leber- noch bei der Nierencirrhosis
vorkommt, spricht durchaus für die nahe Beziehung dieser vernarbenden
Neubildung zum Krebs; in solchen combinirten Fällen fehlt es dann auch
nicht an örtlichen Recidiven der exstirj^irteu Geschwülste, an Lymph-
drüsentumoren und selbst metastatischen Krebsen innerer Organe. —
Bei den Geschwülsten, welche vorwiegend aus Narbenmasse bestehen
und daher mehr zu den Scirrhen als zu den gewöhnlichen Krebsen ge-
l^gQ Von den Geschwülsten.
rechnet werden müssen, kann eine leidliche Prognose gestellt werden,
insofern die Krankheit immer einen sehr langsamen Verlauf nimmt.
Wir erwähnen endlieh noch einer Form von Brustkrebsen, welche
ebenfalls als Induration in der Drüse beginnt, doch sehr bald auf die
Haut übergeht, und in dieser in Form kleiner Knoten sich mit grosser
Geschwindigkeit über die ganze Haut der vorderen Thoraxwand verbreitet-,
sehr oft erkrankt die zweite Brust in ganz gleicher Weise. Es kommt
dieser Cancer lenticularis (Schuh), Squirrhe pustuleux ou dissemine
(Velpeau) theils als primäre Form, theils als Recidivform nach Ex-
stirpation harter Brustdrüsenkrebse und zwar nicht grade bei alten
Frauen vor. Diese kleinknotige (man könnte fast sagen tuberkelartige)
Form kann durch Confluenz und Schrumpfung dazu führen, dass die
Haut den Thorax von vorn und von den Seiten förmlich einschnürt
(Cancer en cuirasse Velpeau); der Verlauf ist ein langsamer, die Nei-
gung zu Metastasen auf innere Organe nicht gross, doch die Prognose
sehr schlecht, weil jeder Versuch, die örtliche Ausbreitung durch eine
Operation zu hemmen, vergebens ist.
4. Schleimhäute mit Cylinderepithel. Die meisten Krebse,
welche in der Nase und im Antrum Highmori entstehen und all-
mählig sich auf die Oberkiefer, auf das Sieb- und Keilbein, sowie in
die Augenhöhle erstrecken, gehen von den Schleimhäuten der Nase und
des Antrum Highmori aus.
Die flimmernden oder nicht flimmernden Cylinderepithelien dieser Häute erstrecken
sich mir bis in die Mündungen der Schleimdrüsen und wachsen auch bei der Entwicklung
von Drüsenkrebsen an diesen Orten nur äusserst selten in die Tiefe hinein. Es scheinen
hier vielmehr die Drüsenacini selbst zu sein, von denen die Wucherung ausgeht, denn
diese Krebse sind meist aus Acini oder Tubuli zusammengesetzt, welche kleinere oder
grössere runde Zellen, selten Cylinderzellen , noch seltner flimmei-nde Zellen tragen. Die
Form der neugebildeten Acini imd ihre Grösse ist hier enorm verschieden, doch oft genug
so scharf ausgeprägt, so normal, dass man sie mit den normalen Schleimdrüsenbeeren
verwechseln könnte; um diese Täuschung vollkommen zu machen, kommt es hier nicht
so selten dazu, dass auch die neugebildeten Acini Schleim secerniren, welcher in ihnen
angehäuft bleibt. Ist dies Se*cret in vielen Acini zurückgehalten und ist die Form der
neugebildeten Drüsenbeei-en recht rund, das interstitielle Bindegewebe wenig entwickelt,
so können die erhärteten feinen Abschnitte einer solchen Geschwulst auch wohl eine
grosse Aehnlichkeit mit Schilddrüsengewebe darbieten. Das interstitielle Gewebe ist in
diesen Geschwülsten meist äusserst weich, wie in den entsprechenden Schleimhäuten selbst,
es kann fast schleimig sein. Verwechslungen mit plexiformen Sarkomen und Cylindromen
sind hier zuweilen nicht leicht zu vermeiden.
Die Consistenz dieser Geschwülste ist immer eine sehr weiche, das
Aussehen weiss, markig und gallertig; nur wenn die Geschwülste sehr
gefässreich sind, sehen sie dunkelroth aus. Die Knochen werden ver-
Vorlesung 49. Capilel XXI.
FiR. 182.
781
Krebs aus dem Innern der Nase. Vergrössenmg 200.
zelirt wie bei Caries, ohne Spur von reactiver Knoclienneubildung, ohne
Osteophyten. In Betreff der äusseren Erscheinung- und des klinischen
Verlaufes bieten diese Geschwülste manches Eigenthttraliche, von anderen
Carcinomen Abweichende. Sie kommen etwa vom 20sten Lebensjahre
an in jedem Alter vor, wachsen immer schnell und treten bald durch
die Nasenlöcher, bald durch die Wange, bald am Innern Augenwinkel
hervor; sie sind zuweilen auffallend scharf begrenzt, eingekapselt, was
sich sowohl durch die Palpation ermitteln lässt, als bei der Operation
herausstellt, manchmal sind sie freilich auch im Oberkiefer mehr diffus
verbreitet. Ich habe bis jetzt bei keinem dieser Schleimdrüsenkrebse
des Gesichts Infection der Lymphdrüsen gesehen und bin überzeugt, dass
diese Patienten durch eine frühe vollkommne Operation geheilt werden
könnten; bei allen Patienten, welche sich von mir operiren Messen, habe
ich nie die Ueberzeugung gewonnen, dass durch die Operation eine voll-
kommne Entfernung der Geschwulstmassen erzielt sei ; immer fand sich,
dass dieselben nach hinten oder oben so weit vordrangen, dass ein
weiteres Vorgehen direct lebensgefährlich gewesen wäre. So sah ich
meist locale Eecidive auftreten, welche durch Marasmus oder Hirndruck
tödteten, oder die Kranken starben in Folge der äusserst eingreifenden
Operation; in keinem der von mir obducirten Fälle fanden sich innere
Geschwülste.
Im Magen finden sich Drüsenkrebse häufig, zumal mit schleimiger
Erweichung (Gallertkrebs) und secundärem Leberkrebs, sehr selten
Von den Geschwülsten.
ist Krebs im Duodenum. Uns interessiren von dem Gebiet des Tractus
intestinales nur die Krebse des Rectum. Es geht hier fast ausschliess-
lich die Wucherung von den grossen Dickdarmdrüsen aus, welche in Form
gewundener und theilweis verzweigter Schläuche auswachsen, wobei
sowohl die Driisenlumina oft erhalten werden und sicli mit Schleim fül-
len, als auch die Cyiinderzelleu ihre Form behalten und enorm gross
werden. Das interstitielle Bindegewebe wird von kleinen runden Zellen
durchsetzt, dabei theilweis schleimig erweicht und oft sehr reichlich
vascularisirt. In der Regel wird beim Beginn der Erkrankung die
Muskelhaut des Darms hypertrophisch, später geht sie auch in die meist
früh eintretenden Ulcerationen auf. —
■ig. 183.
Krebs des Rectum. "Verffrösseruncj 200.
Da die ersten Erscheinungen des Mastdarmkrebses Verstopfung,
Schleimabgaug und leichte Blutungen zu sein pflegen , so werden diese
Kranken meist lange Zeit erst als Hämorrhoidarier behandelt, bevor
durch die manuelle Untersuchung die Diagnose gestellt wird. Induration
und knotige Infiltration, blättrige Wucherungen gewöhnlich dicht ober-
halb des M. sphincter ani beginnend, erstrecken sich bald so auf die
ganze Circumferenz der Schleimhaut, dass man einen dicken wulstigen
Ring, eine Strictur von mehr oder weniger Länge fühlt. Die Entfernung
dieser Neubildung kann nur mittelst der Exstirpatio Recti geschehen.
An dem herausgeschnittenen Rectum sieht man gewöhnlich ein mit wall-
artig erhabenen wulstigen Rändern umgebenes Geschwür mit indurirtem
Grund und markig infiltrirter Umgebung, an manchen Stellen auch wohl
narbige Schrumpfungen. Die Inguinal- und Retroperitonealdrüsen werden
erst spät in Mitleidenschaft gezogen. Die Kranken sterben meist an den
Vorlesiiiif,' 49. Capifol XXT. 783
Folg-en der Darmstenose, an Marasmus in Foli>e von Blutungen und Ver-
jauchung- der Krebsmassen.
Auch von den Drüsen der Pars cerviealis uteri g-ehen zuweilen
Krebse mit vorwiegend cylindrischen Epithelien aus, welche zunächst
den Uterus durchwaclisen, dann nach und nach die ganze Umgebung,
endlich auch die retroperitonealen Drüsen inficircn und infiltriren; sie
combiniren sich auch wohl mit den Plattenepithelkrebsen und haben vor
diesem in ihrem Verlauf keine weitere Verschiedenheiten voraus.
4. Speicheldrüse und Vorsteherdrüse.
Die Speicheldrüsen können der Sitz von Drüsenkrebsen werden,
die jedoch erst in höherem Alter entstehen, dann aber rasch wachsen
und nicht selten unter dem Bilde chronischer Entzündung erscheinen.
Die Formen der neugebildeten Acini sind oft mehr tubulär als acinös;
Epithelperlen kommen am Ende der mit Cylinderzellen ausgekleideten
Tubuli vor. Diese Patienten erliegen meist der Ulceration der Gesch^n1lst
und dem allgemeinen Marasmus; metastatische innere Carcinome sind
danach äusserst selten.
In der Vorsteherdrüse bei älteren Leuten sah ich einige Male
Drüsenkrebs, sehr w^eich, in einem theilweis exstirpirten Fall sehr ge-
fässreich und von acinöser -Structur. Aus der vortrefflichen statistisclien
Arbeit über bösartige Neubildungen der Prostata von 0. Wyss geht
hervor, dass auch diese Carcinome fast immer nur durch die örtlichen
Erscheinungen tödten. Lymphdrüsen und nahegelegene Theile werden
wohl inficirt, sehr selten aber finden sich secundäre Krebse in inneren
Organen.
5. Schilddrüse und Eierstock. Ich stelle die beiden Organe
hier zusammen, weil sie beide von achtem Drüsenepithel abstammen
und beide durch Abschnürung von Drttsenschläuchen entstandene Follikel
enthalten. Beide Organe fallen bei krebsiger Erkrankung in den em-
bryonalen Typus zurück, d. h. die Follikel wachsen wieder zu Eöhren
und Schläuchen aus, von denen sich eventuell wieder neue Follikel ab-
schnüren; doch bestehen manche dieser im Ganzen seltenen Carcinom-
formen auch ganz aus Zellenschläuchen, ohne dass Follikelbildung
hinzukommt. Jugendliche wie ältere Individuen können von dieser
Krebsform befallen werden; der Verlauf ist meist ein rascher, da die
Schilddrüsenkrebse in die Luftröhre hineinwachsen oder diese durch
Druck von aussen schliessen, und die Eierstocksgeschwülste der Art
durch ihr enormes Wachsthum, rasche Verwachsung mit den Nachbar-
gebilden und durch rasch hinzukommenden Ascites gefährlich werden.
Wir mussten wegen mancherlei Verschiedenheiten in Verlauf und
anatomischer Structur die verschiedenen Formen der Carcinome trennen;
die Therapie können wir zusammenfassen. — Mau pflegt die Therapie
'JQA Von den Geschwülsten.
der carcinomatösen Dyskrasie (Carcinosis) als eine Partie honteuse der
Mediciu und Cliirurgie zu bezeiclmen; ich kann dem niclit ganz bei-
stimmen. Es ist wahr, wir können die Krankheit nicht heilen; doch ist
dies nicht mit vielen anderen acuten und chronisclien Krankheiten ebenso
der Fall ? Können wir einem Schnupfen in jedem Stadium Stillstand
gebieten? Können wir dem Verlauf der acuten Exantheme, des Tj^phus
Halt gebieten? Können wir Tuberculose heilen? Gewiss nicht; in allen
diesen Fällen wie in vielen anderen macht die Krankheit ihren typischen
Verlauf; wir greifen wenig mit Arzneimitteln ein, wenigstens vermeiden
wir rationeller Weise lieroische Parfoi'cecuren. Bei der Carcinosis er-
scheint uns nur deshalb unsere therapeutische Ohnmacht so gross, weil
die Krankheit fast immer tödtlich wird und wir gegen diesen Verlauf
nichts vermögen; der Wahrheit nach ist aber unsere Therapie ebenso
machtlos gegen einen Schnupfen als gegen die Krebskrankheit; der
Schnupfen ist aber keine tödtliche Krankheit, und daher verlangt man
vom Arzt keine besondere Leistung; man hat sich daran gewöhnt, den
Schnupfen nicht heilen zu können ; es wird wohl nöthig sein, dass mau
sich auch an den Verlauf der Krebskrankheit wie mancher anderen
Krankheiten gewöhnt; es wird dadurch dem Mitleid, welches wir mit
diesen armen Kranken haben, kein Eintrag geschehen, auch soll da-
durch das Streben nach Fortschritt in Erkenntniss und Behandlung der
Krankheit nicht gehemmt werden; viel ist meiner Meinung nach auf
diesem Gebiet noch zu erreichen!
Die Aufgaben, die sich hierfür den Arzt bieten, sind folgende: die
Krebsgeschwulst so frühzeitig wie möglich zu entfernen, um
die Infection zu verhüten oder sie wenigstens in ihrem Ver-
lauf zu hemmen und die damit verbundenen Leiden zu ver-
mindern.
So lange man die Krebskrankheit kennt, sucht man nach Mitteln,
dieselbe völlig zu tilgen; es giebt kein eingreifendes Arzneimittel, keine
Art von Dätetik, keine Art von Heilquellen, die nicht schon als un-
trügliclie Heilmittel gegen Krebs empfohlen und zum Theil wirklieh für
solche gehalten sind. Ich müsste die ganze alte und neue Materia me-
dica aufwühlen, wenn ich Hmen Alles mittheilen wollte, was hierüber
gedacht und geschrieben ist. Wie jede unheilbare Krankheit ist auch
die Carcinosis ein Tummelplatz der Charlatans gewesen, und noch in den
letzten Jahren traten schwarze und weisse Zauberer auf mit der Ver-
heissung, die Krankheit durch besondere Arcana zu heilen. Leider war
Alles dies Schwindel, oder was Wahres an diesen Cureu war, ergab
sich als längst bekannt.
Die Aetiologie der Krebskrankheit giebt leider für die Therapie
gar keine Anhaltspunkte; wir wissen gar zu wenig über die Ursachen,
weshalb gewisse Tumoren so sehr infectiös sind, und andere es nicht
sind. Em Schlag, ein Stoss etc. kann in einzelnen Fällen den Ausbruch
Vorlesung 11). (':ipifcl XXf. 785
(1er Krankheit gelegentlicli veranlassen, kann die Disposition zur Ki-el)s-
bildung- aber niclit erzeugen. In einigen Fällen ist i^^rbliclikeit der Krank-
heit nachweisbar. Mancherlei äussere Umstände köniu'n di(! Krankheit
vielleicht in ihrem Verlauf beschleunigen, rufen sie aber nielit hervor. Alles
dies ist für die Therapie nicht verwendbar. — Es giebt kein Specificum
gegen die Carcinosis; doch damit ist weder gesagt, dass ein solches nicht
etwa gefunden werden könne, noch dass jede innere Therapie für diese
Kranken unnöthig sei. Keineswegs. Man wird die Kranken innerlich be-
handeln, wenn sich irgend welche Angriffspunkte für die Therapie darbie-
ten, wenn irgend welche Symptome vorliegen, welche Indication für die
Anwendung bestimmter Arzneimittel geben. Da sich Anämie nicht so selten
bei Krebskranken findet, so wird Eisen in verschiedenen Präparaten in An-
wendung kommen oder eisenhaltige Mineralbäder. Dann sind zuweilen bei
Individuen mit mangelhafter Ernährung Nutrientia: Leberthrau und der-
gleichen anwendbar, auch bittere Mittel etc. zur Unterstützung der Ver-
dauung. Stark schwächende Curen: Schwitzcuren , Abführungscuren,
Quecksilbercuren sind entschieden zu widerrathen, da das Leben um so
länger erhalten wird, je besser diese Kranken genährt sind. Von den
Heilquellen sind die stark angreifenden, wie Aachen, Wiesbaden, Karls-
bad, Kreuznach, Eehme schädlich, nur die milderen, indifferenteren Ther-
men, wie Ems, Gastein, Wildbad, ferner Molken- und Milchcuren, stärkende
Bergluft können ohne Schaden, d, h. ohne das Wachsthum der Geschw^ülste
zu befördern, empfohlen werden, wenn ihr Gebrauch aus andern Gründen
wünschenswerth erscheint. Aufenthalt in südlichem Klima pflegt bei Krebs-
kranken keinen Vortheil zu bringen. Gegen Ende des Lebens bei sinkenden
Kräften ist eine roborirende, leicht verdauliche Diät von Wichtigkeit, und
zuletzt bei zunehmenden Schmerzen wird die geschickte Anwendung von
Narcoticis in verschiedener Auswahl die Leiden der Kranken und den
Tod erleichtern; die Erkrankung innerer Organe kann ganz besondere
symptomatische Indicationen bieten, auf die ich hier nicht eingehen kann.
— So viel von der inneren Behandlung, auf die ich mich nur
dann beschränke, wenn ich noch nicht sicher in der Diagnose
bin, oder den Fall nicht mehr oder überhaupt nicht für eine
Operation geeignet halte.
Was die äussere Behandlung betrifft, so handelt es sich zunächst
immer um die Entfernung der Geschwulst, falls diese der Localität nach
überhaupt in Frage kommen kann. Die Operation kann mit dem Messer
oder durch Aetzmittel ausgeführt werden; die Ligatur und das Ecrasement
kommen hier fast niemals in Frage (letzteres etwa nur bei der Ampu-
tatio penis und Amputatio linguae). Bevor wir aber auf die Vorzüge
der einen oder anderen Methode eingehen, müssen wir doch die Frage
überlegen, ob es überhaupt zweckmässig ist, zu operiren, selbst wenn
dies leicht und ohne Lebensgefahr geschehen kann, denn die Ansichten
der erfahrensten Chirurgen divergiren in diesem Punkte. Es giebt Chi-
Billroth chir. Path. u. Ther. 7. Aufl. OO
786
Von den Geschwülsten.
rurgen welche niemals Krebse operiren. Sie führen au, die Operation
sei immer vergeblich, weil Recidive erfolgten ; operire man die Recidive
so erfolo-en um so schneller neue, ja die Aerzte dieser Partei behaupten,
je mehr örtlich operirt wird, um so rascher treten secundäre Lj^mph-
drüsengeschwülste und metastatische Krebse auf, die örtliche Geschwulst
sei eine Art von Ableitung der Geschwulstkrankheit; dieses Krankheits-
product dürfe man nicht entfernen, man begünstige dadurch den Ausbruch
der Krankheit an anderen Stellen; wolle man durchaus die Geschwulst
entfernen, so müsse mau die kranken Säfte auf einen anderen Punkt
ableiten, z. B. durch Etabliruug eines künstlichen Geschwürs mittelst
eines Fouticulus oder eines Haarseiles. — Es ist über diese aus der älte-
ren Humoralpathologie hervorgegangenen Ansichten zunächst zu be-
merken, dass sie mindestens unerwiesen, zum Theil aber auch durch
die Erfahrung als unrichtig erwiesen betrachtet werden müssen. Für
uns ist es eine durch tägliche Beobachtung zu constatirende Thatsache,
dass die Entwicklung der Lymphdrüsenschwellungen nur durch die
Entwicklung der primären Geschwülste bedingt ist; wir haben uns
schon früher darüber ausgelassen, dass die Lymphdrüsenbetheiligung
bei Carcinom aller Analogie nach durch örtliche Contagion, man mag
sich den Vorgang denken, wie man will, bedingt ist. Wenn Fälle vor-
kommen, in welchen nach Exstirpation von Brust- oder Lippenkrebsen
früher nicht bemerkbare Lymphdrüseuanschwellungen erscheinen, so
muss man daran denken, dass der erste Anfang der Lymphdrüsener-
krankung ein so geringer gewesen sein kann, dass er der Untersuchung
entging. — In wie weit das Bestehen eines primären und secundäreu
Lymphdrtisenkrebses den w^eiteren Verlauf der Krankheit, das Auftreten
metastatischer Geschwülste, den kachektischen Allgemeinzustand begün-
stigt oder verzögert, das ist eine Frage, die deshalb nicht gelöst werden
kann, weil der Verlauf der Krankheit nicht genau an eine bestimmte
Zeit gebunden ist; wäre dies der Fall, so könnte man durch Vergleichs-
beobachtungen über operirte und nicht operirte Fälle eine Regel über
die Zulässigkeit der Operationen gewinnen. Annähernde Resultate wären
durch Zutammeustellung von Fällen, die in Bezug auf Alter, Constitu-
tion, Art der Geschwulst etc. Gleichheiten bieten, zu erreichen; da aber
die genaue Differenzirung der verschiedenen Arten von Careinomen und
damit eine exacte Ordnung der Fälle erst in neuerer Zeit hergestellt
und noch kaum allgemein anerkannt ist, so ist fürs erste noch nicht
viel in dieser Beziehung zu erwarten; die Beobachtungen des Einzelnen
reichen selten aus, um daraus endgültige Schlüsse zu ziehen. — Die Er-
fahrung, welche mau bei den Careinomen im Gesicht macht, dass nämlich
bei ausgedehntester Erkrankung der Lymphdrüsen äusserst selten meta-
statische Geschwülste auftreten, spricht in hohem Maasse dafür, dass die
Krankheit durch die stark entwickelten localen Geschwulstbildungen
nicht potenzirt wird, und dass die Lymphdrüsencarcinome die Disposition
Vorlcsiiiin- .^;). Cliipilcl XXT. 787
ZU metastatisclien Timiovcii nicht crliölion. ■ — Die Frage, sollen Carcinomc
überhaupt operirt werden, oder nielit, lässt sich dahin beantworten, dass
die 0])eration auf die Kranklieitsdiatlicse wahi'sclicinlicli keinen dirccten
Einfiuss liat, dass also andere Gründe für die Operation sprechen müssen,
wenn dieselbe gemacht werden soll. Wir sagten absichtlich, die Operation
habe keinen directen Einfluss auf den Verlauf der Krankheit, einen
indirecten glauben wir annehmen zu müssen, insofern durch die Ge-
schwulst anderweitige krankmachende Ursachen gegeben sind; die Ent-
kräftung, Schwäche, Anämie und Ernährungsstörung, welche durch die
Verjauchung und durch die Schmerzen in einer Krebsgeschwulst bedingt
sein können, vielleicht auch der immer nagende Kummer mit den ewig
sich wiederholenden Reflexionen über die Unheilbarkeit der Krankheit
sind Momente, welche wohl den üblen Verlauf der Krankheit Ijefördern
können. Ich halte es für Pflicht des Arztes, unter Umständen die Kran-
ken über die Unheilbarkeit ihrer Krankheit zu täuschen, sobald er eine
Operation nicht oder nicht mehr für möglich erachtet; der Arzt soll, wo
er nicht helfen kann, die Leiden der Kranken lindern, psychisch wie
physisch. Wenig Menschen besitzen die Euhe des Geistes, die Erge-
bung oder Charakterfestigkeit, nennen Sie es, wie Sie wollen, mit dem Be-
wusstsein eines unheilbaren Uebels das Leben froh zu geniessen, so lange
es noch ihnen gehört. Die Kranken werden es Ihnen, wenn auch äusser-
lich vielleicht ruhig, selten Dank wissen, wenn Sie ihnen zu wahre Er-
öffnungen über das machen, was sie erwartet. Sie werden in dieser
Hinsicht als Arzt oft in manchen Conflict gerathen, wobei ich es Ihrem
persönlichen Geschick, Ihrer Menschenkenntniss, Ihrem Gefühl überlassen
muss, was Sie in dem einzelnen Fall thun. — Wenn wir nun auch nicht
die Krankheitsdiathese durch die Operation tilgen können, wenn wir
z. B. nicht verhindern können, dass nach vollkommener Entfernung eines
kranken Theils der Brustdrüse in dem zurückbleibenden, bis dahin völlig
gesunden Theil oder in der andern bis dahin gesunden Brust bald nach
Heilung der Operatiousnarbe neue Knoten sich bilden (regionäre Reci-
dive), so können wir doch durch die frühzeitige Entfernung der primä-
ren Geschwulst verhüten, dass die Drüse in continuo weiter erkrankt,
zuweilen auch noch, dass die Lymphdrüsen inficirt werden. So spärlich
aucli die vollkommenen Heilungen der Brustdrüsenkrebse durch Ope-
ration sind, so sind sie meiner Meinung nach immer häufiger zu erwar-
ten, wenn die Familienärzte, denen diese Erkrankungen gewöhnlich
zuerst gezeigt werden, früher auf die Operation dringen, während die-
selben jetzt meist die beste Zeit für die Operation verstreichen lassen
und die Frauen erst dann Chirurgen von Fach consultiren, wenn sowohl
die örtliche Ausbreitung als die Achseldrüsenerkrankung bereits so weit
vorgeschritten ist, dass eine vollständige Operation nicht mehr sicher
ausführbar ist. Die günstigen Erfolge, welche bei frühzeitiger Exstirpa-
tion ächter Lippen- und Gesichtskrebse vorliegen, sollten recht ermuntern,
50*
788
Von den Geschwülsten.
auch andere Krebsgeschwülste früh zu entfernen. — Wenn es nun l)is
ietzt selten möglich war, früh und vollständig die Carcinome zu operireu,
so o'ieht es doch immerhin wichtige locale Ursachen, durch welche die
Operation auch später noch indicirt ist, um so lange als möglich wenig-
stens den Fortschritt der Geschwulst auf Theile zu verhindern, deren
Erkrankung nothwendig den Tod nacli sich zieht. Wenn auch in den
meisten Fällen ein locales Recidiv erfolgen wird, so vergehen darüber
doch Monate, zuweilen wohl ein Jahr, und in dieser Zeit ist das Leben
nicht direct gefährdet. Zuweilen handelt es sich auch um den Schutz
vor vollständiger Zerstörung von Gesichtstheilen, z. B. Lippen, Nase,
Augenlidern, die man nach der Operation plastisch ersetzen kann.
Wenn man solche Operationen für unnütz hält, weil man doch die Krank-
heit nicht heilen kann, so thut man sehr unrecht, denn man erleichtert
dem Patienten durch die Operation das Leben, macht es ihm wieder
angenehm, wenn auch nur auf einige Zeit, vielleicht doch auf den grössten
Theil der Zeit, die er überhaupt noch zu leben hat. Man könnte sehr
froh sein, wenn man einen Kranken mit vorgeschrittener Lungentuber-
culose durch eine Operation oder sonstige Cur wieder so zum Lebens-
genuss vorübergehend herstellen könnte, wie dies durch die Operation
bei manchen Fällen carcinomatöser Geschwülste der Fall ist. Kurz, es
giebt eine Reihe von Fällen, wo wir durch die Operation nützen, ja ich
halte es in vielen Fällen für sehr unrecht, die Operation zu verweigern.
— Andere Fälle sehen wir dann freilich, w^o es schwieriger ist, zu ent-
scheiden. Bei den langsam vorsehreitenden Formen des Brustkrebses,
wie beim Bindegewebskrebs, halte ich eine an sich ungefährliche Ope-
ration für zulässig, doch nicht für nothwendig. Ist aber ein Augenlid
zerstört, ist die Nase theilweis oder ganz verloren gegangen, dann ist
im ersten Falle, um den Bulbus zu schützen, im zweiten, um den sehr
störenden Defect auszugleichen , die Operation zu rathen , um so mehr,
als bei diesen langsam vorgehenden flachen Gesichtskrebsen oft gar
keine Recidive örtlich auftreten; nur ein Umstand würde mich in solchen
Fällen von der Operation abhalten: grosse Schwäche bei hohem Alter;
wenigstens sind dann plastische Operationen ausgedehnterer Art nicht
mehr rathsam; schon der bei der Operation unvermeidliche Blutverlust
und das der Operation nachfolgende Krankenlager kann hinreichen,
diesen Patienten das Lebenslicht auszublasen. — Weiterhin entsteht die
Frage über die Zulässigkeit der Operation bei einem gefährlichen Sitz
der Geschwulst, wenn nämlich eine Operation nothwendig ist, die
tödtlich enden kann, oder wenigstens mit ebenso viel Wahrscheinlichkeit
tödtlich enden wird, als sie zur Heilung führt. Hier wird die Beschaffen-
heit des einzelnen Falles in Frage kommen, wir sind hier am Ende mit
den fillgemeineu Reflexionen; wie man die Gefährlichkeit einer Operation
in dem einzelnen Fall ansieht, ist je nach der Erfahrung der Chirurgen
und der Individualität der Kranken ganz verschieden; eins wird mau
Vorlesung 40. Cupilol XX[. *" '^oa
jedoch als Princip festhalten, nänilJ«i. • n ^i r au u[)eriicn, wenn man
nach g-enauer Untersuchung- hoffen darf, alles Krankhafte
entfernen zu können; eine halbe Operation mit Z uriicklassun g-
von Gesehwulstresten soll man nur nacli ganz besonderen
Ausnalimsindicationen (starke Blutungen, enorme Jauchung) machen.
Hierbei ist zu berücksichtigen, dass man immer nur im Ge-
sunden operircn soll, wo möglich 1 bis V/^ Centimeter von
der fühlbaren Infiltration entfernt; nur dann ist man sicher,
alles Erkrankte zu entfernen! Man kann zuweilen in verzwei-
felten Fällen durch sehr kühne Operationen bereits sehr ausgedehnter
Krebsgeschwülste einzelnen Kranken das Leben verlängern, doch im
Allgemeinen wird man dabei sehr viel mehr Operirte sterben als ge-
nesen sehen.
Wir kommen jetzt zur Kritik der bei den Krebsgeschwülsten vor-
züglich angewandten Aetzraittel. Es hat im Lauf der Zeiten das Urtheil
über die Aetzmittel sehr geschwankt; bald gab es Zeiten, wo man
ihnen entschieden den Vorzug vor dem Messer gab, bald solche, in
denen man sie im Princip ganz verw^arf. Die i\.nsichten der meisten
jetzt lebenden Cliirurgen neigen sich mehr der letzteren Anschauung hin,
so auch die meine. Im Princip gebe ich entschieden der Operation mit
Messer oder Scheere den Vorzug, schon aus dem Grunde, weil ich dann
genau weiss, was ich entferne, weil ich sicher beurtheilen kann, ob alles
Kranke entfernt ist. Ich betrachte daher die blutige Exstirpation der
Krebse sowae der Geschwülste überhaupt als Regel. Doch wo eine
Regel ist, sind auch Ausnalmieu. Bei sehr alten Leuten, bei anämischen
Kranken kann das Aetzmittel zur Anwendung kommen, und wenn man
es mit Consequenz so lange fortsetzt, bis alles Krankhafte zerstört ist,
dann ist der Erfolg auch ein ganz günstiger. Vom physiologischen
Standpunkt aus scheint das Aetzmittel auf den ersten Blick etw\^s für
sich zu haben; man kann sich nämlich vorstellen, dass die ätzende
Flüssigkeit bis in die miterkrankten feinsten Lymphgäuge eindringt und
so recht sicher den örtlichen Krankheitsstoif zerstört. Allein dies ist
deshalb nicht der Fall, weil das Gewebe, w^elches mit dem Aetzmittel
in Berührung kommt, damit sofort eine innige feste Verbindung eingeht
und ein Weiterfliessen des Aetzmittel s dann nicht mehr Statt hat. Man
hat früher behauptet, die Recidive folgten nach Anv/endung von Aetz-
mitteln nicht so schnell als nach der Operation mit dem Messer, indessen
hat sich das nicht bestätigt; ich statuire daher nur die oben angeführten
x\usnahmen.
Was die Wahl der Aetzmittel betrifft, so ziehe ich das Chlorzink allen
übrigen zur Zerstörung von Krebsen vor; Sie können dasselbe als Paste oder
als Aetzpfeil anwenden. Handelt es sich um die Aetzung einer Fläche,
so machen Sie sich aus gepulvertem Chlorziuk und Mehl oder Amylum
zu gleichen Theilen mit Zusatz von etwas Wasser einen Brei, den Sie
r,(^f^ Von den Geschwülsten.
auf die Geschwiirsnaoi.o auftra^-eB. Wollen Sie tiefer ätzen, so lassen
Sie 1 Tlieil Chlorziuk mit 3 Theilen Mehl oder Gummi mit etwas Wasser
zusammenriihren, zu einem Kuchen formen und trocknen; die Masse
lässt sich dann bequem schneiden : Sie schneiden mit einem Messer
kleine zugespitzte Cylinder von ^/.^—l Centimeter Dicke, machen mit
einer Lancette einen Einstich in die Geschwulst und drücken den präpa-
rirten Aetzpfeil hinein; dies machen Sie so oft, bis die Geschwulst
durchspickt ist von Pfeilen, die etwa % Zoll Distanz von einander haben
können. Nach dieser Aetzung- tritt 4—5 Stunden lang- ein massiger, oft
aber auch sehr heftiger Schmerz ein, den Sie durch eine gleich nach der
Aetzung- ausgeführte subcutane Morphiuminjection sehr moderiren kön-
nen, und am andern Tage finden Sie die Geschwulst zu einem weissen
Schorf umgewandelt. Dieser löst sich nach 5 — 6 Tagen, früher bei
weichen Geschwülsten, später bei harten. Nach Ablösung- der Eschara
stellt sich, falls die Aetzung- g-enügend bis ins Gesunde vordrang, eine
gut granulirende, bald vernarbende Wunde ein; wuchert die Carcinom-
masse wieder hervor, so wird die Aetzung mit Paste oder Pfeilen wie-
derholt u. s. f.
Es ist immer gegen diese Aetzuugen einzuwenden, dass sie zuwei-
len recht schmerzhaft und unsicher in Bezug auf das Umsichgreifen des
Aetzmittels sind; dennoch finden sie, wie gesagt, hier und da ihre An-
wendung. — Ebenfalls viel gerühmte Aetzmittel sind die V/iener Aetz-
paste, die Arsenikpaste, die Antimonbutter, das Chlorgold etc. ; weniger
im Gebrauch ist das Jodkalium, die Chromsäure, concentrirte Lösungen
von Chlorzink, rauchende Salpetersäure, Schwefelsäure etc.
Jetzt noch einige Rathschläge in Betreff der örtlichen Behandlung
von Krebsgeschwüren, die für eine Operation überhaupt nicht oder nicht
mehr geeignet sind. Es giebt unoperirbare Fälle, in welchen die Wu-
cherung der Krebsmassen aus der Wunde heraus enorm ist und die
Kranken sehr belästigt und entkräftet; hier kann man partielle Aetzun-
gen vornehmen oder das Ferr. candeus anwenden; durch die palliative
Zerstörung der wuchernden Massen erzielt man zuweilen ganz leidliehe
Resultate. Die Hauptindication für die Behandlung bei diesen Kranken
bildet die mit oft grässlichem Gestank verbundene Jauchung der Ge-
schwüre und in manchen Fällen die Schmerzen. Um die schlechte Se-
cretion zu beseitigen, ist das Ferr. candens ein ganz gutes Mittel; den
Gestank mildert man durch Ueberschläge mit Chlorwasser oder gereinigtem
Holzessig, Kreosot, Carbolsäure, hypermangansaurem Kali, essigsaurer
Thonerde, Aufstreuen von feinem Kohlenpulver u. s. f. Die Kohle absor-
birt, wie Sie aus der Chemie wissen, die Gase besonders gern und ist
hier ein vortreffliches Mittel; leider verschmiert sie die Geschwüre so
entsetzlich, dass man sich dadurch von ihrem häufigem Gebrauch abhalten
lässt. Was die Schmerzen in den carcinomatösen ulcerirten Geschwüren
betrifft, so hat man dagegen örtlich Narcotica angewandt, z. B. gepulvertes
VurlesmiK ll). (';i|,itr| XXI. 701
Opium au%estreut; indcss wirken die Narcotica subcutan injicirt oder
innerlich inuner sichei'cr, und so kommt man denn zulet:jt immer wieder
bei diesen armen Patienten zum Mor[)liium. Ausdauer in der Pflege und
in der Linderung der Leiden dieser armen Unglücklichen mache ich
Ihnen noch besonders zur Pflicht; es ist freilicli traurig für den Arzt,
in diesen Fällen so wenig nützen zu können, doch verlassen dürfen (Sic
auch diese hoffnungslosen Patienten nicht.
Kurze Bemerkuiigess übtir «!Ic klinische Diagnose der <«e.scliwülste.
Ich kann es Ihnen nicht verübeln, wenn alles das , was ich Ihnen
über die Geschwülste bemerkt habe, vorläufig noch in ziemlicher Ver-
wirrung sich in Ihrem Kopfe befindet; wenn es Sie trösten kann, so
will ich Ihnen gestehen, dass es mir früher nicht besser gegangen ist,
als ich in Ihrer Lage war. Erst längeres Studium und die Uebung in
der differentiellen Diagnose der Geschwülste, für welche sich in der
Klinik Gelegenheit bietet, macht es möglich, auf diesem schwierigen
Gebiet sich mit einiger Sicherheit zu bewegen. — Die Consistenz der
Geschwulst und ihr Ansehen, ihr Verhältniss zur Umgebung, die Locali-
sation derselben, das rasche oder laugsame Wachsthum des Tumor, das
Alter der Patienten, das sind die Punkte, von denen man bei der Be-
urtheilung ausgeht; bald giebt das eine, bald das andere der genannten
Verhältnisse den Ausschlag. Nehmen wir ein specielles Beispiel: es
kommt ein Mann in den fünfziger Jahren zu Ihnen, rüstig und für sein
Alter kräftig; er hat seit vielen Jahren eine Geschwulst auf dem Rücken,
die ihm früher gar keine Beschwerde machte; erst seit sie fast die
Grösse eines Kinderkopfes erreicht hat, wird sie unbequem. Die Ge-
schwulst ist elastisch weich, doch nicht gespannt, nicht fiuctuirend, be-
Aveglich unter der Haut; letztere ist unverändert; Sclnnerzen haben nie
in der Geschwulst bestanden und sind auch bei der Untersuchung nicht
vorhanden. Die Diagnose ist in diesem Falle sehr leicht: bei der Lo-
calität, bei dem Sitz im Unterhautzellgewebe, bei dem langsamen schmerz-
losen Wachsthum etc. kann es sich fast nur um ein Lipom handeln,
möglicherweise um eine weiche Bindegewebsgeschwulst: doch die grösste
Wahrscheinlichkeit spricht für ein Lipom. — Nehmen wir einen andern
Fall: es kommt eine Frau zu Ihnen mit einer Geschwulst in der Brust;
diese Geschwulst ist hart, höekrig, hat die Grösse eines Apfels, auf
der Oberfläche zeigen sich eingezogene Stellen der Haut; letztere ist
mit der Geschwulst verwachsen. Von Zeit zu Zeit haben stechende
Schmerzen Statt gefunden, auch Druck auf die Geschwulst ist empfind-
lich; die Achseldrüsen derselben Seite, wo die Brustdrüsengeschwulst
ist, sind hart anzufühlen. Die Frau ist 45 Jahre alt, gut genährt, sieht
gesund aus. Auch hier ist die Diagnose leicht: es handelt sich um ein
rjqo Von den Geschwülsten.
Carcinom 1) weil in den Jahren, in welchen sich Patientin befindet, am
häufio-sten krebsige Geschwülste in der Brust sich entwickeln, während
Adenome und Sarkome früher zu entstehen pflegen. 2) Die Consistenz
könnte für Fibrom sprechen, doch Fibrom kommt überhaupt nur äusserst
selten in der Mamma vor, auch die Lymphdrttsensch wellung spricht
dao-eg-en, sie spricht sehr für Carcinom. o) Carcinome sind schmerzhaft
wie in diesem Fall, Sarkome und Fibrome pflegen es nicht zu sein.
Wir könnten die Motivirung der Diagnose noch weiter treiben, doch
das Gesagte mag hier genügen. — Betrachten wir noch einen dritten
Fall: ein Knabe von 10 Jahren hat seit 2 Jahren eine sich langsam
versrössernde , massig schmerzende Anschwellung des mittleren Theiles
des Unterkiefers: die Zähne sind an dieser Stelle ausgefallen, ohne
krank zu sein; die Anschwellung des Knochens ist gleichmässig rundlich
und reicht von dem ersten Backzahn der einen Seite bis zum gleichen
Backzahn der andern; sie ist unten knochenhart, oben (im Munde) von
Schleimhaut überzogen elastisch fest. Kann diese Knochenanschwellung
die Folge eines chronisch-entzündlichen Processes, einer Caries oder
Nekrose sein? Dies ist nicht wahrscheinlich, 1) weil der Schmerz stets
gering war; 2) weil keine Eiterung vorhanden ist, die bei einer seit
2 Jahren bestehenden Knochenentzündung am Kiefer nicht leicht fehlt;
3) weil die Anschwellung so beschränkt, so gleichmässig ist, wie die
Knochenauflagerungen bei Caries oder Nekrose nicht zu sein pflegen;
4) weil in dem Alter des Patienten Knochenentzündungen am Unter-
kiefer nicht leicht vorkommen, ausser nach Phosphorintoxication, die
hier nicht Statt hatte. Wir haben es also mit einem Tumor zu thun;
ist es ein Osteom? dafür ist es oben im Munde zu weich, man dringt
bei einem Stich mit einer feinen Nadel von oben in die Geschwulst
leicht ein. Ist es ein Chondrom? Consistenz, Form, Art des Wachs-
thums, Alter des Patienten passen wohl; doch die Localität nicht;
Chondrome im Mittelstück des Unterkiefers in diesem Alter sind äusserst
selten. Es ist ein centrales Osteosarkom, wahrscheinlich ein Kiesen-
zellensarkom : dazu stimmen alle Erscheinungen, und Sie wissen, dass
diese Geschwülste inr Unterkiefer im jugendlichen Alter häufig sind.
Ich sage, Sie wissen: besser Sie werden es allmählig nach und nach
lernen; und ich kann Ihnen nur rathen, jedesmal, wenn Sie in der
Klinik einen Kranken mit einer Geschwulst untersucht haben, zu Hause
darüber nachzulesen, den individuellen Fall zu vergleichen mit der all-
. gemeinen Charakteristik der Geschwülste, die ich Ihnen gegeben habe.
Wenn Sie das einige Zeit lang getrieben haben und recht viele Ge-
schwülste in den Cursen über pathologische Histologie unter Anleitung
Ihres Lehrers untersucht haben, dann werden Sie bald eine klarere
Uebersicht gewinnen, und alle Einzelheiten werden sich Ihrem Ge-
dächtniss nach und nach einprägen.
Vorlesung 50. Capilcl XXI f. 793
Vorlesung 50.
CAPITEL XXII.
lieber Amputationen, Exarticulationen (uid Jlesectionen.
Wichtigkeit und Bedeutung dieser Operationen. — Amputationen und p]xar-
ticulationen. — Indicationen. — Methoden. — Nachbehandhnig. — Prognose. —
Konische Stümpfe. Prothese. Historisches. — Resectionen: der Gelenke. — Histo-
risches. — Indicationen. — Methoden. — Nachbehandhmg. — Prognose.
Meine Herren!
Wir haben schon sehr oft von Amputationen und Resectionen zu
sprechen Gelegenheit gehabt, und ich möchte Ihnen datier vor Abschkiss
dieser Vorlesungen doch eine Vorstellung von diesen so sehr wichtigen
Operationen geben, durch welche wir kranke Gliedmaassen oder Theile
von kranken Gliedmaassen entfernen, deren Heilung wir nicht zu Stande
zu bringen vermögen. Man hat diese oft so sehr folgenreich, ja lebens-
rettend wirkenden Operationen wohl als ein „Testimonium paupertatis"
betrachtet, welches sich die ärztliche Kunst ausstellt, da ja das Fort-
schneiden kranker Theile keine eigentliche Heilung sei, w^enn man unter
Heilen die Kunst versteht, mit Hülfe unseres Wissens, einen krankhaft
veränderten Körpertheil wieder zum normalen Zustande zuritckzuführen.
Doch wenn Sie diesen allerdings höchsten Maassstab für alle Fälle an
unsere Kunstleistung anlegen wollen, dann schrumpft das Gebiet des
Heilbaren freilich auf ein Minimum zusammen; dann können Sie auch
sagen: ein Staar ist nicht heilbar, denn die getrübte Linse wird ja nicht
wieder klar gemacht, sondern entfernt; ja sie müssten eine Eeihe der
glänzendsten Curen, welche von den Dermatologen mit ätzenden äussern
Mitteln gemacht werden, als Beweise für die Ohnmacht unserer Kunst
ansehen, ebenso wie die Lebensrettung eines Menschen, welchen Sie
eine Geschwulst aus dem Kehlkopf entfernen, damit er nicht erstickt.
Die glänzendsten Curen, im strengsten Sinne des Wortes „Heilungen"
macht man z. B. bei Syphilis; mit den antisyphilitischen innerlichen Curen
machen wir oft die ausgedehntesten, und oft schon lange bestandenen
Krankheitsproducte in wenigen Wochen schwinden, wie durch Zauber-
tränke. Solche zweifellos wirksamen Curen sind aber bei anderen Krank-
heiten sehr selten, wir müssen uns oft genug damit begnügen, die er-
krankten Theile zu zerstören und dadurch nicht nur die Ausbreitung der
Krankheit auf die nächste Umgebung, sondern auch die schädlichen
Folgen für den Gesammtorganismus zu verhüten. Je kleiner und un-
wichtiger für das Leben des Organismus ein erkrankter Theil ist, um
so leichter werden wir uns entschliessen ihn zu opfern. Je grösser der
zu entfernende Theil einer Gliedmaasse aber ist, um so grösser wird
nicht nur die Gefahr, welche mit der Entfernung desselben verbunden
yg^ Ueber Auiputationen, Exarticulationen und Resectionen.
ist sondern um so schwerer wiegt der Verlust für die Arbeitsfähigkeit
des betreffenden Individuums. Dieser Umstand bringt in die Indicationen
zu den Amputationen ein unwissenschaftliches sociales Element hinein,
was oft nicht wenig zur Entscheidung beiträgt. Für einen reichen Mann
wäre es, wenn man von der äusseren Erscheinung absieht, möglich zu
leben, ja bis zu einem wenig beschränkten Grade selbst das Leben zu
geniessen, auch wenn er alle vier Extremitäten verlöre, denn was die
Extremitäten physiologisch zur Existenz des Individuums zu leisten haben,
lässt sich auch durch die Arbeit anderer Individuen erreichen, und Arbeit
kann man kaufen. Doch für Jemand, der auf seiner Hände oder Füsse
Arbeit angewiesen ist, kann der Verlust einer Extremität, ja bei manchen
Handwerkern der Verlust oder die Verkrüppelung eines Fingers die
Quelle für die Vernichtung seiner socialen Existenz werden. Ist er z. B.
Briefträger, Maurer, Drechsler, was soll er ohne gesunde Beine machen?
Ist er Goldarbeiter, Uhrmacher, Schuster, was soll er mit nur einer
Hand machen? Ja oft war ich schon in der Lage, einen krummen, in
die Hohlhand eingedrückten, bereits völlig geheilten Finger zu entfernen,
weil er die Leute unfähig machte, ein Beil, einen Spaten etc. mit voller
Faust zu fassen, wie sie es für ihren Beruf bedurften. Wie unzählige
Mal hörte ich schon die vorwurfsvollen Worte: „auch Sie können meinen
Fuss nicht heilen! nun dann will ich lieber so sterben, als mein Bein
abnehmen lassen; was soll ich denn anfangen? ich bin ja ein vernich-
teter Mann. Ich halte es auch nicht aus, — nein, das lass ich nun und
nimmermehr thun!"
Doch das Sterben zumal an chronischen Krankheiten der Extremitäten,
das geht nicht so schnell ; die täglichen Schmerzen, Wochen laug, Monate
lang, Jahre lang und immer noch kein Ende, das macht die stärksten
Menschen mürbe; dann auch wieder die Lust zu leben, die allmählige
Gewöhnung an den Gedanken, mit Verlust einer Extremität doch viel-
leicht noch einen Erwerb zu finden, bestimmt dann doch die meisten
Menschen, sich endlich, wenn auch oft zu spät, zur Amputation zu ent-
schliessen. — Sehr verschieden ist der Widerstand, welchen Schwer-
verletzte dem Gedanken an eine Amputation entgegensetzen. Hier ent-
scheidet meist das Aussehu der verletzten Theile und der Grad der
Schmerzen in denselben. Ist die Extremität zerrissen in Fetzen, und sieht
der Unglückliche selbst die zerschmetterten Knochenstücke wirr durch
einander liegen, dann wird man wenig Widerstand gegen die Amputation
finden; ebenso wenn die Schmerzen sehr intensiv, die Extremität von
Blutunterlaufung blauroth und die Finger oder Zehen unbeweglich sind.
Ist dies aber nicht der Fall, ist die Schwere der Verletzung nur dem
Arzte erkennbar, handelt es sich z. B. um Gelenkwunden mit Knochen-
brüchen ohne erhebliche Dislocation und ohne primäre Functionsstörun-
gen, kann der Verletzte seine Zehen oder Finger bewegen, selbst wenn
diese stark beschädigt sind, hat er auch keine Schmerzen, — dann ist
es oft sehr scliwcr, ihm die Nothwendig'lccit eines operativen Eingriffes
klar zu machen; er miiss dann schon ein unbedingtes Vertrauen auf den
Arzt haben, ja man kann schon sagen, er nmss an den Arzt glauben,
wie an ein übermenschliches Wesen, wenn er unter solchen Verhältnissen
die vielleicht nothwendige primäre Amputation zulässt. Hier werden
Sie oft erleben, dass alle Ihre wohl erlernten und nach langer Praxis
wohl begründeten Principieu Ihres therapeutischen Handelns auf vorläufig
unbeugsamen Widerstand stossen. Nehmen nun nach einigen Tagen die
Folgen der Verletzung den erwarteten gefährlichen Charakter an, und
dringt dann der Verletzte etwa selbst auf die Amputation, dann werden
Sie sich zuweilen sagen müssen: zu spät! doch wollen Sie so grausam
sein, es auch dem Unglücklichen zuzurufen? Das sind harte Stunden für
den Arzt. Ist noch eine wenn auch noch so geringe Aussicht auf Rettung,
so wird man sich auch unter solchen ungünstigen Verhältnissen noch ent-
schliessen, die Amputation auszuführen; die Hoffnung unter solchen Um-
ständen der Schule zum Trotz, ja selbst einer Eeihe eigner ungünstiger
Erfahrungen zum Trotz, ein verloren gegebenes Menschenleben zu retten,
ist ein schönes Vorrecht des jugendlichen Stolzes auf die Kraft und die
Macht unserer Kunst. Doch wenn sich dann die Misserfolge häufen und
wir müde werden im Kampf mit den gegebenen üblen Verhältnissen um
das nur so selten Erreichbare, dann bleiben wir immer häufiger am Ufer
der Resignation stehen und schauen bekümmert dem sinkenden Schiff nach,
ohne den Nachen unsrer Kunst auch noch preiszugeben. So schön es ist,
Aussergewöhnliches durch aussergewöhnliche Kraft zu erreichen, so sehr
müssen wir uns doch auch hüten, die Mittel unsrer Kunst in unsern und
in den Augen der leidenden Menschheit nicht zu oft der Gefahr auszusetzen,
resultatlos zu wirken. Denn gar zu viele Misserfolge ertödfen endlich
in jedem gewissenhaften Arzt die Freude am Helfen und das für ihn
nicht minder als für Andere durchaus nothwendige Vertrauen auf seine
Kunst.
Ich hoffe, dass das Gesagte genügen wird, damit Sie vor jeder
grösseren Operation und zumal vor jeder Amputation ernst mit sich zu
Rathe gehen, ob und wie zu operiren ist. Vergegenwärtigen Sie sich
stets, dass Sie bei jeder grösseren Operation vom Kranken verlangen,
dass er sein Leben unbedingt in Ihre Hand giebt, und dass Sie ihm
dafür schuldig sind, Ihr bestes Können und Wissen zu seinem Vortheil
zu verwenden.
Es ist recht schwierig, so im Allgemeinen die Indicationen für die
Amputationen und Resectionen zusammenzustellen. Fast jeder allge-
meine Satz der Art wird durch irgend einen speciellen Fall angreifbar
sein. Dennoch ist es behufs einer systematischen Erlernung für Sie
bequem, wenn ich noch einmal das bei verschiedeneu Gelegenheiten
796 Ueber Amputationen, Exarticuiai
im Verlauf dieser Vorlesungen darüber Gesagte kurz zusammenfasse.
Ich will dann auch noch Einiges über die Principien hinzufügen, welche
man bei der technischen Ausführung dieser Operationen und bei der
Behandlung der Operirten im Auge haben muss.
Von den Amputationen und Exarticulation. Es giebt Ver-
letzungen der Extremitäten, bei welchen es gleich von Anfang an zwei-
fellos ist, dass die Extremität brandig werden muss, oder dass die fol-
gende Eiterung so enorm stark werden und so ungünstig verlaufen muss,
dass das Leben des Patienten dadurch in die höchste Gefahr kommt
(siehe pag. 221). Wird man aber in solchen Fällen durch den Wider-
stand des Patienten gehindert, die primäre Amputation auszuführen, so
wird bei bereits eingetretener fortschreitender Gangrän die Amputation
höchst wahrscheinlich den Tod nicht verhindern können, ebenso wenig
bei progredienter Phlegmone mit Septhämie. Nur in Fällen, wo man
dann noch in ganz gesunden Theilen amputiren kann, ist einige Aus-
sicht auf Erfolg, z. B. wenn man bei traumatischer Gangrän, die von einer
Hand- und Vorderarmverletzung bis zum Ellenbogengelenk vorgeschrit-
ten ist, die hohe Amputation des Oberarms oder die Exarticulation des-
selben in der Schulter macht; weit weniger Erfolg hat man unter ana-
logen Verhältnissen mit den hohen Amputationen und der Exarticulation
des Oberschenkels, weil diese Operationen an sich weit gefährlicher
sind als die entsprechenden Absetzungen au den oberen Extremitäten.
Hat man die conservative Behandlung mit Erfolg eine Zeit lang fort-
gesetzt, und treten dann Erscheinungen von Pyohämie ein, so kann man
da auch noch die Amputation machen und wird an den oberen Extre-
mitäten einige Erfolge haben, seltner unter gleichen Verhältnissen an den
unteren Extremitäten.
Eber ist noch ein günstiges Eesultat solcher sogenannten secundären
Amputationen zu erwarten, wenn zwar keine pyohämische Erscheinungen
eingetreten sind, doch in Folge ausgedehnter Phlegmone die Haut in so
grosser Ausdehnung vereitert ist, dass man gar keinen Schluss der Wunde
erwarten kann, oder wenn durch langsame Eiterung grösserer Gelenke
und Knochentheile der Kranke in einen marantischen Zustand ver-
fallen ist.
Verletzungen an Händen und Füssen können auch Veranlassung zu
primären Amputationen werden, wenn sie der Art sind, dass selbst unter
den günstigsten Voraussetzungen ein ganz unbrauchbarer, dauernd ge-
sehwürig bleibender Stumpf entstehen muss. Zumal . nach Ausreissun-
gen und Abquetschungen können die Wunden derart geformt sein, dass
die Knochen herausstehen und der Stumpf dann erst lege artis zuge-
schnitten werden muss. Aehnlich kann man auch bei Erfrierungen ver-
lahren; doch an den unteren -Extremitäten soll man da nicht zu lange
mit der Amputation zögern, wenn die Demarcation erkennbar ist; Ab-
stossung grösserer Körpertheile verbindet sich gar zu häufig mit Sepsis,
Vorlesung HO. Capitel XX FI. 797
der mau tlurcli eine frülizeitig'e Amputation bei Gangrän diircli Eif'ric-
ruug und Verbrennung doeli oft zuvorkommen kann.
Was die acuten nicht traumatisch entstandenen Knochen- und Ge-
lenkentzündungen betrifft, so lernen wir immer mehr, durch friilizeitige
Diagnose und Behandlung- dieser Zustände, durcli günstig- angeleg-te
Ausflussöffnungen für den Eiter, durch Fixationen und gute Lagerung-
der Glieder die Extremitäten zu erhalten ; doch giebt es wolil Fülle, wo
der Kranke nur durch die rechtzeitige Amputation geheilt werden kann.
Freilich ist die Bestimmung des rechten Zeitpunktes hier ungemein
schwierig, da es sich, wie in den später zu erwähnenden Fällen chro-
nischer Entzündung darum handelt, zu entscheiden ob und wie lange
der Patient die Eiterung und den fieberhaften Zustand noch ertragen
werde.
In Betreff der sogenannten spontanen Gangrän oder wie es die
alten Chirurgen nannten, Gangrän aus inneren Ursachen muss mau sehr
wohl die einzelnen Fälle unterscheiden. Ist die Gangrän in Folge von
arterieller Emboli entstanden, so ist bei sonst leidlichem Allgemeinzu-
stand zu amputiren, so wie die Grenze des Gangränösen erkennbar ist.
Bei Gangrän nach Typhus und schw^eren Exanthemen kann man warten,
bis sieh die Kranken etwas erholt haben. Bei ächter Gangraena senilis
kommt es selten zur Amputation. Begrenzt sich die Gangrän auf eine
oder einige Zehen, so lässt man die spontane Abstossung erfolgen; er-
streckt sie sich erst auf den Vorfuss, dann steht sie selten still; sollte
es einmal der Fall sein, so löst man die vorstehenden Knochen aus,
und sucht auf diese Weise mit so wenig wie möglich Verletzung der
Weichtheile genügend Substanz zu gewinnen, um den Stumpf zu bedecken.
Von den chronischen Erkrankungen sind es in erster Linie die
chronischen Entzündungen der Knochen und Gelenke, welche zu Ampu-
tationen Veranlassung geben. Langdauernde Caries vieler Hand- und
Fuss Wurzelknochen, Caries des Knie-Gelenkes bei nichttuberkulöseu Er-
wachsenen, Caries des Hüft-, Schulter-, Ellenbogen -Gelenkes fordern
eher zur Picsection auf, wenn überhaupt ein operativer Eingriff indicirt
ist; die Amputation kommt da erst in zweiter Linie in Frage.
Ausgedehnte unheilbare Fussgeschwüre und unheilbare, oder in kür-
zester Zeit immer wiederkehrende Pachydermie der Unterschenkelhaut
erfordern oft die Amputation, wenn diese Individuen nicht zu dauernden
Schmerzen und dauernd ruhiger Lage verdammt sein sollen.
Grosse Aneurysmen der A. femoralis zumal wenn sie dem Platzen
nahe sind, und durch keine Methode geheilt werden können, würden
zum sicheren Tode führen, wenn mau nicht rechtzeitig die Ampu-
tation macht.
Bei Geschwülsten der Extremitäten, welche fest mit dem Femur,
Humerus oder Tibia verwachsen und zwischen die Weichtheile hineinge-
wachsen sind muss die Amputation gemacht werden. Geschwülste welche
nao lieber Amputationen, Exartieulationen und Resectionen.
nur mit Ulna oder Kadius oder Fibula verwachsen und nicht tief in
die Weichtheile hineinragen, können durch partielle Eesection oder
selbst locale Exstirpation dieser Knochen mit g-ünstigem Erfolg entfernt
werden.
Endlich können auch Verkrümmungen oder Missbildungen der Füsse
die Amputation erheischen, wenn die betreffenden Individuen dadurch
am Gehen behindert sind.
Was nun die Ausführung der Amputationen betrifft, so kann
dieselbe in den Gelenken erfolgen, oder es werden die Knochen durch-
gesägt. Beide Methoden haben ihre Vortheile und ihre Nachtheile. Die
Absetzung in den Gelenken erscheint als die natürlichere, weniger
verletzende, einfachere. Die Weichtheile können selbst per primam iuten-
tionem auf den Knorpel anheilen, oder dieser vereitert oder wird ne-
krotisch abgestossen, und die Heilung erfolgt dann durch Vermittlung
von Granulationen, welche aus dem Knochen hervorwachsen. Die Mark-
höhle der Knochen wird nicht eröffnet, es fällt damit die mögliche pri-
märe Infection des Knochenmarks bei der Operation oder bald nach
derselben fort. Nachtheilig sind: das Zurückbleiben von Theilen der
serösen Synovialsäcke, die sehr wenig Neigung zur primären dauernden
Verklebung haben und in welchen sich, wenn die Wunde verklebt ist,
leicht Eiter ansammeln und zersetzen kann; ferner müssen die Weich-
theile, welche zur Bedeckung der grossen Gelenknerven nöthig sind, sehr
reichlich sein, so dass die Wunden dadurch sehr gross werden; beim
Ellenbogen- und Kniegelenk kann man mit der gleichen Länge der Weich-
theile fast die hohen Amputationen des Vorderarms und Unterschenkels
machen. Ungünstig sind die Stümpfe nach Exartieulationen in technischer
Beziehung in sofern, als bei Application künstlicher Gliedmaassen das
Gelenk des künstlichen Beins, z. B, an einer im Kniegelenk exarticulirten
Extremität, tiefer zu liegen kommt als an der gesunden Seite.
Bei den Amputationen hat man den Vortheil, dass man den Punkt,
wo man die Absetzung des Gliedtheils vornehmen will, freier bestimmen
kann, wenn man auch theils aus empirisch-prognostischen Gründen, theils
wegen der Prothese diese oder jene Stellen begünstigt. Im Allgemeinen
braucht man weniger Weichtheile zur Bedeckung der Amputations- als
der Exarticulations-Stümpfe. Das Durchsägen der Knochen ist eine au
sich nicht so sehr zu fürchtende Complication dieser Operation; doch
folgt in vielen Fällen eine, wenn auch oft nur wenig hoch hinauf-
reichende Nekrose der Sägefläche. Wird das Knochenmark, sei es in
der Markhöhle, sei es in der spongiösen Substanz bei der Operation
z. B. mit einem nicht reinen Schwamm inficirt, oder wird es durch die
vorgelegten Weichtheile so fest verklebt, dass der sich im Mark bildende
Eiter nicht heraus kann, dann entsteht zuweilen eine schwere acute
Osteomyelitis, die nicht selten durch Sepsis zum Tode führt. In günsti-
geren Fällen begrenzt sich die Osteomyelitis in einer gewissen Höhe
Vorlosiint? 50. Capit.-l XXTT. 799
und es kommt zu aus.i;c(ldintcv Nekrose des Kiio('li(mstui))])r('s; iiacli
6 — 8 Wochen kann man diesen als Sequester extraliiren; um ihn liej-um*
hat sich eine Knochenschaale neug-ebildet, welche den verloren i^egang-e-
nen Knoclicnstumpf ersetzt. Dass sicli an den amputirtcn Knoclieiienden
Osteophyten bilden und die Markhöiile sich mit Knoclienmasse schliesst,
haben wir schon früher bei den complicirten Fracturen erwähnt (pag. 231).
Die Osteomyelitis der Amputationsstünipfe ist in ihrem Anfange sehr scliwer
zu erkennen. Sie können dieselbe mit ziemlicher Sicherheit annehmen,
wenn am dritten oder vierten Tage nach der Operation der bis dahin
vielleicht fieberfreie Operirte, plötzlich sehr hohes Fieber eventuell mit
Frösten und Durchfällen bekommt und der Stumpf keine Spur von Ent-
zündungserscheinungen zeigt, vielmehr zum grössten Theil Heilung per
primam intentiouem eingetreten ist. Da die Ursache des Fiebers also
nicht in Entzündung der Weich theile liegt; so muss sie, wenn nicht ex-
ceptionelle Complicationen mit andern Processen vorliegen, im Knochen
stecken ; jedenfalls müssen Sie unter solchen Umständen die Wunde ganz
aufmachen, das Kochenmark freilegen, so dass der darin enthaltene
Eiter sieh leicht entleeren kann. Zuweilen werden Sie dadurch den Pa-
tienten noch retten, meist ist es zu spät, denn man hat wegen der Un-
klarheit der Symptome selten den Muth, die prächtig geheilte Weichtheil-
wunde aufzumachen, obgleich dadurch nichts verschlimmert wird, auch
wenn man sich in der Diagnose getäuscht hätte.
Bei der Ausführung der Amputationen und Exarticulationen kommt
es vor Allem darauf an:
1) die Operation mit so wenig Blutverlust wie möglich zu machen,
2) die Blutung vollkommen sicher so zu stillen, dass keine Nach-
blutungen zu befürchten sind und
3) den Knochenstumpf so mit Weichtheilen zu bedecken, dass die-
selben über ihm leicht und vollständig zusammenheilen können.
Was die beiden ersten Punkte betrifft, so habe ich zu dem früher
Gesagten nichts hinzuzufügen. Vor der Operation wird die künstliche
Blutleere nach Esmarch gemacht (pag. 39). Es kann ohne einen
Tropfen Blutverlust amputirt werden. Nach der Operation torquire ich
die sichtbaren kleinen Arterien, schliesse die grösseren durch Akupressur
(pag. 39); nach der Exarticulatio femoris und humeri unterbinde ich
die A. axillaris und femoralis, weil es mir bei den Versuchen, auch
hier die Akupressur anzuwenden, nicht schnell genug gelingen wollte,
die Nadel sicher genug zu fixiren.
Der Knochenstumpf muss mit Weichtheilen bedeckt werden und diese
müssen über oder vor demselben zusammenheilen; geschieht dies nicht,
und bleibt der Knochenstumpf vorstehen, dann benarben die von ihm
auswachsenden Granulationen entweder überhaupt nicht, und bilden sich
zu einem Geschwür aus, oder wenn auch die Benarbung erfolgt, so ist
die auf dem Knochen haftende Narbe so wenig widerstandsfähig, dass
gQQ Ueber Amputationen, Exarticnlationen und Resectionen.
sie bei Application eines Stelzfusses oder künstlichen Fusses schnell
wieder wund wird und wund bleibt; der Amputirte ist dann übel daran,
er muss ganz auf den Gebrauch seines Stumpfes verzichten, sein Leben
lano- mit zwei Krücken gehen und Schmerzen an den Geschwüren seines
Stumpfes auss.tehen. * -
Der Knochen muss also immer höher abg-esägt werden, als der
Schnitt durch die Weichtheile verläuft; bei Exarticulationen müssen die
Weichtheile tiefer durchschnitten werden als das Ende des zurückbleibenden
Knochens. Man kann die Weichtheile nach diesen Principien in fol-
gender Weise durchschneiden und ihnen eine zur Bedeckung- des
Stumpfes geeignete Form geben.
1. Man macht den Cirkelschnitt, d. h. man macht einen kreis-
förmigen Schnitt um die Extremität, zieht die durchschnittenen Weichtheile
stark zurück und sägt dann den Knochen ab; dann lässt man die Weich-
theile wieder los, sie fallen dann über den Knochenstumpf zusammen. —
Damit auf diese Weise das erstrebte Ziel zweckmässig- und sicher er-
reicht Avird, geht man bei dieser Manipulation am zweckmässig-sten fol-
g-endermaassen vor: man schneidet zuerst die Haut rund herum voll-
kommen durch, dann präparirt man sie los und zwar so, dass möglichst
das ganze Unterhautzellgewebe und der Panniculus adiposus mit der
Haut in Verbindung bleiben, die Muskelfascien lässt man am Muskel
sitzen. Ist diese Präparation rund herum 1'/^ — 2 Zoll l)reit erfolgt, dann
wird die abgelöste Haut (die Manchette) umgekrempt und von einem
Assistenten mit den übrigen Weichtheilen stark hinaufgezogen; nun
schneidet man dicht an der Umschlagsstelle der Haut mit einem kräftigen
Zug die Muskeln bis auf den Knochen wieder mit einem Cirkelschnitt
durch; jetzt greift der Assistent, welcher den Stumpf hält, mit beiden
Händen auf die Querschnittswuude der Muskeln und zieht letztere so
viel wie möglich in die Höhe; mit einem dritten Cirkelschnitt durch-
trennt man die tiefen Muskelschichten, einen Zoll höher als die Ebene
des ersten Muskelschnittes lag, noch einmal bis auf den Knochen, trennt
dessen Periost und durchsägt ihn nun hier. Ist die Durchsägung erfolgt
und lässt man die hinaufgezogeneu Weichtheile wieder in ihre natürliche
Lage zurückfallen, so müssen sich drei auf einander folgende Schnittebenen
zeigen, nämlich die Schnittebene der Haut, die Schnittebene der Mus-
kulatur und die Schnittebene des Knochens, welche letztere in der Tiefe
der trichterfömigen Wunde liegt. Bei mageren Extremitäten müssen die
Weichtheile den Knochenstumpf etwa um 2*/.^ Zoll, bei muskulösen Extre-
mitäten ihn um 3 — 3^ Zoll überragen. — Ist ein Vorderarm oder ein
Unterschenkel zu amputiren, so müssen bei dem letzten Schnitt um die
Knochen auch die Muskel zwischen den Knochen noch sorgfältig vor
der Durchsägung des letzteren durchtrennt werden.
Ich halte es für zweckmässig, wenn Sie den Cirkelschnitt zunächst
so einüben, wie ich es Ihnen eben beschrieben habe und sich dabei
Vorlesung 50. CapilelXXlI. 801
gewöhnen, reclit sicliere g'latte Sclmitte zu lulircn, vor Allem «icli iiljcu,
das Messer niclit diircli Druck, sondern durcli Zug- wirken zu lassen.
Ich behaupte jedoch keineswegs, dass man den Cirkelschnitt nicht aucli
in anderer Weise zweckmässig ausführen könne. Folgende Modificationen
sind unter Umständen zulässig: sie beziehen sich theils auf Differenzen
in Betreff der schliesslichen Gestaltung des Stumpfes, tlieils auf Diffe-
renzen in der technischen Ausführung behufs Erlangung des früher be-
schriebenen Resultates.
Man kann eine Extremität in einer Ebene wie mit einem Beil oder
einer Guillotine amputiren (Botalli); dies kann nut gutem Erfolg an
den Fingern ausgeführt werden. Wir pflegen an den Fingern die Ex-
articulationen den Amputationen vorzuziehen, doch kommt es vor, dass
Finger mit Maschinen (Kreissägen, Strohschneidemaschinen) in erwähnter
Weise grade abgeschnitten werden, und es erhebt sich da die Frage,
ob ein solcher Stumpf sich ohne weiteres Zuthun der Kunst zweckmässig
gestaltet. Dies ist in der That der Fall; doch nur die eigenthümlichen
anatomischen Verhältnisse an den Fingern bringen es mit sich, dass sich
die an Sehnenscheiden und Knochen fixirte Haut fast gar nicht zurück-
zieht, Avährend die Sehnen in die Scheiden zurücktreten. Die Narben-
zusammenziehung wird durchaus concentrisch und durch sie wird die
Haut bis zur Mitte des querdurchschnittenen Knochens vor- und wie
ein Tabaksbeutel zusammengezogen. An den meisten übrigen Stellen
der Extremitäten ist nicht nur die Haut an den Fascien, sondern oft
sind auch die Muskeln am Knochen so beweglich, dass nach einer ein-
fach queren Amputation in eine Ebene sich nicht nur die Muskeln am
Knochen, sondern auch die Haut sich stark zurückziehen würde. Nach-
dem der ganze Stumpf, an welchem der Knochen wie die Spitze eines
Kegels vorragt, granulirt, würde die Kraft der Narbencontraction ge-
wiss Haut und Muskeln wieder vorziehen, wenn nicht letztere an den
Osteophyten treibenden Knochen unter einander, und mit der Haut in
der Kegelform ziemlich bald fest zusammenwüchsen, so dass sie unbe-
weglich werden. Da also dieser sogenannte einzeitige (in einem Tempo,
in einer Ebene ausgeführte) Cirkelschnitt mit Ausnahme der Finger
und Zehen immer zu conischen Amputationsstümpfen führt, so macht
man ihn nicht.
Eine ähnliche beschränkte Anwendung hat der zweizeitige Cirkel-
schnitt. Man versteht darunter die Amputation in zwei Tempi, in zwei
Ebenen: es wird eine Hautmanchette gebildet, und dann werden Mus-
kulatur und Knochen in einer Ebene durchtrennt; der Knochenstumpf
wird dabei nur von Haut bedeckt. Wo viele Muskeln dem Knochen
anliegen, werden sich die Muskeln bei dieser Methode stark zurückziehen,
nehmen die Haut mit zurück und das Ende des vorstehenden Knochen-
stumpfes kommt etwa in eine Ebene mit der Hautschnittebene zu liegen ;
bei der Heilung wächst dann die Haut so auf die kegelförmig gestaltete
Billroth chir. Path. n. Ther. 7. Aufl. '^^
gQ2 lieber Amputationen. Exarticulationen und Resectionen.
Sclinittebene der Muskel an, dass der Knochen vorstellt und wieder ein
conischer Stumpf entsteht. Nur an solchen Stellen der Extremitäten,
an welchen sich die Muskeln am Knochen nicht zurückziehen, sei es
dass sie und ihre Fascien anomaler Weise oder in Folge von länger
vorhergegangener Kranklieit an den Knochen und untereinander tixirt
sind — ist diese Methode zulässig, z. B. bei Amputation des Unter-
schenkels dicht über den Malleolen und ganz oben dicht unter dem
Köpfchen der Fibula, ebenso an den analogen Stellen des Vorderarms:
doch muss dann die Hautmanchette lang genug gemacht werden, um den
Stumpf bequem zu decken.
Der dreizeitige (zuerst beschriebene) Cirkelschnitt, bei welchem
Haut, Muskulatur und Knochen in drei Tempi in drei verschiedenen Ebenen
durchtrennt werden, kann in verschiedener Weise ausgeführt werden. Für
den Anfang Ihrer Uebungen am Cadaver empfehle ich Ihnen, es so zu
machen, wie ich es Ihnen zuerst gesagt habe. Anstatt des letzten Schnittes
durch die tiefen Schichten der Muskulatur, können Sie mit einem Easpa-
torium das Periost von der ersten Muskelschnittebene einen Zoll weit in
die Höhe zurückschieben und dann den Knochen durchsägen, der Effect in
Betreff der Gestaltung des Stumpfes bleibt derselbe ; ob die tiefsten Par-
tien des Trichters mit Periost oder parostalen Weichtheilen ausgekleidet
sind, hat auf die Heilung und Ausbildung des Stumpfes keinen Einfluss.
Etwas schneller und eleganter kann mau diese Amputationsmethode aus-
führen, wenn man von den scharfen schichtweisen Querschnitten ab-
strahirt, und den Trichter dadurch bildet, dass mau nach circulärer
Durchschneidung der Haut die Äluskulatur in dünnen Schichten circulär
einschneidet, während der Assistent, welcher den Stumpf hält, die
Weichtheile stark contrahirt. Bei einiger Uebung werden Sie bald ler-
nen die Schichten der Muskulatur so zu durchtrennen, dass der Trichter
so tief und so gestaltet wird, wie Sie ihn haben wollen. Zieht Ihr
Assistent aber in übergrossem Eifer die Weichtheile mit grosser Kraft
zurück, und durchschneiden Sie immer nur dünne Muskelschichten und
immer höher hinauf, so kommen Sie schliesslich mit der Durchsägung
des Knochens viel zu hoch hinauf und bekommen viel zu viel Weich-
theile vor dem Knochenstumpf; zieht Ihr Assistent wenig kraftvoll,
oder lassen sich die Weichtheile wegen Verwachsung unter einander
und mit dem Knochen nicht recht hinaufziehen, während Sie die Mus-
keln zu schnell und zu tief durchschneiden, so bekommen Sie zu wenig
Weichtheile und schliesslich einen couischen Stumpf.
Man hat endlich den Trichter des Stumpfes so gebildet, dass man
das Messer gleich schräg einsetzte und schräg von aussen auf den Kno-
chen losging. Diese Methoden sind unpractisch, ich will Sie mit den
Details derselben nicht behelligen.
^ D(M- Cirkelschnitt ist die Normalmethode für alle Ampu
tationcn, er ist an allen Stellen der Extremitäten anwendbar, wenu
i
Vi.rlesimft- nO. Ciipilcl XXI F. 803
i^'loicli i'üv die ExavticulatioiKMi (»fi; die T.a])])Cus('liT)ittc und Oval;irscliiiiU(;
practisclicr sind.
2. Die Lnp]icnsc li 11 itte. Man nniclil: aus den WeicLtlicilcii einen
oder zwei Lappen, mit welelien man die Sägcfläclie hedeekt. bildet
man einen Lappen, dessen Basis die llälfie der Cirenmfcrenz des Glie-
des an der Ampntationsstelle zu l)etrag'en ])flei!;t, so macht man an der
andern Hälfte g'ewölinlieh einen einzeitigen oder zweizeitigen Cirkelsclinitt;
es ist immerliin zweckmässig' auch bei den La])])enselinitten vor l^ureli-
säg'ung- des Knocliens das Periost einen lialben Zoll weit zurückzuscliieben
und dem entsprechend einen Zoll oberhalb der Basis des Lappens zu diircli-
sägen, damit der Knochenstumpf bei Retraction der Muskel niclit zu
sehr geg-en die Innenfläche des über ihn gelegten Lappens andrängt. —
Am liebsten bilde ich die Lappen so, dass sie bei der Lage der
Extremität im Bett von oben über die Wunde hängen, ohne irgend eine
Unterstützung durch Nähte zu brauchen. Der Lappen soll im unteren
Theil aus Haut, im oberen aus Haut und Muskeln bestehen; um dies zu
erreichen ist es am practischsten, zuerst die Form des Lappens durch
Hautschnitte zu bilden, welche bis auf die unterliegenden Fascien gehen ;
dann zieht man den Hautlappen zurück, und an den neuen Grenzen
desselben schneidet man in gleicher Form die Muskel durch' bis auf
den Knochen, dann maclit man den zweizeitigen Cirkelschnitt an der
hinteren Seite der Extremität. Die Länge des Lappens muss etwa ein
Dritttheil der Circumferenz des Gliedes an der Stelle, wo es amputirt
werden soll, betragen; die Breite beträgt die Hälfte der Circumferenz,
eher etwas mehr als weniger. ,
Die einseitigen Lappen bieten den Vortheil, dass man bei unregel-
mässig geformten Verletzungswunden, unregelmässigen Formen von Ge-
schwürsrändern und Demarcationslinien bei Gangrän , zuweilen tiefer
amputiren kann, als wenn man den Cirkelschnitt machen würde, wo-
durch nicht nur der Stumpf länger, sondern auch die Prognose im All-
gemeinen günstiger wird.
Die Bildung von zwei Lappen bietet in meinen Augen gar
keinen Vortheil vor dem Cirkelschnitt. Mag man zwei seitliche oder
einen oberen und einen unteren Lappen bilden, so ist die Menge der
Weichtheile und die Form derselben immer derjenigen beim Cirkelschnitt
analog. — Zuweilen lässt sich infiltrirte Haut beim Cirkelschnitt weder
gut zurückziehen, noch zur Manchette formen und umschlagen; dann
schneidet man die Haut oben oder unten in der Längsachse des Gliedes
ein; so entstehen aus dem Cirkelschnitt dann auch wohl Hautlappeu-
schnitte, welche in der Tiefe als Trichterschnitt endigen.
Die Lappen zur Bedeckung des Stumpfes nur aus Haut zu bilden,
ist nicht zweckmässig; denn lange Lappen der Art werden an der
Spitze leicht gangränös und wenn zwischen Haut und Sägerand des
Knochens keine Muskeln liegen, so macht der Kuochenrand leicht von
51*
gQ4 tJeber Amputationen. Exarticulationen und Resectionen.
innen nach aussen ulcerösen Decubitus und perforirt den Lappen. Das
ist freilich an sich kein grosses Unglück, denn der zu Tage tretende
Knochenrand wird entweder nekrotisch und stösst sich ab, oder er
granulirt gleich und benarbt; in beiden Fällen verwächst hier aber die
Xarbe mit dem Knochen, was für später beim Gebrauch des Stumpfes
zu lästigen Ulcerationen Anlass geben kann.
Die Methode, die Lappen so zu bilden, dass man ein langes spitzes
Messer einsticht, als wollte man das Glied in der Mitte von oben nach
unten oder von der Seite her durchstechen, — es dann über den Knochen
durch-, auf der andern Seite hervor-, und nach unten alhnählig heraus-
schiebt, hat bei Anfängern in der Kegel zur Folge, dass ein sehr muskulöser
und zuweilen zu spitz zungenförmig zulaufender Lappen entsteht, der
mit zu wenig Haut bedeckt ist, und sich wenig bequem auf die Wunde
legen lässt. — Lässt man vor der Bildung des Lappens durch Einstich
die Haut sehr stark in die Höhe ziehen, und führt das Messer geschickt
etwas flach über den Knochen, so kann man auch auf diese Weise gute
Lappen bilden; freilich bedarf es dazu mehr Erfahrung und Uebung als
bei der früher beschriebenen Methode.
Der Lappenschnitt ist an allen Stellen der Extremitäten anwendbar,
jedoch nicht überall practisch. Mit Hülfe von Drainageröhren kann man
auch Lappen die von unten hinaufgeschlagen sind, das Secret gut ablei-
ten. Heilen die Lappen nach der Amputation nicht zum grossen Theil
per primam an, so ist die Nachbehandlung immer etwas mühsam, weil
man verhüten muss, dass sich die Lappen durch die Narbencontraction
einrollen.
3. Eine dritte Methode der Amputation ist endlich noch in Ge-
brauch, durch welche eine Wundform gebildet wird, welche gewisser-
maassen zwischen Cirkel- und Lappenschnitt steht, nämlich der Ovalär-
schnitt. Die Schnittebene des Ovals liegt schräg von oben nach unten;
der obere Theil des Ovals wird mehr spitz, der untere mehr rund ge-
bildet. Nach Bildung des Hautschnittes muss die Haut stark zurückge-
zogen, die Weichtheile und der Knochen müssen nach den gleichen
Principien wie beim Cirkelschnitt in der Tiefe durchtrennt werden. Für
die Amputationen ist der Ovalärschnitt fast ganz ausser Gebrauch, weil er
gar keine Y ortheile vor den Cirkel- und Lappenschnitten bietet. Bei der
Exarticulation der Finger und Zehen in den Metacarpal- und Metatarso-
phalangalgelenken, bei Exarticulation des Hallux mit Os metatarsi I und
des Daumens mit Os metacarpi I, ist der Ovalärschnitt sehr practisch. Bei
Exarticulationen in der Schulter und Hüfte würde ich ihn nur anwenden,
wenn nicht genügend Haut zur Bildung von Lappen vorhanden ist.
In Betreff der Vorbereitungen, Assistenz, Wahl der Instru-
mente und Nachbehandlung bei Amputationen habe ich noch Einiges
hinzuzufügen.
Vorlcsiiiif.^ .')(). Capilcl XXI f. f^05
Während der ralicnt narkotisirt wird, odci' vorher - denn manche
Individuen werden scliwer narkotisirt, wenn ihre Aufiiierksamkeit wäli-
rend der Narkose dnrcli Manipulationen an dem kranken zu operirendeu
Körpertheil unterhalten wird — reinigt man die Extrenutät sorgfältig-
mit Seife und Wasser zumal in der Gegend, wo operirt werden soll.
Dann wird der Verl)and zur Erzeugung' der Blutleere angeleg't, und mit
Ausnahme der oberen Umschnilrung wieder entfernt. Nun hält ein
Assistent den oberen Theil der Extremität, ein anderer den unteren.
Der Operateur steht bei Am})utationen so, dass er eventuell die Weich-
theile mit seiner linken Hand mit liinaufschieben kann, und das zu am-
putireude Glied zur Rechten von ihm abfällt; bei Exarticulatiouen soll der
Operateur so stehen, dass er die Bewegungen des zu exarticulirenden Glie-
des auch selbst mit seiner linken Hand dirig'iren kann.
Zu Amputationen untj Exarticulationen an den Zehen ninmit man
kleine Messer mit einer Klinge von l'/^ — ^ Zoll Läng-e; dieselben dürfen
vorn nicht stark bauchig' sein, weil man sonst nicht gut mit der Spitze
ins Gelenk eindringen kann. Für Exarticulationen der Hand und des
Fusses sowie für Amputationen an der unteren Hälfte des Vorderarms
und des Unterschenkels wählt man Messer mit einer Klinge von 6 — 7 Zoll,
für den oberen Theil des Vorderarms, den Oberarm, oberen Theil des
Unterschenkels und unteren Theil des Oberschenkels braucht mau Klin-
gen von 6 — 8 — 10 Zoll Länge; für die hohe Amputation und Exarticu-
lation des Oberschenkels solche von 10 — 14 Zoll Länge. Wenn Sie für
Ihre Praxis 2 kleine Messer mit Klingen von 2 Zoll, je eines mit Klin-
gen von 6, 10, 14 Zoll haben, so wird das genügen. Ich liebe es nicht
sehr, die Messer bei den Amputationen zu wechseln, und habe es daher
gern, wenn die Schneide der Klingen vorn ein Bischen abgerundet ist,
damit ich die Manchetten beim Beginn mit der Spitze des Messers ab-
präpariren kann ; andere Operateure ziehen es vor, zu diesem Act kleine
abgerundete Messer zu nehmen, wie man sie zur Unterbindung braucht,
dann wieder andere Messer zum Muskelschnitt, wieder andere zur
Trennung des Periostes. Zum Zurückschieben des Periostes brauche
ich ein breites Raspatorium ; zuweilen lässt sich das Periost auch
ohne Instrumente mit den Nägeln zurückschieben. Ein geschickter
Assistent wird mit beiden Händen die Weichtheile genügend zurückziehen
können, damit der Operateur Platz gewinnt, ohne dass die Finger des
Assistenten in Gefahr kommen, zu schneiden und zu sägen. Doch kann
man sich zum Zurückziehen der Weichtheile auch grosser Stücke reiner
Leinwand bedienen (Retractionscompressen). Manche Operateure finden
ein Vergnügen darin, die Amputationen auch ganz dicker Gliedmaassen
mit gewöhnlichen möglichst kleineu Messerchen höchst elegant und schnell
auszuführen, und so die Einfachheit des Instrumentenapparates aufs
Aeusserste zu treiben. Alle diese Dinge sind, wenn auch nicht ganz
OQQ Ueber Amputationen, Exarticiüationen und Resectionen.
unAvesentlich, sehr von Gewohnheit und Tradition abhängig, und jeder
mag- darin seinem Greschmack folgen.
Die Amputatioussägen sind gewöhnlich Bogensägen, der Bogen
darf nicht zu hoch und nicht zu schwer sein, damit die Säge nicht zu
sehr bei der Bewegung schwankt. Der Griff muss dem Bogen breit
ansitzen und sicher in der Hand liegen. Das Blatt sei nicht höher als
V^ Zoll, und die Zähne müssen seitlich etwas auseinander gebogen sein,
sonst klemmt sich die Säge leicht ein, was besonders noch dadurch be-
günstigt wird, wenn der Assistent, welcher die Extremität unten hält,
dieselbe hinauf, anstatt in massigem Grade nach unten drückt. Nach
der Durchsäguug pflege ich die scharfen Sägeränder mit einer Knocheu-
zange abzukneipeu und so abzurunden.
Ist die Amputation vollendet, so werden die Gefässe torquirt, mit
Nadeldruck geschlossen, unterbunden oder umstochen. Alle dazu nöthi-
gen Instrumente und Seidenfäden müssen bereit sein. Zuerst schliesst
man in einer der erwähnten Weisen die sichtbar zu machenden Arterien-
Öffnungen; dann lässt man die Gummischuur etwas lösen, doch so, dass
sie der Assistent sofort wieder schliessen kann, wenn es stark blutet.
Was man nach Losung der elastischen Binde oder des Tourniquets,
welches man hier ebenso gut anwenden kann, von Arterien bluten sieht,
wird mit Acupressur oder Unterbindung geschlossen. Venenblutungen
kommen bei hohen Oberschenkel- und Oberarm- Amputationen vor, da
die Klappen hier selten sufficient sind. Man unterbindet sie, oder schliesst
sie durch Nadeldruck. Die Torsion von Venen halte ich für gefährlich.
Sehr unangenehm sind arterielle Blutungen aus der Markhöhle der
Knochen ; sie sind selten stark ; doch sowohl ein Hineingreifen ins Mark
mit Pincetten, sowie ein festes Eindrücken von Schwämmen ist bedenk-
lich; die AnwenduDg von Stypticis, zumal von Liq. Ferri, ist ganz zu
verwerfen. Ich rathe die Blutung zunächst nicht weiter zu beachten,
gewöhnlich steht sie von selbst, bis alle übrigen Arterien unterbunden
sind; sollte dies nicht der Fall sein, so lasse man den Hauptarterienstamm
der Extremität eine Zeit lang isolirt mit dem Finger comprimiren, so Avird
die Blutung nach und nach stehen. — Zur Reinigung der Wunde während
des Unterbindeus brauche man nur ganz neue weiche SchAvämme.
Man warte bis die Blutung ganz vollkommen steht; es ist ganz
zweckmässig, die frische Wunde eine Zeit laug frei der Luft zu expo-
niren. Die Cirkelschnittwunden und die Wunden der Ovalärschnitte
vereinigt man in der Regel in verticaler Richtung. Ich lege immer nur
2—4 Suturen in dem oberen Theil der Wunde an, lasse die Wunde
unten offen. Lappen fixire ich durch 2—4 Suturen in der Stellung, in
welcher sie haften sollen, und lege zuvor ein in Gljcerin getauchtes
Drainagerohr in die Wunde quer vor dem Knochen, so dass die beiden
Enden des Rohres aus den Wundwinkeln herausstehen. Kein Verband.
Der Stumpf wird im Bett so gelagert, dass das Wundsecret in eine
V(M-lcsmiK ')0. Capilrl XXII. 807
untergestellte Scliaale tiiesst, ohne das Bett zu l)cuetzcn. Nach zwei
Tagen werden die Acupressurnadcln entfernt; nacli 6 — 8 Tagen kann
man auch das Drainagerohr entfernen. In völlig normal verlaufenden
Fällen darf der Stumpf nie schwellen und der Patient nie fiebern. Nach
10 — 14 Tagen kann man die noch nicht gelieiltcn Theile des Stumpfes
mit desinficirter Charpie bedecken und den Stumpf mit einem Tuchver-
band umgeben, damit der Patient nicht mehr den Drahtbügel über dem
operirten Bein braucht, und sich etwas freier im Bett rühren kann.
Sollte der Stumpf schwellen, oder sollte, ohne dass dies eintritt,
der Patient heftig fiebern, so müssen die Verklebungen der Wunde mit
dem Finger gelöst und Wundhöhlen, in welchen sich Eiter angesammelt
und zersetzt hatte, frei gelegt werden. — Bei starken neuralgischen
Schmerzen und häufigen Zuckungen im Stumpf müssen subjectivc
Injectionen von Morphium gemacht werden.
Treten arterielle Nachblutungen in den ersten 24 Stunden auf,
so muss die Arterie aufgesucht und geschlossen werden. Tritt eine solche
Blutung später in der zweiten oder dritten Woche bei granulirender Wunde
auf, dann ist es auch immer am zweckmässigsten, zunächst zu versuclien,
das blutende Arterienende zu finden und fest zu schliessen. Gelingt dies
nicht, und kehrt nach längerer Zeit fortgesetzter Digitalcompressiou die
Blutung wieder, dann muss der Hauptarterienstamm des Stumpfes unter-
bunden werden.
Viele Chirurgen ziehen es vor, nach der Amputation sofort die Wunde
exact zu schliessen und einen Verband anzulegen, welcher die Weich-
theile fest an den Knochenstumpf zusammenhält. Andere Chirurgen er-
füllen die ganze Wuudhöhle mit Charpie, die eventuell in Styptica ge-
taucht wird, und vereinigen darüber die Weichtheile mit einem Verband,
der erst nach 48 Stunden gelöst wird. — Ich habe von beiden Methoden
keine guten Erfolge gesehen; weder den Versuch, die Heilung per pri-
mam intentionem zu forciren, noch die Bestrebungen, gleich von vorn-
herein eine intensive Eiterung zu erzielen, sind zweckmässig. Bei der
offnen Wundbehandlung kann vollständige Heilung per primani eintreten;
erfolgt an den meisten Stellen der Wunde Eiterung, so kann sich der
Eiter leicht entleeren, wenn nicht früli zu starke Verklebungen eingetreten
sind; der Chirurg muss es lernen dies durch Beobachtung zu ermitteln.
Nach Lister wird zwar die Wunde völlig vereinigt, doch werden
immer Drainageröhren eingelegt und dann ein leicht comprimirender
Verband applicirt, der aber anfangs so oft erneuert werden muss, als
er von Blut und Serum durchtränkt ist, eine für den Kranken wenig-
angenehme Procedur, die man bei offner Wundbehandlung vermeidet
und die auch bei häufiger Erneuerung des kostspieligen Verbandmaterials
(carbolisirte Binden, wasserdichte Seide, carbolisirte Watte) für die Armen-
und Spitalpraxis schwer durchzuführen ist. Sonst finde ich in der
Lister' sehen Behandlung der Amputationsstümpfe nichts Besonderes.
Qr\Q Ueber Amputationen. Exarticulatiüiien und Resectionen.
Die Beliandlung- der Amputationsstümpfe im Wasserbade stösst auf
so viel teclmisclie Schwierigkeiten, dass sie bald wieder aufgegeben
wurde. — ' '
Schon beim einzeitigen Cirkelschnitt haben wir der so sehr uner-
wünschten conischen Amputationsstttmpfe gedacht. Sie können
durch unzweckmässige Schnittführung durch die Weichtheile, durch
Mangel an Weichtheilen zur Bedeckung des Stumpfes bedingt sein. Doch
ist dies nicht der einzige Grund für ihre Entstehung, sondern es tritt
zuweilen bei marantischen Individuen eine solche Atrophie der Weich-
theile des Stumpfes ein, dass sie immer dünner und kürzer werden und
immer mehr am Knochen zurücksinken; letzteres ist zumal am unteren
Ende des Femur der Fall, wo sich wenig Muskeln inseriren und keine
Muskeln entspringen. Endlich haben Entzündungen und Eiterungen des _
Stumpfes auch bei vollkommen zureichenden Weichtheilen den Erfolg, ^
dass die intermuskuläre und parostale entzündliche Infiltration zu einem
Schrumpfungsprocess führt, welcher die Weichtheile so stark contrahirt
und am Knochen fixirt, dass sie durch die narbige Zusammenziehung
der Wundgranulationen nicht überwunden werden kann. Da solche
Entzündungsprocesse nicht immer verhindert werden können, so kann
man keineswegs immer den Operateur für die Entstehung conischer
Stümpfe verantwortlich machen. Man sollte meinen, diese Fatalität sei
leicht zu umgehen, wenn man nur recht reichlich Weichtheile erhält,
um den Stumpf zu bedecken. Indess ein Uebermaass von Weichtheilen
an einem frischen Stumpf hat auch erhebliche Nachtheile. Hat man
sehr lange Manchetten oder Lappen gemacht, welche nur aus Haut be-
stehen, so werden dieselben an ihren Enden gangränös, nicht der da-
durch entstehende Verlust an Weichtheilen ist dabei das fatalste, sondern
der Process der Fäulniss an der frischen Wunde; das ist also zu ver-
meiden. Hat man nun übermässig lange Muskeltrichter oder Muskel-
lappen gebildet, dann tritt wieder ein anderer Uebelstand ein: nämlich
dann sind diese Weichtheile so schwer, dass sie stark von dem Stumpf
lierabhängen und durch ihr Gewicht an die Knochenkanten angedrückt
werden. Man kann in solchen Fällen die Wundverhältnisse dadurch
bessern, dass man eine Schiene unter den Stumpf anlegt und damit die
herabhängenden Weichtheile stützt.
Sieht man, dass sich ein conischer Stumpf ausbildet, so kann man
versuchen, durch einen Heftpflasterverbaud und Gewichtszug wie bei
Coxitis die Haut allmählig vorzuziehen, oder wenigstens die concentrische
Zusammenziehung der Granulationsflläche unterstützen, indem man sie
von dem Gegenzug entlastet. Erträgt der Patient dies ohne Schmerzen
am Rumpf und ohne Fieber zu bekommen, so kann es nutzen; treten
letztere Erscheinungen ein, so rauss man von dieser Methode abstrahiren.
Bildet sich in Folge vorausgegangener Osteomyelitis ausgedehnte Nekrose
des Stumpfes aus, dann wird der Knochenstumpf dadurch wohl etwas
Vorlesung 50. Capitel XXl[. 3Qf)
kürzer, doch die Osteopliyten, welclie sich in dem Knochen gebildet
hatten, verhindern das Zusannncnsinken desselben und atropliiren sehr
lang-sam erst nach Jahren; icli kann es nach meinen Erfahrungen nicht
bestätigen, dass der conische Stumpf mit Abstossung des Sequesters be-
beseitigt ist. Meist ist ein operativer Eingriff nöthig. Ich spalte den
Granulationskegel nach oben bis etwas in die Haut hinein, in der Tiefe
bis auf den Knochen , dann schiebe icli das liaspatorium am Knochen
entlang, schiebe Periost mit Osteopliyten vom Knochen ab so weit hinein
in die Weichtheile, dass diese nun den in der Tiefe abzusägenden
Knochenstumpf bequem bedecken. Die Absäguug mache ich mit einer
Kettensäge, deren Ende ich nach oben führe, deren Scldinge den Knochen
von unten umgiebt. An doppelröhrigen Gliedern wird diese subperiostale
Resection oder Amputation der beiden Knochen in der beschriebenen
Weise ausgeführt. Man muss Sorge tragen, dass das Secret aus dem
Periostcanal, aus welchem das resecirte Knochenstück entfernt wurde,
frei abfliesst; es hat grosse Neigung, sich vorn per priinam inteutionem
zu schliessen; in der Tiefe kann sich dann Eiter ansammeln, zersetzen
und zu jauchiger Osteomyelitis Veranlassung werden. Ich hatte das
Unglück, einen solchen Fall im Kriegslazaretli in Mannheim bei einem
Soldaten zu erleben, der eine gefährliche Knieverletzung und Amputation
glücklich überstanden hatte und in erwähnter Weise schliesslich noch
zu meinem grossen Leidwesen zu Grunde ging, da mir diese Gefahr der
subperiostalen Eesection an Amputationsstümpfen damals nicht bekannt
war, weil alle früheren derartig von mir operirten Fälle sehr leicht und
glücklich verlaufen waren.
Die Beobachtung der geheilten Amputationsstümpfe hat ergeben,
dass sich dieselben im Laufe der Zeit noch erheblich ändern. Manche
Stümpfe magern enorm ab; die stark muskulären Manchetten und Lappen
atrophiren in Folge von Inactivität so, dass nur Haut übrig bleibt. Die
meisten Stümpfe werden im Lauf der Jahre conisch, wenn sie auch mit
Haut überkleidet sind; dies tritt um so sicherer ein, je elender und
marantischer die Individuen sonst werden, zumal solche, die man wegen
Gelenkcaries amputirt hat und welche nachträglich Caries an andern
Knochen, auch wohl am Stumpf, Lungentuberkulose oder Speckkrankheit
bekommen. Die Knochen solcher Stümpfe atrophiren, ihre Corticalschicht
wird dünn. Hiervon machen fast nur die kurzen Oberschenkelstümpfe
eine Ausnahme. Werden dieselben zum Gehen viel gebraucht, so bilden
sich die Muskeln, welche vom Becken zum Oberschenkel gehen, stark aus,
auch Haut und Panniculus nehmen an dieser guten Ernährung Theil und die
Stümpfe werden kräftiger als sie unmittelbar nach der Operation waren.
Aus dem Umstände, dass die meisten alten Amputationsstümpfe doch
nur von Haut bedeckt sind und die Muskeln verschwinden, hat man ent-
nehmen wollen, es sei ganz unnöthig, Muskeln für die Bedeckung des
\
Q,{Q Ut'ber Aaipiilationen, Exarticulationen und Resecriuaen.
Stumpfes zu verwenden. Dass dies niclit zweckmässig für die Heilung
ist, haben wir schon früher erörtert.
Von den Neurom en der Ampu tat ions stumpfe war schon früher
die Eede (pag. 120).
Was die Prognose für die Amputationen betrifft, so lässt sich
darüber so im Allgemeinen nur sagen, dass sie um so gefährlicher sind,
um so näher sie dem Eumpf zu gemacht werden. Dann hängt aber
sehr viel davon ab, in welchem Allgemeinzustaud sich der Patient zur
Zeit der Operation betindet Amputationen wegen Verletzungen haben
immer weniger günstige Ausgänge, als Amputationen wegen chronischer
Krankheiten; doch es concurriren dabei in jedem einzelnen Fall so
viele Umstände, dass wir nicht die Zeit hier mit Besprechung von Dingen
verlieren wollen, die in ihrer Allgemeinheit doch nur sehr bedingte
Richtigkeit haben.
Im Ganzen wenden die Chirurgen dem späteren Geschick der Am-
putation und der Prothese noch viel zu wenig Aufmerksamkeit zu. Sie
werden als practische Aerzte viel Klagen von diesen Leuten hören.
Schmerzen in den Stümpfen bei jedem Witterungswechsel, Excoriation
der Narben, Druck der Stelzfüsse oder künstlichen Beine bald lüer, bald
da, ewig neue Reparaturen an diesen Apparaten sind die häufigsten
Klagen. Manche leiden auch sehr unter der zuweilen Jahre lang dau-
ernden Empfindung, das kranke Bein noch ganz zu haben; sie geben
z. B, nach Amputation des Oberschenkels mit Bestimmtheit an: „jetzt
sticht es im kleinen Zehen, jetzt reisst es im grossen Zehen! jetzt
liegt der Fuss schlecht u. s. w." In den ersten Tagen und Wochen nach
der Operation sind diese Empfindungen die Regel, und sind so deutlich
und stark, dass man den Patienten durch Bedecken des Stumpfes sehr
leicht Wochen lang über den Verlust seines Beines täuschen könnte;
doch sind mir Amputirte vorgekommen, welche noch nach Jahren zuweilen
solche Empfindungen hatten.
Was den Ersatz der Extremitäten betrifft, so entscheidet hier
sehr viel, welchem Staude der Amputirte angehört, und welche pecu-
niären Mittel er niclit nur für die Anschaffung, sondern auch für die In-
standhaltung und Erneuerung seiner künstlichen Extremitäten verwenden
kann; denn alle diese mechanischen Apparate nutzen sich ab, zerbrechen
zuweilen, und nicht immer ist ein geschickter Instrumentenmacher und
das nöthige Geld zur Verfügung um die Schäden auszubessern.
Künstliche Arme und gut imitirte Hände sind ein Gegenstand der
Kosmetik und des Luxus. Active Bewegungen der Finger kann man
ja nicht erzielen, sondern etwaige Mechanismen zum Greifen können nur
mit Hülfe von Federn hergestellt werden, w^elche mit der anderen Hand
geöffnet werden. Ich will hier nicht weiter auf die Details eingehen.
Für Arbeiter lässt man eine lederne Hülse machen, in Avelclie der Vorder-
arm- oder Oberarmstumpf hineingeschoben und dann durch Riemen und
Vorlesung 50. CapituI XXII. ' 811
Gärten darin fixirt wird. An dem unteren Ende der Hülse ist ein festeres
Holzstiick, in welches je nach der Beschäftig-ung- des Ampiitirten Klam-
mern, Haken, Ringe eing-eschrobcn werden. Sonntags schraubt er sich
eine von Holz geschnitzte Hand an. Es ist unglaublich, was intelligente
Menschen mit solchen einfachen Apparaten leisten können. Ich besitze
einen langen kalligraphischen Brief von einem Mann, welchem ich beide
Hände amputiren musste; er war Ingenieur und hatte das Ungliick bei
einem Wasserbau mit den beiden Händen in ein rasch bewegtes Wasser-
miihlrad hineingerissen zu werden, die Hände waren halb ausgerissen,
halb zermalmt! Später erwarb er sich ohne Hände seinen Lebensunter-
halt als Schreiber! welche Ironie des Geschicks!
Was die unteren Extremitäten betrifft, so giebt es nur wenige Stümpfe,
auf welchen der Amputirte so auftreten kann, dass er die ganze Körper-
last auf denselben ruhen lassen kann. Es sind das die Stümpfe nach
Amputationen und Exarticulationen im Fuss und im Fussgelenk ; in man-
chen Fällen vermag auch ein Stumpf nach Exarticulation im Knie
die Körperlast zu tragen. In allen anderen Fällen ruhen die Amputirten
nicht auf den Amputationsstümpfen, sondern auf den Condylen der
Tibia und auf dem Tuber ischii, welche Knochentheile von unten her
durch einen gut gepolsterten festen Ring gestützt werden, der das obere
Ende der Hülse des künstlichen Fusses bildet, in welche hinein der
Stumpf gesteckt wird. Nach Amputationen am Unterschenkel ist es gut,
wenn die Körperlast auf beide genannten Theile gleichmässig vertheilt
wird. Ein anderer Modus ist der, dass der am Unterschenkel Amputirte
mit gebeugtem Knie auf einem Stelz ruht, w^obei dann von einer Bewe-
gung im Kniegelenk ganz abstrahirt wird. Auf die Construction der
künstlichen Gliedmaassen und Stelzfüsse gehe ich hier nicht weiter ein,
sondern will nur erwähnen, dass zum Gebrauch künstlicher Beine immer
ein gewisser Grad von Geschicklichkeit und Intelligenz gehört, sowie
die pecuniären Mittel, die bei jeder Mechanik bald mehr bald weniger
häufig vorkommenden Reparaturen gleich wieder machen zu lassen.
Es ist daher für die arbeitende Klasse von Menschen, mit denen wir
es im Spital zu thun haben, weit practischer, einen festen Stelz zu ha-
ben; ja viele Amputirte aus besseren vermöglicheren Ständen, welche sich
Jahre lang mit dem Gebrauch künstlicher Extremitäten gequält haben,
kommen endlich doch zum Stelzfuss. Die Gangart mit einem künstlichen
Fuss und einem Stelzfuss ist so verschieden, dass Jemand der sich ge-
wöhnt hat, Jahre lang mit einem Stelz zu gehen, es nur mit sehr grosser
Ausdauer und bei vollständigem technischem Verständniss der künstlichen
Extremität daliin bringt, dieselbe zu gebrauchen.
So einfach uns jetzt die Operationen der Amputationen und Exar-
ticulationen erscheinen, so ist doch nicht zu verkennen, dass von Hippo-
krates an bis auf die neueste Zeit noch fortwährend Fortschritte ge-
gJ2 reber Amputationen, Exartioulationen und Resectionen.
macht werden. Dass überhaupt grössere Theile der Extremitäten ohne
Gefahr fürs Leben verloren gehen können, erfahr man zunächst durch
die spontane Abstossung- gangränös gewordener Glieder; die ersten Am-
putationen machte man um solche brandige Glieder abzulösen, und zwar
durchsägte man den Knochen im Brandigen oder in der Demarcations-
liuie. Erst sehr langsam wurden die Indicationen zu den Amputationen
vermehrt; was die Entwicklung dieser Operation besonders hemmte, war ■
der Umstand, dass man der Blutung nicht sicher Herr zu werden wusste.
Mit Stypticis und Glüheisen reichte man wohl am Unterschenkel und
Vorderarm aus, doch nicht weiter. So war denn die Entwicklung der
Amputationen von den Fortschritten der Methoden abhängig, welche man
für die Blutstillung erfand; erst nach allgemeiner Einführung der Ligatur
und Erfindung des Tourniquets konnte man sich an grössere Amputa-
tionen wagen. Die Methode durch die Ligatur, durch Abschnttrung Glie-
der zu amputiren, wurde zuerst von Guy de Chauliac ausgeführt,
später von Ploucquet weiter ausgebildet. In jüngster Zeit hat man
diese Amputationsmethoden wieder versucht und dazu das Ecrasement
(Chassaignac), die Galvanokaustik (v. Bruns) und die elastische Li-
gatur (Diettel) verwandt; doch hat dies im Ganzen wenig Anklang und
wenig Verbreitung gefunden. — Später concentrirte sich die Aufmerk-
samkeit der Chirurgen zumal darauf, wie man am schnellsten amputiren
könne, um den geringsten Schmerz zu machen und Avie man die Weich-
theile schneiden müsse, um conische Stümpfe zu vermeiden. Die Schnellig-
keit bei den Amputationen und Exarticulationen kommt jetzt, wo wir
den Schmerz durch die Narkose, den Blutverlust durch die künstliche
Blutleere vermindern können, kaum noch in Betracht. Es concentrirt
sich die ganze Aufmerksamkeit auf die Bildung des Stumpfes, seit An-
fang dieses Jahrhunderts auch auf die Herstellung günstiger Bedingung
zur Erreichung von Heilung per primam intentionem, seit einigen De-
cennien besonders auf die Vermeidung jeder Infection von aussen und
durch die Wundsecrete, auf die Verhütung der Pyohämie, des gefähr-
lichsten Feindes der Amputirten. Letztere Verhältnisse nehmen jetzt un-
sere Aufmerksamkeit am meisten in Anspruch und die neuere Technik
der Operation berücksichtigt wesentlich diese wichtigen Punkte.
Die erste Methode, welche zu Celsus Zeiten geübt wurde, war ein
Cirkelschnitt mit Zurückziehung der Haut. Dies wurde nach und nach
immer sorgfältiger ausgebildet. Als Erfinder des einseitigen Lappen-
schnittes wird gewöhnlich Lowdham (1679) angesehen, eine Methode,
die dann von Verduin (1696) vervollkommt wurde. Ravatou und
Vermale sollen zuerst zwei Lappen gebildet haben. Der Ovalärschnitt
ist von Scoutetten erfunden. Sehr exacte Angaben über die Geschichte
der Amputationen finden Sie theils in der Geschichte der Operation von
Sprengel, theils in der vortrefflichen Operationslehre von v. Linhart,
die ich Hmen nicht genug empfehlen kann.
Vorlesviiio- 50. Capitcl XXII. 818
Es erübrigt, nocli einige allgemeine Beincrkuiigeii über die
Resectioiieii
zu machen. Wie schon früher (pag. 526) bemerkt ist, nennt man die
Aussägimg-en , AusmeiKSselungen und Auskratzungen von kranken oder
verletzten Knochenstücken aus den Diaphysen oder dem Körper der
Knochen „Resectiouen in der Conti nui tat". Die neuesten Opera-
tionen der Art sind schon bei Besprecliung der complicirten Fracturen
(pag-. 237), den Nekrosen (pag. 544), der Caries (pag-. 52G) erwähnt; ebenso
die sogenannten Osteotomien behufs orthopädischer Zwecke (pag. 245
und 551). Die Technik dieser Operationen werden Sie so oft in der Klinik
sehen, dass ich hier nicht darauf eingehen will, sie ist meist sehr einfach.
Die Indicationen ergeben sich aus dem früher Gesagten.
Auch von den „Ilesectionen der Gelenke" ist schon früher
die Rede gewesen; ich habe Ihnen schon gesagt, dass diese Opera-
tionen, welche in der Civilpraxis zumal bei Caries in Frage kommen,
fast bei jedem Gelenk verschiedene Indicationen, verschiedene Prognose,
verschiedene Enderfolge haben. Aehnlich verhält es sich mit den Ge-
lenkresectionen bei Schusswunden; jedes Gelenk hat da seine eigene Re-
sections-Geschichte. Die Resectionen, zumal die totalen Gelenkresectionen
sind viel jüngere Operationen als die Amputationen. Die erste Excision
eines cariösen Humeruskopfes wurde zuerst von White ITdS gemacht,
die Resection des Ellenbogengelenks von Moreau 1782, die Resec-
tion des Femurkopfes von White 1769, des Kniegelenks 1762 von
Park. Doch fanden diese Operationen anfangs wenig Beifall; man
erklärte sie für zu schwierig und langdauernd in der Ausführung, da-
her zu schmerzhaft, auch versprach man sich wenig von den End-
erfolgen. Erst seit etwa 30 Jahren kann man die Gelenkresectionen als
allgemein von den Chirurgen acceptirte Operationen bezeichnen, und die
Ausbildung ihrer Technik wird immer noch vollkommener. Anfangs hatte
man nur im Sinn, die kranken Knochentheile ohne Verlust der Extre-
mität zu entfernen, damit der Kraukheitsprocess zur Ausheilung komme.
Später suchte man es zu erreichen, dass die Function der nach den Re"
sectionen entstehenden Pseudogelenke immer vollkommner wurde, und
richtete darnach Schnittführung, Methoden der Operation und Nachbe-
handlung ein; ja man ging so weit geheilte steife Gelenke auszuschneiden,
um bewegliche Pseudogelenke dafür einzutauschen (pag. 615). Vielleicht
hat man sich eine Zeit lang zu hohe Vorstellungen gemacht von dem, was
durch diese Operationen erreichbar ist, und hat die Indicationen dazu
etwas zu weit gestellt; doch ist jedenfalls Ausserordentliches erreicht,
und bei der concentrirten Aufmerksamkeit, welche gerade jetzt vielen
dieser Operationen zugew^andt ward, ist zu erwarten, dass sich die Indi-
cationen, die Technik dieser Operationen, die Prognose und Nachbehand-
lung immer sicherer feststellen lassen wird.
g;[4 Ueber Amputationen, Exarticnlationen und Resectionen.
Die Schnitte bei den Resectionen müssen so angelegt werden, dass
keine grösseren Gefässe und Nerven und möglichst wenig Muskeln ver-
letzt werden, und doch genug Eaum geschaifen wird, um die Gelenk-
enden frei zu legen und abzusägen. Als man diese Operationen zu
machen anfing, erschienen sie so schwierig, dass man die Gelenke sehr
weit mit grossen tiefen Lappenschnitten freilegen zu müssen glaubte,
um dann die Gelenkbänder und Muskelansätze bequem zu durchschnei-
den, und die Gelenkenden behufs der Durchsägung sehr weit frei zu
legen. Später als man mehr und mehr Werth darauf zu legen begann,
dass die resecirten Gelenke möglichst brauchbar wurden, operirte man
immer schonender; man vermied es die Sehnen quer zu durchschneiden,
und die Hautwunde grösser als nöthig zu machen. Endlich conservirte
man auch das Periost der Gelenkenden möglichst vollständig, liess die
Muskelansätze und Vorsprttnge mit dem Periost in Verbindung, indem
man, ohne viel zu schneiden, die Knochenenden mit einem Raspatorium
aus dem Periost auslöste, und auf diese Weise auch mit möglichst ge-
ringer Gefäss Verletzung, und bei chronisch -entzündlichen Processen in
verdicktem Gewebe operirte, wonach viel weniger heftige entzündliche
und febrile Reactionen folgen, als nach Operationen in ganz gesunden
Theilen. Von Allen ist es B. v. Langenbeck, welcher unermüdlich
die Indicationen zu den Gelenkresectionen ausbildete und fortwährend
die Technik dieser Operationen noch vervollkomrat. Er führte zumal
auch die einfachen Längsschnitte bei den Resectionen ein, wie sie an
den Schultern, am Ellenbogen, an der Hüfte jetzt allgemein im Gebrauch
sind; am Knie wird mit gleichem Vortheil ein vorderer Lappenschnitt
mit breiter Basis nach oben gemacht. Das Handgelenk und Fussgelenk
resecirt man in der Regel mit zwei seitlichen Längsschnitten.
Der jetzt allgemein gebräuchliche Instrumentenapparat für Re-
sectionen ist mit Ausnahme der Kettensäge (von Jefferson) ganz von
V. Langenbeck: starke Messer mit 2— .3 Zoll langer gerader Scheide
und dickem Rücken; diese Messer werden gleich bis auf den Knochen
eingesetzt und der ganze Schnitt wird bis in die Tiefe mit einem Zug
gemacht; mit breiten und schmalen, mehr oder weniger gekrümmten
halb scharfen Raspatorien wird das Periost von den Knochen abge-
schoben; nur die Gelenkbänder und manche Muskelansätze sind nicht
immer auf diese Weise zu lösen und werden dann mit dem Messer ganz
unmittelbar am Knochen abgetrennt, so dass die Knochenenden ganz
frei von Weichtheilen wie skelettirt daliegen. Dann werden sie mit
der Kettensäge oder Stichsäge, oder mit einer kleinen Amputationssäge
abgesägt, nachdem sie zuvor mit starken scharfen Knoeheuhaken oder
Knochenzangen fixirt sind, und die Weichtheile mit stumpfen Doppel-
haken zurückgehalten werden. Scharfe Knocheuränder werden mit
schneidenden Knochenzangen abgetragen.
Vor der Operation war der Patient narkotisirt, das zu operirende
VorlosuHR- 50. •Cnpifcl XXTT. . Slß
Glied war blutleer geniaclit und sorg-faltig- g-crcinigt. Nacli vollendeter
Operation ist die Blutung- aufs Sorgfältig'ste 7A\ stillen, mit neuen reinen
Schwämmen die Wunde sauber auszuwaschen, dann isit das Glied in
einen Verband 7ä\ lagern, welcher so eingerichtet sein muss, dass die
Extremität völlig unbeweglich fixirt ist, doch so dass er nirgends ein-
schnürt, dass die Wunde frei ist, und das vSccret frei abfliesst; dabei
muss die Lage des Patienten eine bequeme sein, und gewechselt werden
können ohne dass die Extremität sich im Verband rührt.
Ich habe es nicht zweckmässig gefunden, vor Lösung der oberhalb
der Wunde liegenden comprimirendeu Binde die Wunde mit Charpie
auszustopfen und darüber einen comprimirendeu Verband zu legen, weil
dabei der ganze Verband so von Blut durchtränkt wnrd, dass man ihn
bald ganz erneuern muss; ich ziehe es vor, die Blutung durch Unter-
bindungen, Umstechungen, Acupressur, Ausspritzen der Wunde mit
Eiswasser erst vollkommen zu stillen, ehe der Verband angelegt wird;
dann lege ich in Glycerin getauchte Drainageröhren in die Wunde, um
das Secret in unterstehende Gefiisse abzuleiten.
Wenn möglich lege ich vor der Operation einen Gjpsverband an,
mache entsprechend grosse Oeffnungen da, wo die Operation gemacht
werden soll, schneide dann den Verband an einer Seite auf, nehme ihn
behufs der Operation ab und habe so eine Gypskapsel, w^elche, nach
der Operation angelegt, jedenfalls genau passt. An dieser Gypskapsel
kann die Extremität suspendirt werden, oder sie wird auf eine Ris 'sehe
Unterlagsschiene hohl gelegt. Andere Operateure ziehen vorbereitete Holz-
oder Eisenschienen vor; es giebt hier viele Methoden, mit Hülfe des ver-
schiedensten Materials das Gleiche zu erreichen. Nach der Resection
des Hüftgelenks braucht man in der Regel gar keinen Verband um die
Hüfte, sondern macht Gewichtsextension.
Die Resectionswunden sind immer ziemlich complicirte Höhlenwunden,
ihre Heilung erfolgt immer durch Granulation und Eiterung und nimmt
immer längere Zeit in Anspruch. Dies steht den Resectionen bei
schwächlichen marantischen Menschen leider entgegen; ausserdem ist
man bei solchen Lidividuen auch nie sicher, ob die Caries nicht in nahe
liegenden Knochentheilen oder an den Sägeflächen fortschreitet und die
Wunde einen ulcerösen Charakter annimmt.
Die kürzeste Heilungsdauer nach Resectionen dürfte 2—3 Monate
sein. Indolente Fisteln bleiben oft Monate und Jahre lang zurück.
Auf die Endresultate der Gelenkresectionen hat man in jüngster
Zeit ganz besondere Aufmerksamkeit gelenkt. Die Pseudogelenke nach
Resectionen können nämlich so schlaff werden, dass sie activ gar nicht
bewegt werden können, und das resecirte Glied als total unbrauchbar
mehr oder weniger paretisch dem Körper anhängt. Andere Schlotter-
gelenke sind activ etwas beweglich; dann folgen die Gelenke, welche
fast vollkommen normale Beweglichkeit bei normaler Muskulatur und
gjg . Üeber Amputationen, Exarticnlationen und Resectionen.
Kraft haben; endlich die anchylotiseh gewordenen Gelenke, die jeden-
falls brauchbarer sind als die nur passiv beweg-liclien Schlottergelenke.
— Die Ausdehnung der entfernten Knochentheile, der Grad der Regene-
ration von Knochen an den resecirten Gelenkenden, die Sorgfalt, welche
bei Trennung der Muskelansätze beobachtet wurde, die Muskelkrüftig--
keit des operirten Individuums haben vielen Einfluss auf die Endresultate.
Gymnastische Uebung-en, Elektricität, Bäder, Application zweckmässiger
Apparate, dies Alles ist wichtig zur Erzielung- günstiger Resultate. Da
sich dieselben aber bei jedem Gelenk verschieden g-estalten, und auch
verschiedene Methoden und Apparate zur Behandlung- erfordern, so kann
dies erst bei der Resection der einzelnen Gelenke genauer besprochen
werden.
In Betreff der Prognose quo ad vitam gilt bei den Resectionen
der Gelenke das Gleiche, wie bei den Amputationen. Die Resectionen
wegen Caries verlaufen im Allg-emeinen günstig-er, als die Resection
weg-en Verletzungen. Die Gefahr steigt, je näher das Gelenk dem
Rumpfe liegt.
Sach-Register.
Abscesse
acute, heisse 152. 313.
kalte 441. 506. 511. 562.
Congestions- 511. 522.
metastatische 389.
Acupressur 39.
Acupunctur 131. 242. 657.
Adenome 738.
Adenosarkome 726.
Aderlass 141.
Aetzmittel 474. 789.
Alveoläre Sarkome 714.
Alveoläre Structur der Krebse 753.
Amputation im Allgemeinen
Methoden 793.
Cirkelschnitt 800.
Lappenschnitt 803.
Ovalärschnitt 804.
bei Quetschung und Zerreissung der Weich-
theile 165.
primäre bei complicirten Fracturen 221.
seeundäre 223.
bei Pseud»-throse d. Oberschenkels 243.
bei Verbrennung 286.
bei Eifrierung 293.
bei ausgedehnter Sehnenscheidenvereite-
rung 321.
bei Osteomyelitis 329.
bei acuten eitrigen Gelenkentzündungen
338.
bei Gangrän 363.
bei Tumor albus der Gelenke 571.
Instrumente 805.
Amputationsstumpf 108. 231.
Amyloid 445. 518.
Anästhetica 15. 24.
Angiome 701.
Animalische Bäder 470.
Anthrax 303. 433.
Apoplexie 147.
Arterien
Schnittwunden 26.
Stichwunden 136.
Quetschwunden 158.
Arterien, Unterbindung und Umstechung bei
Wunden 32. 33.
Unterbindung bei Aneurysmen 654.
Compression, Tourniquet, Acupressur,
Electropunctur 35. 37. 39. 654. 656.
657.
Torsion 35.
Narben, Thrombus 121.
Billroth cliir. Patli. ii. Tliev. 7. Aufl.
Aneurysma
traumaticum spurium 138.
verum 646.
dissecans 648.
varicosum 140.
cirsoideum 643.
cylindriforme, fusiforme, saccatum 648.
Arthritische Diathese 465.
Arthritis deformans 593. 594.
Arthrocace 510. 561.
Atherom der Arterien 356.
Atheromcysten 745.
Atrophie der Knochen 553.
Ausschaben cariöser Höhlen 525.
Ausreissungen von Sehnen, Muskeln und
ganzen Gliedraaassen 190.
Bäckei'beine 621.
Bacterien 167. 434.
Balggeschwülste 744.
Balgkropf 747.
Beinladen 217.
Bienenstich 428.
Bindegewebsgeschwülste, Fibrome 681.
Bindegewebskrebse 777.
Blasenpflaster 472.
Blasenpolypen 739.
Bleidraht zur Knochennaht 242.
Blennori'hoe 309.
Blitzschlag 289.
Blutcysten 748.
Bluter 29.
Blutextravasat 147.
— Schicksale desselben 150.
Blutgeschwülste, cavernöse 702.
Blutleere, künstliche 39.
Blutschwär 301.
Blutstillungsmittel 31.
Blutungen
— capillare 26.
— arterielle 26.
— venöse 27.
— parenchymatöse 28.
— subcutane 146.
— Folgen von Blutungen 30.
Nachblutungen 29. 161. 171.
Bougies 627.
Brand s. Gangrän.
Brisement force 609.
Callus s. bei Heilungsprocess der Knochen-
brüche.
Cancer apertus und occultus 752.
Cancroid 758.
52
818
Sach-Register.
Carbolsäure 189.
Carbunkel 303. 433.
Carcinoma 751.
— cicatricans, Scirrlnis 777.
— colloides 757.
— epitheliale 758.
— fasciculatum 719.
— medulläre 666.
— melanodes 757.
Carcinosis 757.
Caries s. bei Knochen.
Catarrh 309.
Catgut 35.
Cavernöse Blutgeschwülste 702.
Cavernöse Lymphgeschwiilste 708.
Cellulitis 311.
Cephalhaematom 149.
Chancre 467. 490.
Chirurgie
Verhältniss zur innern Medicin 1.
Studium 15.
Chloroform, Entdeckung 15.
Chloralhydrat 25.
Chondrom 691.
Cholesteatom 745.
Cirkelschnitt bei Amputationen 803.
Coccoglia 167.
Collateralkreislauf
capillarer 61.
arterieller 129.
Collodium 50.
Collonema 713.
Comedo 745.
Commotion 145.
Compression
der Arterien 35. 654.
bei chronischer Entzündung 469.
— chronisch seröser Synovitis 579.
— Hydrops bursae praepatellaris 589.
— Varicen 641.
— Lymphomen 734.
Condylome 467. 738.
Congestion 63.
Conische Amputationsstümpfe 808.
Contagiosität von Geschwülsten 669.
Contracturen 617.
Contusion s. Quetschung.
Cornu cutaneum 736.
Crepitation 197.
Cylindrom 718.
Cysten und Cystome 744.
Cystenkropf 747.
Cysticercus 749.
Cysto-Adenome 718.
Cysto-Fibrom 684.
Cysto-Chondrom 692.
Cysto-Carcinom 744.
Cysto-Sarkom 726. 727. 744.
— phyllodes, proliferum 727.
Decubitus 354.
Delirium tremens s. potatorum 425.
— nervosum 427.
Demarcationslinie 34G.
Dermoidcysten 745.
Desmoid 681.
Diathese 451.
Diphtheritis 310. 365. 369.
Discision, subcutane 584.
Distractionsmethode 568.
Distorsion 248.
Doppelte Glieder 548.
Drainage 185. 523.
Dyskrasie 450.
Dysmorphosteopalinklastes 245.
Ecchinococcus 749.
Ecchondrosis ossificans 696.
Ecchymose 150.
Ecrasement 160. 687.
Einwicklung der Extremitäten 40.
Eis
bei Blutungen 43.
— ■ bei Quetschwunden 183.
— acuten Gelenkentzündungen 252.
— chronischen Entzündungen 471. 521. 569.
Eisenbahnapparat 216.
Eisendraht zum Nähen 52.
Eiter 82.
Eiterfieber 178. 404.
Eiterungen, progressive um Quetschwunden,
primäre und secundäre 173.
Electricität 635.
Electropunctur 242. 657.
Elephantiasis 682.
Elevatorien 544.
Elfenbeinosteome 696.
Elfenbeinstäbchen bei Pseudarthrosen 242.
Embolhämie 412.
Embolie 388.
Enchondrom 691.
Endothelperlen 715.
Englische Krankheit 546.
Englisches Pflaster 49.
Enroulement der Venen 641.
Entzündliche Neubildung GS.
Entzündung
Allgemeines 343.
traumatische 56. 87.
in gefässlosen Geweben 70.
acute nicht traumatische 295.
septische, jauchige 169.
diffuse metastatische 407.
catarrhalische 309.
croupöse 310.
diphtheritische 310.
fibrinöse 365.
chronische 438.
Epidermispfropfung 81. 107. 484.
Epileptiforme Anfälle 136.
Epiphysenknorpel- Vereiterung 326. 536.
Episiohaematom 149.
Epithelbildung 86.
Epithelialkrebs 758.
Epithelperlen 759.
Epulis 725.
Erectile Geschwülste 701.
Erfrierungen 290.
Ergotismus 359.
Ersatz verlorner Extremitäten 810.
Erschütterung 145.
Erysipelas 301. 371.
Sach-Rcgister.
819
Excoriation 149.
Exercirknochen 696.
Exostosen 695.
Exsudätionscysten 745.
Extension permaneiite 216. 568. 627.
Extravasat von Blut 147.
Extravasationscysten 14H. 744.
Fascien
Schrumpfungen 624.
Durchschneidungen 632.
Verknöcherungen 696.
Fasergeschwülste 681.
Faserstoff 72.
Faserstoffgeschwülste 151.
Faulfieber 177. 397.
Ferrum candens
bei Blutungen 43.
als ableitendes Mittel 474.
Fettgeschwülste 688.
Feuermal 708.
Feuerschwamm 44.
Fibrinöse Infiltrati9n 57. 72. 310. 348.
Fibrinöser Tumor 151.
Fibroide 681.
Fibrome 681.
Fieber 96. 177. 280. 393. 446.
Fieberfrost 178. 404.
Fiebertheorien 98.
Fissuren 195. .
Fluctuation 148.
Fluxion 63.
Follicularcysten 744.
Fontanell 473.
Fracturen s. Knochenbrüche.
Frostbeulen 294.
Fungus medullaris, haematodes 666.
Furunkel 301.
Gallertkrebs 757.
Gallertsarkom 713.
Galvanokaustik 44. 687. 708.
Ganglion 583.
Gangrän 350.
bei Quetschwunden, Abstossung gangrä-
nöser Thoile 163.
progressive Gangrän des Zellgewebes 173,
365.
nach Verbrennung 284.
— Erfrierung 292.
bei Entzündung 355.
Ursachen, verschiedene Formen 353.
nach Mutterkorn 359:
senilis 355.
ex anaemia 358.
durch Druck 354.
durch Embolie 358.
Hospitalgangrän 365.
Behandlung 362.
Gefässgeschwülste 701.
Gefässnarben 121.
Gefässbildung bei Wundheilung 74. 93.
im Thrombus 125.
Gelenkbänder
Durchschneidungen 632.
Gelenke
Contusion 247.
Distorsion 248.
Wunden, traumatische Entzündung 249.
Luxationen 256.
traumatische 256.
complicirte 266.
veraltete 265.
habituelle 263.
Luxationen, angeborne 267.
pathologische oder spontane 256. 565.
Hydrops acutus 333.
— chronicus 577.
— mit typischen Recidiven 582.
Acute eitrige Synovitis 334.
Arthritischer Anfall 340.
Metastatische (gonorrhoische, pyohämische,
puerperale) Gelenkentzündung 341.
Chronische granulös - fungöse Gelenkent-
zündung, Tumor albus, Gelenkcaries,
Arthrocace 554.
Rheumatismus acutus 339.
— chronicus 593.
Malum senile 594.
Arthritis deformans 594.
Gelenkkörper 599.
Neurosen 602.
Synovialhernien mit Hydrops 586.
Anchylosen 603.
Genu valgum 621.
Geschichtliche Entwicklung d. Chirurgie 4.
Geschwülste 658.
Allgemeines, Eintheilung 659.
Aetiologisches 671.
Formen 665.
Art des Vorkommens und der Verbrei-
tung 676.
Diagnostik 791.
Geschwüre 475.
Gewichtsextension 216. 568. 627.
Giftschlangen 429.
Gliacoccos 167.
Gliom 710.
Glüheisen s. Ferrum candens.
Gonorrhoe 467.
Granulationsbildung 82.
Granulationsgewebe 92.
Granulationskrankheiten 1 10.
Granulationssarkom 710.
Granulös-fungöse Caries 496.
Granulös-fungöse Gelenkentzündungen 554.
Grützbeutel 745.
Gummigeschwulst 467.
Guttaperchaschienen 215.
Gymnastische Curen 635. "
Gypsguss 217.
Gypsverbände
bei einfachen Fracturen 212.
— complicirten Fracturen 234.
— Distorsionen 248.
— Gelenkvei-letzungen 250.
— Tumor albus der Gelenke 541.
zur orthopädischen Behandlung 566.
Haarbildung in Cysten 748.
Haarseil 473.
Häckselsack 217.
Haematoidin 150.
820
Sach-Register.
Haematora 148.
Haemarthron 247.
Haematopericardium 149.
Haematothorax 149.
Haematostyptica 43.
Haemophilen 29.
Halisteresis 504.
Harndiphtheritis 369.
Hasenschartennaht 54.
Haut
acute Entzündungen 300.
chronische Entzündungen 440.
Hauthorn 736.
Heilung
per primam intentionem 58. 68. 90.
Hindernisse f. d. Heihmg p. pr. 76.
per secundam intentionem 78.
vollständig abgelöster Theile 77.
durch gegenseitige Verwachsung von
Granulationsflächen 109.
unter einem Schorf 110.
Hektisches Fieber 446.
Heftpflaster 50.
Hetroplasie 659.
Hirnsandgeschwülste 716.
Hitzschlag 288.
Homoeoplasie 659.
Hornbildungen 736.
Hospitalbrand 365.i
Hospitaleinrichtungen 416.
Hühneraugen 448.
Hühnerbrust 547.
Hundswuth 435.
Hyalinose 445.
Hydarthron 577.
Hydrops
acuter der Gelenke 333.
chronischer der Schleimbeutel 587.
— der Sehnenscheiden 582.
— der Gelenke 577.
— typisch recidivirend 582.
Hydrophobie 435.
Hyperhämie 62.
Hypertrophie und Hyperplasie 659.
der Drüsen 738.
— Haut 440.
• — Knochen 552.
— Narben 115. 120.
des Knochencallus 246.
der Nerven 120.
Hystricismus 737.
Ichorrhämie 412.
Ichthyosis 737.
Immersion 180.
Infarcte 388.
' Infectiöse Geschwülste 676.
Infiltration
feste fibrinöse 57. 72. 310. 348.
plastische, zellige 68.
ödematöse 57. 349.
eitrige 313.
blutige 147.
Infraction 195. 244.
Insectenstiche 428.
Irrigation 180.
Jodtinktur als Derivans und Resorbens 472.
bei Pseudarthosen 241.
Jodinjection
bei kalten Abscessen 523.
— Hydarthron 581.
— Cysten 750.
in das Parenchym bei Struma 743.
Kataplasmen 185.
Kinderlähmungen 623.
Kielbrust 547.
Klapperschlangenbiss 430.
Kleisterverbände 214.
Klumpfuss 588.
Kniebohrer 621.
Knochen
Brüche, einfache 193.
Ursachen 193.
Arten 195.
Symptome 196.
Verlauf der Heilung 198.
Behandlung 210.
— complicirte offene 220.
Behandlung 233.
Knochengranulationen und Knochen-
eiterung 227.
Knochennath 243.
schiefgeheilte Fracturen 244.
Osteomie 245. 544. 550.
acute Ostitis und Osteomyelitis 232.
323. 325. 529.
Osteophlebitis 326.
Ostitis chronica 491.
Ostitis osteoplastica 493. 505.
Scierosis 482.
Ostitis malacissans 503.
Ostitis suppurativa 506.
— caseosa 508.
— granulosa seu fungosa 507.
Knochenabscess 506-
Caries 506- 507. 508.
Knochentuberkel 509.
Nekrose 225. 229. 528..
Knochenexstirpationen 527.
Resectionen s. Resectionen.
Rhachitis 546.
Osteomalacie 551.
Osteophyten 492.
Hypertrophie 552.
Osteoidchondrom 692.
Osteosarkom 723.
Atrophie 552.
Regeneration 539.
Kopfnaht 50.
Krebs s. Carcinom.
Kreuzotterbiss 429.
•Kribelkrankheit 359.
Kropf 741.
Künstliche Gliedmaassen 810.
Künstliche Blutleere 39.
Kyphosis 509. 510. 621.
Lacunäre Corrosion 497.
Lagerungsapparate b^i Fracturen 217.
Lancette 142.
Lappenschnitt bei Amputationen 803.
Leichengift 430.
Sach -Register.
821
Leiclientuberkel 431.
Leichdorn 478.
Leontiasis 682.
Leptothrix 167.
Ligatur der Gefässe 32. 654.
— bei Geschwülsten 687. 706.
Lipome 688.
Loxarthrosen 616.
Lues 467.
Lufteintritt in Venen 28.
Lupus 487.
Luxation s. Gelenke.
Lymphdrüsen
acute Entzündung 378.
chronische Entzündung. Verschwärung
444. 452. 484. 486.
Hypertrophie, Lymphom 730.
Krebs 757.
Lymphgefässe
in der Nähe von Wunden 95.
Entzündung, Thrombose 377.
Varices. Fisteln 642.
Lymphgeschwülste, cavernöse 708.
Lymphome 730.
Lymphosarkom 733.
Lyssa 435.
Maliasmus 432.
Malum senile articulorum 594.
Manie nach Operationen 427.
Markschwämme 66Q. 719. 769.
Maul- und Klauenseuche 435.
Mausefell 681.
Medullarcarcinom und MeduUarsarkom
666. 719. 769.
Melanosen 636. 714.
Melanotische Sarkome 714.
— Carcinome 757.
Meliceris 746.
Metallsuturen 52.
Metastatische diffuse Entzündungen 341. 407.
— Abcesse 391.
— Geschwülste 670.
Miasmen 298. 413.
— als Ursachen für die Entstehung der
Kröpfe 668.
Micrococcos 167. 310. 370. 375. 400. 434.
Microsporon 167.
Milzbrand 433.
Mitella 216-
Mitesser 745.
Moluscum contagiosum 669.
Monaden 167. 400.
Moorbäder 470.
Morve 432.
Moxen 474.
Mixltiple Geschwülste 676.
Muskel
Abcesse 319. 433.
Quetschung 153.
subcutane Zerreissungen 190.
Narbe 116.
Contracturen 622.
Verknöcherungen 696.
Myome 699.
Myotomie 628,
Mumification 350.
Mutterkorn 359.
Muttermal 705. 681.
Myleoidgeschwülste 712. 723.
Myome 699.
Myopathische Contracturen 622.
Mykosis intestinalis 435.
Myxome 713.
Nachblutungen 29. 161. 171.
Nachfieber 178. 396.
Nadeln zum Nähen 51.
Extraction der Nadeln 132.
Nadelhalter 54.
Nähte 50.
secundäre Näthe 109.
Naevus vasculosus 708.
Narben
in Muskeln 116.
in Nerven 118.
in Knochen 198.
in Gefässen 121.
Narbencontration 80. 92. 625.
Narbengewebe 92.
Narbenhypertrophie 115. 120.
Necrose s. Knochen.
Necrotisirung von Weichtheilen 162.
Nerven
Wunden 23.
Narbe, Regeneration 118.
Quetschung 144.
Erschütterung 145.
Geschwülste 120. 685. 700.
Netzzellensarkom 713.
Neubildung
Allgemeines 68. 659.
entzündliche 68.
der verschiedenen Gewebe siehe bei
Regeneration und 659.
Neuralgie bei fremden Körpern
in Nerven 136.
Neurom 120. 685. 700.
Neuropathische Contracturen 623.
Neurosen der Gelenke 602.
Noma 359.
Odontom 665.
Oleum Crotonis 472.
Onchotomie 318.
Orthopädie 627.
Osteom 695.
Osteomalacie 551.
Osteophyten 492.
Osteosarkom 723.
Osteotomie s. Knochen.
Ostitis und Osteomyelitis s. Knochen.
Ovalärschnitt bei Amputationen 804.
Pachydermie 440.
Paedarthrocace 510.
Panaritium
subcutaneum 311.
tendinosum 320.
periostale 329-
Papillarkrebs 766.
Papillom 735.
Paralytische Contracturen 623.
Paronychia 311.
822
Sach-Register.
Pectus carinatum 547.
Penetrirende Gelenkwunden 249.
Penghawar Djambi 45.
Percutane Umstechung 33.
Periarticuläre Eiterungen 255. 562.
Perilymphangoitis 379.
Periostitis
acute 232. 323.
osteoplastische 493. 539.
chronische 491.
Verhältniss zur Caries 494.
Periostsarkome 725.
Periphlebitis 383.
Perlgeschwülste 716.
Perniones 294.
Pes varus 617.
— planus 621.
— equinus, Pferdefuss 617.
Pfropfung von Epidermis 81. 107. 484.
Phlebitis s. Venen.
Phlegmone 311.
Phlogogene Stoffe 101. 298.
Pigmentsai-kome 714.
Plattfuss 621.
Plexiforme Angiome 701.
^ Neurome 685.
Plexiforme Sarkome 717.
Polypen 666.
fibröse 685.
Schleimpolypen 739.
Pott'scher Buckel 511.
Projectile 271.
Prostatahypertrophie 701. 739.
Psammome 716.
Pseudarthrose 238.
Pseudoerysipelas 311.
Psychische Störungen nach Operationen 427.
Puerperale Gelenkentzündung 342.
Purpura 148.
Pustula maligna 303. 433.
Pyohämie 404.
Pyrogene Stoffe 100.
Quetschungen
der Weichtheile überhaupt 143.
— Nerven 144.
— Muskel 153.
— Gefässe 146.
— Knochen 232. 323.
— Gelenke 247.
Quetschwunden 156.
Raspatorium 547.
Regeneration der verschiedenen Gewebe
115 u. folg., 203 u. folg.
Reizung 63.
Resectionen
bei Pseudarthrose 242.
— schief geheilten Fracturen 246.
— complicirten Fracturen 237.
— Caries 526.
— Nekrose 544.
— Caries der Gelenke 571.
— Anchylose 615.
Instrumente zu Resectionen 814.
Retentionscysten 744.
Rhachitis j546.
Rheumatismus s. Gelenke.
Riesenzellensarkom 712.
Risswunden 190.
Rose s. Erysipelas.
Rotz 435.
Ruhe bei Verwundungen 43. 103. 2.50.
bei Entzündungen 469.
Rundzellensarkom 710.
Säbelbeine 547.
Säuferwahnsinn 425.
Sandbäder 470.
Sandsäcke 217.
Sarkom 708.
Adeno -Sarkom 726.
alveolares 714.
medulläres 666.
melanodes 714.
plexiformes 717.
villöses 715.
Schleimsarkom 713,
Netzzellensarkom 713.
Myxosarkom 713.
Riesenzellensarkom 712.
Rundzellensarkom 711.
Granulationssarkom 710.
Gliosarkom 711.
Osteosarkom 723.
Periostsarkom 725.
Lymphosarkom 733.
Cysto-Sarkom 726. 727. 744.
Spindelzellensarkom 711.
Sarcomatöse Papillome 738.
Schlammbäder 470.
Schlangenbisse 429.
Schleimbeutel subcutane
acute Entzündungen 321.
Hydrops 587.
Schleimkrebs 757.
Schleimfluss 309.
Schleimpolypen 739.
Schleimsarkom 713.
Schleim-Speichel-Diphtheritis 369.
Schmerz 22.
Schnepper 142.
Schnittwunden 20.
Schnürstrümpfe 641.
Schorfbildung 110.
Schrunden 149.
Schüttelfröste 178. 404.
Schusswunden 269.
Schwämme 666.
Schweben 217.
Schwefeläther, Entdeckung 15.
Schwielen 448.
Scirrhus 666.
Scorbut 466.
Scrophulosis 453.
Seeale cornutum 359.
Sehnen
Verkürzungen 623.
Verknöcherungen 696.
Durchschneidung 628.
Sehnenscheiden
acute Entzündung 319.
Hydrops, Ganglion 582.
Saeh-Register.
823
Sehnenscheiden
Sehnenscheidenkörper 583.
Senkungsabscesse 488. 497.
Sepsin 399.
Septhämie 397.
Sequestrotomie 544.
Setaceum 473.
— candens 706.
Silberdraht zum Nähen 52.
Skoliosen 621.
Skorpionstiche 429.
Solitäre Geschwülste 676.
Sonnenstich 288.
Speckstoff, Speckkrankheit 445. 518.
Sphaceliis 350.
Spina ventosa 510.
Spindelzellensarkom 711.
Spreukissen 217.
Starrkrampf 420.
Stichwunden 131.
Streptobacteria 167.
Streptococcos 167.
Stricturen 627.
Strohladen 217.
Struma 741.
Studium der Chirurgie 15.
Styptica 43.
Subcutane Injectionen 25.
— Tenotomie 628.
— Osteotomie 245.
— Ligatur 641.
Suffusion und Sugillation 147.
Sutur s. Naht.
Syphilis, Syphilom 467.
Tamponade 41.
Tarantelstich 429.
Telangiektasien 701.
Temperaturmessungen 97. 394.
Tendovaginitis 320.
Tenotomie 628.
Teratome 748.
Terpenthinöl als Styptieum 45.
Tetanus 420.
Thierbäder 470.
Thrombose der Arterien 121. 355.
— der Venen 126- 381.
Torsion der Arterien 35.
Torula 167.
Tourniquet 37.
Transfusion 47.
Trichinen 749.
Ti'ipper 467.
Trismus 420.
Trokar 131.
Tuberkel und Tuberculose 441.
Tumor albus 529.
Tyrosis 443.
Typhöse Erscheinungen bei Verwundeten
400. 403.
Ueberbein 582.
Umstechung der Arterien 33.
— percutane 33.
Unguentum Tartari stibiati 473.
Varices s. Venen.
Venen
Lufteintritt 26-
Transfusion 47.
Venaesection, Aderlass, Sticliwuuden 141.
Wunden 27.
Narben 126.
Entzündung, Thrombose 381.
Osteophlebitis 320.
Varices 139. 637.
subcutane Ligatur 641.
Enroulement 641.
Venensteine 640. 702.
cavernöse Venengeschwülste 702.
Verbände bei Fracturen 212.
Verbrennungen 282.
Verkäsungsprocess 443.
Verkrümmungen 616.
Vereiterung 315.
Vergiftete Wunden 428.
Verrenkung s. Gelenke.
Verschwärungsprocess 442. 476.
Verstauchung 248.
Vesicatore 472.
Vibices 148.
Vibrio 167.
Villöse Sarkome 715.
Vipera Berns 429.
Redii 429.
Wallung 63.
Warzen 735.
Wasserbad
bei Quetschungen 180.
— Geschwüren 483.
Wasserglasverband 215.
Wasserkrebs 359.
Wasserscheu 435.
Wespenstich 428.
Winddorn 510.
Wunden
Schnittwunden 20.
Stichwunden 131.
Quetschwunden 156.
Risswunden 190.
Schusswunden 269.
Wunden, vergiftete 428.
Wundfieber 96. 393.
Wundkrankheiten
accidentelle örtliche 365.
— allgemeine 393.
Wundrose s. Erysipelas.
Wundstarrkrampf 420.
Zahnexostosen 665.
Zähne, Neubildung in Cysten 748.
Zellengewebe, primäres 68.
Zellgewebsentzündung 311.
Zooglaea 167.
Zoonosen 432.
Zottenkrebse 766.
Zottensarkome 715.
Namen-Eegister. ^^)
Abernethy, John (t 1831 in London) 522.
Abulkasem (f 1106) 8.
Aeby (Prof. der Anatomie in Bern) 66.
Alexander von Tralles (525 — 605) 7.
Alexandrinische Schule 6. 7.
Albert (Prof. d. Chirurgie in Innsbruck)
391.
Amabile (Prof. in Neapel) 107. 600.
Anel, Dominique (Chirurg in Turin im
Anfang des 18. Jahrhunderts) 654.
Antyllus (drittes Jahrh.) 7. 656. 657.
Arndt (Docent in Greifswald) 710. 715.
Arnold, J. (Prof. d. pathol. Anatomie in
Heidelberg) 73. 74. 75. 86. 118. 127. 343.
344. 661.
Asklepiaden 4.
Aseli (1581—1626) 11.
Auerbach (Docent in Breslau) 66.
Avenzoar (1126) 8.
Avicenna (980—1037) 8.
V. Bärensprung (1822—1864) 97.
Bar well (Chirurg in London) 636.
Baum (Prof. d. Chirurgie in Göttingen) 45.
180. 734.
Baynton (englischer Arzt) 482.
Beck (badischer Generalstabs -Arzt) 270.
280.
Bell, Benjamin (1749—1806) 13. 139.
Belloc, Jean (1732—1807) 42.
Be necke (Prof. d. Medicin in Marburg)
549.
Bergmann (Prof. d. Chirurgie in Dorpat)
280. 294. 391. 399.
Bernard, Claude (Prof. der Phj^siologie
in Paris) 65.
Bernhardt, M. (Arzt in Berlin) 99.
Biermer (Prof. d. medicinischen Klinik in
Breslau) 418.
Biesiadecki (Prof. der pathol. Anatomie
in Krakau) 754.
Bilguer, Job. Ulrich (1720—1796) 13.
Binelli 45.
Bizozzero (Prof d. pathol. Anatomie in
Padua) 632.
Boinet (Chirurg in Paris) 581.
B ollin ger (Prof. d. Zoonosen in München)
434. 435. 436.
Bonnet (Chirurg in Lyon f 1863) 14. 335.
598.
Botalli (1530—1591) 801.
Bouvier (Chirurg in Paris) 601.
Boy er, Baron (1747—1833) 14.
Branca (Mitte des 15. Jahrb.) 9.
Brasdor (1721—1799) 655.
Brunschwig, Hieronymus (geb. 1430)
12.
Breschet, G. (f 1845) 644.
Breslau (1829—1867) 418.
Breuer (Arzt in Wien) 99.
Broca (Prof. d. Chirurgie in Paris) 654.
Brodie, Sir Benjamin (1783 — 1863)
14. 602.
Bromfield, William (1712—1792) 32.
Brown-Sequard (Arzt in London) 120.
Brücke, E. (Prof. d. Physiologie in Wien)
147. 626.
V. Bruns (Prof. d. Chirurgie in Tübingen)
40. 214. 812.
P. Bruns (Docent in Tübingen) 685.
Bubnoff (Arzt in Russland) 127. 377.
Buhl (Prof. d. pathologischen Anatomie iii
München) 309. 347. 435. 460. 461. 462.
Burow (Prof. der Chirurgie in Königs-
berg t 1874) 106.
Celsus, Aulus Cornelius (35 a. Chr.
bis 45 p. Clir.) 6. 7. 665. 812.
Chassaignac (Chirurg in Paris f 1869).
185. 523. 687. 812.
Cheselden, William (1688—1793) 13.
Chrobak (Arzt in Wien) 99.
Ciniselli (Arzt in Mailand) 656.
Civiale (1792—1867) 14.
Cohn (Prof. d. Botanik in Breslau) 167.
Cohnheim (Prof. der pathologischen Ana-
tomie in Breslau) 69. 72. 204. 343. 344.
347. 348. 361. 388. 389. 462. 534.
Cooper, Sir Astley (1768 — 1841) 14.
63. 138. 723.
Cruveilhier (Prof. d. pathol. Anatomie
in Paris f 1873) 379. 381. 639.
) Für Zusendungen von Berichtigungen und Vervollständigungen dieses Registers
werde ich allen Lesern sehr dankbar sein. Billroth.
Namon-Rofjistpr.
825
Czernv (Prof. der Chirurgie in Freiburg)
107. '734.
Davaine (Prof. in Paris) 432.
Delpech (177-2— 1832) 14. «24.
Desault, Pierre (1774—17;).')) 13.
Di effen bac h, Jüh.Friedr. (1795— 1847)
14. 44. 47. 54. 57. 115. 133. 135. 242.
243. 437. 487. 584. 610. 628.
Dieulafoy (Arzt in Paris) 523. 524.
Dittel (Prof. d. Chirurgie in Wien) 132.
412.
D o Ist" heil Icow (russischer Arzt) 370.
Dorsev (Chirurg in Pliiiadelphia in Amerika
1783—1818) 140.
Do utrel epo nt (Prof. der Chirurgie in
Bonn) 66i).
D u b o i s - R e y m o n d (Prof. der Physiologie
in Berlin) 64.
Duchenne (de Boulogne, Arzt in Paris)
635.
V. D umreich er, Baron (Prof. der chirur-
gischen Klinik in Wien) 216.
Dupuytren, Baron (1778—1835) 14.201.
357.' 632.
Ebert (Prof. der Kinderheilkunde in Ber-
lin t 1872) 669.
Eberth (Prof. der patholog. Anatomie in
Zürich) 66. 71. 86. 370. 754.
Eichhorst (Arzt in Königsberg) 118. 119.
Eschricht (Prof. d. Anatomie in Copen-
hagen) 618.
Esmarch, Friedrich (Prof. der Chirur-
gie in Kiel) 34. 89. 41. 104. 134. 188.
428. 471. 521. 569. 602. 603. 657. 799.
Estlander (Prof. der Chirurgie in Hel-
singfors) 860.
Eustachio (f 1579) 11.
Fabry v. Hilden (1560—1634) 12. 44.
Falopia (1490—1563) 11.
Fick, Adolph (Prof. der Physiologie in
Würzburg) 412.
Fischer (Prof. der Chirurgie in Breslau)
270. 368. 899.
Flourens (1791—1867) 209. 539. 540.
Fock, Carl (1828—1863) 867. 575.
Förster (1822—1865) 476. 497. 738.
Follin (1823—1867) 14. 494. 505. 685.
Fox, Wilson (Arzt in London) 462.
Frey (Prof. d. Zoologie in Zürich) 732.
Frisch (Prof. d. Anatomie an der Kunst-
Akademie in Wien) 870.
Froriep, Robert (1804—1861) 120. 122.
138. 139. 625.
Galenus, Claudius (131—201) 7.
V. Gersdorf, Hans (1520) 12.
Goll (Arzt in Zürich) 422.
Golubew (russischer Arzt) 64.
Golz (Prof. d. Physiologie in Strassburg) 161.
Y. Graefe, CarlFerd. (1787—1840) 14.48.
V. Graefe, Albrecht (Prof. d. Augen-
heilkunde in Berlin f 1870) 428.
Grawitz (Arzt in Schlesien) 710.
Gross (Prof. der Chirurgie in Philadelphia)
246. 615.
BiUroth chir. Path. u. Ther. 7. Aufl.
Gruber, W. (Prof. der Anatomie in Petcrs-
liiirg) 559.
Guerin (Chirurg in Paris) 523.
Güterbock (Arzt in Berlin) 73.
Guido de Cauliaco (M.Jahrhundert) 9.
812.
Giirlt (Prof. d. Chirurgie in Berlin) 201.
203.
Güssen bauer (I)oceiit in Wien) 73. 116.
117. 754.
V. Haller, Albrecht (1707—1777) 13.
HaUier (Prof. d. Botanik in Jena) 167.
Harvev, William (1578—1658) 11.465.
Hebra'(Prof. d. Dermatologie in Wien) 288.
van Hecke (belgischer Ingenieur) 416.
Heiberg (Arzt in ('hristiania) 86-
Heine, Bernhard (Instrumentenmacher
u. Prof. honorarius chirurgiae in Würz-
burg f Zeitgenosse von Cajetan v. Tex-
tor) 539.
Heine, C. (Prof. der Chirurgie in Prag)
371. 658.
Hei nicke (Prof. der Chirurgie in Erlangen)
423.
Heister, Lorenz (1683—1758) 13. 751.
752.
Heitzmann (Arzt in New-York) 460.497.
Henke (Prof. der Anatomie in Prag) 511.
622.
Henle (Prof. d. Anatomie in Göttingen)
65. 66. 606.
Hennen, John (f 1828) 270.
Hering (Prof. d. Physiologie in Prag) 67.
Hjelt (Arzt in Schweden) 117. 118.
Hippokrates (460—377 a. Chr.) 5. 7.
408. 665. 811.
His, Wilhelm (Prof. der Anatomie in
Leipzig) 70. 662.
F. A. Ho ff mann (Arzt in Berlin) 86.
Howship (englischer Chirurg) 497.
Hueter (Prof. der Chirurgie in Greifswald)
48. 167. 253. 400. 412. 413. 553. 611.
618. 622. 624.
Hufschmidt (Arzt in Schlesien) 99.
Hunter, John (1728—1793) 18. 15. 128.
655. 657.
Hutchinson (Chirurg in London) 765.
Jackson (Arzt in Boston) 14.
Jacobson (Prof. in Königsberg) 99.
Jeffrav (?) 814.
Jobert (de Lamballe) (1799—1863) 14.
Joch mann (f Arzt in Preussen) 179.
V. Kern, Vincenz (1760—1829) 14.
Key, Axel (Prof. d. pathol. Anatomie in
Stockholm) 71.
Klebs (Prof. der pathol. Anatomie in Prag)
167. 462. 675. 754.
Ki lian (Prof. d. Geburtshülfe in Prag f) 504.
Koch mann (Arzt in Schlesien) 802. 303.
304.
Köberle (Prof. d. Chirurgie in Strassburg)
688.
Kölliker (Prof. d. Anatomie in Würzburg)
497. 662. 712.
53
826
Namen-Registev.
König (Prof. d. Chirurgie in Rostock) 511.
Kost er (Prof. der pathol. Anatomie in Bonn)
558. 710. 759.
Kocher (Prof. d. Chirurgie in Bern) 128.
Krause (Arzt in Hannover) 130.
Kühne (Prof. d. Physiologie in Heidelberg)
518.
Kundrat (Docent in Wien) 347. 458. 459.
Laennec (1781 — 1826) 461.
Lambl (Prof. in Charkow) 766.
Lanfranchi (f 1300) 9.
Langenbeck, Conrad Martin (1776
bis 1850) 14. 17. 130.
V. L a n g e n b e c k ^ Bernhard (Prof. der
Chirurgie in Berlin) 132. 243. 245. 246.
270. 428. 610. 61.5. 632. 656. 731. 814.
Langhans (Prof. d. pathol. Anatomie in
Bern) 457.
Larrey, Jean Domini que (1766 — 1843)
14. 235. 270.
Lau dien (Arzt in. Königsberg) 99.
Lawrence, Sir Will. (1783—1767) 14.
Leber (Prof. d. Augenheilkunde in Göt-
tingen) 370.
Leber t (Prof. d. medicinischen Klinik in
Breslau, jetzt Arzt in der Schweiz) 462.
711.
Leiter (Instrumentenmacher in Wien) 214.
Leroy, d'Etiolles (1798—1861) 14.
Leube (Prof. d. med. Klinik in Jena) 435.
436.
Leyden (Prof. d. medicinischen Klinik in
Strassburg) 98. 424.
Liebermeister (Prof. der medicinischen
Klinik in Tübingen) 98. 418.
V. Liebig, Justus (Prof. der Chemie in
München f 1873) 168.
Liebreich (Prof. d. Medicin in Berlin) 25.
V. Linhart (Prof. d. Chirurgie in Würz-
burg) 587. 812.
Lister (Prof. d. Chirurgie in Edinburg)
105. 188. 189. 523. 807.
Löffler (preussischer Generalarzt f 1873)
270.
Lösch (Arzt in Petersburg) 95.
Lukowsky (russischer Arzt) 376.
Lorinser (Arzt in Wien) 622.
Lossen (Docent d. Chirurgie in Heidel-
berg) 209. 280.
Lott (Docent in Wien) 86.
Lotze (Prof. d. Philosophie und d. Me-
dicin in Göttingen) 63. 65. 66.
Lowdham (1679) 812.
Lücke (Prof. d. Chirurgie in Strassburg)
■ 323. 368. 6.36. 675. 710. 732. 734. 743.
7.54.
V. Luschka (Prof. d. Anatomie in Tü-
bingen) 746.
Maas (Docent d. Chirurgie in Breslau)
209. 540.
Malgaigne (1806 — 1865) 14. 2.57. 263.
654.
Martin (Prof. d. Geburtshülfe in Berlin) 47.
Maslowsky (Arzt in Petersburg) 116.
Mathvsen (holländ. Militärarzt) 213.
Meckel von Hemsbach (1821 — 18.56)
518. 668.
Menel (Chur- Sächsischer Regiments - Chi-
rurg, Anfang dieses Jahrb. f) 245. 261.
Menzel (Arzt in Triest) 107. 462. 608.
Meyer, Herr mann (Prüf. d. Anatomie in
Zürich) 620.
Meynert (Pi'of. d. Psychiatrie in Wien) 422.
Middeldorpf (Prof. d. Chirurgie in Bres-
lau, 1824—1868) 14. 32. 44. 687.
Minnich (Arzt in Venedig) 107.
Mondino de Luzzi (14. Jahrb.) 9.
Monro, Alexander (1696 — 1767) 13.
Mo ran (französischer Arzt) 551.
Morton (Arzt in Boston) 14.
Moreau (1782) 113.
Mosengeil (Docent in Bonn) 99.
Mott, Valent. (1785—1865) 14.
Müller, Johannes (1801 — 18.58) .587.
663. 680. 689. 713. 727.
Müller, Max (Arzt in Cöln) 217.
Müller, W. (Prof. d. path. Anatomie in
Jena) 434.
Nassiloff (russischer Arzt) 370.
Nest orianer 7.
Neudörfer (Militärarzt in Wien) 48.
Neumann, E. (Prof. d. pathol. Anatomie
in Königsberg) 118. 733.
Neumann, J. (Docent in Wien) 304.
V. Niemeyer (f 1871) 456.
Ollier (Arzt in Lion) 539.
Oribasius (326—403) 7.
Orth (Docent d. path. Anatomie in Berlin)
371. 375. 376.
Panum (Prof. d. Physiologie in Kopen-
hagen) 47. 48. 389.
Paracelsus, Bombastus Theo-
phrastus (1493—1554) 11.
Pare, Ambroise (1517—1590) 12.32.277.
Park (1762) 813.
Pasteur (Prof. d. Chemie in Paris) 168.
Paulus ab Aegina (660) 7.
Pean (Prof. d. Chirugie in Paris) 688. 697
724.
Percv. Pierre Francois (1754 — 1825)
13."
Petit, Jean Louis (1674—1760) 13. 38.
Petrequin (Chirurg in Lyon) 655.
Pfleger (Arzt in Ybs) 372.
Pfolsprundt (Mitte des 15. Jahrhunderts)
12.
Piorry (Prof. d. Medicin in Paris) 404.
Pirogoff. Nicolaus (Prof. d. Chirurgie
in Russland) 213. 270. 275. 522. 576.
V. Pitha (Prof. d. Chirurgie an der Jo-
sephs-Aeademie in Wien) 367. 438. 617.
Ploucquet (1744—1814) 812.
Rollender (?) 434,
Polli (Prof. in Padua) 106. 418.
Ponfi ck (Prof. d. pathol. Anatomie in Ro-
stock) 509.
Porta (Prof. d. Chirurgie in Pavia) 128.
129. 130. 137.
Namen-Regisfer,
827
Patt, Percival (1713 — 1768) 13. 185.
511. 620.
Pravaz (f Arzt in Lyon) 655.
Purmann, Gottfried (1674—1671)) 12.
Putz (Arzt in Baldenburg) 429.
Ravaton (franz. Chirurg, Mitte des vorigen
Jahrh.) 812.
Raynaud (Arzt in Paris) 358.
-V. Recklinghausen (Prof. d. pathol.
Anatomie in Strassburg) 67. 69. 71. 83.
127. 254. 387.
Redfern (englischer Arzt) 70.
Reichert (Prof. d. Anatomie in Berlin)
662.-
Remak, Robert (f 1865) 309. 347. 662.
633.
Reverdin (Arzt in Genf) 77. 81. 107. 484.
634. 670.
Rhazes (850—932) 8.
Rhea Barton (Prof. in Philadelphia in
Amerika) 246. 615.
Richardson (Ai-zt in London) 24.
Richter, Aug. Gottlob (1742—1811) 13.
Ricord (Chirurg in Paris) 641.
Rindfleisch, Eduard (Prof. d. päthol.
Anatomie in Würzburg) 68. 110. 124. 309.
347. 457. 458. 459. 460. 462. 503. 504.
673. 674. 699. 704. 710. 717. 725. 739.
754.
Ris (Arzt in Zürich) 217. 234.
Rizzoli (Prof. d. Chirurgie in Bologna) 245.
Robin (Prof. d. Anatomie in Paris) 794.
Rokitansky (Prof. d. pathol. Anatomie
in Wien) 74. 119. 422. 667. 678. 684.
703. 713.
Rollet (Prof. d. Physiologie in Graz) 291.
Romberg (Prof. d. Medicin in Berlin, f
1873) 465.
Rose, E. (Prof. d. Chirurgie in Zürich) 421.
423.
Rosenb erger (Arzt in Würzburg) 77.
Roser (Prof. d. Chirurgie in Marburg) 323.
327. 423. 708.
Roux 1780—1854) 14.
Rust, Joh. Nepomuk (1775—1840) 14-
490. 561.
Salernitanis che Schule 8.
Samuel (Prof. der allgem. Pathologie in
Königsberg) 66. 72. 293. 343. 345. 346.
347. 407.
Sattler (Arzt in Wien) 718. 719. 729.
.Scarpa (1748—1832) 13.
Schiff (Prof. d. Physiologie in Florenz)
65. 66, 117. 410.
Schmidt, Alexander (Prof. in Dorpat)
72. 73. 113.
Schneider (Chursächs. Regiments-Chirurg,
Anfang dieses Jahrhunderts f) 245. 261.
Schneider (Arzt in Königsberg) 98.
Schönlein, Lucas (1793—1864) 679.
Schüller (Arzt in Hannover) 86.
Schuh, Franz (1804—1866) 14. 722. 780.
Schulze, Max (Prof. d, Anatomie in Bonn
t 1873) 83.
Schüppel (Prof. d. pathol. Anatomie in
Tübingen) 457. 461.
Schwalbe (Arzt in Weinheim) 743.
Schwann, Theodor (Prof. d. PhysioI();j;ir,
in Lüttich) 119. 661.
Scultet (1595—1645) 214. 812.
Seegen (Prof. d. Balneologie in Wien) 307.
Senator (Arzt in Berlin) 98. 99.
Seutin, Bar. (1793—1862) 14. 21.5. 218.
234.
V. Siebold, Carl Caspar (1736—1807)
13.
Silvestri (Arzt in Vicenza) 39.
Simon (Prof. d. Chirurgie in Heidelberg)
Simpson, Sir James (Prof. jHHBHfojiirta -
hülfe in Edinburg f 1869) ISTm
Sims (amerikanischer Gynaekolog) 40.
So bor off (russischer Arzt) 638.
Skutsch (Arzt in Schlesien) 203.
Sprengel, Kurt (1766—1833) 812.
Stanley (1791—1862) 14.
Steudener (Docent d. pathol. Anatomie
in Halle) 309.
Störk (Docent in Wien) 744.
Stricker, Salomon (Prof. d. allgem. Pa-
thologie in Wien) 69. 71. 391. 430.
Stricker (Arzt in Frankfurt a. M.) 278.
Strom eye r (früher Prof. d. Chirurgie in
Freiburg, München, Kiel, Generalstabsarzt
in Hannover) 135. 270. 340. 413. 602.
628.
Stromeyer (Arzt in Göttingen) 370.
Süsrutas (1. Jahrhundert?) 4.
Sydenham (1624—1689) 465.
Syme (f 1869 in Edinburg) 14. 576. 627.
Szymanowski (Prof. d. Chirurgie in Kiew,
t 1868) 214.
Taylor (Chirurg in New-York) 568.
V. Textor, Cajetan (1782—1860) 14.
418.
Theden, Chr. Ant. (1714—1797) 13.40.
Thiersch (Prof. d. Chirurgie in Leipzig)
73. 93. 107. 127. 347. 482. 672. 67.5.
677. 762. 767.
Tillmann (Docent in Leipzig) 710.
Traube (Prof. d. medicinischen Klinik in
Berlin) 97. 98. 179.
Troja, Michele (1747—1827) 539.
Trotula (12. Jahrhundert) 8.
Tschausüff (russischer Arzt) 127.
Valsalva (1666—1723) 653.
Vanzetti (Prof. d. Chirurgie in Padua)
654.
Velpeau (1759—1867) 14. 581. 780.
Verduin (1696) 812.
Vermale (franz. Chirurg Mitte d. vorigen
Jahrh.) 812.
Verneuil (Prof. der Chirurgie in Paris)
685. 739.
Vesalius, Andreas (1513 — 1564) 11. 12.
Vi dal (de Cassis) Prof. der Chirurgie in
Paris t) 641.
Villemin (Arzt in Paris) 462.
828
Namen -Register.
Virchow (Prof. d. pathol. Anatomie in
Berlin) 29. 63. 64. 65. 66. 68. 70. 87.
110. 113. 205. 209. 347. 381. 387. 388.
389. 403. 412. 438. 445. 461. 467. 497.
499. 505. 518. 547. 659. 660. 661. 662.
665. 668. 669. 672. 673. 674. 675. 678.
680. 682. 692. 694. 695. 696. 700. 710.
711. 712. 713. 714. 716. 717. 725. 732.
735. 744. 748. 752. 753. 754. 755.
Voikmann, Eich. (Prof. d. Chirurgie in
Halle) 187. 216. 252. 309. 334. 489. 497.
499. 503. 505. 513. 568. 579. 589. 606.
617. 618. 636. 754.
Wagner. A. (weiland Prof. d. Chirurgie
■''^^'"'jt 1871) 245. 307. 539.
'rof. in Leipzig) 467.
W'fflW!fpi3i''(Prof. d. Medicin in Berlin)
: 4 (;■-'.""" ■" _
Waldt'v.er (Prof. d. Anatomie in Strass-
burg) '^662. 675. 7.54. 756.
Waller (englischer Arzt) 69.
V. Wälther, Philipp (1782—1849) 14.
Wardrop (f englischer Chirurg) 655.
Weber, Otto (1827 — 1867) 14. 98. 99.
100. 116. 125. 176. 319. 389. 390. 400.
412. 497. 518. 5.59. .590. 659. 672. 674.
675. 697. 732.
Wegner (Docent der patholog. Anatomie
in Berlin) 205. 209. 497. .540. 549. 712.
Wells, Spencer (Chirurg in London)
417. 684.
Wernher (Prof. d. Chirurgie in Giessen)
602. 779.
Wertheim (Arzt in Wien) 491.
White (1769) 813.
V. Wini warter, A. (Arzt in Wien) 703.
708. 733.
J. W^olff (Arzt in Berlin) 208. .540.
Würtz, Felix (f 1567) 12.
Wunderlich (Prof. der medicinischen Kli-
nik in Leipzig) 97.
Wutzer (1789—1860) 14.
W yss, 0. (Prof. d. Poliklinik in Zürich) 462.
Wywodzoff (Arzt in Petersburg) 93. 94.
Zaleski (?) 674.
Zeis (Arzt in Dresden f 1868) 77.
Zenker (Prof. der pathol. Anatomie in
Erlangen) 319. 749.
Ziemssen (Prof. der medicinischen Klinik
in Erlangen) 438. 635.
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