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Full text of "Die allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie in funfzig Vorlesungen : ein Handbuch für Studirende und Aerzte"

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Pathologie  und  Therapie 

in 
fünfzig-  Vorlesungen. 

Ein  Handbuch  für  Stiidirende  und  Aerzte 


Dr.  Theodor  Billroth. 

Professor  der  Cliiniiui«'  in  Wien. 


Siebente  vermehrte  Auflage. 


Berlin. 

Druck  n  lul  Verlag  von  Georg  Reimer. 
1875. 


0^9  V 


Die  Uebersetzung  iu  andere  Sprachen  wird  vorbehalten. 


Vorwort  zur  siebenten  Auflage. 


Mein  Buch  erscheint  dies  Mal  in  etwas  veränderter  Form, 
indem  ein  Theil  desselben  in  kleinerer  Schrift  gedruckt  ist. 
Ich  erreichte  dadurch,  dass  der  sehr  vermehrte  Inhalt  nicht  viel 
mehr  Raum  einnimmt  als  früher,  und  hoffe,  dass  dem  Leser  der 
nach  verschiedenen  Richtungen  behandelte  Stoff  schon  beim 
ersten  Ueberblick  recht  plastisch  vor  Augen  tritt.  Manche  Ab- 
schnitte, z.  B.  über  Entzündung,  Amputationen  und  Resectionen, 
sowie  viele  Holzschnitte  sind  neu  hinzugefügt,  Veränderungen 
des  Textes,  hoffentlich  Verbesserungen,  finden  sich  in  allen 
Abschnitten. 

Es  ist  ja  nicht  der  Zweck  dieser  Vorlesungen,  die  abge- 
handelten Gegenstände  erschöpfend  darzustellen;  ich  möchte 
dem  Leser  rechte .  Freude  an  wissenschaftlicher  Forschung  und 
besonders  ein  recht  warmes  Interesse  für  die  Chirurgie  er- 
regen; gelingt  mir  das,  so  ist  damit  auch  schon  der  Drang  in 
ihm  erweckt,  die  dargebotene  Skizze  durch  weiteres  Studium 
zum  vollendeten  Bilde  auszuführen.  —  Ich  benutze  diese  Ge- 
legenheit, den  vielen  Collegen,  welche  mir  Ihre  Freude  über 
die  bis  jetzt  noch  immer  fortdauernde  Wii'kung  dieses  Buches 
und  seine  ausgedehnte  Verbreitung  in  wohlwollendster  Weise 
ausgesprochen  haben,  hiemit  auch  öffentlich  meinen  herzlichsten 
Dank  zu  sagen,   den  ich  nicht  besser  zu  bethätigen  weiss,   als 


IV  Vorwort. 

indem  ich  mich  fortgesetzt  bemühe  die  vielen  wissenschaftlichen 
Anreg'ungen  und  Belehrungen,  welche  ich  aus  den  Arbeiten 
meiner  CoUegen  schöpfe,  in  den  neuen  Auflagen  dieses  Buches 
für  die  studirende  Jugend  und  die  strebsamen  Aerzte  in  mög- 
lichst harmonisch  gegliederter  Form  zu  reproduciren. 

Wien,  November  1874. 

Th.   Billroth. 


Inhalt, 


Seite 
Vorwort ,. III 

Verzeichniss   der  Holzschnitte XIII 

Vorlesung  I 1 

Einleitung. 

Verhältniss  der  Chirurgie  zur  inneren  Medicin.  ■ —  Nothwendigkeit,  dass  der 
practische  Arzt  beides  erlernt  habe.  —  Historische  Bemerkungen.  —  Art  des 
Studiums  der  Chirurgie  auf  den  deutschen  Hochschulen. 

Vorlesung  2 20 

Capitel  I. 

Von   den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Art  der  Entstehung  und  Aussehen  dieser  Wunden.  —  Verschiedene  Formen 
der  Schnittwunden.  —  Erscheinungen  während  und  unmittelbar  nach  der  Ver- 
wundung: Schmerz,  Blutungen,  —  Verschiedene  Arten  der  Blutungen:  arte- 
rielle, venöse  Blutungen.  Lufteintritt  durch  Venenwunden.  —  Parenchymatöse 
Blutungen.  —  Bluterkrankheit.  —  Blutungen  aus  Pharynx  und  Rectum.  — 
Allgemeine  Folgen  starker  Blutungen. 

Vorlesung  3 31 

Behandlung  der  Blutungen:  1)  Ligatur  und  Umstechung  der  Arterien.  Tor- 
sion. —  2)  Compression,  Fingerdruck,  Wahlstellen  für  die  Compression  grosser 
Arterien.  Tourniquet.  Acupressur.  Einwicklung.  Tamponade.  —  3)  Styp- 
tica.  —  Allgemeine  Behandlung  plötzlich  eintretender  Anämie.     Transfusion. 

Vorlesung  4 49 

Klaffen  der  W^unde.  —  Vereinigung  durch  Pflaster:  —  Naht;  Kopfnaht:  um- 
schlungene Naht.  —  Aeusserlich  an  der  vereinigten  Wunde  wahrnehmbare 
Veränderungen.  —  Entfernung  der  Nähte.  —  Heilung  per  primam  intentionem. 


VI  Inhalt. 

Seite 

Vorlesung  5 58 

Ueber  Entzündung.  —  Die  feineren  Vorgänge  bei  der  Heilung  per  primam 
intentionem.  —  Gefassausdehnung  in  der  Nähe  der  Wunde.  Fluxion.  Xer- 
schiederie  Ansichten  über  die  Entstehungsursachen  der  Fluxion. 

Vorlesung  6 •' 67 

Vorgänge  im  Gewebe  bei  der  Heilung  per  primam.  —  Plastische  Infiltration. 
Entzündliche  Neubildung.  Rückbildung  zur  Narbe.  Anatomische  Merkmale 
des  Entzündungsprocesses.  • —  Verhältnisse ,  unter  welchen  die  Heilung  per 
primam  nicht  zu  Stande  kommt.  —  Anheilung  völlig  abgetrennter  Theile. 

Vorlesung  7 78 

Mit  freiem  Auge  sichtbare  Vorgänge  an  Wunden  mit  Substanzverlust.  —  Fei- 
nere Vorgänge  bei  der  Wundheilung  mit  Granulation  und  Eiterung.  Eiter.  — 
Narbenbildung.  —  Betrachtungen  über  „Entzündung".  —  Demonstration  von 
Präparaten  zur  Illustration  des  Wundheilungsprocesses. 

Vorlesung  8 96 

Allgemeine  Reaction  nach  der  Verwundung.  —  Wundfieber.  Fiebertheorien.  — 
Prognose.  Behandlung  der  einfachen  Wunden  und  der  Verwundeten.  —  Offne 
Behandlung  der  Wunden. 

Vorlesung  9 108 

Combination  der  Heilung  per  primam  und  per  secundam  intentionem.  —  Zu- 
sammenheilen von  Granulationsfiächen.  —  Heilung  unter  einem  Schorf.  — 
Granulationskrankheiten.  • —  Ueber  die  Narbe  in  den  verschiedenen  Geweben: 
Muskelnarbe;  Nervennarbe,  kolbige  Wucherung  derselben;  Gefässnarbe,  Orga- 
nisation des  Thrombus,  arterieller  CoUateralkreislauf. 

Vorlesung  10 131 

Capitel  II. 

Von  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 

Stichwunden  heilen  in  der  Regel  rasch  per  primam.  —  Nadelstiche ;  Zurück- 
bleiben von  Nadeln  im  Körper,  Extraction  derselben.  —  Stichwunden  der 
Nerven.  —  Stichwunden  der  Arterien:  Aneurysma  traumaticum,  varicosum, 
Varix  aneurysmaticus.  —    Stichwunden  der  Venen,  Aderlass. 

Vorlesung  11 .      143 

Capitel  III. 

Von  den  Quetschungen  der  Weichtheile  ohne  Wunde. 

Art  des  Zustandekommens  der  Quetschungen.  —  Nervenerschütterung.  — 
Subcutane  Gefässzei-reissungen.  —  Zerreissung  von  Arterien.  —  Sugillation, 
Ecchymose.  —  Resorption.  —  Ausgänge  in  fibrinöse  Tumoren,  in  Cysten,  in 
Eiterung,  Verjauchung.  —  Behandlung. 

Vorlesung  12 156 

Capitel  IV. 

Von  den  Quetschwunden  und  Riss  wunden  der  Weichtheile. 

Art  des  Zustandekommens  dieser  Wunden,  Aussehen  derselben.  —  Wenig 
Blutung  bei  Quetschwunden.  —  Primäre  Nachblutungen.  —  Gangränescenz 
der  Wundränder,  Einflüsse,  welche  auf  die  langsamere  und  schnellere  Ab- 
stossung  der  todten  Gewebe  wirken.  —  Indicationen  zur  primären  Amputa- 
tion. —  Oertliche  Complication  bei  gequetschten  Wunden,  Zersetzung,  Fäul- 
niss.  Coccobacteria.  Septische  Entzündungen.  —  Arterienquetschungen, 
.  secundäre  Nachblutungen. 


Inhalt.  VIT 

Soitc 

Vorlesnng  13 172 

Progressive  KitoruiiReii  von  Quetscliwundoii  ausgehend.  —  Secimdäre  Ent- 
zündungen der  Wunden:  ilire  l'rsiichcu :  lo(;ile  Tufection.  —  Fchrih'  Keaction 
hei  Quetschwunden,  Naciilieher,  Kiterlieber,  Kielierfrost,  seine  Ursachen.  — 
Behandlung  der  Quetschwunden:  Immersion,  Kishhisen,  Irrigation;  Kritik  die- 
ser Behandlungsmetlioden.  —  Incisionen,  Gegenöffnungen.  Drainage.  Kata- 
plasmen.  Offne  Beiiandinng  der  Wunden.  —  Prophylaxis  gegen  die  secun- 
dären  Entzündungen.  —  Innerliche  Behandlung  Schwerverwundeter.  Chinin. 
Opium.  —  Risswunden,  subcutane  Zerreissung  von  Muskeln  und  Sehnen, 
Ausreissungen  von  Gliedmaassen. 

Vorlesung  14 193 

Capitel  V. 

Von  den  einfachen  K  n  o  c  h  e  ii  b  r  ii  c  h  e  ii . 

Ursachen,  verschiedene  Arten  der  Fracturen.  —  Symptome,  Art  der  Dia- 
gnostik. —  Verlauf  und  äusserlich  wahrnehmbare  Erscheinungen.  —  Anato- 
misches über  den  Heilungsverlauf,  Callusbildung.  —  Quellen  der  entzünd- 
lichen verknöchernden  Neubildung,  Histologisches. 

Vorlesung  15 210 

Behandlung  einfacher  Fi-acturen.  Einrichtung.  —  Zeit  des  Anlegens  des  Ver- 
bandes. Wahl  desselben.  —  Gypsverbände,  Kleisterverbände,  Schienenver- 
bände, permanente  Extension;  Lagerungsapparate.  —  Indicationen  für  die 
Abnahme  des  Verbandes. 

Capitel  VI. 

Von  den  offenen  Knochenbrüchen  und  von  der  Kno  che  neiterung.     220 
Unterschied  der  subcutanen  und  offenen  Fracturen  in  Bezug  auf  Prognose.  — 
Verschiedenartigkeit   der   Fälle.      Indicationen    für    die    primäre    Amputation. 
Secundäre  Amputation.  —  Verlatif  der  Heilung.     Knocheneiterung.     Nekrose 
der  Fragmentenden. 

Vorlesung  16 227 

Entwicklung  der  Knochengranulationen.  Histologisches.  —  Sequesterlösung. 
Histologisches.  —  Knochenneubildung  um  die  gelösten  Sequester.  Callus  bei 
eiternden  Fracturen.  —  Eitrige  Periostitis  und  Osteomyelitis.  —  Allgemein- 
zustände. Fieber.  —  Behandlung;  gefensterte  Verbände,  geschlossene,  aufge- 
schnittene Verbände.  Antiphlogistische  Mittel.  Immersion.  —  Principien  über 
die  Knochensplitter.     Nachbehandlung. 

Vorlesung  17 238 

Anhang  zu  Capitel  5  und  6. 

1.  Verzögerung  der  Callusbildung  und  Entwicklung  einer  Pseudarthrose.  — 
Ursachen  oft  unbekannt.  Locale  Bedingungen.  Allgemeine  Ursachen.  — 
Anatomische  Beschaffenheit.  —  Behandlung:  innere,  operative  Mittel;  Kritik 
der  Methoden.  —  2.  Von  den  schiefgeheilten  Knochenbrüchen;  Infraction, 
blutige  Operationen.  —  Abnorme  Calluswucherung. 

Capitel  Vn. 

Von  den  Verletzungen   der  Gelenke 246 

Contusion.  —  Distorsion.  —  Gelenkeröffnung  und  acute  traumatische  Gelenk- 
entzündung. Verschiedener  Verlauf  und  Ausgänge.  Behandlung.  Anato- 
mische Veränderungen. 

Vorlesung  18 2.56 

Von  den  einfachen  Verrenkungen:  traumatische,  angeborene,  pathologische 
Luxationen,  Subluxationen.  —  Aetiologisches.  —  Hindernisse  für  die  Ein- 
richtung. Behandlung:  Einrichtung,  Nachbehandlung.  —  Habituelle  Luxa- 
tionen. —  Veraltete  Luxationen,  Behandlung.  —  Von  den  complicirten  Ver- 
renkungen. —  Angeborene  Luxationen. 


VIII  Inhalt. 

Seite 

Vorlesung  19 269 

Capitel  VIII. 

Von  den  Schusswnnden.. 

Historische  Bemerkungen.  —  Verletzungen  durch  grobes  Geschütz.  —  Ver.'^chie- 
dene  Formen  der  Schusswunden  durch  Flintenkugeln.  —  Transport  und  Sorge 
für  die  Verwundeten  im  Felde.  —  Behandlung.  —  Complicirte  Schussfracturen. 

Vorlesung  20 282 

Capitel  IX. 

Von  den  Verbrennungen  und  Erfrierungen. 

1.  Verbrennungen:  Grade,  Extensität,  Behandlung.  —  Sonnenstich.  —  Blitz- 
schlag. —  2.  Erfrierungen:   Grade.     Allgemeine  Erstarrung.     Behandlung.  — 
.   Frostbeulen. 

Vorlesung  21 295 

Capitel  X. 

Von    den    acuten    nicht   traumatischen   Entzündungen    der  Weich- 
theile. 

Allgemeine  Aetiologie  der  acuten  Entzündungen.  —  Acute  Entzündung: 
1.  Der  Cutis,  a.  Erysipelatöse  Entzündung;  b.  Furunkel;  c.  Carbunkel 
(Anthrax.  Pustula  maligna).  2.  Der  Schleimhäute.  3.  Des  Zellgewebes. 
Heisse  Abscesse.  4.  Der  Muskeln.  5.  Der  serösen  Häute:  Sehnenscheiden 
und  subcutanen  Schleimbeutel. 

Vorlesung  22 322 

Capitel  XI. 

Von    den    acuten  Entzündungen    der  Knochen,    des   Periostes    und 
der  Gelenke. 

Anatomisches.  —  Acute  Periostitis  und  Osteomyelitis  der  Röhrenknochen: 
Erscheinungen;  Ausgänge  in  Zertheilung,  Eiterung,  Nekrose.  Prognose.  Be- 
handlung. —  Acute  Ostitis  an  spongiösen  Knochen:  Multiple  acute  Osteo- 
myelitis. —  Acute  Gelenkentzündungen.  —  Hydrops  acutus:  Erscheinungen, 
Behandlung.  —  Acute  suppurative  Gelenkentzündung:  Erscheinungen,  Ver- 
lauf, Behandlung,  Anatomisches.  —  Rheumatismus  arliciilorum  acutus.  —  Der 
arthritische  Anfall.  —  Metastatische  (gonorrhoische ,  pyämische ,  puerperale) 
Gelenkentzündungen. 

Anhang  zu  Capitel  I — XI.    Rückblick.    Allgemeines  über  den  acuten  Entzündungs- 

process. 

Vorlesung  23 350 

Capitel  Xn. 
Vom  Brande. 

Trockner,  feuchter  Brand.  Unmittelbare  Ursache.  Abstossungsprocess.  — 
Die  verschiedenen  Arten  des  Brandes  nach  den  entfernteren  Ursachen.  1.  Ver- 
nichtung der  Lebensfähigkeit  der  Gewebe  durch  mechanische  oder  chemische 
Einflüsse.  2.  Vollständige  Hemmung  des  Blutzuflusses  und  Rückflusses.  In- 
carceration.  Continuirlicher  Druck.  Decubitus.  Starke  Spannung  der  Ge- 
webe. 3.  Vollständige  Hemmung  des  Zuflusses  arteriellen  Blutes.  Gangraena 
spontanea.  Gangraena  senilis.  Ergotismus.  4.  Noma.  Gangrän  bei  ver- 
schiedenen Blutkrankheiten.  —  Behandlung. 

Vorlesung  24 364 

Capitel  Xin. 

Von  den  a  c  c  i  d  e  n  t  e  1 1  e  n  Wund-    und  E  n  t  z  ü  n  d  u  n  g  s  k  r  a  n  k  h  e  i  t  e  n    und 

den  vergifteten  Wunden. 

I.  Oertliche  Krankheiten,  welche  zu  Wunden  und  anderen  Entzündungs- 
heerden  hinzukommen  können:  1.  Die  progressive  eitrige  und  eitrig-jauchige 
diffuse  Zellgewebsentzündung.  —  2.  Hospital brand.  Ulceröse  Sehleimspeichel- 
diphtheritis.  Ulceröse  Harndiphtheritis.  —  3.  Erysipelas  traumaticum.  — 
4.  Lymphangoitis. 


Tiihalt.  IX 

Stitc 

Vorlesung  25 ;^81 

5.  Phlebitis.  Thrombose.  Embolie.  — ■  Ursachen  (1(M'  Veneiithrombosen.  — 
Verschiedene  Metamorphosen  des  Tin-ombus.  —  Emijolie;  rother  Infarct,  em- 
bohsche  metastatisehe  Abscesse.  —  Behandlung. 

Vorlesung  26 .'591 

II.  Allgemeine  aecidentelle  Krankheiten,  welche  zu  Wunden  und  Entzündungs- 
heerden  hinzukommen  können.  —  1.  Das  Wund-  und  Entzündungsfieber; 
2.  das  septische  Fieber  und  die  Septhämie;  3.  das  Eiterfieber  und  die  Pyo- 
hämie. 

Vorlesung  27 420 

4.  Der  Wundstarrkrampf;  5.  Delirium  potati)rum  traumaticum;  (].  Delirium 
nervosum  und  Manie. 

Anhang  zu  Capitel  XIII. 

Von  den  vergifteten  Wunden. 

Insectenstiche,  Schlangenbisse;  Infection  mit  Leichengift.  —  Kotz.  Milzbrand. 
Maul-  und  Klauenseuche.     Hinidswuth. 

Vorlesung  28 438 

Capitel  XIV. 

Von  der  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 
Anatomisches:   1.  Verdickung,  Hypertrophie.    2.  Hypersecretion.    S.Eiterung, 
kalte  Abscesse,  Congestionsabscesse,  Fisteln,  Ulceration.  —  Folgen  chronischer 
Entzündungen.  —  Allgemeine  Symptomatologie.     Verlauf. 

Vorlesung  29 447 

Allgemeine  Aetiologie  der  chronischen  Entzündung.  Aeussere  dauernde 
Reize.  —  Im  Körper  liegende  Krankheitsursachen;  empirischer  Begriff  der 
Diathese  und  Dyskrasie.  —  Allgemeine  Symptomatologie  und  Therapie  der 
krankhaften  Diathesen  und  Dyskrasien:  1.  Die  lymphatische  Diathese  (Scro- 
phulosis).  2.  Die  tuberkulöse  Dyskrasie  (Tubercidosis).  3.  Die  artbritische 
Diathese.  4.  Die  scorbutische  Dyskrasie.  5.  Syphilitische  Dyskrasie.  —  Oert- 
liche  Behandlung  der  chronischen  Entzündung:  Ruhe.  Hochlagerung.  Com- 
pression.  Feuchte  Wärme.  Hydropathische  Einwicklungen.  —  Moor-,  Schlamm- 
Bäder.  Animalische  Bäder.  Sandbäder.  —  Resorbentia.  • —  Antiphlogistica.  — 
Derivantia:  Fontanell.     Haarseil.     Moxen.     Glüheisen. 

Vorlesung  30 475 

Capitel  XV. 

Von  den  Geschwüren. 

Anatomisches.  —  Aeussere  Eigenschaften  der  Geschwüre:  Form  und  Aus- 
breitung, Grund  und  Absonderung,  Ränder,  Umgebung.  —  Oertliche  Therapie 
nach  öi-tlicher  Beschaffenheit  der  Geschwüre:  fungöse,  callöse,  jauchige,  phage- 
dänische,  sinuöse  Geschwüre.  —  Aetiologie  der  Geschwüre:  dauernde  Reizung, 
Stauungen  im  venösen  Kreislauf.  —  Dyskrasische  Ursachen. 

Vorlesungen  31 491 

Capitel  XVI. 

Von    der    chronischen    Entzündung    des    Periostes,    der    Knochen 
und  von  der  Nekrose. 

Chronische  Periostitis  und  Caries  superficialis.  Symptome.  Osteophytenbil- 
dung.  Osteoplastische,  suppurative  Formen.  Anatomisches  über  Caries. 
Aetiologisches.     Diagnose.     Combination  verschiedener  Formen. 

Vorlesung  32 .502 

Primäre  chi'onische  Ostitis:  Symptome.  Ostitis  malacissans,  osteoplastica,  sup- 
purativa, fungosa.  Chronische  Osteomyelitis.  Caries  centralis.  —  Knochen- 
abscess.  Combiuationen.  Ostitis  mit  Verkäsung.  Knochentuberkeln.  —  Dia- 
gnose. Verschiebungen  der  Knochen  nach  partieller  Zerstörung  derselben.  — 
Congestionsabscesse.  —  Aetiologisches. 


X  Inhalt. 

Seite 

Vorlesung  33 513 

Heilungsprocess  bei  chronischer  Ostitis,  Caries  und  Congestionsabscessen. 
Prognose.  —  Allgemeinzustand  bei  chronischen  Knochenentzündungen.  — 
Secundäre  Lymphdrüsenschwellungen.  —  Therapie  der  chronischen  Ostitis 
und  Congestionsabscesse.  —  Resectionen  in  der  Continuität. 

Vorlesung  34 ••      528 

Nekrose.  Aetiologisches.  Anatomische  Verhältnisse  bei  der  Necrosis  totalis 
und  partialis.    Symptomatologie  und  Diagnostik.    Behandlung.    Sequestrotomie. 

Vorlesung  35 545 

Anhang  zu  Capitel  XVI. 

Rhachitis.  Anatomisches.  Symptome.  Aetiologie.  Behandlung.  Osteoma- 
lacie.  —  Hypertrophie  und  Atrophie  der  Knochen. 

Vorlesung  36 553 

Capitel  XVn. 

Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

Allgemeines  über  die  Verschiedenheit  der  Hauptformen.  —  A.  Die  granulös- 
fungösen  und  eitrigen  Gelenkentzündungen,  Tumor  albus.  Erscheinungen. 
Anatomisches.  Ostitis  granulosa  sicca.  Ostitis  mit  periarticulären  und  peri- 
ostalen Abscessen.    Atonische  Formen.  —  Aetiologie.  —  Verlauf  und  Prognose. 

Vorlesung  37 566 

Behandlung  des  Tumor  albus.  —  Operative  Eingriffe.  —  Resectionen  der 
Gelenke.  —  Kritische  Beurtheilung  dieser  Operationen  an  den  verschiedenen 
Gelenken. 

Vorlesung  38      .   • 577 

B.  Die  chronische  seröse  Synovitis.  Hydrops  articulorum  chronicus.  Ana- 
tomisches. Symptome.  Behandlung.  Typisch  recidivirender  Hydrops  genu. 
Anhang;  Von  den  chronischen  Hydropsien  der  Sehnenscheiden,  der  Syno- 
vialhernien der  Gelenke  und  der  subcutanen  Schleimbeutel. 

Vorlesung  39 589 

-  C.  Die  chronisch-rheumatische  Gelenkentzündung.  Arthritis  deformans.  Malum 
senile  coxae.  Anatomisches.  Verschiedene  Formen.  Symptome.  Diagnose. 
Prognose.     Therapie. 

Anhang  I 599 

Von  den  Gelenkkörpern. 

1.  Fibrinkörper.  2.  Knorplige  und  knöcherne  Körper.  Symptomatologie. 
Operationen. 

Anhang  II 602 

Von  den  Gelenkneurosen. 

Vorlesung  40 603 

Capitel  XVIII. 

Von  den  Anchylosen. 

Unterschiede.  Anatomische  Verhältnisse.  Diagnose.  Therapie:  Allmählige, 
forcirte  Streckung,  blutige  Operationen. 

Vorlesung  41 616 

Capitel  XIX. 

Ueber  die  angebornen,  my  o  -  und  neuropathischen  Gelenk  Verkrüm- 
mungen so  wie  über  die  Narbenc  ontra  cturen.     Loxarthrosen. 
I.   Deformitäten  embryonalen  Ursprungs,  bewirkt  durch  Entwicklungsstörungen 
der  Gelenke.     II.  Deformitäten  nur  bei  Kindern  und  jugendlichen  Individuen 
entstehend,  bedingt  durch  Wachsthumsstörungen  der  Gelenke.    III.  Deformi- 


Iiihall.  XI 

Seite 
täten,  welche  von  Contractureii  oder  Lähmung  lüii/.chicr  Muskeln  oder  Muskel- 
f^ruppen  abhängen.  IV.  Bewegungsbesc.hränkungcn  in  den  Gelenken,  bedingt 
dnreh  Schrumpfung  von  Fascien  und  ßändcrn.  V.  Narhencontracturen.  — 
Therapie:  Dehnung  mit  Maschinen.  Streckung  in  der  Narkose.  Compression. 
Tenotomien  und  Myotomien.  Durchsi-luicidung  von  P'ascien  und  Gelenk- 
bändern.    Gymnastik.     Elektricität.     Künstliche  Muskeln.     Stützapparate. 

Vorlesung  42 637 

Capitel  XX. 

Von  den  Varicen  und  Aneurysmen. 

Varices:  Verschiedene  Formen.  Entstehungsursachen,  verschiedene  Oertlich- 
keiten  des  Vorkommens.  Diagnose.  Venensteine.  Varixfistel.  Therapie.  — 
Varicöse  Lymphgefässe.  Lymphorrhoe.  —  Aneurysmen:  Entzündungsprocess 
an  den  Arterien.  Aneui-ysma  cirsoideum.  —  Atheromatöser  Process.  —  Form- 
verschiedenheiten der  Aneurysmen.  Spätere  Veränderungen  derselben.  Er- 
scheinungen, Folgen.  Aetiolögisches.  Diagnose.  —  Therapie:  Compi'ession, 
Unterbindung,  Injection  von  Liq.  Ferri.     Exstirpation. 

Vorlesung  43 658 

Capitel  XXI. 

Von  den  Geschwülsten. 

Begrenzung  des  Begriffes  einer  Geschwulst.  —  Allgemeine  anatomische  Be- 
merkungen: Polymorphie  der  Gewebsformen.  Entstehungsquelle  für  die  Ge- 
schwülste. Beschränkung  der  Zellenentwicklungen  innerhalb  gewisser  Gewebs- 
typen.  Beziehungen  zur  Entwicklungsgeschichte.  Art  des  Wachsthums.  Ana- 
tomische Metamorphosen  in  den  Tumoren.  Aeussere  Erscheinungsformen  der 
Geschwülste. 

Vorlesung  44 668 

Aetiologie  der  Geschwülste.  Miasmatische  Einflüsse.  Specifische  Infection. 
Specifische  Reactionsweise  der  irritirten  Gewebe ;  die  Ursache  derselben  ist 
immer  eine  constitutionelle.  Innere  Reize;  Hypothesen  über  die  Beschaffen- 
heit und  Art  der  Reizeinwirkung.  —  Verlauf  und  Prognose :  solitäre,  multiple, 
infectiöse  Geschwülste.  —  Dyskrasie.  —  Behandlung.  —  Principien  über  die 
Eintheilung  der  Geschwülste. 

Vorlesung  45 681 

1.  Fibrome:  a)  die  weichen,  b)  die  festen  Fibrome.  Art  des  Vorkommens. 
Operationsverfahren.  Ligatur.  Ecrasement.  Galvanokaustik.  —  2.  Lipome: 
Anatomisches.  Vorkommen.  Verlauf.  —  3.  Chondrome:  Vorkommen.  Ope- 
ration.    4.  Osteome:  Formen.     Operation. 

Vorlesung  46 699 

5.  Myome.  —  6.  Neurome.  —  7.  Angiome :  a)  plexiforme,  b)  cavernöse.  — 
Operationsverfahren. 

Vorlesung  47 709 

8.  Sarkome.  Anatomisches,  a)  Granulationssarkom,  b)  Spindelzellensar- 
kom, c)  Riesenzellensarkom,  d)  Netzzellensarkom,  e)  Alveolares  Sarkom, 
f)  Pigmentirte  Sarkome,  g)  Villöses  Sarkom.  Perlgeschwulst.  Psammom, 
h)  Plexiformes  (cancroides,  adenoides)  Sai'kom.  Cylindrom.  —  Klinische  Er- 
scheinungsform. Diagnose.  Verlauf.  Prognose.  Art  der  Infection.  —  Topo- 
graphie der  Sarkome:  Centrale  Osteosarkome.  Periostsarkome.  Sarkome 
der  Mamma,  der  Speicheldrüsen.  9.  Lymphome.  Anatomisches.  Beziehungen 
zur  Leukämie.     Behandlung. 

Vorlesung  48 735 

10.  Papillome.  —  11.  Adenome.  —  12.  Cysten  und  Cystome.  FoUicular- 
cysten  der  Haut,  der  Schleimhäute.  —  Cysten  neuer  Bildung.  Schilddrüsen^ 
cvsten.     Eierstockscvstome.     Blutcvsten. 


Xrr  Inhalt. 

Seite 

Torlesung  49 751 

13.  Carcinome:  Historisches.  Allgemeines  über  die  anatomische  Structur. 
Metamorphosen.  Verschiedene  Formen.  Topographie:  1.  Aeussere  Haut 
und  Schleimhäute  mit  Plattenepithel.  2.  Milchdrüsen.  3.  Schleimdrüsen  mit 
Cylinderepithel.  4.  Speicheldrüsen  und  Vorsteherdrüse.  5.  Schilddrüse  und 
Eierstock.  —  Therapie.  —  Kurze  Bemei'kungen  über  die  Diagnose  der 
Geschwülste. 

Kurze  Bemerkiuigen  über  die  klinische  Diagnose  der  Geschwülste.     791 

Vorlesung  50 793 

Capitel  XXII. 

Ueber  Amputationen,  Exarticulationen  und  Resectionen. 

Wichtigkeit  und  Bedeutung  dieser  Operationen.  —  Amputationen  und  Exar- 
ticulationen. —  Indicationen.  —  Methoden.  —  Nachbehandlung.  —  Pro- 
gnose. —  Konische  Stümpfe.  Prothese.  Historisches.  —  Resectionen:  Ge- 
lenke. —  Historisches.  —  Indicationen.  —  Methoden.  —  Nachbehandlung.  — 
Prognose. 

Sach-Register  ' 817 

Namen-Register 824 


Verzeichniss  der  Holzschnitte. 


Seite 

Fig.     1.     Bindeeowebe  mit  Capillareii.     Schematische  Zeichnung    •••;••;,•  ^^ 
Fig.    2.     Schnitt.     Capillaren- Verschluss  durch  Blutgerinnsel.      Collaterale  Ausdeh- 

nung.     Schematische  Zeichnung ,\    '    '    -oi '  4.-    'i 

Fig.     3.     Vereinigung  der  Wundflächen  durcli  die  entzündliche  Neubildung.    Plastisch 

intiltrirtes  Gewebe.     Schematische  Zeichnung :    \;    '         '■    ' 

Fig.     4.     Vene  mit  Capillargefäss  aus  dem  mehre  Stunden  freiliegenden  Mesenterium  ^^ 

eines  Frosches '  „, 

Fig.     5.     Reihenfolge  der  Gefässbildungen ;  nach  Arnold \   ' .  '    '    i  i "  n- 

Fig.     6.     Gefässanlagen  aus  dem  Glaskörper  von  Kalbsembryonen;  nach  Arnold  .  io 

Fil.     7.     Wunde  mit  Substanzverlust.     Gefässdilatation.     Schematische  Zeichnung  .  »^ 

Fig.     8.     Eiterzellen  aus  frischem  Eiter „^ 

Fig.     9.     Granulirende  Wunde.     Schematische  Zeichnung    ••    ;^  ••••■•■    "  ^t 

Fig.  10.     Fettige  Degeneration  von  Zellen  aus  Granulationen.     Körnchenzelien    .    •  ÖO 

Fig.  11.     Epithelien  der  Froschhornhaut;  nach  Heiberg ob 

Fig.  12.     Hornhautschnitt,  3  Tage  nach  der  Verletzung    ••■••■••••■ 

Fig.  13.     Schnittwunde    in    der   Wange    eines    Hundes,   24  Stunden    nach    der  Ver-  ^^ 

wundung ,'   -i    '    ö  ü   v^.  \i  "o'v, 

Fig.  14.     Narbe  9  Tage  nach  einem  per  primam  intentionem  geheilten  Schnitt  duicü       ^^ 

die  Lippe  eines  Kaninchens „g 

Fig.  15.     Granulationsgewebe n.^ 

Fig.  16.     Junges  Narbengewebe •.   •  /    "    '„'r,'.     '-,  ' 

Fig.  17.     Horizontalschnitt   durch    eine    Hundezunge;    Gefässverhaltnisse    48  Stunden 

nach  der  Verletzung;  nach  Wy  wo  dz  off r.\^r  ' 

Fig.  18.     Gleicher  Schnitt;  Gefässbildung  10  Tage  nach  der  Verletzung;  nach  ^^  y-        _^ 

w  o  d  z  o  f  f i  '  w 

Fig.  19.     Gleicher  Schnitt;  Gefässbildung  16  Tage  nach  der  Verletzung;  nach   V\  y-       ^^ 


wo  dz  off 


95 


Fig.  20.     Granulationsgefässe ■  ,\ •   "„  " 

Fig.  21.     Siebentägige   Wunde    in    der    Lippe   eines    Hundes.     Heilung  per   primam.  ^^ 

Iniection  der  Lymphgefässe ,'    \r    \    \j-  '         a  i  i  p. 

Fig.  22.     Narbe  aus  der  Oberlippe  eines  Hundes.     Verhalten  der   Muskelfaserenden  11^ 
Fig.  23.     Muskelfaserenden  und  Muskelumbildung  8  Tage  nach  der  Verletzung;  nach 

^               ,„    ,                                                                                               IIb 

Weber • ,    tt    i  \ 

Fig.  24.     Regenerations Vorgänge  quergestreifter  Muskelfasern  nach  Verletzungen ;  nach  ^ ^^ 

G  u  s  s  e  n  b  a  u  e  r ^  ^  q 

Fig.  25  u.  26.     Regeneration  der  Nerven;  nach  Hjelt •    •    •    "    "    ' 

Fig.  27.     Kaninchennerv  17  und  50  Tage,    Froschnerv   30  Tage    nach    der  Durch-  ^^^ 

schneidung;  nach  Eichhorst •    •    •    ' 

Fig.  28.     Kolbige  Nervenendigungen  an  einem  älteren  Amputationsstumpt  des  Über-  ^^^^ 

arms.     Amputations-Neurome ■■■.■■'  ,.^.-) 

Fig.  29.     In  der  Continuität  unterbundene  Arterie.     Thrombus;  nach  I  roriep  •    .  i-^ 

Fig.  30.     Frischer  Thrombus  im  Querschnitt ^o 

Fig.  31.     Sechstägiger  Thrombus  im  Querschnitt '^ 


XIV"  Verzeichniss  der  Holzschnitte. 

Seite 

Fig.  32.     Zehntägiger  Thrombus ■ 124 

Fig.  33.     Vollständig  organisirter  Thrombus  in  der  Art.  tibialis  postica  des  Menschen  124 

Fig.  34.     Längsschnitt   des    unterbundenen   Endes    der   Art.    cruralis    eines   Hundes; 

nach  0.  Weber 125 

Fig.  35.     Stück  eines  Querschnittes  der  V.  femoralis  vom  Menschen  mit  organisirtem 

vascularisirtem  Thrombus 126 

Fig.  36.     A.  carotis   eines  Kaninchens,    6  Wochen   nach    der  Unterbindung  injicirt; 

nach  Porta 129 

Fig.  37.     A.  carotis  einer  Ziege,    35  Monate   nach   der  Unterbindung  injicirt;   nach 

Porta 129 

A.  femoralis  eines  grossen  Hundes ,  3  Monate  nach  der  Unterbindung  in- 
jicirt; nach  Porta 130 

Seitlich   verletzte    Arterie   mit  Gerinnsel,  4  Tage   nach   der  Verwundung; 

nach  Porta 137 

Aneurysma  traumaticum  der  Art.  brachialis;   nach  Froriep 138 

Varix  aneurysmaticus ;  nach  Bell 139 

Aneurysma  varicosum;   nach  Dorsey 140 

Körniges  und  krystallinisches  Hamatoidin 150 

Abstossungsprocess  abgestorbenen  Bindegevi^ebes  bei  Quetschwunden     .    .  163 

Micrococcos,  Coccoglia,  Streptococcus,  Bacterien,  Vibrio,  Streptobacteria  167 

Ausgerissener  Mittelfinger  mit  sämmtlichen  Sehnen 191 

Centrales  Ende  einer  durchrissenen  A.  brachialis 191 

Ausgerissener  Arm  mit  Scapula  und  Clavicula 191 

4  Tage  alte  Fractur  eines  Kaninchenknochens  ohne  Dislooation    ....  200 

15  Tage  alte  Fractur  eines  Eöhrenknochens 200 

Fractur  eines  Kaninchenknochens  nach  24  Wochen;  nach  Gurlt      ■    .    .  201 

Stark  dislocirte,  27  Tage  alte  Fractur  einer  Kaninchen-Tibia;  nach  Gurlt  203 

Alter  geheilter  Schrägbruch  der  Tibia  vom  Menschen;  nach  Gurlt  .    .    .  203 
Längsschnitt  durch  ein  Stück  Corticalschicht  eines  Röhrenknochens  in  der 

Nähe  einer  Fractur 204 

Entzündliche  Neubildung  in  den  Haversischen   Canälen 205 

Verknöchernde  entzündliche  Neubildung  auf  der  Knochenoberfläche  und  in 

den  Haversischen  Canälen.     Osteoplastische  Periostitis 207 

Fig.  57.     Künstlich  injicirter  äusserer  Callus  von  geringer  Dicke    an  der  Oberfläche 

einer  Kaninchen-Tibia  in  der  Nähe  einer  5  Tage  alten  Fractur     ....  207 

Fig.  58.     Künstlich  injicirter  Quei-schnitt   der  Tibia    eines  Hundes   aus  der  unmittel- 
baren Nähe  einer  8  Tage  alten  Fractur 208 

Fig.  59.     Verknöchernder    Callus    an    der    Oberfläche    eines    Eöhrenknochens   in   der 

Nähe  einer  Fractur 209 

Fig.  60.     Lösung  eines  durch  Verletzung  entblössten ,  nekrotisch  gewordenen ,  ober- 
flächlichen Theils  eines  platten  (z.  B.  Schädel-)  Knochens 229 

Fig.  61.     Lösung  eines   nekrotischen   Knochenstücks    von   der   Corticalschicht   eines 

Röhrenknochens 229 

Fig.  62.     Bruch  eines  Röhrenknochens  mit  äusserer  Wunde,  Dislocation  und  Nekrose 

beider  Fragmentenden 230 

Amputationsstumpf  des  Oberschenkels  mit  nekrotischer  Sägefläche      ...  231 
Die  Projectile  der  modernen  Schusswaffen.    Chassepot.    Zündnadelgewehr. 

Mitrailleuse 271 

Splitterfracturen  durch  Chassepot-  und  Zündnadelgewehr-Projectile    .    .    .  281 

Blitzfiguren;  nach  Stricker 289 

Epithelialschicht     auf     einer     catarrhalisch    afficirten     Conjunctiva;     nach 

Rindfleisch 309 

Entzündlich  infiltrirtes  Bindegewebe,  Einschmelzung  der  Fasern     ....  312 

Abscessbildung 314 

Eitrige  Infiltration  des  Panniculus  adiposus 314 

Blutgefässe  einer  Abscesswand      '.  316 

Pilzfigur  von  der  Kaninchencornea 370 

Venenthrombose  .    .     • 388 

Wundfiebercurve      394 

Wundfiebercurve  nach  einer  Handgelenkssecretion 395 

Fiebercurv^e  bei  Erysipelas  ambulans 397 

Fiebercurve  bei  Septhämie     •    • 401 

Riesenzellen   aus    Tuberkeln   in    verschiedenen   Stadien    ihrer   Entwicklung 

nach  Langhans    .    .    • 457 


Fig. 

38. 

Fig. 

39. 

Fig. 

40. 

Fig. 

41. 

Fig. 

42. 

Fig. 

43. 

Fig. 

44. 

Fig. 

45. 

Fig. 

46. 

Fig. 

47. 

Fig. 

48. 

Fig. 

49. 

Fig. 

50. 

Flg. 

51. 

Fig. 

52. 

Fig. 

53. 

Fig. 

54. 

Fig. 

55. 

Fig. 

56. 

Fig. 

63. 

Fig. 

64. 

Fig. 

65. 

Fig. 

66. 

Fig. 

67. 

Fig. 

68. 

Fig. 

69. 

Fig. 

70. 

Fig. 

71. 

Fig. 

72. 

Fig. 

73. 

Fig. 

74. 

Fig. 

75. 

Fig. 

76. 

Fig 

77. 

Fig 

78. 

Verzeichniss  der  Holzschnitte.  XV 

Seite 
Fig.    79.     Kleinste  Tuberkel  im  Netz,  kleinste  Tuberkel  an  einer  Hirnarterie;  nach 

Rindfleisch '    "    ', fro 

Fig.     80.     Kleinster  Tuberkel  einer  Hirnarteric;  nach  Rindfleisch 4.J9 

Fig.    81.     Unterschenkel-Hautgeschwür;    nach  Förster 476 

Fig.    82.     Blutgefässnetz  üppiger  Granulationsknöpfchen;  nach   Thierse  h  .    .    .    .  482 

Fig.     83.     Caries  superücialis  der  Tibia;   nach  Follin 494 

Fig.    84.     Durchschnitt  eines  cariösen  Knochentheils 4% 

Fig.    85.     Ostitis  malacissans ü  n 

Fig.    86.     Schwund  der  Kalksalze  aus  den  peripherischen  Theilen  der  Knochenbalken 

bei  Ostitis  malacissans;  nach  Rindfleisch 504 

Fig.    87.     Sklerosirte  Knochen;  nach  Follin 505 

Fig.    88.     Verkäster  ostitischer  Heerd  in  den  Rückenwirbeln  eines  Mannes     ...  JÜ9 

Fig.    89.     Caries  vertebrarum  anterior ^1^ 

Fig.    90.     Nekrose  der  Tibia.     Schematische  Zeichnung J-jI 

Fig.    91.     Späteres  Stadium  von  Fig.  90 -^^o 

Fig.    92.     Späteres  Stadium  von  Fig.  91      •^•^f 

Fig.    93.     Totale  Nekrose  des  Femur ',^^^ 

Fig.    94.     Totale  Nekrose  der  Tibia     .    .    .    .   • ^    •  ^«^^ 

Fig.    95.     Nekrose  der  unteren  Hälfte  der  Diaphyse  des  Femur  mit  Lösung  des  Epy-  ^ 

physenknorpels  und  Perforation  der  Haut ^36 

Fig.    96.     Der  extrahirte  Sequester  von  Fig.  95 5üG 

Fig.    97.     Partielle  Nekrose  eines  Röhrenknochens ^^7 

Fig.    98.     Späteres  Stadium  von  Fig.  97 538 

Fig.    99.     Späteres  Stadium  von  Fig.  98 ^^o 

Fig.  100.     Regeneration  der  Scapula  nach  Reseetion 5^9 

Fig.  101.     Typische   Formen    von  rhachitischen  Verkrümmungen    der  Unterschenkel  j47 

Fig.  102.     Knochenverbiegungen  bei  Osteomalacie;  nach  Mo  r  and 551 

Fig.  103.     Granulös-fungöse  Synovitis 557 

Fig.  104.     Degeneration  des  Knoi-pels  bei  pannöser  Synovitis;  nach   Weber  •    .    •  oo9 

Fig.  105.     Atonische  Knorpelulcerationen  aus  dem  Kniegelenk 5o9 

Fig.  106.     Subchondrale  granulöse  Ostitis  am  Talus -^)bO 

Fig.  107.     Schematische  Darstellung  eines  Ganglion J8o 

Fig.  108.     Synovialhernien  am  Kniegelenk;  nach  Grub  er ^86 

Fig.  109,     Degeneration  des  Knorpels  bei  Arthritis  deformans;  nach  Weber  .    .    .  o9ü 

Fig.  110—112.     Osteophytenauflagerungen  auf  Gelenkenden 592 

Fig.  113.     Vielfache  Gelenkkörper  im  Ellenbogengelenk;  nach  Cr  UV  eil  hier      .    .  600 

Fig.  114.     Bandartige  Verwachsungen  in  einem  resecirten  Ellenbogengelenk     ...  604 

Fig.  115  u.  116.     Anchylosen  durch  Bindegewebe  und  Knochennarben 605 

Fig.  117  u.  118.     Frontalschnitte  des  Schultergelenks  in  verschiedenen  Stellungen    .  606 

Fig.  119.     Schrumpfung  der  Fascia  lata  bei  Coxitis 625 

Fig.  120.  u.  121.     Narbencontracturen  nach  Verbrennungen •    •    •  626 

Fig.  122.     Subcutan  durchschnittene  Sehne  am  vierten  Tag 630 

Fig.  123.     Varices  im  Gebiet  der  V.  saphena 6o7 

Fig.  124.     Aneurysma  cirsoideum  der  Kopfhaut;  nach  Bre sehet 644 

Fig.  125.     Fibrom  des  Uterus ^°^ 

Fig.  126.     Aus  einem  Myo-Fibrom  des  Uterus 683 

Fig.  127.     Gefässnetze  aus  Fibromen 6^f 

Fig.  128.     Neuro-Fibrom ;  nach  Follin 68o 

Fig.  129.     Plexiformes  Neuro-Fibrom;  nach  P.  Bruns 68o 

Fig.  130.     Aussergewöhnliche  Formen  von  Knorpelgewebe  aus  Chondromen    ...  091 

Fig.  131.     Chondrome  der  Finder '    ' 693 

Fig.  132  u.  133.     Odontom •.-....  b^b 

Fig.  134—137.     Osteome ' ^^! 

Fig.  138.     Plexiformes  Angiom  (Teleangiectasie) " ^^^ 

Fig.  139.     Cavernöses  Angiom '  J^ 

Fig.  140.     Granulationssarkom ^fj^ 

Fig.  141.     Glio-Sarkom;  nach  Virchow j.|| 

Fig.  142.     Spindelzellensarkom ^  A^ 

Fig.  143.     Riesenzellen  aus  einem  Unterkiefersarkom ''■^ 

Fig.  144.     Riesenzellensarkom  mit  Cysten  und  Verknöcherungsheerden 71o 

Fig.  145.  u.  146.     Myxosarkom ^|^ 

Fig.  147.  u.   148.     Alveolares  Sarkom J.'^J 

Fig.  149.     Sarkom  der  pia  niater;  nach  Arndt '||^ 

Fig.  150.     Psammom;  nach  Virchow - '^6 


XVI  Verzeichniss    der  Holzsrlinitte. 

Fig.  151.     Hirngeschwulst;  nach  Arnold 717 

Fig.  152.     Cylindrombildung;  nach  Sattler 718 

Fig.  153.     Cylindrom  der  Orbita 718 

Fig.  154.  u.   155.     Osteosarkom  der  Ulna 723 

Fig.  156.  u.   157.     Otseosarkom  des  Unterkiefers 724 

Fig.  158.     Osteo-Cystosarkom  des  Femur;  nach  Pean 724 

Fig.  159.  u.   160.     Osteosarkom  der  Tibia 725 

Fig.  161.     Adeno-Sarkom  der  Mamma 727 

Fig.  162.     Lymphom 730 

Fig.  163.     Hautwarze 736 

Fig.  164.     Adenomatöser  Schleimpolyp  des  Rectums 740 

Fig.  165.     Kropfgeschwulst.     Adenom  der  Schilddrüse 741 

Fig.  166.     Epithelialkrebs  des  rothen  Lippensaums 758 

Fig.  167.     Flacher  Epithelialkrebs  der  Wange 759 

Fig.  168.     Elemente  eines  wuchernden  Hautcarcinoms 760 

Fig.  169.     Wuchernder  Hautkrebs  an  der  Hand ''61 

Fig.  170.     Gefässe  aus  einem  Carcinom  des  Penis '61 

Fig.  171.     Zottenkrebs  der  Harnblase 766 

Fig.  172.     Acinöser  Krebs  der  Mamma 769 

Fig.  173.     Aus  einem  weichen  Krebs  der  Mamma 769 

Fig.  174.     Elemente  aus  einem  Krebs  der  Mamma 770 

Fig.  175.     Bindegewebsgerüst  aus  einem  Krebs  der  Mamma 770 

Fig.  176.     Tubulärer  Krebs    der    Mamma 771 

Fig.  177.     Schrumpfender  Krebs    der    Mamma 772 

Fig.  178.     Gefässnetz  eines  ganz  jungen  Brustdrüsenkrebsknotens '72 

Fig.  179.     Gefässnetze  in   einem  Brustdriisenkrebs '72 

Fig.  180.     Bindegewebsinfiltration  eines  Krebsknotens  der  Mamma ^'^ 

Fig.  181.  Infiltration  des  Fettgewebes  in  der  Peripherie  eines  Brustkrebses     .    .    .  778 

Fig.  182.     Krebs  aus  dem  Innern-  der  Nase 781 

Fig.  183.     Krebs  des  Mastdarms 782 


Vorlesung  1. 
E  i   11  1  0  i  t   U  11   g. 

Yerliältiiiss   der  Clünivgie    zur   inneren  Mediein.  —  Nothwendigkeit ,   dass    der  praktische 

Arzt  beides  erlernt  liabe.   —   Historisclie  Bemerknngen.  —  Art  des  Studiums  der  Chirurgie 

auf  den  deutscheu  Hochschulen. 

Meine  Herren! 
Das  Studium  der  Chirurgie,  welches  Sie  mit  diesen  Vorlesungen  be- 
ginnen, wird  jetzt  mit  Recht  in  den  meisten  Ländern  als  ein  nothwendiges 
für  den  praktischen  Arzt  angesehen;  wir  preisen  es  als  einen  glücklichen 
Fortschritt,  dass  die  Trennung  der  Chirurgie  von  der  Mediein  nicht  mehr 
in  der  Weise  besteht,  wie  es  früher  der  Fall  war.  Der  Unterschied 
zwischen  innerer  Mediein  und  Chirurgie  ist  in  der  That  ein  rein  äusser- 
licher,  die  Trennung  eine  künstliche,  wie  sehr  sie  aucli  in  der  Geschichte 
und  in  dem  grossen  immer  zunehmenden  Inhalt  der  gesammten  Mediein 
begründet  sein  mag.  Sie  werden  im  Verlauf  dieser  Vorträge  oft  genug 
darauf  hingeleitet  werden,  wie  sehr  die  Chirurgie  auch  auf  die  inneren 
und  allgemeinen  Vorgänge  im  Körper  eingehen  niuss,  wie  die  Erkran- 
kungen der  nach  aussen  liegenden  und  der  im  Körper  liegenden  Theile 
einander  durchaus  analog  sind,  und  wie  der  ganze  Unterschied  eben  nur 
darauf  hinauskommt,  dass  wir  in  der  Chirurgie  die  örtlichen  Verände- 
rungen der  Gewebe  meist  vor  uns  sehen,  während  wir  die  örtlichen  Er- 
krankungen innerer  Organe  oft  erst  aus  den  Functionsstörungen  erschliessen 
müssen.  Die  Wirkungen  der  örtlichen  Störungen  auf  den  Zustand  des 
Gesammtorganismus  niuss  der  Chirurg  ebenso  genau  kennen,  als  Jemand, 
der  sich  vorwiegend  mit  den  Krankheiten  der  inneren  Organe  beschäftigt. 
Kurz,  der  Chirurg  kann  nur  dann  mit  Sicherheit  und  richtig 
den  Zustand  seiner  Kranken  beurtheilen,  wenn  er  zugleich 
Arzt  ist.  Doch  auch  der  Arzt,  der  sich  vornimmt,  chirurgische  Patien- 
ten von  der  Hand  zu  weisen  und  sich  nur  mit  den  Curen  innerlicher 
Krankheiten  zu  beschäftigen,  muss  chirurgische  Kenntnisse  haben,  wenn 
er  nicht    die   unverantwortlichsten  Missgriffe   machen   will.      Abgesehen 

BiUroth  chir.  Path.  u,  Ther.   7.  Aufl.  \ 


2  Einleitung. 

davon,  dass  der  Laiularzt  nicht  immer  Collegen  zur  Seite  bat,  denen 
er  die  chirurg-ischen  Fälle  überweisen  kann,  ist  oft  von  der  richtigen, 
raseben  Erkenntnis»  einer  cbirurgiscben  Krankheit  das  Leben  des  Pa- 
tienten abhängig,  da  hier  ein  rasches  richtiges  Handeln  lebensrettend  sein 
kann.  Wenn  das  Blut  mit  Gewalt  aus  einer  Wunde  hervorstilrzt,  wenn 
ein  fremder  Körper  in  die  Luftrühre  eingedrungen  ist  und  der  Kranke 
jeden  Augenblick  zu  ersticken  droht,  da  heisst  es  chirurgiscli  handeln 
und  zwar  schnell,  sonst  ist  der  Kranke  verloren!  In  andern  Fällen 
kann  ein  der  Chirurgie  völlig  unkundiger  Arzt  durch  Urtheilsunfähig- 
keit  über  die  Bedeutung  eines  Falles  viel  schaden;  er  kann  die  durch 
chirurgische  Hülfe  früh  zu  beseitigenden  Uebel  zur  Unheilbarkeit  an- 
wachsen lassen  und  so  seinen  Krauken  durch  mangelhafte  Kenntnisse 
unsäglichen  Schaden  zufügen.  Es  ist  daher  geradezu  unverantwortlich, 
wenn  ein  Arzt  auf  dem  Gedanken  trotzig  beharren  wollte,  nur  innere 
Medicin  zu  treiben,  noch  unverantwortlicher,  wenn  Sie  schon  das  Studium 
der  Chirurgie  in  dem  Gedanken  vernachlässigen  wollten:  ich  will  ja  doch 
nicht  operiren,  da  ja  so  wenig  in  der  gewöhnlichen  Praxis  zu  operiren 
ist,  und  ich  meiner  ganzen  Persönlichkeit  nach  nicht  dazu  passe!  Als 
wenn  die  Chirurgie  nur  im  Operiren  bestünde!  als  ob  die  Chirurgen  nur 
geschickte  Hände  zu  haben  brauchten,  um  Tüchtiges  zu  leisten!  Ich  hoffe, 
Ihnen  eine  andere  bessere  Anschauung  über  diesen  Zweig  der  Medicin 
beizubringen,  als  die  erwähnte,  die  leider  nur  allzu  populär  ist.  —  Die 
Chirurgie  hat  dadurch,  dass  sie  vorwiegend  mit  zu  Tage  liegendeu 
Schäden  zu  thun  hat,  allerdings  einen  etwas  leichteren  Standpunkt  in 
Betreff  der  anatomischen  Diagnose;  doch  stellen  Sie  sich  den  Vortheil 
davon  nicht  zu  gross  vor!  Ganz  abgesehen  davon,  dass  auch  chirurgisch 
zu  behandelnde  Schäden  oft  tief  und  verborgen  liegen,  verlangt  man 
auch  von  einer  chirurgischen  Diagnose  und  Prognose,  selbst  von  der 
Therapie  weit  mehr  als  von  dem  therapeutischen  Wirken  der  inneren 
Medicin.  —  Ich  verkenne  nicht,  dass  die  innere  jMedicin  in  vieler  Be- 
ziehung einen  höheren  Reiz  haben  kann  gerade  durch  die  Schwierigkeiten, 
welche  sie  bei  der  Localisirung  der  Krankheitsproeesse  und  der  Erkennt- 
niss  der  letzteren  zu  überwinden  hat  und  oft  so  glänzend  überwindet. 
Es  bedarf  hier  häufig  sehr  feiner  Verstandesoperationen,  um  aus  dem 
Symptomencomplex  und  dem  Ergebniss  der  Untersuchung  zu  einem 
Resultat  zu  kommen.  Mit  Stolz  können  die  Aerzte  auf  die  anatomischen 
Diagnosen  der  Brust-  und  Herzkrankheiten  blicken,  wo  es  dem  uner- 
müdlichen Forschungseifer  gelungen  ist,  sich  ein  so  genaues  Bild  von 
den  Veränderungen  der  erkrankten  Organe  zu  entwerfen,  als  sähe  man 
dieselben  vor  Augen.  Wie  erhebend  ist  es,  von  der  krankhaften  Be- 
schaffenheit ganz  verborgener  Organe,  wie  der  Nieren,  der  Leber,  der 
Milz,  der  Därme,  des  Gehirns  und  Rückenmarks  vermittelst  Untersuchung 
des  Kranken  und  Combiuation  der  S3'mptome  eine  klare  Vorstellung 
zu    gewinnen!      Welch    ein    Triumph,    Krankheiten    von    Organen    zu 


Voi-K-siiiii;-  i.  ;-3 

(liaguosticireii ,  von  dorcu  ])li\  siolo^'isclior  Fimctioii,  wie  /,.  15.  von  der- 
]enii2,'(M\  der  Nebennieren,  wir  luicli  nield  die  leiseste  Ahnung  liaben. 
Dies  giebt  eine  Entschädigung  dalur,  dass  wir  uns  in  der  inneren 
Medicin  verliältnissniässig  häutiger  als  in  der  Ciiirurgic  unsere  Ohnmacht 
in  Bezug  auf  die  Wirkung  unseres  Heilverl'aiirens  gestehen  müssen,  wenn 
wir  auch  in  llüeksicht  auf  die  Therapie  gerade  durch  die  Fortschritte 
der  anatomischen  Diagnostik  auch  auf  den  Gebieten  der  inneren  Medicin 
bewusster  und  sicherer  über  die  Ziele  und  Resultate  unseres  Handelns 
geworden  sind. 

Der  Eeiz  des  feineren,  sinnigen  Waltens  unserer  Fantasie  und  unseres 
Verstandes  auf  dem  Gebiete  der  inneren  Medicin  wird  jedoch  in  der  Chirurgie 
durch  die  grössere  Sicherheit  und  Klarheit  der  Erkenntniss  und  Behand- 
lung reichlich  aufgewogen,  so  dass  beide  Zweige  des  ärztlichen  Wissens 
durchaus  gleichwerthig  sind.  Auch  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die 
anatomische  Diagnostik,  ich  meine  die  Erkenntniss  der  pathologischen 
Veränderungen  des  erkrankten  Organs,  nur  erst  ein  Mittel  zum  Zweck, 
nämlich  zum  Heilen  der  Krankheit  ist.  Die  Ursachen  der  Krank- 
heitsprocesse  zu  finden,  den  Verlauf  richtig  vorher  zu  be- 
stimmen, ihn  zum  günstigen  Ausgang  zu  leiten,  oder  ihn  zu 
hemmen,  das  sind  die  eigentlichen  Aufgaben  des  Arztes,  und 
diese  sind  in  der  inneren  wäe  in  der  äusseren  Medicin  gleich 
schwierig  zu  lösen.  Nur  eins  wird  von  dem  Cliirurgen  von  Fach 
mehr  gefordert:  die  Kunst  des  Opcrirens.  Diese  hat,  Avie  jede  Kunst, 
ihre  Technik;  die  operative  Technik  basirt  wieder  auf  genauer  Kenutniss 
der  Anatomie,  auf  Hebung  und  persönlichem  Talent.  Auch  das  Talent 
für  die  Technik  kann  durch  ausdauernde  Uebung  ersetzt  werden.  Denken 
Sie  daran,  w^ie  Demosthenes  es  dahin  brachte,  die  Technik  der  Sprache 
zu  überwinden! 

Durch  diese  allerdings  nothweudige  Technik  ist  die  Chirurgie  lange 
Zeit  von  der  Medicin  im  engeren  Sinne  getrennt  gewesen;  historisch  lässt 
sich  verfolgen,  wie  diese  Trennung  entstand,  wie  sie  immer  mehr  sich 
praktisch  geltend  machte  und  erst  im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  wieder 
als  unzweckmässig  erkannt  und  beseitigt  wurde.  Schon  in  dem  Wort 
„Chirurgie"  ist  ausgedrückt,  dass  man  damit  ursprünglich  nur  das 
Technische  im  Auge  hatte,  denn  das  Wort  „Chirurgie"  kommt  von  xsiq 
und  y.Qyov\  die  wörtliche  Uebersetzung  ins  Deutsche  ist  „Haudwirlamg" 
oder  wie  es  mit  dem  im  Mittelalter  beliebten  Pleonasmus  hiess  „Hand- 
Wirkung  der  Chirurgie." 

So  wenig  es  im  Zwecke  dieser  Vorlesungen  Hegt,  Ihnen  einen  voll- 
ständigen Abriss  der  Geschichte  der  Chirurgie  zu  geben,  so  scheint  es 
mir  doch  von  Wichtigkeit  und  von  Interesse,  wenn  ich  Ihnen  eine  flüch- 
tige Skizze  von  der  äusseren  und  inneren  Entwicklung  unserer  Wissen- 
schaft gebe,  aus  der  Ihnen  manche  der  noch  jetzt  bestehenden,  in  den 
verschiedenen  Staaten  verschiedenen  Einrichtungen,  das  sogenannte  „Heil- 

1* 


4  Einleitung. 

personal"  betreffend,  erklärlich  werden.  Eine  eingehendere  Geschichte 
der  Chirurg'ie  kann  Ihnen  erst  später  von  Nutzen  sein,  wenn  Sie  schon 
etwas  Einsiclit  in  den  Werth  und  Unwerth  gewisser  Systeme,  Methoden 
und  Operationen  gewonnen  haben.  Sie  werden  dann  besonders  in  Betreff 
der  operativen  Chirurgie  den  Schlüssel  für  manches  Ueberraschende  und 
für  manche  abgeschlossene  Erfahrung,  auch  für  viele  Unvollkommenheiten 
in  der  geschichtlichen  Entwicklung  der  Wissenschaft  finden.  Mancherlei, 
was  zum  Verständniss  durchaus  nothwendig  ist,  werde  ich  Ihnen  bei  den 
verschiedenen  zu  besprechenden  Krankheiten  gelegentlich  mittheilen ;  vor 
der  Hand  will  ich  nur  einige  Hauptmomente  aus  dem  Entwicklungsgang 
der  Chirurgie  und  des  chirurgischen  Standes  anführen. 

Bei  den  Völkern  des  Alterthums  stand  die  Heilkuust  wesentlich  mit 
dem  religiösen  Cultus  in  Zusammenhang;  sowohl  bei  den  Indern,  Ara- 
bern, Aegyptern,  als  bei  den  Griechen  galt  die  Heilkunst  als  eine  den 
Priestern  von  der  Gottheit  gemachte  Offenbarung,  welche  sich  durch 
Tradition  weiter  verbreitete.  Ueber  das  Alter  der  vor  noch  nicht  langer 
Zeit  entdeckten  Sanscritschriften  waren  die  Philologen  nicht  immer  einer 
Meinung;  man  verlegte  ihre  Entstehung  früher  1000 — 1400  Jahre  vor 
Chr.,  jetzt  glaubt  man  sicher  zu  sein,  dass  sie  im  ersten  Jahrhundert 
der  christlichen  Zeitrechnung  geschrieben  sind.  Der  Ayur-Yeda  (^Buch 
der  Lebenskunde")  ist  das  für  die  Medicin  wichtigste  Sanscritwerk  und 
ist  von  Süsrutas  abgefasst;  gerade  dies  Werk  ist  sehr  wahrscheinlich 
erst  zur  Zeit  des  römischen  Kaisers  Augustus  entstanden.  Die  Heilkunde 
wurde  als  Ganzes  aufgefasst,  wie  aus  den  Worten  hervorgeht:  „Xur  die 
Vereinigung  der  Medicin  und  Chirurgie  bildet  den  vollkommenen  Arzt. 
Der  Arzt,  dem  die  Kenntniss  des  einen  dieser  Zweige  abgeht,  gleicht 
einem  Vogel  mit  nur  einem  Flügel."  Die  Chirurgie  war  zu  jener  Zeit 
zweifelsohne  der  weitaus  vorgeschrittenere  Theil  der  Heilkunst;  es  ist 
von  einer  grossen  Anzahl  ,von  Operationen  und  Instrumenten  die  Rede, 
doch  heisst  es  sehr  wahr,  „das  vorzüglichste  aller  Instrumente  ist  die 
Hand;"  die  Behandlung  der  Wunden  ist  einfach  und  zweckmässig;  mau 
kennt  bereits  die  meisten  chirurgischen  Krankheiten. 

Bei  den  Griechen  concentrirte  sich  der  Inbegriff'  alles  ärztlichen 
Wissens  zuerst  auf  den  Asklepios  (Aeskulap),  einen  Sohn  des  Apoll, 
einen  Schüler  des  Centauren  Chiron.  Dem  Asklepios  wurden  viele 
Tempel  gebaut,  und  bei  den  Priestern  dieser  Tempel  vererbte  sich  die 
Heilkunst  zunächst  durch  Tradition;  ■  es  entstanden  hier  schon  bei  den 
verschiedenen  Tempeln  verschiedene  Schulen  der  Asklepiaden,  und 
wenngleich  jeder,  der  als  Priester  des  Asklepios  in  den  Tempeldienst 
eintrat,  einen  bis  auf  unsere  Zeit  aufbewahrten  Eid  schwören  musste 
(dessen  Aechtheit  in  neuerer  Zeit  freilich  sehr  zweifelhaft  geworden  ist), 
dass  er  nur  den  Nachkommen  der  Priester  die  Heilkunst  lehren  wolle, 
so  gab  es  doch,  wie  dies  aus  verschiedenen  Umständen  hervorgeht,  schon 
damals  auch  andere  Aerzte  neben  den  Priestern,  ja  es  ergiebt  sich  aus 


Vorlpsnng   I.  5 

einer  Stelle  des  Eides,  dass  damals  schon  wie  heute  Aevzte  vorkamen, 
welche  sich  als  Specialisteu  nur  mit  einzelnen  Operationen  beschäftigten, 
denn  es  heisst  dort;  „niemals  werde  ich  ferner  den  8teinsclinitt  ausfüh- 
ren, sondern  das  den  Männern  dieses  Geschäfts  überlassen."  Genaueres 
über  die  verschiedenen  Arten  von  Aerzten  wissen  wir  erst  aus  der  Zeit 
des  Hippokrates;  er  war  einer  der  letzten  Asklepiaden,  wurde  460  v. 
Chr.  auf  der  Insel  Kos  geboren,  lebte  theils  in  Athen,  theils  in  thessa- 
lischen  Städten  und  starb  377  v,  Chr.  zu  Larissa.  Dass  zu  dieser  Zeit, 
wo  in  der  g-riecliischen  Wissenschaft  die  Namen  eines  Pythagoras, 
Plato,  Aristoteles  glänzten,  auch  die  Medicin  bereits  wissenschaftlich 
behandelt  wurde,  dürfen  wir  erwarten,  und  in  der  That  erregen  die 
Werke  des  Hippokrates,  von  denen  viele  bis  auf  unsere  Tage  erhalten 
sind,  unser  grösstes  Erstaunen.  Die  klare  Darstellung,  die  Anordnung 
der  ganzen  Materie,  die  hohe  Achtung  vor  der  Heilkunst  als  Wissenschaft, 
die  scharfe  kritisclie  Beobachtung,  welche  in  den  Werken  des  Hippo- 
krates Avalten  und  uns  auch  auf  diesem  Gebiet  zur  Bewunderung  und 
Verehrung  des  alten  Griechenthums  liinreisseu,  zeigen  deutlieh,  dass  es 
sich  hier  nicht  um  gläubiges  Nachbeten  überkommener  medicinischer 
Dogmen  handelt,  sondern  dass  es  bereits  eine  wissenschaftlicli  und  künst- 
lerisch ausgebildete  Heilkunde  gab.  In  der  Hippokratischen  Schule 
bildete  die  Heilkunde  ein  Ganzes;  Medicin  und  Chirurgie  waren  verbunden; 
indess  bestand  das  ärztliclie  Personal  bereits  aus  verschiedenen  Klassen: 
es  gab  ausser  den  Asklepiaden  auch  andere  sowohl  gebildete  Aerzte,  als 
mehr  handwerksmässig  unterrichtete  ärztliche  Gehülfen,  Gymnasten,  Quack- 
salber und  Wunderthäter;  die  Aerzte  nalimen  Schüler  an  zur  Belehrung 
in  der  Heilkunst;  auch  gab  es  nach  einigen  Bemerkungen  des  Xenophon 
schon  besondere  Aerzte  beim  Heere,  zumal  in  den  Perserkriegen;  sie 
hatten  nebst  den  Wahrsagern  und  Flötenspielern  ihre  Stelle  in  der  Nähe 
des  königlichen  Zeltes.  Dass  in  einer  Zeit,  wo  so  viel  auf  die  Schön- 
heit des  Körpers  gegeben  wurde,  wie  bei  den  Griechen,  den  äusseren 
Schäden  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet  wurde,  ist  leicht  begreif- 
lich ;  die  Lehre  von  den  Knochenbrüchen  und  Verrenkungen  ist  daher 
bei  den  Aerzten  der  Hippokratischen  Zeit  besonders  ausgebildet,  doch 
auch  von  manchen  schwierigen  Operationen  wird  berichtet,  so  wie  von 
einer  grossen  Anzahl  von  Instrumenten  und  sonstigen  Apparaten.  In 
Betreif  der  Amputationen  scheint  man  freilich  sehr  zurück  gewesen  zu 
sein;  wahrscheinlich  starben  die  meisten  Hellenen  lieber,  als  dass  sie 
verstümmelt  ihr  Leben  weiter  fristeten;  nur  wenn  das  Glied  bereits  ab- 
gestorben, brandig  war,  wurde  es  entfernt. 

Die  Lehren  des  Hippokrates  konnten  vorläufig  nicht  weiter  aus- 
gebildet w^erden,  weil  dazu  die  Entwicklung  der  Anatomie  und  Physio- 
logie nothwendig  war;  zwar  geschah  in  dieser  Kichtung  ein  schwacher 
Aufschwung  in  der  Gelehrten -Schule  in  Alexandrien,  die  manche  Jahr- 
hunderte unter  den  Ptolemäern  blühte,  und  durch  welche  nach  den  Siegen 


Q  Einleitung. 

des  grossen  Alexandei-  der  gTiechische  Geist  wenigstens  in  einen  Theil 
des  Orients,  wenn  auch  vorübergeliend,  verpflanzt  wurde;  indess  die 
Alexandrinischen  Aerzte  verloren  sieh  bald  in  philosophische  Systeme 
und  förderten  die  Heilkunde  nur  wenig  durch  eigene  neue  anatomische 
Beobachtungen.  In  dieser  Schule  wurde  die  Heilkunde  zuerst  in  drei  ge- 
trennten Theilen  bearbeitet  als  Diätetik,  innere  Medicin  und  Chirurgie.  — 
Mit  der  griechischen  Cultur  kam  auch  die  griechische  Heilkunst  nach 
Eom ;  die  ersten  römischen  Heilkünstler  waren  griechische  Sklaven ;  den 
Freigelasseneu  unter  ihnen  wurde  gestattet,  Bäder  zu  errichten,  und  in 
den  öffentlichen  Bädern  ihre  Kunst  auszuüben;  hier  treten  zuerst  die 
Barbiere  und  Bader  als  unsere  Rivalen  und  Collegen  auf,  und  diese 
Gesellschaft  schadete  dem  ärztlichen  Ansehn  in  Rom  lange  Zeit  hindurch. 
Erst  nach  und  nach  bemächtigten  sich  die  philosophisch  Gebildeten  der 
Schriften  des  Hippokrates  und  der  Alexandriner,  und  übten  dann 
selbst  auch  die  Heilkunde  aus,  ohne  jedoch  wesentlich  Neues  hinzuzu- 
bringen. Die  grösste  Impotenz  eigner  wissenschaftlicher  Production 
zeigt  sich  dann  in  dem  encyclopädischen  Ueberarbeiten  der  verschieden- 
artigsten wissenschaftlichen  Werke.  Das  berühmteste  Werk  dieser  Art 
ist  das  von  Aulus  Cornelius  Celsus  (von  25—30  vor  Chr.  bis  45—50 
nach  Chr.,  zur  Zeit  der  Kaiser  Tiberius  und"  Claudius)  .,de  artibus^ ; 
es  sind  davon  acht  Bücher  „de  medicina"  auf  unsere  Zeit  gekommen, 
aus  welchen  wir  den  Zustand  der  damaligen  Medicin  und  Chirurgie 
kenneu  lernen.  So  werthvoll  diese  Reliquien  aus  dem  Römerthum 
sind,  so  stellen  sie  doch,  wie  gesagt,  nur  ein  Compendium  dar,  Avie  sie 
auch  heute  noch  häufig  geschrieben  werden;  es  ist  sogar  bestritten  Avor- 
den,  dass  Celsus  selbst  Arzt  war  und  die  Medicin  ausübte;  dies  ist 
aber  sehr  unwahrscheinlich;  man  muss  dem  Celsus  nach  der  Art  seiner 
Darstellung  jedenfalls  eignes  Urtheil  zugestehen;  das  siebente  und  achte 
Buch,  in  denen  die  Chirurgie  enthalten  ist,  würde  wohl  Niemand  so  klar 
geschrieben  haben,  der  gar  nichts  von  seinem  Gegenstande  praktisch  ver- 
standen hätte.  Man  sieht  daraus,  dass  die  Chirurgie,  zumal  der  operative 
Theil,  seit  Hippokrates  und  den  Alexandrinern  nicht  unerhebliche 
Fortschritte  gemacht  hatte.  Celsus  spricht  schon  von  plastischen  Ope- 
rationen, von  den  Hernien  und  giebt  eine  Amputationsmethode  an,  die 
heute  noch  zuweilen  geübt  wird.  Sehr  berühmt  ist  eine  Stelle  aus  dem 
siebenten  Buche  geworden,  in  welcher  er  die  Eigenschaften  des  voll- 
kommenen Chirurgen  schildert;  da  dieselbe  ein  Zeugniss  für  den  im 
Ganzen  tüchtigen  Geist  ist,  welcher  in  dem  Buche  herrscht,  so  theile 
ich  Ihnen  dieselbe  mit: 

„Esse  autem  chirurgus  debet  adolescens,  aut  certe  adolescentiae 
propior,  manu  strenua,  stabili,  nee  unquam  iutremiscente,  eaque  non 
minus  dextra  ac  sinistra  promptus,  acie  oculorum  acri  claraque,  animo 
intrepidus,  immisericors,  sie,  ut  sanari  velit  eum,  quem  accipit,  non  ut 
clamore  ejus  motus  vel  magis,  quam  res  desiderat,  properet,  vel  minus. 


Vorlesung   T.  7 

quam  necesse  est;  secet:  perindc  faciat  onmia,  ac  si  niülus  ex  vagitibus 
alterius  adfectus  oriretur." 

Die  cliirurg'isclien  Instrumente,  welche  man  in  dem  wenige  Jahr- 
zehnte nach  Celsus  verschütteten  Pompeji  fand,  beweisen,  dass  die 
technische  Ausbildmig  der  operativen  Hülfsmittel  damals  bereits  sehr 
entwickelt  war;  die  Pinzetten,  Zangen,  Messer,  Scheeren,  Specula,  Ca- 
theter,  Avelche  im  Museum  in  Neapel  aufbewahrt  werden,  sind  von 
Bronce  sehr  zierlich  und  zweckmässig  gearbeitet.  Es  machte  mir  einen 
eingenthümlichen  Eindruck,  dieses  bald  2000  Jahre  alte  armamentarium 
chirurgicum  eines  römischen  Collegen  vor  mir  zu  sehen,  welches  sich 
in  den  Formen  der  gebräuchlichsten  Instrumente  wenig  von  denen 
unserer  Zeit  unterscheidet.     Ars  longa,  vita  brevis ! 

Als  eine  der  glänzendsten  Erscheinungen  unter  den  römischen  Aerzten 
muss  Claudius  Galenus  (131—201  nach  Chr.)  bezeichnet  werden;  es 
sind  83  unzweifelhaft  ächte  medicinische  Schriften  von  ihm  auf  uns  ge- 
kommen. Galen  ging  wieder  auf  die  Grundsätze  des  Hippokrates 
zurück,  nämlich  dass  die  Beobachtung  die  Grundlage  der  Heilkunst  sein 
müsse,  und  förderte  zumal  die  Anatomie  in  bedeutendster  Weise;  er 
benutzte  besonders  Leichen  von  Affen  zur  Section,  selten  menschliche 
Leichen.  Die  Anatomie  des  Galen,  sowie  überhaupt  das  ganze  philo- 
sophische System,  in  welches  er  die  Medicin  brachte,  und  welches  ihm 
doch  höher  stand,  als  die  Beobachtung  selbst  —  haben  über  1000  Jahre 
als  allein  richtig  gegolten.  Seine  Bedeutung  für  die  Geschichte  der 
Medicin  ist  eine  ungeheure;  die  Chirurgie  speciell  förderte  er  wenig,  übte 
sie  auch  wohl  wenig  aus,  da  es  zu  seiner  Zeit  schon  besondere  Chirurgen 
gab,  theils  Gymnasten,  theils  Bader  und  Barbiere,  und  damit  leider 
die  Chirurgie  sich  vorwiegend  handwerksmässig  durch  Tradition  ver- 
breitete, während  die  innere  Medicin  in  den  Händen  der  philosophisch 
gebildeten  Aerzte  war  und  für  lange  Zeit  blieb;  diese  kannten  und 
commentirten  freilich  auch  die  chirurgischen  Schriften  des  Hippokrates, 
der  Alexandriner  und  des  Celsus,  doch  befassten  sie  sich  wenig  mit 
chirurgischer  Praxis.  —  Wir  könnten  jetzt,  da  es  sich  hier  nur  um  eine 
flüchtige  Skizze  handelt,  viele  Jahrhunderte-,  ja  über  ein  Jahrtausend 
überspringen,  in  welchem  Zeitraum  die  Chirurgie  fast  gar  keine  Fort- 
schritte, zum  Theil  sogar  bedeutende  Eückschritte  machte.  Die  Byzan- 
tinische Zeit  des  Kaiserthums  war  der  Ausbildung  der  Wissenschaften 
überhaupt  ungünstig,  kaum  dass  es  zu  einem  kurzen  Wiederaufblühen 
der  Alexandrinischen  Schule  kam.  Selbst  die  berühmtesten  Aerzte  der 
spätrömischen  Zeit,  wie  Antyllus  (im  3.  Jahrhundert),  Oribasius 
(326—403  nach  Chr.),  Alexander  von  Tr alles  (525—605  nach  Chr.), 
Paulus  von  Aegiua  (660),  leisteten  relativ  wenig  in  der  Chirurgie. 
Für  die  äussere  Stellung  der  Aerzte  und  ihre  schulgemässe  Ausbildung 
war  Manches  geschehen:  es  gab  unter  Nero  ein  Gymnasium,  unter  Ha- 
drian  ein  Athenaeum,  wissensch?iftlicbe  Anstalten,  in  denen  auch  Mediciu 


g  Einleitung. 

g-elehrt  wurde,  imter  Trajan  eine  besondere  Scbola  medicorura.  Das 
Militärmedicinalwesen  wurde  unter  den  Römern  g-epfleg't,  auch-  gab  es 
besondere  Hofärzte  „Archiatri  palatini"  mit  dem  Titel  „Perf'ectissimus", 
„Eques"  oder  „Comes  arcbiatrorum",  wie  in  unseren  Zeiten  die  Hofräthe, 
Geheimerätbe,  Leibärzte,  Ordensritter  u.  s.  w.  Dass  in  der  Folge  mit  dem 
Verfall  der  Wissenschaften  im  Byzantiuiscben  Reich  die  Heilkunst  nicht 
ganz  entartete,  verdanken  wir  den  Arabern.  Der  ungeheure  Aufschwung;, 
welchen  dies  Volk  mit  Mohamed  vom  Jahre  608  an  nahm,  trug  auch 
zur  Erhaltung  der  Wissenschaft  viel  bei.  Durch  die  Alexandrinische 
Schule  und  ihre  Ausläufer  in  den  Orient,  die  Schule  der  Nestorianer, 
war  die  Hippokratische  Heilkunst  in  ihrer  späteren  Ausbildung  zu  den 
Arabern  gelangt;  diese  pflegten  sie  und  brachten  sie  über  Spanien, 
wenn  auch  in  etwas  veränderter  Form,  wieder  nach  Europa  zurück, 
bis  ihrer  Herrschaft  durch  Carl  Martell  ein  Ende  gemacht  wurde.  Als 
die  berühmtesten,  auch  für  die  Chirurgie  wichtigen  arabischen  Aerzte, 
von  denen  uns  Schriften  aufbewahrt  sind,  gelten  Rhazes  (850—932), 
Avicenna  (980—1037),  Abulcasem  (f  1106);  und  Avenzoar  (f  1162); 
die  Schriften  der  beiden  letzteren  sind  für  die  Chirurgie  am  bedeutendsten. 
Die  operative  Chirurgie  litt  durch  die  Blutscheu  der  Araber,  di.e  theilweise 
ihren,  Grund  in  den  Gesetzen  des  Koran  hat,  in  hohem  Maasse;  dafür  wird 
das  Glüheisen  in  einer  x4usdehnung  angewendet,  wie  es  für  uns  kaum 
begreiflich  erscheint.  Die  Unterscheidung  der  chirurgischen  Krankheiten 
und  die  Sicherheit  in  der  Diagnostik  hat  bedeutend  zugenommen.  Die 
wissenschaftlichen  Institute  werden  bei  den  Arabern  bereits  sehr  cultivirt; 
am  berühmtesten  Avar  die  Schule  zu  Coi'dova;  auch  gab  es  an  vielen  Orten 
schon  öffentliche  Krankenhäuser.  Die  Ausbildung  der  Aerzte  Avar  nicht 
mehr  vorwiegend  Privatsache,  sondern  die  meisten  Schüler  der  Heilkunde 
mnssten  sich  au  wissenschaftlichen  Anstalten  ausbilden.  Dies  übte  auch 
seine  Wirkung  auf  die  Völker  des  Abendlandes;  neben  Spanien  war  es 
besonders  Italien,  wo  die  Wissenschaften  cultivirt  Avurden;  in  Süditalien 
entstand  eine  sehr  berühmte  medicinische  Schule,  nämlich  zu  Salerno, 
in  der  südlich  von  Neapel  so  Avunderbar  schön  gelegenen  noch  Jetzt 
herrlichen  Stadt  am  Meerbusen  von  Salerno ;  sie  Avurde  Avahrscheinlich 
802  von  Carl  dem  Grossen  constituirt  und  stand  etAva  im  12.  Jahrlnmdert 
in  der  höchsten  Blüthe;  nach  den  neuesten  Forschungen  Avar  es  keine 
Mönchschule,  sondern  alle  Lehrer  Avaren  Laien,  auch  gab  es  Lelirerinnen, 
die  schriftstellerisch  thätig  Avaren;  die  bekannteste  von  diesen  ist  Trotula. 
Originelle  Forschungen  Avurden  dort  Avenig  oder  gar  nicht  betrieben, 
sondern  man  hielt  sich  an  die  Schriften  der  Alten.  Interessant  ist  diese 
Schule  auch  noch  dadurch,  dass  Avir  bei  dieser  Corporation  zuerst  das 
Recht  finden,  die  Titel  ..Doctor"  und  „IMagister"  zu  verleihen.  —  ]\[ehr 
und  mehr  nahmen  sich  bald  die  Kaiser  und  Könige  der  Wissenschaften 
an,  zumal  indem  sie  Universitäten  gründeten:  so  Avurden  1224  in  Neapel, 
1205  in  Paris,  1243  in  Salamanca,   1250  in  Pavia  und  Padua,  1348  in 


VurlesiiiiK    I.  9 

Prag"  Universitäten  oiiiiicriclilot  mid  ilmcu  das  IJcclit,  Jicudoniisclic  WUrdcn 
zu  verleihen,  zuertheilt.  Die  lMiil()so|)lnc  war  diejenige  Wissenschaft, 
welche  liauptsäclilicli  betrieben  wurde,  und  aucli  die  Medicin  behielt  nocli 
lange  Zeit  auf  den  Universitäten  ihr  philosophisclies  Kleid;  man  schloss 
sich  bald  dem  Galenischen,  bald  dem  arabischen,  l>ald  neuen  niedici nisch- 
philosophischen Systemen  an,  nnd  rcgistrirte  alle  Bcobaclitungen  in  die- 
selben hinein.  Dies  war  das  llauptliinderniss  für  den  Aufschwung  der 
Naturwissenschaften,  eine  geistige  Fessel,  der  sich  selbst  bedeutende 
Männer  nicht  entledigen  konnten.  Die  von  Mondino  de  Luzzi  1314  ver- 
fasste  iVnatomie  ist,  trotzdem  dass  der  Verfasser  sich  dabei  auf  die  Section 
einiger  menschlichen  Leichen  stützt,  wenig  von  der  des  Galen  abweichend. 
"Was  die  Chirurgie  betrifft,  so  ist  von  wesentlichen  Fortschritten  nicht 
die  Rede.  Lanfranchi  (f  1300),  Guido  von  Cauliaco  (im  Anfang- 
des  14.  Jahrhunderts),  Branca  (aus  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts)  sind 
einige  wenige  der  nennenswerthen  Namen  berühmter  Chirurgen  jener  Zeit. 
Bevor  Avir  nun  zu  dem  erfreulichen  Aufblühen  der  Naturwissen- 
schaften und  der  Medicin  im  16.  Jahrhundert  tibergehen,  müssen  wir 
noch  kurz  resümiren,  wie  sich  in  der  besprochenen  Zeit  der  ärztliche 
Stand  gliederte,  da  dies  für  die  Geschichte  desselben  von  Wichtigkeit 
ist.  Es  gab  zunächst  philosophisch  gebildete  Aerzte,  theils  Laien,  theils 
Mönche,  welclie  an  den  Universitäten  und  anderen  gelelirten  Schulen 
die  Medicin  lehrten,  d.  h.  die  Schriften  des  Alterthums,  anatomische, 
chirurgische  wie  speciell  medicinische  commentirten;  diese  prakticirten, 
übten  aber  wenig  chirurgische  Praxis  aus.  —  Ein  weiterer  Sitz  der 
Wissenschaften  war  in  den  Klöstern;  besonders  die  Benedictiner  be- 
schäftigten sich  viel  mit  Medicin,  und  übten  auch  chirurgische  Praxis, 
wenngleich  dies  von  den  Oberen  nicht  gern  gesehen  wurde  und  zuweilen 
specieller  Dispens  für  eine  Operation  nachgesucht  werden  musste.  — 
Die  eigentlichen  praktischen  Aerzte  waren  theils  sesshafte,  theils  fahrende 
Leute.  Erstere  waren  in  der  Eegel  an  wissenschaftlichen  Schulen  ge- 
bildet und  bekamen  die  Berechtigung  zur  Praxis  nur  unter  gewissen 
Bedingungen.  Kaiser  Friedrich  IL  erliess  1224  ein  Gesetz,  nach  welchem 
diese  Aerzte  drei  Jahre  „Logik",  d.  h.  Philosophie  und  Philologie,  dann 
fünf  Jahre  Medicin  und  Chirurgie  studirt  und  endlicli  noch  einige  Zeit 
unter  der  Aufsicht  eines  älteren  Arztes  prakticirt  haben  mussten,  bis  sie 
das  Recht  zur  Praxis  erhielten  oder,  wie  sich  ein  Examinator  vor  Kur- 
zem über  die  eben  patentirten  Aerzte  äusserte,  „bis  sie  auf's  Publicum 
losgelassen  wurden."  Ausser  diesen  sesshaften  Aerzten,  von  denen  ein 
grosser  Theil  Doctor  oder  Magister  war,  gab  es  dann  noch  eine  grosse 
Anzahl  „fahrender  Aerzte",  eine  Art  „fahrender  Schüler",  die  auf  einem 
Wagen  wohl  auch  in  Gemeinschaft  mit  einem  Hanswurst  die  Märkte  be- 
reisten und  ilire  Kunst  feil  boten.  Diese  Gattung  der  sogenannten  Charla- 
tans,  die  in  der  dramatischen  Poesie  des  Mittelalters  eine  grosse  Rolle 
spielten  und  noch  heute  auf  der  Bühne    mit  Jubel    vom  Publicum  be- 


10  Einleitung. 

gTüsst  Averden,  trieben  ein  g-ar  arges  Wesen  im  Mittelalter;  sie  waren 
„unehrlicli"  wie  die  Pfeifer,  die  Gaukler,  die  Scharfrichter;  noch  immer 
sind  diese  fahrenden  Schiller  nicht  ganz  ausgestorben,  wenngleich  sie 
im  19.  Jahrhundert  nicht  auf  den  Jahrmärkten,  sondern  in  den  Salons 
als  Wunderdoctoren ,  zumal  als  Krebsdoctoren,  Kräuterdoctoren,  Som- 
nambulisten  etc.  ihr  Wesen  treiben.  —  Fragen  wir  nun,  wie  verhielten 
sich  zu  dieser  gemischten  Gesellschaft  diejenigen  Leute,  welche  chirurgische 
Praxis  trieben,  so  wurde  dieser  Zweig  der  Medicin  zunächst  fast  von 
allen  den  Genannten  gelegentlich  ausgeübt,  doch  gab  es  besondere 
chirurgische  Aerzte,  welche  sich  zu  Innungen  zusammenthaten  und  eine 
ehrliche  bürgerliche  Zunft  bildeten ;  sie  holten  sich  ihr  praktisches  Wissen 
zuerst  von  dem  Meister,  zu  dem  sie  in  die  Lehre  gingen,  später  theils 
aus  Büchern,  theils  an  wissenschaftlichen  Anstalten.  Diese  Leute,  meist 
sesshaft,  zum  Theil  aber  auch  als  „Bruchschneider",  „Steinschneider", 
„Oculisten"  in  der  Welt  herumreisend,  hatten  vorzüglich  die  chirurgisch- 
operative Praxis  in  Händen;  wir  werden  später  unter  diesen  Altmeistern 
unserer  Kunst  vortreffliche  Männer  kennen  lernen.  Ausser  ihnen  trieben 
aber  die  „Bader"  und  später  auch  die  „Barbiere",  wie  bei  den  Eömern, 
chirurgische  Praxis  und  waren  für  die  „kleine  Chirurgie"  gesetzlich 
berechtigt,  d.  li.  sie  durften  schröpfen,  zur  Ader  lassen,  Beinbrüche  und 
Verrenkungen  behandeln.  —  Dass  sich  bei  den  verschiedenen  kaum 
immer  genau  zu  beschränkenden  Gerechtsamen  dieser  einzelnen  ärzt- 
lichen Stände  viel  Streitigkeiten,  zumal  in  grossen  Städten,  wo  sich 
alle  Gattungen  von  Aerzten  zusammenfanden,  einstellten,  ist  begreiflich. 
Besonders  war  dies  in  Paris  der  Fall.  Die  dortige  Chirurgenzunft,  das 
„College  de  St.-Come",  wollte  die  gleichen  Eechte  haben,  wie  die  Mit- 
glieder der  medicinischen  Facultät,  vorzüglich  strebten  sie  nach  dem 
Baccalaureat  und  Licentiat.  Die  „Barbier-  und  Baderzunft"  wollte  wieder 
die  ganze  Chirurgie  betreiben,  wie  die  Mitglieder  des  College  de  St.- 
Come;  um  nun  die  letzteren,  nämlich  die  Chirurgen  zu  drücken,  be- 
förderten die  Facultätsmitglieder  die  Wünsche  der  Barbiere,  und  trotz 
gegenseitiger  zeitweiliger  Compromisse  dauerten  die  Streitigkeiten  fort, 
ja  man  kann  sagen,  sie  dauern  noch  heute  da  fort,  wo  es  chirurgi  puri 
(Chirurgen  erster  Klasse  und  Barbiere)  und  medici  puri  giebt;  erst  etwa 
seit  einem  Decennium  ist  in  allen  deutschen  Staaten  dieser  Stände- 
unterschied dadurch  aufgehoben,  dass  weder  chirurgi  puri  noch  medici 
puri  patentirt  werden,  sondern  nur  Aerzte,  welche  Medicin,  Chirurgie  und 
Geburtshtilfe  zugleich  betreiben.  —  Um  hier  gleich  mit  der  äusserlichen 
Stellung  der  Aerzte  abzuschliessen,  sei  bemerkt,  dass  nur  in  England  noch 
eine  ziemlich  strenge  Grenze  zwischen  Chirurgen  (surgeous)  und  Aerzten 
(physicians)  besteht,  zumal  in  den  Städten,  während  auf  dem  Lande 
die  „general  practitioners"  Chirurgie  und  Medicin  zugleich  treiben  und 
auch  zugleich  eine  Apotheke  haben.  —  In  Deutschland,  in  der  Schweiz 
und   auch  in  Frankreich   macht   es   sich  durch   die  Umstände  oft  von 


Vorlesung  1.  11 

selbst,  class  ein  Arzt  mehr  ('liinirgisclie  als  mcdicinische  Praxis  treibt; 
das  männliche  Heilpersonal  besteht  aber  gesetzlicli  nur  aus  Aerzten 
und  Heilgehülfcn  oder  Bar1)ier- Chirurgen,  welche  für  Schr()pfen,  Ader- 
lässen etc.  patentirt  werden,  wenn  sie  das  gesetzliche  Examen  gemacht 
haben.  Diese  Einrichtung-  ist  denn  endlich  auch  in  die  Organisation  der 
Heere  übergegangen,  in  denen  die  sogenannten  Compagnie- Chirurgen 
mit  Feldwebelrang  früher  eine  traurige  Rolle  unter  den  Bataillons-  und 
Regiments- Aerzten  spielten.  Seit  Kurzem  ist  im  Deutschen  Reich  die 
ärztliche  Praxis  ganz  frei  gegeben,  d.  h.  es  kann  jeder  ärztlichen  Rath 
ertheilen  und  sich  dafür  zahlen  lassen,  der  will;  es  bleibt  den  vom  Staat 
Geprüften  nur  das  Recht,  sich  ..praktischer  Arzt"  zu  nennen;  das  kranke 
Publikum  kann  nun  frei  wählen,  ob  es  sich  an  einen  solchen  oder  an 
irgend  einen  Andern  wenden  will. 

Nehmen  wir  jetzt  wieder  den  Faden  der  geschichtlichen  Entwicklung 
der  Chirurgie  auf,  so  müssen  wir,  indem  wir  in  die  Zeit  der  „Renais- 
sance" im  16.  Jahrhundert  eintreten,  vor  Allem  des  grossen  Umschwungs 
gedenken,  welcher  sich  damals  in  fast  allen  Wissenschaften  und  Künsten 
unter  Vermittlung  der  Reformation,  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst 
und  des  erwachenden  kritischen  Geistes  in  den  Culturstaaten  vollzog. 
Es  begann  die  Naturbeobachtung  wieder  in  ihr  Recht  zu  treten  und  sich 
von  den  Fesseln  der  Scholastik,  wenn  auch  langsam  und  allmählig,  zu 
lösen;  die  Forschung  nach  Wahrheit,  als  das  eigentliche  Wesen  der 
Wissenschaft,  trat  wieder  in  ihre  Rechte!  der  Hippokratische  Geist 
erwachte  wieder.  Vor  Allem  war  es  die  Wiederbelebung,  man  kann  fast 
sagen,  die  Wiederentdeckung  der  Anatomie,  und  die  von  nun  an  rastlos 
fortschreitende  Ausbildung  dieser  Wissenschaft,  welche  den  Boden  ebnete. 
Vesal  (1513—150-1),  Falopia  (1532—1562),  Eustachio  (f  1579)  wur- 
den die  Begründer  unserer  heutigen  Anatomie;  ihre  wie  manche  andere 
Namen  sind  Ihnen  aus  den  Benennungen  einzelner  Körpertheile  schon 
bekannt.  Der  skeptisch-kritische  Ton  wurde  dem  herrschenden  Galenischen 
und  arabischen  System  gegenüber  besonders  durch  den  berühmten  Bom- 
bastus  Theophrastus  Paracelsus  (1493 — 1554)  angeschlagen  und 
die  Erfahrung  als  Ilauptquelle  des  medicinischen  Wissens  hingestellt.  Als 
endlich  William  Harvey  (1578 — 1658)  den  Kreislauf  des  Blutes  und 
Aseli  (1581 — 1626)  die  Lymphgefässe  entdeckte,  rausste  die  alte  Anatomie 
und  Physiologie  vollkommen  zurückweichen  und  den  Platz  der  modernen 
Wissenschaft  einräumen,  die  von  nun  an  sich  continuirlich  bis  auf  unsere 
Tage  erweiterte.  Lange  sollte  es  freilich  noch  dauern,  ehe  die  prak- 
tische Medicih  in  ähnlicher  Weise  wie  Anatomie  und  Physiologie  sich 
vom  philosophischen  Zwang  befreite.  Systeme  wurden  auf  Systeme  ge- 
baut, mit  der  jedesmal  herrschenden  Philosophie  wechselten  auch  die 
Theorieen  der  Medicin  immer  wieder  von  Neuem,  Man  kann  sagen, 
dass  erst  mit  dem  bedeutenden  Aufschwung  der  pathologischen  Anatomie 
in  unserem  Jahrhundert  die  praktische  Medicin  den  festen  auatomiscli- 


12  Einleitung. 

pliYsiologischen  Boden  gewonnen  hat,  aof  dem  sie  sicli  "svenigstens  im 
Ganzen  und  Grossen  jetzt  bewegt,  und  der  einen  mächtigen  Hchutzwall 
gegen  alle  philosophisch-medicinischen  Systeme  bildet.  Auch  diese  ana- 
tomische Richtung  bringt  freilich  die  Gefahren  der  Uebertreibung  und 
Einseitigkeit  mit  sich!    Wir  sprechen  später  gelegentlich  davon. 

Jetzt  wollen  wir  unsere  Aufmerksamkeit  der  wissenschaftlichen  Ent- 
wicklung der  Chirurgie  vom  16.  Jahrhundert  an  bis  auf  unsere  Tage 
ungetheilt  widmen. 

Es  ist  ein  interessanter  Zug  jener  Zeit,  dass  die  Förderung  der 
praktischen  Chirurgie  wesentlich  von  den  zunftmässigen  Chirurgen  ausging, 
weniger  von  den  gelehrten  Professoren  der  Chirurgie  an  den  Universitäten. 
Die  deutschen  Chirurgen  rnussten  sich  ihr  Wissen  meist  von  ausländi- 
schen Universitäten  holen,  verarbeiteten  dasselbe  aber  zum  Theil  in  ganz 
origineller  Weise;  Heinrich  von  Pfolsprundt,  Bruder  des  Deutschen 
Ordens  (geb.  Anfang  des  15.  Jahrhunderts),  Hieronymus  Brunschwig 
(geb.  1430),  „gebürtig  von  Strassburg,  des  Geschlechts  von  Salern",  Hans 
von  Gersdorf  (um  1520),  Felix  Würtz  (f  1576),  Wundarzt  zu  Basel, 
sind  hier  zunächst  zu  nennen;  von  Allen  besitzen  wir  Schriften;  Felix 
Würtz  scheint  mir  von  ihnen  der  originellste  zusein,  er  ist  ein  scharfer, 
kritischer  Kopf.  Bedeutender  in  ihren  Kenntnissen  sind  dann  schon 
Fabry  von  Hilden  (1560 — 1634),  Stadtarzt  zu  Bern,  und  Gottfried 
Purman  (1674—1679),  Wundarzt  zu  Halberstadt  und  Breslau.  Diese 
Männer,  in  deren  Schriften  sich  eine  hohe  Begeisterung  für  ihre  Wissen- 
schaft ausspricht,  kannten  vollkommen  den  Werth  und  die  unbedingte 
Nothwendigkeit  genauer  anatomischer  Kenntnisse,  und  förderten  diese 
durch  Schriften  und  privaten  Unterricht  an  ihre  Schüler  und  Gehülfen 
nach  Kräften. 

Unter  den  französischen  Chirurgen  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
glänzt  vor  Allen  Ambroise  Pare  (1517 — 1590);  ursprünglich  nur  Bar- 
bier, wurde  er  später  wegen  seiner  grossen  Verdienste  in  die  Chirurgen- 
Innung  des  St.-Come  aufgenommen;  er  war  sehr  viel  als  Feldarzt  thätig, 
war  oft  auf  Consultations-Eeisen  beschäftigt  und  lebte  zuletzt  in  Paris. 
Pare  förderte  die  Chirurgie  durch  eine  für  die  damalige  Zeit  sehr  scharfe 
Kritik  der  Behandlung,  zumal  auch  des  enormen  Wustes  abenteuerlicher 
Arzneimittel;  einzelne  seiner  Abhandlungen,  z.  B.  über  die  Behandlung 
der  Schusswunden,  sind  durchaus  klassisch;  durch  die  Einführung  der 
Unterbindung  blutender  Gefässe  bei  Amputationen  hat  er  sich  unsterblich 
gemacht;  Pare  kann  als  Reformator  der  Chirurgie  dem  Vesal  als 
Reformator  der  Anatomie  an  die  Seite  gestellt  werden. 

Die  Arbeiten  der  genannten  Männer,  an  die  sich  Andere  mehr  oder 
minder  begabte  anschlössen,  wirkten  bis  in's  17.  Jahrhundert  hinein,  und 
erst  im  18.  finden  wir  neue  wichtige  Fortschritte.  —  Die  Streitigkeiten 
zwischen  den  Mitgliedern  der  Facultät  und  denjenigen  des  College  de 
St.-Come  dauerten  in  Paris  fort;   die  hervorragendsten  Persönlichkeiten 


VorlosmiK    1-  13 

des  letzteren  leisteten  entschieden  nielir  als  die  Professoren  der  Cliirnri^ie. 
Dies  wurde  endlich  auch  factisch  dadurch  anerkannt,  dass  im  Jahre  1731 
eine  „Akademie  der  Chirurgie"  gegründet  wurde,  welche  in  jeder  Bezie 
liung  der  medieinischen  Facultät  gleichgestellt  war.  Dies  Institut  schwang 
sich  bald  zu  einer  solchen  Höhe  auf,  dass  es  die  ganze  Chirurgie 
Europa's  fast  ein  Jahrhundert  hindurch  beherrschte;  diese  Erscheinung 
war  nicht  isolirt,  sondern  hing  eben  mit  dem  allgemeinen  französischen 
Einfluss  zusammen,  mit  jener  geistigen  Universalherrschaft,  welche  die 
französische  Wissenschaft  und  Kunst  damals  mit  Recht  durch  ihre  emi- 
nenten Leistungen  erworben  hatte. 

Die  Männer,  welche  damals  an  der  Spitze  der  Bewegung  in  der 
chirurgischen  Wissenschaft  standen,  sind  Je  au  Loui  s  Petit  (1674 — 1766), 
Pierre  Jos.  Desault  (1744 — 1795),  Pierre  Fran^ois  Percy 
(1754 — 1825)  und  viele  Andere  in  Frankreich.  In  Italien  wirkte  vor 
Allen  Scarpa  (1748  — 1832).  Schon  im  17.  Jahrhundert  hatte  die 
Chirurgie  sich  auch  in  England  mächtig  entw^ickelt,  und  erreichte  im 
18.  Jahrhundert  eine  bedeutende  Plöhe  mit  Percival  Pott  (1713 — 1768), 
William  und  John  Hunter  (1728— 1793),  Benjamin  Bell  (1749— 1806), 
William  Cheselden  (1688-1752),  Alex.  Monro  (1696—1767)  u.  A. 
Unter  diesen  war  John  Hunter  das  grösste  Genie,  ebenso  bedeutend 
als  Anatom,  wie  als  Chirurg;  sein  Werk  über  Entzündung  und  Wunden 
liegt  noch  vielfach  unseren  heutigen  Anschauungen  zu  Grunde.  —  Im 
Verhältniss  zu  dem  Glanz  dieser  Namen  müssen  diejenigen  der  deutschen 
Chirurgen  des  18.  Jahrhunderts  bescheiden  zurücktreten,  so  redlich  und 
ernst  auch  das  Streben  der  Letzteren  war.  Lorenz  Heister  (1683— 1758), 
Joh.  Ulrich  Bilguer  (1720—1796),  Chr.  Ant.  Thedeu  (1719—1797) 
sind  die  relativ  bedeutendsten  deutschen  Chirurgen  dieser  Zeit.  Mehr 
Aufschwung  bekommt  die  deutsche  Chirurgie  erst  mit  dem  Eintritt  in 
unser  Jahrhundert.  Carl  Casp.  v.  Siebold  (1736—1807),  August 
Gottlob  Richter  (1742 — 1812)  sind  ausgezeichnete  Männer;  ersterer 
wirkte  als  Professor  der  Chirurgie  in  Wtirzburg,  letzterer  in  Göttingen; 
von  den  Schriften  Richter' s  sind  einige  bis  auf  unsere  Tage  Averthvoll 
geblieben,  besonders  sein  kleines  Buch  über  die  Brüche. 

Sie  sehen  hier  an  der  Schwelle  unsres  Jahrhunderts  wieder  Pro- 
fessoren der  Chirurgie  in  den  Vordergrund  treten,  und  fortan  behaupten 
sie  ihre  Stellung,  weil  sie  wirklich  jetzt  die  Chirurgie  praktisch  ausübten; 
ein  Vorgänger  des  alten  Richter  in  der  Professur  der  Chirurgie  zu 
Göttingen,  der  berühmte  Albert  Hall  er  (1708—1777),  zugleich  Phy- 
siolog  und  Dichter,  einer  der  letzten  Polyhistoren,  sagt:  „Etsi  Chirurgiae 
cathedra  per  septemdecim  annos  mihi  concredita  fuit,  etsi  in  cadaveribus 
difficillimas  administrationes  chirurgicas  frequenter  ostendi,  non  tamen 
unquam  vivuni  hominem  incidere  sustinui,  uimis  ne  nocerem  veritus." 
Für  uns  ist  dies  kaum  begreiflich;  so  ungeheuer  ist  der  Umschwung, 
den  die  kurze  Spanne  Zeit  eines  Jahrhunderts  mit  sich  bringt. 


]^^  Einleitung. 

Auch  im  Anfang  unsres  Jahrlmuderts  bleiben  die  franzüsiselien 
Chirurg-en  noch  am  Ruder:  Bover  (1757— 1&33),  Delpeeh  (1777—1832), 
besonders  Dupuytren  (1777  — 1835)  und  Jean  Dominique  Larey 
(1776 — 1842)  übten  einen  fast  unbeschränkten  aufgeklärten  Absolutismus 
in  ihrer  Kunst.  Neben  ihnen  erhob  sich  in  England  die  unangreifbare 
Autorität  des  Sir  Asthley  Cooper  (1768  — 1841).  Larey,  der  stete 
Begleiter  Napoleon's  I.,  hinterliess  eine  grosse  Menge  von  Werken; 
seine  Memoiren  werden  Sie  später  mit  dem  grössten  Interesse  lesen; 
Dupuytren  wirkte  vorwiegend  durch  seine  höchst  geistvollen  und  gediege- 
nen Vorträge  am  Krankenbett.  Cooper 's  Monographien  und  Vorlesungen 
werden  Sie  mit  Bewunderung  erfüllen.  Uebersetzungen  der  Schriften 
der  genannten  französischen  und  englischen  Chirurgen  regten  zunächst 
die  deutsche  Chirurgie  an;  bald  aber  trat  auch  hier  eine  selbstständige 
Verarbeitung  des  Stoffes  in  der  gediegensten  Form  auf.  Die  Männer, 
welche  den  nationalen  Aufschwung  der  deutschen  Chirurgie  ins  Leben 
riefen,  waren  unter  Anderen  Vi ncenz  von  Kern  in  Wien  (1760 — 1829), 
Job.  Nep.  Rust  in  Berlin  (1775-1840),  Philipp  von  Walther 
(1782—1849)  in  München,  Carl  Ferd.  von  Graefe  (1787—1840)  in 
Berlin,  Conr.  Job.  Martin  Langeubeck  (1776 — 1850)  in  Göttingen, 
Job.  Friedrich  Dieffenbach  (1795—1847),  Cajetan  von  Textor  in 
Würzburg  (1782-1860). 

Je  mehr  wir  uns  der  Mitte  unsres  Jahrhunderts  nähern,  um  so  mehr 
schwinden  die  schroifen  Gränzen  der  Nationalitäten  auf  dem  Gebiete  der 
Chirurgie.  Mit  der  Zunahme  der  Communicationsmittel  verbreiten  sich 
auch  alle  Fortschritte  der  Wissenschaft  mit  ungeahnter  Schnelligkeit  über 
die  ganze  civilisirte  Welt.  Zahllose  Zeitschriften,  nationale  und  inter- 
nationale ärztliche  Congresse,  persönliche  Berührungen  mannigfachster 
Art  haben  einen  regen  Verkehr  auch  der  Chirurgen  unter  einander  her- 
vorgebracht. Die  Schulen,  im  älteren  engeren  Sinne  des  Wortes  an  einzelne 
hervorragende  Männer  oder  an  Gruppen  von  solchen  an  einem  Orte  ge- 
knüpft, hören  auf.  —  Es  scheint,  dass  eine  Generation  von  Chirurgen  jetzt 
zu  Ende  gehen  soll,  auf  deren  grosse  Verdienste  die  Gegenwart  mit 
Verehrung  blickt:  ich  meine  Männer  wie  Stanley  (1791 — 1862),  Law- 
rence (1783-1867),  Brodie  (1783—1862),  Syme  (1799  —  1870)  in 
Grossbritanien,  Roux  (1780—1854),  Bonuet  (1809—1858),  Leroy 
(1798—1861),  Malgaigne  (1806—1865),  Civiale  (f  1867),  Jobert 
(1799—1868),  Velpeau  (1795-1867)  in  Frankreich,  Seutin  (1793  bis 
1862)  in  Belgien,  Valentin  Mott  (1785—1865)  in  Amerika,  Wutzer 
(1789—1863),  Schuh  (1804—1865)  u.  A.  in  Deutschland!  Und  auch  aus 
unserer  Generation  haben  wir  schon  herbe  Verluste  zu  beklagen,  vor 
Allen  den  sobald  nicht  zu  ersetzenden  Tod  des  so  hoch  begabten 
unermüdlichen  Forschers  0.  Weber  (1827 — 1867),  des  trefflichen  Folliu, 
eines  der  gediegensten  modernen  französischen  Chirurgen  (f  1867),  Mid- 
deldorpf  s  (1824 — 1868)  des  berühmten  Erfinders  der  galvauokaustischen 


Vorlesung  1.  15 

Operationen!  Unter  den  Lebenden  wären  noch  Mnnelic  zu  nennen,  auf 
deren  Schultern  die  jetzt  herangewachsene  Generation  deutscher  Chirurg-en 
steht,  doch  sie  gehören  noch  nicht  der  Geschichte  an.  Dennoch  darf 
ieh  einen  Gegenstand  nicht  unerwähnt  lassen,  nämlich  die  Einführung 
der  sclinierzstillenden  Mittel  in  die  Chirurgie;  auf  die  Entdeckung  des 
Schwefeläthers  und  des  Chloroforms  als  priiktiseh  für  Operationen  aller 
Art  verwendbare  Anaesthetica  darf  das  19.  Jahrhundert  stolz  sein.  Im 
Jahre  1846  kam  aus  Boston  die  erste  Mittheilung,  dass  der  Zahnarzt 
Morton  auf  Veranlassung  seines  Freundes  Dr.  Jackson  Inhalationen 
von  Scliwefeläther  zur  Erzeugung  von  völliger  Anästhesie  mit  glänzendem 
Erfolge  bei  Zahnextractionen  anwende.  1849  wurde  dann  von  »Simpsou, 
weiland  Professor  der  Geburtshiilfe  in  Edinburgh  (1811 — 1870),  an  Stelle 
des  Aethers  das  noch  besser  wirkende  Chloroform  in  die  chirurgische 
Praxis  eingeführt,  und  hat  sich  neben  mannigfaclien  Versuchen  mit 
anderen  ähnlichen  Stoffen  bis  jetzt  in  früher  nicht  geahnter  Weise 
bewährt.  Dank!  tausend  Dank  diesen  Männern  im  Namen  der  leidenden 
Menschheit ! 

Mit  Rücksicht  auf  meine  früheren  Bemerkungen,  betreffend  die 
deutsche  Chirurgie,  will  ich  schliesslich  noch  hinzufügen,  dass  dieselbe 
jetzt  auf  einer  Höhe  steht,  welche  derjenigen  der  übrigen  Nationen 
wenigstens  gleich  ist,  Dass  es  iudess  trotzdem  für  jeden  Arzt  wiinschens- 
werth  ist,  seine  Erfahrungen  und  Anschauungen  in  andern  Ländern  zu 
erweitern,  liegt  auf  der  Hand.  In  praktischer  Beziehung  scheinen  mir 
für  die  Chirurgie  England,  Amerika  und  Deutschland  jetzt  wichtiger  als 
andere  Länder.  Die  englische  Chirurgie  hat  seit  Hunter  etwas  Gross- 
artiges, Stylvolles  bis  auf  die  Neuzeit  bewahrt.  Den  grössten  Aufschwung 
verdankt  die  Chirurgie  des  19.  Jahrhunderts  in  Deutschland  dem  Um- 
stand, dass  sie  darauf  hinzielt,  das  gesammte  medicinische  Wissen  auf 
der  Basis  tüchtiger  anatomischer  und  physiologischer  Vorbildung  in  sich 
zu  vereinigen;  der  Chirurg,  der  dies  vermag  und  dazu  noch  die  ganze 
künstlerische  Seite  der  Chirurgie  vollkommen  beherrscht,  darf  sich  rühmen, 
das  höchste  ideale  Ziel  in  der  gesammten  Medicin  erreicht  zu  haben. 


Bevor  wir  nun  in  unseren  Stoff  eintreten,  will  ich  noch  einige' Be- 
merkungen  über  das  Studium  der  Chirurgie  vorausschicken,  wie  es  jetzt 
an  unseren  Hochschulen  betrieben  wird  oder  betrieben  werden  sollte. 

Wenn  wir  das  in  Deutschland  meist  übliche  Quadriennium  für  das 
Universitätsstudium  der  Medicin  festhalten,  so  rathe  ich  Ihnen,  die 
Chirurgie  nicht  vor  dem  5.  Semester  anzufangen.  Es  herrscht  sehr  häutig 
unter  Ihnen  das  Bestreben  vor,  möglichst  schnell  die  vorbereitenden 
Collegien  zu  absolviren,  um  rasch  zu  den  praktischen  zu  gelangen.  Dies 
ist  freilich  etwas  weniger  der  Fall,  seitdem  auf  den  meisten  Hochschulen 
für  Anatomie,  Mikroskopie,   Physiologie,  Chemie  etc.  Curse  eingerichtet 


'[Q  Einleitung. 

sind,  wo  Sie  selbst  schon  praktisch  thätig-  sind;  indess  ist  der  Eifer, 
mög'lichst  früh  in  die  Kliniken  einzutreten,  immerhin  noch  übergross ;  es 
g-iebt  freilich  auch  einen  Weg-,  geAvissermaassen  von  Anfang  an  selbst 
erfahren  zu  wollen;  man  denkt  sich  das  viel  interessanter,  als  sich  erst 
mit  Dingen  abzuquälen,  deren  Zusammenhang  mit  der  Praxis  man  noch 
nicht  recht  versteht.  Doch  Sie  vergessen  dabei,  dass  schon  eine  gewisse 
Hebung,  eine  Schule  der  Beobachtung  durchlaufen  werden  muss,  um 
aus  dem  Erlebten  wirklich  Nutzen  zu  ziehen.  Wenn  Jemand  aus  dem 
Schulzwang  erlöst,  sofort  in  ein  Krankenhaus  als  Schüler  eintreten  wollte, 
so  w^ürde  er  sich  in  den  neuen  Verhältnissen  wie  ein  Kind  verhalten, 
das  in  in  die  Welt  eintritt,  um  Erfalirungeu  für's  Leben  zu  sammeln.  Was 
helfen  die  Erfahrungen  des  Kindes  für  die  spätere  Lebensweisheit,  für 
die  Kunst,  mit  den  Menschen  zu  leben?  Wie  spät  zieht  man  erst  den 
wahren  Nutzen  aus  den  gewöhnlichsten  Beobachtungen ,  die  man  im 
Leben  täglich  machen  kann !  So  wäre  auch  dieser  Weg ,  die  gesammte 
Entwicklung  der  Medicin  empirisch  in  sich  durchzumachen,  ein  sehr 
langsamer  und  mühevoller^  und  nur  ein  sehr  begabter,  rastlos  strebender 
Mann  kann  es  auf  diesem  Wege  zu  etwas  bringen,  nachdem  er  zuvor 
die  verschiedensten  L-rwege  durchlaufen  hat.  Man  darf  die  Banner 
„Erfahrung",  „Beobachtung"  nicht  gar  zu  hoch  halten,  wenn  man  darunter 
nicht  mehr  versteht,  als  der  Laie;  es  ist  eine  Kunst,  ein  Talent, 
eine  Wissenschaft,  mit  Kritik  zu  beobachten,  und  aus  diesen  Beob- 
achtungen richtige  Schlüsse  als  Erfahrungen  heraus  zu  ziehen ;  hier  ist 
der  heikle  Punkt  der  Empirie;  das  Laienpul)likum  kennt  nur  Erfahrung 
und  Beobachtung  im  vulgären,  nicht  im  wissenschaftlichen  Sinne  und 
schätzt  die  Beobachtung,  Erfahrung  eines  alten  Schäfers  eben  so  hoch, 
zuAveilen  höher,  als  die  eines  Arztes.  Genug!  Avenn  Ihnen  ein  Arzt  oder 
sonst  Jemand  seine  Erfahrungen  und  Beobachtungen  auftischt,  so  sehen 
Sie  zunächst  zu,  Avess  Geistes  Kind  der  Erzähler  ist. 

Es  soll  mit  diesem  Ausfall  gegen  die  naive  Empirie  durchaus  nicht 
gesagt  sein,  dass  Sie  nothAvendiger  Weise  erst  den  ganzen  Inhalt  der 
Medicin  theoretisch  lernen  sollen,  ehe  Sie  in  die  Praxis  eintreten,  doch 
ein  bcAvusstes  Verständniss  füv  die  Grundprincipien  naturwissenschaft- 
licher Erforschung  pathologischer  Processe  müssen  Sie  in  die  Klinik 
mitbringen;  es  ist  durchaus  nothAvendig,  dass  Sie  eine  allgemeine  Ueber- 
sicht  über  das  besitzen,  Avas  Sie  am  Krankenbett  zu  erAvarteu  haben; 
auch  müssen  Sie  das  HandAverkszeug  etAvas  kennen  lernen,  bevor  Sie 
damit  arbeiten  sehen  oder  selbst  es  in  die  Hände  nehmen.  Mit  andern 
Worten,  die  allgemeine  Pathologie  und  Therapie,  die  Materia  medica 
muss  Ihnen  im  Umriss  bekannt  sein,  ehe  Sie  anfangen.  Kranke  beobachten 
zu  wollen.  Die  allgemeine  Chirurgie  ist  nur  ein  abgesonderter  Theil 
der  allgemeinen  Pathologie,  und  daher  sollten  Sie  auch  diese  studiren, 
bevor  Sie  in  die  chirurgische  Klinik  eintreten.  Zugleich  müssen  Sie 
womöglich    mit  der   normalen  Histologie,    Avenigstens   dem  allgemeinen 


Vorlesung  1.  17 

Theil  derselben  im  Reinen  sein  und  die  patliologisclie  Anatomie  und 
Histologie  mit  der  allgemeinen  Cliirurgie  etwa  im  5,  Semester  7Aigleicli 
hören. 

Die  allgemeine  Chirurgie,   der  Gegenstand,   der  uns  in  diesen  Vor- 
lesungen beschäftigen  soll,   ist,  wie  gesagt,   ein  Tlieil  der  allgemeinen 
Pathologie;  doch  steht  er  der  Praxis  bereits  näher  als  jene.    Den  Inhalt 
bildet   die  Lehre  von    den  Wunden,    den  Entzündungen    und    den   Ge- 
schwülsten  der  äusseren   und  äusserlich   zu  behandelnden  Körpertheile. 
Die  specielle  oder  anatomisch -topographische  Chirurgie   beschäftigt  sich 
mit  den  chirurgischen  Krankheiten  der  einzelnen  Körpertheile,   insoweit 
dabei  die  verschiedenartigsten  Gewebe  und  Organe  je  nach  der  Localität 
zu  berücksichtigen  sind;    während   wir  hier  z.  B.   nur  von  Wunden  im 
Allgemeinen,    von    der   Art    ihrer    Heilung,    von    ihrer    Behandlung    im 
Allgemeinen  zu  sprechen  haben,  ist  in  der  speciellen  Chirurgie  die  Rede 
von  Kopf-,   Brust-  uud  Bauchwundeu,   w^obei  dann  die  gleichzeitige  Be- 
theiligung der  Haut,   der  Knochen,    der  Eingeweide  speciell   zu  berück- 
sichtigen ist.     Wäre  es   möglich,    das  chirurgische  Studium  viele  Jahre 
hindurch  an  einem  grossen  Krankenhause  fortzusetzen,  und  könnte  dabei 
die  genaue  klinische  Besprechung  des  einzelnen  Falles  mit  ausdauerndem 
häuslichen  Studium  verbunden   werden,   so  wäre  es  vielleicht  unnöthig, 
die  specielle  Chirurgie  in   besonderen  Vorlesungen  systematisch   zu  be- 
handeln.    Da  es  aber  eine  grosse  Reihe  von  chirurgischen  Krankheiten 
giebt,    die  selbst  in  den  grössten  Kraukenhäusern  im  Lauf  vieler  Jahre 
vielleicht  niemals  vorkommen,  deren  Kenntniss  aber  dem  Arzt  unbedingt 
noth wendig  ist,    so   sind  auch  die  Vorlesungen  über  specielle  Chirurgie, 
wenn  sie  kurz  und  bündig  gehalten  werden,  keineswegs  überflüssig.  — 
Man  hört  jetzt   oft   das  Wort  fallen :    wozu  soll  ich  specielle  Chirurgie 
und   specielle  Pathologie   hören?    das    kann    ich  ja   viel  bequemer   auf 
meinem    Zimmer    lesen!      Das    kann     allerdings    geschehen,    geschieht 
aber    leider    allzuwenig,    oder    erst   in    spätem    Semestern,     wenn    das 
Examen    droht.       Auch    ist    dies    Raisonnement    in     anderer    Hinsicht 
falsch:    die    viva    vox    des    Lehrers,    wie    der    alte    Langeubeck    in 
Göttingen    zu    sagen    pflegte,    —   und    er  hatte  in  der  That  eine  viva 
vox  in    schönster  Bedeutung  des  Wortes!    —    das    beflügelte  Wort  des 
Lehrers  wirkt    oder    soll  wenigstens   immer   eindringlicher,    anregender 
wirken  als  das  gelesene  Wort,  und  was  die  Vorlesungen  über  praktische 
Chirurgie  und  Medicin  besonders  werthvoll  für  Sie  machen  muss,   sind 
die  Demonstrationen  von  Abbildungen,  Präparaten,  Experimenten  u.  s.  w., 
die  damit  zu  verbinden  sind.     Ich  lege  den  grössten  Werth  darauf,  dass 
jeder  medicinische  Unterricht  demonstrativ  sei,  da  ich  aus  eigener  Erfah- 
rung sehr  wohl  weiss,    dass    diese  Art  des  Unterrichts   die  anregendste 
und    nachhaltigste    ist.     —    Ausser    den    Vorlesungen    über    allgemeine 
und  specielle  Chirurgie  haben  Sie  dann  noch  die  praktischen  Uebungen  au 
der  Leiche  durchzumachen,  die  Sie  auf  die  späteren  Semester  verschieben 

BiUroth  chir.  Path.  u.  Therap.   7.  Aufl.  -  2 


18  Einleitung. 

können.  Mir  war  es  immer  erwünscht,  wenn  die  Hen-en  Stndirenden  den 
chirurgischen  Operationscurs  im  6.  oder  7.  Semester  neben  der  speciellen 
Chirurgie  nahmen,  damit  ich  ihnen  Gelegenheit  geben  konnte,  selbst  in  der 
Klinik  einige  Operationen,  zumal  auch  Amputationen  unter  meiner  Leitung 
auszuführen.  Es  giebt  Muth  für  die  Praxis,  wenn  man  schon  während 
der  Studienzeit  selbst  Operationen  an  Lebenden  ausgeführt  hat. 

Es  ist  ein  grosser  Vortheil  kleinerer  Universitäten,  dass  der  Lehrer 
dort  jeden  Schüler  genau  kennen  lernt  und  weiss,  was  er  der  Geschick- 
lichkeit des  Einzelnen  überlassen  kann.  An  grösseren  Kliniken  ist  dies 
den  Umständen  nach  leider  nicht  ausführbar.  Fliehen  Sie  daher  im 
Beginn  Ihrer  klinischen  Studien  die  grossen  Universitäten!  suchen  Sie 
dieselben  erst  in  der  letzten  Zeit  Ihrer  Lehrjahre  auf,  und  kehren  Sie 
später,  wenn  Sie  bereits  in  der  Praxis  beschäftigt  waren,  von  Zeit  zu 
Zeit  auf  einige  Wochen  an  dieselben  zurück! 

So  wie  Sie  die  allgemeine  Chirurgie  gehört  haben,  treten  Sie  als  Zuhörer 
in  die  chirurgische  Klinik  ein,  um  dann  im  7.  und  8.  Semester  als  Prak- 
tikant sich  selbst  öffentlich  Rechenschaft  über  Ihr  Wissen  im  speciellen 
Fall  abzulegen  und  sich  zu  gewöhnen,  Ihre  Kenntnisse  rasch  zusammen- 
zuholen, das  Wichtige  vom  Unwichtigen  unterscheiden  zu  lernen  und 
überhaupt  zu  erfahren,  worauf  es  in  der  Praxis  ankommt.  Dabei  werden 
Sie  dann  die  Lücken  Ihres  Wissens  erkennen  und  durch  ausdauernden 
häuslichen  Fleiss  ausfüllen.  Haben  Sie  auf  diese  Weise  die  gesetzmässige 
Studienzeit  absolvirt,  die  Examina  bestanden  und  einige  Monate  oder 
ein  Jahr  an  verschiedenen  grossen  Krankenhäusern  des  In-  und  Aus- 
landes Ihren  ärztlichen  Gesichtskreis  erweitert,  so  werden  Sie  so  weit 
ausgebildet  sein,  dass  Sie  in  praxi  die  chirurgischen  Fälle  richtig  beur- 
theilen  können.  Wollen  Sie  sich  aber  speciell  zum  Chirurgen  und  zum 
Operateur  ausbilden,  dann  sind  Sie  noch  lange  nicht  am  Ziel;  dann 
müssen  Sie  wiederholt  sich  im  Operiren  an  der  Leiche  üben,  zwei  bis 
vier  Jahre  als  Assistent  an  einer  chirurgischen  Abtheilung  fungiren,  un- 
ermüdlich chirurgische  Monographien  studiren,  fleissig  Krankengeschichten 
schreiben  etc.  etc.,  kurz  die  praktische  Schule  von  Grund  aus  durch- 
machen; Sie  müssen  den  Spitaldienst,  selbst  den  Krankenwärterdienst 
genau  kennen,  kurz  Alles,  auch  das  Kleinste,  was  den  Kranken  angeht, 
praktisch  lernen  und  gelegentlich  selbst  machen  können,  damit  Sie  die 
volle  Herrschaft  auch  über  das  Ihnen  untergebene  Heilpersonal  behalten. 

Sie  sehen,  dass  es  viel  zu  thun,  viel  zu  lernen  giebt;  mit  Ausdauer 
und  Fleiss  werden  Sie  das  Alles  erreichen ;  Ausdauer  und  Fleiss  gehören 
aber  zum  Studium  der  Medicin! 

„Student"  kommt  von  „studiren";  studiren  müssen  Sie  fleissig;  der 
Lehrer  macht  Sie  auf  das  aufmerksam,  was  ihm  das  Nothwendigste  er- 
scheint; er  kann  Sie  nach  verschiedenen  Seiten  hin  anregen;  das  Positive, 
was  er  Ihnen  giebt,  können  Sie  auch  schwarz  auf  weiss  nack  Hause 
tragen,  doch  dass  dies  Positive  in  Ihnen  lebendig,  dass  es  Ihr  geistiges 


Vorlesung   1.  19 

Eigentimm  wird,   das  können  Sie   nur  durcli   eigene  geistige  Ar1)eit  be- 
werkstelligen, dieses  geistige  Verarbeiten  ist  das  wahre  „Studium". 

Wenn  Sie  sich  nur  ])assiv  receptiv  verhalten,  können  Sie  freilich 
nach  und  nach  sich  den  Ruf  eines  sehr  „gelehrten  Hauses"  erwerben, 
doch  wenn  Sie  Ihr  Wissen  nicht  lebendig  reproduciren  können ,  Averden 
Sie  niemals  ein  guter  „practischer  Arzt"  werden.  Lassen  Sie  das  Beob- 
achtete recht  in  Ihr  Innerstes  eindringen,  lassen  Sie  sich  davon  recht 
erwärmen  und  davon  so  ei'filllcn ,  dass  Sie  immer  wieder  daran  denken 
müssen,  dann  wird  auch  die  rechte  Lust  und  Fi-eude  an  dieser  geistigen 
Arbeit  über  Sie  kommen!  Treffend  sagt  Göthe  in  einem  Briefe  an 
Schiller:  „Lust,  Freude,  Theilnahme  au  den  Dingen  ist  das  einzige 
Reelle,  und  was  wieder  Reellität  hervorbringt;  alles  andere  ist  eitel  und 
vereitelt  nur." 


2* 


Vorlesung   2. 
CAPITEL  I. 

Von  den  einfjicheii  Sclinittwiiiiden  der  ^\^^iclltheile. 

Art  der  Entstehimg  und  Aussehn  dieser  Wunden.  —  Verschiedene  Formen  der  Schnitt- 
wunden. —  Erscheinungen  während  und  unmittelbar  nach  der  Verwundung:  Schmerz, 
Blutungen.  —  Verschiedene  Arten  der  Blutungen:  arterielle,  venöse  Blutungen.  Luft- 
eintritt durch  Venenwunden.  —  Parenchymatöse  Blutungen.  —  Bluterkrankheit.  — 
Blutungen  aus  Pharynx  und  Rectum.  —  Allgemeine  Folgen  starker  Blutungen. 

Die  richtig-e  Behandlung  der  Wunden  ist  nicht  allein  deshalb  als 
das  erste  Erforderniss  für  den  Chirurgen  zu  betrachten,  weil  diese  Art 
der  Verletzungen  so  sehr  häufig  vorkommt,  sondern  auch  besonders  des- 
halb, weil  wir  bei  Operationen  so  oft  absichtlich  Wunden  machen,  und 
zwar  nicht  selten  unter  Umständen,  wo  wir  nicht  gerade  wegen  eines 
lebensgefährlichen  Uebels  operiren.  Wir  sind  daher  insoweit  für  die 
Heilung  der  Wunden  verantwortlich,  als  überhaupt  die  erfahrungsgemässe 
Beurtheilung  über  die  Gefahr  einer  Verletzung  reichen  kann.  Beginnen 
wir  mit  der  Besprechung  der  Schnittwunden. 

Verletzungen,  welche  mit  scharfen  Messern,  Scheeren,  Säbeln,  Schlä- 
gern, Beilen  mit  einem  Zuge  beigebracht  werden,  bieten  die  Charaktere 
reiner  Schnittwunden  dar.  Solche  Wunden  sind  meist  kenntlich  an  den 
gleichmässig  scharfen  Eändern,  an  welchen  man  die  glatten  Durchschnitts- 
flächen der  unveränderten  Gewebe  sieht.  —  Sind  die  oben  genannten 
Instrumente  stumpf,  so  können  sie  bei  rascher  Führung  auch  noch  ziem- 
lich glatte  Schnittwunden  machen,  während  sie  bei  langsamem  Ein- 
dringen in  die  Gewebe  den  Sclmitträndern  ein  rauhes  zerdrücktes  Ansehn 
geben;  zuweilen  spricht  sich  die  Art  der  Gewebsverletzung  erst  im  Ver- 
lauf der  Heilung  der  Wunden  aus,  indem  Wunden,  die  mit  scharfen,  rasch 
geführten  Instrumenten  gemacht  sind,  leichter  und  rascher  aus  weiterhin 
zu  erörternden  Gründen  heilen,  als  solche,  die  durch  stumpfe,  langsam  ein- 
dringende Messer,  Scheeren,  Schläger  oder  dergleichen  veranlasst  sind.  — 
Nur  selten  macht  ein  ganz  stumpfer  Körper  eine  Wunde,  welche  die 
gleichen  Eigenschaften  besitzt,  wie  eine  Schnittwunde.  Dies  kann  dadurch 
zu  Staude  kommen,  dass  die  Haut,  zumal  an  Stelleu,  wo  sie  dem  Knochen 


Vorlesung  2.     Capitel  1.  21 

nahe  liegt,  unter  der  Gewalt  eines  stumpfen  Körpers  auseinanderrcisst. 
So  wird  es  Ihnen  z.  B.  nicht  so  selten  vorkommen,  dass  Wunden  der 
Kopfschwarte  durchaus  das  Ansehn  von  Schnittwunden  haben,  obg'leich 
sie  durch  Schlag-  mit  einem  stumpfen  Körper  oder  durch  Aufschlagen 
des  Kopfes  gegen  einen  nicht  gerade  scharfen  Stein,  einen  Balken  oder 
dergleichen  entstanden  sind.  Aehnliche  sehr  glatte  Risswunden  der  Haut 
kommen  auch  an  der  Hand,  vorzüglich  an  der  Volarfläche  derselben 
vor.  Durch  scharfe  Knochenkanten  kann  endlich  die  Haut  gleichfalls  und 
zwar  von  innen  her  so  durchtrennt  werden,  dass  sie  wie  zerschnitten  aus- 
sieht, z.  B.  wenn  Jemand  auf  die  crista  tibiae-  fällt  und  die  Haut  durch 
letztere  von  innen  nach  aussen  durchschnitten  wird.  Spitze,  die  Haut 
durchbohrende  Knocliensplitter  können  begreiflicherweise  ebenfalls 
Wunden  mit  sehr  glatten  Eändern  machen.  Endlich  kann  auch  die 
Ausgangsöffnung  eines  Schusskanals,  d.  h.  desjenigen  Canals,  welcher 
den  Weg  der  Kugel  darstellt,  unter  gewissen  Umständen  schlitzartig 
scharf  sein. 

Die  Kenntuiss  dieser  angeführten  Verhältnisse  ist  deshalb  von  Wich- 
tigkeit, weil  Hmen  z.  B.  vom  Richter  gelegentlich  die  Frage  vorgelegt 
wird,  ob  die  vorliegende  Wunde  mit  diesem  oder  jenem  Instrument  so 
oder  so  erzeugt  worden  sein  kann,  was  der  Beweisführung  in  einem 
Criminalprocess  eine  entscheidende  Wendung  zu  geben  im  Stande  ist. 

Wir  haben  bislang  nur  solche  Wunden  im  Sinne  gehabt,  welche  mit 
einem  Zug  oder  Hieb  gemacht  sind.  Es  können  aber  durch  wiederholte 
Schnitte  an  einer  Wunde  die  Ränder  ein  gehacktes  Ansehn  bekommen 
und  so  die  Bedingungen  für  die  Heilung  sich  wesentlich  ändern;  von 
solchen  Wunden  abstrahiren  wir  vorläufig  ganz,  sie  fallen  in  Bezug  auf 
ihre  Heilung  und  Behandlung  mit  den  gequetschten  Wunden  zusammen, 
wenn  sie  nicht  auf  kunstgemässe  Weise  durch  Abtragung  der  zerhackten 
Ränder  in  einfache  Schnittwunden  verwandelt  werden  können.  —  Die 
verschiedene  Richtung,  in  welcher  das  schneidende  Instrument  beim  Ein- 
dringen zur  Oberfläche  der  Körpertheile  gehalten  wird,  bedingt  im 
Allgemeinen  nur  geringe  Verschiedenheiten,  wenn  die  Richtung  nicht  eine 
so  schräge  ist,  dass  einzelne  Weichtheile  in  Form  mehr  oder  weniger 
dicker  Lappen  abgelöst  sind.  Bei  diesen  Lappen  wunden  oder  Schäl - 
wunden  ist  es  von  Bedeutung,  wie  breit  die  Brücke  ist,  mit  welcher 
das  halb  abgetrennte  Stück  noch  mit  dem  Körper  in  Verbindung  ge- 
blieben ist,  w^eil  es  davon  abhängig  ist,  ob  in  diesem  Lappen  noch  eine 
Circulation  des  Blutes  stattfinden  kann,  oder  ob  dieselbe  völlig  aufgehört 
hat  und  der  abgelöste  Theil  als  todt  anzusehen  ist.  Es  sind  zwar  vor- 
züglich Hiebwunden,  die  sich  oft  als  Lappenwunden  darstellen,  doch  nicht 
selten  auch  Risswunden-,  sie  sind  gar  häufig  am  Kopf,  wo  etwa  durch 
zu  starken  Zug  am  Haarschopf  ein  Theil  der  Kopfschwarte  abgerissen 
wird.  —  In  anderen  Fällen  kann  eine  Partie  Weichtheile  völlig  heraus- 
geschnitten sein;   dann  haben  wir  eine  Wunde  mit  Substanzverlust 


22  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

vor  uns.  —  Unter  penetrirenden  Wunden  versteht  man  solche,  durch 
welche  eine  der  drei  grossen  Körperhöhlen  oder  ein  Gelenk  eröffnet  ist; 
sie  entstehen  am  häufigsten  durch  Stich  oder  Schuss,  und  können  durch 
die  Verletzung-  der  Intestina  oder  der  Knochen  complicirt  sein.  —  Bei 
der  allgemeinen  Bezeichnung  Längs-  und  Qu  er  wunden  bezieht  man 
sich,  wie  dies  wohl  selbstverständlich  erscheint,  auf  die  Längs-  und 
Querachsen  des  Eumpfes,  des  Kopfes  oder  der  Extremitäten.  Quer- 
wunden oder  Längswunden  der  Muskeln,  Sehnen,  Gefässe,  Nerven  sind 
natürlich  solche,  welche  die  Fasern  der  genannten  Theile  in  der  Quer- 
oder Längsrichtung  treffen. 

Die  Erscheinungen,  welche  der  Act  der  Verwundung  mehr  oder 
weniger  unmittelbar  bei  dem  Verwundeten  hervorruft,  sind  zunächst 
Schmerz,  dann  Blutung  und  Klaffen  der  Wunde. 

Da  alle  Gewebssysteme,  die  epithelialen  und  epidermoidalen  Ge- 
webe nicht  ausgenommen,  mit  sensiblen  Nerven  versehen  sind,  so  ruft 
die  Verletzung  sofort  Schmerz  hervor. 

Dieser  Schmerz  ist  sehr  verschieden  je  nach  dem  Nervenreichthum 
der  betroffenen  Theile,  dann  je  nach  der  Empfänglichkeit  des  Individuums 
für  das  Schmerzgefühl.  Die  Finger,  die  Lippen,  die  Zunge,  die  Brust- 
warzengegend, die  äusseren  Genitalien,  die  Analgegend  gelten  als  die 
schmerzhaftesten  Theile.  Die  Art  des  Schmerzes  bei  einer  Verwundung 
z.  B.  am  Finger  wird  wohl  Jedem  von  Ihnen  aus  eigener  Erfahrung 
bekannt  sein.  Die  Hautschnitte  sind  entschieden  am  schmerzhaftesten, 
die  Verletzung  der  Muskeln,  der  Sehnen  ist  weit  weniger  empfindlich; 
Verletzungen  des  Knochens  sind  immer  äusserst  schmerzhaft,  wie  Sie 
sich  bei  jedem  Menschen  überzeugen  können,  der  sich  einen  Knochen- 
bruch zugezogen  hat;  auch  wird  uns  aus  der  Zeit,  wo  man  ohne  Chloro- 
form die  Gliedmaassen  amputirte,  berichtet,  dass  grade  das  Durchsägen 
des  Knochens  der  schmerzhafteste  Theil  der  Operation  gewesen  sei. 
Die  Schleimhaut  des  Darmes  zeigt  bei  verschiedenen  Beizen,  wie  man 
an  Menschen  und  Thieren  gelegentlich  beobachten  kann,  fast  gar  keine 
Empfindung;  auch  die  portio  vaginalis  uteri  ist  fast  empfindungslos 
gegen  mechanische  und  chemische  Reize;  man  kann  sie  zuweilen  mit 
dem  glühenden  Eisen  berühren,  wie  dies  zur  Heilung  gewisser  Krank- 
heiten dieses  Theiles  geschieht,  ohne  dass  die  Frauen  eine  Empfindung 
davon  haben.  Es  scheint  überhaupt,  dass  denjenigen  Nerven,  die  eines 
specifischen  Beizes  bedürfen,  wie  besonders  die  Sinnesnerven,  wenige 
oder  gar  keine  sensiblen  Nerven  beigesellt  sind.  Wie  sich  in  der  Haut 
die  sensitiven  Tastnerven  zu  den  sensiblen  Nerven  verhalten,  und  ob 
es  überhaupt  hier  wesentliche  Unterschiede  giebt,  ist  auch  wohl  noch 
nicht  als  ausgemacht  zu  betrachten.  Für  die  Nase  und  die  Zunge 
haben  wir  freilich  sensitive  und  sensible  Nerven  dicht  nebeneinander, 
so  dass  an  beiden  Theilen  neben  der  jedem  dieser  Organe  zukommen- 
den specifischen  Sinnesempfindung  auch  Schmerz  wahrgenommen  wird. 


Vorlesnn.o;  2.     Capitel  I.  23 

Die  weisf^e  Hirnmasse  ist,  wie  man  bei  manchen  scliAveren  Kopfver- 
letzungen sich  überzeugen  kann,  ohne  Em|yfindung',  wenngleich  sie  clocli 
viele  Nerven  enthält.  —  Die  Durchschneidung  von  Nervenstämmen  ist 
Jedenfalls  die  schmerzhafteste  Verletzung;  das  Abreissen  der  Zahn- 
nerven beim  Zalinauszielien  mag  Manchen  von  Ihnen  im  Gedächtniss  sein; 
die  Trennung  dicker  Nervenstämme  muss  ein  überwältigender  Schmerz 
sein.  —  Die  Empfänglichkeit  für  den  Schmerz  scheint  eine  individuell 
etwas  verschiedene  zu  sein.  Sie  dürfen  dies  jedoch  nicht  zusammen- 
werfen mit  den  verschiedenen  Graden  der  Schmerzäusserungen  und  mit 
der  psychischen  Kraft,  diese  Schmerzäusserungen  zu  unterdrücken  oder 
wenigstens  in  Schranken  zu  halten;  dies  hängt  Jedenfalls  von  der 
Willensstärke  des  Individuums  ab,  so  wie  von  dem  Temperament.  Leb- 
hafte Menschen  äussern,  wie  alle  übrigen  Empfindungen,  so  auch  ihre 
Schmerzen  lebhafter  als  phlegmatische.  Die  meisten  Menschen  geben 
an,  dass  das  Schreien,  so  wie  die  iustiuctive  starke  Anspannung  aller 
Muskeln,  zumal  der  Kaumuskeln,  das  Zusammenbeissen  der  Zähne  etc. 
den  Schmerz  leichter  erträglich  macht.  Ich  habe  an  mir  nicht  finden 
können,  dass  dies  irgendwie  erleichtert,  und  halte  es  für  eine  Einbil- 
dung der  Kranken.  Ein  starker  Wille  der  Kranken  kann  viel  thun,  die 
Schmerzäusserungen  zu  unterdrücken;  ich  erinnere  mich  noch  lebhaft 
einer  Frau,  welcher  in  der  Güttinger  Klinik,  zur  Zeit  als  ich  dort 
meine  Studien  machte,  ohne  Chloroform  der  ganze  Oberkiefer  wegen 
einer  bösartigen  Geschwulst  ausgesägt  wurde,  und  die  bei  dieser  schwie- 
rigen und  sehr  schmerzhaften  Operation,  bei  welcher  viele  Aeste  des 
N.  trigeminus  durchschnitten  werden,  nicht  einen  Schmerzenslaut  von 
sich  gab.  Frauen  ertragen  im  Allgemeinen  besser  und  geduldiger 
Schmerzen  als  Männer.  Der  Aufwand  von  psychischer  Kraft  aber,  der 
dazu  nöthig  ist ,  führt  nicht  selten  gleich  nachher  zu  einer  Ohnmacht, 
oder  zu  einer  hochgradigen,  kürzer  oder  länger  dauernden  physischen 
und  psychischen  Abspannung.  Ich  habe  sehr  starke  willenskräftige 
Männer  gesehen,  die  bei  einem  heftigen  Schmerz  zwar  Jede  Aeusserung 
desselben  vermieden,  aber  bald  ohnmächtig  zu  Boden  stürzten.  Doch, 
wie  ich  vorher  erwähnte,  ich  glaube,  dass  manche  Menschen  den 
Schmerz  überhaupt  weit  weniger  intensiv  empfinden  als  andere.  Es 
werden  Ihnen  gewiss  Leute  vorkommen,  die  ohne  irgend  welches  Auf- 
gebot eines  energischen  Willens  bei  schmerzhaften  Verletzungen  so  wenig 
Schmerz  äussern,  dass  man  nicht  anders  meinen  kann,  als  dass  sie 
wirklich  den  Schmerz  weniger  lebhaft  empfinden  als  andere;  ich  habe 
dies  meist  bei  sehr  schlaffen  böotischen  Menschen  beobachtet,  bei  denen 
dann  auch  die  ganzen  Folgenerscheinungen  der  Verletzung  auffallend 
gering  zu  sein  pflegen. 

Je  rascher  die  Verwundung  geschieht.  Je  schärfer  das  Messer  ist, 
um  so  geringer  ist  der  Schmerz;  auf  sichere  rasche  Messerführung  be- 
sonders bei  Hautschnitten  legt  man  daher  im  Interesse  der  Krauken  stets 


24  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

gTOSsen  Wertb  bei  allen  kleineren  und  g-rösseren  Operationen,  und  gewiss 
mit  Keelit. 

Das  Gefühl  in  der  Wunde  unmittelbar  nach  der  Verletzung  ist  ein 
eigenthttmlich  brennendes,  man  kann  es  kaum  anders  bezeichnen,  als 
das  Gefühl  des  Wundseins.  Nur  wenn  ein  kleinerer  oder  grösserer  Nerv 
durch  irgend  etwas  in  der  Wunde  gedrückt,  gezerrt  oder  auf  andere 
Weise  gereizt  wird,  treten  gleich  nach  der  Verletzung  heftige,  w^ahrhaft 
neuralgische  Schmerzen  auf,  die,  wenn  sie  nicht  bald  von  selbst  aufhören, 
durch  genaue  Untersuchung  und  Hebung  der  örtlichen  Ursachen,  oder 
wenn  dies  nicht  thunlich  oder  erfolglos  ist,  durch  innere  Mittel  beseitigt 
werden  müssen,  da  sie  den  Kranken  sonst  in  einen  Zustand  von  hoher 
Aufgeregtheit  versetzen  und  erhalten,  der  sich  bis  zu  maniakalischen 
Delirien  steigern  kann.  —  Um  die  Schmerzempfinduug  bei  Ope- 
rationen zu  vermeiden,  wenden  wir  jetzt  allgemein  die  Chi  oro  form - 
Inhalationen  an.  Die  Anwendungsweise  dieses  Mittels,  die  Prophylaxis 
und  Mittel  gegen  die  Gefahren,  welche  die  Chloroformnarkose  mit  sich 
bringt,  werden  Sie  weit  schneller  in  der  Klinik  kennen  lernen  und  dann 
weit  besser  behalten,  als  wenn  ich  Ihnen  darüber  hier  weitläufige 
Expositionen  machen  wollte.  In  den  Vorlesungen  über  Operationslehre 
ist  ausführlich  darüber  zu  sprechen;  ich  erwähne  hier  nur  beiläufig, 
dass  in  neuerer  Zeit  der  Schwefeläther  wieder  mehr  in  Anwendung  ge- 
zogen wird  als  im  letzten  Decennium,  während  Avelchem  bei  der  enormen 
Ausdehnung  des  Chloroformgebrauches  sich  auch  die  Todesfälle  durch 
Chloroform  vermehrten.  Ich  brauche  jetzt  zu  den  Narkosen  ausschliess- 
lich eine  Mischung  von  3  Theilen  Chloroform  mit  1  Theil  Schwefel- 
äther und  1  Theil  absoluten  Alcohol,  und  habe  den  Eindruck,  dass  diese 
Narkosen  etwas  weniger  gefährlich  sind,  als  die  Narkosen,  welche  durch 
das  Chloroform  allein  erzeugt  sind.  —  Die  örtlichen  Anaesthetica, 
die  den  Zweck  haben,  den  Schmerz  in  dem  zu  operirenden  Theil  vorüber- 
gehend abzustumpfen,  z.  B.  durch  Auftupfen  einer  Mischung  von  Eis  mit 
Salpeter  oder  Salz,  sind  allgemein  wieder  verlassen,  oder  vielmehr  nie 
recht  allgemein  verbreitet  gewesen.  In  neuester  Zeit  haben  diese  Versuche 
wieder  ein  regeres  Interesse  hervorgerufen,  da  es  schien,  als  wenn  man 
endlich  doch  eine  zweckmässige  Methode  der  localen  Anästhesirung 
gefunden  hätte.  Ein  englischer  Arzt  Eichardson  construirte  einen 
kleinen  Apparat,  durch  welchen  ein  Strom  absolut  reinen  Hydramyläthers, 
eine  Zeitlaug  gegen  eine  Hautstelle  geblasen  wird,  und  dadurch  eine 
solche  Kälte  in  dieser  Hautstelle  entsteht,  dass  hier  nichts  mehr  empfunden 
wird.  Nachdem  ich  diesen  Aether  aus  England  habe  kommen  lassen, 
habe  ich  mich  von  der  höchst  vollkommenen  Wirkung  desselben  über- 
zeugt. Die  Haut  wird  in  der  That  in  w^euigen  Sekunden  kreideweiss 
und  so  weit  dies  erfolgt,  absolut  gefühllos;  doch  reicht  die  Wirkung 
kaum  durch  eine  mitteldicke  Cutis,  und  wenn  man  auch  ohne  Bedenken 
den  Aether  fort  und  fort  in    die  Schuitlfläche  blasen  und   diese  völlig 


Vorlesung  2.     Capitel  I.  25 

anaesthetiscli  machen  kann,  so  tritt  bei  so  intensiver  Kältewirkung-  einer- 
seits der  Uebelstand  ein,  dass  die  völlig  eisliarten  Gewebe  gar  nicht 
von  einander  zu  unterscheiden  sind,  andrerseits  bedeckt  sich  das  Messer 
mit  einer  Eishülle,  so  dass  es  nicht  mehr  schneidet.  Die  locale  Anaesthesie 
wird  demnach  selbst  in  dieser  vervollkommneten  Form  nur  bei  wenigen 
kleinen  Operationen  mit  Vortheil  für  den  Kranken  anzuwenden  sein. 
Meine  frühere  Besorgniss,  dass  nach  Application  so  intensiver  Kälte  auf  die 
Gewebe  der  folgende  Heilungsprocess  der  Wunde  wesentlich  gestört  werde, 
hat  sich  als  unrichtig  erwiesen.  —  Zur  Beruhigung  des  Schmerzes  und  als 
Hypnoticum  gleich  nach  grossen  Verletzungen  und  Operationen 
giebt  es  Nichts  Besseres  als  eine  Gabe  von  '/j  gr.  oder  0,02  Grammes 
Morphium  muriaticum  oder  aceticum,  der  Kranke  wird  dadurcli  beruliigt 
und,  wenn  er  auch  nicht  immer  danach  schläft,  fühlt  er  seine  Wund- 
schmerzen weniger.  Auch  kann  man  das  Morphium  in  Form  subcutaner 
Injectionen  anwenden.  Injicirt  man  mit  einer  sehr  feinen  Spritze,  an 
welcher  eine  lanzettförmig  zugespitzte  Canüle  so  angebracht  ist,  dass 
dieselbe  leicht  durch  die  Haut  eingestochen  werden  kann,  eine  Lösung 
von  Vs  —  \/i  Grau  (0,009 — 0,018  Grammes)  essigsauren  oder  salzsauren 
Morphiums,  so  übt  dies  Mittel  seine  narcotisirende  Wirkung  anfangs 
local  auf  die  von  ihm  umspülten  Nerven,  dann  aber  auch  auf  das  Hirn, 
weil  die  Morphiumlösung  resorbirt  wird  und  ins  Blut  gelangt.  Diese 
Art  der  Application  von  Morphium  hat  in  neuester  Zeit  ausserordentlichen 
Beifall  gefunden ; 'man  macht  eine  solche  Injection  unmittelbar  vor  oder 
nach  einer  Operation,  oder  nach  einer  zufälligen  Verletzung  gewöhnlich 
in  der  Nähe  der  verletzten  Stelle  und  dämpft  dadurch  sofort  den  Wund- 
schmerz. —  In  neuester  Zeit  braucht  man  als  Anaestheticum  innerlich 
auch  das  Chloralhydrat  in  Dosen  von  '/. — 1  Drachme  oder  3,00 — 5,00 
Grammes  (in  einem  halben  oder  ganzen  Glase  Wasser)  angewandt,  dessen 
narkotische  Wirkung  von  Liebreich  1869  entdeckt  wurde.  Die  Wirkung- 
dieses  Mittels  ist  hauptsächlich  intensiv  hypnotisch,  übrigens  ziemlich 
ungleich;  es  kann  das  Chloroform  nicht  ersetzen,  ist  jedoch  als  ein  neues 
Narcoticum  eine  wesentliche  Bereicherung  unseres  Arzneischatzes.  — • 
Oertlich  wendet  man  endlich  als  schmerzstillendes  Mittel  die  Kälte  in 
Form  von  kalten  Umschlägen  oder  Eisblasen,  die  auf  die  Wunde  appli- 
cirt  werden,  an;  wir  kommen  darauf  bei  der  Behandlung  der  Wunden 
zurück.  ■ — 

Bei  einer  reinen  Schnitt-  oder  Stichwunde  stellt  sich  als  zweite  Er- 
scheinung sofort  die  Blutung  ein,  deren  Maass  von  der  Anzahl,  dem 
Durchmesser  und  von  der  Art  der  durchschnittenen  Gefässe .  abhängig 
ist.  Wir  reden  hier  nur  von  Blutungen  aus  Geweben,  die  vor  der  Ver- 
letzung- durchaus  normal  waren,  und  unterscheiden  capillare,  paren- 
chymatöse, arterielle,  venöse  Blutungen,  die  wir  gesondert  be- 
trachten müssen. 


26  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Die  verscliiedenen  Tlieile  des  Körpers  besitzen  bekanntlicli  einen 
sehr  verschiedenen  ßeicbthum  an  Blutgefässen,  zuraal  finden  die  grössten 
Unterschiede  in  Zahl  und  Weite  der  Capillaren  Statt.  Die  Haut  hat 
an  gleich  grossen  Stellen  weniger  und  engere  Capillaren,  als  die  meisten 
Schleimhäute;  sie  besitzt  ausserdem  mehr  elastisches  Gewebe,  auch 
Muskeln,  wodurch  (wie  wir  dies  schon  in  der  Kälte  und  bei  der  soge- 
nannten Gänsehaut  empfinden  und  sehen)  die  Gefässe  leichter  comprimirt 
werden,  als  dies  in  den  Schleimhäuten  der  Fall  ist,  die  arm  an  elasti- 
schem und  Muskel-Gewebe  sind;  es  bluten  daher  einfache  Hautwunden 
weniger  als  Schleimhautwunden,  Die  nur  aus  den  Capillaren  Statt  fin- 
denden Blutungen  hören,  wenn  die  Gewebe  gesund  sind,  von  selbst  auf 
eben  dadurch,  dass  die  Gefässmiindungen  durch  das  sich  contrahirende 
verletzte  Gewebe  selbst  zusammengedrückt  werden.  An  kranken  Theilen, 
die  sich  nicht  contrahiren,  kann  jedoch  auch  eine  Blutung  aus  erweiterten 
Capillaren  recht  bedeutend  werden. 

Die  Blutungen  aus  den  Arterien  sind  leicht  kenntlic_h,  theils  da- 
durch, dass  sich  das  Blut  in  einem  Strahl  ergiesst,  an  welchem  sich  die 
rythmischen  Contractionen  des  Herzens  zuweilen  deutlich  zu  erkennen 
geben,  theils  dadurch,  dass  das  hervorspritzende  Blut  eine  hellrothe  Farbe 
hat.  Diese  hellrothe  Blutfarbe  verwandelt  sich  allerdings  bei  mangelhafter 
Kespiration  in  eine  ganz  dunkle;  so  kann  z.  B.  bei  einer  Operation  am 
Halse,  die  wegen  Erstickungsgefahr  gemacht  wird,  so  wie  auch  bei  sehr 
tiefer  Chloroformnarkose,  ganz  dunkles,  fast  schwärzliches  Blut  aus  den 
Arterien  hervorspritzen.  Die  Menge  des  sich  ergiessenden  Blutes  ist 
abhängig  von  dem  Durchmesser  der  entweder  total  durchschnittenen 
Arterie,  oder  von  der  Grösse  der  Oeffnung  in  ihrer  Wandung.  Sie  dürfen 
jedoch  nicht  glauben,  dass  der  aus  der  Arterie  hervorspritzende  Strahl 
genau  dem  Durchmesser  des  Gefässes  entspricht;  er  ist  gewöhnlich  viel 
kleiner,  weil  sich  das  Lumen  der  Arterie  an  der  durchschnittenen  Stelle 
der  Quere  nach  zusammenzieht;  nur  die  grossen  Arterien,  wie  die  Aorta, 
die  Aa.  carotides,  femorales,  axillares  haben  so  wenig  Muskelfasern, 
dass  sie  sich  wenigstens  der  Quere  nach  fast  gar  nicht  merkbar  zusammen- 
ziehen. Bei  den  ganz  kleinen  Arterien  hat  diese  Zusammenziehung  des 
durchschnittenen  Lumens  eine  solche  Wirkung,  dass  dieselben  wegen  der 
dadurch  erhöhten  Reibungshindernisse  für  das  Blut  zuweilen  weder 
spritzen,  noch  pulsirend  das  Blut  entleeren;  ja  es  kann  diese  Reibung 
für  ganz  kleine  x\rterien  so  stark  sein,  dass  der  Blutstrom  in  dem  Ende 
derselben  sehr  bald  äusserst  schwierig  und  langsam  wird,  und  das  Blut 
schnell  gerinnt,  so  dass  die  Blutung  von  selbst  steht.  Je  kleiner  die 
Durchmesser  der  Arterien  durch  die  Verminderung  der  Gesammtmasse 
des  Körperbluts  werden,  um  so  leichter  steht  dann  auch  spontan  die 
Blutung  von  Arterien,  die  sonst  der  Stillung  durch  Kunsthülfe  bedürfen 
würde.  Sie  werden  später  oft  Gelegenheit  haben,  in  den  Kliniken  zu 
beobachten,  wie  heftig  das  Blut  beim  Beginn  einer  grösseren  Operation 


Vorlesung  2.     Capitel  T.  27 

spritzt,  und  wie  gegen  das  Ende  derselben  die  Blutung  selbst  bei  Durch- 
schneidung absolut  grösserer  Arterien  als  die  anfangs  durclischnittcnen 
waren,  eine  bedeutend  geringere  ist.  So  kann  die  Verminderung  des 
Gesammtvoluniens  des  Blutes  zu  einer  spontanen  Blutstillung  führen, 
wobei  besonders  auch  noch  die  schwächeren  Herzcontractionen  in  Rech- 
nung zu  bringen  sind.  In  der  That  benutzen  wir  bei  inneren,  für  eine 
directe  Kunsthülfe  unzugänglichen  Blutungen  die  rasche  Blutentziehung 
aus  den  Arnivcnen  (den  Aderlass)  als  Blutstillungsmittel ;  die  künstliche 
Hervorrufung  einer  allgemeinen  Anämie,  natürlich  nur  in  Fällen,  in 
welchen  eine  solche  durch  die  innere  Blutung  noch  nicht  eingetreten  ist, 
wird  in  solchen  Fällen  als  Hülfsmittel  gegen  eine  innere  Blutung  be- 
trachtet, so  paradox  Ihnen  dies  auch  auf  den  ersten  Anblick  erscheinen 
mag.  —  Blutungen  aus  Schnittwunden  der  grossen  Arterienstämme  des 
Rumpfes,  des  Halses  und  der  Extremitäten  sind  immer  so  bedeutend,  dass 
sie  unbedingt  einer  künstlichen  Blutstillung  bedürfen,  es  mtisste  denn 
sein,  dass  die  Oeft'nung  in  ihrer  Wandung  nur  äusserst  fein  wäre.  Wenn 
aber  die  Zerreissung  eiiies  arteriellen  Extremitätenstammes  ohne  Wunde 
der  Haut  zu  Stande  gekommen  ist,  dann  kann  allerdings  durch  den 
Druck  der  umgebenden  Weichtheile  der  Blutstrora  aus  der  Arterie  ge- 
hemmt werden;  derartige  Verletzungen  ziehen  später  anderweitige  Folge- 
zustände nach  sich,  auf  die  Sie  bei  anderer  Gelegenheit  aufmerksam 
gemacht  werden  sollen. 

Die  Blutungen  aus  den  Venen  charakterisiren  sich  durch  das  con- 
tinuirliche  Ausfliessen  dunklen  Blutes.  Dies  gilt  vorzüglich  für  die  Venen 
kleinen  und  mittleren  Calibers.  Diese  Blutungen  sind  selten  von  grosser 
Heftigkeit,  so  dass  wir,  um  eine  genügende  Quantität  Blut  beim  Ader- 
lass aus  den  subcutanen  Armvenen  in  der  Ellenbogenbeuge  zu  erzielen, 
den  Blutabfluss  nach  dem  Herzen  zu  durch  Druck  hemmen  müssen. 
Würde  dies  nicht  gesclieheu,  so  würde  aus  diesen  Venen  nur  beim  Ein- 
stich etwas  Blut  ausfliessen,  die  weitere  Blutung  jedoch  von  selbst  stehen, 
wenn  sie  nicht  etwa  durch  Muskelaction  unterhalten  wird.  Es  kommt 
dies  hauptsächlich  daher,  dass  die  dünne  Venenwandung  zusammenfällt, 
nicht  klafft,  wie  die  durchschnittene  Arterie.  Aus  dem  centralen  Ende 
der  durchschnittenen  Venen  fliesst  das  Blut  wegen  der  Klappen  nicht 
leicht  zurück,  so  lange  die  Klappen  sufficient  sind;  mit  klappeulosen 
Venen  z.  B.  denen  des  Pfortadersystems  haben  wir  es  nur  sehr  selten 
zu  thun. 

Die  Blutungen  aus  den  grossen  Venen  stammen  gehören  immer  zu 
den  gefährlichsten  Erscheinungen.  Eine  Blutung  aus  der  V.  axillaris,  femo- 
ralis,  subclavia,  jugularis  interna  wird  in  den  meisten  Fällen  tödtlich  werden, 
wenn  nicht  rasche  Hülfe  zur  Hand  ist;  die  Verletzung  einer  V.  anonyma  ist 
wohl  als  absolut  tödtlich  zu  betrachten.  Aus  diesen  grossen  Venenstämmen 
fliesst  das  Blut  nicht  continuirlich  aus,  sondern  es  macht  sich  hier  schon 
der  Einfluss  der  Respiration  erheblich  geltend.     Ich  habe  mehre  Mal  bei 


28  Von    den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Operationen  am  Halse  die  Verletzung  der  V.  jugularis  interna  erlebt:  wäh- 
rend der  Inspiration  fiel  das  Gefäss  so  zusammen,  dass  man  es  für  einen 
Bindegewebsstrang  halten  konnte ,  während  der  Exspiration  quoll  das 
schwarze  Blut  hervor  wie  aus  einem  Quell,  ähnlicher  noch  dem  Hervor- 
brodeln des  Wassers  aus  einem  herunter  geschraubten  Springbrunnen. 

Es  kommt  bei  den  Venen,  welche  dem  Herzen  naheliegen,  ausser  dem 
raschen  bedeutenden  Blutverlust  noch  etwas  hinzu,  was  die  Gefahr  be- 
deutend steigert,  dass  nämlich  bei  einer  heftigen  Inspiration,  wo  sich 
das  Blut  nach  dem  Herzen  zu  entleert,  mit  einem  zuweilen  hörbaren 
gurrenden  Geräusch  Luft  in  die  Vene  und  in  das  Herz  eintritt; 
dadurch  kann  der  sofortige  Tod  bedingt  werden,  wenngleich  dies  nicht 
immer  der  Fall  zu  sein  braucht.  Ich  kann  hier  nicht  näher  auf  dieses 
höchst  merkwürdige  Phänomen,  welches  in  seinen  physiologischen  Wir- 
kungen, wie  mir  scheint,  noch  nicht  genügend  aufgeklärt  ist,  eingehen; 
Sie  werden  in  den  Büchern  und  Vorlesungen  über  operative  Chirurgie 
noch  wieder  darauf  aufmerksam  gemacht  werden.  Es  wird  also  erzählt, 
dass  mit  einem  quirlenden  Geräusch  bei  Eröffnung  grosser  Hals- 
oder Axillarvenen  der  Verletzte  sofort  bewusstlos  zusammenstürzt,  und 
nur  in  wenigen  Fällen  durch  sofortige  künstliehe  Respiration  und  andere 
Belebungsmittel  wieder  zum  Leben  zurückgerufen  werden  kann.  Wahr- 
scheinlich wird  durch  die  eingetreteneu  Luftblasen,  welche  bis  in  die 
mittelstarken  Aeste  der  Lungenarterie  vordringen  und  hier  feststecken, 
der  weitere  Zutritt  von  Blut  zu  den  Lungengefässen  plötzlich  gehemmt 
und  durch  das  Aufhören  des  Lungenkreislaufes  und  den  dadurch  ge- 
hemmten Blutzufluss  zum  linken  Herzen  der  Tod  bedingt.  Ich  habe  nie 
etwas  Aehnliches  erlebt,  wenn  ich  auch  schon  Luft  in  die  Vena  jugularis 
interna  habe  eintreten  und  dann  schaumiges  Blut  habe  austreten  sehen; 
dies  hatte  keine  Avahrnehmbare  Wirkung  auf  den  Allgemeinzustand  des 
Operirten.  Es  scheint,  dass  verschiedene  Thiere  sehr  verschieden 
empfänglich  gegen  Eintritt  von  Luft  in  die  Gefässe  sind:  pumpt  man 
mit  einer  Spritze  Kaninchen  nur  wenig  Luft  in  die  V.  jugularis,  so 
sterben  sie  schnell,  während  man  Hunden  zuweilen  mehre  Spritzen  voll 
Luft  einpumpen  kann,  ohne  eine  Wirkung  zu  sehen. 

Wir  unterscheiden  ausser  den  genannten  Arten  der  Blutungen  noch 
die  sogenannten  parenchymatösen  Blutungen,  die  man  unrichtiger 
Weise  mit  den  capillaren  Blutungen  zuweilen  identificirt.  Bei  normalen 
Geweben  eines  sonst  gesunden  Körpers  kommen  die  parenchymatösen 
Blutungen  nicht  aus  den  Capillaren,  sondern  aus  einer  grossen  Anzahl 
kleiner  Arterien  und  Venen,  die  sich  aus  irgend  welchen  Gründen  nicht 
in  das  Gewebe  hineinziehen  und  zusammenziehen,  auch  nicht  durch  das 
Gewebe  selbst  zusammengedrückt  werden.  Eine  Blutung  aus  dem  Corpus 
cavernosum  penis  ist  ein  Beispiel  einer  solchen  parenchymatösen  Blutung, 
wie  sie  in  ähnlicher  Weise  auch  an  den  weiblichen  Genitalien  und  in 
der  Damm-  und  Aftergegend,    ferner  an  der  Zunge  und  am  spongiösen 


Vorlesung  2.     Capitel  I.  29 

Knochen  vorkommen.  Besonders  liäufii;;'  sind  diese  parencliymatüsen 
Blntung'en  an  kranken  Geweben;  sie  treten  ferner  nach  Verletzungen  und 
Operationen  nicht  selten  als  s.  g-.  Nachblutungen  auf,   wovon  später. 

Eines  müssen  wir  hier  noch  erwähnen,  nänilicli,  dass  es  nach  den 
glaubwürdigsten  Berichten  Menschen  gel)en  soll,  die  aus  jeder  kleinen 
unbedeutenden  Wunde  so  heftig  bluten,  dass  sie  sich  aus  einem  Hautriss 
oder  aus  einem  Gefäss  der  Zahnpulpe  nach  Extraction  eines  Zahnes  zu 
Tode  bluten  können.  Diese  Allgemeinkrankheit  nennt  man  Bluter- 
krankheit (Haemophilia),  die  Leute,  die  damit  behaftet  sind,  Bluter 
(Hämophilen  von  alf.ia  und  cpiloo).  Es  besteht  das  Wesen  dieser  Krank- 
heit wahrscheinlich  in  einer  abnormen  Dünnheit  der  Arterienwandung-en, 
die  in  den  meisten  Fällen  angeboren  ist,  vielleicht  jedoch  auch  durch 
krankhafte  Degeneration  mit  Atrophie  der  Gefässhäute  nach  und  nach 
entstehen  kann;  auch  mög-en  abnorme  Druckverhältnisse,  durch  relativ 
zu  grosse  Enge  der  grossen  Arterienstämme  bedingt,  zuweilen  Ursache 
solcher  scheinbar  räthselhaften  Blutungen  sein,  worauf  in  neuester  Zeit 
besonders  Virchow  aufmerksam  gemacht  hat.  Oft  vererbt  sich  dies 
schreckliche  Leiden  in  bestimmten  Familien,  besonders  auf  die  männlichen 
Mitglieder  derselben,  Frauen  sind  seltener  damit  behaftet.  Nicht  allein 
Verwundungen  machen  bei  diesen  Leuten  Blutungen,  sondern  auch  ein 
leichter  Druck  kann  Blutungen  unter  der  Haut  veranlassen;  es  treten 
ganz  spontan  Blutungen  z.  B.  aus  der  Magen-,  der  Blasen -Schleimhaut 
ein,  die  selbst  einen  tödtlichen  Ausgang  nach  sich  ziehen  können.  Nicht 
gerade  nach  grösseren  Verwundungen,  wobei  bald  oder  sofort  ärztliche 
Hülfe  geleistet  wird,  sondern  zumal  nach  kleinen  Verletzungen  kommt  es 
bei  soleheu  Menschen  zu  continuirlichen  Blutungen,  die  schwer  zu  stillen 
sind,  was  theils,  wie  bemerkt,  auf  eine  zu  geringe  Contractionsfähigkeit 
oder  gänzlichen  Mangel  der  Muskulatur  der  Gefässe  hindeutet,  theils  auf 
eine  mangelhafte  Gerinnungsfähigkeit  des  Blutes.  Letztere  hat  mau  durch 
die  Beobachtung  des  ausgeflossenen  Blutes  freilich  nicht  constatiren  können, 
da  dasselbe  in  den  Fällen,  wo  die  Aufmerksamkeit  darauf  gerichtet  war, 
ebenso  gerann,  wie  das  Blut  eines  gesunden  Menschen. 

Auf  einige  Eigenthumlichkeiten  von  Blutungen  an  gewissen  Locali- 
täten  des  Körpers  will  ich  Sie  noch  aufmerksam  m.acheu,  nämlich  auf 
die  Blutungen  im  Pharynx  und  in  dem  hintern  Theil  der  Nase, 
sowie  auf  die  Blutungen  im  Rectum,  obgleich  das  strenggenommen 
in  die  specielle  Chirurgie  gehört.  Wunden,  die  durch  den  geöffneten 
Mund  hinten  im  Pharynx  oder  hinten  in  der  Nase  durch  Zufall  gemacht 
werden,  sind  selten;  doch  können  die  Blutungen  hier  aus  Operations- 
wunden kommen,  denn  nicht  selten  haben  wir  auch  in  diesen  Regionen 
mit  Messer  und  Scheere  zu  schneiden,  oder  Geschwülste  mit  der  Zange 
abzureissen;  auch  kommen  bei  Infectionskrankheiten  (z.  B.  beim  Typhus) 
zuweilen  spontan  intensive  Nasenblutungen  vor.  Nicht  immer  entleeren 
die  Kranken  das  Blut  direct  aus  Nase  und  Mund,  sondern  es  kann  vor- 


30  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  AVeichtheile. 

kommen,  dass  ihnen  das  Blut  am  Pharynx  entlang  durch  den  Oesophagus 
in  den  klagen  läuft,  ohne  dass  sie  es  merken:  es  treten  dann  nur  die 
allgemeinen  Wirkungen  eines  raschen  Blutverlustes  hervor,  die  wir  gleich 
näher  besprechen  wollen,  und  man  ist  nicht  im  Stande,  die  Quelle  der 
Blutung,  die  hinter  dem  Yelum  palatinum  liegen  kann,  zu  sehen;  bald 
erbrechen  die  Kranken  und  entleeren  dabei  auf  einmal  massenhafte  Quan- 
titäten Blut;  sobald  dies  aufhört,  tritt  wieder  eine  Pause  ein  und  die 
Kranken,  vielleicht  auch  der  Arzt,  meinen,  die  Blutung  habe  aufgehört, 
bis  eine  neue  Quantität  Blut  erbrochen  wird,  und  der  Kranke  immer 
matter  wird.  Wenn  der  Arzt  diese  Erscheinungen  nicht  kennt  und  das 
richtige  Verfahren  verabsäiimt,  so  kann  der  Kranke  verbluten.  Ich 
erinnere  mich  eines  solchen  Falles,  wo  mehre  Aerzte  wiederholt -Mittel 
gegen  Blutbrechen  und  Magenblutung  nach  einer  kleinen  Operation  im 
Halse  darreichten  und  erst  durch  einen  erfahrenen  alten  Wundarzt  die 
Quelle  der  Blutung  richtig  erkannt,  durch  locale  Mittel  das  Blut  gestillt 
mid  so  das  Leben  des  Kranken  gerettet  wurde.  —  Aehnlich  kann  es  sieh 
mit  Blutungen  aus  dem  Rectum  begeben.  Das  Blut  fliesst  aus  einer  inneren 
Wunde  in  die  Excavatio  Recti,  die  einer  enormen  Ausdehnung  fähig  ist ; 
der  Kranke  bekommt  plötzlich  sehr  lebhaften  Drang  zum  Stuhl  und  entleert 
massenhaft  Blut.  Dies  kann  sich  mehrmals  wiederholen,  bis  sich  der 
durch  die  Expansion  gereizte  Darm  entweder  zusammenzieht  und  so  die 
Blutung  von  selbst  steht,  oder  bis  dieselbe  durch  Kunsthtilfe  gestillt  wird. 
Ein  rascher  starker  Blutverlust  übt  bald  wahrnehmbare  Ver- 
änderungen am  ganzen  Körper  aus.  Das  Gesicht,  besonders  die 
Lippen  werden  sehr  blass,  letztere  bläulich;  der  Puls  wird  kleiner  und 
verliert  anfangs  etwas  an  seiner  Frequenz.  Die  Körpertemperatur  sinkt 
am  auffallendsten  an  den  Extremitäten;  der  Kranke  wird,  besonders 
wenn  er  aufrecht  sitzt,  leicht  ohnmächtig,  es  schwindelt  ihn,  es  wird 
ihm  übel  zum  Brechen,  es  flimmert  ihm  vor  den  Augen,  in  den  Ohren 
klingt  es,  alle  Gegenstände  um  ihn  herum  scheinen  sich  zu  drehen,  er 
rafft  seine  Kräfte  zusammen,  um  sich  zu  halten,  die  Sinne  schwinden, 
endlich  sinkt  er  um.  Diese  Erscheinungen  der  Ohnmacht  deuten  wir 
auf  rasche  Anämie  des  Hirns.  In  der  horizontalen  Lage  geht  dieser 
Zustand  bald  vorüber:  es  verfallen  oft  Leute  in  denselben  bei  ganz 
geringem  Blutverluste,  zuweilen  mehr  aus  Ekel  und  Entsetzen  vor  dem 
fliessenden  Blut  als  vor  Entkräftung.  Eine  einmalige  Ohnmacht  dieser 
Art  giebt  noch  keinen  Maassstab  für  die  Bedeutung  des  Blutverlustes, 
der  Kranke  kommt  bald  wieder  zu  sich.  —  Dauert  die  Blutung  nun  fort, 
so  stellen  sich  bald  früher  bald  später  folgende  Erscheinungen  ein.  Das 
Gesicht  wird  immer  blasser,  wachsartig,  die  Lippen  hell  und  blassblau, 
die  Augen  matt  glänzend,  die  Körpertemperatur  immer  kühler,  der  Puls 
immer  kleiner,  fadenförmig,  enorm  frequent,  die  Eespiration  unvoll- 
ständig, es  tritt  Erbrechen  ein,  der  Kranke  wird  wiederholt  ohnmächtig, 
immer  matter  und  angstvoller,  endlich  dauernd  besinnungslos,  schliesslich 


Vorlosmiif  ?>.     Cnpitol  T.  31 

treten  Zuckungen  ein  in  Armen  und  l^>(Mnen,  die  sicli  auf  jeden  leichten 
Reiz,  z.  B.  einen  Nadelstich,  erneuern;  dieser  Zustand  kann  in  den  Tod 
übergehen.  Starke  Dvsi)U()e,  SnüerstofChunger,  ist  eins  der  schlinnusten 
Zeichen;  doch  darf  man  aucli  dabei  nie  verzweifeln,  oft  kann  man  noch 
helfen,  wenn  es  auch  sclion  mit  dem  Leben  aus  zu  sein  sclieint.  Zumal 
junge  Frauen  können  enorme  Bhitverluste  ohne  umuittelbare  Lebensgefahr 
ertragen;  Sie  werden  in  der  geburtshülf liehen  Klinik  s});iter  Gelegenheit 
haben,  dies  zu  beobachten;  Kinder  und  alte  Leute  können  am  wenigsten 
viel  Blut  missen.  Bei  sehr  alten  Leuten  kann  ein  starker  Blutverlust, 
wenn  er  auch  nicht  unmittelbar  tödtlich  wurde,  'einen  unheilbaren  und 
nach  Tagen  oder  Wochen  in  den  Tod  übergehenden  Collaps  nach  sich 
ziehen;  es  ist  dies  wohl  leicht  erklärlich  dadurch,  dass  die  Blutmenge 
zunächst  durch  Serum  wieder  ersetzt  wird  und  bei  alten  Leuten  die 
Blutkörperchenbildung  wahrscheinlich  nur  sehr  langsam  nachrückt;  das 
stark  verdünnte  Blut  reicht  nicht  hin,  die  in  ihrem  Stoffwechsel  schon 
sehr  trägen  Gewebe  zu  ernähren.  —  Kommt  der  Kranke  nach  einer 
heftigen  Blutung  wieder  zu  sich,  so  empfindet  er  besonders  sehr  heftigen 
Durst,  als  wäre  der  Körper  ausgetrocknet,  die  Gefässe  des  Darmkanals 
nehmen  begierig  das  massenhaft  getrunkene  Wasser  auf;  bei  gesunden 
kräftigen  Menschen  werden  bald  auch  die  Zellenbestancltheile  des  Blutes, 
woher,  weiss  man  freilich  noch  immer  nicht  genau,  ersetzt;  nach  wenigen 
Tagen  sieht  man  einem  sonst  gesunden  Lidividuum  wenig  mehr  von  der 
früheren  Anämie  an,  bald  spürt  er  auch  in  seineu  Kräften  nichts  mehr 
von  der  frühereu  Erschöpfung. 


Vorlesung  3. 

Behandlung    der    Blutungen:      1)    Ligatur    und    Umstechung    der    Arterien.  Torsion.  — 

2)  Compression,  Fingerdruck,  Wahlstellen  für  die  Compression  grosser  Arterien.  Tourniquet. 

Acupressur.      Einwicklung.      Tamponade.    —    3)    Styptica.    —    Allgemeine  Behandlung 

plötzlich  eintretender  Anämie.     Transfusion. 

Sie  kennen  jetzt,  meine  Herren,  die  verschiedenen  Arten  von  Blutungen. 
Welche  Mittel  haben  wir  nun,  eine  mehr  oder  weniger  starke  Blutung 
zum  Stehen  zu  bringen?  Die  Zahl  dieser  Mittel  ist  sehr  gross,  und  doch 
wenden  wir  nur  wenige  von  ihnen  an,  nur  diejenigen,  welche  die  sicher- 
sten sind.  Hier  haben  Sie  gleich  ein  Feld  der  chirurgischen  Therapie, 
wo  es  darauf  ankommt,  rasch  und  sicher  zu  helfen,  so  dass  der  Erfolg 
nicht  ausbleiben  kann.  Docli  die  Anwendung  dieser  Mittel  will  geübt 
sein;  kaltblütige  Ruhe  und  absolute  Sicherheit  in  der  betreffenden  Ope- 
rationstechnik,   Geistesgegenwart  sind  in  Fällen  von  gefährlichen   Blu- 


32  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

tungeil  die  ersten  Erfordernisse.  In  solchen  Situationen  kann  der  Chirurg 
zeigen,  was  er  zu  leisten  vermag. 

Die  Blutstillungsmittel  zerfallen  in  drei  grosse  Hauptgruppen :  1)  der 
Verschluss  des  Gefässes  durch  Zubinden  oder  Zudrehen  desselben:  die 
Ligatur  oder  die  Unterbindung  und  die  Torsion;  2)  die  Coinpression; 
3)  die  Mittel,  welche  rasche  Blutgerinnung  bewirken,  die  Styptica  (von 
aTvq>to^  zusammenziehen,  hart  machen). 

1)  Die  Ligatur  kann  in  drei  verschiedenen  Formen  zur  Anwen- 
dung kommen,  nämlich  als  Ligatur  des  isolirten  blutenden  Gefässes,  als 
Umstechung  desselben  mit  umliegenden  Weichtheilen,  als  Unterbindung 
in  der  Continuität,  d.  h.  als  Unterbindung  des  Gefässes  entfernt  von 
der  Wunde. 

Diese  verschiedenen  Arten  der  Unterbindung  kommen  alle  fast  nur 
in  Gebrauch  zur  Stillung  von  arteriellen  Blutungen.  Die  venösen  Blu- 
tungen machen  selten  die  Unterbindung  nöthig;  sie  ist  nur  bei  den  ganz 
grossen  Venenstämmen  zuweilen  angezeigt,  wir  vermeiden  sie,  wenn 
irgend  möglich,  da  ihre  Folgen  gefährlich  werden  können:  worin  diese 
Gefahr  besteht,  wollen  wir  später  untersuchen  und  zunächst  nur  von  der 
Unterbindung  der  Arterien  sprechen. 

Nehmen  wir  den  einfachsten  Fall :  es  spritzt  eine  kleinere  Arterie 
aus  einer  Wunde,  so  ergreifen  Sie  zunächst  eine  s.  g.  Schieberpincette, 
fassen  mit  deren  Branchen  die  Arterie  möglichst  isolirt  und  zwar  am 
leichtesten  der  Quere  nach,  stellen  jetzt  den  Schieber  der  Pincette  fest 
und  die  Blutung  ist  vollständig  gestillt.  Die  Schieberpincetten  sind  am 
besten  von  Neusilber  gearbeitet,  weil  dies  Metall  weniger  leicht  rostet 
als  Eisen.  Es  giebt  eine  grosse  Menge  von  verschiedenen  Arten  dieser 
Pincetten,  die  alle  das  Gemeinsame  haben,  dass  sie,  wenn  sie  geschlossen 
sind,  in  dieser  Stellung  fixirt  werden;  die  mechanischen  Hülfsmittel, 
durch  welche  dieser  Verschluss  gebildet  ist,  sind  sehr  verschieden;  je 
einfacher  diese  Mechanik,  um  so  besser.  Es  ist  interessant,  zu  unter- 
suchen, welche  Entw^icklungsphasen  dieses  Instrument  seit  Ambroise 
Pare  durchmachte,  um  zu  der  einfachen  Vollkommenheit  zu  gelangen, 
wie  es  jetzt  ist.  '  In  neuerer  Zeit  w^endet  man  auch  zuweilen  kleine 
federnde  Klammern  an,  um  die  blutenden  Arterien  zusammenzudrücken; 
dieselben  sind  sehr  wohl  brauchbar,  wenn  sie  stark  gearbeitet  sind. 
Ausser  diesen  Pincetten  kann  man  sich  auch  kleiner  gebogener  scharfer 
Haken  bedienen  (Bromfield' scher  Arterienhaken),  um  damit  die  Arterie 
hervorzuziehen,  doch  ist  dies  weit  weniger  praktisch,  da  das  Blut  natür- 
lich während  des  nun  erfolgenden  Zubindens  immer  noch  herausspritzt. 

Haben  Sie  die  Arterie  sicher  gefasst,  so  kommt  es  darauf  an,  diesen 
Verschluss  zu  einem  nachhaltig  wirksamen  zu  machen;  dies  geschieht 
durch  die  Ligatur.  Ueberzeugen  Sie  sich  jedoch  noch  vorher,  dass  Sie 
nicht  etwa  einen  Nervenstamm  mit  gefasst  haben,  da  durch  das  gleich- 
zeitige Umschnüren  eines  Nerven  nicht  allein  dauernde  heftige  Schmer- 


Vorlcsuiifi;  3.      Capitcl   I.  33 

zen,  sondern  auch  gefährliche  allgemeine  Nervenzustände  hervorgebracht 
werden  können.  Zum  Zubinden  der  Arterien  benutzen  wir  Seidenfäden 
von  verschiedener  Stärke,  je  nach  dem  Durclunesser  der  Arterien;  es 
niuss  gute,  feste  Seide  sein,  damit  die  Fäden  nicht  beim  festen  Zu- 
schnüren reissen;  auch  darf  die  Seide  nicht  leicht  Flüssigkeiten  auf- 
saugen. —  Die  Pincette,  welche  an  den  Arterienenden  hängt,  lassen  Sie 
etwas  erhoben  halten,  und  legen  nun^  am  besten  von  unten  her  den  Fa- 
den so  um  die  Arterie,  dass  Sie  zunächst  einen  einfachen  Knoten  machen, 
ihn  dicht  vor  den  Pincettenbranchen  fest  zuschnüren  und  dann  einen 
zweiten  ebenso  darauf  setzen.  Nun  lösen  Sie  die  Pincette,  und  wenn  die 
Ligatur  gut  schliesst,  so  muss  die  Blutung  stehen.  —  Das  Zuschnüren  des 
Knotens  muss  fest  und  sicher  so  gemacht  werden,  dass  man  mit  den 
beiden  Zeigefingerspitzen  die  Fadenenden  vorschiebt  und  stark  anspannt. 
Dies  ist  besonders  nöthig,  wenn  man  sehr  tief  liegende  Arterien  zu  unter- 
binden hat.  Wenn  die  Fäden  gut  sind,  so  genügen  zwei  aufeinander 
gesetzte  einfache  Knoten.  Sie  müssen  auch  diese  kleinen  Manipulationen 
zuvor  an  der  Leiche,  oder  an  einem  lebenden  Thiere  einüben.  Liegt  die 
Ligatur  fest,  so  schneiden  Sie  das  eine  Ende  kurz  ab  und  führen  das 
andere  auf  dem  kürzesten  Wege  zur  Wunde  heraus. 

Es  gelingt  nicht  immer,  die  spritzende  Arterie  isolirt  zu  fassen  und 
sie  isolirt  zu  unterbinden;  zuweilen  zieht  sich  dieselbe  so  stark  in  das 
Gewebe,  zumal  in  die  Muskeln  oder  in  verdicktes  Zellgewebe  hinein, 
dass  ein  isolirtes  Fassen  unmöglich  ist.  Unter  solchen  Umständen  ge- 
lingt es  dann  schwer,  die  Unterbindung  sicher  auszuführen,  besonders 
bindet  man  dann  leicht  die  Pincettenbranchen  mit  in  die  Ligatur,  da 
sich  der  Faden  nicht  weit  genug  vorschieben  lässt.  Hier  ist  dann  das 
Umstechen  der  Arterie  am  Platz.  Nachdem  Sie  mit  irgend  einer 
Pincette  oder  mit  einem  Haken  die  blutende  Stelle  vorgezogen  haben, 
fassen  Sie  eine  starke  halbkreisförmig  gebogene  Nadel  in  einen  Nadel- 
halter, stechen  dieselbe  neben  dem  blutenden  Gefäss  so  ein,  dass  Sie 
dasselbe  von  irgend  einer  Seite,  am  besten  von  unten  umgehen,  führen 
die  Nadel  heraus,  ziehen  sie  mit  dem  Faden  hervor  und  schliessen  nun 
den  Knoten  so,  dass  Sie  das  ganze  Arterienende  kreisförmig  umfassen; 
dann  schnüren  Sie  sehr  fest  zu,  wie  wir  oben  besprochen  haben;  so 
ward  ausser  der  Arterie  etwas  von  der  umliegenden  Substanz  umbunden 
und  die  Arterienmtindung  ebenfalls  geschlossen.  —  Die  Umstechung  darf 
nur  als  ein  ausnahmsweises  Verfahren  angesehen  werden,  weil  das  um- 
schnürte Gewebe,  wenn  auch  in  noch  so  geringer  Masse,  meist  abstirbt; 
die  Ligatur  schneidet  sehr  langsam  durch,  so  dass  die  Lösung  derselben 
dadurch  wesentlich  verzögert  wird.  Dass  man  sich  hüten  muss^  einen 
sichtbaren  Nervenstamm  in  der  Nähe  der  blutenden  Arterie  mit  zu  um- 
schnüren, liegt  wohl  auf  der  Hand.  —  Noch  summarischer  verfährt  man 
bei  der  percutaueu  Umstechung  nach  Middeldorpf;  man  nimmt 
eine  stark  gebogene  grosse  Nadel  und  sticht  z.  B.  bei  einer  Blutung  aus 

Billroth  chir.  Path.  u.  Therap.   7.  Aufl.  3 


34  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

der  Art.  radialis  central  von  der  blutenden  Stelle  einfach  durch  die  Haut 
tief  hinein,  geht  mit  der  Nadel  quer  unter  der  Arterie  fort  auf  die  andere 
Seite  und  sticht  dort  wieder  aus;  der  zugesclmürte  Faden  drückt  neben 
vielen  anderen  Theilen  auch  die  Arterie  zusammen;  der  Faden  bleibt 
2 — 3  Tag-e  liegen.  Ich  empfehle  Ihnen  diese  Methode  nicht;  sie  sollte  nur  im 
Nothfall  und  nur  als  provisorisches  Blutstillungsmittel  gebraucht  werden. 

So  lange  die  blutenden  Arterien  in  der  Wunde  sichtbar  sind,  ist 
immer  zunächst  die  Unterbindung  zu  machen ;  nur  in  den  Fällen ,  wo 
Arterien  aus  dem  Periost  spritzen,  kann  die  Ausführung  der  Unterbindung 
unmöglich  werden,  ebensowenig  ist  sie  bei  Arterien  ausführbar,  welche 
aus  dem  Knochen  hervorspritzen;  hier  kommen  andere  Methoden,  zumal 
die  Compression  in  Anwendung.  — 

Haben  Sie  es  mit  ganz  grossen  blutenden  Arterien  zu  tliun,  so  ist 
das  Verfahren  ganz  dasselbe,  nur,  dass  Sie  doppelt  grosse  Sorgfalt  auf 
das  Isoliren  der  Arterie  legen,  indem  Sie,  nachdem  das  blutende  Ende 
gefasst  ist,  mit  Hülfe  eines  kleinen  Skalpells  oder  einer  anatomischen  Piu- 
cette  das  umgebende  Gewebe  zurückstreifen  und  dann  recht  sorgfältig 
und  genau  unterbinden;  bei  den  meisten  Arterien  müssen  Sie,  wenn  Sie 
das  centrale  und  peripherische  Ende  in  der  Wunde  vor  sich  haben,  auch 
beide  unterbinden,  da  die  Anastomosen  im  arteriellen  System  immerhin 
ausgedehnt  genug  sind,  um,  wenn  auch  nicht  gleich,  doch  später  bei  Aus- 
dehnung der  Nebenäste  auch  das  peripherische  Ende  bluten  zu  lassen. 

Es  kann  der  Fall  vorkommen,  dass  die  Wunde,  aus  welcher  eine 
heftige  Blutung  hervorkommt,  nur  sehr  klein  ist,  z.  B.  eine  "fetich-  oder 
eine  Schusswunde.  Geleitet  durch  Ihre  anatomischen  Kenntnisse  müssen 
Sie  wissen,  welches  grosse  Gefäss  durch  die  vorliegende  Wunde  verletzt 
sein  kann.  Haben  Sie  durch  die  Stärke  der  Blutung  die  Ueberzeugung 
gewonnen,  dass  die  Unterbindung  das  einzige  sichere  Mittel  ist,  die  Blutung 
zu  stillen,  so  bietet  sich  folgende  Alternative:  entweder  Sie  erweitern 
die  vorliegende  Wunde,  suchen  durch  vorsichtig  saubere  Discision  das 
Gefäss  in  der  Wunde  auf,  während  Sie  es  oberhalb  derselben  comprimireu 
lassen,  nachdem  Sie  zuvor  die  Extremität  durch  die  Esmarch'sche  Eiu- 
wicklung  blutleer  gemacht  haben,  wovon  später  —  und  unterbinden  nun 
die  Enden  der  durschnittenen  Arterie,  oder  Sie  suchen,  während  Sie  in  der 
Wunde  das  blutende  Gefäss  comprimiren  lassen,  oberhalb  der  Wunde 
den  centralen  Theil  des  Gefässstammes  der  betreffenden  Extremität  auf, 
und  machen  dort  die  Unterbindung  in  der  Continuität  des  Gefässes. 
Genaue  anatomische  Kenntnisse  über  die  Lage  der  Arterien  und  Uebung 
sind  zu  beiden  Verfahren  absolut  nothwendig.  Welches  von  beiden  Ver- 
fahren Sie  wählen,  hängt  davon  ab,  durch  welches  Sie  voraussichtlieh  am 
schnellsten  zum  Ziel  kommen,  und  durch  welche  Manipulation  eine  ge- 
ringere neue  Verwundung  gemacht  wird.  Glauben  Sie  ohne  bedeutende 
Nebenverletzungen  die  Arterie  in  der  Wunde  leicht  freilegen  zu  können, 
so  wählen  Sie  dies  Verfahren,  als   das  absolut  sichere;    halten  Sie  dies 


Vorlesung  ?>.     Capitol  I.  35 

jedoch  für  sehr  schwierig-,  licg't  an  der  verletzten  Stelle  die  Arterie  z.  1>. 
sehr  tief  nnter  Muskel-  und  Fascienlagen,  zumal  bei  sehr  musculösen 
oder  sehr  fetten  Menschen,  so  machen  Sie  die  schulgerechte  Unterbindung 
des  Gefässstammes  oberhalb  (nach  dem  Herzen  zu)  der  Wunde. 

Auf  diese  durch  viele,  viele  Jahre  geprüften,  aus  theoretischen  und 
praktischen  Gründen  allgemein  angenommenen  Wahlstellen  für  die  Unter- 
bindung der  Gefässstämme  gehe  ich  hier  nicht  ein.  In  der  operativen 
Chirurgie,  in  den  Handbüchern  über  chirurgische  Anatomie  und  zumal  in 
den  Operationscursen  Averden  Sie  darüber  belehrt  und  haben  vor  allem 
Andern  sich  Uebung  in  dem  sicheren  Auffinden,  sauberen  Freilegen  und 
kunstgerechten  Unterbinden  der  Arterien  zu  verschaffen,  bei  der  Sie  sich 
nicht  genug  Pedanterie  und  uniforme  Technik  angewöhnen  können. 

Obgleich  der  hohe  Werth  der  Ligatur  von  allen  Chirurgen  der 
Gegenwart  anerkannt  wird,  so  hat  man  dennoch  nicht  aufgehört,  noch 
einfachere  und  dabei  ebenso  sichere  Verfahren  aufzuspüren;  von  Manchen 
wurde  es  als  ein  besonderer,  meiner  Ansicht  nach  vielfach  übertriebener 
Uebelstand  aufgefasst,  dass  ein  Seidenfaden  für  eine  Zeit  lang  in  der 
Wunde  liegen  bleibe,  und  ein  Stück  der  Gefässe  abgeschnürt  und  damit 
zum  Absterben  und  zur  Fäulniss  geführt  werde.  Ich  übergehe  hier  die 
Versuche  und  Vorschläge,  die  Ligaturen  in  die  Narbe  einheilen  zu 
lassen*),  und  erwähne  nur  die  Torsion  der  blutenden  Arterienenden  als 
ein  Verfahren,  um  die  Gefässe  so  lange  mechanisch  sicher  zu  schliessen, 
bis  dieser  Verschluss  durch  das  Zuwachsen  des  Gefässrohrs  erfolgt.  Man 
fasst  mit  einer  starken,  sehr  exact  schliessenden  Schieberpincette  das 
spritzende  Gefäss  isolirt  in  der  Quer-  oder  Längsachse,  zieht  dasselbe 
etwa  einen  halben  Zoll  hervor,  und  dreht  nun  die  Pincette  und  damit 
auch  die  Arterie  etwa  5 — 0  Mal  um  ihre  Längsachse;  meist  ziehe  ich 
das  Gefäss  so  stark  als  thunlich  hervor  und  drehe  dann  so  lange,  bis 
es  abreisst.  Ich  habe  auf  diese  Weise  blutende  Arterien  von  dem 
kleinsten  bis  zum  Durchmesser  der  A.  brachialis  so  fest  zugedreht,  dass 
die  Blutung  sicher  stand.  Gehen  dicht  oberhalb  des  blutenden  Arterien- 
endes Aeste  ab,  dann  ist  das  Gefäss  nicht  genügend  beweglich,  um  die 
Torsion  sicher  auszuführen ;  aus  diesem  Grunde  ist  mir  bei  der  A.  femo- 
ralis  die  Torsion  erst  einmal  sicher  gelungen. 

2)  Die  Compression.  Das  Zudrücken  des  blutenden  Gefässes  zu- 
nächst mit  dem  Finger  ist  eine  so  einfache,  so  nahe  liegende  Methode 
der  Blutstillung,  wenn  man  es  überhaupt  Methode  nennen  will,  dass  man 
sich  wundern  muss,  wenn  nicht  jeder  Laie  sofort  darauf  verfällt;  bei 
Jedem,  der  ein  paar  Mal  bei  einer  Operation  zugegen  gewesen  ist,  wird 


*)  Schon  lange  sucht  man  nach  einem  Material  zur  Unterbindung,  welches  sicher 
in  die  Gewebe  einheilt,  respective  nachträglich  in  demselben  aufgesogen  wird.  Jetzt  glaubt 
man  in  den  von  Carbolöl  durchtränkten  Darmsaiten  einen  solchen  Stoff  gefunden  zu  haben: 
das  „carbolised  catgut''  hat  neuerdings  viel  Beifall  gefunden,  wenn  auch  bestritten  wird, 
dass  es  immer  resorbirt  werde. 

3* 


36  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

es.  völlig-  instinctiv,  sofort  den  Finger  auf  das  blutende  Gefäss  zu  halten. 
Und  doch,  wie  selten  findet  man,  dass  die  Leute  bei  einer  zufälligen 
Verwundung  an  dies  einfachste  Verfahren  denken !  Da  werden  eher  alle 
Hausmittel  vergeblich  angewandt,  die  Wunde  mit  Spinnwebe,  Haaren, 
Urin  und  allem  möglichen  Dreck  verschmiert,  oder  man  holt  ein  altes 
Mütterchen,  w^elches  durch  einen  Zauber  die  Blutung  beschwören  soll! 
Und  keiner  von  der  Umgebung-  verfällt  darauf,    die  Wunde  zuzuhalten! 

Die  methodische  Compression  kann  in  zweierlei  Intentionen  ange- 
wandt werden,  als  provisorische,  oder  als  dauernde. 

Die  provisorische  Compression,  die  mau  für  so  lange  macht,  bis 
man  sich  entschieden  hat,  wie  die  Blutung  im  vorliegenden  Falle  am 
sichersten  definitiv  zu  stillen  ist,  macht  man  entweder  dadurch,  dass  man 
das  blutende  Gefäss  in  der  Wunde  mit  dem  Finger  fest  g'egen  einen 
Knochen  drückt,  eventuell  die  Wundränder  fest  aneinander  drückt,  oder 
dadurch,  dass  man  den  centralen  Theil  des  Arterienstammes  mehr  oder 
weniger  entfernt  von  der  Wunde  gegen  den  Knochen  drückt;  ersteres, 
wie  schon  früher  bemerkt,  wenn  man  den  Stamm,  letzteres,  wenn  man 
das  blutende  Ende  der  Arterie  unterbinden  oder  die  Wunde  zunächst 
genauer  untersuchen  will. 

Wo  sollen  wir  nun  die  Arterienstämme  comprimiren  und  wie  dies 
am  zweekmässigsten  anfangen?  Sie  stellen  sich  für  die  Compression  der 
A.  carotis  dextra  hinter  den  Kranken,  nehmen  den  zweiten,  dritten  und 
vierten  Finger  Hirer  rechten  Hand,  legen  sie  zusammen,  und  drücken  die 
Fingerspitzen  etwa  in  der  Mitte  der  Halshöhle  am  vorderen  Rande  des 
M.  sternocleidomastoideus  fest  gegen  die  Wirbelsäule,  indem  sie  mit  dem 
Daumen  den  Nacken  umspannen  und  mit  der  linken  Hand  den  Kopf  des 
Patienten  leicht  auf  die  verletzte  Seite  und  etwas  nach  hinten  biegen. 
Sie  müssen  so  die  A.  carotis  deutlich  pulsiren  fühlen.  Der  feste  Druck 
ist  hier  recht  empfindlich  für  den  Kranken,  da  es  unvermeidlich  ist,  dass 
der  N.  vagus  mitgedrückt  und  durch  den  tiefen  Fingerdruck  eine  Span- 
nung der  Theile  erzeugt  wird,  welche  auch  auf  den  Larynx  und  die 
Trachea  wirkt.  Wegen  der  reichen  Anastomosen  beider  Aa.  carotides 
ist  überhaupt  die  Wirkung  der  einseitigen  Carotis-Compression  auf  Stillung 
von  Blutungen  der  Kopf-  und  Gesichtsarterien  nicht  sehr  bedeutend,  und 
die  sichere  vollständige  beiderseitige  Compression  nimmt  so  viel  Eaum 
fort,  dass  man  sich  in  den  meisten  Fällen  mit  einer  Verringerung  des 
Arterienvolumens  durch  unvollständige  Compression  begnügen  muss.  Die 
Compression  beider  Aa.  carotides  ist  eine  für  den  Kranken  immerhin 
schmerzhafte  und  angstvolle  Manipulation,  zumal  durch  den  starken 
mittelbaren  Druck,  welcher  dadurch  auf  den  Larjnx  und  die  Trachea 
ausgeübt  wird ;  sie  kommt  daher  auch  nur  sehr  selten  in  Anwendung.  — 
Die  Compression  der  Art.  subclavia  kann  schon  öfter  noth wendig  wer- 
den, besonders  bei  Verletzungen  dieser  Arterie  in  der  Mohrenheim'schen 
Grube  und  in  der  Achselhöhle.    Auch  hierbei  stehen  Sie  am  besten  hinter 


Vorlesung  3.     Capitel  I.  37 

dem  liegenden  oder  halbsitzenden  Patienten,  neigen  mit  Ihrer  linken  Hand 
den  Kopf  des  Patienten  nach  der  verletzten  (z.  B.  rechten  Seite  und  setzen 
dicht  hinter  dem  äusseren  Kande  der  Clavicularportion  des  erschlafften 
M.  sternocleidomastoideus  den  Daumen  Ihrer  rechten  Hand  fest  ein,  so 
dass  Sie  die  zwischen  den  Mm.  scaleni  hervortretende  Arterie  gegen  die 
erste  Rippe  fest  andrücken.  Der  Druck  ist  auch  liier  wegen  des  theil- 
weis  leicht  mit  zu  comprimirenden  Plex.  brachialis  schmerzhaft,  doch 
kann  man  die  Arterie  hier  vollständig  comprimiren,  so  dass  die  Pul- 
sation der  A.  radialis  aufhört;  es  gehört  dazu  weniger  physische  Kraft 
als  Geschicklichkeit  und  sichere  anatomische  Kenntniss  der  Lage  des 
Gefässes.  Indess  ermüdet  der  angedrückte  Daumen  der  comprimirenden 
Hand  doch  bald,  man  fühlt  dann  auch  bei  starkem  Druck  mit  dem 
Finger  nichts  mehr  und  hat  daher  auf  verschiedene  Instrumente  ge- 
sonnen, durch  die  man  den  Finger  ersetzen  könnte.  Eines  der  be- 
quemsten Mittel  ist  ein  kurzer  grösserer  Schlüssel,  dessen  Bart  Sie 
mit  einem  Taschentuch  umwickeln  und  den  Griff  fest  in  Hire  Vola  manus 
setzen;  den  Bart  des  Schlüssels  setzen  Sie  auf  die  Arterie  und  drücken 
ihn  fest  gegen  die  erste  Rippe.  —  Die  Art.  brachialis  ist  ihrer 
Localität  nach  leicht  zu  comprimiren.  Stellen  Sie  sich  dazu  an  die 
Aussenseite  des  Arms,  umgreifen  Sie  den  Oberarm  mit  Ihrer  rechten 
Hand  so,  dass  Sie  die  zusammengelegten  zw^eiten,  dritten  und  vierten 
Finger  an  der  Innenseite  des  Bauches  des  M,  biceps  in  der  Mitte  des 
Oberarms  oder  etwas  höher  gegen  den  Humerus  anlegen,  mit  dem  Daumen 
den  übrigen  Theil  des  Arms  umfassen  und  nun  die  Finger  fest  andrücken ; 
es  ist  hierbei  nur  die  Schwierigkeit,  den  die  Art.  brachialis  an  dieser 
Stelle  fast  deckenden  N.  mediauus  nicht  mit  zu  comprimiren ;  man  kann 
durch  die  Compression  der  A.  brachialis  den  Radialpuls  leicht  zum  Still- 
stand bringen,  und  bedient  sich  dieser  Compression  mit  grossem  Vortheil, 
wenn  man  wegen  Verletzung  der  A.  radialis  oder  ulnaris  eine  dieser 
Arterien  unterbinden  will,  so  wie  auch  bei  der  Amputation  des  Vorder- 
arms und  des  untern  Theils  des  Oberarms.  -^  Bei  Blutungen  der 
Arterien  der  unteren  Extremitäten  macht  man  die  Compression  der 
A.  femoralis,  wo  sie  anfängt,  diesen  Namen  zu  führen,  nämlich  dicht 
unterhalb  des  Lig.  Poupartii.  Man  drückt  sie  hier,  wo  sie  genau  in  der 
Mitte  zwischen  Tuberculum  pubis  und  Spina  anter.  infer.  crist.  pss.  iL 
liegt,  gegen  den  Ramus  horizontalis  ossis  pubis.  Der  Kranke  muss  dazu 
liegen;  die  Compression  wird  mit  dem  Daumen  ausgeführt  und  ist  leicht, 
da  die  Arterie  hier  ziemlich  oberflächlich  gelegen  ist.  Bis  gegen  das 
untere  Dritttheil  des  Oberschenkels  kann  die  A.  femoralis  noch  gegen 
den  Oberschenkelknochen  ganz  wohl  angedrückt  werden,  doch  ist  dies 
nur  bei  sehr  mageren  Individuen  mit  den  Fingern  sicher  ausführbar,  in 
den  meisten  Fällen  bedient  man  sich  dazu  eines  besonderen  Com- 
pressoriums,  des  s.  g.  Tourniquets. 

Unter  eineni  Tourniquet  verstehen  wir  einen  Apparat,  durch  wel- 


33  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

eben  wir  ein  länglich -oval  geformtes  Stück  Holz  oder  Leder,  eine 
Pelotte,  vermöge  eines  Dreh-,  Schrauben-  oder  Schnallen-Mechanismus 
fest  gegen  eine  Arterie  und  diese  gegen  den  Knochen  andrücken  können. 
Wir  können  dasselbe,  da  eine  längere  Compression  der  A.  brachialis 
oder  femoralis  äusserst  ermüdend  ist,  für  diese  Arterien  sehr  wohl 
als  Aushülfe  brauchen.  —  Die  Form,  deren  wir  uns  jetzt  bedienen, 
ist  das  Schraub entourniquet  von  Jean  Louis  Petit.  Die  an  einem 
Band  befindliche  schiebbare  Pelotte  wird  genau  auf  die  der  Arterie 
entsprechende  Stelle  gelegt,  gegenüber  der  Schraubenapparat,  unter  den 
man  einige  dünne  Lagen  Leinwand  legt,  damit  er  nicht  zu  sehr  die  Haut 
drückt.  Jetzt  schnallt  mau  das  Band  um  die  Extremität  fest  und  kann 
dann  vermittelst  der  Schraube  das  Band,  und  mit  diesem  auch  die 
Pelotte  fester  anziehen,  bis  die  unterhalb  gelegene  Arterie  aufhört,  zu 
pulsiren.  Sollte  man  die  Arterienmündung  z.  B.  in  einer  Amputations- 
wunde nicht  gleich  sehen,  so  lüftet  man  den  Apparat  mit  der  Schraube  ein 
wenig,  lässt  aus  der  Arterie  ein  bischen  Blut  ausfliessen  und  ist  sofort 
orientirt;  man  lässt  gleich  wieder  das  Tourniquet  mit  der  Schraube 
schliessen  und  unterbindet.  Darin  liegt  der  grosse  Vortheil  der  Schraube. 
Wenn  der  Apparat  gut  gearbeitet  und  sicher  angelegt  ist,  leistet  er 
vorzügliche  Dienste.  Freilich  drückt  man  durch  das  die  Extremität  um- 
kreisende Band  auch  die  Venen,  zumal  die  subcutanen  unvermeidlicher 
Weise  etwas  zusammen.  Indess  wirkt  der  Druck  doch  vermöge  der 
Pelotte  vorwiegend  auf  die  Arterie.  Sie  können  sich  mit  Hülfe  eines 
breiten  Bandes  und  eines  Stückchen  rundlichen  Holzes,  oder  einer  auf- 
gerollten Binde  und  eines  Knebels  ein  solches  Tourniquet  leicht  impro- 
visiren,  doch  würde  ich  rathen,  wenn  ein  solches  improvisirtes  Com- 
pressorium  nicht  sehr  fest  und  sicher  schliesst,  lieber  andere  sicherere 
Mittel  der  Compression  anzuwenden,  von  denen  wir  gleich  reden  wollen.  — 
Die  Bequemlichkeit,  mit  Hülfe  des  Tourniquets  bedeutende  Blutungen 
zu  stillen,  könnte  dazu  verleiten,  dasselbe  längere  Zeit  liegen  zu  lassen, 
bis  etwa  die  Blutung  von  selbst  steht ,  und  sich  der  Mühe  der  Unter- 
bindung dadurch  zu  entheben.  Dies  wäre  ein  grosser  Fehler.  Kaum  liegt 
das  Tourniquet  eine  halbe  Stunde,  so  wird  die  Extremität  unterhalb  des- 
selben dunkelblau,  schwillt  au,  wird  gefühllos,  ja  es  kann  die  Circulation 
des  Blutes  in  dem  abgeschnürten  Theit  ganz  aufhören  und  dann  stirbt 
derselbe  ab;  Sie  würden  sich  Ihr  ganzes  Leben  hindurch  Vorwürfe 
machen  müssen  über  einen  solchen  Fehler,  der  das  Leben  Ihres  Krauken 
ernstlich  bedrohen  kann. 

Es  ist  also  die  Anlegung  des  Tourniquets  nur  erlaubt  zur 
provisorischen  Blutstillung.  Mit  dem  Finger  eine  grössere  Arterie 
so  lange  comprimiren  zu  wollen,  bis  die  Blutung  von  selbst  sicher  steht, 
ist  schwer  ausführbar.  Doch  können  Fälle  vorkommen,  wo  die  Com- 
pression mit  dem  Finger  das  einzig  sichere  Mittel  zur  Blutstillung  aus 
kleineren  Arterien  ist,    z.  B.    bei  Blutungen   im  Kectum   oder   tief  im 


Vorlesung  3.     Ciipitel  I.  39 

Pharynx,  wenn  andere  Mittel  im  Stiche  gelassen  liaben;  hier  handelt  es 
sich  zuweilen  darum,  %  bis  I  Stunde  und  länger  mit  dem  Fing-er  zu 
comprimiren,  denn  die  Unterbindung-  der  A.  iliaca  interna  in  dem  ersteren, 
die  der  A.  carotis  in  dem  zweiten  Fall  würde  ein  ebenso  gefährliches 
als  für  die  Dauer  unsicheres  Mittel  zur  Blutstillung  sein. 

Um  die  Gefahr  zu  vermeiden,  welche  nach  der  Umschniirung  der 
Glieder  durch  die  Stauung  des  Venenblutes  entsteht,  kann  man  vor 
Umlegung  des  Tourniquets  die  Extremität  fest  von  unten  her  mit  einer 
Binde  einwickeln,  und  so  das  Blut,  welches  in  der  Extremität  ist,  zurück- 
drücken.  Dies  Verfahren  wurde  früher  zuweilen  an  Gliedern  in  Anwen- 
dung gezogen,  welche  gleich  darauf  amputirt  werden  sollten;  man  be- 
schränkte auf  diese  Weise  die  Blutung  auf  ein  äusserst  geringes  Maass. 
Ein  Arzt  in  Vicenza,  Grandesso  Silvestri,  empfahl  zu  solchen  Ein- 
wicklungen  eine  elastische  Binde  und  statt  des  Tourniquets  ein  dickes 
Gummirohr  zu  brauchen,  mit  welchem  die  Extremität  mehrfach  umschnürt 
wird.  Esmarch  kam,  ohne  von  diesem  wenig  bekannt  gewordenen 
Verfahren  Silvestri's  Kenntniss  zu  haben,  auf  die  gleiche  Methode, 
und  machte  auf  die  grossartige  Wirkung  derselben  aufmerksam,  die 
seitdem  mit  Eeclit  allgemein  verbreitet  ist.  In  der  That  kann  man  an 
den  so  eingewickelten  und  dann  umschnürten  Gliedern  nach  Entfernung 
der  Binde  bei  liegenbleibender  Schnur  selbst  lang  dauernde  Operationen 
ausführen,  ohne  dass  Blut  fliesst;  die  Extremitäten  können  ganz  blutleer 
gemacht  und  bis  zu  einer  Stunde  blutleer  erhalten  werden,  ohne  dass 
das  Leben  dieser  Theile  dadurch  beeinträchtigt  wird;  nach  Unterbindung 
aller  sichtbaren  Gefässe  wird  die  Schnur  gelöst,  und  nun  schiesst  das  Blut 
sofort  wieder  in  die  Gefässe  ein ;  sind  vorher  durchschnittene  Arterien  über- 
sehen, welche  nun  bluten,  so  werden  sie  sofort  gefasst  und  unterbunden. 

Gehen  wir  jetzt  zu  den  Methoden  der  Compression  über,  welche 
die  dauernde  Blutstillung  zum  Zwecke  haben.  In  neuerer  Zeit 
ist  eine  Methode  der  Blutstillung  empfohlen  von  dem  Ihnen  schon 
durch  die  Einführung  des  Chloroforms  bekannten  genialen  Chirurgen  und 
Geburtshelfer  Simpson,  weiland  in  Edinburgh,  eine  Methode,  die  ich  als 
vollständigen  Ersatz  der  Unterbindung  zwar  nicht  anerkennen  kann, 
die  jedoch  in  manchen  Fällen  von  praktischem  Nutzen  ist,  nämlich  das 
Zusammendrücken  des  blutenden  Arterienlumens  durch  eine  Nadel,  die 
Acupressur.  Man  kann  die  Acupressur  in  verschiedener  Weise  zu 
Stande  bringen.  Sie  stechen  z.  B.  an  einem  Amputationsstumpf  eine 
lange  Insectennadel ,  wie  man  sie  zum  Nähen  braucht,  in  Distanz  von 
V4  bis  y.  Zoll  neben  der  Arterie  ziemlich  senkrecht  von  unten  oder  oben 
in  die  Weichtheile  ein,  wenden  die  Nadel  horizontal,  indem  Sie  die  Nadel- 
spitze dicht  über  oder  unter  der  Arterie  fortführen,  und  stechen  die  Nadel 
auf  der  andern  Seite  der  Arterie  in  gleicher  Entfernung,  wie  Sie  die- 
selbe eingestochen  haben,  wieder  aus,  fast  vertikal,  so  dass  die  Arterien- 
mündung durch  die  Nadel  gegen  die  Weichtheile  oder  besser  noch  gegen 


40  ^on  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

einen  Knochen  angedrückt  wird;  sollte  diese  Compression  nicht  völlig 
wirksam  sein,  wie  es  bei  grösseren  Arterien  selten  der  Fall  sein  dürfte, 
so  drücken  Sie  die  Arterie  mittelst  einer  Drahtschlinge  gegen  die  oS^adel. 
Am  liebsten  mache  ich  bei  Amputationen  die  Acupressur  durch  Torsion: 
ich  steche  die  Nadel  quer  durch  das  vorgezerrte  Arterienende,  mache  dann 
mit  der  Nadel  eine  viertel,  halbe  oder  ganze  Drehung  in  der  Eichtung  des 
Eadius  der  Amputationsfläche,  bis  die  Blutung  steht,  und  steche  dann  die 
Nadelspitze  tief  und  fest  in  die  Weichtheile.  Nach  48  Stunden  kann 
man  diese  Nadeln  herausnehmen,  ohne  dass  neue  Blutung  auftritt.  Erst 
die  ausgedehnteren  Erfahrungen  englischer  Chirurgen  über  das  Gelingen 
dieses  kühnen  Verfahrens  haben  mich  ermuthigt,  dasselbe  anzuwenden; 
es  ist  durch  seine  Einfachheit  sehr  praktisch,  und  lässt,  geschickt 
ausgeführt ,  nichts  zu  wünschen  übrig.  Dass  die  Acupressur  die  Unter- 
bindung völlig  verdrängen  sollte,  wie  Simpson  prophezeite,  kann  ich 
vor  der  Hand  noch  nicht  glauben.  Ich  führe  diese  Art  der  Blutstillung, 
welche  ich  seit  einigen  Jahren  bei  den  meisten  Amputationswunden  an- 
wende, mit  langen  goldnen  Nadeln  mit  dickem  Kopf  aus,  weil  anderes 
Metall  zu  leicht  rostet,  und  Silber  zu  weich,  Platin  zu  theuer  ist. 

Von  V.  B  r  u  n  s  sind  in  neuester  Zeit  kleine  Ligaturstäbchen 
angewandt,  mit  welchen  um  die  vorgezogene  Arterie  Schlingen  von 
Seidenfäden  umgelegt  und  fest  angezogen  erhalten  werden ;  man  entfernt 
die  Stäbchen  mit  den  Fäden  wie  die  Acupressurnadeln  nach  48  Stunden; 
ich  habe  dies  Verfahren  neulich  bei  einer  Oberschenkelamputation  an 
der  A.  femoralis  mit  vollkommenem  Erfolg  in  Anwendung  gezogen. 

Bei  Venenblutungen,  bei  Blutungen  aus  einer  grösseren  Anzahl  von 
kleineren  Arterien,  zumal  bei  den  s.  g.  parenchymatösen  Blutungen, 
muss  mit  Hülfe  von  Binden,  Compressen  und  Charpie  die  kunstgerechte 
Einwicklung  oder  die  Tamponade  angewandt  werden. 

Ein  pralles  Ausstopfen  der  blutenden  Wunde  mit  Charpie  und  ein 
reifenartiges  Umlegen  von  Bindentouren  um  eine  Extremität  würden  eben 
so  schädlich  auf  die  Dauer  wirken  als  ein  fest  angelegtes  Tourniquet. 

Haben  Sie  eine  Blutung'  am  Arm  oder  Bein,  die  Sie  durch  Com- 
pression stillen  wollen,  entleeren  sich  z.  B.  grosse  Blutmengen  aus  einer 
stark  ausgedehnten  kranken  Vene,  oder  hat  eine  Blutung  aus  vielen 
kleinen  Arterien  Statt,  so  wickeln  Sie  mit  einer  Binde  die  Extremität 
von  unten  herauf  fest  ein,  nachdem  Sie  zuvor  die  Wunde  mit  einer 
Compresse  und  Charpie  bedeckt  und  der  Länge  nach  mehrfach  schicht- 
weise zusammengelegte  Leinwandwulste  (graduirte  Compressen)  nach 
dem  Verlauf  der  Hauptarterie  auf  die  Extremität  aufgelegt  haben.  Es 
ist  gut,  wenn  Sie  diesem  Verbände,  der  den  Namen  der  Thedeu' sehen 
Einwicklung  führt,  noch  eine  Schiene  anfügen,  damit  die  Extremität 
absolut  ruhig  gestellt  wird,  weil  durch  Muskelcontractionen  die  Blutung 
leicht  wieder  angeregt  werden  kann,  —  Diese  Involutionen,  genau  ge- 
macht, kommen  zumal  im  Felde  bei  Schuss-  und  Stichwunden  in  Anwen- 


Vorlesung;  3.     Capitcl  I.  41 

dung,  und  sind  von  bedeutender  Wirkung;  man  kann  dadurcli  Blutungen 
aus  der  A.  radialis,  ulnaris,  tibial.  postica  und  antica,  seihst  Blutungen 
aus  der  A.  femoralis  und  brachialis  stillen.  Bei  den  erstcren  kleineren 
Arterien  kann  dieser  Verband,  wenn  er  G  bis  8  Tage  liegen  bleibt  — 
dies  ist  zulässig,  weil  durch  die  Art  der  Einwicklung  das  Venenblut  wie 
bei  dem  Esmarch' sehen  Verfahren  zurückgedrückt  wird  und  deshalb 
nicht  stauen  kann  —  die  Blutung  dauernd  stillen,  bei  den  letzteren  hat 
er  meist  nur  die  Bedeutung  einer  provisorischen  Blutstillung;  es  muss 
da  später  in  der  Eegel  die  Unterbindung  folgen,  wenn  man  vor  baldigen 
Wiederholungen  der  Blutung  sicher  sein  will.  Auch  bei  Blutungen  am 
Thorax  kann  man  z.  B.  wiegen  parenchymatöser  Blutung  nach  der  Ent- 
fernung einer  kranken  Brustdrüse,  die  Compression  anwenden,  indem 
man  Compressen  und  Charpie  auf  die  Wunde  legt,  und  diese  Verband- 
stttcke  durch  um  den  Thorax  fest  angelegte  Binden  andrückt.  Ein 
solcher  Verband  belästigt  indessen,  wenn  er  recht  wirksam  sein  soll,  die 
Kranken  in  hohem  Maasse;  es  ist  im  Ganzen  inmier  besser,  dass  Sie 
die  blutenden  Arterien,  wenn  es  auch  oft  viele  sind,  regelrecht  unter- 
binden ;  Sie  sowohl  wie  Ihre  Patienten  werden  sich  besser  dabei  befinden, 
indem  Sie  beide  nicht  so  leicht  durch  die  grade  nach  dieser  Operation 
in  Folge  eiliger  Unterbindung  und  unvollkommener  Compression  ein- 
tretenden Nachblutungen  belästigt  und  beunruhigt  werden. 

An  manchen  Stellen  des  Körpers  können  ^5ie  mit  Hülfe  von  Com- 
pressivbiuden  nichts  ausrichten,  z.  B.  bei  Blutungen  aus  dem  Rectum,  aus 
der  Vagina,  aus  der  Tiefe  der  Nasenhöhle.  Hier  findet  die  Tamponade 
(von  Tampon,  Zapfen)  ihre  iVnwendung.  —  Es  giebt  viele  Arten  von 
Tampons,  zumal  für  Blutungen  aus  der  Vagina  und  aus  dem  Rectum. 
Eine  der  einfachsten  ist  folgende:  Sie  nehmen  ein  viereckiges  Stück 
Leinwand,  dessen  Seiten  etwa  je  1  Fuss  lang  sein  mögen;  dies  schieben 
Sie,  indem  Sie  es  mit  der  Mitte  über  zwei  oder  drei,  oder  die  fünf 
zusammengelegten  Finger  Ihrer  rechten  Hand  legen,  in  die  Vagina  oder 
das  Rectum  hoch  hinauf  und  füllen  nun  den  durch  die  jetzt  folgende 
Entfernung  Ihrer  Hand  entstehenden  Raum  mit  Charpie  fest  aus,  so  viel 
hineingehen  will,  so  dass  die  Vagina  oder  das  Rectum  völlig  von  innen 
ausgedehnt  werden,  und  dadurch  ein  starker  Druck  auf  ihre  Wandungen 
ausgeübt  wird.  Steht  die  Blutung,  so  lassen  Sie  den  Tampon  bis  zum 
anderen  Tage  oder  je  nach  Bedürfniss  etwas  länger  liegen  und  ent- 
fernen ihn  dann  durch  leichten  Zug  an  der^  als  Sack  für  die  Charpie 
dienenden  Leinwand.  Auch  können  Sie  einen  grossen  Charpie-  oder 
Leinwandballen  mit  Fäden  zusammenwickeln,  und  einen  langen  Faden 
daran  lassen,  durch  welchen  Sie  die  ganze  Masse  wieder  hervorziehen; 
da  ein  solcher  Tampon  bald  zu  klein,  bald  zu  gross  ist,  so  würde  ich 
die  erste  Methode  vorziehen,  wobei  man  den  vorgescliobenen  Leinwand- 
sack nach  Bedürfniss  füllen  kann.  Kommt  die  Blutung  aus  der  Portio 
vaginalis  uteri  z.  B.  nach  einer  Operation  au  diesem  Theil,    so  ist  es 


42  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

freilich  viel  sicherer,  mit  einem  grossen  Sims 'sehen  Speculum  die  hintere 
Scheidenwand  zurückzuhalten,  die  Portio  vaginalis  in  Sicht  zu  stellen, 
und  einen  Tampon  unmittelbar  und  fest  gegen  die  blutende  Stelle  anzu- 
drücken, denn  die  Masse  von  Charpie,  welche  nöthig  i^t,  um  die  Vagina 
einer  Frau,  die  mehrfach  geboren  hat,  so  auszufüllen,  dass  kein  Blut 
mehr  neben  und  durch  den  Tampon  hindurch  laufen  kann,  ist  unglaub- 
lich gross,  und  die  Schmerzen,  welche  die  Frauen  dabei  erleiden,  sind 
sehr  bedeutend.  —  Bei  heftigen  Blutungen  aus  der  Nase,  die  meist 
aus  dem  hinteren  Theil  des  unteren  Naseuganges  und  gewiss  nicht 
selten  aus  dem  nach  hinten  gelegenen  cavernösen  Gewebe  der  unteren 
Muschel  kommen,  zeigt  sich  die  Tamponade  der  Nase  von  vornher  durch- 
aus unzureichend  und  nutzlos;  die  Blutung  dauert  fort,  und  das  Blut 
wird  entweder  in  den  Pharynx  entleert  oder  fliesst  aus  dem  anderen 
Nasenloch  hervor,  indem  die  Kranken  durch  i\.ndrücken  des  Velum 
palatinum  an  die  Pharynxwand  den  oberen  Theil  der  Kachenhöhle  ab- 
sperren. Man  musste  also  daran  denken,  die  Nasenhöhle  von  hintenher 
zu  tamponiren,  und  dies  erreicht  man  leicht  mit  Hülfe  des  B eil oc' sehen 
Eöhrchens.  Dies  ausserordentlich  zweckmässige  Instrument  besteht  in 
einer  etwa  fünf  Zoll  langen  Canüle,  deren  eines  Ende  leicht  gekrümmt 
ist;  in  der  Canüle  liegt  eine  sie  weit  überragende  Stahlfeder,  an  deren 
Ende  ein  durchbohrter  Knopf  sitzt,  Sie  bereiten  zuvor  eine  dicke  Charpie- 
wieke  mit  einem  Faden  daran,  die  stark  genug  ist,  eine  Choane  aus- 
zufüllen. Die  Application  dieses  Apparats  wird  nun  so  gemacht,  dass 
Sie  die  Belloc'scbe  Eöhre  mit  zurückgezogener  Feder  in  den  unteren 
Nasengang  einführen,  sie  bis  hinten  vorschieben,  jetzt  die  Feder  hervor- 
drücken, so  dass  dieselbe  unter  dem  Velum  und  im  Munde  zum  Vor- 
schein kommt.  An  den  Knopf  oder  in  das  Loch  desselben  binden  Sie 
den  Faden  der  Wieke  fest  ein  und  ziehen  nun  die  Eöhre  sammt  der 
Feder  wieder  aus  der  Nase  hervor;  der  angebundene  Faden  und  die 
daran  befestigte  Wieke  muss  folgen,  und  Avenn  Sie  den  Faden  fest  an- 
ziehen, so  wird  dieselbe  von  hintenher  fest  in  die  Choane  hineingepresst; 
steht  jetzt  die  Blutung,  wie  dies  gewöhnlich  zu  sein  pflegt,  wenn  die 
Wieke  (die  nicht  zu  lang  sein  darf,  damit  ihr  Ende  nicht  etwa  auf  dem 
Larynx  zu  liegen  kommt)  nicht  zu  dünn  war,  so  schneiden  Sie  den 
Faden  ab,  lassen  den  Tampon  bis  zum  folgenden  Tage  liegen  und  ziehen 
ihn  dann  mit  dem  Faden  hervor,  was  um  so  leichter  geht,  als  er  ge- 
wöhnlich stark  mit  Schleim  bedeckt,  und  dadurch  glatt  wird.  Da  man 
dies  Instrument  nicht  immer  zur  Hand  hat,  so  kann  man  sich  mit  einem 
elastischen  Catheter,  einem  dünnen  Stückchen  Fischbein  oder  dergleichen 
behelfen,  indem  man  dieselben  in  die  Nase  vorschiebt,  mit  dem  Finger 
hinter  das  Velum  palatinum  greift,  und  das  Ende  in  den  Mund  hervor- 
zieht ,  um  den  Faden  mit  der  Wieke  daran  zu  befestigen.  Die  Anwen- 
dung dieser  Ersatzmittel  erfordert  jedoch  mehr  Geschick  und  Gewandtheit 
als  die  Anwendung  der  Belloc'schen  Eöhre. 


Vorlesung  3.     Capitel  I.  43 

3)  Die  Styptica  sind  Mittel,  welche  tlieils  stark  zusammenziehend 
auf  die  Gewebe  wirken,  theils  eine  besonders  rasche  und  feste  Gerin- 
nung- des  Blutes  erzielen.  Die  Zahl  der  empfohlenen  Mittel  ist  ausser- 
ordentlich gross;  wir  erwähnen  nur  diejenigen,  welche  unter  gewissen 
Verhältnissen  erprobten  Erfolg  haben. 

Durch  die  Kälte  werden  nicht  allein  die  Arterien  und  Venenwan- 
dungen zu  Contractionen  gereizt,  sondern  auch  die  übrigen  Weichtheile 
ziehen  sich  zusammen  und  comprimiren  so  die  Gefässe;  der  Blutstrom 
findet  allmählig  grössere  Hindernisse  und  kann  bei  vollkommener  Er- 
frierung selbst  vollständig  stagniren.  Die  Vorstellung  von  der- Wirkung 
der  Kälte  als  Blutstillungsmittel  scheint  mir  jedoch  vielfach  übertrieben; 
ich  rathe  Ihnen,  sich  nicht  zu  sehr  darauf  zu  verlassen.  —  Man  kann 
die  Kälte  in  folgender  Weise  anwenden:  zunächst  kann  man  Eiswasser 
gegen  die  blutende  Wunde  oder  z.  B.  in  die  Vagina,  das  Kectum,  in 
die  Blase  durch  einen  Catheter,  in  die  Nase,  in  den  Mund  spritzen;  es 
vereinigt  sich  hier  der  mechanische  Reiz  des  kräftigen  Wasserstrahls  mit 
demjenigen  der  Kälte;  oder  Sie  nehmen  Eisstiicke,  die  Sie  unmittelbar 
auf  die  Wunde  legen,  oder  in  Höhlen  einschieben,  oder  z.  B.  bei  Magen- 
und  Lungenblutungen  herunterschlucken  lassen;  —  oder  endlich,  Sie 
füllen  eine  Blase  mit  Eis  und  legen  sie  auf  die  Wunde,  um  sie  Stunden 
oder  Tage  lang  liegen  zu  lassen. 

Die  absolute  Ruhe,  die  bei  jeder  Blutung  zu  beobachten  ist,  so  wie 
die  Verkleinerung  der  Arteriendurchmesser  in  Folge  des  bereits  Statt 
gehabten  Blutverlustes  mögen  oft  grösseren  Einfluss  auf  die  Blutstillung 
haben,  als  das  angewandte  Eis,  welchem  dann  allein  die  Wirkung  zu- 
gesprochen wird.  Ich  will  Ihnen  nicht  abrathen  von  der  Anw^endung  der 
Kälte  bei  vorkommenden  massigen  parenchymatösen  Blutungen,  doch 
erwarten  Sie  bei  Blutungen  aus  stärkeren  Arterien  nicht  zu 
viel  davon,  und  vergeuden  Sie  dabei  nicht  zu  viel  Zeit,  denn  hier 
heisst  es:  Zeit  ist  Blut,  Blut  ist  Leben! 

Das  Gleiche  gilt  von  den  örtlich  oft  angewandten  adstringirenden 
Mitteln,  von  dem  Essig,  der  Alaunlösung  und  dergleichen,  die  auch  die 
Gewebe  zusammenziehen  und  dadurch  die  Gefässe  comprimiren;  sie  sind 
recht  gut,  um  etwa  capillare  Nasenblutungen  zu  stillen,  grossartige  Wir- 
kungen dürfen  Sie  jedoch  nicht  davon  erwarten. 

Das  glühende  Eisen,  ferrum  candens,  causticum  actuale,  wirkt 
dadurch,  dass  es  das  Gefässende  und  das  Blut  verkohlt,  und  durch  den 
so  entstehenden  festen  Brandschorf  den  Ausfluss  des  Blutes  hindert. 
Einen  ganz  weissgltthenden,  in  einen  Holzstiel  eingelassenen,  vorn  mit 
einem  kleinem  Knopf  versehenen  Eisenstab  brauchen  Sie  nur  in  die 
unmittelbare  Nähe  der  blutenden  Stelle  zu  halten,  um  sofort  einen 
schwarzen  Schorf  zu  bilden,  ja  zuweilen  flammt  das  Gewebe  schon  durch 
die  strahlende  Wärme  eines  weissglühenden  Eisens.  Ein  rothglühendes 
Eisen  au   die  blutende  Stelle  angedrückt,    hat  dieselbe  Wirkung,    doch 


44  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

verklebt  es  gern  mit  der  gebildeten  Eschara  und  nimmt  sie  wieder  mit 
fort.  Diese  gestielten  Eisenstäbe  pflegt  man  in  einem  Kohlenbecken  durch 
einen  Blasebalg  in  die  gehörige  Hitze  zu  versetzen.  —  Das  Glüheisen 
kann  unter  Umständen  recht  bequem  zur  Blutstillung  sein ;  es  war  früher 
das  berühmteste  Stvpticum,  ehe  man  die  Unterbindung  kannte.  Die 
arabischen  Chirurgen  pflegten  ihre  Messer  zur  Amputation  glühend  zu 
machen,  ein  Verfahren,  welches  selbst  Fabricius  Hildanus  noch  rühmt, 
Avenngleich  er  es  vorzog,  mit  feinen  spitzen  Glüheisen  die  Mündungen 
der  spritzenden  Arterien  isolirt  zu  brennen,  worin  er  eine  Geschicklich- 
keit gehabt  haben  muss,  um  die  man  ihn  beneiden  könnte. 

Noch  in  neuester  Zeit  ist  man  auf  eine  Methode  verfallen,  die  sich 
hieran  anschliesst,  nämlich  das  durch  eine  galvanische  Batterie  glühend 
gemachte  Platin  zum  Operiren  zu  benutzen.  Dies  ist  die  von  Middel- 
dorpf  in  Deutschland  eingeführte  s.  g.  Galvanocaustik,  die  unter 
gewissen  Umständen  mit  Vortheil  angewandt  werden  kann.  —  Nicht 
immer  hat  man  begreiflicher  Weise  ein  besonderes,  für  die  Blutstillung 
geformtes  Glüheisen,  wie  Sie  es  in  den  chirurgischen  Kliniken  finden, 
in  der  Praxis  zur  Hand,  Dieffenbach,  der  genialste  deutsche  Opera- 
teur dieses  Jahrhunderts,  der  zugleich  einer  der  originellsten  Menschen 
war,  stillte  einmal  in  Ermangelung  aller  übrigen  Hülfsmittel  allein  in 
einer  elenden  Wohnung  eine  heftige  Blutung,  die  nach  einer  Geschwulst- 
exstirpation  am  Eücken  eingetreten  war,  mit  einer  Feuerzange,  die  er 
schleunigst  auf  dem  Heerd  glühend  gemacht  hatte.  Eine  Stricknadel  in 
ein  Stück  Holz  oder  einen  Kork  gesteckt  und  am  Licht  erliitzt,  kann 
unter  Umständen  als  Glüheisen  dienen. 

Ein  Mittel,  welches  dem  Glüheisen  in. seiner  Wirkung  nicht  nur 
gleichzusetzen  ist,  sondern  dasselbe  zuweilen  übertrifft,  ist  der  Liquor 
Ferri  sesquiehlorati;  diese  Flüssigkeit  bildet  mit  dem  Blut  ein  so 
festes  lederartiges,  anklebendes  Coagukim,  dass  es  sich  dadurch  vortreff- 
lich als  Stypticum  eignet.  Um  es  anzuwenden,  nehmen  Sie  einen  Charpie- 
bausch,  den  Sie  mit  dem  Liquor  tränken,  und  drücken  ihn,  nachdem  Sie 
zuvor  das  Blut  mit  einem  Schwamm  fortgewischt  haben,  fest  auf  die 
Wunde  zwei  bis  fünf  Minuten  lang :  so  werden  Sie  selbst  ziemlich  starke 
arterielle  Blutungen  damit  stillen  können.  Hilft  die  erste  Application 
nichts,  so  wenden  Sie  es  zum  zweiten  und  dritten  Mal  an;  dies  Mittel 
wird  Sie  selten  im  Stich  lassen,  doch  macht  es  einen  Aetzschorf,  hinter 
welchem  sich  nicht  selten  eine  mit  Gasblasen  gemischte  jauchige  Eiterung 
bildet;  man  wende  daher  auch  dieses  Stypticum  nicht  ohne  dringende 
Noth  an.  — 

Feuers chwamm  und  Löschpapier  auf  blutende  Wunden  zu  legen, 
ist  ein  altes  Volksmittel;  der  Feuerschwamm  verklebt  fest  mit  dem  Blut 
und  der  Wunde,  wenn  die  Blutung  niclit  erheblich  ist;  ohne  gleichzeitige 
Compression  ist  er  wirkungslos  bei  irgend  stärkeren  Hämorrhagien; 
zuweilen  thut  er    gute  Dienste  und  wird  von  manchen  Chirurgen   sehr 


Vorlcsuntf  ?>.     Capil(!l   1.  45 

liocb  g-elialten.  Trockne,  feste  Cliai-])ie,  auf  die  Wunde  g'cdrückt,  hat 
nach  meiner  Erfahrung-  dieselbe  Wirkung-.  Seit  Kurzem  habe  ich  einige 
Male  das  Penghawar  Djanibi  angewandt,  und  kann  bestätig-en,  dass 
es,  fest  auf  die  Wunde  aufg-edriickt,  gut  styptisch  wirkt,  besser  als  Charpie ; 
ob  es  so  wirksam  ist  wie  Liquor  Ferri,  lasse  ich  dahin  g-estellt  sein,  doch 
verschmiert  es  die  Wunden  weniger,  wenn  es  ihnen  auch  mehre  Tage  lang- 
fest anhängt.  Penghawar  Djambi  besteht  aus  hellbraunen  weichen  Haaren 
vomStammvonCibotiumCuminghii,  eines  inOstindien  heimischenBaumfarren. 
Andere  Blutstillungsmittel  sind  das  Terpentinöl  und  Aq.  Binelli, 
worin  hauptsächlich  das  Kreosot  wirksam  ist;  nur  über  das  erste  dieser 
Mittel  habe  ich  eigne  Erfahrung  und  kann  es  Ihnen  selir  empfehlen;  es 
wurde,  als  ich  in  Göttingen  studirte,  besonders  auch  von  meinem  Lehrer, 
Professor  Baum,  ang-erathen,  und  ich  habe  es  einmal  mit  so  eclatantem 
Erfolg  in  einem  verzweifelten  Falle  angewandt,  dass  ich  eine  gewisse 
Pietät  g-egen  dieses  Mittel  habe.  Freilich  ist  es  ein  sehr  heroisches 
Mittel,  nicht  allein,  weil  die  Application  des  Terpentinöls  auf  die  Wunde 
einen  sehr  heftigen  Schmerz  macht,  sondern  auch,  weil  danach,  sowohl 
in  der  Wunde  als  in  ihrer  Umgebung,  eine  heftig-e  Entzündung  entsteht. 
Ich  will  Ihnen  den  Fall  mittheilen,  wo  ich  es  augewandt  habe.  Eine 
junge,  schwächliche  Frau  litt  nach  einer  Entbindung  schon  seit  vielen 
Monaten  an  einer  grossen  Eiterung  hinter  der  rechten  Brust  zwischen 
der  Brustdrüse  und  der  Fascie  des  M.  pectoralis ;  es  waren  bereits  viele 
Incisionen  durch  die  Brust  und  in  ihrer  Circuraferenz  gemacht,  um  dem 
in  grosser  Masse  gebildeten  Eiter  freien  Ausfluss  zu  geben;  doch  bald 
schlössen  sich  die  Oeffnungen  wieder,  und  es  mussten  die  alten  erweitert 
oder  neue  gemacht  werden,  weil  in  der  Tiefe  die  Heilung  nicht  erfolgte. 
Bei  einer  solchen  Incision,  die  ich  machte  und  ziemlich  tief  führte,  trat 
eine  heftige  Blutung  ein;  es  quoll  continuirlich  aus  der  Tiefe  der  Eiter- 
höhle Blut  hervor,  ohne  dass  ich  im  Staude  war,  das  blutende  Gefiiss 
zu  finden;  ich  füllte  zunächst  die  Höhle  mit  Charpie  und  legte  Bindeu- 
touren  darüber;  bald  kam  das  Blut  durch  den  Verband  hervor;  ich  ent- 
fernte ihn,  machte  Injectionen  mit  Eiswasser  in  die  verschiedenen  Oeff- 
nungen, die  Blutung  wurde  massiger,  ich  machte  wieder  einen  festen 
Compressivverband,  die  Blutung  schien  zu  stehen;  kaum  war  ich  in 
meinem  Zimmer  im  Hospital,  als  ich  sofort  von  der  Wärterin  wieder 
gerufen  wurde,  weil  das  Blut  wieder  durch  den  Verband  quoll;  die 
Kranke  war  ohnmächtig  geworden,  sah  leichenblass  aus,  der  Puls  sehr 
klein.  Sofort  musste  der  Verband  wieder  entfernt  werden;  ich  schob 
jetzt  Eisstücke  durch  die  verschiedenen  Oeffnungen  in  die  Höhle  unter 
der  Brust,  doch  stand  die  Blutung  nicht.  Die  Kranke  fiel  von  einer 
Ohnmacht  in  die  andere,  das  ganze  Bett  voll  Blut  und  Eiswasser,  die 
Patientin  mit  kühlen  Extremitäten  und  brechendem  Auge  liegt  bewusst- 
los  vor  mir,  die  Wärterinnen  fortwährend  bemüht,  die  Verblutende  durch 
Vorhalten   von  Ammoniak,    Reiben  der  Stirn  mit  Eau   de  Cologne  zum 


46  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Leben  ziirück/Airufen ;  ich  im  Anfang  meiner  chiruTgischen  Laufbahn 
noch  nicht  durch  ähnliche  Scenen,  die  ich  selbst  veranlasst  hatte,  geübt 
in  Euhe  und  Geistesgegenwart!  mir  wird  diese  Situation  unvergesslich 
sein!  Schon  glaubte  ich,  es  "würde  unumgänglich  sein,  die  Brustdrüse 
rasch  ganz  zu  amputiren,  die  blutende  Arterie  zu  suchen  und  zu  unter- 
binden, als  ich  beschloss,  noch  einen  Versuch  mit  dem  Terpentin  zu 
machen.  Ich  tränkte  einige  Bauschen  Charpie  mit  Terpentinöl,  führte  sie 
in  die  Wundhöhle  ein  und  sofort  stand  die  Blutung,  Die  Patientin  erholte 
sich  bald;  es  entstand  durch  das  Terpentin,  welches  nach  etwa  24  Stun- 
den entfernt  wurde,  eine  sehr  heftige  Eeaction  in  der  Abscesshöhle,  deren 
Wandungen  sich  abstiessen;  eine  kräftig  nachwachsende  Granulations- 
bildung bewirkte  in  drei  Wochen  jetzt  die  Heilung,  an  welcher  Arzt  und 
Patientin  Monate  lang  vergeblich  mit  Ausdauer  und  Geduld  sich  ermüdet 
hatten.  —  Wodurch  die  Blutstillung  bei  Anwendung  des  Terpentinöls 
und  der  Kreosotlösung  zu  Stande  kommt,  vermag  ich  Ihnen  nicht  anzu- 
geben; eine  besonders  feste  Coagulation  des  Blutes  wird  nicht  dadurcli 
erzielt,  wahrscheinlich  erfolgt  durch  den  intensiven  Beiz  dieser  Stotfe  eine 
besonders  energische  Contraction  der  durchschnittenen  Gefässmündungen. 

Im  Ganzen  w^erden  Sie  in  der  chirurgischen  Klinik  selten  die 
Styptica  anwenden  sehen;  sie  sind  mehr  ein  Lieblingsmittel  der  prak- 
tischen Aerzte,  denen  das  Unterbinden  und  Umstechen  der  Arterien  ein 
ungewohntes  Geschäft  ist.  Wo  man  unterbinden  und  comprimiren  kann, 
sollte  man  keine  Styptica  anwenden.  Am  Gesicht,  am  Halse,  am  Peri- 
naeum  kann  man  bei  parenchymatösen  Blutungen  zur  Anwendung  der 
wirksameren  Styptica  mit  Vortheil  schreiten,  wenn  nichts  daran  liegt, 
ob  die  Wunde  in  der  Folge  eitert  oder  nicht;  ist  die  Blutung  aber  be- 
deutend, und  haben  Sie  die  Styptica  im  Stich  gelassen,  so  ist  die  Unter- 
bindung nachträglich  viel  schwieriger,  da  die  Wunden  durch  die  An- 
wendung der  Styptica  oft  schauderhaft  verschmiert  werden. 

Von  der  Anwendung  der  innerlich  zu  gebenden,  als  Styptica  empfoh- 
lenen Arzneimittel  haben  Sie  in  der  chirurgischen  Praxis  nichts  zu 
erwarten.  Absolute  Kühe,  kühles  Verhalten,  Narcotiea,  Abführungsmittel 
bei  congestiven  Blutungen  können  gelegentlich  recht  zweckmässige  Bei- 
hülfen sein,  doch  die  Wirkung  ist  für  die  Blutungen,  mit  denen  wir  es 
in  der  Chirurgie  zu  thun  haben,  viel  zu  langsam. 

Der  allgemeine  Schwächezustand  bei  profusen  Blutungen 
wird  natürlich  durch  die  Stillung  der  Blutung  selbst  am  wirksamsten 
bekämpft,  doch  können,  während  Sie  damit  beschäftigt  sind,  die  sonst 
zur  Hülfe  disponiblen  Personen  dazu  verwandt  werden,  durch  Riech- 
mittel, Besprengen  mit  Wasser  die  Patienten  aus  den  wiederholten  Ohn- 
mächten in's  Leben  zurückzurufen.  Erst  wenn  die  Blutung  gestillt  ist, 
dürfen  Sie  sich  selbst  dieser  Beschäftigung  hingeben;  man  giebt  starken 
Wein,  Rum  oder  Cognac,  warmen  Kaffee,  warme  Suppe,  einige  Tropfen 
Spiritus    aethereus ,     Essigäther ,     iässt     Ammoniak     und    dergleichen 


VorlosTinc;  ?,.     Capifol  T,  47 

ricclicii.  Rasche  künstliche  Erwfirimini;'  (hiicli  llel)ercleckcn  der  Blutenden 
mit  dicken  g'ewänuten  'l'iiclicrn  ist  sehr  wirksam.  Hehr  zweckmässig 
ist  es  auch,  die  Extremitäten  mit  elastisclien  Binden  einzuwickeln,  um 
das  darin  enthaltene  Blut  ins  Innere  des  Körpers  zu  treiben,  da  die 
Extremitäten  das  Blut  elier  eine  Zeit  lang-  ganz  entljehren  können,  als 
das  Hirn ,  das  Herz  und  die  Lungen.  Es  ist  mir  bis  jetzt  nicht  vor- 
gekommen, dass  sich  ein  Patient  unter  meinen  Händen  verblutet  hätte, 
wohl  aber  sind  mir  mehre  Fälle  begegnet,  in  welclien  2  und  5  Stunden 
nach  grossen  Operationen  mit  starkem  Blutverlust  die  Kranken 
unter  Dyspnoe  und  krampfhaften  Zuckungen,  offenbar  in  Folge  des 
starken  Blutverlustes,  starben;  es  giebt  für  solche  Fälle  noch  ein  ex- 
tremes Mittel,  nämlich  dem  blutleeren  Menschen  Blut  von  einem  andern 
gesunden  Menschen  einzuspritzen.  Diese  Operation,  welche  man  Trans- 
fusion nennt,  ist  schon  ziemlich  alt;  sie  entstand  in  der  Mitte  des 
17.  Jahrhunderts,  wurde,  nachdem  man  eine  Zeitlang  über  das  Aben- 
teuerliche derselben  gestaunt  hatte,  bei  Seite  gelegt  und  bespöttelt,  dann 
aber  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  von  englischen  Aerzten,  zumal 
Geburtshelfern,  wieder  aus  dem  Dunkel  der  Vergessenheit  hervorgezogen ; 
nachdem  Dieffenbach  einige  Versuche  gemacht  hatte,  die  Transfusion 
in  Deutschland  wieder  einzuführen,  jedoch  bald  wieder  davon  abstand, 
hat  besonders  Martin  in  neuester  Zeit  das  Verdienst,  auf  diese  Operation 
als  lebensretteude  von  Neuem  hingewiesen  zu  haben,  während  Panum 
den  Gegenstand  physiologisch  experimeiitell  gründlich  behandelte.  Der 
Instrumentenapparat  besteht  aus  Messer,  Pincetten,  Scheere,  einer  dünnen 
Canüle  und  einer  dahineinpassenden  Giasspritze,  die  etwa  4 — 6  Unzen 
Flüssigkeit  hält.  Man  lässt  einem  gesunden,  kräftigen,  jungen  Mann  in  der 
gewöhnlichen,  später  zu  besprechenden  Weise  aus  einer  Armvene  zur  Ader 
und  fängt  das  Blut,  zunächst  etwa  4  Unzen,  in  einem  etwas  hohen  Topf  auf, 
welcher  in  einem  Waschbecken  steht,  das  mit  Wasser  von  Blutwärme 
gefüllt  ist;  das  in  den  Topf  fliessende  Blut  wird  so  lange  mit  einem 
Quirl  gepeitscht,  bis  sich  der  Faserstoff  ausscheidet.  Während  dies  ge- 
schieht, wird  am  Verbluteten  in  der  Ellenbogenbeuge  die  am  deutlichsten 
wahrnehmbare  subcutane  Vene  durch  einen  Hautschnitt  frei  präparirt; 
dann  werden  zwei  Seidenfäden  unter  die  Vene  geführt,  der  untere  wird 
angezogen,  ohne  ihn  zu  schliessen,  damit  bei  dem  nun  folgenden  feinen 
schrägen  Scheerenschnitt  in  die  Vene  kein  Blut  ausfliesst;  in  die  jetzt 
klaffende  Oeffnung  der  Vene  wird  die  Canüle  nach  oben  eingeschoben 
und  der  obere  Faden  über  der  Canüle  gekreuzt,  ohne  einen  Knoten  zu 
machen;  es  muss  etwas  Blut  aus  der  Canüle  hervortreten,  um  diese  zu 
füllen  und  die  Luft  aus  ihr  auszutreiben.  Der  Assistent  hat  unterdessen 
den  Aderlass  am  Gesunden  beendigt  und  das  gequirlte  Blut  durch  ein 
feines  Tuch  filtrirt;  mit  dem  Blut  wird  dann  die  zuvor  erwärmte  Spritze 
gefüllt,  umgekehrt,  die  Luft  ganz  ausgetrieben.  Jetzt  setzt  man  die 
Spritze  fest  in  die  Canüle  und  injicirt  das  Blut  sehr  langsam.     Die  Er- 


48  Von  den  einfachen  Schnittwnnden  der  "Weichtheile. 

fahrang  hat  gelehrt,  dass  es  nicht  rathsam  ist,  mehr  als  4—8  Unzen 
Blut  zu  iujiciren  und  dass  dies  auch  völlig  genügt,  um  das  Lehen  wieder 
wachzurufen.  Man  muss  die  Spritze  nie  ganz  entleeren  und  sofort  auf- 
hören, wenn  der  Kranke  Dyspnoe  hekommt.  Ist  die  lujection  vollendet, 
so  entfernt  man  die  Ligaturfäden  und  die  Caniile  und  behandelt  die 
Wunde  wie  nach  dem  Aderlass.  —  Yiel  ist  darüber  gestritten,  ob  es 
nothwendig  sei,  den  Faserstoff  des  zu  injicirenden  Blutes  zuvor  aus- 
zuscheiden, oder  nicht.  Durch  Panum'  s  Versuche  ist  dies  endgültig  dahin 
entschieden,  dass  der  Faserstoif  zur  Wiederbelebung  durch  „Blutsubsti- 
tution" nicht  nothwendig  ist  und  bei  der  grössten  Vorsicht  doch  durch 
die  Gerinnsel  schädlich  werden  kann.  Die  Zufuhr  von  Blutkörperchen 
als  Sauerstoffträger  scheint  das  wesentlich  Belebende  bei  dieser  Operation 
zu  sein.  —  Vielleicht  hat  die  Transfusion  noch  eine  weitere  Zukunft;  ob 
die  Transfusion  auch  bei  hochgradiger  Anämie,  die  aus  anderen,  zuweilen 
unbekannten  Ursachen  entstand,  von  Nutzen  sein  kann,  ist  nach  den 
Kesultaten  von  Panum's  vorzüglichen  Arbeiten,  wonach  das  Blut  nicht 
selbst  ernährt,  sondern  nur  der  Hauptträger  und  das  Verbreitungsmittel 
für  die  Ernährung  i&t,  wohl  ziemlich  zweifelhaft  geworden.  Die  Ver- 
suche, welche  bei  Verwundeten,  die  in  Folge  profuser  Eiterungen  anämisch 
wurden,  durch  Keudörfer  in  dem  letzten  italienischen  Kriege  gemacht 
sind ,  haben  keine  nachhaltigen  Erfolge  gehabt.  Am  eingehendsten  hat 
sich  in  neuester  Zeit  Hu  et  er  mit  der  Transfusion  beschäftigt;  er. 
zieht  es  vor  und  empfiehlt  dringend  das  gequirlte  und  filtrirte  Venenblut 
in  eine  Arterie  (A.  radialis  oder  tibialis  postica)  in  peripherer  Richtung 
zu  iujiciren,  v>'as  schon  früher  von  v.  Graefe  einmal  ausgeführt  war; 
da  Hueter  durch  Beispiele  gezeigt  hat,  dass  diese  arterielle  Transfusion 
fast  leichter  auszuführen  ist  als  die  venöse,  so  verdient  diese  Methode 
vorzüglicli  deshalb  den  Vorzug,  weil  dabei  die  Gefahr  der  Embolie  in 
die  Lungengefässe  sicher  vermieden  wird;  an  Hand  und  Fuss  sind  bei 
Hueter' s  Operirten  keine  abnormen  Erscheinungen  während  und  nach 
der  Transfusion  aufgetreten;  es  ist  mir  jedoch  zweifelhaft,  ob  es  in  vielen 
Fällen  gelingen  wird,  eine  Canüle  in  die  genannten  kleinen  Arterien 
eines  Verblutenden  zu  bringen,  man  wird  dann  die  A.  brachialis  wählen 
müssen.  —  Die  enorme  Steigerung  der  Körpertemperatur,  das  Auftreten 
blutigen  Urins,  Cyanose,  Dyspnoe  und  andere  Erscheinungen,  welche 
nach  dieser  Operation,  zuweilen  schon  während  derselben  aufti-eten, 
deuten  darauf  hin,  dass  dieselbe  doch  ein  sehr  bedeutender  Eingritf  in 
die  physiologische  Thätigkeit  des  Organismus  ist;  ich  bin  daher  jetzt 
weniger  für  diese  von  mir  und  meinen  Assistenten  bisher  stets  vergeblich 
angewandte  Operation  eingenommen  als  früher,  wo  ich  dieselbe  nur  nach 
den  Berichten  Anderer  kannte.  —  In  allerj  üngster  Zeit  kommen  die 
directen  Transfusionen  mit  Lammblut  (die  erste  und  älteste  Form  dieser 
Operationsmethode)  wieder  in  Aufnahme;  es  sind  Todesfälle  während 
dieser  Operationen  vorgekommen.    Die  Berichte  über  die  als  erfolgreich 


Yoricsiiiio   4.     dupücl   I.  4'J 

bezeichneten  Lanimbluttraiisfusioneii   haben  niicli  bisher  nicht  Ijestimmen 
können,  meine  Ansicht  über  diese  Operationen  zu  ändern. 

.  Auf  die  Behandlung'  der  späteren  Folg'c/ustände  nach  bedeutenden 
Blutverlusten  kann  ich  mich  hier  nicht  einlassen;  dass  im  Allgemeinen 
das  Siechthum,  die  mangelhafte  Neubildung  des  Blutes  dui'cli  roborirende 
und  kräftig  nährende,  diätetische  und  medicamentöse  B(;handlung  be- 
kämpft werden  muss,  wird  Ihnen  einleuchtend  sein. 


Vorlesung  4. 

Klnflen  der  Wunde.  —  Vereinigung  durch  Pflaster.    —  Nalit;    Knopfnalit;    umsclilungene 
Nalit.  —  Aeusserlich  an  der  vereinigten  Wunde  wahrnehmbare  Veränderungen.    —    Ent- 
fernung der  Nähte.  —  Heihmg  per  priman  intentionem. 

Nachdem  Sie  bei  einer  Wunde  die  Blutung-  völlig-  gestillt,  durch 
Auswaschen  mit  kaltem  Wasser  die  Wundfläche  gereinigt  haben,  über- 
zeugen Sie  sich  von  der  Tiefe  und  von  der  Beschaffenheit  der  durch- 
schnittenen Theile  genau  und  achten  dabei  besonders  darauf,  ob  ein 
Gelenk  o^er  eine  Körperhöhle  eröffnet  wurde,  ob  starke  Nervenstämme 
durchschnitten  sind,  ob  ein  Knochen  entblösst  oder  verletzt  ist  etc.  Nun 
richten  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  dritte  Erscheinung  an  der 
frischen  Wunde,  nämlich  auf  das  Klaffen  derselben.  Haut,  Fascien  und 
Nerven  werden  bei  ihrer  Trennung-  theils  in  Folge  ihrer  Elasticität  aus- 
einander weichen,  theils  dadurch,  dass  sie  mit  Muskeln  zusammenhängen, 
die  vermöge  ihrer  Contractilität  sich  sofort  nach  der  Verwundung- 
zusammenziehen,  und  deren  Durchschnittsflächen  also,  zumal  bei  Quer- 
wunden, mehr  oder  weniger  weit  von  einander  stehen  werden. 

Wir  wollen  zunächst  nur  solche  Schnittwunden  ins  Aug-e  fassen,  bei 
denen  kein  Verlust  von  Weichtheilen  Statt  gehabt  hat,  sondern  die 
Weichtheile  nur  einfach  getrennt  sind.  Wenn  eine  solche  Wunde  rasch 
zusammenheilen  soll,  so  ist  dazu  erforderlich,  dass  die  beiden  Wund- 
ränder genau  wieder  so  aneinander  gebracht  werden,  wie  es  vor  der 
Verwundung  war,  und  um  dies  zu  erreichen,  bedienen  wir  uns  theils 
klebender  Pflasterstreifen,  theils  der  Naht. 

Bei  Wunden,  welche  die  Cutis  kaum  durchtrennt  haben,  wie  bei 
den  im  gewöhnlichen  Leben  so  oft  vorkommenden  kleinen  Schnittwunden 
an  den  Fingern,  braucht  mau  bekanntlich  mit  Vortheil  das  Englische 
Pflaster.  Es  besteht  aus  einer  Auf lösung  von  Hausenblase  in  Wasser, 
vermischt  mit  etwas  rectificirtem  Weingeist,  womit  ein  Stück  dünnen, 
jedoch  festen  Seidenzeugs  oder  Papiers  bestrichen  wird;  die  Kückseite 
bepinselt  man  oft  noch  mit  Benzoetinctur,  damit  das  Pflaster  einen 
angenehmen  Geruch  bekommt.  Da  sich  das  Pflaster  unter  feuchten 
Ueberschlägen  leicht  löst,    so    ist   es    oft  ganz  zweckmässig,    dasselbe, 

Billroth  cliir.  Patli.  u,  Ther.   7.  Anfl.  4 


5Q  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

wenn  es  getrocknet  ist,    vermittelst  eines   Pinsels   mit  CoUodium  zu 
bestreichen. 

Collodium  ist  eine  Auflösung-  von  Schiessbaumwolle  in  einer 
Mischung  von  Aether  und  Alkohol ;  wird  diese  Flüssigkeit  auf  das  Pflaster 
und  die  nächste  Umgebung  der  Haut  gestrichen,  so  verdunstet  sehr  bald 
der  Aether  und  es  bleibt  eine  feine,  die  Haut  nicht  selten  stark  zu- 
sammenziehende Membran  zurück,  welche  in  "Wasser  unlöslich  ist.  Von 
der  zusammenziehenden  Wirkung  des  Collodiums  kann  man  auch  noch 
einen  weiteren  therapeutischen  Gebrauch  machen,  indem  man  es  entweder 
allein  oder  besser  nach  vorheriger  Bedeckung  des  betreffenden  Theils 
mit  dünnem  weitmaschigem  Baumwollenzeug  (Gaze)  auf  die  entzündete 
Haut  streicht  und  dadurch  einen  leichten  gleichmässigen  Druck  auf  die- 
selbe ausübt.  Hüten  Sie  sich,  wenn  Sie  Collodium  anwenden,  um  das 
Pflaster  damit  zu  fixiren,  es  unmittelbar  auf  die  Wunde  zu  bringen;  es 
wird  dadurch  nicht  allein  unnöthig  Schmerz  verursacht,  sondern  es  kann 
auch  Entzündung  und  Eiterung  der  Wunde  dadurch  veranlasst  werden, 
die  gerade  vermieden  werden  soll. 

Wenn  die  Cutis  durchtrennt  ist  und  das  Pflaster  irgend  welche 
stärkere  Spannung  beseitigen  muss,  um  die  Wundränder  an  einander 
zu  halten,  so  reicht  das  englische  Pflaster  nicht  mehr  aus ;  Sie  brauchen 
dann  das  eigentliche  Heftpflaster.  Wir  haben  davon  zwei  Arten,  ab- 
gesehen von  unzähligen  Modificationen  und  Versuchen,  dies  Pflaster  theils 
billiger,  theils  besser  herzustellen.  Das  Emplastrum  adhaesivum, 
Emplastrum  diachylon  compositum,  unser  gebräuchliches  Heftpflaster, 
besteht  aus  Baumöl,  Bleiglätte,  Colophonium  und  Terpentin.  Man  streicht 
es  erwärmt  auf  Leinwand,  und  braucht  es  gewöhnlich  in  Form  von 
Streifen,  die  man  über  die  Wunde  legt  und  die  Wundränder  dadurch  au 
einander  zieht  und  zusammenhält.  Dies  Pflaster  klebt,  wenn  es  frisch 
bereitet  ist,  vortrefflich,  löst  sich  indessen,  wenn  man  längere  Zeit  darüber 
feuchte  Umschläge  macht,  ab;  sehr  empfindliche  Haut  wird  durch  dies 
Pflaster,  wenn  es  oft  applicirt  wird,  seltener  nach  einmaliger  Application 
gereizt,  und  kann  man  dann  zu  dem  andern  Heftpflaster  greifen,  dem 
Emplastrum  cerussae  (Emplastrum  adhaesivum  album),  welches  aus 
Baumöl ,  Bleiglätte  und  Bleiweiss  mit  heissem  Wasser  bereitet  wird. 
Dies  Pflaster  klebt  weit  weniger  fest,  hat  jedoch  das  Angenehme,  dass 
es  die  Wundränder  weniger  verschmiert,  wie  das  gelbe  Heftpflaster.  — 
Eine  Mischung  von  beiden  Arten  Pflaster  zu  gleichen  Theilen  mildert 
die  Nachtheile  und  vereinigt  die  Vortheile  beider. 

Im  Allgemeinen  vermeidet  man  bei  grösseren  Wunden  jetzt  mehr 
als  früher  die  Anwendung  der  Klebepflaster  und  braucht  dafür  häufiger 
die  Naht.  Wenn  wir  Wunden  durch  die  Naht  vereinigen  wollen,  wählen 
wir  in  der  Regel  nur  zwischen  zwei  Arten  von  Nähten,  der  Knopfnaht 
(sutura  nodosa)  und  der  umschlungenen  Naht  (sutura  circumvoluta). 
Der  Einwurf,  dass  wir  durch  das  Einlegen  eines  fremden  Körpers,  näm- 


Vnrlesniiir  A.     Cfipitel  I.  51 

lieh  des  Faclen^s  oder  einer  Nadel,  die  Wundriindcr  contiiiiiirlicli  in  einem 
Reiz7Aistand  erlialten,  hat  etwas  Wahres,  vei'mag-  jedocli  den  ungeheuren 
Vortheilen,  welche  wir  durch  die  Sicherlieit  der  Aneinanderfügung-  der 
Wundflächen  vermittelst  der  Naht  erreichen ,  niclit  Eintrag-  zu  thun.  Es 
sind  daher  ausser  den  Klebepflastern  fast  alle  Surrogate  für  die  Naht, 
in  denen  sich  die  ältere  und  moderne  Chirurgie  erschöpft  hat,  nachdem 
sie  eine  Zeitlang  als  Modesache  vielfach  angewandt  wurden,  wieder 
verlassen.  Die  Naht  ist  noch  nicht  verdrängt,  ebensowenig  wie  die  Unter- 
bindung, und  wird  schwerlich  jemals  verdrängt  werden. 

Es  giebt  gewisse  Körpertheile,  wie  die  behaarte  Kopfliaut,  die  Hände 
und  die  Füsse,  wo  man  die  Nähte  gern  vermeidet,  weil  hier  etwa  auf- 
tretende Entzündungsprocesse,  die  man  der  Naht  oft  zugeschrie])en  hat, 
leicht  einen  gefährlichen  Charakter  annehmen;  doch  glaube  ich,  dass 
dabei  ein  Vorurtheil  im  Spiel  ist:  Kopfwunden  disponireu  ül)erhaupt 
leicht  zu  Entzündungen  der  Haut  und  des  Unterhautzellgewebes;  ob 
diese  Disposition  durch  die  Suturen  besonders  erhöht  wird,  ist  durch 
statistische  Nachweise  in  grossem  Maassstabe  nicht  gezeigt.  Es  giebt 
derartige  Glaubensartikel,  die  sich  von  Lehrer  auf  Schüler,  von  Hand- 
buch zu  Handbuch  fortpflanzen;  viele  von  ihnen  sind  eine  Art  Hippo- 
kratischer  Traditionen  voller  praktischer  Wahrheit,  ihnen  versage  ich 
meinen  Respect  nicht;  —  andere  haben  ihren  Grund  nur  in  kritiklosen 
Beobachtungen  und  danach  gebildeten  Vorurtheilen;  zu  diesen  rechne 
icli  das  Verbot,  Kopfwunden  zu  nähen.  Wenn  ich  meine  Erfahrung 
durchlaufe,  sind  mir  mehr  Fälle  von  ungenähten  Kopfwunden  mit  nach- 
folgenden Hautentzündungen  erinnerlich,  als  solche,  wo  Suturen  angelegt 
waren.  Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es  jedoch,  'die  Nähte  am 
Kopf  nicht  zu  fest  zusammen  zu  schnüren,  auftretende  Ent- 
zündungen am  Kopf  rechtzeitig  zu  erkennen  und  unter  solchen 
Umständen  die  Suturen  früh  zu  entfernen.  —  Es  ergiebt  sich  die 
Nothwendigkeit  für  die  Anlegung  einer  Sutur  aus  dem  Grade  des 
Klaffens  der  Wunde,  aus  der  Form  derselben,  ob  z.  B.  Lappeuwunde 
oder  nicht,  von  selbst;  unnöthige  Mühe  wird  man  sich  durch  das  An- 
legen von  Suturen  überhaupt  nicht  machen,  wenn  man  es  nicht  im  ersten 
chirurgischen  Eifer  zu  weit  treibt,  doch  wo  aus  den  angegebenen  Grün- 
den Heftpflaster  nicht  verwendbar  ist  oder  nicht  genügt,  muss  die  Sutur 
angelegt  werden. 

Zur  Knopfnaht  brauchen  wir  chirurgische  Nadeln  und  Seidenfädeu 
oder  Metallfäden.  Die  chirurgischen  Nadeln  unterscheiden  sich  von 
den  gewöhnlichen  Nähnadeln  dadurch,  dass  sie  eine  lanzettförmig  ge- 
schliifene  Spitze  haben  müssen,  weil  diese  leichter  die  Haut  durchdringt, 
als  die  runde  Spitze  der  Nähnadel;  ausserdem  sind  sie  von  etwas 
weicherem  Stahl  als  die  englischen  Nähnadeln,  damit  sie  nicht  so  leicht 
springen.  Hire  Dicke  und  Länge  ist  sehr  verschieden,  je  nachdem  man 
starke  Fäden  tief  durch  die  Wuudräuder  legen  rauss,   z.  B.  bei  grosser 

4* 


52  Von  <äeii  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Spannimg'  derselben,  oder  nur  feine  Fäden  braucht,  um  die  Hautränder 
genau  zu  eoaptiren.  Alle  Nadeln  müssen  jedoch  ein  nicht  zu  eug-es  Oehr 
haben,  damit  man  nicht  mit  dem  Einfädeln  unnütz  Zeit  verliert.  Die 
Form  der  Nadeln  ist  entweder  eine  ganz  grade  oder  eine  gekrümmte. 
Die  Krümmung  soll  nach  den  verschiedenen  Localitäten,  an  denen  mau 
zu  nähen  hat,  eine  verschiedene  sein;  feine,  sehr  stark  gekrümmte  Na- 
deln sind  z.  B.  zum  Nähen  in  der  Gegend  des  inneren  Augenwinkels 
nöthig;  grosse,  stark  gekrümmte  Nadeln  braucht  man  zum  Nähen  des 
bei  einer  Entbindung  zerrissenen  Damms  u.  s.  w.  Die  Krümmung  be- 
trifft entweder  die  ganze  Nadel  oder  nur  die  Spitze;  die  Mannigfaltigkeit 
ist  sehr  gross;  zum  Nähen  der  gewöhnlich  in  der  Praxis  vorkommenden 
Wunden  brauchen  Sie  nur  einige  dünnere  und  dicke,  grade  und  ver- 
schieden gekrümmte  Nadeln. 

Die  Fäden  sind  in  der  Eegel  von  Seide  verschiedener  Stärke,  welche 
der  Dicke  der  Nadeln  entspricht;  früher  habe  ich  immer  mit  der  lockeren 
rothen  Seide  genäht,  die  seit  langer  Zeit  zu  diesem  Zwecke  verwandt 
wird.  In  England  habe  ich  jedoch  eine  Art  ungefärbter,  stark  ge- 
drehter Seide  kennen  gelernt,  die  bei  eminenter  Feinheit  so  fest  ist, 
dass  man  mit  Fäden  von  der  Feinheit  eines  Haares  noch  gut  nähen  und 
Wundränder  zusammenziehen  kann;  diese  Seide  ist  ausserdem  so  wenig 
imbibitionsfähig,  dass  sie  viele  Tage  in  der  Wunde  liegenbleiben  kann, 
ohne  zu  quellen,  ohne  zu  reizen;  ich  brauche  jetzt  nur  noch  diese  s.  g. 
chinesische  Seide.  Ein  anderes  Material  zum  Nähen  ist  von  Amerika 
und  England  aus  in  Schwung  gebracht,  nämlich  Silber-  oder  Eiseu- 
draht.  Derselbe  muss  äusserst  fein  und  weich  sein;  der  Eisendraht 
wird  zu  diesem  Zweck  sehr  stark  geglüht.  Man  ist  zu  der  Anwendung 
dieses  Materials  durch  die  Erfahrung  gekommen,  dass  Metallstücke,  wenn 
sie  im  Körper  stecken  bleiben,  oft  keine  Eiterung  erzeugen,  sondern  ein- 
heilen können.  Man  glaubte  daher,  die  an  den  Stichöffnungen  der  Nähte 
nicht  selten  eintretenden  Eiterungen  vermeiden  zu  können,  wenn  man 
anstatt  des  animalischen  Stoffes,  der  Seide,  Metall  wählte.  Es  ist  in  der 
That  nicht  zu  leugnen,  dass  eine  solche  Eiterung  an  den  Stich  Öffnungen 
der  Metallnähte  viel  weniger  leicht  eintritt,  als  bei  den  Seideufäden, 
doch  ist  durch  experimentelle  Untersuchungen  von  Simon  nachgewiesen, 
dass  die  Eiterung  der  Nahtwunden  wesentlich  von  der  Dicke  der  Fäden 
abhängig  ist.  Ich  kann  es  aus  eigener  Erfahrung  bestätigen,  dass  sehr 
feine  Seidenfäden  ebensowenig  Eiterung  der  Stichcanäle  machen  und 
ebenso  einheilen  können,  wie  Metalldrähte. 

Wir  kommen  nun  zur  Anlegung  der  Knopfnaht.  Sie  führen 
dieselbe  in  folgender  Weise  aus:  mit  einer  Hakenpincette  ergreifen  Sie 
zunächst  den  einen  Wundrand  der  Haut,  stechen  etwa  zwei  Linien  davon 
entfernt  die  Nadel  ein  durch  die  Haut  bis  ins  Unterhautzellgewebe  und 
führen  die  Nadel  in  der  Wunde  wieder  heraus;  jetzt  ergreifen  Sie  mit 
der  Pincette  den  andern  Wundraud  und  stechen  von  der  Wunde  aus  und 


^  Vorlesung  4.     Capifel  T.  53 

von  unten  nach  oben  die  Flaut  dcB  eutg-egeng-esetzten  Wundrandes  durch, 
genau  gegenüber  dem  ersten  Einstich,  ziehen  dann  den  Faden  dui-cli, 
schneiden  soviel  davon  ab,  dass  er  auf  beiden  Seiten  lang  genug  ist, 
um  bequem  einen  Knoten  schlingen  zu  können.  Nun  machen  Sie  einen 
einfachen  oder,  wenn  die  Spannung  der  Wundrändor  gross  ist,  einen 
chirurgischen  Knoten,  schliesseu  ihn  fest  und  achten  dabei  darauf,  dass 
die  Wundränder  genau  zusammenliegen,  dann  setzen  Sie  einen  zweiten 
einfachen  Knoten  darauf  und  schneiden  beide  Fäden  dicht  am  Knoten 
ab,  damit  nicht  etwa  längere  Fadenenden  sich  in  die  Wunde  legen. 

Wollen  Sie  Draht  gebrauchen,  so  fädeln  Sie  denselben  wie 
Seidenfäden  in  die  Nadeln,  knicken  das  kurz  eingezogene  Ende  des 
Drahts  im  Oehr  der  Nadel  und  machen  nun  das  Durchziehen  der  Fäden, 
wie  oben  beschrieben.  Wenn  der  Draht  recht  schön  weich  ist,  so  kann 
man  damit  vortrefflich  einen  Knoten  schlagen,  wie  mit  einem  Seiden- 
faden; doch  ist  diese  ganze  Manipulation  mit  dem  Draht  viel  weniger 
angenehm,  als  mit  dem  Seidenfaden,  und  beim  Schluss  des  Knotens  wirft 
sich  der  Hautrand  leicht  um,  oder  es  bilden  sich  beim  Knotenschluss 
Verschlingungen,  die  den  Halt  weniger  sicher  machen;  zumal  geschieht 
dies  leicht  bei  unserm  deutschen  Eisendraht,  der  in  der  Weichheit  den 
englischen  noch  nicht  erreicht.  Die  angenehmsten  Metallfäden  sind  aus 
einem  Gemisch  von  Gold  und  Silber  und  aus  Platin,  woraus  man  Drähte 
von  wunderbarer  Feinheit,  Weichheit  und  gleichzeitiger  Festigkeit  her- 
stellen kann.  Doch  welche  lächerliche  Idee  wäre  es,  diese  theuren  Sub- 
stanzen der  ordinären  Seide  substituiren  zu  wollen,  durch  welche  Millionen 
von  Wunden  vortrefflich  geheilt  sind  und  in  Zukunft  noch  geheilt  werden.  — 
Ich  übergehe  die  vielen  neuerfundenen  Htilfsmittel,  um  die  Drähte  durch 
Knoten  oder  kurze  Umdrehungen  zu  schliessen;  sie  beweisen,  dass  sich 
auch  denen,  welche  lebhaft  für  die  Metallsuturen  schwärmen,  manche 
Schwierigkeiten  im  Schluss  des  Knotens  dargeboten  haben.  Ich  schlinge 
mit  dem  Draht  zuerst  einen  einfachen  Knoten,  dann  ziehe  ich  denselben 
an,  mache  2 — 3  rasche  kurze  Umdrehungen  und  schneide  nun  beide 
Enden  dicht  an  der  gedrehten  Stelle  ab.  —  Die  Metallfäden  schneiden, 
je  feiner  sie  sind,  die  Wundränder  bei  einiger  Spannung  ebenso  durch, 
wie  die  Seidenfäden. 

Ich  habe  die  vermeintlichen  Naehtheile  der  Seidensuturen  selten  so 
lebhaft  empfunden,  dass  ich  oft  Gelegenheit  nehmen  sollte,  sie  durch 
Metallfäden  zu  ersetzen,  nur  ausnahmsweise  halte  ich  ihre  Anwendung 
von  Vortheil,  wovon  mehr  in  der  Klinik  bei  einzelnen  Vorkommnissen.  — 
Man  hat  sich  in  früherer  Zeit  schon  vielfach  Mühe  gegeben,  die  Seiden- 
fäden durch  noch  andere  Substanzen,  z.  B.  durch  feine  Darmsaiten,  durch 
Pferdehaare  und  dergleichen  mehr,  zu  ersetzen,  doch  haben  diese  Empfeh- 
lungen wenig  Beifall  gefunden;  wir  wollen  uns  daher  zunächst  mit  unsern 
Seidenfäden  begnügen. 

Die  Führung  der  gradeu  Nadeln   mit  dem  Finger  ist  am  gebrauch- 


54  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

lichsten.  Die  krummen  Nadeln  führt  man  indessen,  besonders  wenn  sie 
klein  sind,  besser  und  sicherer,  zumal  bei  tiefliegenden  Wunden,  mit 
besonderen  Nadelhaltern.  Es  giebt  deren  eine  grosse  Menge;  ich 
pflege  von  allen  nur  einen  zu  gebrauchen,  nämlich  den  von  Dieffen- 
bach.  Er  besteht  in  einer  Zange  mit  kurzen  dicken  Branchen,  zwischen 
welchen  man  die  Nadel  fest  und  sicher  hält,  und  sie  in  der  Richtung 
ihrer  Krümmung  in  und  durch  die  Haut  führt.  Dieses  unendlich  ein- 
fache Instrument  reicht  fast  für  alle  Fälle  aus,  und  wird  an  Sicherheit 
der  Nadelhaltuug  und  Führung  in  einer  geübten  Hand  von  keinem 
Instrument  der  Art  übertroffen.  Compiicirte  Instrumente  sind  vorzüglich 
für  ungeschickte  Chirurgen,  sagt  Dieffenbach  in  der  schönen  Ein- 
leitung seiner  operativen  Chirurgie;  nicht  das  Instrument,  sondern  die 
Hand  des  Chirurgen  soll  operiren.  —  Uebung  und  G-ewohnheit  in  dem 
Gebrauch  des  einen  oder  andern  Instruments  machen  für  den  Einen  dies, 
für  den  Andern  das  entbehrlich.  So  ist  es  auch  für  Manche  unbe- 
quem und  umständlich,  mit  der  Pincette  die  zu  nähenden  "Wundränder 
zu  fassen,  wie  ich  es  Ihnen  vorher  zeigte;  doch  ist  dies  Verfahren  weit 
subtiler,  als  die  Wundränder  mit  den  Fingern  zu  halten ;  mir  würde  dies 
letÄere  höchst  unbequem  sein;  hier  ist  es  erlau-bt,  dass  Jeder  nach  seiner 
Weise  und  Gewohnheit  verfährt,  wie  es  ihm  am  bequemsten  und  besten 
von  der  Hand  geht.  —  Wenn  ich  in  grosser  Tiefe,  z.  B.  am  Velum 
palatinum,  im  Eectum,  in  der  Vagina  nähen  muss,  brauche  ich  immer 
gestielte  Nadeln. 

Die  Zahl  cler  anzulegenden  Nähte  hängt  natürlich  von  der  Länge 
der  Wunde  ab;  in  der  Regel  genügen  Suturen  in  der  Distanz  von  einem 
halben  Zoll,  doch  wo  man  sehr  viel  Gewicht  auf  genaue  Apposition  der 
Wundränder  und  feine  Narben  zu  legen  hat,  wie  bei  Wunden  im  Ge- 
sicht, muss  man  dichter  nähen,  und  mit  starken,  weiter  von  den  Wund- 
rändern entfernten  tiefen  und  feinen,  die  Ränder  nur  schmal  fassenden 
Nähten  abwechseln  (Simon 's  Doppelnaht). 

Die  zweite  Art  der  Naht,  die  umschlungene,  auch  wohl  Hasen- 
schartennaht genannt,  besteht  darin,  dass  man  eine  lauge  Stecknadel 
mit  lanzettförmiger  Spitze  durch  die  Wundränder  schiebt,  sie  liegen 
lässt  und  einen  Faden,  der  aus  starker  Baumwolle  oder  Seide  bestehen 
kann,  so  um  die  Nadel  legt,  wie  ich  es  Ihnen  jetzt  zeige.  Sie  fassen 
den  Faden  mit  beiden  Händen,  legen  ihn  parallel  der  Nadel  unmittelbar 
oberhalb  derselben,  also  quer  über  die  Wunde,  ziehen  an  der  Ein-  und 
Ausstichöffnung  der  Nadel  die  Fäden  nach  unten  ziv  an  und  schieben 
dadurch  die  Wundränder  genau  zusammen  (dies  ist  die  s.  g.  Null- 
tour);  nun  wechseln  Sie  die  Fäden  mit  den  Händen,  und  mit  dem 
rechten  Faden  in  der  linken  Hand  umgehen  Sie  von  oben  nach  unten 
das  links  hervorstehende  Ende  der  Nadel,  mit  dem  linken  Faden  in  der 
rechten  Hand  ebenso  das  rechts  hervorstehende  Ende  der  Nadel;  jetzt 
wechseln  Sie  wieder  die  Fäden  und  machen  die  gleichen  s.  g.  Achter- 


Vorlesiinp;  4.     Capifel  T.  55 

toiiren,  im  Ganzen  3 — 4  Mal,  dann  kommt  ein  doppelter  Knoten  darauf, 
die  .Fadenenden  werden  diclit  am  Knoten  abgeschnitten,  und  die  beiden 
,  Enden  der  Nadel  nach  Bediirfniss  mit  einer  eigens  dazu  bestimmten 
kleinen  schneidenden  Zange  abgekürzt,  damit  sie  nicht  in  die  Haut  ein- 
drücken, doch  auch  niclit  zu  kurz,  damit  man  sie  später  leicht  wieder 
ausziehen  kann. 

Es  giebt  noch  eine  grosse  Menge  von  anderen  Nähten,  die  zum 
grössten  Theil  nur  historischen  Werth  haben,  und  die  wir  hier  über- 
gehen ;  einige  besondere  Arten  des  Nähens  kommen  bei  den  Wunden 
einzelner  Theile  z.  B.  des  Darms  in  der  speciellen  Chirurgie  zur  Sprache. 

Worin  liegen  nun  die  Vortheile  der  umschlungenen  Naht  vor  der 
Knopfnaht?  Wann  wenden  wir  die  umschlungene  Naht  an?  —  Es  lassen 
sich  diese  Indicationen  auf  zwei  Momente  reduciren,  wobei  Sie  die 
Knopfnaht  als  die  einfachere  und  gewöhnliche  festhalten.  Die  um- 
schlungene Naht  kommt  in  Anwendung,  1)  wenn  die  Spannung  der 
Wundränder  sehr  bedeutend  ist,  2)  wenn  die  zu  vereinigenden  Hautränder 
dünn  und  ohne  Unterlage  sind,  bei  sehr  schlaffer  Haut,  kurz,  wo  die 
Wundränder  grosse  Neigung  haben,  sich  nach  innen  einzurollen.  Das 
Liegenbleiben  der  Nadeln  giebt  für  beide  Fälle  der  Naht  einen  sicheren, 
festeren  Halt,  die  Nadel  dient  gewissermaassen  als  subcutane  Schiene  für 
die  Hautränder,  sie  werden  von  ihr  getragen  und  durch  die  mehrfach 
darauf  liegenden  Fäden  auch  von  oben  her  sicherer  in  der  Lage 
erhalten.  —  Li  vielen  Fällen,  wo  man  im  Gesicht  genau  näht,  wählt  man 
abwechselnd  bald  die  Knopfnähte,  bald  die  umschlungenen  Nähte;  letz- 
tere dienen  dann  als  Stützen  und  Entspannungsnähte,  erstere  zur  noch 
genaueren  Vereinigung  der  schon  fixirten  Wundränder. 


Ist  die  Blutung  gestillt,  ist  die  Wunde  genau  vereinigt,  so  ist  vor 
der  Hand  Alles  geschehen,  was  zunächst  nöthig  war.  Beobachten  wir 
jetzt,  was  an  der  geschlossenen  Wunde  weiter  vorgeht. 

Unmittelbar  nach  der  Vereinigung  sind  die  Wundrauder  m  der  Kegel 
blass  durch  den  Druck,  welchen  die  Suturen  ausüben,  indem  durch  die- 
selben die  Capillaren  der  Haut  zusammengedrückt  werden,  in  selteneren 
Fällen  ist  die  Färbung  der  Wundränder  der  Haut  eine  dunkelbläuliche-, 
dies  deutet  dann  immer  auf  einen  stark  behinderten  Ettckfluss  des  Blutes 
in  den  Venen,  dessen  Ursache  der  xlusfall  eines  Theils  der  Blutbahn 
ist;  die  Durchschneidung  einer  grösseren  Anzahl  von  Capillaren  kann 
begreiflicher  Weise  die  Comnmnication  zwischen  Arterien  und  Venen 
erheblich  stören,  so  dass  hier  oder  dort  am  Wundrand  die  vis  a 
tergo  für  den  venösen  Strom  fehlt;  im  Ganzen  ist  diese  dunkelblaue 
Färbung  der  Wundränder  selten';  sie  gleicht  sich  entweder  bald  wieder 
von  selbst  aus,  oder  es  stirbt  eine  kleine  Partie  des  Wundrandes  ab, 


5(3  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

eine  Ersclieinung-,  worauf  wir  bei  den  gequetschten  Wunden  zurück- 
kommen, bei  denen  dieser  Fall  selir  häufig-  eintritt. 

Nach  24 — 48  Stunden  finden  Sie  die  Wundränder  nicht  selten  leicht 
g-eseh wellt  und  zuweilen  hellrosa  gefärbt;  diese  Röthe  und  Schwellung 
fehlt  allerdings  oft  (zumal  bei  dicker  Epidermis),  breitet  sich  aber  zu- 
weilen, je  nach  der  Grösse  und  Tiefe  der  Wunde,  auch  je  nach  der 
Spannung  der  Haut,  bald  nur  zwei  bis  drei  Linien,  bald  zwei  bis  drei 
Zoll  um  die  Wunde  herum  aus;  innerhalb  dieser  Breite  bewegt  sich  die 
gewöhnliche,  s.  g.  örtliche  Eeaetion  im  Bereich  der  Wunde.  Die  Wunde 
schmerzt  leicht,  zumal  bei  Berührung.  Bei  Kindern  und  bei  Frauen  mit 
zarter  Epidermis  lässt  sich  das  Alles  am  besten  beobachten.  Um  Wunden 
im  Gesicht  findet  man  nach  24  Stunden  nicht  selten  ausgedehntes  Oedem, 
besonders  an  den  Augenlidern;  dies  erschreckt  den  Anfänger  oft  sehr, 
hat  jedoch  meist  keine  Gefahr.  In  einer  nicht  unbedeutenden  Anzahl 
von  Fällen,  wenn  die  Nähte  nicht  zu  fest  angelegt  sind,  erscheinen  die 
Wundränder  nicht  nur  unmittelbar  nachher  ganz  unverändert,  sondern 
bleiben  es  auch  bis  zur  Heilung;  dies  ist  der  günstigste,  ideal  normale 
Verlauf. 

Oft  genug  zeigen  sich  an  der  Wunde  deutlich  die  Cardinalsymptome 
der  Entzündung :  Schmerz,  Eöthe,  Anschwellung,  auch  vermehrte  Wärme, 
von  der  Sie  sich  durch  das  Auflegen  des  Fingers  auf  die  Umgebung 
der  Wunde  und  vergleichsweise  auf  einen  entfernteren  Körpertheil,  leicht 
überzeugen  können.  Der  Process,  der  nun  an  der  Wunde  vorgeht,  und 
durch  welchen  die  Vereinigung  der  Wundränder  erfolgt,  gehört  in  die 
Kategorie  von  Combinationen  morphologischer  und  chemischer  Metamor- 
phosen der  Gewebe,  welche  man  mit  der  Bezeichnung  Entzündung 
zusammenfasst,  und  zwar  spricht  man  im  gegebenen  Falle  von  einer 
traumatischen  Entzündung,  d.  h.  eine  Entzündung  veranlasst  durch  eine 
Verletzung  (Tgavi-ia). 

Wenn  in  24  Stunden  die  genannten  örtlichen  Erscheinungen  nicht 
eine  über  die  eben  angedeutete  Grenze  hinausgehende  Ausbreitung  ge- 
wonnen haben,  so  dürfen  Sie  v,or  der  Hand  den  Process  als  normal 
verlaufend  ansehen.  Es  ist  eine  wesentliche  Eigenthümlichkeit 
der  traumatischen  Entzündung,  dass  sie  in  reiner  Form  sich 
durchaus  auf  die  Wundränder  beschränkt  und  auch  ohne  beson- 
dere Veranlassung  nicht  progressiv  wird.  —  Am  nächsten  und 
selbst  am  dritten  Tage  können  die  Erscheinungen  noch  ziemlich  auf 
gleicher  Höhe  bleiben,  ohne  dass  dies  als  etwas  Aussergewöhnliches  zu 
betrachten  wäre;  gegen  den  dritten  bis  fünften  Tag  muss  indessen  die 
etwa  vorhandene  Röthe,  Geschwulst,  Schmerz  und  erhöhte  Wärme  des 
verletzten  Theiles  grösstentheils,  wenn  auch  noch  nicht  ganz  verschwinden. 
Steigern  sich  die  Erscheinungen  noch  am  zweiten,  dritten,  vierten  Tage, 
oder  treten  einige  von  ihnen,  z.  B.  heftiger  Schmerz,  starke  Schwellung  an 
diesen  Tagen  erst  recht  stark  hervor,  nachdem  sie  bereits  vorübergegangen 


Vorlesiiiio-  4.     Capitel  I.  57 

schienen,  oder  dauern  sie  mit  steig-endcr  Intensität  bis  über  den  fünften, 
sechsten  Tag'  liinaus,  so  sind  dies  Zeichen,  dass  der  Verlauf  der  Heikmg' 
von  dem  gewünschten  normalen  abweicht.  Das  wird  sich  auch  vor  Allem 
iu  dem  Allgemeinbefinden  aussprechen.  Der  ganze  Organismus  reagirt 
auf  den  ihm  an  einem  Theile  zugefügten  Reiz,  wenn  aucli  bei  kleinen 
Wunden  in  oft  sehr  geringem  Grade.  Auf  diese  allgemeine  Eeaction, 
„das  Wundfieber",  kommen  wir  am  Schluss  dieses  Capitels.  Zunächst 
wollen  wir  uns  noch  ausschliesslicli  an  den  Zustand  des  verwundeten 
Körpertheils  selbst  halten. 

Am  dritten  Tage,  oft  schon  am  zweiten  (nach  24  Stunden)  können 
Sie  mit  Vorsicht  die  Nadeln  der  umschlungenen  Nähte  herausziehen,  vor- 
ausgesetzt, dass  Sie  ausserdem  nocli  Knopfnähte  angelegt  haben.  Sie 
nehmen  zu  diesem  Zweck  am  besten  die  früher  Ihnen  gezeigte  Dieffen- 
bach'sche  Nadelzange,  mit  welcher  die  Nadel  gefasst  wird,  während 
Sie  einen  Finger  leicht  fixirend  auf  die  umschlungenen  Fäden  legen  und 
nun  mit  sanften  Rotationen  die  Nadel  ausziehen.  Die  Fäden  bleiben 
gewöhnlich  auf  der  Wunde,  mit  der  sie  durch  etwas  getrocknetes  Blut 
verklebt  sind,  als  eine  Art  Klammer  liegen;  sie  lösen  sich  später  von 
selbst;  durch  ein  gewaltsames  Abreissen  der  Fäden  würden  Sie  an  der 
Wunde  unnöthig  zerren  und  möglicher  Weise  die  frisch  verklebten  Wund- 
ränder aus  einander  reissen.  Befühlt  man  in  dieser  Zeit  vorsichtig  die 
Wundränder,  so  wird  man  sie,  falls  das  Oedem  bereits  geschwunden  ist, 
etwas  derber  finden  als  die  nächste  gesunde  Umgebung;  dieser  Zustand 
derber  Infiltration  verliert  sich  erst  in  einigen  Tagen. 

Am  dritten  Tage  entfernen  Sie,  wenn  Sie  viele  Knopfnähte  angelegt 
haben,  einige,  die  wenig  zu  halten  haben,  andere  am  vierten  und  fünften 
Tage;  nur  an  stark  gespannten  Hautstellen  lässt  man  wohl  ausnahms- 
weise die  Fäden  acht  Tage  und  darüber  liegen  oder  lässt  sie  selbst  die 
Wundränder  durchschneiden,  wenn  das  längere  Zusammenhalten  der  viel- 
leicht theilweis  auseinander  geklafften  Wundränder  von  irgend  welchem 
erheblichen  Nutzen  sein  kann.  Ueberschreitet  die  Ausbreitung  der  Ent- 
zündung frühzeitig  das  Maass  des  Normalen,  so  muss  man  die  Suturen 
früher  entfernen,  damit  sie  nicht  etwa  den  Reizzustand  noch  erhöhen;  nicht 
selten  findet  sich  dann  zersetztes  oder  mit  Eiter  gemischtes  Blut  in  der  Tiefe 
der  Wunde  als  Ursache  der  aussergewöhnlichen  Reizungserscheinungen. 

Bei  der  Entfernung  der  Knopfnähte  haben  Sie  folgende  kleine  Cau- 
telen  anzuwenden.  Sie  schneiden  den  Faden  an  einer  Seite  des  Knotens 
durch,  wo  Sie  am  leichtesten  mit  einem  feinen  Scheerenblatt  unter  den- 
selben eindringen  können,  ohne  die  Wundränder  irgendwie  zu  zerren; 
dann  fassen  Sie  den  Faden  am  Knoten  mit  einer  anatomischen  Pincette 
und  ziehen  ihn  nach  der  Seite  hin  aus,  wo  Sie  den  Faden  durch- 
geschnitten haben,  damit  Sie  die  Wundränder  durch  das  Ausziehen  der 
Fäden  nicht  etwa  von  einander  reissen. 

Glauben  Sie,  dass  nach  Entfernung  der  Suturen  die  Verklebung  der 


58  YoTi  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Wunde  noch  zu  schwach  sei,  um  für  sich  das  Auseinanderweichen  der- 
selben zu  hindern,  so  können  Sie  durch  Streifen  von  englischem  Pflaster, 
welche  Sie  durch  die  Stichöffuungen  der  Nadeln  quer  über  die  Wunde 
legen  und  mit  Collodium  an  den  Enden  (nicht  auf  der  Wunde)  fixiren, 
für  einige  Tage  noch  einen  Halt  geben,  der  fest  genug  ist,  die  Zerrung 
der  Wundränder  zu  hindern,  wie  sie  z.  B.  bei  Wunden  im  Gesicht,  bei 
den  mimischen  Bewegungen  unvermeidlich  sind. 

Am  sechsten  bis  achten  Tage  sind  die  meisten  einfachen  Schnittwunden 
fest  genug  verwachsen,  um  ohne  weitere  Stütze  zusammen  zu  halten,  ja  bei 
vielen  ist  dies  schon  am  zweiten  bis  vierten  der  Fall.  Ist  allmählig  im 
Verlauf  der  folgenden  Tage  das  neben  der  Wunde  vielleicht  hier  und 
da  angetrocknete  Blut  durch  vorsichtiges  Abwaschen  entfernt,  so  präsen- 
tirt  sich  nun  die  junge  Narbe  als  feiner  rother  Streif,  als  eine  kaum 
sichtbare  feine  Linie.  —  Den  eben  beschriebenen  Process  der  Wund- 
heilung nennt  man  die  Heilung  per  primam  intentionem. 

Die  Narbe  verliert  im  Verlauf  der  nächsten  Monate  ihre  röthliche 
Farbe,  ihre  Härte,  und  wird  dann  zuletzt  bekanntlich  weisser  als  die 
Haut  und  eben  so  weich  als  diese,  so  dass  man  sie  nach  Jahren  noch  stets 
als  feine,  weisse  Linie  erkennt.  Oft  verschwindet  sie  nach  mehren  Jahren 
fast  völlig.  Mancher  von  Hmen,  der  mit  vielen  noch  stark  sichtbaren 
Narben  im  Gesicht  die  Universität  verlässt,  mag  sich  damit  trösten,  dass 
dieselben  nach  6 — 8  Jahren,  wo  sie  dem  Philistergesicht  weniger  an- 
stehen als  dem  Burschen,  kaum  noch  sichtbar  sind.  Tempora  mutantur 
et  nos  mutamur  in  illis! 


Vorlesung  5. 

Ueber  Entzündung.    —   Die  feineren  Vorgänge    bei  der  Heilung  per  primam  intentionem. 

—  Gefässausdehnung  in   der  Nähe    der  Wunde.     Fluxion.     Verschiedene  Ansichten  über 

die  Entstehungsursachen  der  Fhixion. 

Meine  Herren! 
Sie  kennen  jetzt  die  mit  freiem  Auge  sichtbaren  Erscheinungen, 
welche  sich  an  der  Wunde  während  ihrer  Heilung  darbieten;  versuchen 
wir  nun  einen  Blick  in  die  Vorgänge  zu  nehmen,  welche  in  den  Geweben 
sich  von  der  Verletzung  an  bis  zur  Bildung  der  Narbe  entfalten.  Man 
hat  diese  Vorgänge  schon  seit  langer  Zeit  genauer  zu  studiren  und  zu 
erkennen  gestrebt,  indem  man  Thieren  Wunden  zufügte  und  diese  Wunden 
in  den  verschiedensten  Zeiten  untersuchte;  doch  erst  die  genaueste 
mikroskopische  Erforschung'  der  Gewebe  und  die  directe  Beobachtung 
ihrer  Veränderungen  nach  der  Verletzung  hat  uns  in  den  Stand  gesetzt, 


Vorlesuiiff  5.     Capitel  T.  59 

ein  vollständiges  Bild  des  Wimdheilungsprocesses  zu  constmiren.  Ich  will 
versuchen,  Ihnen  die  Eesultatc  dieser  Untersuchungen,  die  ich  bis  in  die 
neueste  Zeit  vielfach  zu  meinem  8pccialstudium  gemacht  habe,  in  Kürze 
übersichtlich  darzustellen. 

Die  interessanten  Resultate,  zu  denen  man  auf  die  erwähnte  Weise 
gelangt,  haben  wesentlich  dazubeigetragen,  dass  man  unter  „  Entzündung" 
der  Hauptsache  nach  die  Reihenfolge  von  Veränderungen  zu  verstehen 
pflegt,  welche  man  durch  die  mikroskopische  Untersuchung  an  den 
Geweben  wahrzunehmen  im  Stande  ist.  Wir  sind  in  neuerer  Zeit  ge- 
wöhnt, diese  morphologischen  Vorgänge  gradezu  für  das  Wesentliche 
des  Entzündungsprocesses  zu  nehmen,  ja  an  das  Auftreten  und  typische 
Ablaufen  dieser  histopoetischen  Vorgänge  die  Bezeichnung  „entzündlicher 
Process"  zu  knüpfen.  Ich  möchte  nicht  Ihr  Interesse  an  diesen  Dingen 
schon  jetzt  abschwächen,  doch  ist  es  grade  der  herrschenden  Zeitströmung 
wegen  nöthig,  dass  ich  Sie  im  Voraus  darauf  aufmerksam  mache,  dass  — 
wie  bei  allem  organischen  Wachsthum  und  bei  jeder  Umbildung  und 
Instandhaltung  von  Geweben  des  Körpers  —  die  Form,  die  kleinste  wie 
die  grösste,  doch  immer  das  Produkt  der  chemischen  und  physikalischen 
Kräfte  ist,  welche  der  grade  vorhandenen  und  ihr  continuirlich  zugeführten 
Materie  inhäriren;  der  entzündliche  Process  ist  wie  jeder  physiologische 
Process  im  Körper  ein  chemisch-physikalischer;  ihn  sehen  wir  niemals,  auch 
nicht  mit  den  besten  Mikroskopen;  wir  sehen  nur  die  Resultate  seiner 
Wirkung.  Diese  Resultate,  Zerstörung  und  Neubildung  von  Geweben, 
haben  zumal  in  ihrem  typischen  Ablauf  manches  Eigenthümliche,  doch 
bewegen  sie  sich  in  so  weiten  Grenzen  wie  Tod  und  Leben;  auch  die  Ge- 
webe können  plötzlich  absterben  oder  Jahre  lang  hinsiechen ;  von  zwei 
Neubildungen  völlig  gleicher  Structur  kann  die  eine  in  wenigen  Tagen 
entstanden  sein,  die  andere  mehre  Monate  zu  ihrer  Entwicklung  gebraucht 
haben ;  ganz  verschiedene  Grundursachen  können  zu  ausserordentlich  ähn- 
lichen Gewebsneubildungen  führen.  Doch  ich  fürchte,  Sie  zu  verwirren, 
wollte  ich  jetzt  noch  weiter  auf  die  Schwierigkeiten  eingehen,  die  sich 
immer  darbieten,  so  wie  wir  von  der  Entzündung  im  Allgemeinen  reden. 
Lassen  Sie  mich  daher  gleich  ins  Detail  eintreten;  später  wollen  wir 
wieder  auf  das  Gesammtbild  der  Entzündung  zurückkommen. 


Die  Vorgänge  nach  der  Verletzung  der  verschiedenen  Gewebe 
machen  sich  vorzüglich  geltend  an  den  Gefässen,  an  dem  verletzten 
Gewebe  selbst  und  au  den  Nerven  desselben.  Der  Einfluss  der 
Nerven  auf  den  entzündlichen  Process,  so  wie  der  Einfluss  des 
letzteren  auf  die  Nerven  ist  leider  noch  von  einem  solchen  Dunkel 
umhüllt,  dass  wir  ihn  ausser  Acht  lassen  müssen.  Die  Frage,  ob  die 
feinsten,  in  den  verschiedenen  Geweben  sich  verlierenden  trophischen 
(vasomotorischen)  Nerven,  denn  nur  von  diesen  kann  hier  die  Rede  sein. 


60 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


einen  unmittelbaren  Einfluss  auf  die  Vorgänge  ausüben,  die  sich  in  dem 
verletzten  Gewebe  und  an  den  Gefässen  selbst  entwickeln,  werden  wir 
als  vorläufig  unbeantwortbar  bei  Seite  lassen  müssen,  um  so  mehr,  als 
man  das  Ende  der  Nerven  bisher  nur  für  wenige  Körpertheile  mit  einiger 
Sicherheit  ermitteln  konnte,  während  es  für  andere  Theile  noch  durchaus 
unbekannt  ist,  und  man  zumal  die  Art,  wie  die  trophischen  Nerven  thätig 
sind,  ganz  und  gar  nicht  kennt,  auch  ebensowenig  über  die  Beziehungen 
der  Nervenenden  zu  den  Capillaren  weiss.  Auf  die  hier  denkbaren 
Möglichkeiten  und  Wahrscheinlichkeiten  werden  Sie  in  den  Vorlesungen 
über  Physiologie  und  allgemeine  Pathologie  bereits  hingewiesen  sein. 
Wenn  wir  also  in  dem  Folgenden  wenig  von  den  Nerven  reden,  so  liegt 
dies  nur  daran,  dass  wir  nichts  von  ihrer  Thätigkeit  bei  diesem 
speciellen  Process  wissen,  nicht  daran,  dass  wir  ihren  Ein- 
fluss negiren  wollen. 

Halten  wir  uns  für  unseren  Fall  zunächst  an  das  einfachste  Gewebe;  nehmen  Sie 
Bindegewebe  mit  einem  geschlossenen  Capillarsystem ,  etwa  an  der  Oberfläche  der  Haut, 
im  Verticaldurchschnitt  bei  300  bis  400  maliger  Vergrösserung!  Hier  haben  Sie  ein  solches 
System  schematisch  dargestellt; 

Fig.  1. 


Bindegewebe  mit  Capillaren.     Schematische  Zeichnung.     Vergrösserung  350 — 400. 


Es  geht  ein  Schnitt  von  oben  nach  unten  in  das  Gewebe  hinein;  die  Capillaren 
bluten,  bald  steht  die  Blutung,  die  Wunde  ist  genau  wieder  vereinigt,  gleichgültig  dm-ch 
welche  Mittel.     Was  geht  hier  zunächst  vor? 


Vorlesung  5.     Capitel  T. 


61 


Fig.  2. 


Es  gerinnt  das  Blut  in  den  Capillaren  etwa  bis  an  die  nächste  Verzweigung,  bis 
an  einen  nächsten  Knotenpunkt  des  Capillarnetzes.  Fast  immer  bleibt  auch  etwas  ge- 
ronnenes Blut  zwischen  den  Wundrändern  liegen  (Fig.  2).  Von  den  bisherigen  Wegen 
für  den  Kreislauf  in  unserm  schematischen  System  sind  einige  verstopft  worden;  das 
Blut  muss  sieh  bequemen ,  durch  die  vorhandenen  Nebenwege  um  die  Wunde  herum  zu 
fliessen.  Das  geschieht  begreiflicher  Weise  unter  einem  höheren  arteriellen  Druck  als 
zuvor;  dieser  Druck  wird  um  so  grösser,  je  grösser  die  Hemmnisse  für  den  Kreislauf,  je 
weniger  zahlreich  die  Nebenwege  (der  s.  g.  Collateralkreislauf).  sind.  Folge  dieses 
erhöhten  Drucks  ist  die  Ausdehnung  der  Gefässe ,  daher  Röthung  in  der  Umgebung  der 
Wunde  und  zum  Theil  auch  Schwellung.  Letztere  hat  aber  noch  eine  andere  Ursache; 
je  stärker  die  Capillargefässwandungen  ausgedehnt  werden,  um  so  dünner  werden  sie; 
lassen  Sie  schon  bei  den  gewöhnlichen  Druckverhältnissen,  bei  der  normalen  Dichtigkeit 
ihrer  Wandungen  Blutplasnaa  hindurch,  um  die  Gewebe  zu  ernähren,  so  wird  jetzt  unter 
erhöhtem  Druck  mehr  Plasma  als  gewöhnlich  durch  die  Wandungen  hindurch  treten 
müssen,  welches  die  vei-letzten  Gewebe  durchtränkt  und  von  letzteren  vermöge  ihres 
Quellungsvermögens  aufgenommen  wird. 

'  Sie  haben  liier  in  Kürze  die  Aufklärung-  für  die  ä.usseiiicli  walir- 
nelinibaren  Veränderungen  der  Wundränder  gieicli  nacli  der  Verletzung,  die 
Rötlie  und  vermelirte  Wärme,  bedingt  durch  die  rasche  Entwicklung  des 
Collateralkreislaufs,  wodurch  mehr  Blutvolumen  näher  der  Oberfläche 
durch  die  Gefässe  cireulirt;  durch  die  Gefässausdehnung  und  die  Quellung 
des  Gewebes,  die  wieder  Ursache  einer  leichten  Compression  der  Nerven 


ß2  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

und  somit  Veranlassung'   eines   massigen  Schmerzes    wird,    ist'  die  An- 
schwellung der  Wuudränder  bedingt. 

Diese,  wie  mir  scheint,  höchst  einfache  mechanische  Erklärung  würde 
an  Werth  bedeutend  gewinnen,  wenn  sie  erschöpfend  für  den  ganzen 
weitereu  Verlauf  des  Vorganges  wäre,  und  wenn  sie  auf  alle  Ent- 
zündungen übertragen  werden  könnte,  die  nicht  traumatischen,  nicht 
mechanischen  Ursprungs  sind.  Dies  ist  indessen  nicht  der  Fall.  "Weder 
die  in  späteren  Zeiten  nach  Verletzungen  zuweilen  auftretenden  starken 
Gefässausdehnungen,  die  sich  in  ausgebreiteter  Röthung  um  die  Wunde 
kundgeben,  noch  die  bei  spontan  entstandenen  Entzündungen  gleich  von 
Anfang  au  vorhandenen  Capillardilatationen  können  auf  mechanische 
Behinderung  des  Kreislaufs  redueirt  werden.  Ist  die  Kreislaufstörung 
durch  den  Schnitt  nicht  eine  ganz  besonders  hochgradige,  so  wird  sie 
merkwürdig  schnell  ausgeglichen;  solche  s.  g.  passive  Hyperämien 
sind  noch  nicht  „Entzündung " ;  ihre  Ausdehnung  ist  ganz  genau  an  die 
mechanischen  Verhältnisse  geknüpft,  während  die  Röthe  bei  progredienter 
Entzündung  sieh  oft  weit  über  den  nächsten  Bereich  der  mechanisch 
gehemmten  Circulation  erstreckt;  erst  wenn  sich  die  Capillaraus- 
dehnung  mit  Reizungszuständen  der  G-ewebe  verbindet,  eventuell 
durch  letztere  hervorgerufen  wird,  pflegt  man  von  „Entzündung"  zu  sprechen. 
Derartige,  die  Capillaren  zur  Ectasie  veranlassende  Reize  giebt  es  mancher- 
lei. Bleiben  wir  bei  mechanischen  Reizen.  Sie  sehen  z.  B.  meine  Conjunctiva 
bulbi  jetzt  ganz  rein  weissbläulich,  wie  jedes  normale  Auge  aussieht. 
Jetzt  reibe  ich  das  Auge  stark,  dass  es  thränt;  sehen  Sie  es  jetzt  an; 
die  Conjunctiva  bulbi  ist  röthlich,  vielleicht  erkennen  Sie  mit  freiem  Auge 
deutlich  einige  stärkere  Gefässe,  mit  der  Lupe  werden  Sie  auch  die 
feineren  Gefässe  mit  Blut  erfüllt  sehen.  Nach  spätestens  5  Minuten 
ist  die  Röthung  völlig  verschwunden.  Sehen  Sie  einmal  in  ein  Auge,  in 
welches  ein  kleines  Thierchen  durch  Zufall  unter  die  Augenlider  ge- 
kommen ist,  wie  es  unzählige  Mal  geschieht,  man  reibt,  das  Auge  thränt, 
wird  ganz  roth;  das  Thierchen  wird  entfernt,  nach  einer  halben  Stunde 
sehen  Sie  vielleicht  nichts  Besonderes  mehr  an  dem  Auge.  Würden  die 
erwähnten  Reize  fortwirken,  so  käme  es  zu  einer  acuten  Entzündung. 
Uns  beschäftigen  hier  vorerst  nur  die  Erscheinungen  an  den  Gefässen; 
sie  sind  plötzlich  hervorgerufen,  und  rasch  wieder  verschwunden,  weil 
der  Reiz  aufhörte ;  eine  mechanische  Hemmung  des  Kreislaufs  lag  nicht 
vor.  Was  ist  die  unmittelbare  Ursache  dieser  Erscheinungen?  Warum 
ziehen  sich  die  Gefässe  nicht  zusammen,  anstatt  sich  auszudehnen  ?  Diese 
Fragen  sind  eben  so  schwer  zu  beantworten,  als  die  Beobachtung  leicht 
zu  machen  und  unzählige  Male  mit  demselben  Erfolge  zu  wiederholen 
ist.  Die  Sache  selbst  ist  bekannt,  so  lange  man  überhaupt  beobachtet 
;hat;  der  alte  Satz:  „Ubi  Stimulus  ibi  affluxus"  bezieht  sich  darauf.  Der 
stärkere  Blutzufluss  ist  die  Autwort  des  gereizten  gefässhaltigen  Theils 
auf  den  Reiz. 


Vorlesung  5.     Capitel  I.  63 

Früher  nannte  man  den  Pi-ocess ,  welcher  diene  Art  von  liöthc  her- 
vorbringt, active  Hyperämie  oder  active  Cong-estion.  Virchovv^ 
griff  zu  einem  älteren  Namen  zurück  und  zog  die  Bezeichnung  „Fluxion, 
Wallung"  w^ieder  mehr  in  Gebrauch. 

Sie  werden  jetzt  so  weit  orientirt  sein,  um  mit  Hülfe  Ihrer  Kennt- 
nisse aus  der  allgemeinen  Pathologie  zu  wissen,  dass  es  sich  hier  um 
die  theoretische  Erklärung  von  Erscheinungen  handelt,  die  zu  allen  Zeiten 
einen  der  wichtigsten  Gegenstände  in  der  Medicin  bildeten.  Astle}^ 
Coope-r,  ein  englischer  Chirurg  von  grösster  Bedeutung,  dessen  Werke 
Sie  später  liebgewinnen  werden,  wenn  Sie  sich  mit  dem  Studium  von 
Monographien  befassen,  dieser  so  durch  und  durch  praktische  Chirurg 
beginnt  seine  Vorlesungen  über  Chirurgie  mit  folgenden  Worten:  „Der 
Gegenstand  unserer  heutigen  Vorlesung  ist:  Reizung,  welche  Sie  als 
Grundstein  der  Chirurgie  als  Wissenschaft  auf  das  sorgfältigste  erforschen 
und  deutlich  begreifen  müssen,  bevor  Sie  erwarten  dürfen,  die  Grundsätze 
Ihrer  Kunst  inne  zu  haben,  oder  im  Stande  zu  sein,  dieselbe  zu  Ihrer 
eigenen  Ehre  und  zum  Nutzen  derjenigen  in  Ausübung  zu  bringen,  welche 
sich  Ihrer  Behandlung  anvertrauen!" 

Hieraus  werden  Sie  ersehen,  welche  Rolle  die  uns  heute  beschäf- 
tigenden Gegenstände,  die  Ihnen  als  überflüssige  Spielereien  des  Ver- 
standes und  der  Phantasie  erscheinen  könnten,  zu  den  verschiedenen 
Zeiten  gespielt  haben,  ja  Sie  werden  später  aus  der  Geschichte  der  Medicin 
lernen,  dass  ganze  Systeme  der  Medicin  von  den  ungeheuerlichsten 
praktischen  Consequenzen  auf  Hypothesen  basiren,  welche  man  zur 
Erklärung  dieser  Erscheinungen  an  den  Gefässen,  dieser  Irritabilität,  der 
Reizbarkeit  der  Gewebe  überhaupt  aufbaute. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diesen  Gegenstand  historisch  ausführlich  zu  behandeln, 
ich  will  Ihnen  nur  einige  wenige  Hypothesen  ins  Gedächtniss  zurückrufen,  die  in  neuerer 
Zeit  bei  bereits  vorhandener  Kenntniss  der  mikroskopisch  noch  sichtbai-en  Gefässe  und 
-Gewebstheile  über  das  Zustandekommen  der  Gefässerweiterung  durch  Eeiz  aufgestellt  sind. 

Aus  der  Histologie  und  der  Physiologie  ist  Ihnen  bekannt,  dass  die  Arterien  und 
Venen ,  bis  sie  sich  in  Capillaren  auflösen ,  in  ihrer  Wand  theils  quer ,  theils  längs  ver- 
laufende Muskelfaserzellen  enthalten,  und  dass  diese  im  Allgemeinen  an  den  Venen  spär- 
licher sind,  als  an  den  Arterien,  obgleich  die  grössten  Mannigfaltigkeiten  in  dieser  Be- 
ziehung bestehen.  Wenn  nun  auch  an  diesen  kleinsten  Arterien  und  Venen  directe 
Studien  über  die  Wirkung  eines  Reizes  mir  sehr  schwierig  zu  machen  sind,  so  ist  es  doch 
sehr  einfach,  den  Effect  einer  solchen  Eeizung  am  Darm  zu  sehen,  wo  wir  wesentlicli 
dieselben  Verhältnisse  haben,  nämlich  einen  mit  längs  und  quer  verlaufenden  Muskelfasern 
versehenen  Schlauch.  Mögen  Sie  nun  aber  den  Darm  reizen,  wie  Sie  wollen,  eine  Er- 
weiterung werden  Sie  niemals  an  der  gereizten  Stelle  erzielen,  nur  eine  Verkürzung  oder 
eine  Einschnürung  und  dadurch  eine  Bewegung  des  Inhalts  des  Darms,  deren  Geschwin- 
digkeit von  der  wiederholten  Schnelligkeit  der  Contractionen  abhängig  sein  wird.  Kann 
aber  durcli  eine  solche  erhöhte  Schnelligkeit  der  Gefässbewegung  und  des  Blutstroms  eine 
Erweiterung  der  Capillaren  bedingt  sein?  gewiss  nicht.  Sie  finden  in  der  allgemeinen 
Pathologie  von  Lotze,  dem  berühmten  medicinischen  Philosophen  in  Göttingen,  über 
diese  Frage  einige  so  drastische  Bemerkungen  (wie  überhaupt  die  ganzen  betreffenden 
Capitel  den  brillanten  Geist  und  die  kritische  Schärfe  dieses  Mannes  in  glänzendster  Weise 


g4  "Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

zeigen),  dass  ich  mich  der  von  ihm  gebrauchten  Bilder  bedienen  will.  Er  sagt  nämlich: 
„Die  Pathologen,  welche  durch  die  verstärkte  Contraction  der  Arterien  die  Congestion 
erklären  wollen,  übernehmen  das  undankbare  Geschäft  der  Danaiden;  sie  können  den 
Stöpsel  nicht  aufweisen,  der  das  Wiederauslaufen  des  mühsam  eingepumpten  Blutes  ver- 
hindert. Ueberfüllung  entsteht,  wenn  in  gleicher  Zeit  mehr  eingeführt  und  das  nämliche 
ausgeführt,  oder  das  nämliche  eingeführt,  aber  weniger  ausgeführt  wird.  Lassen  wir  nun 
ein  Stück  eines  Gefässes  sich  lebhafter,  enger  in  einer  schnelleren  Aufeinanderfolge  con- 
trahiren,  so  hat  dies  doch  so  wenig,  ein  vermehrtes  Zuströmen  oder  ein  vermehrtes  Ab- 
fliessen  zur  Folge,  als  das  Strampeln  eines  Menschen  im  Flusse  die  Menge  des  Wassers 
regulirt." 

Wenn  sich  die  genugsam  widerlegte  Hypothese,  dass  die  Erweiterung  der  Capillaren 
nur  von  einer  schnelleren  und  energischeren  Contraction  der  Arterie  ausgehe,  doch 
wenigstens  auf  dem  Boden  bekannter  Beobachtungen  bewegt,  so  scheint  dagegen  die  von 
Lotze  selbst  gegebene  Erklärung  so  fern  von  jeglicher  Analogie,  ich  möchte  fast  sagen 
so  metaphysisch,  dass  wir  ihr  unmöglich  noch  irgend  welchen  Werth  beizumessen  im 
Stande  sind.  Lotze  meint  nämlich,  es  stehe  nichts  im-Wege  anzunehmen,  dass  die 
Capillaren  sich  auf  einen  Reiz  anders  verhielten,  als  die  Arterien,  sie  könnten  sich  unter 
der  Einwirkung  der  Nerven  auf  einen  Reiz  activ  ausdehnen,  indem  ihre  Molecüle  aus 
einander  rückten.  Diese  Behauptung  ist  freilich  eine  durchaus  willkürliche  Annahme, 
die  zum  Theil  mit  neueren  Beobachtungen  in  Widerspruch  steht.  Man  kann  bekanntlich 
an  der  Schwimmhaut,  am  Mesenterium,  an  der  Zunge  der  Frösche,  an  der  Flughaut 
von  Fledermäusen  den  Kreislauf  des  Blutes  in  den  kleineren  Arterien  und  Venen,  sowie  in 
den  Capillaren  mit  dem  Mikroskop  verfolgen;  doch  der  unmittelbare  Effect  eines  leichteren 
chemischen  oder  mechanischen  Reizes  äussert  sich  nicht  nach  früheren  Beobachtern  sofort 
an  den  Capillaren,  sondern  zunächst  in  einer  Contraction  der  kleinsten  Ar- 
terien, zuweilen  auch  an  den  Venen,  ist  aber  ein  sehr  rasch  vorübergehender,  von  kaum 
Secunden  Dauer,  ja  oft  entzieht  er  sich  der  Beobachtung  ganz,  wobei  man  dann  annimmt, 
dass  die  Dauer  der  Zusammenziehung  und  der  Grad  derselben  für  unsere  Beobachtung 
nnmessbar  gering  ist.  Auf  diese  kurze  Contraction  folgt  dann  die  Ausdehnung,  deren 
unmittelbare  Ursache  auch  bei  der  mikroskopischen  Beobachtimg  unklar  bleibt.  Wir 
werden  sehr  bald  sehen,  dass  wir  nicht  darüber  hinauskommen,  dass  die  Fluxion  das 
Resultat  einer  Art  von  Paralyse  der  Capillarwandungen  ist,  so  activ  die  Erscheinung 
auch  hervortritt.  Auch  die  neusten  höchst  interessanten  Beobachtungen  von  Golubew, 
welcher  die  Güte  hatte  mir  zu  zeigen,  dass  sich  die  Capillaren  der  Nickhaut  des  Frosches 
in  Folge  starker  electrischer  Schläge  quer  zusammenziehen,  scheinen  mir,  soviel  ich  auch 
über  die  Beobachtung  nachgedacht  habe,  für  die  Lehre  von  der  Fluxion  vorläufig  nicht 
recht  verwendbar  zu  sein. 

Virchow  nimmt  an,  es  trete  auf  den  Reiz,  dessen  unmittelbare  Ursache  allerdings 
die  Contraction  sei,  eine  rasche  Ermüdung  der  Gefässmuskeln  ein,  nach  einer  tetanischen 
Zusammenziehung  eine  Erschlaffung,  wie  an  gereizten  Nerven  und  Muskeln,  eine  Ansicht, 
die  durch  eine  Mittheilung  von  Dubois-Reymond  über  den  schmerzhaften  Tetanus  der 
Gefässmuskeln  am  Kopf  als  Ursache  eines  einseitigen  Kopfschmerzes,  einer  s.  g.  Hemikranie, 
eine  Stütze  finden  dürfte,  indem  auf  diesen  supponirten  und  von  einer  starken  Erregung 
des  Halstheils  des  N.  sympathicus  abhängigen  Tetanus  der  Gefässmuskeln  allerdings  eine 
Erschlaffung  derselben  und  damit  eine  starke  Ausdehnung  der  Gefässe.  kurz  die  Erscliei- 
nungen  der  Kopfcongestionen  folgen. 

Man  darf  indess  bei  dieser  Auffassung,  wodurch  eine  der  Contraction  folgende  Er- 
schlaffung oder  vorübergehende  Paralyse  der  Gefässwandungen  und  damit  verringerter 
Widerstand  derselben  gegen  den  Blutdruck  allerdings  erklärt  wird,  nicht  vergessen,  dass 
es  keineswegs  bewiesen  ist,  dass  die  Gefässmuskeln,  einmal  gereizt  und  zu  einer  raschen 
Contraetiun  gezwungen,    wirklich  sofort  erlahmen,    während  diese  Ermüdung  bei  andern 


Vorlcsimo-   5.      f'iiphcl    1.  ßf) 

Muskeln  ducli  erst  nacli  läiii;er  wiedcrliolteii  Reizen  eiiizuheteii  pllegl.  Man  müsste  in 
der  That  hier  ■willkülirlieli  eine  ganz  besonders  leiciite  Ernu'idimg  der  Gefässmnskeln  an- 
nehmen, gegen  welche  das  Experiment  direet  spricht.  Sie  wissen  ans  der  Fliysiologie, 
dass  Claude  Bernard  nachgCAviesen  liat,  dass  die  Arterienverengerung  und  Erweiterung 
am  Kopfe  unter  dem  Einfluss  des  Halstheils  des  N.  sympathicus  steht,  wie  ich  schon  an- 
deutete. Keizt  man  das  oberste  Halsganglion  dieses  Nerven,  so  ziehen  sicli  die  Arterien 
zusammen;  durchschneidet  man  den  Nerven,  so  tritt  eine  P^rweiterung  (eine  Lähnning) 
der  Arterien  und  Capillaren  ein.  Diese  Experimente  können ,  was  die  Reizung  betrifft, 
öfter  wiederholt  werden,  ohne  dass  die  Gefässmnskeln  sobald  ermüden,  falls  nicht  die 
electrischen  Ströme  zu  stark  sind;  hieraus  dürfte  hervorgehen,  dass  die  Annahme  einer 
sofortigen  Ermüdung  nach  einem  einmaligen  Reiz  nicht  so  unbedingt  acceptirt  werden 
kann.  —  Schiff  nimmt  dennoch  an,  wie  Lotze,  dass  eine  active  Dilatation  der  Gefässe 
möglich  ist;  er  glaubt,  dass  dies  aus  gewissen  Experimenten  nothwendig  liervorgehe; 
mir  bleibt  dabei  aber  der  Mechanismus  völlig  unverständlich ,  denn  es  giebt  eben  keine 
Muskeln,  welche  die  Gefässe  activ  auseinander  ziehen  können. 

Wenn  auf  den  angebrachten  Reiz  sich  nur  die  Venen  stark  conti-ahirten ,  so  würde 
zweifelsohne  eine  Anfüllung  der  Capillaren  durch  die  Stauung  eintreten  müssen  und  es 
wäre  dann  kein  Unterschied  zwischen  venöser  (passiver)  Hyperämie  und  Fluxion.  Diese 
Annahme  ist  jedoch  ganz  unhaltbar;  es  ist  gar  nicht  abzusehen,  warum  eben  nur  die 
Venen  sich  beim  Entzündungsreiz  zusammenziehen  sollten.  Dass  sich  die  Venen  auf 
mechanischen  Reiz  contrahiren,  können  Sie  z.  B.  an  der  V"  femoralis  eines  eben  ampu- 
tirten  Oberschenkels  wahrnehmen,  worauf  Virchow  besonders  aufmerksam  macht,  und 
zwar  überdauert  diese  Reizbarkeit  der  Venenwandung  die  der  Nerven. 

Schon  Heule  hatte  früher  die  Ansicht  aufgestellt,  die  Erscheinungen  der  Gefäss- 
ausdehnung  auf  Reiz  seien  direet  durch  Paralyse  der  Gefässwandungen  bedingt.  Wenn 
Lotze  dagegen  zu  Felde  zieht,  indem  er  anführt,  dass  bei  einem  in  heftiger  Action  be- 
griffenen gereizten  Menschen,  bei  dem  alle  Muskeln  angespannt  sind  und  dessen  Gesicht 
glühend  roth  werde,  nicht  anzunehmen  sei,  dass  seine  Muskeln  paralysirt  sind,  so  ist 
doch  dieser  Einwand  nicht  so  schlagend.  Auch  der  andere  Einwand  des  sonst  so  scharf- 
sinnigen Lotze  scheint  mir  nicht  stichhaltig,  indem  er  sagt:  „was  sollen  wir  mit  der 
Blässe,  der  Contraction  der  Gefässe  anfangen,  die  sich  bei  Schreck  und  Entsetzen  ein- 
stellt? Sieht  das  nach  einer  heftigen  Muskelaction  aus,  wenn  Röthe  bef  Zorn  und  Scham 
der  Effect  einer  Paralyse  sein  soll?"  Ich  meine,  dies  will  nichts  bedeuten.  Bei  einem 
erschreckten  Menschen  dürften  die  Gefässmuskeln  in  einen  tetanischen  Zustand  versetzt 
sein,  dem  auch  bald  genug  eine  Gefässmuskelermüdung  zu  folgen  pflegt;  gleich  nach  einem 
lieftigen  Schreck  pflegen  wir,  so  wie  wir  anfangen,  tief  einzuathmen  und  uns  von  dem 
Schrecken  erholen,  das  Blut  in  die  Wangen  schiessen  zu  fühlen;  wir  werden  bald  wieder 
roth  und  zwar  zunächst  röther,  als  es  uns  oft  lieb  ist,  ja  es  ist  gar  nicht  selten,  dass 
man  bei  manchen  Menschen  das  Erblassen  beim  Schreck  übersieht  und  nur  das  folgende 
Erröthen  wahrnimmt.  Für  die  Blässe  beim  Sehreck  lässt  sich  ausserdem  auch  dieselbe 
Erklärung  wie  für  die  Erscheinungen  des  „Schock's"  geben,  worüber  wir  bei  der  Wir- 
kung quetschender  Gewalten  auf  den  Organismus  sprechen  werden. 

Doch  abgesehen  von  diesen  Einwürfen,  wie  soll  man  sich  die  activ,  direet  paraly- 
sirende  Wirkung  eines  gereizten  Nerven  vorstellen?  In  der  That,  wir  kennen  aus  der 
Physiologie  solche  Phänomene:  die  Hemmung  der  Herzbewegung  durch  Reizung'  des  N. 
vagus,  die  der  Darmbewegung  durch  Reizung  des  N.  splanchnicus  u.  s.  w.  Man  nimmt 
hier  ein  Hemmungs-Nervensystem  an,  welches  die  Coiitractionen  der  Muskeln  zum  Still- 
stand bringt;  könnte  nicht  ein  solches  Hemmungs  -  Nervensystem  auch  für  die  Gefässe 
bestehen?  Nerven,  deren  Reizung  den  Tonus  der  Gefässmuskeln  aufhebt  und  dadurch 
die  Gefässwandungen  weniger  widerstandsfähig  gegen  den  Blutdruck  macht?  Das  Gebiet 
der  Lehre  von  den  Hemmungsnerven  ist  ein  so  ausserordentlich  schwieriges  für  die  Er- 
Billroth  chir.  Path.  u.  Ther.   7.  Aufl.  5 


QQ  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

klärung,  dass  eine  kurze  Exposition  über  die  wahrscheinlichen  Möglichkeiten  des  Vor- 
ganges hier  schon  zu  weit  führen  würde.  Ich  muss  mich  daher  begnügen,  auf  die  ana- 
logen physiologischen  Vorgänge  hingewiesen  zu  haben.  Dass  die  Fluxionserscheinung 
auf  Paralyse  der  Gefässe  beruht,  darin  stimmen  die  Anschauungen  von  Virchow^  und 
He  nie  überein,  wengleich  sich  beide  Gelehrten  das  Zustandekommen  dieser  Parahse 
verschieden  denken.  Im  Allgemeinen  gewinnt  die  Ansicht  jetzt  immer  mehr  Oberhand, 
dass  die  Gefässmuskulatur  wie  das  Herz  unter  dem  Einfluss  theils  von  sympathischen, 
theils  von  cerebrospinalen  Nerven  steht  und  dass  erstere  die  rythmische  (automatische) 
Zusammenziehung  der  Gefässe  veranlassen,  letztere  regulirend  und  hemmend  auf  diese 
Zusammenziehung  wirken.  Eeiz  der  sympathischen  Fasern  würde  die  Zusammenziehung 
der  Gefässe  noch  verstärken.  Durchschneidung  derselben  würde  Lähmung  der  Gefäss- 
muskulatur und  Erweiterung  der  Gefässe  zur  Folge  haben;  letzteres  könnte  aber  auch 
durch  Reizung  der  cerebrospinalen  Hemmungsnerven  bedingt  sein. 

Die  Entdeckung  von  Aeby,  Eberth  und  Auerbach,  wonach  die  Blutcapillaren 
ganz  aus  Zellen  zusammengesetzt  sind,  könnte  zu  neuen  Hypothesen  über  die  Reizbarkeit 
der  Capillarzellen  und  ihren  Einfluss  auf  die  ErM^eiterung  und  Verengung  der  Capillaren 
Veranlassung  geben,  obgleich  auch  dabei  die  mechanische  Schwierigkeit  nicht  gelöst  ist, 
welche  sich  der  Vorstellung  einer  activen  Gefässerweiteri^ng  entgegenstellt.  —  Bei  der 
Einwirkung  localer  Reize  und  bei  ganz  localen  Gefässerweiterungen  bleibt  es  immerhin 
zweifelhaft,  ob  man  sich  denken  will,  dass  der  Reiz  die  Gefässneiwen  (oder  auch  die 
lebendige  Zellsubstanz  der  Capillarwandung)  direct  in  ihrer  Function  stört,  oder  ob  man 
diese  Störung  auf  reflectorischem  Wege  zu  Stande  kommen  lässt.  Die  Forscher,  welche  sich 
in  jüngster  Zeit  aiisdauernd  mit  diesen  Fragen  beschättigt  haben,  lassen  die  später  dauernde 
Capillardilatation  bei  acuter  Entzündung  von  Veränderungen  der  Capillarwandungen  ab- 
hängig sein,  welche  unmittelbar  durch  den  Entzündungsreiz  veranlasst  werden  sollen.  C  o  h  n  - 
heim  meint,  der  Entzündungsreiz  alterire  die  Gefässwandungen  eben  in  einer  ganz  eigen- 
thümlichen  Weise  so,  dass  sie  nicht  nur  nachgiebiger  gegen  den  Blutdruck  werden,  sondern 
auch  weicher,  worauf  wir  später  noch  zurückkommen.  Samuel  findet  das  Wesen  der 
Entzündung  in  veränderten  Verhältnissen  des  Blutes,  der  Gefässwand  und  der  Gewebe 
zu  einander.  Nähere  Angaben  über  die  chemischen  und  physikalischen  Modalitäten  dieser 
Veränderungen  der  Gefässwand,  die  man  nur  an  ihren  Folgen  erkennt,  sind  bisher  nicht 
möglich.  Eg  ist  diese  Auffassung  in  soweit  ein  Fortschritt  gegenüber  der  Lotze' sehen 
Ansicht,  wonach  die  Moleküle  der  Capillarwandungen  auf  einen  Nervenreiz  auseinander- 
rücken sollten,  als  eine  Nervenaction  auf  die  bei  der  acuten  Entzündung  in  Frage  kommen- 
den Capillardilatationen  überhaupt  nicht  Statt  zu  finden  scheint;  dies  stimmt  auch  mit 
den  früher  schon  erwähnten  Aeusserungen  von  Schiff  überein,  dass  nämlich  die  nach 
Sympathicusdurchschneidungen  entstehenden  Gefässdilatationen  an  sich  weder  Entzündung 
seien,  noch  ohne  Weiteres  zu  Entzündungen  fühi-en. 

Sie  haben  nun  Stoff  g-euiig-  zum  Grübeln!  Keine  von  allen  ang'c- 
fiihrten  Hypothesen  kann  Anspruch  machen,  die  Erscheinung  der  Fluxion 
wirklich  vollständig'  erklären  zu  wollen,  wenngleich  manche  von  ihnen 
vielleicht  den  Keim  zu  einer  vollendeteren  Entwicklung-  in  sich  trägt. 
Doch  auch  die  Erkenntniss  dieser  Wahrheit,  die  Sonderuug  der  Hypothese 
von  der  Beobachtung-  ist  von  Nutzen;  sie  hemmt  nicht  den  immer  weiter 
dringenden  Forschung-sgeist,  sondern  sie  belebt  ihn  stets  aufs  Neue! 
Freuen  Sie  sich,  dass  es  Ihnen  und  den  kommenden  Generationen  ver- 
gönnt ist,  sich  auf  diesem  Gebiet  zur  vollen  Klarheit  durchzuarbeiten. 
Wir  verlassen  dasselbe  jetzt  und  wollen  in  der  nächsten  Stunde  den  Effect 
der  Verwundung  an  dem  verwundeten  Gewebe  selbst  studiren. 


Vorlesimg  G.      (.';i|iil('l    1.  07 


Vorlesung  6„ 

Vorgänge  im  Gewebe  bei  der  Heihing  per  primam.  —  PlasMsche  Infiltration.    Entzündlielie 

Neubildung.     Rückbildung  zur  ISarbe.     Anatomische  Merkmale  des  Entziindungsprocesses. 

—  Verhältnisse,  unter  welchen  die  Heilung  per  primam  nicht  zu  Stande  konmit.  —  An- 

heilung  völlig  abgetrennter  Theile. 

Die  Dilatation  der  Capillaren  und  die  gewölmlich  damit  verljundene 
Exsudation  von  Blutserum,  die  wir  bisher  als  nächsten  Effect  der  Ver- 
wundung kennen  gelernt  haben,  kann  für  sich  begreiflicherweise  nicht 
bewirken,  dass  zwei  zusammengelegte  Wundränder  sich  organisch  mit 
einander  verbinden;  es  müssen  Veränderungen  an  den  Wuudflächen  vor- 
gehen, wodurch  letztere  gewissermaassen  aufgelöst  werden  und  in  eins 
verschmelzen;  ähnlich,  wie  Sie  zwei  Enden  Siegellack  durch  Erwärmung 
verflüssigen,  um  sie  dann  zusammenzufügen,  so  muss  auch  hier  die  Sub- 
stanz selbst  zum  Bindemittel  werden,  wenn  es  eine  recht  feste,  innige 
Vereinigung  werden  soll.  In  der  That  ist  dies,  wenn  auch  zuweilen 
nach  einigen  Umwegen,  das  Schlussresultat  jedes  Heilungsprocesses, 
sowohl  an  den  Weichtheilen,  wie  am  Knochen. 

Behalten  wir  das  früher  gegebene  Schema  bei  und  nehmen  an,  es  sei  nur  Binde- 
gewebe mit  Gefässen  verletzt,  und  es  handle  sich  um  eine  Wiedervereinigung  dieser 
Substanz!  Das  Bindegewebe  besteht,  wie  Sie  wissen,  aus  zelligen  Elementen  und  meist 
faserig  erscheinender  Intercellularsubstanz.  Die  zelligen  Elemente  sind  theils  die  stabilen, 
fixen,  lange  bekannten  Bindegewebskör  per  eben,  d.  h.  platte,  kernhaltige  Zellkörper 
mit  langen  Fortsätzen,  welche  den  Bindegewebsbündeln  anliegen,  theils  die  von  v.  Reck- 
linghausen entdeckten  wandernden  Zellen,  welche  mit  weissen  Blutzellen  und 
Lymphzellen  nach  Form,  Art  und  Lebenseigenschaften  identisch  sind,  wahrscheinlich  zum 
grössten  Theil  in  den  Lymphdrüsen  entstehen,  durch  die  Lymphgefässe  ins  Blut  gelangen, 
aus  Capillaren  und  feinen  Venen  gelegentlich  ins  umliegende  Gewebe  auswandern,  dort 
zu  fixen  Gewebszellen  werden,  oder  wieder  in  Lymphgefässe  (nach  Beobachtungen  von 
Hering)  und  Blutgefässe  zurückkehren,  oder  bisher  unbekannte  Metamorphosen  eingehen. 
Untersucht  man  das  Gewebe  der  Wundränder  einige  Stunden  nach  der  Verletzung, 
so  Avird  man  es  ganz  von  wandernden  Zellen  erfüllt  finden.  Diese  nehmen  in  ungeheurem 
Maasse  von  Stunde  zu  Stunde  zu,  sie  infiltriren  das  durch  Quellung  schon  erweichte 
Fasergewebe,  und  wandern  auch  wohl  von  einem  Wundrand  in  den  andern  hinüber. 
Während  dies  vor  sich  geht,  Avird  die  bindegewebige  Intercellularsubstanz  der  Wundränder 
allmählig  zu  einer  homogenen  klebrigen  Substanz  umgeAvandelt;  mit  dem  Zunehmen  der 
Anhäufung  von  Zellen  schwindet  diese  Substanz  wieder,  Avird  vielleicht  von  den  Zellen 
consumirt,  so  dass  bald  ein  Moment  kommt,  avo  die  beiden  aneinanderliegenden  Wund- 
flächen fast  nur  aus  Zellen  bestehen,  die  durch  eine  sehr  geringe  Quantität  in  der  Folge 
fester,  schliesslich  faserig  werdenden  Zwischengewebes  zusammengehalten  werden.  Die 
klebrige,  theils  im  Gewebe  und  dessen  Interstitien ,  theils  zwischen  den  AVundrändern  lie- 
gende Substanz,  der  organische  Wundkitt,  welcher  schon  nach  24  Stunden  zuweilen  die 
Wundränder  so  fest  zusammenhält,  dass  sie  nur  mit  Mühe  von  einander  gezeiTt  werden 
können,  ist  wahrscheinlich  Fibrin. 

5* 


ßg  Von  den  einfachen  Schnittwnnden  der  Weiohtheile. 

In  dem  skizzirten  Entwurf  des  nun  weiter  gefülirten  früheren  Schemas  (Fig.  3)  sehen 

Fig.  3. 


Vereinigung   der  AVundflächen    durch    die    entzündliehe   Neubildung.      Plastisch   infiltrirtes 
Gewehe.     Sehematische  Zeichnung.     Vergrösserung  300 — 400. 


Sie  im  Durchschnitt  die  Wundflächen  nun  vereinigt  durch  das  neugebildete  Gewebe,  welches 
wir  ein  für  alle  Mal  entzündliehe  Neubildung  oder  primäres  Zellengewebe 
nennen  wollen,  Virchow  nennt  es  Granulationsgewebe,  Rindfleisch  Keimgewebe. 
Der  entzündlichen  Neubildung  geht  also  ein  Zustand  voraus,  in  welchem  das  noch  faserige 
Bindegewebe  von  ausserordentlich  vielen  Wanderzellen  infiltrirt  ist,  ein  Zustand,  der  durch 
Schwund  oder  Zurückwanderung  dieser  Zellen  in  die  Gefässe  leicht  wieder  zum  normalen 
zurükkehren  kann.  Dieses  Stadium  der  zelligen  oder  plastischen  Infiltration,  in 
welchem  das  Gewebe  dem  Gefühl  eine  festere  Resistenz  bietet  als  bei  der  serösen  In- 
filtration, findet  sich  immer,  wenn  auch  in  sehr  verschiedenem  Grade  und  in  sehr 
Avechselnder  Ausdehnung  an  den  Wundrändern,  wenn  es  oft  auch  nur  mikroskopisch  nach- 
weisbar ist.  Man  kann  in  jedem  Präparat  von  frischen  Wundrändern  die  Entwicklung  der 
entzündlichen  Neubildung  aus  der  plastischen  (zelligen)  Infiltration  verfolgen,  wenn  man 
bei  der  mikroskopischen  Beobachtung  von  dem  normalen  Gewebe  zur  Wrmde  fortschreitet. 

Die  Yerletzimg"  repräsentirt  einen  Eudzündung'sreiz,  dessen  Wirkung- 
sich in  der  Eegel  kaum  über  die  unmittelbare  Nähe  des  Eeizbezirkes 
verbreitet  und  dann  sehr  rasch  abnimmt. 

In  den  vorwiegend  meisten  Fällen  wird  zwischen  den 
Wundrändern  eine,  wenn  auch  noch  so  kleine  Schicht  g-eronnenen 
Blutes  liegen;  diese  erstreckt  sich  auch  wohl  etwas  in  die  Gewebs- 
interstitien  der  Wundflächen  hinein.     Ein  solches  Blutgerinnsel  kann  die 


Vorlesung  C     CypiteT  T.  69 

Heilung'  unter  Umständen  lienimeu,  wenn  es  nämlich  wegen  seiner  Grösse 
oder  aus  andern  Gründen  fault,  oder  wenn  es  zu  P]iter  wird;  doch  kann 
es  auch  ohne  Eiterung-  in  Narbengewebe  übergehen  und  mit  der  Neu- 
bildung in  den  Wundrändern  vollkommen  verschmelzen,  oder  es  wird 
resorbirt,  nachdem  es  zuvor  eine  mechanische  Verklebung  der  Wunde 
vermittelt  hat;  eines  von  diesen  letzteren  Ereignissen  muss  zutreffen, 
wenn  die  Heilung  per  priman  intentionem  zu  Stande  kommen  soll;  wie 
sich  dies  macht  und  welche  Veränderungen  das  geronnene  Blut  bei  dieser 
Procedur  erleidet,  davon  wollen  wir  später  handeln. 

Es  muss  uns  jetzt  die  Frage  beschäftigen:  woiier  kommen  die  unzähligen 
Wander  Zellen,  welche  alle  entzündeten  Gewebe  sofort  nach  der  Reizung 
infiltriren,  wie  hier  das  Gewebe  der  Wundränder?  Hierüber  sind  uns  in 
neuester  Zeit  folgende  merkwürdige  Aufklärungen  geworden,  welche  noch  vor  einem 
Decennium  ohne  Weiteres  als  Hirngespinnste  eines  Schwärmers  betrachtet  worden  wären 
Cohnheim  machte  folgende  ausserordentliche  Beobachtung:  er  brachte  fein  gepulvertes 
Anilinblau  in  die  Lymphsäcke  am  Hucken  eines  Frosches ,  reizte  dann  die  Hornhaut  des 
gleichen  Thieres  durch  Aetzung  und  fand  nun ,  dass  sich  nach  und  nach  an  der  geätzten 
Stelle  der  Hornhaut  eine  Menge  Anilin  -  haltiger  Wanderzellen  (Lymph  -  Eiterzellen)  an- 
sammelten; hieraus  ergab  sich  der  Schluss:  an  einer  gereizten  Stelle  wandern 
weisse  Blutkörperchen  aus  den  Ge fassen  ins  Gewebe  aus;  diese  weissen 
Blutkörperchen  bilden  die  entzündliche  zellige  Infiltration.  Nachdem 
Stricker  zuerst  beschrieben  hatte,  wie  er  den  Durchtritt  von  rothen  Blutzellen  durch 
die  Capillarwandungen  einer  frisch  ausgeschnittenen  Nickhaut  des  Frosches  gesehen  hatte, 
beobachtete  Cohnheim  dann  ferner  am  lebenden  Mesenterium  des  Frosches,  dass  die 
weissen  Blutzellen  durch  die  Gefässwandungen  hindurch  ins  Gewebe  einwandern,  und 
fügte  hinzu,  dass  dies  an  den  erweiterten  Capillaren  und  Venen  bei  steigender  Entzündung 
durch  die  Freilegung  und  das  Hei'vorzerren  des  Mesenteriums  ganz  besonders  massen- 
haft Statt  finde.  Wenngleich  sich  in  der  Folge  zeigte,  dass  ein  englischer  Forscher-, 
Aug.  Waller,  bereits  vor  vielen  Jahren  ähnliche  Beobachtungen  am  Mesenterium  der 
Kröte  und  an  der  Froschzunge  gemacht  hatte,  so  sind  doch  die  Arbeiten  der  deutschen 
Beobachter  Stricker,  v.  Recklinghausen  und  Cohnheim  ganz  unabhängig  von 
jenen  entstanden,  und  es  bleibt  besonders  Cohnheim's  ungeschmälertes  Verdienst,  die 
Bedeutung  seiner  bis  in  die  neueste  Zeit  immer  noch  erweiterten  Beobachtungen  für  den 
Entzündungsprocess  richtig  erkannt  und  in  einer  alle  moderne  Pathologen  mächtig  an- 
regenden und  imponirenden  Weise  dargestellt  zu  haben.     (Fig.  4.) 

Es  ist  für  Sie,  meine  Herren,  schwer,  sich  vorzustellen,  wie  ausserordentlich  der 
Eindruck  war,  welchen  diese  neuen  Beobachtungen,  die  ich  Ihnen  jetzt  als  sehr  einfache 
Facta  mitgetheilt  habe,  auf  alle  Histologen  hervorbrachten,  weil  Sie  den  früheren  Stand- 
punkt nicht  kennen,  von  welchem  aus  die  Entstehung  der  entzündlichen  Neubildung  und 
auch  diejenige  complicirter  organisirter  Gewächse  betrachtet  wurde.  Diese  Angelegenheit 
stand  in  rmsrer  Vorstellung  nach  der  früheren  Beobachtung  ungefähr  so.  Man  nahm  an, 
dass  die  Zellen  des  Bindegewebes,  von  denen  man  nur  eine  Art,  nämlich  die  fixen  kannte, 
sich  in  Folge  eines  Reizes  massenhaft  durch  Theilung  vermehrten,  und  so  die  zellige  In- 
filtration bei  der  acuten  Entzündung  zu  Stande  käme.  Denken  Sie  sich  Avenige  Jahre 
zurück  in  eine  Zeit,  in  welcher  man  von  den  lebendigen  Eigenschaften  der  jungen  Zellen, 
von  ihren  amöboiden  und  locomotorischen  Actionen  nichts  wusste  und  allein  darauf  an- 
gewiesen war,  sich  aus  verschiedenen  Stadien  des  erkrankten,  aber  abgestorbenen  Gewebes 
wie  noch  jetzt  in  der  normalen  Entwicklungsgeschichte ,  den  Gang  der  pathologischen 
Processe  zu  construiren ,  so  werden  Sie  es  begreiflich  finden,  dass  man  ohne  Weiteres 
schloss,  dass  die  in  den  entzündeten  Geweben  dicht  neben  einander  liegenden  Zellen  aus 


70 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 
Fig.  4. 


CH^H^    |! 


Vene  mit  Capillargefäss  aus  dem  mehre  Stunden  freiliegenden  Mesenterium  eines  Frosches. 

Rothe  Blutzellen  in  Circulation.     Wandstellung  der  weissen  Blutzellen  und  Auswanderung 

derselben  in's  lockere  Bindegewebe  des  Mesenteriums.     Vergrösserung  etwa  300. 


einander  entstanden  seien.  Es  war  dies  schon  ein  grosser  Fortschritt,  welcher  erst  nach 
dem  Umsturz  der  Generatio  aequivoca  möglich  war,  denn  nicht  lange  zuvor  glaubte  man 
sicher  an  die  Urzeugung  von  Zellen  und  Geweben  aus  Lymphflüssigkeit,  aus  geronnenem 
Blut ,  aus  geronnenem  Faserstoff!  Die  ersten  Beobachtungen  über  Zeilentheilungen  in 
Folge  von  abnormer  Eeizung  wurden  in  England  von  Redfern  am  Knorpel  gemacht; 
dann  folgten  die  Beobachtungen  von  Virchow  und  His  über  die  entzündete  Cornea; 
man  sah  in  beiden  Fällen,  dass  nach  Aetzung  mit  Argentum  nitricum,  oder  nach  Ein- 
legen eines  Fadens  das  Gewebe  mit  jungen  Zellen  erfüllt  war;  man  sah  in  dep  ursprüng- 
lichen Gewebszellen  bisquitförmige,  dann  doppelte  Kerne,  aus  denen  man  auf  Theilung 
schloss;  man  sah  gruppenförmig  zusammenliegende  junge  Zellen,  deren  Entstehung  aus  den 
Gewebszellen  ZAveifellos  erschien.  Hieraus  construirte  sich  die  Vorstellung,  dass  die  Ent- 
zündung ein  Vorgang  in  den  Geweben  sei,  welcher  direct  unabhängig  von  den  Gefässen, 
in  einer  raschen  üppigen  Wucherung  der  Gewebszellen  mit  partieller  Erweichung  und 
Zerfall  des  intercellularen  Gewebes  verbunden  sei.  —  v.  Recklinghausen's  Entdeckung 
der  zwei  Arten  von  Zellen,  welche  im  Bindegewebe  zu  finden  sind,  wie  seine  Entdeckug 
der  verschiedenen  Bewegungen  der  Eiterzellen  konnte  wohl  die  Frage  anregen,  ob  die 
Proliferation  der  Zellen  bei  Eeizung  der  Gewebe  von  den  fixen  oder  den  beweglichen 
Bindegewebskörperchen  ausgehe,  stellte  diese  selbst  aber  nicht  in  Frage.  —  Nun  aber 
überstürzten  sich  Beobachtungen  auf  Beobachtungen:  wir  stehen  jetzt  axrf  dem  Standpunkt, 
es  für  höchst  wahrscheinlich  zu  halten,  dass   alle  junge  Zellen,  welche  wir  beim 


Vm-lcsimg  C^.     Capilcl  T.  71 

Beginn  einer  Enlz  lindiing  ah  normer  W  c  ise  im  Bindegewebe  finden,  aus- 
gewanderte weisse  Blutzellen  sind.  Nicht  alle  Forscher,  welche  sich  in  neuerer 
Zeit  mit  diesen  Beobachtungen  beschäftigt  haben,  wollen  sich  zu  diesem  Ausspruch  be- 
kennen; es  besteht  bei  Manchen  derselben  immer  noch  eine  gewisse  Neigung,  den  sta- 
bilen Zellen  des  Bindegewebes  im  früheren  Sinne  einen  Antheil  an  dem  Eiterungsprocess 
zuzuerkennen,  v.  Reckling hausen  verhält  sich  sehr  reservirt  in  dieser  Beziehung; 
Stricker  hält  daran  fest,  dass  die  stabilen  Bindegewebs-  und  Hornhautzellen  sich  bei 
Reizung  mit  neuem  Plasma  füllen,  sich  durch  Furchung  vermehren  und  zur  Bildung  der 
Eiterzellen  beitragen,  ohne  dass  er  daneben  irgendwie  den  Auswanderungsprocess  der 
weissen  Blutzellen  in  Abrede  stellt.  Gegen  die  Richtigkeit  dieser  Beobachtungen,  oder 
gegen  die  Richtigkeit  der  Deutung  des  von  Stricker  Beobachteten  haben  sich  Cohn- 
he'im,  Key,  Eberth  u.  A.  ausgesprochen.  Die  Beobachtungen,  um  die  es  sich  dabei 
handelt,  sind  so  mühsam,  so  schwierig,  so  zeitraubend,  in  ihren  Deutungen  so  heikel,  dass 
man  sich  nicht  wundern  darf,  wenn  die  Lösung  der  betreffenden,  scheinbar  so  einfachen 
Fragen  nicht  so  schnell  erfolgt. 

Es  ist  klar,  dass  man  bei  den  mannigfachen  Täuschungen,  denen  die  ausgezeich- 
netsten Beobachter  auf  diesem  interessanten  Gebiet  unterlagen,  nur  mit  äusserster  Vorsicht 
Sätze  von  allgemeiner  principieller  Bedeutung  aussprechen  darf.  In  Betreff  der  entzünd- 
lichen Vorgänge  im  Bindegewebe  möchte  ich  dennoch,  so  weit  meine  Beobachtungen  und 
meine  Kritik  reichen,  den  oben  aufgestellten  Satz  aufrecht  halten.  Was  den  Knorpel 
anlangt,- so  hat  sich  bisher  nichts  an  der  früheren  Anschauung  geändert.  Da  die  hyaline 
Knorpelsubstanz  keine  für  Zellen  passirbare  Canäle  besitzt,  so  bleibt  doch  kaum  etwas 
anderes  übrig,  als  anzunehmen,  dass  die  nach  Reizung  auftretende  Vermehrung  der  Zellen 
in  den  Knorpelhöhlen  durch  Theilung  des  Protoplasma  der  Knorpelzellen  entsteht,  worüber 
ich  Ihnen  später  Präparate  vorlegen  will;  freilich  ist  hyaliner  Knorpel  bisher  noch  nicht 
tagelang  in  lebendem  und  gereiztem  Zustande  beobachtet,  und  somit  muss  diese. Beobachtung 
o-e'^crenüber  den  Studien  am  lebenden  Bindegewebe  etwas  zurücktreten.  In  Betreff  der 
Bindegewebszellen  und  Hornhautzellen  will  ich  noch  hervorheben,  dass  ich  nur  für  die- 
jenigen dieser  Gebilde  eine  Verjüngungs-  und  Proliferationsfähigkeit  unwahrscheinlich 
halte  deren  Protoplasma  bis  auf  den  Kern  im  Gewebe  metamorphosirt  ist,  also  den  sta- 
bilen Bindegewebs-  und  Hornhautkörperchen  solcher  erwachsener  Thiere,  deren  Gewebe 
einen  Veroleich  mit  denen  des  Menschen  zulassen.  Dass  das  Protoplasma,  wo  es  als 
solches  in  Zellen  noch  existirt,  also  in  noch  wachsenden  Geweben  bei  jungen  Individuen, 
sich  auch  als  solches  auf  gewisse  Reize  hin  vermehren  und  theilen  kann,  ist  ja  nie  bean- 
standet worden;  vielleicht  wurzeln  in  der  Nichtbeachtung  dieser  Verhältnisse  manche 
Differenzen  der  oben  angedeuteten  Anschauungen.  Die  gleichen  Verhältnisse  bieten  sich 
bei  den  epithelialen  Gebilden  dar:  noch  nie  ist  behauptet  worden,  dass  die  Zellen  der 
fertigen  epithelialen  Gewebe,  die  Elemente  des  Haares,  der  Nägel,  des  Hornblattes  der 
Epidermis,  der  obersten  Schicht  der  Plattenepithelien  durch  Reizung  verjungt  werden 
und  proliferiren  können,  während  die  continuirliche  Vermehrung  der  jüngeren  Elemente 
dieser  Gewebe  eine  physiologische  Nothwendigkeit  für  das  Wachsthum  dieser  Gebilde  ist 
und  nicht  beanstandet  wird;  es  ist  hier  nur  der  Unterschied,  dass  das  Wachsthum  dieser 
epithelialen  Gewebe  ein  während  des  ganzen  Lebens  dauerndes,  während  das  Wachsthum 
der  Bindesubstanzen  ein  auf  gewisse  Perioden  des  Lebens  beschränktes  ist,  und  sich  daher 
in  den  letzteren  Geweben  nach  Ablauf  des  Wachsthums  keine  jugendlichen  Gewebselemente 
neben  den  fertigen  vorfinden. 

Wenn  es  nun  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen  kann,  dass  weitaus  die  meisten 
iun-en  Zellen,  welche  das  entzündete  Gewebe  infiltriren,  und  unter  Umständen  aus  diesem 
in  Form  von  Eiter,  wie  wir  später  sehen  werden,  auswandern,  weisse  Blutzellen,  oder 
sa-en  wir,  kurz  Wanderzellen  sind,  so  treten  uns  damit  zwei  Fragen  entgegen,  näm- 
lich    warum  wandern  so  viele  Zellen  im  entzündeten  Gewebe  aus,    und  wie 


72  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  "Weichtlieile. 

kommen  diese  oft  so  enormen  Massen  von  Wanderzellen  ins  Blut,  wo  entstehen  sie? 
—  Ueber  den  Apt  des  Austretens  der  Wanderzellen  durch  die  Gefässwandungen  herrschen 
differente  Meinungen.  Meine  Ansicht  darüber  ist  folgende:  die  erste  Veränderung,  welche 
wir  am  lebendigen  sich  entzündenden  Gewebe  sehen,  ist  die  Erweiterung  der  Gefässe; 
diese  hat  eine  vermehrte  Transsudation  und  eine  Anhäufung  der  weissen  Blutzellen  in  der 
peripherischen  Schicht  des  Gefässlumens  zur  nächsten  Folge.  Nun  wird  die  Gefässwand 
nach  und  nach  durch  einen  bei  jeder  Entzündung  in  bisher  unbekannter  Weise  v/irkenden 
chemischen  Process  weicher,  so  dass  sich  dann  die  weissen  Blutzellen  vermöge  ihrer  activen 
Bewegung  nach  und  nach  in  die  Wandung  ein-  und  endlich  durchschieben  können. 
Erweiterung  der  Gefässe,  Wandstellung  der  weissen  Blutzellen  und  Erweichung  der  Ge- 
fässwand scheinen  mir  also  die  nothwendigen  Bedingungen  für  die  massenhafte  Emigration 
der  Zellen  zu  sein.  In  ähnlicher  Weise  haben  sich  in  neuester  Zeit  auch  Cohnheim 
und  Samuel  über  diesen  Punkt  ausgesprochen.  —  Woher  die  ungeheure  Menge  von 
weissen  Blutzellen  kommt,  welche  bei  der  Entzündung  austritt,  ist  eine  in  die  Physiologie 
hineinreichende  und  nur  von  dieser  zu  beantwortende  Frage.  Lymphdrüsen  und  Milz 
sind  die  Organe,  an  welche  man  dabei  vornehmlieh  denkt;  wenngleich  es  nicht  bewiesen 
■werden  kann,  dass  mit  der  massenhaften  AusAvanderung  der  Zellen  auch  nothwendiger- 
"weise  massenhaft  Lymphzellen  neugebildet  werden,  so  ist  dies  doch  sehr  wahrscheinlich, 
und  da  wir  aus  klinischer  Erfahrung  wissen,  dass  fast  immer  die  Lymphdrüsen  in  der 
Nähe  eines  Entzündungsheerdes  schwellen,  so  liegt  es  wohl  am  nächsten,  diese  als  die 
Quelle  der  abnorm  reichlich,  gebildeten  Wanderzellen  zu  betrachten.  Ueber  den  morpho- 
logischen Vorgang  dieser  Zellenbildung  habe  ich  trotz  eifrigster  Bemühungen  nichts  Sicheres 
eruiren  können,  wenngleich  ich  die  Entstehung  der  Lymphzellen  durch  Sprossenbildung 
an  den  Netzen    der  Lymphsinus   in    den  Drüsen  sehr  wahrscheinlich  halte. 

Eines  muss  ich  nachträglich  noch  zu  dem  Gesagten  hinzufügen,  dass  nämlich  bei 
der  Entzündung  nicht  selten  auch  rothe  Blutkörperchen  durch  die  Gefässwandung  aus- 
treten; auf  diesen  Vorgang  hat  der  gesteigerte  intravasculäre  Druck  nach  Cohnheim's 
Untersuchungen  einen  entschiedenen  Einfluss. 

Kommen  wir  jetzt  wieder  auf  unsere  Wunde  zurück,  und  betrachten,  was  nun  aus 
dem  zellig  inliltrirten  Gewebe,  aus  der  entzündlichen  Neubildung  weiter  wird,  wie  sich 
daraus  die  Narbe  entwickelt.  Während  in  der  weiteren  Umgebung  der  Wunde  die  Zell- 
infiltration nur  noch  langsam  und  träge  sich  weiter  ausbreitet,  nehmen  die  Zellen  an  den 
bereits  locker  verklebten  Wundflächen  allmählig  die  Spindelform  an,  das  Intercellularge- 
webe  wird  dann  wieder  fester,  die  Spindelzellen  bilden  sich  zu  fixen  Bindegewebszellen 
um,  und  das  junge  Narbengewebe  nimmt  zuletzt  immer  mehr  die  Gestalt  des  normalen, 
faserig  sehnigen  Bindegewebes  an.  Es  scheint  also,  dass  die  weissen  Blutzellen  zu  fixen~ 
Bindegewebszellen  werden,  doch  ist  dies  ein  noch  fraglicher  Punkt,  denn  es  wäre  doch 
möglich,  dass  diese  Regeneration  des  Bindegewebes  von  ihm  selbst  in  einer  noch  nicht 
erkannten  Weise  ausginge.  — -  Fragen  mannigfacher  Art  treten  dabei  wieder  an  uns  heran. 
Sehr  früh  wird  nämlich  bei  der  Heilung  per  primam  das  neugebildete ,  verklebende ,  in- 
einanderwachsende  Gewebe  fest;  schon  nach  24  Stunden  finden  wir,  wie  schon  bemerkt, 
die  Intercellularsubstanz  desselben  ziemlich  starr  fibrinös,  auch  die  Wundränder  sind  von 
dieser  starren  Masse  mehr  oder  weniger  infiltrirt;  nur  durch  diese  frühe  Erstarrung  der 
aus  transsudirtem  Serum  und  erweichtem  Bindegewebe  hervorgegangenen  intercellularen 
Bindemasse  lässt  es  sich  erklären,  dass  die  Vereinigung  schon  am  dritten  Tage  meist  eine 
so  feste  ist,  dass  die  Wundränder  auch  ohne  Naht  schon  zusammenhalten,  denn  ohne 
solche  Bindemasse  würde  das  junge  Zellengewebe  keine  solche  Cohärenz  haben  können. 
Diese  erstarrende  Bindemasse  ist  höchst  wahrscheinlich  Fibrin,  welches  aus  dem  Trans- 
sudat der  Gefässe  stammend  unter  dem  Einfluss  der  extravasirten  Blutkörperchen  vielleicht 
auch  der  Wanderzellen  entsteht.  Es  ist  aus  den  vortreÖ'lichen  Untersuchungen  von 
Alexander  Schmidt  bekannt,  dass  die  meisten  Exsudate  die  s.  g.  fibrinogene  Substanz 


Vorlesung  fi.     Capitel  I.  73 

enthalten,  welche  durch  Verhindiin^;  mit  der  librinoplastischen  Substanz  im  Blute  und  in 
andei-en  Geweben  das  Fibrin  bildet,  wie  wir  es  in  f;er()nn(;nem  Zustande  kennen.  Ks 
gehören  ganz  bestimmte  Proportionen  von  lihrinogener  unfl  fibrinoplastiseher  Subslanz 
da/u,  um  das  Fibrin  lierszutellen;  diese  günstigen  Bedingungen  linden  sich  bei  vielen  Ent- 
y.iiiulungsprocessen  vor.  Schmidt  hält  es  für  wahrscheinlich,  dass  alle  festen  faserigen 
(icwehe  dadurch  entstehen  und  erhalten  werden,  dass  die  fibrinogcnc  Suhstanz  aus  dem 
Blut  durch  den  Gehalt  der  Gewehszellcn  an  librinoplastischer  Substanz  in  fester  Form 
gewissermaassen  um  die  Zellen  herum  praecipitirt  wird,  wobei  freilich  dann  specifische 
Zellenwirkungen  hinzugedacht  werden  müssen,  durch  welche  es  bewirkt  wird,  dass  hier 
das  Gerinnungsproduct  die  Form  der  Muskelfaser,  dort  die  des  Bindegewebes  annimmt. 
Diese  Ansicht  hat  für  unseren  Fall  grosse  Wahrscheinlichkeit,  wo  es  den  Anschein  hat,  dass 
aus  dem  intercellulären  geronnenen  Fibrin  allmählig  faseriges  Bindegewehe  wird.  Die  Menge 
der  Intercellularsubstanz  ist  freilich  in  der  entzündeten  Neubildung  nicht  gross,  dennoch 
ist  wohl  kein  Zweifel,  dass  die  kleinen  Lücken  zwischen  den  Zellen  von  einer  solchen 
ausgefällt  werden.  Einige  Zeit  später  scheint  das  junge  Narbengewebe  noch  vorwiegend 
aus  ganz  eng  aneinander  gepressten  Spindelzellen  zu  bestehen;  dann  aber  verkleinern  sich 
die  Spindelzellen  besonders  durch  Abplattung  in  hohem  Maasse,  ja  viele  gehen  auch  wohl 
ganz  zu  Grunde,  und  es  tritt  nun  eine  faserige,  durchaus  bindegewebige  Intercellularsubstanz 
hervor,  welche  theils  als  metamorphosirtes  Fibrin,  theils  als  metamorphosirtes  Protoplasma 
der  Spindelzellen  aufgefasst  wird:  in  diesem  Zustand  bleibt  endlich  das  Narbengewebe 
stabil.  —  Thiersch,  der  kürzlich  die  Wundheilung  wieder  genau  untersucht  hat,  hält 
dafür,  dass  die  scheinbar  fibrinöse  Zwischenmasse  kein  Fibrin,  sondern  nur  metamorpho- 
sirtes Bindegewebe  sei.  Dass  eine  wirklich  unmittelbare  Verklebung,  ein  sofortiges  In- 
einanderwachsen  der  weich  gewordenen  Wundränder  vorkommen  kann ,  will  ich  nicht 
bestreiten,  wenngleich  es  sehr  selten  sein  dürfte.  In  jüngster  Zeit  veranlasste  ich  Herrn 
Dr.  Gussenbauer,  mit  Rücksicht  auf  diese  Behauptungen  von  Thiersch  die  Heilung 
per  primam  aufs  Neue  zum  Gegenstand  einer  eingehenden  Untersuchungsreihe  zu  machen. 
Derselbe  hat  die  Beobachtungen  von  Thiersch  nicht  bestätigen  können,  sondern  ist,  wie 
auch  Güterbock,  der  sich  mit  dem  gleichen  Gegenstand  beschäftigte,  zu  Resultaten  ge- 
kommen, welche  der  Hauptsache  nach  mit  der  obigen  Schilderung  übereinstimmen,  die 
ich  nach  eignen  früheren  Studien  entworfen  habe. 

Was  ist  während  dieser  Vorgänge  im  Gewebe  aus  den  obturirten 
Ge fassenden  geworden?  Das  Blutgerinnsel  in  ihnen  ist  resorbirt  oder 
organisirt;  die  Gefässwandungen  senden  Sprossen  aus,  welche  sowohl 
mit  den  Gefässsehlingen  des  gegenüberliegenden  "Wundrandes,  als  unter 
einander  in  offene  Communieation  treten  (Fig.  3).  Auf  diese  Art  wird 
jedoch  nur  die  anfangs  ziemlich  spärliche  Verbindung  der  gegenüber- 
liegenden Gefässsehlingen  unter  einander  vermittelt;  letztere 
selbst  waren  bereits  durch  reichliche  Schlängelungen  und  Windungen 
von  den  nach  der  Verletzung  schlingenförmig  abgegrenzten  Gefässen  aus 
entstanden;  in  das  Detail  dieser  interessanten  Gefässschlingenbildungen 
einzugehen,  ist  hiei*  nicht  der  Ort;  ihre  Entwicklung  basirt  jedenfalls 
nicht  nur  auf  Dilatation,  sondern  wesentlich  auch  auf  interstitiellem 
Wachsthum  der  Gefässwandungen.  Die  ursprünglichen,  früher  bestan- 
denen Gefässverbindungen  werden  so  durch  ein  zunächst  weit  reich- 
licheres, neugebildetes  Gefässnetz  ersetzt. 

Arnold  hat  den  Process  der  Gefässentwicklung  in  neuester  Zeit  am  sorgfältigsten 
studirt,   und   am  Froschlarvenschwanz  das  W^achsthum   der  Gefässe   und  die  Bildung  von 


74 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


Fig.  5. 


Gefässschlingen  direct  unter  seinen  Augen  vor  sich 
gehen  sehen.     (Fig.  .5.) 

Obgleich  das  Herz  und  die  ersten  Gefässe 
des  Embryo  so  zu  entstehen  scheinen,  dass  von 
den  dazu  bestimmten  Zellenhaufen  des  mittleren 
Keimblattes  die  peripheren  zur  Gefässwandung,  die 
centralen  zu  Blutzellen  werden,  so  scheint  doch 
diese  Art  der  Gefäss-  und  Blutbildung  später  nicht 
mehr  vorzukommen,  wenigstens  haben  die  darüber 
von  Rokitansky  vi.  A.  bis  zur  neuesten  Zeit 
(auch  von  früher  von  mir)  angeführten  Beobach- 
tungen keinen  rechten  Glauben  gefunden.  Nach 
Arnold's  Untersuchungen  scheint  die  Sprossen- 
bildung an  den  Gefässen  die  einzige  Art  der  Ge- 
fässbildung  im  wachsenden  Embryo  zu  sein. 

Ich  glaubte  früher  bei  Bildung  der  Granu- 
lationsgefässe  und  auch  der  Gefässe  in  manchen 
pathologischen  Neubildungen  noch  eine  andei-e  Ai-t 
des  Gefässwachsthums  annehmen  zu  müssen, 
nämlich  eine  Röhrenbildung  durch  Zusammenlegen 
von  Spindelzellen,  wie  es  etwa  bei  a,  b,  c  in 
Fig.  6  erscheinen  kann:  ich  nannte  dies  ,.secundäre 
Gefässbildung'^,  (als  „primäre"  habe  ich  die  Ai-t, 
wie  das  Herz  und  die  Gefässe  im  mittleren  Keimblatt 
angelegt  worden,  bezeichnet).  Die  Sprossenbildung 
bezeichnete  ich  als  „tertiäre  Gefässentwickluug. " 
Ich  gebe  jedoch  nach  den  neueren  Untersuchungen 
gern  zu,  dass  der  von  mir  als  „secundäre  Gefäss- 
bildung"  bezeichnete  Modus  vielleicht  nicht  existirt, 
sondern  dass  mir  der  feine  Plasmasti-ang  (die 
Sprosse),  um  welche  isich  die  aus  der  jungen 
Adventitia  hervorwachsenden  Spindelzellen  lagern, 
entgangen  sein  mag.   — 

In  Folge  der  wiederhergestellten  Cir- 
culation  durch  die  junge  Narbe  hindurch 
sind  die  durch  die  Verletzung  bedingten 
Kreislaufsstörungen  nun  völlig  wieder  aus- 
geglichen; die  Röthung  und  Schwellung 
der  Wundränder  ist  verschwunden,  die 
Narbe  erscheint  wegen  der  reichlicheren 
Gefässe  als  feiner  rother  Strich.  — 
Jetzt  muss  die  Consolidation  der  Narbe 
eingeleitet  werden;  dies  geschieht  dadurch, 
dass  einerseits  die  neugebildeten  Gefässe 
theilweis  verschwinden,  indem  iln-e  Wan- 
dungen zusammensinken,  und  so  zu 
feinen 


Bindegewebssträngen 


Die  Reihenfolge  dieser  Gefässbildungen  SOliden , 

"'  "'•'ir:US:lS'l:^::r''"  ^^-'-^^i.  -^««^  andererseits  das  Intei-cellu- 
Vergrösserung  300,  nach  Arnold,    largewebe    immer    fester,    wasserarmer 


Vorli'Siiii^i,'  (\.      (';i|)ilcl    I. 


75 


Fig.  6. 


Gefässanlagen  aus  dem  Glaskörper  von  Kalbsembryonen.     Vergrösserung  etwa  600, 

nach  Arnold. 


wird,  die  Zellen,  wie  erwähnt,  die  platte  Form  der  Bindegewebskörperchen 
annehmen  oder  verschwinden,  vielleicht  theilweis  Wanderzellen  bleiben 
und  in  die  Lymph-  oder  Blutg-efässe  wieder  zurückkehren.  Auf  dieser 
Condensirung'  und  Schrumpfung  des  Narbengewebes  beruht  die  erheb- 
liche Contractionskraft  desselben,  durch  welche  grosse,  breite  Narben 
zuweilen  auf  die  Hälfte  ihres  ursprünglichen  Volumens  reducirt  werden 
können. 

Es  könnte  Ihnen  auf  den  ersten  Eindruck  widerstrebend  sein,  zu 
glauben,  dass  ein  scheinbar  überflüssig  grosses  Capillaruetz  in  der  jungen 
Narbe  angelegt  wird,  welches  in  der  Folge  wieder  zum  grössten  Theil 
obliterirt.  Begründen  können  wir  dies  scheinbare  Zuviel  nicht,  doch 
Analogien  finden  sich  in  der  embryonalen  Entwicklung  in  ziemlich  grosser 
Anzahl:  ich  habe  Sie  eben  daran  erinnert,  dass  es  eine  Zeit  der 
Fötalperiode  giebt,  wo  auch  im  Glaskörper  ein  Cappillarnetz  existirt, 
welches,  wie  sie  wissen,  fast  spurlos  verschwindet. 


76      ''  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Ich  verlasse  jetzt,  um  Sie  nicht  mit  sogenannten  theoretischen. Gegen- 
ständen zu  ermüden,  dieses  Feld  für  kurze  Zeit  und  will  Ihnen,  ehe 
wir  mit  der  Heilung  per  primam  intentionem  als  einem  uns  jetzt  genau 
bekannten  Dinge  abschliessen,  noch  einige  praktische  Bemerkungen 
machen  über  diejenigen  Momente,  welche  diese  Art  der  Heilung,  wenn 
auch  die  Wundränder  zusammenliegen,  verhindern  können. 

Die  Heilung  per  primam  kommt  nicht  zu  Stande: 

1.  Wenn  die  Wundränder  zwar  mit  Hülfe  von  Pflaster  oder  Nähten 
zusammengebracht  sind,  doch  aber  die  Spannung  derselben,  d.  h.  die 
Neigung,  sich  wieder  von  einander  zu  begeben,  sehr  gross  ist.  Unter 
diesen  Umständen  halten  entweder  die  Pflaster  die  Wunde  nicht  genau 
zusammen,  die  Suturen  ziehen  sich  durch  die  W^undränder  hindurch, 
vielleicht  wird  auch  durch  die  starke  Spannung  des  Gewebes  die  Cir- 
culation  in  den  Capillaren  gehemmt,  und  dadurch  die  Zellenauswauderung 
und  die  Ausbildung  der  entzündlichen  Neubildung  gestört.  Wie  stark 
eine  solche  Spannung  sein  muss,  um  die  Heilung  noch  zuzulassen,  welche 
Mittel  wir  besitzen,  eine  solche  Spannung  zu  heben,  darüber  können  Sie 
sich  erst  in  der  Klinik  eine  Anschauung  bilden. 

2.  Eine  weitere  Hemmung  der  Heilung  ist  eine  grössere  Menge 
von  Blut,  welches  sich  zwischen  die  Wundränder  ergiesst;  dies  wirkt 
einerseits  als  fremder  Körper  zwischen  den  Wuudrändern,  andrerseits, 
wenn  es  sich  zersetzt,  durch  den  Einfluss  des  Fäulnissprocesses  hinder- 
lich auf  den  Heilungsprocess. 

3.  Andere  fremde  Körper,  z.  B.  Sand,  Schmutz,  alkalischer  Urin, 
Koth  u.  dergl.,  hindern  ebenfalls  theils  mechanisch,  theils  chemisch  die 
Heilung,  Diese  Substanzen  müssen  daher  sorgfältig  vor  der  Vereinigung 
der  Wunde  entfernt  werden;  bei  Wunden  der  Harnblase  versucht  man 
den  Verschluss  der  Hautwunde  gewöhnlich  gar  nicht;  der  Urin  würde  sich 
in  das  Unterhautzellgewebe  drängen  und  hier  schreckliche  Verheerungen 
anrichten  können;  hier  wäre  es  unter  Umständen  sogar  ein  Fehler,  die 
Wunde  zu  vereinigen. 

4.  Endlich  kann  durch  eine  quetschende  Wirkung,  deren  Effect  uns 
an  den  Wundrändern  bei  der  Untersuchung  entgangen  sein  kann,  eine 
weitgehende  Circulatiousstörung  und  feinste  Gewebszertrümmeruug  Statt 
gehabt  haben,  die  den  partiellen  Tod  einzelner  Theile  oder  der  ganzen 
Wundfläche  zur  Folge  hatte.  Weil  dann  in  den  Wundrändern  keine 
Zellenbildung  Statt  findet,  sondern  erst  da,  wo  das  Gewebe  noch  lebt, 
so  liegen  die  kleinen  Fetzen  des  zertrümmerten  Gewebes  begreiflicher 
Weise  als  todte  fremde  Körper  zwischen  den  Wundrändern  und  müssen 
die  Heilung  per  primam  verhindern.  Betrifft  diese  Mortificirung  der 
Wundränder,  bei  welcher  übrigens  eine  fibrinöse  Verklebung  vorüber- 
gehend bestehen  kann,  nur  ganz  kleine  minimale  Partikelchen,  so  können 
dieselben  möglicherweise  rascli.  molecular  zerfallen  und  resorbirt  werden ; 
dies  mag  nicht  selten  der  Fall  sein.     Wir  haben  von  dieser  Mortificirung 


VoricsutiK  c.    Ciipii.'i  r.  77 

von    Gewebstlieilcn   luul    ilivcr   Lo.sKisuui!,'   vom  (Jcsuiiden  l)(;i    den    Qiicl- 
scliung'en  ausfülirliclicr  zu  sprechen. 

Die  durch  viele  licobnchtuui^eu  sich  ;uisl)ildcnde  Uel)uufi,'  in  der  l>e- 
urtheilung  der  WundHüclieu  Avird  Sie  später  in  den  Stand  setzen,  in  den 
meisten  Fällen  vorherzusag-en,  ob  die  lleiUnig  i)er  primani  zu  erwarten 
steht  oder  nicht,  und -Sic  werden  dadurch  lernen,  wann  es  nützlich  sein 
kann,  auch  in  zweifelliaften  Fällen  noch  diese  Vereinigung  mit  lliilfe 
A'on  Verbandmitteln  anzustreben. 

Sie  werden  hier  und  da  merkwürdige  Fälle  erzählen  hören ,  in 
welchen  vollständig  abgetrennte  Theile  des  Körpers  wieder 
ang-eheilt  sind.  Das  Faktum  scheint  in  der  That  festzustehen;  es  hat 
sich  mir  bis  jetzt  keine  Geleg-enheit  dargeboten,  Beobachtungen  darüber 
anzustellen;  doch  haben  noch  in  neuester  Zeit  sehr  zuverlässige  Männer 
berichtet,  dass  sie  es  gesehen  haben,  wie  kleine  Hautstttcke  der  Finger 
und  der  Nase,  die  sofort,  nachdem  sie 'mit  einem  Hieb  oder  Schnitt  abge- 
tragen w^orden,  dann  genau  angelegt  und  mit  Pflaster  befestigt  sind,  wieder 
anheilten.  Ich  habe  die  Möglichkeit  solcher  Anheilungen  früher  a  priori 
bestritten,  muss  aber  jetzt  auch  aus  theoretischen  Gründen  dieselben 
zugeben,  nachdem  es  durch  die  Bewegungen  der  Zellen  denkbar  geworden 
ist,  dass  das  abgetrennte  Stück,  w^enn  es  nicht  zu  gross  ist,  durch  ein- 
gewanderte Zellen  sehr  bald  w^ieder  belebt  werden  kann.  Dass  man 
ein  abgeschnittenes  Reis  auf  einen  andern  Baum  mit  Erfolg  transplan- 
tiren  kann,  ist  ja  bekannt;  doch  da  die  Circulation  bei  den  Pflanzen 
keines  Pumpwerkes  bedarf,  sondern  die  Saftströmungen  nur  durch  cellu- 
lare  Kräfte  vor  sich  gehen,  so  lag  die  Analogie  doch  noch  fern;  auf- 
fallender war  es  freilich  schon,  dass  man  mit  Erfolg  Hahnensporen  auf 
Hahneukämme  transplantiren  kann ;  doch  auch  zwischen  Vogel  und  Mensch 
sind  die  Unterschiede  gerade  in  den  formativen  Processen  immerhin  noch 
sehr  bedeutend,  und  jede  unmittelbare  Uebertragung  der  Beobachtungen 
auf  die  Praxis  unstatthaft.  Auf  die  Entdeckung  von  Reverdin,  dass 
man  kleine  Hautstückchen  mit  Epidermis  auf  Granulationsflächen  einheilen 
kann,  und  dass  diese  daselbst  weiter  wachsen,  werden  wir  später  bei 
Besprechung  der  Benarbung  von  Wunden  mit  Substanzverlust  näher  ein- 
gehen. —  Zeis  hat  in  seiner  Geschichte  der  plastischen  Operationen  alle 
in  der  Literatur  beschriebenen  Fälle  von  Anheilungen  völlig  abgetrennter 
Körpertheile  zusammengestellt.  Rosenberger  hat  diese  Zusammen- 
stellung bis  auf  die  neueste  Zeit  vervollständigt  und  theilt  eine  Anzahl 
von  ihm  selbst  sorgfältig  beobachteten  Fällen  mit,  in  welchen  abge- 
hauene Nasentheile  und  Fingerspitzen  nach  sorgfältiger  Anheftung  wieder 
anheilten.  Er  bestätigt  die  früheren  Beobachtungen,  dass  die  Epidermis, 
zuweilen  auch  kleine  Schichten  der  Oberfläche  solcher  anheilender  Theile 
in  der  Regel  gangränös  werden,  w^ährend  die  Anheilung  darunter  erfolgt. 


Von   den  einfaclien   öclinittwunden   der  Weiclitlieile. 


Vorlesung  7. 

Mit  freiem  Auge  sichtbare  Vorgänge  an  Wunden  mit  Substanzverlust.  —  Feinere  Vorgänge 
bei  der  V/undheilung  mit  Granulalion  und  Eiterung.  Eiter.  — >  Karbenbildung.  —  Be- 
trachtungen   über  „Entzündung".    —    Demonstration   von  Präparaten    zur  Iliusti-ation    des 

Wundheilungsprocesses. 

Es  wird  uns  nun  weiter  obliegen,  zu  untersuchen,  was  aus  der 
Wunde  wird ,  wenn  unter  den  obig-en  Verhältnissen  die  Heilung  per 
primam  ausbleibt;  wir  haben  dann  eine  offene  Wundtläclie  vor  uns,  da 
die  beiden  Wundränder  aus  einander  weichen-,  es  liegen  dann  a.lso  die- 
selben Verhältnisse  vor,  als  wenn  die  klaffende  Wunde  gar  nicht 
vereinigt  wäre,  oder  als  wenn  ein  Stück  herausgeschnitten  wäre,  wie 
bei  einer  Wunde  mit  Substanzverlust.  Die  genaue  Beobachtung  solcher 
Wunden,  die  man  mit  irgend  welchen  indifferenten  Körpern,  z.  B.  mit 
einem  in  Oel  getränkten  Läppchen,  mit  geölter  oder  trockener  Charpie 
u.  dgl.  zu  bedecken  pflegt,  zeigt,  wenn  wir  täglich  die  Wunde  besich- 
tigen, (was  in  den  ersten  Tagen  allerdings  selten  nöthig  ist,  sogar  un- 
zweckmässig sein  kann),  folgende  Veränderungen.  Nach  24 — 48  Stunden 
linden  Sie  die  Y\^undränder  zuweilen  von  einem  leichten,  rothen  Anflug, 
etwas  geschwollen,  leicht  schmerzhaft  auf  Druck,  zuweilen  bleiben  sie 
freilich  völlig  unverändert  im  Aussehen.  Wie  bei  der  Heilung  per  primam 
intentionem  können  diese  Symptome  höchst  unbedeutend  sein,  ja  auch 
ganz  fehlen,  z,  B.  an  alter,  schlaffer,  welker  Haut,  auch  au  kräftiger 
Haut  mit  dicker  Epidermis;  an  der  Haut  von  gesunden  Kindern  beo- 
bachtet man  diese  Erscheinungen  am  schönsten;  eine  sehr  weit  ausge- 
dehnte und  sich  steigernde  Eöthung,  Schwellung  und  Schmerz  der  Um- 
gebung der  Wunde  ist  schon  als  ein  abnormer  Verlauf  zu  bezeichnen. 
—  Die  Wundf lache  hat  sich  nach  den  ersten  24  Stunden  noch  wenig 
verändert.  Sie  erkennen  überall  noch  die  Gewebe  ziemlich  deutlich, 
wenngleich  sie  ein  eigenthümlich  gallertiges,  grauliches  Ansehen  (durch 
anhaftenden  Faserstoff)  erhalten  haben ;  ausserdem  findet  sich  eine  ziemliche 
Anzahl  von  gelblichen  oder  grauröthlich  gefärbten  kleinen  Partikelchen  auf 
der  Wundfläche;  wenn  Sie  diese  genauer  untersuchen,  so  werden  Sie 
finden,  dass  es  kleine,  abgestorbene  Fetzen  von  Gewebe  sind,  die  aber 
noch  fest  adhärireu.  —  Am  zweiten  Tage  bemerkt  man  bald  mehr  bald 
weniger  rothgelbliche,  dünne  Flüssigkeit  auf  der  Wunde,  die  Gewebe 
erscheinen  mehr  gleichmässig  grauröthlich  und  gallertig,  und  ihre  Grenzen 
unter  einander  fangen  an,  sich  zu  verwischen.  —  Am  dritten  Tage  ist 
das  Secret  der  Wunde  schon  reiner  gelb,  etwas  dicker,  die  grösste  Anzahl 
der  gelblichen,  abgestorbenen  Gewebspartikelchen  fliesst  mit  dem  Secret 
ab,  sie  sind  jetzt  gelöst;  die  Wundfläche  wird  immer  ebener  und  gleich- 
massiger  roth,  sie  reinigt  sich,  wie  wir  mit  einem  technischen  Aus- 
druck sagen.  —  Hatten  Sie  die  Wunde  (z.  B.  einen  Amputationsstumpf) 


Vorlcsiin.ti;  7.     C';i])itc1  T.  79 

g-ar  iiiclit  vcrbiiudoii  und  rangen  das  abliicssendc  Beeret  in  einer  unter- 
gestellten Scliaale  auf,  so  vyerden  Sie  dasselbe  am  ersten  und  zweiten 
Tage  blutig  braunroth,  dann  gallertig  schmutzig-  graubraun,  dann  sclimutzig 
gelb  finden:  an  den  Stellen,  wo  das  Secret  von  den  Wunden  al)- 
fliesst,  bilden  sich  nicht  selten  erstarrende  Tropfen  von 
Faserstoff.  —  Wenn  Sie  bei  offenen  Wunden  recht  genau  zuselien 
oder  eine  Lupe  zu  Hülfe  nehmen,  so  sehen  Sic  schon  am  dritten  Tage 
viele  kaum  hirsekorngrosse,  rothe  Knötchen  aus  dem  Gewebe  hervor- 
kommen, kleine  Granula,  Granulationen,  Fleischwärzchen. 
Diese  haben  sich  bis  zum  vierten  und  sechsten  Tage  bereits  viel  stärker 
entwickelt  und  confluiren  allmählig  zu  einer  feinkörnigen,  glänzcndrotli 
aussehenden  Fläche :  der  Gran ulationsflä che;  zugleich  wird  die  von 
dieser  Fläche  abfliessende  Flüssigkeit  immer  dicker,  von  rein  gelblicher 
rahmartiger  Beschafl'enheit ;  diese  Flüssigkeit  ist  Eiter,  und  zwar,  wie 
ich  Ihnen  die  Beschaffenheit  hier  geschildert  habe,  der  gute  Eiter,  pus 
bonum  et  laudabile  der  alten  Autoren, 

Von  diesem  normalen  Verlauf  giebt  es  eine  grosse  Anzahl  von 
Varianten,  die  zumal  davon  abhängen,  welche  Gewebstheile  und  wie 
sie  verletzt  sind;  sterben  grosse  Fetzen  von  Gewebe  an  der  Wundfläch c 
ab,  so  dauert  die  Reinigung  der  Wunde  viel  länger  und  Sie  können 
dann  zuweilen  auf  der  bereits  zum  grössten  Theil  granulireudeu  Fläche 
die  weissen,  festanhängendeu,  abgestorbenen  Gewebsfetzeu  noch  mehre 
Tage  lang  wahrnehmen.  Zumal  sind  es  Sehnen  und  Fascien,  die  leicht, 
selbst  durch  einfache  Schuittverletzuug  so  in  ihren  Kreislaufvei-hältnissen 
gestört  werden,  dass  sie  von  den  Schnittflächen  an  in  unerwartet  grosser 
Ausdehnung  absterben,  während  vom  lockeren  Zellgewebe,  vom  Muskel 
wenig  verloren  geht.  Der  Grund  davon  liegt  unzweifelhaft  einerseits 
in  der  Gefässarmuth  der  sehnigen  Theile,  dann  in  ihrer  Festigkeit,  die 
eine  starke,  rasch  eintretende,  collaterale  Gefässdilatation  nicht  erlaubt; 
ähnlich  ergeht  es  bei  Verletzung  der  Knochen,  zumal  der  Corticalsub- 
stanz,  wo  dann  oft  genug  auch  ein  Absterben  der  verletzten  Kuochen- 
fläche  erfolgt,  die  lauge  zur  Abstossung  braucht.  Andere  Hindernisse 
für  eine  kräftige  Grauulations-Entwicklung  liegen  auch  in  allgemeinen 
constitutionellen  Verhältnissen  des  Körpers;  so  werden  Sie  z.  B.  bei  sehr 
alten  Leuten,  bei  sehr  geschwächten  Personen,  bei  schlecht  genährten 
Kindern  sehen,  dass  die  Entwicklung  der  Granulationen  nicht  allein  sehr 
langsam  vor  sich  geht,  sondern  auch,  dass  die  gebildeten  Granulationen 
sehr  blas  und  schlaff  aussehen.  Ich  will  Ihnen  später  am  Sohluss  dieses 
Capitels  noch  eine  kurze  Uebersicht  derjenigen  Granulations-Anomalien 
geben,  die  in  das  Bereich  der  täglichen  Vorkommnisse  an  grösseren 
Wunden  gehören  und  gewissermaassen  noch  in  die  Breite  des  normalen 
oder  wenigstens  des  Gewöhnlichen  fallen. 

Kehren    wir    indess   zu    dem    entworfenen    Bilde    der    normal    ent- 
wickelten Granulationsfläche  zurück,    so  nehmen  Sie  in   der  Folge  bei 


gQ  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

fortdauernder  Secretion  von  Eiter  wahr,  dass  die  Granulationen 
sich  immer  mehr  und  mehr  aus  ihrer  Ebene  erheben,  und  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  das  Niveau  der  Hautoberfläche  erreichen,  ja  nicht 
selten  dasselbe  überrag-en.  Mit  diesem  Wachsthumsprocess  werden  die 
einzelnen  Granula  immer  dicker,'  immer  confiuirender,  so  dass  sie  dann 
schwer  als  gesonderte  Knöpfchen  erkannt  werden  können,  sondern  die 
ganze  Fläche  nun  ein  glasiges,  gallertiges  Ansehen  erhalt.  Auf  diesem 
Zustand  erhalten  sich  die  Granulationen  zuweilen  sehr  lange :  wir  müssen 
dann  verschiedene  Mittel  brauchen,  um  die  wuchernde  Neubildung  in 
gewissen,  der  Heilung  förderlichen  Schranken  zurückzuhalten;  zumal 
darf  an  der  Peripherie  die  Granulationsmasse  das  Niveau  der  Haut 
nicht  überragen,  denn  hier  muss  jetzt  die  Vernarbung  beginnen.  — 
Sie  sehen  jetzt  allmählig  folgende  Metamorphosen  eintreten:  die  ganze 
Fläche  zieht  sich  mehr  und  mehr  zusammen,  wird  kleiner;  an  der 
Grenze  zwischen  Haut  und  Granulationen  wird  die  Eitersecretion  etwas 
geringer; „es  bildet  sich  zunächst  ein  trockner,  rother,  etwa  '/,'"  breiter 
Saum,  der  nach  dem  Centrum  der  Wunde  vorrückt,  und  je  mehr  er 
sich  vorschiebt  und  die  Granulationsfläche  überzieht,  folgt  ihm  ein  hell- 
bläulich weisser  Saum  unmittelbar  nach,  der  in  die  normale  Epidermis 
übergeht.  Diese  beiden  Säume  entstehen  durch  die  Entwicklung  von 
Epidermis,  welche  von  der  Peripherie  nach  dem  Centrum  zu  vorrückt; 
es  tritt  die  Benarbung  ein;  der  junge  Narbenrand  rückt  täglich  etwa 
y,"'  bis  V"  vor,  endlich  hat  er  die  ganze  Granulationsfläche  bedeckt. 
Die  junge  Narbe  sieht  dann  noch  ziemlich  roth  aus  und  setzt  sich 
dadurch  sehr  scharf  von  der  gesunden  Haut  ab;  sie  ist  fest  anzufühlen, 
fester  als  die  Cutis  und  hängt  mit  den  unterliegenden  Theilen  noch  sehr 
innig  zusammen.  Mit  der  Zeit,  nach  Monaten,  wird  sie  allmählig  blasser, 
weicher,  verschiebbarer,  endlich  weiss ;  sie  verkleinert  sich  noch  im  Ver- 
lauf von  Monaten  und  Jahren,  behält  aber  oft  durch  das  ganze  Leben 
eine  weissere  Farbe  als  die  Cutis.  Durch  die  starke  Contraction,  die 
in  der  Narbe  nach  dem  Centrum  zu  vorgeht,  werden  die  naheliegenden 
Hauttheile  oft  sehr  stark  verzogen,  ein  Effect,  der  zuweilen  sehr  will- 
kommen, zuweilen  indess  sehr  unwillkommen  ist,  wenn  z.  B.  durch  eine 
solche  Narbe  an  der  Wange  das  untere  Augenlid  stark  herabgezogen 
wird,  und  so  ein  Ectropium  entsteht. 

Sie  werden  hier  und  da  angeführt  finden,  dass  die  Benarbung  der 
Granulationsflächen  auch  zuweilen  von  einzelnen,  mitten  in  denselben 
sich  bildenden  Epidermis-Inseln  entstehen  kann.  Dies  hat  nur  für  solche 
Fälle  Gültigkeit,  wo  mitten  in  der  Wunde  noch  ein  Stückchen  von 
Cutis  mit  Eete  Malpighii  stehen  geblieben  war,  wie  das  z.  B,  bei  Brand- 
wunden leicht  Statt  haben  kann,  indem  ja  das  kaustisch  wirkende  Agens 
sehr  ungleichmässig  in  die  Tiefe  eindringen  kann.  Unter  solchen  Ver- 
hältnissen bildet  sich  von  einem  Stückchen  stehengebliebener  Papillar- 
schicht  der  Haut  mit  einer,  wenn  auch  noch  so  dünnen  Bedeckung  von 


Zcllpn  des  Kclc  Mali)igliii  sofort  wieder  K|)ideriiiis;  es  sind  an  diesen 
Stellen  dann  die  i^'leiclien  Yerliältnisse,  ^vic  wenn  Sie  etwa  diircli  ein 
Cantharidenpflaster  eine  Blase  aul"  der  Haut  erzeugt  hätten,  ■wodiiicli 
eine  Abhebung-  der  Hornschicht  von  dei-  Schleimschieht  der  Cutis  durdi 
das  sehr  rasch  auftretende  Exsudat  erfolgt;  es  bilden  sieh  danacli  keine 
Granulationen,  wenn  Sie  die  Fläche  niclit  fortwährend  reizen,  sondern 
von  der  Sehleinischicht  aus  entstehen  sofort  wieder  verhornende  Epidermis- 
blättchen.  Ist  aber  ein  solclier  Rest  des  Rcte  Malpig-liii  nicht  vorhanden, 
so  entstehen  auch  nieinals  Narbeninseln,  sondern  die  Epiderrnisbildung 
rückt  nur  von  der  Peripherie  der  Wunde  allmählig-  nach  dem  Centrum 
vor.  Dies  steht  für  mich  so  vollkommen  fest,  dass  ich  glaube,  Chirurgen, 
die  es  anders  gesehen  zu  liaben  behaupten,  sind  in  irgend  einer  AVeise 
getäuscht  worden.  Die  Transplantationen  von  Epidermis  nach  Rev erdin 
scheinen  mir  ebenfalls  sehr  zu  Gunsten  der  alleinigen  Epithelentwicklung" 
aus  Epithel  zu  sprechen, 

Naclidem  wir  die  äusseren  Verhältnisse  der  Wunde  betrachtet  haben, 
die  EntAvicklung  der  Granulationen,  des  Eiters,  der  Nai'be,  müssen  wir 
uns  jetzt  zu  den  feineren  Vorgängen  wenden,  durch  welche  diese  äusseren 
Erscheinungen  hervorgebracht  werden. 

Es  wird  am  eiiifaclisten  sein,  wenn  wir  uns  wieder  ein  verliältnissmässig  einfaclies 
Capillarnetz  im  Bindegewebe  entwerfen  (Fig.  1,  pag.  60).  Denken  Sie  sieh  ans  demselben 
ein  Stück  von  oben  lier  halbkreisförmig  ausgeschnitten ,  so  wird  znuäclist  eine  Blutung 
aus  den  Gefässen  erfolgen,  die  durch  Bildung  von  Gerinnseln  Ins  zum  nächsten  Gx^fässast 
gestillt  wird.  Es  nniss  sodann  eine  wenn  aucli  kurz  dauernde  Dilatation  der  um  die 
Wunde  liegenden  Gefässe  entstehen,  die  theils  durcii  erliöhten  Druck,  tlieils  durcji  Fluxion 
bedingt  ist;  eine  vermehrte  Transsudation  von  Blutserum,  also  eine  Exsudation,  ist  auch 
hier  aus  den  früher  besprochenen  Gründen  nothwendige  Folge  der  Capillardilatation;  das 
transsudirte  Serum  enthält  auch  hier  etwas  fibrinogene  Substanz,  welche  (vernuithlich 
dm-ch  die  Einwirkung  der  neu  entstehenden  Zellen)  in  den  oberflächlichsten  Gewebs- 
schichten  zu  Fibrin  gerinnt,  während  das  Serum  mit  Blutplasma  gemischt  al)fliesst.  Das 
Gefässnetz    würde  sich  nun  gestalten  wie  in  Fig.  7,  pag.  82. 

Es  wird  meist  der  Fall  sein,  dass  an  der  Oberfläche  der  Wunde  mehr  oder  weniger 
Gewebstheilchen  zu  Grunde  gehen,  da  die  Gefässverstopfung  besonders  in  Geweben  mit 
schwacher  Gefässentwicklung  natürlicli  tief  in  die  Ernährung  eingreifen  muss,  und  zumal 
in  starren  Geweben  der  Gefässdilatation  Schranken  entgegengesetzt  werden;  diese  ober- 
flächliche Necrose  kann  freilich  für's  freie  Auge  kaum  wahrnehmbar  sein.  Nehmen  wir  an. 
die  oberste  in  der  Zeichnung  schraffirte  Schicht  der  'Wunde  sei  durch  die  Veränderung  der 
Circulationsverhältnisse  abgestoi-ben.  Was  wird  jetzt  in  dem  Gewebe  selbst  vorgehen? 
Wesentlich  dieselben  Veränderungen  wie  bei  vereinigten  Wundrändern:  AusAvanderung 
weisser  Blutzellen  durch  die  Gefässwandungen,  massenhaftes  Auftreten  dieser  Zellen  im  Ge- 
webe mit  den  secundären  Wirkungen  auf  das  Gewebe:  plastische  Infiltration  und 
entzündliche  Neubildung.  Da  aber  hier  keine  gegenüberliegende  Wundfläche  ist,  mit 
der  das  neue  Gewebe  in  eins  verschmelzen  könnte,  um  sich  dann  rasch  zu  Bindegewebe 
umzuformen,  so  bleiben  die  aus  den  Gefässen  ausgewanderten  Zellen  zunächst  an  der  Ober- 
fläche der  Wunde  liegen;  die  exsudirte  fibrinöse  Substanz  an  der  Wundoberfläche  wird 
weich,  gallertig;  zugleich  nimmt  auch  das  zellig  infiltrirte  Gewebe  der  Wundoberfläche 
die  gleichen  Eigenschaften  an:  die  weiche  Bindesubstanz,  in  welche  in  nächster  Folge 
BiUrotli  chir.    Path.  n.  Therap.    7.  Aufl.  (3 


82 


Von  den  einfachen  Selmittwunden  der  Weicbtheile. 


Fig.  7. 


Wunde  mit  Substanzverlust.     Gefässdilatation.     Schematisohe  Zeielmiinfi 
.    Verarösserunsf  300 — 400. 


junge  Gefässe  hineinwachsen,  hält,  wenn  auch  nur  in  geringer  Menge  vorhanden,  die 
Zellen  der  entzündlichen  Neubildung,  deren  Menge  noch  fortwährend  wächst,  zusammen. 
—  So  entsteht  das  Granulationsgewebe.  Granulationsgewebe  ist  also  eine- 
reichlich A-ascularisirte,  entzündliche  Neubildung,  eine  Neubildung  angeregt 
durch  eine  entzündliche  Ernährungsstörung.  Es  ist  anfangs  in  fortwährendem  Waclisthum 
begriffen:  dies  Wachsthum  findet  in  der  Eichtung  vom  Grunde  der  AVunde  aus  nach  der 
Oberfläche  zu  Statt:  das  Gewebe  ist  jedoch  von  verschiedener  Consistenz  in  verschiedenen 
Schichten,  zumal  .seine  oberflächliche  Schicht  ist  von  weicher,  ganz  oben  von  flüssiger 
Consistenz,  indem  hier  die  Intercellularsubstanz  nicht  nur  gallertig,  sondern  flüssig 
wird;  diese  oberste,  dünnflüssige,  fortwährend  abfliessende  und  sich  fortwährend  aus  dem 
Granulationsgewebe  durch  Zellenauswanderung  erneuernde  Schicht  ist  der  Eiter.  (S.  Fig.  G-) 
Der  Eiter  kommt  hier  also  aus  dem  Granulationsgewebe  hervor  und  bestellt  aus 
jungen  Zellen.  Avelche  aus  den  Granulationsgefässen ,  wolil  aucli  aus  dem  Granulatiuns- 
gewebe,  herausgewandert  sind.  Man  sagt:  die  AVunde  secernirt  den  Eiter.  Sammelt 
mau  Eiter  in  einem  Gefässe,  so  sondert  er  sich  bei  ruhigem  Stehen  in  eine  obere,  dünne, 
helle  Schicht  und  in  eine  untere  gelbe;  erstere  ist  flüssige  Intercellularsubstanz.  letztere 
enthält  vorwiegend  die  Eiterkorperchen.  Diese  zeigen  sich  bei  mikroskopisclier  Betrach- 
tung als  runde,  fein  punktirte  Zellen  von  der  Grösse  der  weissen  Ehitkcu-iierchen .  mit 
denen  sie  ja  identiscli  sind.  Doch  Avährend  diese  Zellen,  so  lange  sie  in  der  Lvmplie 
und  im  Blut  sind,  in  der  Kegel  nur  einen  grossen  Kern  sehen  lassen,  verändern  sie  ^ich 
nach  Austritt  aus  den  Gefässen  der  Art,  dass  sie  dann  3 — 4  kleine  dmikle  Kerne  zeigen, 
die  bei  Zusatz  von  Essigsäure  besonders  deutlich  hervortreten,  weil  die  blassen  Körnchen 
des  Protoplasma  dadurch  gelöst  werden  oder  wenigstens  so  quellen,  dass  die  Zellsubstanz 
durchsichtig  wird:  dies  ist  die  einzige,  ziemlich  constante  Differenz,  welche  sich  zwischen 


V<irU'siin!;'  7.      ( ':i|iilc'l    f. 


83 


weissen  Blutzellcn  (die  ja  wiedcnini  mii  Lyin|ili/(llcii  identiscli  sind)  und  ICit^rzellcn 
inovphologisc'li  auriiiulen  lässl.  Die  Krrue  sind  niclil  in  Essigsäure  iöslidi,  das  ganze 
Kfigelclien  löst  sicli  leielil  in   Alkalien. 


Fig.  8. 

c 


i     (0) 


Eiterzellen  aus  frischem  Eiter  bei  400 maliger  Vergrössernng;  a  abgestorben  ohne  Znsatz; 
h  verschiedene  Formen,  welche  die  lebenden  Eiterzellen  bei  ihren  amöboiden  Bewegungen 
anneinnen;  c  Eiterzellen  nach  Znsatz  von  Essigsäure;  d  Eiterzellen  nach  Zusatz  von  Wasser. 


Bei  a  sieht  man  die  Eiterzellen,  wie  sie  gewöhnlich  zur  Anschauung  kommen,  wenn 
man  einen  Tropfen  Eiter  mit  einem  Deckglas  bedeckt  ohne  allen  Zusatz  unter  dem  Mi- 
kroskop betrachtet.  Die  schon  erwähnten  Beobachtnngeen  von  v.  Recklinghausen 
liaben  gezeigt,  dass  diese  runde  Formen  nur  der  todten  Zelle  zukommen;  beobachtet  man 
die  Eiterzellen  in  der  feuchten  Kammer  auf  erwärmtem  Objecttisch  (nach  M.  Schnitze), 
so  sieht  man  die  amöboiden  Bewegungen  dieser  Zellen  aufs  Schönste.  Diese  Bewegungen, 
die  bei  Bluttemperatur  nur  langsam  und  träge  von  Statten  gehen  und  durch  welche  die 
sonderbarsten  Formveränderungen  (6)  entstehen,  werden  bei  höherer  Temperatur  viel 
schneller,  bei  niederer  noch  langsamer.  Die  Menge  der  Eiterzellen  im  Eiter  ist  so  gross, 
dass  man  in  einem  Tropfen  reinen  Eiters  iinter  dem  Mikroskop  die  flüssige  Intercellular- 
substanz  gar  nicht  wahrnimmt.  —  Die  chemische  Untersuchung  des  Eiters  laborirt  zunächst 
daran,  dass  die  Körperchen  nicht  völlig  von  der  Flüssigkeit  getrennt  werden  können,  ferner 
daran,  dass  der  in  grossen  Mengen  zur  chemischen  Untersuchung  zu  gewinnende  Eiter 
gewöhnlich  schon  längere  Zeit  im  Körper  war,  und  sich  morphologisch  und  chemisch 
verändert  haben  kann,  endlich  daran,  dass  vorwiegend  Proteinsubstanzen  im  Eiter  ent- 
halten sind,  deren  Scheidung  bis  jetzt  nicht  immer  genau  möglich  ist.  Lässt  man  "Wnnd- 
eiter  in  einem  Glase  stehen,  so  nimmt  das  klare  hellgelbe  Serum  bald  etwas  mehr,  bald 
etwas  weniger  Volumen  ein,  als  der  dicke,  strohgelbe  Bodensatz,  welcher  die  Eiterzellen 
enthält.  Der  Eiter  enthält  etwa  10 — 16%  feste  Bestandtheile,  vorwiegend  Kochsalz;  die 
Aschenbestandtheile  sind  im  Ganzen  denen  des  Blutserums  nahezu  gleich.  Die  neueren 
Untersuchungen  des  Eiters  haben  nachgewiesen,  dass  Myosin,  Paraglobulin,  Protagon, 
ausserdem  Fettsäuren,  Leucin,  Tyrosin  constant  im  Eiter  enthalten  sind.  ^  Im  Körper 
angehäufter  Eiter  geht  nicht  leicht  eine  saure  Gährung  ein;  der  reine,  frische,  alkalisch 
reagirende  Eiter  wird  jedoch  sauer,  wenn  man  ihn,  selbst  in  einem  bedeckten  Gefäss, 
längere  Zeit  (mehre  Wochen)  stehen  lässt. 

Kehren  wir  jetzt  zurück  zu  dem  Granulationsgewebe,  so  haben  wir  darin  noch  einen 
Hauptbestandtheil  zu  berücksichtigen,  nämlich  die  reichlichen  Gefässe,  Avodurch  dasselbe 
sein  rothes  Ansehen  bekommt.  Die  ausgedehnten  Gefässschliugen.  welche  sich  an  der 
Oberfläche  der  Wunde  gestalten  müssen  und  die  in  dem  Schema  (Fig.  9,  pag.  84)  viel  zu 
dünn  und  zu  wenig  zahlreich  sind,  fangen  mit  dem  Wachsthum  des  sie  umgebenden 
Granulationsgewebes  an,  sich  ebenfalls  zu  verlängern  und  sich  mehr  und  mehr  stark  zu 
schlängeln;    gegen    den  vierten  und   fünften  Tag   kommt   die    Entwicklung   neuer   Gefässe, 

6* 


84 


Von   den  einfachen  Schnittwunden   der  "Weielitlieile 


■wie  bei  der  Heihmg  per  primam ,  in  Form  feiner  seitlicher  Capiilarverbindungen  hinzu, 
und  bald  ist  das  Gewebe  in  überreichem  Maasse  von  Gefässen  durchzogen ,  die  einen  so 
wesentlichen  Antheil  an  dem  Aussehen  der  ganzen  Granulationsfläche  haben .  dass  man 
an  der  Leiche  dieselbe  kaum  wieder  erkennt,  indem  dann  die  Füllung  der  Gefässe  fehlt, 
oder  wenigstens  schwächer  ist  als  am  Lebenden,  und  das  ganze  Gewebe  daher  blass, 
schlaff  und  viel  weniger  dick  erscheint.  —  Es  drängt  sieh  die  Frage  auf,  w'oher  die  mit 
freiem  Auge  sichtbaren,  merkwürdigen,'  kleinen,  allmählig  confluirenden,  rothen  Knüpfcheii? 
warum  erscheint  die  Fläche  nicht  eben?  Dies  ist  in  der  That  oft  genug  der  Fall;  die 
Granula  sind  keinenfalls  immer  scharf  ausgeprägt;  die  Erklärung  für  die  Ursache  ihrer 
Form  ist  indess  nicht  so  einfach  und  leicht.  Man  nimmt  gewöhnlich  an,  die  Granula 
seien  als  eine  Imitation  der  Cutis -Papillen  aufzufassen,  doch  abgesehen  davon,  dass  es 
unbegreiflich  ist,  wie  im  Muskel-  und  Knochengewebe  solche  Bildungen  imitirt  werden 
sollen,  und  dass  die  Granula  meist  zehnfach  grösser  sind  als  die  Hautpapillen ,  ist  dies 
doch  keine  eigentliche  Erklärung.  Es  beruht  die  Erscheinung  der  Granula  ohne  Zw^eifel 
auf  der  Anordnung  der  Gefässsehlingen  zu  förmlichen  Büscheln  und  Schlingencomplexen, 
auf  gewissen  Abgrenzungen  dieser  einzelnen  Gefässcomplexe  von  einander.  Man  könnte 
also  annehmen,  dass  die  Gefässsehlingen  ohne  bekannte  Gründe  diese  Form  bekommen. 
Doch  liegt  es,  scheint  mir,  nahe,  hierbei  an  die  circumseripten ,  bereits  in  den  normalen 
Geweben  präformirten  Capillardistricte  zu  denken,  deren  wir,  zumal  in  der  Haut  und  im 
Fettgewebe,  eine  gTOSse  Anzahl  haben.  Sie  wissen,  dass  jede  Schweiss-  und  Talgdrüse, 
jeder  Haarbalg,  jedes  Fettläppchen  sein  ziemlich  geschlossenes  Capillarnetz  hat,  und  durch 
die  Vergrösserung  solcher  Capillarnetze  könnten  die  eigenthümlich  abgeschlossenen  Ge- 
fässformen  der  Granula  sich  hervorbilden.  In  der  That  werden  Sie  auch  grade  in  der 
Cutis  und  im  Fettgewebe  die  einzelnen  Flelscliwärzchen  besonders  scharf  und  deutlich 
hervortreten  sehen,  während  dies  im  Muskel,  wo  solche  in  sich  abgegränzte  Capillardistricte 


Fig.  9. 


Granulirende  Wunde,     Sehematische  Zeichnung.     Yergrilsserung  300—400. 


Vi.rli-suiiK'  7.      f'iipilrl    r. 


85 


tVhlon,  soUiior  dor  Kall  is(.  Die  Kiitschciduiif;,  oh  diese  Erklärung  richtig  isf,  lics.so  sich 
nur  durch  l\inisllicli(>  Iiij<'cl,ioii  frisch  gchildelcr  (iranulationon  liefcsrii :  bis  dahin  bleibt 
nieiiio  Erklärung  nur  ein  Versnch,  diese  |)a(hol()gische  Neubildung  auf  iMiriiialc  anatomische 
Verhältnisse  zurückzuführen. 

Die  vorstehende  Skizze,  an  der  mau  lihrigens  wegen  der  slarkcn  V'ergrösserung  und 
des  seiiematisirteu  kleinen  Gefässdistrictes  nur  in  den  kleinen  (iru|i]ien  der  Gefässschiingeii 
Anfänge  der  Granula  erkemu'u  kann,  soll  Ihnen  die  ICnl wickinng  des  (iranulationsgcwebes 
mit  seiner  Gefässvertheilung,  seinem  ^^erhältniss  zum  ]<^iler  und  zu  dem  unterliegenden 
jVIutterboden  scheniatisch  darstellen,  wie  es  sich  aus  Fig.   7  entwickelt  hat.   — 

Wenn  dem  foi'tsclireitenden  Wachstluim  der  Granulationen  nicht  an 
einer  gewissen  Grenze  Halt  geboten  würde,  so  mildste  daraus  eine  end- 
los Avaclisende  Granulationsgescliwulst  werden.  Dem  ist  nun  zum  Glück 
nicht  oder  wenigstens  nur  äusserst  selten  so.  Sie  wissen  schon  aus  der 
Darstellung  der  äusseren  Verhältnisse,  dass  die  Granulationen,  so  wie 
sie  das  Niveau  der  Cutis  erreicht  haben,  ja  zuweilen  schon  früher,  in 
ihrem  Wachsthum  aufhören,  von  Epidermis  tiberzogen  werden  und  sich 
zur  Narbe  zurückbilden.  Hierbei  gehen  folgende  Veränderungen  in  dem 
Gewebe  vor  sich. 

Zunächst  sind  in  dem  Graiiulationsgewebe,  wie  in  den  AVuiidrändern  bei  der  Heilung 
per  pi-imam,  eine  grosse  Anzahl  von  Zellen  vorhanden,  die  dem  üntei-gang  anheimfallen. 
Nicht  allein  die  Millionen  von  Eiterzellen  auf  der  Oberfläche,  sondern  auch  Zellen  in  der 
Tiefe  des  Granulationsgewebes  verschwinden  durch  Zerfall  und  Resorption;  dass  auch 
Zellen  aus  dem  Granulationsgewebe  unversehrt  wieder  in  die  Gefässe  zurückwandern,  ist 
sehr  wahrscheinlich,  wie  wir  später  bei  der  Organisation  der  Gefässthromben  sehen  werden. 

Fig.  10. 


Fettige  Degeneration  von  Zellen  aus  Granulationen.      Körnchenzellen. 
Vergrösserung  etwa  .500. 


Bei  der  Kückbildung  der  Zellen  treten  allmählig  feinste  Fettkörnchen  in  immer 
grösserer  Zahl  in  ihnen  auf,  nicht  allein  in  den  runden,  sondern  auch  in  denen,  die  bereits 
die  Spindelform  angenommen  haben;  man  nennt  im  Allgemeinen  solche  Zellen,  welche 
aus  lauter  feinsten  Fettkügelchen  zusammengesetzt  sind:  Körnchen  Zellen:  sie  linden 
sich  oft  in  den  Granulationen.  —  Wenn  schon  auf  diese  Weise  durch  Schwund  und  Aus- 
wanderung der  Zellen  das  Granulationsgewebe  verringert  wird,  und  zu  gleicher  Zeit  auch 
die  Neubildung  von  Zellen  aufhört, -so  muss  doch  noch  etwas  sehr  Wesentliches  hinzu- 
kommen, nändich:  die  allmählige  Consolidation  des  gallertigen  Intercellulargew^ehes  zu 
streifigem  Bindegewebe,  die  durch  stetig  zunehmende  Abgabe  von  Wasser,  was  durch 'die 
Gefässe  abgeführt  wird  und  von  der  Oberfläche  verdunstet,  zu  Stande  konmit:  zugleich 
nehmen    dann    die    übrig   bleibenden  Zellen    die   Formen    der   gewöhnlichen  Bindegewebs- 


86 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichthfile. 


körperchen  an.  Nach  der  Auffassung  anderer  Forscher  schwindet  die  ursprüngliche  Inter- 
cellularsubstanz  ganz  und  an  ihre  Stelle  tritt  das  sich  zu  Fasergewehe  umbildende  Proto- 
plasma der  Granulationszellen.  —  Mit  diesen  Veränderungen,  die  von  der  Peripherie  zum 
Centrum  vorschreiten ,  hört  auch  auf  der  Oberfläche  die  Eitersecretion  auf;  in  der  un- 
mittelbaren Umgebung  der  Wunde  entwickelt  sich  dann  auf  dem  sich  condeusirenden 
Granulationsgewebe  Epidermis,  die  sich  sehr  rascli  in  Hurnschicht  und  Schleimschicht 
sondert;  diese  Epidermisbildung  erfolgt  nach  J.  Arnold  durch  Spaltung  eines  in  der 
unmittelbaren  Nähe  des  bestehenden  Epidermisrandes  sich  bildenden,  anfangs  ganz  amorphen 
Protoplasmas,  nach  Heiberg,  Eberth,  F.  A.  Hoffmann,  Schüller,  Lott  durch 
Sprossenbildung  von  den  Epithelzellen,  welche  dem  Wundrand  am  nächsten  liegen. 

Fig.   11. 


Epithelien   der  Froschhornhaut,    an    dem  Rande    eines  Defectes  Sprosse*    austreibend    (a); 
einzelne  von  einem  solchen  Rande  abgelöste  Zellen;    Vergrösserung  etwa  600.  — 

Nach   Heiberg. 


Endlich  muss  die  Obliteration  der  überschüssig  gebildeten  Capillaren  erfolgen,  von  denen 
nur  wenige  zurückbleiben,  um  den  Kreislauf  durch  die  Narbe  zu  unterhalten.  Mit  ihrer 
Obliteration  wird  das  Gewebe  immer  trockener,  zäher,  zieht  sich  immer  mehr  und  mehr 
zusammen,  und  so  gewinnt  oft  erst  nach  Jahren  die  Narbe  ihren  Abschluss,  ihre  dauernde 
Beschaffenheit. 

Der  g'anze  Process,  weiingleicli  in  seinen  feineren  movphologis^chen 
Verhältnissen  (Invcli  neuere  Untersuchungen  weit  mehr  aufgeklärt  als 
früher,  behält,  wie  alle  diese  Heilungsproeesse,  viel  Merkwürdiges.  Die 
Möglichkeit  ja  die  Nothweudigkeit  (unter  sonst  normalen 
Verhältnissen)  ein  gewisses  typisches  Ende  zu  erreichen,  ist 
das  wesentlichste  Me-rkmal  derjenigen  N  eubildungen,  Avelehe 
durch  einen  entzündlichen  Process  hervorgerufen  werden. 
Wenn  dieser  natürliche  Verlauf  der  Ausheilung  nicht  erfolgt,  so  liegt  der 
Grand  davon  darin,  dass  entweder  die  allgemeine  Constitution,  oder 
örtliche  Verhältnisse  die  Heilung  indirect  oder  dircet  hindern,  oder  dass 
das  befallene  Organ  für  das  Leben  von  solcher  Wichtigkeit,  die  Störung 
in  ihren  Folgen  so  eingreifend  auf  den  ganzen  Organismus  wirkt,  dass 


Vdrlcsmii,'  7.      ("apild    I.  87 

(ladiircli  der  '\\u\  des  Ori^'nus,  odei'  diirdi  die  P'imctioiissliinini!'  des 
let/tercn  dei"  Tod  des  Individuiinis  bedingt  Nvird,  Jene  diireli  lOidziiiidim;;' 
veranlasste  Neubildung;'  bat  stets  in  sieb  die  'l^endenz,  au  gewissen 
Punkten  angekommen,  sieb  7Airiickzubildcn  und  in  den  stationären  Zustand 
eines  ausgebildeten  typischen  Gewebes  überzugeben,  zumal  sieb  zu  Narben- 
bindegeAvebe  zu  l)ilden,  wäbrend  andere  Nculnldungcn  einen  solebcn  natlir- 
liebcn  Absebluss  in  sieh  nicht  haben,  sondern  meist  dauernd  weiter  waebscn. 
So  verscliiedcn  auf  den  ersten  Anblick  der  lleilungsprocess  per 
primani  und  per  secnndam  intentionem' zu  sein  scheint,  so  sind  doeb  die 
morphologischen  Vorgänge  in  den  Geweben  in  beiden  Fällen  die  gleiclien; 
Sie  brauchen  nur  die  Wundränder  in  Fig.  3  (pag.  68)  aus  einander  zu  legen, 
um  dasselbe  Bild  wie  Fig.  9  (pag.  84)  zu  bekommen;  dass  dies  sich  in  der 
That  so  verhält,  lehrt  die  Beobachtung  in  einfachster  Weise:  wird  eine  fast 
per  primam  verheilte,  doch  noch  nicht  consolidirte  Wunde  aus  einander 
gezerrt,  so  liegt  sofort  eine  granulireude,  bald  auch  eiternde  Wunde  vor; 
Sie  werden  sich  in  praxi  davon  oft  genug  später  überzeugen. 


Wir  haben  die  geschilderten  Vorgänge  der  Wundheilung  durch  un- 
mittelbare Verwachsung  und  durch  Granulationsbildung  als  Effect  einer 
traumatischen  Entzündung  bezeichnet;  es  ist  oben  hervorgehoben, 
dass  eine  wesentliche  Eigenthü  mlichke  i  t  des  traumatischen 
Entzündungsprocesses  darin  liegt,  dass  sich  dabei  ohne  neue 
accidentelle  Veranlassung  die  Reizung  im  Gewebe  nicht  über 
die  allernächsten  Grenzen  der  Verletzung  erstreck t.  Diese  sehr 
wesentliche  Beschränkung  bitte  ich,  sich  scharf  ins  Gedächtniss  einzu- 
prägen. Da  wir  über  die  chemischen  Verändenmgen  und  über  die 
Nervenactionen  in  den  entzündeten  Geweben  nichts  Genaueres  wissen, 
die  morphologischen  Vorgänge  jedoch  ziemlich  genau  kennen,  so  klammern 
wir  uns  vorläufig  an  letztere,  wenn  wir  den  Begrift'  „Entzündung"  definiren 
und  generalisiren  wollen.  Ich  will  für  wenige  Augenblicke  die  frühere 
Betrachtung  hierüber  (pag.  63  u.  69)  wieder  aufnehmen.  „Entzündung" 
ist  eine  Modification  der  normalen  physiologischen  Vorgänge  in  den  ver- 
schiedenen Geweben  des  Körpers,  eine  „Ernährungsstörung''  (Virchow), 
deren  histopoetische  Resultate  Sie  nun  kennen,  von  deren  zerstörenden, 
deletären  Wirkungen  Sie  später  hören  werden.  Man  hat  ursprünglich 
dem  Worte  nach  einen  Körpertheil  „entzündet"  genannt,  wenn  er  heiss 
und  roth  war;  da  er  dann  gewöhnlich  auch  gesell  wollen  und  schmerzhaft 
war,  so  ist  dieser  Name  für  Processe  angewandt,  bei  w^elchen  sich  die 
Combinatiou  der  eben  genannten  Erscheinungen  vorfand.  Das  Wort 
„Entzündung"  stammt  "aus  einer  Zeit,  wo  man  eigentlich  noch  gar  keine 
pathologisch-anatomische  Vorstellungen  hatte;  schon  die  ältesten  Beob- 
achter begriifen,  dass  dabei  etwas  Ausserordentliches  in  den  Geweben 
vorging,  dass  eine  gewaltige  Erhitzung  in  sie  hinein  fuhr  (inflammatio), 


88  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

und  von  Anfang-  an  hat  man  diesen  Vorgang  vorwiegend  als  eine  inten- 
sive Steigerung-  der  vitalen  Vorgänge  aufg-efasst.  Da  man  ihn  selbst 
aber  ebensowenig-  erfassen  konnte,  wie  wir  es  heute  vermögen,  so  hielt 
man  sich  an  die  Erscheinungen,  unter  w^elchen  der  Process  verlief  —  wie 
heute,  so  wie  an  die  Eesultate  und  Folgen  seiner  Action  —  wie  heute; 
und  so  entstanden  nicht  selten  Zweifel,  ob  man  auch  dann  noch  von 
Entzündung-  sprechen  dürfe,  wenn  das  eine  oder  das  andere  Symptom 
fehlte,  oder  nicht  recht  ausgeprägt  war  —  auch  wie  heute.  Wir  wissen 
nun  allerdings,  dass  die  Entzündung  kein  Wesen  ausser  dem  Körper 
ist,  welches  als  solches  in  einen  Körpertheil  hineinfährt,  dort  sein  Wesen 
treibt,  und  wie  Beelzebub  ausgetrieben  werden  muss,  wir  wissen  viel- 
mehr g-anz  genau,  wodurch  „Tumor,  Rubor,  Calor,  Dolor"  bei  der  Ent- 
zündung bedingt  sind;  doch,  wenngleich  jeder  Laie  eine  acute  Ent- 
zündung meist  als  solche  erkennt  und  richtig  bezeichnet,  so  bleibt  die 
Schwierigkeit  sowohl  klinisch  wie  pathologisch-anatomisch  immer  noch 
gross,  ein  Krankheitsbild  „Entzündung"  logisch  scharf  zu  definiren.  — • 
Das  Wort  „Entzündung"  ist  nun  einmal  da,  es  bezeichnet  denjenigen 
Process,  für  den  es  zuerst  gewählt  wurde,  so  treffend,  dass  es  vergeb- 
liche Mühe  wäre,  dies  Wort  auszurotten.  Wir  verstehen  darunter  die 
eben  genauer  erörterte  Combination  von  Vorgängen  in  den  Geweben, 
welche  in  unserem  Falle  durch  einen  zunächst  rein  mechanischen,  einmal 
wirkenden  Reiz  (die  Verwundung)  zu  Stande  kommt.  Wie  viel  Hyperämie, 
wie  viel  Exsudation,  wie  viel  Fibrinbildung,  wie  viel  Gewebsneubildung 
nöthig  ist,  damit  wir  den  Vorgang  als  Entzündung  bezeichnen  müssen, 
kann  nicht  vi^ohl  festgestellt  werden;  darüber  herrscht  viel  Willkür  und 
verschiedener  Sprachgebrauch.  Besonders  beanstandet  ist  es,  und  zwar  so- 
wohl von  Chirurgen  als  Anatomen,  die  rein  regenerativen  Vorgänge, 
das  heisst  die  Gewebsneubildungen,  welche  in  Folge  der  durch  das  Trauma 
bewirkten  Ernährungsstörung  direct  oder  indirect  zur  Verwachsung  von 
Wunden  oder  zu  einem  wenn  auch  unvollkommenen  Ersatz  des  Substanz- 
verlustes führen,  schon  als  „entzündliche"  zu  bezeichnen,  j^immt  man  den 
Vorgang  im  modern  histologischen  Sinn,  so  kann  man  ihn  nicht  wohl  von 
den  entzündlichen  trennen,  so  wenig  extensiv  und  intensiv  derselbe  auch 
gelegentlich  sein  mag.  Bei  rein  klinischer  Betrachtung  ist  die  Trennung 
schon  leichter,  weil  wir  in  der  That  sehr  oft  Fällen  begegnen,  wo  wir 
keines  der  oft  genannten  vier  Cardinalssymptome  an  den  Wuudrändern 
ausgesprochen  finden;  doch  ist  die  Differenz  zwischen  einer  leichten 
Röthung,  Scliwellung  und  Empfindlichkeit  der  Wundränder  bis  zur  inten- 
sivsten progredienten  Entzündung  über  den  ganzen  verletzten  Körpertheil 
nur  eine  dem  Grade  nach  verschiedene.  Der  Sprachgebrauch  hat  hier 
anders  entschieden;  wQwn  eine  Wunde  ohne  alle  sogenannte  Reactions- 
(Entzündungs-)  Erscheinungen  heilt,  so  nennen  Avir  das  nicht  Entzündung 
der  Wunde,  sondern  brauchen  diesen  Ausdruck  nur  dann,  wenn  die  Symp- 
tome der  Entzündung  am  verletzten  Theil  sehr  deutlich  hervortreten. 


Vorlesung  7.     Capitol   I.  80 

Ich  hielt  es  für  nöthi^',  Sic  schon  jetzt  in  diese  allgemeinen  lictracli- 
tungen  über  Entzilndiuii;',  deren  einzelne  auyenrällige  Momente  icli 
Ihnen  früher  au  den  Veränderungen  der  Gefässe  und  der  Gewebe  vor- 
luhrte,  einzuwcilien,  damit  »Sic  sich  früh  gewölmcn,  durch  die  Scliwicrig- 
keiten  derselben  lilndurcli  zu  finden.  Es  wird  im  Lauf  dieser  Vorlesungen 
stets  mein  Bestreben  sein,  Ihnen  vor  Allem  die  anatomisch- physiologischen 
Störungen  so  klar  auseinander  zu  setzen,  als  es  nach  unsern  jetzigen 
Ivenntnissen  möglich  ist,  und  daneben  auf  liistorischem  Wege  ihnen  dar- 
zulegen, Avie  die  jetzt  noch  gel)ränc]dic]icn  klinischen  Vorstellungen  und 
Ausdrucksweisen  entstanden.  Nur  so  ist  es  möglich,  das  innere  Wesen 
und  Werden  unserer  Wissenschaft  zu  ergründen;  ohne  Vcrständuiss 
desselben  werden  Sie  stets  an  der  Peripherie  der  Erscheinungen  herum- 
tappen und  durch  das  Anklammern  an  einzelne  derselben  einem  unheil- 
baren Schematismus  und  Dogmatismus  verfallen.  Da  die  bedeutende 
Mehrzahl  der  Menschen  in  naturwissenschaftlichen  Dingen  ganz  dumm  ist 
und  in  dem  Arzt  mehr  den  Priester  und  Götzen  als  den  naturkundigen 
Berather  sucht  und  sieht,  so  sind  Sie  sicher,  auch  mit  einem  würdevoll 
zur  Schau  getragenen  medicinischen  Ultramontanismus  grosse  practische 
Erfolge  zu  erzielen ;  doch  müssen  Sie  dann  freilich  verzichten,  den  Fort- 
schritt und  die  immer  freiere  Entwicklung  der  gebildeten  Menschen-Welt 
verstehen  oder  gar  fördern  zu  wollen. 


Es  liegt  nicht  im  Zweck  dieser  Vorlesungen,  Ihnen  Schritt  für  Schritt 
die  morphologischen,  mikroskopischen  Veränderungen  verletzter  Gewebe 
an  Präparaten  vorzuführen ;  Sie  werden  in  den  praktischen  Uebungen  in 
der  pathologischen  Histologie  dazu  Gelegenheit  finden;  damit  Sie  indess 
nicht  glauben,  dass  die  Vorgänge,  welche  ich  mit  Ihnen  besprochen  habe, 
nur  an  schematisirten  Zeichnungen  zu  demonstriren  seien,  will  ich  Ihnen 
wenigstens  Einiges  zeigen. 

Die  Zelleninfiltration  des  Gewebes  nach  Reizung  durch  Schnitt  lässt  sich  am  leich- 
testen an  der  Cornea  beobachten.  Ich  machte  vor  vier  Tagen  einem  Kaninchen  einen 
Hornhautschnitt  lege  artis  mit  einem  Lanzenmesser  und  Hess  ihn  einen  Moment  klafi'en, 
damit  die  Reizung  nicht  zu  gering  werde;  gestern  war  der  Schnitt  als  feine  Linie  mit 
schmaler  milchiger  Trübung  sichtbar;  ich  tödtete  das  Thier,  schnitt  die  Hornhaut  vorsichtig 
aus  und  liess  sie  bis  heute  Morgen  in  Holzessig  quellen;  nun  nmchte  ich  einen  feineu 
Flachschnitt  durch  die  Wunde  und  klärte  denselben  durch  Glycerin. 

Man  sieht  jetzt  bei  aa  Fig.  12  (pag.  89)  die  Verbindungssubstanz  zwischen  den  Wund- 
rändern, in  denen  eine  Ansammlung  von  Zellen  zwischen  den  Hoi-nhautlamellen,  da  wo  die 
Hornhautkörperchen  liegen,  in  ziemlicher  Menge  Statt  gefunden  hat;  diese  Zellen  treten 
hier  nicht  so  scharf  hervor  wie  bei  der  Carminfärbung,  'doch  zeigt  sich  die  Zwischensubstanz 
zwischen  den  Wundrändern  sehr  deutlich;  diese  besteht  fast  durchweg  aus  Zellen;  die 
Zellen  allein  würden  jedoch  die  Verbindung  nicht  fest  halten  können,  wenn  sie  nicht 
durch  einen  fibrinösen  Bindekitt  zusammengeklebt  wären.  Die  jungen  Zellen  sind  wahr- 
scheinlich aus  den  Spalten  zwischen  den  Hornhautlamellen  aus  den  Wundrändern  ausge- 
wandert, sind  nicht  etwa  zwischen  den  Wundrändern  in  der  Bindemasse  entstanden,  letztei'e  ist 
wohl  eher  unter  ihrem  Einfluss  von  ihnen  selbst  gebildet.    Diese  feinen  Hornhautnarben  klären 


90 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weiehtheile. 


sich,  beiläufig  bemerkt,  später  fast  ganz  auf,   so  dass  sie  fast  spurlos  verschwinden.      Die 
Zeilen,  welche  Sie  hier  im  Präparat  sehen,  sind  wahrscheinlich  alle  aus  den  Gefässschiingen 

der  Conjunctiva  herausgekommen;    es  sind  Wanderzellen, 

Fio-.  12. 


Hornhautschnitt,  3  Tage  nach  der  Verletzung;    aa  die  Verbindungssubstanz  zwischen  den 
beiden  Schnitträndern.     Ve'i-grösserung  300. 

Ich  mnss  zu  diesem  Präparat  hinzufügen,  dass  ich  es  grade  deshalb  ausgewählt  habe, 
weil  die  Zwischenmasse  breit  urd  sehr  zellenreich  ist.  Bei  sehr  kleinen,  mit  schärfstem 
Messer  geführten  Schnitten  durch  die  Cornea  ist  die  Zwischenmasse  so  gering,  dass  man 
Mühe  hat,  sie  zu  sehen;  dann  sind  auch  die  Veränderungen  an  den  Wundrändern  noch 
geringer  als  hier,  und  mit  freiem  Auge  ist  eine  so  feine  Narbe   gar  nicht  sichtbar. 

Fig.  13. 


Schnitt\Vunde  in  der  Wange  eines  Hundes,  24  Stunden  nach  der  Verwumlung. 

Vergrössei'ung  300. 


V..rl. 


7.    f';i|iiici  r. 


Ol 


Rio  sollen  hier  (Fii;-.  l-'l,  p.'iu;.  DO)  cinrn  (^iicriiiireiisriiiiiK  rliin-li  rinc  i:!  I  SiiiikIcmi  alir, 
iViscii  verklebte  Sehiiiltwimde  in  dei-  \V;ini;;e  i'ino.s  iriindes.  Der  Sdinin  inarkirl  sich  dcuilirli 
hei  aa,  die  Wundränder  sind  diinli  eine  dunkle  ZwiselKninms.so  vnn  einander  f{etrerin(, 
die  theils  aus  hlassen  Zellen,  llieils  niis  reihen  Blulki'irperehcn  hesteht,  letztere  {^'ehilnni 
dem  zwiselien  den  W'iindrändcni  nach  der  Verwiindun^f  ausgetretenen  I5lut  an;  die  durch 
den  Schnitt  i^elrolVcnen  l>indegevvebs,spalten ,  in  denen  die  TJindeKcwehs/.ellen  liej^en,  sind 
bereits  mit  vielen  jungen  Zellen  erfüllt,  und  diese  Zellen  haben  siidi  auch  scbou  in 
das  extravasirte  Blut  zwischen  den  Wundrändern  liineingeschcdien.  Das  Präparat  isl  niil 
Essigsäure  behandelt,  un<l  daher  sehen  Sie  die  Fasernng  des  Bindegewebes  nieht  mehr, 
die  jungen  Zellen  um  so  deul lieber.  Achten  Sie  auf  gewisse  zellenreiehc  Stränge  und 
Züge,  welehe  von  der  Wunde  nach  beiden  Seilen  hinziehen  {bbh);  dies  sind  Blutgefässe, 
in  deren  Seheiden  besonders  viele  Zellen  iniiltrirt  sind,  welche  durch  die  Gefässwandung 
auswanderten,  oder  im  Begriff  sind,  auszuwandern.  —  Ueber  die  Umbildung  des  geronnenen 
Blutes  zwischen  den  Wundrändern,  des  „Wundthrombus",  sprechen  wir  später  noch  genauer 
bei  den  Gefässnarben  am  Ende  dieses  Capitels. 

Das  folgende  Präparat  (Fig.  14)  zeigt  Ihnen  eine  junge  Narbe  9  Tage  nach  der 
Verletzung. 


Fig.  14. 


Narbe    9  Tage    nach    einem    per   primam    intentionem    geheilten    Schnitt    durch    die   Lippe 
eines  Kaninchens.     Vergrösserung  300. 


Die  Bindemasse  («a)  zwischen  den  Wundrändern  besteht  ganz  aus  gedrängt  an  ein- 
ander liegenden  Spindelzellen,  welche  mit  deni  Gewebe  an  beiden  Wnndrändern  in  innigste 
Verbindung  treten. 

Von  dem  frischen,  eben  von  einer  Wunde  abgetragenen  Granulationsgewebe  kann 
man  keine  feinen  Durchschnitte  machen:  es  ist  überhaupt  ein  schwer  zu  behandelndes 
Object  für  die  feinere  Präparation.  Ei-härtet  man  das  Granulationsgewebe  in  Alkohtd, 
färbt  die  Schnitte  mit  Carmin  und  klärt  sie  dann  durch  Glycerin,  so  bekommt  man  ein 
Bild  wie  Fig.  15  (pag.  92). 


92 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


Fig.   15. 


(^^4-^ 


IWT^P 


■^-Hi 


w 


Granulationsgewebe.     Versfrösserunsr  300. 


Das  Gewebe  scheint  nur  aus  Zellen  und  Gefässen  mit  sehr  dünnen  Wandungen  zu 
bestehen;  von  der  schleimigen  Intercellularsubstanz ,  die  immer  an  gesunden,  frischen 
Granulationen,  v.enn  auch  spärlich  voi-handen  ist,  sieht  man  hier  gar  nichts,  weil  das 
ganze  Gewebe  durch  den  Alkohol  geschrumpft  ist. 

Das  Gewebe  der  jungen  Narbe  sehen  Sie  besonders  schön  an  dem  folgenden  Prä- 
parat (Fig.  16),  welches  aus  einer  breiten  nach  Granulation  und  Eiterung  entstandeneu 
Narbe  aus  dem  Rücken  eines  Hundes  genommen  ist,  etwa  -i — 5  Wochen  nach  der  Verletzung. 


Fig.  16. 


Junges  Narbengewebe.     Vergrösserung  300. 


Das  Präparat  ist  mit  Essigsäure  behandelt,  um  die  Aiun-dnung  der  Bindegewebs- 
zellen deutlich  zu  sehen,  wie  sie  sieh  aus  dem  Granuhitionsgewebe  hervorgebildet  haben; 
(laa  sind  theils  obliterirte ,  theils  noch  functionirende  Blutgefässe:  die  Bindegewebszellen 
sind  noch  relativ  gross,  succulent  und  deutlich  spindelförmig,  doch  isl  die  Intercellular- 
substanz reichlich  entwickelt. 


Vorl. 


IL':  7.    (';i|ii(ri  r. 


i);i 


A'Vciui  man  das  N'i'rliallcii  <\r\-  l>liili;crässi'  an  i\i-i\  Wiinilcii  ^;l  iidiicii  will,  iniiss  man 
Tnjoi'liiincn  madicn.  Ks  isl  /icnilirh  scli wicriL;;  und  nl'i  \nn]  iHiicklidirn  /nlall  aldiäni^ij^, 
wie   liald    man    niil    ilicsou   ExporinuMiliMi   zum   Zirl    kcjnuiil. 

Wir  besitzen  ül)er  diesen  Gegenstand  uns  neuerer  Zeil.  Arbeiten  von  W'y  wodzolT 
nnd  Tliierseli,  deren  l\esnlta(e  tbcils  unter  einander,  tlieils  mit  deiijenigen  meiner  Unler- 
suebungen  über  diesen  Oej^-ensland  im  Wesentlielien  übereinsliimncn.  W  y  \v  n  d  z  i>  IT, 
welelier  an  llundezungen  operirle.  i;iebl  eine  Reihe  von  AbbildniiL;cn  iilH^r  das  N'ciballen 
der  Blutgefässe  in  verscliiedenen  Stadien  <b'r  AN'nndlM'ilinig,  von  dciuMi  ii-li  Ibncn  einige 
deuiunsti-iren    will,    nbni'   mich   dalici   aid'  (bl^;    frinerc    Detail   der  (ierässbildani''  eiu'/idassen. 


Fig.  17. 


a{j^ 


Ilovizontalsehnitt  dureli  eine  Hundeznnge  nahe  der  Oberfiäehe  dnrcli  Einstich  mit  lireitem 
^Messer  erzengt.  Frontalschnitt  durch  die  Zunge  nacii  vorhergeganger  Injection  und  Er- 
härtung, 48  Stunden  nach  der  Verletzung.  Vergrösserung  70 — 80;  uacJi  'vVYAvodzofi". 
—  an.  Zwischenmasse  zAvischen  den  Wundrändern  aus  faserig  erseheinendem  Klebestofl' 
und  Blutextravasat  bestehend.  Der  Schnitt  bat  grade  zwei  sieli  kreuzende  Muskellagen 
getroffen.  Schlingenbildung  der  Gefässe  mit  Dilatation  an  Ijeiden  Wundrändern;  beginnende 
Verlängerung   der  Schlingen    und  Bildung  von  Sprossen   in    die  Verbindungsmasse  liinein. 


94 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtlieile. 


Fiff.  18. 


Gleicher  Schnitt   an   der  Himdezunge  wie  in  Fig.   17.  —  Narbe  (a)   10  Tage  alt,    überall 
Anastomosen  der  Gefässe  von  beiden  Wundrändern  her.     VergTüssening  70—80: 

nach  Wywodzoff. 


Fig.  19. 


Gleicher  Schnitt  an  der  Hundezuuge  wie  Fig.  17.  —  Narl)e  (a)   K,  Tage  alt.     Di 
bereits  bedeutend  verdünnt  und  geschwunden.     Vergrösserung  70—80: 
nach  Wv  wodzoff. 


e  Gefässe 


95 


Ciranulafionsgefässe.     Vorgrösseruiig  40. 

Dies  (Fig.  20)  ist  ein  Präparat  von  Granulationen  vom  Mensdien ,  deren  Gefässe 
durch  natürliche  Injeetion  ziemlich  gefiillt  waren;  die  Complexe  der  Gefässschlingen  sind 
sehr  dicht  und   Cfnnplicirt  an   der  Oberfläche,   in   der  Tiefe   laufen   die    Gefässe   alle  parallel. 


Fio-.  21. 


Siebentägige  AVunde    in    der  Lippe    eines    Hundes.       Heilung   per   primam.     Iiijection    der 
I.iymphgefässe,      n  Schleindiaut:   />  junge   Narbe.      Vergriisserung  20. 

Zum  Schluss  noch  ein  Präparat  von  einer  Lymphgefässinjection  einer  Hundelippe 
(Fig.  21).  Sie  sehen  daran,  dass  die  junge  Narbe  am  7.  Tage,  wo  dieselbe  noch  fast 
ganz  ans  Zellen  besteht,  noch  keine  Lymphgefässe  hat;  letztere  brechen  unmittelbar  an 
der  jungen  Narbe  ab;  sie  entstehen  in  der  Narbe  erst  dann,  wenn  sich  darin  die  fibrillären 
Bindegewebsbündel  ausbilden.  Auch  das  Granulationsgewebe  hat  keine  Lymphgefässe; 
wo  die  entzündliche  Neubildung,  wo  das  primäre  Zellengewebe  entsteht, 
werden  die  Lymphwege  meist  geschlossen,  theils  durch  fibrinöse  Gerinnungen, 
theils  durch  Zellenneubildungen.  Diese  Beobachtungen  sind  in  neuester  Zeit  von  Lösch 
in  Petersburg  auch  durch  Untersuchungen  an  traumatisch  entzündeten  Hoden  bestätigt. 


9ß  Von   den  einfachen   Schnittwunden   der  Weichtheile. 


Vorlesung  8. 

Allgemeine  Eeaction  nach  der  Verwundung.   —   "Wundfieber.    Fiebertheorien.  —  Prognose. 
Behandlung  der  einfachen  Wunden  und  der  Verwundeten.  —  Offne  Beiiandlung  der  Wunden. 

Meine  Herren! 

Sie  kennen  jetzt  die  äusseren  und  inneren  feinsten  Vorgänge  bei 
der  Wundll  eilung,  so  weit  es  möglich  ist,  dieselben  am  Krankenbett, 
dann  durch  das  Experiment  mit  Hülfe  unserer  jetzigen  Mikroskope  zu 
verfolgen. 

Von  den  verwundeten  Menschen  haben  wir  noch  gar  nicht  ge- 
sprochen; Sie  würden,  wenn  Sie  ihren  Zustand  bisher  schon  ins  Auge 
gefasst  hätten,  an  vielen  von  ihnen  Veränderungen  bemerkt  haben,  die 
wir  bis  jetzt  immer  noch  nicht  ganz  ergründen  können. 

Der  Verwundete  war  möglicher  Weise  schon  am  ersten  Tage  gegen 
Abend  unruhig,  fühlte  sich  heiss,  hatte  viel  Durst,  keinen  Appetit,  etwas 
Kopfweh,  erwachte  in  der  Nacht  oft  und  fühlte  sich  am  andern  ]Morgen 
matt.  Diese  subjectiven  Erscheinungen  steigerten  sich  im  Laufe  und  bis 
zum  Abend  des  folgenden  Tages;  wir  fühlen  den  Puls:  er  ist  frequenter 
als  normal,  die  Eadialarterie  ist  gespannter,  voller  als  zuvor;  die  Haut 
ist  heiss,  trocken,  wir  messen  die  Kürpertemperatur  und  finden  sie 
erhöht,  die  Zunge  ist  etwas  belegt,  wird  leicht  trocken.  Sie  werden  schon 
wissen,  was  dem  Kranken  fehlt:  er  hat  Fieber.  Ja  er  hat  Fieber;  doch 
was  ist  Fieber,  woher  kommt  es,  wie  hängen  die  verschiedenen,  so  auf- 
fälligen, subjectiven  und  objectiven  Erscheinungen  zusammen  ?  Machen 
Sie  hier  einen  Halt  mit  den  Fragen,  denn  schon  die  gestellten  kann  ich 
Hmen  kaum  beantworten! 

Wir  kennen  unter  dem  Namen  „Fieber"  den  tausendfältig  wieder- 
kehrenden geschilderten  Symptomencomplex,  der  sich  fast  immer  mit 
entzündlichen  Krankheiten  combinirt,  ja  von  diesen  in  den  meisten  F-illen 
oifenbar  abhängig  ist,  wir  kennen  genau  seine  Dauer,  seineu  Verlauf  iu 
den  verschiedensten  Krankheiten,  und  doch  ist  die  Ursache  des  Fiebers 
noch  nicht  vollständig  ergründet,   wenn  auch  besser  bel^annt  als  früher. 

Die  verschiedenen  Fiebersymptome  treten  mit  sehr  verschiedener 
Intensität  hervor.  Zw^ei  dieser  Symptome  sind  am  constantesten ,  die 
Steigerung  der  Pulsfrequenz  und  die  Steigei-ung  der  Körpertemperatur. 
Beides  können  war  messen,  ersteres  durch  Zählung,  letzteres  durch  Be- 
stimmung mit  dem  Thermometer.  Die  Frequenz  des  Herzschlages  ist  von 
sehr  vielen  Dingen,  zumal  auch  von  allerlei  psychischen  Reizen,  abhängig, 
sie  zeigt  kleine  Differenzen  l)eim  Sitzen,  Liegen,  Stehen,  Gelieu.  :\Ian 
hat  also  auf  eine  Menge  von  Dingen  zu  achten,  wenn  man  nicht  Beo!)- 
achtungsfehler  machen  will;  dennoch  kann  man  diese  Fehler  umgehen, 
und    hat  Jahrhunderte    lang    mit    grossem    Erfolg    die  Pulsfrequenz  als 


Vorlrsmi,..;  S.      Ciipilcl   T.  1)7 

M.iass  i'iir  das  Fieber  heiiiil/,!;  die  i'iilsiiiilersucliuiii;'  zeig't  aucli  uocli 
sonst  allerlei  an,  was  wiclitii;'  zu  wissen  ist,  Menge  des  Blutes,  S])an- 
nung-  der  Arterien,  Ifnregelnnlssigkeit  des  Uerzseldages  u.  s.  w.,  und 
ist  aueli  Jetzt,  wo  wir  andere  Maassbesti  in  um  ii,i;en  l'iii'  das 
Fieber  haben,  nielit  zu  vernachlässigen.  Diese  andere  und  in 
mancher  Ijezielmng  aliei'dings  bessere  Maassbestinnnung  fiii*  den  CIrad 
und  die  Dauer  des  ricl)ers  ist  die  Bestiunnung  der  Krn-perteniperalur 
mit  sehr  genau  gearbeiteten  'i'herniometern,  d(n-en  Scala  nach  Celsius 
in  100  Grade  und  Jeder  Gürad  in  10  l'heile  eingetheilt  ist.  Es  ist  ein 
Verdienst  von  v.  Bärens])rung,  Tranbe  und  Wunderlich,  diese 
Beobachtungsmethode  in  die  Praxis  eingeführt  zu  haljen ;  sie  hat  zugleich 
den  Vortheil,  die  Äfessungen ,  die  in  der  Regel  Morgens  um  9  l'liv  und 
Abends  5  Uhr  gemacht  werden,  als  Curvc  graphisch  darstellen  und  dadurcdi 
recht  anschaulich  machen  zu  können. 

Eine  Reihe  von  Beobachtungen  des  Fiebers  bei  normalem  A-^erlauf 
der  Wunde  lässt  Folgendes  erkennen:  das  Wuudfieber  beginnt  zuweilen 
schon  unmittelbar  nach  einer  Verletzung,  häufiger  ei-st  am  2.,  3.  oder 
4.  Krankheitstage.  Die  höchste  Temperatur,  welche  dabei,  wenn  auch 
nicht  gar  häufig,  erreicht  wird,  ist  40—40,5";  in  der  Regel  steigt  sie 
nicht  viel  über  38,5 — 39"^;  das  einfache  Wundfieber  pflegt  nicht  länger 
als  etwa  7  Tage  lang  zu  dauern ;  in  den  meisten  Fällen  dauert  es  nur 
2,  3 — 5  Tage,  Ja  in  sehr  vielen  Fällen  fehlt  es  ganz,  so  z.  B.  in  den 
meisten  Fällen  von  kleinen,  oberfläclilichen  Schnittwunden,  von  denen 
wdr  oben  gesprochen  hajjen,  doch  auch  nach  manchen  grossen  Operationen, 
selbst  zuweilen  nach  Amputationen  der  Oberschenkels,  Ovariotomieen. 
Das  Wundfieber  ist  durcliaus  abhängig  von  dem  Zustande  der  AVunde; 
es  hat  im  Allgemeinen  den  remittirenden  Typus  ;  der  Fieberabfall  erfolgt 
bald  schnell,  bald  langsam. 

Bei  diesen  Beobachtungen  kommt  man  sehr  leicht  auf  den  Gedanken : 
das  Fieber  wird  um  so  heftiger  sein,  je  bedeutender  die  Verletzung;  ist 
die  Verletzung  gar  zu  klein,  so  bleibt  es  entweder  wirklich  aus,  oder  die 
Steigerung  der  Temperatur  ist  vielleicht  eine  so  geringe  und  so  vorüber- 
gehende,  dass  sie  sieh  unserer  Messungsmethode  entzieht;  man  wird 
meinen,  eine  Scala  von  Verletzungen  aufstellen  zu  können,  nach  denen  das 
Fieber  z.  B.  nach  Länge  und  Breite  der  Wunde  länger  oder  kürzer 
dauert  und  mit  mehr  oder  weniger  Intensität  auftritt. 

Dieser  Schluss  ist  nur  mit  sehr  bedeutenden  Beschränkungen  an- 
nähernd richtig;  es  giebt  Verwundete,  die  nach  ganz  geringen  Verwun- 
dungen heftig  fiebern,  andere,  die  nach  grösseren  Verletzungen  gar  kein 
Fieber  bekommen.  Die  Ursachen  dieser  Verschiedenheiten  liegen  der 
Hauptsache  nach  darin,  dass  die  Wundheilung  mit  mehr  oder  weniger, 
endznndlichen  Erscheinungen  erfolgt;  Je  deutlicher,  Je  intensiver 
die  Entzündung  um  die  Wunde,  um  so  höher  das  Fieber;  das 
Fieber  dauert  so  lange  fort,  als  die  Entzündung  fortschreitet. 

Billrotli  chir.  Pntli.  ii.  Therap.    7.  Aufl.  7 


98  Von  den  einfaclien  Sclinittwiinden  der  Wcirlillicile. 

Doch  scheint  es,   als  wenn  aucli  rein  individuelle  Verliältuisse,   die  uns 
noch  unbekannt  sind,   Elnfiuss  auf  Höhe  und  Dauer  des  Fiebers  haben. 

Bevor  wir  nun  weiter  darauf  eingehen,  7.n  nntersuclien,  wodurch  die  Zustände  der 
Wunde  mit  dem  Allgemeinzustand  in  Beziehung  gesetzt  werden,  müssen  wir  auf  diesen 
selbst  noch  etwas  näher  eingehen.  Das  am  meisten  hervortretende  und  physiologisch 
merkwürdigste  Symptom  des  Fiehers  ist  die  Erhüliung  der  Bluttemperatur  und  die 
davon  abhängige  Erhöhung  der  Körpei-temperatur.  Um  die  Erklärung  dieser  Erscheinung 
drehen  sich  alle  modernen  Fiebertlieorien.  Es  ist  kein  Grund,  anzunehmen,  dass  zu  den 
Bedingungen,  welclie  für  die  Erhaltung  der  constanten  Körpertemperatur  fortwährend  im 
Organismus  thätig  sind,  absolut  neue  beim  Fieber  hinzukommen,  sondern  es  ist  walir- 
scheinlich ,  dass  die  Fiebertemperatur  durcli  eine  Veränderung  oder  Verschiebung  der 
normalen  Temperaturbedingungen  entsteht;  letztere  Ijefinden  sich  in  einem  leicht  vei'änder- 
lichen  gegenseitigen  Verhältniss.  Wenn  Sie  'bedenken,  dass  Mensch  und  Thier  bei  den 
A^erschiedensten  Wärmegraden  der  Luft,  im  Sommer  und  AVinter,  im  heissen  und  kalten 
Klima  nahezu  dieselbe  Bluttemperatnr  halben,  so  wird  es  Ilnien  einleuchtend  sein,  dass 
die  Bedingungen  der  AVärmeproduction  und  Wärmeabgabe  sehr  modificirbar  sind  und  dass 
innerhalb  dieser  Bedingungen  sehr  wolü  die  Möglichkeit  denklnir  ist.  Abnormitäten  der 
daraus  resultirenden  Körpertempei-atur  hervorzuln-ingen.  - —  Es  ist  a  priori  klar,  dass  eine 
Temperaturerhöhung  des  Körpers  sowohl  durch  Verminderung  der  Wärmeabgabe 
bei  gleichbleibender  Wärmeproduction,  —  als  auch  durch  erhöhte  Wärme- 
pro du  etion  bei  gleichbleibender  Wärmeabgabe  zu  Stande  kommen  muss.  (Noch 
andere  Verhältnisse  dieser  Factoren  zu  einander  sind  möglich ,  die  ich  indess  übergehe, 
um  Sie  nicht  jetzt  schon  über  diese  schwierigen  Fragen  zu  verwirren.)  Die  Entscheidung 
dieser  physiologischen  Cardinalfrage  scheint  bis  jetzt  nicht  möglich;  sie  wäre  möglich 
durch  Ermittlung  und  Vergieichung  der  beim  Fieber  und  beim  Normalzustande  producirten 
VVärmequantitäten,  durch  s.  g.  calorimetrische  Versuche  an  warmblütigen  grösseren  Thieren 
oder  am  Mensehen;  diesen  Versuchen  stellen  sich  indess  bis  jetzt  grosse  Schwierigkeilen 
in  den  Weg.  Liebermeister  und  Leyden  haben  Methoden  der  Calorimetrie  ersonnen, 
welche  mir  richtig  zu  sein  scheinen;  doch  darf  ich  Ihnen  nicht  verhehlen,  dass  die  Methoden 
und  Schlüsse  von  Liebermeister  durch  Senator  sehr  energisch  angegriffen  sind.  — 
.Wir  sind  daher  in  Betreff  der  obigen  Frage  nojch  gar  viel  auf  Wahrscheinlichkeiten  und 
Hypothesen  angewiesen.  Da  die  Wärmeproduction  hauptsächlich  auf  Oxydationsprocessen 
von  Körperbestandtheilen  beruht,  so  würde  eine  Steigerung  dieser  Oxydationsprocesse  eine 
vermehrte  Wärmeproduciion  nothwendig  zur  Folge  haben,  vorausgesetzt,  dass  die  Wärme- 
abgabe gleich  bleibt.  Da  nun'  die  Menge  des  im  Urin  vorgefundenen  Harnstoffs  haupt- 
sächlich als  Eesultat  der  A^erbrennung  der  stickstofflialtigen  Körper  betrachtet  wird  und 
beim  Fieber  gewöhnlieh  der  Harnstoff  vermehrt  ausgeschieden  wird,  aucii  das  Körperge- 
wicht sehr  rasch  abnimmt,  wie  sich  aus  den  Lntersuchungen  von  0.  AVeber,  Lieber- 
meister, Schneider  und  Leyden  ergiebt,  so  betrachtet  man  dies  neben  den  erwähnten 
calorimetrischen  A^ersuchen  als  einen  Hauptbeweis,  dass  die  A'erbrennung  beim  Fiel)er 
gesteigert  ist,  dass  also  wirklich  mehr  AA'ärme  als  im  Normalzustande  pv  oducirt  wird 
mehr  als  vom  Körper  in  gleicher  Zeit  wieder  aligegeben  wertlen  kann.  FAnc  andere. 
Ansicht  über  die  Entstehung  der  Fieberhitze  wird  von  Traube  vertheidigt:  er  behauplet, 
dass  jedes  Fieber  mit  energischer  Contraction  der  Hautgefässe,  zumal  der  kleineren  Arterien 
beginnt,  dass  dadurch  die  Abgabe  der  AA'ärme  an  die  Luft  verringert  und  m.^lir  A\'äinie 
im  Körper  angehäuft  wird,  ohne  dass  deshalb  wirklich  mehr  producirt  würd'V  wenngleich 
diese  Hypothese  von  ihrem  Autor  mit  bewuudernswerllieui  Geist  und  Scliarfsinn  vertheidigt 
ist  und  in  den  .Arbeiten  Senator's  Stütze  findet,  so  kann  üh  mich  doch,  wie  die  meisten 
Patliologen.  niilit  damit  einverstanden  erklären,  zumal  weil  die  Prämisse,  nämlich  die 
Contraction  der  Hautgefässe,  nur  für  die  Fälle  zugegeben  werden  kann,  in  welchen  das 
Fieber  mit  Frost  beginnt,   ein   solcher  Frost   diirchaus   aber   keine   constante  Erscheinung 


Vdrlcsmin.  S.      ('jipil,'!   f.  99 

heim  Fiolicr  isl.  —  Wir  w  c  r(l  <■  ii  ;ilsu  im  !■' i,  I  ;.■■(•  n  lii' n  iliisun  ;i  ii  s  ^c  li  i' ii .  du.s.s 
l)oini  Fiolier  eine  veriuchrle  \\' ;i  r  m  c  p  r<i  d  n  r  i  i  d  ii  Sl;ill,  li;il.  Wn  die  lliiii|iti|iiclli' 
der  AVärniebildmig  ist,  ob  im  IJliile,  <ili  in  den  ^i-dsseii  rnlcririlisdiiiscii,  oh  in  ilrn  .Mii.-kriiij 
das  nu'issen   wir  den   J'liysiologen   überlassen,   zn  entsi-beiden. 

Es  stellt  sieh  für  uns  jetzt  die  Frag'e:  wie  wirkt  der  EutzLiiidiuig's- 
process  überliaiijtt,  und  hier  s])eeiell  die  traumatische  Entzündung-  auf 
die  Steig'eruui;'  der  Körportcniiieratur?  Diese  Frage  ist  verseliieden 
beantwortet. 

1.  In  dem  Entziindungslieerde  Avird  in  Folge  des  dort  lebliafteren 
Stoflfweehsels  Wärme  producirt;  das  durch  den  Entzündungsheerd  tiiessende 
Blut  wird  hier  stärker  erwärmt  und  theilt  die  hier  aufgenommene  aij- 
norme  Wärmemenge  dem  ganzen  Körper  mit. 

Dass  der  entzündete  Tlieil  wärmer  ist  al.s  (b'r  niclit  entzündete,  ist  zumal  für  Ent- 
zündungen an  der  Oberiiäolie,  z.  B.  in  der  Haut,  leiidit  zu  constatiren,  beweist  alier  uielit, 
dass  bier  nielir  AVärme  als  sonst  pruducirt  wird,  sondern  ist  vielleiebt  nur  davon  ab- 
biingig,  dass  in  einer  gegebenen  Zeiteinbeit  niebr  Bhit  dnrch  die  erweiterten  Gefässe 
fliesst:  wenn  der  entzündete  Theil  nicht  wärmer  wird  als  das  Bhit,  welches  ihm  zufiiesst, 
so  ist  es  nicht  wahrscheinlich,  dass  er  Wilrme  protbicirt.  Die  Untersuchungen  ülier  diesen 
Punkt  sind  nicht  zahlreich  und  unter  sich  widersprechend.  Die  von  O.  Weber  und 
Hufschmidt  darüber  angestellten  thermometrischen  Messungen  liaben  verschiedenartige 
Resultate  ergeben;  meist  war  die  Temperatur  in  der  Wunde  und  im  Rectum  (welches 
ziemlieh  gleiche  Wärme  mit  dem  arteriellen  Blut  hat)  gleich,  zuweilen  war  die  erstere 
höher  als  die  letztere,  zuweilen  umgekehrt;  gross  sind  diese  Differenzen  nie;  es  handelt 
sich  dabei  immer  nur  um  wenige  Zehntelgrade.  Eine  andere  Messungsmethode  hat 
0.  .Weber  eingeschlagen,  nämlich  die  thermoelectrische;  durch  diese  sehr  scliwierigen 
Untersuchungen  schien  die  Sache  vorläufig  dahin  erledigt  zu  sein,  dass  der  entzundere 
Theil  immer  wärmer  ist  als  das  arterielle  Blut,  ja  dass  zumal  das  vom  Entzündungsheerd 
kommende  venöse  Blut  wärmer  ist,  als  das  zu  diesem  Heerd  zufliessende  arterielle:  später 
sind  diese  Untersuchungen  in  Königsberg  von  H.  Jacobson,  M.  Bernhardt  und 
G.  Lau  dien  wiederholt  worden,  doch  mit  dem  Schlussresultat,  dass  im  Entzündung'sheerde 
kein  Plus  von  Wärme  erzeugt  werde;  in  neuester  Zeit  hat  Mosengeil  den  Gegenstand 
noch  einmal  behandelt  mit  Resultaten,  welche  in  den  wesentlichsten  Punkten  mit  denen 
von  Weber  übereinstimmen.  Bei  solchen  Widersprüchen  in  den  Beobachtungsresultaten 
ist  es  vorläufig  nicht  möglich ,  sich  ein  Urtheil  über  diese  Angelegenheit  zu  bilden.  So 
viel  dürfte  indess  feststehen,  dass  in  dem  Entzündungsheerde  nicht  so  viel  Wärme  erzeugt 
Avird  wie  nötliig  erscheint,  um  in  ein  bis  zwei  Stunden  die  Temperatur  der  ganzen  Blut- 
masse \im  mehrere  Grade  zu  erhrdien. 

2.  Der  Reiz,  w^elcher  durch  den  Endzündungsprocess  auf  die  Nerven 
in  dem  entzündeten  Gewebe  ausgeübt  wird  könnte  als  fortlaufend  zu  den 
Centren  der  vasomotorisciien  (trophischen)  Nerven  gedacht  w^erdeu;  die 
Erregung  der  Centren  dieser  Nerven  würde  eine  Steigerung  des  gesammten 
Stoffwechsels  nach  sich  ziehen  und  damit  eine  Steigerung*  der  Wärme-' 
production. 

Diese  Hypothese,  für  die  manche  Facta,  z.  B.  die  Verschiedenheit  der  s.  g.  febrilen 
Reizbarkeit  sprechen  iind  die  ich  früher  vertheidigte,  scheint  mir  jetzt  nicht  mehr  haltbar; 
es  sprechen  dagegen  die  experimentellen  Untersuchungen  von  Breuer  und  Chrobak 
durch  welche  dargethan  wurde,  dass  Fieber  auch  dann  noch  entsteht,  wenn  alle  Nerven 
durchschnitten  sind ,  welche  die  Leitung  V(3n  den  peripherischen  Verletzungen  zu  den 
Nervencentren  vermitteln  könnten. 


"{(X)  Von  den  einfachen  Sclmittwnnclen  der  "Weiclitlieile. 

3.  Da  in  dem  Entzünduügslieercle,  wie  es  das  Wesen  des  Processes 
mit  sich  bringt,  die  Gewebe  bedeutende  chemische  Alterationen  erleiden, 
so  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  dass  von  den  Pi-oducten  dieser  Alteration 
manche  ins  Blut  gelangen,  theils  durch  die  Blutgefässwandungen  hindurch, 
theils  durch  die  Lymphgefässe;  solche  Stoffe  könnten  gleich  organischen 
Giften  Umsetzungen  im  Blut  anregen,  in  Folge  welcher  in  der  gesammten 
Blutmasse  eine  erhöhte  Wärmeproduction  Statt  finden  würde.  Auch  könnte 
man  einen  complicirteren  Weg  der  Wärmebilduug  zugeben,  der  dadurch, 
dass  dabei  das  Nervensysten  eingeschaltet  wird,  in  mancher  Beziehung 
theoretisch  brauchbarer  w^ird;  es  könnte  nämlich  das  durch  die  Aufnahme 
von  Entzündungsprodueten  veränderte  Blut  der  Art  auf  die  Centren  der 
vasomotorischen  Nerven  wirken,  dass  von  diesen  aus  in  einer  verschieden 
denkbaren  Y/eise  eine  Störung  in  der  Wärmeregulation  zu  Stande 
gebracht  würde,  in  Folge  deren  die  Bluttemperatur  steigen  müsste. 

Die  Entscheidung  zwischen  diesen  verschiedenen  Hypothesen  ist 
schwierig;  sie  haben  vorläufig  alle  eine  gewisse  Berechtigung;  die  letz- 
teren haben  das  gemein,  dass  dabei  eine  Verunreinigung  des  Blutes 
durch  Stoffe  aus  dem  Entzündungsheerd,  oder  aus  der  Wunde  voraus- 
gesetzt wird,  und  dass  diesen  Stoffen  eine  Wirkung  auf  die  Wärme- 
bildung' zuerkannt  wird,  diese  Stoffe  müssten  Fieber  erregend,  pyrogen, 
wirken.  Dies  wäre  zu  beweisen.  Es  ist  durch  Experimente  von  0.  Weber, 
mir  und  vielen  Andern  bewiesen,  auf  die  ich  hier  nur  ganz  in  der  Kürze 
eingehen  kann.  An  den  meisten  offenen  Wunden,  zumal  au  den  Quetsch- 
wunden gehen  immer  Gewebsfetzen  durch  Fäulniss  zu  Grunde;  bei  vielen 
spontanen  Entzündungen  hört  in  dem  entzündeten  Gew-ebe  hie  und  da 
die  Circulation  auf,  es  tritt  Fäulniss  dieser  abgestorbenen  Gewebe  ein. 
Faule  Gewebe  wären  also  ein  Object,  w^elches  zunächst  in  Bezug  auf 
seine  pyrogene  Wirkung  zu  prüfen  wäre.  Injicirt  man  filtrirte  Aufgüsse 
davon  Thieren  ins  Blut,  so  bekommen  sie  heftiges  Fieber,  ja  sie  sterben 
nicht  selten  daran  unter  Erscheinungen  von  Schwäche,  von  Somnolenz 
bei  gleichzeitig  auftretenden  blutigen  Diarrhoen.  Die  gleiche  Wirkung 
hat  ganz  frischer,  ins  Blut  injicirter  Eiter,  unsicherer  wirkt  der  aus  ent- 
zündeten Theilen  ausgepresste  Saft  und  Eiterserum  ;  als  ausserordent- 
lich wirksam  erw^eist  sich  jedoch  das  in  den  ersten  48  Stunden 
abgesonderte  Wundsecret.  Es  sind  also  sowohl  die  Producte  des 
Zerfalles,  als  die  Producte  des  Stoffwechsels  in  acut  entzündeten  Geweben, 
welche,  ins  Blut  gelangend,  pyrogen  wirken.  Diese  Producte  sind  sehr 
complicirter  und  veränderlichen  Natur:  manche  von  den  in  ihnen  vor- 
kommenden chemischen  Stoffen  sind  für  sicli  in  Bezug  auf  ihre  Fieber 
erregenden  Eigenschaften  geprüft;  man  kann  durch  Injectionen  von  Leucin, 
von  Schwefelwasserstoff,  von  Schwefelannnoniuni,  Schwefelkohlenstoff 
und  anderen  bei  der  Fäulniss  von  Geweben  entstehenden,  chemischen 
Körpern,  ja  zuweilen  auch  durch  lujetion  von  Wasser  Fieber  erzeugen; 
auch    faulende   Pflanzcnstoffe  wirken  Fieber  erregend.     Es  a-iebt  also 


VorlcsmiM   S.      Ciipilrl    I.  101 

keinen  s|)eciri,sclicn,    Ficl)er  erregenden  Körper,  .sondern  die 
Zalil  der  i)yrog'cncu  Stoffe  ist  unendlich  g-ross. 

Naclidem  die  })yrog'ene  Wirkung  der  Ent/Jindung's-  und  i'iiulniss- 
producte  über  allen  Zweifel  festgestellt  ist  (man  mag  sich  ihre  Wirkung's- 
weisc  erklären,  wie  man  will),  wäre  weiterhin  noch  zu  beweisen,  dass 
die  Steife  aus  dem  Gewebe  ins  Blut  aufgenommen  werden  können, 
und  wäre  zu  ermitteln,  auf  welchem  AVeg'e  dies  geschieht.  Zu  diesem 
Zweck  injicirt  man  die  erwähnten  Stoffe  ins  Unterliautzellgewebe,  wo  sie 
sich  in  die  Maschen  des  Gewebes  zertheilen;  der  Effect  in  Bezug  auf 
das  Fieber  •  ist  derselbe ,  als  wenn  Sie  die  Injection  dircct  ins  Blut 
machen;  die  pyrog'enen  Gifte  werden  also  vom  Zellgewebe  aus  resorl)irt. 
Hierbei  ist  noch  eine  weitere  Beobachtung  zu  machen:  es  entsteht  nämlich 
nach  einig-er  Zeit  an  der  Stelle,  wo  man  faulig-e  Flüssigkeit  oder  frischen 
Eiter  injicirt  hat,  eine  heftige,  niclit  selten  rapid  progressive  Entzündung-. 
So  injicirte  ich  z.  B.  bei  einem  Pferd  '/,  Unze  fauliger  Flüssigkeit  am 
Schenkel;  nach  24  Stunden  war  das  betreffende  Bein  von  oben  bis  unten 
geschwollen,  heiss  und  schmerzhaft,  das  Thier  fieberte  dabei  lebhaft; 
das  Gleiche  machte  ich  bei  einem  Hunde  mit  ganz  frischem  (nicht  fauligem) 
Abscesseiter  mit  gleichem  Erfolg ;  Injection  von  frischem  Wundsecret  aus 
Amputations wunden  erzeugt  fast  constant  jauchige  Entzündung  mit 
Gangrän.  Diese  örtliche  Entzündung  erregende  Wirkung  des  Eiters  und 
der  fauligen  Stoffe  nenne  ich  die  phlogogene.  Kicht  alle  pyrogenen 
Stoffe  sind  zu  gleicher  Zeit  phlogogen ;  manche  sind  es  mehr  als  andere, 
auch  hängt  es  zumal  bei  den  fauligen  Flüssigkeiten  sehr  davon  ab,  ob 
die  giftigsten  Potenzen,  die  wir  nicht  genau  kennen,  in  grösserer  oder 
geringerer  Menge  in  ihnen  enthalten  sind.  —  Ob  die  pyrogenen  Stoffe 
durch  die  Lymphgefässe  oder  Bluteapillargefässe  ins  Blut  eintreten,  ist 
nicht  mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  übrigens  könnten  sie  in  dieser  Hinsieht 
verschieden  sein.  Manches  spricht  dafür,  dass  die  Resorption  vorwiegend 
durch  die  Lymphgefässe  erfolgt. 

Noch  erübrigt  es,  über  den  Verlauf  der  künstlich  erzeugten  Fieber 
bei  Thieren  etwas  zu  sagen.  Das  Fieber  beginnt  sehr  bald,  oft  schon 
eine  Stunde  nach  der  Injection;  nach  zwei  Stunden  hat  man  immer 
schon  bedeutende  Temperatursteigerung,  z.  B.  bei  einem  Hunde,  der  39,2" 
im  Rectum  hatte,  kann  man  zwei  Stunden  nach  der  Eiterinjection  40,2'\ 
vier  Stunden  nach  der  Injection  41,4°  finden.  Hierbei  ist  es  gleich,  ob 
die  Stoffe  direct  ins  Blut  oder  ins  Zellengewebe  injicirt  werden.  Die 
Acme  des  Fiebers  kann  1 — 12  Stunden,  vielleicht  noch  länger  dauern. 
Die  Defervescenz  erfolgt  bald  durch  Lysis,  bald  durch  Krisis;  macht  man 
neue  Injectioneu,  so  erhebt  sich  das  Fieber  von  neuem;  durch  wieder- 
holte Injectionen  fauliger  Stoffe  kann  mau  die  grössten  Thiere  in  wenigen 
Tagen  tödten.  Ob  bei  dem  einzelnen  Experiment  die  Thiere  sterben, 
hängt  von  der  Menge  und  der  Giftigkeit  des  injicirten  Stoffes  im  Ver- 
hältniss  zur  Grösse  des  Experimentalthiers  ab.    Ein  mittelgrosser  Hund 


]^Q2  Von  den  einfachen  Selinittwunden  der  \V''ii'lifheile. 

kann  nach  Injection  von  1  Scrupel  filtrirter  fauliger  Flüssigkeit  mehre 
Stunden  fiebern  und  nach  12  Stunden  wieder  gesund  sein.  Das  Gift 
kann  also  wieder  durch  den  Stoffwechr^el  climinirt  werden;  die  Störungen, 
welche  durch  seine  Gegenwart  im  Blute  veranlasst  werden,  können  sich 
wieder  ausgleichen. 

Ich  will  hier  mit  diesen  Betrachtungen  anhalten  und  wünsche  nur, 
Ihnen  diesen  wichtigen  Gegenstand,  der  uns  noch  wiederholt  beschäftigen 
wird,  recht  anschaulich  gemacht  zu  haben.  Ich  habe  die  Ueberzeugung, 
dass  das  Wundfieber  v/ie  das  Entzündungsfieber  überhaupt 
wesentlich  auf  einem  Vergiftungszustaud  des  Blutes  beruht 
und  durch  verschiedene  Stoff e,  welche  aus  dem  Entzünduugs- 
heerd  ins  Blut  gelangen,  erzeugt  wird.  Bei  den  accidentellen 
Wundkrankheiten  werden  wk  diese  Betrachtungen  wieder  aufnehmen. 


Jetzt  noch  einige  Worte  über  die  Prognose  und  die  Behandlung 
der  eiternden  Wunden. 

Die  Prognose  der  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile  hängt 
im  Wesentlichen  von  der  physiologischen  Wichtigkeit  des  verletzten 
Theiles  ab,  und  zwar  kommt  einerseits  die  Bedeutung  desselben  für  den 
ganzen  Körper,  andererseits  die  Störung  der  Function  des  Theils  für 
sich  in  Frage.  Dass  die  Verletzungen  der  Medulla  oblongata,  die  Ver- 
letzung des  Herzens  und  der  in  den  Körperhöhlen  tiefliegenden,  grossen. 
Arterienstämme  absolut  tödtlich  sind,  werden  Sie  leicht  begreifen.  Ver- 
letzungen des  Hirns  heilen  selten,  ebenso  Verletzungen  des  Kttckeumärks ; 
sie  ziehen  fast  immer  weitgreifende  Lähmungen  nach  sich  und  werden 
durch  verschiedene  Nachkrankheiten  tödtlich.  Verletzungen  grosser 
Nervenstämme  haben  die  Lähmung  der  unterhalb  der  verletzten  Stelle 
liegenden  Körpertheile  zur  Folge.  Eröffnungen  der  grossen  Körperhöhlen 
sind  immer  sehr  gefährliche  Wunden ;  kommt  nun  noch  eine  Verletzung 
der  Lunge  oder  des  Darms,  der  Leber,  Milz,  Nieren  oder  der  Harn- 
blase etc.  hinzu,  so  steigert  sich  die  Gefahr  immer  mehr,  ja  manche  von 
diesen  Verletzungen  sind  absolut  tödtlich.  Auch  die  Eröffnung  grösserer 
Gelenke  ist  eine  Verwundung,  die  nicht  allein  oft  die  Function  des 
Geh  nks  in  der  Folge  aufhebt,  sondern  sehr  häufig  durch  weitere  Folgen 
für  das  Leben  gefährlich  wird.  —  Aeussere  Verhältnisse,  Constitution 
und  Temperament  der  Kranken  haben  auch  einen  gewissen  Einfluss  auf 
den  Heilungsverlauf.  —  Eine  andere  Quelle  der  Gefahr  liegt  in  acci- 
dentellen Krankheiten,  die  sich  im  weiteren  Verlauf  zu  den  AVunden 
hinzugesellen  und  deren  es  leider  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  giebt, 
die  wir  später  in  einem  besonderen  Capitel  besprechen  wollen.  —  Sie 
müssen  sieh  vorläufig  mit  diesen  Andeutungen  hier  begnügen,  deren 
Aveitere  Ausführung  einen  wesentlichen  Theil  der  chirurgischen  Klinik 
bildet. 


VcH-IcsniiK  S.     (•;!!, i(,.|   r.  103 

ITebor  die  Bcli;iii  dl  ii  ii,:;'  der  cinruclicii  Scliiiiliwiiiidcii  krumcn  wir 
uns  kurz  lassen. 

Die  Vcrcinii;'uni;-  der  Wunden  ohne  Substanzverlnsl,  die  redilzcitige 
Entfernung'  der  Nähte  haben  wir  bereits  besprochen,  und  das  ist  fast 
Alles,  was  wir  als  directen  Eingriff  in  den  Ileilungsproeess  betraehten 
können.  Wie  bei  aller  rationellen  Therapie  ist  aucli  hier  von  der  aller- 
grössten  Bedeutung:  1)  die  Sehädliclikeiten  abzuhalten,  welehc  nachtlieilig- 
auf  den  typischen  Verlauf  einwirken  können,  2)  genau  zu  beobachten, 
ob  sich  Abweichungen  von  der  Norm  einstellen  und  diesen  rechtzeitig; 
therapeutisch  entg-egenzuwirken,  wenn  es  irgend  möglich  ist. 

Bleiben  wir  zuvörderst  bei  der  örtlichen  Behandlung-  stehen ,  so 
haben  wir  keine  Mittel,  den  Heilungsverlauf  per  primam  intentionem, 
oder  durch  Eiterung  wesentlich  abzukürzen,  etwa  auf  die  Hälfte  der  Zeit 
oder  noch  weniger  zu  reduciren.  Nichts  desto  weniger  bedürfen  die 
meisten  Wunden  einer  gewissen  Pfleg'c,  wenn  auch  leichte  Verletzungen 
unzählige  Male  heilen,  ohne  dass  sie  je  einem  Arzt  zu  Gesicht  kommen.  — 
Die  erste  Bedingung  für  den  normalen  Heilungsverlauf  ist  absolute 
Ruhe  des  verletzten  Theils,  besonders  dann,  wenn  die  Verletzung  über 
die  Haut  hinaus  bis  in  die  Muskeln  g-eht.  Es  ist  daher  bei  irgend  welchen 
tiefer  gehenden  Wunden  durchaus  nöthig-,  dass  die  Patienten  nicht 
allein  das  Zimmer  hüten,  sondern  auch  eine  Zeit  lang-  im  Bett  liegen 
bleiben,  denn  dass  Bewegungen  verletzter  Theile,  zumal  verletzter  Mus- 
keln, den  Heilungsprocess  stören  müssen,  liegt  w^ohl  auf  der  Hand.  — 
Das  zweite  Haupterforderniss  ist  das  Beinhalten  der  Wunde  und  ihrer 
Umgebung.  —  Früher  hielt  man  es  für  nöthig,  die  Wunden  immer  bedeckt 
zu  halten,  sie  auf  alle  Fälle  zu  verbinden.  Ich  habe  mich  überzeugt, 
dass  dies  nicht  nur  nicht  nothwendig  ist,  sondern  halte  es  in  vielen 
Fällen  gut,  die  Wunden  gar  nicht  zu  verbinden.  Bei  vernähten 
Wunden  hat  man  schon  oft  beobachtet,  dass  es  durchaus  keinen  Schaden 
bringt,  sie  nicht  zu  bedecken.  Will  man  vernähte  Wunden  bedecken, 
etwa  weil  sie  schmerzen,  weil  die  Wundränder  geröthet  und  geschwollen 
sind,  oder  weil  sie  sich  an  einem  Körpertheil  befinden,  auf  dem  der 
Patient  liegen  oder  der  im  Bett  bedeckt  werden  muss,  so  kann  ein  solcher 
Verband  in  verschiedener  Weise  gemacht  werden :  man  bestreicht  z.  B. 
die  Wundränder  mit  reinem,  feinem  Oel,  am  besten  mit  Mandelöl  und 
legt  darüber  ein  in  Oel  getränktes  Leinwandläppchen,  w^elches  täglich 
gewechselt  wird,  bis  die  Suturen  entfernt  sind,  oder  man  legt  eine  öfters 
zu  wechselnde,  mit  Wasser  oder  .Bleiwasser  angefeuchtete  Leinwand- 
compresse aus  4 — 6  Lagen,  der  Grösse  der  Wunde  entsprechend,  auf,  und 
fixirt  darüber  ein  Stückchen  Wachstaifet,  Guttaperchazeug  oder  Firniss- 
papier durch  einige  lockere  Bindentouren. 

Etwas  mehr  Sorge  hat  man  bei  offnen  nicht  vereinigten  Wunden 
anzuwenden.  Nachdem  die  Blutung  gestillt  ist,  bedecken  die  meisten  Chi- 
rurgen die  Wundfläche  oder  Wundhöhle  mit  trockner  Charpie  oder  Watte; 


\Q4:  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

bei  grossen  Wunden  ist  es  besser,  zuerst  ein  durdilöchertes  Stück  Leinwand 
(eine  s.  g.  g'efensterte  Compresse)  oder  feines  grobraascliiges  Bauriiwollen- 
zeug  (Mull)  aufzulegen;  darüber  Charpie  oder  Watte,  welche  durch 
Kochen  in  Kalilauge  von  Fett  befreit,  und  dadurch  imbibitionsfähiger 
gemacht  ist.  Letztere  Methode  des  Verbandes  hat  den  Yortheil,  dass  Sie 
mit  der  untergelegten  Compresse  sofort  den  ganzen  Verband  entfernen 
können,  während  sonst  bald  hier,  bald  dort  Charpiefäden  auf  der  Wunde 
kleben  bleiben,  und  für  sich  besonders  entfernt  werden  müssen.  Die 
zuerst  aufgelegte  Charpie  verklebt,  wenn  Sie  dieselbe  nicht  mit  einem 
wasserdichten  Stoff  bedeckt  haben,  durch  eintrocknendes  Blut  und  durch 
das  erste  Wundsecret  fest  mit  der  Yv^undfiäche,  und  Sie  brauchen 
dieselbe  selten  eher  zu  entfernen,  als  bis  sie  sich  von  selbst 
löst,  was  gewöhnlich  am  2.  oder  3.  Tage  Statt  zu  finden  pflegt,  wo  Eiter 
in  grösserer  Menge  auf  der  Wunde  erscheint.  Sollte  die  Wunde  nach- 
träglich noch  geblutet  haben  und  die  mit  dem  schon  zersetzten  Blute 
durchtränkte  Charpie  übel  riechen,  so  feuchten  Sie  dieselbe  mit  etwas 
Wasser  an  und  entfernen  Sie  früher  vorsichtig,  ohne  zu  sehr  an  der 
Wunde  zu  zerren  und  ohne  dem  Kranken  wehe  zu  thun.  —  Ist  die 
Wunde  nach  Entfernung  der  ersten  Charpie  bereits  ziemlich  rein,  so 
ist  weiter  nichts  nöthig,  als  sie  in  der  Folge  täglich  wieder  in  gleicher 
Weise  wie  früher  zu  verbinden,  nachdem  sie  jedesmal  vorher  gereinigt 
ist.  Zeigt  sich  die  Wunde  nach  Entfernung  der  ersten  Charpie  mit 
zersetztem  Blut  bedeckt,  liegen  auf  derselben  nekrotische  Gewebsfetzen, 
so  können  Sie  zweckmässig  die  aufzulegende  Charpie  zuvor  in  etwas 
verdünntes  Chlorwasser  oder  in  Chlorkalkwasser  (1  Drachme  Chlorkalk 
auf  1  Pfund  Wasser,  oder  5  Grammes  Chlorkalk  auf  50  Grammes  Wasser) 
tauchen,  ausdrücken  und  dann  auflegen;  hierdurch  wird  der  Zersetzungs- 
process  auf  der  Wunde  in  der  Eegel  rasch  coupirt,  der  übrigens  bei 
den  einfachen  Wunden  überhaupt  selten  erhebliche  Folgen  nach  sich  zu 
ziehen  pflegt.  Diese  Verbandweise  setzen  Sie  fort,  bis  die  Wunde  kräftig 
granulirt  und  eitert.  —  Wie  oft  Sie  auf  einer  eiternden  Wunde  die 
Charpie  erneuern  müssen,  hängt  von  der  Quantität  des  secernirten  Eiters 
ab;  es  muss  zu\veilen  zwei  bis  dreimal  täglich,  braucht  manchmal  nur 
einen  Tag  um  den  andern  zu  geschehen.  Zum  Abspritzen  der  Wunden 
braucht  man  entweder  einfache  Wundspritzen  oder  die  Esmarch'sche 
Wunddouche,  welche  aus  einem  25  Centimeter  liohen,  12  Centimeter  im 
Durchmesser  haltenden  cvlindrischen  Gefäss  besteht,  an  dessen  Boden 
eine  Oeffnung  mit  einer  kurzen  Röhne  daran  angebracht  i*st,  auf  welche 
ein  Gummischlauch  mit  Spritzenansatz  gezogen  wird;  so  wie  mau  durch' 
einen  Krankenwärter  das  Gefäss  erheben  lässt,  wirkt  der  kleine  A])parat 
als  Spritze. 

Wie  eben  bemerkt,  bin  ich  in  neuester  Zeit  zu  der  Ansicht  gelangt, 
dass  es  besser  sei,  frische  Wunden,  auch  stark  eiternde  und  jauchende 
Wunden  gar  nicht  zu  verbinden,  sondern  solche  Vorkehrungen  zu  treffen, 


Vurlusiiii^'  8.     <'.a|iilcl   I.  105 

dass  Blut,  Eiter  und  Jiuiclic  in  uiitcri;cstclltc  Gcfässc  abnicsscn  können. 
Mail  maclit  dabei  die  unerAvartete  JJeohaelitun^',  dans  das  anlan^'s  al)- 
iiiessende,  mit  Blut  g'eniisclitc  »Serum,  von  dessen  besonders  intensiver 
plilog'ogcnen  nnd  ])yrogcncn  Wirkung  bereits  die  liede  war,  an  und  für 
sich  g'ar  keinen  Geiuch  liat,  ebenso  wenig'  der  reine  Eiter,  und  das 
ierner  diese  Secrete  in  der  gewölmliclien  Zimmertemperatur  12 — 24  Stunden 
im  Gefäss  stehen  können,  ohne  stinkende  Gase  zu  entwickeln.  Dies 
überrascht  deshalb,  weil  man  weiss,  dass  jedes  Verbandzeug,  welches 
mit  Blut  oder  Eiter  durchtränkt  ist,  stinkt,  selbst  Avenu  man  es  zweimal 
täg-lich  von  der  Wunde  abnimmt,  und  dass  dieser  Geruch  nur  dann 
einigermaassen  zu  tilgen  ist,  wenn  man  die  Wunde  mit  sogenannten 
antiseptischen  oder  desiuficirenden  Verbandwässern  deckt,  und  diese  Ver- 
bände sehr  oft  erneuert.  Der  Grund  für  diese  leicht  zu  constatireude 
Beobachtung-  liegt  wahrscheinlich  darin,  dass  beim  Abfliessen  der  Secrcto 
letztere  so  rasch  erkalten,  dass  sie  sich  deshalb  weit  schwieriger  zer- 
setzen, während  die  gleichen  Secrete  sich  leicht  zersetzen,  wenn  sie  sich 
auf  der  Wunde  in  einer  Temperatur  von  38^40°  befinden,  und  auch  das 
Wasser  aus  ihnen  nicht  verdunsten  kann,  weil  die  Wunde  sehr  dicht  mit 
.  Verbandzeug-  umwickelt  ist.  Aus  der  klinischen  Beobachtung,  sowie  aus 
Experimenten  geht  hervor,  dass  die  Eesorption  fauliger  und  eitriger 
Secrete  sehr  begünstigt  wird,  wenn  der  Entleerung,  dem  xlbfliessen  dieser 
Secrete  ein  mechanisches  Hinderniss  entgegengesetzt  ist;  auch  aus  diesem 
Grunde  kann  man  es  nicht  genug  betonen,  dass  der  Abfluss  der  Wund- 
secrete,  zumal  der  frischen,  ein  unbedingt  freier  sein  soll.  Freilich  bilden 
sich  dabei  Krusten  und  die  Wunde  sieht  dann  nicht  schön  aus;  indess 
dieser  Nachtheil  ist  gering  gegenüber  den  grossen  Vortheilen,  welche  die 
offne  Behandlung  der  Wunden  sonst  bietet.  Um  einen  ungehinderten 
Abfluss  aus  einer  vertieften,  halb  mit  Haut  bedeckten  (Höhlen-)  Wunde 
zu  ermöglichen  bedarf  es  theils  genauer  Ueberlegung,  wie  eine  Operations- 
wunde am  zweckmässigsten  anzulegen  ist,  theils  besonderer  mechanischer 
Hülfsmittel;  häufig  bedienen  wir  uns  dünner  Kautschuckröhreu,  welche 
wir  in  die  Tiefe  der  Wunde  einlegen,  und  sie  an  einer  für  den  Secret- 
abfluss  zweckniässigen  Stelle  zur  V\''unde  herausführen.  Dies  wird  um 
so  nothwendiger,  M-emi  man  über  Höhlenwunden  die  Haut  vereinigen 
will.  Unter  Andern  hat  Lister  das  Verdienst  auf  die  Nothwendigkeit 
aller  dieser  Cautelen  unermüdlich  aufmerksam  gemacht  und  entsprechende 
practische  Verbandmethoden  detaillirt  angegeben  zu  haben,  welche  sich 
vielfacher  Verbreitung  erfreuen. 

Granulirt  die  Wunde  vollständig,  beginnt  die  Benarbung,  wird  das 
Secret  geringer,  danu  kann  man  ohne  jeglichen  Xachtheil  die  Wunden 
wie  gewöhnlich  verbinden.  Bei  stark  eiternden  Wunden  hat  das  Auflegen 
von  Charpie  den  Vortheil,  dass  sie  den  Eiter  einsaugt;  der  Vortheil  ist 
etwas  zweifelhafter  Art,  wenn  wir  an  die  Möglichkeit  einer  leichteren 
Zersetzung  des  Eiters  in  der  Charpie  denken.     Viele  Chirurgen  verbinden 


105  Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

nur  mit  Leinwand-  oder  Baumwollenläppclien,  viele  mit  ciitfetteler,  desin- 
ficirter  Watte,  auch  hat  mau  Fliesspapier  und  mancherlei  Anderes  vor- 
gesclilagen.  Es  kommt  nicht  so  gar  viel  auf  das  Verbandmittel  an,  wenn 
es  nur  weich  ist  und  wenigstens  etw^as  imbibirt.  In  Krankenhäusern 
würde  ich  frische  Watte  lieber  zum  Verband  brauchen,  als  Charpie,  welche 
aus  schlecht  gev/aschenen  Verbaudstücken  von  den  Kranken  oder  Wärte- 
rinnen mit  schmutzigen  Fingern  bereitet  ist;  muss  man  sie  brauchen, 
so  taucht  man  sie  am  besten  in  eine  desinficirende  Flüssigkeit,  bevor 
man  sie  anwendet.  Verdünntes  Chlorwasser,  Chlorkalkwasser,  Wasser 
mit  etwas  hypermangansaurem  Kali  kirschroth  gefärbt,  Glycerin,  Alkohol, 
filtrirte  Lösungen  von  unterschwef ligsauren  Alkalien  (Pol li),  Bleiwasser, 
essigsaure  Thonerde  (Alaun  3v,  oder  20  Grammes,  Essigsaures  Blei  5j? 
oder  40  Grammes,  Wasser  gviij,  oder  300  Grammes,  Burow)  Lösungen 
von  Carbolsäure  in  V/asser  (I3  auf  1  Pfd.  oder  5  Grammes  auf  500 
Grammes)  sind  zu  diesem  Z'wecke  empfehlenswerth. 

In  vielen  Fällen  ist  nun  nichts  weiter  nöthig;  die  Benarbung  schreitet 
allraählig'  vor,  die  Wunde  heilt  ohne  w-eiteres  Zuthun.  Indes«  konmit 
es,  abgesehen  von  gewissen  Krankheiten  der  Granulationen,  die  wir 
nocli  besonders  besprechen  wollen,  sehr  häufig  vor,  dass  unter  der  stets 
gleichbleibenden  Behandlung  die  Heilung  Stillstände  macht,  dass  Tage 
lang  der  Benarbungsprocess  nicht  vorwärts  geht,  und  die  Grauulations- 
fiäche  ein  schlaffes  Aussehen  bekommt.  Unter  solchen  Verhältnissen  ist 
es  dann  zweckmässig,  die  Verbandmittel  zu  wechseln,  um  die  Granula- 
tionsfläche durch  neue  Mittel  zu  reizen:  derartige  vorübergehende  Er- 
schlaffungszustände  des  Heilungsprocesses  treten  fast  an  jeder  grösseren 
Wunde  zeitweilig  ein.  —  Sie  können  unter  solchen  Verhältnissen  z.  B. 
Fomentationen  mit  warmem  Caraillenthee  machen  lassen,  d.  h.  es  werden 
mehrfache  Compressen  in  warmen  Thee  eingetaucht,  ausgedrückt  und 
von  Zeit  zu  Zeit  frisch  auf  die  Wunde  gelegt,  oder  Sie  lassen  Umschläge 
mit  Bleiwasser  anwenden,  können  auch  mit  einem  in  Höllensteinlösung 
(2 — 5  Grcin  auf  eine  Unze,  oder  0,2 — 0,3  Gramme:^  auf  40  Grammes 
Wasser)  getauchten  Pinsel  die  Wunde  von  Zeit  zu  Zeit  bestreichen.  Ist 
die  Wundfläche  nicht  mehr  gross,  so  mögen  auch  schliesslich  Salben- 
verbände in  Gebrauch  gezogen  werden;  die  Salben  werden  dünn  ent- 
weder auf  Charpie  oder  Leinwand  gestrichen;  am  zweckmässigsten  sind: 
die  Königs  salbe  (Unguentum  basilicuni),  aus  Baumöl,  Waciis,  Colopho- 
nium,  Talg  und  Terpentin  bestehend;  ferner  eine  Salbe  mit  Argentum 
nitricum  (1  Gran  auf  1  Drachme,  oder  0,1  Grammes  auf  5  Grammes 
eines  beliebigen  Salbenfettes  mit  Zusatz  von  etwas  Balsanuim  Peruvianum). 
—  Ist  die  Benarbung  bereits  sehr  weit  vorgeschritten,  so  kann  man  zuletzt ' 
Zinksalbe  (Zinc.  oxyd.  3j,  Unguent.  rosat.  ^j,  oder  5  Grammes  auf 
40  Grammes)  brauchen,  oder  die  trockene  Charpie  ankleben  und  das 
letzte  Stückchen  der  AVunde  unter  dem  Schorf  heilen  lassen.  Eine  höchst 
eigenthümliche,    zuweilen  recht  gut  Avirkende  Methode,    die  Benarbung 


VorlcsiiiifA-  S.     Ciipiirl  1.  107 

(Ici-  i;ra.iuilirciHlcu  Wiiiidc  zu  lurdcni,  ist  vuu  Kcverdiii  ciiigcfülirt.  Er 
cntdockle,  (hiss  ein  mit  einer  kleinen  IJoliLscheere  von  der  Oherflüclie 
(U'S  Körpers  cntnoniiuencs  iStiic.kcJicn  Cutis,  welclics  man  mit  der  A\'uiul- 
fliieiie  auf  die  Granulationen  durch  llcCt|)naster  zweckmässii^'  fixirt,  nicht 
nur  hier  anwächst,  sondern,  dass  die  transplantirte  Epidermis  anfäui^t 
zu  wuchern  und  das  Centrum  einer  sog'cnannten  Karbcninsel  bildet,  v(tn 
\velcher  aus  die  Ueberhäutung-  der  AVunde  in  gleicher  Weise  fortschreitet, 
wie  von  den  Eändern  aus.  AViv  haben  in  der  Klinik  von  dieser  künst- 
lichen Uebei'häutung'  oder  Pfropfung-  der  AA^unde  mit  Epidermis  sehr  häufig 
Gebrauch  gemacht,  und  selten  ist  diese  kleine  Operation  ohne  den  ge- 
wünschten Erfolg  geblieben;  man  erkennt  denserocn  daran,  dass  sich, 
nachdem  am  di-itten  Tage  das  Pflaster  entfernt  wurde,  um  das  trans- 
plantirte Stück  ein  etwas  vertiefter  trockner  rother  Hof  gebildet  hat, 
der  sich  allmählig  vorschiebt  und  dem  dann  am  6.  bis  8.  Tage  ein 
bläulich  weisser  Hof  folgt,  ganz  wde  bei  der  Benarbung  am  Rande  der 
AYunde.  —  Ich  unterschätze  die  practischc  Bedeutung  dieses  Verfahrens 
nicht,  doch  ist  mir  die  Bereicherung  unserer  allgemein  naturwissenschaft- 
lichen Kenntnisse  durch  diese  Beobachtung  fast  noch  interessanter.  Wir 
haben  hier  den  schlagendsten  Beweis  nicht  nur  von  der  Selbstständigkeit 
des  Zellenlebens  in  dem  Gewebe  des  Menschen,  sondern  auch  besonders 
von  der  leicht  erregbaren  Bildungsthätigkeit  des  Epithels,  welche  hier 
nur  durch  eine  Veränderung  des  Ernährungsmaterials  wach  gerufen  w^ird, 
während  das  zugleich  transplantirte  Stückchen  der  Cutispapillarschicht 
nicht  wächst.  Es  liegen  von  Thiersch,  Minnich  und  Menzel  Beob- 
achtungen vor,  aus  welchen  hervorgeht,  dass  S  Stunden  nach  dem  Tode, 
vielleicht  noch  länger  die  Epidermis  noch  mit  Erfolg  transplautirt  werden 
kann.  Die  feineren  Details  des  liistologischen  A^organges  l)ei  diesen 
Transplantationen  sind  vonBeverdin  selbst,  besonders  genau  al^-er  von 
xVmabile  und  Thiersch  studirt.  Czerny  hat  nachgewiesen,  dass  aucli 
Mundschleimhaut  (mit  Plattenepithel)  und  Schleimhaut  der  Nase  (cylin- 
drisches  Flimmerepithel)  mit  Erfolg  auf  Wunden  gepfropft  werden  kann; 
das  Epithel  dieser  Häute  behält  nur  nocli  kurze  Zeit  seinen  Charakter, 
wandelt  sich  dann  aber  in  Epidermis  um. 

Was  die  Behandlung  des  Allgemeinzustandes  eines  Ver- 
wundeten betrifft,  so  können  wir  durch  innere  Mittel  fast  nichts  thun, 
um  das  der  Verletzung  folgende  Fieber  völlig  zu  verhindern  oder  zu 
coupiren.  Doch  sind  gewisse  diätetische  Maassregeln  nothwendig.  Der 
Verletzte  darf  sich  nach  der  Verwundung  den  Magen  nicht  überladen,- 
sondern  muss,  so  lange  er  Fieber  hat,  eine  knappe  Diät  führen.  Dies 
ergiebt  sich  in  der  Kegel  von  selbst,  da  fiebernde  Kranke  selten  Appetit 
haben;  doch  auch  nach  Aufhören  des  Fiebers  darf  der  Kranke  nicht 
unmässig  leben,  sondern  nur  so  viel  geniessen,  wie  er  bei  ruhiger  Lage 
im  Bett,  oder  bei  dauerndem  Aufenthalt  im  Zimmer,  wo  ihm  die  Be- 
wegung fehlt,    verdauen  kann.  —  Ist  das   Fieber  heftig,    und  hat  der 


108  ^'^on  "^len  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Kranke  das  Bedürfniss ,  iu  seinem  Getränk  neben  dem  gewöhnlich  von 
den  Fieberkranken  am  meisten  bevorzugten  kalten  Wasser  eine  Abwechf-e- 
lung  zu  haben,  so  können  Sie  säuerliche  Getränke  als  Limonaden  oder 
Arznei  verordnen;  die  gewöhnliche  Citronenlimonade  "wird  den  Kranken 
bald  widerlich;  besser  ertragen  sie  Phosphorsäure,  Salzsäure  in  Wasser 
mit  etwas  Fruchtsaft,  Himbeeressig  in  Wasser,  mit  Aepfeln  abgekochtes 
Wasser,  Brodwasser  (Aufguss  von  geröstetem  Brod  mit  etwas  Citronen- 
saft  und  Zucker);  manche  Kranken  lieben  mehr  Mandelmilch,  in  Wasser 
aufgelöstes  Fruchteis,  Haferschleim,  Gerstenabkochung  u.  s.  v,\  Hier  lassen 
Sie  dem  Geschmack  des  Kranken  und  der  Hausfrau  unter  Hirer  Leitung 
freien  Spielraum;  es  ist  indessen  gut,  wenn  Sie  sich  auch  um  solche 
Dinge  später  kümmern.  Die  Aerzte  sollten  in  Küche  und  Keller  ebenso 
Bescheid  w-issen,  wie  in  der  Apotheke;  sie  stehen  auch  nicht  umsonst 
im  Euf  von  Gourmets. 


Vorlesung  9, 

Combination  der  Heihmg  per  primam  und  per  secundani  intenfionem.  —  Zusammenheilen 
von  Granulationsflächen.  —  Heihmg  unter  einem  Sehorf.  —  Granulationskrankheiten.  — 
Ueber  die  Narbe  in  den  verschiedenen  Geweben:  Muskelnarbe;  Nervennarbe,  kolbige 
Wucherung  derselben ;  Gefässnarbe,  Organisation  des  Thrombus,  arterieller  Collateralkveislauf. 

Heute  habe  ich  zunächst  nur  noch  Weniges  hinzuzufügen  über  ge- 
wisse Abweichungen  von  dem  gewöhnlichen  Gang  der  Wnndheilung,  die 
so  häufig  vorkommen,  dass  man  sie  fast  noch  in  das  Bereich  des  Nor- 
malen, jedenfalls  des  nicht  Ungewöhnlichen  zählen  muss. 

Es  kommt  gar  nicht  selten  zur  Beobachtung,  dass  sich  an  einer  und 
derselben  Wunde  die  beiden  beschriebenen  Arten  der  Wundheilung  per 
primam  und  secundam  intentionem  combiniren.  Sie  vereinigen  z.  B.  eine 
Wunde  ganz  vollständig  und  können  unter  Umständen  beobachten,  dass 
an  einigen  Stellen  die  Heilung  per  primam  eintritt  während  an  anderen 
Stellen  nach  Entfernung  der  Nähte  die  Wunde  aus  einander  klaft't  und 
erst  durch  Eiterung  allmählig  zuheilt. 

Ingleichen  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  die  Wunde  in  der  Tiefe 
per  primam  verwachsen  ist,  während  die  Hauträuder  nach  Entfernung 
der  Kähte  etwas  aus  einander  weichen  und  durch  Eiterung  erst  wieder 
zusammenheilen,  oder  umgekehrt:  die  Hautränder  verwachsen  mit  ein- 
ander per  primam,  während  aus  der  Tiefe  der  Wunde  Eiter  hei'voi-quillt 
und  die  bereits  verklebten  Hautränder  theilweise  sich  Aviedcr  von  einander 
lösen.  Diese  beiden  letzten  Verhältnisse  finden  zumal-  bei  Aniputations. 
wunden  der  Extremitäten  nicht  selten  Statt,  wenn  man  die  "Wunde  durch 
Suturen  vereinigt  hatte.  —  Woran  es  liegt,   dass  in  solchen  Fällen  die 


VorlcSlIllL,'   f).      riipilrl    I.  10!) 

lloiliing'  selbst  hei  jj,;iuz  g'lattcn  Scliiiiliwiindcii  iiiclit  iuiiiier  crfoli;'!,  lüsst 
sicli  kaum  l'iir  jeden  einzelnen  Fall  mit  Sicherheit  feststellen.  Wenn  Sie 
indessen  überleg'en,  wie  eomjjlieirt  die  Vevliältnissc  bei  diesem  Vorg-ang- 
sind,  wie  sehr  sie  von  der  Art  der  verletzten  (iewebe,  von  den  Gefäss- 
an Ordnungen,  von  der  jedesmaligen  Spannung  der  Wnndränder,  dem 
mehr  oder  weniger  eng'en  Aneinanderliegen  derselben,  von  der  Kühe  der 
Theile  während  des  Verlaufs  der  Heilung,  von  der  absoluten  llciiilicit 
aller  gebrauehten  Instrumente  und  Verbandstüekc,  von  den  allgemeinen 
eonstitutionellen  \'erhältuissen  des  Kranken  und  endlieli  von  vielen 
Dingen  abhängen,  die  uns  gar  nicht  genau  bekannt  sind,  so  diii-ren 
wir  uns  nicht  wundern,  dass  solche  Störungen  in  dem  lIeilungs])i-ocess 
vorkommen,  und  würden  herzlich  froh  sein,  wenn  den  Kranken  keine 
anderen  Zufälle  treffen  könnten,  als  das  NichtZustandekommen  der  Heilung 
per  primam,  was  am  Ende,  mit  Ausnalime  der  ])lastischen  Oi)erationen, 
für  die  meisten  Fälle  von  einfachen  Schnittwunden  keine  weitere  Bedeu- 
tung als  die  der  längeren  Zeitdauer  hat.  —  Wie  sich  die  histologischen 
Verhältnisse  gestalten,  wenn  eine  anfangs  geschlossene  V\'unde  nach- 
träglich zu  einer  ganz  oder  theilweis  offnen  wird ,  ist  nach  dem  Bilde, 
welches  ich  Ihnen  über  die  Vorgäng-e  bei  der  Wundheilung-  entworfen 
habe,  leicht  zu  verstehen;  der  ganze  Unterschied  des  Heilungsprocesses 
besteht  ja  wesentlich  darin,  dass  die  entzündliche  Neubildung  im  einen 
Fall  sich  sofort  zu  Bindeg-ewebe  umwandelt,  im  andern  die  Zwischen- 
stufe des  Granulationsg-ewebes  durchzumachen  hat. 

Es  g-iebt  noch  eine  Art  der  Verschmelzung-  von  Wundrändern,  die 
darin  besteht,  dass  zwei  einander  dicht  und  eng-  gegenüberliegende 
granulirende  Wundflächen  unmittelbar  mit  einander  ver- 
wachsen. Diese  Art  der  Heilung,  die  Sie,  wenn  Sie  wollen,^  Heilung 
per  tertiam  intentionem  nennen  können,  kommt  spontan  leider  ungemein 
selten  vor.  Der  Grund  davon  ist  leicht  einzusehen ;  von  der  Oberfläche 
der  Granulationen  Avird  fortwährend  Eiter  secernirt  und  so  lange  dies 
Statt  hat,  berüliren  sich  die  Fläclien  nur  scheinbar  vollständig,  denn 
zwischen  ihnen  liegt  Eiter.  Zuweilen  gelingt  es  freilich,  dass  man  durcli 
Druck  der  beiden  Granulationsflächen  an  einander  dieselben  an  einer 
weiteren  Eitei-bildung  verhindert,  und  dann  können  allerdings  die  beiden 
Flächen  mit  einander  verwachsen;  man  erzwingt  dies  entweder  durch 
festes  Aueinanderzieheu  der  Wundflächen  mit  gut  klebendem  Heftpflaster 
oder  durch  die  Anlegung  secundärer  Suturen,  zu  denen  man  zweckmässig 
Metallfäden  wählt.  Leider  gelingt  der  Versuch,  uachträglicli  durch  diese 
Mittel  noch  eine  rasche  Heilung  zu  erzwingen,  so  selten,  dass  man  nur 
sehr  ausnahmsweise  dazu  schreitet.  Den  meisten  Erfolg  erzielt  man  durch 
die  wenigstens  4 — 5  Linien  von  den  Wundränderu  entfernt  ein-  und  aus- 
geführten metallenen  Secundärnähte  dann,  wenn  man  sie  erst  am  6. 
oder  7.  Tage  nach  der  Verletzung  anlegt,  weil  das  Gewebe  dann  schon 
wieder  dichter,  fester  ist,  und  die  Suturen  weniger  schnell  durchschneiden. 


WQ  Von   den   einfaflieii  Sclniilt\vim<l!^n   der  Weiditlir-ile. 

Endlicli  g\e]}t  es  nodi  eine  Art  der  Heilun.i^-,  iiiimlich  die  Heilung- 
einer  Flächenwunde  unter  einem  Schorf.  Diese  kommt  nur  bei  kleinen 
Wunden  häufig-  vor,  die  wenig  Eiter  absondern,  denn  nur  in  solchem 
Falle  vertrocknet  der  Eiter  auf  der  Wunde  zu  einem  festsitzenden  Schorf; 
bei  profuser  Eiterung-  kann  zwar  die  Oberfläche  der  Eiterscliicht  durch 
Verdunstung-  des  Wassergehalts  eintrocknen,  doch  wenn  darunter  immer 
neuer  Eiter  secernirt  wird,  so  kann  es  keinen  haftenden  zusanmien- 
hängenden  Schorf  geben.  Hat  sich  ein  solcher  Schorf  gebildet,  so  ent- 
wickelt sich  das  Granulationsgewebe  unter  demselben  nur  in  sehr 
geringem  Maasse,  vielleicht  weil  es  unter  einem  leichten  Druck  des 
eingetrockneten  Schorfs  steht,  und  das  Granulationsgewebe  weniger 
schleimig  wird,  so  dass  sich  die  Epidermis  unter  dem  Schorf  leichter 
regeneriren  kann;  eine  solche  kleine  Wunde  kann  vollständig  benarbt 
sein,  wenn  der  Schorf  abfällt. 


Die  Granulationsflächeu  nehmen,  zumal  bei  grösseren  Wunden  nicht 
selten  ein  anderes  Ansehen  an,  als  das  beschriebene  normale.  Es  giebt 
gewisse  Granulat ionskrankheiten,  deren  ausgesprochene  Formen 
ich  Hmen  in  Kürze  ciiarakterisiren  will,  wenngleich  der  Uebergänge  so 
viele  sind,  dass  Sie  dieselben  nur  durch  eigene  Beobachtung  genau 
kennen  lernen  können. 

Man  kann  etwa  folgende  verschiedene  Arten  von  Granulationsflächeu 
unterscheiden: 

1.  Die  wuchernden  fungösen  Granulationen.-  Der  Ausdruck 
,,fiingös"  bezeichnet  nichts  weiter  als  „Schwamm-(Pilz-)artig";  unter  fun- 
gösen Granulationen  versteht  man  daher  solche,  die  über  das  Niveau 
der  Hautoberfläche  stark  hervorwachsen,  und  sich  wie  ein  Pilz  oder 
Schwamm  über  die  Wundränder  lagern.  Ihre  Consistenz  ist  gewöhnlich 
sehr  Aveich;  der  abgesonderte  Eiter  schleimig,  glasig,  zäh;  er  enthält 
weniger  Zellen  als  der  gute  Eiter,  und  die  meisten  Eiter-  wie  Gi-anu- 
latioriszellen  sind  dabei  mit  vielen  Fettkörnchen  und  einem  schleimigen 
Stoff  gefüllt,  der  auch  als  Intercellularsubstanz  in  grösserer  ]\rasse  als 
normal  vorhanden  ist;  auch  finden  sich  in  diesen  Granulationen  Heerde 
von  schön  ausgebildetem  Yirchow'sehen  Schleimgewebe,  wie  Rind- 
fleisch entdeckte.  Die  Gefässentwicklung  kann  sehr  wuchernd  sein; 
das  leicht  zerstörbare  Gewebe  blutet  oft  bei  oberflächlichster  Berührung, 
die  Granulationen  sehen  zuweilen  sehr  dunkel  blauroth  aus.  In  anderen 
Fällen  ist  die  Gefässentwicklung  spärlich,  oft  in  solchem  Maasse,  dass 
die  Fläche  hellrosa,  stellemveise  selbst  gelblich  gallertig  erscheinen  kann, 
so  bei  selir  anämischen  Personen,  oft  auch  bei  kleinen  Kindern  und  ganz 
alten  Leuten.  —  Die  häufigste  Veranlassung  zur  Entwicklung  solcher 
wuchernden  Granulationen  ist  irgend  ein  locales  Hinderniss  für  die  Hei- 
lung  der  Wunde,    z.  B.  Starrheit  der  umgebenden  Haut,    so    dass  die 


Vorlosiiiii,^   !).      (';i|iilr|    r.  •  111 

Narbcu('(»iilr;icliim  sc'nvcr  Aor  sich  ijclit,  ein  (Vciiulev  KöriXT,  der  in  (l(;i- 
'riefe  einer  V("»lireiiförnii^'en  ij;'vniuilireii(leii  Wunde  (einoi'  Fistel)  steckt: 
l)esonders  kommt  diese  n,l)norme  Wiielierunii,'  aueli  bei  i^'anz  i^Tosseii 
AViinden  vor,  die  sicli  nur  laui^'sam  zusanuiienzielien  können:  es  selieint 
als  seien  /Auveilen  die  (^^cwcbc  in  ihrer  Thätii^'keit  erschöpft  und  nicht 
mein-  reeht  lahii^-,  die  c,'ehöriii'e  Condensirnng-  und  Denarljunü,-  herlieizii- 
fiUiren,  so  dass  e])en  nur  noeli  das  schlaffe,  sehwaminig'e  rJi-aniiiations- 
^;ewebe  ])rodueirt  Avird.  —  So  lang'e  Granulationen  bestehen,  welehe  die 
besehriebene  Ijesehaffenheit  haben,  und  die  llautränder  überwuchern, 
piieg't  die  Benarljuno-  nielit  vorzuschreiten.  p]s  würde  freilieli  endlieh 
doch  wohl  zu  einer  Heilung-  kommen,  doch  erst  nach  langer,  langer 
Zeit.  AVir  besitzen  Mittel  genug,  den  Ileilungsproeess  unter  solchen  Um- 
ständen abzukürzen,  besonders  sind  es  Aetzmittel,  dnrcli  Avelche  wir  die 
Grannlationsfläche  theilweis  zerstören  und  so  einen  kräftigeren  Nacliwuelis 
aus  der  Tiefe  hervorrufen.  Zunächst  können  Sie  mit  einem  Stift  Höllen- 
stein (Argentum  nitricum)  die  Granulationsfläclic  täglich  besonders  an 
den  Rändern  cauterisiren,  worauf  sich  rasch  ein  weisser  Schorf  bilden 
wird,  der  sich  nach  12  bis  24  Stunden,  oft  viel  früher,  bereits  gelöst 
hat;  Sie  Aviederholen  diese  leichte  Aetzung'  je  nach  Bedürfniss,  ]>is  die 
Grannlationsfläche  geebnet  ist.  Ein  anderes  recht  gutes  Mittel  ist  das 
Bestreuen  der  Wunde  mit  gepulvertem,  rothem  Quecksilberpräcipitat 
(Hydrargyrnm  oxydatum  rubrum),  was  ebenfalls  täglich  wiederholt 
werden  muss,  um  die  Granulationsfläche  zu  verbessern.  Sehr  gut  wirkt 
auch  zuweilen. die  Compression  mit  Heftpflasterstreifen.  Sind  die  Granu- 
lationen gar  zu  übermässig  dick  und  gTOss,  so  kommt  man  am  raschesten 
zum  Ziel,  wenn  man  einen  Theil  davon  mit  einer  Scheere  oder  die  ganze 
Granulationsmasse  mit  einem  scharfen  Löffel  entfernt;  die  eintretende 
leichte  Blutung  stillt  sich  leicht  durch  Auflegen  von  Charpie. 

2.  Unter  erethischen  Granulationen  versteht  man  solche,  die 
sich  durch  grosse  Schmerzhaftigkeit  bei  jeder  Berührung  auszeichnen; 
es  sind  gewöhnlich  stark  wuchernde  Granulationen,  die  zugleich  leicht 
bluten;  der  Zustand  ist  äussert  selten.  Bei  hochgradigem  Erethismus 
der  Granulationen  sind  dieselben  so  empfindlicli,  dass  auch  nicht  die 
leiseste  Berührung  und  keine  Art  des  Verbandes  ertragen  wird;  ge- 
ringere Grade  von  Schmerzhaftigkeit  der  Granulationen  sind  nicht  so 
selten.  Worauf  diese  Empfindlichkeit  beruht,  ist  nicht  recht  erklärlich; 
das  Granulationsgewebe  selbst  enthält  gar  keine  Nerven;  in  den  meisten 
Fällen  wird  eine  Berührung  desselben  gar  nicht  empfunden,  nur  durch 
den  auf  die  unterliegenden  Nerven  fortgeleiteten  Druck  kann  die  Be- 
rührung wahrgenommen  werden.  Bei  der  geschilderten  hohen  Empfind- 
lichkeit sind  vielleicht  die  in  dem  Grunde  der  Wundfläche  befindlichen 
Nervenenden  in  einer  besonderen  W^eise  degenerirt;  vielleicht  dass  sich 
ganz  en  minature  ähnliche  Verdickungen  an  den  feinsten  Nervenenden 
bilden,  wie  wir  solche  später  an  grösseren  Nervenstämmeu  kennen  lernen 


J^|2  Von   den   einfaclien  Schnittwunden   der  AVeielitlieile. 

werden.  Es  wiire  sehr  daiikenswerth ,  darüber  genaue  Untersucliungen 
anzustellen.  Wir  begegnen  an  Narben  grösserer  Xerven  zuweilen  älm- 
licben  Umständen  und  kommen  darauf  zuriiek.  —  Um  dieser  höchst 
lästigen  Schmerzhaftigkeit,  die  niclit  allein  die  Heilung  stört,  sondern 
auch  die  Patienten  sehr  aufregt,  zu  begegnen,  versuchen  Sie  anfangs 
Verbände  mit  milden  Fetten,  z.  B.  Mandelöl,  Unguent.  cereum  (aus  Oel 
und  weissem  Wachs  bestehend),  oder  mit  einfachen  Kataplasmen  aus  ge- 
kochter Grütze  oder  Leinsamenmehl,  oder  mit  warmen  Wasserumschlägen. 
Die  narkotischen  Ueberschläge  oder  Kataplasmen,  denen  man  etwas 
Belladonnakraut  oder  Folia  Hyoscyami  zusetzt,  nutzen  nichts  Erhebliches. 
Hilft  dies  nichts,  so  zögern  Sie  nicht,  die  ganze  Granulationsfiächen  oder 
wenigstens  die  schmerzhaften  Stellen  mit  Aetzmitteln  (Argent.  nitricum, 
Kali  causticum  oder  Gltiheisen)  unter  Anwendungen  der  Chloroformnar- 
kose zu  zerstören,  oder  selbst  die  ganze  Grauulationsmasse  mit  einem 
scharfen  Löffel  abzukratzen.  Rührt  die  grosse  Schmerzhaftigkeit  und 
Reizbarkeit  von  H3^sterie,  Anämie  u.  dergl.  her,  so  werden  Sie  mit  den 
örtlichen  Mitteln  überhaupt  nicht  viel  ausrichten,  sondern  versuchen 
müssen,  durch  innere  Mittel  wie  Valeriana,  Asa  foetida,  Eisenpräparate, 
China,  laue  Bäder  und  dergleichen  mehr  die  allgemeine  Reiz1)arkeit 
herabzustimmeu. 

3.  Es  kommt  ferner  bei  grossen  Wunden,  besonders  auch  bei  Fistel- 
granulationen vor,  dass  sich  auf  einem  Theil  der  Grauulationstläche  eine 
gelbe  Schwarte  bildet,  die  sich  leicht  abziehen  lässt,  und  sich  bei  ge- 
nauerer Untersuchung  als  aus  Eiterzellen  bestehend  erweist,  welche 
äusserst  fest  aneinander  haften.  Wenn  ich  auch  in  einigen  Fällen  zwi- 
schen den  Zellen  Gerinnungsfasern  fand,  so  ist  dies  doch  nicht  immer 
der  Fall  und  man  muss  daher  annehmen,  dass  der  Zellenleib,  das  Pro- 
toplasma selbst  in  Faserstoff  umgewandelt  ist,  wie  dies  beim  wahren 
Croup  und  besonders  bei  der  Bildung  der  fibrinösen  Membranen  auf 
serösen  Häuten  Statt  hat.  Es  handelt  sich  auch  hier  um  einen  Croup 
der  Granulationen.  Schon  nach  wenigen  Stunden  ist  die  croupöse 
Membran  nach  ihrer  Entfernung  wieder  neugebildet,  und  dies  wiederholt 
sich  mehre  Tage  hindurch,  bis  sie  entweder  von  selbst  verschwindet, 
oder  nach  Anwendung  passender  Mittel  endlich  ausbleibt. 

Sehr  ähnliche  weisse  Stellen  linden  sich  zuweilen  auf  grösseren 
Granulationsfiächen,  die  nicht  durch  Faserstoff- Auf-  oder  Einlagerung, 
sondern  w^ahrscheinlich  durch  localc  Gefässverstopfungen  bedingt  sind. 
Beide  Zustände  können  unter  ungünstigen,  besonderen  Verhältnissen  in 
einen  Zerfall  der  Granulationen  ausgehen,  in  eine  wahre  Diphtherie 
der  Wunde,  wovon  später.  Zum  Glück  kommt  es  jedoch  selten  zu  dieser 
Erkrankung,  sondern  nach  einiger  Zeit  besserst  sich  die  Wunde  wieder 
in  ihrer  Beschaffenheit  und  die  Heilung  nimmt  ihren  gewöhnlichen  Ver- 
lauf. Ist  eine  solche  Erkrankung  der  Granulationsfläche  mit  Schwellung, 
erhöhter  Schmerzhaftigkeit  und  Fieber  verbunden,  so  liegt  eine  wirkliche 


V(.i-I("sii)i--  i).     Ciipilcl   I.  115 

acute  Entziiii(luiig'  der  Wunde  v(»i-;  dabei  i^eriuut  die  sehlciuiigc  Orauu- 
latioussubslauz  nianclnual  durch  und  durch  zu  fil)riHöser  Masse;  die 
AVuudiläche  sieht  g-anz  iixdb  uud  schmierig-  aus.  An\'  die  Ursaclien 
solcher  secuudäreu  Eutziiuduugcu  au  Wunden  komme  ich  später  bei  den 
Quetschwunden  zurück. 

Es  ist  iiielit  in  Abrede  zu  stellen,  dass  die  t;anz  loeal  aurtretende  tiäclieiiliafie  und 
interstitielle  Faserstoffaussclieidung  sehr  für  die  Ansicht  spricht,  die  Virchow  ül)er  diese 
cronpösen  Frocesse  überhaupt  aufgestellt  hat.  Früher  nafnn  man  nämlich  an,  dass  bei 
allen  entzündliclien  croiipüsen  Processen,  wohin  ])esoiiders  aiK'h  die  gewühnliclie  Fornj 
der  acuten  Lungenentzündung  und  Pleuritis  gehört,  das  Bhit  überreich  an  Faserstoff  sid, 
und  sonnt  eine  Faserstoffkrase  im  Blute  existire,  in  Folge  deren  der  überschüssige  Faser- 
stolf,  flüssig  aus  den  Capillaren  austretend,  theils  auf,  tlieils  in  den  entzündeten  Geweben 
gerinne  und  so  zur  Bildung  dieser  pseudomembranösen  Ablagerungen  führe.  Virchow 
stellte  dagegen  die  Ansicht  auf,  dass  durch  den  Entzündungsprocess  die  Gewebe  in  einen 
Zustand  versetzt  werden  können,  in  welchem  sie  die  Fähigkeit  bekommen,  den  sie  durch- 
tränkenden gelösten  Faserstoff  zur  Gerinnung  zu  bringen.  Ich  kann  hier  nicht  weiter 
darauf  eingehen ,  durch  welche  vielfachen  Gründe  Virchow  diese  Ansicht  unterstützte, 
sondern  will  eben  nur  dai'auf  aufmerksam  machen,  dass  es  in  dem  vorliegenden  Falle  von 
Faserstoffabscheidung  der  Granulationsflächen  sieh  jedenfalls  nicht  um  eine  rasch  kommende 
und  vergehende  Faserstoffkrase  des  Blutes  handelt,  sondern  offenbar  um  einen  localen 
Process,  der  sich  auch  dur<'h  rein  locale  Mittel  leicht  beseitigen  lässt.  Nach  den  schon 
erwähnten  (pag.  73)  Beobachtungen  von  A.  Schmidt  darf  man  annehmen,  dass  bei  ge- 
wissen qualitativen  und  c|uantitativen  Reizungen  der  Gewebe  mehr  fibrinogene  Substanz 
in  ihnen  gebildet  wird  als  •sonst.  Virchow  hat  schon  früher  darauf  aufmerksam 
gemacht,  dass  man  durch  wiederholten  Reiz  die  einfache  seröse  Exsudation  zu  einer 
fibrinösen,  croupösen  steigern  kann.  Legt  man  ein  Spanisch-Fliegenpflaster  auf  die  Haut, 
so  entsteht  eine  Blase  mit  serösem  Lihalt,  indem  das  Hornblatt  der  Epidermis  von  dem 
Schleimblatt  durch  ein  von  unten  her  aus  der  Haut  rasch  hervortretendes  seröses  Exsudat 
abgehoben  wird;  entfernt  man  die  Blase  und  legt  nun  das  Pflaster  wieder  auf,  so  wird 
man  in  vielen  Fällen  nach  einigen  Stunden  die  Fläche  mit  einer  fibrinösen  Lage  bedeckt 
finden,  die  xrnzählige  neugebildete  Zellen  eingeschlossen  enthält,  ja  der  Hauptsache  nacli 
aus  ihnen  besteht.  Ein  gleiches  Resultat  kann  man  erzielen ,  wenn  man  das  Pflaster  auf 
schon  entzündete  Haut  oder  auf  eine  junge  Narbe  legt. 

Die  Behandlung-  der  croupösen  Entzündung-  der  Granulationen  ist 
eine  rein  örtliche;  man  wird  sorgfältig  nach  den  etwaigen  Ursachen  der 
neuen  Reizung  forschen  und  diese  zu  entfernen  suchen.  Ziehen  Sie 
täglich  die  Faserstoffschwavten  ab  und  ätzen  die  freigelegten  Flächen 
etwa  mit  Argeut.  nitricum,  oder  bestreichen  sie  mit  Jodtinctur,  so  wer- 
den Sie  diesen  abnormen  Zustand  der  Granulationsfläche  bald  verschwin- 
den sehen. 

4.  Ausser  den  genannten  Erkrankungen  der  Granulationen  kommt 
endlich  noch  ein  Zustand  der  vollständig-en  Erschlaffung  und  des  Collaps 
au  ihnen  vor,  wobei  sie  eine  ebene,  rothe,  glatte,  spieg-elnde  Wund- 
fläche darbieten,  an  der  das  höckerig-e,  kornig-e  Aussehen  durchaus  ver- 
schwunden ist,  und  anstatt  des  Eiters  ein  dünnes,  wässeriges  Serum  ab- 
gesondert wird.  Dieser  Zustand  tritt  fast  immer  an  den  Granulationen 
sub  finem  vitae  ein;  Sie  finden  ihn,  wie  schon  früher  bemerkt,  constaut 
an  der  Leiche. 


Billrotli  clür.  Path.  u.  Ther.    7.  Aufl. 


J^j^4  Von   den  einfaflien   Sclinittwnndpn   der  Weiclitheile. 

Es  ist  nütliig-  noch  einiges  über  die  Karben  nachzutrag-en,  über 
gewisse  nachträgliche  Veränderungen  an  ihnen,  ihre  Wucherung,  ihre 
Gestaltung  in  den  verschiedenen  Geweben. 

Die  linearen  Narben  von  Wunden,  die  prima  intentione  geheilt  sind, 
erleiden  selten  irgend  welche  spätere  Degeneration.  Breite  grosse  Nar- 
ben, zumal  wenn  sie  hart  auf  dem  Knochen  aufliegen,  werden  sehr 
häufig  wieder  wund,  weil  durch  Bewegungen,  durch  den  geringsten  Stoss 
oder  Reibung  die  anfangs  noch  zarte  Epidermis  abgerissen  wird,  und 
eine  oberflächliche  Schrunde,  eine  Excoriation  auf  der  Narbe  entsteht; 
zuweilen  ist  der  Vorgang  auch  so,  dass  die  junge  Epidermis  als  Blase 
emporgehoben  wird,  indem  eine  Exsudation  aus  den  Narbengefässen, 
auch  wohl  mit  einer  kleinen  Blutung  verbunden,  auftritt,  so  dass  die 
Blase  mit  blutigem  Serum  gefüllt  ist.  Nach  Entfernung  der  Blase  haben 
Sie  dann  eine  Excoriation,  wie  nach  einfachem  Abreiben  der  Epidermis. 
Derartiges  Wundsein  der  Narbe  kann,  wenn  es  sich  oft  wiederholt,  sehr 
lästig  für  die  Krauken  werden.  Sie  beugen  diesem  Üebelstande  am  leich- 
testen dadurch  vor,  dass  Sie  die  Kranken  veranlassen,  die  junge  Narbe 
noch  eine  Zeit  lang  durch  Watte  oder  eine  Binde  zu  schützen.  Sind 
Excoriationen  eingetreten,  so  legen  Sie  nur  ganz  milde  Verbandmittel, 
Oel,  Glycerin,  Gerat,  Zinksalbe  u.  dergl.,  oder  Emplastrum  Cerussae  auf. 
Reizende  Salben  vergrösseru  in  diesen  Fällen  die  wunden  Stellen  und 
sind  daher  zu  vermeiden. 

Ist  die  Granulationsfläche  einmal  vollständig  mit  Epidermis  über- 
zogen, so  geht  in  der  Narbe,  wie  wir  oben  besprochen  haben,  der  Rück- 
bildungsprocess  zu  solidem  Bindegewebe  vor  sich,  wobei  die  Narbe 
schrumpft.  In  seltenen  Fällen  kommt  es  aber  vor,  dass  die  Narbe 
selbstständig  wächst  und  sich  zu  einer  festen  Bindegewebsgeschwulst 
entwickelt.  Dies  begegnet  fast  nur  bei  kleinen  Wunden,  die  lange  ge- 
eitert haben  und  sich  mit  schwammigen  Granulationen  bedeckten,  über 
w^elche  die  Epidermis  sich  ausnahmsweise  schloss.  Sie  wissen,  dass  es 
Sitte  ist,  die  Ohrläppchen  der  kleinen  Mädchen  früh  zu  durchstechen,  um 
später  Ohrgehänge  darin  anzubringen.  Diese  kleine  Operation  wird  mit 
einer  starken  Nadel  von  den  Müttern  oder  von  den  Goldarbeiteru  aus- 
geführt, und  dann  in  die  frische  Stichöffnung  sofort  ein  kleiner  Ohrring 
eingelegt.  In  der  Regel  benarbt  die  kleine  Stichüffnung  bald,  der  ein- 
liegende Ring  hindert  den  Schluss  der  Oeffmmg.  In  anderen  Füllen 
tritt  jedoch  eine  starke  Entzündung  und  Eiterung  ein;  der  Ring  kann 
dabei  sogar  das  Ohrläppchen  nach  unten  bei  fortdauernder  Vereiterung 
des  Gewebes  durchschneiden;  es  bilden  sich  nun  an  der  Einstichs-  und 
Ausstichsöffnung  wuchernde  Granulationen;  cudlich  wird  die  Prozedur 
aufgegeben,  der  Ring  wird  entfernt;  oft  genug  heilt  die  Oeffnung  dann 
rasch  zu,  in  andern  Fällen  benarben  die  Granulationen,  die  Narlie  Avächst 
weiter,  und  es  bilden  sich  an  beiden  Flächen  des  Ohrläppchens  kleine 
Bindegewebsgeschwülste ,    kleine  Fibrome  (Keloidc  von  xijllg  Blutfleck, 


Vorlcsinitr   9.      Ciipilcl    I. 


15 


Braiuliiial  uiul  slöog  äJmlicli),  die  wie  ein  diircli  das  Olirlocli  gczo^^eiier 
dicker  llemdknopf  sicli  ausnelimeii  und  ein  selbststündig'cs  Waclisthuin 
haben,  wie  ein  Tumor.  Untersuclien  Sie  diese  Gescliwülste,  so  finden  Sie 
dieselben  auf  dem  Durcliscbnitt  rein  weiss,  von  seimigem  Aussehen, 
wie  die  Narbe  selbst,  ilir  Gewebe  aus  Bindeg'ewebe  mit  vielen  Zellen 
bestehend;  es  ist  eben  weiter  nichts  als  eine  Wucherung-,  eine 
Hj^pertrophie  der  Narbe.  Am  Ohr  habe  ich  diese  Vorgänge  zweimal 
beobachtet,  einen  andern  Fall  erzählt  Üieffenbach  in  seiner  oi)crativen 
Chirurgie.  Aehnliche  Geschwülste  sali  ich  auch  einmal  am  Nacken,  wo 
sie  sieb  an  der  Einstichs-  und  Ausstichsoffnung  eines  Haarseils  gebildet, 
und  die  Grösse  von  je  einer  Kastanie  erreicht  hatten;  Sie  müssen  vor- 
sichtig mit  dem  Messer  abgetragen  und  die  etwa  nach  wuchernden  Gra- 
nulationen durch  Betupfen  mit  Argent.  nitricum  gehörig  in  Schranken 
gehalten  werden. 

Wir  haben  uns  in  dem  Vorigen  bei  der  Schilderung  der  Granula- 
tions- und  Narbenbildung  der  Einfachheit  wegen  nur  auf  die  Vorgänge 
im  Bindegewebe  bezogen,  müssen  jedoch  jetzt  nachtragen,  wie  sicli  die 
Verhältnisse  in  andern  Geweben  bei  der  Vernarbung  gestalten. 

Die  Narbe  im  Muskel  ist  zunächst  fast  nur  Bindegewebe;  in  den 
Enden  der  Muskelprimitivfasern  findet  anfangs  ein  Zerfall  Statt  dann  an 
einer  gewissen  Grenze  eine  Anhäufung  von  Kernen;  es  kommt  darauf 
zu  einer  Abruudung  der  Fasern,  zuweilen  von  kolbiger,  häufiger  von 
mehr  konisch  zugespitzer  Form  und  die  Mukelfaserstümpfe  treten  mit 
dem  Bindegew-ebe  der  Narbe  in  Verbindung,  in  ähnlicher  Weise  wie  mit 
den  Sehnen :  die  Muskelnarbe  wird  zu  einer  Inscriptio  tendinea. 


«T/ 


Narbe    aus  der  Oberlippe  eines  Hundes;    Bindegewebe    der  Narbe  bei  a;    die 
schnittenen  Muskelfasern  sind   eine  kurze  Strecke  weit  atrophirt  und  endigen 

gespitzt.     VergrcJsserung  300. 

8* 


hier  durch- 
krmiseh  zu- 


116 


Von    den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


Ich  selbst  habe  nur  Mnskelwunden  studirt,  welclie  per  primam  gelieilf  waren,  und 
habe  dabei  nie  etwas  gesehen ,  was  ich  als  Neubildung  von  Muskelgewebe  hätte  deuten 
können.  O.  Weber  hat  an  eiternden  Muskelenden  einen  geringen  Grad  von  Muskei- 
neubildung  beobachtet;  dieselbe  seheint  vorwiegend  bei  Granulationsbildung  am  Muskel 
und  in  gewissen  Geschwülsten  vorzukommen. 


Fig.  23. 


Enden  zerschnittener  Muskelbündel  aus  dem  M.  biceps  eines  Kaninchens,  8  Tage  nach 
der  Verletzung,  ahe.  Alte  Muskelbündel:  a  die  contractile  Substanz  aufgerollt  und 
zusammengeballt;  ebenso  an  dem  Bündel  oberhalb  d\  b  ein  gleiches  mit  spitz  ausgezogenem 
Sarkolemma;  c  in  den  spitz  dütenförmig  ausgezogenen  Sarkolemmaschlauch  hinein  erstreckt 
sich  eine  Reihe  junger  Muskelkörper,  zwischen  denen  sehr  zarte  quergestreifte  Sub- 
stanz liegt;  d  Bindegewebsgrannlation;  e  desgleichen  mit  jungen,  freiliegenden  Muskelzellen 
/  zwei  junge  bandförmige  Muskelfasern;  g  ähnliche  von  verschiedener  Grösse  isolirt.  — 
Vergrösserung  450;    nach  O.  Weber. 


Weber  ist"' der  Ansicht,  dass  die  jungen  Muskelfasern  typisch  durch  Zerspaltnng 
der  protoplasmatischen  Substanz  aus  den  alten  Muskelfaserstümpfen  entstehen,  hält  es 
jedoch  für  unmöglich,  bei  diesen  Vorgängen  den  Beweis  zu  liefern,  dass  gar  keine 
Muskelzellen  aus  andern  jungen  Zellen  hervorgehen.  Auch  hält  er  nach  seinen  Unter- 
suchungen von  älteren  Muskelnarben  dafür,  dass  die  Regeneration  im  Lauf  der  Zeit 
immer  noch  fortschreitet  und  überhaupt  in  den  meisten  Fällen  viel  vullkommener  ist,  als 
man  gewöhnlich  annimmt.  Afaslowsky  hat  die  Metamorphose  tler  Wanderzellen  zu 
Muskelzellen  behauptet;  icli  lialte  jedocb  die  von  ihm  angewandte  Zinobermethode  nicht 
für  ausreichend,  um  diese  Behauptung  zu  beweisen. 

Gnssenbauer  hat  bestätigt,  dass  meist  ein  schollenartiger  Zerfall  der  contractilen 
Substanz  der  Muskelfasern  nach  der  Verletzung  erfolgt,  und  dass  sich  dann  wahrscheinlich 
ausschliesslich  aus  den  in  den  Muskelfasern  enthaltenen  Zellen,  aus  der  alten  Faser  heraus 
neu  junge  Muskelfasern  nach  deniT^pus  der  embryonalen  Entwicklung  bilden;  die  Menge 
der  Neubildung  hängt  wohl  von  Qualität  und  Dauer  der  Rei«ung  ab. 


Vorlcsmij^  I).     Capilol  T. 
Fi-.  24. 


117 


Eegenerationsvorgänge   quergestreifter  Muskelfasern    iiaeh   Verletzungen. 
etwa  500;    nach  Gussenbauer. 


Vergrösseruug 


Ist  ein  Nerv  einfach  durehschnitten ,  ao  weichen  seine  Enden  ver- 
möge ihrer  Elasticität  etwas  aus  einander,  seh  wellen  leicht  an  und 
treten  dann  später  durch  Entwicklung-  einer  Neubildung  von  wirklicher 
Nervensubstanz  wieder  mit  einander  in  Verbindung,  so  dass  die  Nerven 
durch  die  Narbe  hindurch  wieder  leistungsfähig  werden.  Bei  grossen 
Flächennarben  entwickeln  sicli  in  die  Narbe  hinein  neue  Nerven,  ja, 
wenn  Sie  Hautstücke  excidirt  haben  und  durch  Verschiebung  entfernt 
liegende  Stücke  zusammenbringen  und  zusammenheilen,  so  wachsen 
neue  Nerven  durch  die  Narben  hindurch ,  und  es  tritt  mit  der  Zeit  ein 
vollständig  richtiges  Leitungsvermögen  wieder  ein,  wie  man  dies  bei 
plastischen  Operationen  oft  zu  beobachten  Gelegenheit  hat.  —  Diese 
Thatsachen  sind  höchst  merkwürdig  und  physiologisch  noch  durchaus 
räthselhaft.  Bedenken  Sie,  wie  wunderbar,  dass  die  betreffenden  Nerven- 
fasern, also  sensible  und  motorische,  sich  bei  der  neuen  Verwachsung 
wieder  treffen  sollen,  ja  dass  sich,  wie  Avir  vermuthen  müssen,  die 
Stümpfe  der  Primitivfasern  so  wieder  vereinigen  sollen,  wie  sie  vereinigt 
waren,  damit  die  richtige  Leitung  und  Localisirung  wieder  eintritt,  wie 
es  in  der  That  der  Fall  ist! 

Wir  können  nns  hiermit  diesen  Gegenständen  nicht  eingehender  befassen;    ich  -will 

*nur    erwähnen,    dass  der   feinere    Vorgang,    der    von    Schiff,    Hjelt   u.    A.    sehr   genau 

verfolgt  ist,    sich    im  Allgemeinen  so  gestaltet,    dass   zunächst  in  den  Nervenstiimpfeu  ein 


118 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weiehtheile. 


Zerfall  der  Markscheide,  vielleicht  auch  des  Achsencylinders  bis  auf  eine  gewisse  Distanz 
hin  eintritt,  dass  zugleich  im  Neurilem  eine  Zellenanhäufung  erfolgt,  welche  zur  Entwick- 
lung von  spindelförmigen  Zellen  in  der  zwischen  den  Nervenenden  liegenden,  und  in  die 
Nervenstümpfe  hinein  sich  erstreckenden  Substanz  entstehen.  Von  diesen  Zellen  aus  sollen 
sich  wie  im  Embryo  neue  Nervenfibrillen  hinüber  und  herüber  entwickeln:  diese  anfangs 
sehr  blassen  Fasern  bekommen  in  der  Folge  auch  eine  Markscheide,  und  sind  dann  nicht 
mehr  von  den  gewöhnlichen  Nervenfasern  zu  unterscheideir. 


Fig.  25. 


Fig.  26. 


m  Mi-M'tiit 


Eegeneration  der  Nerven.  Fig.  25  vom  Kaninchen,  15- Tage  nach  der  Durchschneidung: 
junge  Spindelzellen  im  Nervenende,  aus  dem  Bindegewebe  entwickelt  und  innig  mit  dem 
Neurilem  zusammenhängend.  Fig.  26  vom  Frosch,  10  Wochen  nach  der  Durchschneidung : 
Entwicklung  junger  Nervenzellen  aus  den  Spindelzellen.  — Vergrösserung  300,  nach  Hjelt. 


Die  neuesten  Untersuchungen  über  die  eventuelle  Bedeutung  der  Wanderzellen  für  die 
Gewebsneubildung,  so  wie  eigene  Stixdien  über  Nervenbildung  in  den  nach  Verletzung  regene- 
rirten  Stücken  von  Froschlarvenschwänzen  haben  mir  die  frühere  Auffassung,  wonach  sich 
die  jungen,  regenerirten  Nervenfäden  aus  Spindelzellen  zusammensetzen,  sehr  zweifelhaft 
gemacht.  Es  ist  mir  viel  wahrscheinlicher  geworden,  dass  die  durchschnittenen  Achsen- 
cylinder  in  junge  Nervenfasern  auswachsen  und  dass  die  in  dem  Nervencallus  in  gewissen 
Stadien  unzweifelhaft  vorhandenen  langgestreckten  Spindelzellen  entweder  dem  Bindegewebe 
des  Neurilems  angehören  oder  dass  es  abgebrochene  kernhaltige  Stücke  junger  Nerven- 
fäden sind.  Diese  Anschauung,  deren  Eichtigkeit  durch  neue  Beobachtungen  zu  prüfen 
ich  nicht  Zeit  gewann,  scheint  der  Wahrheit  sehr  nahe  gekommen  zu  sein. 

Die  neuesten  Untersuchungen  von  Neumann  und  Eich  borst  bestätigen  in  Betreff 
der  unmittelbaren  Folgen  der  Durchschneidung  die  früheren  Beobachnmgen,  zeigen  aber, 
dass  die  jungen  Nervenfasern  in  der  ^That  aus  den  Achsencylinderu  sowohl  des  centralen 
als  peripheren  Stumpfes  direct  hervorwachsen,  sich  begegnen  und  in  einander  übergehen, 
wie  die  Sprosse  einer  Capillarwand  sich  in  die  Wandujig  eines  andern  Gefässes  einsenken 
und  so  zum  Verbindungscanal  zwischen  zwei  Gefässen  werden  kann  (Arnold).  Der 
Vorgang  an  den  verletzten  Nerven  stimmt  hiernach  auch  aufs  Schönste  mit  den  Vorgäugen 
am  verletzten  Muskel  überein.  Sowohl  an  den  Muskelfaserenden  wie  an  den  Nervenenden 
kommt  es  ^  auch  vor,  dass  mehre  junge  Fasern  aus  einer  Primitivfaser  aussprossen. 
(Fig.  27  a,  vergleiche  dazu  Fig.  24.) 


Vurlesiiiiff  0.     Capitol  r. 

Fig.  27. 


HO 


Kaiiinchennerv:  a  17  Tage,  b  50  Tage,  c  Frosehnerv  30  Tage  nach  der  Durchschneidung. 
Vergrösserung  etwa  600.     Nach  E  i  c  h  h  o  r  s  t. 


Somit  wäre  es  uun  für  Muskeln,  Gefässe,  Nerven  und  Epithelien 
(pag.  86)  festgestellt,  dass  sie  sich  weder  aus  heerdweise  proliferirenden 
Bindegewebszellen,  noch  aus  Wanderzellen  regeneriren,  sondern  durch 
Sprossenbildung  aus  ihrem  Gewebe,  respective  aus  Zellen,  welche  aus  dem 
Protoplasma  ihres  Gewebes  hervorgegangen  sind.  Es  liegt  der  Gedanke  nahe, 
dass  auch  Bindegewebszellen,  zumal  solche,  welche  noch  Protoplasma  in  sich  haben,  in 
ähnlicher  Weise  Sprossen  an  die  verletzte  Obei'fläche  senden,  in  welchen  sich  etwa  nach- 
träglich ein  Kern  bilden  könnte,  wie  sieh  in  den  wachsenden  Nerven  des  Froschlarven- 
schwanzes ja  auch  erst  nachträglich  die  Kerne  in  den  Sprossen  bilden;  es  sollten  hierauf 
die  Untersuchungen  aufs  Neue  gerichtet  werden.  Bis  dahin  ist  es  immerhin  gestattet,  auch 
die  WanderzeUen  als  die  Bildner  des  jungen  regenerirten  Bindegewebes  zu  betrachten.  — 
Wir  sind  seit  der  Schw-ann'schen  Lehre  von  dem  Aufbau  der  Gewebe  aus  Zellen  a  priori 
so  überzeugt  davon,  dass  jedes  neu  entstehende  Gewebe  immer  nur  wieder  ans  jungen 
Zellen  hervorgeht,  dass  die  Vorstellung  eines  selbstständigen  AVachsens  eines  fertigen  Ge- 
websstücks  ohne  Yei-mittlung  von  Zellen  wenig  Glauben  findet;  auch  die  Zellenvermehrung 
durch  Sprossenbildung  mit  nachti'äglicher  Entwicklung  eines  Kerns  in  der  Sprosse  ist  ein 
Vorgang,  welchen  die  Histologen  lange  ganz  in  den  Hintergrund  gedrängt  haben,  und  an 
seine  Stelle  fast  überall  die  Zeilentheilung  substituirten ,  während  die  Botaniker  diesem 
Modus  der  Gewebsbildung  nach  ihren  Beobachtungen  eine  äusserst  hervorragende  EoUe 
bei  der  Entwicklung  pflanzlicher  Gewebe  zuweisen.  Man  sieht  aus  den  neuesten,  fiüiher 
mitgetheilten  Beobachtungen,  dass  die  Capülarwand,  der  Achseneylinder  der  Nerven,  der 
Inhalt  der  Muskelfaser  die  Fähigkeit  dieses  Auswachsens  ohne  directe  Betheiligung  von 
neuen  Zellen  in  der  That  besitzen.  Rokitansky  hat  früher  auch  dem  Bindegewebe  die 
Fähigkeit  selbstständigen  Auswachsens  zugesprochen;  bei  der  erfreulichen,  immer  noch 
fortdauernden  Forschung  auf  diesem  Gebiet  wird  es  wohl  nicht  mehr  lange  dauern,  bis 
wir  auch  über  diesen  Punkt  die  nöthige  Sicherheit  der  Anschauung  gewinnen. 

Die  Eeg'eneration  der  Nerven  erfolg't  beim  Meusclien  nur  innerhalb 
gewisser  Grenzen,  die  sich  freilich  nicht  auf  genaue  Maasse  fixiren 
lassen.  Die  vollständige  Regeneration  grosser  Xervenstämme,  ■wie  des 
N.  ischiadieus,  des  N.  medianus  kommt  nicht  zu  Stande,  ferner  bleibt 
sie  aus  bei  Excision  von  grösseren  Nervenstücken,  v/enn  die  Xervenstümpfe 


120 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


etwa  3 — 4'"  weit  von  einander  getrennt  bleiben.  Eine  mögliclist  genaue 
Apposition  der  Nervenenden  ist  also  zur  Vereinigung  durchaus  uothwen- 
dig,  indem  offenbar  die  Umbildung  des  neugebildeten  Zwischengewebes 
zu  Nervensubstanz  nur  unter  Vermittlung  der  Nervenstiimpfe  selbst  Statt 
findet,  wenn  auch  über  den  Modus  dieses  Vorganges  nocli  Meinungsdiffe- 
renzen Statt  finden.  Wir  werden  ähnliche  Verhältnisse  bei  der  Heilung  der 
Knochenbrtiche  wiederfinden,  wo  auch  eine  knöcherne  Vereinigung  nur 
bei  genügender  Coaptation  der  Fragmente  erfolgt.  Wie  steht  es  nun  in 
dieser  Beziehung  mit  dem  Hirn-  und  Eückenmarksgew^ebe?  Hier  tritt 
beim  Menschen  keine  Eegeneration  nach  Verwundung  oder  nach  Sub- 
stanzverlust durch  spontan  entstandene  Entzündungen  ein,  oder  wenigstens 
nicht  so,  dass  sich  das  Leitungsvermögen  wiederherstellte.  Bei  Thieren 
freilich,  wie  Brown -Sequard  an  Tauben  gezeigt  hat,  kann  nach  Durcli- 
schneidung  des  Eückenmarks  eine  Eegeneration  mit  Ausgleichung  der 
Lähmung  erfolgen,  die  natürlich  in  allen  Theilen  eingetreten  war,  welche 

unterhalb  der  durchschnitte- 
nen Stelle  des  Eückenmarks 
lagen.  Leider  nimmt  dies 
Eegeucrationsvermögen  der 
Nerven  mit  der  immer  luihe- 
ren  Entwicklung  der  Wirbel- 
thiere  gradatira  ab  und  ist 
beim  ^Menschen  am  gering- 
sten. Bei  jungen  Salaman- 
dern wachsen  bekanntlich 
ganze  Extremitäten  wieder 
nach ,  wenn  sie  amputirt 
waren.  Es  ist  Schade,  dass 
dies  beim  Menschen  nicht  so 
ist!  Lidess  scheint  die  Natur, 
Avas  die  Nerven  betrifft,  zu- 
weilen einen  freilich  frucht- 
losen Versucli  der  Eegene- 
ration zumachen.  Es  kommt 


Kolbige    Nervenendigungen     an    einem    älteren 
tationsstumpf  des  Oberarms 


Ampu- 

Nach  einem   Präparat   in  näm'lich     ziemlich     oft    VOr, 

dem    anatomischen    Museum    zw    Bonn.      Copie     nach 
Froriep.    Chirurgische  Kupfertafeln.    Bd.  I.     Taf.  113. 


dass  die  Nervenenden  in  den 
Amputationsstümpfen,  an- 
statt einfach  zu  benarben,  sich  zu  kolbigen  Knoten  entwickeln.  Diese 
Kolben  an  den  Nerven  (Amputations-Neurome)  bestehen  aus  in  einander 
gewirrten  Nervenprimitivfasern,  die  sich  von  dem  Nervenstumpf  aus, 
als  wenn  sie  einem  gegenüber  liegenden  Nervenende  entgegenwachsen 
wollten,  entwickeln.  Auch  die  Nervennarben  in  der  Coutinuität  bleiben 
manchmal  knotig ,  indem  sich  übej'schüssige  knäuelartig  unter  einander 
gewundene  Primitivfasern  darin  bilden.    Solche  kleinen  Nervengeschwülste 


Vorlosiiiif;  n.     fapitcl   F.  J21 

(wahre  Neiiromc)  sind  zuweilen  enorm  schmcrzliaft,  und  mlisscn  mit  dem 
Messer  entfernt  werden.  Es  gicbt  jedoch  auch  traumatisch  entstandene 
Neurome,  welche  durcliaus  nicht  schmcrzljaft  siiul,  wie  icii  an  alten 
Amputationssttimpfen  gesehen  habe.  —  Im  Allgemeinen  sind  diese  Wuche- 
rungen der  Nervennarben  mit  den  ei'wähnton  Hypertrophien  der  Binde- 
gewebsnarben  und  mit  wuchernden  Knochcnmasscn  zu  parallelisircn,  die, 
allerdings  sehr  selten,  in  zu  grossem  Ueberschuss  bei  der  Heilung  zer- 
brochener Knochen  gebildet  werden. 

Der  Heilungsprocess  nach  Verletzungen  grösserer  Ge fasse, 
besonders  d  e  r  A  r  t e  r  i  e  n  s  t  ä  m  m  e ,  ist  sorgfältig  durch  das  Experiment 
erforscht.  —  Wird  eine  grössere  Arterie  unterbunden,  sei  es  bei  einer 
Amputation,  sei  es  wegen  Blutung  oder  Arterienkrankheiten  in  der  Con- 
tinuität,  so  zerspringt  beim  festen  Zubinden  die  Tuntca  intiraa,  und  die 
Tunica  muscularis  und  adventitia  werden  zusammengeschnürt,  so  dass 
sich  ihre  Innenflächen  gefaltet  genau  zusammenlegen.  Von  dem  häu- 
figen, wenn  auch  keineswegs  nothwendigen  Zerspringen  der  Tunica  in- 
tima  können  Sic  sich  nicht  allein  beim  Act  des  Unterbindens  grösserer 
Gefässstämnie  überzeugen,  indem  Sie  nicht  selten  ein  leises  Knirschen 
oder  Knistern  beim  Zuschnüren  unter  dem  Finger  verspüren  werden, 
sondern  an  der  Leiche  auch  durch  das  Aufschneiden  einer  unterbundenen 
Arterie  nach  Lösung  der  Ligatur. 

Man  nimmt  gewöhnlich  an,  dass  sich  von  der  unterbundenen  Stelle 
an  bis  zu  dem  nächsten  von  dem  Arterienstamm  abgehenden  Ast,  sowohl 
am  centralen  als  peripherischen  Ende,  das  Arterienlumen  mit  geronnenem 
Blute,  dem  s.  g  Thrombus  (von  o  d-QÖf-ißog,  der  Blutklumpeu)  füllt. 
Die  umgelegte  Ligatur  ertödtet  das  gefasste  Gewebe;  dasselbe  erweicht 
nach  und  nach  und  Avenn  dieser  Process  vollendet  ist,  fällt  die  Ligatur 
ab,  wie  wir  uns  technisch  ausdrücken;  „die  Ligatur  hat  durchgeschnitten'', 
„ist  gelöst".  Wenn  dies  erfolgt  ist,  muss  bereits  das  Arterienlumen 
dauernd  und  sicher  geschlossen  sein,  denn  sonst  würde  ja  sofort  wieder 
eine  Blutung  auftreten.  Unter  ungünstigen  Umständen  kann  es  sich 
allerdings  sowohl  bei  kleineren,  als  mittleren  und  grossen  Arterien 
ereignen,  dass  die  Ligatur  zu  früh  durchschneidet,  und  dann  lebensge- 
fährliche, plötzliche  Nachblutungen  entstehen;  man  kann  dies  voraus- 
sehen, wenn  die  Arterienwand  krank  war;  ganz  stark  verkalkte  Arterien 
lassen  sich  oft  gar  nicht  unterbinden,  weil  die  Ligatur  entweder  das 
Lumen  gar  nicht  zusammendrückt  oder  sofort  durchschneidet;  doch  giebt 
es  auch  derartige  Erweichungszustände  der  Arterien  (z.  B.,  wenn  die- 
selben eine  längere  Strecke  weit  in  der  Wand  einer  grossen  Eiterhöhle 
gelegen  haben)  dass  schon  beim  Zubinden  des  Fadens  das  Gefäss  durch- 
schnitten und  deshalb  die  Unterbindung  weiter  entfernt  von  der  blutenden 
Oeffnung  gemacht  werden  muss.  —  Leider  erfolgen  aber  auch  bei  ganz 
gesunden  Menschen,  wie  ich  mich  im  letzten  Kriege  zu  überzeugen  Ge- 
legenheit hatte,    nur  allzuoft  Blutungen  aus  den  Ligaturstellen   grosser 


122  "^on  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Arterienstämme,  weil  auch  die  nach  allen  Eegeln  der  Kunst  angelegten 
Ligaturen  die  meclianische  Trennung  der  Arterien  zuweilen  früher  herbei- 
führen, als  der  organische  Verschluss  solide  genug  zu  Stande  gekommen  ist, 
um  der  andrängenden  Blutwelle  erfolgreichen  Widerstand  zu  leisten,  was 
den  Werth  solcher  Operationen,  die  oft  momentan  lebensrettend  sind,  be- 
dauerlicher Weise  verringert. 

Ziehen    wir    nun    in    Betracht,    was    in    dem    Gefässende    von    der 

Blugerinnung     an     bis     zum     soliden    Verschluss     vorgeht,     so     haben 

Experimente    an    Thieren    und    zufällige    Beobachtungen    am    Menschen 

Folgendes  ergeben.     Das  anfangs  locker  im  Gefäss  liegende  Blutgerinnsel 

haftet   allmählig  immer   fester  und  fester  au   der  Gefässwand  und  wird 

immer  derber,    bleibt  aber  noch  lange  roth;    erst   nach   Wochen    oder 

-^.     .,,  Monaten  entfärbt  es  sich,  und  zwar  zuerst  im  Centrum, 

so  dass  der  Best  nur  noch  eine  leicht  gelbliche  Färbung 

hat.     Nach  dem  Abfallen  der  Ligatur  ist  der  Thrombus 

so  derb  und  haftet  so  fest  an  der  Gefässwandung,  dass 

das  Lumen  dadurch  vollkommen  verschlossen  ist.     Dies 

Präparat  (Fig.  29)   zeigt  Ihnen  die  Thrombusbildung  in 

einer  Arterie  nach  Unterbindung  in  der  Contiuuität;  der 

untere  Thrombus  reicht  bis  zum   Abgang    des  nächsten 

Astes,    der  obere  nicht  so  weit;    ersteres  soll  die  Regel 

sein,    wie  in  den  meisten  Büchern  steht,    letzteres  die 

Ausnahme,    die  nach  meinen  Erfahrungen    über  Unter- - 

bindung    grosser  Arterien    doch    recht   häufig    ist.     Die 

Verpfropfuug    des   Gefässes    durch    ein    fest   werdendes 

Blutgerinnsel  ist  jedoch  nur  ein  provisorischer  Zustand, 

insofern  der  Thrombus  nicht  für  die  ganze  Folgezeit  so 

In   der  Continuität  bleibt,   sondcm  wie  Narbeugewebe  schrumpft  und  atro- 

unterbundene    Ar-  phirt;  dies  crfolgt  im  Verlauf  von  Monaten  und  Jahren, 

terie.     Thrombus;  j^  welcher  Zeit  der  Verschluss  der  Arterie  an  der  durcli- 

nach  F  r  o  r i  e  p.     gc]inittenen  stelle  d  u  r  c  h  V  e  r  w  a  c  h  s  u  n  g  d  e  s  L  u  m  e  n  s 

ein  s  0 1  i  d  e  r  g  e  w  0  r  d  e  n  i  s  t.     Untersuchen  Sie  eine  solche  Arterie  einige 

Monate  nach  der  Unterbindung,  so  finden  Sie  nichts  mehr  vom  Thrombus, 

sondern  die  Arterie  endigt  konisch  zugespitzt  im  Bindegewebe  der  Xarbe. 

Die  geschilderten  Verhältnisse,  welcha  wir  mit  freiem  Auge  verfolgen  können,  zeigen, 
dass  in  demUlntgerinnsel  eine  Veränderung  eintritt,  welche  wesentlich  in  dem  Festerworden 
und  in  der  zunehmenden  Cohärenz  an  der  Gefässwand  besteht:  worauf  diese  Umwand- 
lungen des  Blutgerinnsels  beruhen,  wollen  wir  jetzt  mit  dem  Mikroskop  studiren. 
Untersuchen  Sie  das  frische  Blutgerinnsel,  so  finden  Sie  es  aus  rothen  Blutkörperchen, 
wenigen  farblosen  Blutzellen,  und  aus  feinen,  unregelmässig  netzartig  geordneten  Fäserchen, 
dem  geronnenen  Faserstoff,  bestehend.  Nehmen  Sie  einen  Thrombus  zwei  Tage  nach  der 
Unterbindung  aus  einer  kleinen  oder  mittleren  Arterie ,  so  ist  er  schon  starrer  als  früher 
und  lässt  sich  schwerer  zerfasern;  die  rothen  Blutzellen  sind  wenig  verändert,  die  weissen 
sind  sehr  vermehrt;  sie  zeigen  theils  zwei  und  drei  Kerne,  wie  sonst,  thcils  einzelne 
blasse,  ovale  Kerne  mit  Kernkörperchen;    einige  dieser  Zellen  sind  fast  doppelt  so  gross, 


Vorlesung;  '^.     Cnpitol  I. 


123 


als  die  weissen  Bliitzelleii.  Die  feinen  Fasern  des  Faserstoffs  sind  zu  einer  schwierig 
spaltbaren,  ziemlich  h(ini(ip;eiien  Masse  verbunden.  —  Untersuchen  Sie  ferner  einen  fj  Tage 
alten  Thrombus,  so  sind  die  rothen  Bhitzellcn  fast  verschwunden;  der  Faserstoff  ist  fast 
noch  starrer  und  homogener,  noch  schwerer  als  früher  zu  zerkliiften;  eine  grosse  M<mge 
von  spindelförmigen  Zellen  mit  ovalen  Kernen  wird  sichtbar.  —  Aus  dem  Mitgetheiiten 
geht  hervor,  dass  schon  ziendich  früh  in  dem  Blutgerinnsel  eine  Menge  von  Bildungszellen 
a\iftreten,  deren  weitere  Entwicklung  sich  aus  dem  Folgenden  ergeboi  wird.  Da  man 
eine  genauere  Einsicht  in  die  Veränderungen  des  Thrombus  und  sein  Verhäirniss  zur 
Arterienwandnng  erhält,  wenn  man  Querschnitte  der  thronibirlen  Arterien  macht,  so  wollen 
wir  uns  dieser  zu  unseren  weiteren  Studien  bedienen. 

Nebenstehendes  Präparat  zeigt  einen  frischen  Thrombus  in  einer  kleinen  Arterie 
im  Querschnitt  : 


Frischer  Tbrombus 

im  Querschnitt. 
Vergrösserung  300. 


innen  das  zierliche  Mosaik  durch  die  zusammengedrückten  rothen  Blutkörperchen  gebildet, 
darunter  wenige  runde,  weisse  Blutzellen  (die  durch  Carminfärbung  sichtbar  gemacht  sind); 
es  folgt  die  in  regelmässige  Falten  zusammengelegte  Tunica  intima,  in  welchen  Falten 
das  Blutgerinnsel  fest  haftet,  dann  die  Tun.-muscularis,  dann  die  Tun.  adventifia  mit  dem 
Netz  elastischer  Fasern,  rechts  etwas  lockeres  Bindegewebe  daran  hängend.  Das  nächste 
Präparat: 

Fig.  31. 


^-f^ 


Sechstägiger  Thrombi^s 

im  Querschnitt. 

Vergrösserung  300. 


.^^>>3o£v%||C 


ist  der  Querschnitt  einer  seit  6  Tagen  thrombirten  Arterie  eines  Menschen:  von  den  rothen 
Blutzellen  sieht  man  nichts  mehr,  an  ihrer  Stelle  findet  man  ein  Netz  feinster  Gerinnungs- 


124 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 


fasern;  die  weissen  sind  sehr  reichlich  vermehi't,  meist  rund;  in  der  Tunica  adventitia  und 
dem  umliegenden  Bindegewebe  hat  aber  bereits  etwas  Zelleniniiltration  Statt  gefunden. 
Betrachten  wir  jetzt  einen  10 tägigen  Thrombus  vom  Menschen  (Fig.  32  a)  in  einer  starken 
Muskelarterie  des  Oberschenkels  (nach  Amputation),  so  finden  wir  in  demselben  bereits 
reichliche  Spindelzellen,  und  sind  dieselben  theilweis  in  Zügen  (spätere  Gefässe)  angeordnet; 
die  Intercellularsubstanz  ist  starrfaserig,  hier  durch  Essigsäure  durchsichtig  gemacht.  — 
Endlich  erfolgt  auch  in  dem  organisirten  Thrombus  Blutgefässbildung,  wie  Sie  an  den 
folgenden  Präparaten  (Fig.  33  und  34)  sehen. 


'^^läl  I 


(m 


Zehntägiger    Thrombus.      «    organisirter 

Thrombus.       b    Tun.    intima.       c    Tun. 

muscularis.      d   Tun.    adventitia.       Ver- 

grösserung  300. 


Fig.  33. 


Vollständig  organisirter 
Thrombus  in  der  Art.  ti- 
bialis  postica  des  Menschen. 
a  Thrombus  mit  Gelassen, 
mit  der  innersten  Schicht 
der  Intima  verschmolzen. 
b  Die  Lamellen  der  Tun. 
intima.  c  Die  Tunica  nuis- 
cularis  mit  vielen  Binde- 
gewebs- und  elastischen 
Fasern  durchsetzt,  d  Tun. 
adventitia.  Vergrösserung 
300.  Präparat  nach  Kind- 
fleisch. 


VdHesuii'!-  il.      Capili;!   l. 


125 


'Diircli  UiiltTsiicIimii'-cu  vnn  ().  W'clici-  isl  es  lestg^^stulll ,.  'lass  (Ji(;  (icfässn  (Ji's 
Tlirtmihiis  llu-iLs  mil  dem  Liiiiicii  ilcs  llnuiiiliirlrii  (Jcfässstammes ,  tlieils  mit  (Jen  Vasa 
Viisoritiu  dessellji'ii   i'omiiiimirircn      (^iy-    ^li). 


Fitr.    84. 


Längssclinitt  des  unterbundenen  Endes 
der  Art.  cruralis  eines  Hundes,  50  Tage 
nach  der  Unterijindung :  der  Thronibus 
ist  injieirt;  n  a  Tuniea  intinia  und  media; 
i>l)  Tuniea  adventitia.  Vergrüssevung  40; 
nach  0.  Weber. 


b     a 


a     b 


Der  Heilungsprocess  an  quevdurchsclmitteDen  V^eiien  scheint  auf 
den  ersten  Blick  viel  einfacher,  als  der  an  den  Arterien;  selbst  die 
grossen  Venen  an  den  Extremitäten  fallen  an  ihren  durchschnittenen 
Enden  zusammen,  und  sclieinen  ohne  Weiteres  zusammenzuheilen,  nach- 
dem das  Blut  an  der  nilchst  oben  gelegenen  Klappe  zurückgestaut  ist; 
an  diesen  Klappen  bilden  sich  Gerinnsel,  oft  viel  weiter  ausgedehnt  als 
wünschbar  wäre;  diese  in  der  Richtung  nach  dem  Herzen  zu  fortschrei- 
tenden Gerinnselbildungen  werden  uns  später  noch  ernst  beschäftigen. 

Ich  habe  in  neuerer  Zeit  aber  beobachtet,  dass  die  Intima  des  durclischnittenen 
Venenendes  sicli  keineswegs  immer  so  ohne  Weiteres  zusammenlegt  und  verklebt,  sondern 
dass  auch  hier  ein,  wenn  auch  schmales,  dünnes  Gerinnsel  entsteht,  welches  sicli  analog 
dem  Arterienthrombus  organisirt. 

Ziehen  Sie  das  Resultat  aus  diesen,  wenn  auch  nur  wenigen  Ihnen  hier 
demonstrirten  Präparaten,  so  ergiebt  sich,  dass  in  dem  geronnenen  Blut- 
pfropf eine  Zelleuinfiltration  Statt  tindet,  die  hier  zu  Bindegewebsentwick- 


126 


Von  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 
Fig.  35. 

d 


Stück  eines  Querschnittes  der  V.  feraoralis  vom  Menschen  mit  organisirtem,  vascularisirtem 
Thrombus,  18  Tage  nach  der  Amputatio  femoris;  aa  Tun.  intima;  hh  media;  cc  adven- 
titia;  dd  umhüllendes  Zellgewebe.  Th.  organisirter  Thrombus  mit  Gefässen;  die  Schichtung 
des  Fibrins  ist  in  der  Peripherie  des  Thrombus  noch  deutlich  sichtbar.    Vergrösserung  100. 

lung  führt,  kurz,  dass  der  Tlirombus  organisirt  wird.  —  Der  Thrombus 
ist  aber  kein  dauerndes  Gebilde,  sondern  verschwindet  nach 
und  nach  wieder,  oder  wird  wenigstens  auf  ein  Minimum  reducirt, 
ein  Geschick,  welches  er  mit  vielen  bei  der  Entzündung  auftretenden 
Neubildungen  theilt. 


Es  sind  besondere  Gründe,  welche  mich  veranlassen,  auf  die  Or- 
ganisation des  Thrombus  genauer  einzugehen.  Die  Tragweite"  dieses 
Factums  ist  eine  ziemlich  weite,  was  Sie  freilich  für  jetzt  noch  Avenig 
beurtheilen  können,  sondern  erst  später  bei  Besprechung  der  Gefäss- 
krankheiten  in  ganzem  Umfange  zu  würdigen  im  Stande  sind. 

Die  Beobachtung,  dass  das  geronnene  Fibrin  unter  Beihülfe  von  Zellen  in  binde- 
gewebige Intercellularsubstanz  übergehen  kann,  glaube  ich  nach  meinen  Untersuchungen 
bis  jetzt  nicht  zurücknehmen  zu  dürfen,  wobei  ich  freilich  unentschieden  lassen  muss,  ob 
es  sich  dabei  um  eine  wahre  Metamorphose  oder  um  eine  allmählige  Substitution  schwin- 
denden Faserstoft's    durch   Zellenprotoplasma    handelt.      Es    ist    von    manchen    Seilen    der 


VorlesiiiiK  !l.      Capilcl   T.  127' 

Vevsiioli  ,ti,'pniaclit,  die  im  'riiriiiiiliiis  nach  und  uarli  in  grcisserer  Mengo  aiil'Li'i'U'nd«!! 
Zellen  von  der  Gefüsawand  her  enisleheu  zu  lassen;  die  Arterien  sind,  wie  die  Venen, 
niit  einer  innersten  Epithelialhaut  bekleidet,  welclie  gewisserniaassen  die  innerste  Lamelle 
der  Tnn.  intima  darstellt.  Diese  Kpitlielialzellen  vind  auch  die  Korne  der  streifigen  La- 
mellen der  Intima  haben  einige  Autoren  a  priori  in  Anspruch  genommen,  um  von  ihnen 
aus  neue  Zellen  entstehen  und  sie  in  den  Thrombus  hineinwachsen  zu  lassen;  auch 
Thierseh  neigt  in  seiner  neuesten  Arbeit  zu  dieser  Ansicht  Inn.  Ich  gestelie,  dass  ich 
mich  selbst  früher  sehr  gegen  die  Annahme  gesträubt  habe,  dass  das  Blut  sich  aus  sich 
selbst  zu  Bindegewebe  mit  Gefässen  organisiren  könne,  neige  aber  nach  den  Untersuchungen 
an  Querschnitten  thrombirter  Arterien  doch  zu  dieser  Ansicht  hin.  Nachdem  die  Aiinahme 
von  Wuclierungen  stabiler  Gewebszellen  bei  der  Entzündung  etwas  zweifelhaft  geworden 
ist,  konnte  man  auch  wohl  an  der  Wuchernngsfähigkeit  des  Gefässendotiiels  zweifeln. 
Woher  kommen  denn  aber  die  jungen  Zellen?  Ich  zweifle  nicht  daran,  dass  sie  theil weise 
wenigstens  von  den  weissen  Blutkörperchen  herstammen,  welche  theils  im  Trombus 
eingeschlossen  sind,  theils  nach  Beobachtungen  von  v.  Re  cklingh  aasen  und  Bubnoff 
in  denselben  hineingewandert  sein  können.  Was  die  rothen  Blutzellen  betrifft,  so  scheint 
es,  dass  sie  mit  dem  geronnenen  Fibrin  allmählig  versclimelzen,  in  ihrer  Form  untergehen, 
vorläufig  zu  Intercellularsubstanz  werden  imd  ihren  Farbstoff  abgeben ,  der  sicli  dann  als 
Haematoidin  körnig  oder  krystallinisch  abscheidet.  —  So  wenig  wir  im  Allgemeinen  über 
das  Woher  und  "Wohin  der  Blutzellen  wissen,  so  steht  doch  das  ,wohl  unzweifelhaft  fest, 
dass  die  weissen  Zellen  dem  Blut  aus  dem  Lymphgefässsystem  zugefüln-t  werden  und  hier 
in  den  Lymphdrüsen ,  vielleicht  auch  noch  sonstwo  in  dem  Bindegewebe  entstehen ;  es 
sind  Zellen,  welche  also  direct  von  Bindegewebszellen  oder  von  einer  der  Bindesubstanz 
angehörigen  Protoplasmamasse  abstammen.  Sind  nun  diese  Zellen,  wenn  sie  in  ein  Blut- 
gerinnsel eingeschlossen  sind,  noch  lebensfähig?  Können  sie,  hier  zu  Ruhe  gekommen, 
sich  zu  Gewebe  umbilden  ?  Es  ist  wohl  vorläufig  unmöglich ,  diese  Frage  unbedingt  zu 
bejahen  oder  zu  verneinen;  nachdem  Bubnoff  nachgewiesen  hat,  dass  Wanderzellen  in 
den  Thrombus  eindringen  und  sich  dort  fortbewegen  können,  so  liegt  a  priori  keine 
Nöthigung  vor,  anzunehmen,  dass  die  in  dem  Thrombus  bei  der  Gerinnung  eingeschlossenen 
weissen  Blutzellen,  welche  doch  mit  den  Wanderzellen  identisch  sind,  sich  dort  nicht 
mehr  bewegen,  sich  nicht  in  Gewebe  umbilden  könnten.  Ob  die  Wanderzellen  mit  gleicher 
Leichtigkeit  Arterienwandungen  durchdringen  wie  Venenwandungen,  darüber  fehlt  es  zur 
Zeit  noch  an  Untersuchungen,  da  sicli  Bubnoff  s  Untersuchungen  nur  auf  Venenthromben 
beziehen.  Einige  von  mir  in  dieser  Richtung  angestellte  Untersuchungen  haben  mir  ge- 
zeigt, dass  feine  Zinoberkörnchen  wohl  durch  die  Wandung  z.  B.  der  A.  carotis  eines 
Hundes  bis  in  den  Thrombus  eindringen,  doch  habe  ich  mich  bis  dahin  nicht  davon  über- 
zeugen können,  dass  diese  Zinoberkörnchen  durch  Wanderzellen  verschleppt  sind.  Es 
bleibt  also  vorläufig  unentschieden,  woher  die  vielen  Wanderzellen  "in  einem  sicli  organi- 
sirenden  Arterienthrombus  stammen,  und  wie  sie  hinein  gelangen.  —  Tschau  soft  hat 
in  einer  unlängst  erschienenen  Arbeit  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  von  .grösseren 
Thromben  stets  sehr  viel  durch  Zerfall  zu  Grunde  geht,  was  vollkommen  richtig  ist;  er 
geht  jedoch  zu  weit,  vv^enn  er  die  provisorische  Organisation  des  Thrombus  ganz  leugnet, 
und  annimmt,  dass  dem  Zerfall  des  Gerinnsels  die  Verwachsung  der  Gefässwandungen,  auf 
die  ich  als  definitives  Endresultat  des  ganzen  Processes  stets  hingewiesen  habe,  unvermittelt 
folge.  —  Die  neueren  schon  mitgetheilten  Untersuchungen  über  Gefässbildung  von  Arnold 
(pag.  74) ,  sowie  die  später  zu  erwähnenden  Beobachtungen  über  Tuberkelbildung  haben 
wieder  neues  Material  für  die  Anschauung  beigebracht,  dass  die  Substanz  der  Gefässwandung 
selbst,    sowie  die  Gefässendothelien  wichtigen  Antheil  an    der  Gewebsneubildung  nehmen. 

Es  gehören,  wie  sclioii  ])emerkt,  besonders  günstige  Ernfilirungs- 
verliältnisse  dazAi,  damit  die  Organisation  des  Blutgerinnsels  vor  sicli 
gehen    kann.     Es  ist  ein  im  menschliehen  Organismus    durchgreifendes 


128  ^"^"i  den  einfachen  Schnittwunden  der  Weichtheile. 

Gesetz,  dass  gefässlose  Gewebe,  welche  allein  durch  Zellenavbeit  ernährt 
werden,  keine  grosse  Ausdehnung  haben;  nehmen  Sie  die  Gelenkknorpel, 
die  Cornea,  die  Tunica  intima  der  Gefässe,  alle  diese  Gewebe  bilden 
stets  dünne  Schichten;  mit  anderen  Worten:  die  Zellen  des  menschlichen 
Körpers  vermögen  nicht  wie  die  Pflanzenzellen  die  Ernährungsflüssigkeit 
beliebig  weit  zu  führen,  sondern  sind  dazu  nur  in  beschränktem  Maasse 
befähigt;  in  gewissen  Distanzen  müssen  immer  wieder  neue  Blutgefässe 
auftreten,  um  die  Ernährungsflüssigkeit  zu-  und  abzuführen.  Das  aus 
Zellen  mit  geronnenem  Faserstoff  bestehende  Blutgerinnsel  ist  ein  zu- 
nächst gefässloses  Zellengewebe,  welches  nur  in  dünnen  Lagen  seine 
Existenz  behaupten  kann.  Dies  ergiebt  sich  aus  Beobachtungen,  die  wir 
später  noch  oft  zu  erwähnen  haben  werden,  dass  nämlich  grosse  Blut- 
gerinnsel entweder  gar  nicht  oder  nur  in  ihren  peripherischen  Schichten 
organisirt  werden,  im  Centrum  aber  zerfallen.  Für  die  Heilung  per 
primam  geht  daraus  hervor,  dass  eine  kleine  Menge  von  Blut,  welche 
zwischen  den  Wundrändern  gelegen  ist,  nichts  schadet,  eine  grössere 
Blutmasse  jedoch  die  Heilung  stört,  sie  eventuell  ganz  vereitelt,  eine 
Beobachtung,  die  Sie  in  der  Klinik  sehr  bald  verificiren  können. 

Die  Lehre  von  der  Bildung  und  Organisation  der  Thromben  hat  die 
Chirurgen  und  Anatomen  seit  John  Hunter  intensiv  beschäftigt,  und  ist, 
wie  Sie  sehen,  doch  noch  nicht  als  abgeschlossen  zu  betrachten;  wir 
niussten  sie,  zumal  auch  ihres  allgemein  histiogenetischen  Interesses  wegen 
hier  voran  stellen,  wenngleich  es  in  neuester  Zeit  sehr  zweifelhaft  ge- 
worden ist,  ob  sie  für  die  Erfolge  der  Unterbindungen  in  praktischer 
Beziehung  wirklich  von  so  exclusiv  hervorragender  Bedeutung  ist,  wie 
man  bisher  anzunehmen  geneigt  war.  Schon  Porta  hat  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  dass  eine  rasche  Verklebung  und  Zusammenheilung  des 
Gewebes  um  die  unterbundene  Arterie  herum  von  eben  solcher  Wichtig- 
keit sei  wie  die  Organisation  des  Thrombus;  die  Chirurgen  haben  diesen 
Punkt  wohl  im  Auge  behalten,  indem  sie  stets  die  Nothwendigkeit 
betonten,  durch  möglichst  sorgfältige  Operationen  und  Pflege  der  Wunden 
die  Heilung  per  primam  intentionem  zu  erstreben.  Doch  erst  durch  die 
ausgedehnten  praktischen  Erfolge  der  Acupressur  ist  es  so  recht  ein- 
leuchtend geworden,  dass  die  Verklebung  der  Gewebe  durch  gerinnendes 
organisables  Exsudat  schon  nacli  48  Stunden  genügt,  die  mit  der  Nadel 
zusammengedrückten  oder  gedrehten  Arterienenden  ganz  zuverlässig  fixirt 
zu  halten,  selbst  bei  Arterien  wie  die  femoralis.  Wenngleich  Kocher 
nachgewiesen  hat,  dass  der  Thrombus  in  der  Arterie  auch  nach  der 
Acupressur  nicht  fehlt,  so  ist  er  doch  oft  so  klein,  dass  er  unmöglich 
der  Blutwelle  in  einer  grösseren  Arterie  48  Stunden  nach  der  Verklebung 
Widerstand  leisten  könnte.  Es  sind  daher  auch  von  diesen  Gesichts- 
punkten aus  die  Bestrebungen,  die  Ligatur  durch  andere  Methoden  zu 
ersetzen,  bei  welchen  nicht  Fäden  in  den  Wunden  liegen  bleiben,  son- 
dern  die  vollständige  Heilung  der  Wunde  per  primam  möglich   ist,    zu 


rlosi 


(■';i|M(cl    f. 


120 


iu)tersliit/(Mi  iiiu]  ilii-e  KosuKalc  der  IjOitclitiiii^'  /u  wiirdi^'Cii,  oliiie  liaiiclx-ii 
die  ausserordeutlielieu  Vortheile  der  Li^-atur  iri^eiidwie  in  Abrede  stellen 
zu  wollen. 

Wenden  wir  unsein  Bliek  nun  nocli  auf  das  (Jescliick  des  Kreislaufs 
naeli  Unterbindung-  einer  stärkeren  Arterie  in  der  Continuität!  Dcidcen 
Sie  sieb,  man  babe  wegen  einer  Blutung-  am  Untersebenkel  die  Art.  fe- 
moralis  unterbinden  müssen;  wie  kommt  das  arterielle  Blut  jetzt  in  den 
IJutersebeuker?  wie  wird  sieb  der  Kreislauf  gestalten?  Ebenso  wie  bei 
dem  Verscbluss  von  Capillardistrikten  das  Blut  sicli  unter  böberem  Druck 
durcb  die  näcbstgeleg-enen  gangbaren  Gefässe  durclidrängt  und  diese 
sieb  dadurcb  erweitern,  kommt  aucb  derselbe  Erfolg-  nacb  dem  Verscbluss 
kleinerer  und  grösserer  Arterien  zu  Stande.  Das  Blut  strömt  unter  stär- 
kerem Druck  als  friiber  dickt  oberhalb  des  Tbrorabus  durcb  die  Ne))en- 
äste  und  g-elangt  vermöge  der  vielen  Arterienanastomosen,  sowobl  in  der 
Längsachse  als  in  den  verschiedenen  Querachsen  eines  Gliedes,  in  andere 
Arterien,  durch  welche  es  bald  wieder  in  das  peripherische  Ende  des 
unterbundenen  Stannnes  einströmt.  Es  entwickelt  sich  mit  Umgehung- 
des  unterbundenen  und  Ibrombirten  Theils  des  Arterienstanunes  durch 
die  Nebenäste  ein  arterieller  Collateralkreisl  auf.     Ohne  das  Zu- 

Fig.  37. 
Fio'.  36. 


''  / 


A.  carotis  eines  Ka- 
ninchens, 6  Wochen 
nach  der  Unterbin- 
dung injicirt;  nach 
Porta. 


/ 


A.    carotis  einer   Ziege .    35    Monate 

nach  der  Unterbindung  injicirt;  nach 

Porta. 

standekommeu  eines  solchen  könnte  der  unterhalb  liegende  Körpertheil 
nicht  zureichend  Blut  mehr  bekommen  und  würde  absterben,  er  würde 
vertrocknen    oder    verfaulen.      Die    arteriellen    Anastomosen    sind    zum 


Billroth  chir.  Patli.  u.  Thev. 


9 


130 


Von  den  einfaclien  Schnittwnnden  der  Weiehtlieile. 


Glück  SO  reiclilicli ,  dass  ein  solcher  Fall  uacli  der  UnterbiDdung'  selbst 
ganz  grosser  Gefässstämme,  wie  der  Art.  axillaris  und  femoralis,  nicht 
leicht  vorkommt;  bei  kranken  Arterien,  die  sicli  nicht  gehörig  dehnen, 
kann  indess  Brand  dex  betreffenden  Extremität  nach  Unterbindung  des 
Hauptarterienstammes  entstehen.  Die  Art  und  Weise,  wie  sich  diese 
neuen  Gefässverbindungen  wiederherstellen,  ist  höchst  vielgestaltig, 
Porta  hat  vor  Jahren  sehr  gründliche  Untersuchungen  darüber  ange- 
stellt und  folgende  Haupttypen  des  Collateralkreislaufes  nach  seinen 
zahlreichen  Experimenten  aufgestellt. 

1)  Es  bildet  sich  ein  directer  Collateralkrcislauf,  d.  h.  es  finden 
sich  stark  entwickelte  Gefässe,  welche  von  dem  centralen  Ende  der 
Arterie  direct  zum  pheripherischen  hinübergehen. 

Diese  Verbiudsgefässe  sind  meist  die  erweiterten  Vasa  vasorum 
und  die  Gefässe  des  Thrombus;  hier  könnte  es  sich  ereignen,  dass  einer 
dieser  Verbindungsstämme  sich  so  erweitert,  dass  es  dadurch  den  An- 
schein bekommt,  als  sei  der  Hauptstamm  einfach  regenerirt. 

2)  Es  entsteht  ein  in  directer  Collateralkreislauf,  d.  h.  es  finden 
sich  die  Verbindungsäste  der  nächsten  Seitenstämme  der  Arterien  stark 
erweitert,  so  im  folgenden  Fall  Fig.  38. 

Für  beide  Arten  von  Collateral- 
kreislauf sind  hier  die  prägnantesten 
Beispiele  ausgewählt;  wenn  Sie  indess 
die  zahlreichen  Al)bildungen  bei  Porta 
nachsehen  und  selbst  diese  Experi- 
mente wiederholen,  werden  Sie  finden, 
dass  sich  der  directe  und  indirecte 
Kreislauf  in  den  meisten  Fällen  mit 
einander  combiniren;  die  Eintheiluug 
beansprucht  auch  keinen  weiteren 
Werth,  als  die  verschiedenen  Formen 
in  übersichtlicher  Weise  zu  gruppiren. 

Eine  vortreffliche  anatomische 
Uebune,"  ist  es,  sich  zu  verge£,'enwärti- 
gen,  wie  nach  der  Unterbindung  der 
verschiedenen  Arterienstämme  einer 
oder  beider  Extremitäten  oder  des 
Kumpfes  das  Blut  in  den  jenseits  der 
Unterbindung  liegenden  Körpertheil 
kommt;  eine  gute  Hülfe  bietet  Ihnen 
hierbei  die  Tafel  der  Artericnanasto- 
mosen,  die  Sie  in  dem  Handbuch  der 
Anatomie  von  Krause  finden.  In  der 
A.  feuK.r.  eines  grossen  Hundes,  3  Monate  Chirurgie  dcs  alten  Conrad  Martin 

naeli  d.  Unterbindung  injiiirt:  nach  Porta.    Langenbcck    siud    bci    dem     Capitcl 


V.M-losimo-   10.     C;ii)il('l  TL  131 

über  vViieuryMiieu  diese  anatomischen  \'ci'li:i]tnisf;c  ganz  genau  ei'örlert. 
—  Die  bei  diesem  Collateralki'cislauf  nicht  selten  vorkommende  lindiehi- 
des  Blutstromes  gebt  mit  einer  eminenten  Geschwindigkeit  vor  sicli,  wenn 
die  Anastomosen  reielilicb  sind;  bat  man  l)eim  Menschen  z.  V>.  die  Art. 
carotis  communis  einfacb  unterbunden  und  scbneidet  peripberiscb  von  der 
Unterbindung  die  Arterie  durcb,  so  stürzt  das  Blut  mit  furcbtbarer  Gewalt 
aus  dem  peripberiscben  Ende  heraus,  also  zurück  wie  aus  einer  Vene. 
In  allen  solchen  Fällen,  wo  die  zu  unterbindenden  Arterien  reiche 
Anastomosen  haben,  muss  man  also,  wenn  ein  Stück  aus  der  Arterie 
herausgeschnitten  werden  soll,  zuvor  das  centrale  und  peripherische 
Ende  unterbinden,  um  vor  einer  Blutung  gesichert  zu  sein:  ein  für  die 
Praxis  wichtiger,  oft  vernachlässigter  Grundsatz. 


Vorlesung  10. 
CAPITEL  IL 

Von  einige]]  Besonderheiten  der  Stichwunden. 

Stichwunden  heilen  in  der  Regel  rasch  per  primam.  —  Nadelstiche;  Zurückbleiben  von 
Nadeln  im  Körper,  Extraction  derselben.  —  Stichwunden  der  Nerven.  —  Stichwunden 
der  Arterien:  Aneurysma  traumaticum,  varicosum,   Varix  aneurysmaticus.  —  Stichwunden 

der  Venen,  Aderlass. 

Die  meisten  Stichwunden  gehören  zu  den  einfachen  Wunden  und 
heilen  in  der  Pegel  per  primam  intentiouem;  viele  von  ihnen  sind  zu- 
gleich Schnittwunden,  w^enn  das  stechende  Instrument  eine  gewisse  Breite 
hatte;  manche  tragen  die  Charaktere  gequetschter  Wunden  an  sich, 
wenn  das  stechende  Instrument  stumpf  war,  in  welchem  Fall  dann  ge- 
wöhnlich mehr  oder  weniger  Eiterung  eintritt.  —  Viele  Stichwunden 
machen  wir  mit  unsern  chirurgischen  Instrumenten,  mit  den  Akupunk- 
tur nadeln,  feinen  langen  Nadeln,  deren  man  sich  bisweilen  bedient, 
um  z.  B.  zu  untersuchen,  ob  und  wie  tief  unter  einer  Geschwulst  oder 
unter  einem  Geschwür  der  Knochen  zerstört  ist;  mit  den  Akupressur- 
nadeln, welche  wir  zur  Blutstillung  verwenden;  mit  dem  Trokar, 
einem  dreiseitig  spitz  geschliffenen  Dolch,  der  mit  einer  enganschliessen- 
den  Canüle  umgeben  ist,  einem  Instrument,  das  wir  brauchen,  um  aus 
einer  Höhle  Flüssigkeit  herauszulassen. 

Die  Dolch-,  Degen-,  Messer-,  Bajonettstiche  sind  häufig  gleichzeitig 
als  Stich-  und  Schnittwunden  oder  Stich-  und  Quetschwunden  anzusehen. 
—  Wenn  solche  Stichwunden  nicht  mit  Verletzung  grösserer  Arterien 
oder  Venen  oder   mit  Verletzungen  der  Knochen  verbunden  sind,    oder 

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132  Yon  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 

nicht  etwa  in  die  grossen  Körperhölilen  eingedrung-en  ^Yal•eu,  so  erfordern 
sie  selten  irgend  welche  Behandlung. 

Am  häufigsten  kommen  Stichwunden  mit  Nadeln  vor,  zumal  bei 
Frauenzimmern,  und  wie  selten  wird  deshalb  ein  Arzt  befragt!  —  Com- 
plicirt  wird  eine  solche  Verletzung  nur  dadurch,  dass  etwa  eine  ganze 
Nadel  oder  ein  abgebrochenes  Stück  davon  in  die  Y\^eichtheile  so  tief 
eindringt,  dass  es  ohne  Weiteres  nicht  wieder  herausgezogen  werden 
kann.  Dies  kommt  an  verscliiedeuen  Theilen  des  Kiirpers  gelegentlich 
vor,  indem  Jemand  z.  B.  sich  zufällig  auf  eine  Nadel  setzt,  auf  eine 
solche  fällt,  und  durch  dergleichen  Zufälligkeiten  mehr.  Ist  eine  Nadel 
durch,  die  Haut  tief  eingedrungen,  so  sind  die  Erscheinungen  in  der 
Regel  so  unbedeutend,  dass  die  Verletzten  selten  eine  bestimmte  Empfm- 
dung  davon  haben,  ja  oft  nicht  genau  anzugeben  im  Stande  sind,  ob  die 
Nadel  überhaupt  eingedrungen  ist,  und  wo  sie  sitzt.  Auch  erregt  dieser 
Körper  in  den  Weichtheilen  gewöhnlich  keine  äusserlich  nachweisbare 
Entzündung,  sondern  kann  Monate,  Jahre,  j.a  selbst  das  ganze  Leben 
hindurch  ohne  Beschwerde  im  Körper  getragen  werden,  wenn  nicht  etwa 
die  Nadel  in  einen  Nervenstamm  eindringt.  Eine  solche  Nadel  bleibt 
selten  an  der  Stelle  liegen,  wo  sie  eingedrungen  war,  sondern  sie  wandert, 
d.  h.  sie  wird  nach  andern  Theilen  des  Körpers  durch  die  Muskelcon- 
tractiouen  verschoben,  und  kann  so  einen  weiten  Weg  durch  den  Körper 
macheu  und  an  einer  ganz  anderen  Gegend  zu  Tage  kommen.  Es  sind 
Beispiele  beobachtet  worden,  dass  sich  hj^sterische  Weiber  absichtlich, 
aus  der  sonderbaren  Eitelkeit,  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  auf  sich 
zu  lenken,  eine  Menge  von  Nadeln  in  die  verschiedensten  Theile  des 
Körpers  steckten;  diese  Nadeln  kamen  bald  hier,  bald  dort  zum  Vor- 
schein; ja  selbst  verschluckte  Nadeln  können  die  Magen-  und  Darmwände 
ohne  Gefahr  durchwandern  und  an  einer  beliebigen  Stelle  der  Bauchwand 
zum  Vorschein  kommen.  B.  v.  Langenbeck  fand  in  dem  Centrum  eines 
Blasensteins  eine  Stecknadel;  bei  genauerer  Nachforschung  ergab  sich, 
dass  der  Patient  als  Kind  eine  Nadel  verschluckt  hatte;  die  Nadel  kann 
durch  die  Intestina  hindurch  in  die  Harnblase  gelangt  sein;  hier  hatten 
sich  Tripelphosphate  um  dieselbe  schichten  weise  abgelagert,  und  so  ent- 
stand der  Blasenstein,     Dittel  hat  ein  gleiches  Ereigniss  beobachtet. 

Wenn  die  Nadeln  eine  Zeit  lang,  ohne  Schmerz  zu  erregen,  in  den 
Weichtheilen  gesteckt  haben,  oder  wenn  Nadeln,  die  von  Innen  nach 
Aussen  den  Körper  durchwandern,  an  die  Oberfläche  bis  dicht  unter  die 
Haut  kommen,  erzeugen  sie  hier  oft  eine  kleine  Eiterung :  das  stechende 
Gefühl  wird  immer  bestimmter;  man  macht  eine  Incision  in  die  schmerz- 
hafte Stelle,  entleert  wenig  dünnen  Eiter  und  findet  in  der  kleineu  Eiter- 
höhle die  Nadel,  die  mau  nun  leicht  mit  einer  Pincette  oder  Kornzange 
extrahiren  kann,  ^'arum  dieser  Körper,  der  Monate  laug  im  Körper 
hin-  und  liergeschoben  wurde,  unter  der  Haut  angekommen,  doch  end- 
lich Eiterung  erregt,  ist  freilich  nicht  recht  zu  erklären.     Sie  müssen  sich 


VoilesiniR  10.      Ciipilcl  TL  ]33 

liier  mit  der  Keniitniss  der  erwülintcn  Bcohiiclitiiii^'  beg-iirr^'eii.    Folg-ender 
interessante    Fall    ni.'ig-    Iluicn    den    Verlauf   sctlclicr    Verletzungen    noch 
anschaulicher    machen.     In    Zürich    wurde    ein   etwa  oOj'ihrig'es,    völlig- 
blödsinniges,    taubstummes  FraucnzimnuM-   auf  die  Klinik    gebracht,   mit 
der  Diagnose:    Typhus.     AVeder  aus  der  Patientin,    noch  aus  der  eben- 
falls nicht  sehr  intelligenten  Umgebung  war  etwas   über  die  Anamnese 
herauszubringen.     Die  Patientin,    welclie   oft  Tage   lang   im  Bett   Idieb, 
klagte  seit  einigen  Tagen  über  Schmerz,  der  nach  ilircm  Hindeuten  sei- 
nen Sitz  in  der  rechten  Ileoeöcalgegend  hatte ;  dabei  fieberte  sie  massig. 
Die  Untersuchung  ergab   eine  Anscliwellung  an   der  bezeichneten  Stelle, 
die  'in  den  nächsten  Tagen  zunahm  und  bei  Druck  äusserst  schmerzhaft 
war;    die  Haut  röthetc   sicli,    es   bildete  sich   deutliche  Fluctuation  aus. 
Dass  kein  Typhus  vorlag,  war  leicht  zu  erkennen,  doch  Sie  können  sich 
denken ,    welche    verschiedenen    Diagnosen   über   den  Sitz  der    offenbar 
vorliegenden  Eiterung,   denn  ein  Abscess  bildete  sich  unzweifelhaft  aus, 
gestellt  wurden;  es  konnte  eine  Entzündung  des  Eierstocks,  eine  Durch- 
bohrung des  Froc.  vermiformis,  ein  Abscess  in  den  Bauclidecken  etc.  etc. 
sein ;    indessen  gegen  alles  dies  Hessen  sich  numche  Bedenken  erheben. 
Nach  Verlauf  einiger  Tage    war    die   stark    gerötliete   Plaut  sehr  dünn 
geworden,    der  Abscess    hatte    sicli    etwa    in    der  Plöhe    der  Spin.   ant. 
sup.  crist.  oss.  iL,  einige  Querfingerbreit  oberhalb  des  Lig.  Poupartii  con- 
ceutrirt,  und  ich  machte  nun  eine  Incision  in  die  Haut;  es  entleerte  sich 
ein  stark  nach  fäcalen  Gasen  riechender,  Gas-haltiger,  bräunlicher.  Jau- 
chiger   Eiter.     Als    ich   mit   dem  Finger    die   Abscessiiöhle  untersuchte, 
fühlte  ich   einen   harten,    stabförmigen,    festen  Körper  in   der  Tiefe  des 
Abscesses  wenig  in  .denselben  hervorragend:    ich  fing  an,   ihn  mit  einer 
Kornzange  zu  extrahiren,  zog  und  zog  und  förderte  eine  fast  einen  Fuss 
lange,  massig  dicke  Stricknadel  zu  Tage,  welche  etwas  mit  Rost  bedeckt 
war,    und  in  der  Richtung  nach  dem  Becken  zu  steckte.     Die  Abscess- 
höhle  war  mit  schlaffen  Granulationen  ausgekleidet;    als   ich  indess  die 
Oeffnung  suchen  wollte,  welche  die  Nadel  doch  jedenfalls  zurückgelassen 
haben  musste,  fand  ich  sie  nicht  mehr,    sie  hatte  sich  sofort  wieder  ge- 
schlossen und  war  durch  die  Granulationen  verlegt.    Der  Abscess  brauchte 
,^ lange  zur  Ausheilung;    dieselbe  erfolgte  schliesslich   ohne  weitere  Zwi- 
schenfälle,  so  dass  die  Patientin  nach  4  Wochen  entlassen  wurde.     Als 
ich  der  unglücklichen  Kretine  die   extrahirte  Nadel  zeigte,    lächelte  sie 
in  ihrer  blödsinnig  widerlichen  Art;  das  Avar  Alles,  was  darüber  zu  er- 
mitteln war;  vielleicht  durfte  man  daraus  auf  eine  schwache  Erinnerung 
an    die  Nadel  schliessen.     Es  ist  am  wahrscheinlichsten,    dass  sich  die 
Patientin  die  Nadel  in  die  Vagina  oder  in  das  Rectum  hineingeschoben 
hat,  Proceduren,  in  denen  leider  die  Frauenzimmer,  aucli  wenn  sie  nicht 
blödsinnig  sind,  Unglaubliches  leisten,  wie  Sie  zumal  in  Dieffenb  ach's 
operativer  Chirurgie  bei  dem  Kapital  über  die  Extraction  fremder  Körper 
lesen  können.     Es  ist  nicht  unmöglich,   dass    die  Nadel   in  diesem  Fall 


]^34  ^on  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 

neben  der  Portio  vaginalis  uteri  den  Weg"  durch  das  Coecum  nahm,  da 
man  aus  dem  Umstand,  dass  der  Abscesseiter  Gas  enthielt  vielleicht  auf 
eine,  wenn  auch  vorübergehende  Communication  mit  einem  Darm  schliessen 
kann.  Dies  darf  freilich  nicht  als  ganz  sicher  angenommen  werden,  da 
sich  Eiter  in  der  Nähe  der  Gedärme  unter  Entwicklung  stinkender  Gase 
zersetzen  kann,  auch  wenn  keine  Verbindung  mit  der  Darmhöhle  besteht 
oder  bestanden  hat. 

Das  Extrahiren  von  frisch  eingedrungenen  Nadeln  kann  oft  sehr 
schwierig  sein,  zumal  da  die  Patienten  nicht  selten  in  ihren  Angaben 
unbestimmt  über  den  Sitz  des  Körpers  sind,  zuw^eilen  auch  aus  Scham 
nicht  eingestehen  wollen,  wie  die  Nadeln  (z.  B.  in  die  Harnblase)  ein- 
gedrungen sind.  Bevor  man  den  Einschnitt  in  die  Haut  macht,  muss 
man  mit  der  linken  Hand  die  Stelle  fixiren,  an  welcher  man  den  fremden 
Körper  zu  fühlen  meint,  und  wo  man  dann  einschneidet;  dies  ist  nöthig, 
damit  sich  die  Nadel  nicht  während  des  Einschneidens  noch  verschiebt. 
Zuweilen  fühlt  man  mehr  oder  weniger  deutlich  den  festen  Körper,  und 
kann  durch  Druck  darauf  heftigen  Schmerz  erregen;  solche  und  ähnliche 
Manipulationen  müssen  entscheiden,  wo  man  einzuschneiden  hat.  Ist  die 
Haut  durchschnitten,  so  sucht  man  nun  mit  einer  guten  anatomischen 
Pincette  die  Nadel  zu  fassen ;  stark  gespannte  Stränge  der  Fascien  können 
besonders  an  den  Fingern  leicht  zu  Täuschungen  Veranlassung  geben, 
denn  man  hat  mit  der  Pincette  immer -nur  ein  unsicheres  Gefühl.  Kann 
man  die  Nadel  nicht  auffinden,  so  lässt  man  einige  Bewegungen  machen; 
zuweilen  verschiebt  sich  dann  die  Nadel  in  eine  Lage,  in  der  sie  leichter 
zu  fassen  ist.  Die  Extraction  fremder  Körper,  welche  sehr  durch  die 
künstliche  Blutleere  nach  Es march 's  Methode  (pag.  39)  erleichtert  wird, 
erfordert  überhaupt  eine  gewisse  üebung  und  manuelle  Geschicklichkeit, 
die  man  sich  erst  mit  der  Zeit  in  der  Praxis  aneignet;  ein  angebornes 
technisches  Talent  kommt  hier  ausserordentlich  zu  Statten.  —  Ausser 
Nadeln  heilen  auch  in  seltenen  Fällen  feine  Glassplitter  ein.  Vor  Kurzem 
zog  ich  einen  sieben  Linien  laugen  schwarzen  Dorn  aus,  der  dicht 
unter  der  Unterschenlcelhaut  eilf  Jahre  lang  ohne  erhebliche  Schmerzen 
zu  erzeugen,  gelegen  hatte. 

Die  Stichwunden,  welche  mit  weniger  scharfen  Instrumenten  gemacht 
sind,  erleiden  zuweilen  Unterbrechungen  in  ihrer  Heilung,  indem  näm- 
lich die  Stichöifnung  aussen  zwar  per  primam  heilt,  doch  nach  einigen 
Tagen  in  der  Tiefe  Entzündung  und  Eiterung  eintritt,  und  die  AVunde 
entweder  aufbricht  und  nun  der  ganze  Stichcanal  eitert,  oder  an  einer 
andern  Stelle  der  Eiter  durchbricht.  Es  tritt  dies  besonders  bei  solchen 
Wunden  ein,  in  denen  ein  fremder  Körper,  z.  B.  eine  Messerspitze,  zu- 
rückgeblieben ist,  oder  die  mit  sehr  stumpfen  Instrumenten  beigebracht 
sind.  Auf  solche  etwa  zurückgebliebenen  fremden  Körper  müssen  Sie 
immer  bei  der  Untersuchung  Eucksiclit  nehmen,  und  wo  möglich  sich  das 
Instrument  zu  verschaffen  suchen,   mit  welchem  die  Verletzung  gemacht 


Vorlesung  10.      Capitel  IL  135 

wurde,  sowie  g-enaue  Ei-kiindigiuigcri  einzielieii,  in  welcher  Riclituiig  das 
Instrument  eindrang-,  damit  Sie  ungefähr  orientirt  sind,  welche  Tlieile 
verletzt  sein  können.  Indess  auch  in  ungünstigen  Fällen  erfolgt  zuweilen 
doch  eine  auffallend  geringe  Entzündung  und  Eiterung  des  Stichcanals. 
So  kam  vor  einiger  Zeit  ein  Mann  in  die  Klinik,  der  Tags  vorher  von 
einem  Baum  aus  massiger  Höhe  auf  den  linken  Arm  gefallen  war,  indem 
er  beschäftigt  war,  die  kleineren  Zweige  des  Baumes  abzuschneiden. 
Der  linke  Arm  war  an  der  Uorsalseite,  wenige  Zoll  unterhalb  des  Ellen- 
bogens, etwas  geschwollen;  an  der  Volarseite  dicht  oberhalb  des  Hand- 
gelenks war  eine  kleine  Excoriation  sicht])ar;  der  Arm  konnte  gebeugt 
und  gestreckt  werden  ohne  Schmerz,  nur  Pro-  und  Supination  waren  be- 
hindert und  schmerzhaft.  Eine  Continuitätstrennung  der  Vorderarmkno- 
chen war  nicht  vorhanden;  die  Knochen  waren  bestimmt  nicht  durchge- 
brochen. An  der  erst  bezeichneten  Stelle  der  Anschwellung,  an  der 
Dorsalseite,  ein  Zoll  unterhalb  des  Ellenbogens,  fühlte  man  jedoch  dicht 
unter  der  Haut  einen  festen  Körper,  der  sich  etwas  zurückdrücken  liess, 
gleich  aber  wieder  in  seine  alte  Stellung  zurückkehrte.  Man  hatte  genau 
das  Gefühl,  als  sei  ein  Stück  Knochen  etwa  tiieilweise  losgesprengt, 
und  liege  dicht  unter  der  Haut.  So  unbegreiflich  es  auch  erscheinen 
musste,  wie  ohne  Continuitätstrennung  des  Radius  oder  der  Ulna,  durch 
einfaches  Auffallen  des  Oberarms  auf  den  Erdboden,  eine  solche  Knochen-' 
absprengung  erfolgen  konnte,  liess  ich  doch  den  Kranken  narcotisiren 
und  machte  von  neuem  den  Versuch,  das  vermeintliche  Fragment  zurück 
zudrücken;  indess  es  gelang  nicht.  Da  nun  dasselbe  so  dicht  unter  der 
Haut  steckte,  dass  es  unfehlbar  in  kiu'zer  Zeit  die  Haut  durchbrochen 
hätte,  so  machte  ich  einen  kleinen  Schnitt  darauf  in  die  Haut,  um  es  zu 
extrahiren.  Zu  unser  aller  Erstaunen  zog  ich  aber  kein  Knochenfragment, 
sondern  ein  5  Zoll  langes  Stück  eines  dünnen  Banmastes  heraus,  welches 
zwischen  den  beiden  Vorderarmknochen  ziemlich  fest  eingekeilt  war.  Es 
schien  unbegreiflich,  wie  dieses  Aststück  in  den  Arm  gekonmien  war; 
indess  bei  genauer  Untersuchung  zeigte  sich  an  der  früher  erwähnten 
excoriirten  Stelle  der  Volarseite  des  Vorderarms  eine  feine  bereits  ge- 
schlossene schlitzartige  Wunde,  durch  welche  der  Körper  offenbar  mit 
einer  solchen  Geschwindiglvcit  hineiugeschlüpft  war,  dass  der  Patient  das 
Eindringen  desselben  gar  nicht  bemerkt  hatte.  —  Nach  der  Extraction 
verlor  sich  die  sehr  massige  Anscliweliung  vollkommen,  die  kleine  Wunde 
entleerte  wenig  Eiter  und  w^ar  in  8  Tagen  völlig  geschlossen. 

Diese  günstigen  Heilungsverhältnisse  der  Stichwunden  haben  zu  den 
sogenannten  subcutanen  Operationen  geleitet,  die  zumal  von  Stromeyer 
und  Dieffenbach  in  die  Chirurgie  eingeführt  wurden  und  darin  be- 
stehen, dass  man  mit  einem  spitzen,  schmalen  Messer  unter  die  Haut 
eindringt,  und  nun  zu  verschiedenen  Heilzwecken  Sehnen,  Muskeln  oder 
Nerven  durchschneidet,  ohne  eine  andere  Wunde  in  der  Haut  zu  machen 
als  die  kleine  Stichwunde,    durch  welche  man  das  Tenotom  (Sehnen- 


J^36  Von  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 

messer)  einfiilirt.  Der  Heilang'sprocess,  der  bei  offenen  Sehnenwunden 
fast  immer  durch  Eiterung-,  oft  sogar  mit  weitgehendem  Absterben  der 
Sehnen  erfolgt,  findet  unter  diesen  Umständen  fast  immer  per  primam 
rasch  Statt,  wovon  wir  in  dem  Capitel  von  den  Verkrümmungen  (s.  Cap.  18) 
des  Weiteren  zu  sprechen  haben. 

Ist  der  Stich  in  eine  der  Körperhöhlen  eingedrungen  und  hat  hier 
Verletzungen  angerichtet,  so  wird  die  Prognose  immer  zweifelhaft  zu 
stellen  sein,  mehr  oder  weniger  bedenklich,  je  nach  der  physiologischen 
Bedeutung  und  der  geringeren  oder  grösseren  Neigung  zu  gefährlichen 
Entzündungen  des  betroffenen  Organs.  Nie  ist  im  Allgemeinen  eine  der- 
artige Stichwunde  so  gefährlich  wie  eine  Schusswunde.  Wir  gehen 
hierauf  jetzt  nicht  weiter  ein,  sondern  müssen  noch  über  die  Stichwunden 
der  Nerven-  und  Arterienstämme  der  Extremitäten  etwas  sagen. 

Stichwunden  der  Nerven  machen  je  nach  ihrer  Breite  natürlich 
Paralysen  von  verschiedener  Ausbreitung,  sonst  verhalten  sie  sich  ebenso 
wie  die  Schnittwunden  der  Nerven;  es  erfolgt  die  Regeneration  um  so 
leichter,  wenn  der  Nervenstamm  nicht  in  ganzer  Breite  durchstochen 
war.  —  Anders  ist  es  beim  Zurückbleiben  von  fremden  Körpern  in  den 
Nervenstänimen,  z.  B.  von  Nadelspitzen,  von  kleinen  Glasstücken,  die  hier 
wie  in  anderen  Geweben  einheilen  können.  Die  Narbe  im  Nerven, 
welche  diese  Körper  enthält,  bleibt  zuweilen  bei  jeder  Berührung  eminent 
schmerzhaft,  ja  es  können  heftige,  excentrisch  ausstrahlende  Nerven- 
schmerzen, Neuralgien,  auftreten.  Noch  mehr:  es  können  von  solchen 
fremden  Körpern  die  lieftigsten  Nervenzufälle  acuter  und  chronischer 
Form  zur  Entwicklung  kommen.  Epileptiforme  Krampfanfälle  mit 
einer  Aura,  einem  den  Krampfanfall  einleitenden  Schmerz  in  der  Narbe, 
sind  nach  solchen  Verletzungen  beobachtet  worden;  von  einigen  Chirur- 
gen wird  angenommen,  dass  auch  der  Wundstarrkrampf  durch  solche 
Nervenreizungen  hervorgerufen  werden  kann;  mir  erscheint  das  sehr 
zweifelhaft,  wovon  später  mehr.  Durch  die  Extraction  des  fremden 
Körpers  kann  die  erstere  Krankheitsform,  die  in  die  Kategorie  der  s.  g. 
Reflexepilepsie  zu  rechnen  ist,  meist  geheilt  werden. 

Stichwunden  grösserer  Arterienstämme  oder  grösserer 
Aeste  derselben  können  verschiedene  Folgen  nach  sich  ziehen.  Ein 
sehr  feiner  Stich  schliesst  sich  meist  sofort  durch  die  Elaslicität  und 
Contractilität  der  Häute,  ja  es  wird  nicht  einmal  immer  eine  Blutung 
auftreten,  ebensowenig  wie  ein  feiner  Stich  in  einen  Darm  immer  Aus- 
tritt von  Koth  zur  Folge  hat.  Ist  die  Wunde  schlitzförmig,  so  kann 
auch  in  diesem  Falle  die  Blutung  vielleicht  unbedeutend  sein,  wenn  die 
Oeffnung  wenig  klafft;  in  anderen  Fällen  aber  ist  eine  heftige,  arterielle 
Blutung  die  unmittelbare  Folge.  Wird  jetzt  sofort  comprimirt  und  ein 
genauer  Verband  angelegt,  so  wird  es  meist  gelingen,  nicht  allein  die 
Blutung  sicher  zu  stillen,  sondern  auch  die  Stichwunde  der  Arterie  Avie 
die  der  Weichtheile  in  den  meisten  Fällen  sicher  zum  Schluss  zu  bringen. 


Vorlesun-  10.      CapiUrl   II.  137 

Stellt  die  Blutung'  nicht,  so  luuss,  wie  wir  schon  frliiier  bcsprociien  haben, 
sofort  die  Unterbinduiia,-  vorg'enomtnen  werden,  sei  es  nach  zuvor  erfolgter 
Dilatation  der  Wunde  ober-  und  unterhalb  der  verletzten  Stelle,  sei  es 
höher  in  der  Continuität. 

Der  Verschluss  der  Arterienwunde  gelit  in  folgender  Weise  vor  sich: 
es  bildet  sich  ein  Blutgerinnsel  in  der  mehr  oder  minder  klaffenden 
Wunde  der  Arterienvy'and;  dieses  Gerinnsel  ragt  ein  wenig-  in  das  Lumen 
des  Gefässes  hinein;  aussen  aber  pflegt  es  etwas  grösser  zu  sein  und 
sitzt  wie  ein  breiter  Pilz  auf.  Dies  Gerinnsel  wird,  wie  es  früher  bei 
dem  intravasculären  Thrombus  besprochen  „.     .„, 

ist,  zu  Bindegewebe,  und  so  entsteht 
der  dauernde  orgauisclie  Verschluss  der 
Oeffnung  ohne  Verengerung  des  Arterien- 
lumens.—  Dieser  normale  Verlauf  kann     ,.-,•.        ,..*.-      ■.  r<    ■ 

.Seitlich  verletzte  Arterie  mit  berinn- 

dadurch  compiicirt  werden,  dass  sich  an  ^,1.  4  Tage  nach  der  Verw,.nd,a.f<; 
den    in   das  Gefässlunien  etwas    hinein-  nach  Porta. 

ragenden  Pfropf  neue  Filjrinschichten  vom  kreisenden  Blut  absetzen 
und  es  so  zum  Verschluss  des  Arterienlumens  durch  Gerinnsel,  zur 
vollständigen  Arterienthrombose  kommt;  dies  ist  indess  selten;  würde 
es  Statt  haben,  so  würde  derselbe  Erfolg  eintreten,  wie  nach  der  Unter- 
bindungsthrombose: Entwicklung  eines  CoUateralkreislaufs  und  eventuell 
vorübergehende  Obliteration  des  Gefässlumens  durch  Organisation  des 
ganzen  Thrombus. 

Nicht  immer  nehmen  Stichwunden  der  Arterien  einen  so  günstigen 
Verlauf.  In  vielen  Fällen  bemerkt  man  bald  nach  der  Verletzung  eine 
Geschwulst  an  der  Stelle  der  jungen  Hautnarbe,  die  allmählig  sich  ver- 
grössert  und  isochroniscli  mit  der  Systole  des  Herzens  und  mit  dem 
Arterienpuls  sichtbar  und  fühlbar  pulsirt.  Setzen  wir  ein  Stethoskop  auf 
die  Geschwulst,  so  hören  wir  in  derselben  ein  deutliches  Brausen  und 
reibendes  Schwirren.  Comprimiren  wir  die  Hauptarterie  der  Extremität 
oberhalb  der  Geschwulst,  so  hört  in  derselben  die  Pulsation  und  das 
Brausen  auf,  auch  fällt  die  Gesehwulst  etwas  zusammen.  Eine  solche 
Geschwulst  nennen  wir  ein  Aneurysma  (von  arsvQvvw,  erweitern),  und 
zwar  diese  specielle  nach  Arterienverletzung  entstandene  Form  ein 
Aneurysma  spurium  oder  traumaticum  im  Gegensatz  zu  dem  spontan 
durch  anderw^eitige  Erkrankung  der  Arterien  entstehenden  Aneurysma 
verum. 

Wie  entsteht  nun  diese  Geschwulst  und  was  ist  sie?  Die  Entsteb.ung 
wird  folgende  sein:  die  äussere  Wunde  wird  durch  Druck  geschlossen. 
das  Blut  kann  nicht  mehr  aus  derselben  ausfliessen;  indessen  bahnt  es 
sich  jetzt  durch  die  vom  Gerinnsel  noch  nicht  fest  geschlossene  Arterien- 
öffnung hindurch  einen  Weg  in  die  Weichtlieile,  wühlt  sich  zwischen  die- 
selben hinein,  so  lange  wie  der  Druck  des  Blutes  stärker  ist  als  der 
Widerstand,    welchen  die  Gewebe  zu  leisten  im  Stande  sind;    es  bildet 


138 


Von  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 


Fig.  40.  sich    eine    mit    Blut    gefüllte 

Höhle,  die  unmittelbar  in 
Communication  mit  dem  Ar- 
terienlumen  steht;  um  das  zum 
Theil  bald  coag-ulirende  Blut 
entsteht  eine  leichte  Entzün- 
dung" des  umliegenden  Ge- 
webes, eine  plastische  Infil- 
tration, die  zu  Bindegeweb.s- 
neubildung  führt,  und  dies 
verdichtete  Ge^Yebe  stellt  nun 
einen  Sack  dar,  in  dessen  Höhle 
das  Blut  ein-  und  ausströmt, 
während  die  Peripherie  der 
Höhle  mit  Schichten  geronne- 
nen Blutes  ausg-efüllt  ist.  Theils 
durch  das  Ausströmen  des 
Blutes  durch  die  enge  Arterien- 
öffnung, theils  durch  die  Eei- 
bung  des  strömenden  Blutes  an 
den  Blutcoagulis,  so  wie  end- 
lich durch  das  Regurgitiren  des 
Blutes  in  die  Arterie  zurück 
entsteht  das  Brausen  und 
Schwirren,  welches  wir  in 
der  Geschwulst  wahrnehmen. 
Es  kann  ein  solches  trau- 
matisches Aneurysma  auch 
noch  auf  eine  andere  Art  mehr  secundär  entstehen,  indem  nämlich  die 
Arterienwunde  anfangs  heilt,  doch  später  nach  Entfernung  des  Druckver- 
bandes die  junge  Narbe  nachgiebt,  und  nun  erst  das  Blut  austritt. 

Nicht  immer  sind  es  gerade  Stichwunden  der  Arterien,  durch 
welche  solche  traumatische  Aneurysmen  entstehen,  sondern  auch  Zer- 
rcissung  ihrer  Häute  durch  starke  Zerrung  und  Quetschung 
ohne  äussere  Wunde  kann  die  Entwicklung  eines  solchen  Aneurysma 
7Air  Folge  haben.  So  erzählt  A.  Co oper  in  seineu  chirurgischen  Vorlesungen 
folgenden  interessanten  Fall:  ein  Herr  sprang  auf  der  Jagd  über  einen 
Graben  und  empfand  dabei  einen  heftigen  Schmerz  in  der  Kniekehle,  der 
ihn  sofort  am  Gehen  hinderte.  Bald  entwickelte  sich  in  der  Kniekehle  ein 
Aneurysma  der  Art.  poplitea,  welches  später  operirt  werden  niusste.  Die 
Arterie  war  bei  dem  Sprung  theilweise  zerrissen.  Es  genügt  schon,  dass 
die  Tunica  intima  und  muscularis  zerreisst,  um  ein  Aneurysma  zu  Stande 
konmien  zu  lassen.  Bleibt  die  Tunica  adventitia  dabei  unverletzt,  so 
kann  der  Blutstrom  diese  letztere  Haut  von  der  Tun.  media  abdrängen; 


Anenr3'sma  traumati.cum  der  Art.  brachialis;   nach 

Froriep,     Chirurgische    Knpfertafeln ,      Bd.    IV. 

Taf.  483. 


VorlcsituK    10.      Capitcl   H. 


Ui) 


so  entsteht  eine  Art  des  Aiieiiiy.siiiM,  die  iii;in  Aneurysma  dissecans 
genannt  hat.  --  Die  Fälle  von  Stichwundcii  mit  nachfolg'cndem  Aiieit- 
rysma  kommen  /Ainial  in  der  Kriegs])ra.xis,  doch  auch  nicht  gar  seitcn  in 
der  Civilpraxis  vor.  Ich  sah  einen  Kiial)cn  mit  eijieni  hiihnereigrosseii 
Aneurysma  der  Art.  femoralis,  etwa  in  der  Mitte  des  Ohersciienkels, 
welches  durch  den  Stich  mit  einem  Federmesser,  auf  welclies  der  Knal)e 
fiel,  entstanden  war.  Neulicli  operirte  ich  ein  Aneurysma  der  Art. 
radialis,  welches  sich  l)ei  einem  Schuster  nach  einem  zufälligen  Stich 
nnfc  einem  Pfriemen  entwickelt  hatte. 

Ein  Aneurysma  ist  eine  mittelbar  oder  unmittelbar  mit 
dem  Lnmen  einer  Arterie  communicirende  Geschwulst.  Das 
ist  die  gebräuchliche  Deiinition.  Die  Communication  ist  unmittelbar  in 
dem  so  eben  beschriebenen  Fall  eines  einfachen  Aneurysma  traumaticum. 
Doch  können  sich  die  anatomischen  Verliältnisse  dieser  Geschwulst  auch 
noch  complicirter  gestalten. 

Es  kommt  z.  B.  vor,  dass  bei  einem  Aderlass  am  Arme  in  der 
Ellenbogenbeuge,  also  bei  dem  absichtlichen  /Vnstechen  einer  Vene 
behufs  einer  Blutentziehung,  ausser  der  Vene  auch  die  Art.  brachialis 
verletzt  wird;  dies  ist  eine  der  häutigsten  Veranlassungen  für  die  Aus- 
bildung "eines  traumatischen  Aneurysmas,  oder  war  es  wenigstens  frü- 
her, als  mau  sehr  häufig  zur  Ader  Hess.  Man  wird  in  einem  solchen 
Fall  neben  dem  dunkeln  Venenblut  den  hellrothen  arteriellen  Biutslrahl 
leicht  wahrnehmen ;  es  wird  zunächst  eine  Einwicklung  des  ganzen  Arms 


Fiff.  41. 


Varbc    aneiirvsmaticus.       a    Art.  brachialis:     nacli    Bell.    Froriep,    Chirurg.     Kiipfertaf. 

Bd.  III.     Taf.  263. 


mit  Compressiou  der  Arterie  vorgenommen,   und  in  manclien  Fällen  er- 
folgt   die  Heilung    heider    Gefässöffnungen    ohne    alle    weiteren  Folgen. 


140 


Von  einigen  Besonderheiten  der  Stichwunden. 


Zuweilen  kommt  es  aber  vor,  dass  sich  danach  ein  Aneurysma  bildet; 
dies  kann  die  einfache,  oben  beschriebene  Form  haben;  doch  können 
auch  die  beiden  Oeffnungen  der  Gefässe  so  an  einander  wachsen,  dass 
das  arterielle  Blut  theilweis  direct  in  die  Vene  wie  in  einen  arteriellen 
Ast  abfliesst,  und  sich  nun  mit  dem  Strom  des  Venenbluts  begegnen 
muss.  Hierdurch  entstehen  Stauungen  des  Blutstromes  in  der  Vene 
und  dadurch  Aussackungen,  Dilatationen  des  Venenlumens,  die  wir 
im  x\llgemeinen  als  Varices  bezeichnen;  in  diesem  speciellen  Fall 
heisst  man  den  Varix  einen  aneurysmaticus,  weil  er  mit  einer  Ar- 
terie wie  ein  Aneurysma  communicirt.  —  Auch  ein  anderer  Fall  kann 
sieh  ereignen,  nämlich:  es  tritt  die  Bildung  eines  Aneurysmas  zwischen 
Arterie  und  Vene  ein;  sowohl  Arterie  als  Vene  communiciren  mit  dem 
Aneurysmasack. 

Fig.  42. 


AneniTsma    varicosum,     «  Art.    brachialis.     h    Ven.   mediana.     Der   aneurysmati.?che  Sack 
ist  aufgeschnitten;    nach  Dorsej'.     Froriep,    Chir.  Kupiert.  Bd.  III.  Taf.  263. 


Dies  nennen  w^ir  dann  Aneurysma  varicosum.  —  Es  können 
noch  mancherlei  Varietäten  in  dem  Verhältniss  des  aneurysmatischen 
Sacks,  der  Vene  und  der  Arterie  zu  einander  Statt  finden,  die  indess 
nur  die  Bedeutung  einzelner  Curiosa  haben  und  weder  den  Symptomen- 
complex  noch  die  Behandlung  ändern,  auch  zum  Glück  keine  weiter  zu 
merkenden  Namen  bekommen  haben.  —  In  den  meisten  Fällen,  in  denen 
arterielles  Blut  direct  oder  indirect  durch  einen  aneurysmatischen  Sack 
in  die  Vene  strömt,  entsteht  eine  Ausdehnung  der  Venen  und  ein 
Schwirren  in  denselben,  welches  sowohl  fühlbar  als  hörbar  ist  und 
das  auch  zuweilen  an  den  Arterien  wahrzunehmen  ist;  wahrscheinlich 
entsteht  es  durch  die  sich  begegnenden  Blutströmungen.  Entscheidend 
ist  jedoch  dies  Schwirren  in  den  Gefässen  nicht  für  das  Bestehen  eines 
Aneurysma  varicosum,  weil  diese  Erscheinung  ja  auch  zuweilen  allein 
durch  Druck  auf  die  Venen  erzeugt  werden  kann  und  bei  manchen 
Herzkrankheiten  vorkommt.    Nimmt  man  aber  ausserdem  eine  schwache 


Vorlcsiiii-   10.     (Jiipiicl  ir.  141 

Pulsatiou  in  den  (lai-ch  obig'c  YcranhiMstuii;'  ausgcdclmlcn  \'cncii  wulii-,  so 
wivd  diese  sclion  eher  auf  die  ri('lilii;e  Diagnose  liinleiten.  Erst  kiirzlicl) 
hatte  ich  Gelegenlieit  nielirc  Aneurysmen  zu  beobachten,  welche  nach 
Schusswunden  entstanden  waren;  in  drei  Fällen,  welche  die  A.  femoralis 
und  A.  iliaca  externa  hetrafen,  hestand  das  erwähnte  Schwirren  in  hohem 
(li'ade,  so  dass  man  danach  eine  Zcrreissuni;-  der  Arterie  und  Vene  und 
Comnmnication  derselben  annehmen  musste,  die  in  einem  Falle  aucii 
dtu'cli  die  Section  bestätigt  wurde;  doch  in  keinem  dieser  Fälle  hatten 
sich  Varices  gebildet;  die  Entwicklung  der  letzteren  scheint  demnach 
nicht  immer  nothwendige  Folge  von  einer  Connuunication  zwischen  Arterien 
und  Venen  sein  zu  müssen  oder  die  Varices  entwickeln  sich  vielleicht 
zuweilen  erst  im  Lauf  vieler  Jahre. 

Die  Aneurysmen  der  Arterien,  in  welcher  Form  sie  auftreten  mögen, 
würden,  wenn  sie  klein  blichen,  kaum  irgend  w^elche  erhebliche  Be- 
schwerden erregen.  Indess  in  den  meisten  Fällen  werden  die  aneurys- 
matischen  Säcke  immer  grösser  und  grösser;  es  treten  Functionsstörun- 
gen  in  den  hetreffenden  Extremitäten  ein,  endlich  kann  das  Aneurysma 
platzen  und  eine  profuse  Blutung-  macht  dem  Leben  ein  Ende.  Die 
Behandlung  wird  in  den  meisten  Fällen  in  der  Unterbindung  des  aneu- 
r3'sniatischen  Gefässstammes  bestehen  müssen;  doch  davon  erst  später. 
Ich  habe  es  für  zweckmässig  gehalten,  Ihnen  schon  hier  die  Entwicklung- 
der  traumatischen  Aneurysmen  zu  schildern,  da  sie  in  der  Praxis  meist 
nach  Stichwunden  vorkommen,  während  Sie  dieselben  in  andern  Hand- 
büchern systematisch  bei  den  Krankheiten  der  Arterien  abgehandelt  fin- 
den. Wir  sprechen  später  in  einem  besonderen  Capitel  von  den  spontan 
entstehenden  Aneurysmen  und  ihrer  Behandlung. 

Die  Stichwunden  der  Venen  heilen  genau  ebenso  wäe  diejenigen 
der  Arterien,  so  dass  ich  hierüber  gar  nichts  zu  dem  oben  Gesagten 
hinzuzufügen  brauche;  nur  das  möge  hier  schon  bemerkt  sein_  dass  sich 
in  den  Venen  weit  leichter  ausgedehnte  Gerinnungen  bilden  als  in  den 
Arterien:  die  traumatische  Venenthrombose,  z.  B.  nach  Aderlass, 
ist  weit  häufiger  als  die  traumatische  Arterienthrombose  nach  Stichwunden 
der  Arterienwand,  und,  was  viel  schlimmer  ist,  die  erstere  Art  der 
Thrombose  hat  unter  Umständen  Aveit  ernstere  Zustände  zur  Folge  als 
die  letztere;  hierüber  werden  Sie  später  noch  mehr  hören,  als  Ihnen 
vielleicht  lieb  ist. 

Wir  haben  jetzt  schon  öfter  den  Aderlass  erwähnt,  diese  früher 
ziemlich  häufig  vorkommende  kleine  chirurgische  Operation.  Wir  wollen 
die  Technik  derselben  hier  kurz  durchgehen,  wenngleich  Sie  diese  Dinge 
l)ei  einmaligem  Sehen  schneller  und  genauer  fassen,  als  ich  es  Ihnen 
darzustellen  im  Stande  bin.  Wollte  ich  Ihnen  angeben,  unter  welchen 
Verhältnissen  der  Aderlass  gemacht  werden  soll,  so  müsste  ich  mich 
sehr  tief  in  die  gesammte  Mediciu  hineinbegeben;  man  könnte  ein  Buch 
von  ziemlicher  Dicke  sehreiben,  wenn  man  die  Indicationen  und  Contra- 


142  ^'^f'"  eini£fen  Eesonderlieiten  der  Stidiwimdcn. 

indicationen,  die  Zulässigkeit,  Nützlichkeit  imd  Schädlichkeit  des  Ader- 
lasses nach  allen  Seiten  hin  beleuchten  wollte;  ich  ziehe  es  daher  vor, 
lieher  ganz  darüber  zu  schweigen,  wie  über  so  manche  Dinge,  die  Sie 
durch  tägliche  Beobachtung  in  den  Kliniken  in  wenigen  Minuten  auf- 
fassen, und  zu  deren  theoretischer  Exposition  ohne  speciellen  Fall  Stun- 
den nothw^endig  sein  würden.  Nur  so  viel  sei  in  historischer  Beziehung 
bemerkt,  dass  man  früher  an  den  verschiedensten  subcutanen  Venen  des 
Körpers  zur  Ader  Hess,  während  man  sich  heute  allein  auf  die  Venen 
in  der  Ellenbogenbeuge  beschränkt.  Soll  ein  Aderlass  gemacht  werden, 
so  legen  Sie  zuerst  am  Oberarm  einen  Compressivverband  an,  der  eine 
Stauung  in  den  peripherischen  Venen  veranlasst;  als  einen  solchen  Com- 
pressivverband l)raucht  man  ein  kunstgerecht  applicirtes  Taschentuch 
oder  die  besonders  dazu  bestimmte  scharlachrothe  Aderlassbinde,  ein 
derbes  2 — 3  Finger  breites  Bindenstück  mit  einer  Schnalle.  Liegt  die 
Aderlassbiude  fest,  so  schwellen  die  Vorderarmvenen  bald  an,  und  es 
präsentiren  sicli  in  der  Ellenbogenbeuge  die  V.  cephalica  und  basilica 
mit  ihren  entsprechenden  Vv.  medianae.  Sie  wählen  diejenige  Vene  zur 
Eröffnung,  welche  am  stärksten  hervortritt.  Der  Arm  des  Patienten  wird 
im  stumpfen  Winkel  flectirt;  mit  dem  Daumen  der  linken  Hand  fixiren 
Sie  die  Vene,  mit  der  Lancette  oder  einem  recht  spitzen  gradeu  Scalpell 
in  der  rechten  Hand  stechen  Sie  in  die  Vene  ein  und  schlitzen  sie  der 
Länge  nach  2 — 3"'  weit  auf.  Das  Blut  strömt  im  Sti-ahle  aus;  Sie 
lassen  so  viel  fliessen  als  nöthig,  decken  die  Stichwunde  mit  dem 
Daumen  zu,  entfernen  die  Aderlassbinde  am  Oberarm  und  die  Blutung 
wird  von  selbst  stehen ;  die  Wunde  wird  durch  eine  kleine  Compresse 
und  eine  Binde  gedeckt;  der  Arm  muss  3 — 4  Tage  ruhig  gehalten  wer- 
den, dann  ist  die  Wunde  geheilt.  —  So  leicht  diese  kleine  Operation 
in  den  meisten  Fällen  ist,  erfordert  sie  doch  Uebung.  Der  Einstich  mit 
Lancette  oder  Scalpell  ist  der  Operation  mit  dem  Schnepper  vor- 
zuziehen; letzteres  Instrument  war  früher  sehr  gebräuchlich,  kommt 
jedoch  jetzt  sehr  aus  der  Mode  und  mit  Eecht;  der  Aderlassschnepper 
ist  eine  sogenannte  Fliete,  die  mit  einer  Stahlfeder  in  die  Vene  liinein- 
getrieben  wird;  man  lässt  das  Instrument  operiren,  anstatt  dasselbe  sicher 
mit  der  Hand  zu  führen. 

Es  giebt  eine  Menge  von  mechanischen  Hindernissen,  die  sich  dem 
Aderlass  in  den  Weg  stellen  können.  Bei  sehr  fetten  Personen  ist  es 
oft  sehr  schwer,  die  Venen  durch  die  Haut  hindurch  zu  sehen  oder  zu 
fühlen;  man  nimmt  dann  wohl  ausser  der  Compressiou  ein  anderes  Mittel 
zu  Hülfe,  nämlich  dass  man  den  Vorderarm  in  warmes  Wasser  halten 
lässt;  dadurch  wird  ein  stärkerer  Zufluss  des  Blutes  zu  diesem  Körper- 
theil  bewirkt.  Das  Fett  kann  auch  nach  "der  Eröffnung  der  Vene  noch 
hinderlicli  für  den  Ausfluss  des  Blutes  werden,  indem  sich  Fettläppchen 
vor  die  Stichötfnung  legen;  diese  müssen  dann  mit  der  Scheere  rasch 
abgetragen  werden.     Zuweilen  liegt  ein  Hinderuiss  für  den  Abfluss  auch 


Vorh'sim..-  II.    ('M|Miri  irr.  143 

darin,  (hiss  der  Ann  nncli  d(Mii  !*j'uslic.li  eine  juidcre  Stellung'  diireli 
Dreliung-  oder  Beugung-  bekam  und  nun  di(!  Venenöffnung  niclit  jiielir 
mit  der  Hautüffnung  correspondirt;  dies  ist  durch  eine  veränderte  »Stel- 
lung des  Armes  zu  beseitigen.  —  Es  giebt  nooli  andere  Ursachen,  wes- 
lüilb  das  IJUit  niclit  reclit  fliessen  will:  /..  1>.  die  Sticliöffnung  ist  zu 
klein,  ein  sehr  häufiger  Fehler  bei  Anfängern  im  Aderlässen;  ferner: 
die  Compression  ist  zu  schwacli;  dies  ist  durch  Anziehen  der  Binde  zu 
verbessern;  oder  umgekehrt:  die  Compression  ist  zu  stark,  so  dass  die 
Arterie  auch  comprimirt  ist  und  wenig  oder  gar  kein  Blut  zum  Arm 
zufliesst;  dies  ist  durch  Lockerung  der  Aderlassbinde  zu  beseitigen.  Ein 
Hülfsmittel  zur  Beförderung  des  Blutabflusses  ist  auch  das  rlivthmische 
active  Oeffnen  und  Schliessen  der  Hand  des  Kranken,  indem  duvcli  die 
Muskelcontractionen  das  Blut  ausgetrieben  wird. 


Vorlegung  IL 
CAPITEL  in. 

Von  den  Qiietscliiiiigen  der  Weichtheile  ohn(3  Wunde. 

Art  des  Zustandekommens  der  Quetsclmngen.  —  Nervenerschütterung.  —  Subcutane  Ge- 
fässzerreissungen.  —  Zerreissung  von  Arterien.  —  Sugillation,  Ecchymose.  —  Eesorption. 
—  Ausgänge  in  fibrinöse  Tumoren,   in  Cysten,  in  Eiterung,  Verjaucliung.  —  Behandlung. 

Durch  die  Einwirkung  eines  stumpfen  Körpers  auf  die  Weichtheile 
wird  in  manchen  Fällen  die  Haut  zerstört,  in  andern  nicht;  wir  unter- 
scheiden danach  Quetschungen  mit  Wunden  und  ohne  Wunden.  Letztere 
wollen  wir  zunächst  berücksichtigen. 

Diese  Quetschungen  (Contusionen)  werden  theils  veranlasst  durch 
das  Auffallen  oder  gewaltsame  Aufschlagen  schwerer  Gegenstände  auf 
den  Körper,  oder  durch  das  Auffallen  oder  Gegenschlagen  des  letzteren 
gegen  einen  harten,  festen  Gegenstand.  Die  unmittelbare  Folge  einer 
solchen  Quetschung  ist  ein  Zerdrücken  der  Weichtheile,  das  in  den 
all  erverschiedensten  Graden  Statt  haben  kann;  oft  nehmen  wir  kaum 
eine  Veränderung  wahr,  in  anderen  Fällen  finden  wir  die  Theile  zu 
Brei  zermalmt. 

Ob  die  Haut  bei  einer  solchen  Gewalteinwirkung  eine  Continuitäfs- 
trennung  erleidet,  hängt  von  mancherlei  Umständen  ab,  zumal  von  der 
Form  des  quetschenden  Körpers  und  der  Kraft  des  Stosses,  dann  von 
der  Unterlage,  welche  die  Haut  hat;  die  gleiche  Gewalt  kann  z.  B.  an 
einem  musculösen  Oberschenkel  eine  Quetschung  ohne  Wunde  machen, 
während  sie,  auf  die  Crista  tibiae  applicirt,  eine  Wunde  veranlassen 
würde,  indem  hier  der  scharfe  Knochenrand  von  innen  nach  aussen  die 


^44  ^"^^  'l'-^ii  Q^ietschnngen  der  Weichtheile  ohne  Wunde. 

Haut  gewissermaassen  diivcbsclmeidet.  Es  kommt  ferner  die  Elasticität 
und  Dicke  der  Haut  in  Betracht,  welche  nicht  allein  bei  verschiedenen 
Menschen  sehr  verschieden  ist,  sondern  auch  hei  einem  und  demselben 
Individuum  an  den  einzelnen  Stellen  des  Körpers  sieh  verschieden 
verhält. 

Bei  einer  Quetschung  ohne  Wunde  können  wir  den  Grad  der  Zer- 
störung nicht  unmittelbar  erkennen,  sondern  nur  mittelbar,  und  zwar  aus 
den  Erscheinungen  von  Seiten  der  Nerven  und  Gefässe,  dann 
aus  dem  weiteren  Verlauf  nach  der  Verletzung. 

Die  nächste  Erscheinung  an  den  Nerven  bei  einer  Quetschung  ist 
Schmerz,  wie  bei  den  Wunden,  doch  ein  Schmerz  mehr  dumpfer,  unbe- 
stimmbarer Art,  wenn  er  auch  sehr  heftig  sein  kann.  In  vielen  Fällen 
hat  der  Verletzte,  zumal  beim  Gegenschlagen  gegen  einen  harten  Körper, 
ein  eigenthiimlich  vibrirendes,  dröhnendes  Gefühl  in  den  betroffenen 
Theilen;  dies  Gefühl,  welches  sich  ziemlich  weit  über  den  getroffenen 
Theil  hinaus  erstreckt,  ist  durch  die  Erschütterung,  welche  die  Nerven- 
substanz erleidet,  bedingt,  Stösst  man  sich  z.  B.  heftig  gegen  die  Hand 
oder  gegen  einen  Finger,  so  wird  nur  ein  kleiner  Theil  eigentlich  ge- 
quetscht, doch  es  tritt  dabei  nicht  selten  eine  Erschütterung  der  Nerven 
der  ganzen  Hand  ein  mit  lebhaftem ,  dumpfem  Schmerz  und  Zittern, 
wobei  man  nicht  gleich  im  Staude  ist,  die  Finger  zu  rühren,  und  wobei 
auch  ziemlich  vollständige  Gefühllosigkeit  für  den  Moment  Statt  hat; 
dieser  Zustand  geht  rasch,  meist  in  wenigen  Secuuden  vorüber,  und 
nun  empfinden  wir  erst  speciell  den  brennenden  Schmerz  an  der  ge- 
ciuetschten  Stelle.  Wir  haben  für  diese  vorübergehende  Erscheinung 
keine  andere  Erklärung,  als  dass  wir  annehmen,  die  Substanz  der  Nerven, 
zumal  der  Achsencyliuder  erleide  durch  den  Stoss  moleculäre  Verschie- 
bungen, die  sich  spontan  wieder  ausgleichen.  Diese  Erscheinungen  der 
Erschütterung,  der  Commotion,  sind  keineswegs  mit  allen  Quetschungen 
verbunden ;  sie  fehlen  in  den  meisten  Fällen,  wo  ein  schwerer  Körper  ein 
ruhendes  Glied  trifft;  doch  sind  sie  nicht  selten  von  grosser  Bedeutung 
bei  Quetschungen  am  Kopf:  hier  vereint  sich  dann  die  Commotio  cerebri 
zuweilen  mit  der  Contusio  cerebri,  oder  erstere  tritt  allein  auf,  z.  B. 
bei  Fall  auf  die  Füsse  oder  auf  das  Gesäss,  von  wo  sich  die  Erschütte- 
rung auf  das  Gehirn  fortpflanzt  und  die  schwersten  Zufälle,  ja  den  Tod 
veranlassen  kann,  ohne  dass  man  anatomische  Veränderungen  im  Hirn 
findet.  Die  Erschütterung  ist  ein  Vorgang,  den  wir  vorzüglich  ins  Nerven- 
system verlegen;  mau  spricht  daher  hauptsächlich  von  einer  Gehirn- 
erschütterung, von  einer  Bückenmarkserschütterung.  Doch  auch  die 
peripherisclien  Nerven  können  erscliüttei-t  werden  mit  den  angegebenen 
Erscheinungen;  da  sich  aber  dabei  die  locale  Quetschung  vorwiegend 
geltend  macht,  so  lässt  man  diesen  Nervenzustand  vielleicht  zu  sehr  aus 
den  Augen.  Eine  heftige  Erschütterung  des  Thorax  kann  z.  B.  eben 
durch  die  Erschütterung  der  Herz-  und  Lunffennerven  die  bedenklichsten 


Vorlosinio'   II.     Cnpilcl  TTI.  145 

J''.r!sc]ieinuiigeu  Jievvorrufen,  •wenn  dadurch  die  (Jireulation  und  Kespi- 
ration,  kürzer  oder  rascher  vorübergeliend,  g-estört  wird.  Audi  eine  Riick- 
Avirkung-  der  erschütterten  Nerven,  zumal  der  synipathisclien  ,  auf  das 
Hirn  ist  nicht  ganz  in  Abrede  zu  stellen;  gewiss  wird  es  Einem  oder 
dem  Andern  von  Ihnen  früher  auf  dem  Turnplatz  beim  Ringen  und  Boxen 
passirt  sein,  dass  er  einen  heftigen  Stoss  gegen  den  Bauch  bekam;  welch' 
schauderhafter  Schmerz!  es  überkommt  Einen  für  den  Augenblick  fast 
das  Gefülil  einer  Ohnmacht!  wir  haben  da  eine  Wirkung  auf  das  Hirn 
und  auf  das  Hei'z;  man  hält  den  Athein  an  und  muss  seine  Kraft  zu- 
sammenraffen, um  nicht  umzusinken.  —  Sehr  häufig  kommt  auch  die 
Erschütterung  des  N.  ulnaris  vor,  wenn  man  sich  den  Ellenbogen  heftig 
stösst;  die  heftige  dumpfe  Schmerzempiindung,  die  bis  in  den  kleinen 
Finger  ausstrahlt,  ist  w^ohl  den  meisten  von  Ihnen  bekannt.  Zusammen- 
schnüren sensibler  Nerven  soll  Coutraction  der  Hirngefässe  hervorbringen, 
wie  neuere  Versuche  an  Kaninchen  leliren;  vielleicht  ist  dadurch  die 
Ohnmacht  als  Folge  eines  heftigen  Schmerzes  zu  erklären. 

Dies  Alles  sind  Er  seh  ütterungsersch  einungen  an  den  periphe- 
rischen Nerven.  Da  wir  nun  nicht  wissen,  was  hierbei  speciell  in  den 
Nerven  vorgeht,  so  können  war  auch  nicht  beurtheilen^  ob  diese  Vor- 
gänge einen  Einfluss  und  welchen  auf  den  w^eiteren  Verlauf  der  Quet- 
schung und  der  Quetschwunden  haben;  wir  können  daher  auch  Jiier  die 
Nerven  nicht  weiter  berücksichtigen.  Es  scheinen  einige  unzweifelhafte 
Beobachtungen  dafür  zu  sprechen,  dass  diese  Erschütterungen  peripherischer 
Nerven  motorische  und  sensible  Paralysen,  sowie  Atrophien  der  Muscu- 
latur  einzelner  Gliedmaassen  zur  Folge  haben  können,  doch  ist  der  Causal- 
nexus  wegen  mannichfacher  Complicationen  oft  sehr  schwierig  zu  beweisen. 

Von  diesen  Erschütterungen  der  Nerven  unterscheiden  sich  die  Quet- 
sehung-en  der  Nerven  dadurch,  dass  bei  diesen  einzelne  Theile  der 
Nervenstämme,  oder  letztere  auch  in  ihrer  ganzen  Dicke,  in  der  ver- 
schiedensten Ausdehnung  und  dem  verschiedensten  Grade  durch  die  ein- 
wirkende Gewalt  zerstört  werden,  so  dass  wir  sie  mehr  oder  weniger 
breiig  erw^eicht  finden.  Unter  diesen  Umständen  muss  eine  der  Verletzung 
entsprechende  Paralyse  auftreten,  aus  der  wir  dann  auf  den  betroffenen 
Nerv  und  die  Ausdehnung  der  Einwirkung  zurückschliessen.  Im  Ganzen 
sind  solche  Quetschungen  der  Nerven  ohne  Wunde  selten,  da  die  Haupt- 
nervenstämme  tief  zwischen  den  Muskeln  liegen  und  daher  weniger  direkt 
getroffen  werden. 

Es  ist  a  priori  zuzugeben,  dass  Erschütterungsvorgänge  auch 
an  andern  Geweben  und  Organen  Statt  finden  können  als  gerade 
an  den  Nerven,  und  dass  dadurch  nicht  nur  Störungen  der  functionellen 
sondern  auch  der  nutritiyen  eventuell  formativen  Funktionen  vorüber- 
gehend oder  dauernd  hervorgerufen  w^erden  können.  Solche  Störungen 
können  auch  einen  wichtigen  Einfluss  auf  den  weiteren  Verlauf  der 
reparativen  Vorgänge  nach  den  Verletzungen  haben,  und  sind  als  Haupt- 

Billroth  chir.  Patb.  u.  Ther.   7.  Aufl.  10 


l46  Von  den  Quetschungen  der  Weichtheile  olme  Wunde. 

Ursache  für  die  oft  so  stürmisch  verlaufenden  Entzündungen  mit  leicht 
zersetzbaren  Exsudaten  und  Infiltraten  von  manchen  Chirurgen  angesehen 
worden.  Icli  bin  weit  entfernt,  den  Einfluss  einer  energischen  Erschütte- 
rung z.  B.  auf  einen  Knochen  zu  leugnen,  dessen  Mark  und  Gefässe 
dadurch  zerreissen,  ohne  dass  er  zusammenbricht;  gCAviss  werden  die 
Folgen  einer  solclien  Verletzung  unter  Umständen  viel  ausgedehnter  und 
langwieriger  sein,  als  die  Folgen  eines  z.  B.  durch  Ueberbiegung  er- 
folgten Bruches;  doch  darf  man  wohl  diesem  Moment  allein  nicht  den 
oft  so  schweren  Verlauf  gequetschter  Wunden  zuschieben.  — 

Ziemlich  auffallend  geben  sich  oft  die  Quetschungen  der  Gefässe 
zu^  erkennen,  indem  die  Wandung  der  feineren  Gefässe,  zumal  der  sub- 
cutanen Venen,  durch  die  Quetschwirkung  zerstört  wird  und  nun  Blut 
austritt.  Die  subcutane  Blutung  ist  daher  die  fast  regelmässig  ein- 
tretende Folge  einer  Quetschung.  Sie  würde  noch  viel  bedeutender  sein 
müssen,  wenn  die  Gefässwunden  bei  dieser  Art  der  Verletzung  scharfe 
Bänder  bekämen  und  klafften;  doch  dies  ist  meist  nicht  der  Fall,  die 
Quetschwunden  der  Gefässe  sind  rauh,  uneben,  fetzig,  und  diese  Un- 
ebenheiten bilden  Hindernisse  für  das  Ausströmen  des  Blutes,  die  Rei- 
bung ist  so  gross,  dass  der  Blutdruck  dieselbe  bald  nicht  mehr  über- 
windet, es  bilden  sich  Faserstoffgerinnungen  zunächst  an  diesen  Rauhig- 
keiten, selbst  bis  ins  Gefässlumen  hinein,  und  damit  ist  dann  eine 
mechanische  Verstopfung  des  Gefässes,  eine  Thrombose,  gegeben;  die 
Quetschung  der  Gefässwand,  durch  welche  eine  Alteration  ihrer  Struktur 
bedingt  wird,  kann  schon  für  sich  die  Gerinnung  des  Blutes  zur  Folge 
haben,  da  Brücke  nachgewiesen  hat,  dass  eine  lebendige  gesunde  Intima 
der  Gefässe  eine  wichtige  Bedingung  für  das  Flüssigbleiben  des  Blutes 
innerhalb  der  Gefässe  bildet.  Wir  konnnen  auf  diese  Vorgänge  bei  den 
Quetschwunden  noch  wieder  zurück.  Der  Gegendruck  der  Weichtheile 
verhindert  einen  gar  zu  starken  Blutaustritt,  indem  die  Muskeln  und  die 
Haut  eine  natürliche  Compression  ausüben;  so  kommt  es,  dass  diese 
subcutanen  Blutungen,  selbst  wenn  sie  aus  einem  starken  Gefäss  kommen, 
an  den  Extremitäten  fast  nie  augenblicklich  lebensgefährlich  werden. 
Anders  verhält  es  sich  natürlich  mit  Blutungen  in  den  Körperhöhlen; 
hier  sind  vorwiegend  verschiebbare  weiche  Theile,  die  dem  Ausfliessen  des 
Blutes  aus  dem  Gefässe  keinen  genügenden  Gegendruck  leisten  können; 
diese  Blutungen  werden  daher  nicht  selten  tödtlich,  und  zwar  auf 
zweierlei  Weise,  theils  nämlich  durch  die  Menge  des  austretenden 
Blutes,  z.  B.  in  die  Brusthöhle,  in  die  Bauchhöhle,  theils  durch  die 
Compression,  welche  das  austretende  Blut  auf  die  in  den  Höhlen  ge- 
legenen Theile  ausübt,  z.  B.  aufs  Gehirn,  welches  durch  das  aus  starken 
Gefässen  ausströmende  Blut  nicht  allein  theilweis  zerstört,  sondern 
auch  nach  verschiedenen  Richtungen  comprimirt  und  so  functionsunfähig 
wird;  Blutungen  im  Gehirn  machen  daher  rasch  auftretende  Lähmungen 
und  oft  auch    Störungen  des   Seusoriums;   wir  nennen  im   Gehirn  diese 


Voricsiiu-    I  I.      (';i|.ilcl    lir.  147 

Blutergüsse  selbst,  sowie  aucli  die  (hulurcli  liervorg'ebraclite  Kcilie  von 
Symptouieii  Apoplexien  (von  urco  und  nh]aao)^  wegschlageu,  nieder- 
selilag-en).  — 

Ist  an  den  Extremitäten  eine  g-rösserc  Arterie  zer(iuetsclit,  so  ge- 
stalten sich  die  Verhältnisse  wie  ))ei  einer  vernähten  oder  eoni])riniirteii 
Stichwunde.  Es  kann  sich  auf  die  in  der  vorigen  Stunde  beschriebene  Weise 
ein  traumatisches  Aneurysma,  eine  pulsirende  Geschwulst  bilden.  Dies 
ist  indess  im  Verhältniss  zu  den  vielen  im  täglichen  lieben  vorkonnuen- 
den  Quetsdiungen  sehr  selten,  wolil  deshalb,  weil  die  grösseren  Arterien- 
stämme ziemlich  tief  liegen,  und  die  Arterienhäutc  fest  und  elastisch 
sind,  so  dass  sie  bei  weitem  weniger  leicht  zerreissen  als  die  Venen. 
Vor  einiger  Zeit  haben  wir  indess  eine  subcutane  Zerreissung  der  Art. 
tibialis  antica  in  der  Klinik  beol)aehtet.  Ein  kräftiger,  starker  Mann 
hatte  den  Unterschenkel  gebrochen,  die  Haut  war  unverletzt.  Der  Bi-uch 
■war  ungefähr  in  der  Mitte  dei'  Tibia,  derjenige  der  Fibula  etwas  hölier; 
die  ziemlich  bedeutende  Geschwulst,  welclie  sich  um  die  Bruchstelle  sofort 
nach  der  Verletzung  gebildet  hatte,  pulsirte  deutlicli  sichtbar  und  fühl- 
1)ar  an  der  vorderen  Fläche  des  Unterschenkels.  Man  hörte  in  derselben 
sehr  deutliches  Brausen,  so  dass  ich  dies  Phänomen  meinen  Herren  Zu- 
hörern demonstriren  konnte.  Der  Fuss  wurde  mit  Rinden  und  Scliienen 
umgeben  und  al)sic]itlich  kein  inamovibler  Verband  angelegt,  um  zu 
beobachten,  wie  sich  das  traumatische  Aneurysma,  welches  hier  offen])ar 
enstanden  war,  weiterhin  gestalten  würde.  Wir  erneuerten  den  Verband 
etwa  alle  3—4  Tage,  und  konnten  uns  überzeugen,  wie  die  Geschwulst 
allmählig  kleiner  wairde  und  nach  und  nach  immer  schwächer  pulsirte, 
bis  sie  14  Tage  nach  der  Verletzung  völlig-  verschwunden  war.  Das 
Aneurysma  war  durch  die  mit  dem  Verband  ausgeübte  Compression  ge- 
heilt. Auch  die  Heilung  der  Fractur  unterlag  keiner  Unterbrechung,  der 
Kranke  hatte  8  Wochen  nach  der  Verletzung  den  vollständigen  Gel)rauch 
seiner  Extremitäten. 

Die  häufigsten  subcutanen  Blutungen  bei  den  Quetschungen  entstehen 
durch  Zeireissung  der  subcutanen  Venen.  Diese  Blutergüsse  veranlassen 
sichtbare  Erscheinungen,  die  theils  nach  der  Quantität  der  ausgetretenen 
Blutmenge,  theils  nach  der  Vertheilung  des  Blutes  in  den  Geweben  ver- 
schieden sind. 

Je  gefässreicher  ein  Theil  ist,  und  je  stärker  er  gequetscht  wird, 
um  so  grösser  wird  das  Extravasat  werden.  Das  extravasirte  Blut 
bahnt  sich,  wenn  es  langsam  aus  den  Gefässen  austliesst,  zwischen  die 
Bindegewebsbündel,  zumal  des  Unterhautzellgewebes  und  der  Muskeln 
Wege;  es  muss  so  eine  Infiltration  der  Gewebe  mit  Blut  entstehen,  die 
eine  Schwellung  derselben  veranlasst.  Diese  diffusen  und  subcutanen 
Blutungen  nennen  wir  Sugillationeu  (von  sugillatio,  die  Blutunterlau- 
fung),  auch  wohl  Suffusionen.  Je  laxer  und  nachgiebiger,  je  leichter 
aus  einander  zu   schieben  das   Gewebe  ist,    um    so    ausgedehnter  wird 

10* 


i4S  ^'^O"  *i®'"^  Quetschnngen  der  Weichtheile  ohne  Wunde. 

diese  Blutinfiltration  werden,  wenn  das  Blut  allmählig,  doch  coutinuirlich 
eine  Zeit  lang-  aus  den  Gefässen  ausfliesst.  Wir  finden  daher  in  der 
Eeg-el  die  Blutergüsse  in  den  Augenlidern,  im  Scrotum  sehr  weit  ver- 
breitet, weil  hier  das  subcutane  Bindegewebe  so  sehr  locker  ist.  Je 
dünner  die  Haut  ist,  um  so  leichter  und  um  so  früher  werden  wir  die 
Blutinfiltration  erkennen;  das  Blut  schimmert  durch  die  Haut  blau  durch, 
dringt  in  dieselbe  ein  und  giebt  ihr  eine  stahlblaue  Färbung  Unter  der 
Conjunctiva  bulbi  erscheint  dagegen  das  extravasirte  Blut  vollkommen 
roth,  da  diese  Membran  so  selir  fein  und  durchscheinend  ist.  Blutextra- 
vasate  in  der  Cutis  selbst  stellen  sich  als  rothe  Flecken  (Purpura)  oder 
Streifen  (Vibices)  dar;  sie  sind  indessen  in  dieser  Form  fast  niemals 
Folge  einer  Quetschung,  sondern  durch  spontane  Gefässzerreissungen  be- 
dingt, sei  es,'  dass  die  Gefässwandungen  bei  manchen  Individuen  beson- 
ders dünn  sein  mögen,  wie  bei  den  früher  erwähnten  Blutern,  sei  es, 
dass  sie  durch  ungekannte  Zersetzungszustände  des  Blutes  besonders 
mürbe  und  zerreisslich  werden,  wie  beim  Scorbut,  bei  manchen  Formen 
des  Typhus,  beim  Morbus  maculosus  etc.  Die  Quetschung  der  Cutis  ist 
gewöhnlich  an  einer  stark  dunkelblauen,  ins  Braune  übergehenden 
Färbung  zu  erkennen,  zuweilen  auch  an  Abstreifung  der  Epidermis,  an 
den  sogenannten  Schrunden,  oder  wie  man  in  der  Kunstsprache  sagt, 
an  den  Excor iationen. 

Tritt  auf  einmal  viel  Blut  aus  den  Gefässen  und  ergiesst  sich  in 
laxes  Zellgewebe,  so  entsteht  eine  mehr  oder  weniger  abgegrenzte  Höhle. 
Diese  Form  des  Blutergusses  nennen  wir  eine  Ecchymose,  oder  Ec- 
ehymom,  oder  Haematom,  Blutgeschwulst.  Ob  dabei  die  Haut  ver- 
färbt ist,  hängt  davon  ab,  wie  tief  das  Blut  unter  derselben  liegt;  bei 
tiefen  Blutergüssen,  den  diffusen  sowohl  als  den  circumscripten,  findet 
man  oft,  zumal  gleich  nach  der  Verletzung,  gar  keine  Verfärbung  der 
Haut.  Man  nimmt  nur  eine  Geschwulst  wahr,  eieren  rasches  Entstehen 
unmittelbar  nach  einer  Verletzung  schon  gleich  auf  ihre  Natur  führt,  und 
diese  Geschwulst  fühlt  sich  weich  und  gespannt  an.  Der  umgrenzte 
Bluterguss  bietet  das  sehr  charakteristische  Gefühl  der  Schwappung  dar, 
das  Gefühl  der  Fluctuation.  Sie  können  sich  von  diesem  Gefühl  am 
leichtesten  einen  deutlichen  Begriff  machen,  wenn  Sie  eine  Blase  mit 
Wasser  stark  anfüllen  und  nun  die  Wandungen  befühlen.  Es  ist  die 
Untersuchung  auf  Fluctuation  in  der  chirurgischen  Praxis  von  grosser 
Bedeutung,  da  es  unzählige  Fälle  giebt,  wo'es  wichtig  ist,  zu  entscheiden, 
ob  man  es  mit  einer  Geschwulst  zu  thun  hat,  die  von  fester  Consistenz 
ist,  oder  einer  solchen,  die  Flüssigkeit  enthält.  Ueber  die  Art,  wie  Sie 
diese  Untersuchung  in  den  einzelnen  Fällen  am  besten  machen,  werden 
Sie  in  der  Klinik  belehrt  werden. 

Manche  Arten  dieser  Blutergüsse  haben  je  nach  den  Localitäten, 
an  denen  sie  vorkommen,  besondere  Namen  erhalten.  So  nennt  man  die 
Blutergüsse,    welche    nicht  selten    am  Kopf  der  Neugebornen  zwischen 


Vorlesung   U.     Capilcl   Ilf.  140 

den  verschiedenen  Bedeckungen  des  Schädels  und  diesem  seihst  ent- 
stehen: Cephalhaematoma  (von  nscpayt],  Kopf",  und  mf-iarocü^  mit 
Blut  besudeln),  Kopfl)luti>'eschwulst  der  Neugehonien;  das  Extravasat, 
welches  sich  nach  Contusion  oder  auch  nach  dem  spontanen  Bersten  aus- 
gedehnter Venen  in  den  grossen  Schamlippen  bildet,  hat  den  zierlichen 
Namen:  Episiohaematoma  oder  Episiorrhagia  (von  sneioiov,  die 
äussere  Scham)  bekommen.  Auch  die  Blutergüsse  in  der  Pleura-  und 
Pericardialhöhle  haben  besondere  Bezeichnungen:  Haematothorax, 
Haematopericardium  u.  s.  \v.  Wir  legen  jetzt  im  Ganzen  wenig 
Gewicht  auf  diese  schönklingenden  lateinischen  und  griechischen  Namen; 
immerhin  müssen  Sie  dieselben  kennen^  theils  um  sie  beim  Lesen  medi- 
cinischer  Bücher  zu  verstehen  und  nicht  irgend  etwas  Mysteriöses  da- 
hinter zu  suchen,  theils  weil  sie  dazu  dienen,  um  uns  kürzer  auszu- 
drücken und  uns  rascher  verständlich  zu  machen. 

Sehr  charakteristich  für  diese  subcutanen  Blutergüsse  sind  ihr  wei- 
terer Verlauf  und  die  Erscheinungen,  die  sich  dabei  kundgeben.    Bleiben 
wir  zunächst  einmal  bei  den  diffusen  Blutergüssen  stehen,    so  sind  wir 
gleich  nach  der  Verletzung  selten  in  der  Lage,  zu  bestimmen,  von  wel- 
cher Ausbreitung  die  Blutung  gewesen  ist  oder  noch  ist.     Sehen  Sie  den 
gequetschten  Theil  am  zweiten  und   dritten  Tage  nach  der  Verletzung 
an,    so  nehmen  Sie   schon  eine  weit  grössere  Ausdehnung  der  Hautver- 
färbung wahr  als  am  ersten  Tag,  ja  später  scheint  sich  dieselbe  immer 
noch  zu  vergrössern,  d.  h.  sie  wird  immer  mehr  wahrnehmbar.     Die  Aus- 
dehnung ist  zuweilen  ganz  erstaunlich;  so  hatten  wir  einmal  in  der  Klinik 
einen  Mann  mit  einer  Fractur  der  Scapula:    da  war   anfangs  nur  eine 
sehr  geringe  Verfärbung  der  Haut  vorhanden,  wenngleich  sich  eine  grosse 
schwappende  Geschwulst  gebildet    hatte;    am  8.  Tage    sah    der   ganze 
Rücken  des  Patienten  vom  Hals  bis  zur  Gegend  der  Mm.  glutaei  dunkel 
stahlblau  aus  und  gewährte  so  allerdings  einen  sonderbaren,  fast  komi- 
schen Anblick,  da  die  Haut  wie  angefärbt  erschien.     Dergleichen  weit- 
gehende Blutunterlaufungen   kommen  grade  bei  Knochenbrüchen  häufig 
vor,    zumal    auch  an  Arm  und  Bein.     Diese  theils  dunkelblaue,    theils 
blaurothe  Färbung,    wobei   die  Haut  durchaus  nicht  besonders  empfind- 
lich, oft  kaum  geschwollen  ist,  bleibt  aber  zum  Glück  nicht  so,  sondern 
es   treten   weitere  Veränderungen ,    zunächst  weitere  Verfärbungen  ein, 
indem  das  Blau  und  Roth  in  ihrer  Vermischung  in  Braun,  dann  in  Grün 
und  endlich  in  ein  helles  Citronengelb  tibergehen.     Dieses  höchst  sonder- 
bare Farbenspiel  hat  wohl  zu  dem  Ausdruck  „Jemanden  braun  und  blau 
schlagen"  oder  „durchbläuen"  Veranlassung  gegeben.     Die  zuletzt  zurück- 
bleibende gelbe  Färbung  bleibt  gewöhnlich  sehr  lange,  oft  Monate  lang 
noch  zurück,    bis  auch  sie   endlich  verschwindet,    und  keine  Spur  mehr 
von  dem  Extravasat  äusserlich  sichtbar  bleibt. 

Fragen   wir  uns,    woher  diese  verschiedenen  Färbungen  der  Haut 
kommen,  und  haben  wir  Gelegenheit,  Blutextravasate  in  verschiedenen 


150 


Von  den  Quetschungen   der  Weichtlieile    ohne  Wunde. 


Stadien  zu  untersuchen,  so  finden  wir,  dass  es  der  Farbstoff  des  Blutes 
ist,  welcher  allmählig  die  Metarmorphosen  und  Farbennuanceu  durch- 
macht. Ist  das  Blut  aus  den  Gefässen  ausg-etreten  und  in  das  Binde- 
gewebe eingedrungen,  so  gerinnt  der  Faserstoff.  Das  Blutserum  dringt 
in  das  Bindegewebe  selbst  und  kehrt  von  hier  in  die  Gefässe  zurück, 
wird  resorbirt.  Der  Blutfarbstoff'  verlässt  die  Blutkörperchen  und  ver- 
theilt  sich  ebenfalls  in  gelöstem  Zustande  in  die  Gewebe.  Der  Faser- 
stoff und  die  Blutkörperehen  zerfallen  grösstentheils  zu  feinen  Molecülen 
und  werden  als  solche  auch  von  den  Gefässen  resorbirt;  einige  weisse 
Blutzellen  mögen  wie  im  Thrombus  zur  w^eiteren  Gewebsentwicklung 
gelangen.  Der  Blutfarbstoff,  welcher  die  Gewebe  durchtränkt,  macht  in 
der  Folge  verschiedene,  nicht  genauer  gekannte  Metamorphosen  mit 
Farbenwechsel  durch,  bis  er  schliesslich  in  einen  bleibenden  Farbstoff 
umgewandelt  wird,  der  nicht  mehr  in  den  Flüssigkeiten  des  Organismus 
löslich    ist,    in    das    Hämatoidin.      Dies  Fig.  43. 

scheidet  sich  wie  im  Thrombus  theils  kör- 
nig, theils  krjstallinisch  aus,  ist  in  reinem 
Zustande  von  dunkelorauge-  oder  rubin- 
rother  Farbe  und  giebt,  spärlich  vertheilt, 
den  Geweben  ein  gelbliches,  stark  auge- 
häuft, ein  tief  orange  Colorit. 

Die  Resorption  des  Extravasats  findet 
fast  immer  Statt  bei  der  diffusen  Sugillation, 
da  das  Blut  sich  dabei  sehr  weit  in  das 
Gewebe  vertheilt,  und  die  Gefässe,  welche 
die  Resorption  zu  übernehmen  haben,  nicht 
von  der  Quetschung  mitgetroffen  sind;    es 

ist  der  witnschenswertheste,  und  unter  günstigen  Verhältnissen  der  häufigste 
Ausgang  nach  subcutanen  und  intermusculären  Blutergüssen. 

x4.nders  verhält  es  sich  bei  den  circumscripten  Ergüssen,  den  Ecchy- 
mosen.  Es  kommt  bei  ihnen  zunächst  auf  die  Grösse  des  Heerdes  an, 
dann  auf  die  Beschaffenheit  der  den  Bluterguss  umgebenden  Gefässe; 
je  reichlicher  letztere  entwickelt,  je  weniger  sie  durch  die  Quetschung 
selbst  beeinträchtigt  sind,  um  so  eher  ist  die  Resorption  zu  erwarten. 
Immerhin  kommt  die  Resorption  bei  grossen  Ergüssen  der  Art  weniger 
constant  vor.  Es  sind  verschiedene  Momente,  welche  dies  verhindern; 
zunächst  bildet  sich  nämlich  um  den  Bluterguss,  wie  um  einen  fremden 
Körper  (wie  auch  beim  Aneurysma  traumaticum)  eine  Verdichtung  des 
Bindegewebes  aus,  durch  welche  das  Blut  völlig  umkapselt  wird;  auf 
die  innere  Fläche  dieses  Sackes  lagert  sich  der  Faserstoff'  des  ergossenen 
Blutes  schichtenweise  ab,  das  flüssige  Blut  bleibt  in  der  Mitte.  So 
können  nun  die  Gefässe  um  die  Blutgeschwulst  herum  nur  sehr  spärliche 
Mengen  von  Flüssigkeit  aufnehmen,  da  sie' von  dem  flüssigen  Thcil  des 
Blutes   durch  die  oft  ziemlich  dicke  Lage  Faserstoff'  getrennt  sind.     Es 


Körniges      nnd       krystallinisches 

Hämatoidin    von    theils    orange-, 

theils    rubinrother    Farbe.      Yer- 

grösserung  400. 


Voricsiins   II.     Capilel    II F.  l^{ 

liegen  hier  dieselben  Verhältnisse  vor,  wie  bei  dem  Erg'uss  grosser 
iaserstoffreicher  Exsudate  in  die  rieiuahöhle;  auch  dort  hindern  die  an 
den  Wandungen  abgelag-erten  Faserstoffschwarten  wesentlich  die  Re- 
sorption. Dieselbe  kann  unter  solchen  Verhältnissen  nur  dann  vollstän- 
dig erfolgen,  wenn  der  Faserstoff  zu  feinen  Molcciilcn  zerfällt,  sich 
verflüssigt  und  auf  diese  Weise  resorbirbar  wird,  oder  wenn  er  eventuell  zu 
Bindegewebe  organisirt  und  mit  Blut-  und  Lyni})hgefässen  versehen  wird; 
dies  kommt  an  den  Schwarten  der  Pleui'a  nicht  so  selten  vor.  —  Doch 
giebt  es  noch  manches  andere  Geschick  solcher  Extravasate.  Efi  kann 
z.  B.  der  flüssige  Theil  des  Blutes  vollständig  resorbirt  werden,  und  eine 
aus  concentrischen  Lagen  zwiebelartig  zusammengesetzte,  feste  Geschwulst 
bleibt  zurück.  Dies  ereignet  sich  so  zuweilen  mit  den  Extravasaten  in 
den  grossen  Schamlippen;  es  entstellt  dadurch  ein  Tumor  fibrinosus; 
auch  in  der  Höhle  des  Uterus  bilden  sich  solche  Faserstoffgeschwülste 
gelegentlich  aus.  Manche  Hämatome  können  theilweis  zu  Bindegewebe 
organisirt  werden,  auch  allmählig  Kalksalze  in  sich  aufnehmen  und 
völlig  verkalken  und  verkreiden,  ein  im  Allgemeinen  seltener  Vorgang, 
der  sich  aber  z.  B.  bei  Blutergüssen  in  grossen  Kröpfen  ereignet.  — 
Ein  anderer  Modus  ist  die  Umbildung  der  Blutgeschwulst  zu  einer 
Cyste;  man  beobachtet  dies  im  Hirn,  auch  wohl  in  weichen  Ge- 
schwülsten; manche  Cysten  in  Kröpfen  mögen  neben  anderen  Entstebuugs- 
vi^eisen  solchen  Ergüssen  ihren  Ursprung  verdanken.  Unter  einer  Cyste 
oder  Balggescliwulst  versteht  man  Säcke,  Bälge  mit  mehr  oder  weniger 
flüssigem  Inlialt;  der  Inhalt  dieser  aus  Blutextravasaten  entstehenden 
Cysten  ist  je  nach  ihrem  Alter  dunkler  oder  heller,  ja  es  kann  das  Blut- 
roth ganz  daraus  verschwinden  und  der  Inhalt  wird  ganz  hell,  nur  leicht 
getrübt  durch  Fettmolecüle.  —  Sie  werden  in  den  grossen  circumscripten 
Extravasaten  seltner  viele  und  schön  ausgebildete  Hämatoidinkrystalle 
finden,  als  in  den  kleineren  mehr  diffusen,  in  ersteren  wiegt  der  fettige 
Zerfall  der  Blutelemente  vor,  daher  es  denn  eher  zur  Ausscheidung  von 
Cholesterinkrystallen  darin  zu  kommen  pflegt.  —  Die  Kapsel,  welehe 
diese  alten  Blutergüsse  einschliesst,  geht  theils  aus  der  Organisation  des 
peripherischen  Theils  des  Blutklumpens,  theils  aus  dem  umliegenden 
Gewebe  hervor. 

Weit  häufiger  als  die  beiden  letztbeschriebenen  Metamorphosen  der 
circumscripten  Extravasate,  doch  nicht  ganz  so  häufig  als  die  Resorption 
ist  die  Vereiterung  derselben.  Der  Entzüudungsprocess  in  der  Um- 
gebung und  die  plastischen  Processe  in  dem  peripherischen  Theil  des 
Extravasats,  in  Folge  deren  es  in  den  beiden  vorigen  Fällen  zur  Ent- 
wicklung von  verdichtetem  Bindegewebe  kam,  welches  das  Blut  völlig 
abkapselte,  nehmen  in  dem  jetzt  zu  bes])rechenden  Falle  einen  mehr 
acuten  Charakter  an;  es  bildet  sich  allerdings  auch  eine  Umgrenzungs- 
schicht, doch  nicht  langsam  und  allmählig,  wie  in  den  vorigen  Fällen, 
sondern  mit  rascher  Zellenbildung;  die  plastische  Infiltration  des  Gewebes 


j^52  Von  den  Quetschungen  der  Weichtheile  ohne  Wunde. 

fttlirt  nicht  zur  Binclegewebsentwicklung ,  soudern  zur  Vereiterung;  die 
Entzündung-  greift  successive  in  die  Cutis  und  diese  vereitert  endlich 
auch  allmählig  von  innen  nach  aussen;  schliesslich  entsteht  eine  Perfo- 
ration derselben,  das  mit  Eiter  gemischte  Blut  entleert  sich;  die  Wan- 
dungen der  Höhle  legen  sich  später  wieder  zusammen,  verschrumpfen 
narbig  und  verwachsen;  so  kommt  dann  doch  die  Heilung  zu  Stande. 
Auf  diesen  Heilungsprocess  kommen  wir  noch  wieder  bei  den  Abscessen 
zu  sprechen;  wir  pflegen  jede  Eitergeschwulst,  d.  h.  circumscripte  Eiter- 
ansammlungen unter  der  Haut  in  beliebiger  Tiefe,  einen  Abscess  zu 
nennen,  und  man  bezeichnet  daher  den  eben  geschilderten  Vorgang  auch 
wohl  als  A  b  s  c  e  d i  r  u  n  g  eines  B 1  u  t  e  x  t  r  a  v  a  s  a t s.  Dieser  Process  kann 
sich  sehr  in  die  Länge  ziehen,  kann  3 — 4  Wochen  dauern,  nimmt  jedoch 
in  der  Eegel,  wenn  er  nicht  etwa  durch  seinen  Sitz  gefährlich  ist,  einen 
günstigen  Verlauf.  Wir  erkennen  die  Abscediruug  eines  Blutextravasats 
an  der  nach  und  nach  stärker  hervortretenden  Entzitndungsröthe  der 
Haut,  an  der  Zunahme  der  Geschwulst,  einer  sich  steigernden  Schmerz- 
liaftigkeit,  zuweilen  mit  etwas  Fieber  verbunden  und  endlich  an  der 
Verdünnung  einer  Hautstelle,  wo  dann  schliesslich  der  Durchbruch  erfolgt. 

Endlich  kann  auch  eine  rapide  Zersetzung,  eine  Verjauchung  des 
Extravasats  erfolgen,  ein  zum  Glück  seltener  Fall  Die  Geschwulst 
wird  dabei  sehr  heiss  und  prall,  äusserst  schmerzhaft,  das  Fieber  steigt 
meist  bis  zu  bedeutender  Höhe,  es  können  Schüttelfröste,  so  wie  über- 
haupt die  bedenklichsten  Allgemeinerscheinungen  eintreten.  Dieser  Aus- 
gang welcher  nur  bei  sehr  intensiven  Quetschungen  und  darauf  folgenden 
sehr  acuten  Entzündungen  vorkommt,  ist  der  übelste  und  der  einzige, 
der  schnelle  Kunsthülfe  erfordert. 

Ob  Resorption,  Eiterung  oder  Verjauchung  eines  Extravasats  eintritt, 
ist  nicht  nur  von  der  Menge  des  ergossenen  Blutes  abhängig,  sondern 
wesentlich  bedingt  durch  den  Grad  der  Quetschung,  welchen  die  Ge- 
webe erlitten  haben;  so  lange  sich  dieselben  noch  zu  ihrem  integeru 
Zustand  zurückbilden  können,  so  wird  auch  die  Resorption  des  ergossenen 
Blutes  wahrscheinlich  sein;  sind  die  Gewebe  zertrümmert  und  gehen  dem 
Zerfall  und  der  Zersetzung  entgegen,  so  Avird  dadurch  die  Vereiterung 
oder  Verjauchung  auch  des  Blutes  angeregt;  kurz  das  ergossene 
Blut  wird  dieselben  Schicksale  haben  wie  das  gequetschte 
Gewebe. 


Wie  erheblich  die  Quetschung  der  Muskeln,  Sehnen  und  Faseien  ist, 
können  wir  bei  unverletzter  Haut  nicht  genügend  beurtheilen;  die  Grösse 
des  Extravasats  kann  zuweilen  darüber  etwas  Aufschluss  geben,  doch 
ist  dies  ein  sehr  unsicherer  Maassstab ;  eher  ist  der  Grad  der  Fuuctions- 
fähigkeit  der  betroffenen  Muskeln  zu  prüfen,  doch  auch  die  daraus  zu 
machenden  Folgerungen  sind  sehr  vorsichtig  zu  verwenden;    das  Maass 


Vorlesims   M.     Capitel  in.  153 

der  Gewalt,  welclic  auf"  die  Tlicilc  eingewirkt  hatte,  kann  7Ai  einer  an- 
näheriulen  ]»curtlieiluvii^'  der  vorliegenden  subcutanen  Zerstörung*  leiten.  — 
Die  Ausheilung-  der  Mukelqiietschung-en  erfolgt,  wie  bei  Wunden,  indem 
die  zerquetschten  Muskelelcmente  vorlier  niolecular  zerfallen  und  resorbirt 
werden;  bei  Vereiterung-  des  Extravasats  ndt  dem  Eiter  werden  sie 
eliminirt,  worauf  dann  doch  noch  sowohl  Bindegewebs-  als  auch  Muskel- 
neubildimg  zu  Stande  kommen  kann. 

Die  grössten  Extravasate  sind  gemeiniglich  mit  Verletzungen  der 
Knochen  verbunden,  sowohl  diffuse  als  circumscrii)te;  wir  betrachten 
/jedoch  die  Knochenverletzungen  besser   in  einem  besonderen  Abschnitt. 

Ist  ein  Körpertheil  so  zermalmt,  dass  er  entweder  ganz  oder  zum 
grössten  Theil  lebensunfähig  ist,  so  wird  er  kalt,  blauroth,  braunroth, 
dann  schwarz;  er  fängt  an  zu  faulen;  die  Fäulnissproducte  gelangen 
ins  benachbarte  Gewebe  und  ins  Blut;  die  örtlichen  Entzündungen  so 
wie  das  Fieber  nehmen  eigenthümliche  schwere  Formen  an.  Da  dies  bei 
Quetschungen  mit  und  ohne  Wunde  gleich  ist,  so  sprechen  wir  erst 
später  mehr  davon. 


Die  Behandlung  der  Quetschungen  ohne  Wunden  hat  zum  Ziel, 
den  Process  zum  möglichst  günstigen  Ausgang  zu  führen,  nämlich  zur 
Resorption  des  Extravasats;  mit  diesem  Vorgang  verlaufen  dann  auch 
die  Verletzungen  der  übrigen  Weichttheile  günstig,  da  die  ganzen  Pro- 
cesse  subcutan  bleiben.  —  Wir  beziehen  uns  hier  nur  auf  solche  Fälle, 
w^o  die  Quetschung  der  Weichtheile  und  das  Extravasat  für  sich  Gegen- 
stand der  Behandlung  sind;  bei- Knochenbrüchen  müssen  eben  diese  vor 
Allem  behandelt  werden,  das  Extravasat  für  sich  wird  dabei  meist  nicht 
Gegenstand  einer  besonderen  Berücksichtigung.  Kommt  man  ganz  un- 
mittelbar zu  einer  eben  geschehenen  Quetschung  hinzu,  so  kann  es  die 
Aufgabe  sein,  die  etwa  noch  fortdauernde  subcutane  Blutung  zu  hemmen. 
Dies  erreichen  wir  am  besten  durch  die  Compression,  die,  wo  es  geht, 
mit  gleichmässig  umgelegten  Binden  auszuführen  ist.  Wenn  ein  Kind 
auf  den  Kopf  fällt,  oder  sich  gegen  die  Stirn  stösst,  so  nehmen  in  Nord- 
deutschland die  Mütter  oder  Wärterinnen  einen  LöÖ'elstiel  oder  eine 
Messerklinge  und  drücken  ihre  Fläche  sofort  auf  die  verletzte  Stelle,  um 
die  Entstehung  einer  Blutbeule  zu  verhindern.  Dies  ist  ein  sehr  zweck- 
mässiges Volksmittel;  es  wird  durch  die  sofortige  Compression  einerseits 
der  weitere  Blutaustritt  gehemmt,  andererseits  wird  dadurch  verhindert, 
dass  das  Blut  sieh  an  einer  Stelle  ansammelt,  indem  es  durch  den  Druck 
genötbigt  ist,  sich  in  das  nebenliegende  Gewebe  zu  vertheilen;  eine  ent- 
stehende Ecchymose  kann  so  in  eine  Sugillation  übergeführt  werden  so 
dass  ^das  Blut  leichter  resorbirt  werden  kann.  Dasselbe  erreichen  Sie 
auch  zuweilen  durch  eine  gut  angelegte  Binde. 

Indess  selten  kommt  man  so  früh  zu  der  Verletzung,    und  in  den 


^54  V^ii  ^^^  Quetschungen  der  Weichtheile  ohne  Wunde. 

Überwiegend  meisten  Fällen  liegt  eine  Knochen-  oder  Gelenkverletzung 
vor  und  die  Behandlung  des  Blutextravasats  tritt  dann  in  den  Hintei- 
grund. 

Auch  die  Anwendung  der  Kälte  in  Form  von  aufgelegten  Schweins- 
oder Gummi-Blasen,  die  man  mit  Eis  füllt,  oder  als  kalte  Ueberschläge, 
denen  man  in  der  Volkspraxis  aus  alter  Gewohnheit  Essig  oder  Blei- 
wasser hinzusetzt,  kommen  bei  frischen  Quetschungen  als  Mittel  in  An- 
wendung die  einer  etwa  zu  heftig  auftretenden  Entzündung  vorbeugen 
sollen.  Doch  rechnen  Sie  nicht  zu  sicher  auf  die  Wirkung  dieser  Mittel; 
das  Mittel,  welches  die  Resorption  von  Blutextravasaten  am  besten  be- 
fördert, ist  und  bleibt  die  gleichmässige  Compression  und  besonders  die 
Ruhe  des  Theils.  Extremitäten  wickeln  Sie  daher  am  besten  mit 
nassen  Binden  ein,  und  können  darüber  nasse  Tücher  umlegen  lassen, 
die  alle  o — 4  Stunden  erneuert  werden.  —  Andere  Mittel,  die  bei  acuten 
Entzündungen  der  Haut  sonst  von  guter  Wirkung  sind,  wie  die  Anwen- 
dung-der  grauen  Quecksilbersalbe,  nutzen  hier  in  der  Regel  w^enig.  — 
Doch  dass  ich  der  Arnica  nicht  vergesse!  Dies  Mittel  wird  von  man- 
chen Familien  und  Aerzten  so  verehrt,  dass  sie  es  unverzeihlich  halten 
würden,  wenn  man  es  bei  Quetschungen  versäumte,  Umschläge  mit  Ar- 
nicainfus  oder  mit  Wasser,  dem  Arnicatinctur  zugesetzt  ist,  zu  machen. 
Der  Glaube  ist  mächtig;  der  eine  glaubt  an  die  Arnica,  der  andere  an 
das  Bleiwasser,  der  dritte  an  den  Essig  als  mächtiges  äusserliches  Re- 
sorbens.  In  allen  Fällen  wirkt  zweifelsohne  nur  die  Feuchtigkeit  und 
die  durch  die  Umschläge  wechselnde  Temperatur  der  Haut,  wodurch  die 
Capillaren  derselben  in  Thätigkeit  erhalten,  bald  zur  Contraction,  bald 
zur  Dilatation  gebracht  und  so  auch  geeigneter  zum  Resorbiren  gemacht 
werden,  eben  weil  sie  in  Thätigkeit  erhalten  werden. 

Die  diffusen  Blutextravasate  mit  massigen  Quetschungen  der  Weich- 
theile werden  fast  immer  ohne  viel  Zuthun  resorbirt  werden.  Verändert 
sich  ein  circumscriptes  Extravasat  nicht  erheblich  im  Verlauf  von  14  Tagen, 
so  liegt  trotzdem  keine  ludication  zu  einem  weiteren  Einschreiten  vor.- 
Man  bepinselt  dann  täglich  ein  oder  zw^ei  Mal  die  Geschwulst  mit  ver- 
dünnter Jodtinctur,  comprimirt  sie  durch  einen  passenden  Verband  und 
wird  nicht  selten  noch  nach  mehren  Wochen  allmählig  die  Geschwulst 
schwinden  sehen.  Wird  dieselbe  heiss,  die  Haut  darüber  entzündlich 
geröthet  und  empfindlich,  so  ist  allerdings  zu  erwarten,  dass  es  zur 
Eiterung  kommen  wird,  selten  wird  dann  selbst  die  continuirliche  Ein- 
wirkung der  Kälte  den  Verlauf  ändern,  wenn  auch  oft  mildern.  Sie 
können  dann,  um  den  nicht  mehr  zu  hindernden  Ausgang  in  Eiterung 
zu  befördern,  warme  Ueberschläge  machen  lassen,  entweder  einfach  mit 
zusammengelegten  Tüchern,  die  in  warmes  Wasser  getaucht  sind,  oder 
mit  Kataplasmen;  jetzt  beobachten  Sie  ruhig  den  weiteren  Verlauf;  tritt 
keine  Verschlimmerung  des  Allgemeinzustandes  ein,  sondern  befindet 
sich  der  Kranke  wohl,  so  warten  Sie  ruhig  den  Durchbruch  ab ;  es  wird 


Vudcsuiif,'   1!.     C-apitel   llf..  155 

sich  vielleicht  erst  nach  Wochen  die  Haut  an  einer  Stelle  immer  mehr 
verdünnen,  endlich  entsteht  eine  OetTnung',  der  Eiter  entleert  sich,  die 
Wände  der  grossen  llölile  legen  sich  an  einander,  und  in  kurzer  Zeit 
ist  der  ganze  Process  ausgeheilt,  —  Ich  habe  im  Anfang  dieser  Voi- 
lesung  eines  Falles  erwähnt,  wo  bei  einer  Fractur  der  Seapula  sich  ein 
enormes,  theils  diffuses,  tlieils  circumscriptes  Extravasat  gebildet  hatte; 
hier  war  und  blieb  eine  stark  fluctuirende  Geschwulst,  die  sich  nicht 
resorbirte,  während  der  diffuse  Erguss  rasch  zur  liesorption  kam;  erst 
in  der  fünften  Woche  nach  der  Verletzung  kam  die  Eiterung  zum  Durch- 
bruch, es  entleerten  sich  etwa  V/, — 2  Maass  Eiter;  acht  Tage  später 
war  diese  enorme  Höhle  ausgeheilt  und  der  Patient  verlies«  gesund  das 
'Hospital. 

Sollte  sich  indess  im  Verlauf  der  Vereiterung  des  Blutextravasats 
die  Spannung  der  Geschwulst  rasch  vermehren,  heftiges  Fieber  mit 
Frösten  auftreten,  so  dürfen  Sie  annehmen,  dass  das  Blut  und  der  Eiter 
sieb  zersetzen,  dass  eine  Verjauchung  der  eingeschlossenen  Flüssigkeiten 
Statt  findet.  Bei  solchen  Erscheinungen  müssen  dann  allerdings  die 
putriden  Flüssigkeiten  rasch  entleert  werden.  Sie  machen  dann  einen 
grossen  Schnitt  durch  die  Haut,  wenn  dies  nicht  durch  die  anatomische 
Verhältnisse  verboten  wird;  in  diesem  letzteren  Fall  müssen  mehre 
kleinere  Incisionen  gemaclit  werden,  und  zwar  au  solchen  Stellen,  dass 
der  Ausfluss  frei  und  leicht  Statt  haben  kann.  —  Mit  diesen  Incisionen 
ändert  sich  nun  freilich  die  Lage  der  Dinge  wesentlich  ;  Sie  haben  jetzt 
die  subcutane  Quetschung  zu  einer  offenen  Quetschwunde  gemacht. 
Es  treten  nun  andere  Verhältnisse  ein,  die  wir  in  der  nächsten  Stunde 
besprechen  wollen.  —  Erwähnt  muss  noch  werden,  dass,  falls  brandige 
Zersetzung  der  Weich theile  in  grösserer  Ausdehnung  nach  solchen 
Quetschverletzungen  erfolgt,  die  x4mputation  indicirt  ist,  wenngleich 
dieser  ungünstigste  Fall  ohne  gleichzeitigen  Knochenbruch  sehr  selten 
vorkommt. 


]^56  Von  den  Quetschwunden    und  Risswunden  der  Weichtheile. 


Vorlesung  12. 
CAPITEL  IV. 

Von  den  Quetschwunden  und  Eisswunden  der  Weichtheile. 

Art  des  Zustandekummens  dieser  Wunden,  Ausselien  derselben.  —  Wenig  Blutung  bei 
Quetschwunden.  —  Primäre  Nachblutungen.  —  Gangränescenz  der  Wundränder,  Einflüsse, 
welche  auf  die  langsamere  und  schnellere  Abstossung  der  todten  Gewebe  wirken.  —  In- 
dicationen  zur  primären  Amputation.  —  Oertliche  Complication  bei  gequetschten  Wunden, 
Zersetzung,  Fäulniss.     Coccobacteria.     Septische   Entzündungen.  —  Arterienquetschungen, 

secundäre  Nachblutungen. 

Die  Veranlassung'en  zu  gequetscliten  Wimden,  von  denen  wir  heute 
zu  sprechen  haben,  sind  dieselben,  wie  diejenigen  zu  den  einfachen  Quet- 
schungen, nur  dass  im  ersteren  Falle  die  Gewalt  gewöhnlich  grösser  als 
im  letzteren  ist,  auch  kommt  es  darauf  an,  ob  der  einwirkende  Körper 
der  x\rt  geformt  ist,  dass  er  leicht  die  Haut  und  Weichtheile  trennt,  ferner 
ob  Theile  des  Körpers  getroffen  werden,  auf  denen  die  Haut  besonders 
dünn  ist  oder  auf  besonders  fester  Unterlage  ruht. 

Der  Hufschlag  eines  Pferdes,  ein  Stockschlag,  der  Biss  eines  Thieres 
oder  Menschen,  das  Ueberfahrenwerden,  Verwundungen  mit  stumpfen 
Messern,  mit  Sägen  u.  s.  w.  sind  häufige  Veranlassungen  zu  Quetsch- 
wunden. Nichts  verursacht  jedoch  mehr  gequetschte  Wunden  als  die 
schnell  sich  bewegenden  Maschinenräder  und  Walzen,  die  Kreissägen, 
die  Spinnmaschinen,  die  vielen  Getriebe  mit  Eädern  und  Haken.  Alle 
diese  Instrumente,  die  Producte  der  immer  mehr  vorschreitenden  Industrie, 
richten  viel  Unheil  unter  den  Arbeitern  an.  Männer  und  Frauen,  Er- 
wachsene und  Kinder  mit  zerquetschten  Fingern,  zermalmten  Händen, 
zerfetzten  Kisswunden  am  Vorder-  und  Oberarm  finden  sich  fast  immer 
auf  den  chirurgischen  Abtheilungen  der  Krankenhäuser  in  jeder  grösseren 
Stadt.  Eine  unsägliche  Menge  von  Mensehen  wird  dadurch  an  Fingern, 
Händen  oder  Armen  verstümmelt,  und  eine  grosse  Anzahl  von  diesen 
Kranken  sterben  an  den  Folgen  dieser  Verletzungen.  Fügen  wir  noch 
hinzu  die  allerdings  in  neuerer  Zeit  seltener  werdenden  Verletzungen 
auf  den  Eisenbahnen,  die  Verletzungen,  welche  durch  die  Felsen- 
sprengungen bei  den  Tunnelbauten  u.  s.  w.  entstehen,  so  werden  Sie  sich 
vorstellen  können,  wie  viel  Schweiss  nicht  allein,  sondern  auch  wie  viel 
Blut  an  vielen  Erzeugnissen  der  modernen  Cultur  klebt.  —  Es  ist  dabei 
allerdings  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Hauptursache  bei  diesen  Verletzungen 
meist  in  der  Unvorsichtigkeit,  oft  sogar  Tollkühnheit  der  Arbeiter  liegt. 
Das  tägliche  Umgehen  mit  den  gefährlichen  Gegenständen  macht  die 
Leute  zuletzt  sorglos  und  waghalsig  und  Mancher  büsst  es  mit  dem  Leben. 


VorlosiniK    12.      f'apitcl   TV.  157 

Es  gehören  auch  die  Schusswiindeii  im  Wesentlichen  /u  den  Quetscli- 
Avnnden;  da  sie  jedoch  mancherlei  Eii^-cnthiimliches  für  sich  ha))en,  so 
Avevdeu  wir  sie  in  einem  besonderen  Al)sclinilt  abhandeln.  —  Die  Kiss- 
wunden  und  vollständigen  Ausreissungen  von  CUiedmaassen  sollen  am 
Schlnss  dieses  Capitels  beriicksichtigt  werden. 

Mit  den  durch  alle  genannten  P^inwirkungen  entstehenden  Quetsch- 
wunden vereinigen  sich  sehr  häufig  Knochenbriiche  der  verschiedensten, 
oft  gefährlichsten  Art,  doch  zunächst  lassen  wir  derartige  Verletzungen 
ausser  Acht  und  halten  uns  nur  an  die  Weichtheile. 

Das  Aussehen  einer  Wunde  lässt  in  den  meisten  Fällen  einen 
Schluss  zu,  ob  sie  geschnitten  oder  durch  Quetschung  entstanden  ist. 
Die  Charaktere  reiner  Schnittwunden  kennen  Sie  bereits,  auch  habe  icli 
Ihnen  früher  schon  einige  Fälle  angeführt,  in  denen  eine  gequetschte 
Wunde  das  Ansehen  einer  gesclinittenen  haben  kann,  und  umgekehrt. 
Die  Quetschwunden  können  ebenso  wie  die  Schnittwunden  mit  Substanz- 
verlust verbunden  sein,  oder  nur  eine  einfache  Continuitätstrennung  der 
Weichtheile  darstellen.  Die  Eänder  dieser  Wunden  sind  meist  uneben, 
fetzig,  zumal  die  Ränder  der  Haut;  die  Muskeln  sehen  zuw^eilen  wie 
gehackt  aus ;  grössere  und  kleinere  Fetzen  von  Weichtheilen,  nicht. selten 
grosse  Lappen  hängen  in  der  Wunde  und  können  durch  das  in  ih.nen 
stockende  oder  ergossene  Blut  eine  blaurothe  Farbe  haben.  Seimen  sind 
hier  und  da  eingerissen  oder  herausgezerrt,  Fascien  zerrissen,  die  Haut 
um  die  Wunde  herum  nicht  selten  in  grosser  Ausdehnung  von  den  Fascien 
abgelöst,  zumal  wenn  sich  mit  der  quetschenden  eine  zerrende  und 
drehende  Gew^alt  verband.  Die  Grade  dieser  Zerstörung  der  Weichtheile 
sind  natürlich  sehr  verschieden,  und  ilire  Ausdehnung  ist  nicht  immer 
genau  zu  bestimmen,  da  man  nicht  immer  sehen  kann,  wie  weit  die 
Quetschung  und  Zerrung  noch  über  die  Wunde  hinausgeht;  oft  genug 
überzeugt  man  sich  durch  den  w^eitern  Verlauf,  dass  die  Zerquetschung 
viel  weiter  reicht,  als  es  die  Grösse  der  Wunde  andeutet,  dass  Ausein- 
anderlösungen von  Muskeln,  Abtrennungen  von  Fascien  und  Blutergüsse 
sich  noch  weit  unter  die  vielleicht  nur  in  geringer  Ausdehnung  zerrissene 
Haut  erstreckten.  Dass  die  Hautw-unden  hier  also  durchaus  keinen 
Maassstab  für  die  Ausdehnung  und  Tiefe  der  Quetschung  geben,  ist  ein 
sehr  schlimmer  Umstand;  es  ist  dadurch  die  Beurtheilung  einer  solchen 
Verletzung  bei  der  ersten  Untersuchung  sehr  erschwert;  während  das 
äussere  Aussehen  dem  Laien  kaum  zu  Bedenklichkeiten  Veranlassung  giebt, 
erkennt  der  erfahrene  Chirurg  schon  früh  die  Gefährlichkeit  des  Falles. 

Da  die  Verwundung  zumal  durch  Maschinen  gewöhnlich  äusserst 
schnell  vor  sich  geht,  so  ist  die  Schmerzempfindung  dabei  nicht  erheb- 
lich; auch  unmittelbar  nach  der  Verletzung  sind  die  Schmerzen  der  ge- 
quetschten Wunden  oft  merkwürdig  unbedeutend,  um  so  unbedeutender, 
je  grösser  die  Verletzung  und  Zermalmung  der  Theile.  Dies  erklärt 
sich  leicht  dadurch,  dass  die  Nerven  im  Bereich  der  Wunde  in  solchen 


158  ^'^OTi  •^^ii   Qiietsfhwnncleii    und  Bisswnnden   äor  "Weiclitlieile. 

Fällen  völlig-  evdriickt  iincl  zerstört,  daher  leistungsiinfäliig  sind;  übrigens 
kommt  hier  auch  dasselbe  in  Betracht,  was  ich  Ihnen  in  der  vorigen 
Stnnde  von  den  localen  Erschütternngszuständen  der  Nerven  sagte,  von 
dem  „Stupor"  der  verletzten  Theile. 

Etwas  Auffallendes  hat  es  für  die  erste  Betrachtung,  dass  diese 
Quetschwunden  wenig  oder  gar  nicht  bluten,  selbst  wenn  starke  Venen 
und  Arterien  zerquetscht  und  durchrissen  sind.  Es  sind  ganz  sicher 
constatirte  Beobachtungen  vorhanden,  dass  nach  vollständigen  Zerquet- 
schungen  einer  Art.  femoralis  oder  axillaris  durchaus  keine  primäre 
Blutung  erfolgte.  Das  ist  allerdings  nicht  häufig;  in  vielen  Fällen 
erfolgt  bei  einer  vollständigen  Continuitätstrennung  so  grosser  Arterien 
durch  Quetschung  doch  ein  contiuuirliches  Aussickern  von  Blut,  wenn 
auch  kein  spritzender  Strahl  5  ein  solcher  würde,  wenn  er  z.  B.  aus  einer 
Art.  femoralis  käme,  rasch,  den  Tod  herbeiführen  müssen.  Wie  diese 
Beschränkung  der  Blutung  an  kleineren  Arterien  erfolgt,  habe  ich  schon 
früher  angedeutet,  doch  wird  Ihnen  dies  noch  klarer  an  einem  Beispiel 
werden.  Ein  Eiseubahnarbeiter  wurde  von  einer  Locomotive  so  über- 
fahren, dass  ihm  ein  Rad  derselben  über  den  linken  Oberschenkel  un- 
mittelbar unterhalb  des  Hüftgelenks  ging.  Der  ungiückliehe  ^Mensch 
wurde  sofort  auf  einer  Bahre  in  das  Hospital  gel)racht;  er  hatte  unter- 
wegs ziemlich  viel  Blut  verloren  und  kam  sehr  blass  und  anämisch, 
doch  bei  vollem  Bewusstsein  an.  Nach  vollständiger  Entfernung  der 
zerrissenen  Kleidungsstücke  fanden  wir  eine  entsetzliche  Zerquetschung 
der  Haut  und  Muskulatur  an  der  erwähnten  Stelle.  Der  Knochen  war 
in  einige  dreissig  Fragmente  zerschmettert,  die  Muskeln  waren  theils  zu 
Brei  zerdrückt,  theils  hingen  sie  in  Fetzen  in  der  Wunde,  die  Haut  war 
bis  zum  Hüftgelehk  hinauf  zerrissen.  An  keiner  Stelle  dieser  ungeheuren 
Wunde  spritzte  eine  Arterie,  doch  aus  der  Tiefe  sickerte  fortwährend 
Blut  in  nicht  unbeträchtlicher  Menge  aus,  und  der  Allgemeinzustand  des 
Patienten  zeigte  deutlich,  dass  bereits  ein  erheblicher  Blutverlust  Statt 
gehabt  hatte.  —  Es  lag  auf  der  Hand,  dass  hier  nichts  anderes  geschehen 
konnte,  als  den  Oberschenkel  im  Hüftgelenk  zu  exarticuliren ;  doch  in 
dem  Zustand,  in  welchem  sich  der  Patient  befand,  war  daran  nicht  zu 
denken,  der  neue  Blutverlust  (die  künstliche  Blutleere  war  damals 
noch  nicht  gebräuchlich)  bei  der  sehr  eingreifenden  Operation  hätte 
unfehlbar  sofort  tödtlich  werden  müssen.  Es  musste  also  vor  Allem  die 
Blutung  gestillt  werden,  die  voraussichtlich  aus  einem  Eiss  der  Art.  femo- 
ralis stammte.  Ich  versuchte  zunächst,  die  Art.  femoralis  in  der  Wunde 
zu  finden,  während  dieselbe  oben  comprimirt  wurde;  doch  waren  alle 
Muskeln  so  verschoben,  so  verdreht,  alle  anatomischen  Verhältnisse  so 
verändert,  dass  dies  nicht  rasch  genug  gelang,  und  ich  scin-itt  daher  zu 
der  Unterbindung  der  Arterie  unterhalb  des  Lig.  Poupartii.  Nachdem 
dieselbe  ausgeführt  war.  stand  die  Blutung  grösstentheils.  doch  iuimer 
noch  nicht   vollkomuicn  wegen  der  reichlichen  arteriellen  Anastomosen, 


Vorlesung   12.     ('Mpilcl   TV.  15<) 

und  da  von  einer  regelmässigen  Bindeneinwicklung-  bei  der  vorliegenden 
Zerschmetterung-  nicht  die  Ivede  sein  konnte,  so  umschnürte  ich  dicht 
unterhalb  der  Stelle,  wo  ich  exarticuliren  wollte,  die  ganze  Extremität 
fest  mit  einem  Tourniquet.  Jetzt  stand  die  Blutung;  wir  wandten  ver- 
schiedene Mittel  an,  um  den  Kranken  neu  zu  beleben;  es  wurde  ihm 
Wein,  warmes  Getränk  u.  s.  w.  gereicht,  so  dass  er  gegen  Abend  sicli 
so  weit  erholt  hatte,  dass  die  Körpertemperatur  wieder  die  nornialc  vvai- 
und  der  Radialpuls  sich  ganz  gut  wieder  entwickelt  hatte.  Icli  hätte 
wolil  mit  der  Operation  noch  bis  zum  folgenden  'Vage  gewartet,  wenn 
nicht  trotz  Ligatur  und  Tourniquet  mit  der  sich  wieder  liebenden  Herz- 
kraft eine  wenn  auch  geringe  Blutung  aus  der  Wunde  eingetreten 
wäre,  so  dass  ich  die  Besorgniss  haben  musste,  der  Kranke  könnte  sich 
während  der  Nacht  verbluten.  So  machte  ich  nun  also  die  Exarticulatio 
femoris  unter  geschickter  Hülfe  meiner  Assistenten  mit  aller  mir  möglichen 
Schnelligkeit.  Die  Blutung  war  bei  dieser  Operation  absolut  nicht  sehr 
bedeutend,  doch  für  den  schon  sehr  geschwächten  Patienten  jedenfalls 
zu  stark.  Anfangs  schien  Alles  gut  zu  gehen;  die  spritzenden  Gefässe 
wurden  alle  unterbunden,  die  Wunde  vereinigt  und  der  Patient  ins  Bett 
gebracht;  bald  stellte  sich  grosse  Unruhe  und  Respirationsnotli  ein,  die 
sich  immer  mehr  steigerte,  schliesslich  g-esellten  sich  Krämpfe  hinzu  und 
zwei  Stunden  nach  der  Operation  verschied  der  Kranke.  —  Die  Unter- 
suchung der  Art.  femoralis  der  zerquetschten  Extremität  zeigte  Folgendes: 
in  dem  oberen  Drittheil  des  Oberschenkels  fand  sich  eine  zerquetschte 
und  zerrissene  Stelle,  welche  etwa  ein  Drittheil  des  Arterienrohrs  ein- 
nahm. Sowohl  die  Fetzen  der  Tunica  intima,  als  der  übrig-en  Gefässhäute 
und  auch  das  Bindegewebe  der  Gefässscheide  hatten  sich  in  das  Arterien- 
lumen hineingerollt,  und  das  Blut  konnte  sich  nur  mühsam  hindurch  nach 
aussen  drängen;  das  umliegende  Gewebe  war  vollständig  mit  Blut  durch- 
tränkt. —  Es  hatte  sieh  in  diesem  Falle  kein  Gerinnsel  in  der  Arterie 
gebildet,  da  der  Ausfluss  des  Blutes  doch  noch  zu  frei  war,  um  es  dazu 
kommen  zu  lassen;  doch  denken  Sie  sich,  die  Quetschung  hätte  die  Ar- 
terie in  ihrer  ganzen  Circumferenz  getroifen,  so  werden  Sie  sich  vorstellen 
können,  wie  die  von  allen  Seiten  in  das  Lumen  derselben  gedrängten 
Fetzen  der  Gefässhäute  das  A.ustreten  des  Blutes  noch  schwieriger,  viel- 
leicht unmöglich  hätten  machen  können;  es  hätte  sich  dann  ein  Thrombus 
bilden  müssen,  welcher  das  Gefäss  verstopft  hätte  und  dann  allmählig 
organisirt  wäre  oder  durch  Fäulniss  oder  Eiterung  zerfallen  wäre. 
Wäre  bei  der  in  diesem  Falle  vorliegenden  theilweisen  Quetschung 
der  Arterie  gar  keine  Blutung  erfolgt,  wäre  z.  B.  die  ganze  Quet- 
schung ohne  äussere  Wunde  gewesen,  so  hätte  sich  vielleicht  nur  ein 
Gerinnsel  an  der  durch  die  Quetschung  rauh  gewordenen  Stelle  gebildet, 
ein  wandständiges  Gerinnsel,  ein  wandständiger  Throm])us;  in 
diesem  Fall  hätte  die  Arterienquetschung  mit  Erhaltung  des  Lumens  er- 
folgen können,  ein  Vorgang,  der  in  der  That  beobachtet  sein  soll. 


160  ^ö"  'iß"  Quetschwunden  und  Eisswunden    der  Weichtheile. 

Uebertragen  Sie  die  g-escliilderte  Beschaffenheit  einer  gequetschten 
grösseren  Arterie  auf  kleinere  Arterien,  so  wird  Ilmen  verständlich  sein, 
wie  hier  um  so  leichter  theils  durch  das  Einwärtsrollen  der  spröden, 
zerrissenen  Tunica  intima,  theils  durch  die  Zusammenziehung  der  Tunica 
muscularis  und  durch  die  Fetzen  der  Tunica  adventitia  eine  vollständige, 
s])ontaue  Stopfung  des  Gefässlumens  zu  Stande  kommt,  und  dass  daher 
die  Blutung  bei  solchen  gequetschten  Wunden  ganz  fehlen  kann.  Diese 
Erfahrungen  haben  einen  französischen'  Chirurgen  Chassaignac  ver- 
anlasst ein  Instrument  zu  erfinden,  mit  welchem  man  kranke  Theile  des 
Körpers  abquetschen  kann:  er  nennt  dies  Verfahren  ,,Ecrasemeut,"  das 
Instrument  „Ecraseur;"  es  besteht  aus  einer  durch  kleine  verbundene 
Glieder  gebildeten  starken  Metallschnur,  welche  um  den  zu  entfernenden 
Theil  umgelegt,  und  dann  langsam  mit  Hülfe  eines  Zahnstangen-Mecha- 
nismus in  eine  starke  Metallhülse  hineingezogen  wird.  In  der  That  er- 
folgt bei  richtiger  Handhabung  des  Instrumentes  keine  Spur  von  Blutung; 
so  wenig  sympathisch  die  Methode  jeden  Chirurgen,  anfangs  berührte, 
weil  man  Quetschwunden  in  der  operativen  Chirurgie  so  viel  wie  mög- 
lich vermeidet,  so  ist  die  practische  Brauchbarkeit  derselben  für  aus- 
gewählte Fälle  ausser  allem  Zweifel ;  die  Heilung  der  durch  Ecrasement 
erzeugten  Wunden  erfolgt  meist  mit  ä,usserst  geringer  örtlicher  und  all- 
gemeiner Keaction;  progrediente  Entzündungen  gesellen  sich  seltner 
zu  dieser  Art  von  Wunden  als  zu  reinen  Schnittwunden;  dennoch  wird 
das  Ecrasement  immerhin  nur  bei  einer  geringen  Anzahl  von  Operationen 
anwendbar  sein. 

Es  ist  noch  ein  Moment  zu  berücksichtigen,  welches  die  Blutungen 
bei  ausgedehnten  Quetschungen  in  Schranken  hält,  nämlich  die  durch 
die  Verletzung  bedingte  Abschwächung  der  Herzthätigkeit,  die'  wahr- 
scheinlich auf  reflectorischem  Wege  entsteht.  Schwer  Verletzte  befinden 
sich,  abgesehen  von  dem  Blutverlust  und  von  der  Verletzung  der  Nerveu- 
centren,  gewöhnlich  eine  Zeit  lang  in  einem  Zustande  von  Stumpfheit 
oder  Betäubung;  wir  haben  kein  besonderes  Wort  für  diese  Form  des 
Depressionszustandes;  der  englische  Name,  verdeutscht  „Schock,"  ist 
am  meisten  gebräuchlich,  um  diese  Zustände  grosser  Schwäche  nach 
Verletzungen  zu  bezeichnen.  Der  Schreck  über  die  Verletzung  und  alle 
Gedanken  darüber,  die  sich  in  rapider  Folge  daran  anschliessen,  mögen 
mit  dazu  beitragen,  eine  bedeutende  psychische  Depression  hervorzu- 
bringen, die  auf  die  Herzthätigkeit  lähmend  einwirkt.  Doch  auch  bei 
Leuten,  die  psychisch  nicht  sehr  durch  die  Verletzung  alterirt  sind,  wie 
^man  dies  bei  alten,  schon  öfter  verwundet  gewiesenen  Soldaten  oder  bei 
sehr  phlegmatischen  Menschen  sieht,  bleibt  der  Effect  einer  schweren 
Verletzung  nicht  ganz  aus,  so  dass  man  annehmen  muss,  dass  dem  Schock 
doch  rein  reflectorisehe  Zustände  zu  Grunde  liegen.  Mehr  nocli  wie  die 
Verwundungen  der  Extremität  wirken  Quetschungen  der  Baucheiugeweide 
deprimirend  auf  die  Thäligkeit  der  Nervencentren,  wie  ich  Ihnen  schon 


Vdricsinii;'    l^_'.      ('Mpilcl    IV.  {('){ 

frülicr  aiuleutete.  —  Interessant  ist  in  dieser  Beziehung  der  sogenannte 
Klopfversucli  von  Golz:  klopft  man  einen  Frosch  wiederholt  stark  mit 
einem  Soal])ellstiel  auf  den  Bauch,  so  wird  er  wie  paralytiscli;  die  Baucli- 
gefässe  dehnen  sich  in  Folge  Parese  ihrer  Wandungen  stark  aus  und 
nehmen  fast  alles  Blut  in  sich  auf,  so  dass  alle  übrigen  Gelasse  und 
auch  das  Herz  blutleer  werden  und  letzteres  sich  nur  ganz  schwach  zu- 
sammenzieht. 

So  wie  der  Verletzte  sich  aus  diesem  Zustand  psychischer  und 
physischer  Depression  erholt  hat,  und  die  llerzthütigkeit  mit  früherer 
oder  selbst  mit  verstärkter  Energie  agirt,  können  dann  Blutungen  aus 
Gefässen  auftreten,  die  anfangs  nicht  bluteten.  Dies  ist  eine  Art  von 
Nachblutungen,  wie  sie  auch  nach  Operationen  vorkommen,  wenn  die 
Chloroformnarkose  verflogen  ist.  Es  muss  also  der  Kranke  in  dieser  Zeit 
stets  sorgfältig  überwacht  werden,  um  solchen  nachträglichen  Blutungen 
sofort  zu  begegnen,  besonders  wenn  man  wegen  der  Localität  der  Ver- 
wundung den  Verdacht  hegen  kann,  dass  eine  grössere  Arterie  ver- 
letzt sei. 


Zunächst  w^ollen  wir  uns  wieder  mit  den  örtlichen  Vorgängen 
an  der  Wunde  selbst  etwas  genauer  beschäftigen. 

Wenngleich  ohne  Zweifel  die  Processe,  welche  bei  den  gequetschten 
Wunden  Platz  greifen,  die  Veränderungen  an  der  Wundfläche  und  die 
endliche  Heilung  der  Wunde  wesentlich  dieselben  sein  müssen,  wie  bei 
den  geschnittenen  Wunden,  so  bestehen  doch  in  der  Erscheinungsform 
dieser  Processe  in  beiden  Fällen  nicht  unerhebliche  Verschiedenheiten. 
Ein  sehr  wesentlicher  Umstand  ist,  dass  bei  den  gequetschten  Wunden 
die  Wundränder  der  Haut  und  Weichtheile  eben  durch  die  Quetschung 
in  ihrer  Ernährung  in  grösserer  oder  geringerer  Ausdehnung  entw^eder 
wesentlich  beeinträchtigt,  oder  ganz  lebensunfähig  geworden  sind.  Dies 
heisöt  mit  andern  Worten  mehr  anatomisch  ausgedrückt :  die  Circulation,  die 
Saftströmung  und  Nerveneinwirkung  ist  in  den  Wundrändern  gequetschter 
Wunden  durch  die  Zerquetschung  von  Gefässen,  Geweben  und  Nerven 
mehr  oder  weniger  aufgehoben.  Hierdurch  fällt  schon  die  Möglich- 
keit einer  Vereinigung  gequetschter  Wundränder  per  primam 
intentionem  fort,  denn  diese  verlangt  eine  vollständige  Lebensfähig- 
keit an  den  Wundflächen  selbst.  Gequetschte  Wunden  heilen  also 
immer  mit  Eiterung, 

Diese  Beobachtung  hat  zu  der  Consequenz  geführt,  dass  man  bei 
gequetschten  Wunden  fast  nie  Nähte  anlegt  oder  feste  Vereinigung  mit 
Pflaster  erzwingt.  Dies  dürfen  Sie  sich  im  Allgemeinen  als  Regel 
merken.  Es  giebt  Ausnahmen  von  dieser  Regel,  die  Sie  genauer  erst 
in  der  Klinik  selbst  kennen  lernen  können,  und  von  denen  ich  Hmen 
nur    beiläufig    bemerken    wäll,    dass    man    zuweilen  grosse  abgerissene 

Billroth  chir.  Path.  u.  Ther.    7.  Aufl.  H 


Iß2  Von    den  Quetschwunden  und  Risswunden    der  Weichtheile. 

Hautlappen  iu  ihrer  ursprüng-liclien  Lage  anheftet,  nicht  in  der  Erwar- 
tung-, eine  Heilung-  per  primam  zu  erzwing-en,  sondern  nur,  damit  solche 
Lappen  sich  nicht  gleich  anfang-s  gar  zu  weit  zurückziehen  und  zu  sehr 
einschrumpfen. 

Die  Granulationsbildung'  und  Eiterung-  kommt  in  der  Folge  im  Wesent- 
lichen wie  bei  den  Wunden  mit  Substanzverlust  zu  Stande,  nur  mit  dem 
Unterschied,  dass  die  Gewebsbildung  langsamer,  und  man  könnte  sagen, 
an  vielen  Stellen  unsicherer  vor  sich  geht.  Es  geht  freilich  auch  bei 
den  geschnittenen  Wunden  mit  Substanzverlust  zuweilen  eine  dünne 
oberflächliche  Schicht  der  Gewebe  verloren,  wenn  sie  nicht  mehr  ge- 
nügend ernährt  wird;  doch  dies  ist  unbedeutend  zu  nennen  im  Yerhält- 
niss  zu  den  massenhaften  Ablösungen  von  Gewebsfetzen,  wie  sie  bei  den 
gequetschten  Wunden  eintreten.  Viele  Tage,  oft  Wochen  lang  hängen 
hier  zuweilen  die  Fetzen  von  abgestorbener  (nekrotischer)  Haut,  von 
Fascien,  Sehnen  an  den  Wundrändern,  während  andere  Stellen  bereits 
üppig  granuliren. 

Dieser  Ablösungsprocess  der  todten  von  den  lebendigen  Gewebs- 
theilen  erfolgt  in  der  Weise,  dass  an  der  Grenze  des  unverletzten  ge- 
sunden Gewebes  von  diesem  aus  sich  eine  zur  Granulationsentwicklung 
führende  Zelleninfiltration  und  Gefässbildung  entfaltet;  es  entstehen  au 
der  Grenze  des  Gesunden  Granulationen,  ihre  Oberfläche  verflüssigt  sich 
zu  Eiter.  Mit  dieser  Verflüssigung,  gewissermaassen  der  Auflösung  und 
Schmelzung  des  Gewebes,  muss  dann  natürlich  die  Cohäsion  der  Theile 
aufhören  und  die  todten  Fetzen,  die  bis  dahin  wegen  ihres  Faserzu- 
sammenhangs noch  mit  dem  Lebenden  in  Coutinuität  waren,  müssen  jetzt 
abfallen. 

Ein  Theil  der  Wundoberfläche  bei  den  gequetschten  Wunden  wird 
also  fast  immer  brandig,  nekrotisch  (von  vfx^og,  todt),  gangränös 
(von  ri  ycc/yganm^  der  heisse  Brand,  ygaivco,  zerfressen).  Alles  dieselben 
Ausdrücke  für  Theile,  in  denen  Circulation  und  Innervation  aufgehört 
haben,  für  Theile,  die  bereits  todt  sind.  Die  Stelle,  an  welcher  die  Ab- 
lösung erfolgt,  bezeichnet  man  mit  dem  technischen  Ausdruck  als  De- 
marcationslinie  des  Brandigen.  Diese  Termini  technici,  die  sich  auf 
jede  Art  des  Brandes  beziehen,  er  möge  entstanden  seiü,  wie  er  wolle, 
mögen  Sie  sich  hier  vorläufig  merken. 

Ich  will  Ihnen  diesen  Abstossungsprocess  nekrotischer  Gewebe  durch  Eiterung  iuhIi 
deutliclier  durch  eine  schematische  Zeichnung  zu  machen  suchen. 

In  dem  gezeichneten  Stück  Bindegewebe  sei  der  Wundrand  so  durcli  die  Quetsclumg 
zerstört,  dass  die  Circulation  in  ihm  aufhört  und  er  nicht  mehr  ernährt  wird:  das  Blut 
ist  in  den  Gefässen  geronnen ,  so  weit  die  Schraffirung  der  Gefässe  in  der  Zeichnung 
reicht.  .Jetzt  beginnt  die  Zelleninfiltration  und  die  entzündliche  Neubildung  sich  an  dem 
äussersten  Ende  des  lebendigen  Gewebes  zu  entwickeln,  an  der  Grenze  zwischen  a  und  h, 
wo  das  Gefässsystem  schlingenförmig  abgegrenzt  ist;  diese  Gefässschlingen  erweitern  sich, 
wachsen  durcli  Sprossenbildung,  vermehren  sich;  in  dem  Gewebe  nimmt  die  Intiltration 
duixh  Wanderzellen    immer   zu,    wie    wenn    hier   der  "Wundrand    wäre;    es  entsteht 


Vorlosiinn'    12.     Cnpilcl   IV. 

Fig.  44. 

////    ^\  /-  (  ^^1  /         ^  /       / 


IGl 


Abstossungsprocess  abgestorbenen  Bindegewebes  bei  Quetschwunden.     Vergrösserung  300. 

Schematische  Zeichnung,     a  zerquetschter   nekrotischer  Theil;    b  lebendiges    Gewebe;    die 

Wundfläche  ist  an  der  oberen  C4renze  von  a  gedacht. 


Granulationsgewebe;  dies  verflüssigt  sich  an  der  Oberfläche,  also  dicht  am  abgestorbenen 
Gewebe  zu  Eiter  und  dann  fällt  natürlich  der  nekrotische  Theil  ab,  weil  die  Cohärenz 
mit  dem  lebendigen  Gewebe  aufgehört  hat. 

Durch  den  Entzündungsprocess  mit  Granulationsbilduiig- 
und  Eiterung-  erfolgt  also  die  Lösung  der  brandigen  Fetzen. 
Ist  das  todte  Gewebsstück  abgefallen,  so  kommt  die  darunter  liegende, 
jetzt  eiternde  Granulationsfläche  sofort  zu  Tage,  da  sie  ja  schon  vor  Abfall 
des  Nekrotischen  fertig  ausgebildet  war.  —  Was  Sie  hier  am  Bindegewebe 
sehen,  können  Sie  ohne  weiteres  auf  die  übrigen  Gewebe,  den  Knochen 
nicht  ausgenommen,  übertragen.  — 

Man  kann  in  vielen  Fällen  den  frischen  Wundrändern  ansehen,  wie 
viel  von  ihnen  ungefähr  absterben  wird,  doch  bei  weitem  nicht  immer, 
und  niemals  kann  man  die  Grenze  des  Todten  gleich  anfangs  bis  auf 
Linien  bestimmen. 

Die  völlig  zerquetschte  Haut  hat  meist  ein  dunkelblau  violettes  An- 
sehen und  ist  kalt  anzufühlen ;  in  andern  Fällen  sieht  man  anfangs  nichts 
an  ihr,  doch  in  wenigen  Tagen  ist  sie  weiss  entfärbt,  völlig  gefühllos, 
später  wird  sie  grau,  oder  wenn  sie  ganz  austrocknet,  grauschwarz  oder 

11* 


2ß4  Von  den  Quetschwunden   nnd  Risswnnden  der  Weiclitheile. 

braunscliwavz.  Diese  verschiedenen  Färbungen  liängeu  liäuptsiiclilich  von 
der  Menge  geronnenen  Blutes  ab,  das  in  den  Gefässen  steckt,  oder 
wegen  tlieilweiser  Zerreissung  derselben  in  das  Gewebe  selbst  infiltrirt 
war.  Die  gesunde  Haut  grenzt  sich  dagegen  durch  eine  rosenrothe.  sich 
diffus  verlierende  Linie  ab,  eine  Eöthung,  die  iliren  Grund  tlieils  in  der 
collateralen  Erweiterung  der  Capillaren  findet,  theils  auch  eine  Fluxions- 
und  Entzündungserscheinung  ist,  wie  wir  dies  früher  genauer  besprochen 
haben;  es  ist  die  sclion  früher  erwähnte  Eeactionsröthung  um  die  Wunde; 
denn  die  lebende  Wundfläche  beginnt  ja  erst  da,  wo  das  Blut  noch  in 
den  Capillaren  fliesst. 

Weit  weniger,  oft  gar  nicht,  kann  man  bei  den  Muskeln,  Fascien 
und  Sehnen  aus  ihrem  Aussehen  von  Anfang  an  bestimmen,  wie  weil 
sie  sich  ablösen  werden. 

Die  Zeit,  welche  verfliesst,  bis  sich  Todtes  von  Lebenden  demarkirt 
und  ablöst,  ist  bei  den  verschiedenen  Geweben  äusserst  verschieden.  Es 
hängt  zuvörderst  von  dem  Gefässreichthum  der  Gewebe  ab;  je  reicher 
ein  Gewebe  an  Capillaren,  je  weicher  es  ist,  je  leichter  sich  Zellen  darin 
verbreiten  und  je  reicher  es  seiner  Natur  nach  an  entwicklungsfähigen 
Zellen  ist,  um  so  rascher  wird  die  Granulationsbildung  und  die  Ablösung 
des  Nekrotischen  erfolgen.  Alle  diese  Bedingungen  treffen  am  besten 
bei  dem  Unterhautzellgewebe  und  den  Muskeln  zu,  am  wenigsten  bei 
Sehnen  und  Fascien;  die  Cutis  steht  in  dieser  Beziehung  in  der  Mitte. 
Am  ungünstigsten  sind  die  Bedingungen  für  den  Knochen;  hier  erfolgt 
daher  die  Trennung  von  abgestorbenem  und  lebendem  Knochen  am  lang- 
samsten, wovon  später.  —  Der  Nervenreichthum  scheint  bei  diesen  Pro- 
cessen wenig  in  Betracht  zu  kommen. 

Doch  es  giebt  noch  eine  Menge  anderer  Einflüsse,  welche  die  rasche 
Ablösung  der  todten  Theile  hindern,  oder  was  dasselbe  ist,  der  Granu- 
lations- und  Eiterbildung  hemmend  in  den  Weg  treten.  So  z.  B.  eine  an- 
dauernde Einwirkung  von  Kälte  auf  die  Wunde,  wie  wir  sie  durch  Auflegen 
von  Eisblasen  erzielen  können.  Die  Gefässe  werden  durch  die  Kälte  in 
Contraction  gehalten,  die  Zellenbewegung,  Zellenvermehrung,  der  Austritt 
der  Zellen  aus  den  Gelassen  geht  unter  Einwirkung  der  niederen  Tempe- 
ratur äussert  langsam  vor  sich.  Umgekehrt  wirkt  die  Behandlung  mit  con- 
tinuirlicher  hoher  Wärme,  wie  wir  sie  durch  Auflegen  von  Kataplasmen 
erreichen  können:  hierdurch  erhöhen  wir  die  Fluxion  in  den  Capillaren 
und  zwingen  sie  zur  Erweiterung,  wie  Sie  sich  leicht  durch  die  Eöthe 
überzeugen  können,  welche  auch  in  gesunder  Haut  entsteht,  wenn  Sie 
ein  heisses  Kataplasma  darauf  legen;  dass  ausserdem  die  höhere  Tem- 
peratur die  Zcllenbewegungen  beschleunigt,  ist  bekannt. 

Völlig  im  Voraus  unberechenbar  ist  der  Einfluss  der  Gesammtcon- 
stitution  des  betrotTeneu  Individuums  auf  die  erwähnten  localen  Processe; 
im  Allgemeinen  kann  man  zwar  sagen,  dass  dieselben  energischer  auf- 
treten bei  kräftigen,   starken,  jugendlichen,   massiger  und    schlafter  bei 


Vdi-IcsimR   12.     Cipili'l   IV.  105 

seil  wachen  Iiidividiiou;  (loch  täuscht  mau  sich  darin  oi'i  gemig-.  Einen 
besonders  üblen  Verlauf  pHeg-en  Quetschwunden  bei  älteren  Potatoren 
zu  nehmen. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  werden  Sie  schon  entnehmen  können, 
dass  die  gequetseliten  Wunden  viel  länger  zur  Heilung-  brauchen,  als  die 
meisten  einfach  geschnittenen  •,  auch  wird  Ihnen  klar  sein,  dass  es  Ver- 
hältnisse geben  kann,  unter  denen  die  Amputation  des  Gliedes  noth- 
wendig  ist,  weil  alle  Weichtheile  der  Extremität  völlig  zermalmt  und 
•zerrissen  sind;  es  giebt  Fälle,  wo  die  Weichtheile  so  völlig  vom  Knochen 
abgerissen  sind,  dass  dieser  nur  allein  noch  vorhanden  ist,  so  dass  einer- 
seits keine  Benarbung  erfolgen  würde,  andrerseits  die  Extremität,  falls 
wirklich  Heilung  nach  vielen  Monaten  oder  Jahren  erfolgte,  ein  ganz 
unbrauchbarer  Theil  des  Körpers  sein  würde,  und  man  deshalb  besser 
thut,  ihn  gleich  zu  entfernen.  Docli  aucli  die  alleinige  vollständige  Ab- 
reissung  der  Haut  von  dem  grössten  Theil  einer  Extremität  kann  unter 
Umständen,  wenn  auch  selten,  Veranlassung  zur  Amputation  geben,  wie 
in  folgendem  Fall :  ein  etwa  zehnjähriges  Mädchen  gerieth  mit  der  rechten 
Hand  zwischen  zwei  Walzen  einer  Spinnmasclsine;  sie  zog  den  Arm 
stark  zurück,  damit  derselbe  niclit  ganz  zwischen  die  Walzen  gezerrt 
Avürde.  Die  Hand  kam  wieder  zum  Voischein,  doch  die  ganze  Haut 
vom  Handgelenk  an  bis  zu  den  Fingerspitzen  blieb  zwischen  den  Walzen; 
die  Haut  war  am  Handgelenk  rund  herum  gerissen  und  nun  wie  ein 
Handschuh  von  der  Hand  abgezogen.  Als  die  Patientin  in  das  Spital 
gebracht  wurde,  sah  die  verletzte  Hand  wie  ein  anatomisches  Präparat 
aus;  man  sab  die  Sehnen  in  ihren  Scheiden  bei  den  Flexions-  und  Ex- 
tensionsbewegungen,  die  unbehindert  ausgeführt  werden  konnten,  spielen; 
kein  Gelenk  war  eröffnet,  kein  Knochen  gebrochen;  was  sollte  liier  ge- 
schehen? Eine  ziemlich  grosse  Erfahrung  über  diese  Maschinenverletzun- 
gen hat  mir  gezeigt,  dass  Finger,  die  ganz  vollständig  von  Haut  entblösst 
sind,  immer  gangränös  werden;  es  wäre  nun  ein  völlig  wunder  Hand- 
stumpf übi'ig  geblieben,  der  im  günstigten  Falle  einen  unbeweglichen 
benarbten  Klumpen  dargestellt  hätte;  ob  wirklich  dauernde  solide  Narben- 
bildung eingetreten  wäre,  war  zweifelhaft;  viele  Monate  wären  darüber 
hingegangen,  um  ein  so  zweifelhaftes  Eesultat  anzustreben;  unter  solchen 
Umständen  war  es  besser,  die  Amputation  diclit  oberhalb  des  Handge- 
lenks zumachen;  dies  geschah,  und  nach  4  Wochen  kehrte  die  Patientin 
in  ihre  Heimath  zurück;  der  Fabrikherr  liess  der  Verletzten  eine  künst- 
liche Hand  mit  einfachem  Mechanismus  machen,  um  den  erlittenen 
Schaden  auszugleichen,  so  weit  es  möglich  war. 

Solche  Fälle  sind  zum  Glück  nicht  häufig;  bei  ähnlichen  Verletzungen 
einzelner  Finger  überlässt  man  den  Process  der  Abstossung  meist  sich 
selbst,  wobei  eben  nicht  mehr  verloren  geht,  als  wirklich  lebensunfähig 
ist;  denn  im  Allgemeinen  muss  der  Grundsatz  für  die  Verstümmelungen 
an  der  Hand  festgehalten  werden,    dass  jede  Linie  mehr  oder  weniger 


\Qß  Von    den  Quetschwunden  und  Risswunden    der  Weichtheile. 

von  gTosser  Wichtigkeit  ist,  dass  zumal  einzelne  Finger,  vor  allen  der 
Daumen^  wenn  irgend  möglich,  erhalten  werden  sollen,  da  solche  Finger, 
wenn  sie  nur  einigermaassen  functionsfähig  sind,  für  alle  Fälle  mehr 
für  den  Gebrauch  leisten,  als  die  bestgearbeitete  künstliche  Hand;  für 
den  Fuss  und  die  unteren  Extremitäten  kommen  andere  Rücksichten  in 
Frage,  wovon  wir  zu  sprechen  haben,  wenn  wir  auf  die  complicirten 
Knochenbrüche  kommen. 

Wären  doch  diese,  wenn  auch  traurigen  Verstümmelungen  und  die 
langsame  Heilung  die  einzigen  Sorgen,  die  wir  um  unsere  Kranken  mit 
Quetschwunden  haben!  Leider  giebt  es  noch  eine  ganze  Eeihe  örtlicher 
und  allgemeiner  Complicationen  bei  den  Quetschwunden,  die  das  Leben 
direct  oder  indirect  gefährden !  Wir  wollen  hier  nur  kurz  von  einigen 
vorwiegend  örtlichen  Complicationen  reden;  Ausführlicheres  über  die 
„accidentellen  Wundkrankheiten",  behalten  wir  uns  für  ein  besonderes 
Capitel  vor. 

Eine  bedeutende  Gefahr  kann  daraus  erwachsen,  dass  die  auf  der 
Wunde  sich  zersetzenden  faulenden  Gewebe  einen  schädlichen  Einfluss 
auf  die  benachbarten  unverletzten  Theile  ausüben.  Faulige  Stoffe  wirken 
als  Fermentkörper  auf  andere  organische  Verbindungen,  zumal  auf 
Flüssigkeiten,  die  solche  enthalten ;  sie  leiten  die  Zersetzung  rascher  ein, 
als  dieselbe  spontan  erfolgt  wäre.  Man  darf  sich  wundern,  dass  eine 
derartig  ausgedehnte  Fäulniss  dei-  verletzten,  wenn  auch  nicht  gleich 
durch  die  Verletzung  völlig  ertödteten  Theile  nicht  noch  viel  öfter  Unheil 
anrichtet,  als  es  wirklich  geschieht.  In  den  meisten  Fällen  aber  erfolgt 
die  Gerinnung  und  Verklebung  der  Weichtheile  und  die  regenerative  cellii- 
läre  Action  an  der  Grenze  der  lebenden  Gewebe  so  schnell,  dass  durch 
sie  bald  eine  Art  von  lebendigem  Wall  gegen  aussen  gebildet  wird ; 
diese  Neubildung  lässt  nicht  leicht  faulige  Stoffe  durch,  besonders 
ist  die  einmal  gebildete  Granulationsfiäche  ausserordentlich  resistent 
gegen  solche  Einflüsse.  Es  ist  in  vielen  Gegenden  im  Volk  gebräuch- 
lich, Geschwüre  mit  Kuhmist  und  andern  schmutzigen  Stoffen  zu  be- 
decken; fast  nie  entsteht  dadurch  ausgedehnte  Fäulniss  auf  granulireuden 
Wunden.  Bringen  Sie  aber  solche  Substanzen  auf  eine  frische  Wunde, 
binden  Sie  dieselben  fest  auf  die  Wunde,  so  dass  der  faulige  Stoff  auch 
noch  mechanisch  in  die  Gewebe  imprägnirt  wird,  so  werden  die  Wunden 
in  vielen  Fällen  brandig  werden  bis  zu  der  Tiefe,  in  welcher  dann  eine 
energische  Gewebsthätigkeit  der  Fäulniss  entgegentritt. 

Die  Ursache,  dass  faulige  Substanzen  auf  fi-ische  Wunden  so  schädlich,  auf  graiiu- 
lirende  Wunden  fast  gar  nicht  einwirken,  suche  ich  eines  Theils  in  der  sehleimigen  Be- 
schaffenheit des  oft  mehre  Linien  dicken  Graniüationsgewebes,  andern  Theils  darin,  dass 
die  puti'iden  Substanzen  hauptsächlich  durch  die  Lymphgefässe  resorbirt 
werden.  Spritzen  Sie  einem  Hunde  eine  Drachme  fauliger  Fhissigkeit  in  das  Unter- 
hautzellgewebe, SU  wird  heftige  Entzündung,  Fieber  und  Septhämie  die  Folge  sein.  Haben 
Sie  bei  einem  Hunde  eine  grosse  Granulationsfläche  erzeugt  und  verbinden  diese  täglich 
mit  in  Jauche  getränkter  Charpie,  so  wird  dies  gar  keine  merklichen  Folgen  haben.     An 


VdrlcstuiK  12.     rapitcl  TV.  107 

(lor  Grenze  der  entzüiidlieheti  Neuhildiiiig  sind  di(!  LymphfjefH.sse  gi;scldf)s.seii;  an  der 
(iratiulafioiisolierfläehe  sind  keine  oftenen  Lynip?iffelTi,sse,  daiier  erfolgt,  von  liier  ans  keine 
Resorption.  Die  letztere  Anseiinuung  ist  lebhaft  aiigi^griflen  worden;  man  iiat  i)esonders  her- 
vorgehoben, dass  die  pntriden  Stoffe  docli  inuner  nur  in  geiiistem  Zustande  wirksam  sein 
könnten,  und  dass  kein  Gnind  vorliauden  sei,  warum  sie  dann  nicht  (hirdi  die  CapiMar-  und 
Venenwandungeu  el)enso  leicht  durchdringen  sollten,  wie  in  die  Lymphbahnen  eindring(Mi. 
Ic'-i  kann  dieRiclitigkcit  dieser  Reflexien  zugeben,  ohne  deshalb  d(Mi  eben  mitgethcilten  Er- 
klärungsversuch d(>r  erwähnten  allgemein  bekannten  Beobaclitungen  ganz  fallen  zu  lassen. 
Die  Fäulniss  an  der  Luft  ist  immer  vergesellschaftet  mit  der  Entwicklung  von  kleinsten 
Elementarorganismen,  welche  den  niedersten  Pflanzengattungen,  den  nur  mikroskopisch 
erkennbaren  Filzen  und  Algen  angehören.  Es  sind  dies  tlieils  kleinste  Kügelchen 
(Mikrococcus ,  uix(>6s  klein  und  ö  y.6y.>!0s  der  Kern),  theils  kleinste  Stäbehen  (Bacterien, 
von  10  i3(iy.T>'ii)io)'  das  Stäbchen),  welche  isolirt,  oft  zu  zweien  zusammenhängend  gefunden 
werden ,  zuAA^eilen  Ketten  von  4 — 20  und  mehr  Gliedern  bilden  (Streptococcos .  von 
6  (TTQfTJTo^  die  Kette  und  6  xöyaog),  häufig  durch  eine  von  ihnen  ausgeschiedene 
Schleimmasse  (Coccoglia,  von  r.öy.aog  und  >)  ykia  oder  ykoiä  der  Leim)  in  unregelmässigen 
kugligen  und  cylindrischen  Formen  zusammengeballt  sind. 

)  Fig.  45. 


•    O  Ol 


"  -^^'''-"'  .<!«f^-       ^r 


OOtfc               ct„-o 

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qCOO 

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a   Microcbccos    (Monaden    Hueter,    Microsporen   Klebs);    b   Coccoglia    oder  Gliacoccos 

(Zooglaea    Cohn);    c    Streptococcos    (Torula);    d   Bacterien;    e  Vibrio;   /  Streptobacteria 

(Leptothrix  Hallier).     Vergrösserung  300 — 500. 

Diese  Elemente  sind  einerseits  in  ihrer  Grösse  sehr  verschieden,  indem  sie  zwischen 
dem  Durchmesser  eines  mit  den  stärksten  Vergrösserungen  kaum  noch  wahrnehmbaren 
blassen  Kügelchen  und  demjenigen  eines  Eiterzellenkerns  schwanken,  andererseits  sind  sie 
bald  beweglich,  bald  ruhend;  sie  finden  sich  immer,  wenn  auch  oft  nur  in  sehr  geringen 
Mengen  in  den  gangränösen  Fetzen,  welche  den  Wunden  vor  ihrer  vollständigen  Reini- 
gung anhängen.  Man  schreibt  diesen  kleinen  Pilzen  den  grössten  Antheil  an  dem  Zu- 
standekommen derjenigen  Art  von  Zersetzung  zu,  welche  man  Fäulniss  zu  nennen  pflegt, 
und  die  sich  vorzüglich  durch  Entwicklung  stinkender  Gase  dokumentirt.  Sie  spielen  bei 
der  Fäulniss  die  gleiche  Rolle  wie  die  Gährungspilze  bei  der  Gährung  des  Traubensaftes 
und  vieler  anderer  Obstsäfte;  sie  scheinen  die  sogenannten  Fermente,  welche  die  Fäulniss 
der  Köi'persäfte  in  der  allgemein  bekannten  Art,  und  mit  den  bekannten  Endresultaten 
erzeugen,  aufzunehmen,  und  bei  ihrer  rapiden  Vermehrung  auch  ebenso  rasch  zu  vermehren. 


XßS  Von  den  Quetscbwimden    und  Risswunden  der  Weichtheile. 

Ob  die  Fänlnissfennente  nnr  an  sie  gebunden  sind,  oder  ob  es  aucb  Fäulnissfermente 
ausser  ihnen  giebt,  Aveiss  man  nicbt.  Ich  übergebe  die  Theorien,  welche  man  zur  Er- 
klärung dieser  geheimnissvollen  Processe  lebendiger  Action  ersonnen  hat  sowie  die  Ein- 
würfe gegen  die  Richtigkeit  der  Behauptung,  dass  nur  durch  die  erwähnten  Organismen 
Fäulniss  erzeugt  werde,  sondern  begnüge  mich  damit,  Ihnen  zu  sagen,  dass  seit  den  mit 
so  ausserordentlicher  Genialität  und  staunenswerther  Consecjuenz  durchgeführten  Versuchen 
von  Pasteur  über  Generatio  spontanea,  Gährung  und  Fäulniss,  trotz  des  lebhaften  Wider- 
spruches V.  Liebig's  von  vielen  Chemikern  angenommen  wird,  dass  alle  die  Vorgänge, 
welche  wir  allgemein  als  Fäulniss  und  Gährung  bezeichnen,  nur  imter  Vermittlung  pflanz- 
licher Organismen  entstehen,  womit  natürlich  das  Vorkommen  anderer  Arten  der  25er- 
setzung  ohne  Fermentwirkungen,  die  auch  mit  Entwicklung  stinkender  Gase  verbunden  sein 
können,  nicht  in  Abrede  gestellt  Avird.  —  Hiervon  ausgehend  liegt  es  auf  derHand,  dass 
diese  Organismen  leichter  in  offene  Lymphräunie  eindringen  als  Blutgefässwandungen  durch- 
dringen werden,  und  somit  leichter  in  die  Lymphbahnen  als  direct  in  die  Blutbahnen 
gelangen.  Die  Zersetzung,  welche  diese  Organismen  vermitteln  können,  ist  mit  Bildung 
von  Ammoniak,  Milchsäure,  Buttersäure  und  manchen  anderen  Stoffen  verbunden,  welche 
eine  durch  Experimente  nachgewiesene  schädliche,  stark  phlogogene  Wirkung  auf  die 
Gewebe,  so  wie  giftige  Wirkungen  auf  den  ganzen  Körper  ausüben ;  das  Eindringen  dieser 
Organismen,  deren  mechanische  Irritation  wegen  ihrer  Kleinheit  für  die  meisten  Gewebe 
(ausser  etwa  für  die  Cornea)  kaum  in  Betracht  kommen  dürfte,  ist  also  eine  Gefahr,  welche 
mit  ihrer  Vermehrung  bedeutend  zunimmt.  Zu  dieser  Vermehrung  ist  neben  vielen  anderen 
Dingen  besonders  viel  Wasser  nöthig. 

Je  mehr  die  Gewebe  von  Flüssig'keit  durchtränkt  sind,  und  je  mehr  sie 
in  ihrer  lebendigen  Thätigkeit  durch  den  Act  der  Quetschung  beeinträchtigt 
sind,  um  so  mehr  sind  sie  bei  ihrem  Halbleben,  ihrer  vita  minima  zur  Fäul- 
niss disponirt.  Die  Fälle  also,  in  welchen  nach  Quetschnngeu  starke  öde- 
matöse  Anschwellungen  auftreten,  sind  die  bedenklicheren  in  dieser  Be- 
ziehung; ein  solches  Oedem  aber  entsteht  gar  leicht,  weil  der  Blutlauf  in 
den  Venen  und  die  Lymphströmungen  in  den  Gewebsstücken  und  Lymphge- 
fässen  durch  ausgedehnte  Zerreissung  und  Zerquetschung  gehemmt  Avird, 
und  zwar  oft  in  einer  Ausdehnung,  welche  die  der  zufällig  mit  der  Quet- 
schung gesetzten  Wunde  weit  überschreitet.  Denken  Sie  sich,  ein  Vorder- 
arm geräth  unter  einen  viele  Centner  schweren  Stein,  so  ist  vielleicht  eine 
nur  kleine  Hautwunde  da,  doch  ausgedehnte  Zermalmung  der  Muskeln, 
Quetschung  von  Sehnen  und  Fascien  am  ganzen  Vorderarm,  Quetschung 
und  Zerreissung  der  meisten  Venen;  eine  starke  ödematöse  Ansch-wellung 
wird  die  rasche  Folge  sein,  da  das  Blut,  von  der  Arterie  in  die  Ca- 
pillaren  mit  vermehrter  Energie  getrieben ,  nicht  auf  dem  gewohnten 
Wege  durch  die  Venen  zurück  kann,  und  somit  das  Serum  in  grösserer 
Menge,  und  unter  stärkerem  Druck,  durch  die  Capillarwandungen  in  die 
Gewebe  austritt.  Welch'  ein  Tumult  im  Kreislauf,  in  der  ganzen  Ernäh- 
rung! Bald  muss  es  sieh  zeigen,  wo  das  Blut  iil)erhaupt  noch  circuliren 
kann,  und  wo  nicht;  an  der  Wunde  beginnt  zunächst  unter  dem  Einfluss 
der  Luft  und  der  durch  sie  zugeführten  Fermente  eine  Zersetzung  der 
lebensunfähigen  Tlieile,  diese  setzt  sich  auf  die  stagnirende  Säfte  fort, 
und  im  unglücklichen  Fall  greift  sie  immer  weiter  um  sich,  die  ganze 
Extremität  bis  zur  Schulter  schwillt  fürchterlich  an,  die  Haut  wird  gläu- 


Vi.ilcsuii«    ll'.     Ciipiirl   IV.  lf)() 

zend  rotli ,  gespannt,  sclinicrzhaft,  bedeckt  sich  niit'Blasen,  denn  aiicli 
unter  die  Epidermis  tritt  Serum  aus  den  Capillarg-classen  der  Haut.  Alle 
diese  Erscheinungen  pflegen  am  dritten  Tage  nach  der  Verletzung  oft 
mit  turchtbarer  l\ai)idität  sich  zu  entfalten.  Die  ganze  Extremität  kann 
i\i  Folge  dieser  Cirkulationsstörung  brandig  werden;  in  anderen  Fällen 
sterben  nur  die  Fascien,  Sehnen  und  einzelne  llautfetzcn  ab,  es  folgt 
Zelleninliltration  des  gesammten  Bindegewebes  der  Extremität,  (des 
Unterhautzellgewebes,  des  Perimysiums,  Neurilems,  der  Gefässscheiden, 
des  Periosts  u.  s.  w.),  die  zur  Eiterung  führt;  gegen  den  6.  bis  8.  Tag 
kann  die  ganze  Extremität  Aollig  von  Eiter  durclil rankt  sein,  der  sich 
auch  bereits  in  vollster  Zersetzung  befindet.  —  Es  wäre  in  solchen 
Fällen  theoretisch  eine  Heilung  denkbar,  d.  h.  man  könnte  sich  vor- 
stellen, dass  der  Process  sich  doch  endlich  begrenzt  und  bei  geliörig 
angelegten  Hautöffnungen  der  Eiter  und  die  abgestorbenen  Gewebe  sich 
entleeren  könnten.  Doch  dies  ist  selten  so  in  der  Praxis;  besteht  der 
geschilderte  Zustand  in  der  beschriebenen  Ausdehnung,  so  kann  meist 
nur  schleunige  Amputation  den  Kranken  retten  und  auch  diese  nicht 
immer.  Man  kann  diese  Art  der  Infiltration  als  jaucliig-seröse  bezeichnen; 
dies  ist  sie  nur  im  Anfang,  bald  wird  sie  jauchig  eitrig,  endlich  rein 
eitrig.  Im  Wesentlichen  ist  es  eine  durch  locale  septische  Infection  er- 
zeugte Zellgewebsentziindung,  eine  septische  Phlegmone,  deren 
Producte  wieder  eine  grosse  Neigung  zur  Zersetzung  haben,  die  schliess- 
lich aber  zu  ausgedehnter  Eiterung  und  Gevvebsnekrose  führt,  falls  das 
Individuum  die  Blutinfection,  welche  dabei  nie  ausbleibt,  übersteht.  Je 
früher  sich  solche  Processe  begrenzen,  um  so  besser  ist  die  Prognose; 
mit  der  Progression  der  örtlichen  Erscheinungen  steigert  sich  die  Todes- 
gefahr für  den  Verletzten. 

Noch  einmal  müssen  wir  jetzt  bei  der  Abstossung  abgestorbener 
Gewebstheile  auf  die  Arterien  zurückkommen.  Es  kann  sich  ereignen, 
dass  eine  Arterie  der  Art  gequetscht  wird,  dass  ihre  Continuität  nicht 
gerade  getrennt  ist,  und  das  Blut  in  ihrem  Lumen  weiter  fliesst,  docli 
aber  ein  Theil  der  Gefässwandung  lebensunßiliig  wird  und  sich  am 
6.  bis  9.  Tage,  auch  wohl  noch  später  loslöst.  So  wie  dies  geschieht, 
wird  sofort  eine  der  Grösse  der  Arterien  und  der  Grösse  der  Oeffnung 
entsprechende  Blutung  erfolgen.  Diese  in  der  Eegel  plötzlich  auftreten- 
den späteren  Nachblutungen  sind  äusserst  gefährlich,  weil  sie  den 
Kranken  unvermuthet,  zuweilen  im  Schlaf  treffen  und  nicht  selten  erst 
bemerkt  werden,  wenn  bereits  viel  Blut  geflossen  ist.  Ausser  auf  die 
erwähnte  Weise  kann  eine  späte  arterielle  Nachblutung  auch  noch  durch 
Vereiterung  des  Thrombus  oder  der  Arterienwand  erfolgen;  einen  Fall 
letzterer  Art  beobachtete  ich  noch  in  der  dritten  Woche  nach  einer 
grossen  Operation  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Art.  femoralis  dicht 
unter  dem  Lig.  Poupartii,  wobei  die  Arterie  jedoch  nicht  verletzt  wurde. 
Die  Blutung   trat  bei  dem  Patienten  in  der  Nacht  auf;    da  die  Wunde 


170  Von  den  Quetschwunden    und  Risswunden  der  Weichtheile. 

durcliau>s  gut  aussali,  der  Patient  sclion  lange  die  ganze  Naclit  hindurch 
g-esclilafen  hatte,  und  wir  noch  Tags  zuvor  besprochen  hatten,  dass"  er 
am  nächsten  Tage  aufstehen  könne,  war  keine  Wärterin  in  dem  Privat- 
zimmer des  Kranken;  er  erwachte  mitten  in  der  Nacht  (am  22.  Tage 
nach  der  Operation),  fand  sich  im  Blute  schwimmend,  schellte  sofort 
nach  der  Wärterin;  diese  holte  augenblicklich  den  Assistenzarzt  der  Ab- 
theilung, welcher  den  Kranken  indess  schon  bewusstlos  fand,  er  compri- 
mirte  sofort  die  Arterie  in  der  Wunde  und  es  geschah,  während  ich 
geholt  wurde,  Alles,  um  den  Kranken  zu  beleben:  ich  fand  denselben 
pulslos,  bewusstlos,  doch  athmend,  auch  der  Herzschlag  war  noch  deut- 
lich zu  hören ;  während  ich  mich  anschickte,  die  Art.  femoralis  zu  unter- 
binden, verschied  der  Kranke ;  er  hatte  sich  verblutet.  Ein  sehr  trauriger 
Fall!  Ein  sonst  kräftiger,  gesunder  Mann,  in  der  Blttthe  seiner  Jahre, 
kurz  vor  der  Genesung,  musste  auf  diese  elende  Weise  sein  Leben  enden! 
Mich  hat  selten  ein  Fall  so  deprimirt!  Und  doch  konnte  Niemand  ein 
Vorwurf  gemacht  werden,  die  Verhältnisse  waren  zufällig  sehr  günstig 
gewesen;  die  Wärterin  war  wachend  gerade  im  Nebenzimmer,  der  Arzt 
nur  eine  Treppe  tiefer  in  demselben  Hause  und  in  kaum  3 — 4  Minuten 
bei  dem  Patienten;  doch  die  Blutung  musste  schon  längere  Zeit  bestan- 
den haben,  ehe  der  Patient  erwachte,  erst  durch  die  Nässe,  die  er  im 
Bette  fühlte,  war  er  erwacht.  Bei  der  Section  fand  sich  eine  kleine 
Stelle  der  Art.  femoralis  vereitert  und  perforirt.  —  Zum  Glück  ist  es 
nicht  immer  eine  Femoralis,  die  blutet,  auch  kommen  die  Blutungen  nicht 
immer  gleich  so  toll,  nicht  immer  in  der  Nacht;  wir  dürfen  uns  daher 
nicht  durch  einen  solchen  seltenen  Unglücksfall  die  Freude  an  unserer 
Kunst  verkümmern  lassen.  Gewöhnlich  fangen  solche  arteriellen  Blutun- 
gen aus  eiternden  Wundhöhleu  zuerst  unbedeutend  an  und  stehen  bald 
auf  Styptica  oder  Compression;  dann  aber  kommt  die  Blutung  nach 
einigen  Tagen  heftiger  und  ist  schwieriger  zu  stillen;  endlich  wiederholen 
sich  die  Hämorrhagien  schneller  und  schneller,  und  der  Kranke  wird 
immer  aufgeregter,  immer  elender.  —  Bei  allen  starken  arteriellen  Nach- 
blutungen ist  sofortige  Compression  das  erste  Mittel;  jeder  Wärter 
und  jede  Wärterin  sollte  die  Arterienstämme  der  Extremitäten  zu 
comprimiren  verstehen;  diese  Leute  verlieren  jedoch  leicht  den  Kopf, 
wie  im  obigen  Fall,  und  laufen  selbst  in  der  ersten  Angst  zum  Arzt, 
anstatt  selbst  zu  comprimiren  und  einen  Andern  zu  schicken.  Die  Com- 
pression ist  hier  nur  ein  palliatives  Mittel;  es  kann  sein,  dass  die  Blutung 
danach  steht;  ist  sie  aber  bedeutend,  und  sind  Sie  sicher,  woher 
die  Blutung  kommt,  so  rathe  ich  Ihnen  dringend,  sofort  die 
Unterbindung  des  betreffenden  Arterienstammes  in  der  Wunde, 
oder  wenn  dies  nicht  rasch  ausführbar  ist,  in  loco  electionis 
zu  machen,  denn  dies  ist  das  einzige  sichere  Mittel;  Sie  müssen  um 
so  eher  dazu  schreiten,  Avenn  der  Patient  schon  erschöpft  ist;  bedenken 
Sie,  dass  eine  zweite,  eine  dritte  solche  Blutung  gewiss  den  Tod  herbei- 


I 


Vurlcsmif,'   12.     Capilul   IV.  171 

führen  wird.  Dni-uni  sollen  Sie  in  den  Opcrationseursen  vor  allen  an- 
deren Operationen  die  Arterienunterbindungen  Üben,  damit  »Sie  dieselben 
so  sieher  finden,  dass  Sie  diese  Operation  halb  im  Schlaf  machen  können, 
Orade  in  diesen  Fällen  wird  viel  gefehlt  mit  unnüthiger  Zeitverschvvcn- 
dung  durch  Styptica,  die  hier  meist  nur  palliativ  oder  gar  nicht  wirken; 
eine  Arterienunterl)induug  ist  für  denjenigen,  der  die  Anatomie  im 
Kopfe  und  seine  Zeit  gut  in  den  Operationscursen  benutzt  hat,  eine 
Kleinigkeit!  Anatomie!  meine  Herren!  Anatomie!  und  wieder  Anatomie! 
Ein  Menschenleben  hängt  oft  an  der  Sicherheit  Ihrer  Kenntnis»  in  dieser 
Wissenschaft. 

Da  wir  nun  doch  von  Nachblutungen  reden,  so  wollen  wir  auch 
gleich  hier  die  parenchymatösen  Nachblutungen  erwähnen.  Das 
Blut  quillt  aus  den  Granulationen  wie  aus  einem  Schwamm;  nirgends 
sieht  man  ein  blutendes,  spritzendes  Gefäss,  die  ganze  Fläche  blutet, 
zumal  bei  dem  jedesmaligen  Wechsel  des  Verbandes.  Dies  kann  ver- 
schiedene.  Ursachen  haben;  eine  grosse  Brüchigkeit,  eine  leichte  Zer- 
stövbarkeit  der  Granulationen,  also  mangelhafte  Organisation  derselben 
kann  daran  Schuld  sein,  und  diese  mangelhafte  Organisation  der  Granu- 
lationen kann  wiederum  ihre  Grundursache  in  einer  allgemeinen  Krank- 
heit des  gesammten  Organismus  haben  (Bluterkrankheit,  Scorbut,  sep- 
tische, pyohämische  Infection).  Doch  auch  locale  Gründe  um  die  Wunde 
herum  sind  denkbar,  z.  B.  wenn  sich  nach  und  nach  ausgedehnte  Blut- 
gerinnungen in  den  umliegenden  Venen  bildeten,  würde  die  Circulation 
in  den  Granulationsgefässen  so  beeinträchtigt  werden,  der  Blutdruck  so 
zunehmen,  dass  nicht  allein  Serum  aus  denselben  austreten  könnte, 
sondern  auch  Gefässrupturen  entstehen  würden;  ich  habe  freilich  bis 
jetzt  keine  Gelegenheit  gehabt,  dies  durch  Sectionen  bestätigt  zu  finden, 
doch  habe  ich  überhaupt  sehr  selten  solche  parenchymatösen  Nachblutungen 
gesehen.  Die  letzte  Erklärung  klingt  sehr  plausibel;  sie  stammt,  so  viel 
ich  weiss  von  Stromeyer,  er  nennt  solche  Blutungen  „phlebostatische." 
Je  nach  den  Ursachen  kann  es  schwieriger  und  leichter  sein,  solche 
Blutungen  zu  stillen,  in  den  meisten  Fällen  werden  Eis,  Compression, 
Styptica  hier  am  Platze  sein,  in  bedeutenderen  Fällen  auch  die  Unter- 
bindung des  Arterienstammes,  wenngleich  diese  zuweilen  im  Stich  gelassen 
hat.  Diese.  Art  von  Blutungen  tritt  meist  bei  sehr  herunter  gekommenen, 
durch  Eiterung  und  Fieber  erschöpften  Individuen  auf  und  ist  daher  oft 
von  schlimmer  Bedeutung  für  den  allgemeinen  Zustand  des  Kranken. 


272  Von   den  Quetschwunden   und  Riss  wunden  der  Weichtheile. 


Vorlesung  13. 

Progressive  Eiterungen  von  Quetschwunden  ausgehend.  —  Secundäre  Entzündungen  der 
Wunden;  ihre  Ursachen:  locale  Infection,  —  Febrile  Reaction  bei  Quetschwunden.  Nach- 
fieber, Eiterfieber,  Fieberfrost,  seine  Ursachen.  —  Behandhing  der  Quetschwunden: 
Immersion,  Eisblasen,  Irrigation;  Kritik  dieser  Behandlungsmethoden.  —  Incisionen, 
Gegenöifnungen.  Drainage.  Kataplasmen.  Ofl'ne  Behandlung  der  Wunden.  —  Prophylaxis 
gegen  die  secundären  Entzündungen.  —  Innerliche  Behandlung  Schwerverwundeter. 
Chinin.     Opium.  —  Risswunden,    subcutane  Zerreissung  von  Muskeln   und  Sehnen,    Aus- 

reissungen  von  Gliedmaassen. 

Die  Granulationsfläclie,  welche  sich  bei  einer  gequetschten  Wunde 
ausbildet,  ist  meist  sehr  unregelmässig  geformt  und  bildet  oft  viele 
Ecken  und  Taschen;  die  Quetschwunde  geräth  ja  nicht  allein  an  ihrer 
Oberfläche  in  Eiterung,  sondern  auch  die  umliegenden,  gequetschten 
Theile  eitern;  die  Haut  in  der  Umgebung  der  V\^unde  wird  sich  also  oft 
von  Eiter  unterminirt  zeigen;  zwischen  die  Muskeln,  an  den  Knochen 
eutlang,  in  die  Sehnenscheiden  verbreitet  sich  manchmal  unvermuthet  die 
Entzündung  und  Eiterung,  sei  es,  dass  auch  diese  Theile  durch  die  Ver- 
letzung betroffen  waren,  sei  es,  dass  der  gebildete  Eiter  von  den  Lymph- 
gefässen  resorbirt  wird,  sich  zersetzt  und  dadurch  selbst  die  Entzündung 
erregt.  Zum  Glück  stehen  auch  solche  Processe  nicht  »selten  am  Ende 
der  zweiten  oder  dritten  Woche  still;  doch  kann  sich  die  Progression 
des  destructiven  Eiterungsprocesses  auch  noch  protrahiren,  er  kriecht  in 
der  Continuität  der  Sehnenscheiden  und  des  Zellgewebes  weiter,  neue 
Eiterheerde  zeigen  sich  bald  hier,  bald  dort  in  der  Tiefe;  der  verletzte 
Theil  bleibt  geschwollen,  ödematös,  die  Granulationen  sind  auf  der  Ober- 
fläche schmierig  gelb,  gequollen,  schwammig;  wo  man  in  der  Nähe  der 
Wunde  drückt,  fliesst  Eiter  aus  kleinen  oder  grösseren  Oeffnuugen,  die 
sich  spontan  gebildet  haben,  mühsam  aus,  und  dieser  Eiter,  der  in  der 
Tiefe  stagnirt,  ist, nicht  selten  dünn,  übelriechend.  Dauert  dieser  Process 
lange,  so  wird  der  Kranke  elender  und  schwächer,  er  fiebert  lebhaft  und 
dauernd;  eine  anfangs  vielleicht  unbedeutend  erscheinende  Wunde,  etwa 
in  der  Nähe  der  Hand,  hat  eine  erschreckend  starke  AnschAvellung  ver- 
anlasst, und  einen  schweren  Allgemeinzustand  herbeigeführt.  Zumal 
sind  es  die  Sehnenscheiden  in  der  Nähe  von  Hand  und  Fuss,  wo  gern 
so  heimliche,  tiefe  Eiterungen  weiter  und  w^eiter  um  sich  greifen,  und 
von  denen  aus  sich  die  Entzündung  auch  wohl  auf  Hand-  und  Fuss- 
gelenk  ausbreiten  kann,  ebenso  wie  auch  umgekehrt  Gelenkentzündungen 
an  den  Extremitäten  leicht  auf  die  Sehnenscheiden  überspringen.  Diese 
Zustände  können  eine  sehr  bedenkliche  AYcudung  nehmen,  und  Sie 
müssen  dabei  sehr  auf  der  Hut  sein.  Durch  dauerndes  Fieber,  sowie  durch 
täglichen  bedeutenden  Eiterverlust  können  auch  die  kräftigsten  Menschen 


Vorlosimn-   1?,.     ('ni)ilol  TV.  1 7;) 

in    einiii'en    Woclicn    f'iirclithar  ;i])iii;iii,'('ni    iiiul    iiiitci-    iM-scIiciiimi^i^'en    von 
lohrileni  Marasmus  sterlxMi. 

Wir  kennen  nun  zwei  KntziiiKlung'sforniou,  welche  zu  den  (^uetscli- 
AYunden  liinziikonnnon  können:  1)  die,  rai)id  prog-ressive  sejitisehe  Zell- 
g-ewcbecntziindung,  welche  im  Laufe  der  ersten  o — 4  Tage  (selten  vor 
24  Stunden  nach  der  Verletzung  und  ebenso  selten  nach  dem  4.  'J^age) 
in  der  Wunde  auftritt,  und  welche  thoils  das  unmittell)are  Resultat  der 
Verletzung  ist  theils  durch  locale  Infection  mit  faulenden  Säften  und 
Fäulnissfermenten  bedingt  ist,  die  sich  in  den  an  der  Wundfläche 
nekrotisirenden  Geweben  entwickeln;  2)  die  progressive  eitrige  Zcll- 
gewebsentziindung,  welche  zumal  bei  Hand-  und  Fusswunden  nocli 
während  der  Reinigung  der  Wunde  von  nekrotischen  Gewebsfetzen  zu 
der  Verletzung  hinzukommen  kann,  ohne  dass  der  Eiter  dabei  jauchig 
faul  wäre,  wenn  sich  dabei  auch  oft  Buttersäure  in  ihm  biklet. 

Wenn  nun  die  Wunde  bereits  vollkommen  g-ereinigt  ist  und  granulirt, 
Avenn  der  Entziindung'sprocess  sich  begrenzt  hat,  die  Wunde  schon  anfängt 
zu  benarben,  dann,  werden  Sie  meinen,  kann  doch  nichts  mehr  an  ihr 
geschehen;  leider  ist  dem  nicht  so;  auch  jetzt  kann  neue  Entzündung 
mit  schweren  Folgen  auftreten.  Diese  später,  selbst  mehre  Wochen  nach 
der  Verletzung,  zuweilen  so  unvermuthet  wie  ein  Blitz  aus  heitrer  Luft 
auftretenden  secundären  progressiven  Entzündungen  in  und  an 
eiternden  Wunden  sind  von  grosser  Wichtigkeit  und  oft  von  sehr 
grosser  Gefahr;  sie  haben  fast  immer  den  eitrigen  Charakter  und  können 
ebenso  häufig  wie  die  primären  progressiven  Eiterungen  durch  sehr  inten- 
sive, phlogistische,  eitrige  Allgemeininfection  tödtlich  werden,  in  manchen 
Fällen  auch  zugleich  durch  die  Gefahr  der  Localität,  so  besonders  bei 
Kopfwunden.  Diese  Fälle  haben  etwas  so  Frappantes,  so  Tragisches, 
dass  sie  uns  besonders  beschäftigen  müssen.  Denken  Sie  sich,  Sie  haben 
einen  Fall  von  schwerer  Quetschung  des  Unterschenkels  mit  Fractur 
über  die  ersten  Gefahren  glücklich  hinübergebracht:  der  Patient  ist  fieber- 
frei, die  Wunde  granulirt  vortrefflich,  benarbt  sogar  schon.  Da  plötzlich 
in  der  4.  Woche  fängt  die  Wunde  an  zu  schwellen,  die  Granulationen 
werden  croupös  endlich  fibrinös  infiltrirt  (diphtheritisch),  der  Eiter  dünn, 
die  ganze  Extremität  schwillt,  Patient  hat  wieder  heftiges  Fieber,  viel- 
leicht mit  wiederholten  Frösten;  die  Erscheinungen  können  vorübergehen, 
und  Alles  kann  wieder  ins  normale  Geleis  kommen,  doch  oft  geht  es 
auch  übel  aus;  in  wenigen  Tagen  kann  dabei  der  kräftigste  gesunde 
Mann  eine  Leiche  sein.  —  Einen  hierher  gehörigen  Fall  beobachtete  ich 
in  Zürich  bei  einem  Commilitonen  mit  einer  Kopfwunde;  er  möge  Ihnen 
als  warnendes  Beispiel  dienen.  Der  junge  Mann  bekam  eine  Hiebwunde 
über  den'  linken  Scheitel,  der  Knochen  war  ganz  oberflächlich  ange- 
schlagen ;  die  Wunde  heilte  in  kurzer  Zeit  per  primam,  nur  eine  kleine 
Stelle  eiterte;  da  sich  der  Verletzte  vollkommen  wohl  fühlte,  so  achtete 
er  der  kleinen  W^unde  nicht,    ging  aus  und  betrachtete  sich  als  völlig 


174  Von  den  Quetschwunden    und  Eisswunden  der  Weichtheile. 

gesund.  Plötzlicli  in  der  4.  Woche  bekommt  er  nach  einem  Spaziergang 
heftiges  Kopfweh  und  Fieber,  am  folgenden  Tage  findet  sich  unter  der 
Narbe  etwa  ein  Theelöffel  von  Eiter  angesammelt,  der  durch  eine  Incision 
entleert  wurde;  dies  hatte  nicht  den  gehofften  günstigen  Effect  auf  den 
Allgemeinzustand,  das  Fieber  blieb  gleich  heftig,  am  Abend  traten 
Delirien,  dann  Sopor  ein,  am  vierten  Tage  war  der  blühende  Mann  todt. 
Es  war  leicht  zu  diagnosticiren,  dass  hier  eine  eitrige  Meningitis  vorlag. 
Dies  bestätigte  sich  auch  bei  der  Section;  wenngleich  der  Knochen  an 
der  erbsengross  entblössten  Stelle,  die  so  lange  eine  unbedeutende 
Eiterung  unterhalten  hatte,  nur  ganz  wenig  durch  geringe  eitrige  Infil- 
tration entfärbt  war,  so  war  doch  die  Eiterung  auf,  in  und  unter  der 
Dura  mater  grade  an  der  der  Wunde  entsprechenden  Stelle  entschieden  am 
stärksten,  so  dass  die  neue  Entzündung  unzw^eifelhaft  von  der  Wunde 
ausgegangen  war.  Einen  ganz  ähnlichen,  ebenfalls  tödtlich  verlaufenen 
Fall  sah  ich  vor  kurzem  hier  in  Wien  in  der  Privatpraxis  bei  einem 
Mann,  der  mehre  Wochen  zuvor  eine  scheinbar  unbedeutende  Wunde 
durch  Glasstücke  einer  gesprungenen  Sodawassertlasche  hoch  oben  arf 
der  Stirn  an  der  Grenze  des  Haarwuchses  erhalten  hatte;  er  war  bis 
sechs  Tage  vor  seinem  Tode  vollkommen  wohl  gewesen,  und  seinen 
Geschäften  nachgegangen. 

Die  Entzündungen,  welche  unter  solchen  Umständen  eintreten, 
tragen,  wie  bemerkt,  meist  einen  diffus  eitrigen  Charakter,  doch  kommen 
auch  andere  Formen  hinzu  oder  treten  selbstständig  auf,  nämlich  eine 
ulcerös  diphtherische  Form  der  Hautentzündung,  der  s.  g.  Hospital- 
brand, die  Entzündung  der  Lymphgefässstämme  (Lj'-mphangoitfs)  und 
eine  specifische  Form  von  Capillarlymphangoitis  der  Haut,  das  Erysipel 
oder  die  erysipelatöse  Entzündung,  endlich  auch  die  Venenentzün- 
dung (Phlebitis),  nicht  selten  sind  alle  diese  Processe  gemischt  neben 
einander  zu  beobachten.  Wir  werden  diese  Krankheiten  später  bei  den 
accidentellen  Wundkrankheiten  genauer  studiren.  Hier  müssen  uns  aber 
noch  die  Ursachen  der  früher  ermähnten  secundären  Entzündungen 
beschäftigen,  ehe  wir  zur  Therapie  der  Quetschwunden  übergehen ;  freilich 
greifen  wir  auch  dabei  etwas  vor.  Es  hängen  alle  diese  Entzündungs- 
formen und  auch  ihre  Rückwirkungen  auf  den  Organismus  unter  ein- 
ander so  zusammen,  dass  es  unmöglich  ist,  die  einen  zu  besprechen,  ohne 
die  andern  zu  erwähnen. 

Als  Ursachen  für  die  secundären  Entzündungen  in  und  um  eiternde, 
in  Heilung  begriffene  Wunden  lässt  sich  Folgendes  anführen.  1)  Heftige 
Congestion  zur  Wunde,  eine  solche  kann  durch  eine  starke  Bewegung 
des  verletzten  Theils  oder  durch  starke  allgemeine  Körperanstrengung 
veranlasst  werden,  ebenso  durch  aufregende  Getränke,  heftige  Gemüths- 
bewegung,  kurz  durch  Alles,  was  eine  heftige  Excitation  hervorruft;  bei 
den  Kopfwunden  sind  solche  Congestionen  ganz  besonders  gefährlich. 
Auch  Stauungshyperämien,  z.  B.  durch  einschneidende  Verbände  können 


VorlpsiiiiK   13.     Ciipifcl  TV.  175 

in  g'leiclier  Weise  sehr  scluidlicli  wirken.     2)  I^ocale  oder  ailg-cmeine 
Erlvilltung;    über  die   Erkilltiing-  als   phlog-ogcnes  rrincip  wissen  wir 
fast  niclits  als  die  einfache  Thatsache,  dass  unter  gewissen  nicht  näher 
7A\  definirenden  Umständen   eine   plötzliolio  'reni}teraturverändening  I^^nt- 
zilndungen,  zumal  an  einem  locus  niinoris  resistcntiae  eines  Individuums, 
erzeugt;    bei   einem  Verletzten  ist  die  Wunde  inmier  als  ein  s,  g.  locus 
minoris  resistcntiae  zu  betrachten.     Die  Gefahr  der  Erkältung-  bei  Ver- 
letzten ist  gewiss  früher  in  hohem  Grade  überschätzt  worden;  ich  weiss 
kaum  sichere  Beispiele  davon  aufzubringen.     3)  Mechani  sehe  Reizung 
der  Wunde.     Diese  ist  von  grosser  Wichtigkeit.     Durch  die  unverletzte 
Granulation    wird  der  gute,    nicht  ätzende,    unzersetzte  Wundeiter  nie 
resorbirt ;    werden    die   Granulationen  aber    zerstört  durch    mechanische 
Manipulationen,  z.  B.  durch  unzweckmässiges  Verbinden,  vieles  Sondiren 
und  dergleichen  Proceduren,    bei  denen   die  Wunde  immer  von  Neuem 
blutet,    so  können  neue  Entzündungen  dadurch   angeregt  werden.     Die 
etwa  in  der  Wunde  steckenden  fremden  Körper  spielen  dabei  auch  eine 
grosse  Eolle,  z.  B.  Glassplitter,   scharfe  Blei-  oder  Eisenstücke,  scharfe 
Knochensplitter;    für  die  ersten  Processe,    die  an   der  Wunde  auftreten, 
hat    die   Gegenwart    solcher  fremden  Körper  weniger  Bedeutung,    doch 
wenn  theils  durch  Muskelbew^egungen,  theils  durch  die  Bew^egung,  welche 
dem   Gewebe  von    den   Arterien  mitgetheilt  wird,    die  scharfen  Kanten 
eines  Fremdkörpers  fortwährend  au  dem  Gewebe  reibend  sich  bewegen, 
dann    tritt    nach    einiger    Zeit    doch    eine    heftige    Entzündung    auf.  — 
4)  Chemische  fermentartige  Wundreize,    hier  nenne  ich  zunächst 
die  weichen  fremden  Körper,  z.  B.   Zeugstücke,  Papierpfröpfe,  die  bei 
Schusswunden  in  die  Gewebe  mit  eindringen;  diese  Substanzen  impräguireu 
sich  mit  den  Wundsecreten,   mit  denen  in  Verbindung  die  organischen 
Stoffe  (Papier,    Wolle)  sich   zersetzen    und    nun    geradezu    ätzend    oder 
fermentirend  in  der  Wunde  wirken.     Ich  möchte  glauben,  dass  auch  die 
nekrotischen  Knochensplitter  mehr  noch  chemisch  als  mechanisch  schädlich 
"wirken;  sie  enthalten  immer  in  den  Haversischen  Canälen  oder  im  Mark 
einige  organische  faulende  Substanzen;  alle  solche  nekrotische  Knochen- 
stücke stinken  jauchig,  wenn  man  sie  extrahirt;  wird  durch  die  scharfen 
Kanten  eines  solchen  Knochenstücks  die  umgebende  Granulationsmasse 
theilweis    zerstört,    so    tritt  die   Jauche    aus   dem  Knochenstück  in   die 
geöffneten  Lymphgefässe    oder    vielleicht  auch   in    die  Blutgefässe    ein, 
'  und    erregt    so  nicht   allein    locale ,    sondern   auch    zugleich    allgemeine 
lufection.     Necrotische  Sehnen-  und  Fascienfetzen  in  der  Tiefe  eiternder 
Wunden  können  die  gleichen  Folgen  nacb  sich  ziehen,  w^enngleich  dies 
seltner  vorkommt.  —  Es  finden  sich  zumal  in  Spitälern  seltne  Fälle,  in 
welchen  man  keine  der  genannten  Ursachen  aufzufinden  im  Stande  ist; 
solche    Ereignisse    erregen    dann    begreiflicherw^eise    ganz     besonderen 
Schrecken,   und  man  hat  sie    durch   einen  ganz  besonderen  schädlichen 
Eiufluss  der  Spitalluft  erklären  wollen,  zumal  solcher  Spitalluft,  die  mit 


XIQ  Von    den  Qnetschwnnden  nnd  Eisswunden   der  Weichtheile. 

Eitevg-ei'uch  erfüllt  ist.  Vielerlei  Gründe  sprechen  dagegen,  dass  die 
schädlichen  Snbstanzen  gasförmig  sind;  wenn  man  stark  ventilirt,  so  ist 
die  Luft  im  Spital  wohl  rein  zu  halten,  und  doch  schützt  dies  nicht 
gegen  die  in  Rede  stehenden  üblen  Ereignisse;  auch  kann  man  durch 
keines  der  aus  Eiter  oder  fauligen  Substanzen  sich  entwickelnden  Gase 
Entzündungen  erzeugen,  nur  etwa  durch  Schwefelwasserstoff,  wenn  man 
es  in  Wasser  aufgefangen  hat  und  dies  ins  Unterhautzellgewebe  spritzt. 
Faulige  Flüssigkeiten  und  Eiter  von  anderen  Kranken  wird  man  nicht 
absichtlich  auf  andere  Wunden  bringen;  dass  die  Umgebung  der  Wunde 
unter  Umständen  von  dem  Wundeiter  inticirt  und  in  neue  Entzündung 
versetzt  werden  kann,  haben  wir  früher  erörtert.  Es  bleibt  also  kaum 
etwas  übrig,  als  anzunehmen,  dass  die  schädlich  wirkenden  Substanzen 
trocken,  staubförmig  sind;  sie  können  freilich  in  der  Spitalluft  schweben, 
sie  können  aber  auch  im  Verbandzeug,  in  der  Charpie,  in  den  Compressen 
stecken,  mit  denen  wir  die  Wunden  verbinden,  sie  können  an  den 
Instrumenten,  an  den  Pincetten,  Sonden,  Schwämmen  haften,  mit  denen 
wir  die  Wunden  berühren. 

Sollten  es  Pilze  oder  irgendwelche  organische  Keime  von  bisher  unergründlicher 
Natur  sein?  Möglich  wäre  es  wohl,  denn  die  Luft  enthält  ja  gelegentlich  in  jedem 
Quadratfuss  eine  Menge  solcher  organischen  Keime,  und  im  Spital  könnten  sich  grade  in 
den  Wundsecreten,  in  den  Sputis,  in  den  Excrementen,  in  üringläsern  solche  Keime 
organischer  Wesen  thierischer  oder  pflanzlicher  Natur  in  Menge  entwickeln  und  festsetzen, 
um  so  mehr,  je  mehr  solche  leicht  zersetzbaren  Secrete  und  Excrete  und  zwar  in  schlecht 
angelegten  Abtritten  nnd  Ausgussröhren  der  Krankenhäuser  angehäuft  sind.  Hierüber 
kann  man  vorläufig  nur  Vermuthungen  hegen.  Experimente  können  wir  dagegen  mit 
getrockneten  putriden  Substanzen  und  mit  getrocknetem  Eiter  anstellen,  wenn  wir  diese 
Stoffe  fein  pulverisiren  und  sie  dann  in  die  gesimden  Gewebe  von  Thieren  bringen. 
Solche  Experimente  sind  von  0.  Weber  und  mir  ausgeführt,  und  es  hat  sich  dabei  ge- 
zeigt, dass  sowohl  thierische  und  pflanzliche,  faule,  getrocknete  Stoffe,  als  auch  getrock- 
neter Eiter  unter  gewissen  Bedingungen  phlogogen  wirken;  pulverisirt  man  diese  Stoffe, 
rührt  sie  schnell  mit  etwas  Wasser  an  und  injicirt  sie  dann  ins  Unterhautzellgewebe  von 
Thieren,  so  erregt  auch  dies  progressive  Entzündungen ,  ebenso  wie  die  fauligen  Flüssig- 
keiten und  der  frische  Eiter.  Dass  nun  in  einem  Spital  solche  schädlichen  staubförmigen 
Körper  gar  leicht  im  Verbandzeug,  im  Bettzeug,  auch  Tielleicht  an  Instrumenten  haften 
können,  muss  a  priori  zugegeben  werden.  Kurz  es  ist  möglich,  dass  die  directe  schäd- 
liche Einwirkung  der  Spitalluft  auf  manche  Wunden  darauf  beruht,  dass  ihr  oder  dem 
Verbandzeug  oder  den  Instrumenten  zuweilen  feinste  staubförmige,  putride  oder  eitrige 
Materie  anhaftet,  in  welche  die  Fermente  mit  eingeschlossen  sind. 

Dass  schädliche  infectiöse  Stoffe  auch  auf  anderem  "Wege  als  durch  Wunden  in  den 
Körper  eintreten  können ,  zumal  durch  die  Lungen ,  daran  ist  an  und  für  sich  nicht  zu 
zweifeln;  wir  erklären  uns  ja  die  Entstehung  aller  Infectionskrankheiten  dadurch,  dass 
Substanzen  in  den  Organismus  gelangen,  die  als  organische  Gifte  aufs  Blut  und  auf  den  ganzen 
Körper  wii-ken ;  ob  aber  diejenigen  Krankheitsstoffe,  welche  die  bei  Verwundeten  hauptsäch- 
lich vorkommenden  Infectionskrankheiten  erzeugen,  anders  als  durch  die  Wunde  selbst 
eintreten,  darüber  kann  man  je  nach  der  Deutung  der  beobachteten  Fälle  verschiedener  An- 
sicht sein.    Wir  wollen  später  bei  den  accidentellen  Wundkrankheiten  darauf  zurückkommen. 

Sie  werden  mich  nun  auf  einem  AViderspruch  zu  ertappen  glauben,  wenn  ich  Ihnen 
in    der   gestrigen  Vorlesung   sagte,    dass   durch    eine    unverletzte  Granulationsfläche   keine 


V(u-i.'SMii--  i;;.    (';ii,ii.>i  IV.  177 

uiolcriilarevi  KiiriuM-  iifs  (icwchc  cinlrclcii.  Ich  iiuiss  dies  mik'Ii  jd/l,  iincli  als  das  Ge- 
■wöliuliche  diivi'liuus  beliaiiplcii :  ciiic  kräl'li^c  mncrlclzli'  CJraiiMlaliniislläi'lic  ist  ein  wesent- 
licher Schutz  gegen  Infection  durch  die  VVmidi'.  Wenn  ahor  dii-  iiilicirciide  Stoff  selljst 
sehr  irritirend,  sehr  intensiv  reizend  ist,  so  dass  dadnrcli  die  Graniilationsdäclie  zerstört 
wird,  in  Zerfall  gerätli,  so  ist  damit  avicli  der  Eintritt  des  Giftes  in  das  Gewebe  um  die 
Wunde  geöffnet.  Nocli  mehr!  es  gieljt  gewisse  Stofl\3,  welche  von  den  l'iKciv.clIen  in 
das  Granulationsgewebe  und  vielleicht  noch  weiter  hineingeführt  werden.  üe,s(icii(;n  Sie 
die  Granulationsfläche  liei  einem  Hunde  mit  fein  gepulvertem  Carmin,  so  nehmen  einige 
Zellen  die  feinen  Carminkörnclien  auf  und  wandern  damit  in  die  Granulationssubstanz 
hinein;  Sie  finden  nach  einiger  Zeit  Zellen  mit  Carmin  in  dem  Granulationsgewebe.  Dies 
halte  ich  für  eine  abnorme  retrograde  Bewegung  der  Eiterzellen,  von  denen  sonst  anzu- 
nehmen ist,  dass  sie  aus  dem  Granulationsgewebe  an  die  Wundoberfläche  spazieren;  ge- 
sehen hat  das  freilich  Niemand!  Immerhin  ist  es  aber  durch  das  oben  erwähnte  Experi- 
ment erklärlich,  dass  auch  moleculare  Stoffe  von  Aussen  in  das  Gewebe  der  Wundränder 
eindringen  können,  und  wenn  diese  Stoffe  sehr  scharf  zersetzend,  ätzend  sind,  oder 
phlogogene  Gifte  an  sich  oder  in  sich  führen,  so  werden  sie  eben  heftige  Entzündung 
erregen.  —  Sie  werden  nun  bei  diesen  Betrachtungen  ganz  bange  werden  um  das  Geschick 
der  Verwundeten,  denn  eine  absolute  Abwehr  gegen  solche  Schädlichkeiten  scheint  un- 
möglich. Ich  muss  Ihnen  jedoch  hier  gleich  zum  Trost  bemerken,  dass  nicht  alle  mole- 
ciilaren  Organismen,  welche  zu  Milliarden  in  der  Atmosphäre  enthalten  sind,  auf  der 
Wunde  gedeihen  und  auch  nicht  alle  phlogogen  wirken.  Meiner  Meinung  nach  wirkt 
nicht  jeder  Micrococcos  als  solcher  phlogogen,  sondern  nur  derjenige,  welcher  in  gewissen 
Entzündungsproducten  in  faulendem  Eiter,  in  faulem  Urin,  in  faulenden  Gewebsflüssig- 
keiten entstand,  und  dort  das  Ferment  in  sich  aufnahm;  dies  ist  nun  freilich  die  häufigste 
Art  von  Micrococcos,  welche  in  Krankenhäusern  vorkommt,  und  ihre  Entwicklung  ist  daher 
in  Hospitälern  mit  besonderer  Energie  zu  hindern.  AVie  dies  zu  bewerkstelligen  ist, 
davon  später. 

Die  febrile  Reactioii  bei  Quetsch  wunden  pflegt  im  Allgemeinen 
heftiger  zu  sein  als  bei  Schnittwunden;  dies  ist  nach  unserer  Annahme 
dadurch  erklärlich,  dass  in  Folge  der  Zersetzung,  welche  in  den  ge- 
quetschten Theileu  in  viel  grösserem  Maasse  Statt  findet,  als  an  zer- 
schnittenen, weit  mehr  faulige  Substanzen  ins  Blut  gelangen.  Hat  das 
faulige  Gift  in  einem  Fall  ganz  besonders  intensive  Eigenschaften,  oder 
wird  besonders  viel  davon  aufgenommen  (zumal  bei  den  diffusen  septi- 
schen Entzündungen),  so  nimmt  auch  das  Fieber  den  Charakter  der 
sogenannten  Faulfieber  an;  man  nennt  den  auf  diese  Weise  hervor- 
gerufenen Zustand  Septhämie;  wir  wollen  uns  später  damit  noch  aus- 
führlicher beschäftigen.  —  Wird  der  Entzündungsprocess  von  der  Wunde 
aus  progressiv  eitrig,  so  wird  dadurch  ein  entsprechend  dauerndes  Ent- 
zündungs-oder Eiterungsfieber  unterhalten;  ein  solches  hat  den  Charakter 
einer  Febris  remittens,  oder  in  schlimmeren  Fällen  einer  Febris  continua 
remittens  mit  sehr  steilen  Curven  und  zeitweiligen  Exacerbationen,  die 
meist  von  Progressionen  der  Entzündung,  oder  von  Umständen  abhängig 
sind,  welche  die  Eiterresorption  begünstigen.  Wenn  wir  das  Fieber, 
welches  mit  der  traumatischen  begrenzten  Entzündung  oft  verbunden  ist, 
wenn  auch  nicht  immer  verbunden  sein  muss,  als  einfaches 
Wundfieber  bezeichnen,  so  können  wir  die  später  auftretenden  Fieber 

Billroth  chir.  ratli.  ii.  Therup.   7.  Aufl.  12 


j^78  ^'^*^ii  ^'^"  Quetschwunden   und  Risswnnden  der  Weiclitlieile. 

„Nachfieber"  oder  ,.Eiterungsfieber"  nemieu;  ein  solclies  kann 
sich  dem  Wimdfieher  unmittelbar  anschliessen,  wenn  der  Eutzündungs- 
process  gleich  progressiv  wird;  es  kann  aber  das  Wundfieber  ganz  auf- 
gehört haben,  die  Wunde  ist  vielleicht  schon  in  Heilung  begriffen,  und 
wenn  nun  secundäre  Entzündungen  die  Wunde  befallen,  von  denen  wir 
eben  ausführlich  gehandelt  haben,  so  verbindet  sich  mit  diesen  immer 
gleich  neues  Eiterungsfieber,  kurz  Entzündung  und  Fieber  gehen  hier 
immer  parallel.  Zuweilen  scheint  freilich  das  Fieber  der  secundären 
Entzündung  voran  zu  gehen,  doch  liegt  dies  oft  genug  darin,  dass  die 
ersten  vielleicht  noch  ganz  minimalen  Veränderungen  an  der  Wunde 
unserer  Beobachtung  entgangen  sind.  Jedenfalls  müssen  wir  uns  durch 
jede  neue  Fieberbewegung,  die  wir  am  Kranken  wahrnehmen,  dringend 
veranlasst  fühlen,  nach  dem  Entzündungsheerd  zu  suchen,  der  die  Ur- 
sache sein  kann.  —  Ich  bin  weit  entfernt,  behaupten,  zu  wollen  dass 
die  Messung  der  Temperatur  bei  allen  Verwundeten  uothwendig  ist;  un- 
zweifelhaft wird  jeder  in  Krankenbeobachtung  geübte,  erfahrene  Chirurg 
auch  ohne  Temperaturmessung  wissen,  wie  es  mit  seinen  Kranken  steht, 
so  wie  auch  der  erfahrne  Kliniker  ohne  Auscultation  und  Percussion 
eine  Pneumonie  diagnosticiren  kann;  dass  aber  die  Temperaturmessung 
unter  Umständen  eine  sehr  wichtige  Beihülfe  für  Diagnose  und  Prognose 
ist,  daran  zweifelt  Niemand,  der  über  die  Bedeutung  der  Körpertempe- 
ratur sich  die  gehörigen  Kenntnisse  erworben  hat.  Es  ist  damit  wie  mit 
jedem  andern  Hülfsmittel  der  Beobachtung;  einen  matten  Percussionston 
am  Thorax  da,  wo  er  nicht  sein  sollte,  herauszupereutiren ,  ist  nicht 
schwer;  aber  die  Bedeutung  dieses  matten  Percussionstous  im  gegebenen 
Falle  richtig  zu  erkennen,  muss  gelernt  werden;  so  ist  es  auch  mit  den 
Temperaturmessungen:  man  muss  es  eben  lernen,  ob  z.  B.  eine  niedere 
Temperatur  im  vorliegenden  Fall  etwas  Gutes  oder  Schlechtes  bedeutet. 
Hierauf  näher  einzugehen,  behalte  ich  mir  für  die  Klinik  vor. 

Die  Erfahrung  lehrt,. dass  die  Nachfieber  oft  viel . intensiver  sind 
als  das  primäre  Wundfieber;  während  es  zu  den  grössten  Seltenheiten 
gehört,  dass  das  Wundfieber  mit  Frost  beginnt  —  ein  leichtes  Frösteln 
nach  starken  Blutverlusten  und  heftigen  Erschütterungen  pflegt  nicht  mit 
erhöhter  Temperatur  verbunden  zu  sein  —  wird  ein  Nachfieber  gar  nicht 
selten  durch  einen  heftigen  „Schüttelfrost"  eingeleitet.  Wir  Avollen 
uns  gleich  hier  mit  diesem  eigenthümlichen  Phänomen  etwas  näher  be- 
schäftigen. Man  hat  den  Schüttelfrost  immer  als  eine  Erscheinung  be- 
trachtet, welche  wesentlich  von  Blutvergiftung  abhängig  sei;  wenn  wir 
nun  das  Fieber  überhaupt  als  Intoxicationszustand  auffassen,  so  werden 
wir  für  den  Schüttelfrost  noch  eine  besondere  Ursache  suchen  müssen. 
Die  Beobachtung  zeigt,  dass  der  Fieberfrost,  dem  immer  Hitze,  dann 
Schweiss  folgt,  stets  mit  einer  sehr  raschen  Temperatursteigerung  ver- 
bunden ist,  untersucht  man  thermometriseh  die  Bluttemperatur  eines 
Patienten  im  Fieberfrost,  so  findet  man,  dass  dieselbe  hoch  ist  und  rasch 


VorlosiniLf    i:).     (^apilc!   IV.  179 

aiisteig't;  da«  JJlul  wird  aus  den  lla.iiti;'(yrilss(;u  licraiis  in  die  inneren 
Organe  gedräiig't;  Traube  leitet,  wie  früher  bemerkt,  hiervon  iil)crliaupt 
die  abnorme  febrile  Steigerung  der  Blutteniperatur  ab:  wir  wollen  das 
jetzt  auf  sich  beruhen  lassen;  jedenfalls  entsteht  eine  so  grosse  Differenz 
zwischen  der  Luft  und  der  Körpertemperatur,  dass  der  Kranke  das  Ge- 
fühl des  Frostes  emptindet.  Decken  Sie  einen  fiebernden  Kranken,  der 
im  Bett  eingehüllt  liegt  und  nicht  friert,  ab,  so  wird  er  sofort  anfangen 
zu  frösteln.  Der  Mensch  hat  eine  Art  von  bewusstcm  Gefühl  für  den 
Gleichgewichtszustand,  in  dem  sicli  seine  Körpertemperatur  zur  Tempe- 
ratur der  umgebenden  Luft  befindet;  wird  letztere  schnell  erwärmt,  so 
empfindet  er  gleich  mehr  Wärme,  wird  sie  schnell  abgekühlt,  so  empfindet 
er  gleich  Kälte,  Frösteln.  Diese  triviale  Thatsache  führt  uns  zu  einer 
weitereu  Bemerkung:, diese  Empfindsamkeit  für  Wärme  und  Kälte,  dies 
bewusste  Gefühl  für  Temperaturdifferenzen  ist  individuell  sehr  verschie- 
den, sie  kann  auch  durch  die  Lebensweise  sehr  gesteigert  und  sehr  ab- 
gestumpt  werden;  manche  Menschen  haben  immer  zu  heiss,  andere 
immer  zu  kalt,  noch  anderen  ist  die  Temperatur  der  Luft  ziemlich  gleich- 
gültig. Hier  spielt  das  Nervensystem  eine  grosse  Eolle.  Genauere 
Studien  von  Traube  und  Joch  mann  haben  in  der  That  ergeben,  dass 
die  nervöse  Reizbarkeit  des  Lidividuums  sehr  dazu  beiträgt,  ob  bei  einer 
raschen  Temperatursteigerung  des  Blutes  der  Wechsel  sehr  intensiv 
empfunden  wird  oder  nicht,  dass  daher  bei  torpiden  Individuen,  bei 
comatösen  Zuständen  nicht  so  leicht  Schüttelfrost  beim  Fieber  auftritt, 
als  bei  reizbaren,  durch  längere  Krankheit  schon  geschwächten  Subjecten. 
Ich  kann  dies  aus  meinen  Beobachtungen  nur  bestätigen.  —  Wenn  ich 
im  Allgemeinen  auch  der  Ueberzeugung  l)in,  dass  hauptsächlich  dann 
rasche  Temperaturerhöhung  und  damit  Fieberfrost  bei  genügender  Irrita- 
bilität eintritt,  wenn  schubweise  eine  grössere  Quantität  pyrogener  Stoffe 
in's  Blut  eintritt,  so  möchte  ich  doch  auch  nicht  in  Abrede  stellen,  dass 
auch  die  Qualität  dieser  pyrogenen  Stoffe  dabei  in  Frage  kommt.  Von 
dieser  Qualität  wissen  wir  chemisch  nichts,  wohl  aber  können  wir  ihre 
Verschiedenheit  daraus  schliessen,  dass  sowohl  die  Fiebersymtome  als 
auch  ihre  Dauer  oft  so  sehr  verschieden  sind,  dass  es  sich  dabei  wohl 
nicht  allein  um  verschiedene  Widerstandsfähigkeit  des  erkrankten  Indi- 
viduums handelt;  nach  meinen  Beobachtungen  dispouirt  beim  Menschen 
Resorption  von  Eiter  und  ganz  frischen  Entzüudungsproducten  weit  mehr 
zu  Schüttelfrösten,  als  Resorption  von  Jauche,  die  sonst  viel  giftiger  und 
gefährlicher  wirkt.  —  Ich  möchte  Sie  nicht  mit  zu  vielen  derartigen 
Betrachtungen  ermüden  und  will  daher  bei  dem  Abschnitt  von  den  all- 
gemeinen accidentellen  Wund-  und  Entzündungskrankheiten  darauf 
zurückkommen,  den  Sie  als  Fortsetzung  dieser  Fieberreflectionen  be- 
trachten können.  Nur  das  will  ich  noch  bemerken,  dass  sowohl  die 
septischen,  als  eitrigen  primären  und  seeundären  Entzündungen  mit  dem 
betreffenden  Fieber  auch   bei  Schnittwunden,   zumal  bei  grösseren  Ope- 

12* 


]_^Q  Von  den  Quetschwunden    und  Eisswnnden  der  "NVeichtlieile. 

rationswunden  (naeli  Amputationen  und  Resectionen)  Yorkommen  können. 
Wenn  wir  die  Besprechung  dieser  Zustände  an  die  Quetschwunden  an- 
geschlossen haben,  so  liegt  dies  daran,  dass  letztere  weit  liJUifiger  in 
der  beschriebenen  Weise  complicirt  werden,  als  die  gewöhnlichen  Schnitt- 
wunden. 


Wenden  wir  uns  jetzt   zu  der  Therapie  der  Quetschwunden. 

Eine  Quetschwunde  erfordert  in  sehr  vielen  Fällen  keine  weitere 
Behandlung  als  eine  Schnittwunde;  die  Bedingungen  zur  Heilung  ohne 
Kunsthiilfe  sind  in  beiden  Fällen  vorhanden.  Es  handelt  sieh  nur  darum, 
bei  einer  Quetschwunde  den  Accidentien  wo  möglich  von  vornherein 
vorzubeugen,  oder  sie  wenigstens  so  zu  beherrschen,  dass  sie  nicht  ge- 
fährlich werden.  In  beiden  Beziehungen  vermögen  wir  Einiges.  —  Man 
hat  immer  angenommen,  und  mit  Eecht,  dass  die  Luft  mit  ihrem  Sauer- 
stoff und  ihren  Fermentkörpern  die  Fäulniss  todter,  organischer  Körper^ 
also  auch  der  zerquetschten  Theile  ganz  besonders  begünstige;  um  in 
dieser  Beziehung  vorbeugend  zu  wirken,  wäre  die  Wunde  von  der  Luft 
abzuschliessen  und,  um  auch  die  Wärme  als  ein  Fäulniss  beförderndes 
Moment  zu  vermeiden,  der  verletzte  Theil  in  eine  kalte  Temperatur  zu 
bringen.  Wir  erreichen  beides  zugleich,  wenn  wir  die  verletzten  Theile 
in  ein  Gefäss  mit  kaltem  Wasser  l)ringen,  dessen  Temperatur  wir  durch 
eingelegte  Eisstücke  stets  kühl  erhalten  können.  Diese  Behandlung  nennt 
man  die  „Immersion"  oder  das  „kalte,  continuirliche  Wasserbad";  ich 
habe  dieselbe  zuerst  von  meinem  ersten  Lehrer  in  der  Chirurgie, 
Baum  in  Göttigen,  mit  vortrefflicher  Wirkung  in  Anwendung  ziehen 
sehen  ;  sie  ist  nur  bei  Extremitäten  so  recht  practisch,  am  Bein  bis  zum 
Knie,  am  Arm  bis  etwas  über  den  Ellenbogen,  anw^endbar.  Man  lässt 
zweckmässig  construirte  Arm-  und  Fusswannen  mit  kaltem  Wasser  gefüllt 
ins  Bett  des  Kranken  setzen  und  die  verletzte  Extremität  continuirlich 
Nacht  und  Tag  darin  liegen;  die  Lagerung  des  Kranken  muss  dabei  so 
sein,  dass  derselbe  bequem  liegt  und  die  Extremitäten  nirgends  von  den 
Rändern  der  Wanne  gedrückt  werden;  die  Sache  ist  einfach,  Sie  werden 
diese  Apparate  bei  mir  in  der  Klinik  sehen;  für  die  Verletzungen  an 
der  Hand,  die  am  häufigsten  vorkommen,  genügt  ein  Topf  mit  kaltem 
Wasser  in  der  Privatpraxis.  —  An  Theilen,  die  man  nicht  auf  diese 
einfache  Weise  im  Wasser  erhalten  kann,  sucht  man  den  Abschluss  der 
Luft  durch  Auflegen  feuchter  Leinwandcompressen  zu  erreichen,  die  sich 
leicht  dem  verletzten  Theil  adaptiren;  darauflegt  man  einen  Kautseluik- 
beutel  (in  Ermangelung  eines  solchen  eine  Schweinsblase)  mit  Eis  ge- 
füllt, und  erneuert  das  Eis,  wenn  es  geschmolzen  ist.  Noch  wirksamer 
ist  es,  ein  Glied  in  einer  Wanne  in  Eis  völlig  einzupacken,  nachdem 
es  zuvor  mit  dicken  Lagen  Leinwand  umgeben  ist.  —  Eine  dritte  Methode, 
kaltes  Wasser  zu  appliciren,   ist  die  sogenannte  „Irrigation".     Hierzu 


Vorlesung  1^.     CiipilH   IV.  181 

bedarf  mau  besonderer  Apparate;  die  verletzte  F^xtremität  wird  in  eine 
Huhlrinnc  von  Jilcch  i;ele^t,  au  der  sich  ein  Abflussrolir  beiludet,  lieber 
der  Extremität  wird  ein  Apparat  angebracht,  aus  welcliem  man  conti- 
nuirlich  kaltes  Wasser  aus  mässiü,'er  liölie  auf  die  Wunde  auftropfen 
lässt.  —  Endlich  kann  man  einfach  von  Zeit  zu  Zeit  <lie  AVunde  mit 
Compressen  bedecken,  die  in  Eisvvasser  getaucht  siiul. 

Ich  habe  alle  diese  Behandlungsmethoden  in  (»i-axi  kennen  gelernt; 
hier  meine  Ansicht  iil)er  dieselben:  prophylaktisch  sicher  wirkt  keine 
derselben;  bei  Quetschwunden  an  Hand  und  Fuss  leistet  das  Wasserbad 
am  meisten ,  indem  bei  dieser  Behandlung  am  seltensten  ausgedehnte 
Nacheiterungen  auftreten;  will  man  dieselben  günstigen  Erfolge  mit  der 
Eisbehandlung  erzielen,  so  muss  man  nicht  allein  die  Wunde,  sondern 
auch'  die  ganze  Umgebung  derselben  mit  Eisblasen  bedecken,  eine  Eis- 
einpackung machen.  —  Durch  das  Auflegen  von  kalten  Compressen  wird 
man  nur  dann  eine  wirkliche  Kältewirkung  erzielen,  wenn  die  Compressen 
alle  5  Minuten  erneuert  werden,  denn  sie  erwärmen  sich  sehr  schnell,  und 
die  gewöhnliche  Behandlung  mit  kalten  Uebersclilägen  bedeutet  nicht 
viel  anderes  als  ein  Feuchthalten  der  Wundfläche;  diese  ist  also  streng 
genommen  keine  besondere  Behandlungsmethode;  indessen  heilen  die 
meisten  kleineren  Quetschwunden  auf  diese  Weise  spontan ,  wie  ich 
schon  bemerkte,  ohne  dass  wir  sie  durch  die  Kälte  in  unnatürliche  Be- 
dingungen versetzten.  —  Die  Irrigation  ist  keine  schlechte  Methode  der 
Behandlung,  doch  sehr  umständlich,  und  es  ist  oft  nicht  leicht,  dabei 
eine  Durchuässung  des  Bettes  zu  vermeiden;  das  Verhalten  der  Wunden 
unterscheidet  sich  im  weiteren  Verlauf  nicht  von  demjenigen  bei  der 
einfacheren  Immersious-  und  Eis-Behandlung,  so  dass  ich  deshalb  keine 
Veranlassung  genommen  habe,  mich  mit  der  Irrigation  weiter  zu  be- 
schäftigen; in  Frankreich  wird  diese  Methode  von  einigen  Pariser 
Chirurgen  gepflegt  und  sehr  hoch  gehalten. 

Abstrahiren  wir  von  der  Prophylaxis  übler  Zufalle,  in  Betreff  deren 
alle  unsere  örtlichen  Mittel  hier  von  ebenso  geringer  Bedeutung  sind, 
wie  etwa  der  prophylaktische  Aderlass  bei  Pneumonie,  so  haben  wir 
immerhin  in  den  erwähnten  Behandlungsmethoden  wichtige  Hülfsmittel, 
die  üblichen  örtlichen  Zufälle  erfolgreich  zu  bekämpfen.  —  Ueber  das 
Wasserbad  habe  ich  noch  einige  speciellere  Bemerkungen  zu  machen: 
da  wir  hier  von  Knochen-  und  Clelenkwunden  noch  ganz  abstrahiren,  so 
wüsste  ich  für  Quetschwunden  an  der  Hand,  dem  Vorderarm,  Fuss  und 
Unterschenkel  keine  Contraindication  zu  nennen ;  in  den  meisten  Fällen 
ist  bei  diesen  Verletzungen  die  Blutung  so  unbedeutend  und  steht  so 
bald  von  selbst,  dass  der  Verletzte  sehr  bald,  oft  gleich  nach  der  Ver- 
letzung die  Extremität  unter  Wasser  tauchen  kann,  ohne  dass  man  zu 
fürchten  braucht,  dass  im  Wasser  Blutung  auftritt;  das  an  dem  ver 
letzten  Theil  anklebende  Blut  muss  aber  zuvor  abgespült  werden,  das 
Wasser  selbst  durchaus  klar   und  durchsichtig   sein   und    falls   es  sich 


Xg2  Von   den  Quetschwunden  und  Eisswunden  der  Weichtheile. 

durch  das  Wimd'secret  trübt,  durch  öftere  Erneuerung-  in  den  Wannen 
klar  erhalten  werden.  Auch  wenn  die  Verwundung-  bereits  zwei  und 
drei  Tage  her  ist,  kann  das  Wasserbad  noch  mit  Vortheil  in  Anwendung- 
g-ezog-en  werden,  später  nützt  es  weniger.  Liegen  die  Kranken  mit  den 
Wannen  bequem  im  Bett,  so  sind  sie  zufriedener  und  schmerzensfreier 
bei  dieser  Behandlung-,  wie  bei  jeder  anderen.  Was  die  Temperatur 
des  Wassers  betrifft,  so  kann  man  dieselbe  sehr  verschieden  sein  lassen, 
ohne  dass  der  Zustand  der  Wunde  sich  sehr  änderte;  nur  die  Eistem- 
peratur und  die  sehr  hohen  Temperaturen,  welche  man  durch  Kataplas- 
men  erzielt,  bedingen  ein  etwas  verschiedenes  Aussehen  der  Wunde; 
bei  Temperaturen  von  +  10°  bis  +  27°  +  30°  E.  sieht  die  Wunde  nicht 
verschieden  aus;  vielleicht  entwickelt  sich  bei  den  höheren  Temperaturen 
die  Eiterung-  etwas  schneller,  doch  ist  die  Zeitdifferenz  jedenfalls  eine 
sehr  unbedeutende.  Hieraus  ergiebt  sich  denn,  dass  wir  die  Temperatur 
des  Wassers  dem  Wunsche  des  Kranken  adaptireu  können.  Im  Durch- 
schnitt lieben  die  Kranken  anfangs  mehr  eine  kühlere  Temperatur  (-f-  10° 
bis  15°  E.),  später  eine  wärmere  (+ 25°  bis  28°  E.),  doch  giebt  es  auch 
Kranke,  welche  schon  im  Laufe  des  ersten  Tages  über  Frösteln  klagen, 
wenn  die  Temperatur  des  Wassers  unter  -[-  15°  E.  sinkt.  Man  sieht 
hieraus,  dass  es  ziemlich  gleichgültig  ist,  ob  man  das  s.  g.  warme  oder 
kalte  Wasserbad  anwendet.  Bei  einigen  Lidividuen  kommt  am  dritten 
und  vierten  Tage  ein  Uebelstand  hinzu,  der  einzelnen  Kranken  die 
Immersion  unerträglich  macht,  nämlich  das  starke  Quellen  der  Epidermis 
an  Hand  und  Fuss  und  die  damit  verbundenen,  spannenden  und  bren- 
nenden Empfindungen,  die  einige  Aehnlichkeit  mit  der  Einwirkung  eines 
Zugpflasters  haben;  je  dicker,  schwieliger  die  Epidermis  war,  um  so 
unangenehmer  wird  diese  Unannehmlichkeit,  sie  lässt  sich  vermeiden, 
wenn  man  die  verletzte  Hand  vor  dem  Eintauchen  mit  Oel  einreibt,  und 
eine  Handvoll  Salz  ins  Wasser  Avirft;  dies  schadet  der  Wunde  nichts,  — 
Eine  wichtige  Frage  ist:  wie  lange  soll  die  continuirliche  Immersion 
angewandt  werden?  Nur  mit  Hülfe  einer  ziemlich  ausgedehnten  Erfah- 
rung kann  man  darüber  Eegeln  geben.  Ich  habe  gefunden,  dass  8  bis 
12  Tage  continuirlicher  Immersion  genügen.  Nach  dieser  Zeit  lässt  man 
zunächst  die  Kranken  während  der  Nacht  aus  dem  AVasser,  und  wickelt 
die  Extremität  mit  einem  nassen  Tuch  ein,  über  Avelches  man  Wachs- 
taffet  deckt  und  befestigt;  einige  Tage  weiter  begnügt  man  sich  auch 
am  Tage  mit  diesen  Wasserverbänden,  und  benutzt  nur  am  Morgen  und 
Abend,  oder  nur  am  Morgen  das  W asser b ad,  um  die  Wunde  eine 
halbe  bis  ganze  Stunde  hindurch  zu  baden  und  zu  reinigen.  Endlich  lässt 
man  das  Wasser  ganz  fort  und  behandelt  die  granulirende,  benarbende 
Wunde  nach  den  früher  gegebenen  einfachen  Eegeln.  —  Die  Verände- 
rungen, welche  bei  dieser  Behandlung  der  AVunde  eintreten,  sind  etwas 
verschieden  von  den  früher  geschilderten:  zunächst  geht  alles  sehr  viel 
langsamer;    es   kommt  vor,    besonders   bei   der  Behandlung  im  kalten 


Vorlesung  13.     Capilcl  IV.  183 

Wasserbade,   dat^s  die  gequetschte  Wunde  4  ))is  5  Tag'c  so  tViscIi  aus- 
sielit,    als   sei  sie   erst  vor  Kurzem  entstanden;    dasselbe  bemei-kt  mau 
aucli  längere  Zeit  liiudm-ch   bei  der  Behandlung-  mit  Eis))lasen;    es  ist 
dies  nicht  so   wunderbar,    wie  es   anfangs   scheint,    da   na(;h  bekannte]- 
Erfahrung  tief  im  Wasser   Fäiüuiss  organischer   Tlieilc  langsamer  fort- 
schreitet  als  an  der   Luft.      In    der  Folge   l>leibt  der  Eiter  gewölmlich 
als   eine  flockige,    halbgeronneue   Schicht   auf  der  Wunde  liegen   und 
muss  abgespült  oder  abgespritzt  werden,  um  die  darunter  liegende,  von 
Wassei*   imbibirte,     häufig    ziemlich  blasse   Granulationsfläche  zu  sehen. 
Diese  Beobachtung  ist  von  grosser  Wichtigkeit  und  schützt  uns  vor  Illu- 
sionen in  Bezug  auf  die  Wirksamkeit  des  Wasserbades  bei  tiefen  Höhlen- 
eiterungen;   man    könnte    nämlich    glauben,    der   Eiter  fliesse   von    der 
Wunde  unmittelbar  ins  Wasser  ab  und  diffundire  sich  in  demselben,  so 
dass  man  nur  den  eiternden  Theil  ins  Wasser  zu  bringen  brauche,   um 
ihn  stets  rein  zu  haben;  das  Wasserbad  begünstigt  den  Eiteraus- 
fluss  keineswegs,  ist  ihm  sogar  hinderlich;    der  auf  der  Granu- 
lationsfläche   oder  in  einer   Höhle    entstehende  Eiter    gerinnt    sofort    im 
Contact  mit  dem  Wasser  und  bleibt  meist  auf  der  Wunde  liegen;    man 
muss    ihn   abspülen   oder    abspritzen,    um    ihn  zu  entfernen;    durch  die 
Quellung  der  Granulationen  wird   dem  Eiter  der  Ausfluss  aus  der  Tiefe 
ganz  und  gar  unmöglich  gemacht.     Es   ergiebt  sich  hieraus,    dass  bei 
Höhleneiterungen   das  Wasserbad   durchaus  nichts   nützt,    sondern    eher 
schadet,    und  dass  eine  Extremität  mit  Quetschwunde    sofort  aus  dem 
Wasser  entfernt  werden  muss,   sobald  sich  tiefe,  progressive  Eiterungen 
von  der  Wunde  aus  bilden;  dabei  ist  ein  vorübergehendes  halbstündiges 
Fuss-   und  Armband    nicht  ausgeschlossen.      Treten   keine  progressiven 
Eiterungsprocesse  ein,  und  lassen  wir  die  Wunden  14  Tage,  3  Wochen, 
4  Wochen  lang  im  Wasser,  so  wird  daraus  kein  sehr  wesentlicher  Nach- 
theil entstehen,  doch  die  Heilung  wird  sehr  verzögert;  die  Theile  bleiben 
im  AV asser  sehr  geschwollen,    die  Granulationen  sind   wässrig   imbibirt 
(künstlich  ödematös  gemacht),    blass  und    die  Narbenbildung    und  Zu- 
sammenziehung der  Wunde   will  nicht  kommen.     Nehmen  Sie  dann  die 
Extremität  aus  dem  Wasser,    so  fällt    die  Wunde  bald  zusammen,    in 
wenigen  Tagen  sieht  die  Granulation  kräftiger,    der   Eiter  besser  aus, 
und  die  Heilung  schreitet  vorwärts. 

Jetzt  muss  ich  Ihnen  auch  noch  über  die  dauernde  Eis  behau  dl  ung 
etwas  sagen;  ich  nehme  an,  Sie  lassen  die  Quetschwunde  gleich  von 
Anfang  an  mit  einem  Eisbeutel  bedecken.  i\.uch  hierbei  werden  Sie 
finden,  dass  die  Abstossung  der  gequetschen  Theile  sehr  langsam  vor 
sich  geht  und  sich  kein  Gestank  au  den  Wunden  entwickelt,  falls  nicht 
etwa  grosse  Massen  Gewebe  gangränös  werden;  um  den  Gestank  wo- 
möglich ganz  zu  verhüten,  lasse  ich  zunächst  auf  die  Wunde  in,  Chlor- 
wasser getränkte  Charpie  auflegen  und  auch  diese  öfter  erneuern. 
Setzt  man   nun  die  Behandlung   fort,    4  Wochen,    6  Wochen  laug,    so 


184  Von  den  Quetschwunden   und  Risswunden  der  Weich theile. 

werden  alle  notliwendig-en  Vorgänge  an  der  Wunde  langsam  und  träge 
vorschreiten;  ebenso  erfolgt  auch  die  Benarbung  und  Zusammenziehung 
der  Wunde  sehr  langsam  unter  der  Einwirkung  des  Eises,  und  diese 
Methode  wird  daher  gradezu  unzweekmässig,  wenn  es  sich  um  die  Be- 
schleunigung des  definitiven  Heilungsprocesses  handelt.  Die  meisten 
Chirurgen  sind  der  Ansicht,  dass  man  durch  das  Auflegen  von  Eisblasen 
auf  die  frische  Wunde  heftige  Entzündungen  verhindern  könne;  Sie 
werden  daher. finden,  dass  in  den  meisten  Fällen  bei  gequetschten  Wunden 
sofort  Eis  aufgelegt  wird.  Dies  ist  zuweilen  den  Kranken  als  schmerz- 
stillendes Mittel  sehr  willkommen,  doch  prophylaktisch-antiphlogistisch 
wirkt  es  meiner  Ansicht  nach  nur  in  sehr  beschränktem  Maasse;  schon  seit 
Jahrhunderten  sucht  man  nach  einem  solchen  Mittel,  wie  auch  nach  einem 
Prophylacticum  bei  Entzündungen  innerer  Organe.  Wir  können  durch 
Auflegen  von  Eis  auf  frische  Wunden  weder  die  jauchig-seröse  Infiltra- 
tion, noch  die  eitrigen  Entzündungen  ganz  verhüten;  das  ist  wenigstens 
meine  Ansicht !  Viele  glauben,  wie  gesagt,  an  die  prophylaktische  Wirkung 
des  Eises  und  sind  überzeugt,  dass  sie  nur  mit  Hülfe  dieses  Mittels 
Schwerverletzte  retten  können!  Ich  habe  die  Ueberzeuguug  gewonnen, 
dass  die  gefährlichen  Zufälle,  die  zu  Wunden  hinzukommen,  trotz  des 
Eises  oft  genug  auftreten  und  nicht  selten  ohne  Eis  ausbleiben,  wo  man 
sie  aus  der  Art  der  Verletzung  erwarten  durfte.  —  Fast  können  Sie  aus 
dem  Gesagten  entnehmen,  ich  halte  das  Eis  für  ein  entbehrliches  unwirk- 
sames Mittel,  und  doch  werden  Sie  es  viel  in  meiner  Klinik  anwenden 
sehen;  die  Kälte  ist  auch  in  meinen  Augen  eines  der  mächtigsten  Anti- 
phlogistica  und  Antiseptica,  zumal  wo  es  sich  um  Entzündung  äusserer 
Theile  handelt,  auf  welche  die  Kälte  direct  einwirken  kann.  Wo  also 
Entzündung,  zumal  Entzündung  mit  starker  Fluxion  und  mit  Tendenz 
zur  Eiterung  um  eine  Wunde  wirklick  vorhanden  ist,  da  ist  das  Eis  am 
Platz.  Beginnt  eine  Entzündung  des  Zellgewebes,  der  Sehnen-  und 
Muskelscheiden  oder  eines  nahe  liegenden  Gelenkes,  dann  legen  Sie  Eis 
auf  die  entzündeten  Stellen,  verringern  dadurch  die  Hyperämie  und 
hemmen  dadurch  die  Steigerung  der  Entzündung.  —  Keineswegs  gelingt 
es  immer,  mit  Hülfe  des  Eises  die  Ausbreitung  der  von  den  Wunden 
ausgehenden  Eiterungen  zu  hindern;  zuweilen  röthet  sich  die  ödematöse 
Haut  immer  mehr,  wird  sehr  schmerzhaft,  und  so  wie  Sie  darauf  drücken, 
entleert  sich  mühsam  ein  manchmal  dünner,  seröser,  zuweilen  jedoch 
auch  ziemlich  consistenter  Eiter  aus  einigen  Wundwinkeln.  Unter  solchen 
Umständen  muss  dem  verhalteneu  Eiter,  zumal  wenn  er  übelriechend, 
jauchig  ist,  Luft  gemacht  werden,  er  muss  bequem  abfliessen  können, 
und  zu  diesem  Behuf  gilt  es.  Einschnitte  oft  ziemlich  tief  in  die  Weich- 
theile  hinein  zu  machen  und  diese  Einschnitte  offen  zu  erhalten.  Wann 
dies  geschehen  muss,  wie  man  es  am  besten  in  den  einzelnen  Fällen 
anfängt,  und  wo  man  die  Einschnitte  macht,  das  müssen  Sie  in  der 
Klinik  sehen  und  lernen ;  ich  bediene  mich  zur  Sondirung  solcher  Eiter- 


Vorleaiing  13.     Capitel  IV.  185 

lnUilen  am  liebsten  eines  wenig  gebogenen  silbernen  Catlieters,  den  ich 
von  der  Wnnde  aus  bis  an  das  Ende  des  Eilercanals  einführe,  dann  die 
Spitze  von  unten  her  gegen  die  Haut  andrücke  und  hier  einschneide. 
Zur  Erweiterung  dieser  sogenannten  Gegen  Öffnungen,  sowie  auch 
anderer  Wunden  ])raucht  man  ein  Messer,  welches  zicndicli  lang,  grade 
oder  gebogen,  vorn  mit  einem  Knopf  versehen  ist  (Pott'sches  Messer). 
Die  Gegenöffnungen  sollten  im  Allgemeinen  nicht  die  Länge  von  1  Zoll 
überschreiten,  man  kann,  wenn  es  nöthig  ist,  viele  von  dieser  Länge  machen; 
es  ist  nicht  zweckmässig,  ohne  dringende  Veranlassung  die  Weichtheile  des 
ganzen  Vorderarms  oder  Unterschenkels  der  Länge  nach  zu  spalten,  wie  es 
wohl  früher  gelehrt  wurde,  weil  danach  die  Haut  sich  so  retrahirt,  dass 
die  Heilung  der  Wunden  dann  später  aussergewölmlich  viel  Zeit  in  Anspruch 
nimmt.  —  Um  zu  verhüten,  dass  die  neuen  Oeffnungen  wieder  schnell 
verwachsen,  was  übrigens  selten  geschieht,  können  Sie  mehrfache  Seiden- 
fäden durch  die  Eitercanäle  hindurchziehen,  dieselben  zusammenbinden 
und  kurze  Zeit  lang  liegen  lassen.  Anstatt  dieser  Setons  von  Seiden- 
fäden oder  Leinwandstreifen,  hat  man  sich  in  neuerer  Zeit  Kautschuk- 
röhren bedient,  die  eine  grosse  Anzahl  seitlicher  Oeffnungen  besitzen; 
sie  haben  den  Namen  der  Drainager  Öhren  bekommen,  ein  Ausdruck, 
welcher  der  Agriculturtechnik  entnommen  ist;  diese  Eöhren  erleichtern 
allerdings  unter  Umständen  den  Abfluss  des  Eiters  ganz  vortrefflich,  doch 
sind  sie  in  ihrem  Princip  weder  neu,  noch  richtet  man  durch  sie  solche 
Wunder  aus,  wie  ihr  Erfinder  Chassaiguac  meint,  der  über  die  Drainage 
ein  Buch  von  zwei  dicken  Bänden  geschrieben  hat.  -—  Nicht  selten  werden 
Sie  bei  der  Anlegung  solcher  Gegenöffnungen  auf  abgestorbene  Sehnen  oder 
Fascienfetzeu  oder  auf  fremde  Körper  stossen,  die  dann  zu  extrahiren  sind. 

Die  zweckmässige  Anwendung  der  genannten  Mittel  ist  eine 
Kunst  der  Erfahrung;  was  Sie  durch  dieselben  bei  Eiterungen  nicht 
erreichen,  werden  Sie  überhaupt  nicht  erreichen. 

Bedenklich  würde  mancher  ältere  College  den  Kopf  schütteln,  wenn 
er  gehört  hätte,  dass  wir  so  lange  von  der  Therapie  der  Quetschwunden 
und  Secundäreiterungen  gesprochen  und  noch  der  Kataplasmen  nicht 
erwähnt  haben.  Tempora  mutantur!  Früher  gehörte  das  Kataplasma  so 
unzweifelhaft  auf  die  eiternde  Wunde,  wie  der  Deckel  auf  die  Schachtel, 
und  jetzt!  es  sind  auf  meiner  Abtheilung  Jahre  vergangen,  in  denen 
die  Kataplasmaküchen  aucli  nicht  einmal  zu  ihrem  ursprünglichen  Beruf 
in  Thätigkeit  gesetzt  wurden!  Die  Anwendung  feuchter  Wärme,  sei  es 
in  Form  von  Kataplasmen  oder  von  dicken,  in  warmes  Wasser  getauchten 
Tüchern  vermag  auch  die  Progression  der  Zellgewebseiterungen  nicht 
zu  hemmen ;  bei  längerer  Anwendung  feuchter  Wärme  bekommen  die 
Granulationen  ein  schlaffes  Ansehen,  die  Weichtheile  quellen  stark  auf 
und  die  Heilung  wird  nicht  gefördert.  Es  kommt  hinzu,  dass  die 
Kataplasmen  nur  dann  als  feuchte  Wärme  energisch  wirken  können, 
wenn  sie  oft  erneuert  werden;    ihre  Anwendung  ist  mühsam;    der  Brei 


136  Von  den  Quetschwunden  und  Risswunden   der  AYeichtheile. 

wird  leicht  sauer,  bald  ist  er  verbrannt,  und  die  ganze  Sclimiererei  ist 
in  einem  Krankenhause  zuletzt  nicht  mehr  zu  überwachen;  das  eine 
Kataplasma,  mit  Eiter  bedeckt,  wird  abgenommen,  neuer  Brei  wird  ein- 
gefüllt und  oft  unmittelbar  wieder  einem  andern  Kranken  angelegt.  In 
manchen  Krankenhäusern  haben  wenigstens  die  Hälfte  der  chirurgischen 
Kranken  Kataplasmen ;  Centner  von  Grütze  und  Hanfsamen  oder  Species 
ad  Cataplasmata  sind  monatlich  auf  den  chirurgischen  Abtheilungen 
verbraucht  worden;  sie  sind  auf  meiner  Abtheilung  fast  ganz  verbannt; 
ich  werde  Ihnen  gelegentlich  die  Fälle  angeben,  wo  man  sich  derselben 
noch  mit  Vortheil  bedienen  kann,  —  So  wenig  ich  hiernach  die  Anwen- 
dung der  feuchten  Wärme  als  gewöhnliche  Methode  bei  Behandlung  von 
Wuiiden  empfehlen  kann,  so  halte  ich  sie  doch  bei  allen  denjenigen 
Formen  für  sehr  zweckmässig,  bei  welchen  eine  ausgedehnte  derbe  (fibri- 
nös-diphtheritische)  Infiltration  des  Zellgewebes  besteht.  In  diesen  Fällen 
ist  die  feuchte  Wärme  nicht  nur  den  Kranken  sehr  angenehm,  weil  sie 
die  gespannte  Haut  weich  und  nachgiebig  macht,  sondern  sie  scheint 
auch  die  Auflösung  der  geronnenen  Entzündungproducte  zu  befördern, 
sei  es  dass  noch  eine  Eesorption  derselben  erfolgen  kann,  sei  es  dass 
sie  mit  den  nekrotisirten  Geweben  unter  reichlicher  Eiterung  ausgestossen 
werden  müssen.  Ich  brauche  in  solchen  Fällen  Einwicklung  mit  warmen 
nassen  Tüchern,  über  welche  ein  Avasserdichter  Stoff  umgeschlagen  wird. 

Ich  habe  bisher  noch  gar  nicht  davon  gesprochen,  dass  die  absolute 
Ruhe  eines  verletzten  Körpertheils  immer  nothweudig  ist;  es  mag  llinen 
sonderbar  erscheinen,  dass  ich  es  überhaupt  noch  erwähne,  man  sollte 
meinen,  es  verstände  sich  von  selbst.  Ich  lege  einen  ganz  besonderen 
Werth  darauf,  denn  da  von  der  Wunde  aus  schädliche  Substanzen  in 
das  Blut  aufgenommen  werden  können,  so  wird  jede  Muskelbewegung 
an  sich,  so  wie  jede  dadurch  bedingte  Congestion  zur  Wunde,  kurz 
Alles,  was  den  Blut-  und  L3'mphestrom  in  der  Nähe  der  Wunde  stärker 
antreibt,  eventuell  schädlich  werden  können.  Selten  sehe  ich  in  neuerer 
Zeit  die  QuetschAvunden  so  gut  verlaufen,  als  bei  den  complicirten  Frac- 
turen  der  Extremitäten,  wo  immer  gleich  Gypsverbände  angelegt  werden; 
es  liegt  daher  der  Gedanke  sehr  nahe,  bei  grösseren  Quetsch v\'unden 
der  Weichtheile  auch  ohne  Fracturen  die  ganze  Extremität  durch  einen 
gefensterten  Gypsverband  in  absolute  Euhe  zu  zwingen.  Die  Fälle,  wo 
ich  dies  gethan  habe,  sind  auffallend  günstig  verlaufen;  auch  nach 
Amputation  von  Hand  und  Fuss  habe  ich  bei  grosser  Unruhe  des 
Patienten  schon  den  Gypsverband  mit  vortrefflichem  Erfolg  angewandt 
und  glaube,  dass  die  Behandlungsweise,  auf  die  wir  bei  den  com- 
plicirten Fracturen  näher  eingehen  werden,  vielleicht  noch  weiter  als 
bisher  auszudehnen  ist. 

Ferner  ist  auch  die  erhöhte  Lagerung  für  den  verletzten  Theil 
nicht  zu  vernachlässigen,  wo  sie  ausführbar  ist.  Dass  die  Schwere  bei 
der  Blutbewegung    eine  Rolle  spielt,    können  Sie  leicht  an  sich  selbst 


Vorlegung   lo.     Capilcl  IV.  187 

prüfen:  lassen  Sic  einmal  5  Minuten  lang'  den  Arm  ganz  schlaff  ohne 
alle  Muskelspanuung  hängen,  so  werden  Sie  eine  bedeutende  Schwere 
in  der  Hand  fiilden  und  die  Venen  auf  dem  Handrücken  stark  anschwellen 
sehen;  halten  Sie  dagegen  den  Arm  längere  Zeit  in  die  Höhe,  so  erblasst 
die  Hand  rasch  und  wird  dünner.  So  lange  sich  schwächliche  Personen 
in  horizontaler  Lage  im  Bett  befinden,  sehen  sie  z.  li.  am  Morgen  weit 
voller  im  Gesicht  aus,  als  wenn  sie  den  Tag-  ül)er  den  Kopf  aufrecht 
getragen  haben.  Für  Entzündungen  an  der  Hand  hat  Volk  mann  die 
verticale  Suspension  des  Armes  als  ein  mächtig-es  Antiphlogisticum  in 
neuester  Zeit  dringend  empfohlen;  auch  ich  habe  diese  Methode  in  Folge 
dessen  angewandt  und  in  Fällen  von  Hautentzündungen  sehr  wirksam 
gefunden,  für  tiefe  Entzündungen  z.  B.  des  Handgelenks  scheint  sie 
weniger  zu  leisten. 

Vielleicht  werden  in  der  Folge  Wasserbad,  Eisbehandlung  und  Kata- 
plasmen  immer  mehr  in  den  Hintergrund  treten  gegenüber  der  offenen 
Behandlung  der  Wunden,  von  der  ich  bei  den  Quetschwunden  wie 
bei  den  Schnittwunden  (pag.  103)  sehr  gute  Resultate  gesehen  habe. 
Der  so  viel  gefürchtete  Zutritt  der  Luft  zur  Wundfläche,  selbst  der  Luft 
in  schlecht  ventilirten  Krankenzimmern  ist  meiner  Ansicht  nach  nicht  so 
schädlich,  wie  Verbandstücke  und  Schwämme  von  zweifelhafter  Sauber- 
keit; der  Behauptung,  Luft  sei  den  eiternden  Wunden  schädlich,  liegt 
vornehmlich  die  Beobachtung  zu  Grunde,  dass  Lufteintritt  in  Abscess- 
höhlen  mit  starren  Wandungen  und  in  seröse  Säcke  in  der  Regel  eine 
Steigerung  der  Eiterung  hervorbringt:  abgesehen  davon,  dass  es  in  vielen 
dieser  Fälle  keineswegs  erwiesen  ist,  dass  es  grade  immer  der  Lufteintritt 
ist,  welcher  eine  Exacerbation  des  Entzündungsprocesses  hervorbringt, 
ist  dabei  wesentlich  der  Umstand  zu  beschuldigen,  dass  die  Luft  in  den 
Eitersäcken  durch  die  Körpertemperatur  erwärmt  und  mit  Wasserdunst 
aus  dem  Eiter  geschwängert  wird;  diese  abgeschlossene  Luft  wird  nun 
allerdings  eine  wahre  Brutstätte  derjenigen  kleinen  Organismen,  welche 
das  Fäulnissferment  so  rapid  vermehren  und  welche  freilich  fast  immer 
mehr  oder  weniger  in  der  Luft  enthalten  sind.  Jede  gut  beobachtende 
Hausfrau  weiss,  dass  frei  in  Zugluft  hängende  Fleischstücke  oder  Wild- 
pret  weit  weniger  faulen,  als  zugedecktes,  in  einen  Schrank  gelegtes 
Fleisch,  selbst  wenn  in  letzterem  die  Luft  durch  Eis  kühl  gehalten  wird. 
Freie  bewegte  Luft  schadet  den  Wunden  nichts,  abgesperrte  Luft  ist 
freilich  sehr  gefährlich.  Dass  eine  von  Anfang  an  offen  behandelte 
Wunde,  falls  nicht  grössere  Fetzen  au  ihr  gangränös  werden,  keinen 
üblen  Geruch  verbreitet,  habeich  schon  erw\ähnt  (pag.  105);  damit  hängt 
es  auch  zusammen,  dass  die  Fliegen  diese  offenen  Wunden  nicht  be- 
nutzen, um  ihre  Eier  darauf  zu  deponiren,  während  sie  sonst  gern  in 
die  Verbände  hineinkriechen,  um  dies  zu  executiren;  ich  muss  gestehen, 
dass  mich  diese  Beobachtungen  sehr  angenehm  überraschten,  weil  ich 
fürchtete,  dass  die  Fliegen  die  offne  Behandlung  der  Wunden  im  Sommer 


138  Von  ^^''^  Quetschwunden  und  Risswunden  der  Weichtheile. 

immöglicli  maclieu  würdeu.  —  Je  länger  ich  die  offne  Wiuidbehaadlung 
consequeut  durclifübve,  um  so  befriedigter  bin  ich  davon;  Sie  werden 
selbst  Gelegenheit  haben,  sich  davon  in  meiner  Klinik  zu  überzeugen. 
Eine  absolute  Garantie  gegen  accidentelle  Wundkranklieiten  bietet  keine 
Methode  der  Wundbehandlung;  eine  jede  derselben  v/ill  studirt  sein.  So 
können  sich  auch  bei  der  offnen  Wundbehandlung  oberflächliche  Ver- 
klebungen einzelner  Wundtaschen  bilden,  in  welchen  sich  Zersetzungen 
des  Secretes  entwickeln;  man  muss  solche  Zustände  früh  zu  erkennen 
und  zu  beseitigen  wissen. 

Von  vielen  Chirurgen  wird  jetzt  die  Methode  der  Occlusion  der 
Wunden  durch  gut  desinficirte  Verbandstücke  mit  frühzeitiger  Einleguug 
von  Drainageröhren  zur  Ableitung  des  Wundsecretes  besonders  bevor- 
zugt, eine  Methode  welche  den  Namen  der  „Lister'schen"  führt,  und 
zweckmässig  gehandhabt,  gewiss  auch  gut  wirkt.  Ich  habe  früher  bei 
den  vollständigen  Occlusionen  der  Wunden,  zumal  der  Amputations- 
wunden, so  wenig  günstige  Resultate  gesehen,  dass  ich  mich  nicht  ent- 
schliessen  kann,  wieder  zu  denselben  zurückzukehren. 

Im  Allgemeinen  empfehle  ich  Ihnen  für  Ihre  Lehrzeit,  wie  für  Ihre 
spätere  Praxis :  studiren  und  beobachten  Sie  eine  der  Ihnen  emj)fohlenen 
Behandlungsweisen  ganz  genau,  lernen  Sie  eine  Methode  völlig  be- 
herrschen, und  lassen  Sie  sich  nicht  ohne  triftige  Gründe  in  Ihren  thera- 
peutischen Principien  beirren,  nicht  durch  jede  Zeitströmuug  zu  allzu- 
häufigen Wechsel  fortreissen.  Ueben  Sie  in  Ihrer  Praxis  aus,  was  Sie 
gut  gelernt  haben!  Glauben  Sie  mir,  Ihre  Patienten  und  Sie  werden  sich 
dabei  am  besten  befinden. 

In  Betreff  der  Behandlung  der  secundären  Entzündungen  ist  vor 
Allem  eine  sorgfältige  Prophylaxis  zu  empfehlen:  Vermeidung  von  Con- 
gestivzuständen  zur  Wunde,  von  Erkältung,  von  aller  mechanischen  und 
chemischen  Irritation,  besonders  ängstliche  Verhütung  von  Infection.  Was 
in  letzterer  Beziehung  durch  Ventilation,  durch  gehörige  Benutzung  der 
disponiblen  Spitalräumlichkeiten  geschehen  kann,  soll  später  erörtert 
werden,  wenn  wir  von  den  accidentellen  Wundkrankheiten  im  Ganzen 
sprechen.  Um  die  örtliche  Infection  der  Wunde  durch  Verbandzeug  oder 
Instrumente  zu  vermeiden,  ist  Folgendes  zu  merken.  Man  beobachte 
beim  Verbände,  beim  Reinigen  der  Wunde,  bei  der  Wahl  der  Com- 
pressen,  Charpie  und  Watte  die  grösste  Sorgfalt;  ich  lasse  mir  hierbei 
die  philiströseste  Pedanterie  gefallen ;  man  achte  immer  auf  die  äusserste 
Reinlichkeit  der  Matratzen,  der  Strohsäcke,  des  Bettzeugs,  der  Unter- 
lagen, der  Wachstuchstücke  oder  des  Pergamentpapiers,  kurz  Alles  dessen, 
was  den  Kranken  umgiebt.  Das  Bluten  der  Wunden  beim  Verbände  ist 
durch  sorgfältiges  Abspritzen  mit  den  Esmarch' sehen  Wunddouchen, 
von  denen  in  jedem  Krankenzimmer  2 — 3  in  Gebrauch  sein  sollten,  und 
durch  langsames  geduldiges  Ablösen  der  Verbände  zu  verhüten;  man 
lege- nie  trockne  Compressen  oder  Charpie  oder  Watte  auf  die  Wunden, 


Vorlesung   13.     Cnpilel  TV.  189 

soiuleni  netze  alle  diese  Tlieile  zuvor  mit  (Jlilorkalkwasser  oder  anderen 
Antisepticis,  später,  wenn  die  Wunde  anfängt  zu  l)enarl)cn,  mit  Blei- 
wasser; auch  zum  Abweichen  von  Eiter,  brauche  man  nie  Schwämme, 
wo  möglich  auch  nicht  beim  Operiren,  sondern  reinige  Alles  durch  Ab- 
spritzen oder  durch  Abwischen  mit  Watte,  die  mit  Wasser  oder  stark 
verdünntem  Chlorwasser  genetzt  ist;  kann  man  Schwämme  nicht  ent- 
behren, so  verwende  man  nur  neue,  und  desinficire  sie  sofort  mit  hyper- 
mangansaurem  Kali  oder  Carbolsäure.  In  dem  Chlorwasser  (Aqua  Chlori 
zu  gleichen  Theilen  mit  Wasser)  oder  Chlorkalkwasser  (Chlorkalk  2 
Drachmen,  Wasser  1  Pfd.,  oder  10  Grammes  auf  500  Grammes)  halten 
sich  auf  die  Dauer  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  keine  organische 
Wesen,  ebenso  wenig  in  Alkohol,  in  Bleiwasser,  in  der  Lösung  von 
essigsaurer  Thonerde  (pag.  106),  so  wie  in  den  stärkeren  Lösungen  von 
hypermangansaurem  Kali.  Von  Lister  ist  die  Carbolsäure  als  besonders 
wirksames  Antisepticum  empfohlen;  man  kann  sie  mit  Oel  oder  mit 
Glycerin  oder  mit  Wasser  verdünnen,  auch  mit  geschabter  Kreide  zu 
einer  Paste  verrühren,  diese  auf  Staniol  streichen  und  damit  die  Wunden 
luftdicht  abschliessen.  Ich  halte  die  Carbolsäure  für  ein  ganz  brauchbares 
Antisepticum;  dass  sie  vor  den  eben  genannten  Mitteln  einen  so  ganz  be- 
sonderen Vorzug  verdient,  habe  ich  nicht  finden  können.  —  Besondere 
Beachtung  haben  Sie  auch  der  Reinheit  der  Instrumente  zuzuwenden,  mit 
denen  Sie  die  Wunden  berühren,  den  Sonden,  Pincetten,  Kornzangen, 
Messern,  Scheeren;  Alles  ist  vor  dem  Gebrauch  abzuwischen,  oder  falls  es 
irgend  verdächtig  ist,  schnell  mit  etwas  Putzpulver  abzureiben.  Es  gehört 
die  ganze,  volle,  innere  Ueberzeugung  von  der  Nothwendigkeit  aller  dieser 
Cautelen  dazu,  um  sie  alle  zu  beobachten. 

Sollen  wir  unseren  Kranken  in  solchen  Fällen  ausser  kühlenden 
Getränken  und  Arzneien,  Regelung  der  Diät  etc.  noch  etwas  verordnen? 
Die  bei  solchen  Eiterungen  nicht  selten  bestehende  Febris  remittens  macht 
die  Kranken  matt,  missmuthig,  nicht  selten  schlaflos.  Zwei  Mittel  sind 
hier  zweckmässig:  Chinin  und  Opiate;  Chinin  als  Tonicum  und  Febri- 
fugum,  Opium  respective  Morphium  als  Narcoticum,  zumal  am  Abend, 
um  Nachtruhe  herbeizuführen.  Ich  befolge  gewöhnlich  folgende  Methode 
bei  solchen  Kranken.  So  lange  sie  bei  progressiven  Eiterungen  nicht 
oder  nur  unbedeutend  fiebern,  gebe  ich  nichts;  fiebern  sie  gegen  Abend, 
so  gebe  ich  in  Solutionen  oder  Pulvern  am  Nachmittag  ein  paar  Dosen 
Chinin  (gr.  5  oder  grms.  0,3  p.  D.)  und  am  Abend  vor  dem  Schlafen 
Ve — y4 — %  gr.  oder  0,01 — 0,02  grms.  Morphium  muriaticum,  auch  wohl 
1  gr.  oder  0,08  grms.  Opium.  Sobald  das  Fieber  aufhört,  lasse  ich 
diese  Arzneien  wieder  fort;  zumal  seien  Sie  mit  dem  Opium  nicht  zu 
freigebig,  wenn  es  nicht  nöthig  ist,  weil  es  Verstopfung  macht. 


290  Von  den  Quetschwunden  und  Eisswiinden  der  Weielitlieile. 

Jetzt  noch  wenige  Worte  über  die  Riss  wunden.  Diese  sind  im 
Allg-emeiuen  stets  von  weniger  sclilimmer  Bedeutung  als  die  Quetsch- 
wunden, und  zwar  deshalb,  weil  sie  meist  klarer  zu  Tage  liegen  und 
man  keine  Sorge  zu  tragen  hat,  dass  die  Ausdehnung  der  Verletzung 
eine  tiefere  ist,  als  man  übersehen  kann;  man  sieht,  wie  Haut  und 
Muskeln,  Nerven  und  Gefässe  zerrissen  sind,  eine  Heilung  per  primam 
kann  angestrebt  werden  und  gelingt  nicht  so  selten,  meist  wird  freilich 
Eiterung  eintreten.  —  Doch  halt!  nicht  immer  liegen  die  Zerreissungen 
zu  Tage,  es  giebt  auch  subcutane  Rupturen  von  Muskeln,  Sehnen, 
ja  selbst  von  Knochen,  ohne  dass  Quetschung  dabei  im  Spiele  wäre. 
Es  will  Jemand  über  einen  Graben  springen  und  nimmt  dazu  den  ge- 
hörigen Ansatz,  doch  er  verfehlt  das  Ziel,  fällt  und  empfindet  einen 
heftigen  Schmerz  in  einem  Bein,  er  hinkt  auf  demselben.  Man  unter- 
sucht und  findet  dicht  oberhalb  der  Ferse  (der  Tuberositas  calcanei)  eine 
Vertiefung,  in  welche  man  den  Daumen  hineinlegen  kann,  die  Bewegungen 
des  Fusses  sind  unvollkommen,  zumal  die  Streckung.  Was  ist  geschehen  ? 
Bei  der  heftigen  Muskelaction  ist  der  Tendo  Achillis  vom  Calcaneus  ab- 
gerissen. Aehnliches  begegnet  mit  der  Sehne  des  Quadriceps  femoris, 
welche  sich  an  die  Patella  ansetzt,  mit  der  Patella  selbst,  die  mitten 
durchreissen  kann,  mit  dem  Lig.  patellae,  mit  dem  Triceps  brachii,  der 
vom  Olecranou  abreisst  und  meist  dabei  ein  Stück  von  letzterem  mit 
fortnimmt.  Da  haben  Sie  einige  Beispiele  von  solchen  subcutanen  Sehnen- 
abreissungen;  ich  sah  subcutane  Rupturen  eines  M.  rectus  abdominis, 
des  Vastus  externus  cruris  und  anderer  Muskeln.  —  Die  einfachen  sub- 
cutanen Muskelzerreissungen  sind  keine  Verletzungen  von  Erheblich- 
keit; man  erkennt  sie  leicht  an  der  Funetionsstörung,  an  der  sichtbaren 
und  noch  mehr  fühlbaren  Vertiefung,  welche  sofort  vorhanden  ist,  in  der 
Folge  jedoch  durch  das  Blutextravasat  wieder  maskirt  wird.  Die  Be- 
handlung ist  einfach:  Ruhe  des  Theils,  Lagerung  desselben,  so  dass  die 
abgerissenen  Enden  durch  Erschlaffung  des  Muskels  an  einander  geführt 
werden;  kalte  Compressen,  Bleiwasserüberschläge  wenige  Tage  hindurch; 
nach  8 — 10  Tagen  können  die  Patienten  meist  ohne  Schmerz  wieder  auf- 
stehen ;  es  bildet  sich  anfangs  eine  bindegewebige  Zwischensubstanz,  die 
sich  bald  durch  Verkürzung  und  Schrumpfung  so  verdichtet,  dass  eine 
sehnenartig  feste  Narbe  entsteht;  der  Vorgang  ist  genau  wie  nach  der 
subcutanen  Sehnendurchschneidung,  wovon  später  im  Capitel  von  den 
Verkrümmungen. 

Funetionsstörung  bleibt  selten  in  irgend  erheblichem  Grade  zurück, 
zuweilen  allerdings  eine  leise  Schwäche  der  Extremität  und  der  Verlust 
fein  nuancirter  Bewegungen,  zumal  an  der  Hand. 

Um  subcutane  Muskel-  und  Sehnenzerreissungen  genannter  Art 
durch  Quetschung  hervorzubringen,  würde  es  bedeutender  quetschender 
Gewalten  bedürfen;  eine  solche  Quetschung  würde  wohl  einen  ziemlieh 
bösartigen   Verlauf  nehmen:    ausgedehnte  Eiteruna-en  und  Nekrose  der 


VorlpsmiLC  13.     Capilel  IV 


191 


Fig.  AG. 


Fis.  47. 


Fi'^  48. 


Centrales 
Ende   einer 
durehrisse- 

nen   Art. 
brachialis. 


Ausgerissener      Mittelfinger      mit 
sämmtlichen  Sehnen. 


Ausgerissener    Arm     mit    Scapnia 
und  Clavicula. 


192  ^o"  ^^^1^  Quetschwunden   und  Eisswunden  der  Weiehtheile. 

Seimen  wären  uiclit  unwahrscheinlich.  Sie  sehen  in  diesem  Fall  wieder, 
wie  verschieden  der  Verlauf  gleich  erscheinender  Verletzungen  sein  kann, 
je  nach  der  Art,  wie  dieselben  entstanden.  Bei  den  Maschinenverletzungeu 
ist  oft  eine  so  wunderbare  Combination  von  Quetseluing,  Drehung,  Eiss, 
dass  eben  deshalb  die  prognostische  Beurtheilung  des  Verlaufs  solcher 
Fälle  auch  bei  grosser  Erfahrung  sehr  schwierig  ist.  —  Besonders 
erwähnenswerth  ist  auch  noch  der  meist  günstige  Verlauf  Ton  Aus- 
reissungen  kleinerer  und  selbst  grösserer  Gliedmaassen,  wie  z.  B.  der 
Hand:  mir  sind  bis  jetzt  zwei  Fälle  von  Fingerausreissungen  vorgekom- 
men; einen  davon  theile  ich  Ihnen  kurz  mit:  ein  Maurer  war  auf  einem 
Gertist  beschäftigt,  und  fühlte  plötzlich  dasselbe  unter  sich  zusammen- 
fallen; vom  Dach  des  Hauses,  gegen  welches  das  Gerüst  gelehnt  war, 
hing  eine  Schlinge  herab;  diese  ergrifP  der  Fallende,  gelangte  aber  nur 
mit  dem  Mittelfinger  der  rechten  Hand  in  die.  Schlinge;  so  schwebte  er 
einen  Moment,  und  stürzte  dann  auf  den  Boden,  zum  Glück  nicht  hoch, 
so  dass  er  sich  keinen  Schaden  that,  doch  es  fehlte  ihm  der  Mittelfinger 
der  rechten  Hand,  er  war  im  Gelenk  zwischen  erster  Phalanx  und  Os 
metacarpi  ausgerissen  und  hing  oben  in  der  Schlinge.  An  dem  Finger 
befanden  sich  die  beiden  Sehnen "  der  Flexoren  und  die  Sehne  des  Ex- 
tensor,  und  zwar  waren  dieselben  genau  an  der  Muskelinsertion  abge- 
rissen; der  Mann  trocknete  seinen  Finger  mit  den  Sehnen  und  trug  ihn 
später  zum  Andenken  an  das  Ereigniss  in  seinem  Portemonnaie  bei  sich. 
Einen  ganz  gleichen  Fall  habe  ich  in  der  Klinik  in  Zürich  beobachtet. 
(Fig.  46.)  Die  Heilung  erfolgte  ohne  erhebliche  Entzündung  des  Vorder- 
arms und  bedurfte  eigentlich  gar  keiner  Kunsthülfe.  —  Zwei  Ausreis- 
sungen  der  Hand  sah  ich  auch  in  Zürich:  in  einem  Fall  war  genügend 
Haut  vorhanden,  um  die  Heilung  sich  selbst  zu  überlassen,  im  andern 
Fall  musste  die  Amput.  antibrachii  gemacht  werden.  Beide  Fälle  ver- 
liefen glücklich.  —  Im  Kriege  kommt  es  vor,  dass  Arme  und  Beine  aus 
den  Gelenken  durch  grosse  Kanonenkugeln  fortgerissen  werden.  Ich 
habe  es  auch  schon  erlebt,  dass  einem  14jährigen  Knaben  der  rechte 
Arm  mit  Scapula  und  Clavicula  durch  ein  Maschinenrad  vom  Thorax  so 
vollkommen  abgerissen  wurde,  dass  er  nur  in  der  Schultergegend  an 
einer  2  Zoll  breiten  Hautbrücke  hing  (Fig.  48).  Die  Art.  axillaris  gab 
keinen  Tropfen  Blut;  das  Ende  war  durch  Drehung  geschlossen  (Fig.  47). 
Der  Unglückliehe  starb  bald  nach  der  Verletzung.  Die  Ausreissungen 
ganzer  Extremitäten  sind  meist  rasch  tödtlich;  doch  kommen  auch  Manche 
davon.  Einer  meiner  Schüler,  Eisenbahnarzt  in  Wien,  stellte  mir  neulich 
einen  kräftigen  jungen  Mann  vor,  welchem  der  ganze  Arm  mit  dem 
Schlüsselbein,  doch  ohne  Scapula  ausgerissen  war;  die  Heilung  war  ohne 
Zwischenfälle  erfolgt. 


Vorlesung    14.     Capild  V.  103 


Vorlesung  14. 
CAPITEL  V. 

Von  den  einfachen  knoclienhrüclien. 

Ursaelieii,  versclnedone   Arten  der  Fractnren.  —  Symptome,  Art  der  Diagnoslik.  —  Ver- 
lauf und  äusserJifh  wahrnehmbare  Erscheinungen.  ■ —  Anatomisches  über  den  Heikingsver- 
•  lauf,  CaHusbildung.  —  Quellen  der  entzündliclien  verknöchernden  Neubildung,  Histologisches. 

Meine  Herren! 

Wir  haben  uns  bisher  ausschliesslich  mit  den  Verletzung-en  der 
Weichtheile  beschäftigt;  es  ist  Zeit,  dass  wir  uns  auch  um  die  Knochen 
bekümmern.  Sie  werden  finden,  dass  die  Vorgänge,  welche  die  Natur 
einleitet,  um  auch  hier  möglichst  die  Restitutio  ad  integrum  zu  erreichen, 
im  Wesentlichen  dieselben  sind,  die  Sie  bereits  kennen;  dennoch  sind 
die  Verhältnisse  schon  wieder  complicirter  und  können  erst  ver- 
ständlich werden,  wenn  man  sich  über  den  Heilungsprocess  an  den 
Weichtheilen  ganz  klar  ist.  Im  Allgemeinen  weiss  jeder  Laie,  dass 
man  sich  die  Knochen  brechen  kann,  und  dass  sie  wieder  ganz  solide 
zusammenheilen;  dies  kann  nur  durch  Knochenmasse  geschehen,  wie 
Sie  leicht  a  priori  übersehen  werden,  und  hieraus  ergiebt  sich  weiterhin, 
dass  Knochengewebe  hierbei  neugebildet  werden  muss;  die  Narbe  im 
Knochen  besteht  gewöhnlich  wieder  aus  Knochen:  ein  sehr 
wichtiges  Factum,  denn  wenn  dies  nicht  der  Fall  wäre,  wenn  die  Bruch- 
enden nur  durch  Bindegewebe  zusammenwüchsen,  so  würden  zumal  die 
langen  Röhrenknochen  nicht  fest  genug  werden,  den  Körper  zu  tragen, 
und  viele  Menschen  würden  nach  den  einfachsten  Knochenbrüchen  für 
ihr  ganzes  Leben  Krüppel  bleiben.  Doch  bevor  wir  die  Processe  der 
Knochenheilung  bis  in  ihre  feinsten  Details  verfolgen,  ein  Studium,  das 
stets  mit  grosser  Vorliebe  von  den  Chirurgen  getrieben  ist,  muss  ich 
Ihnen  über  die  Entstehung  und  die  Symptome  der  einfachen  Knochen- 
brüche noch  Mancherlei  bemerken;  „einfacher  oder  subcutaner 
Knochenbruch"  sage  ich  im  Gegensatz  zu  den  mit  Wunden  der  Weich- 
theile complicirten  Fractnren. 

Der  Mensch  kann  schon  mit  zerbrochenen  Knochen  auf  die  Welt 
kommen;  im  Uterus  können  theils  durch  abnorme  Conti-actionen  des- 
selben, theils  durch  Schlag  und  Stoss  gegen  den  schwangeren  Leib  die 
Knochen  des  Fötus  zerbrechen,  und  meist  heilt  eine  solche  intrauterine 
Fractur  mit  erheblicher  Dislocation;  die  vis  medicatrix  naturae  versteht 
sich,  wie  wir  auch  bei  anderen  Gelegenheiten  sehen  werden,  mehr  auf 
die  innere  Medicin,  als  auf  die  Chirurgie.  —  Es  können  ferner,  wie 
begreiflich,  in  jedem  Lebensalter  Knochenbrtiche  vorkommen,  doch  sind 

BiUroth  chir.  Path.  u.  Ther. -7.  Aufl.  13 


]^C)4  Von  den  einfachen   Knoclienbrüchen. 

sie  in  den  Jahren  von  25—60  am  häufigsten,  und  zwar  aus  folgenden 
Gründen.  Die  Knochen  der  Kinder  sind  noch  biegsam  und  brechen  daher 
nicht  so  leicht;  wenn  ein  Kind  fällt,  so  fällt  es  nicht  schwer.  Alte  Leute 
haben,  wie  man  wohl  audi  im  gewöhnlichen  Leben  sagt,  brüchige,  morsche 
Knochen,  d.  h.  anatomisch  ausgedrückt,  im  hohen  Alter  wird  die  ]\[ark- 
höhle  weiter,  die  Corticalsubstanz  dünner;  doch  alte  Leute  kommen 
seltner  in  Gefahr  sich  Knochenbrüche  zuzuziehen,  w^eil  sie  durch  ihren 
Mangel  an  Kräften  verhindert  sind,  schwere  und  gefährliche  Arbeit  zu 
thun.  Das  Alter,  in  welchem  sich  der  Mann  des  Volkes  der  schweren 
Arbeit  aussetzen  muss,  ist  es,  wo  am  meisten  Gelegenheit  zu  Verletzungen 
überhaupt  und  so  auch  besonders  zu  Fracturen  geboten  wird.  Dass  bei 
Frauen  Knochenbrüche  weit  seltner  vorkommen  als  bei  Männern,  hat 
seinen  Grund  in  der  Art  der  Beschäftigung  beider  Geschlechter,  wie  leicht 
zu  übersehen.  —  Es  liegt  ebenfalls  in  rein  äusserlichen  Verhältnissen, 
dass  die  langen  Röhrenknochen  der  Extremitäten,  zumal  die  rechtseitigen, 
häufiger  brechen  als  die  Knochen  des  Rumpfes.  —  Dass  kranke,  an  sieh 
schon  schwache  Knochen  leichter  brechen  als  gesunde,  ist  selbstver- 
ständlich ;  gewisse  Knochenkrankheiten  disponiren  daher  sehr  zu  Fracturen, 
zumal  die  sogenannte  „englische  Krankheit,  Rhachitis",  die  in  mangel- 
hafter Ablagerung  von  Kalksalzen  in  den  wachsenden  Knochen  beruht 
und  nur  bei  Kindern  auftritt,  ferner  die  Knochenerweichung  oder  „Osteo- 
malacie",  die  auf  abnormer  Erweiterung  der  Markhöhle  und  Verdünnung 
der  Corticalsubstanz  beruht,  und  die  in  höheren  Graden  totale  Weichheit 
und  Biegsamkeit  der  Knoclien  mit  sich  bringt. 

Speciellere  Veranlassungen  für  das  Zustandekommen  von  Knochen- 
brüchen giebt  es  folgende  zwei : 

1.  Aeussere  Gewaltthätigkeiten,  die  häufigste  Ursache;  die  Einwir- 
kung kann  in  folgender  Weise  verschieden  sein:  die  Gewalt,  z.  B.  ein 
Schlag,  ein  Stoss  trifft  den  Knochen  so,  dass  letzterer  grade  an  der  ge- 
troffenen Stelle  zerdrückt  oder  zersprengt  wird,  —  hier  hat  die  Gewalt 
direct  den  Bruch  erzeugt;  oder  der  Knochen,  zumal  ein  Röhrenknochen, 
wird  stärker  gebogen,  als  es  seine  Elasticität  erlaubt,  und  bricht  wie  ein 
zu  stark  gebogener  Stab,  —  hier  wirkte  die  Gewalt  nur  in  direct  auf 
die  Bruchstelle.  Bei  dem  letzteren  Mechanismus  können  Sie  an  Stelle 
des  einen  Röhrenknochens  auch  eine  ganze  Extremität  oder  die  Wirbel- 
säule als  ganzen,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  biegsamen  Stab  setzen 
und  hierauf  den  Begriff  der  indirecten  Gewalteinwirkung  übertragen.  — 
Nehmen  wir  ein  paar  Beispiele,  das  Gesagte  zu  erläutern:  fällt  eine 
schwere  Last  auf  den  ruhenden  Vorderarm,  so  werden  Radius  und  Ilna 
dureli  directe  Gewalt  zerbrochen;  fällt  Jemand  auf  die  Schulter  und  das 
Schlüsselbein  bricht  in  der  Mitte  quer  durch,  so  ist  dieser  Bruch  durch 
indirecte  Gewalt  entstanden.  Bei  beiden  Entstehungsweisen  ist  in  der 
Regel  Quetschung  der  Weichtheile  vorhanden;  in  letzterem  Fall  aber 
mehr  oder   weniger   entfernt  von   der  Bruchstelle,    in  ersterem  an  der 


Vorlofuni!:';   14.     Capilcl   V.  ](95 

Bruchstelle  selbst,    was   hegreiriiclier  Weise    als    etwas  uiigünstig-er  zu 
betrachten  ist.  • 

2.  Muskelzug-  kann,  wenn  auch  unter  seltenen  Umständen,  Ursache 
für  Fracturen  sein:  wie  ich  Ihnen  schon  bei  den  subcutanen  IMuskel- 
zerreissung-en  andeutete  (pag.  190),  kann  die  Vatella,  das  Olccrauon, 
auch  wohl  ein  Theil  des  Calcaneus  durch  Muskelzug'  abreissen,  d.  h. 
quer  durchbrechen. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Knochen  bei  diesen  verschiedenen  Oe- 
walteinwirkung-en  brechen,  ist  eine  sehr  verschiedene;  doch  sind  dafür 
einige  Typen  aufgestellt,  die  Sie  kennen  müssen:  man  kann  zunächst 
unvollständige  und  vollständige  Fracturen  auseinander  halten.  Bei  den 
unvollständigen  Fracturen  unterscheidet  man  wieder  folgende  ver- 
schiedene Formen :  Fissuren,  d.h.  Spalten,  Risse;  sie  sind  am  häufigsten 
an  den  platten  Knochen,  kommen  jedoch  auch  an  den  Rohrenknoeheu, 
besonders  als  Längsfissuren  in  Verbindung  mit  anderen  Brüchen  vor; 
der  Spalt  kann  klaffen  oder  als  einfacher  Sprung  wie  in  einem  Glas 
erscheinen.  Die  Infraction  oder  Einknickung  ist  ein  partieller  Beuch, 
der  in  der  Regel  nur  bei  sehr  elastischen,  weichen,  zumal  rhachitischen 
Kinderknochen  vorkommt ;  Sie  können  diese  Form  am  leichtesten  imitiren, 
wenn  Sie  den  Schaft  einer  Federfahne  biegen,  bis  die  concave  Seite  des- 
selben einknickt;  auch  am  Schlüsselbein  bei  Kindern  sind  solche  Knickun- 
gen nicht  selten.  Was  man  unter  Absplitterung  Versteht,  ist  an  sich 
klar;  Maschinenmesser,  Säbelhiebe  etc.  geben  am  mefsten  dazu  Veran- 
lassung. Der  Knochen  kaiin  endlich  durchbohrt  sein,  ohne  dass  seine 
Continuität  unterbrochen  ist;  so  bei  einer  Stichwunde  durch  die  Scapula, 
bei  einem  reinen'  Schuss  durch  den  Humeruskopf ;  letztere  Art  der  Ver- 
letzung nennt  man  wohl  eine  Lochfractur. 

Bei  den  vollständigen  Fracturen  spricht  man  von  Querbrü- 
^lien,  schiefen  Brüchen,  Längsbrüchen,  gezähnten  Brüchen, 
einfachen  und  mehrfachen  Brüchen  desselben  Knochens,  Splitter- 
brüchen (Comminntivbrttchen):  Ausdrücke,  die  alle  an  sich  verständlich 
sind.  Endlich  ist  zu  erwähnen,  dass  bei  Individuen  etwa  bis  zum  zwan- 
zigsten Jahre  auch  eine  Trennung  der  Continuität  in  den  Epiphysen- 
knorpeln  Statt  haben  kann,  wenngleich  dies  sehr  selten  ist  und  die 
Röhrenknochen  viel  eher  an  einer  anderen  Stelle  brechen. 

Es  ist  häufig  leicht  zu  erkennen,  ob  ein  Knochen  gebrochen  ist,  und 
die  Diagnose  kann  mit  Sicherheit  von  Laien  gestellt  werden;  in  anderen 
Fällen  kann  die  Diagnose  sehr  schwierig  sein,  ja  zuweilen  kann  man 
nur  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  eine  Fractur  schliessen. 

Lassen  Sie  uns  die  Symptome  nach  einander  kurz  durchgehen: 

Zunächst  gewöhnen  Sie  sich,  jeden  verletzten  Theil  zuerst  genau 
zu  betrachten,  und  mit  dem  gesunden  zu  vergleichen;  dies  ist  nament- 
lich bei  den  Extremitäten  wichtig*.  Sie  können  oft  aus  der  ein- 
fachen   Betrachtung    der   verletzten    Extremität   schon    ersehen,    welche 

13* 


196  Voi'i  ^^^'1  einfachen  Knochenbrüchen. 

Verletzung*  vorliegt.  Sie  frag-en  den  Verletzten,  wie  er  yeruuglttckt 
ist,  lassen  ilm  unterdessen  vorsichtig'  ausziehen,  oder  falls  dies  zu 
schmerzhaft  ist,  die  Kleider  und  Stiefel  zerschneiden,  um  den  ver- 
letzten Theil  genau  sehen  zu  können.  Die  Art  und  -Kraft  der  Ver- 
letzung" ,  das  Gewicht  der  etwa  aufgefallenen  Last  kann  Ihnen  schon 
ungefähr  andeuten,  was  Sie  zu  erwarten  haben.  Finden  Sie  jetzt  die 
Extremität  krumm,  den  Oberschenkel  z.  B,  convex  nach  aussen  verbog-en 
und  angeschwollen,  zeigen  sich  zugleich  Sugillationen  unter  der  Haut, 
kann  der  Kranke  die  Extremität  gar  nicht  oder  nur  unter  den  grössten 
Schmerzen  rühren,  so  können  Sie  mit  Sicherheit  auf  eine  Fractur  schliessen; 
hier  brauchen  Sie,  um  das  einfache  Factum  des  Knochenbruchs  zu  con- 
statiren,  gar  keine  weitere  Untersuchung,  Sie  brauchen  dem  Kranken 
deshalb  keine  Schmerzen  zu  machen;  nur  um  zu  wissen,  wie  und  wo 
die  Fractur  verläuft,  müssen  Sie  noch  mit  den  Händen  untersuchen ;  dies 
ist  weniger  der  einzuschlagenden  Therapie  wegen  nöthig,  als  um  vorher- 
sagen zu  können,  ob  und  wie  die  Heilung  erfolgen  wird.  —  Sie  haben 
in  diesem  Fall  mit  einem  Blick  die  Diagnose  gestellt,  und  so  wird  es 
Ihnen  oft  in  der  chirurgischen  Praxis  leicht  sein,  das  Richtige  schnell 
zu  erkennen,  wenn  Sie  sich  gewöhnen,  ihre  Augen  denkend  zu  gebrauchen, 
und  wenn  Sie  sich  eine  gewisse  Uebung  in  der  Beurtheilung  normaler 
Körperformen  aneignen.  -Nichtsdestow^eniger  müssen  Sie  sich  klar  sein, 
wie  Sie  zu  dieser  schnellen  Diagnose  gekommen  sind.  Das  erste  war 
die  Art  der  Verletzung,  ferner  die  Difformität;  letztere  ist  dadurch 
bedingt,  dass  die  zwei  oder  mehre  Bruchstücke  (Fragmente)  des 
Knochens  sich  verschoben  haben.  Diese  Dislocation  der  Fragmeute 
ist  die  Folge  theils  der  Verletzung  selbst  (sie  werden  in  der  Richtung 
vorgetrieben,  welche  sie  bei  der  abnormen  Biegung  des  Knochens 
erhalten),  theils  der  Muskelcontraction,  welche  nicht  mehr  auf  den  ganzen 
Knochen,  sondern  auf  einen  Theil  desselben  wirkt;  die  Muskeln  werden 
theils  durch  den  Schmerz  bei  der  Verletzung  selbst,  theils  durch  die 
spitzigen  Bruchenden  zur  Contraction  gereizt:  es  wird  z.  B.  das  obere 
Stück  eines  gebrochenen  Oberschenkels  durch  die  Flexoreu  gehoben,  das 
untere  durch  andere  Muskeln  neben  oder  hinter  dem  oberen  Bruchende 
in  die  Höhe  gezogen,  und  so  muss  der  Schenkel  verkürzt  und  difform 
werden.  —  Die  Anschwellung  ist  bedingt  durch  den  Bluterguss 
(wir  sprechen  hier  von  einer  eben  entstandenen  Fractur);  das  Blut 
kommt  besonders  aus  der  Markhöhle  des  Knochens,  dann  aber  auch  aus 
den  sonst  zerquetschten  oder  durch  die  Knochenenden  zerrissenen  Ge- 
fässen  der  umgebenden  Weichtheile;  es  scheint  bläulich  durch  die  Haut, 
falls  es  bis  unter  die  Haut  dringt,  was  nach  und  nach  geschieht.  —  Der 
Verletzte  kann  die  Extremität,  wie  bemerkt,  nur  unter  Schmerzen  be- 
wegen; die  Ursache  dieser  Functionsst örung  ist  an  sich  klar,  wir 
brauchen  darüber  keine  Worte  weiter  zu  verlieren.  —  Betrachten  Sie 
jedes  einzelne  der  angegebenen  Symptome  für  sich,  so  giebt  kein  einziges, 


Vorlesung  14.      Ciipifcl   V.  107 

weder  die  .Vit  der  Verletzung,  iiocli  die  Dirfoniiitiit,  noch  die  AnscliwcUiing, 
noch  der  Blutergiuss,  iiocIi  die  l'nnctionsstöruiig  nn  und  für  sich  den 
Beweis  für  eine  Fniclur,  und  doch  ist  die  C(»nil)ination  aller  entsciieidend; 
so  werden  Sic  in  der  Praxis  noch  oft  diagnosticircn  lernen  müssen.  — 
Indess  alle  diese  Symptome  können  fehlen,  und  doch  ist  eine  Fractur 
vorhanden.  Liegt  eine  Vei-letzung  vor  und  keine  der  genannten  Erschei- 
nungen ist  recht  entwickelt,  oder  nur  eine  oder  die  andere  ist  deutlich 
vorhanden,  so  nuiss  jetzt  die  manuelle  Untersuchung  weiter  helfen.  — 
Was  wollen  Sie  mit  den  Händen  fühlen?  machen  Sic  sich  ja  gleich  jetzt 
darüber  klar:  so  oft  sehe  ich,  dass  die  Herren  Praktil^anten  lange  mit 
beiden  Händen  auf  den  verletzten  Thcilen  herumtasten,  dem  Kranken 
unsägliche  Schmerzen  bereiten  und  doch  schliesslich  durch  ihre  Unter- 
suchung nicht  weiter  gekommen  sind.  vSie  können  dreierlei  mit  den 
Händen  bei  Knochenbrüchen  fühlen:  1)  abnorme  Beweglichkeit, 
das  einzige  so  zu  sagen  pathognomonische  Zeichen  einer  Fractur;  hierbei 
können  Sie  sehr  häufig  2)  erkennen,  wie  der  Bruch  verläuft,  auch  zu- 
weilen, ob  mehr  als  zwei  Fragmente  vorhanden  sind ;  3)  werden  Sie  bei 
der  Bewegung  der  Fragmente  häufig  ein  Reiben  und  Knacken  der  Frag- 
mente an  einander  verspüren,  die  sogenannte  „Crep  itation."  Crepitiren 
heisst  eigentlich  knarren;  dies  ist  ein  Geräusch,  und  doch  sagt  man: 
man  fühlt  „Crepitation;"  hieran  dürfen  Sie  sich  nicht  stossen;  es  ist  ein 
Abusus  dieses  Wortes,  der  aber  so  in  die  Praxis  tibergegangen  ist,  dass 
er  nicht  mehr  auszurotten  wäre;  auch  weiss  Jeder,  was  er  darunter  zu 
verstehen  hat.  —  Bei  einem  kunstgerechten  Griff  fühlen  Sie  meist  in 
einem  Moment  Alles,  was  Sie  überhaupt  durch  das  Gefühl  ermitteln 
können,  und  brauchen  daher  den  Kranken  zum  Zweck  dieser  Unter- 
suchung keineswegs  lauge  zu  quälen.  Die  Crepitation  kann  fehlen  oder 
sehr  undeutlich  sein;  sie  entsteht  natürlich  nur  dann,  wenn  die  Frag- 
mente bewegt  werden  können,  und  wenn  sie  ziemlich  nahe  an  einander 
liegen;  verschieben  sie  sich  seitlich  in  hohem  Maasse,  oder  gehen  durch 
Muskelcontraction  sehr  weit  auseinander,  oder  liegt  viel  Blut  zwischen 
den  Bruchenden,  so  kann  begreiflicher  Weise  keine  Crepitation  entstehen, 
auch  ist  sie  bei  sehr  tief  liegenden  Knochen  oft  schwer  zu  erzeugen. 
Wenn  man  also  keine  Crepitation  wahrnimmt,  so  beweist  dies  dem  ge- 
sammten  Symptomencomplex  gegenüber  nicht,  dass  keine  Fractur  da  ist. 
Docli  auch  wenn  Sie  Crepitation  fühlen,  können  Sic  noch  irren  in  Bezug 
auf  die  Entstehung  derselben;  ein  Gefühl  der  Reibung  können  Sie  auch 
bei  anderen  Gelegenheiten  bekommen;  unter  gewissen  Verhältnissen 
kann  z.  B.  das  Zerdrücken  von  Blutcoagulis  und  Fibrinexsudationen  das 
Gefühl  der  Crepitation  darbieten;  diese  weiche  Crepitation,  die  dem 
pleuritischen  Reibungsgeräusch  analog  ist,  dürfen  und  werden  Sie  bei 
einiger  Uebung  im  Untersuchen  nicht  mit  der  Kuochencrepitation  ver- 
wechseln; ich  werde  Sie  bei  Gelegenheit  noch  auf  andere  Aveiche 
Reibungsgeräusche,  die  zumal  im  Schultergelenk  bei  Kindern  und  älteren 


][Qg  Von  den  einfachen  Knochenbrüchen. 

Leuten  vorkommen,  aufmerksam  machen.  —  Für  den  Geübten  kann  bei 
gewissen  Fracturen  der  auf  einen  bestimmten  Punkt  fixirte  heftige 
Schmerz  für  die  richtige  Diagnose  genügen,  zumal  da  bei  einfachen 
Contusionen  der  Schmerz  beim  Angreifen  des  Knochens  meist  diffuser, 
selten  so  heftig  ist  wie  bei  einer  Fractur.  Untersucht  mau  an  den 
Extremitäten,  so  umfasst  man  dieselben  am  besten  mit  beiden  Händen 
an  der  Stelle,  wo  man  den  Bruch  vermuthet,  und  sucht  hier  eine  Be- 
wegung zu  machen;  man  übt  diese  Manipulation  sicher,  aber  natürlich 
ohne  rohe  Gewalt  aus.  —  lieber  die  Dislocation  der  Fragmente 
muss  ich  noch  etwas  nachholen;  dieselbe  kann  sehr  verschiedenartig 
sein ,  dennoch  aber  lassen  sich  die  Verschiebungen  in  gewisse  Arten 
theilen,  die  von  Alters  her  mit  bestimmten  heute  noch  gebräuchlichen 
Terminis  techuicis  bezeichnet  sind,  mit  denen  ich  Sie  daher  behelligen 
muss.  Die  einfach  seitliche  Verschiebung  der  Fragmente  nennt  man 
Dislocatio  ad  latus;  bilden  die  Fragmente  einen  Winkel  wie  ein 
geknickter  Stab,  so  heisst  dies  Dislocatio  ad  axin.  Ist  ein  Fragment 
um  seine  Axe  mehr  oder  weniger  gedreht,  so  sagt  man  dazu:  Dislocatio 
ad  peripher! am;  sind  die  Bruchenden  eins  am  andern  in  die  Höhe 
geschoben,  so  ist  dies  eine  Dislocatio  ad  longitudinem.  Die  Aus- 
drücke sind  kurz  und  bezeichnend  und  leicht  zu  merken,  zumal  wenn 
Sie  sich  durch  ein  paar  schematische  Zeichnungen  die  Verschiebungen 
darstellen. 

Wir  gehen  jetzt  zur  Schilderung  des  Verlaufes  über,  welchen  die 
Fracturheilung  weiterhin  nimmt.  Was  geschieht,  wenn  kein  Verband 
angelegt  wird,  Averden  Sie  selten  zu  beobachten  Gelegenheit  haben,  da 
die  Verletzten  in  den  meisten  Fällen  bald  den  Arzt  rufen  lassen.  Doch 
zuweilen  wird  von  den  Laien  die  Bedeutung  der  Verletzung  unterschätzt; 
es  gehen  mehre  Tage  darüber  hin,  bis  endlich  Schmerzhaftigkeit  und 
Dauer  des  Leidens  den  Kranken  veranlassen,  sich  an  den  Arzt  zu 
wenden.  In  solchen  Fällen  finden  Sie  ausser  den  früher  schon  angege- 
benen Symptomen  der  Fractur  ein  starkes  Oedem,  selten  entzündliche 
Röthung  der  Haut  in  der  Umgebung  der  Bruchstelle;  die  Untersuchung 
kann  unter  solchen  Umständen  sehr  schwierig  werden;  zuweilen  ist 
die  Anschwellung  so  bedeutend,  dass  an  eine  exaete  Diagnose  über 
Verlauf  und  Art  der  Fractur  gar  nicht  zu  denken  ist.  Je  früher  mau 
also  zu  einer  Fractur  hinzukommt,  um  so  besser  ist  es.  —  An  Knochen, 
die  oberflächlich  liegen,  und  die  man  nicht  mit  einem  Verband  umgeben 
kann,  lassen  sich  die  weiteren  äusseren  Veränderungen  an  der  Bruch- 
stelle am  besten  studiren;  so  beim  Bruch  des  Schlüsselbeins.  Hat  nach 
7 — 9  Tagen  die  entzündlich-ödematöse  Schw^ellung  der  Haut  abgenommen, 
das  Blutextravasat  seine  Verfärbungen  durchgemacht,  und  schickt  es 
sich  zur  Resorption  an,  so  bleibt  eine  feste  unbeweglich  um  die  Bruch- 
stelle liegende  Geschwulst  von  derber  Consistenz  zurück,  die  je  nach  der 
Dislocation  der  Fragmente  grösser  oder  kleiner  ist;  sie  ist  gleichsam  um 


Vorlesung  14.      Capitel  V.  ■  199 

die  Fragmente  hermugegossen  und  wird  im  Laufe  der  folgenden  8  Tage 
knorpelliart;  man  nennt  dien  den  Oallus.  Druck  auf  denselben  (die 
Fragmente  sind  nur  schwer  durchzufühlen)  ist  noch  schnicrzhaft,  wenn- 
gleich weniger  als  früher.  Später  wird  der  Calius  absolut  fest,  die 
Bruchenden  sind  nicht  meiir  l)eweglicli,  die  Fractur  ist  als  geheilt  zu 
betrachten;  dies  dauert  bei  der  Clavicula  etwa  3  Wochen,  bei  kleineren 
Knochen  kürzere,  bei  grösseren  viel  längere  Zeit.  Hiermit  sind  Jedoch 
die  äusseren  Veränderungen  nicht  beendet;  der  Calius  bleibt  nicht  so 
dick  wie  er  war;  im  Verlauf  von  Monaten  und  Jahren  wird  er  noch 
wieder  dünner,  und  wenn  keine  Dislocation  der  Fragmente  bestand,  so 
wird  man  später  gar  nichts  an  dem  Knochen  bemerken;  Ijestand  eine 
Dislocation,  die  bei  der  Behandlung  nicht  gehoben  werden  konnte,  so 
heilen  die  Knochenenden  schief  zusammen  und  nach  Schwund  des  Calius 
bleibt  der  Knochen  krumm. 

Um  zu- erfahren,  welche  Vorgänge  hier  in  der  Tiefe  Platz  greifen, 
wie  hier  die  Verwachsung  der  Brucheuden  vor  sich  geht,  greifen  w^ir  zu 
Experimenten  an  Thieren;  wir  machen  künstlich  Fracturen  an  Hunden 
oder  Kaninchen,  legen  einen  Verband  an,  tödten  die  Thiere  zu  verschie- 
denen Zeiten  und  untersuchen  dann  die  Fractur ;  so  können  wnr  uns  eine 
vollkommene  Anschauung  von  den  Vorgängen  verschaffen..  Diese  Ex- 
perimente sind  schon  unzählige  Male  gemacht  worden,  die  Resultate  sind 
im  Wesentlichen  stets  gleich,  doch  bieten  sich,  wenn  wir  nur  zunächst 
beim  Kaninchen  stehen  bleiben,  einige  Verschiedenheiten  dar,  w-elche, 
wie  sich  bei  einer  grossen  Keihe  von  Experimenten  herrausstellt,  von 
dem  Grade  der  Dislocation  und  von  der  Grösse  des  Blutextravasats 
abhängig  sind.  Ehe  ich  Hmen  daher  eine  Suite  solcher  Präparate 
zeige,  muss  ich  Ihnen  das  Gesammtresultat  dieser  Untersuchungen 
vorlegen  und  durch  einige  schematische  Zeichnungen  erläutern,  dann 
werden  Sie  später  die  kleinen  Modificatlonen  an  den  Präparaten  leicht 
verstehen. 

Wir  halten  uns  zunächst  an  das,  was  wir  mit  freiem  Auge  und  etwa 
mit  der  Lupe  sehen.  Untersuchen  Sie  3 — 4  Tage  nach  der  Fractur  das 
Kauinehenbein  und  sägen  den  in  einen  Schraubstock  gespannten  Knochen 
der  Länge  nach  durch,  so  finden  Sie  Folgendes:  die  Weichtheile  rund 
herum  um  die  Fracturstelle  sind  geschwollen,  elastisch  fest  anzufühlen: 
die  Muskeln  und  das  Unterhautzellgewebe  von  speckigem  Aussehen; 
diese  geschwollenen  Weichtheile  bilden  eine  spindelförmige,  nicht  sehr 
dicke  Geschwulst  um  die  Fracturstelle.  Um  die  Bruchenden  herum  findet 
man  etwas  extravasirtes  Blut  von  dunkler  Farbe,  auch  die  Markhöhle 
des  Knochens  ist  an  den  Bruchenden  etwas  blutig  infiltrirt;  die  Menge 
dieses  ausgetretenen  Blutes  ist  sehr  verschieden,  bald  sehr  unbedeutend, 
bald  ziemlich  erheblich;  das  Periost  ist  an  den  Brucheuden  wohl  zu 
erkennen  und  hängt  mit  den  andern  geschwellten  (plastisch  iufiltrirteu) 
Weichtheilen    inniger  zusammen;    zuweilen    ist    es   an   den  Brucheuden 


-  200 


Von  den  einfachen  Knochenbrüc-hen. 


etwas  vom  Knochen  abgelöst.  —  Das  Bild  stellt  sieh  also  im  Ganzen 
etwa  in  folgender  Weise  dar  (Fig.  49): 

,,,  Untersuchen  wir  jetzt  eine  Fractur  beim 

hiEf.     41).  "^ 

Kaninchen  nach  10 — 12  Tagen,  so  finden  wir, 
dass  das  Extravasat  entweder  ganz  verschwun- 
den, oder  nur  nocu  in  geringen  Resten  vorhan- 
den ist,  wobei  ich  dahin  gestellt  sein  lasse,  ob 
es  wirklich  total  resorbirt,  oder  theilweis  mit  zu 
Callus  organisirt  wird ;  die  spindelförmige  An- 
schwellung der  Weichtheile  hat  zum  grössten 
Theil  Aussehen  und  Consistenz  von  Knorpel, 
verhält  sich  auch  mikroskopisch  so;  auch  in 
der  Markhöhle  finden  wir  junge  Knorpelbildung 
in  der  Nähe  der  Fractur.  Der  gebrochene 
Knochen  steckt  in  diesem  Knorpel  so,  als  wenn 
man  die  beiden  Fragmente  in  Siegellack  ge- 
taucht und  zusammengeklebt  hätte ;  das  Periost 
ist  in  der  Knorpelmasse  noch  leidlich  deutlich 
kenntlich,  doch  ist  es  geschwellt  und  seine 
Conturen  sind  verwischt.  Wenngleich  schon 
jetzt  junger  Knochen  im  Callus  gebildet  ist,  so  kann  derselbe  in  diesem 

Stadium  doch  nur  mit  dem  Mikroskop 
erkannt  werden;  mit  freiem  Auge  sieht 
man  nur  Spuren  von  Knocheubildung; 
erst  nach  einigen  Tagen  (etwa  am  14. 
bis  20.  Tage  nach  der  Fractur)  nimmt 
man  dieselbe  auch  mit  unbewaffnetem 
Auge  ganz  deutlich  wahr.  Man  erkennt 
nun  (s.  Fig.  50)  in  der  Nähe  der  Bruch- 
enden jungen  weichen  Knochen  und  zwar 
1)  in  der  Markhöhle  (a),  2)  unmittelbar 
auf  der  Corticalschicht  (6),  und  zwar 
ziemlich  weit  nach  oben  und  unten,  unter 
dem  Periost,  welches  in  der  ganzen 
spindelförmigen  Callusgeschwulst  aufge- 
gangen ist;  3)  in  der  Peripherie  des  zum 
grössten  Theil  noch  knorpligen  Callus 
(c).  Das  Periost,  w-elches  früher  inner- 
halb des  Callus  lag,  ist  jetzt  verschwun- 
den, dafür  hat  sich  aussen  auf  dem  Callus 
eine  verdickte  Gewebsschicht  gebildet, 
welche  das  neue  Periost  darstellt  (r/). 
Die  junge  Knochenmasse  ist  weich,  weiss 
und    in    ihr    ist    eine   Art    von    Structur 


4  Tage  alte  Fractur  eines 
Kaninchenknochens  ohne  Dis- 
location.  Längsschnitt;  na- 
türliche Grösse,  a  Blutextra- 
vasat;  b  geschwollene  Weich- 
theile, äusserer  Callus ; 
c  Periost. 


Fi^.  50. 


15  Tage  alte  Fractur  eines  Röhren- 
knochens. Längsschnitt.  Nach  einem 
Präparat  schematisirte  Zeichnung. 
a  Innerer  Callus;  b  innere,  c  äussere 
Verknöcherungsschicht  des  äusseren 
Callus;  d  neues  Periost.  Die  Di- 
mensionen des  Callus  sind  im  Ver- 
hältniss  zur  fehlenden  Dislocation  der 
Fragmente  viel  zu  gross  gezeichnet; 
doch  erleichtert  dies  das  vorläufige 
Verständniss. 


Vorlesung   II.      Capilel   V. 


201 


Fiff.  51. 


sichtbar,  indem  iiiimlicli  kleine,  |)anillcl  liegende  Knochenstiiekclien,  der 
Queraclise  des  Knochens   cnts[)rechend ,   znnial    I)ei    der  Betrachtung-  mit 
der    Lupe    deutlich    zu    erkennen    sind.       Der     aus    den    sämmtlichen 
undiegenden  Weichtheilen  hervorgegangene  knorplige  Callus,  in  welchem 
auch    das    Periost    mit  einbezogen  ist,    bihlct  jetzt    ein   abgeschlossenes 
Ganze   und  verknöchert   nun    theils    von    aussen    (c),    theils    von    innen 
(6)    vollständig,    i»is    endlich   die  Knochenenden    im    knöchernen    Callus 
stecken,    wie   sie  vorher    im   knorpeligen   steckten.     Diesen   knöclicrnen 
Callus,    der  durchweg    aus  spongiöser  Knochensubstanz   besteht,    nennt 
man    nach  Dupuytren    den    „provisorischen   Callus";    mit    seiner 
Vollendung   ist  in    den    meisten    Fällen   der    Knochen   fest    genug,    um 
wieder    functionsfähig    zu    werden.     Doch   ebensowenig    wie    die    kaum 
fertige   Narbe   der   Weichtheile    ein   stabiles   Gewebe    ist,    ebensowenig 
bleibt  der  Callus    so  wie   er  jetzt  ist;    eine  Reihe   von  Veränderungen 
gehen  im  Verlauf  von  Monaten   und  Jahren   in  ihm  vor;    denn  bis  jetzt 
können   Sie  immer   noch    das   Bild   der  yiegellackverklel)ung    anziehen, 
und  das  ist  eigentlich  noch  keine  wahre  organische  Verschmelzung.     Die 
starre   Corticalsubstauz  ist   nur  durch  lockere  junge  Knochenmasse  bis 
jetzt  verbunden,    die  Markhöhle  ist  mit  Knochen  verstopft;    die  Heilung 
ist  noch  keine  solide,   die  Natur  thut  weit  mehr.     Die  Veränderungen, 
welche    in    der   Folge    vor    sich    gehen, 
wollen  wir  jetzt  studiren:    sie  beziehen 
sich  auf  die  spongiöse  Substanz  des  Callus. 
Diese  hört  zu  einer  bestimmten  Zeit  auf, 
sich  zu  vergrössern,   und  verändert  sich 
nun  in  der  Weise,  dass  einerseits  die  in 
der  Markhöhle  gebildete  Knochensubstanz 
resorbirt  wird  (Fig,  51),  andrerseits  auch 
von  dem  äusseren  Callus  ein  grosser  Theil 
verschwindet.    Unterdessen  ist  auch  eine 
Neubildung  von  Knochen  zwischen  der 
durchgebrochenen  Corticalschicht    einge- 
treten,  so  dass  diese  solide  verwachsen 
ist,  wenn  der  äussere  und  innere  Callus 
schwindet.    Diese  verbindende  Knochen- 
substanz zwischen  den  Fragmenten  selbst 
nimmt  allmählig  an  Dichtigkeit  in  einem 
solchen  Maasse  zu,   dass  eine  Härte  des 
Knochens  wieder  erreicht  wird,   wie  sie 
sich  sonst  in  der  normalen  Corticalsubstanz  findet.    Auf  diese  Weise  wird 
also,  falls  keine  oder  nur  eine  unbedeutende  Verschiebung  der  Fragmente 
vorhanden  war,  der  Knochen  bis  zu  einem  solchen  Grade  vollständig  Avieder 
hergestellt,    dass    man    weder    am    lebenden  Individuum   noch    bei    der 
Untersuchung  des  Präparats  die  Fracturstelle  zu  bezeichnen  weiss. 


Fractur  eines  Kaninchenknoeheiis 
nach  24  Wochen.  Längsschnitt. 
Fortschreitender  Resorptionsprocess 
des  Calhis.  Neubildung  der  Mark- 
höhle; natürliche  Grösse  (nach  Gurlt). 


202  ^on  den  einfachen  Knoehenbrüchen. 

Die  beschriebenen  Veränderungen  bilden  sich  bei  einem  Röhren- 
knochen des  Kaninchens,  welcher  mit  möglichst  geringer  Dislocation 
geheilt  ist,  in  etwa  26—28  Wochen  aus,  dauern  jedoch  bei  den  Röhren- 
knochen des  Menschen  bedeutend  länger,  so  weit  man  im  Stände  ist, 
dies  aus  Präparaten,  die  man  zufällig  hier  und  da  zu  untersuchen  be- 
kommt, zu  erschliessen. 

Der  ganze  Vorgang,  so  vortrefflich  von  der  Natur  eingerichtet,  ist 
im  Wesentlichen  auf  Processe  zurückzuführen,  die  wir  auch  bei  der 
normalen  Entwicklung  der  Röhrenknochen  beobachten,  indem  nämlich 
auch  dort  ganz  ähnliche  Resorptious-  und  Verdichtungsprocesse  in  der 
Markhöhle  und  Corticalschicht  der  Röhrenknochen  vor  sich  gehen,  wie 
wir  sie  soeben  am  Callus  kennen  gelernt  haben.  Es  giebt  ausser  der 
Regeneration  der  Nerven  keine  so  vollständige  Wiederherstellung  eines 
zerstörten  Theiles  des  menschlichen  Körpers,  als  wie  Avir  sie  am  Knochen 
kennen  gelernt  haben. 

Noch  einige  Bemerkungen  muss  ich  über  die  Heilung  platter  und 
spongiöser  Knochen  hinzufügen.  Was  die  ersteren  betrifft,  von  denen 
wir  am  häufigsten  die  Heilung  von  Fissuren  an  Schädelknochen  zu 
beobachten  Gelegenheit  haben,  so  ist  bei  ihnen  die  Entwicklung  des 
provisorischen  Callus  äusserst  gering  und  scheint  zuweilen  selbst  ganz 
zu  fehlen.  Bei  der  Scapula,  wo  eher  Dislocationen  kleiner,  halb  oder 
ganz  ausgeschlagener  Fragmente  vorkommen,  bilden  sich  schon  leichter 
äussere  Callusbildungen,  wenngleich  sie  auch  hier  niemals  eine  irgend- 
wie erhebliche  Dicke  erreichen.  —  Die  Aneinanderheilung  der  spongiösen 
Knochen,  bei  denen  in  der  Regel  auch  keine  grosse  Dislocation  Statt  zu 
finden  pflegt,  ist  ebenfalls  mit  geringerer  äusserer  Callusentwicklung 
verbunden,  als  bei  den  Röhrenknochen,  während  dagegen  die  Räume  der 
spongiösen  Substanz  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Fractur  mit  Kuochen- 
substanz  ausgefüllt  werden,  von  der  später  allerdings  ein  Theil  wieder 
verschwindet. 

Etwas  complicirter  werden  sich  begreiflicher  Weise  die  Verhältnisse 
gestalten  müssen,  wenn  die  Knochenenden  sehr  stark  dislocirt  sind,  oder 
wenn  einzelne  Fragmente  ganz  ausgebrochen  und  zugleich  dislocirt  sind. 
In  solchem  Falle  entsteht  theils  von  der  ganzen  Oberfläche  der  dislo- 
cirten  Knochenstücke  und  von  der  Markhöhle  aus,  theils  auch  in  den 
Weichtheilen  zwischen  den  Fragmenten  eine  so  reichliche  Callusentwick- 
lung, dass  hierdurch  die  gesammten  Fragmente  in  einer  gewissen  Lauge 
von  Knochenmasse  umgeben  und  organisch  zusammengelöthet  werden. 
Je  grösser  durch  die  Dislocation  der  Fragmente  der  Reizungsbezirk  wird, 
um  so  ausgedehnter  die  formative  Reaction. 

Man  hat  am  häufigsten  Gelegenheit,  die  Callusbildung  von  stark 
dislocirteu  Fracturen  an  der  Clavicula  beim  Menschen  zu  beobachten, 
wobei  sich  leicht  herausstellt,  dass  mit  der  Grösse  der  Disloca- 
tionen auch  der  Umfang  der  neugebildeten  Knochensubstanz 


Vorlesung  14.      Capitel  V. 


203 


Fig.  52. 


Fig.  .5;'). 


Stark  dislocirte,  27  Tage  alte  Fraetur 
einer  Kaninchen -Tibia  mit  reichlicher 
äusserer  Callusbildung;  natürliche  Grösse; 
nach  Skutsch  bei  Gurlt  (Knochen - 
brüche  Bd.  I.  pag.  270). 


Alter  geheilter  Schrägbruch  der 
Tibia  vom  Menschen;  die  Frag- 
mentenden durch  Resorption  ab- 
gestumpft, der  äussere  Callus  re- 
sorbirt;  die  Markhöhlenbildung 
unvollendet;  verkleinert;  nach 
Gurlt  1.  c.  pag.  287. 


in  gradem  Verhältniss  zunimmt.  Sie  begreifen  wohl,  wie  auf 
diese  Weise  mit  grossem  Aufwand  von  neugebildeter  Knochensubstanz 
eine  vollständige  Festigkeit  selbst  bei  einer  grossen  Unförmlichkeit  an  der 
gebrochenen  Stelle  zu  Stande  kommen  kann.  Doch  glaubt  man  kaum, 
ohne  sich  an  derartigen  Präparaten  zu  überzeugen,  dass  im  Verlauf  der 
Zeit  auch  in  solchen  Fällen  die  Natur  die  Mittel  besitzt,  durch  Resorptions- 
und Verdichtungsprocesse  nicht  allein  die  äussere  Form  des  Knochens 
(mit  Ausnahme  der  Biegung  und  Drehung),  sondern  auch  eine  Markhöhle 
wieder  herzustellen.  Eine  grosse  Menge  von  Spitzen,  Höckern,  Uneben- 
heiten und  Rauhigkeiten  aller  Art,  welclie  sich  an  dem  noch  jungen 
Callus  in  solchen  Fällen  vorfinden,  verschwinden  im  Laufe  von  Monaten 
und  Jahren  in  solchem  Maasse,  dass  auch  hier  nur  eine  etwas  verdickte, 
compacte  Corticalsubstanz  übrig  bleibt.     (Fig.  53.) 


Es  ist  von  Interesse,  nachzuspüren,  woher  denn  eigentlich  die  neu- 
gebildete Knochensubstanz  kommt,  durch  welche  hier  so  vollständige 
Resultate  in  Betreff  der  Knochenvereinigung  erreicht  werden;  ist  es  der 
Knochen  selbst,  ist  es  das  Periost,  sind  es  die  umliegenden  Weichtheile, 
welche  die  neugebildete  Knochenmasse  produciren?  oder  verwandelt  sich 


204 


Von  den  einfachen  Knochenbviichen. 


gar  das  Blutextravasat  in  Knochen,  wie  es  von  älteren  Beobachtern  be- 
hauptet worden  ist?  Muss  stets  der  Knochenbildung  die  Knorpelbildung 
vorausgehen,  oder  ist  dies  nicht  nöthig?  Das  sind  Fragen,  die  bis  auf 
die  neueste  Zeit  sehr  verschieden  beantwortet  sind.  Zumal  hat  man  dem 
Periost  bald  eine  bedeutende  Knochen  producirende  Kraft  zugesprochen, 
bald  dieselbe  verneint.  Ich  will  Ihnen  im  Folgenden  kurz  das  Eesultat 
meiner  Untersuchungen  über  diesen  Gegenstand  mittheileu. 

Die  Neubildung,  welche  nach  der  Fractur  entsteht,  findet  sich  in  dem  Mark  und  in 
den  Haversischen  Canälen  des  Knocliens,  im  Periost  und  in  den  nahegelegenen  Muskeln  und 
Sehnen  infiltrirt;  ob  auch  das  Blutextravasat  zur  Callusbildung  beiträgt,  muss  ich  dahin 
gestellt  sein  lassen;  ein  grosses  Extravasat  stört  hier,  wie  hei  der  Heilung  von  Weich- 
theilwunden,  da  nur  ein  kleiner  Theil  organisirt  wii'd,  der  grösste  Theil  aber  resorbirt 
werden  muss.  Die  entzündliche  Neubildung  selbst  besteht  auch  hier  zuerst  aus  kleinen 
rundlichen  Zellen,  deren  Zahl  sich  massenhaft  vermehrt,  und  welche  die  genannten  Ge- 
webe infiltriren,  dann  fast  ganz  an  ihre  Stelle  treten.  Ehe  wir  das  Schicksal  dieser 
Zellenbildung  weiter  verfolgen,  muss  ich  kurz  darauf  eingehen,  wie  dieser  Vorgang 
sich  in  den  Haversischen  Canälen  gestaltet;  die  Zelleninfiltration  im  Bindegewebe 
des  Knochenmarks  bietet  nichts  Besonderes  dar,  nur  dass  die  Fettzellen  des  Markes  in 
dem  Maasse  schwinden,  als  die  Wanderzellen  das  Terrain  erobern.  Denken  Sie  sich 
unter  folgender  Figur  (Fig.  54)  die  Oberfläche  des  Knochens  in  der  Nähe  einer  Fractur; 
die  Haversischen  Canäle  münden,  wie  Sie  wissen,  an  die  Oberfläche  der  Knochen,  in 
ihnen  liegen  Blutgefässe,  um  dieselben  etwas  Bindegewebe. 

Fig.  54. 


Längsschnitt    durch    ein    Stück    Corticalschicht   eines   Köhrenknochens    in    der   Nähe    einer 

Fractur.     a  Oberfläche;  ö  Haversische  Canäle  mit  Blutgefässen  und  Bindegewebe;  c  Periost. 

Schematische  Zeichnung.     Vergrösserung  400. 


Es  treten  zunächst  massenhaft  Zellen  zwischen  den  Biudegewehsbündeln  in  den 
Haversischen  Canälen  auf;  würde  diese  Zelleninfiltration  eine  sehr  rapide  sein,  so  müssten 
dadurch  die  Blutgefässe  vollständig  cumprimirt  Averdcn  und  der  Knochen  würde  hier  ab- 
sterben, ein  Vorgang,  den  i'rir  später  noch  kennen  lernen  werden.  Erfolgt  aber  die 
Zellenvermehrung  in  den  Haversischen  Canälen  -langsam,  so  geht  eine  allmählige  Resorption 
der  Wandungen  dieser  Canäle,  und  zwar,  wie  es  scheint,  durcli  die  ontzttndiicho  Neu- 
bildung selbst  vor  sich,  die  Canäle  werden  weiter,  von  Zellen  ausgefüllt,  und  zugleich 
vermehren  sich  die  Blutgefässe  durch  Schlingenbildungen. 

Nach  den  Beobachtungen  von  Cohnheim  können  wir  annehmen,  dass  auch  beider 
Knochenentzündung  die  jungen  Zellen  in  den  Haversischen  Canälen  nicht  alle  neugebildet 


Vin-losunf;   14.      Ciipilel  V. 


205 


sind,    sondern    zum    grosscMi    'JMicil    uns    den    Bliilgi^rilsscn    uiisgetrolcne    weisse   liliiiy.cllcii 
sind.     Dies  ändert  für  den  weiteren  Verlauf  niclils. 

Wenden  wir  uns  den  Formverändeningen  zu,  welelie  wir  nun  .•ui  d(U)i  Knochen- 
gewebe beobaeliten !  Da  das  Bindegewebe  der  KnoclKMieanäle  sowohl  iiiil  dem  Periost 
als  mit  dem  Mark  in  eontiiniirliehem  Zusammenhange  slclit,  so  iiäiigt  auch  die  Zelleii- 
infiUration,  weleiie  im  Knoehen,  Periost  und  Mark  erfolgt,  sofort  continnirlieh  zusammen. 
Die  Ursaehe  des  Knoehenschwundes  an  den  Wandungen  der  Haversisehen  Canäle ,  die 
Lei  dieser  wie  bei  vielen  anderen  Neubildungen  im  Knochen  Statt  findet,  ist  sehr  schwierig 
zu  erklären;  dass  das  Bindegewebe  und  die  Muskelsubstanz,  so  wie  andere  weiche  Ge- 
bilde schwiudon,  wenn  die  entzündlii.-he  Neubildung  in  ihnen  Platz  greift,  frappirt  weniger; 
dass  aber  die  harte  Knochenmasse  dabei  aufgelöst  wird,  ist  freilich  sehr  auffallend.  Das 
Bild,  wie  es  sich  nadi  diesem  Vorgang  schematisch  darstellt,  ist  folgendes  (Fig.  55): 

Fig.  55. 


Entzündliche   Neubildung   in    den    Haversisehen    Ganälen.      a   Oberi3äche;    hh   Haversiscbe 

Canäle,  erweitert,  mit  Zellen   und  neuen  Gefässen  erfüllt;   c  Periost. 

Schematische  Zeichnung.     Vergrösserung  400. 


Sie  sehen,  dass  die  Erweiterung  der  Knochencanäle  keine  gleichmässige  ist,  sondern 
eine  buchtige;  der  Knochen  erscheint  wie  ausgenagt;  dies  ist  nicht  nothwendig  immer  so, 
sondern  der  Schwund  des  Knochens  kann  auch  ein  mehr  gleichmässiger  sein;  diese  Aus- 
buchtungen entstehen  hier  meiner  Ansieht  nach  durch  gnippenweise  Anhäufung  von  Zellen, 
meist  Eiesenzellen,  wie  man  sie  auch  im  Mark  normaler  junger  Knochen  findet  und  die 
nach  Wegner's  Beobachtungen  häufig  aus  den  Gefässwandungen  hervorwachsen,  oder 
durch  die  Gefässschlingen  selbst,  welche  sich  gegen  das  Knochengewebe  vorschieben 
und  es  dabei  zum  Schwund  bringen.  Virchow  und  Andere  sind  der  Ansicht,  dass 
diese  Buchten  den  Ernährungsterritorien  einzelner  Knochenzellen,  welche  bei  diesem 
Process  zur  Resorption  des  Knochens  mitwirken  sollen,  entsprechen;  ich  glaube  dies 
dadurch  widerlegt  zu  haben,  dass  ich  den  Beweis  lieferte,  dass  auch  todte  Knochen- 
stücke und  Elfenbein  in  gleicher  Weise  von  der  entzündlichen  Neubildung  angegriffen 
werden,  wovon  mehr  bei  der  Besprechung  der  Pseudarthrosen.  —  Wodurch  die  Lösung 
der  Kalksalze  des  Knochens  bei  dieser  Resorption  erfolgt,  ist  bis  zur  Zeit  unbekannt;  für 
wahrscheinlich  halte  ich  es,  dass  die  Neubildung  im  Knochen  Milchsäure  entwickelt,  dass 
dadurch  der  kohlensaure  und  phosphorsaure  Kalk  in  löslichen  milchsaurem  Kalk  umge- 
wandelt, nnd  dieser  durch  die  Gefässe  resorbirt  und  fortgeführt  wird;  dies  ist  jedoch 
nur  Hypothese.  Es  wäre  auch  möglich,  dass  durch  die  entzündliche  Neubildung  zu- 
nächst die  organische  Gi'undlage  des  Knochens,  der  sogenannte  Knochenknorpel,  aufgelöst 
würde,  worauf  daiyi  eine  leichte  Zerbröckelung  der  Kalksubstanz  erfolgen  müsste ,;- deren 
Moleküle  eventuell  selbst  in  ungelöstem  Zustande  abgeführt  werden  könnten.  Mit  so 
vielen    Chemikern   und   Physiologen   ich   auch  über   diesen  Gegenstand   gesprochen   habe, 


206  ^'^'^'1  '^^'i  einfachen  Knnchenbrüchen. 

so  hat  mir  doch  Keiner  bisher  eine  einfache  Erklärnng  dieses  Vorganges  geben ,  auch 
Keiner  eine  Methode  des  Experimentirens  angeben  können,  dnrch  welche  man  die  be- 
treffende Frage  sicher  zu  lösen  im  Stande  wäre. 

Denken  Sie  in  den  vorgeführten  Abbildungen  an  Stelle  der  Knochenobei-fläche  die 
Bruchfläche,  wo  natürlich  kein  Periost  aufliegt,  so  werden  Sie  verstehen,  wie  aus  dieser 
Bruchfläche  in  der  beschriebenen  Weise  die  Neubildung  (der  junge  Callus)  aus  den 
Haversischen  Canälen  herauswächst,  der  gleichen  Neubildung  von  dem  andei-n  Fragment 
her  begegnet  und  mit  dieser  verschmil'zt,  wie  bei  der  Zusammenheilung  weicher  Theile. 
Es  ist  von  selbst  klar,  dass  der  auf  diese  Weise  von  der  entzündlichen  Neubildung  duroli- 
wachsene  Knochentheil  in  Folge  der  Eesorption,  welche  an  den  Wandungen  der  Canäle 
Statt  hat,  porös  werden  muss;  maceriren  Sie  einen  Knochen  in  diesem  Stadium,  so  dass 
die  ganze  junge  Neubildung  herausfault,  so  muss  der  trockne  Knochen  da  wo  ihm  aussen 
und  im  Mark  junge  Knochenmasse  angelagert  ist ,  bis  auf  eine  wenn  auch  meist  sehr 
geringe  Tiefe  porös  sein. 

Ich  muss  nochmals  hervorheben,  dass  wir  hier  in  Zeichnungen  und  Darstellung  der 
Deutlichkeit  wegen  die  Ausdehnung  der  Callusbvldung  weit  grösser  angenommen  haben, 
als  sie  in  Wirklichkeit  zu  sein  pflegt,  und  da§s  auch  hier  wie  bei  den  Weichtheilver- 
letzungen  die  regenerativen  Vorgänge  nach  einfachem  Trauma  sich  unter  normalen  Ver- 
hältnissen nicht  sehr  weit  und  nicht  sehr  tief  zu  erstrecken  pflegen,  sondern  eben  nur 
das  zur  Heilung  Nothwendige,  äusserst  selten  einen  Ueberschuss  leisten. 

Wir  haben  in  dieser  ganzen  Darstellung  der  Knochenzellen  oder  sternförmigen 
Knochenkörperchen  nicht  erwähnt;  ich  habe  die  Ueberzeugung,  dass  sie  bei  diesen  Vor- 
gängen ebenso  wenig  eine  Rolle  spielen  wie  die  fixen  Bindegewebszellen  im  Entzündungs- 
heerd,  dass  sie  vielmehr  mit  dem  Knochengewebe,  wie  in  anderen  weichen  Geweben  ' 
bei  einer  gewissen  Höhe  des  Entzündungsprocesses  aufgelöst  werden  und  keinen  Antheil 
an  der  entzündlichen  Neubildung  im  Knochen  haben.  lieber  diesen  Punkt  herrschen 
Meinungs-Differenzen,  indem  von  manchen  Forschern  angenommen  wird,  dass  die  Knochen- 
zellen in  den  sternförmigen  Knochenlücken  selbst  sich  theilen  und  das  Callusgewebe  liefern, 
wobei  natürlich  das  Knochengewebe  in  der  unmittelbaren  Umgebung  der  Knochenkörperchen  ^ 
schwinden  muss.  Ich  gebe  dies  für  die  weichereu  periostalen  Knochenschichten  wachsender 
Thiere  unbedingt  zu;  dass  es  bei  dem  fertigen  Corticalgewebe  ausgewachsener  Eöhren- 
knochen,  mit  dem  wir  uns  hier  beschäftigen,  vorkommt,  scheint  mir  nicht  bewiesen. 

Wir  kennen  bis  jetzt  diese  Neubildung-  nur  in  dem  Zustand,  in 
welchem  sie  wesentlich  aus  Zellen  und  Gefässen  besteht,  wie  unter 
gleichen  Verhältnissen  an  den  Weich  theilen;  würde  jetzt  wie  dort  die 
Kückbildung-  in  eine  Bindegewebsnarbe  erfolgen,  so  würden  wir  keine 
solide  Knoehenheilung,  sondern  eine  Bindegewebsvereinigung,  einePseud- 
arthrose  (von  ipsvdt'jg,  falsch,  agd^giooig,  Gelenk),  ein  falsches  Gelenk 
bekommen;  diesen  Ausnahmefall  besprechen  wir  später.  Unter  normalen 
Verhältnissen  verknöchert  hier  die  Neubildung  vollständig,  wie  Sie  schon 
wissen.  Diese  Verknöcherung  kann  entweder  direct  erfolgen,  oder  nach- 
dem zuvor  die  entzündliche  Neubildung  in  Knorpel  umgebildet  war.  Sie 
wissen,  dass  beim  normalen  Wachsthum  der  Knochen  auch  beides  vor- 
kommt, directe  Verknöcherung  junger  Zellen,  wie  sie  z.  B.  in  dem  Periost 
des  wachsenden  Knochens  liegen,  oder  Knorpelbildung  mit  nachträglicher 
Verkuöcherung ,  wie  bei  dem  ganzen  knorplig  präformirten  Skelet  und 
beim  Längenwachsthum  der  Knochen.  Der  Callus  bei  Fracturen  verhält 
sich  bei  Thieren  und  Menschen  in  dieser  Hinsicht  sonderbar  verschieden. 


V..il.-;mi<.;    14.      Capilvl   V. 
Fi-.  5G. 


207 


VerkiKk-hernde    entzüiulliehe  Neubildung    auf  der  Knoeheuoberfläche    und    in    den   Haver- 
sischen  Canälen.     Osteoplastiscbe  Periostitis  und  Ostitis.     Scbematische  Zeichnung. 

Vergrösserung  400. 


Der  junge  Callus  bei  Kaiiinclien  pflegt  stets  in  Knorpel  umgebildet  zu 
werden,  elie  er  verknöchert,  ebenso  bei  Kindern.  Bei  älteren  Hunden 
verknöchert  gewöhnlich  der  Callus  direct,  ebenso  beim  erwachsenen 
Menschen ;  wir  sind  weit  entfernt,  die  ursächlichen  Momente  dieser  Ver- 
schiedenheiten zu  kennen. 

Kehren  wir,  um  uns  eine  vorläufige  histologisclie  Vorstellung  von  diesen  Vorgängen 
zu  machen,  vorläufig  wiedei"  zu  unsrem  früheren  schematischen  Bilde  zurück  (Fig.  55), 
so  müssen  Sie  sich  vorstellen,  dass  die  Zellen,  welche  in  den  durch  Resorption  entstan- 
denen Lücken  der  Haversischen  Canäle  und  der  Knochenoberfläche  liegen,  sehr  bald 
verknöchern  und  zunächst  diese  Lücken  (Fig.  56)  füllen,  dann  aber  sich  auf  der  Ober- 
fläche und  im  Mark  anhäufen,  und  so  den  äusseren  und  inneren  Callus  bilden.  Eine 
Periostitis  und  Ostitis,  welche  vorwiegend  oder  ausschliesslich  zur  Bildung  von  neuem 
Knochen  führt,  nennen  wir  eine  osteoplastische;  im  vorliegenden  Fall  ist  der  Callus 
das  Resultat  einer  traumatischen    osteoplastischen  Ostitis. 

Fig.  57. 


Künstlich  injicirter  äusse- 
rer Callus  von  geringer 
Dicke  an  der  Oberfläche 
einer  Kaninchen -Tibia  in 
der  Nähe  einer  5  Tage 
alten  Fractur.  Längsschnitt. 
a  Callus;  b  Knochen.  Ver- 
grösserung 20. 


{>'    t     )    r     ^ 


^  r 


208 


Von  den  einfachen  Knochenbrüchen. 


Künstlich  injicirter  Querschnitt  der 
Tibia  eines  Hundes  aus  der  unmittel- 
baren Nähe  einer  8  Tage  alten  Fractur. 
n  innerer  Callus ;  b  äusserer;  ccCor- 
ticalschicht  des  Knochens.  Vergrösse- 
run£c  20. 


Fig.  58.  Das  Periost   geht,    wie   schon  früher   be- 

merkt, in  der  Neubildung  und  im  verknöchernden 
Callus  auf,  dafür  bildet  sich  aussen  um  den  Callus 
ein  dichtes  Bindegewebe  aus,  welches  zum  neuen 
Periost  wird.  Zur  Erläuterung  der  Vorgänge  am 
Periost  will  ich  Ihnen  noch  einige  Präparate  de- 
monstriren.  Sie  sehen  (Fig.  57)  den  eigenthümlich 
gestreckten,  fast  rechtwinklig  auf  den  Knochen 
gerichteten  Vex'lauf  der  stärkeren  Gefässstämmchen, 
welche  durch  den  jungen  äusseren  Callus  in  den 
Knochen  eintreten.  Die  V^rknöcherung  des  Callus 
tritt  zunächst  mantelartig  um  diese  Gefässe  hei'um 
ein,  und  so  entstehen  die  kleinen  Knochensäulchen, 
welche  sich  zuei'st  im  äusseren  Callus  zeigen 
(vergl.  die  Bemerkungen  zu  Fig.  50). 

Eine  gute  Uebersicht  für  die  Bildung  des 
äusseren  (periostalen)  und  inneren  (endostalen) 
Callus  gewinnen  Sie  durch  folgenden  (wenn  auch 
nicht  ganz  vollständigen)  Querschnitt  der  Tibia 
eines  Hundes,  aus  der  unmittelbaren  Nähe  einer 
8  Tage  alten  Fractur,  wobei  Sie  auch  die  Gefässe  der 
Corticalsubstanz  beachten  müssen,  die  im  Verhält- 
niss  zum  Normalen  ziemlich  erweitert  sind  (Fig.  58). 
Endlich  betrachten  Sie  noch  das  folgende 
Präparat.  Es  ist  ein  bereits  verknöcherter,  äusserer 
Callus  an  der  Oberfläche  eines  Eöhrenknochens 
in  der  Nähe  einer  Fractur  (Fig.  59). 

Fassen  wir  den  ganzen  Vorgang  noch  einmal  zusammen,  so  ergiebt 
sich,  dass  sowohl  das  Zelleninfiltrat  im  Knochen  selbst,  als  in 
sämmtlichen  umliegenden  Theilen  zur  Callusbildung  beiträgt, 
und  somit  das  Periost  dabei  keine  exclusiv  osteoplastische 
Eolle  spielt.  Man  hätte  dies  eigentlich  schon  a  priori  daraus  schliessen 
können,  dass,  falls  das  Periost  allein  den  äusseren  Callus  bildete,  wie 
man  früher  annahm,  die  periostfreien  Stellen  des  Knochens,  z.  B.  Stellen, 
wo  sich  Sehnen  am  Knochen  ansetzen,  keinen  Callus  bilden  könnten, 
was  der  Beobachtung  direct  zuwiderläuft.  Auch  bei  dem  normalen 
Wachsthum  spielt  das  Periost  keineswegs  die  ausschliesslich  osteoplasti- 
sche Rolle,  die  ihm  von  manchen  Autoren  zuertheilt  wird,  indem  man 
die  Schicht  junger  Zellen,  welche  der  Oberfläche  des  Knochens  anliegt 
und  sich  in  die  Haversischen  Canäle  fortsetzt,  mit  ebenso  viel  Recht  dem 
Knochen  als  dem  Periost  angehörig  betrachten  kann.  Neuere  Unter- 
suchungen über  Knochenwachsthum  von  J,  Wolff  machen  es  sogar  sehr 
wahrscheinlich,  dass  die  Knochen  auch  durch  interstitielle  Einlagerung 
jungen  Knochengewebes  nach  allen  Richtungen  hin  zunehmen,  und  somit 
das  Appositionswachsthum  der  Knochen  durch  die  Epiphysenknorpel 
und  das  Periost  nicht  mehr  die  einzige  Quelle  für  die  Längen-  und 
Dicken-Zunahme  der  Knochen  sein  würde;  dass  letztere  Art  des  Knoehen- 
wachsthums  zweifellos  besteht,  e-eht  zumal  auch  aus  einer  vortrefflichen 


VorlosiiiiiT    14.      Canilcl    V' 


209 


Flg.  59. 


-///: 


Verknöeliernder  Callus  an  der  Oberfläche  eines  Röhrenknochens  in  der  Nähe  einer  Fraetnr. 

Längsschnitt,  Vergrösserung    300.     Man    sieht,    dass    der   verlvnöchernde  Calhis   niclit   auf 

das  Periost  bescliränkt  ist,  sondern  zwisclien  die  Muskeln  hineinreiclit. 


Arbeit  von  Wegner  über  die  osteoplastische  Wirkung'  des  Phosphors 
auf  wachsende  Knochen  hervor,  so  wie  aus  einer  neuesten  experimentellen 
Arbeit  des  gleichen  Autors,  welche  ebenso  wie  eine  Arbeit  von  Maas 
die  Anschauungen  über  Kuochenwachsthum  von  Flourens  wieder  ganz 
in  ihre  alten  Rechte  einsetzt. 

Icli  will  Ilinen  nicht  verhehlen,  dass  die  von  mir  besonders  hartnäckig  vertheidigte 
Ansicht,  wonach  die  Knochenzellen  bei  den  Neubildungen  innerhalb  des  Knocliens  nicht 
proliferiren,  sondern  sich  ganz  passiv  verhalten,  vielfach  angegriffen  ist;  nachdem  Cohn- 
heim  die  Passivität  der  stabilen  Bindegewebskörperchen  im  Entzündungsheerd  nachgewiesen 
hatte,  befremdet  freilich  jene  von  mir  schon  vor  vielen  Jahren  ausgesprochene  und  auf 
zahlreiche  Beobachtungen  gegrihidete  Ansicht  nicht  melir;  dennoch  ist  die  Deutung  der 
betreffenden  Präparate  nicht  immer  so  einfach,  nm  nur  einer  Auffassung  Raum  zu  geben. 
Lossen  hat  neuerdings  durch  sehr  sorgfältige  Untersuchungen  über  die  histologischen 
Vorgänge  bei  Umbildung  des  provisorischen  in  den  definitiven  Knochencallus  darzuthun 
gesucht,  dass  die  Knochenzellen  des  ersteren  an  der  Bildung  von  Gefässcanälen  für  den 
letzteren  durch  Erweiterung  und  Lageänderungen  activen  Antheil  nehmen.  Ich  kann  dies 
als  vollkommen  richtig  zugeben,  ohne  von  meiner  obigen  Ansicht  abzugehen,  denn  der 
provisorische  Callas  ist  wie  das  junge  Osteophyt  verkalktes  Bindegewebe,  wie  gewisse 
Grenzschichten  zwischen  Knorpel  und  Knochen  verkalkter  Knochen  sind.  Dass  die  Zellen 
dieses  „Osteoidknorpels"  (Virchovvr)  wie  die  Zellen  des  hyalinen  Knorpels  zmnal  auch 
Billroth  chiv.  Path.  n.  Therap,   7.  Aufl,  X4 


210  Von    den  einfaelien  KnoplienbrüfliPii. 

vor  der  definitiven  Umbildung  zu  wahren  Knochen  proliferiren ,  daran  zweifle  ich  nicht. 
Weiter  anf  die  liistologischen  Details  einzugelien,  die  bei  allem  Interesse,  das  sie  an  nnd 
für  sich  haben,  doch  ohne  wesentlichen  Einflnss  auf  die  definitiven  Gestaltungen  der  Neu- 
bildungen im  Knochen  sind,  ist  hier  nicht  der  Ort. 


Vorlesung  15. 

Bejiandlung    einfacher    Fracturen.      Einrichtung.    —    Zeit   des    Anlegens    des    Verbandes. 
Wahl  desselben.  ■ —  G)'psverbände,    Kleisterverbände,  Schienenverbände,    permanente  Ex- 
tension ;   Lagerungsapparate.  —  Indicationen  für  die  Abnahme  des  Verbandes. 

Wir  wollen  jetzt  gleich  zur  Behandlung-  der  einfachen  oder  subcu- 
tanen Fracturen  übergehen  und  haben  dabei  vorzüglich  Fracturen  der 
Extremitäten  im  Sinn,  denn  diese  sind  die  überwiegend  häufigeren,  und  : 
bedürfen  auch  vorwiegend  einer  Behandlung  durch  Verbände,  während 
man  die  Fracturen  im  Bereich  des  Truncus  und  des  Kopfs  weniger 
durch  Verbände,  als  durch  zweckmässige  Lagerung  zu  behandeln  hat, 
wie  es  in  den  Vorlesungen  über  specielle  Chirurgie  und  in  der  chirur- 
gischen Klinik  gelehrt  wird. 

Die  Aufgabe,  Avelche  wir  uns  zu  stellen  haben,  ist  einfach  die, 
etwaige  Dislocationen  zu  beseitigen  und  die  gebrochene  Extremität  in 
der  anatomisch  richtigen  Lage  so  lange  zu  fixiren,  bis  die  Fractur 
geheilt  ist. 

Zunächst  muss  die  Repositi  on  der  Fragmente  gemacht  werden; 
sie  kann  unter  Umständen  ganz  unnöthig  sein,  wenn  nämlich  keine 
Dislocation  vorliegt,  wie  z.  B.  bei  manchen  Fracturen  der  Ulna,  Fibula 
u.  s.  w.  In  andern  Fällen  ist  es  ein  äusserst  schwieriger  Act,  der 
sogar  nicht  immer  vollkommen  ausführbar  ist.  Die  Widerstände,  welche 
sich  der  Reposition  entgegenstellen,  können  in  der  Lagerung  der  Frag- 
mente selbst  ihren  Grund  haben:  es  kann  z.  B.  ein  Fragment  fest  in 
das  andere  eingekeilt  sein,  oder  ein  kleines  Fragment  legt  sich  so 
hinderlich  zwischen  die  beiden  Hauptfragmente,  dass  man  letztere  nicht 
genau  an  einander  bringt;  sehr  hartnäckig  sind  in  dieser  Beziehung  die 
Fracturen  des  untern  Geleukendes  des  Humerus,  avo  sich  kleine  Frag- 
mente derartig  dislociren  können,  dass  weder  die  Flexion  noch  die 
Extension  im  Ellenbogeugelenk  vollständig  ausgeführt  werden  kann,  und 
somit  die  Function  des  Gelenks  für  immer  beeinträchtigt  bleibt.  Ein 
zweites  Hinderniss  für  die  Reposition  der  Fragmente  bildet  die  Muskel- 
spannung; der  Kranke  contrahirt  unwillkürlich  die  Äluskeln  der  ge- 
brochenen Extremität,  reibt  dadurch  die  Fragmeute  an  einander  oder 
drückt  sie  in  die  Weichtheile  und  bereitet  sich  auf  diese  Weise  selbst 
den    heftigsten  Schmerz;    diese  Muskelcoutractiouen  sind   zuweilen   fast 


Vdrlcsmi.u;   1.1.     (!,-ipilc1  V.  211 

tciaiiiscli,  so  (lass  es  sclbsl  hei  grosser  Ge\v;ill  kaiiui  i:,'eling't,  den  Wider- 
stand zu  ül)erwiiiden.  in  derTliat  waren  diese  Seliwierigkeiten  friilicr  zum 
Tlieil  ganz  uniiberwindlicli,  und  wenn  man  auch  liier  und  da  versuclite, 
durch  Sehnen-  und  Muskeldurclisclineidungen  zum  Ziele  zu  komuien, 
so  Avar  man  docli  oft  genug'  genotliigt,  sicli  mit  einem  unv()]lkoninienen 
Resultat  der  ]ve])osition  zu  begnügen.  Durch  die  EinnUirung  des  Chloro- 
forms als  Anaestlicticnm  waren  mit  einem  Mal  alle  diese  Schwierigkeiten 
gehoben.  In  allen  Fällen,  wo  uns  jetzt  die  Reposition  niclit  leicht  gelingt, 
l)etäul)en  wir  den  Kranken  mit  Chloroform  l)is  zur  völligen  Muskel- 
erschlaflung  und  maclien  dann  gewtdmlich  ohne  Schwierigkeit  die  Re- 
position der  Fragmente.  Manche  Chirurgen  gehen  so  weit,  dass  sie  fast 
bei  allen  Fracturen,  theils  zur  Untersuchung,  theils  zum  Anlegen  des 
Verbandes  Chloroform  anwenden.  Dies  ist  unnöthig;  es  kann  die  An- 
wendung des  Chloroforms  sogar  die  grössten  Unannehmlichkeiten  nach 
sich  ziehen,  wenn  man  auf  Leute  trifft,  zumal  auf  Trinker,  Avelche  in 
einem  gewissen  Stadium  der  Narkose  von  krampfhaften  Zuckungen  der 
Extremitäten  befallen  werden,  so  dass  trotz  der  sorgfältigsten  Fixirung 
von  Seiten  kräftiger  Assistenten  die  Bruchenden  mit  ungeheurem  Krachen 
sich  einander  reiben  und  man  die  grösstc  Besorgniss  haben  muss,  dass 
ein  spitzes  Fragment  die  Haut  perforirt.  Dies  soll  Sie  nicht  abschrecken, 
bei  Fracturen  das  Chloroform  anzuwenden,  wenn  es  nöthig  ist,  doch 
davor  warnen,  allzu  freigebig  mit  dem  Mittel  zu  verfahren.  Die  Art 
und  Weise,  wie  die  Reposition  ausgeführt  wird,  ist  im  Allgemeinen  die, 
dass  der  zerbrochene  Theil  der  Extremität  von  zwei  kräftigen  Assistenten 
an  den  Gelenken  oberhalb  und  unterhalb  der  Fractur  erfasst  und  nun 
ein  gleichmässiger,  ruhiger  Zug  ausgeübt  wird,  während  der  behandelnde 
Arzt  die  Extremität  an  der  gebrochenen  Stelle  umfasst  und  durch  i'uhigen 
Druck  die  Fragmente  in  ihre  Lage  zu  schieben  sucht.  Alles  plötzliche, 
ruckweise,  forcirte  Anziehen  ist  nutzlos  und  entschieden  zu  vermeiden. 
Zwei  Kunstausdrücke  haben  Sie  sich  hier  noch  zu  merken,  man  nennt  die 
Ausdehnung  an  dem  untern  Theil  der  Extremitäten  die  Extension,  die 
Fixirung  am  obern  Theil  die  Contraextension.  Beides  wird  bei  den 
Fractui-en  mit  den  Händen  ausgeübt,  während  man  bei  den  Verrenkungen 
sich  allerdings  zuweilen  noch  anderer  mechanischer  Hülfsmittel  bedienen 
muss.  Bei  dem  angegebenen  Verfahren  wird  nur  dann  eine  genaue 
Reposition  unmöglich  sein,  wenn  man  theils  wegen  zu  starker  Geschwulst, 
theils  wegen  besonders  ungünstiger  Dislocation  der  Fragmente  ausser 
Stande  ist,  die  Art  der  Verscliiebung  richtig  zu  erkennen. 

Nach  unsern  jetzigen  Priucipien,  die  sich  auf  eine  sehr  grosse  Reihe 
von  Erfahi-ungen  stützen,  ist  es  um  so  günstiger,  je  unmittelbarer  nach 
der  Fractur  wir  die  Reposition  machen;  wir  legen  dann  sofort  den  Ver- 
band an.  Nicht  immer  war  man  dieser  Ansicht,  sondern  w^artete  früher 
sow^ohl  mit  der  Einrichtung  der  Fractur,  als  mit  der  Anlegung  des  Ver- 
bandes,   bis  die  Anschwellung,    welche    fast  immer  eintritt,    wenn  man 

14* 


212  Yon  den  einfachen  Knochenbrüchen. 

nicht  sofort  einen  Verband  angelegt,  sicli  verloren  hatte.  Mau  hatte  die 
Besorgniss,  dass  unter  dem  Druck  des.  Verbandes  die  Extremität  brandig 
werden  könne  und  die  Bildung  des  Callus  verhindert  werden  würde. 
Das  erstere  ist  bei  gewissen  Cautelen  in  der  Anlegung  des  Verbandes 
sehr  leicht  zu  vermeiden,  an  dem  zweiten  ist  etwas  Wahres.  Was 
die  Wahl  des  anzulegenden  Verbandes  betrifft,  so  ist  auch  in  dieser  Be- 
ziehung in  neuester  Zeit  eine  fast  vollständige  Einigung  in  den  Ansichten 
der  Chirurgen  erzielt  worden.  Als  Eegel  ist  zu  betrachten,  dass 
in  allen  Fällen  von  einfachen,  subcutanen  Fracturen  der  Ex- 
tremitäten so  früh  wie  möglieh  ein  solider,  fester  Verband 
angelegt  wird,  der  im  Ganzen  etwa  2 — 3  Mal  gewechselt  werden  kann, 
in  sehr  vielen  Fällen  jedoch  gar  nicht  erneuert  zu  werden  braucht.  Man 
nennt  diese  Art  des  Verbandes  den  unbeweglichen  oder  festen  Ver- 
band, im  Gegensatz  zu  den  beweglichen  Verbänden,  die  alle  paar 
Tage  erneuert  werden  müssen  und  jetzt  nur  noch  die  Bedeutung  von 
provisorischen  Verbänden  haben. 

Es  giebt  mehre  Arten  von  festen  Verbänden,  von  denen  der  Gyps- 
verband,  der  Kleisterverbaud  und  der  Wasserglasverband  die 
gebräuchlichsten  sind.  Ich  will  Ihnen  zunächst  den  Gvpsverband  be- 
schreiben und  seine  Anlegung  zeigen,  da  es  derjenige  ist,  welcher  am 
häufigsten  zur  Anwendung  kommt  und  allen  Anforderungen  in  einer 
Weise  entspricht,  dass  kaum  eine  Vervollkommnung  möglich  erscheint. 

Gypsverband.  Wenn  nach  erfolgter  Eeposition  der  Fragmeute  die 
gebrochene  Extremität  von  zwei  Gehülfen  durch  Extension  und  Coutra- 
exteusion  fixirt  ist,  nimmt  man  eine  oder  selbst  mehre  Schichten  von 
Watte  und  legt  diese  theils  um  die  Fracturstelle,  theils  auf  Stelleu,  au 
welchen  die  Haut  unmittelbar  auf  dem  Knochen  liegt,  z.  B.  auf  die 
Crista  tibiae,  die  Condylen  und  Malleolen  des  Unterschenkels.  Jetzt 
nimmt  man  am  besten  eine  neue  feine  EoUbinde  von  Flanell  und  wickelt 
damit  das  Glied  ein,  so  dass  überall  ein  gleichmässiger  Druck  ausgeübt 
wird  und  alle  Theile  bedeckt  werden,  welche  von  dem  Gypsverband 
umgeben  werden  sollen.  In  Spitälern  und  in  der  Armenpraxis,  wo  man 
nicht  immer  über  gute  Flanellbinden  zu  disponireu  hat,  nimmt  man  an 
der  Stelle  derselben  Aveiche  Baumwollenbinden  oder  Gazebinden  (Mull- 
oder Kalliko-Biuden),  Jetzt  kommt  das  Umlegen  der  zu  diesem  Zweck 
vorbereiteten  Gypsbinde;  die  Gypsbinde,  welche  ich  hier  habe,  ist  aus 
einem  sehr  dünnen,  Gaze  ähnlichen  Stoff  dem  eben  erwähnten  JMull 
oder  Kalliko  geschnitten;  nian  bereitet  sie  in  der  Weise  vor,  dass  man 
auf  die  unaufgeroUte  Binde  feingepulverten  Gyps  (sogenannten  ModelHr- 
gyps)  gleichmässig  aufstreut  und  dann  die  Binde  aufrollt.  Für  die  Privat- 
praxis kann  man  sich  eine  ziendiche  Anzahl  kleinerer  und  grösserer 
Binden  dieser  Art  vorbereiten  lassen  und  dieselben  in  einer  gut  schliesscu- 
den  Blechkapsel  aufbewahren.  Hier  im  Spital,  wo  ein  sehr  bedeutender 
Verbrauch   dieser  Gypsbiuden  Statt  findet,   werden   dieselben  2—3  Mal 


Voi-lcsKii-;  15.      Ciipilel   V.  213 

in  der  AVoclic  in  Vorralh  migcfci-tig't.     Eine  solche  Binde  also  lei^'en  Sic 
in  eine  Schale  voll  kalten  Wassers,  lassen  sie  darin  ganz  durchCencliten, 
nehmen  sie  aus  dem  Wasser  heraus  und  legen  sie  jetzt  wie  jede  andere 
Rollhinde  um   die  in  oben  beschriebener  Welse  vor])crcitcte  Extremität. 
Eine  drei-,  höchstens  vierfache  Lage  dieser  Gypsl)inden  reicht  hin,  eine 
Festigkeit  des  Verbandes  zu  erzielen,  wie  Sie  für  den  Zweck  erforderlich 
ist.     Es  dauert  ungefähr  10  Minuten,  bis  guter  Gyps  soweit  erstarrt  ist, 
dass  man  die  Extremität  loslassen  und  auf  das  Lager  legen  kann;    in 
einer  halben  bis  ganzen  Stunde  pflegt  der  Verband  steinhart  und  trocken 
zu  sein;    die  Dauer  der  Erliärtung  ist  theils  von   der  Güte  des  Gypses, 
theils  davon  abhängig,   wie   stark  Sie  die   Binden  haben   durchfeuchten 
lassen.     Taugt  der  Gyps  nicht,   ist  er  feucht,    grobkörnig-  unrein,   dann 
wird  er  gar  nicht  fest;   will  man  die  Erhärtung  des  Gypses  beschleuni- 
g-en,  so  werfe  man  eine  halbe  Hand  voll  Alaunpulver  in  das  Wasser,  in 
welchem  man  die  Gypsbinde  anfeuchten  will.     Feucht  gewordenen  Gyps 
kann    mau    durch    starkes    Austrocknen    im    Ofen    wieder    ])rauchbarer 
machen,  doch  bekommt  er  nie  wieder  ganz  seine  frühere  Beschaffenheit. 
Die  beschriebene  Methode  des  Gypsverbandes   habe  ich  nach  vielfachen 
Vergleichsbeobachtungen  mit  andern  Methoden  als  die  praktischste   l)e- 
funden.     Ich  muss  Ihnen  iudess  einige  Modificationcn,  die  sich  vorzüglich 
auf  die  Handhabung  des  Gypses  und  des  Materials  der  Binden  bezielien, 
erwähnen.     Man  kann   nämlich   auch  in   die  gewöhnlichen  Baumwollen- 
binden,    selbst  in   Flanellbinden    den   Gyps    hineinreiben,    wodurch   der 
Verband  etwas  schwerer  und  fester  wird ;  doch  ist  dies  nicht  nothweudig, 
und  das   lockere  Gasezeug  ist  ausserordentlich  viel  billiger   als  die  ge- 
webten Baumwolleubindeu,     Erscheint  die  Festigkeit  des  Verbandes  noch 
nicht  genügend,  so  kann  man  über  den  ganzen  Verband  eine  Lage  Gyps- 
brei   auftragen;    diesen  Gypsbrei   muss  man   vorsichtig  mit  Wasser   an- 
rühren und   sehr  schnell   mit  der  Hand  oder  einem  Löifel  auf  den  Ver- 
band auftragen  und  verreiben;    man  darf  den  Gypsbrei  nicht  eher  ein- 
rühren, als  bis  man  ihn  gebrauchen  will,  weil  er  äusserst  schnell  erstarrt. 
Der  Gypsverband,  mit  Eollbinden  ausgeführt,  ist  zuerst  von  einem  hollän- 
dischen ArztMathysen  angegeben  und  in  Gebrauch  gezogen;  die  erste 
Veröffentlichung  dieser  Methode  erfolgte  schon  1832;  doch  ist  die  Methode 
erst  seit  den  fünfziger  Jahren  bekannter  geworden ;    in  Deutschland  ist 
sie  hauptsächlich  durch  die  Berliner  Schule  verbreitet  worden.  —  Etwas 
abweichend  ist  das  Verfahren,   den  Gypsverband  mit  einzelnen  von  ein- 
ander getrennten  Verbandstücken  anzulegen;  Pirogoff  kam  wohl  zuerst 
aus  Mangel  an  Verbandmaterial  im  Felde  auf  diese  Modification,  irgend 
welche  beliebige  Zeugstucke,   die  einigermaassen  zu  Schienen  und  Lon- 
guetten  zugeschnitten  wurden,  durch  dünnen  Gypsbrei  zu  ziehen  und  um 
die  gebrochene  Extremität  zu  legen,  dann  das  Ganze  noch  mit  Gypsbrei 
zu  überstreichen   und  auf  diese  Weise  eine  allerdings  sein-  feste  Kapsel 
herzustellen.     Später  machte    derselbe  Chirurg    hieraus    eine   besondere 


214  ^'^'^  ^^'^^  einfachen  Knochenbrüchen. 

Methode,  indem  er  altes,  rolies  Segeltuch  nach  bestimmten  Regeln  für 
jede  Extremität  zusclmeideu  Hess  und  dies  in  der  oben  angegebenen 
Weise  umlegte.  Endlich  hat  man  auch  die  sogenannten  vielköptigen 
Scultet'schen  Binden  in  derselben  Weise  zum  Gypsverband  gebraucht.  — 
Ferner  ist  die  Unterlage  des  Verbandes  verschieden  modificirt;  mau  hat 
sogar  liier  und  da  gar  keine  Watte  und  gar  keine  Unterbinden  angelegt, 
sondern  nur  die  ganze  Extremität  mit  Oel  dick  bestrichen,  damit  der 
unmittelbar  darauf  gelegte  CTvpsverband  nicht  an  die  Haut  mit  ihren 
feinen  Härchen  anklebt.  Andere  haben  endlich  nur  sehr  dicke  Lagen 
von  Watte  ohne  besondere  Unterbinden  benutzt.  Endlich  hat  man  in 
neuerer  Zeit  Einlagen  von  dünnen  Holzschienen  (Schusterspännen)  oder 
von  dünnen  Blechstreifen  gemacht;  für  die  gefensterten  Verbände  kann 
das,  wie  wir  später  sehen  werden,  gewisse  Vortheile  haben. 

Alle  diese  Modificationen  des  Gypsverbandes  habe  ich  Ihnen  ab- 
sichtlicli  nur  als  ausnahmsweise  Verfahren  dargestellt,  die  alle  gewisse 
Nachtheile  haben,  gegenüber  der  Ihnen  als  Eegel  zuerst  angeführten 
Methode.  Eine  genauere  Kritik  dieser  Modificationen  behalten  wird  uns 
für  die  Klinik  vor. 

Die  Entfernung  des  Gypsverbandes  hat  für  den  Nichtgeübten  grosse 
Schwierigkeiten,  und  doch  werden  Sie  sehen,  dass  jede  meiner  Wärte- 
rinnen dies  in  kürzester  Zeit  und  auf  die  schonendste  Weise  zu  Stande 
bringt.  Es  wird  dies  einfach  auf  folgende  Weise  gemacht ;  man  schneidet 
mit  einem  concaven,  starken,  scharfen  Gartenmesser  die  Gypsbinden 
durch  und  zwar  nicht  in  ganz  senkrechter,  sondern  viel  leichter  in  etwas 
schräger  Richtung  bis  auf  die  Unterbinde  und  nimmt  nun  den  ganzen 
Verband  wie  eine  Hohlkapsel  aus  einander;  auch  kann  man  die  von 
Szyraanowski  oder  die  von  v.  Bruns,  Leiter  u.  A.  angegebenen 
Gypsscheeren  gebrauchen.  Die  abgenommenen  Kapseln  kann  man  zu 
provisorischen  Verbänden  zuweilen  anderweitig  noch  wieder  verwenden. 

Klei  st  er  verband.  Bevor  man  die  Gypsverbände  kannte,  besass 
man  bereits  in  dem  Kleisterverband  ein  sehr  ausgezeichnetes  Material  für 
die  unbeweglichen  Verbände.  Der  Kleisterverband  wurde  hauptsächlich 
von  Seutin  zum  höchsten  Grade  seiner  Vollkommenheit  ausgebildet 
und  in  die  Chirurgie  eingeführt;  er  ist  erst  seit  etwa  20  Jahren  durch 
den  Gypsverband  verdrängt  worden,  kommt  jedoch  hier  und  da  noch 
in  Anwendung.  Die  Anlage  der  Watte  und  der  Unter])inde  ist  diesellie 
wie  beim  Gypsverband,  dann  aber  nimmt  man  vorher  zugeschnittene,  in 
Wasser  ganz  erweichte  Schienen  von  massig  dicker  Pappe,  legt  diese 
um  die  Extremität  und  befestigt  sie  durch  Binden,  Avelche  zuvor  voll- 
ständig in  Kleister  getränkt  worden  sind.  Man  nmss  nun,  bis  dieser 
Verband  erhärtet  ist,  was  bei  gewöhnlicher  Zimmertemperatur  etwas  über 
24  Stunden  dauert,  Holzschienen  anlegen,  w^elciie  später  wieder  abge- 
nommen werden.  Dieser  Verband  hat  gegenüber  dem  Gypsverband  den 
Nachtheil,    dass  er  ausserordentlich  viel  langsamer  erhärtet;   man  kann 


VorlcsiiMK    15.     (JMpiU'l   V.  215 

dies  etwns  ))cs.scni,  indem  iiuiii  uiisintt  der  rji])i)Scliioiicii  CTiitt;ij)er(di  a- 
stilckc  benutzt,  diese  in  lieissem  Wasser  erwciclit  und  nun  ;i^euau  der 
Extrendtät  adaptirt.  Cuttapereliarienien,  wie  sie  in  den  i^'al)riken  benutzt 
werden,  sind  als  Schienen  selir  brauchbar.  Es  ist  niclit  zu  leug'nen,  dass 
die  Einführung-  der  Guttaperclia  in  die  chirurgische  Yerbandtechnik  als 
ein  grosser  Vorthcil  l)etraclitct  werden  nutss;  doch  ist  der  Preis  des 
Materials  zu  lu)ch,  um  in  der  Si)itali)raxis  für  den  Verl)and  Itei  jeder 
einfachen  Fractur  verwendet  zu  werden ;  dicke  Guttaperchaschienen  er- 
liärtcn  fast  noch  schneller  als  Gyps.  Der  Verband  nnt  eingegypsten 
Eollbinden  zeichnet  sich  so  sehr  durch  die  Leichtigkeit  des  Aidegens, 
durch  seine  Billigkeit  und  Festigkeit  aus,  dass  er,  jetzt  einmal  in  die 
Praxis  eingeführt,  gewiss  nicht  wieder  durch  den  Kleisterverband  ver- 
drängt werden  wird. 

Anstatt  des  Kleisters  hat  man  früher  wohl  Auflösungen  von  Dextrin, 
auch  reines  Hühnereivveiss,  oder  einfach  Mehl  mit  Wasser  angerührt 
benutzt;  beides  ist -ausser  Gebrauch,  indess  ist  es  gut,  wenn  Sie  die 
Brauchbarkeit  solcher  Substanzen  kennen,  die  in  jeder  Haushaltung  vor- 
zufinden sind  und  die  mau  daher  zu  provisorischen  Verbänden  recht  wohl 
verwerthen  kann. 

Wasser  glas  verband.  Anstatt  des  Kleisters  kann  man  sehr  wohl 
die  käufliche  Auflösung  von  Wasserglas  (kieselsaures  Kali)  verwenden. 
Man  streicht  dasselbe  beim  Anleg'en  des  Verbandes  mit  einem  grossen 
Pinsel  auf  die  bauniwollnen  Eollbinden,  nachdem  man  zuvor  eine  Unter- 
lage von  Watte  g-emacht  hat,  wie  früher  beschrieben.  Das  Wasserglas 
trocknet  schneller  als  der  Kleister,  doch  nicht  so  schnell  wie  Gyps,  wird 
auch  nicht  so  fest  wie  letzterer;  dieser  Verband  genügt  für  Fracturen 
ohne  Neigung  zu  Dislocation;  will  man  durch  den  Wasserglasverband 
dislocirte  Bruchenden  fixiren,  so  muss  derselbe  durch  eingelegte  Schienen 
verstärkt  werden. 

Ich  zweifle  nicht  daran,  dass  es  sehr  bald  dahin  kommen  wird, 
dass  jeder  Landarzt  einige  Gypsbinden  in  Vorrath  hat;  trotzdem  behalten 
die  provisorischen  Verbände  ihre  praktische  Bedeutung.  Diese 
bestehen  aus  Binden,  Compressen  und  Schienen  von  sehr  verschieden- 
artigem Material;  Sie  können  Schienen  von  dünnen  Holzbretteru, 
Schachteldecken,  Cigarrenkisten,  von  Pappe,  von  Blech,  von  Leder,  von 
fest  zusammengewickeltem  Stroh,  von  Baumrinden  u.  s.  w.  anfertigen 
und  müssen  sich  zum  Verband  oft  mit  alten  Lumpen,  streifenweise 
zerrissener  und  an  einander  genähter  Leinwand  in  der  Hütte  des  Armen 
begnügen;  es  ist  deshalb  nothwendig,  dass  Sie  sich  in  den  praktischen 
Verbandkursen  üben,  mit  dem  verschiedenartigsten  Material  umgehen 
zu  lernen. 

Hier  ist  es  nicht  die  Aufgabe,  Alles,  was  aus  dem  grossen  Arma- 
mentarium  der  Verbandlehre  etwa  noch  brauchbar  ist,  Ihnen  vorzuführen, 
doch  muss  ich  noch  Einiges    wenigstens  kurz  andeuten.     Die  Schienen- 


216  Von  den  einfachen  Knuchenlu-üelieu. 

vei'hände  halien,  wie  leicht  zu  überselien  ist,  den  Zweck,  mit  festen 
Stützen  von  einer  oder  meliren  Seiten  den  Knochen  fest  und  unheweg-lich 
zu  stellen;  man  kann  dies  durch  aussen,  innen,  vorn  und  hinten  ang-e- 
leg'te  schmale  Holzschienen  erreichen;  man  kann  sich  jedoch  auch  aus- 
gehöhlter Schienen,  sogenannter  Ilohlrinnen  oder  KUrasse  bedienen.  Die 
Hohlschienen  sind  nur  dann  vortheilhaft,  wenn  sie  aus  einem  biegsamen 
Material  bestehen,  aus  Leder,  dünnem  Eisenblech,  Drahtgeflechten ;  eine 
absolut  starre  Ilohlschiene  würde  eben  nur  für  einzelne  Individuen 
passen.  —  Gegenüber  diesen  erwähnten  mechanischen  Hülfsmitteln  giebt 
es  noch  eine  andere  Methode,  die  gel)röcheneu  Gliedmaassen  zu  fixiren, 
nämlich  durch  eine  permanente  Extension.  Der  Gedanke  hierzu 
lag  besonders  für  diejenigen  Fälle  sehr  nahe,  in  denen  eine  grosse 
Neigung  zur  Verkürzung,  zur  Dislocatio  ad  longitudiuem  besteht.  Man 
hat  diese  Extension  zu  erzielen  gesucht  theils  durch  angehäugte  Gewichte 
mit  verschiedener  mechanischer  Vorrichtung,  theils  durch  einen  dauernden 
Zug,  den  man  dadurch  ausübte,  dass  man  an  der  kranken  Extremität 
Gewichte  anhängte,  theils  durch  die  doppelte  schiefe  Ebene,  wobei  man 
die  Schwere  des  Unterschenkels  als  extendirendes  Gewicht  benutzt. 
Nachdem  ich  im  Verlauf  der  letzten  beiden  Jahre  ganz  unerwartet 
bedeutende  Wirkungen  von  der  permanenten  Extension  mit  Gewichten 
bei  sehr  schmerzhaften  Coutracturen  an  Hüft-  und  Kniegelenken  gesehen 
habe,  habe  ich  diese  Methode  auch  für  die  allmählige  Einrichtung 
von  dislocirten  Bruchenden  verwandt,  und  sehr  brauchbar  befunden. 
Unter  den  mir  bekannten  Vorrichtungen  dieser  Art  erfüllt  der  von 
V.  Dumreicher  angegebene  sogenannte  Eisenbahnapparat  den  Zweck 
der  permanenten  Extension  am  besten;  doch  ist  er  zu  kostbar  und 
zu  complicirt,  um  in  grosser  Ausdehnung  in  der  Privatpraxis  der 
Aerzte  zur  Anwendung  zu  kommen;  es  ist  auch  wohl  die  Absicht  des 
Erfinders,  diesen  Apparat  vorwiegend  bei  Fällen  mit  schwer  zu  über- 
windender Dislocation  anzuwenden.  Die  doppelte  schiefe  Ebene,  durch 
ein  dickes,  unter  die  Kniekehlen  applicirtes  EoUkissen  dargestellt,  kann 
für  die  Fractura  colli  femoris  bei  ganz  alten  Leuten  zuweilen  als  zweck- 
mässiger Fixationsapparat  angewandt  werden,  wenn  man  keinen  Ver- 
band anlegen  Avill.  Am  practischsten  hat  sich  der  Heftpflaster-Extensions- 
verband  bewährt,  wie  er  von  amerikanischen  Chirurgen  zuerst  in  An- 
wendung gezogen,  und  in  Deutschland  zumal  durch  Volkmanu's  Be- 
mühungen verbreitet  worden  ist;  er  leistet  namentlich  bei  Oberschenkel- 
fracturen  oft  vorteffliche  Dienste. 

Noch  sind  einige  Hülfsmittel  zu  erwähnen,  deren  man  sich  bedienen 
nmss,  um  die  gebrochene  Extrcnrität,  nachdem  sie  eingebunden  ist,  zweck- 
mässig zu  lagern;  für  die  oberen  Extremitäten  genügt  in  den  meisten 
Fällen  ein  einfaclies,  kunstgerecht  angelegtes  Tucli,  in  welches  der  Arm 
hineingelegt  wird,  eine  Mitella.  Man  kann  Kranke  mit  einem  Gyps- 
verband  und  einem  solchen  Armtuch  bei  gebrochenem  Ober-  und  Vorder- 


Vorlcsims  15.     CapKel  V.  217 

arm  ganz  iinlicschadct  der  giliistig-cn  Heilung  während  der  ganzen  Cur 
ausser  Bett  sein  lassen. 

Für  die  Lagerung  gebrochener  Unterextremitäten  giel)t  es  eine  grosse 
Eeilie  meclianisclier  Hülfsniittel,  von  wclclicn  folgende  die  gebräuchliclistcn 
sind:  die  Sandsäcke,  d,  li.  schmale,  mit  Sand  gcCiilltc  Säcke,  etwa  von 
der  Länge  eines  Unterschenkels;  dieselben  werden  zu  beiden  Seiten  des 
festen  Verbandes  angelegt,  damit  das  Glied  niclit  hin  und  her  wankt; 
'für  denselben  Zweck  braucht  man  dreiseitig  prismatisch  zugeschnittene 
lange  Plolzstücke  (falsche  Strohladen),  die  nach  Art  einer  Hohlrinne 
zusammengelegt  werden.  Für  manche  Fälle  genügt  ein  locker  gefüllter 
Häckerling  sack  oder  ein  Spreukissen;  in  ein  solches  macht  man 
mit  dem  Arm  der  Länge  nach  eine  Vertiefung,  in  welche  der  Unter- 
schenkel hineingelegt  wird.  Bedarf  man  festerer  Stützmittcl,  so  wendet 
man  die  Bein  laden  an:  dünne,  lange,  hölzerne  Kästen,  an  denen  die 
obere  kurze  Wand  fehlt,  um  das  Bein  hineinzuschieben,  und  an  denen 
die  anderen  Seitenwände  nach  unten  abgeklappt  werden  können,  um  beim 
Verband  die  Extremität  genau  besichtigen  zu  können,  ohne  sie  aufzuheben; 
man  kann  diesen  Beinladen  eine  bald  höhere,  bald  niedere  Stellung 
geben,  je  nach  der  Bequemlichkeit  des  Patienten.  Noch  sind  die 
Schweben  zu  erwähnen,  welche  gewöhnlich  aus  einem  Galgen  oder  einem 
starken  Bügel  bestehen,  der  über  dem  Fussende  des  Bettes  angebracht 
wird  und  an  welchem  die  in  irgend  einer  Art  von  Beinlade  oder  Hohl- 
schiene eingefügte  Extremität  in  schwebender  Stellung  aufgehängt  wird, 
eine  Vorrichtung,  welche  besonders  bei  unruhigen  Patienten  gewisse 
Vortheile  bietet.  —  Sie  müssen  mit  allen  diesen  Apparaten,  welche,  wenn 
auch  jetzt  seltener  als  früher,  doch  von  Zeit  zu  Zeit  zweckmässig  ange- 
wandt werden,  umgehen  lernen,  wozu  in  der  chirurgischen  Klinik  die 
Gelegenheit  geboten  wird.  —  In  neuerer  Zeit  haben  wir  alle  diese 
Lagerungsapparate  für  die  Fracturen  der  unteren  Extremitäten  weniger 
gebraucht,  indem  mein  früherer  Assistent,  Herr  Dr.  Ris,  der  es  in 
der  Application  und  Eleganz  der  Gypsverbände  zu  einer  aussergewöhn- 
lichen  Vollkommenheit  gebracht  hat,  an  der  unteren  Seite  des  Unter- 
schenkels eine  3—4  Zoll  breite,  gut  gepolsterte  Holzschiene  mit  Gyps- 
binden  applicirte,  welche  etwas  über  die  Ferse  hinaus  und  bis  ans 
Knie,  oder  bei  Oberschenkelbrüchen  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels 
reicht.  Auf  diesem  Brett  liegt  die  Extremität  sehr  fest,  wenn  die  Matratze 
nicht  schlecht  ist;  will  man  die  Festigkeit  noch  weiter  treiben,  so  legt 
man  in  das  untere  Drittheil  des  Bettes  ein  lirett  von  der  Breite  des 
Bettes  auf  die  Matratze  und  darauf  die  eingegypste  Extremität  mit 
Lagerungsschiene.  Bei  den  vielen  Doppelfracturen  beider  Uuterextremi- 
täten,  die  im  Zürcher  Spital  vorkamen,  leistete  dieser  Lagerungsapparat 
besonders  vortreffliche  Dienste. 

Die  ältere  Form  des  Gypsgusses  ist  von  M.  Müller  in  neuerer  Zeit 
wieder  empfohlen  worden;  wir  haben  uns   daraufhin  von  Neuem  damit 


218  Von  den  einfachen  Knochenbriichen. 

beschäftigt,  doch  hält  der  Gypsguss  den  Vergleich  mit  dem  Gypsverbaude 
nicht  aus;   er  ist  weit  complicirter  in  Application  und  Ueberwachung. 

Seutin  versuchte  die  Vortheile  der  festen  Verbände  auch  noch  da- 
durch zu  steigern,  dass  er  Htilfsmittel  angab,  durch  w.elche  es  möglich 
wird,  Kranke  mit  gebrochenen  unteren  Glicdmaassen,  wenn  auch  in  be- 
schränktem Maasse  umhergehen  zu  lassen.  Man  kann  z.  B.  einen  Krauken 
mit  gebrochenem  Unterschenkel  mit  Hülfe  eines  über  die  Schulter  gehen- 
den breiten  Lederrieraens,  der  dicht  oberhalb  des  Knies  angeschnallt 
wird,  so  dass  der  Fuss  den  Boden  nicht  berührt,  mit  Krücken  gehen 
lassen.  Ich  rathe  Ihnen  jedoch,  diese  Experimente  mit  Ihren  Kranken 
nicht  zu  sehr  zu  übertreiben;  jedenfalls  erlaube  ich  meinen  Patienten 
derartige  Gehversuche  nicht  vor  dem  Ablauf  der  dritten  Woche  nach 
Entstehung  der  Fractur,  weil  sonst  leicht  Oedem  in  der  gebrochenen 
Extremität  auftritt,  und  manche  Kranke  so  unbehülflich  im  Gebrauch  der 
Krücken  sind,  dass  sie  leicht  fallen  und  sich  eine,  wenn  auch  vielleicht 
nur  leichte  Commotion  der  kranken  Extremität  zuziehen  können,  was 
immerhin  schädlich  wirken  kann. 

Schliesslich  wäre  noch  zu  erörtern,  wie  lange  der  Verband  liegen 
bleiben  soll  und  welche  Umstände  dazu  veranlassen  können,  ihn  vor  der 
definitiven  Heilung  abzunehmen.  Das  Urtheil  darüber,  ob  ein  Verband 
zu  fest  angelegt  ist,  ist  lediglich  Sache  der  Erfahrung;  folgende  Er- 
scheinungen müssen  hier  den  Arzt  leiten.  Schwillt  der  untere  Theil 
der  Extremität,  also  Zehen  oder  Finger,  die  man  in  der  Regel  frei 
lässt,  an,  werden  diese  Theile  bläulich  roth,  kalt  oder  gar  gefühllos, 
so  muss  der  Verband  sofort  entfernt  werden.  Klagt  der  Patient  über 
heftige  Schmerzen  unter  dem  Verband,  so  thut  man  gut,  den  Verband 
zu  entfernen,  selbst  für  den  Fall,  dass  man  nichts  Objectives  wahr- 
nehmen kann.  Man  muss  in  Bezug  auf  die  Schmerzensäusseruugen 
die  Kranken  kennen;  es  giebt  unter  ihnen  solche,  die  immer  klagen, 
und  andere,  die  höchst  indolent  sind  und  wenig  über  ihre  Empfindungen 
äussern;  jedenfalls  ist  es  gerathener,  mehrmals  umsonst  den  Verband  zu 
erneuern,  als  einmal  seine  rechtzeitige  Entfernung  zu  versäumen.  Ich 
kann  Ihnen  für  die  Praxis  nicht  dringend  genug  ans  Herz  legen,  sich 
ein  für  alle  Mal  es  zum  Gesetz  zu  machen,  jeden  Kranken,  bei  welchem 
Sie  einen  festen  Verband  angelegt  haben,  spätestens  nach  24  Stunden 
wieder  zu  sehen;  dann  wird  Ihren  Patienten  gewiss  kein  Unglück  be- 
gegnen, wie  es  leider  bei  allzugrosser  Sorglosigkeit  und  Bequemlichkeit 
von  Seite  des  behandelnden  Arztes  öfter  geschehen  ist.  Es  sind  eine 
Reihe  von  Fällen  bekannt  geworden,  wo  nach  Anlegung  von  festen  Ver- 
bänden die  betroffene*  Extremität  brandig  wurde  und  amputirt  werden 
musste;  man  schloss  von  diesen  Fällen  merkwürdiger  Weise,  dass  die 
festen  Verbände  überhaupt  unzweckmässig  seien,  während  die  Schuld 
doch  wesentlich  am  Arzte  lag.  Bedenken  Sie,  wie  gering  die  Mühe  bei 
der  Behandlung  der  Fracturen  jetzt   ist   gegen    früher,    wo    Sie    einen 


Vorlesung    IT).      Capilcl    V.  210 

Scliienenverbaud  alle  ;>  -4  Tag'c  erneuern  nuissten!  jetzt  hrauclien  Sie 
oft  nur  einmal  einen  Verband  anzulegen.  Glauben  Sie  indess  nicht, 
dass  Sie  dadurch  der  Mühe  überhoben  sind,  «icli  in  dem  Anlegen  von 
Bandagen  zu  üben.  Es  bedarf  die  Aulcgung  der  festen  Ver- 
bände ebenso  viel  Uebung-,  Geschicklichkeit  und  Umsicht, 
"wie  früher  die  Anlcg'ung-  der  Schienenverbändc.  Werden  Sie 
zu  einer  Fractur  erst  am  zweiten  oder  dritten  Tsge  hinzugerufen,  wenn 
bereits  bedeutende  entzündliche  Anschwellung  besteht,  so  können  Sie 
auch  jetzt  noch  den  festen  Ver])and  in  Anwendung  ziehen,  müssen  jedoch 
denselben  locker  und  mit  Hülfe  vieler  Watte  anlegen.  Ein  solcher 
Verband  ist  natürlich  nach  10—12  Tagen,  wenn  die  Weiclitheile  abge- 
schwollen sind,  zu  weit  und  locker  und  muss  dann  wieder  entfernt  und 
erneuert  werden.  Von  der  Lockerung  des  Verbandes  und  von  der 
grösseren  oder  geringeren  Neigung  zur  Dislocation  wird  es  wesentlich 
abhängen,  wann  und  wie  oft  der  Verband  bis  zur  definitiven  Heilung 
abgenommen  werden  muss.  Starke  Anschwellung,  wenn  sie  nicht  mit 
bedeutender  Quetschung  verbunden  ist,  bildet  keine  Coutraindication  für 
die  Anlegung  eines  vorsichtig  gehandhabten  festen  Verbandes;  ebenso- 
wenig bieten  grössere  oder  kleinere  Blasen  mit  klarem  oder  leicht  blutig 
gefülltem  Serum  ein  wesentliches  Hinderniss;  solche  Blasen  entstehen 
nicht  so  selten  bei  Quetschfracturen  mit  ausgedehnter  Zerreissung  der 
tiefen  Venen,  indem  bei  gehemmtem  Rückfluss  des  Veuenblutes  das 
Serum  leicht  aus  den  Capillaren  austritt  und  das  Hornblatt  der  Epidermis 
blasig  in  die  Höhe  treibt;  man  sticht  solche  Blasen  mit  einer  Stecknadel 
ein,  drückt  die  Flüssigkeit  leicht  aus  und  legt  Watte  darauf,  die  sehr 
bald  antrocknet.  —  Ebenso  macht  man  es  bei  leichten,  oberfiächlichen 
Hautexcoriationen;  nur  selten  ist  man  genöthigt,  wenn  unter  dem  Ver- 
band neue  Blasen  auftreten,  was  sich  durch  Schmerz  ankündigt,  deshalb 
den  Verband  zu  entfernen  und  zu  erneuern. 

Wie  lange  bei  den  Brüchen  der  einzelnen  Knochen  ein  fester 
Verband  überhaupt  liegen  muss,  werden  Sie  theils  in  der  Klinik,  theils 
in  der  speciellen  Chirurgie  erfahren;  ich  erwähne  Ihnen  hier  nur  als 
äusserste  Grenzen,  dass  ein  Finger  etwa  14  Tage,  ein  Oberschenkel  bis 
60  Tage  und  länger  zu  seiner  Heilung  bedarf.  Appliciren  Sie  die  Gyps- 
verbände  gleich  nach  der  Fractur  bei  vollkommen  gehobener  Dislocation, 
so  wird  der  provisorische  äussere  Callus  immer  sehr  klein,  und  deshalb 
die  Festigkeit  später  eintreten,  als  bei  etwas  Dislocation  und  späterer 
Application  des  Verbandes;  auf  die  Bildung  des  definitiven  Callus,  des 
eigentlichen  Zusammenheilens  der  Fracturenden  mit  einander,  hat  das 
indess  keinen  Einfluss. 


220  Von  den  offenen  Knochenbrnchen  und  von  der  Knocheneiterung. 


CAPITEL  VI. 

Voü  den  otteiieü  Kiiochenbrücheii  imd  von  der 
Knocheneiteriing. 

Unterschied  der  subcutanen  und  offenen  Fracturen  in  Bezug  auf  Prognose.  —  Verschieden- 
artigkeit der  Fälle.     Indicationen  für  die  primäre  Amputation.     Secundäre  Amputation.  — 
Verlauf  der  Heilung.     Knocheneiterung.     Nekrose  der  Fragmentenden. 

Wir  wollen  jetzt  zu  den  eomplicirteu  oder  offenen  Fracturen  über- 
g'clien. 

Wenn  man  kurzweg  von  complicirten  Fracturen  spricht,  so  ver- 
steht man  darunter  meisteutheils  solche,  die  mit  Hautwunden  verbunden 
sind.  Dies  ist,  streng-  genommen,  nicht  ganz  exact,  weil  es  noch  man- 
cherlei andere  Complicationen  giebt,  von  denen  einige  von  weit  grösserer 
Bedeutung  sind,  als  eine  Hautwunde,  Wenn  der  Schädel  zerbrochen 
und  ein  Thcil  der  Hirnsubstauz  dabei  zerquetscht  ist,  oder  wenn  Eippeu 
gebrochen  sind  und  ein  Theil  der  Lunge  zerriss,  so  sind  dies  auch 
complicirte  Fracturen,  selbst  wenn  die  Hautbedeckuugen  dabei  iutact 
sind.  Weil  jedoch  in  diesen  Fällen  die  Complication  an  sich  von  viel 
grösserer  Bedeutung  für  den  gesammten  Organismus  ist,  als  der  Knocheu- 
bruch,  so  bezeichnet  man  solche  Fälle  gewöhnlicher  als  Hirnquetschuug 
oder  Lungeuzerreissung,  durch  Schädel-  oder  Püppenfractur  bedingt.  Auf 
die  Verletzungen  innerer  Organe  durch  Knochenfragmeute  wollen  wir  uns 
aber  hier  noch  gar  nicht  einlassen,  weil  dadurch  ein  nicht  selten  recht 
complicirter  Krankheitszustand  bedingt  wird,  dessen  Analyse  erst  später 
für  Sie  verständlich  werden  kann.  Beschränken  wir  uns  für  jetzt  auf 
die  mit  Hautwunden  verbundenen  Fracturen  der  Extremitäten,  die  wir 
als  offene  Fracturen  bezeichnen  wollen,  und  die  uns  schon  genug 
Sorge  in  Bezug  auf  ihren  Verlauf  und  ihre  Behandlung  macheu  Averden. 

Ich  habe  Sie  schon  früher,  als  wir  von  dem  Verlauf  der  einfachen 
Quetschungen  ohne  Wunden  und  der  eigentlichen  Quetschwunden 
sprachen,  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  leicht  in  so  vielen  Fällen 
die  Eesorption  von  Blutextravasaten  und  die  Ausheilung  gequetschter 
Theile  erfolgt,  sobald  der  ganze  Process  subcutan  verläuft,  wie  sehr 
sich  aber  die  Verhältnisse  ändern,  wenn  auch  die  Haut  zerstört  ist.  Die 
Hauptgefahren  in  solchen  Fällen  sind,  wie  Sie  sich  erinnern  werden,  Zer- 
setzungsprocesse  an  der  Wunde,  ausgedehnte  Nekrotisirung  zerquetschter 
und  ertödteter  Tlieile,  progressive  Eiterungen  und  damit  verbundene,  lang- 
dauernde, erschöpfende  Fieberzustände,  wobei  wir  noch  die  schwersten 
Allgemeinerkrankungen,  die  Wundrose,  die  faulige  Intoxication  des  Blutes, 
die  Pyohämie,   den  Wundstarrkrampf,  den  Säuferwahnsinn  bisher  nicht 


Vorlos.in;,^    IT..      Capit,<'l   VT.  221 

erwähnt  lial)cn.  Die  Geg'citsätzc  der  siihcutaiiou  Verletzung'  und  der 
Verwundung-  sind  nun  in  T^ezug  auf  den  Verlauf  und  die  Prognose  bei 
den  einfaclien,  subcutanen  Fractiu-en  gegen iil)eT  den  offenen  FractuTcn 
nocli  viel  seliärfer  ausgeprägt,  wie  bei  Quctscluuigen  gegenüber  den 
Quetsclnvunden.  Wälii'end  man  einen  Mensclien  mit  einfacher  Fractur 
in  vielen  Fällen  kaum  als  krank  bezeichnen  möchte  (wir  lialjen  vom 
Fieber  dabei  gar  nicht  gesprochen,  weil  es  selten  eintritt),  und  eine 
solche  Verletzung  bei  der  jetzigen  bequemen  Behandlung  nu;hr  als  eine 
Unannehmlichkeit,  denn  als  ein  Unglück  zu  betrachten  ist,  kann  jede 
offene  Fractur  eines  grösseren  Extremitätenknochens,  ja  selbst  unter  Um- 
ständen eines  Fingerkuochelchens  eine  schwere,  leider  noch  immer  zu 
häutig  tödtliche  Krankheit  anregen.  Um  Sie  jedoch  nicht  gar  zu  sehr 
zu  erschrecken,  will  ich  gleich  hier  hinzufügen,  dass  einerseits  sehr  viele 
Gradunterschiede  der  Gefahr  auch  bei  diesen  offenen  Fracturen  bestehen, 
und  dass  andererseits  die  Behandlung  der  complicirteu  Fracturen  in 
neuerer  Zeit  sich  sehr  wesentlich  vervollkommnet  hat. 

Es  ist  eine  der  schwierigsten  und  wichtigsten  Aufgaben,  die  freilich 
nicht  immer  zu  lösen  ist,  eine  offene  Fractur  gleich  anfangs  prognostiscli 
vollkommen  richtig  zu  beurtheilen.  Leben  und  Tod  des  Individuums 
kann  hier  zuweilen  von  der  Wahl  der  eingeschlagenen  Behandlung  inner- 
halb der  ersten  Tage  abhängen,  und  wir  müssen  deshalb  schon  jetzt  auf 
diesen  Gegenstand  etwas  genauer  eingehen.  Die  Symptome  einer  offenen 
Fractur  sind  natürlich  wesentlich  dieselben,  wie  bei  der  subcutanen,  nur 
dass  die  Färbung  durch  das  Blutextravasat  oft  fehlt,  w^il  sich  das  Blut 
aus  der  Wunde  wenigstens  theilweis  entleert.  Die  Bruchenden  stehen 
nicht  selten  aus  der  Wunde  hervor  oder  liegen  frei  in  derselben  zu  Tage, 
so  dass  ein  Blick  hinreicht,  die  Diagnose  einer  offenen  Fractur  zu  stellen. 
Doch  dies  genügt  bei  w^eitem  nicht,  sondern  wir  müssen  so  genau  wie 
möglich  zu  erfahren  suchen,  wie  die  Fractur  entstand,  ob  durch  directe 
oder  indirecte  Gewalt,  wie  bedeutend  die  Kraft  etwa  gewesen,  ob  mit 
der  Quetschung  Zerrung  und  Drehung  verbunden  war,  ob  Arterien  und 
Nerveustämme  zerrissen  sind,  ob  der  Kranke  viel  Blut  verlor,  und  wie 
er  sich  jetzt  in  Bezug  auf  seinen  allgemeinen  Zustand  befindet.  Es  giebt 
Fälle,  bei  denen  man  gleich  auf  den  ersten  Blick  sagen  kann,  dass  hier 
keine  Heilung  möglich  ist,  sondern  nur  die  Amputation  gemacht  werden 
kann.  Wenn  eine  Locomotive  ül)er  das  Knie  eines  unglücklichen  Eisen- 
bahuarbeiters  lief,  wenn  eine  Hand,  ein  Vorderarm  in  die  Räder  oder 
zwischen  die  Walzen  einer  sich  bewegenden  Maschine  gerathen  war, 
wenn  durch  zu  frühzeitige  Explosionen  beim  Steinspreugen  Glieder  zer- 
schmettert und  zerrissen  sind,  wenn  zentnerschwere  Lasten  einen  Fuss 
oder  ein  Bein  vollständig  zermalmen,  so  ist  es  nicht  schwer  für  den  Arzt, 
sich  schnell  zur  sofortigen  primären  Amputation  zu  entschliessen  und 
ist  in  der  Regel  der  Zustand  solcher  Extremitäten  der  Art,  dass  auch  die 
Krauken  sich  schnell,   wenn  auch  mit   schwerem  Herzen   zur  Operation 


222  Von  den  oifenen  Knoflienbrüchen  und  von  der  Knoclieneiterung. 

bestimmen  lassen.  Dies  sind  nicht  die  scliwierigen  Fälle.  Eben  so  leicht 
kann  es  unter  Umständen  in  anderen  Fällen  sein,  die  Wahrscheinlichkeit 
der  g'ünstig-en  Heilung  mit  ziemlicher  Sicherheit  vorauszusagen.  Ist  z.  B. 
der  Bruch  eines  Unterschenkels  durch  indirecte  Clewalt,  etwa  durch  über- 
mässige Biegung  der  Knochen  erfolgt ,  so  kann  dabei  das  gebrochene, 
spitze  Ende  der  Crista  tibiae  die  Haut  durchbohren  und  hervordringen; 
in  einem  solchen  Fall  besteht  gar  keine  Quetschung,  sondern  nur  ein 
einfacher  Eiss  durch  die  Haut.  Auch  wenn  ein  halbscharfer  Körper  eine 
kleine  Stelle  der  Extremität  mit  grosser  Gewalt  trifft,  und  Knochen  und 
Haut  verletzt  werden,  so  kann  zwar  die  ganze  Extremität  dabei  heftig 
erschüttert  sein,  indess  der  ganze  Bereich  der  Verletzung  ist  doch  nur 
ziemlich  klein,  und  in  den  meisten  solcher  Fälle  wird  ein  günstiger  Aus- 
gang eintreten,  wenn  die  Behandlung  zweckmässig  geleitet  wird.  —  Die 
schwierig  zu  beurtheilenden  Fälle  liegen  in  der  Mitte  der  beiden  ange- 
führten Extreme.  In  Fällen,  bei  denen  allerdings  ein  gewisser  Grad  von 
Quetschung  Statt  gehabt  hat,  doch  aber  wenig  davon  sichtbar  und  die 
Haut  nur  an  einer  kleinen  Stelle  verletzt  ist,  wird  die  Entscheidung',  ob 
man  die  Heilung  versuchen  oder  sofort  zur  Amputation  schreiten  soll, 
sehr  schwierig  sein,  und  nur  die  Besonderheit  des  einzelnen  Falles  kann 
hier  entscheiden.  In  neuerer  Zeit  hat  sich  mehr  und  mehr  die  Tendenz 
herausgebildet,  in  diesen  zweifelhaften  Fällen  lieber  die  Erhaltung  der 
Extremität  anzustreben,  als  ein  Glied  zu  amputiren,  welches  möglicher- 
weise noch  erhalten  werden  könnte.  Dies  Princip  ist  gewiss  aus  allge- 
mein humanistischen  Gründen  zu  rechtfertigen;  indess  lässt  sich  nicht 
leugnen,  dass  man  es  mit  dieser  conservativen  Chirurgie  der  Glieder  auf 
Kosten  des  Lebens  zu  weit  treiben  kann,  und  dass  man  sich  doch  nicht 
ungestraft  gar  zu  weit  von  den  Principien  der  älteren,  erfahrenen 
Chirurgen  entfernen  darf,  die  bei  diesen  zweifelhaften  Fällen  mit  wenigen 
Ausnahmen  der  Amputation  den  Vorzug  zu  geben  pflegten.  Ausser  der 
Art  und  Weise  der  Verletzung  und  den  damit  mehr  oder  weniger  verbun- 
denen Quetschungen  ist  die  Bedeutung  des  einzelnen  Falles  auch  ganz 
besonders  davon  abhängig,  ob  man  es  mit  tiefen  Wunden,  mit  tief  in  der 
Musculatur  liegenden  Knochenbrüchen  zu  thun  hat,  oder  mit  Knochen, 
die  mehr  oder  weniger  unmittelbar  unter  der  Haut  liegen,  da  von  der 
Tiefe  und  Ausdehnung  der  Knochenverletzung  die  Gefahr  der  Eiterung 
wesentlich  abhängig  ist.  So  ist  z.  B.  eine  offene  Fi-actur  am  vorderen 
Theil  des  Unterschenkels  prognostisch  günstiger,  als  die  gleiche  Verletzung 
am  Vorder-  und  Oberarm;  am  ungünstigsten  sind  die  offenen  Fracturen 
des  Oberschenkels,  ja  es  giebt  Chirurgen,  welche  bei  dieser  Verletzung 
stets  die  Amputation  machen.  —  Die  Zerreissung  grösserer  Nervenstämme 
bei  Fracturen  kommt  nicht  sehr  oft  vor,  scheint  übrigens  auch  in  Bezug 
auf  die  Heilung  keinen  sehr  wesentlichen  Einfiuss  zu  haben;  auch  zeigen 
Experimente  an  Thieren,  sowie  Erfahrungen  an  Menschen,  dass  die 
Knochen  an  gelähmten  Extremitäten  in  normaler  Weise  heilen  können.  — 


VDi-icsmi-  15.    Cnpiici  vr.  223 

Die  Verletzung  grosser  Vcncnstänimc,  z.  V>.  dov  Vena  femoralis,  gielit  zu 
Blutungen  Anlass,  die  freilich  leicht  durcli  den  coniprimirenden  Verl)and 
gestillt  werden  können,  al)er  doch  dann  gefährlich  werden,  wenn  das 
in  ziendiclier  Menge  zwischen  die  Muskeln  und  unter  die  Haut  diffun- 
dirte  Blut  in  Zersetzung  übergelit.  —  Die  Zcrreisssung  des  llauptarterien- 
stammes  einer  Extremität  führt  zuweilen  sofort  zu  hedeutcnden,  arleriellen 
Blutungen;  notliW'Cndig  ist  dies  jedocli  nicht,  da  in  zerquetscliten  Arterien, 
wie  früher  auseinandergesetzt,  sich  leiclit  ein  Tlirondjus  bildet,  so  dass 
es  nicht  immer  zu  ergiebiger  Blutung  konnut.  Erkennt  man  aber  aus 
der  Art  der  Blutung  die  Zeri-eissung  eines  Arterienstammes,  so  wird  man 
nach  den  früher  angegebenen  Principien  entweder  von  der  Wunde  aus 
die  Unterbindung  zu  machen  suchen,  oder  man  wird  den  Arterienstamm 
am  Locus  eleetionis  unterbinden  müssen.  Zerreissung  der  A.  femoralis 
mit  gleichzeitiger  Fractur  des  Oberschenkels  führt  erfahrungsgemäss 
immer  zu  Gangrän,  ist  also  unbedingte  Indication  für  primäre  Amputation; 
bei  entsprechender  Verletzung  am  Oberarm  kann  vielleicht  ein  Cur- 
versuch  glücken,  jedoch  auch  durch  Gangrän  vereitelt  werden;  die 
Heilung  von  Vorderarm-  und  Unterschenkelfracturen  kann  trotz  gleich- 
zeitiger Zerreissung  einer  oder  vielleicht  auch  beider  Ilauptarterienstämme 
erfolgen.  —  Endlich  ist  bei  der  Frage,  ob  Amputation,  ob  Heilungs- 
versuch, noch  zu  berücksichtigen,  in  wie  weit  nach  erfolgter  Heilung  und 
nach  der  eventuellen  Ueberwindung  aller  schlimmen  Chancen  die  geheilte 
Extremität  noch  brauchbar  ist.  Diese  Frage  kann  sich,  zumal  bei 
complicirten  Fracturen  am  Fuss  und  unteren  Theil  des  Unterschenkels 
aufdrängen,  und  es  ist  wiederholt  vorgekommen,  dass  man  genöthigt 
war,  Füsse  zu  amputiren,  die  bei  der  Heilung  nach  offenen  Comminutiv- 
fracturen  Formveränderungen  und  Stellungen  bekommen  hatten,  wodurch 
sie  für  den  Gebrauch  beim  Gehen  durchaus  untauglich  wurden.  Das 
Gleiche  ist  auch  zu  berücksichtigen,  wenn  man  bei  massig  ausgedehnter 
Gangrän  am  Fuss  entscheiden  will,  ob  er  amputirt  werden  soll  oder 
nicht.  Es  kann  die  Loslösung  der  abgestorbenen  Theile  des  Fusses  in 
einer  so  unzweckmässigen  Weise  erfolgen,  dass  der  zurückbleibende 
Stumpf  weder  zum  Auftreten  noch  zur  Coaptation  an  eine  künstliche 
Extremität  brauchbar  ist.  In  solchen  Fällen  rauss  amputirt  w^erden;  alle 
unsere  Amputationsmethodeu  sind  mit  auf  die  spätere  Anfügung  von 
Stelzfüssen  oder  künstlichen  Gliedmaassen  berechnet-. 

Da  wir  durch  die  Natur  des  Gegenstandes  unmittelbar  auf  die 
Indication  zur  Amputation  bei  Verletzungen  geführt  worden  sind,  will  ich 
hier  gleich  erwähnen,  wie  es  sich  mit  den  secundären  Amputationen 
nach  Verletzungen  verhält.  Sie  könnten  sich  leicht  über  die  Frage,  ob 
bei  einer  complicirten  Fractur  amputirt  werden  soll  oder  nicht,  mit  dem 
Gedanken  trösten,  dass  man  später  immer  noch  die  Amputation  machen 
könne,  wenn  sich  die  Besorgnisse  über  den  ungünstigen  Verlauf  realisiren 
sollten.     In  dieser  Beziehung  zeigt  eine  aufmerksame  Beobachtung^  dass 


224  V*^"  <^P"  offenen  Knochenbrüchen  und  von  der  Knocheneiterimg. 

man  zwei  Zeitraomeute  für  diese  secundären  Amputationen  unterscheiden 
muss.     Die  erste  Gefahr    droht  dem  Kranken    von    einem    acuten  Zer- 
setzung-sprocess  um  die  Wunde  lieruni  und  der  damit  sich  yerbindendeii 
jauchigen  Intoxication  des  Blutes.     Ob  diese  Gefahr  eintritt,  entscheidet 
sich  bis  etwa  zum  vierten  Tage;  ist  dieselbe  eingetreten,  und  amputiren 
Sie  jetzt  (und  zwar   muss   dies  selir   hoch    oberlialb  der  jauchigen  Infil- 
tration geschehen),    so  ist  dies  wohl   der  ung-iinstigste  Äloment   für  die 
Amputation,   indem   es  leider  nur  sehr  selten  geling-t,   einen  solchen 
Kranken  zu  retten.     Etwas  günstiger,  wenngleich  im  Verhältniss  zu  den 
Primäramputationen   (solche,    w-elche    innerhalb    der    ersten  48  Stunden 
gemacht  werden)  immer  noch  sehr  ungünstig,  gestalten  sich  die  Resultate 
der  Amputationen,    welche  Sie   vom   8.  bis  etwa   14.  Tage    wegen    be- 
ginnender acuter  Eiterinfection,  Pyohämie,  machen.     Hat  der  Kranke 
zwei   oder   drei  Wochen   überstanden,    und  sollte  jetzt  noch  durch  eine 
sehr  profuse,   erschöpfende  Eiterung  ohne  Schüttelfröste,    bei  massigem 
Fieber   oder   durch  rein  locale    Gründe    die  Indieation   zur  Amputation 
gegeben  sein,    so   sind  die  Resultate  wieder  relativ  günstig,    falls   die 
Kräfte  des  Verletzten   durch  Eiterung  und  Fieb-er  nicht  schon  zu  sehr 
erschöpft  sind;  wenn  von  manchen  Chirurgen  behauptet  worden  ist,  die 
secundären   Amputationen    geben   überhaupt   bessere   Resultate    als    die 
primären,   so  haben  sie  dabei  fast  ausschliesslich  Secundäramputationen 
unter  diesen  Verhältnissen  im  Sinne  gehabt.     Berücksichtigen  wir  aber 
dabei,  wie  viele  Kranke  mit  offenen  Fracturen  innerhalb  der  drei  ersten 
Wochen  zu  Grunde   gehen,   wie  wenige   also  einen  günstigen  Zeitpunkt 
für  die  Secundäramputation  überhaupt  erleben,    so  kann  es    in  meinen 
Augen  keinem  Zweifel  unterliegen,   dass  die  Primäramputationeu  ganz 
entschieden  den  Vorzug  verdienen.     Ich  habe  bis  jetzt  nur  äusserst  selten 
Indieation  für  späte  Secundäramputationen  gefunden. 


Die  Heilung  einer  offenen  Fractur  kann  auf  sehr  verschiedene  Weise 
vor  sich  gehen.  Es  kommt  vor,  dass  Hautwunde  und  Fractur  ohne 
Eiterung  per  primam  heilen;  dies  ist  jedenfalls  als  der  allergünstigste 
Fall  zu  betracliten,  bei  der  modernen  Behandlungsweise  tritt  dies  Ereig- 
niss  öfter  ein,  wenngleich  die  Bedingungen  dazu  der  Xatur  der  Sache 
nach  nicht  sehi-  häufig  gegeben  sind.  Weit  häufiger  ist  es  (auch  dies 
ist  als  sehr  günstig  zu  betrachten),  dass  die  Wunde  nur  bis  in  geringe 
Tiefe  eitert,  und  dass  sich  die  Eiterung  nicht  zwischen  und  um  die 
Bruchenden  erstreckt,  sondern  der  lleilungsprocess  am  Knochen  wie  bei 
einer  einfachen  subcutanen  Fractur  vor  sich  gellt.  Die  Fälle,  wo  die 
Wunde  nur  die  Haut  betrifft  und  mit  der  Fractur  gar  nicht  conniuiniciit, 
sollte  man  gar  niclit  zu  den  complicirten  Fracturen  rechnen;  indess  sind 
da  die  Grenzen  schwer  zu  ziehen.    . 


Vorlcsim-   15.     C.'ipilrl   VI.  225 

Ist  die  iriui(:vviiu(lc" gross,  sind  die  Wciclitliciic^  slark  gcqiictsclit,  so 
(hiss  sich  Fetzen  von  ihnen  a])lösen,  erstreckt  sieh  die  Verletzung  in  die 
'.riete  zwiselien  die  Muskeln  und  die  Knochen,  seihst  l)is  in  die  Mark- 
liöhle  des  Knochens  hinein,  liegen  die  Fragmente  'ganz  schief  aneinander, 
linden  sicli  hier  und  dort  halb  lose  Knochenstücke,  dringen  Längsspalten 
weit  in  den  Knochen  hinein,  so  niuss  der  Heilungsprocess  sich  in  nianch(;r 
Beziehung  von  demjenigen  ohne  Eiterung  unterscheiden.  Die  Thätigkeit 
der  Weiehtheile  v^^ird  wesentlich  dieselbe  bleiben,  wie  bei  den  sub- 
cutanen Fracturen,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  in  diesem  Fall  die 
entzündliche  Neubildung  nicht  direct  zu  Calius  wird,  sondern  dass  nacli 
Ablösung  der  zerquetschten  nekrosirten  Fetzen  Granulationen  und  Eiter 
entstehen,  von  denen  sich  erstere  in  verknöchernden  Callus  umAvandeln. 
Die  Form  des  Callus  wird  sich  nicht  wesentlich  ändern,  ausser  dass  dort, 
wo  die  offene  eiternde  Wunde  längere  Zeit  bestand,  so  lange  eine  Lücke 
im  Callusriug  bleibt,  bis  dieselbe  durch  die  nachwachsenden,  in  der  Tiefe 
verknöchernden  Granulationen  geschlossen  wird.  Der  Process  wird  also 
weit  langsamer  zum  Abschluss  konunen  als  bei  einer  subcutanen  Fractur, 
grade  wie  die  Heilung  durch  Eiterung  viel  längere  Zeit  braucht,  als  die 
Heilung  per  primam. 

Doch  was  wird  aus  den  Fragmentenden,  welche  theilweise  oder 
ganz  vom  Periost  entblösst  in  der  Wunde  liegen?  Was  wii'd  aus  grösseren 
oder  kleineren  Knochenstücken,  welche  vollständig  vom  Knochen  ab- 
getrennt, nur  noch  locker  mit  den  Weichtheilen  zusammenhängen?  Zwei 
Möglichkeiten  sind  hier  wie  bei  den  Weichtheilen  gegeben,  je  nachdem 
die  Knochenenden  lebensfähig  oder  abgestorben  sind.  Im  ersteren 
häufigeren  Fall  wachsen  direct  aus  der  Knochenoberfläclie  Granulationen 
hervor.  Im  letzteren  erfolgt  die  plastische  Thätigkeit  im  Knochen  wie 
bei  den  Weichtheilen  an  der  Grenze  des  Lebendigen;  es  bilden  sich 
interstitielle  Granulationen  und  Eiter;  es  schmilzt  der  Knochen,  das  todte 
Knochenende,  der  Sequester,  fällt  ab.  Die  Ausdehnung,  bis  zu  welcher 
dieser  Abstossungsprocess  vor  sich  geht,  hängt  natürlich  von  der  Aus- 
dehnung ab,  in  welcher  der  Kreislauf  am  Bruchende  oder  in  den  aus- 
gebrochenen Stücken  in  Folge  der  Verstopfung  der  Gefässe  aufgehört 
hatte.  Diese  Ausdehnung  kann  sehr  verschieden  sein;  sie  kann  sich 
vielleicht  nur  auf  die  oberflächliche  Schicht  des  verletzten  Knochens  er- 
strecken, und  da. man  den  ganzen  Process  der  Loslösung  Necrosis 
nennt,  so  heisst  man  diese  oberflächliche  Loslösung  eines  Knochenblätt- 
chens  Necrosis  sup  erficialis,  während  man  die  Ablösung  des  ganzen 
Bruchendes  einer  Fractur  als  Necrosis  totalis  der  Bruchenden  be- 
zeichnen kann ;  der  Ausdruck  Necrosis  totalis  ist  indess  mehr  gebräuch- 
lich, wenn  man  bezeichnen  will,  dass  die  ganze  Diaphyse  eines  Eöhren- 
knocheus  oder  wenigstens  ihr  grösster  Theil  abgelöst  wird ;  der  Gegensatz 
dazu  ist  die  Necrosis  partialis.  Der  Gegensatz  zu  der  obererwähnten 
Necrosis  superficialis,   die  man  auch  wohl  als  Exfoliation  bezeichnet, 

BUlroth  ehir.  P;üh.  u.  Ther.    7.  Aufl.  15 


226  Von   dpn   offeiiPii   KnochenbrücliPii   und  von   dor  KnocliPiieitfriing. 

ist  eigentlicli  die  Necrosis  centralis,  d.  li.  der  Ablüsuiigsprocess  eines 
inneren  Theils  des  Knochens.  Die  Necrosis  superficialis  und  die  Nekrose 
der  Bruch  enden,  sowie  der  partiell  abgelösten  Knochenhruchstücke  ist 
mit  den  hier  7a\  besprechenden  eiternden  Fracturen  so  häufig-  combinirt, 
dass  wir  ihre  Besprechung  schon  hier  nicht  umgehen  konnten.  —  Es 
Avird  Ihnen  vorläufig  noch  wunderbar  erscheinen,  dass  aus  der  harten 
glatten  Corticalsubstanz  eines  Rührenknochens  gefässreiche  Granulationen 
üppig  hervorspriessen  sollen ;  dass  das  harte  Knochengewebe  unter  dem 
Einfluss  dieser  plastischen  Processe  aufgelöst  wird,  und  eine  Conti- 
nuitätstrennuug  zwischen  Todtem  und  Gesundem  spontan  erfolgen  kann, 
wird  Ihnen  aus  dem  früher  Mitgetheilten  möglich  erscheinen.  Diesen 
Processen  der  Granulationsbildung  im  Knochen  und  der  Knochen- 
eiterung wollen  wir  jetzt  gleich  in  ihren  feineren  Verhältnissen 
nachgehen. 

Sie  werden  sich  aus  der  ausführlichen  Darstellung  des  traumatischen 
Eiterungsprocesses  in  Weichtheilen  erinnern,  dass  dieser  Vorgang  sich  in 
histologischer   Beziehung  hauptsächlich   auf  eine  rasche  und  bedeutende 
Gefässausdehnung,  und  eine  wahrscheinlich  direct  aus  dem  Blut  stammende, 
massenhafte  Zelleninfiltration  concentrirt;    die  Intercellular'substanz  wird 
dann    weich,     wird    sehr    reichlich    vascularisirt    und    so    entsteht    das 
Granulationsgewebe,    aus  welchem  an  die  Oberfläche  fortdauernd  Eiter- 
zellen auswandern.     Diese   Vorgänge  können  sich   im  Knochen,    zumal 
in   und    an    der   festen    Corticalsubstanz    eines    Piöhrenknochens    nur    in 
sehr     geringem     Grade    entfalten,     weil     die    starre    Knochensubstanz 
eine  starke  Ausdehnung  der  Knochencapillaren,  die  in  den  Haversischen 
Canälen  eingeschlossen  sind,  und  eine  übermässige  acute  Zelleninfiltration 
in  die  letzteren  verhindert.     Ich  mache  Sie  hier  gleich  aufmerksam,  dass 
es  bei  dieser  geringen  Ausdehnungsmöglichkeit  der  Gefässe   innerhalb 
der  Knochencanäle   begreiflicherweise   viel  leichter  als    bei  den  Weich- 
theilen zum  Absterben  einzelner  Knochentheile   kommen  kann,   weil  bei 
etwaigen  Blutgerinnungen  selbst  in  kleineren   Capillardistricteu   die  Er- 
nährung nur  sehr  unvollkommen  durch  die  Dilatation  collateraler  Cai)il- 
laren  ausgeglichen  werden  kann,   und  es  würde  noch  viel  häufiger  und 
ausgedehnter  Nekrose  erfolgen,    wenn    nicht    durch    die    vielen    queren 
Anastomosen  der  Kuochengefässe  die  Gefahr  der  Stase  gemildert  Aväre. 
Es    kann    im   Verlauf   der  Eiterung    auch    dadurch    noch    zur    Nekrose 
kommen,  dass  das  Bindegewebe  und  die  Gefässe  in  den  Haversischen 
Canälen    ganz    aus  eitern    und    damit    natürlich     die    Circulatiou    im 
Knochen   ganz    aufhört.     Soll    es    zur  Entwicklung    eines    gefässreiehen 
Granulationsgewebes  an  der  Oberfläche  des  Knochens  oder  mitten  in  der 
compacten  Knocheusubstanz  kommen,  so  ist  dies  auf  keine  andere  Weise 
möglicli,    als  dass,    wie  früher  beschrieben,  zuvor  die  Knochensubstanz 
(Kalksalze  sowohl  als   organische  Materien)  dort  verschwindet,   wo  das 
neue  Gewebe  an  seine  Stelle  treten  soll ;  es  muss  ebenso  eine  Auflösung 


ViirlcsuiiK    K;.      (';i|.il,'l    Vf.  227 

und  ein  Schwuiul  des  Knoelieni^'ewebes ,  wie  der  Wcielillicilc  unter 
gleichen  Bedingung-cn  erfolgen  (vergl.  Fig.  44  ])ag.  103).  Der  Unter- 
schied maclit  sich  hauptsflchlicli  in  der  Vei'schiedenhcit  der  Zeit  geltend ; 
die  Granulationsentwicklung  am  und  im  Knochen  dauert  al)er  sehr  viel 
länger,  als  an  den  Weichtheilen.  Schon  früher  lial)e  icli  erwähnt,  dass 
der  gleiche  Process  an  den  gefässarmeu  Seimen  und  Ffiscicn  viel  länger 
dauert,  als  am  Bindegewebe,  an  den  Muskeln  und  an  der  Haut;  am 
Knochen  dauert  er  noch  länger  als  an  den  Sehnen.  Uel)rigens  niuss 
auch  die  Lebensenergie  des  ganzen  Individuums  und  der  davon  ab- 
hängige sogenannte  Vitalitätsgrad  der  Gewebe  dabei  in  Anscidag  ge- 
bracht werden. 


Vorlesung  16. 

Entwicklung  der  Knocliengranulationen.  Histologisches.  —  Sec{nesterlösung.  Histologisches. 
—  Knochenneubildimg  um  die  gelösten  Sequester.  Callus  bei  eiternden  Fracturen.  — 
Eitrige  Periostitis  und  Osteomyelitis.  —  Allgemeinzustände.  Fieber.  —  Behandlung;  ge- 
fensterte  Verbände,  geschlossene,  aufgeschnittene  Verbände.  Antiphlogistische  Mittel. 
Immersion.  —  Principien  über  die  Knochensplitter.     Nachbehandlung. 

Wenn  ein  völlig  entblösster  Knochentheil  sich  anschickt,  Granulationen 
auf  seiner  Oberfläche  hervorspriessen  zu  lassen  (was  wir  freilich  bei 
complicirten  Fracturen  nur  dann  sehen  können,  wenn  die  Fragmentenden 
bei  grossen  Hautwunden,  z.  B.  an  der  vorderen  Fläche  des  Unter- 
schenkels frei  zu  Tage  liegen)  — •  so  erkennen  wir  dies  mit  freiem  Auge 
an  folgenden  Veränderungen.  Die  Knochenoberfläche  behält  in  den 
ersten  8—10  Tagen  nach  der  Entblössung  vom  Periost  meist  ihre  rein 
gelbliche  Farbe,  die  innerhalb  der  letzten  Tage  des  genannten  Zeit- 
raums schon  etwas  ins  liellrosa  überspielt.  Wenn  wir  dann  die  Knochen- 
fläche mit  einer  Lupe  betrachten,  so  können  wir  schon  eine  grosse 
Anzahl  sehr  feiner,  rother  Pünktchen  und  Streifchen  w-ahrnelimen,  welche 
einige  Tage  später  auch  dem  blossen  Auge  sichtbar  werden.  Diese 
Pünktchen  und  Streifchen  w^erden  rasch  grösser,  wachsen  der  Fläche 
und  der  Höhe  nach,  bis  sie  untereinander  confluiren  nnd  dann  eine  voll- 
ständige Granulatiousfläche  darstellen,  welche  unmittelbar  in  die  Granu- 
lationen der  umgebenden  Weichtheile  tibergeht  und  sich  später  auch  an 
der  Benarbung  betheiligt,  so  dass  eine  solche  Narbe  fest  an  dem  Knochen 
adhärirt. 

Verfolgen   wir  diesen  Process  in  seine  feineren,   histologischen  Details,    was  haupt- 
sächlich mit  Hülfe  von  injicirten  und  entkalkten  Knochen    auf  experimentellem  Wege  ge- 

15* 


228  Von  (Ion  oftVnPii   KnofhenbriicliPii  und   von  der  Kiinelieneitfruiig. 

scheheu  miiss,  so  kommen  ^vil•  zu  folgenden  Kesultaten:  wenn  der  Kreislauf  im  Knochen 
bis  nahe  an  die  Oberfläche  erlialten  ist,  so  erfolgt  in  dem  die  Gefässe  begleitenden  Binde- 
gewebe in  den  Haversischen  Canälen  eine  reiche  Infiltration"  von  Zellen ;  dies  Gewebe 
wächst  dann  mit  den  nach  der  Oberfläche  zu  sich  entwickelnden  Gefässschlingen  an  den- 
jenigen Stellen  ans  dem  Knochen  hervor,  an  denen  die  Haversischen  Canäle  sich  nach 
aussen  hin  öffnen.  Die  Phitwicklung  dieser  jungen  Granulationsmasse  in  die  Breite  erfolgt 
auf  Kosten  von  resorbirter  Knochensubstanz.  Macerirt  man  einen  solchen  Knochen  mit 
oberflächlichen  Granulationen,  so  wird  er  auf  seiner  Oberfläche  wie  von  Würmern  zerfressenes 
Holz  erscheinen;  in  den  vielen  kleinen  Löchern,  welclie  alle  mit  mehr  oder  weniger  Haver- 
sischen Canälen  connnuniciren,  sass  am  frischen  lebendigen  Knochen  das  Granulationsgewebe. 
So  bleibt  indessen  die  Knoehenoberfläche  nicht,  sondern  während  die  Knochengranulationen 
an  ihrer  Oberfläche  sich  zu  Bindegewebe  condensiren  und  benarben,  verknöchern  sie  in 
der  Tiefe  ziemlich  schnell,  so  dass  am  Schlüsse  des  ganzen  Ausheilungsprocesses  der  ver- 
Avundet  gewesene  Knor-lien  an  seiner  Oberfläche  nicht  etwa  defect,  sondern  im  Gegentheil 
dnrch  Auflagerung  und  Einlagerung  junger  Knochenmasse  verdickt  erscheint.  Sie  sehen, 
dass  die  Verhältnisse  sich  auch  hier  genau  so  gestalten,  wie  bei  der  subcutanen  Entwick- 
lung der  entzündlichen  Neubildung.  Wenden  Sie  Ihren  Blick  zurück  auf  Fig.  55  pag.  2Ü5. 
denken  Sie  sich  von  der  Knochenoberfläche  das  Periost  entfei-nt,  so  wird  die  Neubildung 
(in  dem  vorliegenden  Fall  als~  Granulation)  aus  den  Haversischen  Canälen  pilzartig  her- 
vorwachsen. Es  wird  Ihnen  dies  gleich  noch  vei-ständlicher  werden,  wenn  wir  jetzt  den 
Process  der  Ablösung  nekrotischer  Knochenstücke  genauer  veifolgen. 

"Kehren  wir  zu  dem  zurück,  was  uns  die  Beobachtung  mit  freiem 
Aug-e  lehrte,  und  nehmen  wir  etwa  an,  wir  haben  ein  zum  Theil  von 
Weichtheilen  entblösstes  Scheitelbein  vor  uns,  so  werden  sich,  falls 
keine  Granulationen,  wie  oben  Jbeschrieben,  aus  dem  Knochen  hervor- 
wachsen, folgende  Erscheinungen  darbieten;  während  die  umgebenden 
Weichtheile  und  auch  die  Stellen  des  Knochens,  welche  von  Periost  be- 
deckt geblieben  sind,  bereits  reichlich  Granulationen  producirt  haben  und 
Eiter  secerniren,  bleibt  der  abgestorbene  Knochentheil  rein  weiss  oder 
bekommt  wohl  eine  graue ,  selbst  schwärzliche  Färbung.  Er  verharrt 
viele  Wochen,  manchmal  zwei  Monate  und  darüber  in  diesem  Zustande; 
um  ihn  herum  wuchern  die  Granulationen  in  üppigster  Weise;  die  Be- 
narbung  ist  in  der  Peripherie  der  Wunde  schon  eingeleitet,  und  man 
übersieht  vorläufig  noch  gar  nicht,  wie  die  Sache  werden  soll,  da  die 
Knochenoberfläche  vielleicht  noch  in  der  sechsten  Woche  grade  so  aus- 
sieht, wie  am  ersten  Tage  nach  der  Verletzung.  Da  endlich  fühlen  wir 
eines  Tages  den  Knochen  an  und  finden  ihn  beweglich;  nach  einigen 
Versuchen  gelingt  es,  an  seiner  Grenze  die  Branche  einer  Pincette  unter- 
zubringen, und  siehe  da!  wir  heben  eine  dünne  Knochenplatte  ab,  unter 
welcher  sich  üppige  Granulationen  befinden;  die  untere  Fläche  dieser 
Knochenplatte  ist  sehr  rauh,  wie  zerfressen.  Jetzt  geht  die  Heilung 
schnell  vor  sich.  Es  dauert  freilich  oft  lange,  bis  eine  solche  Narbe 
dauerhaft  und  solide  ist,  so  dass  sie  allen  Schädlichkeiten,  wie  Druck 
und  Reibung  wiederstehen  kann;  doch  kommt  die  Ausheilung  oft  zu 
einem  günstigen  Ende.  Dies  ist  derjenige  Vorgang  den  wir  Necrosis 
superficialis  oder  Exfoliation  eines  Knochens  nennen.     (Fig.  60.) 


Vorl.'siiMg    K;.      <',i|m(cI    vi. 


220 


Fi«.  (iO. 
ff/ 


Lösung  eines  durch  Verletzung  eutblössten,  nekrotisch  gewordenen,  t>bei'flachiichen  Theils 
eines  platten  (z.  B,  Schädel-)  Knochens.  Necrosis  superlicialis.  a  Die  von  dem  lebendigen 
Theil  des  Knochens  ausgewachsenen  Granulationen  unterminiren  das  abgestorbene  (vertical 
schraffirte)  Stück,  den  Sequester,  h  Der  Sequester  ist  von  unten  her  stark  von  den 
Granulationen  ausgefressen,  welche  ihn  an  mehren  Stellen  durchbrochen  haben.  — 
Schematische  Zeichnung;    natürliche  Grösse. 

An  den  Weich theilen  kennen 
wir  diesen  Vorgang'  schon;  grosse 
Gewebsfetzen  fallen  im  Lauf  der 
ersten  Woche  von  den  gequetschten 
Wunden  ab,  indem  an  der  Grenze 
des  Gesunden  eine  interstitielle  Gra- 
nulationsentwicklung auftritt  und 
dadurch  das  Gewebe  aufgelöst  wird  5 
ebenso  ist  der  Vorgang  hier.  An 
einem  entkalkten  Knochen  können 
wir  diese  Vorgänge  anatomisch 
leicht  untersuchen.  Es  entwickelt 
sich  die  entzündliche  Neubildung, 
das  Granulationsgewebe,  an  der 
Grenze  des  Gesunden  in  den  Haver- 
sischen  Canälen.  Die  folgende  Ab- 
bildung (Fig.  61)  mag  Ihnen  diesen 
Process  in  seinem  histologischen 
Detail  veranschaulichen. 

Wenn  Sie  das  Gesagte  richtg 
aufgefasst  haben,  so  bedarf  es  nur 
noch  einer  geringen  Anstrengung 
Ihrer  Phantasie,  um  sich  zu  veran- 
schaulichen, wie  derselbe  Loslösungsprocess   eines   Knochenstttcks    sich 


Lösung  eines  nekrotischen  Knochenstiicks 
von  der  Corticalschicht  eines  Röhren- 
knochens. Schematische  Zeichnung.  Ver- 
grösserung  300.  a  Nekrotisches  Knochen- 
stück; b  lebender  Knochen;  c  Neubildung 
in  den  Haversischeu  Canälen,  durch  welche 
der  Knochen  aufgelöst  Avird.  Vergl.  Fig.  39, 
pag.   163. 


230 


Von  den  offenen  KnochenbrÜL-lieu  und  von  der  Knoclieneitenmg. 


Fhj.  62. 


(liircli  die  ganze  Dicke  eines  Knochens  erstrecken  kann,  wie  also  (und 
hiermit  kommen  wir  wieder  auf  die  complicirten  Fracturen  zurück)  das 
Bruchende  eines  Knochens  sich  in  toto  in  hliig-crer  oder  kürzerer  Aus- 
dehnung- ablösen  kann,  wenn  es  nicht  mehr  lcl)en8fäliig-  ist.  Ein  solcher 
-Process  dauert,  wenn  die  Dicke  des  betreffenden  Knochens  sehr  be- 
deutend ist,  viele  Monate  lang,  doch  kann  man  schliesslich  auch  selbst 
grössere  Knochenstücke  ebenso  beweglich  in  der  Wunde  finden  und 
herausheben,  wie  eine  oberflächliclie  Knochenplatte. 

Was  die  ganz  von  Knochen  abgetrennten,  nur  mit  Weichtheilen 
nocli  zusammenhängenden  Knochensplitter  betrifft,  so  wird  ilir  ferneres 
Schicksal  dadurch  bcstinnnt,  wie  weit  der  Kreislauf  in  ihnen  noch  erhalten 
ist,  wie  weit  sie  noch  lebensfähig  sind.  »Sind  sie  gar  nicht  lebensfähig, 
so  lösen  sie  sich  in  der  Folge  vollständig  durch  Vereiterung  der  an 
ihnen  haftenden  Weichtheile  ab  und  unterhalten  oft  als  fremde  Körper 
eine  Eeizung  und  starke  Eiterung  der  AVunde.  Sind  Sie  noch  lebens- 
fähig, so  producircn  sie  au  den  freiliegenden  Flächen  Granulationen,  die 
später  verknöchern  und  mit  dem  gesammten,  um  die  Bruchenden  herum 
entstandenen  Callus  verschmolzen. 

Um  uns  zu  veranschauliclien 
wie  sich  nun  zu  diesem  Lösungs- 
process  nekrotischer  Bruchenden  die 
Callusbilduug  verhält,  habe  ich 
Ihnen  folgendes  Bild  entworfen 
(Fig.  62). 

Die  Fragmente  des  gebrochenen 
Knochens  sind  nicht  genau  coaptirt, 
sondern  etwas  seitlich  dislocirt;  die 
Enden  der  Fragmente  sind  beide 
nekrotisch  geworden  und  durch  in- 
terstitielle Granulationswucherung 
an  der  Grenze  des  lebenden  Kno- 
chens der  Lösung  nahe.  Die  ganze 
AVunde  ist  durch  Granulationen  aus- 
gekleidet, welclie  Eiter  seccrnircn^ 
der  sich  bei  d  nach  aussen  entleert. 
In  l)eiden  Fragmenten  hat  sich  ein 
innerer  Callus  [bb)  gebildet,  der 
jedoch  wegen  Eiterung  der  Bruch- 
flächen noch  niclit  mit  einander  ver- 
schmolzen ist;  der  äussere  Callus 
(cc)  ist  unrcgel massig  und  unter- 
brochen bei  r/,  weil  hier  von  An- 
fang an  der  Eiter  nach  aussen  Ab- 
fluss  hatte,     AVeun  nun  die  Granu- 


T^iiiich  eiiR's  Kührenknoflieus  niif  äusserer 
Wunde.  Dislocation  und  Nocrose  beider 
Fragnientenden ,  Längsdurcliselinitt.  Selie- 
nialiselio  Zeielumng.  Nat.ürliehe  Grösse. 
ee  Kntieheu.  ffff  Weiclillieile  der  Extre- 
nnliU.  aaaa  nekroliselie  Bruclionden'  Dtis 
sein-  dunkel  Scliraflirte  stellt  die  Granula- 
tiinuMi  vor,  welelie  die  naeli  aussen  (d) 
niündoude  Wundliölile  auskleiden  und  Kiler 
secerniren.  bö  innerer  Callus  in  beiden 
etwas  disloeirlen  Bruclienden.  c  c  äusserer 
Callus. 


V(n-|( 


IC.        Ciipilrl      \I. 


231 


lülidiion  so  stark  wncliscn,  <l;iss  sio  die  i;aii'/c  llülilo  ausfüllen  und  nacli- 
li;ii;li('li  vevkuöclicrn ,  so  Aviirdc  damit  die  Heilung'  erreicht  uud  das 
Scidussresultat  ^enau  dasselbe  sein,  wie  hei  der  lleiluuü,-  suhculauer 
Fractureu.  Damit  dies  i;'es('helieu  kaiiu,  müssen  die  nekrotischen  Knoclien- 
stitekc  entfernt  werden,  denn  dieselben  können  crfahrun^sgeniäss  \\u:\\t 
in  die  Knocliennarbc  einheilen.  Diese  Elimination  der  scquestrirtcn 
Frai^niente  erfolg't  entAveder  durch  Kesorption  oder  durch  künstliche  Ent- 
fernung- nach  aussen;  erster  es  ist  das  häufig'crc  bei  kleineren, 
letzteres  bei  grösseren  Sequestern;  so  lange  aber  die  Sequester 
zwischen  den  Granulationen  der  Fragmente  stecken,  ei'folgt  die  Heilung 
sicher  nicht.  Da  die  Oetfnung  bei  (/  durch  starke  Entwicklung  des 
äusseren  Callus  sehr  eng  werden  kann,  so  ist  die  künstliche  Entfernung 
der  nekrotischen  Fragmentenden  zuweilen  sehr  schwierig-.  Dass  über- 
haupt solche  Sequester  in  der  Tiefe  stecken  und  ob  sie  bereits  gelöst 
sind,  erkennen  wir  durch  die  Untersuchung  mit  der  Soiule.  —  Denken 
Sie  sich  die  Sequester  aa  (Fig.  62)  aus  der  Wundhölde  entfernt,  so  ist 
kein  Ilinderniss  mehr  für  die  Ausfüllung  der  Wunde  mit  Granulationen 
und  ihre  nachfolg-ende  Verknöeherung.  Solche  Sc(|uester  bei  complicirten 
Fracturen  sind  sehr  häutig-  die  Ursache  nicht  allein  von  neuen  Exacer- 
bationen der  acuten  eitrigen  Entzündungspi-ocesse,  sondern  auch  von 
subcutanen  und  chronischen  Periostitiden  mit  laugdauerndem  festem  Oedem 
der  Extremität  uud  lästigen  eczematösen  Eruptionen  auf  der  Haut  der- 
selben, so  wie  auch  von  lang  bestehenden  Knochenfisteln  und  ulcerativcn 
Processen  an  den  Fragmentendeu.  Es  combinirt  sich 
in  der  Wirkung  dieser  Sequester  der  doppelte  Eiufluss 
des  fremden  Körpers  und  der  bald  mehr  localen,  bald 
mehr  allgemeinen  Eiterinfection. 

Wir  können  hier  beiläufig  gleich  die  Verhält- 
nisse besprechen,  wie  sie  sich  am  Knochen 
nach  der  Amputation  ausbilden.  Denken  Sie  sich 
die  Fig.  62  an  der  Stelle,  wo  die  Fractur  ist,  quer 
durchschnitten  und  die  untere  Hälfte  entfernt,  so  sind 
die  Verhältnisse  wie  nach  einer  Amputation.  Der 
Knochen  treibt  jetzt  entweder  unmittelbar  Granulationen 
aus  seiner  Wundfiäche,  oder  es  wird  ein  Stück  (die 
Sägefläche)  in  grösserer  oder  geringerer  Ausdehnung 
nekrotisch  (Fig.  63).  Mag  dem  nun  sein,  wie  ihm 
wolle,  so  wird  jedenfalls,  sowohl  in  der  Markhöhle? 
als  aussen  am  Knochen  eine  Neubildung  (ein  halber 
Callus)  entstellen,  Avelche  in  der  Folge  verknöchert; 
untersuchen  Sie  nach  Monaten  einen  Amputations- 
stumpf, so  finden  Sie  den  Knochenstumpf  in  seiner 
Markhöhle  durch  Knochenmasse  verschlossen,  wie  auch 
durch  äussere  Auflagerung  verdickt.    Hierbei  sei  noch 


(;;). 


Ampiitatiüiisstumpf 

des  Oberschenkels 

mit  nekrotischer 

iSaliofiäche. 


232  ^'^'^  ^*^^^  oifenen  Knochenbriichen   und  von  der  Knocheneiterung. 

bemerkt,  dass  der  Name  Callas  fast  ausscliliesslieh  für  die  kuöclierne 
Neubildung-  bei  Fracturen  gebraucht  wird,  während  man  sonst  die  aussen 
auf  dem  Knochen  auf  lagernden  jungen  Knochenneubildungen,  wie  sie 
unter  den  verschiedensten  Verhältnissen  entstehen  können,  „Osteophyten" 
(von  oOTSov,  Knochen  und  cpv^ia,  Geschwulst)  nennt;  Callus  und  Osteo- 
phyten  sind  also  keine  wesentlichen  Unterschiede,  sondern  beides  Be- 
zeichnungen für  junge  Knochenbildungen. 


Zwei  Bestandtheile  des  Knochens  haben  wir  bis  jetzt  bei  Besprechung 
des  Eiterungsprocesses  unberücksichtigt  gelassen,  nämlich  das  Periost 
und  das  Knochenmark,  Wir  haben  bei  Betrachtung  der  Callusentwick- 
lung  gesehen,  dass  auch  das  Periost  thätig  bei  der  Bildung  der  neuen 
Knochenmasse  mitwirkt.  Greift  aber  bei  offenen  eiternden  Fracturen 
die  eitrige  Entzündung  in  Folge  ausgedehnter  Quetschung  weit  um  sich, 
so  kann  auch  ein  grosser  Theil  des  Periosts  theils  nekrotisiren,  theils 
durch  Vereiterung  zu  Grunde  gehen,  und  wir  finden  in  solchen  Fällen 
ausgedehnte  suppurative  Periostitis  (suppurare,  eitern);  der  grösste 
Theil  eines  Köhrenknochens,  z.  B.  der  Tibia  kann  von  Eiter  umspült  sein. 
Es  wird  dadurch  dem  ausser  Verbindung  mit  den  umgebenden  Weich- 
theilen  gesetzten  Knochen  die  Blutzufuhr  von  der  Oberfläche  her  entzogen, 
und  gerade  auf  diese  Weise  kann  in  Folge  der  eitrigen  Periostitis  aus- 
gedehnte Nekrose  des  Knochens  entstehen.  Diese  localen  Gefahren  sind 
jedoch  gering  anzuschlagen  im  Verhältniss  zu  den  Gefahren,  welche 
solche  tiefliegenden  Eiterungen  für  den  ganzen  Organismus  nach  sich 
ziehen  und  die  wir  später  noch  sehr  ausführlich  zu  besprechen  haben. 

Nicht  minder  kann  sich  das  Knochenmark  sowohl  eines  Piöhren- 
knochens  als  eines  spongiösen  Knochentheils  an  der  Eiterung  betheiligen. 
Aus  dem  früher  Gesagten  wissen  Sie,  dass  sich  im  Verlauf  des  normalen 
Heilungsprocesses  der  Fracturen  in  der  Markhöhle  ebenfalls  neue  Knochen- 
masse bildet  und  dass  durch  diese  für  eine  geraume  Zeit  die  Mark- 
höhle geschlossen  bleibt.  Bei  den  offenen,  eiternden  Fracturen  tritt  nuu 
auch  zuweilen  eine  Eiterung  des  Knochenmarks  ein,  die  sich  mehr  oder 
weniger  weit  ausbreiten  kann.  Eine  solche  suppurative  Osteomyelitis 
ist  von  nicht  geringerer  Gefahr,  sowohl  für  die  Existenz  des  Knochens, 
als  auch  für  den  gesammten  Organismus,  wie  die  suppurative  Periostitis. 
Sie  kann  aus  verschiedenen  Ursachen  auch  einen  jauchigen  Charakter 
annehrüen;  die  grösseren  Knochenvenen,  welche  aus  dem  Mark  heraus- 
treten, können  sich  an  dem  Eiterungsprocess  betheiligen,  und  es  ist  diese 
Krankheit  von  um  so  verderblicheren  Folgen,  ,weil  sie  ganz  in  der  Tiefe 
verläuft  und  sehr  häufig  erst  au  der  Leiche  sicher  erkannt  werden  Icann. 
Auch  die  eitrige  Osteomyelitis  für  sich  kann  zur  partiellen  und  selbst 
zur  totalen  Nekrose  eines  Knochens  führen,  um  so  eher,  wenn  sie  sich 
mit  der  eitrigen  Periostitis  verbindet. 


Vorlosimf;-    1 H.     Clapih^l    Vf.  233 

Wenni;'lcicli  es  nöthii!,"  war,  Sic  mit  jillcn  den  angeCülivten  örtlichen 
Complicationen  bei  den  offenen  Fracturcn  bekannt  zu  machen,  bo  kann 
ich  doch  zu  Ihr^r  Beruhigung  liin/Aifiigen ,  dass  dieselben  nur  in  den 
seltneren  Fällen  in  der  g-eschilderten  Ausdehnung-  vorkommen; 
weder  totale  Nekrose  beider  Bruchenden,  nocii  ausgedehnte  eitrige  Pe- 
riostitis und  Osteomyelitis  sind  nothwendige  Folgen  dieser  Fracturen, 
sondern  oft  genug  erfolgt  zum  Glück  die  Heilung  in  der  Tiefe  auf  ganz 
einfachem  Wege,  und  nur  aussen  besteht  eine  länger  dauernde  Eiterung. 
Ob  eine  zur  Eiterung  führende,  traumatische  Entzündung  über  die 
Grenzen  der  Keizung  (der  Verletzung)  hinausgeht,  hängt  hier,  wie  bei 
den  einfachen  Quetschwunden,  von  der  Art  und  dem  Grade  der  Verletzung, 
und  später  von  allen  den  Umständen  ab,  die  wir  als  directe  oder  in- 
directe  Veranlassung  für  die  secundären  Entzündungen  an  Wunden 
kennen  gelernt  haben.  Je  ausgedelmter  die  Knochenzertrümmerung  (zumal 
bei  Schussfracturen) ,  um  so  grösser  sind  auch  alle  unmittelbaren  und 
mittelbaren  Folgen  der  Verletzung. 

Jetzt  noch  einige  Worte  über  den  Allgemeinzustand ,  besonders  über 
das  Fieber  der  Kranken  bei  complicirten  Fracturen.  Während  es  bei 
den  subcutanen  Fracturen  als  eine  Seltenheit  zu  betrachten  ist,  wenn  einer 
von  diesen  Krauken  überhaupt  Fieber  bekommt,  so  gilt  es  umgekehrt  als 
eine  Ausnahme,  wenn  Kranke  bei  offener  Fractur  kein  Fieber  bekommen. 
Wenn  irgendwo,  so  ist  gerade  hier  die  Abhängigkeit  des  Fiebers  von 
der  Ausdehnung  und  Intensität  des  örtlichen  Processes  recht  in  die  Augen 
fallend.  Wie  wir  schon  bei  den  gequetschten  Wunden  erwähnt  haben,  so 
ist  auch  hier  mit  jeder  Ausdehnung  der  Entzündung  eine  Fiebersteigeruug 
verbunden,  und  zwar  ist  dieselbe,  ganz  allgemein  betrachtet,  um  so  be- 
deutender, je  tiefer  die  Eiterungsprocesse  liegen.  Crrade  bei  accidenteller 
Osteomyelitis  und  Periostitis  steigt  die  Körpertemperatur  Abends  nicht 
selten  bis  über  40"  Gels.;  rasche  intensive  Temperatursteigerungen  mit 
Schüttelfrösten  verbunden  gehören  zu  den  leider  nicht  seiteneu  Erschei- 
nungen: Septhämie  und  Pyohämie,  Trismus  und  Delirium  potatorum  ver- 
binden sich  besonders  gern  mit  den  eiternden  Fracturen,  so  dass  ich 
hier  nur  darauf  zurückkommen  kann,  was  ic!i  Ihnen  bereits  am  Eingange 
des  Capitels  bemerkte,  dass  jede  offene  Fractur  in  den  meisten  Fällen 
eine  schwere  und  gefährliche  Verletzung  sein  oder  werden  kann.  Es 
ist  daher  die  grösste  Umsicht  und  Sorgfalt  nothwendig.  Ich  kann  Sie 
aus  eigener  Erfahrung  versichern,  dass  die  gelungenste  operative  Our 
mir  niemals  eine  solche  Freude  bereitet,  wie  die  gelungene  Heilung  einer 
schweren  complicirten  Fractur. 


Gehen  wir  jetzt  zu  der  Behandlung  der  offenen  Fracturen 
über.  Nachdem  man  sich  im  Lauf  der  letzten  Jahre  ganz  allgemein 
von  der  vorzüglichen  Wirkung  der  festen  Verbände  tiberzeugt  hatte,  lag 


234  Von   den  offenen  Knoc'henbrüeli(;n   un<l   von   'ler  Knocheneiterung. 

es  nahe,  dieselben  in  modificirter  Form  auch  bei  offenen  Fracturen  in 
Anwendung  zu  ziehen;  in  der  That  hat  bereits  »Seutin,  der  Erfinder 
des  Kleisterverbandes,  die  sogenannten  gefensterten  Verbände  in  An- 
wendung gezogen,  d.  h.  er  etablirte  in  dem  festen  Kleisterpappverband 
eine  Oeffnuug,  welche  der  Wunde  der  Weich theile  entsprach,  so  dass/ 
letztere  der  Beobachtung  wie  der  Behandlung  zugänglich  war  und  blieb. 
Diese  gefensterten  Kleisterverbände,  sowie  die.  gefensterten  Gypsverbände, 
welche  jetzt  sehr  oft  angewendet  werden,  hatten  in  ihrer  primitiven  Form 
allerdings  grosse  Uebelstände,  die  aber  jetzt  als  völlig  überwunden  zu 
betrachten  sind.  Der  Hauptiibelstand  der  gefensterten  Verbände  war 
der,  dass  die  Unterbinden  und  die  Watte,  die  unter  dem  Kleister-  oder 
Gjpsverband  liegen  müssen,  immer  sehr  leicht  von  Eiter  durchtränkt 
wurden,  und  der  so  unterhalb  des  Verbandes  in  die  Verbandstücke  im- 
prägnirte  Eiter  sich  zersetzte  und  zu  Gestank  Veranlassung  gab.-  Aus- 
gedehnte Erfahrungen  haben  mich  überzeugt,  dass  mau  diese  Nachtlieile 
beseitigen  kann;  man  muss  nur  die  Oeifuungen  gross  genug  machen,  die 
Bänder  der  Fenster  durch  Umsäumung  mit  Leinwandstreifen,  die  man  mit 
Gyps  und  CoUodium  befestigt,  abrunden,  dem  Verband  durch  Bis'sche 
Lagerungsschienen,  durch  eingelegte  Holzspäne  und  Bügel  genügende 
Festigkeit  geben,  und  das  Wundsecret  in  untergesetzten  Schalen  auffangen. 
Bleibt  ein  solcher  Verband  fest  und  sauber,  so  ist  die  Mühe,  die  seine 
erste  Anlegung  kostet,  nicht  nur  durch  den  glänzenden  Erfolg  dieser 
Behandlungsweise,  sondern  auch  durch  die  grosse  Zeitersparniss  belohnt, 
die  man  bei  der  späteren  Besorgung  des  Verwundeten  gewinnt.  —  Eine 
Zeit  lang  habe  ich  die  Gypsverbände  bei  offenen  Fracturen  fast  aus- 
schliesslich in  der  Weise  gebraucht,  dass  ich  sie  anfangs  ganz  geschlossen, 
Avie  bei  einer  einfachen  Fractur  anlegte  und  sie  bald  der  Länge  nach 
aufschnitt,  etwas  aus  einander  bog,  die  Wunden,  je  nachdem  sie  es 
bedurften,  alle  zwei  Tage. oder  täglich  verband,  ohne  dass  die  Fragmente 
dabei  gerührt  wurden  und  dies  so  lange  fortsetzte,  bis  die  Wunde  ge- 
heilt war,  um  dann  zum  Schluss,  wenn  es  nöthig  sein  sollte,  für  einige 
Zeit  noch  einen  vollkommen  geschlossenen  Verband  neu  anzulegen. 
Auch  diese  Methode  ist  für  manche  Fälle  verwendbar  und  hat  gute  Er- 
folge aufzuweisen.  Das  Wesentliche  bei  diesen  verschiedenen  Verfahren 
ist  und  bleibt,  dass  man  auch  die  complicirtesten  Fracturen, 
wenn  man  sich  entschieden  hat,  nicht  zu  amputiren,  sofort 
nach  der  Verletzung  in  den  Gypsverband  legt,  grade  so  wie  eine 
einfache  Fractur,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  man  diese  Wunde  mit 
Charpie  oder  Compressen,  die  zuvor  in  Bleiwasser  oder  Chlorkalkwasscr 
oder  Carbolsäurelösung  getaucht  sind,  zu  decken  hat,  und  dass  man 
sehr  viel  Watte  (zwei  Finger  dick)  auf  die  Extremität  legt,  ehe  man 
den  Verband  applicirt,  damit  aucli  für  den  Fall,  dass  Schwellung  eintritt, 
keine  Einschnürung  des  Gliedes  durch  den  Verband  erfolgen  kann. 

Ein  Umstand,   der  die  Anlegung  irgend  eines  festen  Verbandes  für 


VorlosiiHo-    IC.     rapifcl    VI.  235 

alle  Fälle  gleich  erscliwcrt,  ist  eine  sehr  grosse  (»der  viele  Wunden 
zu  i;'leieher  Zeil.  Tritt  in  solchen  Fällen  ansi!,e(lehnte  uiul  in  die  '{'iere 
Hebende  Eiterung-  ein,  so  dass  viele  (üegenötrnungcn  gemacht  werden 
müssen  und  dadurcli  die  Zahl  der  Wunden  bedeutend  vermehi-t  wird, 
so  wird  es  eben  unniöglicli  sein,  den  gleichen  Verband  lange  zu  behal- 
ten, und  man  wird  dann  vielleicht  genötliigt  sein,  zu  den  Sciiienen  und 
l^einladen  zeitweilig-  zurückzukehren,  die  dann  alle  Tage  vollständig  er- 
neuert werden  müssen.  Uebrigens  stehen  gerade  diese  schwersten  Fälle, 
wie  Sie  aus  dem-  früher  Gesagten  entnehmen  werden,  liäutig-  an  der 
Grenze  der  Amputation,  d.  h.  ihre  Heilung-  ist  überhaupt  problematisch. 
—  Je  mehr  Uebung-  man  in  der  Application  der  Gypsverbände  bekommt, 
um  so  seltner  werden  schlimme  Accidentieu  eintreten.  Seitdem  ich  bei 
den  complicirten  Fracturen  in  der  erwähnten  Weise  die  Verbände  appli- 
cire,  kommen  mir  die  diffusen  septischen  Entzündung-eu  und  secundären 
Eiterungen  viel  seltener  zur  Beobachtung  als  früher.  Ich  bin  von  der 
Ueberzeugung  durchdrungen,  dass  die  Behandlung-  der  offnen  Fracturen 
mit  Gypsverbänden  die  beste  ist;  aber  man  muss  diese  Methode  der 
Behandlung-  studiren,  und  sich  nicht  einbilden,  man  verstehe  sie  a  priori. 
Wenn  ein  Chirurg-  ans  der  älteren  Schule  unsere  heutige  Behand- 
lung- sowohl  der  einfachen,  als  der  complicirten  Fracturen  sieht,  so  wird 
er  dieselbe  nicht  allein  für  irrationell,  sondern  auch  für  sehr  tollkühn 
halten,  denn  man  behandelte  früher  die  Knochenbrüche,  wie  jede  an- 
dere Verletzung-,  vor  Allem  erst  antiphlogistisch  und  stellte  dieser  Auf- 
gabe g-eg-entiber  alles  andere  in  zweite  Linie.  Man  hielt  e^  daher  für 
nöthig-,  an  die  gebrochene  Extremität  in  der  Gegend  der  Fractur  Blutegel 
anzulegen,  kalte  Ueberschläge  oder  Eisblasen  zu  appliciren  und  den 
Kranken  reichlich  zu  purgiren.  Später  ging  man  bei  den  offenen  Fractu- 
ren, wenn  die  Wunden  in  Eiterung-  kamen,  gewöhnlich  zu  Kataplasmen 
über,  die  man  fast  bis  zur  vollendeten  Heilung  anwandte.  Daneben 
wurde  ein  Schienenverband  applicirt  und  derselbe  etwa  alle  2 — 3  Tage 
erneuert,  während  die  Wunde,  je  nach  der  Eiterung,  mehr  oder  weniger 
häufig  verbunden  wurde.  Einer  der  ersten,  welcher  sich  gegen  den  so 
häufigen  Wechsel  der  Verbände  bei  Wunden  überhaupt  und  zumal  bei 
offenen  Knochenbrüchen  aussprach,  war  Larrey.  —  Tu  neuester  Zeit  ist 
man  Avohl  allgemein  zu  der  Ueberzeugung  gekommen,  dass  bei  der  Be- 
handlung der  offenen,  wie  bei  derjenigen  der  subcutanen  Fracturen  die 
genaueste  Fixirung-  der  Fragmeute  diejenige  Bedingung  ist,  die  zuerst 
erfüllt  werden  muss,  wenn  die  Heilung  in  günstiger  Weise  vorschreiten 
soll,  und  dass  nichts  mehr  die  Entzündungen  um  die  Wunde  anzuregen 
im  Stande  ist,  als  die  Bewegungen  der  Fragmente.  Die  sichere  Fest- 
stellung derselben  ist  daher  das  wichtigste  und  wirksamste  Anti- 
phlogisticum,  welches  wir  hier  in  Anwendung  ziehen  können.  Wir 
wiederholen  hier  die  schon  früher  gemachte  Bemerkung,  dass  Kälte  und 
Blutentziehungeu  durchaus  nicht  prophylaktisch  antiphlogistisch   wirken, 


236  ^•-"1  '^L'n  oflenen  Knoeheubriic-lHM)   und   von   der  Knochenciterung. 

wie  man  es  früher  anuahm.  Halte  ich  es  für  nöthig',  bei  auftretenden 
progressiven  Entzündungen  um  die  Wunde  Eis  zu  appliciren,  so  entferne 
ich  ein  Stück  von  dem  Gypsverhand  der  Stelle  entsprechend,  an  Avelcher 
die  Eisblase  aufgelegt  werden  soll.  Was  die  neben  der  Wunde  auftre- 
tenden Eiterungen  betrifft,  so  ist  durch  Einschnitte  für  den  Abfluss  des 
Secrets  zu  sorgen.  Das  allgemeine  Princip,  welches  in  Bezug  auf  die 
Wahl  der  einzuschneidenden  Stellen  gilt,  ist,  dass  man  dort  die  Gegen- 
öffnungen anlegt,  avo  man  am  deutlichsten  Fluctuation  fühlt,  wo  man  am 
Avenigsten  Weichtheile  zu  durchschneiden  hat,  wo  der  Eiter,  ohne  dass 
man  durch  Fingerdruck  nachliilft  am  leichtesten  abfliesst.  Muss  man 
Fenster  aus  dem  Verband  ausschneiden,  so  geschieht  dies  am  leichtesten 
2 — 3  Stunden  nach  Anlegung  des  Verbandes.  Nachdem  man  die  Oeflf- 
nungen  entsprechend  den  Wunden  aus  der  Gypsbindenlage  ausgeschnitten 
hat,  ohne  dabei  die  Extremität  zu  rühren,  zupft  man  die  Watte  von  ein- 
ander, entfernt  die  aufgelegte  Charpie  und  umsäumt  die  Fenster  sorg- 
fältig ;  dann  schiebt  man  unter  die  Fensterränder  mit  einem  Spatel  Watte, 
um  das  Eindringen  von  Wundsecret  in  den  Verband  zu  verhindern.  Seit 
mehren  Jahren  lasse  ich  auch  alle  Wunden  und  Abscessöff- 
nungen  bei  complicirten  Fracturen  ganz  offen  und  bin  sehr 
erfreut  von  den  glücklichen  Erfolgen  dieser  Methode.  —  Jeden- 
falls gehört  zur  Behandlung  der  complicirten  Fracturen  mit  Gypsverbäuden 
eine  sehr  sorgfältig  zu  übende  Technik  und  die  Kenntniss  einer  grossen 
Menge  von  Details,  die  man  nur  am  Krankenbett  gewinnen  kann;  auch 
ist  eine  Gabe  der  Erfindung  von  Modificationen  verschiedener  Verband- 
typen uothwendig.  Die  Behandlung  einer  offenen  Fractur  ist  oft  sehr, 
sehr  schwierig;  jeder  verwende  dabei  die  Methoden  in  seiner  Praxis,  die 
er  gelernt  hat;  ob  Gypsverhand,  ob  Kleisterverband,  ob  Wasserglasver- 
band, daraufkommt  es  nicht  an;  das  Wesentliche  ist,  dass  die  Fragmeute 
ruhig  und  fest  liegen,  und  dass  dieselben  bei  den  Verbänden  nicht 
bewegt  werden;  dann  wird  sich  der  Verletzte  wohl  und  schmerzfrei 
befinden  und  gesund  werden. 

Die  günstigen  Erfahrungen,  Avelche  mau  mit  der  Immersion  bei  ge- 
quetschten Wunden  an  Hand  und  Fuss  machte,  haben  manche  Chirurgen 
veranlasst,  auch  die  complicirten  Fracturen,  wenigstens  des  l'nterschen- 
kels  und  Vorderarmes,  ajiif  gleiche  AVeise  zu  behandeln.  Man  hat  in  der 
Berliner  chirurgischen  Klinik  versucht,  die  gebrochenen  Extremitäten  mit 
einem  gefensterten  Gypsverhand  in  das  permanente  Wasserbad  zu  brin- 
gen; zu  diesem  Zweck  muss  der  Gypsverband  durch  Bestreichen  mit 
Cement,  Schellacklösung,  AVasserglas,  Collodium  u.  dgl.  wasserfest  ge- 
macht werden.  Die  Eesultate  dieser  Behandlung  sind  gerühmt.  Sollten 
dabei  eitrige  Entzündungen  um  die  AA'unde  herum  auftreten,  bei  denen 
schon  an  sich  das  continuirliche  AVasserbad  von  übler  AVirkuiig  ist,  so 
scheint  mir  diese  Methode  durchaus  unzweckmässig. 

Bei    der  Behandlung   offener  Fracturen  mit  Schienenverl)äudeu    be- 


Vorlcsmi!'-    Ii;.      (',-i|,ilrl    VI.  2P>7 

dient  man  sich  i;-c\völnili('!i  i;rn(ler  sclinuUcr  llolzscliicneii,  die  lur  den 
Gcbvaneli  am  IJntersclionkel  mit  einem  Fussstlick  versehen  sind. 

Da  wir  die  Ik'sprcclinng'  der  Beliandlnni;'  ('onijdieirter  Fracturen 
gleich  mit  den  Vevhänden  begonnen  haben,  so  muss  ich  noch  etwas 
über  die  erste  Untersuchung-  hinzufüg-en.  Die  Diagnose  der  complicirten 
Fractuven  wird  wie  die  der  einfachen  gemacht.  Ein  Fing- eben  mit 
den  Fingern  in  die  Wunde  ist  in  vielen  Fällen  völlig  unnöthig 
und  schädlich;  nur  wenn  man  lose  Knochensplitter  zu  erwarten 
hat,  z.  B.  bei  Sehussfracturen,  wenn  man  Splitter  durchzufühlen  glaubt, 
oder  solche  sieht,  sollen  dieselben  ausgezogen  werden;  je  weniger  Sie 
nöthig'  haben,  an  der  Wunde  zu  manipuliren,  um  so  besser. 
Alle  fest  adhärenten  Knochensplitter  lässt  man  liegen;  das  Abtragen 
spitzer  Fragmentenden  (die  primäre  Resection  der  Fragmentenden)  kann 
gelegentlich  von  Vortheil  sein;  ich  habe  dazu  nur  dann  Veranlassung- 
genommen,  wenn  die  Reposition  und  Fixation  solcher  Fragmente  auch 
in  der  Chloroformnarkose  unmöglich  war.  Die  Reposition  der  Fragmente 
muss  eben  vor  der  Anlegung  des  Verbandes  aufs  Genaueste  gemacht 
werden,  späteres  Biegen  und  Ziehen  ist  entschieden  zu  verwerfen,  und 
wenn  es  wegen  bedeutender  Dislocation  nöthig  werden  sollte,  bis  zur 
Heilung  der  Wunde  zu  verschieben.  Ebenso  ist  frühzeitiges  Zerren  an 
halbanhängenden  Knochensplittern  ganz  unzweckmässig  und  nutzlos; 
ein  an  dem  Periost  oder  andern  Weichtheilen  adhärentes  abgestorbenes 
Knochenstttck  fällt  nach  und  nach  von  selbst  ab,  dann  nimmt  man  es 
fort.  Zuweilen  treten  mehre  Wochen  nach  der  Verletzung  noch  be- 
deutende Schwellung,  profuse  Eiterung  mit  heftigem  Fieber  auf;  in 
solchen  Fällen  kann  partielle  Nekrose  scharfer  Fragmentstücke  die  Ur- 
sache sein;  es  ist  dann  in  der  Narkose  ein  Versuch  zu  macheu,  die 
betreffenden  Knochensplitter  zu  extrahiren.  —  Sind  keine  solche  besondere 
Veranlassungen  zu  neuer  Untersuchung  der  Wunden  gegeben,  so  forsche 
mau  nicht  eher  durch  Sondiren  nach  nekrotischen  Knochensplittern  als 
bis  die  Wunde  sich  so  reizlos  wie  eine  chronisch  entstandene  Knocheu- 
fistel  verhält,  und  auch  dann  mit  grösster  Vorsicht  und  mit  absolut 
reinen  Instrumenten.  Ist  eine  ausgedehntere  Nekrose  eines  ocler  beider 
Bruchenden  eingetreten,  so  kann  die  Extraction  der  abgestorbeneu 
Knocheustücke  Schwierigkeit  darbieten;  man  würde  dann  dasselbe  Ope- 
rationsverfahren anwenden,  wie  bei  der  Operation  der  Nekrose  überhaupt, 
wovon  später  bei  den  Knochenkrankheiten  zu  sprechen  ist,  dies  darf 
aber  nicht  früher  geschehen,  als  bis  der  Process  in  ein  ganz  chronisches 
Stadium  getreten  ist. 

Was  die  Dauer  des  Heilungsprocesses  complicirter  Fractureu  betrifft, 
so  ist  dieselbe  immer  eine  längere,  wie  bei  den  einfachen  Fractureu,  ja 
sie  kann  bei  lauger  Eiterung  gelegentlich  weit  über  das  Doppelte  der 
für  eine  einfache  Fractur  genügenden  Zeit  in  Anspruch  nehmen.  Man 
wird  hierüber  durch   die  manuelle  Untersuchung  zu  entscheiden  haben 


238  Von   (Ion  Psciidartliroseii. 

und  den  Kraiikeu  jedenfalls  iiielit  fi'iiliei-  zu  Gcbversuclien  auffordern, 
als  bis  die  Fractur  vollständig  consolidirt  ist.  Die  Hückbilduug-  des 
Callus,  seine  Verdicbtuug,  sein  äusserer  Scbwuud  und  seine  Resorption 
bis  zur  Wiederberstelluug  der  Markböble,  finden  in  ganz  gleicber  Weise 
Statt,  wie  bei  den  einfacben  snl)cutanen  Fracturen.  —  Die  Bebandlung 
der  complieirten  Fracturen  ist  einer  der  scbwierigsten  Gegenstände  in 
der  gesammten  Cbirurgie;  man  lernt  darüber  nie  ans. 


Vorlesung  17. 
ANHANG    ZU    CAPITEL   V.    UND    VI. 

1.  Verzögerung  der  Calliisbiklting  und  Entwicklung  einer  Pseudarthrose.  —  Ursaclien  oft 
unbekannt.  Locale  Bedingungen.  Allgemeine  Ursachen.  —  Anatomische  Beschaffenheit. 
—  Behandlung:  innere,  operative  Mittel;  Kritik  der  Methoden.  —  2.  Von  den  schief- 
geheilten  Knochenbrüchen;  Infraction,  blutige  Operationen.  —  Abnorme  Calluswncherung. 

1.     Verzögerung  der  Callusbildung  und  Entwicklung  eines 
falscben  Gelenks,  einer  „Pseudartbrosis". 

Es  kommt  unter  mancben,  uns  nicbt  immer  bekannten  Verbältnissen 
vor,  dass  eine  Fractur  bei  der  gewöbnlicben  Bebandlung  nacb  dem  Ab- 
lauf der  gewöbnlicben  Zeit  nocb  nicbt  consolidirt  ist;  ja  es  kann  sieb 
ereignen,  dass  es  gar  nicbt  zur  Consolidation  kommt,  sondern  dass  die 
Fraeturstclle  ganz  scbmerzlos  wird  und  sebr  beweglicb  bleibt,  wodurcb 
begreif  lieberweise  die  Function  der  Extremität  bis  zur  völligen  Unbraucb- 
barkeit  beeinträcbtigt  sein  kann.  Vor  einiger  Zeit  kam  ein  kräftiger 
Bauernburscbe  mit  einfacber  subcutaner  Fractur  des  Unterscbenkels  obne 
Dislocatioji  in  das  Krankenbaus ;  es  wurde  wie  gewöbnlicb  ein  Gyps- 
verband  angelegt  und  derselbe  nacb  14  Tagen  erneuert.  Secbs  "Wocben 
nacb  gescbebeuer  Fractur  wurde  der  Verband  ganz  entfernt  in  der  Er- 
wartung, dass  der  Knocbenbrucb  gebeilt  sei;  indess  die  Fracturstelle  war 
nocb  vollkommen  beweglicb;  aucb  war  gar  keine  Callusbildung  von 
aussen  zu  fiiblen.  leb  griff  bicr  zunäcbst  zu  dem  cinfacbsten  ^Mittel  in 
solcben  Fällen,  indem  icb  den  Patienten  narkotisirte  und  dann  die 
Fragmente  stark  an  einander  rieb,  bis  man  recbt  deutlicb  Crepitation 
wabrnabm;  jetzt  legte  icb  wieder  einen  Gypsverband  an  und  fand  nacb 
Entfernung  desselben  4  Wocben  später  die  Fractur  bereits  ziemlicb  fest. 
Icb  lagerte  den  Patienten  in  eine  Beinlade  und  Hess  dann  täglicb  den 
Untcrscbcnkel,  obne  ibn  mit  Binden  einzuwickeln,  auf  seiner  vorderen 
Fläcbe  mit  starker  Jodtinktur  bestreicbeu,  ein  Verfabren,  welcbes  aucb 


Voricsiiiii;'    17.      Aiiliant;-  zu   C:\\,\ir\    V.   iiiul    V^f.  239 

olmc  V(>rlicviii,os  llcilicii  der  Fragiiicutc  zuwcüeii  zum  Ziel  führt.  Nticli- 
dem  dies  14  Tage  laug-  fortgesetzt  war,  f;iiid  ich  die  Fractiir  ganz  fest; 
der  Kranke  stand  jetzt  mit  Hülfe  von  Krücken  auf  und  konnte  in  kurzer 
Zeit  geheilt  entlassen  werden.  —  Mehre  Fälle  sind  n)ir  aus  der  Praxis 
anderer  Collegen  bekannt,  in  denen  ganz  einfache  Fracturcn  l)ei  sein- 
kräftigen  jungen  Leuten  gar  nicht  zur  Consolidation  kamen,  sondern 
eine  Pseudarthrosis  entstand.  Dergleichen  Vorkommnisse  sind  im  Ganzen 
als  sehr  selten  zu  heti-achten;  meist  sind  es  ganz  bestimmte  Veranlassun- 
gen, zuweilen  Knochenkrankheiten,  durcli  welche  die  Entstehung  einer 
Pseudarthrosis  bedingt  ist.  Es  giebt  gewisse  Fracturcn  am  menschlichen 
Skelet,  die  aus  verscliiedenen  Gründen  erfahrungsgemäss  fast  niemals 
durch  knöchernen  Callus  vereinigt  werden:  hierin  gehören  die  intra- 
capsulären  Fracturcn  des  Collum  femoris  und  Collum  Immeri,  die  Brüche 
des  Olecranon  und  der  Patella.  Die  beiden  letzten  Knochen  weichen, 
wenn  sie  quer  abbrechen,  so  weit  aus  einander,  dass  die  von  beiden 
Enden  gebildete  Knochenmasse  sich  nicht  begegnen  kann,  und  deshalb 
sieh  nur  eine  narbige  Bandverbinduug  zwischen  diesen  Knochentheilen 
bildet.  Das  Caput  femoris  besitzt,  wenn  es  innerhalb  der  Kapsel  abge- 
brochen ist,  freilich  noch  eine  Blutzufuhr  durch  eine  kleine  Arterie,  welche 
durch  das  Lig.  teres  in  den  Kopf  eintritt,  indess  ist  doch  diese  Ernäh- 
ruugsquelle  sehr  gering,  und  es  wird  daher  die  Knochenproduction  von 
Seiten  des  kleinen  Fragmentes  eine  geringe  sein.  Bei  einem  Bruch  des 
Caput  humei-i  innerhalb  der  Gelenkkapsel  wird,  falls  der  seltene  Fall 
eintreten  sollte,  dass  ein  Stück  des  Kopfes  ganz  vollständig  von  den 
übrigen  Knochen  abgetrennt  ist,  dieses  Knochenstück  gar  kein  Blut  zu- 
geführt erhalten  und  sich  daher  wie  ein  fremder  Körper  dem  Organismus 
gegenüber  verhalten:  eine  Anheilung  desselben  ist  kaum  zu  erwarten. 
Bei  den  angeführten  Beispielen  betrachten  wir  die  Nichthe.ilung  so  selir 
als  Eegel,  dass  wir  sie  für  gewöhnlich  kaum  noch  als  Pseudarthrosen- 
bildung  bezeichnen.  Indess  wollte  ich  Ihnen  hieran  zeigen,  dass  es  rein 
örtliche  Verhältnisse  geben  kann,  welche  zu  einer  Pseudarthrose  dispo- 
niren:  dahin  gehört  zumal  das  vollständige  Ausbrechen  grösserer  Knochen- 
stücke, nach  deren  Entfernung  bei  offenen  Fracturen  ein  so  grosser 
Defect  entstehen  kann,  dass  er  nicht  ganz  durch  neugel)ildete  Knochen- 
masse wieder  ausgefüllt  wird.  Eine  sehr  lange  dauernde  Eiterung  mit 
geschwüriger  Zerstörung  und  weitgehender  Auflösung  der  Fragraentenden 
könnte  ebenfalls  zu  Entstehung  einer  Pseudarthrose  Veranlassung  geben. 
Ferner  wird  die  Behandlung  zuweilen  als  Ursache  angeldagt:  ein  zu 
lockerer  oder  gar  kein  Verband,  zu  frühzeitige  Bewegung  sind  Momente, 
die  in  Betracht  kommen  können.  Auch  hat  man  behauptet,  dass  eine 
zu  andauernde  Application  intensiver  Kälte,  die  gleichzeitige  Unter- 
bindung grosser  Arterienstämme,  und  endlich  auch  ein  zu  fest  angelegter 
Verband  einer  genügenden  Entwicklung  von  knöchernem  Callus  hinder- 
lich sei.     Alles   dies  ist  für  sich   allein   keine  nothwendige  Bedingung 


OA-O  ^^°"  *^^"  Pseudarthrosen. 

für  die  Eutsteliung  einer  Pseudarthrose,  kann  aber  als  zweites  Moment 
mitwirken,  wenn  durch  die  allg-emeinen  Ernührungsverliältnisse  des 
Org-anismus  eine  Pseudartlirosenbildung  nach  Fractur  begünstigt  wird. 

Von  allg-emeinen  Dispositionen  und  allgemeinen  Knochenkranklieiten 
werden  folgende  als  zu  Pseudarthrosen  disponirend  bezeichnet:  eine  sehr 
schlechte  Ernährung,  Entkräftung'  durch  wiederholte  Blutverluste,  speci- 
fische  Krankheiten  des  Blutes,  wie  Scorbut,  sehr  intensive  Krebskrank- 
lieit.  Von  den  Krankheiten  der  Knochen  ist  es  hauptsächlich  die 
Osteomalacie ,  ein  Schwund  der  Corticalsubstanz  mit  Vergrösserung  der 
Markhöhle,  bei  welcher,  wie  früher  schon  erwähnt,  in  gewissen  Stadien 
nicht  allein  eine  bedeutende  Fragilitas  ossium  besteht,  sondern  bei 
welclier  auch  die  Chancen  für  die  Wiedervereinigung  sehr  gering  sind. 
Ich  habe  dies  Alles  Ihnen  angeführt,  weil  es  ziemlich  allgemein  ange- 
nommen wird,  obgleich  sich  bei  schärferen  kritischen  Untersuchungen 
einige  der  genannten,  für  die  Pseudarthrose  disponirenden  Momente 
von  sehr  zweifelhaftem  Werth  herrausstellen,  während  die  Bedeutung 
anderer  wohl  constatirt  ist.  So  ist  es  auch  unter  Anderem  eine  sehr 
verbreitete  Ansicht,  dass  bei  Schwangeren  die  Fracturen  nicht  zur  Con- 
solidation  kommen.  Dies  ist  nicht  für  alle  Fälle  richtig;  ich  sah  selbst 
mehrfache  Fracturen  bei  Schwangeren  vollständig  heilen,  nur  einmal  ver- 
längerte sich  das  Festwerden  des  Callus  bei  einer  spät  erkannten 
Fractur  des  unteren  Endes  des  Radius  um  einige  Wochen,  was  übrigens 
auch  bei  nicht  schwangeren  Frauen  und  bei  Männern  vorkommen  kann. 

Das  Abnorme  des  Heilungsproeesses  bei  dem  Zustandekommen  von 
Pseudarthrosen  beruht  nicht  darin,  dass  überhaupt  keine  jSIeubildung 
Statt  findet,  sondern  dass  die  entzündliche  Neubildung  nicht  verknöchert. 
Die  Verbindungsmasse  der  Fragmente  wird  zu  einem  mehr  oder  weniger 
straffen  Bindegewebe,  durch  welches  die  Knochenenden  je  nach  ihrer 
Distanz  in  längerem  oder  kürzerem  Abstand  zusammengehalten  werden. 
Liegen  die  Fragmeute  so  nahe  an  einander,  dass  sie  sich  bei  Bewegungen 
der  Extremität  gegenseitig  berühren  und  an  einander  reiben,  so  entsteht 
zwischen  ihnen  in  der  verbindenden  Baudmasse  eine  mit  etwas  serös- 
schleimiger  Flüssigkeit  gefüllte  Höhle  mit  glatter  Wandung;  an  den 
Bruchenden  hat  man  in  einzelnen  Fällen  auch  wohl  Knorpel  gefunden, 
so  dass  in  der  That  eine  Art  von  neuem  Gelenk  entstanden  war.  So  sehr 
häufig  kommt  dies  indessen  nicht  zu  Staude,  sondern  in  den  meisten  Fällen 
hat  man  es  nur  mit  einer  straffen  Bandmasse  zu  thun,  welche  sieh  unmittel- 
bar wie  eine  Sehne  in  die  Fragmente  einsenkt.  ■ —  So  lange  eine  solche 
Pseudarthrose  an  kleinen  Knochen,  wie  z.  B.  an  der  Clavicula  oder  auch 
selbst  an  einem  der  Vorderarmkuochen,  etwa  am  Radius  oder  der  Ulna 
besteht,  ist  die  Functionsstörung  immerhin  erträglich.  Ist  aber  die  Con- 
tinuitätstrennung  am  Oberarm,  Oberschenkel  oder  Unterschenkel,  so  müssen 
natürlich  bedeutende  Functionsstörungen  eintreten.  In  manchen  Fällen 
ist  es  möglich,  durch  passende  Stützapparate  den  Extremitäten  die  uöthige 


Vorlosiiiii;-   17.     Anliaiiij;  zu   Cnpilvl  V.  imd   VI.  241 

Fcstii^'keit  va\  gehen;  in  luidern  Fällen  geling-t  dies  nicht  oder  docli 
nur  höchst  unvollkonmien,  s^o  dass  man  sclion  seit  zicmlicli  langer  Zeit 
sicli  damit  bcschäftig-t  hat,  die  l'seudarthrosen  auf  operativem  Weg'e  zu 
heilen,  d.  h.  sie  zur  Vei-knöchcrung  zu  zwing'cu.  Elie  wii'  zur  IJcspi-cchung- 
der  zu  diesem  Zweck  angewandten  Verfahren  eingehen,  müssen  wir  noch 
der  Versuche  gedenken,  durch  innere  Mittel  entweder  der  Pseudarthrose 
vorzubeugen,  wenn  man  sie  aus  oben  genannten  Gründen  erwarten  darf, 
oder  dieselbe  zu  heilen,  wenn  sie  einmal  etablirt  ist.  Es  sind  hauptsäclilich 
Kalkpräparate,  die  man  zu  diesem  Zwecke  in  Anwendung  zog.  Man 
Hess  theils  den  phosphorsauren  Kalk  in  Form  von  Pulvern  innerlich 
nehmen,  theils  Kalkwasser  mit  Milch  vermischt  trinken,  ohne  jedoch  da- 
durch wesentliche  Erfolge  zu  erzielen.  Es  wird  von  dem  auf  diese  Weise 
eingeführten  Kalk  nur  sehr  wenig  resorbirt,  und  von  diesem  überschüssig 
etwa  ins  Blut  aufgenommenen  Kalk  wieder  viel  durch  die  Nieren  aus- 
geschieden, so  dass  der  Pseudarthrose  dadurch  fast  nichts  zu  Gute  kommt. 
Mehr  hat  man  allenfalls  von  allgemeinen  diätetischen  Vorschriften  und  von 
Nahrungsmitteln  zu  erwarten,  die  an  sich  sehr  kalkhaltig  sind;  wir  konnnen 
bei  der  Rhachitis  darauf  zurück.  Aufenthalt  in  guter  Landluft  und  Milch- 
diät sind  zu  empfehlen;  doch,  hoffen  Sie  nicht  zu  viel  von  diesen  Mitteln, 
zumal  nichts  bei  einer  vollständig  ausgebildeten,  seit  Jahren  bestehenden 
Pseudarthrose.  In  einer  kürzlich  veröffentlichten  interessanten  Arbeit  von 
Wegner  ist  durch  eine  ausgedehnte  Reihe  von  Experimenten  gezeigt, 
dass  bei  fortgesetzter  Darreichung  kleinster  Dosen  von  Phosphor  die 
Calluswucherung  um  Fracturen  eine  besonders  üppige  und  derbe  wird, 
so  wie  dass  bei  wachsenden  Thieren  die  während  des  Phosphorgebrauchs 
neu  gebildete  Knochenmasse  aussergewöhnlich  dicht  und  hart,  ausser- 
gewölmlich  reich  an  Kalksalzen  wird;  diese  Versuche  fordern  dringend 
auf,  bei  Patienten  mit  Pseudarthrose.  zumal  in  den  früheren  Stadien, 
den  Phosphor  zu  versuchen,  natürlich  mit  äusserster  Vorsicht  und  sorg- 
fältigster Beachtung  der  eventuell  auftretenden  schädlichen  Neben- 
wirkungen dieses  bei  unvorsichtigem  Gebrauch  so  gefährlichen  Mittels. 
—  Die  örtlichen  Mittel  zielen  alle  darauf  hin,  die  Knochenenden  und 
ihre  Umgebung  in  einen  Zustand  von  Entzündung  zu  versetzen,  weil 
erfahrungsgemäss  die  meisten,  zumal  subcutanen  traumatischen  Ent- 
zündungsprocesse  im  Knochen  und  in  der  nächsten  Nähe  desselben  zur 
Knochenbildung  führen.  Die  Mittel,  welche  man  in  Anwendung  zieht, 
sind  graduell  ausserordentlich  verschieden. 

Das  Freilassen  der  Extremität  vom  Verband,  um  die  Entwicklung 
des  äusseren  Callus  nicht  etwa  durch  den  Druck  des  Verbandes  und 
Beschränkung  der  Circulation  zu  hemmen,  das  Aneinanderreihen  der 
Fragmente  und  das  Bestreichen  mit  Jodtinktur  haben  wir  bereits 
erwähnt;  ebenfalls  in  der  Absicht,  die  Fragmente  zu  irritiren  wendet 
man  auch  Blasenpflaster  und  Ferrum  candens  auf  die  der 
Fractur  entsprechende  Stelle  der  Extremität  an.  —  Durch  die  folgenden 

Billrotl]  chir.  P;Uh.  n.  Tliornp.   7.  Aufl.  ■  1  6 


242  ^'^""  *^'-^"  Pseudavthrosen. 

Mittel  wirkt  man  mehr  auf  die  Narbenmasse  ein:  man  stüsst  lang-e,  dünne 
Acupuiikturnadeln  in  die  Bindeg-ewebsuarbe  zwischen  den  Fragmenten 
ein  und  lässt  diese  Nadeln  einige  Tage  lang  liegen,  um  dadurch  die  Narbe 
zu  reizen;  auch  kann  man  die  freien  Enden  zweier  eingesteckter  Nadeln 
mit  den  Polen  einer  Batterie  in  Verbindung  setzen,  um  den  electrischen 
Strom  als  Eeizmittel  durch  die  Verbindungsmasse  der  Fragmente  hindurch- 
gehen zulassen:  dies  Verfahren  nennt  man  Elektropunktur;  es  ist  wenig- 
gebräuchlich  ,  doch  hat  es  sich  in  einigen  Fällen  bewährt.  Man  kann 
ferner  ein  dünnes  schmales  Band  oder  mehrfach  zusammengedrehte 
Seidenfäden,  ein  sogenanntes  Haarseil,  oder  eine  starke  Ligatur 
durch  die  Narbeumasse  hindurchziehen  und  solche  Schnüre  so  lange 
liegen  lassen,  bis  um  sie  herum  eine  reichliche  Eiterung  entstanden  ist. 
—  Die  jetzt  folgenden  Operationsmethoden  nelimen  mehr  direct  den 
Knochen  in  Angriff;  es  giebt  deren  eine  grosse  Anzahl.  i\lan  sticht 
z.  B.  ein  dünnes,  schmales,  aber  starkes  Messer  bis  au  das  Fi-agment 
ein  und  schabt  mit  der  Spitze  in  der  Tiefe,  ohne  die  Hautwunde  zu 
vergrössern,  die  Narbeumasse  erst  von  dem  einen,  dann  von  dem  andern 
Knochenfragmeut  al).  Man  nennt  dies  die  subcutane  blutige  An- 
frischung  der  Fragmente.  Man  kann  ferner  einen  Schnitt  machen  bis 
auf  den  Knochen,  präparirt  die  beiden  Fragmente  frei,  durchbohrt  die- 
selben dicht  an  den  Bruchenden  und  führt  durch  die  Bohrlöcher  einen 
entsprechend  dicken  Bleidraht  liindurch,  dreht  die  Enden  zusammen, 
um  dadurch  die  Fragmente  dicht  an  einander  zu  stellen.  Man  kann 
ferner,  nachdem  man  wie  vorher  einen  Schnitt  gemacht  hat,  von  den 
beiden  Fragmenten  ein  dünnes  Stück  absägen  und  die  gemachte  Ver- 
letzung wie  eine  offene  Fractur  behandeln;  auch  kann  man  zu  diesem 
Verfahren,  der  Resection  der  Fragmente,  die  Anlegung  der  Knochen- 
naht  hinzufügen.  Das  folgende  Verfahren  stammt  von  Dieffeubach: 
er  machte  den  Fragmenten  entsprechend  zwei  kleine  Schnitte,  die  bis 
auf  den  Knochen  vordrangen;  jetzt  durchbohrte  er  die  Fragmente  dieltt 
an  ihren.  Rändern,  und  trieb  in  die  Bohrlöcher  mit  einem  Hammer  ent- 
sprechend dicke  Elfe  nbeiustäbchen  hinein.  Der  Erfolg  ist  der, 
dass  um  diese  fremden  Körper  im  Knochen  eine  Neubildung  junger 
Knochenmasse  entsteht,  die,  wenn  sie  reichlich  genug  ist,  was  man  durch 
die  Wiederholung  dieser  Operation  im  Laufe  der  Zeit  allerdings  zuweilen 
erzwingen  kann,  genügt,  um  eine  feste  Vereinigung  herzustellen.  Lli 
erwähne  bei  dieser  Gelegenheit,  dass  diese  Elfenbeinzapfen,  wenn  man 
sie  nach  einigen  Wochen  herauszieht,  an  demjenigen  Theil,  mit  welchem 
sie  im  Knochen  gesteckt  haben,  rauh  und  wie  angefressen  aussehen, 
während  das  Bohrloch,  in  welchem  sie  sich  befanden,  grössteutheils  mit 
Granulationen  ausgefüllt  ist;  zuweilen  bringt  man  die  Zapfen  gar  nicht 
wieder  heraus  und  die  Oeflfnungen,  durch  welche  sie  eingeschlagen  sind, 
heilen  darüber  zu.  Es  geht  daraus  der  unzweifelhafte  Beweis  hervor, 
dass  das  todte  Knochengewebe,  als  welches  das  Elfenbein  doch  zu 


Vorlcsim;:^'    17.      Anliaiiif   /ii    ('';i|iilrl    V.    iiiul    Vf.  243 

betvaclitcii  ist,  von  den  wiiclisciulcn  X  iioelicn  t;,'ranulationen  aui'- 
g-elost  und  resorbirt  werden  kann.  Wir  werden  auf  diesen  früher 
vielfacli  bestrittenen  Satz,  der  von  grosser  Wi<'.litigkeit  i'nr  manche  Knoolien- 
krankheiten  ist,  später  noch  öfter  zuriickkonnuen,  hal)cn  auch  schon  fi-iilier 
von  den  hypothetischen  Ursachen  dieser  Resorjjtion  gesprochen  (pag.  205). 
13.  V.  Langenbeck  hat  diese  Methode  von  Üieffcnbacli  in  der  Weise 
niodificirt,  dass  er  anstatt  der  Elfenbeinstäbe  MetalLschraubcn  wählte  zu 
dem  Zweck,  gleich  nach  der  Operation  diese  Schrauben  an  cineiii  Ver- 
l)andapparat  mit  Stalüljügel  zu  befestigen,  der  die  Fragmente  vollkommen 
feststellt.  Es  ist  überhaupt  zu  allen  den  genannten  Methoden  hinzu- 
zufügen, dass  ihnen  später  oder  früher  die  Anlegung  eines  geeigneten 
Verbandes,  durch  welchen  die  Fragmente  festgestellt  werden,  folgen  nuiss. 
Die  Operationsverfahren  bei  der  Pseudarthrosis,  von  denen  ich  Ihnen 
nur  die  hauptsächlichsten  genannt  habe,  sind,  wie  Sie  sehen,  sehr  zahl- 
reich, und  wenn  die  Heilresultate  der  Menge  der  Mittel  entsprächen,  so 
gehörte  die  Pseudarthrose  zu  denjenigen  Krankheiten,  die  leicht  heilbar 
sind.  Meist  dürfen  Sie  indess  in  der  Medicin  annehmen,  dass  mit  der 
Zahl  der  Mittel  gegen  eine  Krankheit  der  Werth  derselben  sehr  sinkt, 
und  so  ist  es  auch  hier.  So  leicht  und  sicher  einzelne  Arten  von  Pseud- 
arthrosen  zu  heilen  sind,  so  schwierig  ist  es  mit  andern;  auch  eignen 
sich  die  verschiedenen  Verfahren  nicht  alle  für  die  gleichen  Fälle.  Die 
Operationen  sind  zunächst  von  sehr  verschiedener  Gefahr,  und  zwar 
sind  sie  an  Extremitäten  mit  sehr  dicken  Weichtheilen,  zumal  am  Ober- 
schenkel, sehr  viel  gefährlicher  als  an  den  übrigen  Theilen  der  Extre- 
mitäten; ausserdem  sind  begreiflicherweise  die  unblutigen  Verfahren 
immer  weniger  gefährlich  als  die  blutigen,  die  mit  kleiner  Wunde  weniger 
gefährlich  als  die  mit  grosser.  Was  die  Wirksamkeit  und  Sicherheit 
betrifft,  so  halte  ich  die  Anlegung  einer  Knochennaht  und  die 
Eesection  für  diejenigen  Verfahren,  wxlche  selbst  in  den  schwierigsten 
Fällen  verhältnissmässig  am  schnellsten  zum  Ziele  führen,  doch  auch 
freilich  alle  Gefahren  der  mit  Wunden  complicirten  Fracturen  in  sich 
tragen.  Die  Behandlung  mit  Elfenbeinstäb  chen  ist  mit  Ausnahme 
des  Oberschenkels,  au  welchem  jede  Pseudarthrosenoperation  bedenklich 
ist,  weniger  gefahrvoll  und  würde,  glaube  ich,  in  den  meisten  Fällen 
zum  Ziele  führen,  wenn  man  die  Operation  genügend  oft  wieder- 
holte. Ich  selbst  habe  von  dieser  Behandlung,  sowie  von  der  Knochen- 
uath  gute  Eesultate  gesehen.  Freilich  giebt  es  auch  Fälle,  in  welchen 
aus  unbekannten  Gründen  nach  intensiven  Reizen  der  Knochen  immer 
erweicht,  statt  zu  sclerosiren  und  Osteophyten  zu  bilden ;  Pseudarthrosen 
bei  solchen  Individuen  sind  unheilbar. 

Bei  Pseudarthrosen  des  Oberschenkels  kann  mit  Ernst  die  Frage  in 
Betracht  kommen,  ob  man  nicht  die  für  diese  Fälle  prognostisch  günstige 
Amputation  an  der  Stelle  der  Pseudarthrose  jeder  andern  gefährlichen 
und  zweifelhaften  Operation  vorziehen  soll,  eine  Frage,  über  welche  nur 

16* 


244  yrl^^   den   scliicfüjeliciltf^n  Kiioflieiilirüclieii. 

die  Individualität  des  einzelnen  Falles  entscheiden  kaini.  In  manchen  Fällen 
wird  ein  passender  Schienenapparat  jeder  Operation  vorzuziehen  sein. 


2.  Von  den  schief  geheilten  Knochenbrächen. 
Wenngleich  bei  den  Fortschritten,  Avelche  man  in  Betreff  der  Be- 
handlung von  Fracturen  gemacht  hat,  der  Fall  jetzt  selten  eintritt,  dass 
die  Heilung  eines  Extremitätentheils  in  einer  so  schiefen  Stellung  erfolgt, 
dass  derselbe  durchaus  functionsunfähig  ist,  so  kommen  doch  von  Zeit 
zu  Zeit  Fälle  vor,  in  welchen  trotz  der  grössten  Sorgfalt  von  Seiten 
des  Arztes  eine  Dislocation  nicht  umgangen  werden  kann,  oder  durch 
Sorglosigkeit  oder  sehr  grosse  Unruhe  der  Patienten,  bei  zu  locker 
angelegten  Verbänden  n.  s.  w.  eine  bedeutende  Schiefheit  in  der  Stellung 
der  Fragmente  zurückbleibt.  In  vielen  Fällen  ist  dieselbe  so  gering, 
dass  die  Patienten  keinen  Werth  darauf  legen,  diesen  Schönheitsfehler 
des  Körpers  auszugleichen ;  nur  in  solchen  Fällen  wird  eine  Verbesserung 
der  Stellung  gewünscht,  wo  durch  bedeutende  Schiefstellung  oder  Ver- 
kürzung etwa  eines  Fusses  oder  einer  Hand  die  Bewegungen  wesentlich 
beeinträchtigt  sind.  Wir  besitzen  eine  Eeihe  von  ]\Iitteln,  mit  Hülfe  deren 
wir  diese  Difformitäten  erheblich  bessern  und  selbst  ganz  ausgleichen 
können.  Bemerkt  man  während  des  Heilungsprocesses,  dass  die  Frag- 
mente nicht  genau  coaptirt  sind,  so  kann  man  bei  einfachen  subcutanen 
Fracturen  zu  jeder  Zeit  eine  Richtung  der  Fragmente  vornehmen.  Ist 
bei  einer  offenen  Fractur  im  ersten  Verband  eine  Schiefstellung  der  Frag- 
mente erfolgt,  so  rathe  ich  Ihnen  dringend,  nicht  vor  Heilung 
der  Wunde  mit  gewaltsamen  Graderichtungen  daran  zu  mani- 
puliren;  Sie  würden  dadurch  die  Granulationen  in  der  Tiefe  zerreissen 
und  es  könnten  aufs  Neue  die  heftigsten  Entzündungen  eintreten.  Grade 
bei  Fracturen,  die  lange  geeitert  haben,  bleibt  der  Callus  lange  weich, 
so  dass  Sie  immer  später  noch  eine  allmählige  Stellungsverbesserung 
durch  zweckmässige,  bald  hier,  bald  dort  gepolsterte  Schienen  vielleicht 
auch  durch  continuirliche  Extension  mit  Gewichten  zu  Wege  bringen.  — 
Ist  die  Fractur  in  schiefer  Stellung  völlig  consolidirt:  so  haben  wir 
folgende  Mittel,  diesen  Fehler  zu  bessern: 

1)  Die  Graderichtung  durch  Einknickung  des  Callus,  durch  In- 
fraction;  man  betäubt  zu  diesem  Zwecke  d(  n  Kianken  mit  Chbiroforni 
und  sucht  nun  mit  den  Händen  die  betreffende  Extremität  an  der  Bruch- 
stelle grade  zu  biegen;  ist  dies  gelungen,  so  legt  man  in  dieser  neuen 
verbesserten  Stellung  einen  festen  Verband  an.  Diese  vidlig  ungefähr- 
liche Metliode  hat  nur  dann  Aussicht  auf  Erfolg,  wenn  der  Callus  noch 
weich  genug  ist,  um  sich  biegen  zu  lassen;  sie  gelingt  daher  nur  eine 
gewisse  Zeit  lang  nach  der  Fractur. 

2)  Das  vollständige  Zerbrechen  des  verknöcherten  Callus.  Auch 
dies  kann   unter  Umständen  durch   einfache  Händekraft  erzielt  werden, 


VorlcsiiiiK    17.      Aiihaii.i^  zu   (.'■.i]nir\    V.   und    Vf.  215 

oft  wird  iiijiu  jedoch  andere  mccliaiiisclic  Mittel  zu  iliill'e  iielimcii  iiiiisscn. 
Man  hat  hierzu  verschiedene  Apparate  construirt,  z.  1).  llehcl  und 
Scliraubmaschinen  A'on  l)edeutender  Kraft,  von  denen  eine  den  entsetz- 
lichen Namen  „])ysniori)hosteo])alinklastes"  führt!  Alle  diese  A])paratc 
ditrCeii  nur  mit  der  gTÖssten  Vorsicht  ang-ewandt  werden,  dandt  nicht 
durch  zu  lieftig'en  Druck  an  der  Stelle,  wo  die  Maschine  einwirkt,  oder 
wo  die  Extremität  aufliegt,  zu  starke  Quetschung  und  Nekrose  der  Haut 
entsteht.  Ganz  so  verwerflich,  wie  sie  von  manchen  Chirurgen  angesehen 
Avcrden,  sind  sie  niclit.  Den  Osteoklasten  von  Ivizzoli  habe  ich  zwei 
Mal  bei  alten  scldef  geheilten  Fracturen  des  Unterschenkels  mit  seiir 
günstigem  Erfolge  angewandt. 

3)  Für  die  nicht  so  selten  sehr  schiefgeheilten  Brüche  des  Ober- 
schenkels ist  die  gewaltsame  Extension  (mit  Hülfe  des  Apparats 
von  Schneider  und  Meuel,  den  wir  auch  zur  Einrichtung  älterer  Ver- 
renkungen benutzen)  von  A.  Wagner  mit  sehr  günstigem  Erfolg  ge- 
braucht worden.  Den  mcclianischen  Erfolg  einer  solchen  Extension 
können  Sie  sich  leicht  durch  folgendes  Beispiel  klar  machen:  haben  Sie 
einen  massig  stark  gekrümmten  Stab,  lassen  an  jedem  Ende  einen  kräftigen 
Mann  anfassen  und  ziehen,  so  wird  der  Stab  an  der  Stelle  seiner  stärk- 
sten Biegung  zerbrechen.  Ist  in  dieser  Weise  also  an  einem  Ober- 
schenkel eine  neue  Fractnr  durch  indirecte  Gewalt  an  der  gekrümmten 
Stelle  erzeugt  und  sind  dann  die  Fragmente  in  grader  Kichtung  coaptirt, 
so  legt  man  sofort  einen  Gypsverband  an,  während  die  Extremität  noch 
in  der  Maschine  ausgespannt  ist.  Diese  Methode  scheint  nach  den  bis- 
herigen Erfahrungen  durchaus  ungefährlich  zu  sein,  jedoch  sich  nur  für 
den  Oberschenkel  zu  eignen;  in  einem  Fall  von  sehr  schiefwinklig  ge- 
heilter Fractur  des  Unterschenkels,  in  welchem  ich  diese  Methode  empfahl, 
erfolgte  der  Bruch  durcli  die  Extension  nicht  in  der  alten  Fracturstelle, 
sondern  daneben. 

4)  Eingreifender,  wenngleich  am  Unterschenkel  bei  weitem  nicht  so 
gefährlich,  wie  man  früher  glaubte,  sind  die  blutigen  Operationen  an 
den  Knochen,  von  welchen  zwei  im  Gebrauch  sind;  zunächst  die  sub- 
cutane Osteotomie  nach  B.  v.  Langcnl)eck.  Diese  besteht  darin, 
dass  Sie  der  gekrümmten  Stelle  des  Knochens  entsprechend  einen  kleinen 
Einschnitt  bis  auf  den  Knochen  machen,  dann  dui'ch  diese  Oeffnung 
einen  Bohrer  mittleren  Kalibers  ansetzen  und  nun  den  Knochen  durch- 
bohren, ohne  jedoch  auf  der  gegenüberliegenden  Seite  die  Weichtheile 
zu  perforiren;  jetzt  ziehen  Sie  den  Bohrer  wieder  heraus  und  führen  in 
den  Bohrcanal  eine  sehr  schmale,  feine  Sticlisäge  ein,  sägen  dann  mit 
dieser  erst  nach  der  einen,  dann  nach  der  andern  Querrichtung  des 
Knochens  hin,  bis  Sie  mit  der  Hand  den  liest  des  Knochens  durchbrechen 
können;  jetzt  wird  der  Knochen  grade  gerichtet  und  die  Verletzung  wird 
wie  eine  complicirte  Fractur  behandelt.  Diese  Operation  ist  bisher  nur 
am  Unterschenkel,  jedoch  so  weit  es  mir  bekannt  ist,  stets  mit  günstigem 


246  "^'^'i  '^^^  Verletzungen  der  Gelenke. 

Resultate  g-eraacht  worden.  Man  kann  dieselbe  aueli  in  der  Weise  aus- 
führen, dass  man  die  C4radericlitung'  erst  dann  vornimmt,  wenn  die 
Eiterung-  bereits  eingetreten  und  der  Callus  durcli  dieselbe  erweicht  und 
theilweise  resorbirt  ist;  auch  kann  man  sich  mit  Vortlieil  statt  des 
V.  L  an  genbeck' sehen  Instrumenten -Apparates  nach  der  Empfehlung 
von  Crross  feiner  Meissel  zur  Durclitrcnnung  des  Callus  von  einer  kleinen 
freigelegten  Stelle  des  Knochens  aus  bedienen. 

5)  Endlich  kann  man  auch  die  IMethode  von  Ehea  Bar  ton  an- 
wenden, welche  darin  besteht,  dass  man  der  scliiefgeheilten  Fractur  ent- 
sprechend mit  einem  grossen  Hautschnitt  den  Knochen  frei  legt  und  nun 
ein  keilförmiges  Stück  so  aus  demselben  heraussägt,  dass  der  breite 
Theil  des  Keils  der  Convexität,  die  Spitze  der  Concavität  der  abnormen 
Knochenbiegung  entspricht.  Auch  diese  Methode  hat  günstige  Resultate 
aufzuweisen. 

Im  Ganzen  sind  die  unblutigen  Methoden,  wenn  dieselben  nicht  mit 
zu  grosser  Quetschung  verbunden  sind,  den  blutigen  vorzuziehen. 

Ist  die  Difformität,  zumal  eines  Fusses,  nach  verschiedenen  Rich- 
tungen hin  so  gross,  dass  die  erwähnten  Methoden  alle  keine  genügende 
Aussicht  auf  Heilung  darbieten,  so  wird  man  in  einzelnen  Fällen  selbst 
zur  Amputation  schreiten  müssen. 


In  seltnen  Fällen  kommt  es  vor,  dass  der  Callus  ganz  abnorm 
dick  und  gross  wird,  ähnlich  wie  dies  auch  bei  Haut-  und  Nerveu- 
narben  sich  ereignet.  Man  eile  nicht  zu  sehr  mit  operativen  Eingriffen 
in  solchen  Fällen,  weil  ja  eine  langsame  spätere  Resorption  bei  jedem 
Callus  zu  erfolgen  pflegt.  Die  Entfernung  solcher  Callusmassen  könnte 
nur  mit  Meissel  oder  Säge  geschehen;  ich  würde  mich  indessen  nur 
ungern  zu  solchen  Operationen  entsehliessen. 


CAPITEL  VII. 

Von  den  Verletzungen  der  (lelenke. 

Contusion.  —  Distorsion.  —  Gelenkeröfinung   und    acute    traumatische   Gelenkentzündung. 
Verschiedener  Verlauf  und   Ausgänge.     Behandhing.     Anatomische   Veränderungen. 

Nachdem  wir  bisher  meist  mit  den  Verletzungen  einfacherer  Ge- 
webstheile  zu  thuu  hatten,  müssen  wir  uns  jetzt  mit  etwas  complicirteren 
Apparaten  beschäftigen. 

Die    Gelenke    werden   bekanntlich   zusammengesetzt   aus    zwei    mit 


V.M-Icsmi-;-    17.      (";ipi(cl    VII.  247 

Knorpel  iibcrzog'cnon  KiioclicnciKlcn,  aus  ciiioni  liüiifi^'  mit  vielen  vVn- 
liäng'cn,  T{i>?elicn  und  Au.sbuelitung'en  verbundenen  ^'ack,  der  Synovial- 
nienÜH-an,  die  zu  den  serösen  Häuten  gereelmet  wird  und  aus  der 
fibrösen  Gelenkkai)sel  mit  iliren  Verstärkungsbändern.  Alle  diese  Tlieilc 
nehmen  unter  Umständen  an  den  Erkrankungen  der  Gelenke  Theil,  so 
dass  also  zu  gleicher  Zeit  Erkrankungen  einer  serösen  Membran,  eines 
fibrösen  Kapsclgevvebes ,  sowie  des  Knorpel  und  Knocliengewebcs  vor- 
liegen können.  Die  Betheiligung  dieser  verscliicdenen  Bestandtheile  an 
der  Erkrankung  ist  nach  Intensität  und  Extensität  aussei-ordentlich  Aer- 
schieden;  doch  will  ich  hier  sclion  bemerken,  dass  die  Synovialmcnd)ran 
die  wesentlichste  Holle  dabei  spielt,  und  dass  die  l'^igenthiindichkeit  der 
Gelenkkrankhciten  hauptsäclilich  auf  der  Geschlossenheit  und  der  buch- 
tigen Form  des  Synovialsacks  beruht. 

Zunächst  einige  Worte  iil)er  die  Quetschung,  die  Oontusion 
der  Gelenke.  Bekommt  Jemand  einen  heftigen  Scidag  gegen  ein 
Gelenk,  so  kann  dasselbe  in  massigem  Grade  anschwellen;  indess  in 
den  meisten  Fällen  wird  nach  einigen  Tagen  der  Kulie,  wo])ei  man  etwa 
Ueberschläge  mit  Bleiwasser  oder  auch  einfach  mit  kaltem  Wasser  machen 
lässt,  Anschwellung  und  Schmerz  vergehen,  und  das  Gelenk  zu  seiner 
normalen  Function  zurückkehren.  In  anderen  Fällen  bleibt  eine  geringe 
Schmerzhaftigkeit  mit  Steifheit  zurück;  es  entwickelt  sich  ein  chronischer 
Entziindungsprocess,  der  in  der  Folge  allerdings  zu  ernstlichen  Erkran- 
kungen führen  kann,  über  die  wir  uns  vorläufig  nicht  weiter  verbreiten 
wollen.  Hat  man  Gelegenheit,  ein  massig  contundirtes  Gelenk  zu  unter- 
suchen, wenn  der  Kranke  vielleicht  an  einer  zu  gleicher  Zeit  erhalteneu 
schweren  Verletzung  eines  andern  Körpertheils  starb,  so  wird  mau 
kleinere  oder  grössere  Blutextravasate  in  der  Synovialmembran  finden, 
auch  wohl  Blut  in  der  Gelenkhöhle  selbst;  '  selten  sind  bei  diesen 
Quetschungen  ohne  Fractur  die  Blutergüsse  so  bedeutend,  dass  die  Ge- 
lenkhöhle prall  mit  Blut  ausgefüllt  wird;  indessen  kann  auch  dies  vor- 
kommen. Man  nennt  diesen  Znstand  Hämartliron  (von  alf^icc,  Blut  und 
aqd^Qov,  Gelenk).  Bleibt  ein  gleich  nach  der  Verletzung  stark  an- 
schwellendes Gelenk  längere  Zeit  sclimerzhaft,  fühlt  es  sich  heiss  an,  so 
ist  eine  etwas  eingreifendere  antiphlogistische  Behandlung  indicirt.  Die- 
selbe besteht  in  Anlegung  von  Blutegeln,  gleichmässiger  Einwicklung  des 
Gelenkes  mit  einer  nassen  Rollbinde,  wodurch  man  eine  massige  Com- 
pression  ausübt,  bei  starken  Sclimerzen  und  ausgedehntem  Extravasat 
auch  wohl  in  der  Application  einer  Eisblase  auf  das  Gelenk.  In  der 
Regel  sind  Entzündungsprocesse  dieses  Grades  durch  die  angegebeneu 
Mittel  leicht  zu  beseitigen,  wenngleich  chronische  Erkrankungen  und 
eine  gewisse  Reizbarkeit  des  verletzt  gewesenen  Gliedes  nicht  so  selten 
nachfolgen.  Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  festzustellen,  ob  mit  der 
Gelenkquetschung  nicht  etwa  eine  Fractur  oder  Fissur  der  Knochenenden 
verbunden  ist,  in  welchem  Falle  der  Gypsverbaud  zu  appliciren  und  die 


248  ^'^'^  ^^1^  Verletzungen  der  Gelenke.     Penelrirende  Wunden. 

Prognose  für  die  spätere  Function  des  Gelenks  je  nach  Art  der  Ver- 
letzung* mit  Vorsicht  zu  stellen  wäre;  in  neuerer  Zeit  habe  ich  bei  stär- 
keren Gelenkcontusionen,  auch  wenn  keine  Fractur  im  Gelenk  war,  den 
Gypsverband  applicirt  und  von  aller  antiphlogistischen  Behandlung  ab- 
strahirt;    die  Erfolge  waren  ausserordentlich  günstig. 

Eine  den  Gelenken  eigenthümliche  Art  der  Verletzung  ist  die  Dis- 
torsion  (wörtlich:  Verdrehung).  Es  ist  eine  Verletzung,  die  besonders 
häufig  am  Fuss  vorkommt,  und  die  man  im  gewöhnlichen  Leben  als 
Umknickung  des  Fusses  bezeicluict.  Eine  solche  Distorsion,  die  übri- 
gens an  fast  allen  Gelenken  möglicli  ist,  besteht  im  Wesentlichen  in 
einer  Zerrung,  zu  starken  Dehnung  und  auch  tlieilweisen  Zerreissung 
von  Gelenkkapselbänderu  mit  Austritt  von  etwas  Blut  in  das  Gelenk 
und  die  umgebenden  Gewebe.  Die  Verletzung  kann  für  den  Moment 
sehr  schmerzhaft  sein  und  ist  nicht  selten  in  ihren  Folgen  ausserordent- 
lich langwierig,  zumal  wenn  die  Toehandlung  nicht  richtig  geleitet  wird. 
Gewöhnlich  wendet  man  auch  unter  diesen  Umständen  Blutentziehungen 
und  Kälte  an,  jedocli  mit  vorübergehendem  Nutzen.  Von  viel  grösserer 
Wichtigkeit  ist  es,  die  Gelenke  nach  solchen  Verletzungen  absolut  ruhig 
zu  stellen,  damit  die  etwa  eingerissenen  Gelenkbänder  wieder  ausheilen 
und  wieder  zur  normalen  Festigkeit  gelangen  können.  Wir  erreichen 
dies  auf  die  einfachste  Weise  durch  die  Anlegung  eines  festen  Verbandes, 
z.  B.  eines  Gypsverbandes ,  mit  welchem  Avir  dem  Patienten  erlauben 
können,  umherzugehen,  falls  er  keine  Schmerzen  dabei  empfindet.  ISI^ach 
10,  12,  14  Tagen,  je  nach  der  Heftigkeit  der  Verletzung,  können  wir 
den  Verband  entfernen,  erneuern  denselben  jedoch  sofort,  sobald  der 
Kranke  noch  Schmerz  beim  Gehen  empfindet.  Es  kann  unter  Umständen 
nothwendig  sein,  einen  solchen  Verband  3 — 4  Wochen  lang  tragen  zu 
lassen.  Dies  scheint  eine  sehr  lange  Dauer  für  eine  solche  Verletzung; 
indess  kann  ich  Sie  versichern,  dass  ohne  die  Anlegung  eines  festen 
Verbandes  die  Folgen  solcher  Distorsioneu  sich  oft  viele  Monate  hindurch 
hinziehen,  wobei  dann  die  Gefahr  späterer  chronischer  Entzündungen  des 
Gelenks  sich  noch  steigert.  Sie  dürfen  daher,  die  Prognose  für  die 
schnelle  Heilbarkeit  der  Distorsioneu  nicht  so  günstig  stellen  und  müssen 
die  Behandlung  dieser  oft  scheinbar  unbedeutenden  Verletzungen  stets 
mit  Gewissenhaftigkeit  und  Sorgfalt  lenken.  Leider  kommt  es  ziemlich 
häufig  vor,  dass  trotz  der  sorgfältigsten  Behandlung  der  Distorsioneu 
chronische  Entzündungen  folgen,  welche  nicht  nur  durch  ihre  Dauer  lästig 
sind,  sondern  langsam,  nach  und  nach  im  Verlauf  von  Jahren  zur  Zer- 
störung des  Gelenkapparates  führen;  zumal  tritt  dies  nicht  so  selten  bei 
Kindern  und  bei  schwächlichen  erwachsenen  Individuen  von  scrophulös- 
tuberculöser  Diathese  ein;  wir  kommen  später  bei  der  Aetiologie  der 
chronischen  Entzündungen  darauf  zurück. 


V.irlcsiiHo-   !7.     fiipild   VIl.  249 

Gelenke  rüCriiuii^-    und    acute    trau  nuiti  sehe    Entz  i'indu  iii;-    der 

G  elenkc. 

Indem  wir  jetzt  zu  den  Wunden  der  Gelenke  überg'ehen,  nmclieu 
wir  in  Bezui^"  auf  die  Bcdcutuni;'  der  Verletzung  einen  ung-eheuren  S|)ruiig. 
AVälircnd  eine  Conlusion  und  Distorsion  der  Gelenke  von  vielen  Patienten 
kaum  geachtet  wird,  ist  die  Eröffnung-  des  Synovialsacks  mit  Ausfluss 
von  Synovia,  mag  die  Wunde  aucli  inclit  gross  sein,  immer  eine  scliwcre, 
oft  die  Function  des  Gelenks  beeinträchtigende,  in  niclit  seltenen  Fällen 
eine  für  das  Lelien  gcfälirliclie  Verletzung.  Es  macht  sich  hier  wieder 
der  schon  früher  ])ei  Gelegenheit  der  Quetschungen  erwähnte  Unterschied 
zwischen  subcutan  verlaufenden  und  nacli  aussen  offenen  traumatisclicn 
Entztindungsprocessen  geltend,  den  wir  ja  auch  bei  dem  Unterschied 
der  subcutanen  und  offenen  Fracturen  haben  hervortreten  sehen.  Dazu 
kommt  a1)er  noch,  dass  wir  es  hier  bei  den  Gelenken  mit  geschlossenen 
ausgebuchteten  Säcken  zu  thun  haben,  in  denen  sich  der  einmal  gebil- 
dete Eiter  anstaut,  und  dass  ausserdem  die  Entzündung  der  serösen 
Häute  in  ihrem  acuten  Zustande  häufig  einen  sehr  schlimmen  Einfluss 
auf  das  Gesammtbefinden  der  Verletzten  ausübt,  in  günstigeren  Fällen 
mindestens  in  sehr  langwierige  Processe  ausgehen  kann. 

Wir  sprechen  hier  nur  von  einfachen  Stich-,  Schnitt-  oder  Hieb- 
wunden der  Gelenke  ohne  weitere  Coniplication  mit  Verrenkungen  und 
Knochenbrttchen  und  wählen  als  Beispiel  das  Kniegelenk,  wobei  jedoch 
bemerkt  werden  muss,  dass  die  Verletzung  grade  dieses  Gelenkes  als 
eine  der  schwersten  Geleukverletzungen  überhaupt  betraclitet  zu  werden 
pflegt.  Ich  glaube  Ihnen  am  schnellsten  ein  Bild  von  dem  fraglichen 
Processe  zu  geben,  wenn  icli  einen  Fall  als  Beispiel  anführe.  Es  kommt 
ein  Mann  zu  Ihnen,  der  sich  beim  Behauen  des  Holzes  eine  halb  Zoll 
lange,  wenig  blutende  Wunde  neben  der  Patella  zugezogen  hat.  Dies 
ist  vielleicht  schon  vor  einigen  Stunden  oder  schon  am  Tage  vorher  ge- 
schehen. Der  Patient  achtet  die  Verletzung  wenig,  will  von  Ihnen  nur 
einen  Rath  in  Betreff  eines  passenden  Verbandes.  Sie  betrachten  die 
Wunde,  finden,  dass  sie  der  Lage  nach  wolil  der  Knicgelenkkapsel  ent- 
spreche, und  sehen  in  der  Umgegend  der  Wunde  auch  vielleicht  etwas 
seröse,  dünnschleimige,  klare  Flüssigkeit,  welche  bei  Bewegung  des  Ge- 
lenks in  grösserer  Menge  hervortritt.  Dies  wird  Sie  im  höchsten  Grade 
aufmerksam  auf  die  Verletzung  machen;  Sie  examiniren  den  Kranken 
und  erfahren  von  ihm,  dass  gleich  nach  der  Verletzung  zwar  nicht  sehr 
viel  Blut,  doch  eine  Flüssigkeit  wie  frisches  Hühnereiweiss  ausgeflossen 
sei.  In  solchen  Fällen  können  Sie  sicher  sein,  dass  die  Gelenkhöhle  er- 
öffnet ist,  da  sonst  Synovia  nicht  ausgetreten  sein  könnte.  Bei  kleinen 
Gelenken  ist  freilich  der  Austritt  von  Synovia  so  gering,  dass  er  kaum 
bemerkt  wird,  woher  es  denn  kommt,  dass  mau  bei  Verletzungen  au  den 
kleinen  Fingergelenken,  und  auch  selbst  bei  Verletzungen  des  Fuss-, 
Ellbogen-  und  Handgelenks  einige  Zeit  lang  zweifelhaft  sein  kann,  ob  die 


250  Von  den  Verletzungen  der  Gelenke.     Penetrirende   Wunden. 

Wuiicle  bis  in  die  Gelenldiölile  penetrirt  oder  nicht.     Ist  also  eine  pene- 
trirende  Gelenkwunde    constatirt    oder    wenigstens    im   höchsten    Grade 
waiirscheinlich,  so  sind  fortan  folgende  Maassreg'eln  zu  treffen:  der  Kranke 
muss  sofort   eine  ruhige  Lage  im  Bett  annehmen,    die  Wunde  muss  so 
schnell  als  möglich  vereinigt  wei-den;  wir  schliessen  daher  die  Hautwunde, 
wenn  sie  Neigung-  zum  Klaffen  hat,   am  besten  durch  g-enau  angelegte 
Suturen;   für  manche  kleine  Wunden  der  xA.rt  geniigen  genau  angelegte 
Heftpfiasterstreifen  oder  eng-lisehes  Pflaster  mit  Collodium  bestrichen.     Es 
kommt  nun  darauf  an,  das  Gelenk  absolut  ruhig  zu  stellen;  dies  können 
Sie  dadurch   erreichen,    dass  Sie  die  Extremität  von  unten  herauf  mit 
nassen  Kollbinden  gleichmässig  fest  einbinden:  jedenfalls  ist  es  nöthig, 
dass  in  unserem  Fall  das  ganze  Bein  in  gestreckter  Lage  in  einer  Hohl- 
schiene befestigt  oder  zwischen  zwei  Sandsäcken  sicher  und  fest  gelagert 
werde.     Fügen  Sie  diesen  Anordnungen  innere  Mittel ,  etwa  ein  leichtes 
Purgans  hinzu,   so  ist  damit,   meiner  Ansicht  nach,   vorläufig  genug  ge- 
than.     In   den  meisten  Handbüchern   der   Chirurgie  werden  Sie   freilich 
angeführt  finden,    dass    man  gleich  eine    Anzahl  Blutegel    anlegen  und 
continuirlich  eine  Eisblase  appliciren  solle,  um  einer  etwa  zu  stark  auf- 
tretenden Entzündung  vorzubeugen.     Ich  kann  Sie  aber  versichern,  dass 
die   örtlichen  Blutentziehungen  und   die  Kälte  diese  pjophylaktisch- anti- 
phlogistische Wirkung  auch  hier  nicht  besitzen,  und  dass  es  immer  noch 
Zeit  genug  ist,  in  einem  etwas  späteren  Stadium  zu  dem  Eis  zu  greifen. 
Doch  tadle  ich  es  keineswegs ,    gleich   von  Anfang  an  Eis   bei  Gelenk- 
verletzungen anzuwenden,  sondern  empfehle  sogar,  dies  zu  thun,  damit 
der  richtige  Moment    dazu   nicht   verpasst    wird.      An  Stelle    des  oben 
heschriebenen    Verbandes    habe    ich    auch    wohl    den    Gypsverband    ge- 
braucht;   ich   applicire   denselben  wie  bei    einer  Fractur  im  Kniegelenk 
vom  Fuss  an  bis  über  die  Mitte  des  Oberschenkels  mit  einer  Lagerungs- 
schiene; dann  schneide  ich  der  vorderen  Fläche  des  Kniegelenks  und  der 
Wunde  entsprechend  ein  Fenster  aus;    die  Eesultate  dieser  Behandlung 
sind  gegenüber  der  früher  schulgemässen  Antiphlogose  ohne  festen  Ver- 
band brillant  zu  nennen.  —  Kehren  wir  zu  unserem  Patienten  zurück! 
Sie  werden  finden ,    dass   er  am   dritten  oder  vierten  Tage   etwas    über 
spannenden   Schmerz    im   Gelenk  klagt   und   leiclit  fiebert;    das   Gelenk 
fühlt  sich  bei  aufgelegter  Hand  heisser  an  als  das  gesunde.     Wenn  Sie 
dann  am  fünften   oder   sechsten  Tage  die  Nähte  an  der  Wunde  entfernt 
haben,  so  kann  sich  nun  der  Verlauf  in  den  lx)lgendeu  zwei  Tagen  nach 
zwei  Eichtungen  hin  durchaus  verschieden  gestalten.     Nehmen  wir  zuerst 
den  günstigsten  Fall,  der  bei  frühzeitiger  Behandlung  mit  festem  Verband 
häufig  ist,  so  wird  die  Wunde  vollständig  per  primam  heilen,   die 
leichte  Schwellung  und  Schmerzhaftigkeit  des  Gelenkes  wird  im  Laufe 
der  nächsten  Tage  abnehmen,  endlich  ganz  verschwinden.     Entfernen  Sie 
nach  4 — 6  Wochen  den  Verband,  so  wird  das  Gelenk  wieder  beweglich; 
es  erfolgt  die  vollständige  restitutio  ad  integrum. 


Vorlcsmif,'   17.     Caphd   VIL.  251 

In  anderen  Füllen  jcdocli,  zumal  wenn  der  Verletzte  erst  «pät  in 
Behandlung-  kommt,  gestaltet  sich  die  Sache  schlimmer.  Gegen  Ende 
der  ersten  Woche  nach  der  Verletzung-  scliwillt  nicht  allein  das  Gelenk 
stark  an  und  wird  selir  hciss,  sondern  es  bildet  sicli  auch  Ocdem  des 
Unterschenkels  aus ;  der  Kranke  empfindet  lebhafte  Schmerzen,  sowohl 
bei  jeder  Berührung-,  als  auch  bei  Jedem  Versuch  zur  I>cweg-ung-;  er 
fiebert  zumal  gegen  Abend  stärker,  verliert  den  Ai)petit,  langt  an  abzu- 
magern. Da1)ei  kann  die  Wunde  per  primam  geheilt  sein  oder  es  fliesst 
mehr  eine  serös-schleinu'ge,  dann  eitrige  Fliissig-keit  aus.  Docli  wenn 
auch  dies  nicht  der  Fall  nicht,  so  deuten  doch  die  genannten  Erscliei- 
nungen,  nämlich  die  Schwellung-  des  Gelenks  mit  deutlicher  Schwappung, 
die  g-rosse  Schmerzhaftigkeit,  die  gesteigerte  Temperatur,  das  Ocdem  des 
Unterschenkels,  das  Steigen  des  Fiebers  auf  eine  acute,  ziendich  intensive 
Gelenkentzündung.  Ist  in  solchen  Fällen  das  Glied  nicht  fixirt,  so  ninjmt 
es  nach  und  nach  eine  flectirte  Stellung  an,  die  sich  im  Kniegelenk  bis 
zu  einem  vollständig  spitzen  Winkel  steigern  kann.  Es  ist  nicht  ganz 
leicht,  den  Grund  für  diese  Flexionsstellung  der  entzündeten  Gelenke 
anzugeben;  mir  ist  es  inmicr  noch  am  wahrscheinlichsten,  dass  diese 
Stellung  auf  reflectorischem  Wege  zu  Stande  kommt,  nämlich  so,  dass 
von  den  sensiblen  Nerven  der  entzündeten  Synovialmembran  der  Reiz 
hauptsächlich  auf  die  motorischen  Nerven  der  Mm.  flexores  übertragen 
wird.  Eine  andere  Erklärung  ist  die,  dass  jedes  Gelenk  in  der  flectirten 
Stellung  mehr  Flüssigkeit  enthalten  könne,  als  in  der  extendirten,  was 
auch  auf  experimentellem  Wege  durch  Injectionen  in  die  Gelenke  von 
Bonnet  in  so  weit  nachgewiesen  ist,  als  er  durch  forcirte  Injection  von 
Flüssigkeit  in  die  Gelenke  an  der  Leiche  meist  die  flectirte  Stellung 
hervorgebracht  hat.  Diese  Experimente  scheinen  mir  jedoch  nichts  für 
die  erwähnten  Flexionsstellungen  zu  beweisen,  weil  letztere  auch  bei 
Gelenkentzündungen  vorkommen,  bei  denen  durchaus  keine  Flüssigkeit 
in  der  Geleukhöhle  angesammelt  ist,  auf  der  anderen  Seite  da  sehr  häufig- 
fehlen,  wo  sehr  viel  Flüssigkeit  in  den  Gelenken  sich  befindet.  Jeden- 
falls lehrt  die  Beobachtung  sicher,  dass  acute  schmerzhafte  Synovitis 
am  meisten  zu  Flexionsstellungen  disponirt. 

Ist  es  zu  den  beschriebenen  Erscheinungen  gekommen,  so  treten 
dann  die  antiphlogistischen  Mittel  in  ihr  altbewährtes  Eecht;  dabei  ist 
jedoch  nicht  zu  vergessen,  dass  ausserdem  auch  die  Stellung  des  Ge- 
lenkes nicht  vernachlässigt  werden  darf,  damit,  wenn  absolute  Steifheit 
des  Gelenkes  eintreten  sollte,  dieses  sich  in  einer  Stellung  befindet, 
welche  für  die  Function  relativ  am  günstigsten  ist,  also  für  das  Knie 
die  vollkommen  gestreckte,  für  den  Fuss,  den  Ellenbogen  die  recht- 
winklige Stellung  u.  s.  f.  Ist  es  versäumt,  gleich  von  Anfang  der  Behand- 
lung an  hierauf  Eücksicht  zu  nehmen,  so  müssen  Sie  diesen  Fehler  ver- 
bessern, indem  Sie  den  Patienten  narkotisiren,  um  dann  ohne  Schwierig- 
keit dem  kranken  Gliede  die  passendste  Stellung  zu  geben.     Von  den 


252  Von  den  Verletzungen  der  Gelenke.     Penetrirende  Wunden. 

antiphlog-istischen  Mitteln  lege  ich  am  meisten  Gewicht  auf  die  Appli- 
cation einer  oder  mehrer  Eisblasen  auf  das  entzündete  Ge- 
lenk und  auf  das  Bestreichen  desselben  mit  Jodtinktur. 

Nimmt  die  Flüssigkeit  im  Gelenk  sehr  rasch  zu  und  "wird  die 
Spannung  dem  Kranken  unerträglich,  wobei  dann,  falls  der  Eiter  durch 
die  wiedergeöffnete  Wunde  keinen  freien  Ausfluss  hat,  die  Gefahr  vorliegt, 
dass  von  innen  her  eine  Ulceration  der  Kapsel  erfolgt  und  sich  der  Eiter 
aus  dem  Gelenk  in  das  Zellgewebe  ergiesst,  so  kann  man  den  Eiter  mit 
einem  Trokar  vorsichtig  ablassen,  wobei  mau  sich  natürlicii  zu  hüten  hat, 
dass  keine  Luft  in  die  Gelenkhöhle  eintritt.  Die  Functionen  des  Geleukes, 
welche  für  solche  Fälle  besonders  von  E.  Volkmann  empfohlen  sind,  habe 
ich  früher  mit  gutem  Erfolg  angewandt  und  dadurch,  wie  ich  glaube, 
hinter  einander  vier  Fälle  von  schwerer,  acuter,  traumatischer  Knie- 
gelenkentzündung mit  vollkommener  Herstellung  der  Bew^eglichkeit  ge- 
heilt. Seitdem  ich  auch  bei  einfachen  penetrirenden  Gelenk- 
wunden den  Gypsverband  anlege,  habe  ich  freilich  diese 
Functionen  nicht  mehr  gebraucht.  Der  Kranke  bedarf  keiner 
inneren  sogenannten  antiphlogistischen  Medicamente;  wenn  er  wegen 
Schmerzen  die  Nächte  schlaflos  zubringt,  giebt  man  ihm  kleine  Dosen 
Morphium  am  Abend.  —  Mit  Hülfe  der  genannten  Mittel  kann  es  ge- 
lingen, auch  in  diesem  Stadium  den  Frocess  in  seiner  Acuität  abzu- 
schneiden; doch  wird  es  bei  diesem  Verlauf  schon  vorkommen,  dass 
die  Gelenkfunction  nicht  vollkommen  hergestellt  wird,  wenngleich  dies 
auch  jetzt  noch  möglich  ist,  falls  nämlich  die  Eiterung  der  Synovial- 
membran  eine  vorwiegend  oberflächliche  (catarrhalische) 
bleibt.  Häufig  geht  jedoch  der  Frocess  von  dem  acuten  in  einen  chroni- 
schen Verlauf  über,  die  Eiterung  greift  tiefer  ins  Gewebe  ein  und  es 
wird  dann  nach  der  Ausheilung  mehr  oder  weniger  Steifheit  zurück- 
bleiben. 

Doch  leider  schreitet  die  Entzündung  und  zumal  die  Eiterj^roduction 
im  Gelenk  und  um  dasselbe  herum  zuweilen  unaufhaltsam  fort.  Es  bleibt 
schliesslich  nichts  übrig,  als  die  Wunde  zu  dilatiren,  bald  hier  bald  dort 
neue  Oeffnungen  zu  maclicn,  Drainagerühren  durchzuleiten,  fleissig  alle 
Wundhöhlen  auszuspritzen,  kurz  dem  Eiter  möglichst  freien  conlinuir- 
lichen  Ausfluss  zu  verschaffen  und  dabei  das  Gelenk  doch  in  ruliiger 
Fixation  zu  erhalten.  Unter  diesen  Verhältnissen  bei  dieser  „Fanar- 
t h  r  i  t i s "  kommt  es  dann  freilich  zu  einer  v o  1 1  s  t ä n  d  i g  e  n  V  e  r e i t e r  u  n g 
und  Zerstörung  des  Syuo  vials  ackes.  Nicht  alle  anhängenden 
Synovialsäcke  nehmen  an  der  Eiterung  immer  in  gleichem  Grade  Theil; 
es  kann  vorkonunen,  dass  Sie  durch  die  Function  an  einer  Stelle  des 
Gelenkes  Serum,  an  einer  anderen  Eiter  entleeren;  dies  kommt  wahr- 
scheinlich daher,  dass  durch  die  geschwollene  Synovinlmcuibran  die  oft 
engen  Conmiunicationsöft'nungen,  welche  von  der  Gelenkhöhle  in  die 
adnexen  Säcke   führen,   ventilartig    verlegt   werden.    —  In    schlimmen 


A^M-Iosmi-    17.     Cnpil.'I  VIT.  2r)-i 

Fällen  verbreitet  sieh  die  l^iiterung-  his  in  die  Weielitlieilc  des  Ober-  und 
TJntersclienkels,  und  der  Kranke  kcnnnit  dabei  immer  melir  liernnter,  l)e- 
sonders  aucli  durcli  lieftige  Anfalle  von  Fieberfrösten;  seine  Züge  ver- 
fallen, und  wir  stehen  jetzt  ziemlieh  rathlos  mit  unserer  'riiera])ie  da. 
Eine  Heilung-  ist  allerdings  aueh  in  diesem  Stadium  möglieli,  indem 
endlich  die  acuten  Eiterungen  auChüreu  uml  dei*  l'rocess  noeli  in  (;in 
chronisches  Stadium  ti'itt,  wobei  die  ganze  Afi'aire  dann  gewöhnlich  mit 
vollständiger  Steiflicit  des  Gelenkes  nacli  Monaten  endet.  Tu  vielen 
Fällen  bemühen  wir  uns  vergeblich,  mit  Hülfe  von  tonischen  und. 
roborirenden  Mitteln  die  Kräfte  des  Patienten  zu  erhalten;  er  geht  in 
Folge  immer  neu  auftretender  Eiterungen,  die  sich  aucii  an  Stellen 
bilden,  die  mit  der  Wunde  gar  niclit  zusammenhängen,  völlig  erschöpft 
zu  Grunde.  Diesem  üblen  Ausgang  können  wir  nur  vermittelst  der 
Amputation  vorbeugen,  dieses  traurigen,  aber  für  diese  Fälle  zuweilen 
lebensrettenden  Mittels.  Die  Schwierigkeit  liegt  hier  in  der  richtigen 
Wahl  des  Zeitpunkts  für  den  operativen  Eingriff;  Beobachtungen  am 
Kraukenbett,  die  Sie  in  der  Klinik  machen  werden,  müssen  Sie  beleliren, 
wie  viel  Sie  in  dem  einzelnen  Falle  den  Kräften  Ihrer  Kranken  zutrauen 
dürfen,  um  danach  zu  bemessen,  wann  der  äusserste  Zeitpunkt  für  die 
Amputationen  gekonnnen  ist.  In  Spitälern  werden  Sie  innnerhin  eine  Reihe 
von  solchen  Fällen  mit  und  olme  Amputation  an  Eiterinfection  (Pyohämie) 
sterben  sehen. 

Da  wir  uns  bei  der  Beschreibung  der  traumatischen  Gelenkent- 
zündung an  die  Darstellung  eines  speciellen  Falles  gehalten  haben  und 
dabei  Symptome  und  Therapie  unmittelbar  auf  einander  folgen  Hessen, 
so  müssen  wir  noch  einige  Bemerkungen  über  die  patliologisch-anato- 
mischen  Verhältnisse  hinzufügen,  wie  man  sie  theils  an  der  Leiche,  theils 
an  amputirten  Gliedern,  theils  mit  Hülfe  von  Experimenten  sehr  genau 
studirt  hat.  Die  Erkrankung  betritft  hauptsächlich,  ja  man  kann  sagen, 
in  der  ersten  Zeit  ausschliesslich  die  Synovialmembran.  Diese  stellt 
man  sich,  wenn  man  nicht  beim  Präpariren  besonders  darauf  geachtet 
hat,  wie  ich  aus  eigner  Erfahrung  weiss,  gewöhnlich  viel  zu  dünn  und 
unbedeutend  vor.  Sie  können  sich  jedoch  leicht  bei  der  Untersuchung 
eines  Kniegelenks  überzeugen,  dass  dieselbe  an  den  meisten  Stellen 
dicker  und  saftiger  ist  als  Pleura  und  Peritoneum,  und  von  dei-  tibröseu 
Gelenkkapsel  durch  eine  lockere,  subseröse,  zuweilen  sehr  fettreiche 
Zellgewebsschicht  getrennt  ist,  so  dass  Sie  den  Synovialsack  eines  Knie- 
gelenkes bis  an  die  Knorpel  leicht  als  eine  selbstständige  Membran  aus- 
lösen können.  Dieselbe  besteht  bekanntlich  aus  Bindegewebe,  trägt  an 
ihrer  Oberfläche  ein  meist  einfaches  Pflasterendothel  und  enthält  ein  nicht 
unbedeutendes,  der  Oberfläche  nahe  liegendes  Capillarnetz;  über  die 
Lymphgefässe  der  Synovialmendn-anen  liegen  Untersuchungen  von  Hueter 
vor,  nach  welchen  diese  Häute  selbst  keine  Lymphgefässe  haben,  während 
das  subsyuoviale  Gewebe   sehr  reich   daran  sein  soll.     Dies  Eesultat  ist 


254  ^'^"'i  *^*^"  Verletzungen  der  Gelenke.     Penelrirende  Wunden. 

übeiTascliencl  imd  bedarf  daher  der  wiederliolten  Nacliuntersuchung'  mit 
allen  verschiedenen  Httlfsmitteln  moderner  anatomischer  Technik.  Da 
die  Synovialmembrauen  seröse  Häute  sind,  so  ist  es  im  höchsten  Grade 
wahrscheinlich,  dass  Lymphgefässe  darin  sind,  und  dass  sich  dieselben 
ähnlich  verhalten,  wie  sie  von  v.  Eeckling- hausen  am  Peritoneum 
und  andern  serösen  Häuten  beschrieben  sind,  nämlich,  dass  sie  ganz 
oberflächlich  liegende,  mit  Epithel  ausgekleidete  Netze  bilden  und  theilweis 
an  der  Oberfläche  der  Membran  ausmünden.  Die  Oberfläche  der  Synovial- 
membrauen zeigt  besonders  an  den  Seitentheilen  der  Gelenke  eine  Menge 
von  zottigen  Fortsätzen ;  diese  Fortsätze  haben  ziemlich  ausgebildete,  oft 
sehr  complicirte  Capillarschlingen.  Die  Synovialmembranen  theilen  mit 
den  übrigen  serösen  Membranen  die  Eigenthümlichkeit,  dass  sie  bei 
Reizung  zunächst  eine  nicht  unerhebliche  Quantität  von  Serum  absondern. 
Zu  gleicher  Zeit  hiermit  werden  die  Gefässe  dilatirt  und  fangen  an, 
nach  der  Oberfläche  hin  sich  zu  schlängeln;  die  Membran  verliert  dabei 
ihr  glänzendes,  glattes  Aussehen  und  wird  zuerst  trüb  gelbroth,  dann 
später  immer  mehr  roth  und  sammetähnlich  auf  der  Oberfläche.  In  den 
meisten  Fällen  bildet  sich  auf  dieser  Oberfläche  bei  den  acuten  Ent- 
zündungen eine  mehr  oder  w^eniger  dicke  faserstoffige  Auflagerung,  eine 
sogenannte  Pseudomembran,  ähnlich  wie  bei  der  Entzündung  der  Pleura 
und  des  Peritoneum. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Synovialmembran  in  diesem  Zustand  ergiebt, 
dass  das  ganze  Gewebe  derselben  sehr  reicldich  zellig  infiUrirt  ist,  und  dass  an  der 
Oberfläche  die  Zellenhäufung  so  bedeutend  wird ,  dass  das  Gewebe  hier  fast  ganz  aus 
kleinen  runden  Zellen  besteht,  von  denen  die  oberflächlichsten  ganz  den  Charakter  von 
Eiterkörperchen  tragen;  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  colossal  ausgedehnten  Gefässe 
findet  man  die  Anhäufung  von  Zellen  besonders  massenhaft,  was  wohl  darin  seinen 
Grund  haben  mag,  dass  bei  der  acuten  Synovitis  viele  weisse  Blutzellen  durch  die  Gefäss- 
wandnngen  ins  Gewebe  auswandern,  und  in  der  Nähe  der  Gefässe  liegen  bleiben;  auch 
rothe  Blutkörperchen  scheinen  bei  diesen  Processen  in  sehr  reichlicher  Menge  aus  den 
Gefässen  zu  treten.  Die  Pseudomembranen  sind  ganz  aus  kleinen  runden  Zellen  zusammen- 
gesetzt, welche  durch  eine  geronnene  fibröse  Substanz  verbunden  gehalten  werden,  über 
deren  Entstehung  aus  fibrinogener  und  fibrinoplastischer  Substanz  wir  früher  (pag.  72) 
gesprochen  haben.  Das  Bindegewebe  der  Membran  hat  seine  streifige  Beschaftenheit 
theilweis  verloren  und  hat  eine  gallert-schleimige  Consistenz,  so  dass  es  eine  grosse  Aelm- 
lichkeit  mit  der  Intercellularsubstanz  des  Granulationsgewebes  darbietet:  in  der  allmählii; 
trübe  und  eiterähnlich  werdenden  Flüssigkeit  im  Gelenk  finden  sich  zuerst  in  geringer 
Menge,  später  immer  mehr  Eiterkörperchen  vor,  bis  dieselbe  allmählig  ganz  und  gar  den 
Charakter  des  Eiters  an  sich  trägt.  Noch  etwas  später  ist  die  ganze  Oberfläche  der 
Synovialmembran  so  stark  vascularisirt,  dass  sie  auch  für  das  Ansehen  mit  freiem  Auge 
wie  eine  schwammige,  wenig  gekörnte  Granulationsfläche  aussieht,  an  deren  Oberfläche 
sich  der  Eiter  stets  neu  bildet,  wie  auf  einer  gewöhnlichen  Granulationsfläche. 

Der  Zustand,  in  welchen  die  Synovialmembran  hierbei  geräth,  ist 
in  seinen  Anfangsstadien  am  meisten  dem  acuten  Katarrh  der  Schleim- 
liäute  analog.  So  lange  es  sich  dabei  nur  um  Oberflächeneiterung  ohne 
Erweichung  des  Gewebes  (ohne  Ulceratiou)  handelt,  kann  die  Membran  zum 
Normalzustand  zurückkehren;  ist  aber  die  Reizung  so  stark,  dass  nicht 


VorlcSinin-     17.        (';||,i|c|     VII.  255 

nur  Psciidoiucuihraiicn  i;cl)il(lut  werden  (die  nucli  iiocli  wieder  zei-rulleii 
können),  sondern  das  CJewcbe  der  Synovialniemljrnn  sellist  vereitert, 
dann  kann  nur  Navl)e]d)i!dung'  daraus  rcsultiren.  —  Wir  lial)en  vorher 
bei  Schilderung-  eines  typisclieu  Falles  von  Kniegelenkeiterung-  ange- 
deutet, dass  aus  der  CÜeleukhöhle  Eiterdurchl)riiehc  ins  Unierhaut/x'll- 
g-ewebe  erlblg-en;  dies  konunt  unzweifelhaft  vor  und  zwnr  fast  immer 
an  denselben,  anatomisch  besonders  dazu  prädisponirten  Stellen,  doch 
treten  periavti  culäre  Unterhautzellge  webseiterungeu  nach 
penetrircnden  Gelenkwunden  aucli  zuweilen  auf,  ohne  dass 
sie  von  Eiterdurehbrüchen  al)liäng'ig-  sind;  man  trifft  sie  sowohl 
bei  acuten  wie  bei  chronischen  Gelenkeiteruugen  au,  oline  immer  einen 
directen  Zusammenhang-  mit  der  Gelcnkhöhle  nachweisen  zu  können. 
Ich  glaube  dies  nach  meinen  Anschauungen  ü])cr  die  phlogogene 
Wirkung-  des  Eiters  so  erklären  zu  müssen ,  dass  hier  der  im  Gelenk 
acut  gebildete  giftige  Eiter  von  den  Lymphgefässen  der  Syuovialmembran 
resorbirt  und  ins  periarticuläre  Zellgewebe  gefiilirt,  Entstehungsursache 
für  diese  Zeilgewebseiterungen  wnrd;  Anschwellungen  der  nahgelegenen 
Lymphdrüsen  fehlen  dabei  nie.  Wir  werden  bei  der  Lymphangoitis 
darauf  zurückkommen  müssen.  —  Der  Knorpel  nimmt  erst  spät  an  dem 
Entzündungsprocess  Antheil;  seine  Oberfläche  wird  g-etrül)t,  und  wenn 
der  Process  recht  acut  ist,  so  fängt  er  an,  zu  feinen  Molecülen  zu 
zerfallen  oder  selbst  in  grösseren  Stücken  nekrotisch  zu  werden,  sich 
theilweis  vom  Knochen  abzulösen,  indem  sicli  Entzündung-  und  Eiterung 
zwischen  Knoriiel  und  Knochen  (subchondrale  Ostitis)  einstellt.  Wenn- 
gleich das  Knorpelgewebe  mit  seineu  Zellen  bei  diesen  Entzündungen 
morphologisch  nicht  ganz  unthätig  ist,  so  halte  ich  die  Mitleidenschaft 
des  Knorpels  bei  acuter  Pauarthritis  im  Wesentlichen  doch  für  einen 
vorwiegend  passiven  Erweichungsprocess,  eine.  Art  von  Maceratiou,  wie 
sie  sich  unter  ähnlichen  Umständen  an  der  Cornea  bei  starker  Blenorrhoe 
und  Diphtheritis  der  Conjuuetiva  findet.  Es  giebt  überhaupt  kaum 
zwei  Theile  des  menschlichen  Körpers,  die  in  pathologischer  Beziehung 
so  viel  analoge  Verhältnisse  darbieten ,  wie  die  Conjuuetiva  in  ihrem 
Verhältniss  zur  Cornea  und  die  Synovialhaut  in  ihrem  Verhältniss  zum 
Knorpel.  Wir  werden  noch  öfter  Gelegenheit  haben,  darauf  zurückzu- 
kommen, und  wollen  diese  pathologisch -anatomischen  Studien  hier  jetzt 
abbrechen,  mit  denen  wir  uus  später  noch  sehr  ausführlich  beschäftigen 
müssen.  Tritt  der  acute  Process  in  das  chronische  Stadium,  und  bildet 
sich  schliesslich  ein  steifes  Gelenk,  eine  Anchylosis  (von  aynvlri, 
Biegung)  aus,  so  geschieht  dies  bei  allen  eitrigen  Gelenkentzündungen 
stets  auf  die  gleiche  Weise.  Wir  wollen  darauf  näher  eingehen,  wenn 
wir  von  den  chronischen  Gelenkentzündungen  sprechen. 


256  Von   den   Verletzungen   der   Gelenke.      VeiTenkiingen. 


Vorlesung  18. 

Von  den    einfachen  A''errenkiingen :    tranmatisclie,   angeborene,    patliologisclie    Luxationen, 
Subluxationen.  —  Aetiologisches.  —  Hindernisse  für  die  Einrichtung.     Behandlung:  Ein- 
richtung,  ISachbehandlung.  —  Habituelle   Liixationen.  —  Veraltete  Luxationen,   Behand- 
lung. —  Von  den  complicirten  Verrenkungen.  —  Angeborene  Luxationen. 

Von  den  einfachen  Verrenkungen. 

Unter  einer  Verrenkung-  (Luxatio)  versteht  man  denjenigen 
Zustand  eines  Gelenkes,  in  welchem  die  beiden  Gelenkenden  entweder 
ganz  vollständig  oder  zum  grössten  Tlieil  aus  ihrer  gegenseitigen  Lage 
gewichen  sind,  wobei  in  der  Regel  die  Gelenkkapsel  theilweis  zerrissen 
ist;  wenigstens  ist  dies  fast  immer  der  Fall  bei  den  traumatischen 
Luxationen,  d.  h.  bei  denjenigen,  welche  an  gesunden  Gelenken  in 
Folge  einer  Gewalteinwirkung  entstanden  sind.  Man  unterscheidet 
nämlich  ausserdem  noch  die  an g eb  ornen  Luxationen  und  die  spon- 
tanen oder  pathologischen  Luxationen.  Die  letzteren  kommen 
dadurch  zu  Stande,  dass  sich  in  Folg'^e  von  allraähliger  ulcerativer  Zer- 
störung der  Gelenkenden  und  Gelenkbänder  Verschiebungen  ausbilden, 
weil  die  Gelenkenden  dem  Muskelzug  keinen  genügenden  Widerstand 
mehr  leisten,  wir  reden  erst  später  davon,  denn  dies  gehört  wesentlich 
zu  den  Ausgängen  gewisser  Gelenkkrankheiten.  Ueber  die  angebornen 
Luxationen  wollen  wir  am  Ende  dieses  Abschnittes  einige  Bemerkungen 
machen. 

Für  jetzt  haben  wir  es  nur  mit  den  traumatischen  Luxa- 
tionen zu  thun.  Sie  werden  auch  von  Subluxationen  sprechen 
hören;  man  bezeichnet  damit  Fälle,  in  welchen  die  Gelenkflächeu  sich 
nicht  ganz,  sondern  nur  theilweise  verschoben  haben,  so  dass  die  Luxation 
eine  unvollkommene  ist.  Unter  complicirten  Luxationen  verstehen 
wir  diejenigen,  mit  denen  entweder  Knochenbrüche  oder  Wunden  der 
Haut  oder  Zerreissung  grosser  Gefässe  und  Nerven  verbunden  sind. 
Ferner  haben  Sie  noch  zu  merken,  dass  man  allgemein  übereingekommen 
ist,  den  untern  Theil  eines  Gliedes  als  den  verrenkten  zu  be- 
zeichnen, so  dass  man  also  z.  B.  im  Schultergelenk  nicht  von  einer 
Luxation  der  Scapula,  sondern  von  einer  Luxation  des  Humerus  spricht, 
im  Kniegelenk  nicht  von  einer  Luxation  des  Femur,  sondern  der 
Tibia  u.  s.  f. 

Die  Luxationen  gehören  im  Allgemeinen  zu  den  seltenen  Verletzun- 
gen; in  manchen  Gelenken  kommen,  sie  so  selten  vor,  dass  die  Znld 
der  bekannt  gewordenen  Fälle  zuweilen  kaum  ein  hall)es  Dutzend  be- 
trägt; es  wird  angegeben,  dass  die  Frncturen  8  Mal  häutiger  sind  als 
die   Luxationen;    mir  scheint  dies  Verhältuiss   für    die  Luxationen    fast 


V.irlcsimt!;    18.      ('.'ipil.'l    VIF.  257 

noch  zu  liäufiii'.  Die  Vcrilieiluiii;'  der  Ijuxatioiicu  auf  die  verscliicdeneu 
Gelenke  ist  eine  ung'laublich  verseliiedenc;  icli  will  Ilinen  dies  durcli  ein 
l)aar  Zahlen  anschaulich  machen:  nacli  einer  Statistik  von  Malgaigne 
befanden  sich  unter  489  Luxationen  8  am  Trnncus,  (52  an  den  untern, 
419  an  den  obern  P^xtremitäten  und  unter  den  letzteren  321  an  der 
Schulter.  Sie  sehen  also  hieraus,  dass  die  Schulter  ein  für  die  Ver- 
renkung- besonders  bevorzugtes  Gelenk  ist,  was  sich  übrigens  aus  seiner 
vielfachen  Benutzung  und  seiner  freien  Beweglichkeit  wold  erklären  lässt. 
Die  Luxationen  sind  häufig-er  bei  Männern  als  bei  Frauen  aus  denselben 
Gründen,  die  wir  schon  früher  für  die  grössere  Häufigkeit  der  Fracturen 
bei  Männern  erörtert  haben. 

Luxationen  kann  man  sich  durch  Verletzungen  und  durch  eigne 
Muskelaction  zuziehen;  letzteres  kommt  selten  vor,  doch  sind  Fälle 
beobachtet,  avo  z.  B.  bei  Epileptischen  Verrenkungen  durch  krampfhafte 
Muskelcontractionen  entstanden.  Die  äusseren  Veranlassung-en  w^erden 
wie  bei  den  Fracturen  in  directe  und  indirecte  eing'etheilt.  Füllt  z.  B. 
Jemand  auf  die  Schulter  und  zieht  sicli  eine  Luxation  zu,  so  bezeichnet 
man  diese  als  durch  directe  Gewalt  entstanden :  dieselbe  Luxation  könnte 
bei  indirecter  Gewalteinwirkung  zu  Stande  kommen,  wenn  z.  B.  jemand  mit 
erhobenem  Arm  auf  die  Hand  und  den  Ellbogen  fiele.  Ob  in  dem  einen 
Fall  eine  Verrenkung,  in  einem  andern  ein  Knochenbruch  entsteht,  ward 
hauptsächlich  von  der  Stellung-  des  Gelenkes  sowie  von  der  Richtung  und 
Kraft  der  einwirkenden  Gewalt  abhängig  sein;  jedoch  kommt  auch  viel 
darauf  an,  ob  die  Knochen  oder  die  Gelenkbänder  leichter  nachgeben;  man 
kann  z.  B.  durch  die  gleichen  Manöver  an  Leichen  von  Menschen  ver- 
schiedenen Alters  bald  eine  Fractur,  bald  eine  Luxation  hervorrufen.  —  Es 
g-iebt  wie  bei  den  Fracturen  eine  grosse  Anzahl  von  Symptomen  einer 
Statt  g-ehabten  Luxation,  von  denen  einige  sehr  in  die  Augen  fallend  sein 
können,  und  zwar  um  so  mehr,  je  rascher  man  nach  der  Verletzung 
hinzukommt  und  je  weniger  die  Verschiebung  an  den  Gelenken  durch 
entzündliche  Schwellung-  der  darüber  liegenden  Weichtheile  verdeckt 
ist.  Die  veränderte  Form  des  Gelenkes  ist  eines  der  wichtigsten 
und  eclatantesten  Symptome,  welches  aber  nur  dann  schnell  und  sicher 
zur  Diagnose  führt,  wenn  man  das  Auge  geübt  hat,  Differenzen  von 
der  normalen  Form  leicht  zu  erkennen.  Ein  richtiges  Augenmaass, 
genaue  Kenntniss  der  normalen  Form,  kurz  etwas  Sinn  für  Plastik  und 
plastische  Anatomie,  sogenannte  Künstleranatomie,  sind  hier  ausser- 
ordentlich nützlich.  Handelt  es  sich  um  äusserst  geringe  Formab- 
weichungen, so  wird  auch  der  Geübteste  des  Vergleiches  "mit  der 
normalen  gesunden  Seite  nicht  entbehren  können,  und  ich  muss  Ihnen 
daher  dringend  rathen,  wenn  Sie  auf  diesem  Gebiete  keinen  Fehler 
machen  wollen,  stets  den  ganzen  Ober-  oder  Unterkörper  entblössen  zu 
lassen  und  die  beiderseitigen  Formen  mit  einander  zu  vergleichen. 
Am  besten  verfolgen  Sie  mit  dem   Auge  die  Richtung  des  vermuthlich 

Billroth  chir.  P;itli.  u.  Tlier.   7.  Aufl.  17 


258  Von    den  Verletznngen  der  Gelenke.     Verrenknugen. 

dislocirten  Knochens,  und  wenn  dann  diese  Linie  nicht  gerade  genau 
auf  die  Gelenkpfanne  trifft,  so  werden  Sie  in  den  meisten  Fällen  mit 
Wahrscheinlichkeit  eine  Luxation  annehmen  dürfen,  falls  Sie  es  nicht 
mit  einer  Fractur  dicht  unterhalb  des  Gelenkkopfes  zu  thun  haben,  was 
durch  die  manuelle  Untersuchung  entschieden  werden  muss.  —  Die  Ver- 
längerung oder  Verkürzung  eines  Gliedes,  seine  Stellung  zum  Truncus, 
die  Entfernung  gewisser  hervorragender  Punkte  des  Skelets  von  einander 
helfen  auch  oft  schnell,  wenigstens  zur  Wahrscheinlichkeitsdiagnose  einer 
Luxation.  —  Ein  anderes  von  dem  Auge  wahrzunehmendes  Symptom 
ist  die  blutige  Unterlaufung  der  Weichtheile,  die  Sugillation.  Diese 
tritt  freilich  selten  im  Anfang  deutlich  liervor,  weil  das  aus  der  zer- 
rissenen Gelenkkapsel  ergossene  Blut  erst  allmählich,  oft  erst  im  Ver- 
laufe einiger  Tage  unter  die  Haut  dringt  und  sichtbar  wird;  in  manchen 
Fällen  ist  der  Bluterguss  so  unbedeutend,  dass  mau  nichts  davon  wahr- 
nimmt. Die  Symptome,  welche  der  Kranke  selbst  angiebt,  sind  Schmerz 
und  Unfähigkeit,  das  Glied  in  normaler  Weise  zu  bewegen.  Der  Schmerz 
ist  niemals  so  stark  wie  bei  Fracturen  und  tritt  erst  deutlich  hervor, 
wenn  man  versucht,  Bewegungen  zu  machen.  In  manchen  Fällen  kann 
der  Patient  bei  Luxationen  gewisse  Bewegungen  mit  dem  luxirten  Gliede 
ausführen;  doch  sind  dieselben  nur  nach  bestimmten  Eichtuugen  und  in 
beschränktem  Maasse  möglich.  —  Die  manuelle  Untersuchung  muss 
schliesslich  in  den  meisten  Fällen  die  Entscheidung  geben;  es  muss 
durch  dieselbe  constatirt  werden,  dass  die  Gelenkpfanne  leer  und  der 
Kopf  sich  an  einer  andern  Stelle  daneben,  darunter  oder  darüber  be- 
findet. Diese  Untersuchung  kann  bei  schon  angeschwollenen  Weichtheileu 
recht  schwierig  sein,  und  bedürfen  wir  nicht  selten  der  Chloroform- 
narkose, um  dieselbe  recht  exact  zu  machen,  woran  uns  sonst  der 
Kranke  durch  seine  Schmerzensäusserungen  und  Bewegungen  hindert. 
Bei  der  Bewegung  der  luxirten  Extremität,  die  wir  federnd  oder  wenig 
beweglich  finden,  nimmt  man  zuweilen  ein  Gefühl  von  Reibung,  eine 
undeutliche  weiche  Crepitation  wahr.  Diese  kann  theils  durch  das 
Reiben  des  Gelenkkopfs  an  zerrissenen  Kapselbäudern  und  Sehneu  ent- 
stehen, theils  durch  Zerdrücken  fester  Blutcoagula.  Man  darf  daher  bei 
solchen  Arten  von  Crepitation  sich  nicht  sofort  zur  Annahme  einer 
Fractur  verleiten  lassen,  sondern  wird  nur  aufgefordert,  um  so  genauer 
zu  untersuchen.  Fracturen  einzelner  Theile  der  Gelenkenden  mit  Dislo- 
cation  sind  am  leichtesten  mit  Luxationen  zu  veiwechseln.  Auch  war 
der  Sprachgebrauch,  zumal  früher,  in  dieser  Hinsicht  nicht  ganz  exact, 
indem  man  Verschiebungen  im  Bereiche  des  Gelenkes,  welclie  mit 
Fracturen  verbunden  und  nur  durch  diese  bedingt  waren,  auch  wohl 
als  Luxationen  bezeichnete.  Jetzt  unterscheiden  Avir  diese  Fracturen 
innerhalb  des  Gelenkes  mit  Dislocation  schärfer  von  den  eigentlichen 
Luxationen. 

Sollten  Sie  zweifelhaft  sein,  ob  Sie  es    mit  einer  stark   dislocirten 


V<.rl(>smi.i,'   18.     C-ipilrl   Vfl.  259 

GclcnkfVficiur  oder  mit  einer  J^uxulion  zu  Ihiiii  haben,  ro  können  Sic 
dies  sein-  leiclit  durch  das  Einrichtung'smanöver  cntsclieiden.  ]/ässt  sieh 
eine  solclie  Disloeation  bei  einem  mässigxni  Vavj;  leicht  ansi^'leielien  und 
stellt  sich  sofort  wieder  her,  während  Sie  mit  dem  Zug-e  nacldassen,  so 
haben  Sie  es  sichei'  mit  einer  Fractur  zu  thnn;  denn  einerseits  gehören 
7Air  Einriclitung-  einer  Luxation  in  der  Ivcg'el  ganz  bestimmte  kunstge- 
rechte llandg-riffc,  andrerseits  gelien  die  l^ixationeii,  einmal  eing-eriehtet, 
meist  nicht  so  leicht  wieder  zurück,  w'enngdeich  in  dieser  Beziehung 
Ausnahmen  vorkommen. 

Auch  mit  einer  Contusion  und  Distorsion  des  Gelenkes  kann  man 
die  Luxationen  yerwecliseln,  wird  jedoch  diesen  Fehler  bei  rcclit  sorg- 
fältiger Untersuchung  umgehen  können.  Veraltete  traumatische  Luxa- 
tionen können  unter  Umständen  mit  Dislocationen  verwechselt  werden, 
w^elche  in  Folge  von  Contracturen  zu  Stande  kommen.  Endlich  können 
auch  bei  paralytischen  Gliedern,  bei  denen  zu  gleicher  Zeit  eine  Er- 
schlaffung der  GelenkkajDsel  besteht,  die  Gelenke  so  ausserordentlich 
beweglich  werden,  dass  sie  in  gewissen  Stellungen  wie  verrenkt  er- 
sclieinen.  Die  Anamnese  und  genaue  locale  Untersuchung  wird  auch  in 
diesen  Fällen  das  Richtige  erkennen  lassen. 

Was  den  Zustand  der  verletzten  Theile  gleich  nach  der  Verletzung 
betrifft,  so  hat  man  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  man  Gelegeulieit 
hatte,  dies  zu  untersuchen,  gefunden,  dass  die  Gelenkkapsel  mit  dem 
Synovialsack  zerrissen  ist.  Der  Kapselriss  ist  sehr  verschieden  gross, 
zuweilen  ein  Spalt  wie  ein  Knopfloch,  zuweilen  dreieckig,  mit  mehr  oder 
weniger  zerfetzten  Rändern;  auch  Muskelzerreissungen  und  Zerreissungeu 
von  Sehnen,  die  unmittelbar  auf  dem  Gelenk  liegen,  sind  beobachtet 
worden.  Die  Quetschung  der  Theile  ist  sehr  verschieden  und  damit  auch 
der  Bluterguss  von  sehr  verschiedenem  Umfang.  Der  Gelenkkopf  steht 
nicht  immer  an  derjenigen  Stelle,  an  welcher  er  durch  den  Kapselriss 
herausgeschlüpft  ist,  sondern  in  vielen  Fällen  steht  der  Kopf  höher,  tiefer 
oder  zur  Seite,  weil  die  Muskeln,  welche  an  ihm  anhaften,  sich  con- 
trahiren  und  ihn  verschieben.  Es  ist  von  grosser  Wichtigkeit,  zu  wissen, 
dass  wir  oft  den  luxirten  Gelenkkopf  zunächst  in  eine  andere  Stellung 
bringen  müssen,  ehe  es  gelingt,  ihn  durch  den  Kapselriss  in  die  Gelenk- 
höhle zurückzuführen. 

Zuweilen  kommt  es  vor,  dass  die  Verletzten  mit  Luxationen  durch 
irgend  welche  zufällige  Muskelbewegungeu  selbst  die  Einrenkung  be- 
werkstelligen. Dies  ist  besonders  an  der  Schulter  mehrmals  beobachtet. 
Solche  spontanen  Einrenkungen  sind  indess  sehr  selten  und  zwar  deshalb, 
weil  gew^öhnlich  der  Einrenkung  gewisse  Hindernisse  im  Wege  liegen, 
die  eben  bei  der  kunstgerechten  Reposition  überwunden  werden  müssen. 
Diese  Hindernisse  bestehen  wieder  theilweis  in  der  Contraction  der 
Muskeln,  wobei  der  Gelenkkopf  auch  w^ohl  zwischen  zwei  contrahirten 
Muskeln  eingeklemmt  sein  kann.     Ein    anderes,  bei    weitem  häufigeres 

17* 


2Q()  Voll   den   Verletzungen   der  Gelenke.     Verrenkungen. 

Hinderniss  ist  eine  kleine  Kapsel  Öffnung-  oder  auch  eine  Verlegung 
derselben  duix*h  liineingeklemmte  Weicbtlieile.  Endlich  können  gewisse 
Spannungen  der  Kapsel-  oder  Hülfsbänder  Hindernisse  für  die 
Einrichtung  frischer  traumatischer  Luxationen  sein. 

Die  Behandlung  einer  Luxation  muss  zunächst  in  ihrer  kunst- 
g-erechteu  Einrichtung  bestehen,  der  dann  Mittel  folgen  müssen, 
welche  die  Herstellung  der  Function  des  verletzten  Gliedes  unterstützen. 
Wir  wollen  jetzt  hier  nur  von  der  Einrichtung  frischer  Luxationen 
sprechen,  worunter  wir  diejenigen  verstehen,  welche  höchstens  seit 
8  Tagen  bestehen.  Der  günstigste  Zeitpunkt  für  die  Einrichtung-  einer 
Luxation  ist  unmittelbar  nach  der  Verletzung;  dann  haben  wir  die 
geringste  Schwellung  der  Weichtheile  und  noch  wenig  oder  keine  Ver- 
schiebung- des  luxirten  Kopfes;  der  Verletzte  ist  noch  psychisch  und 
physisch  durch  den  Eindruck  des  Ereignisses  erschlafft,  so  dass  die  Ein- 
richtung- nicht  selten  ausserordentlich  leicht  geling-t.  Später  werden  wir 
fast  immer  zur  Erleichterung  der  Einrichtung  der  Chloroformnarknse 
bedürfen,  um  durch  dieselbe  jeden  Widerstand  von  Seiten  der  JMuskeln 
aufzuheben.  Was  die  eigentlichen  Eeductionsmanöver  betrifft,  so  lässt 
sich  darüber  im  Allg-emeinen  nur  wenig  sagen,  weil  diese  Manöver 
begreiflicherweise  von  der  Mechanik  der  einzelnen  Gelenke  vollständig 
abhängig-  sind.  Es  bestand  früher  eine  allgemeine  Vorschrift  für  die 
Eeduction  der  Luxationen:  man  solle  nämlich  das  Glied  in  diejenige 
Stellung  bringen,  in  welcher  es  im  Momente  der  Luxation  stand,  um 
durch  Zug  den  Gelenkkopf  in  derselben  Weise  wieder  zurückzuführen, 
wie  er  herausgetreten  sei.  Dieser  Satz  hat  nur  noch  für  wenige  Fälle 
seine  vollständige  Gültigkeit;  vielmehr  bedienen  wir  uns  jetzt  bei  den 
verschiedenen  Luxationen  sehr  verschiedenartiger  Bewegungen,  wie  z,  B. 
Flectiouen,  Hyperextensionen,  Adductionen,  Abductionen,  Erhebungen 
u.  s.  f.  Gewöhnlich  dirigirt  der  behandelnde  Chirurg  diese  von  den 
Assistenten  ausgeführten  Bewegungen  und  schiebt  dann  selbst  mit  der 
Hand  den  Gelenkkopf  in  die  Pfanne,  wenn  er  durch  die  angedeuteten 
Manöver  dicht  vor  dieselbe  geführt  ist. 

Oft  genug  kann  der  Chirurg  allein  die  Reposition  machen  und  es 
ist  mir  schon  mehre  Mal  begegnet,  dass  ich  allein  eine  Schenkelluxation 
einrichtete,  au  welcher  sich  bereits  verschiedene  Collegeu  mit  Aufgebot 
kräftiger  Bauernhände  Stunden  lang  abgemüht  hatten.  Es  kommt  nämlich 
hierbei  Alles  auf  ein  richtiges  anatomisches  Vorstellungsvermögen  an, 
auf  Uebung  in  anatomisch-plastischer  Phantasie;  Sie  werden  begreifen, 
dass  mau  nicht  selten  in  einer  gewissen  Eichtung  mit  geringer  Kvai't 
den  Kopf  leicht  zurückschlüpfen  macht,  während  es  in  einer  andern 
Eichtung  ganz  unmöglich  ist,  ihn*  in  die  Pfanne  zu  bringen.  Wenn 
der  Kopf  in  die  Gelenkhöhle  hineintritt,  so  geschieht  dies  zuweilen  mit 
einem  deutlich  hörbaren  schnappenden  Geräusch;  doch  ist  das  nicht 
immer  so   der   Fall:    der  vollständige  Beweis    für  die  gelungene  Eepo- 


VorlcSMii^^    18.      (';i|iilrl    VII.  261 

sitioii    wird    immer  erst  (lurcli    die  iler.stelliiii^'   der  ii<»i-mMjcii   l)e\v<'glicli- 
keit  geg'eben  .sein. 

Kommt  nian  mit  eiiilaclicr  oder  mehrCaelier  IlMiidekraft  nicht  aus, 
so  kann  man  melire  rcrsoiicn  in  der  Weise  verwenden,  dass  man  lanye 
Sclding-entlicher  an  die  Extremität  anlegt  und  meine  Assistenten  in  einer 
bestimmten  Richtung-  ziehen  lässt.  Dieser  Zug,  dem  man  natürlich  einen 
Gegenzug-,  eine  Contraextcnsion  am  Rumpf  entgegensetzen  muss,  darf 
nie  ruckweise  auftreten,  sondern  muss  g-leichmässig  ausg-eführt  werden.  — 
Konmit  man  auch  mit  diesen  Mitteln  niclit  zum  Ziel,  so  müssen  Maschinen 
zu  Hülfe  g-enommen  werden,  welclie  die  Kraft  verstärken.  Hierzu 
bediente  man  sich  früher  sehr  verschiedenartiger  Instrumente:  Hebel 
Schrauben,  Leitern  u.  s.  w.  Jetzt  brauclit  man  fast  nur  noch  den 
Flaschenzug-  oder  den  S c h  n e  i  d  e r - M  e n e  1  'sehen  Extensions-Apparat.  Der 
Flaschenzug,  ein  Hmen  aus  der  Physik  bekanntes  Instrument  zur  Ver- 
stärkung der  Kraft,  das  in  der  Mechanik  ausserordentlich  häufig-  in  Ge- 
braucli  ist,  wird  in  der  Weise  angewandt,  dass  das  eine  Stück  an  der 
Wand  an  einem  starken  Haken  befestigt  wird,  während  das  andere  an 
der  betreffenden  Extremität  mit  Hülfe  von  Riemen  und  Schnallen  appli- 
cirt  wird.  An  dem  Körper  des  Patienten  wird  die  Contraextcnsion  so 
ang-ebracht,  dass  derselbe  nicht  durch  die  Wirkung-  des  Flaschenzuges 
fortg-ezog-en  werden  kann.  Ein  Assistent  zieht  an  der  Schnur  des 
Flaschenzuges,  dessen  Kraft  bekanntlich  je  nach  der  Zahl  der  ange- 
brachten Rollen  an  Stärke  progressiv  zunimmt.  Der  Schneider- 
Menel'sche  Apparat  besteht  aus  einem  grossen  starken  Galgen;  in  dem 
einen  Pfosten  desselben,  an  seiner  Innern  Seite  ist  eine  bald  höher,  bald 
tiefer  anzubringende  Winde,  welche  mit  Hülfe  einer  Kurbel  gedreht  und 
durch  ein  Zahnrad  festgestellt  werden  kann,  angebracht;  über  diese 
Winde  läuft  ein  breiter  Riemen,  der  mittelst  eines  Hakens  in  die  au 
der  luxirten  Extremität  angebrachte  Bandage  angehängt  wird.  Der  Kranke 
liegt  bei  Luxationen  der  unteren  Extremitäten  auf  einem  zwischen  den 
Pfosten  des  Galgens  der  Länge  nach  g-estellten  Tisch  oder  sitzt  bei 
Einrichtung-  einer  Armluxation  auf  einem  Stuhl,  der  in  gleicher  Weise 
gestellt  wird:  die  Contraextension  wird  durch  Riemen  bewerkstelligt,  mit 
denen  der  Kranke  an  den  der  Winde  gegenüberlieg-enden  Pfosten  des 
Galgens  befestigt  wird.  —  Beide  Apparate  haben  gewisse  Vorzüge,  beide 
sind  mühsam  zu  appliciren.  Sie  w^erden  in  Ihrer  Praxis  wenig-  damit 
zu  thun  haben,  da  diese  Apparate  fast  ausschliesslich  bei  veralteten 
Luxationen  in  Anwendung  kommen,  deren  Behandlung  seltener  in  der 
Privatpraxis  als  in  Spitälern  und  chirurgischen  Kliniken  unternommen 
zu  werden  pflegt. 


Wenn  wir  jetzt  derartige  g-ewaltsame  Einrichtungen  vornehmen,   so 
geschieht  dies    immer  nur,    nachdem  der  Patient  zuvor  narkotisirt  ist. 


262  Von  den  Verletzungen  der  Gelenke.     Verrenkungen. 

Diese  Narkosen  müssen,  wenn  sie  eine  vollständige  Erschlaffung  der 
Muskeln  hervorbring-en  sollen,  ausserordentlich  tief  sein,  und  da  die  Brust 
sehr  häufig  mit  Eiemen  und  Gurten  bedeckt  ist,  um  die  Contraextension 
zu  bewerkstelligen,  so  bedarf  es  der  allergrössten  Vorsicht  mit  der 
Quantität  des  einzuathmenden  Chloroforms,  um  gefährliche  Erstickungs- 
erscheinungen zu  vermeiden.  Es  giebt  aber  ausser  dieser  noch  andere 
Gefahren,  welche  schon  den  älteren  Chirurgen,  die  das  Chloroform  nicht 
anwandten,  bekannt  waren.  Diese  bestehen  darin,  dass  der  Kranke, 
wenn  er  zu  lauge  mit  diesen  gewaltsamen  Mitteln  bearbeitet  Avird,  plötz- 
lich collabirt  und  in  diesem  Collaps  sterben  kann,  ferner,  dass  die  be- 
treffende Extremität  durch  den  Druck  der  angelegten  Eiemen  in  der  Folge 
brandig  wird  oder  dass  subcutane  Zerreissung  von  grosseren  Nerven-  und 
Xjefässstämmen  erfolgt  und  danach  Lähmung*,  traumatische  Aneurysmen, 
ausgedehnte  Eiterungen  und  andere  bedenkliche  örtliche  Zufälle  entstehen. 
Was  die  Folgen  des  Drucks  der  angelegten  Bandagen  betrifft,  so  vermeidet 
mau  dieselben  am  besten  dadurch,  dass  man  die  Extremität  mit  einer 
nassen  Kollbinde  von  unten  bis  oben  herauf  einwickelt  und  erst  über  diese 
Binden  die  Bandage  applicirt.  Da  auf  diese  Weise  ein  ziemlich  starker, 
auf  das  ganze  Glied  gleichmässig  vertheilter  Druck  ausgeübt  wird,  so 
wird  der  Druck  durch  die  Bandagen  dicht  über  den  Gelenken  nicht 
mehr  so  schädlich  wirken.  Was  die  Zeitdauer  betrifft,  wie  lange  mau 
solche  gewaltsamen  ßepositionsversuche  fortsetzen  darf,  so  ist  eine  hall)e 
Stunde  wohl  als  das  Maximum  zu  betrachten;  auch  kann  mau  ziemlich 
sicher  sein,  dass  man  mit  der  angewandten  Methode  nicht  zum  Ziel 
kommt,  w^enn  dies  nicht  nach  halbstündigen  Versuchen  geschehen  ist. 
Will  man  in  solchen  Fällen  noch  Weiteres  unternehmen,  so  muss  mau 
eine  andere  Methode  anwenden.  —  Ueber  die  Kraft,  welche  man  ohne 
bestimmte  Gefahr  anwenden  darf,  hat  man  keine  recht  bestimmten 
Maasse  und  begnügt  sich  in  dieser  Beziehung  mit  ungefähren  Ab- 
schätzungen. Es  scheint  kaum  möglich,  mit  Hülfe  der  oben  angege- 
benen mechanischen  Mittel  einen  Arm  oder  ein  Bein  ganz  auszureissen; 
und  doch  hat  sich  dies  schon  öfter  ereignet,  kürzlich  noch  in  Paris 
in  einem  Fall,  in  welchem  nur  mit  Händekräften  gezogen  wurde!  Im 
Allgemeinen  reissen  eher  die  Eiemen  oder  verbiegen  sich  die  Schnallen. 
Subcutane  Nerven-  ujad  Gefässzerreissuugen  würde  man  au  völlig  ge- 
sunden Armen  durch  gleichmässigen  Zug  an  der  ganzen  Extremität  wohl 
kaum  zu  Stande  bringen;  sie  können  aber  zerreissen,  wenn  sie  mit 
Narben  in  der  Tiefe  verwachsen  und  so  geschrumpft  sind,  dass  sie  ihre 
normale  Elasticität  eingebüsst  haben.  Wenn  man  in  solchen  Fällen  die 
Verhältnisse  vorher  immer  genau  beurtheilen  könnte,  so  würde  mau  ge- 
wiss manchmal  ganz  von  Eepositionsversuchen  abstellen;  denn  in  solchen 
Fällen  kann  eine  Nerven-  oder  Gefässzerreissung  eben  so  wohl  bei 
dem  Versuch,  den  Kopf  mit  Händekraft  zu  lösen,  entstehen,  und  mau 
kann  nicht  so  sehr  die  Ursache  solcher  Unglücksfälle  auf  die  Maschinen 


Vnrlrsiilli;-    IS.      Cjipilrl    \'|l.  ^03 

scilichcn.  Es  gicU  ein  Jiistnuiieiil:,  mit  IlüHc  dessen  immii  die  Kra/'t, 
welche  mau  hei  der  Extension  anwendet,  hemessen  i<an)i;  dies  wird 
in  die  Extensionsriemen  eingeschaltet  und  zeigt  die  ungewandte  Kraft 
in  Gewicliten  an,  wie  es  in  der  Physik  Uhlicli  ist.  Nach  Malgaigjic 
soll  man  mit  diesem  Dynamometer  nicht  über  200  Kilogranmies  hinaus- 
g-elien;   solche  Angaben  sind  natiirlicli  immer  nur  u]>pro\ima,tiv. 


Ist  auf  irgend  eine  Weise  die  Reposition  der  Luxation  gelungen, 
so  ist  allerdings  damit  die  Hauptsache  gethan,  indessen  bis  zur  voll- 
endeten Functionsfähigkeit  des  Gliedes  bedarf  es  nocli  langer  Zeit.  Die 
Wunde  der  Kapsel  muss  heilen,  und  liierzu  ist  vollkommene  Rulie  des 
Gelenkes  von  bald  längerer,  bald  kürzerer  Zeit  erforderlich.  Es  tritt 
nach  der  Reposition  stets  eine  massige  Entzündung  der  Öyuovialmembran 
mit  geringem  Erguss  von  Flüssigkeit  ins  Gelenk  ein,  und  letzteres  bleibt 
eine  Zeit  laug  schmerzhaft,  steif  und  unbeholfen.  Ist  die  Reposition 
bald  nach  der  Verletzung  erfolgt,  wie  wir  vorläufig  angenommen  haben, 
so  muss  das  Gelenk  zunächst  ganz  ruhig  gestellt  werden;  man  umgiebt 
es  mit  nassen  Binden,  macht  kalte  Ueberschläge,  selten  wird  die  An- 
schwellung so  gross,  dass  andere  antiphlogistische  Mittel  nöthig  werden. 
Beim  Schultergelenk  fängt  man  nach  10 — 14  Tagen  an,  passive  Be- 
wegungen zu  machen  und  setzt  diese  fort,  bis  dann  auch  active  Be- 
wegungen und  Uebungen  vorgeschrieben  Averdeu;  oft  dauert  es  viele 
Monate,  bis  die  Bewegungen  ziemlich  frei  werden,  wobei  die  Erhebung 
des  Arms  immer  am  längsten  auf  sich  warten  lässt.  Bei  andern  Gelenken, 
die  eine  w^eniger  freie  Beweglichkeit  haben,  kann  man  die  activen  Be- 
w-egungen  viel  früher  gestatten;  so  bilden  sich  z.  B.  die  activen  Be- 
w^egungen  im  Ellenbogen-  und  Hüftgelenk  auffallend  früh  wieder  aus. 
Auch  kann  man  bei  den  letzteren  Gelenken  den  Krauken  viel  eher  ge- 
statten, Bew^egungen  zu  versuchen,  da  sich  die  Luxation  dabei  nicht  so 
leicht  wieder  herstellt. 

Gestattet  man  die  activen  Bewegungen  nach  einer  eingerenkten 
Luxation  zu  früh,  zumal  bei  solchen  Gelenken,  bei  denen  die  Verrenkung 
leicht  wieder  eintritt ,  wie  z.  B.  an  der  Schulter  und  dem  Unterkiefer, 
und  stellt  sich,  noch  ehe  der  Kapselriss  vollständig  geheilt  war,  die 
Luxation  ein  oder  mehre  Mal  wieder  her,  so  erfolgt  zuweilen  gar  keine 
vollständige  Ausheilung  der  Kapsel  oder  eine  so  grosse  Dehnbarkeit  der 
Kapselnarbe,  dass  der  Patient  nur  eine  etwas  ungeschickte  Bewegung 
zu  machen  braucht,  um  sofort  das  betreffende  Glied  wieder  zu  luxiren. 
Es  entsteht  dann  derjenige  Zustand,  den  man  habituelle  Luxation 
neunt,  ein  höchst  lästiges  Uebel,  z.  B.  grade  am  Unterkiefer.  Ich  kannte 
eine  Frau,  die  sich  früher  eine  Luxation  des  Kiefers  zugezogen  und  sich 
nach  derselben   nicht    die  gehörige  Zeit  geschont  liatte,    so    dass    bald 


264  "^^n  den  Verletzungen  der  Gelenke.     Verrenkungen. 

nachher  die  Luxation  wieder  eintrat  und  von  Xeuem  eingerichtet  werden 
musste.  Die  Kapsel  war  so  erweitert,  dass  bei  dieser  Frau,  wenn  sie  beim 
Essen  einen  etwas  gTossen  Bissen  zwischen  die  Backzähne  bekam,  sofort 
der  Kiefer  luxirte;  sie  hatte  sich  selbst  auf  das  Manöver  der  Einrenkung 
so  eingeübt,  dass  sie  dasselbe  mit  der  grössten  Leichtigkeit  ausführte. 
Li  ähnlicher  Weise  kann  sich  eine  solche  habituelle  Luxation  auch  au 
der  Schulter  ausbilden.  Mir  ist  ein  junger  Mann  in  der  Praxis  vorge- 
kommen, der  bei  grosser  Lebhaftigkeit  des  Gesticulirens  mit  grosser 
Aengstlichkeit  eine  rasche  Erhebung  des  linken  Arms  vermeiden  musste, 
weil  er  bei  dieser  Bewegung  fast  immer  den  Arm  verrenkte.  Solche 
Zustände  sind  sehr  lästig  und  sehr  schwer  zu  heilen;  nur  durch  längere 
Euhe  des  Gelenks  wäre  eine  Heilung  möglich;  zu  einer  solchen  Cur 
haben  jedoch  die  Patienten  selten  Lust  and  Ausdauer.  Nützlich  ist  es 
für  solche  Patienten,  eine  Bandage  zu  tragen,  welche  die  zu  starke  Er- 
hebung und  Rückwärtsbeuguug  des  Arms  hemmt;  ist  die  Luxation  einige 
Jahre  lang  vermieden,  dann  wird  sie  nicht  so  leicht  wieder  eintreten. 

Wird  eine  einfache  Verrenkung  nicht  erkannt  und  nicht  eingerichtet, 
oder  gelingt  die  Reduetion  aus  verschiedenen  Gründen  nicht,  so  bildet 
sich  allmählig  doch  ein  gewisser  Grad  von  Beweglichkeit  aus,  welcher 
durch  regelmässige  Uebung  noch  bedeutend  gesteigert  w'crden  kann. 
Je  nach  der  Stellung  des  Gelenkkopfes  zu  nebenliegenden  Knochenfort- 
sätzen und  je  nach  Verschiebung  der  Richtung  der  Muskeln  sind  begreif- 
licherweise gewisse  Bewegungen  aus  rein  mechanischen  Gründen  un- 
möglich; andere  können  jedoch  der  normalen  Beweglichkeit  annähernd 
gleichkommen.  Erfolgt  eine  methodische  Ausbildung  der  Bewegungen 
nicht,  so  bleibt  das  Glied  steif,  die  Muskeln  werden  atrophisch  und  die 
Brauchbarkeit  der  Extremität  bleibt  eine  geringe.  —  Die  Veränderungen, 
welche  das  Gelenk  und  seine  Umgebung  erleiden,  sind  anatomisch  be- 
trachtet folgende;  das  Blutextravasat  wird  resorbirt,  die  Kapsel  faltet 
sich  zusammen  und  verschrumpft;  der  Gelenkkopf  steht  gegen  irgend 
einen  Knochen  in  der  Nähe  der  Pfanne,  z.  B.  bei  einer  Luxation  des 
Schulterkopfes  nach  innen  gegen  die  Rippen  unter  dem  M.  pectoralis 
major,  die  Weichtheile  um  den  dislocirteu  Kopf  werden  plastisch  infiltrirt, 
verwandeln  sich  dann  in  narbiges  Bindegew^ebe,  welches  theilweis  ver- 
knöchert, so  dass  sich  eine  Art  von  knöcherner  Gelenkpfanne  wieder 
bildet,  während  der  Kopf  von  einer  neugebildeten  Biudegewebskapsel 
umgeben  wird.  An  dem  Knorpel  des  Gelenkkopfes  treten  folgende,  für 
das  freie  Auge  sichtbare  Veränderungen  ein:  der  Knorpel  wird  rauh, 
faserig  und  verwächst  durch  ein  narbiges,  festes  Bindegewebe  mit  den 
Theilen,  auf  denen  er  aufliegt.  Diese  Verwachsung  wird  mit  der  Zeit 
ausserordentlich  fest,  zumal  wenn  sie  nicht  durch  Bewegungen  gestört 
wird.  Die  Metamorphose  des  Knorpels  zu  Bindegewebe  geht,  wenn  wir 
sie  mikroskopisch  verfolgen,  folgendermaassen  vor  sich;  die  Kuorpelsub- 
stanz  zerspaltet  sich  direct  in  feine  Fasern,   so  dass  das  Gewebe  zuerst 


VorloHuiio-    18.      ('a|,i(,.|    Vif.  265 

(las  Ansehen  von  Faserknorpel,  dann  von  gewölinlichcni  narbigem  Rinde- 
gewebe bekommt,  welches  mit  dcv  neuen  Umgebune,-  verschmilzt.  in 
Fällen,  in  Avclchen  das  neue  Gelenk  lleissig  gebraucht  wird,  kann  es 
in  der  neng-ebildetcn  Pftinne  zu  einer  sehr  ausgebildeten  Knorpclschicht 
kommen,  und  auch  die  Knorpelfläche  des  verrenkten  Koijfcs  kann 
sich  dann  recht  gut  erhalten,  eventuell  neu  bilden.  So  fand  ich  es 
kürzlich  bei  einei'  Scction;  der  M.  deltoideus  war  g-elblicli  durcli  fettige 
Deg-eneration,  die  übrigen  Muskeln  waren  gut  ausgebildet  geblieben. 

In  einem  solchen  Zustand  nennen  wir  die  Luxationen  veraltet,  und 
bei  ihnen  besonders  kommen  die  schon  oben  erwähnten  Kraftmethoden 
der  Reduction  in  Anwendung".  Die  Frag-e,  wie  lange  eine  Luxation 
bestanden  haben  muss,  um  ihre  Reposition  für  unmög'lich  zu  erklären, 
ist  seit  dem  Gebrauch  des  Chloroforms  nicht  mehr  zu  beantworten  und 
stellt  sich  auch  für  die  verschiedenen  Gelenke  verschieden.  So  gelingt 
z.  B.  die  Reduction  an  der  Schulter  noch  nach  Jahren,  während  sie  an 
der  Hüfte  nach  2 — 3  Monaten  schon  ausserordentlich  schwierig  ist.  Das 
Haupthinderniss  liegt  eben  in  den  festen  Verwachsungen,  welche  der 
Kopf  an  seiner  neuen  Stelle  eingegangen  ist,  und  darin,  dass  die  Muskeln 
durch  ihren  Verlust  an  contractiler  Substanz  und  durch  ihre  Degeneration 
zu  Bindegewebe  ihre  Dehnbarkeit  verloren  haben.  —  Eine  andere  Frage 
ist  dann  noch,  ob  bei  solchen  veralteten  Luxationen  die  Reposition,  wenn 
sie  wirklich  gelingt,  den  gewünschten  Erfolg  für  die  Function  hat,  so 
namentlich  bei  der  Schulter.  Denken  Sie  sich,  dass  die  kleine  Gelenk- 
pfanne durch  die  verschrumpfte  Kapsel  ganz  gefüllt  und  bedeckt  ist, 
und  der  Gelenkkopf  seinen  Knorpel  verloren  hat,  so  wird  für  den  Fall, 
dass  es  wirklich  gelingt,  den  Kopf  an  die  normale  Stelle  zu  bringen, 
doch  die  Wiederherstellung  der  Function  nicht  möglich  sein,  und  ich 
kann  Sie  aus  eigener  Erfahrung  versichern,  dass  das  Endresultat  einer 
höchst  mühseligen  und  langen  Nachbehandlung  in  solchen  Fällen  durcii- 
aus  nicht  dem  Aufwand  von  Mühe  und  Ausdauer  von  Seiten  des  Patienten 
und  Arztes  entspricht.  Das  Resultat  wird  in  solchen  Fällen  kaum 
günstiger  sein,  als  wenn  der  Patient  durch  methodische  Uebungen  die 
Extremität  in  ihrer  abnormen  Stellung,  in  der  sie  sich  vielleicht  seit 
Monaten  oder  Jahren  befand,  möglichst  brauchbar  zu  machen  sucht. 
Man  kann  solche  Uebungen  erleichtern  und  fördern,  wenn  man  in  der 
Chloroformnarkose  durch  kräftige  Rotationsbewegungen  die  Verwachsungen 
des  Gelenkkopfs  zerreisst.  Wenn  der  Kopf,  wie  dies  zuweilen  in  seltenen 
Fällen  bei  der  Schulter  vorkommt,  in  seiner  abnormen  Stellung  auf  den 
Plexus  brachialis  so  drückt,  dass  dadurch  eine  Paralyse  des  Arms  be- 
dingt wird,  so  kann  es,  falls  keine  Reduction  mehr  möglich  ist,  iudicirt 
sein,  einen  Schnitt  auf  den  Gelenkkopf  zu  machen,  ihn  loszupräpariren 
und  abzusägen,  d.  h.  eine  kunstgerechte  Resection  des  Caput  humeri  zu 
machen.  Ich  habe  einen  Fall  gesehen,  in  welchem  bei  vollständig  para. 
lysirtem  Arm  nach   einer  Luxatio  humeri   nach   unten   und   innen  durch 


265  Von  den  Verletzungen  der  Gelenke.     Verrenkungen. 

die  erwähnte  Operation  eine  bedeutende  Verbesserung-  in  der  Function 
des  Arms,  wenn  auch  keine  vollständige  Heilung  der  Paralyse  erreicht 
wurde. 


Von   den  complicirten  Verrenkungen. 

Eine  Verrenkung  kann  in  verschiedener  Weise  complicirt  sein;  am 
häufigsten  mit  Fracturen  einzelner  Tb  eile  oder  des  ganzen  Gelenkkopfs. 
In  solchen  Fällen,  die  sehr  schwierig  zu  beurtheilen  sind,  und  in  denen 
die  Reposition  oft  nur  theilweise  und  unvollständig  gelingt,  muss  bei 
der  Behandlung  doch  immer  vorzüglich  auf  die  Fractur  Rücksicht  ge- 
nommen werden,  d.  h.  es  muss  so  lange  ein  Verband  getragen  werden, 
bis  die  Fractur  geheilt  ist.  Dabei  ist  es  zweckmässig,  den  Verband 
öfter,  vielleicht  alle  8  Tage  zu  erneuern  und  ihn  jedes  Mal  in  etAvas 
anderer  Stellung  anzulegen,  damit  das  Gelenk  nicht  steif  wird.  Indess 
gelingt  es  doch  nicht  immer,  eine  vollständige  Beweglichkeit  wieder  zu 
erreichen,  so  dass  ich  Ihnen  nur  empfehlen  kann,  in  Ihrer  Praxis  die 
Prognose  für  die  Herstellung  der  Beweglichkeit  in  solchen  Fällen  stets 
als  zweifelhaft  hinzustellen. 

Eine  andere  Complication  ist  die  mit  gleichzeitiger  Wunde  des  Ge- 
lenks. Es  kann  vorkommen,  dass  z.  B.  das  breite  Gelenkende  der  un- 
teren Epiphyse  des  Humerus  oder  des  Radius  mit  solcher  Gewalt  aus 
dem  Gelenk  herausgeschleudert  wird,  dass  es  Weichtheile  und  Haut 
durchreisst  und  frei  zu  Tage  tritt. 

Die  Diagnose  ist  natürlich  in  solchen  Fällen  leicht;  die  Reposition 
wird  nach  den  früher  gegebenen  Regeln  gemacht,  doch  hat  man  jetzt 
eine  Gelenkwunde  von  einer  nicht  unbedeutenden  Ausdehnung.  Es  treten 
alle  diejenigen  Chancen  ein,  die  wir  bei  Gelegenheit  der  Gelenkwuuden 
besprochen  haben,  so  dass  ich  Sie  in  Bezug  auf  die  Prognose,  die  A'er- 
schiedenheit  der  möglichen  Ausgänge  und  die  Behandlung  auf  das  früher 
Gesagte  verweisen  kann  (pag.  251).  Am  schlimmsten  ist  es  natürlich, 
wenn  offene  Gelenkbrüche  vorliegen;  hier  ist  weder  ein  rascher  Schluss 
der  Gelenkwunde,  noch  eine  Wiederherstellung  der  Function  des  Ge- 
lenkes zu  erwarten,  und  man  geht  allen  Gefahren  entgegen,  welche  sich 
bei  complicirten  offenen  Fracturen  und  bei  Gelenkwunden  drohend  in 
den  Weg  stellen.  Die  Entscheidung  über  das,  was  in  solchen  Fällen 
geschehen  muss,  ist  da  leicht,  wo  zu  gleicher  Zeit  eine  bedeutende  Zer- 
quetschung  oder  Zerreissung  der  Weichtheile  Statt  hat:  unter  solchen 
Verhältnissen  muss  die  primäre  Amputation  gemacht  werden.  Ist  die  Ver- 
letzung der  Weichtheile  nicht  bedeutend,  so  kann  man  unter  Umständen 
die  mögliche  Heilung  durch  Eiterung  mit  der  sicher  folgenden  Steifiieit 
des  Gelenkes  abwarten.  Dies  ist  jedoch  der  Erfahrung  gemäss  stets  ein 
ziemlich  gefährliches  Experiment.  Nach  den  Grundsätzen  der  modernen 
Chirurgie  umgeht  man  die  Amputation  in  solchen  Fällen  dadurch,    dass 


Vurlcsims   IB.     C;ipiü;l   Vit.  2G7 

man  die  zerbrüchcncii  Gclcnkcudeii  Irei  prilpaiirt  und  ah.säi^t,  lan  auf 
diese  Weise  eine  einfache  Wunde  7ä\  schaflcn.  Dies  ist  die  kunstgerechte 
totale  Resection  eines  Gelenkes,  eine  Operation,  über  welche  nrian  im 
Verlauf  der  letzten  20  Jahre  sehr  ausg'iebig-e  Erfahrungen  gemacht  hat, 
und  auf  welche  die  moderne  Zeit  mit  Eeclit  stolz  ist;  man  hat  dadurch 
in  vielen  Fällen  schon  Extremitäten  erhalten,  die  man  nach  den  Gruiul- 
sätzen  der  älteren  Chirurgie  jedenfalls  hätte  amputircn  müssen. 

Diese  Eesectionen  haben  in  Bezug  auf  ihre  Gefahr  eine  sehr  ver- 
schiedene Bedeutung,  je  nach  den  Gelenken,  an  welchen  sie  gemacht 
werden,  so  dass  sich  schwer  darüber  etwas  Allgemeines  sagen  lässt. 
Indessen  wollen  wir  in  einem  späteren  Abschnitt  (bei  der  Therapie  der 
chronischen  fuugös-granulöseu  Gelenkkrankheiten)  uns  doch  etwas  genauer 
mit  diesem  höchst  wichtigen  Gegenstande  beschäftigen;  das  Gesagte  wird 
genügen,  damit  Sie  sich  vorläufig  eine  Vorstellung  von  einer  Gelenk- 
resection  machen. 


Von  den  angeborenen  Luxationen. 

Die  angeborenen  Luxationen  sind  seltene  Missbildungen,  und  man 
muss  von  ihnen  sehr  wohl  Luxationes  inter  partum  acqui sitae 
unterscheiden,  d.  h.  solche,  die  während  der  Geburt  bei  gewissen  Ma- 
növern behufs  der  Extraction  des  Kindes  entstehen  können,  und  die 
durchaus  die  Bedeutung  einfacher  traumatischer  Luxationen  haben,  ein- 
gerichtet und  geheilt  werden  können.  Wenngleich  über  die  meisten  Ge- 
lenke der  Extremitäten  Beobachtungen  von  angeborenen  Luxationen  vor- 
liegen,  so  sind  dieselben  doch  ganz  besonders  häufig  an  der  Hüfte  und 
kommen  hier  nicht  selten  auf  beiden  Seiten  zugleich  vor.  Der  Gelenk- 
kopf steht  dabei  etwas  nach  oben  und  hinten  von  der  Pfanne,  kann 
jedoch  in  vielen  Fällen  mit  Leichtigkeit  in  die  Pfanne  zurückgeführt 
werden.  Die  Krankheit  wird  in  der  Piegel  erst  bemerkt,  wenn  die  Kinder 
anfangen  zu  gehen.  Das  dabei  zunächst  auffallende  Symptom  ist  ein 
eigenthümlich  wackelnder  Gang,  der  dadurch  entsteht,  dass  der  Gelenk- 
kopf hinter-  der  Pfanne  steht,  das  Becken  also  mehr  vornüber  geneigt 
wird  und  ferner  dadurch,  dass  der  Schenkelkopf  bei  den  Gehbewegungen 
sich  nicht  selten  auf  und  ab  bewegt;  Schmerzen  finden  dabei  nicht  Statt. 
Um  das  Kind  genauer  zu  untersuchen,  lassen  Sie  es  vollständig  ent- 
kleiden und  beobachten  genau  den  Gang;  dann  legen  Sie  es  horizontal 
auf  den  Rücken  und  vergleichen  die  Länge  und  Stellung  der  Extremi- 
täten. Ist  die  Luxation  einseitig,  so  wird  die  luxirte  Extremität  kürzer 
als  die  andere,  und  der  Fuss  etwas  nach  innen  gedreht  sein;  fixiren  Sie 
das  Becken,  so  können  Sie  in  vielen  Fällen  die  Luxation  durch  einfachen 
Zug  nach  unten  einrichten.  Die  anatomische  Untersuchung  solcher  Ge- 
lenke hat  zu  folgenden  Resultaten  geführt:  der  Gelenkkopf  ist  nicht 
allein  aus  der  Pfanne  luxirt,  sondern  die  Pfanne  selbst  ist  unregelmässig 


2ß3  ^'^"  '^^"  Verletzungen  der  Gelenke.     Verrenkungen. 

geformt,  zu  wenig-  vertieft,  in  späterer  Zeit  bei  Erwachsenen  stark  zu- 
sammengedrückt und  mit  Fett  ausgefüllt;  wenn  das  Lig.  teres  vorhanden 
ist,  so  ist  es  abnorm  laug;  der  Gelenkkopf  liat  nicht  seine  gehTirige 
Entwicklung;  er  ist  in  manchen  Fällen  kaum  halb  so  gross  als  normal, 
der  Grelenkknorpel  gewöhnlich  vollständig  ausgebildet,  die  Kapsel  sehr 
weit  und  schlaff. 

Unter  solchen  Umständen  können  Sie  sich  vorstellen,  dass  es  ausser- 
ordentlich unsicher,  in  den  meisten  Fällen  unmöglidi  ist,  diese  Zustände 
zu  heilen.  Wenn  der  Kopf  schwach  entwickelt  ist,  der  obere  Rand  dei- 
Pfanne  fehlt,  die  Kapsel  enorm  ausgedehnt  ist,  wie  soll  man  da  die 
normalen  Verhältnisse  wieder  herstellen?  Wodurch  diese  eigenthümliche 
Missbildung  entsteht,  darüber  hat  man  die  verschiedensten  Hypothesen 
aufgestellt;  niemals  hat  man  bis  .jetzt  die  Gelegenheit  gehabt,  beim 
Embryo  diese  Krankheit  zu  studiren.  Es  handelt  sich  um  eine  Hemmungs- 
bildung, indem  durch  irgend  welche  Hindernisse  die  normale  Entwick- 
lung gestört  wurde.  Man  nimmt  an,  dass  diese  Störungen  durch  frühere 
pathologische  Processe  beim  Fötus  erfolgen,  und  von  den  vielen  Hypo- 
thesen hat  diejenige  einige  Wahrscheinlichkeit,  wonach  in  einer  sehr 
frühen  Zeit  des  embryonalen  Lebens  das  Gelenk  mit  einer  abnormen 
Quantität  Flüssigkeit  gefüllt  und  dadurch  ausgedehnt  wurde,  so  dass 
vielleicht  eine  Ruptur  oder  wenigstens  eine  abnorme  Ausweitung  der 
Kapsel  entstand.  Roser  glaubt,  dass  abnorme  intrauterine  Lagen  Ver- 
anlassung zu  diesen  Missbildungen  geben  können. 

Eine  Heilung  dieser  Zustände  ist  in  denjenigen  Fällen  angestrebt 
worden,  in  welchen  man  sich  durch  die  directe  Untersuchung  von  der 
Existenz  eines  leidlich  entwickelten  Gelenkkopfes  überzeugen  konnte. 
Man  hat  in  solchen  Fällen  die  Luxation  reponirt  und  mit  Hülfe  von  Ver- 
bänden oder  Bandagen  ein  oder  mehre  Jahre  lang  bei  absolut  ruhiger 
Lage  des  Kindes  die  normale  Stellung  des  Schenkels  zu  erhalten  ge- 
sucht. Die  Erfolge  dieser  Behandlung,  die  von  Seiten  des  Arztes  und 
der  Eltern  des  Kindes  eine  sehr  grosse  Ausdauer  verlangt,  sind  nach 
den  bisherigen  Erfahrungen  zuverlässiger  Chirurgen  nur  theilweis  be- 
friedigend, indem  nach  einer  solchen  Cur  nur  eine  Verbesserung  des 
Ganges,  doch  sehr  selten  eine  vollständige  Heilung  erzielt  wurde,  und 
wenn  Sie  später  Gelegenheit  haben  werden,  in  orthopädischen  Flug- 
schriften von  häutigen  Heilungen  angeborener  Luxationen  zu  lesen,  so 
können  Sie  versichert  sein,  dass  in  den  meisten  Fällen  diagnostische 
Lrtliümer  oder  absichtliche  Täuschungen  zu  Grunde  liegen. 

Die  angeborenen  Httftluxationen  werden  dem  Leben  nie  gefährlich, 
haben  jedoch,  weil  damit  eine  Veränderung  des  Schwerpunktes  des 
Körpers  verbunden  ist,  im  Laufe  der  Zeit  eine  Einwirkung  auf  die 
Stellung  und  Krümmung  der  Wirbelsäule;  dies  und  ein  hinkender  oder 
wackelnder  Gang  sind  die  einzigen  Nachtheile,  welche  dadurch  entstehen. 
Von  einem  Curversuch  kann  nur  in  der  allerfrühesten  Jugend  die  Rede 


Vorles.m--   19.      Kapitel   VTTT.  209 

li 

!        . 
1^  sein;    da   aber   der  Arzt    auch    bei    einer    1     -»jährigen    (Jur    nie    einen 

siclieren  Erfolg*  versprechen  l<cann,  so  g-ebeii  sich  nur  selten  Patienten  zu 

dieser  Behandlung-  lier. 


Vorlesung   19. 
CAPITEL    VIII. 

Von  den  8('lni8SAVUii(len. 

Historische  Benierkiingen.  ■ —  Verletzungen  diircli  grobes  Geschütz.  —  Verscliiedene  Formen 

der  Sclmssvvunden  dnrcli  Fiintenkugehi.   —  Transport  und  Sorge  für  die  Verwundeten  im 

Felde.   —  Beliandlung.   —   Complicirte  Scliussfraeturen. 

Es  kommen  im  Kriege  eine  grosse  Menge  von  Verletzung-en  vor, 
welche  den  einfachen  Schnitt-,  Hiel)-,  Stich-  und  Quetschwunden  Ijeizu- 
zälilen  sind;  die  Schusswunden  selbst  müssen  zu  den  Quetschwunden 
g-ereclmet  werden;  sie  haben  aber  doch  so  manches  Eigenthündiehe, 
dass  sie  eine  besondere  Besprechung-  verdienen,  wobei  wir  dann,  w^enn 
auch  nur  ganz  kurz,  das  Gebiet  der  Militairchirurgie  überhaupt  berühren 
müssen.  So  lange  Schusswaffen  im  Kriege  gebraucht  werden  (seit  1338), 
sind  die  Schusswundeu  von  den  chirurgischen  Schriftstellern  speciell 
abgehandelt  worden,  so  dass  die  Literatur  über  diesen  Gegenstand  sehr 
bedeutend  angewachsen  ist;  ja  es  hat  sich  die  Militairchirurg-ie  in  neuerer 
Zeit  fast  als  ein  besonderer  Zweig  der  Chirurgie  selbstständig  gemacht, 
indem  sie  die  Pflege  des  Soldaten  im  Frieden  und  im  Kriege,  die 
speciellen  hygieinischen  und  diätetischen  Maassregeln,  welche  in  den 
Kasernen,  in  den  Friedens-  und  Kriegsspitälern,  in  der  Bekleidung  und 
Beköstigung  des  Soldaten  eine  nicht  unwichtige  Rolle  spielen,  mit  in  ihren 
Bereich  zog.  ■ —  Obgleich  die  Römer,  wie  wir  in  der  Einleitung  erwähnt 
haben,  bereits  vom  Staat  angestellte  Aerzte  bei  dem  Ileere  hatten,  wurde 
es  doch  im  Mittelalter  mehr  Sitte,  dass  jeder  Heerführer  eines  Fähnleins 
privatim  einen  Arzt  mit  sich  nahm,  welcher,  wenn  auch  in  sehr  unvoll- 
kommener Weise,  mit  einem  oder  mehren  Gehülfen  die  Soldaten  nach 
der  Schlacht  verband,  dann  aber  gewöhnlich  mit  dem  Heere  weiter  zog 
und  die  Verwundeten  der  Pflege  mitleidiger  Leute  überliess,  ohne  dass 
der  Heerführer  oder  Staat  dafür  die  Garantie  übernahm.  Erst  mit  der 
Einrichtung  der  stehenden  Heere  wurden  den  einzelnen  Bataillonen  und 
Gompagnien  bestimmte  Aerzte  zugetheilt,  und  die  Pflege  der  Verwun- 
deten durch  allerdings  noch  sehr  unvollkommene  Maassregeln  und  Ein- 
richtungen geordnet.  Die  Stellung  der  Militärchirurgen  war  damals  eine 
ganz  unwürdige  und  unerhörte ;  so  wurde  noch  zur  Zeit  des  Vaters 
Friedrichs  des  Grossen  der  Feldscheer  öflentlich  durchgeprügelt,  wenn 
er  einen  von  den  langen  Grenadieren  sterben  Hess.    Zu  jener  Zeit,  als 


270  ^''^  ^*^"  Scliiisswnnden. 

noch  die  Truppen  im  Parademarsch  dem  Feinde  gegenüher  in  die  Schlacht 
marschirten,  war  die  ganze  Bewegung-  des  Heeres  eine  enorm  langsame 
und  schwerfällige;  es  bestand  ein  kolossaler  Train  bei  den  grossen 
Heeren;  im  30jährigen  Kriege  z.B.  führten  die  Lanzknechte  häufig  ihre 
Weiber  und  Kinder  auf  einer  Eeihe  von  unzähligen  Wagen  mit;  so  trat 
denn  auch  in  den  zum  Train  gehörigen  ärztlichen  Einrichtungen  kein 
Bedürfüiss  zu  einer  leichteren  Beweglichkeit  hervor.  Durch  die  Taktik, 
welche  Friedrich  der  Grosse  ausbildete,  wurde  eine  grössere  Beweglich- 
keit des  schwerfälligen  Trains  nothwendig,  die  jedoch  erst  in  der  fran- 
zösischen Armee  unter  Napoleon  zur  praktischen  Entwicklung  kam.  So 
lange  ein  kleines  Ländchen  oder  eine  Provinz  fast  während  des  ganzen 
Feldzuges  Kriegsschauplatz  blieb,  mochte  die  Einrichtung  einzelner  grosser 
Lazarethe  in  nahe  gelegenen  Städten  genügen.  Als  aber  die  Heere  rasch 
nach  einander  vorrückten,  bald  hier,  bald  dort  eine  Schlacht  geschlagen 
wurde,  ergab  sich  die  Nothwendigkeit,  leichter  bewegliche,  sogenannte 
Feldlazarethe  einzurichten,  welche  sich  nicht  weit  entfernt  vom  Schlacht- 
platze befanden  und  mit  Leichtigkeit  bald  hier,  bald  dort  eingerichtet 
werden  konnten.  —  Diese  Ambulancen  oder  fliegenden  Feldlazarethe  sind 
die  Schöpfung  eines  der  grössten  Chirurgen,  des  schon  früher  erwähnten 
Larrey.  Da  ich  Hmen  später  kurz  schildern  will,  was  mit  den  Ver- 
wundeten von  dem  Schlachtfeld  bis  ins  Hauptfeldlazareth  gemacht  wird, 
so  breche  ich  hier  von  diesem  Gegenstande  ab  und  nenne  Ihnen  nur 
einige  von  den  vielen  vortrefflichen  Werken  über  Militärchirurgie.  Beson- 
ders interessant  nicht  allein  in  ärztlicher,  sondern  auch  in  historischer 
Beziehung  sind  die  freilich  etwas  langen  Memoiren  von  Larrey,  aus 
denen  ich  Ihnen  besonders  die  Feldzüge  nach  Aegypten  und  Russland 
zum  Lesen  empfehle.  Diese  Memoiren  erstrecken  sich  auf  alle  Feldzüge 
Napoleon's.  Ein  anderes  vortreffliches  Buch  besitzen  wir  aus  der  engli- 
schen Literatur:  „Principles  of  military  surgery"  von  John  Hennen; 
ferner  in  der  deutschen  Literatur  ausser  manchen  älteren  trefflichen 
Werken:  „Die  Maximen  der  Kriegsheilkuust"  von  Stromeyer, 
welche  sich  hauptsächlich  auf  Erfahrungen  aus  dem  Schleswig-Holsteini- 
schen  Kriege  stützen ;  endlich  „Grundzüge  der  allgemeinen  Kriegs- 
chirurgie nach  Remiuiscenzen  aus  den  Kriegen  in  der  Krim  und  im 
Kaukasus  und  aus  der  Hospitalpraxis"  von  Pirogoff,  so  wie  aus 
neuester  Zeit  die  kriegschirurgischen  Werke  von  v.  Langenbeck,  Beck, 
Löffler,  Fischer  u.  A. 

Die  Wunden,  welche  durch  die  grossen  Geschosse  entstehen,  durch 
Kanonenkugeln,  Granaten,  Bomben,  Shrapnels,  und  wie  diese  ]\Iord- 
waffeu  sonst  heissen  mögen,  sind  zum  Theil  der  Art,  dass  sie  unmittel- 
bar tödten,  in  anderen  Fällen  ganze  Extremitäten  abreissen  oder  wenig- 
stens so  zerschmettern,  dass  nur  von  einer  Amputation  die  Rede  sein 
kann.  Die  ausgedehnten  Zerreissuugen  und  Zerquetschungen ,  welche 
durch    diese   Geschosse  entstehen,    unterscheiden  sich    im    Wesentlichen 


Voi-losiins    II).      Ca]nir]   VflT. 


271 


FiK-  <J4. 


a    Chassepot  -  Projectil.      —      b    Projectil     des 

preussisclieii     Zünduade]  -  Gewelir.s.     —     c    Mi- 

trailleiisen -Projectil.  —    Natürliclie  Grösse. 


niclit  von  nndeni  g-iosseu  Qiietscliwundeii,  wie  sie  tluvch  Mascli  inen  Ver- 
letzungen in  der  jetzig'en  Zeit  nur  allzuliäufig  auch  in  der  Civilpraxis 
vorkommen. 

Die  Flintenkugeln,  welclie  in  der  modernen  Kriegs])raxis  angewandt 
werden,  sind  in  mancher  Hinsicht  unter  einander  vcrscliieden.  Oijgleich 
hier  und  da  die  älteren  Formen:  ganz  runde,  ovale,  zugcsi)itzte,  h;ill) 
hohle  Projectile  vorkommen,  so 
ist  doch  die  Form  der  Projectile 
in  der  Patrone  der  meisten  mo- 
dernen Hinterladungsgewehre 
(Chassepot-,  Ziindnadel-,  Werder- 
Gewehre)  eine  längliche;  das 
Projectil  ist  nicht  ausgehöhlt, 
sondern  bestellt  durch  und  durch 
aus  Blei,  Das  Chassepot-Projectil 
ist  25  Grammes  schwer,  2'/^  Cen- 
timetres  laug,  cylindrisch,  vorn 
abgerundet,  hat  etwa  12  Milli- 
metres  im  Durchmesser.  Das 
preussische  Laugblei  ist  31  Gram- 
mes scliwer,  eicheiförmig,  auch  2'/2  Centimetres  lang,  doch  etwa  15  Milli- 
raetres  dick.  Das  Projectil  der  Mitrailleusen  ist  noch  einmal  so  schwer 
als  das  des  Chassepotgewehrs,  4  Centimetres  lang,  c_ylindrisch,  14  Milli- 
metres  im  Durchmesser.  Sie  müssen  nicht  glauben,  dass  die  Projectile, 
wie  wir  sie  in  der  Wunde  finden,  dieselben  Formen  haben,  wie  Sie  die- 
selben in  die  Flinte  hineinladen,  sondern  das  Blei  kommt  theils  schon 
in  veränderter  Form  aus  den  Zügen  des  Gewehrs,  theils  wird  es  in  der 
Wunde  an  Knochen  platt  gedrückt,  so  dass  man  sehr  häufig  einen  uu- 
förmliclien  zerrissenen  Bleiklumpen,  an  dem  man  kaum  noch  die  Form 
des  Projectils  erkennt,  in  der  Wunde  findet.  Wir  wollen  jetzt  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Verletzungen,  welche  durch  ein  Flintenprojectil  ent- 
stehen können,  kurz  durchgehen,  wobei  wir  uns  natürlich  auf  das  Haupt- 
sächlichste  beschränken  müssen. 

In  einer  Reihe  von  Fällen  macht  die  Kugel  gar  keine  Wunde,  son- 
dern es  entsteht  nur  eine  Quetschung  der  Weichtheile  mit  starker 
Sugillation  und  zuweilen  mit  subcutaner  Fractur  verbunden.  Die  ein- 
fachen subcutanen  Fracturen  sollen  nach  Versicherung  neuerer  Autoreu 
gar  nicht  so  selten  im  Kriege  vorkommen.  Solche  Verletzungen  ent- 
stehen meist  durch  matte  Kugeln,  d.  h.  durch  solche,  die  aus  sehr  grosser 
Entfernung  kommen  und  nicht  mehr  die  Kraft  besitzen,,  die  Haut  zu 
perforiren;  eine  solche  Kugel,  die  Lebergegend  treifend,  kann  z.  B.  die 
Bauchhaut  handschuhfingerförmig  vor  sich  her  treiben,  einen  Eindruck 
oder  eine  Ruptur  in  der  Leber  veranlassen  und  dann  nach  aussen  zurück- 
fallen,   ohne    dass    eine   äussere  Verwundung    entsteht.     Andere   solche 


272  ^'^o'i  *^*^"  Schusswimden. 

Quetscliimgen  sind  bedingt  dureli  Kugeln,  welche  stark  seitlicli  untei' 
einem  sehr  stumpfen  Winkel  die  Hautoberfläche  treffen.  Feste  Kürijci- 
können  ebenfalls  das  Eindringen  der  Kugel  verhindern,  etwa  eine  Uhr. 
ein  Taschenbuch,  Geldstücke,  Lederstiicke  der  Uniform  u.  s.  w.  Diese 
Art  von  Quetsch -Verletzungen,  die,  wenn  sie  den  Unterleib  oder  den 
Thorax  treffen,  von  sehr  bedenklichen  Folgen  sein  können,  haben  von 
jeher  die  Aufmerksamkeit  der  Aerzte  und  Soldaten  auf  sich  gezogen; 
man  hielt  dieselben  früher  allgemein  für  sogenannte  „Luftstreifschüsse" 
und  stellte  sich  vor,  sie  entständen  dadurch,  dass  eine  Kugel  in  unmittel- 
barer Nähe  vor  dem  Körper  vorbeifliege.  Die  Idee,  dass  auf  diese  Weise 
wirklich  Verletzungen  erzeugt  werden  könnten,  war  so  vollständig  ein- 
gebürgert, dass  selbst  sehr  gescheidte  Leute  sich  damit  abquälten, 
theoretisch  zu  erklären,  wie  die  Verletzungen  durch  Luftdruck  zu  Stande 
kämen :  bald  sollte  die  Luft  vor  und  neben  der  Kugel  in  solchem  Grade 
comprimirt  sein,  dass  durch  diese  comprimirte  Luft  die  Verletzung  ent- 
stände, bald  glaubte  man,  dass  die  durch  die  Eeibung  im  Flintenlauf 
vielleicht  elektrisch  gewordene  Kugel  in  unbekannter  Weise  auf  eine 
gewisse  Distanz  hin  eine  Quetschung  und  Verbrennung  veranlassen 
könne.  Wenn  man  sich  etwas  früher  davon  überzeugt  hätte,  dass  die 
ganze  Lehre  von  den  Luftstreifschüssen  durchaus  aus  der  Luft  gegritfen 
war,  so  hätte  man  sich  diese  phantastischen  Theorien  ersparen  können.  — 
Die  Quetschungen  durch  matte  und  schief  auifallende  Kugeln  sind  nach 
den  früher  angegebenen  Grundsätzen  wie  die  Quetschungen  überhaupt 
zu  behandeln. 

Der  zweite  Fall  ist  der,  dass  die  Kugel  freilich  nicht  tief  in  die 
Weichtheile  eindringt,  aber  doch  einen  Theil  der  Haut  von  der  Ober- 
fläche des  Körpers  mit  fortnimmt,  so  dass  eine  mehr  oder  weniger  tiefe 
Hohlrinne,  ein  sogenannter  Streifschuss  entsteht.  Diese  Art  von  Schuss- 
verletzung ist  jedenfalls  eine  der  leichtesten,  w^eun  nicht,  wie  es  am  Kopf 
geschehen  kann,  zugleich  auch  der  Schädel  oberflächlich  durch  die  Kugel 
gestreift  ist,  und  etwa  Stücke  von  Blei  in  dem  Schädel  zurückgeblie- 
ben sind.  *• 

Der  dritte  Fall  wäre  der,  dass  die  Kugel  die  Haut  perforirte,  ohne 
an  einer  anderen  Stelle  wieder  herauszutreten.  Die  Kugel  dringt  also 
ein  und  steckt  in  den  meisten  dieser  Fälle  in  den  Weichtheileu.  Es  ent- 
steht eine  röhrenförmige  Wunde,  ein  blinder  Schusscanal.  In  diesen 
können  verschiedene  andere  fremde  Körper  mit  hiueingerissen  werden, 
so  besonders  Theile  der  Uniform,  Stücke  von  Tuch,  Knöpfe,  Lederstüeke, 
Kugelpflaster  etc. ;  ausserdem  kann  ein  Knochen  zersplittert  werden,  die 
Knochensplitter  können  in  die  Wunde  hineingetrieben  werden  und  zer- 
reissen  dieselbe  in  der  Tiefe.  Möglich  wäre  auch,  dass  die  Kugel,  nach- 
dem sie  Haut  und  Weichtheile  perforirt  hat,  an  den  Knochen  anprallt 
und  aus  derselben  Oeflnnng  wieder  herausfällt,  so  dass  man  sie,  trotz- 
dem man  nur  eine  Oeftuung  hat,  nicht  in  der  Wunde  flndet.     Die  AA^unde, 


Vorlosmii;-    11».       Capilol    VI  11.  273 

welelic  die  Kugel  beim  ElH(li-iiiii,'eii  in  den  Köi-})er  luiiclil:,  ist  gcwöliulicli 
dem  Quersclinitt  der  Kugel  entsprecliend  rund,  ilirc  Ränder  sind  g-e- 
(juetsclit,  zuweilen  von  etwas  l)lau-scliwärzliclier  Farbe,  aucli  etwas  ein- 
gedrückt. Diese  Kennzeichen  der  EingangsülTnimg  gelten  wold  füi-  die 
grössere  Anzahl  dersell)en,  sind  jedocli  durcliaus  nicld  untriiglicli. 

Der  vierte  Fall  endlich  ist  der,  dass  die  Kugel  an  einer  Stelle  ein- 
tritt und  au  einer  andern  nieder  hei'ausgeht.  Dann  hat  man  einen  pei-- 
torirendeu  Scluisscanal  mit  Eingangs-  und  Ausgangsöffuung,  einen  soge- 
nannten llaarseilschuss.  Geht  der  Schusseanal  nur  durch  Weichtheile 
und  hat  die  Kugel  keine  fremden  Körjjer  vor  sich  hergetrieben,  so  pflegt 
die  Ausgangsöfinung  etwas  kleiner  zu  sein  als  die  Eingangsöffnung,  und 
erstere  gleicht  mehr  einem  Riss.  Hat  die  Kugel  den  Knochen  getroffen 
und  Knochensplitter  oder  andere  fremde  Körper  vor  sich  hergetrieben, 
so  kann  die  Ausgangsöffnung  viel  grösser  sein  als  die  Eingangsöffnung; 
es  können  auch  durdi  Zersprengung  der  Kugel  in  mehre  Stücke  und 
durch  mehrfache  Knochensplitter  zwei-  und  vielfache  Ausgangsöfl'nungen 
entstehen.  Endlicli  können  durch  vorgetriebene  Knochensplitter  Aus- 
gangsöffnungen der  Kugel  simulirt  werden,  während  ein  Theil  der  Kugel 
oder  die  ganze  Kugel  noch  in  der  Wunde  steckt.  —  Auf  die  Unter- 
scheidung der  Aus-  und  Eingangsöffnungen  hat  man  verhältnissmässig 
einen  viel  zu  grossen  Werth  gelegt.  Diese  Unterscheidung  hat  eine 
Bedeutung  nur  in  forensisclien  Fällen,  indem  es  hier  von  Wiclitigkeit 
sein  kann,  zu  wissen,  ob  bei  einer  gewissen  Stellung  des  Verletzten 
die  Kugel  von  dieser  oder  Jener  Seite  gekonunen  ist,  weil  man  viel- 
leicht je  nach  der  Richtung  der  Kugel  die  Spuren  des  Thäters  aufsuchen 
kann.  —  Höchst  eigenthümlich  ist  der  Gang,  welchen  die  Kugel  zuweilen 
in  der  Tiefe  nimmt.  Dieselbe  wird  nämlich  sehr  häufig  von  ihrem  Lauf 
durch  den  Knochen  oder  durch  gespannte  Sehnen  und  Fascien  abgelenkt, 
so  dass  man  sich  sehr  täuschen  würde,  wenn  man  annähme,  dass  die 
Verbindung  der  Ein-  und  Ausgangsöffnung  in  grader  Linie  stets  den 
Verlauf  des  Schusscanals  darstelle.  Am  sonderbarsten  sind  in  dieser 
Beziehung  die  Umkreisungen  des  Schädels  und  des  Thorax;  es  dringt 
z.  B.  eine  Kugel  auf  dem  Sternum  schief  von  einer  Seite  ein,  jedoch 
nicht  mit  einer  Kraft,  die  hinreichend  wäre,  diesen  Knochen  zu  perfo- 
rireu;  die  Kugel  kann  jetzt  unter  der  Haut  an  einer  Rippe  entlang 
fortlaufen  und  kommt  an  der  Seite  des  Thorax  oder  erst  hinten  an  der 
Wirbelsäule  wieder  heraus;  der  Lage  der  Aus-  und  Eiugangsöffnung 
nach  sollte  man  meinen,  dass  die  Brust  schräg  oder  gerade  durchschossen 
sei,  und  erstaunt,  wenn  solche  Patienten  ohne  Athembeschwerden  aus 
der  Schlacht  auf  den  Verbandplatz  kommen. 

Die  Complication  der  Schusswunden  mit  Pulververbrennung,  wie 
sie  bei  Schüssen  aus  allernächster  Nähe  erfolgt,  wird  im  Kriege  sel- 
tener vorkommen.  Bei  Unglücksfällen,  welche  sonst  wohl  bei  unvor- 
sichtiger Handhabung  der  Schusswaffen  durch  Zerspringen  von  Gewehren 

Billroth  cliir.  Patli.  ii.  Therap.   7.  Aufl.  18 


274  Von  den  Sfliusswnndcn. 

und  beim  Felsenspreng-en  entstehen,  ist  diese  Combination  nicht  selten 
lind  können  dabei  die  versdiiedenartig-stcn  Verbi-ennungsgrade  zu  Stande 
kommen.  Die  Kohlenpartikelclien  des  Pulvers  dringen  liäufig  sehr  fest 
in  die  Obeifläcbe  der  Cutis  und  heilen  hier  ein,  so  dass  die  betroffenen 
Hautpartien  für  die  ganze  Dauer  des  Lebens  eine  grau-scliwärzliclie 
Färbung  belialteu.     Mehr  darüber  bei  den  Verbrennungen. 

Der  Schmerz  soll  bei  der  Schussverletzung  fast  gleich  ^'ull  sein; 
die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  die  Verletzung  erfolgt,  ist  eine  so 
grosse,  dass  der  Verletzte  fast  nur  einen  Schlag  von  der  Seite  her  em- 
ptindetf  von  der  die  Kugel  kommt,  und  erst  später  die  blutende  TVunde 
und  den  eigentlichen  Wundschmerz  empfindet.  Es  existirt  eine  grosse 
Anzahl  von  Beispielen,  wo  Kämpfende  einen  Schuss,  zumal  au  den 
oberen  Extremitäten  erlialten  hatten  und  dessen  so  w^enig  bewusst  waren, 
dass  sie  erst  von  Anderen  oder  durch  das  ausfliesseude  Blut  auf  die 
Wunde  aufmerksam  gemacht  wurden. 

Die  Blutung  ist  bei  den  Schusswunden  wie  bei  den  Quetschwunden 
in  der  Regel  geringer,  als  bei  den  Schnitt-,  Hieb-  und  Stichwunden, 
indess  würde  man  doch  sehr  irren,  wenn  man  glaubte,  dass  die  zer- 
schossenen grösseren  Arterien  nicht  bluten;  vielmehr  bleibt  eine  grosse 
Menge  Soldaten  auf  dem  Schlachtfelde,  weil  sie  ihren  Tod  durch  schnelle 
Verblutung  aus  grösseren  Arterienstämmeu  finden.  Wenn  man  Gelegen- 
heit gehabt  hat,  eine  völlig  durchtrennte  Arteria  carotis,  subclavia  oder 
femoralis  bluten  zu  sehen,  so  wird  man  die  Ueberzeuguug  gewinnen, 
dass  der  Blutverlust  in  kurzer  Zeit  ein  so  eminenter  sein  nuiss,  dass 
nur  im  Fall  augenblicklicher  Hülfe  an  Rettung  gedaclit  werden  kann, 
so  dass  eine  Blutung  aus  diesen  Arterien  etwa  von  zwei  Minuten 
Dauer  den  Tod  unfehlbar  herbeiführen  wird ;  trotzdem  bleibt  es  richtig, 
dass  zerschossene  Arterien,  selbst  von  dem  Durchmesser  einer  Femo- 
ralis, zuweilen  gar  nicht  bluten.  Schon  die  ersten  Chirurgen,  welche  uns 
Beschreibungen  von  Schusswunden  geben,  machen  auf  diesen  Gegenstand 
aufmerksam. 

Ehe  wir  nun  zu  der  eigentlichen  Behandlung  der  Schusswunden 
übergehen,  werde  ich  Hmen  ganz  kurz  schildern,  wie  der  Gang  des 
Transports  und  der  ersten  Hülfeleistung  bei  Verwundeten  in  der  Schlacht 
zu  sein  pflegt.  Als  nächste  Hülfe  für  die  Verwundeten  werden  in  kurzer 
Entfernung  hinter  der  Schlachtreilie,  gewöhnlich  hinter  den  Kanonen,  au 
einer  möglichst  gedeckten  Stelle  Verbandplätze  etablirt,  welche  durch 
das  internationale  Zeichen  der  Neutralität,  eine  weisse  Fahne  mit  rothem 
Kreuz  bezeichnet  sind;  zu  diesen  Verbandplätzen  müssen  die  Ver- 
wundeten zuerst  hingescliaift  werden;  dieser  Transport  wird  entweder  von 
den  Soldaten  selbst,  oder  von  besonders  dazu  eingericliteten  Sanitäts-  oder 
Krankenträgercompagnieu  beso'rg't.  Die  Einrichtung  dieser  Sauitätscom- 
pagnien  liat  sich  in  den  letzten  Kriegen  so  sehr  bewährt,  dass  sie  gewiss 
eine  immer  weitere  Verbreitung  finden  wird;  die  Sanitätscompagnien  be- 


Vorlcsniin'    II).      Ciipilcl    VI  11.  275 

stehen  aus  Krnnkeiiwärtei'ii,  Avelclie  durcli  hesoiulcirc  M.'uiiiver  diiriii  ,ueii))t 
werden,  die  Ivinnlcen  niis  der  Schla.clillinie  luü-anszubrin^'en  nml  ilnuni, 
falls  CS  nötliii;'  ist,  eine  palliative  llillfe  aiiii'edeilien  zu  lassen,  z.  ii.  durcli 
Comi)vession  von  Arterien  hei  stnrk  blutenden  Wunden  u.  s.  w.  Sie  sind 
vorher  geübt,  zu  Zwincn  einen  Verwundeten  zu  tragen,  tlieils  mit  (Iqu 
Armen  ohne  weitere  Unterstützung,  tlieils  indem  sie  schnell  eine  'l'rag- 
bahre  improvisiren.  Zu  diesem  Zweck  führen  sie  gewöhnlich  eine  Lanze 
und  ein  grosses  Stück  Zeug  von  etwas  mehr  als  Körperlänge  und  Breite 
bei  sich;  die  Lanzen  werden  in  einen  an  der  langen  Seite  des  Tuches 
befindlichen  Canal  hiucingesehobeu  und  auf  diese  Weise  wird  eine  Trag- 
bahre hergestellt;  Bajonette  oder  Hirschfänger  können  provisorisch  als 
Schienen  zur  Unterstützung  einer  zerschossenen  Extremität  verwandt 
werden.  So  kommen  die  Verwundeten  auf  dem  Verbandplatz  an;  hier 
wei-den  die  ersten  Verbände  angelegt,  welche  die  Verletzten  beibehalten, 
bis  sie  in  das  nächste  Feldlazareth  gelangt  sind.  Blutungen  müssen  auf 
dem  Verbandplatz  sicher  gestillt,  zerschossene  Extremitäten  der  Art  ge- 
lagert werden,  dass  der  Transport  dem  Verwundeten  nicht  schädlich 
wird,  oberflächlich  liegende  Kugeln,  fremde  Körper  und  ganz  lose 
Knochensplitter  werden  hier  entfernt,  sobald  sich  dies  leicht  und  schnell 
thun  lässt.  Extremitäten,  die  durch  grobe  Geschütze  zerschmettert  sind, 
werden  hier  schon  amputirt,  falls  der  Verband  nicht  so  angelegt  werden 
kann,  dass  der  Transport  möglich  wird.  Es  ist  überhaupt  der  Ver- 
bandplatz wesentlich  dazu  bestimmt,  die  Verwundeten  trans- 
portabel zu  machen,  und  ist  es  daher  nicht  zweckmässig, 
hier  viele  und  zeitraubende  Oper ationen  zu  unternehmen.  Bei 
dem  grossen  Andrang  der  aus  der  Schlachtreihe  in  immer  grösserer  Zahl 
kommenden  Verletzten  kann  nur  das  Nothwendigste  geschehen,  und  so 
grausam  es  erscheint,  ist  doch  gewiss  der  Rath  Pirogoffs  sehr  wichtig, 
dass  die  Aerzte  ihre  Kräfte  nicht  durch  Beschäftigung  mit  den  absolut 
tödtlich  Verletzten  und  Sterbenden  erschöpfen.  Wenn  irgend  möglich, 
sollte  aber  jeder  Verwundete  ein  kurze  Notiz  über  das  Ergebniss  der 
ersten  Untersuchung  mitbekommen,  wenn  er  ins  Feldlazareth  transportirt 
wird;  ein  Zettel  mit  wenigen  Worten,  der  dem  Kranken  in  irgend  eine 
Tasche  seiner  Bekleidung  gesteckt  wird,  genügt.  Es  handelt  sich  haupt- 
sächlich darum,  ob  die  Kugel  extrahirt,  ob  eine  Wunde  an  Brust  oder 
Bauch  perforirend  ist,  und  dergleichen,  wodurch  dem  Arzt  im  Lazareth 
Zeit  und  Mühe  und  dem  Verletzten  Schmerzen  erspart  werden.  Bis  jetzt 
hat  jedoch  eine  solche  Maassregel  nicht  consequcut  durchgesetzt  werden 
können.  Ein  Theil  der  Sanitätscompagnie  hat  ferner  die  Aufgabe,  die 
Verletzten  in  dem  zum  Weitertransport  befindlichen  Wagen  unter  Anleitung 
von  Aerzten  zweckmässig  zu  lagern.  Zu  diesem  Zweck  sind  eigene 
Kraukentransportwagen  vorhanden,  welche  in  der  verschiedensten  Weise 
construirt  sein  können  und  theils  liegende,  theils  sitzende  Patienten  auf- 
nehmen müssen.     Diese  Wagen  reichen  freilich  selten  aus,  sondern  mau 


9'7A  Von  den  Sfrhnsswnnden. 

muss  sicli  oft  genug-  mit  Leiterwagen  belielfen,  welche  mit  Brettern,  Heu, 
Sti-oli,  Matratzen  so  gut  wie  raüglieli  für  den  Krankentransport  einge- 
richtet werden.  Diese  Wagen  führen  die  Verwundeten  in  das  nächste 
Feldlazareth ;  ein  solches  ist  in  einer  nahen  Stadt  oder  einem  Dorf  etablirt 
und  man  wählt  dazu  die  besten  und  grössten  Räume,  die  man  haben 
kann:  Schulhäuser,  Kirchen,  Scheunen  werden  gewöhnlich  zunächst  belegt, 
obgleich  nur  die  letzteren  empfehlen swerth  sind.  In  diesen  Localen 
sind  mit  Hülfe  von  Stroh,  wenigen  Matratzen  und  Decken  Lager  her- 
gerichtet; Aerzte  und  Krankenwärter  sehen  mit  Spannung  dem  ersten 
Wagen  Verwundeter  entgegen,  nachdem  mau  schon  durch  den  nahen 
Donner  der  Geschütze  und  durch  einzelne  Nachrichten  von  dem  Beginne 
der  Schlacht  Kunde  erhalten  hat.  Hier  beginnt  nun  die  genauere  Unter- 
suchung derjenigen  Patienten,  die  auf  dem  Verbandplatz  nur  provisorisch 
verbunden  wurden,  und  liier  entwickelt  sich  die  ausgedehnteste  operative 
Thätigkeit:  Amputationen  und  Resectionen,  Extractionen  der  Kugeln  u.  s.  w. 
werden  massenhaft  gemacht  und  der  junge  Arzt,  welcher  sich  sehnte,  seine 
ersten  Operationen  am  Lebenden  zu  machen,  hat  hier  bis  zur  körper- 
lichen Erschöpfung  den  gauzen  Tag  zu  thun;  bis  in  die  Nacht  hinein 
geht  es  fort;  die  Schlacht  dauerte  bis  zum  späten  Abend  und  erst  gegen 
Morgen  kommen  die  letzten  Wagen  mit  Verwundeten  im  Feldlazareth 
an.  Bei  schlechter  Beleuchtung,  auf  provisorisch  hergerichtetem  Ope- 
rationstisch, nicht  selten  mit  ungeschickten  Wärtern  als  Assistenten  muss 
der  Arzt  jeden  Verwundeten  bis  zum  letzten  gleich  sorgfältig  untersuchen, 
eventuell  operiren  und  verbinden.  Ln  Feldlazareth  haben  die  Ver- 
wundeten eine  Zeitlaug  Ruhe  und  sollten  wo  möglich  die  Operirten  und 
schwer  Verletzten  nicht  eher  in  ein  anderes  Lazareth  übergeführt 
werden,  als  bis  eine  gute  Eiterung  erfolgt  und  die  Heilung  wenigstens 
eingeleitet  ist.  Nicht  immer  kann  dies  erreicht  werden;  zuweilen  muss 
der  Ort,  in  dem  das  Feldlazareth  etablirt  war,  geräumt  werden.  Gehört 
man  der  besiegten  Partei  an,  ziehen  sich  die  eigenen  Truppen  zurück 
und  dringt  der  Feind  in  den  Ort  vor^  wo  das  Lazareth  etablirt  war,  so 
bleiben  die  Aerzte  bei  den  Verwundeten;  selbst  bei  der  grössten  Humanität 
eines  Feindes  ist  doch  oft  der  Mangel  an  Aerzten  nach  grossen  Schlachten 
so  erheblich,  dass  die  Aerzte  der  feindlichen  Partei  ausser  Stande  sind, 
die  Verpflegung  aller  Verwundeten  gehörig  zu  überwachen.  Vor  einigen 
Jahren  wurde  in  Genf  eine  Convention  der  Europäischen  Mächte  ge- 
schlossen, nach  welcher  Aerzte  und  Sauitätsmaterial  auf  alle  Fälle  neutral 
erklärt  wurden.  Obgleich  sich  der  practischen  Ausführung  dieses  Friucips 
und  seiner  Consequenzen  mancherlei  Hindernisse  in  den  AVeg  stellen,  so  hat 
diese  Convention  in  den  Kriegen  der  letzten  Jahre  doch  schon  segensreiche 
Folgen  gebracht,  und  ist  einer  weiteren  Entwicklung  fähig.  Jedenfalls 
ist  das  Inncip,  den  verwundeten  Feind  nicht  mehr  als  Feind,  sondern 
als  Kranken  zu  betrachten,  als  eine  schöne  Frucht  fortschreitender 
Humanität  und  Bildung  zu  schätzen  und  zu  wahren. 


Vorlesiiiig  U).     Ciipili-I    Vm.  277 

Sind  die  Verletzten  nllr  vorlüiidg-  unter  Dach  gebraelit  und  i^elaycrt, 
sind  die  nötliigen  Operationen  i^'cmacht,  und  i;st  auch  in  anderen  Be- 
ziehungen, z.  1).  für  die  Verköstig'ung  und  Pflege  der  Verwundeten  das 
Notliwendigste  geschelien,  so  muss  sich  der  ärztliche  Stab  nun  soioi-i 
damit  befassen,  eine  zweckmässige  Oi'dniing  unter  den  Verwundeten  zu 
schaffen.  Die  Anliäufung  vieler  Verletzten  an  einem  Ort  ist  schädlich, 
und  wenn  das  Kriegstheater  ein  armes  Land  ist,  in  welches  keine  Eisen- 
bahnverbindungen führen,  dann  ist  auch  die  Verpflegung  der  Kranken 
mit  ungeheuren  Schwierigkeiten  verbundeii.  Man  muss  daher  die  Ver- 
wundeten möglichst  bald  Aveiter  scliaflen,  was  sich  mit  den  Eisenbahnen 
in  gut  vorbereiteten  Lazaretliziigen  selbst  bei  scliAver  Verwundeten  aus- 
führen lässt;  bei  weniger  bequemen  Transportmitteln  kann  man  wenigstens 
die  leicht  Verwundeten  bald  weiter  befördern.  Dies  Zerstreuungssystem, 
Avelches  in  neuerer  Zeit  mit  ausgezeichnetem  Erfolg  durchgeführt  ist, 
bedarf  grosser  Umsiclit  und  vieler  Mühe  von  Seiten  der  obersten  ärzt- 
lichen und  militärischen  Behörden,  hat  sich  jedoch  als  sehr  segensreich 
bewährt.  —  Kanu  mau  für  die  zurückbleibenden  Schwerverletzten  Holz- 
häuser (Baracken)  neu  bauen  lassen,  so  ist  das  am  besten;  ist  das  nicht 
ausführbar,  so  kann  man  die  leicht  Verwundeten,  welche  keiner  besonderen 
chirurgischen  Behandlung  bedürfen,  auch  in  Privathäusern  uuterbriugen; 
es  hat  sich  unzweckmässig  erwiesen,  die  Verwundeten  in  den  Kirchen 
und  Schulhäuseru  lange  zu  belassen,  weil  diese  Locale  selten  gut 
ventilirt  werden  können. 

Der  Krieg  in  Nordamerika,  sowie  der  österreichisch-preussische 
Krieg  des  Jahres  1866  und  der  französisch-deutsche  Krieg  1870  hat  ge- 
zeigt, dass  man  fortwährend  an  den  Einrichtungen  des  Militärsauitäts- 
wesens  zu  bessern  hat.  Es  ist  ein  Moment  noch  hinzugekommen,  was 
früher  nicht  mitwirkte,  nämlich  die  ausgedehnte  Hülfe  von  Seiten  von 
Vereinen,  barmherzigen  Schwestern,  Civilärzten  und  vielen  andern  Per- 
sonen, welche  sich  selbst  oder  Geld  und  Materialien  zur  Verpflegung  der 
Verwundeten  zur  Disposition  stellen.  Wenn  diese  Privathülfe  gehörig 
organisirt  ist,  so  kann  sie  unter  zweckmässiger  Leitung  der  Militär- 
behörden ausserordentlich  viel  leisten,  Avie  sich  im  letzten  Krieg  ge- 
zeigt hat. 

Ueber  die  Behandlung  der  SehussAvunden  haben  sich  im  Laufe 
der  Zeit  die  Ansichten  ausserordentlich  verschieden  gestaltet,  je  nach- 
dem man  dieselben  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  betrachtete. 
Die  ältesten  Chirurgen,  von  welchen  uns  darüber  Mittheilungen  vorliegen, 
hielten  die  SchussAvunden  für  vergiftet  und  glaubten  demzufolge,  dass 
sie  mit  glühendem  Eisen  oder  siedendem  Oel  ausgebrannt  Averden 
müssten.  Der  erste,  av elcher  dieser  Ansicht  mit  Erfolg  entgegentrat, 
war  Ambroise  Pare,  den  Sie  schon  von  den  Unterbindungen  her 
kennen.  Er  erzählt,  dass  ihm  beim  Feldzuge  nach  Piemont  (1536)  das 
Oel  zum  Ausbrennen   der  Wunden   ausgegangen  sei,  und  dass  er  nun 


278 


Von  den  Schiis,swunden. 


erwartet  habe,  dass  alle  die  Kranken,  die  nicht  nach  den  damaligen 
Reg-eln  der  Kirnst  behandelt  waren,  sterben  würden.  Dies  sei  aber  nicht 
o-eschehen,  vielmehr  haben  sich  die  letzteren  viel  besser  befmiden,  als 
die  wenig-en  Auserwählten,  bei  denen  er  noch  den  Rest  seines  Oels  ver- 
braucht hatte.  So  befreite  ein  glücklicher  Zufall  die  Medicin  schon 
ziemlich  früh  von  diesem  Aberglauben.  Später  beobachtete  man  ganz 
richtig,  dass  eine  der  Hauptschwierigkeiten  bei  dem  Heikmgsprocess  der 
Schusswunden  in  der  grossen  Enge  des  Schusscanals  liege,  und  suchte 
diesem  Umstand  dadurch  entgegenzuwirken,  dass  man  die  Wunde  mit 
Charpie  oder  Enziauwurzcl,  sogenannten  Quellmeisseln,  vollständig  aus- 
stopfte. Verständige  Chirurgen  sahen  jedoch  bald  ein,  dass  dadurch  der 
in  der  Tiefe  angesammelte  Eiter  noch  weniger  ausfliessen  konnte.  Auch 
hatte  sich  bereits  die  richtige  Ansicht  Bahn  gebrochen,  dass  die  Schuss- 
wunde  eine  röhrenförmige  Quetschwunde  sei.  Dies  suchte  man  nun 
wieder  auf  eine  sonderbare  Weise  zu  verbessern,  indem  man  als 
allgemeine  Schulregel  aufstellte,  dass  jeder  oberflächliche  Schusscanal 
vollständig  gespalten,  die  Oeffnung  eines  in  die  Tiefe  führenden  Canals 
durch  einen  oder  mehre  Einschnitte  erweitert  werden  müsse;  man  setzte 
sonderbarer  Weise  hinzu,  dass  durch  diese  Einschnitte  die  Quetschwunde 
in  eine  einfache  Schnittwunde  verwandelt  würde,  während  man  doch 
eigentlich  nichts  Weiteres  that,  als  dass  man  der  Schusswunde  noch  eine 
Schnittwunde  hinzufügte.  Etwas  anderes  war  es  freilich,  wenn  man  die 
Regel  gab,  einen  Schusscanal  ganz  auszuschneiden,  die  Wunde  durch 
Nähte  und  Compression  zu  schliessen,  um  eine  Heilung  per  primam  zu 
erzielen,  ein  Verfahren,  welches  selten  anwendbar  ist  und  auch  wenig 
Anklang  gefunden  hat.  In  neuerer  Zeit,  wo  sich  die  Behandlung  aller 
Wunden  so  sehr  vereinfacht  hat,  ist  ein  Gleiches  auch  mit  den  Schuss- 
wunden geschehen,  welche  im  Ganzen  nach  den  gleichen  Priucipien  zu 
behandeln  sind,  wie  Quetschwunden.  Das  Erste,  was  man  bei  einer 
Schusswunde  zu  thun  hat,  ist,  wie  bei  andern  Wunden,  eine  etwaige 
arterielle  Blutung  zu  stillen.  Dies  geschieht  nach  den  früher  schon 
gegebenen  Regeln,  indem  man  die  blutende  Arterie  entweder  in  der 
Wunde  selbst,  oder  den  betreffenden  /Vrterienstamm  in  seiner  Continuität 
unterbindet;  behufs  des  ersteren  Zwecks  muss  man  fast  immer  die 
Eingangs-  oder  Ausgangsöffnung  dilatiren,  weil  man  sonst  die  blutende 
Arterie  nicht  finden  wird.  Ist  keine  Blutung  vorhanden,  so  hat  man 
sofort  die  Wunde,  zumal  die  blind  endigenden  Schusscanäle  nach 
etwaigen  fremden  Körpern,  besonders  nach  einer  etwa  darin  steckenden 
Kugel  zu  untersuchen.  Diese  Untersuchung  nimmt  man  am  sichersten 
mit  dem  Finger  vor;  falls  dieser  nicht  lang  genug  ist  oder  der  Schuss- 
canal zu  eng,  so  gebraucht  man  am  besten  einen  silbernen  Katheter, 
mit  welchem  man  genauer  und  sicherer  fühlt,  als  mit  einer  Sonde;  fühlt 
man  die  Kugel,  so  sucht  man  sie  auf  dem  kürzesten  Wege  zu  entfernen, 
d.  h.  man    zieht  sie   entweder  aus    der  Eingaugsöff'nung    heraus ,    oder 


Vni-Irsmit;    l:i.       C';i|.il,.|    VI  IT.  270 

wenn  sie  mit  einem  blinden  ScIiusscaiiMl  bis  unter  die  Maut  vorgedrungen 
ist,  so  wird  man  auf  sie  einen  Ilautsclinitt  machen  und  sie  durch  diesen 
extrahiren,  wodurch  zugleich  der  l)linde  Scliussc;iii;il  in  einen  \(dl- 
ständigen  umgewandelt  wird.  —  Die  Extraction  der  Kugel  von  dar 
Eingangsöffnung  aus  kann  mit  lliilie  von  löfici-  odei-  zangenfönnigen 
Instrumenten  gcsclielien.  Die  Kngelzangen  mit  dünnen,  langen  Branchen 
sind  deshalb  oft  schwierig  anzuw^Miden,  weil  sie  in  dem  engen  Hclniss- 
canal  nicht  geliörig  geöffnet  werden  können ,  um  die  Kugel  zu  fassen, 
und  es  werden  daher  von  vielen  Militärcliirurgen  die  löfrelförmigen  In- 
strumente zur  Extraction  vorgezogen.  Empfehlcnswerth  ist  die  ameii- 
kanisclie  Kugelzangc,  welclic  sich  besonders  daduix'h  auszeichnet,  dass 
sie  sich  aucli  in  engen  »Schusscanälen  gut  öffnen  lässt  und  sehr  sicher 
fasst,  doch  sind  die  meisten  derartigen  Zangen  zu  dünn  gearbeitet;  ich 
finde,  dass  sich  nichts  besser  zu  Kugelextrationen  eignet,  als  lange 
starke  Kornzangen  und  Poly])enzangen.  Sitzt  die  Kugel  in  einem 
Knochen  fest,  so  bedient  man  sicli  eines  langen  ßohrers,  den  mau  in 
das  Blei  hineintreibt  und  vei'sucht  so  die  Kugel  zu  extraliireu.  Gelingt 
es  nicht,  durch  die  Eingangsöff'nung  Kugeln  oder  andere  Körper  heraus- 
zubringen, so  schreitet  man  zu  einer  Dilatation  derselben,  u)u  melir 
Platz  zu  gewinnen  und  die  Instrumente  besser  zu  applicireu.  Es  ist 
allerdings  wiederholt  beobachtet  worden,  dass  Kugeln  eingeheilt  sind,  ohne 
Eiterung  zu  erzeugen,  doch  ist  es  Aveit  häufiger,  dass  sie  Eiterung  hervor- 
rufen; man  soll  natürlich  keine  zu  gewaltsamen  oder  gar  gefährlichen 
Manipulationen  unternehmen,  um  Kugeln  zu  extrahiren,  doch  soll  man 
sich  auch  nicht  zu  sehr  scheuen,  ein  Projectil  ei'ustlich  zu  suchen,  wenn 
es  fortdauernde  Eiterung  unterhält.  —  Blutung  und  schwierige  Ex- 
traction fremder  Körper  sind  die  beiden  Hauptindicationen  für  die 
Dilatation  der  Schusswunden.  An  sich  bedarf  jedoch  die  Schusswunde 
keineswegs  der  Dilatation  zu  ihrer  Heilung.  Diese  erfolgt  so,  dass  sich 
von  der  Eingangsöffnung  langsam  eine  kleine  Eschara  ringförmig  ab- 
stösst,  dann  auch  aus  dem  Schusscanal  selbst  gangränöse  Fetzen  sich 
ablösen,  bis  eine  gesunde  Granulation  und  Eiterung  eingetreten  ist,  und 
der  Canal  dann  von  innen  nach  aussen  sich  allmählich  schliesst.  In  den 
meisten  Fällen  vernarbt  die  Ausgangsöflfnung  früher  als  die  Eingangs- 
öff'nung. Diesem  normalen  Verlauf  können  sich  freilich  mancherlei 
Schwierigkeiten  -in  den  Weg  stellen;  es  können  progressive  Eiterungen 
in  der  Tiefe  auftreten,  durch  welclie  neue  Incisiouen  und  die  Anwendung 
des  Eises  nothwendig  w^erdeu,  wie  bei  den  tiefen,  gequetschten  Wunden 
überhaupt. 

Der  erste  Verband  einer  Schusswunde  im  Felde  besteht  gew^öhnlich 
in  dem  Auflegen  einer  nassen  Compresse,  über  welche  ein  Stüclf  Wachs- 
tuch, Krankenleder  oder  Pergamentpapier  gedeckt  wird,  welches  mit 
Hülfe  einer  Binde  oder  eines  Tuches  zu  befestigen  ist.  Später  ist  oft 
nichts   weiter    nöthig,    als    einfaches    Feuchthalteu    und    Bedecken    der 


230  y<m  den  Schiisswunden. 

Wunde  mit  etwas  lockerer  Charpie,  Ueberscliläge  mit  Bleiwasser,  Chlor- 
wasser u.  dgl.  Auch  die  Behandlung-  von  Schusswunden  ohne  Xer- 
baud  ist  im  letzten  Krieg-  viel  geiil)t,  und  zwar  mit  gleich  g-iinstigera 
Erfolg-,  wie  bei  andern  Wunden.  Die  Heilung-  einer  Schusswunde  per 
prim'am  ist  in  seltenen  Fällen  beobachtet  worden,  g-ehört  jedoch  immer 
zu  den  Seltenheiten;  in  der  Keg-el  eitern  alle  Schusswunden,  bald 
kürzere,  bald  längere  Zeit.  Als  eine  der  Hauptursaehen  für  tiefere  Ent- 
ziinduug-eu  ist  das  Zurückbleiben  fremder  Körper,  besonders  von  Zeug, 
Lederstücken  etc.  anzusehen.  Weniger  g-efährlichi  ist  das  Zurückbleiben 
der  Kugel  oder  eines  Stücks  derselben.  Das  Blei  kann  von  der  Narben- 
masse ganz  umwachsen  und  völlig-  eingekapselt  werden;  die  Wunde 
schliesst  sich  vollständig  darüber;  der  Verwundete  behält  die  Kugel  bei 
sich.  Diese  Kugeln  bleiben  aber  nicht  immer  auf  derselben  Stelle  liegen, 
sondern  senken  sich  theils  in  Folge  ihrer  Schwere,  theils  werden  sie 
auch  wohl  durch  die  Muskelbewegungen  verschoben,  so  dass  sie  nach 
Jahren  sich  oft  an  einer  andern,  meist  tiefern  Stelle  befinden;  z.  B.  kann 
in  die  Hüftgegend  eine  Kugel  eindringen,  welche,  schon  fast  vergessen, 
später  unter  der  Waden-  oder  Fersenhaut  fühlbar  wird  und  hier  mit 
Leichtigkeit  herausgeschnitten  werden  kann.  Aehnliches  habe  ich  Hmen 
bereits  von  Nadeln  mitgetheilt.  Nichtmetallische  Körper  scheinen  jedoch 
niemals  auf  diese  Weise  unschädlich  im  menschlichen  Körper  zurück- 
bleiben zu  können,  und  müssen  daher  immer  extrahirt  werden,  wenn 
ihre  Gegenwart  in  der  Wunde  sicher  ist. 

Das  Fieber  bei  den  Schussw^unden  wird  im  Allgemeinen  von  ihrer 
Grösse  und  Ausdehnung  abhängig  sein,  sowie  von  den  accidentelleu 
Eiterungsprocessen.  In  dem  vortrefflich  eingerichteten  Lazareth  des 
Badischen  Generalarztes  Beck,  welches  ich  auf  dem  süddeutschen 
Kriegsschauplatz  (18G6)  in  Tauberbischofsheim  besuchte,  wurde  auch  die 
Thermometrie  zur  Bestimmung  des  Fiebers  verwandt,  ebenso  1870  in 
den  Lazarethen  in  Mannheim,  welche  unter  der  Leitung  der  Herren 
Prof.  Bergmann  und  Dr.  Lossen  standen.  Die  Eesultate  sind  im 
Allgemeinen  übereinstimmend  mit  denjenigen  gewesen,  welche  sich  auch 
bei  andern  Verletzungen  in  Betreff  des  Fiebers  herausgestellt  haben. 

Ueber  die  besonderen  Maassregeln,  die  bei  perforireuden  Schädel-, 
Brust-  und  Bauchwundeu  zu  treffen  sind,  werden  Sie  in  der  speciellen 
Chirurgie  belehrt  werden;  hier  nur  noch  einige  Bemerkungen  über  die 
Fracturen,  die  bei  Schusswunden  entstellen.  Dass  aucb  im  Kriege  durch 
matte  und  schief  auffallende  Kugeln  einfache  subcutane  Fracturen  vor- 
kommen, ist  schon  früher  bemerkt.  In  den  meisten  Fällen  werden 
jedoch  die  Fracturen  mit  AA'nnden  der  Weichtlieile  combinirt  sein.  Die 
weichen,  aus  spongiöser  Substanz  bestehenden  kurzen  Knoch.en  und  Epi- 
ph3-sen  können  von  einer  Kugel  einfach  durclibohrt  sein,  ohne  dass  eine 
Splitterung  des  Knochens  dabei  einzutreten  brauclit.  Diese  Verletzung 
ist,  wenn  nicht  durch  den  Schuss  das  naheliegende  Gelenk  erötiuet  ist, 


Vorlesimj;   10.     C'apiiol    VIII. 


281 


ji^  vevhältnissniässig"  giinstii;';  die  Kui;cl  kann  im  Knochen  stecken  bleiben 
und  wird  dann  eine  intentivc  Ostitis  nnterlialten ;  Einlicilungen  im 
Knoclien  sind  ancli  l)cobaclitct,  docli  ist  es  immerliin  ein  Cunosum.  Nach 
rcrforationsscliüsycn  kommt  der  ganze  Canal  in  Eiferung',  füllt  sieli  mit 
Craiuilationen,  die  zum  Theil  nacliträglicli  vci'knöcliern,  so  dass  die 
l'cstigkeit  des  Knochens  nicht  darunter  leidet.  —  Hat  die  Kug'el  die 
!)iaphyse  eines  Röhrenknochens  getroffen,  so  entstehen  meistens  Splitter- 
iVacturen  und  zwar  so  complicirt,  wie  bei  keiner  andern  Veranlassung; 
die  grosse  Zahl  der  spitzen  Splitter,  so  wie  die  grosse  Ausdeimung  der 
iSplitterung"  im  Verhältniss  zum  Durchmesser  des  Projectils  ist  mit  das 
Auffallendste  für  denjenigen  Arzt,  welcher  zuerst  eine  grosse  Anzahl 
von  Schusswunden  sieht. 


Fiff.  65. 


Oberschenkelknochen    eine*:   fran- 
zösischen    Soldaten,     durch     ein 
preiissisches    Ziindnadelgewehr- 
Projectil  getroffen. 


Tihia    eines    deutschen    Siddaten, 

durch   ein   Chassepotgewehr- 

Projectil   getrofien. 


Ich  halte  es  für  nöthig,  und  sein-  wichtig-,  jede  Schussfractur  der 
Extremitäten  bald  nach  der  Verletzung  mit  dem  Finger  genau  zu  unter- 
suchen, um  die  losen  oder  nur  in  geringer  Verbindung  mit  den  Weich- 
theilen  stehenden  Knochensplitter  zu  entfernen;  das  Abkneifen  oder  Ab- 
sägen sehr  spitzer  Fragmentenden  kann  hie   und  da  zweckmässig-  sein, 


9J^9  Vnii  den  Verbrennungen  mikI   Erfrierungen. 

WO  es  sich  ohne  erhebliche  neue  Verletzung,  ohne  grosse  Incisionen 
durch  dicke  Weichtlieile  leicht  machen  lässt.  Ich  möchte  jedoch  diese 
sogenannten  Resectionen  in  der  Continuität  nicht  als  regelmässige, 
nicht  als  immer  nothwendige  Operation  empfehlen,  da  die  Erfahrung 
lehrt,  dass  sehr  viele  solcher  Fälle  auch  ohne  operative  Eiugi-iffe  günstig 
verlaufen. 

Ist  durch  den  Schuss  eine  complicirte  Fractur  in  einem  Gelenk  ent- 
standen, so  ist  von  einer  zuwartenden  Behandlung  nach  den  vorliegenden 
Erfahrungen,  die  auf  statistischen  Zusammenstellungen  basirt  sind,  nicht 
viel  Gutes  zu  erwarten;  vielmehr  wird  es  sich  meisteutheils  darum  han- 
deln, ob  es  zweckmässiger  ist,  die  primäre  Resectiou  oder  Amputation 
zu  machen,  worüber  nur  die  Beschaffenheit  jedes  einzelnen  Falles  ent- 
scheiden kann. 

Endlich  muss  noch  erwähnt  werden,  dass  Nachblutungen  bei  Schuss- 
wunden besonders  häufig  sind,  wie  bei  Quetschungen  überhaupt. 

Die  Beliaudlung  der  Schussfractureu  mit  gefensterten  Gypsverbänden 
ist  (vielleicht  mit  Ausnahme  der  hohen  Oberarm-  und  Oberschenkelschüsse) 
meiner  Ansicht  nach  eine  sehr  zweckmässige;  dagegen  lässt  sich  nur 
sagen,  dass  diejenigen  Aerzte,  welche  nicht  schon  offene  Fracturen  mit 
Gypsverbänden  behandelt  haben  und  nicht  die  ganze  Gypstechnik  be- 
herrschen, gut  thun,  ihre  ersten  Versuche  nicht  an  Schussfractureu  zu 
machen,  sondern  nur  solche  Verbände  appliciren  sollten,  mit  denen  sie 
umzugehen  gelernt  haben. 

Secundäre  eitrige  Entzündungen  kommen  bei  den  Schusswunden  fast 
noch  häufiger  vor,  wie  bei  den  sonstigen  Quetschwunden;  die  gleichen 
Schädlichkeiten,  die  wir  als  Ursache  dieser  gefährlichen  Accidentien 
früher  kennen  gelernt  haben,  wirken  leider  auch  oft  genug  bei  den 
Schusswunden. 


Vorlesung   20. 
CAPITEL  IX. 

Voll  den  Verbreiinungeu  und  ErMeningeii. 

1.  Verbrennungen:  Grade,  Extensität,  Behandlung.  —  Sunnen?tiob.  —  Blitzschlag.  — 
2.  Erfrierungen:    C4rade.     Allgemeine  Erstarrung.     Behandlung.  —  Frostbeulen. 

Die  Folgeerscheinungen  von  Verbrennungen  und  Erfrierungen  haben 
zwar  sehr  viel  Achnlichkeit  mit  einander,  unterscheiden  sich  jedoch 
genugsam,  um  sie  besonders  zu  betrachten.  Sprechen  wir  daher  hier 
zunächst  von  den 


Vurlosiing  20.     Cupilvl   LX.  283 

I  Vcrbrcnnuiig'cii. 

Dieselben  entstehen  durch  die  Flanniic  selbst,  /..  F).  wenn  die  Kleider 
anbrennen,  häufiger  nocli  durch  heisse  Flüssii^'keitcu  z.  l».  bei  Kiiidcni, 
welche  Gefiisse  nnt  hcisscni  Wasser,  Kjiffee,  Sujipc  etc.  vom  Tische  her- 
unter ziehen  und  sich  damit  iibergiesscn.  Ferner  sind  in  den  Fabriken 
Verbrennungen  nnt  heissen  ]\Ietallen,  mit  flüssigem  Blei,  Fison  und  der- 
gleichen leider  niclit  selten,  sowie  im  gewöhnlichen  Leben  leichtere  Ver- 
brennnngen  mitScliwefelhölzchen  und  Siegellack  rcclit  häufig  vorgekommen 
und  gewiss  schon  Mancliem  von  Ilinen  begegnet  sind,  Ansserdem  be- 
wirken aber  auch  concentrirte  Säuren  und  kaustische  Alkalien  gar  niclit 
selten  Verbrennungen  verschiedener  Grade,  welche  denjenigen  analog 
sind,  die  durch  heisse  Körper  entstehen. 

Es  ist  bei  den  Verbrennungen  die  Intensität  und  die  Extensität  der 
Verletzung  zu  berücksichtigen;  letztere  wird  uns  später  beschäftigen.  Die 
Intensität  der  Verbrennung  hängt  wesentlich  von  dem  Hitzegrade  und 
der  Dauer  der  Einwirkung  ab;  je  nach  den  Folgen  dieser  Einwirkung 
unterscheidet  man  verschiedene  Grade  von  Verbrennungen.  Diese  gehen 
freilich  in  einander  ü))er,  können  jedoch  ohne  Schwierigkeiten  nach  den 
damit  verbundenen  Erscheinungen  auseinandergehalten  werden,  die  ja 
nur  den  Zweck  einer  raschen  Verständigung  haben.  V/ir  nehmen  drei 
verschiedene  Grade  von  Verbrennungen  an : 

Erster  Grad  (Hyperämie):  Die  Haut  ist  stark  geröihet,  sehr  schmerz- 
haft und  leicht  geschwollen.  Diese  Erscheinungen  iteruhen  in  einer  Aus- 
dehnung der  Capillaren  mit  geringer  Exsudation  von  Serum  in  das  Ge- 
"webe  der  Cutis.  Es  ist  ein  leichter  Grad  von  Entzündung,  wobei  eine 
reaktive  Zellenvermehrung  nur  im  Rete  Malpighii  Statt  hat,  was  wir  daran 
bemerken,  dass  eine  Abschuppung  der  Epidermis  wenigstens  in  vielen 
Fällen  nacliträglicii  erfolgt.  Röthung  und  Schmerz  dauern  zuweilen  nur 
wenige  Stunden,  in  andern  Fällen  mehre  Tage.  Doch  ist  es  nicht  uöthig 
und  durchaus  nicht  -practisch,  deshalb  schon  hier  wieder  verschiedene 
Grade  zu  unterscheiden. 

Zweiter  Grad  (Blasenbildung):  Es  kommt  zu  den  Erscheinungen 
des  ersten  Grades  die  Entstehung  von  Blasen  an  der  Hautoberfläche 
hinzu,  welche,  wenn  sie  noch  nicht  geplatzt  sind,  entweder  ganz  klares 
oder  wenig  mit  Blut  vermischtes  Serum  enthalten.  Diese  Blasen  ent- 
stehen entweder  unmittelbar  oder  auch  einige  Stunden  nach  der  Ver- 
brennung und  können  in  ihrer  Grösse  ausserordentlich  verschieden  sein. 
Bei  anatomischer  Betrachtung  finden  wir,  dass  in  den  meisten  dieser 
Fälle  sieb  das  Hornblatt  von  dem  Schleimblatt  der  Epidermis  gelöst  hat, 
so  dass  die  aus  den  Capillaren  rasch  ausgetretene  Flüssigkeit  sich  zwi- 
schen diesen  beiden  Schichten  befindet,  grade  so  wie  dies  nach  der  Ein- 
wirkung des  Canthariden-  und  Blasenpflasters  der  Fall  ist.  Diese  Ijlase 
platzt  oder  wird  künstlich  eröffnet;  von  dem  zurückgebliebenen  Rete  Mal- 
pighii aus  bildet  sich  rasch  eine  neue  Hornschicht  der  Epidermis,   und 


234  ^on  den  Verbrennungen   und  Erfrierungen. 

in  sechs  bis  acht  Tagen  ist  die  Haut  wieder  wie  zuvor.  Es  kann  jedoch 
aucli  vorkommen,  dass  nach  Entfernung  der  Blase  die  eutblösste  Haut- 
stelle ganz  excessiv  schmerzhaft  ist  und  sich  eine  mehre  Tage,  selbst 
zwei  Woclicn  lang  dauernde  oberfläcliliclie  Eiterung  ausbildet;  der  Eiter 
trocknet  endlich  zu  einem  Schorf  ein,  und  untei-  diesem  bildet  sich  die 
neue  Epidermis.  Audi  diesen  Zustand  können  Sie  künstlich  hervorrufen, 
wenn  Sie  ein  Spanisch-Fliegenpflaster  längere  Zeit  auf  ein  und  derselben 
Stelle  liegen  lassen.  Es  ist  jedoch  auch  hier  nickt  nothwendig,  wegen 
dieser  Verschiedenlieiten  neue  Grade  der  Verbrennung  zu  unterscheiden, 
da  dieselben  nur  von  einer  etwas  geringeren  und  grösseren  Zerstörung 
des  Kete  Malpighii  abhängen,  sowie  die  grössere  oder  geringere  Schmerz- 
liaftigkeit  dadurch  bedingt  ist,  dass  die  Nerven  in  den  Papillen  der  Haut- 
oberfläche mehr  oder  weniger  frei  liegen. 

Dritter  Grad  (Escharabildung) :  Als  solchen  kann  mau  im  Allge- 
meinen die  Escharabildung  bezeichnen,  d.  h.  diejenigen  Fälle,  in  welchen 
ein  Theil  der  Haut  und  selbst  der  tiefer  liegenden  Weichtheile  durch 
die  Verbrennung  mortificirt  sind.  Hier  können  natürlich  die  Verschie- 
denheiten sehr  gross  sein,  indem  es  sich  in  dem  einen  Fall  vielleiclit 
nur  um  die  Verbrennung  und  Verkohlung  der  Epidermis  und  der  Pa- 
pillenspitzen,  in  einem  andern  um  das  Absterben  eines  Stückes  Cutis, 
in  einem  dritten  um  Verkohlung  der  Haut,  ja  einer  ganzen  Extremität 
handeln  kann.  In  allen  Fällen,  in  Avelchen  die  Papillarschicht  mit  dem 
Pete  Malpighii  zerstört  wird,  wird  es  zu  einer  mehr  oder  weniger  aus- 
gedehnten Eiterung  kommen,  durch  welche  das  mortificirte  Stück  ab- 
gelöst wird,  wobei  sich  natürlich  granulirende  Wunden  bilden  müssen,* 
die  den  gewöhnlichen  Gang  der  Heilung  nehmen.  Ist  nur  die  Epidermis 
und  die  Oberfläche  der  Papillen  verkohlt,  so  erfolgt  auch  nur  eine  kurze 
Eiterung  mit  raschem  Ersatz  der  Horuschicht  aus  den  Pesten  des  Pete 
Malpighii. 

Aus  dem  Gesagten  werden  Sie  begreifen  können,  dass  mau  auch 
wohl  4 — 7  und  mehr  Grade  der  Verbrennung  aufstellen  kann;  doch 
reicht  es  für  die  Verständigung  vollkommen  aus,  wenn  wir  die  3  Grade 
der  Röthung,  Blasenbildung  und  Escharabildung  unterscheiden.  Bei  aus- 
gedehnteren Verbrennungen  finden  wir  diese  verschiedenen  Grade  der 
Intensität  vielfach  neben  einander,  und  wenn  dann  die  verletzte  Stelle 
durch  verkohlte  Epidermis  und  Schmutz  verdeckt  ist,  so  ist  es  oft 
schwierig,  gleich  im  /Vnfang  an  jeder  Stelle  den  Verbrennungsgrad 
riclitig  zu  bestimmen.  Tritt  Eiterung  ein,  so  ist  dieselbe  bald  oberfläch- 
lich, bald  tiefgehend;  es  entsteht  hierbei  zuweilen  der  Anschein,  als 
wenn  mitten  in  einer  granulirenden  AVunde  sich  Inseln  von  junger  Narbe 
bildeten,  und  dies  hat  zu  der  falschen  Auflassung  Veranlassung  gegeben, 
als  könne  die  granulirende  Wunde  nicht  nur  von  den  Rändern  her, 
sondern  auch  von  einzelnen  Punkten  in  der  Mitte  der  Wunde  vernar- 
ben.    Solche  Narbeniuseln  aber  entstehen    niemals   da,    wo   der    üanze 


Vovlo.siniK  20.     Cai)i(:('l  TX.  285 

Papillarköiprr   der   Ihiut   fclill;,    soiuk-iu    iiiir    von   einzelnen    IJesten    des 
i  übrig-  gebliebenen   Rete  Malpigliii,    wie    dies   g'rade   l)ei    Verl)rennung'en 
und  bei  gewissen  später  zu  besprechenden  (Jescliwiirsbiidung-en  vorkoni- 
iiien  kann. 

Die  Prognose  für  die  Function  der  verbrannten  Tlieile  ergiebt  sich 
aus  dem  Gesag'ten  von  selbst.  Es  ist  jedoch  noch  hinzuzufügen,  dass 
nach  ausgedehnten  Verlusten  der  Haut,  wie  sie  zumal  durch  Verbrennun- 
gen mit  lieissen  Flüssigkeiten  am  Hals  und  an  den  oberen  Extremitäten 
vorkommen,  sehr  bedeutende  Narbencontractionen  eutstelieu,  durcli  w-elche 
z.  B.  der  Kopf  ganz  auf  die  eine  Seite  des  Halses  oder  nach  vorn  auf 
das  Sternum  gezogen,  oder  der  Arm  in  der  Flexionsstelluug  durch  eine 
Narbe  in  der  Ellenbogenbeuge  fixirt  wird.  Diese  Narben  werden  frei- 
lich mit  der  Zeit  im  Laufe  von  Jahren  dehnbarer  und  nachgiebiger,  je- 
doch selten  in  dem  (Jrade,  dass  die  Functionsstörung  und  Entstellung 
ganz  gehoben  würde,  so  dass  es  in  vielen  Fällen  plastischer  Operationen 
bedarf,  um  diese  Zustände  zu  bessern.  —  Man  hat  iVülier  merkwürdiger- 
weise die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die  Narben  nach  Verbrennungen 
sich  stärker  contrahirten ,  als  alle  übrigen  Narben.  Das  ist  jedocli  nur 
scheinbar  der  Fall,  indem  durch  andere  Arten  von  Verletzungen  kaum 
je  so  grosse  Stücke  Haut  verloren  gehen,  wie  grade  bei  Verbrennungen; 
indess  kann  man  sich  leicht  überzeugen  (zumal  bei  plastischen  Opera- 
tionen und  nach  grossen  Hautzerstörungen  durch  geschwürige  Processe), 
dass  die  Narbencontraction  dort  ganz  ebenso  stark  wirkt. 

Die  Extensität  der  Verbrennung  ist  quoad  vitam  von  der  aller- 
grössten  Bedeutung,  ganz  abgesehen  von  den  verschiedenen  Graden  der 
Intensität.  Man  pflegt  anzunehmen,  dass,  w^enn  etw^a  zwei  Drittheile  der 
Körperoberfläche  auch  nur  im  ersten  Grade  verbrannt  sind,  der  Tod 
ziemlich  schnell  eintritt  auf  eine  Weise,  die  bis  jetzt  pln^siologlsch  noch 
nicht  ganz  erklärbar  ist.  Die  so  Verletzten  verfallen  in  einen  Zustand 
von  Collapsus  mit  kleinem  Puls,  kühler,  abnorm  niedriger  Körpertempe- 
ratur, bekommen  Dyspnoe  und  sterben  innerhalb  weniger  Stunden  oder 
Tage.  In  anderen  Fällen  dauert  das  Leben  etwas  längere  Zeit ;  es  tritt 
der  Tod  zuweilen  unter  Hinzukommen  von  starken  Diarhöen,  in  seltenen 
Fällen  mit  Bildung  von  Geschwüren  im  Duodenum  dicht  hinter  dem 
Pylorus  ein,  eine  Complication,  welche  auch  bei  Septhämie  gelegentlich 
vorkommt.  Man  hat  den  rasch  eintretenden  Tod  bei  ausgedehnten  Ver- 
brennungen auf  verschiedene  Weise  zu  erklären  versucht:  zuerst,  indem 
mau  annahm,  dass  die  gleichzeitige  Reizung  fast  aller  peripherischen 
Nervenendigungen  in  der  Haut  als  Ueberreizung  auf  das  centrale  Nerven- 
system Avirke  und  daher  Paralyse  erzeuge,  dann,  dass  durch  die  Ver- 
brennung die  Hautperspiration  aufhöre  und  der  Tod  in  analoger  Weise 
zu  erklären  sei,  w^ie  bei  den  Thieren,  denen  man  die  ganze  Körper- 
oberfläche mit  einer  luftdichten  Schicht  etwa  von  Oelfarbe,  Kautschuk 
oder  Harzmasse  überzieht.     Man  nimmt  bei  letzterer  Hypothese  an,  dass 


9Q(]  Von  den  Verbrennungen  nnd  Erfrierungen. 

die  Aussclieiduiig'  g-ewisser  Substanzen  durch  die  Haut,  namentlich  von 
Ammoniak  durch  den  impermeabeln  Ueberzug  (wie  durch  die  Hautver- 
brennung) verhindert  wird,  und  so  eine  für  den  Organismus  tüdtliche 
Blutvergiftung  entsteht.  Endlich  könnten  die  Erscheinungen  auch  die 
Folge  einer  intensiven  phlogistischen  oder  septischen  (bei  Escharabildung) 
Intoxication  sein.  —  Sollte  die  Ausdehnung  der  Verbrennung  an  sich 
nicht  tüdtlich  wirken,  so  kann  doch  in  manchen  Fällen  die  grosse  Aus- 
dehnung der  Hautverluste  mit  der  dadurch  bedingten  Eiterung,  beson- 
ders für  Kinder  und  ältere  Leute,  gefährlich  w^erden,  so  wie  endlich  die 
bei  vollständiger  Verkohlung  einzelner  Extremitäten  nothwendigen  Am- 
putationen auch  eine  Eeihe  von  Gefahren  nach  sich  ziehen,  die  um  so 
bedeutender  werden,  als  sie  Individuen  treffen,  welche  durch  die  Ver- 
brennung bereits  stark  angegriffen  sind. 

Bei  der  Behandlung  der  Verbrennungen  kommt  es  für  den  ersten 
und  zweiten  Grad  mehr  darauf  an,  den  subjectiven  Beschwerden  des 
Kranken  lindernd  entgegen  zu  kommen,  als  irgendwie  energisch  einzu- 
greifen; denn  man  kann  auf  keine  Weise  die  Rückkehr  der  Hautbe- 
schaffenheit zum  Normalen  beschleunigen,  sondern  muss  den  Gang  der 
Abheilung  ganz  der  Natur  tiberlassen.  Sind  Blasen  vorhanden,  so  ist 
es  nicht  rathsam,  die  abgelöste  Epidermis  zu  entfernen,  sondern  man 
öffnet  die  Blasen  mit  ein  paar  Nadelstichen,  drückt  das  Serum  vorsichtig 
heraus,  um  das  durch  die  Blasen  veranlasste  spannende  Gefühl  zu  ver- 
mindern. Am  nächsten  liegt  es  nun  wohl,  die  verbrannten  Hautstellen 
durch  Auflegen  kalter  Compressen  oder  durch  Eintauchen  in  kaltes 
Wasser  abzukühlen.  Indess  findet  dies  gewöhnlich  nicht  sehr  viel  An- 
klang bei  den  Verletzten,  da  die  angewandte  Kälte  eine  durchaus  con- 
tinuirliche  und  ziemlich  intensive  sein  muss,  wenn  dadurch  die  Schmerzen 
erheblich  gelindert  werden  sollen.  Die  aufgelegten,  in  warmes  Wasser 
getauchten  Compressen  erwärmen  zu  schnell,  und  die  Immersion  in  kaltes 
Wasser  ist  nur  für  Extremitäten  anwendbar;  wollte  man  diesen  Ver- 
letzten ganze  Extremitäten  oder  den  ganzen  Stamm  alle  5  Minuten  (denn 
nur  so  könnte  von  Kältewirkung  die  Eede  sein)  kalt  einwickeln,  so 
würden  sie  durch  diese  fortwährende  Beunruhigung  bald  in  einen  Zustand 
grosser  iVufregung  gerathen  und  dann  collabiren;  so  kommt  es,  dass  die 
Anwendung  der  Kälte  bei  Verbrennungen  verhältnissmässig  wenig  in 
Gebrauch  ist.  —  Es  giebt  eine  sehr  grosse  Menge  von  ]\Iitteln,  welche 
bei  Verbrennungen  angewandt  werden,  Mittel,  welche  im  Wesentlichen 
nichts  anderes  bewirken,  als  eine  genaue  Bedeckung  der  entzündeten 
Haut:  das  Bestreichen  der  Haut  mit  Oel  und  das  Auflegen  von  Wntte 
ist  ein  sehr  allgemein  gebrauchtes  und  beliebtes  Älittel;  als  schützende 
Decke  wird  auf  die  verbraunte  Haut  auch  vielfach  Kartoffelbrei,  Kleister 
und  Collodiuni  angewandt.  Erstere  sind  mehr  als  Volksmiltel  zu  be- 
trachten; das  Collodium  kann  ich  bei  grossen  Brandflächen  nicht  sehr 
rühmen:  die  Collodialdecke  reisst  leicht  ein,  und  in  diesen  Rissen  wird 


Vorlosmio-  20.     Cnpifol  TX.  287 

die  Haut  wund  und  scliv  cniplindlicli.  Von  inanclicn  Acrzlcn  werden 
1'  besondere  Uraudsalben  und  l^iinnuMde  anstatt  des  Oeles  i;'el)r;ui('lit,  z.  I>. 
ein  Liniment  aus  Kalkwasser  und  Leinöl  zu  i;'leielien  Tiieilen  liesteliend, 
Salben  aus  Ikitter  und  Wachs  zu  gleichen  Theilcn,  Schweineschmalz, 
Aufbinden  einer  Speckschwarte  u.  s.  w.  —  Eine  andere  Art  der  Be- 
handlung- ist  dann  die  mit  einer  Solution  von  Argentuin  nitricum,  welche 
10  Gran  auf  die  Unze  Wasser  (0,500  Grms.  auf  50,00  Grms.)  enthält; 
man  bestreicht  hiermit  die  verbrannten  Hautstellen,  legt  Compressen 
darauf  und  hält  diese  durch  häufiges  Betupfen  mit  der  genannten 
Lösung-  fortwährend  feucht.  Ln  Anfang  ist  der  Schmerz  von  der  durch 
den  Höllenstein  bedingten  Aetzung  auf  den  von  Epidermis  entblössten 
Stellen  zuweilen  sehr  heftig;  es  bildet  sich  indess  bald  ein  dünner, 
schwarzbraun  g-efärbter  Schorf,  und  die  Schmerzen  liören  dann  vollkommen 
auf.  Diese  Behandlung  empfehle  ich  Hmen  besonders  für  diejenigen 
Fälle,  in  welchen  alle  drei  Grade  der  Verbrennung-  auf  eine  geringe 
Ausdehnung  mit  einander  combinirt  sind. 

Die  Behandlung  des   dritten  Grades  der  Verbrennung  unterscheidet 
sich  für  den  Fall,  dass  man  es  nur  mit  einer  Verbrennung-  der  Cutis  zu 
thun    hat    (die    Cutis    pflegt,    wenn    sie    durch    stralilende   Wärme    oder 
siedendes  Wasser  verbrannt    und   nicht   verkohlt  ist,    eine  ganz   weisse 
Färbung-  anzunehmen),    nicht  von  der  bisher  erwähnten.     Ist  es  später 
wttnschenswerth,   die  Loslösung'  der  Eschara  zu  beschleunigen  und  den 
Gestank  zu  verringern,   so    kann  man  antiseptische  Umschlag-swässer  in 
Anwendung-  ziehen;    die  Behandlung  mit  Arg-entum  nitricum  kann  man 
bis  zur  vollständigen  Ablösung   der  Eschara  fortführen.  —  Bleiben  nun 
sehr  grosse  Granulationsflächen  zurück,  zumal  an  Körperflächen,  welche 
vielfach  bewegt  werden,  und  an  denen  die  Nachbarhaut  nicht  sehr  ver- 
schiebbar ist,    so   kann  die  Heilung-  dieser  granulirenden  Flächen    eine 
sehr  lange  Zeit,  nicht  selten  viele  Monate  in  Anspruch  nehmen.     Es  bil- 
den sich  sehr  üppig  wuchernde  Granulationen,    bei   denen  die  Tendenz 
zur  Vernarbung  stets  eine  geringe  zu  sein  pflegt.    Von  den  früher  schon 
ang-egebenen  Mitteln,     durch  w^ eiche   wir   die   Heilung    solcher  Wunden 
zu  befördern  streben,  empfehle  ich  Ihnen  hier  ganz  besonders  die  Com- 
pression   dieser  Wunden   mit  Hülfe  von  Heftpflasterstreifen ,    welche    in 
vielen  dieser  Fälle  vortrefi'liche  Dienste  leistet.  —  Auch  bei  der  Behand- 
lung der  nach  diesen  Verbrennungen  zurückbleibenden  Narbeneontracturen 
ist  die  Compression  der  Narbensträng-e  mit  Heftpflaster  eines  der  wich- 
tigsten Mittel,    und  Sie  W' erden  immer   gut  thun,    dies  erst  consequent 
anzuwenden,   ehe  Sie  zum  Ausschneiden  der  Narbe  oder  zu  plastischen 
Operationen  ihre  Zuflucht  nehmen. 

Handelt  es  sich  bei  Verbrennungen  dritten  Grades  um  die  Verkohlung 
ganzer  Gliedmaassen,  so  w^ird  es  in  vielen  Fällen  zweckmässig-  sein, 
gleich  die  Amputation  vorzunehmen;  nicht  nur  w^eil  die  Abstossung- 
grosser  Körpertheile  an  sich  nicht  ohne  Gefahr  ist,  sondern  weil  dadurch 


9QÖ  Von  dpii  YerbreiiiiiingPTi  und  Evfrir-rnngen. 

auch  Stümpfe  entstellen  können,  welclie  zait  Ai)plicatiou  einer  kdnstlielien 
Extremität  untauglicli  sind. 

Werden  Sie  zu  einem  Fall  hing-erufen,  bei  dem  eine  Verbrennung- 
über  den  grössten  Theil  des  Körpers  Statt  gefunden  hat,  so  haben  Sie 
Ihre  ganze  Aufmerksamkeit  auf  den  Allgemeinzustand  des  Kranken  zu 
f'oncentriren,  und  müssen  sich  bemühen,  durch  Anwendung  leichter  Keiz- 
mittel:  Wein,  warmer  Getränke,  warmer  Bäder,  Aether,  Ammoniak,  dem 
CoUapsus  der  Kräfte  A^orzubeugen.  Leider  sind  in  den  meisten  dieser  Fälle 
unsre  Bemühungen  für  die  Erhaltung  des  Lebens  vergeblich.  Hebra  rülnnt 
für  die  Behandlung  ausgedehnter  Verbrennungen  die  coutiuuirlichen  warmen 
Bäder,  die  man  bei  geeigneten  Vorrichtungen  Wochen  lang  fortsetzen  kann. 


Durch  die  Sonnenstrahlen  können  bei  zarter  Haut  und  dauernder 
Exposition  des  Gesichts  und  Halses  geringe  Grade  von  Verbrennungen 
erzeugt  werden.  Bei  Gebirgs- Reisenden  liat  man  oft  Gelegenheit,  dies 
zu  beobachten;  wenn  Leute,  die  sonst  nicht  den  ganzen  Tag  in  der 
Sonne  sind,  besonders  Damen,  mehre  Tage  bei  hellem  Himmel  im 
Sommer  reisen  und  Gesicht  und  Hals  nicht  sorgfältig  schützen,  so  wird 
die  Haut  roth,  geschwollen,  sehr  schmerzhaft;  die  Epidermis  trocknet 
nach  drei  bis  vier  Tagen  zu  l)räunlichen  Krusten  ein,  bekommt  Risse 
und  blättert  ab.  Bei  andei-n  Individuen  mit  noch  reizbarerer  Haut  bilden 
sich  auch  wohl  Bläschen,  die  dann  später  abtrocknen,  ohne  jedoch 
Narben  zu  hinterlassen  (Eczema  solare).  Ausser  der  Prophylaxis  durch 
Schleier,  Sonnenschirme  u.  s.  w.  ist  es  gut,  die  Haut  auf  solchen  Berg- 
reisen mit  Gold  Cream  oder  Glycerin  zu  bestreichen;  die  gleichen  Mittel 
wendet  man  auch  bei  ausgebildetem  Sonnenbrand  an;  sind  die  ver- 
brannten Stellen  sehr  schmerzhaft,  so  macht  man  kalte  Umschläge. 

Ferner  müssen  wir  hier  des  Sonnenstichs  oder  Hitzschlags 
erwähnen.  Diese  Krankheit  kommt  in  unserm  Klima  fast  nur  bei  jüngeren 
Soldaten  vor,  wenn  sie  in  voller  Uniform  bei  sehr  grosser  Hitze  und 
klarem  Himmel  sehr  anstrengende  Märsche  machen  müssen.  Es  treten 
heftiges  Kopfweh,  Schwindel,  Unbesinnlichkeit,  Ohnmacht,  zuweilen  nach 
einigen  Stunden  der  Tod  ein.  Im  Orient,  besonders  in  Indien  ist  diese 
Krankheit  bei  den  englischen  Soldaten  nicht  selten;  es  giebt  ganz  acut 
verlaufende,  mit  tetanischen  Krämpfen  endigende  Fälle;  andere  treten 
mit  längeren  Prodromi  auf  und  ziehen  sich  in  die  Länge  unter  Erschei- 
nungen von  heftigem  Kopfweh,  brennend  heisser  Haut,  unendlicher  j\Iat- 
tigkeit  und  Abgeschlagenheit,  Herzklopfen,  einzelnen  Muskelzuckungen; 
auch  wenn  dieser  Zustand  in  Genesung  übergeht,  kommen  leicht  Rück- 
fälle. Die  an  Sonnenstich  Erkrankten  sind  zu  behandeln,  wie  Kranke 
mit  starken  Hirneongestioneu.  Kalte  Uebergiessungen,  Eisblase  auf  den 
Kopf,  Aufenthalt  in  einem  kühlen  Zinnner,  Abführmittel,  Blutegel  hinter 
den  Ohren  (Aderlässe  sollen  nach  den  Erfahrungen  englischer  Aerzte 
schädlich  sein),  Sinapismen  im  Nacken  sind  anzuwenden. 


Vorlcsuiii,^  20.     Capil,'!    \\. 
Auch   über  eleu  JUitzsehla 


289 


iiiusseu   wir    Iner  eniiiic; 


Ijeinei-kiiiig'cu 


machen,  Sic  huheu  wolil  Alle  sc]u)u  eiiiniMl  II;iuser  oder  Ijiluiiie  ge- 
sellen, in  welche  der  Blitz  eino'cschlai;,eu  hatte;  mau  sieht  gewöhnlich 
einen  grossen  Riss,  einen  Spalt  mit  verkohlten  liändern.  Auch  Meuschen 
und  Thiere  können  so  getroft'cu  werden,  dass  einzelne  Glieder  von 
ihnen  ahgelrennt  werden;  dies  ist  jedoch  nicht  immer  der  Fall;  meist 
fährt  dev  Blitz  am  Körper  entlang  hald  hierhin,  l)ald  dorthin,  die  Kleider 
werden  zerrissen,  auch  wohl  ganz  heruntergerissen  und  weggeschleudcrt; 
es  finden  sich  am  Körper  eigenthiindich  verzweigte  braunrothe  Zickzack- 
linien, die  nuin  bald  für  das  Bild  in  der  Nähe  stehender  Bäume,  bald 
für  durchschinunernde  IMutgeriunungen  in  den  Blutgefässen  gehalten  hat; 

Fi"-.  ()(;. 


Blitzfigureu  (iiaeli  Stricker). 
Billroth  chir.  P;it1i.  u.  Ther,    7.  Aufl. 


19 


9C)Q  Von  den  Verbreiiünna-pn  und  Erfriernngen. 

beides  ist  uuriclitig-:  man  weiss  iiiclit,  wanuii  der  Blitz  diese  eig-entbiua- 
lieheu  Wege  in  der  Haut  iiimivit.  Wird  ein  Mensch  direct  vom  Blitz 
g-etrotfen,  so  ist  er  meist  auf  der  Stelle  todt.  Schlägt  der  Blitz  in 
grosser  Nähe  ein,  so  finden  sich  am  Verletzten  Erscheinungen  von  Hirn- 
commotion  höheren  oder  geringeren  Grades.  Paralysen  einzelner  Glieder 
oder  Sinnesorgane,  auch  wohl  hie  und  da  Verbrennungen  und  Extra- 
vasate. Letztere  heilen  wie  andere  Verbrennungen  je  nach  Grad  und 
Ausdehnung;  die  Blitz-Paralysen  geben  im  Allgemeinen  keine  schlechte 
Prognose,  die  Nerven-  und  Mushelthätigkeit  kann  nach  längerer  oder 
kürzerer  Zeit  wiederkehren. 


Von  den  Erfrierungen. 

•  Man  kann  ganz  analog  den  Verbrennungen  auch  drei  Grade  der 
Erfrierungen  unterscheiden,  von  denen  der  erste  wieder  durch  Röthung 
der  Haut,  der  zweite  durch  Blasenbildung,  der  dritte  durch  Eschara- 
bildimg  charakterisirt  sind.  Der  erste  r^rad  der  Erfrierung  ist  ziemlich 
bekannt;  als  geringste  Stufe  desselben  können  Sie  das  sogenannte  Ab- 
sterben der  Finger  betrachten,  w^as  wohl  Jeder  von  Hmen  einmal  im  kalten 
Bade  oder  bei  kalter  Luft  gehabt  hat.  Die  Finger  werden  weiss,  die 
Haut  runzlich,  das  Gefühl  ist  beschränkt;  nach  einiger  Zeit  lassen  diese 
Erscheinungen  nach,  die  Haut  wird  roth,  die  Finger  schwellen,  und  es 
stellt  sich  ein  eigenthümliches  Jucken  und  Prickeln  ein.  Dies  steigert 
sich  um  so  mehr,  je  schneller  die  Wärme  auf  die  Kälte  folgt.  Die  Röthung 
der  Haut  bei  diesem  Grade  der  Erfrierung  unterscheidet  sich  von  der- 
jenigen bei  der  Verbrennung  durch  eine  mehr  violette  Färbung. 

Diese  Erscheinungen  lassen  nach  einiger  Zeit  wieder  nach  und  die 
Haut  wird  Avieder  normal.  Man  pflegt  für  gewöhnlich  nichts  bei  diesen 
geringen  Graden  der  Erfrierungen  anzuwenden,  widerrätli  jedoch  in  der 
Volkspraxis  ein  zu  schnelles  Erwärmen;  es  wird  Reiben  mit  Schnee 
empfohlen,  dann  allmählige  Erhöhung  der  Temperatur;  die  erwähnten 
Erscheinungen  sind  so  zu  erklären ,  dass  zunächst  die  Capillaren  durch 
die  Kälte  sich  stark  contrahiren  und  dann  für  eine  Zeit  lang  paralytisch 
werden. 

Eine  nach  einer  Erfrierung  folgende  Röthe  kann  unter  Umständen 
auch  bleibend  werden,  d.  h.  die  Capillaren  bleiben  dauernd  erweitert. 
Dies  erfolgt  besonders  leiciit  bei  Erfrierungen  der  Nase  und  der  Ohren, 
ist  in  vielen  Fällen  fast  ganz  unheilbar.  Ich  behandelte  in  Berlin  einen 
jungen  Manu,  der  nach  einer  Erfrierung  eine  dunkel  blaurothe  Nase 
zurückbehalten  hatte  und  auf  alle  Fälle  von  dieser  Entstellung  geheilt 
sein  wollte.     Er  setzte  die  verschiedeneu  Cureu  mit  grosser  Consequeuz 


VorlosmiK   ^>().      fiipilcl   IX.  291 

fort;  Aiiüing'S  lics.s  er  sicli  die  Nase  iiiil  Collodiiun  hestreiclicii,  woiiacli 
dieselbe  wie  Inokirt  aiissali,  uud  so  laiii^c  die  CollodiunideelsC  darauf 
lag-,  etwas  blasser  wurde,  indess  auf  die  Dauer  half  es  iiielit.  Dann  ^vnrdc 
die  Nase  mit  yerdiinnter  Salpetersäure  bestrichen,  ein  vielfa(tli  ,:^eriihnites 
Mittel,  wouach  die  Nase  eine  g'elblielie  Färbung-  bekam.  Naelidem  sich 
die  Epidermis  losgelöst  batte,  schien  das  Uel)el  wieder  auf  kurze.  Zeit 
gebessert-,  indess  bald  kehrte  es  zu  dem  Status  (|uo  ante  zurück.  Es 
wurden  jetzt  noch  Curen  mit  Jodtiuctur  und  Argcntum  uitricum  gemacht, 
wodurch  die  Nase  eine  Zeit  lang"  l)raunroth,  dann  l)raunseliwarz  gefärbt 
wairde.  Alle  diese  Farbenveränderungen  trug  der  Patient  mit  heroischer 
Geduld  zur  Schau;  indessen  die  widerspenstigen  Capillaren  bliel)cn  er- 
weitert und  die  Nase  bliel)  zuletzt  blauroth,  wie  sie  gewesen  war.  Ich 
dachte  noch  daran,  einen  Versuch  mit  Ai)plication  von  Kälte  zu  machen, 
indessen  fürchtete  ich  doch,  den  Zustand  möglicherweise  noch  zu  ver- 
schlimmern, und  musste  dem  Patienten  bei  dieser  tragikomischen  Ge- 
schichte nach  mehrmonatig'er  Cur  leider  bekennen,  dass  ich  seineu 
Zustand  nicht  heilen  könne.  —  Ebenso  g-rosse  Schwierigkeiten  wie  die 
Heilung-  solcher  Erfrierungen  kann  die  Cur  der  eigentlichen  Frostbeulen 
und  Frostbeulengeschwüre  bieten,  wovon  wir  gleich  noch  besonders 
sprechen  wollen. 

Von  viel  grösserer  Bedeutung  ist  eine  Erfrierung,  wenn  aussei-  der 
Hautröthe  auch  Blasen  entstanden  sind,  womit  dann  nicht  selten  eine 
vollständige  Gefühllosigkeit  der  betroffenen  Theile  verbunden  ist  und 
die  Gefahr  einer  vollständigen  Mortitication  immer  sehr  nahe  liegt.  Die 
Blasenbildung  bei  Erfrierungen  ist  pi-ognostisch  viel  übler,  wie  die 
Blasenbildung  bei  Verl)rennung-en.  Das  in  den  Frostblasen  enthaltene 
Serum  ist  selten  klar,  meist  von  blutiger  Färbung  und  zwar  durch  Blut- 
farbstoff den  die  rothen  Blutzellen  an  das  Serum  abgeg-eben  haben ; 
gefrornes  und  wieder  aufgethautes  Blut  bleibt  roth  (lackfarben.  Rollet) 
doch  trennt  sich  dabei  immer  das  Blutroth  von  den  Zellen.  —  Ein 
vollständig-  erfrornes  Glied  soll  ganz  starr  und  spröde  sein  und 
kleinere  Gliedtheile  sollen  bei  unsanfter  Berührung'  wie  Glas  abbreclieu 
können.  Ich  habe  nicht  Gelegenheit  gehabt,  dies  selbst  zu  prüfen, 
entsinne  mich  aber,  als  Student  in  der  Götting-er  ehirurg-ischen  Klinik 
einen  Mann  gesehen  zu  haben,  dessen  beide  Füsse  erfroren  waren  und 
sich  beim  Transport  ins  Krankenhaus  in  den  Fussg'elenkeu  spontan 
abgelöst  hatten,  so  dass  sie  nur  an  ein  paar  Seimen  hingen;  es 
musste  die  doppelte  Amputation  des  Unterschenkels  oberhalb  der  Malleoleu 
gemacht  werden.  Wie  weit  ein  Glied  vollständig-  erfroren  ist,  so  dass 
die  Circulation  in  ihm  vollständig-  aufgehört  hat,  lässt  sich  oft  eine  Zeit 
lang  gar  nicht  genau  bestimmen;  man  muss  in  Rücksicht  darauf  nicht 
zu  voreilig  mit  der  Amputation  sein.  Ich  habe  in  Zürich  zwei  Fälle 
erlebt,  wo  beide  Füsse  ganz  dunkelblau  und  gefühllos  waren  und  bei 
einem  tiefen  Nadelstich  sich  nur  ein  Tropfen  schwarzen  Blutes  entleerte, 

19* 


PQ9  Von   Jp'i   Verbreiiiiiinü;ou   imd  Erfriprnngeii. 

trotzdem  belebte  sieli  der  ganze  Fuss  und  es  stiessen  sich  nur  wenige 
Zehen  ab;  spätere  Erfahrungen  liaben  mich  freilich  belehrt,  dass  dies 
selten  ist.  Tu  einem  dritten  Falle,  wo  bei  einem  sehr  heruntergekonnue- 
neu  Subject  die  beiden  Füsse  bis  zur  Wade  dunkel  l)laurotli  und  mit 
Blasen  bedeckt  waren,  wurden  dieselben  Yollständig-  gangränös.  Ist 
ausgedehnte  Hautgaugrän  als  unzweifelhaft  erkannt,  so  muss  man  nicht 
mit  der  Amputation  zögern,  weil  diese  Patienten  sonst  leicht  pyohämisch 
werden.  Ein  Fall  traurigster  Art  kam  im  Spital  in  Zürich  zur  Beob- 
achtung; ein  junger,  kräftiger  Mann  erfror  beide  Hände  und  beide  Füsse, 
so  dass  alle  Extremitäten  gangränös  wurden;  der  Patient  konnte  sich 
nicht  zur  vierfachen  Amputation  entschliessen,  auch  konnte  ich  es  nicht 
über  mich  gewinnen,  ihn  zu  dieser  furchtbaren  Operation  zu  überreden; 
er  starb  an  Pyohämie. 

Besonders  die  Enden  der  Extremitäten,  die  Nasenspitze  und  die 
Ohren  sind  am  leichtesten  der  Erfrierung  ausgesetzt;  eng  anliegende 
Kleidungsstücke,  welche  den  Kreislauf  geniren,  befördern  die  Disposition 
zur  Erfrierung.  —  Bei  kaltem  Wind  und  bei  Kälte,  die  mit  Nässe  ver- 
bunden ist,  entstehen  leichter  Erfrierungen  als- bei  hohen  Kältegraden 
und  gleichzeitig  ruhigem  trocknem  Wetter. 

Es  giebt  auch  eine  totale  Erfrierung"  oder  Erstarrung  des  ganzen 
Körpers,  wobei  der  Mensch  besinnungslos  wird  und  in  einen  Zustand 
von  äusserst  beschränkten  Lebenserscheinung-en  verfällt:  der  Eadialpuls 
ist  nicht  mehr  fühlbar,  der  Herzschlag-  kaum  zu  hören,  die  Kespiration 
kaum  wahrnehmbar ;  der  ganze  Körper  eisig  kalt.  Dieser  Zustand  kann 
unmittelbar  in  den  Tod  übergehen;  es  kommt  dann  zu  einem  voll- 
ständigen Erstarren  aller  Flüssigkeiten  zu  Eis.  Eine  solche  allgemeine 
Erfrierung  findet  besonders  dann  Statt,  wenn  die  Individuen,  etwa  durch 
langes  Gehen  und  durch  die  Kälte  selbst  ermattet,  sich  im  Freien  nieder- 
legen; sie  schlafen  bald  ein,  um  in  manchen  Fällen  nie  mehr  zu  er- 
wachen. Wie  lange  ein  Mensch  in  einem  solchen  Erstarrungszustande 
bei  minimalen  Lebenserscheinungeu  verbleiben  kann,  um  dennoch  wieder 
zum  Leben  zurückzukehren,  ist  nicht  genau  festgestellt.  Man  findet 
erw^ähut,  dass  ein  solcher  Erstarrungszustand  bis  6  Tage  gedauert  habe. 
Mag  dies  nun  richtig  sein  oder  nicht,  so  sind  jedenfalls  die  Belebungs- 
versuche so  lange  fortzusetzen,  als  noch  eine  Spur  von  Herzschlag 
wahrzunehmen  ist. 

Beginnen  wir  die  Behandlung  der  Erfrierung  gleich  mit  diesen 
.allgemeinen  Erstarrungszuständen,  so  ist  hier  zu  bemerken,  dass  nach 
weitverbreiteter  Annahme  (ich  selbst  besitze  gar  keine  Erfahrung  über 
diese  sogenannte  Kälte -Asphyxie)  jeder  jähe  Uebergang  zu  höherer 
Temperatur  vei-mieden  werden  soll,  die  Temperatur  vielmehr  ganz  all- 
mählig  gesteigert  werden  nuiss.  Man  bringe  einen  solchen  Menschen  in 
ein  ganz  kaltes  Zimmer,  lege  ihn  in  ein  kaltes  Bett  und  mache 
Frottirungeu    des    ganzen   Körpers    mehre   Stunden    laug.     Als    geringe 


Vorle.-^mii.'   l>0.      {■n[>\{v\    IX.  21)3 

Eeizniittcl ,  wclclic  hier  i^ccignct  .siiul,  nenne  ich  Klysliere  v(tn  kaltem 
Wasser,  Vorhallen  von  Anniioniak.  Erst  allniählig',  wenn  der  Kranke 
zum  Bevvusstsein  g-ekoraiiien  ist,  erhöht  man  die  umii,cl)cndc  Temperatur, 
liält  ilin  nodi  eine  Zeit  lang-  in  einem  schwacli  ervväi'mten  Zimmer,  gie))t 
innerlieh  vorlänlig  nnr  lauwarme  Getränke.  So  wie  sicli  min  die  ver- 
schiedenen Theile  des  Körpers  nacli  einander  Avieder  hcleljen,  treten 
/Aiweilen  nicht  unerliebliche  Schmerzen  in  den  Gliedern  auf,  zumal  wenn 
die  Erwärmnng'  eine  etwas  zn  schnelle  ist,  nnd  man  thut  gnt,  in  diesem 
Fall  die  schmerzhaften  Körpertheilc  mit  ganz  kalten,  in  Wasser  ge- 
tränkten Tüchern  einznwickcln.  Stunden  und  Tage  lang  kann  sicli  der 
Patient  noch  in  einem  etwas  benonnnenen  und  unbesinnliclien  Zustande 
befinden,  der  sich  ganz  allmählig  verliert.  Man  hat  über  die  Wieder- 
belebung erstarrter  Thiere  in  neuerer  Zeit  Experimente  angestellt,  aus 
denen  hervorzugehen  scheint,  dass  die  Thiere  sicherer  vom  Tode  er- 
rettet werden  bei  raschem  als  bei  langsamem  Erwärmen;  ich  würde 
mich  vorläufig  nicht  entschliessen  können,  nach  diesen  Experimenten  an 
Thieren  von  den  Regeln  abzugehen,  wie  sie  sich  für  die  Behandlung 
erstarrter  Menschen  bisher  empirisch  ausgebildet  haben,  doch  ist  die 
Sache  einer  weiteren  Prüfung  werth.  —  Es  Avird  bei  solchen  allgemeinen 
Erfrierungen  selten  ohne  Verlust  einzelner  Gliedmaassen  oder  Theile 
derselben  abgehen,  und  ich  kann  Ihnen  in  Bezug  auf  die  Behandlung 
dieser  erfrorenen  Theile  nur  noch  wenig  hinzufügen.  Die  Blasen  werden 
aufgestochen  und  entleert;  Einwicklungen  der  Füsse  und  Hände  mit 
kalten  nassen  Tüchern  sind  am  Platz;  man  muss  nun  abwarten,  ob  und 
wie  weit  sich  Gangrän  ausbildet.  Geht  die  blaurothe  Färbung  allmählig 
in  eine  dunkle,  kirschrothe  über,  so  sind  die  Chancen  für  eine  Wieder- 
belebung äusserst  gering,  vielmehr  wird  meistenthcils  in  einem  solchen 
Falle  Gangrän  eintreten.  Auch  durch  die  Untersuchung  des  Gefühls  bei 
Nadelstichen  und  je  nach  dem  Ausfluss  von  Blut  ans  diesen  feinen  Stich- 
öffnungen sucht  mau  darüber  klar  zu  w^erden,  Avie  weit  das  Glied  als 
todt  zu  betrachten  ist;  indess  eine  bestimmte  Entscheidung  spricht  sich 
erst  dann  aus,  wenn  sich  die  Demarcationslinie  bildet,  d.  h.  w^enn  sich 
das  Todte  vom  Lebendigen  scharf  abgrenzt,  und  sich  an  der  Genze  des 
Brandigen  die  rosige  Entzündungsröthe  der  Haut  entwickelt.  Es  kann 
jedoch  der  Allgemeinzustand  schon  vor  der  exacten  Demarcation  recht 
gefährlich  werden,  man  zögere  daher  nicht  zu  lange  mit  der  Amputation, 
wenn  die  nach  der  Erfrierung  auftretende  Entzündung  einen  phlegmonös 
progredienten  Charakter  annimmt.  Man  kann  die  AJ)lösung  einzelner 
Zehen  und  Finger  sehr  wohl  sich  selbst  überlassen,  während  )iei 
brandigem  Absterben  eines  grösseren  Theils  von  Hand  und  Fuss  die 
Amputation  entschieden  vorzuziehen  ist. 

Es  geht  aus  den  neueren  Versuchen  von  Samuel  hervor,  dass  nach  gewissen  Graden 
von  Erfrierungen  eine  ganz  ächte  Entzündung  eintritt,  welche  dann  in  Entzündungsbrand, 
in    ächte  Gangrän    übergeht.     Aus    klinischen  Beobachtungen    war   es    mir    wohl  bekannt, 


294 


Von  den  Verbrennungen   und  Erfrierungen. 


dass  hier  ein  Vorgang  Statt  findet,  wie  man  ihn  bei  Verbrennungen  nicht  findet,  weil  die 
starlt  verbrannten  Gewebe,  auch  wenn  sie  nicht  verkohlt  sind,  schrumpfen,  und  das  Blut 
in  den  Gefässen  coagnlirt,  so  dass  das  nachströmende  arterielle  Blut  nicht  in  die  Gcfäss- 
canäle  eindrino-en  kann,  wenn  diese  auch  noch  in  ihrem  Zusammenhang  existiren.  Thaut 
ein  erfrorenes  Glied  auf,  so  kann  eine  Zeit  lang  das  arterielle  Blut  wieder  in  die  Gefäss- 
bahnen  eintreten,  und  es  wird  nun  davon  abhängen,  ob  die  Gefässwandungen  das  Blut  noch 
flüssio-  zu  erhalten  und  das  Gewebe  die  ihm  zukommenden  Bluttheile  noch  zu  verarbeiten 
im  Stande  sind  oder  nicht.  Wo  dies  der  Fall  ist,  kann  sieh  das  erfrorene  Glied  wieder 
beleben  wo  es  nicht  der  Fall  ist.  tritt  Gangrän  ein.  In  diesem  Uebergangsstadium  bleiben 
die  Venen  besonders  stark  ausgedehnt,  und  dies  mag  die  Stase  und  Thrombose  in  ihnen 
wesentlich  fördern.  Bergmann  empfiehlt  besondere  Aufmerksamkeit  der  Behandlung 
auf  dieses  Stadium  zu  verwenden ;  er  hat  durch  Anwendung  der  den  Rückfluss  des  Venen- 
blutes so  mächtig  fördernden  vertikalen  Suspension  der  Extremität  ausserordentlich  günstige 
Resultate  erzielt. 


Ich    will    liier    anhangsweise    auf    die    Frostbeulen    (Perniones) 
zurückkommen,  nicht  weil  sie  grade  besonders  gefährlich  werden  können, 
sondern   weil    sie    ein    höchst    lästiges    und  in  manchen  Fällen    ausser- 
ordentlich  schwierig    zu  heilendes  kleines   Uebel   sind,  für  welches   Sie 
als  guter  Haus-  und  Familienarzt  eine  ßeihe  von  Mitteln  in  Bereitschaft 
haben    müssen.      Die    Frostbeulen     sind    bedingt    durch    Paralyse    der 
Capillaren  mit  seröser  Exsudation  in  das  Gewebe  der  Cutis ;  es  sind,  wie 
den  meisten   von   Ihnen  bekannt  sein  wird,    blaurothe   Anschwellungen 
an  Händen  und  Füssen,   welche  durch  ihr  heftiges  Brennen  und  Jucken 
und  dadurch,    dass  sich  auf  ihnen  zuweilen  Geschwüre  bilden,    äusserst 
lästig    sind.     Sie    entstehen    durch    wiederholte  leichte   Erfrierungen    an 
einer  und  derselben  Stelle   und  treten  nicht  bei  allen  Menschen   gleich 
häufig  auf;    sie  sind  weniger  quälend  bei  recht  intensivem  Frostwetter, 
als  beim  Uebergang  vom  Frost-  zum  Thauwetter.     Legt  man  sich  Abends 
ins  Bett,  Vv^erden  Hände  und  Fasse  warm,  so  wird  das  Jucken  zuweilen 
so  fürchterlich,    dass  man  sich  Stunden   lang  die  Hände  und  Füsse  zer- 
kratzen  muss.     Im  Allgemeinen  ist  das  weibliche  Geschlecht  mehr  den 
Frostbeulen  ausgesetzt  als   das   männliche,    das  jugendliche  Alter  mehr 
als    das   höhere.     Beschäftigungen,    welche  zu   vielfachem  Wechsel    der 
Temperatur  Veranlassung  geben,  disponiren  besonders  dazu:  Handluugs- 
gehülfen,  Apotheker,  die  bald  im  warmen  Zimmer,  bald  im  kalten  Laden 
ihren   Aufenthalt    haben,    bekommen    am   häufigsten  Frostbeulen.     Kein 
Stand  ist  jedoch  davon   ausgeschlossen;    sowohl  Leute,    die  fortwährend 
Handschuhe    tragen    und    selten    im   Winter    ausgehen,    als  solche,    die 
niemals  Handscliulie   angezogen  haben,   können  davon  befallen  werden. 
Bei    dem    weiblichen   Geschlecht    scheinen   Chlorose    und  Meustruations- 
störungen  zuay eilen  dazu  zu  disponiren;  überhaupt  scheint  häufige  Wieder- 
kehr von  Frost])eulen  mit  Constitutionsauomalien  zusannnenzuhängen. 
AA^as  die  Behandlung  betritit,    so  ist  es  gewöhnlich  ausserordentlich 


V<iilrsmi<r  2[.     Capik'l   X.  295 

scliwicrii;',  die  in  Constitution  iiinl  nescliäftigTing'  liegenden  ursiu-liliclicn 
Momente  ym  I)ck:ini|)t('n;  iii;m  ist  dalier  vorwiegend  uiil'  örtliclie  Mittel 
angewiesen.  In  Italien,  wo  die  Frostbenlen  zienilieli  liäiitig  vorkonmien, 
so  wie  einmal  ein  vei'liältnissmässig  kälterer  Winter  eintritt,  iässt  man 
Abreibungen  mit  Seliuee  und  Eisüberschläge  machen.  I>ei  uns  ist  dies 
weniger  anwendbar  und  liilft  niclits,  oder  mildert  liöelisteus  das  Jucken 
auf  kurze  Zeit.  Eine  Salbe  mit  weissem  Quecksilbcrpräcipitat  (1  Drachme 
auf  1  Unze  Fett  oder  5,000  Grms.  auf  -10,00  tJrms.),  Einreiben  mit 
frischem  Citronensaft,  Bestreichen  mit  Salpetersäure  in  Zimmtwasser 
(1  Drachme  in  4  Uuzen  oder  5,000  Grms.  auf  150,00  Grms.),  eine  10  Gr. 
in  1  Unze  (oder  0,500  Grms.  in  50,00  Grms.)  Wasser  enthaltende  Solution 
von  Argentum  nitricum,  auch  Tinetura  Cantharidum  sind  Mittel,  die  Sic 
nach  einander  anwenden  können;  bald  hilft  das  eine,  bald  das  andere 
mehr;  Hand-  oder  Fussbäder  mit  Salzsäure  (etwa  1%  oder  2  Unzen  oder 
40,00  —  60,00  Grms.  zu  einem  Fussbad  10  Minuten  lang  gebraucht), 
Waschungen  mit  lufusum  Seminum  Sina})is  werden  cl)enfalls  gerühmt. 
Werden  die  Frostbeulen  auf  der  Oberfläche  wund,  so  sind  dieselben  mit 
Ungueutum  Zinci  oder  Argenti  nitrici  (1  Gr.  auf  1  Dr.  Fett  oder  0,050  Grms. 
auf  5,000  Grms.)  zu  bestreichen.  Ich  habe  Ihnen  hier  nur  einen  kleinen 
Theil  der  empfohlenen  Mittel  erwähnt,  deren  Wirkung  ich  grösstentheils 
selbst  erprobt  habe,  wenngleich  es  deren  nocli  eine  ganze  Menge  giebt; 
indess  werden  Sie  im  Anfang  Ihrer  Praxis  für  dieses  kleine  Uebel 
genug  an  den  genannten  haben.  — 


Vorlesung   2L 
CAPITEL   X. 

Voll  den  aiiiteu  iiiriit  traiiniati^^fliMi  EutziliKhuigen  der 

W  eiehtiieile. 

Allgemeine    Aetiologie    der   acuten    EiUzundiingen.    —    Acute  P^lnfziindinig:    1.    Der  Cutis. 

a.    Erysipelatöse    P:ntzüiidiing;     b.    Furunkel;     c.    Carbiinkel    (Antlu-ax.    Pu-^tula    maligna). 

2.    Der  Schleimhäute.     3.    Des  Zellgewebes.    Heisse   Abscesse.     4.    Der  Muskeln,     b.  Der 

serösen  Häute:     Sehnenscheiden  und  subcutanen  Schleimbeutel. 

Meine  Herren! 
Nachdem  wir  uns  bis  jetzt  ausschliesslich  mit  den  Verletzungen  be- 
schäftigt haben,  wollen  wir  nun  zu  den  acuten  Entziindungsproccssen 
übergehen,  welche  nicht  traumatischen  Ursprungs  sind.  Von  diesen 
fallen  diejenigen  der  Chirurgie  zu,  welche  in  äusseren  Körpertheilen 
vorkommen,    und   diejenigen,    welche,    wemigleich  in   inneren  Organen 


296  ^0"  ^^^  acuten  nicht  tranmatischen  Entzündungen  der  Weiclitheile. 

entstanden,  einer  chinivgischen  Behandlung-  zug-änglich  sind.  —  Obgleich 
ich  voraussetzen  miiss,  dass  Ihnen  die  Ursachen  der  Krankheiten  im 
Allgemeinen  bereits  bekannt  sind,  so  erscheint  es  mir  doch  nöthig,  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  den  zu  besprechenden  Gegenstand  einige 
ätiolog-ische  Bemerkungen  vorauszuschicken. 

Die  Ursachen  der  acuten,  nicht  traumatischen  Entzündungen  lassen 
sich  etwa  in  folgende  Kategorien  bringen : 

1.  Wiederholte  mechanische  oder  chemische  Reizung. 
Dies  Causalmoment  scheint  auf  den  ersten  Blick  mit  dem  Trauma  zu- 
sammenzufallen ;  es  ist  indess  doch  ein  wesentlicher  Unterschied,  ob  ein 
einmaliger  derartiger  Reiz  auf  das  Gewebe  einwirkt,  oder  ob  derselbe 
schnell  wiederholt  wird,  denn  in  letzterem  Falle  trifft  jedes  folgende 
Reizmoment  ein  schon  vorher  gereiztes  Gewebe.  Ein  Beispiel  wird 
Ihnen  dies  klar  machen.  Nehmen  Sie  an,  dass  Jemand  durch  einen  im 
Stiefel  oder  Schuh  vorspringenden  scharfen  Nagel  fortwährend  an  der 
gleichen  Stelle  am  Fuss  gerieben  wird,  so  wird  anfangs  eine  leichte 
Verwundung  entstehen  mit  ganz  circumscripter  Entzündung,  dann  wird 
sich  aber,  so  lauge  der  Reiz  fortdauert,  die  Entzündung  ausbreiten  und 
zugleich  imnler  intensiver  werden.  Halten  wir  daneben  ein  Beispiel 
wiederholter  chemischer  Reizung:  wenn  jemand  spanischen  Pfeffer  isst, 
so  entsteht  bei  einem  nicht  an  scharfe  Speisen  gewöhnten  Menschen  eine 
leicht  vorübergehende  Hyperämie  und  Schwellung  der  Mund-  und  Magen- 
schleimhaut; wollte  Jemand  den  Genuss  einer  so  scharfen  Speise  längere 
Zeit  rasch  hintereinander  fortsetzen,  so  würde  er  sich  eine  heftige 
Gastritis  zuziehen  können.  —  Solche  rasch  wiederholten  Reizungen 
kommen  freilich  mit  Ausnahme  des  zuerst  erwähnten  Beispiels  nicht 
grade  häufig  in  Praxi  vor;  dieselben  haben  aber  eine  grosse  Bedeutung 
für  die  Entstehung  chronischer  Entzündungsprocesse,  wenn  sie  nämlich, 
an  sich  vielleicht  unbedeutend,  auf  mehr  oder  weniger  geschwächte 
Theile  wirken ,  wir  müssen  später  darauf  zurückkommen. 

2.  Erkältung.  Jeder  von  Ihnen  w^eiss ,  dass  man  sich  durch 
Erkältung  mancherlei  Krankheiten,  zumal  acute  Catarrhe,  Gelenkent- 
zündungen, Lungenentzündungen  zuziehen  kann.  Worin  aber  eigentlich 
das  Schädliche  bei  einer  Erkältung  beruht,  welche  Veränderungen  dabei 
unmittelbar  in  den  Geweben  vor  sich  gehen,  das  wissen  wir  nicht.  Man 
beschuldigt  hauptsächlich  den  raschen  Temperaturwechsel  als  wesentliclte 
Ursache  der  Erkältung,  und  doch  kann  man  dadurch  experimentell  weder 
eine  Entzündung  noch  eine  andere  Erkältungskrankheit  erzeugen;  man 
erkältet  sich,  wenn  man  erhitzt  ist  und  dann  längere  Zeit  hintereinander 
vom  kalten  Zugwind  getroffen  Avird,  das  ist  eine  bekannte  Sache;  wer 
sieh  genau  beobachtet,  weiss  zuweilen  genau  den  Moment  zu  bestimmen, 
wann  die  Erkältung  bei  ihm  gehaftet  hat.  —  Es  giebt  rein  locale  Wir- 
kungen der  Erkältung :  z.  B.  es  sitzt  Jemand  lange  am  Fenster  und  wird 
an   der  dem  Fenster  zugewandten  Seite   des  Gesichts  von  kaltem  Zug- 


Vorlosimi;-  1*1.     Capilrl   X.  207 

wind  g'etroffon;  n.icli  ciiiii^'cn  Stmidcn  lickonmit  ci"  eine  Läliniung'  des 
N.  racialis;  wir  dürfen  annehmen,  dass  hiev  in  der  Nervensiibsfanz  niolo- 
cnlare  Veränderungen  vor  sicli  gegangen  sind,  durch  welche  das  Lei- 
tungsvernu")gcn  dieses  Nerven  aufgelioben  ist;  —  ein  Anderer  bckouimt 
in  gleichem  Falle  eine  Conjunctivitis  duvcli  die  längere  Einwirkung  der 
Zugluft.  Das  sind  rein  localo  Erkältungen.  —  Häufiger  ist  ein  nndci-cr 
Fall,  dass  nändich  nacli  einer  Erkältung  derjenige  Tlicil  erkrankt, 
welcher  bei  dem  beti-eft'enden  liulividuum  am  meisten  zu  Erkrankungen 
überhaupt  disponirt  ist;  der  „locus  niinoris  rcsistentiae".  Es  giebt  Leute, 
welche  nach  jeder  Art  der  Erkältung  acuten  Catarrli  der  Nase  (Schnupfen) 
bekommen,  andere,  welche  aus  gleicher  Ursache  stets  Magencatarrh,  andere, 
welche  Muskelschmerzen,  andere,  welche  Gelenkentzündungen  u.  s.  w. 
bekommen.  Da  nun  diese  Theile  keineswegs  immer  direct  von  der 
Schädlichkeitsursache  betroffen  werden  (z.  R.  wenn  Jemand  nasse  Füsse 
hat  und  den  Sclmupfcn  bekommt),  so  muss  man  wohl  annehmen,  dass 
der  Körper  als  Ganzes  dabei  betheiligt  ist,  und  sich  die  Wirkung  der 
schädlichen  Ursache  nur  an  dem  locus  minoris  resistentiae  geltend  macht. 
Ob  man  für  die  Vermittelung  und  Vertheilung  solcher  Schädlicld^eits- 
ursachen  auf  einen  si)cciellen  Körpertheil  mehr  die  Nerven  oder  mehr 
das  Blut  und  andere  Flüssigkeiten  des  Körpers  verantwortlich  zu  machen 
hat,  ist  eine  bis  jetzt  nicht  zu  entscheidende  Frage,  nach  welcher  sich 
die  Aerzte  in  die  grossen  Heerlager  der  Neuropathologen  und  Humoral- 
pathologen  tlieilen;  für  beide  Annahmen  lassen  sich  Gründe  anführen; 
ich  neige  mich  durchaus  mehr  zur  humoralen  Auffassung,  und  halte  es 
für  möglich,  dass  z.  B.  in  der  schwitzenden  Haut  durch  plötzlich  ein- 
wirkende Zugluft  chemische  Umsetzungen  entstehen  oder  zurückgehalten 
werden,  deren  Aufnahme  ins  Blut  nach  Art  eines  Giftes  bald  auf  dieses, 
bald  auf  jenes  Organ  phlogogen  wirkt,  wovon  gleich  mehr  zu  reden 
sein  wird.  Man  nennt  älterem  Sprachgebrauch  gemäss  diejenigen  p]nt- 
zündungen,  welche  durch  Erkältung  entstanden  sind,  „rheumatische"  (von 
Qsviiia^  derFluss);  dieser  Ausdruck  ist  indessen  so  viel  missbraucht  und 
so  in  Misskredit  gekommen,  dass  man  besser  thut,  ihn  nicht  zu  häufig 
zu  verwenden. 

3.  Toxische  und  miasmatische  Infection.  Wir  haben  schon 
früher  (pag.  175)  davon  gesprochen,  dass  feuchte  und  trockne,  eitrige  und 
putride  Substanzen  auf  eine  Wunde  gebracht,  heftige  progressive  Ent- 
zündungen erregen ,  wenn  solche  Substanzen  entweder  unmittelbar  nach 
der  Verletzung  ins  gesunde  Gewebe  eindringen,  oder  durch  die  Granu- 
lationen einer  Wunde  hindurch  unter  gewissen,  früher  erörterten  Bedin- 
gungen ins  Gewebe  gelangen.  Wir  haben  dabei  bereits  erwähnt,  dass 
möglicher  Weise  kleinste  Pilzvegetationen  Träger  und  Verbreiter  solcher 
Stoffe  sein  können,  ohne  aber  anzunehmen,  dass  die  Verbreitung  der 
acuten  Entzündungen  etwa  nur  durch  solche  Vegetationen  bedingt  seien. 
—  Der  Körper  ist  auf  seiner  Oberfläche  durch  die  Epidermis,  auf  seinen 


90^  Von  dfn  acuten  nicht  traumatischen  Entzündungen  der  Weichtheile. 

Schleimhäuten  durch  den  Schleim  und  dicke  Epitheliallager  gegen  den 
Eintritt  solclier  giftigen,  Entzündung  und  Blutvergiftung  erregenden 
Stoffe  so  ziemlich  geschützt,  doch  keineswegs  gänzlich  davor  bewahrt. 
Es  giebt  eine  Anzahl  von  giftigen  Stoffen,  welche  bald  durch  die  Haut, 
bald  durch  die  Schleimhäute  in  den  Körper  eindringen;  manche  von  ihnen 
bezeichnen  wir  direct  als  Gifte,  z.  B.  das  Secret  von  den  Rotzgeschwitren 
der  Pferde,  oder  von  den  Milzbrandpusteln  der  Rinder;  andere  ken- 
nen wir  nur  aus  ihrer  Wirkung,  aus  einigen  Bedingungen  ihrer  Entstehung: 
es  sind  unsiclitbare  Körper,  die  wir  „miasmatische  Gifte"  oder  kurzweg 
„Miasmen"  nennen  {i.tiaoi.ia^  Verunreinigung);  man  nimmt  an,  dass  sich 
diese  Miasmen  aus  faulenden  organischen  Körpern  entwickeln;  Einige 
halten  sie  füi"  Gase,  Andere  für  staubförmige  Körper,  noch  Andere  wie 
erwähnt,  für  kleinste  Organismen  oder  Keime  derselben.  —  Die  "Wirkung 
dieser  Gifte  ist  insofern  eine  verschiedene,  als  manche  von  ihnen  direct 
phlogogen  wirken,  andere  mehr  indirect,  nämlich  so:  es  giebt  Gifte, 
z.  B.  fauler  Eiter,  Leichengift,  welche  an  der  Stelle,  wo  sie  in  den 
Körper  eintreten  (an  dem  lufectionsatrium),  heftige  Entzündung  erregen ; 
andere  erregen  keine  Entzündung  da,  wo  sie  in  den  Organismus  ein- 
dringen, sondern  w^erden  unbemerkt  in  die  Blutmasse  aufgenommen  und 
wirken  nun,  mit  dem  Blute  durch  alle  Organe  circulirend,  nur  auf  einen 
oder  einige  Körpertheile  phlogogen;  diese  Gifte  sind  gewissermaassen  nur 
für  ganz  bestimmte  Organe  schädlich,  sie  wirken  „specifisch"  auf  diese.  Von 
der  Wirkung  dieser  Gifte  auf  etwaige  Umsetzungen  der  Gesammtblutmasse 
spreche  ich  hier  noch  nicht.  —  Wir  kennen  die  chemisch  wirksamen 
Bestandtheile  der  meisten  dieser  speci fisch  auf  ein  Organ  oder  auf 
bestimmte  Gewebe  wirkenden  Gifte  nicht,  wir  können  sie  nicht  eirculiren 
sehen,  wir  können  nicht  immer  sehen,  wie  sie  ihre  Wirkung  äussern. 
Sie  werden  mich  daher  mit  vollem  Recht  interpelliren ,  wie  es  kommt, 
dass  man  sich  über  die  Existenz  dieser  Dinge  mit  solcher  Sicherheit  aus- 
sprechen kann.  Freilich  schliessen  wir  hier  aus  der  Beobachtung  des 
Krankheitsprocesses  auf  die  Ursachen  uud  stützen  uns  dabei  wesentlich 
auf  die  Analogien  mit  andern  dem  Körper  absichtlich  zugeftthrten  Giften, 
namentlich  auf  die  Art  der  Wirkung  unserer  kräftigsten  Arzneien. 
Nehmen  Sie  die  Gruppe  der  narkotischen  Mittel:  sie  wirken  alle  bald 
mehr,  bald  weniger,  bald  früher,  bald  später  betäubend,  d.  h.  lähmend 
auf  die  psychischen  Functionen,  daneben  al)er  treten  die  sonderbarsten 
specifischen  Wirkungen  hervor;  die  Belladonna  wirkt  auf  die  Iris,  die 
Digitalis  aufs  Herz,  das  Opium  auf  den  Darmcanal  etc.  Aehnliches  be- 
obachten wir  bei  andern  Mitteln;  wir  k(tnnon  durch  wiederholte  G;il)en 
von  Cantharidin  Nierenentzündung,  durch  Quecksilber  Entzündung  der 
Mundschleimhaut  und  der  Speicheldrüsen  machen  u.  ;>.  w.,  mögen  wir 
diese  Mittel  durch  den  Magen,  durchs  Rectum  oder  durch  die  Haut  ins 
Blut  bringen.  So  giebt  es  nun  auch  eine  endlose  Zahl  bekannter  und 
unbekannter  organischer,  septischer  Gifte,  von  denen  viele,  wenn  auch 


Vorlesung  21.     Capilcl  X.  209 

• 

»  niclit  alle,  8))C('ifis('li  plilogogciic  Eigciii-cluincn  Imhcir,  icli  nenne  nur 
ein  Bci!<})icl :  spritzen  Sie  einem  Hunde  Jniicliige  FlüH.sigkeit  ins  lUul, 
so  wird  er  in  vielen  Fällen  aui^ser  der  direeten  IJlulintoxication  Enlerilis, 
rieuritis,  auch  vielleielil,  rericarditis  bekoninieu;  niiissen  wir  da  niclit 
annehmen,  day,s  in  der  injieirten  Fliisisigkeit  ein  odej'  vielleiclit  mehre 
Stot'l'e  enthalten  sind,  welehe  spccifiseh  phlogogen  aui' die  Darmsehleiui- 
liaut,  auf  Pleura  und  Perieardiunv  wirken?  —  So  lange  wir  nun  den 
Ort  des  Gifteintritts  kennen,  und  so  lange  wir  iil)cr  das  Gift  selljst  schon 
Erfahrungen  hal)en,  wird  iU)cr  die  Ursache  und  Wirkung  selten  ein 
Zweifel  sein.  Doch  wie  viele  Eälle  g-iebt  es,  wo  weder  das  eine  noch 
das  andere  vorliegt!  Ich  glaube,  dass  die  Infection  eine  noch  viel  häu- 
figere Quelle  für  Entzündungen,  sowohl  im  Gebiet  der  Chirurgie  als  der 
internen  Medicin  ist,  als  man  bisher  anzunehmen  pflegt. 


Auch  über  die  Formen  und  den  Verlauf  der  nicht  traumatischen 
Entzündungen  möchte  icli  nocb  einige  allgemeine  Bemerkungen  machen. 
Ich  hal)e  Ihnen  früher  gesagt,  dass  das  Charakteristisclie  der  trauma- 
tischen Entzündungen  darin  liege,  dass  sie  au  und  für  sich  innner  auf 
den  Bezirk  der  Verwundung  beschränkt  bleiben;  werden  sie  progressiv, 
so  haben  meist  neue  mechanische  oder  toxische  (septische)  Beize  ein- 
gewirkt. Darin  liegt  schon,  dass  die  durch  wiederholte  mechanische 
Beizungen  und  toxische  Wirkungen  primär  erzeugten  Entzündungen  eine 
Neigung  zur  Progression  oder  wenigstens  zu  diffusem  Auftreten  haben; 
ebenso  verhält  es  sich  mit  den  meisten  durch  Erkältung  entstandeneu 
Entzündungen,  welche  entweder  ein  ganzes  Organ  oder  einen  grösseren 
Bezirk  eines  Körpertheils  befallen.  Es  ist  dabei  natürlich  die  Intensität 
des  mechanischen  Bcizes  von  entscheidender  Bedeutung,  bei  den  toxischen 
Entzündungen  die  Qualität  und  Quantität  des  eingedrungenen  Giftes,  zu- 
meist seine  mehr  oder  weniger  fermentirende  Wirkung  auf  die  das  Ge- 
webe durchtränkenden  Säfte.  Was  die  durch  w'iederholte  mechanische 
Reizung  und  Erkältung  entstandenen  Entzündungen  betrifft,  so  hat  man 
nicht  immer  Grund  anzunehmen,  dass  die  Producte  derselben  irritirender 
wirken,  als  die  Producte  einfach  traumatischer  Entzündung;  doch  wenn 
bei  letzterer  der  betrotfene  Theil  absolut  ruhig  gestellt  wird,  und  durch 
die  Infiltration  des  Gewebes  in  der  Umgebung  der  Wunde  die  Lymph- 
gefässe  und  Gewebsinterstitien  abgeschlossen  werden,  so  ist  die  Weiter- 
verbreitung der  Entzündungsproducte  in  die  Umgebung  äusserst  erschwert; 
bei  wiederholter  mechanischer  Reizung  aber  kommt  das  Gewebe  gar 
nicht  in  Ruhe,  und  die  Entzündungsproducte  verbreiten  sich  daher  ohne 
Hinderniss  in  die  Umgebung  der  gereizten  Stelle  und  regen  hier  wie- 
der Entzündung  an;  bei  der  durch  Erkältung  entstehenden  Entzündung 
ergiesst  sich  nach  meiner  humoralen  Auffassung  die  materia  peccaus  etwa 
in  ein  ganzes  Organ   oder  einen  bestimmten   Gewebsbezirk,    und   dalier 


300  ^""  '^^'"  acuten  nicht  traumatischen  Entzündungen  der  AVeichtheile. 

sind  diese  Entzündung-en  meist  gleich  von  Anfang-  an  diffus.  Uehcv  die  Ur- 
sachen der  AYeiterverbreitung  acuter  Entzündungen  sind  wir 
noch  keineswegs  ganz  im  Klaren;  dass  die  anatomischen  Verhältnisse 
der  Gewebe,  die  Anordnung  ihrer  Fasern  etc.  eine  Eolle  dabei  spielen, 
ist  zweifellos;  doch  auch  individuelle  Dispositionen  und  das  Verhalten 
der  Kranken  (ob  sie  z.  B.  eine  schon  entzündete  Hand  trotz  heftigster 
Schmerzen  noch  zur  Arbeit  brauchen)  kommen  dabei  in  Betracht.  Vielleicht 
entwickelt  sich  bei  allen  acuten  Entzündungen  im  Entzüudungsheerd  ein 
Ferment- ähnlicher  Körper  (ein  Zymoid,  von  C<^'/"??  Sauei-teig-,  Hefe) 
welcher,  in  die  Gewebe  fortgeleitet,  nicht  nur  immer  neue  Entzündung 
erzeugt,  sondern  in  den  neuen  Entzündungsheerden  immer  wieder  aufs 
Neue  reproducirt  wird.  Ohne  diese  Hypothese  müssten  wir  annehmen, 
dass  der  phlogogene  Stoff,  welcher  den  ersten  Anfang  der  Entzündung 
hervorg-erufen  hat,  so  intensiv  giftig-  ist,  dass  er,  in  stärkster  Verdünnung- 
in das  Gewebe  verschleppt,  immer  noch  Entzündung-  erzeugt;  für  die 
acuten  Entzündungen,  welche  durch  mechanische  Irritation  hervorgerufen 
sind,  würde  diese  Annahme  niclit  w^ohl  zulässig  sein.  Es  ist  sehr  wichtig 
über  diese  Dinge  nachzudenken,  weil  die  Progression  acuter  Entzün- 
dungen eines  der  schlimmsten  Vorgänge  in  der  gesammteu  Pathologie 
ist.  —  Ist  aus  einem  bestehenden  Eutzündungshe  erd  ein  phlo- 
gogener Stoff  ins  Blut  eingetreten  und  wirkt  von  hier  aus  specifisch  auf 
ein  beliebiges  anderes  Organ,  so  nennen  wir  eine  auf  diesem  Wege  se- 
cundär  entstandene  Entzündung  eine  ,, metastatische";  solche  meta- 
statischen Entzündungen  können  aber  auch  noch  auf  eine  viel  gröbere 
Weise  unter  Vermittelung  von  inficirten  Blutgerinnseln,  die  aus  den  A'eneu 
irgend  wohin  gelangen,  entstehen,  Avovon  das  Näliere  bei  dem  Abschnitt 
von  der  Thrombose,  Enibolie  und  Phlebitis.  —  Die  niclit  traumatischen 
Entzündungen  können  ihren  Ausgang  in  Zertheilung,  in  feste  Organi- 
sation der  Entzündungsproducte,  in  Eiterung,  in  Brand  nehmen.  Wir 
wollen  dies  jedoch  hier  nicht  mehr  allgemein  behandeln,  sondern  jetzt 
auf  die  Entzündungen  der  einzelnen  Gewebssysteme  übergehen. 

1.  Acute  Entzündung  der  Cutis. 
Die  einfaclien  Formen  acuter  Entzündung  der  Cutis  (Flecken,  Quad- 
deln, Papeln,  Bläschen,  Pusteln),  welche  unter  dem  gemeinsamen  Kamen 
der  „acuten  Exantheme"  zusammengefasst  werden,  gehören  der  inneren 
Medicin  an.  Nur  die  erysipelatöse  Entzündung,  die  Furunkel  und  Car- 
Ituidvel,  pflegt  man  in  der  Chirurgie  zu  besprechen.  —  Während  man 
von  den  sogenannten  acuten  Exanthemen  annimmt,  dass  ihnen  die  Blut- 
intoxication  immer  vorausgeht,  dass  sie  also  „deuteropathisch"  cnlstelien, 
setzt  man  von  den  letztgenannten  Formen  der  Dermatitis  im  Allgemeinen 
voraus,  dass  sie  reine  Localleiden  sind,  und  ..protopathisch"  entstehen; 
in  wie  weit  dies  richtig  ist,  werden  wir  später  sehen.  ^  Es  ist  jedoch 
hier  sclion  zu  erwähnen,  dass  die  Cutis  sehr    häufk-   in   Mitleidenschaft 


VorlosuiiM-  21.     Cnpihtl  X.  301 

f  g-erätli  (liircli  Aiisl)rciUmi>'  eiil/.iiiulliclici-  Procosso  nuf  dem  Wege  der 
Contimiitüt,  zumal  solclier,  welche  im  riiteiliaulzcll^^ewebe,  in  den 
Muskeln  oder  selbst  im  Teriosl  und  in  den  Knochen  ihre  erste  Knt- 
steluing-  liaben. 

a)  Die  erysipelatöse  (sQVolnslag^  rotli  ausseilende  ilautenlziin- 
dung,  von  sqv&qoq  roth  und  nslag  Fell)  Entzündung  liat  ihren  Sitz 
vorziiglieli  in  der  ra])il]arscliielit  und  im  Kete  Maljjighii  der  ('utis;  starke, 
scliarf  begrenzte  llöthung  der  Cutis,  üdematöse  Seliwellung  derselben, 
Schmerz  bei  leiser  Berührung,  naclifolgende  Abschilferung  dei-  Epidermis 
sind  die  localen  Sym})tome,  zu  denen  ein  zuweilen  sehr  heftiges,  zu  der 
Ausbreitung  der  örtlichen  Erkrankung  ausser  Verhältniss  stehendes  Fieber 
sich  liinzugesellt;  die  Dauer  der  Krankheit  schwankt  zwischen  einem 
Tage  und  3  —  4  Wochen;  jeder  Theil  der  Haut  kann  davon  befallen 
werden,  doch  ist  das  spontan  auftretende  Erysipel  besonders  häufig  im 
Gesickt  und  am  Kopf.  Nach  Ansicht  mancher  Pathologen  ist  das  Ery- 
sipelas  Faciei  et  Capitis,  ähnlicli  wie  Scharlach,  Masern  etc.,  auch  als 
symptomatische  Hautentzündung  aufzufassen,  d.  h.  der  locale  Process 
wäre  nur  ein  Symptom  der  acuten  Allgemeinkrankheit  neben  anderen. 
Es  hätte  somit  die  Chirurgie  mit  der  erysipelatösen  Entzündung  ebenso 
wenig  zu  thun,  wie  mit  Scharlach,  Masern  etc.;  da  aber  die  erysipelatöse 
Entzündung  gerade  bei  Verwundeten,  und  zwar  um  die  Wunde  herum 
besonders  häutig  vorkommt,  also  eine  von  den  accidentellen  Wundkrank- 
lieiten  ist,  so  müssen  wir  uns  doch  genauer  damit  beschäftigen.  Ich  für 
meine  Person  und  mit  mir  die  meisten  modernen  Kliniker  halten  das 
E  r  y  s  i  p  e  1  a s  t  r  a  u  uj  a  t  i  c u  m  nicht  für  eine  symptomatische  Hautent- 
zündung, sondern  für  eine  Dermatitis,  welche  immer  durch  Infection  ent- 
steht, sei  es,  dass  diese  Infection  dem  Kranken  von  einem  Entzündungs- 
oder Fäulnissheerd  zugellt,  den  er  selbst  au  sich  trägt  (z.  B.  von  faulendem 
in  einem  Tlieil  einer  Wunde  eingeschlossenem  Blut)  sei  es  dass  sie  von 
aussen  an  ihn  kommt.  Wir  wollen  diese  Krankheit  später  bei  den  acciden- 
tellen Wundkrankheiten  genauer  abhandeln  und  begnügen  uns  daher  hier, 
sie  wegen  des  anatomischen  Zusammenhangs  mit  den  übrigen  Formen  der 
Dermatitis  vorläufig  berührt  zu  haben. 

b)  Der  Furunkel  oder  Blutschwär  ist  eine  eigenthümliche 
Entzündungsform  der  Cutis  von  meist  typischem  Verlauf.  Manchem  von 
Ihnen  mag  sie  aus  eigener  Anschauung  schon  bekannt  sein.  Es  ent- 
steht zuerst  ein  erbsen-  bis  bohnengrosser  Knoten  in  der  Haut,  roth 
gefärbt  und  ziemlich  empfindlich;  bald  zeigt  sich  auf  seiner  Höhe  ein 
kleiner,  w^eisser  Punkt,  die  Geschwulst  dehnt  sich  um  dieses  Centrum 
herum  aus  und  erreicht  für  gewöhnlich  etwa  die  Grösse  eines  Thalers, 
auch  etwas  darüber;  zuweilen  bleibt  der  Furunkel  auch  ganz  klein,  etwa 
wie  eine  Kirsche  gross.  Je  grösser  der  Furunkel  ist,  um  so  schmei'z- 
hafter  wird  er,  und  reizbare  Menschen  können  dabei  fieberhaft  werden. 
Ueberlässt  man  die  Sache  ganz  sich  selbst,  so  löst  sich  gegen  den  fünf- 


302  Yon  den  ariiten  nicht  traumatisflifn  Entziindnnpion  der  Weichtlieile. 

ten  Tag  der  oentralc,  weisi^e  Punkt  als  kleiner  Zapfen  herans,  uufl  ein 
mit  Blut  und  abgestossenen  Zellstotffetzen  g-emiscliter  Eiter  entleert  sich 
hei  leiclitem  Druck;  3 — 4  Tage  später  hört  die  Eiterung  ganz  auf,  Ge- 
schwulst und  Rötliung  verlieren  sicli  allmäldig,  und  es  bleibt  scliliesslicL 
eine  punktförmige,  kaum  sichtbare  Narbe  zurück. 

Man  hat  sehr  selten  Gelegenheit,  einen  solchen  Furunkel  in  der 
Zeit  seiner  ersten  Entstehung  zu  untersuchen,  da  nicht  leicht  Jemand 
an  einem  Furunkel  stirbt;  so  viel  man  aber  aus  der  ganzen  Entwicklung 
und  bei  Einschnitten  in  einen  solchen  Furunkel  wahrnimmt,  scheint  das 
Absterben  eines  kleinen  Stückes  Cutis  den  Ausgangspunkt  und  das  Centruui 
eines  Entzündungsprocesses  zu  bilden,  bei  welchem  schliesslich  das  Blut 
in  den  erweiterten  Capillargefässen  stockt,  das  Gewebe  der  Cutis  durch 
plastische  Infiltration  theils  zu  Eiter  verflüssigt,  theils  gangränös  abge- 
stossen  wird.  Schon  öfter  ist  die  Meinung  ausgesprochen,  dass  das 
nekrotisirende  Centrum  der  Furunkel  eine  Hautdrüse  sei;  nacli  Unter- 
suchungen von  Koch  mann  soll  es  vorwiegend  häufig  eine  Schweissdrüse 
sein,  in  und  um  welche  sich  eine  fibrinöse  Entzündung  bildet,  ohne  dass 
auch  gleiche  Erkrankungen  der  Talgdrüsen  ausgeschlossen  sind.  Das 
Eigenthümliche  dabei  ist,  dass  ein  solcher  Heerd  für  die  gewöhnlichen 
Fälle  w^enigstens  keine  grosse  Disposition  zu  einer  diffusen  Verbreitung 
hat,  sondern  der  ganze  Process  cireumscript  abläuft  und  mit  der  Ab- 
lösung des  erwähnten  kleinen  Hautzapfens  zu  Ende  zu  sein  pflegt. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  in  sehr  vielen  Fällen  die  Ursache 
für  die  Entstehung  einzelner  Furunkel  eine  rein  locale  ist.  Einzelne 
Hautstellen,  an  denen  die  Secretion  der  Hautdrüsen  besonders  stark  ist, 
wie  das  Perinäum,  die  Achselhöhlen,  sind  ganz  besonders  zur  Furunkel- 
bildung disponirt.  Auch  kommen  Furunkel  gerade  häufig  bei  solchen 
Leuten  vor,  welche  sehr  weite  Talgdrüsen  und  dadurch  sogenanute 
Finnen,  Mitesser  oder  Comedones  haben.  Unzweifelhaft  giebt  es  aber 
auch  allgemeine  Körperzustände,  Krankheiten  des  Blutes,  welche  zur 
Bildung  einer  grossen  Menge  Furunkel  an  den  verschiedensten  Körper- 
theilen  disponiren.  Man  nennt  diese  krankhafte  Diathese  Furunculosis; 
sie  kann  bei  längerem  Bestehen  sehr  erschöpfend  auf  den  Organismus 
wirken.  Die  Leute  werden  dabei  mager,  durch  Schmerzen  und  schlaf- 
lose Nächte  sehr  angegriffen;  Kinder  und  ältere  schwächliclie  Leute 
können  daran  sterben.  Es  ist  sehr  populär,  die  Furunkelbildung  mit 
Vollblütigkeit  und  Fettleibigkeit  in  Verbindung  zu  bringen;  mau  glaul)t, 
dass  sehr  fette  Nalirung  dazu  disponirt  mache.  Bei  mir  zu  Hause,  im 
Pommernlande,  nennt  mau  Leute,  die  viel  an  solcheu  Pusteln  und 
Furunkeln  leiden,  „süchtig".  Ob  die  Annahme,  dass  fette  Nahrung  be- 
sonders zur  Furunkelbildung  disponirt,  i-ichtig  ist,  möchte  ich  sehr  be- 
zweifeln. Sie  w^erden  finden,  dass  oft  gerade  recht  elende  atrophische 
Kinder  und  magere  kranke  Leute  von  Furunculosis  ergriffen  werden,  und 
wenn    auch    die    mangelhafte   Pflege    der  Haut    hierbei   in   Anschlag  zu 


Vorlcsnn.n-  21.      Cnpilcl    X.  303 

l)rini!,'eii  ist,  so  ist  sie  keincswc^'S  die  einzige  Ursache  für  die  Eiilsteliimg- 
der  Furunkel.  Es  ist  richtig',  dass  soiir  wohlgenährte  Fleischer  häutig 
von  Furunkeln  befallen  werden;  dies  kann  ninii  sich  jedoch  auf  andere 
Weise  als  durcli  zu  fette  Fleisehnahrung  erkläi-en,  denn  es  lässt  sich  nicht 
selten  nachweisen,  dass  die  Entstehung  der  Furunkel  l)ei  diesen  Leuten 
durcli  Intoxication  mit  Thierleichengift  oder  irgend  einem  Gifte  von 
kranken  Thieren  bedingt  ist,  wenigstens  muss  man  hierauf  stets  seine 
Aufmerksamkeit  lenken.  Uebertriel)en  lialte  ich  es  dagegen,  anzunehmen, 
dass  jeder  Furunkel  durch  Infection  bedingt  ist  und  immer  als  eine 
Theilerscheinung  einer  allgemeinen  eitrigen  Diathese,  einer  Pyohämie, 
betrachtet  werden  muss.  Koch  manu  vermuthet,  dass  die  allgemeine 
Furunkulosis  meist  ein  Symptom  von  Diabetes  ist;  wir  sprechen  Ijeim 
Carbunkel  gleich  mehr  davon. 

Die  Behandlung  des  einzelnen  Furunkels  ist  eine  einfache.  Man  hat 
versucht,  durch  frühzeitiges  Auflegen  von  Eisblasen  auf  den  Furunkel 
den  ganzen  Process  abzuschneiden,  so  dass  es  nicht  zur  Eiterung  kommt. 
Indessen  gelingt  dies  einerseits  selten  und  ist  andererseits  eine  mühsame, 
bei  den  Kranken  selten  beliebte  Behandlungsweise.  Ich  halte  es  immer 
noch  für  das  Beste,  durch  Avarme  feuchte  Ileberschläge  die  Eiterung 
möglichst  rasch  zu  befördern,  und  falls  sicli  der  Furunkel  nicht  zu  weit 
ausbreitet,  die  Loslösung  des  centralen  Zapfens  ruhig  abzuwarten,  dann 
den  Furunkel  sanft  auszudrücken  und  keine  weitere  Kunsthttlfe  anzu- 
wenden. Ist  der  Furunkel  sehr  gross  und  sind  die  Schmerzen  bedeutend, 
so  macht  man  mitten  durch  die  Geschwulst  einen  oder  zwei  sich  kreu- 
zende Schnitte;  es  wird  dann  durch  die  Entleerung  von  Blut  und  durch 
die  jetzt  schneller  eintretende  Eiterung  der  Process  in  seinem  natürlichen 
Gange  befördert  werden.  Vom  Volke  werden,  weil  das  Kataplasmiren 
umständlich  ist,  ruhiges  Verhalten  im  Hause  nöthig  macht  und  mit  Arbeits- 
verlust verbunden  ist,  oft  Pflaster  (Seifenpflaster,  Honig  mit  Mehl  und 
Safran  und  Aehnliches)  gebraucht,  denen  die  mysteriöse  Eigenschaft  zu- 
gesprochen wird,  den  Eiter  herauszuziehen;  ich  habe  nicht  gefunden, 
dass  solche  Pflaster  schädlich  wirken,  und  unterlasse  es  deshalb,  viel 
gegen  ihren  Gebrauch  zu  reden;  einen  besonderen  Nutzen  haben  sie  nicht. 
Die  allgemeine  Furunkulose  ist  eine  sehr  schwierig  mit  Erfolg  zu 
bekämpfende  Krankheit,  zumal  w'eil  wir  wenig  über  ihre  Ursache  wissen. 
Man  giebt  in  der  Regel  innerlich  Chinapräparate,  Mineralsäureu,  Eisen. 
Ausserdem  sind  allgemeine  warme  Bäder,  eine  Zeit  lang  consequent  fort- 
gesetzt, zu  empfehlen.  Ferner  ist  eine  streng  geregelte  Diät,  besonders 
eine  gute  kräftige  Fleischkost  mit  gutem  Wein  rathsam.  Die  einzelnen 
Furunkel  W'Crden  in  der  schon  erwähnten  Weise  behandelt. 

c)  Der  Carbunkel  und  die  carbunculöse  Entzündung 
Anthrax  (Carbunculus,  Kohlenbeule,  spätere  lateinische  Uebersetzung 
von  dem  älteren  av^gaB^  Kohle)  verhält  sich  anatomisch  wie  ein  Comples 
mehrfacher,   dicht  an  einander  liegender  Furunkel.     Der  ganze  Process 


304  ^'^""  ^"^^  acuten  niclit  iraumatisolien   Eiitzünd\m!^eii  der  Weiclitlieile. 

ist  extensiver  und  intensiver,  mehr  zur  allmäliligen  Prog-ression  geneigt, 
so  dass  auch  andere  Theile  dureli  eontinuirliclie  Verbreitung-  der  Ent- 
zündung in  Mitleidenschaft  gezogen  werden.  —  Viele  Carbunkel  sind 
wie  die  meisten  Fnrunkel  eine  nrsprünglicli  rein  locale  Krankheit;  ihr 
Hauptsitz  ist  in  der  derben  Rückenhaut,  znmal  älterer  Individuen.  Ent- 
stehung und  erste  Ausbreitung  ist  wie  ))eim  Furunkel.  Es  ijildeu  sicli 
jedoch  Itald  eine  grössere  Menge  weisser  Punkte  neben  einander,  und 
in  der  Peripherie  vergrössert  sieh  die  Anschwellung,  Pöthe  und  8ehmerz- 
haftigkeit  in  manchen  Fällen  so  unaufhörlich,  dass  die  ganze  Ausdehnung 
des  Carbunkels  bis  zur  Grosse  eines  Suppentellers  gedeihen  kann,  und 
während  in  der  Mitte  die  Auslösung  der  weissen  brandigen  Cutiszapfen 
erfolgt,  schreitet  in  der  Peripherie  der  Process  nicht  selten  fort;  diese 
Neigung  zur  peripheren  Progred  ienz  des  Processes  ist  charak- 
teristisch für  den  Anthrax,  und  unterscheidet  ihn  klinisch 
vom  Furunkel.  Die  Ausstossung  gangränösen  Gewebes  ist  beim  Car- 
bunkel eine  viel  bedeutendere  als  beim  Furunkel.  Die  Haut  erscheint 
nach  dem  Ausfall  der  Cutiszapfen  siebförmig  durchlöchert,  vereitert 
jedoch  nicht  selten  in  der  Folge  ganz,  so  dass  nach  einem  Carbunkel 
stets  eine  sehr  grosse  Narbe  zurückbleibt.  Der  ganze  Process  bleibt 
aber  selbst  bei  der  grössten  Intensität  fast  immer  auf  Haut  und  Unter- 
hautzellgewebe beschränkt;  es  gehört  zu  den  Seltenheiten,  dass  dabei 
die  Fascien  und  Muskeln  durch  Gangrän  zerstört  werden,  so  dass  bei 
einem  grossen  Carbunkel  in  der  Nähe  grosser  Arterienstämme  die  Gefahr 
einer  Zerstörung  der  Gefässwände  mehr  gefürchtet  wird,  als  dass  sie 
erfahruugsmässig  vorliegt. 

Es  ist  diese  Beschränkung  des  Processes  auf  die  Haut  und  das  Unterhautzellgewebe 
für  die  übrinösen  (diphtheritiselien)  Entzündungen  sein-  charakteristisch,  so  dass  ich  aus 
diesem  Grunde,  so  wie  wegen  der  harten  Infiltration  und  der  constanten  Necrose  des 
einmal  infiltrirten  Gewebes  niclit  anstehe,  den  Carbunkel  als  diphtheritische  Entzündung 
der  Haut  zu  bezeichnen.  Ob  sich  in  dem  frisch  ansgepressten  Saft  von  Carbunkeln 
Microeoccos  findet,  hatte  ich  bisher  keine  Gelegenheit  zu  untersuchen;  dass  sich  in  den 
nekrotischen  zu  Tage  liegenden  Fetzen  spärliche  Vegetationen  der  Art  finden,  kann  nichts 
für  die  Beziehung  der  Anthrax -Entstehung  zum  Microeoccos  beweisen.  —  Koch  mann 
ist  der  Ansicht,  dass  auch  die  Carbunkel  wie  die  Fmunkel  ursprünglich  um  eine  Schweiss- 
drüse  herum  entstehen,  oder  zugleich  um  mehre  nahe  bei  einander  liegende  Drüsen. 
J.  Neumann  unterscheidet  zwischen  einem  Hautdrüsencarbunkel  und  einem  Zellgewebs- 
carbunkel.  Ich  vermag  nicht  zu  entscheiden,  ob  solche  Unterschiede  gerechtfertigt  sind, 
da   ich   zu   selten   Gelegenheit   hatte,   C'arlninkel   in   ilircii   Anfangsstadien  zu   sehen. 

Nach  der  ausgedehnten  Abstossung  des  Zellgewebes  und  dem  end- 
lichen Stillstand  des  Processes  in  der  Peripherie  bildet  sich  dann  eine 
gesunde,  meist  sehr  üpjjige  Granulation  aus;  es  erfolgt  die  Heilung 
in  gewöhnlicher  Weise  in  einer  der  Grösse  der  Granulatioustiäche  ent- 
sprechenden Zeit. 

Der  Verlauf  der  gewöhnlichen  Carbunkel  am  Rücken  ist  ein  lang- 
wieriger und  schmerzhafter,  doch  tritt  selten  der  Tod  ein.     Es  giebt  aber 


N'oricsiiii!.:;    :!  I .      (';i|,iicl    \.  ;»()5 

KüUc,    besonders   wenn   der  Curl)uiikel    oder  eine   dilTiise,   carl)iinkul<)se 
Mnlziindung-  im  IJereielie  des  Cesielites  oder  Kopfes  luillriti,  die  iViili/.eili.i;- 
nüt  septischen,   wie  uian  iVillier  zu  s;ii;'en  p(lei;'l:{!,  „typhösen"  lu-seheiiuin,:;-en 
(nicht   iiinncr    mit    lioheu  Fieherlemperaturen)   verhnndeii    siml    und    selir 
ü,er;ihrlieh,     meist    lödtlicli     verhuifen    (C;irhLincidus    in;ilii;'nr.s,     l'ustulu 
mnlii^'na).     Nicht   alU;  Cai-bunkel    im  (Jesichi    sind    von   diestir  ))('»sartii4'en 
Ik'schairenheit;  einige  nehmen  den  i;'anz  i;ewöliidichen  Verhiul"  und  lassen 
eben    nur   eine  entstellemle  Narbe  zurück;   da,  es  indess  sein-  scll^vieri,^•, 
oft  yanz  unmöi^iich   ist,  im  ersten  Antang-  vorauszusai;en,  \\ie  die  Sache 
verlauleu  wird,  so  rathc  ich  llinen,  stets  vorsichtiii,'  mit  der  l'rog-m)se  zu 
sein.     Ich   habe  leider   über   diese  Carbunkel   im   Ijereiche   des   Cesichts 
einig'e  so  traurii;-e  Erl'ahrung-en  i^'emacht,  dass  ich  jede  Ai'l'ection  der  Art 
mit  der  g'rössten  Sori^'c  und  Angst  um  das  Leben  des  Patienten  beti-achte. 
Lassen  Sie  mich  kurz   solche   Fälle  mittlieilen.     Ein  jnnger,    kriU'tiger, 
l)lühcnder  Mensch   bekam   auf  einer  Iveise  nach  Berlin    oime    bekannte 
Veranlassung-  eine   schmerzhafte  Anschwellung   an  der  Unterlippe;    die- 
selbe vergrösserte  sich  rascli  und   verbreitete   sich  bald  über  die  g-anze 
Lippe,   während  der  Patient  heftig  fieberte.     Der  zugerufene  Arzt  Hess 
Kataplasmen    maclien    und    schien    die  Bedeutung-    der   Krankheit  nieht 
hoch   genug  gescliätzt   zu   liaben,    da  er   den  Patienten  zwei  Tage   gar 
niclit  besuchte.     Am   dritten  Tage,    nachdem    das   Gesiclit    stark    ang-e- 
schwollen  war  und  der  Kranke  einen  heftigen  Schüttelfrost  gehabt  hatte, 
daneben  viel  delirirte,  w^urde  er  in  die  chirurgische  Klinik  gebracht.     Ich 
fand    die  Lippe  dunkel  blauroth   und   von   einer  grossen  Menge  weissei" 
gangränöser  Hautstellen  durchsetzt.     Sofort  wurden  selir  viele  Einschnitte 
gemacht,  die  Wunden  mit  Chlorwasser  verbunden,  darüber  Kata])lasmen 
applicirt   und   eine  Eisblase   auf  den   Kopf  geleg't,    weil  Meningitis    im 
Anzüge  war.     Ich  hatte  den  Zustand  schon,    als  ich  den  Patienten  sah, 
für  hoffnungslos  erklärt.     Der  Kranke  verfiel  bald  in  einen  tiefen  Sopor 
und  starb  24  Stunden  später,  4  Tag-e  nach  dem  Anfang-  des  Carbunkels 
an  der  Unterlippe.     Die  Section  wurde  leider  verweigert. 

Nocli  einen  andern  Fall  will  ich  erwähnen:  Kin  Student  in  Zih'i<'li  erhielt;  einen 
Schlägerhieb  auf  die  linke  Seheitelbeingegeud.  Die  Wunde  heilte,  dhne  irgend  etwas 
Auffallendes  zu  zeigen;  doch  dauerte  der  definitive  Sehluss  derselhini  sehr  lauge.  Es  blieb 
eine  kleine  offene  Winide  lange  Zeit  zurück,  die  so  unbedeuti'iid  war,  dass  der  Kranke 
ihrer  nicht  achtete.  Starke  Anstrengungen  bei  den  Feehtübungcn  und  vielleicht  eine 
hinzugekomniene  Erkältung  niügen  die  Gelegenheitsursaehe  fiir '  die  folgende  Katastrophe 
abgegeben  haben.  Der  junge  Mann  erwachte  eines  Morgens  mit  ziendich  heftigem  Schmerz 
in  der  Narbe  und  allgemeinem  KranklieitsgefüliI;  eine  rosige  liotlie  und  im  Anfang  massige 
Anschwellung  der  Kopfhaut  Hessen  die  Entwicklung  eines  einfachen  Erysipelas  capitis 
erwarten.  Indess  steigerte  sich  doch  das  Fieber,  ohne  dass  sich  die  Eitthung  über  den 
ganzen  Kopf  ausbreitete,  in  einer  ungeAvöhnlichen  Weise.  Es  trat  ein  Schüttelfrost  ein 
und  der  Kranke  delirirte  heftig.  Als  derselbe  am  dritten  Tage  in  das  Spital  gebracht 
wurde,  fand  icli  in  der  Umgebung  der  Narbe  eine  Menge  kleiner  weisser  Funkte,  die 
mich  sofort  erkennen  Hessen,  dass  es  sich  hier  um  eine  carbunkulöse  Entzündung  handle; 
da  der  Patient  vollständig  besinnungslos  war  und  eine  Complieation  mit  Entzündung  der 
liiUrotli  cliir.  ratu.  u.  Tlicrap.    7.  AuU.  ^(J 


SOG  ^'^""   ^'""   '"■"*'""   'i''''i*   traiiiiiatisclien   E)i(ziirH]iiiiL';i'n   dfv  "Wi-iclitlif-ile. 

Hiriiliäute  mir  au.s  verschiedenen  Gründen  selir  walirsclieinlich  erscliien,  inaclite  ich  nur 
wenir^e  Hoffnuii!:;  auf  Genesung,  traf  die  nüthigen  Anordnungen,  fand  aber  schon  am 
f()h"-enden  'J'ag  den  Ivranken  nii-ht  mein-  lebend.  Die  Sectinn  zeigte  in  der  entzündeten 
Kopfliaulnarbe  verseliiedene  weisse  gangränöse  Heerde:  bei  weiterer  Untersucliung  fanden 
siili  die  nächstgelegenen  Venen  durch  Gerinnsel  verstopft  und  an  ihnen  entlang  das  um- 
u-ebende  Zellgewebe  geschwellt  und  theilweise  mit  Eiterpunkten  durchsetzt.  Ich  konnte 
diese  Venenerkrankung  nach  vorn  bis  an  die  Augenhöhle  verfolgen,  nnterliess  jedoch  hier 
die  weitere  Untersuchung,  w^eil  ich  das  Auge  nicht  verletzen  wollte.  Nach  Eröfiriung  des 
Schädels  zeigte  sich,  sobald  das  Hirn  herausgenommen  war,  in  der  vorderen  linken  Schädel- 
höhle eine  etwa  thalergrosse,  massig  entzündete  Stelle;  die  Erkrankung  beti-af  sowohl  die 
harte  als  die  Aveiche  Hirnhaut,  drang  auch  noch  etAvas  in  die  Oberfläche  der  Hirnsubstanz 
selbst  ein.  Es  unterlag  keinem  Zweifel,  dass  die  Entzündung  von  der  Narbe  am  Kopfe 
ausgegangen,  sich  an  einer  Stirnvene  entlang  bis  in  das  Zellgewebe  der  Orbita  und  von 
hier  durch  das  Foraniem  opticum  und  die  Fissura  orbitalis  superior  in  den  Schädel  hinein 
verbreitet  hatte. 

Die  hier  beschriebene  Entzündung  kann  nicht  gradezu  als  Anthrax  bezeichnet  werden, 
sondern  eher  als  eine  dem  Anthrax-Process  ähnliche  Entzündungsform  der  Cutis  und  des 
Unterhautzellgewebes,  die  ich  nach  meineii  jetzigen  Erfahrungen  diphtheritische  Plilögmone 
nennen  möchte;  auch  die  damit  verbundene  erysipelatöse  Eöthe  stimmt  zu  Diphtheritis. 
Wir  haben  später  mehr  davon  zu  sprechen. 

In  vielen  Fällen  von  bösartigem  Carbunkel  im  Gesicht  wird  man 
bei  recht  g-enauer  Untersuchung  eine  solche  Verbreitung  der  Entzündung 
in  die  Schädelliöhle  und  eine  dadurch  vermittelte  Erkrankung  des 
Gehirns  finden.  Indess  muss  ich  Ihnen  doch  dabei  bemerken,  dass  die 
Ausdehnung  dieser  Entzündung ,^  wie  wir  sie  an  der  Leiche  finden, 
durchaus  in  keinem  Verhältniss  steht  zu  der  enormen  Heftigkeit  der 
allgemeinen  Erscheinungen,  so  dass  letztere  durch  den  Sectiousbefund 
keineswegs  ganz  aufgeklärt  werden.  Ja  es  giebt  Fälle,  und  gerade 
zuweilen  die  am  schnellsten  verlaufenden,  in  welchen  der  Tod  eintritt, 
ohne  dass  man  überhaupt  irgend  etwas  Krankliaftes  am  Gehirn  findet. 
Hier  hat  nun  die  Hypothese  einen  weiten  Spielraum;  bei  dem  raschen 
stürmischen  Verlauf  und  bei  dem  schnellen  Uebergang  der  carbunkulösen 
Entzündung  in  brandigen  Zerfall  denkt  man  besonders  an  eine  rasch 
eintretende  Blutzersetzung,  wobei  man  den  Carbunkel  selbst  schon  als 
Folge  oder  als  Ursache  ansehen  kann.  Da  nun  die  Blutzersetzung 
wiederum  eine  Ursache  haben  muss,  so  hat  man  supponirt,  dass  etwa 
z.  B.  ein  lusect,  welches  auf  irgend  einem  Aas  oder  an  der  Xase  eines 
rotzigen  Pferdes,  auf  einer  milzbraudigen  Kuh  u.  dgl.  gesessen  hat, 
gleich  darauf  den  Menschen  berührt  und  ihn  auf  diese  ^^^eise  inficirt  habe ; 
denn  dass  besonders  durch  Milzbrandgift  bösartige  Carbunkel  entstehen, 
werden  Sie  später  erfahren.  Es  sind  mir  keine  Fälle  bekannt,  in 
welchen  dieser  Vorgang  wirklich  coustatirt  gewesen  wäre,  indessen  halte 
ich  dieselben  als  einzelne  Vorkommnisse  nicht  für  unmöglich;  es  spricht 
für  eine  solche  Annahme  der  Umstand,  dass  diese  Carbunkel  besonders 
an  gewöhnlieh  entblössten  KÖrpertheilen  vorkommen.  Jedenfalls  ist  das 
heitige  Fieber  und  die  tödtliche  Blutinfection  schon  Folge  des  örtlichen 
Processes;  man  muss  daher  wohl  annehmen,  dass  in  diesen  Carbuukelu 


unter  g'ewisscn,  nicht  näJicr  bekannten  Verliültnisscn  Stoffe  von  Ije.sondei-s 
intensiver  Giftig-keit  gebildet  werden,  duicli  deren  llesorjjtion  der  Tod 
lierbeiyefiilirt  wird.  Ininierliin  l)leibt  die  Entsteluuii^'sur.saclie  dieser 
bösartigen  Carbunkel,  für  die  meisten  Fälle  äusserst  dunkel.  -  Die 
grosse  Differenz  der  Allgenieinerseheinung-en  beim  Anthrax  stimmt  nach 
meinen  jetzigen  Erfahrung-en  auch  sehr  gut  zu  der  Annalime,  dass  diese 
Erkrankung-  in  die  Kateg'orie  der  diphtlieritischen  Proeesse  g-chört,  bei 
denen  es  grade  cliarakteristisch  ist,  dass  ihre  locale  Ausbreitung-  durchaus 
nicht  immer  zur  Intensität  der  allgemeinen  toxischen  >]i-scheinuiigen 
steht.  Ob  Lähmungen  imch  Anthrax  vorgekommen  sind,  wie  sie  nach 
Eachen-  und  Kehlkopfdiphtherie  so  oft  beobachtet  werden,  ist  mir  nicht 
bekannt.  —  Auch  bei  Diabetes  mellitus  und  Uraemie  kommt  die  Ent- 
wicklung von  Carbunkeln  vor',  so  wie  bei  den  spontan  an  gesunden 
Menschen  sich  entwickelnden  Furunkeln  und  Carbunkeln  Zucker  im  Harn 
beobachtet  ist  (Wagner),  räthselbafte  Dinge!  Nach  Seegen  sind  diese 
letzteren  Beobachtungen  so  zu  deuten,  dass  die  an  Carbunkel  Erkrankten 
nur  scheinbar  gesund  waren;  es  sei  wahrscheinlich,  dass  sie  schon  vorher 
Diabetes  milderen  Grades  hatten,  ohne  dass  es  ihnen  oder  ihrem  Arzte 
bekannt  war.  —  Zum  Glück  sind  die  Carbunkel  nicht  sehr  häufig;  auch 
die  einfachen  gutartigen  Carbunkel  sind  so  selten,  dass  ich  selbst  in  der 
ausgedehnten  chirurgischen  Poliklinik  Berlins,  wo  in  jedem  Jahre 
zwischen  5 — 6000  Kranke  an  mir  vorübergingen,  nur  etwa  alle  zAvei 
Jahre  einen  Carbunkel  gesehen  habe.  Auch  in  Zürich  waren  Carbunkel 
äusserst  selten.  Ueber  die  Häufigkeit  dieser  Krankheit  hier  in  Wien 
habe  ich  kein  Urtheil,  da  diese  Fälle  meist  auf  die  Abtheilung  für 
Hautkrankheiten  verwiesen  werden.  —  Die  Diagnose  des  gewöhnlichen 
Carbunkels  ist  nicht  schwer,  zumal  wenn  man  das  Ding  erst  einmal 
gesehen  hat;  eine  diffuse  carbunkulöse  Entzündung  kann  erst  nach 
einiger  Beobachtungszeit  erkannt  werden;  sie  zeigt  anfangs  nur  das 
Bild  des  Erysipels. 

Die  Behandlung  der  Carbunkel  muss  eine  recht  energische  sein, 
wenn  das  Uebel  nicht  zu  weit  vorschreiten  soll.  Wie  bei  allen  Entzün- 
dungen, die  zu  Gangrän  disponiren,  müssen  frühzeitig  viele  Einschnitte 
gemacht  werden,  damit  die  zersetzten  fauligen  Gew^ebe  und  Flüssigkeiten 
sich  entleeren  können.  Sie  machen  daher  bei  jedem  Carbunkel  grosse, 
die  ganze  Dicke  der  Cutis  durchdringende,  sich  kreuzende  Schnitte,  die 
so  lang  sein  müssen,  dass  die  infiltrirte  Haut  ganz  durch,  bis  in  die  gesunde 
Haut  hinein  gespalten  wird.  Reicht  dies  noch  nicht  aus,  so  machen  Sie 
daneben  noch  einige  andere  Schnitte,  besonders  da,  wo  sich  die  Gangrän 
der  Haut  durch  die  weissen  Punkte  zu  erkennen  giebt.  Die  Blutung  ist 
bei  diesen  Schnitten  verhältnissmässig  unbedeutend,  Aveil  das  Blut  in  den 
meisten  Gefässen  des  Carbunkels  geronnen  ist.  In  die  Schnitte  legen 
Sie  Charpie,  die  in  Chlorwasser  getränkt  ist  und  alle  2 — 3  Stunden 
erneuert  wird.     Beginnt  das  Gewebe  sich  zu  lösen,  so  ziehen  Sie  täglich 

20^^= 


H08  Von   den    aciifcii   nicht   IraiiiiialisclM-ii    iMilzündiniL^eii   di-r  AW-ichtlieile. 

mit  einer  Pincette  die  lialba1)g-clüsten  Fetzen  ab,  schneiden  sie,  ohne 
Blutung-  zu  evzeug-en  fovt,  und  suchen  dadurch  die  Reinig-ung;  der 
Wunde  mög-lichst  zu  l>eschleunigen.  —  Bald  wei-dcn  sich  hier  und  dort 
kräftige  Granulationen  zeigen;  endlich  lösen  sich  die  letzten  Fetzen  ab 
und  es  bleibt  eine  bienenwabenartige,  löcherige  Granulationsfläche  zurück, 
die  sich  bald  ebnet  und  später  auf  gewöhnliche  Weise  benarbt,  so  dass 
sie  nur  wenig  Unterstützung  zur  Heilung  durch  Lapis  infernalis  Avie 
andere  Granulationsflächen  bedarf.  —  Was  die  bösartigen  Carbunkel 
betrifft,  so  ist  die  locale  Behandlung  ganz  dieselbe,  wie  die  eben  be- 
schriebene. Gegen  die  schnell  auftretenden  Hirnaffectionen  kann  man 
nichts  anderes  thun,  als  eine  Eisblase  auf  den  Kopf  appliren.  Innerlich 
giebt  man  gewöhnlich  Chinin,  Säuren  und  andere  antiseptische  Mittel. 
Leider  muss  ich  Ihnen  Jedoch  gestehen,  dass  die  Erfolge  dieser  Thera])ie 
ausserordentlich  gering  sind;  mir  ist  aus  eigener  Erfahrung  kein  Fall 
bekannt,  in  welchem  es  gelungen  wäre,  bei  einiger  Maasseu  entwickelter 
Septhaemie  den  tödtlichen  Ausgang  abzuwenden,  was  um  so  deprimiren- 
der  ist,  als  diese  bösartigen  Carbunkel  gewöhnlich  jugendliche  kräftige 
Individuen  befallen.  Selbst  für  den  Fall,  dass  der  Ausgang  quoad 
vitam  ein  günstiger  ist,  wird  jedenfalls  ein  bedeutender  Verlust  der 
Haut  entstehen  und  bedeutende  Entstellungen  werden  zumal  bei  car- 
bunkulöser  Entzündung  der  Augenlider,  der  Unter-  und  Oberlippe 
zurückbleiben,  indem  dieselben  durch  Gangrän  zum  grössten  Theil  zu 
Grunde  gehen.  Auch  ein  sehr  frühzeitiges  Einschneiden,  Ausschneiden 
und  Ausbrennen  des  Carbunkels  ist,  wie  ich  mich  in  einigen  bösartigen 
Fällen  überzeugen  konnte,  von  geringem  Erfolg  in  Bezug  auf  den 
weiteren  Verlauf  der  Krankheit.  Lassen  sie  sich  jedoch  durch  diese 
trostlosen  Aussichten  der  Therapie  nicht  verhindern,  frühzeitig  grosse 
Einschnitte  zu  machen,  da  es  doch  auch  Fälle  giebt,  wo  Carbunkel  im 
Gesicht  den  gewöhnlichen  Verlauf  durchmachen,  wenn  sie  auch  antaugs 
mit  heftigem  Fieber  verbunden  sind;  von  französischen  Chirurgen  sind 
einige  günstige  Eesultate  durch  frühzeitiges  Ausbrennen  der  Pustula 
maligna  berichtet. 

2.     Acute  Entzündung  der  Schleimhäute. 

Während  die  traumatische  Entzündung  an  den  Sehleindiäuten  nichts 
Besonderes  darbietet,  ist  der  „acute  Catarrh"  oder  die  „acute  catarrba- 
lische  Entzündung"  eine  diesen  Häuten  eigenthündiche  Erkraukungsform, 
welche  anatomisch  durch  starke  Hyperämie,  etwas  ödematöse  Schwellung 
und  reichliche  Absonderung  eines  anfangs  mehr  serösen,  dann  schleimig- 
eitrigen Secrets  charakterisirt  ist,  und  vorwiegend  häutig  durch  Erkältung 
und  durch  Infection  erzeugt  wird.  Die  „Blennorrhoe"  (von  ßUvru 
Schleim,  und  ^6w  liiessen)  ist  eine  Steigerung  des  Catarrhs  bis  zu  dem 
Grade,  dass  reiner  Eiter  in  grösseren  Mengen  abgesondert  wird.  Catarrh 
und    Blennorrhoe    können    chronisch    werden.    —    Schon    die    einfache 


Vorlcsiiri'. 


C'ipilrl    X. 


ano 


Rcobaelituni;-  nn  cntan-linliscli  ariicirloii,  v.w  'l';i-o  lio-ondon  ScIiIoirnliiiiiU'ii 
lehrt,  das«  diese  llrocesso  laii,i;-(Mni(l  sehr  injonsiv  hcslolicii  kruiiuMi,  ohne 
da8S  die  Sul)slaiiz  der  Mernhran  (hihei  erheldich  leidet;  di(!  Oherfläfhe 
der  Hehleindiäiite  bleibt  dabei  hy])er;iniis('h  und  i^vsciiwolleu,  (jtwas 
verdickt  und  i^'ewulstet;  es  kommt  in  seltenen  l<';ill('n  wohl  zu  ober- 
(l'ichliehen  Kpithelverhistcn  und  kleinen  Substanzdeleeton  (cnJüTrlialiKfdie 
(Tesehwiii-(>),  doch  hat  aueli  das  nur  in  den  seltensten  Kiillcn  ans^^-e- 
dehntere  Zerstöruiiii'en  zur  Foli^e.  Diese  Heobaelitun,^-  wird  durch  die 
Befunde  nii  der  Leiche  und  durch  die  histolo^ü'ische  Untersuchung-  unter- 
stützt. .Mau  g'elang'te  zu  der  Anschauung-,  dass  beim  Catarrh  nur  eine 
raschere  Abstossung-  der  p]])ithelialzellen  erfolg-e,  welche  als  Eiterzellen 
an  die  Oberfläche  treten,  und  dass  das  Bindeg-ewebslager  der  Schleim- 
häute daran  gar  keinen  Antlieil  lia))e.  Obg-leich  man  sich  vielfach  be- 
mühte Theilungsprocesse  in  den  tiefei-en  Epitliellag-en  bei  catarrhalisch 
erkrankten  Schleimhäuten  zu  liiulen,  so  wollte  dies  doch  nicht  recht  ge- 
lingen, bis  endlich  Kemak,  Buhl  und  Ilinclfleisch  g-rosse  Mutter- 
zellen im  Epitheliallager  solcher  Häute  entdeckten. 

Fig.  67. 


r>Mrl 


'%- 


Epithelialsehicht  auf  einer  catarrhalisch  afficirten  Conjimctiva  nach  Rindfleisch. 
VeroTössernnsr  etwa  400. 


Es  lag-  am  nächsten,  diese  Beobachtung  so  zu.  deuten,  dass  die 
Mntterzellen  sich  aus  den  Epithelzellen  durch  endog-ene  Furchung-  des 
Protoplasma  bilden,  und  später  die  Zellenbrut  (als  Eiterzellen)  durch 
Platzen  der  Mutterzellenmembran  frei  werde.  "Wenn  gegen  diese  Auf- 
fassung- schon  wiederholt  g-eltend  gemacht  wurde,  dass  dabei  die  Mutter- 
zellen ganz  constant  auf  catarrhalischen  Schleimhäuten  gefunden  werden 
miissten,  wiihrend  sich  dieselben  nur  im  Beginn  der  Erkrankung  und 
auch  dann  nur  spärlich  auffinden  lassen,  —  so  haben  diese  Mutterzellen 
in  neuester  Zeit  noch  eine  ganz  andere  Deutung-  erhalten.  Steudener 
und  Volk  mann  sprachen  zuerst  den  Gedanken  aus,  dass  die  jungen 
Zellen  hier  nicht  in  älteren  entstehen,  sondern  dass  sie  in  letztere  a'ou 
aussen  unter  gewissen   mechanischen  begünstigenden  Verhältnissen  ein- 


310  Von  '^*'"  acuten   nidil    (lanmatisclifii   Enfzüiidunsen  der  Weiehtheile. 

dringen,  aber  mit  der  Entstellung  des  Catavrliciters  nichts  zu  tliun 
haben.  Wenngleich  diese  Behauptung  äusserst  schwierig  zu  beweisen 
ist,  so  erhält  sie  doch  für  mich  bei  wiederholtem  Nachdenken  und 
Combiniren  bekannter  Beobachtungen  einen  sehr  hohen  Grad  von  Wahr- 
scheinlichkeit. Es  ist  hier  nicht  der  Ort  auf  das  Detail  dieser  Dinge 
einzugehen;  doch,  da  es  durch  die  Zinobermethode  erweislich  ist, 
dass  die  weissen  Blutzöllen  aus  den  Gefässen  der  entzündeten  Schleim- 
haut auswandern,  und  niclit  nur  zwischen  die  Epithelien  einwandern, 
sondern  auch  als  Eiterzellen  im  catarrhalischen  Secret  gefunden  werden, 
so  möchte  ich  glauben,  dass  der  Catarrheiter  die  gleiche  Quelle  hat,  wie 
anderer  Eiter,  dass  er  nämlich  auch  direct  aus  dem  Blute  stamme. 

Ausser  der  catarrhalischen  Entzündung  ist  den  Schleimhäuten  auch 
noch  die  Croup  ose  (von  „Croup"  häutige  Bräune)  und  die  diph- 
therische (von  „ÖKfdsQa"  Fell)  Entzündung  eigen.  Wenn  bei  Ent- 
zündung der  Schleimhäute  die  auf  die  Oberfläche  tretenden  Entzündungs- 
producte  (Zellen  und  Transsudat)  Faserstoff  bilden,  und  dadurch  zu  einer 
der  Oberfläche  anhaftenden  Älembran  werden,  welche  sich  nach  einiger 
Zeit  zu  Schleim  und  Eiter  auflöst,  oder  durch  Eiter  abgehoben  wird, 
der  hinter  ihr  von  der  Schleimhaut  producirt  wird,  so  nennt  man  das 
eine  „croupöse  Entzündung";  die  Schleimhaut  bleibt  dabei  mit 
ihrem  Epithel  intact;  es  folgt  vollständige  restitutio  ad  integrum.  — Die 
Diphtherie  ist  dem  eben  beschriebenen  Vorgang  ganz  ähnlich,  doch 
haftet  die  Faserstofi'lage  nicht  allein  dem  Gew^ebe  fester  au,  sondern 
auch  das  Serum,  welches  die  Substanz  der  erkrankten  Schleimhaut  durch- 
tränkt, gerinnt;  dadurch  wird  die  Circulation  der  Gewebssäfte  und  des' 
Blutes  in  solchem  Maasse  beeinträchtigt,  dass  zuw^eilen  der  erkrankte 
Theil  in  toto  gangränös  wird.  —  Die  Allgemeinerkrankung,  das  Fieber 
kann  bei  ausgedehnter  croupöser  Entzündung  (z.  B.  der  feinsten  Bronchien 
und  Lungenalveolen :  croupöse  Pneumonie)  sehr  heftig  sein,  hat  jedoch 
bei  Diphtherie  mehr  den  Charakter  einer  septischen  Infection;  Diphtherie 
ist  daher  die  w^eitaus  bösartigere  Krankheit.  —  Die  Sehleimhaut  des 
Pharynx  und  der  Trachea  ist  beiden  Krankheitsformen  häufig  ausgesetzt. 
Die  so  unendlich  häufig  catarrhalisch-erkrankte  Conjunctiva  kann  von 
Diphtherie  befallen  werden,  leidet  selten  durch  Croup.  Die  Schleimhaut 
des  Darmcanals  ist  nur  selten  Sitz  dieser  Krankheiten,  ebenso  die  Schleim- 
haut der  Genitalien,  welche  um  so  häufiger  von  contagiöser  Blennorrhoe 
(Tripper,  Gonorrhoe,  von  yovog  Same)  befallen  wird. 

Fast  inmier  iiiidot.  sieli  in  dem  diphlheritischen  Belag  der  Schleimhäute  Micrococcos 
in  grosser  Menge;  dass  dieser  eine  besondere  Art  bilde,  und  die  Krankheit  erzeuge,  ist 
wiederholt  behauptet,  doch  vorläufig  nicht  bewiesen;  dass  das  diphtlieritische  Contagium 
sich  an  diese  Vegetationen  anhängen,  oder  auch  in  dieselben  eindringen  kann,  ist  höchst 
wahrscheinlich.  Wir  werden  später  bei  Gelegenheit  einer  Form  von  ulceröser  AVund- 
.lipluhcritis,  des  sogenannten  Hospitalbrandes  auf  diese  Frage  zurückkommen. 


Vorlosiiii-  21..     Ciipilcl    X.  311 

.').  Aciüc  I'hit/,  ii  ndii  II,:;-  dos  Zclli;'cvvcl)cs. 
Die  |)li  l<\£;'iiionöse  Eutz  iiiid  II  iiij,'.  Diese  I>eiieiiii(iii;;'  eiilliHlt  einen 
rieoiiasnini^,  indem  .^(playuövif  schon  „I^jiiziindiinii,'"  licisst;  sie  wird  Mber  im 
pi-aktisclien  Si)racligcl)riiuch  so  exelusiv  aiiC  die  zur  Eiterung'  tendirende 
Entzündung  des  Zellgewebes  angewandt,  dass  jeder  Arzt  weiss,  was 
man  darunter  versteht;  ein  anderer  Name  für  die  gleiche  Krankheit  ist 
J?s  eudocry  sii)clas,  er  ist  ebenso  gebräuchlich,  doch,  wie  mir  scheint, 
noch  weniger  bezeichnend.  Der  in  England  übliche  Ausdruck  „ Cellu- 
li tis"  statt  ., Inflannnatio  telac  cellulosae"  ist  freilich  kurz  imd  bequem, 
steht  jedoch  zu  sehr  mit  dem,  was  wir  heutzutage  unter  .,cellula"  ver- 
stehen, im  AViderspruch ,  als  dass  ich  ihn  cmpfehleu  möchte.  • —  Die 
Ursachen  dieser  Entzündungsprocesse  sind  für  sehr  viele  Fälle  durchaus 
unklar;  nur  selten  ist  eine  heftige  Erkältung  als  Ursache  festzustellen; 
oft  genug  mögen,  solche  Entzündungen  durch  Infection  auch  bei  unver- 
letzter Cutis  entstehen,  doch  ist  das  nur  eine  Hypothese;  als  Accidens 
bei  Verletzungen,  zumal  in  Folge  von  localer  Infection  durch  gaugränesci- 
reude  Gewebsfetzen  bei  Quetschungen  und  Quetschwunden  haben  wir 
diese  progressiven  acuten  Entzündungen  schon  kennen  gelernt.  —  Die 
spontane  Entzündung  des  Zellgewebes  ist  am  häufigsten  an  den  Extre- 
mitäten, häufiger  oberhalb  als  unterhalb  der  Fascien;  besonders  gern 
tritt  sie  an  den  Fingern  und  an  der  Hand  auf;  hier  führt  sie  den  Namen 
Panaritium  (verdorben  aus  Paronychia,  Entzündung  am  Nagel,  von  ovv'^) 
und  zwar  zum  Unterschied  von  tiefer  liegenden,  ebenfalls  an  Fingern 
und  Hand  vorkommenden  Entzündungen:  Panaritium  subcutaueum.  Trifft 
die  Entzündung  die  Umgebung  des  Nagels  oder  das  Nagelbett  selbst, 
so  braucht  man  wohl  auch  die  Bezeichnung  Panaritium  subungue.  —  Be- 
trachten wir  als  Beispiel  einmal  die  Erscheinungen  einer  Phlegmone  am 
Vorderarm,  so  pflegt  dieselbe  mit  Schmerzhaftigkeit,  Geschwulst  und 
Eöthung  der  Haut,  gewöhnlich  zugleich  mit  heftigem  Fieber  zu  beginnen ; 
die  Haut  ist  dabei  etwas  ödematös  und  stark  gespannt.  Bei  einem  sol- 
chen Anfang,  der  jedenfalls  eine  acute  Entzündung  am  Arm  ankündigt, 
kann  der  Sitz  derselben  ein  sehr  verschieden  tiefer  sein;  Sie  werden 
innerhalb  der  ersten  Tage  nicht  immer  gleich  ins  Klare  darüber  kommen, 
ob  sie  es  mit  einer  Entzündung  des  Unterhautzellgewebes,  mit  einer 
perimusculären  Entzündung  unterhalb  der  Fascien  oder  selbst  mit  einer 
Entzündung  des  Periosts  oder  Knochens  zu  thun  haben.  Je  stärker  das 
Oedem,  je  bedeutender  die  Schmerzen,  je  geringer  die  Hautröthuug,  je 
intensiver  das  Fieber,  um  so  eher  haben  Sie  einen  tiefliegenden  Ent- 
zündungsprocess  mit  Ausgang  in  Eiterung  zu  vermutlien.  Betrifft  die 
Entzündung  nur  das  Unterhautzellgewebe,  und  kommt  es  wie  in  den 
meisten  Fällen  zur  Eiterung  (wenngleich  Ausgang  in  Zertheilung  beob- 
achtet wird),  so  zeigt  sich  dies  in  einer  Weise,  dass  schon  im  Verlauf 
weniger  Tage  die  Haut  sich  an  einer  Stelle  stärker  röthet  und  deutliche 
Fluctuation  wahrnehmbar  ist.     Der  Durchbruch  des  Eiters  erfolgt  dann 


312 


Von  den  acuten   nicht  tranmatischen  Entzündungen   der  Weiohtlieile. 


entweder  spontan  oder  wird  durch  eine  luclsion  befördert.  Betrifft  die 
Entzündung-  Körpertlieile,  au  welchen  die  Haut  und  ZAimal  die  Epidermis 
besonders  dick  ist,  wie  an  Händen  und  Füssen  ,  so  ist  im  Anfang  von 
einer  Eöthung  der  Haut  wenig-  siclitbar,  weil  dieselbe  durch  die  sehr 
dicke  Hornschiclit  der  Epidermis  verdeckt  wird.  Eine  sehr  bedeutende 
ki'chmerzhaftigkeit,  ein  eigenthümliclies  Spannen  und  Klopfen  in  dem 
entzündeten  Theil  kündet  die  unter  der  Haut  entstellende  Eiterung  an. 

In  manchen  Fällen  gelit  bei  diesen  Processen  ein  Stück  der  Haut  dui-ch 
Gangrän  verloren,  indem  durch  die  Intensität  des  Entzündungsprocesses  die 
Circulation  so  gestört  wird,  dass  eine  Partie  der  Haut  lebensunfäliig  wird. 
Auch  die  Existenz  der  Fascien  ist  zuweilen  bei  diesen  Entzündungspro- 
cessen  bedroht;  sie  kommen  dabei  in  Form  grosser,  weisser,  zusammen- 
hängender, fadiger  Fetzen  aus  den  Oeffnungen  der  Cutis  zum  Vorschein. 
Besonders  ist  dies  bei  den  Entzündungen  unter  der  Kopfschwarte  der 
Fall,  die  sieh  nicht  selten  über  den  ganzen  Schädel  ausbreiten;  die 
ganze  Galea  aponeurotica  kann  dabei  verloren  gehen. 

Gehen  wir  nnn  zn  den  feineren  anatomischen  Vorgängen  über,  welche  bei 
der  acuten  Entzündung  des  Zellgewebes  Statt  haben.  "Wir  wollen  hier  nicht  auf  den  Streit 
znrücklvomnien ,  ob  zuerst  Gefässe,  Gewebe  oder  Nerven  bei  dem  Entzündungsprocess 
krankhaft  afficirt  werden,  sondern  wollen  uns  iiur  mit  demjenigen  befassen,  was  wir  bei 
der  anatomischen  Untersuchung  direet  beobachten  können.  Eine  Eeihe  von  Untersuchungen 
an  Leichen  von  Individuen,  die  an  solchen  Entzündungen  gestorben  sind,  oder  an  Gliedern, 
die  deswegen  amputirt  wurden,    und    an  denen   man   bald   hier  bald  dort  das  Zellgewebe 

Fig.  68. 


Entzündlich    infiltrirtes   Bindegewebe    vom  Präputium.     Zelluläre   Gewebsinültratiun:    Uni- 

Avandlung  des  Bindegewebes  in  entzündliche  Neubildung.     Die  fasrige  fibrilläre  Beschatl'en- 

heit  des  Gewebes    ist  fast   ganz   geschwunden;    die  Gefässws|<idungen    sind    gelockert    uiul 

wie  durchlöchert.  —  Vergrösserung  etwa  500. 

in  diesem  oder  jenem  Stadium  der  Entzündung  antrifft,  belehrt  uns  ziemlich  vollständig 
iiber  diese  Vorgänge.  —  Das  Erste,  was  wir  finden,  ist  die  Ausdehnung  der  Capillaren 
und  die  Qucllung    des  Gewebes    durch  seröses,    aus    den  Gefässen    ausgetretenes  Exsudat. 


Vorlesung  '21.     Ciipiicl   X.  313 

und  ZU  fvleiclicr  Zeil  (Miie  je  nncli  dcMvi  Slndinni  v(>rscliic(l('n  rriclilicho,  plasfifiolic  rn(il(r;itiiin, 
(1,  Ii.  iilso,  (I.MS  r5iii(l('j;('\V(>li('  is(,  (IiirclisiM'/r  \(m  riiicr  ciKirini'n  Masse  jniiff<M-  /eilen:  so 
lialx'ii  Sio  sii'li  im  Aiir;nii;'<'  di'ii  aiialnmiscIuMi  Ziisdiiid  <\ry,  (Icwelics  imler  dei'  rideiiiatiis 
e(>Sc'll\vnll(Mieii,  s(ark  eiTiKllcliMl  ,  selir  seliilicrzli;irieil  Hau;  viii-y.iis(i'lleii.  Im  weilel'll  \'er- 
NmiI'  liill  di(>  mas.'^enliafli^  ZclIcuaiilirMirmie'  im  eiil/rni(l('(<'ii  Diiide-  iiiui  l'"e(l;i;e wehe  immer 
mi^lir  lind  mehr  ia  den  Viirdcreriiiid.  Hiese  (iewelie  werden  iHall  .uespunnl  und  an  mehren 
SlolKai  trilt  (-iia^  Rlnlslneknn!.';  in  den  (JelVissen,  iiesundiM'S  in  den  Capilhiren  und  N'enen 
ein;  der  Kreislanf  In'ui  sielleiiweise  i'an/.  aal".  I)ies(^  T>hiis(i)ei<iini;' ,  dnreli  wideiie  ziktsI. 
eine  diiai\olhlaui'olhe.  dann  dnn-li  vasi-hc^  l'lnll'iii'hnn^'  der  rnllien  IJIntzelhMi  eine  e;-in/  weisse 
l'Mrhuni';  (hn*  erkraidvteu  '^l'iieile  zu  Stande  kounui.,  kann  sieli  so  weil  aushreilen,  duss  du:; 
(iewid)o  massenhaft  liraiulip;  ahsliriit,  ein  AuSL;'anj;',  i\cn  wii-  sclmn  ulieu  erwrdinl  haheu. 
In  den  nu^islen  Phallen  gescliieht  dies  indessen  nicht,  sondern  wälir<'ud  die  Z(dleu  sieh 
nieliren ,  schwindet  die  fihrilläre  Intercclhdarsnl.istanz  und  stirlit  tlieilwi-is  zu  kleiiuM'en 
Fetzen  und  Partikehdien  ah,  (heilweis  nimnmit  sie  allmähÜL!;  eine  j:;'allertarli,i;'e  Beseiiaff'en- 
heit  an.  wird  endlich   Wdhl   auch    e'anz  flüssif;-. 

Bei  dein  Fortsclircitcn  dieser  Vorg'äiiii'e  Avird  zuloi/i  der  g'anze  Eut- 
ziindung'sliecrd  zu  Eiter  umg-ewandelt,  alno  zu  fiiissig'ctn  Gewebe,  welches 
aus  Zellen  mit  etwas  seröser  Interccllularflüssig'keit  bestellt  und  dem  hier 
viele  abgestorbene  Zellg'ewebsfetzen  beigemischt  sind.  Denken  8ie,  dass 
der  ganze  Process  in  dem  Unterhaut  Zellgewebe  seinen  Ausgang  bat, 
nach  allen  Richtungen  sich  ausbreitet  und  zwar  am  schnellsten  dort,  wo 
das  Gewebe  am  gefässreichsten  und  lockersten  ist,  so  wird  der  eitrige 
Zerfall  des  Gewebes,  die  Vereiterung,  nach  und  nach  auch  in  die 
Cutis  von  innen  nach  aussen  vordringen,  dieselbe  an  einer  Stelle  durch- 
brechen und  der  Eiter  sich  aus  dieser  Oeffnung  nach  aussen  entleeren. 
Ist  dies  geschehen,  so  hat  damit  die  Ausbreitung  des  Processes  oft  das 
Ende  erreicht.  Das  Gewebe,  welches  den  Eiterlieerd  umgiebt,  ist  reich- 
lich von  Zellen  durchsetzt  und  reichlich  vascularisirt;  es  glciclit  anato- 
misch einer  Granulationsflächc  (ohne  immer  deutliche  Granula  zu  zeigen), 
welche  also  die  ganze  Eiterhöhle  auskleidet.  Ist  der  Eiter  ganz  entleert, 
so  legen  sich  die  Wandungen  der  Höhle  an  einander  und  verwachsen 
in  den  meisten  Fällen  ziemlich  schnell.  Eine  Zeit  lang  besteht  noch  das 
plastische  Infiltrat  und  die  Haut  i)leibt  dadurch  fester  und  starrer  als 
normal.  Allmählig  indess  kehrt  auch  dieser  Znstand  tlieils  durch  Zerfall 
und  Resorption  der  infiltrirteu  Zellen,  theils  durch  Umbildung  derselben 
zu  Bindegewebe  wieder  zur  Norm  zurück. 

Sie  sehen  wohl  ein ,  dass  für  den  Process  als  solchen  anatomisch 
kein  grosser  Unterschied  darin  besteht,  ob  derselbe  diffus  oder  circum- 
script  verläuft;  es  sind  die  feineren  Vorgänge  im  Gewebe  ganz  dieselben 
bei  einer  diffusen  Entzündung  des  Unterhautzellgewebes  wie  bei  der 
circnmscripten.  In  Praxi  unterscheidet  man  jedoch  zwischen  eitriger 
Infiltration  und  Abscess;  ersterer  Ausdruck  ist  an  sich  deutlich; 
unter  Abscess  pflegt  man  einen  abgegrenzten  Eiterhe^rd  zu  verstehen, 
und  damit  gewöhnlich  eine  w-eitere  Progression  des  Entzündungsprocesses 
auszuschliessen ;  durch  acute  Entzündung  rasch  entstandene  Abscesse 
nennt  man  heisse,  im  Gegensatz  zu  den  durch  chronische  Entzündung 


314 


Von  den  acuten  nicht  traumatischen  Entzündungen  der  Weichtheile. 


entstandenen  kalten  Abseessen.     Folgendes  Bild  mag  Ihnen  den  Process 
der  Abscessbildung  noch  mehr  veranschaulichen  (Fig.  60). 


Eitrige  Infiltration  des  Cutis -Bindegewebes  in  der  Mitte  zum  Abscess  confluirend. 
Schematische  Zeichnung.     Vergrösserung  etwa  500. 

Sie  sehen  hier,  wie  die  jungen  Zellen  sich  ins  Gewebe  infiltrirt  haben,  während 
das  Zwischengewebe  immer  abnimmt,  wie  ferner  in  der  Mitte  der  Zeichnung  im  Centrum 
des  Entzündungsheerdes  die  Zellengruppen  unter  einander  confluiren,  und  einen  Eiterheerd 
darstellen;  jeder  Abscess  hat  in  seinem  Anfang  aus  solchen  gesonderten  Eiterheerden  be- 
standen, er  wächst  durch  periphere  Ausbreitung  des  Eiterungsprocesses.  Früher  meinte 
man,  dass  überall  da,  wo  die  Eiterzellen  so  heerdweise,  gi'uppenweise  auftreten,  die- 
selben alle  als  eine  Production  der  Bindegewebszellen  anzusehen  seien;  nach  den  jetzigen 
Anschauungen  ist  es  zweifellos,  dass  diese  junge  Zellen  fast  alle  ausgetretene  weisse  Blut- 
zellen sind,  und  sich  nur  aus  mechanischen  Gründen  zuweilen  eigenthfimlich  heerdartig 
gruppiren.  —  Das  Fettgewebe,   welches  in  dem  Unterhautzellgewebe  gewöhnlich  in  reich- 

Fig.  70. 


Jl^itrige  Inültration  des  ranniculus  adiposus.     Vergrösserung  350;  nacii  einem  in  Alicohol 

e  rh  ä  rte  te  n  Prä  p  a  rat. 


VdiK-smi.t;-  "J I .      Ciipild    X.  lilf) 

lii'licr  Mi'ii.m".  ciilliahcti  is( ,  t;t'lil.  lioi  den  iiciilcn  ICii(/,i"ni'limfi;spr<)i;c,s,scii  meist  zu  Ciiiiiidi', 
imd  zwar  so,  dass  die  KeH/.cllcu  von  den  iumk'ii  ZclIciimasMcn  ^ewissermaas.soii  crdriii'kt, 
werden  nnd  da,s  Fell;  sicli  vei'fliissigt;  man  (indel;  es  zuweilen  in  Form  von  OeKropl'm 
späler  dem  Eiter  beif^eniischt.  Das  mikrosi^opiselie  Bild  liei  Knizündiing  des  Pannieuiiis 
adiposus  Icönnen  Sie  in  diesem  Präparat;  sehen.     (KiK-  70.) 

Man  iindel  nield  seilen  bei  Unlersneluing  soieiier  ]'r;i[i!nalc  aucli  (iciiiiniingsrasern, 
wie  im  geronneneu  Faserstoff,  im  CJevvelie  iiililtrirt;  es  kann  s(mm,  dass  sich  derselbe  schon 
im  Anfang  des  Entzünchingsprocesses,  wie  früher  erörtert,  I)iidei ;  indcss  ist  es  andi 
iiiöglieh,  dass  diese  Fasern  erst  dem  fertig  gebildeten  Kiter  angeluiren,  in  imserni  l'r;lparai 
vielleicht  vorwiegend  Knnstproducte  des  Alkohol  sind. 

Ich  iniiss  Sie  iiocli  ganz  besonders  darauf  au(nicrkf?ani  machen, 
dass  wir  es  hier  bis  zum  Stillstand  des  Froccsses  stets  mit  einer  pro- 
gressiven Erweichung-  des  mit  Eiter  infiltrirten  Gewel)cs,  mit  einer  Ver- 
eiterung desselben  zu  thuu  haben,  im  Gegensatz  zu  der  einmal  aus- 
gebildeten Granulationsfläche,  welche  aus  ihrer  Oberfläche  Eiter 
absondert,  ohne  selbst  dabei  Verlust  an  Gewebe  zu  erleiden. 
Alle  suppurativen  parenchymatösen  Entzündungen  wirken  zerstörend 
(deletär  oder  destruirend)  auf  das  Gewebe. 

Was  das  Verhältniss  der  Blutgefässe  zu  der  Neubildung  des  jungen 
Gewebes  nnd  dessen  baldigem  Zerfall  nnd  Verflüssigung  betritft,  so  ist 
schon  erwähnt,  dass  sie  anfangs  dilatirt  sind  und  dass  dann  das  Blut 
in  ihnen  stockt;  ist  der  Kreislauf  in  gewissen  Gewebsdistricten  ganz  auf- 
gehoben, wobei  zuweilen  die  Blutgerinnung  in  den  Venen  eine  ganz  be- 
sonders weite  Ausdehnung  annimmt,  so  vereitern  dann  auch  die  Gefäss- 
wandnngeu  und  die  Blutgerinnsel  oder  zerfallen  in  Fetzen  bis  an  die 
Grenze,  wo  die  Circulation  wieder  vor  sich  geht.  Wie  wir  früher  bei 
der  Abstossuug  nekrotischer  Gewebsfetzen  gesehen  haben,  müssen  sich 
an  dieser  Grenze  des  lebendigen  Gewebes  Gefässschlingen  bilden;  die 
ganze  Innenfläche  einer  Eiterhöhle  verhält  sich  also  in  Betreff  der  Gefäss- 
anordnuugen  wie  eine   sackförmig  zusammengelegte  Granulationsfläche. 

In  Betreff  der  Lymphgefässe  ist  aus  Analogie  zu  schliessen,  dass 
sie  hier  wie  in  der  Nähe  der  Wunden  durch  die  entzündliche  Neubil- 
dung geschlossen  werden;  specielie  Untersuchungen  darüber  wären  sehr 
wünschenswerth.  So  bald  und  so  lange  ein  Abscess  von  einer  lebens- 
kräftigen Schicht  plastisch  infiltrirten  Gewebes  umgeben  ist,  wird  aus 
früher  erörterten  Gründen  eine  Resorption  eitriger  und  putrider  Sub- 
stanzen aus  der  Abscesshöhle  nicht  leicht  Statt  finden.  Den  praktischen 
Beweis  kann  ich  Ihnen  liefern,  wenn  Sie  in  der  Klinik  Abscesseiter 
aus  der  Nähe  des  Rectum  oder  aus  dem  Munde  riechen  werden;  dieser 
Eiter  hat  einen  furchtbar  penetranten  Fäulnissgeruch,  und  doch  wird  er 
nicht  oder  nur  in  äusserst  geringer  Menge  durch  die  Venenwandungen 
resorbirt;  Erscheinungen  allgemeiner  Sepsis  pflegen  dabei  nur  selten 
einzutreten.  Im  Beginn  des  Entzttudungsprocesses  aber  und  dann  später, 
wenn  sich  derselbe  mit  rapidem  Zerfall  der  Gewebe  combinirt,  wie 
bei  manchen   progressiven  Entzündungen  um  Quetschwunden,    auch  bei 


»16  ^'^o"  den  afuten  nicht  traumatischen  Entzündungen  der  Weichtheile. 

Fi!?.  71. 


'W.-. 


Gefässe  (künstlich  injicirt)  von  den  Wandungen  eines  künstlich  in  der  Zunge  eines  Hundes 
erzeugten  Abscesses.     Vergrösserung  25. 

spontaner  Phlegmone  des  Unterhautzellgewebes  ii.  s.  f. ,  —  sind  die 
Lympligefässe  nicht  oder  noch  nicht  durch  Zellen-  und  Gewelbsneubildung-eu 
verstopft,  es  kommt  vielleicht  g-ar  nicht  oder  erst  spät  bei  Begrenzung  des 
gangränösen  Zerfalls  zur  organisirten  entzündlichen  Neubildung;  vorher 
dringen  dann  die  Zersetzungspro ducte  des  zerfallenden  GcAvebes  in  die 
offnen  Lymphräume  ein  und  wirken  auf  das  Blut,  es  entsteht  Fieber. 

Obgleich  die  Entzündung  der  Tela  cellulosa  überall  am  Körper  ge- 
legentlich vorkommen  kann,  so  findet  man  sie  doch  an  Hand,  Vorderarm, 
Kniegelenkgegend,  Fuss  und  Unterschenkel  am  häufigsten,  Lymphangoitis 
(^Yorüber  später  bei  den  accidentellen  "Wundkrankheiten  zu  sprechen  ist) 
corabinirt  sich  häufig   mit  Phlegmone,  geht  oft  ihrer  Ausbreitung  voran. 

Von  der  Quantität  und  Qualität  der  so  resorbirten  Stoffe  hängt  die 
Intensität  und  Dauer  des  Fiebers  ab,  welches  diese  Entzündungen  be- 
gleitet. Im  Anfang  gelangt  gewisscrmaassen  ein  ganzer  Schub  solcher 
EntzUndungsproducte  ins  Blut,  es  kommt  daher  gleich  anfangs  gewöhn- 
lich zu  heftigem  Fieber,  zuweilen  mit  Schüttelfrost;  mit  der  Progression 
der  Entzündung  cTauert  das  Fieber  fort,  es  hört  auf,  wenn  eine  weitere 
Resorption  von  Entzündungsproducten  durch  die  geschilderten  Gewebs- 
metamorphosen  gehemmt  wird,  wenn  der  Process  sistirt,  wenn  die  Ab- 
scessl)ildung  vollendet  ist.  Die  Qualität  der  bei  Zellgewebsentzündungen 
entstehenden  pyrogenen  Stoffe  ist  gewiss  sehr  verschieden;  es  giebt 
Fälle  von  Phlegmonen,  z.  B.  tief  am  Halse  bei  ältereu  Leuten,  bei  denen 
eine  so  intensive  phlogistische  Intoxication  erfolgt,  dass  die  Krauken  ohne 
Hinzukommen  neuer  Erscheinungen  rasch  zu  Grunde  gehen.     Es  verhält 


Voi-Icsini-;  21.     C^MplIcl    X.  ;}17 

sich  damit  ähiilicli  wie  mit  dun  (Jai-l)Liiikclii,  v(»ii  denen  cinig'e  ^venig• 
Fieber  maclien,  Jindei'e  ein  tüdtliclies  sei)tisc]ie>s  Fiebei-  nueli  sich  ziehen. 
Ist  eine  Phleg'inene  durch  ein  g'et'ährliches  Gift,  z.  Ji.  Jlotzg'il't  vei-aidasst, 
so  verwundert  man  sich  nacli  den  vorlieg'enden  Erf'ahrunyen  nicht  iil)er 
den  tödtliehen  yVnsgan^';  flir  die  spontan,  ohne  bekannte  Ursaclie  ent- 
standenen Phlei;'mouen  a,ber  bleibt  es  immerhin  oft  .ü,'enua,'  räthselhaft, 
warum  einige  Fälle  so  ausserordentlicb  schwer,  die  meisten  relativ  leicht 
verlaufen. 

Die  Prognose  der  phlegmonösen  Entzündungen  ist  eine  unendlich 
verschiedene,  je  nach  der  Localität,  Ausdehnung  und  Entstellungsursache. 
Während  die  Krankheit,  wenn  sie  als  Metastase  bei  allgemeinei"  phlo- 
gistischer  oder  Eiterdiathese,  oder  als  Folge  von  Kotzvergifiung  auftritt, 
wenig  Hoffnung  auf  Heilung  gicbt,  während  tiefliegende  Abscesse  z.  H. 
in  den  Bauchdecken,  im  Becken  mindestens  einen  sehr  langsamen  Verlauf 
nehmen,  und  durch  die  Localität  lebensgefährlich  oder  durch  Zerstörung 
von  Fascien,  Sehnen  und  Haut  beeinträchtigend  auf  die  Function  wirken 
können,  sind  die  meisten  Fälle  von  Phlegmone  an  den  Fingern,  Hand, 
Fuss,  Vorderarm  etc.  nur  massige  Erkrankungen  von  kurzer  Dauer, 
wenn  auch  mit  vielen  »Schmerzen  verbunden.  Je  rascher  Eiterung  ein- 
tritt, je  circumscripter  der  ganze  Entziindungsheerd  ist,  um  so  besser 
die  Prognose. 

Was  die  Behandlung  betrifft,  so  geht  dieselbe  beim  Anfang  der 
Krankheit  darauf  aus,  den  Process  wo  möglich  noch  in  der  Entwicklung 
zu  sistiren,  d.  h.  die  möglichst  frühzeitige  vollständige  Resorption  des 
serösen  und  plastischen  Infiltrats  zu  erzielen.  Hierzu  giebt  es  ver- 
schiedene Mittel,  zunächst  die  äusserliche  Anwendung  des  Quecksilbers: 
man  lässt  die  ganze  entzündete  Hautstelle  dick  mit  Quecksilbersalbe  be- 
streichen, den  Patienten  im  Bett  liegen  und  die  entzündete  Extremität  in 
warme,  nasse  Tücher  einwickeln  oder  mit  grossen  Kataplasmen  be- 
decken. Auch  die  Application  von  Eis  ist  im  Anfang  anwendbar  für 
den  Fall,  dass  die  ganze  entzündete  Partie  mit  mehren  Eisblasen  bedeckt 
werden  kann.  Die  Compression  durch  Einwicklung  mit  Heftpfiaster- 
oder  Bindeustreifen  würde  ebenfalls  ein  sehr  wirksames,  die  Aufsaugung 
beförderndes  Mittel  sein,  wird  jedoch  gerade  bei  den  in  Rede  stehenden 
Entzündungen  wenig  gebraucht,  einestheils,  weil  die  Compression  dieser 
entzündeten  Theile  sehr  schmerzhaft  ist,  anderntheils,  weil  das  Mittel 
auch  nicht  ganz  ohne  Gefahr  ist,  indem  durch  einen  etwas  zu  starken 
Druck  leicht  Gangrän  befördert  werden  könnte.  Tritt  nach  der  An- 
wendung der  genannten  Mittel  nicht  bald  eine  Mässigung  des  Processes 
ein,  sondern  steigern  sich  vielmehr  alle  Erscheinungen,  so  wird  man  von 
dem  Ausgang  in  Zertheilung  abstrahireu  und  Mittel  anwenden  müssen, 
welche  die  jetzt  nicht  mehr  zu  verhindernde  Eiterung  möglichst  be- 
fördern; hierher  gehört  vor  Allem  die  Application  der  feuchten  Wärme, 
besonders  in  Form  von  feuchten  warmen   Einhüllungen.     So    wie    mau 


318  ^'^•'"  ^*^"  aciitPH  niclit  tramuatisL-lien  Entzüntiimgcn  der  Weiditlieile. 

daiiu  an  einer  Stelle  deiitliclie  Fluctuation  Avalirninimt,  überlässt  man 
den  Dui-clibrucb  in  der  Kegel  nicht  der  Natnr,  sondern  spaltet  die  Haut, 
um  dem  Eiter  Austluss  zu  verscliaffen;  verbreitet  sieb  die  Eiterung  auf 
eine  weite  Strecke  bin  unter  die  Haut,  so  macbt  man  an  mebren  Stellen 
Oettnungen,  wenigstens  ziebe  icb  dies  den  kolossalen  Scbnitten  durcb 
die  Haut,  z.  B.  vom  Ellenbogen  bis  zur  Hand,  vor,  weil  bei  letzteren 
die  Haut  sebr  weit  aus  einander  klafft,  und  die  Heilung  sebr  viel 
längere  Zeit  erfordert.  Erfolgt  der  Eiterausfluss  aus  den  geraacbten 
Oeifnungen  in  normaler  Weise,  so  ist  nur  eine  sorgfältige  Reinigung 
notbwendig,  welcbe  am  zweckmässigsten  durch  locale,  warme  Bäder 
unterstützt  wird.  Sie  werden  häufig  hören,  dass  man  durch  frühzeitige 
Incisionen  bei  Phlegmonen  verhindern  könne,  dass  die  Haut  in  ausge- 
dehnter Weise  gangränös  werde  oder  vereitere.  Icb  kann  dies  leider 
nicht  bestätigen,  weil  icb  oft  genug  sah,  dass  Hautgaugrän  und  Haut- 
vereiterung auch  nach  frühzeitigen  Incisionen  eintrat;  nach  meinen 
Beobachtungen  hängt  dies  weit  mehr  von  der  Intensität  des  Entzündungs- 
processes  ab,  als  von  der  Spannung  der  Haut  durch  die  subcutane  Eiter- 
ausammluug.  Dennoch  halte  ich  frühe  Incisionen  bei  Phlegmonen  für 
zweckmässig,  weil  es  mir  scheint,  dass  man  durch  vorsichtiges  Auspressen 
des  Serum's  aus  dem  entzündeten  Gewebe  zuweilen  die  Progression  des 
Processes  hemmen  kann. 

Während  die  Eröffnung  von  Unterbautzellgewebseiterungen  eine  sehr 
einfache  ungefährliche  Sache  ist,  erfordert  die  „Oncbotomie"  (von  oyxog 
Biegung,  Erhöhung,  Geschwulst)  bei  tief  liegenden  Abscesseu  je  nacli 
den  anatomischen  Verhältnissen  der  Localität  grosse  Umsicht;  die  Diagnose 
kann  z.  B.  bei  diesen  Eiterungen  am  Halse,  im  Becken,  in  den  Bauch- 
decken  schon  grosse  Schwierigkeiten  bieten,  meist  kann  mau  sie  erst 
nach  einer  längeren  Beobachtungszeit  stellen;  dennoch  kann  es  theils 
zur  Erleichterung  des  Patienten,  theils  um  einen  spontanen  Durchbruch 
etwa  in  die  Bauchhöhle  zu  vermeiden,  wttnschenswerth  sein,  frühzeitig 
den  Eiter  zu  entleeren.  In  solchen  Fällen  darf  man  dann  nicht  so  ohne 
Weiteres  das  Scalpell  einsenken,  sondern  man  geht  praeparando,  Schicht 
für  Schicht  trennend  vor,  bis  man  auf  die  fluctuirende  Decke  des  Ab- 
scesses  gelangt;  dann  senkt  man  vorsichtig  eine  Sonde  ein,  und  dilatirt 
die  Oeffnung  durch  Auseinandersperren  einer  in  den  Abscess  eingeführten 
Kornzange,  um  alle  Blutungen  aus  der  Tiefe  zu  vermeiden.  —  Zuweilen 
bildet  sich  durcb  Zersetzung  des  Eiters  so  viel  Gas  in  einem  Abscess, 
dass  er  einen  tympanitischen  Percussionston  giebt;  solche  jauchigen  Ab- 
scesse  müssen  früh  eröffnet  werden;  man  muss  sie  nach  der  Entleerung 
oft  ndt  Chlorwasser  ausspritzen  und  verbinden. 

4.    Acute  Entzündung  der  Muskeln. 

Die   idiopathische  acute  Entzündung   der  Muskelsubstanz  ist  relativ 
selten.     Sie  konnut  vor  in  den  Zungenmuskeln,  im  M.  psoas,  im  M.  pecto- 


Vorlesmifi;  21.      (^ipilel    X.  .'jllf 

ralis,  g'lutaeus,  jmi  Olterscliciikel,  in  der  Wade;  der  i;c\völinlif'lie  Aiisg-aiig- 
ist  in  Abscessbilduiiii;',  obi^'leicli  aucli  Ausii,'a-iii;'  in  Z(;i-lli(!ilLiiii^'  ))C(d)achtet 
Avovdeu  ist.  Metastatische  Muskelabscessc  sind  sehr  häufig'  bei  Rotz- 
iutoxicatioii.  —  Was  die  spcciellen  histologisclien  Verhältnisse  beti-ifft, 
so  ist  das  interstitielle  Bindegewebe  der  Muskeln,  das  Perimysiuin,  hier 
wie  bei  der  traumatischen  Myositis  der  llaiq)tsitz  der  eitrigen  Infiltration; 
die  Kerne  der  Muskelfasern  zerfallen  bei  den  ganz  acuten  Vorgängen 
mit  der  contractilen  Substanz  und  dem  Sarcolemma:  nur  an  den  Muskel- 
faserstümpfen  in  der  Abscesskapsel  finden  sich  die  Sarcolemmakerne 
(Muskelkörperchen)  massenhaft  angehäuft  und  verwachsen  so  mit  der 
Abscessuarbe;  dabei  kommt  nach  0.  Weber  eine  nicht  unbedeutende  Neu- 
bildung jung-er  Muskelfaserzellen  vor.  (Fig.  32,  pag.  116.)  —  Die  Symptome 
eines  Muskelabscesses  unterscheiden  sich  nicht  von  denen  anderer  tiefer 
Abscesse;  ihre  Entwicklung  und  ihr  Durchbruch  nach  aussen  dauern  je  nach 
Grösse  und  Ausdehnung-  sehr  verschieden  lange.  In  vielen  Fällen  stellt 
sich  Contractur  desjenigen  Muskels  ein,  in  dessen  Substanz  sich  ein  Abscess 
entwickelt,  so  z.  B.  bei  Psoitis;  ob  dies  die  physiologische  Folge  des 
entzündlichen  Reizes  ist,  oder  halb  willkührlich,  instinctiv  vom  Kranken 
bewirkt  wird,  muss  ich  dahin  gestellt  sein  lassen,  möchte  indess  eher 
das  letztere  glauben,  da  bei  weniger  schmerzhaften  kleinen  Abscessen 
der  Muskeln,  auch  bei  traumatischer  Muskelentzündung  keine  Contractur 
einzutreten  pflegt,  sondern  nur  bei  grösseren  Abscessen,  welche  unter 
dem  Druck  starker  Fascien  stehen.  —  Man  eröffnet  die  Muskelabscessc, 
sobald  man  deutliche  Fluctuation  fühlt  und  die  Diagnose  sicher  ist. 

Eine  ganz  eigenthümliche  Art  der  Muskelerkrankung,  die  meiner 
Ansicht  nach  zu  den  subcutanen  Entzündungen  zu  zählen  ist,  hat  Zenker 
neuerdings  entdeckt  und  beschrieben ;  sie  kommt  vorzugsweise  bei  Typhus 
abdominalis  in  den  Mm.  adductores  des  Oberschenkels  vor;  die  con- 
tractile  Substanz  zerfällt  dabei  innerhalb  des  Sarcolemmaschlauchs  in 
einzelne  Bröckel;  diese  verschwinden  nach  und  nach  durch  Resorption, 
während  sich  neue  Muskelzellen  zum  Ersatz  der  alten  bilden.  So  erfolgt 
in  den  meisten  Fällen  die  restitutio  ad  integrum ;  in  andern  Fällen  bleibt 
die  Atrophie  der  erkrankten  Muskelsubstauz  dauernd.  Ob  diese  Er- 
krankung auch  zu  Eiterung  führen  kann,  darüber  liegt  keine  specielle 
Beobachtung  vor,  obgleich  Muskelabscessc  nach  Typhus  z.  B.  in  den 
Bauchdecken  beobachtet  sind. 

5.     Acute   Entzündung    der    Sehnenscheiden    und    subcutaueü 
Schleimbeutel  (seröse  Häute). 

Die  Seh-nenscheiden  bilden  bekanntlich  geschlossene  seröse  Säcke, 
welche  um  einige  Sehnen  an  Hand  und  Fuss  gelagert  sind.  Sie  können 
durch  Quetschung,  selten  auch  spontan  in  den  Zustand  acuter  Entzün- 
dung   gerathen.     Wie  alle  acut    entzündeten  serösen  Häute,    exsudireu 


320  ^''•"   '^''"   :i<'"'''"    "''■'''    liiiiiiii.ilisriii'ii    Kii(/,üii'1iiiil;cii    d<T    Wi-irlithcik?. 

auch  diese  Säcke  /imäcli.st  eine  Quantität  fihrinreiclien  Serums;  die  aus 
\Vaii(lci-z(^lleu  /Aisannneni;esetzten  Irisch  entstandenen  librinüsen  l^seudo- 
iiKuilnMiien  können  sich  wieder  auflösen,  sie  können  aber  auch  zu  v(ji- 
iil)eri;'chcnden  oder  dauernden  Verklehunii-en  der  Selmcnscheiden  mit  den 
Sehnen  i'iihren;  endlich  kommt  es  niclit  selten  zur  Eiterung-  der  Membranen 
und  dabei  kann  die  Sehne  nekrotisch  zu  Grunde  gehen.  —  Schmerz  bei 
Bewegungen  und  leichte  Ansclnvellung  sind  die  ersten  Zeichen  einer 
solchen  Entzündung;  zuweilen  tritt  daJjci  ein  lieibungsgeräusch,  ein  Knar- 
ren in  den  Selmensclieiden  auf,  welches  durch  die  aufgelegte  Hand,  noch 
deutlicher  mit  aufgelegtem  Ohr  wahrzunehmen  ist.  üies  Geräusch  ent- 
steht dadurch,  dass  die  Oberilächen  der  Sehnenscheide  und  der  Sehne 
durch  Eibrinauflagerung  rauh  geworden  sind  und  sich  an  einander  reiben, 
sowie  diese  Seimen  bewegt  A\erden;  am  Handrücken  ist  diese  subacute, 
fast  inuner  in  Zertheilung  ausgehende  Selmenscheidenenlziindung  am 
häufigsten.  (Tendovaginitis  crepitans).  —  Selten  sind  die  meist  aus  un- 
bekannten Gründen  entstehenden,  sehr  acuten,  in  Eiterung  übergehenden 
Sehnenscheidenentzündungen,  sie  l)eginnen  wie  eine  acute  Phlegmone: 
das  Unterhautzellgewebe  nimmt  schnell  Antheil  an  dem  Entzüuduugs- 
process;  das  Glied  schwillt  stark,  auch  die  nahe  gelegenen  Finger-  oder 
Handgelenke  können  mit  in  den  Entzündungsprocess  hineingezogen  wer- 
den. Wie  die  Synovialmembran  der  Gelenke  scheint  auch  die  gleiche 
Membran  der  Sehnenscheiden  bei  der  acuten  Entzündung  zuweilen  Pro- 
ducte  zu  liefern,  welche  die  Umgebung  besonders  intensiv  inticiren.  Kommt 
es  bei  passender  Behandlung  nicht  zum  Aufbruch  der  Eiterung,  oder  ent- 
steht nur  ein  kleiner  Abscess,  so  erfolgt  der  Ausgang  in  Zertheilung  langsam; 
das  Glied  bleibt  noch  lange  steif;  die  gebildeten  Verklebungen  zwischen 
Sehne  und  Sehnenscheiden  lösen  sich  erst  nach  Monate  langem  Gebrauch.  — 
Erlblgt  eine  ausgedehnte  Eiterung  der  Seimenscheiden,  die  man  au  der 
Hand  mit  der  Bezeichnung  „Panaritium  tendinosum"  belegt  hat,  so 
werden  in  der  Kegel  die  betreffenden  Sehnen  nekrotisch  und  können  nach 
einiger  Zeit  als  weisse  Fäden  und  Fetzen  aus  den  Abscessöffnungen  aus- 
gezogen Averden ;  die  Sehnenscheidenmembran  degenerirt  dann  zu  schwam- 
migen Granulationen.  Kommt  es  nun  zu  einem  Stillstand  des  l'rocesses, 
so  sind  ein  oder  mehre  Finger  steif  und  bleiben  es  fürs  Leben.  Sind 
auch  die  Gelenke  ergriffen,  so  konnnt  es  an  den  Fingern  wohl  zu  einer 
Ausheilung  mit  Anchylose;  ist  aber  das  Hand-  oder  Fussgelenk  in  Mit- 
leidenschaft, so  ist  die  Existenz  des  Gliedes  in  hohem  Grade  gefährdet.  — 
Bei  der  acuten  eitrigen  Sehnenscheidenentzündung  ist  zuweilen  das  Fie- 
ber Anfangs  unbedeutend,  doch  kann  die  Krankheit  in  schweren  Fällen 
auch  mit  einem  Schüttelfrost  beginnen.  —  Je  weiter  sich  Entzündung 
und  Eiterung  ausbreiten,  je  weniger  der  Process  zur  abschliessenden 
Abscessbilduug  lendirt,  um  so  dauernder  Avird  das  Fieber  und  nimml 
enuMi  (leuUieh  ivuiittireuden  Charakter  an;  dabei  kommen  die  Patienten 
enorm  rasch  herunter;  die  kräftigsten  Männer  maii-ern  in  wenigen  \\'(.chen 


Vuiicsiiiit.',  21.    ('iipiici  X.  ;}21 

zum  Skelett  iil).  Von  sein-  iihlcr  Prognose  ist  es,  wenn  (law  Fiebei'  mit 
intermittircnden  Anfrilhm  und  Frösten  verlüuf't. 

Die  lU'li  and]  uni4'  der  suhacMtcn  knarrenden  »Selinensclieidenenl'/iin- 
dung-  am  ihuidiiiekcn  besteht  darin,  dass  man  die  Hand  siiif  eine  Schiene 
ruliig-  stell!  und  die  erkrankte  Stelle  mit  .lodtinctnr  hcstrcichcn  h'isst; 
hilft  dies  nieht  bald,  dann  legt  man  ein  IJlasenpdaster;  ich  liahc  nach 
dieser  Ijcliandlung-  diese  Form  der  Sehnenselieidenentziindung  innncr  in 
einiii,'en  Taü,'en  vcrseliwindcn  sehen.  —  Sind  die  lürsclieinun^^cn  i^icich 
von  Anfang'  an  heftig,  so  ist  vor  Allem  Kidie  der  Hand  notliwcanlig; 
A])i)lication  von  Queeksill)ersa]l)e  und  mehren  Eisblasen  müssen  hinzit- 
konnnen.  Mit  dieser  Ijehandlung  fährt  man  consequent  ein  bis  zwei 
Wochen  fort;  sj)äter  wendet  man  dann  feticlit-warme  Einwickliingen  und 
lauwarme  lhindl)äder  an.  Kommt  es  zur  Abscessljildung,  so  sind  Im-i- 
sionen  zu  maelien  und  Gegenöff'nungen  reichlich  anzulegen;  liier  sind 
die  Drainageröhren  sehr  zweckmässig  zu  verwenden,  weil  die  ans  den 
Abscessöffnungen  liervor(|uellenden  flranulationen  sehr  häufig  den  Fiter- 
ausfluss  hemmen.  —  Will  die  Eiterung  kein  Ende  nelinum,  bleibt  die 
schwammige  Schwellung  des  Gliedes,  zeigt  sich  Crei)itation  in  dt^i  Gelenk(;ii 
zwischen  den  ITandwurzelknochen  (ein  Zeichen,  dass  die  Knor|)eliil)erziig(; 
dieser  Knochen  vereitert  sind),  kommt  der  Kranke  immer  melir  hei-unter, 
so  ist  wenig  Ilofifnung  auf  den  günstigen  Ausgang  mit  Anchylose  des 
Handgelenks,  sondern  die  Gefahr  fürs  Leben  ist  so  gross,  dass  die 
Amputation  des  Vordcrai'ms  gemacht  werden  muss.  Geschielit  dies  recht- 
zeitig, so  kann  der  Kranke  mit  dem  Leben  davonkommen  und  wird 
si(;h  bald  wieder  erholen. 

Weniger  gefährlich  sind  die  acuten  Entzündungen  der  subcutanen 
Schleirabeutel:  am  häufigsten  erkranken  die  Bursa  praeiiatellaris  und 
ancouea  sowohl  nach  Quetschung,  als  auch  spontan;  sie  hängen  weder 
mit  dem  Gelenk,  noch  'mit  Sehnenscheiden  zusammen;  unter  Schmerz- 
empiindung  füllen  sie  sich  mit  fibrinhaltigem  Serum,  auch  rütliet  sich  die 
Haut  und  das  parabursale  Zellgewebe  nimmt  an  der  Eutzfindung  'Plieil; 
es  kommt  jedoch  nicht  immer  zur  Eiterung,  wenn  die  ratienten  frühzeitig 
behandelt  werden.  Die  Behandlung  besteht  in  Bestreiclieii  mit  Queck- 
sill>ersalbe  oder  .Jodtinctur,  Fixirung  des  Gliedes  und  Kompression  der 
geschwollenen  Bursa  durch  Einwicklung  mit  massig  fest  angezogener 
nasser  Binde.  Die  Function  ist  meist  unnöthig,  schadet  eventuell,  indem 
Eiterung  dadurch  angeregt  wei'den  und  eine  lästige  Fistel  lange  zuriick- 
bleiljen  kann. 


Eilh-i41i  tliir.  Patli.  u.  Ther.  7.  Aufl.  'Jl 


ßOO  Von   den   acuten   Entziin'lnn'jen   (h-r  Knoc]ien  etc. 

Vorlesung  22. 
CAPITEL   XL 

Von  den  acuten  Entzündungen  der  Knochen,  des  Periostes 

und  der  Gelenke. 

Anatomisches.  —  Acute  Periostitis  und  Osteomyelitis  der  Röhrenknoclien: 
Ersclieinnngen;  Aiisgänge  in  Zertlieilung,  Eiterung,  Nekrose.  Prognose.  Beliandhmg.  — 
Acute  Ostitis  an  spongiösen  Knochen:  Multiple  acute  Osteomyelitis.  —  Acute 
Gelenkentzündungen.  —  Hydrops  acutus:  Erscheinungen,  Behandlung.  —  Acute 
suppurative  Gelenkentzündung:  Erscheinungen,  Verlauf,  Behandlung,  Anatomisches. 
—  Rheumatismus  articulorum  acutus.  —  Der  arthrotische  Anfal  I.  —  Meta- 
statische (gonorrhoische,  pyämische,  puerperale)  Geleiik  entz  ündungen.  — Anhang 
zu  Capitel  I — XL     Rückblick.     Allgemeines  über  den  acuten  Entzündungsprocess. 

Das  Periost  und  die  Knochen  stehen  in  einem  so  innig-en  physiolo- 
gischen Verhältnisse  zai  einander,  dass  die  Erkrankung  des  einen  Theils 
fast  immer  eine  Mitleidenschaft  des  andern  bedingt;  wenn  wir  trotzdem 
aus  praktischen  Gründen  gezwungen  sind,  die  acuten  und  auch  später 
die  chronischen  Entzündungen  des  Periostes  und  der  Knochen  wenigstens 
theilweise  für  sich  zu  betrachten,  so  \verden  wir  doch  oft  auf  den  Zu- 
sammenhang beider  zurückkommen  müssen.  Einige  anatomische  Vor- 
bemerkungen muss  ich  hier  vorausschicken,  weil  sie  für  das  Verständniss 
der  folgenden  Processe  von  Wichtigkeit  sind.  —  Wenn  man  so  kurzweg 
vom  Periost  spricht,  so  pflegt  man  sich  dabei  gewöhnlich  nur  die  gefäss- 
arme,  weisse,  sehnenartig  glänzende,  dünne  Haut  zu  denken,  welche 
den  Knochen  unmittelbar  umgiebt;  hierzu  muss  ich  bemerken,  dass  dies 
nur  einen  Tlieil  des  Periostes  vorstellt,  der  in  pathologischer  Hinsicht 
von  relativ  geringem  Werth  ist.  Auf  dieser  eben  beschriebenen,  inneren 
Schicht  des  fertigen  Periostes  liegt  an  den  Stellen,  wo  sich  nicht  gerade 
Sehnen  oder  Bänder  inseriren,  eine  Schicht  lockeren  Zellgewebes,  welche 
ebenfalls  noch  zum  Periost  zu  rechnen  ist  und  in  welcher  hauptsächlich 
die  Gefässe  sich  verbreiten,  die  in  den  Knochen  eindringen.  Diese 
äussere  Schicht  des  Periostes  ist  der  häufigste  Sitz  primärer,  sowohl 
acuter  als  chronischer  Entzündungsprocesse;  das  Zellgewebe,  aus 
welchem  diese  Schicht  besteht,  ist  sehr  locker  und  sehr  gefässreich,  da- 
her viel  geeigneter  für  die  Entwicklung  von  Entzündungsprocessen,  als 
der  dichte  gefässarme,  sehnige  Theil  des  Periostes,  welcher  dem 
Knochen  unmittelbar  anliegt.  Was  die  Ernährungsgefässe,  zumaf  der 
l{(dironknochen  l)etrifft,  so  haben  die  Epiphysen  ihre  eigenen  Gefässe, 
welclie  so  lange,  als  der  Epiphyseuknorpel  noch  besteht,  im  Knochen 
selbst  niclit  mit  den  Aesten  der  Arteriae  nutriciae  der  Diaphyseu  commu- 
niciren.     Es  erklärt  sich  aus  dieser  Gefässvertheiluug,  dass  die  Entzüu- 


Yorlo.'nni-   )>2.      (';i|.i(cl    Xf.  323 

düngen  der  Dinjjliyi^en  bei  Jun^-cn  IndiA'iducn  selten  auf  die  Epipliysen 
tibergehen  und  luugekeln-t.  -  Die  CJlelenkkapsel  ist,  genetisch  l)etrMclitet, 
eine  Fortsetzung  des  l'eriostes,  und  ein  gewisser  Zusannnenliang  der 
(k'lenkkrankheiten  mit  den  Periostkranklieiten  ist  insofern  liäutig  ei-kenn- 
bar,  als  vice  versa  die  Krankheiten  des  einen  Theils  besonders  leicht 
auf  den  andern  übergehen.  Wir  werden  noch  nianclierlei  (lelegeidieit 
haben,  im  Verlauf  der  folgenden  Betrachtungen  auf  diese  anatomischen 
Verhältnisse  zurückzukommen. 

Zunächst  lassen  Sie  uns  von  der  acuten  Periostitis  und  Osteo- 
myelitis (von  öozeov  Knochen,  und  f.ivel6g  Mark)  sprechen,  von  der 
Sie  schon  Einiges  bei  der  Knocheneiterung  in  dem  Capitel  von  den 
offenen  Fracturen  gehört  haben  (vgl.  pag,  232),  Diese  Krankheit  ist 
im  Ganzen  nicht  sehr  häufig,  kommt  vorwiegend  bei  jugendlichen 
Individuen  und  in  ihrer  exquisitesten  Form  fast  ausschliesslich  an  den 
langen  Röhrenknochen  vor.  Am  hfiufigsten  werden  der  01)erschenkel, 
demnächst  die  Tibia,  seltener  der  Oberarm  und  die  Vorderarmknochen 
befallen.  Ich  sah  die  Krankheit  nach  starken  Erkältungen  primär,  oder 
secundär  in  der  Nähe  acut  entzündeter  Gelenke  auftreten,  ferner  nacli 
starken  Quetschungen  der  Knochen  und  nach  Erschütterungen  derselben. 
Vielleicht  ist  die  acute  Osteomyelitis  zuweilen  das  Pvcsultat  einer  unbe- 
kannten allgemeinen  Infection,  wie  der  acute  Rheumatismus  und  manche 
Phlegmonen.     Roser  und  Lücke  haben  auch  diese  Meinung. 

In  vielen  Fällen  ist  es  nicht  nachweisbar,  ob  nur  das  Periost 
oder  nur  das  Knochenmark  betheiligt  ist,  eine  solche  Unterschei- 
dung wird  meist  erst  durch  den  weiteren  Verlauf  und  durch  den  Aus- 
gang sicher  gestellt.  Die  Erscheinungen,  welche  sich  bei  der  in 
Rede  stehenden  Krankheit  darbieten,  sind  folgende:  unter  heftigem  Fieber, 
nicht  selten  mit  einem  Schüttelfrost  beginnt  die  Krankheit;  in  der  be- 
troffenen Extremität  stellen  sich  heftige  Schmerzen  ein  und  dieselbe 
schwillt  anfangs  ohne  Hautröthung.  Der  Kranke  kann  wegen  heftiger 
Schmerzen  das  erkrankte  Glied  nicht  bewegen;  jede  Berührung,  jede 
leichte  Erschütterung  ist  in  hohem  Grade  schmerzhaft;  die  Haut  ist  ge- 
spannt, meist  ödematös,  und  zuweilen  schimmern  die  stark  ausgedehnten 
subcutanen  Venen  hindurch,  ein  Zeichen,  dass  der  Rückfluss  des  Venen- 
blutes in  der  Tiefe  nur  mühsam  vor  sich  geht.  Die  Entzündung  betrifft 
entweder  den  ganzen  Knochen  oder  nur  einen  Theil  desselben.  —  Aus 
solchen  Erscheinungen  lässt  sich  nun  vor  der  Hand  nichts 
weiter  diagnosticiren,  als  die  Existenz  eines  intensiven,  tief- 
liegenden, acuten  Entzündungsprocesses.  Da  aber  idiopathische 
Entzündung  des  perimusculären  und  peritendinösen  Zellgewebes  sehr 
selten  ist  und  auch  nicht  mit  so  enormen  Schmerzen  auftritt,  so  wnrd  man 
in  den  meisten  Fällen  nicht  irren,  wenn  man  unter  den  angegebenen  Ver- 
hältnissen eine  acute  Periostitis,  vielleicht  mit  Osteomyelitis  verbunden, 
annimmt.     Fehlt  bei   gleicher  Schmerzhaftigkeit   und    gleichen    heftigen 

2V' 


994-  Von  d?"  afntf"  EntziiiKliiiigen  der  Knoclien  etf. 

Ficberersclieinungeii,  oder  bei  vollständig'er  Fmictinnsunfäliig'keit  des 
Gliedes  diircli  die  Selmierzen  die  Anscliwellimg  mehre  Tage  hindurch 
fast  ganz  und  tritt  erst  sehr  spät  ein,  so  ist  man  berecljtigt  anzunehmen, 
dass  der  Entziindungsprocess  seinen  primären  Sitz  in  der  ]\rarkhölile  des 
Knochens  liat  nnd  das  Periost  anfangs  weniger  betheiligt  ist.  Wir 
liaben  uns  in  diesem  Stadium  den  Zustand  der  erkrankten  Theile  etwa 
folgendermaassen  zu  denken:  die  Gefässe  des  Knochenmarks  nnd  des 
Periostes  sind  stark  ausgedelmt  und  strotzend  mit  Blut  gefüllt;  yielleicht 
ist  hier  nnd  da  eine  Stasis  des  Blutes  eingetreten.  Das  Knochenmark 
hat  statt  seiner  gewöhnlichen  hellgelblichen  Farbe  ein  dnnkel  blaurothes 
Ansehen,  ist  auch  wohl  mit  Extravasaten  durchsetzt;  das  Periost  ist  stark 
serös  iufiltrirt,  und  zu  gleicher  Zeit^finden  Sie  bei  mikroskopischer  Unter- 
suchung in  demselben  eine  grosse  Zahl  junger  Zellen,  ebenso  in  dem 
Knochenmark;  es  besteht  also  schon  eine  plastische  Infiltration.  —  In 
diesem  Stadium  ist  eine  völlige  Rückbildung  ad  integ-rum  möglich,  welche 
zumal  bei  einer  frühzeitig  eingeleiteten  Behandlung  nicht  so  ganz  selten 
vo]-kommt,  besonders  in  den  mehr  subacut  verlaufenden  Fällen.  Das 
Fieber  lässt  nach,  die  Anschwellung  nimmt  ab,  die  Schmerzen  hören 
auf;  vierzehn  Tage  nach  dem  Beginn  der  Krankheit  kann  der  Patient 
wieder  hergestellt  sein.  —  Auch  wenn  der  Process  noch  etwas  weiter 
vorgeschritten  ist,  kann  er  zum  Stillstand  kommen,  wobei  dann  ein  Theil 
der  entzündlichen  Neubildung  an  der  Oberfläche  des  Knochens  ver- 
knöchert und  so  für  eine  Zeit  lang  wenigstens  eine  Verdickung  des  be- 
troffenen Knochens  entstellt,  die  freilich  später  nach  Verlauf  von  ]\Ionaten 
wieder  schwindet. 

In  den  meisten  Fällen  ist  der  Verlauf  der  Periostitis  kein  so  gün- 
stiger, sondern  die  Krankheit  schreitet  weiter  fort  und  nimmt  den  Aus- 
gang in  Eiterung.  Die  äusseren  Erscheinungen  sind  dabei  folgende; 
die  Haut  des  sehr  gescliwollenen,  gespannten  und  schmerzhaften  Gliedes 
nimmt  erst  eine  röthliche,  dann  eine  fast  braunrothe  Färbung  an;  das 
Oedem  breitet  sich  weiter  und  weiter  aus,  die  nahe  gelegenen  Gelenke 
schmerzen  und  schwellen  an,  das  Fieber  bleibt  auf  gleicher  Höhe;  nicht 
selten  wiederholen  sich  die  Schüttelfröste.  Der  Kranke  ist  sehr  erschöpft, 
da  er  fast  niclits  geniesst  und  wegen  der  Schmerzen  die  Xächte  schlaf- 
los zubringt.  Nicht  selten  treten  profuse  Diarrhöen  auf;  das  Fieber 
bleibt  gleich  hoch,  das  Sensorium  dabei  benommen,  der  Patient  macht 
zuweilen  den  Eindruck  wie  ein  Typhuskranker.  Gegen  den  1:?.  bis  14. 
Tag  der  Krankheit,  selten  viel  früher,  oft  aber  später,  spürt  man  end- 
lich deutliche  Fluctuation  und  kann  Jetzt  den  Zustand  des  Kranken  wesent- 
lich erleichtern,  wenn  man  durch  eine  oder  mehre  Oeftnungen  den  Eiter 
kttnstlicli  entleert,  falls  die  Haut  über  den  Abscess  bereits  genügend  ver- 
dünnt ist;  denn  die  Eröffnung  tiefer,  starrwandiger,  nicht  zusanimen- 
lalleiider  Abscesse  ist  immer  ein  Eingriff",  der  CA-entuell  durch  Zersetzung 
von  Blut  uud  Eiter  in  dem  noch  nicht  genügend  abgekapselten  Abscess 


Vorirsmi-   l'J.      Capild    XI.  325 

gefährlich  werden  kann.  Der  s|)(»ii(aiic  Diirehhnich,  die  Verciiei'iin;4'  der 
Fascien  zumal,  daneri  ficilich  zuweilen  sehr  hini;e,  und  i;cwöhnlieh  .sind 
aucli  die  ()efruun,i;'en ,  die  dadurch  eidsteheii,  zti  klein;  eine  Nachhidle 
\iit  daher  meist  indicirl.  Führen  Sie  durch  eine  der  künstlich  gemachten 
Oeffnung'en  den  Finger  in  die  Eiterhöhle,  so  konnncn  Sic  nnt  demselben 
direct  auf"  den  Knochen  und  linden  in  sehr  vielen  Fällen,  da.s.s  derselbe 
vom  Periost  entblösst  ist.  Die  Ausdehnung,  in  welcher  diese  Entblössung 
erfolgte,  hängt  von  der  Ausdehnung  der  Periostitis  ab.  Es  kann  die- 
selbe die  ganze  Länge  der  Diaphyse  betreffen  und  in  diesen  schlimmsten 
Fällen  sind  die  Erscheinungen  am  heftigsten.  Vielleicht  ist  jedoch  mu* 
die  Hälfte  oder  ein  Dritttheil  des  Periostes  afficirt;  ausserdem  bi'aucht 
auch  nicht  die  ganze  Circumferenz  des  Knochens  betroffen  zu  sein,  son- 
dern vielleicht  nur  der  vordere,  seitliche  oder  hintere  Theil;  besonders 
an  den  Ausatz-  oder  Ursprungsstellen  starlvcr  Muskeln  begrenzt  sich  die 
Periostitis  nicht  selten.  In  solchen  Fällen  von  geringerer  Ausdehnung 
wird  dann  die  ganze  Reihe  der  Erscheinungen  weit  milder  auftreten. 

Auch  jetzt  noch  kann  sich  der  Verlauf  in  zweierlei  Weise  ver- 
schieden gestalten;  es  ist  möglich,  dass  nach  Entleerung  des  Eiters  die 
Weichtheile  sich  dem  Knochen  schnell  wieder  anlegen  und  mit  demselben 
verwachsen,  w^ie  die  Wandungen  einer  acut  entstandenen  Abscesshöhle. 
Dies  habe  ich  einige  Male  bei  Periostitis  des  Oberschenkels  an  2 — 3 
dreijährigen  Kindern  gesehen.  Es  entleerte  sich  nach  der  Eröffnung  nur 
noch  kurze  Zeit  hindurch  eine  geringe  Quantität  Eiter;  bald  schlössen 
sich  die  Oeffuungen  ganz,  die  Geschwulst  bildete  sich  zurück  und  es 
erfolgte  die  vollständige  Heilung.  Ein  solcher  Ausgang  kommt  jedoch 
nach  meiner  Erfahrung  e))en  nur  bei  ganz  jungen  Kindern  vor.  Das  bei 
weitem  häufigere  ist,  dass  der  Knochen,  in  Folge  der  Vereiterung  des 
Periostes  seiner  ernährenden  Gefässe  zum  grössteu  Theil  beraubt,  theil- 
weis  oder  ganz  abstirbt,  und  dadurch  der  Zustand  gegeben  ist,  den  man 
als  Nekrose  (von  veKgög  der  Todte,  Leichnam)  .des  Knochens,  als 
Knochenbrand  bezeichnet.  Die  x\usdebnung  dieser  Nekrose  wird  im 
Wesentlichen  von  der  Ausdehnung  der  Entzündung  abhängig  sein;  die 
ganz  oder  theilweis  abgestorbene  Diaphyse  des  Ptöhrenknochens  muss 
als  todter  Körper  vom  Organismus  in  derselben  Weise  abgelöst  werden, 
wie  wir  dies  bei  dem  Brand  der  Weichtheile  und  bei  der  traumatischen 
Nekrose  gesehen  haben.  Hierzu  braucht  es  aber  lange  Zeit:  der  Process 
der  Nekrose,  die  Auslösung  des  todten  Knocheustttcks ,  des  Sequesters, 
mit  Allem,  was  ihn  begleitet,  ist  daher  immer  ein  chronischer,  über  den 
wir  später  noch  zu  sprechen  haben.  Bevor  die  Entzündung  in  diesen 
chronischen  Zustand  übergeht,  besteht  die  acute  Eiterung  noch  geraume 
Zeit  nach  der  ersten  Eröffnung  des  Eiterheerdes.  Mancherlei  Compli- 
cationen  können  sicli  hinzugesellen;  so  lange  diese  Kranken  nicht  fieber- 
los sind,  schweben  sie  immer  noch  in  Lebensgefahr. 

Wir  müssen    uns  jetzt  wieder   zu    dem    Knochenmark    wenden, 


Q2ß  Von   den  acntc-n   Entzündungen  der  Knochen  etc. 

welclies  wir  im  ersten  Stadium  der  Entzündung  verlassen  haben.  Auch 
hier  kann  die  Entzündung  den  Ausgang  in  Eiterung  neiimen ;  ist  die 
Osteomyelitis  eine  diflusc,  totale,  so  kann  das  ganze  Knochenmark  ver- 
eitern. Es  kann  diese  Eiterung  selbst  einen  jauchigen  Charakter  an- 
nehmen und  sich  von  hieraus  Septhäniic  entwickeln.  Bestellt  eine  weit- 
gehende, eitrige  Osteomyelitis  mit  eitriger  Periostitis,  so  ist  der  Tod  der 
biaphyse  des  Knochens  sicher.  Bildet  sich  nur  eine  partielle  Eiterung 
des  Markes  aus,  oder  tritt  eine  solche  überhaupt  nicht  ein,  so  kann  die 
Circulation  des  Blutes  im  Knochen  zum  grössten  Theil  erhalten  und  der 
Knochen  lebensfähig  bleiben.  IS^icht  selten  mag  es  vorkommen,  dass  unter 
solchen  Verhältnissen  der  Knoclien  eine  Zeit  lang  gewissermaassen  zwischen 
Tod  und  Leben  ringt,  indem  die  sehr  schwach  bestehende  Circulation  das 
Knochengewebe  zwar  in  einem  sehr  unvollkommenen  Maasse,  doch  so 
lange  ernährt,  bis  der  Collateralkreislauf  genügend  entwickelt  ist.  —Eine 
acute  eitrige  Osteomyelitis  ohne  jede  Betheiligung  des  Periostes  dürfte  kaum 
vorkommen;  mit  der  Osteomyelitis  combinirt  sich  nicht  selten  auch  Osteo- 
phlebitis  {cpUw  Blutader,  Vene)  die  mit  Verjauchung  oder  puriformer 
Schmelzung  der  Thromben  einhergehen  kann,  und  erfahrungsgemäss  beson- 
ders leicht  metastatische  Abscesse  vermittelt.  Eine  weitere,  nicht  gar  seltene, 
wenn  auch  durchaus  nicht  constante  Zugabe  zur  Osteomyelitis  ist  die 
Vereiterung  der  Epiphyseuknorpel  bei  Individuen,  bei  denen 
solche  noch  bestehen,  also  etwa  noch  bis  zum  24.  Jahr.  Der  Vorgang 
ist  nicht  schwierig  zu  erklären;  der  Entzündungsprocess  kann  sich  eben 
theils  vom  Knochenmark,  theils  vom  Periost  aus  auf  den  Epiphyseu- 
knorpel fortsetzen;  ist  derselbe  erweicht,  so  hört  damit  die  Continuität 
des  Knochens  auf,  und  es  tritt  an  der  Stelle  der  Epiphyse  eine  Beweg- 
lichkeit desselben  ein,  wie  bei  einer  Fractur;  auch  Dislocationen  sind 
durch  die  Zusammenziehungeu  der  Muskeln  möglich.  Meist  tritt  nur 
eine  solche  Epiphysentrenuung  am  erkrankten  Knochen  auf,  oben  oder 
unten,  in  den  selteneren  Fällen  ist  die  Epiphysentrennung  doppelt.  Ich 
sah  bis  jetzt  einmal  diese  doppelte  Epiphysentrennung  an  der  Tibia, 
mehre  Epiphysentrennungen  an  dem  unteren  Ende  des  Femur,  eine  am 
oberen  Ende  dieses  Knochens,  eine  am  unteren  Ende  des  Humerus,  zwei 
am  oberen  desselben.  In  einem  Fall  sah  ich  eine  Epiphysenerw^eichung 
mit  Luxation-ähnlicher  Dislocation  am  oberen  Ende  des  Femur,  ohne  dass 
es  zur  Eiterung  kam.  Es  ist  schon  oben  bemerkt  worden,  dass  auch  Ent- 
zündungen der  nächst  gelegenen  Gelenke  sich  leicht  zu  Periostitis  hin- 
zugesellen. Diese  Gelenkentzündungen  haben  in  der  Regel  mehr  einen 
subacuten  Verlauf.  Die  seröse  Flüssigkeit,  die  sich  dabei  in  massiger 
IMcngc  im  Gelenk  ansannnclt,  pflegt  mit  dem  Aufhören  des  acuten  Ver- 
laufs des  Knochenleidcns  rcsorbirt  zu  werden;  es  bleibt  jedoch  eine 
Schwellung  des  Gelenkes  sehr  häufig  zurück,  nicht  selten  bildet  sich  eine 
dauernde  Steifheit  aus.  Auch  sah  ich  mehre  Male  acute  Periostitis  und 
Osteomyelitis  des  Femur  zu  acutem  Gelenkrheumatismus  des  Knies  hin- 


Voi-Ie.suns  22.     Capil^l   XI.  327 

zAikommen;  endlich  miiss  nocli  er\v;ihiit  werden,  d;iBS  diese  Osteom^'elitis 
ancli  an  mehren  Knochen  zugleich  auftreten  kann. 

Als  seltne  Erscheinung- ist  zu  erwähnen  Gasentwicklung  in  dem  mit- 
erkrankten Gelenk,  in  manchen  Fällen  nocli  vor  F,r(')iTnung  des  Eiter- 
heerdes;  dies  ist  immer  ein  sehr  übles  Hymptom  und  zeigt  Fäulniss  der 
E ntz ii  nd  u ngsp r o d uc te  a,n . 

.Die  Diagnose,  in  wie  weit  in  dem  Einzellälle  Periost  und  Knochen 
an  dem  acuten  Entzündungsprocess  betheiligt  sind,  lässt  sich  durchaus 
nicht  sicher  stellen,  sondern  erst  dai-aus  erschliessen,  ol)  und  wie  weit 
später  Nekrose  auftritt,  obgleich  auch  dies  nicht  ganz  maassgebend 
ist,  da  sehr  wohl  die  Periostitis  den  Ausgang  in  Eitei'ung  nehmen  kann, 
während  zugleich  der  Entziiudungsprocess  im  Knochen  sich  zertheilt 
oder  nur  zu  einiger  interstitieller  Knochenneubildung  führt.  Der  Ent- 
zündungsprocess kann  seinen  Ausgang  nehmen:  1)  in  der  lockeren  Zell- 
gewebsschicht  des  Periostes;  diese  vereitert;  beschränkt  sich  die  Eite- 
rung nur  auf  diese  Schicht,  so  gelaugt  man  mit  dem  nach  der 
Abscessöffnung  untersuchenden  Finger  wohl  direct  auf  die  Knochenober- 
fiäche,  findet  diese  aber  von  dem  granulirenden  sehnigen  Theil  des 
Periostes  bedeckt;  vereitert  dann  auch  die  letztere  Schicht,  wie  dies  nicht 
selten  vorkommt,  so  liegt  der  Knochen  frei,  die  Eiterung  kann  sich  in 
denselben  hinein  fortsetzen.  So  gesellt  sich  die  Osteomyelitis  zur  Peri- 
ostitis. Will  man  die  lockere  Zellgewebsschicht  nicht  als  Periost  gelten 
lassen,  sondern  dieselbe  nur  als  Theil  des  intermuskulären  Zellgewebes 
betrachten  (was  insofern  nicht  passend  wäre,  weil  diese  Schicht  haupt- 
sächlich die  austretenden  Knochengefässe  enthält),  so  giebt  es  überhaupt 
keine  acute  Periostitis,  denn  der  sehnige  Theil  des  Periostes  entzündet 
sich  ebenso  selten  primär,  als  die  Fascien  und  Sehnen.  2)  Die  Entzün- 
dung beginnt  im  Knochen  und  verbreitet  sich  von  hier  ins  Periost  und 
Zellgewebe,  die  Osteomyelitis  ist  das  primäre,  die  Periostitis  das  secun- 
däre;  der  Eiter  findet  sich  dabei  nicht  nur  im  Knochen,  sondern  auch 
an  dessen  Oberfläche  dicht  unter  dem  sehnigen  Teil  des  Periostes; 
dieser  wird  durch  den  Eiter  abgehoben,  so  weit  es  seine  Elasticität  er- 
laubt, dann  durchbrochen,  der  Eiter  ergiesst  sich  ins  Zellgewebe,  macht 
hier  neue  Eiterung,  und  so  kommt  der  Process  an  die  Oberfläche.  Roser 
giebt  an,  dass  in  diesen  Fällen  flüssiges  Marlvfett  aus  der  Knochenhöhle 
durch  die  Haversischen  Canäle  der  Corticalsubstanz  auf  die  Knochen- 
oberfläche in  Folge  des  starken  arteriellen  Druckes  in  der  Markhöhle 
durchgepresst  werde,  so  dass  man  aus  einem  solchen  aus  der  Tiefe  unter 
dem  Periost  hervorkommenden,  mit  Fetttröpfchen  gemischten  Eiter  die 
Osteomyelitis  diagnosticiren  könne.  Ferner  fand  Roser  in  einigen 
Fällen  eine  auffallende  Verlängerung  des  Knochens  und  eine  Schlaffheit 
des  dem  Process  nächsten  Gelenkes  nach  Osteomyelitis.  Er  leitet  dies 
von  einem  zu  raschen  Wachsthum  der  Gelenkbänder  und  der  Epiphysen- 
knorpel  während  der  Entzündung  ab. 


ooQ  Von  den  aciitPn  Entzündungen  der  Knochen  etc. 

Was  die  Prognose  bei  der  acuten  Periostitis  und  Osteomyelitis 
betritft,  so  ist  dabei  die  Gefalir  für  die  Existenz  des  Knochens  und  die 
Gefahr  für  das  Leben  zu  unterscheiden.  Zieht  die  Kranklieit  eine  par- 
tielle oder  totale  Nekrose  des  Knocliens  nach  sicli,  so  kann  dieselbe 
viele  Monate,  selbst  Jahre  dauern.  Eine  acute  Periostitis  und  Osteomye- 
litis, zumal  wenn  dieselbe  am  Oberschenkel  und  g-ar  doppelseitig  auftritt, 
ist  stets  für  das  Leben  durch  die  leicht  hinzutretende  Pyohäniie,  für 
Kinder  auch  durch  die  sehr  profuse  Eiterung  sehr  gefährlich,  um  so  ge- 
fährlicher, je  länger  der  Process  acut  bleibt,  je  weiter  er  sich  ausbreitet 
und  je  grössere  Knochen  befallen  werden. 

Man  kann  in  der  Beh  and  lung  dieser  Krankheit  am  meisten  leisten, 
wenn  man  mögliclist  früh  gerufen  wird;   eines  der  kräftigsten  Mittel  ist 
das  Bestreichen   des   ganzen   Gliedes   mit  starker   Jodtinctur.     Es   wird 
dies  Mittel  so  lange  applicirt,  bis  sich  ausgedehnte  Blasenbildung  zeigt. 
Der  Kranke  nuiss  natürlicli   im  Bett  bleiben,   was  man  ihm  übrigens  in 
den  meisten  Fällen  kaum  zu  sagen  braucht,  da  er  es  wegen  der  Schmerzen 
schon  von  selbst  thut.     Seit  ich  diese  Behandlung  mit  Jodtinctur  in  An- 
wendung   gezogen    habe,    bin    ich  von    den   Erfolgen  derselben   so  be- 
friedigt, dass  ich  den  übrigen  antiphlogistischen  Apparat:  Schröpfköpfe, 
Blutegel,    Einreiben  mit  grauer  Salbe,    fast  ganz  bei  Seite  gelegt  habe. 
Ableitung  auf  den  Darmcanal  durch  Purgantia  salina  sollen  die  Cur  wie 
bei  allen  acuten  Entzündungen  unterstützen,  wie  wenigstens  von  älteren 
Practikern   versichert  wird.     Von   manchen  Chirurgen  wird   die  örtliche 
Application    von   Eis    gleich    im  Beginn    der  Krankheit    sehr    gerühmt. 
Kommt  es  trotzdem  zur  Eiterung  und  nimmt  man  deutliche  Fluctuation 
Avahr,    so  macht  man   an  den  dünnsten  Hautstellen   mehre  Oeffnungen 
möglichst  so,  dass  sich   der  Eiter,   ohne  dass  man  zu  drücken  braucht, 
entleert;    in   der  Eegel  schwillt   hiernach  die  Extremität  sehr  bald  ab; 
am  günstigsten  ist  es,  wenn  das  Fieber  bald  aufhört,  und  die  Krankheit 
in  den  chronischen  Verlauf  übergeht.     Dauert  das  Fieber  fort,  bleibt  die 
Eiterung  profus,  halten  die  Schmerzen  an,    so  sucht  mau  diesen  Uebel- 
ständen  durch  sorgfältigste  Beförderung  des  Eiterausfiusses  mittelst  ein- 
gelegter Drainageröhren   und  durch  häufiges  Ausspülen  der  Eiterhöhlen 
entgegen  zu  Avirken,  und  sucht  dnrch  Application  von  Eisblasen  die  etwa 
hinzutretenden  Gelenkentzündungen  zu   mildern.     Auch  die  Application 
eines    gefensterten    Gypsverbandes    hat    sich    mir    in   Fällen,    in    denen 
Epiphysenlösung  eintrat,    zur  Fixiruug   des   Gliedes,    bei   dem   täglichen 
Verband  bewährt;  irgend  eine  Art  der  Fixirung  des  Gliedes  ist  in  solchen 
Fällen  absolut  nothwendig.     Von  dieser  Therapie,  die  auf  eine  Keilie  von 
günstigen  Erfolgen  gestützt  ist,    weichen  viele  Chirurgen   ab.      :\[anclie 
empfehlen,  schon  gleich  im  Anfange  grosse  tiefe  Einschnitte  bis  auf  den 
Knochen  zu  machen,  oder  Avenigstens  bei  beginnender  Eiterung  möglichst 
grosse  Incisjonen  zu   macheu.     So  ausgedehnte  Verwundungen   sind  bei 
fiebernden  Kranken  übel  angebracht;  ich  bin  überzeus-t,  dass  man  unter 


Vorlesim-  22.      Capitfl   XT.  329 

diesen  Umständen  durch  eine  ullzii  Iievoiselie  Therapie  den  Zustand  nur 
verschlimmert,  die  Disposition  zur  Pyohämie  stei^'ert.  Noch  weit  fehler- 
hafter scheint  es  mir,  Avenn  man  die  Kehauptuni;-  aufstellt,  dass  man 
hei  acuter  Osteomyelitis  sofort  die  F.xarticulation  maelien  müsse,  weil 
der  Ausgang  in  Pyoliämie  unvernieidlich  sei.  Dies  ist  jedenfalls  ganz 
falsch,  und  die  Amputation  unter  solchen  Umständen  nicht  indicirt, 
erstens  weil  die  Diagnose  der  Osteomyelitis  im  ersten  Anfang  keines- 
wegs eine  absolut  sichere  ist,  da  man  es  möglicherweise  auch  mit  einer 
einfachen  acuten  l^eriostitis  zu  thun  haben  könnte;  zweitens  weil  die 
Prognose  bei  der  Exarticulation  grösserer  Gliedniaassen,  wenn  letztere 
vA^egen  acuter  Processe  am  Knochen  vorgenommen  werden  muss,  immer 
eine  sehr  zweifelhafte  sein  wird.  —  Ich  Avürde  mich  z.  B.  bei  einer 
acuten  Periostitis  mit  Osteomyelitis  an  der  Tibia  nur  dann  zur  Ampu- 
tation des  Oberschenkels  entschliessen,  wenn  die  Eiterung  eine  besonders 
grosse  Ausdehnung  erreicht  hätte,  und  wenn  acute  Eiterung  des  Knie- 
gelenks hinzukommen  sollte.  Sollte  die  besprocliene  Erkrankung  am 
Oberschenkel  vorkommen  und  einen  üblen  Verlauf  nehmen,  so  würde 
ich  in  der  schon  an  sicli  sehr  lebensgefährlichen  Exarticulation  des 
Oberschenkels  kaum  ein  Mittel  sehen,  Avelches  den  Kranken  zu  retten 
im  Stande  wäre.  Man  kann  bei  sorgfältiger  Pflege  der  fast  immer 
jugendlichen  Patienten  viel  wagen.  Ein  junges  Mädchen  mit  Osteomyelitis 
und  Periostitis  an  der  Tibia  hatte  in  12  Tagen  16  Schüttelfröste,  und 
genas  doch,  wenn  auch  ein  Theil  der  Tibia  nekrotisch  und  das  Fuss- 
gelenk  anchylotisch  wurde. 

Ich  will  hier  noch  einige  kurze  Bemerkungen  anschlieBseu  über  die 
eitrige  Periostitis  der  dritten  Phalanx  der  Finger,  welche  vielleicht  die 
häufigste  ist,  die  überhaupt  vorkommt.  Da  man  die  Entzündung  an  der 
Hand  und  den  Fingern  geAvöhnlich  mit  dem  Namen  Panaritium  zusammen- 
fasst,  so  nennt  man  diese  Periostitis  der  dritten  Phalanx:  Panaritium 
periostale.  Die  Krankheit  ist  sehr  schmerzhaft  wie  jede  Periostitis; 
es  dauert  lange,  zuweilen  8  bis  10  Tage,  bis  der  Eiter  nach  aussen 
durchbricht.  Der  Ausgang  in  Nekrose  dieses  kleinen  Knochens,  s.ei 
dieselbe  partiell  oder  total,  ist  gewöhnlich  und  kann  aucli  durch  einen 
frühzeitigen  Einschnitt  nicht  verhütet  werden,  wenngleich  man  sich  hier 
oft  veranlasst  findet,  einen  solchen  zu  machen,  um  die  sehr  unangenehmen, 
klopfenden,  brennenden  Schmerzen  theils  durch  die  locale  Blutentleerung, 
theils  durch  die  Spaltung  des  Periostes  zu  lindern.  Da  hier  der  Ausgang 
in  Eiterung  fast  niemals  zu  vermeiden  ist,  so  sucht  man  dieselbe  durch 
Kataplasmen,  durch  Handbäder  und  dergl.  zu  befördern,  um  den  ganzen 
Verlauf  möglichst  zu  beschleunigen.  — 


Wir  haben   bisher  nur  von    der   acuten  Entzündung    des  Periostes 
und  Knochenmarkes  der  Köhrenknochen   gesprochen,   haben  dabei  aber 


QQQ  Von  den  acuten   Eiirzitii<liiiiurMi  der  Gelenke. 

die  Entzündung'  der  spongiösen  Knochen  ausser  Acht  gelassen.  Es 
kam  in  der  bisherigen  Auseinandersetzung  auch  die  Entzündung  der 
eigentlichen  Knochensubstanz  nicht  in  Betracht.  Giebt  es  überhaupt  eine 
acute  Entzündung  des  KnochengewebesV  AVenn  man  davon  ausgeht, 
dass  die  Gefässcrweiterung,  Zelleniniiltration  und  seröse  Durchträukung 
des  Gewebes  in  ihrer,  wenn  auch  quantitativ  verschiedenen  Combinatiou 
das  Wesen  des  acuten  Eiitzündungsprocesses  bedingen,  so  nuiss  man  eine 
acute  Entzündung  im  coin})actcn  fertigen  Knochengewebe  leugnen,  da 
alle  diese  Vorgänge  z.  B.  in  der  Corticalschicht  eines  Röhrenknochens 
nicht  denkbar  sind.  Die  Capillargefässe  sind  in  den  Haversischen  Ca- 
nälen  an  vielen  Stellen  wenigstens  so  eng  eingebettet,  dass  sie  sich 
nicht  erheblich  ausdehnen  können;  eine  verschieden  starke  Durchtränkung 
des  Knochengewebes  mit  Serum  ist  denkbar,  doch  düi-fte  die  Quellungs- 
möglichkeit des  starren  Knochengewebes  nicht  sehr  bedeutend  sein. 
Verallgemeinert  man  den  Begrifl"  der  Entzündung  so  dass  man  darunter 
in  erster  Linie  eine  besondere  quantitative  und  qualitative  Störung  der 
Ernährung  versteht,  so  nmss  man  freilich  zugeben,  dass  eine  solche 
im  Knochengewebe  ebenso  gut  statt  haben  kann  wie  in  weichen 
Geweben.  Jedes  Gewebe,  in  welchem  Entzündung  Platz  greift,  ver- 
ändert seine  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  und  dies 
geschieht  an  den  weichen  Geweben  1)ei  acuter  Entzündung  schnell:  das 
Bindegewebe  zumal  Avird  sehr  schnell  in  eine  gallertige  eiweissreiche 
Substanz  umgewandelt,  auch  das  Gewebe  der  Cornea  und  des  Knorpels 
können  ihre  Beschafl'enheit  relativ  sehr  schnell  ändern.  Dies  ist  aus 
chemischen  Gründen  beim  Knochengewebe  nicht  möglich;  es  braucht 
Zeit,  bis  die  Kalksalze  des  Knocliens  gelöst  sind,  und  der  zurückbleibende 
Knoclienknorpel  einschmilzt  wie  andere  Gewebe.  Die  Entzündung  des 
compacten  Knochengewebes  kann  dalier,  so  heftig  der  Process  auch  an 
sicii  sein  mag,  nicht  rapid  verlaufen,  sie  wird  stets  längere  Zeit  zum 
Verlauf  brauchen.  —  Das  Gesagte  bezieht  sich  jedoch  nur  auf  die  com- 
pacte Knochensubstanz;  in  dem  spong lösen  Knochen  als  ganzem 
Organ  ist  eine  acute  Entzündung  sehr  w'ohl  möglich,  d.  h.  eine  Ent- 
zündung des  in  den  spongiösen  Knochen  enthaltenen  starkes,  welches 
dieselben  Eigenschaften  besitzt,  wie  das  Mark  der  Röhrenknochen,  nur 
dass  es  nicht  so  angehäuft  ist  wie  dort,  sondern  in  den  Maschen  des 
Knochens  vertheilt  ist;  jeder  Maschenraum  enthält  eine  grosse  Anzahl 
Capillaren,  Bindegewebe,  Ecttzellen,  auch  Nerven;  in  diesen  Maschen- 
räumen verläuft  zunächst  die  acute  Entzündung  des  spongiösen  Knochens, 
die  alhuählig  dann  auch  auf  das  eigcntliclie  Knocliengcwcbe  wirkt. 
Was  mau  acute  Ostitis  eines  spongiösen  Knochens  lieisst,  ist  zu- 
nächst auch  nur  acute  Osteomyelitis.  Eine  spontan  entstehende  Entzündung 
der  Art  konnut  ausserordentlich  selten  acut  vor,  gewöhnlich  chronisch, 
zuweilen  subacut.  Dagegen  giebt  es  eine  traumatische  acute  Osteomyelitis 
spongiöscr    Knochen,    über    die    wir    hier  einige  Bemerkungen  macheu 


VurlesuuK  22.     rnpitcl   XT.  331 

^V(>lle^,  wenngleich  vvii'  das  \Vi('li(i:;s(r,  (Inriiher  schon  früher  bei  der 
Knocheneiterung'  besprochen  iiabcn.  Denken  Sie  sich  eine  Amputations- 
wnnde  dicht  unterlialb  des  Kniegelenks;  dir,  "^ribin,  ist  in  iiireni  oberen 
spongiösen  llieil  durchsägt.  VjH  wii'd  in  (U'ni  Knochenmark,  in  (b'n 
Masclien  des  Knochengewebes  traumatische  Entzündung  eintreten  mit 
Gefiisswuchcrnng,  Zellenintiltration  etc.,  und  dies  wird  zur  liildung  von 
Grannlationen  führen,  welche  aus  dem  Knochenmark  hervoi'vvuchern  und 
bald  eine  conlbiirende  CJrannlationstb'iche  darsicllcn;  die  Ib-narbniig  der- 
selben erfolgt  auf  gewöhnlichem  Wege.  Nachträglich  fniden  Sie  aber, 
wenn  Sie  später  Gelegenheit  haben,  einen  solclien  ^Stumpf  zu  untersuciien, 
dass  an  der  SägeHäche  des  Knochens  die  Maschen  mit  Knochensidjstanz 
ausgefüllt  sind,  und  die  äiisserste  Schicht  des  spongiösen  Knochens  in 
compacte  Knochensubstanz  umgewandelt  ist;  die  Narl)e  im  Knochen  ist 
also  nachträglich  noch  verknöchert.  Dies  ist  der  normale  Abschluss 
nicht  allein  der  traunuitischen,  sondern  auch  der  s})ontanen  Ostitis;  die 
Knochennarbe  verknöchert.  —  Auch  eine  Vereiterung,  Verjauchung  des 
Markes  spongiöser  Knochen  kann  vorkommen,  wie  bei  den  Röhren- 
knochen; Osteophlebitis  mit  ihren  Folgen  kann  sich  auch  hier  hinzu- 
gesellen, Ueber  die  Vorgänge  nach  Entblössung  des  Knochens  vom 
Periost,  über  die  Granulationsentwicklung  an  der  Oberfläche  compacten 
Knochengewebes,  über  die  oberflächliche  Nekrose,  die  dabei  vorkommt, 
haben  wir  schon  bei  Gelegenheit  der  Knocheneiterung  und  des  Heilungs- 
processes  offner  Fracturen  ausführlich  gesprochen,  und  icli  verweise  Sie 
deshalb  auf  jenes  Capitel  (pag.  229).  — 

Nur  das  will  ich  hier  noch  erwähnen,  dass  es  Fälle  von  acuten 
multiplen  Knochenentzündungen  giebt,  ähnlich  den  multiplen  acuten 
Gelenkentzündungen  (acuter  polyarticulärer  llheumatismus)  und  zwar 
treten  selbige  Knochenentzüudungen  theils  an  den  beiden  correspon- 
direnden  Knochen  der  unteren  Extremitäten  zugleich  auf,  oder  sie  folgen 
nach  einander,  meist  ascendirend;  z.  B.  Osteomyelitis  der  Tibia,  eitrige 
Kniegelenkentzündung,  Osteomyelitis  des  Femur,  eitrige  Hüftgelenkent- 
zündung; in  einem  Fall  kam  dann  noch  Osteomyelitis  des  andern  Olier- 
schenkels  und  eitrige  Coxitis  der  andern  Seite  hinzu.  Auch  solche  Fälle 
können  möglicher  Weise  noch  glücklich  ablaufen,  doch  ist  dies  äusserst 
selten,  meist  enden  sie  tödtlich.  — 

Es  hat  zu  mancherlei  Missverständuisseii  Veranlassung  gegeben,  dass  ieh  gesagt 
habe,  ieh  könne  mir  keine  Vorstellung  von  einer  acuten  Entzündung  des  Knochengewebes 
machen.  In  der  That  lassen  sich  auch  bei  acuter  Entzündung  der  Knochen  keine  A'er- 
änderungen  des  (fertigen  ausgewachsenen)  Knochengewebes  erkennen,  sondern  nur  \'er- 
änderungen  des  Knochenmarkes  und  seiner  Gefässe  und  des  Periostes  und  seiner  Getasse. 
Ich  unterschätze  die  chemischen  Veränderungen  (Ernährungsstörungen),  welche  bei  der 
Entzündung  in  den  Gewehen  vorgehen,  keineswegs;  doch  wir  kennen  sie  nicht,  wir  er- 
schliessen  sie  nur  aus  den  Veränderungen  der  Gewebe,  welche  wir  sehen.  Wir  sehen, 
dass  das  entzündete  Bindegewebe  quillt,  wir  sehen,  dass  es  trübe  wird,  wir  sehen,  dass 
es  von  Wanderzellen  inliltrirt  ist,  wir  sehen,  dass  es  erweicht,  endlich  zu  Eiter  zerfliesst; 


009  Von  den  acuten  Entzinidiingen  der  Gelenke. 

wir  sehen,  dass  dies  Alles  in  wenigen  Tagen  vor  sich  geht.  Am  Knochengewebe  sehen 
wir  nichts  von  allen  diesen  Veränderungen:  dass  es  bei  acuter  Entzündung  quillt,  sehen 
wir  nicht,  dass  seine  Gewebslii-ken  (mit  Ausnahme  der  Haversischen  Kanäle),  seine  Kanäle 
mit  Wanderzollcn  erfüllt  sind,  sehen  wir  nicht;  dass  es  nicht  acut  eitrig  erweicht,  wissen 
wir.  Wir  kennen  nur  einen  Ausgang  der  acuten  Knothengewebsentzündung:  den  Tod,  die 
Nekrose.  Es  lässt  sich  daher  nur  sagen:  es  ist  wahrscheinlich,  dass  auch  bei  der  acuten 
Entzündung  des  Knochengewebes  Ernährungsstörungen  vor  sich  gehen,  wie  bei  der  Ent- 
zündung des  Bindegewebes;  doch  einen  morphologischen  Ausdruck  dafür  giebt  es  nicht, 
oder  kann  es  vielmehr  der  Natur  des  Knochengewebes  nach  nicht  geben. 


Wiv  kommen  mm  zu  den  acuten  Gelenkentzündungen.  Da 
wir  schon  von  der  traumatischen  Gelenkentzündung  g-esprochen  haben, 
so  sind  Sie  im  Allgemeinen  über  manche  Eigeuthümlichkeiten  erkrankter 
Gelenke  orientirt.  Ausserdem  ist  Ihnen  schon  von  den  serösen  Häuten 
bekannt,  dass  sie  grosse  Neigung  haben,  flüssiges  Exsudat  bei  Eeizungs- 
zuständen  abzuscheiden,  dass  aber  ausserdem  dies  Exsudat  auch  Eiter 
enthalten  kann,  wenn  die  entzündliche  Reizung  eine  sehr  intensive  ist. 
Wie  es  eine  Pleuritis  mit  Erguss  von  serös-fibrinöser  Flüssigkeit  (die  ge- 
wöhnliche Form)  und  eine  Pleuritis  mit  eitrigem  Erguss  (das  sogenannte 
Empyem)  giel)t,  so  sprechen  wir  auch  bei  den  Gelenken  von  seröser 
Synovitis  oder  Hydrops  und  von  eitriger  Synovitis  oder  Empyem ;  beide 
Krankheitsformen  können  chronisch  oder  acut  sein,  und  ziehen  auch 
weiterhin  verschiedene  Erkrankungsformen  des  Knorpels,  des  Knochens, 
der  Gelenkkapsel,  des  Periostes  und  der  umliegenden  Muskeln  nach  sich. 
Sie  werden  sehen,  dass  es  immer  verwickelter  mit  diesen  Krankheits- 
processen  wird,  je  complicirter  der  erkrankte  Theil  ist.  Man  hat  in 
neuerer  Zeit  viel  Gewicht  darauf  gelegt  (besonders  die  französischen 
Chirurgen),  den  anatomischen  Verhältnissen  entsprechend,  erst  von  den 
Krankheiten  der  Synovialmembran,  dann  von  den  Krankheiten  der 
Knorpel,  dann  der  Gelenkkapsel,  dann  der  Knochen  zu  sprechen.  So 
berechtigt  diese  Eintheilung  sein  würde,  wenn  es  sich  hier  allein  um 
eine  Darstellung  der  pathologisch-anatomischen  Veränderungen  handelte, 
so  wenig  ist  diese  Art  der  Behandlung  des  Gegenstandes  praktisch 
brauchbar.  Dem  Arzt  tritt  immer  die  Gelenkerki-ankung  als  Ganzes  vor 
Augen,  und  wenn  er  auch  Avissen  muss,  ob  diese  oder  jene  Theile  des 
Gelenkes  mehr  leidend  sind,  so  ist  dies  doch  nur  ein  Theil  der  von 
ihm  aufzuwendenden  geistigen  Thätigkeit;  Verlauf,  Art  der  Erscheinungen, 
Allgemeinzustand  nehmen  seine  Aufmerksamkeit  in  gleichem  Grade  in 
Anspruch  und  bestimmen  sein  therapeutisches  Handeln.  Die  gesammte 
klinische  Erscheinungsform  wird  daher  bestimmend  sein  auf  die  Ein- 
theilung dieser,  wie  vieler  anderer  Krankheiten. 

"Wir  sprechen  jetzt  nur  von  den  scheinbar  spontan  entstehenden 
acuten  Gelenkentzündungen.  Die  Ursache  ihrer  Entstehung  ist  in  vielen 
Fällen  eine  nachweisbare  starke  Erkältung,  in  andern  Fällen  erfährt  man 


V.u-lcsun-  22.     Cui)ilcl  Xr.  383 

gar  niclits  darüber.  Eiiiig'c  der  iiielir  siihacuten  l'^ällc  «lud  metaatati.sflier 
Natur  und  treten  mit  dem  Cesammt))ilde  der  i^yoliämic  auf.  .letzt 
handelt  es  sieh  aber  zunäclist  nielit  um  letztere,  sondern  um  die 
idiopatliiseli  entstehenden  Entzündungen,  die  man  im  Gegensatz  zu  den 
traumatischen  ^Yohl  als  rheumatische  bezeichnen  bürt,  weil  sie  oft 
durch  Erkältung  entstehen.  —  Die  Kranken,  welche  wegen  solcher  acutei- 
Gelenkentzündungen  Ihre  Hülfe  in  Ansjji'uch  nehmen,  werden  etwas  vei"- 
schiedene  Erscheinungen  darbieten.  Halten  wir  uns  beispielsweise  wieder 
an  das  Kniegelenk,  so  bietet  sich  Hmen  etwa  folgendes  Bild  dar:  ein 
kräftiger,  übrigens  ganz  gesunder  Mensch  hat  sich  ins  Bett  gelegt,  weil 
seit  ein  oder  zwei  Tagen  sein  Knie  geschwollen,  heiss  und  sclimerzliaft 
ist;  Sie  constatiren  dies  bei  Untersuchung  des  Knies,  fühlen  zugleicli 
deutliche  Fluctuation  im  Gelenk  und  linden,  dass  die  Patella  etwas 
erhoben  ist,  und  dass  dieselbe  immer  wieder  emporsteigt,  wenn  sie 
heruntergedrückt  wird;  die  Haut  des  Kniegelenks  ist  nicht  gerüthet,  der 
Kranke  liegt  mit  ausgestrecktem  Bein  im  Bett,  ist  fieberfrei  und  kann 
auf  Geheiss  das  Knie,  wenn  auch  mit  etwas  Beschwerde,  beugen  und 
.strecken;  die  ganze  Untersuchung  ist  massig  schmerzliaft.  Sie  haben 
es  hier  mit  einer  acuten  serösen  Syuovitis  zu  thun,  einem  Hydrops 
genu  acutus.  Anatomisch  verhält  sich  dabei  das  Gelenk  folgender- 
maassen;  die  Synovialmembran  ist  leicht  geschwollen  und  massig 
vascularisirt;  die  Gelenkhöhle  mit  Serum  erfüllt,  welches  sich  mit  der 
Synovia  gemischt  hat,  in  der  Flüssigkeit  befinden  sich  einige  Fibrin- 
flocken; alle  übrigen  Theile  des  Gelenks  sind  gesund.  Der  Zustand 
verhält  sich  anatomisch  genau  so,  wie  bei  einer  subacuten  Bursitis 
tendinum  oder  bei  einer  massigen  Pleuritis.  Diese  Krankheit  der  Ge- 
lenke ist  gewöhnlich  leicht  zu  heilen:  ruhige  Lage,  wiederholter  Anstrich 
mit  Jodtinctur  oder  einige  Vesicantien,  auch  Compressivverbände  mit 
nassen  Binden  genügen,  um  den  Zustand  in  einigen  Tagen  zu  beseitigen, 
oder  wenigstens  ihm  seine  Acuität  zu  nehmen ;  denn  es  kann  sich  ereignen, 
dass  alle  Erscheinungen  des  acuten  Processes  verschwinden,  der  Kranke 
geht  umher  und  hat  kaum  irgend  eine  Beschwerde,  doch  bleiljt  zu  viel 
Flüssigkeit  im  Gelenk,  es  bleibt  ein  Hydrops  chronicus  des  Gelenks 
zurück,  wovon  später.  — 

Sie  werden  zu  einem  andern  Kranken,  wieder  mit  Kniegelenkent- 
zündung gerufen.  Der  junge  Mensch  hat  sich  vor  einigen  Tagen  sehr 
heftig  erkältet,  er  verspürte  bald  darauf  Schmerzen  im  Knie,  bekam 
heftiges  Fieber,  vielleicht  einen  tüchtigen  Fieberfrost,  das  Gelenk  wurde 
immer  schmerzhafter.  Der  Kranke  liegt  im  Bett  mit  fiectirtem  Knie, 
und  zwar  so,  dass  er  den  Oberschenkel  zugleich  stark  nach  aussen  rotirt 
und  abducirt  hat;  er  widersteht  jedem  Versuch,  das  Bein  aus  dieser 
Lage  zu  bringen,  weil  er  furchtbare  Schmerzen  hat,  so  wie  man  das 
Bein  nur  zu  bewegen  versucht.  Das  Kniegelenk  ist  stark  geschwollen, 
sehr  heiss  anzufühlen,  doch  ist  keine  deutliche  Fluctuation  wahrnehmbar, 


gcj^  Von   den    acuten   Enlzündnngen   der  f4e]enke. 

die  Haut  ist  leif-lit  ödeiiiatüs  und  aul'  dem  Knie  auch  wold  etwas  geröthet, 
auch  dei-  ganze  Unterschenkel  ist  ödematös  geschwollen;  das  Knie  zu 
strecken  oder  Aveiter  zu  beugen  ist  wegen  der  Schmerzen  unmöglich.  — 
Welch  ein  anderes  Bild  im  Vergleich  zu  dem  friilieren!  Haben  Sie 
Gelegenheit,  ein  Gelenk  in  diesem  Zustand  zu  uutersuclien,  so  finden 
Sie  starke  Schwellung  der  Synovialmembran ;  dieselbe  ist  intensiv  roth, 
gewulstet,  und  zeigt  sich  bei  mikroskopischer  Untersuchung  stark 
plastisch  und  serös  intiltrirt;  in  der  Gelenkhöhle  ist  gewöhnlich  wenig 
mit  Synovia  gemischter  flockiger  Eiter,  auch  wohl  ziemlich  reiner  Eiter. 
Der  Knorpel  sieht  auf  seiner  Oberfläche  ein  wenig  trüb  aus,  zeigt  aber 
bei  mikroskopischer  Untersuchung  kaum  Veränderungen  ausser  einer 
Trübung  der  hyalinen  Substanz,  vielleicht  sind  die  Knorpelhöhlen  etwas 
vei'grössert,  und  die  Zellen  darin  etwas  undeutlicher  als  im  normalen  Zu- 
stande. Das  Gewebe  der  Gelenkkapsel  ist  ödematös  durchtränkt.  Sie 
haben  hier  eine  parenchymatöse  eitrige  sehr  acute  Synovitis  vor 
sich,  an  der  sich  schon  der  Knorpel  mit  zu  betheiligen  droht;  dauert  der 
Zustand  etwas  länger  und  nimmt  der  Eiter  im  Gelenk  zu,  so  können 
Sie  mit  Piecht  von  einem  Empyem  des  Gelenks  reden. 

Der  Unterschied  zwischen  der  ersten  und  zweiten  Form  acuter 
Synovitis  bestellt  wesentlich  darin,  dass  bei  der  zweiten  das  Gewebe  der 
Synovialmembran  tief  mitleidet,  w^ährend  bei  der  ersteren  die  erhöhte 
secretorische  Leistung  in  den  Vordergrund  tritt.  Zwischen  beiden  For- 
men liegen  Fälle  mit  subacutem  Verlauf,  in  welchen  das  Secret  eitrig 
wird  und  sich  in  grosser  Menge  im  Gelenk  ansammelt,  ohne  dass  eine 
tiefere  Destruction  der  Synovialmembran  eintritt.  E.  Volk  mann  nennt 
das  „catarrhalische  Gelenkentzündung";  die  Schmerzhaftigkeit  ist  dabei 
etwas  grösser  wie  beim  gewöhnlichen  acuten  Hydrops,  aus  welchem  die 
catarrhalisch  eitrige  Form  wohl  hervorgehen  kann,  wenn  dies  auch  un- 
gemein selten  der  Fall  ist.  Ueber  Verlauf  und  Behandlung  des  acuten 
Hydrops  habe  ich  bereits  das  Nöthige  gesagt.  Was  den  weiteren  Ver- 
lauf und  Ausgang  der  mehr  parenchymatösen,  zur  Eiterung  disponirenden 
Synovitis  betrifft,  so  kommt  dabei  sehr  viel  darauf  an,  wann  die  Be- 
handlung und  welche  Behandlung  eintritt.  Gewöhnlich  werden  einige 
Blutegel  an  das  Gelenk  gesetzt,  und  Kataplasmen  gemacht  in  der  Idee 
der  alten  Schule,  dass  rheumatische  Gelenkentzündungen  mit  Wäiine 
behandelt  werden  müssen.  Die  Blutegel  halte  ich  für  ganz  nutzlos  bei 
diesen  Zuständen;  über  das  Warmhalten  des  Gliedes  lässt  sich  vielleicht 
noch  streiten,  den  Kranken  ist  die  Wärme  oft  sehr  angenehm,  sie  mil- 
dert entschieden  die  Schmerzen  bei  der  Entzündung  der  serösen  Häute, 
oft  mehr  als  die  Kälte,  wenigstens  muss  diese  längere  Zeit  eingewirkt 
haben,  bis  der  günstige  Einfluss  erfolgt.  Ich  erkläre^  mir  dies  folgeuder- 
maassen;  durch  die  warmen  Umschläge  wird  ein  Blutzufluss  zu  den  Ge- 
fässen  der  Haut  unterhalten  und  dadui-ch  entleeren  sich  die  Gefässe  der 
Synoviiiluicuihran  nielir  oder  weniger  nach  aussen,  diese  Wirkung-  wird 


aber  nicht  gar  larig'c  aiilialteu,  1):il(l  Avird  sich  (li(^  Miixioii  zu  (l(;ii  ciit- 
zliiuletcii  ticfer(Mi  Thoilcii  "wicdci'  liorstclIcMi  wit;  IViilicr,  und  stHrkur  wcidiMi 
als  7Ai  der  kiiiistlicli  crwärmlen  llaiii.  Dagegen  ziehen  sieh  bei  der 
Application  einer  grossen  Eisblase  auf  ein  Gelenk  die  Gefässc  der  Haut 
zusammen,  und  treiben  anfangs  vielleiclit  stärker  als  zuvor  das  P)lut  in 
die  tiefer  liegenden  entzündeten  Tlicile,  bis  alhnählig  aucb  auf  diese  sieb 
die  contraliirendc  Wirkung  der  Kälte  äussert  und  bei  fortgesetzter  Kälte 
andauert.  Rationeller  bleibt  es  immer  in  diesen  Fällen,  Kälte  anzuwenden; 
bei  recht  acuten  Gelenkentzündungen  bewährt  sicli  die  Anwendung 
der  Eisl)lasen  auch  praktisch  in  hohem  Maasse.  Sie  können  ne1)eu  der 
Kälte  noch  durch  einen  starken  Jodanstrich  eine  kräftige  Ableitung  auf 
die  Haut  erzielen,  oder  dasselbe  durch  ein  Vesicatoire  monstre  zu  er- 
reichen suchen.  Neben  diesen  Mitteln,  ja  noch  A^or  ihrer  Anwendung 
ist  es  aber  von  der  allergrössten  Wichtigkeit,  das  Gelenk 
in  eine  zweckmässige  Stellung  zu  bringen  und  darin  zu 
erhalten,  denn  wenn  es  nicht  gelingt,  eine  llestitutio  ad  integrum 
des  Gelenkes  zu  erreichen,  wenn  das  Gelenk  steif  l)leibt,  so  ist  die 
oft  sehr  stark  flectirte  Stellung  des  Knies  eine  sehr  ül)le  ljeigal)e  zur 
Steifheit,  weil  das  Bein  dann  nicht  oder  nur  wenig  gebraucht  werden 
kann.  Warum  die  acut  erkrankten  Gelenke,  besonders  bei  intensiver 
suppurativer  Synovitis  fast  immer  unwillkührlich  in  die  flectirte  Stellung 
gerathen,  ist  eine  schwierige  Frage,  die  in  verschiedener  Weise  beant- 
wortet worden  ist:  man  hat  gemeint,  dass  durch  die  Entzündung  der 
Gelenke  in  Folge  der  starken  Reizung  der  sensiblen  Nerven  der  Syno- 
vialmembran  eine  Art  reflectorische  Wirkung  auf  die  motorischen  Muskel- 
nerven erfolge,  und  so  die  Muskeln  zur  Zusammenziehung  veranlasst 
werden.  Bonnet,  ein  französischer  Chirurg,  der  sehr  grosse  Verdienste 
um  die  Behandlung  der  Gelenkkraukheiten  hat,  glaubte,  dass  bei  starker 
Anfüllung  des  Gelenks  mit  Eiter  oder  auch  durch  die  Schwellung  der 
Synovialis  das  Gelenk  aus  mechanischen  Gründen  die  flectirte  Stellung 
annehme,  indem  die  Gelenkhöhle  geräumiger  sei  in  der  Flexionsstellung 
als  in  der  Extensionsstellung ;  er  hat  dies  dadurch  zu  beweisen  gesuclit, 
dass  er  an  Leichen  Injectionen  von  Flüssigkeiten  in  die  Gelenke  maclite 
und  durch  starke  Füllung  die  Gelenke  in  die  flectirte  Stellung  l)raehte. 
Hiergegen  lässt  sich  einwenden,  dass  bei  Hydrops  acutus,  wo  viel  mehr 
Flüssigkeit  im  Gelenk  zu  sein  pflegt,  als  bei  der  eitrigen  Synovitis,  die 
Flexionsstellung  nicht  eintritt,  dass  ferner  bei  acuten  Gelenkentzündungen, 
in  welchen  ich  mich  von  der  vollkommenen  Abwesenheit  von  Flüssigkeit 
zu  überzeugen  Gelegenheit  hatte,  doch  Flexionsstellung  eintrat.  Mich 
will  es  bedünken,  dass  die  acute  wulstige,  sehr  schmerzhafte  Schwellung 
der  Synovialmembran  die  hauptsächlichste  Veranlassung  zu  der  Flexions- 
stellung giebt,  und  ich  möchte  daher  die  Erklärung  für  richtiger 
halten,  nach  Avelcher  der  Schmerz  der  Reiz  ist,  in  Folge  dessen  sich 
die  Muskeln   der  Extremitäten   zusammenziehen:    auch   andere  Muskeln, 


QQß  Von  den   acuten   Entziindungen   der  Gelenke. 

in  deren  Nähe  acute  sclimerzliafte  Euipiiuduugeu  auftreten,  ziehen  sich 
zusammen,  z.  B.  die  Halsmuskeln  bei  tiefliegenden  Abscessen  am 
Hals.  --  Die  fehlerhafte  Stellung-  muss  beseitigt  Averden,  und  ZAvar  für 
jedes  Gelenk  so,  dass  die  Stellung  desselben  für  den  Fall  vollkommener 
Steifheit  relativ  am  günstigsten  ist  für  die  Function.  Das  Hüft-  und 
Kniegelenk  sind  also  zu  extendiren,  das  Fussgelenk  ist  in  einen  rechten 
Winkel  zu  stellen,  ebenso  das  Ellenbogengelenk;  die  Hand-  und  Schulter- 
gelenke verstellen  sich  selten;  ersteres  bleibt  gewühnlicli  extendirt; 
letzteres  stellt  sich  gewöhnlich  so,  dass  der  Arm  am  Thorax  liegt.  Ich 
will  hier  gleich  bemerken,  dass  die  verschiedenen  grösseren  Gelenke 
äusserst  verschieden  häufig  acut  erkranken;  das  Kniegelenk  erkrankt  am 
häufigsten,  dann  folgt  das  Ellenbogen-  und  Handgelenk ;  acute  Entzündung 
des  Hüft-,  Schulter-,  Fussgelenks  sind  schon  Seltenlieiteu.  Die  acuten 
Gelenkentzündungen  sind  häufiger  bei  jungen  Leuten  als  bei  älteren, 
kommen  bei  Kindern  fast  nie  vor.  —  Doch  kommen  Avir  jetzt  wieder 
auf  die  Verbesserung  der  Stellung  der  Gelenke!  Sie  werden  mir  ein- 
wenden, dass  dies  wegen  der  Schmerzen  wohl  unmöglich  sein  dürfte. 
Hier  hilft  das  Chloroform;  dies  Mittel  ist  gerade  für  die  Behandlung  der 
Gelenkentzündungen  von  der  allergrössten  Bedeutung  geworden.  Sie 
narkotisireu  den  Kranken  tief,  und  können  jetzt  ohne  Mühe  das 
Glied  bewegen;  die  Muskeln,  welche  sich  früher  bei  der  leisesten  Be- 
rührung des  Beines  stark  zusammenzogen,  geben  jetzt  ohne  Weiteres 
nach.  Bleiben  wir  bei  unserem  früher  supponirten  Fall,  so  extendiren 
Sie  also  das  Knie,  hüllen  dasselbe  mit  einer  dicken  Schicht  Watte  ein,  und 
legen  nun  einen  Gypsverband  an,  vom  Fuss  bis  etwas  über  die  Mitte  des 
Oberschenkels  hinauf.  Wenn  der  Kranke  aus  der  Narkose  erwacht,  so 
wird  er  anfangs  über  ziemlich  heftigen  Schmerz  klagen;  Sie  geben  ihm 
'/  Gran  (oder  0,02  Grammes)  Morphium  und  appliciren  über  dem  Gyps- 
verband auf  das  Knie  eine  oder  zwei  grosse  Eisblasen;  die  Kälte  wirkt 
langsam  aber  zuletzt  doch  durch,  und  nach  24  Stunden  findet  sich  der 
Kranke  leidlich  behaglich  in  seiner  neuen  Lage.  Die  leichte  Compression. 
welche  durch  den  stark  wattirten  Gypsverband  ausgeübt  wird,  wirkt  auch 
günstig  antiphlogistisch;  Sie  können  bei  bestehendem  Fieber  innerlicli 
kühlende  Mittel,  auch  Purgantia  reichen;  einer  weiteren  Behandlung  bedarf 
jedoch  der  Kranke  nicht.  Bevor  Sie  den  Verband  a])pliciren,  kCumen  Sie 
das  Glied  stark  mit  grauer  Quecksilbersalbe  einreiben  lassen ,  oder  mit 
Jodtinctur  bestreichen.  Doch  selbst  in  dem  acutesten  Zustand  ist  es  Pflicht, 
den  Verband  anzulegen,  natürlich  mit  äusserster  Vorsicht,  mit  Vermeidung 
jedes  strangulirenden  Druckes.  In  neuerer  Zeit  hat  sich  ergeben,  dass 
auch  bei  sehr  acuten  Gelenkentzündungen  durch  die  moderne  Methode 
der  Gewichtsextension  ganz  Ueberraschendes  geleistet  wird;  es  ist  in  der 
That  h()chst  interessant  zu  beobachten,  wie  durch  einen  continuirlichen 
massigen  Zug  der  Schmerz  im  Gelenk  gemildert  wird  und  die  lAIuskeln 
nachgeben;    dabei    kommt    aber   viel    auf  Vehims;    im   Anle£en    solcher 


Vorlosmifr  9i>.       C;i|,i(cl    Xf.  P^37 

E\tciisionsvcrl);iiHlo  an,  iiiul  kann  icli  Ilincn  nic.lit  g-cnng-  empfehlen,  Ilire 
Anfnievksamkeit  luicli  nuf  diese  siclieiiibar  so  einfViclien  mcclianisclien 
Ding'e  zu  verwenden,  deren  ganze  Wiclit.igkeit  Sie  erst  sr-liätzen  wei-dcn, 
wenn  Sie  in  der  Praxis  selbstständig-  handeln,  und  Alles  bis  auf  das 
kleinste  Detail  selbst  machen  sollen. 

Werden  Sie  reclit  früh  zu  dem  Patienten  gerufen,  so  wird  es  Ihnen 
in  manchen  Fällen  gelingen,  nicht  allein  die  Acuität  des  Zustande«  durch 
die  angeführte  Behandlung'  zu  brechen,  sondern  auch  Ihrem  Kranken  ein 
bewegliches  Gelenk  zu  erhalten.  Doch  auch  wenn  Sie  erst  spät  hinzu- 
gerufen  werden,  ist  die  angegebene  Tliera})ie  zunächst  in  Anwendung 
zu  ziehen.  Mildern  sich  die  Schmerzen,  hört  das  Fieber  auf,  so  können 
Sie  nach  wenigen  Wochen  den  Verband  entfernisn;  denn  mehre  Wochen 
dauert  der  Zustand  unter  allen  Umständen:  vielleicht  dauert  es  3 — 5  Mo- 
nate, bis  der  Entziindungsprocess  vollkommen  erloschen  ist;  allmählig 
wird  der  normale  Zustand,  die  frühere  Beweglichkeit  wieder  eintreten, 
wobei  Sie  den  Patienten  vor  neuen  Erkältungen,  vor  zu  forcirten  Hebun- 
gen der  Bewegung-  sehr  ernstlich  warnen  müssen,  denn  ein  zweites  Mal 
möchte  die  Sache  nicht  so  gut  ablaufen. 

Setzen  wir  jetzt  den  Fall,  der  acute  Entzündungsprocess  würde  bei 
der  eingeschlagenen  Behandlung-  nicht  regressiv,  sondern  bliebe  progressiv, 
so  kann  diese  Progression  in  chronische  Form  übergehen  oder  acut  blei- 
ben; von  ersterem  Falle  haben  wir  später  zu  sprechen.  Für  jetzt  nehmen 
wir  einmal  an,  die  Schmerzen  Hessen  nicht  nach,  sondern  werden  heftiger 
und  Sie  sind  dadurch  genöthigt,  den  Verband  der  Länge  nach  vorn  auf- 
zuschneiden; Sie  tinden  das  Knie  mehr  geschwollen,  zumal  deutliche 
Fluctuation,  starkes  Schwappen  der  Patella;  dabei  fiebert  der  Patient 
heftig-.  —  Lassen  *Sie  jetzt  die  Sache  gehen,  so  kann  es  sich  ereignen,  dass 
sich  die  Schwappung  weiter  und  weiter,  z.  B.  nach  dem  Oberschenkel 
hinauf  verbreitet,  und  dass  das  Unterhautzellgewebe  des  Oberschenkels 
und  Unterschenkels  an  dem  eitrigen  Entzündung-sprocess  Theil  nimmt. 
Man  suchte  die  Ursache  zu  dieser  Ausbreitung-  früher  in  der  Regel  in 
einer  subcutanen  Berstung  oder  partiellen  Vereiterung  der  dem  Gelenk 
adnexen  Synovialsäcke,  besonders  des  g-rossen  Synovialsacks  unter  der 
Sehne  des  Quadriceps  femoris  und  der  Bursa  poplitea;  um  diesem  sehr 
üblen  Ereigniss  zuvorzukommen,  hielt  man  es  wohl  zweckmässig-,  in  dem 
beschriebenen  Stadium  der  Gelenkerkrankung  mit  einem  Trokar  in  die 
Gelenkhöhle  einzustechen,  den  Eiter  zum  grössten  Theil  auszulassen  und 
die  Oeffnung-  dann  sorgfältig  zu  schliessen.  Ich  halte  nach  meinen  eige- 
nen Erfahrungen  den  eben  angedeuteten  Vorgang  mindestens  für  sehr 
selten,  denn  ich  glaube  mich  durch  sorgfältige  Untersuchung  am  Kranken- 
bett wie  gelegentlich  an  Leichen  davon  überzeugt  zu  haben,  dass  diese 
bei  acuter  Synovitis  und  auch  bei  Ostitis  der  Geleukeuden  entstehenden 
periarticulären  Zellgewebsabscesse  isolirt  entstehen,  und,  wenn  überhaupt, 
erst  spät  ins  Gelenk  durchbrechen.    Mit  der  Entwicklung  dieser  Abscesse 

BilhutU  uliir.  Path.  u.  Tlier,    7.  Aufl.  22 


öoo  Von  (Ion  aciilen  P^nt^rmdunffcn  der  Gclfiikp. 

})liegt  sich  der  AUg'emeinzustand  des  Kranken  sehr  zu  veri^clilimmern. 
Diese  Verschlimmerung  besteht  in  sehr  hohem  Fieber  mit  intercurrenten 
Scliiittelfrösten,  Verfall  der  Gresichtsziige,  Abmagerung,  vollständiger  Ap- 
petitlosigkeit und  Schlaflosigkeit.  Clünin  und  Opiate  sind  zuletzt  -wir- 
kungslos, und  der  Kranke  Avird  durch  die  erschöpfende  Eiterung  und 
das  dauernde  heftige  Fieber,  vielleicht  auch  unter  Hinzutritt  metastati- 
sclier  Eiterungen  zu  Grunde  gehen,  wenn  sie  den  örtlichen  Process  nicht 
rechtzeitig  durch  die  Amputation  des  Oberschenkels  coupiren.  Gelingt 
es  Ihnen,  durch  Eisbehandlung,  Functionen  oder  Einschnitte  behufs  Ent- 
leerung des  Eiters,  durch  Chinin  und  Opium  den  Zustand  noch  jetzt  in 
seiner  Acuität  zu  brechen  und  ihn  in  einen  chronischen  überzuführen,  so 
"\Verden  Sie  kein  bewegliches  Glied  mehr  erhalten,  doch  ein,  wenn  auch 
in  gradem  Winkel  anchylosirtes,  ganz  wohl  brauchbares  Bein;  dies  ist 
der  schönste  Erfolg,  den  wir  nach  vielen  Tagen  oder  V/ochen  der  Angst 
und  Sorge  um  unsern  Kranken  erreichen  können,  wenn  die  Entzündung 
zu  dem  beschriebenen  Grade  gediehen  ist.  —  Die  anatomischen  Verän- 
derungen, welche  wir  an  einem  Kniegelenk  finden,  welches  sich  in  die- 
sem Grade  der  Entzündung  befindet,  sind  folgende:  das  Gelenk  ist  mit 
dickem,  gelbem  Eiter  gefüllt,  der  mit  Fibriuflocken  untermischt  ist;  die 
Synovialmembran  ist  mit  dicken  eitrig-fibrinösen  Schwarten  bedeckt,  dar- 
unter stark  geröthet  und  gewulstet,  zum  Theil  ulcerirt,  der  Knorpel  ist 
theilweis  erweiclit,  theilweis  ist  er  nekrotisch  geworden  und  löst  sich  in 
kleineren  oder  grösseren  Fetzen  ab,  der  darunter  liegende  Knochen  ist 
stark  geröthet,  aucli  wohl  eitrig  infiltrirt  (Osteomyelitis;  meist  in  diesen 
Fällen  als  secundäre,  seltner  als  primäre  Erkrankung). 

Die  Prognose  dieser  Krankheit  ist  bei  jüngeren  kräftigen  Leuten 
nicht  so  übel,  wenn  Sie  früh  die  zweckmässige  Behandlung  einleiten, 
sehr  schlecht,  fast  absolut  letal  bei  alten  decrepiden  Individuen. 


Ich  habe  Ihnen  in  dem  Vorigen  die  beiden  Formen  der  Synovitis, 
nämlich  die  serosa  und  pareuchymatosa  (purulenta)  an  typischen  Fällen 
gescliildert,  und  bin  überzeugt,  dass  Sie  in  Ihrer  Praxis  diese  Bilder 
leicht  wieder  erkennen  werden;  es  wird  Ihnen  keine  Schwierigkeiten 
machen,  das  am  Kniegelenk  Geschilderte  auf  andere  Gelenke  zu  über- 
tragen. —  Nun  muss  ich  hinzufügen,  dass  es  noch  eine  andere  acute 
oder  subacute  Entzüudungsform  an  den  Gelenken  giebt,  welche  manche 
Eigcnthümlichkeiten  bietet,  ich  meine  den  Rheumatismus  articulo- 
rum  acutus.  Diese  höchst  eigenthümliche  Krankheit,  welche  ausführ- 
licher in  den  Vorlesungen  über  innere  Medicin  behandelt  wird,  zeichnet 
sich  dadurch  aus,  dass  sie  meist  mehre  Gelenke  zugleich  befällt  und 
dass  dabei  eine  grosse  Disposition  zu  Entzündun-en  anderer  seröser 
Haute  besteht,  so  des  Peri-  und  Endocardium,  der  Pleura,  sehr  selten 
des    lerit(niaum    und    der   Arachnoidea.     Durch    diese    gleichzeitige  Er- 


Vc.rlosim--  '■>■>.     Capiicl    XI.  )>,))[) 

kmiikuiii»'  der  i^'ciiamileii  Tlicilc  inid  der  Ckdcnkc   kcnnzciclmct  sieli  die 
Krankheit  als  eine  solche,   die  von  vorn  herein  den  g'anzen  Körper   l)c- 
trifft;   in  der  Tliat  tritt  der  Wiehtig'keit   des  Organs  weisen  die  l*ei'icar- 
ditis  nnd  Endoearditis  oft  so  sehr  in  den  Vorderij,'rund  und  bestimmt  so 
sehr  die  Leituiii^'  der  i>'aiizen  Behandlung',  dass  die  ('hirurg-isclie  Tliera})ie 
der  (ielenke  von  untergeordneter  Bedeutung  Avird;  dies  ist  um  so  melir 
der  Fall,    als   diese   Geleukkrankheit,   wenngleich   äusserst   sehmerzhaft, 
selten   einen  für  das  Glied   oder  für  das  Leben  gefährlichen  Verlan  i'  zu 
nehmen   pflegt.     Grosse  Schmerzhaftigkeit    der   Gelenke  bei  jedem  Ver- 
such   der  Bewegung-   und  bei   Druck,    Oedem    der  Weichtlicile   um   die- 
selben, in  seltneren  Fällen  mit  gleichzeitiger  Röthung  der  Haut  sind  die 
riauptsymptome  des  örtlichen  Leidens,    über  v\' eiche  hinaus   der  Process 
selten   geht.     Aus   den  wenigen  Sectionsresultaten,    welche  von   diesem 
Krankheitsprocess  vorliegen,   ergiebt  sich,   dass   die  Synovia  etwas  ver- 
mehrt,  zuweilen  mit  Eiterflocken   vermischt,   und  die  Synovialmembran 
geschwollen  und  geröthet  ist;   der  Knorpel  leidet  sehr  selten  mit;   auch 
ist  die  Ansammlung  von  Flüssigkeit  selten  so  bedeutend,  dass  man  Fluc- 
tuation  wahrnehmen  könnte.  —  Der  Blieumatismus   acutus  kommt   sehr 
häulig  vor;   da  er  aber  selten  tödtlieh  ist,  so  ist  die  pathologisch -anato- 
mische Ausbeute    nicht   gross.     Nach  allen    den   Ersclieinungen,    welche 
diese  Krankheit  bietet,  ist  es  klar,  dass  sie  eine  ganz  specifische,  abgegrenzte 
Krankheit  eigener  Art  ist,  deren  Verlauf  aber  so  atypisch  ist,  und  deren 
Ursachen  so  dunkel  sind,  dass  man  ihr  eigentliches  Wesen  bisher  nicht 
ergründet  hat.     Es  ist  mir  zweifelhaft,   ob  man  neben  diesem  polyar- 
ticulären    Rheumatismus     acutus     von    einem    uiouarticulären 
Rheumatismus  acutus  spreeheu  darf,  weil  grade  iu  der  Multiplicität 
der  Entzündungsheerde  und  in  der  geringen  Neigung  dieses  Entzüudungs- 
processes  zur  Eiterung  etwas  Charakteristisches  für  das  Wesen  der  Krank- 
heit zu  liegen  scheint;   jedenfalls   würde  ich   eine   auf  ein   Gelenk    be- 
schränkte   Entzündung    nicht    eher    als    Theilerscheinung    des    ganzen 
Krankheitscomplexes  des  Rheumatismus  acutus  bezeichnen,  bis  sich  etwa 
Pleuritis  oder  Pericarditis   oder  sonstige  Processe   hinzugeseilen,  welche 
dem  Rheumatismus  acutus  eigenthümlich   sind;   ist  dies  nicht   der  Fall, 
so    haben  wir  es   eben  mit  einem  rein  localen  Process,    einer  einfachen 
Gelenkentzündung  zu  tliuu,    die  wir  nur  deshalb  vielleicht  rheumatisch 
nennen,  weil  sie  durch  Erkältung  entstanden  sein  soll.  ~  Was  den  Ver- 
lauf der  Gelenkentzündungen  bei  Rheumatismus  acutus   betrifft,    so  ist 
der  Ausgang   in  Zertheilung  und  vollständige  Herstellung   des  Gelenkes 
in  seiner  Function  so  sehr  das  Gewöhnliche,   dass  man  selten  einen  an- 
deren Ausgang  wahrnimmt.    Dass  die  Krankheit  sich  sehr  in  die  Länge 
zieht  und  meist  6—8  Wochen  dauert,  ist  nicht  so  sehr  in  der  Dauer  der 
Affection  au  den  einzelneu  Gelenken  begründet,  sondern  darin,  dass  bald 
dies  bald  jenes  Gelenk  befalleu  wird,   und  auch  leicht  wieder  Exacer- 
bationen  des  Processes  in   Gelenken  auftreten,    die  schon  wieder  ganz 


OyAQ  Von   dou   arntoii   Eiitziindiiiigcn   der  fielciikc. 

lievgestellt  waren;  dadurch  wird  diese  Krankheit  für  den  Patienten  wie 
für  den  Arzt  selir  langweilig-,  und  doch  bedarf  dieselbe  der  strengsten 
Ueberwachung  und  Sorgfalt,  um  alle  einwirkenden  Schädlichkeiten  ab- 
7.uhalten,  die  den  Process  aufs  Neue  anregen  könnten.  —  Dass  eines 
der  befallenen  Gelenke  dabei  zu  intensiverer  Eiterung,  zum  Empyem 
kommt,  ist  äusserst  selten;  elier  kommt  es  vor,  dass  ein  Gelenk,  trotz 
Ablauf  des  ganzen  Krankheitsprocesses,  schmerzhaft  und  steif  bleibt  und 
eine  chronische  Gelenkentzündung  sich  weiterhin  ausbreitet.  Sie  sehen, 
dass  die  Prognose  dieser  Krankheit,  so  weit  es  die  Gelenke  betrifft, 
äusserst  günstig  zu  nennen  ist;  es  laufen  diese  Gelenkentzündungen  meist 
ohne  Zuthun  des  Arztes  von  selbst  günstig  ab.  Alles,  was  wir  daher 
gegen  den  örtlichen  Process  unternehmen,  ist,  dass  wir  es  durch  Ein- 
hüllen mit  Watte,  Flachs,  Werg  oder  Wolle  vor  Temperaturdifferenzen 
zu  schützen  suclien.  Leichte  äussere  Hautreize,  Bestreichen  mit  der  ofti- 
cinellen  Jodtinctur  können  hinzugefügt  werden.  Zur  Linderung  der 
Schmerzen  in  den  Gelenken  und  zur  Beschleunigung  des  Ablaufs  des 
Processes  ist  von  Stromeyer  u.  A.  die  Anwendung  der  Eisblasen  und 
überhaupt  ein  mehr  kühles  als  Avarmes  Verhalten  empfohlen.  Ich  glaube 
indess  kaum,  dass  diese  Behandlung  viele  Anhänger  finden  wird,  weil 
sie  mühsam  durch  die  Beschaffung  und  die  Unterhaitang  der  Eisblasen 
ist,  und  weil  erfahrungsgemäss  diese  Gelenkentzündungen  auch  ohne 
eine  solche  Eisapplication  gut  verlaufen.  —  Innerlich  giebt  man  Diure- 
tica,  Diaphoretica  oder  kühlende  Salze,  bei  Herzaffectionen  ist  örtliche 
Antiphlogose,  Digitalis  u.  s.  w.  iudicirt,  wie  Ihnen  dies  in  der  speciellen 
Pathologie  und  medicinischen  Klinik  genauer  gelehrt  werden  wird. 


Dem  Rheumatismus  acutus  ähnlich  ist  der  acute  Anfall  der 
artliritischen  Gelenkentzündung.  Der  Anfall  von  Podagra  oder 
Chiragra  ist  ebenfalls  specifisch  und  gehört  eben  nur  der  ächten,  wahren 
Gicht  an,  die  Gelenkentzündung  ist  auch  hier  eine  acute,  seröse  Synovitis, 
jedoch  mit  äusserst  wenig  Secretion  von  Flüssigkeit  im  Gelenk;  was  aber 
der  acuten  arthritischen  Entzündung  ganz  eigenthümlich  ist,  das  ist  die 
nie  fehlende  gleichzeitige  Entzündung  der  umgebenden  Theile  des  Ge- 
lenkes, des  Periostes,  der  Sehnenscheiden,  besonders  aber  der  Haut;  diese 
röthet  sich  immer,  wird  glänzend,  stark  gespannt,  wie  beim  Erysipelas 
und  ist  äusserst  schmerzhaft,  desquamirt  auch  zuweilen  nach  dem  Anfall; 
die  acute  arthritische  Gelenkentzündung  ist  noch  weit  schmerzhafter  als 
die  Gelenkentzündungen  bei  Rheumatismus  acutus,  lieber  die  Behandlung 
der  Arthritis   und  die  arthritische  Diathese   wollen  wir   später  sprechen. 


Es  erübrigt  noch,  eine  Art  von  acuter  Gelenkentzündung  zu  erwähnen, 
nämlic'h  die  metastatische,  über  deren  Entstehung  wir  später  bei  der 


Voricsims  22.     C-ipilrl    \f.  34 J 

Pyolinniie  weiteres  zu  sag'on  haben.  Die  ;icute  (xler  subacute  mefasta- 
tische  Oelenkontziindung-  ist  g-ewülinlicli  eine  aulaiigs  mehr  seröse,  bahl 
aber  rein  suppiirative  Synovitis.  Es  hissen  sich  hier  mehre  Formen 
unterscheiden : 

1.  Die  gonorrhoische  Gelenkent/iindung;  sie  tritt  auf  bei 
Männern,  welclie  an  Tripper  leiden,  kommt  aucli  zuweilen  voi-  nach 
häufigem  Einführen  von  Boug'ies  in  die  llanirühre  und  befällt  fast  aus- 
schliesslich die  Kniegelenke.  Es  wird  von  manclien  Autoren  ])e!iaui)tet, 
dass  diese  Gelenkent/äindungcn  besonders  dann  zur  Entwicklung  konmien, 
wenn  ein  Tripper  schnell  unterdrückt  wird;  dies  kann  icli  nacli  meinen 
Erfahrungen  nicht  finden;  die  Krankheit  ist  im  Verhältniss  zu  dem  un- 
säglich häufig-  vorkonmiendeu  Tripper  selten,  doch  habe  ich  sie  mehre 
Male  bei  ganz  tloiidem  Tripper  nach  Erkältungen  entstehen  sehen.  Man 
könnte  vielleicht  den  unverständlichen  Zusammenhang  zwischen  dem 
eitrigen  Katarrh  der  Harnröhre  und  den  Kniegelenkentziindungen  ganz 
ableugnen,  und  das  gleichzeitige  Vorkonmien  beider  Krankheiten  für  ein 
rein  zufälliges  halten;  doch  spricht  die  Erfahrung  zu  vieler  Aerzte  für 
einen  solchen  Zusammenhang',  und  auch  die  Fälle,  in  welchen  Knie- 
gelenkentzündungen nach  anderen  Reizungen  der  Harnröhre,  z.  B.  durch 
Bougies,  entstehen,  sprechen  dafür.  —  Die  gonorrhoische  Gonitis  tritt 
meist  beiderseitig  auf  und  ist  eine  subacute  seröse  Synovitis,  die  sich 
in  der  Regel  bei  gehöriger  Ruhe  des  Patienten,  Vermeidung  von  neuen 
Reizungen  der  Harnröhre,  Anwendung  von  Vesicantien,  Jodtinctur,  leichter 
Compression  auf  die  erkrankten  Gelenke  bald  wieder  verliert  und  nach 
Resorption  der  Plüssigkeit  mit  vollständiger  Genesung  des  Gelenkes 
endigt.  Indess  bleibt  eine  Reizbarkeit  der  Kniegelenke  leicht  zurück, 
und  es  ist  nicht  selten  zu  beobachten,  dass  dieselben  Individuen  bei 
einem  neuen  Tripper  wieder  von  den  Gelenkentzündungen  befallen  werden. 
In  manchen  Fällen  soll  sich  chronischer  Gelenkrheumatismus  nach  go- 
norrhoischer Gonitis  ausbilden. 

2.  Die  pyohämische  Gelenkentzündung  etablirt  sich  auch 
sehr  häufig  in  einem  oder  dem  andern  Kniegelenk,  doch  auch  im  Fuss- 
gelenk,  Schulter-,  Ellenbogen-  und  Handgelenk,  selten  in  der  Hüfte;  sie 
ist  eine  purulente  Synovitis  in  optima  forma,  später  auch  mit  Vereiterung 
des  periarticulären  Zellgewebes  verbunden,  doch  meist  mit  subacutem 
Verlauf  und  daher  nicht  immer  vollständig  entwickelt,  wenn  die  Patienten 
zur  Section  kommen.  Nicht  immer  gehen  die  Pyohämischen  mit  Gelenk- 
eiterung zu  Grunde;  ich  habe  auch  schon  Resorption  in  solchen  Fällen 
beobachtet,  in  denen  die  Kranken  die  Eiterinfectiou  überhaupt  über- 
standen. Die  Behandlung  ist  keine  andere,  als  die  oben  erwähnte;  bei 
zu  starker  Ansammlung  von  Eiter  macht  man  die  Function  mit  gutem 
Erfolg  in  Betreff  der  Schmerzen.  —  Die  Gelenkeiterungen,  welche  bei 
Verletzungen,  Zerreissungen  der  Harnröhre  durch  unvorsichtiges  Cathe- 
terisiren  vorkommen  und  meist  mit  Schüttelfrösten  verbunden  sind,  ge- 


?A2 


Von   df'n   aciih'ti   Eiity.iin'lnn.m'n   'li^r   fielciik' 


lir»ren  selbstverständlich  niclit  zw  den  gonorrlioisclien,  sondern  zu  den  [lyo- 
liäniiselicn.  Ich  l)chandcltc  in  ßerlin  einen  jung-en  i\rann,  dem  eine  Eup- 
tur  der  Harnröhre  beim  Jjougiren  beigebracht  war,  und  (]er  darauf  einen 
Abscess  an  der  linl^en  Schulter  bekam  mit  Vereiterung  des  Acromial- 
ü-elenkes  der  Clavicula  und  dadurch  bedingter  Subluxation  dieses  Knochens. 
Der  Kranke  wurde  vollkommen  hergestellt,  und  da  der  Abscess  nicht 
gross  war,  wurde  er  nicht  eröffnet.  Ich  sali  den  jungen  Mann  nach 
einem  Jahr  wieder;  der  Abscess  war  etwas  kleiner  geworden,  man  fühlte 
ganz  deutlich  die  Fluctuation;  da  jedoch  durch  denselben  gar  keine 
Functionsstörung,  überhaupt  keinerlei  Beschwerden  veranlasst  wurden, 
und  der  Patient  blühend  und  gesund  war,  so  hütete  ich  mich  wold,  den 
Abscess  zu  öffnen  ,  und  rathc  Ihnen ,  dasselbe  in  ähnlichen  Fällen  bei 
solchen  kalten  Abscesseu,  die  nachw^eisbar  mit  Gelenken  communiciren, 
zu  thun,  da  man  wenig  durcli  die  Eröffnung  nutzt  und  viel  schaden 
kann,  weil  sich  dann  möglicher  Weise  eine  sehr  acute  Entzündung-  des 
Gelenks  aus  bilden  und  diese  unangenehme  Folgen  nach  sich  ziehen  kann. 

3.  Die  puerperale  Gelenkentzündung.  Das  Puerperal-  oder 
bösartige  Wochenfieber  ist  eine  Form  der  Pyohämie,  welche  sich  im 
Verlauf  des  V/ochenbettcs  entwickeln  kann.  Die  dabei  vorkommenden 
eitrigen  Gelenkentzündungen  fallen  daher  unter  die  eben  besprochene 
Kategorie  der  pyohämischen,  suppurativen  Synovitis.  —  Es  kommt  indess 
nach  abgelaufenem  Puerperium  in  der  3.,  selbst  noch  in  der  4.  Woche 
nach  der  Entbindnng  nicht  selten  eine  acute  eitrige  Entzündung-,  besonders 
des  Knie-  nnd  Ellenbogengelenks  vor,  die  in  Bezug  auf  ihre  Entstehung 
verschiedener  Deutung  unterworfen  ist.  Manche  nehmen  an,  es  sei  eine 
einfache  Form  von  acuter  Gelenkentzündung,  welche  in  Folge  von  Erkäl- 
tungen entstellt,  wozu  V>'öchnerinnen  besonders  disponirt  sind,  ^veil  sie 
viel  und  stark  transpiriren.  Andere  sind  der  Ansicht,  dass  auch  diese 
späteren  Gelenkentzündungen  eine  Avenn  auch  verschlei>pte  und  gewM"ilin- 
lich  isolirte  Theilerscheinung  der  Pyohämie  sind,  und  rechnen  dieselben 
daher  zu  den  metastatischen.  Mag  dem  nun  sein,  wie  ihm  wolle,  so  ist 
jedenfalls  sicher,  dass  diese  spät  auftretenden  Gelenkentzündungen  bei 
Wöchnerinnen  durchaus  nichts  Sp,ecifisches  darbieten;  sie  verlaufen  bald 
acut,  bald  subacut,  und  können  unter  passender  Behandlung  nicht  selten 
so  in  Schranken  gehalten  werden,  dass  das  Gelenk  beweglich  bleibt; 
doch  kommt  es  freilich  auch  vor,  dass  später  ein  mehr  chronischer  Ver- 
lauf eintritt  und  der  Ausgang  in  Anchylose  erfolgt;  im  Ganzen  ist  die 
Prognose  bei  diesen  Gelenkentzündungen  nicht  so  übel;  sie  erreichen 
selten  den  höchsten  Grad  der  Acuität.  Die  Behandlung  ist  dieselbe,  wie 
wir  sie  frülicr  schon  bei  der  acuten  eitrig-en  Synovitis  besprochen  haben. 

Erwähnen  will  ich  hier  noch,  dass  auch  bei  der  Pyohämie  Neug-e 
bor  euer  citrige  Gelenkentzündungen  vorkommen,  ja  zuweilen  Kinder 
nnt  solchen  Entzündungen  geboren  werden,  wie  es  von  mir  und  Anderen 
gesehen  worden  ist;  es  können  Gelenkentzündungen  während  des  Fötal- 


Vurlcsiiii-;   H.      AiiIiaiiK   /n   <'';i|iil''l   T-  XI.  J}-.]:-) 


lebens  entstehen,  sogar  vollstüiidii!,-  HJ>l;uircii ,  wie  ;uis  (lenjcni^cn 
•'     hervorg'cht,    in    woIcIkmi    KindcM-    mii    vollkoimiKMi    juis^childcü 
anchylosirtcu  Gelenken  zur  Welt  kouunen. 


'  ;illcii 
'II,     (loci) 


ANHANG    ZU    CAPITEL    I  — XL 
Rückblick.      Allgemeines  über  den  acuten  Entzünclungsprocess. 

Meine  Herren! 

Ich  ha.be  Ihnen  bisher  eine  Anzahl  klinisch-chirnrgischer  Bilder  vor- 
gefiilirt,  dnrch  Avelche  der  acnte  EntzUndnngsprocess  in  verscliiedenen 
Formen  repräsentirt  war.  Wir  haben  die  Verletzungen  und  ilire  Folgen, 
so  wie  die  ohne  Verletzungen  auftretenden  acuten  Erkrankungen,  welche 
ins  Gebiet  der  Chirurgie  fallen,  an  nnserer  Fantasie  vorübergehen  lassen 
und  dabei  die  gestörten  physiologischen  Frocesse,  die  Mittel  ihrer  Aus- 
gleichung und  die  Vorgänge  dieser  Ausgleichung  studirt.  Diese  Art 
der  Betrachtung  scliien  mir  anregend  für  Sie,  und  schien  mir  erlaubt, 
da  ich  voraussetze,  dass  Sie  bereits  einige  Kenntnisse  der  allgemeinen 
Pathologie  mitbringen ,  und  Sie  in  Ihre  Vorstellung  somit  bereits  An- 
knüpfungspunkte für  gelegentliche  pathologisch  -  pliysiologische  und 
histologische  Exeursen  hatten.  Es  dürfte  Inders  nicht  überflüssig  sein, 
wenn  ich  Ihnen  hier  zum  Schluss  dieses  ersten  und  umfangreichsten  Ab- 
schnittes unserer  Aufgabe  noch  ein  kurzes  Gesammtbild  von  dem  heu- 
tigen Stand  der  Entzündungsichre  gebe,  welche  durch  neuere  bedeutende 
Arbeiten  von  Cohnheim,  Samuel,  Arnold  u.  A.  wieder  erlieblich 
gefördert  wurde.  Ich  kann  mich  dabei  kurz  fassen  und  an  bereits 
Gesagtes  anknüpfen. 

Auch  hier  muss  ich  mit  der  Bemerkung  beginnen,  dass  wir  leider 
wegen  unserer  geringen  Kenntnisse  über  die  Mitbetheiligung  der  Nerven 
am  Entzündungsprocess,  diese  ausser  Betrachtung  lassen  müssen.  Gefässe, 
Blut  und  Gewebe  bilden  fast  ausschliesslich  die  Objecte  unseres  Studiums. 

Die  Erweiterung  der  Blutgefässe  ist  ein  wesentliches  Moment  bei  der  Entzün- 
dung; doch  weder  die  Hyperämie  durch  Behinderung  des  BUitstroms  in  den  Venen  (Stauungs- 
hyperämie), noch  die  Erweiterung  der  Arterien  durch  Paralyse  der  Geta.sswandungen  (z.  B. 
am  Ohr  des  Kaninchens  in  Folge  von  Durchschneidung  des  Halssynipathicus),  noch  die 
plötzlichen  primären  Gefässerweiterungen  nach  mechanischen  und  chemischen  Irritationen 
(primäre  Irritations-Fluxion)  führen  nothwendig  und  direct  zur  Entzündung.  —  L'eber 
die  letzterwähnte  Art  der  Gefässerweiteruug  habe  ich  noch  Einiges  zu  dem  früher  Gesagten 
hinzuzufügen.  Die  Erscheinung,  um  die  es  sich  handelt,  ist  folgende:  Sie  reiben  z.B. 
das  Auge,  es  wird  roth;  Sie  reilien  die  Haut,  sie  wird  roth:  Sie  appliciren  warmes  Wasser 
auf  die  Haut,  sie  wird  roth;  Sie  legen  Schnee  auf  die  Haut,  sie  wird  blass,  dann  roth. 
Alle    diese    Hautröthungen    gehen    sehr    bald    wieder   vorüber,    wenn    die    Ursachen    ihrer 


p  I  I  Kiickhiick.      All.i,'<'iii('iiies   iihi'r  dcii   aciitcMi   EiitziiiKluiigsprocess. 

J^iLslL-liuii"  nur  kiirzo  Zeit  wirkten  nnd  l)al(l  beseitigt  wurden.  Auf  die  Eulstehuug.^weise 
dieser  Hyperämien  beziehen  sich  die  vielen  früher  (pag.  63)  erwähnten,  jetzt  als  unzu- 
reichend erkannten  Erklärungsversuche.  Die  Erscheinung  selbst  ist  von  Cohnheini  voll- 
kommen "-ewürdigl;  doch  wenn  man  auch  hei  Einwirkung  von  Hitze  und  Kälte  und  bei 
clieniischen  Einwirkungen  an  einen  direct  und  momentan  lähmenden  Einfluss  auf  die 
Gcfässwaudungen  denken  wollte,  so  ist  nach  unsern  bisherigen  Vorstellungen  denn  doch 
die  Anschauung  etwas  befremdend,  dass  von  einer  circumscript  gedrückten  oder  gezerrten 
Stelle  aus  sich  eine  lähmende  Wirkung  auf  eine  erhebliche  Strecke  des  umliegenden  Gefäss- 
"■ebietes  nach  Art  einer  ijlrschütterung  oder  Wellenbewegung  ausdehnen  sollte.  Mir  scheint, 
wir  wissen  über  die  Ursachen  dieses  ..al'fluxus"  zum  „Stimulus"  auch  jetzt  nicht  mehr  als 
früher.  Wichtig  ist  es  aber,  dass  C  oh  n  he  im  gezeigt  hat,  dass  in  Fällen,  wo  nach  phy- 
sikalischen und  ehemischen  Einwirkungen  zweifellose  lilntzündungen  entstehen,  diese 
prinTären  Fluxionshyperämieu  bereits  längere  Zeit  vorübergegangen  sein  können,  ehe 
die  zur  Entzündung  führende,  mit  der  Entzündung  fortdauernde  neue  Hyperämie  auftritt: 
auch  kann  die  erwähnte  primäre  Fluxion  unter  gewissen  Verhältnissen  an  manchen 
Beobachtungsobjecten  ganz  ausbleiben  und  doch  folgt  eine  reguläre  Entzündung  mit 
specifischer  Entzündungshyperäune.  Hieraus  geht  hervor,  dass  die  fluxionäre  Blutströmung, 
welche  dem  Reiz  unmittelbar  auf  dem  Fusse  folgt,  kein  absolut  nothwendiges  Moment  bei 
der  Entzündung  ist. 

Ein  Kaninchenohr,  dessen  Gefässe  in  Folge  von  Sympathicus -Durchschneidung  ge- 
lähmt und  erweitert  sind,  geräth  dadurch  nicht  in  Entzündung;  sein  Gewebe  fühlt  sich 
durch  massiges  Oedem  wohl  etwas  praller  an,  doch  es  kommt  zu  keinem  weiteren  Process. 
zu  keiner  weiteren  Ernährungsstörung  in  den  Gefässen  und  im  Gewebe. 

Schwerere  Folgen  hat  freilich  eine  ausgedehnte  Stauungshyperämie.  Dass  eine  leichte 
intravasculäre  Drucksteigerung,  wie  sie  nach  massig  ausgedehnten  Verletzungen  vorkommt, 
rasch  vorüber  geht  und  nicht  für  die  Entzündung  als  solche  verwei-thet  wei'den  kann,  ist 
früher  (pag.  62)  erwähnt.  Erstreckt  sich  aber  die  Blutstauung  auf  ein'  sehr  ausgedehntes 
Gebiet,  und  kann  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  nicht  ausgeglichen  werden,  dann 
folgt  reichlicher  Austritt  von  Serum  in  das  Gewebe  (Oedem) ,  so  reichlich ,  dass  es  auch 
von  den  vielleicht  noch  functionirenden  Lymphbahnen  nicht  abgeführt  werden  kann;  zu- 
gleich kommt  es  zu  reichlichem  Austritt  rother  Blutkörperchen  durch  die  Wandungen  der 
Capillargefässe  (Diapedesis)  ins  Gewebe.  Schon  Cohnheim  hatte  es  für  wahrscheinlich 
erklärt,  dass  die  Diapedesis  durch  präformirte  Oeffnungen  der  Capillargefässe  erfolge.  Arnold 
hat  dies  nicht  nur  bestätigt,  sondern  geradezu  die  sogenannten  Stigmata  (d.  h.  die  kleinen 
Oeffnungen,  welche  nach  Silbertinction  zwischen  den  die  Capillaren  zusaumiensetzenden 
Zellen  sichtbar  werden)  als  diese  Austrittsstellen  bezeichnet  und  hinzugefügt,  dass  auch  das 
Blutserum  stromweise  aus  diesen  Stigmata  ausfliesse.  Ist  das  Circularionshlnderniss  der 
Art,  dass  dabei  doch  dauernd  das  Blut  fliessen  kann,  so  erfolgt  nichts  Weiteres  als  Oedem 
und  Diapedesis;   hört  die  Circulation  ganz  auf  und  gerinnt  das  Blut,  dann  folgt  Gangrän. 

Kommen  wir  nun  endlich  zu  derjenigen  Hyperämie,  wie  sie  bei  Entzündungen  besteht, 
so  ist  sie  also  weder  die  unmittelbare  Folge  des  vorübergehenden  Reizes,  noch  die  Folge 
einer  Lähmung  der  Gefässnerven,  noch  das  Resultat  von  Circulationshindernissen,  sondern  sie 
ist  die  Folge  einer  eigenthiunlichen  Alteration  der  Gefäss-  (zumal  der  Capillar-  und  Venen-) 
waiulungen;  es  lässt  sich  nicht  sagen,  welche  chemische  oder  physikalische  Veränderung 
dabei  in  den  Gefässwandungen  vorgeht:  wir  schliessen  aber  daraus,  dass  die  Gefässe  des 
Entzündungsbezirks  dauernd  erweitert  sind  und  dass  sie  den  massenhaften  Durchtritt  der 
weissen  Blutkörperchen  (uichl  nur  durch  die  präformirten  Stigmata,  sondern  an  jedem 
Punkt  ihrer  Wandung)  gestatten,  —  dass  die  Substanz  dieser  Gefässe  sich  in  einem  wei- 
clieren  nachgiebigeren  Zustand  befinden.  AVarum  sie  in  diesen  Zustand  gerathen,  das 
isi  freilich  nicht  für  alle  Fälle  so  leicht  zu  begreifen;  nuin  nimmt  es  als  direcren,  wenn 
auch  meist  erst  nach  Stunden  auftretenden  Effekt  der  Entzündungsursache  oder  des  Ent- 
zündungsreizes.    Es  erhel'on  sich  hier  fiir  die  Erklärung  des  Zustandekommens  der  wenn 


Vorlosmii^  'i'i.     AiiIiiuil;  /.ii  C-ipild   f  -  XL  845 

aiii'li  iii'cli  so  t:;(>riiiK  uiisftiMlolnilon  lCii(/,iiii(lmijfsräii(l('r  odor  10ii(/,ü)i(liiiif;sli((IV!  nach  j^hii/, 
scliair  li('!;i'('ir/.f(;Mi  Yorlcl/iniRoii  durcli  Scliiiilt  imd  Sticli  die  j^Icic-licii  S('liwicrij^l<(!i(:('ii,  wie 
lu'i  der  Erklärung  der  priuiänii  l''lii\iiiii.  Alan  niiiss  elien  willkührlifli  ann(dinicn,  dass 
sich  M\  (Ion  (/let'iissen  iil)eriiau|il  nie  eim'  SliuMiiig  genau  ;inl'  (his  direcl  ge(r(i(ilene  (iel)i('l 
lieschränken  kann,  sondern  das,s  sie  nnter  aUen  Unisfändini  sicli  eivvas  aiishreilen  rruiss, 
am  geringsten  iiei  Sclmilt,  Slicli  nnd  cii'cunisci'ipfen  schnellen  N'ci'kohinngcn ,  am  nicislen 
liei  gewissen  clunnisclien  l'^inwirkungen.  Dnrh  dies  isl  eigenllicli  keine  lOrklärnng.  sondern 
nur  eine  Umsehreihnng  (U'r   Beohachinng  seihsl. 

Berüeksiciiligen  wir  jel/.l  das  Blut  nnd  st'ine  Slrrinning  in  enf/.üiKlcIcn  (iewehcn. 
Die  primäre  b'iuxion  isl.  mit  einer  erhehlicli  gesteigerten  (Jeschwindigkeit  der  Bliilhewcgnng 
verlninden,  zumal  in  den  Arterien ;  diese  geht  zum  normalen  Modus  dei-  Bewegung  y.uriick, 
wenn  die  primäre  Gefässdilatation  zurückgehl.  In  den  Cieh'issen,  welciu'  dauernd  sich 
dilatiren,  im  Bereich  des  Entzündnngsheerdes  oder  Enlzünduiigshofes  nimmt  nach  und 
nach  die  Geschwindigkeit  der  Circnlation  ab,  zumal  in  den  Venen:  das  Bhit  gehl  auch 
wohl  stossweisc  hin  nnd  znrück,  staut  da  nnd  dort  gelegenllicli  vollständig.  Diese  Stase, 
die  zunächst  nocli  nicht  mit  Blutgerinnung  verhunch^n  ist,  wurde  friiher  als  ein  sehr  wesent- 
liches Zubehör  zu  einer  äcliten  Entzündung  lietrachtet,  und  liat  viele  Erkiäi-nngen  hervor- 
gerufen, die  für  uns  kaum  noch  Interesse  haben,  da  wir  wissen,  dass  viele  Entzündungen  ohne 
Stase  verlaufen,  sowie  dass  diese  Stase  sich  oft  trotz  fortschreitender  Entzündung  vvrieder 
löst;  wenn  sie  dauernd  bleibt,  tritt  endlich  Gerinnung  des  Blutes  im  Gefäss  (Thrombosis) 
ein,  mit  ihren  Consequenzen  nach  den  localen  Verhältnissen  nnd  nach  der  Ausdehnung 
der  Thrombose;  durch  coUaterale  Dilatation  kommt  es  entweder  zur  restitutio  ad  integrum 
des  in  der  Ernährung  bedrohten  Gewebsgebiets,  oder  es  konnnt  zur  Gangrän  desselben. 
Bei  der  anfangs  langsamen  und  nnregelniässig  werdenden,  später  wieder  normalen  Cir- 
culationsgeschwindigkeit  des  Blutes  in  dem  Entzündungsgebiet  häufen  sich  nach  und  nach 
viele  weisse  Blntzellen  an  den  Wandungen  der  kleinen  Venen  und  Capillaren  an.  und 
haften  hier  fest;  man  nennt  dies  „Randstellung  der  weissen  Blntkr.rperchen" ;  nun  beginnt 
die  Auswanderung  derselben  durch  die  Gefässwandung  ins  Gewebe,  die  interstitielle  An- 
fallung des  letzteren  mit  den  Wanderzellen  (zellige,  bei  massenhafim-  Znnalnne  eitrige 
Infiltration),  eventuell  die  Auswanderung  der  Zellen  auf  Oberflächen  (Flächeneiterung, 
eitriger  Catarrh,  Eitersecretion). 

Wir  haben  nun  das  vollständige  Bild  der  acuten  Entzündung  vor  uns;  doch  so  wie 
der  Process  schon  ^zur  Zelt  der  Gefässdilatation  und  Randstellung  der  weissen  Blnt/.ellen 
zurückgehen  kann,  so  kann  er  auch  noch  in  späteren  Stadien  bei  schon  ziendich  vor- 
geschrittener zellulärer  Infiltration  zurückgehen,  ohne  dass  an  dem  infiltrirt  gewesenen 
Gewebe  und  an  den  dilatirt  gewesenen  Gefässen  eine  sichtbare  Verändernng  zurückbleibt. 
Bei  einer  gewissen  Höhe  der  eitrigen  Infiltration  aber  verschwindet  das  infiltrirte  Gewebe 
völlig,  der  Eiter  tritt  ganz  an  seine  Stelle,  es  entw'ickelt  sich  ein  Abscess;  —  oder  es 
kommt  zu  einer  interstitiellen  Gewebsneubildung  (Granulationsgewebe,  entzündliche  Neu- 
bildung), welche  cJie  Stelle  des  entzündet  gewesenen  Gcwel>es  einninunt,  und  welches 
sich,  falls  es  nicht  durch  nekrobiotische  Processe  nachträglich  zu  Grunde  geht,  zu  Binde- 
gewebe (Narbe)  mit  Gefässen  und  Nerven  umbildet. 

Es  fragt  sich,  wodurch  wird  dieser  Schwund  des  entzündlichen  Gewebes  bedingt; 
war  derselbe  schon  durch  die  directe  Einwirkung  der  Entzündungsursache  vorbereitet, 
oder  ist  er  das  Kesultat  der  zelligeu  Infiltration?  Wir  konnnen  damit  auf  den  dritten 
wichtigen  Punkt  bei  der  Entzündung:  nämlich  auf  das  Verhalten  des  Gewebes  selbst 
bei  den  geschilderten  Vorgängen.  Bleiben  wir  zunächst  bei  den  durch  bekannte  chemische 
und  phj'sikalische  Ursachen  hervorgerufenen  Entzündungen  stehen,  so  ist  es  keinem  Z\veifel 
unterlegen,  dass  dieselben  unmöglich  auf  Gelasse  und  Blut  wirken  können,  ohne  zugleich 
auch  das  Gewebe  zu  treffen.  Samuel  geht  in  erster  Linie  von  den  chemisch  angeregten 
Processen  aus  und  erklärt  den  Process  der  Entzündung  für  das  Resultat  einer  Verbindung 
der  Entzündungsursaehe  mit  dem  Gewebe ,  der  Blntgefässwandungen  und  dem  Blut.     Die 


ß^ß  riiukfitick.      Allgemeines   über  den   acuten   Eiitziindiingsprocess. 

Auswanderung  der  Blutzellen,  ihre  Inültratioii  ins  Gewebe  und  die  sich  anschliessenden 
histopoetischen  Vorgänge,  sind  für  ihn  ganz  secundäre  Processe.  Fuhrt  die  Einwirkung; 
concentrirter  Schwefelsäure  auf  das  Gewebe  zu  einer  Metamorphose  des  letzteren,  bei 
welcher  Blut-  und  Saftcirculatiun  nicht  mehr  möglich  sind,  so  ist  das  Gewebe  direct  ge- 
tödtet;  der  veränderte  Zustand  aber,  in  welchem  sich  ein  Gewebe  befindet,  welches  eine 
ganz  verdünnte  Schwefelsäure  in  sich  aufgenommen  hat  (sei  es  am  Rand  einer  Aetzung 
mit  concentrirter  Säure,  sei  es,  dass  überhaupt  nur  sehr  diluirte  Säure  angewandt  wurde), 
diese  Störung  des  Gewebschemismus  durch  die  hinzukommende  Säure,  bei  welcher 
Blut-  und  Saftcirculation  doch  noch  existiren  können,  soll  das  Wesentlichste  bei  der 
Entzündung  sein.  Danach  würde  also,  wenn  ich  die  Auseinandersetzungen  Samuel's 
richtig  verstanden  habe ,  der  gestörte  Chemismus  in  den  entzündeten  Geweben  für  jeden 
speciellen  Fall  ein  anderer  sein,  ein  anderer  bei  Einwirkung  von  Säuren,  ein  anderer  bei 
Einwirkung  von  Alkalien,  ein  anderer  bei  Einwirkung  von  ätherischen  Oelen  (z.  B. 
Terpentinöl),  ein  änderer  bei  Einwirkung  von  scharfen  Oelen  (z.  B.  Crotonöl)  u.  s.  f. 
Der  Zustand  der  entzündeten  Gewebe  wäre  auch  wieder  ein  anderer  bei  Einwirkung 
niederer  Kältegrade,  ein  anderer  bei  Einwirkung  hoher  Hitzegrade,  ein  anderer  nach  Ein- 
wirkung von  Quetschung,  ein  anderer  nach  Wasserverdunstung  an  freigelegten  Flächen  seröser 
Häute  u.  s.  f.  —  So  würden  wir  ganz  darauf  verzichten  müssen,  uns  eine  einheitliche  Vor- 
stellung von  den  chemischen  Vorgängen  in  dem  entzündeten  Gewebe  zu  machen.  Ich  weiss 
nicht,  ob  diese  Anschauung  in  dieser  Fassung  viel  Anklang  finden  wird.  Bisher  haben 
wir  diese  veränderten  Gewebszustände  in  das  Gebiet  der  Entzündungsreize  mit  einge- 
schlossen, etwa  so  wie  wir  unter  Hirnerschütterung  nicht  nur  den  Moment  des  Erschütterns, 
sondern  auch  die  unmittelbaren  Folgen  dieses  Vorgangs  auf  das  Hirn  und  seine  Function 
zu  verstehen  pflegen;  folgt  auf  eine  Hirnerschütterung  eine  Hirnentzündung,  so  kann  der 
durch  die  Erschütterung  bedingte  veränderte  Zustand  des  Hirns  einen  Einfluss  auf  Art 
und  Ausbreitung  der  folgenden  Entzündung  haben;  man  pflegt  indess  nicht  zu  sagen,  das 
erschütterte  Hirn  sei  schon  ein  entzündetes.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  Quetschungen: 
ist  durch  eine  quetschende  Wii'kung  ein  Gewehe  in  seiner  normalen  Function  gestört, 
doch  die  Function  nicht  ganz  aufgehoben,  so  werden  darauf  die  Vorgänge  in  der  Blut- 
und  Saftcirculation  sich  anders  gestalten,  als  unter  normalen  Verhältnissen,  und  diese 
modificirte  Form  des  Gewebsiebens  pflegen  wir  Entzündung  zu  nennen,  nicht  aber  das 
unmittelbare  Resultat  der  Quetschwirkung.  —  Die  im  Wesentlichen  gleichen,  nur  nach  Ex- 
tensität und  Intensität  differenten  Vorgänge,  welche  auf  chemische,  physikalische  und 
mechanische  Eingriffe  in  rascher  Folge  in  den  Geweben  ablaufen,  sind  das,  was  wir  ge- 
meiniglich unter  Entzündung  zu  verstehen  pflegen,  und  dabei  spielt  das  Gewebe  selbst 
freilich  eine  wichtige  Rolle,  welche  chirch  die  Art,  wie  die  Entzündungsursache  bereits 
direct  aufs  Gewebe  eingewirkt  hat,  gewiss  sehr  modificirt,  doch  im  Wesentlichen  nicht 
geändert  werden  kann. 

Als  constantes  sichtbares  Resultat  des  acuten  Entzündungsprocesses  sehen  wir  jetzt 
die  Erweiterung  der  Venen  und  Capillaren  mit  Auswanderung  weisse»  Blutzellen  und  mit 
gewissen  Störungen  in  der  physiologischen  Function  der  betroffenen  Gewebe  an.  Damit 
dies  Alles  zu  Stande  kommt,  muss  freilich  eine  Function  der  Gefässe,  nämlich  die  Function, 
die  zelligen  Elemente,  das  Blut  in  den  von  ihnen  geformten  Bahnen  zu  erhalten,  gestört 
sein;  sollte  sich  aber  eine  derartige  Functio  laesa  in  der  That  nur  auf  die  Gefässwan- 
dungen  und  gar  nicht  auf  das  dicht  anliegende  Gewebe  erstrecken?  Dies  ist  nicht  sehr 
wahrscheinlich.  Die  körnigen  Trübungen,  welche  im  entzündeten  Muskel  zu  Stande  kommen, 
das  undeutlicher  AVerden  der  Fasern  im  entzündeten  Bindegewebe,  der  körnige  Zerfall  in 
entziuideten  Nervenfasern,  die  rasche  Entfärbung  der  rothen  Blutzellen  in  acut  entzündeten 
Geweben:  Alles  das  deutet  darauf  hin,  dass  auch  in  dem  Gewebe  gewisse  constante  Ver- 
änderungen vorgehen,  welche  da,  wo  nicht  rasch  direct  durch  immer  höhere  Steigerung 
dieser  Vorgänge  Gangrän  eintritt,  zur  allmähligon  Auflösung  der  Gewebsformen,  oder  nach 
und  nach;,  zu   ihrem  Tode    zu  führen  pflegen.     Ich  gebe  zu,    dass  ein  Beweis  dafür  nicht 


Vorlesmio;   l>2.      AhIimii-   zii   ('A\<Hr\    I  -XT.  P,47 

vurlies' !  (la,s.s  diese  (lowelisveräiidciiiimcii  i;- 1  c  i  c  li /.i' i  (,i  y;  iiiil  diwi  (ictaKSverüii'lcniti'jjcr) 
iiiifliclcn ,  (liiss  man  sie  ain'li  als  rasclic  miiiiiKilharc  l<'nlL!;i'  di'i'  Icl/Icrcii  ans(di('ii  kann; 
(leim  wenn  man  diese  GewebsaileralJoncn  allein  xdi-lindiM.  dline  Gefässdilalalinn  und 
Zelieneniigration  (kIit  wenn  man  snlclie  ne(lin;j,iin!^eii  kiinsilhli  iMTvorinfl  dni'i-li  Ü'-liin 
dernn.ü;  der  Blnt/.nl'idir  /.um  verlel/li'n  Theil  (Samuel),  so  kann  man  wiedrnim  di-n 
Zweifel  erhellen,  oli  sidelie  /nstäiide  der  Gewebe  aueli  als  l'/nlzfindnni^'  im  lililiclien  Sinne, 
zu  bezeichnen  sind  (Coh  nliei  ni).  Auf  der  amleii'n  Seile  bal  man  aber  auch  den  ver- 
änderten  Zustand  der  Getasse,  welcher  die  massenbafle  Aiiswandernnp;  weisser  Blutzellen 
zidässt,  (die  Eiterinif;) ,  von  der  Kntziiiuhing  trennen  wollen.  Wir  werden  bei  dn-  I'e- 
traehtung  der  chronischen  Entzündung  sehen,  dass  in  der  'i'bat  alle  diese^  MonnMife,  allein 
vor  sieli  gehen  können,  und  dass  sie  nur  in  ilux'u  C'ombiuationen  eias  darstellen,  was 
wir  acute  Entzündung  zu   nennen   pflegen. 

Virchow  hatte  die  Erage  früher  hei'eits  in  dem  Sinne  entschieden,  dass  er  den 
Vorgang  der  entzündlichen  Ernährungsstörung  wesentlich  und  in  erster  Linie  ins  Ge- 
webe verlegte;  er  wurde  dazu  tlieils  durch  die  eben  erwähnten,  mit  dem  Mikroskop 
sichtbaren  Gewebsveränderungen  veranlasst,  theils  durch  die  Beobachtung,  dass  aui-h  in 
gefässlüsen  Geweben,  v^'ie  in  Hornhaut  und  Knorpel,  auf  Reize  junge  Zellen  im  Gewebe 
auftreten,  wie  dies  ebenso  bei  Entzündungen  gelasshaltiger  Gewebe  der  Fall  ist.  Diese 
letzteren  Beobachtungen,  welche  zu  einer  Zeit  gemacht  wurden,  in  welcher  die  Emigration 
der  weissen  Blutzellen  noch  nicht  bekannt  war,  unterliegen  jetzt  einer  anderen  Deutung  wie 
früher  (pag.  69).  Wir  zweifeln  heute  ebenso  wenig  daran  wie  früher,  dass  eine  Knorpelzelle 
und  manche  andere  Arten  von  Zellen,  wie  gewisse  Endothelien  seröser  Häute  (Rindfleisch, 
Kundrat),  junge  Epitlnjlialzellen  (Remak,  Buhl,  Rindfleisch)  etc.  auf  gewisse  Rei- 
zungen neues  Protoplasma  und  neue  Zellen  in  sich  bilden,  sich  theilen  und  auf  dem  Wege 
einer  solchen  Verjüngung  zur  Gewebsneubildung  beitragen  können,  —  (ob  alle  so  entstan- 
denen Zellen  selbstständige  Bewegungen  haben  wie  die  Eiterzellen,  ist  noch  zweifelhaft)  — 
doch  glauben  jetzt  nur  noch  sehr  wenige  Beobachter,  dass  den  fertigen  fixen  Bindege- 
webs- und  Hornhautkörperchen  und  den  Knnehenkörperchen  diese  Eigenschaft  zukommt; 
ziemlich  allgemein  hat  man  sich  überzeugt,  dass  die  Eiterbildung  meistens  nicht  durch 
heerdweise  Wucherung  der  fixen  Bindegew^ebszellen  nach  Virchow 's  früherem  Schema  zu 
Stande  kommt.  —  Wie  weit  sich  die  Wanderzellen  an  der  entzündlichen  Gewebsneubildung 
betheiligen,  wird  von  Vielen  als  noch  nicht  entschieden  betrachtet;  ich  kann  nach  meinen 
Beobachtungen  kaum  daran  zweifeln,  dass  das  Gewebe,  welches  die  Heilung  per  primam 
vermittelt,  sowie  das  Granulationsgewebe  aus  den  Wanderzellen  hervorgehen  kann,  wenn- 
gleich auch  ein  anderer  Modus  (Sprossenbildung,  directes  Auswachsen  der  Gewebe,  pag.  74) 
möglich  ist.  Mir  erscheint  die  Umbildung  der  Wanderzellen  in  Bindegewebe  deshalb  ganz 
plausibel,  da  diese  Zellen  auch  nach  meinen  Untersuchungen  höchst  wahrscheinlich  von 
Bindegewebszellen  abstammen,  nämlich  von  den  Sternzellen  und  Netzfasern  der  Lymph- 
drüsensinus.—  Warum  die  früher  genannten  Gewebszellen,  z.B.  die  Knorpelzellen,  nach 
gewissen  Reizungen  anfangen  sich  zu  vergrössern,  zu  theilen  und  eventuell  neues  Gewebe 
zu  produciren,  hat  man  in  neuerer  Zeit  durch  die  Hypothese  zu  verstehen  gesucht,  dass 
jedes  Protoplasma,  welchem  geeigneter  Nahrungssaft  znfliesst,  ungehindert  wachsen  und 
sich  theilen  würde,  wenn  es  nicht  durch  den  Druck  des  Gewebes,  in  welches  sich  das 
Protoplasma  von  der  Peripherie  zum  Centrum  vorschreitend  umbildet,  daran  verhindert 
würde;  das  theilweise  Freiwerden  des  Kernes  z.  B.  durch  Vei-letzungen,  oder  eine  grössere 
Nachgiebigkeit  des  Gew^ebes,  soll  bei  übrigens  guten  Ernährungsverhältnissen  genügen, 
dass  der  vorhandene  Zellenrest  sofort  wieder  zu  wachsen  anfinge.  Ich  finde  diese  von 
Thiersch  bei  einer  anderen  später  zu  erwähnenden  Gelegenheit  hingeworfene  Hypo- 
these, welche  Samuel  mit  grosser  Wärme  aufgenommen  und  verallgemeinert  hat.  sehr 
geistvoll,  und  glaube,  dass  sie  als  Basis  für  weitere  Forschungen  fruchtbringend  werden 
kann ;  immerhin  dürfte  damit  nicht  die  oben  aufgeworfene  Frage  endgültig  beantwortet 
sein,    da  die  Bedingungen  der  Gewebsentwicklung    noch  von  manchen  anderen  wichtigen 


348  Rückblick.      Allgemeines  iibei-  den   acuten   Knlziindungspi'üces's. 

Faktoren  ausser  den  Ernährungs-  und  Druckverhältnissen,  z.  B.  von  den  ererbten  Eigen- 
schaften des  Protoplasma  abhängig  sind;  auch  passt  diese  Hypothese  nicht  auf  alle  Fälle 
z.  B.  nicht  auch  auf  die  endogene  Zellenentwicklung  der  Endothelien  nach  entzündlicher 
Eeizung  des  Netzes. 

Ob  es  eine  primäre,  von  den  Blutgefässen  und  ihrer  Function  unabhängige,  in- ihnen 
selbst  zu  Stande  kommende  Ernährungsstörung  in  den  Geweben  giebt,  welche  ihrerseits 
die  specifisch  entzündliche  Alteration  der  Gefässe  zur  Folge  haben  muss,  ist  nicht  bekannt^ 
Man  pflegt  als  eine  solche  Erkrankung  die  Ablagerung  harnsanrer  Salze  ins  Gewebe  ge- 
wisser Körpertheile  bei  Arthritis  zu  bezeichnen;  doch  dürfte  schon  bei  der  Ablagerung 
selbst  eine  Mitbetheiligung  der  Gefässe  nicht  anszuschliessen  und  somit  Gefässe  und  Ge- 
webe gleichzeitig  verändert  sein.  Es  ist  ferner  durch  ein  Experiment  von  Cohnheim 
festgestellt,  dass  eine  langdaiiernde  Absperrung  des  Blutes  auf  die  Gefässwandungen  so 
wirken  kann,  dass  nach  der  dann  folgenden  Zuleitung  von  Blut  eine  reichliche  Emigration 
erfolgt.  Dass  anhaltende  Stase  diesen  Erfolg  auf  die  Gefässwandungen  derjenigen  Ge- 
fässe, in  welchen  das  Blut  stagnirt,  nicht  hat,  ist  früher  (pag.  343)  erwähnt;  doch  ist  es 
aus  klinischen  Beobachtungen  wahrscheinlich  ,  dass  der  Druck,  welchen  stark  und  rasch 
ausgedehnte  Gefässe  auf  ihre  Nachbargewebe  ausüben,  in  diesen  entzündliche  Zustände  ge- 
ringen Grades  veranlassen. 

Im  Allgemeinen  ist  es  doch  höchst  wahrscheinlich,  dass  nicht  nur  chemische,  physi- 
kalische und  mechanische  Momente,  welche  von  aussen  direct  auf  gewisse  Körpertheile 
w'irken,  Entzündungen  erregen  können,  sondern  dass  auch  primäre  Ernährungsstörungen 
in  den  Geweben  und  Circulationsstörungen,  welche  sich  im  Körper  selbst  ohne  erkenn- 
bare äussere  Veranlassung  entwickeln,  zu  Entzündungsursachen  werden  können. 

Eine  Erscheinung  darf  ich  hier  nicht  vergessen  zu  erwähnen ,  welche  früher  eine 
so  grosse  Rolle  bei  der  Entzündung  spielte,  in  den  neueren  Arbeiten  über  diesen  Gegen- 
stand indessen  fast  todtgeschwiegen  wird,  ich  meine  nämlich  die  Fibrinbildung  bei 
manchen  Entzündungen.  Sie  kommt  vorwiegend,  ja  man  kann  fast  sagen  ausschliesslich 
bei  Entzündung  des  Bindegewebs  vor,  und  erfolgt  zuweilen  nur  auf  der  Oberfläche  von 
serösen  Säcken,  von  frischen  und  granulirenden  Wunden,  von  Schleimhätiten  (zumal 
Rachen-,  Kehlkopf-,  Luftröhren-  und  Bronchial-Schleimhaut);  in  andern  Fällen  erstarrt 
der  im  Bindegewebe  enthaltene  Ernährungssaft  fibrinös.  Dass  die  Fibrinbildung  nicht 
von  einem  Ueberschuss  von  Fibrin  im  Blut,  sondern  von  chemischen  Alterationen  in  den 
entzündeten  Theilen  abhängig  ist,  ist  früher  (pag.  72)  schon  erwähnt.  Das  Fibrin  ent- 
steht im  entzündeten  Gewebe;  es  ist  ein  freilich  nicht  constantes  Resultat  der  entzündliehen 
Gewebsalteration.  Auffallend  ist  in  klinischer  Beziehung  die  grosse  Differenz  der  mit  den 
fibrinösen  Entzündungen  sonst  verbundenen  Erscheinungen.  Während  rasche  Fibrinbildung 
von  massiger  Ausdehnung  den  günstigen  und  raschen  Verlauf  der  Heilung  per  primam, 
so  wie  die  partielle  Verklebung  der  Oberflächen  seröser  Membranen  aufs  Glücklichste 
vermittelt,  und  dabei  oft  kaum  eine  Spur  entzündlicher  und  febriler  Erscheinungen  am 
Kranken  wahrzunehmen  ist,  führt  in  anderen  Fällen  aus  oft  räthselhaften  Ursachen  eine 
nicht  immer  übermässig  ausgedehnte  fibrinöse  Erstarrung  des  Gewebes  —  mit  etwas 
fibrinöser  Auflagerung,  z.  B.  auf  die  Schleimhaut  des  Rachens  (Diphtheritis)  —  zum  Tode. 
Es  ist  wohl  an  sich  klar,  dass  eine  fibrinöse  Erstarrung  der  Gewebsflüssigkeit  eine  der 
schwersten  Alterationen  ihrer  Ernährung  ist;  dieselbe  endet  ja  auch  erfahrungsgemäss 
häufig  genug  mit  Nekrose  des  erstarrten  Gewebes.  Doch  die  schweren  Allgemeinerschei- 
nungeii  uiul  die  intensive  und  extensive  Entzündungsröthe  bei  diesen  Processen  können 
doch  nicht  wohl  durch  die  Fibrinbildung  als  solche  bedingt  sein,  sondern  seheinen  von 
der  Resorption  der  Zersetzungsproducte  in  den  so  erkrankten  Geweben  abhängig  zu  sein, 
welche  besonders  rasch  vergiftend  wirken.  Es  scheint  mir,  dass  unter  den  mit  Fibrin- 
bildungen verlaufenden  acuten  Entzündungen  eine  ähnliche  Scala  der  Bösartigkeit  existirt, 
wie  unter  den  ohne  Fibrinbildung  verlaufenden  entzündlichen  Processen,  so  dass  die  Fibrin- 
bildung danach  nur  als  ein  mehr  durch  die  Art  des  Gewebes  und  der  Localität  bedingtes 


Vorlesimg  22.     Aiiliiuio-  z,,   C:ii)i(cl  T~XT.  349 

Accidens  wilre,  clesnoii  kliiiisclu'  BcihMil.iiiüj;  sclir  wicliliü;  ist;,  (l;is  iilirr  dein  I';til/,iiii(liiii,ü;s- 
procoss  ;ils  solclicm  iiiclits  Wcsoiidiclics  liiii/iilliiit,  ikicIi  ilin  wcsciirlicli  ;iii(]crl.  --  y\iirli  die 
seröso  'rr;iiissii(l;i  I  i  «Ml ,  welclic  dio  iinilcn  l'hif /iiiidiiiincii  iiicisf:  lioffleitct ,  licdüi'!' 
noch  einer  kurzen  BesprceliiiiiL;'.  Sie  ist,  in  vielen  l'YdIen  gewiss  die  Folge  veränderler 
Drnekverhälhiisse  in  den  (iel'äs.sen  des  Enlzündiing.slieerdes ,  doeli  liiiiigf  sie  eben  so  scdir 
nii(,  der  Fiinetio  l;ies;i  der  (ieriisswandiingen  und  des  Gewebes  ziisaninicn ;  sie  li'id:  i»rk;uin(- 
lieli  bei  Entzündungen  des  Bindegewebs,  zuniul  seröser  H;iii(e,  oft  sein-  in  den  Vorflcrgrund. 
Die  Gefässwandnngen  vernir)gi'n  das  Blidseriim  nicht  zu  ballen,  das  CJewebe  verarbeitet 
es  nicht,  Venen  und  l^ymphgefässe  ITdiren  es  iinvollkomnien  ali,  zumal  wenn  sie  mit  Fibrin 
(bei  Entzündung  seröser  Flächen,  an  welchen  die  Lymphgefässe  offen  ausmünden)  Ixdegt 
nnd  davon  verstopft  sind.  Das  Sernm  in  acut  entzündetem  Gewebe  ist  von  dem  Serum, 
welches  ohne  Entzündung  die  Körpertheile  hydropisch  macht,  wesentlich  verscbie(Jen, 
denn  es  sind  ihm  nicht  nur  Wanderzellen  und  zerfallende  (entfärbte)  rothe  Blutkrirperclieii 
beigemischt,  sondern  auch  die  in  ihm  löislichen  Producte  der  entzündlichen  Ernäliritngs- 
störimg  der  Gewebe.  Die  wenn  auch  langsame  Abfuhr  dieser  Flüssigkeit  durch  die 
Venen  uud  Lymphgefässe,  entlastet  freilich  einerseits  die  Gewebe  von  einem  nicht  uner- 
heblichen Druck,  imd  schwemmt  somit  die  schädlichen  Zersetzungsproducte  fort,  doch 
geschieht  diese  Abfuhr  zum  Theil  wenigstens  ins  Blut,  und  veranlasst  dadurch  nach  meiner 
Ansicht  das  Entzündungsfieber.  Ich  brauche  das  hier  nicht  weiter  auszuführen,  da  ich 
es  früher  ausführlicher  besprochen  habe. 

Noch  wäre  endlich  von  den  Ursachen  zu  reden,  aus  welchen  ganz  circumscript  auf  eine 
kleine  Stelle  des  Körpers  einwirkende,  oft  rein  mechanische  Eeizungen  zuweilen  so  intensiv 
progrediente  Entzündungen  erzeugen,  und  aufweichen  Wegen  diese  Entzündungen 
fortschreiten.  Ich  will  Sie  jedoch  damit  jetzt  nicht  weiter  liehelligen;  Einiges  habe  ich 
Ihnen  früher  (pag.  310)  angedeutet.  Anderes  werde  ich  in  späteren  Vorlesungen  zu 
erwähnen  haben. 

Die  pathologischen  Anatomen  haben  diesen  Fragen  bisher  noch  wenig  Beachtung 
geschenkt;  den  Chirurgen  tritt  die  Wichtigkeit  derselben  nur  allzu  oft  vor  Augen,  und 
vergeblich  suchen  wir  oft  nach  Mittel,  diesen  progredienten  Entzündungen  momentan  Halt 
zu  gebieten.  In  der  Klinik  werde  ich  oft  Gelegenheit  haben,  Sie  auf  diesen  wichtigen 
Gegenstand  aufmerksam  zu  machen. 

Es  lieg't  iu  der  Strömung  unserer  Zeit,  class  solche  sogenannten  tbeo- 
retisclien  Reflexionen,  mit  denen  icli  vielleicht  Manchen  von  Ihnen  ermüdet 
habe,  ungebührlich  in  ihrer  Bedeutung-  und  Wirkung-  auf  die  Praxis 
unterschätzt  werden,  und  diese  Strömung  reisst  aucli  Viele  von  Ihnen 
mit  sich,  und  behindert  Manche,  sich  mit  dem  Erlernen  und  Nachdenken 
über  diese  Dinge  zu  befassen.  Docli  ich  versichere  Sie,  dass  Sie  später, 
wenn  Sie  erst  einige  Jahre  in  der  Praxis  sind,  kaum  im  Stande  sein 
werden,  ein  medicinisches  Werk  zu  lesen  und  zu  verstehen,  wenn  Sie 
nicht  während  Ihrer  Studienzeit  die  Basis  gewonnen  haben,  auf  welcher 
von  nuu  an  weiter  und  weiter  gebaut  wird.  Ich  bin  überzeugt,  dass  sich 
nach  einigen  Jahren  der  Praxis  Mancher  von  Ihnen,  der  heute  übersättigt 
von  Vorlesungen  ist,  gar  sehr  darnach  sehnen  wird,  einmal  wieder  einen 
zusammenhängenden  wissenschaftlichen  Vortrag  über  wichtige  Krankheits- 
processe  zu  hören.  Es  soll  mich  freuen,  wenn  Sie  sich  iu  solcher 
Stimmung  dieser  Stunde  erinnern. 


550 


Vmhi  Brande. 


Vorlesung    23. 
CAPITEL  XII. 

Y   0  111    B  r  a  ii  d  e. 

Trockner,  feuchter  Brand.  Unmittelbare  Ursache.  Abstossungsproces.s.  —  Die  ver- 
schiedenen Arten  des  Brandes  nach  den  entfernteren  Ursachen.  1.  Ver- 
nichtnng  der  Lebensfähigkeit  der  C4ewebe  dnrch  mechanische  oder  chemische  Einflüsse. 
2.  Vollständige  Hemmnng  des  Blutzuflusses  und  Rückflusses.  Incarceration.  Continuirliclier 
Druck.  Decubitus.  Starke  Spannung  der  CTCwebe.  3.  Vollständige  Hemmung  des  Zu- 
flusses arteriellen  Blutes.  Gangraena  spontanea.  Gangraena  senilis.  Ergotismus.  4.  Noma. 
Gangrän  bei  verschiedenen  Blntkrankheiten.  —  Behandlung. 

Wir  haben  schon  oft  Yoni  Brand  und  Brandigwerdeu  gesprochen; 
Sie  wissen,  was  man  im  Allgemeinen  darunter  versteht,  und  nahen  schon 
eine  Reihe  von  Fällen  kennen  gelernt,  in  denen  der  Incale  Tod  der  Ge- 
wehe eintrat;  es  giebt  jedoch  noch  eine  grosse  Menge  anderei-,  Urnen 
noch  unbekannter  Umstände,  unter  welchen  der  Brand  erfolgt;  in  diesem 
Cai)itel  wollen  wir  das  Alles  zusammenfassen. 

Als  mit  „Brand"  vollständig  synonyme  Bezeichnung  kennen  Sie 
bereits  das  Wort  ,,  Gangrän";  dies  wurde  ursprünglich  nur  angewandt 
für  das  Stadium,  wo  die  ersterbenden  Theile  noch  schmerzhaft  und  heiss, 
also  noch  nicht  ganz  ertödtet  sind;  dies  Stadium  nannte  man  den  „heissen 
Brand" ;  er  stellt  gewissermaassen  den  höchsten  Grad  acuter  Entzün- 
dungen vor.  Ausserdem  wird  als  Bezeichnung  für  den  feuchten  ,, kalten 
Brand"  von  älteren  Autoren  das  Wort  „Sphacelus"  gebraucht.  Den 
Process  des  trockenen  Brandes  nennt  man  auch  „Mumification".  Der 
feuchte  Brand  ist  von  dem  Moment  au,  in  welchem  die  Circulation 
aufgehört  hat,  ein  dem  gewöhnlichen  Fäulnissprocess  vollständig  analoger 
Vorgang.  Wenn  man  auch  nicht  immer  mit  der  grössten  Bestimmtheit 
angeben  kann,  weshalb  in  dem  einen  Fall  feuchter  Brand,  in  dem  andern 
trockner  eintritt,  so  kann  man  im  Allgemeinen  doch  sagen,  dass  diejenigen 
Theile,  in  welchen  die  Circulation  schnell  aufhört,  besonders  wenn  sie 
vorher  vielleicht  entzündet  oder  ödematös  waren,  dem  feuchten  Brande 
verfallen.  Der  trockne  Brand,  das  mumienähnliche  Eintrocknen  und 
Verschrmnpfen  der  Theile,  ist  häutiger  die  Folge  eines  allmähligeu  Ab- 
sterbens,  wobei  der  Blutlauf  in  den  tieferen  Theilen,  wenn  auch  mit 
äusserst  geringer  Kraft,  noch  eine  Zeitlang  bestand,  und  das  Serum 
aus  den  allmählig  ersterbenden  Theilen  durch  die  Lymphgefässe  und 
Venen  abgeführt  wurde.  Auch  die  schnelle  Verdunst^ung  der  Flüssig- 
keiten nach  aussen  trägt  dazu  bei,  eine  allmählige  ^'ertrocknung  der  ab- 
g-estorbruen  Theile  herbeizuführen.     Es  ist  richtig-,  dass  man  eine  ober- 


fläcliliclie  Vei-trockmiiii;'  der  Haut  nucli  l)ciiii  fciic]it(3n  Ijrandc  zinvcilcii 
daduvcli  erreichen  kann,  dass  man  die  leiclit  abzieliljare  HornHchielit  der 
Kl)idcrmis  von  dem  faulenden  Gliede  entfernt;  auch  kann  man  durch  Ueber- 
sch];iii,-e  oder  Bcpinselung'en  der  faulenden  'rheile  mit  stark  Wasser  ent- 
ziehenden Substanzen,  wie  Alkohol,  Sul)lini;itlösung-,  Schwefelsäure  und 
dergleichen  das  Vertrocknen  der  faulig-en  Theilc  sehr  begünstig-en;  aber 
eine  so  A^ollständige  Mumification,  wie  sie  mitunter  spontan  erfolgt,  lässt 
sich  dadurch  doch  niclit  erzwingen.  Der  trockne  I5rand  ist  eben  keine 
einfache  Fäuluiss,  sondern  ein  ziemlicli  complicirtcr,  allmählig  zum  Auf- 
hören der  Circulation  fiilirender  Process. 

Die  nächste  Ursache  des  Absterbens  einzelner  Körper- 
theile  ist  immer  das  völlige  Aufhören  der  Ernährungssaft- 
strömuugen  meist  in  Folge  aufgehobener  Circulation  in  den 
Capillaren;  es  kann  unter  Umständen  der  Hauptarterien-  und  Venen- 
stamm einer  Extremität  stellenweise  verschlossen  sein,  und  dennoch  fin- 
det das  Blut  durch  Nebenäste  einen  Umweg  in  den  untern  oder  obeiii 
Theil  solcher  Gefässstämme.  Es  wird  daher  die  Verstopfung  eines  Ar- 
terienstammes erst  dann  zur  unmittelbaren  Ursache  für  die  Entstehung  von 
Brand,  wenn  ein  Collateralkreislauf  nicht  mehr  möglich  ist.  Dies  kann  theils 
durch  besondere  anatomische  Verhältnisse  bedingt  sein,  theils  durch 
grosse  Starrheit  der  Wände  der  kleinereu  Arterien,  theils  durch  eine 
sehr  ausgedehnte  Verödung  des  Hauptarterienstammes,  z.  B.  wenn  die 
A.  femoralis  von  der  Schenkelbeuge  an  bis  in  die  feineren  Verzwei- 
gungen am  Fuss  verstopft  ist;  erst  wenn  durch  diese  Verhältnisse  der 
capilläre  Kreislauf  unmöglich  wird,  hört  die  Ernährung  auf.  Es  ist  jedocli 
nicht  immer  nothwendig,  dass  bei  dem  Aufhören  des  Kreislaufs  in  einem 
kleineren  Capillardistrict  oder  in  dem  Bereich  einer  kleinen  Arterie 
ein  wirklicher  Fäulnissprocess  entsteht,  sondern  die  Ernährungsstörung 
kann  unter  solchen  Verhältnissen  eine  mildere  Form  annehmen,  zumal 
wenn  diese  ganz  beschränkte  Kreislaufsstörung  langsam  nach  und  nach 
erfolgt.  Hierbei  entsteht  dann  ein  molecularer  Zerfall  der  Gewebe,  ein 
Einschrumpfen  und  Vertrocknen  zu  einer  gelben,  käsigen  Masse,  kurz 
eine  grosse  Reihe  von  den  Metamorphosen,  welche  sich  an  der  Leiche 
als  „trockne,  gelbe  Infarcte"  darstellen ;  diese  sind  im  Wesentlichen  nichts 
Anderes,  als  Gewebstheile,  welche  durch  eine  Art  von  trocknem  Brand, 
der  auf  eine  kleine  Strecke  beschränkt  war,  zu  Grunde  gegangen  sind. 
Hat  eine  solche  Ernährungsstörung  und  molecularer  Zerfall  der  Gewebe 
an  einer  Oberfläche  Statt,  so  bezeichnet  mau  diesen  Process  als  nekroti- 
sirende  Versch wärung  oder  Ulceration;  die  ganze  Reihe  der  so- 
genannten atonischen  Geschwüre,  auf  die  wir  später  zurückkommen,  hat 
ihre  Ursachen  grösstentheils  in  solchen  quantitativen  Ernährungsstörungen. 
So  nahe  sich  also  die  trockne  Gangrän  und  manche  Formen  der  Ge- 
schwürsbildung ihrem  ursächlichen  Moment  nach  stehen,  so  ist  doch  das 
Bild  des  Brandes  in  seinen  verschiedenen  Formen  ein  durchaus  bestimmtejs 


352  Vom  Brande. 

und  eigenthümliches,  wie  Sie!  aus  dem  Folgenden  crselicn  werden,  in- 
dem es  sich  dabei  gewöhnlich  nicht  nur  um  einen  molecularen  Zerfall 
der  Gewebe,  sondern  um  das  Absterben  ganzer  Gewebsfetzen,  selbst 
ganzer  Extremitäten  handelt.  Es  ist  freilich  a  priori  denkbar,  dass  die 
vollständige  Verstopfung  aller  Venen,  welche  das  Blut  z.  B.  von  einer 
Extremität  zurückführen,  zu  einer  vollständigen  Stase  in  den  Capillaren 
fuhrt;  indessen  kommt  ein  solcher  Umstand  in  praxi  uiclit  leicht  vor, 
weil  die  Venen  so  ungemein  reichlich  vorhanden  sind,  und  sich  fast 
überall  am  Körper  doppelte  Wege  des  Venenrückflusses  vorfinden,  näm- 
lich durch  die  tiefliegenden  und  die  subcutanen  Venen-,  beide  Systeme 
communiciren  vielfach  untereinander;  ist  der  eine  Weg  versperrt,  so 
wird  der  andere  wenigstens  theilweise  noch  offen  sein.  —  Wenn  in  der 
Haut  und  den  tiefer  liegenden  Weichtheilen  trockncr  Brand  eintritt, 
so  pflegen  diese  Theile  in  den  meisten  Fällen  eine  grauschwärzliche, 
dann  kohlschwarze  Färbung  anzunehmen.  In  denjenigen  Fällen,  in 
welchen  die  Theile  vorher  entzündet  waren,  erscheint  die  Haut  anfangs 
dunkelviolett,  dann  weissgelblich,  und  nur  im  Fall  theilweisen  Eintrock- 
nens  wird  sie  bräunlich  oder  grauschw^ärzlich ;  abgestorbene  Sehnen  und 
Fascien  verändern  ihre  Farbe  äusserst  wenig.  Wenn  es  entschieden  ist, 
dass  auf  eine  weite  Strecke  das  Gewebe  in  Folge  der  Kreislaufsstörung 
nicht  mehr  ernährt  wird,  so  markirt  sich  die  Grenze  zwischen  Todtem 
und  Lebendigem  nach  und  nach  immer  deutlicher ;  es  entsteht  rings  um 
die  abgestorbene  Haut  herum  eine  lebhaft  rosige  Röthe,  eine  sogenannte 
Demarcationslinie.  Diese  Rothung  ist  durch  die  Ausdehnung  der 
Capillargefässe  bedingt,  welche  theils  eine  Folge  des  Collateralkreislaufes 
in  den  Capillaren,  theils  eine  durch  die  fauligen  Säfte  erzeugte  Eut- 
zünduugshyperämie  ist.  Zugleich  mit  diesen  Gefässveränderuugen  geht 
eine  lebhafte  Zelleninfiltration  in  der  Demarcationslinie  der  Haut  vor 
sich,  mit  welcher  das  Gewebe  selbst,  welcherlei  Art  es  auch  sein  mag, 
theilweise  erweicht  und  aufgelöst  wird.  Es  treten  an  der  Grenze  des 
lebendigen  Gewebes  überall  die  Wanderzellen  in  Form  von  Eiter  an  die 
Stelle  der  festen  Gewebe  und  damit  hört  die  Cohärenz  der  Theile  auf. 
So  löst  sich  das  Todte  vom  Lebenden,  und  am  Rande  des  Letzteren 
befindet  sich  ein  durch  plastische  Infiltration  und  Geiassektasie  verän- 
dertes Gewebe:  Granulationsgewebe.  Drückt  man  dies  einfach  praktisch- 
chirurgisch aus,  so  sagt  man:  das  Todte  muss  vom  Lebenden  durch 
eine  kräftige  Eiterung  abgestossen  werden,  und  mit  dieser  Ablösung  der 
abgestorbenen  Gewebe  erfolgt  eine  kräftige  Granulationsbildung,  die  in 
gewöhnlicher  Weise  benarbt.  Dieser  Vorgang  wiederholt  sich  nach  Be- 
grenzung des  Brandes  an  allen  Geweben,  bei  allen  Formen  von  Brand, 
bald  sclmcUer,  bald  laugsamer  in  vollkommen  identischer  Weise,  selbst 
auch  beim  Knochen,  wie  Sie  das  ja  schon  von  der  Nekrose  der  Frag- 
menteuden  bei  complicirten  Fracturen  wissen.  Auf  den  Knochenbrand 
gehen  wir  jedoch   hier  nicht  ein,  weil  derselbe  mit  anderen  chronischen 


Vnrli'smiu,'  'i."!.     ('iiiMirl   \lf.  ;;r,;> 

Kuoclieiilcraiikliciloii  so  iniiiy  vei-biuulon  ist,  dass  wir  ihn  dort  abliaiidclu 
iniissen.  Die  Zeit,  wolclie  dazu  crrordcrlicli  ist,  mii  ciuc  Al)lÖ8uiig'  der 
a)»g'Cstorbencii  Cetebe  zu  crroiclicu,  kann  eine  sehr  -N'erschiedcn  lauge 
seiu.  Sic  ist  abhäugig  1)  von  der  Crosse  des  a1)gcstorbeucu  Stücks, 
2)  von  dem  Gefässreiclithuui  uud  der  Consistenz  des  Gcwel)es,  o)  vou 
dem  Kräftezustaud  uud  der  Lebeuseuergie  des  Patienten. 

Da  der  Braud  gewöhulicli  die  Folge  anderer  Kraukheiten  ist,  S(»  ist 
es  nicht  immer  leielit,  die  Symptome  richtig  zusammenzufassen,  welche 
als  Folgen  des  Brandes  auf  den  Allgemeinzustand  zu  beziehen  sind.  Ist 
die  Demarcationslinie  einmal  gebildet,  und  wird  der  Abstossungsprocess 
durch  die  sich  entwickelnde  Eiterung  vorbereitet,  so  ist  nur  dann  in 
einigen  Fällen  eine  Einwirkung  auf  den  Allgemeinzustand  wahrnehnd)ar, 
wenn  der  Brand  grössere  Theile  von  Extremitäten  l)etrift't.  Pls  tritt  hiei-ltei 
ein  marantischer  Zustand  ein,  ein  alhnähliges  Nachlassen  aller  Functionen, 
Sinken  der  Körpertemperatur  unter  das  Normale,  sehr  kleiner  J'uls, 
Irockene  Zunge,  ein  halb  soporüser  Zustand,  bei  welchem  die  Kranken 
immer  scliAvächer  und  schwächer  werden,  endlich  sterben,  ohne  dass  man 
au  der  Leiche  eine  besondere  Destruction  einzelner  Orgaue  nachzuweisen 
imstande  wäre,  wälirend  freilich  in  anderen  Fällen  auch  jauchige  meta- 
statische Abscesse  in  der  Lunge  gefunden  werden.  Man  hat  es  hierbei  mit 
einer  Form  von  subacuter  oder  chronischer  Septhämie  zu  thun ;  es  ist  für 
mich  zweifellos,  dass  die  wiederholte  Aufnahme  fauliger,  während  der 
Entwicklung  des  Brandes  bei  noch  theilweis  bestehender  Blut-  uud  Lymi)h- 
circulation  resorbirter  Stoffe  Todesursche  werden  kann.  Ich  behalte  es 
mir  vor,  auf  diese  Dinge  im  nächsten  Abschnitt  zurückzukonnnen. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  sind  jetzt  die  einzelnen  Arten 
des  Brandes  nach  ihren  entfernteren  und  näheren  Veranlassungen  und 
nach  ihrer  praktischen  Bedeutung  genauer  zu  erörtern. 

1.  Vollständige  Vernichtung  der  Lebensfähigkeit  der 
Gewebe  durch  mechanische  oder  chemische  Einwirkungen, 
wie  Zermalmimgen ,  Zerquetsch ungen,  Zerstörungen  durcli  hohe  Hitze- 
und  Kältegrade,  durch  ätzende  Säuren  oder  Alkalien.  Dauernder  Con- 
tactmit  ammouiakalischem  Urin,  mit  Milzbrandgift,  mit  gewissen  Schlangen- 
giften, mit  fauligen  Stoffen,  die  als  Ferment  wirken  etc.,  gehört  eben- 
falls hierher.  Ueber  alle  diese  Arten  von  Brand  haben  wir  theils  ge- 
sprochen,  theils  kommen  wir  bald  darauf. 

2.  Vollständige  Hemmung  des  Blutzuflusses  und  Ptück- 
flusses  durch  circuläre  Compresssion  oder  andere  mechanische  Verhält- 
nisse wird  in  vielen  Fällen  die  Ursache  von  capillärer  Stase  uud  von 
Brand  sein.  Umschnüren  Sie  z.  B.  eine  Extremität  sehr  fest  mit  einem 
Band,  so  wird  zunächst  venöse  Stase,  dann  Oedera  und  endlich  Brand 
eintreten.  Nehmen  wir  ein  praktisches  Beispiel:  ist  die  Vorhaut  zu  eng, 
uud  wird  gewaltsam  hinter  die  Eichel  zurückgezogen,  so  dass  eine  Pa- 
raphimosis  (von  (pif.i6g^  Maulkorb)  entsteht,  so  kann  die    eingeklemmte 

Bilh-oth  chir.  Path.  u.  Tlierap.    7.  Aufl.  23 


OR^  Vom  Brande. 

Eiclicl  otler  in  diesem  Beispiel  häufigei-  der  einklemmende  Eing-  brandig- 
werden.  Auf  dem  g-leiclien  Umstand  l)erulit  das  Bn^ndigwerden  einge- 
klemmter Brüche. 

C 0  n t i n  u  i  r  1  i eil  e r  D  r  u  ck  kann  el)enfalls  dureli  Hemmung-  von  Blut- 
Zufluss  und  Abfluss  Gangrän  erzeugen,  besonders  bei  solchen  Individuen, 
bei  denen  die  Herzthätigkeit  durch  längere  Krankheit  abgeschwächt  ist. 
oder  welche  durcli  allgemeine  septische  Intoxication  schon  zu  Gangrän 
disponirt  sind. 

Der  Decubitus,  das  sogenannte  Durch-  oder  Aufliegen  der  Kranken 
ist  eine  solche  durch  continuirlichen  Druck  veranlasste  Gangrän,  wobei 
jedoch  zu  bemerken  ist,  dass  nicht  jede  Art  des  sogenannten  Duroh- 
liegens  von  vorne  herein  gangränöser  Katur  ist,  denn  dasselbe  besteht 
in  vielen  Fällen  zunächst  in  einer  allmähligen  Maceration  der  Epidermis 
und  Cutis,  Avelche  in  Folge  der  gleichmässigen  continuirlichen  Lage  in 
einem  durch  Schweiss,  Urin  und  andere  Feuchtigkeiten  durchnässten 
Bett  entsteht.  Decubitus  erfolgt  besonders  häufig  in  der  Gegend  des 
Os  sacrum,  und  kann  dort  zuweilen  eine  erschreckliche  Ausdehnung  ge- 
winnen, indem  alle  Weichtheile  in  der  genannten  Gegend  bis  auf  den 
Knochen  gangränös  werden;  ausserdem  kann  auch  an  der  Ferse,  dem 
Trochanter  des  Oberschenkels,  dem  Caput  fibulae,  der  Scapula,  den 
Processus  spinosi  der  Wirbelsäule  je  nach  der  Lagerung  der  Kranken 
Decubitus  entstehen.  Ebenso  kann  man  einen  solchen  durch  den  Druck 
schlecht  applicirter  Maschinen  hervorbringen.  Der  Decubitus  ist  um  so 
mehr  eine  sehr  unangenehme  Erscheinung,  als  er  gewöhnlich  zu  anderen 
erschöpfenden  Krankheiten  hinzu  kommt.  Obgleich  keine  Krankheit,  bei 
der  ein  Kranker  zu  langer,  absoluter  Ptuhe  verdammt  ist,  eventuell  von 
der  fatalen  Beigabe  eines  Decubitus  ausgeschlossen  ist,  so  giebt  es  doch 
Krankheiten,  welche  besonders  zu  Decubitus  disponireu,  und  dahin  ge- 
hört vor  allen  der  Tjphus;  auch  bei  Kranken  mit  Septiiämie  tritt  sehr 
frühzeitig,  oft  schon  nach  3—5  Tagen  ruhiger  Lage  brandiger  Decubitus 
auf,  der  gewöhnlich  durch  eine  ganz  cireumscripte  Stase  in  der  Haut 
über  dem  Kreuzbein  eingeleitet  wird,  während  Schwindsüchtige  bei  ge- 
höriger Pflege  Monate  und  Jahie  lang  das  Bett  hüten,  ohne  Decubitus 
zu  bekommen.  Das  Aufliegen  wird  für  die  Kranken  dadurch  besonders 
quälend,  dass  es,  zumal  bei  chronischen  Krankheiten,  mit  sehr  lebhaften 
Sehmerzen  verbunden  sein  kann;  in  acuten  Fällen  von  Typhus  und 
Septhämie  dagegen  verspüren  die  Kranken  manchmal  nichts  davon,  wenn  sie 
bereits  einen  grossen  brandigen  Decubitus  haben.  Es  wird  diese  Form 
des  Brandes  besonders  gefährlich,  wenn  die  veranlassende  Ursache  nicht 
vollkommen  beseitigt  werden  kann,  so  dass  die  Gangrän  eine  progressive 
wird.  Die  Prognose  beim  Decubitus  ist  um  so  schlimmer,  je  erschöpfter 
der  Patient  ist;  nicht  selten  wird  ein  Decubitus  Todesursache,  indem  er  sich 
trotz  aller  Behandlung  immer  mehr  und  mehr  vergrössert  oder  der  Aus- 
gangspunkt eines  schweren  pyohämischen  Processes  wird. 


Eine  zu  starke  Si)ainiung'  der  Dcwche,  woddrcli  die  Gefässc 
sein-  ausgcdelnit  und  zum  Tlieil  ganz  zusiuunu'ngedriickt  werden,  liat 
zum  Tlieil  einen  verminderten  IMutgelialt  l)ei  steigenden  Ernälirungs- 
))edürfnissen,  zum  Theil  eine  Blutgerinnung  in  den  Ca])illa,i'en  in  Folge 
erhöhter  Iveibungswiderstände  zur  Folge.  Hierauf  l)eruhen  wohl  manche 
Gangränen,  welche  bei  p]ntziindung  voi'kommen,  und  deren  wir  bei 
Gelegenheit  der  Phlegmone  bereits  Erwähnung  getlian  haben;  essoll  je- 
doch damit  nicht  gesagt  sein,  dass  jede  Stase  des  Blutes  in  den  Capil- 
laren,  welche  gelegentlich  bei  der  Entzündung  vorkommen  kann,  auf  zu 
starke  Spannung  des  Gewebes  zurückgcfühi't  werden  muss,  da  auch 
andere  Momente  zu  berücksichtigen  sind.  Es  würde  mich  zu  weit  führen, 
hier  noch  einmal  auf  das  Verhältniss  des  Blutes  zu  den  Gefässwänden 
zurückzukommen,  wovon  wir  bereits  ausführlich  bei  der  Entzündung  ge- 
sprochen haben,  um  so  mehr,  als  wir  bei  Erörterung  der  Venenthromljose 
und  Phlel)itis  doch  noch  wieder  davon  zu  sprechen  haben. 

3.  Die  vollständige  Hemmung  des  Zuflusses  arteriellen 
Blutes,  welche  besonders  durch  Herz-  und  Arterienkraukheiten  bedingt 
Avird,  muss  ebenfalls  unter  gewissen  Verhältnissen  Gangrän  zur  Folge 
haben;  es  gehören  hierher  diejenigen  Formen  von  Gangrän,  welche  man 
speciell  als  Gangraena  spontauea  und  noch  häufiger  als  Gangraena 
senilis  bezeicbnet,  weil  dieselben  besonders  oft  bei  alten  Leuten  vor- 
kommen. Diese  Gangraena  spontanea  kann  auf  verschiedene  Weise  ent- 
stehen und  in  verschiedenen  Formen  zur  Erscheinung  kommen.  Die 
Ursachen  können  insofern  ganz  verschieden  sein,  als  die  Blutgerinnung 
in  den  Capillargefässen  (als  marantische  Thrombose  in  Folge  von  Herz- 
schwäche oder  insufficienter  Leistung  der  kleineren  Arterien)  beginnt, 
oder  eine  autochthone  Thrombose  mit  Weiterverbreitung  in  dem  Haupt- 
arterienstamm entsteht,  oder  endlich  die  Thrombose  durch  Embolie  be- 
dingt ist;  auch  eine  sehr  hochgradige,  dauernde  Anämie  mit  enormer 
consecutiver  Verengerung  der  Arterien  und  Herzschwäche,  endlich 
dauernde  spasmodische  Contractionen  der  Arterien  können  zu  Gangrän 
führen.  Die  eigentliclie  sogenannte  Gangraena  senilis  ist  eine  Krank- 
heit, welche  ursprünglich  an  den  Fusszehen,  sehr  selten,  wie  ich  es  in 
einem  Fall  sah,  an  den  Fingerspitzen  entsteht.  Es  giebt  zwei  Haupt- 
formen; bei  der  einen  bildet  sich  an  einer  Zelie  ein  brauner,  bald  schwarz 
werdender  Fleck,  welcher  sich  nach  und  nach  ausbreitet,  bis  eine  Zehe 
vollständig  vertrocknet  ist.  Im  günstigen  Falle  erfolgt  die  Deniar- 
cation  in  dem  Phalango-Metatarsalgelenk,  die  Zehe  fällt  ab  und  es  tritt 
Vernarbung  ein.  Es  kann  jedoch  die  Mumification  auch  höher  hinauf 
gehen  und  sich  bald  in  der  Mitte  des  Fusses,  bald  über  den  Malleolen, 
bald  in  der  Mitte  der  Wade,  bald  dicht  unter  dem  Knie  abgrenzen.  — 
In  einer  anderen  Eeihe  von  Fällen  beginnt  die  Krankheit  unter  Erschei- 
nungen von  Entzündungen  mit  ödematöser  Schwellung  der  Zehen,  sehr 
intensiven  Schmerzen  und  anfangs  dunkel  blanrother,  später  schwarzer 

23* 


or^ß  Vom  Brande. 

Färbung-  der  l'heile;  es  giebt  dabei  Stadien,  in  denen  mau  au  der  blau- 
roth  marmorirt  aussehenden  Haut  deutlich  erkennen  kann,  wie  der  Kreis- 
lauf hier  mit  den  grössten  Schwierigkeiten  zu  kämpfen,  dort  bereits  auf- 
g-ehört  hat;  die  Franzosen  haben  dieses  Fiingen  der  erkrankten  Theile 
zwischen  Leben  und  Sterben  nicht  unpassend  mit  dem  Erstickungstode 
verglicheil,  und  als  „Asphyxie  locale"  bezeichnet.  Bei  dieser  Form  des 
feuchten  heissen  Brandes  betrifft  die  Erkrankung- gewöhnlich  mehre 
Zehen  zu  gleicher  Zeit  und  breitet  sich  auf  den  Fuss  aus,  bis  im  Verlauf 
einiger  Wochen  der  ganze  Fuss,  vielleicht  auch  der  Unterschenkel 
gangränös  ist;  dabei  erstreckt  sich  die  Zersetzung  früh  auch  auf  das 
ödematöse  Unterhautzellgewebe,  und  die  Gefahr  der  Jaucheresorption 
durch  die  Lvmphgefässe  ist  dabei  viel  grösser  wie  bei  dem  Process  der 
Mumificatlon.  —  Der  Sitz  der  zur  Gangraena  spontanea  führenden  Er- 
krankung im  arteriellen  System  ist  ein  verschiedener;  bei  der  ächten 
(marantischen)  Gangraena  senilis  findet  die  primäre  Gerinnung  in 
Folge  eines  sehr  abgeschwächten  Kreislaufs  in  den  Capillaren  Statt  und 
erstreckt  sich  von  hier  rückwärts  bis  in  die  Arterien  hinein.  Die  Ab- 
schwächung  des  arteriellen  Kreislaufs  kann  durch  verschiedeue  Momente 
bedingt  sein:  1)  durch  eine  verminderte  Energie  der  Herzthätigkeit, 
2)  durch  eine  Verdickung  der  Arterienwandungen,  verbunden  mit  Ver- 
engerung des  Lumens,  3)  durch  eine  Degeneration  der  Muskelhaut  der 
kleineren  Arterien.  In  manchen  Fällen  kommen  alle  diese  Umstände 
zusammen,  indem  grade  bei  älteren  Individuen  mit  schAvacher  Herz- 
energie Krankheiten  der  Arterien  sich  am  häufigsten  entwickeln,  ausser- 
dem Herz-  und  Arterienerkrankungen  gewöhnlich  auf  einer  gleichen 
Allgemeinursache  basirt  sind.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  weitläufig  zu 
erörtern,  inwieweit  die  Eigidität  und  der  atheromatöse  Process  in  den 
Arterienhäuten  zur  clironisclien  Entzündung  zu  rechnen  ist,  oder  als  eine 
besondere  Krankheit  aufgefasst  werden  muss;  auch  kann  ich  mich  hier 
nicht  auf  die  Auseinandersetzung  der  feineren  histologischen  Verhält- 
nisse, von  denen  wir  Einiges  bei  Gelegenheit  der  Aneurysmen  zu  be- 
sprechen ha])en,  weiter  einlassen,  sondern  erwähne  nur  so  viel,  dass 
bei  älteren  Leuten  die  Arterienhäute  sehr  häufig  verdickt  werden  und 
dass  sich  in  ihnen  Kalkablagerungen  bilden  bis  zu  einem  solchen  Grade, 
dass  das  ganze  Arterienrohr  vollständig  verkalkt,  das  Lumen  durch  die 
Verdickung  der  Wände  erheblich  verrengt  wird,  und  sich  Rauhigkeiten 
an  der  Inneufiäche  der  Arterien  bilden,  welche  zur  Entstehung  und 
Fixirung  von  Blutgeriunseln  besonders  disponiren.  Es  geht  hierbei  die 
ursprüngliclie  Bcschalfenheit  der  Avterienhaut  in  solchem  Grade  verloren, 
dass  das  (Jcfäss  zuletzt  weder  elastisch,  nocli  contractu  ist,  und  daher  tlieils 
durch  die  Verengerung,  tlieils  durch  die  mangelnde  Contraction  des  Ge- 
lasses der  Fort1)ewegung  des  Blutes,  welches  schon  wegen  Mangel  der 
Hei-zenergie  mit  weniger  Kraft  bewegt  wird,  erhebliche  Schwierigkeiten 
entgegenstehen;   nuvu  kann   leicht  begreifen  wie   in  solchen  Fällen,   be- 


Vorlesung  2^,.     Ciipild   \\T.  357 

sonders  in  Tlieilen,  welche  dem  Herzen  weit  entfernt  liegen,  die  rürciihition 
endlich  ganz  aufhört. 

Während  die  so  el)cn  beschriehenen  Fälle  mit  einem  g'cwissen  Keclit 
als   Gang-raena  senilis   bezeichnet  werden,   und   ihr  Zusammenhang'   mit 
Arterienkrankheiten  seit  Dupuytren   allgemein   anerkannt  worden   ist, 
g'iebt  es  andere  Formen  von  spontanem  Brand,  welclie  freilich  auch  bei 
älteren   Leuten    vorkommen,    doch    aber   von    der    eben    beschriebenen 
Form  sich  darin  unterscheiden,  dass  auf  einmal  ein  grosses  Stück  einer 
Extremität,   z.  B.  ein  ganzer  Unterschenkel   bis  zur  Wade  oder  bis  zum 
Knie  gangränös  wird.     Der  Vorgang  ist  hier  folgender:   in  dem  Ilaupt- 
arterienstamm,   z.  B.   in  der  Arteria  femoralis,    sei   es  in  der  Schenkel- 
oder Kniebeuge,   bildet  sich  ein  festes,  an  der  Gefässwand  adhärirendes 
Gerinnsel,  Avelches  sich  an  Rauhigkeiten  der  inneren  Arterienwand  nach 
vorausgegangener  atheromatöser  Erkrankung  anhängt  oder  sich  in  buch- 
tigen Erweiterungen  des  Arterienrohrs  bildet  und  allmählig  durch  Appo- 
sition   neuen    Faserstoffs    so    wächst,    dass    dadurch    nicht    allein    das 
Arterienlumen  verstopft  wird,  sondern  auch  das  ganze  peripherische  Ende 
der  Arterie  und  ein  Stück  des  centralen  durch  das  Fibringerinnsel  ver- 
schlossen wird.     Die  Folge   dieser   von  einem  autochthonen  wandstän- 
digen Thrombus  ausgegangenen  vollständigen  Arterienverstopfung,  durch 
welche  nach  und  nach  auch   der  arterielle  Collateralkreislauf  unmög- 
lich gemacht  wird,  ist  gewöhnlich  eine  Gangrän  des  ganzen  Fusses  und 
eines  Theils  des  Unterschenkels,  die  je  nach  der  Schnelligkeit,   mit  der 
die  Geriunselbildung  erfolgt,  bald   mehr  feucht  bald  mehr  trocken  ist; 
er  ist  hierbei  zuweilen  ganz  deutlich  zu  verfolgen,  wie  bei  dem  Wachsen 
des  Thrombus  auch  die  Gangrän  allmählig  weiter  schreitet.     Ich  beob- 
achtete im  Krankenhause  in  Zürich  einen  alten  Mann,  welcher  mit  spon- 
taner Gangrän  des  Fusses  ins  Krankenhaus   aufgenommen  wurde.     Bei 
der  sehr  abgemagerten  Musculatur  und   der  sehr  rigiden  Beschaffenheit 
der  Arterien  konnte  man  die  Pulsation  der  Arteria  femoralis  sehr  deut- 
lich bis  zur  Kniekehle  verfolgen.     In  der  Folge  schritt  die  Gangrän  weiter 
und  zugleich  hörte  die  Pulsation  in  dem  unteren  Theil  der  Arterie  auf; 
als  etwa  vierzehn  Tage  später,    kurz   vor   dem  Tode,   die  Gangrän  bis 
zum  Kniegelenk  vorgeschritten  w^ar,  hatte  auch  die  Pulsation  der  A.  fe- 
moralis unter  dem  Lig.  Poupartii  aufgehört.     Die  Section  bestätigte  die 
Diagnose   der   vollständigen  Arterien-Thrombose.     Das  gangränöse  Bein 
war  so  vollständig   mumificirt,    dass  es    von  der    Leiche  abgeschnitten 
nur  mit  Firniss  überzogen  w^erdcn  brauchte,   um  es  so   ohne  Weiteres 
aufzubewahren;    es    befindet    sich    in    der    cliirurgisclieu    Sammlung  in 
Zürich. 

Ein  weiterer  Fall  von  Arterienthrombose  ist  der,  dass  die  primäre 
Verstopfung  des  Arterienrohrs  durch  einen' Embolus  veranlasst  wird. 
Ein  Fibringerinusel,  welches  sicli  etwa  bei  Endocarditis  oder  aus  einem 
aneurysmatischen  Sack  iosreisst,  kann  sich  in  den  Arterieustamm  einer 


QXg  Vom  Tjiaii'Ii'. 

Exti-oiiiitüt  einklenimcn;  dadurcli  ist  dann  die  Veranlassimg-  zu  weiteren 
Fibrinaiisätzen  gegeben.  i\fan  ist  in  neuerer  Zeit  selir  geneigt,  den 
g-rössten  Tlieil  der  Erwcicliiings-  und  Vertrocknungsproeesse,  z.  B.  im 
Hirn,  in  der  Milz  u.  s.  w. ,  auf  solche  Emboli  zurückzuführen.  Einen 
selir  interessanten  typischen  Fall  der  Art  sahen  wir  in  unserer  Klinik. 
Eine  junge  Fiau  bekam  G  Wochen  nacii  einer  Entbindung  eine  starke 
Anschwellung  des  linken  Untcrsclienkels,  zu  welcher  sich  sclincll  eine 
dunkelblaue  Färbung-  der  Haut  und  dann  vollständig-e  Fäuluiss  dieses 
Körpertheils  hinzugesellte;  als  die  Patientin  ins  Spital  kam,  bestanden 
schon  allg-emeine  septische  Intoxicationserscheinungen.  Da  keine  hoch- 
gradige Anämie,  keine  Arterienkrankheit  irgendwo  am  Körper  nachzu- 
weisen war,  so  stellte  ich  die  Diagnose  auf  Endocarditis  mit  fibrinösen 
Vegetationen  an  der  Mitralklappe  und  Loslösung-  einer  dieser  Vege- 
tationen, Embolic  derselben  an  der  ßifurcationsstelle  der  linken  Art.  fe- 
moralis  in  der  Kniebeuge;  ich  beharrte  auf  dieser  Diagnose,  obgleich 
am  Herzen  kein  abnormes  Geräusch  nachweisbar  war,  da  es  bekannt 
ist,  dass  manche  Endocarditis  fast  symptomlos  verläuft;  die  rasch  auf- 
tretende Fäulnis«  des  Unterschenkels  musste  eine  plötzlich  aufgetretene 
Ursache  haben.  Da  sich  die  Gangrän  nicht  demarkirte  und  der  Allge- 
meinzustand täglich  schlechter  wurde,  war  von  der  Amputation  nichts 
für  die  Erhaltung  des  Lebens  zu  erwarten,  der  Tod  erfolgte  etwa  zwölf 
Tage  nach  den  ersten  Erscheinungen  der  Gangrän ;  die  Section  bestätig-te 
die  detaillirte  Diagnose  vollkommen.  —  Es  hat  immerhin  etwas  Auf- 
fallendes, dass  sich  in  solchen  Fällen  kein  Collateralkreislauf  entwickelt 
wie  nach  der  Unterbindung  der  Art.  femoralis;  ich  kann  mir  dies  nur 
dadurch  erklären,  dass  die  Herzaction  bei  der  Endocarditis  doch  Avohl 
beträchtlich  abgeschwächt  sein  wird,  und  der  Blutdruck  daher  nicht  zu- 
reicht, die  kleineren  Collateralarterien  genügend  zu  erweitern. 

Sehr  selten  sind  die  Fälle,  bei  welchen  in  Folge  von  hochgradiger 
Anämie  einerseits  die  Arterien  so  bedeutend  sich  verengern,  dass  durch 
die  kleineren  derselben  nur  äusserst  wenig  Blut  circulirt,  andrerseits  die 
Erregung  des  Centralnervensystems  für  die  Herzbewegung  dadurch  so 
schwach  ist,  dass  die  Contractionen  nur  sehr  unvollkommen  sind.  Die 
so  entstehende  Form  von  Gangraena  spontanea  kommt  häufiger  bei  sehr 
gracilen  chlorotischen  Frauen  mit  Amenorrhoe  vor  als  bei  Männern;  die 
meist  jüngeren  Individuen  leiden  oft  an  Erstarrung  der  Hände  und  Füsse, 
au  Ohnmächten  und  bedeutender  Mattigkeit;  in  Frankreich  scheint  diese 
Krankheit  häufiger  zu  sein  als  in  Deutschland  und  England;  wir  be- 
sitzen darüber  eine  ausgezeichnete  Arbeit  von  Rainaud  unter  dem  Titel: 
de  l'asphyxie  locale  et  de  la  gangrene  symetrique  des  extremites  18G2. 
Wie  schon  dieser  Titel  besagt,  tritt  die  Gangrän  dabei  meist  symmetrisch 
an  beiden  Extremitäten  auf.  Ich  habe  bis  jetzt  nur  einen'' Fall  beob- 
achtet, der  in  diese  Kategorie  gehört;  ein  junger,  höchst  anämischer 
Mann  bekam  ohne  irgend  welche  bekannte  Ursache  zuerst  eine  Ganarän 


Vorlcsimg  t?;'..     CUipilcl   XU.  359 

der  Nasenspitze,  dann  Gangrän  der  l)eidcn  Fiisse;  nacli  Monate  langem 
Leiden  erfolgte  der  Tod ;  wie  am  Lebenden  fand  sicli  auch  in  der  Leiche 
ausser  der  colossalcn,  ursächlich  nicht  erklärbaren  lilutarniutli  nichts 
Krankhaftes. 

Auf  einer  dauernden  spasmodischen  Contraction  der  kleineren  Ar- 
icrien  soll  die  Form  von  Gangrän  ))eruhen,  welche  bei  dem  Gennss  von 
Mutterkorn  beobaclitet  wii'd;  diese  Substanz  bewirkt  erfahi-iingsgemäss 
eine  Steigerung  der  Contraction  der  organischen  Muskelfasern  l)esonders 
derjenigen  des  Uterus,  und  wie  man  glaubt  auch  der  Uterusarterien. 

Das  Mutterkorn,  Seeale  com u tum,  ist  ein  in  den  Aehren  des 
IJoggens  (Seeale   cereale)   krankhaft   auswaclisendcs   Korn,    in  welchem 
sich  ein   eigenthiimliclier  Stoft",   das  Erg'otin,    l)ildet.     Wird  von  solchem 
erkrankten  Korn  Brod  gebacken,   so  treten  bei  denjenig-en,  welche  von 
dem  Brode  essen,    eigeuthiindiche  Ersclieinung-en  auf,  welche  unter  dem 
Namen  Kribelkrankheit  oder  Erg'otismus  zusammeugefasst  werden. 
Da  die  genannte  Krankheit   des  Kornes  gewöhnlich  sicli  auf  bestimmte 
Gegenden  erstreckt,  so  tritt  die  Krankheit  begreiflicherweise  bei  Menschen 
und   auch    bei  Thieren   epidemisch   auf.     Man  kennt   dieselbe  schon  seit 
sehr    langer  Zeit    und    l)esitzt    darüber   die  ersten   genaueren   Besclirei- 
bungen  einer  Epidemie  in  Frankreich  vom  Jahre  IGoO.     In  Deutschland 
scheint   die  Krankheit  selten  gewesen  zu  sein,    ebenso   in  England  und 
in  Italien.     In    neuerer  Zeit  kommt  sie  fast  nicht  mehr  vor,    was  wohl 
dadurch  zu  erklären  ist,  dass  man  das  erkrankte  Korn  besser  kennt  und 
nicht  mehr   zum  Brodbacken  verwendet,   und   dadurch,   dass  wegen   der 
ausgedehnten  Kartoffeleultur  weniger  Korn  gebaut  wird.    Aus  den  bisher 
bekannten    Beschreibungen    lassen    sich  verschiedene    Formen    und  Ver- 
laufsweisen der  Krankheit  annehmen,   von  welchen  bald  die  eine,    bald 
die  andere  in  den  verschiedenen  Epidemien  vorwiegend  häufig  beobachtet 
wurde;  vielleicht  ist  das  Gift  nicht  immer  dasselbe  oder  wenigstens  von 
sehr  verschiedener  Intensität.  —  In  den  ganz  acuten  Fällen  werden  die 
Vergifteten  sehr  bald  von  heftigen,   allgemeinen  Krämpfen  befallen  und 
der  Tod   erfolgt  in  4 — 8  Tagen;    andere  Fälle  haben  einen  weit  lang- 
sameren Verlauf;   es  treten  nur  von  Zeit  zu  Zeit  Krampfanfälle  auf;   zu 
gleicher  Zeit  und  vorher  im  Prodromal-Stadiura  ein  heftiges  Jucken  und 
Kribeln  in    der  Haut,  besonders  aber  in  den  Händen;    dazu  kommt  ein 
Gefühl  von  Taubheit,  Anästhesie  in  den  Fingerspitzen,  Avomit  sieh  dann 
trockne,  selten  feuchte  Gangrän  der  Haut,  dann  auch  ganzer  Extremitäten 
verbindet.     Bei  den  mehr  chronischen  Fällen  ist  der  Ausgang   meistens 
ein  glücklicher,  wenn  aucli  mit  Verlust  von  einigen  Fingern  oder  Zehen. 
4.     Es  erübrigt  noch,    von  einigen  Formen  von  Gangrän   zu  reden, 
deren  Ursachen   nicht  genau   bekannt  sind  und  bei  denen  wohl  mehre 
Einflüsse  concurriren.     Hierher  ist  der  sogenannte  Wasserkrebs,  Noma, 
zu  rechnen,    eine  spontan  bei  Kindern  besonders  häufig  in  der  Wange 
auftretende  Form  von  Gangrän,    welche  zumal  in  den  Städten   der  Ost- 


gßQ  V..ni  Urandc 

seeküste  weit  seltener  im  Binnenlande  beobaelitet  wird.  Selir  heruuter- 
"•ckonnnenc  Kinder,  welche  in  kalten,  feuchten  Wohnungen  leben,  sind 
dieser  Krankheit  besonders  ausgesetzt,  die  darin  besteht,  dass  ohne  be- 
kannte Geleg'cnheitsursache  ein  brandiger  Knoten  mitten  in  der  Wange 
oder  Lippe  sich  bildet  und  hier  in  rapidester  Weise  sich  ausdehnt,  bis 
die  Kinder  schliesslich  an  Erschöpfung  sterben.  Ob  dabei  nur  Anämie 
mit  Herzschwäche  die  Ursache  der  Gangrän  ist,  ob  ausserdem  mias- 
matische Einflüsse,  ob  besondere  Bluterkrankungen  etwa  mitwirken,  ist 
zweifelhaft.  —  Dass  gewisse  krankhafte  Blutqualitäten  zu  Gangrän  dis- 
poniren,  haben  wir  schon  früher  bei  gelegentlichen  Bemerkungen  über 
die  Septhämie  erwähnt.  Man  muss  ferner  hierher  das  Auftreten  von 
Gangrän  nach  Typhus,  Intermittens  und  exanthematischen  Fiebern,  ferner 
bei  Diabetes  mellitus,  Morbus  Brightii  u.  s.  w.  rechnen.  Xach  und  bei 
diesen  Krankheiten  kommt  Gangrän  an  der  Nasenspitze,  am  Ohr,  an 
den  Lippen,  an  der  Wange,  an  Händen  und  Füssen  Tor.  Auch  kann  in 
seltenen  Fällen  ein  Hautexanthem  selbst  in  Gangrän  übergehen.  Man 
kann  annehmen,  dass  in  solchen  Fällen  das  Miasma,  welches  z.  B.  den 
Typhus  hervorrief,  auch  noch  auf  das  Zustandekommen  der  Gangrän 
Einfluss  ausübt;  indess  lässt  sich  auf  der  andern  Seite  auch  die  Be- 
hauptung aufrecht  halten,  dass  diese  Gangrän,  zum  grössten  Theil  die 
Folge  einer  durch  die  lange  Krankheit  abgeschwächten  Herzthätigkeit 
ist,  indem  letztere  nicht  mehr  ausreicht,  das  Blut  bis  in  die  entferntesten 
Theile  des  Körpers  mit  der  gehörigen  Energie  hinzutreiben;  diese  Gan- 
grän wäre  danach  als  die  Folge  einer  marantischen  capillären  Thrombose 
aufzufassen.  Von  Estland  er  ist  in  neuester  Zeit  aus  sehr  sorgfältigen 
interessanten  Beobachtungen  über  Brand  an  den  unteren  Extremitäten  bei 
exanthematischem  Typhus  der  Schluss  gezogen,  dass  diese  Gangrän  zum 
Theil  durch  Emboli  bedingt  werde,  welche  wahrscheinlich  von  maranti- 
schen Thromben  im  linken  Herzen  abstammen.  Es  wirken  wohl  ver- 
schiedene Umstände  in  den  einzelnen  Fällen  bald  mehr  bald  weniger 
ein,  so  dass  sick  keine  uniforme  Aetiologie  für  diese  seltneren  Formen 
von  Gangrän  aus  inneren  Ursachen  schematisiren  lässt.  —  Erwähnen 
will  ich  noch,  dass  die  Stomatitis,  welche  nach  übermässigem  Gebrauch 
von  Quecksilber  entsteht,  auch  grosse  Disposition  zu  Gangrän  hat.  Ueber 
eine  eigenthündiche  Form  von  Gangrän  an  Wunden,  den  sogenannten 
Hospitalbrand,  sprechen  Avir  später. 

Ich  habe  Eingangs  dieses  Kapitels  gesagt:  „die  nächste  Ursache  des  Abstevhens 
einzehier  Körpertheile  sei  immer  das  völlige  Aufhören  der  Ernährungssaftströniungen 
meist  in  Folge  aufgehobener  Circulation  in  den  Capillären^.  Dies  lässt  die  Möglichkeit 
zu,  dass  auch  bei  bestehender  Circulation  in  den  Capillären  Gangrän  der  Gewebe  möglich, 
ist;  mir  schien  das  früher  nicht  denkbar,  d.  h.  ich  konnte  nur  kein  todtes  gangränöses 
Gewebe  mit  Capillarcirculation  vorstellen.  Beobachtungen  am  Krankenbett  in  Verein  mit 
dem  Enidruck,  welchen  Samuel" s  Arbeiten  über  Entzündung  auf  mich  machten,  haben 
es  mn-  indess  ziendich  wahrscheinlich  gemacht,  dass  die  entzündliche  Ernährungsstörung 
in  den  Geweben,  von  welchen  wir  früher  gesprochen  liabcn,  zuweilen  so  intensiv  auftritt 


Vorlcsmi--  2:5.     Ciipild    XI f.  3ßl 

und  .sirli  so  rascli  vcrlircilcl,  (last;  «io  diix'i-l^  zur  VrniicIilrUn;^  di'S  IcbciHlif^oi  Stofl'wcclitjcls 
im  (Jewebc  fiihrl;,  rnilicr  uucli  als  Stasc  und  Geriaiunifj;  in  den  Capillarcn  erlolgt;  das 
niut  circulirt  dann  noch  in  Gowcl)on ,  die  sclion  keine  normalen  Fiinefioneu  des  Stoff- 
wechsels vollziehen,  sondern  in  welchen  die  darin  enthaltenen  Gewcbssäfte  sieh  schon 
nach  einem  vom  normalen  StolVworhsel  unahhängi^en  Modus  zersetzen,  der  in  seinen 
nächsten  Prodneten  des  Zerfalls  vielleicht  sclnm  nnt  Käulniss  identisch  ist.  Ks  kommen 
Tanaritien,  seltener  rhlegmonen  mit  so  vaseliem  Uehergang  in  Gangrän  vor,  dass  es  nach 
Analogien  mit  anderen  Vorgängen  höchst  nnwahrseheinlich  ist,  dass  sie  in  Ff)lge  von 
arteriellen  Thrond)t)sen  entstanden  sein  sollten;  freilich  hört  auch  wohl  der  Capillarkreis- 
lauf  bald  auf,  wenn  das  Gewebe  primär  gangränös  geworden  sein  sollte,  doch  dann  nicht 
in  Folge  von  Cireulationsstörung  in  den  Arterien  und  N^?nen,  wie  bei  Incarcerationsgangrän, 
sinidern  in  Folge  der  Functions vernichtrxng  ihrer  Wandungen  durch  den  Entziindungs- 
process,  welches  ich  als  ein  höheres  Stadium  der  entzündlichen  Alteration  (C oh n heim) 
ansehe,  die  in  solchen  Fällen  rasch  durchlaufen,  fast  übersprungen  wird.  —  Ein  solcher 
rapider  Uebergang  von  entzündlicher  Alterati(Jn  zur  Vernichtung  der  Gewebe  scheint  auch 
besonders  durch  septische  Gifte  veranlasst  werden  zu  können;  vielleicht  wirkt  das  Schlangen- 
gift ebenso,  wovon  später  mehr  zu  sagen  ist.  Dann  sind  auch  die  fibrinösen  Infiltrationen 
des  Zellgewebs  (die  diphtheritischen  Phlegmone)  Iner  noch  einmal  zu  neinicn;  es  scheint 
aus  manchen  klinischen  Beobachtungen  hervorzugehen,  dass  durch  die  Gefässe  von  Ge- 
weben, deren  Saft  nahezu  vollständig  erstarrt  ist,  eine  Zeit  lang  noch  flüssiges  Blut  läuft, 
und  dass  die  Thrombose  in  manchen  dieser  Fälle  nur  die  Folge  der  Gewebsinfiltration 
ist,  so  wie  dass  das  Gewebe  dabei  zuweilen  früher  abstirbt,  als  die  Circulation  völlig 
erloschen  ist.  —  Es  ist  bis  jetzt  nicht  möglich ,  exacte  Entscheidungen  in  Betreff  der 
Deutung  dieser  Erscheinungen  zu  treffen;  ich  wollte  Sie  durch  diese  Bemerkungen  nur 
dazu  veranlassen,  diesen  praktisch  höchst  wichtigen  Vorgängen  bei  vorkommenden  Gelegen- 
heiten Ihre  Aufmerksamkeit  zu  widmen.  Neu  ist  die  Anschauung  nicht,  denn  die  älteren 
Chirurgen  betrachteten  die  Gangrän  recht  eigentlich  als  höchst  potenzirtc  Entzündung. 


Es  giebt  mit  Rücksicht  auf  das  Entstehen  von  GaugTÜn,  zumal  des 
Decubitus  und  anderer  Formen  von  Druckbrand  wichtige  prophylak- 
tische Maassregeln;  selbst  der  Gangrän  bei  Entzündung  kann  man 
unter  Umständen  vorbeugen,  wenn  man  nämlich  bei  sehr  starker  Span- 
nung der  Gewebe  und  bedeutender  venöser  Stauung  die  iutiltrirten  Eut- 
zündungsproducte  durch  einen  rechtzeitigen  entspannenden  Einschnitt 
entleert.  Als  Verhtttuugsmaassregel  gegen  das  Durchliegen  merken  Sie 
sich  Folgendes:  vergessen  Sie  nie  bei  allen  Krankheiten,  welche  irgend 
wie  zu  Decubitus  disponiren,  frühzeitig  Ihre  Aufmerksamkeit  darauf  zu 
lenken;  eine  gut  gepolsterte  Eosshaarmatratze  ist  das  beste  Krankenlager; 
die  darüber  gelegten  Leintücher  müssen  stets  glatt  erhalten  werden,  damit 
der  Kranke  nicht  auf  Falten  liegt.  Sowie  sich  eine  Röthung  der  Haut 
in  der  Gegend  des  Kreuzbeines  zeigt,  bedarf  es  vor  Allem  einer  dop- 
pelten Vorsicht  bei  den  Urin-  und  Kothentleerungen,  um  das  Bett  nicht 
zu  durchnässen.  Man  lasse  dann  eine  Citrone  halbireu  und  mit  dem 
frischen  Saft  der  Schnittfläche  die  gerötheten  Hautstellen  täglich  einreiben. 
Zeigt  sich  eine  Excoriation  am  Kreuzbein,  so  lege  man  sofort  dem  Kran- 
ken ein  Kranzkissen  unter,  oder  wenn  man  es  haben  kann,  ein  gutes 
Luft-  oder  Wasserkissen  von  Kautschuk.    Die  excoriirte  Stelle  kann  man 


362 
111 


Vom  Brande. 

it  Höllenstein    bepinseln  oder  ein  auf  Aveiches  Leder  gestriclienes  Eni- 


plastruni  Cerussae  auflegen.  Ist  der  Decubitus  von  Anfang  an  gangränös 
und  nimmt  die  Gangrän  an  Ausdehnung  zu,  so  tritt  die  gewöhnliche  Be- 
handlung gangränöser  Tlieile  ein,  die  wir  gleich  besprechen  wollen.  — 

Die  örtliche  Behandlung  der  eingetretenen  Gangrän  hat  wesent- 
lich zwei  Aufgaben  zu  lösen :  1)  die  Abstossimg  des  brandig  Gewordenen 
durch  Hervorrufung  einer  kräftigen  Eiterung  zu  befördern,  womit  dann 
zugleich  der  Stillstand  der  Gangrän  verbunden  ist,  2)  zu  verhindern, 
dass  die  brandigen  Theile  durch  ihre  Fäulniss  dem  Kranken  schädlich 
werden  und  das  Zimmer  zu  sehr  verpesten. 

Zur  Erfüllung    der    ersten   Aufgabe    bediente  man  sich    früher  der 
feuchten  Wärme  in  Form  von  Kataplasmen.    Ich  kann  jedoch  nicht  finden, 
dass   dieselben  für  diese  Fälle  von   so  ganz   besonderer  Wirkung   sind. 
Ist  der  Brand  ein  feuchter,  und  sind  die  brandigen  Theile  sehr  zur  Zer- 
setzung geneigt,   so  Avird  dies  durch  die  Application   der  Kataplasmen 
nur  begünstigt;  handelt  es  sich  um  die  Ablösung  einer  trockenen  Eschara, 
welche  keinen    üblen  Geruch  verbreitet,    und  ist   die   Demarcationslinie 
bereits  gebildet,  so  lohnt  es  kaum  der  Mühe,  die  Ablösung  der  Eschara 
durch  Wärme  um   kurze  Zeit  zu   beschleunigen.     Ich   pflege  daher  viel 
lieber   die  gangränösen  Theile  und  die  Bänder  des  Gesunden   mit  Com- 
pressen  oder  Charpie,  die  in  Chlorwasser  reichlich  getränkt  sind,  zu  be- 
decken, und  erreiche  dadurch  zu  gleicher  Zeit  beim  feuchten  Brande  eine 
Verringerung  des  üblen  Geruches  der  fauligen  Substanzen.    Zu  gleichem 
Zweck  kann  man  auch  Kreosotwasser  oder  Carbolsäure,  oder  verdünnten 
gereinigten  Holzessig,  sehr  starken  Alkohol,  Kamphorwein  oder  Terpeutin- 
spiritus  verwenden.     Ein  Mittel,   welches    die  von    den    faulenden  Sub- 
stanzen sich  entwickelnden  Gase  absorbirt,  ist  feines,  dick  aufgestreutes 
Kohlenpulver,    welches   indess,    weil    es    Wunden,    Verband    und    Bett- 
wäsche schwarz  macht,  vielleicht  zu  wenig  augewendet  Avird.    Als  kräftig 
antiseptische  Mittel  sind  ausserdem  noch  die  essigsaure  Thonerde  (Alu- 
men  3  v  oder  25,000  Grms.  Plumbum  aceticura  5  j  oder  50,000  Grms.  Aqua 
g'j  oder  500,000  Grms.)  und  Steinkohlentheer  mit  Gyps  empfohlen;  beide 
Mittel  sind  sehr  brauchbar,  müssen  aber,  Avie  alle  ähnlichen,   mehrmals 
am  Tage  und  in  der  Nacht  frisch  applicirt  Averden,  Avenn  sie  den  Geruch 
der  faulenden   Theile  völlig  beseitigen  sollen.     In  neuerer  Zeit  ist  das 
übermangansaure  Kali  (gr.  v  auf^j  Wasser  oder  0,500  auf  50,000  Grms.) 
als  örtliches    antiseptisches  und   desinficirendes  Mittel    sehr  augepriesen 
Avorden;  ich  habe  ziemlich  ausgedehnte  Versuche  damit  angestellt,  finde 
aber,    dass  es  den  früher  genannten  »littoln  Aveit  nachsteht.     Concentrir- 
tere  Lösungen  von  Carbolsäure  in  Olivenöl  z.  B.  3  ij  in  fr  j  oder  10,000 
in  oOO,()00  Grms.  machen  schon  Intoxicationserscheinungen  (olivengrünen 
Harn)  und  sind  daher  mit  Vorsicht  zu  verAvenden.  —  Sowie  das  Brandige 
einigerniaassen  gelöst  ist,  entfernt  man  die  Fetzen  mit  der  Scheere,  ohne 
ins  Gesunde  zu   schneiden,  Avas   zumal  bei   dem  oft  sehr  ausgedehnten 


Vori.'sim.i,'  2:].    Ciipiici  xrr.  l-jGo 

Bniiid  de«  Uiitei-lmutzclli;'cwcl)cs,  z.  15.  iiacli  IJrlninfilti-ation,  von  g'rösstei- 
Wi('litii;kcit  ist;  dabei  setzt  man  die  övtlielicn  antiseptisclieii  ]\[ittel  fort, 
bis  yute  Gi-auulatiou  ciiigeti-etcn  ist.  —  Mau  hat,  geleitet  dureli  die  aiiato- 
uiischen  Befunde  bei  spontaner  Gangrän,  gcratlien,  im  Beginn  der  Er- 
krankung durch  Ötreicbcn  und  l\eiben  der  Glieder  die  l>lntgerinnungen 
womöglich  zu  lösen;  es  ist  dies  wegen  des  Schmerzes  und  der  Anschwel- 
lung der  Thcilc  nur  in  wenigen  Fällen  ausfiihrl)ar;  in  den  Fällen,  in 
denen  ich  es  habe  ausführen  lassen,  hatte  es  keinen  Erfolg  in  Betreff 
des  Fortschreitens  der  Gangrän. 

Betrifft  der  Brand  die  Gliedniaassen,  wie  bei  den  verschiedenen 
Formen  der  Gangraena  spontanea  und  senilis,  so  rathe  ich  Ihnen  drin- 
gend, nicht  frülier  etwas  zu  unternehmen,  als  bis  sich  die  Demarcations- 
linie  ganz  scharf  gebildet  hat.  Handelt  es  sich  dal)ei  um  die  Gangrän 
einzelner  Zehen,  so  warten  Sie  die  Abstossung  ab;  betrifft  die  Gangrän 
den  ganzen  Fuss  oder  Unterschenkel,  so  richten  Sie  die  notliwendige 
Amputation  so  ein,  dass  dieselbe  nur  eine  Unterstützung  des  normalen 
Abstossungsprocesses  darstellt,  d.  h.  Sie  suchen  an  der  Grenze  des 
Gesunden  nur  so  viel  Haut  abzulösen,  wie  zur  Bedeckung  der  Ampu- 
tationsfläche absolut  nothwendig  ist,  und  durclisägen  den  Knochen  an 
einer  der  Demarcationslinie  möglichst  entsprechenden  Stelle.  Bei  diesen 
Cautelen  wird  es  Hmen  zuweilen  gelingen,  das  Wiederausbrechen  der 
Gangrän  zu  verhüten  und  den  Kranken  am  Leben  zu  erhalten.  Wenn 
der  Kranke  stir])t,  bevor  sich  eine  scharfe  Demarcationslinie  gebildet 
hatte  (was  der  häufigere  Fall  sein  wird),  so  brauchen  Sie  sich  keine 
Vorwürfe  über  die  unterlassene  Amputation  zu  machen,  denn  Sie  können 
versichert  sein,  dass  der  Kranke,  wenn  Sie  ihn  amputirt  hätten,  gewiss 
noch  früher  gestorben  wäre.  Die  Prognose  ist  überhaupt  bei  der  Gan- 
grän aus  inneren  Ursachen  (wie  sich  die  älteren  Chirurgen  ausdrückten) 
im  Allgemeinen  schlecht. 

Was  die  allgemeine  innere  Behandlung  solcher  Krankheiten  mit 
Gangrän  betrifft,  so  muss  dieselbe  eine  roborirende,  in  manchen  Fällen 
selbst  eine  excitirende  sein.  Eine  kräftige  Diät,  etwas  Chinin,  Säuren, 
zuw^eilen  einige  Dosen  Kamphor  kommen  dabei  in  Anwendung.  Die 
heftigen  Schmerzen  bei  Gangraena  senilis  machen  oft  grosse  Dosen  Opium 
nothwendig;  auch  die  subcutanen  Injectionen  von  Morphium  leisten  da- 
bei gute  Dienste,  Was  die  Gangrän  bei  Stomatitis  nach  Quecksilber- 
vergiftung betrifft,  so  besitzen  wir  kein  bestimmtes  Antidotum;  der  Ge- 
brauch des  Quecksilberpräparats  muss  sofort  ausgesetzt  werden;  ist  die 
graue  Salbe  applicirt  worden,  so  kommt  der  Kranke  in  ein  Bad,  wird 
in  ein  frisch  gelüftetes  Zimmer  gelegt,  mit  neuer  Leib-  und  Bett\väsche 
versehen,  und  bekommt  ein  Gurgelwasser,  etwa  mit  Kali  oxymuriaticum 
oder  mit  etwas  ChlorAvasser  versetzt.  —  Auch  gegen  das  Ergotin,  welches 
die  Kribelkrankheit  verursacht,  besitzen  wir  kein  bestinmites  Gegen- 
gift; Brechmittel,   Chinapräparate  und  kohlensaures  Ammoniak  sind  am 


364  ^'*J"  '!*-""  aLLidentelleu  AVuiid-  und  Eiitzündiingskraiikheiten  efc. 

meisten  dabei  empfohlen.  —  Wir  könnten  die  fortgesetzte  Aufnahme 
faulig-er  Stoffe  ins  Blut  nur  durch  die  Amputation  abschneiden ;  dass  dies 
aber  ein  bei  spontaner  Gaug-rän  sehr  precäres  Mittel  ist,  haben  wir 
schon  erwähnt. 


Vorlesung  24. 
CAPITEL  XIII. 

Von  den  accidentelien  V>  und-  und  Entzündiingskrauk- 
heiten  und  den  vergifteten  \A'unden. 

I.     0  ertliche  Krankheiten,  welche  zu  Wunden   und  anderen  Ent  zun  düng» - 

heerden  hinzukommen  können:   1.  Die  progressive  eitrige  und  eitrig-jauchige  diffuse 

Zellgewebsentzündung.  —  2.  Hospitalbrand.    Ulceröse  Schleimspeicheldiphtheritis.    Ulceröse 

Harndiphtheritis.  —  o.  Erysipelas  traumaticum.  —  4.  Lymphangoitis. 

Meine  Herren! 
Als  wir  früher  von  der  traumatischen  Entzündung  sprachen,  habe 
ich  den  Satz  aufgestellt,  dass  dieselbe  nicht  über  die  Grenzen  der  Ver- 
letzung hinausgehen  dürfe,  und  dass  dies  nur  dann  scheinbar  der  Fall 
sei,  wenn  mau  die  Verletzung  nicht  genau  übersehen  könne.  Ich  halte 
diesen  Satz  durchaus  aufrecht.  Wir  haben  indess  schon  hinzugefügt, 
dass  durch  verschiedene  Accidentien  dennoch  sowohl  unmittelbar  nach 
Verletzungen,  z.  B.  bei  Quetschwunden  sehr  heftige,  progressive,  mit  ver- 
jauchenden Producten  verbundene  Entzündungen  entstehen  können,  als 
auch,  dass  sich  später  um  die  bereits  granulirendeu  Wunden  secundäre 
Entzündungen  entwickeln  können  aus  Ursachen,  die  wir  dort  (pag.  174) 
ebenfalls  erörtert  haben.  Ich  muss  Sie  jetzt  damit  bekannt  machen,  dass 
gelegentlich  noch  eine  Eeihe  anderer  eigenthümlicher,  entzündlicher  und 
gangränöser  Processe  zu  den  Wunden  hinzukommen,  und  dann  Aviederum 
schwere,  meist  fieberhafte  Allgemeiuk rankheiten  nach  sich  ziehen 
können;  einige  der  letzteren  können  freilich  auch  auftreten,  ohne  dass 
an  der  Wunde  immer  etwas  Besonderes  sichtbar  ist.  Endlich  können 
in  eine  bestehende  Wunde  oder  zugleich  mit  deren  Entstehung  z.  B. 
durch  Biss  eines  giftigen  oder  kranken  Thiers,  Substanzen  eindringen, 
welche  sowohl  locale  heftige  Entzündungen,  als  schwere  allgemeine 
Blutvergiftungskrankheiten  nach  sich  ziehen.  Von  allen  diesen  Dingen 
soll  in  diesem  Ciipitel  die  Bede  sein;  ich  will  versuchen,  Ihnen  dieselben 
in  einer  übersichtlichen  Form  zusammen  zu  stellen.  Wir  AvoUen  zuerst 
von  den  örtlichen  Erscheinungen  reden,  welche  sich  als  Accidentien  zu 
einer  Wunde  oder  einem  aus  andern  Gründen  bestehenden  Entzündungs- 
heerd  hinzugesellen. 


VorlosiMiK  24.     Cupilcl   XITI.  fiOf, 

I.     Oertliclie    Kranklieiten,    welclic    zu   Wunden    und    andern 
E n t z ü n d un g- s li e e r d c n  lii n z uk o m m c u  k ö n neu. 

1.  Wir  erwähnen  hier  nocli  einmal  der  Vollständig-keit  -wei^'cn  die 
progressiven  j  auchig'cn,  eitrigen  und  fil)rinösen  (di])htli(Ti- 
tisclien)  diffusen  Zellgewebsentzündungen,  welche  frülier  selion 
besproclien  wurden  (pag.  173  u.  311).  Faulige  Zersetzungen,  welche  sich 
an  der  frischen  Wunde  bilden  und  sich  rasch  in  die  Maschen  des  Zellge- 
webes diffundiren  können,  veranlassen  am  zweiten,  dritten  oder  vierten  Tag 
diejenige  Entziindungsform  des  Zellgewebes,  welche  sich  durch  eine  so 
besonders  rapide  ditfuse  Verbreitung  auszeichnet,  und  deren  Producte  sich 
auch  so  besonders  rasch,  während  sie  noch  in  dem  Gewebe  sind,  zersetzen; 
erlebt  der  Kranke  die  Begrenzung  einer  solchen  Phlegmone,  so  endigt  der 
Process  immer  mit  Necrose  des  eitrig  intiltrirten  Zellgewebes  und  panni- 
culus  adiposus.  Ebenso  verhält  es  sich  mit  der  fibrinösen  (diphtheritischen) 
Phlegmone.  Beide  Processe  sind  meist  mit  besonders  schweren  Allgemein- 
erseheinungen  verbunden.  —  Bei  bereits  entstehender  Eiterung  kann  dann 
auch  später  noch  durch  mechanische  Irritation,  durch  fremde  Körper,  durch 
starke  Congestion  zur  Wunde,  durch  Eiterverhaltung  und  Eiterzersetzung 
in  Wundtaschen,  durch  Infection  der  Wunde  mit  phlogogenen  Körpern 
verschiedener  Natur  zu  jeder  Zeit,  so  lange  die  Wunde  offen  ist,  eine 
phlegmonöse  Eiterung  um  die  Wunde  sich  ausbreiten  (pag.  296). 

2.  Der  Hospitalbrand,  Gangraena  nosocomialis.  Ulceröse  (pha- 
gedänische)  Wunddiphtheritis.  Pourriture  des  hopitaux.  Ich  will  Ihnen 
die  Krankheit  zunächst  beschreiben,  dann  über  die  Aetiologie  einige  Be- 
merkungen hinzufügen.  Zu  einer  gewissen  Zeit  bemerkt  man,  besonders 
in  Spitälern,  dass  eine  Anzahl  von  Wunden,  sowohl  frische  Operatious- 
wunden,  als  solche,  die  sich  bereits  in  bester  Granulation  und  Benarbung 
befanden,  ohne  bekannte  Veranlassung  in  eigenthttmlicher  Weise  er- 
kranken. Es  verwandelt  sich  die  Granulationsfläche  theilweis  oder  ganz 
in  einen  gelblich-schmierigen  Brei,  der  sich  von  der  Oberfläche  unvoll- 
kommen abwischen  lässt,  dessen  tiefere  Schichten  aber  festsitzen.  Diese 
Metamorphose  erstreckt  sich  jedoch  nicht  allein  auf  die  Granulations- 
fläche, sondern  bald  auch  auf  die  nächste  bis  dahin  durchaus  gesunde 
Haut,  w^elche  in  der  Umgebung  der  Wunde  rosig  geröthet  ist;  auch  diese 
nimmt  successive  eine  schmierig-gelbgraue  Färbung  an  und  die  ursprüng- 
liche Wunde  vergrössert  sich  der  Fläche  nach  in  3— (3  Tagen  fast  um 
das  Doppelte;  der  Fortschritt  in  die  Tiefe  ist  bei  dieser  sogenannten 
pulpösen  Form  des  Hospitalbrandes  ein  relativ  geringer,  w^euigstens 
leisten  ihm  Fascien  und  Muskeln  einen  gewissen  Widerstand.  —  In  an- 
dern Fällen  nimmt  eine  frische  Wunde  oder  auch  eine  Granulationsfläche 
sehr  schnell  eine  kraterförmige  Beschaffenheit  au,  sondert  eine  serös- 
jauchige Flüssigkeit  ab,  nach  deren  Entfernung  die  Gewebe  frei  zu  Tage 
liegen;  die  Haut  ist  im  Umfang  leicht  geröthet.     Der  Fortschritt  dieses 


}ßG 


Von  den  accidentellen  AVinid-  und  Entzündnngskranklieiten  etc. 


raoleculareu  Zerialls  mit  Jaucliimg  erfolgt  gewöliulicli  in  ziemlich  scharf 
abgeschnittenen  Kreisformen,  wodurch  die  Wunde  hufeisenförmig  oder 
kleeblattförmig  werden  kann.  Diese  u  leer  ose  Form  des  Hospital- 
brandcs  schreitet  rapider  fort,  als  die  pulpöse,  und  erstreckt  sich  nament- 
lich mit  grösserer  Geschwindigkeit  in  die  Tiefe  der  Gewebe.  —  Ob- 
gleich beide  beschriebenen  Formen  zuweilen  ganz  getrennt  von  einander 
vorkommen,  so  wird  doch  auch  eine  Combination  derselben  beobachtet. 
Die  pulpöse  Form  habe  ich  häufiger  gesehen,  als  die  ulceröse,  bekenne 
indess,  dass  meine  eigene  Erfahrung  über  Hospitalbraud  auf  einer  ver- 
hältnissmässig  geringen  Anzahl  von  Beobachtungen  basirt  ist.  —  Xicht 
die  grösseren  Wunden  sind  dem  Hospitalbrand  besonders  ausgesetzt, 
sondern  vorzüglich  unbedeutende  Verletzungen,  wie  Blutegelstiche, 
Schröpfwunden,  selbst  die  durch  Vesicatore  von  der  Oberhaut  entblössten 
Hautstellen  können  gangränös  werden,  während  niemals  diese  Brand- 
form an  einer  unverletzten  Hautstelle  auftritt.  —  Die  Aehnlichkeit  der 
von  Hospitalbrand  befallenen  Wunden  mit  diphtheritisch  erkrankten 
Schleimhäuten  ist  von  vielen  Autoren  hervorgehoben.  Nachdem  ich  eine 
von  Schleimhautdiphtherie  inficirte  Wunde  gesehen  habe,  bin  ich  doch  zu 
der  Ueberzeugung  gekommen,  dass  Diphtherie  und  Hospitalbrand  sich  durch 
die  Art  ihres  Verlaufs  als  zwei  dififerente  Processe  kundgeben,  wenn  sie  auch 
beide  mit  fibrinöser  Gewebsinfiltration  beginnen.  Eine  von  Diphtherie  be- 
fallene Wunde  belegt  sieh  mit  dicker  Fibrinschwarte,  die  ganze  Wunde  wird 
infiltrirt,  ihre  Umgebung  wird  intensiv  erysipelatös ;  dann  wird  ein  grosser 
Theil  der  stark  infiltrirten  Gewebe  nekrotisch  und  zerfliesst  entweder 
oder  fällt  in  Fetzen  aus.  Dabei  findet  aber  nicht  die  täglich  unaufhalt- 
sam in  runden  Figuren  fortschreitende  pulpöse  Degeneration  der  Wund- 
ränder der  Haut  Statt,  mit  Wulstung  derselben,  mit  ihrer  grossen  Empfind- 
lichkeit und  ihrer  Neigung  zum  Bluten,  wie  das  Alles  so  charakteristisch 
für  Nosocomialgangrän  ist.  —  Nach  Schleimhautdiphtlierie  kommen  be- 
kanntlich nicht  selten  eigenthümliche  Lähmungen  vor ;  nach  Hospitalbrand 
sind  solche  Lähmungen  noch  nicht  beobachtet. 

Beim  Hospitalbrand  leidet  der  Körper  zu  gleicher  Zeit  im  Allge- 
meinen; das  Fieber  ist  allerdings  in  den  meisten  Fällen  anfangs  nicht 
heftig;  doch  besteht  ein  mehr  oder  weniger  stark  ausgesprochener 
Gastricismus ,  die  Zunge  ist  belegt,  dabei  allgemeine  Abgesclilagenheit. 
Aelteren  und  entkräfteten  Leuten  kann  der  Hospitalbi-and  gefährlich  wer- 
den, besonders  wenn  durch  denselben  kleine  Arterienstämme  angefressen 
werden  und  arterielle  Blutungen  entstehen.  Die  grossen  Gefässstännne 
widerstehen  erfahrungsmässig  dem  Hospitalbrand  oft  in  wunderbarer 
Weise:  so  sah  ich  einmal  bei  einem  Manu,  dem  ein  LeistendrUsenabscess 
aufgeschnitten  war,  Hospitalbrand  entstehen,  und  zwar  in  der  pulpösen 
Form;  es  wurde  die  Haut  der  Leistengegend  etwa  in  der  Ausdehnung 
einer  Hand  zerstört;  der  Process  war  so  weit  in  die  Tiefe  gedrungen, 
dass  die  A.  lemoralis,  welche  man  deutlich  pulsiren  sah,  in  der  Ausdeh- 


Vorlcsimi^-  24.     Capilrl   Xlfl.  ;)f;7 

nung'  von  1'/.  Zoll  >'ollständig-  eiUblösst  in  dci-  Wunde  lai^'.  Ich  hatte 
einen  Wärter  ani^e.stellt,  welclici-  den  Kranken  nie  verlassen  durfte, 
um  sofort,  wenn  eine  Blutung-  eintreten  sollte,  was  Jeden  Augenblick 
geschehen  konnte,  die  Compression  auszuüben.  Der  puljnlse  Brei  stiess 
sich  ab,  die  Wunde  granulirte  wieder  kräftig,  nnd  es  erfolgte,  wenngleich 
nach  langer  Zeit,  die  vollständige  Heilung.  Die  erysipelatösen  liöthun- 
gen,  welche  sich  zur  diphtheritischen  Phlegmone  und  zum  llosi)itall)rand 
hinzugesellen,  sind  zuweilen  ebenso  scharf  abgegrenzt  und  führen  ebenso 
zur  Desquamation,  wie  bei  einem  Erysipel,  welches  zu  guten  Wunden 
hinznkommt;  während  letzteres  aber  eine  entschiedene  Neigung  zur  Aus- 
breitung (zum  Wandern)  hat,  bleibt  das  zu  Diphtheritis  und  Nosocomial- 
gangrän  hinzukommende  Erysipel  meist  stabil  oder  breitet  sich  nur  in 
geringem  Maass  aus.  —  Die  septische  Tntoxication  des  Gesammtorga- 
nismus  ist  bei  Diphtheritis  immer  schwerer  als  bei  Hospitalbrand. 

Die  Ansichten  über  die  Ursachen  der  Hospitalgangrän  sind  ge- 
theilt,  was  hauptsächlich  darin  seinen  Grund  hat,  dass  viele  lebende 
Chirurgen  das  Glück  oder  Unglück  gehabt  haben,  diese  Krankheit  nie- 
mals zu  sehen;  so  ist  z.B.  in  Zürich  während  der  sieben  Jalire,  in  welchen 
ich  dort  war,  Hospitalbrand  und  diphtheritische  Phlegmone  niemals  gesehen 
worden,  obgleich  es  sonst  an  accidentellen  Wundkrankheiten  nicht  fehlte; 
Chirurgen,  welche  diese  Krankheit  gar  nicht  oder  nur  sporadisch  beob- 
achteten, glauben,  dass  dieselbe  durch  enorme  Vernachlässigung,  schmutzige 
Verbände  u.  dergl.  entstehe  und  nicht  viel  anders  aufzufassen  sei,  wie 
ein  durch  Schmutz  und  Vernachlässigung  oberflächlich  gangränös  gewor- 
denes Fussgeschwür.  Andere  Chirurgen  nehmen  an,  dass  der  Hospital- 
brand eine  Krankheit  sei,  welche,  wie  der  Name  besagt,  manchen  Ho- 
spitälern ganz  eigenthümlich  ist,  und  dass  durch  Vernachlässigung  der 
Verbände  seine  Entstehung  nur  unterstützt  wird.  Eine  dritte  Ansicht 
endlich  ist  die,  dass  diese  Form  von  Brand  durch  epidemisch-miasmatische 
Einflüsse  entsteht  und  insofern  ihren  Namen  Hospitalbrand  mit  Unrecht 
trägt,  als  sie  auch  ausserhalb  der  Spitäler  in  derselben  Zeit  vorkommt, 
in  welcher  sie  sich  in  den  Hospitälern  findet.  In  letzteren  Avird  sie  dann 
aucli  wohl  durch  Impfung  weiter  ausgebreitet,  indem  ich  wenigstens  nicht 
daran  zweifle,  dass  durch  Pincetten,  Charpie,  Schwämme  etc.  von  den 
gangränösen  Wunden  Stofi'e  auf  die  gesunden  übertragen  werden,  W'Clche 
auf  diesen  die  Krankheit  erzeugen  können,  v.  Pitha  und  Fock  haben 
sich  dahin  ausgesprochen,  dass  der  Hospitalbrand  eine  epidemisch- 
miasmatische Krankheit  ist;  ich  beobachtete  mit  Fock  zusammen  in 
der  chirurgischen  Klinik  zu  Berlin  eine  Epidemie  von  Hospitalbrand, 
während  die  gleiche  Krankheit  zu  gleicher  Zeit  nicht  allein  in  anderen 
Krankenhäusern  Berlins,  sondern  auch  in  der  Stadt  bei  Kranken  beob- 
achtet wurde,  von  welchen  es  nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesen  w-erden 
konnte,  dass  sie  mit  einem  Hospital  in  Berührung  kamen.  Der  Hospital- 
brand trat  ziemlich  plötzlich  auf  und  verschwand  nach  wenigen  Monaten 


3G8  ^'^"'^  <^^"   accidcntollon  Wimd-  und  KiitziiiKliiiigskraiikheiten  etc. 

wieder  vollständig-,  obgleich  die  Beliandlung-  der  Wunden  sich  durchaus 
in  nichts  verändert  hatte,  und  mit  dem  Spital  selbst  ebenfalls  keine  Ver- 
änderungen vorgenommen  werden  konnten.  Aus  diesem  Umstand  seheint 
hervorzugehen,  dass  die  Ursachen  nicht  in  den  Verhältnissen  des  Spitals 
an  sich  liegen.  Es  wäre  denkbar,  dass  der  epidemisclie  Hospitalbrand 
durch  ganz  bestimmte,  nur  selten  zur  Entwicklung  kommende  Arten  klein- 
ster Organismen  entsteht,  welche  auf  der  Wunde  und  in  dem  Granula- 
tionsgewebe nach  Art  der  Gährungserreger  eine  Zersetzung  erzeugen; 
ich  möclite  daher  diese  Krankheit  der  Wunden  am  liebsten  mit  der  blauen 
Eiterung  vergleichen,  die  freilich  der  Wunde  keinen  Schaden  bringt,  doch 
nach  Lücke's  Untersuchung  wie  die  blaue  Milch  durch  kleinste  Orga- 
nismen bedingt  und  ebenfalls  auf  andere  Vfuudeu  impfbar  ist.  Die  Be- 
dingungen für  das  Gedeihen  dieser  kleinsten  zweifellos  pflanzlichen  We- 
sen sind  wahrscheinlich  unter  gewissen  atmosphärisclien  Verhältnissen 
besonders  günstig  und  daher  mag  die  epidemische  Verbreitung  der  Krank- 
heit kommen.  Zw^eifellos  ist,  dass  sich  in  jedem  Hospitalbrandbrei 
ebenso  constant  grosse  Mengen  von  Micrococcos  und  Streptococcos  finden, 
wie  im  Secret  einfach  diphtheritischer  Wunden.  Dass  sie  vor  dem  breiigen 
Zerfall  bereits  im  Gewebe  sind,  in  dies  etwa  hinein  wachsen,  das- 
selbe gewissem! aassen  zu  Brei  zerfressen  und  verdauen ,  lässt  sich 
bis  jetzt  nicht  mit  Sicherheit  feststellen;  ebenso  wenig  lässt  sich  be- 
weisen, dass  dieser  Micrococcos  eine  besondere  Art  sei.  —  Sicher  ist 
aber,  dass  die  Uebertragung  von  Hosijitalbrandpulpa  oder  Hospital- 
brandjauche auf  gesunde  Wunden  meist  (wenn  auch  nicht  immer 
nach  Fischer)  Hospitalbrand  erzeugt,  und  dies  ist  für  die  Praxis 
vor  Allem  wichtig.  Nach  meinen  neueren  Beobachtungen  im  Wiener 
allgemeinen  Krankenhause  hat  sich  mir  die  Ueberzeugung  immer 
mehr  aufgedrängt,  dass  diese  Krankheit  ganz  unabhängig  von  Pyo- 
hämie,  Septhämie,  Erysipelas  und  Lymphangoitis  aus  ganz  specifi- 
schen  Ursachen  entsteht,  wenngleich  sie  eine  oder  mehre  der 
letzteren  Krankheiten  zur  Folge  haben  kann. 

Die  Behandlung  muss  zunächst  in  strenger  Absonderung  der  Er- 
krankten bestehen,  für  die  ein  besonderer  Wärter,  besonderes  Verband- 
zeug und  Instrumente  beschafft  werden  müssen.  Wenn  dies  auch  nicht 
ganz  vor  der  Verbreitung  der  Krankheit  schützt,  da  das  Contagium  viel- 
leicht auch  durch  die  Luft  von  einer  kranken  Wunde  auf  eine  gesunde 
übei-tragen  werden  kann,  so  liindert  es  doch  erfahrungsmässig  die  Aus- 
breitung; bei  einigen  Epidemien  in  Militärspitälern  musste  man  gewisse 
Localitäten  gang  räumen.  Oertlieh  ist  Verband  mit  starkem  Chlorwasser, 
Kamphorspiritus  oder  Terpentin  empfohlen;  ganz  besonders  günstig  Avirkt 
zuweilen  zweistündliches  Bepinseln  mit  Jodtinctur,  auch  essigsaure  Thon- 
erde  liat  sich  mir  sehr  bewährt,  wenn  der  Verband  oft  damit  übergössen 
wird,  SU  dass  die  AVunde  ganz  davon  durchtränkt  bleiljt,  bis  sie  rein 
ist.     Erweist  sieh   das  Alles   als  wirkungslos,  so  soll  man  die  Wunden 


VdrlcsmiK  'il.     Cnpil.'l    XI  FT.  p,(]() 

tief  bis  ins  Gesunde  liincin  ausl)rennen,  so  dass  der  SclioiT  wie  an 
gesunden  Geweben  (!-  8  Tag'c  liaftet.  —  Ich  finde,  dass  es  am  wirkungs- 
vollsten ist,  die  Wunde  mit  rauchender  Salpetersäure  oder  Phenylsäiire 
auszuätzen,  doch  nmss  man  die  Aetzungen  auch  auf  die  gesunden 
Wundränder  ausdcbnen,  und  sie  so  oft  wiederhohlen,  bis  der  Schorf  fest 
haftet;  am  sichersten  gelingt  dies,  wenn  man  die  erkrankten  Stellen  der 
Wunde  mit  Charpie  oder  Watte  fest  abwischt  oder  abreibt,  um  den 
jinlpösen  Brei  ganz  zu  entfernen,  und  erst  dann  ätzt,  wenn  die  Blutung 
steht;  man  muss  diese  Operation  in  der  Narkose  machen,  führt  man  sie  gut 
aus,  so  ist  damit  auch  gewöbnlich  die  Krankheit  beseitigt.  —  Die  allgemeine 
Behandlung  muss  eine  roborirende,  selbst  cxcitirende  sein.  Das  beim 
Hospitalbrand  auftretende  Fieber  ist  durch  Besorptiou  fauliger  Steife  be- 
dingt und  unterscheidet  sich  also  nicht  von  andern  Formen  von  Faulfieber. 

An  Wunden  zweier  Körperstellen  entwickelt  sich  besonders  liäufig,  aucli  ohne  von 
aussen  hinzukommende  Infection ,  die  eben  beschriebene  pulpöse  phagedänische  Gangrän, 
nämlich  an  Wunden  im  Mund  und  an  Wunden  der  Harnblase.  Ich  erwähne 
das  hier,  weil  diese  Ei-krankungen  zweifellos  in  die  Kategorie  der  phagedänischen  Diph- 
theriten  gehören,  wenngleich  ihre  Besprechung  wegen  ihrer  Beschränkung  auf  bestimmte 
Körperregionen  mehr  in  die  specielle  Chirurgie  und  in  die  Klinik  gehören.  —  Nach  Ex- 
stirpation  von  grösseren  Zungentheilen  und  nach  Resectionen  des  Unterkiefers  sah  ich  einige 
Male  einen  raschen  breiigen  Zerfall  der  Wunde  nach  vorhergegangener  brettharter,  ziemlich 
weit  gehender  Zellgewebsinfiltration;  hier  liegt  zweifellos  eine  Combination  von  diplitheri- 
tischer  Phlegmone  mit  phagedänischer  Ulceration  vor.  Die  meisten  dieser  Fälle  endigten 
letal  durch  Sepsis ,  andere  kamen  zur  Heilung ,  nachdem  das  ganze  infiltrirte  Zellgewebe 
nekrotisch  geworden  und  unter  reichlicher  Eiterung  ausgestossen  war.  Wenngleich  der 
Schleim  und  Speichel,  welcher  mit  diesen  Wunden  in  Berührung  kommt,  keineswegs  als 
solcher  phlogogene  oder  septisch -infeetiöse  Eigenschaften  besitzt,  so  können  ihm  doch 
Fäulnissfermente  beigemischt  sein,  welche  sich  in  dem  schmierigen  Belag  auf  dem  Zahn- 
fleisch und  zwischen  den  Zähnen  zumal  solcher  Kranken  finden ,  welche  ihren  Mund 
schlecht  reinigen  und  bei  schmerzhaften  Geschwüren  im  Mund  die  Reinigung  desselben 
ganz  unterlassen.  So  wird  allerdings  den  Wunden  im  Mund  mit  dem  Schleim  und  Speichel 
dieses  Ferment  zugeführt  und  deshalb  die  Bezeichnung  Schleim -Spei  che  Idiphth  er  itis 
gestattet  sein.  Diese  Krankheit  bedroht  die  Operirten  nur  in  den  ersten  5  Tagen,  später 
kommt  sie  nicht  mehr  zur  Entwicklung;  nur  die  frischen  Wunden  im  Mund  werden  von 
dem  fraglichen  Ferment -Contagium  inficirt;  haben  sich  einmal  gute  Granulationen  ent- 
wickelt, dann  tritt  diese  Diphtherie  nicht  mehr  ein,  es  sei  denn,  dass  eine  Infection  von 
aussen  komme,  oder  die  Wunde  mechanisch  insultirt  und  dadurch  das  Granulationsgewebe 
theilweis  zerstört  werde.  Die  Allgemeinerscheinungen  können  bei  dieser  Erkrankung  sehr 
schwer  sein,  zmnal  ist  ein  rascher  Collaps  dieser  Kranken  sehr  auffällig,  der  um  so  ge- 
fährlicher wird,  als  die  Operirten  wegen  der  oft  schon  seit  längerer  Zeit  vorausgegangenen 
Ernährungsschwierigkeiten  gewöhnlich  schon  sehr  heruntergekommen  sind. 

Nach  Steinschnitten,  Urethrotomieen ,  Operationen  der  Blasenscheidenfistel  und  der 
Ectopia  vesicae  kommt  pulpöser  Zerfall  der  Wundränder  mit  fibrinösem  Belag  der  Schleim- 
häute der  Blase,  eventuell  auch  der  Vagina  nicht  so  selten  vor,  zumal  wenn  der  Harn 
alkalisch  ist.  Da  diese  Erkrankung  zweifellos  mit  der  Zersetzung  des  Harns  zusammen- 
hängt, so  nennt  man  sie  Harndiphtheritis.  Diese  Form  der  Diphtherie  ist  in  sofern 
die  mildeste  unter  den  oben  beschriebenen,  als  sie  im  Ganzen  relativ  wenig  Neigung  zur 
Ausbreitung  hat,  und  auch  ganz  ohne  Allgemeinerscheinungen  verlaufen  kann,  falls  die 
Wimden  nur  reinlich  gehalten  werden.  Es  kommt  in  seltenen  Fällen  vor,  dass  die  Schleim- 
Billroth  chlr.  Path.  u.  Ther.   7.  Aufl.  24 


370 


Von  (Ion  apridontellen  Wniul-  und  Entziindnn.tjskranklieiten  etc. 


häute  dabei  auch  auf  eine  gewisse  Distanz  hin  zerfallen,  häufiger  ist  es  freilich,  dass  sich 
der  Process  in  Form  einer  jauchig-eitrigen  Phlegmone  auf  das  retroperitoneale  Zellgewebe 
Tcrbreitet;  diese  Eetroperitonitis  führt  dann  secundär  zur  Peritonitis  und  verläuft  wohl 
immer  tödtlich.  Auch  kann  sich  die  diphtheritische  Entzündung  der  Vagina  in  Form 
einer  oberflächlichen  Eiterung  auf  die  Innenfläche  des  Uterus  und  von  dort  durch  die 
Tuben  aufs  Peritoneum  fortpflanzen ;  diese  eitrige  Peritonitis  ist  auch  meist  tödtlich. 
Fibrinöse  Phlegmonen  sah  ich  unter  solchen  Verhältnissen  nie.  In  den  letzterwälinten. 
nach  Entbindungen  leider  nicht  so  seltenen,  nach  Blasenscheidenfisteloperationen  zum 
C41ück  seltenen  Fällen  treten  schon  früh  schwere  Allgemeinerscheinungen  auf. 

Sowohl  in  dem  Brei  bei  Schleim-Speicheldiphtheritis  wie  bei  Hamdiphtheritis  findet 
sich  constant  Micrococcos  und  Streptococcos;  dieselben  finden  sich  ebenso  constant  in 
jedem  Zahnschleim  und  Zungenbelag,  Avie  in  jedem  ammoniakalisch  gewordenen  Urin, 
scheinen  sich  aber  mit  besonderer  Rapidität  in  dem  erwähnten  Brei  weiter  zu  entwickeln. 
Das  diesem  Brei  inhärirende  Contagium  ist  bis  jetzt  nicht  von  dem  Micrococcos  zu  trennen, 
und  es  lässt  sich  daher  vermuthen ,  dass  letzterer  den  contagiösen  zymoiden  Stoff  in  sidi 
oder  an  sich  habe;  ein  Beweis,  dass  jeder  Micrococcos,  der  irgendwo  gewachsen  ist. 
diese  Processe  erzeugen  könne,  liegt  bis  jetzt  nicht  vor.  doch  sprechen  viele  Beobach- 
tungen dafür,  dass  diese  Vegetationen  gewisse  contagiöse  Stoffe  besonders  leicht  in  sich 
aufnehmen  und  dadurch  Träger  von  Contagien  und  Fermenten  werden.  Impft  man  mit 
Flüssigkeiten,  welche  Micrococcos  enthalten,  z.  B.  auf  die  Cornea  von  Kaninchen,  so 
wächst  der  Coccos,  wie  die  interessanten  Versuche  von  Nassilo  ff,  Eberth,  Leber, 
Stromeyer,  Dolschenkow,  Orth,  Frisch  u.  A.  ergeben,  meist  bis  zu  einer  gewissen 
Ausdehnung  weiter  und  wirkt  in  einigen  Fällen  (wenn  er  keine  besonders  schädliche 
Substanzen  mit  sich  bringt)  vorwiegend  mechanisch  irritirend,  indem  er  die  Hornhaut- 
lamellen auseinandertreibt,  so  dass  die  kleine  Coccoscolonie  nach  U7id  nach  ganz  von 
Eiter  eingehüllt  und  dann  mit  dem  Eiter  ausgestossen  wird,  —  in  andern  Fällen  aber 
(wenn  der  überimpfte  Stoff  sehr  deletäre  Eigenschaften  besitzt) ,  kann  in  24  Stunden  die 
ganze  Hornhaut  gangränös  sein,  wobei  die  Coccoswucherung  kaum  die  Ausdehnung  er- 
reicht hat,  wie  im  ersten  Fall.  Endlich  kommen  auch  Fälle  vor,  in  welchen  die  kleine 
Coccoswucherung  (die  Pilzfigur)  gar  keine  Reaction  in  der  Cornea  erzeugt,  sondern  ohne 
Spuren  zu  hinterlassen,  bald  Avieder  verschwindet.  Bei  Impfungen  auf  die  Hornhaut  von 
Hunden  ist  dies  sogar  die  Regel. 

Fig.  72. 


o.  Pilzfigur  von  der  Kaninchencornea:  Coccoswucherung  zwischen  den  Lamellen  der  Horn- 
haut,  durch  Impfting   erzeugt.      Schwache  Vergrösseruug.    —    b  Eine  Spitze    dieser   Pilz- 
lignr  bei  starker  Vergrösseruug.    GOÜ.  —  Nach  Frisch.  — 


Hieraus    geht    also  hervor,    dass    die   Intensität    und  Art    der  durc-h   solche 
Contagien   erzeugten   Entzündungen    nicht    \on   der   Coccoswucherung    als 


I 


Vorlc'simo'  21.      Ciipilrl    XIII.  ;J7  ] 

'        tiolelior,    .sdiuleni   vom    der    S  c  li  ■!  d  I  i  c  li  k  c  i  I    der    S  I  o  Cl'c   u  li  li  :i  ii ;.; ' ;     wcldie    sie 

f        111  i(  br  i  11  ;i;t ,    o  d  o  i-   erzoiiptt. 

Icll  i;!;iulil('  Iliiicu  diese  Milllieilniii;'i'ii  nielil  vnren(li;dlcn  zu  diii-feii,  d;iiiiil  Sic 
WOni<i;stciis  einige  Aiiliallspiinklo  l'ür  diese  jetzt  .so  viellacli  disiMiliileii  Vnv>riU\jfc  liuljen.  — 
So  eben  ist  eine  vorfreü'iiclie  Monoifmpbie  über  liospiddliraiid  von  ('.  Heine  erseliienen, 
deren   Sliidiiiin   ieb   lliuen   angeleü,('nl;lieli.s(    einpfeble. 

3.  Die  Wundrose,  Erysipelas  traumatieum,  wird  wie  fViilicr 
(pag'.  301)  erwälmt,  zu  den  acuten  Exantlicnien  gcrcclmet,  und  ist  durcli 
eine  massige  Schwellung-,  rosige  Kötliung  der  Haut  und  Schnierzliaftig- 
keit  derselben  cliarakterisirt,  sowie  durcli  das  damit  verl)undene,  meist 
lieftige  Fieber.  Das  Erysipelas  nimmt  eine  eigenthiimliclie  Stellung  zu 
den  übrigen  acuten  Exanthemen  ein;  einerseits  dadurch,  dass  es  sehr 
häufig  zu  Wunden  hinzukommt,  wenngleich  es  auch  scheinbar  spontan 
auftreten  kann;  andererseits  dadurch,  dass  es  gewöhnlich  nicht  durch 
ein  so  oft  haftendes  Contagium  verbreitet  zu  werden  pflegt,  wie  Masern, 
Scharlach  u.  dgl.;  endlicli  auch  noch  dadurch,  dass  man,  wenn  man 
diese  Krankheit  gehabt  hat,  nicht  nur  nicht  vor  neuer  Ansteckung  ge- 
sichert ist,  sondern  in  manchen  Fällen  sogar  ganz  besonders  dazu 
disponirt  wird.  Da  ich  kaum  voraussetzten  darf,  dass  Sie  sich  bereits 
eingehender  mit  den  Hautkrankheiten  befasst  haben,  so  müssen  wir  hier 
kurz  die  Symptome  dieser  Kraukeit  durchgehen. 

Der  Beginn  kann  insofern  verschieden  sein,  als  entweder  das  Fieber 
dem  Aufblühen  des  Exanthems  vorausgeht  oder  Fieber  und  Exanthem 
zugleich  erscheinen.  Nehmen  Sie  an,  Sie  haben  einen  Kranken  mit  einer 
eiternden  Wunde  am  Kopf,  und  Sie  finden  ihn,  naclidem  er  sich  bis 
dahin  wohl  befunden  hatte  und  die  Wunde  bereits  in  Heilung  begriffen 
war,  in  sehr  heftigem  Fieber,  vielleicht  mit  einem  vorangegangenen, 
intensiven  Schüttelfrost.  Sie  untersuchen  den  Patienten  überall  genau 
und  können  durchaus  nichts  Anderes  auffinden,  als  leichten  Gastricimus, 
der  sich  durch  etwas  belegte  Zunge,  Übeln  Geschmack  im  Munde,  zu- 
weilen mit  Brechneigung  verbunden  und  Appetitlosigkeit  anzeigt.  Ein 
solcher  Zustand  kommt  im  Beginn  so  vieler  acuter  Krankheiten  vor, 
dass  Sie  eine  Diagnose  durchaus  nicht  gleich  stellen  können.  Abgesehen 
von  der  Möglichkeit  einer  zufälligen  Complication  mit  irgend  einer 
innern  acuten  Krankheit  werden  Sie  an  Phlegmone,  an  Lymphangoitis 
und  an  Wundrose  denken.  Vielleicht  erst  24  Stunden  später  finden  Sie 
die  Wunde  trockner,  wenig  seröses  Secret  absondernd,  die  Umgebung 
derselben  in  ziemlicher  Ausdehnung  geschwollen,  geröthet  und  schmerz- 
haft, oder  auch  die  Granulationen  stark  geschwollen  und  croupös;  die 
Farbe  der  Haut  ist  rosiger  roth,  und  die  Eöthe  ist  überall  scharf  be- 
grenzt, das  Fieber  ist  noch  ziemlich  intensiv;  jetzt  ist  die  Diagnose 
eines  Erysipels  nicht  mehr  zu  verfehlen,  und  man  ist  zufrieden,  dass 
man  es  mit  einer,  w^enn  auch  nicht  ganz  ungefährlichen,  doch  im  Ganzen 
nicht  allzu  gefiihrlichen  Wuudkrankheit  zu  thuu  hat.     In  einer  zweiten 

24* 


9-79  Von   den   affitlentellen   Wund-   und  Entzündnng.skrankln'itf-n   ctc 

Reihe  von  Fällen  erscheint  das  Erysipelas  sofort  mit  dem  Fieber  zu- 
gleich. Man  kann  eine  kurze  Zeit  laug-  schwanken,  ob  man  es  mit  einer 
Lymphangoitis ,  mit  einer  Entzündung  des  Unterbantzellgewebes  oder 
mit  einem  Erysipelas  zu  thun  hat.  Der  Verlauf  der  Krankheit  wird 
dies  jedoch  bald  zeigen;  die  Ausdehnung,  welche  die  erysipelatöse  Ent- 
zündung der  Haut  am  ersten  Tage  hatte,  bleibt  selten  dieselbe,  sondern 
nimmt  nach  und  nach  zu,  und  zwar  so,  dass  sich  die  abgerundeten, 
zung-enförmig  hervorragenden  Ränder  der  entzündeten  Hauttheile  immer 
sehr  deutlich  abgrenzen  und  dass  man  g-enau  verfolg-en  kann,  wie  sich 
dieselben  bald  mehr  nach  der  einen,  bald  mehr  nach  der  andern  Seite 
hin  vorschieben,  die  Röthe  schreitet  in  vielen  Fällen  in  ganz  ähnlichen 
Figuren  vor,  wie  Flüssigkeit  in  Fliesspapier.  So  kann  der  Process  sich 
immer  weiter  und  weiter  ausbreiten,  vom  Kopf  auf  den  Xacken,  von 
dort  auf  den  Rücken  oder  an  die  vordere  Seite  des  Stammes  oder  auch 
nach  dem  Arm  zu  heruntergehen  und  zuletzt  auch  noch  die  unteren 
Extremitäten  überziehen.  Pfleger  hat  nachgewiesen,  dass  die  Art 
der  Verbreitung  des  wandernden  Erysipels  fast  immer  die  gleiche  ist, 
und  wahrscheinlich  von  gewissen  Saft-  (Lymph-)  Strömungen  abhängig 
ist,  welche  wiederum  durch  die  Anordnung  der  Cutisfaseruugeu  bedingt 
sind.  So  lange  in  dieser  Weise  das  Erysipel  sich  ausbreitet,  bleibt  das 
Fieber  gewöhnlich  auf  ziemlich  gleicher  Höhe,  und  dadurch  werden 
zumal  ältere  und  schwächere  Leute  leicht  erschöpft.  Die  meisten 
Erysipele  dauern  2 — 10  Tage,  die  Dauer  über  14  Tage  ist  eine  grosse 
Seltenheit;  die  längste  Dauer  einer  Wundrose,  die  ich  beobachtete,  war 
32  Tage  mit  Ausgang  in  Genesung.  Sie  bemerken  bei  diesem  Ery- 
sipelas ambulans  oder  serpens  noch,  dass  ein  und  derselbe  Grad 
von  Hautentzündung  nur  eine  gewisse  Zeit  lang  an  derselben  Stelle  be- 
steht, so  dass  also,  wenn  das  Erysipel  fortschreitet,  nicht  zugleich  die 
ganze  Hautoberfläche,  sondern  immer  nur  ein  Theil  derselben  sich  in  der 
Akme  der  localen  Entzündung  befindet. 

Nachdem  die  Entzündung  etwa  drei  Tage  lang  auf  einem  und  dem- 
selben Punkte  gestanden  hat,  verblasst  die  Röthe,  schilfert  sich  die  Haut 
oberflächlich  ab,  theils  in  Form  eines  kleienartigen  Pulvers,  theils  in  zu- 
sammenhängenden Schuppen  und  Fetzen  von  Epidermis.  In  manchen 
Fällen  erhebt  sich  schon  beim  Beginn  des  Erysipels  die  Epidermis  blasig; 
es  entstehen  kleinere  oder  grössere  mit  Serum  gefüllte  Blasen:  Ery- 
sipelas bullosum.  Diese  Blasenrose  hat  jedoch  nicht  die  Bedeutung 
einer  besonderen  Abart  dieser  Krankheit,  sondern  ist  nur  der  Ausdruck 
einer  rascheren  Exsudation.  Man  sieht  gar  nicht  selten,  dass  im  Gesicht 
bei  Erysipelas  Blasen  auftreten,  während  am  übrigen  Körper  die  Wund- 
rose die  gewöhnliche  Form  hat.  Wenn  diese  Krankheit  die  behaarte 
Kopfhaut  befällt,  so  fallen  nicht  selten  sämmtliche  Haare  aus,  wachsen 
jedoch  ziemlich  schnell  wieder.  Nach  meinen  Beobachtungen  geht  Ery- 
sii)el  am  häufigsten  von  den  unteren  Extremitäten  aus,  dann  vom  Gesicht 


V(>rl(\sniiK  2A.     CapUd   Xfl).  373 

von  den  oberen  Extremitäten,  von  lirust  und  Rücken,  vom  Kopf,  Hals 
und  Baiicli.  Diese  lläufig'keitascalji  ist  walirsclieinlicli  \vcscntlicli  ab- 
hängig' von  der  lläu(ig-keit  der  Yerlet/.uugen  an  den  verschiedenen 
Körpertheilen. 

Zum  Erysipel  können  wie  zu  den  auderii  acuten  Exanthcnieii,  ver- 
schiedenartige innere  Krankheiten  liin/.ukoninicn,  z.  15.  Pleuritis,  bei  Ery- 
sipelas  capitis  auch  wohl  Meningitis.  Im  Ganzen  sind  jedoch  bei  der 
Wundrose  diese  Complicationen  selten,  und  dann  meist  die  Folge  eines 
Weiterkriechens  der  Entzündung-  in  die  Tiefe. 

Was  sonst  den  Verlauf  des  Erysipels  betrifft,   so  ist  derselbe  in  den 
meisten  Fällen    ein    günstiger.     Von    137   Fällen    von   Wundrose   (oline 
Complicationen),  welche  ich  in  Zürich  beobachtete,   starben  10;   Kinder, 
alte  Leute  und  solche  Kranke,  die  schon  durcli  andere  Krankheiten  ge- 
schwächt waren,  sind  am  meisten  gefährdet,  und  zwar  sterben  dieselben 
nach  meinen  Erfahrungen  meistens  an  vollständiger  Erschöpfung  durch 
das  continuirlich  andauernde  Fieber;  man  findet  in  der  Leiche  durchaus 
keine  stark  auffallende  Veränderung-  eines   bestimmten  Organs,  welche 
als  Todesursache  gedeutet  werden  könnte.     Trübe  Schwellung  und  theil- 
weis  auch  körniger  Zerfall  der  Leber-  und  Nieren-Epithelien,  Weichheit 
der  Milz   sind  Befunde,    welche  allen  intensiven  Bluterkrankungen    zu- 
kommen und  auch  nach  tödtlich  abgelaufenem  Erysipel  gefunden  werden. 
—  Der  Frocess   der  Rose  ist  insofern  nicht  ganz  verständlich,    als  die 
Ursache  seines  Entstehens  und  die  Art  seines  Fortschreitens  nicht  völlig 
klar  ist.    Erweiterung  der  Capillaren  in  der  Cutis,  seröse  Exsudation  in  das 
Gewebe  derselben,  lebhaftere  Entwicklung  der  Zellen  des  Rete  Malpighii 
und  zellige  Infiltration  zwischen  die  Cutisfasern  lassen  sich  anatomisch 
nachweisen.     Auf  das  Unterhautzellgewebe  dehnt  sich  die  Krankheit  meist 
nur  in  geringem  Masse  aus.     Dasselbe  schwillt  zwar  an  manchen  Stellen 
wie  an  den  Augenlidern ,   am  Scrotum  enorm  an ,  indem   es  sehr  stark 
von  Serum   durchtränkt    wird;    doch    bildet    sich   dieses   Oedem  in  den 
meisten  Fällen   zurück,  ohne  dass   etwas  Weiteres  darnach  erfolgt.     In 
seltenen  Fällen  erreicht  dieses  Oedem  einen  solchen  Grad,  dass  in  Folge 
der  starken  Spannung  der  Gewebe   die  Circulation  des  Blutes  in  diesen 
Theilen  aufhört  und  einzelne  Theile,    z.  B.    die   Augenlider,   ganz   oder 
partiell  gangränös  werden.     Sollte  die    ganze  Haut   eines   oberen    oder 
unteren  Augenlides  auf  diese  Weise  verloren  gehen,   so  würde  freilich 
eine  bedeutende  Entstellung  erfolgen.     Gewöhnlich  mortificireu  indessen 
nur  kleine  Stücke,  und  die  Haut  ist  zumal  am  oberen  Augenlid  bei  den 
meisten  Menschen  so  reichlich  entwickelt,   dass  man  nachträglich  wenig 
von  dem  Defect  sieht.  —   In    anderen  Fällen    bleibt  nach  Ablauf   der 
rosigen  Entzündung    an  einzelnen  Stellen    eine  Geschwulst    des   Unter- 
hautzellgewebes zurück,    an   der  man  bald    deutlich  Fluctuation  wahr- 
nimmt,  und  wo  sich  dann  nach  gemachtem  Einschnitt  Eiter  entleert,  — 


374  ^^""  ''•-""  accidentelli'ii  Wiiiid-   in\<\  EiilzündungskraTikheiten  etc. 

Ueber  die  Ursaclien  für  die  Entstellung-  des  Erysipels  g-iebt  es  so 
manclierlei  Anschauungen.  Das  angeblich  ohne  Wunde  auftretende, 
spontane  Eiysipelas  capitis  soll  am  liäufigsten  nach  heftiger  Erkältung 
entstehen.  Manche  ältere  Individuen  sollen  diese  Krankheit  alle  Jahr, 
im  Frühjahr  oder  Herbst,  bekommen;  auch  psychische  Einflüsse  sind 
beschuldigt,  namentlich  soll  durch  Schreck,  zumal  bei  Frauenzimmern 
während  des  Menstruationsflusses,  Kose  entstehen  können.  Verdauungs- 
störungen werden  ebenfalls  als  Ursache  genannt.  Ich  bin  sehr  miss- 
trauisch  gegen  alle  diese  Behauptungen,  die  keineswegs  auf  besonders 
genauen  Beobachtungen,  sondern  mehr  auf  Traditionen  zu  beruhen 
scheinen;  ja  es  ist  mir  sehr  zweifelhaft,  ob  sich  überhaupt  Rose  ent- 
wickelt, ohne  von  einer  Wunde  oder  einem  bereits  bestehenden  Ent- 
ztindungsheerd  ausgegangen  zu  sein. 

Nach  dem,    was  ich   bis  jetzt  über  das  Erysipelas  traumaticum  in 
Spitälern  beobachtete,    habe  ich  mir    folgende  Anschauung    über  diese 
Krankheit  gebildet:    den   örtlichen  Process  des  Erysipelas  halte  ich  für 
eine  Entzündung  der  Cutis,   bei  welcher  der  Entztindungsreiz  durch  die 
Lymphgefässnetze  allmählig  weiter  verbreitet  wird;    die  Art,   wie  sich 
die  Entzündungsröthe  ausbreitet  und  scharf  abgrenzt,   macht  es  unzwei- 
felhaft,  dass  das  Vorschreiten  derselben  an  gewisse  Gefässdistricte  ge- 
bunden ist;  man  kann  bei  aufmerksamer  Beobachtung  sehen,  dass  sehr 
häufig  dicht  an  der  Grenze  der  Eöthung  ein  anfangs  circumscripter,  rother, 
runder  Fleck  entsteht,   welcher  bald  mit  dem  bereits  bestehenden  gerö- 
theten  Hauttheil  zusammenfliesst,   diese  neu  entsteheudeu  rothen  Flecke 
repräseutiren  offenbar  einen  Gefässdistrict;  man  sieht  etwas  ganz  Aehn- 
liches,  wenn  man  die  Haut  von  einer  x4.rterie  aus  künstlich  injicirt;  auch 
dabei  tritt  die  Injectionsfärbung  erst  in  Flecken  auf  und  confluirt  erst 
bei  stärkerem  Druck   mit  der  Injectionsspritze;    da  nun  die  Venen-  und 
Lymphgefässdistricte  den  arteriellen  Gebieten  in  der  Haut  einigermaassen 
analog  sind,  so  könnte  das  reizende  Gift,  welches  die  Blutgefässektasie 
bedingt,  in  einem  dieser  Gebiete  circuliren.     Die  Arterien-  und  Veuen- 
gebiete  in  der  Cutis   haben  nur  spärliche,   der  Fläche  nach  verlaufende 
Verbindungsäste,  während  die  Lymphgefässnetze  sehr  viele  Verbindungen 
in    dieser  Eiclitung    besitzen    und    weniger    abführende  Stämmchen    ins 
Unterhautzellgewebe:  so  kann  das  excitirende  Gift  leicht  sich  durch  die 
Lymphgefässe  der  Fläche  nach  in  der  Cutis  verbreiten,  wie  Flüssigkeit 
in  Fliesspapier,  tritt  daneben  aber  auch  in  die  subcutanen  Lymphstämme 
ein  und  macht  auch  hier,  so  wie  in  den  nächsten  Lymphdrüsen  oft  genug 
Entzündung  (streifige  Röthung   der  Haut  und  Schwellung   der  nächsten 
Lymphdrüsen).     Wenn  ich  hier  von  einem  septischen  oder  einem  phlo- 
gistischen  Gift  als  Ursache  eines  Erysipels  spreche,  so  beziehe  ich  mich 
dabei  nur  auf  das  Erysipelas  traumaticum,  indem  ich  mich  durch  Beob- 
achtung überzeugt  zu  haben  glaube,  dass  dies  immer  toxischen  Ursprungs 
ist,  sei  es,   dass  das  Gift  sich  in  faulendem  Blut  oder  in  gewissen  Ent- 


Vorlesung  24.     Cupitel  XIIT,  375 

zündungsproducten  bildet,  welche  in  einer  Wimdhölilc  eingeschlosHCii  sind, 
«ei  es,  dass  das  Gift  einer  g-anz  gesunden  Wunde  von  aussen  zugelillirt 
wird,     lieber  die  Art  dieses  Giftes  kann  ich  Folgendes  aussagen:  es  ist 
wahrscheinlich  ein  trockner  staubförmiger  StotF,  welclicr  die  Wunden  in 
jedem  Stadium  inficiren  kann;  der  Stoff  haftet  besonders  an  Scliwänimen 
und  am  Verbandzeug'.     Ich   habe   wiederholt   beobachtet,    dass   Kranke, 
welche  hintereinander  am  gleichen  Morgen  im  gleiclien  Operationssaal, 
überhaupt    unter    g-leichen    Verhältnissen   operirt    wurden ,    alle    an    der 
frischen  Wunde  wenige  Stunden  nach  der  Operation,  olme  Vorhaltung-  von 
Wuudsecret,  Erysipel  bekamen,   wenngleich  sie  in  ganz  g-etrennten  Alj- 
theilungen  des  Spitals  lagen.     Auf  diese  Weise  wird  das  Erysipel  dann 
heimisch   im   Spital;    es   kann  der   inficirende  Stoßt'  an   den  Röcken  der 
verbindenden  Aerzte  transportirt  werden,  kann  an  Instrumenten,  an  den 
Betten,  zum  Theil   selbst  an  den  Wänden  haften.     Je  genauer  ich  die 
Erysipelasfälle  im  Ziirclier  Spital   und  auch  in  meiner  Klinik   in  Wien 
notirt  habe,    um  so  deutlicher  ist  das  gruppenweise  Auftreten  derselben 
klar  geworden,   ein  Auftreten,   welches  ganz   unabhängig  von  allen  an- 
dern krankmachenden  Potenzen  ausserhalb   des  Spitals  ist.     Durch  eine 
auf  zwei  Jahre  sich  erstreckende  Statistik   habe  ich,    unterstützt  durch 
Mittheilungen  der  Aerzte  des  Cantons  Zürich,  ermittelt,  dass  das  Erysipel 
w^ährend  dieser  Zeit  auf  dem  Lande  und  in  der  Stadt  nicht  epidemisch 
aufgetreten    war,    sondern    dass    es    wie  andere    acute  Krankheiten  im 
Herbst  und  Frühjahr  ganz  besonders   häufig  vorkommt;    es  müssen  also 
die  Erysipelasepidemien  im  Spital  von  Bedingungen  abhängig  sein,   die 
im  Spital  selbst  zu  suchen  sind,  und  die  ich  bereits  angedeutet  habe.  — 
Hieran  schliesst  sich  die  Frage,    ob  das  Gift,  welches  das  Erysipel  er- 
zeugen soll,  immer  das  gleiche,  ob  es  ein  specitisches  ist.     Dies  ist  nicht 
genau  zu  entscheiden;  dafür  spricht,  dass  die  Art  der  Hautentzündung, 
welche  erregt  wird,   immer  die  gleiche  ist,    wenngleich  verschieden  au 
Intensität  und  Extensität;  dagegen  ist  anzuführen,  dass  achtes  Erysipel 
möglicherweise  durch  Fäulnissproducte  verschiedener  Art,  durch  Miasmen, 
vielleicht  auch    durch  manche   Thiergifte    veranlasst  werden    kann.     Es 
wäre  freilich  denkbar,    dass   in  allen   diesen  giftigen  Stoffen  eine  ganz 
bestimmte  Substanz  wäre,  welche   von  allen  verschiedenen  Formen  der 
Entzündung  gerade  Erysipel  erzeugen  muss,  ein  Stoff  oder  eine  Art  von 
Stoffen,    von  Pilzelementen,    die    in  den  Cutislymphgefässen  besonders 
günstige  Bedingungen   für  ihre  Vegetation  finden;    auch   ist  zuzugeben, 
dass  sich  solche  Stoffe  unter  gewissen,  zu  einer  Zeit  bestehenden  Bedin- 
gungen leichter  und  massenhafter  entwickeln  mögen  als  zu  einer  anderen. 

Schon  öfter  ist  die  Meinung  ausgesprochen  und  in  neuester  Zeit  besonders  von 
Orth  verfochten,  dass  das  Erysipel  durch  Micrococcosvegetationen  auf  die  Wunden  und 
von  diesen  in  die  Haut  verbreitet  werde.  Obgleich  die  Ausbreitung  und  Wiedererzeugung 
des  Erysipelascontagiums  sehr  viel  Aehnlichkeit  mit  Verbreitung  und  Wiedererzeugung  eines 
Fermentes  hat,  so  lässt  sich  doch  bis  jetzt  der  Beweis  nicht  herstellen,  dass  Micrococcos  der 
Träger  eines  solchen  Fermentes  sei,  noch  weniger,  dass  es   nur  Micrococcos  sein  könne; 


37G  ^^J"  ''•^'1  accidentelleii  Wund-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

ich  beanstande  keineswegs  die  Richtigkeit  der  Befunde,  ich  habe  selbst  einige  Male  Coccos 
und  Streptococeos  im  Serum  von  Erypelasblasen  gefunden:  doch  das  findet  sich  gelegent- 
liil)  auch  in  Brandblasen,  in  Schweissbläschen,  in  Pocken  etc.  und  ist  an  sich  noch  kein 
Beweis,  dass  diese  Erkrankungen  durch  Micrococcos  entstehen  oder  verbreitet  werden. 
Ob  die  von  Orth  durch  Impfung  mit  Serum  aus  Erysipelasblasen  auf  Kaninchenhaut  er- 
zeugten Eiterungen  mit  Erysipelas  des  Menschen  identisch  sind,  erscheint  zweifelhaft.  Die 
neueste  Arbeit  über  Erysipel  von  Lukowsky  stellt  in  ganz  besonders  anschaulicher  "Weise 
die  nahen  Beziehungen  von  Micrococcoswucherungen  zum  Erysipel  dar. 

Die  Krankheit  beg'innt  immer  mit  rasch  ansteigendem  Fieber,  das 
Fieber  hält  dann  so  lange  an,  wie  die  Hautentzündung-  besteht,  es  ist 
bald  mehr  continurlich,  bald  stark  remittirend,  endigt  bald  mit  Krisis, 
bald  mit  Lysis.  —  Ueber  das  sogenannte  spontane  Erysipelas  capitis  et 
faciei  habe  ich  keine  ausgedehnten  Erfahrungen;  nach  dem,  was  ich 
beobachtet  habe,  ist  es  mir  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich,  dass  auch 
dies  fast  immer  von  leichten  Verwundungen  (Exeoriationen  im  Gesicht 
oder  am  Kopfe)  oder  Entzündungen  (Xaseucatarrh,  Angina)  ausgeht  und 
auch  vorwiegend  toxischen  Ursprung's  ist. 

Die  Behandlung  ist  beim  Erysipelas  eine  vorwiegend  expectative. 
Man  kann  prophylaktisch  dahin  wirken,  dass  man  durch  sorgfältige 
Eeinigung  der  Wunden  Alles  verhindert,  was  die  Entstehung  des  Erysipels 
begünstigen  könnte,  und  hat,  zumal  wenn  mehre  solche  Fälle  im  Spital 
vorkommen,  sorgfältig  darauf  zu  achten,  dass  nicht  zu  viel  solcher 
Kranker  in  einem  Zimmer  zusammen  liegen,  muss  auch  zuweilen  einzelne 
Krankensääle  einige  Zeit  lang  ganz  leer  stehen  und  ventiliren  lassen,  um 
die  Entwicklung  eines  intensiveren  Erysipel -Contagiums   zu  verhindern. 

Was  die  örtliche  Behandlung  betrifft,  so  hat  man  eine  Eeihe  von 
Mitteln  versucht,  um  das  Fortschreiten  der  erysipelatösen  Entzündung 
zu  verhüten  und  die  Krankheit  schon  im  Anfang  zum  Stillstand  zu 
zwingen.  Zu  diesem  Zwecke  braucht  man  das  Umziehen  der  Grenze 
mit  einem  in  Wasser  getauchten  Höllensteinstift  oder  das  Umziehen  der 
Erysipelasgrenze  mit  einem  starken  Jodanstrich.  Dieser  Hölleuzwang 
nützt,  meiner  Erfahrung  nach,  nichts,  so  dass  ich  diese  Manipulationen 
in  neuerer  Zeit  ganz  unterlassen  habe.  Ebensowenig  habe  ich  einen 
Nutzen  von  Anpinselungen  von  Theer,  die  in  neuester  Zeit  empfohlen 
und  wiederholt  auf  meiner  Klinik  angewandt  wurden,  beobachten  können. 
—  Die  älteren  Aerzte  glaubten,  dass  mau  die  Hautentzündung  etwa 
durch  Kälte  gewaltsam  zurückdrängen,  und  so  die  Entstehung  von  Ent- 
zündung innerer  Orgaue  ganz  besonders  begünstigen  könne.  Wenn  dies 
nun  auch  als  nicht  bewiesen  betrachtet  werden  muss,  so  giebt  es  doch 
eine  Reihe  von  Umständen,  welche  die  Anwendung  der  Kälte  bei  Ery- 
f^ipelas  als  unbequem  erscheinen  lassen.  Wir  haben  besonders  schon 
erwähnt,  dass  bei  starkem  Oedem  hier  und  da  Gangrän  entstehen  kann, 
was  natürlich  durch  intensive  Kälte  nur  begünstigt  werden  würde;  auch 
ist  die  Application  von  Eisblasen  auf  eine  grosse  Fläche,  wie  auf  den 
Rücken   oder  das  ganze   Gesicht,    kaum  ausführbar;    endlich  nützt  die 


Voriosiiii-  i'i.    ('apiici  xrii.  ;-577 

Kälte  nichts,  indem  das  Erysipelas  docli  seinen  typischen  Verlauf  nimmt, 
da  örtlicher  Process  und  allgemeine  Infcction  hier  fast  noch  mehr  wie 
bei  anderen  Entzündungen  Hand  in  Hand  gehen.  T3ie  Beschwerden, 
welche  der  Kranke  in  den  afflcirten  Ilautstellen  empfindet,  sind  unan- 
genehme Spannung,  leiclites  Brennen,  sowie  grosse  Empfindlichkeit  gegen 
Luftzug  und  jede  Veränderung  der  äusseren  Temperatur.  Es  ist  daher 
zweckmässig,  die  kranken  Ilautstellen  zu  bedecken  und  dadurch  von 
der  Luft  abzuschliesseu.  Dies  kann  man  auf  verschiedene  Weise  er- 
reichen. Das  einfachste  Mittel,  dessen  ich  mich  gewöhnlich  bediene,  ist, 
die  Haut  fett  mit  Oel  zu  bestreichen  und  Watte  darauf  zu  legen;  die 
Kranken  pflegen  damit  gewöhnlich  zufrieden  zu  sein.  Andere  bestreuen 
die  entzündeten  Hautstellen  mit  Mehl  oder  Puder,  oder  streuen  fein  ge- 
riebenen Kamphor  in  die  aufzulegende  Watte,  in  der  Meinung,  dadurch 
noch  besonders  auf  den  örtlichen  Process  einzuwirken.  Bestehen  Blasen, 
so  eröffnet  man  sie  mit  feinen  Nadelstichen  und  lässt  dann  die  abgelöste 
Epidermis  vertrocknen.  Bildet  sich  irgendwo  Gangrän,  so  macht  man 
einen  Verband  mit  in  Chlorwasser  oder  andere  antiseptische  Verband- 
wässer getränkter  Charpie.  Abscesse,  die  sich  nach  einem  Erysipelas 
im  Unterhautzellgewebe  bilden,  eröffnet  man  frühzeitig  und  behandelt 
sie  wie  jede  andere  eiternde  Wunde. 

Innerlich  reichen  Sie  nur  die  gewöhnlichen  kühlenden  Getränke. 
Zeigen  sich  Erscheinungen  von  beginnender  Ermattung  der  Kräfte,  und 
zieht  sich  die  Krankheit  längere  Zeit  hin,  so  müssen  Sie  mit  tonisirenden 
und  excitirenden  Mitteln  eingreifen ;  einige  Gran  Kamphor  täglich,  Chinin, 
Wein  sind  hier  am  Platze.      » 

Die  zu  Erysipelas  zuweilen  hinzutretenden  Entzündungen  innerer 
Organe  sind  lege  artis  zu  behandeln,  und  dürfen  Sie  sich  nicht  scheuen, 
bei  Meningitis  dauernd  eine  Eisblase  auf  den  Kopf  zu  appliciren,  selbst 
wenn  die  Kopfhaut  von  der  erysipelatösen  Entzündung  ergriffen  ist. 

4.  Die  Entzündung  der  Lymphgefässe,  Lymphangoitis 
(von  lympha,  klares  Wasser  und  ayyeiov  Gefäss)  oder  Lymphangitis, 
eigentlich  Entzündung  der  Lymphgefässstämme,  tritt  häufig  an  den  Extre- 
mitäten unter  verschiedenen,  gleich  zu  erörternden  Umständen  auf.  Die 
Erscheinungen  sind  z.  B.  am  Arm  folgende :  es  besteht  eine  Wunde  an  der 
Hand;  der  ganze  Arm  wird  schmerzhaft,  zumal  bei  Bewegungen,  die  Achsel- 
drüsen schwellen  und  sind  sehr  empfindlich,  auch  bei  leiser  Berührung. 
Inspicirt  man  den  Arm  genau,  so  findet  man  besonders  an  der  Beuge- 
seite rothe  Streifen,  welche  der  Länge  des  Arms  nach  von  der  Wunde 
bis  zu  den  Drüsen  hinaufziehen;  diese  gerötheten  Hautstellen  sind 
empfindlich.  Zu  gleicher  Zeit  besteht  Fieber,  oft  belegte  Zunge,  Uebel- 
keit,  Appetitmangel,  allgemeine  Abgeschlagenheit.  —  Der  Ausgang  kann 
nach  zwei  Eichtungen  verschieden  sein;  bei  gehöriger  Pflege  und  Be- 
handlung tritt  gewöhnlich  Zertheilung  der  Entzündung  ein;  die  Streifen 
verschwinden  allmählig,    ebenso  die  Schwellung  und  Schmerzhaftigkeit 


378  Von  den  accidentellen  AViind-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

der  Achseldrtisen.  Damit  hört  auch  das  Fieber  auf.  —  In  anderen  Fällen 
kommt  es  zur  Eiterung-;  die  Haut  am  Arm  röthet  sich  nach  und  nach, 
und  wird  in  grosser  Ausdehnung-  ödematös.  Die  Schwellung  der  Achsel- 
drösen  nimmt  zu,  das  Fieber  steigt,  selbst  Schüttelfröste  können  auftreten. 
Im  Lauf  einiger  Tage  stellt  sich,  am  häufigsten  in  der  Achselhöhle,  zu- 
weilen auch  am  Arm  irgendwo  deutlich  Fluctuation  ein,  es  kommt  zum 
spontanen  Aufbruch,  oder  man  macht  eine  Incision  und  entleert  den 
gewöhnlich  in  einer  umschriebenen  Abscesshöhle  angesammelten  Eiter. 
Hierauf  lässt  das  Fieber  nach,  ebenso  die  Schmerzen  und  die  Geschwulst; 
der  Kranke  ist  dann  bald  von  seinem  zuweilen  sehr  schmerzhaften  und 
quälenden  üebel  hergestellt.  —  Nicht  immer  ist  der  Ausgang  ein  so 
günstiger,  sondern  mit  Lymphangoitis  bei  vergifteten  Wunden  kommt 
auch  hier  und  da  Pyohämie  zur  Entwicklung,  und  zwar  am  häufigsten 
die  subacute  Form,  worüber  später  mehr.  In  einem  Falle  habe  ich  bei 
einem  Kranken,  der  zu  gleicher  Zeit  eine  chronische  Nierenentzündung 
hatte,  beobachtet,  dass  bei  einer  Lymphangoitis  am  Bein  die  Inguinal- 
drüsen  mit  der  darüber  liegenden  Haut,  nachdem  sie  enorm  angeschwol- 
len waren,  brandig  wurden.  Dieser  Ausgang  ist  sonst  äusserst  selten, 
wenngleich  der  Eiter  bei  diesen  Lymphgefässentzündungen,  besonders 
nach  Intoxication  mit  Leichengift  zuweilen  eine  üble,  jauchige  Beschaf- 
fenheit hat.  —  Die  acute  Entzündung  der  Lymphdrüsen  (Lymphadenitis, 
ddijv  Drüse)  mit  Ausgang  in  Zertheilung  oder  Eiterung  kommt  auch 
Avohl  als  idiopathische  Krankheit  vor;  wir  schliessen  das  in  solchen 
Fällen,  in  welchen  wir  eben  nicht  im  Stande  sind,  die  Verbindung 
zwischen  einer  Wunde  oder  einem  andere  Entzündungsheerd  und  den 
entzündeten  Lymphdrüsen  durch  rothe  Lymphgefässstreifeu  nachzu- 
weisen. Doch  ist  es  zweifelhaft,  ob  dieser  Schluss  immer  richtig  ist: 
nur  die  oberflächlichen  Lymphgefässe  treten  als  rothe  Stränge  in  der 
Haut  hervor,  wenn  sie  entzündet  sind,  während  die  tieferen  in  diesem 
Fall  weder  für  das  Auge  noch  das  Gefühl  erkennbar  sind.  Wir  kennen 
am  Kranken  also  eigentlich  nur  die  oberflächliche  Lymphangoitis.  Es 
gehört  zu  den  Eigenthümlichkeiten  dieser  Krankheit,  dass  sie,  wenn  sie 
an  den  Extremitäten  vorkommt,  fast  niemals  sich  über  die  Achsel-  und 
Leistendrüsen  hinaus  erstreckt.  Einmal  sah  ich  bei  Lymphangoitis  des 
Arms  und  Adenitis  in  der  Achsel  eine  Pleuritis  derselben  Seite  hinzu- 
kommen, die  möglicherweise  durch  Fortleituug  vermittelst  der  Lympli- 
gefässe  entstanden  sein  kann. 

Ueber  die  pathologisch-anatomischen  Verhältnisse  bei  Lymphangoitis 
des  Unterhautzellgewebes  wissen  wir  ausserordentlich  wenig,  kaum  mehr, 
als  was  wir  mit  freien  Augen  am  Krauken  sclicn,  da  diese  Krankheit, 
so  lange  sie  sich  nur  auf  die  Lymphgefässe  erstreckt,  fast  nie  mit  dem 
Tode  endet,  und  da  man  sie  bei  Thieren  durch  Experimente  nur  unvoll- 
kommen erzeugen  kann.  Jedenfjills  ist  das  nächste  Zellgewebe  um  die 
Lymphgefässe  wesentlich  mit  dabei  betheiligt,  die  Capillaren  sind  da  er- 


Vorlcsmii.^;  l>t.     (';i|,i(cl    Xllf.  H71) 

wcilcrt  und  stark  mit  IJlut  erfüllt.  Ob  das  Lymphgcfilss  in  späteren  Stadien 
der  Eutzündung-  durch  gerinnende  Lymphe  verstopft  wird,  oder  ob  gleich 
von  Anfang  an  sich  Gerinnsel  in  der  schwerer  als  Blut  gerinnenden 
Lymphe  bilden  und  nun  die  Gefässwand  in  lvei7Aing  versetzen,  müssen 
wir  dahingestellt  sein  lassen.  Wenn  wir  die  Beobaclituugcn  iiher  Lymph- 
angoitis  uterina,  wie  sie  so  oft  im  Puerpcralfiel)er  vorkommt,  auf  die  Haut 
übertragen,  so  dürfte  man  erwarten,  in  den  erweiterten  Lymphgefässen 
in  gewissen  Stadien  reinen  Eiter  zu  finden ;  die  Umgebung  der  periuterinen 
Lymphgefässe  ist  trüb  infiltrirt ;  die  plastische  Lifiltration  des  Zellgewebes 
steigert  sich  zur  eitrigen  Lifiltration,  ja  bis  zur  Abscessbildung,  in  welcher 
die  dünnwandigen  Lymphgefässe  selbst  aufgehen;  je  enger  die  Lymph- 
gefässnetze  sind,  um  so  weniger  ist  eine  Lymphangoitis  von  einer 
Zellgewehsentzündung  zu  unterscheiden.  Nach  den  Abbildungen  von 
Cruveilhier  (Atlas  Livr.  13.  PI.  2.  u.  3.)  kann  man  sich  ein  anschau- 
liches Bild  von  der  Lymphangoitis  puerperalis  machen  und  dies  auch 
auf  die  Lymphangoitis  an  andern  Theilen  übertragen.  —  Die  rothen 
Streifen,  welche  wir  in  der  Haut  sehen,  können  nur  durch  Ektasie  der 
Blutgefässe  um  die  Lymphgefässe  herum  bedingt  sein,  nicht  aber  durch 
Eindringen  von  Blut  in  die  Lymphgefässe;  wir  sehen  also  am  Kranken 
eigentlich  nur  die  Erscheinungen  der  Perily mphangoitis,  entstanden 
durch  den  Contact  mit  dem  in  den  Lymphgefässen  strömenden  Gift. 
Was  die  Lymphdrüsen  betrifft,  so  kennen  wir  hier  die  Vorgänge  etwas 
genauer.  In  ihnen  dehnen  sich  die  Gefässe  sehr  stark  aus  und  das 
ganze  Gewebe  wird  stark  von  Serum  durchtränkt;  reicldiche  Zellen- 
massen füllen  die  Alveolen  prall  an,  wodurch  dann  wahrscheinlich  die 
Bewegung  der  Lymphe  innerhalb  der  Drüse  anfangs  gehemmt  wird, 
später  ganz  stockt,  und  durch  diese  Verstopfung  der  Drüsen  wird  die 
spätere  Weiterverbreitung  des  krankhaften  Processes  bis  auf  einen  ge- 
wissen Grad  gehemmt. 

Zu  jeder  Wunde,  zu  jedem  Entzündungsheerd  kann  gelegentlich 
Lymphangoitis  hinzukommen;  immerhinist  dieselbe  meiner  Ansicht  nach 
stets  das  Eesultat  der  Keizung  von  einem  durch  die  Lymphgefässstämme 
strömenden  Gifte.  Dies  Gift  kann  sehr  verschiedenartig  sein:  zersetztes 
Secret  an  der  Wunde,  putride  Stoffe  allerlei  Art  (besonders  Leichengift), 
Stoffe,  welche  sich  durch  gesteigerte  Keizung  in  einem  Entzündungs- 
heerd bilden.  Wir  haben  schon  früher  angeführt,  dass  durch  Reiben 
eines  Stiefelnagels  eine  anfangs  einfache  Excoriation  zu  einem  diffusen 
Entzündungsheerd  werden  kann,  in  welchem  sich  ein  (phlogistisches) 
Gift  bilden  kann  und  oft  bildet,  welches  Lymphangoitis  erzeugt;  mit 
Entzüudungshecrden  aus  anderen  Ursachen  kann  es  ebenso  gehen;  bei 
gesteigerter  Reizung  wird  eben  im  Entzündungsheerd  ein  auf  die  resor- 
birenden  Lymphgefässstämme  und  ihre  Umgebung  sehr  irritirend  wirken- 
der Stoff  erzeugt;  auch  ein  im  Entzündungsheerd  abgekapseltes  Gift 
kann    durch   gesteigerten  Blutdruck   in  die  Lymphgefässe    und  von    da 


380  V""  ^^"  accidentellen  Wund-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

ins  Blut  eingetrieben  werden,  ohg-leicli  es  ohne  solche  Veranlassung  ruhig 
im  Entzündungsheerd  geblieben  und  entweder  allmählig  ausgeschieden 
oder  durch  Eiterung  eliminirt  wäre;  als  Beispiel  möge  Ihnen  folgender 
Fall  dienen:  einer  meiner  Collegen  hatte  eine  kleine  Entzündung  am 
Finger  in  Folge  von  Berührung  mit  Leichengift;  dieser  Entzündungsheerd 
war  ein  rein  lokales,  kaum  beachtetes  Leiden;  auf  einer  kleinen  Alpen- 
tour erhitzte  sich,  der  Verletzte  sehr  stark,  Abends  hatte  er  eine  Lymphan- 
goitis  am  Arm  und  sehr  heftiges  Fieber:  in  Folge  der  starken  Bewegung 
und  der  damit  verbundenen  stärkeren  Herzaction  war  das  im  circum- 
scripten  Entzündungsheerd  bis  dahin  ruhig  liegende  Gift  durch  die  Lymph- 
gefässe  ins  Blut  gelangt,  —  Warum  nun  in  den  verschiedenen  Fällen 
bald  diffuse  phlegmonöse  Entzündung,  bald  Erysipel,  bald  Lymphangoitis 
auftritt,  kann  in  rein  localen  Ursachen  oder  in  der  Beschaffenheit  des 
intoxicirenden  Stoffes  liegen;  etwas  Bestimmtes  lässt  sich  darüber  nicht 
aussagen.  Nach  den  jetzt  bekannten  Beobachtungen  über  die  Auswan- 
derung von  Zellen  aus  den  Gefässen  ist  es  denkbar,  dass  Eiterzellen, 
welche  in  der  Wunde  erzeugt  und  von  dort  in  den  Lymphstrom  gelangt 
sind,  durch  die  Wandung  des  Lymphgefässes  auswandern  und  als  Träger 
irgend  eines  irritirenden  Stoffes  Perilymphangoitis  erzeugen,  während  die 
im  Centrum  des  Lymphgefässes  rascher  strömende  intoxirte  Flüssigkeit 
ins  Blut  gelangt  und  so  vielleicht  Fieber  hervorruft,  bevor  der  örtliche 
Entzündungsprocess  erheblich  ausgebreitet  ist. 

Die  Behandlung  der  Lymphangoitis  strebt  bei  den  frischen 
Fällen  immer  dahin,  wo  möglich  eine  Zertheilung  zu  erzielen  und  den 
Uebergang  in  Eiterung  zu  verhindern.  Der  Kranke  muss  das  beti'offene 
Glied  mögliehst  ruhig  halten;  bei  stark  hervortretendem  Gastricis- 
mus  thut  ein  Emeticum  vortreffliche  Dienste,  Die  Krankheit  bildet  sich 
nicht  selten  nach  dem  in  Folge  des  Emeticum  eingetretenen  Abführen 
und  Schwitzen  zurück.  Von  örtlichen  Mitteln  ist  besonders  das  Ein- 
reiben der  ganzen  Extremität  mit  grauer  Quecksilbersalbe  wirksam; 
ausserdem  deckt  man  den  Arm  warm  zu,  so  dass  eine  etwas  erhöhte 
gleichmässige  Temperatur  entsteht.  Zu  diesem  Zwecke  kann  mau  sich 
der  Einwicklung  mit  Watte  oder  auch  der  feuchten  Wärme  bedienen. 
Nimmt  die  Entzündung  trotz  dieser  Behandlung  zu,  und  tritt  eine  diffu- 
sere Röthung  und  Schwellung  ein,  so  wird  es  an  irgend  einer  Stelle  zur 
Eiterung  kommen;  es  sind  dann  anhaltende,  warme,  feuchte  Eiuwick- 
lungen  an  ihrer  Stelle.  Eine  solche  diffuse  Entzündung  beschränkt  sieh 
später  keineswegs  mehr  auf  die  Lymphgefässe,  sondern  das  ganze  Un- 
terhautzellgewebe nimmt  daran  in  geringerer  oder  grösserer  Ausdehnung 
Theil.  ^  Sowie  sich  an  einer  Stelle  deutliche  Fluctuation  zeigt,  macht 
man  eine  Incision,  um  den  Eiter  zu  entleeren.  Verzögert  sich  der  Hei- 
lungsprocess,  so  kann  man  ihn  durch  tägliche,  warme  Bäder  sehr  unter- 
stützen, zumal  sind  dieselben  auch  in  denjenigen  Fällen  wirksam,  wo 
sich  eine  grosse  Neigung   zu  recidiver  Lymphangoitis   an  dem  einmal 


Vorlesung    25.     Capitcl    Xfll.  331 

'  erkrankten  Tlieile  zeigt.  Ein  in  den  Lyni])li(lriiscn  eingekapseltes  septi- 
t  selies  Gift  kann,  wenn  es  clnvcli  Fluction  zu  den  Drüsen  wieder  in  dan 
Kreislanf  gctrieljen  wird,  aufs  Neue  r.}nipli;ing()itis  und  phlegmonöse 
Periadenitis  erzeugen;  so  sind  die  wicderliolten  Recidiverkrankungen 
und  ein  langes  Latentbleil)en  der  Kranklieit  nach  Infectionen,  zumal  mit 
Leichengift,  zu  erklären. 


Vorlesung  25. 

5.     Phlebitis.     Thrombose.     Embolie.  —  Ursachen    der  Venenthrombosen.  —  Ver- 
schiedene Metamorphosen  des  Thrombus.  —  Embolie;  rother  Infarct,  embolische  metastatische 

Abscesse.  —  Behandlung. 

5.  Phlebitis.  Thrombose.  Embolie.  Embolische  metasta- 
tische Abscesse.  Ausser  den  bisher  beschriebenen  Entziindungsformeu 
zeigt  sich  oft  noch  ein  anderer  von  einer  Wunde  oder  von  einem  Ent- 
zünduugsheerd  ausgegangener,  zuerst  örtlicher,  dann  aber  in  eigenthüm- 
licher  Weise  auf  mehre  Organe  sich  verbreitender  Process,  nämlich  die 
Phlebitis  und  Thromhose.  Man  findet  bei  den  an  dieser  Krankheit  ver- 
storbenen Individuen  Eiter,  bröcklig  eitrige  oder  jauchige  Gerinnsel  in 
den  verdickten  oder  theilweis  vereiterten  Venen  in  der  Nähe  der  ver- 
letzten Theile.  Neben  diesem  Befunde  kommen  dann  auch  oft  Abscesse 
in  den  Lungen,  seltner  in  Leber,  Milz  und  Nieren  vor.  Dass  diese 
metastatischen  Abscesse  mit  dem  Eiter  in  den  Venen  zusammenhängen, 
hat  bereits  Cruveilhier  festgestellt;  die  Art  dieses  Zusammenhangs  ist 
freilich  erst  weit  später  aufgeklärt. 

Was  ich  Ihnen  heute  darüber  mittheile,  ist  das  Resultat  einer  grossen 
Reihe  von  Untersuchungen  und  Experimenten,  welche  wir  Virchow 
verdanken  und  welche  von  vielen  Seiten  so  häufig  wiederholt  und  be- 
stätigt sind,  dass  an  ihrer  Richtigkeit  nicht  gezweifelt  w^erden  kann ;  ich 
habe  mich  selbst  vielfach  mit  dem  Gegenstande  beschäftigt  und  werde  an 
den  betreffenden  Stellen  hervorheben,  wo  ich  zu  anderen  Resultaten  ge- 
kommen bin  als  Virchow.  Es  würde  mich  gar  zu  weit  führen,  wenn  ich 
Ihnen  historisch  den  Gang  jener  grossartigen  Arbeiten  Virchow's  ent- 
wickeln und  dieselben  gewissermaassen  im  Auszug  wiedergeben  wollte; 
ich  muss  es  Ihrem  eigenen  Fleisse  überlassen,  diese  Arbeiten  zu  studi- 
ren,  und  mich  begnügen,  Ihnen  die  positiven  Resultate  in  kurzer  Ueber- 
sicht  vorzuführen. 

Die  erste  Frage  von  grösster  Wichtigkeit  ist  die:  wie  verhält  sich 
die  Blutgerinnung  zur  Gefässentzündung?  Wir  wissen  aus  der 
Untersuchung  über  die  Bildung    des  Thrombus   nach  Unterbindung   der 


382  Von  den  accidentellen  Wund-  und  Entziindimgskrankheiten  etc. 

Arterien  und  aus  der  Uuter.sucliung  über  den  Heilungsprocess  verletzter 
Venen wanduug-en,    dass  dabei  sofort  Blutgerinnungen   in  dem  verletzten 
Gefäss  entstellen,  ehe  etwas  von  Entzündung  der  G-efässwand  zu  Ijemer- 
ken  ist.     Das  Blutgerinnsel,   welches  sich  nach  Verletzungen  von  Venen 
in  diesen  bildet,  und  den  Thrombus  darstellt,  ist  freilich  in  den  meisten 
Verhältnissen  ein  sehr  kurzes,  indessen  ist  es  doch  leicht  denkbar,  dass 
dasselbe  durch    fortdauernde  Anlagerungen    von  neuem  Faserstoff   sicli 
sehr  vergrössern  kann.     Aus  der  Physiologie  ist  Ihnen  bekannt,    dass 
mau    den  Faserstoff   aus   dem  Blut    durch  Peitschen    und  Schlagen    des 
Blutes  zur  Gerinnung  bringen  kann.    Bei  der  Bewegung  des  Blutes  setzt 
sich  gerinnender  Faserstoff  ähnlich  wie  Krystalle  an  rauhe  Körper  fest, 
und  Sie  können  sich  durch  das  Experiment  leicht  tiberzeugen,   dass  ein 
solcher,  z.  B.  ein  Baumwollfaden,   in  eine  Vene   eines  lebenden  Thieres 
eingeführt,   bald  mit  Faserstoff  bedeckt  wird.     So  werden   also  Rauhig- 
keiten  verschiedener  Art  im  Gefässsystem  Veranlassung  zu  mehr   oder 
weniger   ausgedehnten  Blutgerinnungen  geben  können.     Solche  Rauhig- 
keiten können  allerdings  durch  Erkrankung  der  Venenwandung  an  der 
inneren  Venenhaut  entstehen  und  auf  diese  Weise  kann  die  Blutgerin- 
nung   eingeleitet    werden.     Es    können    durch    kleine    Abscesse    in    der 
Venen  wand  Vorsprünge  in  das  Lumen  entstehen;  ja  man  nahm   früher 
an,  es  bilde  sich  auf  der  Innenfläche  der  entzündeten  Vene  eine  fibrinöse 
Gerinnung,  wie  auf  einer  entzündeten  Pleura :  ob  dies  vorkommt,  ist  wohl 
kaum  zu  entscheiden;  was  man  früher  dafür  hielt,  hat  sich  als  periphe- 
rische entfärbte  Schicht  des  Blutgerinnsels  ergeben.    Jedenfalls  kommen 
solche  Abscesse   der  Gefässwand   ganz  ausserordentlich  selten  vor,    und 
können  daher  nur  sehr  selten  die  Gerinnung  veranlassen;  viel  häufiger 
bildet  das  nach  der  Verletzung    entstandene  Blutgerinnsel  im 
Gefäss  unter  gewissen  nicht  immer  genau  zu   eruirenden  Be- 
dingungen den  Ausgangspunkt  für  weitere  Gerinnungen,  und 
eventuell  für  die  Entzündung    der  Gefässwand.  —  Nächst  Ver- 
letzungen  kommt  ein  zweites  Moment  in  Betracht,   durch  welches  Blut- 
gerinnung in  den  Gefässen  entstehen  kann,  nämlich  die  durch  Reibungs- 
widerstände z.  B.  Gefässverengerung  bedingte  Verlangsamuug  des  Bliit- 
laufs;  diese  Art  von  Gerinnselbildung  kann  man  als  Compressions- 
thrombose  bezeichnen.  Auch  sie  ist  nicht  direct  abhängig  von  Entzündung 
der  Venenwand,  kann  aber  durch  Entzündung  des  perivenösen  Gewebes 
entstehen;  es  kann  nämlich  bei  einer  sehr  heftigen  Entzündung  ein  Gewebe, 
zumal,  wenn  es  durch  eine  Fascie  unter  einem  gewissen  Druck  steht,  so 
stark  schwellen,  theils  durch  seröse,  theils  durch  plastische  Intiltratiou, 
dass  dadurch  die  Gefässe  zusammengedrückt  und  so  Stase  und  Gerinnung 
des   Blutes  herbeigeführt   werden.      Diese  Compressionsthrombose 
bei  sehr  acuter   Entzündung   und    besonders    bei  acuter  acci- 
denteller  Zellgewebsentzüudung  um  Wunden  herum  ist  noch 
weit  häufiger,  als   die  primäre  traumatische  Thrombose;    sie 


Vorlosiniff  25.     Capitol   XTTI.  383 

ist  die  g'efälirlicbstc  Art  der 'riiroinboscii,  weil  (lal)ci  am  li;iii- 
fig'sten  purironne  Schniclzuiia,-  der  Thrombosen  eintritt.  Ausser 
dem  meebanischcn  Moment  der  Compression,  welches  die  Gerinnselbildiing 
begünstigt,  konuut  bei  der  Entzündung  jeden  Gewebes  nocli  ein 
anderer  Factor  hinzu,  welcher  die  g'leiche  Folge  hat,  nämlicli 
die  Veränderungen,  welche  dabei  die  lutinui  der  Gefässc 
zumal  der  Venen  erleidet.  Wenn  wir  auch  die  positiven  chemischen 
Bedingung-en ,  unter  welchen  das  Blut  in  den  Gefässen  gerinnen  muss, 
nicht  kennen,  so  wissen  wir  doch  seit  den  classischen  Untersuchung-en 
Brücke's,  dass  der  normalen  lebendigen  Intima  der  Gefässe  ganz 
speciell  die  Eigenschaft  inhärirt,  das  Blut  flüssig  zu  erlialten,  und  dass 
die  Gerinnung  eiuti-itt,  so  wie  die  Intima  ihre  normale  Beschaffenheit 
verliert.  Sie  verliert  aber  in  den  Venen  wie  in  den  Capillarwandungen 
ihre  normale  Beschaffenheit  durch  den  Entzündungsprocess  selbst,  wie 
aus  den  neuesten  Untersuchungen  über  Entzündung  (siehe  pag.  345) 
hervorgeht.  Diese  Untersuchungen  zeigen  freilich,  dass  die  entzündliche 
Alteration  der  Gefässwände  als  solche  anfangs  weder  vollkommene  Stase 
noch  Thrombose  nach  sich  zieht;  es  ist  jedoch  nicht  unwahrscheinlich, 
dass  das  Zustandekommen  des  letzteren  durch  jene  Alteration  der  Gefäss- 
wandungen  mindestens  begünstigt  wird.  So  würde  denn  durch  die  neuesten 
Phasen  der  Entzündungslehre  die  ältere  Anschauung,  dass  die  Entzündung 
der  Venenwand  Thrombose  bedingen  könne  (auch  wenn  es  nicht  zu 
Abscessen  in  der  Venenwand  kommt)  für  manche  Fälle  wenigstens  wieder 
zur  Geltung  kommen;  jedenfalls  sind  weitere  Untersuchungen  in  dieser 
Richtung  sehr  erwünscht.  Klinische  Beobaclitungen  sprechen  auch  dafür, 
dass  ein  solcher  Vorgang  vorkommt,  denn  es  ist  wohl  constatirt,  dass 
der  Phlebitis  und  Thrombose  oft  eine  periphlebische  Phlegmone,  eine 
Periphlebitis  (analog  der  Perilymphangoitis)  voraufgeht.  —  Auch  bei 
rascher  Erweiterung  eines  Gefässes  wird  der  Blutstrom  nach  physika- 
lischen Gesetzen  erheblich  verlangsamt,  und  es  kommt  dann  in  der 
kranken  erweiterten  Stelle  ebenfalls  zu  Gerinnungen,  wie  wir  dies  später 
bei  den  Aneurysmen  und  Varicen  sehen  werden:  man  nennt  dies  Dila- 
tationsthrombosen. —  Ferner  kann  der  Blutstrom  erheblich  verlang- 
samt sein  wegen  mangelhafter  und  energieloser  Herz-  und  Arteriencon- 
traction;  da  dies  vorwiegend  bei  Personen  vorkommt,  die  durch  Alter 
oder  schwere,  erschöpfende  Krankheiten  sehr  geschwächt  sind,  so  be- 
zeichnet man  diese  Art  der  Blutgerinnung  als  marantische  Throm- 
bose. Diese  scheint  ganz  unabhängig  von  Venenentzündung  zu  sein 
und  kommt  am  häufigsten  in  Theilen  vor,  welche  vom  Herzen  weit  ab- 
gelegen sind. 

Sie  haben  sich  bei  allen  diesen  Thrombosen  zu  denken,  dass  die- 
selben zuerst  einen  kleinen  Distrikt  einnehmen  und  allmählig  durch  An- 
legung von  immer  neuem  Faserstoff  anwachsen.  Weshalb  bei  Veneu- 
verletzungen    in   manchen  Fällen   die   traumatische    Thrombose  sich    so 


384  Von  Jen  acfidentellen  Wund-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

abnorm  weit  erstreckt,  können  wir  nur  in  denjenigen  Fällen  begreifen, 
wo  dui-cli  ausgedehnte  Quetschungen  auch  ausgedehnte  Venenzerreissungen 
und  dadurch  ausgedehnte  Störungen  des  Kreislaufs  überhaupt  bedingt 
sind.  Für  diejenigen  Fälle  jedoch,  in  welchen  von  einer  einfachen 
Stich-  oder  Schnittwunde  (z.  B.  auch  nach  dem  Aderlass)  einer  Vene 
weitverzweigte  Thromben  entstehen,  ist  die  Erklärung  der  Ursache 
äusserst  schwierig  und  nicht  für  alle  Fälle  möglich.  Die  traumatische 
und  Compressionsthrombose  mit  ihren  Folgen  werden  uns  besonders 
beschäftigen  müssen,  während  die  Dilatations-  und  marantisclie  Throm- 
bose bei  chirurgischen  Fällen  im  Ganzen  seltener  begegnen.  Man  hat 
die  Behauptung  aufgestellt,  dass  in  Hospitälern,  die  Venenthrombosen 
mit  Ausgang  in  Eiterung  weit  häufiger  sind,  als  in  der  Privatj^raxis, 
und  hat  die  Neigung  zu  Blutgerinnungen  auf  die  Spitalluft  und  die 
darin  suspendirten  (wie  früher  besprochen,  staubförmigen)  Miasmen  be- 
ziehen wollen.  Dass  das  Spitalmiasma  (ein  an  und  für  sicli  undefinir- 
bares,  jedenfalls  sehr  verschiedenartiges  Ding)  als  solches  direct  Blutge- 
rinnungen erzeuge,  ist  ein  nicht  zu  beweisender  und  nicht  zu  widerlegender 
Satz.  Meiner  Ansicht  nach  ist  nur  ein  indirecter  Zusammenhang  wahr- 
scheinlich: durch  toxisch-miasmatische  Infection  einer  Wunde,  sei  diese 
Infection  durch  Instrumente,  Verbandstücke,  oder  sonst  wie  zu  Stande 
gebracht,  werden,  wie  früher  erörtert,  acute  eitrige  Entzündungen  um  die 
"Wunde  erzeugt,  bald  in  Form  gewöhnlicher  Zellgewebsentzündung,  bald 
in  Form  von  diffus  werdender  Lymphangoitis  und  ähnlicher  Processe; 
erst  diese  Entzündungen  vermitteln  die  Thrombosen  in  den  Venen,  ebenso 
wie  bei  sehr  acuten  Phlegmonen,  welche  ausserhalb  des  Spitals  entstanden 
sind;  der  Einfluss  der  miasmatischen  Intoxication  auf  die  Entstehung 
von  Venenthrombosen  ist  daher  kein  directer,  sondern  nur  ein  indirecter, 
durch  die  Infection  der  Wunden  und  der  dadurch  bedingten  Entzün- 
dung vermittelter. 

Die  nächste  Aufgabe  wird  nun  sein,  zu  erforschen,  was  aus  dem 
in  den  Gefässen  geronnenen  Blut  wird,  und  wie  sich  die  Ge- 
fä  SS  wand  dazu  verhält.  Wir  kennen  bisher  von  den  Verletzungen 
der  Arterien  und  Venen  her  nur  eine  Metamorphose  des  Thrombus, 
nämlich  die  Organisation  zu  Bindegewebe.  Diese  kommt  bei  ausgedehnten 
Venenthrombosen  ausserordentlich  selten  vor  und  führt  dann  natürlich 
zur  vollständigen  Obliteration  der  Venen.  Halten  wir  uns  an  einen 
ganz  einfachen  Fall,  an  die  Aderlassthrombose.  Nach  einem  Aderlass, 
etwa  an  der  Vena  mediana,  entsteht  eine  acute  mehr  oder  weniger  aus- 
gebreitete Zellgewebsentzündung,  gewöhnlich  bedingt  durch  Operation 
mit  unsauberen  Instrumenten  oder  Verbandstücken.  Bei  dieser  Zellge- 
websentzündung, die  sich  periphlebisch  ausbreitet,  entsteht  eine  Blut- 
gerinnung, sowohl  in  der  verletzten  Vene,  als  in  der  Vena  cephalica  und 
basilica,  nach  unten  bis  zum  Handgelenk,  nach  oben  bis  zur  Achselhöhle. 
In  Folge  der  dadurch  bewirkten  Kreislaufsstörung  steigert  sich  das  Oedcm 


Vurh'smio-  iT,.      ('.■i|,iic|    XIII.  P,,Sf, 

des  ganzen  Annes  bcdeiiteiid,  und  wenn  diese  Scliwelhnig  nhgeiionnnen  - 
liat,  frddt  man  die  snbentaneii  Venen  ganz  deutlich  als  harte  Stränge 
durch.  Der  Verlauf  kann  sidi  dabei  verschieden  geslallcn ;  zunächst  ist 
ein  Ausgang  in  Zertheilung  möglieh  und  bei  fViihzeitiger  i>eliandlung 
gewöhnlich;  der  Kranke  muss  das  Bett  hüten,  da  er  in  der  Hegel  fiebert; 
der  Arm  muss  absolut  ruhig  gehalten  werden  und  wird  mit  einer  Com- 
presse  belegt,  welche  dick  mit  graner  Quecksill>ersalbe  bestrichen  ist. 
Unter  dieser  Behandlung  wird  oft  die  Gesehwulst  des  Armes  al)nehmeu, 
das  Fieber  aufhören.  Es  lassen  sich  eine  Zeit  lang  noch  deutlich  die 
festen  Venenstränge  fühlen,  die  im  Verlauf  von  G— 8  Tagen  weicher 
werden  und  schliesslich  gar  nicht  mehr  walirnehinbar  sind.  —  Man  hat 
selten  Gelegenheit,  Fälle  dieser  Art  in  frühen  Stadien  anatomisch  zu 
untersuchen.  Es  lässt  sicli  dalier  nicht  bestimmen,  in  welchem  Grade 
nnd  ol)  ül)erliau})t  die  Venenwandungen  während  der  l>lutgerinnungen 
schon  krank  sind;  jedoch  scheint  sicli  so  viel  aus  den  Erscheinungen 
und  Untersuchungen  am  Kranken  zu  ergeben,  dass  der  in  den  Gefässen  ge- 
ronnene Faserstoff  allmäldig  wieder  aufgelöst  wird  und  sich  ohne  Sehaden 
für  das  Blut  demsel])en  Avieder  beimengt  wie  anderes  Blut,  welches  als 
diffuses  Extravasat  im  Gewebe  verbreitet  war  und  dann  resorbirt  wird. 
—  Die  zweite  Art  des  Ausganges,  welche  bei  den  Entzündungen  des 
Arms  nach  Aderlass  vorkommt  und  sich  mit  Thrombose  combinirt,  ist 
die  Abscessbildung.  Die  ersten  Erscheinungen  sind  wie  oben  beschrieben ; 
dann  aber  erfolgt  entweder  in  der  Ellenbogenbeuge  oder  am  Vorder- 
oder Oberarm  eine  mehr  circumscripte  Entztindungsgeschwulst,  welche 
immer  mehr  zunimmt  und  endlich  deutliche  Fluctuation  erkennen  lässt. 
Nach  gemachtem  Einschnitt  entleert  sich  aus  einer  grösseren  oder  klei- 
neren Höhle  Eiter,  die  Geschwulst  des  Arms  nimmt  dann  al),  der  Abscess 
heilt  aus  und  es  kann  vollständige  Heilung  erfolgen.  Die  anatomische 
Untersuchung  dieser  Fälle  ergiebt,  dass  sich  hier  eine  suppurative  Ent- 
zündung, zunächst  in  dem  umliegenden  Zellgewebe  um  die  Venen  aus- 
gebildet hat.  Man  überzeugt  sich  ferner,  dass  die  Häute  der  thrombirten 
Venen  stark  verdickt  sind,  was  von  Einigen  als  Folge,  von  Andern  als 
Ursache  der  Thrombose  betrachtet  wird.  Ich  will  hier  gleich  hinzufügen, 
dass  die  Diagnose  einer  Venenthrombose  darauf  hin,  dass  man  die  Vene 
hart  strangartig  fühlt,  nicht  inmier  gemacht  werden  kann,  da  der  Ent- 
zündungsprocess  in  dem  Zellgewebe  sich  zuweilen,  wde  erwähnt,  genau 
und  zunächst  nur  um  die  Veneu  herum  und  an  diesen  entlang,  zumal 
central,  weiter  verbreitet  und  so  eine  Verdichtung  und  röhrenartige 
Verdickung  der  Gefässscheiden  entsteht,  die  sehr  leicht  zu  einer  Ver- 
wechslung mit  Thrombose  Veranlassung  geben  kann,  doch  keineswegs 
immer  zu  einer  solchen  führen  muss.  Mir  ist  diese  Verw^echslung  einer 
periphlebitischen  Zellgewebsinduration  mit  Thrombose  bei  der  Vena 
saphena  schon  zwei  Mal  begegnet,  und  ich  halte  es  für  unmöglich,  in 
allen  Fällen  die  Diagnose  sicher  zu  stellen.     Dass  eine  solche  Periphle- 

Billroth  chir.  Patli.  n.  Therap.   7.  Aufl.  25 


^8(1  ^^""   <^'^"   accideiitpllen   Wund-   iiml   Kntziindiingskrankheiten   etc. 

bitis  bei  der  doch  die  Venenhäute  gewiss  nicht  imbetheiligt  sind,  oline 
Thrombose  bestehen  kann ,  beweist  auch  noch  zum  üeberfluss,  dass  die 
letztere  nicht  immer  nothwendig-  die  Ursache  der  Venenentzündung-  zu 
sein  braucht,  wie  früher  behauptet  wurde.  —  Eine  weitere  Metamorpliose, 
welche  der  Thrombus  eingehen  kann,  ist  der  bröcklige  Zerfall.  Es  be- 
ginnen dabei  die  Erweichungen  des  Gerinnsels  gewöhnlich  an  der  Stelle, 
wo  die  Thrombose  anfing-,  also  an  dem  ältesten  Theil  des  Gerinnsels. 
Der  Faserstoff  zerfällt  zu  einem  Brei,  der  bald  eine  mehr  gelbliche,  bald 
mehr  bräunliche  Farbe  und  schmierige  Consistenz  bekommt.  Dieser  Zer- 
fall breitet  sich  in  der  Folge  immer  mehr  und  mehr  aus;  auch  die 
Tunica  intima  der  Venen  bleibt  dabei  nicht  unbetheilig-t,  sie  wird  runzlich 
und  verdickt.  Es  bildet  sich  so  der  Thrombus  zu  Eiter  um,  welcher  sich 
mit  dem  Detritus  des  Faserstoffs  mischt,  während  die  Venenwandungen  mit 
dem  umliegenden  Zellgewebe  stark  verdickt  werden;  auch  kommt  es 
dabei  vor,  dass  innerhalb  der  Venenwandungen  kleine  Abscesse  entstehen; 
indess  ist  dies  doch  schon  etwas  Seltenes;  der  Eiter,  welchen  man  dabei 
in  der  Vene  findet,  ist  nicht  etwa  von  der  Wunde  her  resorbirt  (die 
ältere  Idee),  sondern  in  der  Vene  selbst  aus  dem  Blutgerinnsel  entstanden. 
Oftmals  ist  die  eitrig  aussehende  (puriforme)  Flüssigkeit  nichts  anderes 
als  flüssiger  Faserstoffdetritus  (bei  reinen  marantischen  Thrombosen  olnie 
Phlegmone),  während  in  vielen  Fällen  ein  guter  dicker  Eiter  mit  ausge- 
bildeten Eiterzellen  in  diesen  Venen  zu  finden  ist.  Bei  jauchiger  Be- 
schaffenheit der  Wunde  kann  auch  der  Faserstoffdetritus  in  der  Vene 
einen  jauchigen  Charakter  annehmen,  indem  wahrscheinlich  durch  die 
Capillarität  des  Thrombus  jauchige  Flüssigkeit  aus  der  Wunde  aufg-e- 
nommen  wird  und  den  zerfallenen  Faserstoff  inficirt.  Durch  diese 
Capillarität  des  Thrombus  könnte  allerdings  auch  eine  Einwirkung-  des 
zersetzten  Wundsecrets  auf  das  Blut  gedacht  werden.  Von  einem  mecha- 
nischen massenhaften  Einfliessen  von  Eiter  oder  anderem  Secret  der 
Wunde  durch  die  Vene  ins  fliessende  Blut  kann  begreiflicherweise  nicht 
die  Rede  sein,  weil  die  Gefässöftnung  durch  den  Thrombus  verstopft  ist. 
Sollte  es  einmal  zu  einem  rapiden  Zerfall  des  Venenthrombus  bis  an 
das  peripherische  und  centrale  Ende  kommen,  was  in  dieser  Ausdehnung 
sich  selten  ereignet,  so  müsste  zunächst  eine  venöse  Blutung  und  dann 
die  Bildung  eines  neuen  Thrombus  erfolgen,  so  dass  auch  dabei  ein 
Einfliessen  des  Wundeiters  in  die  Vene  und  des  Veneneiters  ins  Blut 
nicht  Statt  finden  könnte.  Der  in  der  Vene  entstandene  und  angesam- 
melte Eiter  ist  ferner  durch  das  centrale  Ende  des  Thrombus  immer  so 
abgeschlossen,  dass  er  mit  dem  Blute  sich  nicht  vermischen  kann; 
wenigstens  könnte  dies  nur  geschehen,  wenn  das  centrale  Ende  des 
Throm1)us  ganz  zerfiele;  das  geschieht  aber  wahrscheinlich  nur  äusserst 
selten,  weil  sich  in  den  meisten  Fällen  immer  wieder  neue  Faserstofflagen 
ansetzen,  während  der  Zerfall  von  dem  ältesten  Theil  des  Thrombus  an 
vorschreitet.     So  werden  Sie  begreifen,  dass   das  Eindringen  von  Eiter 


Vorlcsuiiu-   2.').      ("apih'l    \lll.  3^7 

in  die  verletzten  Vcnenlumina  im  Ganzen  niclit  Icielit  zu  Stande  kommen 
kann,  sondern  dass  ganz  besondere  bald  zu  crwälmende  Verliältnisse 
auftreten  müssen,  um  dies  möglich  zu  maclicn.  —  Ich  muss  liier  den 
Gang  der  Darstellung  kurz  unterbrechen,  um  zu  erwälinen,  dass  Virchow 
die  Ihubilduug  des  Thrombus  zu  Eiter  nicht  bestimmt  aiUM-kcnnt;  liii- 
mich  ist  dies  keinem  Zweifel  unterworfen;  haben  die  Pdutzellen  im 
'riirond)us  überhaupt  die  Fähigkeit,  sich  zu  vermehren  und  zu  Gewebe 
umzul)ilden,  wie  mir  dies  immer  noch  wahrscheinlich  ist,  so  liegt  kein 
Grund  vor,  ihnen  die  Vermittlung  der  Eiterbildung  im  Thrombus  uiclit 
ebenso  zuzusprechen,  als  den  aus  dem  Gefäss  auswandernden  weissen 
Zellen  des  tliessenden  Blutes;  denn  die  Coagulation  des  Blutes  ist  keines- 
wegs eine  so  ausserordentlich  feste,  dass  sie  die  Zellenbewegungen  völlig 
hindern  sollte.  —  Dass  durch  Theilung  der  weissen  Blutzellen  der 
Thrombus  zu  wirklichem  Eiter  werden  kann,  betrachte  ich  vorläutig  als 
nicht  widerlegt;  dass  dieser  meist  abgekapselte  Eiter  nicht, 
oder  nur  äusserst  selten  in  den  Kreislauf  gelangen  wird  und  somit 
meist  in  keiner  directen  Verl)induug  zur  Pyohämie  steht,  haben  wir 
schon  erwähnt.  Wenn  ich  meine  Erfahrungen  über  die  Venenthrombosen 
und  das  Geschick  der  Thromben  resumiren  soll ,  so  gehen  dieselben 
darauf  hinaus,  dass  die  meisten  Venenthrombosen  das  Resultat 
sehr  acuter  Zellgewebsentzüuduugen  (besonders  unter  Fas- 
cien,  straffer  Haut  und  im  Knochen)  sind,  und  dass  das  Ge- 
rinnsel die  gleiche  Metamorphose  eingeht,  wie  das  entzün- 
dete Gewebe.  Führt  die  Entzündung  rasch  zur  Gewebsbildung,  so 
werden  auch  die  Gefässthromben  zu  Bindegewebe  organisirt;  geht  die 
Entzündung  in  Eiterung  oder  in  Jauchung  über,  so  vereitern  oder  ver- 
jauchen  auch  die  Thromben  und  zerfallen  zu  Bröckeln.  Dies  hat  jetzt 
um  so  weniger  Schwierigkeit  für  das  Verständniss,  als  wir  durch  v.  Beck- 
linghausen's  und  Bubnoff's  Untersuchungen  wissen,  dass  die  Zellen 
aus  dem  Gew^ebe  durch  die  Venenwandungen  in  die  Throml)en  einwandern 
können.  Die  Venenwandungen  selbst  haben  dabei  das  gleiche  Geschick 
wie  der  Thrombus  und  das  umliegende  Gew^ebe;  sie  werden  plastisch 
iutiltrirt  und  verdickt,  oder  vereitern. 

Es  könnte  nun  eine  Thrombose  mit  Phlebitis  als  rein  localer  Process 
ablaufen,  wie  es  auch  gar  nicht  selten  bei  der  Aderlassi)hlebitis  und  in 
manchen  anderen  Fällen  vorkommt.  Eine  weitere  Gefahr  kann  nur  aus 
den  Thrombosen  mit  bröckligem,  eitrigem  oder  jauchigem  Zerfall  des 
Gerinnsels  entstehen.  Es  ragt  nämlich  das  centrale  Ende  des  Thrombus, 
wie  wir  auch  schon  früher  bei  Gelegenheit  des  Arterienthrombus  be- 
sprochen haben,  gewöhnlich  bis  an  den  nächsten  eintretenden  Gefäss- 
stamni  mit  leicht  zugespitztem  konischem  Ende;  letzteres  überragt  auch 
wohl  das  Lumen  des  ersteren  um  ein  geringes  (Fig.  66  a)^  und  wenn 
das  Gerinnsel  nicht  mehr  ganz  feste  Zusanuiiensetzung  hat,  so  kann  ein 

25* 


388 


Von   den   afcidpiitelJen   Wmid-   inid   Eiifzündiniji;skraHkluMtcii   etc 


Stück  davon  durch  das  vorbeiströmende  Blut  losgerissen  werden  und  in 
den  Kreislauf  gelangen.  Es  kommt  in  immer  grössere  Venen,  endlich 
in  das  rechte  Herz,  von  hier  in  die  Arteria  pulmönalis,  in  deren  Aeste 
es  sich  schliesslich  gewöhnlich  an  einer  Bifurcationsstelle  einklemmt, 
Aveil  es  seiner  Grösse  wegen  nicht  weiter  vordringen  kann.  Die  be- 
treffende   Verzweigung    der    Lungenarterie    ist    nun    durch    das    Fibi-in- 


n  Centrales  Ende  eines  Venenthronibus, 
in  einen  grösseren  Stamm  hineinragend: 
h  ein  nicht  thrombirter  Nebenast;  das 
durch  ihn  strömende  Bkit  kann  die  Spitze 
des  Thrombus  a  loslösen  und  in  den 
Kreislauf  führen. 
Schematische  Zeichnunt;. 


gerinnsei  wie  durch  einen  Pfropf,  einen  sogenannten  E  mbolus  (o  sinßnXng 
der  Keil,  Pflock)  verstopft,  und  die  Folge  wird  zunächst  die  Blutleere 
des  von  dem  betroffenen  Arterienaste  versorgten  Theils  der  Lunge  sein. 
Diese  locale  Blutleere  (Ischämie  von  Yaxoj  hemmen,  ai^ua  Blut,  Vir- 
chow)  hält  jedoch  meist  nicht  lange  an,  sondern  es  tritt  in  die  blut- 
leeren Arterienäste  Blut  ein  und  zwar  meist  durch  rückläufige  Bewegung 
des  Venenblutes,  wieCohnheim  gezeigt  hat;  unter  Umständen  wird  so 
das  ischämische  Gebiet  mit  Blut  strotzend  gefüllt,  und  gerinnt;  es 
kommt  dabei  auch  wohl  zu  Gefässzerreissungen,  zu  Blutungen;  da  sich 
die  Arterien  der  Lunge,  Milz,  Niereu  in  immer  feinere  Aeste  auflösen, 
und  so  sich  das  Gefässgebiet  nach  der  Peripherie  hin  immer  mehr  ver- 
grössert,  und  einem  mit  der  Spitze  in  das  betreftende  Organ  keilförmig 
hinein  ragenden  Kegel  gleicht,  so  muss  das  Gebiet,  in  welchem  auf  die 
beschriebene  Art  die  Gerinnung  zu  Stande  kommt,  die  Form  eines 
Keils  oder  Kegels  haben.  Man  hat  in  der  pathologischen  Anatomie  für 
diese  auf  enibolischem  Wege  entstandenen  Gerinnungen  den  Namen 
„rother  oder  hämorrhagischer  keilförmiger  Infarct'^  einge- 
führt. —  So  häufig  nun  auch  diese  keilförmigen  Infarcte  entstehen,  so 
ist  doch  ihre  Entstehung  keine  absolut  nothAvendige  Folge  der  Embolie; 


Vorlesung  25.     Capifc^l    Xiri.  3f^9 

denn   wenn   die   Embolie    niclii  ,i>radc    einen    nrleriellen    Endasl    hcirifCt 
und    der    arterielle    Collalernlkreislanr   kräfli.i;-    gcnuü,-   ist,    das   Bliil    in 
die   Arterie    hinter    dem    Kmboliis    durclizutrciben ,    wie    dies    bei    sonst 
gesunden    Individuen    und    bei    'i'liicren,    ho    wie    Itei    raeclianiscli    und 
cheiniscli    das    (Jewebe  wenig'  irritireuden  Fjnbolis  (tft  genug  der  Fall  ist, 
so   entstellt  kein   Infarct,    überhaupt  keine  erhebliehe  Kreislaulsstörung-, 
sondern  man  hat  es  dann  nur  ndt  den  localen  Processen    um  den  Em- 
bolus als  fremden,  in  dem  Arterienast  steckenden  Körper  zu  thun.    Diese 
localen  l^rocesse  sind  von  der  Beschaffenheit  des  End3olus  abhängig-;  be- 
steht   letzterer    aus    einem    ganz    reinen   Faserstoffg-erinnsel, 
so   entsteht  eine  leichte  Verdickung    der  Gefässwand,    da  wo 
der  Embolus  sitzt,    und   letzterer   kann,    indem   er  von   neuen 
Gerinnseln  umlagert  wird,   sich  zu  Bindeg-ewebe  org-anisiren, 
auch  wohl  resorbirt  werden.     Besteht  der  Embolus  aus  einem 
mit  Eiter  oder  Jauche    imprägnirten  Faserstoffg-erinnsel,   so 
erregt    er  nicht    allein    in    der  Gefässwand,    sondern    aucli    in 
deren  Umg-ebung    eine    eitrige    oder   jauchige  Entzündung.  — 
Die  Metamorphose  des  rothen  Infarctes  ist  also  theils  abhängig-  von  seiner 
Grösse,  theils  von  dem  Grade  von  Circulation,  die  etwa  hie  und  da  noch 
in  ihm  besteht,  theils  aber,  wie  oben  bemerkt,   von  dem  die  ganze  Ge- 
gend inticirenden  Embolus.     Ist  letzterer   ganz   indifferent,   und  ist   der 
Infarct  sehr  klein,  oder  wird  er  noch  durch  einige  nicht  thrombirte  Ge- 
fässe   ernährt,   so  kann   auch   die  den   Infarct  bildende   Gerinnung   sich 
wieder  auflösen,  oder  auch  wohl  zu  Bindegewebe,    zur  Narbe  orgauisirt 
werden.     Ist  der  Embolus  indifferent,    die  Gerinnung  im  ganzen  Infarct 
aber  ganz  vollständig,  so  zerfällt  Gewebe  und   Gerinnung  langsam  zu 
einem    gelben,    körnigen,    trocknen  Brei,    der    rund    herum  eingekapselt 
wird  und  selbst  verkalken  kann;   das  ist  der  gelbe  trockne  Infarct. 
Ist  der  Embolus  von  Jauche  oder  Eiter  imprägnirt,  so  erregt  er  jauchige 
oder    eitrige  Entzündung    in  der  ganzen  Gegend;    auch  der  Infarct  zer- 
fällt dann  jauchig    oder  eitrig,    es  giebt  eitrige   oder  jauchige  Ab- 
scesse.     Da  wir  hier  zunächst  von  der  Lunge  sprechen,  so  können  wir 
gleich  erwähnen,  dass  diese  meist  an  der  Peripherie  liegenden  Abscesse 
oft  Pleuritis  erzeugen,  dass  sie  am  häufigsten  multipel  in  beiden  Lungen 
vorkommen  und  selbst  zur  Vereiterung   der  Lungenpleura  an   der  dem 
Abscess  entsprechenden  Stelle  führen  können  und  damit  gelegentlich  zu 
Pneumothorax. 

Sie  mögen  sich  schwerlich  vorstellen  können,  meine  Herren,  was  es 
für  x\rbeit  gekostet  hat,  diesen  Zusammenhang  der  Venenthrorabosen  mit 
den  Lungenabscessen  so  klar  zu  beweisen,  dass  ich  Ihnen  denselben  liier 
als  einfache  Thatsache  hinstellen  kann.  Sie  werden  die  classischeu 
Arbeiten  über  diesen  Gegenstand  von  Virchow,  Panum,  0.  Weber, 
Cohnheim  u.  A.  mit  Bewunderung  lesen;  es  würde  mich  zu  weit  führen, 
hier  näher  darauf  einzugehen ;  w^r  nehmen  uns  hier  das  Recht,  aus  die- 


300  Vini  den  acci(lciitell''i:    Wund-    mid   Kiity.rniiIiint(.'^kraiikli(Mteii  cfc. 

sem  üppigen  Wald  von  Arbeiten  nur  die  reifsten  Früchte  zu  brechen.  — 
Mit  den  enibolischen  Lung-eninfareten  und  Lungenabcsessen  Avären  wir 
nun  im  Jleinen,  doch  wie  steht  es  mit  den  Infarcten  und  Abscessen, 
welche  unter  gleichen  Verhältnissen  in  der  ]Milz,'  in  der  Leber,  in  den 
Nieren,  in  den  Muskeln,  wenn  auch  viel  seltener  gefunden  werden;  sind 
auch  diese  immer  von  Emboli  abhängig?  Diese  Frage  konnten  wir 
vor  einigen  Jahren  noch  nicht  mit  Sicherheit  beantworten;  jetzt  können 
wir  sie  bejahen.  Es  steht  durch  experimentelle  Unters uchuug-en,  zumal 
von  0.  Weber,  fest,  dass  gewisse  Arten  von  Emboli,  besonders  Eiter- 
flocken durch  die  Lungencapillaren  ohne  Hindernisse  durchgehen,  in  das 
linke  Herz,  von  hier  in  den  g-rossen  Kreislauf  gelangen  können,  und  in 
Milz,  Leber,  Nieren  oder  sonst  wo  stecken  bleiben  und  Abcsesse  veran- 
lassen. So  erklären  sich  diejenigen  seltnen  Fälle,  in  welchen  man  bei- 
Venenthrombose  keine  Abscesse  in  den  Lungen,  wohl  aber  solche  in  an- 
deren Organen  findet.  Hat  man  neben  Abscessen  in  den  Lungen  em- 
bolische Lifarcte  oder  Abscesse  im  Gebiet  des  grossen  Kreislaufs,  so  ist 
noch  die  weitere  Erklärung  zulässig-,  dass  auch  durch  die  Luugenabscesse 
Venenthrombosen  mit  eitrigem  oder  jauchigem  Zerfall  gebildet  sind,  und 
von  diesen  aus  ^_tiicke  ins  linke  Herz  und  von  da  weiter  gelangen. 

Die  embolische  Entstehung  der  metastatischen  Abscesse  ist  jetzt 
so  unzweifelhaft  darg'ethan,  dass  man  von  der  Existenz  dieser  Abscesse 
sichere  Eiickschlüsse  auf  Venenthrombosen  mit  eitriger  oder  jauchiger 
Schmelzung  macht.  Was  den  Nachweis  eines  solchen  Zusammenhanges 
im  einzelnen  Fall  betrifft,  so  kann  derselbe  manchmal  sehr  leicht,  oft 
aber  auch  sehr  schwierig  sein:  sehr  leicht  da,  wo  man  es  mit  Thrombosen 
grösserer  Venenstämme  und  Embolien  in  stärkere,  mit  der  Scheere 
erreichbare  Aeste  der  Lungen  arter  ie  zu  thun  hat;  sehr  schAver  da, 
wo  es  sich  nur  um  Gerinnungen  in  kleinen  Venen  netzen  (z.  B.  bei 
Phlegmonen,  bei  gangränösem  Decubitus),  und  um  Embolien  in  Capillar- 
gebieten  der  Lunge,  Milz,  Nieren,  Leber,  Muskeln  etc.  handelt, 
und  doch  sind  gerade  diese  letzteren  Fälle  unendlich  häufig f  dass  es 
Capillarembolieu  giebt,  ist  unzweifelhaft  in  einzelnen  Fällen  an  besonders 
günstigen  Objecten  (z.  B.  an  den  Hirucapillaren)  nachgewiesen,  dass 
kleinere  Venen  bei  allen  eitrigen  Entzündungen  thrombirt  werden,  ist 
auch  zweifellos;  dies  in  jedem  einzelnen  Fall  exact  anatomisch  nachzu- 
weisen ist  sehr  schwierig,  oft  unmöglich.  —  Aus  welchen  Erscheinimgen 
Avir  schliessen,  ob  ein  Gerinnsel  alt  oder  frisch  ist,  wird  in  den  Vor- 
lesungen über  pathologische  Anatomie  gelehrt;  Sie  werden  da  auch  auf- 
merksam gemacht,  wie  Sie  kleine  lobuläre  Infiltrate  der  Lungen,  wie  sie 
zumal  bei  eitriger  Bronchitis  vorkommen,  von  metastatischen  Abscessen 
unterscheiden  können.  —  Wir  sprechen  hier  nur  von  den  metastatischen 
circumscripten  Entzündungen,  von  den  Infarcten  und  Abscessen; 
nur  diese  hängen  mit  der  Venenthrombose  und  Embolie  zusammen.  AVas 
die   diffusen   metastatischen  Entzündungen   betriffst,    so  muss  dafür    eine 


Vnrlosiiii^'  2(i.      Capilcl    Xllf.  31)1 

andere  Erklärnnii'  i'csucht  werden,  ^v()^'(»ll  iiielir  hei  der  Sei)tl);iniie  mid 
ryoliüniie.  —  Wir  wollen  uns  liier  nucli  nicht  weiter  tuif  die  Fieher- 
verhältnis.se  ))ei  der  Thlehitis  und  hei  der  Uildung-  metiistatischer  ProcesHC 
aufhalten.  Da  die  Phlehitis  mit  ihren  Folgen  nieist  nur  ein  Accidens 
zu  hereits  hestelienden  acuten  Entzündungen  ist,  so  kann  man  schwer 
dariiher  artheilen,  inwieweit  die  erstere  an  und  für  sich  Fieher  macht; 
die  metastatischen  Abscesse  werden  unzweifelhaft  wie  alle  übrigen  Ent- 
zündungsheerde  Fieber  nach  sieh  ziehen;  von  einer  einfachen  Gefass- 
thrond)ose  als  solcher  ist  kaum  Fieber  zu  erwarten.  Bei  Hunden  kann 
man  durch  llervorrufung  von  vielfachen  kleinen  end)olischen  Ilcerden 
in  der  Lunge  mittelst  Injection  von  Aniylum  oder  feiner  Kohle  in  die 
Vena  jugularis  allerdings  Fieber  erzeugen,  wie  Bergmann,  iStricker 
und  Albert  gezeigt  haben;  es  gelingt  dasselbe  aber  nicht  sicher  bei 
Embolien  in  anderen  Gefässgebieten,  und  dürfte  vielleicht  von  anderen 
bisher  nicht  genauer  gekannten  Verhältnissen  abhängig  sein. 

Was  die  Behandlung  der  Phlebitis  und  Thrombose  betrifft,  so  fällt 
diese  mit  der  Behandlung  der  Lymphangoitis  und  anderer  ähnlicher  acuter 
Entzündungsprocesse  zusammen.  Vorsichtige  Einreibung  mit  Quecksilber- 
salbe, oder,  wo  man  Loslösung  des  Gerinnsels  fürchtet.  Bedecken  des 
entzündeten  Theils  mit  einer  mit  Quecksilbersalbe  bestrichenen  Compresse, 
Eisblasen,  absolute  Ruhe  des  erkrankten  Theils  sind  indicirt.  lieber  die 
Diagnose  und  Behandlung-  der  metastatisclien  Abscesse  am  Krankenbett 
wollen  wir  später  bei  der  Pyohämie  sprechen.  Geht  die  Phlebitis  und 
Thrombose  örtlich  in  Eiterung  aus,  so  müssen  die  Abscesse  so  früh  ge- 
spalten werden,  als  man  sie  diagnosticiren  kann. 


"VorleBiing  26. 

II.    Allgemeine    acci  den  teile    Krankheiten,    welche    zu    Wunden    und    Ent- 

zün du ngshe erden    hinzukommen    können.    —    1.  Das    Wund-    and   Entziindungs- 

fieber;    2.  das  septische  Fieber  und  die  Septhämie ;    3.  das  Eiterfieber  und 

die  Pyohämie. 

IL    x411gemeine  accidentelle  Krankheiten,   welche  zu  Wunden 
und  anderen  Entzttndungsheerden  hinzukommen  können. 

Die  bisher  beschriebenen  örtlichen  aecidentellen  W^uidkrankheiten 
sind  immer  mit  allgemeiner  Erkrankung  verbunden;  diese  allgemeine 
Erkrankung  ist  vorwiegend  eine  fieberhafte,  w'euu  auch  nicht  immer. 
Das  Fieber  ist   ein  so  zusammengesetzter  Complex  von  Erscheinungen, 


gQ2  Yon   den   acTidenfiM'Mi    Wmid-    inid  Enlziindiin^skranklieiten  efc. 

dass  es  je  iiacli  dem  Hinzutreten  des  einen  oder  andern  Symptoms  sehr 
verschiedenartig-  erscheinen  kann.  Man  ist  jetzt  allg-emein  darüber  über- 
eingekommen, nur  da  Fieber  anzunehmen,  wo  Temperaturerhöhung-  des 
Blutes  bestellt,  und  nach  der  Hölie  dieser  Temperatur  die  Intensität  des 
Fieberprocesses  zu  bemessen.  Ich  halte  es  nicht  für  zweckmässig,  an 
diesem  Satz  viel  zu  rütteln,  weil  wir  mit  Aufgabe  desselben  eine  ein- 
heitliche Auffassung  für  das,  was  wir  Fieber  nennen,  verlieren  und  das 
Fieber  wieder  in  das  alte  Chaos  zurückwerfen  würden.  Ich  muss  Sie 
jedoch  jetzt  schon  darauf  aufmerksam  machen,  dass  es  viele  und  zwar 
sehr  gefährliche  allgemeine  Erkrankungen  bei  Verwundeten  und  bei 
Leuten  mit  anderen  Ehitzündungsheerden  giebt;  bei  welchen  durchaus 
kqine  Temperaturerhöhung  des  Blutes  nachweisbar  ist,  letztere  ist  daher 
nur  in  bedingter  Weise  ein  Maassstab  für  den  Grad  von  Gefahr,  in 
welchem  sich  der  Kranke  befindet.  Ausser  der  Temperaturerhöhung  des 
Blutes  haben  wir  beim  Fieber  folgende  Hauptsymptome :  Beschleunigung 
des  Herzschlages  und  der  Kespiration,  Appetitmangel,  häufig  mit  Uebel- 
keit  verbunden,  Gefühl  der  Schwäche,  starke  Seh  weisse,  nicht  selten 
heftiges  Zittern  gewisser  Muskelgruppen  (beim  Schüttelfrost),  mehr  oder 
weniger  psychische  Aufregung  und  Benommenheit  des  Sensoriums.  — 
Das  Fieber  ist  eine  Allgemeiukrankheit,  welche  aus  sehr  vielen  Ursachen 
entstehen  kann;  mit  anderen  Worten:  die  Zahl  der  pyrogenen  Stoffe 
ist  wahrscheinlich  eine  sehr  grosse,  ebenso  wie  die  Zahl  der  phlogo- 
genen Stoffe.  Je  nach  der  Qualität  und  Quantität  dieser  ins  Blut  ein- 
dringenden Stoffe,  die  man  wohl  als  Gifte  bezeichnen  darf,  treten  bald 
diese,  bald  jene  Erscheinungen  mehr  hervor:  so  giebt  es  Fieber  mit  sehr 
hohen  Temperaturen  bei  Zurücktreten  aller  anderen  Erscheinungen,  Fie- 
ber mit  vorherrschender  Benommenheit  des  Sensoriums  bei  wenig  gestei- 
gerter Körpertemperatur,  Fieber  mit  vorwiegend  heftigen  Krampfanfällen, 
sogenannten  Schüttelfrösten,  Fieber  mit  vorwiegender  Störung  der  Magen- 
functionen ,  Fieber  mit  vorwiegendem  Gefühl  von  ]\Iattigkeit  u.  s.  f. 
Warum  sollte  man  nicht  auch  Fieber  —  nach  meiner  Auffassung:  lutoxi- 
cationszustände ,  bedingt  durch  Stoffe,  welche  von  Wunden  oder  Enzün- 
dungsheerden  aufgesogen  sind  —  annehmen,  bei  denen  alle  anderen 
Symptome,  mit  Ausnahme  der  Temperaturerhöhung  des  Blutes,  vorhanden 
sind?  Grade  dies  Symptom  könnte  ja  auch  einmal  aus  irgend  welchem 
Grunde  verdeckt  oder  verliindert  sein,  zur  Erscheinung  zu  kommen. 
Doch,  wie  gesagt,  wir  wollen  uns  in  die  jetzt  gebräuchliche  Auffassung 
des  Fiebers  fügen  und  nehmen  also  nur  da  Fieber  an,  wo  Temperatur- 
erhöhung des  Blutes  nacliweisbar  ist,  müssen  aber  dann  hinzufügen,  dass 
es  Fälle  von  schweren,  allgemeiueu,  accidentellen  Wund-  und  Entzün- 
dungskrankheiten giebt,  welche  afebril  verlaufen. 

Ein  anderes  einheitliches  Moment  dürfen  wir  jedoch  für  die  jetzt  zu 
besprechenden  Allgemeiukrankheiten  festhalten,  nämlich  dass  sie  alle 
durch  Resorption  von  Stoffen  entstehen,  welche  au  der  Wunde 


Voiiosiiii^'  2c^.    ('iipiiri  Mir.  393 

oder  (leren  Uing'ebnng',  oder  (was  zicnilicli  identisch  ist)  in  einem 
Entz  iiudiingslieerd  entstehen;  diese  Ivcsorplion  erfolgt  durch  die 
Lyniphgefässc    und  Venenwandungen    liindurch. 

Ich  sicllo  mir  \(ir,  dass  die  rosorliiiicii.  tlicils  L;('l('istcii ,  llirils  \  irllridit  sein-  IV'jii- 
kiiniii;!'!!  (woim  auch  (hirch  F'illrirpaiiicr  L^i'hciKh'ii)  SlolTc  inil  dnii  I5hil,sli(jiM  im  CciifniDi  dov 
Vciu'ii  rascli  v(>rriii'l<(Mi ,  au  ihreu  Wamhiui^cu  ah(M-  und  iu  drii  Lynipliffefässen  nur  sehr 
lau,i;sam  vorwärts  komiDeii,  da  ja  auch  der  Blutstrom  an  den  Wandungen  der  Gefässc  sehr 
lanj;sani  vorrückt.  Dadurch  kommt  es,  dass  die  toxischen  Stoffe  nai'li  und  nach  in  die 
Wanchmgen  und  (hireh  dieselhen  ins  umliegende  Gewebe  eindringen,  wo  sie  di<:  Tnihcr 
erwähnten  periphlebischen  nnd  perilymphangisclien  Entzündungen  erzeugen. 

liiemit  stehen  wir  mit  der  jetzigen  AutTassung  in  Einklang,  so  weit 
es  das  Wundfieber,  das  Entzündungsfieber,  die  Septhäniic  und  l'yohänne 
betrifift,  weniger  vielleicht,  wenn  auch  der  Tetanus,  das  Delirium  pota- 
torum.  Delirium  nervosum  und  die  acute  Manie  mit  in  Frage  kommen. 
Es  sprechen  jedoch  gewichtige  Gründe  dafür,  dass  auch  die  letzteren 
Krankheiten  humoralen  Ursprungs  sind,  und  so  will  ich  denn  keine  wei- 
teren Abtheilungen  unter  den  genannten  Krankheiten  machen. 

1.     Das  Wund-  und  Entzündungsfieber. 

Es  ist  schon  früher  ipag.  100)  auseinandergesetzt,  dass  das  Fieber, 
welches  bei  Verwundeten  auftritt,  theils  durch  Aufnahme  von  Stoffen 
bedingt  ist,  welche  durch  Zerfall  mortificirter  Gewebe  an  den  Wuudflächen 
entstehen,  theils  durch  die  Aufnahme  von  Stoffen,  welche  bei  den  trauma- 
tischen oder  accidentellen  Entzündungsprocessen  in  den  Geweben  gebildet 
werden;  für  den  letzteren  Fall  deckt  sich  also  das  Wesen  des  Wund- 
und  Entzündungsfiebers  vollständig.  Unter  dieser  Voraussetzung,  die 
wir  früher  kurz  zu  begründen  versucht  haben,  wird  es  theils  von  den 
localen  Bedingungen  für  die  Resorption,  theils  von  der  Qualität  und 
Quantität  der  betreffenden  resorbirten,  pyrogenen  Stoli'e  abhängen,  wie 
stark  die  Intoxication  sein  wird.  Es  giebt  Fälle,  in  w^elchen  ein  so 
rascher  Verschluss  der  durch  die  Verletzung  geöffneten  Gefässe  und  ein 
so  rascher  Abschluss  des  ganzen  traumatischen  Entzündungsheerdes  er- 
folgt, dass  zunächst  gar  keine  Allgemeininfection,  gar  kein  Fieber  ein- 
tritt; ja  dasselbe  kann  auch  in  der  Folge  ganz  ausbleiben;  diese  Fälle 
sind  bei  grösseren  Verletzungen  selten,  es  sind  die  ideal  normalen:  das 
plastische  Infiltrat  an  den  Wuudrändern  führt  dabei  rasch  und  zwar  in 
ganzer  Ausdehnung  der  Wunde  zur  soliden,  in  die  Wundränder  fest  ein- 
gefügten, organisirten  Gewebsneubildung,  sei  es  mit  unmittelbarer  Um- 
bildung zur  Narbe,  sei  es  mit  vorgängiger  Granulationsbiidung.  Nehmen 
wir  diese  Fälle  als  normale  Typen,  so  ist  jedes  Wundfieber  ein 
pathologisches  Accidens.  Wir  müssen  das  in  theoria  zugeben,  doch  in 
der  Mehrzahl  der  Fälle  tritt  früher  oder  später  zu  irgendwie  grösseren 
Wunden  Fieber  hinzu,  und  darum  hielten  wir  es  für  angemessen,  bei 
der  früheren  Schilderung  des  x\llgemeinzustandes  der  Verwundeten  auch 


394 


Von  den  accidenlellen  Wund-  und  Enfziindiuigskrankheiten  etc. 


(las  Wundfieber  schon  zu  besprechen.  —  Es  erübrigt  jedoch,  noch  Man- 
ches zu  dem  früher  Gesagten  hinzuzufügen,  was  Ihnen  früher  schwer 
verständlich  gewesen  sein  Avürde.  Sprechen  wir  zunächst  von  dei- 
Zeit,  in  welcher  das  Wundfieber  aufzutreten  pflegt,  und  von 
dem  Verlauf  desselben.  In  vielen  Fällen,  zumal  in  denjenigen,  wo 
die  Verletzung-  bis  dahin  g-esunde  Gewebe  getroffen  hat,  beginnt  das 
Fieber  erst  am  zweiten  Tage,  steigt  rasch  an,  hält  sich  mit  Abendremi.s- 
sionen  einige  Tage  auf  einer  gewissen  Höhe,  um  dann  allmählig  (selten 
innerhalb  24  Stunden)  ganz  aufzuhören.  Nach  meinen  sehr  zahlreichen 
Beobachtungen  beginnt  das  Wundfieber  weitaus  am  häufigsten  innerhalb 
der  ersten  48  Stunden  nacli  der  Verletzung,  Mau  pflegt  diese  Fieber- 
bewegungen in  folgender  Weise  graphisch  darzustellen: 


Fig.  74. 


Fiebercurve  nach  Amputatio  brachit.  C4enesung.  Die  Ordinaten  dieser  und  der  folgenden 
Fiebercurven  zeigen  die  Scala  des  Thermometers  nach  Celsius  an,  jeder  Grad  ist  in  10 
Ihede  gethedt,  die  Abscisseu  bedeuten  die  Krankheit.tage;  die  Curve  ist  nach  ^en 
Messungen  eingetragen,  welche  täglich  Morgens  und  Abends  gemacht  sind;  die  beiden 
starken  Striche  bedeuten  das  Maximum  der  höchsten  und  Minimum  der  niedrigsten 
Normaltemperatur  gesunder  Menschen. 


Die  Curve  zeigt  an,  dass  nach  einer  wegen  Verletzung-  nothweudigen 
prmiaren  Amputatio  brachii  (wobei  am  ersten  Tage  zufällig-  keine  Messuno- 
gemacht  war)  das  Fieber  erst  am  3.  Tage  begann,  dami  vom  4.  bis  f. 
lauere;    dann  blieb  dieser  Patient  vom  8.  Tage  an  fieberfrei,  während 

iut-t  In"'  'f       '  ff'"  ^'■"^^'  ''''^'  Amputationen  oft  genug  Xachfieber 
auttieten.     Ein   solcher  Verlauf  des    Wundfiebers    ist   ziemlich    häufig; 


Voi-IcsiiiK--  :U\.     C-ipilc!    XIII. 


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ich  iiuu'lic  mir  foliiendc  Erlcläning  dazu:  gleich  nach  der  Verletzung  war 
das  CiCAvebe  der  Wundräudcr  durcli  phisti.sclic  Jidiltration  geschlossen; 
diese  ling  am  dritten  Tage  au,  eitrig  zu  zerdiessen,  sicli  nnt  zerfallenen 
Fetzen  an  der  Wundfläche  zu  vermischen,  und  so  entstand  eine  massig 
ausgebreitete  Eutziimlung  des  Amputatiousstumpfes  mit  ]{csorption  von 
Eiter  und  andern  Eroducten  der  Zersetzung  und  Entzündung;  diese  Ue- 
sorptiou  dauerte  so  lange  fort,  bis  sie  aus  irgend  welchen  nu^chanisehen 
eirunden  (vernun<lerter  Druck,  Vei'dickung  und  tlieilweiser  Verschluss  der 
Gelasse  etc.)  aufhören  nuisste.  —  In  andei'en  Fällen  beginnt  das  Fieber 
schon  am  Tage  der  Verwundung;  dies  lindet  man  einerseits,  wenn  151ut 
zwischen  vernähte  Wundränder  eingeschlossen  war,  das  sieh  rasch  zer- 
setzte, ziemlich  häutig,  dann  auch  wenn  man  Operationen  in  chronisch 
entzttndlieh  infiltrirteu  Geweben  gemacht  hat.  Folgender  Fall  mag  als 
Beispiel  für  diesen  zweiten  Fall  gelten  (Fig.  75): 

Fig.  75. 


Fiebercurve  nach  Eesection  eines  cariösen  Handgelenks  mit  starker  Infiltration  der 

Weichtheile.     Genesung. 


In  chronisch  entzündlieh  infiltrirfcen  Gewebstheilen  mögen  die  feinsten  Lymphcapillaren 
verengert  und  theilweis  verschlossen  sein  und  deshalb  schon  seit  längerer  Zeit  nicht  ge- 
hörig Serum  aus  dem  Gev^ebe  abgeführt  haben,  doch  die  mittleren  Lypjphstämme  sind 
unzweifelhaft  ebenso  wie  die  mittleren  Venenstämme,  welche  lange  unter  erhöhtem  Druck 
bei  chronischer  Entzündung  standen,  ausgedehnt,  wegen  der  Starrheit  des  Gewebes 
vielleicht  theilweise  klaffend,  und  so  nehmen  sie,  wenn  sie  nicht  sehr  schnell  von  festem 
plastischem  Infiltrat  erfüllt  werden,  gleich  anfangs  viel  von  den  Wundsecreten  auf.  — 
Diese  meine  Erklärung  für  die  spätere  und  frühere  Entstehung  des  Wundfiebers  ist  eine 
rein  hypothetische;  doch  ist  sie  von  zahlreichen  Beobachtungen  hergenommen  und  hat  sich 


39g  Von  den  accirlentellen  Wund-  und   P^ntzündnngskrarikheiten  etc. 

aus  diesen  bei  mir  entwickelt.  Man  könnte  übrigens  auch  annehmen,  dass  in  einem  Falle 
die  ins  Blut  aufgenommenen  Stoffe  sehr  langsam,  im  andern  Falle  sehr  rasch  wirken; 
das  hat  aber  nicht  viel  Wahrscheinlichkeit.  So  lange  man  früher  glaubte,  dass  das  Fieber 
immer  durch  eine  Nervenreizung  vermittelt  wurde,  mnsste  mqn  daran  denken,  dass  eben 
diese  Eeizbarkeit  sehr  verschieden  und  daher  der  febrile  Effect  in  sehr  verschiedener  Zeit 
eintreten  könne;  ich  bin  von  dieser  Theorie  zurückgekommen,  ohne  den  wichtigen  Antheil, 
den  das  Nervensystem  an  der  Entstehung  und  den  Erscheinungen  des  Fiebers  hat,  zu 
unterschätzen. 

Die  Dauer  des  Wundfiebers  pflegt  bis  7  Tage  zu  sein,  Aveuigstens 
ist  sie  selten  länger  ohne  sichtbare  örtliche  Complication. 

Wenn  um  die  Wunde  eine  accidentelle  Entzündung,  sei  es  des  Zell- 
gewebes, der  Lymphgefässe  oder  Venen  auftritt,  so  kommt  das  Fieber 
(welches  nun  als  entzündliches  Nachfieber  entweder  in  unmittel- 
barem Anschluss  an  das  Wundfieber  oder  nach  Ablauf  mehrer,  oder  gar 
vieler  fieberfreier  Tage  erscheint)  gleich  mit  dieser  Entzündung  oder  geht 
ihr  scheinbar  vorauf;  ich  sage  scheinbar,  weil  uns  die  ersten  Anfänge 
des  örtlichen  Processes  in  solchen  Fällen  oft  entgangen  sein  können, 
indem  sie  vielleicht  gar  keine  sinnfällige  Erscheinungen  darboten,  oder 
weil  der  giftige  Stoff  schneller  die  Blutmasse  als  das  umliegende 
Gewebe  inficirte.  —  Der  Verlauf  solcher  Nachfieber  ist  ganz  abhängig 
von  dem  Verlauf  der  örtlichen  Entzündungsprocesse;  mit  Beginn  und 
Ausbreitung  der  letzteren  steigt  die  Temperatur  schnell,  häufig  mit 
Initialfrost;  je  länger  sich  solche  Nachfieber  hinziehen,  je  länger  also 
die  Intoxication  anhält,  um  so  gefährlicher  wird  der  Zustand:  rasche 
xVbmagerung,  viel  Seh  weiss,  Schlaflosigkeit,  dauernder  Appetitmangel 
sind  üble  Symptome.  —  Recht  ausgesprochenes  Erysipel  oder  recht 
prägnante  Entzündung  der  Lympligefässstämme  und  Lymphdrüsen  sind 
die  relativ  günstigsten  Formen  der  accidentellen  Entzündungen,  weil  sie 
in  der  Regel  zu  einem  bestimmten  meist  günstigen  Abschluss  in  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  führen  und  dadurch  einigermaassen  etwas  Typisches 
haben,  obgleich  die  Dauer  eines  Erysipels  zwischen  drei  Tagen  und 
dreissig  Tagen  und  darüber  schwanken  und  die  Kräfte  enorm  mitnehmen 
kann;  die  Fiebercurve  zeigt  anfangs  ein  rasches  Austeigen,  dann  ein 
Verbleiben  auf  einer  gewissen  Höhe,  meist  mit  Morgenremissiouen,  und 
nicht  selten  einen  raschen  Abfall  der  Temperatur;  ebenso  verhält  es  sich 
bei  Lymphangoitis.  Es  gehört  zum  Glück  zu  den  Seltenheiten,  dass  ein 
Erysipel  und  eine  Lymphangoitis  sich  tief  ins  Unterhautzellgewebe  und 
unter  die  Fascien  verbreiten;  damit  würde  der  Fall  dann  in  die  Reihe 
der  schweren  Phlegmonen  treten  und  seinen  einigermaassen  typischen 
Charakter  völlig  verlieren. 

Das  Fieber  bei  ditfuser,  tief  greifender  Zellgewebsentztindung  mit 
oder  ohne  Venenthrombose  tritt  nicht  immer  so  plötzlich  auf,  hat  aber 
immer  von  Beginn  an  einen  sehr  ausgesprochen  remittirenden  Typus 
und  ist  in  seinem  weiteren  Verlauf  wie  der  örtliche  Process  unbe- 
rechenbar;  die  Abnahme  der  Kräfte,  die  Abmagerung,  die  Empfindlich- 


VorleHim-;,-  -2V,.     (laiiilt-l    XI II. 

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397 


KranKhäldaffe. 

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Fiebercni've  bei  P^rysipelas  traumaticum  ambulans  faciei,  capitis  et  colli,  nach  der  Exsrir- 
pation  eines  Lippenkrebses  entstanden.     Genesung. 


keit,  Aufg-ereg-theit  der  Kranken  erreicht  die  liöclisten  Grade.  Inter- 
mittirender  Fiebertypus  und  metastatiselie  Entzündungen,  diese  Haupt- 
symptome derjenigen  bösartigen  Wundfieber,  welche  wir  „Pyohämie" 
nennen,  sind  in  solchen  Fällen  immer  sehr  zu  fürchten.  — 

Bei  allen  diesen  Fiebern  ist  immer  die  Quantität  des  Harnstoffs  ver- 
mehrt und  übertrifft  meist  den  Stickstoffgehalt  der  aufgenommeneu  Nah- 
rung. Zugleich  nimmt  dabei  nach  neueren  Untersuchungen  das  Körper- 
gewicht nicht  unerheblich  ab. 

So  lange  sich  die  Allgemeinerscheinungen,  zumal  die  mit  dem 
Fieber  zusammenhängenden,  nicht  über  das  Beschriebene  hinaus  erstrecken, 
und  zumal  so  lange  nicht  Exitus  letalis  eintritt,  pflegt  man  sich  mit  der 
Bezeichnung  „Wundfieber,  Eiterfieber,  Nachfieber"  zu  begnügen.  Treten 
aber  andere  Erscheinungen  hinzu  und  erfolgt  der  Tod,  so  sind  für  solche 
schwerste  Infectionen  zwei  andere  Krankheitsnamen  jetzt  allgemein  ge- 
bräuchlich, nämlich  „Septhämie"  und  „Pyohämie".  Wir  folgen  diesem 
allgemeinen  Sprachgebrauch. 

2.     Das  septische  Fieber,  die  Septhämie. 

Man  versteht  unter  Septhämie  eine  meist  acute  Allgemeinkraukheit, 
welche  durch  die  Aufnahme  verschiedenartiger  putrider  Substanzen  ins 
Blut  entsteht,  und  glaubt,  dass  diese  putriden  Substanzen  das  Blut  so 
verderben,  dass  es  seine  physiologischen  Functionen  nicht  erfüllen  kann. 
Man  kann   diese  Krankheit   bei  Thiereu  erzeugen,    wenn    man  Jauche 


398  ^'""   '^'^"  aecidentellen  Wund-   und  Entziindiingskrankheiten  etc. 

ins  Dliit  oder  ins  Unterliautzellgewebe  einspritzt,   und  hat  dabei  die  Er- 
faliniug  geniaclit,    dass   zumal  gTössere  Tliiere  (g-rosse  Hunde,   Pferde) 
die  jaucliige    Blutvergiftung    unter    gewissen    Be-dingungen    überstehen 
können,   wenn   sie  auch  sehr  schwer  krank  dadurch   werden.  —  "^Venn 
beim  Menschen  jauchige  Stoffe  ins  Blut  aufgenommen  werden  sollen,  so 
gehören  dazu  besondere  Bedingungen;  eine  Aufnahme  solcher  Substanzen 
durch  die  gesunde  Haut  und  Schleimhäute   erfolgt  nur  dann,   wenn  die 
putriden  Substanzen  zugleich  zerstörend,  ätzend  wirken  oder  eventuell  eine 
active  Penetratiouskraft  besitzen,   wie  vielleicht  manche  Bacterien.     Er- 
krankte Häute,  wunde  Flächen  nehmen  dagegen  solche  jauchigen  Stoffe 
leichter  auf,  doch  auch  wieder  nur  unter  besonderen  Verhältnissen;  diese 
Stoffe  pflegen  z.  B.  durch  wohlorganisirte  nicht  verletzte  Granulationsflächen 
nicht  leicht  einzudringen.     Man  verbinde   eine  gut  granulirende  Wunde 
bei  einem  Hunde  mit  Charpie,  die  in  die  scbeusslichst  stinkende  Jauche 
getränkt    ist;    enthält   letztere  keine    ätzenden  Stoffe,    welche   etwa  die 
Granulationsfläche  zerstören,    so   wird  das  Thier  nicht   erkranken;    die 
Jauche  wird  nicht  resorbirt.     Hieraus  schliesse  ich,   dass  das  schädlich 
wirkende  Gift  in  irgend  einer  Weise  verhindert  sein  muss,  in  die  an  der 
Oberfläche  der  Granulationen  liegenden  Blutgefässe  einzudringen.     Aus 
diesen    besonderen    Bedingungen,    unter    welchen    die    Infectiou    durch 
putride  Stoffe    zu    erfolgen  pflegt,    scheint  mit  Evidenz  hervorzugehen, 
dass    das   betreffende   Gift    die  schleimige    Substanz    der   Granulationen 
nicht  zu   durchdringen  vermag   oder  hauptsächlich  durch   die  Lymphge- 
fässe  aufgenommen  wird,  wie  ich  schon  früher  erwähnte.     Bedenken  Sie 
ferner,  dass  bei  Quetschwunden  oft  noch  lange  Zeit  faulende  Fetzen  von 
festem  Bindegewebe,  zumal  von  Sehnen  und  Fascien  auf  der  übrigens 
gut  granulireuden  Wunde  liegen,    ohne  dass  aus  ihnen  septisches  Gift 
durch  die  oberflächlichen  Blutgefässe  der  Granulationen  ins  Blut  dringt, 
so  ergänzt  diese  Beobachtung    das   angeführte  Experiment    am  Hunde. 
Ich  will  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  vielleicht  unter  gewissen  Quellungs- 
verhältnissen der  Blutgefässwaudungen,    so  wie  vermöge   der  Capillar- 
attraction  auch  durch  Gefässthromben  infectiöse  Stoffe  ins  Blut  gelangen 
können;  dass  ferner  auch  Zellen  septische  moleculare  Stoffe  aufnehmen 
und  damit  in  Blutgefässe   einwandern  können;  im  Ganzen  möchte  ich 
jedoch  diesen  Gang  der  Infection  für  die  Ausnahme  halten,  zumal,  wenn 
die  infectiösen  Stoffe  nicht  gelost  sind,   sondern  in  kleinsten  Körnehen 
bestehen,  und  z.  B.  in  Staubform  aufgenommen  werden.     Man  hat  gegen 
diese  Keflexionen  eingewandt,    dass  ungelöste  Körnchen    im  Blut  nicht 
schädlich   wirken  könnten,  weil  nur  gelöste  Körper  das  Blut  intoxiren 
können;    das  ist  ganz  richtig;    doch  wir    wissen   ja  dass  regulinisches 
Quecksilber  auch  nicht  löslich  im  Blut  ist,  und  doch  in  Form  von  grauer 
Salbe  dem  Körper  beigebracht  Intoxication  z.  B.  recht  heftigen  Speichel- 
tiuss  erzeugen  kann.     Wir  wissen   nicht,   ob  und   wie  sich  das  Queck- 
silber m  den  Geweben  löst,  doch  wir  sehen,   dass  es,  auch  ungelöst  den 


Geweben  beig'ebraclit,  wirkt.  Eines  imiss  ich  nocli  iiinziirii.^'cii ,  djiss 
nämlich  diirob  starken  Druck  scptisclic  Stoffe  zwciFcUoH  Jiiicli  (iiiicli 
Granulationsflficlien  und  Abscesswanduiigcu  ins  Cewcl)C  in  die  J^iynipli- 
geliisse  und  Venen  eing-etriel)en  werden  können.  Die  Druckverliältnisse 
an  Wunden  und  in  Entzündung-slieerden  und  in  Abscessliöhlen  sind  von 
grosser  klinischer  Bedeutung'  und  es  ist  sehr  wichtig  sie  genau  zu  be- 
achten und  zu  Studiren.  Dies  geschieht  indess  besser  am  Krankenl)ett 
als  hier. 

Was  die  der  Luft  exponirten  gesunden  Körpertheile  betrifft,  so  steht 
es  bis  jetzt  nur  von  der  Lunge  fest,  dass  in  sie  staubförmige  Körper 
(Kohle)  eindring-en  und  von  da  in  die  Bronchialdrüsen  (von  da  auch 
wohl  ins  Blut)  gelangen  können,  während  ähnliclie  Aufnahmen  vom 
Darm  aus  bis  jetzt  nicht  beobaclitet  sind  und  experimentell  nicht  erzeugt 
werden  konnten. 

Man  hat  in  neuerer  Zeit  viele  Versuche  gemacht,  zu  ermitteln,  wel- 
;    eher  Stoff  in  den  faulen  thierischen  Gew^el)en  das  eigentlich  giftige*Princip 
I    ist,  und  hat  zu  diesem  Zweck  faulende  Flüssigkeiten  so  lange  chemisch 
behandelt,  bis  man  einen  Körper  übrig-  behielt,  welcher  noch  in  kleinster 
I   Dosis  die  Ersclieinungen  der  septischen  Intoxication  hervorrief.     So  hat 
I  Bergmann  aus  faulender  Bierhefe  einen  Körper  der  Art  hergestellt,  den 
er  Sepsin    nennt.     Um    zu    beweisen,    dass    nur    dieser   Körper,    den 
^  Fischer    aus    faulendem  Serum    und    aus  faulendem   Eiter  nicht  dar- 
stellen konnte,    das   Giftige  sei,    müsste  man    die  Schadlosigkeit    aller 
übrigen    beim    Fäulnissprocess    entstehenden    chemischen    Körper    nach- 
weisen   können.      Dies    ist    aber    nicht    der    Fall;    Schwefelwasserstoff, 
Schwefelammonium,    Buttersäure,    Leucin  und  manche    andere  bei    der 
Fäulniss  organischer  Körper  entstehende  Stoffe  wirken,  ins  Blut  injicirt, 
auch   mehr  oder  weniger  septisch,    so   dass  ich  mich  immer  noch  nicht 
recht  für  die  mühevollen  Bestrebungen,   einen  Körper  in  den  fauligen 
Flüssigkeiten    aufzusuchen,    der    die    alleinige  Verantwortung    für    die 
Schädlichkeit   derselben  auf  sich   nehmen  soll,   begeistern  kann.     Es  ist 
sehr  wahrscheinlich,    dass   in  faulenden  Flüssigkeiten  je  nach  ihrer  Be- 
schaffenheit,   ihrem  Concentrationsgrad,   der  Temperatur  etc.  sehr  viele 
verschiedene  giftige  Körper  sieh  bilden,   die  ich  mir  ausserdem  bis  zu 
einem  gewissen  Endstadium  in  fortwährender  Veränderung  denke;   ob 
dieses  Endstadium  dann  immer  dasselbe  ist,  das  wäre  ja  auch  noch  erst 
festzustellen.     Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  diese  schwierigen  Fragen  weit- 
läufig   zu    discutiren;    soweit    meine  Erfahrungen,    Beobachtungen    und 
Studien  reichen,  halte  ich  es  mindestens   für  im  höchsten  Grade  wahr- 
scheinlich,   dass   die  septischen  Stoffe  bereits  in   den   entzündeten  und 
gangränösen   Geweben    fertig   gebildet  und    dem   Blut  als  fertiges   Gift 
;  zugehen.     Dieser  Ansicht   steht    eine    andere  gegenüber,    nach  welcher 
I  dem  Blut   aus  den  Geweben  (eventuell  aus  der  Luft)  nur  das  Ferment 
zugeht,    welches    im  Blut   erst  recht  seine   zersetzende  gährungs-  oder 


A^^x  Von   den   accidputelleii   Wund-   und   EntzündunL'skranklicitfii   etc. 

fäuluiss-en-egeiide  Kraft  äussert  (0.  Weberj;  danach  wären  die  resor- 
birten  septiselien  Stoffe  nicht  an  sich  giftig-,  sondern  sie  erzeugten  das 
Gift  erst  im  Blute  aus  Bestandtheilen  des  Blutes. 

In  neuester  Zeit  ist  diese  Hypothese  von  Einigen  dahin  präi-isirt.  dass  die  Gährungs- 
erreo-er  Coccos  (Monaden,  Hue t er)  oder  Baeterien  seien.  Ich  kann  dieser  Hypothese  schon 
deshalb  meine  Zustimmung  nicht  geben,  weil  ich  weder  im  Blut  lebender  Menschen, 
welche  an  Septhämie  starben,  noch  in  dem  Blut  dieser  an  Septhämie  Verstorbenen  bald 
nach  dem  Tode  Micrococcos  finden  konnte.  Ich  muss  noch  hinzufügen,  dass  ich  auch 
im  Blute  von  lebenden  Thieren,  welchen  ich  putride  Flüssigkeiten  mit  Coccos  und  Baeterien 
eino-espritzt  hatte  und  welche  an  der  septischen  Intoxication  starben,  einige  Zeit  nach  der 
Iniection  die  erwähnten  Organismen  im  Blut  wiederzufinden  nicht  im  Stande  war;  ehen.so 
weni"  konnte  ich  sie  im  Blute  dieser  Thiere  einige  Stunden  nach  dem  Tode  finden.  Es 
scheint  hiernach,  als  wenn  Coccos  und  Baeterien  im  lebendigen  Blut  niclit  nur  nicht 
weiter  wachsen,  sondern  bald  darin  ausgehen.  Nach  diesen  Beobaclitungen  ist  es  wohl 
nicht  o-erechtfertigt,  bei  der  Septhämie  einen  hämatozymischen  Process  durch  Organismen 
anzunehmen,  der  sich  nach  Analogie  des  Gährungsprocesses  in  erster  Linie  doch  auf  eine 
enorme  Vegetationsenergie  der  pflanzlichen   Gährungserreger  stützen  müsste. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  wollen  wir  diejenigen  chirur- 
gischen Fälle  in  Betracht  ziehen,  welche  Gelegenheit  zu  septischer  In- 
fection  gehen.  Zunächst  sind  es  Fälle,  in  welchen  an  frischen  "Wunden 
eine  Zersetzung  Statt  findet;  oh  dabei  intensive,  über  das  Gewöhnliche 
hinausgehende,  örtliche  und  allgemeine  Infection  eintreten  wird,  pflegt 
sich  innerhalb  der  ersten  drei  Tage  zu  entscheiden,  Aeussert  sich  die 
örtliche  Infection  in  nur  massiger  Entzündung,  die  bald  zu  guter  circuni- 
scripter  Eiterung  führt,  hat  die  allgemeine  Infection  ein  nur  massiges 
Fieber  zur  Folge,  so  fällt  die  Erkrankung  ins  Gebiet  des  einfachen 
Wundfiebers.  Ist  die  örtliche  Infection  aber  sehr  ausgedelmt,  bildet  sicli 
Phlegmone  mit  verjauchenden  Producten  aus,  nimmt  damit  der  Allgemein- 
zustand einen  besonderen,  gleich  näher  zu  erörternden  Charakter  an,  so 
nennen  wir  den  Zustand  „'Septhämie".  —  In  anderen  Fällen  ist  es  ein 
traumatisch  oder  spontan  entstandener  ausgedehnterer  Brandheerd  (z.  B. 
Gangrän  in  Folge  von  Arterienerkrankung),  von  welchem  aus  die  Re- 
sorption fauliger  Stoffe  erfolgt,  und  zwar  ist  dies  häufiger  und  intensiver 
der  Fall  bei  feuchtem  als  bei  trocknem  Brand.  In  ähnlicher  Weise  ist 
die  Bedingung  für  die  Resorption  putrider  Substanzen  gegeben,  wenn 
nach  der  Geburt  des  Kindes  die  Placentarfläche  des  Uterus  gangräues- 
cirt;  ein  Theil  der  Puerperalfieber  sind  Septhämien. 

Es  wird  Ihnen  einleuchtend  sein,  dass  der  Krankheitsbegriff 
„Septhämie"  wesentlich  auf  ätiologischer  Basis  berulit,  wie 
z.  B.  auch  die  Krankheitsgruppe  „Typhus",  und  dass  sich  das  leichtere 
septische  Wundfieber  zur  Septhämie  verhält,  wie  die  typhöse  Febricula 
zum  Typhus:  auch  ist  in  der  That  der  Name  „septische  Febricula"  vor- 
geschlagen. Doch  wie  der  Typhus  in  seinen  einzelnen  Formen  aucli 
symptomatologisch  und  pathologisch-anatomisch  charakterisirt  ist,  so  ist 
dies  auch  bei  der  Septhämie  der  Fall,  wenngleich  dabei  die  patho- 
logisch-anatomische   Ausbeute    gering    ist.    —    Wodurch    ist    nun    die 


Vorl.'siiiiK  '-^(1.      Cai.ilcl    MI 


401 


Septliümic  in  ihrem  Verhiuf  churaktcrisirtV  Wann  sollen  wir  ein  scliweres 
Wundiiebcr  als  ein  septliämisclies  bezeichnen?  Hier  sind  zunächst  die 
Ersclieinung-cn  von  Seiten  des  Nervensystems  hervorzuheben;  die  Kranken 
sind  apathisch,  schlafsüchtig',  Avenn  auch  nicht  ganz  comatös;  seltener  ist 
eine  furchtbare  Aufregung;  fiiribunde  maniacalische  Delirien  kommen 
vor.  Dabei  ist  das  subjeetive  Gefühl  gut;  die  Kranken  leiden  nicht  sehr. 
Die  Zunge  ist  trocken,  oft  holzig  hart,  wodurcli  die  Spraclie  dieser 
Kranken  etwas  eigenthümlich  Scliwerfälliges  bekommt;  die  Kranken 
haben  Durst,  befriedigen  denselben  aber  selten,  weil  sie  ihn  wegen  der 
allgemeinen  Apathie  wenig-  empfinden.  Nicht  immer,  doch  häufig-  treten 
profuse  Diarrhöen  auf,  seltener  Erbrechen.  Anfangs  kann  starker 
Schweiss  vorhanden  sein,  später  ist  die  Haut  trocken,  welk.     Der  Urin 

Fig.  77. 


Fiebercm've  bei  Septhämie  nach  Exstirpation  eines  colossalen  Lipoms  zwischen  den  Obev- 

schenkehnuskehi.      Tod. 


ist  sparsam,  sehr  concentrirt,  zuweilen  eiweisshaltig-.  —  Bei  vorschreiten- 
der Krankheit  lassen  die  Kranken  Urin  und  Koth  unter  sich  gehen.  Es 
tritt  sehr  früh  gangränöser  Decubitus  am  Kreuzbein  auf  —  Das  Fieber 
steigt  (nach  der  Körpertemperatur  bestimmt)  anfangs  meist  hocli;  inter- 
currente  Fröste  im  Verlauf  der  Krankheit  kommen  bei  einer  acuten  rei- 
nen Septhämie  nie  vor;  auch  Initialfröste  gehören  zu  den  grössten  Selten- 
heiten; im  weiteren  Verlauf  sinkt  die  Körpertemperatur  bis  aufs  Nor- 
male, selbst  darunter,  der  Kranke  stirbt  in  der  Regel  im  vollkommensten 

Billruth  clür.  Path.  u.  Ther.  7.  AuH,  26 


409  Von  den  accidentellen  Wnnd-  und  Entzündiingskrankheiten  etc. 

CoUapsus  bei  fadenförmig-em,  äusserst  frequentem  Puls;  die  Beschaffen- 
heit des  Pulses  und  der  Zunge  sind  bei  der  Prognose  des  septhämisclien 
Zustandes  wichtiger  als  die  Temperatur.  Zusammengezogener  frequeuter 
Puls  und  trockne  Zung-e  sind  üble  Symptome;  normale  Temperatur  dabei 
hat  keinen  prognostischen  Werth,  während  allerdings  sehr  hohe  und  sehr 
niedere  Temperaturen  dabei  die  Prognose  noch  verschlimmern.  Die 
Agonie  dauert  oft  über  24  Stunden. 

Dieser  Verlauf  ist  der  regelmässige  bei  den  acuten,  nach  frischer 
Verletzung"  auftretenden  reinen  Septhämien;  der  Kranke  kann  jedoch  auch 
in  dem  ersten  Stadium  mit  steigender  Temperatur  sterben.  Es  giebt 
ferner  Fälle,  in  welchen  der  Fieberanfang  kaum  durch  eine  Temperatur- 
erhöhung markirt  ist,  und  endlich  Fälle,  die  ganz  afebril  oder  mit  ab- 
norm niedriger  Temperatur  verlaufen;  letzteres  kommt  mit  siibacutem 
Verlauf  besonders  bei  älteren  Individuen  mit  spontaner  Gangrän  vor; 
dabei  sind  aber  dann  die  andern  erwähnten  Symptome  meist  alle  vor- 
handen. Man  sieht  daraus,  wie  auch  besonders  aus  der  obigen  Curve, 
dass  das  Sinken  der  Temperatur  keineswegs  an  und  für  sich 
ein  Zeichen  der  Besserung  ist,  sondern  dass  daneben  auch  die 
andern  Allgemeinerscheinungen  (Kräftezustaud,  Sensorium,  Zunge,  Puls) 
berücksichtigt  werden  müssen.  Die  allerschwersten  Fälle  sind  diejenigen, 
in  welchen  etwa  gegen  die  Mitte  oder  gegen  das  Ende  des  zweiten  Tages 
rasch  ein  enormer  Collaps  mit  Cyanose  auftritt,  der  dann  gewöhnlich 
rasch  zum  Tode  führt.  Solche  Patienten  machen  genau  denselben  Ge- 
samrateindruck  wie  Cholerakranke  im  Stadium  algidum,  nur  dass  bei 
Septhämie  selten  Erbrechen  und  anhaltende  Diarrhoe  vorkommt;  die  Krau- 
ken sind,  wie  wenn  sie  plötzlich  vergiftet  wären,  nachdem  sie  sich  in 
den  ersten  24  Stunden  nach  der  Operation  vielleicht  ganz  wohl  befanden. 
Das  Wundsecret  ist  gerade  in  diesen  Fällen  (die  auch  wohl  mit  Diph- 
therie combinirt  sein  können)  keineswegs  übelriechend ;  die  Nase  merkt 
noch  nichts  von  der  Zersetzung.  Es  ist  nicht  erweisbar,  ob  der  intoxi- 
rende  Stoff  in  diesen  Fällen  ein  anderer  ist  als  gewöhnlich,  oder  ob  die 
entzündliche  Gewebsalteration  hier  eben  besonders  massenhaft  giftige 
Producte  liefert.  Die  Verschiedenheit  des  Krankheitsbildes  bei  Septhämie 
ist  nach  dem  Mitgetheilten  ziemlich  gross;  dies  bew^eist  iudess  nichts 
gegen  die  Annahme,  dass  das  septische  Gift  immer  dasselbe  sei,  denn 
es  giebt  ähnliehe  Differenzen  der  Erscheinungen  bei  der  Cholera,  beim 
Milzbrand,  bei  Diphtheritis,  beim  Schlangenbiss,  bei  welchen  Krankheiten 
Avir  desshalb  doch  auch  nicht  dift'erente  Arten,  sondern  nur  Diffe- 
renzen in  der  Intensität  und  Quantität  des  aufgenommeneu  Giftes  und 
Differenzen  in  der  Widerstandsfähigkeit  des  Erkrankten  sehen. 

Ich  hoffe,  dass  Sie  sich  aus  dem  Gesagten  ein  richtiges  Bild  von 
der  Septhämie  gebildet  haben.  Die  Prognose  ist  bei  den  ausgesproche- 
nen Symi)tonicn  der  Krankheit  ausserordentlich  schlecht;  über  die  Be- 
handlung wollen  wir  am  Ende  dieses  Abschnitts  sprechen. 


Vorlesmij,'  2(i.      Caiiilcl    XI  [I.  403 

Kommen  wir  jetzt  zu  dem  Lcicliciibefund.  Zuweilen  Laben  wir 
Mühe,  die  ödematöse  Infiltration,  die  bläuliclie  und  bräunliche  Verfärbung- 
der  Haut,  die  wir  in  der  Umgebung-  der  Wunde  am  Lebenden  sahen, 
an  der  Leiche  wiederzufinden.  In  anderen  Fällen,  die  einen  läng-eren 
Verlauf  hatten  (G — 8  Tage),  finden  wir  das  Unterhautzellg-evvebe  mit 
blutig-  seröser  Flüssigkeit  durchtränkt,  bei  noch  längerem  Verlauf  (zwei 
Wochen  und  darüber)  der  Krankheit  zeigt  sich  meist  sehr  ausgedelinte 
Vereiterung-  des  Zellgewebes  mit  mehr  oder  weniger  ausgedelmter  Gan- 
grän der  Haut.  Die  inneren  Organe  bieten  oft  gar  nichts  Krankhaftes 
dar.  Bestanden  im  Leben  anhaltende  profuse  Diarrhöen,  so  zeigt  sich 
wohl  Schwellung  der  solitären  und  conglobirten  Darmfollikel.  Die  Milz 
ist  oft  vergrössert  und  erweicht,  selten  normal  gross  und  fest;  die  Leber 
meist  blutreich,  schlaff,  auch  wohl  auffallend  brüchig,  doch  ohne  weitere 
Veränderung.  Im  Herzen  ist  das  Blut  häufig  klumpig,  halb  geronnen, 
theerartig,  in  seltneren  Fällen  fest  geronnen,  speckhäutig;  die  Lungen 
in  den  meisten  Fällen  normal.  Manchmal  findet  man  ditfuse,  einseitige 
oder  doppelseitige  massige  Pleuritis,  auch  wohl  Spuren  von  Pericarditis  • 
die  Nieren  sind  oft  geschwellt,  das  von  ihrer  Schnittfläche  abstreichbare 
Seren  trübe.  Ueber  diese  diffusen,  nicht  von  Embolie  abhängigen,  me- 
tastatischen Entzündungen  wollen  wir  bei  der  Pyohämie  ausführlicher 
sprechen;  hier  ist  dies  nichts  sehr  Wesentliches,  ebensowenig  wie  die 
embolischen  Infarcte  und  jauchigen  Abscesse,  welche  sich  ausnahmsweise 
auch  bei  Septhämie  finden,  wenn  die  Individuen  der  Krankheit  längere 
Zeit  widerstanden,  und  es  zu  Venenthrombosen  um  die  Wunde  oder  deu 
gangränösen  Heerd  gekommen  war. 

Da  bis  jetzt  durch  chemische  Analyse  des  Leichenblutes  in  diesen 
Fällen  nichts  Besonderes  herauszubringen  ist,  so  niuss  zugegeben  werden, 
dass  der  Leichenbefund  nicht  viel  Charakteristisches  zu  dem  Krankheits- 
bild hinzuthut;  dasselbe  ist  eben  ein  wesentlich  ätiologisch-symptomatolo- 
gisches;  hat  man  den  Kranken  im  Leben  nicht  beobachtet,  so  wird  man 
an  der  Leiche  oft  vergebens  nach  einer  palpablen  Todesursache  suchen. 

Manche  Aerzte  ziehen  es  voi-  zu  sagen,  der  Verletzte  oder  Operirte  sei  einem 
schweren  typhösen  Wundfieber  erlegen,  statt  den  Ausdruck  „Septhämie''  oder  „Septichämie'' 
zu  brauchen.  Es  ist  dagegen  sprachlich  nichts  einzuwenden,  wenn  ich  es  auch  nicht 
praktisch  halten  kann;  man  verwendet  dann  eben  den  Ausdruck  „typhös"  im  älteren 
Sinne,  wie  Tvqog  von  Hippokrates  für  „Stumpfsinn,  Blödsinn"  gebraucht  wird;  später 
hat  man  dann  mit  dem  Ausdruck  typhöse  Fieber  ganz  allgemein  solche  Fieberzustände 
bezeichnet,  bei  welchen  die  Kranken  „stumpfsinnig"  sind;  erst  im  Lauf  der  letzten  beiden 
Decennien  hat  man  unter  „Typhus"  genau  charakterisirte  verwandte  Infectionskrankheiten 
zusammengefasst.  Es  ist  wohl  besser,  dies  jetzt  so  zu  belassen,  und  den  Ausdruck 
„typhös"  nicht  wieder  zw  verallgemeinern.  ■ —  Virchow  braucht  wohl  auch  „Ichorrhämie" 
in  dem  Sinne,  wie  ich  Septhämie  brauche;  i/ioq  heisst  Blutwasser,  Lymphe,  Wundserum; 
ältere  Chirurgen  bezeichnen  damit  dann  auch  gelegentlich  „dünnen,  schlechten  Eiter"  und 
„übles  Wundsecret".  Es  will  nicht  recht  gelingen,  diesen  Ausdruck  in  den  modernen 
Sprachgebrauch  zurückzuführen. 

26^^ 


^Q^  Von   den   accideiitellcn    Wund-   und   Eiilzüudiiiig.skranklieiteii  etc. 

3,     Das  Eiterfieber,  die  Pyoliämie, 

Die  Pyohämie  (der  Name  ist  von  Pyorry  slus  tivov,  Eiter,  und  uiiia, 
Blut,  gebildet)  ist  eine  Krankheit,  die  wir  uns  durch  Aufnahme  von 
Eiter  oder  Eiterbestandtheilen  ins  Blut  entstanden  denken;  sie  verhält 
sich  zum  einfachen  Entzündung-sfieber  und  Nachfieber  wie  die  Septhämie 
zum  einfachen  primären  Wundfieber,  ist  symptomatologisch  durch  inter- 
mittirend  auftretende  Fieberanfälle,  pathologisch -anatomisch  durcli  das 
so  überaus  häufige  Vorkonnnen  von  metastatischen  Abscessen  und  meta- 
statischen diffusen  Entzündungen  besonders  auffallend.  Gleichbedeutende 
Bezeichnungen  für  diese  Krankheit  sind:  metastasirende  Eiterdyscrasie, 
Eitersucht,  purulente  Diathese. 

Damit  Sie  sich  vorläufig  ein  ungefähres  Bild  von  dieser  Krankheit 
entwerfen  können,  will  ich  Ihnen  einen  Fall  von  Pyohämie  schildern. 

Es  kommt  ein  Verletzter  ins  Spital,  bei  welchem  Sie  eine  mit 
ausgedehnter  Quetschwunde  complicirte  Fractur  des  Unterschenkels  dicht 
oberhalb  des  Fussgelenks  constatiren.  Die  Verletzung  sei  durch  das 
Auffallen  einer  sehr  schweren  Last  entstanden.  Sie  untersuchen  die 
Wunde,  finden  eine  quere  Fractur  der  Tibia,  halten  jedoch  die  Verletzung 
der  Art,  dass  eine  Heilung  wohl  möglich  ist.  Sie  legen  daher  einen 
Verband  an;  der  Kranke  befindet  sich  anfangs  vortrefflich,  fiebert  wenig- 
etwa  bis  zum  dritten  oder  vierten  Tage;  jetzt  beginnt  die  Wunde  sich 
stärker  zu  entzünden,  secernirt  verhältnissmässig-  wenig-  Eiter;  die  Haut 
in  der  Umgebung  wird  ödematös,  roth,  der  Kranke  fiebert  heftiger,  be- 
sonders am  Abend,  die  Schwellung  in  der  Umgebung  der  Wunde  nimmt 
zu  und  verbreitet  sich  langsam  weiter;  der  ganze  Unterschenkel  ist  ge- 
schwollen und  geröthet,  das  Fussgelenk  sehr  schmerzhaft,  bei  Druck  auf 
den  Unterschenkel  fliesst  aus  der  W\mde  mühsam  ein  dünner,  übelrie- 
chender Eiter  aus;  die  Anschwellung  bleibt  auf  den  Unterschenkel  be- 
schränkt; keine  Betheiligung  des  Sensoriums,  kein  Zeichen  von  intensiver 
acuter  Septhämie;  der  Kranke  ist  äusserst  empfindlich  bei  jedem  Verband, 
ist  verstimmt  und  verzagt;  es  hat  sich  eine  Febris  coutiuua  remittens 
ausgebildet  mit  ziemlich  hohen  Abendtemperaturen  und  erheblicher  Puls- 
frequenz; der  Puls  ist  voll  und  gespannt;  der  Appetit  hat  sich  ganz 
verloren;  die  Zunge  ist  stark  belegt.  Wir  befinden  uns  jetzt  ungefähr 
am  zwölften  Tage  nach  der  Verletzung.  Aus  der  Wunde  fliesst  sehr  viel 
Eiter  von  verschiedenen  Seiten  her;  etwas  entfernter  oberhalb  dersell)eu 
ist  deutliche  Fluctuation  wahrzunehmen;  diese  Eiterhöhle  lässt  sich  zwar 
nach  der  Wunde  hin  durch  mühsames  Drücken  entleeren,  doch  der  Ab- 
fluss  ist  sehr  gehemmt,  und  es  ist  daher  nothweudig,  an  der  genannten 
Stelle  eine  Incision  zu  machen.  Dies  geschiet,  es  wird  eine  massige 
Menge  Eiter  entleert ;  einige  Stunden  darauf  bekommt  der  Kranke  einen 
heftigen  Schüttelfrost,  dann  trockene,  brennende  Hitze,  endlich  sehr 
starken  Schweiss.     Das  Aussehen  der  Wunde   bessert  sich  etwas:    doch 


Voiip.simft-  2(;.    Ciipiici  xrir.  405 

dauert  dies  iiiclit  lange;  man  bcmcrl<.l;  bald  in  den- Nähe  derselben  mehr 
nach  hinten  in  der  Wade  eine  neue  Eiterhöhle;  es  kommt  ein  neuer 
Sehiittelirost;  neue  GciAenölTnungcn  sind  bald  hier,  bald  dort  nöthig,  um 
dem  massenhaft  sieh  bildenden  Eiter  überall  g-ehörig-en  Ausfluss  zu  ver- 
schaffen. Das  linke  Bein  ist  das  verletzte;  der  Kranke  klagt  eines 
Morgens  über  heftige  Scbmerzen  im  rechten  Kniegelenk;  dasselbe  ist 
etwas  geschwollen  und  bei  jeder  Bewegung  schmerzhaft.  Die  Nächte 
sind  schlaflos;  Patient  geniesst  fast  nichts,  trinkt  selir  viel  und  konmit 
sehr  herunter,  magert  ab,  besonders  im  Gesicht,  die  Hautfarbe  bekommt 
einen  Stich  ins  Gelbliche,  die  Schüttelfröste  wiederholen  sich;  der  Kranke 
fängt  jetzt  an,  über  Druck  auf  der  Brust  zu  klagen;  er  hustet  etwas, 
wirft  jedoch  nur  wenige  schleimige  Sputa  aus;  durch  die  Untersuchung 
der  Brust  constatiren  Sie  ein  bis  jetzt  massiges  pleuritisches  Exsudat  auf 
einer  oder  beiden  Seiten,  Patient  leidet  jedoch  davon  nicht  viel;  um  so 
mehr  klagt  er  über  das  rechte  Knie,  welches  jetzt  sehr  stark  geschwollen 
ist  und  viel  Flüssigkeit  enthält;  da  der  Kranke  viel  schwitzt,  wird  der 
Urin  sehr  concentrirt  und  enthält  zuweilen  Eiweiss.  Es  kommt  nocli 
endlich  Decubitus  hinzu;  der  Kranke  klagt  darüber  jedoch  nicht  sehr, 
liegt  ruhig  da,  zum  Theil  jetzt  halb  betäubt  und  leise  vor  sich  hin  mur- 
melnd. Wir  sind  jetzt  ungefähr  am  zwanzigsten  Tage  nach  der  Ver- 
letzung; die  Wunde  ist  trocken,  der  Kranke  sieht  entsetzlich  elend  aus; 
das  Gesicht,  der  Hals  ist  besonders  abgemagert;  die  Haut  von  stark 
icterischer  Farbe,  die  Augen  matt,  die  zitternd  hervorgestreckte  Zunge 
ganz  trocken,  die  Haut  kühl,  die  Temperatur  niedrig,  nur  Abends 
erhöht,  der  Puls  sehr  klein  und  frequent,  die  Respiration  langsam,  der 
Athem  von  eigenthümlich  cadaverösem  Geruch;  der  Kranke  wird  ganz 
bewusstlos  und  kann  in  diesem  Zustande  vielleicht  noch  24  Stunden  ver- 
bleiben, bevor  der  Tod  eintritt.  ■ —  Sie  machen  die  Section;  in  der 
Schädelhöhle  nichts  Pathologisches;  Herzbeutelinhalt  und  Herz  normal, 
im  rechten  Ventrikel  und  Vorhof  ein  festgeronnenes,  weisses  Fibrin- 
gerinnsel; beide  Pleurahöhlen  sind  mit  einer  trüben  serösen  Flüssigkeit 
gefüllt;  die  Lungenoberfläche  mit  netzförmigen,  icterischen  Fibrinlagen 
bedeckt;  Sie  ziehen  dieselben  ab  und  finden  darunter  in  der  Substanz 
der  Lunge,  jedoch  besonders  an  ihrer  Oberfläche  ziemlich  feste  Knoten 
von  Bohnen-  bis  Kastaniengrösse.  Dieselben  befinden  sich  vorwiegend 
in  den  unteren  Lappen;  Durchschnitte  durch  dieselben  zeigen,  dass  es 
meistentheils  Abscesse  sind.  Das  etwas  verdichtete  Lungenparenchym 
bildet  die  Kapsel  einer  Höhle,  welche  mit  Eiter  und  zerfallenem  Lungeu- 
gewebe  erfüllt  ist.  Andere  von  diesen  Knoten  sehen  blutigroth  auf  dem 
Durchschnitt  aus,  ihre  Schnittfläche  ist  etwas  körnig,  in  ihrer  Mitte  findet 
sich  hier  und  da  Eiter  in  verschiedenen  Mengen,  und  es  erhellt,  dass 
aus  ihnen  die  Abscesse  hervorgehen.  Sie  haben  hier  die  Ihnen  schon 
bekannten  rothen  Infarcte  mit  Ausgang  in  Abscessbildung  vor  sich. 
Einige  von  diesen  Abscessen  liegen  der  Oberfläche  so  nahe,   dass  da- 


40ß  Von  den  accidentellcn  Wimd-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

durch  die  Pleura  in  Mitleidenschaft  gezog-en  wurde,  so  dass  also  die 
Pleuritis  secundär  entstanden  ist.  —  Die  Leber  ist  ziemlich  blutreich  und 
von  brüchiger  Consistenz;  übrigens  lässt  sich  nichts  Abnormes  in  ihr 
entdecken.  Die  Milz,  etwas  vergrössert,  zeigt  auf  dem  Durchschnitt 
einige  feste  keilförmige  Knoten,  mit  ihrer  Spitze  nach  innen,  mit  ihrem 
breiten  äusseren  Ende  der  Oberfläche  zu  gelegen;  sie  verhalten  sich 
ähnlich  wie  die  rothen  Infarcte  in  den  Lungen  und  sind  auch  zum  Theil 
in  der  Mitte  eitrig  zerfallen.  —  Der  ganze  Tractus  intestinalis,  sowie 
die  Harn-  und  Geschlechtswerkzeuge  zeigen  nichts  Abnormes.  Durch 
einen  Schnitt  ins  rechte,  während  des  Lebens  schmerzhafte  Kniegelenk 
wird  eine  grosse  Masse  flockigen  Eiters  entleert;  die  Sjnovialmembran 
ist  geschwellt  und  theilweise  hämorrhagisch,  injicirt,  der  Glanz  der  Ge- 
lenkknorpel vermindert.  —  Die  Untersuchung  der  Wunde  ergiebt  nicht 
viel  mehr,  als  was  man  schon  beim  Lebenden  fand,  nämlich  eine  aus- 
gedehnte Vereiterung  des  tiefen  und  subcutanen  Zellgewebes,  sowie  Eiter 
im  Fussgelenk;  die  Wandungen  aller  dieser  Eiterhöhlen  bestehen  gröss- 
tentheils  aus  zerfallendem  Gewebe,  eine  rechte  Granulationseutwicklung 
ist  erst  an  wenigen  Stellen  erfolgt.  Die  Fractur  ist  jedoch  complicirter, 
als  man  geglaubt  hatte,  indem  theils  eine  Längsfissur  bis  ins  Fussgelenk 
reicht,  theils  an  der  hinteren  Seite  der  Tibia,  wo  man  nicht  beim  Le- 
benden untersuchen  konnte,  mehre  abgetrennte  Knochenstücke  gelegen 
sind.  In  den  Venen  des  Unterschenkels  finden  sich  hier  und  dort  ältere 
Fibrinpfröpfe,  auch  wohl  gelber  puriformer  Detritus,  und  an  einigen 
Stellen  reiner  Eiter. 

Lassen  Sie  uns  an  diesen  Fall  einige  vorläufige  Reflexionen  an- 
knüpfen und  stellen  Sie  sich  vor,  dass  Sie  eine  Reihe  ähnlicher  Fälle 
beobachtet  hätten,  so  dass  es  Ihnen  klar  geworden  ist,  dass  es  sich 
nicht  um  eine  zufällige  Combination  verschiedener  Krankheiten,  sondern 
um  etwas  durchaus  Zusammengehöriges  handelt.  Sie  haben  eine  ausge- 
dehnte und  stets  zunehmende  Eiterung  an  einer  Extremität  mit  sehr  in- 
tensivem, continuirlichem  und  ausserdem  in  Anfällen  auftretendem  Fieber 
vor  sich.  Es  gesellt  sich  eine  Eiterung  in  einem  ganz  entfernten  Gelenk 
hinzu,  dann  treten  circumscripte  Entzündungen  mit  Ausgang  in  Abscess- 
bildung  in  den  Lungen  und  in  anderen  Organen  auf.  Diese  multiplen 
Entzündungsheerde  unterhalten  das  Fieber  dauernd,  und  ausserdem,  dass 
die  Functionen  der  betreffenden  Organe  gestört  werden,  geht  der  Orga- 
nismus unter  den  Erscheinungen  der  Erschöpfung  zu  Grunde.  Das  Eigen- 
thümliche  und  Wesentliche  liegt,  wie  Sie  leicht  sehen,  in  dem  Auftreten 
vielfacher  Entzündungsheerde,  nachdem  die  primäre  Eiterung  einen  ge- 
wissen Höhegrad  erreicht  hatte.  Für  die  Entstehung  der  metastatischen 
Abscesse  kennen  Sie  die  Erklärung;  sie  Averden  immer  durch  Venen- 
thrombose und  Emboli  vermittelt,  ich  brauche  darauf  nicht  zurückzu- 
kommen. Schwieriger  sind  die  diffusen  metastatischen  Entzün- 
dungen zu  erklären,    welche  sowohl  bei   Septhämie  als  bei  Pyohämie 


Vorlcsiiiifj;  2(].     Cnpifol   XFTf.  4()7 

vorkommen;  sie  liäiigen  kciiicswcg-s  immer  wie  die  Pleuritis  in  doii  er- 
wähnten Falle  von  Abscessen  der  Lunge  al);  es  g-iebt  mctastatisclie  diffuse 
Entzündung-cn  des  Auges,  der  Hirnhäute,  des  Unterhautzellgewebcs,  dei- 
(kdenke,  des  Periostes,  der  Lcl)er,  der  Milz,  der  Nieren,  der  Pleura,   des 
Herzbeutels   etc.,    die  uuabhäng-ig-    von   Abscessen,    soviel  wir    bis  jetzt 
wissen,  unabhängig-  von  Embolien  sind.     Eine  exacte  Erklärung-  für  das 
Zustandekonnnen  dieser  Metastasen  lässt  sich  kaum  für  alle  Fälle  geben. 
Wenn  der  metastatische  Erkrankung'sheerd    in    einer  nahen  Verbindung 
mit  dem  ursprünglichen  Eiterheerd  steht,  so  kann  der  erstere  als  durch 
Fortleitung'  der  Entzündung-  von  letzterem   aus  etwa  unter  Vermittclung- 
der  Lymphgefässe  entstanden  gedacht  werden;    so  in  Fällen,  wo  nach 
Amputatio  mammae  oder  Exarticulatio  humeri  Pleuritis  der  betreffenden 
Seite  auftritt,  oder  zu  einer  Fractur  des  Unterschenkels  im  unteren  Dritt- 
theil  sich  eine  Eiterung-   des  Kniegelenks   derselben  Seite    hiuzugescllt. 
In  anderen  Fällen  ist  die  Annahme  zulässig-,    dass  ein   bereits  kranker 
oder  zur  Entzündung-  schon  vorher  disponirter  Theil  in  Folge  des  febrilen 
Allgemeinzustandes  acut  erkrankt:  es  kommt  z.  B.  vor,  dass  ein  bereits 
ziemlich  fester,    ganz  normal  gebildeter  subcutaner  Fracturcallus,   etwa 
des  Radius,  noch  in  der  dritten  und  vierten  Woche  vereitert,   wenn  das 
betreffende  Individuum  von  einer  coraplicirten  Fractur  am  Unterschenkel 
oder  von  einem  Decubitus  aus  pyohämisch  wurde.    Es  bleibt  aber  immer 
noch  eine  grosse  Anzahl  von  Fällen  übrig,  in  welchen  solche  Erklärungen, 
wie  die  oben  angedeuteten,   nicht  passend  sind.     Mau  sucht  sich  dann 
mit  der  Annahme   zu  beruhigen,   dass  eben  eine  Disposition  zu  Entzün- 
dungen, besonders  zu  Eiterbildung   in  gewissen  Organen  mit  der  Eiter- 
vergiftung  nothwendig    verbunden    sei,    dass    das  im   Blut  circulirende 
Eitergift  specifisch   phlogogen  auf  bestimmte   Organe  wirke.     Ich  kann 
Ihnen  hierüber  keine  weitere  Aufklärung  geben,  doch  möchte  ich  Ihnen 
diese  Hypothese  durch  Vergleich ung  mit  analogen  Beobachtungen  plau- 
sibler machen,  ich  meine  nämlich  durch  Vergleichung  mit  der  specifisch 
phlogogenen  Wirkung  gewisser  Arzueistoffe,    auf  die  wir  schon  früher 
bei    der  Aetiologie    der  Entzündung    und    zwar    bei    den    toxisch-mias- 
matischen    Ursachen     und     ihrer    Wirkungsweise     hingewiesen     haben 
(pag.  298). 

Man  hat  sich  schon  verschiedentlich  bemüht,  diese  mystische  Wirkung  verschiedener 
mit  dem  Blut  circulirender  Stoffe  zu  erklären.  So  meint  Samuel,  das  Geheimniss  der 
specilischen  Wirkung  solcher  Stoffe  liege  darin,  dass  sie  aus  mechanischen  Gründen  in 
den  Capillargefässen  dieses  oder  jenen  Organs  zurückgehalten  werden,  und  deshalb  in 
diesen  Organen  ihre  phlogogene  Wirkung  entfalten;  doch  mir  scheint,  man  kommt  damit 
über  die  Schwierigkeit  des  Verständnisses  nicht  hinaus,  denn  es  bleibt  dann  ebenso  unklar, 
warum  das  Cantharidin  grade  in  den  Nierencapillaren,  das  Quecksilber  in  den  Parotis- 
capillaren,  septisches  Gift  in  der  Milz,  Oleum  Crotonis  in  den  Darmcapillaren  etc.  stecken 
bleibt,  übrigens  müsste  auch  dieses  Steckenbleiben  noch  erst  bewiesen  werden. 

Im  Ganzen  gehört  das  Vorkommen  diffuser  metastatischer  Ent- 
zündungen in  inneren  Organen  zu  den  seltneren   Erscheinungen,  wenn 


408  Von   den   acridcntelleii   Wiiiul-    und   Entzümliinf^skrankheiten   etc. 

man  niclit  die  diffuse  Scliwellung-  der  Milz  daliin  zählen  will,  die  aller- 
dings bei  Pyoliämie  ziemlich  häufig,  wenn  auch  nicht  constant  ist. 

Di  e  Diagnose  der  metastatischen  Abscesse  und  Entz  ün  dün- 
gen ist  da  leicht,  wo  sie  an  der  Oberfläche  des  Körpers  und  an  den  Ex- 
tremitäten liegen;  auch  eine  metastatische  Meningitis  und  Choroiditis  ist 
relativ  leicht  zu  erkennen.  Die  Diagnose  von  Lung-enmetastasen  kann 
schwierig  sein ,  die  Heerde  sind  oft  so  klein  und  so  zerstreut  in  der 
Lunge,  dass  sie  durch  Percussion  nicht  zu  finden  sind;  der  accidentelle 
pleuritische  Erguss  hilft  oft  zur  Diagnose  von  metastatischen  Lungen- 
abscessen;  sind  blutige  Sputa  und  starker  Bronchialcatarrh  nachweisbar, 
so  kann  die  Diagnose  sicher  gestellt  werden;  die  subjectiven  Symptome 
sind  oft  auffallend  unbedeutend;  erhebliche  Dyspnoe  entsteht  hier  nur 
bei  ausgedehntem  pleuritischera  Erguss.  —  Icterus  entwickelt  sich  oft  in 
geringerem  oder  stärkerem  Grade  bei  Pyohämie;  ob  sich  dabei  der 
Gallenfarbstoff  im  Blut  aus  dem  Blutroth  ohne  Vermittelung  der  Leber 
bildet,  oder  ob  Icterus  überhaupt  nur  mit  Beihülfe  der  Leber  entstehen 
kann,  ist  noch  nicht  ganz  entschieden,  wenngleich  sich  die  Mehrzahl  der 
neuereu  Beobachter  dafür  aussprechen,  dass  Icterus  immer  hepatogenen 
Ursprungs  sei.  Jedenfalls  erlaubt  der  Icterus  bei  Pyohämie  keine 
Diagnose  auf  Leberabscesse;  dieselben  können  bei  bedeutender  Schmerz- 
haftigkeit  der  Lebergegend  mit  Wahrscheinlichkeit  angenommen  werden, 
doch  ist  es  mir  dabei  auch  schon  begegnet,  dass  ich  anstatt  der 
erwarteten  Leberabscesse  eine  acute  diffuse  Erweichung  der  Leber  fand, 
die  mit  fast  broncefarbenem  Icterus  verbunden  war.  —  Die  Vergrösserung 
der  Milz  kann  durch  Percussion  zuweilen  diagnosticirt  werden.  — 
E  eichlicher  Eiweissgehalt  des  Harns  mit  Epithelial-  und  Gallertcylindern 
und  Beimischung  von  Blut  berechtigt  zumal  bei  gleichzeitiger  bedeutender 
Verminderung  der  Harnabsonderung  zur  Annahme  einer  acuten  metasta- 
tischen Nephritis;  ob  dabei  aber  die  Niere  von  vielen  metastatischen 
Abscessen  durchsetzt  oder  diffus  entzündet  ist,  was  auch  metastatisch 
vorkommt,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  am  Lebenden  eruiren.  —  Am 
häufigsten  sind  Lungen-  und  Milzabscesse,  sowie  metastatische  Gelenk- 
entzündungen, weit  seltener  Leber-  und  Nierenabscesse  und  Metastasen 
in  allen  übrigen  früher  genannten  Theilen. 

Auf  ein  Symptom  der  Pyohämie  müssen  wir  noch  näher  eingehen, 
nämlich  auf  die  Schüttelfröste.  Sie  treten  in  unregelmässiger  Weise 
auf,  selten  in  der  Nacht,  doch  zu  jeder  Zeit  des  Tages,  und  ihre  Dauer 
und  Intensität  ist  ganz  ausserordentlich  verschieden;  bald  klagt  der 
Kranke  nur  über  leises  Frösteln  und  vorübergehende  Schauer,  bald 
zittert  er  so  heftig  und  klappert  mit  den  Zähnen,  wie  beim  Wcclisel- 
fieber.  Anfangs  kommen  die  Fröste  seltener,  dann  häufiger,  zwei  uud 
drei  l\Ial  am  Tage;  gegen  das  Ende  lassen  sie  wieder  nach.  Die  Anfälle 
selbst  gleichen  denen  bei  Intermitteus  in  Bezug  auf  Frost,  trockene 
Hitze  und  Schweiss;    doch   es  tritt  nach   dem  Anfall  kein  vollständiges 


Vorlcsmi^,^  L>(;.     (•■A\u\r\   XIII.  409 

Aullinrcii  des  Fiebers  ein,  sondoni  etwas  Fieber  bleibt  fast  immer 
zurück.  Was  gclit  nun  cigentlicb  bei  diesen  Scbüttcl frosten  vor?  Wenn 
man  an  sich  selbst  Beobachtungen  darüber  zu  machen  Gelegenheit  hat, 
so  empfindet  man  dabei  ein  eigenthümliches  krampfhaftes  Ziehen  in  der 
Haut;  man  muss  auch  Avider  seinen  Willen  die  Zähne  krampfhaft  zu- 
sammenschlagen; hört  dies  einen  Moment  auf,  so  fühlt  man  sich  nicht 
kalt,  sondern  sogar  ziemlich  heiss,  und  es  liegt  das  Gefühl  des  Frostes 
mehr  in  der  Einbildung,  weil  wir  ähnliche  Empfindungen  und  ähnliches 
krami)fhaftes  Zittern  sonst  nur  bei  Einwirkung  bedeutender  Kälte 
empfinden.  Das  Anfühlen  der  Extremitäten  und  die  Hautoberfläche 
selbst  während  des  Scliüttelfrostes  zeigt  zwar  eine  verminderte  Tempe- 
ratur, weil  durch  den  Krampf  der  Hautmuskeln  das  Blut  aus  den 
Capillaren  herausgetrieben  wird.  Machen  Sie  aber  eine  Messung  der 
Körpertemperatur  mit  dem  Thermometer  vom  Beginn  des  Frostes  an, 
so  finden  Sie,  dass  die  Temperatur  fortwährend  und  zwar  sehr  rasch 
steigt,  zuweilen  2 — 3°  C.  innerhalb  '/^ — '/j  Stunde.  Am  Ende  des 
Frostes  und  während  der  Zeit  der  trocknen  Hitze  erreicht  die  Körper- 
temperatur gewöhnlich  ihren  höchsten  Grad;  sie  kann  bis  42°  C.  steigen, 
kommt  jedoch  selten  viel  über  40,5°  C.  hinaus;  von  da  an  nimmt  sie 
allmählig  wieder  ab.  Die  rasche  Steigerung  der  Körpertemperatur  steht 
jedenfalls  in  Beziehung  zum  Phänomen  des  Schüttelfrostes;  ausserdem 
scheint  zu  seiner  Entstehung  auch  eine  gewisse  Reizbarkeit  des  Nerven- 
systems nothwendig  zu  sein,  indem  bei  torpiden  oder  durch  Narcotica 
abgestumpften  Individuen  Schüttelfröste  viel  seltener  zur  Entwicklung 
kommen,  als  bei  sehr  reizbaren  Menschen  (vergl.  p.  178). 

Die  verschiedenartigsten  acuten  Krankheiten  beginnen  mit  Fieber- 
frösten, besonders  acute  Exantheme,  Pneumonien,  Lymphangoitis  etc., 
seltner  die  miasmatischen  Infectionskrankheiten  wie  Typhus,  Pest,  Cho- 
lera. Gewöhnlich  wiederholen  sich  aber  diese  Fröste  nicht,  sondern 
nur  der  erste  Anhub  der  Krankheit  ist  mit  diesem  Phänomen  verbunden : 
es  scheint,  als  wenn  der  erste  Erguss  gewisser  phlogogener  Substanzen 
ins  Blut  bei  sonst  gesunden  Individuen  besonders  zum  Fieberfrost  dis- 
ponirt,  oder  als  wenn  gewisse  Infectionsstoffe ,  ins  Blut  gelangend,  be- 
sonders intensives  Fieber  mit  Frost  erregen.  Wenn  wir  daher  den 
Schüttelfrost  als  solchen  nicht  als  charakteristisch  für  die  Pyohämie  be- 
zeichnen können,  so  ist  doch  seine  häufige  Wiederkehr,  so  wie  über- 
haupt der  intermittirende  Fiebertypus  dieser  Krankheit  eigenthümlich. 
Wir  kennen  etwas  Aehnliches  nur  beim  Wechselfieber:  da  haben  wir 
intermittirende  Fieberanfälle  mit  regelmässigen  Intervallen;  wovon  diese 
Intervalle  abhängig  sind,  weiss  man  nicht,  doch  als  unmittelbare  Ur- 
sache der  Fieberanfälle  möchte  ich  den  schubweisen  Erguss  von  Krank- 
heitsproducten  aus  der  Milz  ansehen;  dass  bei  Intermittens  aus  der  Milz 
Stoffe  ins  Blut  eintreten,  dafür  hat  man  anatomische  Beweise  durch  die 
Melanämie   und   Pigmentmetastasen;    dass    in   Pancreas    und  Milz    An- 


410  Von  den  accidentellen  Wund-  und  Entzündungskrankhoiten  etc. 

liäufimgen  (Ladungen,  Schiff)  mit  normalen  Secreten  erfolgen,  und  sich 
diese  bei  der  Verdauung-  schubweise  entleeren,  ist  bekannt;  es  scheint 
mir  daher  nicht  zu  kühn,  anzunehmen,  dass  mit  diesen  physiologischen 
Entleerungen  gewisser  Stoffe  aus  der  Milz  auch  pathologische  Producte 
ins  Blut  übergehen.  —  So,  meine  ich,  werden  auch  bei  der  Pyohämie 
von  Zeit  zu  Zeit  Eiter  oder  Eiterbestandtheile  ins  Blut  ergossen,  und 
dadurch  unter  sonst  günstigen  Bedingungen  Fieberanfälle  mit  Frost  er- 
zeugt. Als  Hauptquelle  für  solche  wiederholte  Eiterinfection  muss  eine 
ausgedehntere  progressive  Entzündung  um  die  Wunde  betrachtet  werden : 
Zerstörung  der  Grauulatiousflächen  durch  wiederholte  Insulte  der  Wunde, 
rascher  Zerfall  der  Granulationen  durch  chemische  Einflüsse,  alle  neu 
zur  Wunde  hinzukommenden  progressiven  Entzündungen  können  dem 
Eiter  Eintritt  in  die  bereits  geschlossen  gewesenen  Lymphgefässe  und 
Venen  geben;  dann  kann  bei  neuer  Entzündung  ein  eitriger  Zerfall  der 
Gerinnsel  in  den  Lymphgefässen  und  von  da  Eintritt  dieses  Eiters  ins 
Blut  Statt  finden;  ferner  wäre  es  auch  denkbar,  wenngleich  schwer 
nachweisbar,  dass  bei  Venenthrombose  das  central  gelegene,  den  Eiter  in 
den  Venen  abschliessende  Geriunselstück  losgerissen  und  dieser  Eiter 
durch  einen  tiefer  einmündenden,  gangbaren,  collateralen  Venenast  ins 
Blut  geschwemmt  würde,  was  z.  B,  durch  gelegentliche  Muskelcoutractionen 
zu  Stande  kommen  könnte.  Endlich  geben  die  metastatischen  Entzün- 
dungen, mögen  sie  nun  durch  Embolie  oder  ohne  dieselbe  entstanden  sein, 
auch  wohl  Veranlassung  zu  neuen  Fieberanfällen;  dass  dies  nicht  die 
einzige  Quelle  für  dieselben  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  man  gelegentlich 
Fälle  von  intermittirendem  Eiterfieber  seciren  kann,  wo  10 — 12  Fröste 
beobachtet  waren,  und  dann  doch  keine  metastatischen  Entzündungen  ge- 
funden wurden;  die  Ursache  der  wiederholten  Fröste  kann  dann  in  der 
Art  der  Ausbreitung  des  örtlichen  Processes  gelegen  haben,  oder  ist  im 
Knochen  oder  sonstwo  verborgen.  Die  Statistik  spricht  sehr  zu  Gunsten 
der  Annahme,  dass  die  Schüttelfröste  von  immer  neuen  Entzünduugspro- 
cessen  abhängen,  denn  es  lässt  sich  nachweisen,  dass  die  Fröste  (oder 
wenigstens  die  intermittirenden  Fieberanfälle,  die  auch  ohne  Fröste  ver- 
laufen können)  weit  häufiger  bei  solchen  Individuen  vorkommen,  bei  denen 
sich  später  in  der  Leiche  Entzündungsprocesse  innerer  Organe  nachweisen 
lassen  als  bei  solchen,  bei  denen  dies  nicht  der  Fall  ist.  Als  Beobach- 
tungsfactum  muss  hervorgehoben  werden,  dass  die  Frostanfälle  fast  aus- 
schliesslich im  Beginn  acuter  Entzündungen,  intermittirend  nur  beim 
Wechselfieber  und  bei  Kesorption  von  Eiter  vorkommen,  während  sie 
bei  acuter  Septhämie  fehlen.  Wahrscheinlich  spielen  also  auch  die 
chemischen  Qualitäten  des  Infectionsstoffes  dabei  eine  wichtige,  bisher 
unbekannte  Rolle.  —  Leider  lässt  uns  hier  das  Experiment  ganz  im  Stich ; 
es  ist  mir  nie  gelungen,  bei  Kaninchen,  Hunden  und  Pferden  durch 
Injeetion  von  putriden  Stoffen  oder  gutem  Eiter  Schüttelfröste  oder  inter- 
mittirende  Anfälle  hervorzubringen:    Eiter  und  Jauche   wirken  auf  die 


Vorlesung  2(1.      (lapilrl    Xllf.  411 

Tliici-c  in  Hctreir  des  Fiebers  gleich;  nur  wenn  man  die  Jnjectioii  wie- 
derholt, kann  man  künstlich  den  intermittircndeu  Gang  des  Fiebers  hei 
Thicren  erzeugen.  — 

Sie  werden  nach  dem  eben  Geliörten  begreifen,  dass  die  gewöhn- 
liche Methode  der  Teniperaturmcssung  am  Morgen  und  Abend  kein  Bild 
des  Fieberverlaufs  bei  Pyohämie  geben  kann;  da  auf  diese  Weise  die 
Messung  bald  in  die  Acme,  bald  in  die  Defervescenz  eines  Ficl)eranfalls, 
l)ald  in  die  Zeit  der  Remission  (eine  vollständige  Intermission  des  Fie- 
bers kommt  bei  Pyohämie  selten  vor)  fallen  kann,  so  bekommt  man 
natürlich  höcht  unregelmässige  Fiebercurven.  Wollte  man  sich  ein 
genaues  Bild  des  pyohämischen  Fiebers  verschaffen,  so  müsste  man  den 
Thermometer  continuirlich  liegen  lassen  und  die  Temperatur  jede  Viertel- 
stunde notiren ;  da  dies  die  Kranken  sehr  quälen  würde,  und  wir  andere 
Zeichen  genug  haben,  um  die  Prognose  und  Therapie  zu  bestimmen,  so 
habe  ich  mich  dazu  noch  nicht  entschliessen  können.  —  Die  Nachfor- 
schungen darüber,  ob  sich  in  dem  Eiter  der  Pyohämischen  besondere 
Stoffe  vorfinden,  oder  ob  die  qualitative  Zusammensetzung  ihres  Eiters 
eine  andere  ist  als  des  Eiters  von  Menschen,  welche  ohne  alle  Zwischen- 
fälle genesen,  hat  bis  jetzt  zu  keinen  Resultaten  geführt.  Auch  hat  der 
Eiter  der  Pyohämischen  nicht  immer  einen  üblen  Geruch;  ebensowenig 
finden  wir  in  allen  Fällen  Coccos  im  Eiter  dieser  Krauken;  doch  sind 
die  Fälle,  in  welchen  an  den  Wunden  zersetzter,  gefaulter  Coccos-haltiger 
Eiter  in  die  Blutbahn  eintritt,  die  bei  weitem  häufigeren.  Ob  der  Eiter- 
coccos  dann  im  circulirenden  Blut  weiter  wächst,  weiss  man  nicht.  Ich 
habe  bei  Pyohämischen  ebenso  wenig  Coccos  und  Bacterien  im  Blut  ge- 
funden wie  bei  Septhämischen  und  muss  in  dieser  Beziehung  auf  das 
früher  Gesagte  verweisen. 

Die  Art  und  Weise,  wie  die  Pyohämie  auftritt,  ist  in  mancher  Hin- 
sicht verschieden;  am  häufigsten  beginnt  diese  Krankheit,  die  wir  als 
eine  bösartige  eigenthümliche  Form  des  Eiterfiebers  auffassen,  in  der 
Zeit,  wo  die  Eiterung  beginnt,  oder  später,  wenn  neue  Entzündungen  zur 
Wunde  hinzukommen,  sei  es  dass  sich  dieselben  unmittelbar  an  die 
traumatische  Entzündung  anschliessen,  sei  es  dass  sie  später  nach  bereits 
geschehener  Abgrenzung  des  traumatischen  Entzündungsheerdes  acciden- 
tell  auftreten;  dabei  entwickelt  sich  das  pyohämische  Fieber  dann  aus 
dem  Wundfieber  oder  aus  dem  Nachfieber  und  diese  sind  in  solchen 
Fällen  von  manchen  Beobachtern  als  Prodromalstadien  der  Pyohämie 
aufgefasst;  der  Moment,  wann  der  Kranke  pyohämisch  ist,  kann 
dabei  ebenso  wenig  genau  bestimmt  werden,  wie  der  Ueber- 
gang  des  primären  Wundfiebers  in  Septhämie.  Ich  halte  die 
Bezeichnung  „Pyohämie"  vorläufig  fest  für  die  eben  geschilderte  Krank- 
heit, und  habe  Ihnen  die  Eiterresorption  als  Ursache,  den  intermittiren- 
den  Fieberverlauf  mit  rasch  zunehmendem  Marasmus  als  Hauptsymptom, 
die   metastatischen    Entzündungen   als   sehr   wesentlichen   anatomischen 


412  Von  den  accidentellen  Wund-  und  Entzundungskrankheiten  etc. 

Befund  bezeicbnet;  dennocli  ist  es  manchmal  sehr  schwer,  sich  zu  ent- 
scheiden ob  man  einen  gegebenen  Fall  nur  als  schweres  "Wundfieber 
oder  Septhämie,  ob  als  schweres  Eiterfieber  odßrPyohämie  bezeichnen 
soll:  die  Schüttelfröste  können  fehlen,  der  intermittirende  Fieberverlauf 
ist  dann  schwer  zu  ermitteln;  die  Metastasen  können  am  Lebenden  uu- 
diagnosticirbar  sein.  Haben  Sie  einen  Fall  von  Osteomyelitis  mit  sehr 
häufigen  Frostanfällen,  stirbt  der  Kranke  und  finden  Sie  keine  Meta- 
stasen, ist  das  Pyohämie?  Oder  es  hat  ein  alter  marantischer  Mann  eine 
complicirte  Fractur,  er  stirbt  unter  Erscheinungen  völliger  Erschöpfung 
in  der  vierten  "Woche,  ohne  sehr  hohes  Fieber,  ohne  Schiittelfröste  ge- 
habt zu  haben;  Sie  finden  keine  Metastasen;  ist  das  Pyohämie?  Für 
den  Anfänger,  der  gern  Alles  recht  schön  systematisirt  haben  möchte, 
haben  diese  Fragen  und  ihre  schwankende  Beantwortung  etwas  sehr 
Beunruhigendes;  Sie  werden  Chirurgen  finden,  welche  die  gegebeneu 
Fälle  Pyohämie  nennen,  andere,  welche  sie  einfach  als  intensive  Eiter- 
fieber oder  als  febrilen  Marasmus  bezeichnen.  Wenn  Sie  sich  an  die 
früher  gegebene  Schilderung  halten  und  die  Infection  in  ihrem  Verhält- 
niss  zur  Phlebothrombose  und  Embolie  richtig  aufgefasst  haben,  so  wer- 
den Sie  dann  hoffentlich  auch  mit  den  Namen  fertig  werden.  Es  ist  in 
der  That  kaum  möglich,  für  jede  "Verbindung,  welche  zwischen  Sepsis, 
Eiterinfection,  diffusen  metastatischen  Processen,  Thrombose,  Embolie  etc. 
vorkommt,  einen  Namen  zu  machen.  Es  giebt  z.  B.  Sepsis  ohne  jede 
Spur  von  Metastasen,  Sepsis  mit  diffusen  Metastasen,  Sepsis  mit  Throm- 
bose und  Embolie;  Eiterinfection  ohne  jede  Spur  von  Metastasen,  Eiter- 
infection mit  diffusen  Metastasen,  Eiterinfection  mit  diffusen  Metastasen 
und  Thrombosen,  mit  Thrombosen  allein,  mit  Thrombosen  und  Embo- 
lien; es  giebt  Thrombosen  mit  localen  Folgeerscheinungen  ohne  Embolien, 
mit  Embolien,  mit  hämorrhagischen  Ergüssen,  mit  Apoplexien  etc.  etc.  — 
Ausser  den  bereits  gebrauchten  Worten  hat  man  noch  einige  andere,  um 
Combinationen  der  verschiedenen  erwähnten  Processe  zu  benennen;  für 
die  reine  Eiterinfection  (Infection  mit  dünnem  schlechtem  Eiter,  Ichor) 
wünscht  Virchow,  wie  schon  erwähnt  (pag.  403)  den  Namen  Ichor- 
rhämie  einzuführen.  0.  Weber  braucht  den  Namen  Embolhämie 
für  die  Zustände,  in  welchen  sich  Emboli  im  Blut  befinden.  Sehr  prak- 
tisch erscheint  mir  die  Classification,  welche  Hueter  in  seiner  vortreff- 
lichen Arbeit  über  diesen  Gegenstand  gebraucht.  Er  nennt  die  Krankheit 
in  Fällen  von  reiner  Eiterinfection  ohne  Metastasen  „Pyohaemia 
Simplex",  in  Fällen  von  Metastasen  „Pyohaemia  multiplex". 

Erst  im  Verlauf  des  letzten  Decenninms  hat  die  Difterenzining  von  , Septhämie" 
und  „Pyohämie"  einigermaassen  festen  Fuss  gefasst;  sie  ist  auf  ätiologische,  klinische  und 
anatomische  Erscheinungen  basirt,  wie  ich  es  Ihnen  geschildei't  habe.  Jetzt  erheben  sich 
schon  wieder  Stimmen,  welche  diese  Differenzirung  tadeln;  es  wird  behauptet,  der  in- 
toxirende  Stoff  sei  immer  derselbe  beim  Wundfieber,  bei  Septhämie,  bei  Pyohämie;  es  sei 
immer  das  Product  der  Coccoswucherung.  Ich  kann  Sie  versichern,  dass  wir  darüber 
gar  nichts  Bestimmtes  wissen;  vielleicht  ist  es  richtig,  vielleicht  nicht.     Das  klinische  Bild 


Vorlosiins  '^C.     Capild    XIII.  41  ;j 

•  iher  der  oben  genannten  Zustände  ist  in  den  meistern  K;ill(!ii  vcrscliiedcsn  geinig,  um  si(! 
I)is  auf  Weiteres  auseinander  zu  halten;  sollte  sich  einmal  herausst(!ll(Mi,  dass  die  Ver- 
schiedenheit nur  durcli  die  mehr  oder  Aveniger  intensive  Wirkung  eines  und  desselhen 
chemischen  Processes  bedingt  sei,  so  wird  dies  eine  seliöne  wissenschaftliche  Errungen- 
schaft sein,  doch  wird  es  den  klinischen,  zumal  prognostischen  Werth  der  aufgestellten 
Krankheitsbilder  nicht  schmälern.  —  Dass  es  Fälle  giebt,  für  welche  der  von  Hueter 
proponirte  Ausdruck  „Septo-Pyohämie"  sein-  gut  passt,  d.  h.  wo  die  klinisclien  Erschei- 
nungen der  Septhämie  und  Pvobämie  ineinander  übergehen,  nniss  icli  nach  meiner  Er- 
fahrung bestätigen.  Die  \()n  älteren  Chirurgen,  z.  B.  von  Stromeyer  gebrauchte 
Bezeichnung  „peracute  Pyohamic"  entspricht  dem  modernen  Ausdruck  „.Septliänne".  Was 
die  Franzosen  „Gangrene  traumatique  foudroyante"  nennen,  ist  ein  mit  starker  Gasent- 
wicklung bis  in  die  Tiefe  der  Muskeln,  mit  grüner  Verfärbung  rapid  fortschreitendes 
Verfaulen  von  Gliedmaassen  am  noch  lebenden  Menschen;  es  ist  sehr  selten:  ich  sah  bisher 
erst  zwei  solche  Fälle  nach  Oberschenkelamputationen  wegen  schwerer  Verletzungen. 

Was  den  Verlauf  der  Eiterinfection  betrifft,  so  ist  derselbe  meist 
ein  acuter  (8^ — 10  Tage),  oft  ein  subacuter  (2 — ^4  Wochen),  selten  ein 
chronischer  (1—3 — 5  Monate).  Die  acuten  Fälle  verlaufen  theils  durch 
die  Intensität  und  häufige  Wiederholung-  der  Infectiou,  theils  durch  die 
ausgedehnten  Metastasen  so  schnell.  Bei  den  chronisclien  Fällen  handelt 
es  sich  gewöhnlich  nur  um  eine  massig  intensive  Infection  bei  sehr  kräf- 
tigen oder  sehr  zähen  Individuen,  die  sich  niclit  oft  wiederholt,  und  um 
Metastasen  an  äusseren  Theilen,  Zellgewebsabscesseu ,  Vereiterung  von 
Gelenken,  durch  welche  die  Patienten  krank  erhalten  werden,  nachdem 
die  übrigen  Folgen  der  Eiterinfection  geschwunden  sind.  Von  dem  Ver- 
lauf ist  die  Prognose  wesentlich  abhängig.  Je  häufiger  sich  die  Fröste 
wiederholen,  je  rascher  die  Kräfte  verfallen,  je  früher  die  Symptome 
innerer  Metastasen  auftreten,  um  so  rascher  wird  der  Kranke  sterben. 
Je  längere  Intermissiouen  die  Fieberanfälle  machen ,  je  besser  sich  die 
Kräfte  halten,  je  länger  die  Zunge  feucht  bleibt,  um  so  eher  hat  man 
Hoffnung,  dass  der  Kranke  durchkommt;  er  ist  nicht  ausser  naheliegen- 
der Gefahr,  bevor  die  Wunde  wieder  ganz  gut  aussieht,  bevor  er  mehre 
Tage  vollkommen  fieberfrei  ist  und  sonst  das  Verhalten  eines  Eecon- 
valescenten  darbietet.  Es  gehört  leider  zu  den  grossen  Seltenheiten,  dass 
ein  Kranker,  der  alle  früher  angegebenen  Erscheinungen  ausgesprochener 
Pyohämie  darbietet,  durchkommt. 

Wir  müssen  jetzt  noch  einmal  auf  die  Aetiologie  der  traumatischen 
Infectionsfieber  zurückkommen.  Dass  dieselben  meist  durch  Resorption 
von  Entzündungsproducten,  von  Jauche  und  Eiter  von  der  Wunde  oder 
vom  Entztindungsheerd  aus  entstehen,  darüber  herrscht  jetzt  wohl  kaum 
ein  Zweifel;  dass  sie  immer  so  entstehen,  wird  freilich  von  Manchem 
beanstandet.  Es  giebt  Chirurgen,  welche  behaupten,  dass  die  Pyohämie 
auch  durch  ein  Miasma  entstünde,  und  zwar  durch  ein  Miasma,  wel- 
ches in  Krankenzimmern  sich  aus  den  Wunden  vieler  zusammenliegender 
Kranken  entwickelt;  diese  Ansicht  stützt  sich  hauptsächlich  auf  das  Factum, 
dass  da,  wo  viele  schwere  chirurgische  Fälle  (in  grossen  Hospitälern, 
zumal  in  Kriegshospitälern)  zusammenliegen,  viele  dieser  Fälle  an  Pyo- 


414  ^'^1  <^*^"  accidentellen  Wund-  und  Entzündungskrankheiten  etc. 

hämie  zu  Grunde  gehen,  ja  dass  auch  leichtere  Fälle,  Kranke  mit  be- 
narbendeu  Granulationswunden  unter  solchen  Umstünden  pyohämisch 
werden  sollen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort  zur  Polemik,  und  ich  muss  mich 
daher  damit  beg-nügen,  Ihnen  meinen  Standpunkt  dieser  Ansicht  gegen- 
über darzulegen.  Ich  kann  die  miasmatische  Entstehung  der  Pjohämie 
durchaus  zugeben,  wenn  man  das  unter  Miasma  versteht,  was  ich  für 
den  vorliegenden  und  manche  andere  Fälle  darunter  verstehe,  nämlich 
staubförmige,  getrocknete  Bestandtheile  von  Eiter  und  Jauche  vielleicht 
auch  in  Form  kleinster,  damit  verbundener  Organismen,  welche  in 
schlecht  ventilirten  Krankensälen  in  der  Luft  suspeudirt  sind,  oder  an 
den  Wänden,  am  Bettzeug,  am  Verbandzeug,  an  schlecht  gereinigten 
Instrumenten  hängen.  Diese  in  mancher  Beziehung  verschiedenartigen 
Körper,  welche  meist  phlogogene  Eigenschaften  besitzen,  werden  natür- 
lich sich  dort  am  meisten  anhäufen,  wo  zu  ihrer  Bildung  und  zu  ihrer 
Haftung  am  meisten  Gelegenheit  ist,  also  in  schlecht  ventilirten  Kranken- 
säälen,  bei  flüchtiger  Besorgung  der  Kranken,  bei  mangelhafter  Reini- 
gung, bei  permanentem  Verbleiben  der  Kranken  in  den  gleichen  Räumen. 
Ob  jeder  Eiter,  feucht  oder  trocken,  gleich  schädlich  wirkt,  das  ist  un- 
möglich zu  sagen;  das , Experiment  an  Thieren  giebt  uns  darüber  keine 
Auskunft.  —  Ich  halte  die  Idee  von  den  belebten  und  den  staubförmigen 
Miasmen  für  eine  sehr  fruchtbare,  und  wenn  bei  Einem  von  Ihnen  dadurch 
neue  Gedanken  wach  gerufen  werden,  die  zu  ausdauernden  Studien  führen, 
so  ist  ein  Hauptziel  meines  Strebens  als  Lehrer  erreicht.  Die  alte  Lehre 
von  den  gasförmigen  Miasmen  hat  uns  immer  nur  wieder  in  den  Sumpf 
geführt;  viel  kluge  Leute  haben  sich  darüber  ausgedacht  und  es  ist  nicht 
viel  dadurch  gefördert.  —  Eine  andere  vielfach  ventilirte  Frage  lautet:  ist 
diePyohämie  contagiös?  Diese  beantwortet  sich  von  selbst  in  ge- 
wissem Sinne  bejahend  und  verneinend  bei  meiner  eben  gegebeneu  Auf- 
fassung von  dem  pyohämischen  Miasma.  Ein  fixes  staubförmiges  Miasma, 
welches  von  einem  eiternden  pyohämischen  Kranken  stammt,  muss  zu 
gleicher  Zeit  als  fixes  Contagium  bezeichnet  werden;  dies  Miasma  kann 
aber  meiner  Ansicht  nach  ebenso  gut  von  einem  nicht  pyohämischen 
Kranken  kommen;  dann  ist  es  freilich  nicht  als  Contagium  im  Sinne  der 
Specifiker  zu  bezeichnen,  denn  ein  Contagium  erzeugt  immer  nur  die 
gleiche  Krankheit.  Sie  sehen,  dass  der  Streit  über  die  Contagiosität  und 
Mcht-Contagiosität  der  Pyohämie  auf  die  Grundannahmen  über  das  Wesen 
der  Krankheit  zurückgehen  muss;  er  hat  nur  Bedeutung  für  diejenigen 
Chirurgen,  welche  die  Pyohämie  als  specifische,  nicht  mit  dem  Eiterfieber 
zusammenhängende  Krankheit  ganz  eigner  Art  betrachten,  eine  Annahme, 
die  ich  für  unbegründet  und  praktisch  nutzlos  halte,  und  gegen  die  ich 
schon  seit  längerer  Zeit,  wie  ich  hoffen  darf,  nicht  erfolglos  kämpfe.  — 
Mit  allen  diesen  Dingen  hängt  dann  auch  noch  die  Frage  zusammen,  ob 
die  pyohämische  Infection  nur  durch  die  Wunde  oder  auch 
durch  Haut  und  Schleimhäute   in  den  Körper  eintritt;    obgleich 


Vorlesung  2C,.     CapKol  XIIT.  415 

letzteres  nicht  immög-lich  wäre,  so  lial)c  icli  doch  noch  keine  sicliere 
Beobachtung-  gemacht,  durch  welche  eine  solclie  Annalime  bewiesen  oder 
auch  nur  wahrsclieinlich  geniaclit  würde,  vielmehr  nniss  ich  nacli  meinen 
Erfahrungen  daran  fest  lialten,  dass  nur  von  der  Wunde  die  Infection 
des  ganzen  Körpers  erfolgt,  mag  das  betreffende  Gift  nun  i]i  der  Wunde 
und  ihrer  Umgebung  die  Bedingungen  zu  seiner  Entstehung  finden  oder 
mag  es  fertig  von  aussen  der  Wunde  zugefülirt  werden.  In  dieser  Auf- 
fassung beirren  mich  selbst  solche  seltnen  Fälle  nicht,  in  welchen  keine 
oder  nur  geringe  Veränderungen  an  der  Wunde  bei  beginnender  Pyohämie 
sichtbar  sind,  da  der  inficirende  Körper  möglicherweise  sehr  geringe 
phlogogene  Eigenschaften  besitzt,  und  daher  von  der  Wunde  aus  ins  Blut 
eingedrungen  sein  und  hier  heftig  pyrogen  wirken  kann,  ohne  dass  an 
der  Wunde  bei  seinem  Eitritt  etwas  vorging.  —  Das  Geschlecht  scheint 
keinen  besonderen  Einfluss  auf  die  Häufigkeit  der  hieher  gehörigen  In- 
fectionskrankheiten  zu  haben;  vielleicht  hat  eher  das  Temperament, 
die  Energie  und  Frequenz  der  Herz-  und  Arteriencontractionen  einen 
Einfluss  auf  die  Resorption  der  deletären  Stoffe.  Nach  allgemeinen  Ein- 
drücken zu  urtheilen,  scheint  das  kindliche  Alter  weniger  disponirt  zu 
Pyohämie  zu  sein,  als  das  Mannesalter.  Statistik  hierüber  zu  machen  ist 
unendlich  schwer,  weil  bei  Frauen  und  Kindern  so  wenig  schwere  Ver- 
letzungen vorkommen  im  Vergleich  zu  den  Männern ;  dass  in  Folge  dessen 
die  Zahl  der  au  traumatischen  Infectionsfiebern  sterbenden  Männer  viel 
grösser  ist,  als  die  der  Frauen  und  Kinder,  beweist  natürlich  nichts  für 
die  Prädisposition  der  einen  oder  andern  Individuen  für  diese  Krank- 
heiten. —  Besonders  disponiren  offne  Knochenwunden  zu  Pyohämie; 
nach  Berechnungen  aus  meinen  Erfahrungen  sind  die  an  den  unteren 
^Extremitäten  Verwundeten  am  meisten,  die  am  Rumpf  Verwundeten  am 
wenigsten  in  Gefahr,  pyohämisch  zu  werden.  —  Die  Jahreszeit  und 
die  Anhäufung  von  Schwerverletzten  in  Spitälern  hat  nach 
meinen  Erfahrungen,  wenn  überhaupt,  so  nur  einen  indirecten  Einfluss 
auf  die  Entstehung  von  Pyohämie,  indem  sich  dadurch  die  inficirenden 
Stoffe  im  Verbandmaterial  etc.  in  grösseren  Mengen  anhäufen,  und  die 
Gelegenheit  zur  Infection  dadurch  häufiger  wird. 

Endlich  muss  ich  noch  der  sogenannten  spontanen  Pyohämie  er- 
wähnen. Es  giebt  Fälle,  in  welchen  multiple  Abscesse  z.  B.  im  Unter- 
hau tzellgewebe,  oder  auch  Venenthrombosen  mit  embolischen  metasta- 
tischen Abscessen  auftreten,  ohne  dass  man  mit  Sicherheit  einen  primären 
Eiterheerd  nachweisen  kann;  diese  Fälle,  besonders  wenn  sie  dann  acut 
verlaufen,  nennt  man  spontane  Pyohämie.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  für 
diese  seltnen  Fälle,  wo  eben  nur  der  Nachweis  des  primären  Entzün- 
dungsheerdes  fehlt,  eine  neue  Theorie  zu  entwerfen;  ich  zweifle  nicht, 
dass  von  diesen  Erkrankungen,  die  nach  den  früheren  Theorien  etwas 
sehr  Räthselhaftes  hatten,  immer  weniger  die  Rede  sein  wird,  weil  man 


416  ^""  *^''"  accidentellen  Wund-   und  Entziindun^skrankheiten  etc. 

immer  genauer  beobachten  lernt  und  den  Zusammenhang-   der  Erschei- 
nungen bei  eifrigem  Suchen  meist  finden  wird. 


Bei    dem    innigen  Zusammenhang,    in    welchem  nach  unserer  Auf- 
fassung Wundfieber,  Septhämie  und  Pyohämie  stehen,  ist  es  wohl  gerecht- 
fertigt,   die  Therapie  dieser  Krankheiten  zusammenzufassen.     Dieselbe 
zerfällt   in  die  Prophylaxis    und   in  die  Behandlung    der    ausgebildeten 
Krankheitszustände ;    erstere    ist    der   bei    weitem    wichtigere   Theil;    es 
handelt  sich  dabei  darum.  Alles  zu  verhüten,  was  der  Entwicklung  jener 
Krankheiten  förderlich  ist.     Schon  bei  den  Operationen   selbst  ist  Man- 
cherlei zu  beobachten;  alle  Instrumente,  die  gebraucht  werden,  die  Hände 
des  Operateurs,  der  Assistenten,  die  Schwämme  (die  entweder  ganz  zu 
vermeiden  und  durch   angefeuchtete  Compressen  zu  ersetzen,    oder  nur 
ganz  neu  anzuwenden  sind)  müssen  durchaus  sauber  und  rein  sein;   die 
Blutungen  müssen  sehr  exact  gestillt  werden,  zumal  wenn  man  bei  tiefen 
Wunden  Nähte   anlegen  will;    für  den  Abfluss   der  ersten  schädlichsten 
Secrete  muss   doch   die  Form,   welche  man  der  Operationswuude   giebt. 
durch  gleich  anfangs  angelegte  specielle  Abflussöflfnungen,  Einlegen  von 
Drainageröhren  aufs  Sorgfältigste  gesorgt  werden.    Soll  die  W^unde  durch 
Eiterung   heilen,    so   sind    die  aufgelegten  Compressen    mit  schwachem 
Chlorwasser   zu  tränken.     Was   die  zufälligen  Verletzungen  betrifft,    so 
müssen  alle  tieferen  Wunden,  zumal  alle  Quetschwunden,  durch  Verbände 
ruhig    gestellt  werden;    für  die  mit  Wunden   complicirten  Fracturen  ist 
das  Nöthige  bereits   früher  gesagt;    Alles,    was  spätere   secundäre  Ent- 
zündungen erregen  kann  (pag.  175),  muss  sorgfältigst  vermieden  werden; 
der  Kranke  muss  ruhig  und  möglichst  behaglich  liegen;  ich  erinnere  Sie 
an   die  früher  erörterte  Therapie  der  Quetschwunden.     Dass  auch  beim 
Verband  die  grösste  Sorgfalt  und  Schonung  den  Wunden  und  den  Kranken 
zugewandt  werden  muss,  ist  fast  selbstverständlich,  die  grösste  Pedanterie 
kann  hier  sehr  segensreich  wirken,  —  Ein  besonderes  Interesse  bieten 
die  Hospitalverhältnisse,    die  ich   hier  nur  flüchtig  berühren  kann. 
Wenn  auch  Wenige  von  Ihnen  das  Glück  haben  werden,  in  Civilspitälern 
praktisch  thätig  zu  sein,  so  kann  doch  Jeder  von  Ihnen  dazu  kommen, 
im  Kriege  gelegentlich  auch  über  diese  Dinge   etwas  wissen  zu  wollen. 
Man  legt  natürlich  Spitäler  nur  da  an,  wo  nicht  schon  am  Grund  und 
Boden  Sumpfmiasmen  haften ;  auf  die  Lage,  auf  einen  freien,  mit  Bäumen 
bepflanzten  Raum  um  das  Spital,  auf  die  zweckmässige  Anlegung  geruch- 
loser Abtritte  müssen  die  Techniker  aufmerksam  gemacht  werden.     Von 
allen  künstlichen    Ventilatioussystemen    scheint    sich    bis  jetzt  nur    das 
van  Heke'sche   einigermaassen   zu  bewähren;    die  Wände  des-  ganzen 
Hauses  werden  dabei  von  Canälen  durchzogen,  welche  je  in  ein  Kranken- 
zimmer einmünden;    alle    diese    Canäle    gehe^F^'on   kreuzweis   gelegten 
Gängen  unter  dem  Gebäude  aus,  in  deren  Schneidepunkten  eine  Art  von 


V.irlcsimi;-  'H\.     <';ii.i(.'l    XII  f.  417 

Wiiulmülilc  stellt,  welche  durcli  eine  Dampfniascliinc  g'ctriebcn  wird,  so 
dass  auf  diese  Weise  fortwährend  neue  T^uft  in  die  Krankenzimmer  ein- 
getrieben wird  (Pnlsionssystcni).  Die  ausserordentliclie  Wirksamkeit 
dieses  Ventilationssystems  können  Sic  im  Opernhaus  hier  in  \A'icn  in  . 
den  verschiedenen  Jahreszeiten  wahrnehmen.  —  Hat  man  keine  künst- 
liche Ventilationsvorrichtung-,  so  muss  man  sich  so  gut  wie  möglich 
durch  die  sogenannte  natürliche  Ventilation  liclfcn,  d.  h.  man  legt  in 
den  Krank ensäälen  corrcspondirende  Zuglöcher  oben  und  unten  in  Tliiiren 
und  Fenstern  an,  so  dass  die  Kranken  in  iliren  Betten  mögliclist  Avenig 
vom  Zug'  betroffen  werden;  diese  Zuglöcher  dürfen  nie  ganz  geschlossen 
werden.  Ein  ausgezeichneter  englischer  Chirurg,  Spencer  Wells 
sagte:  „es  gicbt  nur  eine  Art  von  wirksamer  Ventilationsvorriclitung: 
die  Unmöglichkeit,  Thüren  und  Fenster  zn  schliessen!"  Für  ebenso 
wichtig-  als  die  Ventilationsvorrichtungen  halte  ich  die  zvv^eckmässige 
Benutzung  der  Krankensääle.  Kein  Krankensaal  sollte  länger  als  4  Wochen 
hinter  einander  belegt  sein,  dann  muss  er  auf  einige  Tage  geleert  und 
aufs  Sorgfältigste  gereinigt  werden ;  die  Wände  sollten  mit  Oelfarlje 
gestrichen  sein,  um  sie  leicht  abwaschen  zu  können  oder  im  Jahr  wenig- 
stens 2 — 3  Mal,  nötbigenfalls  noch  häufig-er,  geweisst  werden;  die  Betten 
werden  oft  gelüftet,  geklopft,  gesonnt,  das  Stroh  in  den  Strohsäcken 
werde  häufig  erneuert;  am  besten  sind  Strohsäcke  ganz  zu  vermeiden. 
Jede  chirurgische  Abtheilung  sollte  ein  oder  besser  zwei  überzählige 
Krankenzimmer  haben,  um  einen  regelmässigen  Turnus  im  Wechsel  der 
Zimmer  zu  ermöglichen;  zu  gleichem  Zweck  sollten  nicht  mehr  wie 
G — 8  Betten  in  einem  Zimmer  sein,  um  jede  Woche  so  viel  Kranke  ent- 
lassen zu  können,  dass  ein  Zimmer  leer  wird;  die  neuen  Kranken  werden 
immer  in  das  zuletzt  gereinigte  Zimmer  gebracht.  Will  man  möglichst 
günstige  Resultate  im  Spital  erzielen,  so  muss  man  viel  Raum  hal>en, 
und  an  Geld  für  Wärterpersonal,  Wäsche  etc.  darf  es  nidit  fehlen.  Auf 
diese  Weise  kann  man  auch  schlecht  angelegte  Spitäler  brauchbar  machen. 
Grosse  Krankenzimmer  mit  20 — 30  Betten,  die  man  wegen  zu  grossen 
Andranges  von  Kranken  und  aus  sonstigen  Gründen  nicht  beliebig  leeren 
kann,  sind  im  höchsten  Grade  unzweckmässig.  Der  Director  einer 
chirurgischen  Abtheilung  sollte  vor  Allem  eine  grosse  Anzahl  gut  ventilir- 
barer  mittelgrosser  Zimmer  zur  Disposition  haben,  deren  Evacuation  und 
Reinigung  nach  bestimmten  Principien  vorgenommen  wird.  Wir  dürfen 
es  jetzt  wohl  schon  als  ausgemacht  betrachten,  dass  die  schlimmsten 
Infectionsstoffe  geruchlos  sind;  es  wäre  aber  ein  grosses  Unglück,  wenn 
man  daraus  die  Consequenz  ziehen  wollte,  der  Gestank  in  den  Kranken- 
zimmern sei  den  Verletzten  und  Kranken  unschädlich.  Schlechte  Luft 
bleibt  Gesunden  wie  Kranken  gefährlich.  Schlechte  Spitäler,  besonders 
schlecht  gereinigte  Zimmer  für  chirurgische  Kranke,  sind  schlimmer  als 
die  ärmlichste  Proletarierwohnung,  sie  können  durch  die  Corabination 
verpesteter  Luft  mit  Anhäufung  von  Infectionsstoffen  zu  Mordgruben  für 

Billroth  chir.  Path.  ii.  Thcr.   7.  Aufl.  27 


^]^g  Von  dem  accideiilellen  Wiiiid-  und  Eiitzündiuiicskraiiklieiten  etc. 

die  Verletzten  werden.  Möcliten  doch  die  Chirurgen  nie  von  dem  Gedanken 
lassen,  dass  sie  in  vielen  Fällen  selbst  mehr  oder  weniger  Schuld  sind, 
wenn  ihre  Kranken  von  Erysipelas,  Hospitalhrand,  Pyohämie  etc.  befallen 
werden,  denn  wenn  man  Alles  nach  altem  Schlendrian  dem  unsichtbaren, 
allgegenwärtigen,  ungreifbaren,  luftgeistigen  Miasma  und  Genius  epi- 
demicus  und  den  constitutiouellen  Verhältnissen  der  Kranken  zuschieben 
wollte,  so  wäre  dies  der  Tod  für  allen  Fortschritt  unserer  Kunst! 

Kommen  wir  nun  zur  Behandlung  des  Wundfiebers,  der  Septhämie 
und  Pyohämie  selbst,  so  ist  zu  bemerken,  dass  man  gegen  einfaches 
Wund-  und  Eiterfieber,  welches  die  gewöhnlichen  Grenzen  nicht  über- 
steigt, nichts  anzuwenden  pflegt,  ausser  kühlenden  Getränken,  Fieberdiät, 
Abends  etwas  Morphium,  um  für  die  Nacht  Euhe  zu  schaffen.  Dauert 
das  Fieber  länger,  oder  nimmt  es  einen  besonderen  Charakter  an,  so 
kann  man  die  Febrifuga  in  Anwendung  ziehen.  Digitalis  ist  wegen  der 
langsamen  und  unsicheren  Wirkung  hier  wenig  brauchbar.  Veratrin 
bringt  wohl  die  Temperatur  herunter,  scheint  jedoch  bei  den  toxischen 
traumatischen  Fiebern  wenig  zu  nützen;  iudess  sind  darüber  zumal  bei 
Pyohämie  weitere  Beobachtungen  anzustellen;  nach  den  genauen  Studien 
von  Bier m er  über  dieses  Mittel  bedarf  dasselbe  eine  ganz  besondere 
Sorgfalt  in  der  Anwendung.  Aconit  wurde  früher  von  Textor  sehr  gegen 
Pyohämie  empfohlen,  ich  habe  keine  günstigen  Wirkungen  von  diesem 
Mittel  sehen  können.  Chinin  ist  das  wirksamste  Mittel  gegen  die  inter- 
mittirenden  Eiterfieber,  zumal  in  Verbindung  mit  Opium;  6—8 — 16  Gran 
(oder  0,500-1 ,00  Gramme)  Chinin  im  Verlauf  des  Nachmittags,  dann  Abends 
1  Gran  (oder  0,08  Grms.)  Opium  unterdrücken  sehr  oft  die  Schüttelfröste; 
ich  wende  die  Mittel  mit  Erfolg  bei  schweren  Eiterfiebern  an,  bei  aus- 
gesprochener Pyohämie  nützen  sie  weniger;  Li  eher  meist  er  fand 
bei  sorgfältigen  Studien ,  dass  das  Chinin  seine  antifebrile  Wirkung 
bei  Typhus  und  andern  Infectionskrankheiten  erst  dann  sicher  entfalte, 
wenn  man  es  bis  zu  15  Gran  pro  die  (oder  1,00  Grms.)  gebe.  — 
Es  fehlt  nun  auch  nicht  an  Beobachtungen  über  Mittel,  welche  direct 
der  Blutintoxication  entgegenzuwirken  bestimmt  sind:  die  antiseptischen 
innerlichen  Mittel,  die  Säuren,  das  Chlorwasser,  die  schwefligsauren 
Alkalien  (von  Polli  sehr  gerühmt)  sind  mir  durchaus  wirkungslos  er- 
schienen. Man  kann  aber  auch  noch  andere  Älittel  anwenden,  welche 
zum  Zweck  liaben,  mit  einem  gesteigerten  Stoffumsatz  auch  das  organische 
Gift  im  Blute  auszuscheiden.  Wenn  man  die  starken  Diarrhöen  l)ei  Hunden 
sieht,  die  man  künstlich  septhämisch  gemacht  hat,  und  die  nach  diesen 
Diarrhöen  nicht  selten  genesen,  so  sollte  man  meinen,  das  Gift  werde 
durch  den  Darmcanal  am  natürlichsten  ausgeschieden.  In  der  That  hat 
Breslau  bei  Puerperalfieber  durch  starke  wiederholte  Gaben  von  Lax- 
antien günstige  Erfolge  beobachtet;  ich  kann  dasselbe  in  Betreff  der 
Pyohämie  leider  nicht  sagen;  profuse  Diarrhöe  bei  Pyohämischen  ist 
meist   eine   rasch  zum    Collapsus  führende  schwere  Complicatiou.     Mau 


Vdrlcsim,!;-   'iC.      (';i|ii(cl    XIII.  419 

könnte  aucli  danm  denken,  dureli  wiedcrliolte  lireelmiitlcl  alle  Secretions- 
tliätii;'keiten  in  vcrmelirte  Arbeit  zu  l)rini;-en;  doch  foli^'t  aneli  danacli  ein 
solcher  Colhii)s,  dass  man  vorsiclitig'  mit  diesen  Mitteln  sein  muss,  — 
l>ei  Septhämie  habe  ieh  wiederliolt  versucht,  starken  Sch^veiHS  hei-\'f)r- 
/Airulen,  wenn  die  Haut  trocken  war;  es  gelingt  dies  zuweilen  durch  ein 
Avarmes  Bad  von  einer  Stunde  Dauer  und  nachlieriger  Eiuwicklung-  in 
wollene  Decken;  man  erzielt  dadurch  zuweilen  Besserung-,  ja  ich  glaube 
in  einigen  Fällen  dadurch  Kranke  am  Leben  erhalten  zu  haben,  die 
nach  meinen  früheren  Erfahrungen  unrettbar  seidenen;  man  sollte  )uit 
dieser  Behandlung  weitere  Versuche  anstellen.  Auf  eine  starke  Diurhese 
kann  man  durch  viel  Getränk  hinwirken,  es  maelit  das  jedoch  keinen 
sonderliehen  Effect  auf  das  Allgemeinbefinden  dieser  Kranken.  —  Endlich 
könnte  man  noch  daran  denken,  durch  die  Amputation,  wenn  eine  solche 
im  Bereich  gesunder  Theile  möglich  ist,  die  fernere  Aufnahme  schäd- 
licher Substanzen  aus  dem  verletzten  oder  entzündeten  Theil  abzuschnei- 
den, selbst  wenn  bereits  Erscheinungen  schwerer  Allgemeinerkrankung 
vorliegen.  Dies  hat  bei  den  acuten  Fällen  von  Septhämie  und  Pyohämie  nur 
äusserst  selten  einen  dauernd  günstigen  Erfolg,  wenn  auch  vorübergehend 
fast  immer  Besserung  eintritt.  Bei  subacuter  und  chronischer  Pyohämie 
kann  die  Amputation  wirklich  lebensrettend  wirken;  diese  Fälle  sind 
aber  leider  ziemlich  selten. 

So  kommen  wir  schliesslich  zu  dem  anfangs  aufgestellten  Satz  zu- 
rück, dass  man  sehr  viel  zur  Verhütung  von  schweren  Wund-  und  Eiter- 
fiebern thun  kann,  dass  dagegen  die  Behandlung  dieser  Krankheiten, 
wenn  sie  ausgebildet  sind,  w^enig  Aussicht  auf  Erfolg  giebt.  Man  sucht 
den  Grund  vornehmlich  darin,  dass  der  einmal  ins  Blut  aufgenommene 
septische  Stoff  fermentirend  auf  das  Blut  wirke,  und  so  eine  kleine 
Quantität  genüge  das  ganze  Blut  der  Menschen  und  alle  seine  Säfte  in 
eine  faulige  Gährung  zu  versetzen.  Ich  halte  diese  hämatozymische 
Wirkung  des  septischen  Gifts,  wie  früher  schon  erwähnt,  nicht  für  be- 
wiesen. Vielmehr  bin  ich  der  Ansicht,  dass  das  septische  Gift,  wie  das 
diphtheritische  Gift,  Milzbrandgift  und  ähnliche  Stoffe  deshall)  oft  so  lang- 
dauernd und  vielfach  im  Körper  wirken,  selbst  wenn  sie  in  geringerem 
Maasse  aufgenommen  worden  sind  —  weil  sich  gerade  der  mensch- 
liche Organismus  (Avie  auch  manche  Thierart)  nur  sehr  schAver 
dieses  Giftes  entledigt,  und  AA^eil  es  an  den  Stellen,  avo  es  im  Or- 
ganismus festgehalten  Avird,  oft  neue  Erkrankungsheerde  erzeugt,  in 
welchen  das  Gift  Avieder  (wenn  auch  vielleicht  in  abgeschAvächter  Inten- 
sität) neu  entsteht.  Hunde  z.  B,  können  meiner  Meinung  nach  deshalb 
so  viel  septisches  Gift  vertragen,  Aveil  sie  es  so  ausserordentlich  schnell 
durch  den  Darmcanal  ausscheiden;  sie  überAvinden  auf  diese  Weise  selbst 
sehr  schwere  putride  Infectionen.  —  Die  Fähigkeit,  die  aufgenommenen 
Infectionsgifte  mehr  oder  Aveniger  rasch  auszuscheiden,  kann  bei  den 
Menschen  in   geAvissen  Grenzen  auch   individuell  sehr  verschieden  sein. 

27" 


^90  Von   den   affidentdlon   Wund-   und   Entzruiduiigskninklicifon   etc. 

Ich  halte  diese  Betrachtung'sweise  auch  in  Rücksicht  auf  Typhus,  Cholera 
und  die  acuten  Exantheme  für  sehr  fruclitbar. 


Vorlesung  27. 

4.    Der  Wundstarrkrampf;     5.    Delirium    potatoruni  traumaticum;     C>.    Delirium  nervosum 
und  Manie.    —    Anhang    zu    Capitel  XIII.     Von    den  vergifteten  Wunden:    Lisecten- 
stifhe,  Schlangenbisse;  Infection  mit  Leichengift.  —  Rotz.     Milzbrand.    Maul-  und  Klauen- 
seuche.    Hundswutli. 

Die  Gruppe  von  Krankheiten,  welche  zu  den  traumatischen  und 
phlogistischen  Infectionszuständen  gehören  und  welche  zu  besprechen 
noch  erübrigt,  enthält  den  Wundstarrkrampf,  den  Säuferwahnsinn 
und  die  äusserst  seltenen  psychischen  Störungen  nach  Verletzungen 
und  Operationen.  Ueber  ihre  Entstehung  herrschen  die  verschiedensten 
Anschauungen;  da  es  sich  um  Processe  handelt,  die  ihren  Symptomen 
nach  auf  Reizung  des  Hirns  und  Rückenmarks  bezogen  werden  müssen, 
so  sucht  man  die  Ursache  derselben  gewöhnlich  in  den  Nervencentren 
selbst.  Es  ist  aber  bekannt,  dass  auch  durch  Blutintoxicatiou,  z.  B.  mit 
Strychnin  heftige  Starrkrämpfe,  mit  Alcohol  psychische  Störungen  (Be- 
trunkenheit) zu  Stande  gebracht  werden  können,  und  somit  ist  es  wohl 
denkbar,  dass  auch  die  gleich  näher  zu  besprechenden  Formen  der  Er- 
krankung durch  Intoxication  mit  eigenthttmlichen  Stoffen,  welche  viel- 
leicht sehr  selten  und  unter  ganz  besonderen  Verhältnissen 
in  den  Wunden  gebildet  und  von  da  resorbirt  werden,  entstehen,  während 
beim  Säuferwahnsinn  schon  eine  Reihe  von  den  gewöhnlichen  pyrogeneu 
Stoffen  im  Staude  ist,  in  dem  abnormen,  von  Alcohol  bereits  intoxicirteu 
Organismus  eigenthümliche  Störungen  hervorzubringen,  nämlich  eiu  Fieber 
mit  vorwieg:end  psychischen  Störungen  eigenthümlicher  Art.  Die  Symptome, 
welche  wir  bei  diesen  Krankheiten  kennen  lernen  werden,  sind  alle  auch 
beim  gewönlichen  Fieber  vorhanden,  Avenn  auch  in  weit  gering-erem  und 
wenig  hervortretendem  Grade;  der  Schüttelfrost  hat  in  der  Combinatiou 
der  betheiligten  Muskelgruppen  eine  unzweifelhafte  Aehulichkeit  mit  dem 
Trismus  und  Tetanus,  psychische  Störungen  bis  zu  maniakalischeu  An- 
fällen finden  sich  theüs  als  sogenannte  Fieberdelirien  bei  manchen  Fällen 
von  Septhämie,  besonders  aber  bei  Typhus,  sehr  ausgeprägt.  Wir  kommen 
bei  der  Beschreibung  der  einzelnen  Krankheiten  gelegentlich  auf  diese 
Betrachtungen  zurück,  für  die  wir  leider  keine  experimentelle  Basis  haben. 

4.     Der  Wundstarrkrampf,  Trismus  und  Tetanus. 

Diese  Krankheit,  welche  in  Krämpfen  theils  der  Kiefermuskeln  allein  ij 
(Trismus),  theils  aller  Körpermuskeln  (Tetanus)  besteht,  wobei  bald  " 
mehr  die  Extremitäten,    bald  mehr  die  Muskeln  des   Rumpfes    an    der 


V(.rlcsimf,'  27.     Cupilcl    XMI.  42) 

vorderen  oder  liinlereii  Seite  betlieili^t  .sind,  Irilt  zuweilen,  wenn^leicli 
im  Verliältniss  zu  den  früher  besprochenen  accidcntellen  Wundkrank- 
heiten  selten,  bei  Verwundeten  auf  und  kommt  noch  .seltener  bei  Leuten 
vor,  die  keine  Wunde  an  .sich  liaben.  Es  köimen  in  einem  gro.ssen 
Si»ital  Jahre  vergehen,  in  denen  sich  der  Wundstarrkrampf  gar  nicht 
zeigt,  während  dann  ^vieder  zu  g-ewissen  Zeiten  eine  grös.serc  Anzahl 
von  Fällen  rasch  hinter  einander  vorkonnnt,  so  dass  man  geneigt  wird, 
eine  epidemiselie  Ursache  zu  vermutlien.  Die  Krankheit  ist  keineswegs 
nur  in  Spitälern  beobachtet,  sondern  kommt  in  und  ausserhalb  der  Spi- 
täler zur  Entwicklnng-.  Ehe  wir  jedoch  auf  diese  ätiologischen  Verhält- 
nisse eingehen,  will  ich  Ihnen  kurz  das  Krankheitsbild  eines  acuten 
Falles  zu  schildern  versuclien. 

Am  3.  oder  4.  Tage  nach  einer  Verletzung,  selten  früher,  oft  später, 
finden  Sie,  dass  der  Kranke  den  Mund  beim  Sprechen  nicht  recht  öffnet 
und    über    reissende,    ziehende   Schmerzen    und  Steifheit    in    den    Kau- 
muskeln  klagt.     In  sehr  acuten   Fällen  ist   schon  jetzt   heftiges  Fieber 
mit    dieser    ersten  Erscheinung    verbunden ,    in    andern    linden  Sie    die 
Kranken  in  diesem  Stadium  fieberlos.     Die   Gesichtszüge  des  Patienten 
nehmen  allmählig  einen  eigenthündichen  starren  Ausdruck  an,  indem  die 
Gesichtsmuskeln   theilweisc   sich   in    krampfhafter   Contraction    befinden. 
In  der  Folge  kommen  bald  mehr  am  Stamm,   bald  mehr  an  den  Extre- 
mitäten  tetanische  Krämpfe    hinzu,    welche    in    einzelnen   Anfällen    von 
mehren  Secuuden  oder  Minuten  Dauer  auftreten  und  durch  alle  äusseren 
Reize,   ähnlich   wie  bei  der  Wasserscheu   hervorgerufen  werden.     Diese 
Krämpfe  sind  mit  heftigen  Schmerzen  verbunden.    Einige  jMuskelgruppen 
bleiben  zuw^eilen  von  Anfang  bis  zu  Ende  gleichmässig,  doch  schmerzlos 
contrahirt,  ja  bei  manchen  Kranken  fehlen  die  Zuckungen  (Stösse  Rose) 
ganz   und  es  findet  nur  eine  dauernde  Contraction    mehr   oder   weniger 
ausgebildeter  Muskelgruppen  Statt.     Der  Körper  ist  nicht  selten  wie  in 
Sehweiss  gebadet,  der  Kranke  bei  klarem  Bewusstsein;  der  Urin  enthält 
zuweilen  Eisweiss;   das  Fieber  steigt  manchmal  bis  zu  einer  Höhe,   wie 
sie  nur  selten  vorkommt,  bis  über  42 '  C.    Ich  habe  indess  Fälle  von  sehr 
rasch  tödtlich  verlaufenem  Trismus  gesehen,  welche  ganz  ohne  Tempera- 
turerhöhung  verliefen;   gleiche  Beobachtungen  hat  auch  Rose   gemacht. 
Der  Tod  kann  innerhalb  der  ersten  24  Stunden  nacli  Beginn  der  Krank- 
heit eintreten,   doch  kann  der  Zustand  auch   mit   zieudicher  Heftigkeit 
3—4  Tage  andauern  und  sind  auch  solche  Fälle  noch  zu  den  acuten  zu 
rechnen.    —   Es    giebt    ausserdem    eine    mehr   subacute   oder  chronische 
Form  von  Trismus   allein,  und  auch   von  Trismus  und  Tetanus,  wobei 
es   nur  allmählig   zur  Ausbildung   eines  massigen   Trismus  kommt  und 
zu  Contracturen ,   die   sich   nur  auf  einige  Muskelgruppen  des  verletzten 
Gliedes    erstrecken ,    dabei    schmerzlos    sind.      Fieber  pflegt  bei   diesen 
chronischen  Fällen  ganz  zu  fehlen.    Dass  ein  acuter  Fall  den  Uebergang 
zum  chronischen  Verlauf  nimmt,  ist  im  Ganzen  selten. 


4^9  Von   ilcn  acridciilclli'n    Wiiiifl-   nii'l   Eiif/.inifliii)i;skraiikhi'itpn  etc. 

Alle  Erscheinungen,  welßhe  sich  darbieten,  deuten  darauf  hin,  dass 
wir  es  mit  einer  Reizung  des  Eückenraaiks  und  der  Portio  minor  des 
N.  quintus  zu  thun  haben.  Das  Kranklieitsbild*  bietet  eine  wenn  auch 
entfernte  Aehnlichkeit  dar  mit  demjenigen,  welches  wir  durch  Vergiftung 
mit  Strychnin  künstlich  erzeugen  können.  Leider  sind  die  Resultate, 
welche  die  Sectioneu  dieser  Kranken  ergeben,  meist  sehr  unbcfricfligend; 
zumal  lässt  sich  in  den  recht  acut  verlaufenden  Fällen  nichts  im  Rücken- 
mark auffinden;  in  den  Fällen  von  einigen  Tagen  Dauer  will  Rokitansky 
im  Rückenmark  die  Entwicklung  jungen  Bindegewebes  nachgewiesen 
haben,  wonach  es  scheint,  als  wenn  man  es  mit  einem  entzündlichen 
Process  dieses  Nervencentrums  zu  thun  hätte.  Meine  Untersuchungen 
des  Rückenmarks  und  der  Nerven  bei  Tetanus  haben  bis  jetzt  nur  negative 
Resultate  ergeben.  An  Präparaten,  welche  von  Querschnitten  des  Rücken- 
marks durch  ausgezeichnete  Specialisten  im  Fach  der  Untersuchung  des 
centralen  Nervensystems  (Dr.  Goll  in  Zürich  und  Professor  Meynert 
in  Wien)  gemacht  und  mir  gütigst  mitgetheilt  waren,  sah  ich  allerdings 
an  manchen  Stellen  des  Rückenmarks  die  bindegewebigen  Partien  auf- 
fallend entwickelt;  doch  da  dies  nicht  mit  Anhäufung  junger  Zellen  ver- 
bunden war,  so  blieb  es  mir  immer  zweifelhaft,  ob  diese  Bindegewebs- 
vermehrung  wirklich  auf  Neubildung  und  nicht  etwa  auf  mehr  zufälliger 
Quellung  beruhe,  die  ja  freilich  während  des  Lebens  bestanden  haben  mag. 
Die  Erscheinungen  am  Lebenden  bei  einer  wirklich  nachweisbaren  Ent- 
zündung des  Rückenmarks  sind  doch  so  verschieden  von  Tetanus,  dass 
es  auch  dadurch  unwahrscheinlich  wird,  dass  letzterer  auf  einer  zu  ^iye- 
litis  spinalis  führenden  Neuritis  ascendeus  beruhe.  —  Dass  man  hier 
und  da  in  den  Muskeln  und  auch  in  den  Nervenscheiden  kleine  Blut- 
extravasate  bei  den  Sectionen  findet,  will  für  das  Wesen  der  Krankheit 
nicht  viel  bedeuten,  da  diese  durch  Zerreissung  von  Capillaren  in  Folge 
der  heftigen  Muskeleontractionen  entstanden  sein  können. 

Ueber  die  Entstehuugsursache  dieser  Krankheit  giebt  es  eine  Menge 
von  Ansichten,  wie  gewöhnlich  bei  allen  solchen  Processen,  die  keinen 
pathologisch-anatomischen  fassbaren  Anhaltspunkt  darbieten.  Zunächst  lag 
es  nahe,  sich  bei  der  Untersuchung  an  die  Nerven  zu  wenden,  und  da 
giebt  es  denn  eine  Anzahl  von  Fällen,  in  denen  bei  der  Verwundung 
Nervenstämme  gequetscht,  zerrissen  oder  durch  fremde  Körper  gereizt 
erschienen.  Ich  selbst  habe  einzelne  solcher  Fälle  beol)achtet;  so  vor 
einigen  Jahren  einen  sporadischen  Fall,  in  welchem  bei  einer  oifeuen 
Splitterfractur  am  unteren  Ende  des  Radius  der  Nervus  medianus  zur 
Hälfte  eingerissen  w^ar,  und  am  dritten  Tage  plötzlich  ein  Trismus  und 
Tetanus  auftrat,  der  innerhalb  18  Stunden  tödtlich  verlief.  Es  nützt  nun 
nichts,  Theorien  darüber  zu  bilden,  weshalb  diese  Art  von  Ncrvenver- 
letzung  gerade  tetanische  Krämpfe  zur  Folge  habe,  während  solche  nach 
einfachen  Durchschneidungen  von  Nerven  höchst  selten  vorkommen,  weil 
es  eine  ganze  Reihe  von  Fällen   giebt,    in  denen  theils  bei   einfachen 


Vdllcsiilij^r   l'?.      (';i|iil(l    XIII.  .12;*, 

Wimdcii  (1er  Haut,  Ihcils  I)oi  nusii'cbildcicti   mid   in  \'cni;ii-l)iin,n'  Itci^rilTcnon 
Graiiulatiüiisflächeii ,    oder    seihst    iimcIi    Appücalioii    aoii    I')l;iseii|)(l;isf(Mii, 
naeli  einem  Bienenslieli  w.  deri;'!.  A\'imdstMri-ki-aiii|)r  /iir  Kiilwickhii),!;-  kam. 
Auffallend  ist  es  jedoeli,  dass  die  Krankheit  sich   hesuii(lt;rs   li^iiitii;-  nach 
Yerletzuni^'en    an    r'xtremitättm,    besonders    an    iländeu    und    l'Tisscn    ent- 
wickelt, während  dieselbe  nach   bedeutend   eini;reilenderen   ^'erletzllni;•en 
höher  oben  an  den  Extrenutäten  nnd  am  IJiimpf  im  (ianzen  selten  beob- 
achtet wird.      Ich   i;laube  forner   beobachtet   zu   Imben,    dass   diejeni^'cn 
Fälle,   in    Avelehen    der   Starrkrampf  bei   bereits   g-ranulirenden   Wunden 
auftritt,   ehi-onischer  und  milder  verlaufen  als  diejcnig'en,   in  denen  die 
Krankheit  sieh  kurze  Zeit  nach  der  Verletzung-  entwiekelt.    liosc  meint, 
dass  Starrkrampf  besonders  bei  Wunden  auftrete,  welcbe  gar  nieht  oder 
schlecht  behandelt  sind;  ich   kann  dies   nach  meinen  Erfahrung-en  nieht 
zugeben.  —  Nachdeju  man  nun  an  die  Nerven  und   aucli  an  die  sehni- 
gen Gebilde  vergeblich  appellirt  hatte,  nahm  man  seine  Zuflucht  zu  den 
verschiedenen  Temperatureinflüssen-,  es  bildete  sich  bei  Einigen  die  An- 
sicht heraus,    dass  eine  heisse,   schwüle  .Temperatur  die  Entstehung  des 
Tetanus  besonders  begünstige.     Von  dieser  Ansicht  kann  ich  mich  auch 
nicht  ganz  lossagen,  da  ich  eine  Anhäufung  von  Fällen  von  Wundstarr- 
krampf bisher  nur  bei  hoher,  schwüler  Gewitter-Temperatur  sah,  indessen 
sind    auch    Epidemien     von    Wundstarrkrampf    im    Winter    beobachtet 
worden.  —  Andere  schieben  der  Erkältung  durch  Zugluft  oder  überhaupt 
durch  rasch  wechselnde  Temperatur  die  Hauptschuld  zu,   so  neuerdings 
wieder    Heinecke.      Noch    Andere    endlich    glauben    nicht,    dass    das 
Nervensystem    primär  afficirt  sei,    sondern   dass   das   Blut  zunächst   er- 
kranke   und  erst  secundär    auf  das  Nervensystem    wirke.     Eoser   hat 
vor    Kurzem    eine   alte    x\nsicht    wieder    ans    Licht    gezogen,    dass    der 
Wundstarrkrampf  der  Wuthkranklieit  analog  als  primäre  Blutkrankheit 
aufzufassen  sei.     Es  ist  nicht  zu  leugnen,   dass  die  beiden  Krankheiten 
grosse  Aehnlichkeit  darbieten ;  ein  Beweis  dafür,  dass  dieselben  wirklich 
analog  sind,   würde  am  schlagendsten   dadurch  gegeben  werden,   wenn 
man    durch    Impfung  von  Blut    oder  Secret    tetani scher    Menschen    auf 
Thiere  Wnthkrankheit  erzeugen  könnte.     Von  Impfungen   auf  Menschen 
kann    natürlich    nicht    die    Eede    sein.     Ich    neige    jetzt    sehr    zu    der 
humoralen  Auffassung  des  Tetanus  als  einer  eigeuthümlichen  Intoxications- 
krankheit,    ohne  freilich   dafür  Beweise  bringen  zu  können.     Jedenfalls 
sollte  man  einmal  Blut  eines  tetanischen  Menschen  einem  Hunde  injiciren, 
um  zu  ermitteln,    ob    Tetanus  durch  das   Blut    von  Mensch    auf  Hund 
übertragbar    ist,    ferner    ob    das   Blut    des  Tetanischen  pyrogen   wirkt; 
sollte  beim   operirten  Hunde  Tetanus  eintreten,   so    dürfte   als   bewiesen 
l)etrachtet  werden,   dass  der  Tetanus   eine  humorale  Krankheit  sei;    hat 
der  Versuch  negativen  Erfolg,  so  ergiebt  sich  daraus  freilich  nichts  gegen 
die  humoralen  Ursachen  des  Tetanus,   weil  ja  der  Versuch  dann  nichts 
beweist,  als  class  das  Blut  eines  tetanischen  Menschen  iu  einem  Hunde 


424  ^^011  den  accidciitcllcii  AViind-  und   Kiilziindimgskrankhir'iren  ntc. 

nicht  Tetanus  erzeugt;  es  bliebe  dann  noch  zu  untersuchen,  ob  das  Blut 
eines  tetani scheu  Hundes  auf  einen  Hund  übertrag-en  ebenso 
wirkungslos  ist.  —  Die  Beobachtung-,  dass  der  Tetanus  auf  eine  Extre- 
mität ja,  wie  ich  es  gesehen  haben,  auf  die  Hand  allein  beschränkt 
sein  kann,  spricht  freilich  sehr  für  einen  localeji,  auf  die  Nerven  be- 
schränkbareu  Grund;  indess  giebt  es  ja  aucli  ganz  localisirte  Lymph- 
angoitis,  localisirte  Erysipele  etc.;  man  könnte  grade  auch  die  Beob- 
achtung, dass  z.  B.  Amputirte  nicht  selten  zuerst  Zuckungen  im  Stumpf 
bekommen,  bevor  die  Krämpfe  allgemein  werden,  dahin  deuten,  dass 
sich  das  Tetanusgift  in  der  Wunde  bildet,  zuerst  die  Muskeln  und  Nerven 
des  Stumpfes,  dann  erst  später  das  Eückenmark  reizt.  Noch  Vieles  ist 
auf  diesem  Gebiet  zu  ergründen!  —  Das  hohe  Fieber  bei  den  meisten 
Fällen  von  acutem  Tetanus  und  der  Umstand,  dass  auch  noch  nach  dem 
Tode  der  Tetanischen  die  Temperatur  steigt,  hat  die  Pathologen  sehr 
beschäftigt;  es  gewann  dies  noch  höheres  Interesse,  als  Leyden  durch 
die  Hervorrufung'  eines  künstlichen  Tetanus  des  ganzen  Körpers,  den 
man  dadurch  zu  Stande  bringt,  dass  man  starke  elektrische  Ströme 
durch  das  ganze  Kückemnark  eines  Hundes  gehen  lässt,  ebenfalls  sehr 
hohe  Bluttemperaturen  erzeugte.  A.  Fick  wies  nach,  dass  dabei  ein 
Wärmeüberschuss  in  den  Muskeln  gebildet  und  von  da  dem  Blut  mit- 
getheilt  wird,  sowie  dass  die  im  Eectum  beobachtete  Temperatursteige- 
rung nach  dem  Tode  ein  Phänomen  der  Wärmeausgleichung  zwischen 
den  Muskeln  und  der  übrigen  Körpermasse  ist.  —  Wenn  es  nach  diesen 
Versuchen,  die  ich  mitgemacht  habe,  unzweifelhaft  ist,  dass  durch 
tetanische  Muskelzusammenziehung  die  Körperwärme  bedeutend  erhöht 
wird,  so  ist  damit  noch  nicht  bewiesen,  dass  beim  traumatischen  Tetanus 
des  Menschen  die  hohen  Fiebertemperaturen  allein  oder  vorwiegend 
durch  die  Muskelzusammenziehungen  bedingt  sein  müssen:  es  spricht 
die  Beobachtung  dagegen,  dass  sehr  acut  verlaufende  Fälle  von  Tetanus 
fast  ohne  Fieber  verlaufen  können,  wenngleich  dies  selten  ist;  auch  in 
dieser  Beziehung  sind  noch  viele  Käthsel  zu  lösen. 

Die  Prognose  ist  leider  in  den  meisten  Fällen  eine  schlechte;  von 
den  acuten  Erkrankten  genesen  nur  ausserordentlich  Wenige,  von  den 
chronischen,  die  sich  über  14  Tage  hinziehen,  genesen  Manche.  Leider 
sind  die  letzteren  Fälle  au  sich  selten. 

Bei  den  mangelhaften  Kenntnissen  der  Aetiologie  dieser  Kranklieit 
kann  man  in  Betrefi'  der  Therapie  nur  symptomatisch  verfahren.  Eine 
grosse  Menge  von  Mitteln  ist  zu  verschiedenen  Zeiten  empfohlen  Avorden. 
Im  Allgemeinen  wird  die  Behandlung  mit  Narcoticis,  mit  Opium  und 
Chloroform,  die  auch  ich  adoptirt  habe,  am  meisten  geübt.  Man  giebt 
das  Opium  in  sehr  grossen  Dosen  bis  zu  15  Gran  (1,000  Gramme)  und 
mehr  in  einem  Tag,  oder  eine  entsprechende  Quantität  Morphium  am 
besten  durch  subcutane  Injectionen;  zuweilen  hören  die  Krämpfe  darnach 
auf,  zuweilen  nützen  diese  Mittel  indessen  gar  nichts ;  jedenfalls  werden 


Voil.'smi-'  27.     (',i|iiirl   Nlll.  4^5 

die  Kr;Mikcu  (hKlnrcli  snbjcctiv  orlci('li(,crt.  Uci  (Icii  ciiizcliicii  AiiC-illcn 
wendet  man  ziii-  gTOsseu  Evlcicliternni;-  der  Kranken  ChlovororminliMla- 
tionen  bis  /Air  vollständiii'en  Narkose  an;  Chloralliydrat  ist  mit  eiiii.^cn 
Erlbli^-en  beim  Tetanus  gcgeb-cn  worden,  innerlicli  zu  1 — 1  '/^  Draclnnen 
(1,000—5,000  Grammes)  in  einem  liall)en  Glase  Wasser,  odei-  als  Klysma 
ein  Ins  zwei  Mal  in  24  Stunden,  bis  anlialtende  liypnotisclie  Wirkung- 
erfolgt.  Mehre  Fälle  sind  bei  dieser  Behandlung  durehgekonmien.  Im 
Ganzen  erstreben  wir,  den  acuten  Verlauf  zu  mildern  und  in  einen 
mehr  clironisclien  iiberzufiiliren ,  Aveil  dann  melir  Hoffnung  auf  Ge- 
nesung- ist.  Von  anderen  Beliandlungsweisen  nenne  icli  Ihnen  noch 
die  Anwendung  liäufiger  warmer  Bäder;  ferner  die  Application  von 
starken  Reizmitteln  an  der  Wirbelsäule  entlang,  grosse  Blasenpflaster, 
Moxen,  Ferrum  candeus,  Mittel,  von 'denen  ich  mir  keinen  günstigen 
Erfolg  versprechen  kann;  endlich  das  in  neuerer  Zeit  hier  und  da  ge- 
brauchte Curare,  welches  indess  die  gehegten  Erwartungen  auch  nicht 
erfüllte. 

In  den  chronischen  Fällen  brauchen  Sie  keine  besondere  Behand- 
lung einzuleiten;  der  Kranke  bleibt  im  Bett  und  mnss  sich  durchaus  ruhig 
verhalten;  man  liütet  ihn  vor  allen  Schädlichkeiten,  zumal  vor  allen 
physischen  und  psychischen  Aufregungen. 

5.     Der  Säuferwahnsinn.     Delirium  potatorum  traumaticum. 
Delirium  tremens. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einem  Feind  der  Verwundeten,  der  zum 
Glück  nur  wenigen  gefährlich  ist.  Sie  haben  gewiss  schon  vom  Säufer- 
delirium  gehört,  diesem  acuten  Ausbruch  der  chronischen  Alcoholver- 
giftung,  welcher  theils  ganz  spontan,  theils  aber  auch  bei  manchen 
acuten  Krankheiten,  besonders  bei  Pneumonie  auftreten  kann.  Ver- 
letzungen sind  eine  nicht  seltne  Gelegenheitsursache  zum  Ausbruche  des 
Delirium  tremens.  Sie  w-erden  diese  Krankheit  in  den  Vorlesungen 
über  innere  Medicin  genauer  kennen  lernen,  da  sich  die  Anfiille,  durch 
welche  veranlassende  Momente  sie  auch  hervorgerufen  sein  mögen, 
nicht  wesentlich  von  einander  unterscheiden ;  ich  will  mich  kurz  darüben 
fassen.  — 

Gewöhnlich  zeigt  sich  schon  innerhalb  der  ersten  zwei  Tage  nach 
der  Verletzung,  selten  später  der  Ausbruch  der  Krankheit.  Es  werden 
nur  Kranke  davon  befallen,  w^elche  Jahre  lang  an  reichlichen  Genuss 
von  Alcohol,  zumal  an  Schnaps  und  Eum  gewöhnt  sind;  doch  ist  es 
eine  irrige  Ansicht,  dass  Bier-  und  Weintrinker  vor  Delirium  geschützt 
sind.  Schlaflosigkeit,  grosse  Unruhe  in  den  Bewegungen,  zitternde  Hände, 
unsteter  Blick,  Hin-  und  Herwerfen  im  Bett,  ScliAvatzhaftigkeit  sind  die 
zuerst  hervortretenden  Symptome;  dann  folgt  das  Delirium.  Die  Kranken 
faseln  fortwährend  vor  sich  hin,  sehen  kleine  Thiere,  Mücken,  Fliegen 
vor  sich    her    schwärmen;    unter    ihrem  Bett    krieche^    Mäuse,    Ratten, 


426  Von  den  aecidentelleu  Wund-  und  p:nlxiindungskraiikheiten  etc. 

Marder,  Füchse  hervor;  sie  g-lauben  iu  einer  rauchigen  Atmosphäre  zu 
sein  oder  haben  auch  wohl  das  Gefühl  des  Auf-  und  Abschwankens. 
Die  Delirien  haben  oft  die  komischsten  Formen :  ein  Soldat,  den  ich  in 
Zürich  am  Delirium  tremens  behandelte,  sah  eine  grosse  Menge  anderer 
Soldaten  in  seinem  Wasserg-lase ;  wenn  ich  ins  Zimmer  trat,  sprach  er 
leise  zu  meinem  Assistenten,  weil  er  mich  für  seineu  Major  hielt  u.  s.  w. 
Im  Allgemeinen  sind  die  Wahnvorstellungen  heiterer  Natur;  trozdem 
sind  die  Kranken  von  einer  unsäglichen  Unruhe  geplagt,  werfen  sich 
fortwährend  im  Bett  umher  und  wollen  davon  laufen.  Wenn  man  nicht 
zwei  kräftig-e  Wärter  zur  Disposition  hat,  um  diese  Kranken  zu  halten, 
so  bleibt  leider  zuweilen  nichts  anderes  übrig-,  als  sie  in  eine  Zwangs- 
jacke zu  legen  und  sie  im  Bett  anzubinden.  Dabei  sind  diese  Kranken 
in  ihrem  Delirium  meist  gutmüthig  gestimmt,  und  wenn  man  recht 
kräftig  in  sie  hineinredet,  so  geben  sie  ganz  vernünftige  Autworten,  ver- 
fallen jedoch  gleich  wieder  in  ihre  Wahnvorstellungen.  Von  allen  Arten 
der  Verletzung  geben  Fracturen  und  besonders  offene  Fracturen  am 
häutigsten  Gelegenheit  zum  Ausbruch  der  Krankheit,  und  bevor  man  für 
solche  Kranken  feste  Verbände  hatte,  war  es  eine  schwierige  Aufgabe, 
die  gebrochenen  Extremitäten  zu  fixireu,  da  die  Verletzten  der  Schmerzen 
nicht  achtend,  die  Bruchenden  mit  solcher  Heftigkeit  bewegten,  dass 
jeder  Schienenverband  in  v^enig  Stunden  gelöst  war.  Die  Prognose  ist 
selbst  bei  ausgebröchenem  Delirium  nach  der  Ansicht  der  meisten 
Chirurgen  eine  nicht  ungünstige;  ich  kann  diese  Ansicht  nach  meiner 
freilich  kleinen  Zahl  von  Beobachtungen  nicht  theilen;  von  den  im 
Ganzen  wenigen  Kranken  mit  acutem  Delirium  tremens,  die  ich  be- 
handelte —  hier  in  Wien  ist  die  Krankheit  sehr  selten  — ,  sind  wenig- 
stens die  Hälfte  zu  Grunde  gegangen ;  sie  eollabirten  oft  ganz  plötzlicli, 
wurden  besinnungslos  und  starben  bald  darauf.  Andere  kamen  durch, 
zumal  wenn  es  gelang,  sie  eine  Zeit  lang  in  Schlaf  zu  bringen;  hierauf 
richtet  sich  auch  die  Therapie;  Opium  in  grossen  Dosen  ist  fast  das 
allgemein  angewandte  Mittel,  das  man  auch  noch  mit  kleinen  Dosen 
von  Tartarus  stibiatus  versetzen  kann.  Hiernach  verfallen  schliesslich 
die  Kranken  in  einen  komatösen  Zustand,  aus  welchem  sie  im  günstigen 
Faile  geheilt  erwachen,  zuweilen  aber  auch  ins  Jenseits  hinüber- 
schlummern. Ich  kann  Hmen  kein  besseres  Mittel  als  das  Opium  beim 
Delirium  tremens  empfehlen,  wenngleich  ich  zugestehen  muss,  dass  ich 
dasselbe,  in  grossen  Dosen  angewandt  (gr,  ij  —  vj  oder  0,100— 0,400 
Grammes  alle  zwei  Stunden,  bis  Schlaf  erfolgt),  nicht  für  ungefährlich 
halte.  Es  lassen  sich  auch  Stimmen  zumal  aus  England  hören,  welche 
das  Opium  uud  die  Behandlung  mit  Tartarus  stibiatus  ganz  entfernt 
wissen  wollen  und  eine  mekr  expectativo  Behandlung  empfehlen.  Andere 
haben  gute  Erfolga  mit  Digitalis  erzielt;  die  meisten  Chirurgen  sind 
sehr  zufrieden  mit  der  Opiumbehandlung,  sowie  auch  die  gleichzeitige 
Darreichung   von  starkem  Wein  und  Cognac  gerühmt  wird.     Auch  das 


VorlOKlIM!,^    1'7.       f'.ipilrl     XIII.  427 

C'lil«>r;illiv(lr;ii  in  ii,'r<)f^son  Doscmi  ist  i)i  iicueslci- Zeit  Itci  dieser  Kraiiklicit 
selir  angepriesen  worden.  \^)n  etwas  g'iinstigercr  Prognose  sind  mir 
die  nielir  clironiselien  Fälle  von  Delirium  potatoruni  ohne  maniakalisclie 
Anfälle  erschienen-,  starker  Grogk  thut  dabei  gute  Dienste;  ich  lasse 
folgende  Mischung-:  !  Eigelb,  1  Unze  (35,00  Grainmes)  Arrac,  4  Unzen 
(110,00  Grammes)  Wasser,  2  Unzen  (70,00  Grammcs)  Zucker,  die  nicht 
übel  sclmieckt,  auch  sonst  als  excitirende  Arznei  l)ei  älteren  Leuten 
(^stündlich  1  Esslöffel)  brauchen.  Warnen  muss  ich  Sie  noch  vor  dei' 
Anwendung  von  Blutentziehungen,  welche  den  Säufei-n  in  hohem  firade 
gefährlich  sind  und  nicht  selten  schon  einen  rasch  in  den  Tod  über- 
gehenden Collaps  herbeigeführt  haben. 

Die  Eesultate  von  Sectionen  l)ei  Krauken,  die  an  Delirium  tremens 
verstarben,  ergeben  in  Bezug  auf  die  unmittelbare  Todesursache  keine 
besondere  Aufklärung;  man  findet  die  gewöhnlichen  Veränderungen  wie 
bei  der  Säuferdyskrasie:  clironischen  Magencatarrh,  Fettleber,  Bright'sche 
Nieren,  verdickte  Hirnhäute,  doch  nichts  Constantes  in  der  Hirnsubstanz 
selbst. 

6.    Delirium  nervosum  und  psychische  Störungen  nach  Verletzungen. 

Unter  Delirium  nervosum  traumaticum  versteht  man  einen 
Zustand  höchster  nervöser  Exaltation  ohne  Fieber  nach  Verletzungen, 
wie  er  zumal  bei  hysterischen  Personen  vorkommen  soll;  ich  habe  bis 
jetzt  nur  einen  Fall  gesehen,  den  ich  mit  diesem  Namen  ])ezeichnen 
möchte:  ein  etwa  24 jähriger  Mann  (aus  dem  Lande  des  Biruenmostes 
und  Birnenweines,  aus  dem  Canton  Thurgau),  der  nie  viel  getrunken 
hatte,  bekam  bald  nach  einer  mit  leichter  Wunde  complicirten  Unter- 
schenkelfractur  Delirien  ohne  Fieber,  wie  ein  alter  Säufer;  die  Fantasien 
bezogen  sich  auf  ähnliche  Dinge  wie  beim  Delirium  potatorum,  verliefen 
bei  beruhigender  Behandlung  und  unter  Einwirkung  von  Opjum  ohne 
maniakalische  Anfälle;  nach  vier  Tagen  hörten  die  Delirien  auf,  dann 
blieb  Patient  völlig  vernünftig.  —  Schliesslich  muss  ich  noch  diejenigen 
interessanten  und  seltenen  Fälle  erwähnen,  in  welchen  nach  Operationen 
bei  sonst  ganz  gesunden  Menschen  psychische  Störungen  sich  entwickeln, 
Fälle,  die  sicli  jedem  Erklärungsversuch  entziehen  und  ihre  Analogie 
nur  darin  finden,  dass  auch  nach  anderen  acuten  Krankheiten,  z.  B.  nach 
Pneumonie,  nach  acutem  Rheumatismus,  nach  Typhus  die  Entwicklung 
wahrer  Manie  beobachtet  ist.  Ich  habe  zwei  solche  Fälle  in  der  Berliner 
chirurgischen  Klinik  gesehen,  wo  in  beiden  Fällen  nach  totaler  Ehino- 
plastik  Melancholie  mit  religiösen  Wahnvorstellungen  auftrat.  Beide 
Kranke  waren  katholisch;  der  eine,  ein  junger  Mann,  quälte  sich  unauf- 
hörlich damit  ab,  über  den  Begriff  der  Dreieinigkeit  klar  zu  werden; 
die  andere  Patientin,  ein  junges  Mädchen,  suchte  sich  durch  Gebete  und 
Kasteiungen  dafür  zu  strafen,  dass  sie  ihrer  Eitelkeit  so  weit  nachgegeben 


4,99,  Von  den  vergifteten  Wunden. 

liatte,  sich  eine  Nase  bilden  zu  lassen,  naclidem  dieselbe  durch  Lupus 
ganz  zerstört  worden  war.  Bei  dem  jungen  Mann  kam  es  wiederholt 
zu  heftigen  Wuthausbrtichen;  beide  Kranke  genasön  nach  Verlauf  einiger 
Wochen  vollständig.  Aus  mündlicher  Mittheilung  ist  mir  bekannt,  dass 
V.  Langenbeck  in  Berlin  wiederum  nach  einer  plastischen  Operation, 
und  V.  Gräfe  und  Esmarch  nach  einer  Augenoperation  Anfälle  von 
Manie  beobachtet  haben.  Im  Ganzen  gehören  jedoch  diese  Fälle  zu  den 
grössten  Seltenheiten. 


ANHANG  ZU  CAPITEL  XIII. 

Ton  den  vergifteten  Wunden. 

Wir  haben  uns  jetzt  noch  mit  einigen  Arten  von  Verletzungen  zu 
beschäftigen,  bei  denen  zu  gleicher  Zeit  mit  der  Verletzung  Gifte  ein- 
geimpft werden,  welche  theils  sehr  heftige  örtliche  Erscheinungen,  theils 
gefährliche  Allgemeinkrankheiten  hervorrufen.  —  Ein  solches  Gift  ist 
kekauntlich  manchen  Thieren  eigenthümlich,  bei  anderen  entwickelt  es 
sich  in  Folge  gewisser  Krankheiten  und  wird  dann  von  diesen  kranken 
Thieren  auf  den  Menschen  übertragen. 

Die  Stiche  einer  grossen  Eeihe  von  kleinen  Insecten  stehen  in 
ihren  Folgen  kaum  in  einem  Verhältniss  zu  dem  geringen  mechanischen 
Reiz,  welchen  sie  mit  ihren  Stacheln  veranlassen;  theils  kann  es  aller- 
dings auch  in  einer  besonderen  Reizbarkeit  der  Haut  beruhen,  wenn 
Leute  nach  Wanzen-,  Mücken-,  Flohstichen  ausgedehnte,  wenn  auch 
kurz  vorübergehende  Entzündungen  der  Haut  bekommen,  während  auf 
Andere  derselbe  Reiz  gar  keinen  Einfluss  übt.  Ein  Stich  mit  einer 
Stecknadel  ist  eine  viel  grössere  Verletzung  als  ein  Flohstich,  und  den- 
noch folgt  dem  letzteren  ein  Jucken  und  Brennen  mit  Entstehung  von 
Quaddeln  auf  der  Haut,  während  die  Folgen  des  ersteren  gleich  Null 
sind.  Es  ist  daher  nicht  unwahrscheinlich,  dass  bei  den  erwähnten 
Insectenstichen  zu  gleicher  Zeit  mit  dem  Stich  eine  reizende  Substanz 
in  die  Haut  eindringt.  —  Die  Stiche  von  Bienen  und  Wespen  erregen 
bekanntlich  noch  viel  heftigere  Erscheinungen;  es  tritt  eine  zuweilen 
ausgebreitete,  sehr  schmerzhafte  Entzündung  der  Haut  mit  starker  Rö- 
thung  und  Schwellung  ein,  die  freilich  gewöhnlich  in  Zertheilung  über- 
geht und  dem  Organismus  nicht  gefährlich  wird,  doch  aber  höchst  be- 
lästigend sein  kann.  Eine  grosse  Anzahl  von  solchen  Stichen  zu  gleicher 
Zeit  ist  nicht  ganz  ohne  Bedenken;  Stiche  der  Art  auf  die  Zunge,  im 
Gaumen,  an  den  Augenlidern,  können  durch  ihre  Ocrtlichkeit  gewisse 
Gefahren  durch  starke  Schwellung  dieser  Tlieile  nach  sich  ziehen.  Da 
aber  in  verhältnissmässig  kurzer  Zeit  diese  Entzündungen  vorübergehen, 


Vorlcsiiiii,^  27.     Anliaii';-  zu  Ciipild  XTIF.  429 

SO  wird  selten  ein  Arzt  zu  Ratlie  g'czoi^cn;  mau  wendet  im  Volke  dabei 
verschiedene  kühlende  Mittel  an,  welche  deu  Schuierz  linderu,  vou  dou-u 
icli  Ihnen  nur  das  Aufleii-en  von  nassem  Lelim,  vou   n»hem  Kartoffellirei, 
von  Kolilhlättern  u.  derg'l.  nenne.     Bei  stärkeren  Eut/>ün(lun,i;cn  werden 
Umschläg'e  von  Bleiwasser  und  andere  antiphlogistische  Mittel  in  vVnwen- 
dung-  kommen.     Nocli  heftiger  als  die  Bienen-  und  Wespenstiche  wirken 
diejenigen    der    in    südlichen  Ländern   vorkonnuenden  Taranteln    und 
Skorpione.     Es  entsteht  darnach  eine  nocli  ausgedehntere  Entzündung- 
der  Haut  mit  sehr  heftigen,  brennenden  Schmerzen,  zuweilen  mit  Blasen- 
bildung;   Eieber    kann  hinzutreten,    doch  gefährlich  werden    auch    diese 
Zustände  g-ewöhnlich  nicht,  wenn  nicht  durch  die  besondere  Oertlichkeit 
der  Verletzung'.     Die  Behandlung-  muss  der  oben  erwähnten  g-leich  sein. 
Zum  Glück    besitzen  wir    in    unseren   Gegenden  wenige  Arten    von 
Giftschlang-en,   und  auch   diese  sind  nicht  häufig-.     Unter  ihnen   sind 
zu  nennen  Vi  per  a  Berns  (die  Kreuzotter)  und  Vipera  Redii  mit  zwei 
hakenförmig-  gekrümmten  Giftzähnen,  in  denen  sich  die  Ausführungsgänge 
kleiner  Drüsen  befinden,  welche  beim  Biss  ihren  Saft  in  die  Wunde  er- 
giessen.     Der  Biss    dieser  Schlang-en    ist    nicht    ganz  so  gefährlich,  wie 
man  glaubt;  nach  statistischen  Berechnungen  sterben  unter  60  Gebisseneu 
etwa  2.     Der  Schmerz  ist  sehr  heftig;   es  tritt  eine   starke  Entzündung, 
Spannung  und  Schwellung  der  Haut  ein,  dabei  heftiges  Fieber,   grosses 
Angstgefühl,    Mattigkeit,    Brechen,    zuweilen    leichter  Icterus.     Was    die 
Behandlung  betrifft,  so  wird  es  am  besten  sein,  wenn  die  Wunde  sofort 
ausgesogen  wird,    was   ohne  Schaden  geschehen   kann,   indem  das  Gift 
nach    allgemeiner  Annahme  vom  Magen    und  von   der  Mundschleimhaut 
aus  nicht  resorbirt  wird.     Die  Wunde  wird   gleich   ausgewaschen;    auch 
giebt  man    den  Rath,    um    die  Resorption    zu  verhindern,    das  vorletzte 
Glied   oberhalb   der  Wunde  mit  einem  Tuche   fest  zu  umschnüren.     Bis 
der   Kranke   zum  Arzt  kommt,    wird  in  den    meisten  Fällen    das    Gift 
resorbirt  sein;    ob  jetzt    noch    das    Aufsetzen   eines   Schröpf kopfs ,    das 
Aetzen,    Brennen  oder  Ausschneiden    der  Wunde   etwas  nützt,    darüber 
sind    die  Ansichten    verschieden,    doch    würde    ich    die  Ausätzung    der 
Wunde  für  zweckmässig  erachten.     Die    örtliche  Hautentzündung    wird 
hauptsächlich    mit  Rücksicht    auf  den  spannenden  Schmerz    behandelt: 
Einreibungen  mit  Oel,  graue  Salbe,  Abschluss  der  Haut  gegen  die  Luft 
durch  verschiedene  Mittel,   die  wir  bei  der  Behandlung   oberflächlicher 
Verbrennungen  kennen  gelernt  haben.     Innerlich  giebt  man  ein  Emeticum, 
dann  antiseptische  Mittel,  z.  B.  Mineralsäuren;  auch  Ammoniak  soll  nützen. 
Es    ist    von    amerikanischen    Aerzten    gegen    Schlangenbiss    empfohlen. 
Putz  injicirte   eine   Pravaz'sche  Spritze  voll  Liq.  Ammonii  caustici   zu 
gleichen  Theilen  mit  Wasser  subcutan  in  die  Nähe  der  Bisswunde  einer 
Natter  und  gab  innerlich  12  Tropfen  der  gleichen  Mischung  mehre  Mal 
am  Tage.    Die  Gebissene,  ein  Mädchen  von  8  Jahren,  die  bereits  schwere 
Erscheinungen   darbot,  genas.      Der    Liq.  Ammonii   wäre  künftig  wohl 


^QQ  Von  den  vergifteten  Wunden. 

besser  mit  2 — 3  Tlieilen  Wasser  zu  verclimnen,  da  an  der  Injeetions- 
stelle  ein  Abscess  entstand.  —  Von  allen  Schlangenbissen  in  südlichen 
Ländern  sind  die  der  Klapperschlang-e  am  gefährlichsten;  sie  sind 
zuweilen  in  wenigen  Stunden  tödtlich;  die  örtliche  Entzündung  der  Haut, 
die  dabei  sehr  heftig  ist  und  sich  weit  verbreitet,  geht  nicht  selten  rascli 
in  Gangrän  über  und  zwar,  soweit  ich  es  aus  den  besseren  Beschrei- 
bungen zu  entnehmen  vermag,  ganz  direct,  ohne  dass  es  zuvor  zu  Arterien- 
uud  Venenthrombose  käme;  die  mit  dem  Gift  in  Berührung  kommenden 
Gewebe  werden  in  ihrer  chemischen  Beschaffenheit  gleich  so  alterirt,  dass 
sie  ihren  normalen  Stoffwechsel  nicht  mehr  vollziehen,  sondern  direct  ab- 
sterben. Die  Gebissenen  gehen  unter  Delirien,  soporösem  Zustand  und 
raschem  Collaps  zu  Grunde.  Kommt  sehr  viel  Gift  auf  einmal  in  die 
Wunde  und  wird  sofort  resorbirt,  so  tritt  der  Tod  nach  ganz  kurzer 
Zeit  ein,  noch  bevor  es  zu  erheblicher  Entzündung  gekommen  ist;  die 
Haupterscheinungen  dabei  sind  Cyanose,  Dispnoe  und  Collaps,  zuweilen 
auch  Zuckungen,  also  ähnlich  wie  bei  Blausäurevergiftung. 

Eine  sehr  phlogogen  wirkende,  in  ihrer  chemischen  Zusammen- 
setzung wahrscheinlich  variable  Substanz  ist  das  sogenannte  Leichen- 
gift. Mancher  von  Ihnen  mag  bereits  darüber  auf  dem  Präparirsaal 
Erfahrungen  gemacht  haben.  Dieses  putride  Gift  entwickelt  sich  bei 
der  Fäulniss  thierischer  und  menschlicher  Leichen;  kommt  bei  Be- 
schäftigung mit  diesen  etwas  von  dem  Saft  der  todten  Gewebe  in  kleine, 
oft  unbedeutende  und  kaum  bemerkbare  Verletzungen  der  Haut,  so 
können  sich  daraus  zuweilen  höchst  unangenehme  Erscheinungen  ent- 
wickeln. Die  daraus  entstehenden  Zustände  sind  verschiedenartige.  Es 
kommen  Fälle  vor,  die  besonders  in  England  früher  häufig  beobachtet 
wurden,  in  welchen  anfangs  wenig  Schmerz  in  der  Wunde  empfunden 
wird,  indessen  bald  eine  starke  Abgeschlagenheit,  Kopfweh,  Fieber, 
Uebelkeit  auftreten ;  dann  folgen  Delirien,  Sopor,  und  in  einzelneu  Fällen 
trat  der  Tod  schon  nach  40  Stunden  ein.  Es  wird  behauptet,  dass 
gerade  diese  schlimmsten  Fälle  von  Septhämie  am  häufigsten  vorkämen 
bei  Sectionen,  die  sehr  früh  nach  dem  Tode  au  noch  warmen  Leichen 
gemacht  Avurden,  wobei  es  dann  freilich  zweifelhaft  bleibt,  ob  nicht  in 
diesen  Fällen  ein  schon  im  lebenden  Körper  entwickelter  Krankheitsstoft" 
in  die  Wunde  des  secirenden  Arztes  geimpft  wurde,  indem  wenigstens 
der  Zustand,  den  man  gewöhnlich  als  Fäulniss  bezeichnet,  der  sich 
durch  Gestank  kund  giebt,  noch  nicht  eingetreten  war.  Als  Gegensatz 
zu  dieser  bösartigen,  acuten  Form  sind  diejenigen  Fälle  zu  betrachten, 
in  welchen  das  Gift  nur  eine  rein  locale  Wirkung  übt.  Es  entsteht 
an  dem  verletzten  Finger  im  Verlauf  von  24  Stunden  massiger 
Schmerz  und  eine  leichte  Induration;  dann  bildet  sich  auf  der  Wunde 
ein  trockner  Schorf,  unter  welchem  sich  stets  eine,  wenn  auch  sehr 
geringe  Quantität  von  Eiter  befindet.  Der  Schorf  bildet  sich,  so  oft 
man  ilm  entfernt,  von  Neuem,   die  Stelle  bleibt  schmerzhaft,  hart;    mit 


Vorlesung  27.       Aiiluni-   zu    (';.|nlcl   XTII.  431 

der  Zeit  verdickt  sicli  die  Epidermis  (luraiif  und  es  wird  daraus  <'iii  ;ml' 
der  Oberfläelie  nässender,  sehnierzliafter,  warzenälinlielier  Knoten,  den 
man  g-ewölinlich  mit  dem  Namen  Leielientu])erkel  hezeielmet.  Wer 
Neigung-  zn  diesen  rein  örtliclieii  Bildungen  liat,  ist  meist  zu  allgemeiner 
Infection  wenig-  disponirt.  —  In  der  Mitte  zwischen  diesen  Leiden 
gescliilderten  ])eracuten  und  mehr  chronischen  Wirkungsweisen  des 
Leichengiftes  steht  eine  dritte,  wol)ei  sicli  zu  der  örtliclien  Entzündung- 
eine  Entzündung  der  Lymphgefässe  und  Achseldrüsen  hinzugesellt,  die 
bei  frühzeitiger  Behandlung  in  Zertheilung  iihergchen  kann,  oft  aber 
zur  Bildung  von  Abscessen  am  Arm  l'ülirt;  in  seltenen  Eällen  kann  sich 
auch  eine  solche  Lymphangoitis  mit  Abscessbildungen  Monate  lang  hin- 
ziehen. 

Was  die  erste  Behandlung  der  durch  Leichengift  intoxirten  Haut- 
stelle betrifft,  so  rathe  ich  Ihnen,  zunächst  kaltes  Wasser  längere  Zeit 
über  die  Wunde  laufen  zu  lassen  und  die  Blutung-,  wenn  eine  solche 
vorhanden  ist,  nicht  zu  hemmen.  In  sehr  vielen  Fällen  wird  dann  der 
schädliche  Stoff  gleich  ausgespült  und  es  erfolgt  keine  weitere  Infection. 
Kommt  es  zur  Köthung-  um  die  Wunde,  dann  ätzen  Sie  stark  mit 
Argent.  nitric.  oder  mit  rauchender  Salpetersäure;  dies  ist  freilich  sehr 
schmerzhaft,  doch  Avirkt  es  sehr  gut;  es  bildet  sich  nicht  selten  unter 
dem  Aetzschorf  von  Neuem  Eiter;  dann  heben  Sie  den  Schorf  ab  und 
ätzen  wieder,  und  so  fort,  bis  sich  kein  Eiter  mehr  unter  dem  Schorf 
bildet.  Die  sofortige  Aetzung  nach  der  Berührung  mit  Leichengift  halte 
ich  nach  einer  ziemlich  reichlichen  Erfahrung-  an  mir  selbst  und  meinen 
Schülern  im  Operationscurs  nicht  für  zweckmässig.  Kleine  nicht  blutende 
Risswunden  und  excoriirte  Plautstellen  sind  immer  gefährlicher  für  die 
Infection  als  tiefere  Schnittwunden;  dies  hat  seinen  Grund  darin,  dass 
das  strömende  Blut  das  putride  Gift  mit  aus  der  Wunde  herausschwemmt. 
Die  Empfänglichkeit  für  das  Leichengift  ist  übrigens  verschieden  bei 
verschiedenen  Individuen;  w^iederholte  Infectionen  scheinen  die  Disposition 
dazu  eher  zu  steigern  als  zu  mildern.  —  Tritt  Lymphangoitis  auf,  so 
ist  der  Arm  vor  Allem  durch  einen  Verband  mit  Schienen  ruhig  zu 
stellen,  und  dann  die  früher  erwähnte  Behandlung  der  Lymphangoitis 
einzuleiten.  Den  Hergang  bei  dem  Auftreten  der  geschilderten  Krank- 
heitserscheinungen können  Sie  sieh  folgendermaassen  vorstellen :  es  wird 
eine  kleine  Quantität  Saft  aus  der  Leiche  (oder  aus  faulem  Eiter  von 
Lebenden)  in  die  Wunde  eingeführt;  hier  nehmen  die  eröffneten  Lymph- 
capillaren  diesen  fauligen  Stoff  auf  und  fördern  ihn  in  die  Stämme  der 
Lymphgefässe:  jetzt  kann  in  diesen  rasch  eine  Gerinnung  eintreten,  und 
der  faulige  Stoif  wirkt  dann  specifisch  reizend  nur  auf  einen  kleinen 
Bezirk.  Im  anderen  Falle  gerinnt  die  Lymphe  erst  in  den  nächsten 
Lymphdrüsen,  oder  es  werden  durch  die  starke  Sclnvellung  der  Drüsen 
die  intraglandulären  Lymphwege  zusammengedrückt,  und  so  die  Passage 
durch  die  Drüse  verhindert;  auch  in  diesem  Fall  bleibt  die  Erkrankung 


J^Q9  Von  den   vergifteten  Wunden. 

local,  wenn  auch  auf  eine  weite  Strecke  au,sge(lelint,  und  nicht  selten  zu 
Eiterung-  mit  Fieber  (wie  auch  bei  anderen  uicht  specifischeu  Lyniph- 
g-efäss-Entzimdungen)  führend.  Endlich  der  seltenste  Fall:  die  vergiftete 
und  selbst  jetzt  als  Gift  weiter  wirkende  Lymphe  gelangt  ins  Blut  und 
regt  hier  ebenfalls  chemische  Wandlungsprocesse  an,  dann  haben  wir 
eine  Septhämie  durch  Leichengift.  —  Aus  den  Fällen,  welche  in  Ge- 
nesung tibergehen,  lässt  sich  ersehen,  dass  die  bei  dem  ganzen  Process 
gebildeten  schädlichen  Stoffe  wieder  durch  die  Se-  und  Excretionen  aus 
dem  Körper  elimiuirt  werden  können,  doch  weiss  man  auch  nicht  genau, 
auf  welchem  Wege  dies  besonders  geschieht.  —  In  manchen  Fällen  wird 
etwas  putride  Substanz  in  Lymphdrüsen  oder  in  einem  anderen  Entzün- 
dungsheerde  förmlich  eingekapselt,  kann  hier  unschädlich  liegen  bleiben 
und  später  allmählig  eliminirt  werden;  bei  heftigen  Bewegungen  kann 
das  Gift  jedoch  auch  durch  die  Steigerung  des  Blutdrucks  in  die  Lymph- 
gefässe  wieder  eingetrieben  werden  und  neue,  acute,  örtliche  und  allge- 
meine Infection  nach  sich  ziehen.  Bleiben  solche  harten  Lymphdrüsen 
nach  Infection  mit  Leichengift  zurück,  so  sind  tägliche  warme  Bäder  am 
besten,  um  den  Giftstoff  am  schnellsten  zur  Ausscheidung  zu  bringen. 


Jetzt  haben  wir  noch  einige  Gifte  zu  besprechen,  die  sich  bei  ge- 
wissen Krankheiten  einiger  Thiere  entwickeln  und  von  den  Thieren  auf 
die  Menschen  übertragen  werden  können.  Hierher  gehört  der  Rotz,  der 
Milzbrand,  die  Maul-  und  Klauenseuche  und  die  Hundswuth. 
Zum  Glück  werden  diese  Infectionen  in  Folge  der  immer  besser  wirken- 
den Sauitäts- Polizei  in  den  cultivlrten  Ländern  inmier  seltner,  so  dass 
Sie  es  als  einen  glücklichen  Zufall  ansehen  müssen,  wenn  Sie  auf  den 
Kliniken  während  Ihrer  Studien  eine  der  genannten  Krankheiten  zu  be- 
obachten Gelegenheit  haben. 

Der  Rotz  (Maliasmus,  Morve)  ist  eine  Infectionskrankheit,  welche 
besonders  bei  Pferden  und  Eseln  vorkommt  und  sich  auf  viele  Thiere, 
nur  nicht  auf  Rindvieh  übertragen  lässt. 

Charakteristisch  ist  eine  Entzündung  der  Nasenschleimhaut  mit  Bildung  kleinerer 
oder  grösserer  Knoten:  es  wird  ein  dicker,  zäher  Eiter  abgesondert,  die  erwälmten  Knoten 
werden  käsig,  zerfallen,  so  dass  sich  Geschwüre  mit  käsigem  Grund  bilden;  Anschwellungen 
der  Lymphdrüsen,  tuberkelartige  Knoten  in  den  Lungen,  allgemeiner  Marasmus  konnuen 
hinzu,  und  der  Ausgang  ist  fast  in  allen  Fällen  ein  tödtlicher.  Die  mein-  clironisch  und 
milder  verlaufende  Form  des  Rotzes  wird  auch  als  „AVurm''  bezeichnet;  sie  ist  seltner, 
es  entstehen  dabei  Knoten  in  der  Haut,  welche  sich  durch  allmähligen  Zerfall  zu  Ge- 
schwüren ausbilden.  Der  Eotz  kann  acut  in  10— 20  Tagen  tödtlich  verlaufen;  chronischer 
Rotz  kann  sich  viele  Monate,  bis  zu  einem  Jahre  hinziehen.  —  Die  Lifection  erfolgt  von 
Thier  zu  Thier  theils  durch  Impfung  excoriirter  Hautstellen  mit  dem  Secret  der  Ge- 
schwüre, häufiger  fast  durch  ein  von  den  kranken  Thieren  ausgehendes  flüchtiges  Con- 
taguim,  welches  durch  die  Lungen  oder  den  Darmtractus  aufgenommen  wird:  die  Krankheit 
localisirt  sich  nicht  immer  zuerst  in  der  Nase,  sondern  zuweilen  zuen-t  in  der  Lunge,  so 
dass  sie  dann  anlangs  sehr  schwer  diagnosticirbar  ist. 


Voi-lcsiin--  27.      Aiiliaii-  zu    ('.Mpilcl    XIII.  433 

Die  Jvolz-   1111(1  Wunukniuklicit   der  'riiicrc   wird   vorwic^L^oiid  durch 
7Ai fällige  Iniiifiiiiü,'  .'luf  Mciisclieii  iil)CTti'ng'en.    Kommt  von  dem  Eiter  eines 
rotzig-eu  Pferdes   etwas   in    eine  Wunde   oder   excoriirte  Stelle  dci'  üjuit 
des  Mensclicii,   oder  kommt  ein  selir  intensiv  g'iftig'cr  Rotzeitcr  nur  auf 
die   unverletzte  Haut  oder  Selileimliaut  des  Menschen,   so  kijnnen  sehr 
acute  Entzündungen  mit  septischer  Allg-emeinkranklieit  auftreten ,  die  in 
den  meisten  Fällen  tödtlich  werden.    Es  giebt  auch  Fälle,  in  welchen  eine 
locale  Infection  nicht  nachzuweisen  ist,  und  in  w^elchcn  man  eine  Tnfection 
durcli    die    Eespirationsorgane    oder    den    Darratractus    annimmt.      Die 
chronische  Form  des  Rotzes  heim  Menschen  ist  selten;  die  Erscheinungen 
sind  vorwiegend:  pustulöse  Entzündungen  der  Haut,   Ahscess-   und  Ge- 
schwürsbildungen bald  hier  bald  dort  im  Unterhautzellgewebe;  die  Gefalir 
ist  dabei  nicht  so  gross.     In  einigen  Fällen  l)ildet  sich  bei  einer  acuten 
Rotzintoxication    eine    auf   die   verletzte   Extremität  sicli   beschränkende 
Lymphangoitis  und  Eiterung;  in  anderen  entwickelt  sich  sehr  schnell  eine 
diffuse  erysipelatöse  Röthung  der  Haut  mit  starker  Schwellung,  während 
zu  gleicher  Zeit  ein  sehr  intensives  Fieber  hinzukommt.    Die  örtliche  Ent- 
zündung kann  in  Brand  übergehen;  es  kommt  zu  Delirien,  bald  zu  einem 
comatösen  Zustand;  Diarrhöen,   eitriger  Ausfluss  aus  der  Nase  ist  meist 
eine  spätere  Erscheinung;    Schmerz  in  den  Muskeln  können  sich  hiuzu- 
gesellen,  und  unter  diesen  Erscheinungen  tritt  der  Tod  ein.     Die  ganze 
Krankheit  kann  in  sehr  kurzer  Zeit  verlaufen;  so  erinnere  ich  mich  als 
Student  in  der  Göttinger  Klinik  einen  kräftigen,  rüstigen  Mann  gesehen 
zu  haben,  der  in  wenigen  Tagen  an  Rotzvergiftung  starb;    doch  kommt 
es  auch  vor,    dass   die  Kranken    bei   dieser   acuten  Rotzvergiftung  noch 
10 — 14  Tage  leben,  und  dass  bei  ihnen  alle  Erscheinungen  der  Pyohämie, 
zumal  eine  Menge  von  hämorrhagischen  Ab  sc  essen  in  den  Muskeln 
entstellen,  die  so  charakteristisch  für  Rotzpyohämie  sind,  dass 
von    ihnen    aus    der  Rü  ckschluss   auf  Rotz    gemacht    werden 
kann.     Es  kann  sich  in  seltneren  Fällen  aus  dem  chronischen  Rotz  die 
acute,   rasch    tödtliche  Rotzkrankheit    entwickeln;    umgekehrt    ist  auch 
beobachtet,  dass  die  acnte  Rotzkrankheit  in  chronischen  Verlauf  übergeht. 
Leute,   die  viel  mit  Pferden  umgehen,    sind  natürlich  dieser  Krankheit, 
die  nie  primär  bei  Menschen  entsteht,  vorzüglich  ausgesetzt;  es  ist  daher 
in  diesem  Sinne  eine  Berufskrankheit.  —  Von  Behandlung  ist  leider  bei 
dieser  Vergiftung  w^enig  die  Rede;  man  behandelt  die  Zustände  je  nach 
den  hervorstechendsten  Symptomengruppen  wie  die  acute  Pyohämie.    Jod, 
Arsenik,  Kreosot  sind  als  Gegengifte  gegen  Rotz  empfohlen. 

Der  Milzbrand  (Anthrax,  Pustula  maligna)  ist  eine  am  häufigsten 
beim  Rindvieh  vorkommende  Infectionskraukheit. 

Die  Krankheit   liat  ihren  Namen  davon,    dass    man    in  den  Leichen  der  daran  ver- 
storbenen Thiere  die  Milz  enorm  gescliwollen,  sehwarzroth,  wie  brandig  findet;  ausserdem 
ist  die  Darmschleimhaut  blutig   roth  und  geschwollen;   das   lockere  subperitoneale  Zellge- 
^"webe  ist  oft  sulzig  ödematös  infiltrirt;  in  der  Darmschleimhaut,  sowie  auch  zuweilen  in  der 
Billroth  cliir.  Path.  n.  Tliernp.   7.  Aufl.  28 


A'^A  Von  den  vergifteten  Wunden. 

äusseren  Haut  finden  sich  Carbunkel-artige,  rasch  brandig  werdende  Inliltrationen.  Die  Krank- 
heit verläuft,  wie  alle  Infectionskrankheiten ,  verschieden  schnell  je  nach  der  Menge  und 
Intensität  des  aufgenommenen  Giftes  und  je  nach  der  Resistenz-  der  ei-krankten  Individuen; 
der  Verlauf  kann  fondroyant  (apoplectiform)  sein,  sich  aber  anch  auf  mehi'e  Tage  aus- 
dehnen. Pflanzenfresser  werden  leichter  davon  inficirt,  als  Omnivoren  und  Camivoren. 
Das  Contaginm  ist  ein  fixes  an  den  Producten  der  Krankheit  und  an  dem  erkrankten 
Individuum  hängendes. 

Die  Uebertragung-  der  Krankheit  auf  den  Menschen  erfolgt  am  häu- 
fig'sten  durch  das  Secret  der  Milzhrandpusteln.  Kommt  dassel1)e  oder  die 
getrocknete  Haut  des  getödteten  Thieres  mit  der  Haut  des  Menschen  in 
Berührung-,  so  kann  das  Gift  auch  bei  unverletzter  Haut  in  einen  Haar- 
balg-  oder  eine  Schweissdrüse  eindringen;  es  entsteht  eine  anfangs  un- 
scheinbare doch  stark  juckende  dann  brennende  Pustel,  in  deren  Centrum 
sich  bald  ein  schwarzes  Blutbläschen  bildet;  dazu  gesellt  sich  bald  be- 
deutendes Fieber.  Die  Hautentzündung  nimmt  sehr  bald  die  Beschaifen- 
heit  eines  Carbunkels  mit  raschem  Ausgang  in  Brand  an;  der  Verlauf 
gestaltet  sich  wie  beim  früher  beschriebenen  bösartigen  Carbunkel,  und 
die  Krankheit  endigt,  sich  selbst  überlassen,  meist  tödtlich.  Man  reicht 
innerlich  die  bekannten  Antiseptica.  Der  Anthrax  selbst  ist  energisch 
mit  Einschnitten,  Excisionen,  Kali  causticum,  rauchender  Salpetersäure 
anzugreifen ;  kommt  der  Kranke  früh  zur  Behandlung,  und  ist  noch  keine 
intensive  Blutinfection  ausgebildet,  so  ist^Hoffnung  auf  Genesung;  bei 
vollkommener  Entwicklung  des  Milzbrandcarbunkels  und  septhämischen 
Erscheinungen  ist  der  Tod  sicher.  Von  Leube  und  W.  Müller  sind 
in  jüngster  Zeit  Fälle  beschrieben,  in  welchen  sich  nach  Geuuss  von 
Fleisch  an  Milzbrand  verstorbener  Thiere  eine  schwere  Darmentzündung 
mit  tüdtlichem  Ausgang  entwickelte.  Nach  Bollinger  soll  auch  die 
Milch  milzbrandiger  Kühe  infectiös  auf  den  Menschen  wirken.  —  Ob 
der  Milzbrandcarbunkel  auch  beim  Menschen  sich  primär  entwickeln 
kann,  ob  der  früher  beschriebene  (pag.  305)  bösartige  Carbunkel  beim 
Menschen  immer  durch  Infection  oder  auch  spontan  aus  gleichen  ätiolo- 
gischen (wenig  bekannten)  Bedingungen  hervorgehen  kann  wie  bei  Thieren, 
darüber  streitet  man  noch ;  ausgezeichnete  Chirurgen  und  Thierärzte  haben 
sich  mit  diesem  Gegenstande  beschäftigt;  die  Impfversuche  von  Secret 
des  bösartigen  Carbunkels  des  Menschen  auf  Thiere  sind  sehr  unsicher 
in  ihrer  Wirkung  gewesen,  die  Beobachtungen  widersprechen  sich  zum 
Theil,  kurz  das  Verhältniss  dieser  verschiedenen  Carbunkel-  und  Fustel- 
formen  zu  einander  ist  in  Bezug  auf  ihre  Aetiologie  noch  nicht  völlig 
aufgeklärt. 

In  neuester  Zeit  gewinnt  die  Ansicht,  dass  diese  Krankheit  auf  Infection  durch  ge- 
wisse kleinste  Organismen  beruhe,  immer  mehr  an  Boden;  zumal  hält  Davaine  dafür, 
dass  die  im  Blute  lebender,  an  Milzbrand  erkrankter  Thiere  ziendieh  constanr  beobachteten, 
von  rollender  (1855)  zuerst  beschriebenen  Bacterien  die  Krankheit  veranlassen.  Da 
aber  auf  der  anderen  Seite  behauptet  wird,  dass  man  auch  mit  Milzbrandblut,  welches 
keine  Bacterien  enthält,  erfolgreich  andere  Thiere  inficiren  kann,  so  darf  man  vielleicht 
Jio.h  daran  zweifeln,    ob  die  Bacterien  wirklich   so    wesentlich  beim  Milzbrand  sind.     In 


Vorlcsimf^   '21.      Auliiin--  zu   ('.■ii.iM'l    Xllf.  ^^f) 

den  vorluM-  crwj'üiiiU'ii  l<\'illi'ii  von  Ivciilic  rimdcii  sich  zahllose;  Coc(:os  und  IJai'ici-ii'ii  in 
der  rnlcslinalscIiK'iinlniid  (M  ykosis  inicslinalis,  I!  n  h  I ).  Dass  die  lud  im  Alilzhrand  [^rl'iindrncn 
Uaricricn  von  andcrci'  Art:  sind,  als  dit'  l'';iuhiissliaclri-icn ,  isl  viidCarh  l)cliaii|ili-l  ,  dui-li 
niciil  hcwifscn.  Holiini^cr  licdniuplcl.,  dass  sich  kleine  Coccos  (HacIcricMkeiine)  in  dem 
IJliit  jedes  an  Milzhrund  erkrankten  'Phieres  linden,  dass  sie  aber  wegen  iiirer  Kieiidicil 
den  Beobaeliteni  oft  entgangen  sind;  er  iiält  die  Veget-ution  dieser  rilzidenicrile  l'iir  die 
wesentlichste  Ursaelie  der  Kranklieit,  wtdche  freilidi  durch  r)is])osilion  einzelner  'l'hierarten, 
Nalinnig  derselben  und  BesclialVenbeit  des  iJodens  und  der  Stallungen  sehr  iiegünsfigl 
wird.  Was  Bollinger  als  eliarakteristiselie  Milzhrandbaeterien  ahbiidel.  ist  nach  nieiiu-r 
N<Hnen(datur  als  Streptocoeeos  zu   I)ezeie.hnen. 

Audi  die  Maul-  und  Klauenseuche  des  liindvieli's  nuissen  wir 
erwähnen,  da  ihre  Uel)ertrag'barkeit  auf  Menschen  durcli  neuei'e  Unter- 
suchungen festgestellt  ist. 

Die  Krankheit  besteht  beim  Eindvieb  darin,  dass  sieh  an  der  Mvindschleinihaut  und 
an  der  Wurzel  der  Hufen,  dann  auch  am  Kuter  der  Kühe  Bläschen  und  l'usteln  bilden, 
welche  nach  Ablauf  von  5 —  14  Tagen  spontan  wieder  heilen.  Somit  ist  die  Krankheit, 
welche  sich  epidemisch  theils  durch  das  Secret  der  Pusteln  und  durch  die  Milch,  theiis 
auch,  wie  angenommen  wird,  durch  ein  flüchtiges  Contagium  verbreitet,  gewöhnlich  ab- 
gelaufen; weimgleich  die  Thiere  daliei  oft  stark  abmagern,  so  sterben  doch  nur  junge 
Kälber  daran. 

Die  Uebertrag'ung'  dieser  Kranklieit  auf  den  Menschen  erfolgt  dui'cli 
Contact  von  verletzten  Hautstellen  mit  dem  Secret  der  Thierpusteln  oder 
durch  reichlichen  Genuss  ungekochter  Milch  kranker  Thiere.  Ist  die 
Krankheit  in  letzterer  Weise  entstanden,  so  bilden  sich  Bläschen  und 
Pusteln  im  Munde,  auch  an  Händen  und  Füssen  wie  beim  Rind.  Angina 
und  Magencatarrh  kann  hinzutreten.  Die  Therapie  besteht  in  häufiger 
Reinigung  des  Mundes,  Bepinseln  der  Bläschen  im  Munde  mit  Borax- 
lösungen (3j  auf  §j  Honig),  Betupfen  der  Hand-  und  Fusspusteln  mit 
Argent.  nitricum.  —  Durch  das  Kochen  der  Milch  wird  der  Infections- 
stoff  zerstört.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dass  manche  aphthöse  Erkran- 
kungen kleiner  Kinder  durch  lufection  mit  Milch  entstehen,  welche  von 
Kühen  mit  Maul-  und  Klauenseuche  stammt.  Die  Krankheit  verläuft 
beim  Menschen  ebenso  ungefährlich  wie  beim  Rindvieh,  nur  ganz  junge 
schwächliche  Kinder  könnten  dadurcli  gefährdet  werden. 

Bekannter  und  auch  wohl  häufiger  als  die  eben  beschriebenen  beiden 
Krankheiten  ist  die  Hundsv^-utli  oder  Wasserscheu  (Hydrophobia, 
Lyssa),  welche  von  Thieren  auf  Menschen  übertragen  wird.  Dass  sich 
die  Krankheit  jetzt  noch  primär  entwickelt,  wird  von  Bollinger  be- 
stritten. Sie  wird  nur  durch  den  Biss  der  erkrankten  Thiere  und  den 
in  die  Wunde  fliessenden  Speichel  übertragen,  und  haftet  das  Gift  bei 
allen  warmblütigen  Thiei-en;  es  nimmt  bei  den  Impfungen  nicht  an  Wirk- 
samkeit ab,  sondern  ist  immer  mit  gleicher  Kraft  weiter  zu  übertragen. 
Es  beisst  z.  B.  ein  toller  Hund  eine  Katze;  bei  dieser  entwickelt  sich 
die  Krankheit  und  sie  beisst  einen  Menschen;  der  Speichel  des  kranken 
Menschen,  auf  ein  Thier  übergeimpft,  erzeugt  wieder  die  Krankheit  u.  s.  f. 

28* 


A0(^  Von  den  vergifteten  Wunden. 

Auch   durch  Impfung  mit  Blut  der  wuthkrauken  Thiere  kann   man  die 
Krankheit  erzeug-en. 

Die  Jh-scheinungen  beim  Hunde  werden  von  den  Thierärzten  in  folgender  Weise 
geschildert.  Man  unterscheidet  eine  rasende  und  eine  stille  Wuth;  vor  beiden  ist  der 
Hund  etwa  8  Tage  lang  traurig  und  geniesst  wenig;  nun  beginnt  die  rasende  Wuth;  der 
Hund  läuft  zwecklos  umher  mit  unstetem  Blick,  scheinbar  von  innerer  Angst  getrieben, 
beisst,  wenn  er  gereizt  wird,  auf  Alles  ein,  was  ihm  in  den  Weg  kommt:  zuletzt  tritt 
Abmagerung  ein,  wankender  Gang,  dann  Lähmung  der  hinteren  Extremitäten,  das  Bellen 
geht  in  eine  Art  von  Heulen  über,  Zuckungen  stellen  sich  ein,  und  3 — 4  Tage  nach  den 
letzten  Erscheinungen  erfolgt  der  Tod.  Bei  der  stillen  W^uth  tritt  sehr  bald  Lähmung 
der  Unterkiefermuskeln  ein  und  damit  die  Unfähigkeit,  zu  beissen  und  zu  fressen.  Die 
übrigen  Erscheinungen  sind  wie  eben  beschrieben.  Von  Einigen  werden  nicht  diese  beiden 
Formen  der  Krankheit  als  solche  unterschieden,  sondern  dieselben  als  vei-schiedene,  nur 
bald  rascher,  bald  langsamer  vorübei'gehende  Stadien  bezeichnet.  Bei  der  Section  solcher 
Thiere  findet  man  nach  Bollinger  als  das  Wesentlichste:  eine  dunkle,  dickflüssige  und 
theerartige  Beschaffenheit  des  Blutes,  Hirnödem,  mehr  oder  weniger  ausgesprochene 
catarrhalische  Veränderungen  sämmtlicher  Schleimhäute,  besonders  des  Athmungs-  und 
Verdauungscanais,  öfters  verbunden  mit  Hyperämie  und  Ecchymosen,  Hyperämie  und 
cyanotische  Fäi'bung  der  parenchymatösen  Organe,  Mangel  normaler  Futterstoffe  im  Magen 
und  Darm  und  die  Gegenwart  unverdaulicher  Fremdkörper  daselbst,  endlich  die  vorge- 
schrittene Abmagerung  dez  ganzen  Thieres.  —  Es  ist  mir  nicht  bekannt,  ob  mikroskopische 
L^ntersuchungen  des  Hirns  und  Rückenmarks  bei  dieser  Krankheit  angestellt  worden  sind: 
es  ist  doch  in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  in  den  Fällen,  wo  längere  Zeit  deutliche 
Lähmungen  hervortraten,  eine  Degeneration  des  Rückenmarks  vorhanden  ist,  wenn  auch 
sonst  die  Krankheit  einen  vorwiegend  humoralen  Charakter  trägt. 

Was  die  Uebertragung-  des  Hundswuthgiftes  auf  den  Menschen  be- 
trifft, so  ist  es  zuvörderst  beruhigend,  dass  von  den  Gebissenen  nicht  alle 
erkranken,  sondern  dass  das  Gift  unter  100  Fällen  nur  etwa  47  Mal  haftet. 
Meist  heilt  die  Bisswunde  leicht  zu;  seltner  eitert  sie  längere  Zeit,  was 
als  günstiger  betrachtet  wird;  niemals  ist  die  örtliche  Reaction  der  Art, 
dass  von  ihr  aus  eine  Gefahr  droht  und  in  dieser  Beziehung  unterscheidet 
sich  das  Hundswuthgift  sehr  wesentlich  von  den  bisher  besprocheneu 
thierischen  Giften;  es  ist  kein  phlogogenes  Gift.  Der  Ausbruch  der 
Krankheit  erfolgt  selten  vor  der  6.  Woche  nach  dem  Biss,  häutig  noch 
später;  es  existirt  aus  neuester  Zeit  eine  Beobachtung,  wo  die  Krankheit 
erst  nach  6  Monaten  auftrat.  Aeltere  Schriftsteller  geben  noch  eine 
viel  längere  Dauer  des  Incubationsstadiums  an;  im  Volk  besteht  viel- 
fach der  Glaube,  dass  die  Zahl  9  dabei  eine  Rolle  spiele;  mau  erzählt 
sich,  dass  die  Krankheit  am  9.  Tage  oder  in  der  9.  Woche  oder  im 
9.  Monat  nach  dem  Biss  auftrete,  und  dass  man  vor  dem  Ablauf  des 
neunten  Jahres  immer  noch  nicht  sicher  vor  dem  Ausbruch  der  Krank- 
heit sei.  Dies  ist  nun  jedenfalls  als  ein  Mährchen  zu  betrachten,  was 
sich  leicht  dadurch  erklären  lässt,  dass  die  lauge  Dauer  des  Incubations- 
stadiums an  sich  ja  etwas  sehr  Wunderbares  hat  und  deshalb  wohl  zu 
diesen  Erzählungen  Veranlassung  gab.  Wo  das  Gift  während  der  langen 
Dauer  stecken  bleibt,  ob  in  der  ^\arbe,  in  den  nächsten  Lymphdrüsen, 
im  Blute,   das  ist  völlig  unbekannt.     Nur   in   wenigen  Fällen   hat  mau 


Vorlesung  27.      Anliiin-    /n   (';i|nlrl   XIII.  437 

beobachtet,  das.s  die  Verletzteii  kiir/  vor  (lern  Aiisbiiidi  der  Krankheit 
öehnicrzeii  uiid  eine  ^•eriiii^'e  Iiöthun,!;'  der  Narbe  bemerkten;  dann  treten 
zunächst  grosse  Reizbarkeit,  An(Ve,i;im,^-  und  l'nrnlie  und  in  scilcne)!  Fällen 
sclion  jetzt  Krämpfe  beim  ►Sehhicken  ein.  Die  Keiz1)arkeit  steigert  si(;h 
immer  mehr;  das  Lieht,  jedes  (leräuseh,  jeder  TiuCtzii^'  (|uält  diese  lui- 
yliicklieheii  Kranken  und  kann  bei  ihnen  allgemeine  Zuckungen  und  die 
sclunerzhaften  Scldundkrämpte  anregen.  Jetzt  konnnt  erst  nach  und  nach 
die  eigentliclie  A\'asserscheu  die  bei  Hunden  ganz  fehlt;  die  Kranken 
liaben  unsäglichen  Durst,  und  so  wie  sie  etwas  Fliissig-es  sehen,  werden 
sie  von  entsetzlicher  Angst  und  Kränipi'en  l)efallcn;  zuweilen  folgen  An- 
fälle von  tiefer  kram})fartigcr  Inspiration;  der  Schlaf  höi't  vollkommen 
auf,  die  Kranken  befinden  sich  in  fortwährender  Angst  vor  dem  geringsten 
Geräusch,  weil  alles  dies  sofort  die  schmerzhaften  Krämpfe  anregt,  die 
sich  zuletzt  über  den  ganzen  Körper  verbreiten  und  dann  auch  zu  förm- 
lichen Wuthanfällen  mit  dem  Ausdruck  der  furchtbarsten  Angst  führen. 
Im  Ganzen  sind  diese  Unglücklichen  jedoch  durch  Ruhe  und  Zuspräche 
leicht  zu  besänftigen,  entweder  vollständig  resiguirt  oder  auch  tief  melan- 
cholisch. Zuweilen  mahnen  sie  ihre  Umgebung,  ihnen  nicht  zu  nahe  zu 
kommen,  damit  sie  jene  nicht  beissen,  sind  aber  durchaus  nicht  bösartig, 
wie  man  sie  früher  geschildert  hat.  Erst  gegen  das  Ende  tritt  starke 
Speichelabsonderung  und  dann  Schaum  vor  dem  Mund  ein;  der  Tod  folgt 
in  einigen  Fällen,  nachdem  zuvor  die  heftigsten  Starrkrämpfe  voraus- 
gegangen sind,  in  anderen  ausserordentlich  ruhig,  nachdem  die  Krämpfe 
und  die  Wasserscheu  vollständig  aufgehört  und  Patient  und  Arzt  sich 
einer  trügerischen  Hoffnung  hingegeben  hatten.  —  Die  pathologische 
Auatonue  giebt  uns  leider  gar  keine  Aufklärung  über  diese  merkwürdige 
und  fürchterliche  Krankheit.  Es  ist  nicht  daran  zu  zweifeln,  dass  das 
Rückenmark  dabei  afficirt  ist;  ob  aber  die  Nervensubstanz  selbst  erkrankt 
ist,  hat  sich  bis  jetzt  noch  nicht  ermitteln  lassen. 

In  Betreff  der  Prognose  müssen  wir  leider  bekennen,  dass  es  für 
diejenigen  Kranken,  bei  denen  die  Krankheit  zum  Ausbruch  gekommen 
ist,  keine  Rettung  giebt.  Es  dürfte  für  alle  Fälle  zweckmässig  sein,  die 
Bisswunden  toller  Thiere  tief  auszuätzen  oder  auszubrennen  und  sie 
lange  in  Eiterung  zu  erhalten,  wenigstens  ist  dies  noch  das  Einzige, 
was  man  rationeller  Weise  unternehmen  könnte;  ob  die  Excision  einer 
solchen  Narbe  noch  etwas  helfen  kann,  wenn  die  Krankheit  schon  aus- 
gebrochen ist,  lässt  sich  aus  den  bisherigen  Beobachtungen  nicht  fest- 
stellen; es  wäre  jedenfalls  zu  versuchen.  Bei  ausgebrochener  Krankheit 
hat  man  fast  alle  kräftigen  Mittel  des  Arzneischatzes  und  der  Chirurgie 
erschöpft;  alle  Narcotica  sind  in  kleineu  und  grossen  Dosen  angewandt 
worden;  besonders  hat  man  Belladonna  und  Opium  fast  bis  zur  Vergif- 
tung gegeben  und  durch  die  künstliche  Betäubung  den  Kranken  wohl 
Linderung  iln-er  Leiden,  wenn  auch  keine  Hülfe  geschafft.  Man  hat  das 
Glied  mit  der  Narbe  amputirt;    vergeblich!     Dieffenbach   machte  bei 


438  '^"'^"  ^^'^^'  ••l'i'<^"'i'^t^h'^'"  Eiitzüiidiing.   hesuiiders  cU-r   VVeichrheile. 

einem  solclieu  Kranken  die  Transfusion;  verg-eblicb  !  —  Bei  vorluindener 
Wasserscheu  kann  man  den  Kranken  etwas  Flüssigkeit  durch  eine  Köhre 
einflössen;  die  Patienten  befinden  sich  am  besten  bei  absoluter  Euhe  in  einem 
halbverfinsterten  Zimmer:  zur  Bekämpfung-  der  Krampfanfälle  haben  sich 
wiederholte  Chlorofornmarkosen  am  zweckniässigsten  erwiesen,  und  die 
Kranken,  welche  dieses  Mittel  einmal  kennen  gelernt  haben,  dringen 
immer  von  Neuem  darauf.  Dies  ist  aber  auch  das  Wenige,  was  man 
für  diese  unglücklichen  Menschen  thun  kann. 

Leider  ist  trotz  der  rigorosesten  Sanitätsgesetze  auch  in  civilisirten 
Ländern  die  Zahl  der  jährlich  an  Lyssa  sterbenden  Menschen  eine  nicht 
unbedeutende.  Nach  12— 18jährigen  Durchschnittbereclmungen  sterben 
jährlich  in  Preussen  71,  in  Oesterreich  58,  in  Frankreicli  24,  in  Bayern 
17  Menschen  an  der  Huudswuth. 


Die  letzerwähnteii  Krankheiten  reichen  so  sehr  in  das  Gebiet  der  Veterinärkunde, 
der  Sanitätspolizei  und  der  inneren  Mediein  hinein,  dass  ich  Ihnen  hier  nur  eine  kurze 
Skizze  davon  geben  konnte.  Genauere  Belehrung  darüber  finden  Sie  in  Vircliow's 
specieller  Pathologie,  Bd.  II.  Abschnitt:  Zoonosen,  wo  auch  die  Specialliteratur  angegeben 
ist.  Auch  in  der  von  v.  Pitha  und  mir  herausgegebenen  Chirurgie  finden  Sie  im  Bd.  I. 
Abth.  2.  ausführliche  Abschnitte  über  die  Zoonosen.  Ganz  besonders  mache  ich  Sie  auf 
den  soeben  erschienenen  von  Bollinger  bearbeiteten  Abschnitt:  Zoonosen  in  dem  von 
V.  Ziemssen  hei-ausgegebenen  Handbuch  der  speciellen  Pathologie  und  Therapie  auf- 
mei'ksam. 


Vorlesung  28. 
CAPITEL  XIV. 

Voü  der  chronischen  Entz(uidiing,  besonders  der 

Weichtheile. 

Anatomisches:    1.    Verdickung,    Hypertrophie.     2.    Hypersecretion.     3.    Eiterung,  kalte 

Abscesse,  Congestionsabscesse,  Tisteln,  Ulceration.  —  Folgen  chronischer  Entzündungen.  — 

Allgemeine   Symptomatologie.  —  Verlauf. 

Meine  Herren! 

Nachdem  wir  uns  bisher  fast  allein  mit  acuten  Processen  beschäftigt 
haben,  kommen  wir  jetzt  zu  den  chronischen,  und  zwar  zunächst  zur 
chronischen  Entzündung.  Ich  will  jedoch  dabei  einen  anderen  Weg 
einschlagen,  wie  bisher,  indem  ich  nicht  sofort  auf  die  einzelnen,  in 
der  chirurgischen  Praxis  hauptsächlich  vorkonnnenden  Erscheinungsformen 
der  chronischen  Entzündung  eingehe,  sondern  Ihnen  zunächst  eine  all- 
gemeine Exposition  über  den  Process  als  solchen  gebe. 

Auch  bei  der  chronischen  Entzündung  handelt  es  sich  wie  bei  der 
acuten  um  chemische  und  morphologische  Alterationen  der  Gewebe,  um 


•Ernährung'sstörung-en  derselben;  ihnen  folgt  tlieils  Krvveieliuug'  und  Anl- 
Insnng-,  tlieils  nioleluilarer  Zerfnll  oder  ausgedehntere  langsam  yai  Stande 
koniniendc  Nekrose  der  Gewebe.  Zu  diesen  Proeessen  kommt  die  Ge- 
fässdilatation,  die  Exsudation,  die  Gewebsneubildimg  hinzu.  Diese  Com- 
bination  von  Ti-oeessen  kann  sieh  sehr  mannichf altig  gestalten;  die  eliro- 
nisehe  Entzündung  führt  zu  sehr  viel  complieirtcren  Bildern,  je  nachdem 
dieses  oder  jenes  Stadium  des  Processes  mehr  oder  weniger  stabil  bleil)t, 
je  nach  dem  Zerfall,  Erweichung-,  Verhärtung  des  leidenden  Gewebes 
eintritt,  und  je  nach  den  ebenso  manniclifaltigen  Schicksalen  der  ent- 
zündlichen Neubildung'.  Auch  in  ätiologischer  Beziehung  sind  die  Ver- 
hältnisse beider  chronischen  Entzündung  viel  verwickelter;  denn  es  han- 
delt sich  da  meistens  nicht  um  einen  einmal  wirkenden  Keiz,  nicht  immer 
um  eine  einfache  Verletzung-,  eine  Verbrennung,  eine  Quetschung-  und 
Mire  typisch  ablaufenden  Folg-en,  sondern  1.  um  die  Erklärung,  weshalb 
die  vorliegende  Entzündung-,  über  deren  directe  Ursachen  man  oft  nichts 
von  den  Kranken  erfährt,  überhaupt  entsteht,  und  2.  warum  sie  einen 
chronischen  Charakter  annimmt. 

Ich  will  Ihnen  zunächst  auseinander  setzen,  welcherlei  anatomische 
Vorgänge  bei  den  chronischen  Entzündungsprocessen  im  Gewebe  Statt 
haben,  wobei  wir  auch  hier  wie  bei  der  acuten  Entzündung  hauptsächlich 
von  dem  Bindegewebe  als  dem  gewöhnlichen  Sitz  der  Krankheit  ausgehen 
wollen.  Neben  der  Ausdehnung  und  Vermehrung  der  Capillargefässe 
durch  Schling-enbildungen  haben  wir  bei  der  acuten  Entzündung  die  se- 
röse und  plastische  Infiltration  des  Gewebes  als  die  wesentlichsten  ana- 
tomischen Erscheinungen  kennen  gelernt.  Bei  der  chronischen  Entzün- 
dung tritt  die  Ausdehnung  der  Capillargefässe,  die  Fluxion  symptoma- 
tologisch  mehr  in  den  Hintergrund,  während  die  morpholog-ische  Alte- 
ration der  Gewebe  zumal  durch  die  in  sie  intiltrirte  Neubildung,  sowie 
die  seröse  Infiltration  eine  grössere  Eolle  zu  spielen  bestimmt  sind. 
Die  Zelleninfiltration  des  Gewebes  erfolgt  wie  bei  der  acuten  Entzündimg, 
die  einzelnen  Zellen  entwickeln  sich  aber  oft  zu  einer  etwas  vollkomme- 
neren Ausbildung-.  Dabei  verlieren  die  Bindegewebsfasern  ihre  zähe, 
faserig-e  Beschaffenheit;  das  Unterhautzellgewebe  büsst  seine  Dehnbarkeit 
und  Elasticität  ein,  und  die  Folge  davon  ist,  dass  das  Gewebe  dem 
freien  Auge  geschw^ellt,  gallertig-speckig,  sulzig  und  weniger  verschiebbar 
erscheint,  als  im  normalen  Zustande.  Dies  ist  das  Aufangsstadium  einer 
jeden  chronischen  Entzündung.  Der  Verlauf  kann  nun  in  folgender 
Weise  verschieden  sein : 

1.  Das  Gewebe  bleibt  dauernd  auf  diesem  Zustand  der  serösen 
und  zum  Tlieil  plastischen  Infiltration;  Haut  und  Unterhautzellgewebe, 
Gelenkkapseln,  Sehnen,  Bänder,  Fascien,  kurz  alle  diese  bindegewebigen 
Bestandtheile  des  Körpers,  welche  sich  in  dem  geschilderten  Zustand 
befinden,  bieten  eine  auf  dem  Durchschnitt  ziemlich  homogene,  speckige 
Beschaffenheit  dar.     Bei  Krankheiten  der  Gelenke  und  ihrer  Umgebung 


440  Von   der  chronischen   Entzündiinjf,   besonders  der  Weirhtheile. 

sieht  mau  dies  am  liäufig-sten,  und  weil  diese  Auschwellung-  der  Ge- 
lenke ohne  jegliche  Hautröthimg-  vor  sieh  geht,  so  hat.  man  sie  frülier 
mit  dem  Namen  Tumor  albus  bezeichnet,  ein  Käme,  der  freilich  für 
das  Wesen  des  Processes  nichts  aussagt,  dennoch  aber,  auf  gewisse 
Formen  von  Gelenkkrankheiten  beschränkt,  praktisch  brauchbar  ist.  — 
Sie  können  sich  selir  wohl  denken,  dass  das  im  Ganzen  bisher  wenig 
alterirte  Gewebe  aus  diesem  Zustand  der  Erkrankung  fast  vollständig 
zum  normalen  zuriickkehreu  kann.  Das  iufiltrirte  Serum  wird  resorbirt, 
die  ins  Gewebe  neu  eingetretenen,  eventuell  dort  neu  gebildeten  Zellen 
werden  theils  zu  Bindegewebskörperchen,  theils  gehen  sie  durch  Zerfall 
zu  Grunde;  das  Bindegewebe  selbst  kehrt  zu  seiner  früheren  Beschaffen- 
heit zurück,  und  wenn  auch  der  Zustand  nicht  ganz  genau  wieder  so 
wird,  wie  er  war,  so  ist  es  doch  annähernd  der  Fall.  Ein  Zustand  von 
narbiger  Verdickung  bleibt  noch  eine  Zeit  lang  zurück;  auch  können 
im  Lauf  der  Zeit  während  der  Entwicklung  der  chronischen  Entzündungs- 
processe  hier  und  da  im  Gewebe  kleine  Extravasate  oder  Durchtretungen 
von  rothen  Blutzelleu  durch  die  Gefässwand  in  Folge  erhöhten  Druckes 
Statt  gefunden  haben;  diese  wandeln  sich  zu  einem  bräunlich -rothen 
Pigment  um,  welches,  wenn  es  in  reichlicher  Menge  vorhanden  ist,  dem 
erkrankt  gewesenen  Gewebe  eine  gelbliche  oder  graue  Farbe  giebt.  — 
Erfolgt  keine  Rückbildung,  sondern  dauert  der  Process  in  gleicher  Form 
fort,  so  werden  mit  unter  dem  Eiufluss  des  fortwährenden  Ueberschusses 
von  Ernährungsniaterial,  welches  den  erkrankten  Theilen  in  Folge  von 
Stauung  des  Blutes  zufiiesst,  die  Gewebselemente  immer  grösser  und 
dicker,  das  ganze  Gewebe  wird  immer  massiger;  aus  den  infiltrirten 
jungen  Zellen  bildet  sich  neues  Bindegewebe  zwischen  den  alten  Binde- 
gewebsfasern, so  dass  z.  B.  die  Haut  auf  diese  Weise  um  das  Drei-, 
Vierfache  und  mehr  verdickt  wird ;  diese  Einlagerung  neuen,  gleichartig 
gebildeten  Gewebes  in  das  alte  hinein  nennt  man  in  der  pathologischen 
Anatomie  „Hyperplasie"  (yoii  vneQ  über  und  nläöoco  hMen).  Wenn 
die  Verdickung  der  Haut  eine  knotige  Form  annimmt,  pflegt  man  sie 
als  Pachydermie  (von  naxvg  dick  und  ösQfia  Haut)  zu  bezeichnen; 
es  pflegen  dann  auch  Secretionsanomalieu  und  A'eränderungen  der  Epithel- 
bildung als  Folgezustände  hinzuzukommen;  denn  bei  der  erwähnten 
Cutiserkrankung  wird  die  Epidermis  entweder  massenhaft  gebildet  und 
verhornt  auch  schnell,  oder  die  Verhornung  erfolgt  nur  unvollkommen, 
das  Hauptepithel  gelangt  nicht  zur  vollen  Reife. 

In  letzterem  Falle  veranlasst  also  die  entzündliche  Ernährungsstörung 
grade  keinen  Zerfall,  keine  Vernichtung  des  Gewebes,  doch  wie  sie  selbst 
in  geringem!  Grade  fortdauert,  so  unterhält  sie  auch  dauernd  die  rege- 
nerativen Processe  in  einem  mittleren  Grad  von  Thätigkeit,  lässt  sie  aber 
nur  unvollkommen  zur  Bildung  fertiger  Gewebe  kommen.  Hier  liegt 
der  Uebergang  zur  GeschAvulstbildung  vor,  auf  welchen  wir  später  zu- 
rückkommen. 


Vm-l.'siiii!:,'  ^_>S.      (';i|iiirl    MV.  441 

2.  Denken  Hie  sich  <len  Trocess  dw  cliroiiisclieii  Fiiitziiiuliiii^-,  so 
weit  Sie  lim  jetzt  kennen,  auf  eine  Sclilciinliaiit  odcv  sei-öse  ll;iiit  iil)ei-- 
tr.iii'en,  so  werden  Sie  bea,Teiien,  dass  hei  den  pMtliolo^'isehen  Veründe- 
rnnii'en,  welche  in  dem  Gewebe  dieser  lläntc  Vhü'A  i;-reifen,  aueli  die 
Secretion  nicht  normal  l)Icil)en  kann.  CUnvr)hnlich  tritt  eine  Steig'ernn^' 
derselben,  onne  llyi)ersecretion,  ein;  die  chronische  Entzündung-  /.  V>. 
einer  SynoYialniend)ran  oder  einer  Seldeindiaut  kann  sich  sog'ar  vorwie- 
g'end  in  dieser  Hypersccretion  äussern. 

Die  chronischen  Catarrlie  der  Scldeindiäute  können  bald  mebr  die 
epithelialen,  bald  nielir  die  bindeg'cw^ebig-en  Lagen,  bald  mehr  die  Drüsen 
der  Schleimhaut  betreffen;  in  vielen  Fällen  leiden  alle  drei  zugleich  in 
gleichem  Maasse.  In  manchen  Fällen  sondern  die  Schleindiäute  bei  die- 
sen Zuständen  fast  reinen  Eiter  ab,  ohne  selbst  sehr  erheblich  dabei 
alterirt  zu  sein.  Bei  diesen  chronischen  Bleuorrhöen  sind  wahr- 
scheinlich die  Gefässwandungen  dauernd  in  einem  solchen  Zustand  der 
Erschlaffung,  dass  sie  continuirlich  eine  grosse  Anzahl  von  Wanderzellen 
durchlassen.  —  EtAvas  anders  sind  die  Verhältnisse  an  den  Synovial- 
membranen der  Gelenke:  es  giebt  Formen  chronischer  Gelenkentzündun- 
gen, die  sich  hauptsächlich  in  einer  sehr  reichlichen  Secretion  einer  sehr 
wasserreichen  Synovia  ohne  Beimischung  von  Eiter  äussern  (Gelenk- 
wassersucht, Hydrops  articulorum),  andere,  die  mehr  in  einer  Verdickung- 
der  Synovialmembran  mit  nur  wenig-  vermehrter  Secretion  bestehen. 

3.  Die  chronische  Entzündung  kann  auch  mit  Eiterinfiltration 
und  Abscessbildung  verlaufen,  und  zwar  sind  die  feineren  Vorgäng-e 
dabei  ebenso  wie  bei  dem  acuten  Process,  nur  dass  Alles  langsamer 
vor  sich  g-eht.  Es  entsteht  z.  B.  an  irgend  einer  beliebigen  Stelle  des 
Körpers  eine  nach  und  nach  immer  bedeutender  werdende  Gewebs- 
infiltration mit  Wanderzellen,  wobei  das  Gewebe,  in  welches  sich  diese 
Zellen  infiltrirten,  erweicht  und  molecular  zerfällt.  Das  dem  ersten 
Krankheitsheerd  anliegende  Gewebe  wird  nach  und  nach  in  gleicher 
Weise  von  Zellen  infiltrirt  und  schickt  sich  an,  ebenfalls  zu  flüssigem 
Zellengewebe  mit  dem  Charakter  des  Eiters  zu  w^erden;  das  infiltrirte 
Gewebe  ist  um  so  eher  zur  Vereiterung  und  zum  Zerfall  disponirt,  wenn 
keine  erhebliche  Gefässentwicklung  in  demselben  erfolgt  und  kein 
qualitativ  und  quantitativ  genügendes  Ernährungsmaterial  geliefert  wird, 
um  die  Weiterentwicklung  der  übermässig  angehäuften  Zellen  zu  unter- 
halten. Auf  diese  Weise  entsteht  langsam  ein  Abscess,  eine  circum- 
scripte  Eiterhöhle,  deren  Wandungen  fortwährend  im  Begriff  sind,  zu 
Eiter  umgewandelt  zu  werden,  'zu  vereitern.  Dies  geht  nun  hier 
Alles  sehr  allmählig  vor  sich  und  oft  ohne  die  sonst  bei  Entzündungen 
hervortretenden  Erscheinungen,  oft  ohne  Schmerz,  ohne  Röthung,  ohne 
erhöhte  Temperatur  des  betroffenen  Theils,  gewöhnlich  auch  ohne  Fieber. 
Man  nennt  daher  diese  Art  von  Abscessen,  die  auf  chronischem  Wege 
entstehen,    kalte  Abscesse;    für  diesen  chronischen  Process  der  Ver- 


Ai^2  Von  der  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 

eitemng-  braucht  man  auch  den  Ausdruck  „Verschwäruug".  Man 
könnte  auch  sehr  wohl  die  ganze  so  entstandene  Eiterhöhle  als  „Hohl- 
g-e schwur"  bezeichnen;  indess  hat  man  sidr  diesen  Ausdruck  dem 
allgemeinen  Sprachgebrauch  nach  vorwiegend  für  kleine  Höhlen  der 
Art  vorbehalten,  während  man  die  grösseren,  langsam  entstandenen 
Eiterhöhlen  eben  kalte  Abscesse  heisst.  Untersuchen  Sie  den  Eiter  aus 
einem  solchen  Abscesse  mit  dem  Mikroskop,  so  werden  Sie  finden, 
dass  derselbe  sehr  reich  an  feinen  Molekeln,  ziemlich  arm  aber  an  aus- 
gebildeten Eiterzellen  ist.  Dies  kommt  daher,  dass  der  Eiter  schon 
sehr  lange  im  Körper  eingeschlossen  war  und  nun  einerseits  durch 
Zerfall  der  Eiterzellen  zu  Molekeln,  andererseits  durch  chemische 
Umsetzungsprocesse  modificirt  ist;  besonders  bilden  sich  durch  letztere 
auch  oft  reichlich  Ausscheidungen  von  Fett,  zumal  von  krystalliuischem 
Cholesterin.  Auch  das  Aussehen  des  Eiters  für  das  freie  Auge  ist 
durch  diese  Metamorphosen  verändert,  indem  ein  solcher  Eiter  gewöhn- 
lich dünner,  heller  ist,  als  bei  acuten  Processen,  auch  wohl  Fibrinflocken 
und  Fetzen  necrotisirter  Gewebe  beigemischt  enthält.  Der  kalte  Abscess 
braucht  zuweilen  viele  Monate,  selbst  Jahre,  bis  die  Vereiterung  seiner 
Wandungen  von  innen  nach  aussen  so  weit  vorgeschritten  ist,  dass  die 
Haut  durchbrochen  wird.  In  manchen  Fällen  kommt  es  sogar  vor,  dass 
ein  solcher  Abscess  Jahre  laug  sich  nur  äusserst  wenig  vergrössert,  dass 
der  Verschwärungsprocess  in  seinen  Wandungen  endlich  still  steht  und 
dass  letztere  sich  zu  einer  Narbenkapsel  einer  sogenannten  Abscess- 
membran  umbilden  und  der  Eiter  so  vollständig  eingebalgt  wird.  Hat 
man  Gelegenheit,  solche  Abscesse  zu  untersuchen,  so  findet  man  in  ihnen 
eine  Emulsionsflttssigkeit ,  zum  Theil  mit  krystallinischem  Fett  und  zu- 
weilen ohne  eine  Spur  von  Eiterzellen,  so  dass  man  aus  dem  anatomischen 
Befunde  selbst  schwerlich  deducireu  könnte,  dass  der  vorliegende  Sack 
ein  Abscess  gewesen  sei,  wenn  nicht  der  ganze  Verlauf  dafür  beweisend 
wäre.  Viel  seltener  noch  ist  der  Fall,  dass  im  Lauf  der  Zeit,  wenn  der 
Abscess  aufhört  zu  wachsen,  eine  Resorption  der  Flüssigkeit  eintritt,  mit 
Zurücklassung  eines  käsigen  Breies.  —  Ist  der  Abscess  nach  aussen 
durchgebrochen,  so  entleert  sich  der  Eiter,  und  es  kann  unter  sonst 
günstigen  Verhältnissen  die  Heilung  auf  gleich  näher  zu  beschreibende 
Weise  erfolgen.  Damit  dies  zu  Stande  komme,  muss  jedoch  zunächst  der 
Verschwärungsprocess  an  der  Innenwand  der  Eiterhöhle  aufhören,  was 
nur  dann  zu  geschehen  pflegt,  Avenu  in  den  Abscess wanduugen  ent- 
sprechende Gefässentwicklung  erfolgt;  unter  dem  Einfluss  derselben 
bildet  sich  die  Innenfläche  des  Abscesses  zu  einem  kräftigen  Granu- 
lationsgewebe um,  und  es  tritt  dann  theils  eine  ^>rdichtung  und 
Schrumpfung  desselben  zu  Narbengewebe,  theils  eine  Verwachsung  der 
gegenüberliegenden  Höhlenwanduugcn,  wie  bei  der  Heilung  der  acuten, 
heisscn  Abscesse  ein;  es  entleert  sich  immer  weniger  Eiter  aus  der 
geöffneten  Höhle  und  schliesslich  heilt  dieselbe  vollständig  aus.     Eine 


Vorl. 'Sims  28.      CuyUr\    XFV.  443 

Zeit  lauü,'  iKU-lilici-  riilill  inaii  iiocli  die  siibeuüiiie  Narbe  des  Absecsses 
als  seliwielig'C  Vcrdickimg-;  mit  dvr  Zeit  al)er  verliert  sieh  aiieli  diese 
lind  die  Abscessiiarbc  nimmt  Avieder  die  Beseliaffeidieit  des  gewöhidiclieri 
Bindegewebes  an.  —  leli  will  Sie  hier  gleieh  noeh  mit  einem  teehniselien 
Namen  bekannt  maclien,  den  man  für  solche  Al)seesse  braucht,  welche 
nicht  an  derjenigen  Stelle  ursprünglich  entstanden  sind,  an  welcher  sie 
zur  ]>C()baclitung  konnnen,  sondern  tlieils  durch  Senkung  des  Eiters, 
theils  dureli  den  hauptsächlicli  nach  einer  Richtung  hin  intensiver  vor- 
sclireitenden  Verschwärungsprocess  eine  Locomotion  erlitten  haben.  Es 
kann  z.  B.  an  dem  vorderen  Theil  der  Wirbelsäule  eine  Eiterung  ent- 
stehen, welche  sich,  dem  lockeren  Zellgewebe  hinter  dem  Pcritonäum 
folgend  und  der  Scheide  des  M.  psoas  nachgehend,  immer  weiter  nach 
unten  erstreckt  und  schliesslich  unter  dem  Lig.  Poupartii  als  Abscess 
zum  Vorschein  kommt.  Solche  und  ähnliche  Abscesse  nennt  man 
Senkungs-  oder  Congestionsa bscesse.  —  Der  oben  angedeutete 
Ausheilungsprocess  erfolgt  nicht  immer  in  wünschenswerth  schneller 
Weise,  sondern  leider  sind  die  allgemeinen  und  localen  Verhältnisse  zu- 
weilen der  Art,  dass  nach  der  Entleerung  des  Eiters  entweder  eine  sehr 
acute  Entzündung  mit  lieftigem  Fieber  in  dem  Abscess  Platz  greift,  und 
Pyohämie  oder  febriler  Marasmus  sich  hinzugesellt,  oder  dass  der 
chronische  Verschwärungsprocess  trotz  der  Entleerung  des  Eiter><  in  den 
Höhlenwandungen  langsam,  doch  unaufhörlich  sich  weiter  verbreitet.  In 
solchen  Fällen  secerniren  die  Oeft'uungen  dieser  grossen,  oft  tiefliegenden 
Höhlen  continuirlich  einen  dünnen,  schlechten  Eiter,  die  Oeffnungen 
solcher  Höhlengeschwüre  von  kleinerem  und  grösserem  Durchmesser 
nennt  man  Fisteln.  — 

Sie  können  sich  den  eben  geschilderten  Eiterungs-  oder  Verschwä- 
rungsprocess, die  chronische  Erweichung  und  den  Zerfall  eines  zellig 
infiltrirten  Gewebes  auch  auf  eine  Fläche,  eine  Haut  tt])ertragen  denken, 
und  wir  kämen  damit  auf  das  Flächengeschwür  oder  offene  Ge- 
schwür; da  dies  jedoch  ein  Gegenstand  von  besonders  grosser  praktischer 
Bedeutung  ist,  so  müssen  wir  demselben  später  noch  ein  eignes  Capitel 
widmen. 

4.  Die  chronische  Entzündung  kann  noch  einen  anderen,  der  Ver- 
eiterung sehr  ähnlichen  Verlauf  nehmen,  nämlich  den  in  Verkäsung 
der  entzündlichen  Neubildung,  Tyrosis  (von  zvQog  Käse,  wobei 
der  primitive  Milchkäse,  Quark  zum  Vergleich  gewählt  ist).  Denken  Sie 
sich  wiederum  eine  starke  Anhäufung  von  jungen  Zellen  im  Gewebe, 
und  denken  Sie  sich  ferner,  dass  dieser  Zellhaufen  im  Centrum  ohne 
Hinzutreten  von  Exsudat  molecular  zerfällt  und  dadurch  ein  käsiger 
Brei  entsteht.  Die  plastische  Infiltration  schreitet  in  der  Peripherie  des 
käsigen  Heerdes  durch  Anhäufung  von  Wanderzellen  langsam  weiter, 
das  infiltrirte  Gewebe  geht  jedoch  ebenfalls  bald  in  die  käsige  Meta- 
morphose   ein,   und  so  vergrössert  sich  der  centrale  Heerd  immer  mehr 


444  Von  der  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 

und  mehr.  Auch  hier  ist,  wie  bei  der  Vereiterung,  Mangel  an  einer 
mit  der  Zellenbildung  gleichen  Schritt  haltenden  Vascularisation  oder 
o-ar  rasche  vollständige  Verödung  der  vorhandenen  Gefässe  die  locale 
Ursache  des  Zerfalls;  auch  hier  liegt  ein  Process  der  Verschwärung  vor, 
den  man  als  trockne  oder  „käsige  Versclnvärung"  (avasculäre,  trockne 
Necrotisirung)  bezeichnen  kann.  Wenn  man  solche  gelben  Heerde  in 
der  Leiche  vorfindet,  so  Avird  vielfach  angenommen,  dass  sie  immer  einem 
vertrockneten  Eiterheerd  entsprechen;  das  ist  jedoch  nicht  so,  oder  doch 
nur  in  äusserst  seltenen  Fällen ;  die  meisten  dieser  käsigen  Heerde  waren 
von  Anfang  an  das,  was  sie  zur  Zeit  sind,  in  welcher  sie  gefunden  werden, 
waren  niemals  flüssiger  Eiter.  Dass  diese  käsigen  Heerde  direct  ohne 
Eiterung  aus  der  entzündlichen  Neubildung  hervorgehen  können,  lässt  sich 
experimentell  sehr  leicht  nachweisen.  Erzeugen  Sie  z.  B.  durch  Einlegen 
eines  fremden  Körpers  (z.  B.  eines  Haarseils)  in  das  Unterhautzellgewebe 
eines  Kaninchens  einen  dauernden  Entzünduugsprocess,  so  bildet  sich  rnn 
den  fremden  Körper  im  Verlauf  einiger  Tage  eine  gelbe,  käsige  Masse, 
Avelche  für  das  Kaninchen  freilich  dasselbe  darstellt,  wie  der  Eiter  beim 
Menschen,  doch  aber  niemals  zuvor  flüssiger  Eiter  war.  So  giebt  es 
nun  auch  krankhafte  Verhältnisse  beim  Menschen,  unter  denen  beim 
chronischen  Entzünduugsprocess  statt  der  Vereiterung  diese  Verkäsung 
auftritt.  —  Das  weitere  Schicksal  dieser  Heerde  beim  Menschen  ist  ein 
sehr  verscliiedenes.  Findet  der  Process  in  einem  nicht  gar  zu  weit  unter 
der  Oberfläche  liegenden  Theile  Statt,  so  kann  derselbe,  von  innen 
nach  aussen  fortschreitend,  einen  Durchbruch  veranlassen;  der  Brei 
entleert  sich  und  die  Höhle  kann  sich  wie  ein  kalter  Abscess  nach  und 
nach  schliesseu.  Auch  kommt  es  vor,  dass  sich  um  alte  verkäste 
Heerde  oft  noch  nach  Monaten  und  Jahren  Entzündung  und  Eiterung 
entwickelt,  und  dann  die  alten  Massen  mit  dem  frischen  Abscesseiter 
sich  mischen  und  mit  ihm  ausgestossen  werden.  Der  eben  beschriebene 
Vorgang  ist  besonders  häufig  bei  chronischen  Entzündungen  der  Lymph- 
drüsen zu  beobachten;  an  ihnen  erfolgt  jedoch  die  spontane  Aus- 
stossung  der  verkästen  Heerde  nur  äusserst  langsam  und  es  bleiben 
daher  solche  Lymphdrüscnfisteln  oft  Monate  und  Jahre  lang  auf  dem- 
selben Punkte  stehen. 

Ein  anderer  Ausgang  ist  der,  dass  der  käsige  Heerd  nur  eine  kleine 
Ausdehnung  erreicht,  dann  völlig  zusammenschrumpft  und  eine  solche 
Menge  von  Kalksalzen  in  sich  aufnimmt,  dass  schliesslich  ein  kalkiges 
Concrement  daraus  entsteht,  welches  von  einer  Xarbe  conceutrisch 
umschlossen  ist.  Dieser  Ausgang  kommt  jedoch,  wie  sclion  bemerkt,  nur 
bei  kleinen  käsigen  Heerden  vor ;  er  ist  in  den  IMesenterialdrüsen.  Drüsen 
des  Älilzhilus  und  Bronchialdrtisen  häufig,  äusserst  selten  an  allen 
übrigen  Lymphdrüsen  des  Körpers. 

Es  giebt  noch  eine  Art  von  chronischer  Entartung  einiger  Organe, 
welche  mit  der  Ablagerung   cinei-    eigenthümlicheu  Substanz    aus    dem 


VorlosniiK  28.     Capitcl  XTV.  445 

Blute,  dem  sog'cnaimtcn  Si)C('kst(>rr  oder  Amyloid  vci-lmiidcu  int, 
deren  Bezielmng'  zur  ('lir(mis('.lieii  l'hdziiiidiuii;-  rix^ilicli  sclioii  eine  cut- 
ferutere  ist.  Ich  g-clie  darauf  hier  nicht  uiihcr  ein,  weil  diese  Art  von 
Erkrankung'  hau|)tsächlicli  den  inneren  Organen  zukommt  und  deswegen 
für  uns  nur  ein  indirectes  Interesse  dai'bietet. 

Was  die  Folgen  des  chronischen  ICntzilndungsproccsses 
zunächst  nur  in  rein  histologischer  Hinsicht  betrifi't,  so  sind  diese  man- 
cherlei Art.  Es  geht  das  Zelleninfiltrat  und  der  Neubildung'sprocess  der 
Hauptsache  nach  im  Bindegewebe  vor  sich,  und  das  Schlussresnltat  nach 
Ablauf  desselben  ist  entweder  eine  Restitutio  ad  integrum  oder  nach 
Destruction  der  Theile  durch  den  Erweichungs-  oder  Verschwärung's- 
process  eine  Narbe.  Wenn  dieser  Vorgang-  im  Muskel  oder  im  Nerven 
Platz  greift,  leiden  die  Gewebe  in  hohem  Grade  secundär  mit.  Die 
contractile  Substanz  im  Muskel,  sowie  der  Axencylinder  und  die  Mark- 
scheide der  Nervenfaser  gehen  dabei  nicht  selten  durch  molecularen 
Zerfall  oder  fettige  Degeneration  in  Folge  der  Ernährungsstörung  zu 
Grunde.  Atrophie  der  Muskeln  und  Paral3'sen  können  daher  die  Folgen 
chronischer  Entzündung-  sein.  Wie  weit  unter  solchen  Umständen  die 
Eegenerationsfähigkeit  der  Muskeln  und  Nerven  geht,  ist  nicht  festzu- 
stellen; im  Allgemeinen  scheint  sie  unter  diesen  Verhältnissen  sehr 
g-ering-  zu  sein.  Molecularer  Zerfall  und  fettige  Deg:eneration  können 
sehr  wohl  auch  ohne  Entzündung-  des  die  Muskeln  und  Nerven  um- 
hüllenden Bindegewebes  erfolgen.  Es  scheint  mir  daher  nicht  praktisch, 
den  fettigen  Zerfall  des  Protoplasma  allein  schon  als  Entzündung-  des 
Muskels  und  der  Nerven  zu  bezeichnen,  wie  es  vonVirchoAv  wenigstens 
für  die  Muskeln  geschehen  ist.  Ich  möchte  diese  Zustände  lieber  unter 
die  verschiedenen  Formen  der  Atrophieen  einreihen,  doch  gebe  ich  nach 
meinem  jetzig-en  Standpunkt  gegenüber  der  Entzüudungslehre  g-ern  zu, 
dass  es  wesentlich  Sache  der  Convenienz  ist,  wie  weit  man  zumal  auf 
dem  Gebiete  der  chronischen  Processe  den  Ausdruck  „Entzündung-" 
ausdehnen  will.  Ich  hoffe  Sie  werden  nach  dem  Gesagten  das  Sachliche 
richtig  aufgefasst  haben. 


Nach  diesen  allgemeinen  anatomischen  Erörterungen  lassen  Sie  uns 
kurz  die  Symptome  der  chronischen  Entzündung  durchgehen.  Es 
sind  dieselben  wie  bei  der  acuten  Entzündung,  nur  dass  sie  oft  in  an- 
derer Reihenfolge,  in  anderen  Combinationeu  auftreten  und  eine  geringere 
Intensität  darzubieten  pflegen. 

Die  Anschwellung  des  erkrankten  Theils  ist  die  gewöhnlich  zu- 
erst auffallende  Erscheinung ;  sie  beruht  zum  Theil  auf  der  serösen,  zum 
Theil  auf  der  plastischen  Infiltration,  Die  Theile  fühlen  sich  teigig  und 
resistenter  als  im  normalen  Zustande  au;  kommt  es  zur  Abscessbildung, 
was  im  Verlauf  von  Wochen  und  Monaten  geschehen  kann,    so    findet 


4^ß  Von   (lor  chronisfhen  Entzündung,  besonders  der  Weichtlieile. 

man  nacli  und  nach  deutlicher  werdende  Fluctuation.  Eine  Rüthuno; 
der  eutziiiideten  Theile  werden  wir,  da  dieselbe  wegen  der  zuweilen 
o-eriiio-en  Ausdehnung-  der  Gefässe  nicht  sehr  intensiv  und  ausgebreitet 
ist  nur  dann  deutlich  wahrnehmen,  wenn  die  entzündeten  Tlieile  an  der 
Oberfläche  des  Körpers  liegen.  Eine  chronische  Entzündung  der  Nasen- 
schleimhaut  oder  der  Conjunctiva  wird  sich  uns  leicht  durch  Schwellung, 
Röthung  und  vermehrte  Secretion  kund  geben.  Auch  bei  chronisch  ent- 
zündeter Haut  wird  sich  nacli  und  nach  eine  bläuliche  oder  bräunliche 
Röthe  zeigen.  Liegen  die  entzündeten  Theile  jedoch  tief,  so  ist  die  Haut 
gar  nicht  verfärbt  und  wird  erst  dann  geröthet  werden,  wenn  die  chronische 
Entzündung  aus  der  Tiefe  von  innen  her  endlich  auch  die  Haut  in  ]\Iit- 
leidenscliaft  zieht,  wie  z.  B.  beim  Durchbruch  kalter  Abscesse.  —  Der 
Schmerz  ist  eines  der  Symptome  der  clironischen  Entzündung,  welches 
die  grössteu  Verschiedenheiten  darbietet;  er  fehlt  bei  vielen  recht  schlei- 
chenden Entzündungen  gänzlich,  kann  jedoch  unter  anderen  Umständen 
sehr  heftig  sein,  einen  reissenden,  bohrenden  Charakter  haben,  bald 
mehr  spontan,  bald  melir  auf  Druck  oder  auf  leise  Berührung  auftreten. 
Von  dem  Schmerz  und  von  den  anatomischen  Veränderungen,  welche  die 
Theile  erleiden,  hängt  die  Functionsstörung  wesentlich  ab  und  ist 
daher  auch  bald  gering,  bald  bedeutend.  Hitze,  eine  für  die  aufgelegte 
Hand  erhöht  scheinende  Temperatur  in  den  chronisch  entzündeten  Theilen, 
ist  häufig  nicht  oder  nur  in  sehr  geringem  Grade  vorhanden. 

Das  Fieber  ist  kein  zur  chronischen  Entzündung  nothwendig  ge- 
hörendes Symptom;  es  pHegt  sich  nur  dann  hinzuzugesellen,  wenn  die 
chronische  Entzündung  einen  etwas  acuteren  Charakter  annimmt,  wie 
dies  nicht  selten  im  Verlaufe  vorkommt,  zumal  wenn  der  Körper  durch 
lange  dauernde  Eiterungsprocesse  aufs  Höchste  geschwächt  ist.  Dann 
tritt  das  sogenannte  hektische  Fieber  ein,  eine  Febris  continua  oder 
einfache  remittens  mit  sehr  grossen  Differenzen  in  den  Morgen-  und 
Abendtemperaturen  des  Körpers,  ein  Fieber  mit  steilen  Curven.  Nach 
meiner  Auffassung  entsteht  dieses  hektische  Eiter-  oder  Consumptions- 
fieber  in  Folge  dauernder  Aufnahme  von  Entzündungsproducten .  zumal 
von  Producten  des  Zerfalls;  daher  ist  es  auch  am  häufigsten  und  inten- 
sivsten bei  raschem  Zerfall  an  den  luneuwandungen  grosser  Abscesse 
und  bei  rasch  progressiven  Ulcerationsprocessen.  Diese  Fieber  verlaufen 
oft  mit  rapider  Abmagerung,  Nachtschweissen,  Diarrhöen.  Xur  wenige 
Individuen  ertragen  solche  remittirenden  chronischen  Eiteruugsfieber  lange; 
so  habe  ich  einen  Knaben  von  14  Jahren  mit  einer  nach  Resectio  capitis 
femoris  zurückgebliebenen  Fistel  und  allgemeiner  Speckkrankheit  ein 
volles  Jahr  beobachtet,  während  dessen  er  eine  dauernde  Febris  remittens 
hatte;  er  erlag  später  unter  Hinzutritt  eines  allgemeinen  Hydrops. 

Der  Verlauf  der  chronischen  Entzündung  lässt  sich  im  Allgemeinen 
unter  zwei  Rubriken  bringen;  in  den  ersten  Fällen  ist  schon  der  Beginn 
dei-  Krankheit  undeutlich  markirt  und   kann  vom  Patienten  kaum  mit 


Vorlosiiniv  2;).     Capilrl    XIV.  447 

Bestimmtlieit  a.n^'eg'ol)cii  werden;  \r.\.\(\  ist  es  eine  rjesclnvnlsl ,  Icild 
massiger  Sclmievz,  l)a.kl  leichte  Functioiisstöniiii;',  ^v;ls  aiiC  einen  krank- 
haften Zustand  aufiuerksani  niaelite.  I^'älle,  welche  so  anhenierkt 
schleichend  angefang-en  haben,  pflegen  auch  diesen  Charakter  im  weitern 
Verlauf  beizubelialten.  In  anderen  Fällen  ist  die  chronische  Entzündung- 
ein  Residuum  eines  acuten  Processes;  der  chronische  Verlauf  wird  von 
Zeit  zu  Zeit  durcli  acute  Attacken  uiit  Fieber  unterl)roc-hen.  Am  wenigsten 
ist  etwas  Bestinnntes  über  die  Daner  der  chronischen  Entziindnng-  im 
Allgemeinen  zu  sagen,  indem  diese  vor  allen  Dingen  von  den  nrsäcli- 
lichen  Momeuten  abliängt,  auf  die  wir  gleich  kommen;  nur  das  bitte  ich 
Sie  hier  schon  im  Auge  zu  behalteu,  dass  die  chronischen  Entziin- 
dungsprocesse,  wie  die  acuten,  in  sich  doch  immer  die  l'en- 
denz  zu  einem  Abschluss,  zu  einem  typischen  Ende  liaben,  indem 
nämlich  die  Neubildung  bei  der  chronischen  Entzündung  schliesslich 
niemals  über  die  Entwicklung  ganz  bestimmt  charakterisirter  Gewe])s- 
metamorphosen  hinausgeht,  welche,  wenn  das  erkrankte  Gewebe  nicht 
durch  Zerfall  zu  Grunde  geht,  zur  Bindegewebsbildung,  zur  Narbe  auf 
die  eine  oder  die  andere  Weise  führen;  weshalb  es  wichtig  ist,  dies  im 
Auge  zu  behalten,  wird  Ihnen  klarer  werden,  wenn  wir  über  die  Ab- 
grenzung anderer  Neubildungen,  der  eigentlichen  Geschwülste,  von  der 
chronischen  Entzündung  sprechen,  Dass  die  chronisch-entzündliche  Neu- 
bildung kein  typisches  Ende  erreicht,  wenn  ihre  Ursachen  nicht  gehoben 
werden  köunen  oder  nicht  von  selbst  erlöscben,  und  wenn  Organe  zerstört 
werden,  welche  zum  Leben  nothwendig  sind,  oder  wenn  durch  Eiterung 
die  Kräfte  erschöpft  werden,  versteht  sich  von  selljst. 


Vorlesung  29, 

Allgemeine  Aetiologie  der  chronischen  Entzündnng.  Aenssere  danernde 
Reize.  —  Im  Körper  liegende  Krankheitsnrsachen;  empirischer  Begriff  der  Diathese  und 
Dyskrasie.  Allgemeine  Symptomatologie  und  Therapie  der  krankhaften 
Diathesen  und  Dyskrasien:  1.  Die  lymphatische  Diathese  (Scropliulosis).  2.  Die 
tuberkulöse  Dyskrasie  (Tuberculosis),  o.  Die  arthritische  Diathese.  4.  Die  scorbutische 
Dyskrasie.  5.  Syphilitische  Dyskrasie.  —  O  ertliche  Behandlung  der  chronischen 
Entzündung:  Ruhe.  Hochlagerung.  Compression.  Feuchte  Wärme.  Hydropathische 
Einwicklungen.  ~  Moor-,  Schlamm-Bäder.  Animalische  Bäder.  Sandbäder.  —  Resor- 
bentia.    —    Antiphlogistica.  —   Derivantia:    Fontanell.     Haarseil.     Moxen.     Glüheisen.  — 

Wir  kommen  heute  zu  einem  der  wichtigsten  Theile  nicht  allein 
dieses  Abschnittes,  sondern  der  gesammten  Medicin,  nämlich  zu  den 
Ursachen  der  chronischen  Entzündung.  Wir  salien  die  acuten 
Entzündungen  nacli  einem  einmal  wirkenden  Reiz  entstehen  und  dann 
je  nach  den  anatomischen  Verhältnissen  der  gereizten  Theile  und  nach 


^^Q  Von  der  fhronischen  Entziindnng.  besonders  der  Weiehtheile. 

der  Art  und  Aiisdelmung  des  Reizes  verschieden,  aber  doch  relativ  kurz 
und  typisch  verlaufen  und  ablaufen.  Jetzt  haben  wir  es  mit  Entzlmdungs- 
processen  zu  thun,  welche  viele  Monate,  oft  viele  Jahre  lang  dauern; 
da  muss  es  sich  wohl  um  eine  dauernde  Ursache,  eineu  anhaltend  wir- 
kenden Eeiz  oder  auch  um  abnorme  Reaction  auf  einfache  Reize  han- 
deln. Die  dauernden  Reize  können  rein  örtlicher  Art  sein; 
bleiben  wir  vorläufig  einmal  dabei  stehen.  Wenn  sich  kleine  Thierchen 
wie  die  Krätzmilben  in  der  Haut  einnisten,  indem  sie  in  den  oberfläch- 
lichen Schichten  der  Cutis  sich  wie  Dachse  ihre  Gänge  graben,  Eier 
legen  und  hier  ihr  arbeitsames  Leben  führen,  so  ist  dies  ein  dauernder 
Reiz  für  die  Haut;  es  kommt  noch  das  Kratzen  hinzu,  und  so  entsteht 
und  dauert  eine  chronische  Entzündung  der  Haut:  die  Krätze.  Lagern 
sich  Pilzsporen  in  der  Epidermis  ab,  fangen  hier  an  zu  wacksen, 
sich  zu  Millionen  kleiner  pflanzlicher  Bildungen  zu  vermehren,  so  wird 
die  Haut  auch  durch  diese  fremden  Eindringlinge  in  einen  Zustand 
dauernder  Reizung  versetzt;  es  entstehen  chronische  Hautausscliläge 
z.  B.  Favus,  Herpes  tonsurans,  Pityriasis  versicolor  u.  s.  w.  —  "Wirkt 
ein  dauernder  Druck  oder  eine  Reibung  in  massigem  Grade,  doch  con- 
tinuirlich  auf  die  Haut  ein,  so  ist  dies  ebenfalls  ein  chronischer  Reiz, 
welcher  besonders  eine  Verdickung  der  betroffenen  Theile  zur  Folge  zu 
haben  pflegt.  Die  Schwielen  an  unserer  Ferse,  ein  grosser  Theil  der 
Leichdörner  oder  Hühneraugen  sind  die  Resultate  von  coutinuirlicher 
Reibung  und  Druck,  welche  durch  unsere  moderne  Fussbekleidung  aus- 
geübt werden.  Li  gleicher  Weise  bekommt  der  Arbeiter,  welcher  haupt- 
sächlich mit  Hammer  und  Axt  beschäftigt  ist,  Schwielen  in  der  Hand, 
der  Schuster  Schwielen  aussen  am  kleinen  Finger  und  am  Rand  der 
Hand,  wo  er  täglich  den  Pechdralit  anzieht  u.  s.  w.  —  Weiterhin  sind 
es  im  Gewebe  steckende  fremde  Körper,  welche  eine  dauernde  chro- 
nische Entzündung  in  ihrer  Umgebung  unterhalten  können.  Dauernde 
oder  oft  wiederholte  chemische  Einflüsse  auf  die  Gewebe  können  eben- 
falls chronische  Entzündung  erzeugen ;  so  kann  z.  B.  chronischer  Magen- 
catarrh  durch  häufig  wiederholten  Genuss  von  Schnaps  oder  scharfen 
Liqueuren  bedingt  sein.  Dauernde  Stauung  von  Blut  und  Lymphe,  so 
wie  auch  Gerinnung  dieser  Flüssigkeiten  in  den  Gefässen  erzeugt  zu- 
nächst hyperplastische  Processe  in  den  Gefässwanduugen  und  in  deren 
nächster  Umgebung,  Ausdehnung  und  Schlängelung  der  Collateralgefässe, 
zuweilen  auch  difl'use  Verdickung  der  Gewebe;  besonders  ist  die  Unter- 
schenkelhaut dieser  Erkrankung  ausgesetzt,  wenn  dem  Abfluss  des  ve- 
nösen Blutes  aus  den  Extremitäten  irgendwelche  Schwierigkeiten  dauernd 
entgegentreten. 

Wenn  es  sich  darum  handelt,  chronische  Entzündungen  zu  beseiti- 
gen, welche  auf  eineu  solchen  äusseren  dauernden  Reiz  zurückzuführen 
sind,  deren  Beispiele  leicht  noch  vermehrt  werden  könnten,  so  wird  der 
Erfolg ,  der   Cur  ein  günstiger  sein.     Man  entferne   die  thierischen  und 


Vorl.'Sim-'  L'!).      (';i|Mlfl    XIV.  449 

])(laiizliclicu  r.'irasilxni,  die  rreiiulcii  Krirpcr,  den  ('(»uliimirliclieii  iJnick, 
die  clieniiselieu  EinHüssc  etc.,  und  dcv  cliroHiselie  Eiit7Jnidimg'8])i'0cess 
-wird  in  vielen  F;illen  v(»n  selbst  erlöselien,  —  Wir  haben  bis  jetzt  einen 
örtlielicu  Jieiz  dauernd  auf  g-esundcs  Gewebe  wirken  lassen;  denken  Sie, 
dass  ein  cinnialig'er,  vielleielit  ziemlich  hertii*'er  lieiz  aiiC  ein  bereits 
krankes  Gewebe  wirkt,  so  werden  Sie  nicht  erwarten  können,  dass  in 
einem  solchen  Falle  die  Verhältnisse  sich  ebenso  gestalten  werden,  wie 
beim  einfach  traumatischen  Entzündung'sprocess  in  gesunden  Geweben; 
es  ist  vielmehr  wahrscheinlich,  dass  die  Folgen  auch  des  einmaligen 
Keizes  jetzt  andere,  vielleicht  langdauernde  sein  werden,  weil  die  Be- 
dingungen zur  typischen  Ausgleichung  der  Störung  auf  Seite  des  Ge- 
Avebes  nicht  mehr  vorhanden  sind.  Stellen  Sie  sich  vor,  eine  bereits 
chronisch  entzündete  Haut  wird  durch  Quetschung  ol)erfiächlich  ge- 
scliunden;  die  Entstellung  einer  chronischen  Eiterung,  sogar  einer  all- 
mählig  um  sicli  greifenden  Ulceration  kann  die  Folge  dieses  einmaligen 
Keizes  sein,  der  bei  normalen  Verhältnissen  der  Haut  rasch  zur  Neul>il- 
dung  von  Epidermis  und  damit  zur  Heilung  geführt  hätte.  — 

Leider  gelingt  es  nur  in  verhältnissmässig  seltenen  Fällen,  solche 
rein  örtlichen  Ursachen  für  Entstehung  und  Dauer  eines  chronischen 
Entzündungsprocesses  aufzufinden.  In  den  weitaus  meisten  Fällen  liegt 
die  Ursache  nicht  so  nah,  sondern  es  musste  erst  lange  und  wiederholt 
beo])aclitet  nnd  geprüft  werden,  ehe  man  auch  nur  einige  Anhaltspunkte 
für  die  Aetiologie  der  meisten  chronischen  Entzündungen  und  der  chroni- 
schen Krankheiten  überhaupt  autfand.  Vv^ir  haben  aus  dem  Vorrath  der 
allgemeinen  Aetiologie  die  Miasmen  und  Coutagien  hier  noch  nicht 
herbeigeholt;  wir  können  sie  auch  ganz  bei  Seite  liegen  lassen,  da 
durchaus  nichts  dafür  spricht,  dass  chronische  Entzündungsprocesse  durch 
eine  einmalige  miasmatische  oder  contagiöse  Einwirkung  entstehen.  Es 
giebt  freilich  chronische  Malariakraukheiten,  wie  Intermittens  u.  a. ; 
dabei  wirkt  aber  die  Schädlichkeit  dauernd,  und  nicht  selten  ist  die 
Krankheit  nur  dadurch  zu  heilen ,  dass  die  Patienten  die  miasmatische 
Atmosphäre  verlassen;  dieser  Fall  entspricht  also  einem  dauernden 
äusseren  Keiz.  Ebenso  ist  es  mit  wiederholten  Erkältungen,  von  denen 
die  neue  innner  wieder  den  noch  von  frülier  her  kranken  Körper  trifft 
und  so  zur  Chronicität  des  krankhaften  Zustandes  führt.  —  Das  Alles 
genügt  nicht  für  die  Aetiologie  der  chronischen  Entzündungen;  wir 
suchen  daher  die  Ursachen  auch  in  gewissen  Schwächezuständen,  in  an- 
geborenen oder  erworbenen  Anlagen  einzelner  Organe  oder  des  ganzen 
Organismus.     Lassen  Sie  uns  hören,  was  die  Erfahrung  darüber  lehrt. 

Es  fällt  bei  einer  sorgfältigen  Beobachtung  zunächst  ins  Auge,  dass 
gewisse  Formen  chronischer  Entzündungsprocesse  in  ganz  bestimmten 
Organen  und  an  bestimmten  Stellen  des  Körpers  immer  wieder  und 
wieder  vorkommen,  dass  zugleich  diese  Entzündungsprocesse  sich  vor- 
wiegend   in  einem  gewissen  Alter  und  bei   Individuen  zeigen,    welche 

Billroth  cUir.  Puth.  u.  Therap.   7.  Auü.  21) 


AKf)  Von   'lor  flircniisrlion   Entziiiidiiii.£;.   Ijcsondprs  der  'Weiclitlieile. 

auch  in  ihrem  äusseren  Verhalten  einige  Aehnlichkeit  unter  sich  dar- 
bieten. So  beobachtet  man  z.  B.  gleichartige  kindliche  Individuen, 
welche  besonders  an  chronischen  Anschwellung-en  und  Eiterungen  der 
Lymphdrüsen,  der  Gelenke,  der  Knochen  erkranken,  andere  Individuen, 
welche  vorwiegend  von  schleichenden  Lungenentzündungen  befallen 
werden,  andere,  welche  in  ganz  merkwürdiger  Weise  zu  Erkältung 
disponirt  sind  und  bald  hier,  bald  dort  Schmerzen  in  Muskeln  und  Ge- 
lenken bekommen.  Man  beobachtet  ferner,  dass  von  Individuen  dieser 
Art,  welche  immer  wieder  auf  analoge  Weise  erkranken,  die  individuell 
pathologischen  Eigenschaften  oft  auf  die  Nachkommenschaft  übertragen 
werden,  dass  die  Väter  solche  Erbschaften  schon  von  ihren  Vätern  oder 
Müttern  überkommen  haben  etc.  Um  in  diesem  Chaos  individueller 
Krankheitsdispositionen  zu  einer  etwas  klareren  Uebersicht  zu  kommen, 
brachte  man  die  zu  gewissen  chronischen  Krankheiten  disponirten  Men- 
schen in  gewisse  Gruppen:  so  entstand  rein  empirisch  die  Eintheilung 
der  Menschen  nach  krankhaften  Dispositionen  oder  Diathesen  in  lympha- 
tische, scrophulöse,  tuberculöse,  rheumatische  Individuen  u.  s.  w. ,  Aus- 
drücke, durch  welche  man  zunächst  nur  bezeichnen  wollte,  dass  z.  B. 
die  Scrophulösen  besonders  zu  Drüsenkranklieiten,  die  Tul)erculüsen  zur 
Entwicklung  ulcerirender  Knötchen  disponirt  sind  etc.  Man  bildete 
diese  Gruppirung  in  der  Folge  weiter  aus  und  schloss,  dass  einer  solchen 
Disposition  zu  bestimmten  Krankheiten  eine  ganz  bestimmte  krankhafte 
Beschaffenheit  der  physiologischen  Processe  im  ganzen  Körper  zu  Grunde 
liegen  müsse.  Mau  substituirte  einen  krankhaften  Stoff,  ein  krankhaftes 
Wesen,  eine  materia  peccans  im  Körper;  als  Träger  desselben  boten 
sich  Blut  und  Lymphe  als  das  bequemste  Material  dar,  indem  dies  sich 
durch  den  ganzen  Körper  verbreitet  und  seine  Beschaffenheit  allerdings 
einen  Maassstab  für  die  mehr  oder  weniger  normale  oder  pathologische 
Beschaffenheit  des  ganzen  Organismus  abgiebt.  Das  Wort  Dyskrasie 
(schlechte  Mischung  von  duo  xeQccvvvf-ii)  bezeichnet  eine  solche  patholo- 
gische Beschaffenheit  des  Blutes:  man  spricht  demnach  von  scrophulöser, 
tuberculöser  Dyskrasie  u.  s.  w.  Es  ist  jedoch  ein  eigenes  Ding,  dem 
Blute  allein  die  Last  der  pathologischen  Veränderungen  des  ganzen 
Organismus  aufzubürden  und  gewissermaassen  anzunehmen,  dass  von  ihm 
aus  eine  Infection  des  ganzen  Körpers  erfolgt.  Es  wäre  dies  nur  für 
solche  Fälle  zuzugestehen,  wo  ein  abnormer  Stoff'  von  aussen  direct  in 
das  Blut  geführt  wird,  Avie  Sie  das  z.  B.  bei  den  vergifteten  Wunden 
kennen  gelernt  liaben.  Das  ist  aber  bei  den  hier  vorliegenden  Dyskra- 
sien  nicht  oder  nur  theilweise  der  Fall,  vielmehr  entwickeln  sich  die 
Krankheitsdispositionen  aus  wenig  bekannten  Ursachen  im  Organismus 
selbst,  wenn  sie  nicht  schon  als  Erbtheil  von  den  Eltern  her  mitgegeben 
sind.  Das  Blut  ist  ebenso  wenig  wie  irgend  ein  anderes  Gewebe  des 
Körpers  quantitativ  und  qualitativ  absolut  stabil;  es  wird  fortwährend 
erneuert,  theilweise  wieder  verbraucht  und  wieder  erneuert,  und  so  fort: 


WO  die  Quelle  l'iir  die  Mnieiieruiii;'  der  l^lulkörperclieii  ist,  wissen  w'w 
iiiclit  I)estiinnit ;  dass  dus  Ululseruiii  iortwiilirend  aus  i\v\-  Lymphe  und 
diese  hauptsäcldieli  aus  den  Cliylusg'eCässcu  voiu  Dai'ineiina.i  her  rc^^e- 
uerirt  wird,  dass  vom  iilut  wieder  eine  Mcrig-e  gelöster  Materie  mit 
Salzen,  Extractivstolfeii,  Gasen  und  AVasser  dureli  Nieren,  Lung-e,  Ihiiit 
u.  s.  w.  ausgeschieden  wird,  ist  Iliuen  aus  der  Physiologie  bekannt.  Wie 
wenig-  Avissen  wir  vcrhältnissmässig"  von  diesen  Dingen ,  und  wie  eoni- 
plicirt  sind  schon  diese  wenigen  Verhältnisse!  Ich  führe  Sie  deshalb  auf 
diese  Betrachtung,  um  Sie  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  ein  nor- 
males P)lut  nur  aus  einem  normalen  Körper  hervorgehen  kann  und  um- 
gekehrt, dass  man  also  von  einer  einseitigen  Erkrankung  des  Blutes, 
welche  ausser  Beziehung-  zu  den  Geweben  stehen  sollte,  physicdogiscli 
gar  nicht  reden  kann.  Es  ist  jedoch  zwecklos,  wenn  wir  aus  diesen 
Gründen  g-eg-en  die  im  niedicinischen  Si)rachgebrauch  vollständig'  einge- 
bürgerten Worte  Dyskrasie  und  Diathese  (diä^sGig,  Anordnung-,  Anlage) 
zu  Felde  ziehen  und  dieselben  g-anz  verbannen  wollten.  Es  wird  der 
Wissenschaft  keinen  Schaden  bringen,  wenn  wir  diese  Ausdrücke  fort 
und  fort  in  der  gegebenen  Auffassung  brauchen;  es  ist  vorläufig  noeli 
opportun,  für  diese  Dinge  gelegentlich  eine  Bezeichnung  zu  haben,  da 
dieselben  nicht  aus  der  Luft  gegriffen,  sondern  auf  durch  Jahrhunderte 
hindurch  wohl  constatirte  Beobachtungen  beruhen,  wenn  sich  auch  ihre 
Deutung  unendlich  verschieden  gestaltet  hat  und  nach  den  wissenschaft- 
lichen Zeitströmungen  bald  so  bald  so  gestalten  wird.  —  Mau  kann 
freilich  mit  der  Rubriciruug  der  Individuen  in  dieser  Richtung  zu  weit 
gehen,  wenn  man  nämlich  jedem  Menschen  eine  pathologische  Diathese 
andichten  oder  jeden  Kranken  unter  eine  der  bekannten  Hauptrubriken 
unterbringen  will.  Wenn  es  auch  theoretisch  einen  Anschein  von  Rich- 
tigkeit haben  mag,  dass  es  bei  unsern  jetzigen  Culturverhältnissen  keinen 
absolut  normalen  Menschen  mehr  giebt,  so  wäre  es  doch  unsinnig,  dies 
für  die  Praxis  aufrechthalten  zu  wollen.  Sie  dürfen  tiberliaupt  nicht 
annehmen,  dass  es  immer  so  einfach  ist,  jeden  Kranken  seiner  Indivi- 
dualität nach  in  eine  der  aufzustellenden  Gruppen  unterzubringen,  Avie 
man  etwa  eine  Pflanze  analysirt  und  nach  dem  System  bestimmt,  denn 
da  alle  Arten  von  Menschen  unter  einander  zeugungsfähig  sind,  ausser- 
dem manche  abnorm  angelegte  Individuen  im  Lauf  der  Zeit  fast  voll- 
ständig normal  werden  können  und  umgekehrt,  so  entsteht  natürlich 
eine  Menge  von  Mittelformen,  die  jeder  Classification  widerstreben.  Dass 
trotzdem  nicht  alle  physischen  und  psychischen  Eigenschaften  der  Men- 
schen nach  und  nach  gewissermaassen  zu  einem  mittleren  Durchschuitts- 
typus  confluiren,  liegt  in  den  Erhlichkeitsgesetzeu  aller  organischen  We- 
sen, wonach  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  die  Typen  immer  wieder 
und  wieder  unvertilgbar  zum  Vorschein  kommen.  Dies  Gesetz  gilt 
natürlich  auch  für  diejenigen  Eigenschaften  und  Dispositionen,  welche 
wir  als  pathologische  bezeichnen  müssen.  —  Es  giebt  nun  freilich  Aerzte 

29* 


452  Von  (lor  flirnnisflien  Ent;^iiiidiin»,  besonders  der  Weifhtheile. 

und  hat  es  aller  Zeiten  g-egeben,  welche  mit  iil)ertriebenem  Skepticismus 
die  Existenz  einer  allgemeinen  Krankheitsdisposition  für  bestimmte  Er- 
krankung-sformen  g-anz  ableug-nen  und  .überall  nur  örtliche,  zum  Theil 
nur  zufällig-e  Reize  als  Krankheitsursachen  ansehen.  Eine  solche  hyper-  * 
skeptische  Strömung-  ging  auch  vor  Kurzem  durch  die  moderne  IMedicin 
und  hatte  vollkommen  ihre  Berechtigung,  als  die  Krasenlehre  so  über- 
wucherte, dass  es  fast  keinen  Entzündungsprocess,  ja  man  kann  sagen, 
fast  gar  keine  Krankheit  gab ,  für  die  man  nicht  eine  specifische  Krase 
substituirte.  Wer  vorurtheilsfrei  und  sorgfältig  beobachtet,  und  dabei 
Gelegenheit  hat,  viele  verschiedenartige  Kranke  zu  sehen,  wird  gewiss 
zu  den  richtigen  Anschauungen  mit  der  Zeit  gelangen,  und  sich  weder 
zu  rückhaltslos  der  Krasenlehre  in  die  Arme  stürzen,  noch  alle  darüber 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  gewonnenen  Erfahrungen  als  Illusionen  und 
Täuschungen  bei  Seite  setzen.  Eine  Frage  ist  es,  ob  es  einen  praktischen 
Werth  hat,  Namen  wie:  scrophulöse,  syphilitische  etc.  Entzündung  über- 
haupt noch  zu  gebrauchen,  ob  es  nicht  vielmehr  besser  sei,  die  chronisch- 
entzündlichen  Processe  ohne  alle  Rücksicht  auf  ihren  Ursprung  zu  be- 
trachten. Die  Zukunft  wird  darüber  entscheiden;  für  Jetzt  glaube  ich 
doch  als  Lehrer  die  Pflicht  zu  haben,  Ihre  Anschauungen  über  diese 
Dinge  möglichst  zu  klären,  und  Sie  in  die  Lage  setzen  zu  sollen,  sich 
in  Betreff  dieser  Dinge  mit  allen  Collegen,  welcher  Schule  sie  auch 
angehören,  verständigen  zu  können.  In  der  Klinik  werden  Sie  freilieh 
von  mir  nur  noch  selten  von  Scrophulöse  u.  s.  w.  reden  hören.  —  Doch 
genug  jetzt  von  diesen  allgemeinen  Erörterungen;  lassen  Sie  uns  von 
den  einzelnen  Diathesen  und  Dyskrasien,  wie  man  sie  jetzt  auffasst, 
eine  flüchtige  Skizze  entwerfen. 

1.  Die  lymphatische  oder  scrophulöse  Diathese,  Scro- 
phulosis.  (Die  Entstehung  dieser  Bezeichnung  ist  unklar;  meist  wird 
es  von  „scrofa",  eine  Sau  mit  vielen  Jungen,  abgeleitet;  man  meint  der 
Vergleich  liege  in  der  grossen  Fruchtbarkeit :  immer  wieder  neue  Drüsen- 
schwellungen, so  viel  wie  junge  Schweine!).  Diese  Krankheitsanlage 
besteht  vorwiegend  im  kindlichen  Alter,  doch  sind  die  späteren  Lebens- 
alter keineswegs  ganz  davon  ausgeschlossen.  Wir  supponiren  diese 
Diathese  bei  Individuen,  zumal  bei  Kindern,  welche  sehr  zu  chronisch- 
entzündlichen  Anschwellungen  der  Lymphdrüsen  disponirt  sind  selbst 
nach  unbedeutenden  Reizen,  zu  gewissen  catarrhalischeu  Entzündung-en 
der  äusseren  Haut  (Ekzem,  Impetigo),  besonders  des  Gesichts  und  des 
Kopfes,  zu  catarrhalisehen  Entzündungen  der  Schleimhäute,  zumal  der 
Conjunctiva,  seltener  des  Tractus  intestinalis  und  der  Respirationsorgaue, 
zu  chronischen  Entzündungen  des  Periostes  und  der  Synovialhäute  der  Ge- 
lenke. Was  die  Anschwellung  der  Lymphdrüsen,  vorzüglich  der  Glandulae 
submaxillares  und  occipitales  betriö't,  so  hat  man  behauptet,  dass  die- 
selbe nur  die  Folge  einer  Reizung  z.  B.  durch  die  Dentition  sei,  oder 
in  Folge   von   ekzematösen  Ausschlägen    am  Kopf,  Augenentzünduugen, 


Vorlcsiin--  '2;».     Capilcl   XIV.  453 

Ohreitenmg-  etc.  entstelle;   dies  ist  zmii  Tlicil  richtig',  doch  sdhsf,  wenn 
wir  der  Aiisiclit  beitreten,  dnss  jille  Lyni|)h(lriisenansch\vclliiii,g'cn   secun- 
d:ire  Erkr;i,nkiini;'cn  sind,  so  lic-t  doch  eben  duriii,  dass  z.  ß.  in  l^olg-e 
der  Dentition  die  Drüsen  anscliwellen,    eine  abnorme  formative  Keizbar- 
keit  des  lymphatischen  Systems,  Avelclie  keineswegs   bei   allen  Kindern 
bestellt;  ausserdem  sind  für  die  fast  ebenso  häufii;-eii  Erkrankung-en  dei- 
I>roncliial-   und   iMcsenterialdrüsen    nicht    immer    solclie    örtlicben    Reize 
nachzuweisen.     Auch  ist   es  etwas  Krankhaftes,  dass  die  Lyniphdrüsen- 
schwellung-en    bei    diesen    Individuen    die  Eeize    überdauern,   ja    sogar, 
scheinbar  ohne  Ursache,   siiäter  noch  zunehmen  können.     Es  mag-  zuge- 
geben werden,  dass  manche  der  genannten  Krankheiten,  z.  B.  ein  Tlieil 
der  Gelenkkrankheiten  bei  Kindern  durch  eine  leichte  Verletzung,   eine 
Contusion  und  dergleichen  angeregt  sind;  dass  sie  aber  einen  chronischen 
und  zum  Theil  ganz   eigenthitmlichen   constanten  Verlauf  durchmachen, 
hat  seinen  Grund    in  abnormen  Zuständen  der  Gew^ebe,   welche  Abnor- 
mität so  über  den  ganzen  Körper  verbreitet  ist,   dass  sie  nicht  als  rein 
örtliche,   sondern  als  universelle  betrachtet  werden  rauss.     Man  hat  ver- 
schiedene Versuche  gemacht,  diese  locale  und  universelle  Abnormität  zu 
erklären,  zumal  die  Ursache  des  „chronisch  Werdens"  immer  in  die  Fort- 
dauer des  Reizes  zu  verlegen,  um  dem  Räthselhaften  zu  entgehen,  was 
immerhin  darin  liegt,  dass   ein  Organismus   auf  einen  Reiz   anders  rea- 
giren  soll  als  ein  anderer.    Man  hat  daher  angenommen,  dass  die  Stoffe, 
welche  aus  irgend  welchem  Grunde  durch   eine  chemische  Gewebsalte- 
ration in  den  Organen  entstanden,  nicht  von  den  Lympli-  und  Blutbahnen 
aufgenommen  und  nicht  aus  den  erkrankten  Organen   entfernt  werden, 
sondern    in  ihnen    liegen  bleiben    und    den    dauernden  Entztindungsreiz 
abgeben.    Ich  bin  weit  davon  entfernt,  leugnen  zu  wollen,  dass  sich  dies 
zuweilen  so  verhält;  doch  zugegeben,  dies  sei  für  alle  Fälle  gleich  richtig, 
so  bleibt  auch  die  eben  erwähnte  Eigenthümlichkeit  dieser  oder  jener  Or- 
gane immer  eine  Abnormität  bei  diesen  Individuen  oder  eine  Eigenthüm- 
lichkeit der  unter  ganz  bestimmten  Verhältnissen  bei  diesen  Individuen 
auftretenden  Entzttndungsformen.    Kurz  wir  kommen  auch  auf  diese  Weise 
nicht  darüber  hinaus,  dass  wir  es  dabei  mit  Individuen  zu  thun  haben, 
welche,    sei    es    in  einzelnen  Geweben   und  Gewebssystemen,   sei    es  in 
toto,  anders  sind  als  die  Mehrzahl  der  Menschen.    Kinder  fallen  unzählige 
Male  auf  Knie,  Hüfte,  Ellenbogen  etc.,  meist  erfolgt  keine  Erkrankung, 
oder  die  Resultate  der  Contusion   sind  in  wenigen  Tagen    überwunden; 
selbst  wenn  gar  keine  Behandlung  Statt  gefunden  hat,  und  selbst  wenn 
die  Quetschung,    wie  sich  aus   den  ausgedehnten  Extravasaten,    der  in- 
tensiven   Schwellung    und    dem    Schmerz    ergab,    eine    erhebliche    war. 
Einige  Kinder    aber    bekommen  selbst  nach  leichten  Quetschungen  chro- 
nische Gelenkentzündungen;    diese   sind  Ausnahmen:    es  ist  wohl  nichts 
dagegen  einzuwenden,   wenn  man  sie  als   eine  besondere  pathologische 


^^zj.  Von  der  chronischen   lilnlziindung,   besonders  der  Weichtheile. 

Menschenrage  betraclitet,  dieser  einen  Xamen  giebt  und  sie  nach  ihren 
sonstigen  Eigenschaften  naturgeschichtlich  zu  charakterisiren  sucht. 

Man  hat  versucht,  die  scrophulöse  Diathese  schon  aus  dem  ganzen 
Aussehen  und  Verhalten,  aus  dem  Habitus  der  Kinder  zu  diagnosticiren. 
Folgendes  Bild  pflegt  man  gewöhnlich  als  Typus  für  ein  scrophulöses 
Kind  zu  entwerfen:  blonde  Haare,  blaue  Augen,  sehr  weisse  Haut  mit 
starkem  Panniculus  adiposus,  dicke  Lippen,  aufgetriebener  Bauch,  Ge- 
frässigkeit,  Neigung  zu  Stuhlverstopfung  (torpide  Scrophelu).  Zu  die- 
sem Portrait  "werden  Sie  manche  Originale  in  Hirer  Praxis  finden,  indess 
auch  viele  Kinder,  welche  keine  Aehnliclikeit  mit  demselben  haben  und 
doch  in  exquisiter  Weise  an  chronischen  Entzündungen  gleicher  Art  lei- 
den, wie  die  eben  geschilderten  Individuen.  Ich  lege  im  Ganzen  nicht  viel 
Gewicht  auf  diese  äusseren  Erscheinungen.  —  In  Betreff"  des  Verlaufes 
und  Ausganges  der  chronischen  Eutzündungsprocesse,  welche  bei  scro- 
phulösen  Kindern  vorkommen,  ist  Folgendes  zu  bemerken.  In  wenigen 
Fällen  bildet  sich  die  chronisch-entzündliche  Anschwellung  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  vollkommen  zurück  bis  zur  vollständigen  Restitutio 
ad  integrum.  Am  liäutigsten  ist  der  Verlauf  mit  Eiterung,  und  kann 
dieselbe  je  nach  der  Verschiedenheit  der  Fälle  einen  ziemlich  acuten 
Charakter  annehmen,  wie  dies  bei  der  Entzündung  der  submaxillaren 
Lymphdrüsen  und  bei  den  Gelenkkrankheiten  vorkommt.  Sehr  oft  be- 
hält der  Process  Jahre  lang  einen  chronischen  Charakter;  es  entstehen 
Abscesse,  Fistelbildungen,  Geschwüre  u.  s.  w.  Frühzeitige  Eiterung  kommt 
besonders  bei  etwas  abgemagerten,  schwächlichen,  schlechtgenährten,  sehr 
leicht. febril  werdenden  Kindern  vor  (erethische  Scropheln,  xon  sqs^co 
anreizen,  aufregen)  und  ist  von  besonders  schlechter  Prognose.  In  man- 
chen Organen,  wie  in  den  Lymphdrüsen,  in  der  Lunge  ist  der  Ausgang 
der  chronischen  Entzündung  in  Verkäsung  besonders  häufig; 
von  dem  seliädlichsten  Einflüsse  auf  die  ganze  Ernährung  muss  es  be- 
greiflicher Weise  sein,  wenn  die  Mesenterialdrüsen  auf  diese  AVeise  de- 
generiren  und  dadurch  die  Chylusbahnen  zum  grossen  Tlieil  verlegt 
werden;  eine  unlieilbare  Atrophie  des  ganzen  Körpers  kann  die  Folge 
davon  sein.  —  Die  lymphatische  Diathese  ist  in  den  meisten  Fällen 
angeboren  und  vererbt  sich  von  Generation  zu  Generation.  Jedoch  kann 
dieselbe  auch  in  Folge  unzweckmässiger  Lebensweise  erworben  Averdeu, 
unter  besseren  Verhältnissen  wieder  schwinden,  sich  wieder  einstellen  und 
so  fort.  Als  Hauptschädlichkeitsmomente  giebt  man  an :  vorwiegende  oder 
ausschliessliche  Nahrung  von  Kartoff"eln,  Mehl,  gesäuertem  Brod;  ungesunde, 
feuchte  Wohnungen;  Mangel  an  Reinlichkeit,  frischer  Luft  und  derglei- 
chen mehr.  Es  ist  sehr  schwer  zu  constatiren,  ob  dies  Alles  richtig  ist; 
jedenfalls  würde  die  Scrophulosis  unter  den  Armen  noch  viel  mehr  aus- 
gebreitet sein,  als  sie  es  in  der  That  ist,  wenn  die  genannten  Umstände 
immer  scrophulöse  Diathese  hervorrufen  müssteu. 

Soll  ich  in  wenig  Worten  zusammenfassen,   was  man  heut  zu  Tage 


Vorlcstiug  29.     Capitel  XIV.  455 

unter  lymphatischer  Constitution  oder  »Scritphiilosis  zu  vorstehen  pfifft, 
so  lässt  sich  dieselbe  l)a]s  eine  Disposition  zu  chronischer  Imi  t- 
zlindung  der  Häute,  Knoclien  und  Gelenke  hetrachten,  wobei 
der  entzündliche  Process  zur  Entwickluni;-  von  GranulMtions- 
massen,  von  Eitei"  und  zur  Vcrkäsung  führen  knim;  2)  nennt 
man  auch  so  1  die  Individuen  vorwi  eisend  gern  lynipliati  seh 
oder  scrophulös,  bei  welchen  I^yniphdrüsenanschwellungen, 
wenn  aucli  durch  vo  rüberg-ehcnde  Heize  entstanden,  lang-e 
stabil  bleiben,  oder  sog-ar  selbstständig  ohne  neue  periphe- 
rische Reizung*  zunehmen. 

Wir  wollen  hier    g"leich  auf  die  Behandlung    der  Scrophulose    im 
Allgemeinen    eingehen.     Vor  Allem   ist   eine  liegulirung'  der   Diät  noth- 
wendig;  gute  Fleischnahrung,  Eier  und  Milch,  gut  ausgebackenes  Weizen- 
brod,  von  Zeit  zu  Zeit  Bäder,  Aufenthalt  in  frischer,  gesunder  Luft,  eine 
kräftige,    nicht  verweichlichende  Erzielmng   sind    die  wichtigsten,    aber 
freilich  oft  der  Umstände  wegen  am  wenigsten  anwendbaren  Mittel;  bei 
den  diätetischen  Verordnungen  ist  sehr  auf  den  einzelnen  Fall  Rücksicht 
zu  nehmen,    zumal  ob  Neigung   zur  Fettsucht   oder  Atrophie  vorhanden 
ist,    ob  die  Verdauungsorgane  normal  oder  durch  unzweckmässige  Kost 
von  Jugend  auf  ruinirt  sind.    Da  die  Krankheit  sehr  vielfach  bei  Armen 
vorkommt  (ohne  dass  sie  jedoch  bei  den  Reichen  ausgeschlossen  wäre), 
so  sind  gerade  diese  diätetischen  und  hygieinischen  Mittel  am  wenigsten 
durchführbar.     Die  Zahl  der  Innern,  gegen  Scrophulose  anzuwendenden 
Mittel  ist  eine  ausserordentlich  grosse,   es  handelt  sicli  daljei  nicht,  wie 
man  früher  meinte,  um  das  Aufnehmen   eines  specifischen  Arzneimittels 
als  Gegengift  gegen  ein  unbekanntes,   im  Blut  circulirendes  Gift,   denn 
letzteres  existirt  nicht,  —  sondern  um  eine  rein   symptomatische,  meist 
allgemeine  Behandlung.     Sie    sehen    aus    der    obigen   Darstellung,    dass 
„Scropheln"  keine  Materia  peccans  sind,  welche  im  Blut  circulirt,   son- 
dern nur   eine  Schwäche  der  Organisation  nach   einer  bestimmten  Rich- 
tung,  eine  bald  mehr  bald  weniger  intensive  Anlage  zu  besonderen  Er- 
krankungsformen.   Dies  ist  ein  wesentlicher  Unterschied,  ein  wesentlicher 
Fortschritt    gegen    frühere   Auffassungen    der    Krankheit.     Nach    meiner 
Auseinandersetzung  würden  Sie  sich  auch  mit  denjenigen  neueren  Skep- 
tikern verständigen    können,  welche  der  Ansicht    sind,    dass    alle    chro- 
nischen Entzündungsprocesse  bei  Kindern  gleichartigen  Ursprungs  sind, 
und  dass   es  daher  völlig  unnöthig  sei ,    in  jedem  Fall   von   chronischer 
Lymphdrüsenanschwellung,  oder  von  chronischer  Gelenkentzündung  hin- 
zuzufügen, sie  seien  scrophulös,  beruhten  auf  lymphatischer  Diathese.    Es 
ist  möglich,  dass  diese  Ausdrücke  im  Lauf  der  Zeit  verschwinden,  weil 
sie  bei  Klärung  der  Anschauungen    unnöthig  werden;    doch  ist  es  nicht 
richtig,  dass  bei  Kindern  alle  chronisch-eutzündliclieu  Processe   gleichen 
Ursprungs  sind,    denn  es  kann  ja  auch   z.  B.  ererbte  oder   erworbene 
Syphilis  in  Frage  kommen;  und  bei  Erwachsenen  giebt  es  noch  so  man- 


^^g  Vuii  der  cliroiiischen  Eutzüiiditng,  besonders  der  Weiehtheile. 

clicrlei  andere  constitutionelle  Dispositionen  ausser  derjenig-en,  welche 
man  bisher  als  die  scropliulös-tuberculöse  bezeichnet  hat,  und  welche 
eben  in  der  Disposition  zu  chronischen  Entzündungen  mit  Ausgang  in 
Eiterung-,  Verkäsung  und  Verschwärung  besteht.  Dass  sich  diese  Pro- 
cesse  in  einem  gewissen  Gegensatze  zu  anderen  chronischen  Entzündungs- 
formen  befinden,  z.  B.  zu  denen,  welche  auf  interstitieller  Bindegewebs- 
Avucherung  (Lcbci'cirrliose,  Morbus  Brightii,  graue  Degeneration  des 
Eückenmarks  etc.)  beruhen  und  zu  Sclerosirung  führen,  scheint  mir  zwei- 
fellos. 

Um  die  lymphatische  Diathese  zu  bessern,  ist  Vielerlei  versucht; 
früher  wandte  man  von  Zeit  zu  Zeit  Abführmittel,  in  England  besonders 
auch  das  Quecksilber  in  kleinen  Dosen  an:  dies  ist  ganz  passend  bei 
fetten  scropliulösen  Kindern;  der  gebrannte  Badeschwamm,  die  Folia 
Juglandis  regiae,  Herba  Jaceae,  Eichelcaffee,  auch  die  bittern  Mittel 
wurden  empfohlen  und  werden  heute  noch  viel  gebraucht.  In  unsern 
Tagen  gilt  der  Leberthran  am  meisten  als  Antiscrophulosum,  indem  man 
ihm  nicht  allein  eine  specifische  Wirkung  gegen  die  scrophulöse  Diathese 
zuschreibt,  sondern  ihn  auch  mit  Recht  als  ein  kräftiges  Nutriens  schätzt 
und  deshalb  bei  mageren  scrophulösen  Kindern  besonders  gern  an- 
wendet; bei  fetten  Kindern  dürfte  er  eventuell  schädlich  sein.  Von  den 
Jodmitteln  wird  auch  vielfach  Gebrauch  gemacht  bei  Scrophulöse;  doch 
sind  sie  mit  Vorsicht  und  eher  bei  fetten,  als  bei  atrophischen  Kindern 
anzuwenden;  am  meisten  Lob  verdient  das  Jodeisen  bei  blassen,  doch 
zugleich  fetten  Kindern  mit  fungösen  Gelenkentzündungen.  Auch  die 
leicht  verdaulichen  Eisenpräparate  sind  bei  Scropheln  und  Anämie  sehr 
werthvolle  Mittel.  Eine  günstige  Wirkung  haben  ferner  die  Öalzbäder, 
die  man  entweder  an  dem  Ort  der  Quelle,  in  Deutschland  z.  B.  in  Kreuz- 
nach, Rheme,  Wittekind,  Coblenz,  Tölz,  Reichenhall,  in  Oesterreich  in 
Hall,  Ischl,  in  der  Schweiz  in  Rheinfelden,  Schweizerfiall,  Lavey,  Bex 
brauchen  lässt,  oder  sie  zu  Hause  künstlich  bereitet,  indem  man  1 — 3  Pfd. 
Salz,  je  nach  der  Grösse  des  Bades  zu  einem  lauen  Bad  zusetzt.  Für 
etwas  grössere  Kinder  sind  Seebäder  zu  empfehlen;  für  schwächliche 
Kinder  warme  Bäder  mit  Zusatz  von  Malz  und  aroumtischen  Kräutern. 
Bei  fetten  scrophulösen  Kindern  rühmt  Niemeyer  hydropathische  Ein- 
wicklungen  des  ganzen  Körpers,  Avovon  ich  auch  in  einigen  Fällen 
guten  Erfolg  sah.  —  Von  vielen  Aerzten  werden  auch  Schwefelquellen, 
besonders  die  heissen,  bei  scrophulösen  Geleukleiden  empfohlen;  man 
nuiss  die  dazu  geeigneten  Fälle  mit  Vorsicht  aussuchen,  da  die  lieissen 
SchAvefclthermen  bei  sehr  sclnnorzhaften  subacuten  Gelenkleiden  und 
heruntergekonunenen  Allgemeiuzustand  auch  schaden  können.  —  Sie 
sehen,  dass  es  an  Mitteln  nicht  fehlt,  und  dennoch  gelingt  es  nur  selten, 
die  Constitution  dadurch  zu  bessern  und  dem  AViederausbruch  neuer 
localer  Processe  in  allen  Fällen  vorzubeugen.  Auch  erreicht  manchmal 
der  örtliche  Proccss  einen  solchen  ITöhegrad,  dass  er  für  sicli  dem  Leben 


Voricsuiii,'  2:).      Capilcl    XfV. 


457 


gdnlirlicli  wird,  und  die  ürlliclioii  Milicl  in  den  Verde ri;' rund  treten 
müssen.  Im  L;uif  der  Jalire  verrinii,'evl  sich  die  Disposition  zn  diesen 
Erkrnnkuni;-en,  wie  bemerkt,  erlieblicli;  docli  g-elien  viele  Kinder  ;iii 
scvopluilösen  Knoelien-  und  Gelenlvkranklieiten  zu  Oi-unde. 

2.  Die  tuberkulöse  Dyskrasic.  Tuberculosis.  Der  Name 
dieser  Krankbeit  ist  von  'l''u!)crculum,  das  Knötcbcu,  lierii-eleitet,  weil 
das  Froduct  dieser  Krankbeit  in  Form  von  ganz  kleinen,  anfang-s  grau, 
später  gelblicb  aussebenden,  im  Beginn  kaum  birsekorngrossen,  oft 
mikroskopischen  Knötchen,  den  Tuberkeln,  auftritt. 

Aiuilysireii  »Sie  ein  .solelie«  Kiiötclien  mit  dem  Mikroskop,  so  lindem  Sie,  dass  dasselbe 
aus  einer  Menge  mittelgrosser,  runder  Zellen  besteht,  die  in  der  l'eripherie  den  Knötchens 
sehr  deutlich  sind,  während  in  der  Mitte  ein  feiner,  molecularer,  trockner  Brei  liegt, 
welcher  bei  grösserer  Ausdehnung  des  Knötchens  eine  gelbe ,  käsige  Beschaffenheit 
bekommt. 

Die  neueren  Untersuchungen  von  Schüppel,  Langhans,  Rindfleisch  u.  A. 
stimmen  darin  überein,  dass  sehr  häufig  im  Centrum  ganz  junger  Tuberkel  sich  grosse 
vielkernige  Protoplasmamassen  finden,  sogenannte  Eiesenzellen,  wie  wir  sie  später  besonders 
auch  bei  den  Neubildungen  im  Knochen  zu  besprechen  haben;  doch  sind  die  Kerne  in 
den  Riesenzellen  der  Tuberkel  sehr  häufig  exquisit  peripherisch  angeordnet. 

Fig.  78. 


Riesenzellen  aus  Tuberkeln  in  verschiedenen  Stadien  ihrer  Entwicklung  nach  Lan  ghans. 

Vergrösserung  etwa   iOO. 


C-Tanz  constant  ist  jedoch  das  Vorkommen  dieser  Riesenzellen  in  den  Tuberkeln 
nicht.  Oft  sieht  man,  zumal  am  Netz,  eine  ziemlich  ungeordnete  Anhäufung  von  grossen 
und  kleinen  Zellen   als   Anfang   der  Tuberkelbildung,    und   neben  solchen,    bald  deutlich 


458 


Von  der  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 


runden ,  bald  sehr  unregelmässig  gestalteten ,  immerhin  noch  scharf  umschriebenen  Neu- 
bildungen dieser  Art  finden  sich  dann  auch  wohl  mehr  diffuse  Infiltrate  (tuberkulöse 
Infiltrate),  welche  kaum  noch  von  gewöhnlichen  entzündlichen  Infiltrationen  zu  unterscheiden 
sind,  ausser  dadurch,  dass  die  Zellen  wohl  bis  auf  das  Doppelte  grösser  sind,  als  die 
Wanderzellen,  welche  die  erste  zellige  Infiltration  bei  der  acuten  Entzündung  bilden. 


Fig.  79. 


a  Kleinste  Tuberkel  im  Netz;    b  kleinste  Tuberkel  an  einer  Hirnarterie;  a  und  b  Loupen- 

"vergrösserung  jvon     Präparaten    von    Eindfleisch.     —   c     Entwicklung    von    kleinsten 

Tuberkeln  am  Netz  nach  Kundrat.     Vergrösserung  etwa  500. 


Eine  ganz  besondere,  zumal  von  Rindfleisch  hervorgehobene  Eigenthüm'liehkeit 
der  Tuberkel  ist  es,  dass  sie  sich  häufig  an  und  in  den  Wänden  kleiner  und  kleinster 
Arterien  und  in  Lymphgefässeu  bilden,  doch  finden  sie  sich  äusserst  selten  an  Venen. 


Voricsimi;-  1>1).      Cjipilfl    XIV. 
Fi«'.  80. 


459 


a  Kleinster    Tiiherkcl    riner    Hiniarleiie. 

Vergrö.sseriiHg    100.    -     b    Krsfer   Beginn 

der  Zellen\einielirinig   in   einer   kleinsten 

Hirnarterie.     Ob  die  vielkernigen  Zellen 

Wanderzellen,  Bindegewebszellen,  Endo- 

thelzellen,    Muskelzellen    sind,    oder  (ib 

sie     aus    Umwandlung     der    Intinia    zu 

Protoplasma    entstanden   sind,    balle    icb 

vorläufig  nicbt  für  erweisiieb. 

Vergrösserung  etwa   1000.  —  Beide 

Zeichnungen  nach  Präparaten  von  Rind  - 

fleisch. 


Ueber  den  Ursprung  der  Zellen,  welche  den  Tuberkel  bilden,  kann  man  ver- 
schiedener Meinung  sein.  Sind  es  Wanderzellen,  so  müssten  sich  diese  bald  nach  ihrem 
Austritt  aus  den  Capillareii  und  Venen  sehr  rasch  vergrössern;  im  Ganzen  sind  die 
modernen  Forscher  dieser  Ansicht  wenig  geneigt.     Rindfleisch,  Kundrat  u.  A.  halten 


460  "^^^  ^^^'  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 

dafür,  dass  die  Tuberkelzellen  meist  durch  Wucherung  von  Endothelien  entstehen,  und 
zwar  von  Endothelien  der  Gefässe  und  ihrer  Lymphscheiden,  ferner  der  Endothelien  der 
Lymphgefässe  und  der  serösen  Häute.  Rindfleisch  ist  der  Meinung,  dass  sich  auch 
aus  den  Muskelzellen  der  Arterien  Tuberkelzellen  entwickeln  können. 

Was  nun  das  weitere  Schicksal  dieser  kleinen  Neubildungen  beti-ifft,  so  ist  das 
Wesentlichste  und  Eigenthümlichsre  an  ihnen,  dass  sich  in  der  Regel  keine  Gefässe  in 
sie  hinein  bilden,  eben  so  wenig  wie  in  die  rein  epithelialen  Neubildungen,  obgleich 
ihre  Peripherie  reichlich  vascularisirt  wird.  Nur  äusserst  selten  kommen  Fälle  vor,  in 
welchen  die  Tuberkel  nach  und  nach  zu  Faserknötchen  werden.  AVährend  sonst  jede 
Neubildung  mit  Gefässwucherung  verbunden  ist,  fehlt  diese  dem  Tuberkel,  wie  in  neuester 
Zeit  wieder  von  Rindfleisch,  Heitzmann  u.  A.  besonders  urgirt  wurde,  ganz  und 
gar,  und  dies  hat  zur  Folge,  dass  die  junge  Neubildung  nicht  lange  lebendig  bleiben  kann: 
sie  stirbt  im  Centrum  ab,  nur  die  Zellen  der  Peripherie  erhalten  sich.  Das  abgestorbene 
Centrum  zerfällt  zuweilen  mit  fettiger  Degeneration,  zu  einer  feinen  punktförmigen  amoi-phen 
Substanz,  welche  dem  freien  Auge  als  ein  trockner,  käsiger  Brei  erscheint,  kurz,  der 
Tuberkel  geht  regelmässig  in  Folge  seines  Mangels  an  Blutgefässen  in  Vei-käsung  über.  — 
Die  Vergrösserung  eines  Tuberkels  könnte  möglicher  Weise  durch  immer  neue  zellige  In- 
filtration des  Gewebes  um  den  primären  Heerd  bis  in  infinitum  fortschreiten ;  dies  geschieht 
indess  selten.  Die  grössten  käsigen  Heerde,  welche  man  im  Hirn,  im  Hoden  etc.  findet, 
sind  in  den  meisten  Fällen  durch  Confluenz  vieler  kleiner  Knötchen  entstanden,  deren  man 
oft  auch  nicht  selten  eine  grosse  Anzahl  in  der  Nähe  grösserer  verkäster  Knoten  findet.  — 

Wir  kommen  hiemit  auf  das  Verhalten  des  umliegenden  Gewebes  zii  den  in  dasselbe 
gewissermaassen  hineingesäeten  Tuberkeln,  wozu  ich  noch  bemerken  muss,  dass  das  Auf- 
treten der  miliaren  Knötchen  in  einem  Organ  oder  in  einem  Theil  eines  solchen  gewöhnlich 
ein  sehr  massenhaftes  ist.  In  der  Umgebung  der  Tuberkel  pflegt  eine  subacute  Entzündung 
aufzutreten,  mit  reichlicher  zelliger  Infiltration  und  reichlicher  Vascularisation.  Dies  kann 
zu  eitriger  Erweichung  des  Gewebes,  zur  chronischen  Abscessbildung,  zu  ulcerativen 
Processen  führen ;  so  entsteht  eine  Höhle,  welche  Eiter,  erweichte  Gewebsfetzen  und  ver- 
käste Tuberkel  enthält.  In  der  Lunge  nennt  man  das  eine  Caverne.  —  Es  kann  aber 
auch  die  Entzündung  um  die  Tuberkel  mit  in  den  Process  der  Tyrose  hineingezogen 
werden  und  so  ein  grosser  käsiger  Heerd  entstehen,  welcher  die  primären  Tuberkel  in 
sich  einschliesst;  dieser  kann  später  durch  peripher  eintretende  Eiterung  erweichen  oder 
auch  nach  fester  Abkapselung  verkreiden.  Tritt  in  Schleimhäuten  Tuberkelbildung  auf. 
wie  so  oft  in  der  Larynx-,  Darm-,  Ureteren-,  Blasen-  und  Uterinschleimhaut,  so  entstehen 
neben  den  tuberkulösen  Infiltrationen  und  Ulcerationen  eitrige  Catarrhe,  reichliche  Epi- 
thelialabstossung,  zumal  auch  in  den  Lungenalveolen  (Desquamations-Pneumonie  Buhl). 
In  allen  diesen  Fällen  kann,  was  leider  selten  geschieht,  der  Krankheitsheerd,  nachdem  er 
diese  oder  jene  Metamorphose  durchgemacht  hat,  durch  eine  dei'be  Bindegewebsneubildung 
eingekapselt  werden  und  dann  nach  Entleerung  des  Inhaltes  oder  Verkreidung  desselben 
diese  Kapsel  zu  einer  festen  Narbe  schrumpfen.  Bei  serösen  Häuten,  zumal  beim  Peri- 
toneum kommt  es  aber  auch  sehr  häufig  vor,  dass  die  durch  die  Tuberkeleinstreuung 
liervorgerufene  Entzündung  sofort  zur  Bindegewebsneubildung  führt  und  durch  diese  nicht 
nur  eine  rasche  Abkapselung  jedes  Knötchens,  sondern  auch  eine  so  innige  Verwachsung  der 
Därme  untereinander  und  mit  der  Bauchwandung  entsteht,  dass  es  bei  der  Section  fast 
unmöglich  werden  kann,  die  Intestina  auseinander  zu  lösen. 

Was  das  Vorkommen  der  Tuberkel  iu  den  verscliiedeneu  Organen 
des  Körpers  betrifft,  so  ist  keines  derselben  g-auz  davon  ausgesclilossen, 
doch  sind  einige  besonders  dazu  prädisponirt,  Sie  finden  sich  am 
häufigsten  in  der  Lunge,  besonders  entwickeln  sie  sich  gern  in  den 
Lungenspitzen;    es  entsteht  gewöhnlich  eine  grosse  Anzahl  zu  gleicher 


Zeit;  sie  confluiren  mit  einander,  die  Waiidiui^eii  der  Broiicliieu  werden 
mit  in  den  Proeess  liineingezogcn,  zeistört,  und  der  käsii^'e,  ziun  'V\wÄ\ 
erweichte  Inhalt  der  Tuljerkeln  wird  ausgeliustet;  Gefässe  werden  diireli 
den  ProcesR  erweicht,  bersten  und  geben  zum  Bluthusten  und  sog-e- 
nanntem  Blutsturz  Veranlassung-.  Es  ist  hier  nicht  die  Aufgabe,  dies 
weiter  zu  detailliren;  Sie  werden  von  dieser  unseeligen  Krankheit  später 
in  den  Kliniken  noch  genug'  hören.  Nächst  den  Lungen  ist  die  Tuberkel- 
bildung'  am  häutigsten  in  der  Kehlkopfschleimhaut,  dann  in  Schleindiaut 
der  Harnweg-e,  in  der  Darmschleimhaut,  selbst  im  Kectum,  wo  diese  tuber- 
kulösen Geschwüre  und  Abscesse  auch  ein  chirurgisches  Interesse  l)e- 
kommen.  —  Tuberkeln  kommen  auch  in  den  Knochen,  namentlich  in  den 
spongiüsen  vor,  besonders  im  Calcaneus,  in  den  Wirbelkörpern,  in  den 
Epipliysen  der  Tibia;  im  Ganzen  selten  sind  sie  in  den  Synovialmem- 
branen der  Gelenke.  Obgleich  die  Lymphdrüsen  bei  Tuberkulose  häutig 
erkranken,  so  ist  es  doch  oft  schwer  eigentliche  Miliartuberkel  in  ihnen 
nachzuweisen;  doch  Schüppel  fand  sie  auch  dort. 

Die  Anschaunng-en  über  die  Aetiolog'ie  der  Tuberkulose  haben  sich 
im  Lauf  der  letzten  Jahre  ganz  ausserordentlich  verändert.  Man  hat 
früher  nicht  daran  gezweifelt,  dass  die  Tuberkelbildung'  theils  eine  selbst- 
ständige spontan  entstehende  Krankheit  sei,  theils  dass  eine  Disposition 
dazu  sieh  vererbe.  Man  sprach  daher  von  einer  tuberkulösen  Diathese, 
wie  man  von  einer  scrophulösen  Diathese  sprach,  und  hielt  beide  wohl 
mit  einander  verwandt,  doch  immerhin  nicht  für  identisch.  Von 
Laennee  stammt  die  Anschauung,  dass  die  kleinen  knotigen  Neu- 
bildungen (die  grauen  Miliartuberkel)  immer  die  primäre  Erkrankungs- 
form seien  und  durch  Confluenz  und  Wachsthum  zur  Zerstörung  des 
befallenen  Gewebes  führen.  Die  Unterscheidung  der  Tuberkel  in  miliare 
graue  Knötchen  und  in  käsigen  Knoten,  die  höchst  merkwürdige  acute 
Miliartuberkulose  mit  ihrer  typhusälmlichen  klinischen  Erscheinungsform, 
der  Zusammenhang  der  Tuberkelbildung  mit  anderen,  namentlich 
chronisch-eitrigen  und  verkäsenden  Entzündungen  waren  immerhin  ver- 
wickelt und  blieben  in  vielen  Stücken  dunkel,  wenn  auch  der  Begriff 
der  Tuberkulose  durch  Virchow  mehr  eingeengt  und  präcisirt  wurde, 
und  so  wenigstens  nicht  mehr  jede  verkäste  Neubildung  als  Tuberkel 
bezeichnet  wurde.  —  Es  war  Buhl  vorbehalten,  auf  Grund  sorgfältigster 
Prüfungen  zu  dem  Gedanken  vorzudringen,  die  acute  Miliartuberkulose 
sei  eigentlich  der  Typus  der  tuberkulösen  Erkrankung;  er  fand  sie  in 
den  meisten  Fällen  combinirt  mit  älteren  verkästen  oder  eitrigen  Ent- 
zündungsheerden;  er  stellte  die  damals  sehr  kühne  Behauptung  auf, 
dass  sie  immer  durch  Eesorption  von  Substanzen  aus  diesen  Heerden 
und  Verschleppung  der  kleinsten  Partikel  in  alle  Organe  des  Körpers 
entstünde.  Die  Tuberkulose  wäre  hiernach  eine  Infectionskrankheit,  eine 
Art  knotigen  Exanthems  auf  und  in  inneren  Organen,  bedingt  durch  die 
Aufnahme  einer  schädlichen  Substanz,  zumal  aus  alten  verkästen  Ent- 


^ß2  Von  der  eliroiiisclien  Entzilnclnng,  liesonclers  der  Weichtheile. 

zündung'sheerden  in  den  Lymphdrüsen,  in  der  Lunge,  im  Knoclien  etc. 
wobei  einige  dieser  Partikelchen  als  Emboli  in  Blut  und  Lymphgefässeu 
specifiseh  infectiös  wirken  mögen.  Die  Untersuchungen  der  letzten 
Jahre  liaben  in  der  That  gezeigt,  dass  sehr  viele  Zerstörungen,  z.  B.  in 
der  Lunge,  welche  man  bis  dahin  ohne  weiteres  als  durch  miliare 
Tuberkelknötchen  entstanden  betraclitete,  eingedickte  käsige  und  theilweis 
erweichte  Heerde  sind,  welche  als  Eesultate  eines  einfachen  chronisch- 
ulcerösen  Entziindungsprocesses  betrachtet  werden  müssen,  da  man  bei 
ihnen  keine  Miliartuberkel  findet,  sondern  nur  relativ  grosszellige  (tuber- 
kulöse) Infiltrationen.  Danach  scheint  es,  als  wenn  auch  bei  der  Lungen- 
phthise  die  Entstehung  der  wahren  Tuberkel  als  etwas  secundäres,  häufiges, 
aber  keineswegs  nothwendiges  zu  betrachten  ist.  Niemeyer  hat  sich 
grosse  Verdienste  um  die  praktische  Verwendbarkeit  dieser  neuen  An- 
schauung erworben,  nach  welcher  dann  wohl  eine  Diathese  zu 
chronischen  verkäsenden  Entzündungen  gewisser  Orgaue 
angeboren  sein  würde,  doch  nicht  gradezu^  die  Disposition 
zu  primärer  Tuberkelbildung.  Diese  Auffassung  ist  in  neuester 
Zeit  noch  sehr  wesentlich  dadurch  unterstützt,  dass  es  gelungen  ist, 
Thiere,  zumal  Meerschweinehen  und  Kaninchen  tuberkulös  zu  machen. 
Bei  diesen  Thierchen  erzeugt  nämlich  jeder  kleinste  dauernde  Eeiz  eine 
Entzündung  mit  käsig-eitrigen  Producten,  und  dann  erfolgt  von  diesem 
Heerde  aus  eine  tuberkulöse  Dyskrasie,  welche  sich  in  der  Production 
theils  von  Miliartuberkeln  zumal  auf  den  serösen  Häuten,  theils  von 
gelblichen  Knoten  in  Lunge,  Leber,  Milz  etc.  kundgiebt  und  zum  Tode 
führt.  Diese  höchst  interessanten  Experimente,  welche  von  Villemiu 
begonnen,  von  Leb ert  und  Wy SS,  Fox,  Klebs,  Cohnheim,  "V^"aldeu- 
burg,  Menzel  u.  A.  stets  mit  gleichen  Resultaten,  wenn  aucli  mit  ver- 
schiedenen Deutungen  wiederholt  sind,  scheinen  mir  zu  beweisen,  was 
ich  stets  festgehalten  habe,  dass  der  Tuberkel  nur  eine  eigenthümliche 
Form  der  entzündlichen  Neubildung  ist,  so  wie,  dass  die  Buhl' sehe 
Auffassung  richtig  sein  dürfte.  Sehr  wichtig  ist  es  aber,  hervorzuheben, 
dass  die  erwähnten  Lnpfungen  nur  bei  Thiereu  gelingen,  welche  eine 
gewisse  Disposition  zu  Verkäsuug  aller  Eutzündungsproducte  haben,  wie 
ich  dies  schon  früher  (pag.  444)  vom  Kaninchen  ausdrücklich  hervorhob. 
Eind fleisch  bemerkt  sehr  richtig,  dass  diese  Thiere  sich  selbst  tuber- 
kulisiren,  wenn  einmal  eine  Entzündung  mit  dauerndem  Charakter  bei 
ihnen  zur  Entwicklung  gekommen  ist.  Bei  Hunden  z.  B.  gelingt  die 
Tuberkelimpfung  nicht. 

Wenn  wir  nun  auch  durch  das  eben  j\Iitgetheilte  den  grossen  Fort- 
schritt, welchen  die  Lehre  von  der  Tuberkulose  in  neuerer  Zeit  gemacht 
hat,  in  vollstem  Maasse  anerkennen,  so  dürfen  wir  uns  dabei  doch  nicht 
verheldcn,  dass  dadurch  die  interessanten  Beziehungen  zwischen  manchen 
chronischen  chirurgischen  Krankheiten  und  der  Tuberkulose  innerer 
Organe,  zumal  der  Lungen,  keineswegs  vollkommen  aufgeklärt  sind.   Wenn 


Vorlcsim^r  29.     Ciipitd   XTV.  4ß3 

aucli  die  Zalil  der  Fälle,  in  welclicii  iiacli  cliroiiisclioii  Oeleiik-  und 
Knociicneitening'eii,  iiadi  Verkäsiiiii^ei)  von  i^cscliwolleiicii  Lyniiilidrüscn 
Lung'entuberkulose  folgt,  ziemlicli  gross  ist,  so  ist  es  iiiiridestens  ebenso 
liäufig',  dass  der  Tod  bei  Individuen  mit  (Jelenk-  und  Knoelieneiterungen 
von  vieler  Jahre  Dauer  dureli  Erschöpfung  erfolgt,  und  man  bei  der 
Section  keine  Spur  eines  Tuberkels  findet.  Es  giebt  also  bestimmte 
.  Verhältnisse,  unter  welchen  eine  Resorption  der  verkästen  Massen  ent- 
weder nicht  erfolgt,  oder  unter  welchen  diese,  wenn  auch  resorbirt, 
keine  Tuberkel  erzeugen.  Dies  würde  dafür  sprechen,  dass  niclit  nur 
eine  Disposition  zu  Verkäsung  von  Entzündungsheerden,  sondern  auch 
eine  Disposition  zur  Disseminirung  respective  Tuberkulisirung  vorhanden 
sein  muss,  und  dass  beide  Dispositionen  nicht  nothwendig  so  combinirt 
sein  müssen,  wie  sie  es  bei  Kaninchen  und  Meerschweinchen  sind. 
Grade  darin,  dass  sich  um  einen  kleinen  Impfpunkt  ein  käsiger  Heerd 
bildet,  und  dass  sich  von  diesem  einen  käsigen  Heerde  aus  eine  auf  die 
Innern  Organe  disseminirte  Erkrankung  entwickelt,  liegt  doch  etwas  den 
genannten  Thieren,  wne  eben  auch  manchen  Menschen  selir  Eigenthüm- 
liches.  Diese  Eigenthündichkeit  nennt  man  eben  tuberkulöse  Diatliese. 
Auch  will  ich  Ihnen  nicht  vorenthalten,  dass  von  manchen  Pathologen 
nur  die  häufige  Coincidenz  von  chronischen  Eiter-  und  Verkäsungs- 
heerden  mit  Tuberkeln  zugegeben  und  beides  auf  eine  verwandte,  wenn 
auch  unbekannte  Ursache  zurückgeführt  wird.  —  Alles  dies  kann  mich 
jedoch  nicht  beirren,  die  eminente  Tragweite  der  eben  besprochenen 
neueren  Untersuchungen  anzuerkennen,  und  sie  als  einen  der  erfreulichsten 
Fortschritte  der  modernen  Pathologie  zu  betrachten. 

Eine  eigenthümliche  und  auf  den  ersten  Blick  veränderte  Stellung 
scheint  bei  der  neueren  Aetiologie  der  Tuberkulose  die  Therapie  zu 
bekommen.  Man  hätte  sich  jetzt  folgende  Frage  zu  stellen:  giebt  es 
Mittel  oder  Verfahren,  durch  welche  wir  verhindern  können,  dass  sich 
Jemand,  der  käsigen  Eiter  an  oder  in  sich  trägt,  tuberkulös  inficirt? 
Dies  müssen  wir  vor  der  Hand  durchaus  verneinen;  es  ist  auch  der 
Modus  der  Infection  so  wenig  bekannt,  dass  wir  schon  aus  diesem 
Grunde  nicht  von  Verhinderung  dieses  Vorganges  reden  können.  Auch 
der  Zeitraum,  welcher  zwischen  der  Entwicklung  des  primär  entstandenen 
Entzündungsheerdes  und  der  eventuell  folgenden  tuberkulösen  Infection 
liegt,  ist  völlig  unberechenbar.  Es  scheint  Fälle  zu  geben,  in  welchen 
z.  B.  die  Tuberkelbildung  in  den  Lungen  den  chronischen  Bronchial- 
catarrh  und  die  Desquamativpneumonie  veranlasst,  andere,  in  welchen 
letztere  Erscheinungen  das  primäre  sind  und  die  Tuberkelbilduug  den- 
selben fast  auf  dem  Fusse  folgt,  andere,  in  welchen  viele  Jahre  zwischen 
dem  Auftreten  dieser  beiden  Erkrankungsformen  liegen.  Kurz  die 
Mannichfaltigkeit  des  Processes  ist  eine  sehr  grosse.  Alles  das  ist  aber 
kein  directer  Angriffspunkt  für  die  Therapie.  Was  die  Erblichkeit 
anlangt,  auf  die  man  mit  Recht  bei  der  Tuberkulose  so  grosses  Gewicht 


4ß4  Vdii  der  clironischen  Entziindnng,  besonders  der  Weiditheile. 

legt,  so  sind  in  dieser  Beziehung-  manche  Beziehungen  durch  die  neuere 
Auffassung  etwas  verständlicher  geworden  und  manclie  früheren  Er- 
fahrungen lassen  sich  ohne  Zwang-  den  modernen  Anschauungen  an- 
passen. Wenn  die  wahren  Tuberkeln  nur  durch  Selbstinfection  entstehen 
können ,  so  kann  von  einer  directen  Vererbung-  der  Tuberculosis  im 
strengeren  Sinne  des  Begriffes  nicht  die  Rede  sein,  sondern  nur  die 
Neigung  zu  chronisch-entzündlichen  Processen  mit  Ausgang  in  Eiterung 
und  Verkäsung'  etc.  ist  erblich,  mit  anderen  Worten:  nur  die  scrophulüse 
Diathese,  nicht  die  Disposition,  Tuberkel  zu  produciren,  ist  erblich.  Wir 
wollen  dies  vorläufig-  im  Auge  behalten,  die  Erfahrung-  der  Familien- 
ärzte stimmt  im  Ganzen  wohl  damit  überein;  docli  müssen  wir  uns 
darüber  klar  bleiben,  dass  solche  Sätze  nur  sehr  im  Allgemeinen  richtig 
sind.  Die  Erblichkeit  von  Dispositionen  zu  Erkrankungen  bestimmter 
Organe  und  zu  Erkrankung-en  an  berstimmteu  Processen  ist  schon  wieder 
ein  so  complicirter  Vorg-ang-,  dass  man  darüber  nur  mit  aller  möglichen 
Eeserve  bestimmte  Behauptung-en  aufstellen  kann.  — 

Die  Tuberkulose  führt  zum  Tode  abgesehen  von  g-elegeutlicheu 
accidentellen  Erkrankungen,  wie  diffuse  Meningitis,  Lungenblutuugen, 
Pneumothorax,  Empyem,  Peritonitis  in  Folge  von  Darmperforation, 
Pyohämie  etc.,  theils  durch  die  ausgedehnten  Eiterungsprocesse  und  den 
relativ  starken,  continuirlichen  mit  febrilem  Marasmus  combinirten  Ver- 
lust an  Eiter,  theils  durch  amyloide  Degeneration  der  inneren  Organe, 
welche  sich  zu  diesen  Eiterungen  hinzugesellen,  theils  endlich  durch 
acute  Miliartuberkulose,  d.  h.  durch  eine  colossal  massenhaft  auftretende 
Eruption  von  Tuberkeln  in  inneren  Organen,  welche  mit  einer  allgemeinen 
Intoxication  verbunden  ist,  bei  welcher  die  Kranken  sich  in  einem 
typhus-ähnlichen  Zustande  befinden.  In  den  früheren  Stadien  der  Krank- 
heit kann  Heilung  eintreten,  freilich  mit  zurückbleibender  Neigung  zu 
Kecidiven. 

Fassen  wir  zusammen,  was  sich  über  die  Angriffspunkte  der  The- 
rapie der  Tuberkulose  sagen  lässt,  so  wird  dies  wohl  lauten:  wir 
können  weder  die  Entstehung  von  Tuberkeln  noch  ihre  Ausbreitung  mit 
Sicherheit  verhüten.  So  trostlos  dies  klingt,  so  ist  doch  hinzuzufügen, 
dass  die  ärztliche  Sorgfalt  Manches  vermag,  um  die  Entwicklung  der- 
jenigen Processe  zu  hemmen,  w^elche  so  oft  Tuberkulose  nach  sich  zie- 
hen. Die  frühzeitige  sorgfältige  allgemein  diätetische  und  locale  Be- 
handlung von  chronischen  Knochen-  und  Gelenkkrankheiten,  ja  selbst  die 
rechtzeitige  Amputation  von  Gliedmaassen  oder  Resection  kranker  Kno- 
chen vermag  eventuell  die  Entwicklung  von  Tuberkeln  zu  verhindern. 
Ebenso  ist  die  ängstliche  Pflege  bei  Catarrheu  aller  Art,  und  die  mög- 
lichst vollständige  Beseitigung  derselben  unzweifelhaft  das  Wirksamste, 
was  wir  thun  können,  um  eine  tuberkulöse  Infection  zu  verhindern.  Es 
ändert  sieh  schliesslich  nichts  in  der  Therapie  der  Tuberkulösen.  Alle 
Mittel,  alle  Bäder  und  Kurorte,  alle  Verhaltungsmaassregeln,  welche  man 


Voricsimn-  2\).     ('M|.il.-1   XFV.  405 

ilineu  g'icl)t,  Ijcziclicn  und  l)oz(>i;-ou  sich  imiiior  damiif:  1)  die  hestdicu- 
dcii  CmImitIio  (»der  sonsliii'cn  priniäi-on  Kranklieiten  zu  heseitigeu  (uh-.v 
zu  vorniiudcru,  "2)  die  Eninliruiii;'  der  meist  abg'euKti^-ertcn  Krardveii  zu 
heben,  ->)  Alles  zu  veruu'iden,  was  diesen  Individuen  entziindliclie  l'ro- 
eesse  veranlassen  und  sie  fieberhaft  machen  könnte.  -  Ich  muss  es 
den  Vorlesung-en  über  klinische  Medicin  überlassen,  Sie  detaillii-ter  mit 
den  wichtigen  Principien  der  Therapie,  dieser  so  häidigen  und  so  schreck- 
lichen Krankheit  bekannt  zu  maclien. 

3.  Die  Arthritis  {cigOgov  Glied,  Gelenk)  oder  Giclit  ist  eine 
Kranklieitsanlag-e,  welche  gewöhnlich  erst  gegen  das  30.,  sell)st  45.  T.e- 
bensjahr  und  später  als  Krankheit  ausbricht;  sie  wird  sehr  vielfach  nut 
dem  chronischen  Rheumatismus  zusammeng-eworfen,  ist  jedoch  von  dem- 
selben ziemlich  verschieden.  Die  wahre  Gicht  ist  eine  bei  uns  sehr 
seltene  Krankheit  und  zeichnet  sich  dadurch  vor  dem  Klieumatisnius  aus, 
dass  sie  anfallsweise,  oft  jährlich  nnr  einmal  nnd  zu  bestimmten  Zeiten 
wiederkehrt,  während  die  Individuen  in  der  Zwischenzeit  gesund  sind. 
Die  Gicht  ist  eine  Krankheit  der  reiclicn,  und  wie  alte  Aerzte,  welche 
selbst  daran  litten,  w^ohl  hinzusetzten,  der  klugen  Leute.  Sie  entsteht 
lianptsächlich  bei  Männern,  welche  ein  beliagliches,  Ijequemes  Wohl- 
leben führen,  und  vererbt  sich  nicht  selten  auf  die  folgenden  Genera- 
tionen, tritt  jedoch  meist  erst  im  höheren  Mannesalter  auf;  Harvey, 
Sydenham,  Romberg-  und  viele  andere  berülimte  Aerzte  litten  an 
Gicht.  Die  Entzündungen,  welche  bei  der  Gicht  auftreten,  sind  besonders 
auf  einige  bestimmte  Gelenke  und  ihre  umlieg-endeu  Theile  beschränkt. 
Das  Gelenk  zwischen  Metatarsus  und  der  ersten  Phalanx  der  ^'rossen 
Zehe  wird  besonders  häufig  ergriffen:  hier  sitzt  das  wahre  Podagra 
(nodäyQa^  Fussfalle,  dann  gichtische  Lcähmung-  der  Füsse;  von  Troi'g  Fuss 
und  ayQa  das  Gefangene,  die  Beute).  x4.uch  die  Handgelenke  und  Pha- 
langalgelenke  können  bei  der  Gicht  afficirt  sein;  hier  führt  sie  den  Na- 
men Chiragra  (von  xsi'q  Hand  und  ayqa).  Bei  diesen  Entzündungen  ist 
auch  die  Haut  um  die  Gelenke  betheiligt;  sie  wird  bei  den  Gichtanfällen 
glänzend  geröthet,  geschwollen  und  sehr  empfindlich  wie  beim  Erysipelas; 
auch  können  in  seltneren  Fällen  sich  bei  diesen  Processen  Geschwüre 
ausbilden,  Arterienverdickuugen  (das  Atherom  der  Arterien)  mit  ihren 
gelegentlichen  Folgen:  Hirnapoplexien  und  Gangraena  senilis  sind  nicht 
selten  bei  Arthritikeru  zu  finden.  Fettleibigkeit,  Erkrankungen  der 
Leber  und  Nieren  können  die  Gicht  ebenfalls  begleiten,  zumal  kommt 
Harngries,  eine  feinkörnige  Ausscheidung  harnsaurer  oder  oxalsaurer, 
von  den  Nieren  in  die  Blase  gelangter  Salze  in  Form  von  Hirse-  oder 
Grieskorn-grosseu,  runden,  glatten,  rothen,  auf  den  Durchschnitt  viele 
Schichten  zeigenden  Kügelchen  nicht  selten  vor,  ebenso  häufig  aber  auch 
die  Entwicklung  grösserer  Nieren-  und  Blaseusteine.  In  den  erkrankten 
Gelenken  und  Sehnenscheiden  hat  man  eine  nicht  unerhebliche  Quanti- 
tät von  hamsaureu  Salzen   nachgewiesen,    zuweilen   in  solcher  Menge, 

BiUruth  chir.  Puth.  u.  'ilicr.    7.  Autl.  30 


Af>n  Yoii  Jer  cliroiiisclK^n  Eiityündnn.!^,  besonders  der  Weichtlieile. 

dass  sie  die  Gelenkfläclien  und  Gelenkkapseln  als  ein  Aveisskörnigev 
Ueberzuo-  bedecken.  Einem  Gichtanfall  geht  gewöhnlich  kürzere  oder 
läno-ere  Zeit  ein  allgemeines  Unwohlsein  voraus,  welches  zu  verschwin- 
den pflegt,  sowie  der  Entzündungsprocess  in  einem  äusseren  Theile, 
o-ewöhnlich  in  einem  Gelenk,  Platz  greift.  Diese  Entzündungen  dauern 
14  Tage  bis  G  Wochen  und  verschwinden  dann  oft  mit  Hinterlassung 
einer  Verdickung  des  Gelenkes,  welche  für  immer  zurückbleibt;  doch 
bleiben  in  andern  Fällen  die  erkrankten  Glieder  viele  Jahre  lang  ohne 
Veränderung.  Bei  manchen  alten  Arthritikern  findet  man  solche  stein- 
harten Gichtknoten  neben  den  Gelenken  und  den  Sehnenscheiden,  auch  in 
der  Haut,  z.  B.  im  Ohr.  Brechen  diese  Knoten  auf,  so  kann  man  mit 
einem  Ohrlöffel  die  Kalk-  und  Harnsäuremassen  auslöffeln:  die  völlige 
Auseiterung  und  der  Schluss  solcher  offnen  und  dann  sehr  empfindlichen 
Gichtknoten  dauert  dann  Monate  lang;  blutige  operative  Eingriffe  sind 
dabei  dringend  zu  widerrathen.  Der  gewöhnliche  Podagraaufall  endigt 
nie  in  Eiterung,  sondern  immer  in  Zertheilung.  —  Wegen  dieser  ätio- 
logischen Beziehung  der  abnormen  Harnsäureablageruug  zu  den  Gelenk- 
erkrankungen, hat  man  die  Gicht  auch  als  Arthritis  urica  (von  nvoov 
Urin)  bezeichnet. 

Die  Behandlung  des  Gichtanfalls,  der  gichtischen  Gelenkentzündung, 
ist  zu  trennen  von  der  Behandlung  der  i'Trthritis  im  Allgemeinen.  Die 
arthritische  Gelenkentzündung  nimmt  fast  immer  einen  typischen  Verlauf, 
welcher  durch  therapeutische  Eingriffe  nicht  Avesentlich  zu  ändern  ist. 
Die  Hauptaufgabe  der  ärztlichen  Kunst  ist  dabei,  die  sehr  schmerzhaften 
Beschwerden  durch  Ermässigung  der  Entzündung  zu  erleichtern;  hier 
würde  nun  das  Eis  sehr  gute  Dienste  leisten,  wenn  man  die  Anwendung 
desselben  nicht  aus  gewissen  Gründen  fürchtete,  und  zwar  deshalb,  weil 
man  bei  der  sehr  häufig  bestehenden  Atheromasie  der  kleineren  xlrterieu 
durch  die  anhaltende  Anwendung  hoher  Kältegrade  Gangrän  hervor- 
rufen könnte.  Gegen  die  Application  kalter  Compressen,  kalter  Fomen- 
tationen  mit  Bleiwasser,  schwacher  Höllensteiulösungeu,  von  Blutegeln 
ist  nicht  viel  einzuwenden;  doch  ziehen  es  manche  Arthritiker  vor,  sich 
die  entzündeten  Gelenke  mit  einem  milden  Fett  bestreichen  und  mit 
Watte  umhüllen  zu  lassen.  Starke  Schweisserzeugung,  z.  B.  durch  den 
Genuss  von  vielem  heissen  Thee,  und  hydropathische  Einwicklungen 
sollen  oft  den  Anfall  abkürzen.  —  Bei  der  Behandlung  der  arthritischen 
Diathese  stehen  Bruunencuren  obenan.  Der  innere  Gebrauch  von  Karls- 
bad, Kissingen,  Homburg,  Vichy  und  anderen  salinischen  Quellen  sind 
nützlich,  auch  die  Thermen  von  Teplitz,  Eagatz,  Gastein,  Wiesbaden, 
Aachen  sind  den  Arthritikern  zu  empfehlen.  Doch  muss  man  darauf 
gefasst  sein,  dass  beim  Gebrauch  der  warmen  Bäder  ein  acuter  Gicht- 
anfall ausbricht. 

4.  Die  seorbutische  Dyskrasie  äussert  sich  in  einer  grossen 
Fragiiität    oder  Weichheit  der  Capillargefässe    und   dadurch   bedingten 


VorlosiiiiK  -J'.).     Capilcl   XIV.  407 

subcutanen  Bluluiii^cii,  wclelic  tlicils  in  Folge  von  Zevreissungen  von 
Gefässen,  tlieils  per  Diapedesin  entstehen.  Als  Wesen  dieser  Kranklieit 
nimmt  man  einen  Dissolutionszustand  des  Blutes  an,  oline  die  Art  der 
Blutveränderuni^'  näher  bezeichnen  zu  können.  iJie  Krnnkheit  kommt 
fast  nur  endemisch,  z.  B.  an  den  Ostseekiistcn  vor,  und  hat  in  cliinir- 
g'isclier  Hinsicht  weniger  Interesse;  bei  Gelegenheit  der  Gcscliwiire  im 
nächsten  Capitel  wollen  wir  darauf  zurückkommen. 

5.  Die  syphilitische  Dyskrasie.  Wenngleich  es  nicht  meine 
Absicht  ist,  die  Syphilis  mit  in  das  Bereich  dieser  Vorlesungen  zu  ziehen, 
muss  ich  Ihnen  doch  der  Vollständigkeit  halber  auch  darüber  einige 
kurze  Bemerkungen  mittheilen.  Die  Syphilis  ist  freilich  aucli  einmal  im 
Menschen  entstanden,  wie  die  früher  besprochenen  Diathesen;  jetzt  aber 
verbreitet  sie  sich  nur  durch  Impfung;  der  Geimpfte  ist  von  dem  Moment 
an,  wo  das  Virus  gehaftet  hat,  syphilitisch,  dyskrasisch.  Wenn  man  von 
syphilitischen  Krankheiten  im  Allgemeinen  spricht,  so  wirft  man  dabei 
gewöhnlich  dreierlei  Krankheiten  zusammen : 

1)  den  Tripper,  eine  Blennorrhoe  der  Vagina,  dann  der  Harnröhre, 
welche  sich  von  hier  gelegentlich  auf  die  Ausführungsgänge  der  Hoden 
und  Prostata  verbreiten  kann  und  zu  einer  gonorrhoischen  Prostatitis 
und  Orchitis  Veranlassung  giebt;  Wucherungen  des  Papillarkörpers  in 
Form  der  sogenannten  spitzen  Condylome  (von  xovdvXog,  knopfartiger 
Vorsprung  am  Knochen,  hier  als  Vorsprung  überhaupt),  entstehen  oft  da, 
wo  Trippereiter  stagnirt; 

2)  den  weichen  Chancre,  einen  circumscripten  geschwürigen  Pro- 
cess,  gewöhnlieh  an  der  Eichel  und  Vorhaut,  welcher  häufig  durch  Ver- 
mittlung der  Lymphgefässe  eine  Entzündung  der  Leistendrüsen  anregt, 
die  eine  grosse  Disposition  zum  Ausgang  in  Eiterung  hat; 

3)  das  eigentlich  syphilitische  Geschwür,  den  indurirten 
Chancre.  Lues.  Bei  diesem  erfolgt  zugleich  mit  der  Impfung  die  allge- 
meine Erkrankung,  während  die  erste  und  zweite  Form  relativ  local  bleibt. 
Bei  einer  Impfung  mit  dem  Secret  eines  wahren  syphilitischen  Geschwürs 
ward  gleich  der  ganze  Organismus  iuficirt,  es  treten  eine  Keihe  von 
chronischen  entzündlichen  Processen  in  den  verschiedensten  Organen 
auf,  welche  im  Anfang  einen  mehr  productiven  Charakter  liaben,  dann 
aber  bald  zum  Zerfall  der  infiltrirten  Gewebe  führen  und  einen  ulcerativ- 
destructiven  Charakter  annehmen.  Folgende  Erscheinungen  können  bei 
der  Syphilis  auftreten:  fleckige,  papulöse,  desquamirende,  knotige  Aus- 
schläge der  Haut,  Geschwüre  in  den  Fauces,  an  den  Lippen,  an  der 
Zunge,  am  After;  osteoplastische  und  ulcerative  Periostitis  und  Ostitis, 
zumal  an  der  Tibia,  an  den  Schädelknochen,  am  Sternum  u.  s.  w.;  chro- 
nische entzündliche  Processe  der  verschiedensten  Art,  gewöhnlich  mit 
Verkäsung:  in  den  Hoden,  in  der  Leber,  im  Hirn,  vielleicht  auch  in  der 
Lunge.  Das  knotige  circumscripte  Product  der  Syphilis  nennt  Virehow 
„Gummigeschwulst",   E.  Wagner   „Syphilöma".    —    Die  Syphilis   kann 


A(\Q  Villi    (liT   rlii-DiiiscIirii    lOiil/iilKliltiL;.    liosoiirliTS    der    W'riclilliciic. 

Hicli  aiicli  vcrcrboii ;  es  Avcrdcn  Kinder  mit  Svpliilis  ii;('lM»reii ;  die  Dys- 
kmsic  kfiiin  init  dem  Speniifi  nuf  diis  Ei  Uhertrui^eii  werden,  auch  g-elit 
Hie  von  der  Müller  muI'  dns  Kind,  sowie  vom  Kölns  anf  die  Mutter  über. 
Der  Tripper  und  dar  weielu^  dlianere  sind  örtlielie  Kranklieiten  und 
als  solelie  zu  hcliandein.  ]Maneli(>  Syi)liilid(»lo,i;'(Mi  linlten  den  weidirn 
Olianere  nnd  den  indnrirten  Cluinere  nur  l'iir  zwei  Acrscliicdeiie  uuiunieli 
fncli  iu  eiu.'inder  iil>er^'elicnde  Formen  der  Syphilis;  der  Dnalisnnis  dvr 
sy|)iiililiselien  (Jil'te  hat  indess  sehr  viel  Anhänj^er;  es  wird  noeh  sehr 
viel  darüber  hin  nnd  her  disentirt.  (Jei;-en  die  Sypldlis  als  Dyskrnsie 
,i;;ilt  für  Viele  das  Quecksilber  ;ils  Specilieum  naeh  Art  eines  Antidotnms. 
I);iss  sieh  dies  nielit  i;!ni7,  so  Acrluilt,  seheint  dnreli  die  n(MHM'eu 
riit(^rsnehuni;-en  IxMviesen.  Die  (■ouslilnlion(dle  Syphilis,  nou  der  jeder 
Mensch  nur  ('inui;il  beinllen  wird,  k;niu  nur  im  Laufe  dvr  Zeil  durch 
den  StolTweclisel  i;-ewisserm;i;isseu  Musi;-es('liieden  werden,  und  ;ill(>  Mitlei, 
AV(dche  den  StolTwechsid  in  hohem  (!i';ide  bel'ördern,  sind  daJier  in  i;'e- 
Avissem  Sinne  ;ils  Antisyphililica  /,u  verweuihm.  vVm  häuiii2,'sten  werden 
Scliwil/cnren  und  (?nren  mit  Abriilnuni;smilteln  in  Anwendunii,'  ^-ezoiicn ; 
zu^veilen  ist  di(^  Sy|»hilis  naeh  einer  s(M'liswrK'h(MiHiclu'n  Vnv  i;'elili;'t;  in 
m;Miclien  l'';illeu  müssen  solch(>  (hiren  mit  l 'nterbrechuiii^en  sehr  oft  wie- 
deiholl  werden,  bis  si(^  endlich  l'h-foli;-  haben,  nnd  endlieh  j;iid»t  es 
l*':ille,  die  überhaupt  nicht  lieilbnr  sind.  D;is  (^>neeksilber,  in  Form  von 
Schnncrcuren  oder  innerlieh  in  verschied(Mien  rräparaton  längere  Zeit 
hinter  ein;inder  ;ini!,ew;indt,  vernnii;'  zuweilen  in  überraschender  )\'eise 
die  l'j-scheinuni;(Mi  der  Syphilis  schnell  zu  beseitiii'en,  und  es  wird  dnher 
in  stdchen  l'\illen  seinen  W(M-tli  als  Antisyi)hiliticuni  behalten,  wo  es  sich 
durum  Immlell,  gewisse  ideei'ntive  l'ornien,  zumnl  an  den  Knoehen,  so 
schnell  :i,ls  möglich  zum  Stillstand  zu  bi-ingen.  Ob  das  Quecksilber  an 
sich  im  Sl.'inde  isl ,  die  Syphilis  zu  tilgen,  ist  in  neuerer  Zeit  vielfach 
bezweifelt  werden,  und  zu  gleicher  Zeil  sind  dii'  Schfidlichkeilen  hervor- 
gehobcMi,  w(dche  durch  dauernde  (^)iu'cksilbe-rcureu,  durch  eine  Art  chro- 
niscluM-  Qm'cksilbervergil"tung  (llydrargyrosis)  erzeugt  werden.  Die  Par- 
teien d(>r  IM(M('uri;ilisten  und  Antinu'rcuri:ilislen  bi-fehdiMi  sich  schon  seit 
hinger  Zeil.  Ich  für  nuMue  Person  mugt»  mich  nudir  zu  den  Ansichten 
der  AntimeicnriMlistcn.  lU^brigens  werden  Sie  im  \'(Ml!uife  ihrer  Studien 
noch  ninnclicrh'i  über  diesen  A\icliligen  und  interess;inten  (iegenstand 
liören.  Als  eines  (h'r  wichligsten  und  wirksiimstiMi  Mittel  g(>gen  die 
syphilitischen  Knocheukrankheileu  und  die  syphilitischen  iMkr.'inkuugeu 
der  Driisen  ist  d;(s  .lodkalium  von  mIUmi  Seilen  ;inerk;nnit  worden, 
wiihrcnd   es  gegen  :inderi>  syphilitische   Erkranknugoi   weiug  nützt. 


Voilostmo-   1",).      Capii,'!    XIN'.  .\{\() 

VjS  oriibrii;'!  noch,  ;mii  Scliliissi  dos  C:i|ul('ls  von   dvv  clirdnisclicii  Mnl. 
/.iindnni;-  (lirjcnig'on  i\Ii((ol  (Inrclizn^'t^luMi.    \\(>lcli(>    wir    dalxM    iirllicli    ;in 
zuwenden  ludten  und  welclie,  je  nueli  der  HescIiMniMilicil  dcv  Källe,  l»;ild 
mehr,   bald    Aveniiivv  in    den  N'ordcM-^ruud   Ireleu.     ^\o    es    der    IJeoItacIi- 
tnui;-  nielil  i;'elini;'(,  die  nlli^euuMuen  IrsMchen  cMucr  clironisclicu  l'lul'/iinduui;- 
.•inl/uliiulen,  sind   wir  allein  nul'  die  örtlichen   Midel   Iteschrüukl. 

Absolute   Ruhe   di>s    ent/iindet(Mi  TIumIs   ist    in    allen    Fällen    noih 
wendig",    wo  Schmerzen    und    eoni;esliM'    l-j-scheiniingen    Atnhandcn    sind. 
iMa.n  verhindert  sie  ^vonlöl;•lich   mit    Hoc  h  lai^'c  ru  u g'  des  (M-kranklcn    Tlici 
les,    die  man  durch  iSnspensionAorrichtungen    oder    rntcrlaiierunucn    \(in 
Polstern  hewerkstellig't.    Sie  hat  den  Zwecl;,  die  n  enöse  Spannung,  W(Mch(> 
durch  die  absolute  K*uhe  cdu'r  begünstigt    >vird,   durch  Erleichterung  des 
lilutrückilusses  in  den  \'enen    zu    vernuinhM'u,    eAeutuell  aufzuheben  und 
ist   daher  in   allen    den   Fällen    \ou    besoud(M-er   >\ichtigkeit ,    in    ^vclchcu 
die  venöse  Stauung   zur    Entstehung   oder   Steigerung    chroniscii  cutzünd 
lieber  Proccsse  beitrug. 

Compression.  Dieselbe  \\\V(]  durcii  l^in^vickluugen  der  erkrai\klen 
Theile  mit  b'lanellbiuden,  baunnvolbMUMi  o(Um-  IcintMUMi,  (!_v|)S-l)iuden, 
llel'tpthisterstreit'en,  zuweilen  auch  durch  Aufbinden  von  rdotten,  selbst 
durch  das  Anliegen  massiger  CuMvichte  (z.  \\.  in  Form  von  lUndeln,  die 
mit  llaaseuschrot  gefüllt  sind,  zur  (\)uii)ressi(»n  geschwollener  Inguinal- 
driisen)  ausgeführt.  Die  Compri^ssiou  ist  eins  der  allerAvichligsten,  und 
wo  sie  gleichmässig'  wirkend  a,ngebraclit  werden  kann,  das  sicherste 
örtliche  Mittel  /Air  Beseitigung'  ehronisch-cMitzüudlicher  luliltrationen. 

Sehr  wirksam  ist  auch  die  feuchte  A\'ärni(>  in  Form  von  Kat;i- 
plasmen  continuirlich  auge\va)ult,  ferner  die  hydropathischen  l'^in- 
Wicklungen;  sie  bestehen  darin,  dass  mau  ein  uudirfach  znsanunen- 
g'efaltetes  Tuch  in  kaltes  Wasser  eintaucht,  ausringt,  den  betretfeuden 
Theil  damit  umwickelt,  darüber  eine  luftdicht  schliessend(>  Schicht  durch 
AVachstatfet  oder  Gutta-rerchazeug  herstellt  und  diesen  \'erband  alle 
2  —  3  Stunden  erucMU'rt.  Die  anfangs  stark  abgekühlte  Haut  erwärnd 
sich  bald  in  sehr  hohem  (^n-ad(>;  (binn  wird  dei-  N'erband  erneuert,  so 
dass  die  llautgefässe  durch  den  ^Vechsel  \o\\  Kälte  und  W'änue  in  steter 
Action  erhalten  und  dadurch  zur  resorbiriMuK'u  Thätigkeit  besonders 
g-eeignet  werden.  Diese  Finwicklungen  sind  in  vielen  Fällen  von  sehr 
grossem  Nutzen.  Eine  zuweilen  äussiM'st  günstige  AN'irkung  auf  die 
rasche  Resorption  älterer  torpider  lniiltrat(\  so  wie  auf  ueuralgisciie 
Afil'ectionen  in  chronisch  entzündeten  'IMumIcu  haben  zuweilen  die  warmen, 
respective  heissen  locahMi  Sclilannn-  und  Moorbäder.  In  Tystian,  Oi'vn 
(Ungarn)  münden  heisse  Qmdlen  in  den  Schlamm  kleiner  Flüsse;  in  die- 
sen natürlich  heissen  Schlannn,  der  in  Arm-  und  Fusswaunen  gefüllt 
wird,  wei-den  die  erkrankten  Glieder  täglich  ein  oder  zwei  Mal  liinein- 
g'estcekt.  In  mehren  Thermen  bereitet  man  diese  Schlannnbäder  jetzt 
künstlich.     Von  ebenso  <rrosser  AVirkuni;'  sind  die  Moorbäder  in  Frauzen- 


470  V""  ^^^'  L'hrunitschea  Entzündung,  besunders  der  Weiclitlieile. 

bad  und  Marieubad;  der  von  Eisen-haltigen  stark  sauren  Quellen  durch- 
tränkte Moor  wird  erwärmt  und  wie  vorher  vom  Schlamm  erwälint, 
angewandt.  Ob  dabei  die  gelösten  Mineralsalze  mitwirken,  weiss  man 
nicht,  vielleicht  wirken  diese  Localbäder  nur  wie  grosse  Kataplasmen.  — 
Auch  die  Umschläge  mit  dem  Therm alwas^ser  der  Jod- haltigen  Salz- 
quellen haben  einen  günstigen  Ruf  als  Resorbentia.  Sie  erzeugen  meist 
nach  kurzer  Zeit  Hautausschläge,  und  können  somit  auch  unter  die  de- 
rivirenden  Mittel  kategorisirt  werden.  —  Im  Volk  sind  auch  die  Thier- 
bäder  oder  animalischen  Bäder  sehr  beliebt,  welche  darin  bestehen, 
dass  die  kranke  Extremität  zwischen  die  Eingeweide  (Kutteln,  Wampen) 
eines  eben  getödteten  Thieres  gesteckt  und  darin  gehalten  wird,  bis  der 
Cadaver  abgekühlt  ist;  man  sucht  einen  besonderen  Zauber  in  der 
thierischen  Wärme,  von  dessen  Wirkung  ich  mich  nicht  überzeugen 
konnte.  Endlich  sind  noch  die  früher  sehr  beliebten  heissen  Sand- 
bäder  zu  erwähnen,  die  kaum  einen  Vorzug  vor  der  feuchten  Wärme 
haben. 

Resorbirende  Arzneimittel.  Als  zertheilende  Ueb erschlage 
haben  die  Formeutationen  mit  Bleiwasser,  Arnica-Infus,  Cha- 
millenthee  u.  s.  w.  einen  gewissen  Ruf,  den  sie  jedoch  nur  als  feucht- 
warme Ueberschläge,  nicht  wegen  der  Zusätze  zum  Wasser  verdienen; 
sie  fallen  mehr  in  die  Kategorie  der  indiiferenten  Hausmittel.  Es  kann 
zweckmässig  sein,  dergleichen  zu  verordnen,  da  man  vielen  Patienten 
auf  das  Wasser  allein  gar  kein  Vertrauen  beibringen,  und  sie  daher 
überhaupt  nicht  zur  cousequenten  Anwendung  der  feuchten  Wärme  brin- 
gen kann,  wenn  man  ihnen  nicht  etwas  dazu  aus  der  Apotheke  ver- 
schreibt. Die  graue  Quecksilbersalbe,  das  Quecksilberpflaster, 
die  Jod  kaliumsalbe  und  Jodtinctur  sind  ebenfalls  Resorbentia,  welche 
man  abwechselnd  bei  chronischen  Entzündungen  braucht.  Ich  bin  weit 
entfernt,  ihnen  alle  Wirkungen  bei  chronischen  Entzündungen  absprechen 
zu  wollen;  allzuviel  dürfen  Sie  jedoch  nicht  von  ihnen  erwarten.  Die 
Jodtinctur  hat  man  in  neuerer  Zeit  auch  in  das  Parenchym  von 
Lymphdrüsen  injicirt,  in  Dosen  von  5 — 10  Tropfen,  doch  mit  sehr  un- 
gleichem Erfolg.  Eine  Reihe  von  sogenannten  zertheilenden  Pflastern 
übergehe  ich  hier;  sie  haben  als  solche  wenig  "Werth,  wirken  theils  auf 
die  Haut  leicht  reizend,  theils  nur  als  gleichmässig  einhüllende,  vor 
schädlichen  Einflüssen  schützende  Bedeckungen;  ich  verordne  solche 
Pflaster  in  manchen  Fällen,  um  zu  verhüten,  dass  die  Patienten  selbst 
schädliche  Dinge  anwenden;  die  im  Volke  beliebtesten  Pflaster  sind; 
Emplastrum  Minii  adustum  (Empl.  noricum,  fuscum),  Emplastrum  oxycro- 
ceum,  Emplastrum  saponatum  (Empl.  saponato-camphoratum),  Emplastrum 
Conii  maculati  (Empl.  Cicutae),  Emplastrum  de  Meliloto;  nur  die  längere 
Anwendung  von  Quecksilberpflaster  hat  wohl  eine  medicamentöse  ^Ein- 
wirkung. ErAv ahnen  will  ich  noch  die  Electricität  als  zertheilendes 
Mittel;  sehr  gross  scheint  die  Wirkung  nicht  zu  sein,  immerhin  sind  Fälle 


Vorl.vsilii;^'    2\).       f';i|)ilrl     XIV.  47  [ 

mitg-etlieilf,    in    welclicii   sie  mit   Nutzen   nn.^evvandt  wm-(Ie;    man   sollte 
flfiriiber  nocli  weitere  Untersuchungen  anstellen. 

Die  eig-entlicli  antiplilog-istischen  Mittel;  das  Eis,  die  Blut- 
egel, die  Schröpfküpfe  kommen  selten  und  nur  mit  geringem,  voriiher- 
g-eliendem  Erfolg-  bei  den  clironiscli-scldeiclicnden  Entzündung'cn  zur  An- 
wendung-,  sind  jedocli  bei  allen  intercurrenten,  acuten  Anrällen  von  ebenso 
grosser  Hcdeutung,  wie  bei  den  primär  acuten  Eutzünduiig-s})rocesscn. 
Das  Eis  wird  >'on  einigen  Chirurgen  der  Neuzeit,  besonders  von  Esmarch 
dauernd  auch  Ixn  g-anz  cJironischen  torpiden  Entzündungen  angewandt  und 
der  Erfolg  dieser  Behandlung  g'criihmt.  Kann  man  es  dahin  l)ring-en,  dass 
es  Monate  lang'  mit  äusserster  *Sorgfalt  und  Conseqiienz  applicirt  wird, 
so  ist  es  zuweilen  von  giinstig-er  Einwirkung  auf  die  Resorption  chronisch- 
entzündlicher  Infiltrate,  zumal  bei  Gelenk-  und  Knochenerkrankung-en. 
Ich  habe  auch  einige  auffallend  günstig-e  Fälle  der  Art  beobachtet,  wäh- 
rend in  anderen  Fällen  jeder  Erfolg  ausblieb. 

Die    ableitenden    Mittel.     Derivantia.     Diese   spielten    früher 
bei  der  Behandlung  der  chronischen  Entzündung  eine  grosse  Rolle.    Sie 
haben  ihren  Namen  davon  bekommen,  dass  sie  den  Entzündungsprocess 
von  seinem  Sitz  auf  eine  andere  weniger  gefährliche  Stelle  ableiten  sol- 
len; es  sind  Mittel,   durch  welche  man  Hautentzündungen  sehr  verschie- 
denen Grades  anregen  kann,  Mittel,  die  nach  Erfahrungen  guter  Beobachter 
in  vielen  Fällen  sich  trefflich  in  ihrer  Heilwirkung  bewährt  liaben  sollen. 
Eine  bisher  ungelöste,   wenn  auch   vielfach  angestrebte  Aufgabe   ist  es, 
die   Wirkungsweise  dieser  Derivantia  physiologisch    zu    erklären.     Man 
stellt  sich  die  Sache  ungefähr  so  vor,   dass  durch  die  genannten  Mittel, 
weiche  in  der  Nähe  eines  etwa  im  Gelenk  oder  Knochen  liegenden  chro- 
nisclien  Entztindungsprocesses  applicirt  werden,  das  Blut  sowohl  als  die 
Säfte  nach  aussen  auf  die  Haut  hingeleitet  werden.    In  manchen  Fällen 
von    sehr    torpiden,    mit  geringer  Energie  und   geringer  Vascularisation 
verlaufenden  Entzündungsprocessen  wirken   die  Derivantia  gewiss  mehr 
zuleitend,  d.  h.  der  neue,   acute  Entzündungsprocess,  welcher  in  grosser 
Nähe  des  chronischen  angelegt   wird,    veranlasst  eine  stärkere  Fluxion 
nach  diesen  Theilen  überhaupt,   und  es  kommt  dadurch   der  chronisch- 
torpide  Entzündungsprocess   in    eine    energische,    lebhaftere   Thätigkeit. 
Wir  wollen  uns  jedoch  hier  nicht  abquälen  mit  dem  Aufsuchen  des  phy- 
siologischen Weges,   auf  welchem  diese  Mittel  wirken;   es   ist  dies  stets 
ein  sehr  undankbarer  Gegenstand  gewesen.    Ich  brauche  diese  Kategorie 
von  Mitteln  nur  noch  äusserst  selten,  doch  werden  die  milder  wirkenden 
von  anderen   Chirurgen   noch  vielfach   in  Anwendung   gebracht,    daher 
führe  ich  sie  hier  der  Reihe  nach  an: 

Das  Argentum  nitricum,  in  concentrirtester  Lösung  (etwa  3j 
auf  5j  Fett)  mit  einem  Fett  vermischt  und  auf  die  Haut  ein  paar  Mal 
am  Tage  verrieben,  bewirkt  eine  dunkelbraune,  silberglänzende  Färbung 
der  Haut  und  eine  langsame  Abblätterung  der  Epidermis.     Es  ist  eines 


J79  Von   der  ilironisclieii   Entzündung,   besundei-s  der  Weictitlieile. 

der  mildesten  ableitenden  Mittel,  welches  sicli  bei  Gelenkkrankheiten 
reizbarer  Kinder  besonders  zur  Anwendung-  eignet.  —  Die  Jodtinctur 
und  zAvar  die  Tinct.  Jodi  fortior  (1  Drachme  oder  5,000  Gramraes  Jod 
in  einer  Unze  oder  35,00  Gramnies  absolutem  Aleohol  mit  Aetlier  ge- 
löst) bewirkt,  wenn  sie  Morgens  und  Abends  auf  die  Haut  gestrichen 
wird,  einen  ziemlich  lebhaften,  brennenden  Sehmerz;  wenn  man  diese 
Bepinselung  2 — 3  Tage  fortsetzt,  entsteht  eine  blasige  Erhebung  der  Epi- 
dermis, zuweilen  in  der  ganzen  Ausdehnung,  in  der  das  Mittel  ange- 
wandt ist.  —  Schneller  wirken  die  Blasenpflaster;  sie  bestehen  aus 
zerstossenen  Canthariden  (Lytta  vesicatoria,  Melöe  vesicatorius),  welche 
mit  Wachs  oder  Fett  verrieben,  auf  Leinwand,  Leder  oder  Wachstaffet 
gestrichen  werden.  Das  gutbereitete  Emplastrum  Cantharidum  ordinarium 
wird  in  Stücken  von  Franken-  oder  Thalergrösse  auf  der  Haut  fixirt, 
und  es  entsteht  unter  denselben  nach  24  Stunden  eine  Blase,  die  man 
aufsticht  und  dann  am  besten  ein  Stückchen  Watte  darauf  legt,  welches 
fest  antrocknet  und  nach  3 — 4  Tagen  abfällt,  in  welcher  Zeit  das  abge- 
löste Hornblatt  der  Epidermis  sich  von  dem  zurückgebliebenen  Rete  3Ial- 
pighii  aus  regenerirt  hat.  ]Man  kann  dieses  Spanisch-Fliegenpflaster  ent- 
weder in  grösserer  Form  einmal  anwenden,  oder  man  lässt  n*ch  einander 
täglich  ein  kleines,  neues  Pflaster  appliciren ;  diese  letztere  Anwendungs- 
methode nennt  man  Vesicatoires  volants.  Endlich  kann  man  auch  ein 
Pflaster  anwenden,  welclies  nur  eine  sehr  geringe  Quantität  Canthariden 
enthält  und  nur  eine  contiuuirliche  Röthung  veranlasst.  Es  ist  dies  das 
Emplastrum  Cantharidum  perpetuum  oder  Emplastrum  Euphorbii;  es  wird 
mehre  Tage  oder  Wochen  nach  einander  getragen.  Wenngleich  die  zu- 
weilen günstige  Wirkung  der  bis  jetzt  genannten  ableitenden  Mittel  bei 
chronischer  Entzündung  nicht  zu  leugnen  ist,  so  will  ich  Sie  doch  hier 
gleich  aufmerksam  machen,  dass  zumal  die  Jodtinctur  und  die  Vesica- 
tore  viel  mehr  bei  subacuten  Entzündungen  leisten  und  bei  den  kleineu 
acuten  Attacken,  welche  die  chronische  Entzündung  unterbrechen,  als 
bei  den  ganz  schmerzlosen,  torpiden  Formen. 

Die  jetzt  noch  zu  nennenden  Mittel  sind  solche,  deren  Application 
eine  länger  dauernde  Eiterung  zur  Folge  hat,  eine  Eiterung,  welche 
durch  künstliche,  äussere  Reize  nach  dem  Willen  des  Arztes  längere 
Zeit  unterhalten  wird.  Hire  Anwendung  hat  im  Lauf  des  letzten 
Decenniums  so  abgenonnneu,  dass  die  Zahl  der  Chirurgen,  welche  sie 
überhaupt  noch  verwenden,  äusserst  gering  ist.  Ich  brauche  sie  gar 
nicht  mehr. 

Unguentum  Tartari  stibiati  und  Oleum  Crotonis.  Beide 
erregen,  wenn  sie  längere  Zeit  wiederholt  auf  die  Haut  aufgestrichen 
werden,  etwa  nach  6—8  Tagen,  bei  reizbarer  Haut  früher,  einen  pustu- 
lösen  Ausschlag,  dessen  Hervorbrechen  nicht  selten  mit  sehr  lebhaften 
Schmerzen  verbunden  ist.  Fangen  diese  Pusteln  an,  deutlieh  hervorzu- 
treten, so  unterbriclit  man  die  Application  der  genannten  3Iittel  und  lässt 


Voilcsmi.i;    1".).      (';i|nlrl    XIV.  AI;] 

die  Pusteln  wieder  lieileii.  Es  bleiheu  iiielit  selten  zieiidicl)  bedeutende 
Narben  darnach  zurlick;  die  örtliche  Wirkiini--  dieser  Mittel  ist  eine 
ziendich  ungleiche,  zuweilen  iihermässii;'  licl'tii;-,  dann  anch  wieder  sehr 
gering-. 

Unter  Fonticulus  oder  Fontanelle  (von  Ions,  Quelle)  versteht 
man  eine  absichtlich  erzeugte,  in  Eiterung  erhaltene  Wunde  der  Haut. 
Man  kann  dieselbe  auf  sehr  verschiedene  Weise  hervorbringen.  liegen 
Sie  z.  li.  zuerst  ein  gewöhnliches  Blasenpflaster ,  schneiden  dann  die 
Blase  ab  und  verbinden  die  der  Epidermis  beraubte  Hautstelle  täglich 
mit  Unguentum  Canthariduni  oder  andern  reizenden  Salben,  so  erzeugen 
Sie  dadurch  eine  dauernde  p]iterung,  so  lange  Sie  die  genannten  Ver- 
bandmittel fortsetzen.  Eine  andere  Art,  eine  Fontanelle  anzulegen,  ist 
die,  dass  Sie  einen  Schnitt  in  die  Haut  machen  und  zwar  durch  die 
Dicke  der  Cutis  hindurch,  und  in  diese  Wunde  je  nach  der  Grösse,  in 
der  Sie  die  Fontanelle  unterhalten  wollen,  eine  Anzahl  Erbsen  hinein- 
legen, die  durch  ein  iiberg-elegtes  Heftpflaster  in  der  Wunde  fixirt  werden. 
Die  aufquellenden  Erbsen,  w^ eiche  täg-lich  erneuert  werden,  reizen  als 
fremde  Körper  die  Wunde;  es  wird  auf  diese  Weise  künstlich  ein  ein- 
faches Geschwüir  erzeugt.  Es  bleibt  immer  am  einfachsten,  die  Fontanelle 
mit  einem  Schnitt  anzulegen;  man  kann  indess  auch  eine  vollständige 
Hautverbrennung-  durch  irgend  ein  Aetzmittel  erzeugen  und  die  Wunde, 
welche  nach  Ablösung  des  Aetzschorfes  entsteht,  durch  Einlegen  von 
Erbsen  in  Eiterung  erhalten. 

Das  Haar  seil  (Setaceum,  von  Seta,  Borste,  Haar)  bestellt  aus 
einem  schmalen  Streifen  Leinwand  oder  einem  gewöhnlichen,  baum- 
wollenen Lampendocht,  welcher  mit  Hülfe  einer  besonderen  Nadel 
unter  die  Haut  hindurchgezogen  wird.  Die  Haarseilnadel  ist  eine 
massig  breite,  ziemlich  lange  Lancette,  welche  an  ihrem  untern  Ende 
ein  grosses  Oehr  trägt,  um  da  hinein  das  Haarseil  einzufädeln.  Man 
applicirt  das  Haarseil  gewöhnlich  im  Nacken  und  zwar  auf  folgende 
Weise:  Sie  bilden  mit  Daumen  und  Zeigefinger  der  linken  Hand  eine 
möglichst  hohe  Hautfalte,  durchstechen  dieselbe  an  der  Basis  mit  der 
armirten  Haarseilnadel  und  ziehen  letztere  hindurch.  Nachdem  das 
Haarseil  einige  Tage  unangerührt  gelegen  hat  und  die  Eiterung  beginnt, 
ziehen  Sie  es  vor,  schneiden  das  mit  Eiter  imprägnirte  Stück  ab  und 
wiederholen  diese  Procedur  täglich.  In  dem  ganzen  Canal,  in  welchem 
das  Haarseil  liegt,  bilden  sich  Granulationen,  welche  reichlich  Eiter  ab- 
sondern. Das  Haarseil  wird  Wochen  oder  Monate  lang  getragen  und 
entfernt,  wenn  man  die  Eiterung  aufhören  lassen  will.  — 

Eine  andere  Art,  andauernde  Eiterung  zu  erzeugen,  ist  die,  mit 
Hülfe  der  Glühhitze  einen  Brandschorf  auf  der  Haut  zu  bilden  und  die 
zurückbleibende  granulirende  Wunde  je  nach  der  beabsichtigten  Wirkung 
längere  oder  kürzere  Zeit  durch  reizende  Verbandmittel  oder  eingelegte 
Erbsen  an  der  Vernarbung  zu  verhindern.     Man  bedient  sich  hierzu  zwei 


474  Von  der  chronischen  Entzündung,  besonders  der  Weichtheile. 

verschiedener  Apparate,  der  sogenaunten  Moxa  oder  des  glühenden 
Eisens.  Die  Moxen  bereitet  man  z.  B.  so,  dass  man  eine  mit  Seiden 
fäden  zusammengewickelte  Wattekugel  mit  Spiritus  tränkt,  sie  mit  einer 
Kornzange  auf  der  Haut  fest  anhält  und  dann  anbrennt.  Je  nach  der 
kürzeren  oder  längeren  Einwirkung  kann  man  verschiedene  Grade  der 
Verbrennung  erzeugen.  Es  giebt  noch  andere  Ai'ten,  sich  Moxen  zu 
bereiten,  die  ich  indess  hier  nicht  weiter  durchgehen  will,  weil  die  Moxen 
überhaupt  in  neuerer  Zeit  kaum  noch  gebraucht  werden.  Wollen  Sie 
auf  der  Haut  einen  Brandschorf  erzeugen,  so  geschieht  das  am  ein- 
fachsten durch  die  starken  Aetzmittel  mit  Aetzpasten,  oder  durch  das 
Ferrum  candens.  Die  in  der  Chirurgie  gebrauchten,  schon  früher  bei 
den  hämatostyptischen  Mitteln,  erwähnten  Glüheisen  sind  ein  Fuss  lange, 
mit  einem  Holzgriff  versehene,  dünne  Eisenstangen,  an  deren  Spitze  sich 
ein  kolbiges,  kuopfförmiges ,  cylindrisches  oder  prismatisches  Ende  be- 
findet, welches  in  ein  mit  glühenden  Kohlen  gefülltes  Becken  gelegt  und 
so  lange  angeblasen  wird,  bis  es  roth-  oder  weissglühend  wird.  Man 
kann  damit  verschiedene  Grade  der  Verbrennung  bis  zu  Verkohlungen 
der  Haut  in  verschiedener  Grösse,  Form  und  Tiefe  erzeugen,  je  nachdem 
man  eine  sehr  ausgedehnte  Eiterung  oder  mehre  einzelne,  kleinere  Eiter- 
heerde  erzielen  will. 

Fast  alle  Klassen  von  Heilmitteln  haben  eine  Zeit  lang  einmal,  je 
nach  der  Strömung  theoretischer  Reflexionen,  grossen  Anhang  gefunden 
und  so  gab  es  auch  eine  Zeit,  in  welcher  Moxa  oder  Glüheisen  oder 
Fontanelle  als  Universalmittel  gegen  jede  chronische  Krankheit  gerühmt 
Avurden.  Man  liess  sich  am  Arm  eine  Fontanelle  appliciren,  um  sich 
gegen  Rheumatismus,  oder  gegen  Hämorrhoidalbeschwerden,  oder  gegen 
Tuberkulose,  oder  gegen  Krebskrankheit  zu  schützen,  in  der  Idee,  dass 
mit  dem  Eiter  der  Fontanelle  alle  krankhaften  Säfte,  die  materia  peccans, 
aus  dem  Körper  abgeleitet  würden.  In  derselben  Weise  brauchte  man 
früher  die  jährlich  zu  bestimmten  Zeiten  wiederholten  Curen  mit  Ab- 
führuugsmitteln ,  Brechmitteln,  Aderlässen  u.  s.  w.  Sie  werden  noch 
heute  von  älteren  Praktikern  vielfach  betheuern  hören,  wie  dieser  oder 
jener  ihrer  Kranken  durch  die  Application  einer  Fontanelle  vor  einer 
Menge  von  Krankheiten  bewahrt  geblieben  sei.  Ich  will  mich  nicht 
vermessen,  über  die  Grenzen  der  Möglichkeit  in  der  Therapie  eine  Kritik 
ausüben  zu  wollen,  denn  wir  sind,  wie  schon  erwähnt,  grade  bei  den 
ableitenden  Mitteln  weit  entfernt  davon,  ihre  Wirkung  physiologisch  be- 
messen zu  können ;  indessen  muss  man  doch  wohl  gegen  die  Wirkung 
solcher  Mittel  misstrauisch  werden,  welche  als  Universalraittel  gegen  alle 
möglichen  Krankheiten  empfohlen  werden. 


Vurlesmi},'  .'iO.     Capilol  XV.  475 

Vorlesung  30. 
CAPITEL  XV. 

Von  den  Gescliwäreii. 

AiiMfoniisches.  —  Aciisseie  Eigenschaften  (ier  Geschwüre:  Fnim  und  Ausbreitung,  Grund 
und  AbsondernuK,  Ränder,  Umgebung.  —  Oertliclie  Therapie  nach  örtlicher  Beschaffen- 
lu'i(  der  Geschwüre:  fnng<'ise,  callöse,  jauchige,  pliagechiuisrhe ,  sinuöse  Gesuliwiire.  — 
Aetiülugie    der    Geschwüre:    dauernde  Heizung,    Stauungen    im    venösen    Kreislauf.    — 

Dyskrasische  Ursachen. 

Die  Lelire  von  den  Gescliwitren  sehliesst  sicli  an  die  von  der  chro- 
nischen Entzündung-  naturgemäss  an.  Was  ein  Geschwür  ist,  ob  eine 
vorliegende  Wundfläche  als  solches  zu  betrachten  ist,  darüber  sind  die 
Aerzte  in  praxi  fast  immer  einig;  eine  kurze  Definition  von  einem  Ge- 
schwür zu  geben,  ist  jedoch  ebenso  schwierig,  als  einen  Gegenstand  aus 
irgend  einem  anderen  Gebiet  der  Medicin  oder  den  Naturwissenschaften 
zu  definiren.  Um  Ihnen  eine  ungefähre  Vorstellung  davon  zu  geben,  so 
wollen  wir  sagen:  ein  Geschwür  ist  eine  Wundfläche,  welche  keine 
Tendenz  zur  Heilung  zeigt.  Sie  sehen  hierbei  schon  ein,  dass  auch  jede 
grössere  granulirende  Wunde  mit  stark  wuchernden  Granulationen,  die 
einen  Stillstand  in  ihrem  Heilungsprocess  macht,  ebenfalls  als  Geschwür 
betrachtet  werden  kann,  und  in  der  That  hat  auch  Rust,  dem  die 
detaillirteste,  wenn  auch  jetzt  nur  noch  wenig  gebi-auchte  Nomenclatur 
über  die  Geschwüre  gemacht  hat,  die  granulirende  Wunde  als  Ulcus 
Simplex  bezeichnet. 

Nach  meinen  eigenen  Beobachtungen  und  Untersuchungen  glaube 
ich  die  Ansicht  aufrecht  halten  zu  müssen,  dass  die  Geschwürsbildung 
meist  ans  einem  chronisch -entzündlichen  Process  hervorgeht,  und  zwar 
so,  dass  der  Gewebszerfall  erst  eintritt,  wenn  in  Folge  der  entzündlichen 
Alteration  dasselbe  schon  zellig  infiltrirt  war.  Einen  einfachen  Gewebs- 
zerfall etwa  in  Folge  von  Mangel  an  erneuter  Ernährungsflüssigkeit 
kann  man  doch  wohl  nur  als  Nekrose  bezeichnen.  Ich  gebe  jedoch  zu, 
dass  hier  wie  überhaupt  bei  allen  Entzünduugsprocessen  Ernährungs- 
störung, Infiltration  mit  Wanderzellen  und  Gewebsregeneration  (bald  mehr 
bald  weniger  vollkommen)  sich  oft  so  mit  einander  combiniren,  dass  es 
kaum  möglich  ist,  sie  in  jedem  einzelneu  Fall  streng  aus  einander  zu 
halten. 

Der  Sitz  eines  chronischen  Entzünduugsprocesses,  welcher  zur  Ge- 
schwürsbildung führt,  kann  in  der  Tiefe  der  Cutis,  im  Zellgewebe, 
in  den  Drüsen,  im  Periost,  im  Knochen  sein;  tritt  im  Centrum  eines 
solchen  Heerdes  Eiterung  oder  Verkäsung  oder  eine  andere  Art  von 
Erweichung  und  Zerfall  mit  allmähliger  peripherischer  Progression  und 
Perforation    der   Haut   von    innen    nach    aussen    ein,    so    entsteht    das 


476 


Von  den  Geschwi'u-en. 


Hohlg-escbwiir;  es  ist,  wie  schon  früher  (pag-.  442)  erwähnt,  ein  kalter 
Abseess  im  Kleinen. 

Selir  häufig'  ist  der  Sitz  des  chrünisch-entziindlieheu  Processes  in 
den  obersten  Schichten  einer  Haut;  dann  entsteht  das  offene  Haut- 
und  Schleimhautgeschwür.  Wir  wollen  uns  dies  an  einem  Beispiel 
klar  machen.  Es  sei  durch  irgend  eine  der  früher  genannten  Ursachen. 
ein  chronisch -entzündlicher  Process  an  der  Haut  des  Unterschenkels, 
etwa  an  der  vorderen  Fläche  im  unteren  Dritttheil  desselben  entstanden. 
Die  Haut  ist  von  erweiterten  Gefässen  durchzogen,  dadurch  röther  als 
normal,  sie  ist  geschwollen  theils  durch  seröse  theils  durch  zellige  In- 
filtration, und  auf  Druck  etwas  empfindlich.  Es  sind  Wauderzellen, 
zumal  in  die  oberflächlichen  Theile  der  Cutis  infiltrirt,  dazu  mehr  Serum 
als  normal:  die  Gefässe  vermehren  und  erweitern  sich;  so  werden  die 
Papillen  grösser,  succulenter;  auch  die  Entwicklung  der  Zellen  des  Pete 
Malpighii  erfolgt  reichlicher,  die  oberflächliche  Schicht  desselben  erlangt 
kaum  mehr  recht  den  gehörigen  Grad  der  Verhornung ;  das  Bindegewebe 
der  Papillarschicht  ist  weicher,  zum  Theil  fast  horniger  geworden.  Eine 
leichte  Reibung  genügt  nun,  das  weiche  dünne  Hornblatt  der  Epidermis 
an  einer  Stelle  zu  entfernen.  Die  Zellenscbicht  des  Pete  Malpighii  wird 
damit  freigelegt;  es  kommen  neue  Reizungen  hinzu,  und  es  entwickelt 
sich  eine  eiternde  Fläche,  die  in  ihrer  oberen  Schicht  aus  Wanderzellen, 
in  ihrer  unteren  aus  den  bereits  stark  degenerirten  vergrösserten  Haut- 
papillen  besteht.  Würde  in  diesem  Stadium  gehörige  Ruhe  der  Theile 
beobachtet  und  Schutz  vor  neuen  Reizen  gewährt,  so  würde  sich  all- 
mählich die  Epidermis  regeneriren  und  das  bis  jetzt  noch  ganz  ober- 
flächliche Geschwür  würde  benarbeu.  Indess  die  geringe,  oberflächliche 
Wunde  wird  gewöhnlich  zu  wenig  geachtet,  neue  Schädlichkeiten  ver- 
schiedener Art  kommen  hinzu;  es  kommt  zu  Vereiterung  und  molecularem 
Zerfall  des  entzündeten  freiliegenden  Gewebes,  zunächst  also  der  Papillen, 
und  so  entsteht  allmählich  ein  theils  tiefer,  theils  breiter  werdender  De- 
fect:  das  Geschwür  ist  nun  vollständig  ausgebildet.  Die  folgende  Figur 
ist  der  Durchschnitt  eines  sich  vergrössernden  Hautgeschwürs,  welchem 
die  Schilderung  dieses  Processes  entnommen  ist  (Fig.  81): 

Fiff.  81. 


,'-■'"    ^o/^-  ^^•''     "^^ '^^///y^^i^v  ,:^:-^/.^~/riSJ,=^m(i''!n;'>^ 

Unterschenkel-Hautgesclnvür.     Vergrösserung  100;    nach  Förster.     Atlas  Taf.  XI. 


Vuil.'smif^r  l'.ü.     ('iipilcl   XV,  477 

Sic  seilen  bei  a  die  l)(M-cits  etwas  verdickte  Cutis,  deren  rjipilieii 
sich  in  der  Riclitunii-  nach  b  vevgrösscni,  wrdirciid  die  Cefässschliiigeii 
zunehmen  und  das  Bindei;cwebe  immer  reichliclicr  von  Zelh-n  durelisetzt 
wird;  bei  b  die  ausg-ebiUIcte  Geschwiirsfläche;  c  stark  verdickh-  {''pidcr- 
mis,  den  harten  Eand  des  Gescliwürs  bildend. 

Ganz  ähnlich  haben  Sie  sich  den  Process  auf  den  Schleimhäuten 
zu  denken;  zuerst  tiitt  eine  lebhaftere  Auswanderung-  junger  Zellen  an 
die  Obertläche  auf;  sehr  bald  gesellt  sich  seröse  und  plastische  Tnlil- 
t]-ation  massigen  Grades  in  dem  Bindegewebe  mit  Vermehrung  der  Ge- 
fässe  der  Schleimhaut  hiirzu,  die  Schleimdrüsen  secerniren  reichlicher. 
AYie  früher  bemerkt,  g-laubte  man  bis  vor  Kurzem,  dass  der  catarrlia- 
lisehe  Eiter  rein  epithelialer  Natur  sei;  jetzt  neig't  man  sich  mehr  zu  der 
Ansicht,  dass  auch  die  Elemente  des  catarrhalischen  Secretes  zum 
grösseren  Theile  ausgewanderte  weisse  Blutzellen  sind.  Durch  dauernde 
Eeizung-  einer  chronisch  catarrhalisch  afficirten  Schleimhaut  erfolgt  Er- 
weichung- und  Zerfall  des  Gewebes  wie  früher  bei  der  Cutis  gescliildert 
wurde:   wir  haben   dann  ein  catarrhalisches  Gesell wür  vor  uns. 

Es  giebt  noch  eine  andere,  mehr  acute  Entstehungsart  von  Geschwü- 
ren, nämlich  aus  Pustebi,  welche  nicht  zur  Heilung-  kommen,  sondern 
sich  nach  Entleerung  des  Eiters  vergrössern  und  dabei  einen  acut  ent- 
zündlichen Charakter  behalten,  so  z.  B.  die  weichen  Chancregeschwüre. 
Besonders  kommen  auch  ohne  erkennbar  specifisch-dyskrasische  Ursachen 
solche  aus  Ekthyma -Pusteln  entstehenden  Geschwüre  am  Unterschenkel 
junger,  oft  sehr  vollblütiger,  sonst  ganz  gesunder  Leute  vor,  über  deren 
Ursache  man  nichts  Bestimmtes  weiss;  sie  nehmen  oft  eine  wuchernde, 
fungöse  Form  an,  in  anderen  Fällen  sind  sie  aber  auch  mit  schnellem 
Gewebszerfall  verbunden.  Diese  mehr  acute  Entstehungsart  der  Ge- 
schwüre ist  übrigens  sehr  viel  seltener  als  die  chronische.  —  Manche 
1  Erkrankungen  tragen  halb  mit  Unrecht  den  Namen  „Geschwür",  so  z.  B. 
das  „Typhusgeschwür";  beim  Typhus  abdominalis  bildet  sich  eine  acute 
progressive  Entzündung-  der  Peyer'schen  Plaques  aus,  und  diese  Entzün- 
dung endet  in  sehr  vielen  Fällen  mit  Gangrän,  mit  Nekrose  der  entzün- 
deten Schleimhautstücke;  was  nach  Abstossung  der  Schorfe  zm-ückbleibt, 
ist  eine  Granulationsfläche,  welche  gewöhnlich  bald  vernarbt;  diese  Gra- 
nulationsfläche ist  kein  Geschwür  im  strengeren  Sinne  des  Wortes,  sie 
wird  erst  dazu,  wenn  die  Heilung  nicht  normal  von  Statten  geht;  das 
„lentescirende",  in  der  Heilung  verzögerte  Typhusgeschwür  ist  eigentlich 
erst  ein  wahres  Geschwür.  Dies  mehr  beiläufig;  es  ist  leicht,  sich  frei 
mit  diesen  Ausdrücken  zu  bewegen,  wenn  man  über  die  Processe  selbst 
im  Klaren  ist. 

Sie  sehen  aus  dieser  Darstellung,  dass  zweierlei  Vorgänge  entgegen- 
gesetzter Art  sich  bei  der  Vers ch war ung  wie  bei  der  Entzündung 
überhaupt  mit  einander  verbinden:  Neubildung  und  Zerfall;  letzterer 
erfolgt  durch  Erweichung   des  Gewebes,  durch  Vereiterung,  dann  auchi 


478  ^'^'"  '^^'^   fieseliwfiren. 

durch  iiioleculare  Nekrotisirimg  oder  durch  beides  zAigleich.  Das  gegen- 
seitige  Verhältniss,  in  welchem  Neubildung  und  Zerfall  zu  einander 
dabei  stehen,  kann  in  den  angezogenen  Beispielen  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, denn  es  ist  klar,  dass  hier  die  Neubildung  dem  Zerfall  voraus- 
ging. Indess  könnten  Sie  sich  auch  vorstellen,  wie  ich  bereits  vorher 
andeutete,  dass  in  einem  bis  dahin  gesunden  Theil  der  Haut  eine  Er- 
nälirungsstörung  der  Art  einträte,  dass  zunächst  ein  Zerfall  des  Gewebes 
vor  sich  geht,  wie  Sie  dies  schon  aus  dem  Absclmitt  über  Gangrän  ken- 
nen. An  der  Grenze  der  gesunden,  lebensfähigen  Hauttheile  würde  sich 
dann  eine  Neubildung  junger  Zellen  entwickeln,  und  wenn  die  Theile 
in  der  Umgebung  der  primär  nekrotisirten  Stelle  gesund  wären,  so  würde 
es  hier  zur  Ausbildung  einer  Granulationsfläche  und  Narbe  kommen 
müssen;  sind  die  Theile  nicht  gesund,  nur  in  geringem  Maasse  lebens- 
fällig, so  wird  aucli  in  ihnen  statt  kräftiger  entzündlicher  Neuljildung 
von  Neuem  Zerfall  auftreten,  und  auf  diese  Weise  ein  Geschwür  ent- 
stehen und  sich  allmählig  ausbreiten.  Ein  solcher  Vorgang,  bei  welchem 
also  ein  Geschwür  primär  mit  molecularem  Zerfall  ohne  vorhergegangene 
zellige  Infiltration  entsteht,  kommt  in  praxi  nur  selten  vor.  Molecularer 
Zerfall  und  Gangrän  sind,  streng  genommen,  freilieb  nur  quantitative 
Varietäten  desselben  Processes,  nämlich  des  Absterbens  einzelner  Ge- 
webstheile;  es  kann  Fälle  geben,  in  welchen  der  ulcerative  Process  und 
die  Gangrän  sich  ausserordentlich  nahe  stehen,  wie  beim  Hospitalbrand, 
wovon  wir  bereits  gesprochen  haben,  auch  z.  B.  bei  Entstehung  der 
runden  Magengeschwüre,  bei  welchem  Necrose  der  Schleimhaut  gewöhn- 
lich in  Folge  eines  Extravasats  das  Primäre  zu  sein  pflegt;  doch  in  den 
meisten  Fällen  geht,  wie  gesagt,  dem  Zerfall  immer  eine  entzündliche 
Infiltration  voraus. 

Die  eben  mitgeth eilten  Bemerkungen,  aus  welchen  Sie  ersehen,  in 
welcher  Verwandtschaft  der  Geschwürprocess  theils  mit  der  Neubildung, 
theils  mit  der  Gangrän  steht,  werden  Ihnen  veranschaulicht  haben,  wie 
schwer  es  ist,  im  Gebiet  dieser  Krankheitsprocesse  Alles  systematisch 
scharf  auseinander  zu  halten.  Sie  dürfen  jedoch  nicht  befürchten,  dass 
ich  Sie  hiermit  verwirren  werde;  wir  wollen  gleich  auf  die  specielleu 
Eigenschaften  der  Geschwüre  eingehen,  da  werden  Sie  schneller  zum 
Verständniss  kommen;  nur  so  viel  sei  hier  noch  bemerkt,  dass  die  Ge- 
schwüre nach  dem  vitalen  Vorgang  sich  im  Ganzen  und  Grossen  in  zwei 
Hauptgruppen  bringen  lassen,  nämlich  in  solche,  bei  denen  der  Neubil- 
dungsprocess  vorwiegt:  wir  wollen  sie  kurzweg  als  wuchernde  Ge- 
schwüre bezeichnen,  und  in  solche,  bei  denen  der  Process  der  Vereite- 
rung und  des  Zerfalls  mehr  in  den  Vordergrund  tritt:  diese  nennen  wir 
atonische  oder  torpide  Geschwüre.  Zwischen  diesen  beiden  äusser- 
sten  Grenzpunkten  der  anatomischen  und  vitalen  Eigenschaften  der  Ge- 
schwüre liegen  dann  eine  grosse  Menge  von  Formen  in  der  Älitte.  — 
Wenn  der  Heilungsprocess  eines  Geschwürs  eingeleitet  werden  soll,  so 


Vorlcsinii'-  :iO.     Cnpilol   XV.  47(.) 

ist  die  erste  Bcdiuguiii;'  dazu,  dass  der  Zerfall  an  der  Oherfläclie  auC- 
liört,  demiiäelist  muss  der  Grund  des  flescliwiirs  wenigstens  annäliernd 
die  Beschaffenheit  einer  gesunden  Granulationsfläclie  annehmen,  deren 
Benarbung-  in  der  gewöhnlichen  Weise  erfolgt.  Iki  den  torpiden  ato- 
nischen Gescliwüren  ist  dazu  die  Entwicklung  reichlicher  (Jelnsse  und 
kräftiger  Zellen,  die  nicht  mehr  zur  Vereiterung,  sondern  zur  Bindege- 
websneuhildung  fiilircn,  unbedingt  nothwendig.  Bei  den  wuchernden  Ge- 
schwüren dagegen  nuiss  die  Neubildung  auf  das  noi-male  Maass  zurück- 
geführt werden.  Es  liegt  hierin,  A¥ie  Sie  bei  weiterem  Naclidcnken  Iciclit 
finden  werden,  eine  Andeutung  für  die  in  dem  einen  und  dem  anderen 
Falle  einzuschlagende  örtliclie  'J'lierapie,  worauf  wir  auch  sehr  bald 
kommen  werden. 

Die  Nomenclatur  der  Geschwüre  ist  je  nach  den  Eigenschaften, 
die  mau  an  ihnen  besonders  hervorsucht,  eine  sehr  vers(;hiedenartige. 
Der  Entstehung  nach  kann  man  wie  bei  der  chronischen  Entzündung 
überhaupt  zweierlei  Arten,  zwei  Hauptgrup})en  unterscheiden,  nämlich 
die  idiopathischen  und  die  symptomatischen  Geschwüre.  Die  idiopa- 
thischen (oder  protopathische]!,  proteropathischen,  von  ngcoTog, 
nQOEiQng  der  erste,  zuerst,  und  näoxF.iv,  nad-slv  leiden)  Geschwüre 
sind  solche,  welche  in  Folge  rein  localer  Reize  entstehen;  man  kann 
sie  auch  als  Reizgeschwüre  bezeichnen.  Die  symptomatischen 
(oder  deuteropathischen,  von  devTsgog^  der  zweite)  Geschwüre  sind 
solche,  welche  aus  Innern  dyskrasischen  Ursachen  als  Symptom  einer 
Allgemeinkrankheit  auftreten,  ohne  dass  an  der  erkrankten  Stelle  ein 
localer  Reiz  eingewirkt  hätte. 

Lassen  wir  vorläufig  die  ätiologischen  Verhältnisse  bei  Seite,  und 
suchen  wir  zuvörderst  uns  durch  die  Betrachtung  der  äusseren  Verhält- 
nisse, welche  ein  Geschwür  darbieten  kann,  den  Begriff  eines  solchen 
noch  prägnanter  vor  Augen  zu  führen.  —  Wenn  man  ein  Geschwür  be- 
schreiben will,  so  unterscheidet  man  daran  folgende  Theile: 

1.  Form  und  Ausbreitung  des  Geschwürs.  Dasselbe  kann 
kreisrund,  halbmondförmig,  ganz  unregelmässig,  ringförmig,  flacli,  tief 
sein;  es  kann  einen  Canal  darstellen,  welcher  in  die  Tiefe  führt;  es  kann 
röhrenförmig  sein,  eine  Fistel  (von  fistula,  die  Röhre)  bilden;  diese 
Fisteln  entstehen,  wie  ich  Ihnen  schon  früher  angegeben  habe,  dadurch, 
dass  sich  in  der  Tiefe,  sei  es  nun  in  der  tiefen  Schicht  der  Cutis,  im 
Unterhautzellgewebe,  in  den  Muskeln,  im  Periost  oder  Knochen,  oder 
auch  in  drüsigen  Theilen  Entzündungsheerde  bilden,  welche  durch  lang- 
same Verschwärung  allmählig  an  die  Oberfläche  gelangen.  Die  Bildung 
eines  Hohlgeschwürs,  eines  mehr  oder  weniger  tiefliegenden  Verschwä- 
rungsheerdes  geht  also  der  Fistelbildung  immer  voraus. 

2.  Der  Grund  und  die  Absonderung  des  Geschwürs.  Der 
Grund  kann  flach,  vertieft  oder  hervorragend  sein;  er  kann  mit  schmutzi- 
ger,  stinkender,   seröser,  jauchiger  Flüssigkeit,   selbst  mit  gangränösen 


4^0  Von  den  Geschwüren. 

Fetzen  des  Gewebes  (jauchige  g-angrän ose  Geschwüre)  bedeckt  sein; 
eine  amorphe,  speckig  aussehende,  schmantige  oder  sclnnierige  Substanz 
kann  ihn  bedecken.  Doch  kann  der  Boden  des  Geschwürs  auch  allzu 
üppige  Granulationen  mit  schleimiger  Eiterabsonderuug  zeigen  (fun- 
göse  Geschwüre). 

3.  Die  Ränder  des  Geschwürs  sind  flach  oder  erhaben,  wall- 
artig, hart  (callöse  Geschwüre),  weich,  ausgebuchtet  (sinuöse  Ge- 
schwüre), gezackt,  umgeworfen,  uuterminirt  u.  s.  w. 

4.  Die  Umgebung  des  Geschwürs  kann  normal  sein  oder  ent- 
zündet, ödematös,  indurirt,  pigmentirt  u.  s.  w. 

Diese  allgemein  gebräuchlichen  technischen  Bezeichnungen  reichen 
hin,  um  jedes  Geschwür  einem  Collegen  gegenüber  genau  zu  beschreiben. 
Da  aber  die  Bezeichnungen  je  nach  der  Vitalität  des  geschwürigen  Pro- 
cesses,  also:  torpid,  atonisch,  wuchernd,  fungös  etc.,  im  Allgemeinen 
kürzer  sind,  so  bedient  man  sich  derselben  häutiger;  vielfach  braucht 
man  auch  Bezeichnungen,  welche  sich  auf  die  entfernteren  Ursachen, 
zumal  bei  den  symptomatischen  Geschwüren  beziehen.  Man  spricht 
dann  kurzweg  von  scrophulösen,  tuberkulösen,  syphilitischen  Geschwüren 
u.  s.  f.  Da  wir  jedoch  jetzt  die  localen  Beschaffenheiten  des  Geschwürs 
noch  frisch  im  Gedächtniss  haben,  so  wollen  wir  gleich  die  localen 
Mittel  durchgehen,  insoweit  ihre  Anwendung  von  der  Beschaffenheit 
des  Geschwürs  abhängig  ist.  Eine  grosse  Reihe  von  Geschwüren,  zumal 
alle  diejenigen,  welche  durch  wiederholte  örtliche  Reizung  entstanden 
waren,  heilen  ungemein  leicht.  Sowie  die  kranken  Theile  nur  unter 
günstigere,  äussere  Verhältnisse  kommen  und  keine  neuen  Schädlich- 
keiten auf  sie  einwirken,  beginnt  oft  ganz  spontan  die  Benarbung.  Es 
ist  erstaunlich,  wie  schnell  zumal  die  häufigen  Unterschenkelgeschwüre 
ein  sehr  viel  besseres  Ansehen  annehmen,  so  wie  der  Kranke  ein  war- 
mes Bad  genommen  hat,  das  Geschwür  einfach  mit  einer  in  Wasser  ge- 
tauchten Compresse  bedeckt  ist,  und  der  Kranke  24  Stunden  ruhig  im 
Bett  gelegen  hat.  Das  Geschwür,  welches  vorher  schmutzig,  graugrün 
aussah  und  einen  verpestenden  Geruch  um  sich  her  verbreitete,  erscheint 
jetzt  ganz  anders :  es  hat  eine  leidlich,  wenn  auch  noch  nicht  sehr  kräftig 
granulirende  Oberfläche,  secernirt  guten  Eiter ;  14  Tage  lang  fortgesetzte 
Ruhe  und  grosse  Reinlichkeit  genügen  in  manchen  Fällen,  eine  voll- 
ständige Vernarbung  solcher  Geschwüre  herbeizuführen.  Indess  kaum 
ist  der  Patient  entlassen  und  in  seine  alten  Verhältnisse  zurückgekehrt, 
so  wird  die  Narbe  wieder  wund  und  in  wenigen  Tagen  ist  der  Zu- 
stand wieder,  wie  er  war.  So  geht  es  fort,  der  Patient  kommt  wieder 
in  das  Spital,  wird  bald  wieder  entlassen,  um  in  kurzer  Zeit  wieder 
aufgenommen  zu  werden.  Indess  giebt  es  auch  gegen  diese  Wiederkehr 
einige  Schutzmittel,  wovon  später.  Nicht  alle  Geschwüre  sind  so  schnell 
zur  Heilung  geneigt,  viele  bedürfen  mancherlei  Behandlung  und  sehr 
lange  Zeit  zur  Heilung.     Wir  wollen  nun  die   einzelnen  Formen   nach 


Vorlesung  nU.      Oapilcl    XV.  481 

ihren  örtliclicii  Ersclieiuuiii^'cii  in   IxiicksicliJ:  jiiiC  die  jur/iiwendciidoii  ört- 
lichen Mittel  dnrclniclmien. 

1.  Das  Gesclnviii-  mit  cutziindeler  I)  ini;'cl)iin  i;'  und  (his 
er  etil  i  s  c  li  c  G  e  s  cli  vv  ii  r. 

Es  kommt  sehr  häufig-  vor,  dass  ein  Gcs(Mnviir  bei  der  ersten  Bc- 
sielitig'ung-,  wenn  der  Kranke  damit  fortwährend  umherging,  stark  ge- 
röthet  und  sehr  sclimerzliaft  ist,  und  dass  dieser  leiclite  Grad  von  Ent- 
zündung- nach  einer  gewissen  Zeit  der  Kuhc  von  seihst  wicT-lor  vergelit. 
Andere  Gescliwiire  giebt  es  aber,  deren  Umgebung  dauernd  eine  selir 
intensive  Rötlie  und  Enipfindlicbkeit  zeigt,  das  Geschwür  ])lutet  leiclit 
und  selbst  die  Granulationen  sind  bei  der  Berülirung  schmerzhaft.  iMan 
nennt  ein  solches  Geschwür  ein  er  ethisch  es;  die  höchsten  Grade  von 
Erethismus  der  Geschwürsflächen  sind  äusserst  selten:  ich  hatte  in  Zürich 
einen  Patienten,  welcher  in  Folge  einer  sehr  intensiven  Phlegmone  am 
Oberschenkel  ein  grosses  Stück  Haut  durch  Gangrän  verloren  hatte;  nach 
Ablösung  'der  Eschara  bildete  sich  eine  sehr  üppig  wuchernde  Granula- 
tionsliäche  mit  wenig  Tendenz  zur  Heilung,  deren  leise  Berührung  so 
schmerzhaft  Avar,  dass  der  Patient  dabei  schrie  und  zusammenzuckte. 
Wodurch  diese  enorme  Schmerzhaftigkeit  in  solchen  Fällen  bedingt  sein 
kann,  ist  bereits  früher  bei  Besprechung  der  Nervennarbeu  erwähnt.  — 
Was  die  Behandlung  der  entzündeten  und  erethischen  Geschwüre  betrifft, 
so  versucht  maii  zunächst  Salben  aus  einem  milden  Fett  und  Wachs, 
Unguentum  cereum,  dann  sogenannte  kühlende  Salben,  wie  Zinksalben, 
Bleisalben,  auch  wohl  Fomentationen  mit  Bleiwasser;  bleiben  bei  dieser 
Behandlung  die  Granulationen  schmerzhaft  und  schlecht  aussehend, 
während  die  Entzündung  in  der  Umgebung  abgenommen  hat,  so  würde 
eine  starke  Cauterisation  der  Geschwürsfläche  mit  Argentum  nitricum, 
besser  noch  mit  Ferrum  candens  anzuwenden  sein;  letzteres  Mittel  und 
später  Compression  mit  Heftpflaster  führte  schliesslich  in  dem  eben  er- 
w^ähnten  Fall  zur  Heilung.  Es  wird  gewöhnlich  in  solchen  Fällen  die 
örtliche  Anw^enduug  der  Karcotica  empfohlen,  und  zwar  Kataplasmeu 
mit  Zusatz  von  Belladonna,  Hyoscyamus,  Opium  und  dergleichen ;  indess 
nützen  diese  Mittel  so  ausserordentlich  w'enig  dass  man  meiner  Ansicht 
nach  damit  nur  Zeit  verliert.  — 

2.  Die  fungösen  Geschwüre,  d.  h.  solche,  deren  Granulationen 
])ilzartig,  wuchernd  sind  und  das  Niveau  der  Hautoberfläche  überragen. 
Diese  Geschwüre  sondern  einen  schleimigen  Eiter  ab  und  sind  äusserst 
gefässreich. 

Man  l^ann  hier  die  adsfringirenden  Mittel,  Ueberschläge  mit  China- 
oder Eichenriudeudecoct,  in  Anwendung  ziehen,  was  jedoch  nur  von 
massiger  Wirksamkeit  ist.  Am  besten  ist  es,  die  Oberfläche  solcher 
Granulationen  durch  Aetzmittel  zu  zerstören;  tägliches  Bestreichen  mit 
Argentum  nitricum  in  Substanz  reicht  in  den  meisten  Fällen  aus;  w^o 
dies   nicht   genügt,   kann  Kali  causticum,   selbst  Ferrum  candens  in  Au- 

Billrotli  chir.  Tuth.  u.  Tlicr.   7.  Auli.  3i 


482 


Von  den  Geschwüren. 
Fig.  82. 


uiÜUftjin 


Blutgefässe  zweier  üppiger  Grannlationsknöpfchen  eines  gewöhnlichen  (nicht  krebsigen) 
Unterschenkelgeschwürs,  künstlich  injicirt  von  Thiersch  (Epitheliallvrebs  Taf.  XI.  Fig.  4). 

Wendung'  kommen.  Audi  die  Compression  mit  Heftpflaster  wirkt  liier 
oft  vortrefflicli.  Das  einfachste  ist  es,  solche  Granulationen,  so  oft  als 
nöthig-  mit  der  Scheere  zu  beschneiden. 

3.  Die  callösen  Geschwüre  sind  die  vom  Arzte  wegen  ihrer 
langen  Heilungsdauer  g-eftirchtetsten;  es  sind  solche,  deren  Basis,  Eänder 
und  Umgebung  durch  sehr  lange  Zeit  bestandene  chronische  Entzündung 
verdickt  und  knorpelhaft  geworden  sind.  Das  Geschwür,  von  sehr  tor- 
pidem Charakter,  liegt  in  der  Regel  tief  unter  der  Oberfläche,  die  Ränder 
sind  scharf  abg-egränzt.  Die  Therapie  hat  hier  zwei  Aufgaben,  nämlich 
eine  Erweichung  des  sehnig-festen,  sehr  gefässarmen  Gewebes  der  ver- 
härteten Eänder  und  des  Geschwürgrundes  zu  erzielen  und  eine  gehörige 
Vascularisation,  sowohl  in  den  Rändern  als  im  Grund  des  Geschwürs 
herbeizuführen.  Es  giebt  Geschwüre  dieser  Art,  welche  20  Jahre  und 
darüber  bestanden  haben;  folgende  Mittel  zieht  man  dabei  in  Anwendung: 
Compression  und  zwar  mit  Heftpflasterstreifen,  die  man  nach  bestimmten 
Regeln,  wie  sie  es  in  der  Klinik  lernen  werden,  anlegt.  Ein  solcher 
Heftpflasterverband,  welcher  uiclit  allein  das  Geschwür,  sondern  den 
ganzen  Unterschenkel  bedecken  muss,  kann  im  Anfang  1  bis  2  Tage, 
später,  wenn  das  Geschwür  in  Heilung  begriffen  ist,  3  bis  4  Tage  und 
länger  unberührt  liegen  bleiben.  Es  sind  diese  sogenannten  Baynton'- 
schen  Heftpflastereinwicklungen  bei  Unterschenkelgeschwüren  von  sehr 
grosser  Wichtigkeit,  zumal,  für  diejenigen  Fälle,  in  welchen  die  Kranken 
nicht  geneigt  sind,  eine  ruhige  Lage  einzuhalten,  sondern  zugleich  ihren 
Geschäften  nacligehen  müssen.  Ich  habe  über  diese  Behaudlungsweise 
der  Uuterschenkelgeschwürc  in  der  chirurgischen  Poliklinik  in  Berlin 
manche  Erfahrung  gemacht,  kann  jedoch  über  dieselben  als  Heilmittel 
bei  Unterschenkclgeschwüren   nicht  so  günstig  urtheilen,  wie  dies  von 


Vorlesung  30.     Ciipilcl  XV.  483 

Seiten  anderer  Cliirurg'cn  gcscliielit,  die  in  diesen  Einwicklungcn  fast  ein 
Uuiversalniittel  l)ei   allen   Untersclienkeli^escliwiiren    sollen   wollen.     Ich 
schätze  diese  Einwicklnngen  bei  poliklinisclier  Behandlung-  als  Deckver- 
bände sehr  hoch,  indem  sie  dazu  dienen,  das  Umherg-ehen  zu  ermögliclien, 
ohne  dass  sich  das  Geschwür  zu  sehr  vergrössert;  dass  jedoch  alle  Ge- 
schwüre unter  diesen  Verbänden  besonders  leicht  heilen,  und  dass  die 
Eimvirkung-en  des  Heftpflasters  auf  die  callöse  Umgebung  des  Geschwürs 
mehr  Einfluss  hat  als  die  später  zu  erwähnenden  Mittel,  kann  ich  nicht 
finden.    Das  beste  Mittel,  um  eine  dauernde  Cong-estion  zu  dem  Geschwür 
zu  unterhalten  und  dadurch  die  Gefäss-  und  Gewebsbildung  zu  steigern 
ist  die  feuchte  Wärme,  die  Sie  entweder  in  Form  von  Kataplasmen  oder 
besser   noch   als  continuirliches  warmes  Wasserbad    anwenden   können. 
Letzteres,   durch  welches  zugleich   eine  künstliche  Quellung  und  Erwei- 
chung- der  verhärteten  wasserarmen  Umgebung  des  Geschwürs  hervor- 
gebracht wird,    empfehle  ich  Ihnen  ganz  besonders.  — ■  Zuweilen  ist  es 
nöthig-,    die    callösen    Ränder  ganz    zu   zerstören    oder   in   einen  hohen 
Grad   von   eitriger  Entzündung  zu  versetzen.     Ersteres  können  Sie  am 
schnellsten  durch  Ferrum  candens  erreichen,   letzteres  am  besten  durch 
wiederholtes  Aufiegen  des  Unguentum  Tartari  stibiati  oder  des  Emplastrum 
Cantharidum.     Ist  nach  der  Anwendung  der  letztgenannten  Mittel  eine 
pustulöse  oder  selbst  zum  Theil  brandige  Entzündung  des  Geschwürs  und 
seiner  Umgebung  entstanden,  so  bringen  Sie  dann  den  Fuss  ins  Wasser- 
bad und  werden  eine  auffallend  schnelle  Heilung  in  vielen  Fällen  erzielen. 
—  Nicht  immer  gelingt   es,   eine  Heilung  der    callösen   Unterschenkel- 
geschwüre zu  bewirken,  zumal  sind  die  Geschw^üre,  welche  der  vorderen 
Fläche  der  Tibia  entsprechen  und  in  der  Tiefe  bis  auf  das  Periost  drin- 
gen,   zuweilen  unheilbar;    auch  solche   Geschwüre,   welche  den  ganzen 
Unterschenkel  ringförmig  umgeben,  pflegen  zu  den  unheilbaren  gerechnet 
zu  werden;    sie   werden  als  Indication    für    die   Amputation  betrachtet, 
wenn  sie  das   Individuum  dauernd   unfähig   zum  Gehen  und  überhaupt 
arbeitsunfähig  machen.  —    Ausser  den    schon    erwähnten  Verhältnissen 
ist    es  noch  ein  Umstand,   der   die  Heilung  von  Geschwüren  mit  stark 
indurirter  Umgebung  besonders  erschwert,  nämlich  der,  dass  die  heilende 
Granulationsfläche    und  Narbe    sich   nicht    in    der   gewöhnlichen  Weise 
durch    starke   Contraction   verkleinern   und    verdichten   kann,    weil    die 
Festigkeit  der  umgebenden  tiauttheile  keine  Verschiebung  zuiässt,  während 
jede  granulirende  Wunde,  wie  Sie  wissen,  sich  durch  Zusammenziehung 
fast  auf  die  Hälfte  ihrer  Ausdehnung  verkleinert  und  dem  entsprechend 
auch  die  Vernarbungsfläche   eine  kleinere  wird,  muss  die  Granulations- 
fiäche  dieser  Geschwüre  in  vielen  Fällen  in  der  ganzen  ursprünglichen 
Ausdehnung  benarben,   weil  sie  sich  eben  nicht  zusammenziehen  kann. 
Um  dies  dennoch  zu  ermöglichen,  hat  mau  rund  um  die  Geschwüre  tiefe 
Einschnitte  in  die  Haut  gemacht   und    diese   Schnitte   durch   eingelegte 
Charpie  klaffend  erhalten;  ich  habe  bisher  keine  grosse  Wirkung  davon 


^g^  Von  den   Geselnviiren.' 

gesehen.  Audi  die  Epiderniistransplaiitatiouen  nach  Eeverdin  sind  bei 
diesen  Geschwüren  mit  Vortheil  für  die  Beschleunigung  der  Heilung  in 
Anwendung  gezogen,  doch  macht  man  leider  oft  die  Erfahrung,  dass 
diese  transplantirten  Hautstücken,  nachdem  sie  vortrefflich  angeheilt  und 
das  ganze  Gescliwiir  vernarbt  war,  wieder  zerfallen,  und  so  der  grüsste 
Theil  des  mühsam  errungenen  Vortheils  wieder  verloren  geht.  —  Eine 
Folge  der  Starrheit  des  Gewebes  ist  es  auch,  dass  die  nicht  gehörig 
verdichtete  junge  Narbe  sehr  leicht  wieder  wund  wird,  und  deshalb  das 
geheilte  Geschwür  sich  sehr  schnell  wieder  entwickelt.  Um  dies  zu  ver- 
hindern, ist  es  am  besten,  nach  erfolgter  Heilung  die  Narbe  mittelst 
"Watte  zu  decken,  und  den  Unterschenkel  mit  Kleisterbinden  einzuwickeln. 
Diesen  Verband  lässt  man  6 — 8  Wochen  und  länger  tragen,  bis  die 
Narbe  definitiv  organisirt  und  fest  ist.  Ich  habe  diese  Praxis  schon  seit 
längerer  Zeit  bei  den  meisten  Unterschenkelgeschwüren  nach  ihrer  Hei- 
lung befolgt  und  habe  Grund,  damit  zufrieden  zu  sein. 

4.  Die  jauchigen  gangränösen  Geschwüre.  Die  Ursachen  von 
Zersetzungsprocesseu  an  der  Oberfläche  eines  Geschwürs  liegen  sehr 
häufig  nur  in  den  ungünstigen  äussern  Umständen.  In  andern  Fällen 
jedoch  besteht  aus  allgemein  dyskrasischen  Gründen  Neigung  zu  rasche- 
rem Zerfall  des  Gewebes  an  der  Oberfläche  des  Geschwürs.  Chlorkalk- 
wasser, Holzessig,  Terpentin,  Kamphorwein,  Carbolsäure,  essigsaure 
Thonerde  sind  die  hier  anzuwendenden  Mittel.  Erreicht  der  Zerfall  des 
Gewebes  einen  ganz  auffallenden  Grad  von  Schnelligkeit,  so  dass  von 
einem  Tag  zum  andern  die  Vergrösserung  des  Geschwürs  sehr  zunimmt, 
so  nennt  man  dies  ein  fressendes  oder  phagedäuisches  Geschwür 
(cpayiöaiva,  von  cpaysiv  fressen),  eine  Form,  welche  dem  früher  genann- 
ten Hospitalbrand  sehr  nahe  steht.  Das  Aufstreuen  von  gepulvertem 
rothem  Quecksilberpräcipitat  thut  in  manchen  Fällen  dem  Zerfall  rasch 
Einhalt.  Wirkt  dies  Mittel  nicht,  so  würde  ich  rathen,  niclit  mit  der 
Zerstörung  des  ganzen  Geschwürs  zu  zögern:  eine  kräftige  Aetzung  mit 
Kali  causticum  oder  die  energische  Anwendung  des  Ferrum  candens  mit 
Zerstörung  der  Geschwürsränder  bis  ins  Gesunde  sind  in  diesen  Fällen 
fast  immer  von  sicherer  Wirkung. 

5.  Die  sinuösen  und  fistulösen  Geschwüre.  —  Geschwüre 
mit  unterhöhlten  Rändern  und  Fisteln.  Sie  entstehen  stets  als  Hohlge- 
schwüre, die  allmählig  von  innen  nach  aussen  durchbrechen,  besonders 
häufig  durch  chronische  Verschwärung  von  Lymphdrüsen.  Ein  solches 
Geschwür  wird  stets  am  schnellsten  heilen,  wenn  Sie  es  in  ein  offenes 
dadurch  verwandeln,  dass  Sie  die  gewöhnlich  dünnen,  unterminirteu 
Hautränder  wegschneiden,  oder  wo  dies  wegen  zu  grosser  Dicke  der 
Ränder  und  der  Geschwürshöhle  nicht  angeht,  wenigstens  die  Höhlung 
spalten  und  das  tiefliegende  Geschwür  freilegen.  Diese  Behandlung  gilt 
auch  für  die  fistulösen  Geschwüre,  sofern  dieselben  zu  einem  tieferlie- 
genden Hohlgeschwüre  führen.    Letzteres  muss  zuerst  ausheilen,  ehe  sich 


Vi.rlosmiK    ."0.      rfipirnl    XV.  485 

die  Fistel  solid  schlicssen  knnii,  ]]q\  den  li(>ld^',<^s('livviiieii  der  Haut  an 
den  AYang'en  und  den  Vereiterungen  obevnäcliliclier  Lyni|)lidrii,sen,  wie 
sie  so  oft  am  Halse  voivkoninien,  schneide  ich  zuerst  die  dünne  Haut 
i;anz  fort,  kratze  den  Grund  des  ({eschwiirs  nnt  einem  scharfen  Löffel 
MUS,  und  lei;e  Charpie  in  Liq.  Ferri  sesquichlorati  getaucht  auf;  die  Heilung- 
erfolgt  gewöhidich  rasch  und  mit  weiuger  entstellcudeu  Narhen,  als  wenn 
mau  die  Ausheilung  sieli  seihst  iiberlüsst,  was  Monate  uiul  Jahre  dauern 
kann.  —  Das  Wort  „Fi-^'tcr'  Iiat  übrigens,  beiläufig  hier  bemerkt,  auch. 
no(di  eine  andere  Bedeutung,  indem  num  damit  jede  röhrenförmige,  ab- 
norme Oefifnung  bezeichnet,  welche  zu  einer  Höhle  des  Körpers  fiUirt; 
so  spricht  man  z.  B.  von  Brust-,  Hirn-,  Gallenblasen-,  Darm-,  Scheiden-, 
Harnblasen-,  Harnröhrenfisteln  u.  s.  w.  — 

Wir  haben  uns  nun  noch  mit  einem  selir  wichtigen  Tlieil  des  Ca- 
pitels  von  den  Geschwüren  zu  beschäftigen,  nämlich  mit  der  Aetiologie. 
Ich  habe  Ihnen  schon  bemerkt,  dass  man  örtliche  und  allg-emeine  djs- 
krasische  Ursachen,  wie  bei  der  chronischen  Entzündung  überhaupt  zu 
unterscheiden  hat.  Es  M'ären  daher  alle  Momente,  welche  chronische 
Entzündung-  erzeugen,  hier  wieder  zu  nennen;  wir  heben  davon  nur 
einige  besonders  heraus.  Betrachten  wir  zuerst  die  localen  Ursachen 
der  Geschwüre  näher,  so  ist  vor  Allem  die  continuirliche  örtliche 
mechanische  oder  chemische  Keizung-  zu  erwähnen.  Dauernde 
Keibung  und  Druck  sind  häufige  Ursachen  solcher  Reizgeschwüre: 
ein  drückender  Stiefel,  der  harte  Rand  eines  Schuhes  können  Ge- 
schwürsbildungen  an  den  Füssen  veranlassen;  —  so  ist  z.  B.  der  so- 
genannte eing-ewachsene  Nagel  fast  immer  die  Folg-e  von  dauernder 
Compression  durch  uuzweckmässig  gearbeitete  Stiefel;  ein  scharfer 
Zahn  oder  scharfe  Weinsteinstticke  an  den  Zähnen  können  die  Ursache 
von  Geschwüren  der  Mundschleimhaut  und  der  Zunge  sein  u.  s.  w.  Ge- 
schwüre dieser  Art  tragen  gewöhnlich  die  Erscheinungen  der  Reizung- 
an  sich:  die  Umgebung-  ist  geröthet  und  schmerzhaft,  ebenso  wie  das 
Gesclnvür  selbst.  —  Als  chemischer  Reiz  wirkt  z.  B.  der  Genuss  von 
Schnaps  und  Rum  auf  die  Mag'enschleimhaut :  die  Säufer  haben  in  der 
Regel  dauernden  Magenkatarrh,  in  dessen  Verlauf  sich  nicht  selten  Ge- 
schwüre verschiedener  Art  ausbilden.  — 

Eine  zweite,  noch  häufigere  Ursache  für  chronisch-entzündliche  Processe 
mit  Ausgang  in  Ulceration  sind  die  auch  früher  schon  erwähnten  Stauun- 
gen besonders  im  v e n ö s e n  K r  e i  s  1  a u f  und  der  Druck,  welchen  diese  Aus- 
dehnungen der  Venen,  die  Varicosi täten  auf  die  umliegenden  Gewebe 
•  ausüben.  Diese  stehen  in  sehr  inniger  Beziehung  zur  Entstehung  der 
Unterschenkelgeschwüre;  wir  W' erden  darüber  später  (Cap.  XIX.)  sprechen. 
Hier  sei  nur  so  viel  erwähnt,  dass  in  Folge  der  dauernden  Ausdehnung 
der  kleinen  Hautvenen  eine  chronisch  seröse  Infiltration  der  Haut  ent- 
steht, zu  der  sich  nach  und  nach  zellige  Infiltration,  Verdickung,  endlich 
oft  genug  auch  Eiterung  und  Zerfall  hinzugesellt.    Die  Geschwüre,  welche 


AüQ  Von  den   Gescliwiiren. 

sicli  iu  Folge  der  Variccii  entwickeln,  und  v/elelie  kurzweg-  als  varicöse 
Fussg'eschwttre  bczeiclmet  zu  werden  pfleg-en,  können  von  sehr  ver- 
schiedener Beschaffenheit  sein.  Im  Anfang-  sind  es  g-ewühnlich  einfache, 
oft  wuchernde  Geschwüre,  erst  später  nehmen  sie  einen  mehr  torpiden 
Charakter  an,  und  zu  gleicher  Zeit  bilden  sich  Callositäten  der  Ränder 
aus.  Wie  sich  solche  Geschwüre  schnell  verändern,  wenn  sie  nur  mit 
Ruhe  und  Reinlichkeit  g-epflegt  werden,  ist  schon  erwähnt.  Was  die  Be- 
handlung derselben  betrifft,  so  sind  die  früher  schon  g-erühmten  Heft- 
pflastereinwicklung-en  sehr  empfehlenswerth ,  sowolil  die  Heilung-  des 
Geschwürs  einzuleiten,  als  der  weitern  Entwicklung-  der  Varicen  entge- 
g-enzutreten.  Für  die  meisten  Fälle  ziehe  ich  indessen  eine  Behandlung 
bei  ruh  ig- er  hoher  Lag-e  im  Bett  nach  den  früher  aufg-estellten  Prin- 
cipien  vor  und  applicire  erst  nachher  den  oben  erwähnten  Verband,  um 
die  weitere  Ausbildung-  der  Varicositäten  in  Schranken  zu  halten. 

Wenn  wir  die  Varicositäten  der  Venen  der  Erfahrung-  gemäss  in 
so  nahe  Beziehung-  zu  den  Geschwüren  gebracht  und  damit  zugleich 
die  wichtigste  praktische  Bedeutung-  dieser  Venenkrankheit  schon  hier 
hervorgehoben  haben,  so  dürfen  Sie  daraus  doch  nicht  schliessen,  dass 
Varicen  immer  von  Geschwürsbildung-en  gefolgt  sein  müssen;  es  giebt 
vielmehr  eine  nicht  unbeträchtliche  Anzahl  von  Fällen,  in 
welchen  enorme  Varicositäten  ohne  secundäre  GeschAvürs- 
bildungen  bestehen.  Dass  die  venöse  Stauung  an  sich  nicht  direct 
zu  Entzündung  führt,  ist  früher  (pag.  344)  erörtert.  Doch  wenn  Monate 
und  Jahre  lang  ein  immer  steigender  Druck  von  innen  auf  den  Gefäss- 
wandungen  lastet,  und  die  stark  erweiterten,  prallgefüllten  Gefässe  einen 
Druck  auf  das  Gewebe  ausüben,  so  entsteht  eben  durch  diese  Druck- 
wirkung eine  leicht  entzündliche  Gewebsalteration  mit  chronischem  Oedem 
und  etwas  interstitieller  Gewebsbildung  (indurirtes  Oedem).  Warum  diese 
Wirkung-  in  manchen  Fällen  ganz  ausbleibt,  vermag  ich  freilich  nicht 
anzugeben. 

Wir  kommen  jetzt  zu  einer  kurzen  Besprechung  derjenigen  Ge- 
schwiirsformen,  welche  aus  Innern  Ursachen  entstehen  und  Beziehun- 
gen zu  dyskrasischen  Zuständen  des  Körpers  haben,  zu  den  sympto- 
matischen Geschwüren. 

1.  Hierher  gehören  zunächst  die  scrophulösen  Geschwüre.  Es 
bilden  sich  diese  Geschwüre  besonders  häutig  am  Hals  meist  von  innen 
nach  aussen,  indem  sich  in  der  Substanz  der  Cutis  oder  des  Unterhaut- 
zellgewebes langsam  abgeschlossene  Eiterheerde  entwickeln,  welche 
von  innen  her  die  Haut  allmählig  durchbrechen.  Es  müssen  dadurch 
natürlich  kleine  Hautdefecte  entstehen,  deren  Ränder  in  der  Regel  etwas 
geröthet  und  sehr  verdünnt  sind  und  zu  tiefer  liegenden  Höhlungen  führen, 
aus  denen  sich  verkäste  Gewebssubstanz  oder  dünner  Eiter  entleert. 
Die  Räuder  dieser  Hautgeschwüre  sind   unterhöhlt,    was  man  durch  die 


VorlcsmiM'  ;;().      (';,i.i(cl    XV.  4p,'J 

Untersuchung-  mit  der  Sondo  sehr  Iciclit  conslalirfMi  kaiiii.  In  der  l{ege] 
sind  es  Geseliwiirc  von  exquisit  atoiiisclicni  Charakter.  Sie  sehen  aus 
dieser  iSelnlderung-,  dass  diese  Form  von  unterminirten,  siiuulscn  Ge- 
schwüren allerdings  nur  dui-eh  die  Art  der  Entstehung-  bedingt  ist,  die 
g-elegentlich  unter  den  verschiedensten  allgemein -constitutionellen  Ver- 
hältnissen vorkommen  kann ;  die  Erlalirung  lehrt  Jedoch,  dass  sich  diese 
Art  von  Gescliwiircn  vorwiegend  häufig  bei  scrophulöscn  Individuen 
tindet,  und  dies  hat  die  Veranlassung-  g-egeben,  von  solclicn  atonischen  Ge- 
schwüren mit  unterminirten  Rändern  auf  Scroi)hulose  zurückzuschliessen. 
Dieser  Öchluss  wird  in  den  meisten  Fällen  richtig-  sein,  wenngleich  nicht 
immer  unbedingt. 

2.  Die  lupösen  Geschwüre.  Unter  Lupus  (Wolf,  wegen  des 
fressenden  Charakters  der  Geschwüre)  versteht  man  eine  Krankheit, 
welche  sich  in  der  Entwicklung-  kleiner  Knötchen  in  der  oJjerflächlichen 
Schicht  der  Haut  zu  erkennen  g-iebt;  diese  Knötchen  können  sich  in  ver- 
schiedener Weise  weiter  ausbilden.  Sie  bestehen  aus  Anhäufungen  von 
kleinen  runden  Zellen  mit  g-leichzeitiger  Gefässektasie  und  meist  mit  Er- 
weichung- des  infiltrirten  Gewebes.  In  manchen  Fällen  scheint  auch 
eine  zapfenartig-  in  die  Lupusknoten  hineinwachsende  Epithelialwuche- 
rung  vorzukommen.  Die  Lupusknötchen  können  sich  verg-rössern  und 
confluiren,  so  dass  sie  g-rossknotige  Verdickungen  der  Haut  bilden  (Lupus 
hypertrophicus) ;  auf  ihrer  Oberfläche  bildet  sich  zuweilen  eine  reichliche 
Abschilferung-  der  Epidermis  (Lupus  exfoliativus),  auch  wohl  ein  Ver- 
schwärung-sprocess  aus  (Lupus  exulceraus).  Alle  diese  Formen  können 
sich  mit  einander  combiniren,  auch  kann  man  deren  wohl  noch  einige 
mehr  unterscheiden.  Die  Geschwüre,  welche  bei  der  letzteren  Form 
entstehen,  können  mit  der  Entwicklung  stark  wuchernder  Granulationen 
verbunden  sein  (Lupus  exulcerans  fungosus),  oder  sie  disponiren  mehr 
zu  einem  rapiden  Zerfall  der  Gewebe  (Lupus  exedens,  vorax).  Die  Krank- 
heit etablirt  sich  besonders  häufig-  im  Gesicht,  vorzüglich  an  der  Nase, 
den  Wangen  und  Lippen;  die  furchtbarsten  Zerstörungen  werden  dadurch 
hervorgebracht.  Die  ganze  Nase  kann  durch  lupöse  Ulceration  verloren 
gehen,  ebenso  auch  die  Lippen.  Ich  sah  einen  Fall,  in  welchem  die 
ganze  Gesichtshaut,  Nase,  Lippen,  Augenlider  zerstört  waren;  die  beiden 
Augen  waren  durch  Vereiterung  zu  Grunde  gegangen  und  der  zu  Tage 
liegende  Gesichtstheil  des  Schädels  bot  den  entsetzlichsten  Anblick  dar. 
Dieffenbach  beschreibt  einen  solchen  Fall  von  einer  polnischen  Gräfin 
und  vergleicht  den  Anblick  ihres  Gesichts  mit  einem  Todteukopf.  —  Die 
lupösen  Geschwüre  bieten  in  ihrem  Aussehen  keine  durchaus  constanten 
Erscheinungen,  indessen  ihre  Umg-ebung  und  das  Gesammtbild  der  er- 
krankten Hauttheile  erleichtern  die  Diagnose  in  hohem  Grade.  Nur  wenn 
der  Lu])us  an  andern  Körpertheilen,  z.  B.  an  den  Extremitäten  vorkommt 
oder  an  Schleimhäuten,  etwa  im  Eachen,  an  der  Coujunctiva,  ist  die 
Diagnose  schwierig  und   nicht  immer  sicher  zu  stellen;    an  den  Extre- 


AQQ  Von   den   Geschwüren. 

initäten  sind  Verwech.slungen  mit  gewissen  Formen  von  Leprosen,  im 
Eachen  Verweclislungen  mit  syphilitischen  Geschwüren  niclit  nnr  verzeih- 
lich sondern  oft  kaum  zu  umgehen.  Der  Lupus  muss  wohl  in  vielen 
Fällen  als  Allgemeinkrankheit  augesehen  werden,  die  sich  auf  der  Haut 
localisirt.  Ob  man  berechtigt  ist,  eine  besondere  lupöse  Dyskrasie  auf- 
zustellen, ist  zweifelhaft,  indem  sich  sehr  häufig  Lupus  bei  scrophulösen 
Individuen  entwickelt,  so  dass  man  ilm  als  eine  und  zwar  sehr  bösartige 
Erscheinungsform  der  Scrophulose  auffassen  kann.  Ausserdem  tritt  der 
Lupus  auch  als  Theilersch einung  der  Syphilis  auf,  so  dass  man  einen 
Lupus  syphiliticus  und  einen  Lupus  scrophulosus  aufgestellt  hat.  —  Der 
Lupus  pflegt  sich  am  häufigsten  in  den  Jahren  der  Pubertät  zu  entwickeln 
und  ist  bei  weiblichen  Individuen  häufiger  als  bei  männlichen;  seltener 
kommt  er  im  spätem  Lebensalter  zur  Entwicklung;  jenseits  der  vierziger 
Jahre  ist  man  ziemlich  gesichert  gegen  diese  Krankheit. 

Was  die  Behandlung  betrifft,  so  legeich  das  grösste  Gewicht  zu- 
nächst auf  die  örtliche  Behandlung,  besonders  bei  der  ulcerativen  Form, 
indem   es   hier   darauf  ankommt,   durch   alle   uns   zu   Gebote   stehenden 
Mittel  das  Fortschreiten  der  Zerstörung  zu  verhindern,   weil   durch  das- 
selbe die  ganze  Gesichtshaut  in  Gefahr  ist,    und  die  innerlich  anzuwen- 
denden Mittel  nur  äusserst   langsam  wirken.     Es  handelt  sich,   wie  bei 
allen  rasch  um  sich  greifenden  Geschwürsprocessen,  auch  hier  um  eine 
gründliche  Zerstörung  des  Geschwttrsgrundes  und  der  Geschwürsränder, 
um  eine  Aetzung,  welche  bis  in  das  gesunde  Gewebe  hineinreicht;  man 
bedient  sich  gewöhnlich  des  Cauterium  potentiale  und  wendet  Argentum 
nitricum  oder  Kali  causticum  in  Form  eines  Stiftes  an,    den  man  in  die 
durch  Lupus  erweichten  Hauttheile  einsenkt.     Auch  kann  man  Aetzmittel 
in  Pastenform  gebrauchen,  vorzüglich  die  Chlorzinkpaste,  w^elche  am  ein- 
fachsten so  bereitet  wird,  dass  man  Chlorzink   mit  Mehl   oder  Amyluni 
vermischt    und    mit    einigen   Tropfen    Wasser    zu    einem    Brei    anrührt, 
den  man  auf  das  Geschwür  aufstreicht.     Um  rascher  zum  Ziel  zu  kommen 
und  das  Aetzmittel  intensiver  einwirken  zu  lassen,   ist  es  zweckmässig, 
mit   dem  Myrthenblatt   einer  Sonde    oder   einem  kleinen   scharfraudigen 
Löffel  (Volkmann)  den  Geschwürsgrund  auszukratzen,  die  Blutung  zu 
stillen  und  erst  dann  das  Aetzmittel  wirken  zu  lassen.     Ich   ziehe  von 
den  gebräuchlichen  Aetzmitteln  das  Kali  causticum  entschieden  vor,  weil 
es  sich  am  schnellsten  mit  den  Geweben  verbindet  und  daher  der  Schmerz 
am  kürzesten  dauert.     Man  kann  eine,  solche  Aetzung  sehr  wohl  in  der 
Chloroformnarkose  vornehmen,   so   dass  der  Kranke,   wenn  er  erwacht, 
nur  noch  ein  massiges  und  erträgliches  Brennen  empfindet.    Das  Argentum 
nitricum   verursacht  am  längsten  Schmerz,    hat  aber   dadurch,    dass  es 
weniger  rasch  zerfliesst  als  das  Kali  causticum  für  die  Aetzung  mancher 
Körpertheile  entschiedene  Vortheile.  —  Ist  der  Aetzschorf  abgestosseu, 
so  bildet  sich,  falls  die  Aetzung  genügend  war,  eine  gute  Granulations- 
fläche, welche  in  der  gewöhnlichen  Weise  benarbt.     In  dieser  Narbe  ent- 


VorlosmiK-  ."-n.     Ciipilol   XV.  489 

stellt  nicht  Iriclit  ein  iioiior  Lupus;  (l:iss  sich  ;il)cr  in  der  Umgebung'  neue 
Knötchen  entwickeln,  kann  die  Aet/jiug  niclit  vcrliindern.  —  P'lir  die 
exfoliative  und  liy})ertr()[)hischc  Koini  des  Lupus  ist  die  Tjcstreichuug 
mit  Jodtinctur  das  ))este  örtliche  Mittel;  dieselbe  wird  zweckmässig  mit 
etwas  Glycerin  Aermischt,  um  die  Einwirkung  weniger  intensiv  zu  maehen. 
Ich  liabe  wohl  Lu])usknoten  unter  dieser  Ikdiandlung  schrumpfen  scdien, 
A'or  Recidiven  schützt  dieselbe  Jedoch  nicht.  Ludlich  kann  man  in 
numchen  Fällen  die  lupösen  Ilautstellcn  mit  Vortlieil  excidiren.  —  Von 
den  Innern  Mitteln  habe  icli  nur  bei  einer  conscrpuMiten  Cur  mit  Leber- 
thran,  der  etwa  zu  4 — 6  Esslöft'eln  im  Tage  genommen  wird,  P^rfolg  ge- 
sehen, doch  muss  eine  solche  Cur  Jalire  lang  fortgesetzt  werden.  Die 
Curen  mit  Holztränken  sind  nur  bei  Lupus  syphiliticus  wirksam.  Curen 
mit  Arsenik,  einem  bei  andern  chronischen  Hautkrankheiten  sehr  schätz- 
baren Mittel,  helfen  beim  Lupus  fast  nichts.  In  der  Schweiz  war  der 
Lupus  sehr  selten.  Meine  Erfahrungen  stützen  sich  liauptsächlich  auf 
die  Berliner  Klinik,  und  wenn  ich  Ihnen  mein  Glaubcnsbekenutniss 
in  Bezug  auf  die  Wirkung  der  inneren  Mittel  geben  soll,  so  geht  dies 
dahin,  dass  die  lupöse  Dyskrasie  in  vielen  Fällen  wie  die  Scrophulose, 
im  Lauf  der  Jahre  von  selbst  erlischt,  in  einigen  Fällen  jedoch  un- 
heilbar ist. 

3.  Die  scorbutischeu  Geschwüre.  Beim  Öcorbut  oder  Scliar- 
bock  (pag.  466)  entstehen  an  vielen  Stellen  der  Haut,  und  besonders  auch 
in  den  Muskeln  Blutextravasate;  das  Zahnfleisch  schwillt  an,  wird, 
bläulichroth,  es  bilden  sich  Geschwüre  darauf,  welche  sehr  leicht  bluten; 
Blutungen  aus  dem  Darm,  eine  allgemeine  Abmagerung  und  ^:'chwäche 
kommen  hinzu,  und  viele  dieser  Kranken  sterben  in  einem  elenden  Zu- 
stande. In  dieser  schlimmen  Form  kommt  der  Scorbut  besonders 
endemisch  an  den  Küsten  der  Ostsee  und  bei  Schiffsmannschaften  vor, 
die  eine  lange  Seereise  machen  oder  gemacht  hal)en.  In  letzterem  Fall 
schiebt  man  die  Krankheit  gewöhnlich  auf  den  andauernden  Genuss  von 
gesalzenem  Fleisch.  Im  Binnenlande  zeigt  sich  eine  Art  von  acutem 
Scorbut,  wohin  der  Morbus  maculosus,  die  Purpura  und  Aehnliches 
gehört.  Ein  auf  das  Zahnfleisch  und  die  Mundschleimhaut  localisirter 
Scorbut  ist  in  allen  Ländern  sehr  häufig  bei  Kindern:  das  Zahnfleisch 
schwillt  an,  wird  dunkel  blauroth,  blutet  bei  der  leisesten  Berührung, 
und  es  bilden  sich  Geschwüre  darauf,  welche  mit  einem  gelben, 
schmierigen,  aus  Eiter,  Pilzen  und  Gewebsfetzen  bestehenden  Belag  be- 
deckt sind.  Diese  Form  xler  Krankheit  ist,  wenn  sie  nur  in  dieser 
Weise  auftritt  und  frühzeitig  behandelt  wird,  gewöhnlich  rasch  zu  be- 
seitigen. Man  bepinselt  das  Zahnfleisch  täglich  zwei  Mal  mit  einem  aus 
Vo — 1  Drachme  Salzsäure  oder  Borax  und  1  Unze  (oder  3,000—5,000 
auf  35,000  Grammes)  Honig  bestehenden  Saft,  giebt  innerlich  Mineral- 
säuren in  einer  dem  kindlichen  Alter  entsprechenden  Dosis  und  Form 
und  ordnet  eine  leicht  verdauliche  Diät  an;  wenn  diese  Mittel  gewissen- 


^OQ  Von  den  Geschwüren. 

liaft  g-ebrauclit  werden,  wird  die  Krankheit  sehr  bald  schwinden.  — 
Der  allgemeine  endemische  Scorbut  ist  sehr  schwer  lieilbar,  besonders 
weil  es  in  den  meisten  Fällen  unmöglich  ist,  die  Kranken  den  schäd- 
lichen endemischen  Verhältnissen  zu  entziehen.  Die  Behandlung-  mit 
Säuren  wird  auch  hier  besonders  empfohlen. 

4.  Die  syphilitischen  Geschwüre.  Die  Merkmale,  welche  man 
als  besonders  charakteristiscli  für  die  syphilitischen  Geschwüre  anzu- 
geben pflegt,  beziehen  sich  vorwiegend  auf  das  primäre  Chancregeschwür, 
und  zwar  auf  den  weichen  Chancre.  Dasselbe  beginnt  als  Bläschen 
oder  Pustel,  entwickelt  sich  zu  einem  etwa  Erbsen-grosseu  Geschwür 
mit  gerötheter  Umgebung  und  gelblichem,  speckigem  Grund.  Das 
Geschwür  des  indurirten  Chancre  sieht  anders  aus;  es  entsteht  dabei 
zuerst  ein  Knötchen  in  der  Haut  der  Eichel  oder  des  Präputiums,  und 
dieses  Knötchen  ulcerirt  von  der  Oberfläche  her  nach  Art  anderer  Haut- 
geschwüre; es  nimmt  in  der  Regel  einen  atonischen,  torpiden  Charakter 
an,  häufig  mit  vorwiegender  Neigung  zum  Zerfall  des  Gewebes.  Die 
breiten^  Condjdome,  eine  mildere  Erscheinungsform  der  constitutionellen 
Syphilis  haben  einen  entschieden  wuchernden  Charakter  und  stellen, 
genau  genommen,  nichts  anderes  als  kleine,  oberflächliche,  sehr  circum- 
scripte,  fungöse  Hautgescliwüre  dar,  welche  besonders  am  Perinäum,  am 
After  und  au  der  Zunge  vorkommen.  Die  in  späteren  Perioden  bei 
allgemeiner  Lues  auftretenden  Geschwüre  der  Haut  haben  häufig  eine 
stark  iudurirte,  braunroth  gefärbte  Umgebung,  Kreis-  oder  Hufeisenform 
und  tragen  Avieder  mehr  den  atonischen  Charakter  an  sich.  Sie  sehen 
hieraus,  dass  auch  das  Aussehen  des  syphilitischen  Geschwürs  ausser- 
ordentlich wechselnd  sein  kaun,  und  daher  der  Rückschluss  von  dem 
Aussehen  des  Geschwürs  auf  constitutionelle  Syphilis  nicht  immer  so 
sicher  zu  machen  ist.  —  Die  Behandlung  des  syphilitischen  Geschwürs 
muss  eine  vorwiegend  innerliche  sein  und  sich  gegen  die  constitutionelle 
Syphilis  richten.  Oertlich  muss  man  intensive  x\etzmittel  anwenden, 
wenn  die  Zerstörung  sehr  rasch  vor  sich  geht. 


Von  älteren  Chirurgen  sind  noch  eine  Reihe  bisher  nicht  erwähnter 
Geschwürsformen  unterschieden,  welche  charakteristisch  für  die  ursäch- 
lichen Momente  sein  sollten.  Sie  finden  z.  B.,  dass  bei  Rust  in  seiner 
Geschwürslehre  (Helkologie)  von  rheumatischen,  arthritischen,  hämor- 
rhoidalen,  menstrualen,  abdominellen,  herpetischen  u.  s.  w.  Geschwüren  die 
Rede  ist.  Jedoch  ist  es  so  wenig  mir,  als  andern  Chirurgen  der  Neu- 
zeit gelungen,  in  die  Mysterien  dieser  Art  von  Diagnostik  einzudringen; 
es  ist  wohl  jetzt  ziemlich  anerkannt,  dass  dabei  mehr  ein  g:eküusteltes 
System  zu  Grunde  gelegt  wurde,  welches  in  der  älteren  Humoralpatho- 
logie  seine  Wurzel  hatte,  als  kritisch  scharfe  Beobachtung.  Wenn  man 
ganz  vorurtheilsfrei  beobaclitet,  so  wird  man  allerdings  zugestehen,  dass 


Vniifsiin.i;  ;;i.    c'jipiici  xvr.  401 

gewisse  (jioschwiirsroniieii,  zunml  weiiii  sie  an  hcstimtiitcn  Localitätcri 
vorkommen,  einen  Öcliluss  anf  die  ursächlichen  Momente  zulassen;  incless 
ist  das  Aussehen  und  die  Form  der  Cieschwüre  aucli  wieder  sehr  ab- 
hängig von  den  anatomischen  Verhältnissen  der  erkrankten  Thcile  (z.  B. 
auch  von  dem  Faserverlauf  in  der  Haut;  AVerthcim)  und  von  den  vei'- 
schiedcnartig'sten  äusseren  Einflüssen,  so  dass  ni;ni  sehr  vielen  Täu- 
schungen und  Irrthümern  unterliegen  würde,  wenn  man  gar  zu  sehr  das 
Aussehen  des  Geschwürs  als  einen  stets  unverfälschten  Ausdruck  einer 
specifischen,  constitutionellen  Ursache  betrachten  wuUte. 


Vorlesung  31. 
CAPITEL  XVI. 

Von  der  clironischen  EntzüiKhiüg  des  Periostes,  der 
Knochen  und  von  der  Nekrose. 

Chronische  Pei-i  Ostitis  und  Caries  s  up  erfi'ialis.    Symptome.    Osteophytenbildung. 

Osteoplastische,  siippurative  Formen.    Anatomisches  über  Caries.    Aetiologisches.    Diagnose. 

Combination  verschiedener  Formen. 

Meine  Herren! 

Die  chronischen  Entzündungen  der  Knochen  und  des  Periostes,  zu 
denen  wir  jetzt  übergehen,  sind  weit  häufiger  als  die  acuten;  am  häu- 
figsten ist  die  chronische  Periostitis,  nicht  selten  verbunden  mit 
Ostitis  (Caries)  superficialis.  Dieselbe  kann  in  den  frühen  Stadien 
in  Zertheikmg,  dann  in  Eiterung  mit  Geschwülrsl)ildung  auf  der  Ober- 
fläche des  Knochens  übergehen;  damit  verbindet  sich  meist  eine  Auf- 
lagerung von  neugebildeter  Knochenmasse  auf  die  Oberfläche  des 
Knochens;  eine  längere  Zeit  bestehende  Periostitis  wird  niemals  ohne 
Einfluss  auf  den  Knochen  bleiben. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Symptome  einer  chronischen  Pe- 
riostitis. Eine  geringe  Schmerzhaftigkeit  und  massige  Anschwellung 
der  nächsten  Umgebung  des  betroffenen  Knochens  werden  in  den  meisten 
Fällen  die  ersten  Symptome  sein,  mit  denen  sich  geringe  Functions- 
störung  verbindet,  zumal  wenn  die  Krankheit  an  einer  der  Extremitäten 
auftritt.  Die  spontanen  Schmerzen  sind  gewöhnlich  sehr  gering  oder 
können  ganz  fehlen;  Druck  veranlasst  heftigeren  Schmerz,  und  zugleich 
vnrd  man  finden,  dass  der  Eindruck  des  untersuchenden  Fingers  eine 
Zeit  lang  in  der  Haut  markirt  bleibt,  wodurch  sieh  die  Anschwellung 
der  Haut  als  vorwiegend  ödematöse  kund  giebt.  In  diesem  Stadium 
kann  der  Zustand  lange  bestehen  und    ebenso  allmählig,    wie   er    ent- 


492  Von  der  chronischen  Entzündung  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

standen  ist,  sich  wieder  zurückbildeu.  Sie  haben  sich  dabei  vorzüglich 
die  äussere  lockere  Bindegewebsschicht  des  Periostes  als  afficirt  zu 
denken;  in  dieser  besteht  Gefässausdelmuiig,  seröse  und  zellige  Infil- 
tration. 

Unter  ganz  gleichen  Symptomen  wie  den  angegebenen  kann  jedoch 
auch  eine  Periostitis  verlaufen,  welche  zu  gleicher  Zeit  mit  Ostitis 
verbunden  ist,  nur  dass  in  letzterem  Fall  die  spontanen  Schmerzen  zu- 
Aveilen  intensiver  sind;  es  treten  dabei  auch  wohl  heftige,  bohrende, 
reisseude  Schmerzen  zur  Nachtzeit  auf.  Hat  ein  solcher  Process  Monate  lang 
bestanden  und  bildet  sich  dann  wieder  zurück,  so  findet  sicli  der  afficirte 
Knochen  verdickt,  höckerig  auf  der  Oberfläche.  Hal)en  Sie  Gelegenheit, 
einen  solchen  Fall  anatomisch  zu  untersuchen,  so  finden  Sie  Folgendes: 
die  beiden  Schichten  des  Periostes  sind  nicht  genau  von  einander  zu 
unterscheiden,  beide  sind  zu  einer  speckig  aussehenden  Masse  von  ziemlich 
derber  Consistenz  geworden;  bei  mikroskopischer  Untersuchung  finden 
Sie  das  Gewebe  aus  einem  reichlich  von  Zellen  durchsetzten,  und  von 
erweiterten,  mehr  oder  weniger  vermehrten  Capillaren  durchzogenen 
Bindegewebe  bestehend.  Dieses  krankhaft  verdickte  Periost  ist  von  der 
Knochenoberfläche  leichter  abziehbar  als  im  Normalzustande;  der  darunter 
liegende  Knochen  (wir  nehmen  einen  Röhrenknochen  an,  z.  B.  die  Tibia) 
ist  auf  seiner  Oberfläche  mit  kleinen  Höckerchen  von  eigenthümlicher, 
zuweilen  Stalaktiten-ähnlicher  Form  besetzt.  Sägen  Sie  jetzt  den  Knochen 
hier  durch,  so  finden  Sie,  dass  diese  Höckerchen  auf  der  noch  sehr 
deutlich  zu  erkennenden  Oberfläche  der  compacten  Corticalsubstauz  eine 
je  nach  dem  Falle  sehr  verschieden  dicke  Lage  poröser,  offenbar  junger, 
neugebildeter  Knochensubstanz  ist,  die  freilich  sehr  innig  mit  der  Corti- 
calschicht  zusammenhängt,  jedoch,  wenn  der  Process  noch  nicht  gar  zu 
alt  ist,  etwa  mit  einem  Meissel  in  zusammenhängenden  Stücken  abge- 
brochen werden  kann.  Hat  der  Process  bereits  sehr  lange  Zeit  bestanden, 
und  ist  die  Verbindung  bereits  sehr  innig  geworden,  so  findet  man,  dass 
die  aufgelagerte  poröse  Knochenmasse  sieh  mehr  zu  einer  compacten 
umgewandelt  hat,  zumal,  wenn  der  Krankheitsprocess  wirklich  abge- 
laufen ist. 

Bleiben  wir  einen  Augenblick  bei  diesen  Verhältnissen  stehen  und 
fragen  wir,  woher  diese  neugebildete  Knochenmasse  kam.  Sie  kann 
entweder  an  der  unteren  Fläche  des  Periostes  von  diesem  oder  von  der 
Oberfläche  des  Knochens  aus  entstanden  sein;  das  erstere  ist  die  allge- 
meine Annahme,  und  man  sieht  darin  gewissermaassen  eine  neuange- 
regte Thätigkeit  des  Periostes,  wie  sie  vor  dem  beendeten  Wachsthum 
des  Knochens  bestand,  wo  ja  an  der  Innenfläche  des  Periostes  stets 
neue  Knocheumassen  in  regelmässigen  Schichten  gebildet  werden.  Mau 
kann  diese  mit  Bildung  von  Osteophyten  (so  heisst  man  nämlich  die 
bei  entzündlichen  Processen  aufgelagerte  junge  Knochenmasse,  von  ooxiov 
Knochen  und  (fvxov  Gewächs)  sich  combinirende  Form  der  Periostitis  als 


VorlosiiiiK  .".I.     Ciipilcl   XVT.  49;-} 

osteoplastische  (von  wrsov  und  nlaoan)  Itildcii,  (ornien)  hczcirlinen, 
ein  Name,  den  ieli  der  Kürze  halber  i^ehranehen  werde.  Indess  theile 
ich  die  eben  entwickelte  Ansicht,  dass  die  Osteophyten  allein  vom  Periost 
ausg-ehen,  nicht,  sondern  bin  iiberzeui;-t,  dass  dieselben  wirklich  aus  iU^v 
Knochenoberthiche  liervorwachsen,  wie  es  der  /^•riechisclie  Name  besagt. 
Die  nnkroskopische  Untersuchung'  zeigt  nämlich,  dass  auch  in  diesem 
Falle,  wie  bei  der  Eiterung-  und  Granulationsentwicklung-  an  dei-  Ober- 
fläche des  Knochens  das  umhüllende  Bindeg-ewehe  der  kleinen  ein-  und 
austretenden  Gefässe  Sitz  der  Neubildung  ist,  welche  aus  den  an  der 
Oberiläche  des  Knochens  mündenden  llaversischen  Canälen  hervorkommt, 
und  die  ersten  Ansatzpunkte  für  die  junge  Knochenbildung'  giebt,  die  sich 
dann  unter  dem  Periost  ausbreitet.  Es  wachsen  diese  verknöchci'nden 
Granulationsknö])lchen  von  Innen  nach  Aussen  gewissermaassen  in  das 
Periost  hinein  und  letzteres  nimmt  dann  erst,  wie  mir  scheint,  einen 
secundären  Antheil  an  den  ganzen  Process.  Die  Form  der  Osteophjien, 
die  höchst  sonderbar  ist,  hängt  von  den  Gefässanlagen,  um  welche  sich 
die  junge  Knochenbildung'  absetzte,  al).  Es  soll  hiermit  keineswegs 
die  unzweifelhaft  feststehende  Thatsache  angegriffen  werden,  dass  auch 
das  Periost  und  el)enso  die  übrigen  dem  Knochen  naheliegenden  Theile 
neue  Knochenmassen  produciren  können,  doch  möchte  ich  hervorheben, 
dass  die  osteoplastische  Periostitis,  genauer  genommen,  eine  osteoplastische 
Ostitis  superficialis  ist.  Praktisch  hat  diese  subtilere  Unterscheidung 
bisher  keinen  Werth.  Die  Osteophyten  sind  das  Product  einer 
entzündlichen  Reizung  des  Periostes  und  der  Knochenober- 
fläche; sie  sind  genau  dasselbe,  was  wir  bei  Fracturen  Callus 
nennen,  und  entstehen  auf  gleiche  Weise.  Ich  will  gleich  hier  be- 
merken, dass  die  mit  Osteophytenbildung  ohne  Eiterung  verlaufende 
Periostitis  besonders  manchen  Formen  von  constitutioneller  Syphilis 
eigenthümlich  ist.  Die  Dolores  osteocopie,  welche  bei  inveterirter  Lues 
ausserordentlich  heftig  im  Kopfe  und  im  Schienbein  wnthen  können,  sind 
fast  immer  durch  osteoplastische  Periostitis  und  Ostitis  bedingt. 

Nach  meinen  P>eobachtungen  ist  fast  jede  chronische  Periostitis  im 
Anfang  eine  osteoplastische;  alle  übrigen  Ausgänge  gehen  bald  früher, 
bald  später  daraus  liervor;  mit  anderen  Worten:  die  chronisch- ent- 
zündliche Ernährungsstörung  im  Periost  und  an  der  Ober- 
fläche des  Knochens  führt  nicht  direct  zur  Zerstörung  des 
Gewebes,  sondern  sie  regt  sofort  eine  zellige  Infiltration  an, 
welcher  die  Gewebsbildung  auf  dem  Fusse  folgt. 

Demnächst  häufig  ist  die  suppurative  Form  der  Periostitis; 
sie  kann  ohne  wesentliche  Betheiligung  des  Knochens  verlaufen.  Rufen 
Sie  sich  die  früher  erwähnten  Symptome  zurück:  ödematöse  Schwellung 
der  Haut,  Schmerz  bei  tieferem  Druck,  in  geringem  Grade  auch  bei  Be- 
wegungen der  Extremität;  dieser  Zustand  blieb  lange  Zeit  unverändert; 
dann  aber  tritt  nun  allmählich  stärkere  Anschwellung  hervor,  eine  nicht 


494 


Von  der  chronischen  Entzündung  des  Periostes,,  der  Knochen   etc. 


ganz  genau,  doch  ziemlich  umgrenzte  unverschiebhare  Gesehwulst  von 
teigiger  Cousistenz;  nach  und  nach  wird  auch  die  Haut  geröthet  und 
die  Geschwulst  bietet  deutliches  Fluctuationsgefiihl  dar ;  hiermit  können 
vielleicht  4—6  Monate  vergehen  und  wieder  bleibt  die  Geschw^ulst  län- 
gere Zeit  unverändert.  Der  Schmerz  hat  sich  wohl  etwas  gesteigert 
und  die  Function  ist  mehr  gestört.  Ueberlässt  man  die  Sache  ganz  sich 
selbst,  so  wird  sich  der  jetzt  offenbar  entwickelnde  kalte  Abscess  eröff- 
nen, und  es  wird  ein  dünner,  mit  Flocken  gemischter  Eiter  ausfliessen. 
Führen  Sie  durch  die  enge  Abscessöffnung  eine  Sonde  ein,  so  gelangen 
Sie  mit  derselben  in  eine  mit  Granulationen  ausgekleidete  Hölile.  ^'avten 
Sie  die  spontane  Eröffnung  des  Abscesses  nicht  ab,  sonderu  machen 
früher  einen  Einschnitt  in  die  dünne  Haut,  so  ist  es  möglich,  dass  sich 
gar  kein  Eiter  entleert,   sondern  dass  Sie  die  ganz  deutlicli  fluctuirende 

Geschwulst  aus  gallertiger,    rother  Granu- 
Fig.  83.  lationsmasse  bestehend    finden;    in    andern 

Fällen  befindet  sich  im  Centrum  der  Ge- 
schwulst etwas  Eiter;  in  noch  andern  Fällen 
besteht  die  ganze  Gescliwulst  aus  Eiter.  — 
Aus  dem,  was  ich  Hmen  früher  über  die 
anatomischen  Verhältnisse  bei  der  chroui- 
scben  Entzündung  gesagt  habe,  können  Sie 
diese  Verschiedenheiten  bei  der  Eröffnung 
solcher  Entzündungsheerde  sehr  leicht  ab- 
leiten. Denken  Sie  sich  in  dem  serös  und 
plastisch  infiltrirten  Periost  eine  reichliche 
Gefässentwicklung  mit  gleichzeitiger  Infil- 
tration von  Wanderzellen  und  Umwandlung 
des  Bindegewebes  zu  einer  gallertigen  In- 
tercellularsubstanz  auftretend ,  so  wird 
dasselbe  zu  einer  schleimigen  Grauulations- 
masse  metamorphosirt;  diese  kann  bald 
früher,  bald  später  zu  Eiter  verflüssigt 
werden,  und  es  entwickelt  sich  daraus 
finaliter  ein  Abscess.  Geht  der  ganze  Process 
der  Infiltration  nur  das  Periost  und  die 
darüberliegenden  "Weichtheile  an,  so  bleibt 
der  Knoclieu  ziemlich  unverändert;  etwas 
Neigung  zur  Gewebsneubildung  an  seiner 
Oberfläche  äussert  sich  in  der  Productiou 
einer  Osteophytenlage  unter  und  in  der 
Peripherie  des  periostitischen  Heerdes.  Die 
Möglichkeit  ist  iudess  vorhanden,  dass  der 
Abscess  langsam  ausheilt  nach  Entleerung 
des  Eiters  und  der  frühere  Normalzustand 


Caries  superficialis  der  Tibiu 
nach  Folli  n. 


V()rl(!Siiiig  .".I.      (;;i|.i((>I    XVI.  405 

nahezu  wieder  eintritt.  Eine  solclic  abscodircndc  Periostitis  ohne  Mit- 
Icidcnscliaft  des  Knochens  kommt  in  praxi  /.iiwcilon  vor,  docli  ist  sie 
selten.  Bei  weitem  ]i;lufiü,'cr  ist  es,  dass  der  Kiioclieii,  wenn  aucJi  nur 
ohertläclilich,  mit  orkr;inkt,  dass  sich  also  Ostitis  mit  der  Tei-iostitis  ver- 
bindet, und  zwar  nicht  eine  ossificireude,  sondern  chronisch  su[)|)iir;itive, 
ulcerative  Ostitis,  eine  Caries  superficialis.  Die  Symptome  einer 
solchen  Caries  sind,  bevor  der  Abscess  nach  Aussen  aui'l)i-ic]it,  kaum 
amlere  als  diejenigen  der  suppurativeu  Perictstitis;  ist  der  Abscess  al)er 
geöffnet,  so  kann  man  die  Sonde  in  die  Knochenobei'lläclie  einstossen 
man  fühlt  den  zerfressenen,  rauhen,  morschen  Knochen;  die  Caries  l)e- 
stand  aber  sclion  lange,  bevor  der  Al)scess  erölfnet  wurde,  heimlicli  in 
der  Tiefe  drang  der  Process  in  den  Knochen  vor;  sie  ])estand  vielleiclit 
schon,  als  das  Periost  nur  noch  infiltrirt  erschien,  als  es  sich  noch  in 
dem  Stadium  gallertiger  Granulationsmasse  befand.  Eiterung  ist  also 
nicht  nothwendig  mit  Caries  verbunden,  wenn  sie  auch  oft  hinzutritt. 
Um  uns  dies  nun  Alles  klarer  zu  machen,  müssen  wir  au  Präparaten 
die  chronische  Ostitis  studii-en:  der  ganze  Entwicklungsgang  und  Verlauf 
ist  durchaus  analog  dem  chronischen  Entzündungsprocess  in  den  Weich- 
theilen,  doch  sind  durch  die  Härte  und  schwierige  Auflösbarkeit  der 
Knochen  etwas  andere  Bedingungen  gegeben. 

Wir  haben  im  Lauf  dieser  Vorlesungen  sclion  unendlich  oft  wiederholt,  dass  sich 
die  durch  die  entzündliche  Ernährungsstörung  angeregte  Gewebsneubildung  in  ixnd  aus 
dem  afficirten  Gewebe  entwickelt,  dass  die  straffe  Bindegewebsfaser  unter  reichlicher 
Zelleninfiltration  sich  in  gallertige,  selbst  in  flüssige  Intercellularsubstanz  umbildet.  Wie 
soll  nun  dies  im  Knochen  bewerkstelligt  werden?  An  den  sternförmigen  Knoclienkörperchen 
ist,  so  lange  sie  in  der  Kalkmasse  fest  eingeschlossen  sind,  ebensowenig  etwas  von  pro- 
liferer  Wucherung  sichtbar,  wie  an  den  stabilen  Bindegewebskörperchen  im  Entzündungs- 
hof (pag.  209).  Die  entzündliche  Neubildung  infiltrirt  sich  auch  hier  wie  in  den  meisten 
Geweben  des  Körpers  ins  Bindegewebe,  und  zwar  in  das  Bindegewebe,  welches  die  in 
den  Haversischen  Canälen  und  im  Mark  liegenden  Gefässe  des  Knochens  umhüllt.  Doch 
der  Raum  für  die  massenhaft  auftretenden  Zellen  ist  eng,  und  wenn  die  Zellenauswan- 
derung sehr  energisch  vor  sich  ginge,  so  würde  dadurch  ja  das  Gefäss  im  Knochencana} 
ganz  zusammengedrückt  werden;  hört  die  Circulation  dann  auf,  so  hört  damit  auch  die 
Ernährung  der  jungen  Zellenbrut  auf,  und  der  Tod  des  betreffenden  Knochentheils 
(Nekrose)  müsste  die  Folge  sein.  Oder  es  könnte  ja  auch  die  Ernährungsstörung  im 
Knochengewebe  aus  anderen  Gründen  so  intensiv  werden,  dass  das  Leben  darin  aufhört. 
Ganz  recht!  so  kann  es  gehen;  oberflächliche  Nekrose  kann  sich  auf  diese  Weise  mit 
Periostitis  combiniren,  wovon  später.  Gewöhnlich  ist  die  Zelleninfiltration  in  den  Haver- 
sischen Canälen  keine  so  rapide,  dass  das  Gefäss  zugedrückt  wird;  wir  haben  es  ja  mit 
einem  chronischen  Process  zu  thun;  es  giebt  der  Knocheir  allmählig  nach,  die  Haversischen 
Canälchen  werden  weiter  und  weiter,  die  feste  Corticalsubstanz  des  Knochens  wird  porös^ 
in  den  zu  Maschen  erweiterten  Canälen  liegt  die  junge  Zellenbrut,  mit  gallertigem  Liter- 
cellulargewebe  und  mit  reichlichen  Gefässen  versehen,  eine  interstitielle  intraostale 
Grauulationswucherung.  Denken  Sie  sich,  der  Process  schreite  so  weiter  und  weiter, 
so  verschwindet  immer  mehr  und  mehr  Knochen,  ja  das  ganze  infiltrirte  Stück  kann  auf- 
gelöst werden,  und  an  die  Stelle  des  Knochens  ist  die  entzündliche  Neubildung  getreten. 
Maceriren  Sie  einen  solchen  Knochen,  so  finden  Sie  an  der  erkrankten  Stelle  einen 
Defect  mit  rauhen,    porösen,    wie    angefressenen  W'änden;    in    diesem  Defect   lag  die  ent- 


496 


Von  der  clii-onisehen  Entzündung  des  Periostes,  der  Knofhen  etc. 


zündliche  Neubildung,  welche  den  Knochen  aufgefressen  hat  und  an  seine  Stelle  getreten  war 
(Fig.  55  pag.  205).  Bemerken  Sie  hierbei  wohl:  von  Eiter  ist  bis  jetzt  noch  keine  Rede; 
doch  kann  die  entzündliche  Neubildung  natiirlicli  später  vereitern,  und  wenn  wir  bei 
unserer  Annahme  beharren,  dass  der  Process  im  Periost  entstand,  so  haben  Sie  dann 
einen  oberflächlich  auf  dem  Knochen  liegenden  kalten  Aljscess,  dessen  Wandungen 
ganz  mit  Granulationen  ausgekleidet  sein  können. 

AVeun  Sie  mir  bisher  aufmerksam  folgten,  so  haben  Sie  sclion  gemerkt,  dass  bei 
dem  ganzen  Process  das  Knochengewebe  sich  völlig  passiv  verhält:  es  wird  aufgezehrt, 
und  man  könnte  mit  einem  gewissen  Recht  sagen :  die  chronische  Ostitis  oder  Caries  ist 
eigentlich  nur  eine  chronische  Entzündung  des  Bindegewebes  im  Knochen  mit  Auflösung 
desselben.  Die  entzündliche  Ernährungsstörung  im  Knochen  äussert  sich  dabei  nur  da- 
durch, dass  er  allmählig  entkalkt  und  dann  auch  seine  organische  Grundlage  von  den 
Gefässen  der  entzündlichen  Neubildung  resorbirt  wird.  Ich  leugne  damit  ja  nicht  die 
Ernährungsstörung  im  Knochen,  nicht  die  Ostitis,  sondern  betone  nur,  dass  an  den  histo- 
poetischen  Processen  bei  der  Ostitis  das  Knochengewebe  selbst  keinen  Antheil  hat.  Dies 
ist  meine  Ansicht,  die  jedoch  von  manchen  Chirurgen  und  Anatomen  nicht  getheilt  wird. 
Keine  der  darüber  veröifentlichten  Arbeiten  hat  mich  bisher  überzeugen  können,  dass 
meine  Ansieht  unrichtig  ist.  —  Wie  geht  nun  die  Verzehrung  des  Knochens  vor  sich? 
sollte  nicht  die  mikroskopische  Untersuchung  Aufschlüsse  darüber  geben  können,  ob  die 
Knochenzellen  sich  dabei  verändern  oder  nicht?  Nehmen  Sie  ein  Knochenpartikelchen, 
ein  möglichst  dünnes  Blättchen  aus  einem  cariösen  Heerde  mit  der  Pincette  heraus  und 
betrachten  es  unter  dem  Mikroskop,  so  werden  Sie  die  Ränder  und  Oberflächen  desselben 
in  vielen  Fällen  wie  ansgebissen  finden;  die  Knochenkörperchen  sind  unverändert;  die 
Intercellularsubstanz  vielleicht  etwas  trüber  als  sonst,  doch  niclit  auffallend  verändert;  ein 
Kuoclienschlifl:'  aus  der  Nähe  eines  solchen   cariösen   Heerdes  zeigt  niciits  Anderes.     Sägen 


Fig.  84. 


Dmclisihnitt  eines  cariösen  Knoclientheils.     Caries  granulosa  sen  fungosa, 
Vergrüsserung  350- 


Vorlesung  :;i.     Ciipilcl  xvf.  4<^7 

(idor  sclmeidi'U  Sic  ciiu'ii  'l'licil  eines  curirisiMi  Ileerdes  aus,  und  eiil/.ielieii  dem  Kiioelieii 
seine  Kulicsiilzo  langsam  diireli  Chronisäiire,  iime.lieii  dann  durch  densidljcMi  Schnitte,  die 
Sic  dnrch   Glycerin   klären,   so   I)ek()niinen   Sie   etwa,   vorslxdiendes  Ulhl   (V'i'j;.  S4): 

Die  Knoehenstnckchen  sind  an  ihren  Iv;indern  in  nll  zieniJieh  refreIni;issi,i;(M'  Weise 
wie  ausgel)issen;  in  diese  Defeele  wäelisl.  die  jnnu'e  Nenhildunn-  liinein.  mit  ihrer  weiteren 
Kntwickhmg  gellt  glcichmässig  die  Auflösung  der  Kalksalze  und  die  Uesmiiiidu  der  orga- 
nischen Gewebsgnindlage  des  Knochens  Hand  in  Hand;  die  i\n(iehenkrj||ierilien  hieihiii 
dahei  unverändert,  von  ihnen  aus  erfolgt  keine  Anflösung,  man  sitdit  sie  zuweilen  hall) 
/(M'slürt  am  Rande  eines  Knoehenstückchens.  Was  aus  den  Zellen  wird,  die  in  ihnen 
liegen,  lässt  sieh  kaum  sagen,  sie  sind  Tuiter  den  unzähligen  jungen  /idlen  der  entzünd- 
liehen  Nenhildiing,  nnter  die  sie  gerathen,  nicht  mehr  zn  kennen;  möglich,  dass  sie,  eiinnal 
ans  ihrem  Käfig  befreit,  znr  Vermehrung  der  Zellenbrnt  durch  Theilnng  beitragen,  wie 
von  einigen  Beobachtern  (0.  Weber,  Volkmann,  Heitzmann,  u.  A.)  angenonunen 
wird,  möglich,  dass  sie  zu  Grunde  gehen;  jedenfalls  tragen  sie,  soweit  man  dies  aus  den 
Kormenveränderungen  überhaupt  bestimmen  kann ,  nicht  zu  der  Auflösung  des  Knochens 
hei.  Wodurch  aber  der  Knochen  hierbei  aufgelöst  wird,  das  ist  ein  bisher  nicht  gelöstes 
Räthsel.  Lebende  wie  todte  Knochen  können  bis  zu  einem  gewissen  Grade  von  den 
interstitiellen  Knochengranulationen  aufgezehrt  werden.  Ich  habe  Ihnen  früher,  wenn  Sie 
sich  an  die  Operation  der  Pseudarthrose  durch  Einschlagen  von  Elfenbeinzapfen  erinnern 
wollen  (vergl.  pag.  242),  erzählt,  dass  die  Elfenbeinzapfen  auf  ihrer  Oberfläche  raidi 
cai'iös  werden;  der  Process  ist  dort  ganz  derselbe,  und  gerade  diese  Beobachtung  ist, 
ausseiest  interessant  und  wichtig  als  Stütze  dafür,  dass  der  aufzusaugende  Knochen  selbst 
zu  seinem  Anflösungsprocesse  bei  Caries  nicht  nothwendig  etwas  beizutragen  braucht,  son- 
dern eine  ganz  passive  Rolle  dabei  spielen  kann;  obgleich  in  den  Lacunen  dieser  Elfen- 
beinzapfen die  Granulationen  fest  und  eng  haften ,  so  gehen  dieselben  doch  sicher  nicht 
aus  dem  todten  Elfenbein,  sondern  aus  dem  gereizten  Knochen  um  dasselbe  hervor. 
— ■  Sehr  häufig  findet  man  in  diesen  Gi'anulationen  ,  und  zwar  einer  lacunäi-en 
Erosion  unmittelbar  anliegend ,  vielkernige  Eiesenzellen  in  besonders  üppiger  Bildung. 
Kölliker,  welcher  diese  Zellen  auch  an  der  Markhöhle  wachsender  Knochen  fand,  wo 
ebenfalls ,  wie  ich  schon  früher  beobachtet  hatte ,  lacunäre  Erosionen  als  Ausdruck  eines 
Resorptionsprocesses  vorkommen ,  bringt  sie  in  eine  ganz  innige  Beziehung  zur  Knochen- 
resorption und  nennt  sie  daher  „Osteoklasten"  (von  hattov  und  xläco,  xkc'caau)  brechen). 
Wegener  wies  nach,  dass  sich  diese  Riesenzellen  zumal  von  den  Wandungen  der  Ge- 
fässe  aus  bilden  und  von  den  Gefässen  der  Pacchionischen  Granulationen  aus  die  so  häufig 
an  der  Innenfläche  des  Schädels  sich  vorfindenden  kleinen  löchrigen  Defecte  durch  Auf- 
sai;gung  der  Knochensubstanz  zu  Stande  bringen.  —  Um  dem  Vorwurf  entgegenzutreten, 
als  statuire  ich  nur  diese  Form  der  Knochenverzehrung,  bei  welcher  die  erwähnten 
Bildungen  an  der  Oberfläche  vorkommen,  muss  ich  anführen,  dass  ich  früher  schon  darauf 
aufmerksam  gemacht  habe,  dass  die  Elfenbeinzapfen  bei  der  Pseudarthrosen- Operation 
nicht  immer  an  ihrer  Oberfläche  rauh  werden,  sondern  glatt  bleiben  können  und  doch 
an  Masse  eingebüsst  haben,  wie  sich  durch  Wägung  der  Elfenbeinzapfen  vor  und  nach 
der  Operation  nachweisen  lässt.  — 

Die  obige  Scliilderimg-  der  morpliologisclien  Veräuderuugeu  cariöser 
Knochen,  die  R.  Volkmann  sehr  treifend  als  lacunäre  Corrosion 
bezeichnet,  und  die  zuerst  durch  Howship  bekannt  wurden,  ist  jetzt 
wohl  allgemein  als  richtig-  anerkannt,  wenngleich  hierüber  auch  andere 
Anschauungen  herrschen,  die  Sie,  wenn  Sie  der  Gegenstand  specieller 
interessirt,  in  der  Cellularpathologie  von  Virchow,  dem  Atlas  von 
Förster  und  den  classischen  Arbeiten  Volk  mann 's  über  Knochen- 
krankheiten nachlesen  mögen. 

Billruth  cliir.  l'iUIi.  u.  Tlier.   7.  Aufl.  32 


498  ^•'•'i  '^'^''  flii'i'i'isflion  Eiirziindung  «les  Periostes,  der  Knoolien  etf. 

Eins  müssen  wir  jedoch  noch  ins  Auge  fassen.  Es  wäre  nämlich 
sehr  wohl  denkbar,  dass  die  Knochensnbstanz,  in  ihrer  Ernährung  beein- 
trächtigt, anfinge,  in  ganz  minimale  Partikelchen  feinster  Pulverform  zu 
zerfallen  und  zu  zerbröckeln;  dies  würde  zumal  leicht  zu  Stande  kommen, 
wenn  dem  Knochen  zuvor  die  organische  Substanz  entzogen  ist.  ■Man 
könnte  sogar  geltend  macheu,  dass  dies  das  Primäre  bei  der  Knochen- 
verschwär ung  oder  Caries  sei,  und  Diejenigen,  welche  bei  den  Ge- 
schwüren der  Weichtheile  den  Zerfall  des  Gewebes  als  das  Primäre,  die 
entzündliche  Neubildung  als  das  Secundäre  betrachten,  w^erden  dieselbe 
Anschauung  auch  auf  den  Knochen  anwenden.  Gegen  die  Verallgemeine- 
rung einer  solchen  Auffassung  des  Verschwärungsprocesses  sprechen  meine 
Beobachtungen  ganz  entschieden,  w'ie  ich  Ihnen  sclion  früher  (pag.  478) 
bemerkte,  und  ich  kann  das,  was  ich  an  den  Weichtheilen  nicht  stich- 
haltig fand,  auch  au  den  Knochen  nicht  gelten  lassen.  Indess,  dass 
einzelne  Knochenpartien  auch  wohl  zerbröckeln  und  bei  einer  eitrigen 
Ostitis  solche  kleinen  Knochenpartikelchen  im  Eiter  gefunden  werden, 
ist  ganz  zweifellos.  Hier  hätten  wir  es  dann  mit  einer  Nekrose  in 
kleinster  Form  zu  thun;  ein  solches  Absterben  von  Gewebspartikeln 
kommt  ja  auch  an  den  Weichtheilen  vor,  sowohl  beim  acuten  als  beim 
chronischen  Entzündungsprocess ;  Sie  w'erden  sich  wohl  erinnern,  dass 
wir  davon  gesprochen  haben ;  als  Eegel  bei  Caries  ist  es  keinesfalls  auf- 
zustellen :  es  wird  nur  gelegentlich  bei  Caries  mit  Eiterung  oder  Verkäsuug 
vorkommen.  Hier  kann  es  sogar  begegnen,  dass  selbst  grössere  Knochen- 
stückchen wirklich  nekrotisch  werden,  und  für  diese  Combiuation  von 
Caries  mit  Nekrose  hat  mau  dann  den  besonderen  Namen  Caries 
necrotica. 

Wir  haben  bisher  die  Bezeichnung  Caries  durchaus  synonym  mit 
chronischer  Ostitis  und  Knochenauflösung  gebraucht,  und  so  geschieht 
es  jetzt  sehr  vielfach;  indess  früher  brauchte  man  den  Namen  Caries 
nur  für  den  mit  Eiterung  verbundenen  Verschwärungsprocess,  für  offnes 
Kno  chengeschw'ür.  Der  innige  Zusammenhang  zwischen  chronischer 
Entzündung  und  Verschwärung,  den  wir  früher  (pag.  475)  an  den  ATeich- 
theilen  nachgewiesen  haben,  besteht  ebenso  zwischen  Ostitis  chronica  und 
Caries.  Am  besten  wäre  es  vielleicht,  den  Namen  Caries  nach  und  nach 
ganz  fallen  zu  lassen  und  ihn  durch  Ostitis  mit  verschiedenen  Beisätzen,  wie 
rareficirend,  osteoplastisch,  ulcerös,  granulös  etc.  zu  ersetzen;  —  oder  den 
Ausdruck  Caries  nur  für  Knochendefecte  zu  brauchen,  welche  durch 
lacunäre  Erosionen  entstanden  sind;  an  macerirteu  Knochen  ist  das  immer 
leicht  zu  erkennen;  da  ist  man  auch  nie  zweifelhaft  ob  man  den  vorlie- 
genden Knochen  cariös  nennen  soll,  denn  da  nennen  wir  alle  solche  De- 
fecte  cariös,  Avelche  wie  ausgefressen  aussehen;  man  könnte  sie  wohl  ganz 
passend  lacunäre  oder  Corrosious-Defecte  nennen.  Bei  der  Unter- 
suchung au  Lebenden  bedarf  es  aber  schon  genauerer  Kenntnisse  und 
reiclier  Erlahrung,  um  mit  Sicherlieit  zu  entscheiden,  ob  ein  Knochen.,  in 


Vdrlcsmi--  :\\.     (';ipilcl    XVI.  4<)lJ 

Avclclicn  wir  mit  einer  Sonde  IimcIiI  ein(lrini;'en  nur  ei'Mciclil  isi,  (»der  ol) 
er  aueli  g'rössere  lacimäre  DeCecte  hat.  —  ])is  jetzt  li.'ihen  wir  nur  oIxt- 
tläelilielic  Carics  kennen  ü,'elernt,  später  werden  wir  auch  auf  die  cen- 
trale Caries  konnnen,  die  sich  zur  oberfhieldiclien  verhält,  wie  das  llold- 
i^eschwür  zum  riäclieng'esehwür.  Sie  hal)en  zunächst  am  Knochen  eine 
Ostitis  fung'osa  oder  granulosa  kennen  gelernt  (Virchow's  und 
Volkmann's  Caries  sicca  soll  heissen  Caries  mit  Granulationswiu;he- 
rung  und  Knochenzerstörung'  ohne  Pjiterung),  bei  der  vom  Zerfall  der 
chronisch- entzündlichen  Neul)ildung  noch  nicht  die  l!ede  war,  sondern 
wo  der  Knochen  von  interstitiellem  Granulationsgewebe  (^'om  Granulom) 
durchwachsen  wird.  Keineswegs  ist  dies  immer  in  solchem 
Maasse  der  Fall,  wie  wir  es  jetzt  angenommen  haben.  Denken  Sie 
an  das  atonische,  torpide  Geschwür  der  Weichtheile,  wie  dort  die  Neu- 
bildung schnell  sich  entweder  zu  Eiter  verflüssigt,  oder  verkäst,  oder 
molecular  zerfällt,  und  übertragen  Sie  dies  einfach  auf  die  Neubildung 
im  Knochen,  so  sind  Sie  leicht  orientirt;  auch  die  Caries  erhält  dadurch 
einen  anderen  Charakter;  es  giebt  sehr  torpide,  atonische  Formen 
der  Caries,  bei  denen  die  Neubildung  nur  wenig  Knochensubstanz  zur 
Auflösung  bringt,  dann  zerfällt  oder  verkäst  und  so  am  lebenden 
Organismus  eine  Art  von  Maceration  des  erkrankten  Knochens 
eintritt;  die  Weichtheile  im  Knochen  vereitern;  geschieht  dies,  bevor 
der  Knochen  aufgelöst  ist,  dann  wird  das  ausgeeiterte  Knochenstück 
nekrotisch.  Mangelhafte  Vascularisation  der  Neubildung  trägt  auch 
liier  die  meiste  Schuld  am  Zerfall.  Weshalb  aber  hier  eine  fungöse, 
waichernde,  dort  eine  atonische  Caries  auftritt,  dafür  müssen  wir  die 
Ursachen  im  kranken  Organismus  selbst  suchen.  — 

Andere  Formen  von  Ostitis  werden  wir  bald  noch  kennen  lernen, 
wenn  wir  von  den  primär  im  Knochen  selbst  entstehenden  chronischen 
Entzündungen  zu  "sprechen  haben. 

Die  chronische  Entzündung  des  Periostes  und  der  Knochen  hat 
ihre  Ursachen  hauptsächlich  in  constitutionellen  Leiden,  und  wenn 
auch  eine  Verletzung,  Stoss,  Fall  u.  dgl.  Gelegenheitsursaehe  zu  solchen 
Krankheiten  werden  kann,  so  muss  doch  das  Hauptmoment  im  verletzten 
Theil  oder  im  ganzen  Organismus  liegen,  denn  ohne  dies  würde  der 
Process  seinen  gewöhnlichen  Ausgang  nehmen,  wie  bei  allen  trauma- 
tischen Entzündungen,  und  bald  zu  einem  Abschluss  konuuen.  AVenn 
ein  Trauma  schleichende,  chronische  Entzündungsprocesse  hervorruft, 
so  muss  dies  entweder  in  einer  ganz  eigenthümlichen,  örtlichen  schwer 
ausgleichbaren  Störung,  oder  in  einer  allgemeinen  Disposition  seinen 
Grund  haben;  von  diesen  früher  (pag.  448)  erörterten  Anschauungen  abzu- 
weichen, habe  ich  bisher  keinen  Grund.  —  Besonders  sind  es  Scrophulose 
und  Syphilis,  w^elche  zu  chronischer  Periostitis  und  Ostitis  disponiren, 
und  zwar  entstehen  im  Allgemeinen  bei  Kindern  häufiger  die  fungösen, 
bei  Erwachsenen  häufiger  die  atonischen  Formen  der  Caries.     Es  giebt 


500  '^'^""  '^<'''  flii'O'ii^f'^''"  Entziimlimc;  iles  PeriostPS.  dpr  KiiodiPii  etc. 

aiicli  wahre  Tuberkeln  ira  Knochen,  doch  so  weit  mir  Ijekannt  ist, 
nicht  im  Periost  und  der  Corticalschicht  der  Rührenknochen.  —  Selir 
oft  kommt  aber  chronische  Periostitis  auch  vor,  wo  nichts  von  den 
o-euannten  Dyskrasien  nachweisbar  ist,  wo  man  durchaus  gar  keine 
Ursache  nachweisen  kann-,  zumal  bei  alten  Leuten  tritt  Periostitis  mit 
Caries  manchmal  nach  ganz  leichten  Verletzungen  auf,  und  zwar  in  den 
unangenehmsten  torpiden  Formen.  —  Die  entzündliche  Neubildung  im 
Knochen  wird  Avesentlich  mitleiden,  wenn  der  ganze  Organismus  ver- 
fällt- bei  Kindern,  die  an  Caries  gestorben  sind,  werden  Sie  fast  immer 
die  atonischen  Formen  finden,  denn  da  ist  vor  dem  Tode,  gegen  Ende 
des  Lebens,  als  die  Ernährung  schon  schleclit  war,  die  Neubildung  auch 
zerfallen,  der  kranke  Knochen  schon  bei  Lebzeiten  durch  Eiterung  und 
Jauchung  macerirt.  Die  pathologischen  Anatomen,  welche  die  Caries 
nur  am  Secirtisch  sehen,  kennen  die  granulös-fungöse  Form  selten  genau 
oder  halten  sie  für  die  seltnere;  wenn  man  aber  die  an  Lebenden  aus- 
geschnittenen cariösen  Knochenstücke,  zumal  resecirte  Gelenkenden  von 
Kindern,  oft  untersucht,  wo  der  Process  noch  so  recht  lebendig  in  der 
Entwicklung  ist,  da  lernt  man  die  Sache  anders  beurtheilen  als  in  den 
anatomischen  Sammlungen,  wo  fast  nur  macerirte  Knochen  aufbewahrt 
werden.  —  Wenn  ich  hier  nur  von  fungöser  und  atonischer  Caries  ge- 
sprochen habe,  so  wissen  Sie  wohl,  dass  ich  damit  nur  die  Extreme  der 
wuchernden  und  der  rasch  zerfallenden  Neubildung  bezeichne;  dass  da- 
zwischen noch  mancherlei  verschiedene  Vitalitätsgrade  liegen,  versteht 
sich  von  selbst.  —  Es  ist  nicht  der  Zweck  dieser  Vorlesungen,  alle 
vorkommenden  Nüancirungen  dieses  Processes  zu  erörtern,  wie  es  in 
der  Klinik  geschehen  wird,  sondern  hier  sollen  Ihnen  die  Krankheits- 
bilder an  prägnanten  T3'pen  klar  werden,  Sie  sollen  zunächst  eine 
geistige  Herrschaft  über  das  Material  im  Ganzen  und  Grossen  bekommen, 
und  ich  führe  Sie  daher  nur  so  weit  in  das  Detail  der  Processe  ein,  als 
mir  dies  zur  richtigen  Auflassung  derselben  nothwendig  erscheint. 

Woran  soll  man  nun  aber  erkennen,  ob  der  vorliegende  cariöse 
Process,  den  wir  bisher  nur  mit  der  Sonde  diagnosticirt  haben,  einen 
mehr  wuchernden,  oder  torpiden  Charakter  hat?  werden  Sie  jetzt  mit 
Recht  fragen ;  es  wird  doch  wohl  auf  die  Therapie  einen  Einfluss  aus- 
üben, wie  bei  der  Behandlung  der  Geschwüre  an  den  Weichtheilen. 
Allerdings;  nicht  allein  für  die  Therapie  ist  es  wichtig,  sondern  auch 
für  die  Prognose;  denn  die  recht  torpide  Caries  bietet  entschieden 
schlechtere  Chancen  als  die  fungüse  Form,  schon  weil  sie  mehr  bei 
elenden,  schlecht  genährten  und  bei  alten  Personen  vorkommt.  Die 
Unterscheidung  ist  nicht  schwierig:  bei  den  mehr  Avuchernden  Formen 
ist  die  Anschwellung  der  Weichtheile,  des  Periostes,  der  Haut,  zumal 
der  Gelenkkapsel,  wenn  die  Caries  an  den  Gelenkenden  ist,  oft  sehr 
bedeutend,  alle  diese  Theile  fühlen  sich  schwammig  weich  an;  sind 
Hautöftnungen  vorhanden,  so  quellen  aus  ihnen  wuchernde  Granulationeu 


Voi-Icsmi-  ;;i.     Capilcl   XVT.  501 

liervor  mid  es  fli(;ssl,  S(*lilciinii;'er,  ziUiCr  Syiiovia-äliiiliclicr  l'jicr  ans. 
Untcrsuclicn  Sic  iiiil;  der  Soiidc,  so  fühlcii  Si<'  uWUi  .^•l(;i^*ll  oiitblösstcii 
Knochen,  sondern  müssen  die  Sonde  in  die  (üi'iinnlalitni  hineinstecken, 
oft  ziendieli  tief,  nni  in  den  morschen  Knochen  ein/,ndi-ini^en.  -  I5ei  den 
reclit  atonischen  l^'ormen  ist  die  Haut  dünn,  roth ,  oft  unterminii-t.  Die 
K'i'inder  der  Üefinnng'cn  sind  scharf,  wie  mit  einem  J^ocheiscn  aus^'C- 
schlag'cn,  ein  dünner,  seröser,  zuweilen  übel  rieclicnder,  auch  wohl 
Jauchig'er  Eiter  Hiesst  ans;  Haut  und  Zellgewebe  sind  oft  stark  ödcmatös; 
führen  Sic  die  Sonde  ein,  so  kommen  Sie  sofort  auf  den  cntblösslcn, 
raulien  Knochen,  aus  welchem  die  Wciclitlieile  bereits  ausg'ccitcrt,  ans- 
macerirt  sind.  So  ist  es  in  den  extremsten  Fällen  einer  grossen  licihe; 
manches  liegt  dazwischen. 

x\lles  zusannnengenonnnen,  werden  Sie  sich  jetzt,  denke  ich,  ein 
richtiges  Bild  von  der  Periostitis  und  Caries  superficialis  gemacht  haben.  — 
Fassen  wir  kurz  zusammen,  was  wir  jetzt  von  den  chronischen 
Periost-  und  Knoclienkrankheiten  kennen.  Wir  hatten  chronische  osteo- 
plastische Periostitis  (mit  Osteophytenbildung  ohne  Eiterung),  ferner  sup- 
purative  Periostitis  für  sich,  ferner  mit  Caries  superficialis  conibinirt. 
Jetzt  kann  sich  aber  osteoplastische  Periostitis  mit  snppurativer  Periostitis 
und  Ostitis  conibiniren,  und  diese  Combination  ist  sogar  ziemlich  häufig, 
d.  h.  um  einen  cariösen  Heerd  am  Knochen  l)ilden  sich  rund  herum 
Osteophyten.  Betrachten  Sie  eine  Peihe  von  Präparaten  cariöser  Gelenke, 
so  finden  Sie  rund  um  die  zerstörten  Pai-tien  die  von  der  Oberfläche  des 
Knochens  ausgehenden  Osteophyten;  die  Periostitis,  welche  an  einer  Stelle 
zur  Zerstörung  des  Knochens  führte,  vermittelte  in  der  Umgebung  die 
Knochenneubildung.  Sie  können  dies  ganz  passend  mit  einem  Geschwür 
mit  callösen  Rändern  vergleichen:  Verdickung  durch  Neubildung  in  der 
Peripherie,  Zerfall  im  Centruni.  Doch  nicht  bei  den  atonischen  Formen 
der  Caries  giebt  es  viel  Osteophytenbildungen  in  der  Peripherie,  sondern 
nur  bei  denjenigen,  die  wenigstens  eine  Zeit  lang  den  wuchernden  Cha- 
rakter an  sich  trugen,  ebenso  wie  sich  bei  den  torpiden,  scrophulösen 
Hautgeschwiiren  keine  verdickten  Ränder  finden,  sondern  nur  dort,  wo 
die  Haut  längere  Zeit  vorher  plastisch  infiltrirt  und  verdickt  war.  Also 
auch  am  Knochen  wieder  diese  Combination  von  "Wucherung  und  Zerfall, 
wie  wir  sie  bei  der  Entzündung  schon  so  oft  kennen  gelernt  haben. 


502  Vüii  der  chrouischeii  Eiitzündimg  des  Terioste-s.  der  Knoclien  etc. 


Vorlesung  32. 

Primäre  ehrouische  Ostitis:   Symptome.    Ostitis  malacissans,  osteoplastica,  suppurativa. 

fimgosa.     Chronische  Osteomyelitis.     Caries  centralis.  —  Knochenabscess.     Combinatiouen. 

Ostitis    mit   Verkäsnng.     Knochentuberkehi.    —    Diagnose.     Verschiebungen    der   Knochen 

nach  partieller  Zerstörung  derselben.  —   Congestionsabscesse.  —  Aetiologisches. 

Wir  haben  bis  hierher  von  der  chronischen  Ostitis  nur  so  weit  gespro- 
chen, als  sie  von  Periostitis  abhängig'  ist;  dies  wird  bei  den  Röhreuknoclien 
sich  meist  so  verhalten,  indem  die  Corticalschicht  der  Eöhrenknochen 
nicht  sehr  dis])onirt  ist,  primär  zu  erkranken  ausser  etwa  bei  Syphilis. 
Anders  verhält  es  sich  jedoch  mit  den  spong-iöseu  Knochen  und  Knochen- 
theilen;  in  ihnen  kann  selbstständig  ein  chronisch-entzündlicher  Process 
auftreten,  sowie  auch  in  der  Markhöhle  eines  Röhrenknochens  eine  circum- 
scripte  chronische  Osteomyelitis  entstehen  und  von  innen  her  die  Cortical- 
substanz  in  Mitleidenschaft  ziehen  kann.  Diese  Fälle  bezeichnet  man 
einfach  als  Ostitis;  sie  kann  zum  Knochenabscess,  dann  auch  zu 
Caries  centralis  führen.  Die  Symptome  einer  solchen,  tief  im  Knochen 
entstehenden,  chronischen  Entzündung  sind  in  vielen  Fällen  anfangs 
ausserordentlich  wenig  prägnant.  Ein  dumpfer,  massiger  Schmerz  und 
eine  dadurch  bedingte,  geringe  Functionsstörung  besteht  sehr  häufig  als 
das  einzige  Symptom.  Die  Anschwellung  kommt  erst  spät  hinzu  und  die 
Krankheit  kann  Monate  lang  bestehen,  ehe  man  eine  sichere  Diagnose 
zu  stellen  im  Stande  ist.  Gesellt  sich  dann  aber  stärkerer  Schmerz  bei 
Druck  und  Oedem  der  Haut  hinzu,  nimmt  secundär  auch  das  Periost 
an  dem  chronischen  Entzündungsprocess  Theil,  so  wird  man  nach  und 
nach  auf  die  richtige  Diagnose  geleitet  werden,  um  so  leichter,  wenn 
der  Process  ein  circumscripter  ist,  und  es  schliesslich  zum  Aufbruche 
nach  aussen  kommt,  so  dass  man  dann  durch  die  Oeffnung  mit  einer 
Sonde  tief  in  den  Knochen  hineingelangt,  und  so  die  Krankheit  unmittel- 
bar zur  Erkenntniss  kommt.  In  vielen  Fällen  ist  lange  Zeit  die  Periostitis 
das  Hauptsymptom  der  Ostitis;  erstere  kann  so  bedeutend  in  den  Vorder- 
grund treten,  dass  sie  die  eigentliche  alleinige  Krankheit  zu  sein  scheint, 
bis  man  durch  die  lange  Dauer  des  Processes,  dann  durch  Defecte,  die 
von  innen  nach  aussen  im  Knochen  entstehen,  vielleicht  endlich  auch 
durch  Auslösung  kleinerer  Knochenstttckchen  darauf  aufmerksam  wird, 
dass  die  dauernde  Eiterung  ihren  Grund  in  einem  tieferen  Knochen- 
leiden hat. 

Es  ist  schon  früher  erörtert  worden,  dass  die  chronisch-entzündliche 
Ernährungsstörung  im  Knochen  sich  zunächst  in  seiner  chemischen  Zer- 
setzung der  Art  äussert,  dass  seine  Kalksalze  in  einen  löslichen  Zustand 
umgeändert  werden.     Bisher  haben  wir  nur  Fälle  betrachtet,  in  welchen 


Vorlcsuujj;  o'i.     Ca[)il;i;l   XVf. 


503 


sich  die  Erkraiikim^^'  .-mf  circuinscriptc  Stellen  l)es('lii-ii,iikte  und  von  aussen 
uaeli  innen  vordrani:,'.  Jcl/.t  deidceii  Sie  sieli  in  einem  siiongiöscn  Knoelicii 
z.  1).  in  einem  FussAvurzelkiioelien  oder  in  dev  Diapliyse  eines  llöliren- 
knoeliens,  z.  11.  in  der  unteren  Dia])liyse  der  Tibia  entwickelte  sich  eine 
Ostitis,  hei  welcher  die  Kalksalze  aus  dem  Knoclieni;'ewel)e  schwinden, 
während  die  Gefässe  des  Markes  innnor  reieldicher  werden,  und  das 
Mark  von  Wanderzellen  infiltrirt,  an  Stelle  des  nacli  und  nach  auch 
innner  mehr  und  mehr  schwindenden  Knocheni»'e wehes  tritt.  Wir  haheii 
da  das  Bild  einer  reinen  Ostititis  malacissans  (von  oortov  und 
/tialaKigio,  lateinisch  malacisso,  weich  machen),  eine  Osteomalacia  iii- 
llammatoria,  eine  rareiicirende  Ostitis  (Volk mann).  Die  Knochen 
werden  dabei  enorm  leicht,  ihre  Corticalsubstanz  sehr  dünn. 


X 


4lr 


Ostitis    malacissans.      «    Calcaneus   im    vertifalen   Durchsclmitt,  an    seinem   vorderen    und 

hinteren  Ende  erlirankt,  in  der  Mitte  normal.  —  b  Obei-es  Ende  der  Tibia   im  vertiealen 

Durchschnitt,  ziemlich  hochgradig  porotisch. 


Wie  unter  diesen  Verhältnissen  der  Schwund  zu  Stande  kommt,  hat  Rindfleisch 
gezeigt,  indem  er  nachwies,  dass  die  Kalksalze  zunächst  gelöst  werden  und  in  gleicher 
Weise  schwinden ,  wie  bei  der  lacimären  Corrosion.  Während  aber  bei  dieser  zugleich 
mit  den  Kalksalzen  des  Knochens  auch  das  Knochengewebe  schwindet,  bleibt  letzteres  in 
dem  jetzt  vorliegenden  Fall  noch  eine  Zeitlang  in  dem  extrahirten  Zustiind  bestehen;  es  ist 
aus  den  älteren  Fällen,  in  welchen  auf  diese  Weise  endlich  jede  Spur  von  KnochengeAvebe 
innerhalb  des  Periost  verschwand,  ersichtlich,  dass  das  entkalkte  Knochengewebe  schliesslich 
dann  auch  resorbirt  wird'.  Ob  dies  alier  immer  der  Fall  ist,  oder  ob  es  wieder  mit 
Kalksalzen  imprägnirt  und  wieder  zu  normalen  Knochen  werden  kann ,  mag  vorläufig 
dahin  gestellt  bleiben;  man  weiss  indess  nichts  darüber. 


504  Von  der  chronisdien   Enfzüiiduiig  des  reriostes.   der  KiKuhen  etr-, 

Fig.  86. 


Schwxmd    der    Kalksalze   aua    den    peripherischen   Theilen    der  Knochenbalken    bei    Ostitis 
malacissans.     Vero;rösseriing  350.     Nach   Rindfleisch. 


Ob  immer  diese  xVrt  des  Schwundes,  die  man  mit  Recht  als  Halisteresis  ossium 
(von  cilg  Salz  und  ßrf'o»;fT/f  Beraubung,  Kilian)  bezeichnen  kann,  so  vor  sich  geht,  wie 
sie  sich  in  Fig.  86  zeigt,  ist  noch  nicht  genügend  untersucht;  es  könnte  doch  auch  vorkom- 
men, dass  bei  diesem  Schwund  des  entzündeten  Knochengewebes  Kalksalze  und  Gewebe 
zugleich  resorbirt  werden.  Dass  an  den  Knochenkörperchen  des  entkalkten  Gewebes  auch 
keine  Spur  von  Wucherung  sichtbar  ist,  scheint  mir  wiederum  zu  beweisen,  dass  die 
Knochenzellen  nicht  zu  Proliferation  disponirt  sind. 

Wir  lialjen  hier  also  eine  Form  der  Kuoclieneiitzündimy,  bei  welelier 
der  Schwund  desselben  Aveseutlich  in  den  Vordergrund  tritt;  auch  am 
Knochen  tritt  dabei  nur  eine  meist  äusserst  geringe  Osteoplivtenbildung- 
auf,  die  auch  wohl  ganz  felilen  kann.  Im  Innern  des  Knochens  kommt  es 
gar  nicht  zu  regenerativen  Processen ;  das  durch  reichliche  Vascularisation 
sehr  röthliche  Mark  bleibt  meist  Fett-haltig,  ist  aber  reichlicher,  als  es  sonst 
das  Knochenmark  Erwachsener  zu  sein  pflegt,  von  jungen  Zellen  durch- 
setzt und  ähnelt  dadurch  mehr  dem  Mark  von  Kinderknochen.  In  diesem 
Zustande  kann  diese  Ostitis  malacissans  fortdauernd  bleiben;  in  ihrem 
langsamen  Fortschritt  miisste  sie  zur  vollständigen  Auflösung  des  Knochens 
führen ,  so  dass  nur  Mark  und  Periost  übrig  bleibt  und  der  Knochen 
seiner  Weichheit  wegen  allen  Zug-  und  Druckwirkungen  nachgiebt;  dies 
ist  selten.  —  Nach  meinen  Erfahrungen  ist  es  ebenso  selten,  dass  das 
Mark  in  diesen  Knochen  ohiie  äussere  Veranlassung  zur  Eiterung  oder 
Verkäsung  kommt;  freilich  giebt  es  mancherlei  solche  Veranlassungen, 
wodurch  dies  gelegentlich  herbeigeführt  wird:  gewaltsame  Sondirungen, 
Sondirungen  mit  unreinen  Sonden,  Quetschung,  Stoss,  operative  Eingriife. 
Eine  Ausheilung  dieser  Ostitis  durch  Neubildung  von  Knochen  in  die 
Lücken  des  alten  liinein,  konnnt  bei  geringereu  Graden  gewiss  oft  vor; 


Viirlt'Siiiu 


ciiihii,'!  xvr. 


n05 


sie  yicli   in    Ivölirenknochcn  mächtig'   ent- 


Via.  87. 


Iiolio  Orjulc  dicsci-  l\i';Mikliei(   lici  in;iraiiti,sclicii  fiulividiieii  sind  milicübiir 
iiuliciron  die  Aui})ut;ili(»ii. 

Die  Ostitis  ()stc<»])lnsti(';i  ist  dus  WidcM'spicl  der  Ostitis  iii;i,l;i 
ciissJiiis ;  ob  die  I'^niäliruni^sstöriuii;',  dui'cli  welche  sie  n,ng'ereg't  wird  ii 
allerfrühesteii  Studien  auch  mit  Kntkalkiini;'  des  Knochengewebes  be 
i;-tnid:,  weiss  man  nicht;  der  llau[»tef('eet  der  Störung  ist  abnorme  Ken 
bildung  vom  Knochengewebe  im  Mark  nnd  in  den  Ikiversischcn  Canälen 
Die  Erkranknng  pflegt,  weini 
wickelt,  den  ganzen  Knochen  zu 
gleicher  Zeit  zu  befallen,  auch  wohl 
an  mehren  Knochen  des  Skelets  zu 
gleicher  Zeit  aufzutreten.  Die  Folge 
einer  solchen  Krankheit  kann  die  voll- 
ständige Ausfüllung  der  Markhöhle  mit 
einer  ziemlicli  compacten  Knochen- 
masse,  fernei-  die  fast  vollständige 
Ausfüllung  der  Haversischen  Canäle 
mit  Knocheusubstanz  sein;  meist  ist 
auch  Anbildung  von  Knochen  an  der 
Oberfläche  damit  verbunden.  Der  ganze 
Knochen  wird  dadurch  enorm  schwer 
und  dicker  als  normal;  man  bezeiclinet 
diesen  Process  auch  wolil  als  diffuse 
Hypertrophie  des  Knochens,  häu- 
figer noch  als  Sclerosis  ossium  (von 
0KXt]q6g  trocken,  hart,  coudensirende 
Ostitis,  R.  Volkmann).  Es  werden 
übrigens  nicht  allein  Eöhrenknochen, 
sondern  auch  andere  Knochen  des 
Skelets  gelegentlich  ergriffen,  z.  B.  die 
Gesichtsknochen  und  die  Becken- 
knochen ;  dabei  sind  die  Knochenauf- 
lagerungen dann  auch  wohlschw^ammig, 
waüstig,  knotig,  so  dass  ein  solcher 
Knochen  mit  der  durch  Elephantiasis 
degeuerirten  Haut  Aehnlichkeit  be- 
kommt; die  Processe  haben  in  der 
That  grosse  Verwandtschaft  (Leontiasis 
ossium  Virchow).  Die  iVusfüllung 
der  Diploe  zwischen  der  Tabula  interna 
und  externa  der  Schädelknocheu  mit 

T^         ,  .    .       p     ...  1  .  Sklerosirte  Tibia   und  Femvir:    erstere 

Knochenmasse     ist     ireilich    eine     so  ,    i.   ,,•      ,  .  ,         •     t>  - 

iiaen    l'ollin;    letzteiei-   em    Präparat 
ausserordentlich      häufige,      schon     im       ^us    der   Wiener    pathologisch -anato- 

höheren  Mannesalter  sich  entwickelnde  mischen  Sammhmg. 


506  Von  der  chronischen  Entzündung  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

Veränderung'  dieser  Knochen,  dass  man  sie  kaum  als  etwas  Pathologisclies 
betrachten  kann,  geliört  aber  doch  hierher.  —  Die  Ursachen  der  Knochen- 
sklerose als  eines  primären  Krankheitsprocesses  sind  völlig-  dunkel; 
Syphilis  mag  in  manchen  Fällen  ein  veranlassendes  Moment  dazu  sein, 
indess  gewinnen  die  Knochenbildungen,  welche  bei  Syphilis  vorkommen, 
selten  eine  solche  Festigkeit,  wie  bei  der  eigentlichen  Sklerose.  Mau 
wird  die  Krankheit  nur  in  seltenen  Fällen  am  Lebenden  sicher  diagnosti- 
ciren,  weil  diese  Knochen  beim  Anfühlen  durchaus  nichts  anderes  dar- 
bieten, als  eine  etwas  grössere  Dicke  und  eine  meist  unbedeutende 
Unebenheit  der  Oberfläche. 

Die  Caries  interna  suppurativa  circumscripta  d.h.  die  Ent- 
stehung lacunärer  Defecte  im  Innern  des  Knochens  fängt  in  einem 
Röhrenknochen  meist  primär  als  Osteomyelitis  an.  Der  En  tziindungs- 
heerd  verbreitet  sich  allmählig  auf  die  Innenfläche  der  Corticalsubstanz? 
dieselbe  wird  aufgelöst,  wie  wir  es  früher  bereits  besprochen  haben, 
und  endlich  an  einer  Stelle  vollständig  verzehrt.  Im  Centrum  der  ent- 
zündlichen Neubildung  kann  in  solchen  Fällen  schon  ziemlich  früh  Eiter 
entstehen  und  sich  in  der  Folge  nach  aussen  entleeren.  Dies  ist  diejenige 
Krankheit,  welche  man  speciell  als  Knochenabscess  bezeichnet.  Das 
Periost  bleibt  dabei  nicht  unthätig,  es  wird  verdickt  und  auf  der  anfangs 
noch  nicht  durchbrochenen  von  innen  her  gereizten  Knochenoberfläche 
bildet  sich  auch  in  diesem  Falle  sehr  häufig  neue  Knochenauflagerung. 
Dadurch  wird  der  Eöhrenkuochen  au  der  Stelle,  wo  sich  der  Abscess 
in  seinem  Innern  bildete,  nach  aussen  verdickt,  und  so  macht  es  den 
Eindruck,  als  wenn  der  Knochen  hier  aus  einander  getrieben,  gewisser- 
maassen  aufgeblasen  wäre.  Es  ist  schwer,  oft  unmöglich,  einen  solchen 
Knochenabscess  am  Lebenden  von  einer  circum Scripten  osteoplastischen 
Periostitis  zu  unterscheiden,  und  man  sei  daher  nicht  zu  voreilig  mit 
operativen  Eingriflen.  Diese  chronische  eitrige  centrale  Osteomyelitis 
kann  sich  nach  und  nach  auch  auf  die  ganze  Markhöhle  des  Knochens 
erstrecken.  Vor  Kurzem  sah  ich  einen  solchen  Fall  bei  einem  l5jährig-en 
Mädchen:  das  Mark  des  ganzen  Radius  war  langsam  vereitert,  die  Cor- 
ticalsubstanz  des  Knochens  stark  verdünnt.  Ich  resecirte  die  ganze 
Diaphyse  mit  Zurücklassung  des  verdickten  Periostes  und  der  beiden 
Epiphysen;  die  Heilung  erfolgte  in  3  Monaten,  doch  war  die  Regene- 
ration eine  äusserst  geringe.  — 

Mit  diesem  centralen,  cariösen  Process  kann  sich  aucli  eine  partielle 
Nekrotisirung  einzelner  Knochenpartikel  an  der  Innenfläche  der  Cortical- 
substanz  verbinden,  so  dass  eine  Caries  necrotica  centralis  vorliegt. 
Endlich  giebt  es  nun  noch  Fälle  schlimmster  Art,  avo  sich  chronische, 
innere  und  äussere  Caries  mit  Necrosis  und  mit  theils  eitriger,  theils 
osteoplastischer  Periostitis,  theils  condensirender,  theils  rareficirender 
Ostitis  verbinden.  Alles  au  einem  und  demselben  Röhrenknochen  zugleich 
entwickelt;  an  Aa^rschiedeuen  Stellen  des  Knochens  kommen  dabei  Abscesse 


Vorlrsim.-;  :V2.     Capilcl   XVT.  507 

zum  Vorschein;  inaii  k(immt  mit  der  Sonde  1)ald  in  das  morsclic  Knoclien- 
g'cwebe,  bald  auf  einen  Sequester ;  liier  dringt  man  bis  in  die  Markhölilc 
des  Knoeliens  hinein,  dort  sclieint  nur  die  Oberlhlclie  erkrankt;  der  ganze 
Knoelien  ist  verdickt,  ebenso  das  Periost  und  aus  den  Fistelöffnungen  ent- 
leert sich  dünner  Eiter.  Das  macerirte  rrä})arat  eines  solchen  Knochens 
bietet  einen  sehr  eig-enthümlichcn  Anblick  dar:  die  Oberfläche  ist  bald  mehr 
bald  weniger  mit  porösen  Osteophyten  bedeckt;  zwischen  diesen  findet  man 
hier  und  da  nekrotische  Stücke,  welche  der  Oberfläche  des  Knochens  an- 
gehören; einige  Oeft'nungen  führen  in  die  Markhölile  hinein;  durchsägen 
Sie  diesen  Knochen  der  Länge  nach,  so  finden  Sie  auch  die  Markhölilc 
zum  Theil  mit  poröser  Knochcnmasse  ausgefüllt;  die  Corticalschicht  hat 
ihre  gleichmässige  Dichtigkeit  verloren  und  ist  ebenfalls  porös,  so  dass 
sie  von  den  Osteophytenauflagerungen  nur  noch  an  wenigen  Stellen  unter- 
schieden werden  kann;  in  der  ursprünglichen  Markhöhle  findet  man  hier 
und  da  grössere,  rundliche  Höhlen,  in  einigen  davon  nekrotische  Knochen- 
stücke. Diese  Knochen  befinden  sich  in  einem  Zustand,  dass  eine  Hei- 
lung in  solchen  Fällen  meist  nicht  zu  erwarten  ist,  und  entweder  die 
Exstirpation  derselben  oder  die  Amputation  des  Gliedes  gemacht  wer- 
den muss. 

Ganz  ähnlich  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  Caries  in  den  kurzen 
spongiöseu  Knochen;  in  ihnen  kommt  es  bei  wuchernder,  entzünd- 
licher Neubildung  verhältnissmässig  schnell  zui-  Auflösung  des  Knochens 
meist  mit  consecutiver  oft  suppurativer  Periostitis,  wenngleich  eine  solche 
durchaus  nicht  nothwendige  Folge  sein  muss.  Es  giei)t  Fälle  von  Ostitis 
der  kurzen,  spongiöseu  Knochen  an  Hand-  und  Fussgelenk,  besonders 
auch  der  Epiphysen  von  Röhrenknochen,  wobei  ohne  erhebliche  An- 
schwellung (die  gewöhnlich  erst  durch  die  hinzukommende  Periostitis 
bedingt  wird)  die  Knochen  durch  eine  sie  durchwachsende  interstitielle 
Granulationsmasse  ganz  aufgelöst  werden,  ohne  dass  auch  nur  die  ge- 
ringste Spur  von  Eiterung  sich  hinzuzugesellen  braucht  (Ostitis  interna 
granu\losa  seu  fungosa).  Die  Folge  solcher  Knochenauflösungen  an 
den  genannten,  sowie  auch  anderen  Gelenken  ist,  dass  durch  Muskelzug 
die  Knochen  in  die  Richtung  hin  verschoben  werden,  in  welcher  die 
Zerstörung  der  Knochen  am  meisten  vorgeschritten  ist.  Nach  den  so 
entstandenen  Verkrümmungen  kann  man  dann  auch  die  Ausdehnung  der 
Knochenzerstörung  annähernd  bestimmen.  So  habe  ich  einmal  die  Am- 
putation eines  Fusses  machen  müssen,  welcher  in  Folge  einer  solchen 
Knochenzerstörung  ohne  Eiterung  an  der  inuern  Seite  des  Talus  und 
Calcaneus  in  solchem  Maasse  verkrümmt  wai-,  dass  der  innere  Fussi-aud, 
wie  bei  einem  hochgradigen,  angeborenen  Klumpfuss  ganz  in  die  Höhe 
gezogen  war  und  der  Kranke  auf  dem  äussern  Fussrand  höchst  unsicher 
ging.  Es  hatte  sich  noch  ausserdem  ein  ziemlich  grosses  Geschwür  am 
äusseren  Fussrand  ausgebildet,  welches  das  Gehen  zuletzt  ganz  unmög- 
lich machte.    Einen  ähnlichen  Fall  sah  ich  am  Handgelenk :  ein  Mädchen 


508  Von  der  chronischen  Entzündung  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

von   20  Jahren  litt  schon    seit  längerer  Zeit  an  Schmerzen    am   linken 
Handgelenk  ohne  Anschwellung  der  Weichtheile;   Druck   auf  die  Hand- 
wurzelknoclien  war  ausserordentlicli  empfindlick;    allmälilig   stellte   sich, 
ohne  dass  Anschwellung  und  Eiterung  hinzugekommen  wäre,   die  Hand 
sehr  bedeutend  in  Abduction;  chloroformirte  mau  die  Patientin,  so  konnte 
man  diese  Stellung  wieder  in  die  normale  zurückführen  und  fühlte  dann, 
dass   ein  Theil   der  Handwurzelknochen  ganz  geschwunden  war.  —  In 
den  grösseren  spongiösen  Knochen,   wie  z.  B.  im  Calcaneus  und  in  den 
Epiphysen  grosser  Röhrenknochen,  kann  es  auch  zur  Bildung  einer  cen- 
tral gelegenen  Höhle,    eines  Knochenabscesses  kommen,    und  es   kann 
sich    damit  eine  Nekrosis  centralis  verbinden.     In  den  weitaus  meisten 
Fällen  combinirt  sich  jedoch  mit  der  Ostitis  eine  eitrige  Periostitis,  zu- 
mal ist  dies  das  Häufigste  an  den  kleinen  Hand-  und  Fusswurzelknoehen; 
dieselben  sind  so  klein,  dass,  wenn  das  Periost  erkrankt,   sich  die  Er- 
krankung sehr  leicht  auf  den  ganzen  Knochen  und  seine  Gelenkflächen 
überträgt,  und  dass  umgekehrt  die  primäre  Erkrankung  dieser  Knochen 
sehr  schnell  ihre  Rückwirkung  auf  das  Periost  und   die  Gelenkflächen 
äussert.    Es  kommt  dabei  ferner  zur  Mitleidenschaft  der  Sehnenscheiden, 
der  Haut,   welche  an  verschiedenen  Stellen  durch  Ulceration  von  innen 
nach   aussen   durchbrochen  wird.     An   der  Hand    können  dann  Radius 
und  Ulna,  so  wie  die  Gelenkenden  der  Metacarpalknochen  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  werden,  am  Fuss  das  untere  Ende  der  Tibia  und  Fibula, 
so  wie  die  hinteren  Enden  der  Metatarsalknochen.     So  wird  das  ganze 
Hand-  und  Fussgelenk  unförmlich  aufgetrieben;  an  vielen  Stellen  fliesst 
dünner  Eiter  aus  den  Fistelöffnungen,    und   die  Hand-  und  Fusswurzel- 
knoehen  sind   dabei  theilweis   aufgelöst  und  durch  schwammige  Granu- 
lationswucherung ersetzt,  oder  sind  ganz  oder  stückweise  nekrotisch.  — 
Ich  brauche  Ihnen  wohl  kaum  besonders  zu  bemerken,  dass  der  Verlauf 
auch  dieser  Form  von  primärer  suppurativer  Ostitis  mit  Caries  in  seinen 
Vitalitätsverhältnisseu  ebenso  variabel  ist,  als  die  chronische  Periostitis, 
und  dass  Sie  auch  hier   solche  Fälle  unterscheiden  können,    die  einen 
exquisit  atonischen,   andere,   welche  einen  fungösen  Charakter  an  sich 
tragen,  während  eine  Reihe  von  Fällen  zwischen  diesen  Extremen  steht. 
Einer  Form  von  chronischer  Ostitis  muss  ich  noch  besonders  erwähnen, 
nämlich    der    Ostitis   mit   Verkäsung    der    entzündlichen   Neubildung, 
gewöhnlich    mit    langsam    sich    entwickelnden    lacunären   Defecten,    oft 
mit    partiellen  Nekrosen    verbunden.     Diese    Art    der    chronischen   Ent- 
zündung ist  Ihnen  schon  von  früher  her  bekannt;    sie  gehört  im  Allge- 
meinen   zu    den    atonischen   Formen    mit   geringer  oder  ganz  fehlender 
Vascularisation.     Sie  kommt  hauptsächlich  in  den  spongiösen  Knochen 
vor;  in  dem  käsigen  Brei,  welcher  die  Höhle  in  dem  Knochen  ausfüllt, 
linden  sich  fast  immer   abgestorbene,    nicht    aufgelöste  Knocheustücke. 
Die  Wirbelkörper,  die  Epiphysen  grösserer  Röhrenknochen  und  der  Cal- 
caneus sind  am  häufigsten  der  Sitz   dieser  Ostitis  interna  caseosa. 


Vorlcsiiiu 


C;ii)il('l  XVI". 


mj 


Zu  erkcmieu  ist  diese  Form  am  Lebenden  ''^'k-  ''^^• 

nur  in  wenig'en  Fällen;  man  kommt  all- 
mählig'  zur  Diagnose  der  Ostitis  interna, 
kann  jedoch  die  specielle  Form  dersell)en 
nur  in  solchen  Fällen  bestimmen,  in 
welchen  ein  Aufbruch  nacli  aussen  erfolgt 
und  der  halb  verflüssigte  käsige  Brei  ent- 
leert wird.  Fonfick  hat  naclig'ewiesen, 
dass  zumal  bei  Typhus  circumscripte  cen- 
trale Ostitis  nicht  so  selten  zur  Ent- 
wicklung kommt;  auch  nach  Exantliemen 
wie  Scharlach,  Variola,  Älasern  kommen 
nicht  selten  Knochenkrankheiten  vor, 
welche  mit  dem  gesammten  acuten  Krank- 
heitsprocess  zusammenhängen.  Diese 
Entziindungsformeu  neigen  ])esonders  zur 
Verkäsung-  und  Caries  necrotica.  — 
Schliesslich  darf  nicht  unerwähnt  bleiben, 
dass  in  seltenen  Fällen,  meist  in  der 
Nähe  von  verkästen  Heerden,  auch  wirk- 
liche Miliartuberkeln,  kleine,  anfangs 
graue,  später  verkäsende  Knötchen  in  der 
spong'iösen  Knochensubstanz  der  Epiphysen,  in  den  Fusswurzelknochen 
und  in  den  Wirbelkörpern  vorkonnnen.  Eine  Diagnose  dieser  wahren 
Knochentuberkulose  ist  am  Lebenden  nicht  zu  stellen,  höchstens  da  zu 
vermuthen,  wo  ausgesprochene  Lungen-  oder  Larynxtuberkulose  vor- 
handen ist. 


Verkäster  ostitischer  Heerd  in  den 
Rückenwirbeln  eines  Mannes. 


Aus  den  gelegentlichen  Bemerkungen,  welche  ich  über  die  Diag-nose 
der  chronischen  Periostitis  und  Ostitis  gemacht  habe,  werden  Sie  schon 
ersehen  haben,  dass  die  Erkenntniss  dieser  Krankheiten  im  Allg-emeinen 
nach  einer  g-ewissen  Zeit  des  Verlaufs  nicht  g-ar  so  schwierig-  ist,  dass 
aber  die  g-enaue  Bestimmung  der  in  einem  einzelnen  Fall  vorliegenden 
Form  und  Ausdehnung  nicht  immer  im  Bereiche  der  Möglichkeit  liegt. 
Zwei  Momente  sind  es,  welche  in  denjenigen  Fällen,  in  Vv eichen  die 
directe  Untersuchung  des  Knochens  mit  der  Sonde  nicht  gemacht  werden 
kann,  die  Diagnose  wesentlich  unterstützen,  nämlich  die  Verschie- 
bungen der  Knochen,  welche  in  Folge  ihrer  theilweisen  Auflösung, 
wenigstens  an  vielen  Stellen  des  Körpers  auftreten  müssen,  und  die 
Abscessbildung,  welche  sich  häufig  damit  verbindet. 

Eine  cariöse  Zerstörung  der  grösseren  Röhrenknochen  wird  selten 
so  tief  greifen,  dass  eine  Continuitätstrennung  auftritt;  wo  dies  allenfalls 
eintreten  könnte,  wird  es  oft  dadurch  verhindert,  dass  aussen  am  Knochen 


510 


Von  der  clironisclien  Entzündung  des  Periostes,  der  Knoclien  etc. 


Osteophyten  zug-leicli  mit  dem  inneren  Zerstörungsprocess  wachsen  und 
so  der  Knochen  auch  an  der  erkrankten  Stelle  verdickt  wird.  Bis 
jetzt  habe  ich  es  nur  einmal  gesehen,  dass  bei  einer  ganz  atonischen 
Caries  an  der  Tibia  eines  alten  decrei)iden  Individuums  der  Knochen  an 
einer  Stelle  ganz  durchg-efressen  war,  so  dass  die  Continuität  ganz  auf- 
gehoben wurde  und  spontane  Fractur  eintrat;  bei  Eippencaries  habe  icb 
schon  zwei  Mal  spontane  Fractur  zu  Stande  kommen  sehen;  bei  der  Un- 
tersuchung post  mortem  ergab  sich,  dass  auch  keine  Spur  von  Osteophyten 
gebildet  war.  Nahezu  ist  auch  der  in  Fig.  83  pag.  494  abgebildete 
Knochen  durcbfressen.  —  An  den  kleinen  Eöhrenknochen  der  Phalangen 
und  des  Metacarpus  kommt  eine  vollständige  Auflösung  des  Knochens 
nicht  so  selten  vor;  man  nennt  die  scrophulöse  Caries  an  diesen  Knochen 

von  Alters  her  Paedar- 
throcace  (von  näig 
Kind,  agdQov  Glied,  xaxla 
schlechte  Beschaffenlieit) 
oder  Spina  ventosa  Wind- 
dorn, alte  Namen,  die 
nichts  anderes  bezeich- 
nen, als  Caries  an  den 
Fingern  oder  Zehen  mit 
spindelförmiger  Auftrei- 
bung. Werden  dabei  die 
Knochen  ganz  zerstört, 
theils  durch  die  Granu- 
lationswucherung ,  theils 
durch  partielle  Nekrose 
der  kleinen  Diaphyseu, 
so  schrumpfen  die  Finger 
zusammen  und  werden 
durch  die  Sehnen  stark 
zurückgezogen ,  so  dass 
sie  unförmliche  Finger- 
rudimente darstellen.  — 
Weit  häufiger  ist  die 
Knochenverschiebung  bei 
den  spongiösen  Knochen, 
wenn  diese  zerstört  sind; 
ich  habe  darüber  schon 
bei  den  Hand-  und  Fuss- 
'^^"      -'^ÄÄl  Wurzelknochen     gespro- 

Zerstörnng    der    Wirbel    durch    multiple    Periostitis    .ind       f^^^»'      "^''"^^^     ^S     komuit 

Ostitis   anterior.     Präparat   aus    der   pathologisch -anato-       il^     Weit     ausgedehnterer 

mischen   Saiumlunii   zu  Basel.  WcisC    UOCh    llU    anderen 


Vorlosmii;-  Vä.      V:\\n[v\    XVI.  511 

Knoclien  vor;  wird  z.  1>.  der  Ko])!'  des  l'eiiinr  und  der  oherc  IJniid  der 
rfainic  diireli  Caries  zerstört,  so  wird  der  l<\'iiiiir  alliiirddii;-  der  ZerstruMiiii;' 
eüts])rcelicnd  iiacli  ol)eii  i;'ezo,i;-eii  und  bekommt  eiiu',  äJinlicIie  .Stellung;-, 
wie  l)ci  der  Verreidvun»-  im  Jliil'tii'elenk  naeli  oben.  Aelmlielie  Disloeationen, 
wenng'leicli  wenig'er  auffallend,  entstehen  aucli  im  Sclndtergelcnk,  im 
F.nenl)Og'eii-  und  Kniegelenk.  —  Fast  am  auffallendsten  sind  die  Dislo- 
eationen an  der  AVirl)elsäule  nach  cari(»ser  Zerstörung  der  Wirbelkör])e]'; 
wird  ein  oder  werden  mehre  Wirbelkörper  durch  Caries  aufgelöst,  so 
hat  der  oberhalb  liegende  Thcil  der  AVirbelsäulc  keinen  festen  Halt 
mehr,  er  muss  heruntersinken;  da  aber  die  Wirbelbögen  und  Processus 
spiuosi  selten  mit  erkranken,  so  sinkt  die  Wirbelsäule  nur  in  ihrem 
A'orderen  Tlieil  herab,  und  es  entsteht  hier  eine  Knickung  nach  vorn, 
damit  notliwendigerw^eise  eine  Ausbieguug  nach  hinten,  ein  sogenannter 
Pott'scher  Buckel,  so  benannt  nach  dem  englischen  Chirurgen  Per- 
cival  Pott,  der  diese  Krankheit  zuerst  genau  beschrieb.  In  jeder 
anatomischen  Sammlung  finden  Sie  Präparate  von  dieser  leider  ziemlich 
häufigen  Krankheit.  Die  Entstehung  eines  solchen  Buckels  einer  Kyphosis 
(von  xv(f)6cü  vorwärts  biegen,  krümmen)  der  Wirbelsäule,  ist  zuweilen 
das  einzige,  aber  freilich  sehr  sichere  Zeichen  einer  Zerstörung  der 
Wirbelknochen. 

Ein  zweites  wichtiges  Zeichen  für  Knocheuzerstörung  sind  die  in 
vielen,  ja  in  den  meisten  Fällen  dabei  vorkommenden  Eiterungen  in  Form 
von  kalten  Abscessen.  Der  Eiter  sammelt  sich  um  den  kranken 
Knochen  herum  in  der  Tiefe  an,  bleibt  aber  nicht  immer  an  dem  Ort 
seiner  Entstehung,  sondern  verbreitet  sich  zuweilen  weiter  und  weiter; 
die  Eichtung,  nach  welcher  diese  Verbreitung  erfolgt,  wird  durch  den 
geringeren  oder  stärkeren  Widerstand  der  verschiedenen  Weichtheile, 
seltner  durch  die  Gesetze  der  Schwere  allein  bestimmt;  sie  ist  für  alle 
wichtigsten  Erkrankungsheerde  eine  typische  durch  die  anatomischen 
Verhältnisse  bedingte;  König  hat  in  neuerer  Zeit  mit  besonderem  Er- 
folge an  der  Hand  sorgfältiger  mit  Henke  gemeinsam  angestellter  Stu- 
dien auf  die  Wege  aufmerksam  gemacht,  welche  diese  Abscesse  bei  ihrer 
Vergrösserung  und  Ausbreitung  einschlagen  oder  viel  mehr  aus  anato- 
mischen Bedingen  einschlagen  müssen.  Caries  der  Wirbelsäule  ist  eine 
der  häufigsten  Quellen  solcher  Senkungs-  oder  Congestionsabscesse; 
da  die  Erkrankung  am  häufigsten  als  chronische  Periostitis  an  der  vor- 
deren Seite  der  Wirbelkörper  beginnt,  so  bildet  sich  auch  hier  zuerst  der 
Abscess,  der  Eiter  senkt  sich  hinter  dem  Peritouäum  am  M.  psoas  entlang 
und  kommt  in  der  Regel  unter  dem  Lig.  Poupartii  in  der  Richtung  nach 
innen  zum  Vorschein;  auch  andere  Richtungen  der  Verbreitung,  z.  B. 
nach  hinten,  sind  möglich,  doch  weit  seltener.  Diese  Congestionsabscesse 
sind  von  grosser  diagnostischer  und  noch  grösserer  prognostischer  Be- 
deutung; sie  sind  in  der  Regel  ein  übles  Zeichen;  ihre  Behandlung,  wo- 
von  später,    ist  eine   der  schwierigsten   Gegenstände  der    chirurgischen 


512  ^'^f'"  <^''''  plu'oiiisc'lioii  Entziindinig  des  Periostes,   der  Kiioflien  eto. 

Therapie.  Dass  der  Eiter,  dem  Gesetz  der  Schwere  folgend,  einfach 
mechanisch  heruntersinkt,  eine  Anschauung-,  zu  welcher  der  Ausdruck 
„Senkungsabscess"  leicht  verleiten  kann,  ist,  wie  gesagt,  nicht  richtig; 
er  verbreitet  sich  am  leichtesten  dahin,  wo  nur  lockeres  Zellgewebe  vor- 
handen ist  und  Fascien,  Muskeln  und  Knochen  keinen  Widerstand  leisten, 
denn  es  ist  im  Wesentlichen  ein  ulcerativer  Vereiterungsprocess,  der  in 
einer  bestimmten,  nur  in  geringem  Maasse  durch  den  intracavären  Eiter- 
druck bestimmten  Eichtung  vor  sich  geht,  eine  Art  der  Abseessver- 
grösserung,  wie  sie  auch  sonst  vorkommt:  ist  der  Eiter  z.  B.  von  der 
vorderen  Fläche  der  Wirbelsäule  entsprungen,  hat  sich  auf  dem  erwähnten 
Wege  bis  zur  Innenseite  des  Oberschenkels  Bahn  gebrochen,  ist  dann 
unter  der  Schenkelhaut  angekommen,  so  erfolgt  meist  sehr  langsam  ein 
Durchbruch  der  Haut,  nicht  durch  den  mechanischen  Druck  des  Eiters, 
sondern  durch  ulcerative  Zerstörung  von  innen  nach  aussen,  wie  bei  dem 
Aufbruch  aller  Abscesse  und  Hohlgeschwüre ;  ein  solcher  Congestions- 
abscess  kann  möglicherweise  l'/^ — 2  Jahre  und  länger  bestehen,  ehe  er 
sich  spontan  öffnet. 

Wir  kommen  jetzt  auf  die  Aetiologie  der  Ostitis  und  Caries 
interna,  wobei  wir  uns  sehr  kurz  fassen  "können,  weil  dieselben  Ur- 
sachen, welche  der  chronischen  Periostitis,  ja  der  chronischen  Entzündung 
überhaupt  zu  Grunde  liegen,  auch  hier  die  Hauptrolle  spielen. 

Es  ist  im  Ganzen  selten,  dass  bei  sonst  gesunden  Menschen  ein 
Trauma  zur  Entwicklung  einer  primären  Ostitis  chronica  Veranlassung  giebt. 
Indess  kann  es  vorkommen,  dass  sich  in  den  grösseren  Röhrenknochen 
eine  solche  durch  starke  Erschütterung  und  Quetschung  mit  Blutextra- 
vasaten  in  der  Markhöhle  unter  der  Form  einer  chronischen  Osteomyelitis 
entwickelt.  Auch  nach  Quetschungen  der  kurzen  Hand-  und  Fusswurzel- 
knochen  kann  dasselbe  sich  ereignen.  Es  wird  jedoch  immer  häufiger 
sein,  dass  nach  solchen  Veranlassungen  acute  Processe,  z.  B.  acute  Peri- 
ostitis entsteht.  Kommt  nach  Verletzungen  des  Hand-  und  Fussgelenks 
eine  Vereiterung  desselben  zu  Stande,  wird  der  Knorpel  dabei  zerstört 
und  pflanzt  sich  die  Eiterung  auf  die  Knochen  fort,  so  kann  es  zu  einer 
fungösen  Ostitis  der  kleinen  spongiösen  Knochen  bis  zur  vollständigen 
Auflösung  derselben  kommen.  Selbst  bei  ganz  gesunden,  kräftigen  Indi- 
viduen kann  bei  einer  langdauernden,  traumatischen  Gelenkeiterung  ein 
Zustand  von  Anämie  und  Kachexie  eintreten,  in  Folge  dessen  die  trau- 
matische Entzündung  nicht  zu  ihrem  normalen  Abschluss  kommt,  sondern 
in  einen  chronischen  Zustand  übergeht.  —  Am  häufigsten  sind  Scrophu- 
lose  und  Syphilis  die  Ursachen  chronischer  Knochenentzüudungen,  und 
zwar  kommen  bei  der  Scrophulose  vorwiegend  die  fungösen  Formen 
vor,  so  lange  die  Kinder  noch  fett  und  sonst  gut  genährt  sind.  Bei 
mageren,  schwach  genährten,  anämischen,  scrophulösen  Kindern  entwickelt 
sich  dagegen  nicht  selten  die  verkäsende  Ostitis,  sowie  auch  die  ganz 
atouischen    Formen;    beide   letzteren    combiniren  sich    dann    auch   wohl 


Voricaiiiif,'  ;'.'3.     Capil.-I   XV f.  r,];} 

mit  partieller  Nekrose.  Die  AVirbelköipcr,  die  fjleleiikei)ii)liyseu,  die 
IMinlniiii'en  und  die  MetacnrpMlkuoclicii  sind  die  liänfii^sten  Sitze  der 
ser()j)liiiir)sen  Ostitis  und  Periostitis;  seilen  erkranken  die  Ivicter  und  die 
g'rösseren    Krdirenknoclien.  IJei  Syphilis   ist  die  Ostitis  und    Periostitis 

osteoplustica  am  Scliienhein  und  am  Schädel  häulig';  auch  die  Curies 
sieea  funi^osa,  konunt  tlieils  [)rim;ir  in  der  Diploc  der  Scli;i,delkiH»elien, 
tlieils  nach  Periostitis  zur  Entwicklung';  das  Sternum,  der  Processus  |);i,- 
latinns  und  die  Nasenknoelicn  sind  oft  afticirt;  Nekrose  eomhinirt  sich 
sehr  häulig  mit  sypliilitisehcr  Caries.  Manche  neuere  vXutoren  z.  P». 
II.  Volk  manu,  stellen  die  Knocheusyphilis  unter  dem  Namen  Ostitis 
gummosa  als  etwas  Eigenartiges  hin;  ich  gebe  zu,  dass  gewisse  Com- 
hinationen  dabei  besonders  häufig-  vorkommen  und  so  tyi)isclie  Krank- 
heitsbilder entstehen;  in  anatomischer  Beziehung-  bleibt  die  Knochen- 
syphilis  immer  chronische  Ostitis  und  Periostitis.  Während  bei  Syi)hilis 
•fast  nie  ein  äusseres  Moment  den  localen  Proeess  veranlasst,  ist  dies  bei 
Scrophulose  wohl  als  Regel  anzusehen.  Contusionen  und  Distorsionen,  an 
sieh  unbedeutenden  Grades  erzeugen  bei  Scrophulösen  Störungen,  welche 
nicht  ausgeglichen  werden,  sondern  zu  immer  weiterer  Ausbreitung  und 
Steigerung  gelangen.  In  vielen  Fällen  ist  man  allerdings  ausser  Stande, 
auch  bei  der  genauesten  Untersuchung-  örtliche  oder  allgemeine  Ursachen 
für  die  Entstehung  einer  vorliegenden  Caries  zu  ermitteln,  und  ich  halte 
es  für  besser,  sich  dies  dann  zuzugestehen,  als  mit  aller  Gewalt  irgend 
etwas  in  den  Kranken  hinein  zu  examiniren. 


Vorlesung  33. 

Heilinigspvocess  bei  chronischer  Ostitis,  Caries  imd  Congestionsabscessen.    Prognose. 
—   Allgemeinzustand   bei  chronischen  Knochenentziindungen.  —  Secundäre  Lymphdrüsen- 
schwellungen. —  Therapie    der  chronischen  Ostitis  und  C(nigestlonsabscesse.  ^ 
Resectionen  in  der  Coiitinuität. 

Ehe  wir  zur  Behandlung-  der  chronischen  Periostitis  und  Ostitis 
übergehen,  müssen  wir  noch  einige  Bemerkungen  ül)er  den  Heiluug-s- 
process  bei  diesen  Krankheiten  und  über  die  Prognose  derselben 
hinzufügen.  Ersterer  wird  sich  je  nach  der  Vitalität  des  Proeesses  etwas 
verschieden  gestalten,  wie  auch  bei  den  Hautgeschwüren.  Nehmen  wir  an, 
die  entzündliche  Neubildung-  (die  Granulombildung-)  höre  endlich  auf 
üppig  fort  zu  wuchern,  so  wird  dieselbe  allmählig-  zusammenschrumpfen 
und  sich  in  Narbengewebe  umbilden.  Dieser  Proeess  wird,  histologisch 
betrachtet,  darin  bestehen,  dass  das  Granulationsgewebe  sich  zu  festem, 
faserigem  Bindegewebe  zurückbildet,  indem  seine  sehr  reichlich  ent- 
wickelten Capillargefässe  zum  grossen  Theil  obliteriren  uml   die  Zellen 

BUlroth  chir.  Fütb.  u.  Tht-r.    7.  Aufl,  33 


■j'{4:  Von   (Ipr  flironisrlion   Entzüntlmir;-  dps  Poriostes.   der  Kiioclion   etc. 

ZU  Bindegewebe  und  Bindege\vebskörpevclieii   werden.     "War   die  Caries 
mit    offener    Eiterung-    verl)unden ,    so   hört    letztere    albnälilig-  auf,    die 
Fisteln    scliliessen    sich.     War    durch   die  Ostitis   bereits    ein  Theil   des 
Knochens  zerstört,    und  waren  Verschiebungen   eiug-etreteu,   so   gleichen 
sich   die  letzteren  nicht  mehr  aus,   sondern   der  Knochendefect  wird  zu- 
nächst durch   eine  stark   eingezogene  Bindegewebsnarbe  ausgefüllt,  und 
die   an    einander  verschobenen   Knochen  verwachsen   durch   eine  solclie 
Narbe    in    der    fehlerliaften   Stellung  mit   einander;    später   verknöchert 
gewöhnlich  diese  Bindegewebsnarbe  im  Knochen.    Auch  die  narbige  Ver- 
bindung zweier  an  einander  verschobener  Knochen,  z.  B.  zweier  Wirbel- 
körper, die  durch  die  Zerstörung  eines  früher  zwisclien  ihnen  gelegenen 
Wirbels  auf  einander   zu  liegen  kamen,    wird   knöcliern,   und   dadurch 
werden  die  Wirbel  fest  mit  einander  verlöthet;   ein   eigentlicher  Ersatz, 
etwa  eine  Neubildung  von  Knochenmasse  in  dem  Grade,  dass  die  Wirbel 
sich   wieder  aufrichteten   oder  ein   anderer  Knoclien  ganz  oder  theilweis 
wieder  hergestellt  würde,    erfolgt   bei   der  Caries  niemals.   —    Soll    ein 
ganz  atonisches  Knocliengescliwür  zur  Ausheilung  konnuen,  so  kann  dies 
auf  zweierlei  Weise    geschehen:    entweder    müssen    zunächst    die    etwa 
nekrotisch  gewordenen  Knochenstttcke  abgestossen  und  entfernt  werden; 
dann  muss  unter  Entwicklung  einer  reichlichen  Gefässbildung   sieli  eine 
kräftige  Neubildung  von  den  Wandungen  des  Defectes  aus  bilden,  und 
wenn  es  sich  um  grössere  Hohlgeschwüre,  um  Abscesse  in  den  Knochen 
handelt,  so  muss  der  ganze  Eaum  zunäclist  durch  Granulationsmasse  aus- 
gefüllt werden,  um  eine  Ausheilung  zu  ermöglichen;  diese  Granulationen 
müssen  zur  Narbe  werden  und  verknöchern,  um  dadurch  die  Heilung  zu 
vervollständigen;  —  oder  durch  Granulationen,  welche  hinter  der  kranken, 
nekrotisirten  Knochenpartie  aus  dem  gesunden  Theil  des  Knochens  hervor- 
wachsen, Avird  der  nekrotische,  noch  nicht  gelöste  Knochenthcil  aufgelöst; 
damit  verwandelt  sich  der  torpide  Process  in  einen  kräftig  wuchernden 
und  führt  dann  später  ebenso,  wie  in  dem  früheren  Falle  zur  Narbe,  welche, 
wenn   alles   günstig   zum   Ende   kommt,   verknöchert.   —  Die    Knochen- 
defecte,  z.  B.  im  Centrum  eines  Eöhrenknocliens,   können  sich  durchaus 
nicht  durch  Schrumpfung  verkleinern,  was   die  Heilung  l»ei  den  Weich- 
theilen  so  sehr  abkürzt,   sondern   müssen   vollständig  durch  Neubildung 
ausgefüllt  werden ;  dies  ist  der  Punkt,  woran  die  Heilung  der  Knochen- 
geschwüre so    oft  scheitert.     Die  allgemeinen  constitutionellen  Verhält- 
nisse,   welche  den   ganz  torpiden  Formen  der  Caries  zu  Grunde  liegen, 
sind   schwer  zu  beseitigen;   es  ist  deshalb  nicht  allein  sclnvierig,    dem 
Process  der  Verschwärung  Stillstand  zu  gebieten,  sondern  ebenso  schwierig, 
eine  energische  Neubildung  an  den  erkrankten  Theilen  hervorzurufen.  — 
Gelingt  es   wirklich,    den  Ulcerationsprocess  zum  Stillstand   zu  bringen 
und  verdichtet  sich  der  erweicht  gewesene  Knochen  wieder  zur  normalen 
Bcschaflenheit,   so   l)leiben  doch  nicht  selten   schmerzlose  Knochenlistelu 
zurück,   welche  viele   Jahre   lang   fortbestehen,    oft    niemals    ausheilen. 


TvuIgss  sind  solclie  Knoclieii fisteln,  wenn  der  KvanklicitsproccsR  still  stellt, 
in  den  meisten  Fällen  ziemlicli  nnseliädlieli.  1ljil)en  Sie  Gclei;cnlicit, 
solelic  Fisteln  anntoniiseli  an  niaeerirten  Knochen  zu  untevsuelicn,  so 
werden  Sie  linden,  das«  die  Ijöelier,  welelie  in  den  Kin)elien  liincinfiiliren, 
von  einer  ausserovdentlieli  dichten,  skleiosivten  Knochcnsehicht  ausg'eklei- 
det  sind,  i;anz;  ähnlich,  wie  hei  alten  Fisteln  der  Weiehthcile,  deren  Wan- 
duni^'en  aus  einer  sehr  liarten,  narbig'en  Masse  bestellen.  --  Es  erüljrig-t 
noch,  des  Heiluiigsprocesses  der  chronisch  entstandenen,  kalten  Weieh- 
theil-Abscesse  bei  diesen  Krankheiten  zu  erwälmen.  Diese  Abscesse 
werden  in  den  meisten  Fällen,  wenn  sie  nach  aussen  eröffnet  sind,  niclit 
eher  ausheilen,  als  bis  das  Knochenleiden  selbst  sich  zur  Ileiluni^-  an- 
schickt. Sind  dann  die  Abscessliöhlen  mit  einer  kräftigen  Granulation 
ausgekleidet,  was  übrigens  selten  der  Fall  ist,  so  können  die  Wandungen 
allerdings  unmittelbar  mit  einander  verwachsen.  Häufiger  ist  es  aljer, 
dass  ein  solcher  Äbscess,  wenn  er  sieb  nicht  mehr  vergrössert,  durch 
Schrumpfung  seiner  Innenwandung  sich  7Ainächst  sehr  wesentlicli  ver- 
kleinert und  auf  diese  Weise  allmählich  geschlossen  wird.  Jedoch  ist 
auch  dazu  erforderlich,  dass  an  dieser  Innenwandung  der  Pj-ocess  des 
Zerfalls  aufgehört  hat  und  das  Gewebe  gehörig  vascularisii't  ist.  Kommt 
ein  kalter  Abscess  nicht  zur  Erötfnung,  sondern  bleibt  subcutan,  während 
das  Knochenleiden  ausheilt,  so  ist  das  Häutigste,  dass  ein  grosser  Theil 
des  Eiters,  dessen  Zellen  zu  feinen  Molecülen  zerfallen,  resorbirt  wird, 
während  die  Innenwandung  des  Abscesses  in  ein  narbiges  Gewelje  um- 
gewandelt wird,  welches  als  fibröser  Sack  die  puriforme  Flüssigkeit  ein- 
schliesst.  In  diesem  Stadium  bleiben  solche  Eitersäcke  oft  Jahre  lang; 
eine  vollständige  liesorption,  wenn  auch  nur  bis  auf  den  Best  der  zu 
käsigem  Brei  schliesslich  eingedickten  Flüssigkeit,  ist  leider  viel  seltener, 
als  man  wünschen  möchte  und  als  gewöhnlich  angenonnnen  wird.  Es 
ist  überhaupt  dieser  ganze  Vorgang  von  subcutaner  Auitheilung  kaltei- 
Abscesse  durch  Eesorption  äusserst  selten. 

Bei  der  Prognose,  welche  für  einen  Fall  von  Caries  zu  stellen 
ist,  hat  man  zunächst  aus  einander  zu  halten  das  Geschick,  welches 
dem  erkrankten  Knochen  bevorsteht,  und  den  Zustand,  in  welchen 
der  Gesammtorganismus  durch  eine  lange  Eiterung  der  Knochen  und 
Weichtheile  versetzt  wird.  Was  das  Geschick  des  erkrankten  Theiles 
betrifft,  so  haben  wir  darüber  bereits  genügend  gesprochen,  indem  wir 
einerseits  die  Art  der  Zerstörung  und  ihre  Folgen  auf  die  Umgebung, 
andererseits  die  Art  der  möglichen  Ausheilung  aus  einander  setzten. 
Ich  will  hier  nur  noch  die  Bemerkung  hinzufügen,  dass  bei  der  Cai-ies 
der  Wirbelsäule  begreiflicherweise  das  Rückenmark  in  Gefahr  kommen 
kann,  mit  von  der  Eiterung  betroffen  zu  werden,  oder  durch  die  Ver- 
biegung  der  Wirbelsäule  in  eine  Krümmung  zu  gerathen,  welche  die 
weitere  Functionsfähigkeit  aufhebt:  Lähmungen  der  unteren  Extremitäten, 
der  Blase,   des  Rectum  können  daher  bei  Cai-ies  der  Wirbel   auftreten. 

33* 


516  ^'^"  ^^^'  i'lii-onisclien  Entzündung  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

Erfaliiungsg-emäss  ist  dies  seltener  der  Fall,  als  man  a  priori  erwarten 
sollte  weil  das  Rückenmark  durch  die  derbe  dura  Mater  sehr  geschützt 
liegt  und  auch  einen  ziemlich  hohen  Grad  von  allmähliger  Krümmung 
verträgt,  ohne  in  seiner  Function  beeinträchtigt  zu  werden.  —  Von  all- 
gemein prognostischer  Bedeutung  ist  die  constitutionelle  Beschaffenheit 
des  Körpers,  der  Grad  und  die  Art  der  febrilen  Reaction.  Selten 
beginnen  die  chronischen  Knochenkrankheiten  mit  Fieber,  ja  in  vielen 
Fällen,  besonders  wenn  man  örtlich  gar  nichts  unternimmt,  Avenn  man 
die  Eröffnung  der  consecutiven  Abscesse  ganz  sich  selbst  tiberlässt,  wird 
der  Patient  mit  seltenen  Ausnahmen  überhaupt  gar  nicht  fieberhaft. 
Dieser  ganz  afebrile  Verlauf  ist  indess  nicht  dauernd;  wenn  die  Krauken 
auch  bis  zur  Eröffnung  des  Abscesses  nicht  fieberten,  so  tritt  doch  mit 
derselben  in  der  Regel  Consumptionsfieber  auf,  und  zwar  meist  einfache 
Febris  remittens  mit  steilen  Curven,  d.  h.  mit  niederen  Morgen-  und  ziem- 
lich hohen  Abendtemperaturen,  zuweilen  aber  auch  intermittirendes  pyohä- 
misches  Fieber.  Je  früher  die  Eröffnung  grösserer  Senkungsabscesse 
herbeigeführt  und  die  Abscessöffnung  offen  erhalten  wird,  um  so  eher 
geht  der  fieberlose  Zustand  in  den  fieberhaften  über;  meist  bildet  sich 
eine  sehr  intensive  erschöpfende  Febris  remittens  eontinua  aus;  der 
chronische  Verschwärungsprocess  geht  nicht  selten  dann  rasch  in  einen 
acuten  Entzündungsprocess  mit  Neigung  zu  Diphtherie  der  inneren  Ab- 
seesswandungen  über;  nachdem  der  dünne,  flockige,  doch  nicht  übel- 
riechende Eiter  entleert  ist ,  tritt  zuweilen ,  wenn  auch  vorübergehend, 
eine  seröse,  dann  jauchige  Eiterung  ein.  Pyohämie  kann  in  verschiedeneu 
Stadien  der  Krankheit  hinzukommen  und  der  Finalprocess  der  ganzen 
Krankheit  sein.  —  Wodurch  die  üble  Wendung  im  Verlauf  nach  der 
Eröffnung  der  Congestionsabscesse  bedingt  ist,  wodurch  die  chronische 
Entzündung  so  schnell  in  eine  peracute  umschlägt,  das  ist  schwer  zu 
sagen.  Die  gewöhnliche  Annahme  ist  die,  dass  durch  den  Eintritt  der 
JAift  in  den  Abscess  eine  heftige  Entzündung  in  den  schon  zum  Zerfall 
disponirten  Wandungen  der  grossen  Abscesshöhle  Platz  greift,  und  dass 
der  Sauerstoff  der  Luft  besonders  die  Veranlassung  zur  Zersetzung  gebe. 
Die  Annahme  mag  für  viele  Fälle  berechtigt  sein,  doch  nicht  die  Luft 
als  solche,  nicht  der  Sauerstoff  ist  das  Schädliche,  auch  nicht  die  in  dei- 
eintretenden  Luft  immer  enthaltenen  organischen  Keime  sind  es,  welche 
die  acute  Entzündung  der  Abscesswandungen  erregen.  Die  weitere  Aus- 
einandersetzung dieser  Verhältnisse,  die  keineswegs  ganz  klar  sind, 
würde  mich  hier  zu  weit  führen.  Sicher  ist  es  wohl,  dass  zuweilen  die 
Function  oder  sonstige  Art  der  Eröffnung  schon  Reiz  genug  ist,  um 
in  den  im  Allgemeinen  meist  schlecht  organisirten  Abseesswandungen 
eine  acut  sich  verl)reitende  entzündliche  Ernährungsstörung  anzuregen. 
In  vielen  Fällen  nuigen  auch  infectiöse  Stoffe  mit  den  Instrumenten 
und  beim  \'erbaiKle  eingeimpft  werden;  auch  kann  unter  Umständen 
die    in    den    Abscess    eintretende    Luft  solche  lufectiousstoffe    enthalten; 


Vdrlcsmiy  ;-53.     Capit.-I    XVI.  517 

ül)cr  die  Frag'e  ob  solche  Infectionsstott'e  immer  um-  ;iii  i<k;iiicii  Orga- 
nismen haften,  habe  ich  ihnen  schon  früher  meine  Meinung-  gesagt.  —  Es 
giebt  nun  immerhin  ziemlich  viele  Fälle,  in  welchen  die  Eiterung,  wenn 
auch  profus,  doch  gut  bleibt,  nicht  faulig  wird,  und  dennocli  heftiges 
Fieber  auftritt  und  der  \'erlaul'  dniin  ohne  stürmisclie  i^rscheinungen  in 
den  chronischen  zurückkehrt.  Wir  dürfen  uns  nicht  verhehlen,  dass  liier 
noch  Einflüsse  vorhaiulen  sind,  Avelclie  sich  unserer  Erkenntniss  völlig  ent- 
ziehen. —  Dass  auf  die  früher  erwähnte  Weise  der  chronische  Process  oft 
acut  endigt,  ist  eine  Erfahrung,  die  uns  zu  dem  i)rognostischen  Ausspruch 
berechtigt,  dass  sich  nnt  der  Erüft'nung  der  Abscesse  die  Gefahr  des  Zu- 
standes  steigert.  Wir  wollen  hier  gleich  hinzufügen,  dass  überhaupt  der 
Organismus  erst  wesentlich  durch  die  offne  Eiterung  in  Mitleidenschaft 
gezogen  wird;  die  Ostitis  granulosa,  sei  es,  dass  sie  als  sicca  verläuft  oder 
mit  geringer  subcutaner  Eiterung  verbunden  ist,  wdrd  daher  für  das 
Leben  weniger  gefährlich,  als  die  Ostitis  atonica  mit  grosser  Disposition  zu 
Eiterung  und  zum  Aufbruch  nach  aussen.  Dieser  prognostische  Satz  hat 
auch  darin  seine  guten  Gründe,  dass  die  wuchernde  entzündliche  Neubildung 
häufiger  unter  verliältnissmässig  günstigen  constitutionellen  Verhältnissen 
vorkommt,  wie  wir  oben  bemerkt  haben.  Zerfallen  die  fungösen  Wuche- 
rungen ohne  äussere  Veranlassung  schnell,  wird  die  Eiterung  profuser, 
dünner,  so  ist  dies  ein  Zeichen,  dass  auch  die  allgemeine  Ernährung- 
schlecht geworden  ist.  —  Die  Kräfte  werden  theils  durch  die  Eiterpro- 
duction,  tlieils  durch  das  Fieber  consumirt,  und  w'erden  nur  sehr  mangel- 
haft ersetzt,  weil  keine  rechte  Resorption  vom  Magen  aus,  keine  rechte 
Verdauung  und  Assimilation  Statt  findet;  dies  wirkt  dann  wieder  auf  die 
localen  Processe  zurück;  so  steht  der  allgemeine  und  locale  Zustand  in 
der  innigsten  Wechselbeziehung.  —  Je  kleiner  der  cariöse  Heerd,  um  so 
weniger  ist  er  allgemein  gefährlich;  doch  giebt  es  gewisse  Localitäteu 
am  Körper,  welche  unabhängig  von  der  Ausdehnung  der  Caries  früher 
von  sich  aus  den  Organismus  ruiniren  als  andere;  so  sind  Wirbel- 
eiterungen mit  grossen  Congestionsabscessen  sehr  gefährlich,  Caries 
der  Phalangen,  selbst  wenn  mehre  zugleich  ergriffen  sind,  von  geringerer 
Bedeutung  für  den  Organismus;  ein  grosser  Unterschied  in  der  Gefahr 
für  das  Leben  besteht  namentlich,  je  nachdem  das  eine  oder  amlere 
grössere  Gelenk  mit  den  Diaphysen  ergriffen  ist;  Caries  au  Hüfte,  Knie 
und  Fuss  sind  weit  gefährlicher  als  an  Arm,  Ellenbogen  und  Hand, 
worüber  Genaueres  bei  den  Gelenkkrankheiten.  —  Von  grosser  pro- 
gnostischer Bedeutung  für  die  Caries  ist  ferner  das  Alter;  je  jünger  das 
Individuum  ist,  um  so  eher  ist  Hoffnung  auf  Ausheilung;  je  älter  es  ist^ 
um  so  geringer  ist  diese  Hoffnung;  jede  Caries,  die  jenseits  der  fünfziger 
Jahre,  sei  es  nach  Periostitis  oder  primär  als  Ostitis  auftritt,  giebt  eine 
äusserst  zweifelhafte  Prognose  für  die  Heilung,  so  unliedeutend  der  lo- 
cale Process  anfangs  auch  sein  mag;  ich  erinnere  mich  nicht,  je  so 
häufig  Caries  bei  alten  Leuten  gesehen  zu  haben,  als  iu  Zürich,  —  Eud- 


518  Vun  der  elironiseheii  Eiitzüuduiig  des  reriostes.  der  Knochen  etc. 

lieh  ist  die  Prognose  sehr  abliängig-  von  den  constitutionellen  Leiden, 
durch  welche  die  Krankheit  entstand.  Eelativ  am  günstigsten  ist  die 
syphilitische  Caries,  weil  wir  gegen  die  Syphilis  als  solche  am  meisten 
therapeutisch  vermögen.  Scrophulöse  Caries  bei  gut  genährten  Kindern 
ist  auch  selten  quoad  vitam  gefährlich,  da  die  Scrophuiosis  entweder 
nach  Gebrauch  der  passenden  Mittel  oder  spontan  erlischt.  Caries  bei 
scrophulöseu  zugleich  atropliisclien  Kindern  ist  aber  gefährlich,  denn 
solche  Kinder  gehen  leiclit  an  Erschöpfung  zu  Grunde.  Am  ungünstigsten 
ist  die  Prognose  für  Caries  bei  bereits  ausgebrochener  Tuberkulose;  sie 
heilt  äusserst  selten  aus,  gewölmlich  schreitet  die  Lungentuberkulose 
rasch  vor,  es  kommt  gelegentlich  acute  Miliartuberkulose  der  serösen 
Häute  hinzu  und  macht  dem  Leben  bald  ein  Ende. 

Was  die  Gesci lichte  der  in  Folge  von  chronischen  Eiterungen  lang- 
sam zu  Grunde  gehenden  Kranken  Ijetritft,  so  werden  dieselben  allmählig 
immer  magerer  und  magerer,  blass,  äusserst  anämisch,  bekommen  zuletzt 
in  der  Regel  Oedem  der  unteren  Extremitäten,  essen  immer  weniger  und 
gehen  nach  Jahre  langem  Leiden  marantisch  zu  Grunde,  oft  in  schreck- 
lich langsamer  Weise,  zuweilen  ganz  ruhig  einschlafend,  zuweilen  Tage 
lang  mit  dem  Tode  ringend.  —  Man  nahm  früher  gewöhnlich  an,  dass 
der  Tod  hier  nur  durch  ailmählige  Erschöpfung  bedingt  sei;  genauere 
Sectionen  haben  indessen  nachgewiesen,  dass  die  Erschöpfung  und  die 
immer  schlechter  werdende  Blutbereitung  häufig  sehr  palpable  Ursachen 
haben.  Man  findet  nämlich  sehr  oft  in  diesen  Leichen  dje  Leber,  Milz  und 
Meren  in  dem  Zustande  der  speckigen  oder  amyloiden  Degene- 
ration (liyalinose  0.  Weber),  eine  Art  der  Entartung,  welche  darin 
besteht,  dass  in  die  Substanz  der  genannten  Organe  von  den  kleineren 
Arterien  aus  ein  eigenthümlichcr  Stoff  ausgescliieden  Avird,  der  sicli 
einerseits  durch  das  speckige  Aussehen  und  die  speckige  Cousistenz, 
welche  er  den  erkrankten  Organen  verleiht,  andererseits  durch  seine 
Reaction  auszeichnet:  auf  Zusatz  von  Jod  und  Schwefelsäure  färbt  sich 
nämlich  dieser  Stoff  th.eils  tief  rotlibraun,  theils  schmutzig  braunviolet, 
mit  Farbenwechsel  in  grün  und  blassroth.  Ueber  die  Natur  dieser  Stofte 
herrschen  verschiedene  Ansichten,  über  die  Sie  genauer  in  der  patholo- 
gischen Anatomie  belehrt  werden.  Ich  will  Ihnen  hier  nur  so  viel  niit- 
theilen,  dass  die  genannte  Reaction  gegen  Jod  und  Schwefelsäure  der- 
jenigen des  Cholesterins  ähnlich  ist,  und  dass  Heinrich  Meckel  von 
Hemsbach  daher  glaubte,  der  Speckstoff  verdanke  seine  Reaction  seinem 
reichlichen  Gehalt  an  Cliolesterin.  Andere  meinten,  dass  der  fragliclie 
Stoff  mit  dem  Amylum  verwandt  sei,  und  Virchow,  der  diese  Ansicht 
vertrat,  nannte  denselben  daher  Amyloid.  Kühne  wies  nach,  dass 
beide  Ansichten  unhaltbar  seien;  das  sogenannte  Amyloid  ist  ein  eigen- 
thümlichcr, dem  Eiweiss  nahe  verwandter  Körper;  es  untersclieidet  sich 
vom  Eiweiss  besonders  dadurch,  dass  es  in  pepsinhaltigen  Säuren  un- 
löslich ist.     Der  Stoff   ist  wegen    der  Art   seines  Auftretens   imm^-hin 


Vorlcsmi--  3o.     CiipiU'l    XV f.  519 

sehr  interessant  und  mcrkwiirdii^';  er  und  das  Fil)rin  sind  die  cinziii'cn 
uns  bekannten  ori^-anischen  Köri)er,  wclclie  in  flüssigcv  Form  die  Gel'äsH- 
wandung-en  duvcbdi-ingend,  aussci-lialb  dersell)en  im  lel)on(len  Körper  feste 
Consistenz  gewinnen,  olnie  dass  dabei  die  lebendige  Tliütigkeit  von  Zellen, 
wie  bei  der  Oewebsbildung'  nötliig  ersclieint.  —  Die  Durditränkuiig  der 
Leber,  Milz  und  Nieren,  sowie  auch  der  Arterienliäute  des  Darmeanals  und 
der  Lymphdrüsen  mit  SpeckstotC  nuiss  begreiflicherweise  einen  sehr  grossen 
Einfluss  auf  die  Blutbereitung  haben,  dieselbe  schliesslich  ganz  aufhel)en. 
Ausgedehnte  chronische  Eiterungen  disj)oniren  in  hohem  Grade  zur  öi)eek- 
kranklieit;  diese  ist  also  l)ei  (km  Kraid<;en  mit  ausgedclmter  Caries  leb- 
haft zu  besorgen,  leider  in  vielen  Fällen  nicht  abzuwenden.  —  Ausser 
Tuberkulose  und  Speekkranklieit,  die  sich  zum  Unglück  auch  noch  gar 
nicht  selten  combiniren,  di'olit  diesen  armen  Kranken  zuweilen  auch  noch 
die  gewöhnliche  Form  der  acuten  und  chronischen  diffusen  Nephritis, 
des  Morbus  Brightii,  bald  mit  acutem,  bald  mit  chronischem  Verlauf. 

Erwähnen  will  ich  noch,  dass  gerade  bei  den  chronischen  Entzün- 
dungen des  Periostes  und  der  Knochen  die  nächst  gelegenen  Lymph- 
drüsen sehr  oft  in  Mitleidenschaft  gerathen.  Wie  bei  den  acuten  Ent- 
zündungen die  Lymphdrüsen  durch  Steife,  welche  aus  den  entzündeten 
Theilen  zu  ihnen  gelangen,  so  häufig  inficirt  und  ebenfalls  acut  ent- 
zündet werden,  so  geht  auch  das  Gleiche  aus  gleichen  Ursachen  bei  den 
chronischen  Entzündungen  vor  sich.  Die  Lymphdrüsen  schwellen  lang- 
sam, schmerzlos,  aber  oft  im  Lauf  von  Monaten  und  Jahren  sehr  be- 
deutend; das  Gewebe  ihrer  Balken  verdickt  sich,  einzelne  Lymphbahnen 
obliteriren,  andere  werden  auch  wohl  erweitert;  selten  geht  es  über 
diese  hyperplastische  Schwellung  hinaus;  zuweilen  kommt  es  zu  kleinen 
Abscessen  und  Verkäsungsheerden. 

Es  wird  endlich  Zeit,  nachdem  wir  die  chronische  Periostitis  und 
Ostitis  von  allen  Seiten  beleuchtet  haben,  auch  an  die  Therapie  zu 
denken.  Wir  müssen  dabei,  nachdem  wir  diese  Krankheiten  in  ihrer 
verschiedensten  Ausdehnung  und  Combination  besprochen  haben,  wieder 
mit  der  einfachen,  chronischen  Periostitis  beginnen.  Die  Behandlung 
muss  zugleich  eine  örtliche  und  allgemeine  sein;  in  allen  Fällen,  wo 
dyskrasische  Ursachen  nachweisbar  sind,  müssen  diese  vorzüglich  be- 
handelt werden,  und  in  dieser  Hinsicht  muss  ich  Sie  auf  das  verweisen, 
was  ich  bei  Gelegenheit  der  allgemeinen  Besprechung  dieser  Dyskrasien 
in  dem  Capitel  von  der  chronischen  Entzündung  gesagt  habe.  Wir  werden 
uns  hier  also  besonders  mit  den  örtlichen  Mitteln  zu  befassen 
haben.  Als  eine  erste  allgemeinste  Regel  für  die  Behandlung  chroni- 
scher Knochenentzündung  ist  die  Ruhe  des  erkrankten  Körpertheils  zu 
empfehlen;  denn  Bewegung,  zufällige  Stösse,  Fall  und  dergleichen  ge- 
legentliche Schädlichkeiten  können  den  vielleicht  milden,  unschädlicheren 
Verlauf  wohl  in  einen  acuten,  gefährlicheren  umändern;  für  die  Knochen- 


520  ^'^''J"  '^^^'  c^i'Oiii''^''l'en   Eiitziinduns  'les  Periostes,   der  .Knochen   etc. 

krankheiten  der  unteren  Extremitäten  ist  daher  in  den  meisten  Fällen 
ruhiges  Liegen  eine  der  ersten  Hauptbedingungen,  für  die  oberen  Extre- 
mitäten die  Ruhe  in  einem  Armtuch.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist 
diese  Ruhe  bei  den  Knochenkrankheiten  in  der  Nähe  der  Gelenke,  wo 
sich  übrigens  die  Ruhe  häutig  von  selbst  ergiebt,  weil  die  Beweguugeu 
zu  schmerzhaft  sind.  Manche  Formen  von  fistulöser  Caries  an  den 
Diaphysen  der  kleineren  und  grösseren  Röhrenknochen  treten  aller- 
dings, wenn  einmal  die  Eiterung  nach  aussen  etablirt  ist,  in  ein  so 
reizloses,  schmerzloses  Stadium,  dass  die  Bewegung  ohne  Einfluss  auf 
die  kranken  Knochen  ist,  und  in  solclien  Fällen  mag  eine  massige 
Bewegung  gestattet  sein.  Hohe  Lagerung  des  entzündeten  Körper- 
theils  ist  ein  gutes  Unterstützungsmittel  für  die  Heilung,  indem  dadurch 
jede  venöse  Stauung  vermieden  wird;  diese  mechanische  Lmterstützung 
für  den  Abtluss  des  venösen  Blutes  ist  keinenfalls  zu  unterschätzen.  — 
Sie  werden  schon  mit  dieser  ersten  principiellen  therapeutischen  For- 
derung in  der  Praxis  wenig  durchdringen;  zumal  werden  Sie  erfahren, 
dass  Erwachsene  so  lange  mit  und  auf  ihren  kranken  Knochen  umher- 
gehen, so  lange  sie  es  können,  d.  h.  so  lange  der  Schmerz  nicht  zu 
heftig  ist;  da  Sie  dem  Patienten  nicht  garantiren  können,  dass  die 
Krankheit  sicher  heilt,  wenn  er  einige  Wochen  liegen  bleibt,  sondern 
diese  Krankheiten  selbst  bei  sorgfältigster  Behandlung  Monate  und  Jahre 
dauern,  so  wird  er  seinen  Geschäften  so  lange  nachgehen  als  er  kann; 
ist  Hir  Patient  ein  Mann  oder  eine  Frau,  von  dessen  täglicher  Arbeit  die 
Existenz  einer  Familie  abhängt,  dann  ist  seine  Lage  eine  besonders  üble. 
Handelt  es  sich  um  Kinder,  so  ist  es  nicht  minder  schwierig,  diese  in 
fortwährender  Lage  zu  erhalten;  es  müsste  ein  Erwachsener  den  ganzen 
Tag  das  Kind  überwachen.  Das  ist  nicht  nur  nicht  in  armen  Familien 
durchzusetzen,  sondern  ebenso  wenig  in  kinderreichen  Familien,  die  in 
gut  bürgerlichen  Verhältnissen  leben.  Denken  Sie  selbst  an  die  Ver- 
hältnisse Hires  Familienkreises!  es  ist  sehr  leicht  verordnet:  das  Kind 
soll  mehre  Monate  unausgesetzt  liegen,  doch  täglich  mit  Vorsicht  in  einen 
Wagen  in  die  frische  Luft  gebracht  werden,  oder  im  Garten  iu  einer 
schattigen  Laube  so  lange  es  die  Witterung  erlaubt,  liegen.  Das  kostet, 
wenn  es  Jahre  lang  durchgeführt  werden  soll,  sehr  viel  Geld,  ausser 
dass  ein  solches  Kind  fast  die  ganze  Arbeitskraft  eines  sorgsamen  er- 
wachsenen Menschen,  einer  Pflegerin  erfordert.  Grade  diese  tägliche, 
ja  stündliche  Sorge  zur  Beschaffung  der  besten  hygienischen  und  diäthe- 
tischen  Verhältnisse  eines  chronisch  kranken  Kindes  erfordern  eine  ausser- 
gewöhnliche  Ausdauer  und  Intelligenz.  Viel  eher  Averden  Opfer  für 
theure  Arzneimittel,  für  eine  Badekur  etc.  aufgebracht,  „um  der  Sache 
endlich  einmal  ein  Ende  zu  machen",  wie  sich  die  Familienväter  gern 
ausdrücken,  wenn  sie  der  langen  täglichen  Plackerei  mit  dem  kranken 
Kinde,  der  Störung  des  Haushaltes  und  der  häuslichen  Bequemlich- 
keit müde  sind.  —  Man  muss  in  solchen  Fällen  den  Verhältnissen  Rech- 


Voricsuui;   :\:\.     Cjipilrl    XVF.  521 

iHiiii;-  trafen,  um  wenigstens  das  möglichst  Beste  vai  erreichen,  und  ver- 
ordnet dann  niechanisclie  Stützapparate,  durch  welclie  die  Körperlast  von 
den  kranken  Knochen  abg-ehalten  wird.  Ich  Hess  Sie  diesen  Blick  voraus 
in  Uirc  kiinf'tiye  Praxis  fluni,  damit  Sie  später  nicht  i^'ar  zu  sehr  enttäuscht 
werden.  Sie  werden  noch  oft  zu  der  Uebcrzcuyung-  kommen,  dass  es 
viele  zumal  chronische  Krankheiten  g'iebt,  welche  keineswegs  urdicilhar 
sind,  doch  aus  socialen  Gründen  fast  nie  geheilt  werden. 

Treten  die  ersten  Erscheinungen  einer  chronischen  Periostitis  und 
Ostitis  auf,  so  geht  die  Behandlung  dahin,  die  Zertheilung  der  Infiltrate 
zu  bewerkstelligen.  Hierzu  leisten  die  streng  anti]jhlogistischen  Mittel 
äusserst  wenig.  Die  Application  von  Blutegeln  oder  Schröpfköpfen,  die 
innere  Darreichung  von  Abführungsmitteln,  die  Anwendung  von  Eisblasen 
sind  in  meinen  Augen  Mittel,  welche  nur  bei  acuten  Exacerbationen  chro- 
nischer Entzündungen  wirksam  sind;  ihre  Wirkung  ist  stets  eine  rasch 
vorübergehende,  und  die  Application  der  örtlichen  Blutentziehungen  und 
Abführungsmittel  kann  sogar,  wenn  sie  oft  wiederholt  wird,  schädlich 
wirken.  Die  wiederholt  gesetzten  Blutegel  und  Schröpfköpfe  reizen 
örtlich  und  machen  den  Kranken  endlich  anämisch,  und  ein  fortgesetztes 
Laxiren  erschöpft  die  Kräfte  des  Kranken;  man  gehe  daher  sparsam 
mit  diesen  Mitteln  um  und  behalte  sie  für  die  acuteren  Exacerbationen 
des  Processes  vor.  Die  continuirliche  Application  von  P^isblasen  ist  von 
Esmarch  bei  chronischer  Entzündung  in  neuerer  Zeit  sehr  angelegent- 
lich empfohlen  worden;  ich  habe  in  Fällen,  welche  mit  heftigen 
Schmerzen  verbunden  waren,  sehr  gute  Wirkung  von  dieser 
Behandlung  gesehen ;  in  anderen  Fällen  finde  ich  keine  rechte  Indication, 
sie  anzuwenden. 

Am  häufigsten  kommen  bei  den  ersten  Anfängen  chronischer  Knochen- 
entzündungen die  resorbirenden  und  die  leichteren  ableitenden  Mittel 
in  Anwendung:  die  officinelle  Jodtinctur,  Jodkaliumsalbe,  Quecksilber- 
salbe, durch  Zusatz  von  Fett  etwas  gemildert,  Quecksilberpflaster,  Salben 
mit  concentrirter  Lösung  von  Argentum  nitricum,  hydropathische  Ein- 
wicklungen,  leichte  Compressivverbände.  Mit  diesen  Mitteln  und  den 
geeigneten  hygienischen  Vorschriften  beginnt  man  in  der  Kegel  den 
Feldzug  gegen  die  abgehandelten  Krankheiten,  so  lange  dieselben  noch 
im  Beginn  sind,  und  zuweilen  gelingt  es,  den  Process  auf  einer  frühen 
Entwicklungsstufe  zu  henmien;  es  erfolgen  die  rückgängigen  Metamor- 
phosen in  den  frühen  Stadien  entweder  ohne  eine  Spur  von  krankhafter 
Veränderung  zu  hinterlassen,  oder  vielleicht  mit  Zurücklassung  einer 
massigen  Verdickung  des  Knochens  durch  niclit  mehr  rückgängig  zu 
machende  Osteophyten.  Am  erfolgreichsten  ist  die  Behandlung  der 
syphilitischen  Knochenkrankheiteu  in  diesem  Stadium  durch  eine  kräf- 
tige antisyphilitisehe  Cur.  —  Schreitet  der  Process  fort,  und  verläuft  die 
Caries  ohne  Eiterung,  so  fährt  man  mit  den  genannten  Mitteln  fort, 
denen  man  bei  geeigneten,  sonst  kräftigen  Individuen  noch  die  stärkeren 


522  Vuii  der  cliroiüsclK'ii  Eiitzündim.n'  (lo8  Pcriu^tet;.  dor  Knochen  etc. 

iiiif  die  Haut  ableitenden  Mittel  liinzutiii:cn  kann.  Stellen  sich  die 
Zeichen  der  Eiterung-  ein,  kommt  es  zur  Bildung-  von  Abscessen,  !>o 
können  Sie  eine  Zeit  lang  noch  mit  den  resorbirenden  Mitteln  fortfahren, 
in  der  Hoffnung-,  auch  jetzt  noch  die  xYufBaugung-  des  Eiters  zu  erzwin- 
gen ;  dies  wird  freilich  in  den  meisten  Fällen  nicht  gelingen,  sondern  es 
wird  sich  bald  die  Frage  aufdrängen :  soll  der  Abscess  künstlich  eröffnet 
Averden,  oder  soll  man  die  Eröffnung  abwarten?  Hierüber  gebe  ich 
Ihnen  im  Allgemeinen  folgende  Kegel:  kommen  die  Ab  sc  esse  von 
Knochen  her,  an  welchen  ein  operativer  Eingriff  nicht  mög- 
lich oder  nicht  wüuschenswerth  ist,  z.  B.  von  den  Wirbeln,  vom 
Kreuzbein,  vom  Becken,  von  den  Rippen,  vom  Kniegelenk  etc.,  so 
rühren  Sie  den  Abscess  nicht  an,  sondern  freuen  sich  im  Interesse 
ihrer  Patienten  jeden  Tag,  wo  derselbe  noch  geschlossen  ist,  warten  Sie 
ruhig  ab,  bis  die  Oeffnung  von  selbst  erfolgt,  danach  werden  relativ 
am  wenigsten  gefährliche  Erscheinungen  auftreten.  Wenn  ich  von 
diesem  Princip  abgewichen  bin,  hat  es  mich  noch  immer  gereut:  es  ist 
mir  eine  grosse  Freude  gewesen,  als  ich  las,  dass  Pirogoff  sich  fast 
mit  den  gleichen  Worten  darüber  ausgesprochen  hat.  Die  Erfahrung 
hat  genugsam  gelelirt,  dass  alle  unsere  Operationsmanöver,  welche  zum 
Zweck  haben,  die  langsame  spontane  Eröffnung  dieser  Abscesse  zu 
imitiren,  doch  nicht  so  schonend  wirken,  als  der  langsame  Durchbruch 
der  Haut  von  innen  nach  aussen  auf  dem  Wege  der  Ulceration.  —  Man 
hat  verschiedene  Verfahren  besonders  für  die  Eröffnung  der  grossen 
Congestionsabscesse  vorgeschlagen,  je  nach  den  Ideen,  von  denen  mau 
ausging.  Eine  Zeit  lang  glaubte  man,  der  Eiter  müsse  langsam  aus- 
fliessen,  um  die  Entzündung  der  Abscesswandungen  zu  vermeiden:  dies 
zu  erreichen,  legte  man  mit  einer  Nadel  Schnüre  (Setons)  durch  den 
Abscess  und  Hess  den  Eiter  an  den  Stichöffnungen  aussickern.  Dann 
hielt  man  dafür,  ausser  diesem  langsamen  Ausfliessen  müsse  auch  die 
Haut  langsam  durchbrochen  werden,  und  applicirte  zu  diesem  Behuf 
ein  Aetzmittel  auf  die  dünnste  Stelle  des  Abscesses,  bildete  dadurch 
einen  Brandschorf,  der  sich  langsam  loslöste,  und  nach  dessen  Los- 
lösung der  Eiter  langsam  ausfloss.  Später  war  man  der  Ansicht,  man 
müsse  auf  jeden  Fall  den  Eintritt  der  Luft  verhüten,  denn  dies  sei  das 
Gefährliche  an  der  Sache:  man  stiess  also  einen  Trokart  ein,  entleerte 
mit  grosser  Vorsicht  nur  einen  Theil  des  Eiters  und  schloss  dann  die 
Oeffnung  wieder  genau,  oder  man  machte  die  sogenannte  subcutane 
Function  nach  Abernethy,  d.  h.  man  nahm  ein  dünnes,  feines  Messer, 
schob  die  Haut  über  den  Abscesssack  z.  B.  stark  in  die  Höhe,  stach 
jetzt  ein  und  Hess  einen  grossen  Theil  des  Eiters  aus,  zog  dann  das 
Messer  schnell  zurück,  und  Hess  die  Haut  wieder  in  die  natürliche  Lage 
zurückgleitcn,  so  dass  die  Stichöff'nung  in  der  Haut  also  nicht  direkt 
mit  der  Oeffnung  im  Abscesssack  comnuinicirtc,  sondern  letztere  von  der 
Haut   gedeckt    wurde;    die    Hautöönung    wurde    sorgfältig   geschlossen. 


Vorii'sim^-  :;;;.    ('..piid  xvr.  523 

(iiit'riii  liclli  mit  cinci-  Ö])rit/('  dc-ii  lOilcr  diircJi  eine 'rf<»k;iiicaiiiil(;  auK- 
/usaugcn,  ein  Vcrfalircii,  das  in  iioiiostci'  Zeit  wieder  mit  vervollkonini- 
iietcni  Apparat  unter  dem  Namen  As[)irMti()n  pneumatique  Hous-entaiicje 
(Dieulafoy)  in  Anwendung  gezogen  ist.  -  In  der  Folge  legte  man 
grosses  Gewicht  daiMuC,  die  AVandungen  der  Abscesshöhle  in  einen  Zu- 
stand zu  versetzen,  (hiss  die  Eiterbildung  aufliöi-e;  dies  glaubte  man 
durcli  Injcction  von  Jodbisung  zu  erzielen,  nachdem  der  Eiter  entleert 
wai-;  in  Frankreich  (and  diese  Methode  grossen  ßcifiill.  Ein  französi- 
scher Chirurg,  Chassaignac,  kam  mit  grossem  Enthusiasmus  auf  die 
Setons  zurück;  er  wühlte  jedoch  statt  solchei-  dünne  iJöhrcn  von 
Kautsclmck,  deren  Wandungen  durchlöchert  waren,  so  dass  dadurch 
der  Eiterabfluss  wesentlich  erleichtert  wurde  (Drainage,  siehe  pag.  185). 
Der  schottische  Chirurg  List  er  legt  besonderen  Wcrth  darauf,  dass  bei 
Eröffnung  und  beim  Verbände  dieser  Abscesse  Instrumente  und  Verband- 
stiicke  vorher  mit  Carbolsäure  desinticirt  werden  und  auch  der  Eintritt 
von  Luft  sorgfältig  vermieden  werde;  sein  Verfahren  hat,  wie  alle 
früheren,  begeisterte  Anhänger  gefunden.  —  Es  ist  nicht  ganz  leicht, 
sich  über  die  Bedeutung  aller  dieser  therapeutischen  Methoden  zurecht 
zu  finden;  doch  das  können  Sie  fast  immer  aus  einer  so  reichen  Anzahl 
von  empfohlenen  Mitteln  und  Methoden  schliessen,  dass  es  sich  dabei 
um  Krankheiten  handelt,  die  sehr  schwer  heill)ar  sind,  und  dass  keines 
von  diesen  Mitteln  für  alle  Fälle  verwendbar  ist.  Wir  wollen  die  er- 
wähnten Methoden  kui-z  kritisiren.  Die  einmalige  Entleerung  des  Eiters, 
man  mag  sie  vornehmen,  wie  man  will  (von  grossen  Spaltungen  der  Con- 
gestionsabscesse  sehen  wir  als  von  einer  nur  für  wenige  Fälle  anwendbaren 
Methode  ab),  hat,  wenn  sie  langsam  und  vorsichtig  gemacht  wird,  sei  es  mit 
dem  Trokart  oder  su1)cutan  mit  dem  Messer  mit  oder  ohne  Lister'sche  Car- 
bolpaste,  zunächst  einen  ganz  leidlichen  Erfolg;  ist  die  Oeffnung  gut  ge- 
schlossen und  heilt  sie  zu,  so  erfolgt  gewöhnlich  noch  kein  Fiebei-,  doch 
der  Abscess  füllt  sich  auffallend  schnell  wieder;  ein  Abscess,  der  viel- 
leicht 10  Monate  zu  seiner  Entstehung  brauchte,  kann  sich  in  10  Tagen 
wieder  vollständig  füllen.  Man  punktirt  jetzt  wieder,  noch  einmal  heilt 
die  Oeffnung  zu;  der  Kranke  fängt  an,  leicht  zu  fiebern;  die  Eiteran- 
sammlung erfolgt  wieder  schnell.  Man  punktirt  zum  dritten,  vielleicht 
zum  vierten  und  fünften  Male,  immer  wieder  an  neuen  Stellen:  schon 
fiebert  der  Kranke  melir,  der  Abscess  ist  innncr  heisser  und  daher 
schmerzhaft  geworden;  der  Kranke  sieht  matt,  angegriffen  aus.  Jetzt 
wollen  die  Stichwunden  nicht  mehr  heilen,  die  ersten  brechen  auch  wold 
wieder  auf,  es  bildet  sich  ein  continuirlicher  Ausfiuss  von  Eiter,  auch 
tritt  wohl  gelegentlich  trotz  aller  Vorsicht  Luft  ein,  zumal  wenn  die 
Abscesswandungen  starr  sind  und  nicht  collabircn;  nun  besteht  eine 
Fistel,  das  Fieber  bleibt  continuirlich  und  der  Verlauf  ist  weiter,  wie 
wir  ihn  früher  geschildert  haben,  meist  ein  ungünstiger.  —  Fügen  Sie 
zur  Function  die  Jodinjection  hinzu,    so  wird  dadurch  der  Verlauf  nach 


524  "^ön  der  chronischen  Entzrui'äung  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

meinen  Erfahrungen  nicht  wesentlich  verändert,  wenngleich  ich  in 
einigen  wenigen  Fällen  rasche  Heilung  kalter  subcutaner  Abscesse  zu 
Stande  kommen  sah.  —  Nicht  viel  anders  ist  es,  wenn  Sie  die  Eröff- 
nung und  Eiterentleerung  mit  Setons,  mit  Drainage  oder  mit  Cauterien, 
mit  Spritzen  machen;  ich  habe  von  allen  diesen  Methoden  nichts  gesehen, 
was  den  Empfehlungen  ihrer  Urheber  auch  nur  annähernd  gleich  käme. 
Ist  der  Kranke  durch  die  fortdauernde  Zunahme  des  Abscesses  durch 
Schmerzen,  Spannungsempfindungen  etc.  sehr  beunruhigt,  so  machen  Sie 
7A\  seiner  Beruhigung  eine  Eiterextraction  mit  der  Spritze  von  Dieu- 
lafoy;  dies  schadet  verhältnissmässig  am  wenigsten.  —  Der  geschil- 
derte traurige  Verlauf  kann  sich  freilich  unter  Umständen  ganz  ebenso 
gestalten,  wenn  Sie  gar  nichts  am  Abscess  machen  und  ihn  sich  selbst 
überlassen,  die  Eröffnung  abwarten;  doch  verläuft  dann  Alles  viel  milder, 
langsamer;  das  Fieber  tritt  später  ein.  Heilungen  sind  sicher  beobachtet 
bei  allen  genannten  Operationsmethoden:  mehr  Heilungen,  glaube  ich, 
sicher  aber  weniger  Todesfälle  durch  Pyohämie  kommen  bei  der  abwar- 
tenden Behandlung  vor;  ich  habe  die  Ueberzeugung,  dass  da,  wo  nach 
Jodinjectionen,  Drainage  u.  s.  w.  Heilung  erfolgte,  dieselbe  auch  einge- 
treten wäre,  wenn  man  den  Verlauf  nicht  künstlich  unterbrochen  hätte; 
von  einer  Beweisführung,  dass  ein  solcher  Fall  so  und  so  hätte  verlaufen 
müssen,  v/enn  dies  und  das  nicht  geschehen  wäre,  kann  überhaupt  nicht 
die  Eede  sein.  —  Ziehe  ich  die  Summe  meiner  Erfahrungen,  die  ich  in 
meiner  klinischen  und  Consultations-Praxis  zu  sammeln  Gelegenheit  hatte, 
zusammen,  so  kann  ich  Sie  versichern,  dass  ich  unter  einer  sehr  grossen 
Anzahl  von  Fällen  kunstgerecht  meist  von  andern  Collegen  eröffneter 
grosser  Congestionsabscesse  von  der  Wirbelsäule  her  nur  sehr  wenige 
weiss,  in  denen  der  Verlauf  günstig  war;  alle  andern  Avurden  nur 
schneller  ihrem  Ende  entgegengeführt.  Ich  muss  daher  zu  dem  oben 
aufgestellten  Grundsatz  zurückkommen,  dass  die  Abscesse  genannter 
Art,  zumal  die  Congestionsabscesse  bei  Wirbelsäulencaries,  ein  Noli  nie 
tangere  sind.  Es  ist  freilich  oft  eine  sehr  schwierige  Aufgabe,  in  solchen 
Fällen  immer  zu  warten;  die  Patienten  werden  ungeduldig,  besonders  in 
der  Privatpraxis;  man  drängt  den  Arzt,  etwas  zu  thun,  man  macht  ihm 
Vorwürfe,  dass  er  nichts  unternimmt;  das  Publikum  glaubt  einmal  fest, 
wenn  der  Eiter  nur  ganz  heraus  wäre,  dann  müsse  die  Heilung  erfolgen. 
Auch  dem  Arzt  wird  es  endlich  zu  lauge;  es  ist  trostlos,  so  zuzusehen, 
wie  der  Abscess  von  Woche  zu  Woche,  von  Monat  zu  Monat  grösser 
wird;  alle  örtlichen  und  allgemeinen  Mittel  sind  erschöpft,  endlich  weicht 
der  Arzt  von  seinen  Grundsätzen  ab,  die  Eröffnung  wird  gemacht;  an- 
fangs ist  es  nun  ganz  gut,  doch  die  Freude  dauert  nicht  lange;  wie  es 
dann  nachher  geht,  wissen  Sie  bereits.  Sie  mögen  in  solchen  Fällen 
machen,  was  Sie  wollen,  immer  wird  Ihneu  das  Publikum  die  Schuld 
des  meist  ungünstigen  Ausganges  zuschieben. 

Etwas    anders    gestalten  sicli    die  Verhältnisse,    wenn   es   sich    um 


v<>ri(>smi<{  ;;■'>.    Ciipiici  xvt.  525 

kleinere  Abscesse  liaiulclt,  die  von   K  iioclicii  I  ei  d  c  ii  der  Exli-eiiii. 
tüten  ausg-elien;   bei   denjeiiii^en  Eiteruiig'en,   weh-lie    mit  den  i;r(")sseic'ii 
(Gelenken   zusanunenliüiii^eii ,    zögert   ni;ni    auch    gern  mit  der  liirötTnung', 
wir    wollen   s]>üter   bei   den    Kranklieiten    der   Gelenke    davon   spreelien. 
Bei  kalten  Abscessen  an  den  Diapliysen  nützt  eine  Zögerung-  niclit  viel; 
liier  balte  ich  frühzeitiges  Eröffnen  für  statthaft,  mit  Ausnahme  der  syphi- 
litischen Gummata,  bei  denen  auch  in  dem  Stadium  deutliclier  Fluctuati(»ii 
noch  Resorption  erfolgen  kann,  und  l)ei  ausgesprochen  tul)erkidr)sen  oder 
sehr  schwächlichen  Individuen,  bei  denen  keine  operativen  Eingriffe  in- 
dicirt  sind,    und    die   Eröffnung  der  Abscesse   somit  uui-    eine   stäi-kere 
Eiterung  zur  Folge  haben  würde,  ohne  etwas  zu  nützen.     In  den  ül)rig 
bleibenden  Fällen  bin  ich  dafür,  den  Abscess  zu  spalten,  uiul  zwar  mit 
grosser  Oeft'nung,  damit  man  eine  klare  Einsicht  in  Art  und  Ausdehnung 
des  Processes  gewinnt;    die  Keaction,  welche  unter  diesen    Umständen 
auftritt,    ist  unbedeutend,    oft   folgt  gar  kein  Fieber,   oft  nur   massiges 
Fieber  kurze  Zeit  lang.     Nehmen  wir  einmal  eine  chronische  Periostitis 
mit  Caries  superficialis   an  der  Diaphyse   eines  Röhrenknochens  an :    es 
kam  zur  Abscedirung,  der  Abscess  ist  gespalten,  die  Wunde  wird  anfangs 
mit  Charpie  bedeckt  und  man  wartet  nun  ab,    wie  sich  die  Geschwürs- 
fläche gestaltet.     Je  naclidem  sich  nun  ein  mehr  wucherndes  oder  mehr 
mit  Zerfall  verbundenes  Geschwür  zeigt,  wird  man  die  örtliche  Behand- 
lung modificiren,  und  ich  wäirde  mich  nur  wiederholen,  wenn  ich  auf  die 
hier  etwa  anzuwendenden  Mittel  zurückkommen   w^ollte.     Die  Cur  wird 
durch    Localbäder    unterstützt.     Hydropathische   Einwdckeluugen ,    Kata- 
plasmen,    Charpieverbände ,    mit    verschiedenen    F'lüssigkeiten    getränkt, 
dienen  als  Verband.    Es  wird  sich  im  weiteren  Verlauf  der  Beobachtung 
immer   mehr   herausstellen,   in   welchem   Grade  das  Knochenleiden  von 
dem  Allgemeinzustand  abhängig  ist.    Haben  Sie  es  mit  einem  miserablen, 
tuberkulösen  Individuum  zu  thun,  so  sind  alle  örtlichen  Mittel  vergeblich; 
.  ist  der  Allgemeinzustand  gut,    so  können  Sie  schon  an  eine  energische, 
örtliche  Behandlung  denken :    tägliches  Bestreichen   des   Geschwürs   mit 
Jodtinctur,  Application  von  Salben  mit  rothem  Präcipitat,  häufiges  ener- 
gisches Aetzen   mit  Argentum  nitricum,    Verband  mit  verdünntem   Liq. 
ferri.  sesquichlorati.    In  anderen  Fällen  abstrahirt  man  von  einer  Unter- 
stützung der  spontanen  Ausheilung  ganz  und  entfernt  die  ganze  kranke 
Knochenpartie.    Hierzu  giebt  es  verscliiedene  Arten  schneidender  Knochen- 
Zangen  und  Sägen  von  verschiedenster  Form;  ich  ziehe  die  Ausschabung 
der  kranken  Knochenpartie  mit  scharfen  Löffeln  allen  übrigen  Verfahren 
vor.    Ist  auf  irgend  eine  V^^eise  das  Knochengeschw  ür  bis  auf  die  gesunde 
Umgebung  rein  entfernt  und  ist  die  allgemeine  Constitution  sonst  leidlich 
gut,  so  ist  zu  hoffen,  dass  die  jetzt  gemachte  Knochenwunde  in  normaler 
Weise   durch   gesunde   Granulation  und   Eiterung    ausheilt,    wie  andere 
Kuochenwunden.  —  Handelt  es  sich  um  eine  Ostitis  interna,  eine  Caries 
centralis  eines  Röhrenknochens,  oder  eines  grösseren  spongiösen  Knochens, 


526  Von  der  chronischen  Entzündung  des  Periostes,  der  Knoclien  etc. 

wie  des  Caleaiieus,  so  kann  es  unter  Umständen  indieirt  sein,  wenn  durch 
sehr  heftige  Sclimerzen  und  durch  andere  früher  genannte  Erscheinungen 
der  Knochenabscess  sich  nach  und  nach  zu  erkennen  gieht,  den  Knochen 
aufzumeisseln  oder  die  Knoclienhöhle  zu  eröffnen,  um  dem  Eiter  einen 
Ausweg  zu  bahnen;  dies  Verfahren  empfehle  ich  Ilmen  jedoch  nur  für 
diejenigen  Fälle,  wo  sie  Ihrer  Diagnose  gewiss  sind,  denn  es  ist  keine 
geringe  Verletzung  für  einen  Patienten,  wenn  man  ihm  eine  gesunde 
Markhöhle  aufmacht.  Sehr  acute  Osteomyelitis  mit  ihren  oft  gefährlichen 
Consequenzen  kann  die  Folge  eines  solchen  Eingriffes  sein,  während  eine 
gleiche  Verletzung  am  kranken  Knochen  keine  scliwere  Erscheinungen  nach 
sich  zu  ziehen  pflegt.  —  In  andern  Fällen  werden  Sie  die  spontane  Eröffnung 
des  Abscesses  durch  die  Knochenwandungen  hindurch  abwarten  können; 
dann  können  Sie  sondireu  und  den  Fall  sicherer  beurtheilen.  Welche 
Schwierigkeiten  sich  der  Heilung  solcher  Knochenhöhlen  entgegensetzen, 
ist  schon  früher  besprochen ; '  bleibt  der  Process  lange  Zeit  hindurch  in 
dem  gleichen  Stadium,  so  kann  es  zweckmässig  sein,  die  Oeffnung  am 
Knochen  zu  erweitern,  das  Hohlgeschwür  zu  Tage  zu  legen  und  die 
Wandungen  desselben  ebenfalls  zu  entfernen.  Eine  solche  Eröffnung 
der  Abscesshöhle  wird  um  so  nöthiger,  wenn  etwa  kleine  nekrotisclie 
Knochenstückchen  in  derselben  liegen  und  die  Heilung  verhindern,  wenn 
also  die  Caries  eine  necrotica  ist.  Alle  diese  Manipulationen  sind  aber 
überhaupt  nur  indieirt,  so  lange  der  constitutionelle  Zustand  noch  gut 
ist;  wenn  ausgesprochene  Tuberkulose  oder  hochgradiger  Marasmus  vor- 
handen, wenn  der  tödtliche  Verlauf  jedenfalls  zu  erwarten  ist,  dann  wird 
es  keinem  Chirurgen  einfallen,  Operationen  vorzunelimeu,  deren  Erfolg 
ja  nur  günstig  sein  kann,  wenn  die  locale  Umgestaltung  der  neuen 
Knochen  wunde  auf  normalem  Wege  vor  sich  gehen  kann.  —  Das  Grau- 
same, Entsetzliche  haben  diese  Operationen,  die  man  zum  Theil  wenig- 
stens unter  die  partiellen  Eesectionen  in  der  Continuität  zählen 
kann,  verloren,  seitdem  wir  das  Chloroform  anwenden,  mit  Hülfe  dessen 
die  Patienten  nichts  von  dem  Meissein,  Hämmern  und  Sägen  am  Knochen 
empfinden.  — 

In  denjenigen  Fällen,  wo  die  Caries  so  ausgedelmt  ist,  dass  sie  die 
ganze  Dicke  eines  Röhrenknochens  an  einer  Stelle  l)etritft,  könnte  man 
an  eine  Aussägung  des  ganzen  kranken  Stückes  in  der  ganzen  Dicke 
des  Knochens  denken.  Dieser  Fall  ist  erstens  sehr  selten,  und  zweitens 
ist  eine  solche  Operation  von  sehr  zweifelhaftem  Erfolg.  Aus  der  Fil)ula, 
aus  dem  Eadius  oder  der  Ulna,  aus  den  Metacarpal-  und  jMetatarsal- 
knochen  kann  man  allenfalls  ein  Stück  aus  der  Mitte  ganz  aussägen, 
ohne  dass  die  Function  der  Extremität  sehr  beeinträchtigt  würde;  ver- 
führe man  ebenso  am  Humerus,  am  Femur,  an  der  Tibia,  und  er- 
folgte wirklich  die  Heilung,  so  würde  die  Function  der  Extremität  nur 
h(tchst  unvollkommen  hergestellt  werden  können  und  durch  eine  Schienen- 
vorrichtung   untei-stützt  werden  müssen;    für   die   unteren  Extremitäten 


Vnrlosnns  .".■'..     Ciipilol   XVT.  507 

(Uii-fte  (laiiii  ein  StelzCu^s  l)c,sacrc  Dienste  leisten  als  ein  Fnss,  dessen 
Knochen  in  der  dontinnitfit  auf  eine  i^ivissere  Rtvceke  unterljvoclien  ist. 
Man  hat  g'Cg-Iaubt,  dass  in  solchen  F;illen  das  vor  der  Operation  ahge- 
löste  und  in  der  Wunde  zurückgelassene  Periost  Knochen  neu  l)ildo;  doch 
ist  nach  Operation  wegen  Carics  der  Diaphysen  der  Knochenersatz  nur  ein 
äusserst  dürftiger,  so  dass  auf  denselben  niclit  viel  gerechnet  werden  kann. 

Was  endlich  diejenigen  Fälle  betrifft,  wo  ein  Rölirenknoclien  durcli 
Pei'iostitis ,  äussere  und  innere  Caries,  partielle  innere  und  äussere  Ne- 
krose durch  und  durch  krank  ist,  Fälle,  die  im  Ganzen  selten  sind,  so 
könnte  hier  nur  von  Exstirpation  des  ganzen  Knochens,  oder  von 
der  Amputation  des  betroffenen  Gliedes  die  Rede  sein.  Fälle,  in 
welchen  die  ganze  Ulna  oder  der  ganze  Radius  exstir])irt  sind,  sind  zu- 
weilen glücklich  verlaufen,  wie  icli  Ihnen  vorher  auch  aus  meiner  Praxis 
einen  Fall  mi-ttheilte  (pag.  508);  die  Exstirpation  des  ganzen  Os  metatarsi 
primum  etc.  ist  (ifter  mit  Glück  gemacht  worden.  Ich  kenne  auch  einen 
Fall,  wo  der  ganze  Humerus  mit  Zurücklassung  des  verdickten  Periostes 
herausgenommen  wurde;  der  Kranke  starl)  al)er  nach  Verlauf  von  einigen 
Monaten  nach  der  Operation  an  einer  inneren  Krankheit,  wenn  ich  nicht 
irre,  an  Morbus  Brightii,  so  dass  man  über  die  etwaige  Bi-auchbarkeit 
der  Extremitäten  nicht  urtheilen  konnte;  die  Hand  hätte  fuuctionii-en 
können  trotz  des  feldenden  Humerus,  und  dies  wäre  doch  immer  ein 
grosser  Vortheil  für  den  Patienten  gewesen.  —  Die  Caries  der  kurzen 
spongiösen  Knochen  und  der  Gelenkepiphysen  ist  so  innig  mit  den  Ge- 
lenkkrankheiten verknüpft,  dass  wir  erst  später  davon  sprechen  können. 

Die  Behandlung  des  allgemein  marantischen  Zustandes,  welcher 
schliesslich  bei  Knochenkrankheiten  mit  ausgedehnten  Eiterungen  eintritt, 
ist  nach  den  allgemeinen  Regeln  der  Kunst  zu  leiten ;  es  geht  das  Be- 
streben dahin,  diesen  gefürchteten  Zustand  nicht  eintreten  zu  lassen  oder 
möglichst  zu  verschieben.  Der  Arzt  hat  unter  allen  Umständen  die 
Pflicht,  das  Leben  so  lange  als  durch  die  Kunst  möglich,  zu  erhalten. 
Es  ist  also  Pflicht,  auch  bei  den  fast  sicher  verlorenen  Kranken  Alles 
aufzubieten,  was  die  Kräfte  erhalten  kann.  Ro])orirende,  tonisirende, 
kräftige  Diät  sind  hier  anzuwenden  schon  von  der  Zeit  an,  wo  sich  die 
ersten  Erscheinungen  der  Abmagerung,  des  Verfalles  der  Ernährung 
zeigen;  später  nützt  es  nichts  mehr.  Leider  haben  wir  nicht  die  Macht, 
auch  nicht  durch  die  sorgfältigste  Art  der  Nahrung  nach  physiologischen 
Principien,  den  Muskel-,  Nerven-,  Blutzustand  solcher  marantischer  Indivi- 
duen beliebig  zu  reguliren.  Damit  ein  Organismus  durch  kräftige  Nahrung 
stärker  und  stärker  werde,  muss  er  die  Fähigkeit  besitzen,  die  dargebotene 
Nahrung  assimiliren  zu  können;  sein  Verdauungsprocess  muss  regelmässig 
sein,  seine  Chylusgefässe,  seine  Darmmuskeln  müssen  energisch  functio- 
niren.  Ist  die  Ernährungssubstanz  auf  diese  Weise  wirklich  in  normaler 
Form  ins  Blut  gelangt,  dann  hängt  es  wiederum  von  der  Energie  des 
Kreislaufs  und  der  Thätigkeit  der  Gewebe  ab,    ob  sie  das  Dargebotene 


5^3  Von  der  chronischen  Entzündnng  des  Periostes,  der  Knochen  etc. 

annelimeii  und  zu  eigner  Substanz  umbilden  oder  es  einfach  durch  sich 
hindurch  passiren  lassen.  Endlich  müssen  auch  die  der  Ernährung- 
schädlichen  Auswurfsstoffe  in  regelmässiger  Weise  entfernt  werden.  Der 
menschliclie  Organismus  ist  eine  enorm  complicirte  Maschine,  die  nicht 
nur  durch  Heizungsmaterial  bewegt  wird,  sondern  auch  ihre  eigne  Sub- 
stanz durch  dieses  Heizungsmaterial  erhalten,  die  schadhaften  Stellen 
ausbessern ,  die  Kader  und  Getriebe  schmieren  soll.  Wir  können  einen 
kranken  und  gesunden  Menschen  durch  Entziehung  von  Nahrung  wohl 
schwach  machen  und  ihn  endlich  verhungern  lassen,  doch  wir  können 
weder  einen  kranken  noch  einen  gesunden  Menschen  nach  Beliel)en  fett 
machen. 

Bei  Kindern  und  jungen  Leuten  kann  sich  der  junge  Arzt  auch  gar 
leicht  iil)er  den  Kräftezustand  täuschen,  und  Sie  werden  selbst  noch  die 
Erfahrung  genugsam  machen ,  dass  ganz  elende  Individuen,  abgemagert 
zum  Skelett,  anämisch  im  höchsten  Grade,  sich  wunderbar  und  unerwartet 
erholen,  wenn  die  kranke  Extremität,  die  ihnen  das  Leben  zu  verzehren 
schien,  amputirt  wurde,  denn  dass  unter  solchen  Umständen  von  Ee- 
sectionen  selten  Erfolg  zu  erwarten  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Wie  weit 
man  hier  mit  dem  Princip  der  Erhaltung  der  Gliedmaassen  durch  Aus- 
sägung der  kranken  Knochentheile  gehen  darf,  lässt  sicli  nui-  in  einem 
individuellen  Fall  und  auch  da  nur  annäliernd  sicher  prognosticiren. 


Vorlesung  34. 

Nekrose.    Aetiologisches.    Anatomische  Verliältnisse  bei  der  Necrosis  totalis  und  partialis. 
Symptomatologie  und  Diagnostik.    Behandlung.    Sequestrotomie. 

Meine  Herren! 

Wiederholt  ist  schon  die  Rede  gewesen  von  „Nekrose"  (von  vexQog 
Leichnam),  und  Sie  wissen  bereits,  dass  man  darunter  den  Brand  der 
Knochen  versteht,  den  Tod  eines  Knochens  oder  Knochentheils;  auch 
habe  ich  Ihnen  schon  mitgetheilt,  dass  der  abgestorbene  Knochen  den 
Namen  Sequester  hat.  Ferner  ist  Ihnen  bereits  bekannt,  dass  die 
Nekrose  sowohl  als  Folgezustand  acuter  Processe  auftreten  kann,  als 
dass  sie  auch  in  Gemeinschaft  mit  Verschwärungsprocessen  vorkommt, 
als  „Caries  necrotica". 

Wie  bei  jedem  Absterben  eines  Körpertheils  ist  das  Aufhören  der 
Circulation  auch  die  unmittelbare  Ursache  der  Nekrose,  während  das 
Aufhören  der  Nerventhätigkeit  diesen  Process  nicht  zur  Folge  hat,  wenn 
auch  eine  Ernährungsstörung,  eine  Atrophie  der  Knochen  an  gelähmten 
Theilen  zuweilen  beobachtet  wird.  Mittelbar  kann  die  Nekrose  durch 
verschiedene  Vorgänge  bedingt  sein;  wir  wollen  dieselbe  hier  kurz  zu- 
sammenstellen: 


Vorlesung  34.     Capitel  XVI.  529 

1.  Traumatische  Einflüsse.  Hierliin  g-eliören  starke  Erscliütte- 
rung-  und  Quetschung-  des  Knochens  auch  ohne  äussere  Wunde;  der  Vor- 
gang- ist  folgender;  in  Folg-e  der  genannten  Verletzung  entstehen  Extra- 
vasate im  Knochenmark,  auch  in  den  spong-iösen  Knoclien,  vielleicht 
auch  in  der  compacten  Knochensu1)stanz,  zuweilen  unter  dem  Periost; 
sind  diese  Gefässzerreissung-en  von  einer  solchen  Ausdehnung-,  dass  ihre 
Folg-eu  durch  den  im  Knochen  schwierig  herzustellenden  Collateralkreis- 
lauf  nicht  ausg-eglichen  werden,  so  wird  ein  Theil  des  Knochens  kein 
Blut  mehr  erhalten;  er  wird  absterben  und  es  kann  je  nach  Umständen 
eine  Nekrosis  centralis  oder  superficialis  oder  totalis  (letzteres  am  leich- 
testen bei  kleinen  Knochen)  entstehen.  Das  todte  Knochenstück  liegt 
als  fremder  Körper  im  Organismus,  doch  ist  es  noch  in  Continuität  mit 
dem  gesunden  Knochentheil;  wie  die  Lösung  des  Sequesters  durch  Ein- 
schmelzung-  der  Knochensubstanz  an  der  Grenze  des  Lebendigen  erfolgt, 
ist  schon  früher  (pag-.  229)  erörtert.  —  Eine  andere  Art  der  Verletzung* 
ist  die  Freilegung*  der  Knochenoberfläche  oder  die  Durchsägung"  eines 
Knochens,  wobei  die  Sägefläche  zur  Knochenoberfläche  wird;  bei  com- 
plicirten  Fracturen  kann  ein  Knochenstück  so  von  den  Weichtheilen  ent- 
blösst  und  dadurch  so  der  Circulation  beraubt  sein,  dass  es  nekrotisch 
wird.  Dass  der  entblösste  Knochen  nicht  immer  nekrotisch  wird,  ebenso 
wenig-  wie  die  Säg-eflächen  der  Knochen,  dass  der  Knochen  vielmehr 
ebenso  wie  die  Weichtheile  unmittelbar  Granulationen  produciren  kann, 
ist  auch  schon  früher  aus  einander  gesetzt.  Dennoch  kommt  nach  den 
genannten  Veranlassungen  oberflächliche  und  partielle  Nekrose  oft  genug 
vor,  indem  entweder  ausgedehnte  Gerinnungen  in  den  Enden  der  ver- 
letzten Knochengefässe  entstehen,  oder  die  Gefässe  bei  sehr  acuter  Eite- 
rung in  den  Haversischeu  Canälen  comprimirt  werden  und  auseitern. 

2.  Acute  Periostitis  und  Ostitis,  Osteomyelitis  sind  sehr 
häufige  Ursachen  von  zuweilen  sehr  ausgedehnten,  besonders  von  totalen 
Nekrosen  langer  Röhrenknochen.  Bei  der  Vereiterung  des  Periostes 
wird  die  Blutzufuhr  durch  diejenigen  Gefässe,  w^elche  vom  Periost  aus 
in  den  Knochen  eintreten,  aufgehoben;  auch  setzt  sich  die  Eiterung  in 
und  durch  die  Haversischen  Canälchen  fort  bis  zum  Mark;  vereitert 
auch  letzteres,  so  ist  die  Nekrose  unvermeidlich  und  wird  sich  so  weit 
erstrecken,  als  der  entzündliche  Process  reichte.  Ganz  dieselbe  Folge 
wird  bei  primärör  acuter  Ostitis  und  Osteomyelitis  mit  secundärer  Peri- 
ostitis eintreten. 

3.  Chronische  Ostitis  und  Periostitis  können  sich  mit  Ne- 
krose combiniren,  indem  ganz  in  analoger  Weise  wie  beim  acuten  Pro- 
cess Eiterung,  Zerfall  der  entzündlichen  Neubildung  zu  Detritus  oder 
Verkäsung  derselben  sich  in  den  Knochen  hinein  erstreckt  und  die  Cir- 
culation in  letzterem  so  beeinträchtigt,  dass  ein  Theil  des  Knochens  gar 
nicht  mehr  ernährt  wird  und  daher  nekrotisiren  muss;   die   atouischen 

Billrotli  cliir.  l'ath.  u.  Ther.   7.  Aufl.  O-t 


530  ^"^^  ^^''  Nekrose. 

Formen  der  Caries  führen  leichter  zu  Nekrose  als  die  fungösen,  was 
auch  schon  früher  erörtert  wurde. 

Von  mehr  theoretischer  als  practisch  erwiesener  Bedeutung  ist  die 
Nekrose,  welche  nach  Thrombose  oder  Embolie  des  Hauptstammes  einer 
Art.  nutritia  ossis  entstanden  gedacht  wird.  Durch  Sectionen  an  ]Men- 
schen  ist  diese  Art  von  Nekrose  bisher  kaum  sicher  festgestellt;  sie  ist 
auch  höchst  unwahrscheinlich,  weil  der  arterielle  Zufluss  im  ausgewachsenen 
Knochen  von  so  vielen  Seiten  erfolgt,  dass  die  Verstopfung  eines  von 
den  vielen  zuführenden  Gefässstämmen  nicht  genügt,  die  Circulation 
in  einem  irgendwie  erheblichen  Theil  de»  Knochens  völlig  zu  unter- 
brechen. Wenn  der  Collateralkreislauf  im  Knochen  aus  mechanischen 
Gründen  auch  nicht  sehr  wesentlich  durch  Erweiterung  der  Gefässe  sich 
bemerklich  machen  kann  und  daher  bei  ausgedehnten  capillaren  Stasen 
immer  die  Gefahr  partieller  Nekrosen  eintritt,  wie  früher  hervorgehoben 
wurde,  so  ist  doch  durch  den  Zusammenhang,  die  Anordnung  und  gleich- 
massige  Vertheilung  der  Capillaren  selbst  in  der  festen  Corticalsubstanz 
dafür  gesorgt,  dass,  wenn  der  Zufluss  von  einer  Seite  her  unterbrochen 
wird,  er  von  einer  andern  Seite  her  erfolgen  kann;  es  giebt  im  Kno- 
chen keine  so  abgegrenzten  Capillarnetze  und  Capillargruppen  wie  z.  B. 
in  der  Haut,  sondern  alle  Capillaren  hängen  continuirlich  innig  nach 
allen  Eichtungen  zusammen  wie  auch  im  Muskel.  —  Man  hat  zwar  Ex- 
perimente an  Kaninchen  angestellt  der  Art,  dass  man  mit  einem  kleinen 
Stift  das  Foramen  nutritium  im  oberen  Theil  der  Tibia.  verstopfte  und 
sah  darnach  partielle  Nekrose  um  den  Stift  herum  eintreten;  ich  habe 
diese  Experimente  nachgemacht  und  denselben  Effect  erzielt,  wenn  ich 
den  Stift  an  irgend  einer  anderen  Stelle  des  Knochens  einschlug,  und 
glaube  daher,  dass  diese  experimentell  hervorgebrachte  Nekrose  ihre 
Erklärung  nur  in  der  besonderen  Art  der  Knochenverletzung  findet. 

Es  wird  zweckmässig  sein,  jetzt  zuerst  auf  den  anatomischen  Vor- 
gang der  Nekrose,  besonders  derjenigen  nach  acuter  Periostitis  und 
Osteomyelitis  näher  einzugehen.  Schon  früher  habe  ich  Ihnen  bei  ver- 
schiedenen Gelegenheiten,  sowohl  bei  dem  Heilungsprocess  der  Fracturen 
als  bei  der  chronischen  Ostitis  und  Periostitis  gesagt,  dass  die  Umge- 
bung solcher  Eiterheerde  fast  immer  in  der  Art  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen wird,  dass  sich  auf  und  im  Knochen  Osteophyteu  bilden,  an  deren 
Entwicklung  das  Periost  (nach  Fracturen  auch  die  umgebenden  Theile) 
einen  sehr  wesentlichen  Antheil  haben.  Während  nach  Fracturen  diese 
Knochenneubildung  unter  dem  Namen  „Callus"  die  solide  Heilung  ver- 
mittelt, ist  dieselbe  bei  der  chronischen  Ostitis  und  Periostitis  mehr  ein 
beiläufiges  Reizungsproduct,  das  in  der  Folge  keine  weitere  Bedeutung 
gewinnt.  Aehnlich  ist  es  auch  bei  den  oberflächlichen  Nekrosen:  wenn 
sich  um  den  Krankheitsheerd,  sei  es  bei  der  Exfoliation  eines  platten 
Schädelknochens,  sei  es  bei  der  Sequestrirung  einer  Sägefläche,  der 
Knochen  durch  neue  Auflagerungen  von  Osteophyten  in  der  Nähe  des 


Voviosiins  ?A.     Cupilcl   XVT. 


531 


ScqneRters  verdickt,  so  liat  dies  keine  weitere  practische  Consequenz. 
Andci'S  ist  es  sclioii  bei  com])licirten  Fracturen;  wenn  liier  Nekrose  der 
Bruclienden  oder  i^'rösstentlieils  gelöster  Fragmente  eintritt,  so  liilft  die 
in  der  Umgebung-  auftretende  Knoelienneubildung  niclit  allein  die  künftige 
Festigkeit  des  Knochens  vermitteln,  sondern  es  kann  auch  wohl  kommen, 
dass  das  sequestrirte  Knochenstück  ganz  von  den  jungen  Knochen- 
wucherungen umschlossen  wird  und  zum  Theil  künstlich  wieder  entfernt 
werden  muss.  Die  höchste  Bedeutung  gewinnt  aber  die  er- 
wälmte  Knochenneubildung  bei  der  totalen  Nekrose  ganzer 
Diapliysen;  sie  ist  dazu  bestimmt,  den  Knochen,  der  ver- 
loren geht,  wieder  zu  ersetzen.  Diesen  äusserst  wichtigen  und 
von  der  Natur  so  wundervoll  eingerichteten  Process  müssen  wir  jetzt 
nälier  ins  Auge  fassen.  Wir  gehen  dabei  von  einer  acuten  totalen  Peri- 
ostitis und  Osteomyelitis  mit  Nekrose  der  Diaphyse  etwa  der  Tibia  aus. 
Das  ganze  Periost  und  das  Knochenmark  ist  vereitert;  im  Innern  des 
Knochens  zerfällt  der  Eiter  zu  Detritus  oder  fault  geradezu;  der  Periost- 
eiter  hat  an  mehren  Stellen  die  Haut  nach  aussen  durchbi-ochen,  in  der 
genannten  Diaphyse  hat  die  Circulation  aufgehört;  die  ganze  Dia- 
physe ist  Sequester;  im  Längenschnitt  stellt  sich  das  Verliältniss. 
folgendermaassen  heraus  (Fig.  00): 


Totale  Nekrose  der  Diaphyse  der  Tibia.     Schematisciie  Zeiclnuing. 

a  der  sequestrirte  Knochen;  b,  h  die  obere  und  untere  Grenze  desselben; 
c,  c  Eiter,  welcher  den  Sequester  umspült,  bei  d,  d  nach  aussen  durch- 
gebrochen und  entleert.  Die  dunkelste  Schicht  e,  e  ist  die  Wandung 
der  grossen  Eiterhöhle,  welche  aus  plastisch  infiltrirtem  Gewebe  (Binde- 
gewebe, Sehnengewebe,  auch  wohl  Muskel)  besteht  und  an  ihrer  Innen- 
fläche, welche  dem  Sequester  zugewandt  ist,  wie  jede  Eiterhöhle  eine 
Granulationsschicht  trägt,  an  deren  dem  Sequester  zugewandter  Fläche 
stets  neuer  Eiter  producirt  wird.  Ich  will  hier  gleich  erwähnen,  dass 
diese  Darstellung  wie  schon  bei  der  acuten  Periostitis  von  derjenigen 
anderer  Chirurgen  und  Anatomen  dadurch  etwas  abweicht,  dass  jene 
annehmen,   der  sehnige  Theil  des  Periostes  werde  wie  eine  Blase  vom 

34* 


^32  ^"^^  ^*^^"  Nekrose. 

Knochen  durch  den  Eiter  abgehoben;    dies  ist  deshalb   unrichtig',   weil 
der  sehnige  Theil  des  Periostes  nicht  so  elastisch  ist,    dass  er  sich  wie 
eine  Epiderraisblase  rasch  abheben  lässt,  und  weil  diese  Abhebung  dann 
an  denjenigen  Stellen  fehlen  mtisste,  wo  das  Periost  fehlt,  d.  h.  wo  sich 
Sehnen  an  den  Knochen  ansetzen;  letzteres  ist  nicht  der  Fall.    Die  Ent- 
zündung   und    Eiterung    beginnt    theils    aus     der     Oberfläche     des 
Knochens,  theils  in  dem  weicheren  Theil  des  Periostes,  Inder 
äusseren   Schicht  desselben;    die   sehnige   Schicht   nimmt   wenig  Antheil 
daran,    geht  vielmehr   zum  grossen  Theil   durch  Zerfall  zu  Grunde;  ich 
habe  hiefür  ganz  schlagende  Sectionsbefunde.    Diejenigen  Anatomen  und 
Chirurgen,    welche    an    eine   Abhebung    des   Periostes    glauben,    halten 
demzufolge  die  schraffirte  Schicht  e,  e  für  infiltrirtes  verdicktes  Periost; 
dies  ist  nur  bedingt  richtig:   es  kann  sein,  dass  ein  Theil  des  Periostes 
nicht  vereitert  und  diese  Schicht  mitbildet;   indess   können  auch  andere 
umliegende  Theile  durch  plastische  Infiltration  ganz  so  indurirt  werden, 
dass  sie  eine  feste  Abscessmembran  bilden,  wie  man  dies  an  Abscessen 
von  Weichtheilen    häufig    genug    sieht.      Wer    au   der    ausschliesslichen 
Fähigkeit  des  Periostes,  Knochen  zu  produciren,  festhält,  wird  auch  hier, 
wo  in   dieser   Schicht  e,  e  in  der  Folge  die  Knochenbildung   vor  sich 
geht,  aus  theoretischen  Gründen  nur  verdicktes   Periost   sehen  wollen. 
Wir  haben  aber  schon  bei  der  Callusbildung  nach  Fracturen   gesehen, 
dass  auch  in  andern  Weichtheilen,  die  dem  Knochen  nahe  liegen,  unter 
Umständen  Knochen    in    ziemlicher    Menge    producirt    wird,    und    sind 
daher    nicht    gebunden,    in    dieser    verdickten    Schicht    noth wendig    nur 
verdicktes   Periost   sehen    zu   müssen.   —   Doch    wir  gehen    zu   schnell! 
Kommen  wir  wieder  auf  unser  Beispiel  zurück.    Die  Eiterhöhle  um  den 
Sequester  kann  sich  nicht  eher  schliesseu,   als  bis   der  Sequester  heraus 
ist;  dieser  hängt  aber  noch  an  beiden  Enden  fest.     Wie  die  Lösung  er- 
folgt,   wissen  Sie    schon;    bei   h,  b  tritt    in    der    Grenze    des    lebenden 
Knochens  eine  interstitielle  Granulationswucherung  auf,  durch  welche  der 
Knochen  hier  auf  eine  kleine  Strecke  weit  verzehrt  wird,  so  dass  endlich 
die  Knochensubstanz  an  diesen  Grenzen  ganz  durch  weiche  Granulations- 
masse ersetzt  ist,  und  damit  ist  dann  die  Lösung  des  Sequesters  gegeben 
(vergl.  pag.  229);    auch   die  hier   entstehenden  Granulationen  zerfliessen 
bis   zu   einem  gewissen  Grad,    erweichen   zu  Eiter,    und   nun   liegt  der 
Sequester  lose  in    der  ganz   mit  wuchernden  Granulationen  ausgefüllten 
Eiterhöhle.      Diese    Lösung    des    Sepuesters    braucht    bei    den    dicken 
Röhrenknochen  lange  Zeit,  gewöhnlich  mehre  Monate,  zuweilen  über  ein 
Jahr;    bis    dahin    floss   der   Eiter    immer    aus   den  Stellen   ab,    wo   der 
Durchbruch  durch  die  äussere  Haut  früher  erfolgt  war;  führen  Sie  durch 
diese  Oeffnungeu  die  Sonde  ein,  so  fühlen  Sie  während  der  ganzen  Zeit 
immer   die  meist  glatte  Oberfläche  der  Diaphyse.     Während    dieses  Lö- 
sungsprocesses  des  Sequesters  hat  sich  aber  in  der  nächsten  Umgebung 
etwas  Anderes  begeben,  was  jetzt  unsere  Aufmerksamkeit  in  Anspruch 


Vorlcymi;^-  ;'.1.     (';i|)ilcl   XVf. 


533 


nelimen  soll.  In  der  verdickten  Scliidii  <lcr  EiterliöliJc  c,  c  hat  sieh 
niindieh  juni;c  Knoehcnmasso  g'ebildet,  und  zwar  überall  ylciehniässig" 
rund  um  den  Sequester  herum  und  seiner  J>iänü,c  cntspreelicnd:  d;i  wo 
die  Verdiekunij,'ssehiclit  sich  wieder  an  das  Periost  der  Epiphysen  und 
die  Gelenkkapsel  anschlicsst,  hat  sich  die  Knochenneuhilduni^-  ebenlalls 
hin  erstreckt,  so  dass  die  Knochcnkapsel  ol)en  und  unten  innig*  mit  den 
Epiphysen  zusammenhängt.  Je  länger  der  Sequester  in  der  Höhle  drin 
steckt,  um  so  mehr  nimmt  die  Knochcnkapsel  an  Dicke  zu;  dieselbe  er- 
reicht mit  der  Zeit  eine  bedeutende  Stärke,  sie  kann  nach  Jahren,  wenn 
der  Sequester  inzwischen  nicht  herauskommt,  über  /{,  Zoll  dick  gcwoi'den 
sein  und  besteht  anfangs  aus  einer  mehr  porösen,  später  sich  jedoch 
immer  compacter  gestaltenden  Knochenmasse  von  grosser  Festigkeit.  Um 
den  Sequester  hat  sich  also  ein  förmlicher  Abguss  gebildet,  wie  man 
ihn  mit  Gyps  macht,  wenn  man  einen  Körper  abformen  will;  doch  die 
Knochenform  hat  einige  Löcher,  nämlich  da,  wo  der  Eiter  ausfliesst; 
diese  wachsen  deshalb- nicht  zu,  weil  dies  eben  durch  den  fortwährenden 
Ausfluss  des  Eiters  verhindert  wird.  Das  obige  Bild  (Fig.  90)  hat  sich 
jetzt  folgendermaassen  gestaltet  (Fig.  91): 


Fig.  Ol. 


Totale  Nekrose    der  Diaphyse    eines  Röhrenknochens    mit    gelöstem  Sequester   und  neuge- 
bildeter Knochenlade.     Schematische  Zeichnung. 

Der  Sequester  a  ist  gelöst  und  von  Eiter  umspült,  der  von  den 
fridier  schon  erwähnten  Granulationen  secernirt  wird;  d,  d  die  Fisteln, 
welche  in  die  Eiterhöhle  führen  (sie  haben  den  Namen  Kloaken  be- 
kommen); e,  e  ist  die  aus  der  Verkhöcherung  der  verdickten  Abscess- 
wandungen  hervorgegangene  Knochenkapsel,  die  sogenannte  Kn och en- 
]j^f[e.  —  Die  Verdickung  derselben  würde  nun  fort  und  fort  schreiten, 
wenn  der  Reiz,  welcher  durch  den  Sequester  ausgeübt  wird,  immer  fort- 
dauerte. Setzen  Sie  jetzt  den  Fall,  der  Sequester  wird  aus  seinem 
Käfig  herausbefördert  (wie  dies  geschieht,  davon  später),  so  ergiebt  sich, 
dass,  obgleich  jetzt  dem  Knochen  die  ganze  Diaphyse  fehlt,  doch  keine 
Störung  in  der  Continuität  desselben  vorliegt,  weil  die  neugebildete 
Knochenkapsel  den  entfernten  Knochentheil  ersetzt. 


534 


Von  der  Nekrose. 
Fig.  92. 


Fig.  91   nach  Entfernung  des  Sequesters. 


Doch  was  geschieht  jetzt?  wird  die  Höhle,  in  welcher  der  Sequester 
lag,  fort  und  fort  eitern?  Nein;  wenn  iVlles  seinen  normalen  Gang  geht, 
so  füllt  sich  diese  Höhle,  wie  ähnliche  Knochenhöhlen  bei  centraler 
Caries,  mit  Granulationen  aus;  diese  Granulationen  verknöchern,  und 
der  Knochen  ist  vollständig  restituirt,  wenigstens  der  Form  nach;  ob 
sich  in  solchen  Fällen  auch  eine  Markhöhle  wieder  bildet,  wie  nach 
Heilung  von  Fractureu,  darüber  fehlen  Beobachtungen;  es  ist  dies  jedoch 
der  Analogie  nach  nicht  unwahrscheinlich.  Die  Ausheilung  dieser 
Höhlen  dauert  nach  der  Entfernung  des  Sequesters  oft  Monate  und  Jahre 
lang,  zuweilen  erfolgt  sie  niemals  ganz,  zumal,  wenn  die  betreffenden 
Individuen  allgemein  krank  sind  oder  allgemein  krank  wurden  bei  der 
langdauernden  Eiterung,  welclie  mit  dem  ganzen  Process  verbunden  ist. 
Albuminurie  entwickelt  sich  nicht  selten  bei  diesen  langdauernden  Knochen- 
eiterungeu,  wenn  auch  in  ziemlich  milder  Form;  ob  dieselbe  nach  Aus- 
heilung der  Knochenhöhle  mit  der  Zeit  spontan  verschwinden  kann,  weiss 
ich  nicht;  es  wäre  interessant  und  prognostisch  wichtig,  Beobachtungen 
darüber  zu  sammeln.  Ist  der  Sequester  entfernt,  dann  hört  die  Ver- 
dickung der  Knochenkapsel  auf,  und  der  knochenbildende  Process  etablirt 

—  Was  ich  Ihnen 
sehen   Sie  nun  an 

diesen   schönen   Präparaten  der  anatomischen  und  chirurgischen  Samm- 
lung von  Zürich.     (Fig.  93  u.  94). 

Sie  kennen  jetzt  den  gewöhnlichen  Normalverlauf  einer  totalen 
Nekrose.  Ich  muss  Sie  noch  mit  einer  Abweichung  von  dieser  Norm 
bekannt  machen.  Sie  werden  sich  erinnern,  dass  ich  Ihnen  bei  Gele- 
genheit der  acuten  Periostitis  erzählt  habe,  dass  zuweilen  dabei  auch 
der  Epiphysenknorpel  (wo  ein  solcher  noch  existirt,  also  bei  jugendlichen 
Individuen)  vereitert.  Wenn  sich  dies  zugleich  am  oberen  und  unteren 
Ende  ereignet  (ein  übrigens  sehr  seltener  Fall),  so  ist  begreiflicher  Weise 
der  Sequester  damit  gelöst,  und  zwar  sehr  früh  gelöst,  so  früh,  dass 
noch  keine  Knochenbildung  um  die  Eiterhöhle  entstanden  sein  kann,  oder 


sich  nun   in  der  mit   Granulationen  gefüllten  Höhle, 
hier  in  schematischen  Zeichnungen  demonstrirt  habe. 


Vurlcijuiig  31.     Cupitcl  XVT. 
Fig.  93.  Fig.  !)t. 


535 


a.  Totale  Nekrose  der  Diaphyse  des  Femur  mit 
bedeutender  Knochenlade ,  durch  welche  das  ab- 
gestorbene Knochenstück  ersetzt  ist;  durch  diese 
Knochenlade  führen  mehre  ziemlich  grosse  Oeff- 
nungen  nach  innen  auf  den  Sequester.  h.  Das 
gleiche  Präparat  im  Längsschnitt. 


a.  Tibia  eines  jungen  Mannes  nach 
totaler  Nekrose  der  Diaphyse:  etwa 
zwei  Jahre  zuvor  hatte  ich  den  Se- 
quester h.  extrahirt;  die  Höhle  hat 
sich  fast  ganz  mit  Osteophyten  erfüllt. 
Patient    starb    an    einem    Karbunkel. 


dieselbe  wenigstens  sehr  seliwacli  ist.  Wird  jetzt  der  Knochen  extraliirt, 
so  hat  sich  also  noch  kein  Ersatz  gebildet,  bildet  sich  auch  ferner  nicht, 
weil  es  an  dem  nothwendigen  Reiz  fehlt,  denn  diesen  Reiz  zur  Knochen- 
production  giebt  eben  der  Sequester,  so  lange  er  noch  als  fremder  Körper 
im  Knochen  steckt;  unter  den  erwähnten  Umständen  kann  daher  die 
Extremität  knochenlos,  unbrauchbar  werden,  w^enn  der  Sequester  sehr 
früh  extrahirt  wird.  Bei  einseitiger  Vereiterung  des  Epiphysenknorpels 
z.  B.  am  unteren  Ende  des  Femur,  sitzt  der  Sequester  oben  noch  fest 
und  muss  hier  langsam  die  Knochcnschmelzung  folgen  wie  sonst.  AYird 
der  Sequester  nicht  zu  früh  entfernt,  so  kann  sich  die  um  ihn  gebildete 


536 


Von  der  Nekrose. 


Kiiocbenlade  doch  sehr  fest  an  das  Epiphyseuende  anlagern  und,  wenn 
auch  später  als  sonst,  so  fest  Averden ,  dass  das  verloren  gegangene 
Knochenstiick  vollkommen  dadurch  ersetzt  und  auch  seine  Verhindung 
mit  der  Diaphyse  vollkommen  fest  und  stark  wird.  Noch  vor  Kurzem 
beobachteten  wir  diesen  g'ttnstigen  Ausgang-  an  einem  Burschen  von  16 
Jahren.  Es  kann  sich  jedoch  auch  ereignen,  wie  ich  einen  Fall  an  der 
gleichen  Stelle  des  Oberschenkels  sah,  dass  das  untere,  im  Epiphysen- 
knorpel  gelöste  Ende  stark  von  innen  an  die  Haut  drängt  und  diese 
allmählig'  durchbohrt,  so  dass  es  zu  Tage  kommt;  die  untere  Epiphyse 
des  Femur  wurde  dabei  durch  die  Muskeln  heraufgezogen,  so  dass  fol- 
gendes Bild  entstand  (siehe  Fig.  95). 

Fis.  95. 


Nekrose    der  unteren  Hälfte  der  Diaphyse   des  Femur  mit  Lösung   des  Epiphjsenknorpels 

und  Perforation  der  Haut. 

Der  später  entfernte  Sequester  hat  folgende  Form  (siehe  Fig.  96): 


Fi^.  96. 


Der  extrahirte  Sequester  von  Fig.  95. 


Die  Knochenueubildung 
war  stark  genug,  um  später 
den  Körper  zu  tragen,  das 
Knie  wurde  in  der  Chloro- 
formnarkose grade  gestreckt 
und  es  erfolgte  vollständige 
Heilung.  Einen  ganz  glei- 
chen Fall  sah  ich  am  un- 
teren Ende  des  Humerus. 
In  beiden  Fällen  hatte  das 


Gelenk,  wie  gewöhnlich  bei  Nekrosen  in  der  Nähe  der  Gelenke, 
stark  mit  gelitten ,  und  es  trat  vollkommene  Steifheit  ein.  —  Doch  auch 
ohne  dass  durch  die  Erweichung  des  Epiphysenknorpels  eine  besonders 
frühzeitige  Lösung  des  Sequesters  erfolgt,  kann  unter  Umständen,  die 
wir  nicht  näher  kennen,  die  Knochenneubildung  sehr  sclnvach  sein,  so 
dass  nach  Lösung  des  Sequesters  der  neue  Knochen  an  einer  Stelle 
nicht  fest,  sondern  ganz  biegsam  ist;  so  liegt  dann  also  eine  Fseudar- 
throse  des  neugebildeten  Knochens  vor;  ich  sah  zwei  Fälle  der  Art; 
einen  heilte  ich  vollkommen  dadurch,   dass  ich   an   die  schwache  Stelle 


V.)rl( 


'M.    (';i|.iiri  xvr. 


■y'M 


des  iioui^'obildclcii  Kiioclions  von  Zeit  /,ii  Zeil  imiiior  wieder  Elfeiibein- 
znpi'eii  cinsehliii;'  und  so  den  Kuoelieii  zu  inniier  n(!ii(;i-  rrodiietion  zw;ui,^'; 
der  Zweck  wurde  im  VerlaiiC  von  S  jAlonMleii  \(»llkoinnien  crrciclit,  nnd 
der   diimaly  12jälirig'c  Knabe   i^'iiii;'  dann  vollkonnnen  wie  ein  gesu)ider. 

Es  luuss  lierv(»ri;'eh()beii  werden,  dass  na,cli  Ablauf  einer  Osteomyelitis 
mit  Nekrose  in  der  Nälio  eines  Gelenkes  (viel  seltener  nar-li  Fraeturcn 
in  der  Nähe  eines  Gelenkes)  ein  iibei-mässiges  J^ilng'swaclistham  (Iqv 
Knochen  beobachtet  worden  ist,  so  dass  diese  Knochen  in  einzelnen 
Fällen  um  einen  Zoll  läng'cr  werden  als  die  normalen  Knochen  der 
andern  Seite.  Leidet  das  Gelenk  nicht  erheblich  mit,  so  wird  es  nach 
Osteomyetitis  zuweilen  auffallend  schlaff  und  abnorm  beweg-lich,  vielleicht 
durch  zu  starkes  Wachsthum  der  Gelenkbänder;  dieser  Zustand  pflegt 
iudess  den  Gebrauch  der  Extremität  nicht  wesentlich  zu  stören,  und  sich 
im  Lauf  der  Zeit  wieder  zu  verlieren. 

Häufiger  als  die  vorher  geschilderten  Neki'osen  der  ganzen  Diaphyse 
sind  die  partiellen  Nekrosen  derselben,  die  entweder  die  ganze  Dicke 
oder  nur  die  halbe  Circumferenz  betreffen  können,  je  nach  der  Ausdeh- 
nung' des  osteomyelitischen  und  des  periostitischen  Processes.  Sie  können 
das  Gesagte  leicht  auf  diese  partiellen  Nekrosen  übertragen.  Hier  noch 
ein  Beispiel  davon :  an  einem  Fcmur  sei  eine  Periostitis  über  einen  Theil 
der  Diaphyse  und  danach  Nekrose  der  letzteren  aufgetreten;  die  Ver- 
hältnisse können  sich  folgcndermaassen  gestalten  (siehe  Fig.  97  und  98j: 


Partielle  Nekrose  eines  Röhrenknochens.     Schematisehe  Zeichnung. 


a  Sequester,  b,  b  seine  Grenzen,  c,  c  die  Eiterhöhle,  d  der  Durchbruch 
nach  aussen,  e,  e  die  verdickte  verknöchernde  Wandung  der  Eiterhöhle. 

Einige  Monate  später:  (Fig.  98)  a  gelöster  Sequester,  der  zu  ent- 
fernen ist,  e,  e  neugebildete  Knochenmasse  als  Ersatz  für  das  verloren 
gehende  Knochenstück;  die  Knochenneubilduug  deckt  natürlich  auch  von 
vorne  den  Sequester,  musste  aber,  wie  in  Fig.  90,  91  und  92  in  der 
Zeichnung  fortgelassen  werden,  um  den  Sequester  sichtbar  zu  macheu. 

Die  Vorgänge,  welche  wir  hier  kennen  gelernt  haben,  können  auch 
auf  die  Nekrose  an  platten  und   spongiösen   kurzen  Knochen 


538 


Von  der  Nekrose. 
Fig.  98. 


Fig.  96  im  späteren  Stadium  der  Knochenneubildung.     Schematisehe  Zeichnung. 

Fig.  99. 


Fig.  98  nach  Entfernuirg  des  ^Sequesters. 

Übertragen  werden;  doch  ist  dabei  zu  bemerken,  dass  bei  der  Nekrose 
dieser  Knochen  die  Neubildung  viel  geringer  ist,  oft  sogar  ganz  fehlt. 
In  der  Kegel  nimmt  die  entzündliche  Neubildung  bei  Erkrankung  der 
spongiösen  Knochen  mit  Nekrose  sehr  bald  den  ulcerativen  Charakter 
an,  und  dabei  kommt  es  eben  wenig  zu  ausgedehnten  Kuoehenneubil- 
dungeu;  ganz  acute,  nicht  traumatische  Periostitis  ist  ausserdem  an 
spongiösen  Knochen  etwas  sehr  Seltenes. 

Auch  nach  der  ursprünglich  rein  ossificirenden  Periostitis  und  Ostitis 
kann  ausgedehnte  Nekrose  entstehen,  wenn  nämlich  die  neugebildete 
Knochenauflagerung  an  der  Stelle,  wo  sie  mit  dem  erkrankten  Knochen 
zusammenhängt,  resorbirt  wird,  vereitert  und  verjaucht;  dadurch  wird 
der  Knochen  allmählig  in  seiner  Ernährung  sehr  beeinträchtigt;  er  lebt 
oft  noch  längere  Zeit  in  der  Markhöhle  fort  oder  führt  vielmehr  eine 
Halbexistenz  zwischen  Leben  und  Sterben;  diese  Art  von  Periostitis  und 
Nekrose  kommt  besonders  an  den  Kieferknochen  nach  der  chronischen 
Vergiftung  durch  Phosphordämpfe  vor,  eine  Krankheit,  welche  den  Ar- 
beitern in  den  Züudhölzchenfabriken  eigenthümlich  ist,  Ich  kann  hier 
auf  diese  Phosphorperiostitis  und  Phosphornekrose,  die  viele  bemerkens- 
iverthe  Eigenthümlichkeiten  besitzt,   nicht  näher  eingehen,  weil  ich  Sie 


VorlcsuDR-  84.     Cupilcl  XVT. 


530 


dabei  mit  7a\  vielen  Details  übcrscli litten  niüsste,  die  Sie  jetzt  noch  ver- 
wirren würden.  —  Halten  Sie  vorläufig  die  g-escliilderten  Verhältnisse 
der  Nekrose  an  den  Röhrenknochen  fest,  die  Abweichung-en ,  welche 
durch  die  besonderen  Umstände  in  diesem  oder  jenem  Fall  vorkonmien, 
werden  Sic  Gelegenheit  haben,  in  der  Klinik  genugsam  kennen  zu  lernen, 
da  die  Nekrose  zu  den  verhältnissmässig  liäufigeren  Knochcnkrankliciten 
gehört, 

Icli  kann  die  Anatomie  der  Nekrose  und  die  dabei  Statt  findenden 
Knochenregenerationen  nicht  verlassen,  ohne  eines  vortrefflichen  franzö- 
sischen Chirurgen  zu  erwähnen,  welcher  viele  Jahre  auf  das  Studium  der 
osteoplastischen  Thätigkeit  des  Periostes  verwandt  hat,  und  die  früheren 
Arbeiten  über  diesen  Gegenstand  von  Troja,  Flourens,  B.  Heine, 
A.  "Wagner  u.  A.  in  geistreicher  Weise  weiter  geführt  hat:  ich  meine 
Ollier,  welcher  mit  unermüdlichem  Eifer  nach  experimenteller  und 
klinischer  Seite  diese  Studien  gefördert  und  für  lange  Zeit  abgeschlossen 
hat;  ich  habe  einen  Theil  seiner  Experimente  nachgemacht  und  kann 
nach  denselben  bestätigen,  dass  bei  jungen  Thieren  die  Erlialtung  des 
Periostes  bei  Knochenexstirpationen  die  Regeneration  der  Kuoclieu  unter 
gewissen  Verhältnissen  wesentlich  befördert. 


Fio-.  100 


Seapulaeiiies  jungen  Hundes,  150  Tage  nach  Scapula  eines  jungen  Hundes  von  gleichem 

Entfernung     des     beigezeichneten     Stückes,  Wurf,  150  Tage  nach  der  gleichen  Operation, 

welches  zur  Zeit  der  Resection  den  ganzen  die    am    gleichen   Tage    ausgeführt    wurde, 

knöchernen    Theil   der   Scapula    ausmachte;  doch  Avurde  in  diesem  Fall  das  Periost  mit 

die  Gelenkfläche  und  die  Knorpelränder  so-  entfernt.  —  Gestörtes  Wachsthum;  gar  keine 

wie  das  ganze  sorgfältig  afelöste  Periost  war  Regeneration  des  resecirten  Stückes. 
erhalten.     —    Ungestörtes    Wachsthum    des 
Knochens,  fast  vollständige  Regeneration  des 
resecirten  Stückes. 


540  ^*^"  *l^^'  Nekrose. 

Was  die  osteoplastische  Kraft  des  menscldiclien  Periostes  zumal  im  Ver- 
hältniss  zu  andern  den  Knochen  umgebenden  Weichtheilen  betrifft,  so  habe 
ich  mich  darüber  im  Verlauf  dieser  Vorlesungen  wiederholt  ausgesprochen, 
und  finde'  die  darüber  aufgestellten  Ansichten  bisher  durch  jede  neue 
Erfahrung  bestätigt.  Neue  interessante  Gesichtspunkte  über  Knochen- 
wachsthum  sind  in  neuester  Zeit  von  J.  Wolff  aufgestellt.  Er  sucht 
durch  mannichfach  modificirte  Versuche  und  Eeflexionen  darzuthun,  dass 
das  Wachsthum  der  Knochen  Avesentlich  interstitiell  sei  und  durch  eine 
Art  langsamer  Expansion  zu  Staude  komme.  Seine  Darstellung  und 
Auffassung  dieser  Verhältnisse  haben  eine  lebhafte  Discussion  hervorge- 
rufen, und  zu  wiederholten  Prüfungen  der  älteren  von  Flourens  schema- 
tisirten  Auffassung  Veranlassung  gegeben,  nach  welchen  das  Wachsthum 
der  Eöhrenknochen  im  Wesentlichen  durch  die  Epiphysenknorpel  ver- 
mittelt wird.  Die  neuesten  Versuche  von  Maas  und  Wegen  er  haben 
diesen  älteren  Anschauungen  wieder  ihre  vollständige  Haltung  verschafft. 


Wir  gehen  zu  den  Symptomen  und  der  Diagnose  der  Nekrosen 
über.  Man  nennt  eine  Knochenkrankheit  von  der  Zeit  an  Nekrose,  wo 
es  entschieden  ist,  dass  ein  Theil  des  Knochens  oder  ein  ganzer 
Knochen  abgestorben  ist,  bis  dahin,  wo  der  Sequester  extrahirt  ist;  die 
spätere  Ausheilung  der  Knochenhöhle  ist  meistens  eine  einfache,  gesunde 
Granulationsentwicklung  mit  Eiterung,  die  freilich  auch  den  geschwürigen 
Charakter  annehmen  kann.  —  Es  wird  sich  also  darum  handeln,  wie 
erkennen  wir,  dass  ein  Theil  nekrotisch  ist?  Dies  kann  in  manchen 
Fällen  sehr  einfach  sein,  nämlich  da,  avo  der  nekrotische  Knochen  zu 
Tage  liegt,  also  in  allen  Fällen,  wo  Nekrose  nach  Entblössung  des 
Knochens  folgt:  der  abgestorbene  Knochen  sieht  ganz  Aveiss  aus,  wird 
jedoch  in  manchen  Fällen  wohl  auch  schAvärzlich,  wie  andere  vertrock- 
nende, nekrotisirende  Gewebstheile.  Der  Knochenbrand  kann,  soweit 
er  die  KnochensuBstanz  betriffst,  immer  nur  ein  trockner  sein;  die  weichen 
Theile  im  Knochen,  die  Gefässe,  das  Bindegewebe  und  Mark  können 
jedoch,  wie  andere  Weichtheile,  dem  trocknen  oder  feuchten  Brand 
verfallen;  eine  vollkommene  Vertrocknung  tritt  fast  in  allen  Fällen  ein, 
wo  der  Knochen  der  Luft  exponirt  ist,  frei  zu  Tage  liegt;  mit  dieser 
Necrosis  superficialis  ist  daher  selten  ein  Fäulnissprocess,  selten  übler 
Geruch  verbunden.  Bei  tiefer  liegender  Nekrose,  z.  B.  der  ganzen 
Diaphyse  oder  bei  nekrotisirenden  Säge-  oder  Bruchflächen,  welche  tief 
unter  den  Weichtheilen  stecken,  erfolgt  gewöhnlich  Fäulniss  des  Markes- 
der  Gestank,  welchen  ein  grosser,  extrahirter  Sequester  verbreitet,  ist 
zuweilen  äusserst  penetrant.  Dies  faulende  Knochenmark  ist  so  lauge 
für  den  Organismus  gefährlich,  als  sich  noch  keiae  Demarcationslinie 
gebildet  liat,  so  lange  die  Lymphgefässe  der  unmittelbaren  Umgebuug 
noch   offen  sind;  ist  die  Gewebswucherung  im  Knochen  an  der  Grenze 


Vorlosiiiis  .".'1.     Capilel  XVT.  541 

des  Gesunden  erfolgt,  dann  bildet  die  Omnulationsscliielit  einen  Wall, 
durch  welelien  liindureli  niclit  leielit  ]vesori)tion  eribli^'t  so  lange  das 
Ovanulationsgewebe  gesund  ist,  und  nicht  etwa  selbst  der  Entzündung 
und  Gangrän  verfällt.  —  Wie  erkennt  man  nun  einen  in  der  Tiefe 
steckenden  Sequester?  Dies  kann  in  exacter  Weise  nur  durch  die  Soinle 
geschehen.  Man  führt  durch  die  Oeffnungen,  aus  welchen  der  Eiter  aus- 
fliesst,  eine  möglichst  starke  Sonde  ein,  und  wird  mit  dieser  die  meist 
glatte,  feste,  seltner  rauhe,  weiche  Oberfläclie  des  Sequesters  fühlen;  man 
sucht  die  Sonde  auf  demselben  entlang  zu  schieben,  um  sich  von  der 
Länge  des  Sequesters  zu  überzeugen;  ferner  drückt  man  die  Sonde  fest 
auf  den  Sequester  an,  um  womöglich  zu  ermitteln,  ob  der  Sequester  l)eweg- 
lich,  gelöst  ist,  oder  ob  er  noch  ganz  fest  sitzt;  dies  ist,  wie  Sie  schon 
begreifen,  wichtig  für  die  Frage,  ob  man  schon  an  die  Extraction  des 
Sequesters  denken  kann.  —  Eine  weitere  Beihülfe  zur  Diagnose  ist,  dass 
die  betreffende  Extremität  erheblich  verdickt  ist,  man  fühlt  die  massen- 
hafte Knochenneubildung;  aus  den  Oeffnungen  fliesst  ein  dicker,  gelber, 
oft  schleimiger  Eiter:  der  Knochen  ist  auf  Druck  nicht  besonders  schmerz- 
haft; das  vorsichtige  Sondiren  ist  in  der  Kegel  auch  nicht  schmerzhaft, 
wenn  es  auch  von  den  Kranken  oft  sehr  gefürchtet  wii-d,  weil  es  von 
manchem  Arzt  unnöthig  oft,  gewaltsam  und  doch  resultatlos  ausgefülirt 
wird.     Der  Kranke  ist  fieberfrei. 

Hiernach  werden  Sie  in  vielen  Fällen  die  Nekrose  leicht  diagnosti- 
ciren  können;  so  lange  keine  Oeffnungen  nach  aussen  bestehen,  ist  die 
Diagnose  auf  centrale  Nekrose  eines  Knochens  inmier  sehr  misslich.  — 
Verwechselt  kann  die  Nekrose  fast  nur  mit  der  Caries  werden;  die  Art 
der  Entstehung,  die  Localität  thut  hier  schon  sehr  viel  zur  Entscheidung, 
denn  Nekrose  entsteht  häufiger  in  Folge  acuter  oder  subacuter  Entzün- 
dung an  Röhrenknochen  (Femur,  Tibia,  Humerus),  Caries  häufiger  lang- 
sam an  spongiösen  Knochen  oder  Knochentheilen ;  —  doch  auch  die 
objectiven  Symptome  sind  verschieden:  bei  Caries  wenig  Knochenbildung 
in  der  Umgebung  des  Geschwürs,  oft  gar  keine  solche  zu  fühlen,  bei 
Nekrose  viel  Knochenbildung;  bei  Caries  dünner,  schlechter,  seröser 
Eiter,  bei  Nekrose  meist  dicker,  oft  guter,  häufig  schleimiger  Eiter;  bei 
Caries  stösst  man  mit  der  Sonde  in  den  morschen  Knochen  hinein,  und 
dies  ist  gewöhnlich  ziemlich  schmerzhaft,  bei  Nekrose  stösst  die  Sonde 
meist  auf  den  festen  Sequester,  die  Sondirung  ist  oft  schmerzlos.  —  Aus 
diesem  Vergleich  der  Erscheinungen,  die  sich  aus  dem  verschiedenen 
Wesen  beider  Krankheiten  ergeben,  werden  Sie  die  Möglichkeit  der 
Diagnose  zugeben  müssen,  und  in  sehr  vielen  Fällen  ist  sie  in  der  That 
äusserst  leicht  und  einfach.  Andere  Fälle  sind  schwieriger  in  ihren  ana- 
tomischen Verhältnissen  zu  verstehen:  wenn  sich  Nekrose  mit  Caries 
combinirt,  sprechen  alle  Erscheinungen  mehr  für  Caries  mit  Ausnahme 
davon,  dass  man  das  nekrotische  Knocheustück  durch  die  Sondirung 
erkennt.     Bei   Caries   centralis   der   Röhrenknochen   kommen  ausnahms- 


54^  Von  der  Nekrose. 

weise  enorme  Verdickungen  des  Knoeliens  vor,  auch  kann  dabei  die 
lunenwandung  der  Knoclienliöhle  sehr  fest  und  hart  wie  ein  Sequester 
anzAifühlen  sein;  diese  Fälle  können  zu  Irrthümern  Veranlassung  geben; 
man  öffnet  die  Höhle  und  findet  keinen  Sequester,  wie  man  Ternuithet 
hatte ;  möglich  ist,  dass  in  diesen  allerdings  seltenen  Fällen  der  vielleicht 
nicht  sehr  grosse  Sequester  resorbirt  war,  worüber  gleich  mehr.  —  Diese 
Ausnahmefälle  stossen  aber  die  allgemeinen  Regeln  nicht  um,  und  Sie 
haben  sich  daher  vorläufig  an  die  oben  aufgestellte  vergleichende  Dia- 
gnostik zu  halten.  — 

Jetzt  iioch  einige  Bemerkungen  über  das  Schicksal  des  Sequesters. 
AVas  meinen  Sie?  sollte  das  abgestorbene  Knochenstiick  nicht  resorbirt 
werden  können?  habe  ich  Ihnen  nicht  wiederholt  bemerkt,  dass  todter 
Knochen  durch  die  Granulationen  aufgelöst  und  verzehrt  werden  kann? 
Man  sollte  also  erwarten,  das  die  Elimination  des  Sequesters  keiner 
Hülfe  bedarf.  Es  unterliegt  nach  meinen  Beobachtungen  gar  keinem 
Zweifel,  dass  kleinere  Sequester  von  kräftig  wachsenden  Granulationen 
vollständig  verzehrt  werden  können;  doch  Granulationen,  welche  sieh  in 
fortwährendem  Zerfall  befinden  oder  verkäsen,  besitzen  keine  Knochen 
auflösende  Kraft;  wir  haben  schon  früher  bei  der  Caries  besprochen, 
dass  gerade  deshalb  bei  atonischer  eitriger  und  verkäsender  Ostitis  so 
leicht  partielle  Nekrose  vorkommt,  weil  die  entzündliche  Neubildung, 
welche  wegen  Gefässmangel  gleich  wieder  zerfällt,  den  Knochen  nicht 
auflöst,  letzterer  vielmehr  im  Organismus  gewissermaassen  macerirt  wird. 
—  Die  Resorption  der  Sequester  hat  ihre  Grenzen:  zunächst  erfolgt  na- 
türlich keine  Resorption  da,  wo  der  Knochen  frei  zu  Tage  liegt,  denn 
hier  wirken  die  Granulationen  gar  nicht  ein ;  ferner  hört  die  Resorption 
auf,  so  bald  sie  auf  ihrer  Oberfläche  Eiter  secerniren;  der  Sequester, 
welcher  nach  acuter  Periostitis  entsteht,  wird  also  an  der  Stelle,  wo  das 
Periost  vereiterte  und  wo  nun  während  des  ganzen  Processes  Eiter  se- 
cernirt  wird,  gewöhnlich  nicht  resorbirt  werden,  weil  er  nicht  mit  den 
Granulationen  in  engen  Contact  kommt;  an  allen  Stellen  aber,  wo  der 
Sequester  gelöst  wird,  tritt  eine  Resorption  durch  die  an  der  Grenze 
des  lebendigen  Knochentheils  sich  bildende  interstitielle  Granulationsmasse 
ein;  producirt  zuletzt,  wenn  der  Sequester  gelöst  ist,  auch  diese  Granu- 
lationsmasse Eiter,  so  hört  auch  hier  die  Resorption  auf,  und  der  jetzt 
von  Eiter  umspülte  Sequester  wird  dann  nicht  mehr  verkleinert;  die  von 
allen  Seiten  auf  den  Sequester  zuwachsenden  Granulationen  der  Eiter- 
höhlen verändern  sich  übrigens  auch  chemisch  im  Lauf  der  Zeit,  sie 
werden  gallertig,  schleimig  und  erleiden  sehr  häufig  eine  fettige  Dege- 
neration. —  Der  Sequester  muss  aber  doch  schliesslich  heraus!  Kann  er 
wohl  von  selbst  herauskommen ?  Dies  kommt  vor;  woher  die  bewegende 
Kraft,  welche  ihn  herausschiebt?  Denken  Sie  sich  eine  centrale  Nekrose, 
etwa  der  Tibia;  ein  Sequester  löst  sich  von  allen  Seiten  ab,  ist  dann 
aus  den  eben  angeführten  Gründen  erheblich  kleiner  als  die  Höhle,  in 


VoriosiniK  ?,\.    Ciipiffi  xvr.  543 

welcliev  er  lici^'t;  das  Kuocliciistiick  ist  Jetzt  i^-aiiz  lose;  von  allen  Seiten 
wachsen  (Tranulationen  auf  lim  zu,  nur  nielit  von  der  Seite  her,  wo  die 
Eiterlnilde  naeli  aussen  mündet;  liier  ist  kein  Widerstand;  ist  die  Oettnung- 
gross  genug-  und  entspricht  sie  dem  einen  Knde  des  Se(|uestcrs,  so  treiljcn 
die  nachwachsenden  Granulationen  den  Sequester  hier  heraus.  -  Kieizii 
gehören  also  ganz  bestimmte  mechanische  Bedingungen,  die  seilen  i-v['i\\\\ 
sind;  kleine  Sequester  werden  öfter  von  selbst  ausgestossen,  grosse  Se- 
quester, die  nicht  aus  den  bestehenden  Oeffnungen  heraus  können,  müssen 
künstlich  herausgeholt  werden. 

Die  Behandlung  der  Nekrose  wird  anfangs  einfach  im  Reinhalten 
der  Fisteln  bestehen.  An  eine  künstliche  chemische  Aufb'isung  des  Se- 
questers kann  nicht  gedacht  werden.  Gössen  Sie  täglich  Salzsäui'c  in 
die  Fistelöffnungen,  so  würde  diese  ebenso  sehr,  ja  'mehr  die  neugebil- 
dete Knochensubstanz  von  innen  her  auflösen,  als  den  Sequester,  und 
das  wäre  sehr  übel,  denn  die  Knochenneul)ildung  muss  ja  den  Sequester 
ersetzen.  Es  bleibt  also  nichts  als  die  mechanische  Entfernung  des 
Sequesters.  Diese  soll  nicht  eher  gemacht  werden,  als  bis 
der  Sequester  gelöst  ist.  Ein  sehr  wichtiger  Satz,  der  erstens  darin 
begründet  ist,  dass  die  Lossägung  des  todten  Knocheustücks  selten  mög- 
lich ist,  ohne  vom  gesunden  und  vom  neugebildeten  Knochen  viel  zu 
entfernen,  was  beides  vom  Uebel  ist,  und  zweitens,  weil  die  Knocheu- 
neubildung  selten  fest  genug  ist,  ehe  der  Sequester  gelöst  ist.  In  der 
Regel  erfolgt  die  Lösung-  des  Sequesters  nicht  eher,  als  bis  die  Knochen- 
neubildung- stark  genug  ist,  das  verlorene  Knochenstück  zu  ersetzen.  Die 
Kunst  darf  dies  practisch  wichtige  Resultat  der  Beobaclituug  nicht  durch 
zu  grosse  Geschäftigkeit  beeinträchtigen.  —  Nur  wenige  specielle  Aus- 
nahmen giebt  es  von  der  obigen  Regel,  zumal  bei  der  Phosphornekrose; 
diese  ist  eben  keine  reine  Nekrose,  sondern  sehr  oft  mit  jauchiger  Ostitis 
combinirt,  wovon  mehr  in  der  speciellen  Chirurgie  und  in  der  Klinik.  — 
Dass  man  zuweilen  mit  der  Sonde  erkennen  kann,  ob  ein  Sequester  lose 
ist,  habe  ich  Ihnen  schon  gesagt;  doch  nicht  immer  ist  dies  der  Fall; 
der  Sequester  kann  so  von  den  Granulationen  eingepresst  sein,  dass  er 
desshalb  nicht  l)eweg-lich  gefühlt  wird;  die  Beweglichkeit  eines  sehr 
grossen  Sequesters  ist  ebenfalls  sehr  schwer  zu  constatiren;  auch  kann 
die  gebogene  Form  des  Knochens  (z.  B.  des  Unterkiefers)  die  Entschei- 
dung über  Beweglichkeit  des  Sequesters  sehr  erschweren.  In  solchen 
zweifelhaften  Fällen  ist  die  Dauer  des  Processes  und  die  Dicke  der 
Knochenlade  eine  wichtige  Beihülfe  zur  Entscheidung,  ob  der  Sequester 
gelöst  ist  oder  nicht.  In  8 — 10  Monaten  pflegen  die  meisten  Sequester 
gelöst  zu  sein,  in  einem  Jahr  pflegt  selbst  eine  ganze  nekrotische 
Diaphyse  als  loser  Sequester  in  der  neugebildeten  Knochenlade  zu  liegen. 
Dies  sind  approximative  leitende  Bestinnnungen,  die  natürlich  Ausnahmen 
erleiden  können.  Ist  die  Knochenbildung  noch  schwach  und  doch  der 
Sequester  schon  lose,  so  thut  man  gut,  an  Humerus,  Tibia,  Femur,  die 


544  ^o"  *isi'  Nekrose. 

Extraction  noch  zu  verschieben,  damit  die  Knocheubildimg  noch  stärker 
wird,  vorausgesetzt,  dass  das  Allgemeinbefinden  nicht  leidet.  Tritt  Al- 
buminurie ein,  so  ist  die  Sequesterextraction  zu  beschleunigen. 

Die  Extraction  der  Sequester,  zumal  wenn  sie  vorbereitender  Erwei- 
terungen  der  Kloaken  (der  Fisteln,   welche  in  die  Kuochenlade  hinein- 
führen)   bedarf,    nennt  man    die    Operation   der   Nekrose  oder  Se- 
questrotomie.     Diese  Operation  kann   sehr   einfach  sein;   ist  eine  der 
Oeffnungen  der  Knochenlade  ziemlich  gross  und  der  Sequester  klein,  so 
nimmt  man  eine  gut  fassende  Zange,  führt  dieselbe  in  die  Knochenhöhle 
ein,    sucht  den  Sequester  zu  fassen  und  zieht  ihn  heraus.     Ist  wie  bei 
Caries  necrotica  keine  Knocheuneubildung  vorhanden,  so  erweitert  mau 
die  Fistelöffnung  mit  einem  Schnitt  durch  die  Weichtheile  und  zieht  das 
nekrotische  Knochenstück  heraus.     Sind   aber  die  Oeffnungen  klein  und 
der  Sequester  gross,  so  muss  ein  Theil  der  Knochenlade  entfernt  werden, 
um  sowohl  Instrumente  zur  Extraction  einführen   als  den  Sequester  her- 
ausziehen zu  können.    Selten  genügt  es,  mit  Trepan,  Meissel  und  Hammer 
u.  s.  w.   eine  der  Oeffnungen    zu    erweitern;   gewöhnlich  mache  ich  die 
Operation  folgeudermaassen :    ich   führe  mit  einem'  kurzen  starken  Ee- 
sectionsmesser  einen  Schnitt  durch  die  Weichtheile  bis  auf  die  Knochen- 
lade   von    einer    Fistelöffuung    zu    einer    andern    nahegelegenen;    dann 
nehme  ich  ein  gestieltes  Schabeisen,  ein  Easpatorium,  und  ziehe  damit 
die  verdickten  Weichtheile  von  der  höckrigeu  Oberfläche   der  Knochen- 
lade ab,   so   dass   man  diese  in   einer   gewissen  Breite  und  Länge  vor 
sich  hat;  dies  Stück  der  Knochenlade  soll  nun  entfernt  werden,  um  eine 
Oeffnung    zu   bekommen,    durch    welche    der  Sequester   herausgebracht 
werden  kann.    Hierzu  kann  man  Sägen  verschiedener  Art,  das  Osteotom, 
die  Stichsäge  u.  s.  w.  gebrauchen;  ich  bin  in  der  letzten  Zeit  immer  mit 
Meissel  und  Hammer   ausgekommen;    die  Arbeit  ist  mühsam,  mau  mag 
Instrumente  nehmen,   welche  man  wolle;   das  zu  entfernende  Stück  der 
Knochenlade  sei  so   klein   als  möglicli,  um  der  Festigkeit  der  letzteren 
keinen  Eintrag  zu  thun.     Ist  die  Lade   eröffnet,   so  sieht   man  den  Se- 
quester vor  sich  liegen;   mit  hebelartigen  Instrumenten,  Elevatorien, 
oder   mit   starken  Zangen  sucht  man  den  Sequester  zu  entfernen,   eine 
ebenfalls  zuweilen  sehr  mühsame  Arbeit.     Ist  dies  vollbracht,  so  ist  da- 
mit die  Aufgabe  der  Kunst  gelöst.  —  Findet  man  wider  Erwarten  deu 
Sequester  noch  nicht  gelöst,  so  hüte  man  sich,  unnöthig  daran  herumzu- 
brechen,   sondern  warte   wieder  einige  Wochen   oder  Monate,  bis  mau 
sich  von  der  Lösung  des   freigelegten  Sequesters  überzeugt  hat.     Nach 
der  Operation  wird  die  eiternde  Knochenhöhle  reingehalten,  der  Kranke 
hütet  einige  Zeit  das  Bett,  die  Fisteln  secerniren  weit  weniger  als  früher; 
doch  dauert  es  zuweilen  noch  sehr  lange,  bis  endlich  die  Ausfüllung  der 
Sequesterhöhle  mit  ossificirenden  Granulationen  erfolgt.    Mau  kann  nicht 
viel  thun,  dies  zu  befördern,  und  die  Fisteln,  welche  unter  solchen  Um- 
ständen lange  zurückbleiben,  machen  in  der  Eegei  so  wenig  Beschwer- 


Vorlesung  'My.     Aiiliiiii^-  zu  <,'a|jil(>l   XVI.  545 

den,  dass  man  gar  niclit  bcisonders  veranlasst  Avird,  dcslialb  cnei-g-iseli 
ein/AigTcifen.  Zuweilen  bleibt  jedoch  ein  gar  /u  grosses  Loch  lange 
ofVen,  die  Wandungen  desselben  slderosireii  und  di(!  (iranubationen 
wollen  nicht  mehr  nachAvaclisen;  hier  tritl  diiim  die  Ilcli.'iiKliiing  des 
atonischen  Knochengeschwiirs  ein;  die  A])])licalion  (b-s  Fciriini  candens 
in  solche  alten  Knochenhöhlen  und  das  Ausnieisseln  dw  Kn(.chenlisteln 
ist  das  einzige  Mittel,  von  dem  ich  Iner  und  da  einigen  iM'lbIg  siili;  ni;inclie 
derartige  Knochenfisteln  sindw'ohl  unheilbar,  machen  aber  keine  Fiinctions- 
störungen  und  bleiben  besser  unangerührt. 

Die  Sequestrotomie  ist  in  ihrer  ganzen  grossen  Bedeutung  erst  im 
Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  richtig  gewürdigt.  Sie  fand  erst  recht  alb 
gemeinen  Eingang,  seitdem  das  Chloroform  in  vVnwendung  kam,  denn 
die  Operation  ist  eine  sehr  gewaltsame;  dies  Meissein,  Sägen,  Hämmern 
an  der  Knochenlade  ist  scliauderhaft  für  einen  unbefangenen  Beobachtei- 
anzuseilen,  um  so  mehr,  als  diese  Operationen  sehr  lange  dauern  können; 
eine  Amputation  ist  eine  Kleinigkeit  dagegen.  Früher  am])utirte  man 
aucli  sehr  häufig  wegen  totaler  Nekrosen  auch  wenn  keine  Complication 
mit  Gelenkleiden  vorlag,  was  jetzt  wohl  keinem  Chirurgen  einfallen  würde. 
Sie  finden  daher  in  den  älteren  Museen  die  schönsten  Präparate  ausge- 
dehnter Nekrosen;  diese  sind  jetzt  nur  noch  selten  zu  finden,  weil  fast 
alle  Sequester  rechtzeitig  extrahirt  w^erden.  —  Der  Eingrift'  ist  local  ein 
sehr  bedeutender,  doch  die  febrile  Reaction  nach  demsel])en  gewöhnlich 
sehr  unbedeutend.  So  heftig  die  Entzündungserscheinungen  und  das 
Fieber  sein  würden,  wenn  Sie  in  ähnlicher  Weise  an  einem  gesunden 
Knochen  herumarbeiten  v/ollten,  so  wenig  Einfluss  hat  dies  auf  die 
Knochensubstanz  der  Sequesterlade;  mir  ist  nur  ein  einziger  Fall  vorge- 
kommen, w^o.  nach  einer  solchen  Operation  ein  übler  Ausgang  er- 
folgte; ich  habe  die  Ueberzeugung,  dass  die  Operation  der  Nekrose 
eine  der  segensreichsten  Operationen  ist,  wodurcli  vielen  Menschen  das 
Leben  gerettet  würd,  die  früher  nach  Amputationen  oder  an  den  allge- 
meinen Krankheiten  zu  Grunde  gingen,  welche  im  Verlauf  langer  Knoclien- 
eiterungen  aufzutreten  pflegen. 


Vorlesung  36. 
ANHANG  ZU  CAPITEL  XVL 

Rliachitis.     Anatomiselies.     Symptome.     Aetiologie.     Behandlung.     Os  teomalacie. — 
Hypertrophie  und  Atrophie  der  Knochen. 

Ehachitis  und  Osteomalacie. 
Wir  müssen  noch  zwei  Allgemeiukrankheiten  kurz  berühren,  welche 
sich  hauptsächlich  in  gewissen  Veränderungen  an  den  Knochen,  nämlich 
in  Erweichung  derselben  kund  geben.    Diese  beiden  Krankheiten  heisseu 

BillrotU  cUh-,  Piith.  u.  Thcr.   7.  Aufl.  35 


546  Von  der  Eliachitis  und   Osteomalacie. 

Ehacliitis  und  Osteomalacie;  sie  sind  in  ihrer  Wirkung  auf  die  Ver- 
änderung- der  Knoolienformen  nahezu  gleich,  doch  in  ihrem  Wesen  etwas 
verschieden;  es  sind  multipel  auftretende  chronische  Entzündungen  mit 
eigentliiimlichem  Charakter. 

Beginnen  wir  mit  der  Rhachitis;  der  Name  kommt  von  Qayjg^  das 
Riickgrath,  bedeutet  eigentlich  Entzündung  des  Rtickgratlis;  die  Wirbel- 
säule leidet  aber  selten  erheblich  bei  der  Ehachitis;  es  ist  daher  nicht 
recht  klar,  wie  der  Name  entstand;  später  nannte  man  die  Ehachitis 
oft  „englische  Krankheit",  weil  sie  durch  englische  Schriftsteller  besonders 
bekannt  wurde  und  auch  vielleicht  in  England  besonders  häufig  ist.  — 
Das  Wesen  der  Krankheit  besteht  darin,  dass  die  Ablagerung  der 
Kalksalze  in  de-n  wachsenden  Knochen  sehr  mangelhaft  er- 
folgt, und  die  Epiplivsenknorpel  auffallend  dick  sind.  Sie 
sehen  hieraus  schon,  dass  diese  Krankheit  dem  kindlichen  Alter  eigen- 
thümlich  sein  muss,  es  ist  eine  Entwicklungskrankheit  der 
Knochen,  die  aber  gewöhnlich  so  viele  Knochen  betrifft,  dass  es  sich 
nicht  um  locale  Störungen,  sondern  um  eine  allgemeine  Kranklieit  han- 
deln muss,  die  Sie  zu  den  Ihnen  schon  bekannten  Dyskrasien  hinzu- 
rechnen mögen.  Die  ungenügende  Ablagerung  von  Kalksalzen  in  die 
wachsenden  Knochentheile  bei  der  Ehachitis  ist  aber  auch  mit  ausser- 
gewöhnlicher  Gefässentwicklung  und  zumal  auch  mit  aussergewöhnlich 
ausgedehnter  Eesorption  des  bereits  fertigen  Knochengewebes  —  ein 
geringer  Grad  von  Eesorption  erfolgt  beim  Wachsthum  der  Knochen 
an  der  inneren  und  äusseren  Seite  der  Corticalschicht  immer  —  so  wie 
endlich  auch  mit  ungewöhnlich  starker  Wucherung  der  Epipliysenknorpel 
verbunden;  reclmen  Sie  noch  die  jungen  Osteophytenbildungen  hinzu, 
welche  sich  aussen  an  den  Eöhrenknoehen  finden,  so  ist  nicht  zu 
leugnen,  dass  diese  Ernährungsstörung  der  entzündlichen  in  ihren  Folgen 
ganz  gleich  ist. 

In  vielen  Fällen  findet  man  Ehachitis  bei  scrophulösen  Kindern, 
und  es  ist  in  der  That  von  einigen  Aerzten  die  Ehachitis  als  Theil- 
erscheinung  der  Scrophulosis  aufgefasst;  dies  ist  jedoch  nicht  ganz 
richtig,  denn  einerseits  finden  sich  bei  vielen  rhachitischen  Kindern  keine 
Symptome  von  Scrophulose,  zu  denen  doch  ganz  besonders  auch  Disposition 
zu  Lymphdrüsenschwellungen,  Eiterung  und  Verkäsuug  zu  rechnen  Aväre, 
—  andererseits  hat  der  rhachitische  Process  anatomisch  wenig  Verwandt- 
schaft mit  den  Formen  von  Periostitis  und  Ostitis,  wie  wir  sie  bei 
scrophulösen  Kindern  sonst  beobachten,  denn  Ehachitis  führt  nie  zu 
Caries.  Das  Missverhältniss  zwischen  Wachsthum  der  Knochen  und 
mangelhafter  Imprägnirung  des  Knochengewebes  mit  Kalksalzen  hat  zur 
Folge,  dass  die  Knochen  keine  genügende  Festigkeit  bekommen;  sie 
biegen  sieh,  zumal  diejenigen,  welche  die  Last  des  Körpers  zu  tragen 
haben;  bei  hohen  Graden  der  Knochenweichheit  wirkt  auch  die  ]\Iuskel- 
contraction  auf  die  Knochen  der  Art  ein,  dass  letztere  dadurch  verbog-eu 


Vorlesung  3G.     Anluint,'  zu  Capitel  XVI. 


547 


werclen.  Am  liäufig'stcn  treten  diese  Ver1)ieg-uiigen  an  den  unteren 
Extremitiiten  ein;  die  Obcr.selienkelknoelien  l)iei;('n  sieh  eonvex  naeli 
A'orn  nnd  innen  aus,  die  llntcrselienkelknoelien  in  ilireni  unteren  Dritt- 
tlieil  eonvex  naeli  vorn,  aussen  oder  innen.      Der  IJrustkorl)   wii'd   seitlieli 


Fi"-.  101. 


Typische  Formen  von  rhacliitischeu  Verkrümmungen  der  Unterschenkel. 

ZAisammeng-edriickt,  so  dass  das  Brustbein  scharf  hervortritt  und  die  sog-e- 
nannte  Hühnei'brust  oder  Kielbnist  (Pectus  earinatuni)  entsteht.  Ver- 
krümmimg-en  des  Beckens,  der  Wirbelsäule,  auch  der  oberen  Extremi- 
täten kommen  bei  hohen  Graden  von  Rhachitis  hinzu.  Der  Hinterkopf 
bleibt  bei  solchen  Kindern  sehr  lange  weich  und  eindrückbar,  die  Den- 
tition erfolg't  später  als  sonst.  Die  Weichheit  des  Hinterkopfes  tritt  in 
manchen  Fällen  als  einziges  Symptom  der  Ehachitis  auf,  so  dass  man 
diese  Affection  auch  wohl  als  g-anz  unabhängig  von  allgemein  rhachi- 
tischer  Störung  betrachtet  hat.  Die  Verkrümmungen  an  den  unteren 
Extremitäten  beruhen  nach  Virchow  meist  auf  einer  Anzahl  kleiner 
Einknickungen  (Infractionen)  des  ganzen  Knochens  oder  einzelner  Theile 
der  Corticalschicht.  Vollständige  Fracturen  kommen  selten  vor;  wenn 
sie  eintreten,  so  erfolgt  die  Heilung  unter  der  gewöhnlichen  Behandlung 
in  der  Regel  ganz  solide  durch  Kuochencallus.  —  Ausser  diesen  Ver- 
krümmungen an  den  Knochen  entstehen  durcli  die  Rhachitis  noch  andere 
Veränderungen  an  denselben,  nämlich  die  Verdickung  der  Epiphysen 
und  der  Uebergänge  von  den  Rippenknorpelu  zu  den  knöchernen  Rippen. 
Die  Verdickung  der  Epiphysen  kann  z.  B.  am  unteren  Ende  des  Radius 
so  stark  sein,  dass  oberhalb  des  Handgelenkes,  entsprechend  der  Stelle 

35^ 


548  ^^o"  ^^^'  Rhachitis  und  Osteomalacie. 

dicht  hinter  dem  Epiph3^senknorpel  des  Radius  eine  zweite  Einschnürung 
der  Haut  zu  Stande  kommt;  dies  Ansehen  der  Gelenke  hat  zu  der  Be- 
zeichnung- „doppelte  Glieder"  Veranlassung  gegeben;  die  knotigen  Ver- 
dickungen, welche  an  dem  vorderen  Ende  der  knöcliernen  Rippen  ent. 
stehen,  sind  oft  sehr  augenfällig,  und  da  sie  alle  regelmässig  unter  ein- 
ander lie|:en,  so  hat  man  dies  den  „rhachitischen  Rosenkranz"  genannt. 
—  Liegen  die  erwähnten  Veränderungen  der  Knoclien  vor,  so  diagnosti- 
cirt  man  daraus  ohne  Weiteres  die  Rliachitis.  Ehe  eine  der  genannten 
Erscheinungen  deutlich  hervortritt,  ist  die  Diagnose  sehr  misslich.  Es 
giebt  freilich  einige  Prodromalerscheinungen:  grosse  Gefrässigkeit, 
dicker  Leib,  Abneigung  gegen  Stehen  und  Laufen;  indess  sind  diese 
Erscheinungen  immerhin  zu  unbestimmt,  um  daraus  auf  eine  allgemeine 
Knochenkrankheit  schliessen  zu  können.  —  Die  Krankheit  beginnt  am 
häufigsten  im  zweiten  Lebensjahre  und  tritt  bei  gut  genährten,  oft  sogar 
fetten  Kindern  auf;  Verdauungsstörungen,  Neigung  zu  Verstopfung  sind 
hie  und  da  nachweisbar,  doch  nicht  immer  vorhanden.  Von  ursächlichen 
Momenten,  welche  auf  die  Entstehung  der  Rhachitis  wirken,  weiss  man 
sehr  wenig;  die  Krankheit  kommt  bei  uns  in  Deutschland  in  allen  Stän- 
den ziemlich  häufig  vor,  wenn  auch  häufiger  bei  Kindern  der  ärmeren 
Klasse ;  Erblichkeit  mag  hier  und  da  von  Einfluss  sein ;  eine  Störung 
in  der  Blutzusammensetzung,  in  der  Assimilation  der  eingeführten  Nah- 
rungsstoffe kann  man  hypothetisch  annehmen.  Beweise  haben  wir  dafür 
nicht.  —  Den  Verlauf  der  Krankheit  anlangend  ist  zu  ])emerken,  dass 
dieselbe  bei  passender  Behandlung  oft  bald  erlischt,  d.  h.  die  Knochen- 
verkrtimmungen  nehmen  nicht  mehr  zu,  die  Kinder,  welche  aufgehört 
hatten  zu  gehen,  zeigen  wieder  Lust  dazu.  Ln  weiteren  Verlauf  des 
normalen  Knochenwachsthums  werden  die  Knochenverkrümmungen  immer 
weniger  bemerkbar,  sie  verschwinden  oft  ganz  vollständig;  dies  lässt 
sich  übrigens  aus  der  Art  des  Appositionswachsthuras  der  Knochen  ganz 
wohl  verstehen.  Ehe  die  Knochen  wieder  die  normale  Beschaffenheit 
bekommen,  kommt  es  am  Ende  des  rhachitischen  Processes  meist  eine 
Zeit  lang  zu  einer  abnorm  reichlichen  Knochenablagerung,  so  dass  die 
rhachitisch  gewesenen  Knochen  in  gewissen  Stadien  ganz  abnorm  hart 
und  fest  sind,  sich  in  einem  sklerotischen  Zustand  befinden.  —  In  sel- 
tenen Fällen  dauert  der  Rhachitismus  bis  zur  Vollendung  des  Skelets 
fort,  und  gerade  diese  Fälle  geben  zu  den  hochgradigen  Verkrümmun- 
gen und  Verschiebungen  der  Knochen  Veranlassung,  die  man  gewöhn- 
.  lieh  als  Typen  für  diese  Krankheit  aufstellt.  In  jeder  pathologisch- 
anatomischen Sammlung  finden  Sie  Exemplare  von  solchen  ganz  ab- 
normen, durch  Rhachitis  veränderten  Skeletten.  Je  grösser  meine  Er- 
fahrung wird,  um  so  mehr  neige  ich  mich  zu  der  Ansicht,  dass  auch 
die  Plattfuss -Bildung,  die  Entwicklung  des  Gcnu  valgum  und 
varum,  auch  wohl  die  seitlichen  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule 
(Skoliosen)  durch  eine  Schwäche  der  Knochen,    die  von  leichtem  Grade 


Vtirk',siiii;j,-  ;3().     Auluui-   zu  Capilirl   XVI.  549 

der  Uhachitis  nicht  7ai  imtci-.sclicidcu  «ein  dürfte,  wcsentlicli  iiiithedin^^'t 
werden.  Dieser  verschieden  loculisirte  Ifliacliitisnins  koninit  freilicli  in 
späteren  Jahren,  d.  li.  meist  im  zweiten  Dcceiiuium  des  Jx'bens  voi-, 
während  die  als  Rhachitis  knrzw<\i;'  bezeichnete  Kranivlieit  des  g-esammten 
Knocliensystenis  sich,  wie  erwälmt,  meist  bei  g-anz  jnngen  Kindern 
etwa  bis  znm  (>.  Jahre  findet;  doch,  liandelt  es  sich  in  beiden  Fällen  um 
ein  Weicherbleiben  nnd  eine  gewisse  Kachgiebigkeit  wachsender 
Knochen,  auf  welche  dann  freilich  nocli  mancherlei  Gelegcnhcitsursachen 
einwirken  müssen,  um  die  ei'wälmten  Formen  von  Verkrünimungcn  her- 
vorzubringen. Sie  werden  später  häutig  hören ,  dass  von  manchen 
Aerzten  die  Khachitis  in  ganz  directe  Bezieliung  zu  Erkrankungen  des 
Hirns,  zumal  zu  Lälimungen,  Krämpfen  und  psychischen  Störungen  bei 
Kindern  gebracht  wird.  Ich  will  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  der  ge- 
sammte  uns  doch  immerhin  ziendicli  dunkle  Krankheitsprocess  auch 
direct  auf  die  Entwicklung  des  Hirns  influenziren  kann,  doch  in  den 
meisten  Fällen  sind  diese  Beziehungen  indirccte.  Dem  rhachitischen 
Process  in  den  Schädelknoohen  folgt  oft  eine  rasche  Sklerosirung,  eine  so 
intensive  und  extensive  Knochenneubildung',  dass  auch  die  Nähte  manclier 
Schädelknochen  verknöchern.  Dadurch  wird  die  weitere  gleichmässige 
Ausbildung  des  Schädels  gestört;  der  Schädel  v/ird  schief,  da  nnd  dort 
zu  eng  für  das  wachsende  Hirn,  und  so  kommt  es  dann  zu  Störungen 
in  der  Function  des  Hirns,  weil  dies  Organ  in  seiner  normalen  Ent- 
wicklnng  durch  den  rhachitischen  Schädel  beeinträchtigt  wird. 

Die  rhachitischen  Kinder  werden  selten  früher  zum  Arzt  gebracht, 
als  bis  entweder  den  Eltern  die  dicken  Glieder  oder  die  Verkrümmun- 
gen auffallen,  oder  bis  sie,  wie  die  Mütter  sich  häufig  ausdrücken,  ,,von 
den  Beinen  kommen" ,  d.  h.  sie  wollen  nicht  mehr  gehen  und  stehen, 
nachdem  sie  es  vorher  schon  konnten;  die  Krankheit  ist  so  häufig  und 
so  populär,  dass  es  oft  kaum  eines  Arztes  bedarf,  sie  zu  erkennen. 
Die  Behandlung  hat  in  der  Regel  nur  eine  Aufgabe,  nämlich  die  all- 
gemeine Krankheitsdiathese  zu  beseitigen:  sie  ist  daher  vorwiegend 
medicinisch,  besonders  diätetisch.  Was  letzteres  betrifft,  so  ist  zu  ver- 
meiden: allzu  reichlicher  Genuss  von  Brod,  Kartoffeln,  Mehlbrei  und 
blähenden  Gemüsen;  zu  empfehlen  ist:  reichlicher  Genuss  von  Milch 
und  Eiern,  Fleisch,  gutem  weissem  Brod,  dazu  stärkende  Bäder  mit 
Malz,  Kräutern  u.  dgl.  Innerlich  verordnet  man  Leberthran.,  Eisen  und 
ähnliche  roborirende  und  tonisirende  Mittel.  Phosphorsaurer  Kalk  ist 
bald  empfohlen,  bald  als  nutzlos  proclamirt  worden.  Benecke  hat  dies 
Präparat  als  besonders  günstig  auf  die  Ausheilung  der  Rliachitis  befunden; 
ich  wende  es  auf  seinen  Rath  an,  und  gebe  davon  zu  gleichen  Theilen 
mit  gezuckertem  Eisenoxyd  einige  Mal  täglich  eine  Messerspitze  voll  in 
Milch  oder  Wasser;  die  Kinder  nehmen  es  im  xVllgemeinen  leicht. 
Auch  vom  Phosphor  allein  hätte  mau  nach  der  schon  erwähnten  expe- 
rimentellen Arbeit  von  Weg  euer  Heilung  der  Rhachitis  zu  erwarten. 


550  ^o"  '^'^^'  Rliachitis  und  Osteomalacie. 

Es  ist  immerliin  eine  ziemlich  einseitige  Anscliaimng,  wenn  wir  bei 
Beurtbeilung'  des  rliacliitisclien  (und  aucli  des  osteomalacischen)  Processes 
nur  daran  denken,  dass  Mangel  an  Einfuhr  von  Kalk  die  Ursache  sei, 
weshalb  die  Kalkablagerung  in  den  wachsenden  Knochen  ausbleibt, 
oder  der  bereits  abgelagerte  Kalk  wieder  schwindet.  Es  wäre  doch 
auch  möglich,  dass  der  in  den  Magen  gelangende  Kalk  wegen  fehler- 
hafter Verdauungsprocesse  über:iaupt  nicht  ins  Blut  gelangt,  oder  dass 
er  von  den  Nieren  in  ganz  besonders  massenhafter  Weise  ausgeschieden 
wird,  oder  dass  das  Wesen  der  Rhachitis  darin  beruht,  dass  das  neu 
entstehende  Knochengewebe  den  ihm  in  normaler,  vielleicht  in  über- 
schüssiger Menge  zugefülirten  Kalk  nicht  annimmt.  Alle  diese  Momente 
bieten  nun  freilich  keine  directen  Anhaltspunkte  für  die  Therapie;  doch 
führe  ich  sie  an,  damit  es  Ihnen  möglichst  klar  wird,  dass  wir  auch  in 
diesem  Falle  keine  physiologische  Berechtigung  haben,  die  Ernährungs- 
störung ganz  einseitig  von  dem  Mangel  an  Einfulir  abzuleiten.  —  Sehr 
häufig  verlangen  die  Eltern  nach  Schienen,  um  die  Verkrümmungen  der 
Kinder  zu  beseitigön ,  oder  wenigstens  ihre  weitere  Ausbildung  zu  ver- 
hüten; auch  wird  man  Sie  als  Arzt  fragen,  ob  man  die  Kinder  zum 
Gehen  anhalten  oder  sie  ruhig  liegen  lassen  solle.  Was  letzteres  be- 
trifft, so  ist  es  am  besten  die  Kinder  sich  selbst  zu  überlassen;  so  lange 
sie  nicht  Lust  zum  Gehen  haben,  treibe  man  sie  nicht  dazu;  wenn  sie 
mehr  liegen  als  umhergehen,  so  müssen  sie  doch  möglichst  viel  in 
freier,  frischer  Luft  sein;  oft  genügt  es,  ein  Kind  aus  der  dumpfigen 
Stadtwohnung  einige  Zeit  lang  aufs  Land  zu  bringen,  um  die  Ehachitis 
zu  heilen.  —  Was  die  Anwendung  von  Schienenstiefelchen  und  ähnlichen 
Apparaten,  welche  die  Fasse  beschweren,  betrifft,  so  sind  sie  nur  in 
solchen  Fällen  sehr  hochgradiger  Verkrümmung  in  Anwendung  zu  ziehen, 
wo  die  Stellung  der  Füsse  mechanisch  das  Gehen  erschwert;  dies  ist 
selten  und  die  Anwendung  solcher  orthopädischer  Apparate  ist  daher  bei 
Ehachitis  sehr  beschränkt.  —  Ist  die  Ehachitis  erloschen,  so  kann  in 
seltenen  Fällen  eine  so  starke  Verkrümmung  zurückbleiben,  dass  es 
nöthig  ist,  dagegen  etwas  zu  unternehmen;  in  den  bei  weitem  meisten 
Fällen  ist  es  ganz  unnöthig,  da  sich  die  Verkrümmungen,  wie  schon 
früher  erwähnt,  von  selbst  im  Verlauf  des  Wachstliums  des  Skelets  aus- 
gleichen. —  Nur  am  Unterschenkel  bleiben  hier  und  da  Verkrümmungen 
zurück,  bei  denen  der  Fuss  so  verstellt  ist,  dass  nur  der  innere  oder 
äussere  Fussrand  auf  den  Boden  auftreten  kann;  bleibt  dies  Jahre  lang 
auf  demselben  Punkt,  so  muss  eine  Gradriclitung  vorgenommen  werden. 
Diese  kann  auf  zweierlei  Weise  geschehen.  Man  chloroformirt  das  Kind 
und  macht  vorsichtig  eine  künstliche  subcutane  Infraction  des  Knochens, 
lässt  den  Unterschenkel  in  grader  Stellung  halten,  legt  einen  Gypsver- 
baud  an  und  behandelt  die  gemachte  Verletzung  wie  eine  einfache 
Fractur;  die  Heilung  erfolgt  gewöhnlich  leicht.  In  manchen  Fällen  ist 
jedoch  der  Knochen  so  enorm  fest  nach  Ablauf  der  Ehachitis  geworden, 


Vorlesüiiy  ?>(\.     Aiilinn^'  y.w   CMpild   XVr. 


551 


(lass  eine  solche  Knickung-  niclit  g-eling't.  I);uni  ist  die  siibciitjiiic 
Osteotomie  ang'ezeigt  (vgl  pag.  245).  Die  Ivesulfate  dieser  Operation, 
die  ich  öfter  /u  machen  genöthigt  war,  sind  l)is  jetzt  äusserst  g'ünstig-e 
gewesen;  in  einigen  Fällen  heilte  die  Hautwunde  ])er  primam  und  die 
Behandlung  war  dann  wie  bei  einer  einfaclien  Fractur.  Die  Operation 
wird  immerhin  eine  seltne  bleiben,  weil  die  liociigradigen  rhachitisclien 
Verkrümmungen  überhaupt  selten  sind. 


Jetzt  noch  einige  Worte  über  die  Osteomalacie,  die  Knochen- 
erweichung xai  s^o%rjv.  Die  Krankheit  charakterisirt  sicli  ebenfalls 
durch  Verkrümmungen  der  Knochen;  hier  erfolgt  aljer  wirklich  eine 
massenhafte  Resorption  bestehender  Knochenmasse.  Das  Mark  nimmt 
mehr  und  mehr  zu,  die  Corticalsubstanz  der  Röhrenknochen  wird  immer 
dünner  und  dünner,  die  Knochen  dadurcli  schwächer,  biegsamer,  es  kann 
schliesslich  zu  einer  vollkommenen  Aufsaugung-  des  Knochens  konniien, 
so  dass  nur  das  Periost  übrig-  bleibt,  welches  einen  geringen  Antlieil 
an  dem  Process  nimmt,  da  nur  spärliche  Osteophyten  von  ihm  ausgehen. 

Fio-.   102. 


Frau    mit   hochgradiger   Osteomalaeia   nach    Morand.     Die  Knochen  bestehen  meist  nur 
aus  häutigen  Cvlindern  oder  ganz  dünnen  Knochenröhren, 


j^FjO  Von   der  Rhachitis   und  r)stenmalaeie. 

Die  spong-iösen  Knochen  werden  ebenfalls  immer  schwächer,  die  Knochen- 
balken immer  dünner;  auch  sie  werden  so  Aveich,  dass  sie  bei  der 
Maceration  verschrumpfen.  -  Das  Mark  sielit  röthlich,  gallertig-  aus, 
besteht  aber  nicht  wie  bei  der  fungösen  Caries  allein  aus  Granulations- 
raasse,  sondern  enthält  seht  viel  Markfett-Gewebe.  Die  sichtbaren  Erschei- 
nungen bei  diesem  Vorgang-  sind  bereits  bei  der  Ostitis  malacissans  beschrie- 
ben (pag.  505).  Bei  der  Osteomalacie  ist  in  dem  Mark  der  Röhrenknochen 
Milchsäure  nachgewiesen,  so  dass  es  im  höchsten  Grade  wahrscheinlicli 
ist,  dass  der  Knochen  durch  sie  aufgelöst  wird.  Der  ins  Blut  überge- 
führte Kalk  wird  durch  den  Urin  oft  in  grossen  Mengen  als  oxalsaurer 
Kalk  ausgeschieden.  —  Sie  ersehen  aus  dem  Gesagten,  dass  es  sich  hier 
um  eine  Ostitis  malacissans  handelt,  welche  in  ihren  anatoinischen  Ver- 
hältnissen nichts  Absonderliches  darbietet,  sondern  welche  nur  dem  Um- 
stände ihre  gesonderte  Stellung  verdankt,  dass  sie  an  vielen  Knochen 
des  Skelettes  zugleich  unter  oft  ganz  besonderen  Verhältnissen  auftritt, 
und  nie  zu  Eiterung-  oder  N^erkäsung-  führt. 

Was  die  Aetiologie  der  Osteomalacie  betrifft,  so  weiss  man  darüber 
sehr  wenig;  die  Krankheit  kommt  in  bestimmten  Geg-enden  Europas 
und  besonders  häufig  bei  Frauen  vor,  bei  welchen  sie  sich  zumal  im  Puer- 
perium entwickelt;  zuw^eilen  gelien  ziehende  Schmerzen,  Schmerzhaftigkeit 
bei  allen  Bewegungen  und  Berührungen  voraus  und  beg-leiten  die  Krank- 
heit im  weiteren  Verlauf.  Die  Verkrümmungen  treten  primär,  selbst 
ganz  isolirt  am  Becken  auf;  dasselbe  bekommt  dadurch  eine  eigenthüm- 
liche,  seitlich  zusammengedrückte  Form,  worüber  Sie  mehr  in  der  Ge- 
burtshtilfe  hören  werden.  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule,  der  unteren 
Extremitäten,  mit  Muskelcontracturen  verbunden,  kommen  hinzu.  Die 
Krankheit  kann  Pausen  machen  und  bei  einem  neuen  Puerperium  exacer- 
biren  und  so  fort.  —  Gering-e  Grade  und  localisirte  Formen  von  Osteo- 
malacie, z.  B.  Osteonmlacic  des  Beckens,  heilen  nicht  selten  spontan 
aus;  ist  die  Krankheit  in  hohem  Grade  entwickelt,  so  tritt  allgemeiner 
Marasmus  hinzu  und  die  Kranken  gehen  daran  zu  Grunde.  Die  Behand- 
lung ist  ähnlich  wie  bei  Khachitis,  die  Aussichten  auf  Erfolg-  sind  jedoch 
weit  g-eringer. 

Erwähnen  will  ich  noch  der  Hypertrophie  und  Atrophie  der 
Knochen,  die  freilich  mehr  anatomisches  als  klinisches   Interesse  haben. 

Man  kann  anatomisch  jeden  Knochen,  der  im  Längs-  oder  Dickeu- 
durchmesser  vergrössert  ist,  als  hypertrophisch  bezeichnen.  Es  giebt 
sehr  selten  Fälle,  wo  einzelne  Eöhrenknochen,  z.  B.  ein  Femur  oder  eine 
Tibia  übermässig  in  die  Länge  wachsen  und  so  Ungleichheit  der  Extre- 
mitäten entsteht;  für  dies  excedirende  Wachsthum  lasse  ich  mir  den 
Namen  „Knochenhypertrophie"  allenfalls  noch  gefallen,  besser  ist  „Riesen- 
wuchs"; doch  jede  Verdickung,  jede  Sklerose  so  zu  bezeichnen,  mag 
anatoraisch  bequem  sein ,    hat  aber  practisch  keinen  Werth,  weil  diesen 


V(.r!csmi-'  .'W;.     ('.•ipilrl   xvii.  553 

Znstä.iulen  (1cm-  Kikm-Iicu  sclir  vcrscliicdcnarti^'C  KrJiiiklicilsproccHsc  zu 
Crunde  lici^-cii  köuiicii,  die  thcils  iiocli  in  Vroi^Tcssion,  Ihcil.s  Ji.h^-'oliuiroii 
sind.  —  Fiiat  iiocli  imbostiiiiiiitcr  ist  der  lU'ii'rilT  A  Irojdiic  de«  Knochens; 
mau  bezeielmet  zuweilen  anatoniiseli  d;uiiil;  einen  earinsen,  einen  (»sleo- 
nialaeisclion,  einen  halb  zerstörten  Knochen  etc.,  dies  hat  keinen  [)rac- 
lischen  Werth.  —  Dass  es  einen  Knoelienscliwiind  ohne  eig'entlich  ent- 
ziiudliche  Pj-ocesse  i;'iebt,  soll  dainit  niciit  angetastet  werden.  Der  senile 
Knoclienscliwund,  z.  B.  der  Troe.  alveolares  der  Kiefer,  ist  ein  echitantes 
Beispiel  dafür;  liier  mag-  die  Bezeichnung  „Knoclienatro])liie"  beibehalten 
w^erden.  Auch  mag  diese  Bezeichnung-  da  gelten,  wo  et^va  in  Folge  von 
Nichtgebrauch  der  Glieder  (z.  B.  bei  Paralytisclien)  die  Knochen  dünner 
und  markhaltiger  (porotischer)  werden,  ohne  dass  diese  Resorption  mit 
reichlicher  Vascularisation  und  Osteophytenbildung  verbunden  wären; 
auch  bleiben  sie  im  Längs wachsthura  erheblich  zurück,  wenn  die  Pa- 
ralyse aus  frühester  Jugend  stammt.  Für  die  übrigen  Fälle  wird  man 
besser  thun,  den  Process  zu  bezeichnen,  welcher  die  Atrophie  erzeugt. 


Vorlesung  36, 
CAPITEL  XVII. 

You  der  chroiiischeii  Eiitzüiidimg  der  (Teleiike. 

Allgemeines  über  die  Verschiedenheit  der  Hanptformen.  —  A.  Die  granu  lös -fungös  e  n 

und  eitrigen  Gelenkentzündungen,  Tumor  albus.     Erscheinungen.    Anatomisches.    Ostitis 

granulosa  sicca.    Ostitis  mit  periarticidären  und  periostalen  Abscessen.    Atoiiische  Formen.  — 

Aetiologie.  —  Verlauf  und  Prognose. 

Bei  den  chronischen  Entzündungen  der  Gelenke  ist  w^thl  in  der 
Hälfte  der  Fälle  die  Syuovialmembran  derjenige  Theil,  welcher  zuerst 
erkrankt,  in  der  anderen  Hälfte  geht  die  Erkrankung  vom  Knochen  und 
von  den  Gelenkbändern  aus.  Die  Erkrankung  der  Synovialmembran 
kann  mit  mehr  oder  weniger  Secretion  von  Flüssigkeit  verbunden  sein, 
und  diese  Flüssigkeit  selbst  kann  wiedenun  rein  seröser  oder  mehr 
eitriger  Natur  sein.  Der  Hydrops  articulorum  chronicus  ist  eine  Krank- 
heitsform, w^elche  sich  hauptsächlich  in  seröser  Exsudation  ohne  erheb- 
liche Destruction  der  Synovialmembran  kundgiebt  und  ohne  besondere 
äussere  Veranlassung  niemals  in  citrige  Öynovitis  übergeht,  ebenso  wenig 
als  die  chronische  rheumatische  Gelenkentzündung,  bei  welcher  fasrige 
Verdickungen  der  Bänder,  Destructionen  und  Anbilduugen  von  Knorpel 
und  Knochen  vorkommen.  Andere  Formen  von  chronischer  Gelenkent- 
zündung aber  können  von  Anfang-  an  mit  Eiterung  verbunden  sein,  oder 
sind,  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist,  doch  durch  die  Bildung  reichlicher 
Granulationsmassen  charakterisirt  und  zum  Uebergang  in  Eiterung  dispo- 


554  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

uirt;  die  Synovialinembrau  kann  dabei  allmählig*  ganz  in  eine  schwammig 
wiichemde  (fungöse)  Granulationsmasse  umgewandelt  werden,  die  wenn 
auch  nicht  immer,  Eiter  erzeugt,  Eiterdurchbrüche  (Fisteln,  kalte  Abscesse) 
nach  aussen  vermittelt  und  den  Knorpel  und  Knochen  verzehrt,  also 
gelegentlich  zu  peripherer  Caries  der  Epiphysen  führt.  Diese  letztere 
Gruppe,  die  wieder  in  etwas  verschiedenen  Formen  auftreten  kann,  wollen 
wir  die  granulös-fungösen  und  eitrigen  Gelenkentzündungen 
nennen;  sie  sind  die  bei  weitem  häutigsten  von  allen  Arten  der  Gelenk- 
erkrankungen überhaupt  und  werden  uns  daher  längere  Zeit  beschäftigen. 
Zum  genaueren  detaillirteren  Studium  der  Gelenkkrankheiten  überhaupt 
empfehle  ich  Ihnen  besonders  die  vortrefflichen  Werke  von  Bonnet, 
Volkmaun  und  Hueter. 

A.    Die  granulös-fungösen  und  eitrigen  Gelenkentzündungen. 

Tumor  albus. 

Tumor  albus,  white  swelling,  ist  ein  alter  Name,  der  früher  fast 
für  alle  Gelenkanschwellungen  gebraucht  wurde,  die  ohne  Rötliung  der 
Haut  verliefen;  jetzt  hat  man  sich  dahin  geeinigt,  diesen  Namen,  wenn 
man  ilin  braucht,  nur  für  die  hier  zu  schildernden  Formen  von  Gelenk- 
entzündungen anzuwenden,  die  man  ausserdem  auch  wohl  (zumal  in  Eng- 
land) als  scrophulöse  (strumöse)   Gelenkentzündungen  bezeichnet. 

Die  Krankheit  ist  sehr  häufig  bei  Kindern,  besonders  am  Knie-  und 
Hüftgelenk;  sie  beginnt  meist  sehr  schleichend,  seltner  subacut.  Ist  z.  B. 
das  Kniegelenk  erkrankt,  so  bemerken  gewöhnlich  die  Eltern  zuerst  ein 
leichtes  Nachziehen  oder  Hinken  mit  dem  kranken  Bein;  das  Kind  klagt 
von  selbst  oder  auf  Befragen  wegen  des  Hinkens  über  Schmerz  nach 
längerem  Gehen  und  bei  Druck  aufs  Gelenk;  am  Knie  ist  für  den  Laien 
anfangs  durchaus  nichts  Abnormes  zu  sehen.  Der  Arzt  wird  beim  Ver- 
gleich beider  Kniee  schon  ziemlich  früh  finden,  dass  die  beiden  Furchen, 
welche  sich  im  extendirten  Zustand  normaler  Weise  neben  der  Patella 
befinden  und  dem  kräftigen  gesunden  Kniegelenk  die  so  schön  modellirte 
Form  geben,  am  erkrankenden  Knie  verstrichen  oder  wenigstens  weit 
seichter  sind,  als  am  gesunden:  sonst  nimmt  man  nichts  w^eiter  wahr. 
Die  Behinderung  beim  Gehen  kann  so  unbedeutend  sein,  dass  die  Kinder 
Wochen  und  Monate  lang  massig  hinkend  umhergehen  und  so  wenig 
klagen,  dass  die  Eltern  sich  erst  spät  veranlasst  sehen,  den  Arzt  zu  be- 
fragen; dies  pflegt  häufig  erst  dann  zu  geschehen,  wenn  das  Glied  nach 
einer  längeren  Anstrengung  stärker  zu  schmerzen  und  zu  schwellen  an- 
fängt. Die  Gescliwulst,  welche  anfangs  kaum  wahrnelunl)ar  war,  ist  nun 
schon  leichter  erkennbar,  das  Kniegelenk  ist  jetzt  gleichmässig  rund  und 
recht  empfindlich  bei  Druck.  Nehmen  wir  an,  die  Therapie  greife  jetzt 
niclit  ein,  sondern  die  Krankheit  verlaufe  ungehindert  weiter,  so  gestaltet 
sich  dieselbe  ungefähr  folgendermaassen:  der  Kranke  schleppt  sich  viel- 
leicht noch  einige  Monate  fort;  dann  aber  kommt  eine  Zeit,  wo  es  nicht 


Vorlosims  ?,{].      C:i|iilcl    XVri.  555 

luolir  g'clit;  er  muss  fast  Inniicv  licitoii,  weil  das  CilelcTils  zu  sclmiorzliaff 
ist,  g-ewöhnlich  stellt  es  sich  iiadi  und  uaeli  aueh  iniiuer  iiielir  im  Winkel, 
besonders  nach  jeder  subacuten  Exacerljation.  Nun  werden  einzelne 
Partien  des  Gelenkes  besonders  sclnuerzliaft  an  der  Innen-  oder  Aussen- 
seite  oder  in  der  Kniekehle;  an  einer  dieser  Stellen  bildet  sich  deutliche 
Fluctuation,  die  Haut  röthet  sich  hier,  vereitert  endlich  von  Innen  nach 
Aussen  und  Avird  nach  einigen  Monaten  durchbrochen;  es  entleert  sich 
ein  dünner,  mit  fibrinös  käsig-en  Flocken  untermischter  Eiter.  Jetzt 
lassen  die  Schmerzen  nach,  der  Zustand  wird  wieder  besser;  doch  diese 
Besserung  dauert  nicht  lange,  bald  bildet  sich  ein  neuer  Abscess,  und 
so  geht  es  fort.  —  Unterdessen  sind  vielleicht  2 — 3  Jahre  verflossen,  der 
allgemeine  Zustand  hat  stark  gelitten,  das  Kind,  welches  früher  gesund 
und  kräftig  war,  sieht  jetzt  blass  aus,  ist  mager  geworden,  die  Eiter- 
durchbrtiche  sind  nicht  selten  mit  Fieber  verbunden  oder  davon  gefolgt; 
bei  der  Entwicklung  jedes  neuen  Abscesses  exacerbirt  das  Fieber;  da- 
durch wird  der  Kranke  erschöpft,  er  verliert  den  Appetit,  die  Verdauung 
wird  träge,  Diarrhöen  kommen  hinzu  und  die  Abmagerung  steigert  sich 
von  Woche  zu  Woche.  —  Die  Kranklieit  kann  sich  auch  jetzt  nocli, 
wenngleich  selten,  spontan  zurückbilden ;  häufiger  schreitet  sie  weiter  und 
führt  zum  Tode  durch  Erschöpfung  in  Folge  der  starken  Eiterung  und 
des  continuirlichen  hektischen  Fiebers.  Erfolgt  die  Heilung,  so  kündigt 
sie  sich  dadurch  an,  dass  die  Eitersecretion  abnimmt,  die  Fistelöffnungen 
eingezogen  werden,  das  Allgemeinbefinden  sich  bessert,  der  Appetit 
wieder  eintritt  u.  s.  w.;  schliesslich  heilen  die  Fisteln,  das  Gelenk  stellt 
freilich  im  Winkel  oder  sonst  irgendwie  verkrümmt  oder  verdreht,  wird 
schmerzlos,  und  der  Kranke  kommt  mit  dem  Leben  und  mit  einem 
steifen  Bein  davon;  dieser  Ausgang  der  chronischen  Gelenkeiterung  in 
Anchylose  (von  ayxvlog ^  krumm)  ist  das  Günstigste,  was  sich  bei 
schwerem  Verlauf  ereignen  kann;  die  Anchylose  selbst  kann  eine  voll- 
ständige oder  eine  unvollständige  sein,  d.  h.  das  Gelenk  kann  völlig 
unbeweglich  oder  in  geringerem  Grade  beweglich  sein.  Der  ganze  Pro- 
cess  mag  2  bis  4  Jahre  gedauert  haben.  —  Zu  den  örtlichen  Erschei- 
nungen muss  ich  noch  nachträglich  hinzufügen,  dass  nach  und  nach 
gewisse  Muskeln  bei  jedem  Gelenk  permanent  in  Zusammenziehung  blei- 
ben; gewöhnlich  sind  es  die  Flexoren,  beim  Hüftgelenk  auch  wohl  die 
Adductoren  und  Rotatoren,  durch  welche  der  Kranke  das  Gelenk  dauernd 
so  stellt,  dass  er  keinen  oder  möglichst  wenig  Schmerz  empfindet;  diese 
pathologischen  Stellungen,  welche  sich  je  nacli  der  Individualität  des 
Falles  mehr  oder  weniger  hochgradig  ausbilden,  können ,  wenn  sie  nur 
durch  die  Muskelcoutractur  bedingt  sind,  und  nicht  zu  lange  liestanden 
haben,  in  der  Chloroformnarkose  sofort  verbessert  werden;  doch  nach 
Monaten  und  Jahren  treten  dann  zuerst  in  den  Fascien,  später  auch  in 
den  Muskeln  Schrumpfungen  ein,  welche  dann  auch  in  der  Narkose  nur 
mit  einiger  Gewalt  zu  zerreissen  sind.     Bei  langem   Nichtgebrauch  der 


556  Vo"  ^"^i"  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

Extremität  werden  endlich  die  Muskeln  durch  fettige  Degeneration  und 
narbige  Schrumpfung  in  hohem  Maasse  atrophisch.  Auch  die  Gelenk- 
kapsel, welche  stark  infiltrirt  und  geschwollen  war,  sowie  die  accesso- 
rischen  Bänder  schrumpfen  besonders  an  der  Seite  des  Gelenkes,  nach 
welcher  hin  dasselbe  gebogen  war,  zusammen;  am  Kniegelenk  wird  diese 
Schrumpfung  also  in  der  Kniekehle  am  stärksten  sein. 

Verhältnissmässig  selten  sind  Fälle,  in  welchen  die  Krankheit  mit 
einem  serös-eitrigen  Erguss  ins  Gelenk  beginnt  (katarrhalische,  blennor- 
rhoisehe  Synovitis);  ich  habe  dies  vorwiegend  bei  tuberkulösen  Individuen 
gesehen.  Die  Erscheinungen  sind  dann  anfangs  wie  beim  chronischen 
Gelenkliydrops,  doch  ist  das  Gelenk  schmerzhaft  und  mehr  in  der  Func- 
tion gestört.  Ziemlich  häufig  giebt  Ostitis  und  Periostitis  in  der  Nähe 
des  Gelenkes  die  Veranlassung  zur  Synovitis.  Die  eine  oder  andere 
Seite  der  Condylen  des  Femur  oder  der  Tibia  oder  des  unteren  Endes 
des  Humerus,  oder  die  hintere  Fläche  des  Olecranon  werden  schmerz- 
haft; der  Schmerz  bleibt  lange  auf  einen  bestimmten  Funkt  concentrirt; 
da  entsteht  teigiges  Oedem,  endlich  ein  Abscess.  Dabei  bleibt  das  Ge- 
lenk zuweilen  viele  Monate  lang  ganz  intact  in  seiner  Function,  bis  die 
Eiterung,  zuweilen  unter  acut  entzündlichen  Erscheinungen  ins  Gelenk 
durchbricht,  und  nun  der  gleiche  Verlauf,  wie  eben  geschildert  eintritt. 
In  manchen  Fällen  bleiben  diese  Abscesse  inmier  periarticulär,  und  heilen 
bevor  es  zur  Perforation  ins  Gelenk  kommt;  das  führt  dann  wohl  zu 
periarticulären  Narbencontractionen  bei  völlig  gesunden  Gelenken. 

Endlich  können  auch  die  Knochen  primär  in  Form  der  Ostitis  ma- 
lacissans  erkranken;  zumal  kommt  dies  bei  schwächlichen  Individuen 
an  den  Hand-  und  Fusswurzelknochen  vor  und  am  Schenkelkopf;  dabei 
bleiben  die  Gelenke  auch  oft  lange  intact,  wenn  sich  auch  periostale 
Abscesse  mit  starkem  Oedem  und  reichlich  eiternden  Fisteln  ausbilden. 
Bei  primärer  Erkrankung  der  Aussenseite  der  Epiphysen  pflegen  sich 
weniger  leicht  Muskelcontracturen  zu  entwickeln  als  bei  primärer  Er- 
krankung der  Synovialmembran  und  bei  primärer  subchondraler  Ostitis. 

Diese  kurzen  Schilderungen  mögen  Ihnen  als  Typen  vorläufig  einen 
Begriif  von  der  vorliegenden  Krankheit  und  ihrer  Bedeutung  geben;  um 
die  verschiedenen  Formen,  in  denen  dieselbe  auftreten  kann,  zu  ver- 
stehen, halte  ich  es  jedoch  nothwendig,  Ihnen  erst  eine  klare  Vorstellung 
von  dem  anatomischen  Vorgang  bei  diesen  Geleukkrankheiten  zu  geben. 
Diesen  Vorgang  hat  man  Gelegenheit,  theils  an  ausgeschnitteneu  Gelenken, 
theiis  an  amputirten  Gliedern,  theils  auch  an  der  Leiche  in  verschiedenen 
Stadien  zu  beobachten;  ich  habe  mich  speciell  mit  diesem  Gegenstande 
so  genau  beschäftigt,  dass  ich  im  Stande  bin,  nach  Originaluntersuchungen 
Ihnen  die  anatomischen  Veränderungen  genau  zu  schildern.  Dieselben 
haben  in  allen  Fällen  viel  Gemeinschaftliches,  und  nach  dem,  was  Sie 
bereits  über  die  chronische  Entzündung  anderer  Theile  wissen,  werden 
Sie  schon  im  Voraus  sich  denken  können,  dass  es  sich  schliesslich  wieder 


VorlesiniK  ?>C,.     Capitol  XVTl. 


557 


lim  eine  Variation  des  alten  Themas  von  der  sertiseii  und  [tlastiselicn 
Infiltraticm  mit  verscliicdenen  Graden  der  Vaseularisation,  um  Wuelieiuiiu' 
und  Zerfall  u.  s.  w.  handeln  wird. 

Studiren  wir  diese  Gelenke  in  verschiedenen  Stadien  der  PL-kran- 
kung  vorläufig-  mit  dem  freien  Auge.  Setzen  wir  zuerst  den  liäiingon 
Fall,  dass  der  Process  mit  clironisclier  Synovitis  anfängt;  zuerst  liii(l(;t 
man  eine  Seliwellung  und  Eötliung  der  Synovialmeml)ran;  letztere  ist 
an  den  seitlichen  Theilen  des  Gelenks,  an  den  Falten  und  in  den  adnexen 
Säcken  bereits  verändert;  ihre  Zotten  sind  wulstig  dick,  noch  wenig 
verlängert,  doch  sehr  weich  und  saftig;  die  ganze  Mendiran  untersclieldet 
sich  und  löst  sich  leichter  als  im  normalen  Zustande  von  dem  festen 
G'ewebe  der  Kapsel,  welcher  sie  innen  aufliegt.  Die  Synovia  i^t  bei 
diesem  Zustande  selten  vermelirt,  doch  trübe,  auch  wolil  schleimigem 
Eiter  ähnlich.  —  Allmählig  nehmen  die  genannten  Veränderungen  der 
Synovialmembran  zu;  dieselbe  wird  dicker,  ödematöser,  weicher,  röther; 
die  Zotten  sind  zai  dicken  Wülsten  herangewachsen,  und  sclion  liaben 
dieselben  hier  und  da  das  Aussehen  schwammiger  Granulationen.  Der 
Knorpel  verliert  auf  der  Oberfläche  seinen  bläulichen  Glanz,  ist  jedoch 
noch  nicht  sichtbar  erkrankt;  die  Synovialauswüchse  aber  fangen  an,  den 
Knorpel  von  den  Seiten  her  7a\  überwachsen  und  sicli  zwischen  die  l>ei- 
den  gegenüberliegenden  Knor- 
pelflächen hineinzuschieben.  Pio  io3. 
Mittlerweile  ist  auch  die  Ge- 
lenkkapsel verdickt  und  hat 
ein  gleichmässig  speckiges 
Aussehen  bekommen,  ist  auch 
stark  ödematös;  diese  Schwel- 
lung und  das  Oedem  erstreckt 
sich  nach  und  nacli  auch  auf 
das  Unterhautzellgewebe  und 
auf  die  Haut.  —  In  der  Folge 
nehmen  nun  die  Veränderungen 
des  Knorpels  am  meisten  unsere 
Aufmerksamkeit  in  Anspruch: 
die  Synovialwucherungen  krie- 
chen als  röthliche  Granulations- 
masse allmählig  ganz  über  die 
Knorpeloberfläche  fort  und  ver- 
decken diese  vollständig,  in- 
dem sie  sich  wie  ein  Schleier 
darüber  legen  (Fig.  103);  su- 
chen wnr  diesen  Schleier  abzu- 
ziehen, so  finden  wir  ihn  stellen- 
weise sehr  festhafteud  und  zwar 


Scliematischer  Dnrcliselniitt  eines  Kniegelenks  (die 
Zwischenknorpel  sind  fortgelassen,  die  Gelenkknor- 
pel schraffirt)  mit  granulöser  Gelenkentzündung. 
a,  a  Fibröse  Kapsel;  h  Ligg.  cruciata;  c  Feraur: 
d  Tibia;  e,  e  fungöse  wuchernde  Synovialmembran 
in  den  Knorpel  hineinwachsend,  bei  /  bis  in  den 
Knochen;  bei  g  isolirte  Granulationswucherung  im 
Knochen  an  der  Grenze  zwischen  Knochen  und 
Knorpel. 


5^g  ■  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

diircli  Fortsätze,  welche  diese  Wucherungen  in  den  Knorpel  hineingetrieben 
haben,  und  die  am  besten  mit  den  Wurzeln,  welche  eine  Epheuranke 
treibt  und  in  den  Boden  einsenkt,  zu  vergleichen  sind  (ähnlich  auch  bei 
der  Bildung  des  Pannus  auf  der  Cornea:  Synovitis  hyperplastica  laevis 
s.  pannosa  Hueter);  doch  diese  Wurzeln  verlängern  sich  nicht  allein, 
sondern  sie  verbreitern  sich  auch  und  verzehren  allmählig  den  Knorpel; 
dieser  erscheint,  wenn  der  überdeckende  Schleier  der  fungösen  Wuche- 
rung abgehoben  ist,  zuerst  hier  und  da  rauh,  dann  durchlöchert,  später 
aber  schwindet  er  ganz,  und  dann  dringt  die  granulöse  Wucherung  in 
den  Knochen  ein  und  fängt  an,  diesen  zu  verzehren ;  es  bildet  sich  gra- 
nulöse Caries  aus,  wie  wir  sie  schon  von  früher  her  kennen;  der  Knochen 
wird  in  der  Folge  von  der  chronisch -entzündlichen  Neubildung  in  be- 
kannter Weise  resorbirt,  und  so  haben  Sie  nun  den  Uebergang  und 
Zusammenhang  der  granulösen  Gelenkentzündung  mit  der  Caries.  Der 
Krankheitsprocess  schreitet  bald  hier  bald  dort  mehr  vor;  ein  Condylus 
eines  Gelenks  kann  fast  verzehrt  sein,  während  ein  anderer  seine  Knorpel- 
fläche noch  zum  Theil  behalten  hat.  —  Was  die  übrigen  Theile  der  ver- 
änderten Synovialmembran  betrifft,  so  können  dieselben  auch  nach  aussen 
zu  nach  der  Kapsel  hin  in  starke  Wucherung  gerathen;  Kapsel,  Unter- 
hautzellgewebe, Haut  gehen  bald  da  bald  dort  in  fungöse  Granulations- 
masse mit  oder  ohne  Eiterbildung  über,  und  so  kommt  es  zu  Aufbrüchen 
nach  aussen,  zu  Fisteln,  welche  entweder  direct  mit  dem  Gelenk  oder 
mit  einer  Synovialtasche  communiciren. 

Hier  wollen  wir  einen  Augenblick  Halt  machen,  um  nachzuholen,  was  wir  mit  dem 
Mikroskop    an    den    erkrankten  Theilen  sehen;    ich  kann  Ihnen    darüber  am  wenigsten 
Neues  mittheilen.     Die  normale  Synovialmembran  besteht  aus  lockerem  Bindegewebe  mit 
massig  reichlichem  Capillarnetz ,    welches   in    den  Zotten  zu   complicirteren  Schlingencom- 
plexen  auswächst;  auf  der  Oberfläche  der  Membran  findet  sich  eine  einfache  Lage  Endothel 
von  platten  polygonalen  Zellen,    wie  auf  den    meisten  serösen  Häuten.     Das  Gewebe  der 
Membran  wird  allmählig  von  Zellen  durchsetzt,  wird  zugleich  weicher,  verliert  seine  strafte 
Faserung,  und  die  Gefässe  erweitern  und  vermehren   sich   erheblich.     Das  Endothel   geht 
als  abgegränzte  Lage  platter  Zellen  zu  Grunde ;  an  seine  Stelle  treten  kleine,  runde,  neu- 
gebildete Zellen,  welche  bald  mit  dem  sich  immer  weiter  umformenden  Gewebe  der  Syno- 
vialmembran verschmelzen  und  dann  nicht  mehr  als  besondere  Lage  zu  unterscheiden  sind. 
Die  Synovialmembran  verliert  durch  die  immer  fortschreitende  plastische  Lifiltration  nach 
und   nach    ganz    ihre   frühere  Structur;    das   Bindegewebe,    von    unzähligen   neuen    Zellen 
durchsetzt,    wird  allmählig  homogen,    und  bei  der  immer   fortschreitenden  Yascularisation 
gleicht   das    Gewebe   jetzt   auch    histologisch   vollkommen    demjenigen    der   Granulationen. 
In    diesen    schwammigen  Granulationen    bilden   sich  hie  und   da  kleine    weisse  Knötchen, 
welche  sich  theils  wie  Schleimgewebe  (pag.  110)  verhalten,  theils  vorwiegend  Eiterzellen 
und  auch  Riesenzellen  enthalten.     Diese  Knötchen  „Tuberkel"  zu  nennen  (Köster),  da- 
gegen liesse  sich  anatomisch  nichts  einwenden,  doch  wird  man  vorläufig  Bedenken  ti-agen, 
sie  schon  als  den  Ausdruck  derjenigen  Infectionskrankheit  zu  betrachten,  welche  man  jetzt 
als  „Tuberkulose"  begränzt  hat.  —  Ganz  ähnliche  Processe  gehen  an  der  Oberfläche  des 
Knorpels  vor,  zumal  an  denjenigen  Stellen,  an  welchen  derselbe  von  der  granulös-fungösen 
Wucherung  überdeckt  wird.     Die  Knorpelzellen  fangen    an    sich  schnell  zu  theilen,  wäh- 
rend die  hyaline  Intercellularsubstanz  einschmilzt  und  aufgelöst  wird  (Fig.  104);  schneiden 


Vorlesung  3G.     Capitel  XVfl. 


559 


Vi'j.  101. 


Sie  von  der  Oberfläche  eines  sol- 
chen veränderten  durchlöcherten 
Knorpels  der  Fläche  nach  ein 
Stiickclien  ab,  so  linden  8i(!  in 
der  Umgebnng  der  Defecte  stets 
eine  Menge  \o\\  Knorpelzellen, 
welche  in  Wnchernng  begriii\'n 
sind,  was  natürlicli  mit  gleichzei- 
tigem Schwund  der  Knorpelsnb- 
stanz  verbunden  ist.  '  An  den 
Stellen ,  wo  sieh  der  Knorpel  in 
dieser  M''eise  zu  einem  bis  jetzt 
noch  nicht  vascularisirten  ^Zellen- 
gewebe  umwandelt,  verschmilzt  er 
mit  der  darüber  liegenden  Syno- 
vial Wucherung ;  letztere  senkt  Ge- 
fässschlingeii  ein,  und  je  besser 
dadurch  die  Neubildung  ernährt 
wird,  um  so  schneller  verzehi-t  sie 

die  ganze  Knorpelsubstanz,  und  zwar  in  ähnlichen  Formen,  wie  bei  der  lacunären  Cor- 
rosion  der  Knochen.  Sie  sehen  aus  dieser  Schilderung,  dass  der  Vorgang  der  Knorpel- 
auflösung ähnlich  erfolgt,  wie  am  Knochen,  doch  mit  dem  Unterschiede,  dass  die  Knorpel- 
zellen selbst  durch  Wucherung  lebhaft  mitwirken  zur  Auflösung  der  Intercellularsubstanz, 
während  die  Knochenzelle  unthätig  bleibt,  und  die  Resorption  allein  durch  die  Wucherung 
der  Zellen  in  den  Haversischen  Canälen  erfolgt.  Indess  muss  ich  hier  schon  bemerken, 
dass  auch  zuweilen  am  Knorpel  Bilder  vorkommen,  aus  denen  man  ersieht,  dass  auch 
die  Knörpelzellen  gelegentlich  sehr  wenig  activ  eingreifen,  d.  h.  wenig  an  der  Zellen- 
wucherung Theil  nehmen,  so  dass  dabei  wohl  eine  mehr  passive  Aufsaugung  der  Knorpel- 
substanz durch  die  Synovialwucherung   vorkommt.     Ob    durch    Vermehrung   der  Knorpel- 

Fig.  105. 


Degeneration   des  Knorpelgewebes  bei  pannöser  Syno- 

vitis.     n  Granulationsgewebe  auf  der  Oberfläche.     Ver- 

grösserung  350;  nach  0.  Weber. 


mm.^ 


§ 


@ 


§        (S* 


Atonische  Knorpelulcerationen    aus    dem  Kniegelenk    eines   Kindes;   die    nur   in    geringem 
Maasse  wuchernden  Knorpelzellen  verfetten  und  zerfallen  sehr  schnell  mit  der  Intercellular- 
substanz.    Vergrösserung  250. 

Zellen  auch  bewegliche  Eiterzellen  entstehen,  ist  zweifelhaft.  Bei  peracuter  Ostitis  und 
Synovitis  (Panarthritis)  kann  der  Knorpel  auch  noch  nekrotisch  werden,  zu  Blättern  und 
Fetzen  zerfallen,  ohne  dass  seine  zelligen  Elemente  vorher  in  Wucherung  geriethen,  wie 
dies  ebenso  auch  bei  peracuter  Panophthalmie  an  der  Hornhaut  vorkommt.  —  Was  die 
histologischen  Veränderungen  in  der  Gelenkkapsel  und  in  den  Hülfsbändern  betrifft,  so 
bestehen  dieselben  in  seröser  und  plastischer  Infiltration,  die  aber  nur  an  wenigen  Stellen 
einen  hohen  Grad  erreicht,  sondern  meist  nur  zu  Bindegewebsneubildung  führt,  die  sich 
für  das  freie  Auge  als  speckige  Verdickung  kund  giebt. 


560  Von  der  chronischen  Entziindung  der  Gelenke. 

Beginnt  die  Erkrankung-  allein  vom  Knochen  aus  oder  wird  dieser 
früh  in  Mitleidenschaft  gezogen,  so  kann  es  sich  ereignen,  dass  zugleich 
mit  der  fungösen  Wucherung  der  Synovialis  unter  dem  Knorpel  an  der 
Grenze  zwischen  ihm  und  dem  Knochen  eine  Wucherung  selbstständig 
sich  entwickelt  (Fig.  103  g)  und  diese  sich  später  mit  der  von  oben  her 
kommenden  verbindet,  so  dass  der  Knorpel  theilweis  beweglich  zwischen 
der  oberen  und  unteren  Granulationslage  liegt.  Dies  ist  ziemlich  häufig, 
zumal  am  Hüft-,  Ellenbogen-  und  Fussgelenk:  durch  diese  primäre 
Ostitis  der  Gelenkeuden  oder  subchoudrale  Caries  wird  der 
Knorpel  so  gelöst,  dass  er  wie  eine  Membran  sich  scheinbar  ziemlich 
intact  von  dem  darunter  liegenden,  sehr  gefässreichen,  weichen  Knochen 
abziehen  lässt.  —  Dass  durch  acute  Periostitis  und  Osteomyelitis  eine 
Gelenkentzündung  angeregt  werden  kann,  ist  schon  erwähnt  wor- 
den; die  Entzündung  setzt  sich  dabei  vom  Periost  auf  die  Gelenk- 
kapsel und  von  hier  auf  die  Synovialmembrau  fort;  die  anatomischen 
Veränderungen  sind  dieselben,  wie  oben  geschildert.  Die  Infiltrate,  welche 
wir  oft  z.  B.  am  Fussrüeken  um  die  Sehnenscheiden  und  neben  den  jlalleo- 
len  finden,  sind  zuweilen  ganz  selbstständige  Erkrankungen  des  periostalen 
und  peritendinösen  Zellgevs^ebes,  oft  aber  ist  ihre  Entstehung  durch  Ostitis 
der  Fusswurzelknoclien  vermittelt.  —  Auch  wenn  eine  acute  traumatische 
Gelenkentzündung  oder  eine  spontan  auftretende  acute  eiti-ige  Synovitis 
in  das  chronische  Stadium  tritt,  gehen  dieselben  anatomischen  Yerände- 

Fip.  106. 


I 


Snbcliondrale  granulöse  Ostitis  am  Talus.  Durchbruch  der  Granulationswuclierung  ins 
Gelenk.     Vergrösserung  20.  —  a  Knorpel,     h  Granulationsmassen,     c  Normaler  Knochen 

mit  Mark. 

rungen  vor  sich,  wie  sie  eben  bei  der  fungösen  Gelenkentzündung  be- 
schrieben sind.  —  Traumatische  Periostitis  in  der  Nähe  der  Gelenke  kann 
ebenfalls  Gelenkentzündung  nach  sich  ziehen,  wenn  die  Eiterheerde  ins 
Gelenk  durchbrechen;  ebenso  chronische  Granulationswucheruugen  in  der 
Kapsel,  z.  B.  Residuen  schlecht  gepflegter  Distorsionen  der  Gelenke. 

Von  grossem  Einfluss ,  zumal  für  die  äussere  Erscheinungs- 
form der  kranken  Gelenke,  ist  der  Umstand,   wie  weit  sich  die  Theile 


Vorlesung  .■)(;.     Capilel   XVIL  501 

in  der  unmittelbaren  Nälio  des  Gelenkes  an  der  Entzündung'  betlieilig-en; 
nimmt  die  Kapsel  selir  lebhaften  Antlieil  an  der  Erkrinikung-,  so  wird 
das  Gelenk  g-leich massig-  dick  und  rund  anseWellen.  Zu  dieser  An- 
scliwellung-  des  Gelenkes  tragen  weiterhin  die  Osteoi)liy tcubildung-en 
nicht  umvesentlieli  bei,  welche  sieh  auf  den  Gelcid^cnden  ansetzen; 
diese  werden  um  so  bedeutender  sein,  je  mehr  die  Gcleidd^apscl  und 
das  Periost  der  Gelenkcnden  mitleidet,  und  je  wuchernder,  je  productiver 
der  Process  überhaupt  ist;  während  vom  Gelenk  aus  die  Coudylen  und 
die  Gelenkpfannen  zerstört  werden,  bildet  sieh  aussen  neuer  Knochen 
an,  wie  Sie  dies  schon  bei  der  clironisehen  Ostitis  früher  kennen  g-eleint 
haben.  Es  giebt  aber  auch  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl  von  Fällen 
von  Caries  der  Gelenkenden,  bei  welchen  sich  gar  keine  Osteophyten 
bilden.  —  Für  die  Caries  der  Gelenke  braucht  man  zuweilen  noch  einen 
alten  Namen,  den  ich  Ihnen  schon  (pag.  510)  genannt  habe,  nändich  Ar- 
throcace;  man  verbindet  dies  Wort  mit  den  Namen  der  verschiedenen 
Gelenke  und  spricht  demgemäss  von:  Gonarthrocace,  Coxarthrocace, 
Omarthrocace  etc.  Rust  hat  ein  Buch  über  die  Gelenkkrankheiten  ge- 
schrieben und  dies  mit  dem  fürchterlichen  Namen:  Arthrocacologie  be- 
zeichnet, den  Sie  sich  jedoch  nicht  weiter  zu  merken  brauchen;  ich  führe 
ihn  nur  der  Merkwürdigkeit  halber  an,  er  stammt  aus  einer  Zeit,  wo 
auch  die  Augenheilkunde  fast  nur  in  dem  Auswendiglernen  der  entsetz- 
lichsten griechischen  Namen  bestand,  eine  Zeit,  die  glücklicherweise 
hinter  uns  liegt.  —  Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  wie  weit  die  Muskeln 
bei  Tumor  albus  mitleiden;  in  der  Nähe  der  entzündeten  Gelenke,  oft 
sehr  weit  hin,  schwindet  die  contractile  Substanz  in  den  Primitivfasern 
allmählig,  meist  nach  vorangegangener  fettiger  Entartung,  und  so  magert 
das  kranke  Glied  immer  mehr  und  mehr  ab,  bei  einigen  Kranken  mehr 
als  bei  anderen;  je  magerer  es  wird,  um  so  mehr  fällt  die  Dicke  des 
Gelenkes  auf,  die  oft  gar  nicht  so  erheblich  ist,  wenn  sie  das  kranke 
Gelenk  mit  dem  gesunden  durch  Messung  der  Circumferenz  vergleichen.  — 
Sie  werden  hier  und  da  von  Auftreibungen  und  Anschwellung  der  Ge- 
lenkenden der  Knochen  bei  Tumor  albus  hören  und  lesen;  dies  ist  ein 
falscher  Ausdruck:  die  Knochen  blähen  sich  bei  der  Gelenkcaries  niemals;, 
wenn  sie  verdickt  erscheinen,  so  ist  die  Verdickung  von  den  Weichtheilen 
oder  von  den  Osteophjteuauflagerungen  abhängig.  — 

Eine  weitere  Verschiedenheit  in  dem  Verlauf  des  Gelenkleidens  liegt 
in  der  geringeren  oder  grösseren  Disposition  zur  Eiterung; 
Abscesse  und  Fisteln  gehören  keineswegs  noth wendig  zur  fungösen 
Gelenkentzündung,  sie  sind  vielmehr  immer  Accidentieu.  Sie  wissen  von 
der  Ostitis  granulosa  schon,  dass  sie  nicht  selten  ohne  Eiterung  ver- 
läuft. Die  granulös  fungöse  Gelenkentzündung  verbindet  sich  oft  genug 
mit  einer  solchen  Ostitis  sicca;  Jahre  lang  kann  der  Process  dauern, 
zumal  bei  sonst  gesunden  Erw^achsenen,  ohne  dass  sich  Abscesse  bilden; 
ausgedehnte  Zerstörungen  des  Knorpels   und  der  Knochen  mit  den  con- 

Billrntli  cliir.  Putli.  u.  Ther.    7.  Autl.  o(j 


56^  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

secutiven,  früher  bei  der  Caries  schon  erwähnten  Verschiebungen  können 
sich  ausbilden ,  ohne  dass  ein  Tropfen  Eiter  sich  ansammelt.  Unter- 
suchen Sie  in  einem  solchen  Fall  die  Granulationsmassen  im  Gelenk 
und  im  Knochen,  so  werden  Sie  dieselben  fester  als  sonst,  zuweilen  fast 
von  knorpeliger  Consistenz  finden,  wie  Granulationen,  die  sich  zur  Ver- 
schrumpfung-,  zur  Benarbung  anschicken;  und  in  der  That,  es  erfolgt  in 
ihnen  theilweise  eine  Verschrumpfung,  doch  dabei  geht  die  Wucherung 
oft  weiter,  und  somit  die  Zerstörung  des  Knochens;  der  Process  als  sol- 
cher ist  dann  der  Cirrhosis  verwandt.  —  Die  Eiterung  ist  also  durchaus 
kein  absolut  sicherer  Maassstab  für  die  Ausdehnung  des  Processes  im 
Knochen,  im  Gegentheil,  je  üppiger  die  Wucherung  der  Granulations- 
massen, um  so  ausgedehnter  kann  die  Zerstörung  der  Gelenkenden  sein. 
Die  Verschiebung  der  Knochen,  die  Ditformität  der  Gelenke  ist  der 
wichtigste  Maassstab  für  die  Ausdehnung  des  Processes  im  Knochen  und 
in  den  Bändern;  fängt  bei  einem  kranken  Knie  der  Unterschenkel  an, 
sich  nach  aussen  zu  rotiren,  schiebt  sich  die  Tibia  nack  hinten,  dann  ist 
meist  eine  Portion  des  Knochens  und  ein  grosser  Tlieil  der  Gelenkbänder 
zerstört.  —  In  sehr  vielen,  ja  man  kann  wohl  sagen,  in  den  meisten 
Fällen  verbindet  sich  allerdings  die  fungöse  Gelenkentzündung  früher 
oder  später  mit  Eiterung;  die  Granulationen  produciren  entweder  den 
Eiter  in  sich,  oder  er  wird  auf  der  Oberfläche  eines  noch  nicht  stark 
erkrankten  Synovialsacks  secernirt;  zuweilen  tritt  in  einzelnen  dieser 
Säcke  eine  subacute  Synovitis  ein,  während  ein  anderer  Theil  der  Syno- 
vialmembran  noch  intact,  ein  anderer  schon  völlig  degenerirt  ist;  das 
Knie-  und  Ellenbogengelenk  ist  besonders  disponirt  zu  solchen  abge- 
schlossenen Separaterkrankungen  einzelner  Synovialsäcke,  die  nur  durch 
kleinere  Oeffnungen  mit  der  Gelenkhöhle  in  Zusammenhang  sind.  —  Solche 
Eiterungen  sind  dann  meist  mit  acuten  Exacerbationen  der  Schmerzen 
und  mit  Fieberbewegungen  verbunden,  zumal  wenn  sieh  der  Abscess 
nach  aussen  entleert  und  bis  dahin  wenig  an  der  Entzündung  betheiligte 
Synovialsäcke  schubweise  acut  oder  subacut  erkranken.  Eine  frühe  pro- 
fuse Eiterung  im  Gelenk  ist  in  manchen  Fällen  ein  Beweis  für  die 
bis  dahin  geringe  Degeneration  der  Synovialmembran,  denn  der  meiste 
Eiter  wird  von  den  serösen  Membranen  im  Stadium  des  eitrigen  Katarrhs 
abgesondert.  Der  Eiter,  welchen  die  Synovialgranulationen  absondern, 
ist  meist  von  geringer  Quantität  und  von  seröser  oder  schleimiger  Be- 
schaffenheit. —  Anders  kann  sich  die  Sache  gestalten,  wenn  die  Eiterung, 
wie  es  häufig  geschieht,  auch  in  dem  Zellgewebe  um  das  Gelenk  sich 
etablirt,  und  periarticuläre  Abscesse  (welche  freilich  ganz  für  sich 
ohne  Gelenkerkrankung  bestehen  können)  sich  zu  den  fungösen  Gelenk- 
erkrankungeu  hinzugesellen.  —  Alle  diese  Eiterungen  werden  dadurch 
von  Bedeutung,  dass  sie  den  Allgemeinzustand  verschlimmern,  theils 
durch  den  Säfteverlust,  theils  durch  das  Fieber. 

Schliesslich  müssen  wir  uns  auch  noch  mit  dem  Vitalitätszustaud 


V(.i-iosiiii!>:  ;;g.    Cnpiici  xvn.  50^ 

dev  entziindlieli  eil  Ncuhildinii;-  und  den  dnraus  (oliiciideii  .'iiialitini- 
selien  Coiisequeiizcn  kurz  beseh;U'tii;eii.  Die  Ijchcnsfäliit^-keit,  die  lJe])])i^- 
keit  des  Waclistliurns  und  die  weiteren  Scliieksale  der  clironiseli  eutziind- 
liclien  Neubildungen  luing'en,  wie  Sie  schon  wissen,  sehr  von  den  un- 
gemeinen, eonstitutionellen  Verhältnissen  des  Individuums  ul),  und  zwar 
in  solchem  Maasse,  dass  man  von  den  Vitalitätszuständen  der  öitlichen 
Processe  oft  Kiickschliisse  auf  den  allgemeinen  Gesundheitszustand  machen 
kann.  Eine  fungöse  Gelenkentzündung  mit  Caries  sicca  und  Disposition 
zur  narbigen  Schrum])fung  der  Neubildung  wird  meist  bei  sonst  gesunden 
Individuen  vorkommen,  und  wir  sind  in  diesen  Fällen  oft  in  Verlegen- 
hölt,  überliaupt  eine  Ursache  der  Chronicität  des  Frocesses  aufzufinden, 
wo  als  erster  Ueiz  vielleicht  eine  Erkältung,  eine  llebermüdung,  ein 
Trauma  irgend  einer  Art  angegeben  w-ird.  —  Die  üppigste  Production 
schwammiger  Granulationen  mit  Absonderung  eines  schleimigen  Eiters 
finden  wir  ebenfalls  bei  leidlich  gesunden  oder  wenigstens  gut  genälirten 
Individuen,  bei  fetten  scrophulösen  Kindern,  aucli  als  chronische  Fort- 
setzung einer  acuten  Gelenkentzündung  bei  Leuten,  die  bis  dahin  ganz 
gesund  waren  und  erst  durch  die  lange  Eiterung  in  einen  anämischen 
Zustand  verfielen.  —  Eine  grosse  Neigung  der  Neubildung  zu  eitriger 
Einschmelzung  oder  selbst  zu  molecularem  Zerfall  ist  in  der  Regel  ein 
Zeichen  schlechter  Ernährung;  dünner  stinkender  profuser  Eiter  mit 
ausgedehnter  ulcerativer  Zerstörung  der  Haut,  mit  Fistelöffnungen,  die 
wie  mit  einem  Locheisen  ausgeschlagen  scheinen,  zeigt  sich  bei  Gelenk- 
entzündung mit  und  ohne  Caries  an  alten  kachektischen  Individuen,  an 
schlecht  genährten  Tuberkulösen,  an  atrophisch -scrophulösen  Kindern. 
Es  kann  hier  derselbe  Fall  eintreten,  wie  bei  der  torpiden  Caries;  die 
Neubildung  ist  sehr  kurzlebig,  kaum  entstanden,  zerfällt  sie  wieder;  so 
entstehen  neben  der  Caries  nekrotische  Processe,  z.  B.  an  den  kleinen 
Handwurzelknochen,  seltener  freilich  in  den  Epiphysen,  auch  mit  Ver- 
käsung der  Neubildung.  Wir  könnten  diese  atonische  Form  der 
chronisch  suppurativen  Gelenkentzündung  eigentlich  von  der  fungösen 
abzweigen,  thun  dies  jedoch  nicht,  eiiierseits,  um  die  Uebersicht  nicht 
zu  stören,  andererseits,  weil  auch  diese  Form  sehr  häufig  als  exquisit 
fungöse  Sjnovitis  beginnt  und  erst  später  bei  sinkendem  Ernährungs- 
zustand des  Individuums  in  die  torpide  Form  übergeht;  diese  finden  wir 
dann  vorwiegend  in  den  Leichen  ])ei  Obductionen  und  würden  den  frü- 
heren Zustand  ganz  verkennen,  wenn  wir  nicht  Gelegenheit  nähmen,  ihn 
sonst  an  resecirten  und  amputirten  Gliedern  zu  studiren. 

leb  will  hier  einhalten  mit  der  anatomischen  Detaillirung,  die  aller- 
dings noch  viel  w^eitergeführt  werden  könnte,  doch  wird  das  Gesagte 
genügen,  Sie  in  jedem  einzelneu  Falle  zu  orientiren.  Es  ist  nicht  un- 
möglich die  verschiedenen  Modalitäten  der  beschriebenen  Processe  in 
einigermaassen  abgrenzbare  Formen  zu  gruppiren  und  gesondert  zu  ana- 
lysiren ;    doch   scheint  mir  das   keine    besondere   practische    Bedeutung 

36* 


564  ^oj^  d^r  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

ZU  haben; "da  diese  einzelnen  Formen  weder  zweifellos  ätiolog-ische,  noch 
prognostische,  nocli  therapeutische  Augriifspunkte  bieten.  Ich  meine, 
wenn  Sie  den  anatomischen  Vorgang-  richtig  erfasst  haben  und  bei  allen 
Fällen,  welche  sie  an  Lebenden  wie  an  der  Leiche,  an  resecirten  Ge- 
lenkenden, an  amputirten  Gliedern  etc.  zu  sehen  Gelegenheit  haben, 
immer  wieder  sich  meine  Schilderung  ins  Gedächtniss  zurückrufen,  so 
werden  Sie  bald  zu  völliger  Klarheit  über  diese  Krankheit  kommen  und 
einer  weiteren  Systematisirung-  ihrer  Erscheinungsformen  nicht  bedürfen. 

Ueber  die  Ursachen  der  chronischen  fung'ösen  Gelenkentzündungen 
ist  im  Allgemeinen  wenig  mehr  zu  sagen,  als  was  Sie  schon  wissen. 
Scrophulöse  Diathese  disponirt  ganz  besonders  dazu;  acute,  spontane 
oder  traumatische  Gelenkentzündungen  (seien  letztere  durch  Wunde,  Cou- 
tusion  oder  Distorsion  veranlasst)  gehen  in  die  chronische  Form  zuweilen 
über;  scrophulöse  Kinder,  etwa  von  dem  3.  Jahre  an,  neigen  ganz  be- 
sonders zu  diesen  Gelenkkrankheiten ;  ein  Fall,  eine  Zerrung  am  Gelenk, 
Ermüdung  geben  wohl  oft  Gelegeuheitsursache  zum  Ausbruch  der  Krank- 
heit. —  Es  bleibt  eine  Reihe  von  Fällen  übrig,  in  welchen  wir  gar  keine 
örtlichen  oder  allgemeinen  Ursachen  nachzuweisen  im  Stande  sind;  so 
habe  ich  in  der  Schweiz  auffallend  häufig  sehr  atouische  Formen  von 
fungös-purulenten  Gelenkentzündungen  der  unteren  Extremitäten  bei 
alten  Leuten  getroffen,  ohne  irgend  eine  Ursache  ausser  etwa  der  Er- 
müdung durch  Bergsteigen  dafür  auffinden  zu  können. 

Der  Verlauf  der  in  Rede  stehenden  Krankheit  ist  ein  ganz  ausser- 
ordentlich verschiedener,  immer  aber  ein  chronischer  von  Monate, 
meist  mehre  Jahre  langer  Dauer,  oft  mit  Pausen,  Stillstand  und 
Rückbildung,  dann  wieder  mit  Exacerbation  verbunden.  Li  jedem  Sta- 
dium der  Krankheit  kann  Stillstand,  Heilung  erfolgen,  diese  kann  in 
den  Anfangsstadien  eine  vollkommene  sein,  d.  h.  die  vollständige  Be- 
weglichkeit des  Gelenkes  kann  sich  wieder  herstellen,  oder  sie  ist  eine 
unvollkommene,  d.  h.  es  bleibt  bald  ein  grösserer,  bald  geringerer  Grad 
von  Steifheit  zurück.  So  lange  der  Knorpel  noch  nicht  überwuchert 
oder  von  unten  her  durch  die  etwa  aus  dem  Knochen  hervorwachsende 
Neubildung-  zerstört  wurde,  ist  die  Herstellung  einer  leidlichen  Beweg- 
lichkeit möglich,  die  freilich  durch  narbige  Schrumpfung  der  degenerirteu 
Synovialis  und  der  iufiltrirten  Kapselbänder,  sowie  durch  die  secun- 
dären  Coutracturen  der  Muskeln  beeinträchtigt  werden  kann.  Ist  der 
Knorpel  theilweis  oder  ganz  zerstört,  ist  nach  und  nach  oder  gleichzeitig 
mit  dem  Beginn  des  Leidens  Caries  eingetreten,  so  ist  nur  eine  Heilung 
mit  Anchylose  möglich,  denn  Knorpel  bildet  sich  hier  nicht  wieder; 
die  Granulationen  der  gegenüberliegenden  Knorpelflächeu  verschmelzen 
allmählig  mit  einander,  und  es  entstehen  oft  sehr  straffe  Verwachsungen, 
die  sogar  verknöchern  können.  Ob  es  so  weit  kommt,  oder  ob  die  Zer- 
störung des  Gelenkes  unaufhaltsam  fortschreitet,  hängt  sehr  viel  von 
der  Widerstandsfähigkeit  des   erkrankten  Individuums  ab;  die  Behand- 


Vorlosnng  T,«.     Capitpl  XVTT.  505 

lung-  kann  viel  tlnm,  wenn  sie  frülizeitig  eingeleitet  wird  und  das  Indi- 
viduum nicht  g-ar  7ai  elend  ist.  Der  Urad,  in  welchem  die  Muskeln  in  Mit- 
leidenschaft gezog-en  werden,  ist  ebenfalls  ein  sehr  verschiedener;  der 
höchste  Grad  von  Muskelatrophie  bildet  sich  nacli  meinen  Iilrfahrung-cn 
in  denjenigen  Fällen  ans,  in  welchen  keine  Gelenkeiterung,  sondern 
Caries  sicca  eintritt,  und  in  welchen  das  Gelenkleiden  von  primärer 
Ostitis  ausgellt.  —  Jetzt  noch  eine  kurze  Kritik  einzelner  Symptome: 
jede  Form  dieser  Krankheit  kann  mit  mehr  oder  weniger  Schmerzen 
verlaufen;  worin  dies  liegt,  weiss  ich  Ihnen  nicht  zu  sagen;  es  giebt 
Fälle,  in  denen  der  Knochen  in  hohem  Grade  zerstört  ist,  ohne  dass 
eine  Spur  von  Schmerzen  auftritt,  andere,  in  denen  solche  in  hohem 
Maasse  bestehen :  die  acuteren  Exacerbationen  mit  Entwicklung  neuer 
Abscesse  sind  immer  ziemlich  schmerzhaft.  —  Bei  der  Sondirung  der 
Fisteln  kommen  wir  bald  auf  Knochen,  bald  nicht;  ob  wir  den  Knochen 
fühlen  oder  nicht,  hängt  davon  ab,  ob  er  von  Granulationen  bedeckt  ist 
oder  ganz  frei  liegt;  ich  muss  Sie  in  dieser  Beziehung  auf  das  bei  der 
Caries  Gesagte  verweisen;  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  Gefühl  der 
Eeibung  in  kranken  Gelenken:  die  Crepitation  hat  als  Zeichen  für 
Caries  der  Gelenkenden  nur  Werth,  wenn  sie  vorhanden  ist;  fehlt  sie,  so 
ist  daraus  für  die  späteren  Stadien  kein  Beweis  zu  entnehmen,  dass  der 
Knochen  nicht  erkrankt  ist.  Die  Difformität,  die  Verschiebung  der 
Gelenkenden,  die  pathologischen  oder  spontanen  Luxationen 
sind  der  einzige,  ziemlich  sichere  Anhaltspunkt  für  den  Grad  der  Knochen- 
zerstörung: hier  kann  man  sich  nur  täuschen,  wenn  die  Kapsel  früh 
geborsten,  und  der  Gelenkkopf  wirklich  luxirt  ist,  ein  sehr  seltener  Fall, 
der  jedoch  an  der  Hüfte  beobachtet  ist,  möglicherweise  auch  an  der 
Schulter  vorkommen  kann.  —  Wir  sind  in  Bezug  auf  die  Beurtheilung 
des  anatomischen  Znstandes  des  Gelenkes  fast  nur  auf  das  Gesagte  an- 
gewiesen, helfen  uns  aber  durch  die  Aetiologie,  zumal  durch  die  Zeit- 
dauer des  ganzen  Processes.  Profuse  Eiterung  aus  dem  Gelenk  selbst 
ist  immer  ein  Zeichen,  dass  ein  Theil  der  Synovialmembran  noch  nicht 
ganz  degenerirt  ist  oder  grosse  Abscesse  mit  dem  Gelenk  com- 
municiren;  das  Secret  der  fungösen  Granulationen  ist  weniger  reichlich, 
meist  serös  oder  schleimig.  —  Für  den  Grad  der  Knorpelzerstörung 
haben  wir  keine  sicheren  Zeichen.  —  lieber  die  Diagnose  des  Leidens 
und  die  Prognose  noch  etwas  Besonderes  hinzuzufügen,  würde  nur  zu 
einer  Wiederholung  des  Gesagten  führen,  in  welchem  Sie  alle  Mittel 
zur  Beurtheilung  vollständig  zur  Hand  haben.  Ich  glaube  noch  Fol- 
gendes aus  meinen  Beobachtungen  sagen  zu  können;  wenig  Anschwel- 
lung des  Gelenkes,  verbunden  mit  grosser  Schmerzhaftigkeit  und  früher 
Muskelatrophie  bei  anämischen  Kindern,  dabei  keine  oder  sehr  geringe 
Eiterung  deutet  auf  primäres  Knochenleiden  und  ist  von  übelster  Pro- 
gnose.     Guter  Ernährungszustand  ist    der  Hauptanhaltspunkt    für    eine 


pyCQ  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

giinstig-e   Prognose,  welche  auch    durch  früh   eintretende,   selbst  ausge- 
dehnte Eiterung  nicht  erheblich  beeinträchtigt  wird. 


Vorlesung  37. 

Behandlung  des  Tumor  albus.  —   Operative  Eingvifie.  —  Resectionen  der  Gelenke.  — 
Kritische  Beurtheilung  dieser  Operationen  an  den  verschiedenen  Gelenken. 

Wenden  wir  uns  jetzt  zur  Behandlung.  Dieselbe  muss,  wie  bei 
allen  chronischen  Entzündungen,  eine  allgemeine  und  locale  sein,  und 
zwar  muss  die  allgemeine  Behandlung  um  so  mehr  in  den  Vordergrund 
treten,  je  deutlicher  das  constitutionelle  Leiden  ist;  über  diese  allgemeine 
Behandlung  selbst  brauchen  wir  keine  Yforte  mehr  zu  verlieren;  sie  ist 
Ihnen  in  den  Hauptztigen  bekannt,  Ernährungszustand  des  Patienten, 
Blutarmuth  desselben,  die  allgemeinen  hygienischen  und  diätetischen 
Verhältnisse,  unter  denen  er  lebt,  müssen  die  Hauptangriifspunkte  für 
die  Therapie  bilden.  Sie  haben  die  Pflicht  nach  bestem  Wissen  und 
Gewissen  den  Patienten  in  dieser  Beziehung  zu  rathen,  werden  jedoch 
bald  die  Erfahrung  machen,  dass  Sie  grade  in  diesen  Dingen  auf  die. 
grösste  Gleichgültigkeit  stossen ,  und  Rathschläge  in  dieser  Richtung 
äusserst  selten  befolgt  werden.  Zumal  vermögen  wir  nichts  über  die 
schlimmsten  Einflüsse,  nämlich  die  erheblichen  Dispositionen,  denn  dass 
nur  die  allerkräftigsten  Menschen  aus  gesunden  Familien  zur  Fortpflanzung 
des  Menschengeschlechts  ausgewählt  und  allen  schwächlichen  Menschen 
aus  kränkelnden  Familien  das  Heirathen  verboten  wird,  das  werden  wir 
ja  doch  nicht  durchsetzen.  — 

Was  die  locale  Behandlung  und  ihre  Erfolge  betrifft,  so  ist  im  All- 
gemeinen zu  bemerken,  dass  dieselbe  um  so  wirksamer  ist,  je  acuter 
der  Zustand  verläuft;  es  macht  in  der  Regel  keine  Schwierigkeiten, 
subacute  Exacerbationen  oder  subacute  Anfänge  des  Processes  zu  be- 
schwichtigen. Hier  wirken  die  schon  früher  oft  genannten  Mittel  vor- 
trefflich: starke  Salben  mit  Argent.  nitricum  (1  Drachme  auf  1  Unze 
oder  5,000  Grammes  auf  40,000  Grammes  Fett),  Bepinseln  mit  Jod- 
tinctur,  Vesicatoires  volants.  Eis,  hydropathische  Einwicklungen,  leichte 
Compression  mit  Bindenein  Wicklungen;  hierzu  muss  eine  absolute  Ruhe 
des  Gelenkes  kommen,  die  an  den  unteren  Extremitäten  nur  durch 
dauernde  ruhige  Lage  im  Bett  erreicht  werden  kann.  —  Ist  der  Process 
durchaus  chronisch  und  bessert  sich  nach  einiger  Zeit  der  Ruhe  und 
Anwendung  der  genannten  Mittel  nicht,  so  kenne  ich  kein  besseres 
Mittel,  als  durch  einen  festen  Verband,  geAvöhnlich  einen 
Gypsverbaud,  auf  das  geschwollene  Glied  einen  continuir- 
lichen,  massigen  Druck  anzuwenden,  und  zu  gleicher  Zeit 
dadurch  das  Gelenk  in  einer  passenden  Stellung  vollkommen 


Vorlesung  ;i7.     Capilcl   XVII.  5(37 

ruhig-  zu  stellen.  Man  kann  den  l?jiticntcn  gcsüitten,  mit  einem 
solchen  Verband  umherzugehen,  wenn  «ie  keine  »Sclimerzen  dabeihaben; 
ein  Stock  oder  Krücken,  je  nach  dem  Grade  der  Schwäche,  die  der 
Patient  in  dem  kranken  Bein  emi)findet,  dienen  zur  Unterstützung-. 
Sollen  dabei  Bäder  g-ebraucht  werden,  so  wird  der  Verband  der  Länge 
nacli  aufg-eschnitten,  vor  dem  Bade  abg'cnommcn,  nach  dem  Bade  wieder 
angelegt.  Wenn  es  die  pecuniären  Mittel  des  Patienten  erlauben  und 
wenn  man  einen  verständigen  g-eschickten  Bandagisten  zur  Hand  hat, 
so  lassen  sich  die  Verbände  vielfach  durch  leichte  Schienenapparatc 
ersetzen,  welche  nicht  nur  die  Kuhig'stelluug-  des  Gelenkes  bedingen, 
sondern  auch  zugleich  so  construirt  sein  müssen,  dass  sie  das  erkrankte 
Gelenk  möglichst  von  der  Körperlast  befreien;  die  Mechanik  macht  auch 
in  dieser  Eichtung  sehr  erfreuliche  Fortschritte.  Mit  diesen  Hilfsmitteln 
kann  man  auch  bei  Erkrankung  der  unteren  Extremitäten  vielen  Kran- 
ken gestatten,  sich  täglich  einige  Bewegung  zu  verschaffen;  dies  hat  den 
Vortheil,  dass  der  Kranke  die  Muskeln  der  Extremität  wenigstens  etwas 
braucht,  und  diese  daher  nicht  so  erheblich  atrophiren;  man  muss  nicht 
glauben,  dass  in  Folge  des  längeren  Tragens  von  Gypsverbänden  und 
Schienenapparaten  nothwendig  Steifheit  des  Gelenkes  eintreten  muss ; 
man  erlebt  gar  nicht  selten  das  Gegentheil,  nämlich,  dass  ein  vor  der 
Anlegung  des  Verbandes  sehr  wenig  bewegliches  Glied  nach  Entfernung 
desselben  beweglicher  ist,  als  zuvor;  dies  hat  seinen  Grund  darin,  dass 
die  Schwellung  der  Synovialmembran  sich  oft  unter  dem  Verbände^ 
zurückbildet.  Bevor  der  Verband  angelegt  wird,  lässt  man  das  Glied 
stark  mit  grauer  Quecksilbersalbe  einreiben,  oder  ein  Quecksilber- 
pflaster auflegen,  oder  auch  die  Salbe  mit  x4rgent.  nitricum  einreiben. 
Ich  kann  Ihnen  die  Gypsverbände  bei  den  fungöseu  Gelenkentzündungen 
nicht  genug  empfehlen  für  alle  Fälle  mit  sehr  chronischem  Verlauf; 
diese  Behandlung  erscheint  sehr  nichtssagend  und  ist  doch  von  grosser 
Wirkung  allen  übrigen  Mitteln  gegenüber,  die  wir  zur  Bekämpfung 
dieser  Krankheit  besitzen.  Ich  kann  Sie  versichern,  dass  mir,  seitdem 
ich  diese  Behandlung  mit  Consequenz  durchführe,  die  Fälle  mit  Eite- 
rung und  Fistelbildungen  weit  seltener  vorkommen.  Selbst  wenn  schon 
deutliche  Fluctuation  bestellt,  müssen  Sie  noch  den  Verband  anlegen; 
Sie  werden  freilich  sehr  selten  erleben,  dass  diese  Abscesse  resorbirt 
werden,  doch  wenn  die  Eröffnung  spontan  unter  dem  Verbände  erfolgt, 
was  der  Patient  an  der  Durchtränkung  des  Verbandes  leicht  bemerkt, 
so  erfolgt  dies  auf  eine  so  milde,  so  unmerkliche  Weise  ohne  jede  Ver- 
schlimmerung des  Leidens  und  der  Schmerzen,  wie  bei  keiner  anderen 
Behandlung.  Ist  Fistelbildung  eingetreten,  so  bleibt  der  Verband  nach 
wie  vor;  er  wird  nur  aufgeschnitten  und  neu  mit  Watte  gepolstert; 
täglich  wird  er  abgenommen  und  die  Vv'unde  gereinigt,  dann  wieder 
angelegt;  dabei  wird  die  allgemeine  roborirende  diätetische  Cur  con- 
sequent  fortgesetzt.     Ist  das  Glied  sehr  schmerzhaft,  so  wendet  mau  bei 


ggg  Von  der  chronischen  Entziindung  der  Gelenke. 

vorhandenen  Fisteln  gefensterte  Verbände  an.  Ich  habe  auf  diese  Weise 
noch  zuweilen  leidlich  bewegliche  Gliedmaassen  in  guter,  brauchbarer 
Stellung  erhalten  in  Fällen,  die  anfangs  die  schlechteste  Prognose  zu 
geben  schienen,  und  bin  in  der  That  oft  selbst  von  den  Erfolgen  dieser 
Behandlung  aufs  Freudigste  itberrascht  worden.  Die  Streckung  eiternder 
oder  überhaupt  sehr  hochgradig  erkrankter  Gelenke  ist  immer  mit 
grosser  Vorsiclit,  und  falls  sich  auch  in  der  Narkose  noch  Widerstände 
finden,  nie  auf  einmal  vollständig  zu  machen,  sondern  nur  so  weit  zu 
treiben,  wie  es  ohne  starken  Druck  der  Gelenkenden  auf  einander 
möglich  ist.  Bei  Knie-  und  Hüftleiden  wende  ich  mit  vortrefflichem 
Erfolge  die  oft  schon  empfohlene  langsame  Extension  mit  Gewichten  an, 
und  bereite  dadurch  zuweilen  die  Patienten,  zumal  die  Kinder,  für  die 
Anlegung  des  Verbandes  vor.  Volkmann  hat  sich  durch  die  energische 
Empfehlung  dieser  von  ihm  Distractionsmethode  genannten  Behand- 
lung aufs  Neue  grosse  Verdienste  um  die  Behandlung  der  Gelenkkrank- 
heiten erworben.  Er  legt  einen  besonderen  Werth  darauf,  dass  durch 
die  Extension  der  durch  Muskelzug  und  Bänderschrumpfung  hervorge- 
brachte Druck  der  Gelenkflächen  auf  einander  möglichst  gemindert  werde. 
Die  Art  und  Weise,  Avie  die  Extension  ausgeübt  wird,  ist  von  so  ausser- 
ordentlicher Bedeutung  für  die  practische  Verwendbarkeit  dieser  Methode, 
so  dass  ich  Sie  besonders  auffordern  muss,  der  dabei  anzuwendenden 
Technik  in  der  Klinik  ihre  specielle  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  — 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Distractionsmethode  in  den  meisten 
Fällen  beginnender  und  progredienter  Gelenkkrankheiten  noch  wirksamer 
ist,  als  die  mit  Gypsverbänden  und  Sie  werden  dieselbe  daher  in  meiner 
Klinik  besonders  häufig  anwenden  sehen;  doch  einerseits  werden  Sie 
nicht  alle  Patienten  in  der  Privatpraxis  dahin  bringen,  dass  sie  sich 
gleich  niederlegen,  andererseits  erfordert  die  Methode  doch  so  viel  sorg- 
fältige Ueberwachung  von  Seiten  des  Arztes,  dass  ihre  Brauchbarkeit 
dadurch  leider  etwas  beeinträchtigt  wird.  Ein  sehr  ingeniöser  amerika- 
nischer Chirurg  Taylor  hat  für  die  unteren  Extremitäten  Maschinen 
construirt,  mit  welchen  die  Distractionen  ausgeführt  und  das  Gelenk 
entlastet  w'ird,  und  die  Patienten  zugleich  damit  umhergehen  können: 
diese  Apparate  wirken  oft  vortrefflich,  doch  sind  sie  nicht  nur  schwierig 
anzufertigen,  sondern  ihre  Anwendung  erfordert  aucli  eine  gewisse  Er- 
fahrung von  Seiten  des  Arztes.  Alle  erwähnten  mechanischen  Hilfs- 
mittel: Gypsverbände,  Stützapparate,  Distractionsverbände,  Taylor'sche 
Maschinen  bedürfen  fortdauernder  ärztlicher  Beaufsichtigung,  damit  niclit 
durch  Druck  und  Reibung  Wunden  entstehen,  und  damit  nicht  durch 
Verschieben  der  Apparate  gar  schädliclie  Wirkungen  derselben  eintreten. 
Bei  Kindern  zu  beurtheilen,  ob  die  Extensionswirkung  genügend  ist, 
oder  zu  stark,  sie  an  die  Unbequemlichkeit  der  Apparate  zu  gewöhnen, 
die  überängstlichen  Eltern  zu  beruhigen,  wenn  das  Kind  vor  Unart  oder 
Lang-erweile  schreit,   die  Kinder  in  richtiger  Weise  bald  durch  freund- 


Vorlesung  'M.     Ciipifcl  XVTT.  509 

liclies  Zureden  hald  diircli  .strcugcii  Ernst  zum  CJcliorsam  zu  erzielien, 
sie  daran  zu  Inndern,  dass  sie  selbst  die  Apparate  lösen  etc.,  dazu  ge- 
hört unermüdliche  Geduld  und  Ausdauer.  —  Consequenz  von  Ihrer  Seite 
und  von  Seite  der  Patienten  ist  zu  den  Curen  der  chronischen  Gelenk- 
entzündung-en  absolut  nothwcndig;  stellen  Sie  den  Patienten  gleich  anfangs 
vor,  dass  es  sich  um  einen  Process  handelt,  der  mindestens  mehre 
Monate,  vielleicht  Jahre  lang-  dauert,  und  dass  die  Behandlung- 
erst sistirt  werden  darf,  wenn  das  Glied  ganz  frei  von  Schmerzen  und 
zum  Gehen  wieder  erstarkt  ist,  sei  es  mit  oder  ohne  Beweglichkeit.  — 
Was  die  kalten  Abscesse  betrifft,  so  wiederhole  ich  den  Rath,  die- 
selben nur  dann  zu  öffnen,  wenn  Sie  eventuell  eine  Operation  folgen 
lassen  wollen;  kann  dies  nicht  sein,  oder  liegt  dies  nicht  in  Ihrer  Ab- 
sicht, so  warten  sie  die  spontane  Eröffnung  ab,  und  wenn  es  Jahre  lang 
gehen  sollte.  — 

Wenn  ich  Ihnen  bisher  meine  Maximen  ))ei  Beliandlung  der  fungöseu 
Gelenkentzündung  in  Kürze  mitgetheilt  habe,  so  darf  ich  doch  nicht  unter- 
lassen, Sie  darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  andere  Chirurgen  anderen 
therapeutischen  Principien  folgen.  Es  gie1)t  immer  noch  Anhänger  der 
streng  dogmatischen,  antiphlogistischen  Behandlung,  Aerzte,  welelie  auch 
bei  den  chronischen  Gelenkentzündungen  von  Zeit  zu  Zeit  Blutegel  oder 
Schröpfköpfe  setzen,  kalte  Umschläge  maclien  lassen  und  Abführmittel 
geben ;  später  gehen  sie  dann  zu  Kataplasmen  über  und  enden  mit  Moxen 
und  Ferrum  candens.  Geht  die  Krankheit  dabei  immer  vorwärts,  haben 
sich  Fisteln  hier  und  dort  gebildet,  ist  der  Kranke  sehr  anämisch  ge- 
worden, so  ist  die  Indication  für  die  Amputation  fertig,  zumal  wenn 
Crepitation  im  Gelenk  nachweisbar  ist.  Dies  war  der  frühere  Standpunkt, 
die  Erfolge  waren  im  Allgemeinen  ungünstig  oder  günstig,  wie  man  es 
nennen  will,  letzteres  nämlich  insofern,  als  die  Amputationen,  welche 
unter  solchen  Umständen  meist  ziemlich  früh  gemacht  wurden,  in  der 
Regel  günstig  abliefen.  Ich  bin  sehr  geneigt,  die  günstigen  Resultate, 
die  seltnere  Indication  für  Amputationen  der  grösseren  Beachtung  der 
mechanischen  Verhältnisse  bei  der  Behandlung  der  Gelenkkrankheiten 
zuzuschreiben,  und  glaube  sicher,  dass  dadurch  eine  grosse  Menge  von 
Gliedmaassen  in  relativ  gut  brauchbarem  Zustande  erlialten  werden,  die 
früher  unzweifelhaft  amputirt  worden  wären.  —  Was  die  localen  Blut- 
entziehungen bei  chronischen  Gelenkkrankheiten  betrifft,  so  kann  ich  sie 
Ihnen  durchaus  nicht  empfehlen;  von  leidlichem  Nutzen  können  sie  nur 
bei  subacuten  Exacerbationen  sein,  doch  besitzen  wir  grade  für  solche 
Fälle  w^eit  bessere  Mittel,  die  nicht  zugleich  so  schädlich  wirken;  denn 
Blutentziehungen,  und  gar  oft  wiederholte  Blutentziehungen  bei  Leuten 
vorzunehmen,  die  schon  durch  das  Leiden  selbst  zu  Anämie  disponirt 
sind,  ist  gewiss  unzweckmässig.  —  Die  Kälte  ist  bei  subacuten  Attacken 
chronischer  Gelenkentzündungen  unter  Umständen  von  grossem  Vortheil- 
ich  brauche  auf  Esmarch's  Rath  das  Eis  in  solchen  Fällen  jetzt  viel 


570  ^'^*5n  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

und  mit  gutem  Erfolg;  doch  ist  es  schwierig'  durclizufilliren,  einen  Kranken 
Jahre  lang'  im  Bett  in  gleicher  Lage  mit  einer  Eisblase  auf  einem  Knie 
zu  erhalten,  zumal  wenn  ihm  das  Glied  nicht  sonderlich  schmerzt.  — 
Noch  muss  ich  von  der  Anwendung-  der  continuirlichen  hohen 
Wärmegrade  sprechen,  die  man  durch  sorgfältig-  applicirte  Kataplas- 
men,  warme  Wasserumschläg-e,  Umschläge  von  heissem  Moor  (z.  B.  in 
Franzenshad)  oder  Schlamm  (in  Pystian),  erzielt.  Diese  Behandlung 
kann  dann  indicirt  sein,  wenn  der  Verlauf  des  Processes  ein  äusserst 
torpider  ist,  wenn  bei  schlecht  aussehenden  fistulösen  Hohlgeschwüren, 
bei  mangelnder  Vascularisation  der  Granulation,  bei  schlechtem  dünnem 
Secret  überhaupt  eine  massige  Irritation  indicirt  ist.  Jedenfalls  dürfen 
die  höheren  Wärmegrade,  wenn  sie  angewandt  werden,  nicht  zu  lange 
einwirken,  weil  sonst  der  Effect  wieder  verloren  geht,  und  aufs  Neue 
anstatt  der  Fluxion,  die  Sie  hervorrufen  wollen,  eine  völlige  Erschlaffung 
eintritt.  — 

Sie  dürfen  nach  den  geschilderten  Leistungen  der  Therapie  anneh- 
men, dass  die  Curerfolge  bei  der  fungösen  Gelenkentzündung  im  Allge- 
meinen leidlich  günstig  sind,  wenn  man  von  den  zurückbleibenden  ge- 
ringeren oder  höheren  Graden  von  Gelenksteifheit  absieht,  und  vor  Allem, 
wenn  der  Patient  früh  zur  Behandlung-  kommt.  Doch  aber  bleibt 
eine  lange  Eeihe  von  Fällen  übrig,  weiche  trotz  der  sorgfältigsten  Therapie 
nicht  geheilt  werden  oder  nach  kurz  andauernder  Besserung  wieder 
exacerbiren;  die  Ursachen  hiervon  liegen  theils  in  der  anatomischen 
Beschaffenheit  des  ergriffenen  Gelenkes,  theils  im  Allgemeinzustand  des 
Patienten.  Die  Gelenkkrankheiten  an  Hand  und  Fuss  sind  aus  anato- 
mischen Gründen  am  ungünstigsten:  wegen  der  vielen  kleineu  Knochen 
und  Gelenke,  welche  hier  in  Betracht  kommen,  ist  der  Process  meist 
furchtbar  langwierig ;  die  Krankheit  beginnt  vielleicht  ganz  chronisch  an 
einem  der  kleinen  Hand-  und  Fusswurzelknochengelenke,  bleibt  hier  eine 
Zeit  lang  stationär  oder  bildet  sich  sogar  theilweis  zurück;  nun  aber 
erkrankt  wieder  ein  neues  Gelenk;  es  kommt  bald  hier,  bald  dort  zur 
Eiterung;  die  Kranken  werden  anämisch,  schwach,  sind  Jahre  laug  zur 
Ruhe  verdammt  und  wünschen  schliesslich  selbst  sehnlichst  die  Amputation 
des  kranken  Gliedes,  um  nur  endlich  wieder  einmal  sich  gesund  zu 
fühlen  nach  langem,  langem  Leiden.  —  In  anderen  Fällen  tritt  bald  ein 
kachektischer  Zustand  ein,  Avelcher  mit  Anämie,  vollständiger  Störung 
der  Verdauung  verläuft  und  mit  Speckkrankheit  der  inneren  Organe, 
oder  Tuberkulose  der  Lungen  etc.  endet,  so  dass  wegen  dieser  allge- 
meinen constitutiouellen  Verhältnisse  nicht  an  Heilung  zu  denken  ist. 
Lässt  man  die  Krankheit  unter  solchen  Umständen  ruhig  fortschreiten, 
so  gehen  die  Patienten  bald  früher,  bald  später  zu  Grunde,  um  so 
früher,  je  grösser  das  afficirte  Gelenk  ist  (Knie,  Hüfte)  und  je  mehr 
Gelenke  zu  gleicher  Zeit  erkrankt  sind,  was  nicht  selten  der  Fall  ist.  — 
Es  giebt  zwei  Mittel,    unter  solchen  Umständen  noch  zu  helfen:    1)  das 


Vorlcsim;j;   oT,      Cupilrl    XVIl.  571 

Glied  aufzug-eben,  um  das  Leben  zu  retten,  also  die  Amputation  zu 
machen,  2)  die  Heilung  des  Gclcnkleidens  aufzugeben,  die  krankeu 
Knoclicnenden  auszuschneiden,  um  so  das  Glied  und  das  Leben  zu  er- 
halten, also  die  Resection  des  kranken  Gelenkes  zu  machen.  — 

Wenn  man  diese  beiden  Mittel  a  priori  mit  einander  vergleicht, 
so  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  man  die  llesection  der 
Amputation  vorziehen  wird,  und  im  Princip  ist  dies  durchaus  richtig; 
die  moderne  Chirurgie  ist  mit  Kecht  auf  die  Ausbildung  der  Gelenk- 
resectionen  stolz.  —  Indess  manche  Uebelstände  können  hinzukommen, 
welche  trotzdem  der  Amputation  in  einem  vorliegenden  Fall  den  Vorzug 
geben;  hierhin  ist  vor  Allem  der  Grad  der  Allgeineinerkraukung  des 
Patienten  zu  rechnen.  Nach  der  Resection  der  Gelenke  behalten  wir 
eine  grosse  Wunde  mit  zwei  Sägeflächen  der  Knochen  zurück,  die  auf 
alle  Fälle  noch  Wochen,  zuweilen  noch  viele  Monate  lang-  eitert;  es 
können  Eiterungen  des  Unterhautzellgewebes,  der  Sehnenscheiden,  eitrige 
Periostitis  und  Nekrose,  ja  selbst  Caries  der  Sägefläche  hinzukommen, 
Dinge,  die  alle  vom  Patienten  vielleicht  tiberwunden  werden  können, 
die  aber  jedenfalls  Zeit  und  Kräfte  in  Anspruch  nehmen.  Giebt  also 
die  Entkräftung  bei  elenden,  kachektischen  Lidividuen  die  Indication  zu 
einem  operativen  Eingriff,  so  ist  die  Amputation  oft  ein  sichreres  Mittel, 
das  Leben  zu  erhalten,  als  die  Resection.  Die  Erhaltung  des  Lebens 
muss  dem  Arzt  immer  höher  stehen,  als  die  der  Glieder.  Wir 
hätten  also  zu  entscheiden:  wird  der  Patient  die  Resection  mit  ihren 
Folgen  gut  ertragen  können?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  so  im 
Allgemeinen  schwer  zu  geben,  selbst  im  einzelnen  Falle  kann  die  Ent- 
scheidung schwierig  sein;  wir  besitzen  keine  Mittel,  die  Widerstands- 
fähigkeit der  Menschen  gegen  Krankheiten  zu  messen.  Man  hat  zu 
untersuchen,  ob  der  Kranke  nur  sehr  abgemagert,  anämisch  und  durch 
den  Säfteverlust  einfach  geschwächt  ist,  oder  ob  tiefere  Erkrankungen 
innerer  Organe  vorliegen;  in  letzterem  Falle  wird  die  Amputation  vor- 
zuziehen sein,  oder  es  ist  überhaupt  gar  nicht  mehr  zu  helfen ;  denn  dass 
man  bei  atrophischen  Kindern  mit  mehrfachen  Gelenkleiden,  kalten  Ab- 
scessen,  Diarrhöen,  Aphthen  etc.,  dass  man  bei  Individuen  mit  tuber- 
kulösen Lungencavernen,  dass  man  bei  Kranken  mit  verhärteter,  speckiger 
Leber  und  Milz  überhaupt  nicht  mehr  operirt,  ebenso  wenig  bei  alten, 
vollkommen  marantischen  Individuen,  versteht  sich  von  selbst;  wir  dürfen 
uns  in  solchen  Fällen  nicht  über  die  Ohnmaclit  unserer  Kunst  täuschen. 
Es  kommt  aber  noch  mehr  hinzu,  was  zu  überlegen  ist,  nämlich  welche 
Operation  ist  die  weniger  gefährliche  für  das  Leben?  Dies  ist  im  All- 
gemeinen gar  nicht  zu  beantworten,  hier  müssen  wir  die  einzelnen 
Gelenke  berücksichtigen,  um  deren  Resection  es  sich  handelt  und  sie 
in  Parallele  mit  derjenigen  Amputation  setzen,  welche  im  gegebenen 
Fall  eventuell  in  Frage  käme.  Bei  Caries  des  Schultergelenkes  ist 
die  Resection  weniger  gefährlich,  als  die  Exarticulatiou  des  x4rnies  iii 


572  ^"^on  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

der  Schulter;  ebenso  verhält  es  sich  für  das  Hüftgelenk:  die  Exarti- 
eulation  des  Beines  im  Hüftgelenk  ist  eine  der  gefährlichsten  Operationen, 
die  Kesection  des  Caput  femoris  ist  bei  jugendlichen  Individuen  nicht  so 
sehr  gefährlich.  Bei  Schulter  und  Hüfte  kann  also  von  den  Exarticula- 
tionen  wegen  Caries  gar  nicht  die  Kede  sein;  hier  handelt  es  sich  nur 
darum :  ist  der  AUgemeinzustaud  der  Art,  dass  man  die  Krankheit  ihren 
Gang  gehen  lassen  kann,  oder  sollen  wir  versuchen,  den  Process  durch 
die  Kesection  zu  coupiren;  im  günstigsten  Falle  wird  bei  der  spontanen 
Heilung  Anchylose  in  schlechter  Stellung  folgen;  erfolgt  die  Heilung 
nach  den  Eesectionen,  so  bleibt  die  Extremität  in  Schulter  und  Hüfte 
meist  beweglich,  das  Glied  in  günstigen  Fällen  leidlich  brauchbar.  Diese 
Chancen  sprechen  sehr  für  die  Kesection,  zumal  an  der  Schulter;  man 
könnte  sich  sogar  hier  ziemlich  früh  für  die  Kesection  entscheiden,  um 
den  Kranken  schnell  und  gut  herzustellen.  Was  die  Hüfte  betrifft,  so 
leidet  die  Kesection  dieses  Gelenks  an  einem  wichtigen  Uebelstand: 
man  kann  die  meist  gleichzeitig  erkrankte  Pfanne  nicht  oder  nur  in  sehr 
ungenügender  Weise  reseciren:  so  bleibt  die  Kesection  bei  hochgradiger 
Erkrankung  des  Gelenks  unvollständig;  geringere  Grade  heilen  auch 
ohne  Operation.  —  Weit  günstiger,  vielleicht  am  günstigsten,  stellen  sich 
die  Erfahrungen  für  das  Ellenbogengelenk:  die  Kesection  dieses 
Gelenks  ist  nicht  gefährlicher,  als  die  Amputation  des  Oberarms;  nach 
der  Kesection  erhält  man  in  günstigen  Fällen  ein  ziemlich  brauchbares 
Gelenk,  nach  der  spontanen  Heilung  fast  immer  Anchylose;  hier  ist  die 
Wahl  leichter ;  man  wird  sich  eher  zur  Kesection  des  Ellenbogengelenks 
entschliessen,  nicht  weil  die  Operation  wegen  dringender  Lebensgefahr 
gemacht  werden  müsste,  denn  Caries  des  Ellenbogengeleuks  bedroht 
nur  bei  sehr  langer  Dauer  das  Leben,  sondern  weil  sie  bei  relativ 
geringer  Gefahr  in  kürzerer  Zeit  die  Chancen  eines  bewegliehen  brauch- 
baren Gelenks  bietet,  während  beim  Zuwarten  erst  nach  Jahre  langer 
Dauer  Anchylose  einzutreten  pflegt,  ^fan  ist  so  weit  gegangen,  selbst 
die  anchylosirten  Gelenke  auszusägen,  um  ein  bewegliches  Pseudogelenk 
zu  erzielen;  dies  würde  ich  nicht  empfehlen,  denn  die  Erfahrungen  über 
die  Brauchbarkeit  der  Arme  mit  resecirten  Gelenken  haben  gelehrt,  dass 
die  Pseudogelenke,  welche  sich  nach  der  Operation  bilden,  im  Verlauf 
von  Jahren  oft  immer  laxer  werden,  so  dass  die  operirte  Extremität 
schliesslich  doch  nicht  so  brauchbar  bleibt,  wie  man  früher  annahm; 
man  ist  leider  nicht  ganz  Herr  über  den  Schlusserfolg  in  Betreff  der 
Brauchbarkeit  einer  resecirten  Extremität,  wenn  man  auch  durch  Unter- 
sttitzungsapparate,  gymnastische  Uebungen  und  Electricität  viel  thun 
kann,  um  die  Kesultate  zu  bessern.  —  Ganz  anders  stellen  sicli  die 
Verhältnisse  fürs  Kniegelenk;  die  Kesection  des  Kniegelenks  ist  eine 
gefährlichere  Operation  als  die  bisher  erwähnten  Gclenkresectionen,  sie 
steht  etwa  mit  den  tiefen  Amputationen  des  Oberschenkels  auf  gleicher 
Linie  der  Gefährlichkeit;    nach   Kesection    des  Kniegelenks  wollen  wir 


Vork-.siiiiK  37.      Capilcl  XV[I.  57;j 

nur  Auchylose  erreidien,  die  wir  bei  spontaner  Ausheilung  des  Gelenks 
auch  bekommen;    diese  Operation  darf  also,  Aveil  sie  ])ei  ziemlicher  Ge- 
falir   nicht  mehr  erzielt,   als  was   durch  die  nielit  operative  chirurgische 
'Pherapie  aucli   erreicht  werden   kann,   falls  der  Proccss    stillstelit,    nur 
dann  vorgenonunen  werden,  wenn  sie  lehensrettend  wirkt;    bisliei-  habe 
ich  mich  nicht  allzuhäufig  zu  einer  Operation  wegen  Kniegelenkcaries  ent- 
schlossen,  ebenso  ungern  zur  Amputation   als  zur  Resection;    mir  wenn 
alle  Therapie  Jahre  lang    fruchtlos  bleibt,    wenn   der  Kranke   al)magert 
und  sehr  leidet,    kann. von  einer  Ami)utation  die  Rede  sein,   oder  wenn 
es  ältere  Leute  betrifft,  bei  denen  iiberhau])t  eine  Auslieilung  liocligrudi'^'er 
Kniegelenkcaries  unwahrs"cheinlicli  ist.    Eine  Resection  kann  nur  bei  ganz 
jugendlichen  Individuen  von  guter  Constitution  mit  Erfolg  gemacht  werden  ■ 
sie   ist  meist  nur  ein  Mittel  zur  Beschleunigung  der  Heilung   in  Fällen 
mit  relativ  leidlichen  Chancen.    Dies  sind  meine  persönlichen  Grundsätze, 
die  sich  immer  mehr  und  mehr  befestigen,  je  mehr    solcher  Knieleiden 
ich  spontan  ausheilen  sehe.     Ich  habe  schon  viele  Kinder  an  Coxitis  zu 
Grunde  gehen  sehen   und  bin   daher  für   die  Resection  der  Hüfte   eher 
günstig  gestimmt,   trotzdem  meine  Operationsresultate  in  dieser  Hinsicht 
bisher  nicht  günstig  sind;  nach  Kniegelenkcaries  habe  ich  wohl  alte  und 
marantische  Leute  und  Individuen  mit  Lugeutuberkeln  und  ausgedehnten 
Cavernen,   seltner  Kinder   zu  Grunde   gehen  sehen.     Andere  Chirurgen 
haben  darüber  ganz  andere  Ansichten,  zumal  in  England  ist  man  so  für 
die  Resection  des  Kniegelenkes  eingenommen,  dass   man   die  Operation 
dort  sehr  häufig  und  in  frühen  Stadien  der  Krankheit  vornimmt.     Viele 
deutsche  Chirurgen   werden,    glaube   ich,    meine  Ansichten   üljer  diesen 
Gegenstand  theilen,   andere   stehen   mehr  in  der  Mitte,    indem   sie  nach 
einigen  günstigen  Resultaten  von  Kniegelenkresectionen  günstiger   über 
diese  Operation  urtheilen;  ich  war  früher  geradezu  gegen  die  Kniegelenk- 
resectionen eingenommen,  bin  jedoch  auch  etwas  umgestimmt  durch  eine 
Reihe    günstiger  Resultate,    die    ich    in    den   letzten  Jahren    mit    dieser 
Operation  erzielte.  —  Wenn  man  sich  die  Fälle  mit  günstigen  Chancen 
zur  Operation  auswählt,  ungünstige  oder  zweifelhafte  nie  operirt,  so  wird 
man  nicht  viel  aber  meist  glücklich  operiren,   freilich  auch  nur  Wenige 
durch  die  Operation  heilen.     Es  verhält  sich   mit  vielen  grossen  Opera- 
tionen ganz  analog;    hat  man  einige  Erfahrung  und  liegt  einem  nichts 
daran,   die  meisten  Fälle  ungeheilt  fortzuscliicken,   interessirt  man  sich 
vorwiegend  für  die  günstigeren  Fälle,  dann  wird  man  sich  bald  den  Ruf 
eines  äusserst  glücklichen  Operateurs  und  Arztes  verschaffen.     Es  giebt 
viele  bedeutende  Chirurgen,  die  sich  auf  diese  Weise  über  die  für  hohe 
Ansprüche  immerhin  geringen  Leistungen  unserer  Kunst  behaglich  täu- 
schen.   Ich  gehöre  leider  nicht  zu  diesen  glücklichen  Optimisten.  —  Wir 
kommen   zum  Handgelenk:   die  Resection   des  Handgelenkes   wird  in 
den  meisten  Fällen  in  der  Exstirpation  sämmtlicher  Handwurzelknochen, 
mit  Absäg'ung  der  unteren  Gelenkfläche  des  Radius,  vielleicht  auch  der 


574  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

Gelenkflächen  der  Ossa  metacavpi  bestehen.  Ich  habe  diese  Operation 
mehre  Male  gemacht,  zum  Theil  mit  brillantem  Erfolge;  die  Hand  wurde 
wieder  vollkommen  beweglich,  die  Finger  brauchbar;  zwei  der  Patien- 
tinnen waren  Nähterinnen,  und  setzten  beide  ihre  Arbeiten  fort,  wie 
früher;  ein  dritter  und  vierter  Patient  verloren  leider  die  Geduld:  als 
nach  der  Resectiou  die  Wunde  bis  auf  zwei  Fisteln  gesclilossen  war, 
als  die  Schmerzen  aufgehört  hatten,  entzogen  sie  sich  der  weiteren  Be- 
handlung; es  waren  noch  einige  cariöse  Stellen  an  den  Metacarpal- 
knochen  zurückgeblieben,  und  diese  hätten  noch  exstirpirt  werden  müssen, 
dann  wäre  gewiss  der  Erfolg  ebenso  gut  gewesen,  als  in  den  vorigen 
Fällen.  Ich  hätte  gern  die  Reseetion  der  Hand  noch  häufiger  gemacht, 
bin  aber  mehre  Male  an  dem  entschiedenen  Willen  der  Kranken,  am 
Vorderarm  amputirt  zu  werden,  gescheitert.  Es  muss  sonderbar  er- 
scheinen, dass  ein  Kranker  nicht  gern  einwilligt,  wenn  der  Arzt  ihm 
vorschlägt,  durch  eine  ziemlich  ungefährliche  Operation,  denn  eine  solche 
ist  die  Eesection  des  Handgelenkes,  die  Hand  zu  erhalten;  ich  musste 
freilich  immer  bemerken,  es  würde  mehre  Monate  dauern,  bis  die  Hand 
ausheilte,  damit  die  Patienten  nicht  mehr  erwarteten,  als  die  Kunst  zu 
leisten  im  Stande  ist;  darauf  erhielt  ich  die  Antwort,  das  sei  ihnen  zu 
lange;  sie  hätten  nun  4  —  5  —  8  Jahre  die  Hand  nicht  mehr  gebraucht 
und  immer  Schmerzen  gehabt,  seien  des  Curirens  jetzt  müde  und  haben 
sich  entschlossen,  die  Hand  abnehmen  zu  lassen,  wollten  sich  daher  nicht 
noch  einmal  wieder  auf  eine  lange  Cur  einlassen.  Ich  habe  Ihnen  dies 
mitgetheilt,  damit  Sie  daraus  ersehen,  welchen  Schwierigkeiten  zuweilen 
der  Arzt  entgegengeht,  wenn  er  sich  noch  so  redlich  bemüht,  das  Beste 
zu  leisten.  Keineswegs  alle  Fälle  von  Caries  des  Handgelenkes  eignen 
sich  zur  Reseetion;  ehe  eine  erhebliche  Zerstörung  der  Knochen  erfolgt 
ist,  wird  man  sich  überhaupt  nicht  zu  einer  Operation  entschliessen,  wenn 
man  auch  vorhersagen  kann,  dass  gerade  die  Handgelenkcaries  sehr 
selten  spontan  mit  Beweglichkeit  zur  Heilung  kommt.  Handcaries  ist 
überhaupt  nicht  so  sehr  häufig  im  Vergleich  zur  Gonarthrocace  und 
Coxarthrocace,  kommt  zumal  selten  bei  Kindern,  häufiger  bei  Erwacliseneu 
vor.  Die  Ursache,  weshalb  die  Heilung  so  schwierig  erfolgt,  liegt  zum 
Tlieil  in  den  örtlichen  Verhältnissen,  wie  wir  schon  früher  besprochen 
haben.  Es  kommt  hinzu,  dass  um  die  Hand  so  viele  Sehnen  liegen,  deren 
Scheiden  fast  alle  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden,  oft  in  grosser 
Ausdehnung;  die  Finger  stehen  ganz  steif  in  Extension,  die  Metacarpal- 
knochen,  Radius  und  Ulna  sind  häufig  mit  erkrankt,  wenn  auch  nur 
eine  Periostitis  an  ihnen  besteht.  Die  Weichtheile  um  das  Handgelenk 
sind  gewöhnlich  von  einer  grossen  Menge  Fisteln  durchbrochen,  selbst 
in  grosser  Ausdehnung  zerstört,  so  dass  dadurch  auch  die  günstigen 
Bedingungen  für  die  Resectiou  wegfallen;  bei  sehr  ausgedehnter 
Handcaries  mit  bedeutender  Degeneration  der  umliegenden 
Weichtheile  wird  also  die  Amputation  des  Vorderarms  in  ihre 


Voi-losiiiiK  r.7.     ('iipilrl  XVTT.  575 

alte  Rechte  treten.  Die  Kxtraetion  eiii/cliici-  llimdwiirzelkiioclicii 
oder  die  alleinige  Absäguiig  des  lludiuM  liilnt  selten  zum  Ziel;  niii-  sind 
freilieli  Fülle  vorgekoninion,  wo  sicli  die  ErkvankiniA'  tinC  ein  ()d(;r  zwei 
Handwurzelknoclien  hesclininkt  hatte;  diese  wai-en  nekivttiscli  geworden 
und  der  Proeess  war  damit  abgeschlossen:  ieh  extraJiirte  die  Knoclien, 
es  erfolgte  die  lleilnng  in  einem  Falle  sehr  sdincll;  der  Kranke  war  mir 
zur  Amputation  der  Hand  zugeschickt  und  war  sclir  froh,  als  icli  ihm 
nach  der  ersten  Untersuchung  erklären  konnte,  dass  liier  von  Amputation 
gar  nicht  die  Rede  sein  könne.  Diese  Fälle  sind  aber  selten;  in  der 
Regel  geht  der  Krankheitsprocess  weiter  und  wird  durch  die  Exstirpation 
einzelner  vorwiegend  erkrankter  Knochen  nicht  in  seiner  Progression 
gehindert.  Im  Ganzen  bin  ich  der  Ansiclit,  dass  die  totale  Reseetion 
des  Handgelenkes  noch  zu  wenig  geübt  wird,  sie  scheint  mir  nach  meinen 
Beobachtungen  wirklich  im  höchsten  Grade  die  Aufmerksandceit  der 
Chirurgen  zu  verdienen.  Auf  diese  Operation,  sowie  auf  die  gleichen 
Operationen  am  Fuss,  von  denen  Avir  gleich  zu  sprechen  haben  werden, 
passt  am  Besten  ein  Raisonnement,  welches  man  sonst  mit  Unrecht  auf 
die  Resectionen  im  Allgemeinen  anwendet,  indem  man  sagt:  wenn  die 
Reseetion  nicht  zur  Beendigung  des  localen  Krankheitsprocesses  führt, 
bleibt  ja  die  Amputation  immer  noch  als  ultimum  refugium;  für  Hand- 
und  Fnssresectionen,  bei  denen  doch  nur  selten  Pyohämie  in  Aussicht 
steht,  passt  dies,  nicht  aber  für  Schulter,  Hüfte,  Ellenbogen  und  Knie; 
haben  diese  Operationen  keinen  Erfolg,  wird  die  Eiterung  erschöpfend 
oder  tritt  Pyohämie  hinzu,  so  ist  von  den  Amputationen,  respective 
Exarticulationen,  wenig  mehr  zu  hoffen.  —  Wir  kommen  endlich  zum 
Fussgelenk  und  fassen  dabei  alle  Gelenke  der  Fusswurzel,  so  wie  das 
Tibio-Tarsalgelenk  zusammen.  Die  Verhältnisse  sind  äusserst  ähnlieh 
wie  beim  Handgelenk;  wenngleich  die  Caries  einzelner  Fusswurzel- 
knochen,  z.  B.  die  nicht  seltene  Caries  necrotica  des  Calcaneus,  mit  der 
Zeit  besonders  bei  Kindern  fast  ebenso  sicher  spontan  ausheilt,  wie  die 
scrophulöse  Caries  der  Finger,  Zehen,  Metatarsal-  und  Metacarpalkuoclien, 
so  heilt  doch  selbst  bei  jugendlichen  Erwachsenen  die  Caries  der  Gelenke 
am  Fuss  und  den  grösseren  Fusswurzelknochen  selten  spontan,  bei 
älteren  Leuten  fast  niemals.  Hier  wird  daher  häufig  ein  operativer  Ein- 
griif  früher  oder  später  indicirt  sein  und  man  sollte  bei  flüchtiger  Be- 
traelitung  glauben,  die  Resectionen  und  Knochenexstirpationen  haben 
hier  ein  weites  Feld;  doch  zwei  Gründe  sprechen  erfahrungsgemäss  gegen 
die  allzu  weite  Ausbreitung  der  genannten  Operationen  bei  Caries  am 
Fuss,  nämlich  1)  die  Erfahrung,  dass  nach  Exstirpation  eines  Knochens 
die  Krankheit  sehr  häufig  auf  einen  andern  übergeht,  also  keine  totale 
Heilung  erfolgt,  2)  der  Umstand,  dass  der  Fuss  doch  immer  so  viel 
Festigkeit  behalten  muss,  dass  der  Mensch  darauf  gehen  kann;  mau  kann 
also  wohl  die  Ossa  cuneiformia,  das  Os  naviculare  und  Os  cuboideum 
exstirpiren,  auch  wohl  den  Talus  oder  den  Calcaneus,  doch  Talus  und 


576  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

Calcaneus  zu  exstii-pireu  und  dazu  vielleicht  auch  die  CTelenkfläelie  der 
Tibia  abzusägen,  das  würde,  selbst  wenn  die  Heilung  einträte,  zu  einem 
ziemlich  unbrauchbaren  Fuss  führen,  der  schlechter  ist,  als  ein  guter 
Aniputationsstumpf.  Die  Narben,  welche  an  die  Stelle  der  exstifpirten 
Knochen  treten,  schrumpfen  mit  der  Zeit  sehr  stark  zusammen,  und  wenn 
sich  auch  in  dieser  Narbe  etwas  Knochen  bildet,  so  tritt  keineswegs  eine 
Eeg-eneratiou  wie  nach  Nekrose  ein,  sondern  der  Fuss  verschrumpft  stark 
au  der  Stelle,  wo  der  Knochen  fehlt,  und  durch  diese  Schrumpfung  wird 
er  verkrümmt  und  unbrauchbar.  Dies  sind  also  erhebliche  Hindernisse, 
zu  denen  noch  hinzukommt,  dass  ein  guter  Stumpf,  wie  z.  B.  nach 
Syme's  oder  Piro  g  off 's  Methode  der  Exarticulation  oft  ebenso  gut, 
Ja  sicherer  vielleicht  fürs  Geben  ist,  als  ein  schwacher  verkrümmtcr  Fuss, 
und  dass  es  zur  Herstellung  des  letzteren  meist  vieler  Monate,  zur 
Erreichung  des  ersteren  6 — 8  Wochen  bedarf.  Ich  habe  in  einem  Falle 
alle  3  Ossa  cuneifoimia  und  das  Os  cuboideum  mit  sehr  günstigem  Er- 
folge exstirpirt,  in  andern  Fällen  bei  Knaben  die  Exstirpation  des  Talus 
gemacht;  die  Tibia  articulirte  dann  auf  dem  Calcaneus,  das  neue  Gelenk 
blieb  beweglich,  und  das  Gehen  war  nicht  einmal  hinkend;  solche  Er- 
folge sind  sehr  einnehmend  für  diese  Operationen,  Ein  anderes  Mal 
wollte  ich  den  Calcaneus  allein  wegen  Caries  exstirpiren,  fand  dann  aber 
wider  Erwarten  auch  den  Talus  von  unten  her  stark  erkrankt,  und 
musste  nun  auch  diesen  Knochen  mitnehmen;  der  Erfolg  war  miserabel; 
der  junge  Bursche  lag  6  Monate  auf  der  Abtheilung  und  die  Heilung  wollte 
durchaus  nicht  zu  Stande  kommen;  dann  machte  ich  die  tiefe  Amputation 
des  Unterschenkels,  die  Heilung  erfolgte  per  primam;  einige  Wochen 
später  verliess  der  Patient  mit  einem  guten  Stelzfuss,  froh,  seinen  kranken 
Fuss  los  zu  sein,  geheilt  das  Spital.  Vor  Allem  machen  die  äusserst 
günstigen  Erfolge  der  Pirogoff 'sehen  Amputation  den  Fussgeleuk- 
resectionen  stark  Concurrenz,  und  ich  glaube,  die  Erfahrung  wird  bald 
allgemeiner  als  jetzt  Avider  die  zu  grosse  Ausdehnung  der  Fusswurzel- 
knochenexstirpatiouen  und  für  die  Amputationen  im  Bereich  des  Fusses 
entscheiden. 

Die  Eesectionen  der  Gelenke,  die  erst  in  den  letzten  30  Jahren  so 
recht  in  Schwung  gekommen  sind,  hatten  im  Anfang  etwas  so  Blenden- 
des durch  die  günstigen  Erfolge  an  einzelnen  Gelenken,  wie  zumal  am 
Ellenbogen-  und  Schultergelenk,  dass  man  wohl  hier  und  da  ihre  An- 
wendung übertrieben  haben  mag;  dies  ist  das  Schicksal  aller  Dinge, 
welche  der  menschliche  Geist  erfindet;  erst  allmählig  kommt  man  jetzt 
zu  immer  sicheren  Indicationen  für  diese  Operationen;  es  mussteu  natür- 
lich erst  Erfahrungen  gesammelt  werden,  und  man  wurde  bald  gewahr, 
dass  die  Resection  jedes  einzelnen  Gelenks  sehr  verschiedeneu  Werth 
habe;  wenngleich  ich  nun  keineswegs  behaupten  will,  dass  schon  jetzt 
diese  Erfahrungen  als  vollständig  abgeschlossen  zu  betrachten   sind,    so 


Vorlosiiii!.-  .".8.     Ciipilcl    XVII.  r,77 

glaube  ich  docli,  llnicii  in  dein  Gesagten  ein  riclitiges  Resume  iiljer  deu 
Stand  der  Dinge  gegeben  zu  haben. 

P^ine  Bemerkung  kann  ich  liier  am  Scliluss  dieses  Capitels  niclit 
unterdrücken.  Seitdem  mir  im  Canton  Ziiricli  die  wegen  Caries  diirrli 
Resection  oder  Amputation  gliicklicli  Geheilten  später  öfter  Avieder  zu 
Gesicht  kamen,  maclite  ich  die  traurige  Beobachtung,  dass  doch  Viele 
von  denen,  welche  nach  Jahre  langem  Leiden  ganz  geheilt  und  kräftig 
das  Spital  verliessen,  nach  1 — 2  Jahren  mit  Caries  an  anderen  Knochen 
oder  mit  Lungentuberkulose  wieder  ins  Spital  zurückkehrten,  um  es  oft 
nicht  wieder  zu  verlassen.  Die  definitiven  Ausgänge  der  Knochen-  und 
Geleukkraukheiten  fallen  leider  weit  ungünstiger  aus,  als  man  im  All- 
gemeinen anzunehmen  geneigt  ist.  Auch  sind  leider  Recidive  der  Er- 
krankung sdibst  an  Gelenken,  die  seit  vielen  Jahren  schon  mit  Anchylose 
geheilt  waren,  nicht  allzu  selten.  Es  ist  nicht  häufig  dass  Individuen, 
welche  an  den  beschriebenen  Formen  der  chronischen  Gelenkentzündungen 
litten ,  alt  werden ;  Sie  werden  wenige  Menschen  über  40  und  50  Jah- 
ren mit  Anchjlosen  nach  scrophulösem  Tumor  albus  finden.  Ich  finde 
grade  in  diesem  Umstände  auch  wieder  einen  Beleg  dafür,  dass  diese 
Krankheiten  mit  constitutionellen  Verhältnissen  des  Körpers  zusammen- 
hängen, so  schwer  es  auch  ist,  dies  in  allen  Fällen  herauszubringen 
und  Denen  zu  demonstriren,  welche  geneigt  sind  alle  Diathesen  und 
Dyskrasien  für  die  unnütze  Erfindung  theoretisirender  nlter  Aerzte  zu 
erklären. 


Vorlesung  38. 

B.      Die    clironisehe     seröse     Synovitis.      Hydrops    artieuloriim    ohronic-us. 

Anatomisches.    Symptome.    Belianclluiig.    Typiscli  recidivireiider  Hydrops  geiui.    Anliang. 

Von    den    chronischen  Hydropsien    der  Sehnensclieiden,    der  Synovialhernien    der  Gelenke 

lind  der  subcutanen  Schleimbeutel. 

B.     Von  der  chronischen   serösen  Synovitis.     Hydrops   articu- 
lorum  chronicus.     Hydarthron. 

Die  chronischen  Gelenkkrankheiten,  welche  wir  jetzt  noch  zu  be- 
sprechen haben,  sind  alle  viel  seltener  als  die  beschriebene  granulös- 
fungöse  Synovitis  mit  ihren  geschilderten  Folgen  und  Combinationen, 
der  Ostitis  und  Caries  der  Gelenkenden;  die  folgenden  Erkrankungen 
sind  alle  zusammengenommen  kaum  so  häufig  als  die  frühereu,  und  sind 
insofern  als  zusammengehörige  Gruppe  den  fungös- eitrigen  Gelenkent- 
zündungen entgegen  zu  setzen,  als  sie  durchaus  nie  spontan  zur  Eiterung 
führen,  ausser  wenn  etwa  wiederholte  Reize,  Verletzungen  u.  dergl.  auf 
sie  einwirken.     So  langwierig   und  qualvoll  sie  auch   für  den  Patienten 

oft  sind,   so  haben  sie  doch   keine  Beziehung  zu  den  schwersten  Äuge- 
's 7 

BillrotU  chir.  P:itli.  u.  Thor.    7.   Aiifi.  Ol 


5Y8  Von  der  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

meiiikranklieiteu,  zu  Tuberkulose  und  SjDeckkranklieit,  sie  führen  daher 
selten  zum  Tode,  sind  auch  wenig'er  Krankheiten  der  Jug'end  als  des 
Mannes  alters. 

Wir  beg-innen  mit  der  einfachsten  dieser  Formen,  mit  der  chro- 
nischen serösen  Syuovitis  oder  Hydrops  chronicus  articulorum 
oder  Hydarthron  (von  vöcoq  Wasser,  cxq&qov  Gelenk).  Die  Krankheit 
besteht  in  einer  abnormen,  sehr  langsam  sich  vermehrenden  Ansammlung 
einer  ziemlich  dünnen  Synovia;  die  Synovialmembran  verändert  sich 
dabei  sehr  wenig-,  sie  wird  allmählig  etwas  dicker,  fester,  das  Binde- 
gewebe nimmt  zu,  doch  ohne  erhebliche  Vascularisation ;  die  Geleuk- 
zotten  verlängern  sich,  in  ihren  Spitzen  nehmen  aucli  wohl  die  Gefässe 
etwas  an  Schlingenbildung  zu,  doch  die  Substanz  bleibt  bindegewebig" 
fest,  während  sie  ja  bei  der  fungösen  Synovitis  durch  plastische  und 
seröse  Infiltration  erweicht  und  den  Granulationen  ähnlich  w^ird;  das 
kommt  bei  der  in  Rede  stehenden  Synovitis  serosa  nicht  vor;  die  ganzen 
pathologischen  Veränderungen  des  Gewebes  sind  äusserst  gering,  selbst 
bei  langem  Bestand  dieser  Krankheit.  Manche  Chirurgen  wollen  diese 
Hydropsien  der  Gelenke,  so  wie  auch  die  gleichen  Krankheiten  der 
Schleimbeutel  gar  nicht  zu  den  chronischen  Entzündungen  rechnen,  son- 
dern sie  als  eigenartige  Krankheiten  betrachten.  Mir  scheint  dies  nicht 
gerechtfertigt.  Es  wird  Niemand  daran  zweifeln,  dass  die  chronischen 
Catarrhe  der  Schleimhäute  mit  vorwiegender  Hypersecretion  zu  den 
chronischen  Entzündungen  zu  zählen  sind;  der  chronische  Hydrops  der 
Synovialmembranen  ist  dem  chronischen  Catarrh  der  Schleimhäute  durchaus 
analog. 

Was  die  Entstehung  des  chronischen  Hydrops  der  Gelenke  beti-ifft, 
so  ist  er  sehr  oft  ein  Ueberbleibsel  eines  acuten  Hydrops  articuli  nach 
Contusion,  Erkältung  u.  s.  w.,  wie  es  früher  besprochen  wurde,  auch  tritt 
er  zuweilen  in  Gelenken  auf,  die  früher  irgendwie  chronisch  erkrankt, 
und  ausgeheilt  waren;  in  vielen  Fällen  tritt  indess  die  Krankheit  gleich 
in  sehr  chronischer  Form  auf  und  bleibt  chronisch.  Ob  Gonorrhoe  eine 
Beziehung  zu  dieser  Krankheit  hat,  lasse  ich  dahin  gestellt  sein;  die 
Fälle  von  Kniegelenkentzündungen  bei  Gonorrhoe,  welche  ich  sah,  trugen 
einen  mehr  subacuten  Charakter.  —  Das  Hydarthron  kommt  spontan 
vorwiegend  bei  jungen  Männern,  bei  weitem  am  luiufigsten  am  Knie  vor, 
oft  doppelseitig;  sehr  selten  ist  es  an  der  Schulter,  Hüfte  und  Ellen- 
bogen; an  anderen  Gelenken  sah  ich  es  in  reiner  Form  niemals.  Wenn 
die  Krankheit  in  hohem  Grade  ausgebildet  ist,  so  ist  sie  sehr  leicht  zu 
erkennen;  das  Volk  kennt  sie  unter  dem  Namen  „Gliedwasser".  Das 
Gelenk  ist  stark  geschwollen,  fluctuirt  überall;  am  Knie  kommt  das 
Schwappen  der  Patella  hinzu,  welche  von  der  Flüssigkeit  in  die  Höhe 
gehoben  wird  und  leicht  auf  die  Fossa  intercondylica  zuweilen  mit  hör- 
barem klappendem  Geräusch  aufgedrückt  werden  kann.  Da  die  Gelenk- 
fiäclien   mit  einander  durch  feste  Haltbänder  verbunden   sind  (im  Knie 


Vorlcsmif;-  ,')8.     ('.-ipiicl   W'il.  r,7() 

(liircli  die  Lig'g-.  l;itcnili;i  und  cnicial.Ji),  wclclic  sich  iiiclit  S(.  Icidil  (Iclnicn, 
so  sammelt  sich  die  Fliissig-keit  bcsoudors  in  den  udiicxcii  SchlcinilxMilcIn 
des  Gelenks  an,  und  dadurcli  ist  auch  die  Art  der  yVnschwcIliiii-  oi'i 
schon  vom  vVnsclien  als  ll_ydv(»ps  zu  diagnosticiren,  so  Ixisondcrs  um 
Knie,  wo  die  Bursae  untei-  der  Sehne  der  Extensorcn  /u  hcidcn  ,Soit(;ii 
der  Patella  und  in  der  Fossa  i)oi)litea  stark  durch  die  Flüssigkeit  aus- 
g-edehnt  sind,  während  dagegen  bei  gleichmässiger  Schwelluiiir  der  Kai)sel 
die  Anschwellung  mehr  gieichmässig  rund  ist.  Es  kommt  hinzu,  dass 
die  Patienten  mit  solcliem  Hydrops  ihr  Gelenk  ziemlich  frei  und  oline 
Schmerz  beweg-en  können,  oft  weite  Märsche  damit  machen  und  zuweilen 
so  wenig- Beschwerden  haben,  dass  sie  gar  keinen  Arzt  um  Ilatli  fragen; 
auch  die  Untersuchung-  des  Gelenks  durch  die  Palpation  ist  schmerzlos. 
Nach  grösseren  Anstreng-ung-en  tritt  bei  hochgradigem  Hydrops  articuli 
leicht  Ermüdung  der  Extremität  und  auch  wohl  etwas  Sclnnerz  mit  ver- 
mehrter .Exsudation  auf;  dies  verg-eht  jedoch  nach  einiger  Ruhe  wieder, 
und  so  sind  im  Allgemeinen  die  Beschwerden  sehr  gering.  — 

Die  Prognose  ist  insofern  immer  eine  gute,  als  diese  Hydro])sie 
der  Gelenke  zu  nichts  Weiterem  führt;  die  Flüssigkeit  kann  enorm  zu- 
nehmen, doch  dabei  bleibt  es  dann  auch,  und  wenn  niclit  Ueberanstren- 
gungen  und  Verletzungen  hinzukommen,  so  bleibt  es,  wie  es  ist.  Was 
die  Heilbarkeit  des  Leidens  betrifft,  so  ist  die  Prognose  in  dieser  Be- 
ziehung- für  alle  diejenigen  Fälle  am  günstigsten,  in  welchen  die  Krank- 
heit naeh  einem  subacuteu  oder  acuten  Anfang  zurückblieb;  in  diesen 
Fällen  tritt  in  der  Eegel,  w^enn  auch  langsam,  vollständige  Heilung 
durch  Resorption  ein.  Sehr  hartnäckig-  sind  dagegen  die  Fälle,  in 
denen  die  Krankheit  ganz  chronisch  auftritt  und  verläuft;  sie  sind  oft 
sehr  schwer  zuwTilen  gar  nicht  zu  heilen. 

Die  Behandlung  besteht  in  der  Application  der  Hmen  bereits  be- 
kannten bei  chronischen  Entzündungen  auch  sonst  angewandten  Mittel, 
die  mit  Consequenz  bei  vollkommener  Ruhe  des  Gelenkes  gebraucht 
w^erden  müssen:  Jodtinctur,  Vesicatoires  volants,  hydropathische  Ein- 
w^icklungen  des  Gelenkes,  Compression.  Die  Compression  ist  das  wirk- 
samste Mittel,  doch  muss  sie  stark  gemacht  und  consequent  fortgesetzt 
werden  (forcirte  Compression  nach  Volkmann):  man  macht  feste  Ein- 
wicklungen  mit  nassen  oder  elastischen  Binden,  unter  welchen  die  Gefässe 
der  Kniekehle  durch  eine  leicht  gebogene  und  schwach  gehöhlte  Schiene 
vor  Druck  geschützt  werden;  der  Kranke  muss  während  der  mehrwöchent- 
lichen Cur  liegen;  tritt  dabei  etwas  Oedem  des  Unterschenkels  ein,  so 
schadet  dies  nichts;  wenn  aber  die  Fusszehen  blau  und  kalt  werden,  muss 
der  Verband  entfernt  werden.  Wollen  sich  die  Kranken  nicht  einer  solchen 
Cur  hingeben  bei  der  man  den  Erfolg  auch  keineswegs  mit  absoluter  Sicher- 
heit versprechen  kann,  so  lässt  man  sie  ein  Quecksilberpflaster  ums  Knie 
und  darüber  eine  lederne  Kniekappe  tragen,  welche  zu  starke  Bewegungen 
des  Gelenks  verhütet  und  dem  Glied  Sicherheit  beim  Gehen  verleiht.  — 

37  * 


580  ^^^'^  ^^1'   chroniscbeii  Entzündung  der  Gelenke. 

Hilft  Alles  dies  nach  Monate  oder  Jahre  langer  Anwendung  nichts  oder  wa- 
ren die  Curerfolge  immer  mir  vorütergehend,  so  bleibt  noch  die  einfache 
Function  und  die  Function  mit  nachfolgender  ComjDression,  oder  mit  nach- 
folgender Jodinjection  übrig.  Die  einfache  Function  hilft  gewöhnlich  nicht 
viel:  Sie  nehmen  einen  feinen  Trokart,  stechen  neben  der  Fatella  in  das 
Gelenk  ein,  lassen  die  Flüssigkeit  langsam  ausfliessen,  schliessen  jedoch 
die  Canäle  etwas  früher,  als  bis  Alles  ausgeflossen  ist,  damit  nicht  Luft 
in  das  Gelenk  eintritt;  jetzt  verkleben  Sie  die  Wunde  mit  Fflaster;  be- 
pinseln Sie  nun  sofort  das  Gelenk  mit  Jodtinctur  und  machen  eine  feste 
Einwicklung  des  Gelenks  mit  nassen  Binden,  oder  einen  Collodialverband, 
so  kann  es  sein,  dass  Sie  in  einzelnen  Fällen  Heilung  erreichen;  es 
wird  eine  rasche  Ansammlung  von  Serum  mit  etwas  Schmerz  verbunden 
im  Gelenk  auftreten,  und  diese  neue  Flüssigkeit  kann  dann  allmählig 
vollkommen  resorbirt  werden.  —  Wenn  diese  Operation  nichts  geholfen 
hat ,  wenn  die  Flüssigkeit  sich  wieder  in  früherem  Maasse  ansammelt 
und  unverändert  bleibt,  dann  können  Sie  noch  die  Function  mit  nach- 
folgender Jodinjection  machen.  Diese  Operation  ist  freilich  nicht  ganz 
ohne  Gefahr;  sie  wird  folgendermaasseu  ausgeführt:  man  macht  zunächst 
die  Function  mit  Vorsicht,  wie  oben  erwähnt,  dann  füllt  man  eine  gut 
gearbeitete  Spritze  mit  einer  Mischung  der  officinellen  Jodtinctur  mit 
destillirtem  Wasser  zu  gleichen  Theilen,  oder  wollen  Sie  besonders  vor- 
sichtig sein,  mit  1  Theil  Jodtinctur  und  2  Theilen  Wasser;  von  dieser 
Mischung  injiciren  Sie,  nachdem  Sie  sich  genau  überzeugt  haben,  dass 
keine  Luft  in  der  Spritze  ist,  etwa  1  —  2  Unzen  (40  bis  80,000  Gram- 
mes),  je  nachdem  das  Gelenk  ausgedehnt  w^ar,  halten  die  Flüssigkeit 
3—5  Minuten  entsprechend  der  Heftigkeit  des  Schmerzes  im  Gelenk  zu- 
rück und  lassen  sie  dann  wieder  ablaufen;  jetzt  folgt  der  exaete  Ver- 
schluss der  Wunde,  dann  eine  Einwicklung  und  Fixirung  des  Gliedes.  Kun 
tritt  eine  neue  acute  seröse  Exsudation  auf  und  diese  bleibt  etwa  acht 
Tage  lang  auf  demselben  Funkt  stehen,  dann  wird  das  Exsudat  laugsam 
resorbirt  und  damit  kommt  es  dann  meist  zur  vollständigen  Heilung.  Dass 
der  Kranke  bei  splcher  Cur,  wie  nach  der  einfachen  Function,  absolut  ruhig 
liegen  muss,  versteht  sich  von  selbst,  denn  es  tritt  ja  jedenfalls  eine 
Entzündung  ein,  und  bei  allen  Gelenkentzündungen  ist  Ruhe  die  erste 
Bedingung  für  die  Heilung.  Wie  es  kommt,  dass  die  Jodtinctur,  wenn 
sie  auch  nur  kurze  Zeit  mit  einer  serösen  Membran  in  Berührung  ist, 
welche  zu  excessiver  Secretion  disponirt  war,  so  umstimmend  und  hem- 
mend auf  die  w^eitere  Secretion  wirkt,  ist  nicht  so  ganz  klar;  früher 
glaubte  man,  es  trete  nach  diesen  Injectionen,  die  man  bei  vielen  chro- 
nischen Hydropsien  seröser  Häute  mit  Vortheil  anwendet,  eine  adhäsive 
Entzündung,  eine  Verwachsung  der  Flächen  der  serösen  Säcke  ein,  und 
dadurch  eine  vollständige  Obliteration  des  serösen  Sackes ;  dies  ist  keines- 
wegs der  Fall,  am  wenigsten  nach  der  erfolgreichen  Jodinjection  bei 
Hydrops  articuli ;  entstünde  danach  eine  solche  Verwachsung,  dann  würde 


Vorlcsimg  38.     Capifcl   XVTT.  5^1 

das  Gelenk  steif  werden.  Der  Vorgaii£>-  ist  ein  andei'Cr:  das  Jod  s(;lil;i;^-t 
sicli  in  der  Oberfläche  der  Menil)ran  nud  in  den  Endotlielialzellen  nieder, 
bleibt  hier  zuweilen  Monate  lan:;'  lioi^cu  und  scheint  durch  seine  Ge- 
genwart eine  weitere  Secretion  zu  hemmen.  Anfangs  tritt  eine  starke 
Fluxion  mit  seröser  Exsudation  auf  (eine  acute  seröse  Synovitis),  das 
Serum  wird  aber  von  den  nocli  ausg-edehnten  Gcfässen  resorbirt,  und 
später  schrumpft  die  Membran  durcli  Verdichtung  des  ?>indegewebes  zu- 
sammen bis  auf  das  normale  Volumen;  eine  Verdickung  derselben  bleibt 
immer  zurück.  So  hat  man  sich  den  Heilungsvorgang'  ungefähr  zu  den- 
ken nach  Analog-ie  des  gleichen  Processes,  der  oft  in  der  Tunica  vagi- 
nalis propria  testis  auftritt  und  die  Hydrocelc  tunicae  vaginalis,  den 
Wasserbruch,  zu  Wege  bringt;  nach  Jodinjectioneu  bei  der  Hydrocele 
hat  man  mehre  Untersuchungen  zu  machen  Gelegenheit  gehabt,  aus  denen 
der  Weg  der  Heilung  so  zu  sein  scheint,  wie  er  eben  geschildert  ist; 
die  Schrumpfung  der  serösen  Membran  mit  Neubildung  des  Endothels 
scheint  mir  schliesslich  die  Hauptursache  zu  sein,  weshalb  die  Secretion 
nicht  fortdauert.  Die  Jodinjection  bei  Hydarthron  wird  von  wenigen 
Chirurgen  häufig  geübt;  ich  habe  sie  dreimal  machen  sehen,  zweimal 
selbst  gemacht,  der  Erfolg  war  stets  ein  günstiger;  dies  ist  aber  nicht 
immer  der  Fall;  es  ist  eine  Reihe  von  Fällen  bekannt,  in  denen  die 
Operation  erfolglos  war;  sie  musste  dann  wiederholt  werden:  dabei  warne 
ich  Sie,  diese  Wiederholungen  zu  schnell  auf  einander  folgen  zu  lassen ; 
jedenfalls  sollen  Sie  das  acute  Stadium  nach  der  Operation  erst  vorüber- 
gehen lassen.  —  Ferner  sind  Fälle  bekannt,  in  welchen  nach  diesen  Jod- 
injectionen,  die  man  besonders  in  Frankreich  viel  übte,  weil  sie  eine 
französische  Erfindung  (von  Boinet  undVelpeau)  sind,  sehr  heftige 
Gelenkentzündungen  eintraten;  die  seröse  acute  Synovitis  wurde 
wie  so  oft  bei  der  traumatischen  Gelenkentzündung  zu  einer  acuten 
suppurativen ,  es  erfolgte  im  günstigsten  Falle  Heilung  mit  Anchylose, 
in  einigen  Fällen  musste  amputirt  werden,  in  anderen  Fällen 
starben  die  Kranken  an  Pyohämie.  Diese  unglücklichen  Ausgänge 
nach  einer  Operation,  die  man  wegen  einer  freilich  hartnäckigen,  aber 
keinesfalls  lebensgefährlichen  Krankheit  unterninnnt,  haben  mit  Recht 
sehr  von  den  Jodinjectioneu  in  die  Gelenke  abgesehreckt,  und  ich  bin 
daher  weit  entfernt,  Ihnen  diese  Operation  dringend  auzu- 
rathen;  sie  ist  und  bleibt  mit  Gefahr  fürs  Gelenk  und  fürs  Leben 
verbunden  und  sollte  daher  nicht  ohne  dringende  Indication  gemacht 
werden. 

Die  Diagnose  des  Hydarthron  ist  in  den  meisten  Fällen  einfach, 
und  die  Krankheit  ist,  wie  erwähnt,  eine  ganz  andere  als  die  chronische 
fungös-purulente  Synovitis;  dennoch  will  ich  Sie  darauf  aufmerksam 
machen,  dass  im  Beginn  des  Tumor  albus  auch  zuweilen  seröse  Exsu- 
dationen in  geringem  Maasse  und  selbst  Fluctuation  im  Gelenk  vor- 
kommt, so  dass  die  differentielle  Diagnose  im  Anfang  nicht  immer  exact 


532  ^'on  '^^^  chronischen  Entzündung  <lei'  Gelenke. 

ZU  stellen  ist;  eine  Beobaclitung-  von  einig-en  "Wochen  genügt  jedoch,  um 
über  die  Natur  des  Leidens  klar  zu  werden,  wozu  noch  der  Umstand 
hilft,  dass  der  Hydrops  articulorum  yorwiegend  hei  jugendlichen  Er- 
wachsenen, der  Tumor  albus  dagegen  besonders  häufig  bei  Kindern 
vorkommt. 

Eine  sehr  seltne  sonderbare  Krankheit  ist  der  typisch  recidivirende 
Hydrops  genu;  dieselbe  ist  schon  wiederholt  beschrieben;  ich  sah  sie 
vor  Kurzem  zum  ersten  Male  bei  einem  jungen  Mann;  derselbe  bekam  alle 
9  Tage  unter  subacuten  Erscheinungen  einen  Hydrops  genu;  die  Flüssig- 
keit wurde  bei  einfach  ruhiger  Lage  in  5  Tagen  vollständig  resorbirt, 
dann  w^ar  das  Gelenk  4  Tage  völlig  normal;  dies  hatte  sich  innerhalb 
4  Monate  bis  ich  ihn  sah  immer  so  wiederholt;  Patient  hatte  nicht  lauge 
vor  Beginn  der  Krankheit  einen  Tripper  gehabt.  Ich  hatte  keine  Ge- 
legenheit den  Verlauf  weiter  zu  beobachten. 


ANHANG. 


Von    den    chronischen    Hydropsien    der    Sehnenscheiden,     der 
subcutanen  Schleimbeutel  und  von  den  Synovialhernien. 

Wir  wollen  jetzt  hier  anhangsweise  von  den  chronischen  Hy- 
dropsien der  Sehnenscheiden  sprechen.  Die  Krankheit  besteht 
darin,  dass  die  Synovia,  welche  von  den  Sehnenscheiden  abgesondert 
wird,  um  die  Bewegung  der  Sehnen  leicht  und  glatt  zu  erhalten,  in 
grösserer  abnormer  Menge  sich  ansammelt  und  die  Sehnenscheidensäcke 
in  hohem  Grade  ausdehnt.  Eine  solche  Hydropsie  befällt  am  häufigsten 
die  Sehnenscheiden  der  Flexoren  der  Hand.  Es  bildet  sich  nach  und 
nach  eine  Anschwellung,  theils  in  der  Hohlhand,  theils  an  dem  untern 
Ende  der  Volarseite  des  Vorderarms,  und  man  fühlt  ganz  deutlich,  wie 
sich  eine  Flüssigkeit  in  den  Sehnenscheiden  von  der  Vola  manus  zum 
Vorderarm  unter  dem  Lig.  carpi  volare  hindurch  hin  und  wieder 
fortdrttcken  lässt.  Die  Finger  stehen  dabei  gewöhnlich  in  Flexion, 
können  nicht  ganz  extendirt  werden;  die  Kraft  der  Hand-  und  Finger- 
bewegungen ist  etwas  verringert;  Schmerzen  bestehen  durchaus  nicht, 
und  die  Patienten  stellen  sich  dem  Arzte  gewöhnlich  erst  vor,  wenn 
das  Uebel  bereits  einen  hoben  Grad  erreicht  hat. 

Eine  andere  Form  dieser  Krankheit  ist  die  partielle  herniöse 
Ektasie  der  Sehnenscheiden  mit  Hydropsie.  Es  bildet  sich  an 
einer  Sehnenscheide  eine  sackartige,  1)is  Taubenei- grosse  Ausstülpung 
mit  abnormer  Ansammlung  von  Sehnenscheidensyuovia. 

Dies  nennt  man  im  gewöhnlichen  chirurgischen  Sprachgebraucli  ein 
Ganglion;  wenn  es  auf  dem  Handrücken  vorkommt,  auch  wohl  ein 
„Ueberbein".  Es  ist  eine  weit  häufigere  Krankheit  als  die  Hydropsie 
der  ganzen  Selmenscheiden,  doch  ist  das  Vorkommen  auf  einii^-e  besondere 


Vurlcsuiig  ;iS.      Auliaii;^  zu   Cliipilc'!    XVII.  5M3 

Fig.  107. 


Sclu'nuilisL'lic    Darstelluiii;-    dor    gewülmlichsleii    Art    von    (Janglini.     a  Scliiic.     />  Si'lini'n- 
scheide  mit  liydropischer  lierniöser  Aiissdilpung  uacli  oben,     c   Haut. 

Stellen  beschränkt.  Am  häutig-steu  sind  die  Ganglien  auf  der  Dorsal- 
seite des  Handgelenks,  von  den  Sehnenscheiden  der  Extensoren  aus- 
g-ehend;  selten  sind  sie  an  der  Volarseite  der  Hand  und  höher  hinauf 
am  Vorderarm,  noch  weit  seltener  endlich  am  Fuss,  wo  ich  sie  verhält- 
nissmässig'  am  häufigsten  an  der  Scheide  der  Sehnen  der  Mm.  peronaei 
ang-etroifen  habe.  Der  Inhalt  eines  solchen  Gang-lion  besteht  in  den 
meisten  Fällen  in  einer  dickschleimigen,  glasig-klaren  Gallerte.  —  Nicht 
immer  entsteht  das  Ganglion  durch  Ektasie  der  Sehnenscheiden,  sondern 
es  scheint,  dass  in  anderen  Fällen  die  Gallertmasse  auf  eine  bisher  noch 
nicht  näher  bekannte  Weise  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Sehnen- 
scheiden entsteht,  und  dann  erst  in  Communication  mit  denselben  tritt.  — 
Der  Inhalt  der  vorher  besprochenen  grösseren  Sehnenscheidenausdehnun- 
gen kann  ebenfalls  aus  ganz  klarer  Gallerte  bestellen,  jedoch  kommt  es 
oft  vor,  dass  daneben  eine  ungeheure  Menge  weisser,  Reiskorn-  oder 
Melonenkern-ähnlicher  Körper  vorgefunden  wird,  welche  durchaus  nicht 
organisirt  sind,  sondern  aus  reinem  amorphem  Faserstoff  zu  bestellen 
pflegen.  Diese  Körper  können  in  so  colossaler  Masse  vorhanden  sein, 
dass  man  deshalb  Avenig  oder  gar  keine  Flüssigkeit  durch  einen  Einstich 
in  diese  Säcke  entleert.  Man  kann  die  Gegenwart  dieser  Fibriukerne  in 
manchen  Fällen  mit  Sicherheit  vorher  diagnosticiren,  indem  durch  dieselben 
wie  bei  der  subacuten  Entzündung  der  Sehnenscheiden  ein  sehr  starkes, 
reibendes  Geräusch  entsteht. 

Bei  der  Behandlung  ist  hauptsächlich  der  Umstand  im  Auge  zu 
behalten,  dass  man  unter  allen  Umständen  vermeiden  muss,  durch  irgend 
einen  operativen  Eingriff  eine  eitrige  Sehnenscheidenentzündung  hervor- 
zurufen, durch  welche  der  bis  dahin  wenig  von  seiner  Sehnenscheiden- 
geschwulst gestörte  Patient  längere  Zeit  aufs  Krankenlager  geworfen 
würde  und  möglicherweise  eine  ganz  steife  Hand  zurückbehalten  könnte. 
Die  Mittel,  welche  bei  acuten  und  subaeuten  Entzündungen  so  mächtig 
die  Resorption  zu  befördern  im  Stande  sind,  wie  das  Quecksilber,  die 
Jodtinctur,  leisten  bei  diesen  Zuständen  fast  nichts.  Die  einfachste  und 
darum  am  häufigsten  gebrauchte  operative  Eneheirese  ist  das  Zerdrücken 
des  Ganglion.  Für  den  Fall,  dass  das  Ganglion  wie  gewöhnlich  auf 
der  Dorsajj^eite  der  Hand  liegt,  nimmt  man  die  flectirte  Hand  des  Pa- 
tienten vor  sich,  setzt  die  beiden  Daumen  dicht  neben  einander  auf  das 


584  Von  dem  chronischen  Hydrops  der  Sehnenscheiden. 

Ganglion  und  übt  mm  einen  lieftig-eu  Druck  aus,  wobei  zuweilen  der 
Sack  des  Ganglion  gesprengt  wird,  und  die  Flüssigkeit  sich  in  das 
Unterliautzellgewebe  ergiesst,  um  liier  dann  leicht  resorbirt  zu  werden. 
Gegen  diese  Methode  ist  für  diejenigen  Fälle,  avo  sie  leicht  gelingt,  nicht 
viel  einzuwenden,  nur  dass  das  Uebel  dadurch  nicht  immer  radical  ge- 
heilt ist.  Die  kleine  subcutane  Oeffnung  des  Sackes  schliefst  sich  bald 
wieder  von  selbst,  die  Flüssigkeit  sammelt  sich  wieder  an,  und  das  Uebel 
besteht  in  derselben  Weise  wie  früher.  Gelingt  es  nicht,  mit  den 
Fingern  den  Sack  des  Ganglion  zu  sprengen,  so  hat  man  gerathen, 
diese  Sprengung  durcli  einen  kräftigen  Schlag  mit  einem  breiten  Hammer 
zu  bewerkstelligen,  ein  Verfahren,  welches  ich,  trotzdem  es  hier  und  da 
zum  Ziel  führt  und  ich  es  zuweilen  selbst  anwende,  Ihnen  nicht  empfehle, 
weil  bei  ungeschickter  Ausführung  desselben  ausgedehnte  Quetschungen 
entstehen  können,  über  deren  Folgen  wir  nicht  immer  Herr  sind.  Ich 
wende  in  denjenigen  Fällen,  in  welchen  der  Sack  zu  dick  ist,  um  ihn  zu 
zersprengen,  die  Methode  der  subacuten  Discision  an;  ich  nehme 
ein  sehr  dünnes,  kurzes,  krummes,  spitzes  Messer  (Dieffenbach'sches 
Tenotom),  steche  mit  demselben  in  horizontaler  Kichtung  in  den  Sack  ein 
und  mache  mit  der  Spitze  des  Messers  gegen  die  Innenwand  des  Sackes 
verschiedene  Schnitte:  dann  ziehe  ich  das  Messer  langsam  zurück  und 
drücke  während  dessen  die  Flüssigkeit  aus  dem  Sacke  heraus.  Nun  lege 
ich  sofort  eine  Compresse  darauf,  wickle  die  Hand  und  den  Vorderarm 
in  eine  nasse  Binde  ein,  so  dass  keine  ausgiebigen  Bewegungen  gemacht 
werden  können,  und  lasse  den  Vorderarm  4 — 5  Tage  in  einer  Armbinde 
tragen.  Jetzt  wird  der  Verband  entfernt,  die  kleine  Stichwunde  ist  ge- 
heilt, und  das  Ganglion  kehrt  gewöhnlich  nicht  wieder,  während  nach 
der  einfachen  Entleerung  durch  die  Function  das  Ganglion  gewöhnlich 
recidivirt.  —  Die  Exstirpation  des  ganzen  herniösen  Sackes  mit  Haut- 
schnitt ist  wiederholt  gemacht  worden,  einige  Mal  mit  Glück,  ohne  nach- 
folgende, erhebliche  Entzündung,  in  einigen  Fällen  jedoch  mit  Vereiterung 
der  betroffenen  Sehnenscheiden  oder  mit  Verlust  der  Beweglichkeit  der 
Finger,  so  dass  ich  Ihnen  diese  Methode  nicht  empfehle.  Die  Ungleich- 
heit der  Erfolge  nach  den  Exstirpationeu  dieser  Säcke  mag  davon  ab- 
hängen, ob  eine  weite  oder  eine  sehr  feine  oder  gar  keine  Commu- 
nication  mit  der  Sehnenscheide  besteht;  dass  letzteres  vorkommt, 
davon  habe  ich  mich  bei  gelegentlichen  Untersuchungen  au  der  Leiche 
auch  überzeugt;  ob  in  solchen  Fällen  der  Sack  neben  den  Sehneuscheiden 
neugebildet  ist,  oder  ob  die  Oeffnung,  durch  welche  die  meisten  dieser 
Sehnenscheiden  -  Hernien  mit  der  Höhle  der  Scheiden  in  Verbindung 
stehen,  im  Lauf  der  Zeit  obliterireu  können  und  so  der  herniöse  Sack 
etwa  ganz  von  der  Sehnenscheide  abgeschnürt  werden  kann,  darüber 
vermag  ich  Ihnen  nichts  Bestimmtes  anzugeben.  — 

Die   Behandlung    der    ausgedehnten   Sehnenscheiden -Hydropsien   in 
der  Hohlhand  und  am  Vorderarm  ist  ausserordentlich  viel  schwieriger; 


VorlcsmiK  ;^)S.      Aiili;iii'j;   /ii    f'apilcl    XVfT.  585 

(l;i  die  subcutane  Discision  hier  aus  vcrscliicdcncn  Gründen  nicht  anwend- 
bar ist,  die  Anwendung  der  Resorbentia  selir  wenig-  leistet,  so  }>leibt 
nichts  anderes  übrig,  als  zu  MetlK)den  zu  greifen,  welclie  wenigstens  in 
vielen  Fällen  eine,  wenn  auch  geringe  Eiterung  nach  sicli  zielien  können. 
Ueberlegen  Sie  sich  daher  vorher,  ob  es  überhaupt  notliwendig  ist, 
irgend  etwas  Eingreifendes  zu  unternehmen.  Wenn,  die  Functionsstörung 
nicht  so  beträchtlich  ist,  dass  der  Patient  dadurch  wesentlich  in  seinen 
Geschäften  gestört  wird,  so  lassen  Sie  diese  Dinge  lieber  unbcriilirt. 
Muss  aber  etwas  geschehen,  so  haben  Sie  fast  nur  zwisclien  zweierlei 
zu  wählen,  nämlich  zwischen  einer  grossen  Incision  und  einer  Punctio)) 
mit  nachfolgender  Injectiou  von  Jodlösung.  Wenn  Sie  die  Punction 
machen,  was  ich  Ihnen  mehr  als  die  Incision  rathe,  so  müssen  Sie  dazu 
einen  mittelstarken  Trokart  wählen,  weil  durch  einen  sehr  feinen  Trokart 
die  Fibrinkörper  nicht  heraustreten.  Sie  werden  oft  schon  Mühe  haben, 
dieselben  durch  eine  dicke  Canüle  herauszubringen,  wobei  Sie  sich  die 
Sache  sehr  erleichtern,  wenn  Sie  von  Zeit  zu  Zeit  etwas  lauwarmes 
Wasser  durch  die  Canüle  in  den  Sack  einspritzen  und  auf  diese  Weise 
durch  die  vermehrte  Flüssigkeit  den  Austritt  der  schlüpfrigen  Fibrin- 
körper befördern.  Die  Quantität  der  ausgeleerten  Massen  ist,  wie  be- 
merkt, oft  eine  sehr  grosse ;  ich  habe  einmal  1  '/g  Wassergläser  voll  aus 
einem  Selmenscheidensack  entleert.  Hat  man  Alles  vollständig  heraus- 
gebracht, so  füllt  man  die  Spritze  mit  einer  Unze  halb  mit  Wasser  ver- 
dünnter Jodtinctur  oder  mit  einer  entsprechenden  Quantität  Jod-Jod- 
kaliumlösung  und  injicirt  diese  Flüssigkeit  laugsam,  lässt  sie  1 — 2  Minuten 
in  dem  Sack  und  lässt  sie  dann  wieder  abfliessen.  Jetzt  zieht  man  die 
Canüle  heraus,  deckt  die  Wunde  mit  einer  kleinen  Compresse,  wickelt 
die  Hand  und  den  Vorderarm  sorgfältig  ein  und  fixirt  denselben  auf 
einer  Schiene.  Der  Patient  bleibt  mehre  Tage  im  Bett.  Es  wird  zu- 
nächst wieder  eine  ziemlich  erhebliche  Anschwellung  durch  Ansammlung 
von  Flüssigkeit  in  Folge  der  acuten  Entzündung  des  serösen  Sackes 
entstehen.  Wird  die  Anspannung  sehr  bedeutend,  so  muss  man  die 
Binde  entfernen,  die  Stichwunde  sorgfältig  durch  ein  Pflaster  schliessen 
und  die  geschwollenen  Theile  mit  starker  Jodtinctur  bestreichen.  Im 
günstigsten  Falle  wird  die  Geschwulst  dann  allmählig  abnehmen,  weniger 
schmerzhaft  werden  und  im  Verlauf  von  2 — ^3  Wochen  ganz  verschwin- 
den. In  vielen  anderen  Fällen  jedoch  wird  eine,  wenn  auch  kurz- 
dauernde Eiterung  erfolgen,  die  mit  Eis  erfolgreich  in  Schranken  ge- 
halten und  überwunden  werden  kann.  Im  schlimmsten  Fall  kann  es 
jedoch  auch  hierbei  zu  einer  ausgedehnten,  tiefen  vSehneuscheideneiterung 
mit  Nekrose  der  Sehnen  und  ihren  Cousequeuzen  kommen.  —  Die  Er- 
öffnung des  ganzen  Balges  durch  eine  grosse  Incision  ist  in  neuerer 
Zeit  wiederholt  gemacht,  und  zwar  mit  gutem  Erfolg:  massige  Eiterung, 
Heilung  mit  ziemlich  guter  Beweglichkeit  der  Finger.  Freilich  kann  es 
auch   zu    ausgedelmter   progredienter   Vereiterung    der    Sehnenscheiden 


586 


Von  dem  chroni.schen  Hydrops  der  Sehnenscheiden. 


kommen  mit  ungünstig-em  Ausgang  für  die  Function  der  Hand,    auch 
wolil  mit  tödtlicliem  Ausgang  durch  Pyohämie. 

Bei  dieser  Gelegenlieit  muss  ich  noch  nachholen,  dass  auch  an 
Gelenkkapseln  ganz  ähnlich  wie  an  den  Sehnenscheiden  her ni ose 
Ausstülpungen  vorkommen,  welche  für  sich  hydropisch  werden,  ohne 
dass  sich  die  Hydropsie  auf  die  ganze  Synovialmembran  erstreckt.  Die 
Fasern  der  Gelenkkapsel  weichen  aus  einander,  und  aus  diesem  Schlitz 
tritt  die  Synovialmembran  wie  ein  Haudschuhfinger  heraus  in  das  Unter- 
Obgleich    sich    gelentlich    an    allen    Gelenken    solche 


hautzellgewebe 


Fie-.  108. 


Herniöse    Ansstülpungen     der    Synoviahuembran     des    Kniegelenks     nach     hinten     (nach 
W.  Grnber).    Aa  M.  semimembranosns.    b  M.  biceps.    cd  M.  gastrocnemius.    e  M.  plan- 
taris,   ff  Synovialhernien.  —  J3a  Kniegelenkkapsel,     cd  M.  gastrocnemius. 
//  Synovialhernien. 

Bildungen  von  rundlichen,  gestielten,  länglich  gewundenen  und  anderen 
Formen  entwickeln  können,  so  sind  dieselben  doch  vorzüglich  nur  am 
Knie-,  Hand-  und  Ellenbogengelenk  bekannt;  an  letzterem  Gelenk  habe 
ich  die  isolirte  Hydropsie  dieser  mit  dem  Gelenk  commuuicirenden  Sy- 
novialsackhernien  wiederholt  beobachtet;  geringe  Steifigkeit  des  Gelenks 
und  massiger  Grad  von  x4.rthritis  deformans  war  damit  verbunden. 

Ich  widerrathe  dringend,  diese  Gelenkganglien  operativ  anzugreifen; 
Vereiterung  des  Gelenks  kann  die  Folge  solcher  Operationen  sein. 

Knorpelkörper,  Chondrome,  zum  Theil  selbst  verknöchernd, 
kommen   in   Zotten   der   Sehnenscheidensäcke   vor;    auch   Lipombildung 


Vorlesung  P,S.     Aiiliiiiio-  /.„   Capii,.!   XV U.  587 

(Lipoma  arborescens  J.  Müller)  ist  in  den  Zotten  l)e()1)aclitct  worden. 
Diese  Ncubildung-en  sollen  nur  dann  cxstirpirt  werden,  ^venn  sie  bedeu- 
tende Beschwerden  machen. 


Wir  wollen  gdeicli  hier  von  den  chronischen  llydropsieii  der  sul)- 
cutanen  Schleinibcutel  sprechen.  ]>ei  der  Krüffnung  einer  sdh'lien 
Bursa  durch  eine  g'leiclizeitige  Hautwunde  entwickelt  sich  oft  eine  ziem- 
lich lang-dauernde  Eiterung  aus  dem  Sack,  die  freilich  selten  Gefall  reu 
nach  sich  zieht,  wenngleich  sich  auch  von  hier  aus  eiiie  Eiterung  in  das 
Unterhautzellgewebe  hinein  erstrecken  kann,  die  durch  ilire  lange  Dauer 
lästig  wird;  es  bleibt  eben  nach  der  Heilung  des  grössten  Theils  der 
Hautwunde  eine  feine  Oeffnung  zurück,  durch  welche  man  mit  einer 
Sonde  in  den  Sack  hineindringt;  aus  dieser  S  chl  eim  beut  elf  ist  el 
entleert  sich  täglich  eine  massige  Quantität  Serum.  Die  Heilung  dieser 
Fisteln  kann  man  zuweilen  durch  Aetzung  mit  Höllenstein  und  Com- 
pression  mit  Heftpflaster  bewirken ;  in  manchen  Fällen  widerstreben  die- 
selben jedocli  hartnäckig  der  Heilung;  Sie  können  dann  versuchen, 
durch  Einspritzung  von  Jodtinctur  eine  etwas  intensivere  Eiterung  der 
Innenfläclie  des  Sackes  und  eine  Verödung  durch  Schrumpfung  oder 
Verwachsung  desselben  zu  erzielen;  ein  kürzeres  Verfaliren  ist  es  jedocli, 
durch  die  Fistel  ein  geknöpftes  Messer  in  den  Sack  einzuführen  und 
denselben  mit  der  darüber  liegenden  Haut  vollständig  zu  spalten,  so 
dass  seine  ganze  Innenfläclie  zu  Tage  liegt;  aus  derscllien  werden  dann 
allmählig  Granulationen  Ijervorwachsen,  der  Sack  wird  schruiupfeu,  und 
die  Wunde  wird  schliesslich  vernarben.  Ich  gebe  diesem  kürzeren  und 
dabei  gefahrlosen  Verfahren  entschieden  den  Vorzug.  — 

Ganz  analog  der  eben  besprochenen  Hydropsie  der  Sehnenscheiden 
ist  die  Hydropsie  der  subcutanen  Schleinibeutel.  Druck  und 
Stoss  sind  vielleicht  hier  und  da  Entstehungsursachen;  in  vielen  Fällen 
ist  es  jedoch  nicht  möglich,  irgend  eine  Veranlassung  zu  finden.  Wenn- 
gleich die  Hydropsie  an  allen  constanten,  sowie  gelegentlich  neugebil- 
deten subcutanen  Schleimbeuteln  vorkommen  kann,  so  ist  sie  doch  ganz 
besonders  häufig  an  der  Bursa  praepatellaris,  welche  nach  Untersuchungen 
von  Linhart  in  vielen  Fällen  aus  zwei  und  drei  auf  einander  liegenden, 
theils  vollkommen  abgeschlossenen,  zuweilen  miteinander  communicireuden 
Schleimbeuteln  besteht.  Die  Hydropsie  der  Bursa  praepatellaris  ist  sehr 
leicht  zu  erkennen,  indem  die  Geschwulst,  w^elche  etwa  die  Grösse  eines 
kleinen  Apfels  erreicht,  sehr  deutlich  auf  der  Patella  aufsitzt,  und  sich 
durch  die  Untersuchung  leicht  nachweisen  lässt,  dass  der  Sack,  in 
welchem  die  Flüssigkeit  enthalten  ist,  nicht  mit  dem  Kniegelenk  coni- 
municirt.  Häufig  tritt  diese  Krankheit  anfangs  als  acute  oder  subacute 
Entzündung  auf:  die  Ansammlung  von  Flüssigkeit  erfolgt  schnell,  die 
Geschwulst  ist  schmerzhaft,  die  Haut  daiiiber  etwas  geröthet,  der  Kranke 


588  Von  dem  chronischen  Hydrops  der  Sehnenscheiden. 

im  Gehen  sehr  behindert.  Die  Ausg-äng-e  können  verschiedenartig-  sein; 
oft  erfolg't  die  vollständig-e  Resorption  und  der  Znstand  kehrt  zum  Kor- 
malen  zurück;  iu  andern  Fällen  erfolgt  die  Resorption  theilweis,  die 
Erscheinungen  der  acuten  Entzündung-  verlieren  sich  und  der  Zustand 
g-eht  allmählig'  in  den  chronischen  über.  Zu  den  seltensten  Ausgängen 
gehört  das  Bersten  des  Sackes;  dies  kann  auch  subcutan  geschehen: 
die  Flüssigkeit  entleert  sich  in  das  Unterhautzellgewebe  und  wird  dort 
resorbirt,  oder  es  entsteht  eine  diffuse  Zellgewebsentzündung.  Am  sel- 
tensten ist  die  Ruptur  des  Sackes  und  der  Haut  zugleich;  der  weitere 
Verlauf  ist  dann  derselbe  wie  bei  einer  Stich-  oder  Schnittverletzung  der 
Bursa,  worüber  wir  schon  gesprochen  haben. 

Häufiger  als  die  acut  anfangende  Form  ist  die  gleich  von  vornherein 
chronische.  Sie  entsteht  ganz  schmerzlos,  sehr  langsam,  öfter  bei 
älteren,  als  bei  ganz  jungen  Leuten.  In  England  hat  man  diesen  chro- 
nischen Hydrops  bursae  praepatellaris  den  Namen  „chambermaid-knee" 
gegeben.  Er  soll  dort  besonders  bei  den  Zimmermädchen  vorkommen, 
welclie  in  knieender  Stellung  täglich  die  Teppiche  abzubürsten  haben. 
Mir  erscheint  es  jedoch  im  höchsten  Grade  zweifelhaft,  ob  dies  irgend 
einen  Einfluss  auf  die  Entstehung  des  Leidens  haben  kann,  indem  schon 
von  mehren  Anatomen  darauf  aufmerksam  gemacht  worden  ist,  dass  bei 
der  knieenden  Stellung  nicht  die  Patella,  sondern  die  Condylen  der  Tibia 
die  Stützpunkte  für  den  Körper  abgeben;  um  mit  der  vorderen  Fläche 
der  Patella  den  Erdboden  zu  berühren,  müsste  man  sich  fast  vollständig 
auf  den  Bauch  legen.  Doch  ist  es  möglich,  dass^die  starke  Anspannung 
der  Haut  über  der  Patella  bei  vielem  Knieen  eine  Gelegenheitsursache 
für  die  Entstehung  dieser  Krankheit  ist. 

Was  den  Inhalt  dieser  hydropischen  Säcke  betrifft,  so  ist  derselbe 
sehr  viel  weniger  zäh,  als  derjenige  der  Seimenscheiden;  jedoch 
enthalten  auch  diese  Säcke  nicht  selten  Fibrinkörper,  welche  bei  der 
Palpation  des  Sackes  mit  den  Fingern  sich  aneinander  reiben,  und  knittern, 
wie  wenn  man  Stärkemehl  zwischen  den  Fingern  zerreibt.  Der  Sack 
selbst  wird  mit  der  Zeit  stark  verdickt,  um  so  mehr,  je  länger  die  Krank- 
heit besteht.  — 

Bei  acuten  Fällen  haben  Sie  folgende  Behandlung  einzuleiten:  vor 
allen  Dingen  muss  der  Patient  ruhig  liegen;  dann  machen  Sie  eine 
starke  Bepinselung  mit  Jodtinctur  und  wiederholen  dieselbe.  Gewöhnlich 
schwindet  so  der  Hydrops  bald;  den  noch  zurückbleibenden  Rest  suchen 
Sie  durch  Compression  zu  beseitigen,  welche  Sie  mittelst  Heftpflaster- 
streifen oder  Binden  appliciren.  Auch  können  Sie  von  Anfang  an  die 
Compression  mit  nassen  Binden  in  Anwendung  ziehen  oder  das  Knie 
mit  einer  hydropathischen  Einwicklung  umgeben;  die  Anwendung  der 
Quecksilbersalbe  und  des  Quecksilberpflasters  thut  ebenfalls  gute  Dienste. 

Der  chronische  Hydrops  bursae  praepatellaris  macht  so  wenig  Be- 
schwerden,  dass  er  dem  Arzt  gewöhnlich  erst  spät  gezeigt  wird.     Die 


Vorlosmi',^  :V.).      Anliiiiij;  zu   Capilcl   XYIT.  589 

meisten  Leute  sind  dadurcli  in  ilircn  CJclilxiwe.^im^'cn  kaiiiii  ^•ciiirt. 
Andere  geben  an,  dass  sie  eine  rriilicre  Eniiiidinig  als  sonst  in  dem  !)(;- 
treffenden  Gliede  spüren.  Die  Kranklicit  ist  meist  einseitig,  kann  Jcihtcli 
aucli  do|)])elseitig'  vorkonnnen.  Einen  clironiselien  Hydrops  l)ni-sa(;  ])rae- 
patelkiris  durch  die  oben  angegebenen  Mittel  znr  Uesorption  zu  Nringcn, 
gelingt  ausserordentlich  schwierig.  Soll  das  Ucl)el  beseitigt  \vci(h.'n,  so 
kann  dies  auf  operativem  Wege  geschehen.  Die  einfaclie  Function  niil/t 
auf  die  Dauer  hier  eben  so  wenig,  als  l)ci  anderen  llydro})sien,  weil 
sich  wieder  neue  Flüssigkeit  ansammelt;  soll  die  Function  wirksam  ge- 
macht werden,  so  muss  ihr  die  Injection  von  Jodtinctur  nachfolgen. 
Dieselbe  ist  gefahrlos,  wenn  der  Kranke  bei  der  Cur  Jluhe  hält;  die 
Heilung  erfolgt  in  der  Regel  radical.  Eine  andere  Behandlung  ist  die 
Spaltung  des  Sackes,  wonach  eine  Vereiterung  desselben  erfolgt.  Ist  der 
Sack  sehr  dick,  so  ist  es  gerechtfertigt,  ihn  vollständig  zu  exstirpiren, 
dies  muss  jedocli  immer  mit  grosser  Vorsicht  geschehen,  damit  man 
nicht  die  nahe  liegende  Gelenkkapsel  verletzt.  Volkmann  hat  eine 
Behandlungsmethode  empfohlen,  die  ich  wiederholt  mit  sehr  gutem  Er- 
folg angewandt  habe,  nämlich  die  forcirte  Compression:  man  legt  eine 
Hand-hoch  gepolsterte  Hohlschiene  von  Blech  oder  Holz  an  der  Rück- 
seite des  Kniees  an,  gegen  welche  das  Knie  durch  sehr  feste  Flanell- 
binden mit  aller  Kraft  angezogen  wird;  diese  Art  der  Compression,  welche 
meist  Oedem  des  Fusses  und  manchmal  heftige  Schmerzen  zur  Folge 
hat,  wird  mehre  Tage  lang  fortgesetzt.  Kleine  Hygrome  (von  vyQng 
feucht)  werden  in  2 — 3  Tagen,  grössere  sehr  alte  in  6  —  8  Tagen  zur 
Resorption  gebracht.  Ich  habe  sehr  gute  Wirkungen  von  dieser  Methode 
bei  Hygroma  praepatellare  gesehen;  unsichrer  ist  dieselbe  bei  Hydrops 
genu  (pag.  579);  bei  Hydrops  der  Sehnenscheiden  nützt  sie  selten. 


Vorlesung  3  9. 

C.  Die  ehroniscli -rheumatische  Gelenkentzündung.  Arthritis  deformans. 
Malum  senile  coxae.  Anatomisches.  Verschiedene  Formen.  Symptome.  Diagnose. 
Prognose.  Therapie.  —  Anhang  I:  Von  den  Gelenkkörpern:  1.  Fibrinkörper. 
2.  Knorplige  und  knöcherne  Körper.  Symptomatologie.  Operationen.  —  Anhang  II: 
Von  den  Gelenk neurosen. 

C.     Die  chronisch-rheumatische    Gelenkentzündung.     Chroni- 
scher   Gelenkrheumatismus.    —    Arthrite    seche.      Rheumatic 
gout.    —    Arthritis    deformans.    —    Chondritis    hyperplastica 
tuberosa.  —  Malum  senile  coxae.  — 

Sie  werden  zurückschrecken  vor  dieser  Menge  von  Namen,  die  alle 
denselben  anatomischen  Krankheitsprocess  bezeichnen,  und  werden  mit 
Recht  fragen,  warum  so  viele  Namen  für  dasselbe?  Wenn  eine  Krank- 
heit so  viele  Bezeichnungen  bekommen  hat,  so  ist  dies  oft  ein  Zeichen, 


590 


Von  der  chronischen  Entzündiino-  der  Oelenke. 


dass  dieselbe  in  ihrem  Wesen  noch  nicht  recht  verstanden  oder  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  sehr  verschieden  aufgefasst  ist;  dies  ist  nun  hier 
gerade  gar  nicht  der  Fall,  sondern  der  Process  selbst  ist  stets  in  gleicher 
Weise  aufgefasst,  und  alle  Untersucher  stimmen  in  den  Resultaten  voll- 
kommen überein.  —  Es  wird  am  besten  sein,  hier  mit  dem  Anatomi- 
schen anzufangen.  Die  Krankheit  betrifft  ganz  besonders  den  Knorpel, 
secundär  auch  die  Synovialmembran,  sowie  das  Periost  und  den  Knochen; 
in  den  meisten  Fällen  dürfte  die  Erkrankung  des  Knorpels  das  Primäre 
sein.  Die  Veränderungen,  welche  wir  am  Knorpel  finden,  sind  folgende : 
der  Knorpel  wird  an  einzelnen  Stellen  höckrig,  dann  rauh  an  der  Ober- 
fläche, lässt  sich  zu  Fasern  zerzupfen,  bei  höhereu  Graden  der  Krank- 
heit fehlt  er  hie  und  da  ganz,  und  der  Knochen  liegt  stellenweise  ganz 
glatt,  wie  polirt,  frei. 

untersuchen  Sie  den  zerfaserten  Knorpel,  so  finden  Sie  auch  an  dem  mikroskopischen 
Object,  dass  die  Intereelhilarsubstanz  faserig  ist,  die  ja  ganz  homogen  hyalin  sein  muss. 
Sie  finden  ferner,  dass  die  Knorpelhöhlen  rergrössert  sind  und  Zellen  enthalten,  welche 
in  Theilung  begriffen  sind;  diese  Zellen  sind  jedoch  nicht  so  klein,  nicht  so  wenig  ent- 
wickelt, wie  dies  sonst  bei  den  mit  Entzündungen  auftretenden  Zellenbildungen  der  Fall 
ist,  sondern  sie  sind  gut  ausgebildet  und  zum  Theil  als  neue  Knorpelzellen  erkennbar;  der 
Process  geht  unendlich  langsam,  und  die  ueugebildeten  Zellen  kommen  zu  einem  höheren 
Grade    von    Ausbildung    (Fig.  109)    als    bei    der    früher    beschriebenen    Entzündungsform 


Fig.  109. 


Degeneration  des  Knorpels    bei  Arthritis  deibrmans;    bei  a  Verfettung   der  Knorpelzellen. 
Vergrössernng  350  nach  0.  Weber. 


Voi'losmi;;-   ■'>!).      Anhaiif;-   zu    ("iiiiilcl    XVTf.  f)()l 

(Fig.  104  pug.  559);  ps  erfolg!  (I;il)(>i  niidi  iiirlil,  wie.  sonst  !„•!  i\rr  lOnlzrnuliing  i-im-  K,- 
weichung  des  Tnterceiriilargewebos,  .sondern  eine  Z(  rl;iscrmig;  liindiii-cli  ist  der  l'nx^ess  srlinn 
in  seiner  EigenthiimJiclikeit    oharaklerisirf;    doeli    es    konunt    norh    vidi'S  Sond.'rhmr   liiiizii. 

Der  rauli  i>-ewordene  Knorpel  widersteht,  den  K'eihung-en  dar  (ieleiik- 
cnden  an  einander  nicht;  er  wird  allniäldig-  zerriel)en  und  scliwindet 
durcli  diese  Usur  selbst  bis  auf  den  Knoelien.  llnniittelbar  unter  dein 
Knorpel  liegt  stets  eine  wenn  auch  sehr  dünne  Schiclit  einer  zicmlicli 
compacten  Knochensubstanz,  auf  welche  sofort  das  spongiöse  Epi])liysen- 
eude  folgt;  auf  diese  Schicht  setzt  sicli  die  Reibung  nach  Verlust  des 
Knorpels  zunächst  fort,  ja  in  dieser  Schicht  bildet  sich  in  Folge  der 
mechanischen  Reizung  durch  die  Reibung  wieder  Knochensubstanz;  das 
Mark  der  spongiösen  Substanz  verknöchert  in  geringer  Ausdehnung  unter 
der  Stelle,  wo  die  Reibung  erfolgt.  Dennoch  sclüeifen  sich  allmählig  durch 
die  Bewegungen  im  Gelenk  die  gegenüberliegenden  Knochen  immer  mehr 
und  mehr  ab;  da  aber  zugleich  durch  die  Reibung  innner  wiedei-  die 
Bildung  neuer  Knochenmasse  veranlasst  wird,  so  bleibt  die  abgeriebene 
Stelle  meist  fest  und  glatt,  weil  die  Sklerosirung-  dem  Seil  wund  durcli 
Reibung  immer  vorausgeht;  so  kann  allmählig,  w^enn  das  Gelenk  be- 
weglich bleibt,  ein  beträchtlicher  Tlieil  des  Knochens  verrieben  werden, 
und  das  sehr  defecte  Gelenkende  des  Knochens  bleibt  dabei  immer  glatt. 
Diese  Schliffflächen  liegen  in  der  Hüfte  an  der  oberen  Fläche  des  Femur- 
kopfes  und  der  Pfanne,  am  Knie  au  den  beiden  Condylen  und  so  fort. 
Die  spongiöse  Substanz  des  Collum  femoris  kann  bei  diesem  Vorgang- 
steil  enweise  osteoporotisch  w^ erden,  während  an  der  SchlifPfläche  Sklero- 
sirung erfolgt;  das  Collum  femoris  kann  zugleich  von  Osteophyten  um- 
wachsen werden  und  bekommt  so  eine  höchst  sonderbare  Form.  Dieser 
Vorgang  wird  Ihnen  höchst  eigenthümlich  vorkommen :  hier  Knochen- 
schwund, dort  Knochenneubildung  bei  demselben  Process,  dicht  neben 
einander  au  demselben  Knochen!  Die  Krankheit  beginnt  nicht  selten 
als  höckrige  Knorpelwucherung  und  endigt  mit  Knorpelatrophie!  Ich 
denke,  Sie  sind  an  diese  Combination  von  Schwund  und  Neubildung  bei 
chronisch-entzündlichen  Processen  schon  gewöhnt;  rufen  Sie  sich  nur  die 
Caries  ins  Gedächtniss  zurück,  ^leu  Ulcerationsprocess  überhaupt,  wir 
haben  ja  auch  da  Zerfall  an  der  Geschwttrsfläche,  Neubildung  in  der 
Umgebung  in  ausgedehntem  Maasse  kennen  gelernt. 

Zu  den  beschriebenen  Erkrankungen  des  Knorpels  und  des  Knochens 
kommen  einige  Veränderungen  an  der  Synovialmembran,  die  jedoch  nicht 
viel  anders  sind  als  beim  chronischen  Hydrops  der  Gelenke;  die  Gelenk- 
höhle enthält  eine  wenig  vermehrte,  doch  trübe,  dünne,  mit  den  verrie- 
benen Knorpelpartikelchen  untermischte  Synovia.  Die  Membran  selbst  ist 
verdickt,  wenig  vascularisirt,  nur  die  oft  sehr  verlängerten  Zotten  sind 
in  den  Spitzen  mit  vermehrten  Gefässschlingen  versehen.  —  Doch  auch 
die  T heile  um  das  Gelenk  können  an  der  Erkrankung  Theil  nehmen: 
das  Periost,  die  Sehnen  und  Muskeln,   In  diesen  tritt  nämlich  sehr  laug- 


592 


Von  der  clironischen  Entzrmdnncf  der  Gelenke. 


sam  zuweilen  Verkuöcherung  auf,  so  dass  die  Geleukenden  aussen  stark 
mit  neugebildeter  Knochenmasse  bedeckt  werden;  diese  Kuoclienwuclie- 
rungen  erreichen  in  einzelnen  Fällen  eine  sehr  grosse  Ausdehnung. 
Die  Form  dieser  Osteophyten  ist  eine  ganz  andere,  Avie  wir  sie  bisher 
kennen;  sie  sind  hier  glatt,  rundlich,  haben  nicht  die  Form  spitzer  Sta- 
laktiten, sondern  sind  mehr  wie  aufgegossen,  wie  eine  dicke,  im  Fluss 
erstarrte  Flüssigkeit  geformt;  sie  sind  ausserdem  nicht  so  porös  wie 
andere  Osteophyten,  sondern  bestehen  in  allen  Schichten  aus  mehr  com- 
pacter Knochensubstanz  und  sind  meist  mit  einer  dünnen  Schicht  Knorpel 
bedeckt,  wie  das  bei  anderen  Osteophyten  nicht  vorkommt.  Durch  diese 
Eigenthümlichkeiten ,  die  Sie  nach  Betrachtung  einer  Suite  von  Präpa- 
raten leicht  auffassen  werden,  ist  diese  Art  der  Gelenkkrankheit  schon 
von  aussen  so  charakterisirt,  dass  man  sie  selbst  an  macerirten  Knochen- 
präparaten sehr  leicht,  ohne  etwas  über  den  speciellen  Fall  zu  wissen, 
erkennt  (s.  Fig.  110,  111,  112). 


Fii?.  110. 


Fig.  111. 


Fis-.  112. 


f 

1  '.■• " 

yM 

l 

?;^^^r 

Fig.  110  nnd  112:  Osteophyten 
bei  JDeginnender  Arthritis  defor- 
mans.  Fig.  1 10 :  unteres  Ende  des 
Humerus.  Verkleinert,  a  Osteo- 
phyten, h  Schlifffläche  des 
Knochens. 


Fig.  111:  Cariöses  Ellen- 
bogengelenk, fungöse  Ge- 
lenkentzündung ,  Stalakti- 
ten -  ähnliche  Osteophyten. 
Verkleinert. 


Fig.  112:    Os  meta- 

carpi    I.      a   nnd    b 

wie  in  Fig.  110, 


Weshalb  die  Knochenneubildung  bei  dieser  Krankheit  einen  so  ganz 
eigenthttmlichen  Charakter  annimmt,  liegt  wahrscheinlich  einerseits  in 
dem  langsamen  Entwicklungsprocess,  andererseits  darin,  dass  hier  der 
Verknöcherung  keine  besonders  reichliche  Yascularisation  vorausgelit, 
wie  l)ei  den  Osteophyten,  welche  sich  bei  Fracturheilung ,  bei  Caries, 
Nekrose,  Ostitis  etc.  bilden;  ist  ein  Gewebe  sehr  reichlich  vascularisirt, 


Vorlosmif;'  ."'.).     AiiliiiiiL;   zu   Ciipiirl   XVII.  f)();) 

bevor  es  vorkuöduM-t,  so  iniiss  sieh  eine  poröse  Knoclieiisiihstjniz  bilden, 
denn  je  nielir  GeHissc,  luii  so  nielir  iJiclaMi  im  Knochen.  Uei  der  Ar- 
thritis defornmns  aber  ii'eht  der  Kiioebcnbibbinii'  keine  bedenleii'b'  (!(;- 
fässneubildiini;-  voraus,  die  Gewebe  verknorpeln  und  verknöchern  )neist, 
wie  sie  da  sind:  das  Periost,  die  Seliuen,  sel))st  C!  eleu  kkapsel, 
Bänder  und  Muskeln,  und  Alles  dies  i^'eht  äusserst  lan^-sani  \(»r  sich; 
so  kommt  es  denn,  dass  ein  mehr  fester  Knochen  gebildet  wird.  Ks  er- 
eignet sich  hierbei  auch  wohl,  dass  mitten  im  subserösen  Zellgewebe  in 
der  Nähe  des  Knochens  ganz  isolirte  Knochenpunkte  entstehen,  welche 
für  lange  Zeit  isolirte,  runde  Stücke  bleiben;  erst  spät  verwaclisen  sie 
vielleicht  mit  der  übrigen  Knochenmasse,  sehen  dann  wie  angeleimt  nus, 
so  dass  man  oft  noch  an  der  Form  der  Knochenneubildung  die  Art  der 
Entstehung  verfolgen  kann.  Durcli  diese  periarticulären  Knochenneubil- 
dungen können  die  Gelenkenden  ganz  verschoben  Averden  und  in  eine 
ganz  abnorme,  halb  luxirte  Stellung  gerathen;  das  Gelenk  kann  da- 
durch ganz  unbeweglich  werden.  In  manchen  Fällen  wachsen 
diese  Knochenbildungen  auch  in  das  Gelenk  hinein,  lösen  sich  ab 
und  werden  zu  freien  Gelenkkörpern,  wovon  später  mehr.  —  Endlich  ist 
noch  zu  1)emerken,  dass  auch  chronischer  Hydrops  sicli  zu  dieser  Krank- 
heit hinzugesellen  kann,  und  so  begreifen  Sie  w^ohl,  dass  unter  allen 
diesen  concurrirenden  Umständen  die  Gelenke  so  dilform  werden  können, 
dass  die  Krankheit  mit  Eecht  den  Namen  „Arthritis  deformans"  führt. 
Ich  bemerke  j  edoch  hier  noch  einmal,  dass  alle  diese  patho- 
logischen Veränderungen  niemals  zur  Eiterung  führen. 

Wir  kommen  jetzt  zum  klinischen  Bild  dieser  eigenthttmlichen 
Krankheit;  ich  muss  da  nach  meiner  Erfahrung  drei  Formen  unterschei- 
den; eine  Form,  die  meist  polyarticulär  und  mit  Muskelcontractureu 
verbunden  zu  sein  pflegt,  eine  zweite,  die  bei  Individuen  jugendlichen 
und  mittleren  Lebensalters  monarticulär  auftritt,  und  eine  dritte,  die  nur 
im  Alter  vorkommt.  Combinationen  dieser  Formen  unter  einander  findet 
man  auch. 

1.  Der  polyarticuläre  chronische  Rheumatismus  (Arthrite 
seche,  Eheumatismus  nodosus,  rlieumatic  gout,  rheumatische  Gicht)  tritt 
bei  Menschen  mittleren  und  jugendlichen  Alters  auf,  häutiger  bei  Frauen 
als  bei  Männern,  häufiger  bei  xArmen  als  bei  Reichen;  schlecht  genährte, 
anämische  Individuen  werden  davon  vorzüglich  befallen,  wenn  sich  die 
Krankheit  auch  gelegentlich  bei  sehr  fetten  Frauen  entwickelt ;  ein  Rheu- 
matismus articulorum  acutus  oder  eine  gonorrhoische  Gelenkentzündung 
können  den  Ausgangspunkt  bilden,  oft  sind  gar  keine  Ursachen  zu  ermit- 
teln; nachdem  der  acute  oder  subacute  Zustand  der  genannten  Gelenkkrank- 
heiten vorübergegangen  ist,  bleibt  in  einzelnen  Gelenken,  am  häufigsten 
in  den  Knieen,  oft  doppelseitig  Steifigkeit,  Schmerzhaftigkeit  und  leichte 
Schwellung  zurück.  Die  Krankheit  kann  aber  auch  ganz  allmählig 
chronisch  mit  massigen  unstäten  Schmerzen  in  den  Gelenken  anfangen. 

Billroth    chir.   Path.    n.   Thcr.     7.  Aufl.  OO 


594  ^'^•^^  '^'^1'  flii'onisohen  Entzfindung  der  Gelenke. 

Anfangs  brauchen  die  Kranken  ihre  Extremitäten  noch  g-anz  gut;  im 
Verlauf  von  Monaten  und  Jahren  jedoch  nimmt  die  Beweglichkeit  sehr 
allmählig  ab;  intercurrent  treten  nach  Anstrengungen  und  Erkältungen 
subacute  Hydropsien  der  Gelenke  auf,  docli  resorbirt  sich  ein  Theil  der 
ergossenen  Flüssigkeit  wieder;  das  Gelenk  bleibt  aber  immer  ein  wenig 
steifer  nach  jeder  Exacerbation,  zuweilen  auch  dicker.  Morgens,  wenn 
die  Patienten  aufstehen,  sind  die  Glieder  so  steif,  dass  sie  fast  gar  nicht 
bewegt  werden  können;  nach  einigen  vorbereitenden  Bewegungen  geht 
es  dann  im  Laufe  des  Tages  wieder  besser,  doch  gegen  Abend  werden 
die  Gelenke  wieder  schmerzhafter.  Es  kommt  nun  ganz  allmählich  ein 
neues  Symptom  hinzu:  die  Muskeln  schwinden,  die  Beine  werden  dünner, 
stellen  sich  auch  wohl  in  Flexionsstellung;  die  atrophirendeu  ^Muskeln 
haben  grosse  Neigung,  sich  zusammen  zu  ziehen,  was  nach  und  nach 
durch  abnorme  Stellung  des  Gelenkes  begünstigt  wird.  Dabei  bleibt  das 
Allgemeinbefinden  vollkommen  gut;  die  Patienten  haben  guten  Appetit 
und  gute  Verdauung,  werden  zuweilen  fett  und  fiebern  nur  dann,  wenn 
neue  acutere  Exacerbationen  des  Gelenkleidens  auftreten.  Bei  Druck  auf  die 
Gelenke  ist  wenig  Schmerz;  ist  die  Bewegung  der  Gelenke  möglich,  so 
fühlt  und  hört  man  ein  sehr  starkes  Reiben  und  Knarren.  —  So  geht 
es  Jahre  lang  fort.  Endlich  schwinden  die  Muskeln  fast  ganz,  die  Ge- 
lenke werden  unförmlich  und  steif,  die  Krauken  werden,  wie  sich  der 
Laie  ausdrückt,  „ganz  contract" ;  betrifft  das  Leiden  die  Hüften  oder  die 
Knie,  so  sind  die  Patienten  für  immer  ans  Bett  gefesselt,  können  jedoch 
nach  Jahre  langem  Leiden  bei  gehöriger  Pflege  noch  lange  leben;  am 
häufigsten  leiden  die  Knie-,  Hüft-,  Hand-,  Finger-,  Fuss-  und  Schulter- 
gelenke. 

2.  Die  Arthritis  deformans  ist  fast  immer  monarticulär,  selten 
biarticulär  in  gleichartigen  Gelenken,  und  kommt  bei  sonst  vollkommen 
gesunden,  starken  Menschen  vor ;  ich  sah  sie  etwas  häufiger  bei  Männern 
als  bei  Frauen.  Diese  Form  hat  ihren  Namen  davon  erhalten,  dass  bei 
ihr  die  periostealen  periarticulären  Knochenbildungen  und  die  Abschlei- 
fungen  so  ins  Colossale  gehen,  dass  das  Gelenk  dadurch  ganz  unförmlich 
wird.  Ich  sah  diese  im  Ganzen  seltne  Krankheit  an  einer  Hüfte,  an  bei- 
den Knieen  eines  Individuums,  au  einem  Fuss,  an  einem  Ellenbogen,  zwei- 
mal an  der  Schulter.  Meist  ist  keine  Eutstehungsursache  anzugeben ;  iu 
einigen  Fällen  waren  Luxationen  oder  Distorsioneu  voraulg-egangen;  diese 
Gelenke  sind  gewöhnlich  schmerzlos,  steif,  zugleich  hydropisch,  und  oft 
sind  freie  knöcherne  Körper  darin,  auch  kann  die  Synovialmembran  ganz 
mit  Fettzotten  besetzt  sein. 

3.  Mal  um  senile  coxae.  Tritt  die  Krankheit  bei  älteren  Leuten 
auf,  so  geschieht  dies  in  der  Regel  in  etwas  milderer  Form  als  bei  den 
schlimmen  Formen  des  chronischen  Rhe\imatismus.  Die  Hüfte  ist  dann 
hauptsächlich  oft  der  Sitz  der  Krankheit,  daher  der  Name  ,.]\Lilum  coxae 
senile",  doch  auch  in  der  Schulter,   in  den  Knieen,    im  Ellenbogen,  be- 


Vtirlcsmi';-  ;;;).      Anlimii,'  zu   Ciipilil    XVII.  r^i^r^ 

sonderst  liäulii^-  aber  aucli  an  dou  Fini;cni  mul  am  ^tossoh  Zclicn  koinnil 
diese  AfCcetion  bei  alten  Leuten  oft  i^'enu.i;-  vor.  Si(!  Ijc.ü'iiiiit  meist  sehr 
cbroniscb  mit  wenig  Scbnierzon,  oft  in  der  lM»nii  dci-  lsclii;is,  (b.di  mii 
ii'rosser  Steifii^'keit,  seltener  mit  aeiitem  Initi;vlst;ulimii;  die  Shnli-keit  ist 
oft  das  einzig-e,  worüber  die  Patienten  anfaniis  kl;i,i;(!ii,  bcsoiKh-rs  ;iiii 
Morgen;  ist  das  Gelenk  im  Gang,  dann  wird  nncli  und  ii;icli  die  JMiucliMii 
etwas  besser,  das  Reiben  in  den  Gelenken  ist  oft  so  deutlich,  dass  (Nt 
Kranke  den  Arzt  darauf  aufmerksam  macht.  Anfälle  mit  lieltigeicii 
Schmerzen  und  leichter  Fieberbewegung  sind  1)esonders  in  den  Fälb-n 
bemerkbar,  wo  der  Process  an  den  Fingern  stark  entwickelt  ist;  diese 
werden  dann  im  Lauf  der  Jahre  ganz  unförmlich  dick  an  den  Gelenken ; 
die  grosse  Zehe  schiebt  sich  ganz  nach  aussen,  und  der  mit  Knochen- 
autlagernngen  bedeckte  Kopf  des  Os  metatarsi  primum  tritt  stark  hervor. 
Ist  die  Krankheit  an  der  Hüfte  entwickelt,  so  hinken  die  Patienten 
leicht;  die  Kuochenauflageruugen  sind  bei  den  alten  Leuten  gewöhnlich 
unbedeutend;  doch  der  Schenkel  wird  allmählig  kürzer,  weil  der  Femur- 
kopf  und  die  Pfanne  oben  abgerieben  werden;  die  Muskeln  atrophiren 
stark,  die  Hüfte  wird  endlich  ganz  steif,  indess  vergeht  darüber  manches 
Jahr.  Die  Krankheit  ist  viel  häufiger  bei  Männern  als  bei  Frauen,  be- 
sonders häufig  bei  mageren  Individuen.  Leiden  anderer,  zumal  innerer 
Organe  sind  selten  dabei  zu  constatiren,  doch  konnnt  diese  Krankheit 
nicht  selten  bei  Individuen  vor,  die  überhaupt  sehr  zu  Kalkablagerungen 
und  abnormen  Verknöcherungen  disponirt  sind;  Rigidität  der  Arterien, 
Verknöcheruug  der  Rippen  und  der  Zwischen  wirb  eis  cheiben  mit 
Verknöcherung  des  vorderen  Wirbelsäulenbandes  sind  Befunde, 
welche  sich  nicht  selten  bei  solchen  Patienten  darbieten,  die  am  Malum 
senile  mehrer  Gelenke  leiden.  —  Die  Diagnose  des  Malum  senile  ist 
sehr  leicht;  nach  der  gegebenen  Schilderung  werden  Sie  dieselbe  nicht 
leicht  verfehlen.  — 

Tritt  die  beschriebene  Krankheit  bei  jüngeren  Leuten  monarticulär 
auf,  so  kann  man  im  Anfang  zweifelhaft  sein,  ob  man  es  mit  einer  fun- 
gösen  Gelenkentzündung  oder  mit  Arthritis  deformans  zu  thun  hat;  doch 
bei  weiterer  Beobachtung  wird  die  Entscheidung  leicht  sein.  Eine  weitere 
Verwechslung  wäre  in  späteren  Stadien  mit  fungöser  Gelenkentzündung 
und  Caries  sicca  möglich,  bei  der  auch  Muskelatroi)hie  und  das  Reiben 
im  Gelenk  Statt  hat,  und  die  auch  grade  bei  jungen,  sonst  gesunden 
Leuten  mit  sehr  chronischem  Verlauf  vorkommt;  doch  bei  Caries  sicca 
bilden  sich  nie  so  ausgedehnte  Auflagerungen  um  das  Gelenk,  wie  bei 
Arthritis  deformans;  letztere  zeigt  auch  bei  langer  Dauer  nie  Disposition 
zur  Eiterung  und  ist  viel  weniger  schmerzhaft.  —  Wenn  die  chronisch- 
rheumatische Gelenkentzündung  doppelseitig  oder  an  mehren  verschiedeueu 
Gelenken  zugleich  vorkommt,  und  die  von  Reizung  der  Synovialmembran 
abhängigen  Reflexcontracturen  der  Muskeln  hinzutreten,  so  ist  die  Krank- 
heit nicht  zu  verkennen.     Der  Rheumatismus  nodosus  wird   sehr  häufig 

a8* 


596  ^'^'^ii  ^^''■'  chronischen  Entzündung  der  Gelenke. 

mit  der  Gicht  confunclirt,  weil  er  in  seinen  Resultaten  an  Hand  und 
Fuss  etwas  Aelmlichkeit  mit  jener  bietet.  Die  Gicht  ist  jedoch  durch 
ihre  specifischen  Anfälle  und  durch  die  Harnsäureausscheidungen  so 
charakterisirt,  dass  sie  für  eine  Krankheit  ganz  anderer  Art  zu  halten 
ist;  wir  haben  darüber  ja  schon  früher  (pag-.  465)  gesprochen. 

Die  Prognose  des  polyarticulären  Gelenkrheumatismus  ist,  was  die 
Heilbarkeit  betrifft,  sehr  schlecht;  tritt  die  Krankheit  bei  alten  Leuten 
auf,  so  halte  ich  sie  gradezu  für  unheilbar.  Bei  jugendlichen  Individuen 
kann  man  bei  äusserst  sorgfältiger,  ausdauernder  Behandhing  die  Krank- 
heit in  manchen  Fällen  auf  einem  bestimmten  Punkte  zum  Stillstand 
bringen  und  eine  geringe  Besserung  erzielen;  doch  selbst  dies  ist  sehr 
schwer  erreichbar,  nur  wenige  Fälle  werden  ganz  hergestellt.  Die  Ur- 
sache dieser  ungünstigen  Verhältnisse  liegt  eben  in  den  anatomischen 
Producten  dieser  Krankheit;  der  abgeschliffene  Knorpel  und  Knochen 
wird  nicht  wieder  ersetzt,  die  Knocheuauflagerungen  werden  nicht  resor- 
birt,  sie  sind  gar  zu  fest,  zu  solid  angelegt;  die  Ernährung  der  Muskeln 
findet  in  der  natürlichen  Bewegung  der  Glieder  keine  Unterstützung, 
denn  die  schwachen  Muskeln  können  die  steifen,  wenig  beweglichen 
Glieder  kaum  noch  in  Action  setzen.  Wenn  Sie  einen  solchen  Kranken 
behandeln  müssen,  wappnen  Sie  sich  mit  Geduld  und  wundern  Sie  sich 
nicht,  wenn  er  bald  diesen,  bald  jenen  Collegen,  schliesslich  alle  erreich- 
baren Quacksalber  consultirt  und  endlich  Ihnen  die  Entstehung  und  hoch- 
gradige Ausdehnung  seiner  Krankheit  in  die  Schuhe  schiebt.  Ich  wiederhole 
noch  einmal,  dass  sich  marantische,  febrile  Zustände,  Tuberkulose  und 
Amyloidkrankheit  nie  mit  diesen  Krankheitsformen  verbinden.  Eher  dürfte 
eine  Beziehung  zu  Herz-  und  Arterienkrankheiten,  so  wie  zu  sklerosirenden 
Processen  innerer  Organe  existiren. 

Behandelt  müssen  selbstverständlich  auch  diese  Patienten  werden; 
der  Arzt  kann  sich  nicht  nur  die  günstigen  Fälle  auswählen,  auch  der 
unheilbare,  auch  der  sterbende  Kranke  hat  Anspruch  auf  seine  Hülfe, 
und  wo  er  nicht  helfen  kann,  soll  er  wenigstens  zu  mildern,  zu  lindern 
bestrebt  sein.  Die  chronisch-rheumatischen  Gelenkentzündungen  bekunden 
durch  ihr  gleichzeitiges  Auftreten  an  verschiedenen  Gelenken,  dass  ihnen 
nicht  grade  eine  locale,  auf  ein  specielles  Gelenk  von  aussen  einwirkende 
Schädlichkeit,  sondern  häufig  wenigstens  eine  allgemeine  Krankheit  zu 
Grunde  liegt:  die  in  vielen  Dingen  so  räthselhafte  rheumatische  Diathese, 
diese  Disposition  zu  Entzündungen  der  serösen  Häute  und  zu  Exsudativ- 
processen in  den  Gelenken  und  Muskeln;  sie  wird  oft  als  Ursache  an- 
geklagt, und  wir  wenden  daher  auch  die  antirheumatischen  Mittel  hier 
an.  Der  dauernde  Gebrauch  von  Kalium  jodatum,  von  Colchicum  mit 
Aconit,  die  Diaphoretica  und  Diurhetica  werden  empfohlen,  so  wenig 
Erfolge  man  auch  davon  aufzuweisen  hat;  doch  es  giebt  eben  nicht  viel 
Besseres,  wenigstens  nichts  Anderes,  was  speciell  auf  den  Eheumatismus 
wirken  könnte.     Der  innere  Gebrauch  der  Carlsbader  Quellen  soll  auch 


VorJosuiiK  ."V.).     Aiihiiii;^'  zu   (,'apiU'l   XN'IT.  507 

bei  dieser  Krankheit,  wie  l)ci  der  üclitcn  Gicht  ziiwcih;)i  ,u(;milzl   Iwihcii. 
Ausser  diesen  Mitteln  und  denjenigen,  welche  Je  nach  dw  Individualität 
des  Kranken  nach  spcciellcn  Indicationen  in  Anwenduni;'  koniinen,  werden 
vorziii;-lich    die   warmen  Bäder   eni^jlbhlen,    besonders    die    indifferenten 
Thermen:  Wildbad  in  Würtemberi;-,  Wildbad-G astein  im  SalzkammergMit, 
AA^iesbaden,  Baden  bei  Zliricli,  Bayatz  in  St.  Gallen,  Baden-Baden,  'J'cjilitz 
(Böhmen),  Krapina  Teplitz  in  Croatien,  Mehadia  in  Ungarn;  ausserdem 
aber  können    auch  die  Salzbäder   g-ebraucht   werden,    zumal   die    etwas 
erregenden  bei  beginnender  Muskelatropliie.     Auf  das  Klima  der  Bade- 
orte muss  besonders  Kücksicht  genommen  werden,  da  alle  diese  Kranken 
sehr  sensibel  gegen  feuchte,  kalte  T\^itterung'  sind.    Die  lieissen  Schwefel- 
quellen sind  nur  mit  A^orsicht  zu  brauchen  und  sofort  zu  verlassen,  sowie 
sich   darnach    eine  subacutere  Exacerbation   ausgebildet.     Leben  solche 
Kranken  in  einem  Klima,  w^o  ein  kalter,  nasser  AVinter  herrscht,  so  lasse 
man  dieselben  im  AVinter  nach  Italien  gehen,  doch  nur  an  Orte,   wo  es 
g'ute,  g'eg-en  eine  eventuell  eintretende  Kälte  eingerichtete  Häuser  giebt, 
wie  in   Nizza,   Pisa,   Palermo.  —  Feuchte  AVohnungen  sind   vor   Allem 
zu  vermeiden.     Die  Kranken  müssen  sich  warm  halten,   stets  AVoUe  auf 
dem  Körper  trag-en ;  auch  die  kranken  Gelenke  müssen  stets  mit  Flanell 
bedeckt  sein.  —  AA^assercureu  sind  vielfach  empfohlen  worden  und  haben 
einige  günstige  Resultate  aufzuweisen ;  sie  sind,  wenn  sie  vernünftig  an- 
gewandt und  von  w^irklichen   Aerzten,    nicht  allein  von  Besitzern    von 
Wasserheilanstalten  geleitet  werden,  gewiss  zweckmässig  und  oft  in  der 
Hinsicht  besonders  vortheilhaft,    dass   die  Patienten  durch  diese  Curen 
abgehärtet  und  weniger  impressionabel  für  alle  äusseren  Einflüsse,  zumal 
für  Erkältung  werden,  auch  wirkt  das  viele  Wassertrinken  und  die  Ein- 
wickkmg  nach  den  Bädern  theils  diurhetisch,  theils  diaphoretisch;    end- 
lich  haben  diese  Curen   den  Vortheil,   dass  sich   der  Patient  ihnen  mit 
Gewissenhaftigkeit    und   Consequenz  hingiebt,    während   er  des   Arznei- 
gebrauches bald  überdrüssig  wird ;  die  AVasserpatienten  Averden  bekannt- 
lich bald  ganz  enragirt  für  ihre  Cur  und  sind  sehr  dankbare  Patienten, 
selbst  in  den  Fällen,  wo  der  Erfolg  der  Cur  gleich  Null  ist.     Ist  daher 
die  Allgemeinconstitution  des  Patienten  nicht  zu  schwach   und  hat  der 
Kranke  keine  zu  grosse  Abneigung  gegen  solche  Curen  (was  aucli  vor- 
kommt), so  sind  dieselben  gewiss  anzuwenden,  doch  sie  müssen  mindestens 
ein  Jahr  fortgesetzt  werden,   wenn  sie  wirklicli   nützen  sollen.  —  Auch 
die  russischen  Dampfbäder  sind  in  einigen  Fällen  mit  Erfolg  gebraucht, 
ebenso  die  Fichtennadelbäder.  —  Bei  schlecht  genährten  Individuen  ist 
diese  Krankheit  auch  schon  mit  Leberthran,  Chinin  und  Eisen  gebessert 
worden.  —  Was    die   locale  Behandlung   betrifft,    so   können    hier   Ein- 
reibungen verschiedener  Art  gemacht  av erden,  bei  welchen  das  Frottiren 
freilich  das  AA'ichtigere  bleibt;    Sie  können  Jodsalbe,   reines  Fett,  Lini- 
mentum  ammoniacatum  und  Anderes  dazu  brauchen  lassen.   Die  stärkeren, 
ableitenden  Mittel  nützen  durchaus  nichts,  und  selbst  die  Jodtinctur  kommt 


^gg  Von  der  ehronischeu  Entzüiidunjj,'  der  Gelenke. 

nur  bei  den  subaciiten  Attacken  in  Anwendung-,  wo  auch  die  ßlasen- 
pflaster  versucht  werden  mögen.  Mit  allen  stärkeren  Eeizmitteln  auf 
die  Gelenke  seien  Sie  vorsichtig :  Douchen  können  hei  den  sehr  chronisch 
und  torpid  verlaufenden  Fällen  von  vortrefflicher  Wirkung  sein;  selbst 
heisse  Douchen,  Danipfdouchen  und  loeale  Schwefelbäder,  Schlamm-  und 
Moorbäder  haben  sich  in  einigen  Fällen"  nützlich  erwiesen;  doch  in  an- 
deren Fällen  können  selbst  die  sanftesten  Regendouchen,  die  kaum  einen 
Fuss  hoch  fallen,  schon  zu  reizend  wirken;  man  kann  die  Wirkung  nicht 
immer  vorhersagen,  die  Kranken  müssen  dies  mit  Vorsicht  an  sich  unter 
Leitung  des  Arztes  ausprobiren;  sowie  Schmerzen  eintreten,  müssen  die 
Douchen  ausgesetzt  und  nach  einiger  Zeit  der  Ruhe  mit  erneuerten 
Vorsichtsmaassregeln  wieder  angefangen  werden;  treten  immer  wieder 
und  immer  mehr  Schmerzen  auf,  so  bleiben  die  Douchen  am  besten 
ganz  fort. 

Sollen  nun  die  Glieder  ganz  in  Ruhe  gehalten  oder  bewegt  werden? 
Vollständige  Ruhe  ist  aus  verschiedenen  Gründen  hier  nicht  zweckmässig, 
einerseits,  weil  die  Gelenke  sonst  ganz  steif  werden,  und  zwar  in  einer 
oft  höchst  unzweckmässigen  Stellung,  andererseits,  weil  die  absolute 
Ruhe  die  Atrophie  der  Muskeln  nur  noch  mehr  befördert.  Massige  Be- 
wegungen, wenn  auch  niemals  bis  zur  Hervorrufung  von  starken  Schmerzen 
oder  bis  zur  Erschöpfung,  sollen  gemacht  werden,  und  zwar  sowohl  passiv 
als  activ;  die  passiven  Bewegungen  kann  der  Kranke  selbst  mit  den 
Händen  machen  oder  zweckmässiger  mit  den  von  Bonnet  höchst  ingeniös 
zu  diesem  Zwecke  construirten  Maschinen.  —  Wir  müssen  endlich  noch 
etwas  über  die  Muskelatrophie  hinzufügen;  wir  können  die  Muskeln  zu 
stärken  suchen  durch  Frottirungen,  durch  Elektricität  und  durch  geregelte 
Bewegungen,  theils  active,  theils  passive;  die  Heilgymnastik  hat  hier 
ein  nicht  ganz  undankbares  Feld.  Alle  diese  Curen  müssen  indess,  wenn 
sie  irgend  etwas  nützen  sollen,  mit  Consequenz  Monate  und  Jahre  lang 
durchgeführt  werden. 

Sie  sehen  aus  dieser  therapeutischen  Uebersicht,  dass  wir  nicht  arm 
an  Mitteln  sind,  die  wir  beim  Rheumatismus  chronicus  mit  Nutzen  an- 
wenden können,  doch  alle  diese  Curen  sind  theuer,  oft  unerschwinglich 
für  arme  Leute,  und  da  die  Krankheit  ganz  besonders  oft  ärmere  Leute 
häufig  befällt,  so  sind  diese  sehr,  sehr  unglücklich  daran;  denn  in  den 
Hütten  der  Armen,  sind  trockne,  warme  Luft,  gute  iSTahrung,  Schutz  vor 
Erkältungen,  Bäder  meist  ein  unerreichbares  pium  desiderium,  und  wenn 
diese  Grundbedingungen  für  die  Cur  fehlen,  dann  ist  die  Anwendung 
theurer  Arzneien  reine  Geldverschwendung.  Ich  komme  auf  das  früher 
Gesagte  zurück:  je  früher  Sie  diese  Kranken  in  Behandlung  bekommen, 
je  jünger  dieselben  sind,  um  so  mehr  können  Sie  durch  die  Therapie 
leisten,  Sie  können  zuweilen  den  Stillstand  der  Krankheit  erreiclieu. 
Ist  dieselbe  bereits  auf  einer  gewissen  Höhe,  dann  ist  auch  der  Still- 
stand  des  TJebels  schon  schwieriger  zu  erzielen,   von   einer  Heilung  ist 


Vorlosim«,'  ']!).     Aiiliaiif,'  zu   C.ipili'l   XVTT.  5^)9 

dann  selten  die  Rede.  —  Das  Maluni  coxao  senile  halte  ich  in  den  meisten 
Fällen  für  unlieilbai-,  doch  sind  die  ol)en  i;ena.nnten  Mittel,  zumal  wnrme 
Bäder  in  den  Tliernien  rationellerweise  auch  dal)ei  anzuwenden  und 
■lindern  die  Beschwerden  oft  sehr  erhehlich.  —  Die  Arthritis  defornians 
monarticularis  ist  unheilbar;  stört  das  Gelenk  selir,  so  kann  es  dui-ch 
Kesection  oder  Amputation  entfernt  werden.  — 


A  N  II  A  N  G     I. 

Von   den   Gelenkkörpern.     Mures  articulares. 

Unter  Gelenkkörpern  verstehen  wir  mehr  oder  weniger  feste 
Körper,  welche  in  einem  Gelenk  entstehen.  Fremde  Körper  also,  die 
von  aussen  ins  Gelenk  eindringen,  etwa  eine  Nadel,  eine  Kugel  etc., 
oder  einzelne  losgesprengte  Knochenstücke,  welche  lose  im  Gelenk  liegen, 
schliessen  wir  aus.  —  Es  kommen  zwei  Arten  von  Gelenkkörpern  vor: 
1)  kleine,  ovale,  Melonenkern -ähnliche  oder  unregelmässige  Körper, 
welche  sich  gewöhnlich  in  grosser  Menge  bilden  und.  sich  bei  mikrosko- 
pischer Untersuchung  als  aus  Fibrin  bestehend  zeigen.  Diese  entstehen 
in  Gelenken  mit  chronischem  Hydrops  und  sind  Niederschläge  aus  der 
qualitativ  und  quantitativ  abnormen  Synovia  wie  die  gleichen  Körper  in 
hydropischen  Sehnenscheiden;  vielleicht  können  auch  Blutgerinnsel  zur 
Entstehung  solcher  Körper  Veranlassung  geben.  Diese  Art  von  Gelenk- 
körpern giebt  an  und  für  sich  niemals  Veranlassung  zu  operativen  Ein- 
griffen, sondern  ist  eine  accidentelle  Beigabe  des  Hydrops  articulornm 
chronicus;  zuweilen  kann  man  ihre  Existenz  vorherbestimmen,  indem 
man  in  solchen  Fällen  das  Gefühl  weicher  Reibung  bei  der  Palpation 
der  Gelenke  bekommt;  doch  verändert  dies  nichts  in  der  früher  ange- 
gebenen Therapie  der  chronischen  Gelenkwassersucht,  und  complicirt 
dieselbe  nur  insofern,  als  die  eventuelle  Reduction  des  Gelenks  auf  den 
normalen  Umfang  dadurch  erschwert  werden  muss. 

2)  Die  andere  Art  von  Gelenkkörpern  ist  knöchern,  immer  mit 
dünnem  Knorpelüberzug,  zuweilen  adhärent,  zuweilen  ganz  gelöst  im 
Gelenk;  die  Form  ist  sehr  verschiedenartig,  oft  höchst  sonderbar;  der 
Name  „Gelenkmaus"  mag  durch  eine  zufällige  Form  entstanden  sein, 
die  mit  einer  Maus  Aehnlichkeit  hatte;  diese  Körper  sind  selten  gleich- 
massig  oval  oder  rund,  sondern  oft  höckrig,  warzig,  die  Form  ist  die- 
selbe wie  diejenige  der  Osteophyten  bei  Arthritis  deformans.  — 

Sie  bestehen,  wenn  man  sie  mikroskopisch  untersucht,  aus  einem  dünnen  Ueberzug 
von  wahrem,  faserigem  oder  hyalinem  Knorpel,  der  vom  Centnun  aus  verknöchert,  zu- 
weilen jedoch  nur  verkalkt  ist;  diese  Körper  können  also,  da  sie  meist  als  Gewebe  orga- 
nisirt  sind,  nicht  als  Niederschläge  aus  der  Synovia  entstanden  sein,  sondern  sie  müssen, 
selbst  wenn  sie  ganz  lose  gefunden  werden,  früher  mit  Gewebe  zusammengehangen  haben, 
in  demselben   entstanden  sein    und   sich  später  losgelöst  haben.     So  verhält  es  sich  auch 


600 


Von  den  Geleiikkörpern. 


Fig.  113. 


in  der  That:  diese  Körper  sind  meist  Osfeo- 
phyten,  welche  von  aussen  in  das  Gelenk 
eingedrungen  sind;  selten  entstehen  sie  in 
den  Spitzen  der  Synovialzotten.  —  In  den 
Zotten  liegen  zuweilen  schon  im  Xornial- 
zustande  Knorpelzellen;  diese  könnten  zu 
wuchern  anfangen,  und  so  würde  in  der 
Zottenspitze  ein  Knorpelkern,  eine  Knorpel- 
geseliwulst,  ein  Chondrom  entstehen,  welches 
später  central  verknöchert;  eine  Zeit  lang 
bliebe  diese  Gesehwulst  im  Zusammenhang 
mit  der  Zotte,  endlich  aber  reisst  sie  ab  und 
liegt  dann  frei  im  Gelenk.  Die  viel  häufi- 
gere Art  der  Gelenkkörperbildung  ist  aber 
die,  dass  sich  in  der  Gelenkkapsel  dicht 
unter  der  Synovialmembran  verknöchernde 
Knorpelkörper  (Osteophyliten)  bilden,  welche 
sich  ins  Gelenk  hineinstülpen  und  schliess- 
lich abreissen  und  frei  werden  können.  Wahr- 
scheinlich kann  der  einmal  losgerissene,  frei 
im  Gelenk  liegende  Körper  nicht  mehr 
wachsen;  undenkbar  wäre  es  freilich  nicht, 
dass  er  sein  Ernährungsmaterial  aus  der 
Synovia  zieht.  Amabile  ist  der  Meinung, 
dass  diese  Gelenkkörper  anfangs  immer 
knöchern  sind,  und  der  knorplige  üeber- 
zug  auf  ihnen  eine  secundäre  Bildung  ist. 

Neben  der  Entwicklung-  der  Ge- 
lenkkörper bestellt  immer  ein  »-e- 
wisser  Grad  von  Gelenkhydrops ; 
letzterer  ist  vielleicht  zuweilen  die 
primäre  Krankheit.  Die  Gelenkkörper  kommen  fast  ausschliesslich  oder 
doch  vorwiegend  im  Kniegelenk  und  zwar  nur  bei  Erwachsenen  vor-  sie 
sind  überhaupt  äusserst  selten,  vielleicht  die  seltenste  Gelenkkrankheit 
Es  existirt  ein  unzweifelhafter  Zusammenhang-  zwischen  der  Gelenkkörper- 
bildung- der  Arthritis  deformans  und  dem  Hydarthron;  diese  Erkrankun- 
gen g-ehören  ihrem  Wesen  nach  zusammen  und  bilden  einen  mödicher- 
weise  auf  ang-eborener  oder  erworbener  allgemeiner  Diathese  beruhenden 
Gegensatz  zu  den  fungösen  und  fungös-eitrigen  Gelenkentzündunii-en. 

Die  Symptome,  welche  für  die  Existenz  eines  freien  Geleukkörper^ 
als  charakteristisch  betrachtet  werden,  sind  folgende:  der  Patient  leidet 
schon  längere  Zeit  an  massigem  Hydrops  genu,  vielleicht  ohne  es  zu  be- 
achten; er  empfindet  plötzlich  beim  Gehen  einen  sehr  empfindliclien 
fecimerz  im  Knie,  der  ihn  für  den  Augenblick  verhindert,  weiter  zu 
gehen;  das  Knie  steht  dann  in  halber  Flexion  oder  Extension  fest  und 
kann  nur  erst  nach  gewissen  streichenden  Bewegungen  über  das  Knie- 
gelenk wieder  beweglich  gemacht  werden.  Diese  Erscheinung  ist  bedingt 
durch  das  Emgeklemmtwerden  des  Gelenkkörpers  zwischen  die  das  Knie- 


Vielfache    Gelenkkörper   im    Ellenbugenge- 

lenk  nach  Cru  veilhier.    Ein  sehr  seltner 

Fall;  meist  kommen  diese  Gelenkkörper  im 

Kniegelenk  vor. 


Vürl.'siiiijr  ;;;).      Anliann   /,,,   ('Mpiid    XVII.  001 

gclcnk  constituireiKlen  Knoclicii,  zwisclicn  die  Menisci  oder  in  eine 
der  Syuüvinltiiselien.  Doch  schon  elie  diese  Einklcniniiingscrschcinun;,-en 
auftreten,  klagen  diese  Leute  zuweilen  Woclien  oder  Monate  hing  über 
Schwäche  oder  leichte  Schmerzen  im  Knie,  und  die  Untersucliung  wird 
in  den  meisten  Fällen,  wie  schon  erwähnt,  einen  leichten  Grad  von  Hy- 
drops genu  constatiren.  Die  Kranken  kommen  durch  die  eigoitliiindiclie 
Art,  wie  der  heftige  Schmerz  eintritt,  und  durcli  die  Art,  wie  er  wiedci- 
verschwindet,  sehr  häufig  selbst  auf  den  Gedanken,  es  sei  in  ihrem  Knie- 
gelenk ein  beweglicher  Körper,  und  niclit  selten  fühlen  sie  denselben 
ganz  deutlich  und  wissen  ihn  durch  gewisse  Ijewegungeu  des  Gelenks 
auch  dem  Arzte  deutlich  zu  machen.  In  anderen  Fällen  fühlt  zuerst  dei- 
Arzt  bei  wiederholter  Untersuchung  den  Körper  im  Gelenk  und  kann 
ihn  bald  hierhin,  bald  dorthin  scliieben ;  oft  verschwindet  dcrsell)e  wieder^ 
und  es  kann  mehre  Tage  und  Wochen  dauern,  bis  er  eine  Stellung  ein- 
nimmt, in  welcher  er  wieder  von  aussen  gefühlt  werden  kann.  Alle 
diese  Symptome  werden  nur  dann  recht  deutlich  hervortreten,  sobald  der 
Körper  gelöst  ist;  so  lange  er  noch  adhärent  ist,  auch  wenn  er  so 
gross  ist,  dass  er  sich  nicht  einklemmen  kann,  macht  er  wenig  oder 
gar  keine  Beschwerden. 

Wenngleich  also  die  Beschwerden  eines  Geleukkörpers  und  eines 
massigen  Hydrops  genu  nicht  immer  sehr  gross  sind  und  sich  spontan 
nicht  grade  steigern,  sich  auch  keine  eitrigen  Entzündungen,  sondern 
nach  Gelegenheitsursachen  nur  von  Zeit  zu  Zeit  subacute  Entzündungen 
mit  serösem  Erguss  ausbilden,  so  sind  doch  in  anderen  Fällen  die 
Schmerzen  bei  der  Einklemmung,  die  Angst,  jeden  Augenblick  diesem 
heftigsten  Schmerz  ausgesetzt  zu  sein,  so  gross,  dass  viele  damit  behaf- 
tete Individuen  dringend  Hülfe  verlangen.  —  Die  Versuche,  diese  Körper 
durch  Erregung  einer  adhäsiven  Entzündung  zu  fixiren,  was  man  durch 
Compressionsverbände,  Jodtinctur  oder  Vesicantieu  anstrebt,  haben  wenig 
Erfolg  gehabt.  Die  Operation  besteht  in  Extraction  des  Gelenkkörpers; 
man  macht  dieselbe  folgendermaassen :  der  Geleukkörper  wird  stark 
unter  die  Haut  an  eine  Seite  des  Gelenks  vorgedrängt;  jetzt  schiebt  man 
die  Haut  darüber  stark  nach  oben,  spannt  sie  dadurch  noch  stärker, 
schneidet  dieselbe  und  die  Kapsel  bis  auf  die  Geleukkörper  ein,  und 
lässt  letzteren  hervorspringen  oder  hebt  ihn  mit  einem  kleinen  Eleva- 
torium  (etwa  einen  Ohrlöffel,  wie  es  Fock  sehr  practisch  gemacht  hat) 
heraus;  sofort  schliesst  man  die  Wunde  mit  dem  Finger,  extendirt  das 
Bein,  lässt  die  Haut  wieder  in  ihre  normale  Lage  zurückgehen,  so  dass 
der  Schnitt  in  ihr  tiefer  liegt,  als  in  der  Kapsel,  beide  Wunden  also 
nicht  direct  communiciren;  jetzt  wird  die  Hautwunde  mit  Pflastern  ge- 
schlossen und  dann  das  Glied  auf  einer  Schiene  extendirt  gelagert;  auch 
ein  Gypsverbaud  kann  hier  zweckmässig  angelegt  w^erden;  man  könnte 
einen  solchen,  mit  grossem  Fenster  versehen,  schon  vor  der  Operation 
appliciren.  —  Je  nach  den  nachfolgenden  Entzündungserscheinungen  ist 


(3Q2  Von  den  Gelenkneurosen. 

die  Behaudlung-  der  traiimatisclieii  Gelenkentzimdimg-  einzuleiten  und 
durch  zuführen.  —  In  früheren  Zeiten  hat  man  viel  Unglück  mit  diesen 
Operationen  gehabt,  es  folgten  nicht  selten  heftige  Gelenkentzündungen, 
und  man  durfte  sich  zuweilen  gratuliren,  wenn  das  Leben  des  Kranken 
durch  Amputation  des  Oberschenkels  erhalten  wurde.  —  Die  Operations- 
methoden wurden  oft  gewechselt;  endlich  hat  das  einfachste,  oben  be. 
schriebene  Verfahren  den  Sieg  davon  getragen.  Fock  hat  auf  diese 
Weise  5  Mal  die  Operation  ausgeführt  und  stets  vollständige  Heilung 
erzielt.  Die  Entzündungserscheinungen  waren  unbedeutend,  und  meist 
konnten  die  Patienten  wenige  Wochen  nach  der  Operation  ihren  Ge- 
schäften wieder  nachgehen;  es  kommt  wie  bei  der  Staarextraction  und 
bei  der  Extraction  eines  Blasensteins  wesentlich  darauf  an,  dass  die 
Operation  glatt  und  leicht  ohne  erhebliche  Blutung  und  ohne  Hindernisse 
von  Statten  geht.  Macht  ein  Gelenkkörper  gar  keine  Beschwerden,  so 
applicirt  man  nur  eine  Kniekappe,  um  den  Gelenkhydrops  in  Schranken 
zu  halten  und  dem  Gelenk  einen  gewissen  Grad  von  Festigkeit  zu  geben, 
so  dass  keine  zu  ausgiebigen  Bewegungen  damit  gemacht  werden;  der 
Patient  ist  dadurch  schon  oft  sehr  beruhigt. 


ANHANG    II. 

Von  den  Gelenkneurosen. 

Unter  Neurosen  und  Neuralgien  versteht  mau  Erkrankungen, 
welche  sich  durch  mehr  oder  weniger  intensive  bald  typisch  bald  atypisch 
auftretende  Schmerzen  äussern,  und  deren  Ursache  nicht  in  Veränderun- 
gen der  Gewebe  zu  finden  ist.  Man  vermuthet  dabei  eine  functionelle 
Störung  in  den  Nerven  ohne  morphologische  Veränderungen.  —  Dass  es 
rein  functionelle  Störungen,  die  wir  als  Schwäche  und  Ueberreizung  zu 
bezeichnen  pflegen,  in  den  Geweben  und  zumal  in  den  Nerven  giebt, 
bei  denen  für  unsere  Sinne,  wenn  wir  sie  auch  mit  allen  modernen  Hülfs- 
mitteln  verstärken,  morphologische  und  chemische  Veränderungen  weder 
während  des  Lebens  noch  nach  dem  Tode  aufzufinden  sind,  ist  ausser 
Zweifel;  ob  solche  Veränderungen  dennoch  existiren,  das  zu  entscheiden, 
können  wir  uns  nicht  vermessen,  denn  was  wir  nicht  mit  unseren  Sinnen 
wahrnehmen,  existirt  für  uns  eben  nicht.  —  Hiernach  nennt  man  Zustände 
der  Gelenke,  welche  mit  Schmerzen  in  denselben  verbunden  sind,  und 
wobei  mau  nichts  Krankes  an  den  Gelenken  objectiv  findet,  „Gelenk- 
neurosen". Typisch,  d.  h.  zu  bestimmten  Tageszeiten,  in  Anfällen  wie 
bei  den  Neuralgien  etwa  des  N.  trigeminus  treten  die  Schmerzen  dabei 
nie  auf.  Brodie  hat  zuerst  die  Gelenkneurosen  als  besondere  Krank- 
heitsgruppe abgegrenzt;  Esmarch,  Stromeyer  und  Wernher  haben 
sich  in  neuerer  Zeit  mit  diesen  Zuständen  beschäftigt,  und  sie  klinisch 
weiter    entwickelt.     Nach    den   Auffassungen  dieser  Autoren   sind  aber 


Voi-Irsmi--   10.     Cipilcl   wTir.  003 

aiicli  solclic  Gclciikcrkrankmig'cii  (l;iniutor  zu  Itcgi-oircn,  wclclio,  wciin- 
g'leich  mit  i^xu-ing'oii  (loch  nacliwcisharcn  auatoiiiisc^licn  Vcr;uulci-iiiii;-cn 
verbunden,  sich  vorwiegend  duvcli  sclinicrzliafte  Empfindungen  iiiid 
Functionsstörung-en  äussern,  und  in  Ijctraclit  iliver  licftigkcit  ganz  ausser 
Verliältniss  zu  dem  geringen  erkennbaren  Grade  von  Erkrankung  stehen. 
Hierdurch  werden  die  Gelenkneuroscn  in  das  Gebiet  der  sensitiven,  sen- 
suellen und  psychischen  Hyperästhesien  mit  ilircn  refiectoi-ischen  Com- 
plicationen,  kurz  in  das  grösstentheils  zu  den  Psychosen  gehörige  Gebiet 
der  Hysterie  und  Hypochondrie  hineingeschoben.  Die  Fälle,  welche  ich 
in  meiner  Praxis  sah,  und  die  nach  den  Schilderungen  der  genannten 
Autoren  als  Gelenkneurosen  zu  bezeichnen  wären,  habe  icli  früher  tlieils 
als  leichte  Gelenkerkraukungen  aufgefasst,  deren  Symptome  bei  hysteri- 
schen Frauen  und  Mädchen  ins  Ungeheuerliche  übertrieben,  ja  oft  grade- 
zu  simulirt  waren,  theils  als  beginnende  noch  nicht  deutlich  erkennl)are 
Gelenk-  und  Knochenkrankheiten,  tlieils  endlich  als  grosse  Empfindlich- 
keit, welche  nach  abgelaufenen  Erkrankungen  zurückgeblieben  war.  Es 
ist  ganz  practisch ,  einen  Namen  für  diese  Gruppe  von  Fällen  zu  haben, 
doch  sind  dieselben  weder  von  einem  Gesichtspunkt  aus  zu  beurtheilen, 
noch  nach  einer  Schablone  zu  behandeln.  —  Allgemeine  ärztliche  Er- 
fahrung und  Menschenkenntniss  müssen  bei  den  Hysterischen  am  meisten 
zur  Behandlung  helfen;  der  Eigensinn  und  die  Consequenz  von  Weiliern 
in  der  Durchführung  von  simulirten  Contracturen  und  Krampfzuständen 
ist  für  Jeden,  ausser  für  einen  erfahrenen  Arzt  unglaul)lich.  Die  Hysterie 
ist  eben  wesentlich  eine  Geisteskrankheit,  oft  unheilbar,  oder  nur  vor- 
übergehend heilbar.  —  Handelt  es  sich  um  die  Abstumpfung  von  grosser 
Empfindlichkeit  der  Gelenkflächen,  so  mögen  kalte  Douchen,  Kaltwasser- 
kur, Seebäder  in  Anwendung  gezogen,  und  fleissige  Hebungen  der  Ge- 
lenke gemacht  werden,  die  zumal  Esmarch  empfiehlt.  Doch  sah  ich 
auch  grade  bei  solchen  Neurosen,  welche  nach  früheren  Gelenkkrank- 
heiten zurückgeblieben  waren,  günstige  Wirkungen  von  den  Thermen, 
Moorbädern  und  der  Electricität. 


Vorlesung  40. 

Von  den  Anchylosen.     Unterschiede.     Anatomische   Verhältnisse.     Diagnose. 
Therapie:  Allmählige,  forcirte  Streckung,  blutige   Operationen. 

CAPITEL  XVIII. 

Von  den  Anchylosen. 

Dass  man  unter  einer  Anchylose  (von  c(yKv?^og  knmim)  ein  steifes 
Gelenk  versteht,  wissen  Sie  schon;  ich  muss  jedoch  hinzufügen,  dass  mau 
9iese  Bezeichnung  nur  dann   zu  brauchen  pflegt,  wenn  der  acute  oder 


604 


Von  den  Anchylosen. 


cln-onische  Krankheitsprocess,  welcher  die  Steifheit  der  Gelenke  bedingt, 
abgelaufen  ist,  wenn  also  die  beschränkte  oder  vollkommen  mangelnde 
Beweglichkeit  des  Gelenks  das  einzig  Krankhafte  ist,  was  vorliegt. 
Bildet  sich  z.  B.  während  einer  Entzündung  des  Knie-  oder  Hüftgelenks 
eine  stark  flectirte  Stellung  der  Extremität  durch  unwillkürliche,  dauernd 
bleibende  Muskelcontractionen,  und  kann  dann  das  Gelenk  der  Schmerzen 
wegen  nicht  gestreckt  werden,  obgleich  die  mechanische  Möglichkeit  vor- 
handen ist,  so  sprechen  wir  hier  nicht  von  Anchylose  des  Gelenks,  son- 
dern von  Gelenkentzündung  mit  Contractur  der  Muskeln.  —  Die  Ursache, 
weshalb  ein  Gelenk,  trotzdem  dass  kein  florider  Entzündungsprocess  mehr 
vorhanden  ist.  nicht  gestreckt  werden  kann,  wird  bald  in  mechanischen 
Hindernissen,  die  ausserhalb  des  Gelenks,  bald  in  solchen,  die  innerhalb 
des  Gelenks  liegen,  oder  in  den  zum  Gelenk  wesentlich  zugehörenden 
Theilen  zu  suchen  sein.  Ein  durch  Atrophie  und  Schrumpfung  ver- 
kürzter Muskel,  eine  stark  zusammengezogene  Narbe  der  Haut,  beson- 
ders wenn  sie  an  der  Flexionsseite  liegt,  kann  die  Beweglichkeit  des 
übrigens  normalen  Gelenks  sehr  wesentlich  beeinträchtigen;  solche  Ur- 
sachen pflegt  man  nicht  im  Sinne  zu  haben,  wenn  man  kurzweg  von 
Anchylose  dieses  oder  jenes  Gelenks  spricht,  man  bezeichnet  das  als 
Muskel-  oder  Narbencontracturen.  Will  man  auch  diese  Art  von  Be- 
schränkungen der  Beweglichkeit  als  Anchylosen  tituliren,  so  ist  es  gut, 
sie  gleich  näher  zu  kennzeichnen  als  Anchylose  durch  äussere  Ursachen, 
Anchylosis  spuria  und  dergleichen.  —  Es  werden  nun  diejenigen  Gelenk- 
steifigkeiten  übrig  bleiben,  welche  durch  pathologische  Veränderungen 
von  Theilen  bedingt  sind,  die  wesentlich  zum  Gelenk  gehören ;  hier  haben 
wir  es  mit  folgenden  Dingen  zu  thun: 

1.  Narbige  Verwachsungen  zwischen  den  gegenüberliegenden  Ge- 
lenkflächen selbst;  diese  können  quantitativ  und  qualitativ  sehr  ver- 
schieden sein;  sie  entstehen  nach  Ausheilung  der  fungösen  Gelenkentzün- 
dung durch  Verwachsung  der  wuchernden  Granulationsmasse;  hierdurch 
werden   bandartige   Adhäsionen   gebildet,    etwa    wie    zwischen    Pleura 

Fic;.  114. 


Bandartige  Verwachsungen  in  einem  resecii-ten  Ellenbogengelenk  von  einem 
Erwachsenen,  fast  natürliche  Grösse. 


Vorlosiinn-  •10.      Ciinilcl   XYIIf. 


r;or 


pulmonalis  und  costalis,  oder  diclitc  ausi^'cdelintc;  Fliiclic.nvcrwaclisiui.ncii ; 
dabei  kann  der  Knorpel  tjieilwelse  erliallcii  sein,  meist  ist  sowohl 
der  Knorpel über/Aig-  als  aueli  ein  Tlieil  des  Knoclicns  zei-slört.  (Je- 
wölinlich  bestehen  diese  Verwaclisung-en  wie  andere  Narlxiii  aus  Hiiide- 
g-ewebe  (s.  Fig.  115);  in  luanchen  Fällen  vei-kiiöcliert  dieses  Narbeii- 
g-ewebe  nnd  die  beiden  Gelenkendeii  sind  dann  diu-cli  kiiöclienie  l>riickeii 
verbnnden  oder  auch  der  ganzen  Fläche  nach  ^()llständig■  verscliiiiol/.cn 
(s.  Fig.  IIG): 

Fiff.  Uli. 


Fio-.  115 


Vollständige  narbige  Verwachsung  der  Ge- 
lenkfläclien  eines  Ellenbogengelenks  eines 
Kindes ,  die  Trocblea  hnmeri  so  wie  ein 
Theil  des  Olecranon  zerstört.  Längsdurcli- 
schnitt.     Natürliche  Grösse. 


Anchj'losirtes  durch  knöcherne  Brücken  ver- 
bundenes Ellenbogengelenk  von  einem  Er- 
wachsenen resecirt;    fast    natürliche  Grösse. 


2.  Weitere  Hindernisse  für  die  Beweglichkeit  sind  die  narbigen 
Schrumpfungen  der  Gelenkkapsel  und  der  accessorischen  Hiüfsbäuder, 
auch  w^ohl  der  Menisci,  die  auch  ganz  zerstört  w^erden  können.  Diese 
narbigen  Schrumpfungen  treten  nicht  allein  an  denjenigen  Stellen  auf, 
wo  Fisteln  sich  gebildet  hatten,  sondern  auch  ohne  jegliche  Eiterung, 
indem  jedes  Gewebe,  welches  lange  plastisch  infiltrirt  und  dadurch  mehr 
oder  weniger  erw^eicht  war,  später  nach  Ablauf  des  Eutzünduugsprocesses 
mehr  oder  w^eniger  schrumpft. 

3.  Ein  nicht  unbedeutendes  Hinderniss  für  die  Bew^eglichkeit  und 
zumal  die  Ursache,  weshalb  nach  fuugösen  Gelenkentzündungen  ausge- 
dehnteren Grades  die  Beweglichkeit  zuweilen  niemals  wieder  hergestellt 
wird,  liegt  darin,  dass  die  nothwendiger  Weise  verschiebbaren  Wandungen 
der  dem  Gelenk  adnexen  Synovialsäcke  verwachsen  und  schrumpfen. 
Um  Ihnen  dies  klar  zu  machen,  muss  ich  kurz  die  normalen  Verhält- 
nisse bei  der  Bewegung  der  grösseren  Gelenke  berühren.     Die  Gelenk- 


606 


Von  den  Anelilvosen. 


kapsel  hat  niemals  einen  so  liolien  Grad  von  Elasticität,  class  sie  sich 
jeder  Stellung-  des  Gelenks  ohne  Weiteres  adaptirte.  Denken  Sie  sich 
einen  Humerus  an  den  Thorax  gelegt,  so  müsste  unten  am  Gelenk  die 
Kapsel  sehr  stark  zusammengezogen,  oben  sehr  stark  ausgedehnt  sein: 
denken  Sie  sich  den  Arm  stark  erhoben,  so  müsste  sich  der  obere 
Kapseltheil  stark  zusammenziehen,  der  untere  stark  dehnen;  die  Gelenk- 
kapsel müsste  so  elastisch  sein  wie  Gummi;  dies  ist  keineswegs  der 
Fall;  sie  zieht  sich  bei  den  yerschiedenen  extremen  Stellungen  des  Ge- 
lenks nicht  oder  nur  ^Yenig  zusammen,  sondern  faltet  sich  nach  ganz 
bestimmten  Eichtungen;  wird  die  Stellung  des  Gelenkkopfes  eine  andere, 
so  dehnt  sich  die  Falte  wieder  aus,  und  an  der  entgegengesetzten  Seite, 
die  früher  glatt  war,  bildet  sieh  eine  neue  Falte  der  Kapsel.  Sie  sehen 
hier  im  senkrechten,  der  vorderen  Körperfläche  parallelen  Durchschnitt 
(Frontal  schnitt  nach  He  nie),  das  Schultergelenk  in  erhobener  (Fig.  117) 
und  in  gesenkter  (Fig.  118)  Stellung. 


Fiü-.  117. 


Fio-.  118. 


^  t*-/ 


.^\- 


Frontalsehnitte  des  Schultergelenks. 
Fig.  117.     Die  Kapsel  oben  bei  a  gefaltet.     Fig.  118.      Die  Kapsel   unten   bei  a  gefaltet. 


Erkrankt  die  STnovialniembran ,  so  bleibt  das  Gelenk  gewöhnlich 
in  einer  bestimmten  Stellung  stehen ,  der  Humerus  ist  meist  gesenkt ; 
dabei  kann  die  Synovialtasche  unten  (Fig.  118«)  vereitern,  versehrumpfeu, 
verwachsen,  und  wenn  auch  das  Gelenk  übrigens  ganz  normal  wäre, 
würde  doch  keine  Erliebung  des  Armes  mehr  möglieh  sein,  weil  die 
Kapsel  an  der  unteren  Seite  des  Gelenks  sich  nicht  mehr  entfalten  kann. 
So  entstehen  Anchylosen  bei  vollständig  vorhandenem  Knorpelüberzug; 
die  Seeretion  der  Synovia  hört  auf,  die  Knorpel  können  in  der  Folge 
im  Lauf  von  Jahren  zu  Bindegewebe  degeneriren  (wie  bei  veralteter 
tixirter  Luxation)  oder  selbst  verknöchern,  und  damit  wird  die  Anchylose 
immer  mehr  fixirt.  —  Gleiche  Verhältnisse  existiren  fast  für  alle  Gelenke ; 
die  besten  Abbildungen  darüber  tinden  Sie  in  Henle's  Anatomie.  — 
Volk  mann  hat  schon  früher  diese  Arten  von  Anchylosen,  welche  be- 
sonders oft  bei  jugendlichen  Individuen  nach  subacuter  Coxitis  (vorwie- 
gend  nach  rheumatischen   und  puerperalen   Gelenkentzündungen)    ohne 


Vorl.'siin--  .10.      Ciipilcl    Will.  0O7 

Eiterung-  aber  mit  starker  Muskelspjunuiiig  entstellen,  unter  dem  Xanu'U 
„knorpelige  Ancliylosen"  liescliriebeii ;  der  Name  ist  wohl  dcsluill»  ge- 
wälilt,  weil  dabei  der  Knorpel  lange  völlig  erhalten  bleibt. 

4.  Ein  weiteres  mechanisehes  llinderniss  kann  in  Knoclienjuifhigc- 
rungen  liegen,  welche  sicli  um  das  Gelenk  aussen  auf  den  (Jeknikcnden 
der  betreffenden  Knochen  bilden;  füllt  sicli  z.  15.  die  Fossa  sigmoidoa 
anterior  oder  posterior  des  unteren  Endes  des  llumerus  init  neugebilde- 
tem Knochen,  so  kann  entweder  der  Processus  coronoideus  odei-  anco- 
naeus  der  Ulna  nicht  eingreifen,  und  in  ersterem  Falle  kann  der  Arm 
nicht  vollständig  flectirt,  in  letzterem  nicht  vollständig  extendirt  werden. 
Dies  Hinderniss  tritt  besonders  bei  der  Arthritis  deformaus,  selten  bei 
der  fungösen  Gelenkentzündung  auf  (vergl.  Fig.  110,  pag.  592). 

5.  Endlich  können  in  Folge  von  Caries  der  Gelenkenden  solche 
Defecte  entstanden  sein,  dass  die  Epiphysen  ganz  scliief  zu  einander 
stehen  und  nicht  zurückgeführt  werden  können,  weil  sie  in  ihren  Fläclien 
zu  verändert  sind  und  gar  nicht  mehr  auf  einander  passen,  in  der  ab- 
normen (pathologisch  luxirten)  Stellung  also  gar  nicht  gegen  einander 
bewegt  werden  können.  Betrachten  Sie  noch  einmal  Fig.  115:  in  Folge 
der  Zerstörung  der  Trochlea  humeri  ist  die  Ulna  so  an  den  Humerus 
angezogen ,  dass  bei  einer  gewissen  Bewegungsmöglichkeit  doch  die 
vollständige  Flexion  nicht  gemacht  werden  kann,  weil  der  Proc.  coro- 
noideus ulnae  vorn  an  den  Humerus  anstösst,  da  die  Fossa  sigmoidea 
anterior  dort  fehlt.  —  So  kann  ferner  die  Tibia  bei  Kniecaries  halb 
nach  aussen  und  hinten  verschoben  werden,  wobei  die  freiliegenden  Cou- 
dylen  des  Femur  zuweilen  stärker  zu  wachsen  scheinen,  so  dass  die  zu- 
sammengehörigen Gelenkflächen  bald  gar  nicht  mehr  aufeinander  passen. 

Zu  diesen  mehr  oder  weniger  im  Gelenk  liegenden  Ursachen  der 
Unbeweglichkeit  können  äussere  Ursachen  hinzukommen,  besonders  die 
schon  erwähnten  Muskelcontracturen  und  auch  Narben,  welche  mit  den 
Muskeln,  Sehnen  und  mit  den  Knochen  verwachsen  sein  können,  und 
so  zur  Fixation  in  der  falschen  Stellung  wesentlich  beitragen.  Auch 
Verwachsungen  oder  Verklebungen  der  Sehnen  mit  der  Innenfläclie  der 
Sehnenscheiden  können  Steifheiten  und  absolute  Unbeweglichkeiten  zur 
Folge  haben;  dies  kommt  besonders  an  der  Hand  vor  z.  B.  nach  lang- 
wierigen Phlegmonen,  ohne  dass  Eiterung  in  den  Sehnenscheiden  be- 
standen hätte;  alle  Finger  stehen  z.  B.  steif,  unbeweglich,  gewöhnlich 
gestreckt,  und  doch  sind  die  Gelenke  dabei  intact;  eine  geschickte  Lö- 
sung dieser  Verklebungen  durch  passive  Bewegungen  kann  dabei  einen 
zauberhaften  Effect  haben,  die  Finger  können  danach  sofort  wieder  be- 
weglich sein. 

Die  Diagnose  der  Anchylose  überhaupt  ist  nicht  schwierig;  wohl 
aber  kann  es  sehr  schwierig  sein,  zu  bestimmen,  welche  der  vorerwähn- 
ten Verhältnisse  die  Schuld  der  mangelhaften  oder  völlig  fehlenden  Be- 
weglichkeit tragen.     Bei  einer  vollkommenen  Steifheit  ist  mau  leicht  der 


ßQg  Von  den  Aneliylosen. 

Ansiclit,    dass   es   sich  um  eine    knöcherne   Auehylose  handle;    dies  ist 
keineswegs  immer  der  Fall;  sehr  kurze,  straffe  Adliäsionen,  zumal  sehr 
breite,  flächenhafte  Verwachsungen  müssen  auch  eine  absolute  Unbeweg- 
lichkeit  bedingen.   Je  länger  eine  solche  Anchylose  ganz  unbeweglich 
besteht,  je  mehr  ist  die  Wahrscheinlichkeit  dafür,   dass   eine  knöcherne 
Verwachsung  ausgebildet  ist:  selbst  wenn  das  Gelenk  verhältnissmässig 
wenig  erkrankt  ist;  ja  wenn  der  grösste  Theil  des  Gelenkknorpels  nor- 
mal ist,   so   wird  doch,   wenn  das  Gelenk  viele  Jahre  ruhig  steht  (viel- 
leicht nur  in  Folge    von    Kapselschrumpfungen),    oft    eine    vollständige 
knöcherne  Anchylose  nach  und  nach  erfolgen,  denn  sogar  ein  ganz  ge- 
sundes Gelenk  würde,  wenn  es  Jahre  lang  unbeweglich  erhalten  würde, 
schliesslich  anchylotisch   werden.     Hierfür    liegen    experimentelle  Nach- 
weise voT;    nach   Untersuchungen  von  Menzel  beginnt  bei  dauernder 
Gelenkruhe  eine  Wucherung  der  Knorpelzellen,  mit  Vascularisation,  die, 
sich  selbst  überlassen,   zur  Grauulationsmetamorphose   des  Knorpelüber- 
zugs führt,  während  die  Synovialsecretion  ganz  aufhört.  —  Für  die  ge- 
sunde Fortexistenz   der  Synovialmembran  und   des   Knorpels  ist  Bewe- 
gung eine  Lebensbedingung;   dies  können  Sie  schon  daran  sehen,    dass 
alle   Gelenkverbindungen  des  Körpers,   welche    wenig    ausgiebige    oder 
gar  keine  Bewegungen  zu  machen  haben,   wie  die  Zwischeuwirbel-,   die 
Becken-,  die  Steruum- Gelenke  eine  sehr  wenig  entwickelte  Synovialmem- 
bran und  einen  höchst  mangelhaften  Knorpel  haben.  —  Wir  sind  hierauf 
gekommen,  indem  wir  darauf  aufmerksam  machen  wollten,  wie  man  aus 
der  Dauer  einer  unbeweglichen  Anchylose  allerdings  begründete  Schlüsse 
auf  die  Festigkeit  derselben  machen  kann.     Ist  die  Anchylose  aber  be- 
weglich,   wenn  auch  in  geringem   Grade,   so  ist  die   Synovialmembran 
selten    ganz    zerstört;    auch  ein   Theil    des  Knorpels    pflegt    in    solchen 
Fällen  noch  fort  zu  existiren.     Ueber  die  Beweglichkeit  und  Unbeweg- 
lichkeit  einer  Anchylose  kann  man  sich  sehr  täuschen,   wenn  man  den 
Spannungsgrad  der   Muskeln,    den  der  Patient  auch  nach  abgelaufenen 
Gelenkentzündungen  zuweilen  noch  bewahrt,  unbeachtet  lässt;  eine  klare 
Einsicht  in   diese  mechanischen  Hindernisse   erhält  man   oft  nicht  eher, 
als  bis  man  die  Muskelwirkung  durch  eine  tiefe  Chloroformnarkose  ganz 
eliminirt  hat. 

Was  ist  nun  bei  diesen  Anchylosen  zu  thun?  Kanu  mau 
das  steife  Gelenk  wieder  beweglich  machen?  Diese  Frage  ist  für  die 
meisten  Fälle  zu  bejahen.  Kann  man  diese  Beweglichkeit  dauernd 
erhalten  und  die  normale  Function,  wenn  auch  nur  annähernd, 
wiederherstellen?  Dies  ist  leider  sehr  selten  möglich,  gewöhnlich 
nicht.  Was  soll  aber  dann  geschehen?  wozu  dann  eine  Behandlung? 
Diese  letztere  Frage  ist  für  gewisse  Fälle  berechtigt,  doch  für  die  meisten 
nicht.  Wir  haben  früher  wiederholt  erwähnt,  dass  bei  den  Gelenkent- 
zündungen die  Glieder  in  der  Eegel  eine  für  die  spätere  Brauchbarkeit 
unzweckmässige  Stellung  annehmen;  ein  Bein,  welches  im  Knie  recht- 


V.irlcsiiii--  K).     CJni.ilrl    Will.  (;()() 

winklig"  stellt,  ist  eine  mibrauclibarc,  uniKithig'c  Last,  man  aniputirtc 
dalier  früher  solche  Beine,  weil  die  Leute  besser  auf  einem  g'uten  Stelz 
als  mit  zwei  Krücken  gehen  konnten.  Ein  Arm,  der  im  Ellenbogen 
ganz  extendirt  oder  sehr  schwach  flectirt  ist,  ist  ebenfalls  ein  höchst 
unbequemer,  zum  Ergreifen  und  Fassen  von  Gegenständen  unbrauch- 
barer Körpertheil,  und  so  fort.  Man  kann  nun  dadurch,  dass  man  die 
ancbylotischen  Glieder  in  eine  Stellung  bringt,  in  welcher  sie  relativ  am 
brauchbarsten  sind,  also  ein  Hüftgelenk,  ein  Kniegelenk  in  ganz  exen- 
dirte,  einen  Arm  in  eine  rechtwinklig  gebogene  Stellung,  dem  Patienten 
schon  sehr  viel  nützen,  und  dalier  sind  diese  Operationen,  diese  Streckun- 
gen oder  Beugungen  der  Anchylose  doch  höchst  dankbare  Operationen. 
Die  Anchylosen  in  unzweckmässiger  Stellung  waren  eine  Zeit  lang  un- 
endlich häufig,  werden  immer  seltner  und  w^erden  ganz  aufhören,  sobald 
das  von  uns  lebhaft  verfochtene  Princip,  die  Gelenke  schon  bei  der  Be- 
handlung der  acuten  oder  chronischen  Entzündungen  in  die  für  die 
eventuelle  Anchylose  passendste  Stellung  zu  bringen,  allgemeiner  durch- 
gedrungen sein  wird.  Selten  wird  es  einem  Chirurgen  der  modernen 
Zeit  begegnen,  Auchylosenoperatiouen,  die  nur  eine  Verbesserung  der 
Stellung  zum  Zweck  haben,  an  Kranken  zu  machen,  die  er  während 
der  Gelenkentzündung  selbst  behandelte.  Doch  es  giebt  noch  immer 
eine  ganze  Menge  von  Fällen,  welche  auf  dem  Lande  unter  den  un- 
günstigsten Verhältnissen  beliandelt  werden  müssen,  und  wo  es  denn 
doch  zu  einer  Winkelanchylose  im  Knie-  und  Hüftgelenk  kommt,  so  dass 
die  Anchylosenstreckungen  immer  noch  zu  den  ziemlich  häutigen  Ope- 
rationen gehören. 

Die  Bestrebungen,  krumm  und  steif  geheilte  Glieder  grade  zu  richten, 
sind  sehr  alt.  Schon  in  den  chirurgischen  Schriften  der  Aerzte  des 
Mittelalters  findet  man  Abbildungen  und  Beschreibungen  von  Maschinen, 
welche  zu  diesem  Zweck  construirt  sind,  denn  die  Methode,  durch  lang- 
same Streckungen  mit  Hülfe  von  Mascliinen  die  Krümmungen  zu  besei- 
tigen, ist  die  ältere;  man  hat  eine  grosse  Menge  von  Apparaten  für  die 
verschiedenen  Gelenke  construirt,  mit  Hülfe  deren  man  die  Streckung 
und  Beugung  der  Extremitäten  durch  Schraubenwirkung  forciren  kann. 
Diese  Apparate  finden  jetzt  vorwiegend  in  denjenigen  Fällen  Anwendung, 
in  welchen  man  glaubt,  mit  der  Graderichtung  der  Gelenke  auch  die 
Beweglichkeit  erhalten  zu  können:  da  diese  Fälle  aber  äusserst  selten 
sind  und  auch  sie  doch  wesentlich  durch  die  schnelle  Streckung  gefördert 
werden,  so  ist  die  Anwendung  der  Maschinen  sehr  in  Abnahme  ge- 
kommen. Der  langsamen  Streckung  der  Anchylosen  gegenüber  steht 
die  schnelle,  gewaltsame  Streckung,  das  fälschlich  sogenannte  brise- 
ment  force.  Diese  Operation  hatte,  bevor  man  das  Chloroform  kannte 
und  in  diesen  Fällen  anwandte,  sehr  viele  Schattenseiten;  sie  war  sehr 
schmerzhaft  und  nicht  ungeftihrlich ;  es  bedurfte  enormer  Gewalt,  um  die 
gewaltsame  Streckung  der  Anchylosen,  das  Zerbrechen  und  Zerreisseu 

Billrotli    chir.  Putli.  u.  Tlier.     T.  Aufl.  ^^ 


Q^Q  Von  den  Anohylosen. 

derselben  auszufiilireu  imil  nicht  allein  die  Hindernisse  im  Gelenk  waren 
Schnld,  sondern  auch  besonders  die  Muskeln,  welche  sich  sofort  lebhaft 
Contrahirten,  sowie  Schmerz  eintrat;  man  war  daher  oft  genöthigt,  die 
Sehnen  der  sich  anspannenden  Muskeln  zu  durchschneiden,  bevor  man 
zur  Anchylosenstreckung-  schritt;  dadurch  wurde  die  Operation  compli- 
cirter;  die  Folg-en  der  Streckung-  wusste  man  auch  noch  nicht  recht  zu 
behandeln,  man  band  die  gestreckten  Glieder  auf  Schienen,  oder  zwängte 
sie  in  Maschinen  fest;  heftige  Entzündungen  und  starke  Anschwellungen 
waren  die  Folgen;  die  Metliode  wollte  keinen  allgemeinen  Anklang 
finden.  Bouvier  und  Dieffenbach  waren  fast  die  Einzigen,  welche 
sie  von  Zeit  zu  Zeit  übten;  andere  Chirurgen  zogen  vor,  diese  Patienten 
als  unheilbar  zu  betrachten,  oder  sie  den  Orthopäden  zur  allmähligen 
Streckung  zuzuschicken,  oder  falls  die  Patienten  arme  Teufel  waren,  das 
Glied  zu  amputiren,  damit  sie  mit  einem  Stelzfuss  sicherer  umhergehen 
konnten.  So  stand  die  Sache,  als  B.  v.  Langenbeck  1846  die  ersten 
Versuche  machte,  unter  Anwendung  einer  tiefen  Chloroformnarkose  die 
Anchylose,  zunächst  des  Kniegelenks,  zu  strecken;  es  ergab  sich  dabei 
das  höchst  interessante  damals  ganz  neue  Factum,  dass  die  contrahirten 
Muskeln  bei  dieser  Narkose  völlig  lax  und  nachgiebig  werden  und  sich 
wie  Gummi  ausdehnen  lassen;  hierdurch  wurden  Tenotomien  und  Myo- 
tomien für  diese  Operation  unnöthig.  Da  die  Operation  durch  die  Chlo- 
roformnarkose schmerzlos  wurde,  so  konnte  mau  sie  verhältnissmässig 
langsam  und  vorsichtig  und  ganz  allein  mit  Händekraft  ausführen.  Die 
Erfolge  waren  so  ausserordentlich  günstige,  dass  diese  Methode,  die  in 
ihrer  neuen  Form  kaum  noch  den  etwas  brutalen  Namen  „brisement 
force"  verdient,  bald  allgemein  verbreitet  wurde  und  eine  Zeit  lang  die 
allmählige  Streckung  durch  Maschinen  und  Gewichtsextension  vielleicht 
zu  sehr  verdrängt  hat.  Die  Methode  der  Operation,  die  Indicationen 
dazu,  die  Vorsichtsmaassregeln ,  die  Nachbehandlung  wurden  durch 
B.  V.  Langenbeck  selbst  nach  und  nach  so  ausgebildet,  dass  diese 
Operation  als  eine  der  sichersten  und  einfachsten  angesehen  werden  darf. 
Damit  Sie,  durch  den  Namen  „brisement  force"  verleitet,  sich  keine  zu 
grässliche  Vorstellung  von  dieser  Operation  machen,  will  ich  Ihnen  die 
Streckung  eines  im  rechten  Winkel  gebogenen  Kniees  beschreiben:  der 
Kranke  liegt  anfangs  auf  dem  Rücken  und  wird  nacli  und  nach  so  tief 
chloroformirt,  dass  alle  Muskeln  schlaff  sind  und  keine  Spur  von  Reflex- 
bewegungen auftritt;  ist  dieser  Zustand  eingetreten,  so  wird  der  Patient 
auf  den  Bauch  gelegt;  ein  Gehülfe  hält  den  Kopf,  ein  anderer  legt 
seinen  Arm  unter  die  Brust  des  Patienten,  um  so  das  Athmeu  zu  er- 
leichtern. Puls  und  Respiration  werden  genau  beobachtet,  da  die  Opera- 
tion sofort  unterbrochen  werden  muss,  sowie  bedenkliche  Erscheinungen 
durch  die  tiefe  Narkose  auftreten.  Der  Kranke  wird  in  der  Bauchlage 
so  weit  an  das  untere  Ende  des  Operationstisches  gezogen,  dass  das 
Knie  auf  den  Rand  des  Tisches  zu  liegen  kommt;  auf  dem  Operations- 


ViirlcsiiM!.;;   K).      l 'iiinlrl    Will.  Ol  1 

tisch  iiiuss  ein  fest  g'cpolstcrtcs  liossliaarkisscu  hcrcstigi  sein,  .letzt 
stutzt  sicli  ein  (Jeliiilfc  mit  l)ei(lcii  Münden  mit  g-anzcr  Kraft  auf  den 
Oberselienkel,  der  Operateur  stellt  an  der  Ansscnscite  dos  linken  (ancliy- 
losirten)  Kniees,  leg't  seine  linke  Hand  in  die  Fossa  poplitea,  so  dnss  sie 
den  Oberselienkel  lierunterdriiekt,  die  rechte  setzt  er  auf  die  hintere 
Seite  des  Unterschenkels,  der  hinteren  Fläche  der  Tibiacondylcn  ent- 
sprechend, also  dicht  oberhalb  der  Wade,  und  mit  dieser  rechten  Hand 
drückt  er  nun  den  aufwärts  g-erichteten  Unterschenkel  herab.  Ist  die 
Anchylose  noch  frisch,  nicht  zu  fest,  so  wird  unter  einem  hörbaren  wei- 
chen Krachen  und  Reissen  der  Unters(dienkel  allmählig  nachgelicn  und 
nach  und  nach  in  ganz  grader  Stellung  angelangt  sein.  —  Gelingt  die 
Streckung  niclit  so  leicht,  so  setzt  der  Operateur  seine  Hand  etwas 
tiefer  am  Unterschenkel  au,  etwa  an  der  Wade  oder  dicht  unterhalb 
derselben;  hier  darf  aber  keine  so  grosse  Gewalt  angewandt  werden, 
als  an  der  früheren  Stelle,  w^eil  auf  diese  Art,  zumal  bei  einer  gewissen 
Weichheit  des  Knochens,  die  Tibia  leicht  unterhalb  der  Condylen  brechen 
könnte;  die  Kraft  muss  hier  mehr  ziehend,  exteudirend  wirken.  • — 
Kommt  man  auf  die  eben  beschriebene  Weise  auch  nicht  weiter,  so  ver- 
sucht man  zunächst  die  Adhäsionen  im  Gelenk  durch  eine  stärkere 
Flexion  zu  sprengen:  man  fasst  den  Unterschenkel  von  vorn  und  sucht 
ihn  langsam,  doch  unter  gleichmässigem ,  stetigem  Druck  zu  flectiren, 
hierbei  reissen  zuweilen  die  Adhäsionen  leichter,  als  bei  der  Streck- 
bewegung: sind  nur  erst  einige  Adhäsionen  gesprengt,  dann  geht  es  ge- 
wöhnlich leicht  auch  mit  der  Extension,  Alles  leidenschaftliche  Euckeu 
und  Stossen  ist  entschieden  schädlich  und  führt  auch  fast  nie  zum  Ziel. 
—  Ist  man  endlich  mit  der  Streckung  so  weit  gekommen,  wie  man  es 
für  den  einmaligen  Operationsact  für  zweckmässig  erachtet,  oder  ist  der 
Unterschenkel  wirklich  vollkommen  gestreckt,  so  kehrt  man  den  Pa- 
tienten wieder  auf  den  Eücken  um,  lässt  den  Oberschenkel  durch  Ge- 
httlfen  mittelst  Hu  et  er 'scher  Bindenzügel  stark  herunterdrücken,  den 
Unterschenkel  am  Fuss  stark  extendiren,  und  legt  nun  vom  Fuss  bis  1 
Zoll  weit  vom  Perinäum  einen  starken  Gypsverband  an,  nachdem  man 
zuvor  um  das  Knie,  an  den  Enden  des  Gypsverbandes  (unten  und  oben, 
wo  der  stärkste  Druck  später  Statt  finden  wird),  dicke  Lagen  Watte 
umgelegt  hat.  Weil  aber  der  Gypsverband  doch  nicht  immer  so  schnell 
erhärtet,  wie  der  Patient  aus  der  Narkose  erwacht,  bindet  man  über 
den  Gypsverband  an  der  Flexionsseite  eine  ol)en  und  unten  stark  ge- 
polsterte feste  Hohlschieue  mit  einigen  Bindetouren  fest,  damit  sich  das 
Knie  nicht  wieder  zusammenzieht;  diese  Hohlschiene  muss  nach  3 — 4 
Stunden  wieder  entfernt  werden;  dann  ist  der  Verband  fest  genug-,  um 
den  sich  contrahirenden  Muskeln  Widerstand  zu  leisten.  —  Die  Schmer- 
zen, welche  der  Patient,  nachdem  er  aus  der  Narkose  erwacht  ist,  im 
Gelenk  empfindet,  sind  nicht  immer  sehr  heftig,  oft  im  Verhältniss  zu 
der  aufgewandten  Kraft  auffallend  gering.     Der  Fuss  schwillt  zuweilen 

39* 


ß|2  Von  den  Anchylosen. 

etwas  ödematös  an,  wenn  man  ihn  nicht  recht  eingewickelt  hat;  ist  dies 
aber  der  Fall,  oder  geschieht  es  gleich  nach  der  Operation,  so  erfolgt 
daraus  keine  weitere  Beschwerde.  Sollten  die  Schmerzen  gleich  nach 
der  Operation  sehr  heftig  sein,  so  legt  man  über  den  Gypsverband  eine 
Eisblase  und  macht  eine  subcutane  Morphiuminjection.  Kach  8 — 10 
Tagen  kann  man  dem  Wunsch  des  Patienten,  mit  dem  Verband  aufzu- 
stehen und  mit  Krücken  oder  Stöcken  umherzugehen,  nachgeben.  Kach 
8—12  Wochen  ist  die  Anchylose  in  der  neuen  Stellung  geheilt;  der  Pa- 
tient hat  mittlerweile  seine  Krücken  fortgeworfen  und  geht  mit  einem 
Stock,  vielleicht  schon  ganz  frei  ohne  Alles,  wenn  auch  mit  steifem,  doch 
gradem  Knie;  jetzt  kann  der  Verband  abgenommen  und  der  Patient  als 
geheilt  betrachtet  werden. 

Bei  dem  geschilderten  Fall  haben  wir  angenommen,  dass  eine 
Operation  genüge,  die  vollständige  Streckung  des  Kniees  zu  erreichen. 
Dies  ist  jedoch  nicht  immer  der  Fall,  sehr  häufig  darf  man  bei  der  ersten 
Operation  nicht  so  weit  gehen,  wenn  man  nicht  riskiren  will,  starke  und 
folgenschwere  Verletzungen  zu  machen.  Welche  Umstände  können  uns 
denn  hindern,  die  Operation  gleich  in  einer  Session  zu  vollenden?  Be- 
sonders sind  es  ausgedehnte  Karben  der  Haut,  die  zur  äussersten  Vor- 
sicht mahnen ;  zumal  Narben  in  der  Kniekehle  sind  oft  sehr  schwer  und 
nur  allmählig  zu  dehnen,  sie  würden  reissen,  wenn  man  die  Extension 
forciren  wollte.  Die  Narben  liegen  zuweilen  auch  wohl  um  die  grösseren 
Gefäss-  und  Nervenstämme,  deren  Scheiden  mit  in  die  frühere  Ulceration 
hineingezogen  sein  können,  und  eine  Zerreissung  dieser  Theile  würde 
eine  sehr  bedeutende,  vielleicht  lebensgefährliche  Complicatioii  sein. 
Nach  jeder  Narbenzerreissung  kann  Eiterung,  selbst  Verjauchung  folgen; 
und  man  darf  daher  die  Narben  der  Haut  nie  bis  aufs  Aeusserste,  bis 
zur  Zerreissung  spannen.  Ist  man  mit  der  Streckung  auf  dem  Punkt 
angekommen,  wo  die  Narben  sehr  gespannt  sind,  so  muss  man  einhalten, 
legt  jetzt  den  Verband  an  und  wiederholt  in  4 — 5  Wochen  die  Ope- 
ration, und  so  fort,  bis  man  die  Streckung  erreicht  hat.  —  Ein  fernerer 
Umstand,  der  zur  Vorsicht  auffordert,  ist  die  fehlerhafte  Stellung  der 
Tibia,  welche  im  Verlauf  der  Kniecaries  entstanden  sein  kann,  zumal 
die  Neigung  der  Tibia  zur  Luxation  nach  hinten;  es  ist  unter  allen  Um- 
ständen schwer,  zuweilen  unmöglich,  diese  Stellung  der  Tibia  zu  besei- 
tigen, doch  geht  es  noch  am  besten,  wenn  man  die  Streckungen  sehr 
allmählig  macht;  eine  forcirte  Streckung  würde  in  solchen  Fällen  die 
völlige  Luxation  nach  hinten  zur  Folge  haben:  dann  ist  eine  vollstän- 
dige Graderichtuug  überhaupt  nicht  möglich.  —  Sie  müssen  nun  nicht 
erwarten,  dass  diese  Kniee,  wenn  sie  auch  ganz  gerade  gestreckt  sind, 
die  normale,  schöne  Form  wieder  bekommen;  das  ist  niemals  der  Fall. 
Auch  kann  sich  nach  vollendeter  vollkommen  gelungener  Gradrichtuug 
ergeben,  dass  das  Bein  etwas  zu  kurz  ist,  tN^eil  es  vom  Beginn  der 
Krankheit  an   etwas  im  Wachsthum   zurückblieb.     Doch  da   wir  nicht, 


Voii.'siitiK  to.   Ciipii.'i  xvm.  r;i3 

wie  die  Seliolteu,  mit  nackten  Kniecn  zu  gelten  bnuiclien,  so  l<(»niiiil  es 
nicht  so  sehr  auf  die  Form  an,  wenn  dns  Knie  iini-  i^rade  ist  uiul  Fcstj^-- 
keit  genug-  zum  Gelien  l)ietet.  —  Weunglcicli  die  mil  Tiimor  nllnis  he- 
iiaf'teten  Gelenke  fast  zu  allen  Zeiten,  seihst  woiii  Fistehi  vorhanden 
sind,  in  die  für  den  Gebrauch  passendste  Stclhing  gohrncht  werden 
können,  und  in  einen  geschlossenen  oder  Kapselvcrhand  zu  hringeii  sind, 
so  dürfte  doch  die  Zeit,  wo  eben  die  Fisteln  geschhtssen  uiul  die  Narben 
frisch,  dick  und  ])riichig  sind,  am  ungünstigsten  für  die  Streckung  sein, 
weil  in  dieser  Zeit  Hautnarl)cnzcrreissungen  und  neue  Eiterungen  am 
ehesten  zu  erwarten  sind.  In  solchen  Fällen  mache  ich  jetzt  nie  mehr 
einseitige  Streckungen  in  der  Cldoroformnarkose,  sondern  weiule  da  immer 
Gewichtsextension  an.  — 

Was  hier  in  Betreff  Graderichtung  der  Kniegelcnkanchylosen  gesagt 
ist,  lässt  sich  auch  ohne  Weiteres  auf  Hüfte  und  Fuss  übertragen.  Die 
Anchylosen  der  Schulter  und  des  Ellenbogens  haben  eine  ganz  andere 
functiouelle  Bedeutung;  bei  ihnen  handelt  es  sich  meistens  um  die 
Wiederherstellung  der  Beweglichkeit,  und  diese  ist  durch  die  Anchy- 
losenzerreissung  nüt  nachfolgendem  Gypsverband  nicht  zu  erreichen. 

Will  man  nach  der  Streckung  des  Kniees  bei  wenigen  Verwachsungen 
und  leidlicher  Gesundheit  des  Gelenks  den  Versuch  machen,  eine  Be- 
weglichkeit zu  erzielen,  so  darf  man  natürlich  nach  der  Operation  keinen 
Gypsverband  anlegen  oder  einen  solchen  wenigstens  nicht  lange  liegen 
lassen,  sondern  muss  Maschinen  appliciren,  mit  welclien  man  einige  Zeit 
nach  der  Streckung  Bewegungen  anstellt  oder  die  Bewegungen  mit  den 
Händen  machen.  Ich  will  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  es  Fälle  giebt, 
in  welchen  man  auf  diese  Weise  in  der  That  eine  leidliche  Beweglichkeit 
erreicht;  sie  sind  aber  selten,  und  es  sind  Fälle,  in  welchen  entweder 
nach  Gelenkfracturen  oder  nach  kurz  vorübergehenden  Gelenkentzündungen 
eine  Steifigkeit  zurttckblieb ;  ich  möchte  fast  glauben,  dass  in  den  ersteren 
dieser  Fälle  sich  die  Beweglichkeit  im  Lauf  der  Zeit  auch  von  selbst 
durch  den  täglichen  Gebrauch  hergestellt  hätte;  nach  rheumatischen  und 
puerperalen  Gelenkentzündungen  ist  es  allerdings  sehr  wichtig,  dass  die 
oft  ausgedehnten,  doch  anfangs  nicht  sehr  festen  Verwachsungen  zumal 
der  Synovialsäcke  rechtzeitig  nach  Ablauf  der  Entzündung  gelöst  werden, 
denn  später  werden  nicht  nur  die  Vei-wachsungen  immer  fester,  sondern 
auch  die  schrumpfenden  Kapselbänder  werden  weniger  nachgiebig  und 
der  Knorpel  wird  atrophisch,  degenerirt  zu  Bindegewebe  und  verknöchert. 
Man  mache  sich  im  Allgemeinen  keine  zu  günstigen  Illusionen  über  das 
durch  die  Anchylosenstreckungen  Erreichbare;  es  ist  in  der  That  schon 
ein  grosser  Triumph  der  älteren  Chirurgie  gegenüber,  dass  wir  jetzt 
die  Anchylosen  fast  ganz  aus  den  Indicationen  für  die  Amputation 
streichen  können,  womit  jedoch  der  Weg  zu  weiteren  Ausbildungen  der 
neuen  Methode,  zur  Erreichung  noch  besserer  Resultate  keineswegs 
versperrt  ist. 


Q\4:  ^on  den  Anchylosen. 

Bei  Ancliyloseii ,  welche  noch  einen  g-ewissen  Grad  von  Beweglich- 
keit des  Gelenkes  zulassen,  kann  man  immer  zuerst  die  Streckung-  mit 
Gewichtsextension  und  Maschinen  versuchen.  Es  ist  kein  Zweifel,  dass 
durch  die  verbesserte  Technik  dieser  Methoden  das  Terrain  der  forcirten 
Streckung-  in  neuerer  Zeit  wieder  etwas  eingeengter  geworden  ist. 

Es  g-iebt  Fälle,  wo  die  meckanischen  Verhältnisse  des  Gelenks  der 
Art  sind,  dass  die  Gelenkenden  überhaupt  nicht  mehr  in  eine  andere 
Stellung-  g-ebracht  werden  können.  Icli  habe  Ihnen  schon  früher  das 
Präparat  eines  Ellenbogengelenks  als  Beispiel  angeführt;  es  liegt  z.  B. 
eine  Arthritis  deformans  vor,  die  Gruben  am  unteren  Ende  des  Humerus 
oberhalb  der  Trochlea  sind  mit  neugebildeter  Knochenmasse  angefüllt; 
hier  ist  es  unmöglich,  die  Ulna  zu  bewegen,  weder  vorwärts  noch  rück- 
wärts; ähnliche  Verhältnisse  kommen  gerade  bei  Arthritis  deformans 
auch  an  anderen  Gelenken  vor ;  die  Anchylosen,  welche  dabei  entstehen 
sind  daher  eben  so  wenig  als  bei  Gelenkdifformitäteu  nach  wahrer 
Arthritis  beweglich  zu  machen;  beide  Krankheiten  werden  daher  meist 
Contraindicationeu  für  die  Anchylosenstreckungen  sein.  —  Endlicli  kann 
aber,  wie  früher  erwähnt,  die  Verwachsung  der  Gelenkenden  eine 
knöcherne  sein,  es  kann  eine  Anchylosis  ossea  vorliegen;  nur  selten, 
und  zwar  nur  bei  einzelnen  verknöcherten  Brücken  wird  es  möglich  sein, 
solche  Anchylosen  zu  sprengen,  in  den  meisten  dieser  Fälle  wird  die 
Anchylose  unverrückbar  fest  stehen.  Was  ist  hierbei  zu  thun?  Man 
kann  auf  zweierlei  Weise  die  Stellung  eines  solchen  Gelenks  verändern: 
nämlich  durch  Einknickung  des  Knochens  ober-  oder  unterhalb  des  an- 
chylosirten  Gelenks,  oder  durch  Aussägung  eines  Stückes  aus  dem  Gelenk 
oder  aus  dem  Knochen.  —  Was  das  erstere  betrifft,  so  würde  mancher 
Chirurg  die  Achsel  zucken,  wenn  man  es  zur  Methode  erheben  wollte, 
und  doch  ist  diese  Einknickung  des  Knochens,  selbst  die  vollständige 
Fractur,  z.  B.  des  äusseren  oder  inneren  Condylus  femoris  bei  Knie- 
gelenkstreckung oft  unabsichtlich  gemacht  und  meist  gut  abgelaufen.  Mir 
ist  es  mehre  Mal  bei  Streckung  der  Kniegelenkanchylosen,  einmal  bei 
Streckung  einer  Plüftanchylose  begegnet,  dass  ich  eine  Infraction  oder 
vollständige  Fractur  des  Knochens  machte,  ohne  es  zu  wollen;  das  Gelenk 
selbst  blieb  stehen  wie  zuvor,  doch  am  Knie  oberhalb,  am  Hüftgelenk 
unterhalb  desselben  knickte  der  Knochen  ein  bis  zu  einem  Winkel,  welcher 
den  Winkel  der  Geienkstellung  compensirte,  und  die  Graderichtung  war 
factisch  erreicht,  wenn  auch  nicht  durch  Sprengung  der  Anchylose.  In 
allen  Fällen  legte  ich  sofort  den  Gypsverband  an,  der  Verlauf  war  wie 
bei  jeder  einfachen  subcutanen  Fractur,  die  Schmerzen  noch  geringer 
wie  nach  Anchylosensprengungen  und  der  Schlusserfolg  vollkommen  be- 
friedigend. —  Ich  sehe  nun  gar  nicht  ein,  warum  man  diese  Art,  die 
unmögliche  Anchyioseustreckung  durch  Infraction  des  Knochens  erfolg- 
reich zu  umgehen,  verwerfen  sollte,  und  Avüi-de  dieselbe,  wo  sie  leicht 
ohne  bedeutende  Gewalt,  allmählich  ohne  starken  Ruck  vor  sich  geht, 


Vorlcsimo- 40.     (.'apilcl  XVIIL  f;]5 

entschieden  jeder  Gelenkresection  im  Kiii(;  und  lliil'lc^  vor/Jchcn :  i«  li  l»iii 
sog-ar  der  Ansicht,  dass  man  stets  vcrsuclien  sollte,  mindestens  die  Knie- 
g-elenki-esection ,  man  mag-  sie  nun  ausfülircn,  wie  man  will,  durcli  die 
Infraction  des  Obersclienkels  zu  umgehen,  falls  dieselbe  sich  leicht  aus- 
führen lässt;  bei  anderen  Gelenken  ist  natürlich  die  Kescction  aus  ver- 
schiedenen Gründen  A'orzuziehen. 

Es  g'iebt  drei  verschiedene  Arten,  hei  knöch(M-uen  Anchvloseu  zu 
reseciren : 

1.  Nach  lihea  Barton  (die  Methode  ist  l(S2r)  veröfl'entliclit) :  man 
schneidet  bei  winkliger  Kniegelenkanchylose  nach  vorgängigem  ^\'ei(•Il- 
theilschnitt  mit  der  Säg-e  ein  Stück  aus  dem  Oberschenkel  dicht  obcili;iII) 
des  Gelenks,  und  zwar  ein  dreieckiges  Stück,  dessen  Basis  nach  oben 
liegt,  und  dessen  nach  unten  liegender  Winkel  sich  mit  dem  Winkel  der 
Auchylose  zu  einem  graden  compensiren  muss  (man  könnte  übrigens 
dies  Stück  auch  aus  dem  anchylosirteu  Gelenk  selbst  ausschneiden)- 
dann  wird  der  Schenkel  gerade  gerichtet,  das  Gelenk  bleibt  intact,  die 
Krümmung  wird  in  den  Oberschenkel  verlegt,  wie  bei  der  Infraction. 
Diese  Operation  ist  mehrfach  mit  gutem  Erfolg  ausgeführt  bei  Hüft-  und 
Kniegelenkanchylosen. 

2.  Man  macht  die  subcutane  Osteotomie  durch  das  anchylosirte 
Gelenk  nach  B.  v.  Langenbeck;  dies  Verfahren,  welches  wir  früher  bei 
den  schief  geheilten  Fracturen  und  Rhachitis  (siehe  pag.  245  u.  551)  als  sehr 
brauchbar  kennen  gelernt  haben,  ist  für  die  knöchernen  Auchyloseu  ))is 
jetzt  wenig  angewandt,  und  deshalb  kann  man  darüber  noch  kein  Urtheil 
fällen.  In  modificirter  Form  hat  sie  Gross  mit  sehr  günstigen  Erfolgen 
ausgeführt;  er  durchbohrt  die  Anchylosen  mehrfach  quer  und  trennt  die 
Verwachsungen  mit  feinen  Meissein. 

3.  Die  totale  Resection  des  Gelenks.  Ich  habe  schon  oben 
meine  Bedenken  über  die  Zulässigkeit  der  Resection  bei  Auchyloseu 
des  Knie-  und  Hüftgelenks  geäussert  und  würde  dieselbe  nur  als  ultimum 
remedium  und  valde  anceps  betrachten;  früher  empfahl  man  die  Resection 
sehr  dringend  zur  Beseitigung  einer  Anchylose  im  Ellenbogengelenk:  hier 
kann  man  allerdings  durch  die  totale  Resection  für  das  anchylosirte  Ge- 
lenk ein  bewegliches,  zuweilen  auch  ziemlich  brauchbares  Pseudogeleuk 
eintauschen,  wenn  Alles  gut  abläuft;  das  ist  es  aber,  worauf  es  an- 
kommt und  worüber  wir  nicht  immer  Herr  sind!  Wer  wird  sein  Leben 
für  ein  steifes  Ellenbogengelenk  aufs  Spiel  setzen  wollen?  Die  Resultate 
sind  gerade  nach  Resectionen  wegen  Anchylosen  im  Ellenbogengelenk 
nicht  immer  gut  gewesen,  weder  für  die  Beweglichkeit  noch  quoad  vitam, 
wenn  auch  einzelne  Fälle  eine  gewisse  Zeit  hindurch  sehr  brillant  in 
ihrem  Erfolge  erschienen.  Man  wird  daher  die  Resectionen  auch  hier  nicht 
übertreiben  dürfen.  —  Was  die  Schulter  betrifft,  so  liegen  hier  ganz 
eigenthümliche  Verhältnisse  vor;  die  Erfahrung  lehrt  nämlich,  dass  Leute 
mit  steifer  Schulter  durch  consequente  Uebung  ihr  Schulterblatt  so  be- 


616     Ueber  die  angebornen,  myo-   und  nem-opathischen  Gelenkverki-iimmiingen  etc. 

weglicli  machen  können,  class  die  Steifheit  im  Schultergelenk  verhältniss- 
mässig  wenig-  g-enirt,  und  da  wäre  es  doch  Thorheit,  in  solchen  Fällen 
zu  operiren.  —  Die  Kranken  mit  Caries  des  Handgelenks  sind  gewöhn- 
lich so  froh,  wenn  die  Krankheit  nach  vielen  Jahren  endlich  ausheilt, 
dass  sie  sich  nicht  über  ihre  steife  Hand  beklagen,  doch  sind  erfolgreiche 
Eesectiouen  anchvlosirter  Handgelenke  in  neuerer  Zeit  gemacht  worden; 
über  die  Endresultate  solcher  Operationen  ist  freilich  noch  wenig  be- 
kannt. —  Was  den  Fuss  betrifft,  so  wird  hier  von  Eesection  bei  An- 
chylose  in  schlechter  Stellung  nicht  die  Eede  sein;  gewöhnlich  ist  Defect 
der  Fusswurzelknochen  die  Hauptursache  von  Fussverkrümmungen  nach 
Gelenkentzündungen.  Es  wird  von  der  Art  des  einzelnen  Falles  ab- 
hängen, ob  der  Fuss  zum  Gehen  brauchbar  ist,  ob  eine  Graderichtung 
in  zweckmässige  Stellung  möglieh  und  erfolgreich  sein  kann,  oder  ob 
ein  guter,  sicherer  Amputationsstumpf  vorzuziehen  ist. 


Vorlesung    4  1. 
CAPITEL  XIX. 

Ueber  die  angebornen,  myo-  und  neuro])atl]is(3lien  Gelenk^ 
verkrüinnmogeii  so  wie  über  die  Narbencontracturen. 

Loxarthrosen*). 

I.  Deformitäten  embryonalen  Ursprungs,  bewirkt  durch  Entwicklungsstörungen  der  Ge- 
lenke. IL  Deformitäten  nur  bei  Kindern  und  jugendlichen  Individuen  entstehend,  bedingt 
durch  Wachsthumsstörungen  der  Gelenke.  III.  Deformitäten,  welche  Ton  Contocturen 
oder  Lähmung  einzelner  Muskeln  oder  Muskelgruppen  abhängen.  IV.  Bewegungsbeschrän- 
kungen in  den  Gelenken,  bedingt  durch  Schrumpfung  von  Fascien  und  Bändern!  V.  Nar- 
bencontracturen. -  Therapie:  Dehnung  mit  Maschinen.  Streckung  in  der  Narkose. 
Compression.  Tenotomien  und  Myotomien.  Durchschneidung  von  Fascien  und  Gelenk- 
bändern.    Gymnastik.     Elektricität.     Künstliche  Muskeln.     Stützapparate. 

Meine  Herren! 
Wir  haben  heute  über  diejenigen  Deformitäten  zu  sprechen,  welche 
nicht  grade  immer  in  primären  Erkrankungen  der  Gelenke  ihren  Grund 
haben,  doch  aber  zu  abnormen  mechanischen  Verhältnissen  der  Gelenke 
führen,  sei  es  dass  die  Gelenkflächen  aus  verschiedenen  Gründen  abnorme 
Formen  annehmen,  sei  es  dass  bei  normaler  Form  die  Beweg-uuo-en  nach 
«iner  oder  mehren  Richtungen  gehemmt  werden  durch  Hindernisse,  welche 
m  abno]-men  Zuständen  der  Muskeln,  Fascien,  Sehnen  und  Haut  bedingt 
sind.  Es  handelt  sich  da  meist  um  Steifheiten,  Verkrümmungen,  Be- 
wegungsbeschränkungen  in  den  Gelenken,  welche  ausserhalb  des  Synovial- 

==•)  Loxarthrosis  von  Xo^og  schief,  (iQOoov  Glied,  Gelenk. 


saekes  lieg'CMi.  Tcli  ibli;c  in  dicscni  Abscliiiill;  vorvvie;>-cnd  der  Eintliciluiif;- 
Volkniann's,  dessen  vortrefriiclic  Arheit  über  diesen  Ge^-enstand  in 
der  von  v.  Pitlia  und  mir  lierausg'eg-el)cnen  riiirnri^ie  ich  Ihnen  nichl 
i;enug-  zum  Studium  cmpfclilcn  kann. 

1.    Deformitäten  embryonalen  Ursprungs,  bedingt  dnich   i^nt- 
wicklung-sstörungen  der  Gelenke. 

Diese  Verkrümmungen  sind  innner  angeboren;  sie  konnnen  bei  weitem 
am  häufigsten  am  Fuss  vor  und  zwar  besonders  oft  in  Form  des  soge- 
nannten „Klumpfusses,  Fes  varus  s.  equino-varus".  Wenngleich 
man  jede  Fussverkriimnuing- ,  bei  welcher  der  Fuss  zu  einem  „Klunii)" 
zusammengezog-en  ist,  als  Klumpfuss  bezeichnen  kann  und  früher  be- 
zeichnet hat,  so  versteht  man  darunter  jetzt  doch  nur  diejenige  Form- 
veränderung des  Fusses,  bei  welcher  der  innere  Fussrand  erhoben  ist; 
der  Fuss  steht  dabei  gewöhnlich  auch  etwas  in  Plantarflexion,  und  lässt 
sich  bei  Kindern  entweder  gar  nicht  oder  nur  mit  grosser  Mühe  unvoll- 
kommen mit  den  Händen  in  die  normale  Stellung  bringen.  Lernen  die 
mit  solchen  Füssen  (meist  ist  diese  Missbildung  doppelseitig)  gebornen 
Individuen  gehen,  so  treten  sie  mit  dem  äusseren  Fussrand  auf;  dieser 
rollt  sich  nach  und  nach  immer  Aveiter  nach  einwärts,  wird  platt,  die 
Fusssohle  zieht  sich  zusammen,  der  mittlere  und  vordere  Theil  des  Fusses 
bleibt  im  Wachsthum  zurück,  die  Gelenke  werden  anchylotisch  und  die 
Füsse  werden  so  in  der  That  zu  einem  unförmlichen  Klumpen;  der 
äussere  Theil  des  Fussrückens  wird  zur  Gehfläche,  es  bildet  sich  da  eine 
dicke  Schwiele,  unter  derselben  ein  Schleimbeutel;  da  der  Fuss  gar  nicht 
bewegt  wird,  atrophiren  die  Muskeln  des  Unterschenkels,  so  dass  fast 
nur  Knochen  und  Haut  übrigbleiben:  so  entsteht  die  Aehnlichkcit  mit 
dem  Pferdefuss.  Man  hat  verschiedene  Grade  des  Klumpfusses  unter- 
schieden, ausgehend  von  der  noch  unbedeutenden  Deformität  unmittelbar 
nach  der  Geburt  als  erster  Grad  bis  zu  der  eben  geschilderten  Miss- 
gestalt. Es  ist  dazu  zu  bemerken,  dass  die  höheren  Grade  des  Klump- 
fusses nur  durch  das  Gehen  entstehen;  würde  ein  solches  Individuum 
gar  nicht  auf  den  Füssen  auftreten,  so  würde  sich  die  angeborne  Stellung 
derselben  wahrscheinlich  nur  wenig  oder  gar  nicht  ändern. 

Ueber  die  Ursachen  der  angebornen  Klumpfussbildung  hat  man 
sich  die  verschiedenartigsten  Vorstellungen  gemaclit.  Die  typische  fast 
immer  gleiche  Form  dieser  angebornen  Verkrümmung  scheint  von  vorn- 
herein darauf  hinzuweisen,  dass  es  sich  um  die  Störung  eines  typischen 
Entwicklungsactes  der  unteren  Extremitäten  handelt;  denn  wenn  foetale 
Krankheiten,  Störungen  irritativer  Natur,  abnorme  Druckverhältnisse  im 
Uterus  die  Schuld  trügen,  dann  würden  sich  doch  wohl  Differenzen  der 
Fälle  untereinander  zeigen,  wie  wir  solche  später  noch  kennen  lernen 
werden.  Mir  scheint  daher  folgendes  in  neuester  Zeit  Erforschte  von 
höchster  Bedeutung   für  die  Entstehung    der  in    Rede   stehenden  Miss- 


618     Ueber  die  angebornen.  niyo-  und  neuropathischen  Gelenkverkrüminimgen  etc. 

bilclimg-  zu  sein.  Escliriclit  liat  gezeigt,  class  die  imteren  Extremitäten 
im  Beginn  ihrer  Entwicklung  der  Art  an  der  Bauclifläelie  des  Embryo 
hinaufwachsen,  dass  ihre  Ettckseiten,  also  die  Kniekehlen  dem  Bauch 
zugewandt  sind;  noch  im  Lauf  früher  Entwicklungsmonate  müssen  die 
Beine  eine  Achsendrehung  machen,  so  dass  die  anfangs  nach  rückwärts 
stehenden  Füsse  sich  nach  vorn  drehen.  Liegen  die  Extremitätenaus- 
wüchse so  nahe,  dass  sie  unter  gemeinschaftlicher  Hautdecke  zu  einer 
Exti-emität  verschmolzen  erscheinen,  oder  wirklich  verschmelzen,  so  kann 
die  erwähnte  Achsendrehung  nicht  erfolgen  und  bei  solchen  Missbildungen 
(Sirenen),  sind  dann  die  Füsse  ganz  nach  rückwärts  gerichtet.  Diese 
typische  unter  den  eben  erwähnten  Verhältnissen  gehemmte,  sonst  aber 
sich  immer  regelmässig  vollziehende  Achsendrehung  steht  höchst  wahr- 
scheinlich der  Art  in  Verbindung  mit  dem  angebornen  Klumpfuss,  dass 
bei  diesem  die  Achsendrehung  im  Fusstheil  der  Extremität  nicht  ganz 
zur  Vollendung  kommt.  Der  angeborne  Klumpfuss  würde  danach  in 
die  Klasse  der  Hemmungsbildungen  gehören;  über  die  Gründe  dieser 
Hemmungsbildung  vermögen  wir  bis  jetzt  freilich  ebenso  wenig  auszu- 
sagen als  über  andere  Missbildungen  dieser  Kategorie.  Als  eine  Con- 
sequenz  der  fehlerhaften  Eichtung,  in  welcher  der  Fuss  nun  im  Uterus 
stehen  bleibt,  und  in  welcher  er  weiter  wächst,  sind  die  von  Hueter 
constatirten  abnormen  Formen,  zumal  Schiefheiten  der  Fusswurzelknochen, 
so  wie  die  abnormen  Läugenverhältnisse  der  Muskel  anzusehen,  von  welchen 
letzteren  die  zu  kurze  Bildung  des  M.  gastrocnemius  am  auffallendsten 
und  am  längsten  bekannt  ist.  —  Diese  ganze  auf  genaue  Beobachtungen 
basirte  Erklärung  für  die  Entstehung  des  angebornen  Klumpfusses  ver- 
dient so  sehr  den  Vorzug  vor  allen  anderen  früheren  rein  hypothetischen 
Erklärungsversuchen,  die  meist  von  einer  supponirten  foetalen  Myelitis 
mit  consecutiven  Paralysen  und  Contracturen  ausgingen,  dass  letztere 
kaum  noch  mehr  als  historischen  Werth  beanspruchen  können. 

Einige  andere  angeborne  Verkrümmungen  der  Füsse  sind  nachge- 
wiesener Maassen  von  abnormen  Lagerungen  zumal  abnormen  Druck- 
verhältnissen abhängig.  Volkmann  hat  darüber  höchst  interessante 
Beobachtungen  gesammelt;  diese  Fälle  sind  indess  alle  unter  einander 
etwas  verschieden,  ein  Beweis,  dass  dabei  mancherlei  Zufälligkeiten  ob- 
walten. —  In  noch  anderen  Fällen  sind  grössere  Knochenstücke  gar 
nicht  zur  Entwicklung  gekommen,  z.  B.  das  untere  Ende  der  Tibia  oder 
Fibula,  das  untere  Ende  des  Kadius  oder  der  ganze  Radius  (manus 
vara).  —  An  der  Wirbelsäule  bleiben  zuweilen  einzelne  seitliche  Hälften 
der  Wirbelkörper  im  Wachsthum  zurück,  oder  es  sind  solche  Stücke 
überzählig  eingeschaltet,  was  eine  seitliehe  Verbiegung  der  Wirbelsäule 
(Scoliosis)  zur  Folge  hat;  diese  Fälle  von  angeborner  Scoliose  sind  indess 
ganz  ungemein  selten ;  die  Wiener  Sammlung  besitzt  einige  solche  seltne 
Wirbelsäulen -Exemplare.  —  Endlich  ist  auch  noch  die  in  der  Länge 
mangelhafte   Entwicklung    des    M.   sternocleido-mastoideus   hier   zu    er- 


Vorlesung  -11.      Capitcl  XIX.  Ollj 

wähnen,  die  nicht  so  gar  selten  angeboren  vorkommt,  und  auch  eine 
ziemlieh  typische  Form  darbietet;  die  Wirbclknoclien  sind  dabei,  so  weit 
bekannt,  normal;  über  die  Ursache  dieser  Missbildung-,  die  meist  erst 
nach  Ablauf  einiger  Jahre  auffallend  wird,  weiss  man  niclits ;  die  darüber 
aufgestellten  mir  bekannten  Hypothesen  haben  für  mich  kaum  irgend 
welche  Wahrscheinlichkeit. 

II.  Deformitäten,  nur  bei  Kindern  und  jugcndliclien  Indivi- 
duen   entstehend,    bedingt    durch    Wachsthumsstörungen    der 

Gelenke. 

Alle  Körperhaltungen,  wie  Stehen,  Gehen,  Sitzen  etc.  werden  theils 
durch  die  Formen  der  Gelenke  und  durch  die  sie  zusammenhaltenden 
Bänder,  theils  aber  auch  durch  die  Muskelwirkungen  bedingt.  Wie  be- 
deutend letztere  bei  allen  unseren  Stellungen,  ja  selbst  bei  der  Art  des 
Liegens  mitbetheiligt  sind,  wird  Ihnen  am  leichtesten  klar  werden,  wenn 
Sie  versuchen,  einer  Leiche,  bei  der  die  Muskelstarre  aufgehört  hat,  be- 
stimmte Stellung  zu  geben;  Sie  werden  dann  sehen,  dass  wir  die  natür- 
lichen durch  die  Formen  der  Gelenke  und  Bänder  bedingten  Henmiungen 
selten  benutzen,  sondern  ihnen  meist  durch  Muskelactionen  zuvor  und  zu 
Hülfe  kommen.  Individuen,  deren  Muskel  rasch  ermüden,  sei  es  dass 
letztere  zu  schwach  gebildet,  sei  es  dass  sie  in  Folge  von  Krankheit 
erschöpft,  sei  es  dass  sie  nicht  geübt  sind  oder  aus  Trägheit  nicht  ge- 
braucht werden,  suchen  begreiflicher  Weise  bei  jeder  Stellung,  die  sie 
einnehmen  müssen,  solche  Lagen  für  die  jedesmal  in  Betracht  konnnenden 
Glieder,  bei  denen  die  Muskelthätigkeit  möglichst  unnöthig  wird  und  die 
natürlichen  Hemmungen  eingreifen  können.  Der  articuläre  Druck,  welcher 
durch  die  Muskelwirkungen  stets  gleichmässig  auf  die  ganze  Gelenk- 
fläche vertheilt  erhalten  wird,  erleidet  durch  das  Nachlassen  oder  Auf- 
hören der  Muskelthätigkeit  eine  derartige  Veränderung,  dass  einzelne 
Theile  der  die  Gelenke  constituirenden  Knochenenden  den  Druck  ganz 
allein  zu  tragen  haben.  Diese  abnorme  Belastung  würde  nun,  w^enn  sie 
von  kurzer  Dauer  wäre,  und  wenn  die  Knochen  ihre  vollkommene  Aus- 
bildung und  Festigkeit  erreicht  haben,  keine  w^eiteren  Folgen  haben. 
Doch  wenn  Knochen  ~  die  noch  im  Wachsthum  begriffen  sind,  die  noch 
weich  sind  und  noch  eine  Zeit  laug  weich  bleiben,  bis  ihre  Formen  zur 
höchsten  Vollendung  entwickelt  sind  —  wiederholt  und  in  immer  län- 
gerer Dauer  einem  einseitigen  immer  wieder  auf  den  gleichen  Punkt 
wirkenden  Druck  ausgesetzt  bleiben,  dann  verändert  sich  nach  und  nach 
die  Form  der  Gelenkflächeu  und  der  Gelenkbänder;  auch  die  Knochen 
gerathen  dann  secundär  durch  den  Druck  in  Entzündung  und  in  einen 
pathologischen  Erweichuugszustand,  der  oft  mit  Schmerzen  verbunden 
ist,  und  mit  raschen  Schritten  nehmen  die  in  Folge  der  abnormen  Be- 
lastung eingetretenen  Wachsthumsstörungen  in  den  Gelenkeuden  zu ;  ihnen 
adaptiren  sich  die  Bänder  und  Muskeln,   und   die  an  einem  Theil  des 


620     Ueber  die  angebornen,  myo-  und  neuropathischen  Gelenkverkrümmungen  etc. 

Skelettes  begonnenen  abnormen  statischen  Verhältnisse  wirken  mit  Con- 
sequenz  nach  physikalischen  Gesetzen  auf  die  Form  und  Entwicklung 
des  ganzen  Skelettes.  Als  wichtigste  Beispiele  dieser  Categorie  führe 
ich  Ihnen  die  Scoliose,  das  Genu  valgum  und  den  P es  planus  an. 
Unter  „Scoliosis"  (von  oyioliog  gekrümmt)  versteht  man  den  Zu- 
stand der  Wirbelsäule,  in  welchem  sie  dauernd  auf  eine  Seite  gebogen 
ist,  und  zwar  so  dass  diese  seitlich  gebogene  Stellung  eine  stabile  ge- 
worden ist.  Es  ist  schon  erwähnt,  dass  eine  solche  Stellung  die  Folge 
von  abnormen  Bildungen  der  Wirbelkörper  sein  kann;  sie  kann  ferner 
durch  enorme  Ausdehnung  einer  Brusthälfte  in  Folge  von  pleuritischem 
Exsudat  zu  Stande  kommen,  auch  durch  starkes  Zusammenfallen  einer 
Thoraxhälfte  nach  Kesorption  oder  Entleerung  solcher  Exsudate,  endlich 
auch  durch  Fixirung  des  Beckens  in  schiefer  Stellung,  sei  es  dass  diese 
Beckenschiefheit  durch  scheinbare  oder  reelle  Verkürzungen  eines  Beins 
nach  Gelenk-  und  Knocheukrankheiten  oder  durch  andere  Dinge  bedingt 
sind.  Alle  diese  Verhältnisse  sind  relativ  selten  die  Ursache  der  Sco- 
liosen,  welche  wir  hier  im  Sinne  haben,  und  welche  bei  jungen  Mädchen 
kurze  Zeit  vor  der  Pubertätsentwicklung  aufzutreten  pflegen.  Diese 
Scoliosen  haben  eine  ganz  typische  Form :  in  der  Eegel  ist  der  Lumbal- 
theil  der  Wirbelsäule  convex  nach  links  und  der  obere  Dorsaltheil  convex 
nach  rechts  ausgebogen.  Man  streitet  darüber  ob  die  untere  oder  obere 
Krüminung  zuerst  entsteht,  ob  die  erste  die  primäre  und  die  zweite  die 
secuncläre  (compensatorische)  ist,  oder  umgekehrt;  in  der  Kegel  findet 
man  die  beiden  Krümmungen  von  Anfang  an,  beide  entstehen  wohl 
ziemlich  zu  gleicher  Zeit.  Bleibt  die  fehlerhafte  Stellung  ohne  Be- 
achtung und  ohne  Behandlung  und  steigern  sich  die  ungünstigen  Um- 
stände continuirlich,  so  wird  das  rechte  Schulterblatt  erhoben  (das  erste 
den  Angehörigen  auffallende  Symptom)  und  indem  sich  die  Wirbelkörper 
allmählich  drehen,  erreicht  die  Verkrümmung  immer  höhere  Grade ;  der 
obere  Theil  der  Wirbelsäule  tritt  bucklig  hervor,  die  Kopfhaltung  muss 
sich  dementsprechend  ändern,  der  Brustkorb  wird  verschoben,  kurz  es 
bildet  sich  ganz  und  gar  das  Bild  eines  Buckligen  hervor,  wie  sie  solche 
gewiss  schon  gesehen  haben.  Es  kommt  aus  anatomischen  Gründen, 
die  zumal  von  H.  Meyer  sorgfältig  erörtert  sind,  die  Ausbiegung  der 
Wirbelsäule  nach  hinten  (Kyphosis  von  xvcpog  Buckel)  immer  zu  hohen 
Graden  von  Scoliosis  hinzu,  so  dass  man  diese  Missbildung  auch  wohl 
„Kypho -Scoliose"  nennt.  Die  meisten  älteren  Individuen  mit  Höckern, 
welchen  sie  im  Leben  begegnen,  gehören  in  diese  Kategorie;  die  Kranken 
mit  Caries  der  Wirbelsäule  werden  selten  alt;  den  durch  Caries  bedingten 
sogenannten  Pott'schen  Buckel  sieht  man  daher  fast  nur  bei  Kindern 
und  ganz  jungen  Leuten.  —  Die  Hauptursache  der  Scoliose  ist  Schwäche 
der  Rückenmuskel  oder  Trägheit  im  Gebrauch  derselben;  so  lange  schwäch- 
liche Kinder  ganz  sich  selbst  überlassen  bleiben,  und  liegen,  sitzen, 
gehen,  laufen  können,  wie  sie  wollen  und  so  lange  sie  wollen,  pflegt 


Voi-lcsiinj.;  .11.     ('••ipilcl   XIX.  02 1 

sich  keine  Scoliose  zu  entwickeln;  docli  sowie  man  sie  zwingt,  Stunden 
lang-  Stellungen  cinzunelunen,  die  enniidend  l"lir  ,sie  niiul,  z.  li.  um  zu 
schreiben,  zu  lesen,  Handarbeiten  zu  maclicn,  Klavier  zu  spielen  elc,  su 
werden  sie  sich  bei  allen  diesen  Beschäftigungen  Stellungen  iiussuclicu, 
in  denen  die  Muskeln  zur  Aulrechthaltung  des  Körpers  möglichst  wenig- 
gebraucht  werden,  und  die  natürlichen  llemnumgen  mil  constanten 
Druckpunkten  eing-reifen.  Diese  Stellungen  werden  tlann  zur  Gewohn- 
heit, sie  werden  „habituell".  Wenn  die  Kinder  sitzen,  auch  ohne  etwas 
vorzunehmen,  und  sie  sich  aus  Anstand  nicht  anlehnen  dürfen,  so  stützen 
sie  sich  mit  einer  Hand  auf  den  Sitz;  stehen  sie,  so  lehnen  sie  sich  so 
an,  dass  der  Oberkörper  nicht  gelialten  zu  werden  braucht;  gewöhnlich 
stehen  sie  auf  einem  Bein,  um  das  andere  ausruhen  zu  lassen  etc.  Ist 
einmal  die  Schiefheit  der  Wirbelsäule  Monate  oder  Jahre  stabil  geworden, 
dann  verändert  sich  die  Schwerpunktslage  des  Rumpfes  und  Kopfes  im- 
mer schneller,  die  Verkrümmung  nimmt  in  beschriebener  Weise  i-asch 
zu.  —  Anfangs  sind  wohl  nur  die  Zwischenbandscheiben  einseitig  com- 
primirt,  dann  lockern  sie  sich  auf  der  andern  Seite  auf,  werden  dicker, 
nun  werden  die  Wirbelkörper  einseitig'  comprimirt,  immer  mehr  und 
mehr,  bis  aus  den  Cylindei-n  ein  Keil  geworden  ist.  Diese  Compression 
führt  auch  zuweilen  zu  entzündlichen  Neubildungen,  massigen  Osteophyten- 
auflagerungen,  gelegentlich  auch  zu  Verknöcherungen  der  Bänder. 

Genu  valgum,  Bäckerbein,  Kniebohrer  nennt  man  eine  Defor- 
mität des  Kniegelenks,  bei  welcher  der  Unterschenkel  sich  im  Knie- 
gelenk so  stellt,  dass  er  mit  dem  Oberschenkel  einen  stumpfen  Winkel 
nach  aussen  bildet;  liegen  diese  Individuen  auf  dem  Rücken  und  legen 
die  Innenseite  der  Kniegelenke  aneinander,  so  stehen  die  Füsse  weit 
von  einander;  wollen  sie  die  inuern  Fussränder  zusammen  legen,  so 
müssen  sie  die  Kniee  kreuzen.  Bei  jugendlichen  männlichen  Individuen 
entwickelt  sich  diese  Verkrümmung  am  häufigsten,  wenn  sie  genöthigt 
sind  den  ganzen  Tag  im  Stehen  mit  Oberkörper  und  Armen  kräftige 
Bewegungen  auszuführen  und  dabei  in  den  Kniegelenken  oft  einknicken; 
Bäcker-,  Schlosser-,  Tischler-Lehrlinge  sind  am  meisten  in  Gefahr,  diese 
Verkrümmung  im  Knie  zu  bekommen,  die  bei  höheren  Graden  und 
rascher  Zunahme  sich  auch  mit  lebhaften  Schmerzen  verbinden  kann.  — 
Es  wird  dabei  nach  und  nach  der  Condylus  exteruus  stark  zusammen 
gedrückt,  das  Lig.  laterale  iuternum  wird  stark  ausgedehnt,  das  Lig. 
laterale  externum  schrumpft  zusammen,  der  M.  biceps  verkürzt  sich  auch 
in  der  Folge  etwas,  und  tritt  gespannt  hervor. 

Der  Plattfuss,  Pes  planus  ist  eine  nicht  seltne  Missgestalt  des 
Fusses,  an  welcher  junge  Mädchen  häufiger  als  Knaben  kurz  vor  der 
Pubertätszeit  leiden,  zumal  wenn  sie  genöthigt  sind,  viel  zu  stehen.  Die 
Knochen,  welche  vermöge  ihrer  Form  am  Innern  Fussrand  ein  Gewölbe 
bilden,  senken  sich  dabei  herunter,  so  dass  die  Fusssohle  ganz  platt 
wird,   ja  sogar  etwas  convex   nach  unten  vortreten   kann;    dann  hebt 


622     lieber  die  angehornen,  inyo-  und  neuropathischen  Gelenkverkrümmimgen  etc. 

sich  der  äussere  Fussrand  (pes  valgus)  und  die  Mm.  peronei,  deren  Au- 
satzpunkte genähert  werden,  verkürzen  sich.  Diese  Fussverkrümmung 
ist  ganz  besonders  häufig ;  sie  ist  oft  Folge  von  Genu  valgum,  tritt  aber 
noch  öfter  für  sich  allein,  und  zwar  manchmal  ziemlich  rasch  und  unter 
heftigen  Schmerzen  auf.  — 

Wenn  ich  auch  aus  voller  Ueberzeugung  die  erwähnten  dauernden 
Druckwirkungen  auf  die  wachsenden  Knochen  als  wesentliche  Entstehungs- 
ursache der  Scoliose,  des  Genu  valgum  und  Pes  planus  anerkenne,  so 
drängt  sich  doch  aus  der  practisch  ärztlichen  Thätigkeit  sehr  bald  die 
Beobachtung  auf,  dass  doch  nur  bei  relativ  wenigen  Individuen,  welche 
den  erwähnten  Schädlichkeiten  ausgesetzt  sind,  die  betreffenden  Ver- 
krümmungen wirklich  zur  Entwicklung  kommen,  und  es  schliesst  sich 
daran  natürlicher  Weise  die  Vermuthung,  dass  dazu  doch  ausser  der 
Muskelschwäche  noch  eine  individuelle  Schwäche  des  Knochensystems, 
eine  individuelle  Knochenweichheit  nöthig  sei;  ich  kann  mich  in  der 
That  nicht  ganz  von  der  Meinung  frei  machen,  dass  ein  geringer  Grad 
von  Khachitismus  hier  mit  im  Spiele  sei  (pag.  548).  Es  ist  diese  An- 
schauung von  manchen  Autoren,  wie  z.  B.  Lorinser  bei  der  Aetiologie 
der  Scoliose  sehr  in  den  Vordergrund  gerückt.  Auch  ist  von  einigen 
Autoren,  wie  von  Hueter  und  Henke  vornehmlich  betont,  dass  die 
Gelenkflächen  bei  allen  diesen  Deformitäten  schief  und  ungleich  wachsen ; 
gewiss  spielt  auch  das  eine  wesentliche  Eolle  bei  der  immer  zunehmen- 
den Steigerung  dieser  Verkrümmungen,  doch  ist  es  als  primäre  Ur- 
sache wohl  kaum  annehmbar.  —  Dass  Contracturen  und  Relaxationen 
der  Gelenkbänder  als  idiopathische  Processe  diese  Deformitäten  veran- 
lassen, wie  ich  früher  zuzugeben  geneigt  war,  hat  nach  den  Resultaten 
der  neueren  Untersuchungen  keine  Wahrscheinlichkeit  mehr,  wenngleich 
sie  bei  den  Verschiebungen  und  Umformungen  der  Gelenkköpfe  nicht 
ausbleiben  können.  — 

III.     Deformitäten,    welche    von    Contractur    oder    Lähmung 
einzelner  Muskeln  oder  Muskelgruppen  abhängen. 

Die  Zahl  von  Fällen,  welche  in  diese  Gruppe  gehören,  ist  auch  ausser- 
ordentlich gross.  Zunächst  können  acute  entzündliche  Processe,  welche 
in  der  Muskelsubstanz  oder  in  der  unmittelbaren  Nähe  von  JMuskeln 
unter  stark  gespannten  Fascien  ihren  Sitz  haben,  Ursache  von  Con- 
tracturen werden,  welche  nur  dadurch  bedingt  sind,  dass  die  Ausdehnung 
des  entzündeten  Muskels  sehr  heftigen  Schmerz  macht.  So  ist  es  etwas 
Gewöhnliches,  dass  bei  tief  liegenden  Abscessen  am  Hals  der  Kopf  auf 
die  erkrankte  Seite  geneigt  gehalten  wird,  und  der  Kranke  selbst 
bei  Aufgebot  aller  seiner  Willenskraft  und  mit  Gewalt  nicht  dazu  zu 
bringen  ist  den  Kopf  grade  zu  richten;  nur  durch  die  Chloroformnarkose 
ist  dies  zu  ermöglichen  und  gelingt  dabei  leicht.    So  sah  ich  einen  Fuss 


VorloHiin-i;    11.      Oai)i(c|    X[\.  (\2?} 

in  der  Stellung-  eines  Pes  equinus  lixiil,  (Imcli  einen  Ahseess  der  sieh 
in  der  Muskulatur  der  Wade  gebildet  hatte.  Acute  Entzündung-  des 
M.  psoas  (Psoitis  mit  Pcni)S()itis)  hat  si)itzwinklige  Flexionsstellung-  i)ii 
Hüftg-elenk  zur  Folge.  Mit  der  Entleerung  des  Eiters  werden  diese 
Contracturen  g-eringer,  oi't  hören  sie  nach  und  nach  ganz  auf;  zuweilen 
aber  ist  die  Abscessnarbe  so  gross,  dass  durch  ihre  Zusanimenziehiing 
die  Contractur  erst  recht  fixirt  wird,  und  dann  später  äusserst  scliwierig 
zu  beseitigen  ist.  —  In  zweiter  Eeihe  können  directe  Nervenreizungen 
durch  Erkrankung  der  nervösen  Centren  dauernde  Contracturen  hervor- 
rufen; diese  Fälle  bieten,  wenn  sie  vom  Hirn  ausgehen,  äusserst  geringe 
Angriffspunkte  für  die  Therapie.  Bei  Caries  der  Wirbelsäule  und  Ueber- 
gang  des  Entzündungsprocesses  auf  die  vorderen  Stränge  des  Rücken- 
marks treten  zuweilen  Muskelcontracturen  und  Muskellähmungen  der  Ex- 
tremitäten zugleich  auf;  in  einem  solchen  Falle  sah  ich  spontan  nahezu 
vollständige  Heilung  eintreten,  —  Ferner  können  reflectorisch  Contracturen 
eintreten;  ich  sali  dies  an  Hüfte,  Hand,  Fuss,  vorwiegend  bei  jugendlichen 
weiblichen  Individuen;  diese  Contracturen  waren  in  einigen  Fällen  durch 
Fall  auf  den  betreffenden  Theil  angeregt,  und  oft  durch  Hysterie  com- 
plicirt  (siehe  Gelenkneurosen  pag.  602).  Sie  sind  dadurch  charakterisirt, 
dass  sie  im  Schlaf  und  in  der  Narkose  vollständig  aufhören.  —  Endlich 
kommen  wir  zu  den  häufigsten  aller  Fälle  dieser  Gruppe  zu  den  soge- 
nannten paralytischen  Contracturen,  wie  sie  sich  bei  partiellen 
oder  totalen  Lähmungen  nach  Meningitis  und  Encephalitis  besonders  bei 
Kindern  entwickeln.  Essentielle  Kinderlähmungen. — Diese  Con- 
tracturen kommen  einseitig  oder  doppelseitig-  fast  nur  an  den  unteren 
Extremitäten  vor.  Ein  vollständig  gelähmtes  Bein  hängt  und  liegt  ver- 
möge seiner  mechanischen  Construction  immer  so,  dass  der  Fuss  gestreckt 
und  etwas  nach  innen  gedreht  ist;  Sie  können  sich  an  jeder  Leiche 
ohne  Todteustarre  davon  überzeugen.  Wird  der  Fuss  nicht  absichtlich 
aus  dieser  Lage  gebracht,  sondern  verharrt  immer  in  derselben,  so  wird 
diese  Stellung  dadurch  allmählig  fixirt,  dass  die  Bänder  an  der  hinteren 
Seite  des  Fusses,  die  Wadenmuskeln,  Teudo  Achillis,  die  bedeckenden 
Fascien  theils  schrumpfen,  theils  langsamer  wachsen;  nach  und  nach 
verändern  sich  auch  die  Gelenkflächen  und  die  Formen  der  Knochen  in 
Folge  ungleichmässigen  Druckes  wie  früher  erörtert,  und  es  wird  immer 
schwieriger,  endlich  unmöglich  den  Fuss  in  die  rechtwinklige  Stellung 
zu  bringen.  Bei  dem  Versuch  dazu  ist  der  Widerstand,  welchen  Mus- 
keln und  Sehnen  leisten,  am  leichtesten  fühlbar,  und  so  entstand  die 
Meinung,  der  M.  gastrocnemius  mit  dem  Tendo  Achillis  sei  contrahirt, 
auch  in  Fällen,  in  welchen  er  ebenso  gelähmt  ist  wie  die  übrigen  Mus- 
keln des  Beins.  Man  meinte  dann  ex  post,  es  müssten  doch  wohl  nur 
die  Mm.  extensores  ganz  vollständig  gelähmt  gewesen  sein,  und  die 
Antagonisten  etwas  Innervation  behalten  haben,  so  dass  sie  allein  auf 
den  Fuss  wirkten,  gewissermaassen  das  Uebergewicht  bekommen  hätten. 


624    Ueber  die  angebornen,  myo-  und  nenropathischen  Gelenkverkrümmungen  etc. 

So  entstand  die  zumal  von  Delpech  ausgebildete  Lehre  von  den  anta- 
gonistischen Contracturen,    die  sich  ganz  besonders  an  diejenigen  Fälle 
anklammerte,   in  welchen  in  der  That  eine  ungleichmässige  Vertheilung 
von  Parese  und   Paralyse    auf   die    einzelnen    Muskelgruppen    bestand. 
Hueter  war  es,    der  zuerst  darauf  hindeutete,    dass    es  vor  Allem  die 
durch  die  Schwere   der  gelähmten  Glieder  Ijedingte   dauernde  Lage  sei, 
welche  zu  den  Contracturen  führten,   und   dass   diese  sogenannten  anta- 
gonistischen Contracturen  durchaus  keine  activen  Muskelwirkungen  seien, 
sondern   wie  beim  angebornen  Klumpfuss   auf  Nachlass  im  Wachsthum 
und  Atrophie  beruhen,     Nachdem  ich  dieser  Auffassung  meine  Aufmerk- 
samkeit zugewandt  habe,  muss  ich  ihre  Richtigkeit  durchaus  bestätigen. 
Es  w^aren  mir  .schon  oft  Fälle    begegnet,    in  welchen  mir  die  Theorie 
von  den  antagonistischen  Contracturen  zweifelhaft   geworden  war  z.  B. 
ein  Fall,  in  welchem  ein  Soldat  in  der  Schlacht  bei  Sadowa  einen  Schuss 
durch  den  rechten  Vorderarm  bekommen  hatte  mit  Zerreissung  des  X. 
radialis ;  4  Jahre  später  bestand  die  totale  Paralyse  aller  vom  N.  radialis 
versehenen  Theile  immer  noch,    doch  keine  Spur  einer  antagonistischen 
Conti'actur.    Gehen  wir  den  Beobachtungen,  welche  wir  an  paralytischen 
Gliedern  machen,  Aveiter  nach,  so  finden  wir,  dass  in  denjenigen  Fällen, 
in  w^elcheu   die  Individuen  den  ganzen   Tag  mit  herabhängenden  flec- 
tirten  Unterschenkeln  und  in   der  Hüfte  flectirten  Oberschenkeln  sitzen, 
sich  Flexionscontracturen  in  der  Hüfte  und  im  Knie   ausbilden.     Haben 
die  Patienten  mit  theilweis  paralysirten  Gliedern  noch  so  viel  Kraft,  dass 
sie  mit  Unterstützung  einhergehen  können,    so  gehen  die  Bewegungen 
in  den  Gelenken  so  weit,    bis  sie   durch  ihre  natürlichen  Hemmungen 
fixirt  werden;  Sie  können  das  wieder  an  einer  Leiche  ohne  Todtenstarre 
am  besten  ausprobiren:    der  auf  die  Erde  gesetzte  mit  der  Körperlast 
belastete  Fuss   weicht  nach   aussen  aus  (Pes  plano-valgus  paralyticus), 
das  Knie  biegt  sich  nach  vorn  aus  (Genu  antecurvatum),  in  der  Hüfte  fällt 
der  Oberkörper  vornüber,    bis  er  durch  das  noch   gesunde  Bein,    durch 
Krücke  oder  Stock  gestützt  wird.     So  entstehen  auch  durch  die  Körper- 
last (Volkmann)  Gliedstellungen,  die  nach  und  nach  fixirt  werden  und 
die  bei  jugendlichen  Individuen   auf  die  Formen  der  Gelenkflächen  all- 
mählig  einen  nachweisbaren  Einfluss   ausüben.    —    Alle    diese  Verhält- 
nisse erklären  sich  aufs  Natürlichste  nach  mechanischen  Principien,  wäh- 
rend man  früher  die  complicirtesten  Theorien  mit  Hülfe  relativ  weniger 
thatsächlicher   Momente  componiren   musste,    wenn  man  sich  überhaupt 
auf  eine  Erklärung  einlassen  wollte.  — 

IV,     Bewegungsbeschränkungen    in    den    Gelenken,    bedingt 
durch  Schrumpfungen  von  Fascien  und  Bändern. 

Jede  langdauernde  fixirte  Stellung  eines  Gliedes,  auch  wenn  sie 
nicht  wie  in  den  oben  besprochenen  Fällen  von  Muskeln  und  Nerven- 
krankheiten abhängig  ist,    kann  zur  Schrumpfung  der  Fascien  führen. 


Vurlcsniio-  H.      Ciipilcl    Xl\. 


(\2r) 


Ein  Mann,  der  1'/^.  Jalire  weisen  Kiterun^-  der  Ingiiinaldrlisen  mit  dem 
linken  Bein  in  Hüfte  nnd  Knie  llectirt  ,i;('le,i;en  liatt<',  wiii'de  n;i('li  lleiliiii;^- 
des  Bubo  anf  unsere  Klinik  ^cbraclit ,  weil  er  ausser  Shiiide  uiir,  d;is 
Bein  7A\  streeken,  (Janz  besonders  ist  es  die  Faseia  hil;i,  wi.lclie  iu 
wenigen  Monaten  l)ei  ruhiger  Lag-e  so  rigide  werden  kann,  dnss  (-s 
unter  Umständen  unmöglich  ist,  sie  wieder  aus/juh'iuieii;  ii;mIi  abge- 
laufener Coxitis  kann  auch  bei  vollständig  wieder  gesund  gewordenem 
Gelenk  diese  Contractur  des  Fusses  eine  dauernde  llennnun;:'  für  di(; 
A'^ollkommcne  Streckung  abgeben,  so  dass  solche  Individuen  /.uwcib'U 
ihr  ganzes  Leben  liindureh  hinkend  l)leil>en,  ein  neuer  gewichtiger  Grund, 
die  Stellung-  der  Gliedniaassen  bei  den  Gelenkentzündungen  ganz  be- 
sonders in  Obacht  zu  nehmen. 

Fi--.  119. 


Sclirunipfving  (Contractur)  der  Fascia  lata  bei  Coxitis.     Copie  nach  Froriep. 

V.  Narbencontracturen. 
Von  der  Narbencontractiou  ist  früher  schon  wiederholt  die  Rede 
gewesen;  sie  ist  die  Folge  davon,  dass  die  entzündliche  Neubildung^ 
welche  in  der- Wunde  entsteht,  allmählig  immer  mehr  und  mehr  Wasser 
abgiebt,  indem  die  ursprünglich  gallertige  reichlich  vascularisirte  Bil- 
dung nacb  und  nach  zu  trocknem  Bindegewebe  einschrumpft  und  sich 
bei  gleichzeitiger  Obliteration  des  grössten  Theils  der  Gefässe  stark  zu- 
sammenzieht. Auf  eine  je  grössere  Fläche  die  Narbe  sich  erstreckt,  um 
so  stärker  wird  nach  allen  Richtungen  hin  die  Contraction  wirken;  alle 
Wunden  mit  ausgedehnter  Hautzerstörung  werden  besonders  ausgedehnte 
Narbencontracturen  zur  Folge  haben,  und  weil  selten  so  grosse  Haut- 
flächen zerstört  werden  als  nach  Verbrennungen,  so  sind  die  Brandnarben 
meist  diejenigen,  welche  die  stärksten  Verkrümmungen  zur  Folge  haben. 
Es  kommt  begreif  lieber  Weise  sehr  auf  die  Lage  der  Narbe  an,  ob  sie 
nachtheilige  Folgen,    ob  sie  Verkrümmungen    oder  Verzerrungen   nach 

Billrotli  oliir.  ratlu  u.  Tliw'.    7.  Aufl.  ^^ 


626     tJeber  die  aiigebovneii,  myn-  und  neiiropatlnscheii  Gelenkverkrümmiingen  etc. 


sich  zieht.  Narben  an  der  Beug-eseite  der  Gelenke,  wenn  sie  sich  weit 
in  die  Läng-enachse  des  Gliedes  erstrecken,  können  Ursache  werden,  dass 
das  Glied  nicht  ganz  gestreckt  werden  kann.  Ausgedehnte  Narben  am 
Halse  haben  die  Verziehnng  und  Fixation  des  Kopfes  nach  der  verletzten 
Seite  hin  zur  Folge  (Fig.  120),  Narben  der  Wange  können  den  ]\[und, 
das  untere  Augenlid  verziehen,  Narben  auf  dem  Hand-  *und  Fussrücken, 
in  der  Nähe  der  Fingergelenke  können  Ursache  werden,  dass  der  be- 
trefiende  Finger  fixirt  und  nur  unvollkommen  gebeugt  werden  kann 
(Fig.  121). 


Fio-.  120. 


Fig.  121. 


Narbencontracturen  nacli  Verbrennungen. 

Doch  auch  Narben  tieferer  Theile,  so  der  Muskeln  und  Sehnen, 
können  wie  erwähnt  zu  Verkrümmungen  Anlass  geben,  wie  leicht  be- 
greiflich; da  nach  Sehnenverletzungeu  leicht  Nekrose  der  Sehnen  folgt, 
und  an  die  Stelle  der  Sehne  Narbeugewebe  tritt,  so  wird  ein  der  Art 
verletzter  Theil,  z.  B.  ein  Finger,  dann  für  immer  krumm  und  steif.  — 


Wenngleich  in  dem  Vorigen  hauptsächlich  von  den  ätiologischen 
Momenten  für  die  Entstehung  von  Verkrümmungen  die  Rede  war,  so 
liegt  doch  darin  schon  das  Diagnostische  des  Gegenstandes  enthalten, 
so  dass  wir  uns  damit  nicht  weiter  zu  bescliäftigen  brauchen.  —  Was 
die  Prognose  bei  den  Verkrümmungen  betrifft,  so  hängt  natürlich 
Alles  davon  ab,  in  wie  weit  es  möglich  ist,  die  Ursachen  der  Verkrüm- 
mungen zu  heben,  vmd  eben  nach  diesen  Ursachen  wird  die  Therapie 
eine  sehr  verschiedene  sein. 

Das  Nächste,  worauf  man  bei  Beseitigung  von  Contracturen  verfällt, 
ist   der  Versuch,    die    contrahirten  Theile  wieder  auszudehnen;    dies 


VurlcsMiiM-    11.     C-ipilcl    XIX.  027 

küiiiito  irinn  dndui'cli  zu  bcw(M-l<stollii!,'cn  siiclicii,  da.ss  jn;iii  lilglicli  (iiiiific 
Mal  die  zusjiinniciu*'cz()ii,cu(Mi  (Jlicdiiiajisscii  dcliiieu  l;isst.  Zu  diesen 
Manövern,  den  S()i;-en;uinten  Man  i])ulati()neii,  die  von  gTOSser  Wirkung- 
sind,  g-eliört  iudess  viel  Kraft  und  Ausdauer,  und  es  erscheint  daher 
zweckniässig'er,  diese  Delmung-en  durch  die  gleichniässigc  Wirkung  einer 
Masclrine  zu  niaclien.  Die  Streckniaschinen,  welche  man  jetzt  ainveiulet, 
beruhen  meist  auf  der  vereinigten  Wirkung  der  Schraube  und  des  Zahn- 
rads, ein  Mechanismus,  der  schon  seit  den  ältesten  Zeiten  für  chirurgische 
Instrumente  im  Gel)rauch  ist;  die  Maschinen  können  sehr  verscliicdenartig 
construirt,  müssen  aber  leicht  und  fest  gearbeitet  und  gut  gepolstert  sein, 
nirgends  stark  drücken  und  in  jeder  Stellung  fixirt  werden  können,  am 
leichtesten  sind  solche  Maschinen  für  das  Knie-  und  Ellenbogengclenk 
zu  construiren,  für  Schulter-  und  Hüftgelenk  hat  es  grosse  Schwierig- 
keiten, das  Schulterblatt  und  das  Becken  zu  fixiren.  —  Die  Streckung 
in  der  Chloroformnarkose  kann  zu  Hülfe  genommen  werden,  um 
von  Zeit  zu  Zeit  etwas  schneller  vorwärts  zu  kommen,  doch  hüte  man 
sich  dabei  vor  zu  starker  Kraftanstrengung  und  berücksichtige  zumal, 
dass  die  narbig  geschrumpften  Muskeln  weniger  dehnbar  sind  als  normale, 
dass  sie  eben  nur  sehr  allmählig  gedehnt  w^erden  können.  —  Für  die- 
jenigen Muskelcontracturen,  w^elche  von  Neurosen  abhängig  sind,  kann 
die  mechanische  Dehnung  kaum  in  Anwendung  gezogen  oder  höchstens 
als  Unterstützungsmittel  der  Cur  benutzt  werden;  die  Hauptbehandlung 
muss  auf  das  Nervenleiden  gerichtet  sein,  welches  die  Muskelcontractur 
verursacht.  —  Für  die  Contracturen  von  Bändern  und  Fascien  kommt 
die  graderichtende  Behandlung  mit  Maschinen  (die  Orthopädie  von 
oQ&og  grade,  naidela  Erziehung)  besonders  in  Anwendung.  An  Stelle 
der  Maschinen  ist  in  dem  letzten  Decennium  für  sehr  viele  Fälle  der 
Gypsverband  und  die  permanente  Extension  getreten,  wodurch 
diese  Cureu  sehr  vereinfacht  und  dem  practischeu  Arzt  w^eit  zugäng- 
licher gew^orden  sind  als  früher.  Ich  muss  mir  vorbehalten  in  der  Klinik 
mich  weiter  über  die  Vortheile  der  einen  oder  andern  Behandlungs- 
methode in  den  einzelnen  Fällen  auszulassen.  —  Die  Narbencontractureu 
können  durch  Dehnung  der  Narben  ebenfalls  gebessert,  selten  vollkommen 
geheilt  werden;  mächtiger  als  die  Dehnung  wirkt  bei  Narben  ein  con- 
tinuirlicher  Druck,  den  man  durch  Corapressivverbände  mit  Heftpflaster 
oder  durch  Binden  oder  Compressorien  ausübt,  welche  für  die  einzelnen 
Fälle  besonders  anzufertigen  sind.  Es  wird  dadurch  die  im  Lauf  der  Jahre 
spontan  sich  ausbildende  Atrophie  der  Narben  sehr  befördert.  Die  Deh- 
nung der  Narben  verbindet  man  mit  der  Compression  bei  der  Behand- 
lung ringförmiger  narbiger  Verengerungen  von  Canälen,  sogenannter 
Stricturen,  wie  sie  besonders  häufig  in  der  Harnröhre  und  in  der 
Speiseröhre  vorkommen,  durch  die  Einführung  elastischer  Sonden  (Bou- 
gies,  w^eil  sie  früher  aus  Wachskerzen  gemacht  waren)  von  allmählig 
zunehmender  Dicke. 

40* 


628     Ueber  die  angebornen,  myo-  und  neuropatbischen  Gelenkverkriimmungen  etc. 

Die  bislier  erwüliiiteu  oitliopädisclien  Curen  führen  nicht  immer  oder 
oft  wenigstens  nur  sehr  langsam  zum  Ziel,  und  man  ist  daher  schon 
im  Mittelalter  dazu  geschritten,  die  Sehnen  der  contrahirten  Muskeln 
oder  diese  selbst  zu  durchschneiden;  man  nennt  diese  Operation  ,,Teno- 
tomie  und  Myotomie"  (von  tsvcov  Sehne,  juvg  Muskel,  TSfxvw  schnei- 
den); erstere  kommt  viel  häufiger  in  Anwendung  als  letztere.  Früher 
machte  man  die  Operationen  einfach  so ,  dass  man  zuerst  die  Haut  bis 
auf  die  Sehne  und  dann  diese  durchschnitt,  und  die  Wunde  durch  Eite- 
rung heilen  liess;  die  Erfolge  waren  grade  keine  sehr  brillanten;  die 
Eiterungen  konnten  sehr  bedeutend  werden,  es  bildeten  sich  dicke  Xar- 
ben,  die  dann  auch  nur  langsam  gedehnt  werden  konnten.  Eigentlich 
brauchbar  wurde  diese  Operation  erst  durch  Stromeyer  gemacht,  der 
die  Operation  der  Sehnendurchsclmeidung  subcutan  zu  machen  lehrte, 
eine  Methode,  die  dann  durch  Dieffenb ach 'in  weitester  Ausdehnung  in 
die  Praxis  eingeführt  wurde  und  jetzt  allein  geübt  wird.  —  Ich  will  Ihnen 
diese  Operation  zuerst  kurz  beschreiben,  ehe  wir  zu  den  Erfolgen  der- 
selben übergehen:  nehmen  wir  als  Beispiel  die  am  häufigsten  vorkoni- 
raende  Tenotomie  der  Achillessehne.  Sie  bedienen  sich  dazu  am  besten 
des  Dieffenb  ach 'sehen  Tenotoms;  es  ist  wie  ein  leicht  gebogenes 
spitzes  Federmesser  geformt.  Der  Patient  liegt  auf  dem  Bauch,  sein 
Unterschenkel  wird  vom  Assistenten  in  der  Wadengegend  festgehalten; 
Sie  selbst  umfassen  mit  Ihrer  linken  Hand  den  in  Klumpfussstellung  be- 
findlichen Fuss,  nehmen  in  die  volle  rechte  Hand  das  Tenotom,  stechen 
es  neben  der  Sehne  in  die  Haut  und  schieben  es  unter  der  Haut  über 
der  Sehne  mit  nach  unten  gewandter  Scheide  vor,  bis  Sie  über  die  Sehne 
hinaus  sind,  ohne  jedoch  die  Haut  zum  zweiten  Mal  zu  perforiren;  jetzt 
wenden  Sie  die  Schneide  des  Messers  auf  die  Sehne,  und  drücken  die- 
selbe durch  die  gespannte  Sehne  hindurch,  wobei  Sie  ein  knirschendes 
Geräusch  vernehmen  und  nach  Vollendung  des  Sehnenschnittes  einen  Kuck 
in  der  linken  Hand  verspüren,  indem  sofort  nach  Lösung  der  Sehne  der 
Fuss  etwas  beweglicher  wird;  jetzt  ziehen  Sie  das  Messer  vorsichtig  zu- 
rück. Es  bleibt  aussen  nur  die  Einstichwunde  des  Messers  sichtbar,  die 
Durchneidung  der  Sehne  ist  ganz  subcutan  geschehen.  —  Diese  eben 
beschriebene  Methode  der  subcutanen  Tenotomie  von  aussen  nach 
innen  ist  die  leichtere  für  Anfänger  im  Operiren,  weil  dabei  keine  Ge- 
fahr ist,  die  Haut  mehr  zu  durchschneiden  als  nöthig.  Eleganter  und 
für  manche  Fälle  geeigneter  ist  die  subcutane  Tenotomie  von  innen 
nach  aussen.  Die  Haltung  ist  wie  vorher,  ebenso  der  Einstich,  doch 
führt  man  das  Messer  unter  der  Sehne  fort,  richtet  dann  die  Sch.eide 
desselben  gegen  die  Sehne,  setzt  den  Daumen  der  schneidenden  Hand 
an  die  der  Messerspitze  entsprechende  Stelle,  um  deren  Tiefe  zu  contro- 
liren  und  zu  fühlen,  dass  sie  nicht  durch  die  Haut  kommt;  dann  drückt 
und  zieht  man  das  Messer  von  innen  nach  aussen  durch  die  Sehne  hin- 
durch,  wobei  man   sich  hüten   muss,  den  Fuss  zu  stark   anzuspannen, 


Vorlcsiiiif,'  H.     Capilcl   XIX.  f^2f) 

damit  das  Messer  bei  dem  Ruck,  wclclior  iiacli  vollendeter  Diirclisclniei- 
diiiig-  der  Seluic  erfolgt,  niclit  durch  die  Haut  licrau.sfulirt.  Diese  Methode 
scheint  schwieriger  als  sie  ist,  doch  erfordert  sie  natürlich  wie  das  Ope- 
riren überhaupt  Vorstudien  am  Cadaver.  —  Ist  die  Tenotomie  vollendet, 
so  tritt  in  der  Eegel  nur  wenig  lilut  aus  der  Stichöffnung;  zuweilen  kann 
die  Blutung  indess  ziendicli  erheblich  sein,  indem  ein  bei  manclien  Indi- 
viduen ziemlich  starker  Ast  der  Art.  tibialis  postica,  welcher  nel)en  der 
Selinc  läuft,  mit  durchschnitten  wird.  Bei  un])edcutender  Blutung  gentigt 
das  Aufkleben  eines  Stückchens  englisclien  Ptlasters,  welches  durch  Col- 
lodium  noch  mehr  fixirt  wird;  ist  stärkere  Blutung  vorhanden,  so  deckt 
man  die  Stichwunde  mit  einer  kleinen  Compresse  und  macht  eine  Binde- 
einwicklung des  Fusses  bis  zur  Wade,  dann  steht  die  Blutung  immer. 
Dieser  Verband  wird  nach  24  Stunden  entfernt  und  durch  Pflaster  ersetzt. 
Die  Heilung  erfolgt  fast  inmier  per  primam;  nach  3—4  Tagen  ist  die 
Stichwunde  geschlossen.  —  Es  kann  jedoch  Eiterung  eintreten;  dann 
wird  die  ganze  verletzte  Gegend  roth,  geschwollen,  empfindlich,  aus  der 
Stichwunde  fliesst  Blut  mit  Eiter,  auf  der  entgegengesetzten  Seite  bildet 
sich  auch  wohl  ein  Abscess,  der  eröffnet  Averden  muss,  und  wenn  diese 
Eiterung  auch  keine  gefährlichen  Folgen  hat,  so  kann  sie  sich  doch  2  bis 
3  Wochen  hinzielien  und  den  Erfolg  der  Operation  sehr  in  Frage  stellen, 
weil  es  lange  dauert,  bis  die  hierbei  entstehende,  ziemlich  dicke  Narbe 
zur  Extension  geeignet  wird.  —  Unmittelbar  nach  der  Tenotomie  fühlen 
Sie  an  der  durchschnittenen  Stelle  eine  Vertiefung,  weil  der  Muskel 
sich  nach  der  Sehnendurchschneidung  contrahirt ;  diese  Vertiefung  schwin- 
det nach  24  Stunden  schon  und  macht  in  den  folgenden  Tagen  sogar 
einer  Anschwellung  Platz;  die  Anschwellung  vermindert  sich  nach  und 
nach,  und  längstens  14  Tage  nach  einer  normal  geheilten  Tenotomie 
sclieint  die  Sehne  vollkommen  wieder  hergestellt.  Der  Vorgang  dieses 
Heilungsprocesses  ist  durch  Experimente  sehr  vielfach  studirt;  man  v/ollte 
darin  früher  eine  ganz  besonders  vollkommene  Art  der  Regeneration  er- 
kennen; ich  habe  diese  Experimente  an  Tliieren  sehr  oft  gemacht  und 
finde,  dass  die  Heilung  wie  überall  erfolgt,  und  am  meisten  der  Hei- 
lung der  Nerven  und  Knochen  ähnlich  ist.  Wenn  die  Sehne  durch- 
schnitten ist  und  der  Muskel  sich  zusammenzieht,  so  müsste  ein  leerer 
Raum  an  der  durchschnittenen  Stelle  entstehen,  wenn  nicht  sofort  durch 
den  äusseren  Luftdruck  das  umliegende  Zellgewebe  in  den  Raum  zwi- 
schen den  beiden  Sehnenenden  hineingedrückt  wülrde;  dadurch  wird 
derselbe  nun  ausgefüllt;  dies  Gew^ebe  wird  dann  wie  bei  jedem  Trauma 
plastisch  und  serös  infiltrirt  und  reichlich  vascularisirt;  das  Zellgew^ebe 
um  die  Sehnenstümpfe  wird  in  gleiclier  Weise  metamorphosirt  und  so 
werden  letztere  durch  die  entzündliche  Neubildung,  w^ eiche  sich  in  und 
aus  dem  umliegenden  Zellgewebe  bildet,  umgeben  und  verbunden,  ähn- 
lich wie  die  Fragmeute  des  Knochens  durch  den  äusseren  Callus  (der 
sich  hier   aber  auch  zwischen    die   Sehnenstümpfe  drängt;    ein  innerer 


ggQ     Ueber  die  angeborneii,  mvo-  und  iieuiopathischen  Gelenkverkriimmungeu  etc. 


Subcutan    durch- 
schnittene   Sehne 
am    vierten    Tag. 
Schemati  t^che 
Zeichnung. 


Fig.  122.  Callus  kann  bei  den  Selmeu  ja  nicht  entstehen,    -weil 

,  .  i  dieselben  keine  Marldiolüe  liaben).     Das  Bild  ist  in 

diesem  Stadium   (etwa   am   vierten   Tage)   folgendes 
(Mg.  122): 

Diese  provisorische  Verbindung  wird  bald  eine 
definitive,  indem  die  entzündliche  Xeubildung  sich  zu 
Bindegewebe  metamorphosirt;  unterdessen  hat  sich 
auch  in  den  Sehnenstümpfen  etwas  Neubildung  ent- 
wickelt, die  mit  der  Zwischenmasse  confluirt.  Die  ge- 
sammte  neugebildete  Zwischenmasse  zieht  sich  nach 
und  nach  stark  zusammen,  wird  sehr  fest,  so  dass  sie 
ganz  den  Charakter  des  Sehnengewebes  annimmt;  die 
Sehne  regenerirt  sich  auf  diese  Weise  vollkommen.  — 
Dieser  Vorgang-  geht  freilich  nicht  immer  so  schnell 
vorüber,  wie  wir  es  hier  geschildert  haben,  sondern 
wird  (wie  auch  bei  den  Fractureu)  zuweilen  durch 
ein  sich  zwischen  die  Selmeustümpfe  lagerndes  stär- 
keres Blutextravasat  g-estört ;  dies  wird  von  der  ent- 
zündlichen Neubildung  umschlossen,  wird  nur  theilweis 
organisirt,  muss  aber  zum  grösseren  Theil  resorbirt 
werden,  ehe  die  vollendete  Kegeneration  der  Sehne 
erfolgen  kann.  Ausgedehnte  Blutextravasate  können 
die  Heilung  sehr  stören,  indem  sie  nicht  nur  durch  ihre  Grösse  und 
die  lange  Dauer  ihrer  Resorption  den  regelmässigen  Heiluugsvorgang 
hindern,  sondern  auch  dadurch,  dass  sie  gelegentlich  in  Verjauchung 
oder  Vereiterung  übergehen.  —  Ueber  die  Myotomie  gilt  in  Betreff  der 
Operation  und  des  Heilungsvorganges  ganz  dasselbe  wie  das  eben  Ge- 
sagte. 

Sie  haben  soeben  gehört,  dass  die  Sehnen  sich  vollkommen  wieder 
regenerireu  und  die  narbige  Zwischensubstanz  sich  sehr  stark  zusam- 
menzieht, also  auch  verkürzt,  und  Averden  sich  jetzt  mit  Eecht  ver- 
wundern, weshalb  man  denn  diese  Operation  nach  solchen  Erfahrungen 
überhaupt  noch  macht,  da  die  Sehne  ja  nicht  so  sehr  viel  länger  dadurch 
wird.  Hierauf  entgegne  ich  Ihnen,  dass  die  Tenotomie  an  und  für  sich 
allerdings  von  keinem  oder  höchst  geringem  Nutzen  für  die  Pleilung 
von  Contracturen  ist,  dass  aber  die  Sehnennarbe  w^eit  leichter  g'edehnt 
werden  kann  als  die  Sehne  des  contrahirteu  Muskels  oder  als  dieser 
selbst-,  nur  durch  die  orthopädische  Nachbehandlung  wird  die  Teno- 
tomie erfolgreich,  sie  dient  zur  wesentlichen  Förderung  der  Cur,  macht 
dieselbe  oft  allein  möglich,  wenn  die  contrahirteu  Muskeln,  Fascien  oder 
Bänder  durchaus  jeder  Dehnung  widerstehen.  Man  darf  es  also  nicht 
zu  der  vollständigen  Narbencoutraction  an  der  durchschnittenen  Sehne 
kommen  lassen,  sondern  muss  schon  die  junge  Narbe  dehnen;  10—12  Tage 
nach  der  Durchschneidung  der  Sehne  beim  Klumpfuss  kann  die  ortho- 


Voricsiiii--  11.    ('iipiiri  xrx.  (;;-',! 

pädisclie  Beliandlung-  schon  l)ci;'inncii ,  sei  es  (hiss  Sie  dieselbe  (liirch 
Extensionsiiuuiipulation  und  iMaseliineii ,  oder  durcli  (Jraderielitiiii;;'eii 
und  Anlei^'uiig'  von  (!y[)sverl)äiid(Mi  diirelirüliren  wollen,  dcrade  diireli 
die  subcutane  Tenotomie  wui'den  die  -iiiistiii'en  F.i-folg-e  erst  niög'licii; 
hier  geht  die  lleiluni;'  äusserst  schnell  vor  sich,  und  es  bildet  sich 
eine  dehnbare  Narbe;  gerätli  die  AVundc  ivi  lani;e  l^jitcruui^-,  leidet  die 
Haut  mit,  so  ist  die  spröde  Narbe  vielleicht  erst  nach  G  bis  8  AVochen 
ausdehnbar,  d;i  sie  vorher  mit  der  Haut  zusammen  einreissen  und  Avieder 
eitern  kann,  Dass  nicht  jeder  Klumi)russ,  zumal  nicht  die  geringeren 
Grade,  der  Tenotomie  zur  Heilung  bedilrien,  liegt  auf  der  Hand;  el)enso 
unzweifelhaft  bleibt  es  jedoch ,  dass  die  'J'enotomie  die  orthopädische 
Cur  bei  liöheren  Graden  dieser  Verkrümmung  fördert.  —  Aus  dem 
Gesagten  werden  Sie  sclion  ermessen  können,  dass  die  Indicationen  für 
die  Tenotomie  mit  denen  für  die  orthopädische  Behandlung  sehr  liäuhg 
zusammenfallen;  im  ganzen  Umfange  ist  dies  freilich  nicht  der  Fall; 
die  Tenotomie  hat  bald  ein  beschränkteres,  bald  ein  weiteres  Feld,  üass 
man  eventuell  jede  gespannte  Sehne  sul)cutan  durchschneiden  kann,  ist 
an  sich  klar;  eine  andere  Frage  ist  es,  ob  diese  zweckmässig  ist;  alle 
möglichen  Fälle  können  hier  nicht  erschöpft  werden,  doch  will  ich  Ihnen 
die  Sehnen  nennen,  die  am  häufigsten  durclischnitten  werden:  am  Hals 
die  beiden  Portionen  des  M.  sternocleidomastoideus  an  ihrem  Ansatz  an 
das  Schlüsselbein  und  das  Sternum;  am  Arm  sind  Tenotomien  selten 
gemacht;  Tenotomien  an  den  Fingern  und  Zehen  widerrathe  ich  Ihnen 
entschieden;  alle  Sehnen  mit  ausgebildeten  Sehnenscheiden 
sind  ungeeignet  für  die  Tenotomie;  die  Heilung  kann  hier  aus 
anatomischen  Gründen,  die  Sie  sich  leicht  selbst  entwickeln  können,  nicht 
so  einfach  zu  Stande  kommen,  wie  bei  Sehnen,  die  nur  von  lockerem 
Zellstoff  umgeben  sind;  gewöhnlich  tritt  Eiterung  mit  oft  sehr  unange- 
nehmen Folgen  ein,  oder  die  Sehueustümpfe  bleiben  unvereinigt.  Am 
Oberschenkel  kann  nach  Coxitis  der  contrahirte  M.  adductor  an  seinem 
Ursprung  durchschnitten  werden,  wenn  seine  Contractur  unüberwindlich 
in  der  Narkose  ist;  dasselbe  gilt  vom  M.  biceps  femoris  und  vom  Semi- 
tendinosus  und  Semimembranosus,  welclie  diclit  an  ihren  Ansatzpunkten 
an  Fibula  und  Tibia  durchschnitten  werden.  Am  Fuss  wird  der 
Tendo  Achillis  am  häufigsten,  dann  auch,  wemigleicli  meiner  Ansicht 
nach  mit  Schaden  für  die  spätere  Beweglichkeit  des  Fusses,  die  Sehne 
des  zuweilen  coutrahirten  M.  tibial.  anticus  und  posticus  und  die  Sehnen 
der  Mm.  peronaei  durchschnitten.  —  Bei  der  Streckung  von  Auchylosen 
machte  man  früher  einen  sehr  ausgedehnten  Gebrauch  von  Tenotomien; 
die  Operation  ist  aber  gerade  hier  jetzt  ganz  entbehrlich  geworden; 
wenn  z.  B.  bei  einer  Kniegelenkanchylose  die  genannten  jMuskeln  nicht 
gerade  mit  einer  Narbe  verwachsen  sind,  werden  sie  sich  nach  und  nach 
in  der  Chloroformnarkose  immer  ausdehnen  lassen,  falls  sie  überhaupt 
noch  Muskeln  und  nicht  schon  reine  Biudegewebsstränge  sind,  was  doch 


63'^     Ueber  die  aiigebornen,  myo-   und  neuropathischen  Gelenkverkriimmungen  etc. 

selten  der  Fall  ist.  —  Von  der  Teuotomie  der  contrahirten  Augenniuskelu, 
der  Schieloperation ,  die  aucli  liierlier  gehört,  rede  idi  nicht,  da  sie  in 
der  Ophthalmologie  abgehandelt  wird.  —  Man  kann  sich  auch  zuweilen 
veranlasst  sehen,  bei  paralytischen  Contracturen  Sehnen  zu  durchschnei- 
den, und  zwar  in  der  Absicht,  dadurcli,  dass  man  den  Zug  der  verkürzten 
Muskeln  durch  die  Tenotomie  für  eine  Zeit  lang  eliminirt  und  später 
ihre  Sehnen  durch  Dehnung  verlängert,  den  paretischen  Antagonisten 
mehr  Spielraum,  leichtere  Wirksamkeit  zu  verschaffen;  es  wirkt  letzteren 
dann  keine  Kraft  mehr  entgegen  oder  wenigstens  schwächer,  so  dass 
das  Gleichgewicht  hergestellt  wird.  Bei  vollkommener  Paralyse  kann 
die  Tenotomie  der  contrahirten  Muskeln  nur  den  Zweck  haben,  dem 
Fuss  eine  derartige  Stellung  zu  geben,  dass  Stützmaschinen  applicirt 
werden,  durch  welche  die  Körperlast  getragen  wird. 

Was  die  subcutanen  Fasciendurchschneidungen  betrifft,  so 
haben  dieselben  keine  grosse  Ausdehnung ;  mit  Erfolg  macht  man  häufig 
die  Durchschneiduug  des  Stranges  der  Fascia  lata,  welcher  sich  bei 
Flexionsstellung  des  Schenkels  ausbildet,  da  er  sich  sehr  schwer  aus- 
dehnen lässt;  auch  die  Fascia  plantaris  ist  mit  gutem  Erfolg  beim  Klump- 
fuss  zuweilen  zu  durchschneiden,  wenn  sie  gespannt  ist.  —  Wo  man  die 
Fasciendurchschneidung  am  meisten  brauchen  könnte,  lässt  sie  im  Stich, 
nämlich  bei  der  Contractur  der  Fas  cia  palmaris,  einer  bisher  noch 
nicht  von  mir  erwähnten  Schrumpfung  dieser  Fascie,  über  deren  Ur- 
sache nichts  Sicheres  bekannt  ist.  Durch  die  Schrumpfung  der  genannten 
Fascie  werden  bald  einige,  bald  alle  Finger  nach  und  nach  in  die  Hohl- 
hand hineingezogen,  so  dass  die  Hand  sehr  in  ihrer  Brauchbarkeit  be- 
schränkt wird.  Ich  habe  mich  einmal  durch  Dupuytren's  Schilderung 
von  den  Erfolgen  dieser  Operation  trotz  der  Warnung  meiner  früheren 
Lehrer  zu  dieser  Fasciotomie  verleiten  lassen;  es  erfolgte  aber  eine  so 
ausgedehnte  Eiterung,  dass  ich  froh  war,  als  dieselbe  endlich  aufhörte; 
die  Hand  blieb  trotz  aller  orthopädischen  Nachcur  schliesslich  wie  sie 
war;  geringe  Besserungen  schwanden  bald  wieder,  und  ich  glaube  über- 
haupt, dass  diese  Krankheit,  in  ihren  höheren  Graden  wenigstens,  un- 
heilbar ist. 

Durch  sehne  idungen  von  Bändern  kommen  nicht  häufig  vor; 
indess  habe  ich  doch  bei  Klumpftissen  öfter  schon  kleine  Bänder  an 
den  Fusswurzelknochen  durchschnitten,  wenn  sie  gespannt  waren,  und 
trotzdem  dass  ich  dabei  gewiss  häufig  subcutan  die  kleinen  Gelenke 
eröffnete,  keine  üblen  Folgen  gesehen.  Durch  B.  v.  Langen b eck  ist 
die  Durchschneidung  des  Lig.  genu  laterale  externum  bei  Genu  valgum 
eingeführt,  wobei  immer  das  Kniegelenk  momentan  eröffnet  wird;  es 
findet  diese  Operation  nur  bei  den  höchsten  Graden  des  Uebels  statt, 
fördert  aber  die  Cur  zuweilen  ganz  mächtig;  ich  hatte  es  früher  nicht 
gesehen  und  selbst  auch  nicht  gewagt,  in  der  Besorguiss,  es  könnte  doch 
Kniegelenkeiterung  erfolgen;  vor  einigen  Jahren  machte  ich  die  Operation 


I 


VorK'siiii-  41.     f'M|ulcl    XIX.  ()']';] 

in  einem  Fall  an  beiden  Kniccn  bei  einem  sciir  lioeligradi^-en  i:^enii  val- 
gum  an  einem  jun^-en  Menschen;  es  evlblgtc  die  Heilung  der  Operations- 
wunde olinc  irgend  welclie  Entzündung  des  Kniegelenks,  und  die  ortlio- 
pädische  Cur  hatte  einen  anft'alUnid  sclincllen  Verlauf.  Der  Kranke  ging 
mit  völlig  graden  Beinen  aus  dem  Spital.  Im  Ganzen  dürfte  die  Ope- 
ration selten  indicirt  sein.  —  Andere  Banddurchschneidungen  sind,  so 
weit  mir  bekannt,  nicht  gemaclit. 

Es  liegt  nahe,  daran  zu  denken,  auch  die  contraliirtcu  Karhcii 
zu  durchsclmeiden,  um  die  neue  Narbe  zu  dehnen.  Doch  wäre  es  da 
nicht  viel  weiser,  die  Narbencontractur  überhaupt  gar  niclit  auf  ({('.n 
Punkt  kommen  zu  lassen,  bis  dadurch  Functionsstörungen  entstehen V 
wäre  es  nicht  am  besten,  schon  während  des  Heilungsprocesses  einer 
grossen  Wunde,  z.  B.  an  der  Ellenbogenbeuge,  den  Arm  in  Extension 
zu  fixiren,  damit  er  durch  die  Narbe  nicht  zusammengezogen  würde? 
Die  Absicht  ist  gewiss  gut,  doch  der  Erfolg  entspricht  selten  einer  so 
mühsamen  Cur;  zuvörderst  nämlich  heilen  solche  Wunden,  bei  denen 
keine  Narbencontraction  wirken  kann,  sehr  schwer,  und  wenn  sie  end- 
lich geheilt  sind,  und  man  lässt  das  Glied  frei,  so  kommt  nun  die  Con- 
traction  doch  nach.  Ich  entsinne  mich  sehr  wohl  eines  Kindes  mit  einer 
solchen  Wunde  nach  Verbrennung  in  der  Ellenbogenbeuge,  welches  ich 
als  Assistent  in  der  Klinik  in  Berlin  täglich  zu  verbinden  hatte;  der 
Arm  wurde  continuirlich  durch  eine  Schiene  in  Extension  gehalten  und 
die  Heilung  dauerte  etwa  6  Monate ;  endlich  wurde  das  Kind  mit  völlig 
beweglichem  Arm  und  geheilter  Wunde  entlassen,  und  ich  war  sehr 
stolz  auf  die  gelungene  Cur;  nach  zwei  Mouaten  sah  ich  das  Kind  wieder 
mit  völlig  contrahirter  Narbe;  der  Arm  stand  im  spitzen  Winkel  fast 
unbeweglich;  später  verlor  ich  die  kleine  Patientin  aus  den  Augen  und 
weiss  nicht,  was  daraus  geworden  ist;  das  war  mir  aber  klar,  dass 
ich  das  Kind  und  mich  Monate  laug  vergeblich  gequält  hatte.  Ich  für 
meine  Person  bin  durch  mehre  ähnliche  Fälle  gründlich  von  der  Idee 
curirt,  man  könne  schon  während  der  Beuarbung  der  Wunden  wesent- 
lich viel  durch  orthopädische  Mittel  nützen;  ich  rathe  Ihnen,  lassen  Sie 
zunächst  die  Wunde  völlig  heilen,  wie  sie  will,  die  grossen  Brandwunden 
bei  Kindern  werden  Ihnen  doch  schon  so  wie  so  genug  zu  thun  geben, 
da  sie  immer  schwer  heilen  und  leicht  einen  ulcerativen  Charakter 
annehmen.  Im  Lauf  von  Monaten,  oft  erst  von  Jahren,  verliert  die 
Narbe,  je  mehr  ihre  Gefässe  obliteriren  und  je  melu-  ihr  Gewebe  dem 
Unterhautzellgewebe  ähnlich  wird  (wenn  sich  in  ihr  erst  eine  Art  Cutis 
und  Unterhautzellgewebe  abgesondert  hat),  ihre  Starrheit,  sie  wird 
dehnbarer,  zäher,  elastischer.  Hieraus  folgt  dann,  dass  die  Beweglich- 
keit mit  der  Zeit  yon  selbst  besser  wird,  falls  die  Narbe  eine  Bewegung 
gehemmt  hat.  Wie  Sie  diesen  Schwund  der  Narbe  durch  Compression 
und  Dehnung  unterstützen  und  etwas  beeilen  können,  ist  schon  früher 
erwähnt.     Ist  nun  endlich  die  Narbe  auf  das  kleinste  Maass   zurück- 


634     lieber  die  angebonien.  myo-  vmd  neuropathisehen  Geleiikverkriimmungen  etc. 

gebildet,  dann  können  Sie  dieselbe  zuweilen  mit  Vortlieil  ganz  oder 
theilweis  nach  und  nach  excidiren,  doch  so,  dass  Sie  nach  jeder  Excision 
eiue  Heilung  per  priniam  erzielen,  so  dass  also  an  Stelle  des  dicken, 
kaum  dehnbaren  Narbenstranges  eiue  feine,  lineare  Hautnarbe  entsteht, 
die  weit  leichter  als  die  alte  Narbe  gedehnt  werden  kann;  bekommen 
Sie  iüdess  Eiterung  und  weites  Auseinauderklaffen  der  Wundränder 
nach  diesen  Operationen,  dann  ist  der  Erfolg  sehr  zweifelhaft  (wie  unter 
gleichen  Verhältnissen  bei  der  Tenotomie),  es  entsteht  dann  wieder  eine 
breite,  granulirende  Wunde  und  laugsame  Heilung  mit  einer  Narbe,  die 
an  Breite,  Länge  und  Festigkeit  der  früheren  nicht  nachsteht.  Es  ergiebt 
sich  also,  dass  Sie  die  Excision  von  Narben  mit  Vortheil  nur  bei  ganz 
Contrahirten,  strangartigen,  dünnen  Narben  in  Anwendung  ziehen  können. 
Handelt  es  sich  um  die  Beseitigung  fertiger,  breiter  Narben,  wie  sie 
am  Hals  nach  Verbrennungen  vorkommen,  dann  reicht  die  Excision 
nicht  aus ,  dann  muss  man  dadurch  zu  helfen  suchen ,  dass  man  an  die 
Stelle  der  Narbe  ein  Stück  Haut  aus  der  Nähe  einheilt,  was  dehnbar  ist; 
dies  kann  durch  Verschiebung  benachbarter  Haut  oder  durch  Trans- 
plantation eines  Hautlappen  nach  den  Eegeln  der  plastischen  Operationen 
geschehen,  auf  die  ich  hier  nicht  näher  eingehen  kann.  —  Die  Versuche, 
durch  Handtransplantationen  nach  ßeverdin  die  verloren  gegangene 
Haut  zu  ersetzen,  sind  gewöhnlich  in  soweit  gelungen,  als  durch  die 
aufgeheilten  Hautstücke  der  Schluss  der  primären  oder  durch  Trennung 
der  Narben  erzeugten  Wunden  rasch  erzielt  wurde;  doch  nach  2  —  3 
Wochen  zerfallen  meist  ohne  bekannte  Ursachen  die  transplantirten 
Stücke,  und  die  Wunden  sind  dann  wieder  in  ihrem  früheren  Zustande. 
Es  würde  sich  jetzt  noch  um  die  Behandlung  solcher  Verkrüm- 
mungen handeln,  welche  nach  Paralysen  entsanden  sind,  wobei  die 
Paralyse  bald  vollständig,  bald  unvollständig  fortdauert;  ich  habe 
Hmen  bereits  gesagt,  dass  auch  unter  diesen  Umständen  die  Tenotomie 
in  Anwendung  kommen  kann,  doch  ist  dieselbe  immer  nur  eine  Unter- 
stützung der  Cur;  im  Yv^esentiichen  wird  sich  die  Behandlung  auf  die 
Beseitigung  der  Paralysen  zu  richten  haben.  Von  der  Heilbarkeit  der- 
selben wird  die  Heilbarkeit  dieser  Contracturen  und  der  dadurch  be- 
dingten Verkrümmungen  abhängig  sein.  Hier  eröffnet  sich  nun  das 
weite  Feld  der  Nervenpathologie,  welches  Sie  in  den  Vorlesungen  über 
innere  Medicin  und  in  der  medicinischen  Klinik  genauer  kennen  lernen 
werden.  Es  giebt  da  eine  grosse  Keihe  von  Fällen,  in  welchen  Sic 
a  priori  jede  Therapie  der  Paralysen  aufgeben  werden;  bei  Tumoren 
im  Gehirn,  bei  Apoplexien,  bei  chronischer  Encephalitis,  nach  traumati- 
schen Rüekenmarkszerreissungen,  nach  ausgedehnten  Nervenzerrcissungeu 
u.  s.  w.  wird  überhaupt  die  Therapie  ziemlich  machtlos  sein.  Andere 
Fälle  von  Etiekenmarkcrkrankungen  mit  Paresen  der  unteren  Extremitäten, 
zumal  bei  Kindern,  geben  zu\veilen  eine  relativ  leidliche  Prognose. 
Einestheils  kann  hier  die  innere  Behandlung  mit  Leberthran  und  Eisen, 


Vurlcsiin-    11.      C;i|.il<'l    XIX.  TkJ.O 

sowie  Bäder  mit  Zusalz  von  Mah  oder  SjiIz,  ))eH(n\(lcrs  a])ei'  die  Zeit, 
sehr  vortheiliiaft  cuifdie  KUckl)ilduiig'  der  im  Uliekeiimark  voi-yegaiigeuen 
Veränderung-en  wirken,  die  wir  leider  nocli  wenig-  kennen,  andcrerüeitB 
können  aueli  auf  die  Muskeln  selbst  Heize  angcl^raelit  werden,  welche 
dieselben  wieder  beleben;  besonders  vers})reciicn  die  Fälle  Erlbig,  i)i 
^velcllen  keine  vollständigen  Paralysen,  keine  Paraplegicn,  sondern  nur 
Paresen  einzelner  Muskelgruppeji  bestehen.  Dal)ci  konmien  hauptsächlich 
noch  zwei  äussere  Mittel  in  Anwendung :  1 )  die  gy  m n  a s t i  s c h  c  n  C  ii  r  c  n ; 
2)  die  Elektricität.  Was  die  gymnastisclien  Curen  betriffi,  so  be- 
stehen dieselben  darin,  die  schlummernde,  wenig  entwickelte  Contrac- 
tiousfähigkeit  durch  den  auf  die  paretischen  Muskeln  concentrirten  Willen 
wach  zu  rufen.  Bestimmte  Bewegungen  werden  regelmässig  zu  be- 
stimmten Zeiten  ausgeführt;  dies  geschieht  ganz  zweckmässig  durch  die 
in  neuerer  Zeit  eingeführte  „schwedische  Heilgymnastik",  welche  darin 
besteht,  dass  der  Kranke  aufgefordert  wird,  bestimmte,  auf  gewisse 
Muskeln  berechnete  Bewegungen  auszuführen,  während  der  Gynmast 
diesen  Bewegungen  einen  leichten  Widerstand  entgegensetzt.  Ich  halte 
Ihren  Arm  z.  B.  in  der  Extension  fest;  jetzt  beugen  Sie  ihn,  während 
ich  dieser  Bewegung  durch  einen  leichten  Druck  entgegenarbeite;  für 
jeden  einzelnen  Fall  müssen  natürlich  die  passenden  Bewegungen  aus- 
gesucht werden.  Diese  Art  der  Gymnastik  hat  in  neuerer  Zeit  viele 
Verbreitung  gefunden  und  sich  als  wirksam  erwiesen;  dass  sie  wie 
alle  Gymnastik  bei  vollständiger  Paralyse  nicht  anwendbar  ist,  ist  an 
sich  klar. 

Das  zweite  Mittel,  das  uns  zu  Gebote  steht,  ist  die  Elektricität. 
In  der  Anwendung  dieses  Mittels  sind  in  neuerer  Zeit  bedeutende  Fort- 
schritte gemacht.  Die  Apparate,  die  man  dazu  braucht,  sind  selir  ver- 
einfacht, leichter  transportabel  gemacht  und  so  eingerichtet,  dass  man 
den  Strom  nach  Belieben  verstärken  und  abschwächen  kann.  Ferner 
sind  die  Methoden,  nach  welchen  man  die  Elektricität  anwendet,  bedeu- 
tend verbessert;  früher  nämlich  elektrisirte  man  beliebig  bald  einen 
Muskel,  bald  mehrere  Muskelgruppen  einer  Extremität,  indem  mau  die 
Pole  bald  hier,  bald  dort  ansetzte;  jetzt  versteht  mau  es,  die  einzelnen 
Muskeln  isolirt  zu  elektrisiren ;  der  französische  Arzt  Duchenne  de 
Boulogne  hat  sich  um  diese  Sache  sehr  verdient  gemacht.  Die  Stelleu, 
an  welchen  man  die  Pole  oder  einen  Pol  aufsetzen  nniss ,  um  diesen 
oder  jenen  Muskel  zur  Contraction  zu  bringen,  sind  von  Duchenne  zu- 
erst rein  empirisch  gefunden;  später  wies  Ilemak  nach,  dass  es  in  der 
Eegel  diejenigen  Stellen  sind,  an  welclien  der  stärkste  motorisclie  Nerven- 
stamm in  den  Muskel  eintritt.  In  neuester  Zeit  hat  sich  Ziemsse n  am 
erfolgreichsten  mit  der  Elektrotherapie  beschäftigt;  sein  Buch  zeichnet 
sicli  durch  practische  Brauchbarkeit  und  wissenschaftliche  Bedeutung  und 
vor  Allem  durch  Zuverlässigkeit  aus.  —  Die  Cur  wird  so  gemacht,  dass 
täglich  gewöhnlich  eine  oder  zwei  Sessionen  abgehalten  werden,  in  wel- 


636     Ueber  die  angehonien.  mvo-  und  nearopathisohen  Gelenkverkrümmungen  etc. 

chen  bald  dieser,  bald  jener  Muskel  methodisch  elektrisirt  wird;  dies 
kann  '/, — V^  Stunden  fortgesetzt  werden,  jedoch  niclit  zu  lange,  damit 
die  schwache  Nerventhätigkeit  nicht  durch  zu  starken  Reiz  ertödtet  wird. 
Man  könnte  auch  sehr  schaden  durch  ein  übermässiges  Elektrisiren;  ein 
Arzt  muss  stets  die  Cur  leiten  und  ganz  bestimmte  Angaben  über  die 
Dauer  der  Sessionen  und  die  anzuwendenden  Stromstärken  geben.  Ge- 
wöhnlich sieht  man  bald,  in  wie  weit  die  Muskeln,  welche  spontan 
vielleicht  gar  nicht  gerührt  werden  können,  sich  noch  auf  den  elektri- 
schen Reiz  contrahiren ;  man  darf  selbst  nicht  verzagen,  wenn  mau  in 
den  ersten  Sitzungen  gar  keine  Zuckungen  bekommt;  zuweilen  erscheinen 
dieselben  erst  nach  einiger  Zeit,  wenn  die  Elektricität  bereits  einge- 
wirkt hat.  — 

Eine  sehr  ingeniöse  Methode,  Contractureu  zu  beseitigen,  ist  in 
neuerer  Zeit  von  Barwell  mit  Erfolg  benutzt  worden,  nämlich  einen 
continuirlichen  Zug  in  der  Richtung  anzubringen,  in  welcher  die  Muskeln 
mangelhaft  wirken :  man  applicirt  z.  B.  beim  Klumpfuss  mit  Heftpflaster- 
streifen einen  am  äusseren  Fussrande  und  an  der  Innenseite  der  Tibia 
dicht  unter  dem  Knie  befestigten  starken  Gummistreifen,  der  wie  ein 
„künstlicher  Muskel"  dauernd  ziehend  wirkt.  Es  scheint  mir  dies  sehr 
rationell  und  sollte  in  ausgedehnter  Weise  geprüft  werden.  Ich  habe 
diese  Methode  in  mehren  Fällen  mit  auffallend  raschem  Erfolge  benutzt; 
auch  Lücke  und  Volk  mann  rühmen  dieselbe.  — 

Bei  Paresen  kann  eine  Bewegung  weniger  Muskeln  zuweilen  ge- 
nügen, um  das  Gehen  möglich  zu  machen,  wenn  nämlich  das  ganze 
Bein  durch  irgend  einen  Schienen apparat  eine  gewisse  Festigkeit 
bekommt,  die  es  durch  die  Muskeln  allein  nicht  hat.  Solche  Schieneu- 
apparate,  die  zur  Stütze  der  Extremität  dienen,  sind  nicht  immer  als 
ultimum  refugium  zu  betrachten,  sondern  sie  können  die  Cur  in  so  fern 
unterstützen,  als  der  Kranke  mit  Hülfe  solcher  Apparate  und  mit  Stöcken 
Avirklich  gehen  kann,  wenn  auch  unbeholfen.  Die  GehbcAvegungen  aber 
selbst,  welche  durch  die  paretischen  Muskeln  ausgeführt  werden,  wirken 
vortrefflich  gymnastisch;  [der  Kranke  braucht  auf  diese  Weise,  wenn 
auch  künstlich  aufrecht  gehalten,  doch  seine  Muskeln,  während,  wenn 
er  continuirlich  liegt  oder  sitzt,  die  Muskeln  völlig  unthätig  bleiben  und 
immer  mehr  atrophiren.  Audi  dienen  die  Maschinen  wesentlich  dazu, 
die  Beine' gestreckt  und  die  Füsse  im  rechten  Winkel  zu  erhalten,  avo- 
durch  dann  die  Entwicklung  von  Contractureu  verhindert  wird. 

Gymnastik,  Elektricität,  künstliche  Muskeln  und  Schienenapparate, 
verbunden  mit  zweckmässigen  inneren  Curen,  zumal  auch  mit  passenden 
Badecuren,  können  in  der  That  sehr  fördernd  bei  diesen  Kranken  wir- 
ken ;  und  wenn  auch  viele  dieser  Fälle  unheilbar  sind,  so  sind  darunter 
doch  auch  manche  heilbare  und  manche,  die  wesentlich  gebessert  wer- 
den können. 


Vorlcsiiil!..;   -12.      r;i|,i|,.l    XX. 


Vorlesung  42. 
CAVVVVA.  XX. 

Von  den  Yariccu  iiiul  Aiioiiiysincii. 

Varices:    Verscliiedene    Fonucn.      Kiilslc'liimgsnr.saclicn,    vcrscliicdoic    Ocrtlicliki'ili'ii    dos 
VorkoninuMis.      niiii>'iios(>.      VeiuMistciiic.     Viii'ixH.slel.     'l'licrapic.    —    Variciisc    l^viiipli- 

>^  e  ITi  n  ,s  e.     Lynipliorrliüo. 

Aiieiir  vs>inen  :   Kiitzüiuluiii^sproce^'s  au  den  Arterien.     Aneurysma    i-irsoidciuii.         Atliero- 

niatüser  Frocess.   —  Fornixersrliiedenheiten   der  Aneurysmen.     Siiälere  VerüncU'ruui^cn   dei"- 

selben.     Erseheiniingen.  Folgen.     Aetlologisehes.     Diagnose.  —  Therapie:  (,'oiu])ression, 

Unterbindung,  Injection  von  Liq.  Fcrri.     Kxstirpation.   — 

Unter  Varicen  versteht  man  Venenausdehnungen;  diese  können  ver- 
schiedene Foi-men  haben  und  betreffen  gewöhnlich  gieiclimässig-  sowohl 
den  Durchmesser  als  die  Länge  des  Gefässes.  Eine  Verlängerung'  des- 
selben ist  nur  in  der  AVeise  möglich,  dass  das  Gefäss  sich  seitlicli  aus- 
biegt und  einen  geschläng-elten  Verlauf  annimmt,  wie  dies  l)ei  der  Ent- 
zündung- der  kleineren  Gefässe  auch  der  Fall  ist.  In  manchen  Fällen 
ist  die  Verlängerung  weniger  auffallend  und  auch  der  Durehmesser  des 
Canals  nicht  gleichmässig,  sondern  das  Gefäss  ist  an 
verschiedenen  Stellen,  besonders  an  denen,  wo  Klappen 
liegen,  spindelförmig  oder  sackartig  erweitert.  Am 
häufigsten  erkranken  die  grösseren  Venen  des  Unter- 
hautzellgewebes in  erwähnter  Weise,  zuweilen  vor- 
wiegend die  tiefen  Muskelvenen,  in  vielen  Fällen  beide 
zugleich.  Es  giebt  aber  auch  Varicositäten  an  den 
kleinsten,  kaum  noch  für  das  freie  Auge  sichtbaren 
Venen  der  Cutis  selbst,  die  gar  nicht  selten  für  sich 
allein  erkranken;  es  entstellt  dadurch  ein  gleich- 
mässig hellbläuliches,  höckeriges  Aussehen  der  Haut. 
In  Folge  dieser  Veneuausdehnungen,  die  sehr  allmählig 
nach  und  nach  entstehen,  wird  mehr  Serum  als  ge- 
wöhnlich von  den  Capillargefässen  durchgelassen,  weil 
wegen  der  starken  Ausdehnung  der  Venenwandungen 
und  der  dadurch  bedingten  Insufficienz  der  Klappen 
der  Seitendruck  in  den  Haargefässen  bedeutend  steigt. 
Die  Verdünnung  der  Gefässwandungen  und  der  trans- 
sudirte  Ueberschuss  an  Ernährungsmaterial  kann  nach 
und  nach  Hypertrophie  der  umliegenden  Gewebe  zur 
Folge  haben;  es  kommt  eine  seröse,  dann  zellige  In- 
filtration und  Verdickung  der  mit  Varicen  durchzoge- 
nen Gewebe  zu  Stande;  auch  können  rothe  Blutkör- 
perchen durch  die  Capillarwandungen  austreten.  Der  Druck  der  beim 
Stehen   und   Gehen  prall   gefüllten  Venen  auf  das  umliegende  Gewebe 


Varices  im  Gebiet  der 
V.  saphena. 


gßg      •  Von  den  Varicen  und  Aneurysmen. 

mag-  auch  dazu  beitragen,  letzteres  in  den  Zustand  entzündlicher  Rei- 
zung zu  versetzen.  Wie  durch  ein  weiteres  Fortschreiten  dieses  Pro- 
cesses  das  Gewebe  mehr  und  mehr  verändert,  chronische  Entzündung 
und  Ulceration  eingeleitet  wird,  haben  wir  früher  (pag.  485)  erörtert. 
Es  entstehen  auf  diese  Weise  übrigens  nicht  allein  Geschwürsbildungen, 
sondern  auch  manche  andere  Formen  chronischer  Hautentzündungen,  zu- 
mal ein  chronischer  Bläschenausschlag,  das  „Ekzem"  am  Unterschenkel. 
Jetzt  müssen  wir  uns  mit  der  Frage  beschäftigen,  wodurch  ist  die 
Entstehung  der  Varicen  bedingt.  Es  ist  a  priori  wahrscheinlich,  dass 
die  Ursache  ein  Hinderniss  in  dem  Rückfluss  des  Venenblutes  sei,  ein 
Druck,  eine  Compression  der  Vene  oder  eine  Verengerung  des  Venen- 
lumens irgend  welcher  andern  Art.  Das  Hinderniss  darf  indess  nicht 
plötzlich  auftreten;  denn  ein  plötzlich  verhinderter  Rückfluss  des  Venen- 
blutes veranlasst  gewöhnlich  nur  Oedem;  so  die  Unterbindung  eines 
grossen  Venenstammes  und  die  rasch  auftretenden  Thrombosen.  Der 
Druck  rauss  also  allmählig  auf  den  Venenstamm  wirken.  Doch  auch 
dies  genügt  noch  nicht;  oft  veranlasst  ein  ganz  allmählig  sieh  verstär- 
kender Druck  doch  keine  Varicositäten  der  Venen,  sondern  es  bilden 
sich  reichlichere  Collateralabflüsse  aus,  so  dass  entweder  nichts  oder  ein 
ganz  geringes  indurirtes  Oedem  erfolgt.  Eine  Disposition  zu  Gefäss- 
ausdehnungen  muss  zu  gleicher  Zeit  vorhanden  sein,  eine  gewisse  Schlaff- . 
heit,  Dehnbarkeit  der  Venenwandungen,  vielleicht  ein  Reizungszustand 
in  denselben.  — 

Genauere  Untersuelumgen  über  ectatische  Venen  von  Soboroff  haben  ergeben, 
dass  sich  die  Wandung  derselben  sehr  verschieden  verhält.  Soboroff  untersuchte  be- 
sonders die  V.  saphena  und  ihr  Gebiet;  dabei  fand  sich,  dass  diese  Venen  bei  verschie- 
denen Menschen  im  normalen  Zustand  in  Betreff  der  einzelnen  Schichten  wesentlich  diffe- 
riren ,  ja  dass_  zuweilen'  nahe  einander  liegende  Stellen  dergleichen  Venen  ungleichartig 
zusammengesetzt  sind.  Dies  ist  höchst  interessant,  weil  es  erklärt,  warum  das  Auftreten 
von  Varicositäten  bei  gleichen  Gelegenheitsm-sachen  doch  so  ungleich,  und  in  rein  indi- 
viduellen Verhältnissen  begründet  ist.  Man  kann  bei  den  ectatischen  Venen  solche  mit 
dünnen,  und  solche  mit  dicken  "Wandungen  unterscheiden.  Gemeinsam  ist  allen  die 
Vergrösserung  der  einzelnen  Muskelfasern  und  die  Unveränderlichkeit  rnid  Integrität  der 
Endothelien.  Die  Verschiedenheit  der  Durchmesser  der  Venenwandungen  ist  also  der 
Hauptsache  nach  durch  Vei'dickung  der  Adventitia,  deren  Gefässe  auch  sehr  zunehmen  und 
der  Kittsubstanz,  welche  die  Muskelfasern  bindet,  in  geringerem  Grade  auch  durch  Verdickung 
der  Intima  bedingt;  eine  sklerotische  Verdickung  der  letzteren  wie  bei  der  Arteriensklerose 
findet  sich  indess  äusserst  selten.  —  Die  anatomischen  Verhältnisse  gestalten  sich  demnach  in 
den  Venenwandungen  bei  gesteigertem  Druck  ganz  ähnlich  wie  in  den  AVandungen  der 
Harnblase  und  des  Herzens  unter  ähnlichen  Verhältnissen.  Zimächst  scheinen  die  Muskel- 
fasern in  Folge  gesteigerter  Functionsforderung  grösser  zu  werden;  kommt  dann  reicli- 
lichere  Ernährung  durch  zunehmende  Vasa  vasorum  hinzu,  so  wii-d  das  Bindegewebe,  zu- 
mal der  Adventitia  erheblich  vermehrt;  bleibt  die  gesteigerte  Nutrition  der  Gefässwandung 
aus,  dann  kommt  es  zur  Atrophie  und  vollständigen  Erschlaffung. 

Die  Disposition  zu  Varicen  ist  in  vielen  Fällen  angeerbt;  Gefäss- 
krankheiten  vererben  sich  überhaupt  gar  nicht  selten ,  sowohl  Krank- 
heiten  der   Arterien   als  auch   der  Venen  und  Capillareu,    durch  deren 


Vorlcsiiii',^  4-2.     <';i|,ilcl    X\.  OP/I 

kvaiiklinftc  Erweltcnuig-  die  (Icf'ässinillcr,    die  HO£>T,naniitcn   Matten tiäl er 
bedingt    sind,    deren   Evbliclikcit    selbst    den    Laien    ])ekannt    ist.      Wir 
können  daher    die   glcicli  zn  nennenden  Ursaeben  der  Varicositätcn   mir 
als   Gelcg'enheitsursaeben  bei   vorliandener   Disposition   l)etraclitcn.      i)i(! 
Varicen  sind  bei  Frauen  liäufigcr  als  bei  Männern;  innn  scliiebt  die  l'i-- 
saclic  besonders  auf  wiederliolte  Schwangerscbaften :    der  allni;ihlig  sieh 
vergTÖsseriide  Uterus  drückt  auf  die  Vv.  iliacae  communes,  dann  s|);iter 
auch  auf  die  V.  cava,  uud  es  entwickelt  sich  dabei  /Aiweilen  sogar  (Jedem 
der  Füsse  in  Folge   des  Druckes  auf  diese  Venen.      ITüulig    entstehen 
Varicen  im  ganzen  Gebiet  der  V.  saphena,    doch   auch  zuweilen  im  Be- 
reiche der  Vv.  pudendales,    so  besonders   in   den  grossen  Schamli])])en. 
Weit  schwieriger  sind  die  Ursachen  für  die  seltener  vorkommenden  Va- 
ricositäten  bei  Männern  aufzufinden.    Starke  Anhäufung  von  Fäcalmassen 
können  freilich  durch  Druck  der  Kotld)allen  auf  die  Unterleil)svenen  ein 
veranlassendes  Moment  für  die  Entstehung  von  Varicen   sein;   indessen 
lässt  sich  dies  doch  selten  nachweisen.     Bei  vielen  Männern  mitVarico- 
sitäten  werden  Sie  ganz  unverhältnissmässig  lange  untere  Extremitäten, 
zumal  sehr  lang-e  Unterschenkel  finden;    dies   mag  in   einzelnen  Fällen 
als  begünstigender  Umstand  für  Stauungen  in  den  Venen  gelten.     Ferner 
wäre  es   denkbar,   dass  massenhafte  Anhäufung  von   derbem  Fett  oder 
auch  Schrumpfunggprocesse  an  dem  Processus  falciformis  der  Fascia  lata 
Veranlassung  zu  Blutstauungen  in  der  V.  saphena  werden  krtnncn ,    da 
letztere  sich  gerade  hier  in  die  V.  femoralis  einsenkt.     Anatomische  Un- 
tersuchungen liegen,    so  viel  mir  bekannt  ist,    über   diesen  Punkt  nicht 
vor.     Das  Hinderniss  für   den  Blutabfluss  braucht    übrigens    gar    nicht 
immer  direct  in  dem  Gebiet  der  erweiterten  Venen  zu  liegen:   es  wäre 
z.  B.  sehr  wohl  denkbar,  dass  bei  allmähliger  Verengerung  und  schliess- 
licher  Obliteration  der  V.  femoralis  unterhalb  des  Eintritts  der  V.  saphena 
die  Wurzeln  der  letzteren  durch  Collateralcirculationen  enorm  ausgedehnt 
würden.   —  Es  kommen    noch   an  manchen   andern  Orten   des  Körpers 
Varicositäten  vor,    so  besonders   am  untern  Theil  des  Piectum  und   am 
Samenstrang.      Die  Varicen  der  Vv.  haemorrhoidales  im  untern  Theil 
des  Eectum  stellen  die  Hämorrhoiden  (von  ai'^ia  Blut,   qsco  fliessen) 
dar,    welche  bekanntlich  vorzugsweise  bei  Leuten  entstehen,    die    eine 
sitzende  Lebensweise  führen.    Varicositäten  an  andern  Theilen  des  Kör- 
pers gehören  zu  den  grossen  Seltenheiten;  sie  kommen  gelegentlich  am 
Kopf  vor,   meist  ohne  bekannte  Ursache,   können  sich  nach   einer  Ver- 
letzung bilden,   wenn  in  Folge   derselben  eine  Verwachsung    der    arte- 
riellen und  venösen   Gefässwandungen    und    ein  Einströmen    arteriellen 
Blutes  in  die  Venen  erfolgt;   das  nennt  man  dann  einen  Varix  aneurys- 
maticus,  wovon  wir  schon  im  zweiten  Capitel  gesprochen  haben  (pag.  139). 
In   dem  pathologisch  -  anatomischen  Atlas   von  Cruveilhier  finden  Sie 
als   grosse  Seltenheit  eine  Abbildung  grosser  Varicositäten   der  Bauch- 


Q4J0  Ton  den  Yaricen  und  Aneurysmen. 

venen;   ein  ülinliches  Präparat  findet   sicli  in  der  patliologiscli  -  anatomi- 
scheu  Saminlimg-  in  Wien. 

Die  Diagnose  der  Yaricen  ist  nielit  schwer,  sowie  die  Hautveuen 
betroffen  sind;    Yaricositäten   der   tiefern  Muskelvenen    kann    man    fast 
niemals    mit    Gewissheit    diagnostieiren ;    am    Unter-    und   Oberschenkel 
markiren  sich  die  geschlängelt  verlaufenden  Yeneu  in  ihrem  ganzen  Yer- 
lanf  oft  so  deutlich  durch  die  Haut  hindurch,    dass  sie  leicht  als  solche 
zu  erkennen  sind;  in  andern  Fällen  aber  sieht  man  nur  einzelne,  leicht 
bläulich  gefärbte,  fluctuirende,   zusammendrückbare  Knoten;    diese  ent- 
sprechen vorwiegend   den  sackförmigen  Erweiterungen  der  Yenen  und 
den  Stellen,   wo  Klappen  liegen.     Hier  findet  man  zuweilen  sehr  harte, 
feste,  rundliche  Körper:  Yenensteine,  Phlebolithen  (cflaip  Yene,  li^og 
Stein),  sie  zeigen  sich  bei  der  anatomischen  Untersuchung  als  geschichtete 
Klümpchen,    welche  anfangs  immer  aus  Faserstoff'  bestehen,    dann  aber 
vollkommen  verkalken  können,    so   dass   sie   das  Ansehen  von  kleinen 
Erbsen  haben.  —  Die  Yaricen  der  untern  Extremitäten  machen  in  den 
vorwiegend   meisten   Fällen    für    sich    gar    keine  Beschwerden,    ausser 
vielleicht  nach   anstrengendem  Gehen  oder  langem  Stehen    ein    Gefühl 
von  Spannung  und  Schwere  in   den  Beinen.     In   beiden  Fällen   treten 
aber  zuweilen  Thrombosen  in  einzelnen  Yenenaussackungen  ein:  es  folgt 
Entzündung  der  Yenenwandung  und  des  umgebenden  Zellgewebes,  und 
wenn  auch  bei  frühzeitiger  Behandlung   gewöhnlich    der  Ausgang    des 
Eutzündungsprocesses  in  Zertheilung  erfolgt,    so    kann    eventuell   auch 
eine  Eiterung,    ein   Abscess   sich  daraus   entwickeln.     Die   Behandlung 
ist  dieselbe,  wie  wir  sie  schon  früher  bei  ti'aumatischer  Thrombose  und 
Phlebitis  besprochen  haben.    Eine  andere  Fährlichkeit,  welche  der  Yarix 
mit  sich  bringen  kann,    ist   das  Platzen  desselben,    ein  ausserordentlich 
seltener  Yorfall;    die  Blutimg   ist  bei  ruhiger  Lage  durch  Compression 
leicht  zu  stillen,  und  eine  Gefahr  droht  nur  dann,  wenn  ärztliche  Hülfe 
nicht  bald  zur  Hand  ist.     Aus  einem  solchen  geplatzten  Yarix  kann  sich 
auch  ein  varicöses  Geschwür  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  entwickeln, 
indessen  ist  dies  selten.     Auch  kann  es  vorkommen,  dass  sich  die  feine 
Oeffnung  eines  geplatzten  Yarix  nur  vorübergehend  schliesst.  dann  wie- 
der aufbricht,  blutet,  sich  wieder  schliesst,  und  dies  eine  lange  Zeit  so 
fortgeht.      Man   nennt  das   eine  Yarixfistel:    die  Heilung   erfolgt   bei 
ruhiger  Lage  durch  Druck  oder  man  exstirpirt  den  Yarix.     Ist  die  ganze 
Haut  und  das  Unterhautzellgewebe  eines  Unterschenkels  sehr  stark  in- 
durirt,  und  hat  diese  Induration  auch  die  Adventitia  der  Hautvenen  er- 
griffen,   so    liegen    dieselben   ganz  unbeweglich  und   erscheinen  in  der 
festen,    lederartigen    starren   Haut    beim  Betasten    mit  dem  Finger   als 
Halbcanäle.     Ich  mache  Sie  hierauf  besonders  aufmerksam,    weil    Sie 
sonst  sehr  leicht  in  solchen  Fällen  von  Induration  der  Haut  die  Yarico- 
sitäten ganz  übersehen  könnten. 

Bei  der  Behandlung  der  Yaricen  müssen  wir  uns  insofern  gleich 


VuilcMiiii;    12.     Ca|.ii.l    XX.  041 

als  zienillcli  olinmäclitig'  crklürcn,  als  wir  keine  Mittel  kennen,  welche  die 
Disposition  zu  diesen  Vencnerkrankung-eu  zu  vernichten  im  Stande  wären. 
Auch  über  die  Druckursachen  sind  wir  in  den  meisten  Fällen  nicht  Herr,  und 
so  werden  wir  eigentlich  zu  dem  Schlüsse  kommen,  dass  die  Yarieen  über- 
haupt nicht  heilbar  sind,  d.  h.  wir  besitzen  keine  jMittel,  die  krankliaft 
ausg-edehnten  Venen  auf  ihr  normales  Maass  zurückzuführen.  \\\r  müssen 
uns  für  manche  Fälle  sagen,  dass  die  Entstehung-  der  Yarieen,  i)hysio- 
logisch  betrachtet,  eine  naturgemässe  Ausgleichung  abnormer  Druckver- 
hältuisse  im  Gefässsystem  ist,  und  dass  wir  so  lauge  keine  Aussieht 
haben,  die  Yarieen  zu  beseitigen,  als  wir  die  Ursache  derselben  nicht 
beseitigen  können;  denn  falls  wir  aucli  eine  oder  mehre  dieser  er- 
krankten Yenen  entfernen,  so  würden  sich  dafür  bald  andere  Wege  aus- 
bilden. Schon  aus  diesem  Grunde  verwerfe  ich  alle  Operationen,  welche 
zum  Zweck  haben,  einen  oder  mehre  varicöse  Knoten  am  Unterschenkel 
zu  beseitigen.  Bedenken  Sie,  dass  die  einzelnen  Yarieen  an  sich  fast 
gar  keine  Beschwerde  machen,  dass  jede  Operation  an  den  Yenen  durch 
Complication  mit  Thrombose  und  Embolie  lebensgefährlich  werden  kann, 
so  werden  Sie  mir  beistimmen,  wenn  ich  die  Operation  der  Yarieen  für 
vollkommen  unmotivirt  halten  muss.  Dennoch  werden  diese  Operationen 
besonders  oft  in  Frankreich  und  nicht  selten  mit  tödtlichem  Ausgange 
ausgeführt;  es  giebt  eine  sehr  grosse  Menge  von  Operatiousmethoden; 
nur  wenig  Worte  darüber.  Die  älteste  Methode,  die  schon  von  den 
Griechen  geübt  wurde,  besteht  darin,  die  varicösen  Yenen  frei  zu  legen 
und  entweder  heraus  zu  schneiden  oder  heraus  zu  reissen.  Später 
wurde  vielfach  das  Glüheisen  applicirt  und  dadurch  eine  Gerinnung  des 
Bluts  in  den  Yenen  erzeugt,  welche  die  theilweise  oder  vollständige 
Obliteration  der  Gefässe  zur  Folge  hatte.  Auch  kann  man  mit  einer 
sehr  feinen  Spritze  durch  eine  nadeiförmig  zugespitzte  Cauüle  Liquor 
Ferri  sesquichlorati  (perehlorure  de  fer)  injiciren,  welches,  wie  Sie  wissen, 
sehr  schnell  Gerinnung  des  Blutes  erzeugt.  Endlich  kam  auch  die  Li- 
gatur der  Yenen  in  Anwendung,  besonders  die  subcutane  Ligatur  nach 
Eicord,  und  das  subcutane  Aufrollen,  das  Enroulement  nach  Yidal, 
kleine  operative  Handgriffe,  die  ich  Ihnen  im  Operatiouscurs  zeigen 
werde,  sehr  sinnig  erdachte  Methoden,  nur  Schade,  dass  sie  zwecklos 
und  nicht  ganz  gefahrlos  sind. 

Soll  man  nun  aber  nichts  gegen  die  Yarieen  thun?  Doch  man  soll 
sie  in  gewissen  Schranken  zu  erhalten  suchen  und  ihre  Folgewirkungeu 
dadurch  verhindern  oder  auf  den  geringsten  Grad  zurückführen.  Hier- 
für giebt  es  nur  ein  Mittel,  nämlich  die  dauernde  Compression, 
welche  jedoch  nur  in  einem  solchen  Grade  ausgeübt  werden  darf,  dass 
sie  für  den  Patienten  leicht  erträglich  ist.  Wir  bedienen  uns  zweierlei 
verschiedener  mechanischer  Hülfsmittel  zur  Ausübung  von  Compression 
in  diesen  Fällen,  der  Schnürstrümpfe  und  der  kunstgemässen  Einwicklung 
mit  Rollbindeu.    Die  Sehuürstrümpfe  bestehen  entweder  aus  einem  gleich- 

ßilh-otli  chir.  Putli.  ii.  Ther.   7.  Aufl.  41 


(342  Von  den  Varicen  und  Aneun^smen. 

massig"  genau  gearbeiteten,  überall  fest  anliegenden  Lederstrumpf,  welcher 
au  einer  Seite  gespalten  ist  und  liier  wie  ein  Sehnürleib  zugeschnürt 
wird,  bis  er  fest  genug  liegt,  oder  aus  einem  Gewebe  von  Gummifäden, 
welche  mit  Seide  oder  Baumwolle  übersponnen  sind;  Sie  kennen  diese 
Art  von  Zeug,  da  ein  grosser  Theil  der  Hosenträger  daraus  besteht. 
Diese  Schntirstrümpfe ,  welche  mit  grosser  Sorgfalt  gearbeitet  und  con- 
tiuuirlich  getragen  werden  müssen,  sind  leider  ziemlich  theuer  und 
müssen,  da  sie  nicht  gewaschen  werden  können,  auch  oft  neu  ange- 
schafft werden,  so  dass  sie  eigentlich  nur  für  bemittelte  Leute  practisch 
brauchbar  sind.  Für  die  meisten  Fälle  reicht  ein  sorgfältig  angelegter 
Verband  mit  Eollbiuden  aus.  Sie  nehmen  dazu  am  besten  baumwollene 
Binden  von  2 — 3  Finger  Breite,  welche  in  gutem  Buchbiuderkleister 
eingeweicht  sind,  und  wickeln  damit  vom  Fuss  an  mit  Umgehung  der 
Ferse  den  ganzen  Unterschenkel  bis  zum  Knie  ein:  ein  solcher  Verband 
kann  5 — 6  Wochen  lang  getragen  werden,  wenn  er  sorgfältig  geschont 
wird,  und  die  Entstehung  von  Geschwüren  selbst  bei  schon  ziemlich 
infiltrirter  Haut  verhindern,  indem  er  zu  gleicher  Zeit  die  Weiteraus- 
bildung der  Varicen  hemmt. 

In  sehr  seltenen  Fällen  kommen  auch  Varicosi täten  der  sub- 
cutanen Lymphgefässe  an  den  Extremitäten  vor;  die  innere  Seite 
des  Oberschenkels  im  oberen  Dritttheil  ist  der  Locus  praedilectiones  die- 
ser Erkrankung,  die  schon  eine  sehr  hochgradige  sein  muss,  um  deut- 
lieh sichtbar  zu  werden.  In  den  meisten  der  bekannt  gewordenen  Fälle 
entstanden  Convolute  von  ectatischeu  Lymphgefässen,  die  auch  wohl  zu 
cavernösen  Räumen  confluirten.  Dabei  kommt  es  nicht  selten  zu  einer 
Perforation  der  Haut;  es  bildet  sich  eine  Lymphfistel  aus,  d.  h.  es 
entleert  sich  täglich  eine  grosse  Menge  von  Lymphe,  die  meist  rein 
serös  ist,  in  einigen  Fällen  milchartig  aussah.  Die  Heilung  durch  Com- 
pression  gelingt  selten,  meist  kam  man  schliesslich  dazu,  das  ganze 
Convolut  ectatischer  Lymphgefässe  zu  exstirpiren. 


Es  ist  ziemlich  lange  her,  dass  wir  von  dem  Aneurysma  trauma- 
ticum  gesprochen  haben;  Sie  werden  sich  jedoch  erinnern,  dass  bei  den 
Stichwunden  davon  die  Rede  war  (pag.  136),  und  dass  ich  Ihnen  damals 
sagte,  ein  Aneurysma  sei  eine  Hohle,  ein  Sack,  welcher  direct  oder  in- 
direct  mit  einem  Arterienlumen  communicirt;  dass  solche  Höhlen  nach 
Verletzungen  der  Arterien  durch  Stich,  nach  subcutanen  Zerreissungeu 
und  Quetschungen  derselben  sich  ausbilden  können,  wissen  Sie  bereits. 
Jetzt  haben  wir  aber  nicht  von  diesen  traumatischen,  sogenannten  falschen 
Aneurysmen  zu  sprechen,  sondern  von  dem  Aneurysma  verum,  welches 
durch  Krankheit  der  Arterienwaud  sich  allmählig  ausbildet.  Um  Ihnen 
eine  klare  Vorstellung  zu  geben,  wie  dies  geschieht,  ist  es  am  besten, 
dass  wir  von  den  anatomischen  Verhältnissen  ausgehen.    Sie  wissen  ])is 


Vorlcsimi;'  42.     Cai)ilcl    XX.  f;4;> 

jet/i  iiocli  iiiclit   viel    von  Avlci-icncrki-aiikiiii^cn;    ausser   der   'J'liroinbiiH- 
l)il(luiig-  naeli  Verletzung-,  der  Eutwickluu-  des  Collater;i,lkreislaufes  und 
dem  bei  Geleg^enlieit  der  Gang-raena  senilis  Iliiclitig-  besj^roclienen  atliero- 
matöscn  Process  sind  bis  daliin  noeli  keine  weiteren  Erkraidamgen    ei-- 
wälint.     Dieselben  sind  aucli  mit   den  genannten   an  sich  fast  erscliöj)!"!, 
nur   dass   wir  die  Folgen  der  atheromatösen  Erkrankung  ))is  jetzt  erst 
sehr  einseitig  beriieksicbtigt  haben.  —  Von   den   verschiedenen  Theilen, 
aus  welchen   das  Arterienrohr  zusammengesetzt  ist,    sind   es  besonders 
die  Tunica  rauscularis  und  intima,  welche  am  häufigsten  erkranken,  und 
zwar,    wie   es   scheint,    primär  erkranken.     Die   Tunica  media   ist  aus 
Mnskelzellen  und  etwas  Bindegewebe  zusammengesetzt,  die  Tunica  intima 
besteht  aus   gefässlosen,   elastischen  Lamellen,   gefensterten  Mendji-anen 
und   aus   der   sehr  dünnen   Endothelialhaut.  —   Nach   Verletzungen  von 
Arterien  lässt  sich  leicht  coustatiren,  dass  die  Arterieuwandung  anscliwillt 
und  eine  Zeit  lang  verdickt  bleibt;  es  kann  die  plastische  Infiltration  dei- 
Gefäss Wandung  auch  zur  Eiterung  führen,  so  dass  sich  in  derselben  ein- 
zelne kleine  Eiterheerde  bilden,    ein  Vorgang,    der  freilich  seltner   bei 
Arterien  als  bei  Venen  beobachtet  wird.    Bei  diesen  Processen  tritt  eine 
Lockerung  der  Häute  ein,    die  Litima   löst   sich   leichter   als   sonst  von 
der  Media,  letztere  wird  weicher,  die  Muskelzellen  k(3nnen  durch  ZQrfall 
theilweis  zu  Grunde  gehen,   und  es  kann   in  Folge  dieser  verminderten 
Resistenz  der  Gefäss wandung  zur  Erweiterung  des  Arterienrohrs  kommen. 
—  Solche  acuten  entzündlichen  Processe  mit  plastischer  Neubildung  und 
theilweiser  Erweiterung  können  spontan  auftreten,  und  wenn  man  darüber 
auch  keine  speciellen  Beobachtungen  besitzt,  so  unterliegt  es  doch  nach 
der  Analogie  mit  anderen  Geweben  keinem  Zweifel,  dass  eine  spontane, 
idiopathische,    acute   und   subacute   Entzündung-  der  Arterien  auf  diese 
Weise    wird   verlaufen   können  und   wahrscheinlich   neben   acuten   Ent- 
zündungsprocessen  anderer  Gewebe  vorkommt.    Auf  alle  Fälle  sind  diese 
acuten    spontanen   Arterienentzündungen    äusserst   selten,    viel    häufiger 
sind  die  chronischen.     Nur  eine  Form  der  Aneurysmen  beruht  vielleicht 
auf  einem  solchen  subacuten  diffusen  Entzündungsprocess  der  Arterien  mit 
Verminderung  der  Resistenz  ihrer  Wandungen,  nämlich  das  Aneurysma 
cirsoideum   oder   Aneurysma   per   anastomosin,   auch   Angioma 
arteriosum   racemosum   benannt.      Diese    Art    der    Arterienerweite- 
rung ist  total  verschieden  von  den  später  zu  erwähnenden  Aneurysmen; 
es  handelt  sich  hier  nicht  um  die  circumscripte  Erweiterung  eines  Theils 
einer  Arterie,   sondern  um  die  Erweiterung  einer   grösseren  Menge  von 
dicht  zusammenliegenden   Arterien,    welche   ausserdem  auch  noch  stark 
geschlängelt  sind,  ein  Zeichen,  dass  auch   die  Länge   der  Arterien  be- 
deutend zugenommen    hat.      Das  Aneurysma  cirsoideum  ist  also 
ein    Convolut    von    erweiterten    und    verlängerten    Arterien. 
Damit  diese  Veränderung  zu  Stande  kommt,   muss   in  der  Arterienwan- 
dung eine  bedeutende  Neubildung,  auch  in  der  Längsrichtung  erfolgen; 

41* 


644 


Von   den  Varicen  und  Aneurysmen. 


Fic?.  124. 


Aneurysma    cirsoideura    der  Kopfhaut   bei   einer    alten  Frau;    eine    kleine  Geschwulst  soll 
angeboren  gewesen  sein  und  sieli  nach  und  nach  zu  diesem  Umfang   ausgebreitet  haben; 

nach  Breschet. 


die  Erweiterung  ist  vielleicht  durch  Atrophie  der  Muscularis  bedingt;  ge- 
wöhnlich nimmt  man  (freilich  ohne  es  beweisen  zu  können)  als  Ent- 
stehungsursache dieser  Art  von  Aneurysmen  eine  Paralyse  der  Arterien- 
wandungen an;  indess  wenn  auch  die  Paralyse  allenfalls  eine  massige 
Erweiterung  der  Arterien  wird  erklären  können,  wobei  die  Ursache  der 
Paralyse  selbst  ganz  unerklärt  bleibt  (bei  totaler  Paralyse  z.  B,  der 
unteren  Extremitäten  erfolgt  keine  Erweiterung  der  Arterien),  so  ist 
doch  die  Verlängerung  des  Arterienrohrs,  die  nur  auf  einer  Neubildung 
von  Wandungselementeu  beruhen  kann,  dadurch  nicht  verständlicher 
gemacht.  Ich  glaube,  wie  gesagt,  dass  diese  Art  der  Arterieuerweite- 
ruug,  welche  sehr  viel  Aehnlichkeit  mit  der  entzündlichen  Gefässerwei- 
terung  und  Schlingenbildung  hat,  auf  einen  Entziindungsprocess  der 
Arterien  zurückgeführt  werden  muss,  und  zwar  nicht  auf  die  später  zu 
besprechende  chronische  Entzündung  mit  Atherombildung,  sondern  auf 
eine  mehr  subacute  diffuse  Entzündung  mit  vorwiegender  Gewebsueu- 
bildung.  Hierfür  sprechen  auch  mehre  ätiologische  Momente:  diese  Aneu- 
rysmen entstehen  gar  nicht  selten  nachweisbar  nach  Schlag,  Stoss,  Ver- 
wundung ;  sie  sind  am  häutigsten  an  Stellen,  wo  viele  kleinere  Arterien 
auastomosireu,    so    besonders    am   Hinterhaupt,    in    der   Schläfen-    und 


Vorlcsims   l'i.     Ciipifcl   XX.  Qdt) 

Schcitclbcing-og'cnd ;  mau  könnte  diese  Art  des  Aneuiy.sni.i  als  einen  znni 
Ucberaiaass  ausg-el)ildeten  Collateralkreislaiir  auCfassen;  aiieli  die  cdlla- 
teral  sich  erweiternden  Arterien  werden,  ausser  dass  sie  sieh  erweitern, 
stark  gescliläng-elt,  der  zur  Erweiterung-  und  Sehl:ni.-cliin.-  di^y  befasse 
führende  Proeess  ist  offenbar  in  beiden  Fällen  der  gleielie.  Kerncr  isl 
zu  erwälmen,  dass  dies  Aneurysma  sich  besonders  l)ei  jugendlichen  In 
dividuen  entwickelt,  avo  die  clironisclien,  zu  anderen  Aneurysn)cn  fühicn 
den  Artcrieuerkrankungen  selten  vorkommen.  —  Die  Diagnose  des  Aneu- 
rysma cirsoideum  ist  sehr  cinfacli,  wenn  es,  wde  gewöhnlich,  unter  der 
Haut  liegt;  es  sind  freilieli  auch  tiefere  Aneurysmen  der  Art,  z.  B.  an 
der  Art.  glutaea,  l)eobachtet  worden,  indess  am  häufigsten  kommen  sie 
am  Kopf  vor;  hier  fühlt  man  die  geschlängelten  ])ulsirenden  Arterien 
deutlich  und  sieht  sie  pulsiren,  so  dass  die  Krankheit  leicht  zu  erkennen 
ist;  im  Ganzen  ist  sie  nicht  häufig.  — 

Es  muss  hier  noch  erwähnt  werden,  dass  die  Arterien wandung  acut 
und  chronisch  dadurch  erkranken  kann,  dass  sich  ein  Eiterungs-  oder 
Ulcei-ationsprocess  von  der  Umgebung  aus  zunächst  auf  die  Adventitia, 
dann  auch  auf  die  anderen  Häute  ausbreitet  und  letztere  in  Mitleiden- 
schaft zieht;  seltner  ist  dies  bei  acuten  Abscessen  der  Fall,  häufiger  bei 
chronischen  Ulcerationsprocessen.  Um  ein  Beispiel  anzuführen,  so  kommt 
es  bei  der  Bildung  von  Cavernen  in  den  Lungen  gar  nicht  selten  vor, 
dass  der  Verschwärungsprocess  auf  die  Wandungen  der  kleineren  Ar- 
terien übergreift,  und  dass  die  Adventitia  theilweis  zerstört  und  erweicht 
wird,  oder  dass  die  ErAveichung  durch  Tuberkelbildung  in  den  Arterien- 
wandungen zu  Stande  kommt.  Die  Folge  davon  ist  dann,  dass  an  dieser 
Stelle  die  Arterie  sich  erweitert  und  so  ein  kleines  Aneurysma  entsteht, 
dessen  Platzen  zu  heftigen  Lungenblutungen  Veranlassung  giebt.  Auch 
andere  Ulcerationsprocesse  können,  wenn  dies  auch  im  Ganzen  niclit  sehr 
häufig  ist,  ihren  Weg  auf  eine  Arterie  zu  nehmen  und  die  Wandung  der 
letzteren  zerstören,  so  dass  die  Arterie  berstet  und  dass  dadurch,  wenn 
es  einen  grösseren  Stamm  betrifft,  eine  tödtliche  Blutung  erfolgt.  Ich 
habe  mehr  solche  Fälle  erlebt;  bei  einem  alten  Manne  hatte  sich  ein 
Abscess  in  der  Tiefe  des  Halses  gebildet,  welcher  sich  in  den  Pharynx 
eröffnet  hatte;  dies  war  aus  der  allmählig  entstandenen  sclmierzhaften 
Anschwellung  am  Halse  und  aus  reichlichem  Auswurf  eines  stinkenden 
Eiters  zu  diagnosticiren;  Patient  war  kaum  einige  Stunden  im  Spital,  als 
er  plötzlich  eine  enorme  Masse  Blut  auswarf,  sehr  schnell  asphyktisch 
wurde  und  starb;  die  Section  zeigte,  dass  in  Folge  einer  Zellg-ewebs-Ver- 
eiterung-  um  die  Art.  thyreoidea  superior  diese  Arterie  viel  Blut  ergossen 
hatte  und  dies  direct  in  den  Laryux  geströmt  war,  so  dass  dadurch  der 
Erstickungstod  eintrat.  Li  einem  andern  Falle  erfolgten  bei  einem  jungen 
Mann,  der  an  Caries  des  rechten  Felsenbeins  litt,  wiederholte  arterielle 
Blutungen  aus  dem  rechten  Ohr ;  ich  diagnosticirte  einen  Abscess  an  der 
unteren  Seite  des  Felsenbeins   mit  Vereiterung  der  Art.  carotis  interna, 


RAR  Von  den  Varicen  und  Aneurysmen. 

Die  Bliitung-en  waren  durcli  Tamponade  des  Ohrs  nicht  zu  stillen;  ich 
machte  die  Unterbindung  der  Art.  carotis  communis  dextra.  Die  Blu- 
tungen hörten  10  Tage  lang  auf,  dann  begannen  sie  von  Neuem;  nach- 
dem wiederum  Tamponade  und  dann  Digitalcompression  der  linken 
Art.  carotis  ohne  dauernden  Erfolg  gemacht  war,  unterband  ich  auch 
die  Art.  carotis  communis  sinistra;  zwei  Tage  darauf  .-tavb  der  Kranke 
doch  an  profuser  Blutung  aus  dem  rechten  Ohr,  aus  Nase  und  Mund; 
der  Abscess,  der  mit  Blut  gefüllt  war  und  jetzt  als  Aneurysma  spurium 
betrachtet  werden  konnte,  hatte  sich  auch  nach  dem  Pharynx  eröffnet. 
Die  Section  bestätigte  die  Diagnose  vollkommen. 

Kommen  wir  aber  jetzt  zu  den  ächten  Aneurysmen.  Im  höheren 
Alter  ist  es  eine  sehr  gewöhnliche  Erscheinung ,  dass  die  Arterien  auf- 
fallend dick  und  hart,  zuweilen  auch  geschlängelt  werden,  besonders 
die  Arterien  von  dem  Durchmesser  der  Eadialis  an  und  kleinere.  Un- 
tersucht man  solche  rigiden  Arterien  genauer,  so  findet  man  die  Tunica 
intima  verdickt,  knorpelig  fest,  das  Lumen  des  Gefässes  starrer  als  sonst, 
klaffend;  hier  und  da  ist  die  Arterie  sogar  kalkig  fest,  selbst  ganz  ver- 
kalkt, verknöchert.  Diese  kalkigen  Partien  sind  nicht  diffus  in  beliebige 
Stellen  der  Gefässwandung  eingelagert,  sondern  in  Form  von  Kreisen, 
entsprechend  den  queren  Muskellagen  der  Tunica  media;  es  sind  die 
Gefässmuskeln,  welche  hier  verkalken.  Bei  Individuen  mit  solchen  Ar- 
terien findet  man  dann  in  der  Aorta  und  den  von  ihr  zunächst  abgehen- 
den grösseren  Stämmen  an  der  Innenfläche  weisslich  gelbe  Flecken, 
Streifen,  Platten,  zum  Theil  kalkig  fest,  zum  Theil  rauh,  wie  zerfressen, 
mit  unterwühlten  Rändern.  Schneidet  man  diese  Stellen  ein,  so  zeigt 
sich  die  ganze  Intima  entweder  knorplig  hart,  weiss  gelblich,  auch  w^ohl 
ganz  verkalkt  und  knochenhart,  oder  bröcklig,  körnig,  breiig.  Wo  diese 
Erkrankung  einen  hohen  Grad  erreicht  hat,  sind  die  Arterien  buchtig 
erweitert.  —  Dies  ist  das  Bild  des  Arterienatheroms,  wie  wir  es  an  der 
Leiche  vorfinden.  Frischere  und  ältere  Stadien  finden  wir  oft  neben  ein- 
ander oder  in  verschiedenen  Arterien. 

Prüfen  wir  diese  Stellen  genauer  mit  dem  Mikroskop ,  besonders  an  feinen  Quer- 
schnitten durch  die  verschieden  aussehenden  Stellen,  so  ergiebt  sich,  dass  der  feinere 
Vorgang  folgender  ist:  die  ersten  Veränderungen  finden  in  den  äusseren  Lagen  der 
Intima,  und  zwar  an  der  Grenze  gegen  die  Media  hin  statt;  hier  beginnt  eine  massige 
Zellenanhäufung.  Die  jungen  Zellen  können  zu  Bindegewebsnenbildung  und  schwieliger 
Verdickung  der  Arterienwand  führen;  meist  sind  sie  aber  sehr  kurzlebig;  während  in  der 
Peripherie  des  Erkrankungsheerdes  neue  erseheinen,  zerfallen  die  ersten  zu  einem  körni- 
gen Detritus,  einem  aus  feinen  Molecülen  und  Fett  gebildeten  Brei,  der  wie  beim  Ver- 
käsungsprocess  ziemlich  trocken  bleibt;  so  schreitet  die  Zerstörung  langsam  der  Fläche 
nach  fort,  es  leidet  die  Ernährung  der  Media  sowohl  als  auch  der  innersten  Lagen  der 
Intima;  die  Muskelzellen  der  ersteren  zerfallen  körnig  und  fettig,  ebenso  die  elastischen 
Lamellen  der  Intima;  so  geht  es  nach  innen  fort  bis  zur  Perforation  der  letzten  Lamelle 
und  der  Epithelialhaut,  und  dann  ist  die  mit  Atherombrei  gefüllte  Höhle  nach  dem  Lu- 
men der  Arterie  hin  eröffnet.  Der  atheromatöse  Process,  als  HohlgeschAvüi-  beginnend, 
hat  zum   offenen  Geschwür  mit  unterhöhlten   Rändern  geführt;  Sie  sehen,  es   ist   derselbe 


V.irIcsiiriK   -12.     C'iipil.'l    XX.  f547 

Mechanismus,  wie  Sie  ihn  hcrciis  an  der  IImii(  mid  :iii  <l.-ii  LymphdrÜKon  kennen:  >-^  ih(, 
eine  chronische  Entefindmi},'  mit  Aus^fui-  in  V.TkiisiiiiK.  url<T  wie  man  hier  dicM-n  F{rci 
nennte,   in   A(hcr<uiil)il(lnni;'  (liOdnrt,   (<.')i'j()ii  C,yi\[7.r ,   (Jriiiipcn). 

Dies  wäre  nmi  das  Wesentliche  des  Processen,  so  weit  oy  für  dio 
Aiievnysmenbildiing  Interesse  hat;  derselbe  erleidet  indcss  nodi  nniiiiii- 
fache  Abweicliimgen,  und  ist  durcli  den  verschiedenen  |{;iii  (U-\-  Aii.ii.n 
wesentlicli  in  seinem  Verlauf  niodificirt.  Je  wenig-er  die  hilinia  ciilw  ickdl, 
ist,  um  so  weniger  atlieromatöser  ßi'ei  wird  sicli  entwickeln,  denn  dieser 
gellt  hauptsächlich  aus  dem  Zerfall  der  Intima  heiwor.  Betrachten  wir 
zunächst  die  kleinen  Arterien,  deren  Erkranknng'  wir  besonders  an  den 
mikvoskopisclien  Hirnarterien  stndiren  können:  hier  findet  man  die  Zellen- 
auhäufungen  am  meisten  in  der  Adventitia,  die  an  grösseren  Arterien 
wenig-  und  nur  secundär  bei  dieser  Erkrankung  betheiligt  ist.  Die  ganze 
Adventitia  geht  fast  in  Zellen  auf,  die  wenigen  Muskelzellcn  atrophiren, 
die  feine  Glashaut,  welche  als  Intima  fungirt,  ist  äusserst  elastisch,  nnd 
so  führt  dann  die  durch  die  Zelleninfiltration  bedingte  P'rweichung  der 
Adventitia  bald  zur  blasigen  Erweiterung  der  Arterie,  eventuell  zur  15er- 
stung,  weil  die  Wandungen  nicht  mehr  fest  genug  sind ,  um  dem  lUut- 
druck  widerstehen  zu  können.  Zuweilen  tritt  auch  eine  plastische  Pro- 
duction  in  der  Adventitia  auf;  es  bilden  sich  kolbige  Vegetationen,  welche 
theils  aus  neugebildetem  faserigem,  theils  aus  homogenem  Bindegewebe 
bestehen.  Dies  können  wir  hier  nicht  weiter  verfolgen,  um  so  weniger, 
als  es  für  die  Chirurgie  niclit  weiter  von  Belang  ist.  —  Eine  Verfettung 
und  Verkalkung  der  Muscularis  kommt  neben  den  plastischen  Infiltra- 
tionen der  Adventitia  an  den  kleinen  Hiruarterien  auch  wohl  vor,  doch 
ist  sie  nicht  so  gar  häufig.  —  Gehen  wir  weiter  zu  den  Arterien  von  den 
Durchmessern  einer  Basilaris,  einer  Radialis  u.  s.  w.  Hier  coucurrirt  der 
plastische  Process  in  der  Adventitia  zuweilen  noch  erfolgreich  mit  dem- 
jenigen in  den  andern  beiden  Häuten,  wenngleich  schon  breiiger  Zerfall 
und  Verkalkung  der  letzteren  vorkommt.  Es  kommt  bald  mehr  zu  einer 
Verdickung  und  Schlängelung  dieser  Arterien,  bald  mehr  zum  Zerfall 
und  zur  Erweichung  und  damit  zur  Erweiterung,  zur  Aueurysmenbildung; 
denn  wenn  die  Media  und  Intima  an  einer  Stelle  zu  Atherombrei  er- 
weicht ist,  dann  ist  die  Adventitia  nicht  mehr  stark  genug,  dem  Blut- 
druck Widerstand  zu  leisten,  es  entsteht  eine  Ausbuchtung.  —  Berück- 
sichtigen wir  nun  endlich  die  grossen  Arterienstämme,  die  Aorta,  Aa.  ca- 
rotides,  subclaviae,  iliacae,  femorales,  so  wissen  Sie,  dass  an  ihnen  die 
Muscularis  auf  ein  Minimum  reducirt  ist,  ja  zum  Tlieil  ganz  fehlt,  dass 
dagegen  die  Intima  aus  einer  grossen  Anzahl  elastischer  Lamellen  zu- 
sammengesetzt ist  und  fast  unmittelbar  an  die  mehr  oder  weniger  an 
elastischen  Fasern  sehr  reiche  Adventitia  stösst.  Hier  ist  der  plastische 
Process  in  der  Adventitia  am  geringsten;  die  pathologische  Veränderung, 
die  Ernährungsstörung  äussert  sich  vorwiegend  in  raschem  Zerfall  oder 
Verkalkung  der  pathologischen  Neubildung,  welche  theils  an  der  Grenze 


g^g  Von  den  Varicen  und  Aneurysmen. 

der  Intinia,  tlieils  in  dieser  Haut  selbst  eutsteht.  Freilicli  giebt  es  auch 
Fälle  wo  in  der  lutima  ausgedehntere  cireumscripte  Bindegewebsneu- 
bildungen  in  Form  von  knorpligen  Schwielen  auftreten,  wie  schon 
erwähnt:  immerhin  ist  dies  seltener  als  die  Metamorphose  zu  Atherom- 
brei.  An  den  letztgenannten  grossen  Arterien  entwickelt  sich  der  Atherom- 
brei  am  häufigsten,  und  daher  kommen  au  ihnen  auch  Aneurysmen 
vorwiegend  vor. 

Untersuchen  Sie  diesen  ausgebildeten  Atherombrei  mikroskopisch ,  so  linden  Sie 
ausser  den  erwähnten  molecularen  und  Fettkörnchen  darin  Fettkrystalle,  besonders  krystal- 
linisches  Cholesterin,  ferner  Bröekel  von  kohlensaurem  Kalk  und  auch  wohl  Hämatoi- 
dinkrvstalle,  welche  dadurch  hineinkommen,  dass  sich  an  den  Eauhigkeiten  der  Arterien 
Blutgerinnsel  ansetzen,  aus  deren  Farbstoff  sich  das  Hämatoidin  entwickelt. 

Sie  haben  nun  eine  allgemeine  Uebersicht  und  Vorstellung  von  dem 
atheromatösen  Process  an  den  Arterien  verschiedenen  Calibers  und  ver- 
stehen jetzt,  wie  derselbe  durch  Erweichung  der  Gefässwanduug  zur 
partiellen  Erweiterung  des  Arterienrohrs,  zur  Aneurysmenbildung  führen 
kann.  Die  Form  dieser  Erweiterung  kann  etwas  verschiedenartig  sein, 
je  nachdem  die  Arterie  in  ganzer  Peripherie  gleichmässig  oder  ungleich- 
massig  erkrankt  ist,  je  nachdem  hier  Erweichung,  dort  Verkalkung  mehr 
vorwiegt. 

Die  Erweiterung  der  Arterie  kann  nämlich  eine  Strecke  weit  eine  voll- 
kommen gleichmässige  sein;  dann  heisst  man  sie  ein  Aneurysma  cylin- 
dri forme;  ist  die  Erweiterung  mehr  spindelförmig,  ein  Aneurysma 
fusiforme.  Ist  die  Erweichung  der  Arterie  nur  auf  eine  Seite  der 
Arterienwanduug  beschränkt,  so  entsteht  eine  sackartige  Erweiterung, 
das  Aneurysma  saccatum,  welches  durch  eine  grössere  oder  kleinere 
Oeffuung  mit  dem  Arterienlumen  communiciren  kann.  —  Eine  fernere 
Verschiedenheit  in  dem  Bau  des  Aneurysma  kann  darin  bestehen,  dass 
entweder  alle  Häute  gleichmässig  an  der  Aneurysmenbildung  Theil 
nehmen,  oder  dass  die  Intima  und  Media  völlig  erweicht  und  zerstört  ist, 
und  nur  die  sich  allmählig  verdickende  Adventitia  und  die  infiltrirteu 
umgebenden  Theile  den  Sack  bilden.  Endlich  kann  sich  das  Blut  bei 
letzterem  Verhältniss  zwischen  Media  und  Adventitia  drängen ,  beide 
Häute  aus  einander  schieben,  als  wenn  man  die  Schichten  der  Arterie 
anatomisch  präparirt  hätte;  dies  heisst  dann  ein  Aneurysma  disse- 
cans. Man  kann  diese  Unterscheidungen  noch  weiter  führen,  doch 
für  die  Praxis  haben  dieselben  äusserst  geringen  Werth.  Nur  das  will 
ich  noch  erwähnen,  dass  bei  subcutaner  Berstung  eines  aus  allen 
Arterienhäuteu  zusammengesetzten  Aneurysmas  letzteres  mehr  die  ana- 
tomischen Eigeuscliaften  eines  Aneurysma  traumaticum  seu  spurium  be- 
kommt. Ich  sah  noch  vor  Kurzem  einen  Fall,  wo  bei  einem  scheinbar 
gesunden  Mann  von  50  Jahren  sich  plötzlich  beim  Umdrehen  im  Bett 
eine  enorme  Geschwulst  am  Oberschenkel  entwickelte,  die  sich  bald 
leiclit  als  diffuses  traumatisches  Aneurysma  erkennen  Hess;  ich  zweifelte 


VorlcsmiK  -VI.     Ciipilol   XX.  040 

nicht  daran,  dass  die  Artcvia  fciiioralis  erkrankt  und  an  einer  Stelle 
in  der  Mitte  des  Oberschenkels  plötzlich  geborsten  sei.  Nachdem  lange 
Zeit  die  Compression  vergeblich  angewandt  war,  wurde  die  Art.  fe- 
moralis  unterbunden,  die  sich  bei  dieser  Operation  mit  gelblichen 
Flecken  gesprenkelt  zeigte;  die  Ligatur  hielt  gut  und  tiel  nach  vier 
Wochen  ab,  doch  das  Aneurysma  wurde  grösser  und  sclimerzliaft;  in 
der  sechsten  Woche  nacli  der  Unterbindung  trat  Gangrän  des  Fusses 
ein;  ich  machte  nun  die  hohe  Amputation  des  Oberschenkels;  Patient 
ist  geheilt.  Es  fand  sich  ein  colossales  Aneurysma  spurium  und  ein 
Zoll  langer  Riss  in  der  atheromatös  erkrankten,  nicht  aneuiTsmatischcn 
Art.  femoralis. 

Von  grosser  Bedeutung  ist  das  weitere  Schicksal  des  Aneurysma 
nud  sein  Einfluss  auf  die  betreffenden  Nachbargebilde  oder  auf  die  bc- 
_ treffende  Extremität.  Was  die  anatomischen  Veränderungen  betrifft, 
welche  in  der  Folge  in  und  an  einem  Aneurysma  Statt  haben  können, 
so  bestehen  dieselben  darin,  dass  das  Aneurysma  nacli  und  nach  gn'lsser 
wird,  und  die  Naclibartheile  nicht  allein  verschiebt,  sondern  auch  durch 
Druck  und  durch  das  Pulsiren  zum  Schwund  l)ringt;  dies  bezielit  sich 
nicht  allein  auf  Weichtheile,  sondern  auch  auf  Knochen,  die  von  den 
Aneurysmen  allmählig  durchbrochen  werden;  l)esonders  konnnt  letzteres 
vor  bei  Aneurysmen  der  Aorta  und  Auonyma,  welche  theils  die  Wirbel- 
körper, theils  das  Sternum  und  die  Rippen  in  Form  der  lacunären  Cor- 
rosiou  (wie  bei  Caries)  zum  Schwund  bringen  können.  Ein  weiteres 
Ereigniss,  welches  sich  zu  den  x4.neurysmen  hinzugesellt,  sind  Entzündungs- 
processe  in  ihrer  unmittelbaren  Umgebung,  die  freilich  selten  zur  Eiterung 
fuhren,  oft  chronisch  werden,  sehr  selten  Gangrän  des  Aneurysma  zur 
Folge  haben.  —  Endlich  konnnen  in  den  Aneurysmen  sehr  häufig  Blut- 
gerinnungen vor;  es  können  sich  schichtenweise  ganz  derbe  Lagen  von 
Gerinnseln  an  der  Innenfläche  des  Sackes  bilden,  und  diese  können  den 
ganzen  Sack  schliesslich  ausfüllen  und  auf  diese  Weise  eine  spontane 
Obliteration,  eine  Art  Heilung  des  Aneurysma  zu  Wege  bringen.  —  Das 
schlimmste  Ereigniss  ist,  wenn  das  Aneurysma  bei  zunehmender  Ver- 
grösserung  schliesslich  platzt;  dieses  Platzen  kann  nacli  aussen  erfolgen« 
häutiger,  zumal  bei  den  grossen  Arterien  des  Stammes,  erfolgt  die  Ber- 
stung nach  innen,  etwa  in  den  Oseophagus,  in  die  Trachea,  in  die 
Brust-  oder  Bauchhöhle:  ein  rascher  Tod  durch  Verblutung  ist  natürlich 
die  Folge. 

Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  hier  zu  erörtern,  welche  Folgen  ein 
Aneurysma  an  Arterien  innerer  Organe  haben  kann;  ich  will  davon  nur 
erwähnen,  dass  von  den  Gerinnseln,  welche  in  den  aneurysmatischen 
Erweiterungen  sich  bilden,  oder  auch  an  den  Rauhigkeiten. der  athero- 
matösen  Arterien  anhaften,  Partikel  losgelöst  und  mit  dem  arteriellen 
Strom  in  peripherische  Arterien  als  Emboli  verschleppt  werden  können; 
diese  Emboli  werden   dann  gelegentlich  Ursache  von  Gangrän.     Dieser 


g50  ^°n  den  Varicen  und  Aneurysmen. 

Voi'g-ang  ist  indess  nicht  so  häufig,  als  man  glauben  sollte,  weil  im 
Ganzen  doch  die  Gerinnsel  in  den  Aneurysmen  sehr  fest  anzuhaften 
pflegen. 

Wir  haben  uns  nun  genauer  mit  den  Aneurysmen  der  Extre-" 
mitäten  zu  beschäftigen.  Sie  veranlassen  im  Anfang  leichte  Muskel- 
ermfidung  und  Schwäche,  seltner  Schmerz  in  der  betreffenden  Extre- 
mität; sowie  Entzündung  um  den  Sack  entsteht,  tritt  natürlich  Schmerz, 
starke  Röthung  der  Haut,  Oedem  und  bedeutende  Functionsstörung 
hinzu,  die  so  weit  gehen  kann,  dass  bei  dauerndem  Wachsthum  des 
Aneurysma  und  dauernder  chronischer  oder  subcutaner  Entzündung  um 
dasselbe  herum  die  Extremität  völlig  unbrauchbar  wird.  Bei  Bildung 
ausgedehnter  Gerinnungen  in  dem  Aneurysma  eines  grossen  Arterien- 
stammes kann  Gangrän  der  ganzen  Extremität  unterhalb  des  Aneurysma 
erfolgen. 

Schon  früher  bei  Gelegenheit  der  Gangrän  ist  davon  gesprochen, 
dass  dieselbe  in  Folge  von  xlrterienatherom  entstehen  kann,  als  sogenannte 
Gangraena  spontanea;  dort  handelte  es  sich  aber  um  etwas  Anderes, 
nämlich  um  die  Erkrankung  der  kleineren  Arterien,  welche  durch  De- 
sti-uction  ihrer  starken  Muscularis  functionsunfähig  werden  und  das  Blut 
nicht  mehr  weiter  treiben  können,  w^eil  sie  sich  nicht  mehr  contrahiren. 
Hier  aber  handelt  es  sich  um  Obliteration  eines  Hauptarterienstammes 
durch  Gerinnsel  an  einer  aneurysmatischen  Stelle.  Ich  will  Ihnen  einen 
Fall  mittheileu,  der  in  der  chirurgischen  Klinik  in  Zürich  beobachtet 
M'urde.  Ein  Manu  von  22  Jahren,  abgemagert  und  elend,  wurde  in  das 
Spital  gebracht;  sein  rechter  Unterschenkel  war  fast  bis  zum  Knie 
blauschwarz,  die  Epidermis  löste  sich  in  Fetzen  ab,  die  Gangrän  war 
unverkennbar.  Die  Untersuchung  der  Arterien  ergab  ein  Aneurysma 
der  Art.  femoralis  sinistra  dicht  unter  dem  Lig.  Poupartii,  spindelförmig, 
deutlich  pulsirend;  ein  zweites  3  Zoll  tiefer  an  der  gleichen  Arterie, 
sackförmig,  fest  anzufühlen,  ein  drittes  in  der  Kniekehle,  ebenfalls  fest, 
die  Form  jedoch  wegen  der  Anschwellung  der  umgebenden  Weich- 
theile  nicht  deutlich  wahrnehmbar;  zwischen  dem  zweiten  und  dritten 
Aneurysma  pulsirte  die  Arterie  noch  während  der  ersten  Tage,  welche 
der  Patient  im  Spital  zubrachte;  die  Pulsation  hörte  indess  von  unten 
nach  oben  täglich  mehr  auf;  die  Gangrän  war  nicht  recht  demarkirt, 
schien  sich  noch  weiter  hinauf  erstrecken  zu  wollen;  nach  und  nach 
verschwand  die  Pulsation  in  der  Arterie  ganz  bis  zum  Lig.  Poupartii 
hinan;  der  Patient  starb  etwa  14  Tage  nach  seiner  Aufnahme  ins  Spital. 
Die  Section  bestätigte  die  schon  im  Leben  erkannten  Aneurysmen  und 
wies  eine  ausgedehnte  Atheromasie  fast  aller  Arterien  nach.  —  Wenn 
Sie  mit  diesem  Fall  das  zusammenhalten,  was  ich  Ihnen  bei  der  Unter- 
bindung grosser  Gefässstämme  über  die  Entwicklung  des  Collateral- 
kreislaufs  gesagt  habe,  so  werden  Sie  hier  einen  Widerspruch  zu  finden 
meinen.     Warum   tritt   nicht    Gangrän    ein,    wenn  Sie    die   Arterie   mit 


VorlosiinK  42.     C'apil.-I   XX.  65 1 

einer  liigatuv  schliessen,  ebenso  wie  nacli  der  Obturation  (IiiitIi  TJc- 
rinnsel?  Die  Antwort  ist  folgende:  ein  ausgiebiger,  für  die  Ernälirimg 
der  peripherischen  Theile  genügender  Collateralkreislanf  entsteht  nur 
bei  gesunden,  der  Ausdehnung  fälligen  Arterien;  das  lilut  läuft  auf 
Umwegen  um  die  Ligatur  herum  in  das  peripherische  Ende  des  ligirten 
Arterienstanuues  hinein.  Erfolgt  aber  von  einem  Aneurysma  aus  eine 
Gerinnselbildung  in  den  Arterienstanuu  hinein ,  so  bestellen  dabei  ge- 
wöhnlich kranke,  zum  Tiieil  verkalkte  oder  schon  früher  thcilweis  ob- 
turirte,  nicht  ausdehnbare  Nebenarterien.  Ferner  ist  der  Verschluss  (h;s 
Stammes  nicht  wie  bei  der  Ligatur  auf  eine  kleine  SteUe  beschränkt, 
sondern  erstreckt  sich  auf  eine  ganz  weite  Strecke,  vielleiclit  sogar, 
wie  in  dem  erwähnten  Fall,  auf  die  ganze  Arterie;  da  ist  dann  freilich 
weder  auf  der  Hauptbahn  noch  auf  den  Nebenwegen  ein  ICreislauf  mög- 
lich! —  Es  müssen  schon  die  Arterien  sehr  allgemein  erkrankt  und  die 
Gerinnung  sehr  ausgedehnt  sein,  wenn  es  zur  Gangrän  kommen  soll, 
so  dass  im  Ganzen  doch  dieselbe  nicht  so  gar  häufig  liei  Aneurysmen 
ist;  es  wäre  das  auch  sehr  traurig  für  die  Therapie,  die  doch,  wie  Sie 
später  sehen  werden,  wesentlich  auf  Obturation  des  Aneurysma  mit  oder 
ohne  Unterbindung  des  Arterienstammes  ausgeht. 

Wir  kommen  jetzt  zur  Aetiologie  der  Aneurysmen.  Wenngleich 
das  Arterienatherom  eine  ganz  enorm  häufige  Alterskrankheit  ist  und 
überall  vorkommt,  so  sind  doch  die  Aneurysmenbildungen  keineswegs 
allein  eine  Alterskrankheit,  In  Zürich  ist  Arterienatherom,  bei  älteren 
Leuten  Gangraena  senilis  ziemlich  häufig,  selten  aber  Aneurysmen  der 
Extremitäten.  Das  Voi'kommen  der  Aneurysmen  ist  merkwürdig  über 
Europa  vertheilt:  in  Deutschland  kommen  Aneurysmen  an  den  Extre- 
mitäten sehr  selten  vor;  etwas  häufiger  sind  sie  in  Frankreich  und 
Italien,  am  häufigsten  in  England.  Es  ist  schwer,  dafür  besondere 
Gründe  anzugeben,  nur  das  steht  fest,  dass  Arterienkrankheiten  in  Ge- 
meinschaft mit  Rheumatismus  und  Gicht  in  England  häufiger  sind  als 
in  allen  übrigen  Ländern  Europas.  —  Was  das  iVlter  betriift,  so  sind 
Aneurysmen  (es  ist  hier  natürlich  nicht  von  den  traumatischen  Aneu- 
rysmen die  Rede)  vor  dem  30.  Lebensjahre  selten,  häufiger  zwischen 
30  und  40  Jahren,  jenseits  40  am  häufigsten.  Männer  sind  mehr  den 
Aneurysmenbildungen  unterworfen  als  Frauen.  Besondere  Gelegenheits- 
ursachen sind  wenig  bekannt;  am  häutigsten  ist  an  den  Extremitäten 
das  xAneurysma  popliteum;  man  hat  in  der  oberflächlichen  Lage  der 
Art.  Poplitea,  in  der  Spannung,  welcher  sie  bei  schnellen  Bewegungen 
des  Kniees  ausgesetzt  ist,  in  Contusionen  u.  s.  w.  Gründe  für  die  häufige 
Erkrankung  grade  dieser  Arterie  finden  wollen ;  so  soll  dies  Aneurysma 
in  England  besonders  häufig  bei  Bedienten  vorkommen,  welche  hinten 
auf  der  Kutsche  stehen;  ich  muss  indess  gesteheu,  dass  mir  diese 
Geschichte  grade  so  unwahrscheinlich  ist  wie  die  Entstehungsursache 
des    Chambermaid-knee.      Ich    möchte    glauben,    dass    die   Anlage    zu 


g52  ^"^"^  '^®"  Varicen  und  Aneurysmen. 

Arterienkranklieiten  wie  die  zu  Gicht  liauptsächlich  auf  Erblichkeit 
dieser  Krankheit  Ibasirt  ist;  auch  nimmt  man  an,  dass  schwere  Arbeit 
und  viel  Branntweing'enuss  dazu  disponirt;  letzteres  soll  zumal  in  Eng- 
land häufig  zu  Erschlaffung  der  Arterienwandungen  führen,  auch  ohne 
Atheromasie. 

Die  Diagnose  eines  Aneurysma  an  den  Extremitäten  ist  nicht 
sehr  schwer,  wenn  man  genau  untersucht  und  das  Aneurysma  nicht  gar 
zu  klein  ist.  Es  ist  eine  elastische,  härtere  oder  weichere  circumscripte 
(bei  falschen  Aneurysmen  und  geplatzten  Aneurysmen  ditfuse)  Geschwulst 
vorhanden,  welche  mit  der  Arterie  zusammenhängt;  die  Geschwulst 
pulsirt  sichtbar  und  fühlbar;  setzen  Sie  das  Stethoskop  auf,  so  hören 
Sie  ein  pulsirendes  Brausen  darin,  eigentlich  ein  Eeibungsgeräusch, 
welches  durch  Reibung  des  Blutes  an  den  Gerinnseln  oder  in  der  mehr 
oder  weniger  engen  Oetfnung  des  Aneurysmasacks  oder  durch  das 
Eicochettiren  des  Blutes  in  dem  Sack  entsteht.  Die  Geschwulst  hört 
auf  zu  pulsiren,  wenn  sie  den  Arterienstamm  oberhalb  derselben  com- 
primireu,  —  Diese  Symptome  sind  freilich  so  prägnant,  dass  man 
meinen  sollte,  man  könnte  die  Diagnose  gar  nicht  verfehlen,  und  doch 
ist  sie  nicht  selten  selbst  von  sehr  erfahrenen  Chirurgen  verfehlt  worden 
in  Momenten,  wo  sie  gar  nicht  an  die  Möglichkeit  eines  Aneurysma 
dachten  und  übereilt  handelten.  Das  Aneurysma  kann  nämlich,  wenn 
die  Umgebung  stark  entzündet  ist,  sehr  maskirt  werden  durch  starke 
Schwellung  der  Weichtheile;  es  kann  unter  Umständen  für  eine  ein- 
fache Entzündungsgeschwulst,  für  einen  Abscess  imponiren,  auch  wohl 
aus  einem  Abscess  hervorgegangen  sein,  wie  früher  erwähnt  wurde. 
Grade  die  Verwechslung  mit  Abscess  ist  am  häufigsten  begangen  worden; 
man  sticht  ein,  doch  weh!  eine  unangenehme  Ueberraschung!  anstatt 
Eiter  kommt  ein  arterieller  Blutstrahl!  Nichts  ist  jetzt  zur  Hand,  die 
starke  Blutung  zu  stillen;  die  Situation  ist  fatal,  wenn  auch  der  ruhige, 
kaltblütige  Arzt  sich  sofort  durch  Compression  vorläufig  zu  helfen  weiss, 
bis  er  sich  entschieden  hat,  Avas  nun  geschehen  soll.  Doch  ich  will 
Ihnen  die  Sache  nicht  gar  zu  schwierig  vorstellen  und  wiederhole  es, 
wenn  genau  untersucht  wird,  dürfte  ein  solcher  diagnostischer  Irrthum 
nicht  leicht  passiren.  —  Ist  das  Aneurysma  stark  mit  Gerinnseln  erfüllt, 
dann  kann  die  Pulsation  der  Geschwulst  fehlen  oder  sehr  unbedeutend 
sein,  ebenso  das  Eeibungsgeräusch;  eine  weitere  genauere  Beobachtung 
wird  jedoch  auch  hier  zur  riclitigen  Erkenn tniss  führen.  —  Auf  der  an- 
deren Seite  kann  es  auch  begegnen,  dass  man  eine  Gesoliwulst  für  ein 
Aneurysma  hält,  welche  keines  ist.  Es  giebt  besonders  in  den  Knochen, 
zumal  im  Becken,  eine  Art  von  weichen  GeschAvülsten  (meist  weiche 
alveoläre  Sarcome),  welche  sehr  reich  an  Arterien  sind  und  deshalb 
deutlich  pulsiren;  an  diesen  Arterien  können  sich  viele  kleine  Aneurymen 
bilden  in  Folge  von  Erweichung  der  Geschwulstmasse  und  der  Arterien- 
wanduugen;    die  Summe  der  Geräusche  au  diesen  kleinen  Aneurysmen 


Vorlesung  42,     Ciipiü^l  XX.  Or,;.* 

kann  zu  einem  ganz  exquisiten  ancurysuiati.sclien  Gerüuscli  flilireii; 
auch  hier  kann  nur  die  genaueste  Untersucluing'  und  Beobaclitiing  das 
Richtige  erkennen  lehren.  Diese  pulsirenden  Knocliengescliwiilsie  sind 
vielfach  für  wahre  Aneurysmen  in  Knochen  gehalten;  ich  glaiilx;  nicht, 
dass  es  spontane  Aneurysmenbildung  im  Knochen  gicbt,  sondern  glauhe, 
dass  all©  diese  sogenannten  Knochenaueurysmen  sehr  Arterien -reiche 
weiche  Sarkome  im  Knochen  waren.  —  Endlich  kann  man  auch  versucht 
sein,  eine  Geschwulst,  welche  dicht  auf  einer  Arterie  liegt  und  mit  dem 
Arterienpuls  gehoben  wird,  für  eine  selbstständig  i)ulsircnde  Ges(;hwulst, 
für  ein  Aneurysma  zu  halten;  das  Fehlen  des  aneurysmatischcn  Ge- 
räusclies,  die  Consistenz  der  Geschwulst,  die  Möglichkeit,  dieselbe  von 
der  Arterie  zu  isoliren,  die  weitere  Beobachtung  des  Verlaufs  wird  auch 
hier  vor  Irrthümern  bewahren. 

Die  Prognose  der  Aneurysmen  ist  je  nach  ihrem  Sitz  enorm  ver- 
schieden, so  dass  sich  darüber  im  Allgemeinen  nichts  sagen  lässt. 

Wir  wenden  uns  jetzt  zur  Therapie,  wollen  jedoch  zuvor  bemerken, 
dass  in  seltenen  Fällen  die  Ausheilung  eines  Aneurysma  spontan  erfolgen 
kann,  nämlich  durch  vollständige  Obturation  des  Sackes  und  eines  Theils 
der  Arterie  durch  Gerinnsel;  die  Geschwulst  hört  auf  zu  wachsen  und 
verschrumpft  allmählig;  auch  ist,  wie  schon  erwähnt,  beobachtet  worden, 
dass  die  Entzündung  um  das  Aneurysma  zur  localen  Gangrän  führen 
kann;  ist  dann  zuvor  die  Arterie  obturirt,  so  kann  das  ganze  Aneurysma 
gangränös  ausgestossen  werden,  ohne  dass  Blutung  erfolgt.  Diese  Natur- 
heilungen sind  ausserordentlich  selten,  zeigen  aber  doch  den  Weg,  wie 
man  therapeutisch  die  Krankheit  in  Angriff  nehmen  kann.  —  Von  der 
medicinischen  Behandlung  innerer  Aneurysmen  sehe  ich  hier  ab  und  will 
nur  einer  Behandlungsweise  erwähnen,  der  Valsalva'schen  Methode; 
diese  hat  zum  Zweck,  das  Blutvolumen  des  Körpers  auf  das  Minimum 
zu  reduciren,  dadurch  den  Herzschlag  abzuschwächen  und  die  Gerinnsel- 
bildung zu  befördern.  Wiederholte  Aderlässe,  Abfülirmittel,  absolut 
ruhige  Lage,  knappe  Diät,  dann  Digitalis  innerlich,  und  örtlich  auf  die 
Gegend  des  Aneurysma  Eis,  das  sind  die  Mittel,  mit  welchen  man  die 
Kranken  nach  dieser  Methode  behandelt;  die  Erfolge  dieser  Curen  sind 
sehr  zweifelhaft;  man  bringt  die  Patienten  fürcliterlich  herunter,  und 
die  Erscheinungen  mögen  dann  geringer  sein;  doch  so  wie  sich  die 
Kranken  wieder  erholen,  dann  kehrt  auch  der  frühere  Zustand  meist 
wieder  zurück.  Man  kann  die  genannten  Mittel  wohl  zur  Linderung 
heftiger  Erscheinungen  innerer  Aneurysmen  in  massigem  Grade  an- 
wenden; doch  eine  wirkliche  Heilung  wird  man  dadurch  nicht  erreichen; 
die  inneren  Aneurysmen  müssen  leider  fast  immer  als  unheilbare  Uebel 
angesehen  werden.  —  Wenden  wir  uns  zu  der  chirurgischen  Behand- 
lung der  äusseren  Aneurysmen,  so  kann  dieselbe  von  zwei  verschie- 
denen Absichten  geleitet  werden;  sie  kann  nämlich  entweder  die  Ver- 
ödung des  Aneurysma  oder  die  völlige  Entfernung  desselben  zum  Zweck 


g54  Von  den  Varicen  und  Aneixrj'smen. 

haben.  Für  die  meisten  Fälle  wird  die  Verödimg'  der  Geschwulst 
ausreiclien.  Die  Mittel,  welche  wir  hier  iu  Anwendung-  ziehen,  sind 
verschieden: 

1.     Die  Compression.     Diese  kann   in  verschiedener  Weise  an- 
gewandt werden,   und   zwar   a)  auf  das  Aneurysma  selbst,   b)  auf  den 
erkrankten  Arterienstamm  oberhalb   der   Gescliwulst.     Letzteres  ist  das 
bei   weitem   zweckmässigere  Verfahren,   weil  selbst  ein  massiger  Druck 
auf  das  Aneurysma  oft  schon  schmerzhaft  ist  und  zu  Entzünduugspro- 
cessen  in  dessen  Umg-ebung-  Anlass  geben  kann.     Die  Art,  wie  man  den 
Druck  anwendet,  ist  wiederum  verschieden:    derselbe  kann  dauernd  und 
zugleich  vollständig-  oder  unvollständig-,   sie  kann  vorübergehend,   doch 
dann  ziemlich    vollständig-,    d.  h.  bis    zum   vollständigen  Aufhören    der 
Pulsation  angewandt  werden.     Die  Methoden  der  Compression  sind  etwa 
folgende:   a)  die  Compression  mit  dem  Finger  besonders  von  Vanzetti 
empfohlen,  und  von  ihm  so  wie  von  vielen  anderen  Chirurgen  mit  Erfolg- 
geübt;    sie   wird    vom   Arzt,    von  Krankenwärtern   oder  vom   Patienten 
selbst  mit  Zwischenpausen  ausgeführt,  einige  Stunden  hindurch  bis  zum 
völligen  Aufhören  der  Pulsation;    dies   wird,   wenn  es  der  Patient  er- 
tragen kann,   Tage,   Wochen,  selbst  Monate  lang    fortgesetzt,    bis  das 
Aneurysma  gar  nicht  mehr  pulsirt,  hart  und  klein  geworden  ist;  b)  die 
Compression  des  Aneurysma  durch  forcirte  Flexion  der  Extremität;   dies 
Verfahren,   von   Malgaigne  zuerst   geübt,    ist  besonders    geeignet  für 
das   Aneurysma    popliteum;    die    Extremität    wird   in    stärkster   Flexion 
durch  eine  Bandage  nxirt  und  in  dieser  Stellung  so  lange  erhalten,  bis 
die  Pulsation  in  dem  Aneurysma  aufgehört  hat;  c)  die  Compression  mit 
besonderen  Apparaten,  Pelotten,   Compressorien,    die  so  gearbeitet  sein 
müssen,  dass  der  Druck  möglichst  isolirt  auf  den  Arterienstamm  wirkt, 
damit  nicht   durch  gleichzeitigen  Druck   auf  die  Venen  Oedem  entsteht; 
der  Druck  braucht  nicht  so  stark  zu  sein,  dass  die  Pulsation  vollständig 
aufhört,   sondern   hat  nur  den  Zweck,   den  Zufluss  von  Blut  zu  verrin- 
gern. —  Die  Ansichten  über  die  Wirksamkeit  der  Compression  bei  der 
Behandlung  der  Aneurysmen  sind  sehr  getheilt;  die  irischen  Aerzte  sind 
sehr  dafür  eingenommen;   die  französischen  und  italienischen  Chirurgen 
haben  sich  besonders  nach  den  vorzüglichen  Arbeiten  von  Broca  auch 
in  neuerer  Zeit  mehr  dieser  Methode  zugewandt  als   früher,   zumal  hat 
die   intermittirende  Digitalcompression  glänzende  Resultate  aufzmveisen. 
Ich  glaube,  dass  man  in  den  meisten  Fällen  die  Compression  zuerst  bei 
Behandlung    der  Anemysmen    iu  Anwendung  ziehen  soll;    indess    geht 
doch   schon  aus  den  bisherigen  Erfahrungen  darüber  hervor,  dass  diese 
Methode   nicht  für   alle  Fälle   gleich    geeignet  ist,    und   nicht  in   allen 
Fällen  radical  hilft. 

2,  Die  Unterbindung-  des  Arterienstammes,  Dieselbe  kann  in 
verschiedener  Weise  ausgeführt  werden:  a)  dicht  oberhalb  des  Aneurysma 
(nach  Anel);    b)   entfernter  oberhalb  des  Aneurysma  au  einem  Locus 


Vorlesiinf,'  42.     Ciipicd  XX.  05;") 

•electionis  (J.  Hunt  er);  c)  diclit  untcrlialb  des  Aneurysma,  d.  li.  am 
periplierisclien  Ende  desselben  (nach  Wardrop  und  Brasdor).  Von 
allen  diesen  Methoden  ist  die  Unterbindung-  dicht  oberlialb  des  Aneu- 
rysma die  verliältnissmässig-  sicherste,  die  ünter])indung-  diclit  unterhalb 
die  unsicherste.  Bei  der  Unterbindung-  entfernt  vom  Aneurysma  wird 
freilich  für  eine  Zeit  lang-,  zuweilen  auch  definitiv,  die  Heilung-  ein- 
treten, d.  h.  die  Pulsation  im  Aneurysma  Avird  aufhöi-en,  doch  wenn 
sich  der  Collateralkreislauf  ergiebig-  herstellt,  so  kann  auch  die  Bul- 
sation  im  Aneurysma  wieder  beginnen.  Ich  ha()e  einen  solchen  Fall 
selbst  beobachtet :  ein  etwa  zwölf] ährig-er  Knabe  hatte  in  Folge  eines 
Stiches  mit  einem  Federmesser  in  den  Oberschenkel  ein  stark  Wallnuss- 
grosses  Aneurysma  der  Art.  femoralis  etwa  in  der  Mitte  des  Obersclien- 
kels  bekommen;  es  wurde  die  Unterbindung-  der  Art.  femoralis  dicht 
unterhalb  des  Lig.  Poupartii  gemacht;  nach  10  Tagen  war  die  Ligatur 
durchgeschnitten  und  es  trat  eine  starke  Blutung  auf,  die  jedoch  gleich 
gestillt  wurde;  nun  wurde  eine  zweite  Ligatur  nach  Spaltung  des  Pou- 
partischen  Bandes  \'^  Zoll  hoher  angelegt;  diese  Ligatur  hielt  gut;  die 
Wunde  heilte ;  als  der  Patient  das  Spital  verliess,  war  in  dem  nach  der 
Unterbindung  völlig  hart  gewordenen,  nicht  mehr  pulsirenden  Aneurysma 
aufs  Neue  Pulsation  zu  bemerken.  —  Trotz  solcher  Recidive  wird 
dennoch  die  Unterbindung  entfernt  vom  Aneurysma  ihre  Bedeutung  be- 
halten und  die  Hauptmethode  bleiben,  weil  die  Arterien  in  der  unmittel- 
baren Nähe  des  Aneurysma  zuweilen  so  erkrankt  sind,  dass  es  nicht 
räthlich  ist,  dort  die  Unterbindung  zu  machen.  Die  rigiden  und  ver- 
kalkten Arterien  können  nämlich  so  schnell  von  der  Ligatur  durch- 
schnitten werden,  dass  der  Thrombus  zur  Zeit,  wo  die  Ligatur  abfällt, 
noch  nicht  fest  genug  ist,  dem  Blutandrang  Widerstand  zu  leisten. 

3.  Mittel,  von  denen  man  annimmt,  dass  sie  direct  Ge- 
rinnung des  Blutes  im  Aneurysma  veranlassen.  Von  diesen  ist 
in  neuerer  Zeit  die  Injection  von  Lig.  Ferri  sesquichlorati  nach  Pravaz 
und  Petrequin  relativ  am  meisten  in  Anwendung  gekommen;  sie  muss 
sehr  vorsichtig  gemacht  werden;  man  bedient  sich  dazu  einer  kleinen 
Spritze,  deren  Stempel  mit  einer  Schraube  getrieben  wird;  durch  Um- 
drehung dieser  Schraube  tritt  je  ein  Tropfen  aus.  Dieser  kleine  Apparat 
wird  mit  einer  sehr  feinen  Canüle  in  Verbindung  gesetzt,  welche  vorn 
spitz  ist,  so  dass  man  sie  in  das  Aneurysma  einstechen  kann.  Man 
treibt  damit  sehr  vorsichtig  einige  Tropfen  des  Liq.  Ferri  in  die  Ge- 
schwulst ein.  Es  kann  und  soll  hiernach  einfache  Gerinnung  und 
Schrumpfung  des  Aneurysma  erfolgen;  doch  hat  die  Erfalirung  gelehrt, 
dass  häufiger  Entzündung,  Eiterung  und  Gangrän  nach  dieser  Operation 
folgt.  Ich  glaube,  dass  man  sich  über  die  Wirkung  des  injicirteu  Li- 
quor Ferri  im  Irrthum  befindet;  es  hat  nämlich  sehr  wenig  Wahrschein- 
lichkeit, dass  ein  von  Liq.  Ferri  durchtränktes  Gerinnsel  sich  organisirt, 
sondern  es  irritirt  wahrscheinlich   nur   die   Gefäss wandung ,    diese    ent- 


ß56  ^"^^^  den  Varicen  und  AneuiTsmen. 

zündet  sicli,  verliert  dadurcli  die  Fälligkeit,  das  vorbeifliessende  Blut 
flüssig'  zu  erhalten  und  so  wird  Gerinnung  und  Schrumpfung  der  Arte- 
rienwandung erst  secundär  eingeleitet.  —  v.  Lang enb eck  injicirte  in 
die  unmittelbare  Umgebung  von  Aneurysmen  eine  Lösung  von  Ergotiu 
und  erzielte  auch  dadurch  Heilungen;  ich  erkläre  mir  die  Wirkung 
dieser  Behandlung  auch  dadurch,  dass  eine  Entzündung  der  Gefässwand 
mit  den  oben  erwähnten  Folgen  angeregt  wird.  —  Die  Electropunc- 
tur,  eine  Zeit  lang  wenig  beachtet,  ist  jetzt  wieder  von  Ciniselli  mit 
recht  günstigen  Erfolgen  selbst  bei  Aneurysmen  der  Aorta  angewandt 
worden;  die  Methode  besteht  darin,  dass  man  eine  Nadel  in  das  Aneu- 
rysma einsticht  und  den  negativen  Pol  einer  galvanischen  Batterie  damit 
in  Verbindung  bringt,  während  der  positive  Pol  irgendwo  am  Körper 
angesetzt  wird.  Man  meinte  früher,  der  galvanische  Strom  besitze  die 
Eigenschaft,  das  Blut  direct  gerinnen  zu  machen ;  dies  ist  nach  physiolo- 
gischen Untersuchungen  nicht  der  Fall,  sondern  es  entsteht  durch  die 
thermische  Wirkung  des  Stroms  eine  kleine  Eschara  um  die  ins  Aneu- 
rysma eingesenkte  Nadel  und  an  dieser  bildet  sich  das  Gerinnsel  an.  — 
Senkt  man  mehre  feine  Nadeln  ins  Aneurysma  ein  und  lässt  diese 
24  —  28  Stunden  liegen,  so  wird  man  auch  dadurch  Gefässentzüu- 
dung  und  Gerinnselbildung  veranlassen;  dies  Verfahren  nennt  man 
Acupunctur.  — 

4.  Wir  kommen  jetzt  zu  derjenigen  Behandlung  der  Aneurysmen, 
welche  sich  die  völlige  Zerstörung  derselben  zur  Aufgabe  macht; 
gelingt  dieselbe,  so  ist  sie  natürlich  sicherer  in  Betreff  der  radiealen 
Heilung  als  alle  vorher  beschriebenen  Behandlungsweisen;  doch  ist  sie 
als  Operation  viel  eingreifender.  Man  kann  dieselbe  nach  Antyllus 
folgendermaassen  machen;  der  Arterienstamm  wird  oberhalb  des  Aneu- 
rysma comprimirt;  jetzt  spaltet  man  den  ganzen  Sack,  räumt  die  Ge- 
rinnsel aus,  führt  von  der  Innenfläche  desselben  eine  Sonde  in  das 
obere  und  untere  Ende  der  Arterie,  und  unterbindet  nun  die  beiden 
Enden;  die  eingeführten  Sonden  werden  dann  natürlich  zurückgezogen, 
sie  dienen  nur  dazu,  die  Arterien  leichter  und  schneller  zu  finden;  diese 
Operation,  welche  ich  mehrmals  ausführte,  ist  nicht  immer  so  einfach, 
wie  es  scheint,  weil  es  keineswegs  immer  leicht  ist,  die  Arterienöffnung 
in  dem  mit  Gerinnsel  erfüllten  Sack  zu  finden;  auch  bluten  oft  mehr 
Arterien  als  der  Hauptstamm,  weil  auch  Collateraläste  zuweilen  in  das 
Aneurysma  einmünden.  Nach  der  Operation  tritt  die  Vereiterung  des 
ganzen  aneurysmatischeu  Sackes  ein;  in  mehren  Fällen  von  traumati- 
schen Aneurysmen  der  Art.  femoralis,  brachialis,  radialis  sah  ich  Hei. 
lung  ohne  Zwischenfall  eintreten.  —  Ist  das  Aneurysma  klein  und  sehr 
deutlich  abgegrenzt,  so  könnte  man  erst  oberhalb  und  unterhalb  unter- 
binden und  das  Aneurysma  wie  eine  Geschwulst  exstirpiren.  —  Die 
Methode  nach  Antyllus  ist  mit  glücklichem  Erfolg  auch  bei  spontanen 
Aneurysmen  sehr  grosser  Arterien  von  Syme   angewandt  worden.     Es 


Voi-lc.smi!r  ■]■>.     Cipilrl    \.\.  (;r,7 

unterlieg't  keinem  Zweifel,  dass  sie  Jetzt  wieder  liäufi^-ei-  aii;^ewuiidt 
werden  wii'd,  wo  wir  nach  Esmareli 's  Methode  das  (Jlied,  ;iii  welclicm 
wir  operiren,  ganz  blutleer  machen  und  auch  diese  0[)erati(>ii  viel  riiliiger 
und  siclierer  machen  können  als  früher. 

Bei  diesen  vielfachen  Operationsmethoden  möchte  icli  Ihnen  gern 
einige  bestimmte  Piathschläge  für  Ihre  zukünftig-e  Praxis  geben;  in- 
dess  ist  dies  deshalb  kaum  möglich,  weil  nach  der  verschiedenen  Imli 
vidualität  der  Fälle  bald  diese,  bald  jene  Methode  den  Vorzug  verdient. 
Im  Allgemeinen  kann  ich  nur  wiederholen,  dass  in  neuerer  Zeit  wieder 
so  sehr  viele  günstige  Erfolge  von  der  Compressionsmethode  von  den 
verschiedensten  Seiten  mitgetheilt  sind,  dass  dieselbe  jedenfalls  nicht  zu 
früh  aufgegeben  werden  darf.  Besteht  jedoch,  wie  gewöhnlich  bei  trau- 
matischen Aneurysmen,  starke  diffuse  Geschwulst,  so  scheint  mir  die 
Methode  des  Antyllus  allen  anderen  vorzuziehen:  sie  ist  jedenfalls  die 
sicherste  und  würde  überhaupt  allen  anderen  Methoden  vorzuziehen  sein, 
wenn  nicht  die  Gefahr  der  Ligaturblutung-en  bestände.  Die  Unterbindung 
nach  Anel  oder  Hunter  ist  zu  machen,  wo  man  nicht  nach  Antyllus 
operiren  wall  oder  kann.  —  Man  würde  sich  zur  Unterbindung  der 
grösseren  Gefässstämme,  als  dem  einfachsten  und  sichersten  Verfahren 
zur  Heilung  der  Aneurysmen,  viel  leichter  und  schneller  entschliessen, 
wenn  es  nicht  doch  zu  oft  vorkäme,  dass  früher  oder  später,  wne  be- 
merkt, starke  Blutungen  aus  den  unterbundenen  Stellen  der  Arterien 
eintreten;  vielleicht  wird  man  noch  Methoden  der  Arterienclausur  finden, 
welche  die  gleiche  Wirkung-  wie  die  Ligatur  haben,  ohne  die  Nachtheile 
derselben  zu  besitzen.  Der  Injection  mit  Liq.  Ferri  möchte  ich  für  die 
gewöhnlichen  Fälle  von  Aneurysma  spontaneum  und  traumaticum  am 
wenigsten  das  Wort  reden.  —  Beim  Aneurysma  varicosum  und  Varix 
aneurysmaticus  wird  die  Unterbindung  der  Arterie  oberhalb  und  unter- 
halb der  Oeffnung  das  sicherste  sein. 

Es  erübrigt  noch,  einige  Bemerkungen  über  die  Behandlung  des 
Aneurysma  cirsoideum  anzufügen.  Die  erwähnten  Operations- 
methoden sind  auf  dasselbe  nur  sehr  theilweis  anwendbar,  Directe  Com- 
pression  der  ganzen  Geschwulst  kann  mit  Hülfe  von  Bandagen  und  be- 
sonders für  den  speciellen  Fall  gearbeiteten  Compressorien  angewandt 
werden;  war  haben  dabei  die  häufigst  vorkommenden  derartigen  Aneu- 
rysmen am  Kopf  im  Sinn;  die  Compression  hat  aber  fast  nie  Erfolg  ge- 
habt. Die  Injection  von  Liq.  Ferri  kann  hier  sehr  wohl  am  Platze  sein, 
da  die  Vereiterung  und  Gangränescirung  des  ganzen  Arterieuconvolutes 
nicht  so  zu  fürchten  ist,  als  bei  den  Aneurysmen  an  den  grossen  Arterien 
der  Extremitäten.  Vor  Kurzem  habe  ich  ein  thalergrosses  Aneurysma 
cirsoideum  an  der  Stirn  durch  Acupuuctur  geheilt.  Die  Verödung  könnte 
man  durch  Unterbindung  aller  zuführenden  Arterien  erzielen;  dies  ist 
aber  sehr  mühsam  und  von  unsicherem  Erfolg;  ebenso  zweifelhaft  und 
nicht  ohne  Gefahr  ist  die  Unterbindung  einer  oder  beider  Aa.  Carotides 

Üiliroth  chii-.  rath.  u.  Tlier.   7.  Aufl.  ^^ 


Von   den  Geschwülsten. 

externae  bei  Aneurysma  cirsoideum  am  Kopf;  diese  BehandluDg  ist  g-anz 
zu  verlassen.  Eine  andere  Methode,  die  denselben  Zweck  verfolgt,  ist 
die,  dass  man  rund  um  die  Gesclnvulst  herum  Insectennadelu  hier  und 
da  durch  die  Haut  ein-  und  aussticht,  und  einen  Faden  wie  bei  der  um- 
schlungenen Naht  anlegt;  Eiterung  und  Obliteration  wird  die  Folge  sein, 
vielleicht  theilweise  Gangränescenz  der  Haut.  Die  totale  Exstirpation 
ist  das  sicherste  Verfahren;  sie  ist  folgendermaassen  auszuführen;  mau 
macht  um  die  Geschwulst  herum  eine  grosse  Menge  von  percutanen 
Umstechungen,  eine  dicht  neben  der  anderen;  dann  kann  man  das 
Hauptsttick  mit  den  erweiterten  Arterien  ohne  Blutung  ausschneiden; 
dies  wird  immer  die  sicherste  und  radicalste  Operation  sein,  ist  jedoch 
bei  Geschwülsten  von  grosser  Ausdehnung  nicht  wohl  anwendbar; 
man  könnte  aber  dann  einzelne  Theile  umstechen  und  durch  partielle 
Exstirpation  nach  und  nach  doch  zum  Ziele  kommen.  Heine  spricht 
sich  nach  seinen  sehr  gründlichen  Untersuchungen  über  die  Behand- 
lung dieser  Aueurvsmen  auch  sehr  entschieden  zu  Gunsten  der  Exstir- 
pation aus. 


Vorlesung  43. 
CAFITEL  XXI. 

Von  den  Geschwülsten. 

Begrenznng  des  Begriffes  einer  Geschwulst.  —  Allgemeine  anatomische  Be- 
merkungen :  Polymorphie  der  Gewebsformen.  Entstehungsquelle  für  die  Geschwülste. 
Beschränkung  der  Zellenentwicklungen  innerhalb  gewisser  Gewebstypen.  Beziehungen 
zur  Entwicklungsgeschichte.  Art  des  Wachsthums.  Anatomische  Metamorphosen  in  den 
Tumoren.     Aeussere  Erscheinungsformen  der  Geschwülste. 

Meine  Herren! 

Wir  treten  heute  in  das  sehr  schwierige  Capitel  ein,  welches  von 
den  Geschwülsten  handelt.  Wenn  wir  bisher  von  Anschwellungen 
gesprochen  haben,  so  waren  dieselben  nur  von  wenigen  Bedingungen 
abhängig:  abnorme  Ansammlung  von  Blut  in  und  ausser  den  Gefässen, 
Durchtränkung  der  Gewebe  mit  Serum,  Durchsetzung  derselben  mit 
jungen  Zellen  (plastische  Infiltration)  waren  einzeln  für  sich  oder  in 
Verbindung  mit  einander  die  Ursachen.  Im  Gegensatz  zu  diesen  Schwel- 
lungen nennt  man  nun  im  klinischen  Sinne  solche  Neubildungen  Ge- 
schwülste, Tumore s,  welchen  meist  andere  grösstentheils  unbekannte 
Enstehungsursachen  zu  Grunde  liegen  als  die  der  entzündlichen  Neu- 
bildung, und  welche  ein  Wachsthum  besitzen,  dass  in  der  Eegel  zu  keinem 
typischen  Abschluss  kommt,  sondern  gewissermaassen  in  infinitum  fort- 
g-eiit;    ausserdem   bestehen    die  meisten   Gewächse    aus    einem  Gewebe, 


Voricsiiiii,^  •i:;.    <',i|,iiri  XXI.  (\ry() 

welches  vollkomiiieiicr,  (laiierliarier  orgaiiisirt  zu  sein  ])i\c}i;t  als  die  ciit 
ziindliclie  Neiil)ilduiii^'.  Ik'traclitoii  wir  dies  etwas  i^-ciiaiicr:  Sie  kennen 
bis  jetzt  nur  diejeni^'e  Art  der  Neubildung-,  weleiie  durch  den  Knt/iin- 
dung-spvocess  angeregt  wird;  diese  entzündlielie  Neubildung  \\;ir  nidil 
allein  iu  der  Art  ilirer  Entwicklung,  sondern  auch  in  ihrer  weiteren 
Ausbildung  äusserst  uniform;  sie  konnte  durch  Zerfall ,  Yertrocknnng', 
schleimige  Auflösung  etc.  in  ihrer  Ausbildung  gehemmt  werden ;  sie 
konnte  übermässig-  wuchern,  jedoch  so,  dass  sie  im  Wesentliclien  dabei 
ihren  Charakter  nicht  änderte;  schliesslich  aber,  wenn  nicht  besondci-s 
ungünstige  locale  oder  allg-emeine  Bedingungen  vorlagen,  oder  \\i-\\\\ 
.nicht  ein  fürs  Leben  wichtiges  Organ  eben  durch  die  Neubildung  zer- 
stört wurde,  bildete  sich  dieselbe  wieder  zurück,  sie  wurde  wieder  zu 
Bindegewebe:  der  Entzündungsprocess  schloss  mit  der  Narben 
bildung  ab.  Hierbei  trat  nun  schon,  wenn  es  sich  um  Entzündungs- 
processe  an  Oberflächen  handelte,  die  Entwicklung  von  Epitliel-  und 
Epidermiszellen  unter  Vermittlung  der  Epidermis  hinzu,  die  Knochen- 
narbe verknöcherte,  in  der  Nervennarbe  entstanden  neue  Nervenfasern; 
die  Entwicklung  neuer  Blutgefässe  spielte  bei  allen  diesen  Vorgängen 
eine  bedeutende  Rolle:  doch  wie  gesagt,  der  Entzündungsprocess  hatte, 
sei  es  dass  er  acut  oder  chronisch,  auf  der  Fläche  oder  interstitiell 
verlief,  in  der  Narbe  seinen  typischen  Abschluss.  ■—  Wenn  nun  auch 
aus  Bindegewebs-,  Nerven-  und  Knochennarben  ausnahmsweise  Binde- 
gewebs-, Nerven-  und  Knocliengesehwülste  entstehen  können,  so  bilden 
diese  doch  nur  einen  unendlich  kleinen  Theil  von  den  mannigfaltigen 
Gewebsbildungen,  welche  sich  in  Geschwülsten  vorfinden;  Foi-men  der 
mannigfachsten,  der  complicirtesten  Art:  z.  B.  neugebildete  Drüsen, 
Zähne,  Haare  etc.  sind  zuweilen  in  den  Geschwülsten  zu  finden;  ja  es 
giebt  darin  Gewebe,  welche  in  dieser  besonderen  Anordnung  nirgends 
sonst  im  Körper,  welche  auch  im  fötalen  Leben  im  Lauf  der  Entwick- 
lung so  nicht  vorkommen.  Damit  Sie  sich  vorläufig  eine  riclitige  Vor- 
stellung von  der  anatomischen  Beschaffenheit  der  Geschwülste  machen, 
will  ich  Hmen  einige  allgemeine  Sätze  über  die  Entstehung  der  Neu- 
bildungen aus  der  allgemeinen  Pathologie  ins  Gedächtniss  zurückrufen; 
sehr  ausgezeichnete  und  ausführliche  Darstellungen  über  diese  Verhält- 
nisse finden  Sie  in  den  grossen  Arbeiten  über  diesen  Gegenstand  von 
Virchow  und  0.  Weber. 

Man  unterscheidet  bei  einem  abnorm  vergrösserten  Körpertheil  zunächst,  ob  die  Yer- 
grösserung  nur  bedingt  ist  durch  eine  abnorme  Volumenzunahme  der  einzehien  Ele- 
mente (einfache  Hypertrophie)  oder  durch  eine  Neubildung  von  Elementen, 
welche  zwischen  die  alten  eingelagert  sind.  Diese  Neubildung  kann  dem  erkrankten 
Muttergewebe  (Matrix)  analog  sein  (homöoplastisch),  oder  nicht  (heteroplastisch). 
Die  homöoplastische  Neubildung  geht  entweder  hervor  durch  einfache  Theilung  der  be- 
stehenden Elemente  (z.  B.  aus  einer  Knorpelzelle  werden  durch  Furchuug  zwei,  dann 
vier  Knorpelzellen),  dann  nennt  man  sie  hyperplastiseh  (numerische  Hypertrophie) 
—    oder   aus    den  bestehenden    zelligen  P^lementen  bilden  sich  zunächst   scheinbar   indiUe- 

42  * 


QQQ  Von  den  Geschwülsten. 

rente  kleine  rnnde  Zellen  nnd  aus  diesen  enwickelt  sich  dann  ein  dem  Mntterboden  ana- 
loges Gewebe:  homöoplastische  Neubildung  im  engeren  Sinne.  Die  hetero- 
plastischen Neubildungen  beginnen  immer  mit  Entwicklung  primären  Zellengewebes, 
sogenannter  indifferenter  Bildungszellen  (Granulationsstadium  der  Geschwülste  Virchow), 
und  aus  diesen  entsteht  dann  das  j}.er  Matrix  heterologe  Gewebe  (z.  B.  Knorpel  im  Ho- 
den, Muskelfasern  in  der  Mamma  etc.). 

Dies  von  Virchow  aufgestellte  Schema  erschien  in  rein  anatomischer  Beziehung 
vollkommen  ZM^eckmässig  und  natürlich;  ich  kann  es  auch  jetzt  noch  acceptiren,  wenn 
der  Begriff  der  Heteroplasie  in  der  Weise  beschränkt  wird,  wie  es  später  besprochen 
werden  soll,  und  wenn  man  den  Nebengedanken,  homöoplastiseh  mit  gutartig  und  hetero- 
plastisch mit  bösartig  zu  identificiren,  aufgiebt.  Es  muss  aber  auch  in  Betracht  gezogen 
werden,  ob  auch  die  aus  den  Gefässen  austretenden  Wanderzellen  zur  Geschwulstbildung 
beitragen,  wenigstens  zur  Bildung  von  Geschwülsten  aus  der  Reihe  der  Bindesubstanzen. 
Doch,  davon  abgesehen,  würde  man  irren,  wenn  man  sich  einbildete,  dass  sich  in  obiges 
Schema  alle  Fälle  der  Neubildung,  wenn  wir  sie  auch  nur  rein  anatomisch  betrachten, 
ohne  Weiteres  rubriciren  Messen,  wie  in  bezifferte  Fächer  eines  Eepositoriums.  Die  ein- 
fache numerische  Hypertrophie  und  Hyperplasie,  wenngleich  in  manchem  einzelnen  Fall 
schwierig  zu  unterscheiden,  sind  wenigstens  theoretisch  leicht  auseinander  zu  halten;  eben- 
so diejenigen  Neubildungen,  welche  durchweg  aus  gleichen,  wohl  ausgebildeten,  Gewebsele- 
menten  bestehen;  eine  aus  Bindegewebe  bestehende  Geschwulst  wird  man,  wenn  sie  im 
Bindegewebe  vorkommt,  immer  als  eine  homöoplastische,  wenn  sie  im  Knochen,  dem 
Hirn  oder  in  der  Leber  vorkäme,  als  eine  heteroplastische  bezeichnen  und  so  fort.  Auch 
das  ausgebildete  alveoläre  Krebsgewebe  bietet  meist  keine  Schwierigkeiten  für  die  Classi- 
ficirung,  denn  es  kommt  als  solches  normaler  Weise  nirgends  im  Körper  vor,  es  ist  über- 
all heterolog.  Doch  was  fangen  wir  mit  den  Neubildungen  an,  welche  durchweg  keine 
ausgebildeten  normalen  und  auch  keine  ganz  abnormen  Gewebsformen  zeigen,  sondern 
aus  Elementen  bestehen,  denen  man  überhaupt  noch  gar  nicht  ansehen  kann,  was  aus 
ihnen  wird  oder  ob  überhaupt  noch  etwas  aus  ihnen  werden  kann  (indifferente  Bildungs- 
zellen, Wanderzellen,  primäres  Zellengewebe,  Granulationsgeschwülste)?  wohin  sollen  wir 
ferner  diejenigen  Neubildungen  bringen,  Avelche  gar  kein  fertiges  Gewebe  sind,  wohl 
aber  deutlich  sich  als  bekannte  Entwicklungsformen  normaler  Gewebe  zu  erkennen  geben? 
Nach  dem  aufgestellten  Typus  von  Heterologie  und  Homologie  ist  die  entzündliche  Neubil- 
dung im  Anfang  überall  heterolog;  gut!  die  daraus  sich  entwickelnde  Bindegewebsnarbe  wird 
aber  im  Bindegewebe  später  zur  homologen  Neubildung,  im  Muskel  bleibt  sie  heterolog, 
ebenso  im  Hirn,  auch  im  Knochen,  wenn  sie  nicht  verknöchert.  Sie  sehen,  dass  hier  das  nach 
Wesen  und  Entstehungsart  natürlich  Zusammengehörige  durch  das  anatomische  Schema  ganz 
auseinander  gerissen  wird.  Doch  lassen  wir  die  entzündliche  Neubildung  aus  dem  Spiel! 
Jede  Geschwulst,  welche  aus  indifferenten  Bildungszellen  hervorgeht,  muss,  wenn  diese 
sich  zu  einer  oder  mehren  Gewebsarten  umgestalten,  eine  Reihe  von  Entwicklungsstadien 
zeigen.  Die  indifferenten  Bildungszellen  sind  überall,  wo  sie  angehäuft  vorkommen, 
heterolog;  zeigt  eine  Neubildung  nur  solche  Elemente,  so  wollen  wir  sie  als  heterologe 
gelten  lassen;  zeigt  sich  aber,  dass  eine  Anzahl  dieser  Zellen  sich  in  Spindelzellen  um- 
wandelt, so  fragt  sich  nun,  wohin  diese  Neubildung  gehört:  man  kann  sagen:  Spindelzellen 
massenhaft  angehäuft  sind  überall  im  Körper  eine  Heteroplasie;  doch  Spindelzellen  kom- 
men im  fötalen  Bindegewebe,  in  fötalen  Muskeln,  in  fötalen  Nerven  vor;  was  wäre  even- 
tuell aus  den  Spindelzellen  dieser  Geschwulst  geworden?  sollte  diese  Geschwulst,  wenn 
wir  sie  im  Muskel  finden,  doch  nicht  eine  homologe  Bildung  zu  nennen  sein?  Ja  da- 
rüber kann  man  oft  nur  willkürlich  entscheiden!  Sie  können  das  von  verschiedenen 
Gesichtspunkten  beti-achten.  Wenn  man  nun  gar  Geschwülste  findet,  welche  die  verschie- 
denartigsten fertigen  und  unfertigen  Gewebe  enthalten,  wohin  damit?  —  Ich  will  hier 
abbrechen,  um  Sie  nicht  jetzt  schon  zu  skeptisch  zu  machen;  auch  soll  ich  Ihnen  ja  das 
Lernen  erleiihtern .  nicht  erschweren. 


Vorlosiiti},'   i;>.     (Japifcl   XXI.  ßf^-j 

Da.  der  Vorgang  der  VergrösKonmg  der  cinzi^liicn  KIcmciile  (einfiiclie  Hyperfruphio) 
nicht  Gegenstand  der  Beobachtung  sein  kiinn  \\u(\  die  Vernichrmig  (hr  lOifniente  aus  sich 
seihst  (Hyperplasie)  ein  oft  heol)aehtetcr,  hciui  physiologischen  VV;ichsthum  fortwährend 
sich  vollziehender  Act  ist,  so  kann  es  sich  nin- ni>ch  um  die  K  n  ts  te  hungsquelle  der 
indifferenten  Bildu  ngsze  llcn  und  ihr  weiteres  Gcsciiick  handeln.  Hier  befinden 
wir  uns  nun  in  der  gleichen  Lage  wie  bei  der  Entzündung,  (h)ch  wir  können  in  Betreff 
der  Geschwulstentwickiungen  leider  keine  experimentelle  riiiliirig  vornehni('ri.  Fnificr 
zweifelte  man  nicht,  dass  jede  Art  von  Bindegeweliszellen  prolifcriren  kann  und  nahm 
diese  als  Quelle  für  die  P^ntwicklung  der  meisten  Gechwülstc;  jetzt  müssen  wir  zugchfu, 
dass  viele  von  diesen  indifterenten  Zellen  ausgewanderte  weisse  Blutzellen  sein  können. 
Man  hat  sich  in  dieser  Beziehung  früher  wohl  vielfach  getäuscht,  indem  man  aus  der 
gruppenweisen  Anordnung  und  den  Metamorphosen  der  indifferenten  Bildungszelleii  zu 
rasch  Rückschlüsse  auf  die  Entstehung  derselben  machte;  ich  selbst  kann  mich  nicht,  von 
dergleichen  Irrthüraern  frei  sprechen:  wenn  man  z.B.  in  Sarkomen  kleine  indifferente 
Zellen  mit  einem,  zwei,  dann  mit  mehren  Kernen  nebeneinander  fand,  —  wenn  man 
zwischen  den  Fasern  des  Bindegewebes,  da  wo  die  Bindegewebszellen  liegen,  eine  an- 
fangs kleine,  dann  daneben  eine  grössere  Gruppe  von  indifterenten  Zellen  liegen  sah,  — 
so  schien  der  Schluss  unverfänglich,  dass  die  neuen  Zellengruppen  Abkömmlinge  der  Binde- 
gewebszellen seien,  und  dass  aus  diesen  indifferenten  Zellen  immer  grössere  vielkernige 
Zellen  bis  zu  den  sogenannten  Riesenzellen  entständen.  Nachdem  man  jetzt  weiss,  dass 
eine  kleinzellige  Infiltration  des  Gewebes  auch  durch  Austritt  von  weissen  Blutzellen 
aus  den  Gefässen  ins  Gewebe  zu  Stande  kommen  kann,  wird  man,  wie  bemerkt,  auch 
in  Betreff  des  Ursprunges  der  indifferenten  Bildungszellen  in  den  Geschwülsten  zweifel- 
haft; ich  suche  in  neuerer  Zeit  zumal  bei  Drüsen-  und  Epithelkrebsen  meist  vergeblich 
nach  proliferirenden  Bindegewebszellen ,  obgleich  das  ganze  Bindegewebslager  dieser  Ge- 
schwülste von  jungen  Zellen  inliltrirt  zu  sein  pflegt.  Das  tiefe  Dunkel,  welches  bis  vor 
Kurzem  die  Entstehung  der  jüngsten  Epithelialzellen  umhüllte,  ist  erst  in  neuester  Zeit  ge- 
lichtet; man  weiss  aus  den  neuesten  Untersuchungen,  dass  sich  diese  Zellen  durch  eine 
Art  Sprossenbildung  vermehren  (pag.  86).  —  Ich  muss  hier  nun  auch  noch  auf  die  frü- 
heren Bemerkungen  über  die  Regeneration  der  Gewebe  beim  Entzündungsprocess  (pag.  347) 
erinnern;  wir  müssen  auf  Grund  der  erwähnten  Beobachtung  Arnokrs  doch  daran  den- 
ken, dass  auch  möglicher  Weise  bei  der  Geschwulstbildung  vollkommen  zu  Gewebe  umge- 
bildetes Protoplasma  in  einen  körnigen  Zustand  übergeht,  in  sich  einen  Kern  bildet 
und  nun  auch  zur  Proliferation  gelangt,  eine  Ansprossung  des  Gevi'ebes,  analog  der 
Sprossenbildung  an  Zellen,  wobei  dann  freilich  die  Bildung  neuen  Gewebes  erst  zu  Stande 
kommt,  wenn  das  körnige  Protoplasma  sich  zu  Zellen  difterenzirt  hat,  so  dass  das 
bisher  gültige  Princip  Schwann's,  wonach  sich  alle  Gewebe  aus  Zellen  aufbauen,  nicht 
beeinträchtigt  wird,  wenn  auch  der  Satz  „orimis  cellula  ex  cellula"'  dadurch  stark  modi- 
ficirt  wird. 

Wir  haben  hier  immer  ohne  Weiteres  von  indifferenten  Bildungszellen  geredet,  ohne 
diesen  Begrifi'  genügend  präcisirt  zu  haben :  man  bezeichnet  dannt  die  kleinen  runden 
Zellen,  welche  sich  überall  nach  Reizung  der  Gew'ebe  zuerst  vorfinden,  und  welche  wir 
von  der  entzündlichen  Neubildung  her  kennen.  Ich  lial)e  bis  vor  w-enigen  Jahren  ge- 
meint, dass  diese  jungen  Zellen  wirklich  ebenso  indifferent  seien,  Avie  die  ersten  Fur- 
chungskugeln  des  Eies,  d.  h.  dass  jedes  beliebige  Gewebe  der  Menschen  eventuell  aus 
ihnen  hervorgehen  könne,  zumal  habe  ich  geglaubt,  dass  aus  den  Abkömmlingen 
der  Bindegewebszellen  nicht  allein  alle  Formen  der  Bindesubstanzen  (Bindegewebe, 
Knorpel,  Knochen),  Gefässe  und  Nerven  hervorgehen  könnten,  sondern  auch  Epithelial- 
gebilde,  Drüsen  etc.  Diese  von  Virchow  aufgestellte  Anschaiiung  wird  auch  jetzt  noch 
von  vielen  Forschern  auf  diesem  Gebiet  aufrecht  erhalten.  Gegen  diese  Auflassung  hat 
Thiersch  in  einer  ausgezeichneten  Arbeit  „über  den  Epithelialkrebs"  so  gewichtige  Gründe 
erhoben,  dass  ich  ihm  durchaus  beistimmen    muss.     Indem  ich  mir  vorbehalte,  auf  diesen 


QQ2  Von  den  Geschwülsten. 

Punkt  später  bei  Besprechung  der  Cysten ,  Drüsengeschwülste  und  des  Epithelialkrebses 
wiederholt  zurückzukommen,  deute  ich  nur  die  allgemeinsten  Umrisse  meiner  jetzigen  An- 
schauungen hier  an.  Aus  der  Entwicklungsgeschichte  ist  Ihnen  bekannt,  dass  der  Kör- 
per des  jungen  Embryo  sehr  bald  drei- verschiedene  Lagen,  sogenannte  Keimblätter  zeigt. 
Sobald  die  Dilierenzirung  der  zelligen  Embryoanlage  in  die  drei  Keimblätter  gegeben  ist, 
lässt  es  sich  nach  üebereinstimmung  aller  Forscher  aufs  Unzweifelhafteste  darthun,  dass  je- 
des dieser  drei  Keimblätter  nur  eine  ganz  bestimmte  Reihe  von  Geweben  producirt.  Aus 
dem  Hornblatt  bilden  sich:  das  Nervensystem,  die  Epidermis  und  ihre  Derivate,  die  Haut- 
drüsen, die  Geschlechtsdrüsen,  das  Labyrinth  des  Ohrs,  die  Linse;  aus  dem  mittleren 
Keimblatt  entstehen  die  Bindesubstanzen,  die  Muskeln  (?),  das  Gefässsystem,  die  Lymph- 
drüsen, die  Milz;  aus  dem  unteren  oder  Drüsenblatt  werden  das  Epithel  des  Darmtractus, 
das  Lungenepithel,  alle  secernirenden  Elemente  der  Leber,  Pancreas,  Nieren  etc.  gebildet. 
Es  scheint  hier  ein  Naturgesetz  vorzuliegen,  um  dessen  Auffindung  sich  Remak,  Reichert, 
Kölliker,  His,  Waldeyer  U.A.  ausserordentliche  Verdienste  erwoi-ben  haben,  und 
welches  vielleicht  bis  auf  die  Zusammensetzung  des  Eies  zurückgeführt  werden  kann.  Im 
ganzen  weiteren  Entwicklungsverlauf  kommt  es  nun  niemals  vor,  dass  sich  aus  dem  Deri- 
vat  des  einen  Keimblattes  ein  Gewebe  entwickelt,  welches  ursprünglich  von  einem  andern 
entstand;  mit  andern  Worten:  ist  die  DilFerenzirung  der  Embryoanlage  zu  den  drei  Keim- 
blättern eingetreten,  so  giebt  es  keine  ganz  indiffei-enten  Zellen  mehr,  sondern  alle  neu- 
gebildeten, aus  den  früheren  hervorgegangenen  Zellen  können  sich  nur  zu  Geweben  aus- 
bilden, die  innerhalb  des  Productionsbereiches  desjenigen  Keimblattes  liegen,  von  dem  sie 
abstammen ;  Zellen,  die  von  wahren,  ächten  Epithelien  stammen,  können  nie  Bindegewebe 
produciren,  und  aus  den  Derivaten  von  Bindegewebszellen  können  nie  wahre  Drüsen  pro- 
ducirende  Epithelien  werden.  Es  liegt  kein  Grund  vor,  anzunehmen,  dass  dies  Naturge- 
setz aufgehoben  werde,  wenn  die  zelligen  Elemente  des  fertigen  Organismus  durch  irgend 
welche  Reizung  zur  Production  angeregt  werden;  die  junge  Brut  kann  sich  nur  zu  be- 
stimmt vorgeschriebenen  und  von  der  embryonalen  Abstammung  der  Mutterzellen  abhängigen 
Gewebstypen  entwickeln ;  die  Erblichkeit  ist  das  mächtigste  Gesetz  in  der  leben- 
digen Natur.  Wenn  wir  bisher  von  indifferenten  Zellen  gesprochen  haben  und  sprechen 
werden,  so  haben  Sie  jetzt  diesen  Ausdruck  immer  durch  die  eben  entwickelten  Principien 
zu  beschränken.  —  Gehen  wir  nun  wieder  auf  das  früher  entwickelte  System  der  Neu- 
bildung nach  Virchow  zurück,  so  giebt  es  unserer  Ansicht  nach  überhaupt  keine  ächte 
Heteroplasie,  denn  die  von  den  Derivaten  des  einen  Keimblattes  entstandenen  Keimzellen 
können  sich  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  von  Gewebstypen  verschiedenartig  entwickeln, 
nicht  aber  in  die  Gewebstypen  eines  andern  Keimblattes  übergehen.  —  Bei  der  lebhaften 
literarischen  Bewegung,  welche  fortwährend  noch  auf  dem  Gebiet  der  Histiogenese 
Statt  hat,  läuft  jede  zu  sicher  ausgesprochene  Behauptung  die  Gefahr,  dass  sie  sich  viel- 
leicht bald  einer  Modification  nach  dieser  oder  jener  Richtung  unterwerfen  muss;  den- 
noch muss  ich  es  wiederholen,  dass  es  mir  im  höchsten  Grade  wahrscheinlich  ist,  dass 
auch  ein  grosser  Theil  der  bei  Geschwulstentwicklungen  massenhaft  auftretenden  jungen 
Zellen  im  Gewebe,  bewegliche,  wandernde  Bindegewebszellen,  also  ausgetretene  weisse 
Blutzellen  sind.  Ich  spreche  jedoch  darum  nicht  allen  stabilen  Bindegewebszellen  die 
Betheiligung  an  der  Gewebsneubildung  ab.  Von  der  Betheiligung  des  Muskel-  und 
Nervengewebes,  der  Knorpelzellen,  Epidermiszellen  und  Endothelien  an  der  Gewebs- 
bildung  war  schon  früher  die  Rede.  Woher  die  wandernden  Zellen  (die  mit  weissen 
Blutzellen  und  Lymphzellen  identisch  sind)  ins  Blut  kommen,  das  bleibt  vor  der 
Hand  unklar;  wahrscheinlich  stammen  sie  schliesslich  auch  von  stabilen  Elementen  der 
Lymphdrüsen  und  Milz;  jedenfalls  dürfen  sie  nur  als  Elemente  des  mittleren  Keimblattes 
betrachtet  werden,  und  ihre  eventuelle  Entwicklungsfähigkeit  ist  daher  wohl  auch  inner- 
halb der  Gewebe  dieses  Blattes  zu  denken.  —  Mit  Stolz  darf  unsere  Zeit  auf  die  Fort- 
schritte  der   modernen  Morphologie    blicken,  deren  Bedeutung  sich    grade   dadurch    recht 


VorlcsmiR-  4.").     Capitvl   XX F.  ß(53 

erweist.,    dass    sio    so  aussorordcntlicli   zcrstürciid    auf  dio,    IViilicnni   Aiischuuimj^cti    inid    so 
befrachtend  nach  den  verschiedensten  ]lichtunf(en   hin    wirken!  — 

Wenn  von  einigen  Forschern  auf  diesem  Gebiet  besonders  betont  wird,  dass  di(;  eben 
entwiciielten  Verhältnisse  der  en)bryonalen  Entwicklung  einerseits  keinen  Anspruch  haben  als 
unumstössliche  Naturgesetze  zu  gehen,  sondei-n  nur  als  Kegel  für  die  Entwicklung  höher 
organisirter  Thiere  gelten,  so  muss  ich  es  den  Enibryologen  überlassen,  dies  festzustellen. 
Den  Einwand  aber,  dass  Bildnngstypen,  welche  in  der  Embryologie  als  richtig  anerkannt 
sind,  keine  Geltung  für  die  Neubildungen  zu  Iiaben  brauchen,  welche,  nach  verschiedenen 
auf  die  ausgewachsenen  Gewebe  ausgeübten  Reizen  entstehen,  möchte  ich  entschieden  von 
der  Hand  weisen-,  denn  die  ganze  moderne  Histiogencse  basirt  auf  dem  seit  Johannes 
Müller's  bahnbrechender  Arbeit  über  Geschwülste  allgemein  angenommenem  Princip,  dass 
die  Entwicklung  der  pathologischen  Neubildungen  nur  ehie  Wiederholung  typischer  Ent- 
wicklungsweisen normaler  Gewebe  ist.  Wir  würden  jeden  Halt  auf  diesem  Gebiet  ver- 
lieren und  in  das  alte  Chaos  der  Parasiten  (von  nccQct  neben,  und  ahog  Speise,  einer 
der  mit  isst)  und  Pseudoplasmen  (von  i/jevSog  falsch,  unwahr,  und  nXäacxo  formen)  ver- 
fallen,  Avollten  wir  von  diesem  Princip  lassen. 

Kehren  wir  jetzt  zw  den  Geschwülsten  selbst  zurück.  Das  Leben, 
das  Wachsthum,  welches  sich  in  ihnen  entfaltet,  kann  sehr  mannig- 
faltig' sein.  Zunächst  kann  der  erkrankte  Theil  des  Glewebes ,  der  erste 
Geschwulstknoten,  in  sich  selbst  weiter  wachsen,  ohne  dass  neue  Er- 
krankungen in  der  Umgebung  dieses  Heerdes  entstehen:  in  der  Mitte 
der  Geschwulst,  aus  den  an  einer  circumscripten  .  Stelle  angehäuften 
Zellen  entstehen  immer  wieder  neue  mit  derselben  Entwicklungsrichtung, 
gewissermaassen  prädestinirt  fiir  den  in  der  Neubildung  eingeschlagenen 
Entwicklungstypus.  Man  hat  früher  geglaubt,  dass  die  Gefässausdeh- 
nuug  ein  sehr  wesentliches  Kennzeichen  für  die  entzündliche  Neubildung 
sei;  vielfache  Studien  in  dieser  Richtung  haben  mir  gezeigt,  dass  die 
Gefässausdehnung  und  Gefässneubildung  bei  der  Entwicklung  der  ersten 
Geschwulstknoten  derjenigen  bei  der  Entzündung  nichts  nachgiebt.  Dass 
dabei  eine  ähnliche  erweichende  Alteration  der  Capillar-  und  Venen- 
wandungen erfolgt  wie  bei  der  Entzündung,  ist  bisher  nicht  nachge- 
wiesen. —  Es  kann  jedoch  auch  der  ursprüngliche  Erkrankungsheerd 
dadurch  wachsen,  dass  in  seiner  unmittelbaren  Umgebung  immer  neue 
Erkrankungsheerde  entstehen;  das  einmal  in  dieser  Weise  erkrankte 
Organ  wird  nicht  nur  von  der  Geschwulst  bedrückt  und  seine  Elemente 
von  einander  geschoben,  sondern  es  erkrankt  in  sich  selbst  mit  immer 
neuen  Heerden  weiter  und  weiter,  und  wird  so  durch  die  Geschwulst 
infiltrirt  und  zerstört,  geht  in  dieselbe  auf;  denn  dass  da,  wo  in  nor- 
malen Geweben  Neubildung  auftritt,  das  Muttergewebe  als  solches  auf- 
hört und  sich  theils  in  das  neue  Gewebe  umbildet,  theils  von  letzterem 
verzehrt  wird,  haben  Sie  schon  früher  bei  der  entzündlichen  Neubildung 
erfahren.  —  Wir  haben  es  also  in  dem  ersteren  Falle  mit  einem  iso- 
lirten  Krankheitsheerd  zu  thun,  der,  einmal  vorhanden,  die  Mittel  zu 
seiner  Vergrösserung  nur  aus  seinen  eigenen  Zellen  bestreitet,  im  zwei- 
ten Fall  mit  einer  Ausbreitung  des  Erkrankungsheerdes  durch  stets  neu 
entstehende    secundäre   Krankheitsheerde    in    der   Nähe    des    primären. 


664 


Von  den  Geschwülsten. 


Die  erstere  Art:  das  gewissermaassen  rein  centrale  Wachsthum  ist  für 
(las  erkrankte  Organ  entscliieden  weniger  nngimstig  als  die  letztere: 
das  periplierische  Wachstluim,  die  fortdanernd  sich  ins  Gewebe 
infiltrirende  Neubildung  muss,  wenn  es  in  infinitum  fort- 
schreitet, zur  vollständigen  Zerstörung  des  betroffenen  Orgaus  führen, 
gleich  als  wenn  ein  entzündlicher  Process,  eine  entzündliche  Neubildung 
progressiv  bleibt.  Am  ungünstigsten  ist  die  Conibination  beider  Arten 
des  Waclisthums,  leider  aber  ziemlich  häufig.  —  Wenn  wir  weiter  das 
Leben  der  GescliAvulst  selbst  ins  Auge  fassen,  so  finden  wir,  dass  das 
neugebildete  Gewebe  keineswegs  immer  stabil  bleibt,  sondern  selbst 
wieder  manchen  Veränderungen  unterworfen  ist,  Veränderungen,  wie  sie 
sich  z.  B.  beim  Entzündungsprocess  auch  zeigen.  In  den  Geschwülsten 
können  sich  aus  verschiedenen  Gründen  acute  und  chronische  Entzün- 
dungen etablireu,  d.  h.  unter  Schmerzen,  Schwellung  und  Gefässausdeh- 
nung  in  Folge  einer  entzündlichen  Ernährungsstörung  kommt  eine  klein- 
zellige, selbst  zur  eitrigen  Schmelzung  führende  Infiltration  mit  Wander- 
zellen im  Gesell wulstgewebe  zu  Stande.  Geschwülste,  in  denen  der 
Zellbildungsprocess  so  überstürzt,  so  rapid  foitschreitet,  dass  die  Gefäss- 
bildung  nur  langsam  dem  Wachsthum  des  Tumor  entsprechend  nach- 
rückt, sind  am  wenigsten  lebensfähig;  geringe  Störungen  genügen  dann, 
den  ganzen  Bildungsprocess  hier  oder  da  zum  Stocken,  oder,  da  ein 
Stillstand  nicht  Statt  findet,  zum  Zerfall  zu  bringen.  Wir  müssen  auf 
die  Metamorphosen  der  Geschwulstgewebe  in  Kürze  etwas  näher  ein- 
gehen. Dieselben  können  acut  oder  chronisch  auftreten;  acute  Entzün- 
dungen der  Geschwülste  sind  im  Ganzen  selten,  doch  Verletzungen,  Stoss, 
Quetschung  können  dazu  Veranlassung  geben;  der  Ausgang  dieser  trau- 
matischen Entzündung  kann  bei  vascularisirten,  bindegewebsreichen  Tu- 
moren sehr  wohl  in  Zertheilung  mit  oder  ohne  narbige  Schrumpfung 
erfolgen;  häufiger  aber  kommen  mehr  oder  weniger  ausgedehnte  Extra- 
vasate, Gangrän,  auch  Avohl  Eiterung  darnach  vor.  —  Chronisch-entzünd- 
liche Processe  sind  bei  weitem  häufiger  in  den  Geschwülsten,  sowohl 
solche  mit  vorwiegender  Production  entzündlicher  Neubildung,  mit  Bil- 
dung fungöser  Ulcerationen  mit  bedeutender  Vascularisirung,  als  auch 
solche  mit  torpiden  Ulcerationen.  Die  Verkäsung  und  Verfettung  des 
Gewebes,  auch  die  schleimige  Verflüssigung  desselben  sind  niclit  seltne 
Vorkomnmisse.  Bei  diesen  Erweichungsprocessen  tritt  Gefässthrombose 
und  collaterale  Gefässectiisie  um  den  Erweichuugsheerd  ein,  wie  bei  der 
Umbildung  eines  Entzündungsheerdes  zum  Abscess  oder  zur  Vei'käsung.  — 
Durch  alle  diese  erwähnten  Vorgänge  der  Entwicklung  und  Erkrankung 
der  Geschwülste  kann  das  anatomische  Bild  derselben  in  solchem 
Maasse  complicirt  sein,  dass  es  nicht  immer  ganz  leicht  ist,  im  einzelnen 
Falle  bei  der  Untersuchung  des  Präparates  sofort  das  ursprüngliche  Ge- 
webe der  Geschwulst  richtig  zu  beurtheilen.  —  Endlich  kommt  noch 
hinzu,   dass  zuweilen   die  Geschwülste  im  Laufe  der  Zeit  ihre  anatomi- 


Voi-Ifsmi^;  ■]?,.     Capilcl    XXI.  f)65 

sehen  VcrliäHnissc  äudeni,  z.  1>.  dass  eine  lUiHleg'Cweh.sg'Cschwiilst,  welche 
lange  als  solche  bestand,  durch  rasche  Zellenwucheriing-en  und  stärkere 
Yascularisirung  weicher  wird,  oder  umgekehrt  eine  weiche  Geschwulst 
durch  Schwund  der  Zellen  und  narbige  Contraction  des  in  der  Ge- 
schwulst befindlichen  Rindegewebes  hart  wird.  —  Sie  sehen  wohl,  dass 
eine  Summe  von  Kenntnissen  und  Erfahrungen  nothwendig  ist,  uui  nur 
allein  diese  anatomischen  Verhältnisse  in  jedem  einzelnen  Falle  richtig 
zu  beurtheilen,  welche  der  ganzen  Geschwulstlehre  als  Basis  dienen ;  ja 
es  wird  zuweilen  vorkommen,  dass  es  unnu'jglich  ist,  dem  voi'liegenden, 
genau  untersuchten  Object  einen  Namen  zu  geben,  durch  welchen  es  in 
eine  der  aufgestellten  Gruppen  einfach  rubricirt  wird.  Was  die  Nomen- 
clatur  bei  Geschwülsten  betrifl't,  welche  aus  verschiedenen  Arten  von 
Geweben  zusammengesetzt  sind,  so  wählt  man  den  Namen  gewöhnlich 
nach  dem  Gewebe,  welches  in  grösster  Menge  in  der  Geschwulst 
vorhanden  ist. 

Im  Allgemeinen  hat  man  sich  geeinigt  „w,u«"  an  die  Bezeichnung  des  betreffenden  Ge- 
webes anzuhängen,  um  eine  Geschwulst  histiologisch  zu  charakterisiren,  also :  Sarkoma,  Car- 
cinoma etc.  Ein  Wort  „w^tm"  gab  es  aber  bei  den  Griechen  nicht;  es  entstand  daraus,  dass 
man  gewissen  Hauptworten  die  Endung  ..ow"  anhing,  um  sie  zu  Zeitwörtern  zu  machen, 
z.  B.:  (TKol  Fleisch,  ffo;();<dw  Fleisch  erzeugen,  zu  Fleisch  machen;  xceoxirog  Krebs,  y.agy.ivoc) 
dem  Krebs  ähnlich  machen,  krümmen,  biegen.  Die  Griechen  brauchten  schon  die  Ausdrücke 
oänxiojua  Fleischgeschwulst,  xa()y.ivaf.ici  Krebsgeschwür  (Hippocrates).  Nach  diesen  Tjpen 
hat  sich  die  moderne  Nomenclatur  entwickelt  und  ist  zumal  von  Virchow  consequent 
durchgeführt.  Der  alte  griechische  Ausdruck  für  Geschwulst  im  Allgemeinen  ist  ,,oyy.ug'' 
ursprünglich:  Bug,  Biegung,  Krümmung,  Höcker;  daher  der  von  Virchow  auch  ge- 
brauchte Name  „Onkologie",  die  Lehre  von  den  Geschwülsten.  Der  auch  von  Hippo- 
crates gebi-auchte  Ausdrück  (fvfxa,  q^vröv,  Gewächs  wird  jetzt  splten  verwandt.  —  Von 
Gels  US  wird  auch  der  Ausdruck  „struma"  von  „stuere  anfeinanderschichten",  zuweilen 
allgemein  für  Geschwulst  gebraucht,  dann  aber  besonders  von  Drüsengeschwülsten  am 
Hals;  die  Engländer  haben  das  noch  beibehalten;  was  wir  als  „lymphatisch,  scrophulös" 
bezeichnen,  nennen  sie  „strumös".  Jetzt  wird  der  Ausdruck  ,,struma  „bei  uns  ganz  exclusiv 
für  Geschwülste  der  Schilddrüse  verwandt. 

Ueber  die  äussere  gröbere  Erscheinungsform  der  Geschwül- 
ste habe  ich  nur  wenige  Bemerkungen  zu  machen.  In  den  meisten 
Fällen  sind  die  Gewächse  rundlich  knotige  von  der  Umgebung  durch 
das  Gefühl  und  Gesicht  mehr  oder  weniger  leicht  abgrenzbare  Gebilde. 
Dies  ist  freilich  nicht  immer  entsch.eideud ;  auch  die  Tuberkel  sind,  we- 
nigstens in  ihren  kleinsten  Verhältnissen,  al>gegreuztc  rundliche  wenn 
auch  gefässlose  Gebilde,  die  ich  ebensowenig  zu  den  Gewächsen  rech- 
nen möchte,  wie  die  Papeln  und  Pusteln  der  Haut.  —  In  den  Häuten 
kann  ein  Gewächs  auch  als  deutlich  geformter  Knoten  auftreten,  ebenso 
wie  sich  darin  ein  Abscess  bilden  kann,  der  ja  auch  als  Knoten  anfangs 
erscheint.  Doch  wie  die  chronisch -entzündliche  Neubildung  an  Ol)er- 
flächen  auch  häufig  in  Form  von  papillären  Wucherungen  (Zotten) 
auftritt,  so  kann  auch  ein  Gewächs,  welches  sich  in  Häuten  bildet,  die 
papilläre  Form  annehmen,  ja  es  kann  die  Oberfläche  eines  Geschwulst- 


666 


Von  den  Geschwülsten. 


knotens  oder  aucli  die  Innenfläche  eines  Sackes,  einer  Cyste,  welche 
Flüssigkeit  oder  Brei  einschliesst,  papilläre  Wucherung-en  selbstständig 
producircu,  Sie  sehen  auch  hieraus,  dass  durch  die  rein  äusserlichen 
anatomischen  Verhältnisse  das  Gebiet  der  Gewächse  und  der  entzünd- 
lichen Neubildungen  nicht  genau  abgegrenzt  werden  kann. 

Es  giebt  eine  Anzahl  von  Bezeichnungen  verschiedener  Eigenschaf- 
ten der  Geschwülste,  welche  auch  heute  noch  vielfach  gebräuchlich  sind, 
obgleich  sie  nicht  immer  sich  auf  wesentliche  Dinge  beziehen.  So  pflegt 
man  eine  Geschwulst,  welche  in  einer  Höhle  mit  kleinerer  oder  grösse- 
rer Basis,  mit  längerem  oder  kürzerem  Stiel  festsitzt,  einen  Polypen 
(von  nolvg  viel,  und  novg  Fuss,  Vielfuss)  zu  nennen;  man  spricht  dem- 
nach von  Nasenpolypen,  Uteruspolypen  etc.,  muss  aber  dann  seine  histo- 
logischen Eigenschaften  (z.  B.  fibrös,  sarcomatös,  myxomatös  etc.)  hin- 
zusetzen. Gewächse,  welche  ulcerirt  sind,  wie  ein  Pilz  hervorquellen 
und  auch  die  Form  eines  Pilzes  haben,  nennt  man  wohl  Schwämme, 
Fungi;  doch  braucht  man  den  Namen  „schwammig,  fungös"  auch  um 
die  Schwamm -ähnliche  Weichheit  erkrankter  Gewebe  zu  bezeichnen. 
Will  man  bezeichnen,  dass  eine  Geschwulst  sehr  reich  an  Gefässen  und 
Blut  sei,  so  hängt  man  das  Wort  „haematodes"  an,  oder  „telan- 
giecta tisch"  (von  relog  Ende,  dyyslov  Gefäss,  exTaaig  Ausdehnung) 
oder  „cavernös".  War  eine  Geschwulst  sehr  fest,  fasrig  (nicht  knorp- 
lig, nicht  knöchern),  so  hiess  man  sie  früher,  „Scirrhus"  {oxiQQog 
hart);  dieser  Ausdruck  wird  wenig  mehr  verwandt,  noch  weniger  das 
Adjectivum  „scirrhös",  welches  nur  so  viel  wie  „fest"  bedeutete  und 
von  entzündlichen  Infiltrationen  ebenso  gebraucht  wurde  wie  von  Kreb- 
sen. Medullär  h^isst  man  eine  Geschwulst,  w^elche  Farbe  und  Con- 
sistenz  des  Hirns  hat,  wobei  die  Structur  derselben  sowohl  einem  Sarkom 
als  einem  Carcinom  als  einem  Lymphom  entsprechen  kann.  Da  Ge- 
schwülste von  diesem  Aussehen  als  besonders  bösartig  bekannt  sind, 
so  sind  die  Bezeichnungen  „Medullarsarkom",  „Medullarcarcinom"  auch 
zur  Bezeichnung  der  bösartigsten  Geschwulstformen  überhaupt  ohne  jede 
Kücksicht  auf  die  Structur  gebraucht  worden.  —  Manche  Gewächse  sind 
gefärbt:  hellbraun,  gelblich,  braunschwarz,  blausclnvarz ;  diese  Pigmente 
können  aus  Extravasaten  hervorgegangen  sein,  oder  specifischen  Zellen- 
thätigkeiten  ihre  Entstehung  verdanken.  Diese  Melanome  (/.islag 
schwarz),  oder  Melanosen  sind  seltne,  theilweis  oder  ganz  schwarz 
oder  braunschwarz  gefärbte  Geschwülste,  Avelche  ihrer  Structur  nach  zu 
den  Sarkomen  oder  Carcinomen  gehören  und  gewöhnlich  von  höchst 
übler  Prognose  sind.  —  Früher  begnügte  man  sich  vielfach  mit  diesen 
und  ähnlichen  Bezeichnungen  und  Vergleichen  mit  diesem  oder  jenem 
Gewebe;  für  Sie  mag  es  genügen,  die  Bedeutung  der  erwähnten  Aus- 
drücke zu  kennen. 

Kommen  wir  jetzt,  nachdem  Sie  schon  etAvas  orientirt  sind,  noch 
einmal  auf  den  Begriff  „Geschwulst"  zurück.    Die  reine  Anatomie  sollte 


VoilcsmiK   i:;.     ('apiicl    XXT.  Hfi? 

diesen  BegrilT  einlach  ziu-iick weisen;  iXw  sie  ^ieht  es  nur  GewehsMI- 
dnngen  (organisirte  Neubildungen  liokitansky)  einfacher  oder  zusaiii- 
niengesetzter  7\.rt;  sie  kann  aus  einer  Jieihe  von  IJeobachtung-en  nach- 
weisen, wie  diese  Gebilde  entstellen  und  was  aus  ihnen  wird;  auf  diese 
AVeise  kommt  man  aber  nicht  zu  dem  üeg'rilf  „Geschwulst"  in  dem 
Sinne,  wie  wir  ihn  in  der  Tatliologie  brauchen.  „Geschwulst,  Gewächs, 
Tumor"  ist  in  der  heutigen  Tathologie  ein  wesentlich  ätiologischer 
und  meist  zugleich  prognostischer  Begriff;  er  ist,  Avie  wir  schon 
im  Eingang  dieses  Absclmittes  liervorgelioben  haben,  eine  Neubildung, 
welche  gewöhnlich  nicht  aus  denjenigen  Ursachen  hervorgegangen  ist, 
welche  Entzündungen  erzeugen,  sondern  aus  andern  meist  unbekannten 
oder  nur  dunkel  zu  vermuthenden;  der  Process  im  Organismus  i^local 
oder  allgemein),  welcher  Geschwülste  producirt,  wird  meist  als  ein 
anderer  angenommen,  als  der  Entzündungsprocess ;  beide  Processe  werden 
sogar  von  Manchen  (mit  wie  vielem  Recht  wollen  wir  dahingestellt  sein 
lassen)  als  in  einem  gewissen  Antagonismus  stehend  betrachtet.  Können 
wir  es  in  einem  gegebenen  Fall  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  j\Ionjiento, 
welche  fiir  gewöhnlich  Entzündung  hervorrufen  (traumatische,  ther- 
mische, chemische  Reize  etc.)  in  ursächlicher  Bezieliung  zur  Gesciiwulst- 
bildung  stehen,  so  ist  dies  immer  ein  so  aussergewölmlicher  Fall,  dass 
wir  dabei  einen  aussergewöhulichen  Organismus  anzunehmen  geneigt 
sind.  —  Diese,  ich  möchte  sagen,  pathologisch-physiologische  Auffassung 
hat  früher  nicht  bestanden,  doch  ich  glaube  nicht  zu  irren,  wenn  ich  die 
Ueberzeugung  ausspreche,  dass  sie  ziemlich  allgemein  bei  den  Patho- 
logen bewusst  oder  unbewusst  vorhanden  ist.  Alle  Schriftsteller  über 
Geschwülste  vermeiden  es  möglichst,  über  diesen  Punkt  zu  sprechen, 
weil  nichts  Weiteres  darüber  zu  sagen  ist.  Man  weiss  eben  nicht,  wie 
und  wo  man  die  ätiologischen  Momente  z.  B.  für  chronische  Entzündung 
und  Geschwulstentwicklung,  scheiden  soll.  Es  ist  ebenso  wenig  möglich, 
dem  Begriff  „Geschwulst"  nur  anatomisch  beizukommen,  w-ie  man  z.  B. 
auch  den  Krankheitsbegriff  „  Typhus "  rein  anatomisch  nicht  defiuiren 
kann;  mau  muss  sich  da  behufs  des  Verständnisses  mit  einem  Compro- 
miss  zwischen  Aetiologie  und  ..pathologischer  Anatomie  helfen.  —  In 
dem  ätiologischen  Begriff  „Geschwulst  -  bildender  Process"  liegt  auch 
schon,  dass  das  Geschick  des  Productes  „Geschwulst"  ein  anderes  sein 
wird,  als  das  der  „entzündlichen  Neubildung";  wir  konnten  von  den  Ge- 
schwülsten sagen,  dass  sie  die  Bedingung  zu  einem  typischen  Abschluss 
meist  nicht  in  sich  tragen,  wie  die  entzündliche  Neubildung.  Ich  für 
meine  Person  möchte  nicht  behaupten,  dass  der  Entzündungsprocess  zu 
dem  Geschwulst  -  bildenden  Process  wirklich  in  einem  antagonisti- 
schen Verhältniss  steht;  vielmehr  glaube  ich,  dass  die  Beobachtung 
lehrt,  dass  beide  Processe  in  manchen  Fällen  zusammentreffen,  zumal  in 
manchen  Formen  der  chronischen  Entzündung  und  der  Sarkombildung, 
während  freilich  eine  acute  Metritis  und  ein  Uterusfibrpid  weit  genug  in 


668 


Von  den  Geschwülsten. 


ätioloo-ischer  und  anatomischer  Beziehung-  auseinander  liegen.  —  Dass 
die  Geschvvulstbildung  specifische  Ursachen  habe,  die  man  bald  inner- 
lialb,  bald  ausserhalb  des  Organismus  sucht,  ist  im  Ganzen  wenig  ange- 
griflen,  und  diese  Angriffe  sind  wenig  ernst  gemeint.  Virchow  meint, 
dass  die  Geschwulstbildung  Avohl  aus  einer  potenzirten  entzündlichen 
Diathese  hervorgehen  könne;  so  entständen  Polypen  der  Schleimhaut 
nach  lang  dauernden  Catarrhen;  die  Syphilis  producire  zuerst  Entzün- 
dungen, .dann  Geschwülste,  wozu  ich  beiläufig  bemerke,  dass  ich  kein 
Product  der  Syphilis  eine  Geschwulst  nenne;  ein  Gummiknoten,  ein  kä- 
siger Knoten,  der  durch  Syphilis  entsteht,  lieilt  entweder  durch  Resorp- 
tion oder  nach  Spaltung  durch  Auseiterung  und  Narbenbildung,  während 
dies  bei  einem  angeschnittenen  Gewächs  zu  den  allergrössten  Selten- 
heiten gehört.  H.  Meckel  von  Hemsbach  stellte  die  gegentheilige 
Idee  auf;  er  sagte  z.  B.,  die  Chondrome  der  Finger  seien  der  mildeste 
Ausdruck  einer  scrophulösen  Diathese,  der  an  den  Fingern  die  Päd- 
arthrocace  entspreche  u.  s.  f.  —  Zieht  man  die  Producte  der  Entzün- 
dung mit  den  histologisch  entwickelteren  Geschwulstformen  in  Vergleich, 
so  muss  man  zugeben,  dass  den  Geschwülsten  als  den  laugsamer  ent- 
Avickelten  Neubildungen  wahrscheinlich  ein  schwächerer,  dem  normalen 
Wachsthum  mehr  verwandter  Reiz  zu  Grunde  liegt  als  der  Entzündung. 
—  Alle  erwähnten  Betrachtungen  Ijeziehen  sich  nur  auf  die  eigentlichen 
Gewächse;  nur  von  diesen  werden  Avir  in  der  Folge  handeln;  wenn 
Virchow  eingekapselte  Blutextravasate  und  Hydropsien  seröser  Säcke 
auch  zu  den  Geschwülsten  rechnet,  so  stellt  er  sich  damit  ganz  aus  der 
Reihe  unserer  ärztlichen  Anschauungen. 


Vorlesung  44. 

Aetiologie  der  Geschwülste.  Miasmatische  Einflüsse.  Specifische  Infection.  Speci- 
iische  Reactionsweise  der  irritirten  Gewebe ;  die  Ursache  derselben  ist  immer  eine  consti- 
tutionelle.  Innere  Reize;  Hypothesen  über  die  Beschaffenheit  und  Art  der  Reizeinwirkung. 
—  Verlauf  und  Prognose:  solitäre,  multiple,  infeetiöse  Geschwülste.  —  Dyskrasie. — 
Behandlung.  —  Principien  über  die  Eintheilung  der  Geschwülste. 

Gehen  wir  jetzt  etwas  näher  auf  die  Aetiologie  der  Gewächse 
ein.  Hier  sollte  man  meinen,  den  Unterschied  und  die  Verwandtschaft 
derjenigen  Processe  finden  zu  können,  welche  der  Entstehung  der  ent- 
zündlichen Neubildung  und  der  Geschwülste  zu  Grunde  liegen.  Lassen 
Sie  uns  von  den  Ursachen  der  Entzündung  ausgehen  und  mit  ihnen  die 
Ursachen  der  Geschwulstbilduug  parallelisireu. 

Mele  acute  entzündliehe  Processe  (Exantheme,  Typhus  etc.)  und  manche  chronische 
(lutemüttens,  Scorbut)  entstehen  durch  Miasmen  und  Contagien,  welche  in  den  Kör- 
per von  aussen  eindringen.  —  Acute  miasmatische  Gesehwulstbildungen  kenne  ich  nicht: 
als  chronische  endemisch-miasmatische  Geschwulstbildimg  muss  die  Entwicklung  der  Kröpfe 
bezeichnet   werden;  man   kann  die  Kropfbildung  nicht   wohl  als  Entzündungsproduct  auf- 


VorlotiiMip;  -IL     Ciipilcl   XXf.  (^09 

fassen,    da  si(^li  die  Kröpfe  weder  sponlnn  ziirückljildcii,   noch  spontan  vereitern,  noeli  zur 
Narbe  völlig  ziisiinimensolirumpfen ;   die    Irsinhc    isl.  jcdcnlHlls  eine   speeifisclie,    von   aussen 
kommende,  der  gelegentlicli  jedes,  zumal  jüngere  Individuum  ausgesetzt  ist,  welches  in  eine 
Gegend   kommt,    in    welcher    Kropf  endemisch    ist,    nicht  jeder  ist  gleich   dazu  disponirt, 
erbliche  Anlage  mag  hinznkommen ;  die  Inferlion  erfolgt  wahrscheinlich   durch   dii'  Vcnuilt- 
lung  des  Blutes,  wenigstens  kann  man  sich   nicht  wohl   vorstellen,   wie  die   Gl.   thyrcoidea 
örtlich  von  Miasma  inficirt  werden  sollte.     Die  Kropfhildung  ist  also  vielleicht  der  locale 
Ansdrnck   einer  allgemeinen  Infeetion,  welche  sich  znweilen  im  ganzen  Ernährungszustand, 
zumal  auch  in  anomaler  Entwicklung  des  8kelets  vmd  ihren  Folgen  (Cretinismus)  äussert. 
Als  chronisch-miasmatische  Infeetion  kann  man  au(;h  die  orientalische  Ele))hantiasis  gelten 
lassen,    wobei    sich  grosse  Massen  von  knotigen  FasergeschwiUsten  in  der  Haut,    an  ver- 
schiedenen Körpertheilen  bilden  meist  mit  Anästhesie  verbunden;    doch  gebe   ich   zu,   dass 
hier    ein    streitiges  Gebiet    ist,    und    dass    man  auch  Gründe  anführen  kann,  welche  dafür 
sprechen,  diese  Afl'ection  nicht  zu  den  Geschwulstkrankheiten,  sondern  zu  den  cbronisclien 
Entzündungen  zu  rechnen.  —  Was  die  örtKche  Infeetion  oder  die  Ueb  er  tragung 
fixer  Contagien  von  aussen  betrifft,  so  wissen  wir,  dass  Entzündungsprocesse   verschie- 
dener Art  so  erzeugt  werden.    Durch  faulige  Stoffe  werden  nur  entzündliche  Processe  er- 
zeugt, ich  rechne  dahin  auch  die  sogenannten  Leichentuberkel,  die  mir  deshalb  nicht  als 
Geschwülste  imponiren,  weil  sie   von  selbst  verschwinden,  sowie  keine  neuen  Infectionen 
mehr    erfolgen.      Durch   Einimpfung    von    Eiter    aus   gewissen    Stadien    einer    f^ntzTindung 
wird  wieder  Entzündung  erzeugt,   je  nach  der  Beschaffenheit  des  Eiters  Entzündung  mit 
specifischem    Charakter;     mit   dem   Eiter   kann    auch    eine    Allgemeinkrankheit    eingeimpft 
werden ,    die    sich    dann    wieder   in    vielfach    localisirten  Entzündungsprocessen    ausspricht, 
z.  B.  Syphilis.     Kann    durch  Einimpfung   von  Geschwulstsäften    oder  kleinen  Geschwulst- 
bestandtheilen  auch  eine  Geschwulstkrankheit  erzeugt  werden?  Dies  ist  ein  bis  jetzt  strei- 
tiger  Punkt;    ich    halte  es  für  möglich,    doch    nicht  sichergestellt;    die    Schwierigkeit    der 
Entscheidung  liegt  darin,    dass  es  nicht  erlaubt  ist,    solche  Experimente  an  Menschen  zu 
machen.     Wenn  dergleichen  Uebertragungen  von  Menschen  auf  Thiere  oft   fehl  schlagen, 
so  beweist  dies  nur,  dass  Geschwülste  vom  Menschen  nicht  auf  Thiere  impfbar  sind;  man 
mnss  von  Geschwülsten  der  Thiere  auf  Thiere  gleicher  Art  impfen;  es  liegen  einige  solche 
Versuche  bis  jetzt  nur  von  D  outre  lepont  vor,  in  welchen  die  Impfung  von  Carcinomen 
von    Hunden    auf  Hunde    keine    Erfolge    hatte.     Jedenfalls   kann   man    durch  Impfung  mit 
Eiter  keine  Geschwülste  erzeugen,    was  wiederum    die  specifische  Differenz  der  Produete 
zu    beweisen    scheint.      Vielleicht   wird   mir    hier   mancher  Pathologe  erwidern,    es  sei  in 
dem  „Moluscuni  contagiosum"   der  Beweis  gegeben,    dass    auch  Geschwulstsäfte    oder  Be- 
standtheile  von  Gewächsen  auf  andere  Individuen  mit  Erfolg  impfbar   sind.     Diese  durch 
Ebert  und  Virchow  festgestellte  Thatsache    ist  höchst  interessant;    doch   ist  die  Conta- 
giosität  dieser  Neubildung  vorläufig  noch  zu  isolirt,  um  daraus  allgemeiner  gültige  Schlüsse 
zu  ziehen.  —  Den  schlagendsten  Beweis  für  die  Specifität   der  Entzündungsproducte    und 
der  Geschwülste  bietet  die  Beobachtung,    welche   man    bei  Entzündung    und    Geschwulst- 
bildung über  die  locale  und  allgemeine  Infeetion    unzählige  Male    zu   machen  Gelegenheit 
hat.    Wir  haben  früher  viel  gesprochen  von  den  progressiven  und  secundären  Entzündungen, 
von  der  fast  immer  secundären  (deiiteropathischen  Virchow)   acuten  Lymphangoitis,  von 
den  secundären,    acuten  und  chronischen  Schwellungen  der  Lymphdrüsen  bei  acuten  und 
chronischen  Entzündungen,  zumal  der  Extremitäten;    ich  habe  Ihnen  damals  gesagt,  dass 
ich  es  für  wahrscheinlich  halte,    dass  zellige  Elemente  aus    dem  Entzttndungsheerd  in  die 
Lymphdrüsen  gelangen  und  durch  ihre  specifisch  phlogogenen  Eigenschaften  Entzündungen 
in    den  Drüsen    hervorrufen ,    welche    den    primären    peripherischen   Entzündungsprocessen 
analog    sind:    nie   entstehen  durch  solche  locale  Infectionen    von  Entzündungsheerden  aus 
Gewächse;  ist  der  primäre  Entzündungsheerd  beseitigt,  so  vergehen  auch  meist  die  Lymph- 
drüsenschwellungen; chronische  Lymphdrüsenschwellungen  vei'schwinden   freilich  nicht  so 
leicht.     Gleich   infectiöse   Eigenschaften   kommen    auch   vielen  Gewächsen   zu.    und   zwav 


(i'7(\  Von  den  Gesohwiilsten. 

besonders  denjenigen,  welche  wie  die  entzündliche  Neubildung  sehr  zahlreich  sind:  nicht 
allein  dass  die  nächste  Umgebung  inficirt  wird,  und  dass  sich  zahllose  neue  Heerde  un- 
mittelbar um  den  ersten  Geschwulstknoten  bilden  können,  sondern  sehr  häufig  werden 
auch  die  Lymphdrüsen  afficirt,  und  es  entstehen  dann  in  denselben  secundäre  Geschwülste, 
welche  die  gleiche  Beschaffenheit  haben  als  die  primären;  ebensowenig  wie  letztere  spontan 
vergehen,  verschwinden  erstere,  wenn  auch  die  primäre  periphere  Geschwulst  entfernt  ist: 
im  Gegentheil,  sehr  häufig  treten  nun  auch  in  andern  ganz  entfernten  Körpergegenden 
o-leichartige  Geschwülste  auf:  metastatische  Geschwülste.  Hier  haben  Sie  wieder  die 
Analogie  mit  dem  Verlauf  der  Infection  bei  Entzündung,  und  doch  wieder  die  specifische 
Verschiedenheit;  denn  niemals  entstehen  durch  phlogistische  Infection  metastatische  Ge- 
wächse, und  ebensowenig  durch  Infection  von  einer  Geschwulst  aus  metastatische  Abscesser 
in  inneren  Organen.  —  Nicht  alle  Geschwülste  sind  infectiös,  wenngleich  leider  die  über- 
wiegende Mehrzahl;  man  nennt  sie  bösartige  im  Gegensatz  zu  den  nicht  infectiösen 
gutartigen.  Worin  diese  Unterschiede  begründet  sind,  das  ist  freilich  schwer  zu  sagen; 
theils  liegt  es  wohl  in  der  Art  und  speciflsehen  Beschaffenheit  der  Elemente,  in  der 
leicbten  Beweglichkeit  derselben,  und  darin,  dass  sie  wie  die  Samen  mancher  niederen 
Pflanzen  fast  überall  geeigneten  Boden  für  ihre  Fortentwicklung  finden,  in  den  meisten 
Geweben  des  Körpers  sich  weiter  ausbilden  und  zu  neuen  Gewächsen  werden  können ; 
theils  liegt  es  auch  wohl  darin,  dass  die  Bedingungen  für  die  Aufnahme  der  Geschwulst- 
elemente in  die  Lymph-  oder  Blutgefässe  bald  mehr,  bald  weniger  günstig  sind;  so  ist 
es  z.B.  auffallend,  dass  oft  ganz  weiche,  fast  nur  aus  Zellen  bestehende  Geschwülste 
(Medullarsarkome) ,  wenn  sie  von  einer  festen  Bindegewebskapsel  umschlossen  sind,  so 
häufig  keine  Lymphdrüseninfectionen  machen;  Aehnliches  finden  wir  auch  bei  manchen 
grossen  abgekapselten  Abscessen.  In  Betreff  der  metastatischen  Abscesse  habe  ich  Ihnen 
früher  bemerkt,  dass  sie  nach  meiner  Ansicht  alle  embolischen  Ursprungs  sind;  in  Betrefi' 
der  diffusen  metastatischen  Entzündungen  mussten  wir  zu  einer  andern  Erklärung  greifen. 
Diffuse  metastatische  Gewächse  sind  nun  freilich  äusserst  selten,  ich  möchte  nur  wenige 
Formen  pleuraler  und  peritonealer  Carcinome  oder  Sarkome  so  bezeichnen.  Was  den 
Entstehungsmodus  der  metastatischen  Tumoren,  den  eigentlichen  Vorgang  der  Infection 
betrifft,  so  liegt  es  aus  Analogie  sehr  nahe,  dass  auch  sie  wie  die  secundären  Lymph- 
drüsentumoren durch  ein  Semen  von  den  primären  Geschwülsten  oder  von  den  Lymph- 
drüsengeschwülsten aus  entstehen.  Ich  bekenne,  dass  ich  sehr  geneigt  bin,  dies  anzu- 
nehmen. Obgleich  mir  früher  die  Idee  nicht  eingehen  wollte,  dass  die  Zellen  aus  einem 
Entzündungsheerd  oder  aus  einer  Geschwulst  so  selbstständig  sein  sollten,  wie  Schwärm- 
sporen von  Algen,  so  glaube  ich  doch,  dass  man  bei  den  jetzigen  Kenntnissen  gerade 
über  das  selbstständige  Leben  der  pathologisch  neugebildeten  Zellen  nicht  mehr  an  der 
Möglichkeit  solcher  Vorgänge  zweifeln  darf.  Es  ist  in  neuester  Zeit  grade  eine  Beobach- 
tung bekannt  geworden,  welche  einen  neuen  Beweis  für  den  hohen  Grad  von  Selbstständig- 
keit liefert,  den  die  Gewebselemente ,  zumal  die  Zellen  des  Bete  Malpighii  besitzen,  ich 
meine  die  schon  öfter  erwähnten  Epidermistransplantationen  von  Reverdin.  Hiernach 
hat  es  nun  noch  viel  mehr  Wahrscheinlichkeit  als  früher  bekommen,  dass  losgerissene 
zellige  Elemente  einer  Neubildung  in  andere  Gegenden  des  Körpers  durch  den  Säfte-  und 
Blutsti-om  verschleppt,  dort  eventuell  weiterwachsen.  Wenn  auch  bei  der  ersten  Ent- 
wicklung eines  Tumors  wie  bei  der  Entstehung  einer  entzündlichen  Neubildung  die  Lymph- 
gefässe  theilweis  verschlossen  und  durch  Zellen  erfüllt  werden  dürften,  so  könnten  sich 
doch  sehr  wohl  im  weiteren  Verlauf  durch  Compressionsstenose  capillare  Lymph-  und 
Gefässthromben  bilden,  in  welche  specifische  GescliAVulstelemente  einwandern,  und  kleinste 
Thrombenbröckel,  welche  sich  zumal  bei  Erweichungsprocessen  in  den  Geschwülsten  bil- 
den dürften,  könnten  in  den  Kreislauf  gelangen,  sich  bald  hier,  bald  dort  festsetzen  und 
sich  zu  neuen  Gewächsen  heranbilden.  An  kleineren  und  grösseren  Venen  ist  die  Bil- 
dung solcher  mit  specifischen  Geschwulstelementen  durchsetzten  Thromben  wirklich 
beobachtet  und  zugleich  sind  analoge  Geschwülste  in  den  Aesten  der  Lungenarterie  luuli- 


Vorlcsmi--  4L     Ciipilcl   XXF.  071 

gewiesen.  Grade  der  Umstand  ist  nic^lit  gering  anziisclilagen ,  dass  metastatisclie  Ge- 
schwülste wie  metastatisclie  Abscesse  vorwiegend  in  Lunge  und  Leber  gefunden  werden, 
abgesehen  von  den  Fällen,  wo  die  Vermittlung  der  Geschwulstmetastasen  auf  directeui 
Wege  nahe  liegt,  wie  bei  Fleuragescliwülsten,  welche  neben  primären  Mannuagescliwülsten 
entstehen,  wie  bei  Lebergeschwülsten,  welche  neben  Geschwülsten  des  Darms  oder  des 
Magens  gefunden  werden;  in  diesen  Fällen  ist  eine  directe  Wanderung  der  Geschwulst- 
elemente durcii  die  Lymphgefässe  leicht  denkbar.  Auf  diesem  Gebiet  ist  noch  Viel,  und 
ich  glaube,  mit  Erfolg  zu  forschen!  —  Die  Producte  der  acuten  Entzündung  wirken,  wie 
wir  gesehen  haben,  meist  pyrogen;  die  der  chronischen  Entzündung  besitzen  die.se  Eigen- 
schaft fast  in  ebenso  geringem  Grade  wie  diejenigen  der  Geschwülste;  nur  wenn  in  letzte- 
ren Neubildungen  Zerfall  eintritt,  und  die  Producte  dieses  Zerfalls  in  den  Kreislauf  ge- 
rathen,  tritt.  Fieber  ein.  —  Fassen  wir  das  über  Contagiosität  der  Geschwülste  Gesagte 
zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Uebei-tragbarkeit  von  geeigneten  Geschwulstelementen 
eines  Individmims  auf  ein  anderes  manche  Wahi-scheinlichkeit  für  sich  hat,  docli  nicht 
bewiesen  ist;  dass  aber  nicht  mehr  daran  gezweifelt  werden  kann,  dass  beim  gleichen 
Lidividuum  von  verschiedenen  Arten  von  Geschwülsten  aus  die  Lymphdrüsen  und  auch 
andere  Organe  nach  und  nach  angesteckt  werden  können.  Ueber  die  Art  dieser  An- 
steckung sind  verschiedene  Ideen  verlautbart.  Der  einfachste  Vorgang  wäre  der  eben 
auseinandergesetzte,  dass  nämlich  die  von  einer  primären  Geschwulst  abgelösten  in  ein 
Gefäss  eingeklemmten  Emboli  aus  sich  selbst  weiter  wachsen,  und  das  anliegeiide  Gewebe 
sich  dabei  nur  verhält  wie  gegenüber  einem  andern  fremden  Körper  mit  der  Ausnahme 
freilich,  dass  sie  Gefässe  in  den  zur  Geschwulst  heranwachsenden  Embolus  hineinsenden. 
Andere  sind  der  Meinung,  die  Geschwulst  inficire  das  umgebende  Gewebe  der  Art,  dass 
dies  nun  auch  die  gleichen  Geschwulstgewebe  producire.  Noch  Andere  hegen  die  Vor- 
stellung, dass  es  nur  des  Saftes  aus  den  Geschwülsten  bedürfe,  um  ein  Gewebe  zur  gleichen 
Geschwulstbildung  zu  erregen.  Wir  kommen  später  bei  der  Entwicklungsgeschichte  der 
Carcinome  darauf  zurück.  — 

Was  die  locale  und  allgemeine  Erkältung  als  Entzündung  erregende  Potenz  be- 
trifft, so  finden  sich  im  Vergleich  dazu  keine  Beobachtungen,  nach  welchen  die  Ent- 
stehung von  Geschwülsten  auf  eine  analoge  Ursache  zu  beziehen  wäre.  Ich  wüsste  nicht, 
dass  Jemand  je  behauptet  und  nachgewiesen  hätte,  dass  Geschwülste  durch  Erkältung 
entstehen. 

Ueber  die  mechanischen  und  chemischen  Einwirkungen,  als  Ursachen 
von  Geschwulstbildungen,  sind  die  Ansichten  sehr  verschieden.  So  mannigfaltig  die  Reize 
sein  können,  und  so  vielfach  man  damit  experimentirt  hat,  so  liegt  doch  kein  einziger 
Versuch  vor,  bei  welchem  es  gelungen  wäre,  eine  Geschwulst  willkürlich  durch  mecha- 
nische oder  chemische  Reize  zu  erzeugen;  die  auf  solche  Weise  entstandene  entzündliche 
Neubildung  überdauert  den  äusseren  Reiz  nicht  lange.  Wo  und  wie  wir  auch  mechanische 
und  chemische  Reize  anbringen  und  einwirken  lassen ,  immer  bringen  wir  nur  Entzün- 
dungen hervor;  Avenn  es  also  specifische  mechanische  und  chemische  (ich  meine 
hier  von  aussen  auf  den  Organismus  einwirkende  iind  nicht  von  Geschwülsten  bereits 
herstammende)  Reize  giebt,  d.  h.  solche,  nach  deren  Einwirkung  eine  Ge- 
schwulst entstehen  niUSS,  so  sind  sie  bisher  unbekannt.  Es  wäre  dann  weiter 
die  Frage,  ob  Gründe  vorhanden  sind,  die  trotzdem  mit  Nothwendigkeit  zwingen,  solche 
specifischen  mechanischen  und  chemischen  Reize  ausserhalb  des  Organismus  anzunehmen. 
Ich  kann  das  nicht  zugeben:  freilich  giebt  es  eine  Reihe  von  Fällen,  in  welchen  nach 
Schlag,  Stoss,  Verwundung  eine  Geschwulst  entstanden  ist,  doch  ist  die  Zahl  dieser  Fälle 
verschwindend  klein  im  Verhältniss  zu  denjenigen,  in  welchen  nach  den  gleichen  Ur- 
sachen entweder  die  typisch  rasch  ablaufende  acute  traumatische  Entzündung  oder  bei 
dauerndem  Reiz  chronische  Entzündung  ebenfalls  mit  typischem  Verlauf  aufti-itt.  Dies 
müssen  wir  also  als  Regel  betrachten:  wenn  ein  Lastträger  auf  den  Processus  spinosi  des 
Rückens  eine  Hautverdickung  und  darunter  einen  neugebildeten  Schleimbeutel,  oder  wenn 


G72 


Von  den  Geschwülsten. 


er    an  o-leicher  Stelle  ein  Geschwür  bekommt,    so    ist  dies  eine  gewissermaassen    normale 
Folo-e     es  sind  Frodncte  einer  chronisch-entzündlichen  Reizung,    sie  verschwinden,  sowie 
der  Reiz  aufhört;    l)ekommt   aber   ein    Individuum    aus    gleichen    Ursachen,    bei    gleichem 
chronischen  Reiz    an    gleicher  Stelle  eine  Fettgeschwulst,    die  nicht  wieder  verschwindet, 
soo-ar   noch  weiter  wächst,  wenn    der  Reiz   aufhört,    so    können  wir  hier  nicht  wohl  den 
Reiz   als  specifisch    beti-achten,    sondern   müssen    die  Eigenthümlichkeit   in    dem   gereizten 
Theil  suchen.     Wir   haben   früher   bei  den    allgemeinen   und  localen  Infectionen    die  Spe- 
cifität  des  Reizes  erkannt,   jetzt   müssen    wir    auch  zugeben,    dass    es    eine  spe- 
cifische,  qualitativ  abnorme  Reactionsweise  der  Gewebe  giebt.     Dass   über- 
haupt  bei    der  I'^ntwicklung    primärer  Geschwülste  eine  loeale  Irritation    von  aussen  eine 
wichtige  Rolle  spielt,  ist  von  Virchow    und  0.  Weber  ganz  besonders  hervorgehoben; 
es  oeht  das  wohl  unwiderleglich  daraus  hervor,    dass  primäre  Gesehwülste  grade  an  den 
Stellen  des  Körpers  am  häufigsten  sind,  an  welchen  äussere  Reize  am  meisten  einwirken. 
Aus  statistischen  Arbeiten  ergiebt  sich  nämlich,   dass  am  häufigsten  der  Magen,  dann  die 
portio  vaginalis  uteri,  dann  Gesicht  und  Lippen,  dann  die  Brustdrüse,   Mastdarm  etc.  Sitz 
von    Geschwulstbildungen    w^erden.      Dass   aber    grade    Geschwülste   und   nicht   chronische 
Entzündungen  in  solchen  Fällen  entstehen,  muss  doch  in  der  speci fischen  Disposition 
dieser  T heile  bei  gewissen  Individuen  seinen  Grund  haben.    Leute,  die  viel  Spiri- 
tuosa  trinken,  bekommen  gewöhnlich  Magencatari-h ;    wenn   unter   tausend  Trinkei'u  einer 
oder  selbst  zehn  statt  dessen  einen  Magenkrebs  bekommen,   so  müssen  diese  als  abnorme 
Subjecte  der  grossen  Masse  gegenüber  betrachtet  werden.     Bis  hierher  gehe  ich  durchaus 
einig  mit  Virchow;  er  spricht  sich  folgen  derma  assen  darüber  aus:   ^Wenn  ich  also  auch 
nicht   angeben  kann,    in  welcher    speciellen  Weise   die  Irritation   stattfinden    muss,    durch 
welche  grade  in  einem  gegebenen  Fall    eine  Geschwulst  hervorgerufen  wird,   während  in 
einem  anderen  Falle  vielleicht  unter   scheinbar  ähnlichen  Verhältnissen   nur  eine  einfache 
Entzündung  erregt  wird,  so  habe  ich  doch  eine  ganze  Reihe  von  Thatsachen  mitgetheilt, 
welche  lehren,  dass  in  der  anatomischen  Zusammensetzung  einzelner  Theile  gewisse  blei- 
bende Störungen  existiren  können,    welche  das  Zustandekommen  regulatorischer  Processe 
liindern,    und  welche    bei    einem  Reiz,    welcher   an  einem  andern  Orte   nur  eine  einfache 
entzündliche  Affection  zu  Stande  gebracht  haben  würde,  eine  Reizung  erzeugt,  aus  welcher 
die    specifische    Geschwulst    hervorgeht."     Als    Thatsachen,    „welche  lehren,    dass  in  der 
anatomischen  Zusammensetzung  einzelner  Theile   gewisse  bleibende  Störungen 
existiren  können",  die  zur  Geschwulstbildung  disponiren,  werden  von  Virchow  angeführt: 
ein  höheres  Lebensalter;    es  ist  vollkommen  richtig,  dass  gewisse  Geschwulstformen 
an  bestimmten  Localitäten  im  höheren  Lebensalter  besonders  häufig  sind,  z.  B.  der  Lippen- 
krebs; Thiersch  macht  darauf  aufmerksam,  dass  in  den  Lippen  alter  Männer  das  Binde- 
gewebe   so    bedeutend    geschwunden   sei,    dass    dadurch    die    epithelialen    Gebilde    (Talg-, 
Schweiss-,  Schleimdrüsen,  Haarbälge)    sehr  hervorti'eten   und  gleichsam  das  Uebergewicht 
in    der  Ernährung   erhalten;    daher    äussere    sich    eine  Reizung   grade   vorwiegend   in    der 
Wucherung  dieser  epithelialen  Bildungen,  und  es  sei  mit  dadurch  das  häufige  Vorkommen 
der  Epithelialkrebse    an    den  Lippen    alter    Männer   zu    erklären.     Ich   erkenne    die    geist- 
reiche Combination  dieser  Beobachtungen  vollkommen  an,  indess  muss  ich  dazu  bemerken, 
dass  ein  höhe  res  Lebensalter  mindestens  eine  ebenso  allgemeine  als  loeale 
Eigenschaft  des  Körpers  ist,    also    nicht    als   loeale  Reizwirkung   angesehen  werden 
kann.     Ferner  führt  Virchow    an:    Stellen,    welche   früher   der  Sitz    einer  entzündUchen 
Krankheit  gewesen  sind,  durch  welche  der  Theil  eine  bleibende  Schwäche  behielt,  ferner 
Narben  kommen  als  Heerde  für  Geschwulstentwicklung  vor:  dies  ist  unbestreitbar  richtig: 
wenn  man  aber  dagegen  die  unzähligen  Fälle  vergleicht,  in  welchen  sich  in  acut  erkrankt 
gewesenen  Theilen  einfach  chronische  Entzündungen    ausbilden,    und    in  welchen  sich  an 
Narben  einfache  Ulcerationen  entwickeln,  so  wird  die  Zahl  derjenigen  Fälle,  in  welchen 
an    solchen   Stellen    Geschwülste    auftreten,    wieder   versehwindend   klein,    und   man  muss 
zugeben,  dass  bei  diesen  wenigen  Individuen  specifische  Dispositionen  angenommen 


VnrIcsimK  -ll.      Cnpilc-I    Wf.  073 

werden  dürfen,  welclie  nun  grade  zur  GoscliwulslhildunK  führen.  Dasselbe  gilt  für  die 
Tiiatsaohe,  dass  in  Organen,  welclie  ihre  volle  Aushiidung  und  Kntwieklung  erst  in  spä- 
terer Z(m(  des  Lehens  orhmgen,  gern  (Jeschwulsthildungen  zur  Entwieklung  kommen: 
Vireliow  nennt  hier  die  Gelenkenden  der  Knochen  (die  ührigens  im  Vcrliilltniss  zu  den 
chronischen  Entzündungen  äusserst  seilen  Sitz  von  (lesi'hwiilsten  werden),  die  Milchdrüse, 
den  Uterus,  den  Eierstock,  die  Hoden.  —  ]5ci  aller  Anerkennung  des  Aufwandes  von 
Beobachtung  und  geistreichen  Ideen,  durch  welche  die  rein  localc  Disposition  zur  Oe- 
scliwulstbildung  bewiesen  werden  soll,  kann  ich  diese  Beweise  selbst  keineswegs  als 
schlagend  bezeichnen,  sondern  bleibe  vorläufig  immer  noch  der  Ansicht,  dass  es  ebenso 
sehr  eine  specifisch  al  1  genic  in  e  Diath  ese  fü  r  Geschwulstbild  u  n  g  giebt,  wi(! 
eine  Disposition  zu  chronischen  En  tz  ündungen  mit  Wucherung  der  entzünd- 
lichen Neubildung,  mit  Eiterung,  mit  Verkäs  ung  etc. 

Es  muss  zu  dem  Gesagten  noch  hinzugefügt  Averden,  dass  man  keineswegs  im  Stande 
ist,  immer  einen  localen  äusseren  Reiz  bei  der  Geschwulstentwicklung  nachzuweisen, 
ebensowenig,  wie  dies  immer  bei  localen  Erkrankungen  scrophulöser  Individuen  möglich 
ist.  Indem  ich  Sie  hier  auf  das  bei  der  Aetiologie  der  chronischen  Entzündung  Gesagte 
verweise ,  bemerke  ich ,  dass  man  auch  in  Betreff  der  primär  entstehenden  Geschwülste 
für  viele  Fälle  annehmen  kann,  dass  es  auch  speci fische,  im  Körper  selbst  ent- 
stehende, sogenannte  innere  Keize  giebt.  Dies  geben  wieder  die  meisten  Patho- 
logen zu,  doch  denken  Sie  sich  die  Art  der  Entstehung  und  Entwicklung  solcher  Reize 
verschieden.  Virchow  lehrt  vorwiegend:  die  locale  Erkrankung  muss  eine  locale  Ur- 
sache haben,  und  nimmt  an,  dass  am  Orte  der  Erkrankung  gewisse  örtliche  Zustände  der 
Schwäche  existiren.  Hierbei  niüsste  man  nun  eine  specifische  locale  Schwäche  für  die 
verschiedensten  Ernährungsstörungen  und  für  Gesch vv'ulstbildungen  annehmen.  Rindfleisch 
spricht  sich  über  die  inneren  Reize  ganz  bestimmt  in  folgender  Weise  aus:  „Durch  den 
Stoffwechsel  in  den  Geweben  entstehen  fort  und  fort  gewisse  Excretstoffe,  welche  sowohl 
aus  den  Geweben  und  Organen,  in  denen  sie  entstehen,  als  aus  der  Säftemasse  des  ganzen 
Körpers  fort  und  fort  ausgeschieden  werden  müssen,  wenn  der  Lebensprocess  des  Individuums 
ungestört  bleiben  soll.  Diese  Körper  haben  ihre  chemische  Stellung  zwischen  den  organo- 
poetischen  Körpern  einei'seits  und  den  Excretstoffen  der  Nieren,  der  Haut,  der  Lungen 
andrerseits;  sie  fallen  also  in  die  grosse  Lücke,  welche  die  organische  Chemie  an  dieser 
Stelle  hat;  sie  sind  auf  jeden  Fall  für  die  verschiedenen  Gewebe  etwas  verschieden,  und 
auf  dieser  Verschiedenheit  beruht  die  Verschiedenheit  der  pathologischen  Neubildungen. 
Werden  sie  nämlich  nicht  in  normaler  Weise  umgewandelt  und  ausgeschieden,  so  häufen 
sie  sich  zunächst  an  dem  Orte  ihrer  ersten  Entstehung,  darauf  in  der  Säftemasse  des  Orga- 
nismiTS  an,  und  diese  Anhäufung  ist  die  nächste  Ursache  für  die  Anregung  jener  progressiven 
Processe,  welche  mit  Kernvermehrung  im  Bindegewebe  beginnen  und  mit  der  Bildung  von 
Tuberkel-,  Krebs-,  Cancroid-,  Fibroid-,  Lipomknoten  u.  s.  w.  endigen."  Ich  kann  dieser 
Auffassung  durchaus  beistimmen,  muss  aber  hinzufügen,  dass  es  mir  scheint,  als  wenn 
man  sich  darüber  täuscht,  dass  man  hier  von  vorwiegend  localen  Vorgängen  spricht.  Die 
Gallen-  und  Harnproduction  ist  freilich  auch  ein  localer  Vorgang,  doch  dass  sie  grade 
in  dieser  Quantität  und  Qualität  möglich  wird,  dazu  gehören  ausser  dem  drüsigen  Organe 
so  viele,  vom  ganzen  Organismus  abhängige  Bedingungen,  dass  man  die  Grundursache 
für  die  Harn-  und  Gallensecretion  nicht  mehr  allein  im  Blute,  sondeini  noch  weiter  zurück 
im  ganzen  Organismus,  ja  in  seiner  durch  die  Abstammung,  wenn  Sie  wollen,  bis  Adam 
hinauf,  bedingten  Eigenart  suchen  muss.  Im  gleichen  Sinne  glaube  ich  auch,  dass  man 
die  Grundursachen  für  die  localen  Bedingungen  der  Geschwulstbildung 
in  specifischen  Eigenschaften  des  gesammten  individuellen  Organismus 
suchen  muss;  im  gleichen  Sinne  sprechen  wir  ja  auch  von  einem  scrophulösen,  von 
einem  tuberkulösen  Individuum;  wir  bezeichnen  damit,  wie  ich  schon  sagte,  die  patho- 
logische Ra^e,  in  w'elche  dasselbe  hineingehört. 

Ich  muss  endlich    noch  hinzufügen,    dass    die  Annahme,    die  Krankheitsursache,    der 
Billroth  cliir.  Pnth.  ii.  Tliev.    7.  Anfi.  43 


674 


Von  den   Geschwülsten. 


Reiz  für  die  Geschwülste  entstehe  local  da.  wo  in  der  Folge  auch  die  Geschwulst  ent- 
steht, ebenso  hypothetisch  ist,  wie  jede  andere  bisher  aufgestellte.  Nehmen  wir  als  Ana- 
loo-ie  die  Arthritis:  Zaleski  hat  die  ausgezeichnetste  Arthritis  bei  einer  Gans  durch 
Unterbindung  der  Uretheren  hervorgebracht:  eine  Gelenkkrankheit  in  Folge  von  Störungen 
der  Nierenfunetion !  Ebenso  gut  könnten  vielleicht  in  irgend  einem  Gewebssystem  Ge- 
schwülste nach  Störung  der  Leberfunction  entstehen!  Hier  ist  sehr  Vieles  möglich!  Man 
weiss  darüber  gar  nichts  Sicheres,  und  bewegt  sich  ganz  auf  dem  Gebiet  der  Hypothesen! 
Ich  für  mein  Theil  finde  es  ebenso  zulässig,  hier  wie  bei  der  scrophulösen,  arthritischen  etc. 
Diathese  anzunehmen,  dass  aus  theils  unbekannten,  theils  bekannten  Gründen  der  allge- 
meinen Körperernährung  imd  allgemeinsten  Lebensbedingungen  abnorme  Stoffe  hervorgehen, 
welche  specifisch  irritirend  auf  diese  oder  jene  Körpertheile  wirken ,  nach  Analogie  der 
specifisch  wirkenden  Arzneistoffe.  — Fügen  wir  endlich  noch  hinzu,  dass  die  Diathese 
zur  Geschwulstproduction  erblich  ist,  wenn  auch  nicht  in  dem  Grade  wie  die 
Diathese  zu  chi-onischen  Entzündungen  etc.,  so  scheint  mir  die  Lehre  von  den  auf  einzelne 
Gewebssysteme  oder  einzelne  Körpertheile  loealisirten  Schwächen  durchaus  unhaltbar.  Dass 
die  Glieder  einer  Familie  grosse  Nasen  haben,  hat  gewiss  einen  localen  Grund:  sie  sind 
nämlich  im  Verhältniss  zum  Gesicht  grösser  gewachsen,  als  bei  andern  Menschen,  doch 
die  grosse  Nase  des  Vaters  kann  sich  doch  nicht  als  solche,  sondern  nur  vermittelst  der 
Spermatozoen  des  Vaters  vererben:  dort  ist  also  jedenfalls  die  Gi'undursache  zu  suchen: 
alle  Eigenschaften,  die  sich  vererben,  sind  doch  wohl  unbestritten  als  constitutionelle  zu 
bezeichnen. 

Ich  habe  Sie  hier  lange  mit  Reflexionen  beschäftigt,  die  Manchem  von  Ihnen  recht 
langweilig  erschienen  sein  mögen;  diese  werden  mich  fi-agen:  was  soll  das  für  die  Praxis 
nützen?  Da  muss  ich  Ihnen  nun  leider  bekennen,  dass  die  Praxis  auf  diese  Dinge,  eben 
weil  sie  so  sehr  hypothetisch  sind,  fast  gar  keine  Rücksicht  nimmt,  sondern  von  viel 
concreteren  Beobachtungen  im  einzelnen  Fall  ausgeht;  das  mag  Sie  beruhigen!  Denjenigen 
unter  Ihnen,  welche  Ideen  der  Art,  Avie  wir  sie  eben  besprochen  haben,  gar  nicht  zu 
Sinn  kommen,  rathe  ich,  sich  nicht  weiter  damit  zu  befassen;  über  die  letzten  LTrsachen 
der  Dinge  nicht  nachdenken  zu  müssen,  ist  im  gewissen  Sinne  ein  beneidenswerthes 
Glück!  — 

Fassen  wir  zur  leicliteren  Uebersiclit  das  über  die  Aetiologie  Ge- 
sagte in  einige  kurze  Sätze  zusammen: 

Die  Gewächse  entstehen  wie  die  entzündliche  Neubildung  in  Folge 
von  Reizung  der  Gewebe;  die  Differenz  der  ursächlichen  Momente  liegt 
1)  in  den  specifisch en  Qualitäten  des  Reizes.  Hierfür  ist  die  Infection 
des  gesunden,  einer  Geschwulst  benachbarten  Gewebes,  der  nächstgele- 
genen Lymphdrüsen  etc.  als  vollgültiger  Beweis  anerkannt.  Hypothetisch 
wird  angenommen,  dass  unter  unbekannten  Umständen  auch  local  im 
Gewebe  solche  specifisch eu,  gleich  an  Ort  und  Stelle  wirkenden  Reiz- 
Stoffe  gebildet  werden  können  (Rindfleisch).  Ich  bin  der  Ansicht, 
dass  theils  durch  erbliche,  theils  durch  erworbene  Disposition,  also  bei 
vorhandener  Diathese,  die  Entstehung  von  Stoffen  in  der  Säftemasse  des 
Organismus  denkbar  ist,  welche  specifisch  iritirend  auf  dies  oder  jenes 
Gewebe  wirken.  2)  Auch  ein  beliebiger,  in  den  meisten  Fällen  Entzün- 
dung erregender  Reiz  kann  ein  Gewächs  erzeugen,  falls  das  gereizte 
GcAvebe  specifisch  für  die  Bildung  von  Gewächsen  disponirt  ist.  Yir- 
chow,  0.  Weber,  Rindfleisch  u.  A.  nehmen  an,  dass  solche  speci- 
fischen   Eigenschaften    ganz   local    auf   einen   grade   zufällig'    o-ereizten 


I 


VorIrsunK   ■][.      ('.-iiulrl    XXI.  075 

Körpertlieil  oder  auf  ein  gewisses  System  des  Körpers  (Knochen,  Haut, 
Muskeln,  Nerven  etc.)  bescliränkt  sind.  Für  niicli  ist  die  Localisation 
solcher  specifischen  Eigenschaften  nicht  denkbar;  für  midi  ist  es  dalicr 
auch  bei  dieser  Hypothese  walirscheinlich,  dass  die  scheinbar  localen  spc- 
citischen  Eig-enschaften  ihren  Grund  in  Eigenthümli(;lds.citen  haben,  welche 
in  dem  innigsten  Zusammenhang  mit  dem  gesammten  Organismus  stehen. 
Sie  können  aus  dieser  Zusammenstellung  sehen,  dass  eine  Differenz 
der  verschiedenen  Ansichten  nur  in  dem  rein  hypothetischen  Tlieil  liegt. 
Wenn  ich  deunocli  ausführlicher  darauf  einging,  als  es  für  diese  Vor- 
lesungen noth wendig  scheinen  mag,  so  hat  dies  darin  seinen  Grund, 
dass  dieser  für  die  allgemeine  Pathologie  so  wichtige  Gegenstand  in 
neuester  Zeit  von  Virchow,  0.  Weber,  Rindfleisch,  Lücke, 
Thiersch,  Klebs,  Waldeyer  u.  A.  so  ausführlich  und  ausgezeichnet 
behandelt  ist,  dass  ich  es  für  nöthig  fand,  denjenigen  Theil  meiner  An- 
sichten genauer  zu  entwickeln ,  in  welchem  ich  von  den  genannten 
Autoren  abweiche,  deren  vortreffliche  Schriften  ich  Hmen  nicht  genug 
zum  Studium  empfehlen  kann. 


In  Betreff  der  Prognose  und  des  Verlaufs  der  Geschwülste 
können  Sie  aus  dem  Mitgetheilten  entnehmen  1)  dass  dieselben  weder 
spontan  zu  heilen  pflegen,  noch  Arzneimitteln  zugänglich  sind,  und 
2)  dass  sie  theils  infectiös  wirken,  theils  nicht.  Dieser  letztere  Punkt 
ist  besonders  frappant  für  die  unbefangene  Beobachtung.  Es  giebt  Ge- 
schwülste, welche  nach  der  Exstirpation  nicht  wiederkehren,  und  solche, 
die  nicht  allein  in  der  Operationsnarbe  und  ihrer  unmittelbaren  Umge- 
bung wiederkehren,  sondern  in  der  Folge  auch  in  gleicher  Weise  in  den 
nächsten  Lymphdrüsen,  dann  auch  in  inneren  Organen  auftreten,  wie 
schon  früher  angedeutet  wurde.  Erstere  nennt  man  von  Alters  her  die 
gutartigen,  letztere  die  bösartigen  Geschwülste  oder  Krebse. 
Diese  Beobachtung  ist  so  einfach,  dass  es  nur  darauf  anzukommen  scheint, 
die  Eigenschaften  der  einen  und  der  anderen  Geschwulstart  genau  zu 
studiren,  um  eine  sichere  Prognose  zu  stellen.  Ein  genaues  klinisches 
und  anatomisches  Studium  führte  aber  nicht  zu  dem  gewünschten  ein-- 
fachen  Resultat  dieses  Dualismus,  sondern  es  ergab  sich,  dass  letzterer 
gar  nicht  existirt,  sondern  dass  die  Verhältnisse  viel  complicirter  sind. 
Nachdem  man  sich  in  der  äusseren  anatomischen  Betrachtung  und  Schil- 
derung der  gutartigen  und  bösartigen  Gewächse  erschöpft  hatte,  unter- 
suchte man  sie  mit  dem  Mikroskop  und  in  der  Retorte;  bald  glaubte 
man  so,  bald  so  die  charakteristischen  Merkmale  gefasst  zu  haben,  und 
schnell  ergab  sich  eine  Entdeckung  nach  der  andern  als  Irrthum;  es 
stellte  sich  heraus,  dass  ein  Gegensatz  von  absoluter  Bösartigkeit  und 
Gutartigkeit  in  dem  angedeuteten  Sinne  doch  nicht  so  existire,  und  dass 
man  nicht  allein  solitäre,  multiple  und  infectiöse  Geschwulstbildungen  zu 

43* 


ana  Von   den   fieschwiilsten. 

imtevsclieiden  habe,   soudern   dass  auch  in  den  Graden  der  Infeetiosität 
noch  eine  Scala  aufgestellt   werden  müsse.     Hierauf  müssen  wir  etwas 
näher  eingehen.     Solitär  nennen  wir  eine  solche  Geschwulst,    welche 
nur   in   einem  Exemplar    am  Körper  vorkommt  und  nur  rein  locale  Er- 
scheinungen macht;  dies  sind  gewöhnlich  Gewächse,   welclie  aus  irgend 
einem  ausgebildeten   Gewebe  bestehen:   Fibrome,   Chondrome,   Osteome 
und   so  fort.     Wir  sprechen   von  multiplen  Geschwülsten,   wenn  eine 
Keihe    gleichorganisirter  Gewächse    nur    an  einem   bestimmten  Gewebs- 
system  auftritt,  wenn  also  z.  B.  viele  Chondrome  nur  au  den  Knochen, 
oder  viele  Lipome  nur  im  Unterhautzellgewebe,  oder  viele  Fibrome  nur 
in   der  Haut  vorkommen   und  so   fort.     Es  liegt  dabei,    wie  allgemein 
zugegeben,    eine    Prädisposition    des    erkrankten  Systems    zu    Grunde, 
welche  Virchow   als   rein   local  ansieht,    die  ich  aber,    wie  früher  be- 
sprochen, auf  allgemeine  constitutionelle  Verhältnisse  beziehen  zu  müssen 
glaube.    Im  Allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  jede  Art  von  Geschwulst 
gelegentlich  solitär  und  multipel  vorkommen  kann,  wenngleich  letzteres 
bei  einzelnen  Geschwulstformen  nur  äusserst  selten  der  Fall  ist.  Infectiös 
nennen  wir  eine    Geschwulst,   welche  nicht  allein  in  ihre  nächste  Um- 
gebung hineinwächst,   diese  infiltrirt  und  fortwährend  durch  Apposition 
neuer  Heerde  wächst,  sondern  auch  die  nächsten  Lymphdrüsen  und  end- 
lich auch  andere  Organe  inficiren  kann.     Li  dieser  Beziehung  bestehen 
ausserordentliche  Verschiedenheiten;  bei  manchen  Geschwülsten  geht  die 
Infection  regelmässig  nur  bis  zum  nächsten  Lymphdrüsenpaket  (Lippen- 
Gesichts-Carciuome):  bei  andern  geht  sie  von  hier  aus  weiter,  besonders 
auf  innere  Organe  (Brustdrüsencarcinome) ;  endlich  kommt  auch  Infection 
des  ganzen  Körpers  mit  metastatischen  Geschwülsten  vor  ohne  Infection 
der  Lymphdrüsen  (manche  Sarkomformen).     Ausserdem   ist  die  Schnel- 
ligkeit, mit  der  die  Infection   erfolgt,   ausserordentlich  verschieden.  — 
Prüft  man  die  Umstände,  unter  welchen  sich  die  infectiösen  Geschwülste 
entwickeln,   und   die  anatomische  Structur   solcher  Gewäclise  selbst,   so 
muss  in  Bezug  auf  ersteres  hervorgehoben  werden,   dass  besonders  im 
höheren  Mannesalter,    bei  Frauen   und  Männern  ziemlich  gleich  oft,    an 
gewissen  Organen  besonders   häufig   infectiöse  Geschwülste  vorkommen; 
dass   das   Kindesalter   zu   infectiösen   Gewächsen,    zumal    an  bösartigen 
Sarkomen  wohl  disponirt,  während  im  Jünglings-  und  ersten  Mannesalter 
überhaupt  wenig  Tumoren  und  besonders-  wenig  infectiöse  Tumoren  zur 
Entwicklung  kommen.     Lebensweise,  gute,  schlechte  Ernährung,  Armuth, 
Reichthum,   Charakter,  Nationalität,   Cultureinflüsse  scheinen  keinen  be- 
sonderen Einfiuss  auf  die  Entwicklung  von  Tumoren  überhaupt  zu  haben; 
ein  Einfiuss   dieser  Potenzen   specifisch  auf  die  Entwicklung  von  infec- 
tiösen Tumoren  ist  ebenfalls  nicht  erkennbar.  —  Das  Studium  der  ana- 
tomischen Structur  der  Gewächse  ist  mit  besonderer  Vorliebe  in  neuerer 
Zeit  betrieben  worden,  und  es  ergiebt  sich  daraus,  dass  allerdings  eine 
grosse  Beihe    der  bösartigen  Tumoren  charakteristische,   durch  niakro- 


Vorlesung    II.     (Japilcl   XXI.  f;77 

skopische  und  mikroskopische  Analyse  zu  bestimmende  EigenscIiaCtcn 
besitzen,  dass  aber  dadurch  keinesfalls  immer  die  Prognose  siclier  zu 
ergründen  ist;  im  Allg-emcinen  lässt  sich  aber  sagen,  dass  es  gewöhnlich 
sein-  zellenreiclie ,  zu  ulcerativen  Processen  disponirte  Gewcbsbildungen 
sind,  welche  sich  im  Vorlauf  als  iufcctiös  erweisen.  Da  es  im  höchsten 
Grade  wahrscheinlich  ist,  dass  die  Inlection  durch  die  Locomotion  spe- 
cifischer  Geschwulstelemente  erfolgt,  so  werden  aucli  manche  auf  die 
Resorption  bezügliche  Momente  herangezogen  werden  können.  Der 
Reichtham  an  Blut-  und  Lymphgefässen  in  dem  Gescliwulstheerd  und 
in  seiner  nächsten  Umgebung,  die  Verhältnisse,  welche  auf  Eröffnung 
und  Öchluss  dieser  Bahnen  Bezug  haben,  die  Energie  des  Kreislaufs 
überhaupt  sind  in  Betracht  zu  ziehen. 

Die  infectiöseu  Geschwülste  treten  gewöhnlich  anfangs  solitär  auf, 
fast  nie  multipel  in  dem  früher  angedeuteten  Sinne.  Geschwülste,  welche 
gleich  von  Anfang  an  multipel  auftreten,  werden  nur  selten  infectiös.  — 
Wenn  man  gefährlich,  bösartig  und  infectiös  synonym  gebraucht,  so 
abstraliirt  man  dabei  von  der  speciellen  Localität,  an  welcher  die  Ge- 
wächse zur  Entwicklung  kommen.  Eine  solitäre  gutartige  Gescliwulst 
wenn  sie  im  Gehirn  entsteht,  ist  quoad  vitam  immer  bösartig  durch  ihren 
Sitz ;  eine  infectiöse  Geschwulst  an  gleicher  Stelle  kommt  vielleicht,  weil 
sie  früh  tödtet,  nie  über  die  locale  Infection  hinaus.  Alles  dies  ist 
genau  zu  berücksichtigen,  wenn  man  sich  Klarheit  über  diese  Dinge 
verschaffen  will. 

Besonders  sind  auch  nicht  alle  Geschwülste  deshalb  infectiös  (bös- 
artig, krebsig)  zu  nennen,  weil  nach  der  Operation  ein  Recidiv  an  der 
operirten  Stelle  entsteht.  Es  ist  hierbei  wohl  zu  unterscheiden,  ob  die 
Recidivgeschwulst  aus  Theilen  der  ursprünglichen  Geschwulst  hervorge- 
gangen ist,  welche  bei  der  Operation  zurückgeblieben  waren  (continuir- 
liche  Recidive  Thiersch),  oder  ob  nach  einer  vollständigen  Operation 
in  der  Narbe  oder  in  ihrer  Nähe  vielleicht  erst  nach  Jahren  eine  neue 
Geschwulst  aus  gleichen  Ursachen  wie  die  erste  entstand  (regionäres 
Recidiv).  Bleibt  die  operirte  Stelle  frei  und  treten  n/ich  der  Operation 
Lymphdrüsengeschwülste  von  gleicher  Art  wie  die  exstirpirte  Geschwulst 
auf  (Infections-Recidive) ,  oder  entwickeln  sich  unter  gleichen  Verhält- 
nissen ohne  Lymphdrüsenerkrankungen  Gewächse  in  den  Organen,  so 
ist  als  sicher  anzunehmen,  dass  diese  Lymphdrüsen  und  sonstigen  Organe 
zur  Zeit  der  Operation  bereits  inficirt  waren,  wenn  dies  damals  auch 
nicht  durch  die  Untersuchung  fesgestellt  werden  konnte. 

Wenn  ein  Individuum  von  einer  Geschwulst  aus  inficirt  ist,  so  nennen 
wir  es  dyskrasisch,  ebenso  wie  wir  ein  von  Entzüuduugsheerden 
aus  inficirtes  Individuum  dyskrasisch  (pyohämisch)  nennen.  Es  circu- 
liren  bei  solchen  Individuen  fremde  Materien  in  den  Säften,  welche  eine 
pathologische  Beschaffenheit  der  letzteren  zur  Folge  haben.  Diese 
Dyskrasie  äussert  sich  bei  infectiösen   Geschwülsten    durch    allgemeine 


678 


Von  den  Geschwülsten. 


Störungen  der  Ernährung- :  Abmagerung,  Marasmus ;  wie  bald  und  in  wie 
holiem  Grade  das  eintritt,  hängt  sehr  wesentlich  von  dem  Sitz  der  Ge- 
schwülste und  ihren  Eigenschaften  (Erweichung,  Gangränescirung,  Ul^e- 
ration  Blutungen  etc.),  sowie  von  dem  Kräftezustand  und  Alter  der  er- 
krankten Individuen  ab. 


Ueber  die  Behandlung  der  Gewächse  im  Allgemeinen  will  ich 
hier  nur  so  viel  bemerken,  dass  sie  nur  durch  Eliminirung  aus  dem 
Körper  heilbar  sind,  sei  es,  dass  diese  durch  das  Messer,  durch  Ligatur, 
durch  Ecraseur,  durch  Aetzmittel  oder  sonst  in  einer  andern  Art  ge- 
schieht. Die  Entfernung  intensiv  und  rasch  inficirender  Geschwulste  ist 
meist  nur  ein  Mittel,  das  Leben  etwas  zu  verlängern  oder  die  Leiden 
des  Kranken  zu  mildern;  bei  den  unoperirbaren  Tumoren  kann  es  sich 
nur  um  symptomatische  Behandlung,  zur  Linderung  der  Leiden  handeln. 
Ueber  die  Indicationen  für  die  verschiedenen  Operationsweisen  will  ich 
bei  den  einzelnen  Geschwulstarten  reden. 


Indem  wir  nun  zur  Besprechung  der  einzelnen  Geschwulstformen 
übergehen  wollen,  schrecken  wir  zurück  vor  der  grossen  Masse  von 
Material,  das  uns  vorliegt.  Wir  bedürfen  eines  leitenden  Principes,  um 
die  vielen  einzelnen  anatomisch  und  klinisch  vo  verschiedenen  Geschwulst- 
formen ordnen  und  für  sich,  sowie  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältniss 
zu  einander  und  im  Verhältniss  zum  gesammten  Organismus  übersehen 
zu  können.  Die  Principien,  nach  denen  man  die  Geschwülste  eintheilt, 
waren  von  jeher  ebenso  verschieden,  wie  die  Principien,  nach  denen 
man  die  Krankheiten  überhaupt  eingetheilt  hat  und  noch  eintheilt.  Alle 
Krankheitssysteme,  die  man  bisher  schuf,  haben  sich  nicht  lange  ge- 
halten. Die  Pathologie  wird  jetzt  in  sehr  verschiedenartigen  Gruppen 
von  kleineren  Systemen  gelehrt,  und  die  Principien  zur  Bildung  solcher 
Gruppen  sind  verschiedenartig  gewählt.  Bevor  die  pathologische  Ana- 
tomie zur  Entwicklung  kam,  hielt  man  sich  nur  au  einzelne  hervor- 
stechende Symptome ;  davon  haben  wir  noch  in  der  Medicin  die  Krank- 
heitsbilder: Icterus,  Apoplexie,  etc.;  so  haben  wir  noch  in  der  Geschwulst- 
lehre die  Ihnen  schon  bekannten  Bezeichnungen  „Polyp,  Scirrhus,  Fuugus, 
Carcinom"  etc.  —  Sowie  nun  die  Symptome  Icterus  und  Apoplexie,  als 
von  sehr  verschiedenen  anatomischen  Ursachen  herrührend,  analysirt 
wurden,  verwarf  man  diese  Bezeichnungen  im  System  und  setzte  die 
anatomischen  Zustände  an  ihre  Stelle.  Das  pathologisch -anatomische 
System  der  Krankheiten,  wie  es  z.  B.  Rokitansky  aufgestellt  hat,  ist 
unbezweifelt  als  solches  vollkommen  wissenschaftlich,  ebenso  das  System 
der  allgemeinen  Pathologie  von  Virchow;  dennoch  ist  weder  das  eine 


VdricsiiiiK  11.    ('Mpiici  xxr.  ß79 

noch  das  audei'c  von  den  Klinikern  oimo  "VVcilercs  ühoiiunnnicn.  Man 
möchte  die  Krankheiten  nacli  ilirciii  eigentlichen  Wesen  imdilireii  IJrsjicIien 
l)egreifcn  und  cintheilcn;  Scliönlein's  Versuch,  ein  System  in  dieser 
Iviclituuü,'  aufzustellen,  ist  ahev  clxuilalls  al)i;-elelint,  denn  unsere  Kennt- 
nisse über  die  Ursaclicu  und  das  Wesen  der  Krankhcitsprocesse  sind  niclil 
iicnüi-end,  um  damit  überall  i;chörii>'  schalten  zu  können.  Was  ist  nun 
f^'eschehen?  Die  practische  Medicin  und  Chirurü,-ic  g'chen  theilweis  von 
dem  anatonnschcn  System  aus,  setzen  dies  als  im  Allgemeinen  l)ek;innt 
voraus  und  benutzen  es  zur  Unterabtheilung  grösserer,  vom  ätiologischen, 
])roguostischen,  symptomatologischen,  physiologischen  Standpunkte  aus 
aufgestellter  Krankheitsbilder.  Es  wäre  gewiss  nicht  unwissenschaftlich, 
auch  jetzt  noch  eine  Monographie  über  Icterus,  über  Apoplexie  zu  schrei- 
ben; man  lässt  dabei  die  anatomischen  Verhältnisse  in  zweite  lleihe 
treten,  man  benutzt  die  pathologische  Anatomie,  wie  man  andere  llülfs- 
wissenschaften,  wie  man  Chemie,  Physik  benutzt;  man  sucht  dabei  immer 
im  Auge  zu  behalten,  dass  das  Ziel  in  der  Ergründung  des  ganzen 
Krankheitsprocesses  liegt,  nicht  in  der  alleinigen  Ergründung  der  mor- 
phologischen Verhältnisse;  man  will  nicht  nur  den  anatomischen  Vorgang, 
sondern  auch  die  Art  und  Ursache  der  physiologischen  Störung  begreifen. 
Es  wäre  geradezu  unwissenschaftlich,  im  Typhus,  wenn  man  auch  eine 
Menge  von  palpablen  Veränderungen  findet,  nichts  als  eine  eigenthüm- 
liche  Art  von  Darmentzündung  sehen  zu  wollen ;  diesen  Standpunkt  dür- 
fen wir  als  einen  überwundenen  betrachten.  Könnte  man  alle  Krank- 
heiten vom  ätiologischen  Standpunkt  aus  gruppiren,  so  wäre  dies  ein 
ungeheurer  Fortschritt;  es  würde  dann  eben  die  pathologische  Physiologie 
an  die  Stelle  der  pathologischen  Morphologie  treten,  während  wir  uns 
bei  unseren  jetzigen  Kenntnissen  schon  viel  darauf  einbilden,  wenn  wir 
die  morphologische  Entwicklungsgeschichte  des  Krankheitsproductes  genau 
erkannt  haben,  weil  wir  uns  sagen  dürfen,  dass  wir  damit  w^enigstens 
einen  wichtigen  Factor  des  pathologischen  Processes  kennen.  Im  Grunde 
sind  wir  übrigens  mit  der  normalen  Entwicklungsgeschichte  nicht  weiter, 
es  ist  wohl  noch  lange  keine  Aussicht  auf  eine  Physiologie  des  wachsen- 
den Fötus. 

Wir  dürfen  nach  diesen  Betrachtungen  an  die  Einth eilung  der  Ge- 
schwülste nicht  grössere  Ansprüche  machen  als  an  die  Eintheilung  der 
Krankheiten  überhaupt;  wir  müssen  uns  darin  finden,  dass  eine  Ent- 
scheidung zu  treffen  ist,  ob  wir  Aetiologie,  Symptomatologie,  Prognose, 
Morphologie  als  Eintheilungsprincip  wählen  wollen.  Die  Aerzte  haben 
früher  die  Geschwülste  am  liebsten  nach  der  Prognose  der  einzelnen 
Geschwulstformen  in  bösartige  und  gutartige  eingetheilt,  und  dazu  einige 
Unterabtheilungen  nach  dem  äusseren  Ansehn  der  Gewächse,  nach  ihrer 
Consistenz  oder  nach  dem  Aussehen  der  Durchschnittsfläche  gemacht. 
Dies  genügte  allenfalls,  so  lange  die  Beobachtungen  über  diese  Gegen- 
stände mehr  in  Bausch  und  Bogen  gemacht  wurden  und   die  Aerzte  au 


680 


Vun  den  Geschwülsten. 


die  Stellung-  der  Prognose  keine  allzuholien  Ansprüche  machten.  Je 
genauer  aber  die  Beobachtung-en  am  Krankenbett  wurden,  und  in  je 
vielfachere  Formen  sich  die  neugebildeten  Gewebe  unter  dem  Mikroskop 
auflösten  um  so  unmöglicher  wurde  es,  die  anatomischen  Eigenschaften 
der  Geschwülste  mit  den  älteren  Anschauungen  über  Bösartigkeit  und 
Gutartigkeit  zu  vereinen.  Während  es  nun  die  meisten  Chirurgen  und 
pathologischen  Anatomen  aufgaben,  die  Prognostik  der  Geschwülste 
bei  der  Eintheilung  derselben  eine  Eolle  spielen  zu  lassen,  und  seit 
Johannes  Müller's  Arbeiten  auf  diesem  Gebiet  ihr  Hauptaugenmerk 
auf  eine  immer  feiner  ausgebildete  Anatomie  und  Entwicklungsgeschichte 
der  Pseudoplasmen  richteten,  versuchte  ich  noch  einige  Male  die  klinisch 
so  hervorragenden  Erscheinungen  der  Gutartigkeit  und  Bösartigkeit  in 
erweiterter  Form  als  Princip  der  Eintheilung  der  Geschwülste  beizu- 
behalten und  diesen  die  modernen  Errungenschaften  der  pathologischen 
Histologie  unterzuordnen.  Sei  es,  dass  ich  nicht  die  richtige  Form  und 
die  richtigen  Ausdrücke  für  meine  Gedanken  fand,  sei  es,  dass  die  Auf- 
gabe, welche  ich  mir  gestellt  hatte,  wirklich  unlösbar  ist  —  kurz  ich 
bin  allein  mit  meinen  Betrachtungen  in  dieser  Eichtung  geblieben,  und 
habe  sie  aufgegeben.  Wenn  ich  auch  heute  noch  der  Ansicht  bin,  dass 
man  nicht  aufhören  darf,  nach  einer  physiologischen  (ätiologisch-pro- 
gnostischen, klinischen)  Erkenntniss  der  Processe  zu  streben,  welche  der 
Geschwulstbilduug  zu  Grunde  liegen,  und  eine  Eintheilung  der  Geschwülste 
nach  physiologisch-genetischen  Principien  auch  heute  noch  weit  höher 
halten  würde,  als  eine  solche  nach  anatomisch-genetischen  (von  welchen 
Virchow  in  seinem  wunderbaren,  classischen  Werk  über  Geschwülste 
ausging)  —  so  begebe  ich  mich  dennoch  weiterer  Versuche  in  dieser 
Richtung  und  folge  den  anatomischen  Principien  bei  der  Eintheilung, 
indem  ich  von  den  aus  einfachen  Geweben  gebildeten  Geschwülsten  nach 
und  nach  zu  den  complicirter  zusammengesetzten  Tumoren  vorschreite. 
Endlich  muss  ich  noch  erwähnen,  dass  ich  meine  Vorlesungen  will- 
kürlich und  absichtlich  auf  diejenigen  Fälle  von  Geschwülsten  beschränke, 
welche  sich  wenigstens  im  Anfang  der  Krankheit  an  Körpergebieteu 
localisiren,  die  der  Chirurgie  zugehören.  Diese  Beschränkung  ist  von 
keiner  so  grossen  Bedeutung,  wie  es  scheint;  man  kann  sogar  behaupten 
dass  man  die  Geschwulstkrankheiten  in  ihrem  eigenthümlichen  Verlauf 
nur  da  rein  studiren  kann ,  wo  die  Localisation  zunächst  in  Theilen 
erfolgt,  welche  für  das  Leben  nicht  direct  gefährlich  sind;  denn  die 
Erscheinungen,  welche  z.  B.  bei  Leber-,  Magen-,  Hirngeschwülsten  auf- 
treten, sind  nicht  diejenigen  der  Geschwulstkrankheiten  als  solcher, 
sondern  hauptsäcldich  der  Störungen  in  den  Functionen  der  betroffenen 
Organe.  Wenn  jeder  Typhus  sich  mit  tödtlichen  Darmblutungen  oder 
Perforation  des  Darmes  combinirte,  so  würden  wir  gar  kein  reines  Bild 
von  dem  Krankheitsprocess  als  solchem  bekommen,  weil  derselbe  immer 
in  seinem  Verlauf  gestört  würde.   Wir  werden  hier  und  da  Andeutungen 


Vorlesung   in.     C;ipilcl   XXI.  ßgl 

über  die  relative  Iliiufig-kcit  i)rimärer  Localisationcii  der  Geschwulst- 
krankheiten in  inneren  Organen  geben,  können  uns  dabei  jedoch  nicht 
in  die  Symptomatologie  und  Histologie  der  erkrankten  Organe  einlassen, 
worüber  Sie  in  der  patiiologisclien  Anatomie  und  in  der  medicinischcn 
Klinik  belehrt  werden. 


Vorlesung  45. 

I.Fibrome:  a)  die  weichen,  b)  die  festen  Fibrome.  Art  des  Vorkommen.';.  Opfrations- 
verfahren.  Ligatnr.  Eerasement.  GalvanokanstiL  —  2.  Li  pome:  Anatomisehes.  Vor- 
kommen.    Verlauf.  —  3.  Chondrome:   Vorkommen.     Operation.     4.   Osteome.     Formen. 

Operation. 

1.     Fibrome.     Fascrgcschwülstc.     Biiidegewebsgesclnvülste. 

Geschwülste,  welche  vorwiegend  aus  ausgebildeten  Bindegewebsfasern 
bestehen,  nennt  man  Fibrome.     Es  giebt  davon  folgende  Formen: 

a)  D  i  e  w e  i  ch  e  n  F  a  s  e  r  g e  s  c h  w  ü l s  t  e  oder  Bindegewebsgeschwülste. 
Sie  sind  ziemlich  häufig  und  haben  ihren  Sitz  fast  ausschliesslich  in  der 
Cutis,  bestehen  aus  einem  sehr  zähen,  auch  wohl  etwas  ödematösen, 
weissen  Gewebe  und  sind  meist  mit  einer  wenn  auch  oft  sehr  dünnen 
Papillarschicht  der  Cutis  bedeckt. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  zeigt  lockeres  Bindegewebe  wie  in  der 
Cutis,  auf  der  Oberfläche  der  Geschwulst  fast  immer  spitze  Papillen,  selbst  wenn  diese 
Geschwülste  an  Stellen  der  Haut  sich  entwickehi ,  wo  die  Cutis  normaler  Weise  keine  Pa- 
pillen trägt;  in  dem  Eete  Malpighii  dieser  Bildungen  findet  sich  häufig  ein  bräunliches 
Pigment,  selten  tiefer  im  Gewebe  der  Geschwulst;  auch  können  sie  stark  entwickelte 
Gefässe  führen  und  abnorme  Haar-  und  Schweissdrüsenvergrösserungen  an  ihrer  Ober- 
fläche tragen. 

Es  sind  gewöhnlich  schlaff  hängende  (Cutis  pendula,  Moluscum  fibro- 
sum),  oft  deutlich  gestielte  Tumoren ;  man  kann  sie  auch  wohl  als  partielle 
Hauthyperplasien  bezeichnen,  da  sie  wesentlich  aus  den  Elementen  der  Cu- 
tis bestehen.  Das  Wachsthum  ist  ein  sehr  langsames,  durchaus  schmerz- 
loses und  geht  häufig  bis  zur  Bildung  enormer  Tumoren.  Zuweilen  sind 
solche  Geschwülste  angeboren;  sie  kommen  multipel  vor;  hunderte  von 
solchen  Geschwülsten  können  an  der  Körperoberfläche  entstehen.  Am 
häufigsten  ist  die  abnorme  Cutis- Wucherung  angeboren  im  Gesicht,  meist 
halbseitig,  diffus  oder  in  Form  weicher  Hahnenkamm-ähnlicher  Vegeta- 
tionen. Die  massigen  Leberflecken,  die  behaarten  Muttermäler  mit 
Pigmentirung  (Mausefell,  gutartige  Melanosen,  Melanome,  pigmentirte 
Fibrome)  gehören  hierher.  —  Diese  Geschwülste  entwickeln  sich  gern 
am  Ende  des  Mannesalters;  bei  Frauen  findet  man  nicht  selten  lappig 
hängende  Geschwülste  der  Art  an  den  grossen  Schampillen ;  da  Ge- 
wächse an  diesem  Ort  so  lange  als  möglich  verheimlicht  werden,  so 
sind  sie  gewöhnlich  schon  recht  gross,   wenn   sie   zur  Beobachtung  des 


682 


Von  den  Geschwülsten. 


Fig.  125. 


Arztes  korameu.  —  Vircliow  bezeichnet  die  Krankheit,  bei  welcher 
sich  solche  multiplen,  weichen  Fasei-geschwülste  bilden,  als  Leontiasis; 
es  gesellen  sich  dazu  im  Lauf  der  Zeit  zuw^eilen  allgemeine  Ernährungs- 
störungen. Wenn  diese  Neubildungen  auch  nicht  infectiös  in  dem  früher 
besprochenen  Sinne  genannt  werden  können,  so  führen  sie  doch  zu- 
weilen zu  einem  kachektischen  Zustand  und  im  Lauf  von  Jahren  zum 
Tod  durch  Marasmus.  Auch  besteht  eine  anatomische  Verwandtschaft 
dieser  Krankheit  mit  der  sogenannten  „Elephantiasis  Arabum",  obgleich 
man  unter  diesem  Namen  eine  mehr  knotige,  doch  dabei  auch  zugleich 
diffuse  Hypertrophie  der  Cutis  einzelner  Körpertheile  (Cutis  pendula, 
Scrotum,  Unterschenkel)  versteht,  die  mit  wiederholten  Erisypelen  ver- 
läuft. Es  dürfte  am  wenigsten  zu  Missverständnissen  führen,  wenn 
man  diese  Bildungen  kurzweg  als  Hauthypertrophie  oder  Pachydermie 
bezeichnet.  Die  Elephantiasis  Graecorum  ist  eine  in  Betreff  der  Haut- 
verdickung ähnliche,  doch  streng  endemische  und  mit  manchen  anderen 
Erscheinungen  von  Seiten  des  Nervensystems  (Hypperästhesie  und  An- 
ästhesie, Blödsinn)  verbundene  Allgemeinkrankheit,  welche  in  Griechen- 
land, Kleinasien  und  Norwegen  (unter  dem  Namen  Spedalsked)  vorkommt, 
und  nach  langen  Leiden  meist  zum  Tode  führt. 

b)  Die  festen  Fibrome,  Fibroide, 
Desmoide  erscheinen  dem  freien  Auge 
aus  einem  sehr  festen,  eng  in  einander 
gefügten  Fasergewebe  zusammengesetzt. 
Sie  sind  immer  von  sehr  harter  Consi- 
stenz  und  rundlicher,  knolliger  Form, 
auf  der  Durchschnittsfläche  rein  weiss 
oder  blassröthlich;  viele  von  ihnen  zeigen 
auf  der  Schnittfläche  dem  freien  Auge 
eine  ganz  eigenthümlich  regelmässige 
Schichtung  und  concentrische  Anordnung 
der  Fasern  um  deutliche  Achsen  (siehe 
Fig.  125);  dies  kommt  nach  meinen  Un- 
tersuchungen dadurch  zu  Stande,  dass 
die  Faserbildung  um  Nerven  und  Gefässe 
herum  entsteht,  und  letztere  also  in  der  Mitte  der  Faserlagen  eingebettet 
sind;  die  Nerven  gehen  dabei  nicht  selten  zu  Grunde. 

Bei  den  eben  beschriebenen  äusseren  Eigenschaften  macht  der  histologische  Befund 
einige  Schwierigkeit  in  Betreff  der  Stellung  dieser  Geschwülste  im  System.  Es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  diejenigen  von  ihnen,  av eiche  vorwiegend  aus  festem 
Bindegewebe  bestehen,  wie  z.  B.  alle  älteren  Uterusgeschwülste  der  Art  Fibrome  genannt 
werden  müssen;  die  jüngeren  Geschwülste  dieser  Art  zeigen  indess  bei  gleichem  Aussehen 
lind  gleicher  Consistenz  wenig  Bindegewebe,  sondern  viel  spindelförmige  Zellen.  Die 
Deutung  dieser  Zellen  ist  verschieden;  Virchow  hält  sie  für  Muskelfaserzellen,  er  rech- 
net daher  die  bisher  immer  als  Uterusfibroide  bezeichneten  Geschwülste  nicht  zu  den 
Fibromen,   sondern   zu   den   Myomen   und   bezeichnet   diese  Geschwulstform   als   „Myoma 


Kleines  Fibrom  (Myo -Fibrom)   des 

Uterus;  natürliche  Grösse  des 

Durchschnitts. 


VorlcMiu«^    10.     C.'ii[)itL'l    XXI. 


683 


laevicellularo".  Nimnil  nuiii  die  Fig.   126. 

Faserzellen  als  junges  Binde- 
f^ewebe ,  so  muss  man  diese 
Geschwülste  Spindelzellcnsar- 
kome  oder  Fibro  -  Sarkome 
faiifen.  Sie  sehen,  wir  kom- 
men schon  hier  beim  scheinlnir 
so  einfachen  Fasergewebe  mi). 
der  Histologie  nnd  Histogenese 
ins  Gedränge.  Zwei  Momente 
sind  es ,  welche  mich  bestim- 
men würden ,  Faserzellenge- 
schwülste für  Myome  zu  hal- 
ten ;  nämlich  die  deutlieh  her- 
vortretende stäbchenförmig 
wellig  gekrümmte  Form  der 
Kerne  und  die  deutliche  An- 
ordnung der  Faserlagen  zu 
Bündeln  bei  sehr  schwer,  viel- 
leicht nur  mit  Hülfe  der  be- 
kannten chemischen  Mittel 
herstellbarer  Isolirbarkeit  der 
einzelnen  Faserzellen.  Da- 
neben wird  der  Boden,  in 
welchem  die  Geschwulst  ent- 
standen ist,  sehr  wesentlich  zu 
berücksichtigen  sein;  die  Wahr- 
scheinlichkeit für  ein  Myom  wird  sehr  gross  sein,  wenn  die  Neubildung  sich  in  der  Sub- 
stanz des  Uterus  vorfindet. 

Die  Fibrome  sind  mancher  anatomischen  Metamorphosen  fähig.  Par- 
tielle schleimig-e  Erweichung-,  stark  seröse  Infiltration  (sulziges  Ausehn 
und  Consistenz),  Verkalkung,  auch  wahre  Verknöcherung  derselben 
beobachtet  man  nicht  so  selten.  Oberflächliche  Ulceration  ist  etwas 
Häufiges  bei  denjenigen  Fibromen,  welche  dicht  unter  einer  Schleimhaut 
liegen ;  sie  erfolgt  unter  Einfluss  äusserer  Schädlichkeiten  in  der  gewöhn- 
lichen Weise;  das  so  entstehende  Geschwür  zeigt  oft  gute  Granulationen 
und  Eiterung,  auch  kann  es  unter  günstigen  Bedingungen  sehr  wohl 
zur  Vernarbung  gebracht  werden.  Das  fasrige  Gewebe,  wenngleich  an- 
scheinend sehr  gefässarm,  enthält  dennoch,  wie  man  sich  durch  Injec- 
tion  überzeugen  kann,  oft  sehr  viele  Gefässe,  sowohl  Arterien  als  Venen : 
zuweilen  bildet  sieb  ein  sehr  weites  cavernöses  Venennetz  darin  aus 
(siehe  Fig.  127);  Arterien  und  Venen  verwachsen  so  innig  mit  dem 
Geschwulstgewebe,  dass  ihre  Adventitia  darin  meist  aufgegangen  ist,  so 
dass  die  Gefässe  bei  einer  eventuellen  Verletzung  sich  weder  der  Quere 
noch  der  Länge  nach  zurückziehen  können,  ihre  Lumina  also  dauernd 
klaften  müssen;  dies  ist  der  anatomisch  -  mechanische  Grund,  weshalb 
Blutungen  aus  Fibromen  so  profus  und  oft  nicht  ohne  Kunsthülfe  zum 
Stillstand  zu  bringen  sind;  die  starre  klaffende  Gefässöffnung  erschwert 


Aus  einem  Myo- Fibrom  des  Uterus.      Vergrösse- 
rung  350.     Quer-   und  Längsschnitte  von  Muskel- 
zellenbündeln. 


684 


Von  den  Ge.«chw nisten. 
FUj.  127. 


a  und  b  Gefässe   eines  Cutisfibroms  (Myoms?)  vom  Oberschenkel,    von    einer  Arterie  aus 

injicirt:    b  cavernöse  Venen  —  c  eigenthümlich  regelmässig  gestaltete  Venen  eines  Cufis- 

fibroms  (Myo-Fibroms?)  von  den  Bauehdecken,  von  einer  Vene  aus  injicirt.  — 

Vergrösserung  60. 

die  Bildung-  des  Thrombus  im  höchsten  Grade.  Man  findet  zuweilen  in 
grösseren  Uterus-  sowie  auch  in  Periostfibromen  lacunäre  Spalträume, 
die  mit  dünnem  Serum  angefüllt  sind;  yielleieht  sind  dies  ektatisehe 
pathologisch  neugebildete  Lymphsinus;  bestimmte  Beobachtungen  liegen 
darüber  nicht  vor;  auch  Kopf-grosse  mit  Serum  gefüllte  Höhlen  kommen 
in  Uterusfibromen  vor  (Spencer  Wells). 

Die  Localisation  der  Fibrome  ist  eine  sehr  verschiedene;  von 
allen  Organen  ist  der  Uterus  (vorausgesetzt  dass  wir  unter  dem  allge- 
meinen Ausdruck  „Fibroid"  die  Myo-Fibrome  einschliessen)  am  häufigsten 
davon  befallen;  hier  erreichen  die  Geschwülste  zuweilen  eine  enorme 
Grösse  und  verkalken  dann  nicht  selten.  Sie  haben  in  der  Regel  eine 
runde  Form,  sind  deutlich  und  scharf  von  der  Umgebung  abgegrenzt, 
entstehen  im  Körper  des  Organs  am  häufigsten,  seltener  im  Hals,  fast 
nie  an  den  Labien  der  Portio  vaginalis ;  die  Richtung  ihres  Waehsthums 
geht  nach  unten  oder  oben,  also  in  der  Bauchhöhle  mit  allmähliger 
Dehnung  des  Peritonäum  oder  durch  das  Orificium  vaginale  in  die  Va- 
gina. Die  Geschwülste  wachsen  in  letzterer  Richtung  weiter  und  weiter, 
werden  gestielt  und  geben  gerade  hier  oft  Anlass  zu  heftigen  Blutungen: 
man  nennt  sie  fibröse  Uterus polypen.  — 

Recht  häufig  sind  dann  die  vom  Periost  ausgehenden  Fibrome;  sie 
sind  fast  immer  Fibro- Sarkome,  d.h.  sie  sind  aus  Faser-  und  Spiudel- 
zellen  zusammengesetzt,  letztere  können  sogar  vorwiegend  sein  (faseriges 
Sarkom  Rokitansky).    Das  Periost  der  Schädel-  und  Gesichtskuochen 


VorleHimi^f  15.     (!;ipilr'1   XXf. 


G85 


ist  voriiclimlich  dieser  Kraiiklieit  jiusgesctzt,  besoudei'S 
die  untere  Flüche  des  Keilbeiiikörpers;  die  Fibrome 
treten  von  liier  als  polypöse  Gesclnvülste  in  die  Nasen- 
liölile  und  in  die  Scldundliölde  liinein  (fibröse  Nasen- 
raelienpolypen);  sie  können  die  Knoclien  durdi 
Druck  resorbiren  und  in  die  Scliädelliöhle  oder  in  das 
Antruni  Ilig'lnnori  liineinwaclisen;  gerade  sie  sind  oft 
besonders  reich  an  ca\  ernösen  Vcnensystenien.  Aussci-- 
dem  habe  ich  Fibrome  an  dem  Periost  der  Tibia,  aucli 
an  der  Clavicula  g-eselien,  ferner  im  Knochen  selbst, 
z.  B.  im  Oberkiefer,  wo  mir  auch  schon  sonderbare 
Combinationen  von  Chondrom  und  Fibrom  vorge- 
kommen sind.  —  Endlich  ist  noch  zu  erwähnen,  dass 
in  und  an  den  kleineren  und  grösseren  Nerven- 
stämmen Fibrome  nicht  zu  den  Seltenheiten  gehören 
(Fig-.  128);  man  nennt  oft  alle  in  den  Nerven  vor- 
kommenden Geschwülste  Neurome,  muss  dieselben 
dann  aber  nach  ihrer  anatomischen  Beschaffenheit 
unterscheiden;  die  meisten  Neurome  sind  Fibrome  oder  Fibro- Sarkome 
in  den  Nervenstämmen,  andere  bestehen  zum  Tlieil  oder  ganz  aus  neu- 
gebildeten  Nervenfasern  (wahre  Neurome).  Manchmal  gehen  die 
Nervenfibrome  den  Nervenstämmen  nach  und  bilden  knotige  Stränge 
(plexiforme   Neurome   Verneuil    Fig.  129),   auf  deren  Confluenz,   wie 


Nfiitrdfibroni    iiadi 
Fol  Uli. 


Fig.  129. 


Plexiformes  Neuro -Fibrom  vor  der  Wange  nach  P.  Bruns.     Natürliche  Grösse. 


schon  erwähnt,  das  eigenthtimliche  Aussehen  der  Durch schnittsfläche  der 
Fibrome  zuweilen  beruht  (Fig.  125);  sie  sind  meist  angeboren.  —  Die 
Entwicklung  von  Fibromen  im  Unterhautzellgewel)e  gehört  zu  den  Selten- 


ßoß  Von  den  Geschwülsten. 

heiten-  in  den  Drüsen  kommen  Fibrome  etwa  mit  Ausnahme  der  Mamma 
fast  niemals  vor. 

Die  Entwicklung-  der  eben  besprochenen  Faserg-eschwülste  ist 
dem  mittleren  Lebensalter  (von  30 — 50  Jahren)  ])esonders  eigen;  sie 
g'clang-en  selten  in  früher  Jugend,  noch  weniger  im  hohen  Alter  zur  Ent- 
wicklung; wenn  wir  sie  im  Uterus  älterer  Frauen  finden,  so  bestehen 
sie  dort  meist  seit  vielen,  vielen  Jahren.  Nur  die  fibroiden  Neurome 
und  die  Knochen-  und  Periostfibrome  finden  sich  wohl  auch  bei  jugend- 
lichen Individuen.  —  Im  Allgemeinen  sind  die  Fibrome  wohl  etwas 
häufiger  bei  Frauen  als  bei  Männern;  die  Uterusfibrome  entwickeln  sich 
etwa  im  35.  bis  45.  Jahre,  wenn  sie  auch  oft  erst  später  Beschwerden 
machen;  sie  sind  fast  häufiger  multipel  als  solitär;  die  Periostfibrome 
l)leiben  in  der  Regel  solitär,  kehren  jedoch,  wenn  auch  nach  Verlauf 
von  Jahren,  nicht  selten  wieder  (regionäre  Recidive;  Verwandtschaft  mit 
den  Sarkomen).  Meist  wachsen  die  Fibrome  rein  central  und  sind  nicht 
infectiös;  doch  sollen  infectiöse  Fibrome  vorkommen:  mehre  solche  Ge- 
schwülste neben  einander  verschmelzen,  wachsen  infiltrirend  in  die  Um- 
gebung und  es  erfolgt  auch  wohl  gelegentlich  eine  fibroide  Degeneration 
der  nächst  gelegenen  Muskeln,  Knochen  und  Lymphdrüsen.  Die  infec- 
tiösen  Fibrome,  welche  ich  sah,  waren  immer  Fibro-Sarkome;  sie  können 
wie  die  reinen  Sarkome  metastatisch  in  der  Lunge  auftreten.  —  Die 
Neuro  -  Fibrome  treten  recht  häufig  multipel  auf,  und  zwar  vorwiegend 
in  dem  Gebiet  eines  und  desselben  Nerven;  ich  habe  vor  einiger  Zeit 
sechs  Neurome  bei  einem  Manne  exstirpirt,  drei  vom  linken  Arm  und 
drei  von  der  linken  unteren  Extremität;  es  sind  Fälle  beobachtet,  in 
welchen  20 — 30  Neurome  zugleich  bestanden. 

Die  reinen  Fibrome  wachsen  im  Allgemeinen  sehr  langsam  und 
machen  im  Alter  zuweilen  einen  Stillstand  im  Wachsthum.  Am  bekann- 
testen ist  dies  von  den  Uterusfibromen,  die  nach  der  Involutiousperiode 
meist  zu  wachsen  aufhören  und  dann  verkalken.  Combinationen  mit 
anderen  Gewebsbildungen,  zumal  mit  Sarkomen,  wie  bemerkt,  kommen 
vor,  und  zwar  so,  dass  die  primären  Geschwülste  eine  mehr  fibröse  Be- 
schaffenheit zeigen,  während  die  Recidive  und  die  durch  Infection  ent- 
standenen secundären  Tumoren  sich  als  weiche  celluläre  Sarkome  er- 
weisen. Ich  habe  solchen  Fall  gesehen;  ein  etwa  25 jähriger  Manu  von 
blühendem  Aussehen  trug  ein  Fibrosarkom  an  den  Bauchdecken  von 
stark  WallnussgrÖsse ;  dasselbe  wurde  ganz  rein  exstirpirt;  schon  in  der 
"Wunde  trat  eine  neue  Geschwulst  auf,  später  an  anderen  Stellen  der 
Körperoberfläche  mehre  weiche  Geschwülste;  dabei  wurde  der  Patient 
marantisch  und  ging  nach  einigen  Monaten  zu  Grunde;  die  ganze  Lung-e 
fand  sich  durchsetzt  von  weichen  sarkomatösen  Geschwülsten. 

Die  Diagnose  der  Fibrome  ist  nach  dem  Gesagten  nicht  schwer; 
Consistenz,  Localität,  Alter,  Art  der  Anheftung,  Form  der  Geschwulst 
leiten  fast  immer  ganz  sicher  zur  richtigen  Erkenntniss  derselben. 


I 


\^)rlosim^'  45.     Ciiiiilol    XXf.    .  087 

Die  Beliandlung-  kann  nur  in  (l(;r  Eiitf(!i-nunü,'  der  rrcscliwülste 
bestellen.  Diese  wird  sicli,  wenn  iil)ei'liaui)t,,  i^ewölinlicli  mit  dem  Messer 
bewerkstelligen  lassen;  die  KutCernuni^'  der  gestielten  oder  liäng-enden 
Bindeg'ewel)sges('l\wiUste  und  (il)rösen  lN)ly])en  lässt  indess  andere  Ope- 
rationsmetlioden  zu.  Früliei-  wandte  man  in  solchen  Fällen  sehr  liüulig 
die  Ligatur  an,  d.  li.  man  uuiscliniirte  den  Stiel  der  Gescliwulst  fest  luit 
einem  Faden,  so  dass  dieselbe  brandig  wurde,  faulte  und  endlicli  aliiiel; 
man  wäldte  diese  Methode  vorzüglich  in  solchen  Fällen,  wo  man  sich 
vor  der  Blutung  aus  den  Schnittflächen  fürchtete.  Das  Abbinden  liat 
den  grossen  Nachtlieil,  dass  die  Geschwulst  im  oder  am  Körper  fault, 
und  dass  die  Ligatur  in  manchen  Fällen  wiederholt  angezogen  werden 
muss,  bis  sie  völlig  durchschneidet.  Hierbei  können  Blutungen  heftiger 
Art  auftreten;  die  Ligatur  lässt  sich  mit  dem  Schnitt  so  vereinigen,  dass 
man  vor  dem  fest  angelegten  Faden  die  Geschwulst  abschneidet  und 
nur  einen  Theil  des  Stiels  der  spontanen  Ablösung  überlässt.  In  der 
Nasen-  und  Rachenhöhle,  sowie  in  der  Vagina,  hat  man  natürlich  grosse 
Schwierigkeiten,  eine  Ligatur  anzulegen,  und  hat  zu  diesem  Zweck  eine 
grosse  Menge  von  Instrumenten  einfacher  und  complicirter  Art,  sogenannte 
Schiingenträger,  construirt,  mit  denen  man  die  Ligatur  über  die  Ge- 
schwulst hinüber  bis  an  den  Stiel  führt.  Die  Ligatur  ist  jedoch  jetzt 
so  ziemlich  allgemein  verworfen  und  wird  so  wenig  gebraucht,  dass  alle 
diese  zum  Theil  höchst  sinnreich  construirten  Schiingenträger  nur  noch 
historischen  Werth  haben.  —  Der  Wunsch,  die  gestielten  Geschwülste 
ohne  Blutung  zu  entfernen,  ist  jedoch  immer  noch  sehr  lebhaft  und  hat 
in  der  neuesten  Zeit  zu  neuen  Instrumenten  und  Methoden  geführt,  die 
freilieh  erst  durch  die  Einführung  des  Chloroforms  populär  werden 
konnten.  Das  Abquetschen  und  Abbrennen  ist  jetzt  an  die  Stelle 
der  Ligatur  getreten.  Das  Ecrasement  nach  Chassaignac  haben  wir 
schon  (pag.  160)  erwähnt;  es  erfolgt  bei  Anwendung  dieser  Operations- 
methode in  der  That,  wenn  sie  vorsichtig  geübt  wird,  keine  Blutung, 
selbst  aus  Arterien,  welche  dem  Durchmesser  einer  Art.  radialis  nahe 
stehen;  die  Wunde,  welche  dadurch  entsteht,  ist  durchaus  glatt  und 
scharf  und  heilt  vollkommen  gut  ohne  erhebliche  Gangränescenz  an  der 
Oberfläche;  wenn  auch  nicht  in  allen  Fällen  die  Blutung  vollkommen 
sicher  steht,  so  verhält  es  sich  doch  in  den  meisten  so;  man  hat  das 
Instrument  in  verschiedenen  Grössen;  das  kleinste  Format  lässt  sieh 
bequem  in  die  Nase  schieben,  man  kann  damit  ohne  grosse  Schwierig- 
keit kleinere  gestielte  Nasenrachenpolypen  abquetschen.  —  Eine  Methode 
von  ähnlicher  Wirkung  ist  die  Galvanokaustik,  von  Middeldorpf 
in  die  Chirurgie  eingeführt;  sie  besteht  darin,  mittelst  einer  galvanischen 
Batterie  eine  Schlinge  von  Platindraht,  welche  zwischen  die  beiden  Pole 
eingeschaltet  ist,  glühend  zu  machen  und  mit  dieser  die  Geschwulst  an 
ihrer  Basis  durchzubrennen;  der  Erfolg  ist  der  einer  Durchtrenuung 
und  Blutstillung  zugleich;  die  Blutstillung  lässt  ungefähr  ebenso  oft  als 


nnn  Voii  den  Geschwülsten. 

bei  dem  Ecrasemeiit  im  Stich,  also  im  Ganzen  sehr  selten,  und  die  Me- 
thode ist  dalier  ebenfalls  für  geeig-uete  Fälle  erapfeblenswerth.  Die 
Umständlicbkeit  für  einen  Arzt,  eine  starke  wirksame  (ziemlich  theure) 
Batterie  herzurichten,  ist  so  gross,  dass  die  Galvanokaustik  yorläufig 
wenig  Zukunft  in  Betreff  einer  allgemeineren  Anwendung  hat;  sie  ist 
trotz  ihrer  Eleganz  durch  die  Einführung  des  Ecraseur  verdrängt;  das 
ärztliche  Publikum  hat  entschieden;  die  meisten  operirenden  Aerzte  be- 
sitzen einen  Ecraseur,  galvanokaustische  x\pparate  finden  sich  nur  in 
wenigen  Krankenhäusern. 

Was  die  Operation   der  nicht  gestielten,    tiefer    sitzenden  Fibrome 
l)etrifft,  so  sind  manche  von  ihnen  überhaupt  der  chirurgischen  Behandlung 
nicht  zugänglich.     Obgleich  in  einigen  Fällen  von  Köberle,   Pean  und 
Anderen  Uterusfibrome  zuweilen  mit  auffallend  günstigem  Erfolg  aus  dem 
Baucli  gesclinitten  sind,  so  möchte  ich  dies  doch  vorläufig  noch  nicht  zu 
unbedingt  empfehlen,  nicht  nur,  weil  die  Operation  doch  gefährlich  ist,  son- 
dern weil  diese  Geschwülste  im  Lauf  der  Zeit  einen  Stillstand  zu  machen 
pflegen,  und  die  Beschwerden  den  Preis  des  Lebens  selten  aufwiegen.  Auch 
was  andere  Fibrome  betrifft,  die  durch  ihren  Sitz  und  ihr  Wachsthum  nicht 
lebensgefährlich  sind,  deren  Operation  jedoch  mit  Gefahr  für  das  Leben  des 
Patienten  verbunden  ist,  muss  man  immer  daran  denken,  dass  diese  Ge- 
schwülste sehr  langsam  wachsen,  im  späteren  Lebensalter  oft  einen  Still- 
stand machen,  und  sollte  man  daher  solche  Operationen  nicht  voreilig  unter- 
nehmen oder   sie   gar  zu  dringlich  vorstellen.     Es  bleiben  immer  noch 
eine  Menge  von  Fällen  übrig,    wo    man   die  Operation    ohne  Weiteres 
unternehmen  kann  und  muss;  zumal  sind  erhebliche,  oft  wiederkehrende 
arterielle  Blutungen  aus   einem  ulcerirten  Fibrom,   drohende  Zerstörung 
der  Knochen,  Vordringen  in  die  Schädelhöhle  etc.  dringende  Indicationen. 
Bei  den  Neurofibromen  sind   zuweilen   die  Schmerzen   so    enorm,    dass 
die  Patienten  heftig  auf  die  Operation  dringen,    selbst  wenn  man  ihnen 
sagen  muss,  dass  eine  Lähmung  des  betreffenden  Muskelbereichs  unver- 
meidlich darnach  eintreten  wird;   denn  fast  immer  muss  man  ein  Stück 
des   erkrankten  Nerven,   der  vielleicht  nocli  theilweis  oder  ganz  func- 
tionirt,  excidiren.    Sind  die  Neurome  schmerzlos,  so  wäre  es  ein  thörich- 
tes  Unternehmen,  sie  auszuschneiden. 


2.     Lipome.     Fei(gesclnv«ilste. 

Die  Disposition  zur  Fettbildung  wird  bekanntlich,  wenn  sie  nicht 
über  ein  gewisses  Maass  hinausgeht,  nicht  als  krankhafte  Diathese  be- 
trachtet, sondern  vielmehr  als  ein  Zeichen  besonders  guter  Ernährungs- 
verhältnisse angesehen  und  ist  in  den  verschiedenen  Lebensjahren  sehr 
verschieden  entwickelt,  am  meisten  zwischen  dem  30.  und  50.  Lebens- 
jahre, seltener  im    kindlichen   Lebensalter;    durch    ruhiges    behagliches 


Vorlostinj^  45.     C'apifcl  XXT.  089 

Leben  und  plileg-matischen  Cliavaktcr  wird  Fcttbildung  wesentlich  l)e- 
g'iinstigt.  Als  Krankheit  fassen  wir  dieselbe  erst  dann  auf,  wenn  durch 
sie  Functionsstorung-en  einzelner  Org-ane  oder  des  gesammten  Organismus 
bedingt  werden,  oder  wenn  sich  die  Fettbildung  auf  einen  kleinen  'IMieil 
des  Körpers  beschränkt,  wenn  sie  als  Fettgeschwulst  erscheint. 

Die   anatomische  Beschaffenheit  der   Fettgeschwülste   ist  ein- 
fach; sie  bestehen  aus  Fettgewebe,  welches  wie  das  Unterhautfett  durch 
Bindegewebe  in  einzelne  Läppchen   getheilt  ist.     Dies  Bindegewebe  ist 
bald  mehr,   bald  weniger  entwickelt,    und  die   Geschwülste  erscheinen 
darnach  bald  fester  (fibromatöses  Lipom),  bald  weicher  (einfaches  Lipom). 
Die  äussere  Form  ist  gewöhnlich  rund,    lappig,    und  die    neugebildete 
Fettmasse  ist  durch  eine  verdichtete  Schicht  von  Bindegewebe  von  den 
Nachbargeweben    abgegrenzt    (circumscriptes    Lipom,    die    gewöhnliche 
Form)  und  leicht  von  der  Umgebung  abzulösen;  seltener  tritt  das  Lipom 
als  auf  einen  Körpertheil  beschränkte  Fettsucht,  als  Anschwellung  ohne 
deutliche  Abgrenzung    auf  (diffuses   Lipom),    ja  ich   beobachtete    einen 
Fall,  in  welchem  das  neugebildete  Fettgewebe  bei  einem  jungen  Mädchen 
die  Muskeln  des  rechten  Oberschenkels  so  durchwachsen  hatte,  dass  die 
begonnene  Operation    der  Exstirpation    nicht  vollendet  werden    konnte, 
—  Der  Sitz  der  Lipome  ist  am  häufigsten  im  Unterhautzellgewebe,   be- 
sonders  des  Stammes;    am  häufigsten   sind   diese  Tumoren   am  Rücken 
und   an   den   Bauchdecken;    Lipome   an  den  Extremitäten  sind  seltener; 
in    den    Synovialfalten    und  Zotten    der   Gelenke,    sowie    auch    an    den 
Sehnenscheiden    kann    eine    abnorme  Fettbildung   vorkommen,    so    dass 
diese  Fettmassen  baumförmig  verzweigt  erscheinen  (Lipoma  arborescens 
J.  Müller):    es  ist  dies   eine   Analogie  zu   der  Fettwucherung   in    den 
Fortsätzen  des  Peritonealüberzugs  des  Dickdarms  (Appendices  epiploicae) 
und  anderer  seröser  Häute,  ist  jedoch  enorm  selten.  —  Das  Wachsthum 
der  Lipome  ist  immer   ein  sehr  langsames,   ihre  Entwicklung  fast  nie 
mit   Schmerz  verbunden,  wenn   dieselbe  nicht  dicht   an  Nervenstämmen 
erfolgt  und  diese  zerrt  oder  drückt,  was  freilich  in  seltenen  Fällen  vor- 
kommt.   Die  Fettgeschwülste  können  eine  enorme  Grösse  erreichen;  die 
Patienten,    wenig  von  denselben  belästigt,    fühlen  sich  selten  veranlasst, 
frühzeitig    die  Entfernung  vornehmen    zu    lassen    und    so  wachsen    die 
Lipome  zu  enormen  Geschwülsten  heran ;   vor  Kurzem  entfernte  ich  ein 
Lipom  vom   Eücken  einer  Frau,  welches  unter  der  rechten  Scapula  an- 
geheftet war  und  bis  zu  den  Waden  herabreichte:  es  hatte  obenan  der 
Basis   den   Umfang    wie   ein  ziemlich   starker  Oberschenkel  dicht  unter 
den  Hüften,   unten  war   der   Umfang  fast  doppelt  so  gross  wie    oben. 
Secundäre  Veränderungen  in  diesen  Geschwülsten  sind  nicht  gar  häufig, 
indess  kann  es  vorkommen,    dass   die    dickeren  Bindegewebsbalken  in 
der  Geschwulst  verkalken   oder  wirklich  verknöchern  und  zugleich  das 
Fettgewebe  zu  einer  Oel-  oder  Emulsion-ähnlichen  Flüssigkeit  zerfliesst. 
Die   Haut,    welche    die   Fettgeschwülste   bedeckt,    wird    sehr    allmählig 

Bilh-oth  chir.  Pntli.  u.  Ther.    7.  Aufl.  44 


gQQ  Von  den  Geschwülsten. 

expaiidirt  und  anfang-s  g-ewöbulich  sehr  verdickt,  dabei  auch  wohl  zu- 
weilen bräunlich  pigiuentirt  und  papillär,  bleibt  aber  in  der  Eegel  ver- 
schiebbar auf  der  Geschwulst;  ausnahmsweise  erfolgt  eine  innigere  Ver- 
wachsung- derselben  mit  dem  neugebildeten  Fett,  und  dann  auch  wohl 
eine  oberflächliche  Ulceration  der  in  solchen  Fällen  völlig  atrophirenden 
Cutis;  diese  Verschwärung,  welche  durch  äussere  Irritationen  hervorge- 
rufen werden  kann,  pflegt  selten  tief  zu  gehen,  wenngleich  Theile  des 
Fettgewebes  dabei  gangränös  werden  können;  es  bilden  sich  unter 
solchen  Verhältnissen  fast  immer  Geschwüre  mit  wenig  entwickelter 
Granulation,  mit  serösem  stinkendem  Secret  aus.  Combination  von 
Lipom  mit  weichen  Fibromen,  mit  myxomatösen  Sarkomen  und  mit 
Lymphomen  kommt  vor,  wenn  auch  selten.  Eine  bedeutende  cavernöse 
Ektasie  der  Venen  habe  ich  mehre  Mal  in  Lipomen  beobachtet. 

Eine  Disposition  zur  Lipombildung  besteht  am  häufigsten  in 
derselben  Lebenszeit,  in  welcher  überhaupt  die  Disposition  zur  Fett- 
bildung am  häufigsten  ist,  also  zwischen  dem  30.  und  50.  Lebensjahre; 
bei  Kindern  entwickeln  sich  äusserst  selten  Lipome,  doch  kommen  sie 
angeboren  am  Bücken,  Hals,  Gesieht,  auch  an  den  Zehen  mit  gleich- 
zeitiger Hypertrophie  der  Knochen  (Riesenwuchs)  vor;  sie  wachsen  nach 
der  Geburt  nicht  mehr  viel  weiter.  In  der  Regel  entsteht  nur  ein  Lipom, 
und  dies  wächst  äusserst  langsam,  ja  es  kann  auf  einem  gewissen  Sta- 
dium zumal  im  hohen  Alter  stehen  bleiben.  Multiple  Lipombildung  ist 
öfter  im  Unterhautzellgewebe  beobachtet  worden;  man  hat  Fälle  gesehen, 
wo  50  und  mehr  meist  kleinere  Lipome  zugleich  sich  ausbildeten ;  später 
blieben  sie  dann  im  Wachsthum  stehen.  Die  multiplen  Lipome  sind  oft 
gemischte  Geschwülste.  Das  einfache  Lipom  ist  niemals  infectiös;  es 
kommen  daher  nie  Recidive  nach  Exstirpation  dieser  Geschwülste  vor. 

Als  Gelegenheitsursache  zur  Entwicklung  von  Fettgeschwülsten  wer- 
den Druck  und  Reibung  zuweilen  beobachtet;  es  besteht  auch  ein  massiger 
Grad  von  Erblichkeit  der  Fettsucht  überhaupt. 

Die  Diagnose  der  Lipome  ist  in  den  meisten  Fällen  leicht;  die 
Consistenz,  der  oft  durchzufühlende  lappige  Bau,  zuweilen  ein  deutlich 
fühlbares  Knittern,  welches  beim  Zerdrücken  einzelner  Fettläppchen  ent- 
steht,^ sind  die  objectiven  Zeichen;  dazu  kommen  die  Verschiebbarkeit 
der  Geschwulst,  das  langsame  Wachsthum,  das  Alter  des  Fatieuten,  vor 
Allem  die  Körpergegeud  als  wesentliche  Hülfsmittel  zur  Sicherung  der 
Diagnose.  Verwechslungen  mit  sehr  weichen  Fasergeschwülsten,  mit 
Sarkomen,  mit  lipomatös-cavernösen  Blutgeschwülsten  sind  möglich. 

Die  Therapie  besteht  in  der  Entfernung  der  Geschwulst"  mit  dem 
Messer.  Die  Heilung  erfolgt  gewöhnlich  erst  nach  sehr  reichlicher  Ab- 
stossung  von  gangräneseirendem  Gewebe  an  der  Wunde;  bei  sehr  grossen 
Lipomen  nimmt  man  am  zweckmässigsten  immer  einen  Theil  der  die 
Gescuwulst  bedeckenden  Cutis  mit  fort;  Ervsipele  sind  grade  nach  Ex- 
stirpation  v„i,  Lipomen  häufig,   besonders  wenn  man  es  "mit  sehr  fetten 


Vorlesung  45.     CnpiCel  XXT. 


GOl 


Personen  zu  tliim  hat.  Es  kann  übrigens  die  Exstirpation  der  grösstcn 
Lipome  mit  g-utem  Erfolg  aiisgefiiliit  werden,  da  man  es  in  der  Regel 
mit  sonst  gesunden  Menschen  zu  thuu  liat.  Ungünstiger  als  die  Exstir- 
pation der  circumscripten  ljii)ome  ist  diejenige  der  diffusen;  die  locale 
und  allgemeine  Reaetion  pflegt  bedeutender  7m  sein,  docli  lial)c  ich 
mehre  solche  Excisioneu  mit  günstigem  Erfolge  gemacht. 


3.     Chondrome.     Kiiorpelgeschwiilste 

sind  Geschwülste,  welche  aus  Knorpel  bestehen,  und  zwar  aus  hyalinem 
oder  aus  Faserknorpel. 

Die  mikroskopischen  Elemente  des  pathologisch  neugebildeten  Knorpels  können 
verschiedenartig  gestaltet  sein :  man  sieht  zuweilen  ausserordentlich  schöne,  runde  Knorpel- 
zellen, wie  man  sie  besonders  im  Embryo,  in  etwas  kleinerer  Form  auch  in  den  Gelenk- 
und  Rippenknorpeln  findet;  eine  so  vollständige  Verschmelzung  der  hyalinen  Intercellular- 


Fig.  130. 


Aussergewöhnliche    Formen    von   Knorpelgew^ebe    aus   Chondromen    vom    Menschen    und 
vom  Hund.  —  Vergrösserung  350. 

44* 


692 


Von   den  (Treschwnlsten. 


Substanz  zu  einer  homogenen  Masse,  wie  sie  in  dem  noi-malen  Knorpel  Eegel  ist,  findet 
sich  jedoch  in  den  Chondromen  seltener;  oft  ist  die  den  einzelnen  Zellengnippen  ange- 
hörio-e  Intercelhilarsubstanz  von  einander  differenzirt,  und  zwischen  den  grösseren  Zellen- 
o-ruppen  bildet  sich  die  hyaline  Substanz  zu  feinen  Fasern  um.  Letzteres  ist  die  Ursache, 
dass  die  Knorpelgeschwülste  im  Durchschnitt  meist  von  kapselartig  angeordneten,  zu- 
sammenhängenden Bindegewebsmaschen  durchzogen  erscheinen,  die  sich  auch  dem  freien 
Auo^e  als  netzförmige  Zeichnung  darstellen;  zwischen  diesen  Bindegewebszügen  erscheint 
der  bläulich  oder  gelblich  schillernde  Knorpel  eingebettet.  Ausserdem  unterscheidet  sicli 
das  Gewebe  des  Chondroms  von  demjenigen  des  normalen  Knorpels  auch  noch  dadurch, 
dass  ersteres  in  den  erwähnten  Faserzügen  meist  vascularisirt  ist,  während  letzterem  be- 
kanntlich Gefässe  fehlen.  Die  mikroskopischen  Verhältnisse  in  den  Chondromen  bieten 
noch  manches  andere  Abweichende  von  dem  normalen  Knorpel.  Es  kommt  gar  nicht 
selten  vor,  dass  die  Intercellularsubstanz ,  sei  sie  hyalin  oder  leicht  gefasert,  anstatt  der 
gleichmässig  festen  Consistenz  des  normalen  Knorpels  eine  mehr  gallertige  oder  bröcklige 
Beschaffenheit  zeigt,  vielleicht  auch  manchmal  secundär  in  dieselbe  übergeht.  Verkalkungen 
des  Knoi-pels,  so  wie  wahre  Verknöeherungen  sind  in  den  Chondromen  etwas  Häufiges; 
die  Zellenformen  können  äusserst  verschiedenartig  sein  (Fig.  130). 

Was  die  äussere  Form  der  Clioudrome  anlangt,  so  sind  es  meist 
nindlicb  knollige,  scharf  begrenzte  Geschwülste,  welche  unter  Umständen 
über  Mannskopfgrösse  erreichen  können.  Ihr  Waehsthum  ist  im 
Anfang  ein  fast  rein  centrales;  im  weitereu  Verlauf  wird  jedoch  theils 
durch  das  Auftreten  neuer  Krankheitsheerde  in  der  unmittelbaren  Um- 
gebung, theils  durch  Umwandlung  der  zunächst  gelegenen  Gewebe  in 
Knorpel  (locale  Infection)  die  Vergrösserung  der  Geschwulst  bewerk- 
stelligt. Von  den  anatomischen  Metamorphosen  ist  die  breiige  und 
schleimige  Erweichung  und  die  Verknöcherung  einzelner  Theile  schon 
erwähnt;  durch  den  ersteren  Process  entstehen  Schleimcysten  in  diesen 
Geschwülsten,  wodurch  die  sonst  sehr  hart  anzufühlenden  Chondrome 
theilweis  Fluctuation  darbieten  können.  Es  wäre  denkbar,  dass  mit 
einer  vollständigen  Verknöcherung  des  Chondroms  die  Geschwulst  zum 
Abschluss  käme  und  zu  wachsen  aufhörte;  dies  ist  auch  in  einzelnen 
Fällen  beobachtet  worden,  wenngleich  sehr  selten.  Ein  oberflächlicher 
Ulcerationsprocess  kommt  bei  grossen  Chondromen  leicht  vor  und  ent- 
steht besonders  bei  sehr  stark  gespannter  Haut  und  gelegentlichen 
traumatischen  Reizen,  ist  jedoch  ohne  weitere  Bedeutung.  Ulcerative 
centrale  Erweichung  und  Aufbruch  nach  aussen  sind  selten,  ich  habe 
es  jedoch  bei  einem  sehr  schön  ausgebildeten,  stark  apfelgrossen  Chon- 
drom einer  Sehnenscheide  am  Fuss  beobachtet.  —  Virchow  nennt  die 
verknöchernde  Zellenlage  zwischen  Periost  und  wachsendem  Knochen 
Osteoidknorpel:  er  tauft  daher  periostale  und  ossiticirende  Geschwülste, 
welche  einen  diesem  Osteoidknorpel  ähnlichen  Bau  haben  „Osteoid- 
Chondrome".  Es  ist  mir  etwas  bedenklich,  wie  man  solche  Geschwülste, 
die  ich  mehrfach  untersucht  hahe,  von  periostalen  ossiticirenden  Rund- 
zellen- und  Spindelzellen -Sarkomen  unterscheiden  soll;  ich  möchte  da- 
her das  Osteoid -Chondrom  Virchow's  lieber  nicht  von  den  Sarkomen 
trennen. 


Vorlesung  45.     Cnpilcl   XXT.  ß03 

Vorkommen.  Die  Knorpclg'cscliwülstc  entstellen  ganz  besonders 
häufig'  an  den  Knochen.  Die  I'halangcn  der  Hand  und  die  Mctacaipal- 
knoclien  worden  am  häufigsten  Sitz  von  Chondromen;  viel  seltener  die 
analogen  Knochen  am  Fuss.  An  der  Hand  treten  die  Chondrome  iVist 
inuner  multipel  auf,  selbst  in  solcher  JMeng'e,  dass  kaum  ein  Fing-cr 
davon  frei  ist;  dann  sind  der  Oberschenkelknochen  und  das  Becken  der 


131. 


Chondrome  der  Finger. 

Chondrombikkmg-  besonders  ausgesetzt;  hier  erreichen  diese  Geschwülste 
die  gTÖsste  bekannte  Ausdehnung  und  führen  zur  vollständigen  Destruc- 
tion  dieser  Knochen.  Seltener  schon  sind  die  Chondrome  an  den  Ge- 
sichtskuochen,  sehr  selten  am  Schädel,  etwas  häufiger  dagegen  wieder 
an  den  Rippen,  an  der  Scapula.  In  den  Sehnenscheiden  entwickeln  sich 
gelegentlich  Chondrome,  doch  selten.  —  Auch  in  Weichtheileu  und  zwar 
besonders  in  Drüsen  (Hoden,  Eierstock,  Mamma,  Speicheldrüsen)  sind 
Knorpelbildungeu  beobachtet,  und  zwar  theils  vollkommen  entwickelte 
Chondrome,  theils  einzelne  Knorpelstückchen  neben  vorwiegender  Sar- 
kommasse oder  neben  Carcinom. 

Die  Entwicklung  von  Chondromen  ist  vorwiegend  dem  jugendlichen 
Alter  eigenthündich;  nicht  dass  sie  grade  bei  Kindern  vorkämen,  doch 
aber  in  den  Jahren  kurz  vor  der  Pubertät;  die  meisten  Chondrome  sind 
auf  diese  Zeit  zurückzuführen,  selbst  wenn  wir  sie  erst  in  viel  späteren 
Jahren  zur  Beobachtung  bekommen.  Diese  Geschwülste  entstehen  zu- 
weilen nach  Trauma,  wachsen  ausserordentlich  langsam,  20 — 30  Jahre, 
und  scheinen  von  Zeit  zu  Zeit  vollständige  Stillstände  machen  zu  kön- 
nen; es  ist  mir  begegnet,  dass  Patienten  behaupteten,  die  Geschwülste 
haben  seit  vielen  Jahren  unverändert  bestanden,  und  mehr  zufällige 
Gründe  veranlassten  sie,  jetzt  noch  die  Entfernung  derselben  zu  wün- 
schen. Manchmal  wachsen  sie  schneller  und  werden  iufectios;  es  sind 
Fälle  bekannt,  in  welchen  schliesslich  Knorpelgeschwülste  auch  in  den 
Lungen  (embolisch)  auftraten  und  dadurch  der  Tod  herbeigeführt  wurde ; 
0.  Weber  hat  auch  Erblichkeit  von  Chondrom-Diathese  beobachtet.  — 
Bei  den  erwähnten  Combinationen  von  Knorpclbildung  mit  Sarkom  oder 
Carcinom  übt  die  Knorpelbildung  keinen  Eiufiuss  auf  die  prognostische 
Beurtheilung  der  Geschwulst  im  Ganzen, 


nqA  Von  den   Geschwülsten. 

Die  Diagnose  und  Prognose  ergiebt  sich  aus  dem  Gesagten  leicht 
von  selbst.  Nur  muss  noch  erwähnt  werden,  dass  die  erweichten  und 
cystoiden  Formen  der  Chondrome  in  älteren  Werken  vielfach  unter  dem 
Namen  Colloidgeschwülste,  Gallertkrebse,  Alveolarkrebse  etc.  cursiren. 
Da  sowohl  in  Fibromen,  Chondromen,  Sarkomen  als  in  Adenomen  und 
Drüsenkrebsen  die  epithelialen  Elemente  und  auch  das  Bindegewebs- 
gerüst  gallertig  (schleimig,  coUoid,  myxomatös)  werden  können,  so  wird 
man  immer  erst  sehr  genau  nachsehen  müssen,  was  man  vor  sich  hat; 
oft  genug  wird  man  hier  über  die  Deutung  der  histologischen  Elemente 
und  ihre  Metamorphosen,  sowie  demnach  auch  über  den  zu  wählenden 
Namen  in  Zweifel  sein. 

Was  die  Behandlung  betrifft,  so  kann  dieselbe  nur  in  Entfernung 
der  Geschwülste  bestehen,  falls  eine  solche  ohne  directe  Lebensgefahr 
ausführbar  ist.  Die  in  der  Kegel  sehr  grossen  Chondrome  des  Beckens 
wird  man  begreiflicherweise  meist  unberührt  lassen  müssen,  die  Ge- 
schwülste des  Oberschenkels,  die  ebenfalls  sehr  gross  za  sein  pflegen, 
wenn  der  Kranke  in  Behandlung  kommt,  kann  man  nur  durch  Exarti- 
culation  des  Oberschenkels  fortschaffen,  und  hierzu  wird  man  kaum  eher 
Indication  finden,  als  bis  die  Extremität  durch  spontane  Fractur  des  Ober- 
schenkels in  Folge  der  Knocbenzerstörung  unbrauchbar  ist.  Am  häufigsten 
kommen  die  Chondrome  an  den  Fingern  zur  Operation,  nicht  weil  sie 
Schmerzen  machen,  vielmehr  sind  sie  meist  schmerzlos,  sondern  weil  sie 
die  Function  beeinträchtigen;  dies  geschieht  freilich  sehr  langsam  und 
allmälig,  und  müssen  die  Geschwülste  dazu  bereits  eine  gewisse  Grösse 
erreicht  haben.  So  lange  die  Patienten  ihre  knollig  angeschwollenen 
Finger  noch  brauchen  können,  verlangen  sie  weder  die  Operation,  noch 
kann  man  ilinen  dringend  dazu  rathen.  Was  die  Art  der  Operation 
betrifft,  so  liegt  für  viele  Fälle  in  denen  die  Geschwulst,  wenn  auch 
fest  adhärent  am  Knochen,  doch  mehr  seitlich  aufsitzt,  der  Gedanke 
nahe,  diese  Geschwülste  nach  Spaltung  und  Zurückschiebung  der  Haut 
mit  vorsichtigem  Beiseitschieben  der  Sehnen  einfach  vom  Knochen  abzu- 
tragen, sei  es  mit  dem  Messer  oder  der  Säge.  Dies  ist  jedoch  nur  in 
wenigen  Fällen  ausführbar,  wenn  man  wirklich  die  ganze  Geschwulst 
entfernen  will,  was  durchaus  nöthig  ist;  die  Knorpelmasse  durchwuchert 
nämlich  sehr  häufig  den  ganzen  Markcanal  des  Knochens;  es  können 
ausserdem  nach  solchen  Operationen  sehr  heftige  Sehnenscheidenentzün- 
dungen entstehen,  in  Folge  deren  der  betreffende  Finger  steif  bleibt. 
Ueber  die  von  Dieffenbach  ausgesprochene  Ansicht,  dass  der  etwa 
zurückbleibende  Rest  des  Chondroms  nachträglich  verknöchere  und  dieses 
Knochengewebe  stabil  bliebe,  liegt  keine  genügende  Anzahl  sorgfältig 
beobachteter  Fälle  vor;  es  ist  daher  die  Abtragung  der  Chondrome  vom 
Knochen  nur  auf  wenige  Fälle  zu  beschränken,  und  zwar  auf  solche, 
wo  die  Geschwulst  noch  sehr  klein  ist;  sie  kann  jedoch  glücklich  ab- 
laufen; in  zwei  Fällen,  in  welchen  mir  diese  Operationsmethode  gelang, 


Vork-sim.rr  .in.    fnpiiri  xxr. 


005 


ist  kein  Recidiv  cing-etrctcn.  nal)cn  die  Gescliwlilstc  bereits  eine  bedeu- 
tendere Grösse  crreidit,  so  wird  man  die  notliwcndige  Exarticulation  der 
Finger  bis  auf  einen  Zeitpunkt  versdiicbcn,  wo  die  Hand  durcli  die  Ge- 
scliwttlste  vollkommen  unbrauchbar  geworden  ist. 


4.     Ost('lOl»u^     Exostosen, 

Man  bezeichnet  mit  diesem  Namen  abnorm  gc1)ildete  Knoclienmasse, 
welche  in  umschriebener  Form  für  sich  eine  Geschwulst  darstellt,  ihr 
eigenes  selbstständiges  Wachsthnm  hat  und  nicht  von  einem  chronischen 
Entzündungsprocess  abhängig  i-t.  Knochenbildung  kommt  gelegentlich 
auch  wohl  in  manchen  andern  Geschwülsten  vor,  zumal  in  solchen,  die 
im  Knochen  selbst  entstehen,  wie  wir  es  bereits  beim  Chondrom  bemerkt 
haben.  Man  beschränkt  indess  den  Namen  Osteom  gewöhnlich  auf  Ge- 
schwülste, welche  vollständig  aus  Knochengewebe  bestehen.  Ich  will 
hier  gleich  erwähnen,  dass  nicht  allein  Neubildung'en  von  ganzen,  wenn 
auch  höchst  unregelmässig;  geformten  Zähnen,  theils  in  Eierstockcysten, 
theils  im  Antrum  Highmori  vorkommen,  sondern  dass  auch  an  den 
Zähnen  selbst  Auswüchse  von  wirklicher  Elfenbeinsubstanz,  wahre  Elfen- 
bein-Exostosen  (Odontome  von  odovg  Zahn,  Virchow)  beobachtet 
w^orden  sind;  es  gehört  dies  jedoch  zu  den  allergrössten  Seltenheiten  und 
hat  mehr  die  Bedeutung  eines  Curiosums.  —  Was  die  auatomisclie  Structur 


Fis.  133. 


Fio-.  13-2. 


Otlontom  eines  Backzahns 

Natürliche  Grösse. 


Schliff  aus  einem  Odontom.     Vera-rosserung   100. 


nqn  Von  den  Geschwülsten. 

der  Osteome  betrifift,  so  bestehen  dieselben  tlieils  aus  spongiöser,  mit 
der  g-ewölmliclien  Art  des  Knochenmarkes  durchsetzter  Knochensubstanz, 
theils  aus  elfenbeinartiger,  in  der  Anordnung  regelmässiger  Lamellen- 
systeme der  Corticalsubstanz  der  Röhrenknochen  analoger  Knochenmasse; 
wir  wollen  danach  spongiöse  Osteome  und  Elfeub  ein-Osteome 
unterscheiden.  Eine  dritte  Art  von  Osteomen  bilden  die  Sehnen-, 
Fa  seien-  und  Muskel  verknöcherungen,  deren  Einreibung  unter 
die  Geschwülste  freilich  problematisch  ist. 

a)  Die  spongiösen  Osteome  mit  knorpligem  Ueberzug 
(Exostosis  cartilaginea).  Diese  Geschwülste  kommen  fast  ausschliesslich 
an  den  Epiphysen  der  Röhrenknochen  vor;  sie  sind  Auswüchse  des  Epi- 
physenknorpels,  weshalb  sie  von  Virchow  ganz  passend  als  „Ecchon- 
drosis  ossificans"  bezeichnet  sind  (Fig.  134).  Auf  ihrer  rundlichen, 
höckerigen  Oberfläche  befindet  sich  eine  etwa  1 — 1  y,  Linien  dicke  Schicht 
eines  schön  ausgebildeten  hyalinen  Knorpels,  welcher  offenbar  theils  in 
sich  selbst,  theils  peripherisch  aus  dem  Periost,  respective  Perichondrium 
wächst,  dann  nach  dem  Centrum  hin  rasch  verknöchert.  Die  neugebil- 
dete Knochenmasse  selbst  ist  von  ihrer  Entstehung  an  auf  das  Innigste 
mit  der  spongiösen  Substanz  der  Epiphysen  verschmolzen,  so  dass  also 
die  harte  Geschwulst  dem  Knochen  unbeweglich  aufsitzt.  Es  liegt  in 
der  Natur  dieser  Osteome,  dass  sie  nur  bei  jugendlichen  Individuen 
vorkommen  können.  Tibia,  Fibula  und  Humerus  sind  nach  meinen  Be- 
obachtungen ihr  häufigster  Sitz. 

b)  Die  Elfenbein-Osteome.  Sie  bestehen  aus  compacter 
Knochensubstanz  mit  Haversischen  Canälen  und  Lamellensystemen,  ent- 
wickeln sich  an  den  Gesichts-  und  Schädelknochen  (s.  Fig.  134  u.  136), 
am  Becken,  am  Schulterblatt,  an  der  grossen  Zehe  etc.,  und  bilden  rund- 
liche, theils  kleinhöckrige,  theils  glatte  Geschwülste. 

Eine  dritte  Art  von  abnormer  geschwulstähnlicher  Knochenbildung 
ist  die  abnorme  Sehnen-,  Fascien-  und  Muskelverknöcherung, 
Avelche  in  der  Regel  zu  gleicher  Zeit  an  einer  Reihe  von  Sehnen  und 
Fascien  nach  vorausgehender  starker  Schrumpfung  derselben  erfolgt,  so 
dass  das  Skelet  solcher  meist  jungen  Menschen  mit  20 — 50  langen, 
spitzen  Knochenfortsätzen  überall  dort  versehen  ist,  wo  sich  Sehnen  an 
die  Knochen  ansetzen  (s.  Fig.  137);  zuweilen  tritt  die  Verknöcherung, 
wie  in  einem  Fall,  der  in  Zürich  beobachtet  wurde,  auch  primär  an  den 
Fascien  der  Muskeln  auf.  Es  sind  Fälle  von  einer  solchen  Ausdehnung 
dieser  Verknocherung  beobachtet  worden,  dass  z.  B.  die  ganzen  Schulter- 
und  Armmuskcln  verknöcherten,  und  jede  Bewegung  der  oberen  Extre- 
mitäten unmöglich  wurde.  —  Diese  Knochenbildungeu,  sowie  der  soge- 
nannte Exercirknochen  sind  wohl  als  Product  eines  chronisch  ent- 
zündlichen Processes  zu  betrachten,  sowie  die  wahren  Knochenbildungen, 
welche  sich  abnormer  Weise  in  den  Hirn-  und  Rückenmarkshäuten  aus- 
bilden.    Unter  Exercirknochen  versteht  man  die  Entwicklung  von  Kno- 


Fig.  134. 


Vorlesung  45.     Ciipilrl   XXT.  607 

Fig.  135. 


Gestieltes  spongiöses  Osteom  am  unteren 
Ende  des  Femur  nach  Pean, 


Elfenbein-Osteome  des  Schädels. 
Fig.  137. 


Fig.  136. 


Muskelansatz-Osteome 
nach  0.  Weber, 


Knochenschlift'  aus  einem  EU'enbein-Osteom  des  Schädels. 


ggg  Von  den  Geschwülsten. 

chenmasse  im  M.  deltoideiis,  und  zwar  an  derjenigen  Stelle,  wo  das 
Gewehr  beim  Exerciren  angeschlagen  wird.  Es  bildet  sich  dieser  Knochen 
jedoch  nur  bei  wenigen  Soldaten  aus,  und  setzt  die  Entstehung  derselben 
immer  schon  eine  Disposition  zur  Knochenbildung  voraus.  Die  aus  un- 
bekannten Ursachen  zuweilen  vorkommende  Verknöcherung  der  Sehnen, 
besonders  der  Sehnenansätze  an  einen  Knochen,  ist  ebenfalls  etwas 
höchst  Merkwürdiges,  und  erinnert  an  den  gleichen,  bei  den  Vögeln  voll- 
kommen normalen  Process. 

Die  Disposition  zu  Osteombildung  ist  derjenigen  zu  Chondrombil- 
dung  verwandt;  auch  sie  kommt  vorwiegend  bei  jugendlichen  Individuen, 
und  zwar  häufiger  bei  Männern  als  bei  Frauen  vor,  während  das  kind- 
liche Alter  fast  ganz  davon  ausgeschlossen  ist.  Was  die  Epiphysen- 
Osteome  betrifft,  die  man  ebenso  gut  als  verknöchernde  Chondrome  be- 
zeichnen könnte,  so  liegt  es  hier  in  der  Natur  der  Sache,  dass  diese 
Geschwülste  nur  etwa  bis  zum  24.  Jahre  entstehen  können.  Indess  auch 
die  andern  Osteome  finden  sich  gewöhnlich  noch  vor  dem  30.  Jahre 
ein;  die  Beobachtungen  darüber  sind  allerdings  nicht  sehr  zahlreich, 
weil  die  Krankheit  eine  seltne  ist.  Die  Erfahrungen  über  das  Vor- 
kommen von  Osteomen  im  jugendlichen  Alter  sind  um  so  merkwürdiger, 
als  sie  in  gewissem  Contrast  zu  dem  sonst  dem  höheren  Alter  angehören- 
den Verknöcherungsprocess  stehen.  Die  Rippen-  und  Kehlkopfsknorpel, 
auch  die  Bänder  der  Wirbelsäule  verknöchern  häufig  im  hohen  Alter, 
die  Kalkablagerungen  in  den  Arterien  alter  Leute  gehören  ebenfalls  zum 
fast  naturgemässen  senilen  Marasmus;  dennoch  kommen  Osteombildungen 
bei  alten  Leuten  nur  selten  zur  Entwicklung,  und  wenn  sich  bei 
denselben  dergleichen  Geschwülste  finden,  so  sind  sie  in  der  Regel  in 
der  Jugend  entstanden.  —  Die  Osteome  treten  ebenso  häufig  multipel  als 
solitär  auf;  ihr  Wachsthum  ist  im  Allgemeinen  ein  sehr  langsames  und 
pflegt  mit  dem  beginnenden  Alter  zu  erlöschen.  Die  Epiphysenexostosen 
hören  nach  Vollendung  des  Skelet- Wachsthums  auf,  und  es  verdickt 
sich  die  spongiöse  Knochensubstanz  zu  compacterer.  Nur  in  seltenen 
Fällen  schreitet  die  Verknöcherung  in  den  Sehnen  und  Muekeln  so  weit 
vorwärts,  dass  dadurch  die  Bewegungen  vollständig  beeinträchtigt  werden. 
In  einzelnen  Fällen  hat  man  auch  Knocheneutwickluug  in  den  Lungen 
beobachtet.  —  Die  Beschwerden,  welche  durch  die  Osteome  bedingt 
werden,  sind  in  den  meisten  Fällen  nicht  sehr  erheblich;  Sehmerzen  sind 
nicht  mit  der  Entwicklung  dieser  Geschwülste  verbunden,  auch  ist  die 
Berührung  derselben  nicht  empfindlich.  Die  in  der  Nähe  der  Gelenke 
sitzenden  Osteome  beschränken  indess  häufig  die  Function.  Die  an  den 
Gesichtsknochen  vorkommenden  Gescliwülste  der  Art  machen  unangenehme 
Entstellungen;  die  Exostose  der  grossen  Zehe  kann  das  Anziehen  der 
Schuhe  verhindern;  die  Verknöcherungen  der  Sehnen  und  Muskeln  beein- 
trächtigen die  Bewegung  oder  heben  dieselbe  vollständig  auf;  leider  sind 
die  letzteren  wegen  ihrer  grossen  Ausdehnung  und  Zahl  am  wenigsten 


Vorlesung  -15.     f'fipil.'I   XXI.  690 

der  operativen  Chinivi;'ie  /ugäiiglieh ,  um  so  weniger,  so  lange  die  Dis- 
position zur  krankhaften  Knoclicnbildung-  noch  fortbesteht.  —  Was  die 
Operation  der  Exostosen  betrifft,  so  besteht  dieselbe  in  der  Absäg'ung 
oder  Abmeisselung-  der  Geschwülste  von  den  betreffenden  Knochen.  Da 
dieselben  jedoch,  wie  erwähnt,  ZAiweilen  in  der  Nälic  der  Gelenke  sitzen, 
so  kann  dabei  wohl  eine  Eröffnung  der  Gelenkhölde  vorkommen:  es 
ist  durchaus  nicht  nothwendig  und  rathsam,  solche  Operationen 
vorzunehmen,  ausser  wenn  die  Functionsstörung  eine  so  erhebliche  wäre, 
dass  dadurch  selbst  eine  für  das  Gelenk  und  das  Leben  gcfälirliche 
Operation  aufgewogen  wird.  Man  wird  sich  um  so  weniger  für  eine 
derartige  Operation  ohne  besondere  Indication  entschliessen ,  als  diese 
Geschwülste  mit  der  Zeit  im  Wachsthum  stehen  bleiben.  Auf  den 
Epiphysenexostosen  finden  sich  zuweilen  Schleimbeutel  und 
darin  parietal  adhärirende  oder  gelöste  verknöchernde  Chondrome; 
diese  Schleimbeutel  communiciren  in  der  Regel  mit  dem  Gelenk,  in 
dessen  Nähe  diese  Exostose  sitzt.  Nach  Untersuchungen  von  Rindfleisch 
sind  diese  Schleimbeutel  immer  abnorm  ausgezogene  Ausstülpungen  der 
Gelenksynovialmembran.  Ich  liess  mich  einmal  auf  dringendes  Bitten 
des  Patienten  verleiten,  eine  solche  Exostose  am  unteren  Ende  des 
Femur  mit  grossem  Schleimbeutel  zu  reseciren  und  den  abnormen  Sy- 
novialsack  zu  exstirpiren;  Patient  starb  an  Septhämie.  In  einem  andern 
Falle  hatte  sich  der  Schleimbeutel  auf  einer  Exostose  am  unteren  Ende 
des  Humerus  spontan  unter  massigen  Entzündungserscheinungen  eröffnet; 
es  erfolgte  Vereiterung  des  Ellenbogengelenks  mit  Ausgang  in  Anchylose. 


Vorlesung  46. 

b.  Myome.  —   6.  Neuro  nie.  —   7.    Angiome:    a)  plexiforme,  b)   cavernöse.   — 

Operations  verfahren. 

5.     Myome. 

Ob  es  Myome,  welche  nur  aus  quergestreiften  Muskelfasern 
oder  Muskelfaserzellen  bestehen,  giebt,  muss  vorläufig  dahin  gestellt 
bleiben,  mir  ist  keine  derartige  Beobachtung  bekannt;  das  Vorkommen 
von  neugebildeten  quergestreiften  Muskelfasern  ist  eminent  selten  in  Ge- 
schwülsten beobachtet  worden,  niemals  bestand  eine  Geschwulst  ganz 
daraus;  gewöhnlich  war  es  ein  zufälliger  Befund  in  Sarkomen  oder 
Carcinomen  (des  Hodens,  der  Eierstöcke,  der  Mamma)  oder  in  sehr 
complicirt  zusammengesetzten  Geschwülsten.  Gesclnvülste,  in  welchen 
sich  deutliche  Entwicklungsstufen  von  Muskelfasern  finden,  habe  ich 
untersucht,  indess  hat  man  die  Berechtigung,  solche  Geschwülste  „Myome" 
zu  heissen,  bestritten.     Ich  darf  um  so  weniger  etwas  dagegen  einwen- 


yAQ  Von  den  Geschwülsten. 

den,  als  wir  ja  auch  Geschwülste,  welche  nur  aus  Entwicklungsstufen 
von  Bincleg-ewebe  bestehen,  nicht  Fibrome  nennen  dürfen,  und  als  ich 
früher  (pag.  682)  meine  Bedenken  erhoben  habe,  die  aus  Spindelzellen 
bestehenden  Uterusfibrome  „Myome"  zu  taufen,  wenn  wir  unserer  Sache 
in  Betreff  der  Deutung  der  Spindelzellen  als  Muskelfaserzellen  nicht 
ganz  sicher  sind.  Bei  älteren  Leuten  kommen  in  der  Prostata  massen- 
haft neugebildete  glatte  Muskeln  vor,  welche  theils  in  Form  von 
einzelnen  Knoten,  theils  als  diffuse  Vergrösserung  des  Organs  auftreten. 
Es  hat  gewiss  kein  Bedenken,  diese  sogenannte  Prostatahypertrophie 
(gewöhnlich  ist  etwas  Drüsenvergrösserung  dabei)  als  Myom  zu  bezeich- 
nen. Aelmliche  Myomkuoten  sind  in  der  Tunica  muscularis  des  Oeso- 
phagus und  Magens  beobachtet.  Vor  Kurzem  exstirpirte  ich  mit  Glück 
ein  gestieltes  Myom  aus  der  Harnblasse  eines  Knaben;  es  schien  von 
der  Muscularis  der  Blase  zu  entspringen.  —  Klinisch  lässt  sich  über  die 
Myome  unter  diesen  Verhältnissen  durchaus  nichts  Sicheres  sagen;  die 
Geschwülste,  welche  ich  als  jugendliche  Myome  im  Muskel  deutete, 
waren  von  markigem  Aussehn  auf  dem  Durchschnitt,  fasciculär,  von  untilg- 
barer localer  Eecidivfähigkeit  und  führten  dadurch  zum  Tode. 


6.    Neurome. 


Es  ist  schon  erwähnt  worden  (pag.  685),  dass  man  oft  den  Namen 
„Neurom"  für  alle  Geschwülste  braucht,  welche  an  Nerven  vorkommen; 
dies  ist,  wenn  Sie  wollen,  ein  practischer  Missbrauch,  der  jedoch  schwer 
auszurotten  ist.  Unter  einem  „wahren  Neurom"  versteht  man  eine  Ge- 
schwulst, welche  ganz  aus  Nervenfasern  und  zwar  vorwiegend  aus  dop- 
pelt contourirten  Nervenfasern  zusammengesetzt  ist;  solche  Bildungen 
scheinen  nur  an  Nerven  vorzukommen;  sie  sind  äusserst  selten.  Die, 
Neurome  an  Amputatiousstümpfen  sind  schon  früher  (pag.  120)  erwähnt; 
ob  es  andere  wahre  Neurome  giebt,  wird  mehrfach  bezweifelt.  Die 
wahren  Neurome  sind  immer  sehr  schmerzhaft.  —  Viele  von  den  Fi- 
bromen an  und  in  Nervenstämmen  enthalten  sehr  eigcuthümlich  bündel- 
artig angeordnete  feine,  mit  Kernen  reichlich  besetzte  Fasern,  welche 
man  sehr  wohl  für  graue  marklose  Fasern  nehmen  kann,  wie  es  Vir- 
chow  thut,  welcher  demgemäss  den  ächten  Neuromen  eine  grosse  Aus- 
dehnung giebt  und  sie  in  myelinische  und  amyelinische  Formen  theilt. 
Ich  getraue  mich  nicht,  immer  ein  amyelinisches  Neurom  von  einem 
Fibrom  im  Nerven  zu  unterscheiden,  und  mochte  dies  daher  auch  nicht 
von  Andern  verlangen.  Bündelartig  angeordnete  Spindelzellengeschwülste 
sind  wahrscheinlich  weit  häufiger  junge  Myome  und  Neurome  als  junge 
Fibrome,  doch  der  Beweis  für  das  eine  oder  andere  wird  schwer  zu 
liefern  sein.  —  Multiplicität  und  Neigung  zu  regionären  Kecidiven  ist 
den  Neuromen  sehr  eigen,   und  daher  die  Prognose  immer  mit  Keserve 


Vnrlesiiiis  A(l     Capitr-l  XXT.  701 

ZU  stellen.  —  Selten  ist  es  mög-licli,  ein  Neurom  von  einem  Nerven- 
stamm al)zui)r;ii)a,riren;  meist  muss  von  letzterem  ein  Stück  mit  ent- 
fernt werden. 


7.    Aii^ioiuo.     GeCüssgcscIiwülsfe. 

Man  verstellt  darunter  Gescliwülste ,  welche  last  einzig-  und  allein 
aus  Gefässen  zusammengesetzt  sind,  die  nur  durch  eine  geringe  Meng-e 
von  Bindegewebe  zusammengehalten  werden;  man  hat  sie  auch  wohl 
„erectile  Geschwülste"  genannt,  weil  sie  je  nach  Füllung  der  Gefässe 
mit  Blut  bald  fester  bald  schlaffer,  bald  grösser  bald  kleiner  sind.  Die 
gewöhnlichen  Formen  der  varicösen  Ausdehnungen  der  Venen  und  die 
Aneurysmen  einzelner  Artevienstämme  sind  durch  diese  Definition  aus- 
geschlossen. Das  Aneurysma  cirsoideum  könnte  indess  hierher  gerechnet 
werden,  sowie  einige  Formen  des  Varix  aneurysmaticus;  da  dies  aber 
nicht  üblich  ist,  so  haben  wir  diese  beiden  Krankheiten  ])ereits  früher 
abgehandelt. 

Es  sind  hier  zwei  verschiedene  Arten  von  Gefässgescliwülsten  zu 
betrachten. 

a)  Die  plexiformen  Angiome  oder  Telangiektasien  (von 
xslog,  dyys7ov,  sxraaig).  Es  ist  die  häufigste  Form;  diese  Neubildung 
ist  ganz  aus  erweiterten  und  mit  sehr  starker  Schlängelung  gewucherten 
Capillaren  und  Uebergangsgefässen  zusammengesetzt  und  tritt,  je  nach- 
dem nielir  die  Wucherung  der  Gefässe  oder  die  reine  Ektasie  vorwie- 
gend ist,  bald  mehr  als  Geschwulst,  bald  mehr  als  rother  Fleck  in  der 
Haut  auf.  'Die  plexiformen  Angiome  der  gleich  noch  näher  zu  beschrei- 
benden Art  finden  sich  fast  ausschliesslich  in  der  Cutis.  Sie  haben  bald 
ein  dunkel  kirschrothes,  bald  ein  stahlbläuliches  Ansehen,  sind  bald  von 
der  Ausdehnung  eines  Stecknadelknopfes,  bald  eines  Handtellers,  die 
einen  massig  dick,  die  andern  kaum  eine  leichte  Erhebung  der  Cutis- 
oberfläche  zeigend.  Selten  sind  die  Formen,  in  welchen  man  es  nicht 
mit  einem  gleichmässig  rothen  Fleck  oder  einer  Geschwulst  zu  thun  hat, 
sondern  mit  einer  über  einen  grösseren  Oberflächentheil  des  Körpers 
diffusen  Röthe,  in  welcher  man  schon  mit'*freiem  Auge  die  ausgedehnten 
und  geschlängelten  feinen  Gefässe  an  der  Oberfläche  der  Cutis  durch 
die  Epidermis  hindurchschimmern  sieht. 

Die  anatomische  Untei-suchung  der  exstirpirten  massigen  Angiome  dieser  Art  ergiebt, 
dass  sie  aus  kleinen,  hanfkorn-  bis  erbsengrossen  Läppchen  zusammengesetzt  sind,  und 
wenn  man  nach  vorausgegangener  künstlicher  Injection  oder  mit  andern  Präparations- 
methoden die  mikroskopisciie  Untersuchung  macht,  wird  man  finden,  dass  diese 
lappige  Form  dadurch  entsteht,  dass  die  in  der  Cutis  so  eigenthümlich  abgegrenzten  Ge- 
fässgebiete  der  Schweissdrüsen ,  Haarbälge,  Fettdrüsen  und  Fettläppchen  alle  für  sich  er- 
krankt sind,  und  dass  die  einzelnen  kleinen  wuchernden  Gefässsysteme  die  schon  erwähnten, 
mit  freiem  Auge  sichtbaren  Läppchen  bilden.    Die  bald  ganz  blutrothe,  bald  blassbläuliche 


702 


Von  den  Geschwülsten. 


Farbe  dieser  Geschwülste 
ist  davon  abhängig,  dass 
im  ersteren  Fall  die  Ca- 
pillaren  der  oberflächlich- 
sten Cutisschicht.  im  zweiten 
die  tiefer  liegenden  Gefässe 
erkrankt  sind.  In  der  Regel 
schreitet  diese  Gefässwuche- 
rung  nicht  über  das  Unter- 
hautzellgewebe fort,  nur  in 
seltenen  Fällen  dringt  die- 
selbe in  tiefer  liegende  Ge- 
webe ,  z.  B.  in  Muskeln, 
ein,  woraus  hervorgeht,  dass 
diese  Neubildungen  nicht 
allein  central,  sondern  vor- 
wiegend peripherisch  wu- 
chern und  den  befallenen 
Theil  destruiren.  — 

Die    meisten    die- 
ser   Geschwülste   las- 

Gefässconglomerate    aus    einem    plexiformen   Angiom.      Ver-  seil   sich  durch  Druck, 

grösserung  60.    a  Wucherndes  Gefässknäuel  um  eine  Schweiss-  wpniio'leiph      lano-«nm 
drüse    (die   nicht    mitgezeichnet  ist,    um    die  Zeichnung  nicht  '='  *  ? 

zu  sehr  zu  compliciren).     b   Wuchernde  Gefässknäuel  in  den  entleeren,   Uin  sich  SO- 

Papiiien  der  Mundschleimhaut.  fort  nach  Aufhörendes 

Druckes  wieder  zu  füllen.  Indessen  g-iebt  es  auch  massige  Telangiek- 
tasien, in  denen  sich  neben  der  Gefässwucherung  auch  Binde-  und 
Fettgewebe  neubildet,  so  dass  dieselben  also  nicht  ganz  auszudrücken 
sind.  Wenn  diese  Neubildungen  oberflächlich  in  der  Cutis  lagen,  uud 
sich  das  Blut  aus  ihnen  nach  der  Exstirpatiou  entleert  hat,  so  sieht  man 
mit  freiem  Auge  an  dem  exstirpirten  kranken  Hautstück  fast  nichts 
Abnormes;  eine  massige  Neubildung  dieser  Art  zeigt  sich  auf  der 
Durchschnittsfläche  als  eine  blassröthliche,  weiche,  kleinlappige  Substanz, 
an  der  man  aber  mit  freiem  Auge  keine  Gefässe  wahrnimmt,  weil  über- 
haupt der  ganze  Erkrankungsprocess  sich  nur  auf  die  Capillaren  und 
die  Uebergangsgefässe,  sowie  auf  einzelne  kleine  Arterienstämmchen  zu 
erstrecken  pflegt. 

b)  Die  cavernösen  Angiome  oder  cavernösen  Venenge- 
schwülste. Wir  wollen  zunächst  ihre  anatomische  Beschaffenheit  fest- 
stellen, damit  Sie  den  Unterschied  von  den  plexiformen  Angiomen  gleich 
richtig  erfassen.  Das  exstirpirte  cavernöse  Angiom  ist  schon  dem  freien 
Auge  auf  dem  Durchschnitt  dadurch  kenntlich,  dass  es  fast  genau  das 
Bild  des  Corpus  cavernosum  penis  darbietet.  Man  sieht  ein  weisses, 
fest  zähes  Maschenwerk,  welches  leer  erscheint  oder  wenigstens  nur 
stellenweise  mit  einzelnen  rothen  oder  entfärbten  Gerinnseln,  vielleicht 
auch  mit  kleinen,  runden,  kalkigen  Concrementen ,  sogenannten  Veuen- 
steiueu,    gefüllt   ist;    das  Mascheng-ewebe   hat  mau  sich    aber   vor    der 


Vorlesung  40.     Capitel   XXT. 


703 


Exstirpation  als  mit  Blut  strotzend  g'cfüllt  zu  (lenken.  Die  Begrenzung 
dieses  cavernösen  Gewebes,  welclies  sich  in  allen  Geweben  des  Körpers 
ausbilden  kann,  ist  in  manchen  Fällen  durch  eine  Art  Kapsel  eine  voll- 
kommen deutliche;  in  anderen  Fällen  dagegen  ist  diese  cavernöse  De- 
generation nur  sehr  unvollkommen  ])egrenzt  und  geht  in  wenig  bestimm- 
ter Weise  bald  hier,  bald  dort  in  die  Gewebe  über. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  dieses  Maschenwerks,  welches  bald  iiiir 
aus  dünnen  Fäden,  bald  aus  membranartigen  Kapseln  gebildet  ist,  zeigt,  dass  die  Balken 
selbst  aus  Resten  desjenigen  Gewebes  bestehen,  in  welchem  die  cavernöse  Ektasie  Platz 
griff.  Die  Innenwand  der  mit  Blut  gefüllten  Räume  ist  in  den  meisten  Fällen  mit  einer 
Lage  von  platten  zusammenhängenden  Endothel  -  Zellen  belegt,  die  an  den  Rändern  der 
Balken  spindelförmig  hervortreten,  so  dass  auch  schon  diese  anatomischen  Verhältnisse 
dafür  sprechen,  dass  man  es  vorzüglich  mit  ausgedehnten  Venen  zu  thun  hat.  Die  Art 
und  Weise,  wie  dieses  eigenthümliche  Gewebe  zu  Stande  kommt,  hat  man  sich  verschieden 

Fig.  139. 


Balkennetz  aus  einem  cavernösen  Angiom  der  Lippe  (das  Blut  ist  in  den  grossen  Maschen 
zwischen  den  Balken  zu  denken).     Vergrösserung  350. 

erklärt.  Wenn  wir  über  die  Entwicklung  des  Corpus  cavernosum  penis  genaue  Unter- 
suchungen besässen,  so  würde  man  daraus  bei  der  grossen  Analogie  beider  Gewebe  be- 
stimmte Schlüsse  ziehen  können.  Die  drei  hauptsächlichsten  Hypothesen,  welche  über  die 
Entwicklung  der  cavernösen  Geschwülste  vorliegen,  sind  folgende:  1)  Man  nimmt  an, 
dass  sich  zuerst  die  cavernösen  Räume  aus  dem  Bindegewebe  entwickeln  und  dann  secundär 
mit  den  Gefässen  in  Verbindung  treten,  wobei  man  sogar  daran  gedacht  hat,  dass  in 
diesen  cavernösen  Räumen  aus  den  Derivaten  der  Bindegewebszellen  Blut  ausserhalb  des 
Kreislaufes  neugebildet  werden  könnte;  die  Balken  des  Maschengewebes  würden  sich 
durch  selbstständiges  Wachsthum,  durch  sprossen-  und  kolbenartiges  Auswachsen  des 
Bindegewebes  vermehren  (Rokitansky).  Die  Hypothese  der  Bildung  von  Blut  ausser- 
halb des  Ki-eislaufes  hat  Manches  gegen  sich,  wenngleich  die  neueren  Untersuchungen 
von  A.  V.  Win i warter  über  die  cavernösen  Lymphangiome  die  Annahme  unterstützen, 
dass  sich  in  der  unmittelbaren  Nähe  der  Gefässe ,  vielleicht  selbst  in  ihren  Wandungen 
Zellenhaufen  ansammeln,  die  in  der  Mitte  erweichen  und  secundär  mit  dem  Innern  der 
Gefässe  in  Verbindung  treten,  wie  wir  ähnliche  Vorgänge  später  an  den  villösen  Sarkomen 


704 


Von  den  Gescli-wülsten. 


kennen  lernen  -werden.  2)  Man  nimmt  an,  es  entstehen  dicht  neben  einander  umschriebene 
Erweiterungen  kleiner  venöser  Gefässe,  deren  allmählig  verdünnte  oder  selbst  ganz  ver- 
schwindende Wandungen  an  den  Stellen,  wo  dieselben  an  einander  stossen,  resorbirt 
werden.  Für  diese  Annahme  spricht  die  Beobachtung,  dass  man  solche  allmähligen  Aus- 
dehnuno-en  der  Venen,  sowohl  an  der  Cutis  wie  am  Knochen,  bei  der  Entwicklung  dieser 
Geschwülste  zuweilen  sehr  deutlich  verfolgen  kann.  3)  Rindfleisch  hebt  besonders  hervor, 
dass  der  Gefässektasie ,  zumal  bei  den  cavernösen  Tumoren,  welche  sich  im  Orbitalfett^ 
bilden,  immer  kleinzellige  Infiltration  des  Gewebes  vorangeht,  und  dass  dieser  dann  eine 
Art  narbiger  Schrumpfung  des  Gewebes  und  so  Auseinanderzerrung  der  Gefässe  folge, 
deren  Lumina  bei  fortgesetzter  Schrumpfung  des  Zwischengewebes  auf  diese  Weise  immer 
weiter  werden  müssten. 

Dass  sowohl  beim  plexiformen  als  beim  cavernösen  Angiom  ein  Process  waltet, 
welcher  dem  entzündlichen  ähnlich  ist,  habe  ich  aus  manchen  Gründen  erwartet,  doch 
weder  die  letzte  (für  die  cavernösen  Tumoren  im  Knochen  kaum  verw^endbare),  noch  die 
ersten  beiden  Hypothesen  scheinen  mir  für  die  Erklärung  der  Ursachen  und  der  eigen- 
thümlichen  Verschiedenheiten  in  den  Gefässausdehnungen  vollständig  zu  genügen.  — 

Ein  Unterscliied  ist  noch  hervorzuheben,  den  die  cavernösen  Tu- 
moren unter  sich  darbieten:  dieselben  hängen  nämlich  entweder  den 
grösseren  Venenstämmen,  z.  B.  den  subcutanen  Venen  sackartig  an, 
oder  es  senkt  sich  eine  grössere  Anzahl  sehr  kleiner  Arterien  und  Venen 
in  die  Kapsel  des  cavernösen  Gewebes  ein.  Endlich  ist  noch  zu  erwähnen, 
dass  diese  cavernöse  Venenektasie  auch  in  anderen  Geschwülsten,  z.  B. 
in  Fibromen  und  Lipomen  accidentell  vorkommen  kann,  wie  schon  früher 
erwähnt  wurde.  Ich  exstirpirte  vor  einigen  Jahren  ein  lappiges  Lipom, 
welches  unter  der  Scapula  eines  kräftigen  jungen  Mannes  entstanden 
war,  und  dessen  Lappen  alle  im  Centrum  zu  cavernösem  Gewebe  dege- 
nerirt  waren.  —  Die  cavernösen  Angiome  entwickeln  sich  besonders 
häufig  im  Unterhautzellgewebe,  seltner  in  der  Cutis  und  in  den  Muskeln, 
sehr  selten  in  den  Knochen,  ziemlich  häufig  dagegen  in  der  Leber,  be- 
sonders an  ihrer  Oberfläche,  zuweilen  auch  in  der  Milz  und  in  den 
Nieren.  Sie  sind  in  einigen  Fällen  sehr  schmerzhaft,  in  anderen  voll- 
kommen schmerzlos. 

Die  Diagnose  der  cavernöseu  Angiome  ist  nicht  immer  leicht; 
wenn  dieselben  in  der  Cutis  vorkommen,  so  ist  immer  noch  eine  Ver- 
wechslung mit  tiefer  liegenden  Telangiektasien  möglich,  wenngleich  sich 
das  Blut  aus  den  cavernösen  Venengeschw^ttlsten  leichter  ausdrücken 
lässt,  als  aus  den  Telangiektasien,  Die  tief  liegenden  Geschwülste  dieser 
Art  sind  immer  schwierig  mit  Sicherheit  zu  erkennen ;  sie  bieten  ge- 
wöhnlich deutliche  Fluctuation  dar,  sind  etwas  zusammendrüekbar, 
schwellen  bei  anhaltender  Exspiration;  die  beiden  letztgenannten  Symp- 
tome sind  jedoch  nicht  immer  sehr  deutlich  und  eine  Verwechslung  mit 
Lipomen,  Cysten  und  anderen  w^eichen  Geschwülsten  ist  daher  leicht 
möglich,  manchmal  nicht  zu  umgehen. 

Von  den  Angiomen  ist  wohl  die  Hälfte  angeboren  oder  sehr  bald 
nach  der  Geburt  entstanden.  Wenn  sie  sich  im  Laufe  des  Lebens  ent- 
wickeln, so  geschieht  dies  in  der  Regel  im  kindlichen  oder  jugendlichen 


Voi-icsiiiii!,-  ir,.    ('Mpiici  XXI.  70.') 

Alter;  es  g'eliört  /u  den  Selteiiliciteii,  das,«  im  Mannes-  und  CJ reisenalter 
(lerässg'eseliwiils(e  entstehen,  was  insolern  liöehst  auffallend  ist,  als 
ii'erade  mit  dem  ludiei-en  Mannesalter  die  Dispositidn  zu  riefilsscrkran- 
kuug'en,  l)esonders  zu  Aneurvsmeu  bedeutend  zuninnnt.  Aueli  zeigen 
die  kleinen  Ueberg'anii'Sü'efässe  und  (';)j)illaren  an  gewissen  Localitätcn 
deutlieli  dureli  die  Haut  sielitbare  Ki-Aveiterungen:  in  dem  Angesicht 
eines  rüstigen,  gesunden  (greises  benu'i-kt  ni.'ui  gerötliete  Wangen  wie 
bei  der  Jugend,  jedoch  ist  es  nicht  die  gleiehmässig  rosige  Köthe  wie 
auf  der  Wange  eines  jungen  Mädchens,  sondern  es  ist  eine  mehr  bläu- 
liche Röthung,  und  wenn  Sie  genauer  zuschauen,  werden  Sie  linden, 
dass  sich  auf  der  Wange  solcher  älteren  Leute  eine  Menge  stark  ge- 
schlängelter,  dem  freien  Auge  sichtbarer  Gefässe  1)etinden;  bei  manchen 
tritt  diese  Röthung  fleckenweise  auf.  Indessen  finden  sieb  diese  klei- 
neren Gefässektasien  auch  nicld  bei  allen  älteren  Leuten,  so  dass  man 
annehmen  muss,  dass  auch  dazu  besondere  Disposition  besteht.  Trotz- 
dem also,  wie  gesagt,  das  höhere  Mannesalter  an  sich  mehr  zu  Gefäss- 
erkrankungen  disponirt  ist  als  jede  andere  Lebenszeit,  so  kommen  doch 
die  eigentlichen  Gefässgesehwiilste  fast  ausschliesslich  in  der  Jugend 
zur  Entwicklung.  Dass  zumal  die  Telangiektasien,  welche  im  Volke 
vielfach  mit  dem  Namen  „Muttermal"  bezeichnet  werden,  erblieh  sind, 
unterliegt  keinem  Zweifel.  Eine  Anzahl  von  Sagen  und  Mährchen, 
in  denen  verloren  gegangene  Kinder  an  einem  von  der  Mutter  oder 
dem  Vater  ererbten  ^lal  später  wieder  erkannt  werden,  deutet  auch 
darauf  hin.  Man  würde  unzweifelhaft  noch  weit  mehr  über  die 
Erblichkeit  der  Gefässgeschwülste  erfahren,  wenn  man  die  Erblichkeit 
der  Gefässerkrankungen  im  Ganzen  und  Grossen  berücksichtigen  wollte. 
Wenn  auch  plexiforme  und  cavernöse  Angiome  als  anatomisch  verschie- 
den betrachtet  werden  müssen,  und  diese  wieder  von  den  verschiedenen 
Arten  der  Varicen  und  Aneurysmen  verschieden  sind,  so  ist  doch  klar, 
dass  allen  diesen  Erkrankungen  die  Disposition  zur  Gefässerweiterung 
zu  Grunde  liegt;  diese  seheint  mir  in  ziemlich  hohem  Grade  erblich  zu 
sein,  und  die  genannten  Krankheiten  dürften  nur  als  verschiedene  Er- 
scheinungsformen einer  solchen  Disposition  in  den  verschiedenen  Lebens- 
altern aufzufassen  sein.  Man  hat  sich  bis  jetzt  so  exclusiv  mit  den 
anatomischen  Verhältnissen  der  Geschwülste  beschäftigt,  dass  man  die 
damit  zusammenhängenden  Krankheitsgruppen  als  Ganzes  leider  noch 
zu  wenig  kennt. 

Was  das  weitere  Geschick  der  Angiome  betrifft,  so  treten  die  Te- 
langiektasien, die  fast  inmier  angeboren  sind,  sowohl  solitär  wie 
multipel  auf.  Ihr  Wachsthum  ist  stets  ein  langsames,  schmerzloses  und 
geschieht  theils  vorwiegend  der  Fläche,  theils  vorwiegend  der  Tiefe 
nach,  gewöhnlich  auf  Kosten  des  erkrankten  Gewebes.  Es  ist  unzwei- 
felhaft, dass  diese  Geschwülste  zuweilen  nach  Verlauf  von  Jahren  in 
ihrem   Wachsthum   stillstehen,   jedoch    dabei    sich  unverändert  erhalten. 

P.illrotli   ohir.    Path.   n.   Ther.     7.  Aufl.  45 


'7Aß  Von  den  Geschwülsten^ 

In  anderen  Fällen  g'escliielit  jedocli  das  Wachstlium  fortdauernd,  so  dass 
die  Geschwülste,  wie  ich  es  einmal  bei  einem  5jährigen  Knaben  am 
Halse  sah,  fast  die  Grösse  einer  Mannesfaust  erreichen  können.  Es  ist 
häufio-  dass  zwei  bis  drei  Telangiektasien  besonders  auf  der  behaarten 
Kopfhaut  angeboren  werden  oder  rasch  nach  einander  entstehen,  seltener, 
dass  ihre  Zahl  G— 8  übersteigt.  Ich  habe  zwei  Fälle  von  flachen,  ange- 
borneu  plexiformen  Angiomen  der  linken  Gesichtshälfte  gesehen,  welche 
an  manchen  Stellen  theils  in  Folge  von  Ulcerationen,  theils  aus  unbe- 
kannten Gründen  ausheilten,  d.  h.  es  traten  narbige  weisse  Stellen  hier 
und  da  auf,  in  welclien  die  Gefässe  obliterirt  waren,  während  freilich 
in  der  Peripherie  die  Wucherung  kräftig  fortschritt.  —  Die  cavernösen 
Angiome  sind  selten  angeboren,  sondern  entstehen  meist  im  Kindes- 
und  im  jugendlichen  Alter,  seltener  im  späteren  Leben.  Ihr  Sitz  ist, 
wie  schon  früher  bemerkt,  vorwiegend  im  Unterhautzellgewebe,  häufiger 
im  Gesicht,  seltener  am  Truncus  und  an  den  Extremitäten.  Auch  sie 
kommen  häufig  in  grösseren  Mengen  vor,  jedoch  so,  dass  in  der  Eegel 
ein  bestimmter  Gefässdistrict  als  der  erkrankte  anzusehen  ist,  so  dass 
also  ein  ganzer  Arm,  Fuss,  Unterschenkel,  das  ganze  oder  halbe  Gesicht 
der  Sitz  solcher  Geschwülste  ist.  Die  Erscheinungen,  welche  dadurch 
bedingt  werden,  sind  ausser  der  Entstellung  eine  gewisse  Schwäche  der 
Äluskeln  und  zuweilen  auch  Schmerzhaftigkeit  im  Bereich  der  erkrankten 
Theile.  Die  Geschwülste  können  eine  sehr  bedeutende  Grösse  erreichen 
und  dadurch  zumal  am  Kopf  gefährlich  werden,  um  so  mehr,  als  sie 
beim  weiteren  Vordringen  auch  in  die  Knochen  eintreten  und  dieselben 
zerstören.  Aus  einigen  mir  bekannten  Beobachtungen  geht  hervor,  dass 
in  diesen  Geschwülsten  in  Folge  von  Thrombose  der  cavernösen  Räume 
Schrumpfung  und  Rückbildungen  erfolgen  können  (besonders  in  den 
cavernösen  Geschwülsten  der  Leber;  ein  vollständiges  Verschwinden  der 
Angiome  durcli  spontane  Obliteration  ist  jedoch  nicht  beobachtet  wor- 
den. —  Die  Therapie,  welche  man  gegen  Gefässgeschwülste  anwendet, 
ist  eine  sehr  vielfache.  Kleine  angeborne  Gefässausdehnungen  können 
im  Verlauf  einiger  Monate  spontan  schwinden.  Die  Operationen  gehen 
von  zwei  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus. 

1.  Methoden,  welche  die  Blutgerinnung  mit  nachfolgen- 
der Obliteration  und  Schrumpfung  der  Geschwülste  zum  Ziel 
haben.  Hierher  sind  zu  rechnen  die  lujection  von  Liquor  Ferri  sesqui- 
ehlorati  in  die  Geschwülste  oder  das  Durchziehen  von  Fäden  die  in  Liq. 
Ferri  getaucht  sind;  ferner  das  Durchstossen  derselben  mit  glühenden 
Nadeln  oder  dem  Galvanokauter  und  das  Durchziehen  eines  Platindrahtes, 
welcher  nachträglich  durch  den  galvanokaustischen  Apparat  glühend  ge- 
macht wird  (galvanokaustisches  Setaceum).  — 

2.  Methoden,  w^elehe  die  Entfernung  der  Angiome  be- 
zwecken: 

a)  Durch  Unterbindung,   die  bei   den    breit  aufsitzenden  Telangiek- 


V(.rl<-simf^  -H;.     ('iipilcl   XXI.  707 

tasieii  eine  doppelte  und  nielirfaclie  sein  nins«.  Man  sticlit  dabei  eine 
Nadel  mit  d()p[)elteni  Faden  unter  die  (Jescliwulst  liindurcli  und  knii])ft 
nun  den  einen  Faden  nacli  der  einen,  den  andern  Faden  nach  der  an- 
dern Seite  um  die  IJasis  der  Geschwulst  zu, 

1))  Dureli   Einimpfun,^'  von   Poeken    auf  die  Geschwulst,   wohel   mit 
der  Ausstossung-  der  Fockenpusteln  das  erkrankte  Gewebe  eliminirt  wird. 

e)  Durch  die  Cauterisation;  hierzu  bedient  man  sieh  am  l)esten  der 
rauchenden  Salpetersäure,  indem  man  dieselbe  mit  einem  quer  abge- 
schnittenen Stäbchen  von  der  Dicke  eines  Stahlfederstieles  so  lang-e  auf 
das  Ang'iom  auftupft,  bis  letzteres  eine  gelbgrüne  Farbe  angenommen 
.  hat.  Auch  mit  concentrirter  Schwefelsäure  kann  man  die  gleichen  Er- 
folge erreichen. 

d)  Durch  die  Exstirpation  mit  Messer  oder  Scheere. 

Bei  einiger  operativer  Erfahrung  ist  die  Wahl  dieser  Methoden  für 
die  einzelnen  Fälle  nicht  schwierig.  Für  die  oberflächlichen  Angiome, 
wenn  sie  nicht  eine  gar  zu  grosse  Ausdehnung  haben  und  nicht  an 
Stellen  gelegen  sind,  wo  durcli  die  nachträgliche  Narbenzusammenziehung 
eine  erhebliche  Entstellung  entsteht,  wie  an  manchen  Stellen  im  Gesicht, 
betrachte  ich  die  Cauterisation  mit  rauchender  Salpetersäure  als  die 
Normalmethode.  Für  die  massiven  plexiformen  und  die  cavernösen 
Angiome  ist  die  Exstirpation  mit  Messer  und  Scheere  die  sicherste  Ope- 
ration. Vor  allzu  starken  Blutungen  bei  einer  solchen  Operation  sichert 
theils  die  Compression  der  ganzen  Umgebung  durch  geschickte  Assisten-- 
tenhände  und  die  schnell  angelegte  Naht,  theils  kann  man  sich  durch 
mehrfache  Umstechung  der  ganzen  Peripherie  der  Geschwulst  vor  allzu 
starker  Blutung  schützen.  Ausserdem  ist  auch  für  Angiome  im  Gesicht 
in  vielen  Fällen  die  Exstirpation  der  Cauterisation  vorzuziehen,  weil 
man  dabei  die  Schnitte  so  anlegen  kann,  dass  in  Folge  der  Narben- 
zusannnenziehung  keine  Verziehung  der  Augenlider  und  Mundwinkel 
entsteht.  Es  giebt  iudess  Fälle,  in  welchen  die  Exstirpation  durchaus 
unausführbar  ist,  theils  wegen  der  Grösse,  theils  wegen  des  Sitzes  oder 
der  sehr  grossen  Anzahl  solcher  Geschwülste.  Ich  behandelte  ein  Kind 
mit  einer  noch  wachsenden  cavernösen  Geschwulst,  welche  sich  von 
der  Glabella  herab  durch  die  ganze  Nase  hindurch  und  noch  durch  die 
Oberlippe  in  ihrer  ganzen  Dicke  zog.  Hätte  man  da  die  Exstirpation 
machen  wollen,  so  hätte  dieselbe  nur  in  der  Entfernung  der  ganzen 
Nase  und  Oberlippe  bestehen  können;  hieran  war  natürlich  nicht  zu 
denken,  und  ich  habe  daher  in  diesem  Falle  eine  Cauterisation  mittelst 
glühender  Nadeln  eingeleitet.  Die  Behandlung  hatte  bereits  3  Monate 
gedauert  und  würde  wohl  noch  ebenso  lange  Zeit  in  Anspruch  genom- 
men haben,  obgleich  ein  grosser  Theil  der  cavernösen  Bäume  bereits 
obliterirt  war,  die  Mutter  des  Kindes  verlor  dann  leider  die  Geduld, 
und  ich  habe  dasselbe  später  nicht  wieder  gesehen.  Ausserordentlich 
günstige  Erfolge  habe  ich  im  Laufe  der  letzten  Jahre  bei  diesen  diffusen 

4;")  -■' 


nr)Q  Von   den   Gosrliwülsten. 

Ano-iomen  von  tiefen  Punctionen  mit  dem  Galvanokauter  und 
von  dem  Setaeeum  candens  gehabt;  es  erfolgt  ausser  partieller  Zer- 
störung der  Neubildung  zweifellos  aucli  Selirumpfung;  schliesslicli  kann 
aucli  noch  mit  kleinen  Excisionen  hie  und  da  nachgeholfen  werden.  — 
Ich  ziehe  diese  Art  der  Cauterisation  der  Injection  von  Liquor  Ferri  vor, 
weil  nach  der  letzteren  doch  Fälle  von  ausgedehnter  Vereiterung  und 
Gangrän  vorgekommen  sind,  und  weil  die  Injection  mir  zuweilen  grosse 
Schwierigkeiten  dadurch  bot,  dass  die  feine  Canüle  sich  durch  Gerinnsel 
verstopfte.  Ueber  das  Durchziehen  von  Fäden,  die  mit  Liq.  Ferri  getränkt 
sind  (Koser),  habe  ich  noch  wenig  Erfahrung  sammeln  können.  Wäh- 
rend einige  Chirurgen  enorm  heftige  Reactionen  danach  sahen,  erregten 
dieselben  in  den  Fällen,  in  welchen  ich  die  Fäden  bis  14  Tage  liegen 
liess,  nur  geringe  Entzündung;  es  trat  dann  sehr  langsam  Schrumpfung 
ein;  ich  bin  noch  nicht  sicher,  ob  diese  Behandlung  vor  Eecidiven  schützt. 
Die  übrigen  erwähnten  Methoden  sind  durchaus  von  secundärer  Bedeu- 
tung: die  Pockenimpfung  dringt  sehr  häufig  nicht  tief  genug  ein,  und 
die  Ligatur  ist  ein  langweiliges,  nicht  immer  sicheres,  auch  keineswegs 
vor  Nachblutungen  sicherstellendes  Verfahren, 


Anhangsweise  erwähne  ich  hier  noch 

L  Die  cavernöse  Lymphgeschwulst  (Lymphangioma  caver- 
uosum),  eine  sehr  seltene  Form  von  Neubildung,  welclie  anatomisch  ganz 
ebenso  eonstruirt  ist,  wie  die  cavernöse  Blutgeschwulst,  jedoch  mit  dem 
T'nterschiede,  dass  sich  anstatt  des  Blutes  Lymphe  in  den  i\Lnschen  be- 
findet. Diese  Art  von  Geschwülsten  kommt  angeboren  in  der  Zunge  als 
eine  Form  der  Makroglossia  (es  giebt  noch  eine  fibröse  Form)  und  am 
Halse  als  sogenanntes  Cystenhygrom  vor;  ich  beobachtete  beides  zusam- 
men an  einem  Kinde.  Ausserdem  sah  ich  diese  Gc  scliwulstform  auch  bei 
jüngeren  Individuen  an  verschiedenen  andern  Stellen  des  Unterhautzell- 
gewebes (Lippe,  Wange,  Kinu\  Dass  die  Varicen  der  Lymphgefässe 
am  Oberschenkel  oft  in  Form  cavernöser  Lymphangiome  übergehen,  ist 
schon  früher  (pag.  642)  erwähnt,  ebenso  die  neueren  Fntersuchungen 
A.  V.  Winiwarter's  über  die  Entstehung  der  cavernösen  Lymphan- 
giome (pag.  703). 

2.  Den  Naevus  vasculosus,  das  sogenannte  Feuermal;  es  ist 
dies  ein  plexiformes  Angiom  der  oberflächlichsten  Cutisgefässe,  das  je- 
doch vom  Moment  der  Geburt  an  in  seinem  Wachsthura  stillsteht.  Ein 
weiterer  Unterschied  zwischen  dem  Feuermal  und  dem  wachsenden  An- 
giom existirt  nicht.  Dass  sich  in  diesen  angebornen  Malern  Haut- 
hypertrophie, Pigmentirung,  Gefässektasie  und  Haarbildung  sehr  mannig- 
faltig mit  einander  combiniren  können,  habe  ich  schon  früher  erwähnt. 
Wenn  diese  Maler  im  Gesicht  sitzen   und   nicht  gar  zu  aus^-edehnt  sind 


Vorlesung  47.     r;i|,i(ol   XXT.  709 

(sie  erstreckeil  sich  iiätiilicli  zuweilen  über  die  i;anze  Hälfte  des  Ge^ielits), 
so  kauu  man  die  totale  oder  partielle  Exstirpation  mit  naclifol,i;ei)dor 
plastischer  Operation,  je  nach  Umständen  aucli  die  Cautorisation  in  An- 
wendung zielten;  manche  dieser  Maler,  l)ci  doion  ii;'cwöhnlich  nur  die 
Papillenspitzen  betrofl'en  sind,  lassen  sich  durch  ein  ,i:,auz  (ihcrdächliciies 
Abschälen  der  Cutis  bedeutend  bessern,  eventuell  bcseitig'en. 


V  o  r  1  e  s  II  II  g    4  7. 

8.  Sarkome.  Anatomisches,  a)  CTraiiulationssarkom.  b)  Spiridelzellensarkom.  c)  Eiesen- 
'zellensarkom.  d)  NetzzeJlensarkum.  e)  Alveolares  Sarkom,  f)  Pigmentivte  Sarkome, 
g)  Villöses  Sarkom.  Pei'lgeschwulst.  fsamniom.  h)  Plexiformes  (cancroides,  adenoides)  Sar- 
kom. Cvlindrom.  —  Klinische  Erscheinungsform.  Diagnose.  Verlauf.  Prognose.  Art  der 
Infection.  —  Topographie  der  Sarkome:  Centrale  Osteosarkome.  Periostsarkome.  Sar- 
liome  der  Mamma,  der  Speicheldrüsen.  9.  Lymphome.  Anatomisches. 
Beziehungen  zur  Leukämie.     Behandlung. 

8.     SarkoMif. 

Ueber  keine  Gruppe  von  Geschwülsten  hat  so  lauge  und  so  viel  Un- 
sicherheit in  der  anatomisclien  Bestimmung  und  Begrenzung  geherrscht, 
wie  über  diejenige  der  Sarkome.  Die  ziemlich  alte  Bezeichnung,  von 
öocQ^  das  Fleisch  hergenommen,  sollte  wohl  nichts  Anderes  bedeuten, 
als  dass  diese  Geschwülste  auf  dem  Durchschnitt  ein  fleischähnliches 
Ansehn  haben ;  hiernach  Hess  sich  natürlich  keine  Diagnose  machen, 
denn  es  Avar  schon  sehr  willkürlich,  was  man  Fleisch  nennen  wollte. 
Der  Versuch,  den  Namen  „Sarkom"  nur  für  Geschwülste  zu  verwenden, 
welche  aus  Muskelfasern  bestanden  (Schuh),  ilm  also  mit  dem  zu  iden- 
tiliciren,  was  man  jetzt  „Myom"  nennt,  fand  wenig  Beifall.  In  der  Folge 
wurde  der  anatomische  Begriff  „Sarkom"  insofern  etwas  bestimmter,  als 
man  alle  zellenreichen  Geschwülste  dahin  zählte,  die  keinen  ausgepräg- 
ten alveolären  Bau  hatten  und  keine  Carcinome  waren.  Erst  im  letzten 
Decennium  hat  folgende  histologische  Definition  allgemeineren  Anklang 
und  zum  Theil  bereits  sehr  bestinunte  Anwendung  gefunden;  ein  Sar- 
kom ist  eine  Geschwulst,  welche  ans  einem  Gewebe  besteht, 
das  in  die  Entwicklungsreihe  der  Bindesubstanzeu  (Bindege- 
webe, Knorpel,  Knochen),  Muskeln  und  Nerven  gehört,  wobei  es 
in  der  Regel  gar  nicht  oder  nur  theilweis  zur  Ausbildung 
eines  fertigen  Gewebes,  wohl  aber  zu  eigenthümlichen  Dege- 
nerationen der  Entwicklungs formen  kommt.  Aus  dieser  Defini- 
tion werden  manche  Pathologen  „Muskeln  und  Nerven"  gern  gestrichen 
sehen,  doch  werde  ich  bei  Besprechung  des  Spindelzellensarkoms  die 
Gründe  anführen,  aus  welchen  ich  dies  nicht  billigen  kann.     Wenn  man 


710 


Von  eleu  Gescliwülsten. 


die  entziliidliclie  Neubildung-  in  ihren  verscliiedenen  Stadien  als  Para- 
dio-ma  der  Sarkome  bezeichnen  will  (Rindfleisch),  so  kann  ich  mich 
auch  damit  einverstanden  erklären,  weil  sieb  diese  Auffassung-  mit  mei- 
ner Definition  ziemlich  deckt.  Dass  auch  die  zelligen  Elemente  der  Ge- 
fässe  zuweilen  als  Matrix  für  Sarkombildungen  dienen,  ist  zweifellos 
und  durch  Untersuchungen  von  Köster,  Tillmann,  Arndt,  u.  A,  in 
neuerer  Zeit  besonders  hervorgehoben;  es  scheint  mir  jedoch  verfrüht, 
die  Behauptung-  aufzustellen,  dass  alle  Sarkome  einen  solchen  Ursprung 
haben.  In  einigen  Sarkomen  hat  man  coutractile  Zellen  gefunden 
(Lücke,  Grawitz),  doch  sind  die  meisten  Untersuchungen  der  Art 
negativ  ausgefallen,  so  dass  diese  Beobachtungen  noch  nicht  weiter  zu 
verwerthen  sind. 

Nachdem  diese  anatomisclie  Basis  für  die  Bezeichnung-  „Sarkom"., 
gefunden  war,  zeigte  sich  bald,  dass  auch  mit  freiem  Auge  Sarkome 
diaguosticirbar  sind,  und  dass  sich  auch  klinisch  Einiges  über  den  eigen- 
thümlichen  Verlauf  dieser  Geschwülste  sagen  lässt.  Da  ich  der  Ansicht 
bin,  dass  bis  jetzt  für  die  Diagnose  der  Sarkome  am  Lebenden  die  nach 
histologischen  Eigenschaften  aufzustellenden  Unterabtlieilungen  dieser 
Gruppe  weniger  Bedeutung  haben,  und  die  Diagnose,  Prognose  und  der 
Verlauf  dieser  Geschwülste  so  sehr  von  dem  Ort  ihrer  Entstehung,  der 
Schnelligkeit  des  Wachsthums  etc.  abliängen,  so  ziehe  ich  vor,  die  kli- 
nischen Bemerkungen  über  die  Sarkome  später  zusammenzufassen  und 
hier  zunächst  nur  das  Histologische  weiter  zu  entwickeln.  Wir  wollen 
folgende  Formen  von  Sarkomen  unterscheiden. 

a)  Graimlationssark  Olli.  Rundzelleiisarkom  Virchow's:  Dies  Gewebe  ist 
dem  der  oberen  Schicht  der  Granulationen  gleich  oder  sehr  ähnlich:  es  enthält  immer  vor- 
wiegend kleine  runde  Zellen  wie  Lymphkörperchen,  doch  ist  die  Intercellularsuhstauz 
bald  in  kaum  walunehmbarer  Menge,  bald  reiohlicli  vorhanden  und  kann  völlig  homogen 
sein,  wie  in  der  ;Neuroglia  (Virchow's  Gliom  und  Glio -Sarkom),  oder  sie  ist  leicht 
streifig  (Fig.  140)  oder    selbst  fasrig ,    dabei    auch  wohl    ödematös  sulzig    (z.B.  in  grossen 

Fig.  140. 


Gewebe  eines  Granulationssarkoms.     Vergrösserung  400. 

Mammasarkomen);   endlich  kann  sie  auch  netzförmig  sein  und  so  in  nahe  Beziehung  zum 
Gewebe  der  Lymphome  treten  (Fig.  141). 


V(M-Icsim.'  1:7.     Capilcl   XXI. 


711 


Gewebe  eines  Glio-Sarkoms  nach  Virehow.     Vei'gi'össerung  350. 

b)  Spindelzellensarkom:  Dicht  aneinander  gelagerte,  meist  dünne  langgestreckte 
Spindelzellen,  sogenannte  Faserzellen,  gewöhnlich  in  Bündel  angeordnet,  bilden  dies  Ge- 
webe. Meist  fehlt  jede  Intercellnlarsubstanz:  zuweilen  ist  etwas  davon  vorhanden,  sie 
kann  homogen  vi?eich,  auch  fasrig  sein:  überwiegt  die  Fasermasse,  so  tauft  man  die  Ge- 
schwulst Fibro  -  Sarkom  oder  Fibrom.  Man  hat  dies  Spindelzellengewebe  früher  immer 
ohne  Weiteres  als  junges  Bindegewebe  bezeichnet  (Tissu  libroplastique  Lebert):  doch 
habe  ich  nacli  meinen  histogenetischen  Untersuchungen  an  Embryonen  schon  seit  langer 
Zeit  gegen  diese  Auffassung  protestirt.  weil  ein  solches  Spindelzellengewebe,  wie  wir  es 
meist  in  diesen  Sarkomen  finden,  zu  keiner  Zeit  im  embryonalen  Bindegewebe  vorkonunt, 
auch  nicht  einmal  in  den  Sehnen;  das  physiologische  Paradigma  für  dies  Gewebe  ist  das 
junge  Muskel-  und  Nervengewebe;  diese  Spindel- 
zelleiisarkouie  wären  demnächst  junge  Myome  oder 
Neurome.  Virehow  hat  die  gleiche  Anschauung 
weiter  clurchgefiihrt,  zumal  so  weit  es  die  faserigem 
L'terusgeschwülste  betrifft  (pag.  682).  Ich  habe 
mich  gegen  jene  Virchow'sche  Auffassung  und 
Gonsequenzen  ausgesprochen,  weil  die  Diagnose 
im  speciellen  Fall  immerhin  sehr  precär  ist.  Wenn 
in  einem  Nerven  eine  Geschwulst  entsteht,  welche 
aus  langgestreckten  Spindelzellen  besteht,  deren 
Enden  in  feine  Fasern  auslaufen,  so  liegt  es  sehr 
nahe,  eine  solche  Gesehwulst  als  ein  Neurom  auf- 
zufassen, dessen  Elemente  an  keiner  Stelle  zur 
vollen  Entwicklung  gekommen  sind.  Wenn  eine 
Spindelzellengeschwulst  im  Muskel  entstanden  ist, 
und  die  Faserzellen  zeigen  vielfach  deutlich  band- 
artige Formen,  selbst  feine  Körnung  wie  beim  Be- 
ginn der  Querstreifung,  so  wird  man  es  nicht  tadeln 
können,  diese  Geschwulst  „Myom"'  zu  benennen 
in  der  Annahme,  dass  man  hier  ein  junges,  nicht 
über  gewisse  Grenzen  der  Entwicklung  hinaus- 
gekommenes Muskelgewebe  vor  sich  hat.    So  weit 


Gewebe  eines  Spindelzellensarkoms 


712 


Von  den   Gesclnviilsten. 


hat  diese  Auffassung  gar  keine  Bedenken.  Wenn  aber  in  der  Cutis  oder  am  Penis  (wie 
ich  ■  kürzlich  einen  merkwürdigen  Fall  der  Art  sah)  ein  Spindelzellensarkom  vorkommt, 
so  kann  man  sehr  zweifelhaft  werden,  ob  man  ein  junges  Neurom,  Myom  oder  Fibrom 
vor  sieh  hat;  Nerven.  Muskeln  und  Bindegewebe  finden  sieh  ixi  Cutis  und  Penis.  Wenn 
dann  weder  die  Anordnung  noch  die  Gestalt  der  Zellen  etwas  Typisches  hat,  wenn  die 
histologische  Entstellungsart  nicht  sicher  ermittelt  wei'den  kann,  —  dann  muss  man  eben 
bei  der  Bezeichnung  .. Spindelzellensarkom"  bleiben.  —  Fnv  alle  Fälle  hat  man  es  mit 
einem  Fasergewebe  zu  tliun,  dessen  Entwicklung  nicht  über  die  Producte  von  .Spindel 
Zellen  hinausgekommen  ist.  Ich  glaulie  übrigens  ans  meinen  Beobachtungen  versicherl 
zu  können,  dass  die  Verlaufsweise  und  Prognose  dieser  Geschwülste  kaum  von  der  Er- 
mittlung ihres  directen  Ursprungs  abhängig  ist,  sondern  weit  mehr  von  ihrer  Localisirung 
am  Körper,  der  Schnelligkeit  ihres  Wachsthums,  ihrer  Consistenz  und  andern  klinischen 
Verhältnissen. 

c)  Riese  II  zel  1  ensarkom  nennt  man  nach  Virchow  eine  Art  von  Sarkom,  in 
welchem  sich  ganz  eolossale  Zellen  vorfinden,  welche  tbeils  rund,  theils  vielgestaltig  und 
mit  vielen  Ausläufern  versehen  sind  (Fig.  14o).     Diese  Zellen,  welche  normaler  Weise  im 


1 


Fig.  143. 


Riesenzellen  aus  einem  Unterkiefersarkom.     Vergrösserung  400. 


fötalen  Knochenmark  vorkommen,  wenn  auch  nicht  ganz  so  gross  wie  in  Geschwülsten, 
haben  wegen  ihrer  Grösse  höchstes  Erstaunen  erregt;  es  sind  die  grössten  ungeformten 
Profoplasmahaufen,  welche  bis  jetzt  am  Menschen  beobachtet  sind;  sie  können  bis  oO  und 
mehr  Kerne  enthalten,  und  ihre  Entstehung  aus  einer  einfachen  Zelle  ist  durch  eine  Reihe 
von  Uebergangsstufen  meist  leicht  zu  verfolgen.  Diese  Rieseuzellen  kommen  sowohl  in 
iSpindelzellen  als  in  Fibro -Sarkomen  vor,  werden  sporadisch  und  kleiner  auch  wohl  in 
Granulationssarkomen  und  Myxosarkomen  gefunden.  Am  häuligsten  sind  sie  in  den  cen- 
tralen, seltner  schon  in  den  periostalen  Osteosarkomen  beobachtet,  doch  habe  ich  sie  auch 
in  Muskelsarkomen  gesehen.  Sie  geben  durch  ihre  Grosse  dem  Gewebe  zuweilen  eine 
Art  alveolarer  (P"ig.  144)  Structur.  und  können  durch  Erweichung  zu  Cystenbildungen  (a) 
fuhren,  auch  verknöchern  (b).  Durch  die  Untersuchungen  von  Külliker  und  Wegner 
ist  es  inzwischen  bestätigt  worden,  dass  diese  Riesenzellen  bei  der  Resorption  von 
Knochengeweben  besonders  häufig  vorkommen  (pag.  497).  Auch  ist  schon  hervorgehoben 
(pag.  457),  dass  sie  oft  den  Kern  eines  kleinsten  Tuberkels  bilden.  Sie  kommen  also 
nicht  allem  an  diesen  Geschwülsten  vor.  wie  von  Einigen  irrig  aufgeführt  wurde,  sind  aber 
inimerhm  hier  so  massenhaft  angesammelt  und  so  mächtig  entwickelt,  dass  es  vollkommen 
bereclitigt  erscheint,  eine  Unterart  der  Sarkome  nach  ihnen  zu  benennen. 


Vuvk'LiUiig  -17.     Capitel  XXL 
Fi-.  144. 


713 


Eiesenzellensarkom  mit  Cvsteii  und  Verknöcherungsheerdon  aus  dem  Unterkiefer. 

Vergrösseriing  350. 

d)  Netzzeil  ensarkoni.  Sehleimsarkom.  (Gallertiges  Sarkom  Rokitansk.y.) 
Wenn  die  Ausläufer  von  Zellen  recht  zur  Entwieklung  kommen  und  recht  deutlich  sicht- 
bar sein  scjlleii,  so  muss  zieuilicli  viele  und  vv-eiche  durchsichtige  Intercellularsubstanz  vor- 
handen sein.  Es  werden  daher  die  Sarkome  mit  gallertiger  sclilcimiger  Intcreellular- 
suhstanz  am  schönsten  die  in  ihnen  etwa  vorhandenen  Sternzellen  zeigen.  Immer  trifft 
dies  indess  nicht  zu;  es  giebt  auch  Granulationssarkome,  die  den  Anspruch  haben,  als 
Schleim-  oder  Gallertgeschwülste  bezeichnet  zu  werden.  -AVill  man  die  Geschwülste  aus 
der  bisher  aufgestellten  Reihe,  wenn  sie  in  gallertiger  sulziger  Form  erscheinen,  unter 
dem  Gesichtspunkt  zusammenfassen,  dass  sie  dann  alle  viel  Schleim  (urga)  enthalten,  so 
kann  man  sie  Myxome  (Virchow)  nennen  oder  auch  den  alten  Namen  CoUonema 
(J.Müller)  von  „Colla"  Leim,  beibehalten.  —  Das  ächte  'Schleimgewebe  Virchow"s 
(Fig.  145  u.  146)  gehört  unzweifelhaft  der  Entwickluiigsreihe  des  Bindegewebes  an:  es 
Fig.  145.  Fig.  146. 

-/ 


Schleimgewebe  aus  ciueiu  ]vf\  .\o><arkom 
der  Kopfhaut.     Vergrösserung  400. 


Schleimgewebe  aus  einem  Myxom  der 
Manmia.     Vergrösserung  400, 


714 


Von  den  Geschwülsten. 


kommt  zuweilen  auch  in  schleimigen  Granulationen  vor.  Oft  genug  findet  man  aber  auch 
SpindelzeUen  und  runde  Zellen  in  den  Myxomen,  und  wenn  daneben  ausgebildeter  Knorpel 
o-efunden  wird,  so  kann  das  Schleimgewebe  auch  als  junges  oder  erweichtes  Knorpelgewebe 
aufgefasst  werden,  was  um  so  mehr  Wahrscheinlichkeit  bekommt,  wenn  sich  in  einem 
Myxom  ähnliche  wabenartige  Septa  finden  wie  in  Chondromen.  Man  hilft  sich  mit  Be- 
zeichnungen wie  Myxosarkom,  Myxochondroni  etc. 

e)  Alveoläres  Sarkom.  Diese  im  Ganzen  seltene  (in  der  Cutis,  im  Muskel  und 
im  Knochen  vorkommende)  Geschwulstform  ist  sehr  schwer  anatomisch  zu  charakterisiren, 
sie  kann  wegen  Grösse  und  Anordnung  der  Zellen  dem  Carcinom  stellenweise  so  ähnlich 
sein,  dass  ich  mich  nicht  getrauen  möchte,  jedes  mir  unter  dem  Mikroskop  vorgelegte  Stück 
aus  einer  solchen  Geschwulst  sofort  richtig  zu  deuten.  Die  Zellen  dieser  Elemente  sind  viel 
grösser  als  Lymphzellen,  etwa  so  gross  wie  Knorpelzellen  oder  massig  grosse  Platten- 
epithelien,  und  haben  gewöhnlich  einen  oder  mehre  grosse  Kerne  mit  glänzenden  Kern- 
körperchen.  Die  Zellen  sind  in  eine  meist  faserige,  seltner  homogene  gering  entwickelte 
Intercellularsubstanz  von  exquisit  alveolarem  Typus  eingebettet  und  zwar  so,  dass  sie  vor- 
wiegend einzeln,   seltner  gruppenweise    zusammenliegen  (Fig.  147  u.  148);    sie  stehen  mit 

Fig.   148. 


f 
I 


%  ^ 


y^  \yK&- 


Alveolares  Sarkom  aus  dem  M.  deltoideus. 
Vergrösserung  400. 


Alveolares  Sai-kom  aus  der  Tibia. 
Verorösserung  400. 


den  Fasern  in  äusserst  inniger  Verbindung  und  sind  scliwer  aus  der  Fasermasse  auszulösen. 
Die  beiden  letzteren  Eigenschaften  sind  wichtig  zur  histologischen  Diagnose  „Sarkom", 
denn  sie  zeigen,  dass  die  erwähnten  grossen  Zellen  selbst  Bindegewebszellen,  nicht  Epithel- 
zellen sind,  wie  beim  ächten  Carcinomgewebe.  Zuweilen  liegen  die  zelligen  Elemente 
dieser  Sarkome  auch  ganz  unmittelbar  aneinander  ohne  Intercellularsubstanz;  die  Aehn- 
lichkeit  mit  Epithelialcarcinom  kann  täuschend  sein.  Virchow  hat  diese  Sarkomform 
aus  weichen  Warzen  der  Cutis  beschrieben  und  abgebildet. 

f)  Pignientsarkome.  Me lano tische  Sarkome.  Melanome.  Alle  diese  Namen 
besagen,  dass  wir  es  mit  Pigmentbildung  in  Sarkomen  zu  thun  haben;  dies  meist  körnige, 
selten  diffuse  Pigment  ist  braun  oder  schwarz,   liefet  fast  immer  nur  in  Zellen,   selten  in 


VürlcsuHK  47.     Cupilcl  XXI. 


715 


der  Iiitercellularsubslanz.  Bald  i«t,  die  ganze  Geschwulst,  l)ald  nur  ein  Tiieii,  bald  schwaeli, 
bald  stark  pignientirt.  Jede  lUir  genannten  Arten  von  Sai-kimicn  kann  wolil  gelegenllich 
mit  Pigment  vurkonnnen,  doch  liahe  ich  am  liäiiligsten  die  Ict/t  erwähnte  l'^orni  und  die 
Spindelzellensarkonie  pignientirt  gefunden.  Die  Melanome  cntwiciudn  sieh  am  häuligslen 
in  der  Cutis,  vornehmlieh  an  Fiiss  inid    Hund,  docli   uiicii   an  Kopl',    Hals  und  Rumpf. 

Die  Anordnung  der  zelligen  EU?niente  in  den  Sarkomen  hängt  einerseits  von  gewissen 
Kielitungen  der  Fasern  oder  Faserzellen  im  Geseliwulstgewebe  ah,  andrerseits  von  den 
Formen  der  Gefässnetze;  durch  diese  Verhältnisse  sowohl  wie  durch  die  Entwicklung  von 
Eiesenzellen  oder  ähnlichen  Gebildeu  kann  eine  Architektonik  des  Geschwulstgewehes  zu 
Stande  kommen,  welciie  von  dem  früher  für  das  Cjircinomgewebe  reservirten  areoiären 
Bau  kaum  noch  verschieden  ist.  Dies  darf  nicht  verwundern,  da  wir  ja  auch  im  Knorpel 
einen  Typus  von  Höhlen  mit  eingeschlossenen  Zellen  haben ,  und  ausserdem  die  Netze 
der  Lymphdrüsen,  welche  unzweifelhaft  zum  System  der  Bindesnbstanzen  gehören,  doch 
auch  als  alveolare  Gebilde  bezeichnet  werden  müssen.  Die  folgenden  Sarkomformen  sind 
schon  complicirter  ausgebildete  Gewebe,  deren  Gestaltung  wesentlich  von  den  Gefässen 
abhängig  ist. 

g)  Das  (intiltrirte  und  oberflächliche)  villöse  Sarkom  (Zottensarkome),  die  Perl - 
gesch  Wülste  und    das  Psammom.     Die    serösen  Häute    haben  bekanntlich  die  Eigen- 

Fig.  149. 


Aus  einem  villösen  Sarkom  (Cancroid  nach  Arndt)  der  pia  mater:  a  Beginnende  Zellen- 
infiltration in  der  Capillarwandscheide;  6  zottige  kolbige  Wucherungen,  von  der  Gefäss- 
scheide  auswachsend;  c  die  gleichen  Bildungen  mit  einer  dicken  Lage  Endothelien  bekleidet: 
cl  Endothelial -Zellen  höchster  Entwicklung,  nicht  von  Epithelzellen  zu  unterscheiden: 
e  Conglomeration  dieser  Zellen  zu  kugligen  Haufen,  E  ndo  {he  1  perlen.  Vergrösserung  400. 


716 


Von  den  Geschwülsten. 


Schaft  bei  manchen  pathologischen  Vorgängen  zottige  Wucherungen  zu  bilden,  deren  Grund- 
masse Binde.wewebe  und  eventuell  Gefässe  sind,  deren  zelliger  Belag  aus  stark  vermehrten 
und  vergrösserten  Endothelzellen  besteht.  Stark  entwickelte  Zotten  der  Synovialmembranen 
bei  Arthritis  defornians,  zottige  Wucherungen  des  Pericardium  und  Endocardium  an  den 
Klappen,  die  Plexus  choricoidei  und  die  Pacchionischen  Granulationen  der  weichen  Hirn- 
häute sind  die  Typen  dieser  Neubildungen,'  Nur  im  Bexeich  der  Hirnhäute  und  der  von  ihnen 
unmittelbar  ausgehenden  Nervenscheiden  sind  diese  Geschwulstbildungen  bisher  beobachtet, 
welche  gewissermaassen  als  höchste  conglomerirte  Ausbildungsstufen  der  genannten  Formen 
betrachtet  werden  können:  manche  dieser  Neubildungen  tragen  den  zottigen  (villösen)  Charak- 
ter wenigstens  nach  aussen,  andere  bilden  auch  wohl  compacte  Massen,  indem  die  dendritischen 
Gebilde  in  einander  und  durch  einander  wachsen.     (Fig.   149.) 

Die  Entstehung  dieser  Geschwulstformen  ist  folgende :  in  der  Adventitialscheide  der 
Gefässe  beginnt  eine  eircumscripte  zellige  Infiltration  (o),  die  hier  zu  kolbigen,  zottigen 
Auswüchsen  fühi-t,  welche  bald  zu  hyalinem  oder  fasrigem  Bindegewebe  werden,  bald 
einen  Hohlraum  in  sich  büden,  welcher  nachträglich  mit  dem  Gefässlumen  in  Verbindung 
tritt  (b).  Ein  Theil  der  Zellen  bildet  sich  zu  epithelioiden  Formen  um  und  umhüllt  die 
erwähnten  kolbigen  Neubildungen  (c).  Zwischen  diesen  Zellenmassen  findet  man  Kugeln, 
welche  aus  platt  zusammengedrückten  Zellen  bestehen  («)  und  theils  zu  trocknen  Kugeln 
werden,  unter  Umständen  auch  wohl  verkalken. 

Ob  die  von  den  Hirnhäuten  ausgehenden  Perlgeschwülste  (Virchow),  welche 
ans  perlglänzenden,  hirse-  bis  erbsengrossen,  nicht  vascularisirten  Knoten  zusammengesetzt 
sind,  aus  solchen  Endothelkugeln  entstehen,  oder  ob  das  ächte  Epithelialbildungen  sind, 
muss  ich  dahin  gestellt  sein  lassen,  da  es  mir  an  eignen  Untersuchungen  darüber  fehlt  und 
in  jüngster  Zeit  nichts  Neues  darüber  bekannt  geworden  ist.  Nach  früheren  Untersuchungen 
A^'irchow's  entstehen  die  Perlen  der  intracraniellen  Tumoren  aus  Bindegewebszellen;  es 
wären  demnach  diese  Tumoren  auch  in  die  Reihe  der  Sarkome  einzufügen.  Die  Thymus- 
perlen  sind  das  physiologe  Paradigma  dieser  Formen,  die  durch  ihre  Gefässlosigkeit  auch 
eine  Beziehung  zum  Tuberkel  bekommen. 


Fig.  1.50 


Psammom  nach  Virchow.     Vergrösserung  etwa  200. 


Vorl. 


('apifcl   XXI. 


717 


Nocli  (Mue  von  Virchow  hcschricluMii'  mtd  iiciilii'iiamili'  (icscliwiilstronn  f^cliört 
liierlior,  (his  Ps  ii  in  in  o  ni :  es  ist  eine  liislicr  inuli  nur  im  ilini  und  in  der  <)i-lii(;i  beob- 
achtete Bildiiii<;',  vvcloiie  sich  thciis  an  das  viliiisc,  iheils  an  das  j;h'irh  zu  Ijc^schn-ihcnde 
plexiforme   Sariconi   ansohliesst. 

Diese  Geseiiwnistforni  ist  dnreh  das  Vorkonnnen  \i>n  vcriiulivtcTi  Ku^^idii  cliarakteiisirl, 
welche  die  Gestalt  solcher  Coma-eiuerite  anuehnicn,  wie  sie  n.trniaicr  Weise  in  der  Zirijcl- 
drüse  gefunden  werden,  wo  sie  als  Ilirnsand  {nauiifiöq  Sand)  [Jnieu  ans  der  Analmnie 
bekannt  sind.  Diese  Bildungen  liängen  wie  die  Tliymusperlen  meist  an  den  fierässen  und 
sind  wahrscheinlich  grösstentheils  verkalkte  lOndothelialperlen,  doeji  meini  \'ir<iio\v,  dass 
auch  directe   Verkalkung  des  Bindegewebes  zu  den  gleichen  Formen   tiiliren   kiinne. 

h)  Die  plexiformen  (cancroiden,  adenoiden)  Sarkome.  Aneii  diese  Sarkoni- 
formen sind  vorwiegend  in  der  Orhita  und  im  Hirn,  doch  auch  in  der  l'amtis  gefiinden. 
Sie  sind  nur  bei  sehr  sorgfaltiger  Untersuchung  von  nian.'hen  si)äter  zu  l)eschi-eihenden 
Formen  von  Carcinom  zu  unterscheiden.  Plexiform  ausgebreitete  Cvlind(!r,  Kfilhen  und 
Kugeln  aus  kleinen  Zellen  zusammengesetzt,  breiten  sich  im  Bindegewebe  aus,  drängen 
die  Bündel  und  Balken  desselben  auseinander  und  erfüllen  alle  Zwischenräume  zwischen 
denselben,  wobei  sie  natürlich  auch  in  die  Lymphbahnen  und  in  die  perivasculären  Lymph- 
ränme  dringen.  Ob  die  zuerst  sich  vermehrenden  Zellen  fest  haftende  Wanderzellen ,  ob 
Zellen  des  Bindegewebes,  ob  Zellen  der  Gefässwände ,  ob  Endothelien  oder  Perithelien 
sind,  lässt  sich  nicht  immer  entscheiden,  vielleicht  nehmen  die  genannten  Elemeure  alle 
zugleich  oder  nach  einander  an  diesen  sonderbaren  Gewebsbildungen  Tiieil. 

Fig.  1.51. 


a  Aus  einer  Hirngeschwulst  nach  Arnold.  —  h  aus  einer  Hirngeschwulst  nael 
Rindfleisch.  —  Vergrösserung  300 — 400. 


Die  zuerst  gewucherten  Zellen  sind  in  der  Regel  klein,  rund  oder  unregelmässig 
polygonal.  Nach  und  nach  gehen  folgende  oft  sehr  complicirte  Metamorphosen  in  diesen 
Zellencylindern  vor.  Es  wachsen  Gefässe  in  sie  hinein,  der  mittlere  Theil  der  Zellen 
nm  die  Gefässe  wird  zu  hyalinem  oder  fasrigem  Bindegewebe,  die  äusseren  Zellen  bilden 
einen  Mantel  um  das  Gefäss  und  die  central  gelegenen  neugebildeten  Bindegewebsfäden.  So 
stellen  diese  Bildungen  gewissermaassen  villöse  Formen  dar,  welche  ins  Gewebe  hineinge- 
Avachsen  sind  (interstitielle  papilläre  Wucherungen,  interstitielles  papilläres  Myxom,  Rind- 
fleisch). Dabei  können  die  Umhüllungszellen  so  exquisit  epitheliale  Formen  und  Stel- 
lungen annehmen,  dass  die  Verwechslung  solcher  Bildungen  mit  Durchschnitten  von 
Drüsen,     zumal    bei   schwächeren  Vergrösserungen  sehr  verzeihlich  ist.     (Fig.  1,51   h.) 


718 


Von  den  Geschwülsten. 


Zu  höchst  sonderbaren  Formen  kommt  es,  wenn  einzelne  der  central  in  den  primären 
ZellencvHndern  gelegene,  zusammenhängende  Zellencomplexe  durch  UmAvandlung  ihres 
rrotoplasinas  zu  einer  völlig  hyalinen  Bindesubstanz  werden  (Fig.  1.52  a  a  a). 

Fig.  152. 


Beginnende  hyaline  Metamorphose  in  den  Anfängen  eines   plexiformen  Sarkoms.     Anfang 
der  Cylindrombildung  nach  Sattler.     Vergrösserung  500. 

Es  entstehen  dann  zusammenhängende,  mit  Zellen  umhüllte,  doch  von  diesen  zu  be- 
freiende dendritische,  Kaktus -ähnliche  Bildungen:  in  dieselben  können  Gefässe  hinein- 
wachsen, wenu  nicht  die  Neubildung  gleich  anfangs  von  den  Gefässen  ausging,  oder  die- 
selben umwuchs. 

Fig.  153. 


Aus  einem  Cylindrom  (plexiformes  Sarkom  mit  hyalinen  Vegetationen)  der  Orbira. 

Vergrösserung  300. 

Diese  sonderbaren  hyalinen  Kolben  und  Cylinder  sind  früher  für  Lymphgefässe  ge- 
halten. Ich  erkannte  diesen  Irrthum  frühzeitig  und  nahm  sie  für  hyaline,  wie  ich  früher 
glaubte,  vollständig  auswachsende  Bindesubstanz  und  nannte  nach  den  hyalinen  Cyliudern 
uie  Geschwulst  „Cylindrom''.  Die  Anfänge  dieser  Formen  blieben  mir  aber  unklar:  ich 
nahm  die  ganz  oder  vorwiegend  aus  Zellen  bestehenden  Cylinder  für  Drüsen -ähnliche 
Bildungen;  so  blieb  mir  und  manchen  andern  Forschern,  welche  Gelegenheit  hatten,  solche 
Gescliwülste  zu  untersuchen,  die  Entwicklung  dieser  Neubildung  zweifelhaft;  ich  schwankte 
spater  vielfach  über  die  Deutung  dieser  Dinge  und  ihre   genetischen  Combinationen.    Erst 


Vorlcsinig  47.     Ciipitcl   XX f.  719 

duvdi  Sattler's  'Uiitersiiclningcn  is(,  völlige  Klarlicil  in  diese  Materie  gfkfiniiiicii.  Die 
eben  gegebene  Darstellung  luilte  icli  iini  so  imdii-  liir  die  richtige,  als  sie  den  Srhliissel 
zur  Erklärung  der  vitden   Varietäten   dieser  Geschwulstl'orin   gieht. 

Kommen  wir  imii    zu   den  mit   freiem  Aug-e   Avalirnc  lim  baren 
Erscliei  nung'sformen  der  Sarkome,  so  muss  zunächst  liervorgelioben 
werden,  dass  diese  Neubildungen  in  den  meisten  Fällen  eine  rund- 
liche scharf  abgegrenzte  Gestalt  haben,  ja  g-ewöhnlich  deutlich 
abgekapselt  siiul;  dies  ist  ein  zur  Unterscheidung-  von  den  iufiltrirten 
Carcinomen  sehr  wichtiges  Zeichen.     Nur  selten   tritt  das  Sarkom  an 
Oberflächen   (sei   es   an   freien   oder  sackartig  geschlossenen  Häuten)  in 
papillärer    oder   polypöser    Form    auf,    doch    giebt  es    driisenlose 
Nasen-  und  Uteruspolypen,  auch  weiche  Warzen  der  ITaut  und  Schleim- 
häute, w^elche  ihrer  histologischen   Structur   nach   nur  in  die  Reihe  der 
Sarkome    eingefügt   werden  können.     Endlich   kommen    auch    zuweilen 
infiltrirte    Sarkomformen    vor,    zumal    bestehen    die    villösen    und 
plexiformen  Sarkome  nicht  selten  als  Gewebsinfiltration.  —  Consistenz 
und  Farbe  sind  bei  den  Sarkomen  von  einer  solchen  Mannigfaltigkeit, 
dass  sich  darüber  so  im  Allgemeinen  nichts  sagen  lässt,   denn   es  giebt 
in  diesen  Beziehungen  die  extremsten  Verschiedenheiten.     Es  giebt  sehr 
feste,  ja  knorpelharte   Sarkome   und   es  giebt  solche  von  gallertig  sul- 
ziger,   nahezu    flüssiger    Consistenz.      Die  Farbe    des    Geschwulstdurch- 
schnittes kann  hell,  rosa,  weiss,  gelblich,  braun,  grau,  schwarz,  dunkel- 
roth  sein,  ja  alle  diese  Farben  in  verschiedenen  Nuancen  können  in  den 
Schnittflächen  einer  und  derselben   Geschwulst  vorkommen;   es  ist  das, 
abgesehen  von  Pigmenten,  besonders  abhängig  vom  Gefässreichtlium 
des   Gewebes  und   von   etwaigen  Blutextravasaten  älteren  und  jüngeren 
Datums  in  der  Geschwulst.     Der  Gefässreichthum  ist  enorm  verschieden; 
bald  existirt  nur  ein  spärliches  Gefässnetz,  bald  ist  die  Geschwulst  wie 
ein  Schwamm  von  cavernösen  Venen    durchzogen  (cavernöse,  telan- 
giektatische  Sarkome).     Noch  eine  Eigenschaft  der  Sarkome  müssen 
wir  hervorheben,    nämlich  dass    sie   zuw^eilen  so    rein   weiss   aussehen, 
dass  sie  bei  gleichzeitig  sehr  weicher  Consistenz  eine  grosse  Aebnlichkeit 
mit  Hirnmasse  haben.     Diese  Medullarsarkome  (Encephaloide)  haben 
zugleich    meist    die    bösartigsten    Eigenschaften    der  Sarkome    im  aller- 
höchsten Grade  und  sind  daher  sehr  gefürchtet:    sie  können  übrigens 
jede  der  oben  angeführten  histologischen  Structureu  haben.    Geschwülsten, 
welche  nach  gewissen  Richtungen  hin  besonders  leicht  in  Bündeln  zer- 
reissbar  sind,  hat  man  ausserdem  auch  noch  den  Namen   Sarconia  fasci- 
culatum,  Bündel  Sarkom  (früher  Carcinoma  fasciculatum)   gegeben.  — 
Die   anatomischen  Metamorphosen,    welche  in  den  Sarkomen  vor 
sich  gehen  können,  sind  mannigfaltig;  die  verschiedenen  Arten  der  Er- 
weichungsprocesse  wiegen   dabei  vor;    schleimige    Erweichung    bis    zur 
Bildung  von  Schleimcysten,  fettige,   käsige  Degenerationen  sind  häufig. 
In  den  mit  Knochen  zusammenhängenden  Sarkomen  ist  Ossification  etwas 


720 


Von   (Ion   fTesch-wiilsten. 


sehr  Gewöhnliches  und  kann  bis  7Air  mehr  oder  weniger  vollstfindigen 
Umbildung-  des  Sarkoms  in  Osteom  gedeihen.  Narbige  Schrumpfung 
kommt  in  Sarkomen  fast  nie  vor,  und  dies  ist  wiederum  ein  wichtiger 
Unterschied  vom  Carcinom.  Ulcerative  Processe,  von  innen  nach  aussen 
kraterförmig  aufbrechend,  sind  selten;  die  Sarkome  der  Cutis  ulceriren 
früh,  ohne  jedoch  zu  ausgedehntem  Zerfall  dadurch  zu  gelangen;  die 
Ulceration  harter  Sarkome  trägt  zuweilen  gut  ausgebildete  Granulationen. 

Die  Diagnose  der  Sarkome  an  Lebenden  setzt  sich  aus  der 
Berücksichtigung  folgender  Momente  zusammen.  Die  Sarkome  entstehen 
ganz  besonders  häufig  nach  vorausgegangenen  loealen  Reizungen,  zumal 
nadi  Verletzungen;  auch  Narben  werden  nicht  selten  der  Sitz  von  Sar- 
komen; aus  gereizten  Leberflecken  können  schwarze  Sarkome  werden. 
Haut,  Muskel,  Nerven,  Knoclien,  Periost,  seltner  Drüsen  (darunter  Mamma 
und  Parotis  relativ  liäufig),  sind  Sitz  dieser  Geschwülste.  —  Am  sel- 
tensten treten  Sarkome  bei  Kindei-n  auf,  selten  im  zweiten  Decennium, 
am  häufigsten  im  mittleren  Lebensalter,  seltner  wieder  bei  Greisen. 
Frauen  und  Männer  sind  nach  meinen  Beobachtungen  gleich  häufig  zu 
Sarkombildung  disponirt.  Wenn  diese  Geschwülste  nicht  grade  in  oder 
an  Nervenstämmen  sitzen,  so  sind  sie  in  der  Regel  so  lange  schmerzlos, 
bis  sie  etwa  aufbrechen.  Wenn  die  Sarkome  im  Unterhautzellgewebe 
oder  in  der  Brustdrüse  liegen,  sind  sie  als  abgekapselte  bewegliche  Ge- 
schw^ilste  fühlbar.  Ihr  Wachsthum  ist  bald  schnell  bald  langsam,  ihre 
Consistenz  so  verschieden,  dass  das  diagnostisch  kaum  verwendbar  ist. 

Verlauf  und  Prognose.  Ein  Sarkom  kann  solitär  entstehen, 
solitär  bleiben  und  nach  der  Exstirpation  nie  wiederkeliren.  Ein  Sarkom 
kann  solitär  oder  multipel  auftreten,  nach  wiederliolten  Exstirpationen 
im  Verlauf  von  10  —  20  —  30  Jahren  wiederkehren;  es  können  meta- 
statische Geschwülste  in  Lunge  oder  Leber  auftreten,  und  so  kann  diese 
Krankheit  vielleicht  in  3  Monaten  zum  Tode  führen.  Sie  sehen,  dass 
die  grösste  Gutartigkeit  und  höclistc  Bösartigkeit  des  Verlaufs  in  dieser 
einen  Gruppe  von  Gewebsneubildungen  vereinigt  sein  kann;  Ja  ich  kann 
Sie  versieliern,  dass  zwei  Sarkome  von  der  gleicliartigsten  histologischen 
Beschaffenheit  (freilich  meist  bei  verschiedener  Consistenz  dei-  Gescliwulst- 
masse)  vollkommen  verschieden  im  Verlauf  sein  können.  Aus  diesem 
Umstände  hat  man  der  pathologischen  Histologie  die  grössten  Vorwürfe 
entwickelt;  es  muss  zugestanden  werden,  dass  die  histologische  Structur 
einer  Geschwulst  keinesw^egs  immer  sich  mit  einem  bestimmten  Schema 
des  klinischen  Verlaufs  deckt;  doch  daraus  der  Anatomie  einen  Vorwurf 
zu  machen,  wäre  ebenso  sonderbar  als  es  ihr  vorzuwerfen,  dass  man 
die  mikroskopischen  Präparate  einer  Speicheldrüse,  Thränendrüse, 
Schleimdrüse  eventuell  nicht  von  einander  unterscheiden  kann,  obwohl 
sie  docli  ganz  verschiedene  Bedeutung  für  den  Organismus  haben.  Der 
Standpunkt,  überall  für  specifische  Function  specifische  anatomische  For- 
men finden   zu   wollen,   musste  auch   erst   überwunden  werden.    —    Es 


Vorlcsim-  -17.      Capilcl   XXT.  721 

folilt  indoss  kcincswcii's  an  A  u  li  altspuiik  tcn  für  die  prog-notisclie 
JJeiirtlieiluii  ij;'    einer    vorliei^enden    Sarkom <i,'e!^(*li\vulst.      Uel)er    die   in 
dieser  Richtung-  sehr  wiehtige  Loealisation  der  OesclnviilsJe  sjtreclien  wir 
später;    demnächst  ist   die   Consisten/.   von  Wichtigkeit:    alle  festen  Sai-- 
kome  sind  von  besserer  Prognose  als  die  ^^'eicllen;  von  besonders  übler 
Prognose   sind  die  alveolaren  Sarkome,   von    übelster  die  weichen  Gi-a- 
nulations-  und  S])indelzellensarkome,   welche  meist  unter  dem  Bilde  me- 
dullärer Geschwülste  auftreten;  sehr  gefährlich  sind  auch  die  schwarzen 
Sarkome,  die  festeren  weniger  als  die  weicheren.   Wichtig- für  die  Prognose 
ist  ferner  die  Schnellig-keit  des  Wachsthums  der  zuerst  entstehenden  Ge- 
schwulst, welclie  übrigens  meist  zu  derConsistenz  der  Geschwulst  im  Verhält- 
niss  steht;  hat  ein  Sarkom  4 — 5  Jahre  gebraucht,  um  die  Grösse  eines  Hühner- 
eies zu  erreichen,  so  ist  die  Prognose  nicht  so  übel;  ist  es  in  4 — 5  Wochen  zu 
Faustgrösse  angewachsen,  so  ist  die  Prog-nose  sehr  schlecht.    Es  kann  vor- 
kommen, dass  ein  Sarkom  so  rasch  entsteht,  dass  es  für  einen  kalten  Abscess 
g-ehalten  wird ;  ich  kenne  einen  Fall,  in  welchem  ein  Sarkom  der  ßauch- 
decken    so    schnell    wuchs,    dass    anfangs    die    Diagnose  auf  Furunkel 
gestellt  war.     Die  Patientin  wurde   in  wenigen  Monaten  von  Sarkomen 
übersät  und  starb  etwa  3  Monate  nach  Entstehung  der  ersten  Geschwulst 
an  Lungeusarkomen.     Es  kommt  aber  auch  vor,   dass   auf  ein  langsam 
gewachsenes  festes  Sarkom  ein  rasch  wachsendes  folgt,  doch  das  Umge- 
kehrte ist  wohl  nicht  beobachtet.  —  Gewöhnlich  entstehen  Sarkome  bei 
kräftigen  gut  genährten,  oft  auffallend  gesunden  und  fetten  Individuen; 
ich  sah  bei  einem  blülienden,  kräftigen,  üppigen  Mädchen  von  18  Jahren 
ein  Medullarsarkom    der  Mamma,   sie    starb  wenige    Monate    nach    der 
Operation  an  Lungensarkomen.    Bei  kräftigen  gesunden  Männern  kommen 
ohne  alle  Veranlassung  schwach  pigmentirte,  reichlich  vascularisirte,  zu- 
weilen in    Form   von   Blutblasen  beginnende  Sarkome    der  Haut  zumal 
an  den  unteren  Extremitäten  vor,  die  sich  im  Verlauf  von  72—2  Jahren 
über   die  ganze  Körperoberfläche  verbreiten,   dann  auch  in  inneren  Or- 
ganen  zur  Entwicklung  ko)nmen  und   immer    in   wenigen  Jahren  zum 
Tode  führen.   —   Die   Art  wie   die  Entwicklung  der  nach  einander  auf- 
tretenden   Sarkome    erfolgt,    ist    sehr   charakteristisch.      Die    erste    Ge- 
schwulst wird  z.  B.  vollständig  exstirpirt;   es  vergeht  einige  Zeit,   dann 
kommt  in,   unter  oder  neben   der   Nar1)e,eine   neue   Geschwulst;   diese 
wird  wieder  vollständig  entfernt;  es  tritt  wieder  an  der  operirten  Stelle 
oder  in   einiger   Entfernung  davon  eine  neue  Geschwulst  auf,    daneben 
immer  mehr  neue;   der  Kranke   fängt  an  abzumagern,    weitere   Opera- 
tionen sind  nun  vielleicht  nicht  mehr  ausführbar;  es  tritt  Marasmus  ein, 
vielleicht   entstehen  Lungen-  oder  Lebergeschwülste  mit  entsprechenden 
Symptomen,    Exitus   entweder  in  Folge   von  Jauchung   aus   den  primä- 
ren Geschwülsten   oder  in  Folge  der  Erkrankung  innerer  Organe.     Li 
seltneren  Fällen  (z.  B.   bei   Hautsarkomeu  am  Thorax,   an  den  Bauch- 
decken, am  Hinterhaupt)  kann  sich  dieser  Verlauf  mehre  Deeennien  hin- 

Billroth  cliir.  Pntli.  n.  Ther.   7.  Aufl.  46 


722 


Von  den  Gesc'hA\-in5f-en. 


(lurcli  hinzielien.  —  Dieser  eben  g-escliilclerte  Verlauf  unterscheidet  sich 
von  clemjenig-en  der  Careinome  dadurch,  dass  bei  letzteren  die  conti- 
nuirlichen  Reeidive  die  häufigsten  sind,  während  bei  Sarkomen  die 
regionären  vorwiegen,  vorausgesetzt,  dass  die  Geschwulst  vollkommen 
exstirpirbar  war.  Dies  ist  leicht  dadurch  zu  erklären,  dass  die  Grenzen 
der  infiltrirteu  Careinome  viel  schwieriger  zu  bestimmen  sind  als  die- 
jenigen der  eingekapselten  Sarkome,  letztere  sind  daher  ceteris  paribus 
sicherer  ganz  zu  entfernen;  lässt  man  Reste  vom  Sarkom  zurück,  so  er- 
folgen natürlich  auch  continuirliche  Reeidive.  Es  können  bei  den  Re- 
cidiven  von  vollständig  exstirpirten  Sarkomen,  wie  schon  bemerkt,  viele 
Jahre  zwischen  der  Exstirpation  und  der  Entstehung  der  regionären 
Reeidive  liegen,  es  kann  überhaupt  ein  Sarkom  viele  Jahre  lang,  viel- 
leicht bis  zum  Tode  ein  rein  locales  Uebel  bleiben.  Ich  kenne  einen 
Fall  von  Fibrosarkom  des  Hinterhaupts,  in  welchem  von  der  Entstehung 
der  ersten  Geschwulst  bis  zum  Tode  durch  Recidivgeschwülste  23  Jahre 
verliefen;  inzwischen  war  Patient  5  Mal  operirt  und  jedes  Mal  für  eine 
längere  Zeit  geheilt.  Bei  einer  älteren  Frau  exstirpirte  ich  ein  Medullar- 
sarkom  (alveolare  krebsähnliche  Form  Fig.  147  pag.  714)  aus  dem  M. 
deltoideus;  kaum  war  die  Wunde  geheilt,  so  entstand  in  derselben  ein 
neues  Sarkom  wie  das  erste;  nun  blieb  die  Frau  4  Jahre  lang  voll- 
kommen gesund;  dann  neue  Geschwulst  im  Deltoideus;  es  folgte  eine 
Avahrscheinlich  unvollständige  Operation,  Recidiv  in  der  noch  nicht  voll- 
endeten Narbe,  Exarticulation  des  Arms;  Recidiv  im  M.  pectoralis  und 
latissimus,  Tod  durch  Lungensarkom  und  Pleuritis.  Vor  drei  Jahren 
exstirpirte  ich  ein  melanotisches  grosszelliges  Sarkom  der  Kopfhaut  bei 
einem  älteren  Mann,  bei  welchem  Schuh  vor  6  Jahren  eine  gleiche  Ge- 
schwulst entfernt  hatte;  bis  jetzt  ist  kein  Recidiv  erfolgt.  Wenn  man 
wegen  Sarkom  der  Tibia  die  Amputation  des  Oberschenkels  macht,  so 
kann  in  der  Amputationsnarbe  nach  Jahren  ein  Recidiv  eintreten  mit 
folgenden  Lungensarkomen.  Die  locale  Recidivfähigkeit  wäre  nur  dann 
durch  ein  in  die  LTmgegend  einer  Geschwulst  verbreitetes  Seminium  zu 
erklären,  wenn  die  Reeidive  rasch  aufeinander  folgten ;  wenn  aber  Jahre 
zwischen  den  einzelnen  Recidiven  liegen,  so  lässt  sich  diese  Erklärung 
wohl  nicht  mehr  verwenden,  man  müsste  dann  annehmen,  dass  Ge- 
schwulstzellen Jahre  lang  ruhig  im  Gewebe  liegen  sollten,  um  dann 
plötzlich  aufzugehen  wie  eine  alte  Saat;  wer  weiss?  über  Carcinom- 
recidive  besitze  ich  eine  Beobachtung,  welche  für  eine  solche  Verlaufs- 
weise spricht.  —  Höchst  eigenthümlich  für  die  Sarkome  ist  der  Gang 
der  Infection;  ich  glaube  einer  der  ersten  gewesen  zu  sein,  welcher 
hervorhob,  dass  es  eine  wesentliche  Eigenschaft  der  Sarkome  sei,  dass 
sie  die  Lymphdrüsen  gar  nicht  oder  erst  sehr  spät  inficiren. 
Der  Weg  der  Sarkominfection  geht  nicht  wie  der  der  Careinome  vorwie- 
gend durch  die  Lymphbahnen,  sondern  vorwiegend,  weun  auch  nicht 
ausschliesslich  durch  die  Venen,   und  dies   ist  freilich  ein  Moment,  das 


Vdi'lcsiniij; 


CiipKci  XX r. 


723 


zu  Gunsten  (lorjenig'en  Fovselicv  s])riclit,  wclclie  die  OcfäRsc  seihst  nls  liäu- 
lig'Sten  Ausg-ang'spunkt  der  Sarkome  l)etracliten.  Die  I^iini;'cnsarkoine  sind 
nachweisbar  meist  embolisehen  Tlrspmng-s;  es  sclieint,  dass  die  Venenwan- 
dung'en  in  den  Sarkomen  besonders  leicht  von  der  Gesehwulstmasse  dinvh- 
wachsen  und  ihre  Lumina  A'on  bröekliclicn  Fetzen  derselben  erfüllt  werden, 
welche  von  dort  fortgerissen  in  die  Lungen  gelangen.  —  Die  Menge  der  se- 
eundären  Sarkome  ist  oft  ganz  colossal,  die  ganze  Pleura,  das  ganze  Perito- 
neum kann  übersäet  sein  mit  Sarkomen.  Die  mclanotisclien  Formen  schei- 
nen in  dieser  Beziehung  den  medullären  fast  noch  den  Kang  streitig  zu 
macheu.  Auf  primäre,  nur  theilweis  pigmentirte  Geseliwiilste  folgen  zu- 
weilen ganz  schwarze,  doch  auch  ganz  weisse  secundäre  Tumoren.  Die 
Lungensarkome  sind  meist  Granulationssarkome.  In  der  Leber  habe  ich 
secundäre,  sehr  schön  pigmentirte  Spindelzelleusarkome  beobaclitet;  so 
wechseln  die  Formen  der  primären  und  secundäreu  Sarkome  mannigfaltig. 

Topographie  der  Sarkome.  Da  die  bisherigen  allgemeinen  Be- 
merkungen Ihnen  für  die  Praxis  zu  wenig  Anhaltspunkte  geben,  so  ist 
es  nothwendig,  auf  einzelne  Sarkomformen  in  bestimmten  Geweben  und 
an  bestimmten  Körpertheileu  etwas  näher  einzugehen. 

Die  Sarkome  kommen  ziemlich  oft  mitten  in  Röhrenknochen 
(Myloidgeschwtilste  oder  centrale  Osteosarkome)  vor,  und 
zwar  sind  dies  meist  Riesenzellensarkome;  sie  entwickeln  sich  vorwiegend 
häufig  im  Unterkiefer  (Fig.  150  u.  157),  dann  aber  auch  in  Tibia,  Radius, 

Fig.  154.  Fig.  1.Ö5. 


Centrales  Osteosarkom   der  Ulna:    aus    der 
Sammlung    der    chirurgischen    Universitäts- 
klinik zu  Berlin. 


Durchschnitt  vom  Präparat  Fig.  15-1. 
40* 


Von   den  (reschwülsten. 


124 

rina  (s.  Fig'.  ir)4  u.  155).    In  diesen  Gescliwillsten  iiuden  sicli  oft  Sclileim- 
cysten  imd  KDochenbikliuigeu  in  kugligev  oder' verästelter  Form;  es  sind 

Fit;-.  15(1.  Fig.  157. 


Centrales  O.steufaikom    de-^  Unterkiefer; 
\on  einem  9jähri^en  Mädchen. 


Dni 


linitt  vom  Präparat  Fig.  15G. 


eireumscripte,  meistentheils  in  der  Markbölile  entstehende  Knoten,  dureli 
welche  der  Knochen  allmälilig-  aufgezehrt  wird,  doch  so,  dass  sich  vom 
Periost  her  stets  neuer  Knochen  anbildet,  so  dass  die  Geschwulst,  wenn- 
gleich 7A\  erheblicher  Grösse  angewachsen,  doch  in  vielen  Fällen  noch 
ganz  oder  theilweise  von  einer  Knochenschale  bedeckt  ist;  der  erkrankte 
„.     1-0  Knochen   erscheint  dann  blasig  aufgetrie- 

Flg.   l.'jb.  _  .... 

ben  und  seine  Continuität  ist  durch  die 
Geschwulst  nicht  immer  vollständig  unter- 
)rochen.  Wenn  diese  Sarkome  an  den 
unteren  Extremitäten  vorkommen,  so  er- 
folgt eine  sehr  reichliche  Gefässbildung 
in  ihnen;  es  entstellen  darin  eine  Menge 
leiner,  traumatischen  Aneurysmen  und  es 
kann  sich  ein  wirkliches  aneurysmatisches 
Reibungsgeräusch  in  ihnen  hören  lassen, 
so  dass  sie  oft  für  reine  Knochenaneurys- 
meu  gehalten  und  als  solche  beschrieben 
sind.  Die  Cystosarkome  und  zusammen- 
gesetzten Cystome,  welche  in  Knochen, 
besonders  im  Unterkiefer,  gelegentlich 
auch  in  grösseren  Eöhrenkuochen  beobach- 
tet werden,  sind  in  der  Regel  aus  Riesen- 
zellensarkome hervorgegangen  (Fig.  158) 
indem  Gruppen  von  Riesenzellen  zur 
schleimigen  Erweichung  kommen.  Die 
centralen  Osteosarkome  sind  meist  solitär, 
sehr  selten  allgemein  infectiös.  Im  Unter- 
kiefer oder  Oberkiefer  kommen  sie  gern 
zur  Zeit  der  zweiten,  selten  der  ersten 
Dentition    zur    Entwicklung;    in    langen 


j^^ 


Ziisauuiu'iigcsi  t7t 
lien 


V.M-Icsimo-  47.     CiipiM'l   \\T. 


725 


Röhrenknoclieii  sali  ich  sie,  iiiii'  im  iiiiillci'cn  Lebensalter.  -  Von  den 
Gcsclnviilstcn,  nelelie  man  als  l'4)ulis  bczeiclmet  (das  Worl:  bedeutet: 
auf  dem  Zaliu fleisch  aufsit/end  xon  tni  auf  nvXig  Zahiilh'.iseh),  .u'ehörl 
ein  grosser  Theil  zu  diesen  Ivieseiizellensarkomcn;  ihr  Aufsitzen  auf  dem 
Zalmfleisch  ist  meist  nur  sclieinbar;  i;'e\völinlicli  kommen  sie  jius  ZmIiu- 
liicken  Iservoj-,  und  sind  ^■on  Granulationen  um  eariöse  Zalnnviirzeln 
ausi!,'eg'ang'en.  Auch  Epitlie]ialkrel)se  Averden  \o\\  ]\!anchen  als  Epnlis 
bezeichnet;  es  ist  gut,  solche  Ausdrücke  entweder  gar  nicht  zu  gebrauchen 
oder  sie  mit  beslinnnten  Beiwörtern  zu  verseilen :  z.  ]j.  sarkomatöse,  fibro- 
matöse,  carcinomatöse  Epulis  etc.  —  Ziemlich  '^(isartig  sind  die  jKu'iplierisch 
entstehenden  Osteosarkome  oder  Periostsarkom  c  (Osteoid-Chondrome, 
Vir  eil  ow);  sie  bestellen  entweder  aus  Granulntionsgewebe  mit  jungen 
Kuoelieubildungen  wie  in  Osteophyten  und  verknöchern  mehr  oder  Aveniger, 


Fi"-.  Kio: 


Periostsarkom  der  Tibia  von  einem  Kna- 
ben; aus  der  Sammlnng  der  cbirnrginehen 
Universitätsklinik  zn  Berlin. 


Durchschnitt  vom  Präparat  Fiu;.  !■')'. 


oder  es  sind  sehr  gross -spindelzellige  Myxosarkome  ebenfalls  mit  theil- 
weiser  Verknöcherung.  Die  Schnelligkeit  des  Verlaufs  ist  selir  verschie- 
den; Luugensarkome  sind  danach  beobachtet  Avorden. 

lu  Muskeln,-  Fascien  und  Cutis  werden  besonders  häufig  Sjsin- 
delzellensarkome  gefunden,  die  örtlich  sehr  infectiös  sind  und  nach  der 
Exstirpation  oft  wiederkehren.  Myxosarkome  finden  sich  in  der  Cutis 
und  im  Unterhantzellgewebe  und  sind  mit  freiem  Auge  oft  schwer  von 
ödematösen  weichen  Fibromen  zu  unterscheiden.     Ausserdem    sind    die 


726 


Von  den  Geschwülsten. 


Nerven  relativ  liäufig  Sitz  multipler  Sarkome.  Je  sclmeller  die  primären 
Geschwülste  gewachsen  sind,  und  je  mehr  sie  „medullär"  aussehen,  um 
so  "-efälirlicher  sind  sie.  Ich  finde,  dass  jedes  Alter,  etwa  mit  Ausualime 
des  Kindesalters,  gleich  für  diese  Geschwülste  disponirt  ist. 

Wenn  in  einer  Drüse  ein  Sarkom  entsteht,  so  enthält  es  far?t  immer 
Drüsenelemente  eiugescidossen,  die  vielfach  in  ihrer  Form  verändert  sein 
können,  von  denen  manche  aucli  vielleicht  neugebildet  sein  mögen,  selten 
geht  das  Drüsengewebe  in  diesen  Sarkomen  vollständig  unter.  So  kommt 
es,  dass  die  reinen  Adenome  (die  übrigens  sehr  selten  sind)  zuweilen 
schwer  von  den  in  Drüsen  entstandeneu  Sarkomen  unterschieden  werden 
können.  Bei  Aveitem  nicht  alle  Drüsen  sind  in  gleicher  Weise  zu  Sar- 
kombildungen disponirt ;  wir  wollen  die  Localitäten,  an  welchen  dieselben 
am  häufigsten  gefunden  werden,  kurz  durchgehen. 

Die  Avei bliche  Brustdrüse  ist  besonders  von  diesen  Geschwülsten 
bevorzugt.  Die  Sarkome  der  Mamma  sind  rundlich  -  lappige ,  höckrige 
Geschwülste  von  fest  elastischer  Consistenz ;  die  Erkrankung  befällt  bald 
einen  grösseren,  bald  einen  kleinereu  Theil  der  Drttsenlappeu;  in  der 
Regel  erkrankt  nur  eine  Brust  und  zwar  nur  an  einer  Stelle ;  in  anderen 
Fällen  entstehen  mehre  kleine  Knoten  zugleich  in  einer  Drüse.  Diese 
Geschwülste  wachsen  äusserst  langsam,  verursachen  keinen  Schmerz, 
sind  wie  alle  Sarkome  von  der  gesunden  Umgebung  scharf  abgegrenzt, 
daher  innerhalb  des  Drüsenparenchyms  verschiebbar;  wenn  sie  gross 
werden  (sie  können  im  Verlauf  mehrer  Jahre  zu  Mannskopfgrösse  an- 
wachsen), so  bilden  sie  sich  fast  immer  zu  Cystosarkomen  um,  werden 
mit  der  Zeit  weicher  und  veranlassen  Schmerzen;  es  kommt  wohl  auch 
zu  Ulceration. 

Die  anatomische  Beschaffenheit  dieser  Geschwülste  hat  von  jeher  das  Inter- 
esse vielfach  angeregt.  Da  man  in  denselben  die  Drüsenelemente ,  die  Acini  sowohl  als 
die  Alisführungsgänge,  wieder  fand,  so  glaubte  man  früher,  dieselben  seien  in  der  Ge- 
schwulstmasse immer  neu  entstanden,  und  bezeichnete  daher  diese  Geschwülste  als  partielle 
Hypertrophien  der  Mamma.  Diese  Auflassung  halte  ich  nicht  für  richtig,  sondern  glaube 
mich  durch  die  Untersuchung  einer  grossen  Anzahl  dieser  Geschwülste  überzeugt  zu  haben, 
dass  es  sich  dabei  primär  und  hauptsächlich  um  Sarkombildung  in  dem  Bindegewebe  um 
die  einzelnen  Acini  handelt,  Avobei  die  letzteren  erhalten  bleiben,  wenn  sie  sich  auch  in 
verschiedener  Weise  verändern  können.  Durch  die  Ausdehnung  der  Drüsengänge  ent- 
stehen nämlich  in  diesen  Geschwülsten  zuerst  spaltartige,  später  mehr  rundlich  geformte 
Cysten  mit  schleimig -serösem  Inhalt,  deren  EntAvicklung  wir  gleich  nachgehen  wollen." 
Was  das  Gewebe  der  Neubildung  selbst  betrifft,  so  ist  dasselbe  gewöhnlich  aus  kleinen, 
rundlichen,  spindelförmigen,  selten  verästelten  Zellen  mit  ziemlich  reichlich  entwickelter, 
faseriger,  zuweilen  gallertiger  Intercellularsubstanz  zusammengesetzt.  Das  Fasergewebe 
kann  in  manchen  dieser  Geschwülste  so  vorherrschend  sein,  dass  der  ganze  Tumor  durch 
Consistenz  und  Beschaffenheit  sich  durchaus  dem  Fibrom  nähert.  .  Accidentelle  Knorpel- 
und  Knochenbildungen  werden  hier  gelegentlich  beobachtet,  sind  jedoch  äusserst  selten 
und  für  den  Verlauf  des  Kranklieitsprocesses  unwesentlich.  Wenn  das  Wachsthum  dieser 
Neubildungen  in  allen  Thcilen  ein  gleichmässiges  wäre,  so  müssten  Ausführungsgänge  und 
Acini  der  Drüse  sich  in  gleicher  Weise  vergrössern  oder  zusammengedrückt  werden ;  denn 
denken  Sie  sich  einen  Theil  der  Drüse,  etwa  ein  Drüsenläppchen,  als  Fläche  ausgebreitet 


Vdrli'sini!"  47.     ('Miiitd   XXr. 


727 


und  die  Unterlage,  auf  der  diese  Flärhe  fest  ciugeiieftot  ist,  sicl-i  vergrösscrud,  su  umss 
auch  die  Epithelialfläehe  selbst  an  Aiisdeiinung  /.unehnien.  Die  Drüsen  können  alici-  hc- 
kanntlieli  als  viell'arh  ansgel]iii'lilclc  mit  Kpilln-lien  i'ihcr/.dgcnc  I''läciicii  hrd-jirlilrl  werden, 
so  dass  alsi)  dies  lüld  viilllvniuiHen  ]iassl.  i'",in  sdiclics  gleiclnnässiges  Waclisilumi  in  allen 
'l'heilen  der  Ts'eulnlduni;'  lindef  nielit  oder  mir  selir  seilen  StatI :  die  i'^ulge  davon  ist.  dass 
oft  nur  die  Ausführungsgänge  sieh  stark  verlängern  oder  verbreitern,  wodureli  die  spalt- 
artig länglieben,  für  das  freie  Auge  siebtbaren  Cysten  entstehen,  dureh  gleiehzeitige  Aus- 
dehnung der  Drüsenaeini  werden  aber  aiu'b  ofr  rundliebe  Cysteni'äunie  geldldel.  13ei  dieser 
Dehnung  der  ausgebuchleten  Drfisenfläi'be  veriuebiM  sieb  das  Kpitbel  und  entwickelt  sich 
zu  höherer  Ausbildung,  insofern  die  kleinen  rniidlichen  I'",|)illii'lial/,ellen  der  Acini  i-eiidi- 
lieh  zunehmen  und  sieh  zu  einem  gescldicbteteii  ('ylin(lere])irhcl  ninwaudeln.  Die  so  ver- 
änderte Drüsensubstanz  secernirt  ein  schleimig- seröses  Secret.  welches  sich  nui'  zun» 
geringsten  Tbeil  spontan  ans  der  Brustwarze  entleert,  meist  in  der  Geschwulst  zurück- 
gehalten wird  und  zur  Ausdehnung  der  schon  erweiterten  Drüsenräume  dient  (Retentions- 

Fig.  161. 


Aus  Adeno- Sarkomen    der    weiblichen  Bnist^:    n  Dilatation  der  Austiihrungsgänge .    h  der 

Aeini.      Vergrösserung    60.    —    c    Ein    dilatirter   Brustdrüsenaeinus    mit    Cylinderepithel. 

Grannlationsähnliehes  Zwisehengewebe.     Vergrösserung  350. 

und  Secretionseysten).  In  diese  Cysten  hinein  wäclist  dann  wieder  die  Geschwulstmasse 
seihst  in  Form  von  lappigen,  blätterartigen  Wucherungen  (Cystosarcoma  phyllodes.  von 
(IvkXop  Blatt),  proliferum  (von  proles  Sprössling,  Job.  Müller),  so  dass  dadurch  das 
Ansehen  auf  dem  Durchschnitt  ein  ziemlich   complicirtes  werden  kann. 

Das  Verhältniss  dieser  Cystenbildungen  zur  Sarkommasse  (durch  erstere  wird  übrigens 
Wesen  und  Verlauf  der  Krankheit  nicht  w^esentlich  bestinnnt)  variirt  in  diesen  wie  in 
allen  Cystosarkomen  in  hohem  Grade. 


728 


Von  den  Geschwülsten. 


Ob    auch    plexiforme  Sarkome    in    der  Mamma  vorkommen;    dafür  fehlt  es   mir.   seit 
ich  diese  Sarkomform  genauer  präcisiren  konnte,  an  Beobachtungen. 

Die  Bnistdviisensavkome  und  Cystosarkome  sind  nicht  so  ganz 
selten,  docli  aber  treten  sie  g-eg-enüber  den  später  zu  besi^reclienden 
Brustkrebsen  durchaus  in  den  Hintergrund.  Die  Krankheit  ist  am  häu- 
figsten bei  jungen  Frauen,  kommt  jedoch  auch  kurz  vor  der  Pubertät 
vor  selten  nach  dem  40.  Lebensjalire.  Das  Wachsthum  dieser  Ge- 
schwülste ist  ein  sehr  langsames,  und  so  lauge  die  Geschwulst  noch 
nicht  gross  ist,  ein  schmerzloses;  später  kommen  jedocb  auch  stechende 
Schmerzen  hinzu;  da  die  Geschwülste  Maunskopf- gross  werden  und 
ulceriren  können,  so  sind  die  Beschwerden  unter  Umständen  recht  un- 
angenehm. Manclie  dieser  Sarkome  besitzen  die  Eigenthümlichkeit,  dass 
sie  kurz  vor  der  Älenstruation  und  während  derselben  etwas  anschwellen 
und  in  leichterem  Grade  schmerzhaft  werden.  Das  Allgemeinbefinden 
bietet  bei  dieser  Krankheit  keine  weiteren  Erscheinungen  dar;  nur  bei 
sehr  grossen  ulcerirten  Geschwülsten  magern  die  Kranken  wohl  ab,  wer- 
den anämisch  und  bekommen  einen  leidenden  Gesichtsausdruck.  Der 
Verlauf  der  Krankheit  kann  ein  verschiedener  sein;  es  giebt  eine  nicht 
kleine  Anzahl  von  Fällen,  in  welc^.ien  kleine  Sarkomknoten  der  Brust, 
Avelche  vielleicht  nach  der  ersten  Entbindung  entstanden,  im  Lauf  der 
Zeit  spontan  versclnvanden  oder  unbeschadet  das  ganze  Leben  hindurch 
getragen  wurden;  in  den  meisten  Fällen  jedoch  wachsen  diese  Geschwülste 
allmählig,  bis  sie  operirt  werden;  geschieht  dies  erst  sehr  spät,  nachdem 
die  Geschwulst  eine  grosse  x4usdehnung  erreicht  hat,  und  die  Frauen  in 
ein  höheres  Alter  kommen,  so  w^erdeu  diese  Geschwülste  auch  wohl  in- 
fectiös.  Bei  jungen  Mädchen  und  Frauen  pflegt  ein  langsam  gewachse- 
nes Brustdrüsensarkom  nach  der  Exstirpation  nicht  wieder  zu  erscheinen. 
Ist  das  Sarkom  jedoch  erst  zwischen  dem  30.  und  40.  Lebensjahre  auf- 
getreten, so  ist  allgemeine  Sarkominfection  zu  befürchten,  auch  wirkliche 
Umbildung  in  Carcinom  durch  epitlieliale  Wucherung  möglich.  Ich  halte 
es  für  alle  Fälle  rathsam,  diese  Brustdrüsensarkome  frühzeitig  zu  ex- 
stirpiren,  da  man  durchaus  nicht  genau  Avissen  kann,  wie  sich  diese 
Geschwülste  im  weiteren  Verlauf  gestalten  werden.  —  Die  Diagnose  ist 
oft  recht  schwer;  es  können  kleine  knotig-lappige  Verhärtungen  in  der 
Milchdrüse  auch  durch  chronisch -entzündlichen  Process,  besonders  wäh- 
rend und  nach  der  Lactation  entstehen,  die  spontan  oder  nach  Anwen- 
dung von  Jodeinreibungen  vergehen.  Ob  in  einem  vorliegenden  spe- 
ciellen  Fall  chronische  Entzündung  mit  Rückbildungsfähigkeit,  ob  wirk- 
liche Geschwulstbildung  vorliegt,  ist  oft  nur  durch  den  Verlauf  und  da- 
durch zu  bestinnnen,  dass  chronisch -entzündliche  Processe  in  der  Mamma 
enorm  selten  sind.  Auch  die  feinste  anatomische  Untersuchung  leistet 
hier  so  viel  als  nichts,  denn  junges  Sarkomgewebe  ist  von  entzündlicher 
Neubildung  nicht  zu  unterscheiden.     Es  liegt  hier  wieder  ein  Fall  vor, 


Vurifsiiiig  47.     CapiU-,!   XXI..  720 

WO   die  Grenze   zwischen   clironiscli  -  entzündlicher  Neid)ildun,:;-   und   Gc- 
scliwulst  nicht  immer  g-iuiz  genau  zu  ziehen  ist. 

Ein  zweites  Org'tin,  in  welcliem  sieh  Sarkome  entwickeln,  sind  die 
Speicheldrüsen.  Die  Geschwülste,  welche  sich  hier  bilden,  sind  in 
der  Regel  von  ziendicli  fest  elastisclier  Consistenz,  sitzen  ziendich  beweg- 
lich in  der  Speielieldrüse  und  besitzen  ein  ausserordentlich  langsames 
Wachsthum;  sie  kommen  liäutiger  in  der  Parotis  als  in  der  Glandula 
subniaxillaris  vor,  äusserst  selten  in  der  Gl.  subungualis.  Die  anatomi- 
sche Bescliaffeuheit  ist,  vom  freien  Auge  betrachtet,  ausserordentlich  ver- 
schieden; die  Geschwulstnui.sse  ist  immer  von  einer  Kapsel  dcutlicli  um- 
grenzt, letztere  hängt  sehr  innig  mit  dem  Drüsengewebe  zusammen. 
Die  Geschwulstsubstanz  kann  breiigweich,  knorplig  oder  fibrös  sein,  mit 
accessorischer  Verknöcherung  oder  Verkalkung ;  Cysten  mit  bräunlicher, 
gallertiger  oder  seröser  Flüssigkeit  finden  sich  oft  darin. 

Die  lii.stologische  Uiitersucliiing  diesei'  Geschwülste  ergiebt,  dass  dieselben 
in  ihren  weicheren  Tlieilen  aus  Spindelzelleu  und  sternförmigen  Zellen  bestehen,  mit  bah.l 
ganz  fehlender  oder  in  geringerer  Menge  vorhandener,  bald  sehr  in  den  Vordergrund 
tretender  fasriger,  schleimiger  oder  knorpliger  Intercellularsubstanz;  ausserdem  finden  sich 
neugebildete  Drüsenschläuche.  Die  Cysten  darin  gehen  theils  aus  schleimiger  Erweichung 
des  Sarkomgewebes  hervor,  theils  aus  Dilatationen  der  neugebildeteu  Drüsenschläuche. 
In  selteneren  Fällen  besteht  auch  wohl  die  ganze  Geschwidst  fast  allein  aus  Kni)rpel- 
masse,  jedoch  fast  innuer  mit  etwas  Beigabe  von  kSarkomgewcbe.  Was  man  in  diesen 
Geschwülsten  von  Drüsengewebe  zu  finden  meint,  ergiebt  sich  hei  genauerer  Untersuchung 
in  der  Regel  als  plexiforme  und  interstitiell  villöse  Sarkomhildung  (sielie  Fig.  151  pag.  717) 
wie  sich  in  neuerer  Zeit  Sattler  bei  Untersuchung  mehrer  von  mir  e.\stirpirter  Farotis- 
tnmoren  überzeugte. 

Diese  Geschwülste  können  von  der  Zeit  der  Pubertät  an  bis  etwa 
zum  40.  Lebensjahre  entstehen,  wachsen  ganz  ausserordentlich  langsam 
und  durcliaus  schmerzlos,  um  so  langsamer,  wenn  sie  sich  erst  im  Mannes- 
alter entwickeln.  Wenngleich  sie  sich  niemals  zurückbildeu,  so  können 
doch  kleine,  etwa  eigrosse  Tumoren  dieser  Art  im  späteren  Lebensalter 
im  Wachsthum  durchaus  stehen  bleiben.  Exstirpirt  man  diese  Geschwülste 
bei  jungen  Leuten,  so  kehren  sie  in  der  Regel  nicht  wieder.  Li  spä- 
teren Jahren  jedoch  recidiviren  dieselben  nach  der  Exstirpation  häufig 
und  zwar  mit  solcher  Schnelligkeit,  dass  sie  allmählig  in  die  Tiefe  des 
Halses  hineinwachsen  und  schliesslich  dem  Messer  unzugänglich  werden; 
auch  die  nächstgelegenen  Lymphdrüsen  des  Halses  werden  dabei  inficirt, 
und  das  ganze  Bild  des  Krankheitsprocesses  wandelt  sich  immer  mehr 
in  dasjenige  der  Carcinomkrankheit  um.  Aus  dem  angegebenen  Verlauf 
dieser  Geschwulstbildungen  dürfte  man  sich  die  Regel  entnehmen,  diese 
Geschwülste  frühzeitig  zu  exstirpiren.  Im  Ganzen  sind  die  Speichel- 
drüsensarkome  nicht  häutig.  —  Li  der  Schleimhaut  des  Mundes 
entwickeln  sich  zuweilen  ähnliche  Myxo-Sarkome  und  Myxo-Chondrome 
wie  in  den  Speicheldrüsen. 


"JQQ  Von  den  Geschwülsten. 

9.     Lymphome. 

Diese  Neubildimg-en  sind  sowohl  anatomiscli  als  klinisch  äusserst 
schwierig-  zu  umgrenzen.  Man  kann  der  Entstehung-  nach  eine  secun- 
däre,  durch  Infection  entstandene  entzündliche  Schwellung-  der  Lymph- 
di'üsen  und  eine  idiopathische  Hyperplasie  annehmen.  Bei  Erkrankungen 
aus  den  verschiedensten  Ursachen  bieten  die  Lymphdrüsen  fast  immer 
ein  ziemlich  gleiches  Aussehen;  sie  sind  verg-rössert,  saftiger,  praller 
als  normal. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  der  Lj^mphome  zeigt,  wenn  man  an 
erhärteten  zweckmässig  behandehen  Präparaten  untersucht,  Folgendes:  alle  zelligen  Ele- 
mente der  Drüsen  sind  vermehrt,  auch  wohl  vergrössert,  die  Lymphzellen  in  den  Alveolen, 
die  Bindegewehszellen  der  Trabekeln,  der  Kapseln  der  Alveolen  uird  Sinusnetze;  so  ver- 
liert sich  allmählig  die  Structur  der  Drüse  vollständig,  denn  das  ganze  Organ  wird  zu 
einem  Complex  von  Lymphzellen ,  wenn  auch  meist  mit  Beibehaltung  eines  feinen  Netz- 
werkes, in  welches  auch  das  derbere  Bindegewebe  der  Kapsel  und  der  Trabekel  umge- 
wandelt wird;  auch  die  Bhitgefässe  bleiben,  ihre  Wandungen  verdicken  sich  oft  erheblich 
(s.  Fig.  162 o);  das  zellige  Iniiltrat  kann  ein  so  massenhaftes  werden,  dass  eine  exacte 
Unterscheidung  zwischen  Lymphom  und  Glio- Sarkom  (Fig.  141  pag.  711)  stellenweise 
misslich  wird;  hie  und  da  kommt  er  zur  Entwicklung  grosser  vielkerniger  Zellen.  — 

Fig.  162. 


Aus    der   Corticalschicht    einer   liypei-plastischen    Cervicallymphdrüse.      Vergrösserung  350. 
««  Durchschnitte  von  Gefässen  mit  verdickten  Wandungen.   Ausgepinseltes  Alkoholpräparat. 

Gewöhnlich  hat  man  Drüsen  von  sehr  verschiedener  Grösse  vor  sich 
und  findet  die  grösseren  von  gleicher  Structur  Avie  die  kleineren.  Welche 
Ursachen  der  Hyperplasie  zu  Grunde  liegen,  ob  sie  idiopathisch,  ob 
durch  chronische  Entzündung  deuteropathisch  entstanden  ist,  das  lässt 
sich  weder  aus  den  makroskopischen  noch  mikroskopischen  Verhältnissen 
genau  ermitteln;  nur  das  lässt  sich  im  Allgemeinen  sagen,  dass  die 
durch  chronische  Entzündung  stark  verg'rösserten  Drüsen  häufiger  Abscesse 
und  käsige  Heerde  enthalten,  als  die  scheinbar  weuig-stens  idiopathischen 
Hyperplasien  dieser  Drüsen.  Ich  brauche  die  Bezeiclnumg  „idiopathische 
Erkrankung  der  Lymphdrüsen"  aus  vielleicht  übertriebener  GcAvissen- 
haftig-keit;  man  kann  nämlich  in  vielen  dieser  Fälle  durchaus  keine 
peripherische  Reizung  nachweisen,  wenngleich  sonst  Vieles  dafür  spricht, 


Vorlesung  47.     Capitel  XXL  731 

dass  aiicli  diese  Lymphdrilsencrkrankung-en  secundiir  sind;  irinrici-  kanti 
CS  sein,  dass  kleine  voi'iUjcrücliende  cnt/Jindliclic  Reize  vorhanden  waren, 
welelie  die  Lyinplidviisenevkrankuiii^cn  anr(>g(en,  nnd  znr  Zeit,  wenn 
letztere  zur  Beobachtung  kommen,  bereits  verscliwunden  sind.  In  einem 
solchen  Ucberdauern  des  secundären  })lastischcn  Proccsses  in  den  Lymph- 
drüsen über  den  })rim;iren  peripheren  Heiz  haben  wir  früher  einen 
Hauptausdruck  der  scrophulösen  Diathese  g'efunden,  und  dürften  daher 
grade  die  Lymphome  als  typische  scro})hulöse  Ocscliwülste  (scrophulöse 
Sarkome  B.  v.  Langenbeck)  bezeichnen.  Betrachten  wir  dieselben 
anatomisch  und  klinisch  noch  etwas  genauer. 

'  Längere  Zeit  Ideibt  die  nierenähnliche  Form  der  Drüse  im  Ganzen 
und  Grossen  erhalten,  bis  endlich  auch  diese  sich  beim  Wachsthum  ver- 
'  liert  und  die  nahe  gelegenen  Drüsengeschwülste  mit  einander  zu  einem 
lappigen  Geschwulstconglomerat  verwachsen.  Aeusserlich  mit  freiem 
Auge  betrachtet  zeigen  sich  die  exstirpirten  Geschwülste  also  von  rund- 
licher, ovaler  oder  Nierenform,  auf  dem  Durchschnitt  von  hell  graulich- 
gelber Farbe,  die  sich  an  der  Luft  zu  einer  gelblich-röthlichen  verän- 
dert. —  Die  Consistenz  dieser  Geschwülste  ist  fest  elastisch;  sie  sind 
durch  ihren  Sitz  leicht  diagnosticirbar.  —  Nicht  alle  Lymphdrüsengruppen 
sind  in  gleicher  Weise  für  diese  Erkrankung  disponirt;  die  Plals-Lymph- 
drüsen  hypertrophiren  am  häufigsten,  bald  einseitig,  bald  doppelseitig; 
seltener  kommt  diese  Art  der  Erkrankung  an  den  Achsel-  und  Inguinal- 
drttsen  vor,  am  seltensten  au  den  Abdominal-  und  Bronchialdrüsen, 
Angeboren  finden  sich  diese  Geschwülste  fast  niemals,  doch  v(mi  Ablauf 
des  ersten  Lebensjahres  bis  etwa  zum  60.  können  sie  vorkonmien,  wenn- 
gleich sie  sich  am  häufigsten  zwischen  dem  8.  bis  20.  Lebensjahr  ent- 
wickeln. Nicht  selten  tritt  die  Hyperplasie  der  Lymphdrüsen  multipel 
auf.  Es  können  aber  auch  eine  oder  wenige  Drüsen  am  Halse  allein 
erkranken;  ist  dies  der  Fall,  so  läuft  die  Disposition  zu  solchen  Neu- 
bildungen wohl  nach  Verlauf  von  Jahren  ab,  wobei  die  Geschwülste,  die 
schmerzlos  gewachsen  waren  und  schmerzlos  sind,  im  Wachsthum  stehen 
bleiben  und  bis  ans  Ende  des  Lebens  getragen  werden  können.  In  sel- 
teneren Fällen  tritt  die  Neubildung  fast  zugleich  in  allen  Lymphdrüsen 
des  Halses  auf  einer  oder  beiden  Seiten  ein,  so  dass  der  Hals  sich  ver- 
dickt und  die  Bewegungen  des  Kopfes  sehr  genirt  werden;  nehmen  diese 
Geschwülste  dauernd  an  Umfang  zu,  so  kommt  es  zuletzt  zu  Compression 
der  Trachea  und  es  erfolgt  der  Erstickungstod;  doch  auch  in  diesen 
schweren  Fällen  findet  zuweilen  ein  spontaner  Stillstand  der  Krankheit 
Statt  und  man  kann  dann  noch  mit  günstigem  Erfolge  selbst  grosse  Ge- 
schwulstmassen der  Art  exstirpiren;  auch  gehen  manche  dieser  Drüsen 
schliesslich  doch  noch  durch  chronische  Verschwäruug  und  Verkäsnng 
zu  Grunde. 

Die  schlimmsten  Fälle  sind  diejenigen,  in  welchen  die  Geschwülste 
schnell  zu  bedeutenden,  bis  Mannskopf-grossen  medullären  Tumoren 


»732  Von  den  Geschwülsten. 

(nicht  selten  unter  der  Form  fasciculirter  JMarkschwänime)  anwachsen, 
und  auch  die  Nachbargewebe  zu  Lymphomg-ewebe  umgewandelt  werden. 
Kranke  mit  solchen  Geschwülsten  kommen  selten  davon,  es  tritt  bedeu- 
tende Anämie  ein,  die  Ernährung  wird  selir  schlecht,  auch  Milzhyper- 
trophie kann  sich  hinzugesellen  und  der  Tod  erfolgt  unter  Erscheinun- 
gen von  liochgradigster  Anämie  und  Marasmus.  Diese  bösartigen  Lym- 
phome, von  Lücke  als  Lymp ho- Sarkome  bezeichnet,  sind  wieder 
anfangs  noch  später  anatomisch  von  den  gutartigen  Formen  zu  unter- 
scheiden. Doch  sind  sie  dadurch  bald  kenntlich,  dass  sie  rasch  wuchern, 
zumal  sehr  rasch  mit  der  nächsten  Umgebung  verwachsen.  Sie  sind,  w^ie 
es  mir  scheint,  von  unbezwingbarer  Recidivfähigkeit  und  gehören  zu  iden 
allergefährlichsten  Geschwulstformen.  In  jüngster  Zeit  sah  ich  mehre 
Fälle,  in  welchen  sich  bei  der  Section  metastatische  Lymphome  in  Lungen  * 
und  Milz  vorfanden. 

In  einigen  Fällen  ausgedehnter  Lymphome  hat  man  exquisite  Leu- 
cocythäraie  beobachtet,  und  Virchow  glaubt,  dass  dabei  die  Vermeh- 
rung der  weissen  Blutkörperclien  im  Blut  abhängig  sei  vou  dem  Ueber- 
schuss,  der  aus  den  hyperplastischen  Lymphdiitsen  dem  Blute  zugeführt 
wird.  Ich  theile  diese  Ansicht  nicht  ganz,  erstens  weil  die  Leuco- 
cythämie  selbst  bei  ausgedehnten  Lymphdrttsentumoren  doch  im  Ganzen 
selten  vorkommt,  und  zweitens,  weil  es  höchst  unwahrscheinlich  ist, 
dass  die  Lymphdrüsen  bei  der  schliesslich  vollkommenen  Destruction 
ihres  normalen  Baues  noch  physiologisch  und  sogar  hyperplastisch 
functiouiren.  Da  jetzt  bereits  eine  Reihe  von  Versuchen  von  Frey, 
0.  Weber  und  mir  vorliegen,  die  Lymphgefässe  solcher  Lymphdrüsen 
zu  iujicireu,  und  dies  entweder  gar  nicht  oder  nur  sehr  unvollkommen 
gelaug,  fällt  dies  schon  mit  in  die  Wagschale  für  die  Ansicht,  dass 
diese  hypertrophischen  Lymphdrüsen  physiologisch  insufficient  werden, 
wenn  auch  solche  negativen  lujectionsresultate  grade  bei  Lymphdrüsen 
sehr  vorsichtig  zu  beurtheilen  sind.  Damit  soll  jedoch  das  interessante 
Factum,  dass  die  Leucocythämie  besonders  bei  Lymphdrüsen-  und  Milz- 
tumoren vorkommt,  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  nur  ist  der  Zusam- 
menhang kein  so  unmittelbarer,  es  muss  sich  zu  den  Lymphdrüsen- 
und  Milztumoren  noch  etwas  Anderes  bis  jetzt  Unbekanntes  hinzugesellen, 
damit  es  zur  Leucocythämie  kommt.  In  neuester  Zeit  ist  die  Leuco- 
cythämie nach  den  Untersuchungen  von  Bizozero  und  Neu  mann  in 
nähere  Beziehungen  mit  Erkrankungen  im  Knochenmark  gebracht,  wo 
nach  Ansieht  dieser  Forscher  die  Unnvaudlung  farbloser  Blutzelleu  in 
gefärbte  normaler  Weise  vor  sich  gehen  soll;  danach  würde  die  Leuco- 
cythämie dadurch  veranlasst,  dass  sich  diese  Umw^andlung  im  Knochen- 
mark aus  irgend  einem  Grunde  nicht  vollzieht. 

Die  Prognose  des  Lymphoms  ist  nach  dem  Gesagten  sehr  ver- 
schieden; und  erst  nach  einiger  Zeit  der  Beobachtung  über  die  Schnel- 
ligkeit des  Wachsthums  mit  einiger  Sicherheit  zu  stellen;  im  Ganzen  darf 


VorJosmi.tc  47.     Capitol   XXT.  733 

man  amielimcn,  dass  die  Kranklicit  um  so  ^•orälivliclicr  werden  wird,  in 
je  friilicrcn  Lehens jaliren  und  je  ausg'edelinter  sie  gleich  anfangs  auf- 
tritt. Jenseits  30  Jahren  sah  ich  sie  selten  entstehen,  und  g'laul>te 
friilier,  sie  konnne  dann  fast  g-ar  niclit  melir  zur  Entwicklung-;  indess 
ist  mir  vor  nicht  lang-er  Zeit  ein  Fall  begegnet,  wo  icli  bei  der  Section 
einer  4r)jährigen,  sehr  stark  l)cleibten  Frau,  welche  seit  5  Jaliren  an  Asthma 
litt,  ein  grosses  Lyrapliom  der  Broncliialdrüsen  in  reinster  Form  fand,  wcl- 
elies  schliesslich  Erstickung  lierbcigcfiihrt  hatte,  und  ein  anderer  i^'all, 
in  Avelchem  sich  ein  colossales  Lymi)liom  der  Acliseldrüsen  bei  einem 
etwa  r)r)jährigen  Mann  entwickelte. 

A.  Y.  Wini warter  hat  in  einer  neueren  Arbeit  eine  schärfere 
Grenze  zwischen  den  malig-nen,  rasch  wachsenden  Lymphomen 
und  den  primären  medullären  Sarkomen  in  Lymphdrüsen  (Lymphosar- 
kome) gemacht.  Die  efsteren  sollen  immer  in  meliren  Lymplidriisen  einer 
Region  (zumal  am  Hals)  zugleich  auftreten,  sind  lange  beweglich,  con- 
flnireu  aber  endlicli  doch  zu  einem  Geschwulstconvolut;  später  werden 
dann  andere  Lymphdrüsengruppen  ergriffen  und  endlich  kommt  es 
auch  zu  gleichen  Tumoren  in  inneren  Organen.  Man  kann  zwei  For- 
men unterscheiden,  eine  weicliere,  auf  dem  Durchschnitt  grauröthlichere, 
und  eine  festere,  fibröse,  auf  dem  Durchschnitt  mehr  weisse  Art; 
letztere  ist  die  rascher  verlaufende;  beide  Formen  maligner  Lymphome 
führen  immer  zum  Tode.  Die  Lymphosarkome  sind  entweder  Eund- 
zellen-  oder  Spiudelzellensarkome ;  sie  entstehen  zunächst  in  einer  Drüse; 
die  umliegenden  Gewebe  werden  nach  und  nach  mit  in  die  Peripherie  der 
Geschwulst  einbezogen,  dadurch  wird  der  Tumor  bald  unbeweglich,  es 
folgen  oft  Metastasen  in  Lungen  und  Milz.  —  Ich  halte  diese  Unter- 
scheidungen im  Allgemeinen  für  vollkommen  richtig,  und  in  sorgfältiger 
Beobachtung  begründet,  möchte  jedoch  glauben,  dass  Combinationen 
beider  Formen  nicht  allzu  selten  sind. 

Die  Behandlung  der  in  Rede  stehenden  Lymphdrüsenkrankheiten 
wird  im  Anfange  oft  eine  innere  sein,  mau  wendet  gewöhnlich  Le1)er- 
thran,  Soolbäder  und,  wenn  es  die  Constitution  der  Kranken  nicht  cou- 
traindicirt,  Jodmittel  au,  bei  hervortretender  Anämie  ist  Eisen  indicirt, 
entweder  für  sich  allein  oder  in  Verbindung  mit  Jod.  In  seltenen 
Fällen  bilden  sich  frische,  eben  entstandene  Lymphtumoren  bei  dieser 
Behandlung  zurück.  In  einigen  Fällen  schwanden  bei  Behandlung  mit 
Tinct,  Fowleri  grosse  rasch  entstandene  (maligne  weiche)  Lymphome  au 
beiden  Seiten  des  Halses,  in  beiden  Achselhöhleu  und  in  der  Inguinal- 
gegend  in  8  Wochen  fast  vollständig.  Leider  ist  die  Zahl  der  durch 
Medicamente  heilbaren  Fälle  gering,  und  gerade  in  denjenigen  Fällen, 
in  welchen  man  am  meisten  von  diesen  Innern  Mitteln  verlangt,  weil 
die  Geschwülste  schon  zu  gross  für  die  Operation  sind,  lassen  diese 
Mittel  oft  vollständig  im  Stich;  ja  ich  habe  sogar  den  schädlichen  Ein- 
fluss  sehr  energischer  Jodcuren  bei  rasch  wachsenden  Geschwülsten  dieser 


qo4  Von  den  Geschwülsten. 

Art  cinioe  Male  constatireu  können,  nämlich  den  Eintritt  einer  rajjiden 
Erweichung-  des  grüssten  Theils  der  Geschwülste,  begleitet  von  heftigen 
febrilen  Erscheinungen.  —  Von  Lücke  sind  parenchymatöse  Injectionen 
von  Jodtinctur  in  diese  Geschwülste  mit  günstigem  Erfolg  gemacht;  ich  habe 
durch  diese  Behandlung  wohl  kleine  Abscesse  und  unbedeutende  narbige 
Schrumpfungen  entstehen  sehen,  doch  keine  gleichmässig-  fortschreitende 
Phthise  der  Tumoren.   Die  gleichen  Erfahrung-en  habe  ich  mit  dem  con- 
stanten  Strom  g-emacht.     Czerny  hat  aucli    parenchymatöse  Injectionen 
von  Tinet.  Fowleri  mit  Erfolg*  angewandt.     Ich  kann  die  günstige  "Wir- 
kung  dieser  Methode  bestätigen;  ich  injicirte  täglich  1 — 3  Tropfen.  — 
Von  den  äusseren  Mitteln  wirkt  das  Jod  noch  am  meisten,   das  Queck- 
silber fast  nichts;  günstige  Erfolge  sind  besonders  von  Baum  durch  die 
Compression  mit  eigens  für  den    betreffenden    Fall    construirten   Appa- 
raten erzielt  worden;  ich  habe  Besserung  damit"ferreicht,   zuweilen  eine 
geringe  Verkleinerung  oder  theilweise  Abscedirung,    doch    keine    voll- 
ständige ?Ieilung.     Von  der  Operation  ist  nur  in  denjenigen  Fällen  Hei- 
lung zu  erwarten,  wo  es  sich  um  eine  abgelaufene  Erkrankung  einzelner 
Drüsen  handelt;  man  ist  freilich  wegen  der  Lagerung  dieser  Geschwülste 
dicht  um   die  Trachea  zuweilen   genöthigt,   diese   Geschwülste  noch  im 
floriden   Stadium   des  Wachsthums  zu  operiren,   indess  man  wird  dann 
immer  auf  örtliche  Eecidive   oder   Erkrankung    anderer    Lymphdrüsen- 
gruppen   gefasst    sein    müssen.     Die    genaue  Erwägung  aller  einzelnen 
Umstände  muss  für  den  speciellen  Fall  die  Frage  entscheiden,  ob  eine 
Operation    günstigen   Erfolg    verspricht    oder    nicht.      Der    Eingriif  der 
Operation    selbst  wird   in   den  Fällen,    wo  man  isolirbare   Drüsen  mit 
noch  erhaltener  Kapsel  vor  sich  hat,   im  Ganzen  merkwürdig  gut  er- 
tragen;   ich   habe    schon    zwanzig   und    mehr  isolirte  Drüsen  am  Halse 
bei  einem  und  demselben  Individuum  mit  Glück  und  ohne  nachfolgende 
Recidive  exstirpirt,   oder  besser  gesagt,   mit  dem  Finger  wie  Kartotfeln 
ausgegraben;  wenn  aber  die  Drüsen  zu  einer  Geschwulstmasse  confluiren 
und  sehr  weich  sind,   so  ist  dies  einerseits  ein  Zeichen  rapiden  Wachs- 
thums und   örtliche  Recidive  sind  mit  Sicherheit   zu  erwarten,   anderer- 
seits wird  die  Operation  dadurch  kolossal  erschwert.   Es  giebt  medulläre 
Lymphome,  welche  bei  jungen  sonst  kräftigen  Leuten  am  Hals  entstehend 
in  die  Tiefe,  dann  hinter  dem  Kiefer  fort  bis  in  die  Rachenhöhle  hinein- 
wachsen  und   die  Tonsillen  und  den  Pharynx  in  Älitleidenschaft  ziehen ; 
sie  bringen  in  der  Regel  bald  den  Tod;   die  hier  noch  möglichen  Ope- 
rationen sind  mit  so  bedeutenden  Gefahren  verbunden,  dass  man  dadurch 
selten  das  Leben  verlängert. 

Von  den  übrigen  Drüsen,  welche  nach  den  neueren  Untersuchungen 
zum  Lymphdrüsensystem  zu  rechnen  sind,  unterliegen  nur  die  Tonsil- 
len einer  hyperplastischen  Erkrankung;  docli  ist  diese  gewöhnliche  und 
bei  Kindern  und  jugendlichen  Individuen  sehr  häufige  Tonsillarhyper- 
trophie    mehr    der    chronisch -entzündlichen    secundären    Lymphdrüsen- 


Vorlesung  18.     Capiiol  XXl'.  735 

scliwellung-  vergleichbar,  meist  die  Folge  chroniaclicr  Katarilie  des  Plia- 
rynx,  während  fälschlicli  oft  das  llmgekclirtc  aiigcnoniinen  wird,  näirdich 
dass  die  liypertrophisclieu  Tonsillen  die  Ursachen  der  iMiarynxkatarrlie 
sind:  die  Exstirpation  nützt  daher  in  solchen  Fällen  für  das  Hauptleiden, 
die  häufigen  Anfälle  von  Halsentzündungen,  so  gut  wie  niclits.  —  Hyper- 
trophien der  Thymusdrüse  konnnen  vor,  sind  jedocli  immerhin  sehr 
selten.  —  Die  analogen  Erkrankungen  der  Peyer'schen  Plaques  und  der 
Milz  haben  kein  besonderes  Interesse  für  die  Chirurgie. 

Es  giebt  aucJi  Lympliome  in  Geweben,  welche  nicht  zu  den 
Lymphdrüsen  gehören;  ich  fasse  dabei  alle  diejenigen  meist  weichen 
medullären  Geschwülste  als  Lymphome  auf,  in  welclien  sich  ein  den 
Lymphdrüsen  analoges  Netz  durch  sorgfältige  Erhärtung  und  Präparation 
darstellen  lässt.  In  diesem  Sinne  habe  ich  Lymphome  im  Oberkiefer, 
in  der  Scapula,  im  Zellgewebe,  im  Auge  etc.  gesehen,  Geschwülste, 
welche  in  ihrer  Structur  oft  nur  sehr  undeutlich  von  den  Granulations- 
sarkomen (zumal  von  Virchow's  Gliosarkomen)  abgrenzbar  sind,  und 
meist  wegen  ihrer  gewöhnlich  medullären  Beschaffenheit  kurzweg  unter 
dem  Titel  „Markschwamm"  passiren.  Nach  meiner  Erfahrung  pflegt  die 
Vermischung  der  eben  erwähnten  Formen  keine  prognostischen  Fehler 
nach  sich  zu  ziehen,  insofern  diese  Tumoren  gleich  bösartig-,  gleich 
infeetiös  zu  sein  scheinen;  doch  soll  damit  keineswegs  die  Bedeutung 
der  detaillirtesten  Untersuchung  aucli  dieser  Tumoren  herabgesetzt  oder 
unterschätzt  werden;  wir  haben  in  Betreif  der  schärferen  Sonderung  von 
Sarkomen  und  Carcinomen  im  Lauf  der  letzten  Jahrzehnte  auch  schon 
interessante  und  wichtige  klinische  Unterschiede  gelernt.  Es  wäre  noch 
vor  zehn  Jahren  unmöglich  gewesen,  sich  so  entschieden  über  die  Gruppe 
Sarkom  und  Lymphom  auszusprechen,  Avie  das  jetzt  der  Fall  ist.  Was 
wir  jetzt  unter  die  Gruppe  „Lymphom"  zusammenfassen,  ist  früher 
theils  bei  den  Drüsenhyperplasieu,  theils  bei  den  Sarkomen,  theils  bei 
den  Markschwänimen  abo-ehandelt. 


Vorlesung  48. 

10.    Papillome.  —   11.    Adenome.  —    1"2.  Cysten   und    Cysto  nie.     Folliculareysten 
der  Haut,    der    Sclileimliäute.  —    Cysten    neuer  Bildung.  Schilddrüsencysten.     Eierstocks- 

cystonie.     Bluteysten. 

10.  Papillome.     Papillär- Hypertrophien. 

Es  ist  bis  jetzt  ausschliesslich  die  Rede  gewesen  von  Neubildungen 
aus  der  Reihe  der  Bindesubstanzen,  der  Muskeln  und  Nerven.  Jetzt 
gehen  wir  zu  den  Neubildungen  über,  bei  welchen  die  aus  dem  oberen 
und  unteren  Keimblatt  des  Embryo  hervorgegangenen  wahren  Epithelieu 
eine  mehr  oder  minder  wichtige  Rolle  mitspielen. 


736 


Von  den  Geschwülsten. 


An  zwei  normalen  Gebilden  haben  die  Epithelien  einen  wesentlichen 
Antheil,  nämlich  an  den  Papillen  der  Haut  und  der  Sclileimhäute  (Darm- 
zotten)  und  den  Drüsen;  erstere  sind  wellig-e  oder  fingerförmige  Er- 
hebungen, letztere  buchtig'«  oder  cylindrische  Einsenkungen  der  Häute, 
welchen  die  epitheliale  Decke  genau  folgt.  Beide  ge1)en  das  physiolo- 
gische Paradigma  für  gewisse  Geschwulstformen  ab,  von  denen  wir  die 
rein  hyperplastischen  Formen  der  ersten  Eeihe  Papillome,  die  der 
zweiten  Eeihe  Adenome  (von  ddtjv  Drüse)  nennen  wollen;  mit  beiden 
ist  entsprechende  Bindegewebs-  und  Gefässneubildung  verbunden. 

Die  verhornenden  Papillome  kommen  ausschliesslich  auf  der 
Cutis,  selten  in  der  Wandung  von  Talgdrüsencysten  vor.  Mau  kann 
zwei  Hauptformen  unterscheiden: 

a)  Die  Warzen.  Diese  sind  anatomisch  dadurch  charaktcrisirt,  dass 
sie  aus  einem  übermässigen  Längs-  und  Dickenwachsthum  der  Papillen 
hervorgehen.  Auf  diesen  abnorm  grossen  Papillen  verhornt  dann  die 
Epidermis  in  Form  von  kleinen  Zapfen,  aus  denen  jede  Yrarze  zusam- 
mengesetzt ist  (Fig.  163).  Diese  Warzen,  welche  ohne  bekannte  Ver- 
anlassung besonders  an  den  Händen  oft  massenhaft  auftreten,  sind  selten 
o-rösser  als  Linsen  oder  Erbsen. 


Fio-.  I(i3 


Warze,     a  Längsschnitt,     h  Querschnitt.     Vergrüssernng  20. 

b)  Die  Hauthör uer  sind  gewissermaassen  vergrösserte  Warzen; 
die  Epidermismasse  der  vergrösserten  Papillen  verklebt  hier  zu  einer 
festen  Substanz,  welche  sich  in  enormem  Grade  vermehrt,  so  dass  das 
Hörn,  sei  es,  dass  es  gerade  oder  gewunden  ist,  eine  Länge  von 
o— 4  Zoll  und  darüber  erreichen  kann.  —  AVenn  auch  die  äusserliche 
Beschaffenheit  dieser  Hörner,  die  eben  nur  aus  verhornten  Epidermis- 
zellen  bestehen,  grosse  Aehnlichkeit  mit  den  Hörnern  mancher  Thiere 
hat,  so  ist  doch  die  anatomische  Structur  eine  andere,  indem  ja  den 
Hörnern  der  Thiere  Kuochensubstanz  zu   Grunde  liegt.     Die  Farbe  der 


Vorlesiinn-  4S.      Cnpilol    XXI.  737 

ITauthönier  ist  in  der  Ue^c]  eine  selinuitziy])i'üunli(',lie;  es  kommen  diese 
merkwiirdijj;en  Bilduni!,'en  lin.ii])ts;i<'lili('li  im  (Jesiclit  und  ;ini  Xopf,  dünn 
aber  aueh  am  Penis  und  an  anderen  K()r})ei-stel]en  voi',  aLicli  waelisen 
sie  zuweilen  aus  Atlierom('yst(Mi  lieraus. 

Den  Warzen-  und  llornbildung-cn  liegt  entseliieden  eine  allgemeine 
Disposition  der  Haut  zu  Grunde.  Diese  spricht  sich  haui)tsäclilich  darin 
aus,  dass  gar  nicht  selten  die  Warzen  nmssenhaft  zu  20 — 50  an  beiden 
Händen  erscheinen,  besonders  bei  Kindern  zumal  kurz  vor  der  Zeit  der 
Pubertätsentwickluug'.  Irritirende  äussere  Einwirkungen  spielen  hier 
offenbar  mit,  wofür  z.  B.  aucli  der  Umstand  spricht,  dass  gerade  auf 
die  Hände  mancherlei  von  aussen  einwirkt;  dass  die  Epidermis  an  den 
Händen  schon  normaler  Weise  besonders  dick  ist,  mag-  auch  zur  Ent- 
stehung dieser  Bildungen  disponiren.  Die  Disposition  zur  Hauthornbil- 
dung, so  selten  sie  aucli  beobaclitet  ist,  gehört  mehr  dem  höheren  Man- 
nesalter an,  sowie  auch  sonst  die  meisten,  später, zu  erwähnenden  epi- 
dermoidalen  Neubildungen  vorwiegend  in  der  letztgenannten  Zeit  zur 
Entwicklung  kommen.  In  anatomisclier  Beziehung  wäre  zu  den  er- 
wähnten Formen  der  Hornwucherungen  auch  noch  der  Hystricismus 
(vGTQi^,  Schweinsborste,  Igel)  zu  rechneu.  Der  Hystricismus  oder  die 
stachelschweinähnliche  Bildung  der  Haut  ist  eine  besondere  Art  von  Pa- 
pillarhypertrophie  mit  Verhornung  der  Epidermis  in  der  Art,  dass  sich 
stach elartige  Bildungen  an  der  Hautoberfläche  entwickeln.  Diese  Affec- 
tion  ist  wie  die  Ichthyosis  (eine  schuppenartige  Verdickung  der  Epi- 
dermis über  den  ganzen  Körper,  von  lyßvg  Fisch)  meist  angeboren. 

-  Die  Disposition  zu  Warzen  ist  eine  durchaus  ungefährliche,  tritt 
immer  nur  in  der  Jugend  auf  und  hört  in  vielen  Fällen  ganz  spontan 
auf.  Im  Volke  hält  man  die  Warzen  für  ansteckend,  vielleicht  nicht 
ganz  mit  Unrecht:  ich  sah  einen  Fall,  in  welchem  sich  eine  gewöhnliche 
Warze  an  der  Seite  einer  Zehe  gebildet  hatte,  und  wo  dann  an  der  ge- 
genüberliegenden Fläche  der  anliegenden  Zehe  auch  eine  Warze  ent- 
stand. —  Die  Bedeutung  der  Hauthörner  ist  schon  eine  grössere;  wenn 
diese  Hörner  auch  zuweilen  spontan  abbrechen  und  abfallen,  so  wachsen 
sie  doch  wieder  nach,  sobald  nichts  Operatives  dagegen  unternommen 
wird,  ja  in  manchen  Fällen  entsteht  an  der  Stelle,  wo  früher  ein  Haut- 
horn  sass,  später  ein  Epithelialkrebs. 

Die  Warzen  kann  mau  in  den  meisten  Fällen  sich  selbst  überlassen. 
Wie  bei  allen  Krankheiten,  welche  mit  der  Zeit  von  selbst  vergehen, 
giebt  es  auch  für  die  Warzen  eine  grosse  Menge  sympathetischer  Volks- 
mittel: das  Auflegen  einer  solchen  mit  Warzen  bedeckten  Hand  auf  die 
Hand  eines  Todten,  das  Ueberschlagen  einer  Picihe  von  Blättern  und 
Kräutern  wird  von  alten  Frauen  als  ein  unzweifelhaftes  Mittel  angesehen. 
Wollen  Sie  einige  grössere  Warzen,  welche  den  betreffenden  Inhabern 
besonders  störend  und  unangenehm  sind,  wegbringen,  so  geschieht  dies 
am  leichtesten  mit  Aetzmittelu.     Ich  brauche  dazu   die  rauchende  Sal- 

ßiUvoth    ebir.  Piith.  u.  Ther.     7.  Aufl.  47 


"OQ  Von  den   Geschwülsten. 

petersäure  oder  Scliwefelsäure ;  mit  derselben  betupfe  ich  die  Warze, 
trao-e  dann  am  folgenden  Tage  die  geätzte  Scliicht  mit  dem  Messer  ab, 
bis  ein  Tropfen  Blut  fliesst,  und  wiederhole  darauf  die  Aetzung.  Dieses 
Verfahren  muss  so  lange  fortgesetzt  Averden,  bis  die  Warze  vollständig 
verschwunden  ist. 

Die  Hauthörner  kann  man  nur  dadurch  radical  beseitigen,  dass 
man  das  Stück  Haut,  an  welchem  sie  aufsitzen,  herausschneidet.  — 

Unter  weichen,  sarkomatösen  Papillomen  wollen  wir  solche 
Neubildungen  verstehen,  welche  die  Form  von  Papillen  haben,  aus 
weichem  Binde-  oder  Sarkomgewebe  bestehen  und  von  einer  Epithelial- 
decke  belegt  sind,  welche  derjenigen  des  Grundbodens  analog  ist. 

An  der  Cutis  kommen  sarkomatöse  zuweilen  sehr  reichlich  vascula- 
risirte  Papillome  (weiche  Warzen)  im  Ganzen  selten,  doch  zuav eilen  an- 
geboren als  Hahnenkamm-förmige  Wuclierungen  an  der  einen  oder  an- 
dern Gesichtshälfte  fast  immer  nur  einseitig  vor.  Die  breiten  und 
auch  die  spitzen  Condylome  an  den  Schleimhäuten  sind  Producte  der 
Syphilis  und  des  specifisch  irritirenden  Trippereiters ;  wir  zählen  sie 
nicht  zu  den  Tumoren  im  specielleren  klinischen  Sinne. 

Viel  häufiger  entwickeln  sich  an  den  Schleimliäuten  sarkomatöse 
Papillome,  zumal  an  der  Portio  vaginalis,  seltener  schon  in  der  Rectum- 
und  Nasenschleimhaut.  Sie  fallen  bei  der  bisher  üblichen  chirurgischen 
Nomenclatur  in  die  Kategorie  der  Schleimpolypen.  Es  sind  häufig  com- 
plicirtere  Gescliwülste,  bei  denen  Drüsenwucherung  und  Drüsenektasie, 
Bildung  von  sarkomatösera  Zwischengewebe  und  Papillombildung  neben 
einander  hergehen.  Meist  sind  es  gestielte  Geschwülste,  zuweilen  er- 
krankt eine  grössere  Fläche  der  Schleimhaut  gleichzeitig. 

Selten  werden  diese  Papillome  iufectiös,  doch  kommen  sie  nach  der 
Exstirpation  zuweilen  wieder.  Die  ausgedehnten  Papillome,  welche  sich 
manchmal  im  Kehlkopf  bei  Kindern  finden,  sind  vielleicht  immer  syphi- 
litischen Ursprungs. 


11.    Adenome.     Partielle  Drüsen -Hypertrophien. 

Neubildung  von  ächten,  regelmässig  ausgebildeten  Drüsen  oder 
Drüsentheilen  ist  nicht  so  gar  häufig,  während  wir  später  die  unvoll- 
kommenen Drüsenbildungen  beim  Krebs  als  eine  der  gew^ihnlichsten 
Formen  der  Neubildung  kennen  lernen  werden. 

Während  man  früher  die  Sarkome  der  Mamma  vielfach  als  par- 
tielle Hyperplasien  der  Drüse  angesprochen  hat,  weil  man  Drüsen  darin 
fand,  ist  man  in  neuerer  Zeit  sehr  zweifelhaft  geworden,  ob  in  den 
früher  beschriebenen  Sarkomen  in  Drüsen  (pag.  726)  wirklich  Drüsen- 
aciui  neugebildet  werden;  ich  muss  nach  meinen  Beobachtungen  das 
wahre  Adenom  der  Brustdrüse  für  sehr  selten  halten.     Förster  und 


Vorlesimo-  4fi.     Cnpilcl   XXT.  739 

Andere  bcsclivcibcu  aciiK'lsc  Adenome  der  Mnnnnn,.  Bei  diesem  seltenen 
Vorkommen  Ifisst  sieli  über  die  i)roii'nos1isclie  Bedentung  dieser  g'ewölin- 
lieli  klein  l)leil)cnden  Tumoren  niclit  viel  sagen.  Man  hält  sie  meist 
l'iir  durehaus  gutartig;  doch  scheint  es  mir  aus  anatomischen  (jlriin(h'ii 
wahrscheinlich,  dass  sie  den  Carcinomen  auch  in  prognostischer  Hinsicht 
nicht  so  fern  stehen  dürften. 

Die  sogenannte  Hypertrophie  der  Prostata  ist,  so  weit  meine  Unter- 
suchungen reichen,  nie  mit  Adenombildung,  sondern  nur  mit  l^^ktasie  der 
Acini  und  epithelialer  Hyperplasie  verbunden;  im  Wesentlichen  beruht 
die  so  häufig  beobachtete  Vergrösserung  dieser  Drüse  wie  schon  be- 
merkt (pag,  700)  auf  diffuser  oder  knotiger  Myombildung. 

Die  Drüsen  der  äusseren  Haut  und  mancher  Schleimhäute 
können  auch  zur  Entwicklung  von  Adenomen  und  Adeno  -  Sarkomen 
Veranlassung  geben;  es  sollen  durch  Auswachsen  des  Drüsenepithels 
analog  der  Drüsenentwicklung  im  Fötus,  Geschwülste  der  Haut  entstehen 
können,  welche  als  reine  Adenome  aufzufassen  sind.  Verneuil  beschrieb 
zuerst  ein  Adenom  der  Schweissdrüsen.  Ich  habe  solche  Geschwülste 
bisher  nicht  beobachtet,  zweifle  jedoch  nicht  mehr  an  ihrer  Existenz, 
nachdem  mir  von  Rindfleisch  ein  Adenom  der  Art  demonstrirt  ist.  — 
Etwas  häufiger  sind  diejenigen  Drüsenbildungen,  welche  in  der  Schleim- 
haut der  Nase,  des  Dickdarms  und  des  Uterus  vorkommen,  und  welche 
in  ein  gallertiges  ödematöses  Bindegewebe,  seltener  in  andere  Formen 
des  Sarkomgewebes  eingebettet  sind.  Es  entstehen  dadurch  Geschwülste, 
welche  man  im  Allgemeinen  als  Schi eirapolypen  zu  bezeichnen  pflegt: 
theils  faltenartig  breit  aufsitzende,  theils  kolbig  gestielte  Geschwülste; 
sie  haben  die  Farbe  und  Consistenz  der  Schleimhaut,  welcher  sie  ent- 
sprungen sind,  tragen  auch  deren  Epithel,  wobei  nur  die  weichen  Po- 
lypen des  äusseren  Gehörganges  eine  Ausnahme  machen,  welche  häufig- 
sonderbarer Weise  mit  Flimmerepithel  bekleidet  sind.  Nicht  alle  diese 
Schleimpolypen  enthalten  Drüsen;  sie  fehlen  gewöhnlich  den  Ohrpolypen 
und  den  kleinen  blätterartigen  Wucherungen  der  weiblichen  Harnröhre, 
den  sogenannten  Harnröhrencarunkeln.  Die  letzterwähnten  Neubildungen 
bestehen  einzig  aus  ödematösem  und  gallertigem  Bindegewebe  mit  einer 
Ephithelialdecke.  Die  meisten  Schleimpolypen  der  Nasenhöhle,  des  Dick- 
darms und  besonders  des  Rectums  bestehen  aber  zum  grossen  Theil  aus 
hervorgezerrten  und  auch  neugebildeten  Schleimhautdrtisen ,  deren  ge- 
schlossene Enden  sich  unter  Umständen  zu  Schleimcysten  erweitern. 
Die  Schleimpolypen  können  daher  im  anatomischen  System  je  nach 
ihrem  Gehalt  an  Drüsen  theils  zu  den  reinen  Adenomen  (z.  B.  die  Rec- 
tumschleimpolypen  bei  Kindern  Fig.  1(34),  theils  zu  den  Sarkomen  (viele 
Nasenschleimpolypen),  theils  zu  den  ödematöseu  Fibromen,  theils  endlich 
zu  den  Myxo-Sarkomen  gezählt  werden.  —  Die  Disposition  zu  Schleim- 
polypen reicht  vom  Kindesalter  bis  etwa  in  das  50.  Lebensjahr.  Bei 
Kindern  ist  die  Localisation   der-  Krankheit  auf  das  Rectum    und   den 

47* 


740 


Von  den  Geschwülsten. 
Fii,^  l(J4. 


v/i  fr^MSj!^^^^^^ 


■^  \  W\ 


Ans  einem  Sclileinipdlyp  (Adenom)  des  Kectnms  von  einem  Kinde. 
Vergrösserung  (iO. 

Dickdarm  beschränkt,  und  zwar  so,  dass  tlieils  einzelne  Geschwülste 
der  iVrt,  theils  viele  derselben  zu  gleicher  Zeit  entstehen;  letzteres  kommt 
jedoch  fast  nocli  häufig'er  bei  Erwachsenen  als  bei  Kindern  vor.  Von 
der  Zeit  der  Pubertät  an  bis  etwa  zum  30.  Jahre  herrscht  die  Localisa- 
tion  auf  der  Kasensclileimhaut  vor;  theils  mit  Productiou  einzelner  Po- 
lypen, theils  mit  gleichzeitiger  Wucherung  in  beiden  Nasenhöhlen;  letz- 
teres ist  das  Häufigere.  In  den  beiden  letzten  Jahren  des  dritten  Jahr- 
zehntes treten  dann  die  Sclileimpolypen  des  Uterus  auf,  welche  unter 
Umständen  später  den  Uebergang  zu  krebsigen  Bildungen  machen  können. 
Bei  allen  diesen  Polypen  besteht  eine  grosse  Hartnäckigkeit  zu  localen 
Recidiven,  besonders  ist  dieselbe  bei  den  i^asenpolypeu  ausgesprochen, 
deren  Wachsthum  oft  erst  nacli  3 — 4 maliger  Entfernung  aufhört.  In 
den  meisten  Fällen  erlisclit  im  Lauf  der  Jahre  die  Disposition  zu  diesen 
Neubildungen  von  selbst,  indem  endlicli  die  Recidive  aufhören,  oder 
auch  die  kleineren  Polypen,  wie  z.  B.  die  am  Uterus,  in  ihrem  Wachs- 
thum stehen  bleiben.  Die  mikroskopische  Untersuchung  dieser  Geschwül- 
ste kann  insofern  Aufschluss  über  Verlauf  und  Prognose  geben,  als  die- 
jenigen GeschAvülste,  deren  Gewebsmasse  nur  aus  ödematösem  Binde- 
gewebe besteht,  weit  Aveniger  Aussicht  auf  Recidive  geben,  als  diejenigen, 
welche  aus  Spindelzellengewebe  bestehen  oder  aus  einem  Gewebe,  wel- 
ches der  entzündlichen  Neubildung  analog  ist;  endlich  kann  in  einigen 
luulen  nur  durch   die  anatomische   Untersuchung   Verwechselungen  mit 


Epithelialcarcinom  vorgebeugt  werden. 


IS.    Cnpiici  xxr. 


741 


Die  Öclilcinipolypeii  clor  Nase  ontfonit  man  um  Icicliteslfii  dm-cli 
(las  vVusveissen  mit  den  dazu  l)Ostinmitcii  IVdypcii/an^^'on,  ebenso  vcrrülirl, 
ninn  mit  den  r<)l}|)Oii  dos  äusseren  Geliörgaug'es;  die  1'olypen  des  l'terus 
und  des  lieetums  schneidet  man  an  der  IJasis  mit  der  Sclieere  ab;  wvnn 
mau  lilutuug-  fürchtet,  so  leg-t  man  zuvor  eine  Ligatur  an  oder  l)raucht 
den  Ecraseur. 

Von  den  Drüsen  ohne  Ausrülu'ung'Sgang'  beriicksiclitigen  wir  liier 
nur  die  Schilddrüse,  weil  sie  eine  ächte  E])itiu'liaJdrnse  ist;  die  Ade- 
nome des  Eierstocks  g-ehen  so  überwiegend  häufig  in  die  cystoiden 
Formen  über,  dass  sie  zweckmässiger  im  nächsten  Al)schnitt  besjirochen 
werden.  —  Geschwülste  der  (Uandula  thyreoidea  nennt  man  seit  langer 
Zeit  Struma,  Kropf  (im  Mittelalter  bedeutete  „strumös"  das,  was  wir 
heute  „scrophidös"  heissen).  Wenn  wir  das  anatomische  Verhalten  dieser 
Geschwülste  zur  Drüse  betrachten,  so  giel)t  es  diffuse  Anschwellungen 
der  Schilddrüse, -Avelche  einen  oder  gleiclizeitig  beide  Lappen  betreti'en 
und  Geschwülste,  welche  deutlich  umgrenzt  in  die  Drüse  eingelagert  sind, 
wobei  letztei'e  noi'mal  ist  oder  auch  in  g-eringem  Grade  hypertro])hisch 
sein  kann.  Schliessen  wir  die  einfaclien  Cysten  der  Schilddrüse,  die 
sog-enannte  Struma  cystica,  aus,  so  sind  die  meisten  übrigen  Formen 
der  Kröpfe  reine  Adenome  oder  Cysto-Adenome.  Falls  das  Gewebe 
dieser  Geschwülste,  welche  von  äusserst  verschiedener  Consistenz  sein 
können,  noch  nicht  durch  secandäre  Veränderungen  metamorphosirt  ist, 
so  zeigt  es  auf  dem  Durcbschnitt  für  das  freie  Auge  fast  dieselbe  Be- 
schaffenheit, wie  die  Schnittfläche  der  normalen  Schilddrüse. 

Auch  mikr(),skopisch  ist  das  Verhalten  ein  sein-  ähiiliches;  fast  alle  festen  Krcipf- 
geschvvi'ilste  lassen  bei  der  niikniskopisclien  Untersuchung  eine  grosse  Menge  von  Binde- 
gewebska.pseln  erkennen,  in  welchen  eine  klare,  mit  mehr  oder  weniger  runden,  blassen 
Zellen    durchsetzte    Gallertsubstanz    enthalten    ist   (Fig.   165).      Die    Grösse    dieser    Kapseln 

Fig.  165. 


A'  ■:'k 


f^b^:tMA 


s^^-^^^-'  's>ri^ 


Aus  einer  gewöhnlichen  festen  Kropfgeschwulst.     Adenom  der  Schilddrüse. 
Partielle  Iniection.     Vergrösserung  100. 


742 


Von  den  Geschwülsten. 


variirt.  ungemein,  indem  die  jüngsten  derselben,  welche  noch  keine  Gallerte,  sondern  nur 
Zellen  enthalten,  den  fötalen  Thyreoideablasen  analog  sind,  während  die  grössten  den 
6— lOfachen  Durchmesser  jener  haben.  — 

Eiue  der  häiifig'sten  Veränderungen  in   den   Kropfgeschwülsten  ist 
die  Cystenbildung-,  welche  dadurch  zu  Stande  kommt,   dass  bei  der  Er- 
weiterung-   der  Drüsenblasen   eine   Anzahl  derselben    confluirt    und    der 
dickg-allertige    Inhalt    sich    mehr    und  mehr  verflüssigt.     Ausser   dieser 
Cystenbildung-  in  den  Kröpfen  giebt  es  jedoch  noch  andere,  ebenso  häu- 
fige Veränderungen  der  Kröpfe,  welche  bei  längerem  Bestehen  derselben 
fast  regelmässig  einzutreten  pflegen,  nämlich  Blutextravasate,  die  freilich 
zum  grössten  Theil  resorbirt  werden,  aber  Pigmentirungen  in  geringerer 
oder  grösserer  Menge  zurücklassen.     Ausserdem  ist  die  Verkäsung  und 
Verfettung  mit  Bildung  von  Cholestearinkrystallen  in  alten  Kröpfen  häu- 
fig; endlich  tritt  auch  gar  nicht  selten  Verkalkung  hinzu,  so  dass  durch 
alle  diese  secundären  Metamorphosen   das   ursprüngliche  Bild  der   Ge- 
schwulst sehr  verändert  werden  kann.      Die  Kropfgeschwülste,   welche 
theils  in  der  Mitte  des  Halses,  theils  auf  beiden  Seiten  in  grösserer  An- 
zahl oder  solitär  entstehen,   können   eine    bedeutende  Grösse   erreichen, 
die  Luftröhre  erheblich  zusammendrücken  und  durch  Erstickung  tödten. 
Viel   seltner  erreicht  die  gleichmässige   doppelseitige  Hypertrophie   der 
Schilddrüse   einen  sehr  hohen  lebensgefährlichen   Grad.    —   Die  Kropf- 
krankheit ist  hauptsächlich .  durch  ihr    endemisches    Vorkommen    merk- 
würdig;  es  sind  besonders  Gebirgsländer,   in  denen  sie  sich  findet:   sie 
wird  im  Harz,  in  Thüringen,  in  den  schlesischen  und  böhmischen  Bergen 
und   in   den  Alpen  beobachtet,    wenngleich  hier  nicht  in  allen  Theilen 
mit  gleicher  Häufigkeit.     Einzelne  Thäler   der   Schweiz  und   der  öster- 
reichischen Alpen   sind    sogar  vollkommen  davon   frei.     Im   Himalaya- 
Gebirge  und  auch  in  den  gebirgigen  Theilen  Brasiliens  kommen  Kröpfe 
häufig    vor.      Man    hat    die    verschiedensten    Umstände,    besonders    das 
Wasser    und    den  Erdboden    als   Ursache    dieser  Krankheit    angeklagt, 
ohne  dass  jedoch  durch  exactere  Untersuchungen  ein  bestimmter  wissen- 
schaftlicher Anhalt  gewonnen  wäre.     Unzweifelhaft  spielen  die  geologi- 
schen und  klimatischen  Verhältnisse  bei   dieser  Krankheit  eine   grosse 
Rolle.     Eine  durchgehende   Gleichartigkeit  in   der  (vielleicht  auch  erb- 
lichen) Constitution  der  Kropf  kranken  lässt  sich  kaum   aufstellen;    ein 
.  gewisser  Zusammenhang  mit  dem   Cretinismus   ist  nicht  zu  verkennen, 
insofern  die  meisten  Cretins  mit  Kröpfen  behaftet  sind;  doch  wird  Kropf 
noch  viel  häufiger  bei  Individuen  mit  völlig  gesund  entwickelten  Knochen 
und  Hirnen  gefunden.  —  Die  Kropfbildung  kann  in  sehr  seltenen  Fällen 
angeboren  sein,  entwickelt  sich  jedoch  meistens  erst  mit  dem  Beginn  der 
Pubertät    stärker;    das   Wachsthum  des   Kropfes   überdauert  selten  das 
50.  Jahr;  die  Kröpfe,  welche  bis  dahin  unschädlich  getragen  sind,  pflegen 
im  Wachsthum  still  zu  stehen,  auch  später  keine  Beschwerde  zu  machen ; 
hiervon  giebt  es  nur  wenige  xlusnahmefälle ,   in   welchen  sich   aus  der 


Voricsimo-  -IS.      (.'apilrl    XXt.  743 

beHcliricbeiicii  liyi)eri)la8tisclicn  Gcscliwul.stfbnii  ein  krcbsii^'cr  Kr()|)r 
entwickelt  mit  Iiifcetioii  der  näcb.sti;'olei;oneii  LyniphdriisciT,  (ludiiicli  cr- 
iolgt  fast  iiiiuicv  ein  tödtliehcs  EikU;  diircli  I'j-.stickimi;'.  Es  ist  k;iuiu 
nötliii;',  die  Struma  a,neiirysmaticM,  als  eine  I)es()ndere  Art  abzu- 
g'renzen,  indem  dieselbe  nichts  Anderes  darstellt,  als  einen  mit  starker 
Erweiterung-  der  zul'ülirenden  Arterien  verbundenen  Kro])!".  —  Degen 
die  Kropfkraidvheit  Avendet  man  Inder  Regel  ,lodi»rä[)arate  an;  dieselben 
haben  jedoch  nur  bei  der  ersten  Entwicklung  eine  entschiedene  AVirk- 
samkeit;  später  nützen  sie  so  gut  Avie  nichts;  man  brauclit  sie  indess 
sowohl  innerlich  wie  äusserlich,  weil  man  keine  anderen  Mittel  besitzt. 
Die  Exstirpation  der  hypertrophi-chen  Schilddrüse,  sowie  sehr  grosser 
Kropfgesclnvülste  ist  innnerhin  noch  gefährlich ;  sie  kann  in  Folge  von 
Blutungen  oder  auch  zuweilen  in  F<dge  des  kolossalen  operativen  Ein- 
griffes zu  raschem  Tode  führen,  so  dass  es  sich  nur  um  die  Exstirpation 
kleiner,  beweglicher  Kröpfe  bei  jugendlichen  Individuen  handeln  kann. 
Es  bedarf  einiger  Erfahrung,  um  vorher  entscheiden  zu  können,  welche 
Kropfgeschwülste  ohne  Gefahr  zu  exstirpiren  sind  und  welche  nicht.  Im 
Allgemeinen  warne  ich  Sie,  Kropfgeschwulstoi»erationen  aus  kosmetischen 
Gründen  zu  machen;  droht  Erstickungsgefahr,  so  sieht  man  sich  aller- 
dings genöthigt,  auch  gewagtere  Operationen  der  Art  zu  unternehmen. 
Die  besten  Chancen  bieten  die  beweglichen  Kropfgesehwülste  in  der 
Mittellinie  des  Halses  bei  jungen  Eeuten,  während  selbst  kleine  Kröpfe, 
welche  tief  in  die  hypertrophirten  Seitenlappen  eingebettet  sind,  schwie- 
rig und  nicht  ohne  Gefahr  zu  entfernen  sind.  Auch  die  kleinsten  Ope- 
rationen der  Art  müssen  mit  der  grössten  Vorsicht,  zumal  in  Bezug  auf 
die  Blutstillung  der  Arterien  und  Venen  (durch  Umstechung  vor  der 
Dnrchschneidung)  ausgefülu-t  werden;  es  ist  vorzuziehen,  sich  beim  Her- 
vorholen der  abgekapselten  Geschwulst  mehr  des  Fingers,  eines  Myrthen- 
blattes,  einer  Hohlsoude  oder  anderer  stumpfer  Instrumente  zu  bedienen, 
als  zu  viel  mit  Messer  und  Scheere  zu  arbeiten.  Bei  Auswahl  der  Fälle 
haben  sich  die  Resultate  meiner  Kopfoperationen  fortwährend  gebessert. 
Auch  Kocher  berichtet  über  eine  Reihe  günstig  verlaufener  Operationen 
dieser  Art.  —  Lücke,  Störk  und  Schwalbe  loben  sehr  die  parenchy- 
matöseu  Injectionen  von  Jodtinctur  und  auch  von  reinem  Alkohol  in  die 
Kropfgeschwülste;  es  soll  danach  eine  bedeutende  zuweilen  totale 
Schrumpfung  der  Struma  eintreten.  In  den  ersten  Fällen,  in  welchen 
ich  diese  Methode  der  parenchymatösen  Injection  von  Jodtinctur  anwandte, 
blieb  sie  erfolglos;  ein  Fall,  in  welchem  ich  Alkohol  iujicirte,  verlief 
durcli  Verjauchung  der  Kropfgeschwnlst  und  Septhämie  tödtlich.  In 
neuester  Zeit  habe  ich  in  einigen  Fällen  be.deutende  Verkleinerungen 
der  Kröpfe  durch  consequent  fortgesetzte  Jodinjectionen  erzielt;  ich 
injicire  zwei  Mal  in  der  Woche  je  eine  Spritze  voll  (etwa  1  Scrupel) 
reine  Jodtinctur.  Das  muss  mehre  Monate  hindurch  fortgesetzt  werden. 
Einige  Patienten   magerten  dabei  bedeutend   ab,  so  dass  ich  diese  Kur 


IAA  Von  den  Geschwülsten. 

bei  scliwäclilichen  zumal  tuberciüösen  Personen  nicht  empfehlen  möchte. 
Die  Alkoholinjcctioneu  habe  ich  nach  dem  erwähnten  ungläcklicheu  Fall 
nicht  wieder  in  Anwendung  gezogen.  Auch  Störk  theilte  mir  mit, 
dass  die  Alkoliolinjectionen  zuweilen  starke  entzündliche  Reactionen  her- 
vorrufen, während  nach  den  Jodinjectionen  nur  eine  rasch  vortiberg-ehende 
Schwellung-  und  Schmerzhaftigkeit  vorkommt;  vorsichtig-  ist  es,  zuerst 
eine  drittel,  dann  eine  halbe  Spritze  zu  injiciren  um  die  individuelle 
entzündliche  Reizbarkeit  zu  prüfen. 


12.     CystejJ  und  C'ystome.     Balggeschwülste. 

Eine  Geschwulst,  welche  durcJi  einen  mit  Flüssigkeit  oder  Brei  an- 
gefüllten Sack  (Balg)  g-ebildet  wird,  nennt  man  eine  Cyste  oder  Balg- 
geschwulst.  Diese  Geschwülste  können  sich  aus  bereits  vorgebildeten 
Säcken  entwickeln  (Cysten),  oder  sie  sind  durchaus  neugebildet  (Cystome). 
Ist  eine  Geschwulst  von  einem  Convolut  sehr  vieler  solcher  Balgge- 
schwülste gebildet,  so  nennt  man  dieselben  „zusammengesetzte 
Cysten  oder  Cystome".  Finden  sich  in  einer  der  besprochenen  Ge- 
schwülste oder  in  Carcinomen  zugleich  Cysten  und  bilden  diese  einen 
wesentlichen  Theil  der  Geschwulst,  so  bildet  man  Namen,  wie  Cysto- 
Fibrom,  Cysto-Sarkom,  Cysto-Chondrom,  Cysto-Carcinom  etc. 

Virchow  rechnet,  wie  früher  bemerkt,  auch  die  eingekapselten 
Blutextravasatc ,  die  bereits  früher  besprochenen  Hämatome  (Extrava- 
sationscysten),  ferner  die  hydropischen  Ergüsse  und  Hypersecretionen 
seröser  Säcke  (Hydrocele,  Meningocele,  Hydrops  der  Gelenke,  Gang- 
lion etc.)  als  Exsudations  Cysten  zu  den  Geschwülsten.  Nach  Vir- 
chow's  Eintheilung-  bilden  dann  die  Retentionscysten  die  dritte 
Categ-orie  der  ßalggeschwülste.  Von  diesen  überlassen  wir  die  Reten- 
tionscysten grösserer  Canäle  und  Blasen,  wie  den  Hydrops  vesicae 
felleae,  processus  vermiformis,  tubarum,  uteri  der  inneren  Medicin  und 
Gynaekologie  und  beschränken  uns  auf  die  Gruppe  derjenigen  Tumoren, 
welche  Virchow  unter  dem  Namen  Follicularcysteu  zusammenstellt. 
Sowohl  die  Drüsen  der  äusseren  Haut  als  diejenigen  der  Schleimhäute 
sind  zur  Cystenbildung  disponirt.  Die  Schilddrüsencysten  haben  eine 
etwas  zweifelhafte  Stellung  zwischen  den  Exsudations-,  Follicular- 
Cysten  und  den  Cysten  neuer  Bildung.  Die  geschlossenen  Lymph- 
drüsenfollikel  scheinen  niemals  Veranlassung  zur  Entstehung  von  Cysten 
zu  werden. 

Von  den  Drüsen  der  Cutis  sind  es  allein  die  Talgdrüsen,  aus 
welchen  sich  Cysten  bilden;  es  ist  mir  nicht  bekannt,  dass  Schweiss- 
drüsencysten  beschrieben  worden  wären.  Die  Ursachen,  weshalb  sich 
das  Secret  in  den  Talgdrüsen  ansammelt,  sind:  a)  Eindickung  desselben, 
b)  Verschluss  der  Ausführungsgänge.     Wird  aus   einem   dieser  Gründe 


V(irlpsuii;j;    IS.      f';i|iilr!    XXT.  745 

das  Secret  znriickiiclinlton  und  liäuft  es  sich  in  der  Drüse  an,  so  wird 
die  in  Form  von  Acini  aiisii'el)uclitete  Secretionsfläclie  zu  einer  einfaclicn 
Kug-el  expandirt;  das  ang-eliäufte  Secret  bildet  einen  lueclianisclien  Keiz 
auf  das  nächstundici;-cnde  J}indei''ewel)e,  welches  in  Folg-e  dessen  ver- 
dichtet wird  und  das  Secret  als  IJali^-  uiug-iebt.  Lässt  sich  bei  An- 
wendung- von  kräftig-eni  Druck  der  noch  nicht  sehr  gross  g'ewordenc 
Sack  ausdrücken,  so  pflegt  man  eine  solche  kleine  offne  Cyste  einen 
„Coniedo"  (comedo  Fresser,  Schlemmer,  Mitesser)  zu  nennen.  —  Ist  in 
Folg'e  irg-end  eines  irritativen  entzündlichen  Processcs  die  Ausgangs- 
öffnung einer  Talgdrüse  geschlossen,  so  kann  freilich  danach  Atrophie 
der  Drüse  erfolg-cn,  wie  dies  z.  B.  nach  Verbrennungen  mit  ganz  ober- 
flächlicher Zerstörung  der  Cutis  öfter  geschehen  mag;  doch  in  anderen 
Fällen  dauert  die  Secretion  der  Drüse  fort,  und  diese  dehnt  sich  nun 
zu  einem  sehr  laugsam  grösser  werdenden  Sack  aus.  Solche  mit  Fett- 
brei und  Epidermis  gefüllten  Cysten  nennt  man  „Grützbeutel,  Atherom". 
Diesen  Brei  findet  man  bei  mikroskopisclier  Untersuchung  aus  Fett- 
tropfen, Fettkrystallen,  besonders  Cholestearin,  Epidcrmiszellen  und 
Plättohen  zusammengesetzt.  Er  hat  sehr  verschiedene  Farbe  und  Con- 
sistenz;  die  meisten  Atherome  am  behaarten  Kopf,  welche  im  höheren 
Mannesalter  entstehen,  haben  einen  schmutzig-graubräunlichen  stinkenden 
Inhalt  von  breiiger,  blättriger,  stückiger  Beschaffenheit.  —  Die  Bälge 
dieser  Cysten  sind  in  der  Regel  dünn,  aus  Bindegewelje  bestehend;  ihre 
innere  Fläche  zeigt  meist  eine  deutliche  Abgrenzung  eines  Rete  Mal- 
pighii  und  ist  wellig  oder  papillär  erlioben.  —  Der  Inhalt  dieser  Cysten 
erleidet  manchmal  die  Metamorphose  der  Verkalkung.  In  Folge  von 
Trauma,  äusserst  selten  spontan,  kann  ein  Atherom  aufbrechen;  der 
Brei  entleert  sich,  die  Ränder  der  Oeffnung  werfen  sich  um  und  die 
Innenfläche  des  Sackes  wird  zu  einer  übel  aussehenden  Ulcerationsfläche. 
—  Ausser  am  Kopf  und  im  Gesicht,  wo  sie  häufig  sind,  kommen  diese 
Geschwülste  nicht  oft  vor. 

Eine  zweite  Form  dieser  Cysten  sind  die  De  rmoi  d  Cysten,  welche 
meist  einen  rein  weissen  Inhalt  haben,  der  neben  Epiderniiszellen  reich- 
lich Cholestearin  enthält  (Cholesteatome).  In  der  Wand  dieser 
Cysten  finden  sich  Haare  mit  Haarbälgeu,  auch  wohl  Schweissdrüsen;  der 
Balg  ist  also  sehr  Haut-ähnlich,  dermoid  (von  deona  und  £l'dt]g).  Diese 
zumal  am  Kopf  im  Bereich  des  Orbitalrandes  häufig  vorkommenden 
Cysten  sind  in  ihren  ersten  Anfängen  immer  angeboren.  Man  hält  sie 
für  aberirte,  zu  tief  gewachsene  und  abgeschnürte  Stücke  von  Haut- 
drüsen, welche  sich  in  beschriebener  Weise  selbstständig  entwickeln.  — 
Am  Halse  können  inwendig  und  auswendig  geschlossene,  doch  in  der 
Mitte,  offengebliebene  Kiemengänge,  welche  mit  Epidermis  ausgekleidet 
sind,  im  Lauf  von  Jahren  durch  Epidermisanhäufung  zu  grossen  Chole- 
steatomcysten werden,  welche  im  Munde  (als  Ranula)  oder  aussen  am 
Halse  über  und  hinter  der  Schilddrüse  zum  Vorschein  kommen. 


n^Q  Von  den  Geschwülsten. 

Auch  in  Sclileimhäiiteii  mag  Eindickimg  des  Drtisensclileinis  und 
in  Folge  dessen  schwierige  Entleerung  desselben  Ursache  für  die  Ent- 
stehung von  Schleimcysten  geben  können;  iudess  ist  hier  wohl  häufiger 
Verschluss  des  Ausfiihrungsganges  der  Grund  für  die  Entwicklung  von 
Retentiouscysten.  Das  Secret  in  denselben  ist  meist  ein  zäher,  oft  selir 
dicker  Schleim  von  honiggelber  (Meliceris)  oder  rothgelber,  selbst  cho. 
coladenbrauner  Farbe;  es  finden  sich  bei  mikroskopischer  Untersuchung 
dieses  Cysteninhalts  viele  grosse,  blasse,  oft  Fettkörnchen  enthaltende, 
meist  runde  Zellen  in  homogenem  Schleim,  auch  Cholestearinkrystalle 
oft  in  grosser  Menge.  —  In  der  Nasenschleimhaut  sind  diese  Cysten  sehr 
selten,  doch  finden  sie  sich  in  Nasenschleimpolypen,  ja  manchmal  so 
zahlreich,  dass  man  diese  Geschwülste  auch  als  Blasenpolypen  bezeichnet 
hat.  In  der  Schleimhaut  des  x\ntrum  Highmori  fand  Luschka  oft  viele 
kleine  Cysten.  In  der  Mundschleimhaut  kommen  die  Schleimcysten  vor. 
wiegend  au  der  Innenseite  der  Lippen,  seltner  der  Wangen  vor.  In  der 
Uterusschleinihaut  und  in  Uterusschleimpolypen  sind  Schleimcysten  ein 
gewöhnlicher  Befund..  In  der  Rectumschleimhaut  dagegen  finden  sich 
keine  Schleimcysten,  auch  gehören  dieselben  an  den  tiefer  im  Innern 
des  Körpers  liegenden  Schleimhäuten  zu  den  grossen  Seltenheiten. 

Cysten  neuer  Bildung.  Diese  entstehen  meist  durch  einen  Er- 
weichungsprocess  vorher  durch  Zelleninfiltration  erkrankter  Gewebe,  oder 
durch  Erweichung  fester  Geschwulstmasse.  So  wie  sich  die  Neubildung 
in  Sack  und  flüssigen  Inhalt  gesondert  hat,  tritt  dann  in  manchen  Fällen 
eine  Secretion  an  der  Innenwandung  des  Sackes  ein,  so  dass  die  Erwei- 
chungscyste  zur  Secretions-  oder  Exsudationscyste  wird  und  sich  so  ver- 
grössert.  Jedes  zellenreiche  Gewebe  kann  durch  die  schleimige  Meta- 
morphose des  Protoplasmas,  oder  wie  es  von  Andern  aufgefasst  wird, 
durch  Abscheidung  der  schleimigen  Substanz  durch  Zellen  —  in  eine 
Cyste  umgewandelt  werden,  ohne  dass  dies  mit  Schleimdrüsenbildung 
irgend  etwas  zu  thun  hätte.  Wir  kennen  beim  Fötus  eine  Entstehung 
von  Höhlen  durch  schleimige  Erweichung  von  Knorpelgewebe,  nämlich 
die  Entwicklung  der  Geleukhöhlen.  Grade  in  Knorpelgeschwülsten 
kommt  oft  eine  schleimige  Erweichung  einzelner  Partien  vor,  wodurch 
Chondrome  mit  Schleimcysten  entstehen.  Ebenso  ist  in  Myxomen  die 
theilweise  Verflüssigung  und  Abkapselung  zu  Cysten  nichts  Ungewöhn- 
liches; das  Gleiche  kommt  in  Sarkomen,  zumal  in  Eiesenzelleusarkomen 
vor.  Die  oft  spaltartigen,  äusserst  glattwandigen  Cysten  mit  serösem 
oder  serösschleimigem  Inhalt,  welche  sich  in  Uterus-Myomen  finden,  sind 
vielleicht  enorm  dilatirte  Lymphräume.  Die  Knochencysten  entstehen 
anfangs  immer  durch  Erweichung,  doch  mag  es  sein,  dass  die  oft  sehr 
glänzend  glatten  Membranen,  welche  Räume  der  Art  auskleiden,  im 
Laufe  der  Zeit  wirklich  secerniren  können. 

Während  alle  eben  angeführten  Arten  von  neugebildeten  Cysten 
J^eine  Beziehungen  zu  Drüsenneubildungen  haben,  gehen  die  jetzt  zu  er- 


Vurlesiiiifr  48.     Cu[)ilcl  XXf.  747 

wäliiuiiulcn  aus  Adciioiucu  hervor.  Eine  etwas  unsiclierc  Stellung'  in 
(lieser  Jieilie  haben  die  schon  (p;iii'.  74!:^)  erwähnten  Cysten  der  Schihl- 
driise,  die  Cy  stenkröpl'c  oder  IJali^'kr  r)])rc;  unsicher  insofern,  ;ils 
sie  nicht  ii'rade  ;uis  nenyehihleten  Driisenbeeren  oder  Driisenröliren  hcr- 
vori;'ehen,  sondern  durcli  Ausaniuduni;-  von  meist  schleindy'eju  »Sccret  in 
einem  oder  einii;en  Thyreoidalbläsclicn;  wenn  man  den  Inhalt  diesei' 
Hläsclien  als  Secret  bezeichnen  will,  wozu  manchcidei  berecliti^'en  diiri'te, 
so  miisste  man  diese  Cysten  als  Jietentionscystcn  catei^orisiren.  Da  man 
aber  auch  auf  der  andern  Seite  sagen  kann,  dass  es  doch  bedenklicli 
sein  dürfte,  von  einem  Secret  der  Schilddrüse  zu  reden,  da  der  Inhalt  der 
Thyreoidalbläschen  von  manchen  Anatomen  als  normaler  AVeisc  nur  aus  Zel- 
len bestehend  bezeichnet  wird,  so  kann  man  die  durch  schleimige  Erwei- 
chung des  Bläscheninhaltes  entstandene  Cyste'  auch  wiederum  als  neu- 
gebildet  betrachten.  Mag  man  das  nun  so  oder  so  nehmen,  so  steht 
fest,  dass  die  Cysten  der  Schilddrüse  ganz  solitär  auftreten  und  recht 
gross  werden  können.  Uebrigens  kommen  fast  in  jedem  grösseren,  auch 
in  manchem  kleinen,  sonst  festen  Kropf  ein  oder  mehre  Cysten  vor,  deren 
Wandung  gewöhnlich  sehr  glatt  ist.  Grade  die  grossen  und  isolirten 
Cysten  dieser  Art  machen  den  Eindruck,  dass  sie  vorwiegend  Secretions- 
cysten  sind,  während  alle  solche  Höhlen  in  den  ül)rigen  Theilen  sehr 
grosser  Kröpfe  durch  ihre  erweichten,  wie  zerfetzten  Wandungen  weit 
mehr  den  Eindruck  von  Erweichungscysten  machen.  Der  Erweichungs- 
process  in  der  Schilddrüse  endigt  in  der  Kegel  mit  der  Bildung  einer 
schleimigen  Flüssigkeit;  es  giebt  aber  auch  Cysten  in  dieser  Drüse, 
welche  einen  grauen  bröckligen  Brei  enthalten,  welcher  wie  Talgdrüsen- 
brei aussieht  und  doch  sich  wesentlich  dadurch  unterscheidet,  dass  er 
nur  Detritus  von  Schilddrüsengewebe  enthält-,  ächten  Atherombrei  sah 
ich  noch  nicht  in  Schilddrüsen. 

Zu  den  complicirteren  Cystengeschwülsten  gehören  die  Cysto- 
sarkome  der  Brustdrüse,  von  denen  wir  schon  früher  (pag.  727)  ge- 
sprochen haben,  die  Eierstocks-  und  Hodencystome,  Cysto-Ade- 
nome,  Cysto-Sarkome  und  Cysto-Carcinome.  Nach  den  neueren 
Untersuchungen  handelt  es  sich  in  den  weitaus  meisten  dieser  Fälle  um 
neugebildete  Drüsenbeeren  oder  Drüseuröhven,  von  welchen  sich  End- 
kolben abschnüren,  wie  dies  normaler  Weise  bei  der  Bildung  der  Schild- 
drüsen- und  Eierstocksfollikel  erfolgt.  In  diesen  neugebildeten  Follikeln 
(vielleicht  auch  in  den  normalen  Eierstocksfollikeln)  wird  eine  schleimige, 
weingelbe,  bräunlichrothe  oder  dunkelbraune  Flüssigkeit  secernirt,  durch 
welche  der  anfangs  nur  mit  dem  Mikroskop  sichtbare  Follikel  allmählig 
immer  mehr  und  mehr  ausgedehnt  wird.  Entweder  aus  einem  solchen 
Follikel  oder  durch  die  Confluenz  mehrer  zu  einer  grösseren  gemeinsamen 
Höhle  entstehen  manchmal  colossale  Eierstockscysten^  Avelche  den  Leib 
einer  Frau  mehr  als  im  neunten  Monat  der  Schwangerschaft  ausdehnen 
können.   In  andern  Fällen  entwickeln  sich  Hunderte  bis  Tausende  solcher 


nAQ  Von  den  Gef^chwülsten. 

Follikel  und  so  eutstelien  die  miiltilociilären  Cystengescliwülste  des 
Ovarium.  —  Der  letztere  Process  kommt  auch  im  Hoden  vor,  wenn- 
gleich weit  seltener  als  im  Eierstock.  In  diesen  beiden  Organen,  wie  in 
der  Mamma  und  in  der  Schilddrüse  ist  schleimiger  Inhalt  der  Cysten  als 
Eeg-el  zu  betrachten;  doch  es  kommt  in  den  neugebildeten  Follicular- 
cysteu  des  Eierstocks  und  des  Hodens  auch  gelegentlich  zu  Fettsecretion 
und  zu  massenhafter  Epidermisproduction ;  es  bleibt  dann  bei  der  Bil- 
dung von  kohlkopfartig  zusammengelagerten  Hirsekorn-  bis  Erbsen- 
grossen Epidermis -Perlen,  wie  ich  dergleichen  in  Hodengeschwülsten 
sah,  oder  es  entwickeln  sich  grosse,  Fettbrei  enthaltende  Cysten.  Die 
Wandung  dieser  Cysten,  welche  bis  Kindskopfgrösse,  ja  in  seltenen 
Fällen  noch  grösser  im  Eierstock  älterer  Frauen  gefunden  werden,  ist 
gewöhnlich  weit  höher  organisirt  als  die  Wandung  der  Dermoidcysten 
der  Haut;  denn  grosse  Mengen  von  Haaren,  Talgdrüsen,  ScliAveissdrüsen, 
Papillen,  selbst  warzige  Auswüchse  befinden  sich  oft  in  der  Wandung 
dieser  Cysten.  Ja  Knorpel-  und  Kuochenplatten  mit  Zähnen  verschie- 
denster Form  werden  darin  gefunden,  so  dass  der  Gedanke  nahe  liegt, 
es  handle  sich  dabei  um  einen  verunglückten  Fötus,  um  eine  unvoll- 
kommene Befruchtung  und  Ovarialschwangerschaft  mit  einem  nicht  zur 
regelmässigen  Entwicklung  gekommenen  Individuum ! 

Ausser  an  den  genannten  Stellen  kommen  angeboren  auch  in  der 
Gegend  des  Os  sacrum  zusammengesetzte  Cystengeschwttlste  vor,  welche 
oft  Flimnierepithel  und  neben  mancherlei  andern  Geweben  gelegentlich 
auch  drüsige,  follikuläre  Bildungen  enthalten.  Die  Mannigfaltigkeit  der 
Gewebsformen  in  diesen  angeborenen  „Tumores  coccygei"  ist  von  den 
verhältnissmässig  einfachen  Formen  der  Cystosarkome  bis  zu  dem  foetus 
in  foetu  eine  enorm  grosse  und  lässt  sich,  ohne  ganz  in  Details  und 
Casuistik  einzugehen,  hier  nicht  weiter  erörtern.  Vir c ho  w  nennt  solche 
Geschwülste,  bei  welchen  ganze  Organe  oder  vollkommen  ausgebildete 
Organtheile  entstehen  „Teratome"  (von  tsgag,  Wunderwerk,  Missgeburt). 

Ich  muss  endlich  noch  der  hier  und  dort  in  der  Literatur  beschrie- 
benen Cysten  er  av  ahnen,  welche  vollkommen  flüssiges,  venöses 
Blut  enthalten  und  mit  glatten  Wänden  ausgekleidet  sind.  Manche 
von  ihnen  füllen  sich  nach  der  Punction  schnell  wieder,  andere  langsam; 
solche  Cysten  sind  in  der  Achselhöhle,  am  Thorax,  am  Halse  beobachtet. 
Wenn  wir  diejenigen  Fälle  ausschliessen,  in  welchen  Blutergüsse  einem 
schleimigen  oder  serösen  Cysteniniialt  ganz  die  Farbe  dunkeln  Blutes 
gaben,  und  nur  die  Fälle  berücksichtigen,  in  welchen  es  sich  wirklich 
allein  um  Blut  oder  Cysteninhalt  gehandelt  hat,  so  können  diese  Blut- 
cysten  kaum  etwas  Anderes  als  grosse  Säcke  an  Venen,  oder  cavernöse 
Venengeschwülste  mit  totaler  Atrophie  des  Balkenwerks  gewesen  sein. 
Alle  die  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  Fälle  sind  durch  Punction  und 
Jodinjection  geheilt,  so  dass  man  nichts  über  die  pathologische  Anatomie 
dieser  Geschwülste  sagen  kann. 


VdrlesuiiK  '18.     Ciipitcl   XXI.  740 

Die   Diag'uosc  cinev  Cyste  ist  leicht,    wcini  mau   die  Gcscliwulst 
sicher   i)al|)ireii    kann;    man    wird    die   Fluctuation    nUilen;    tiefliegende 
Cysten    sind    oft  sehr  schwer  als  solche  zu  erkennen.     Vcrwechslung'cu 
mit  andern   abg-ekapselten   Flüssigkeitsliöhlen  sind    möglich;    ein  I'rolje- 
einsticli   mit   einem   sehr  feinen   Trokart  ist   erla.ul)t,    um    die   Diagnose 
sicher  zu  stellen,   wenn   dies  nämlich  nothwendig  ist,   um   darnach  dies 
oder  jenes  therapeutisclie  Verfahren  einzuschlagen.    Es  giebt  verscliiedene 
Dinge,    mit    w^elclien   man    eine   Cyste   verwechseln   kann,    z.   B.    kalte 
Abscesse  sind  auch  schmerzlose,  zuweilen  sehr  langsam  sich  vcrgrösscrnde 
fluctuirende    Geschwülste.      Auch    die    BlasenwUrmer,    von    denen   zwei 
Arten  in  äusseren  Theilen  des  Körpers,  nämlich  im  Unterhautzellgevvebe 
vorkommen,  Cysticercus  cellulosae,  die  Finne,  und  Echin  ococcus 
hominis  entwickeln  sich,  wenn  auch  sehr  selten,  im  Unterhautzellgewehe 
(noch    seltner    im    Knochen);    erstere    ist    eine    kleinere,    letztere    eine 
grössere  Blase,    welche  melire  kleinere    entlialtcn  kann;  die  Blase,  aus 
der   das    Thier    besteht,    liat    immer    noch    einen    neugebildeten    Binde- 
gewebssack  um  sich ;  das  Ganze  maclit  begreiflicherweise  den  Eindruck 
einer   Cystengeschwulst.     Ich   sah   Cysticerkenblasen   von  der  Nase  und 
von    der    Zunge    exstirpiren,    Eehinococcenblasen    aus    dem    Unterhaut- 
zellgewebe   des    Eückens    und    des   Oberschenkels    entfernen;     in   allen 
Fällen  wurde   die   Diagnose  auf  Cyste  gestellt,   nur  in  einem  der  letz- 
teren Fälle  auf  Abscess,  und  in  der  That  war  hier  anstatt  der  gewöhn- 
lichen   Abkapselung   Eiterung    um  die    abgestorbene  Echinococcenblase 
eingetreten.     Ich  liabe   dies   hier  anhangsweise   eingeschoben,   weil  wir 
sonst  gar  keine  Veranlassung  haben,   uns  besonders   mit  den  Parasiten 
zu  beschäftigen.     Die   zu  Milliarden  in   den  Muskeln  des  Menschen  zu- 
weilen eingestreuten  Trichinen  können  nicht  Gegenstand  chirurgischer 
Behandlung  werden,   w^enn  auch  nach   den  glänzenden  Untersuchungen 
von  Zenker  die   Diagnose  in   vielen  Fällen  gestellt  werden  kann  und 
jetzt   schon   oft  gestellt  ist.  —  Die  Hydropsien  der  subcutanen  Schleim- 
heutel  und  der  Sehnenscheiden  so  wie  die  Spina  bifida  lassen  sich  auch 
leicht  mit   Cystengeschwülsten   verwechseln,    wenn  man   nicht    auf   den 
anatomischen  Sitz  dieser  Anschwellungen  Acht  giebt.  —  Cystome  können 
auch   mit   andern  gallertig  weichen  Sarkomen  und  Carcinomen  und  mit 
sehr  weichen  Fettgeschwülsten  verwechselt  werden.     Wie  gesagt,  wenn 
die  operativen  Pläne  die  sichere  Diagnose  nothwendig  verlangen,  macht 
mau  die  Probepunction.   Was  uns  aber  bei  der  Diagnose  der  Geschwülste 
überhaupt   vorwiegend  leitet,   ist  die  Erfahrung  über  ihren  relativ  häu- 
figeren Sitz   au   diesem  oder  jenem  Körpertheil;   die  Summe  dieser  Er- 
fahrungen  habe  ich   Ihnen   bei  jeder  Cystenform  immer  angegeben  und 
werde   auch  in   der  Klinik  später  Ihre   Aufmerksamkeit  besonders  auf 
diesen  Punkt  richten. 

Da  die  Prognose  der  Cystengeschwülste,  die  alle  langsam  wachsen, 
wenn  sie  allein  als  Cysten  ohne  Complication  entstellen,  bereits  in  dem 


750 


Von  den  Geschwülsten. 


früher  Gesagten  lieg-t,  so  können  wir  gleicli  zur  Behandlung  derselben 
tibergehen.  Man  kann  auf  zwei  Arten  die  Cysten  beseitigen,  nämlich 
durch  Entleerung  des  Inhalts  und  örtliche  Application  von  Mitteln, 
welche  eine  zur  Verschrumpfung  des  Cysteusacks  führende  Entzündung 
anregen,  oder  durch  die  Exstirpation  des  Cystensackes ;  das  letztere  ist 
immer  die  einfachste  und  am  schnellsten  zum  Ziele  führende  Operation, 
und  wir  werden  diesem  Verfahren  überall  dort  den  Vorzug  geben,  wo 
es  leicht  und  ohne  Lebensgefahr  ausgeführt  werden  kann.  Doch  bei 
den  Eierstockscysteu,  bei  den  Cysten  der  Gland.  thyreoidea  und  anderen, 
welche  einen  tiefen  oder  sonst  gefährlichen  Sitz  haben,  ist  natürlich 
eine  andere  ungefährliche  Methode  sehr  willkommen,  wenn  sie  nur 
einige  Aussicht  auf  Erfolg  bietet.  Wir  können  eine  Schrumpfung  des 
Sackes  nach  vorgängiger  Entleerung  des  Inhalts  theils  durch  einen  sup- 
purativen,  theils  durch  einen  milderen,  mehr  trockenen  Entzttndungs- 
process  erzielen.  Spalten  Sie  die  Cystenwandung  der  ganzen  Länge 
nach  und  halten  Sie  die  Schnittränder  auseinander,  so  wird  sich  eine 
Eiterung  und  Granulationsbildung  auf  der  zu  Tage  gelegten  Innenwan- 
dung der  Cyste  etabllren  mit  Ausstossung  der  daran  haftenden  Geschwulst- 
elemente oder  des  Epithels ;  der  Sack  verschrumpft  dann  allmählig  nar- 
big, und  so  kommt  er  erst  zur  Verkleinerung,  dann  zur  Heilung;  doch 
kann  dies  zuweilen  viele  Monate  dauern.  Sie  können  dasselbe  Ziel 
auch  auf  mehr  subcutanem  Wege  erreichen,  wenn  Sie  durch  die  Ge- 
schwulst an  einer  oder  mehren  Stellen  Ligaturen  oder  Röhren  legen; 
durch  die  eintretende  Luft  und  den  Eeiz  der  durch  die  Bälge  gelegten 
Röhren  oder  Ligaturen  tritt  an  der  Innenwandung  derselben  ebenfalls 
eine  Eiterung  und  Granulationsbildung  auf,  welche  im  günstigsten  Falle 
auch  zur  Verschrumpfung  führt;  oft  freilich  erfolgt  dies  nicht  in  der 
gewünschten  Weise  oder  erfordert  wenigstens  Monate  und  Jahre  zum 
Abschluss,  so  dass  von  diesen  beiden  Methoden  die  erstere  vorzuziehen 
ist;  sie  findet  besonders  bei  den  Cysten  am  Halse  Anw^endung.  Eine 
Verschrumpfung  der  Cyste  und  ein  Versiegen  ihrer  Secretion  kann  man 
noch  auf  eine  andere  Weise  erreichen,  nämlich  durch  Function  mit 
nachfolgender  Injection  von  Jodtinctur;  wir  haben  über  die  Wirkung 
dieser  Behandlung  schon  früher  (pag.  580)  gesprochen.  Das  Resultat 
der  Jodinjection  besteht  auch  hier  darin,  dass  zunächst  nach  der  Injec- 
tion eine  heftige  Entzündung  des  Sackes  mit  sero-fibrinöser  Exsudation 
erfolgt;  das  Serum  wird  dann  resorbirt  und  der  Sack  zieht  sich  zu- 
sammen. Die  Jodinjection  ist  besonders  da  anzuwenden,  wo  man  es 
nicht  mit  erweichtem  Gewebe  als  Inhalt,  sondern  mit  einer  von  dem 
Sack  vorwiegend  secernirten  Flüssigkeit  zu  thun  hat,  also  besonders 
bei  Cysten  mit  serösem  Inhalt  und  einzelnen  Arten  von  Schleimcysten. 
Bei  Cystenkröpfen  macht  man  die  Function  und  Jodinjection  oft  mit 
glänzendem  Erfolg;  es  kommt  aber  sehr  darauf  an,  welche  Methode  Sie 
dabei  in  Anwendung  ziehen,  w^ovon  mehr  in   der  Klinik.     Die  aus  er- 


Vorlosnno'  41).     Capilcl   XXT.  751 

weiclitem  Gallertgewebe  hcrvorg'cgang'cnon  Cystoiuo  und  die  Fettcystcii 
eig-iieu  sicli  nicht  recht  für  die  Jodiiijcctioiicn;  es  erfolgt  danacli  leicht 
sehr  heftige  Entziiiiduiig  iiiul  Jauchimg  mit  Gasentwicklmig,  so  dass 
man  nacliträglicli  zur  Spaltung  des  ganzen  Sackes  gezwung-en  werden 
kann.  Auch  sehr  dicke  Wandungen  des  Sackes,  welclie  gar  nicht  oder 
wenigstens  nur  sehr  langsam  zur  Schrumpfung  kommen  können,  eignen 
sich  nicht  für  die  Jodinjection.  So  findet  man  zumal  unter  den  Hals- 
cysten  manche,  welche  für  diese  Behandlung  passend  sind,  andei-e 
welche  es  wegen  zu  dicker  Wandung  nicht  sind.  Auch  von  den  Ovarial- 
cystomen  passen  leider  nur  wenige  für  die  Behandlung  mit  Injection, 
so  dass  man  in  neuester  Zeit  die  Behandlung  dieser  Geschwülste  mit- 
telst Laparotomie  fast  als  das  einzige  sichere  operative  Verfahren  auf- 
stellt, wobei  man  im  Lauf  der  letzten  Jahre  immer  günstigere  Resul- 
tate erzielt  hat,  —  Endlicli  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  es  Fälle  giebt, 
in  welchen  man  am  besten  thut,  jeden  operativen  Eingriff  zu  unterlassen; 
ich  würde  es  z.  B.  für  eine  Thorheit  halten,  einen  alten  Mann,  der  eine 
Anzahl  von  Atheromen  am  Kopf  trägt,  zu  überreden,  sich  diese  Ge- 
sehwülste exstirpiren  zu  lassen;  ein  etwa  hinzuti'ctendes  Erysipelas  ca- 
pitis könnte  unter  solchen  Verhältnissen  tödtlich  werden. 


Vorlesung  4  9. 

13.     Carcinome:    Historisches.    Allgemeines  über  die  anatomische  Structur.     Metamor- 
phosen.    Verschiedene  Formen.     Topographie:   1.    Aenssei'e    Haut    und   Schleimhäute   mit 
,  Plattenepithel.     2.   Milchdrüsen.     3.    Schleimdrüsen  mit  Cylinderepitliel.     4.   Speicheldrüsen 
und  Vorsteherdrüse.     5.  Schilddrüse    und  Eierstock   —  Therapie.  —  Kurze  Bemerkungen 
über  die  Diagnose  der  Geschwülste. 

13.     Carcinome.     Krebsgeschwülste. 

Um  Ihnen  eine  Vorstellung  zu  geben,  wie  man  früher  Geschwülste 
diagnosticirte ,  und  wie  viele  der  jetzt  noch  gebräuchlichen  Namen  ent- 
standen sind,  will  ich  Ihnen  einen  betreftenden  Passus  aus  dem  elassi- 
schen,  weil  in  seiner  Zeit  auf  dem  höchsten  Standpunkt  stehenden  Werk 
von  Lorenz  Heister  mittheilen,  einem.  Buch,  dessen  dritte  Auflage 
vom  Jahre  1731  ich  vor  mir  habe.  Doi-t  heisst  es  (pag.  220):  „Ein 
Scirrhus  wird  genannt  eine  uuschmertzhaffte  Geschwulst,  welche  in 
allen  Theilen  des  Leibes,  sonderlich  aber  in  den  Drüsen  zu  entstehen 
pfleget,  und  hat  zur  Ursach  eine  Stockung  und  Vertrucknuug  des  Ge- 
blüts in  dem  verhärteten  Theil."  —  pag.  306:  „Wenn  ein  Scirrhus  weder 
resolvirt,  noch  in  Ruhe  kan  erhalten  werden,  noch  bey  Zeiten  ist  veg- 
genomraen  worden,  so  werden  dieselben  entweder  von  selbsteu,  oder 
durch  üble  Curation,  bösartig,  das  ist,  schmertzhafft  und  entzündet,  in 


752 


Von  den  Geschwülsten. 


welchem  Stande  man  es  anfängt  Krebs  oder  Carcinoma,  auch  Cancer 
zu  nennen;  wobej  offt  die  dabey  liegenden  Adern  dicke  aufschwellen, 
und  sich  gleichsam  wie  die  Füsse  eines  Krebses  ausdehnen  (welches 
aber  doch  nicht  bey  allen  geschiehet),  als  wovon  dieser  Affect  seinen 
Namen  bekommen  hat;  welcher  in  Wahrheit  einer  von  den  schlimmsten, 
bescliwerlichsteu,  grausamsten,  und  schmertzhafftesten  Krankheiten  ist. 
Wenn  derselbe  noch  die  gantze  Haut  über  sich  hat,  wird  er  ein  ver- 
borgener (Cancer  occultus)  genannt;  wenn  aber  die  Haut  geöffnet,  oder 
exulcerirt  ist,  nennt  man  es  einen  offenen  oder  exulcerirten  Krebs, 
und  folget  dieser  ordentlich  auf  jenen." 

Es  ist  noch  gar  nicht  lange  her,  dass  man  sich  in  dem  naiven 
Glauben  befand,  man  habe  an  dieser  Art  von  Vergleichungen  und  Be- 
sehreibungen etwas  Reelles,  etwas  practisch  Brauchbares.  Wird  man  in 
hundert  Jahren  über  unsere  jetzigen  anatomisclien  und  klinischen  Defini- 
tionen lächeln,  wie  wir  es  jetzt  thun,  wenn  wir  den  guten  alten  Heister 
reden  hören?  Wer  weiss?  Die  Zeit  gelit  mit  Riesenschritten,  und  ehe 
man  sichs  versieht,  kommen  Dinge  zu  Tage,  welche  die  mühsamen 
Arbeiten  der  rüstigsten  jungen  Forscher  in  kürzester  Frist-  historisch 
machen. 

Wir  gehen  immer  in  den  Naturwissenschaften  höchst  ungern  daran, 
kurze  Definitionen  zu  geben,  weil  dies  in  der  That  wegen  des  Uebergau- 
ges  des  einen  Processes  in  den  andern  und  der  einen  Bildung  in  die 
andere  oft  nahezu  unmöglich  ist.  —  Ueber  die  Carcinome  kann  man  in 
klinischer  Beziehung  sagen,  es  sind  Geschwülste,  welche  in  hohem  Grade 
infectiös  sind,  und  zwar  wird  diese  Infectiou,  welche  sich  zunächst  auf 
die  Lymphdrüsen,  später  eventuell  auch  auf  andere  ferner  liegende  Or- 
gane erstreckt,  wahrscheinlich  vorwiegend  durch  die  Verschleppung  von 
Elementen  (ob  nur  von  Zellen  oder  auch  von  Saft,  bleibt  noch  dahin- 
gestellt) aus  der  Geschwulst  durch  die  Lymphgefässe  und  Venen  ins 
Blut  zu  Stande  gebracht. 

Diese  schon  seit  langer  Zeit  bestehende  Vorstellung,  welche  man 
sich  von  Carcinom  (von  icaQxivog  Krebs)  gebildet  hat,  sollte  nun  durch  die 
anatomische  Structur  dieser  Geschwülste  controlirt  werden  und  man  suchte 
nach  Mitteln,  die  Carcinome  von  ähnlich  aussehenden  Geschwülsten  sicher 
zu  unterscheiden.  Die  classischen  Monographien  eines  As tley  Cooper 
über  die  Krankheiten  des  Hodens  und  der  Brustdrüsen  (letztere  leider 
unvollendet)  zeigen,  dass  man  durch  ein  sorgfältiges  Studium  der  mit 
freiem  Auge  wahrnehmbaren  Merkmale  sehr  Bedeutendes  erreichen  kann, 
wenn  man  sich  auf  ein  bestimmtes  Organ  beschränkt;  eine  Verallge- 
meinerung ist  indess  allein  mit  den  Hülfsmitteln  der  anatomischen  Prä- 
paration nicht  durchführbar,  ja  sie  ist,  wie  wir  es  im  Laufe  dieser  Vor- 
lesungen oft  genug  gefühlt  haben,  auch  mit  unseren  jetzigen  Hülfsmitteln 
schwierig,  so  dass  ich  es  Virchow  nicht  verargen  kann,  wenn  er  in 
seinem  grossen  Werk  über  Geschwülste  eine  möglichst  genaue  Detailliruug 


Vorlosmig  49.     Capifd  XXT.  753 

der  einzelnen  Gescliwulstformen  an  bestimmten  Localitäten  zu  geben  sucht, 
und  den  allgemeinen  sclnvicvigen  kliuisclieu  Fragen  gern  aus  dem  Weg3 
g-elit.  Hier,  wo  wir  uns  kurz  fassen  müssen,  um  unseren  Vorstellungen  eine 
vorläufige  anatomische  Basis  zu  g-eben ,  sind  wir  genöthigt,  uns  etwas 
bestimmter  und  summarischer  auszudrücken.  —  Nachdem  das  freie  Aug-e 
nicht  melir  zur  Diagnose  der  Geschwülste  ausreichte,  nalim  man  das 
Mikroskop  zu  Hülfe  und  suchte  nach  charakteristischen  Theilchen,  welche 
allen  denjenigen  Gesell wülsten  in  g-leicher  Weise  zukommen  sollten, 
deren  klinische  Eigenschaften  wir  oben  erwähnt  haben.  Doch  man 
mochte  das  Charakteristische  der  zelligen  Elemente  in  den  Forsätzen 
derselben,  in  der  Grösse  der  Kerne  oder  der  Kernkörperchen  suchen, 
es  wollten  die  klinischen  und  anatomisclien  Eigenschaften  sich  nicht 
immer  congruent  bleiben.  Als  sich  nun  die  Krebszellen  als  Steck- 
briefe für  die  Carcinome  unbrauchbar  erwiesen  hatten,  suchte  man  die 
charakteristischen  Eigenschaften  in  der  ganzen  Architektonik  der  Ge- 
schwülste: die  alveoläre  Structur  sollte  das  anatomische  Merkzeichen 
sein.  Auch  damit  stösst  man  bald  hier  bald  dort  an:  die  netzartige 
Formation  neugebildeten  Lymphdrüseugew^ebes  kann  man  auch  als  „al- 
veolär" bezeichnen,  und  wenn  man  auch  zugiebt,  dass  die  Lymphom- 
netze  so  eigenthümlich  durch  ihre  Form  charakterisirt  sind,  dass  sie 
leicht  auszuschliessen  sind,  so  bleiben  doch  noch  manche  Chondrome 
und  Sarkome,  zumal  die  Riesenzellen-  und  andere  grosszelligen  Sarkome, 
Formen,  welche  wir  gradezu  als  alveolare  Sarkome  bezeichnet  haben 
(pag.  714  und  717),  besonders  aber  die  interstitiell  villösen  und  die  plexi- 
formen Sarkome  als  Doppelgänger  der  Carcinome  übrig.  Dennoch  halten 
selbst  pathologische  Anatomen  von  Fach  daran  fest,  die  alveolare  und 
adenoide  Structur  und  die  Infiltration  der  neuen  Bildung  in  das  be- 
stehende Gewebe  als  allein  entscheidend  für  die  Bezeichnung  „Carcinom" 
zu  halten. 

Seitdem  die  anatomischen  Studien,  zumal  die  Genese  der  neuge- 
bildeten Gewebe  durch  Virchow  eingeführt  und  als  wesentliches  Ein- 
theilungsprincip  anerkannt  ist,  sind  wir  aller  eben  erörterten  Schwierig- 
keiten entledigt.  Jetzt  entscheidet  nur  die  anatomische  Ent- 
wicklung, was  ein  Krebs  zu  nennen  ist:  der  Kliniker  untersucht 
dann,  wie  sich  die  so  und  so  entstandenen  und  zusammengesetzten 
Krebse  verhalten,  wo  sie  infectiös  sind,  wo  nicht,  ob  sie  rasch  oder 
langsam  verlaufen,  ob  sie  gewöhnlich  multipel  oder  solitär  vorkommen, 
wo  sie  am  häufigsten  entstehen,  wie  sie  erfahrungsgemäss  am  besten  zu 
behandeln  sind  etc.  und  es  ist  höchst  interessant,  wie  mit  der  im- 
mer detaillirteren  anatomischen  Ordnung  auch  entsprechende  klinische 
Differenzen  immer  deutlicher  hervortreten.  Die  meisten  modernen  patholo- 
gischen Anatomen  und  Chirurgen  sind  übereingekommen,  nur  diej  enigen 
Geschwülste  ächte  Carcinome  zu  nennen,  welche  einen  den 
ächten    Epithelialdrtisen    (nicht    den    Lymphdrüsen)    ähnlichen 

Bülrotli  chir.  Pnth.  u.  Ther.   7.  Aufl.  48 


>7{^A  Von  den  Geschwülsten. 

Bau    imitiren    uud   deren    Zellen    Abkömmlinge    achter    Epi- 
tlielien  sind. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  diese  Auffassung  immer  mehr  Anhänger  finden  wird  und 
dadurch  die  Differenzen  über  die  Begrenzung  des  anatomischen  Begi-iffes  ^Carcinom'' 
völlio'  schwinden  werden.  Diejenigen  Forscher,  welche  im  Lauf  der  letzten  Jahre  mit 
allen  modernen  Hülfsmitteln  ohne  Vorurtheile  auf  diesem  Gebiet  der  Geschwulstlehre  ge- 
arbeitet haben,  erkeimen  die  grosse  Bedeutung  der  Epithelwucherungen  für  diejenigen 
Geschwülste,  welche  Avir  Krebs  zu  nennen  pflegen,  an,  doch  die  meisten  suchen  noch  nach 
einem  Compromiss  zwischen  den  verschiedenen  histogenetischen  Anschauungen  und  wollen 
die  Entstehung  von  wahren  Drüsen-  und  Epithelzellen  aus  Bindegewebe  (eigentliche 
Heterologie)  noch  modificirt  zulassen  (Rindfleisch,  Volkmann,  Klebs,  Lücke, 
Eberth,  Biesiadecki,  Gussenbauer),  nur  T  hier  seh  und  in  neuster  Zeit  Waldeyer 
halten,  wie  ich,  die  strenge  Grenze  zwischen  Epithelial-  und  Bindegewebszellen  fest. 
Waldeyer,  der  mit  hervorragendem  Erfolge  auf  diesem  Gebiet  gearbeitet  hat,  definirt 
das  Carcinom  als  eine  atypische  epitheliale  Neubildung.  Es  muss  jedoch  gleich 
hier  bemerkt  werden,  dass  sich  in  den  Krebsgeschwülsten  ausser  den  Epithelien  auch  noch 
sehr  viele  junge  kleine  runde  Zellen  finden,  welche,  in  den  Bindegewebstheil  der  Geschwulst 
infiltrirt,  einen  nicht  unwichtigen  Theil  dieser  Neubildungen  ausmachen.  Diese  kleinzellige 
Bindegewebsinfiltration,  welche  sich  bald  mehr,  bald  weniger,  doch  überall  findet,  wo 
epitheliale  Wucherungen  in  das  Gewebe  hineinwachsen,  scheint  durch  eine  Art  von 
Reaction  veranlasst  und  eine  Folge  des  Vordringens  der  Epithelbildungen  ins  Gewebe  zu 
sein;  sie  führt  je  nach  der  Menge  der  infiltrirten  Zellen  und  ihrem  ferneren  Schicksal, 
sowie  nach  dem  Grade  der  Vascularisation ,  wie  beim  Entzündungsprocess  bald  zur  Er- 
weichung, bald  zur  Schrumpfung  und  nai'bigen  Verdichtung  des  Gewebes.  In  manchen 
Fällen  wird  diese  kleinzellige  Infiltration  so  bedeutend,  dass  sie  die  epithelialen  Neu- 
bildungen, —  von  welchen  sie,  wenn  letztere  klein  sind,  sehr  schwer  unterscheidbar  sein 
können,  —  fast  völlig  verdecken ;  man  kann  dann  zweifelhaft  werden,  ob  sie  nicht  als  völlig 
selbstständige,  auch  gelegentlich  vielleicht  allein  sicher  zu  erkennende  Bestandtheile  der 
Krebsgeschwülste  betrachtet  werden  sollten.  Ich  habe  dies  selbst  früher  zugeben  zu  müssen 
geglaubt,  und  auch  eine  selbstständige  Infectionsfähigkeit  dieses  Bestandtheils  der  Carcinome 
für  nicht  unwahrscheinlich  gehalten;  weitere  Beobachtungen  mit  neueren  Hülfsmitteln 
haben  es  mir  jedoch  immer  wahrscheinlicher  gemacht,  dass  auch  in  den  kleinsten  Ki-ebs- 
knoten  die  epithelialen  Elemente  in  proliferer  Action  sind.  Die  Epithehalzellen  und  der 
Boden ,  auf  welchem  sie  wachsen  und  von  welchem  sie  ihren  Ernährungsstoff  beziehen, 
stehen  im  innigsten  Verhältniss  zu  einander.  Es  giebt  viele  Beobachtungen,  welche  es 
zweifellos  darthun,  dass  die  zellige  Infiltration  des  Bindegewebsbodens  eine  vermehrte 
Wucherung  des  aufliegenden  Epithels  zur  Folge  haben,  und  es  wäre  somit  nicht  undenkbar, 
dass  der  erste  Anstoss  zur  atypischen  adenoiden  Wucherung  durch  einen  irritativen  Zu- 
stand des  epithelialen  Bodens  gegeben  wäre.  Es  ist  jedoch  ebenso  möglich  und  wahr- 
scheinlich, dass  die  Epithelwucherung  der  erste  formative  Vorgang  bei  der  Carcinom- 
entwicklung  ist,  wie  wir  es  anzunehmen  pflegen.  Directe  Beobachtungen  darüber  kann 
es  nicht  geben;  die  Bindegewebsinfilti-ation  ist  immer  gleichzeitig  mit  der  Epithelialwucherung 
da;  dies  erschwert  die  Untersuchung  der  ersten  Stadien  bis  in  die  neueste  Zeit  so  ungemein, 
dass  man  nur  bei  Auswahl  günstiger  Objecte  (z.  B.  beim  flachen  Krebs  der  Haut)  eine 
bestimmte  Ueberzeugung  von  der  Richtigkeit  unserer  Anschauung  gewinnt,  während  man 
benn  Studium  so  schwieriger  Objecte,  wie  z.B.  infiltrirter  Lymphdrüsen,  in  denen  sich 
die  verschiedenartigsten  Zellen  während  des  Lebens  rasch  regellos  untereinander  schieben, 
genug  Bilder  finden  wird,  welche  mehr  der  früher  auch  von  mir  getheilten  Virchow'sehen 
Anschauung  entsprechen,  die  darin  besteht,  dass  die  epithelialen  Krebszellen  auch  durch 
A\ucherung  von  Bindegewebszellen  entstehen  können,  eine  Anschauung,  die  auch  in  der 
Jüngeren  Schule  wieder  Anhänger  findet,  welche  die  typischen  Formen  der  Gewebsbildung 


Vorlesung  41).     Ca])itcl  XXL  755 

ans  den  Keimbläf-tern  entweder  iilicrlinu])!  nitlil  inirrkcmicii  ddcr  ilirc  iiidjcdingte  Gelliini^-  für 
die  patliolugi.sclien  Neid)ilduiig(>n  inclil  /.iigclicn  will.  Si'ildciii  diese  l<'rago  Ofiisthan  dis- 
ciilirl  isf,  liat  sie  iiielilr  mir  in  einzelnen  (Jeneralionen,  sondern  aiicli  in  (■inzelneu  ICclpfen 
schon  wiederlioll;  einen  Kreislauf  dnrcligenuicld..  Ich  kann  liier  luelit,  Alle.s  wiederiiolen, 
was  ich  früher  (pag.  86)  über  die  Bildung  und  Vcrnielirmig  walirer  Kpithelien  gesagt 
habe;  nur  das  will  ich  noch  hinzufügen,  dass  die  Carcinoni-  und  Epithclialformen,  welclie 
sich  in  den  primären  Carcinonien  finden,  auch  immer  in  den  Infectionsges(;hwülsten  der 
Lymphdrüsen  gefunden  werden.  Dies  scheint  mir  in  holiem  Grade  für  die  Verschleppung 
zelliger  Elemente  7.11  sprechen,  denn  dass  z.  B.  Saft  aus  einem  Cylinder-Epithelkrebs  die 
Fähigkeit  haben  sollte,  die  Zellen  der  Lymphdrüsen  zu  bestimmen,  Cylinderepithelien  zu 
prodnciren,  ist  doch  kaum  denkbar. 

Besonders   wichtig    und    schwierig   ist    es,    in  anatomischer  Beziehung   eine    Grenze 
zwischen  Adenomen  und  Carcinomen,  sowie  auch  zwischen  den  complicirten  Formen  der 
Sarkome    und  den  Carcinomen  zu  ziehen,    da   die  GescliAvulstformen  Mancherlei   mit  ein- 
ander  gemein  haben,  ja   in  einzelnen  Theilen,  abgesehen    von   ihrer  Genese,    vollständig 
gleich    aussehen    können.     Die    reinen   Adenome    sind   aus  neugebildeter  Drüsenmasse  zu- 
sammengesetzt, welche  der  normalen  vollkommen  analog  ist  oder  wenigstens  ausserordent- 
lich   nahe  steht;    das    die   neugebildeten    Acini    umgebende    Bindegewebe    verhält    sich    zu 
den  nengebildeten  Acini  wie  zu  den  normalen,  es  ist  ganz  unverändei't,  oder  nur  in  sehr 
geringem    Maasse     kleinzellig    infiltrirt.      Bei    den    Sai-komen    in    Drüsen    ei'folgt    in   der 
Eegel    keine   Neubildung   von    Drüsenacini,     sondern    die    Sarkommasse  schliesst   die  ent- 
weder normal  gebliebenen  oder  erweiterten  Drüsenräume  mit  Epithelzellen,  die  bedeutend 
vermehrt  und  vei-grössert  sein  können,  nur  ein.     Das  Carcinom  ist  aber  dadurch  charak- 
terisirt,  dass  die  epitheliale  Decke  einer  Haut  oder  Schleimhaut,  oder  die  epitheliale  Aus- 
kleidung von  Drüsenhöhlen  in  Form  von  rundlichen  Kolben  und  Beeren  (acinös)   oder  in 
Form   von  runden  Cylindern    oder  Walzen  (tubulös)  in  das  Gewebe    der  Haut   und  tiefer 
hineinwächst,   in    gleicher  Weise,    wie    dies  im  Fötus    der   Fall   ist.     Die    Epithelialzellen 
pflegen   in    den   meisten  Fällen  dabei    ihre  Form  beizubehalten,    nur    oft  weit  grösser   als 
normal  zu  werden.    Die  Form  der  Drüsen,  von  welchen  diese  Bildungen  ausgehen,  bleibt 
auch  für  die  Neubildung  im  Allgemeinen  typisch;  doch  es  bleibt  eben  bei  unregelmässigen 
Formen  von  Drüsenanlagen,    nur  äusserst  selten  kommt    es  zur  Bildvmg  von  Hohlräumen 
und   zu   einer   eigentlich  secretorischen  Thätigkeit   in   diesen  Hohlräumen.     Neben  diesem 
epithelialen  Theile  dieser  Geschwülste  verhalten  sich  das  Bindegewebe,  die  Knochen,  die 
Muskeln  etc.,  in  welche  die  Einbrüche  von  Seiten  des  Epithels  erfolgen,  folgendermaassen : 
man  findet  dasselbe  bald  von  normaler,  bald  von  abnormer  Festigkeit,  bald  äusserst  weich, 
fast  schleimig,    in    der  Regel  im  Verhältniss   zu   den  Epithelialmassen    an  Menge  zurück- 
stehend.    Es  pflegt   von    kleinen   runden    (Wander-)  Zellen  durchsetzt   zu  sein,    oft   in  so 
hohem  Maasse,  dass  kaum  noch  Fasergewebe  übrig  bleibt;  in  seltnen  Fällen  kann  es  sogar 
den  Bau  von  Granulations-,    Spindelzellen-,    selbst  alveolaren  Sarkomen  haben    und   dem 
Untersucher   grosse  Verlegenheiten   in  Betreff   der  Classification  bereiten;    meist   sind   die 
inflltrirten   kleinzelligen   Elemente    diffus    im    Krebsgerüst    (Bindegewebsgerüst)    zerstreut; 
sehr  selten  findet  man  mehre  Zellen  gemeinschaftlich  in  einem  Spalt  zwischen  den  Binde- 
gewebsbündeln    angehäuft.     Beim  Vordringen   in   den  Knochen    wird   letzterer    aufgezehrt 
wie  bei  der  Cai-ies.     Ich  habe  mich  nicht  überzeugen  können,  dass  bei  den  knotigen  und 
inflltrirten    Formen    ächter   Krebse    eine    Neubildung    von    Bindegewebsfasern    Statt    hat, 
ebensowenig   wie    ich   dabei  Knochenneubildungen  fand;    dass    aber   bei   den    später  noch 
besonders  zu  besprechenden  papillären  und  zottigen  Formen  eine  solche  Neubildung  Statt 
hat,  ist  ausser  allem  Zweifel.   —   Sie    sehen  aus  dieser  Schilderung,    meine  Herren,    dass 
der  Ausdruck  Waldeyer's,    die    epitheliale    Neubidung    in    den   Carcinomen    sei 
eine  atypische  (tissu  heteroadenique  Eobin) ,  auch  sehr  treffend  ist,  um  die  Carcinome 
von  den  Adenomen,  als  tvpischen  epithelialen  Neubildungen,  abzugrenzen. 

48* 


Ygg  Von  den  Geschwülsten. 

Was  die  Gefässe  bei  der  Carcinomentwicklung  betriift,  so  kann  man  sich  durch 
künstliche  Injection  überzeugen,  dass  die  Gefässerweiternng  nnd  Neubildung  durch  Schlän- 
»eluno-en  und  Schlingenbildungen  eine  sehr  bedeutende  ist;  nur  die  bindegewebigen 
Theile  der  Geschwülste  sind  vascularisirt ,  die  epithelialen  bleiben  frei;  dies 
ist  ein  sehr  wichtiges  anatomisches  Kriterium,  ebenso,  dass  die  wahren  epithelial,en 
Krebszelle  n  nie  mit  einander  verschmelzen,  wie  es  bei  den  grossen  epitheloiden  Zel- 
len mancher  Sarkome  vorzukommen  scheint;  auf  letztern  Umstand  hat  mit  Recht  Waldeyer 
ein  o-rosses  Gewicht  gelegt.  —  Durch  die  eben  hervorgehobenen  Eigenschaften  finden  wir 
selbst  in  den  schwiei'igsten  Fällen  doch  immer  die  genetischen  Diffei-enzen  zwischen  Sar- 
komen und  Carcinomen  heraus.  Die  ersten  Anfänge  plexiformer  Sarkome  und  Carcinome 
sind  oft  kaum  von  einander  zu  unterscheiden  (man  vergleiche  Fig.  1.51  mit  Fig.  176  u. 
177),  in  beiden  Fällen  sind  die  Formen  äusserst  drüsenähnlich.  Doch  im  Lauf  der  wei- 
teren Entwicklung  ändert  sich  das:  die  Zellencylinder  der  Sarkome  sind  entweder  schon 
von  Gefässen  ausgegangen,  oder  es  wachsen  bald  Gefässe  in  sie  hinein,  während  dies 
bei  den  Carcinomen  nie  geschieht,  sondern  die  Cylinder  selbst,  wenn  sie  sehr  gross 
werden,  gefässlos  bleiben,  oder  sich  in  ihnen  ähnlich  wie  bei  Entstehung  von  Drüsen 
ein  Hohlraum  bildet.     (Man  vergleiche  Fig.  151  6  mit  Fig.  183.) 

Weiter  glaube  ich  hier  nicht  in  der  allg-emeinen  histologisehen 
Skizzirung'  dieser  Geschwülste  gehen  zu  dürfen  und  hoffe,  dass  Ihnen 
dieselben  hiernach  wohl  erkennbar  sind.  —  Ich  muss  es  meiner  ganzen 
histogenetischen  Auffassung  nach  für  unzulässig  erklären,  dass  ein  Epi- 
tlielialkrebs  primär  in  einem  Knochen  oder  in  Lymphdrüsen  entstehen 
kann.  Die  mir  bekannten  Beobachtungen  der  Art  (am  Unterkiefer,  an 
der  vorderen  Fläche  der  Tibia,  in  den  Lymphdrüsen  des  Halses)  sind 
für  mich  wegen  der  grossen  Nähe  der  Haut  und  Schleimhaut  nicht  be- 
weisend genug ;  es  könnte  eine  unbedeutende  carcinomatöse  Erkrankung 
der  Haut  oder  Schleimhaut  bestanden  haben  und  der  Ausgangspunkt 
der  Erkrankung  gewesen  sein,  ohne  dass  dies  beachtet  wäre. 

Das  Aussehen  des  Durchschnittes  dieser  Geschwülste  und  ihre  Con- 
sistenz  ist  so  verschieden ,  dass  sich  darüber  im  Allgemeinen  nichts 
sagen  lässt. 

In  den  weitaus  meisten  Fällen  treten  die  Carcinome  als  Knoten  auf; 
auch  als  Infiltration  und  Induration  sonst  weicher  Gewebe  oder  in  Form 
von  papillären  Wucherungen,  Selten  sind  die  erkrankten  Partien  vom 
gesunden  Gewebe  durch  eine  Bindegewebskapsel  streng  gesondert;  in 
den  meisten  Fällen  ist  vielmehr  der  Uebergang  vom  Gesunden  zum 
Kranken  ein  allmähliger.  Es  giebt  Fälle,  in  welchen  man  überhaupt 
nicht  von  einer  Krebsgeschwulst,  sondern  nur  von  einer  krebsigen  Infil- 
tration sprechen  kann,  weil  keine  Vergrösserung,  sondern  vielleicht 
sogar  eine  Verkleinerung  des  betroffenen  Organs  damit  verbunden  ist. 
Es  ist  ferner  charakteristisch  für  die  Carcinome,  dass  ein  Theil  der  Neu- 
bildung oft  sehr  kurzlebig  ist,  direct  oder  nach  vorhergegangener  fettiger 
Degeneration  zerfällt,  resorbirt  wird  und  nun  sich  das  infiltrirte  Faser- 
gewebe zu  einer  festen  Narbe  zusammenzieht.  Ausser  dieser  narbigen 
Schrumpfung  und  nicht  selten  neben  derselben  kommen  aber  Erweichungs- 
processe  sehr  häutig,  vielleicht  noch  häufiger  als  Schrumpfung,  jeden- 


Vorlesung'   ID.     Capitcl   XXT.  757 

falls  in  ausgedehnterer  Weise  vor.  Diese  Erweichung'  wird  meist  durch 
fettigen  Zerfall  der  Zellen  und  käsige  Metamorphose  eingeleitet;  centrale 
Erweichung  mit  Aufbruch  nacli  aussen,  Entwicklung  eines  jauchigen 
Gescliwiirs  mit  pilzartig  umgelegten  Rändern  ist  sehr  charakteristisch 
für  Careinome.  —  Auch  die  Schleimmctairiorplu)SC  des  Zellenprotoplasmas 
ist  ein  Vorgang,  der  sicli  in  manchen  Drüsencarcinomen,  relativ  am 
häufigsten  in  denen  der  Leber,  des  Magens,  des  Rectum  einstellt;  selten 
befällt  diese  Schleimmetamorphose  auch  das  Bindegewebsstroma.  Man 
"nennt  diese  Schleimkrebse  auch  Gallertkrebse  oder  Coli oid krebse. 
—  Wenn  sich  krebsige  Degenerationen  an  der  Oberfläche  von  Häuten 
entwickeln,  so  kann  sich  dabei  die  Papillarschicht  so  vergrössern ,  die 
einzelnen  Papillen  können  so  enorm  hypertrophisch  werden,  dass  diese 
Bildungen  wesentlich  in  den  Vordergrund  treten,  wie  bei  manchen  Pa- 
pillär krebsen  (destruireude  Papillome)  der  Lippen-  und  Magenschleim- 
haut, der  Portio  vaginalis  und  wie  bei  den  Zottenkrebsen,  welche 
in  Form  deutritisch  verzweigter  grosser  Papillen  auf  der  Harnblasen- 
schleimhaut sich  entwickeln.  Herrscht  die  narbige  Schrumpfung  in  einem 
Carcinom  vor  (wie  das  in  manchen  Brustdrüsenkrebsen  der  Fall  ist),  so 
entstehen  sehr  harte  Geschwülste  oder  Indurationen,  welche  man  von 
Alter  her  Scirrhus  nennt.  —  Manche  Careinome  sind  braun  oder 
schwarz  pigmentirt;  doch  sind  im  Ganzen  Melano-Carcinome 
äusserst  selten.     Die  meisten  weichen  Melanome  sind  Sarkome.  — 

In  Betreff  des  Verlaufs  der  Careinome  habe  ich  schon  bei  den 
Sarkomen  (pag.  721)  Einiges  angeführt,  um  den  Unterschied  hervorzu- 
heben; hier  betone  ich  noch  einmal,  dass  die  Careinome  immer  zuerst 
die  näclistgelegenen  Lymphdrüsen  inficiren.  Oft  geht  die  Infection  nicht 
darüber  hinaus;  in  anderen  Fällen  kommt  es  auch  zu  metastatischen 
Geschwülsten  in  inneren  Organen  und  in  den  Knochen.  In  den  Lymph- 
drüsen scheinen  indess  die  kleinen  epithelialen  Keime  den  günstigsten 
Boden  zu  ihrer  Entwicklung  zu  finden.  Die  Schnelligkeit  des  Verlaufes 
ist  eine  äusserst  verschiedene,  wir  werden  bei  der  Topographie  der  Car- 
einome darauf  näher  eingehen.  —  In  den  meisten  Fällen  werden  keine 
Gelegenheitsursachen  für  die  Entwicklung  der  Careinome  bekannt,  in 
seltenen  Fällen  sind  Verletzungen  und  Ulcerationsprocesse  vorausge- 
gangen. —  Was  man  unter  Krebskachexie  und  specifisch  kachectischem 
Aussehen  der  Krebskranken  hört  und  liest,  kann  ich  nach  meinen  Beob- 
achtungen wenig  bestätigen.  Ein  Krebskranker  wird,  endlich  marantisch, 
wie  jeder  andere  Mensch  der  an  einer  schweren  Störung  in  der  Func- 
tion wichtiger  Organe  leidet  und  welcher  aus  zerfallenden  Gewebspar- 
tikeln  Zersetzungsstoffe  in  sich  aufnimmt;  er  wird  anämisch  durch 
Blutungen,  Störungen  der  Verdauung  und  durch  Nahrungsmangel;  dann 
magert  er  rasch  ab  und  bekommt  die  wachsgelbe,  bräunliche,  auch  wohl 
bräunlich-grünliche  Farbe,  je  nach  der  Farbe  seiner  Haut,  wie  andere 
Individuen  unter  gleichen  Verhältnissen;  etwas  Besonderes  habe  ich  dabei 


758 


Von  den  Geschwülsten. 


nicht  finden  können.    —    Dass  solche  Kranken   einen  Ansteckungsstoif 
verbreiten,  wie  hier  und  da  die  Meinung-  herrscht,  dafür  liegt  nichts  vor. 


Sie  werden  jetzt  schneller  zur  Uebersicht  der  verschiedenen  Krebs- 
formen gelangen,   wenn  wir  sie  mit  Eücksicht  auf  ihren  Ursprung  und 
die  Localitäten,   wo  sie  am  häufigsten  vorkommen,   genauer  betrachten 
wobei  wir  sowohl    in    die  histologischen   Details   als  in  den  klinischen 
Verlauf  der  Carcinome  näher  eingehen  können. 

1.  Aeussere  Haut  (Cutis)  und  Schleimhäute  mit  Pflaster- 
epithelien.  Hautkrebse.  Vulgäre  Epithelialcarcinome  (speciell 
so  genannt,  weil  man  an  ihnen  zuerst  und  bis  vor  Kurzem  allein  erkannte, 
dass  die  Hauptmasse  des  Krebsgewebes  aus  Epithelien  bestand).  Can- 
croide  (krebsähnliche  Geschwülste;  man  wählte  diesen  Namen  früher, 
weil  man  diese  Hautkrebse  nicht  für  so  bösartig  hielt,  wie  diejenigen 
Krebsformen,  welche  man  in  den  Brustdrüsen  beobachtete,  welche  fast  allein 
als  Typus  ächter  Krebse  galten). 

Die  Cutis  ist  von  einer  Epithelialschicht  bedeckt,  von  welclier  beim  Fötus  verschie- 
dene Einwachsungen  ins  unterliegende  Gewebe  erfolgen,  nämlich  die  Haarbälge  mit  Haa- 
ren und  Talgdrüsen  und  die  Schweissdrüsen.  In  gleicher  Weise  entstehen  die  Schleim- 
drüsen an  den  Schleimhäuten.  Es  wird  zwar  vielfach  behauptet,  dass  alle  diese  Gebilde 
epitheliale  Auswachsungen  machen  können,  und  ich  will  nicht  daran  zweifeln,  doch  ist 
der  Nachweis  von  epithelialen  Einwachsungen  am  leichtesten  immer  für  das  Rete  Mal- 
pighii  zu  führen.  Demnächst  ist  eine  bedeutende  Anhäufung  von  Epithelien  in  den  Talg- 
drüsen und  Mundschleimhautdrüsen  und  eine  Vergrösserung  derselben  ebenfalls  häufig  zu 

Fig.  166 


t    \{^ 


y-  y 


Beginnender  EpithehaUu-ebs  des  rothen  Lippensaums,  Einwachsungen  des  Rete  Malpi^hii 
ins  Gewebe  der  Lippe.     Verhornter  Schorf.     Die  Blutgefässe  injicirt.      Vergrösserung  ^30. 


Vorlcsmi-.-    1!).      Cnpifel    XXF. 


759 


constatiren;  weniger  oft  kümmf  dagegen  eine  Betlieiiigiing  der  Ilaarbälge  und  der  Seliweiss- 
driisen  vor.  Die  jungen  Zellen  des  Kete  bcluiKeii  im  Anlang  hei  diesen  Einwaeiisungen 
durchaus  ihre  Form  und  Grösse;  selbst  ihr  Verhällniss  zum  Bindegewebe  der  Cutis  bleibt 
dasselbe,  indem  diejenigen  Zellen,  welche  dem  Bindegewebe  am  nächsten  liegen,  wie  auf 
den  normalen  Papillen  der  Cutis  die  cyliudriscbe  Form  und  Richtung  behalten. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  epithelialen  driisenähnliclien  Einwachsungen 
niciit  selten  in  Räume  zwischen  die  Bindegewebsbündel  hineinwachsen,  in  welchen  Lymphe 
circulirt,  denn  hier  bietet   das  Gewebe  am   wenigsten   Widerstand.     Küster   glaubt  nach" 

Fig.  IGT. 


Flacher  Epithelialkrebs    der    Wange;    drüsige    Einwachsungen    des  Rete  Malpighü    in    das 
kleinzellige  infiltrirte  Bindegewebe.     Vergrösserung  400. 


gewiesen  zu  haben ,  dass  alle  diese  Schläuche  und  Cylinder  in  den  Lymphgefässen  und 
nur  in  ihnen  liegen.  Wenngleich  seine  Beweise  für  diese  Ansicht  nicht  alle  stichhaltig 
sind,  so  hat  dieselbe  Immei-hin  etwas  sehr  Bestechendes,  weil  man  auf  diese  Weise  leicht 
verstehen  würde ,  warum  grade  bei  diesen  Carcinomformen  die  nächstgelegenen  Lymph- 
drüsen zuweilen  schon  sehr  früh  inficirt  werden. 

Im  weiteren  Verlauf  treten  nun  in  diesen  Epithelialschläuchen  Veränderungen  auf; 
es  ballen  sich  einzelne  Zellenhaufen  zusammen  und  formiren  Kugeln ,  welche  nach  und 
nach  durch  neu  umlagerte  Zellen  von  der  Form  der  Plattenepithelien  wachsen  und  so 
die  kohlkopfartig  zusammengesetzten  Epidermiskugeln  (globules  epidermiques,  Cancroid- 
kugeln,  Epithelialperlen)  bilden,  welche  das  Erstaunen  der  ersten  Untei-sucher  in  höchstem 
Maasse  erregten. 

Es  ist  am  wahrscheinlichsten,  dass  diese  Kugeln,  die  wir  sclion  an  Sarkomen  kennen 
gelernt  haben  (pag.  715),  wo  wir  sie  Endothelialperlen  nannten,  so  entstehen,  dass  eine 
Quantität  von  zusammengeballten  Zellen  aus  sich  heraus  durch  Theilung  sich  vermehren 
und  dass  die  peripherischen  Zellenlagen  durch  Druck  gegen  eine  wenig  dehnbare  Um- 
gebung abgeplattet  werden;  je  grösser  dann  diese  Perlen  werden,  um  so  mehr  treten  sie 
aus  den  Zellencylindern  hervor  und  erscheinen  daher  häufig  an  den  Endpunkten  der 
drüsigen  Kolben.  Unter  den  Zellen  im  Innern  der  Perlen,  vv^ie  auch  sonst  in  den  übrigen 
epithelialen  Theilen  dieser  Geschwülste  sieht  man  oft  solche  mit  vielen  Kernen,  auch  grosse 
Zellkörper,  welche  Tochter-  und  Enkelzellen  eingeschlossen  haben.  In  manchen  dieser 
Carcinome  hat  man  auch  Stachel-  und  Riffzellen  in  grosser  Menge  gefunden,  wie  in  den 
Grenzschichten  zwischen  Schleimschicht  und  Hornschicht  der  Epidermis;   leider  sind  die- 


760 


Von  den  Geschwülsten. 


selben  nicht  constant  und  bei  jungen  Epithelzellen  noch  nicht  ausgebildet,  so  dass  man 
diese  Stacheln  und  Riffe  an  den  Zellen  nicht  als  Merkmal  für  ächte  Epithelialzellen  be- 
trachten kann.     Sind    die  Epithelialmassen   tief  ,ins    Gewebe    hineingewuchert,  und  macht 

Fig.  168. 


Elemente    eines   wuchernden   Hautcarcinoms    der   Lippe.      (Frische   Präparate    mit   Zusatz 

von    ganz    diluirter   Essigsäure.)      a  Einzelne    Zellen    mit    endogenen    Kerntheilungen.  — 

6  Ein  Cancroidzapfen  mit  concentrischen  Kugeln  und  äusserem  cylindrischem  Epithel.  — 

Eine  aus  einander  gequetschte  Epithelialperle.  —   Vergrösserung  400. 

man  dann  in  diesen  tieferen  Lagen  durch  eine  erhärtete  Geschwulst  der  Art  einen  Ab- 
schnitt, so  erhält  man  ungefähr  folgendes  Bild  (Fig.  169),  an  welchem  die  mit  Epithel 
gefüllten  Alveolen  sehr  wohl  von  dem  wabenartig  gewordenen  Bindegewebe  zu  unter- 
scheiden sind. 

Die  Gefässe  in  diesem  Bindegewebssti'oma  gestalten  sich  etwa  wie  in  Fig.  170a, 
während  Fig.  170  i  eine  Gefässwucherung  in  vergrösserten  Papillen  einer  Glans  penis 
zeigt,  wie  sie  gleich  bei  Entwicklung  der  ersten  epithelialen  Wucherungen  erfolgt  war. 

Während  im  letzterwähnten  Fall  die  Papillarhypertrophie ,  wie  es  öfter  vorkommt, 
gleich  beim  Anfang  der  Geschwulstbildung  als  wesentlicher  charakteristischer  Theil  auftritt, 
ist  sie  m  anderen  Fällen  durchaus  secundärer  Natur,  d.  h.  die  epithelialen  Zapfen  an  der 
Oberfläche  der  Haut  oder  Schleimhaut  erweichen,  fallen  aus  und  es  bleibt  der  gefäss- 
reiche   bindegewebige    Theil   in   Form    eines    buchtigen    Geschwürs    zurück,    aus    welchem 


Vorlesung  40.     Capili'l  XXI. 
Fig.  Iü9. 


761 


/       I  M 


B; 


'^m 


Von  eiuem  wuchernden   Hautkrebs    an  der  Hand,    die  Blutgefässe    unvollkommen   injicirt. 

Vergrösserung  400. 

einzelne  papilläre  Büschel  hervorstehen  oder  nachträglich  hervorvrachsen.  Wenn  Jemand 
die  Behauptxing  aufstellte,  dass  beim  Beginn  der  oberflächlichen  Hautkrebse  der  Process 
immer  mit  Hypertrophie  und  reichlicherer  Vascularisation  der  Papillen  beginne,  an 
welchen  die  sich  entsprechend  vermehrenden  Epithelialzellen  haften  und  zwischen 
denen  sie  fest  liegen  bleiben,  so  Hesse  sich  gegen  diese  Auffassung,  so  weit  es  eben  die 
Anfänge  der  Bildung  betrifft  nichts  einwenden ;  bei  den  tief  greifenden  sehr  zellenreichen 
Formen  von  Carcinomen  würde  diese  Deutung  des  Verhältnisses  zwischen  Papillen  und 
Epithelien  fi-eilich  nicht  mehr  zureichen. 

a  Fig.  170.  b 


Gefässe  aus  einem  Carcinom  des  Penis.     Vergrösserung  60.  —   a  Aus  dem  ausgebildeten 

Geschwulstgewebe ,    Gefasskreise  um   die  Epidermisperlen.    —    h  Gefassschlingen    von   der 

Oberfläche  der  stark  indurirten,  doch  noch  nicht  ulcerirten  Glans  penis. 


Yß2  ^""  ^^n  Geschwülsten. 

Das  Hautcarcinom  kann  als  indurirtes  Papillom,  als  Warze  beginnen, 
doch  ist  es  ebenso  häufig-,  dass  es  als  Knoten  anfängt,  wenn  die  Wuche- 
rung anfangs  circumscript  bleibt,  in  die  Haut  einwächst,  sich  nun  von 
sich  aus  langsam  vergrössert,  ohne  durch  A]3position  neuer  kleiner  Car- 
cinomknoten  zu  wachsen.  Gewöhnlich  dringt  die  carcinomatöse  Wuche- 
rung von  einer  allmählig  sich  vergrössernden  Fläche  aus  in  die  Cutis 
ein,  durchwächst  dieselbe,  manchmal  ohne  eine  sehr  auffallende  Erhaben- 
heit zu  erzeugen. 

Ein  wesentlicher  Unterschied  der  Hautkrebse  untereinander  besteht 
darin ,  dass  die  epitheliale  Wucherung  bald  mehr  bald  weniger  tief  in 
die  Cutis  eindringt,  es  giebt  Krebse  der  Haut,  welche  ganz  oberflächlich 
bleiben,  kaum  ins  Unterhautzellgewebe  dringen  und  enorm  langsam 
wachsen  (flache  Epithelialkrebse,  Thiersch),  andere,  welche 
rasch  wachsen  und  tiefer  in  das  Gewebe  zerstörend  einbrechen  (infil- 
trirte  Epithelialkrebse,  Thiersch),  Die  obige  Schilderung  der 
Hautkrebse  ist  zunächst  nach  der  infiltrirten  Form  gemacht;  beim  flachen 
Epithelkrebs  dringen  die  auswachsenden  Zellencylinder  selten  tiefer  als 
bis  in  die  tieferen  Lagen  der  Cutis  und  bestehen  vorwiegend  aus  den 
kleineren  runden  Zellen  des  Eete.  Neben  diesen  Wucherungen  werden 
die  Talgdrüsen  grösser,  füllen  sich  mit  ausgebildeten  grosszelligen  Epi- 
thelien  und  das  Bindegewebe  wird  von  kleinzelligen  Elementen  reichlich 
infiltrirt.  Es  kommt  in  diesen  Neubildungen  verhältnissmässig  selten  zur 
Bildung  von  Epidermisperlen.  Das  Ganze  bildet,  am  Kranken  be- 
trachtet, in  diesem  Anfangsstadium  eine  harte,  wenig  erhabene  Infiltra- 
tion der  Cutis  mit  darüber  verschorfender  Epidermis,  Diese  epitheliale 
Wucherung  ist  jedoch  wenig  solide,  es  kommt  gelegentlich  zum  Zerfall, 
zur  Erweichung  und  Ausstossung  der  drüsigen  Wucherungen  und  der 
Talgdrüsen.  Das  reichlich  vascularisirte  Bindegewebe  bleibt  zurück 
und  kann  nun  als  Granulation  weiter  wachsen  oder  auch  theilweis 
vernarben.  Während  dies  im  Centrum  der  Neubildung  vor  sich 
geht,  schreitet  letztere  in  der  Peripherie  weiter  und  weiter,  wenn  auch 
sehr  langsam  vor. 

Die  Hautkrebse  sind  auf  dem  Durchschnitt  im  allerersten  Anfang 
von  blassrother  Farbe  und  harter  Consistenz,  bald  werden  sie  weiss, 
grobkörnig  auf  der  Schnittfläche;  bei  den  üppig  gewucherten  infiltrirten 
Formen  sieht  man  zuweilen  die  grossen  Epithelialperlen  und  grossen 
Epithelialzapfen  mit  freiem  Auge.  Ulceration  erfolgt  fast  häufiger  von 
aussen  nach  innen  als  durch  markige  Erweichung  von  innen  nach  aussen, 
gewöhnlich  ziemlich  bald  nach  der  Entstehung,  Schleimige  Erweichung 
ist  bei  diesen  Formen  sehr  selten. 

In  Betreff  der  Topographie  dieser  Carcinome  ist  hervorzuheben, 
dass  folgende  Körpergegenden  der  häufigste  Sitz  dieser  Geschwülste  sind: 

a)  Kopf  und  Hals;  hier  sind  es  die  Augenlider,  die  Conjunctiva, 
die  Nasen-  und  Gesichtshaut,  die  Unterlippe,  die  Mundschleimhaut,  das 


VorlcsmiK    1',).     (;;i|.ih'l   XX f.  763 

Zalmfleiscli,  die  Wange,  dicZmii^e,  der  Kehlkopf,  der  Ocsophag'UH,  das  Ohr 
und  die  behaarte  Kopfhaut,  an  welclien  diese  Geschwülste  sich  besonders 
gern  bilden.  Die  erste  Entstehung-  ist  sehr  verschieden :  die  schlimmsten 
Fälle  beginnen  gleich  als  Knoten  in  der  Substanz  der  S(;1ileimhaut  oder 
Haut,  und  kommen  durch  centrale  Erweichung  rascli  xur  Ulceration; 
andere  Fälle  beginnen  auf  der  Oberfläche:  es  entstellt  eine  Schrunde, 
ein  Riss,  eine  iudurirte  Excoriation,  eine  epidermoidale  Verschorfung, 
eine  weiche  Warze;  diese  anfangs  leicht  erscheinenden  Erkrankungen 
können  längere  Zeit  hindurch  auf  der  Oberfläche  bleiben,  breiten  sich 
langsam  der  Fläche,  weniger  der  Tiefe  nach  mit  massig  indurirten  llän- 
dern  aus.  Entwickelt  sich  das  Carcinom  aus  einer  warzenartigen  Bil- 
dung, so  behält  es  zuweilen  dauernd  den  papillären  Charakter.  Die 
einmal  erkrankten  Theile  sind  durch  die  Metamorphose  in  Krebsgewebe 
für  immer  zerstört;  in  recht  exquisit  wuchernden  Epithelialcarcinomen 
kommen  keine  narbigen  Schrumpfungen  vor;  die  Geschwüre,  welche 
schnell  aus  diesen  Neubildungen  hervorgehen,  sind  verschiedenartig  wie 
andere  krebsige  Geschwüre  auch;  bald  gangränescirt  das  Geschwür  in 
kleineren  oder  grösseren  Fetzen  in  die  Tiefe  liinal),  und  so  entsteht  ein 
kraterförmiger  Defect,  bald  wuchert  die  Neubildung  stark,  und  es  bilden 
sich  Geschwüre  mit  pilzartig  überwaclisenden  Räudern.  Aus  diesen  Ge- 
schwürsflächen lässt  sich  nicht  selten  ein  käsiger,  auch  wohl  eiterähn- 
licher Brei  ausdrücken,  der  wurmähnlich,  wie  der  eingedickte  Talg  aus 
einer  dilatirten  Hautdrüse  (einem  Comedo  oder  Mitesser)  hervorquillt; 
dieser  Brei  ist  ein  Gemisch  von  erweichten  Epithelialmassen  und  Fett. 
Bald  früher,  bald  später  tritt  eine  nicht  selten  schmerzhafte  Anschwel- 
lung der  nächstgelegenen  Lymphdrüsen  am  Hals  ein,  die  allmählig  zu- 
nimmt; es  confluiren  nach  und  nach  die  Drüsengeschwülste  theils  unter 
einander,  theils  mit  der  primären  Geschwulst;  neue  Stellen  brechen  auf 
und  die  locale  Zerstörung  greift  immer  weiter  um  sich;  auch  in  der 
Tiefe  auf  die  Gesichts-  oder  Schädelknochen  breitet  sich  die  Neubildung 
aus:  die  Knochen  werden  durch  dieselbe  zerstört;  letztere  tritt  an  die 
Stelle  des  Knochengewebes.  Der  Tod  kann  durch  Erstickung  oder  Ver- 
hungerung in  Folge  von  Druck  der  Geschwulstmassen  auf  die  Luft-  oder 
Speiseröhre,  auch  durch  Betheiligung  des  Hirns  nach  Perforation  des 
Schädels  erfolgen;  am  häufigsten  tritt  er  nach  allmählig  zunehmendem 
Marasmus  durch  völlige  Erschöpfung  der  Kräfte,  unter  dem  Bikle  hoch- 
gradiger Kachexie  ein.  Bei  den  Sectioneu  findet  man  fast  niemals  me- 
tastatische Geschwülste  in  inneren  Organen.  —  Alle  diese  Carcinome 
am  Kopf,  Gesicht  und  Hals  sind  bedeutend  häufiger  bei  Männern,  als  bei 
Frauen.  Die  durchschnittliche  Lebensdauer  der  an  Zungen-  und  Mund- 
schleimhautkrebs Erkrankten  ist  1 — V/.^  Jahre.  —  Die  Lippe n krebse 
sind,  so  lange  die  Lymphdrüsen  noch  nicht  mit  erkrankt 
sind,  durch  sehr  frühe  und  vollständige  Exstirpation  radical 
heilbar. 


Yß^  ^0^  ^^^  Geschwülsten. 

Ich  habe  in  früheren  Arbeiten  die  eben  erwähnte  Foi-m  des  „flachen 
Hautkrebses"  als  „vernarbenden,  schrumpfenden  Epithelialkrebs  oder 
Scirrhus  cutis"  bezeichnet,  um  sie  von  dem  gewöhnlichen  rasch  wuchern- 
den Epithelialkrebs  schärfer  abzugrenzen.  Es  scheint  mir  jedoch  jetzt 
besser,  daraus  keine  besondere  Unterabtheilung-  zu  machen  und  ich  hebe 
daher  hier  gleich  hervor,  dass  dieser  flache  Hautkrebs  die  mildeste  Form 
von  Krebsen  überhaupt  ist,  von  welcher  mit  wenigen  Ausnahmen  nur 
alte  Leute  befallen  werden;  die  Erkrankung  beginnt  zuweilen  als  klein- 
knotige Infiltration  der  Papillarschicht,  immer  aber  ganz  oberflächlich; 
gewöhnlich  entstellt  zuerst  eine  ganz  localisirte  Anhäufung  von  gelblich 
gefärbter  Epidermis,  ein  kleiner  Schorf,  nach  dessen  Entfernung  die 
Haut  anfangs  nur  wenig  geröthet,  kaum  infiltrirt  erscheint;  der  Schorf 
bildet  sich  wieder,  wenn  man  ihn  ablöst;  nach  wiederholter  Ablösung 
findet  man  bald  darunter  eine  kleine  rauhe,  fein  papilläre  trockene  Ge- 
schwürsfläche zuweilen  jetzt  schon  mit  etwas  harten,  wenig  erhabenen 
Rändern ;  das  kleine  Geschwür,  auf  dem  sich  immer  wieder  neue  trockne 
Schorfe  bilden,  greift  zwar  durch  die  Dicke  der  Cutis  hindurch,  doch 
selten  in  das  TJnterhautzellgewebe;  es  hat  mehr  die  Tendenz,  sich  der 
Fläche  als  der  Tiefe  nach  zu  verbreiten,  ja  zuweilen  heilt  es,  wie  schon 
früher  augedeutet,  im  Centrum  vollständig  mit  Bildung  einer  Narbe  und 
neuer  gesunder  Epidermis,  während  eine  massige  Induration  und  Ulceration 
in  der  Peripherie  äusserst  langsam  vorschreitet.  Es  giebt  Fälle,  in  welchen 
gar  keine  Ulceration  erfolgt,  sondern  nur  Infiltration  der  Haut  mit  Epi- 
dermisverschorfung  und  nachfolgender  Narbenschrumpfung. 

Der  häufigste  Sitz  des  flachen  Epithelkrebses  ist  im  Gesicht,  zumal 
an  Wange,  Stirn,  Nase,  Augenlidern;  doch  auch  andere  Theile  der  Haut, 
welche  vom  Epithelialcarcinom  überhaupt  ergriffen  werden,  können  in 
dieser  Form  erkranken;  zwischen  dem  50.  und  60.  Jahre  kommt  dieser 
flache  Hautkrebs  am  häufigsten  und,  wie  ich  finde,  ebenso  oft  bei  Frauen 
wie  bei  Männern  vor.  Oft  zeigt  die  gesammte  Hautoberfläche,  zumal 
des  Gesichts  und  der  Hände  eine  auffallend  trockene  Beschaffenheit  und 
eine  Menge  von  trocknen,  flachen,  gelblichen  Epidermisschorfen,  auch 'zu- 
gleich eine  grössere  Anzahl  meist  sehr  kleiner,  durch  Verschrumpfung 
oft  wieder  verschwindender  Infiltrationen.  Die  Ausbreitung  dieser 
Krebsinfiltration  geht  äusserst  langsam  vor  sich;  es  braucht  wohl  zuweilen 
6  —  8  Jahre,  bis  ein  Thaler- grosses  Stück  Haut,  oder  ein  Nasenflügel, 
oder  ein  Augenlid,  oder  ein  Stück  Ohr  etc.  zerstört  ist;  tritt  diese  Krebs- 
torm  bei  jüngeren  Individuen  auf,  so  ist  der  Verlauf  ein  weit  schnellerer, 
es  geht  die  Neubildung  dann  auch  wohl  in  die  tief  greifende  Form 
über.  Da  die  Erkrankten  meist  alt  sind,  so  sterben  sie  gelegentlich  an 
anderen  Krankheiten  hin,  und  auch  deshalb  kommt  es  nach  Operationen 
oft  nicht  zu  Eecidiven.  Doch  auch  in  Fällen,  wo  nicht  operirt  wird, 
wo  überhaupt  dagegen  nichts  gescliieht,  zeigen  sich  diese  Carcinomformen 
mir  in   wenigen  Fällen  sehr    infectiös:    über  Lymphdrüseninfiltrationen, 


Vorlosnns  49.     Capifol  XXT.  765 

die  erst  spät  zu  Stande  kommen,  und  dann  chenso  langsam,  ebenso  mit 
Verselii-umpfung"  verlaufen,  wie  die  primäre  Infiltration,  kommt  die  In- 
fection  wohl  niemals  hinaus.  —  So  hat  man  denn  diese  flache  Form  des 
Hautkrebses  ganz  aus  der  Eeihe  der  Carcinomc  streichen  und  in  die 
clironisch-entzündlichen  Processe  als  Ulcus  rodens  (Hutchinson)  oder 
als  eine  besondere  Lupusform  alter  Leute  einreihen  wollen.  Die  vielfach 
vorkommende  Combination  dieser  Neubildung-  mit  deutlich  charakterisirtera 
Krebs  in  einigen  Stellen  der  infiltrirten  Ränder,  die  Uebergangsmöglichkeit 
derselben  in  wuchernden  Hautkrebs,  und  manche  anderen  anatomischen 
und  klinischen  Eigenthtimlichkeiten  lassen  es  für  mich  nicht  zweifelhaft, 
dass  die  beschriebene  Form  der  Infiltration  und  Ulceration  zu  den 
krebsigen  gehört,  wenn  sie  auch,  wie  bemerkt,  die  mildeste,  am  schwächsten 
infectiüse  Form  in  der  Eeihe  der  carcinomatösen  Neubildungen  ist. 

b)  Die  zweite  Körperstelle,  an  welcher  die  in  Rede  stehenden  Carci- 
nome  häufig  sind,  ist  die  Gegend  der  Genitalien.  Die  Portio  vaginalis 
uteri,  die  Scheide,  die  kleinen  Labien  und  die  Clitoris,  der  Penis,  zumal 
die  Glans  und  das  Präputium  sind  die  häufigst  afficirten  Stellen.  Von 
allen  diesen  Theileu  ist  die  Portio  vaginalis  uteri  besonders  bevorzugt, 
auch  hier  ulcerirt  das  Carcinom  schnell,  und  da  die  Geschwulstoberfläche 
dabei  stark  zerklüftet  erscheint  und  so  eine  Aehnlichkeit  mit  der  Ober- 
fläche eines  Blumenkohlkopfes  entsteht,  so  nennt  mau  diese  Krebse  auch 
wohl  Blumenkohlkrebse  (Cauliflower-cancer) ;  da  aber  auch  sarkomatöse 
Papillome  die  gleichen  Formen  produciren  können,  so  ist  diese  Bezeich- 
nung unsicher.  An  allen  genannten  Stellen  kann  die  ulcerirte  Geschwulst 
bald  mehr  einen  destructiv-ulcerirenden,  bald  mehr  einen  fungösen  Cha- 
rakter haben,  ausserdem  infiltrirt  oder  oberflächlich  sein.  Die  Absonde- 
rung der  Uteruskrebse  ist  mit  einer  ganz  besonders  stinkenden  Jauchung 
und  oft  mit  continuirlichen  parenchymatösen  Blutungen  verbunden.  — • 
Was  den  weiteren  Verlauf  der  Krankheit  betrifft,  so  erkranken  bald 
früher,  bald  später  die  inguinalen  oder  retroperitonealen  Lymphdrüsen; 
der  Tod  erfolgt  gewöhnlich  durch  Marasmus;  auch  in  diesen  Fällen 
finden  wir  nur  sehr  selten  metastatische  Geschwülste  in  inneren  Or- 
ganen, ausser  in  den  nächstgelegeuen  direct  inficirten  Drüsen.  — 

c)  Von  andern  Körperstellen,  welche  für  die  Chirurgie  in  Betracht 
kommen,  ist  noch  die  Hand,  zumal  der  Handrücken,  zu  erwähnen.  Ich 
sah  vor  Kurzem  ein  Epithelialcarcinom  am  rechten  Oberarm,  welches 
sich  aus  einer  durch  Erbsen  10  Jahre  lang  unterhaltenen  Fontanelle 
entwickelt  hatte.  Auch  beobachtete  ich  ein  Fussgeschwür,  welches 
nach  jahrelangem  Bestand  ohne  bekannte  Veranlassung  krebsig  ge- 
worden war. 

d)  Es  wären  hier  nun  noch  die  Carcinome  zu  erwähnen,  welche  von 
der  Harnblasenschleimhaut  ausgehen,  die  auch  ein  Pflasterepithelium 
ti'ägt.  So  wenig  sie  für  die  chirurgische  Therapie  zugänglich  sind, 
müssen  sie  doch  grade  von  den  Chirurgen  wegen  der  Differentialdiagnose 


766 


Von  den  Geschwülsten. 


besonders  g'ut  gekannt  sein.  Wiederholt  ist  schon  erwähnt,  dass  beim 
Carcinom  papilläre  Wucherungen  vorkommen;  dies  ist  nun  ganz  beson- 
ders häufig  der  Fall  bei  den  Krebsen  an  der  Innenfläche  der  Harnblase, 
welche  oft  in  Form  baumähnlich  verzweigter  Zotten  auswachsen,  und 
daher  den  besonderen  Namen  „Zottenkrebse"  bekommen  haben. 

Die  von  den  Hautepithelien  und  Drüsen  ausgehenden  Krebse  stehen 
zu  den  Zottenkrebsen  in  gleichem  Verhältniss  wie  die  Adenome  zu  den 
Papillomen.  Sowie  das  Papillom  einen  besonders  üppig  wuchernden 
Charakter  annimmt,  und  zu  gleicher  Zeit  dabei  auch  Epithelmassen  in  die 
betreffende  Haut  hineinwachsen,  so  dass  das  Bindegewebe  oder  Muskel- 
gewebe dadurch  infiltrirt  wird,  kurz  sowie  die  Geschwulst  einen  deutlich 
destructiven  Charakter  annimmt,  kann  man  sie  als  carcinomatöses  Pa- 
pillom oder  Zottenkrebs  betrachten.  Die  Grenzen  zwischen  einem  ein- 
fachen Papillom  und  einem  Zottenkrebs  können  gelegentlich  sehr  schwierig 

zu  ziehen  sein. 

Fig.  171. 


Papilläre  Bildungen  von  einem  Zotteukrebs  der  Blase  nach  Lambl.     a  ohne,  h  mit 
Epithel;    c  isolirte  Epithelialzellen  der  Zotten.     Vergrösserung  350. 

Auf  der  Innenfläche  der  Harnblase  bildet  sich,  wie  bemerkt,  eine 
wie  Algen  in  die  Blasenhohlung  hineinwachsende,  im  Urin  flottirende 
Geschwulst,  die  sich  an  ihrer  Basis  zur  Blasenwand  wie  ein  Carcinom 
verhält,  und  dessen  oft  sehr  lange  baumartig  verzweigte  Zotten  mit  sehr 
grossen  Epithelialzellen  belegt  sind,  während  der  Grundstock  der  Papillen 
aus  Bindegewebe  besteht,  in  dessen  Maschen  sich  epitheliale  Zellencylinder 
wie  im  Carcinom  befinden  (Fig.  171).  Die  Analogie  mit  villösen  Sarkomen 
ist  in  der  That  sehr  gross;  nur  dass  dort  (Fig.  715)  die  Zotten  mit  Eu- 
dothelien,  hier  mit  Epithelien  bekleidet  sind. 


Vorlesung  4!).     Capilol   XXI.  767 

Jetzt  uocli  einig-e  Worte  über  den  Verlauf  der  erwähnten  Carcinome 
im  Ganzen.  Sie  treten  meist  bei  älteren  Individuen  auf  und  zwar  im 
höheren  Maunesalter,  also  vom  40.  bis  60.  Jahr,  sehr  selten  später,  doch 
leider  nicht  so  selten  früher;  ich  habe  Zungenkrebs  bei  einem  ISjährig-en 
Burschen,  Uteruskrebs  bei  20jährigen  Frauen  gesehen.  Im  Ganzen  sind 
die  Landbewohner  dem  so  sehr  Iiäufigen  Lippenkrebs  mclir  ausgesetzt 
als  die  Stadtbewohner.  Je  früher  diese  Carcinome  auftreten,  um  so 
wuchernder  pflegt  nicht  allein  die  örtliche  Geschwulst,  sondern  auch  nm 
so  früher  die  Betheiligung  der  Lymphdrüsen  und  um  so  schneller  der 
ganze  Verlauf  zu  sein.  Es  ist  schon  öfter  beobachtet,  dass  "nacli  voll- 
ständiger Entfernung  der  Geschwulst  kein  Eecidiv  eintritt.  In  einigen 
Fällen  verläuft  die  Krankheit  in  einem  Jahr  mit  grosser  ßapidität,  in 
andern  dauert  sie  3 — 5^ — 10  Jahre  und  länger  (flache  Hautkrebse);  es 
kommt  auch  vor,  dass  das  Eecidiv  nur  in  den  Lymphdrüsen  erscheint, 
wenn  z.  B.  ein  Lippenkrebs  vollkommen  exstirpirt  war,  doch  zur  Zeit 
der  Operation  sich  schon  Krebskeime  in  den  Halslymphdrüsen  befanden 
(Infections-Recidive).  —  Die  Neubildung  in  den  Lymphdrüsen  sieht  an- 
fangs blassroth  aus,  ist  ein  ziemlich  hartes  diffuses  Infiltrat  oder  ein 
weisses  Korn,  wird  aber  mit  der  Zeit  weicher,  auch  wohl  theilweis 
breiig  und  eitrig  zerfliessend.  Die  krebsig  infiltrirten  Lymphdrüsen  am 
Hals  haben  grosse  Neigung  zur  Ulceration.  Die  mikroskopische  Structur 
der  inficirten  Drüsen  ist  wie  die  der  primären  Krebse.  —  Ich  halte  es 
für  zweifellos,  dass  die  secuudären  Krebse  in  den  Lymphdrüsen  immer 
durch  Transplantationen  von  Krebskeimen  aus  dem  primären  Heerd  ent- 
stehen. Ueber  die  Lymphdrüsen  gehen  die  beschriebenen  Krebsformen 
fast  nie  hinaus;  Infection  innerer  Organe  (Leber,  Lunge,  Milz,  Nieren) 
gehört  dabei  zu  den  äussersten  Seltenheiten.  —  Die  Constanz,  mit  welcher 
das  Carcinom  an  gewissen  Theilen,  besonders  an  den  Uebergängen  von 
Schleimhaut  in  Cutis  (Vagina,  Penis,  Lippen)  vorkommt,  hat  mit  Eecht 
stets  besondere  Aufmerksamkeit  erregt.  Es  liegt  nahe,  in  dem  Bau  dieser 
Theile,  in  den  Irritationen,  welchen  diese  Ostien  ausgesetzt  sind,  Ur- 
sachen der  Erkrankung  zu  suchen;  bei  der  Abneigung,  welche  sich  bei 
den  meisten  modernen  Pathologen  gegen  die  Annahme  specifischer,  völlig- 
unbekannter Eeize  findet,  hat  man  bald  diese,  bald  jene  Momente  hervor- 
gesucht, um  das  Dunkel,  welches  über  die  specifische  Gescliwulsterkrankung 
dieser  Theile  herrscht,  aufzuhellen.  Thiersch  legt  in  Betreff  der  Lippe 
alter  Leute  grosses  Gewicht  darauf,  dass  in  den  Lippengeweben  wie 
überhaupt  in  der  Cutis  im  Lauf  des  Alters  nicht  unerhebliche  Verände- 
rungen  vorgehen:  es  finde  ein  bedeutender  Schwund  des  Bindegewebes 
und  der  Muskulatur  Statt,  so  dass  die  Epidermisgebilde,  wie  die  Haar- 
drüsen,  Talgdrüsen,  Schweissdrüsen,  Lippendrüsen  von  einem  gewissen 
Druck  entlastet  werden  (vergleiche  pag.  314),  bedeutend  hervortreten  und 
im  Verhältniss  zum  Bindegewebe  gewissermaassen  das  Uebergewicht 
in  der  Ernährung  erhielten;    so  komme  es,   dass  alle  ßeize,  welche  auf 


YßQ  Von  den  Geschwülsten. 

die  Lippe  einwirken  (seWecbtes  Easiren,  Tabaki-auchen ,  Wind  und 
Wetter  etc.),  hauptsächlich  eine  reactive  Proliferatiou  in  den  drüsigen 
Theilen  der  Lippe  erregen  und  diese  in  h}q)erplastische  Reizung  ver- 
setzten. In  England  kommt  EpithelialkreTbs  ziemlich  häufig  bei  Schorn- 
steinfegern am  Scrotum  vor  (Scliornsteinfegerkrebs),  wie  behauptet  wird, 
als  Folge  der  Einwirkung  des  Steinkohlenrusses.  Gewiss  können  diese 
Verhältnisse  mitwirken,  doch  es  ist  dadurch  immer  nocli  nicht  erklärt, 
warum  in  Folge  davon  grade  Krebse,  infectiöse  Geschwülste,  warum 
nicht  ebenso  oft  chronische  Entzündungen,  katarrhalische  Aifectionen  etc. 
entstehen.  Ich  will  dies  hier  nicht  weiter  verfolgen,  und  verweise  Sie 
auf  das  früher  bei  der  Aetiologie  der  Geschwulstbildung  in  der  Ein- 
leitung zur  'Geschwulstlehre  Gesagte. 

2.  Milchdrüsen.  Ich  schliesse  den  Krebs  der  Mamma  gleich  hier 
au,  weil  diese  Drüse  auch  ein  Abkömmling  von  der  Epidermis  ist,  eine 
Hautfettdrüse  in  grossem  Maassstab.  Dennoch  weichen  die  Formen  des 
Brustdrüsenkrebses  von  der  beschriebeneu  des  Hautkrebses  etwas  ab,  und 
wenn  auch  ächte  Epidermiskrebse  an  der  Brustdrüse,  zumal  von  der 
Haut  des  Warzeuhofes  ausgehend,  vorkommen,  so  sind  sie  doch  immer- 
hin äusserst  selten. 

Der  leider  sehr  häufige  Brustdrüsenkrebs  beginnt,  wie  mir  scheint, 
fast  immer  gleichzeitig  mit  Vermehrung  der  kleinen  runden  Epithelial- 
zellen  in  den  Acini  und  mit  kleinzelliger  Infiltration  des  Bindegewebes 
um  dieselben.  Es  ist,  wie  schon  früher  bemerkt,  mit  Hülfe  unsrer  jetzigen 
Untersuclmngsmethoden  nicht  wohl  möglich,  herauszubringen,  ob  sich 
die  ersten  Veränderungen  an  den  Drüsenzellen  oder  am  Bindegewebe 
zeigen ;  denn  bald  ist  die  Anhäufung  kleiner  runder  Zellen  um  die  Acini 
so  enorm,  dass  es  immer  schwieriger  wird,  sich  von  dem  fernem  Geschick 
der  Drüsenbeeren  zu  überzeugen.  Ich  glaube  indess  nach  meinen  ziem- 
lich zahlreichen  Beobachtungen  über  diesen  Gegenstand  mit  Hülfe  der 
besten  neueren  Methoden  Folgendes  über  die  weiteren  Vorgänge  aus- 
sagen zu  können: 

Die  Anhäufung  von  Zellen  in  den  Acini  führt  zunächst  zu  einer  Yergrösserung 
derselben,  wobei  zuweilen  sogar  eine  Spur  von  Secretion  aufti'itt  (was  sich  auch  in  dem 
Ausfiuss  von  Serum  aus  den  Warzen  kund  giebt).  Bei  fortschreitender  Zellenanhäufung 
erfolgt  nun  eine  weitere  Yergrösserung  der  Acini  in  so  verschiedener  Weise,  dass  man 
im  Ganzen  eine  acinöse  (häufig  zugleich  grosszellige)  und  eine  tubuläre  (vorwiegend  klein- 
zellige) Form  der  Brustdrüsenkrebse  unterscheiden  kann.  Die  erstere  führt  zur  Entwick- 
lung von  grossen  lappigen  drüsigen  Knoten;  ich  gebe  ihr  deshalb  den  Namen  „acinöse 
Form'',  weil  dabei  die  Form  von  Drüsenbeeren,  wenn  auch  nur  in  groben  Umrissen, 
leidlich  gewahi-t  ist.  Bei  schwacher  Vergrösserung  entsteht  in  den  Grenzen  einer  solchen 
Geschwulst  folgendes  Bild  (Fig.  172;: 

Die  vergrösserten  und  zu  dicken  Drüsenkolben  ausgewachsenen  Epithelialzellen- 
haufen  sind  von  infilti-irtem  Bindegewebe  umhüllt  und  von  einem  feinen  Netzwerk  von 
Bindegewebe  (Stroma)  durchsetzt,  welches  ich  für  den  Rest  der  früheren  Scheidewände 
zwischen  den  Acini  halte,  welches  aber  von  Anderen  als  grossentheils  neugebildet  ange- 
nommen wird.     Macht  man  durch  ein  erliärtetes  Präparat  eines  acinösen  weichen  Brust- 


Voil.'sim--  ■};).     Capilcl   XXf. 
Fi«.  172. 


769 


Brnstdrüsenkrebs.     Aciuüse  Form.     Yergrösserung  50. 

krebses  einen  Schnitt,  so  erscheint  das  Gewebe  bei  mittlerer  Yergrösserung  wie  in  Fig.  173. 
Die  Zellen  in  den  grossen  Bindegewebsmaschen  halte  i<"h   alle  für  epithelialen  Ursprungs. 

Fig.  173. 


'4r^^'"'  <^  A/^/^^ 


Weicher  Brustkrebs.     Alveoläres  Gewebe  des  Carcinoms.     Alkoholpräparat. 
Yergrösserung  100. 


Diese  Art  von  Brustdrüsenkrebsen  ist  meist  weich,  auf  dem  Durch- 
schnitt körnig,  grauweiss  (medullär).  Streicht  man  mit  einem  Messer  über  die 
Schnittfläche  einer  solchen  Krebsgeschwulst,  wobei  sich  leicht  ein  dicker  weisser  Brei 
entleert,  untersucht  dann  diesen  Brei  frisch,  so  findet  man  drüsig-kolbige  Zellenklumpen, 
sehr  blass ,  aus  grossen  vielgestaltigen  Zellen  mit  grossem  Kern  zusammengesetzt;  viele 
dieser  Zellen  enthalten  mehre  Kerne,  sind  vielleicht  in  Theüung  begrifi'en. 
BUlroth  chir.  Path.  u.  Ther.  7.  Aufl.  49 


770 


Aus    einem  Brustkrehs.     Vergvösserung   300.     a   Zellen   mit   mehrfachen    Kernen    (frisches 
Präparat  mit  Zusatz  von  etwas  Wasser),      b  Drüsige  Zellencvlinder  (frisches  Präparat). 

Das  Bindegewel)sgerüst.  in  welchem  diese  Elemente  gesteckt  haben,  sieht  im  leeren 
Zustande  bei  stärkerer  Vergrösserung  folgendermaassen  aus: 

Fig.  175. 


Bmdegewebsgerüst  eines  Brustkrebses;   die  dickeren  Balken  sind  reichlich  mit  jungen 
Zellenbildungen  infiltrirt.     Ausgepinseltes  Alkoholpräparat.     Vergrössernng  100. 


Die  zweite  im  Ganzen  häufigere  (härtere,  auf  dem  Durchschnitt  blassrothe) 
Form  kann  man  als  die  ,, tubuläre"  bezeichnen,  weil  dabei  die  Acini  nicht  ihre  Form 
behalten,  sondern  als  sehr  dünne  Zellencvlinder  in  das  Bindegewebe  hineinwachsen, 
wuhreud  letzferes  zugleich  zeUig  infiltrirt  wird.     Da   nun   die   von   den  Epithelien  ausge- 


Vnrlosung  4i).     Capitol  XXI. 


771 


fe' 


,.....,    1 

Briistdrüsenkrebs.  Tubuläre  Form.  Verorrössernntc  löO. 


gangenen  Zellen  bei   dieser  Form  Fig.  17ß. 

von  Krebs  meist  nicht  die  Grösse  -  ,ii'5'^!^?>:  - 

wie    im    vorigen    Fall    erreichen,  ^0 

und  da  sich  die  im  Bindegewebe 
angehäuften  Zellen  auch  zuweilen 
sehr  dicht  zusammenlageni ;  so 
ergiebtsich,  dass  es  äusserst  schwie- 
rig sein  muss.  in  diesen  Krebsen 
zu  unterscheiden,  welche  von  den 
Zellenmassen  vom  Drüsenepithel 
abstammen,  und  welche  reine  Bin- 
degewebsabkömmlinge  eventuell 
Wanderzellen  sind. 

Es  sind  daher  auch  noch 
nicht  alle  Forscher  überzeugt,  dass 
auch  diese  häufigen  Fonnen  von 
Mammacarcinomen  ächte  Krebse 
sind,  indem  von  Planchen  alle  hier 
vorkommenden  Zellen  als  vom 
Bindegewebe  abstammend  beti-ach- 
tet  werden.  Es  kann  darüber  in 
letzter  Instanz  nur  die  Entwick- 
lungsgeschichte dieser  Bildungen 
entscheiden;    so    lange    "^'ir    aber 

keine  Mittel  besitzen,  die  jungen  Abkömmlinge  der  Epithelialzellen  unter  allen  Umständen 
von  den  ausgewanderten  weissen  Blufzellen  und  den  Abkömmlingen  der  Bindege- 
webszellen zu  unterscheiden,  dürfte  die  Entscheidung,  ob  diese  Form  von  Brustkrebs 
mehr  epithelialer  oder  mehr  bindegewebiger  Natur  sei.  kaum  in  jedem  Präparate  mög- 
lich sein. 

Obgieicli  alle  Formen  von  Brustdrü-senkrebsen  Neigung  ziir  Ulee- 
ration  üaben,  so  ist  dies  docli  in  höherem  Maassc  bei  den  weicheren 
als  bei  den  härteren  Formen  der  Fall.  Für  die  Härte  eines  Brustkrebses 
ist  nicht  immer  die  Zellenarmuth  entscheidend,  sondern  auch  sehr 
zellenreiche  acinöse  Krebse  können  hart  sein,  wenn  die  Zellenhaufen  in 
viele  kleine  stark  gespannte  Bindegewebskapseln,  wie  die  normalen  Acini, 
eingeschlossen  sind.  Die  Erweichung  erfolgt  centi'al  in  einem  der  Haut 
nahe  liegenden  Knoten  oder  bei  der  härteren  Form  häufiger  von  aussen 
nach  innen  an  Stellen,  wo  die  Geschwulst  mit  der  vorgedrängten  Haut 
yerwachsen  ist.  Schleimige  Erweichung  des  Stroma  und  Schleim- 
metamorphose der  Drüsenzellen  kommt  selten  vor;  Doutrelepont  hat 
vor  Kurzem  einen  solchen  Fall  beschrieben.  —  Die  erweichten  Stellen 
erscheinen  dem  freien  Auge  weissgelblich  körnig  (käsige,  fettige  Er- 
weichung) oder  durch  reichlichere  Yascularisation  grauröthlich  oder 
dunkelroth,  besonders  wenn  Extravasate  erfolgt  sind.  —  Es  kann  durch 
Erweichungsprocesse  und  Abkapselung  der  vielleicht  tiefgelegenen  Er- 
weichungsheerde  zu  Cystenbildungen  in  diesen  Carcinomen  kommen; 
auch  können  sich  Eetentions-  und  Secretionscysten  in  der  Brustdrüse 
neben  oder  in  den  Krebsgeschwülsten  bilden. 

49* 


772 


Von  den  Geschwülsten. 


Ti-.  l"7  Schrumpfung'sprocesse  sind 

in  Brustdrüsenkrebsen  sehr  häufig, 

die  Warze  oder  andere  Stellen  wer- 

_^^     den  dadurch  nabelartig  eingezogen. 

T     ^-.'^  Bei  mikroskopischer  üntersuchnng  die- 

^     ser  geschrumpften  Theile  sieht  man  Binde- 
gewehsstränge  mit  gesclirunipften  Bindege- 
,^^      webskörperclieii,     und    dem    Durchschnitte 
s=-      von     verzweigten    sclimalen    Canälen    (ge- 
schrumpften   Alveolen    Fig.  177).     welche 
■^^^^  mit  Zellendetritus  oder  Fett  gefüllt  sind. 

Diese  Schrumpfung  der  Neu- 
bildung ist  bei  manchen  Brustdrii- 
senkrebsen  ein  so  wesentliches  Mo- 
ment, dass  man  danach  eine  besondere  Form  von  Krebs,  „den 
schrumpfenden,  vernarbenden  Krebs",  unterschieden  hat.  Es  ist  nicht 
zu  leugnen,  dass  diese  Krebsart  in  ihrer  reinen  Form  gewisse  Eigen- 
thümlichkeiten  darbietet,  durch  welche  sie  sich  von  den  gewöhnlichen 
häufigsten  Brustkrebsen  unterscheidet;  wir  ziehen  daher  vor,  sie  später 
für  sich  noch  etwas  genauer  zu  besprechen. 

Die  ^Entwicklung  von  Brustdrüsenkrebsen  ist  mit  nicht  unerheblicher  Gefässausdehnung 
und  wohl  auch  Gefässneubildung  verbunden.  — Im  Bereich  der  jüngsten  Theile  der  Neubildung 
finden  sich  sehr  reichlich  feine  Gefässe  und  Gefässnetze  (Fig.  178),  in  den  älteren,  zumal 
erweichenden  Theilen  Averden  die  Gefässe  bald  weiter  (Fig.  179);  finden  sich  dann  später 


"%4^ 


Biustdi  ii^cnkieh> 
ten  Partie 


ib  Clin.  1    iiaibig  geschlumpt 
Versrösserung  200. 


Gefässnetz  eines  ganz  jungen  Brustdrüsenkrebsknotens.     Vergrösserung  50. 


thrombirt   und    gehen    zu    Grunde,    so    dass   sich    um  p:rweichungsheerde   in  Geschwülsten 
gleiche  Netze   von  erweiterten  Gefässen  bilden,  wie  bei  der  Entstehung  der  Abscesse. 


Vorlesung'  49.     Capilcl    XKF.  773 

Fiir.  179. 


Gefässnetze  um  Ei-weiehungsheerde  in  einem  Briistdnisenkrebs.      Vergrösseniiig  ÖO. 

Ueber  die  klinisclien  Ersclieinung-en,  welclie  der  gewöhnliche 
Bmstdrüsenkrebs  bei  seiner  Entwicklung-  und  in  seinem  Verlauf 
macht,  ist  Folg-endes  zu  bemerken:  Die  Kranklieit  tritt  in  der  Regel 
zwischen  dem  30.  und  60.  Jahre  auf,  selten  früher  oder  später;  die 
betroffenen  Frauen  sind  sonst  meist  vollkommen  g-esund,  zu- 
weilen sogar  von  blühendem  Aussehen,  fett  und  wohl  conservirt;  ver- 
heirathete  und  unverheirathete  Personen,  fruchtbare  und  unfruchtbare 
Frauen  aller  Stände  werden  davon  befallen.  Nicht  selten  sind  die  Eltern 
oder  Grosseltern  an  Carcinom  gestorben.  Am  häufigsten  bildet  sich  nur 
in  einer  Brust,  zumal  in  dem  unteren  und  äusseren  Theile  derselben, 
eine  anfangs  kleine  schmerzlose  Geschwulst,  die  zuweilen  Monate  lang- 
unbeachtet  bleibt;  sie  ist  von  harter  Consistenz,  liegt  in  der  Drüse  in- 
filtrirt,  doch  anfangs  beweglich  unter  der  Haut  und  auf  den  Brustmuskeln; 
ihrWachsthum  ist  im  Beginn  ein  massig  rasclies;  es  vergeht  müg-licher- 
weise  ein  Jahr,  bis  der  Tumor  die  Grösse  eines  kleinen  Apfels  erreicht; 
sein  Volumen  ist  nicht  immer  gleich,  zuweilen  ist  die  Geschwulst  grösser 
und  empfindlich,  zumal  vor  dem  Eintritt  der  Menses  und  während  der- 
selben, auch  bei  neuen  Schwangerschaften  pflegt  ein  stärl^eres  Waclis- 
thum  einzutreten;  zuweilen  aber  fällt  die  Geschwulst  etwas  zusammen 
und  ist  ganz  indolent.  Diese  Erscheinungen  sind  zum  Theil  abhängig 
von  Congestionen  zur  Brustdrüse,  zum  Theil  von  Sehrumpfungs-  und 
Vernarbungsprocessen  in  dem  Tumor  selbst.  —  Mit  der  Zeit,  im  Verlauf 
etlicher  Monate,  wächst  die  Geschwulst  immer  mehr;  die  Haut  darüber 
wird  unbeweglich  und  in  der  Tiefe  erfolgt  eine  Verwachsung  mit  dem 
M.  pectoralis.  Die  Patienten  merken  oft  selbst  den  ersten  Anfang  der 
Lymphdrüsenschwellung  in  der  Achselhöhle  nicht,  und  wenn  nicht  von 
Zeit  zu  Zeit  die  ärztliche  Untersuchung  auf  diesen  Gegenstand  gerichtet 
wird,  kommt  die  Geschwulstbildung  in  den  Lymphdrüsen,  die  sich  auch 
zunächst  als  harte  Anschwellung    dieser   Theile    kund    giebt,    erst   spät 


774 


Von  den  Geschwülsten. 


zur  Beobachtung-;  auch  lieg-en  diese  Drüsen  zum  Theil  so  hoch  in  der 
Achselhöhle  und  so  tief  unter  dem  M.  pectoralis,  dass  sie  erst  gefühlt 
werden  wenn  sie  schon  ziemlich  gross  sind.  Die  Lymphdrüsen  am 
Halse  sind  seltner  beim  Brustkrebs  afficirt;  wenn  es  der  Fall  ist,  so 
steio-ert  dies  die  Ungünstigkeit  der  Prognose.  Lässt  man  nun  der  weite- 
ren Entwicklung  der  Geschwulst  ungestörten  Fortgang,  so  gestaltet  sich 
in  den  Fällen  von  massig  raschem  Verlauf  die  Sache  etwa  folgender- 
maassen.  Die  Geschwulst  der  Brustdrüse  und  die  Achseldrüsengeschwülste 
confluiren  allmählig,  so  dass  daraus  ein  höckriger,  gewölbter,  unbeweg- 
licher Tumor  entsteht,  der  an  einigen  Stellen  mit  der  Haut  verwachsen 
ist-  durch  den  Druck  der  Geschwulst  auf  die  Nerven  und  Gefässe  in 
der  Achselhöhle  werden  neuralgische  Schmerzen  im  Arm  und  Oedem 
desselben  veranlasst;  die  Patienten,  welche  bis  dahin  sich  vollkommen 
wohl  fühlten,  werden  jetzt  durch  die  Schwellung  des  Arms  und  auch 
durch  Schmerzen,  welche  besonders  zur  Nachtzeit  auftreten  und  einen 
stechenden,  bohrenden  Charakter  haben,  bald  genöthigt,  das  Bett  dauernd 
zu  hüten,  während  sie  bis  dahin  vielleicht  noch  ihren  häuslichen  Ge- 
schäften gut  vorstehen  konnten,  —  Eine  andere  Erscheinung  pflegt  in 
diesem  Stadium  (wir  nehmen  etwa  zwei  Jahre  nach  der  Entstehung  der 
ersten  Geschwulst  an),  schon  aufgetreten  zu  sein  oder  erfolgt  jetzt,  näm- 
lich die  Ulceration.  Diese  kündigt  sich  gewöhnlich  unter  folgenden 
äusseren  Symptomen  an:  ein  Theil  der  Geschwulst  wölbt  sich  kuglig 
hervor,  die  immer  dünner  werdende  Haut  wird  roth,  von  sichtbaren 
Gefässverzweigungen  durchzogen,  endlich  bildet  sich  ein  Riss  oder  ein 
Bläschen  auf  dem  erhabenen  rothen,  bis  zum  Fluctuationsgefühl  erweich- 
ten Geschwulsttheil;  jetzt  wird  ein  Theil  der  Krebsmasse,  welche  der 
Luft  exponirt  ist,  gangränös,  stösst  sich  in  Fetzen  ab  und  es  entsteht  ein 
kraterförmig  vertieftes  Geschwür,  welches,  wenn  die  Umgebung  und  der 
Grund  noch  sehr  hart  sind,  die  Kraterform  lange  beibehält;  ist  die  Um- 
gebung des  Geschwürs  indess  auch  schon  weich,  so  beginnt  die  Ge- 
schwulstmasse an  den  Rändern  und  aus  der  Tiefe  hervorzuwuchern  und 
sich  pilzartig  über  die  Umgebung  zu  lagern.  So  entsteht  ein  Ulcus, 
zuweilen  mit  torpidem,  zuweilen  mit  fungösem  Charakter;  die  Secretion 
des  Geschwürs  ist  serös  jauchig,  stinkend,  gangränöse  Fetzen  stossen 
sich  häufig  ab.  Was  aber  noch  schlimmer  ist:  aus  der  Geschwürsfläche 
treten  zuweilen  parenchymatöse,  auch  wohl  arterielle  Blutungen  auf, 
durch  welche  die  Kräfte  der  Kranken  erschöpft  werden.  —  Wir  hatten 
den  Zustand  der  Kranken  verfolgt,  bis  sie  ganz  oder  theilweis  bettlägrig 
werden;  jetzt  kommen  wir  bald  zur  Katastrophe:  die  Kranken  werden 
blass  und  magern  stark  ab;  der  Appetit  verliert  sich,  die  Kräfte  nehmen 
ab,  die  Nächte  sind  oft  schlaflos,  weil  die  Schmerzen  heftiger  werden; 
schon  muss  man  mit  Opiaten  nächhelfen,  um  den  Kranken  zeitweise 
Schlaf  und  Milderung  der  Schmerzen  zu  verschaffen.  Wir  haben  jetzt 
das  ausgeprägte  Bild  der  sogenannten  Krebsdyskrasie  oder  Krebs- 


Vorlesung  4',l.     (^ajiif.-l   XXF.  775 

kacliexie,  von  welcher  wir  früher  (pag-.  757)  sprachen,  vor  uns.  So 
g-eht  es  vielleicht  noch  Monate  lang;  der  Gestank,  der  sich  von  dem 
Krebsgeschwür  entwickelt,  verpestet  das  Zimmer,  die  Kranken  werden 
immer  schwächer,  die  Hautfarbe  wird  graulich-gelb,  erdfahl.  Schmerzen 
beim  Athemholen  und  in  der  Lebergegend  treten  liinzu,  auch  wolil  in 
den  Extremitätenknochen.  Die  Kranken  verfallen  in  Marasmus  und 
gehen  nach  langem,  qualvollem  Leiden  mit  langer  Agonie  zu  Grunde, 
wenn  nicht  eine  Pleuritis  oder  Peritonitis  das  Ende  beschleunigt.  Wir 
machen  die  Section  und  finden  in  den  meisten  Fällen  carcinomatöse  Ge- 
schwülste der  Pleura  und  der  Leber,  zuweilen  auch  wohl  der  Rippen 
an  der  Seite,  wo  die  Brustgesehwulst  sitzt.  —  Die  ganze  Krankheit 
hatte  2/2  Jahre  gedauert. 

Diese  Schilderung  wird  für  viele  Fälle  von  Brustkrebsen  ganz  genau 
passen,  doch  giebt  es  manche  Modificationen  dieses  Verlaufs.  Zunächst 
ist  die  Schnelligkeit  des  örtlichen  Verlaufs  verschieden;  die  Geschwulst 
kann  Jahre  lang  allein  auf  die  Brustdrüse  beschränkt  bleiben,  ohne 
Affection  der  Lymphdrüsen:  ein  äusserst  seltner  Fall.  —  Oder  die 
Drüsenerkrankung  tritt  fast  gleichzeitig  mit  der  Brustgeschwulst  auf: 
dies  lässt  immer  einen  rapiden  Verlauf  der  Krankheit  erwarten,  wäh- 
rend umgekehrt  eine  sehr  späte  und  massige  örtliche  Verbreitung  auf 
die  Lymphdrüsen  einen  milderen,  lang-sameren  Verlauf  der  ganzen  Krank- 
heit anzeigt.  —  In  beiden  Brüsten  können  zugleich  oder  bald  nach  ein- 
ander Carcinome  entstehen,  dies  verschlimmert  die  Prognose  des  Ver- 
laufs sehr.  —  In  manchen  Fällen  entsteht  keine  isolirte  Geschwulst  in 
der  Brust,  sondern  die  ganze  Drüse  mit  der  Haut  wird  zugleich  krank. 
Prognostisch  von  sehr  übler  Bedeutung-  ist  es,  wenn  sich  über  dem 
Mammacarcinom  viele  einzelne  Knötchen  in  der  Haut  bilden  und  sich 
von  hier  ausbreiten;  der  Verlauf  ist  in  solchen  Fällen,  selbst  wenn  es 
nicht  zur  Ulceration  kommt,  und  die  Geschwulst  sehr  derb  ist,  gewöhn- 
lich ein  ziemlich  rascher.  —  Endlich  kann  auch  ein  Adenom  oder  Sar- 
kom vielleicht  seit  8 — 10 — 15  Jahren  bestanden  haben  und  nimmt  rasch 
den  Charakter  eines  Krebses  an,  d.  h.  es  wird  unbeweglich,  schmerz- 
haft, und  es  treten  Lymphdrüsenverhärtungen  hinzu.  —  Es  kommen  auch 
Fälle  vor,  wo  sich  die  Brustgeschwulst  so  verkleinert  und  so  zusammen- 
schrumpft, dass  man  meint,  sie  verschwinde  ganz;  dies  hindert  leider 
den  allgemeinen  Ausbruch  der  Krankheit  nicht,  scheint  ihn  jedoch  zu 
verzögern  oder  nur  bei  mild  verlaufenden  Fällen  vorzukommen,  bei 
Fällen,  die  4 — 6  Jahre  zum  Ablauf  brauchen.  Manche  Kranke  gehen 
schon  früh  durch  die  Ulceration  und  Blutungen  an  Anämie  zu  Grunde, 
ohne  dass  es  zu  metastatischen  Geschwülsten  kommt.  —  Was  den  Zeit- 
punkt des  Auftretens  metastatischer  Krebsgeschwülste  in  den  inneren 
Organen  betrifft,  so  ist  auch  dieser  manchen  Schwankungen  unterworfen ; 
im  Allgemeinen  ist  es  richtig-,  dass  bei  langsamem,  örtlichem  Wachsthum 
der  Geschwülste  auch  der  Ausbruch  metastatischer  Tumoren  spät  erfolgt; 


YYg  Von  den  Geschwülsten. 

doch  g'iebt  es  Ausnahmen  von  dieser  Regel.  Die  Localisation  der  ört- 
lichen Tumoren  ist  beim  Brustkrebs  merkwürdig  gleichmässig;  wie  ge- 
sagt: Pleura,  Leber,  Knochen  (Humerus,  Femur)  sind  am  häufigsten  der 
Sitz  der  metastatischen  Geschwülste. 

Der  verschiedene  Verlauf  der  Brustdrüsenkrebse  macht  es  sehr 
schwierig,  ja  fast  unmöglich,  den  Erfolg  früherer  oder  späterer  Opera- 
tionen der  Krebsgeschwülste  mit  denjenigen  Fällen  in  Vergleich  zu 
setzen,  welche  ohne  Operation  ablaufen ;  schon  das  Alter  bietet  grosse 
Verschiedenheiten:  bei  älteren  Individuen  verläuft  die  Krankheit  fast 
immer  langsamer  als  bei  jüngeren;  eine  Menge  völlig  unbekannter  Ein- 
flüsse kommen  ins  Spiel.  Es  sind  von  den  erfahrensten  Chirurgen  die 
entgegengesetztesten  Principien  in  Betretf  der  Operationen  aufgestellt, 
indem  die  Einen  behaupten,  der  Verlauf  der  Krankheit  würde  durch 
die  Operation  verzögert,  Andere,  er  würde  beschleunigt.  Die  bis  jetzt 
veröffentlichten  statistischen  Tabellen  können  wenig  beitragen,  um  diese 
wichtige  Frage  zu  entscheiden,  weil  in  diesen  Tabellen  alle  Fälle  ver- 
schiedenster Art  zusammengeworfen  sind;  man  mtisste  erst  die  Fälle 
nach  bestimmten  Principien  sondern,  um  auf  diese  Weise  zu  einem  rich- 
tigen Resultat  zu  kommen.  Doch  was  kann  dies  viel  helfen?  Es  wird 
sich  immer  in  dem  einzelnen  Fall  besonders  darum  handeln,  ob  wir 
dem  Kranken  durch  die  Operation  Erleichterung  verschaffen  können,  ob 
nicht.  Die  Geschwülste  werden  fast  immer  wiederkehren,  in  der  Narbe 
selbst,  in  ihrer  Nähe  oder- in  den  Lymphdrüsen,  weil  sie  meist  zu  spät 
zur  Operation  kommen;  die  Kranken  werden  dann,  w^enn  nicht  früher 
an  der  Jauchung,  an  Blutungen  oder  an  acuten  Krankheiten,  sicher  an 
raetastatischen  Geschwülsten  zu  Grunde  gehen,  das  ist  leider  unbezwei- 
felt  und  die  Prognose  mit  wenigen  Ausnahmefällen  leicht  zu  stellen. 
Wie  viel  leidet  der  Kranke  durch  die  Geschwulst?  welche  Gefahr  bringt 
sie  örtlich?  Das  sind  die  zunächst  sich  aufdrängenden  Fragen.  Doch 
ich  greife  vor,  indem  ich  schon  hier  der  Therapie  erwähne,  auf  die  wir 
erst  am  Ende  dieses  Abschnittes  von  den  Krebskrankheiteu  näher  einzu- 
treten gedenken.  Die  Untersuchung  der  vergrösserten  und  theilweis 
unter  einander  verwachsenen  Lymphdrüsen  ergiebt,  dass  die  kleineren 
succulenter  und  gefässreicher  sind  als  normal;  die  grösseren  enthalten 
härtere  weisse  oder  grauweisse  Knoten,  die  grössten  sind  zuweilen  er- 
weicht, verkäst  und  haben  eine  körnige  Schnittfläche.  Im  Ganzen  zeigen 
die  Lymphdrüsen  die  gleichen  Charaktere  wie  die  primären  Krebsformen; 
dies  erstreckt  sich  auch  auf  die  mikroskopische  Textur.  Obgleich  es 
wohl  nur  bei  pigmentirten  Carcinomen  bewiesen  werden  könnte,  dass  die 
erste  Schwellung  der  Lymphdrüsen  schon  auf  einem  Transport  von  Ge- 
schwulstzellen in  die  Lymphdrüsen  beruht,  so  halte  ich  dies  doch  für  alle 
Carcinome  richtig;  in  manchen  Fällen  ist  die  epitheliale  Natur  der  Neu- 
bildung in  den  Lymphdrüsen  ebenso  eclatant  wie  die  der  primären 
Brustdrüsengeschwulst,    in  anderen  ist  eine  solche  Unterscheidung   un- 


Vc.rl.-su.i-    \'.\     C;ipilcl    XXF.  777 

möglich.  Was  die  nach  Bvustcarcinoincn  diircli  dii'ccte  Fortleitung  des 
Seminiiim  entstehenden  Krebsknoten  dQv  Pleura  betrifft,  so  sind  diese 
meist  hart,  rein  weiss  und  kleinzellig-;  ebenso  verhält  es  sich  mit  der 
äusseren  Beschaffenheit  der  secundären  Lungen-  und  Leberkrebse;  letz- 
tere sind  aber  nicht  selten  g-rosszellig  und  acinüs.  So  wahrscheinlich 
ich  es  halte,  dass  auch  diese  Carcinome  durch  directe  Auswanderung- 
von  Carcinomzellen  oder  durch  Transport  der  letzteren  durcli  Lymph- 
oder Blutgefässe  entstehen,  so  lässt  sich  dies  doch  nicht  beweisen. 


Von  dem  geschilderten  Verlauf  weichen  manche  Fälle  ab,  welche 
sich  durch  frühzeitige  und  continuirliche  Schrumpfung  der  Neubildung 
auszeichnen.  Man  nennt  diese  schon  kurz  erwähnte  Form  Scirrhus 
mammae,  atrophirendes ,  vernarbendes,  verschrumpfendes  Carcinom 
(pag.  762  u,  772),  Bindegewebskrebs.  Das  Bild  der  Erkrankung  und  des 
anatomischen  Vorganges  wird  aus  Folgendem  hervorgehen: 

Es  entsteht  in  der  Brustdrüse,  selten  vor  dem  .50.  Jahre,  eine  ver- 
härtete Stelle,  man  kann  nicht  sagen  eine  Anschwellung,  sondern  mit 
der  Verhärtung  ist  vielmehr  eine  partielle,  auch  wohl  totale  Verkleine- 
rung der  Drüse  verbunden  ;  diese  Verhärtung  bildet  sich  meist  ganz  ohne, 
selten  mit  sehr  heftigen  Schmerzen,  doch  äusserst  langsam  im  Verlauf 
von  Jahren  mehr  und  mehr  aus.  Nehmen  wir  an,  die  verhärtete  Drüse 
würde  nun  entfernt  und  wir  untersuchten  die  erkrankte  Stelle,  so  tinden 
wir  ein  Gewebe  von  einer  Consistenz,  dass  wir  es  kaum  mit  dem  Messer 
durchschneiden  können;  die  Schnittfläche  zeigt  für  das  freie  Auge  eine 
derb  faserige  Narbe,  allmählig  mit  ausstrahlenden  Bindegewebszügen  in 
die  ziemlich  normale  Umgebung  übergehend.  Bei  den  recht  prägnanten 
Fällen  wird  man  ausser  dieser  Narbe  kaum  etwas  Pathologisches  mit 
freiem  Auge  erkennen;  an  manchen  dieser  Geschwülste  sieht  man  jedoch 
in  der  Peripherie,  bald  hier  bald  dort  mehr  ausgeprägt,  eine  blassröth- 
liche,  speckig  glänzende  Partie,  welche  zwischen  der  Narbe  und  dem 
gesunden  Gewebe  liegt  und  in  beide  übergeht. 

Untersucht  man  mikroskopisch  an  feinen  Abschnitten  nach  vorgängiger  weiterer 
Erhärtung  des  Präparates  in  Alkohol  zunächst  das  narbige  Gewebe,  so  findet  man  fast 
nichts  als  Bindegewebe  mit  elastischen  Fasern;  die  Bindegewebszüge  haben  jedoch  nicht 
den  eigenthümlich  regelmässigen  Verlauf  wie  beim  Fibrom,  sondern  sind  unregelmässig 
durch  einander  geschoben  und,  wie  bemerkt,  von  vielen  elastischen  Fasern  begleitet,  was 
beim  Fibrom  selten  vorkommt.  Die  Untersuchung  des  Grenzgewebes  ergiebt  aber  Fol- 
gendes: hier  findet  Zelleninfiltration  Statt,  freilich  in  sehr  geringem  Maasse;  es  kommt 
zur  Entwicklung  kleiner  Gruppen  blasser  einkerniger  Lymphzellen-ähnlicher  Gebilde,  wie 
im  Beginn  jeder  Neubildung.  Ein  Theil  dieser  Zellen  ist  in  langgestreckten  Gruppen 
(tubulär)  angeordnet,  etwas  grösser  als  die  übrigen,  diese  sind  wohl  Abkömmlinge  der 
Epithelialreste  der  geschrumpften  Drüsenacini.  Alle  Zellen  der  Neubildung  scheinen  jedoch 
äusserst  kurzlebig  zu  sein,  denn  kaum  entstanden,  beginnen  sie  schon  wieder  zu  zerfallen, 
ohne  weiter  ausgebildet  zu  werden;  dann  zieht  sich  das  etwas  aus  einander  gedehnte  Binde- 
gewebe wieder  zusammen,  und  wir  haben  als  Resultat  dieses  Processes  die  Narbe;  peripherisch 
breitet  sich  aber  diese  geringe  Zelleninfiltration  immer  weiter  aus,  und  so  kommt  es  eben 


778 


Von  den  Geschwülsten, 
Fig.  180. 

2» 


Bindegewebsiniiltratiou  von  der  Grenze  eines  Krebsknotens  der  Mamma  in  die  Cutis  vor- 
dringend :  die  dunklen  Zeichnungen  entsprechen  der  vorrückenden  kleinzelligen  Infiltration. 

Vergrösserung  50. 

doch  nie  oder  wenigstens  äusserst  selten  zur  vollständigen,  spontanen,  narbigen  Ausheilung 
der  Neubildung.  Betrachtet  man  die  Grenzen  dieser  Geschwulstbildungen  bei  schwacher 
Vergrösserung,  so  sieht  man,  wie  die  kleinzellige  Infiltration  sich  zwischen  die  Maschen 
des  Bindegewebes  vorschiebt  und  diesen  streng  folgt. 

Die  Verbreitung  dieser  Infiltration  ins  Fettgewebe  ist  genau  wie  bei  der  Entzündung; 
es  finden  sich  die  meisten  jungen  ZeUen  immer  in  der  Nähe  der  Gefässe,  so  dass  der 
Gedanke  kaum  abzuweisen  ist,  dass  es  auch  in  diesen  Fällen  aus  den  Blutgefässen  aus- 
getretene weisse  Blutzellen  sind,  welche  die  zellige  Infiltration  hervorbringen. 

Fig.  181. 


Zellige    Infiltration   des   Fettgewebes    in    der  Peripherie    eines   harten    Brustkrebses.      Die 
Blutgefässe  injicirt.     Vei-grösserung  200. 

Da  hierbei  die  Infiltration  des  Bindegewebes  mit  lymphoiden  Zellen  sehr  entschieden 
als    vorwiegender    Erkrankungsprocess    in    die   Augen   fällt,    und   daneben   die    epitheliale 


Vorlesung  4'J.     Capitcl  XXI.  770 

Wucherung   sehr   in  den  Hintergrund    tritt,    so    habe   ich   früher   für   diese  Krebsform   der 

Brust    den   Namen    „Bindegewebskrebs"    einzuführen    versucht.      Da    dies  aber   zu    Miss- 

deutnngen    in  Betreff  der  modernen  anatomischen  Begriffsbestimmung   der  Carcinome  ge- 
führt hat,  so  beharre  ich  nicht  auf  Beibehaltung  dieser  Bezeichnung. 

Der  erwähnte  eigentliümliclie  anatomische  und  klinische  Verlauf  liat 
manche  Chirurgen  veranlasst,  diese  Neul)ildung'en  überhaupt  aus  der 
Eeihe  der  GeschAviilste,  und  speciell  aus  der  Rcilie  der  Krebse  streichen 
zu  wollen.  Fassen  wir  zunäclist  den  klinischen  Verlauf  dieser  Fälle 
näher  ins  Auge,  so  haben  wir  darüber  schon  bemerkt,  dass  gewöhnlich 
nur  ältere  Individuen  von  dieser  Krankheit  betroffen  M^crden,  und  dass 
die  örtliche  Affection  ausserordentlich  langsam  vorschreitet;  es  giebt 
Fälle,  in  welchen  es  7—8  Jahre  dauert,  bis  die  eine  Hälfte  einer  Brust- 
drüse völlig  verschrumpft  ist.  Das  Allgemeinbefinden  ist  dabei  stets 
-vollkommen  ungestört.  Die  Lymphdrüsen  nelnnen  gelegentlic]i  Antheil 
an  der  Krankheit,  und  zwar  geht  der  Process  daselbst  in  gleicher  Weise 
vor  sich  wie  in  der  Brustdrüse:  es  tritt  sehr  geringe  Vergrösserung, 
doch  starke  Verhärtung  und  narbige  Verschrumpfung  ein.  Je  rascher 
und  vollständiger  die  Neubildung  zur  Schrumpfung  kommt  und  je  lang- 
samer sich  der  Process  ausbreitet,  um  so  unschädlicher  ist  er;  es  erfolgen 
nach  Exstirpation  oder  Aetzung  dieser  Art  von  Krebsen  sehr  spät,  zu- 
weilen gar  keine  localen  Recidive.  Metastatische  Geschwülste  kommen 
bei  diesen  Krebsen  nur  äusserst  selten  vor;  die  Art  der  Infiltration  scheint 
anatomisch  der  Hauptsache  nach  nicht  sehr  von  derjenigen  bei  chronischer 
Hepatitis  und  Nephritis  mit  nachfolgender  Schrumpfung  verschieden  zu 
sein;  warum  daher  diesen  Scirrhus  von  jenen  Processen  trennen?  Wernher 
bezeichnete  diese  Erkrankung  der  Brustdrüse  geradezu  als  Cirrhosis 
mammae.  — Ich  erkenne  vollständig  die  Berechtigung  an,  bei  manchen 
Fällen  von  Scirrhus  mammae  an  ihrem  carcinomatösen  Wesen  zu  zwei- 
feln, muss  indess  doch  darauf  beharren,  sie  im  Ganzen  den  Krebsen 
zuzuzählen  und  zwar  aus  folgenden  Gründen.  Der  Schrumpfungspro cess 
ist  unter  den  Geschwülsten,  wie  Sie  schon  wissen,  den  Krebsen  eigen- 
thümlich;  besonders  aber  ist  hervorzuheben,  dass  die  verschrumpfenden 
Krebse  gar  nicht  selten  mit  dem  gewöhnlichen  Carcinom  combinirt  sind; 
es  ist  sogar  das  Häufigere,  dass  neben  den  cirrhösen  Massen  eine  gerin- 
gere oder  grössere  Krebswucherung  einhergeht,  während  die  Formen  des 
vollständig  vernarbenden  Krebses  relativ  seltner  Sind.  Diese  Combination, 
welche  weder  bei  der  Leber-  noch  bei  der  Nierencirrhosis 
vorkommt,  spricht  durchaus  für  die  nahe  Beziehung  dieser  vernarbenden 
Neubildung  zum  Krebs;  in  solchen  combinirten  Fällen  fehlt  es  dann  auch 
nicht  an  örtlichen  Recidiven  der  exstirj^irteu  Geschwülste,  an  Lymph- 
drüsentumoren und  selbst  metastatischen  Krebsen  innerer  Organe.  — 
Bei  den  Geschwülsten,  welche  vorwiegend  aus  Narbenmasse  bestehen 
und  daher  mehr  zu  den  Scirrhen  als  zu  den  gewöhnlichen  Krebsen  ge- 


l^gQ  Von  den  Geschwülsten. 

rechnet  werden  müssen,   kann   eine  leidliche  Prognose   gestellt  werden, 
insofern  die  Krankheit  immer  einen  sehr  langsamen  Verlauf  nimmt. 


Wir  erwähnen  endlieh  noch  einer  Form  von  Brustkrebsen,  welche 
ebenfalls  als  Induration  in  der  Drüse  beginnt,  doch  sehr  bald  auf  die 
Haut  übergeht,  und  in  dieser  in  Form  kleiner  Knoten  sich  mit  grosser 
Geschwindigkeit  über  die  ganze  Haut  der  vorderen  Thoraxwand  verbreitet-, 
sehr  oft  erkrankt  die  zweite  Brust  in  ganz  gleicher  Weise.  Es  kommt 
dieser  Cancer  lenticularis  (Schuh),  Squirrhe  pustuleux  ou  dissemine 
(Velpeau)  theils  als  primäre  Form,  theils  als  Recidivform  nach  Ex- 
stirpation  harter  Brustdrüsenkrebse  und  zwar  nicht  grade  bei  alten 
Frauen  vor.  Diese  kleinknotige  (man  könnte  fast  sagen  tuberkelartige) 
Form  kann  durch  Confluenz  und  Schrumpfung  dazu  führen,  dass  die 
Haut  den  Thorax  von  vorn  und  von  den  Seiten  förmlich  einschnürt 
(Cancer  en  cuirasse  Velpeau);  der  Verlauf  ist  ein  langsamer,  die  Nei- 
gung zu  Metastasen  auf  innere  Organe  nicht  gross,  doch  die  Prognose 
sehr  schlecht,  weil  jeder  Versuch,  die  örtliche  Ausbreitung  durch  eine 
Operation  zu  hemmen,  vergebens  ist. 


4.  Schleimhäute  mit  Cylinderepithel.  Die  meisten  Krebse, 
welche  in  der  Nase  und  im  Antrum  Highmori  entstehen  und  all- 
mählig  sich  auf  die  Oberkiefer,  auf  das  Sieb-  und  Keilbein,  sowie  in 
die  Augenhöhle  erstrecken,  gehen  von  den  Schleimhäuten  der  Nase  und 
des  Antrum  Highmori  aus. 

Die  flimmernden  oder  nicht  flimmernden  Cylinderepithelien  dieser  Häute  erstrecken 
sich  mir  bis  in  die  Mündungen  der  Schleimdrüsen  und  wachsen  auch  bei  der  Entwicklung 
von  Drüsenkrebsen  an  diesen  Orten  nur  äusserst  selten  in  die  Tiefe  hinein.  Es  scheinen 
hier  vielmehr  die  Drüsenacini  selbst  zu  sein,  von  denen  die  Wucherung  ausgeht,  denn 
diese  Krebse  sind  meist  aus  Acini  oder  Tubuli  zusammengesetzt,  welche  kleinere  oder 
grössere  runde  Zellen,  selten  Cylinderzellen ,  noch  seltner  flimmei-nde  Zellen  tragen.  Die 
Form  der  neugebildeten  Acini  imd  ihre  Grösse  ist  hier  enorm  verschieden,  doch  oft  genug 
so  scharf  ausgeprägt,  so  normal,  dass  man  sie  mit  den  normalen  Schleimdrüsenbeeren 
verwechseln  könnte;  um  diese  Täuschung  vollkommen  zu  machen,  kommt  es  hier  nicht 
so  selten  dazu,  dass  auch  die  neugebildeten  Acini  Schleim  secerniren,  welcher  in  ihnen 
angehäuft  bleibt.  Ist  dies  Se*cret  in  vielen  Acini  zurückgehalten  und  ist  die  Form  der 
neugebildeten  Drüsenbeei-en  recht  rund,  das  interstitielle  Bindegewebe  wenig  entwickelt, 
so  können  die  erhärteten  feinen  Abschnitte  einer  solchen  Geschwulst  auch  wohl  eine 
grosse  Aehnlichkeit  mit  Schilddrüsengewebe  darbieten.  Das  interstitielle  Gewebe  ist  in 
diesen  Geschwülsten  meist  äusserst  weich,  wie  in  den  entsprechenden  Schleimhäuten  selbst, 
es  kann  fast  schleimig  sein.  Verwechslungen  mit  plexiformen  Sarkomen  und  Cylindromen 
sind  hier  zuweilen  nicht  leicht  zu  vermeiden. 

Die  Consistenz  dieser  Geschwülste  ist  immer  eine  sehr  weiche,  das 
Aussehen  weiss,  markig  und  gallertig;  nur  wenn  die  Geschwülste  sehr 
gefässreich  sind,  sehen  sie  dunkelroth  aus.     Die  Knochen  werden  ver- 


Vorlesung  49.     Capilel  XXI. 
FiR.   182. 


781 


Krebs  aus  dem  Innern  der  Nase.     Vergrössenmg  200. 

zelirt  wie  bei  Caries,  ohne  Spur  von  reactiver  Knoclienneubildung,  ohne 
Osteophyten.  In  Betreff  der  äusseren  Erscheinung-  und  des  klinischen 
Verlaufes  bieten  diese  Geschwülste  manches  Eigenthttraliche,  von  anderen 
Carcinomen  Abweichende.  Sie  kommen  etwa  vom  20sten  Lebensjahre 
an  in  jedem  Alter  vor,  wachsen  immer  schnell  und  treten  bald  durch 
die  Nasenlöcher,  bald  durch  die  Wange,  bald  am  Innern  Augenwinkel 
hervor;  sie  sind  zuweilen  auffallend  scharf  begrenzt,  eingekapselt,  was 
sich  sowohl  durch  die  Palpation  ermitteln  lässt,  als  bei  der  Operation 
herausstellt,  manchmal  sind  sie  freilich  auch  im  Oberkiefer  mehr  diffus 
verbreitet.  Ich  habe  bis  jetzt  bei  keinem  dieser  Schleimdrüsenkrebse 
des  Gesichts  Infection  der  Lymphdrüsen  gesehen  und  bin  überzeugt,  dass 
diese  Patienten  durch  eine  frühe  vollkommne  Operation  geheilt  werden 
könnten;  bei  allen  Patienten,  welche  sich  von  mir  operiren  Messen,  habe 
ich  nie  die  Ueberzeugung  gewonnen,  dass  durch  die  Operation  eine  voll- 
kommne Entfernung  der  Geschwulstmassen  erzielt  sei ;  immer  fand  sich, 
dass  dieselben  nach  hinten  oder  oben  so  weit  vordrangen,  dass  ein 
weiteres  Vorgehen  direct  lebensgefährlich  gewesen  wäre.  So  sah  ich 
meist  locale  Eecidive  auftreten,  welche  durch  Marasmus  oder  Hirndruck 
tödteten,  oder  die  Kranken  starben  in  Folge  der  äusserst  eingreifenden 
Operation;  in  keinem  der  von  mir  obducirten  Fälle  fanden  sich  innere 
Geschwülste. 

Im  Magen  finden  sich  Drüsenkrebse  häufig,  zumal  mit  schleimiger 
Erweichung  (Gallertkrebs)  und  secundärem  Leberkrebs,  sehr  selten 


Von  den  Geschwülsten. 


ist  Krebs  im  Duodenum.  Uns  interessiren  von  dem  Gebiet  des  Tractus 
intestinales  nur  die  Krebse  des  Rectum.  Es  geht  hier  fast  ausschliess- 
lich die  Wucherung  von  den  grossen  Dickdarmdrüsen  aus,  welche  in  Form 
gewundener  und  theilweis  verzweigter  Schläuche  auswachsen,  wobei 
sowohl  die  Driisenlumina  oft  erhalten  werden  und  sicli  mit  Schleim  fül- 
len, als  auch  die  Cyiinderzelleu  ihre  Form  behalten  und  enorm  gross 
werden.  Das  interstitielle  Bindegewebe  wird  von  kleinen  runden  Zellen 
durchsetzt,  dabei  theilweis  schleimig  erweicht  und  oft  sehr  reichlich 
vascularisirt.  In  der  Regel  wird  beim  Beginn  der  Erkrankung  die 
Muskelhaut  des  Darms  hypertrophisch,  später  geht  sie  auch  in  die  meist 
früh   eintretenden  Ulcerationen  auf.  — 


■ig.  183. 


Krebs  des  Rectum.     "Verffrösseruncj  200. 


Da  die  ersten  Erscheinungen  des  Mastdarmkrebses  Verstopfung, 
Schleimabgaug  und  leichte  Blutungen  zu  sein  pflegen ,  so  werden  diese 
Kranken  meist  lange  Zeit  erst  als  Hämorrhoidarier  behandelt,  bevor 
durch  die  manuelle  Untersuchung  die  Diagnose  gestellt  wird.  Induration 
und  knotige  Infiltration,  blättrige  Wucherungen  gewöhnlich  dicht  ober- 
halb des  M.  sphincter  ani  beginnend,  erstrecken  sich  bald  so  auf  die 
ganze  Circumferenz  der  Schleimhaut,  dass  man  einen  dicken  wulstigen 
Ring,  eine  Strictur  von  mehr  oder  weniger  Länge  fühlt.  Die  Entfernung 
dieser  Neubildung  kann  nur  mittelst  der  Exstirpatio  Recti  geschehen. 
An  dem  herausgeschnittenen  Rectum  sieht  man  gewöhnlich  ein  mit  wall- 
artig erhabenen  wulstigen  Rändern  umgebenes  Geschwür  mit  indurirtem 
Grund  und  markig  infiltrirter  Umgebung,  an  manchen  Stellen  auch  wohl 
narbige  Schrumpfungen.  Die  Inguinal-  und  Retroperitonealdrüsen  werden 
erst  spät  in  Mitleidenschaft  gezogen.     Die  Kranken  sterben  meist  an  den 


Vorlesiiiif,'  49.     Capifol   XXT.  783 

Folg-en  der  Darmstenose,  an  Marasmus  in  Foli>e  von  Blutungen  und  Ver- 
jauchung- der  Krebsmassen. 

Auch  von  den  Drüsen  der  Pars  cerviealis  uteri  g-ehen  zuweilen 
Krebse  mit  vorwiegend  cylindrischen  Epithelien  aus,  welche  zunächst 
den  Uterus  durchwaclisen,  dann  nach  und  nach  die  ganze  Umgebung, 
endlich  auch  die  retroperitonealen  Drüsen  inficircn  und  infiltriren;  sie 
combiniren  sich  auch  wohl  mit  den  Plattenepithelkrebsen  und  haben  vor 
diesem  in  ihrem  Verlauf  keine  weitere  Verschiedenheiten  voraus. 

4.  Speicheldrüse  und  Vorsteherdrüse. 

Die  Speicheldrüsen  können  der  Sitz  von  Drüsenkrebsen  werden, 
die  jedoch  erst  in  höherem  Alter  entstehen,  dann  aber  rasch  wachsen 
und  nicht  selten  unter  dem  Bilde  chronischer  Entzündung  erscheinen. 
Die  Formen  der  neugebildeten  Acini  sind  oft  mehr  tubulär  als  acinös; 
Epithelperlen  kommen  am  Ende  der  mit  Cylinderzellen  ausgekleideten 
Tubuli  vor.  Diese  Patienten  erliegen  meist  der  Ulceration  der  Gesch^n1lst 
und  dem  allgemeinen  Marasmus;  metastatische  innere  Carcinome  sind 
danach  äusserst  selten. 

In  der  Vorsteherdrüse  bei  älteren  Leuten  sah  ich  einige  Male 
Drüsenkrebs,  sehr  w^eich,  in  einem  theilweis  exstirpirten  Fall  sehr  ge- 
fässreich  und  von  acinöser  -Structur.  Aus  der  vortrefflichen  statistisclien 
Arbeit  über  bösartige  Neubildungen  der  Prostata  von  0.  Wyss  geht 
hervor,  dass  auch  diese  Carcinome  fast  immer  nur  durch  die  örtlichen 
Erscheinungen  tödten.  Lymphdrüsen  und  nahegelegene  Theile  werden 
wohl  inficirt,  sehr  selten  aber  finden  sich  secundäre  Krebse  in  inneren 
Organen. 

5.  Schilddrüse  und  Eierstock.  Ich  stelle  die  beiden  Organe 
hier  zusammen,  weil  sie  beide  von  achtem  Drüsenepithel  abstammen 
und  beide  durch  Abschnürung  von  Drttsenschläuchen  entstandene  Follikel 
enthalten.  Beide  Organe  fallen  bei  krebsiger  Erkrankung  in  den  em- 
bryonalen Typus  zurück,  d.  h.  die  Follikel  wachsen  wieder  zu  Eöhren 
und  Schläuchen  aus,  von  denen  sich  eventuell  wieder  neue  Follikel  ab- 
schnüren; doch  bestehen  manche  dieser  im  Ganzen  seltenen  Carcinom- 
formen  auch  ganz  aus  Zellenschläuchen,  ohne  dass  Follikelbildung 
hinzukommt.  Jugendliche  wie  ältere  Individuen  können  von  dieser 
Krebsform  befallen  werden;  der  Verlauf  ist  meist  ein  rascher,  da  die 
Schilddrüsenkrebse  in  die  Luftröhre  hineinwachsen  oder  diese  durch 
Druck  von  aussen  schliessen,  und  die  Eierstocksgeschwülste  der  Art 
durch  ihr  enormes  Wachsthum,  rasche  Verwachsung  mit  den  Nachbar- 
gebilden und  durch  rasch  hinzukommenden  Ascites  gefährlich  werden. 


Wir  mussten  wegen  mancherlei  Verschiedenheiten  in  Verlauf  und 
anatomischer  Structur  die  verschiedenen  Formen  der  Carcinome  trennen; 
die  Therapie  können  wir  zusammenfassen.  —  Mau  pflegt  die  Therapie 


'JQA  Von  den  Geschwülsten. 

der  carcinomatösen  Dyskrasie  (Carcinosis)  als  eine  Partie  honteuse  der 
Mediciu  und  Cliirurgie  zu  bezeiclmen;  ich  kann  dem  niclit  ganz  bei- 
stimmen. Es  ist  wahr,  wir  können  die  Krankheit  nicht  heilen;  doch  ist 
dies  nicht  mit  vielen  anderen  acuten  und  chronisclien  Krankheiten  ebenso 
der  Fall  ?  Können  wir  einem  Schnupfen  in  jedem  Stadium  Stillstand 
gebieten?  Können  wir  dem  Verlauf  der  acuten  Exantheme,  des  Tj^phus 
Halt  gebieten?  Können  wir  Tuberculose  heilen?  Gewiss  nicht;  in  allen 
diesen  Fällen  wie  in  vielen  anderen  macht  die  Krankheit  ihren  typischen 
Verlauf;  wir  greifen  wenig  mit  Arzneimitteln  ein,  wenigstens  vermeiden 
wir  rationeller  Weise  lieroische  Parfoi'cecuren.  Bei  der  Carcinosis  er- 
scheint uns  nur  deshalb  unsere  therapeutische  Ohnmacht  so  gross,  weil 
die  Krankheit  fast  immer  tödtlich  wird  und  wir  gegen  diesen  Verlauf 
nichts  vermögen;  der  Wahrheit  nach  ist  aber  unsere  Therapie  ebenso 
machtlos  gegen  einen  Schnupfen  als  gegen  die  Krebskrankheit;  der 
Schnupfen  ist  aber  keine  tödtliche  Krankheit,  und  daher  verlangt  man 
vom  Arzt  keine  besondere  Leistung;  man  hat  sich  daran  gewöhnt,  den 
Schnupfen  nicht  heilen  zu  können ;  es  wird  wohl  nöthig  sein,  dass  mau 
sich  auch  an  den  Verlauf  der  Krebskrankheit  wie  mancher  anderen 
Krankheiten  gewöhnt;  es  wird  dadurch  dem  Mitleid,  welches  wir  mit 
diesen  armen  Kranken  haben,  kein  Eintrag  geschehen,  auch  soll  da- 
durch das  Streben  nach  Fortschritt  in  Erkenntniss  und  Behandlung  der 
Krankheit  nicht  gehemmt  werden;  viel  ist  meiner  Meinung  nach  auf 
diesem  Gebiet  noch  zu  erreichen! 

Die  Aufgaben,  die  sich  hierfür  den  Arzt  bieten,  sind  folgende:  die 
Krebsgeschwulst  so  frühzeitig  wie  möglich  zu  entfernen,  um 
die  Infection  zu  verhüten  oder  sie  wenigstens  in  ihrem  Ver- 
lauf zu  hemmen  und  die  damit  verbundenen  Leiden  zu  ver- 
mindern. 

So  lange  man  die  Krebskrankheit  kennt,  sucht  man  nach  Mitteln, 
dieselbe  völlig  zu  tilgen;  es  giebt  kein  eingreifendes  Arzneimittel,  keine 
Art  von  Dätetik,  keine  Art  von  Heilquellen,  die  nicht  schon  als  un- 
trügliclie  Heilmittel  gegen  Krebs  empfohlen  und  zum  Theil  wirklieh  für 
solche  gehalten  sind.  Ich  müsste  die  ganze  alte  und  neue  Materia  me- 
dica  aufwühlen,  wenn  ich  Hmen  Alles  mittheilen  wollte,  was  hierüber 
gedacht  und  geschrieben  ist.  Wie  jede  unheilbare  Krankheit  ist  auch 
die  Carcinosis  ein  Tummelplatz  der  Charlatans  gewesen,  und  noch  in  den 
letzten  Jahren  traten  schwarze  und  weisse  Zauberer  auf  mit  der  Ver- 
heissung,  die  Krankheit  durch  besondere  Arcana  zu  heilen.  Leider  war 
Alles  dies  Schwindel,  oder  was  Wahres  an  diesen  Cureu  war,  ergab 
sich  als  längst  bekannt. 

Die  Aetiologie  der  Krebskrankheit  giebt  leider  für  die  Therapie 
gar  keine  Anhaltspunkte;  wir  wissen  gar  zu  wenig  über  die  Ursachen, 
weshalb  gewisse  Tumoren  so  sehr  infectiös  sind,  und  andere  es  nicht 
sind.    Em  Schlag,  ein  Stoss  etc.  kann  in  einzelnen  Fällen  den  Ausbruch 


Vorlesung    11).      (':ipifcl    XXf.  785 

(1er  Krankheit  gelegentlicli  veranlassen,  kann  die  Disposition  zur  Ki-el)s- 
bildung-  aber  niclit  erzeugen.  In  einigen  Fällen  ist  i^^rbliclikeit  der  Krank- 
heit nachweisbar.  Mancherlei  äussere  Umstände  köniu'n  di(!  Krankheit 
vielleicht  in  ihrem  Verlauf  beschleunigen,  rufen  sie  aber  nielit  hervor.  Alles 
dies  ist  für  die  Therapie  nicht  verwendbar.  —  Es  giebt  kein  Specificum 
gegen  die  Carcinosis;  doch  damit  ist  weder  gesagt,  dass  ein  solches  nicht 
etwa  gefunden  werden  könne,  noch  dass  jede  innere  Therapie  für  diese 
Kranken  unnöthig  sei.  Keineswegs.  Man  wird  die  Kranken  innerlich  be- 
handeln, wenn  sich  irgend  welche  Angriffspunkte  für  die  Therapie  darbie- 
ten, wenn  irgend  welche  Symptome  vorliegen,  welche  Indication  für  die 
Anwendung  bestimmter  Arzneimittel  geben.  Da  sich  Anämie  nicht  so  selten 
bei  Krebskranken  findet,  so  wird  Eisen  in  verschiedenen  Präparaten  in  An- 
wendung kommen  oder  eisenhaltige  Mineralbäder.  Dann  sind  zuweilen  bei 
Individuen  mit  mangelhafter  Ernährung  Nutrientia:  Leberthrau  und  der- 
gleichen anwendbar,  auch  bittere  Mittel  etc.  zur  Unterstützung  der  Ver- 
dauung. Stark  schwächende  Curen:  Schwitzcuren ,  Abführungscuren, 
Quecksilbercuren  sind  entschieden  zu  widerrathen,  da  das  Leben  um  so 
länger  erhalten  wird,  je  besser  diese  Kranken  genährt  sind.  Von  den 
Heilquellen  sind  die  stark  angreifenden,  wie  Aachen,  Wiesbaden,  Karls- 
bad, Kreuznach,  Eehme  schädlich,  nur  die  milderen,  indifferenteren  Ther- 
men, wie  Ems,  Gastein,  Wildbad,  ferner  Molken-  und  Milchcuren,  stärkende 
Bergluft  können  ohne  Schaden,  d,  h.  ohne  das  Wachsthum  der  Geschw^ülste 
zu  befördern,  empfohlen  werden,  wenn  ihr  Gebrauch  aus  andern  Gründen 
wünschenswerth  erscheint.  Aufenthalt  in  südlichem  Klima  pflegt  bei  Krebs- 
kranken keinen  Vortheil  zu  bringen.  Gegen  Ende  des  Lebens  bei  sinkenden 
Kräften  ist  eine  roborirende,  leicht  verdauliche  Diät  von  Wichtigkeit,  und 
zuletzt  bei  zunehmenden  Schmerzen  wird  die  geschickte  Anwendung  von 
Narcoticis  in  verschiedener  Auswahl  die  Leiden  der  Kranken  und  den 
Tod  erleichtern;  die  Erkrankung  innerer  Organe  kann  ganz  besondere 
symptomatische  Indicationen  bieten,  auf  die  ich  hier  nicht  eingehen  kann. 
—  So  viel  von  der  inneren  Behandlung,  auf  die  ich  mich  nur 
dann  beschränke,  wenn  ich  noch  nicht  sicher  in  der  Diagnose 
bin,  oder  den  Fall  nicht  mehr  oder  überhaupt  nicht  für  eine 
Operation  geeignet  halte. 

Was  die  äussere  Behandlung  betrifft,  so  handelt  es  sich  zunächst 
immer  um  die  Entfernung  der  Geschwulst,  falls  diese  der  Localität  nach 
überhaupt  in  Frage  kommen  kann.  Die  Operation  kann  mit  dem  Messer 
oder  durch  Aetzmittel  ausgeführt  werden;  die  Ligatur  und  das  Ecrasement 
kommen  hier  fast  niemals  in  Frage  (letzteres  etwa  nur  bei  der  Ampu- 
tatio  penis  und  Amputatio  linguae).  Bevor  wir  aber  auf  die  Vorzüge 
der  einen  oder  anderen  Methode  eingehen,  müssen  wir  doch  die  Frage 
überlegen,  ob  es  überhaupt  zweckmässig  ist,  zu  operiren,  selbst  wenn 
dies  leicht  und  ohne  Lebensgefahr  geschehen  kann,  denn  die  Ansichten 
der  erfahrensten  Chirurgen  divergiren  in  diesem  Punkte.     Es  giebt  Chi- 

Billroth  chir.  Path.  u.  Ther.   7.  Aufl.  OO 


786 


Von  den  Geschwülsten. 


rurgen  welche  niemals  Krebse  operiren.  Sie  führen  au,  die  Operation 
sei  immer  vergeblich,  weil  Recidive  erfolgten ;  operire  man  die  Recidive 
so  erfolo-en  um  so  schneller  neue,  ja  die  Aerzte  dieser  Partei  behaupten, 
je  mehr  örtlich  operirt  wird,  um  so  rascher  treten  secundäre  Lj^mph- 
drüsengeschwülste  und  metastatische  Krebse  auf,  die  örtliche  Geschwulst 
sei  eine  Art  von  Ableitung  der  Geschwulstkrankheit;  dieses  Krankheits- 
product  dürfe  man  nicht  entfernen,  man  begünstige  dadurch  den  Ausbruch 
der  Krankheit  an  anderen  Stellen;  wolle  man  durchaus  die  Geschwulst 
entfernen,  so  müsse  mau  die  kranken  Säfte  auf  einen  anderen  Punkt 
ableiten,  z.  B.  durch  Etabliruug  eines  künstlichen  Geschwürs  mittelst 
eines  Fouticulus  oder  eines  Haarseiles.  —  Es  ist  über  diese  aus  der  älte- 
ren Humoralpathologie  hervorgegangenen  Ansichten  zunächst  zu  be- 
merken, dass  sie  mindestens  unerwiesen,  zum  Theil  aber  auch  durch 
die  Erfahrung  als  unrichtig  erwiesen  betrachtet  werden  müssen.  Für 
uns  ist  es  eine  durch  tägliche  Beobachtung  zu  constatirende  Thatsache, 
dass  die  Entwicklung  der  Lymphdrüsenschwellungen  nur  durch  die 
Entwicklung  der  primären  Geschwülste  bedingt  ist;  wir  haben  uns 
schon  früher  darüber  ausgelassen,  dass  die  Lymphdrüsenbetheiligung 
bei  Carcinom  aller  Analogie  nach  durch  örtliche  Contagion,  man  mag 
sich  den  Vorgang  denken,  wie  man  will,  bedingt  ist.  Wenn  Fälle  vor- 
kommen, in  welchen  nach  Exstirpation  von  Brust-  oder  Lippenkrebsen 
früher  nicht  bemerkbare  Lymphdrüseuanschwellungen  erscheinen,  so 
muss  man  daran  denken,  dass  der  erste  Anfang  der  Lymphdrüsener- 
krankung ein  so  geringer  gewesen  sein  kann,  dass  er  der  Untersuchung 
entging.  —  In  wie  weit  das  Bestehen  eines  primären  und  secundäreu 
Lymphdrtisenkrebses  den  w^eiteren  Verlauf  der  Krankheit,  das  Auftreten 
metastatischer  Geschwülste,  den  kachektischen  Allgemeinzustand  begün- 
stigt oder  verzögert,  das  ist  eine  Frage,  die  deshalb  nicht  gelöst  werden 
kann,  weil  der  Verlauf  der  Krankheit  nicht  genau  an  eine  bestimmte 
Zeit  gebunden  ist;  wäre  dies  der  Fall,  so  könnte  man  durch  Vergleichs- 
beobachtungen über  operirte  und  nicht  operirte  Fälle  eine  Regel  über 
die  Zulässigkeit  der  Operationen  gewinnen.  Annähernde  Resultate  wären 
durch  Zutammeustellung  von  Fällen,  die  in  Bezug  auf  Alter,  Constitu- 
tion, Art  der  Geschwulst  etc.  Gleichheiten  bieten,  zu  erreichen;  da  aber 
die  genaue  Differenzirung  der  verschiedenen  Arten  von  Careinomen  und 
damit  eine  exacte  Ordnung  der  Fälle  erst  in  neuerer  Zeit  hergestellt 
und  noch  kaum  allgemein  anerkannt  ist,  so  ist  fürs  erste  noch  nicht 
viel  in  dieser  Beziehung  zu  erwarten;  die  Beobachtungen  des  Einzelnen 
reichen  selten  aus,  um  daraus  endgültige  Schlüsse  zu  ziehen.  —  Die  Er- 
fahrung, welche  mau  bei  den  Careinomen  im  Gesicht  macht,  dass  nämlich 
bei  ausgedehntester  Erkrankung  der  Lymphdrüsen  äusserst  selten  meta- 
statische Geschwülste  auftreten,  spricht  in  hohem  Maasse  dafür,  dass  die 
Krankheit  durch  die  stark  entwickelten  localen  Geschwulstbildungen 
nicht  potenzirt  wird,  und  dass  die  Lymphdrüsencarcinome  die  Disposition 


Vorlcsiiiin-  .^;).     Cliipilcl  XXT.  787 

ZU  metastatisclien  Timiovcii  nicht  crliölion.  ■ —  Die  Frage,  sollen  Carcinomc 
überhaupt  operirt  werden,  oder  nielit,  lässt  sich  dahin  beantworten,  dass 
die  0])eration  auf  die  Kranklieitsdiatlicse  wahi'sclicinlicli  keinen  dirccten 
Einfiuss  liat,  dass  also  andere  Gründe  für  die  Operation  sprechen  müssen, 
wenn  dieselbe  gemacht  werden  soll.  Wir  sagten  absichtlich,  die  Operation 
habe  keinen  directen  Einfluss  auf  den  Verlauf  der  Krankheit,  einen 
indirecten  glauben  wir  annehmen  zu  müssen,  insofern  durch  die  Ge- 
schwulst anderweitige  krankmachende  Ursachen  gegeben  sind;  die  Ent- 
kräftung, Schwäche,  Anämie  und  Ernährungsstörung,  welche  durch  die 
Verjauchung  und  durch  die  Schmerzen  in  einer  Krebsgeschwulst  bedingt 
sein  können,  vielleicht  auch  der  immer  nagende  Kummer  mit  den  ewig 
sich  wiederholenden  Reflexionen  über  die  Unheilbarkeit  der  Krankheit 
sind  Momente,  welche  wohl  den  üblen  Verlauf  der  Krankheit  Ijefördern 
können.  Ich  halte  es  für  Pflicht  des  Arztes,  unter  Umständen  die  Kran- 
ken über  die  Unheilbarkeit  ihrer  Krankheit  zu  täuschen,  sobald  er  eine 
Operation  nicht  oder  nicht  mehr  für  möglich  erachtet;  der  Arzt  soll,  wo 
er  nicht  helfen  kann,  die  Leiden  der  Kranken  lindern,  psychisch  wie 
physisch.  Wenig  Menschen  besitzen  die  Euhe  des  Geistes,  die  Erge- 
bung oder  Charakterfestigkeit,  nennen  Sie  es,  wie  Sie  wollen,  mit  dem  Be- 
wusstsein  eines  unheilbaren  Uebels  das  Leben  froh  zu  geniessen,  so  lange 
es  noch  ihnen  gehört.  Die  Kranken  werden  es  Ihnen,  wenn  auch  äusser- 
lich  vielleicht  ruhig,  selten  Dank  wissen,  wenn  Sie  ihnen  zu  wahre  Er- 
öffnungen über  das  machen,  was  sie  erwartet.  Sie  werden  in  dieser 
Hinsicht  als  Arzt  oft  in  manchen  Conflict  gerathen,  wobei  ich  es  Ihrem 
persönlichen  Geschick,  Ihrer  Menschenkenntniss,  Ihrem  Gefühl  überlassen 
muss,  was  Sie  in  dem  einzelnen  Fall  thun.  —  Wenn  wir  nun  auch  nicht 
die  Krankheitsdiathese  durch  die  Operation  tilgen  können,  wenn  wir 
z.  B.  nicht  verhindern  können,  dass  nach  vollkommener  Entfernung  eines 
kranken  Theils  der  Brustdrüse  in  dem  zurückbleibenden,  bis  dahin  völlig 
gesunden  Theil  oder  in  der  andern  bis  dahin  gesunden  Brust  bald  nach 
Heilung  der  Operatiousnarbe  neue  Knoten  sich  bilden  (regionäre  Reci- 
dive),  so  können  wir  doch  durch  die  frühzeitige  Entfernung  der  primä- 
ren Geschwulst  verhüten,  dass  die  Drüse  in  continuo  weiter  erkrankt, 
zuweilen  auch  noch,  dass  die  Lymphdrüsen  inficirt  werden.  So  spärlich 
aucli  die  vollkommenen  Heilungen  der  Brustdrüsenkrebse  durch  Ope- 
ration sind,  so  sind  sie  meiner  Meinung  nach  immer  häufiger  zu  erwar- 
ten, wenn  die  Familienärzte,  denen  diese  Erkrankungen  gewöhnlich 
zuerst  gezeigt  werden,  früher  auf  die  Operation  dringen,  während  die- 
selben jetzt  meist  die  beste  Zeit  für  die  Operation  verstreichen  lassen 
und  die  Frauen  erst  dann  Chirurgen  von  Fach  consultiren,  wenn  sowohl 
die  örtliche  Ausbreitung  als  die  Achseldrüsenerkrankung  bereits  so  weit 
vorgeschritten  ist,  dass  eine  vollständige  Operation  nicht  mehr  sicher 
ausführbar  ist.  Die  günstigen  Erfolge,  welche  bei  frühzeitiger  Exstirpa- 
tion  ächter  Lippen-  und  Gesichtskrebse  vorliegen,  sollten  recht  ermuntern, 

50* 


788 


Von  den  Geschwülsten. 


auch   andere   Krebsgeschwülste   früh   zu  entfernen.  —  Wenn  es  nun  l)is 
ietzt  selten  möglich  war,  früh  und  vollständig  die  Carcinome  zu  operireu, 
so  o'ieht  es  doch  immerhin  wichtige  locale  Ursachen,   durch  welche  die 
Operation  auch  später  noch  indicirt  ist,  um  so  lange  als  möglich  wenig- 
stens  den   Fortschritt  der  Geschwulst   auf  Theile  zu  verhindern,  deren 
Erkrankung   nothwendig   den  Tod   nacli  sich  zieht.     Wenn  auch  in  den 
meisten  Fällen  ein   locales  Recidiv  erfolgen  wird,    so  vergehen   darüber 
doch  Monate,  zuweilen  wohl  ein  Jahr,  und  in  dieser  Zeit  ist  das  Leben 
nicht  direct  gefährdet.     Zuweilen   handelt  es   sich  auch  um  den  Schutz 
vor  vollständiger  Zerstörung  von   Gesichtstheilen,   z.  B.   Lippen,    Nase, 
Augenlidern,    die    man    nach    der    Operation    plastisch    ersetzen    kann. 
Wenn  man  solche  Operationen  für  unnütz  hält,  weil  man  doch  die  Krank- 
heit nicht  heilen  kann,    so  thut  man  sehr  unrecht,   denn  man  erleichtert 
dem  Patienten  durch   die  Operation  das  Leben,  macht  es  ihm  wieder 
angenehm,  wenn  auch  nur  auf  einige  Zeit,  vielleicht  doch  auf  den  grössten 
Theil  der  Zeit,    die   er  überhaupt  noch  zu  leben  hat.     Man  könnte  sehr 
froh  sein,   wenn  man   einen  Kranken  mit  vorgeschrittener  Lungentuber- 
culose   durch   eine   Operation   oder  sonstige  Cur  wieder  so  zum  Lebens- 
genuss  vorübergehend  herstellen  könnte,  wie   dies  durch   die  Operation 
bei  manchen  Fällen  carcinomatöser  Geschwülste  der  Fall  ist.     Kurz,  es 
giebt  eine  Reihe  von  Fällen,  wo  wir  durch  die  Operation  nützen,  ja  ich 
halte  es  in  vielen  Fällen  für  sehr  unrecht,  die  Operation  zu  verweigern. 
—  Andere  Fälle  sehen  wir  dann  freilich,  w^o  es  schwieriger  ist,  zu  ent- 
scheiden.    Bei    den  langsam   vorsehreitenden  Formen   des  Brustkrebses, 
wie  beim  Bindegewebskrebs,   halte  ich  eine  an  sich  ungefährliche  Ope- 
ration für  zulässig,   doch   nicht  für  nothwendig.     Ist  aber  ein  Augenlid 
zerstört,   ist  die  Nase  theilweis  oder  ganz  verloren  gegangen,  dann  ist 
im  ersten  Falle,  um  den  Bulbus  zu  schützen,  im  zweiten,  um  den  sehr 
störenden  Defect  auszugleichen ,   die  Operation  zu  rathen ,  um   so  mehr, 
als  bei   diesen   langsam    vorgehenden   flachen   Gesichtskrebsen    oft  gar 
keine  Recidive  örtlich  auftreten;  nur  ein  Umstand  würde  mich  in  solchen 
Fällen  von  der  Operation  abhalten:  grosse  Schwäche  bei  hohem  Alter; 
wenigstens    sind   dann   plastische  Operationen  ausgedehnterer  Art  nicht 
mehr  rathsam;   schon    der   bei  der  Operation  unvermeidliche  Blutverlust 
und   das   der    Operation    nachfolgende    Krankenlager    kann    hinreichen, 
diesen  Patienten  das  Lebenslicht  auszublasen.  —  Weiterhin  entsteht  die 
Frage    über  die  Zulässigkeit  der  Operation  bei   einem  gefährlichen  Sitz 
der    Geschwulst,    wenn    nämlich    eine    Operation    nothwendig    ist,    die 
tödtlich  enden  kann,  oder  wenigstens  mit  ebenso  viel  Wahrscheinlichkeit 
tödtlich  enden  wird,  als  sie  zur  Heilung  führt.    Hier  wird  die  Beschaffen- 
heit des  einzelnen  Falles  in  Frage  kommen,  wir  sind  hier  am  Ende  mit 
den  fillgemeineu  Reflexionen;  wie  man  die  Gefährlichkeit  einer  Operation 
in  dem  einzelnen  Fall  ansieht,  ist  je  nach  der  Erfahrung  der  Chirurgen 
und    der  Individualität  der  Kranken  ganz  verschieden;   eins  wird   mau 


Vorlesung  40.      Cupilol   XX[.  *"       '^oa 

jedoch  als  Princip  festhalten,  nänilJ«i.  •  n  ^i  r  au  u[)eriicn,  wenn  man 
nach  g-enauer  Untersuchung-  hoffen  darf,  alles  Krankhafte 
entfernen  zu  können;  eine  halbe  Operation  mit  Z  uriicklassun  g- 
von  Gesehwulstresten  soll  man  nur  nacli  ganz  besonderen 
Ausnalimsindicationen  (starke  Blutungen,  enorme  Jauchung)  machen. 
Hierbei  ist  zu  berücksichtigen,  dass  man  immer  nur  im  Ge- 
sunden operircn  soll,  wo  möglich  1  bis  V/^  Centimeter  von 
der  fühlbaren  Infiltration  entfernt;  nur  dann  ist  man  sicher, 
alles  Erkrankte  zu  entfernen!  Man  kann  zuweilen  in  verzwei- 
felten Fällen  durch  sehr  kühne  Operationen  bereits  sehr  ausgedehnter 
Krebsgeschwülste  einzelnen  Kranken  das  Leben  verlängern,  doch  im 
Allgemeinen  wird  man  dabei  sehr  viel  mehr  Operirte  sterben  als  ge- 
nesen sehen. 

Wir  kommen  jetzt  zur  Kritik  der  bei  den  Krebsgeschwülsten  vor- 
züglich angewandten  Aetzraittel.  Es  hat  im  Lauf  der  Zeiten  das  Urtheil 
über  die  Aetzmittel  sehr  geschwankt;  bald  gab  es  Zeiten,  wo  man 
ihnen  entschieden  den  Vorzug  vor  dem  Messer  gab,  bald  solche,  in 
denen  man  sie  im  Princip  ganz  verw^arf.  Die  i\.nsichten  der  meisten 
jetzt  lebenden  Cliirurgen  neigen  sich  mehr  der  letzteren  Anschauung  hin, 
so  auch  die  meine.  Im  Princip  gebe  ich  entschieden  der  Operation  mit 
Messer  oder  Scheere  den  Vorzug,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  ich  dann 
genau  weiss,  was  ich  entferne,  weil  ich  sicher  beurtheilen  kann,  ob  alles 
Kranke  entfernt  ist.  Ich  betrachte  daher  die  blutige  Exstirpation  der 
Krebse  sowae  der  Geschwülste  überhaupt  als  Regel.  Doch  wo  eine 
Regel  ist,  sind  auch  Ausnalmieu.  Bei  sehr  alten  Leuten,  bei  anämischen 
Kranken  kann  das  Aetzmittel  zur  Anwendung  kommen,  und  wenn  man 
es  mit  Consequenz  so  lange  fortsetzt,  bis  alles  Krankhafte  zerstört  ist, 
dann  ist  der  Erfolg  auch  ein  ganz  günstiger.  Vom  physiologischen 
Standpunkt  aus  scheint  das  Aetzmittel  auf  den  ersten  Blick  etw\^s  für 
sich  zu  haben;  man  kann  sich  nämlich  vorstellen,  dass  die  ätzende 
Flüssigkeit  bis  in  die  miterkrankten  feinsten  Lymphgäuge  eindringt  und 
so  recht  sicher  den  örtlichen  Krankheitsstoif  zerstört.  Allein  dies  ist 
deshalb  nicht  der  Fall,  weil  das  Gewebe,  w^elches  mit  dem  Aetzmittel 
in  Berührung  kommt,  damit  sofort  eine  innige  feste  Verbindung  eingeht 
und  ein  Weiterfliessen  des  Aetzmittel  s  dann  nicht  mehr  Statt  hat.  Man 
hat  früher  behauptet,  die  Recidive  folgten  nach  Anv/endung  von  Aetz- 
mitteln  nicht  so  schnell  als  nach  der  Operation  mit  dem  Messer,  indessen 
hat  sich  das  nicht  bestätigt;  ich  statuire  daher  nur  die  oben  angeführten 
x\usnahmen. 

Was  die  Wahl  der  Aetzmittel  betrifft,  so  ziehe  ich  das  Chlorzink  allen 
übrigen  zur  Zerstörung  von  Krebsen  vor;  Sie  können  dasselbe  als  Paste  oder 
als  Aetzpfeil  anwenden.  Handelt  es  sich  um  die  Aetzung  einer  Fläche, 
so  machen  Sie  sich  aus  gepulvertem  Chlorziuk  und  Mehl  oder  Amylum 
zu  gleichen  Theilen  mit  Zusatz  von  etwas  Wasser  einen  Brei,   den  Sie 


r,(^f^  Von  den  Geschwülsten. 

auf  die  Geschwiirsnaoi.o  auftra^-eB.  Wollen  Sie  tiefer  ätzen,  so  lassen 
Sie  1  Tlieil  Chlorziuk  mit  3  Theilen  Mehl  oder  Gummi  mit  etwas  Wasser 
zusammenriihren,  zu  einem  Kuchen  formen  und  trocknen;  die  Masse 
lässt  sich  dann  bequem  schneiden :  Sie  schneiden  mit  einem  Messer 
kleine  zugespitzte  Cylinder  von  ^/.^—l  Centimeter  Dicke,  machen  mit 
einer  Lancette  einen  Einstich  in  die  Geschwulst  und  drücken  den  präpa- 
rirten  Aetzpfeil  hinein;  dies  machen  Sie  so  oft,  bis  die  Geschwulst 
durchspickt  ist  von  Pfeilen,  die  etwa  %  Zoll  Distanz  von  einander  haben 
können.  Nach  dieser  Aetzung-  tritt  4—5  Stunden  lang-  ein  massiger,  oft 
aber  auch  sehr  heftiger  Schmerz  ein,  den  Sie  durch  eine  gleich  nach  der 
Aetzung-  ausgeführte  subcutane  Morphiuminjection  sehr  moderiren  kön- 
nen, und  am  andern  Tage  finden  Sie  die  Geschwulst  zu  einem  weissen 
Schorf  umgewandelt.  Dieser  löst  sich  nach  5 — 6  Tagen,  früher  bei 
weichen  Geschwülsten,  später  bei  harten.  Nach  Ablösung-  der  Eschara 
stellt  sich,  falls  die  Aetzung-  g-enügend  bis  ins  Gesunde  vordrang,  eine 
gut  granulirende,  bald  vernarbende  Wunde  ein;  wuchert  die  Carcinom- 
masse  wieder  hervor,  so  wird  die  Aetzung  mit  Paste  oder  Pfeilen  wie- 
derholt u.  s.  f. 

Es  ist  immer  gegen  diese  Aetzuugen  einzuwenden,  dass  sie  zuwei- 
len recht  schmerzhaft  und  unsicher  in  Bezug  auf  das  Umsichgreifen  des 
Aetzmittels  sind;  dennoch  finden  sie,  wie  gesagt,  hier  und  da  ihre  An- 
wendung. —  Ebenfalls  viel  gerühmte  Aetzmittel  sind  die  V/iener  Aetz- 
paste,  die  Arsenikpaste,  die  Antimonbutter,  das  Chlorgold  etc. ;  weniger 
im  Gebrauch  ist  das  Jodkalium,  die  Chromsäure,  concentrirte  Lösungen 
von  Chlorzink,  rauchende  Salpetersäure,  Schwefelsäure  etc. 

Jetzt  noch   einige  Rathschläge  in  Betreff  der  örtlichen  Behandlung 
von  Krebsgeschwüren,  die  für  eine  Operation  überhaupt  nicht  oder  nicht 
mehr  geeignet  sind.     Es  giebt  unoperirbare  Fälle,   in   welchen  die  Wu- 
cherung der   Krebsmassen  aus   der   Wunde  heraus    enorm    ist   und  die 
Kranken  sehr  belästigt  und  entkräftet;   hier  kann  man  partielle  Aetzun- 
gen  vornehmen  oder  das  Ferr.  candeus  anwenden;   durch   die  palliative 
Zerstörung  der  wuchernden  Massen  erzielt  man  zuweilen  ganz  leidliehe 
Resultate.     Die  Hauptindication  für  die  Behandlung  bei  diesen  Kranken 
bildet  die  mit  oft  grässlichem  Gestank  verbundene   Jauchung  der  Ge- 
schwüre und  in  manchen  Fällen  die  Schmerzen.     Um  die  schlechte  Se- 
cretion  zu  beseitigen,   ist  das  Ferr.  candens  ein  ganz  gutes  Mittel;   den 
Gestank  mildert  man  durch  Ueberschläge  mit  Chlorwasser  oder  gereinigtem 
Holzessig,   Kreosot,   Carbolsäure,  hypermangansaurem  Kali,  essigsaurer 
Thonerde,  Aufstreuen  von  feinem  Kohlenpulver  u.  s.  f.    Die  Kohle  absor- 
birt,  wie  Sie  aus  der  Chemie  wissen,   die  Gase  besonders  gern  und  ist 
hier  ein  vortreffliches  Mittel;   leider  verschmiert  sie   die  Geschwüre  so 
entsetzlich,  dass  man  sich  dadurch  von  ihrem  häufigem  Gebrauch  abhalten 
lässt.     Was  die  Schmerzen  in  den  carcinomatösen  ulcerirten  Geschwüren 
betrifft,  so  hat  man  dagegen  örtlich  Narcotica  angewandt,  z.  B.  gepulvertes 


VurlesmiK    ll).      (';i|,itr|    XXI.  701 

Opium  au%estreut;  indcss  wirken  die  Narcotica  subcutan  injicirt  oder 
innerlich  inuner  sichei'cr,  und  so  kommt  man  denn  zulet:jt  immer  wieder 
bei  diesen  armen  Patienten  zum  Mor[)liium.  Ausdauer  in  der  Pflege  und 
in  der  Linderung  der  Leiden  dieser  armen  Unglücklichen  mache  ich 
Ihnen  noch  besonders  zur  Pflicht;  es  ist  freilicli  traurig  für  den  Arzt, 
in  diesen  Fällen  so  wenig  nützen  zu  können,  doch  verlassen  dürfen  (Sic 
auch  diese  hoffnungslosen  Patienten  nicht. 


Kurze  Bemerkuiigess  übtir  «!Ic  klinische  Diagnose  der  <«e.scliwülste. 

Ich  kann  es  Ihnen  nicht  verübeln,  wenn  alles  das ,  was  ich  Ihnen 
über  die  Geschwülste  bemerkt  habe,  vorläufig  noch  in  ziemlicher  Ver- 
wirrung sich  in  Ihrem  Kopfe  befindet;  wenn  es  Sie  trösten  kann,  so 
will  ich  Ihnen  gestehen,  dass  es  mir  früher  nicht  besser  gegangen  ist, 
als  ich  in  Ihrer  Lage  war.  Erst  längeres  Studium  und  die  Uebung  in 
der  differentiellen  Diagnose  der  Geschwülste,  für  welche  sich  in  der 
Klinik  Gelegenheit  bietet,  macht  es  möglich,  auf  diesem  schwierigen 
Gebiet  sich  mit  einiger  Sicherheit  zu  bewegen.  —  Die  Consistenz  der 
Geschwulst  und  ihr  Ansehen,  ihr  Verhältniss  zur  Umgebung,  die  Locali- 
sation  derselben,  das  rasche  oder  laugsame  Wachsthum  des  Tumor,  das 
Alter  der  Patienten,  das  sind  die  Punkte,  von  denen  man  bei  der  Be- 
urtheilung  ausgeht;  bald  giebt  das  eine,  bald  das  andere  der  genannten 
Verhältnisse  den  Ausschlag.  Nehmen  wir  ein  specielles  Beispiel:  es 
kommt  ein  Mann  in  den  fünfziger  Jahren  zu  Ihnen,  rüstig  und  für  sein 
Alter  kräftig;  er  hat  seit  vielen  Jahren  eine  Geschwulst  auf  dem  Rücken, 
die  ihm  früher  gar  keine  Beschwerde  machte;  erst  seit  sie  fast  die 
Grösse  eines  Kinderkopfes  erreicht  hat,  wird  sie  unbequem.  Die  Ge- 
schwulst ist  elastisch  weich,  doch  nicht  gespannt,  nicht  fiuctuirend,  be- 
Aveglich  unter  der  Haut;  letztere  ist  unverändert;  Sclnnerzen  haben  nie 
in  der  Geschwulst  bestanden  und  sind  auch  bei  der  Untersuchung  nicht 
vorhanden.  Die  Diagnose  ist  in  diesem  Falle  sehr  leicht:  bei  der  Lo- 
calität,  bei  dem  Sitz  im  Unterhautzellgewebe,  bei  dem  langsamen  schmerz- 
losen Wachsthum  etc.  kann  es  sich  fast  nur  um  ein  Lipom  handeln, 
möglicherweise  um  eine  weiche  Bindegewebsgeschwulst:  doch  die  grösste 
Wahrscheinlichkeit  spricht  für  ein  Lipom.  —  Nehmen  wir  einen  andern 
Fall:  es  kommt  eine  Frau  zu  Ihnen  mit  einer  Geschwulst  in  der  Brust; 
diese  Geschwulst  ist  hart,  höekrig,  hat  die  Grösse  eines  Apfels,  auf 
der  Oberfläche  zeigen  sich  eingezogene  Stellen  der  Haut;  letztere  ist 
mit  der  Geschwulst  verwachsen.  Von  Zeit  zu  Zeit  haben  stechende 
Schmerzen  Statt  gefunden,  auch  Druck  auf  die  Geschwulst  ist  empfind- 
lich; die  Achseldrüsen  derselben  Seite,  wo  die  Brustdrüsengeschwulst 
ist,  sind  hart  anzufühlen.  Die  Frau  ist  45  Jahre  alt,  gut  genährt,  sieht 
gesund  aus.     Auch  hier  ist  die  Diagnose  leicht:  es  handelt  sich  um  ein 


rjqo  Von  den  Geschwülsten. 

Carcinom  1)  weil  in  den  Jahren,  in  welchen  sich  Patientin  befindet,  am 
häufio-sten  krebsige  Geschwülste  in  der  Brust  sich  entwickeln,  während 
Adenome  und  Sarkome  früher  zu  entstehen  pflegen.  2)  Die  Consistenz 
könnte  für  Fibrom  sprechen,  doch  Fibrom  kommt  überhaupt  nur  äusserst 
selten  in  der  Mamma  vor,  auch  die  Lymphdrttsensch wellung  spricht 
dao-eg-en,  sie  spricht  sehr  für  Carcinom.  o)  Carcinome  sind  schmerzhaft 
wie  in  diesem  Fall,  Sarkome  und  Fibrome  pflegen  es  nicht  zu  sein. 
Wir  könnten  die  Motivirung  der  Diagnose  noch  weiter  treiben,  doch 
das  Gesagte  mag  hier  genügen.  —  Betrachten  wir  noch  einen  dritten 
Fall:  ein  Knabe  von  10  Jahren  hat  seit  2  Jahren  eine  sich  langsam 
versrössernde ,  massig  schmerzende  Anschwellung  des  mittleren  Theiles 
des  Unterkiefers:  die  Zähne  sind  an  dieser  Stelle  ausgefallen,  ohne 
krank  zu  sein;  die  Anschwellung  des  Knochens  ist  gleichmässig  rundlich 
und  reicht  von  dem  ersten  Backzahn  der  einen  Seite  bis  zum  gleichen 
Backzahn  der  andern;  sie  ist  unten  knochenhart,  oben  (im  Munde)  von 
Schleimhaut  überzogen  elastisch  fest.  Kann  diese  Knochenanschwellung 
die  Folge  eines  chronisch-entzündlichen  Processes,  einer  Caries  oder 
Nekrose  sein?  Dies  ist  nicht  wahrscheinlich,  1)  weil  der  Schmerz  stets 
gering  war;  2)  weil  keine  Eiterung  vorhanden  ist,  die  bei  einer  seit 
2  Jahren  bestehenden  Knochenentzündung  am  Kiefer  nicht  leicht  fehlt; 

3)  weil  die  Anschwellung  so  beschränkt,  so  gleichmässig  ist,  wie  die 
Knochenauflagerungen  bei  Caries   oder  Nekrose  nicht  zu  sein  pflegen; 

4)  weil  in  dem  Alter  des  Patienten  Knochenentzündungen  am  Unter- 
kiefer nicht  leicht  vorkommen,  ausser  nach  Phosphorintoxication,  die 
hier  nicht  Statt  hatte.  Wir  haben  es  also  mit  einem  Tumor  zu  thun; 
ist  es  ein  Osteom?  dafür  ist  es  oben  im  Munde  zu  weich,  man  dringt 
bei  einem  Stich  mit  einer  feinen  Nadel  von  oben  in  die  Geschwulst 
leicht  ein.  Ist  es  ein  Chondrom?  Consistenz,  Form,  Art  des  Wachs- 
thums,  Alter  des  Patienten  passen  wohl;  doch  die  Localität  nicht; 
Chondrome  im  Mittelstück  des  Unterkiefers  in  diesem  Alter  sind  äusserst 
selten.  Es  ist  ein  centrales  Osteosarkom,  wahrscheinlich  ein  Kiesen- 
zellensarkom :  dazu  stimmen  alle  Erscheinungen,  und  Sie  wissen,  dass 
diese  Geschwülste  inr  Unterkiefer  im  jugendlichen  Alter  häufig  sind. 
Ich  sage,  Sie  wissen:  besser  Sie  werden  es  allmählig  nach  und  nach 
lernen;  und  ich  kann  Ihnen  nur  rathen,  jedesmal,  wenn  Sie  in  der 
Klinik  einen  Kranken  mit  einer  Geschwulst  untersucht  haben,  zu  Hause 
darüber  nachzulesen,  den  individuellen  Fall  zu  vergleichen  mit  der  all- 

.  gemeinen  Charakteristik  der  Geschwülste,  die  ich  Ihnen  gegeben  habe. 
Wenn  Sie  das  einige  Zeit  lang  getrieben  haben  und  recht  viele  Ge- 
schwülste in  den  Cursen  über  pathologische  Histologie  unter  Anleitung 
Ihres  Lehrers  untersucht  haben,  dann  werden  Sie  bald  eine  klarere 
Uebersicht  gewinnen,  und  alle  Einzelheiten  werden  sich  Ihrem  Ge- 
dächtniss  nach  und  nach  einprägen. 


Vorlesung  50.     Capilcl  XXI f.  793 

Vorlesung   50. 
CAPITEL  XXII. 

lieber  Amputationen,  Exarticulationen  (uid  Jlesectionen. 

Wichtigkeit  und  Bedeutung  dieser  Operationen.  —  Amputationen  und  p]xar- 
ticulationen.  —  Indicationen.  —  Methoden.  —  Nachbehandhnig.  —  Prognose.  — 
Konische  Stümpfe.  Prothese.  Historisches.  —  Resectionen:  der  Gelenke.  —  Histo- 
risches.  —   Indicationen.  —  Methoden.  —  Nachbehandhmg.  —  Prognose. 

Meine  Herren! 
Wir  haben  schon  sehr  oft  von  Amputationen  und  Resectionen  zu 
sprechen  Gelegenheit  gehabt,  und  ich  möchte  Ihnen  datier  vor  Abschkiss 
dieser  Vorlesungen  doch  eine  Vorstellung  von  diesen  so  sehr  wichtigen 
Operationen  geben,  durch  welche  wir  kranke  Gliedmaassen  oder  Theile 
von  kranken  Gliedmaassen  entfernen,  deren  Heilung  wir  nicht  zu  Stande 
zu  bringen  vermögen.  Man  hat  diese  oft  so  sehr  folgenreich,  ja  lebens- 
rettend wirkenden  Operationen  wohl  als  ein  „Testimonium  paupertatis" 
betrachtet,  welches  sich  die  ärztliche  Kunst  ausstellt,  da  ja  das  Fort- 
schneiden kranker  Theile  keine  eigentliche  Heilung  sei,  w^enn  man  unter 
Heilen  die  Kunst  versteht,  mit  Hülfe  unseres  Wissens,  einen  krankhaft 
veränderten  Körpertheil  wieder  zum  normalen  Zustande  zuritckzuführen. 
Doch  wenn  Sie  diesen  allerdings  höchsten  Maassstab  für  alle  Fälle  an 
unsere  Kunstleistung  anlegen  wollen,  dann  schrumpft  das  Gebiet  des 
Heilbaren  freilich  auf  ein  Minimum  zusammen;  dann  können  Sie  auch 
sagen:  ein  Staar  ist  nicht  heilbar,  denn  die  getrübte  Linse  wird  ja  nicht 
wieder  klar  gemacht,  sondern  entfernt;  ja  sie  müssten  eine  Eeihe  der 
glänzendsten  Curen,  welche  von  den  Dermatologen  mit  ätzenden  äussern 
Mitteln  gemacht  werden,  als  Beweise  für  die  Ohnmacht  unserer  Kunst 
ansehen,  ebenso  wie  die  Lebensrettung  eines  Menschen,  welchen  Sie 
eine  Geschwulst  aus  dem  Kehlkopf  entfernen,  damit  er  nicht  erstickt. 
Die  glänzendsten  Curen,  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  „Heilungen" 
macht  man  z.  B.  bei  Syphilis;  mit  den  antisyphilitischen  innerlichen  Curen 
machen  wir  oft  die  ausgedehntesten,  und  oft  schon  lange  bestandenen 
Krankheitsproducte  in  wenigen  Wochen  schwinden,  wie  durch  Zauber- 
tränke. Solche  zweifellos  wirksamen  Curen  sind  aber  bei  anderen  Krank- 
heiten sehr  selten,  wir  müssen  uns  oft  genug  damit  begnügen,  die  er- 
krankten Theile  zu  zerstören  und  dadurch  nicht  nur  die  Ausbreitung  der 
Krankheit  auf  die  nächste  Umgebung,  sondern  auch  die  schädlichen 
Folgen  für  den  Gesammtorganismus  zu  verhüten.  Je  kleiner  und  un- 
wichtiger für  das  Leben  des  Organismus  ein  erkrankter  Theil  ist,  um 
so  leichter  werden  wir  uns  entschliessen  ihn  zu  opfern.  Je  grösser  der 
zu  entfernende  Theil  einer  Gliedmaasse  aber  ist,  um  so  grösser  wird 
nicht  nur  die  Gefahr,  welche  mit  der  Entfernung  desselben  verbunden 


yg^  Ueber  Auiputationen,  Exarticulationen  und  Resectionen. 

ist  sondern  um  so  schwerer  wiegt  der  Verlust  für  die  Arbeitsfähigkeit 
des  betreffenden  Individuums.  Dieser  Umstand  bringt  in  die  Indicationen 
zu  den  Amputationen  ein  unwissenschaftliches  sociales  Element  hinein, 
was  oft  nicht  wenig  zur  Entscheidung  beiträgt.  Für  einen  reichen  Mann 
wäre  es,  wenn  man  von  der  äusseren  Erscheinung  absieht,  möglich  zu 
leben,  ja  bis  zu  einem  wenig  beschränkten  Grade  selbst  das  Leben  zu 
geniessen,  auch  wenn  er  alle  vier  Extremitäten  verlöre,  denn  was  die 
Extremitäten  physiologisch  zur  Existenz  des  Individuums  zu  leisten  haben, 
lässt  sich  auch  durch  die  Arbeit  anderer  Individuen  erreichen,  und  Arbeit 
kann  man  kaufen.  Doch  für  Jemand,  der  auf  seiner  Hände  oder  Füsse 
Arbeit  angewiesen  ist,  kann  der  Verlust  einer  Extremität,  ja  bei  manchen 
Handwerkern  der  Verlust  oder  die  Verkrüppelung  eines  Fingers  die 
Quelle  für  die  Vernichtung  seiner  socialen  Existenz  werden.  Ist  er  z.  B. 
Briefträger,  Maurer,  Drechsler,  was  soll  er  ohne  gesunde  Beine  machen? 
Ist  er  Goldarbeiter,  Uhrmacher,  Schuster,  was  soll  er  mit  nur  einer 
Hand  machen?  Ja  oft  war  ich  schon  in  der  Lage,  einen  krummen,  in 
die  Hohlhand  eingedrückten,  bereits  völlig  geheilten  Finger  zu  entfernen, 
weil  er  die  Leute  unfähig  machte,  ein  Beil,  einen  Spaten  etc.  mit  voller 
Faust  zu  fassen,  wie  sie  es  für  ihren  Beruf  bedurften.  Wie  unzählige 
Mal  hörte  ich  schon  die  vorwurfsvollen  Worte:  „auch  Sie  können  meinen 
Fuss  nicht  heilen!  nun  dann  will  ich  lieber  so  sterben,  als  mein  Bein 
abnehmen  lassen;  was  soll  ich  denn  anfangen?  ich  bin  ja  ein  vernich- 
teter Mann.  Ich  halte  es  auch  nicht  aus,  —  nein,  das  lass  ich  nun  und 
nimmermehr  thun!" 

Doch  das  Sterben  zumal  an  chronischen  Krankheiten  der  Extremitäten, 
das  geht  nicht  so  schnell ;  die  täglichen  Schmerzen,  Wochen  laug,  Monate 
lang,  Jahre  lang  und  immer  noch  kein  Ende,  das  macht  die  stärksten 
Menschen  mürbe;  dann  auch  wieder  die  Lust  zu  leben,  die  allmählige 
Gewöhnung  an  den  Gedanken,  mit  Verlust  einer  Extremität  doch  viel- 
leicht noch  einen  Erwerb  zu  finden,  bestimmt  dann  doch  die  meisten 
Menschen,  sich  endlich,  wenn  auch  oft  zu  spät,  zur  Amputation  zu  ent- 
schliessen.  —  Sehr  verschieden  ist  der  Widerstand,  welchen  Schwer- 
verletzte dem  Gedanken  an  eine  Amputation  entgegensetzen.  Hier  ent- 
scheidet meist  das  Aussehu  der  verletzten  Theile  und  der  Grad  der 
Schmerzen  in  denselben.  Ist  die  Extremität  zerrissen  in  Fetzen,  und  sieht 
der  Unglückliche  selbst  die  zerschmetterten  Knochenstücke  wirr  durch 
einander  liegen,  dann  wird  man  wenig  Widerstand  gegen  die  Amputation 
finden;  ebenso  wenn  die  Schmerzen  sehr  intensiv,  die  Extremität  von 
Blutunterlaufung  blauroth  und  die  Finger  oder  Zehen  unbeweglich  sind. 
Ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  ist  die  Schwere  der  Verletzung  nur  dem 
Arzte  erkennbar,  handelt  es  sich  z.  B.  um  Gelenkwunden  mit  Knochen- 
brüchen ohne  erhebliche  Dislocation  und  ohne  primäre  Functionsstörun- 
gen,  kann  der  Verletzte  seine  Zehen  oder  Finger  bewegen,  selbst  wenn 
diese  stark  beschädigt  sind,  hat  er  auch  keine  Schmerzen,  —  dann  ist 


es  oft  sehr  scliwcr,  ihm  die  Nothwendig'lccit  eines  operativen  Eingriffes 
klar  zu  machen;  er  miiss  dann  schon  ein  unbedingtes  Vertrauen  auf  den 
Arzt  haben,  ja  man  kann  schon  sagen,  er  nmss  an  den  Arzt  glauben, 
wie  an  ein  übermenschliches  Wesen,  wenn  er  unter  solchen  Verhältnissen 
die  vielleicht  nothwendige  primäre  Amputation  zulässt.  Hier  werden 
Sie  oft  erleben,  dass  alle  Ihre  wohl  erlernten  und  nach  langer  Praxis 
wohl  begründeten  Principieu  Ihres  therapeutischen  Handelns  auf  vorläufig 
unbeugsamen  Widerstand  stossen.  Nehmen  nun  nach  einigen  Tagen  die 
Folgen  der  Verletzung  den  erwarteten  gefährlichen  Charakter  an,  und 
dringt  dann  der  Verletzte  etwa  selbst  auf  die  Amputation,  dann  werden 
Sie  sich  zuweilen  sagen  müssen:  zu  spät!  doch  wollen  Sie  so  grausam 
sein,  es  auch  dem  Unglücklichen  zuzurufen?  Das  sind  harte  Stunden  für 
den  Arzt.  Ist  noch  eine  wenn  auch  noch  so  geringe  Aussicht  auf  Rettung, 
so  wird  man  sich  auch  unter  solchen  ungünstigen  Verhältnissen  noch  ent- 
schliessen,  die  Amputation  auszuführen;  die  Hoffnung  unter  solchen  Um- 
ständen der  Schule  zum  Trotz,  ja  selbst  einer  Eeihe  eigner  ungünstiger 
Erfahrungen  zum  Trotz,  ein  verloren  gegebenes  Menschenleben  zu  retten, 
ist  ein  schönes  Vorrecht  des  jugendlichen  Stolzes  auf  die  Kraft  und  die 
Macht  unserer  Kunst.  Doch  wenn  sich  dann  die  Misserfolge  häufen  und 
wir  müde  werden  im  Kampf  mit  den  gegebenen  üblen  Verhältnissen  um 
das  nur  so  selten  Erreichbare,  dann  bleiben  wir  immer  häufiger  am  Ufer 
der  Resignation  stehen  und  schauen  bekümmert  dem  sinkenden  Schiff  nach, 
ohne  den  Nachen  unsrer  Kunst  auch  noch  preiszugeben.  So  schön  es  ist, 
Aussergewöhnliches  durch  aussergewöhnliche  Kraft  zu  erreichen,  so  sehr 
müssen  wir  uns  doch  auch  hüten,  die  Mittel  unsrer  Kunst  in  unsern  und 
in  den  Augen  der  leidenden  Menschheit  nicht  zu  oft  der  Gefahr  auszusetzen, 
resultatlos  zu  wirken.  Denn  gar  zu  viele  Misserfolge  ertödfen  endlich 
in  jedem  gewissenhaften  Arzt  die  Freude  am  Helfen  und  das  für  ihn 
nicht  minder  als  für  Andere  durchaus  nothwendige  Vertrauen  auf  seine 
Kunst. 

Ich  hoffe,  dass  das  Gesagte  genügen  wird,  damit  Sie  vor  jeder 
grösseren  Operation  und  zumal  vor  jeder  Amputation  ernst  mit  sich  zu 
Rathe  gehen,  ob  und  wie  zu  operiren  ist.  Vergegenwärtigen  Sie  sich 
stets,  dass  Sie  bei  jeder  grösseren  Operation  vom  Kranken  verlangen, 
dass  er  sein  Leben  unbedingt  in  Ihre  Hand  giebt,  und  dass  Sie  ihm 
dafür  schuldig  sind,  Ihr  bestes  Können  und  Wissen  zu  seinem  Vortheil 
zu  verwenden. 


Es  ist  recht  schwierig,  so  im  Allgemeinen  die  Indicationen  für  die 
Amputationen  und  Resectionen  zusammenzustellen.  Fast  jeder  allge- 
meine Satz  der  Art  wird  durch  irgend  einen  speciellen  Fall  angreifbar 
sein.  Dennoch  ist  es  behufs  einer  systematischen  Erlernung  für  Sie 
bequem,    wenn  ich   noch  einmal  das   bei   verschiedeneu   Gelegenheiten 


796  Ueber  Amputationen,  Exarticuiai 


im  Verlauf  dieser  Vorlesungen  darüber  Gesagte  kurz  zusammenfasse. 
Ich  will  dann  auch  noch  Einiges  über  die  Principien  hinzufügen,  welche 
man  bei  der  technischen  Ausführung  dieser  Operationen  und  bei  der 
Behandlung  der  Operirten  im  Auge  haben  muss. 

Von  den  Amputationen  und  Exarticulation.  Es  giebt  Ver- 
letzungen der  Extremitäten,  bei  welchen  es  gleich  von  Anfang  an  zwei- 
fellos ist,  dass  die  Extremität  brandig  werden  muss,  oder  dass  die  fol- 
gende Eiterung  so  enorm  stark  werden  und  so  ungünstig  verlaufen  muss, 
dass  das  Leben  des  Patienten  dadurch  in  die  höchste  Gefahr  kommt 
(siehe  pag.  221).  Wird  man  aber  in  solchen  Fällen  durch  den  Wider- 
stand des  Patienten  gehindert,  die  primäre  Amputation  auszuführen,  so 
wird  bei  bereits  eingetretener  fortschreitender  Gangrän  die  Amputation 
höchst  wahrscheinlich  den  Tod  nicht  verhindern  können,  ebenso  wenig 
bei  progredienter  Phlegmone  mit  Septhämie.  Nur  in  Fällen,  wo  man 
dann  noch  in  ganz  gesunden  Theilen  amputiren  kann,  ist  einige  Aus- 
sicht auf  Erfolg,  z.  B.  wenn  man  bei  traumatischer  Gangrän,  die  von  einer 
Hand-  und  Vorderarmverletzung  bis  zum  Ellenbogengelenk  vorgeschrit- 
ten ist,  die  hohe  Amputation  des  Oberarms  oder  die  Exarticulation  des- 
selben in  der  Schulter  macht;  weit  weniger  Erfolg  hat  man  unter  ana- 
logen Verhältnissen  mit  den  hohen  Amputationen  und  der  Exarticulation 
des  Oberschenkels,  weil  diese  Operationen  an  sich  weit  gefährlicher 
sind  als  die  entsprechenden  Absetzungen  au  den  oberen  Extremitäten. 

Hat  man  die  conservative  Behandlung  mit  Erfolg  eine  Zeit  lang  fort- 
gesetzt, und  treten  dann  Erscheinungen  von  Pyohämie  ein,  so  kann  man 
da  auch  noch  die  Amputation  machen  und  wird  an  den  oberen  Extre- 
mitäten einige  Erfolge  haben,  seltner  unter  gleichen  Verhältnissen  an  den 
unteren  Extremitäten. 

Eber  ist  noch  ein  günstiges  Eesultat  solcher  sogenannten  secundären 
Amputationen  zu  erwarten,  wenn  zwar  keine  pyohämische  Erscheinungen 
eingetreten  sind,  doch  in  Folge  ausgedehnter  Phlegmone  die  Haut  in  so 
grosser  Ausdehnung  vereitert  ist,  dass  man  gar  keinen  Schluss  der  Wunde 
erwarten  kann,  oder  wenn  durch  langsame  Eiterung  grösserer  Gelenke 
und  Knochentheile  der  Kranke  in  einen  marantischen  Zustand  ver- 
fallen ist. 

Verletzungen  an  Händen  und  Füssen  können  auch  Veranlassung  zu 
primären  Amputationen  werden,  wenn  sie  der  Art  sind,  dass  selbst  unter 
den  günstigsten  Voraussetzungen  ein  ganz  unbrauchbarer,  dauernd  ge- 
sehwürig  bleibender  Stumpf  entstehen  muss.  Zumal .  nach  Ausreissun- 
gen  und  Abquetschungen  können  die  Wunden  derart  geformt  sein,  dass 
die  Knochen  herausstehen  und  der  Stumpf  dann  erst  lege  artis  zuge- 
schnitten werden  muss.  Aehnlich  kann  man  auch  bei  Erfrierungen  ver- 
lahren;  doch  an  den  unteren  -Extremitäten  soll  man  da  nicht  zu  lange 
mit  der  Amputation  zögern,  wenn  die  Demarcation  erkennbar  ist;  Ab- 
stossung  grösserer  Körpertheile  verbindet  sich  gar  zu  häufig  mit  Sepsis, 


Vorlesung  HO.     Capitel  XX FI.  797 

der  mau  tlurcli  eine  frülizeitig'e  Amputation  bei  Gangrän  diircli  Eif'ric- 
ruug  und  Verbrennung  doeli  oft  zuvorkommen  kann. 

Was  die  acuten  nicht  traumatisch  entstandenen  Knochen-  und  Ge- 
lenkentzündungen betrifft,  so  lernen  wir  immer  mehr,  durch  friilizeitige 
Diagnose  und  Behandlung-  dieser  Zustände,  durcli  günstig-  angeleg-te 
Ausflussöffnungen  für  den  Eiter,  durch  Fixationen  und  gute  Lagerung- 
der  Glieder  die  Extremitäten  zu  erhalten ;  doch  giebt  es  wolil  Fülle,  wo 
der  Kranke  nur  durch  die  rechtzeitige  Amputation  geheilt  werden  kann. 
Freilich  ist  die  Bestimmung  des  rechten  Zeitpunktes  hier  ungemein 
schwierig,  da  es  sich,  wie  in  den  später  zu  erwähnenden  Fällen  chro- 
nischer Entzündung  darum  handelt,  zu  entscheiden  ob  und  wie  lange 
der  Patient  die  Eiterung  und  den  fieberhaften  Zustand  noch  ertragen 
werde. 

In  Betreff  der  sogenannten  spontanen  Gangrän  oder  wie  es  die 
alten  Chirurgen  nannten,  Gangrän  aus  inneren  Ursachen  muss  mau  sehr 
wohl  die  einzelnen  Fälle  unterscheiden.  Ist  die  Gangrän  in  Folge  von 
arterieller  Emboli  entstanden,  so  ist  bei  sonst  leidlichem  Allgemeinzu- 
stand zu  amputiren,  so  wie  die  Grenze  des  Gangränösen  erkennbar  ist. 
Bei  Gangrän  nach  Typhus  und  schw^eren  Exanthemen  kann  man  warten, 
bis  sieh  die  Kranken  etwas  erholt  haben.  Bei  ächter  Gangraena  senilis 
kommt  es  selten  zur  Amputation.  Begrenzt  sich  die  Gangrän  auf  eine 
oder  einige  Zehen,  so  lässt  man  die  spontane  Abstossung  erfolgen;  er- 
streckt sie  sich  erst  auf  den  Vorfuss,  dann  steht  sie  selten  still;  sollte 
es  einmal  der  Fall  sein,  so  löst  man  die  vorstehenden  Knochen  aus, 
und  sucht  auf  diese  Weise  mit  so  wenig  wie  möglich  Verletzung  der 
Weichtheile  genügend  Substanz  zu  gewinnen,  um  den  Stumpf  zu  bedecken. 

Von  den  chronischen  Erkrankungen  sind  es  in  erster  Linie  die 
chronischen  Entzündungen  der  Knochen  und  Gelenke,  welche  zu  Ampu- 
tationen Veranlassung  geben.  Langdauernde  Caries  vieler  Hand-  und 
Fuss Wurzelknochen,  Caries  des  Knie-Gelenkes  bei  nichttuberkulöseu  Er- 
wachsenen, Caries  des  Hüft-,  Schulter-,  Ellenbogen -Gelenkes  fordern 
eher  zur  Picsection  auf,  wenn  überhaupt  ein  operativer  Eingriff  indicirt 
ist;  die  Amputation  kommt  da  erst  in  zweiter  Linie  in  Frage. 

Ausgedehnte  unheilbare  Fussgeschwüre  und  unheilbare,  oder  in  kür- 
zester Zeit  immer  wiederkehrende  Pachydermie  der  Unterschenkelhaut 
erfordern  oft  die  Amputation,  wenn  diese  Individuen  nicht  zu  dauernden 
Schmerzen  und  dauernd  ruhiger  Lage  verdammt  sein  sollen. 

Grosse  Aneurysmen  der  A.  femoralis  zumal  wenn  sie  dem  Platzen 
nahe  sind,  und  durch  keine  Methode  geheilt  werden  können,  würden 
zum  sicheren  Tode  führen,  wenn  mau  nicht  rechtzeitig  die  Ampu- 
tation macht. 

Bei  Geschwülsten  der  Extremitäten,  welche  fest  mit  dem  Femur, 
Humerus  oder  Tibia  verwachsen  und  zwischen  die  Weichtheile  hineinge- 
wachsen sind  muss  die  Amputation  gemacht  werden.    Geschwülste  welche 


nao  lieber  Amputationen,  Exartieulationen  und  Resectionen. 

nur  mit  Ulna  oder  Kadius  oder  Fibula  verwachsen  und  nicht  tief  in 
die  Weichtheile  hineinragen,  können  durch  partielle  Eesection  oder 
selbst  locale  Exstirpation  dieser  Knochen  mit  g-ünstigem  Erfolg  entfernt 
werden. 

Endlich  können  auch  Verkrümmungen  oder  Missbildungen  der  Füsse 
die  Amputation  erheischen,  wenn  die  betreffenden  Individuen  dadurch 
am  Gehen  behindert  sind. 

Was  nun  die  Ausführung  der  Amputationen  betrifft,  so  kann 
dieselbe  in  den  Gelenken  erfolgen,  oder  es  werden  die  Knochen  durch- 
gesägt. Beide  Methoden  haben  ihre  Vortheile  und  ihre  Nachtheile.  Die 
Absetzung  in  den  Gelenken  erscheint  als  die  natürlichere,  weniger 
verletzende,  einfachere.  Die  Weichtheile  können  selbst  per  primam  iuten- 
tionem  auf  den  Knorpel  anheilen,  oder  dieser  vereitert  oder  wird  ne- 
krotisch abgestossen,  und  die  Heilung  erfolgt  dann  durch  Vermittlung 
von  Granulationen,  welche  aus  dem  Knochen  hervorwachsen.  Die  Mark- 
höhle der  Knochen  wird  nicht  eröffnet,  es  fällt  damit  die  mögliche  pri- 
märe Infection  des  Knochenmarks  bei  der  Operation  oder  bald  nach 
derselben  fort.  Nachtheilig  sind:  das  Zurückbleiben  von  Theilen  der 
serösen  Synovialsäcke,  die  sehr  wenig  Neigung  zur  primären  dauernden 
Verklebung  haben  und  in  welchen  sich,  wenn  die  Wunde  verklebt  ist, 
leicht  Eiter  ansammeln  und  zersetzen  kann;  ferner  müssen  die  Weich- 
theile, welche  zur  Bedeckung  der  grossen  Gelenknerven  nöthig  sind,  sehr 
reichlich  sein,  so  dass  die  Wunden  dadurch  sehr  gross  werden;  beim 
Ellenbogen-  und  Kniegelenk  kann  man  mit  der  gleichen  Länge  der  Weich- 
theile fast  die  hohen  Amputationen  des  Vorderarms  und  Unterschenkels 
machen.  Ungünstig  sind  die  Stümpfe  nach  Exartieulationen  in  technischer 
Beziehung  in  sofern,  als  bei  Application  künstlicher  Gliedmaassen  das 
Gelenk  des  künstlichen  Beins,  z.  B,  an  einer  im  Kniegelenk  exarticulirten 
Extremität,  tiefer  zu  liegen  kommt  als  an  der  gesunden  Seite. 

Bei  den  Amputationen  hat  man  den  Vortheil,  dass  man  den  Punkt, 
wo  man  die  Absetzung  des  Gliedtheils  vornehmen  will,  freier  bestimmen 
kann,  wenn  man  auch  theils  aus  empirisch-prognostischen  Gründen,  theils 
wegen  der  Prothese  diese  oder  jene  Stellen  begünstigt.  Im  Allgemeinen 
braucht  man  weniger  Weichtheile  zur  Bedeckung  der  Amputations-  als 
der  Exarticulations-Stümpfe.  Das  Durchsägen  der  Knochen  ist  eine  au 
sich  nicht  so  sehr  zu  fürchtende  Complication  dieser  Operation;  doch 
folgt  in  vielen  Fällen  eine,  wenn  auch  oft  nur  wenig  hoch  hinauf- 
reichende Nekrose  der  Sägefläche.  Wird  das  Knochenmark,  sei  es  in 
der  Markhöhle,  sei  es  in  der  spongiösen  Substanz  bei  der  Operation 
z.  B.  mit  einem  nicht  reinen  Schwamm  inficirt,  oder  wird  es  durch  die 
vorgelegten  Weichtheile  so  fest  verklebt,  dass  der  sich  im  Mark  bildende 
Eiter  nicht  heraus  kann,  dann  entsteht  zuweilen  eine  schwere  acute 
Osteomyelitis,  die  nicht  selten  durch  Sepsis  zum  Tode  führt.  In  günsti- 
geren Fällen  begrenzt   sich  die  Osteomyelitis  in   einer   gewissen  Höhe 


Vorlosiint?  50.     Capit.-l  XXTT.  799 

und  es  kommt  zu  aus.i;c(ldintcv  Nekrose  des  Kiio('li(mstui))])r('s;  iiacli 
6 — 8  Wochen  kann  man  diesen  als  Sequester  extraliiren;  um  ihn  liej-um* 
hat  sich  eine  Knochenschaale  neug-ebildet,  welche  den  verloren  i^egang-e- 
nen  Knoclicnstumpf  ersetzt.  Dass  sicli  an  den  amputirtcn  Knoclieiienden 
Osteophyten  bilden  und  die  Markhöiile  sich  mit  Knoclienmasse  schliesst, 
haben  wir  schon  früher  bei  den  complicirten  Fracturen  erwähnt  (pag.  231). 
Die  Osteomyelitis  der  Amputationsstünipfe  ist  in  ihrem  Anfange  sehr  scliwer 
zu  erkennen.  Sie  können  dieselbe  mit  ziemlicher  Sicherheit  annehmen, 
wenn  am  dritten  oder  vierten  Tage  nach  der  Operation  der  bis  dahin 
vielleicht  fieberfreie  Operirte,  plötzlich  sehr  hohes  Fieber  eventuell  mit 
Frösten  und  Durchfällen  bekommt  und  der  Stumpf  keine  Spur  von  Ent- 
zündungserscheinungen zeigt,  vielmehr  zum  grössten  Theil  Heilung  per 
primam  intentiouem  eingetreten  ist.  Da  die  Ursache  des  Fiebers  also 
nicht  in  Entzündung  der  Weich theile  liegt;  so  muss  sie,  wenn  nicht  ex- 
ceptionelle  Complicationen  mit  andern  Processen  vorliegen,  im  Knochen 
stecken ;  jedenfalls  müssen  Sie  unter  solchen  Umständen  die  Wunde  ganz 
aufmachen,  das  Kochenmark  freilegen,  so  dass  der  darin  enthaltene 
Eiter  sieh  leicht  entleeren  kann.  Zuweilen  werden  Sie  dadurch  den  Pa- 
tienten noch  retten,  meist  ist  es  zu  spät,  denn  man  hat  wegen  der  Un- 
klarheit der  Symptome  selten  den  Muth,  die  prächtig  geheilte  Weichtheil- 
wunde  aufzumachen,  obgleich  dadurch  nichts  verschlimmert  wird,  auch 
wenn  man  sich  in  der  Diagnose  getäuscht  hätte. 

Bei  der  Ausführung  der  Amputationen  und  Exarticulationen  kommt 
es  vor  Allem  darauf  an: 

1)  die  Operation  mit  so  wenig  Blutverlust  wie  möglich  zu  machen, 

2)  die  Blutung  vollkommen  sicher  so  zu  stillen,  dass  keine  Nach- 
blutungen zu  befürchten  sind  und 

3)  den  Knochenstumpf  so  mit  Weichtheilen  zu  bedecken,  dass  die- 
selben über  ihm  leicht  und  vollständig  zusammenheilen  können. 

Was  die  beiden  ersten  Punkte  betrifft,  so  habe  ich  zu  dem  früher 
Gesagten  nichts  hinzuzufügen.  Vor  der  Operation  wird  die  künstliche 
Blutleere  nach  Esmarch  gemacht  (pag.  39).  Es  kann  ohne  einen 
Tropfen  Blutverlust  amputirt  werden.  Nach  der  Operation  torquire  ich 
die  sichtbaren  kleinen  Arterien,  schliesse  die  grösseren  durch  Akupressur 
(pag.  39);  nach  der  Exarticulatio  femoris  und  humeri  unterbinde  ich 
die  A.  axillaris  und  femoralis,  weil  es  mir  bei  den  Versuchen,  auch 
hier  die  Akupressur  anzuwenden,  nicht  schnell  genug  gelingen  wollte, 
die  Nadel  sicher  genug  zu  fixiren. 

Der  Knochenstumpf  muss  mit  Weichtheilen  bedeckt  werden  und  diese 
müssen  über  oder  vor  demselben  zusammenheilen;  geschieht  dies  nicht, 
und  bleibt  der  Knochenstumpf  vorstehen,  dann  benarben  die  von  ihm 
auswachsenden  Granulationen  entweder  überhaupt  nicht,  und  bilden  sich 
zu  einem  Geschwür  aus,  oder  wenn  auch  die  Benarbung  erfolgt,  so  ist 
die  auf  dem  Knochen  haftende  Narbe  so  wenig  widerstandsfähig,  dass 


gQQ  Ueber  Amputationen,  Exarticnlationen  und  Resectionen. 

sie  bei  Application  eines  Stelzfusses  oder  künstlichen  Fusses  schnell 
wieder  wund  wird  und  wund  bleibt;  der  Amputirte  ist  dann  übel  daran, 
er  muss  ganz  auf  den  Gebrauch  seines  Stumpfes  verzichten,  sein  Leben 
lano-  mit  zwei  Krücken  gehen  und  Schmerzen  an  den  Geschwüren  seines 
Stumpfes  auss.tehen.  *  - 

Der  Knochen  muss  also  immer  höher  abg-esägt  werden,  als  der 
Schnitt  durch  die  Weichtheile  verläuft;  bei  Exarticulationen  müssen  die 
Weichtheile  tiefer  durchschnitten  werden  als  das  Ende  des  zurückbleibenden 
Knochens.  Man  kann  die  Weichtheile  nach  diesen  Principien  in  fol- 
gender Weise  durchschneiden  und  ihnen  eine  zur  Bedeckung-  des 
Stumpfes  geeignete  Form  geben. 

1.     Man  macht  den  Cirkelschnitt,   d.  h.  man  macht  einen  kreis- 
förmigen Schnitt  um  die  Extremität,  zieht  die  durchschnittenen  Weichtheile 
stark  zurück  und  sägt  dann  den  Knochen  ab;  dann  lässt  man  die  Weich- 
theile wieder  los,  sie  fallen  dann  über  den  Knochenstumpf  zusammen.  — 
Damit  auf  diese  Weise  das   erstrebte  Ziel  zweckmässig-   und  sicher  er- 
reicht Avird,   geht  man  bei  dieser  Manipulation  am  zweckmässig-sten  fol- 
g-endermaassen  vor:    man  schneidet  zuerst   die  Haut  rund    herum  voll- 
kommen durch,  dann  präparirt  man  sie  los  und  zwar  so,  dass  möglichst 
das   ganze   Unterhautzellgewebe    und   der  Panniculus  adiposus   mit    der 
Haut  in  Verbindung  bleiben,    die  Muskelfascien  lässt  man   am  Muskel 
sitzen.    Ist  diese  Präparation  rund  herum  1'/^ — 2  Zoll  l)reit  erfolgt,  dann 
wird  die   abgelöste   Haut  (die  Manchette)  umgekrempt    und  von   einem 
Assistenten    mit    den    übrigen    Weichtheilen    stark    hinaufgezogen;    nun 
schneidet  man  dicht  an  der  Umschlagsstelle  der  Haut  mit  einem  kräftigen 
Zug   die  Muskeln   bis  auf  den  Knochen  wieder  mit   einem  Cirkelschnitt 
durch;   jetzt  greift  der  Assistent,  welcher  den  Stumpf  hält,   mit  beiden 
Händen  auf  die  Querschnittswuude  der   Muskeln   und   zieht   letztere  so 
viel  wie  möglich  in  die   Höhe;    mit   einem   dritten   Cirkelschnitt  durch- 
trennt man  die  tiefen  Muskelschichten,   einen  Zoll  höher  als  die  Ebene 
des  ersten  Muskelschnittes  lag,  noch  einmal  bis  auf  den  Knochen,  trennt 
dessen  Periost  und  durchsägt  ihn  nun  hier.     Ist  die  Durchsägung  erfolgt 
und  lässt  man  die  hinaufgezogeneu  Weichtheile  wieder  in  ihre  natürliche 
Lage  zurückfallen,  so  müssen  sich  drei  auf  einander  folgende  Schnittebenen 
zeigen,  nämlich  die  Schnittebene   der  Haut,  die   Schnittebene  der  Mus- 
kulatur und  die  Schnittebene  des  Knochens,  welche  letztere  in  der  Tiefe 
der  trichterfömigen  Wunde  liegt.     Bei  mageren  Extremitäten  müssen  die 
Weichtheile  den  Knochenstumpf  etwa  um  2*/.^  Zoll,  bei  muskulösen  Extre- 
mitäten  ihn   um  3  — 3^  Zoll  überragen.  —  Ist  ein  Vorderarm  oder  ein 
Unterschenkel  zu  amputiren,  so  müssen  bei  dem  letzten  Schnitt  um  die 
Knochen  auch   die  Muskel   zwischen  den  Knochen   noch   sorgfältig  vor 
der  Durchsägung  des  letzteren  durchtrennt  werden. 

Ich  halte  es  für  zweckmässig,  wenn  Sie  den  Cirkelschnitt  zunächst 
so  einüben,  wie  ich  es  Ihnen    eben  beschrieben  habe    und   sich   dabei 


Vorlesung  50.     CapilelXXlI.  801 

gewöhnen,  reclit  sicliere  g'latte  Sclmitte  zu  lulircn,  vor  Allem  «icli  iiljcu, 
das  Messer  niclit  diircli  Druck,  sondern  durcli  Zug-  wirken  zu  lassen. 
Ich  behaupte  jedoch  keineswegs,  dass  man  den  Cirkelschnitt  nicht  aucli 
in  anderer  Weise  zweckmässig  ausführen  könne.  Folgende  Modificationen 
sind  unter  Umständen  zulässig:  sie  beziehen  sich  theils  auf  Differenzen 
in  Betreff  der  schliesslichen  Gestaltung  des  Stumpfes,  tlieils  auf  Diffe- 
renzen in  der  technischen  Ausführung  behufs  Erlangung  des  früher  be- 
schriebenen Resultates. 

Man  kann  eine  Extremität  in  einer  Ebene  wie  mit  einem  Beil  oder 
einer  Guillotine  amputiren  (Botalli);  dies  kann  nut  gutem  Erfolg  an 
den  Fingern  ausgeführt  werden.  Wir  pflegen  an  den  Fingern  die  Ex- 
articulationen  den  Amputationen  vorzuziehen,  doch  kommt  es  vor,  dass 
Finger  mit  Maschinen  (Kreissägen,  Strohschneidemaschinen)  in  erwähnter 
Weise  grade  abgeschnitten  werden,  und  es  erhebt  sich  da  die  Frage, 
ob  ein  solcher  Stumpf  sich  ohne  weiteres  Zuthun  der  Kunst  zweckmässig 
gestaltet.  Dies  ist  in  der  That  der  Fall;  doch  nur  die  eigenthümlichen 
anatomischen  Verhältnisse  an  den  Fingern  bringen  es  mit  sich,  dass  sich 
die  an  Sehnenscheiden  und  Knochen  fixirte  Haut  fast  gar  nicht  zurück- 
zieht, Avährend  die  Sehnen  in  die  Scheiden  zurücktreten.  Die  Narben- 
zusammenziehung  wird  durchaus  concentrisch  und  durch  sie  wird  die 
Haut  bis  zur  Mitte  des  querdurchschnittenen  Knochens  vor-  und  wie 
ein  Tabaksbeutel  zusammengezogen.  An  den  meisten  übrigen  Stellen 
der  Extremitäten  ist  nicht  nur  die  Haut  an  den  Fascien,  sondern  oft 
sind  auch  die  Muskeln  am  Knochen  so  beweglich,  dass  nach  einer  ein- 
fach queren  Amputation  in  eine  Ebene  sich  nicht  nur  die  Muskeln  am 
Knochen,  sondern  auch  die  Haut  sich  stark  zurückziehen  würde.  Nach- 
dem der  ganze  Stumpf,  an  welchem  der  Knochen  wie  die  Spitze  eines 
Kegels  vorragt,  granulirt,  würde  die  Kraft  der  Narbencontraction  ge- 
wiss Haut  und  Muskeln  wieder  vorziehen,  wenn  nicht  letztere  an  den 
Osteophyten  treibenden  Knochen  unter  einander,  und  mit  der  Haut  in 
der  Kegelform  ziemlich  bald  fest  zusammenwüchsen,  so  dass  sie  unbe- 
weglich werden.  Da  also  dieser  sogenannte  einzeitige  (in  einem  Tempo, 
in  einer  Ebene  ausgeführte)  Cirkelschnitt  mit  Ausnahme  der  Finger 
und  Zehen  immer  zu  conischen  Amputationsstümpfen  führt,  so  macht 
man  ihn  nicht. 

Eine  ähnliche  beschränkte  Anwendung  hat  der  zweizeitige  Cirkel- 
schnitt. Man  versteht  darunter  die  Amputation  in  zwei  Tempi,  in  zwei 
Ebenen:  es  wird  eine  Hautmanchette  gebildet,  und  dann  werden  Mus- 
kulatur und  Knochen  in  einer  Ebene  durchtrennt;  der  Knochenstumpf 
wird  dabei  nur  von  Haut  bedeckt.  Wo  viele  Muskeln  dem  Knochen 
anliegen,  werden  sich  die  Muskeln  bei  dieser  Methode  stark  zurückziehen, 
nehmen  die  Haut  mit  zurück  und  das  Ende  des  vorstehenden  Knochen- 
stumpfes kommt  etwa  in  eine  Ebene  mit  der  Hautschnittebene  zu  liegen ; 
bei  der  Heilung  wächst  dann  die  Haut  so  auf  die  kegelförmig  gestaltete 

Billroth  chir.  Path.  n.  Ther.   7.  Aufl.  '^^ 


gQ2  lieber  Amputationen.  Exarticulationen  und  Resectionen. 

Sclinittebene  der  Muskel  an,  dass  der  Knochen  vorstellt  und  wieder  ein 
conischer  Stumpf  entsteht.  Nur  an  solchen  Stellen  der  Extremitäten, 
an  welchen  sich  die  Muskeln  am  Knochen  nicht  zurückziehen,  sei  es 
dass  sie  und  ihre  Fascien  anomaler  Weise  oder  in  Folge  von  länger 
vorhergegangener  Kranklieit  an  den  Knochen  und  untereinander  tixirt 
sind  —  ist  diese  Methode  zulässig,  z.  B.  bei  Amputation  des  Unter- 
schenkels dicht  über  den  Malleolen  und  ganz  oben  dicht  unter  dem 
Köpfchen  der  Fibula,  ebenso  an  den  analogen  Stellen  des  Vorderarms: 
doch  muss  dann  die  Hautmanchette  lang  genug  gemacht  werden,  um  den 
Stumpf  bequem  zu  decken. 

Der  dreizeitige  (zuerst  beschriebene)  Cirkelschnitt,  bei  welchem 
Haut,  Muskulatur  und  Knochen  in  drei  Tempi  in  drei  verschiedenen  Ebenen 
durchtrennt  werden,  kann  in  verschiedener  Weise  ausgeführt  werden.  Für 
den  Anfang  Ihrer  Uebungen  am  Cadaver  empfehle  ich  Ihnen,  es  so  zu 
machen,  wie  ich  es  Ihnen  zuerst  gesagt  habe.  Anstatt  des  letzten  Schnittes 
durch  die  tiefen  Schichten  der  Muskulatur,  können  Sie  mit  einem  Easpa- 
torium  das  Periost  von  der  ersten  Muskelschnittebene  einen  Zoll  weit  in 
die  Höhe  zurückschieben  und  dann  den  Knochen  durchsägen,  der  Effect  in 
Betreff  der  Gestaltung  des  Stumpfes  bleibt  derselbe ;  ob  die  tiefsten  Par- 
tien des  Trichters  mit  Periost  oder  parostalen  Weichtheilen  ausgekleidet 
sind,  hat  auf  die  Heilung  und  Ausbildung  des  Stumpfes  keinen  Einfluss. 
Etwas  schneller  und  eleganter  kann  mau  diese  Amputationsmethode  aus- 
führen, wenn  man  von  den  scharfen  schichtweisen  Querschnitten  ab- 
strahirt,  und  den  Trichter  dadurch  bildet,  dass  mau  nach  circulärer 
Durchschneidung  der  Haut  die  Äluskulatur  in  dünnen  Schichten  circulär 
einschneidet,  während  der  Assistent,  welcher  den  Stumpf  hält,  die 
Weichtheile  stark  contrahirt.  Bei  einiger  Uebung  werden  Sie  bald  ler- 
nen die  Schichten  der  Muskulatur  so  zu  durchtrennen,  dass  der  Trichter 
so  tief  und  so  gestaltet  wird,  wie  Sie  ihn  haben  wollen.  Zieht  Ihr 
Assistent  aber  in  übergrossem  Eifer  die  Weichtheile  mit  grosser  Kraft 
zurück,  und  durchschneiden  Sie  immer  nur  dünne  Muskelschichten  und 
immer  höher  hinauf,  so  kommen  Sie  schliesslich  mit  der  Durchsägung 
des  Knochens  viel  zu  hoch  hinauf  und  bekommen  viel  zu  viel  Weich- 
theile vor  dem  Knochenstumpf;  zieht  Ihr  Assistent  wenig  kraftvoll, 
oder  lassen  sich  die  Weichtheile  wegen  Verwachsung  unter  einander 
und  mit  dem  Knochen  nicht  recht  hinaufziehen,  während  Sie  die  Mus- 
keln zu  schnell  und  zu  tief  durchschneiden,  so  bekommen  Sie  zu  wenig 
Weichtheile  und  schliesslich  einen  couischen  Stumpf. 

Man  hat  endlich  den  Trichter  des  Stumpfes  so  gebildet,  dass  man 
das  Messer  gleich  schräg  einsetzte  und  schräg  von  aussen  auf  den  Kno- 
chen losging.  Diese  Methoden  sind  unpractisch,  ich  will  Sie  mit  den 
Details  derselben  nicht  behelligen. 

^  D(M-  Cirkelschnitt  ist  die  Normalmethode  für  alle  Ampu 
tationcn,   er  ist   an  allen  Stellen   der  Extremitäten  anwendbar,  wenu 


i 


Vi.rlesimft-   nO.      Ciipilcl    XXI  F.  803 

i^'loicli  i'üv  die  ExavticulatioiKMi  (»fi;  die  T.a])])Cus('liT)ittc  und  Oval;irscliiiiU(; 
practisclicr  sind. 

2.  Die  Lnp]icnsc  li  11  itte.  Man  nniclil:  aus  den  WeicLtlicilcii  einen 
oder  zwei  Lappen,  mit  welelien  man  die  Sägcfläclie  hedeekt.  bildet 
man  einen  Lappen,  dessen  Basis  die  llälfie  der  Cirenmfcrenz  des  Glie- 
des an  der  Ampntationsstelle  zu  l)etrag'en  ])flei!;t,  so  macht  man  an  der 
andern  Hälfte  g'ewölinlieh  einen  einzeitigen  oder  zweizeitigen  Cirkelsclinitt; 
es  ist  immerliin  zweckmässig'  auch  bei  den  La])])enselinitten  vor  l^ureli- 
säg'ung-  des  Knocliens  das  Periost  einen  lialben  Zoll  weit  zurückzuscliieben 
und  dem  entsprechend  einen  Zoll  oberhalb  der  Basis  des  Lappens  zu  diircli- 
sägen,  damit  der  Knochenstumpf  bei  Retraction  der  Muskel  niclit  zu 
sehr  geg-en  die  Innenfläche  des  über  ihn  gelegten  Lappens  andrängt.  — 

Am  liebsten  bilde  ich  die  Lappen  so,  dass  sie  bei  der  Lage  der 
Extremität  im  Bett  von  oben  über  die  Wunde  hängen,  ohne  irgend  eine 
Unterstützung  durch  Nähte  zu  brauchen.  Der  Lappen  soll  im  unteren 
Theil  aus  Haut,  im  oberen  aus  Haut  und  Muskeln  bestehen;  um  dies  zu 
erreichen  ist  es  am  practischsten,  zuerst  die  Form  des  Lappens  durch 
Hautschnitte  zu  bilden,  welche  bis  auf  die  unterliegenden  Fascien  gehen ; 
dann  zieht  man  den  Hautlappen  zurück,  und  an  den  neuen  Grenzen 
desselben  schneidet  man  in  gleicher  Form  die  Muskel  durch'  bis  auf 
den  Knochen,  dann  maclit  man  den  zweizeitigen  Cirkelschnitt  an  der 
hinteren  Seite  der  Extremität.  Die  Länge  des  Lappens  muss  etwa  ein 
Dritttheil  der  Circumferenz  des  Gliedes  an  der  Stelle,  wo  es  amputirt 
werden  soll,  betragen;  die  Breite  beträgt  die  Hälfte  der  Circumferenz, 
eher  etwas  mehr  als  weniger.  , 

Die  einseitigen  Lappen  bieten  den  Vortheil,  dass  man  bei  unregel- 
mässig geformten  Verletzungswunden,  unregelmässigen  Formen  von  Ge- 
schwürsrändern und  Demarcationslinien  bei  Gangrän ,  zuweilen  tiefer 
amputiren  kann,  als  wenn  man  den  Cirkelschnitt  machen  würde,  wo- 
durch nicht  nur  der  Stumpf  länger,  sondern  auch  die  Prognose  im  All- 
gemeinen günstiger  wird. 

Die  Bildung  von  zwei  Lappen  bietet  in  meinen  Augen  gar 
keinen  Vortheil  vor  dem  Cirkelschnitt.  Mag  man  zwei  seitliche  oder 
einen  oberen  und  einen  unteren  Lappen  bilden,  so  ist  die  Menge  der 
Weichtheile  und  die  Form  derselben  immer  derjenigen  beim  Cirkelschnitt 
analog.  —  Zuweilen  lässt  sich  infiltrirte  Haut  beim  Cirkelschnitt  weder 
gut  zurückziehen,  noch  zur  Manchette  formen  und  umschlagen;  dann 
schneidet  man  die  Haut  oben  oder  unten  in  der  Längsachse  des  Gliedes 
ein;  so  entstehen  aus  dem  Cirkelschnitt  dann  auch  wohl  Hautlappeu- 
schnitte,  welche  in  der  Tiefe  als  Trichterschnitt  endigen. 

Die  Lappen  zur  Bedeckung  des  Stumpfes  nur  aus  Haut  zu  bilden, 
ist  nicht  zweckmässig;  denn  lange  Lappen  der  Art  werden  an  der 
Spitze  leicht  gangränös  und  wenn  zwischen  Haut  und  Sägerand  des 
Knochens  keine  Muskeln  liegen,   so  macht  der  Kuochenrand  leicht  von 

51* 


gQ4  tJeber  Amputationen.  Exarticulationen  und  Resectionen. 

innen  nach  aussen  ulcerösen  Decubitus  und  perforirt  den  Lappen.  Das 
ist  freilich  an  sich  kein  grosses  Unglück,  denn  der  zu  Tage  tretende 
Knochenrand  wird  entweder  nekrotisch  und  stösst  sich  ab,  oder  er 
granulirt  gleich  und  benarbt;  in  beiden  Fällen  verwächst  hier  aber  die 
Xarbe  mit  dem  Knochen,  was  für  später  beim  Gebrauch  des  Stumpfes 
zu  lästigen  Ulcerationen  Anlass  geben  kann. 

Die  Methode,  die  Lappen  so  zu  bilden,  dass  man  ein  langes  spitzes 
Messer  einsticht,  als  wollte  man  das  Glied  in  der  Mitte  von  oben  nach 
unten  oder  von  der  Seite  her  durchstechen,  —  es  dann  über  den  Knochen 
durch-,  auf  der  andern  Seite  hervor-,  und  nach  unten  alhnählig  heraus- 
schiebt, hat  bei  Anfängern  in  der  Kegel  zur  Folge,  dass  ein  sehr  muskulöser 
und  zuweilen  zu  spitz  zungenförmig  zulaufender  Lappen  entsteht,  der 
mit  zu  wenig  Haut  bedeckt  ist,  und  sich  wenig  bequem  auf  die  Wunde 
legen  lässt.  —  Lässt  man  vor  der  Bildung  des  Lappens  durch  Einstich 
die  Haut  sehr  stark  in  die  Höhe  ziehen,  und  führt  das  Messer  geschickt 
etwas  flach  über  den  Knochen,  so  kann  man  auch  auf  diese  Weise  gute 
Lappen  bilden;  freilich  bedarf  es  dazu  mehr  Erfahrung  und  Uebung  als 
bei  der  früher  beschriebenen  Methode. 

Der  Lappenschnitt  ist  an  allen  Stellen  der  Extremitäten  anwendbar, 
jedoch  nicht  überall  practisch.  Mit  Hülfe  von  Drainageröhren  kann  man 
auch  Lappen  die  von  unten  hinaufgeschlagen  sind,  das  Secret  gut  ablei- 
ten. Heilen  die  Lappen  nach  der  Amputation  nicht  zum  grossen  Theil 
per  primam  an,  so  ist  die  Nachbehandlung  immer  etwas  mühsam,  weil 
man  verhüten  muss,  dass  sich  die  Lappen  durch  die  Narbencontraction 
einrollen. 

3.  Eine  dritte  Methode  der  Amputation  ist  endlich  noch  in  Ge- 
brauch, durch  welche  eine  Wundform  gebildet  wird,  welche  gewisser- 
maassen  zwischen  Cirkel-  und  Lappenschnitt  steht,  nämlich  der  Ovalär- 
schnitt.  Die  Schnittebene  des  Ovals  liegt  schräg  von  oben  nach  unten; 
der  obere  Theil  des  Ovals  wird  mehr  spitz,  der  untere  mehr  rund  ge- 
bildet. Nach  Bildung  des  Hautschnittes  muss  die  Haut  stark  zurückge- 
zogen, die  Weichtheile  und  der  Knochen  müssen  nach  den  gleichen 
Principien  wie  beim  Cirkelschnitt  in  der  Tiefe  durchtrennt  werden.  Für 
die  Amputationen  ist  der  Ovalärschnitt  fast  ganz  ausser  Gebrauch,  weil  er 
gar  keine  Y ortheile  vor  den  Cirkel-  und  Lappenschnitten  bietet.  Bei  der 
Exarticulation  der  Finger  und  Zehen  in  den  Metacarpal-  und  Metatarso- 
phalangalgelenken,  bei  Exarticulation  des  Hallux  mit  Os  metatarsi  I  und 
des  Daumens  mit  Os  metacarpi  I,  ist  der  Ovalärschnitt  sehr  practisch.  Bei 
Exarticulationen  in  der  Schulter  und  Hüfte  würde  ich  ihn  nur  anwenden, 
wenn  nicht  genügend  Haut  zur  Bildung  von  Lappen  vorhanden  ist. 


In  Betreff  der  Vorbereitungen,  Assistenz,   Wahl  der  Instru- 
mente und  Nachbehandlung  bei  Amputationen  habe  ich  noch  Einiges 


hinzuzufügen. 


Vorlcsiiiif.^  .')().     Capilcl    XXI  f.  f^05 

Während  der  ralicnt  narkotisirt  wird,  odci'  vorher  -  denn  manche 
Individuen  werden  scliwer  narkotisirt,  wenn  ihre  Aufiiierksamkeit  wäli- 
rend  der  Narkose  dnrcli  Manipulationen  an  dem  kranken  zu  operirendeu 
Körpertheil  unterhalten  wird  —  reinigt  man  die  Extrenutät  sorgfältig- 
mit  Seife  und  Wasser  zumal  in  der  Gegend,  wo  operirt  werden  soll. 
Dann  wird  der  Verl)and  zur  Erzeugung'  der  Blutleere  angeleg't,  und  mit 
Ausnahme  der  oberen  Umschnilrung  wieder  entfernt.  Nun  hält  ein 
Assistent  den  oberen  Theil  der  Extremität,  ein  anderer  den  unteren. 
Der  Operateur  steht  bei  Am})utationen  so,  dass  er  eventuell  die  Weich- 
theile  mit  seiner  linken  Hand  mit  liinaufschieben  kann,  und  das  zu  am- 
putireude  Glied  zur  Rechten  von  ihm  abfällt;  bei  Exarticulatiouen  soll  der 
Operateur  so  stehen,  dass  er  die  Bewegungen  des  zu  exarticulirenden  Glie- 
des auch  selbst  mit  seiner  linken  Hand  dirig'iren  kann. 

Zu  Amputationen  untj  Exarticulationen  an  den  Zehen  ninmit  man 
kleine  Messer  mit  einer  Klinge  von  l'/^ — ^  Zoll  Läng-e;  dieselben  dürfen 
vorn  nicht  stark  bauchig'  sein,  weil  man  sonst  nicht  gut  mit  der  Spitze 
ins  Gelenk  eindringen  kann.  Für  Exarticulationen  der  Hand  und  des 
Fusses  sowie  für  Amputationen  an  der  unteren  Hälfte  des  Vorderarms 
und  des  Unterschenkels  wählt  man  Messer  mit  einer  Klinge  von  6 — 7  Zoll, 
für  den  oberen  Theil  des  Vorderarms,  den  Oberarm,  oberen  Theil  des 
Unterschenkels  und  unteren  Theil  des  Oberschenkels  braucht  mau  Klin- 
gen von  6  —  8  — 10  Zoll  Länge;  für  die  hohe  Amputation  und  Exarticu- 
lation  des  Oberschenkels  solche  von  10 — 14  Zoll  Länge.  Wenn  Sie  für 
Ihre  Praxis  2  kleine  Messer  mit  Klingen  von  2  Zoll,  je  eines  mit  Klin- 
gen von  6,  10,  14  Zoll  haben,  so  wird  das  genügen.  Ich  liebe  es  nicht 
sehr,  die  Messer  bei  den  Amputationen  zu  wechseln,  und  habe  es  daher 
gern,  wenn  die  Schneide  der  Klingen  vorn  ein  Bischen  abgerundet  ist, 
damit  ich  die  Manchetten  beim  Beginn  mit  der  Spitze  des  Messers  ab- 
präpariren  kann ;  andere  Operateure  ziehen  es  vor,  zu  diesem  Act  kleine 
abgerundete  Messer  zu  nehmen,  wie  man  sie  zur  Unterbindung  braucht, 
dann  wieder  andere  Messer  zum  Muskelschnitt,  wieder  andere  zur 
Trennung  des  Periostes.  Zum  Zurückschieben  des  Periostes  brauche 
ich  ein  breites  Raspatorium ;  zuweilen  lässt  sich  das  Periost  auch 
ohne  Instrumente  mit  den  Nägeln  zurückschieben.  Ein  geschickter 
Assistent  wird  mit  beiden  Händen  die  Weichtheile  genügend  zurückziehen 
können,  damit  der  Operateur  Platz  gewinnt,  ohne  dass  die  Finger  des 
Assistenten  in  Gefahr  kommen,  zu  schneiden  und  zu  sägen.  Doch  kann 
man  sich  zum  Zurückziehen  der  Weichtheile  auch  grosser  Stücke  reiner 
Leinwand  bedienen  (Retractionscompressen).  Manche  Operateure  finden 
ein  Vergnügen  darin,  die  Amputationen  auch  ganz  dicker  Gliedmaassen 
mit  gewöhnlichen  möglichst  kleineu  Messerchen  höchst  elegant  und  schnell 
auszuführen,  und  so  die  Einfachheit  des  Instrumentenapparates  aufs 
Aeusserste  zu  treiben.     Alle   diese  Dinge  sind,   wenn   auch  nicht  ganz 


OQQ  Ueber  Amputationen,  Exarticiüationen  und  Resectionen. 

unAvesentlich,  sehr  von  Gewohnheit  und  Tradition  abhängig,  und  jeder 
mag-  darin  seinem  Greschmack  folgen. 

Die  Amputatioussägen  sind  gewöhnlich  Bogensägen,  der  Bogen 
darf  nicht  zu  hoch  und  nicht  zu  schwer  sein,  damit  die  Säge  nicht  zu 
sehr  bei  der  Bewegung  schwankt.  Der  Griff  muss  dem  Bogen  breit 
ansitzen  und  sicher  in  der  Hand  liegen.  Das  Blatt  sei  nicht  höher  als 
V^  Zoll,  und  die  Zähne  müssen  seitlich  etwas  auseinander  gebogen  sein, 
sonst  klemmt  sich  die  Säge  leicht  ein,  was  besonders  noch  dadurch  be- 
günstigt wird,  wenn  der  Assistent,  welcher  die  Extremität  unten  hält, 
dieselbe  hinauf,  anstatt  in  massigem  Grade  nach  unten  drückt.  Nach 
der  Durchsäguug  pflege  ich  die  scharfen  Sägeränder  mit  einer  Knocheu- 
zange  abzukneipeu  und  so  abzurunden. 

Ist  die  Amputation  vollendet,  so  werden  die  Gefässe  torquirt,  mit 
Nadeldruck  geschlossen,  unterbunden  oder  umstochen.  Alle  dazu  nöthi- 
gen  Instrumente  und  Seidenfäden  müssen  bereit  sein.  Zuerst  schliesst 
man  in  einer  der  erwähnten  Weisen  die  sichtbar  zu  machenden  Arterien- 
Öffnungen;  dann  lässt  man  die  Gummischuur  etwas  lösen,  doch  so,  dass 
sie  der  Assistent  sofort  wieder  schliessen  kann,  wenn  es  stark  blutet. 
Was  man  nach  Losung  der  elastischen  Binde  oder  des  Tourniquets, 
welches  man  hier  ebenso  gut  anwenden  kann,  von  Arterien  bluten  sieht, 
wird  mit  Acupressur  oder  Unterbindung  geschlossen.  Venenblutungen 
kommen  bei  hohen  Oberschenkel-  und  Oberarm- Amputationen  vor,  da 
die  Klappen  hier  selten  sufficient  sind.  Man  unterbindet  sie,  oder  schliesst 
sie  durch  Nadeldruck.  Die  Torsion  von  Venen  halte  ich  für  gefährlich. 
Sehr  unangenehm  sind  arterielle  Blutungen  aus  der  Markhöhle  der 
Knochen ;  sie  sind  selten  stark ;  doch  sowohl  ein  Hineingreifen  ins  Mark 
mit  Pincetten,  sowie  ein  festes  Eindrücken  von  Schwämmen  ist  bedenk- 
lich; die  AnwenduDg  von  Stypticis,  zumal  von  Liq.  Ferri,  ist  ganz  zu 
verwerfen.  Ich  rathe  die  Blutung  zunächst  nicht  weiter  zu  beachten, 
gewöhnlich  steht  sie  von  selbst,  bis  alle  übrigen  Arterien  unterbunden 
sind;  sollte  dies  nicht  der  Fall  sein,  so  lasse  man  den  Hauptarterienstamm 
der  Extremität  eine  Zeit  lang  isolirt  mit  dem  Finger  comprimiren,  so  Avird 
die  Blutung  nach  und  nach  stehen.  —  Zur  Reinigung  der  Wunde  während 
des  Unterbindeus  brauche  man  nur  ganz  neue  weiche  SchAvämme. 

Man  warte  bis  die  Blutung  ganz  vollkommen  steht;  es  ist  ganz 
zweckmässig,  die  frische  Wunde  eine  Zeit  laug  frei  der  Luft  zu  expo- 
niren.  Die  Cirkelschnittwunden  und  die  Wunden  der  Ovalärschnitte 
vereinigt  man  in  der  Regel  in  verticaler  Richtung.  Ich  lege  immer  nur 
2—4  Suturen  in  dem  oberen  Theil  der  Wunde  an,  lasse  die  Wunde 
unten  offen.  Lappen  fixire  ich  durch  2—4  Suturen  in  der  Stellung,  in 
welcher  sie  haften  sollen,  und  lege  zuvor  ein  in  Gljcerin  getauchtes 
Drainagerohr  in  die  Wunde  quer  vor  dem  Knochen,  so  dass  die  beiden 
Enden  des  Rohres  aus  den  Wundwinkeln  herausstehen.     Kein  Verband. 

Der  Stumpf  wird  im  Bett  so  gelagert,  dass  das  Wundsecret  in  eine 


V(M-lcsmiK   ')0.      Capilrl    XXII.  807 

untergestellte  Scliaale  tiiesst,  ohne  das  Bett  zu  l)cuetzcn.  Nach  zwei 
Tagen  werden  die  Acupressurnadcln  entfernt;  nacli  6 — 8  Tagen  kann 
man  auch  das  Drainagerohr  entfernen.  In  völlig  normal  verlaufenden 
Fällen  darf  der  Stumpf  nie  schwellen  und  der  Patient  nie  fiebern.  Nach 
10 — 14  Tagen  kann  man  die  noch  nicht  gelieiltcn  Theile  des  Stumpfes 
mit  desinficirter  Charpie  bedecken  und  den  Stumpf  mit  einem  Tuchver- 
band umgeben,  damit  der  Patient  nicht  mehr  den  Drahtbügel  über  dem 
operirten  Bein  braucht,  und  sich  etwas  freier  im  Bett  rühren  kann. 

Sollte  der  Stumpf  schwellen,  oder  sollte,  ohne  dass  dies  eintritt, 
der  Patient  heftig  fiebern,  so  müssen  die  Verklebungen  der  Wunde  mit 
dem  Finger  gelöst  und  Wundhöhlen,  in  welchen  sich  Eiter  angesammelt 
und  zersetzt  hatte,  frei  gelegt  werden.  —  Bei  starken  neuralgischen 
Schmerzen  und  häufigen  Zuckungen  im  Stumpf  müssen  subjectivc 
Injectionen  von  Morphium  gemacht  werden. 

Treten  arterielle  Nachblutungen  in  den  ersten  24  Stunden  auf, 
so  muss  die  Arterie  aufgesucht  und  geschlossen  werden.  Tritt  eine  solche 
Blutung  später  in  der  zweiten  oder  dritten  Woche  bei  granulirender  Wunde 
auf,  dann  ist  es  auch  immer  am  zweckmässigsten,  zunächst  zu  versuclien, 
das  blutende  Arterienende  zu  finden  und  fest  zu  schliessen.  Gelingt  dies 
nicht,  und  kehrt  nach  längerer  Zeit  fortgesetzter  Digitalcompressiou  die 
Blutung  wieder,  dann  muss  der  Hauptarterienstamm  des  Stumpfes  unter- 
bunden werden. 

Viele  Chirurgen  ziehen  es  vor,  nach  der  Amputation  sofort  die  Wunde 
exact  zu  schliessen  und  einen  Verband  anzulegen,  welcher  die  Weich- 
theile  fest  an  den  Knochenstumpf  zusammenhält.  Andere  Chirurgen  er- 
füllen die  ganze  Wuudhöhle  mit  Charpie,  die  eventuell  in  Styptica  ge- 
taucht wird,  und  vereinigen  darüber  die  Weichtheile  mit  einem  Verband, 
der  erst  nach  48  Stunden  gelöst  wird.  —  Ich  habe  von  beiden  Methoden 
keine  guten  Erfolge  gesehen;  weder  den  Versuch,  die  Heilung  per  pri- 
mam  intentionem  zu  forciren,  noch  die  Bestrebungen,  gleich  von  vorn- 
herein eine  intensive  Eiterung  zu  erzielen,  sind  zweckmässig.  Bei  der 
offnen  Wundbehandlung  kann  vollständige  Heilung  per  primani  eintreten; 
erfolgt  an  den  meisten  Stellen  der  Wunde  Eiterung,  so  kann  sich  der 
Eiter  leicht  entleeren,  wenn  nicht  früli  zu  starke  Verklebungen  eingetreten 
sind;   der  Chirurg  muss  es  lernen  dies  durch  Beobachtung  zu  ermitteln. 

Nach  Lister  wird  zwar  die  Wunde  völlig  vereinigt,  doch  werden 
immer  Drainageröhren  eingelegt  und  dann  ein  leicht  comprimirender 
Verband  applicirt,  der  aber  anfangs  so  oft  erneuert  werden  muss,  als 
er  von  Blut  und  Serum  durchtränkt  ist,  eine  für  den  Kranken  wenig- 
angenehme  Procedur,  die  man  bei  offner  Wundbehandlung  vermeidet 
und  die  auch  bei  häufiger  Erneuerung  des  kostspieligen  Verbandmaterials 
(carbolisirte  Binden,  wasserdichte  Seide,  carbolisirte  Watte)  für  die  Armen- 
und  Spitalpraxis  schwer  durchzuführen  ist.  Sonst  finde  ich  in  der 
Lister' sehen    Behandlung   der    Amputationsstümpfe    nichts    Besonderes. 


Qr\Q  Ueber  Amputationen.  Exarticulatiüiien  und  Resectionen. 

Die    Beliandlung-    der    Amputationsstümpfe    im    Wasserbade    stösst    auf 
so  viel    teclmisclie  Schwierigkeiten,    dass    sie  bald  wieder    aufgegeben 

wurde.  —  ' ' 

Schon  beim  einzeitigen  Cirkelschnitt  haben  wir  der  so  sehr  uner- 
wünschten conischen  Amputationsstttmpfe  gedacht.  Sie  können 
durch  unzweckmässige  Schnittführung  durch  die  Weichtheile,  durch 
Mangel  an  Weichtheilen  zur  Bedeckung  des  Stumpfes  bedingt  sein.  Doch 
ist  dies  nicht  der  einzige  Grund  für  ihre  Entstehung,  sondern  es  tritt 
zuweilen  bei  marantischen  Individuen  eine  solche  Atrophie  der  Weich- 
theile des  Stumpfes  ein,  dass  sie  immer  dünner  und  kürzer  werden  und 
immer  mehr  am  Knochen  zurücksinken;  letzteres  ist  zumal  am  unteren 
Ende  des  Femur  der  Fall,  wo  sich  wenig  Muskeln  inseriren  und  keine 
Muskeln  entspringen.  Endlich  haben  Entzündungen  und  Eiterungen  des  _ 
Stumpfes  auch  bei  vollkommen  zureichenden  Weichtheilen  den  Erfolg,  ^ 
dass  die  intermuskuläre  und  parostale  entzündliche  Infiltration  zu  einem 
Schrumpfungsprocess  führt,  welcher  die  Weichtheile  so  stark  contrahirt 
und  am  Knochen  fixirt,  dass  sie  durch  die  narbige  Zusammenziehung 
der  Wundgranulationen  nicht  überwunden  werden  kann.  Da  solche 
Entzündungsprocesse  nicht  immer  verhindert  werden  können,  so  kann 
man  keineswegs  immer  den  Operateur  für  die  Entstehung  conischer 
Stümpfe  verantwortlich  machen.  Man  sollte  meinen,  diese  Fatalität  sei 
leicht  zu  umgehen,  wenn  man  nur  recht  reichlich  Weichtheile  erhält, 
um  den  Stumpf  zu  bedecken.  Indess  ein  Uebermaass  von  Weichtheilen 
an  einem  frischen  Stumpf  hat  auch  erhebliche  Nachtheile.  Hat  man 
sehr  lange  Manchetten  oder  Lappen  gemacht,  welche  nur  aus  Haut  be- 
stehen, so  werden  dieselben  an  ihren  Enden  gangränös,  nicht  der  da- 
durch entstehende  Verlust  an  Weichtheilen  ist  dabei  das  fatalste,  sondern 
der  Process  der  Fäulniss  an  der  frischen  Wunde;  das  ist  also  zu  ver- 
meiden. Hat  man  nun  übermässig  lange  Muskeltrichter  oder  Muskel- 
lappen gebildet,  dann  tritt  wieder  ein  anderer  Uebelstand  ein:  nämlich 
dann  sind  diese  Weichtheile  so  schwer,  dass  sie  stark  von  dem  Stumpf 
lierabhängen  und  durch  ihr  Gewicht  an  die  Knochenkanten  angedrückt 
werden.  Man  kann  in  solchen  Fällen  die  Wundverhältnisse  dadurch 
bessern,  dass  man  eine  Schiene  unter  den  Stumpf  anlegt  und  damit  die 
herabhängenden  Weichtheile  stützt. 

Sieht  man,  dass  sich  ein  conischer  Stumpf  ausbildet,  so  kann  man 
versuchen,  durch  einen  Heftpflasterverbaud  und  Gewichtszug  wie  bei 
Coxitis  die  Haut  allmählig  vorzuziehen,  oder  wenigstens  die  concentrische 
Zusammenziehung  der  Granulationsflläche  unterstützen,  indem  man  sie 
von  dem  Gegenzug  entlastet.  Erträgt  der  Patient  dies  ohne  Schmerzen 
am  Rumpf  und  ohne  Fieber  zu  bekommen,  so  kann  es  nutzen;  treten 
letztere  Erscheinungen  ein,  so  rauss  man  von  dieser  Methode  abstrahiren. 
Bildet  sich  in  Folge  vorausgegangener  Osteomyelitis  ausgedehnte  Nekrose 
des  Stumpfes  aus,   dann  wird  der  Knochenstumpf  dadurch  wohl   etwas 


Vorlesung  50.     Capitel   XXl[.  3Qf) 

kürzer,  doch  die  Osteopliyten,  welclie  sich  in  dem  Knochen  gebildet 
hatten,  verhindern  das  Zusannncnsinken  desselben  und  atropliiren  sehr 
lang-sam  erst  nach  Jahren;  icli  kann  es  nach  meinen  Erfahrungen  nicht 
bestätigen,  dass  der  conische  Stumpf  mit  Abstossung  des  Sequesters  be- 
beseitigt ist.  Meist  ist  ein  operativer  Eingriff  nöthig.  Ich  spalte  den 
Granulationskegel  nach  oben  bis  etwas  in  die  Haut  hinein,  in  der  Tiefe 
bis  auf  den  Knochen ,  dann  schiebe  icli  das  liaspatorium  am  Knochen 
entlang,  schiebe  Periost  mit  Osteopliyten  vom  Knochen  ab  so  weit  hinein 
in  die  Weichtheile,  dass  diese  nun  den  in  der  Tiefe  abzusägenden 
Knochenstumpf  bequem  bedecken.  Die  Absäguug  mache  ich  mit  einer 
Kettensäge,  deren  Ende  ich  nach  oben  führe,  deren  Scldinge  den  Knochen 
von  unten  umgiebt.  An  doppelröhrigen  Gliedern  wird  diese  subperiostale 
Resection  oder  Amputation  der  beiden  Knochen  in  der  beschriebenen 
Weise  ausgeführt.  Man  muss  Sorge  tragen,  dass  das  Secret  aus  dem 
Periostcanal,  aus  welchem  das  resecirte  Knochenstück  entfernt  wurde, 
frei  abfliesst;  es  hat  grosse  Neigung,  sich  vorn  per  priinam  inteutionem 
zu  schliessen;  in  der  Tiefe  kann  sich  dann  Eiter  ansammeln,  zersetzen 
und  zu  jauchiger  Osteomyelitis  Veranlassung  werden.  Ich  hatte  das 
Unglück,  einen  solchen  Fall  im  Kriegslazaretli  in  Mannheim  bei  einem 
Soldaten  zu  erleben,  der  eine  gefährliche  Knieverletzung  und  Amputation 
glücklich  überstanden  hatte  und  in  erwähnter  Weise  schliesslich  noch 
zu  meinem  grossen  Leidwesen  zu  Grunde  ging,  da  mir  diese  Gefahr  der 
subperiostalen  Eesection  an  Amputationsstümpfen  damals  nicht  bekannt 
war,  weil  alle  früheren  derartig  von  mir  operirten  Fälle  sehr  leicht  und 
glücklich  verlaufen  waren. 

Die  Beobachtung  der  geheilten  Amputationsstümpfe  hat  ergeben, 
dass  sich  dieselben  im  Laufe  der  Zeit  noch  erheblich  ändern.  Manche 
Stümpfe  magern  enorm  ab;  die  stark  muskulären  Manchetten  und  Lappen 
atrophiren  in  Folge  von  Inactivität  so,  dass  nur  Haut  übrig  bleibt.  Die 
meisten  Stümpfe  werden  im  Lauf  der  Jahre  conisch,  wenn  sie  auch  mit 
Haut  überkleidet  sind;  dies  tritt  um  so  sicherer  ein,  je  elender  und 
marantischer  die  Individuen  sonst  werden,  zumal  solche,  die  man  wegen 
Gelenkcaries  amputirt  hat  und  welche  nachträglich  Caries  an  andern 
Knochen,  auch  wohl  am  Stumpf,  Lungentuberkulose  oder  Speckkrankheit 
bekommen.  Die  Knochen  solcher  Stümpfe  atrophiren,  ihre  Corticalschicht 
wird  dünn.  Hiervon  machen  fast  nur  die  kurzen  Oberschenkelstümpfe 
eine  Ausnahme.  Werden  dieselben  zum  Gehen  viel  gebraucht,  so  bilden 
sich  die  Muskeln,  welche  vom  Becken  zum  Oberschenkel  gehen,  stark  aus, 
auch  Haut  und  Panniculus  nehmen  an  dieser  guten  Ernährung  Theil  und  die 
Stümpfe  werden  kräftiger  als  sie  unmittelbar  nach  der  Operation  waren. 
Aus  dem  Umstände,  dass  die  meisten  alten  Amputationsstümpfe  doch 
nur  von  Haut  bedeckt  sind  und  die  Muskeln  verschwinden,  hat  man  ent- 
nehmen wollen,   es  sei  ganz  unnöthig,  Muskeln  für  die  Bedeckung  des 


\ 


Q,{Q  Ut'ber  Aaipiilationen,  Exarticulationen  und  Resecriuaen. 

Stumpfes  zu  verwenden.     Dass  dies  niclit  zweckmässig  für  die  Heilung 
ist,  haben  wir  schon  früher  erörtert. 

Von  den  Neurom en  der  Ampu tat ions stumpfe  war  schon  früher 
die  Eede  (pag.  120). 

Was  die  Prognose  für  die  Amputationen  betrifft,  so  lässt  sich 
darüber  so  im  Allgemeinen  nur  sagen,  dass  sie  um  so  gefährlicher  sind, 
um  so  näher  sie  dem  Eumpf  zu  gemacht  werden.  Dann  hängt  aber 
sehr  viel  davon  ab,  in  welchem  Allgemeinzustaud  sich  der  Patient  zur 
Zeit  der  Operation  betindet  Amputationen  wegen  Verletzungen  haben 
immer  weniger  günstige  Ausgänge,  als  Amputationen  wegen  chronischer 
Krankheiten;  doch  es  concurriren  dabei  in  jedem  einzelnen  Fall  so 
viele  Umstände,  dass  wir  nicht  die  Zeit  hier  mit  Besprechung  von  Dingen 
verlieren  wollen,  die  in  ihrer  Allgemeinheit  doch  nur  sehr  bedingte 
Richtigkeit  haben. 

Im  Ganzen  wenden  die  Chirurgen  dem  späteren  Geschick  der  Am- 
putation und  der  Prothese  noch  viel  zu  wenig  Aufmerksamkeit  zu.  Sie 
werden  als  practische  Aerzte  viel  Klagen  von  diesen  Leuten  hören. 
Schmerzen  in  den  Stümpfen  bei  jedem  Witterungswechsel,  Excoriation 
der  Narben,  Druck  der  Stelzfüsse  oder  künstlichen  Beine  bald  lüer,  bald 
da,  ewig  neue  Reparaturen  an  diesen  Apparaten  sind  die  häufigsten 
Klagen.  Manche  leiden  auch  sehr  unter  der  zuweilen  Jahre  lang  dau- 
ernden Empfindung,  das  kranke  Bein  noch  ganz  zu  haben;  sie  geben 
z.  B,  nach  Amputation  des  Oberschenkels  mit  Bestimmtheit  an:  „jetzt 
sticht  es  im  kleinen  Zehen,  jetzt  reisst  es  im  grossen  Zehen!  jetzt 
liegt  der  Fuss  schlecht  u.  s.  w."  In  den  ersten  Tagen  und  Wochen  nach 
der  Operation  sind  diese  Empfindungen  die  Regel,  und  sind  so  deutlich 
und  stark,  dass  man  den  Patienten  durch  Bedecken  des  Stumpfes  sehr 
leicht  Wochen  lang  über  den  Verlust  seines  Beines  täuschen  könnte; 
doch  sind  mir  Amputirte  vorgekommen,  welche  noch  nach  Jahren  zuweilen 
solche  Empfindungen  hatten. 

Was  den  Ersatz  der  Extremitäten  betrifft,  so  entscheidet  hier 
sehr  viel,  welchem  Staude  der  Amputirte  angehört,  und  welche  pecu- 
niären  Mittel  er  niclit  nur  für  die  Anschaffung,  sondern  auch  für  die  In- 
standhaltung und  Erneuerung  seiner  künstlichen  Extremitäten  verwenden 
kann;  denn  alle  diese  mechanischen  Apparate  nutzen  sich  ab,  zerbrechen 
zuweilen,  und  nicht  immer  ist  ein  geschickter  Instrumentenmacher  und 
das  nöthige  Geld  zur  Verfügung  um  die  Schäden  auszubessern. 

Künstliche  Arme  und  gut  imitirte  Hände  sind  ein  Gegenstand  der 
Kosmetik  und  des  Luxus.  Active  Bewegungen  der  Finger  kann  man 
ja  nicht  erzielen,  sondern  etwaige  Mechanismen  zum  Greifen  können  nur 
mit  Hülfe  von  Federn  hergestellt  werden,  w^elche  mit  der  anderen  Hand 
geöffnet  werden.  Ich  will  hier  nicht  weiter  auf  die  Details  eingehen. 
Für  Arbeiter  lässt  man  eine  lederne  Hülse  machen,  in  Avelclie  der  Vorder- 
arm- oder  Oberarmstumpf  hineingeschoben  und  dann  durch  Riemen  und 


Vorlesung  50.     CapituI  XXII.  '  811 

Gärten  darin  fixirt  wird.  An  dem  unteren  Ende  der  Hülse  ist  ein  festeres 
Holzstiick,  in  welches  je  nach  der  Beschäftig-ung-  des  Ampiitirten  Klam- 
mern, Haken,  Ringe  eing-eschrobcn  werden.  Sonntags  schraubt  er  sich 
eine  von  Holz  geschnitzte  Hand  an.  Es  ist  unglaublich,  was  intelligente 
Menschen  mit  solchen  einfachen  Apparaten  leisten  können.  Ich  besitze 
einen  langen  kalligraphischen  Brief  von  einem  Mann,  welchem  ich  beide 
Hände  amputiren  musste;  er  war  Ingenieur  und  hatte  das  Ungliick  bei 
einem  Wasserbau  mit  den  beiden  Händen  in  ein  rasch  bewegtes  Wasser- 
miihlrad  hineingerissen  zu  werden,  die  Hände  waren  halb  ausgerissen, 
halb  zermalmt!  Später  erwarb  er  sich  ohne  Hände  seinen  Lebensunter- 
halt als  Schreiber!    welche  Ironie  des  Geschicks! 

Was  die  unteren  Extremitäten  betrifft,  so  giebt  es  nur  wenige  Stümpfe, 
auf  welchen  der  Amputirte  so  auftreten  kann,  dass  er  die  ganze  Körper- 
last auf  denselben  ruhen  lassen  kann.  Es  sind  das  die  Stümpfe  nach 
Amputationen  und  Exarticulationen  im  Fuss  und  im  Fussgelenk ;  in  man- 
chen Fällen  vermag  auch  ein  Stumpf  nach  Exarticulation  im  Knie 
die  Körperlast  zu  tragen.  In  allen  anderen  Fällen  ruhen  die  Amputirten 
nicht  auf  den  Amputationsstümpfen,  sondern  auf  den  Condylen  der 
Tibia  und  auf  dem  Tuber  ischii,  welche  Knochentheile  von  unten  her 
durch  einen  gut  gepolsterten  festen  Ring  gestützt  werden,  der  das  obere 
Ende  der  Hülse  des  künstlichen  Fusses  bildet,  in  welche  hinein  der 
Stumpf  gesteckt  wird.  Nach  Amputationen  am  Unterschenkel  ist  es  gut, 
wenn  die  Körperlast  auf  beide  genannten  Theile  gleichmässig  vertheilt 
wird.  Ein  anderer  Modus  ist  der,  dass  der  am  Unterschenkel  Amputirte 
mit  gebeugtem  Knie  auf  einem  Stelz  ruht,  w^obei  dann  von  einer  Bewe- 
gung im  Kniegelenk  ganz  abstrahirt  wird.  Auf  die  Construction  der 
künstlichen  Gliedmaassen  und  Stelzfüsse  gehe  ich  hier  nicht  weiter  ein, 
sondern  will  nur  erwähnen,  dass  zum  Gebrauch  künstlicher  Beine  immer 
ein  gewisser  Grad  von  Geschicklichkeit  und  Intelligenz  gehört,  sowie 
die  pecuniären  Mittel,  die  bei  jeder  Mechanik  bald  mehr  bald  weniger 
häufig  vorkommenden  Reparaturen  gleich  wieder  machen  zu  lassen. 
Es  ist  daher  für  die  arbeitende  Klasse  von  Menschen,  mit  denen  wir 
es  im  Spital  zu  thun  haben,  weit  practischer,  einen  festen  Stelz  zu  ha- 
ben; ja  viele  Amputirte  aus  besseren  vermöglicheren  Ständen,  welche  sich 
Jahre  lang  mit  dem  Gebrauch  künstlicher  Extremitäten  gequält  haben, 
kommen  endlich  doch  zum  Stelzfuss.  Die  Gangart  mit  einem  künstlichen 
Fuss  und  einem  Stelzfuss  ist  so  verschieden,  dass  Jemand  der  sich  ge- 
wöhnt hat,  Jahre  lang  mit  einem  Stelz  zu  gehen,  es  nur  mit  sehr  grosser 
Ausdauer  und  bei  vollständigem  technischem  Verständniss  der  künstlichen 
Extremität  daliin  bringt,  dieselbe  zu  gebrauchen. 


So  einfach  uns  jetzt  die  Operationen  der  Amputationen  und  Exar- 
ticulationen erscheinen,  so  ist  doch  nicht  zu  verkennen,  dass  von  Hippo- 
krates  an  bis  auf  die   neueste  Zeit  noch  fortwährend  Fortschritte  ge- 


gJ2  reber  Amputationen,  Exartioulationen  und  Resectionen. 

macht  werden.  Dass  überhaupt  grössere  Theile  der  Extremitäten  ohne 
Gefahr  fürs  Leben  verloren  gehen  können,  erfahr  man  zunächst  durch 
die  spontane  Abstossung-  gangränös  gewordener  Glieder;  die  ersten  Am- 
putationen machte  man  um  solche  brandige  Glieder  abzulösen,  und  zwar 
durchsägte  man  den  Knochen  im  Brandigen  oder  in  der  Demarcations- 
liuie.  Erst  sehr  langsam  wurden  die  Indicationen  zu  den  Amputationen 
vermehrt;  was  die  Entwicklung  dieser  Operation  besonders  hemmte,  war  ■ 
der  Umstand,  dass  man  der  Blutung  nicht  sicher  Herr  zu  werden  wusste. 
Mit  Stypticis  und  Glüheisen  reichte  man  wohl  am  Unterschenkel  und 
Vorderarm  aus,  doch  nicht  weiter.  So  war  denn  die  Entwicklung  der 
Amputationen  von  den  Fortschritten  der  Methoden  abhängig,  welche  man 
für  die  Blutstillung  erfand;  erst  nach  allgemeiner  Einführung  der  Ligatur 
und  Erfindung  des  Tourniquets  konnte  man  sich  an  grössere  Amputa- 
tionen wagen.  Die  Methode  durch  die  Ligatur,  durch  Abschnttrung  Glie- 
der zu  amputiren,  wurde  zuerst  von  Guy  de  Chauliac  ausgeführt, 
später  von  Ploucquet  weiter  ausgebildet.  In  jüngster  Zeit  hat  man 
diese  Amputationsmethoden  wieder  versucht  und  dazu  das  Ecrasement 
(Chassaignac),  die  Galvanokaustik  (v.  Bruns)  und  die  elastische  Li- 
gatur (Diettel)  verwandt;  doch  hat  dies  im  Ganzen  wenig  Anklang  und 
wenig  Verbreitung  gefunden.  —  Später  concentrirte  sich  die  Aufmerk- 
samkeit der  Chirurgen  zumal  darauf,  wie  man  am  schnellsten  amputiren 
könne,  um  den  geringsten  Schmerz  zu  machen  und  Avie  man  die  Weich- 
theile  schneiden  müsse,  um  conische  Stümpfe  zu  vermeiden.  Die  Schnellig- 
keit bei  den  Amputationen  und  Exarticulationen  kommt  jetzt,  wo  wir 
den  Schmerz  durch  die  Narkose,  den  Blutverlust  durch  die  künstliche 
Blutleere  vermindern  können,  kaum  noch  in  Betracht.  Es  concentrirt 
sich  die  ganze  Aufmerksamkeit  auf  die  Bildung  des  Stumpfes,  seit  An- 
fang dieses  Jahrhunderts  auch  auf  die  Herstellung  günstiger  Bedingung 
zur  Erreichung  von  Heilung  per  primam  intentionem,  seit  einigen  De- 
cennien  besonders  auf  die  Vermeidung  jeder  Infection  von  aussen  und 
durch  die  Wundsecrete,  auf  die  Verhütung  der  Pyohämie,  des  gefähr- 
lichsten Feindes  der  Amputirten.  Letztere  Verhältnisse  nehmen  jetzt  un- 
sere Aufmerksamkeit  am  meisten  in  Anspruch  und  die  neuere  Technik 
der  Operation  berücksichtigt  wesentlich  diese  wichtigen  Punkte. 

Die  erste  Methode,  welche  zu  Celsus  Zeiten  geübt  wurde,  war  ein 
Cirkelschnitt  mit  Zurückziehung  der  Haut.  Dies  wurde  nach  und  nach 
immer  sorgfältiger  ausgebildet.  Als  Erfinder  des  einseitigen  Lappen- 
schnittes wird  gewöhnlich  Lowdham  (1679)  angesehen,  eine  Methode, 
die  dann  von  Verduin  (1696)  vervollkommt  wurde.  Ravatou  und 
Vermale  sollen  zuerst  zwei  Lappen  gebildet  haben.  Der  Ovalärschnitt 
ist  von  Scoutetten  erfunden.  Sehr  exacte  Angaben  über  die  Geschichte 
der  Amputationen  finden  Sie  theils  in  der  Geschichte  der  Operation  von 
Sprengel,  theils  in  der  vortrefflichen  Operationslehre  von  v.  Linhart, 
die  ich  Hmen  nicht  genug  empfehlen  kann. 


Vorlesviiio-  50.     Capitcl   XXII.  818 

Es  erübrigt,   nocli  einige  allgemeine  Beincrkuiigeii  über  die 

Resectioiieii 

zu  machen.  Wie  schon  früher  (pag.  526)  bemerkt  ist,  nennt  man  die 
Aussägimg-en ,  AusmeiKSselungen  und  Auskratzungen  von  kranken  oder 
verletzten  Knochenstücken  aus  den  Diaphysen  oder  dem  Körper  der 
Knochen  „Resectiouen  in  der  Conti nui tat".  Die  neuesten  Opera- 
tionen der  Art  sind  schon  bei  Besprecliung  der  complicirten  Fracturen 
(pag-.  237),  den  Nekrosen  (pag.  544),  der  Caries  (pag-.  52G)  erwähnt;  ebenso 
die  sogenannten  Osteotomien  behufs  orthopädischer  Zwecke  (pag.  245 
und  551).  Die  Technik  dieser  Operationen  werden  Sie  so  oft  in  der  Klinik 
sehen,  dass  ich  hier  nicht  darauf  eingehen  will,  sie  ist  meist  sehr  einfach. 
Die  Indicationen  ergeben  sich  aus  dem  früher  Gesagten. 

Auch  von  den  „Ilesectionen  der  Gelenke"  ist  schon  früher 
die  Rede  gewesen;  ich  habe  Ihnen  schon  gesagt,  dass  diese  Opera- 
tionen, welche  in  der  Civilpraxis  zumal  bei  Caries  in  Frage  kommen, 
fast  bei  jedem  Gelenk  verschiedene  Indicationen,  verschiedene  Prognose, 
verschiedene  Enderfolge  haben.  Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  Ge- 
lenkresectionen  bei  Schusswunden;  jedes  Gelenk  hat  da  seine  eigene  Re- 
sections-Geschichte.  Die  Resectionen,  zumal  die  totalen  Gelenkresectionen 
sind  viel  jüngere  Operationen  als  die  Amputationen.  Die  erste  Excision 
eines  cariösen  Humeruskopfes  wurde  zuerst  von  White  ITdS  gemacht, 
die  Resection  des  Ellenbogengelenks  von  Moreau  1782,  die  Resec- 
tion  des  Femurkopfes  von  White  1769,  des  Kniegelenks  1762  von 
Park.  Doch  fanden  diese  Operationen  anfangs  wenig  Beifall;  man 
erklärte  sie  für  zu  schwierig  und  langdauernd  in  der  Ausführung,  da- 
her zu  schmerzhaft,  auch  versprach  man  sich  wenig  von  den  End- 
erfolgen. Erst  seit  etwa  30  Jahren  kann  man  die  Gelenkresectionen  als 
allgemein  von  den  Chirurgen  acceptirte  Operationen  bezeichnen,  und  die 
Ausbildung  ihrer  Technik  wird  immer  noch  vollkommener.  Anfangs  hatte 
man  nur  im  Sinn,  die  kranken  Knochentheile  ohne  Verlust  der  Extre- 
mität zu  entfernen,  damit  der  Kraukheitsprocess  zur  Ausheilung  komme. 
Später  suchte  man  es  zu  erreichen,  dass  die  Function  der  nach  den  Re" 
sectionen  entstehenden  Pseudogelenke  immer  vollkommner  wurde,  und 
richtete  darnach  Schnittführung,  Methoden  der  Operation  und  Nachbe- 
handlung ein;  ja  man  ging  so  weit  geheilte  steife  Gelenke  auszuschneiden, 
um  bewegliche  Pseudogelenke  dafür  einzutauschen  (pag.  615).  Vielleicht 
hat  man  sich  eine  Zeit  lang  zu  hohe  Vorstellungen  gemacht  von  dem,  was 
durch  diese  Operationen  erreichbar  ist,  und  hat  die  Indicationen  dazu 
etwas  zu  weit  gestellt;  doch  ist  jedenfalls  Ausserordentliches  erreicht, 
und  bei  der  concentrirten  Aufmerksamkeit,  welche  gerade  jetzt  vielen 
dieser  Operationen  zugew^andt  ward,  ist  zu  erwarten,  dass  sich  die  Indi- 
cationen, die  Technik  dieser  Operationen,  die  Prognose  und  Nachbehand- 
lung immer  sicherer  feststellen  lassen  wird. 


g;[4  Ueber  Amputationen,  Exarticnlationen  und  Resectionen. 

Die  Schnitte  bei  den  Resectionen  müssen  so  angelegt  werden,  dass 
keine  grösseren  Gefässe  und  Nerven  und  möglichst  wenig  Muskeln  ver- 
letzt werden,  und  doch  genug  Eaum  geschaifen  wird,  um  die  Gelenk- 
enden frei  zu  legen  und  abzusägen.  Als  man  diese  Operationen  zu 
machen  anfing,  erschienen  sie  so  schwierig,  dass  man  die  Gelenke  sehr 
weit  mit  grossen  tiefen  Lappenschnitten  freilegen  zu  müssen  glaubte, 
um  dann  die  Gelenkbänder  und  Muskelansätze  bequem  zu  durchschnei- 
den, und  die  Gelenkenden  behufs  der  Durchsägung  sehr  weit  frei  zu 
legen.  Später  als  man  mehr  und  mehr  Werth  darauf  zu  legen  begann, 
dass  die  resecirten  Gelenke  möglichst  brauchbar  wurden,  operirte  man 
immer  schonender;  man  vermied  es  die  Sehnen  quer  zu  durchschneiden, 
und  die  Hautwunde  grösser  als  nöthig  zu  machen.  Endlich  conservirte 
man  auch  das  Periost  der  Gelenkenden  möglichst  vollständig,  liess  die 
Muskelansätze  und  Vorsprttnge  mit  dem  Periost  in  Verbindung,  indem 
man,  ohne  viel  zu  schneiden,  die  Knochenenden  mit  einem  Raspatorium 
aus  dem  Periost  auslöste,  und  auf  diese  Weise  auch  mit  möglichst  ge- 
ringer Gefäss  Verletzung,  und  bei  chronisch -entzündlichen  Processen  in 
verdicktem  Gewebe  operirte,  wonach  viel  weniger  heftige  entzündliche 
und  febrile  Reactionen  folgen,  als  nach  Operationen  in  ganz  gesunden 
Theilen.  Von  Allen  ist  es  B.  v.  Langenbeck,  welcher  unermüdlich 
die  Indicationen  zu  den  Gelenkresectionen  ausbildete  und  fortwährend 
die  Technik  dieser  Operationen  noch  vervollkomrat.  Er  führte  zumal 
auch  die  einfachen  Längsschnitte  bei  den  Resectionen  ein,  wie  sie  an 
den  Schultern,  am  Ellenbogen,  an  der  Hüfte  jetzt  allgemein  im  Gebrauch 
sind;  am  Knie  wird  mit  gleichem  Vortheil  ein  vorderer  Lappenschnitt 
mit  breiter  Basis  nach  oben  gemacht.  Das  Handgelenk  und  Fussgelenk 
resecirt  man  in  der  Regel  mit  zwei  seitlichen  Längsschnitten. 

Der  jetzt  allgemein  gebräuchliche  Instrumentenapparat  für  Re- 
sectionen ist  mit  Ausnahme  der  Kettensäge  (von  Jefferson)  ganz  von 
V.  Langenbeck:  starke  Messer  mit  2— .3  Zoll  langer  gerader  Scheide 
und  dickem  Rücken;  diese  Messer  werden  gleich  bis  auf  den  Knochen 
eingesetzt  und  der  ganze  Schnitt  wird  bis  in  die  Tiefe  mit  einem  Zug 
gemacht;  mit  breiten  und  schmalen,  mehr  oder  weniger  gekrümmten 
halb  scharfen  Raspatorien  wird  das  Periost  von  den  Knochen  abge- 
schoben; nur  die  Gelenkbänder  und  manche  Muskelansätze  sind  nicht 
immer  auf  diese  Weise  zu  lösen  und  werden  dann  mit  dem  Messer  ganz 
unmittelbar  am  Knochen  abgetrennt,  so  dass  die  Knochenenden  ganz 
frei  von  Weichtheilen  wie  skelettirt  daliegen.  Dann  werden  sie  mit 
der  Kettensäge  oder  Stichsäge,  oder  mit  einer  kleinen  Amputationssäge 
abgesägt,  nachdem  sie  zuvor  mit  starken  scharfen  Knoeheuhaken  oder 
Knochenzangen  fixirt  sind,  und  die  Weichtheile  mit  stumpfen  Doppel- 
haken zurückgehalten  werden.  Scharfe  Knocheuränder  werden  mit 
schneidenden  Knochenzangen  abgetragen. 

Vor   der  Operation  war  der  Patient  narkotisirt,   das  zu  operirende 


VorlosuHR-  50.    •Cnpifcl   XXTT.  .  Slß 

Glied  war  blutleer  geniaclit  und  sorg-faltig-  g-crcinigt.  Nacli  vollendeter 
Operation  ist  die  Blutung-  aufs  Sorgfältig'ste  7A\  stillen,  mit  neuen  reinen 
Schwämmen  die  Wunde  sauber  auszuwaschen,  dann  isit  das  Glied  in 
einen  Verband  7ä\  lagern,  welcher  so  eingerichtet  sein  muss,  dass  die 
Extremität  völlig  unbeweglich  fixirt  ist,  doch  so  dass  er  nirgends  ein- 
schnürt, dass  die  Wunde  frei  ist,  und  das  vSccret  frei  abfliesst;  dabei 
muss  die  Lage  des  Patienten  eine  bequeme  sein,  und  gewechselt  werden 
können  ohne  dass  die  Extremität  sich  im  Verband  rührt. 

Ich  habe  es  nicht  zweckmässig  gefunden,  vor  Lösung  der  oberhalb 
der  Wunde  liegenden  comprimirendeu  Binde  die  Wunde  mit  Charpie 
auszustopfen  und  darüber  einen  comprimirendeu  Verband  zu  legen,  weil 
dabei  der  ganze  Verband  so  von  Blut  durchtränkt  wnrd,  dass  man  ihn 
bald  ganz  erneuern  muss;  ich  ziehe  es  vor,  die  Blutung  durch  Unter- 
bindungen, Umstechungen,  Acupressur,  Ausspritzen  der  Wunde  mit 
Eiswasser  erst  vollkommen  zu  stillen,  ehe  der  Verband  angelegt  wird; 
dann  lege  ich  in  Glycerin  getauchte  Drainageröhren  in  die  Wunde,  um 
das  Secret  in  unterstehende  Gefiisse  abzuleiten. 

Wenn  möglich  lege  ich  vor  der  Operation  einen  Gjpsverband  an, 
mache  entsprechend  grosse  Oeffnungen  da,  wo  die  Operation  gemacht 
werden  soll,  schneide  dann  den  Verband  an  einer  Seite  auf,  nehme  ihn 
behufs  der  Operation  ab  und  habe  so  eine  Gypskapsel,  w^elche,  nach 
der  Operation  angelegt,  jedenfalls  genau  passt.  An  dieser  Gypskapsel 
kann  die  Extremität  suspendirt  werden,  oder  sie  wird  auf  eine  Ris 'sehe 
Unterlagsschiene  hohl  gelegt.  Andere  Operateure  ziehen  vorbereitete  Holz- 
oder Eisenschienen  vor;  es  giebt  hier  viele  Methoden,  mit  Hülfe  des  ver- 
schiedensten Materials  das  Gleiche  zu  erreichen.  Nach  der  Resection 
des  Hüftgelenks  braucht  man  in  der  Regel  gar  keinen  Verband  um  die 
Hüfte,  sondern  macht  Gewichtsextension. 

Die  Resectionswunden  sind  immer  ziemlich  complicirte  Höhlenwunden, 
ihre  Heilung  erfolgt  immer  durch  Granulation  und  Eiterung  und  nimmt 
immer  längere  Zeit  in  Anspruch.  Dies  steht  den  Resectionen  bei 
schwächlichen  marantischen  Menschen  leider  entgegen;  ausserdem  ist 
man  bei  solchen  Lidividuen  auch  nie  sicher,  ob  die  Caries  nicht  in  nahe 
liegenden  Knochentheilen  oder  an  den  Sägeflächen  fortschreitet  und  die 
Wunde  einen  ulcerösen  Charakter  annimmt. 

Die  kürzeste  Heilungsdauer  nach  Resectionen  dürfte  2—3  Monate 
sein.     Indolente  Fisteln  bleiben  oft  Monate  und  Jahre  lang  zurück. 

Auf  die  Endresultate  der  Gelenkresectionen  hat  man  in  jüngster 
Zeit  ganz  besondere  Aufmerksamkeit  gelenkt.  Die  Pseudogelenke  nach 
Resectionen  können  nämlich  so  schlaff  werden,  dass  sie  activ  gar  nicht 
bewegt  werden  können,  und  das  resecirte  Glied  als  total  unbrauchbar 
mehr  oder  weniger  paretisch  dem  Körper  anhängt.  Andere  Schlotter- 
gelenke sind  activ  etwas  beweglich;  dann  folgen  die  Gelenke,  welche 
fast  vollkommen   normale  Beweglichkeit   bei  normaler  Muskulatur  und 


gjg  .  Üeber  Amputationen,  Exarticnlationen  und  Resectionen. 

Kraft  haben;  endlich  die  anchylotiseh  gewordenen  Gelenke,  die  jeden- 
falls brauchbarer  sind  als  die  nur  passiv  beweg-liclien  Schlottergelenke. 
—  Die  Ausdehnung  der  entfernten  Knochentheile,  der  Grad  der  Regene- 
ration von  Knochen  an  den  resecirten  Gelenkenden,  die  Sorgfalt,  welche 
bei  Trennung  der  Muskelansätze  beobachtet  wurde,  die  Muskelkrüftig-- 
keit  des  operirten  Individuums  haben  vielen  Einfluss  auf  die  Endresultate. 
Gymnastische  Uebung-en,  Elektricität,  Bäder,  Application  zweckmässiger 
Apparate,  dies  Alles  ist  wichtig  zur  Erzielung-  günstiger  Resultate.  Da 
sich  dieselben  aber  bei  jedem  Gelenk  verschieden  g-estalten,  und  auch 
verschiedene  Methoden  und  Apparate  zur  Behandlung-  erfordern,  so  kann 
dies  erst  bei  der  Resection  der  einzelnen  Gelenke  genauer  besprochen 
werden. 

In  Betreff  der  Prognose  quo  ad  vitam  gilt  bei  den  Resectionen 
der  Gelenke  das  Gleiche,  wie  bei  den  Amputationen.  Die  Resectionen 
wegen  Caries  verlaufen  im  Allg-emeinen  günstig-er,  als  die  Resection 
weg-en  Verletzungen.  Die  Gefahr  steigt,  je  näher  das  Gelenk  dem 
Rumpfe  liegt. 


Sach-Register. 


Abscesse 

acute,  heisse  152.  313. 

kalte  441.  506.  511.  562. 

Congestions-   511.  522. 

metastatische  389. 
Acupressur  39. 
Acupunctur  131.  242.  657. 
Adenome  738. 
Adenosarkome  726. 
Aderlass  141. 
Aetzmittel  474.  789. 
Alveoläre  Sarkome  714. 
Alveoläre  Structur  der  Krebse  753. 
Amputation  im  Allgemeinen 

Methoden  793. 

Cirkelschnitt  800. 

Lappenschnitt  803. 

Ovalärschnitt  804. 

bei  Quetschung  und  Zerreissung  der  Weich- 
theile   165. 

primäre  bei  complicirten  Fracturen  221. 

seeundäre  223. 

bei  Pseud»-throse  d.  Oberschenkels   243. 

bei  Verbrennung  286. 

bei  Eifrierung  293. 

bei  ausgedehnter  Sehnenscheidenvereite- 
rung 321. 

bei  Osteomyelitis  329. 

bei  acuten  eitrigen  Gelenkentzündungen 
338. 

bei  Gangrän  363. 

bei  Tumor  albus  der  Gelenke  571. 

Instrumente  805. 
Amputationsstumpf  108.  231. 
Amyloid  445.  518. 
Anästhetica  15.  24. 
Angiome  701. 
Animalische  Bäder  470. 
Anthrax  303.  433. 
Apoplexie  147. 
Arterien 

Schnittwunden  26. 

Stichwunden  136. 

Quetschwunden  158. 
Arterien,  Unterbindung  und  Umstechung  bei 
Wunden  32.  33. 

Unterbindung  bei  Aneurysmen  654. 

Compression,  Tourniquet,  Acupressur, 
Electropunctur  35.  37.  39.  654.  656. 
657. 

Torsion  35. 

Narben,  Thrombus  121. 

Billroth   cliir.  Patli.  ii.  Tliev.    7.  Aufl. 


Aneurysma 

traumaticum  spurium   138. 

verum  646. 

dissecans  648. 

varicosum  140. 

cirsoideum  643. 

cylindriforme,  fusiforme,  saccatum  648. 
Arthritische  Diathese  465. 
Arthritis  deformans  593.  594. 
Arthrocace  510.  561. 
Atherom  der  Arterien  356. 
Atheromcysten  745. 
Atrophie  der  Knochen  553. 
Ausschaben  cariöser  Höhlen  525. 
Ausreissungen    von   Sehnen,    Muskeln   und 

ganzen  Gliedraaassen   190. 
Bäckei'beine  621. 
Bacterien  167.  434. 
Balggeschwülste  744. 
Balgkropf  747. 
Beinladen  217. 
Bienenstich  428. 

Bindegewebsgeschwülste,  Fibrome  681. 
Bindegewebskrebse  777. 
Blasenpflaster  472. 
Blasenpolypen  739. 
Bleidraht  zur  Knochennaht  242. 
Blennori'hoe  309. 
Blitzschlag  289. 
Blutcysten  748. 
Bluter  29. 
Blutextravasat  147. 

—  Schicksale  desselben  150. 
Blutgeschwülste,  cavernöse  702. 
Blutleere,  künstliche  39. 
Blutschwär  301. 
Blutstillungsmittel  31. 
Blutungen 

—  capillare  26. 

—  arterielle  26. 

—  venöse  27. 

—  parenchymatöse  28. 

—  subcutane  146. 

—  Folgen  von  Blutungen  30. 

Nachblutungen  29.  161.  171. 
Bougies  627. 
Brand  s.  Gangrän. 
Brisement  force  609. 

Callus  s.  bei  Heilungsprocess  der  Knochen- 
brüche. 
Cancer  apertus  und  occultus  752. 
Cancroid  758. 

52 


818 


Sach-Register. 


Carbolsäure  189. 
Carbunkel  303.  433. 
Carcinoma  751. 

—  cicatricans,  Scirrlnis  777. 

—  colloides  757. 

—  epitheliale  758. 

—  fasciculatum  719. 

—  medulläre  666. 

—  melanodes  757. 
Carcinosis  757. 
Caries  s.  bei  Knochen. 
Catarrh  309. 

Catgut  35. 

Cavernöse  Blutgeschwülste  702. 

Cavernöse  Lymphgeschwiilste  708. 

Cellulitis  311. 

Cephalhaematom  149. 

Chancre  467.  490. 

Chirurgie 

Verhältniss  zur  innern  Medicin  1. 

Studium  15. 
Chloroform,  Entdeckung  15. 
Chloralhydrat  25. 
Chondrom  691. 
Cholesteatom  745. 

Cirkelschnitt  bei  Amputationen  803. 
Coccoglia  167. 
Collateralkreislauf 

capillarer  61. 

arterieller  129. 
Collodium  50. 
Collonema  713. 
Comedo  745. 
Commotion  145. 
Compression 

der  Arterien  35.  654. 

bei  chronischer  Entzündung  469. 

—  chronisch  seröser  Synovitis  579. 

—  Hydrops  bursae  praepatellaris  589. 

—  Varicen  641. 

—  Lymphomen  734. 
Condylome  467.  738. 
Congestion  63. 

Conische  Amputationsstümpfe  808. 

Contagiosität  von  Geschwülsten  669. 

Contracturen  617. 

Contusion  s.  Quetschung. 

Cornu  cutaneum  736. 

Crepitation  197. 

Cylindrom  718. 

Cysten  und  Cystome  744. 

Cystenkropf  747. 

Cysticercus  749. 

Cysto-Adenome  718. 

Cysto-Fibrom  684. 

Cysto-Chondrom  692. 

Cysto-Carcinom  744. 

Cysto-Sarkom  726.  727.  744. 

—  phyllodes,  proliferum  727. 
Decubitus  354. 

Delirium  tremens  s.  potatorum  425. 

—  nervosum  427. 
Demarcationslinie  34G. 
Dermoidcysten  745. 
Desmoid  681. 


Diathese  451. 

Diphtheritis  310.  365.  369. 
Discision,  subcutane  584. 
Distractionsmethode  568. 
Distorsion  248. 
Doppelte  Glieder  548. 
Drainage  185.  523. 
Dyskrasie  450. 

Dysmorphosteopalinklastes  245. 
Ecchinococcus  749. 
Ecchondrosis  ossificans  696. 
Ecchymose   150. 
Ecrasement  160.  687. 
Einwicklung  der  Extremitäten  40. 
Eis 

bei  Blutungen  43. 

— ■  bei  Quetschwunden  183. 

—  acuten   Gelenkentzündungen  252. 

—  chronischen  Entzündungen  471. 521. 569. 
Eisenbahnapparat  216. 

Eisendraht  zum  Nähen  52. 

Eiter  82. 

Eiterfieber  178.  404. 

Eiterungen,  progressive  um  Quetschwunden, 

primäre  und  secundäre   173. 
Electricität  635. 
Electropunctur  242.  657. 
Elephantiasis  682. 
Elevatorien  544. 
Elfenbeinosteome  696. 

Elfenbeinstäbchen    bei    Pseudarthrosen  242. 
Embolhämie  412. 
Embolie  388. 
Enchondrom  691. 
Endothelperlen  715. 
Englische  Krankheit  546. 
Englisches  Pflaster  49. 
Enroulement  der  Venen  641. 
Entzündliche  Neubildung  GS. 
Entzündung 

Allgemeines  343. 

traumatische  56.  87. 

in  gefässlosen  Geweben  70. 

acute  nicht  traumatische  295. 

septische,  jauchige  169. 

diffuse  metastatische  407. 

catarrhalische  309. 

croupöse  310. 

diphtheritische  310. 

fibrinöse  365. 

chronische  438. 
Epidermispfropfung  81.   107.  484. 
Epileptiforme  Anfälle   136. 
Epiphysenknorpel- Vereiterung  326.  536. 
Episiohaematom  149. 
Epithelbildung  86. 
Epithelialkrebs  758. 
Epithelperlen  759. 
Epulis  725. 

Erectile  Geschwülste  701. 
Erfrierungen  290. 
Ergotismus  359. 

Ersatz  verlorner  Extremitäten  810. 
Erschütterung  145. 
Erysipelas  301.  371. 


Sach-Rcgister. 


819 


Excoriation   149. 

Exercirknochen  696. 

Exostosen  695. 

Exsudätionscysten  745. 

Extension  permaneiite  216.  568.  627. 

Extravasat  von  Blut  147. 

Extravasationscysten  14H.  744. 

Fascien 

Schrumpfungen  624. 

Durchschneidungen  632. 

Verknöcherungen  696. 
Fasergeschwülste  681. 
Faserstoff  72. 
Faserstoffgeschwülste  151. 
Faulfieber  177.  397. 
Ferrum  candens 

bei  Blutungen  43. 

als  ableitendes  Mittel  474. 
Fettgeschwülste  688. 
Feuermal  708. 
Feuerschwamm  44. 

Fibrinöse  Infiltrati9n  57.  72.  310.  348. 
Fibrinöser  Tumor  151. 
Fibroide  681. 
Fibrome  681. 

Fieber  96.  177.  280.  393.  446. 
Fieberfrost  178.  404. 
Fiebertheorien  98. 
Fissuren  195. . 
Fluctuation  148. 
Fluxion  63. 
Follicularcysten  744. 
Fontanell  473. 
Fracturen  s.  Knochenbrüche. 
Frostbeulen  294. 

Fungus  medullaris,  haematodes  666. 
Furunkel  301. 
Gallertkrebs  757. 
Gallertsarkom  713. 
Galvanokaustik  44.  687.  708. 
Ganglion  583. 
Gangrän  350. 

bei  Quetschwunden,   Abstossung  gangrä- 
nöser Thoile  163. 

progressive  Gangrän  des  Zellgewebes  173, 
365. 

nach  Verbrennung  284. 

—  Erfrierung  292. 

bei  Entzündung  355. 

Ursachen,  verschiedene  Formen  353. 

nach  Mutterkorn  359: 

senilis  355. 

ex  anaemia  358. 

durch  Druck  354. 

durch  Embolie  358. 

Hospitalgangrän  365. 

Behandlung  362. 
Gefässgeschwülste  701. 
Gefässnarben   121. 
Gefässbildung  bei  Wundheilung  74.  93. 

im  Thrombus  125. 
Gelenkbänder 

Durchschneidungen  632. 
Gelenke 

Contusion  247. 


Distorsion  248. 

Wunden,  traumatische  Entzündung  249. 

Luxationen  256. 

traumatische  256. 

complicirte  266. 

veraltete  265. 

habituelle   263. 
Luxationen,  angeborne  267. 

pathologische  oder  spontane   256.  565. 
Hydrops  acutus  333. 

—  chronicus  577. 

—  mit  typischen  Recidiven  582. 
Acute  eitrige  Synovitis  334. 
Arthritischer  Anfall  340. 
Metastatische  (gonorrhoische,  pyohämische, 

puerperale)  Gelenkentzündung  341. 

Chronische  granulös  -  fungöse  Gelenkent- 
zündung, Tumor  albus,  Gelenkcaries, 
Arthrocace  554. 

Rheumatismus  acutus  339. 

—  chronicus  593. 
Malum  senile  594. 
Arthritis  deformans  594. 
Gelenkkörper  599. 
Neurosen   602. 

Synovialhernien  mit  Hydrops  586. 
Anchylosen  603. 

Genu  valgum  621. 

Geschichtliche  Entwicklung  d.  Chirurgie  4. 

Geschwülste  658. 

Allgemeines,  Eintheilung  659. 

Aetiologisches  671. 

Formen  665. 

Art  des  Vorkommens  und  der  Verbrei- 
tung 676. 

Diagnostik  791. 
Geschwüre  475. 

Gewichtsextension  216.  568.  627. 
Giftschlangen  429. 
Gliacoccos  167. 
Gliom  710. 

Glüheisen  s.  Ferrum  candens. 
Gonorrhoe  467. 
Granulationsbildung  82. 
Granulationsgewebe  92. 
Granulationskrankheiten   1 10. 
Granulationssarkom  710. 
Granulös-fungöse  Caries  496. 
Granulös-fungöse  Gelenkentzündungen   554. 
Grützbeutel  745. 
Gummigeschwulst  467. 
Guttaperchaschienen  215. 
Gymnastische  Curen  635.  " 
Gypsguss  217. 
Gypsverbände 

bei  einfachen  Fracturen  212. 

—  complicirten  Fracturen  234. 

—  Distorsionen  248. 

—  Gelenkvei-letzungen  250. 

—  Tumor  albus  der  Gelenke  541. 
zur  orthopädischen  Behandlung  566. 

Haarbildung  in  Cysten  748. 
Haarseil  473. 
Häckselsack  217. 
Haematoidin  150. 


820 


Sach-Register. 


Haematora  148. 
Haemarthron  247. 
Haematopericardium  149. 
Haematothorax  149. 
Haematostyptica  43. 
Haemophilen  29. 
Halisteresis  504. 
Harndiphtheritis  369. 
Hasenschartennaht  54. 
Haut 

acute  Entzündungen  300. 

chronische  Entzündungen  440. 
Hauthorn  736. 
Heilung 

per  primam  intentionem  58.  68.  90. 
Hindernisse  f.  d.  Heihmg  p.  pr.  76. 

per  secundam  intentionem  78. 

vollständig  abgelöster  Theile  77. 

durch  gegenseitige  Verwachsung  von 
Granulationsflächen  109. 

unter  einem  Schorf  110. 
Hektisches  Fieber  446. 
Heftpflaster  50. 
Hetroplasie  659. 
Hirnsandgeschwülste  716. 
Hitzschlag  288. 
Homoeoplasie  659. 
Hornbildungen  736. 
Hospitalbrand  365.i 
Hospitaleinrichtungen  416. 
Hühneraugen  448. 
Hühnerbrust  547. 
Hundswuth  435. 
Hyalinose  445. 
Hydarthron  577. 
Hydrops 

acuter  der  Gelenke  333. 

chronischer  der  Schleimbeutel  587. 

—  der  Sehnenscheiden  582. 

—  der  Gelenke  577. 

—  typisch  recidivirend  582. 
Hydrophobie  435. 
Hyperhämie  62. 

Hypertrophie  und  Hyperplasie  659. 
der  Drüsen  738. 

—  Haut  440. 

• —  Knochen  552. 

—  Narben  115.  120. 
des  Knochencallus  246. 
der  Nerven  120. 

Hystricismus  737. 
Ichorrhämie  412. 
Ichthyosis  737. 
Immersion  180. 
Infarcte  388. 

'  Infectiöse  Geschwülste  676. 
Infiltration 

feste  fibrinöse  57.  72.  310.  348. 

plastische,  zellige  68. 

ödematöse  57.  349. 

eitrige  313. 

blutige  147. 
Infraction  195.  244. 
Insectenstiche  428. 
Irrigation  180. 


Jodtinktur  als  Derivans  und  Resorbens  472. 

bei  Pseudarthosen  241. 
Jodinjection 

bei  kalten  Abscessen  523. 

—  Hydarthron  581. 

—  Cysten  750. 

in  das  Parenchym  bei  Struma  743. 
Kataplasmen  185. 
Kinderlähmungen  623. 
Kielbrust  547. 
Klapperschlangenbiss  430. 
Kleisterverbände  214. 
Klumpfuss  588. 
Kniebohrer  621. 
Knochen 

Brüche,  einfache  193. 

Ursachen  193. 

Arten  195. 

Symptome  196. 

Verlauf  der  Heilung  198. 

Behandlung  210. 

—  complicirte  offene  220. 
Behandlung  233. 

Knochengranulationen  und  Knochen- 
eiterung 227. 

Knochennath  243. 

schiefgeheilte  Fracturen  244. 

Osteomie  245.  544.  550. 

acute  Ostitis  und  Osteomyelitis  232. 

323.  325.  529. 
Osteophlebitis  326. 
Ostitis  chronica  491. 
Ostitis  osteoplastica  493.  505. 
Scierosis  482. 
Ostitis  malacissans  503. 
Ostitis  suppurativa  506. 

—  caseosa  508. 

—  granulosa  seu  fungosa  507. 
Knochenabscess  506- 

Caries  506-  507.  508. 

Knochentuberkel  509. 

Nekrose  225.  229.  528.. 

Knochenexstirpationen  527. 

Resectionen  s.  Resectionen. 

Rhachitis  546. 

Osteomalacie  551. 

Osteophyten  492. 

Hypertrophie  552. 

Osteoidchondrom  692. 

Osteosarkom  723. 

Atrophie  552. 

Regeneration  539. 
Kopfnaht  50. 
Krebs  s.  Carcinom. 
Kreuzotterbiss  429. 
•Kribelkrankheit  359. 
Kropf  741. 

Künstliche  Gliedmaassen  810. 
Künstliche  Blutleere  39. 
Kyphosis  509.  510.  621. 
Lacunäre  Corrosion  497. 
Lagerungsapparate  b^i  Fracturen  217. 
Lancette  142. 

Lappenschnitt  bei  Amputationen  803. 
Leichengift  430. 


Sach -Register. 


821 


Leiclientuberkel  431. 

Leichdorn  478. 

Leontiasis  682. 

Leptothrix  167. 

Ligatur  der  Gefässe  32.  654. 

—  bei  Geschwülsten  687.  706. 
Lipome  688. 
Loxarthrosen  616. 

Lues  467. 

Lufteintritt  in  Venen  28. 

Lupus  487. 

Luxation  s.  Gelenke. 

Lymphdrüsen 

acute  Entzündung  378. 

chronische    Entzündung.       Verschwärung 
444.  452.  484.  486. 

Hypertrophie,  Lymphom  730. 

Krebs  757. 
Lymphgefässe 

in  der  Nähe  von  Wunden  95. 

Entzündung,  Thrombose  377. 

Varices.     Fisteln  642. 
Lymphgeschwülste,  cavernöse  708. 
Lymphome  730. 
Lymphosarkom  733. 
Lyssa  435. 
Maliasmus  432. 

Malum  senile  articulorum  594. 
Manie  nach  Operationen  427. 
Markschwämme  66Q.  719.  769. 
Maul-  und  Klauenseuche  435. 
Mausefell  681. 
Medullarcarcinom    und    MeduUarsarkom 

666.  719.  769. 
Melanosen  636.  714. 
Melanotische  Sarkome  714. 

—  Carcinome  757. 
Meliceris  746. 
Metallsuturen  52. 

Metastatische  diffuse  Entzündungen  341.  407. 

—  Abcesse  391. 

—  Geschwülste  670. 
Miasmen  298.  413. 

—  als  Ursachen   für   die   Entstehung   der 
Kröpfe  668. 

Micrococcos  167.  310.  370.  375.  400.  434. 

Microsporon  167. 

Milzbrand  433. 

Mitella  216- 

Mitesser  745. 

Moluscum  contagiosum  669. 

Monaden  167.  400. 

Moorbäder  470. 

Morve  432. 

Moxen  474. 

Mixltiple  Geschwülste  676. 

Muskel 

Abcesse  319.  433. 

Quetschung  153. 

subcutane  Zerreissungen  190. 

Narbe  116. 

Contracturen  622. 

Verknöcherungen  696. 

Myome  699. 

Myotomie  628, 


Mumification  350. 

Mutterkorn  359. 

Muttermal  705.  681. 

Myleoidgeschwülste  712.  723. 

Myome  699. 

Myopathische  Contracturen  622. 

Mykosis  intestinalis  435. 

Myxome  713. 

Nachblutungen  29.  161.   171. 

Nachfieber  178.  396. 

Nadeln  zum  Nähen  51. 

Extraction  der  Nadeln   132. 
Nadelhalter  54. 
Nähte  50. 

secundäre  Näthe  109. 
Naevus  vasculosus  708. 
Narben 

in  Muskeln   116. 

in  Nerven  118. 

in  Knochen  198. 

in  Gefässen   121. 
Narbencontration  80.  92.  625. 
Narbengewebe  92. 
Narbenhypertrophie  115.   120. 
Necrose  s.  Knochen. 
Necrotisirung  von  Weichtheilen  162. 
Nerven 

Wunden  23. 

Narbe,  Regeneration  118. 

Quetschung  144. 

Erschütterung  145. 

Geschwülste  120.  685.  700. 
Netzzellensarkom  713. 
Neubildung 

Allgemeines  68.  659. 

entzündliche  68. 

der   verschiedenen   Gewebe   siehe    bei 
Regeneration  und  659. 
Neuralgie  bei  fremden  Körpern 

in  Nerven  136. 
Neurom  120.  685.  700. 
Neuropathische  Contracturen  623. 
Neurosen  der  Gelenke  602. 
Noma  359. 
Odontom  665. 
Oleum  Crotonis  472. 
Onchotomie  318. 
Orthopädie  627. 
Osteom  695. 
Osteomalacie  551. 
Osteophyten  492. 
Osteosarkom  723. 
Osteotomie  s.  Knochen. 
Ostitis  und  Osteomyelitis  s.  Knochen. 
Ovalärschnitt  bei  Amputationen  804. 
Pachydermie  440. 
Paedarthrocace  510. 
Panaritium 

subcutaneum  311. 

tendinosum  320. 

periostale  329- 
Papillarkrebs  766. 
Papillom  735. 

Paralytische  Contracturen  623. 
Paronychia  311. 


822 


Sach-Register. 


Pectus  carinatum  547. 
Penetrirende  Gelenkwunden  249. 
Penghawar  Djambi  45. 
Percutane  Umstechung  33. 
Periarticuläre  Eiterungen  255.  562. 
Perilymphangoitis  379. 
Periostitis 

acute  232.  323. 

osteoplastische  493.  539. 

chronische  491. 

Verhältniss  zur  Caries  494. 
Periostsarkome  725. 
Periphlebitis  383. 
Perlgeschwülste  716. 
Perniones  294. 
Pes  varus  617. 

—  planus  621. 

—  equinus,  Pferdefuss  617. 
Pfropfung  von  Epidermis  81.   107.  484. 
Phlebitis  s.  Venen. 

Phlegmone  311. 
Phlogogene  Stoffe  101.  298. 
Pigmentsai-kome  714. 
Plattfuss  621. 
Plexiforme  Angiome  701. 
^  Neurome  685. 
Plexiforme  Sarkome  717. 
Polypen  666. 

fibröse  685. 

Schleimpolypen  739. 
Pott'scher  Buckel  511. 
Projectile  271. 

Prostatahypertrophie  701.  739. 
Psammome  716. 
Pseudarthrose  238. 
Pseudoerysipelas  311. 

Psychische  Störungen  nach  Operationen  427. 
Puerperale  Gelenkentzündung  342. 
Purpura  148. 

Pustula  maligna  303.  433. 
Pyohämie  404. 
Pyrogene  Stoffe   100. 
Quetschungen 

der  Weichtheile  überhaupt  143. 

—  Nerven  144. 

—  Muskel  153. 

—  Gefässe  146. 

—  Knochen  232.  323. 

—  Gelenke  247. 
Quetschwunden  156. 
Raspatorium  547. 

Regeneration    der    verschiedenen    Gewebe 

115  u.  folg.,  203  u.  folg. 
Reizung  63. 
Resectionen 

bei  Pseudarthrose  242. 

—  schief  geheilten  Fracturen  246. 

—  complicirten  Fracturen  237. 

—  Caries  526. 

—  Nekrose  544. 

—  Caries  der  Gelenke  571. 

—  Anchylose  615. 
Instrumente  zu  Resectionen  814. 

Retentionscysten  744. 
Rhachitis  j546. 


Rheumatismus  s.  Gelenke. 

Riesenzellensarkom  712. 

Risswunden  190. 

Rose  s.  Erysipelas. 

Rotz  435. 

Ruhe  bei  Verwundungen  43.   103.  2.50. 

bei  Entzündungen  469. 
Rundzellensarkom  710. 
Säbelbeine  547. 
Säuferwahnsinn  425. 
Sandbäder  470. 
Sandsäcke  217. 
Sarkom  708. 

Adeno -Sarkom  726. 

alveolares  714. 

medulläres  666. 

melanodes  714. 

plexiformes  717. 

villöses   715. 

Schleimsarkom  713, 

Netzzellensarkom  713. 

Myxosarkom  713. 

Riesenzellensarkom  712. 

Rundzellensarkom  711. 

Granulationssarkom  710. 

Gliosarkom  711. 

Osteosarkom  723. 

Periostsarkom  725. 

Lymphosarkom  733. 

Cysto-Sarkom  726.  727.  744. 

Spindelzellensarkom  711. 

Sarcomatöse  Papillome  738. 
Schlammbäder  470. 
Schlangenbisse  429. 
Schleimbeutel  subcutane 

acute  Entzündungen  321. 

Hydrops  587. 
Schleimkrebs  757. 
Schleimfluss  309. 
Schleimpolypen  739. 
Schleimsarkom  713. 
Schleim-Speichel-Diphtheritis  369. 
Schmerz  22. 
Schnepper  142. 
Schnittwunden  20. 
Schnürstrümpfe  641. 
Schorfbildung  110. 
Schrunden   149. 
Schüttelfröste   178.  404. 
Schusswunden  269. 
Schwämme  666. 
Schweben  217. 

Schwefeläther,  Entdeckung  15. 
Schwielen  448. 
Scirrhus  666. 
Scorbut  466. 
Scrophulosis  453. 
Seeale  cornutum  359. 
Sehnen 

Verkürzungen  623. 

Verknöcherungen  696. 

Durchschneidung  628. 
Sehnenscheiden 

acute  Entzündung  319. 

Hydrops,  Ganglion  582. 


Saeh-Register. 


823 


Sehnenscheiden 

Sehnenscheidenkörper  583. 
Senkungsabscesse   488.  497. 
Sepsin  399. 
Septhämie  397. 
Sequestrotomie  544. 
Setaceum  473. 

—  candens  706. 
Silberdraht  zum  Nähen  52. 
Skoliosen  621. 
Skorpionstiche  429. 
Solitäre  Geschwülste  676. 
Sonnenstich  288. 

Speckstoff,  Speckkrankheit  445.  518. 

Sphaceliis  350. 

Spina  ventosa  510. 

Spindelzellensarkom  711. 

Spreukissen  217. 

Starrkrampf  420. 

Stichwunden  131. 

Streptobacteria   167. 

Streptococcos   167. 

Stricturen  627. 

Strohladen  217. 

Struma  741. 

Studium  der  Chirurgie   15. 

Styptica  43. 

Subcutane  Injectionen  25. 

—  Tenotomie  628. 

—  Osteotomie  245. 

—  Ligatur   641. 
Suffusion  und  Sugillation  147. 
Sutur  s.  Naht. 

Syphilis,  Syphilom  467. 

Tamponade  41. 

Tarantelstich  429. 

Telangiektasien  701. 

Temperaturmessungen  97.  394. 

Tendovaginitis  320. 

Tenotomie  628. 

Teratome  748. 

Terpenthinöl  als  Styptieum   45. 

Tetanus  420. 

Thierbäder  470. 

Thrombose  der  Arterien   121.  355. 

—  der  Venen  126-  381. 
Torsion  der  Arterien  35. 
Torula  167. 
Tourniquet  37. 
Transfusion  47. 
Trichinen  749. 
Ti'ipper  467. 

Trismus  420. 

Trokar  131. 

Tuberkel  und  Tuberculose  441. 

Tumor  albus  529. 

Tyrosis  443. 

Typhöse    Erscheinungen    bei    Verwundeten 

400.  403. 
Ueberbein  582. 
Umstechung  der  Arterien  33. 

—  percutane  33. 


Unguentum  Tartari  stibiati  473. 

Varices  s.  Venen. 

Venen 

Lufteintritt  26- 

Transfusion  47. 

Venaesection,  Aderlass,  Sticliwuuden  141. 

Wunden  27. 

Narben   126. 

Entzündung,  Thrombose  381. 

Osteophlebitis  320. 

Varices  139.  637. 

subcutane  Ligatur  641. 

Enroulement  641. 

Venensteine  640.  702. 

cavernöse  Venengeschwülste  702. 
Verbände  bei  Fracturen  212. 
Verbrennungen  282. 
Verkäsungsprocess   443. 
Verkrümmungen  616. 
Vereiterung  315. 
Vergiftete  Wunden  428. 
Verrenkung  s.   Gelenke. 
Verschwärungsprocess  442.  476. 
Verstauchung  248. 
Vesicatore  472. 
Vibices  148. 
Vibrio   167. 
Villöse  Sarkome  715. 
Vipera  Berns  429. 

Redii  429. 
Wallung  63. 
Warzen  735. 
Wasserbad 

bei  Quetschungen   180. 

—  Geschwüren  483. 
Wasserglasverband  215. 
Wasserkrebs  359. 
Wasserscheu  435. 
Wespenstich  428. 
Winddorn  510. 
Wunden 

Schnittwunden    20. 

Stichwunden  131. 

Quetschwunden    156. 

Risswunden    190. 

Schusswunden  269. 
Wunden,  vergiftete  428. 
Wundfieber  96.  393. 
Wundkrankheiten 

accidentelle  örtliche  365. 

—  allgemeine  393. 
Wundrose  s.  Erysipelas. 
Wundstarrkrampf  420. 
Zahnexostosen  665. 

Zähne,  Neubildung  in  Cysten  748. 
Zellengewebe,  primäres  68. 
Zellgewebsentzündung  311. 
Zooglaea  167. 
Zoonosen  432. 
Zottenkrebse  766. 
Zottensarkome  715. 


Namen-Eegister.  ^^) 


Abernethy,  John  (t  1831  in  London) 522. 
Abulkasem  (f  1106)  8. 
Aeby  (Prof.  der  Anatomie  in  Bern)  66. 
Alexander   von  Tralles  (525  —  605)  7. 
Alexandrinische  Schule  6.  7. 
Albert   (Prof.   d.  Chirurgie   in   Innsbruck) 

391. 
Amabile  (Prof.  in  Neapel)  107.  600. 
Anel,  Dominique  (Chirurg   in  Turin  im 

Anfang  des  18.  Jahrhunderts)  654. 
Antyllus  (drittes  Jahrh.)  7.  656.  657. 
Arndt  (Docent  in  Greifswald)  710.  715. 
Arnold,  J.  (Prof.   d.   pathol.  Anatomie  in 

Heidelberg)  73.  74.  75.  86.  118.  127.  343. 

344.  661. 
Asklepiaden  4. 
Aseli  (1581—1626)  11. 
Auerbach  (Docent  in  Breslau)  66. 
Avenzoar  (1126)  8. 
Avicenna  (980—1037)  8. 
V.  Bärensprung  (1822—1864)  97. 
Bar  well  (Chirurg  in  London)  636. 
Baum  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Göttingen)  45. 

180.  734. 
Baynton  (englischer  Arzt)  482. 
Beck    (badischer    Generalstabs -Arzt)   270. 

280. 
Bell,  Benjamin  (1749—1806)  13.   139. 
Belloc,  Jean  (1732—1807)  42. 
Be necke    (Prof.   d.   Medicin    in   Marburg) 

549. 
Bergmann  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Dorpat) 

280.  294.  391.  399. 
Bernard,  Claude   (Prof.  der  Phj^siologie 

in  Paris)  65. 
Bernhardt,  M.  (Arzt  in  Berlin)  99. 
Biermer  (Prof.  d.  medicinischen  Klinik  in 

Breslau)  418. 
Biesiadecki  (Prof.  der  pathol.  Anatomie 

in  Krakau)  754. 
Bilguer,   Job.  Ulrich  (1720—1796)   13. 
Binelli  45. 
Bizozzero   (Prof  d.   pathol.  Anatomie   in 

Padua)  632. 
Boinet  (Chirurg  in  Paris)  581. 


B  ollin ger  (Prof.  d.  Zoonosen  in  München) 

434.  435.  436. 
Bonnet  (Chirurg  in  Lyon  f  1863)   14.  335. 

598. 
Botalli  (1530—1591)  801. 
Bouvier  (Chirurg  in  Paris)  601. 
Boy  er,  Baron  (1747—1833)  14. 
Branca  (Mitte  des  15.  Jahrb.)  9. 
Brasdor  (1721—1799)  655. 
Brunschwig,  Hieronymus    (geb.  1430) 

12. 
Breschet,  G.  (f  1845)  644. 
Breslau  (1829—1867)  418. 
Breuer  (Arzt  in  Wien)  99. 
Broca  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Paris)  654. 
Brodie,    Sir     Benjamin    (1783  —  1863) 

14.  602. 
Bromfield,  William  (1712—1792)  32. 
Brown-Sequard   (Arzt   in  London)  120. 
Brücke,  E.  (Prof.  d.  Physiologie  in  Wien) 

147.  626. 
V.  Bruns  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Tübingen) 

40.  214.  812. 
P.  Bruns  (Docent  in  Tübingen)  685. 
Bubnoff  (Arzt  in  Russland)  127.  377. 
Buhl  (Prof.  d.  pathologischen  Anatomie  iii 

München)  309.  347.  435.  460.  461.  462. 
Burow   (Prof.    der   Chirurgie    in    Königs- 
berg t  1874)  106. 
Celsus,    Aulus   Cornelius   (35   a.  Chr. 

bis  45  p.  Clir.)  6.  7.  665.  812. 
Chassaignac   (Chirurg  in  Paris  f  1869). 

185.  523.  687.  812. 
Cheselden,  William  (1688—1793)   13. 
Chrobak  (Arzt  in  Wien)  99. 
Ciniselli  (Arzt  in  Mailand)  656. 
Civiale  (1792—1867)  14. 
Cohn  (Prof.  d.  Botanik  in  Breslau)  167. 
Cohnheim  (Prof.  der  pathologischen  Ana- 
tomie in  Breslau)  69.  72.  204.  343.  344. 

347.  348.  361.  388.  389.  462.  534. 
Cooper,    Sir   Astley    (1768  —  1841)    14. 

63.  138.  723. 
Cruveilhier    (Prof.   d.    pathol.    Anatomie 

in  Paris  f  1873)  379.  381.  639. 

)  Für   Zusendungen    von    Berichtigungen    und    Vervollständigungen    dieses    Registers 
werde  ich  allen  Lesern  sehr  dankbar  sein.  Billroth. 


Namon-Rofjistpr. 


825 


Czernv  (Prof.  der  Chirurgie  in  Freiburg) 
107.  '734. 

Davaine  (Prof.  in  Paris)  432. 

Delpech  (177-2— 1832)  14.  «24. 

Desault,  Pierre  (1774—17;).'))   13. 

Di  effen  bac  h,  Jüh.Friedr.  (1795— 1847) 
14.  44.  47.  54.  57.  115.  133.  135.  242. 
243.  437.  487.  584.  610.  628. 

Dieulafoy  (Arzt  in  Paris)  523.  524. 

Dittel  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Wien)  132. 
412. 

D o Ist" heil Icow  (russischer  Arzt)  370. 

Dorsev  (Chirurg  in  Pliiiadelphia  in  Amerika 
1783—1818)   140. 

Do  utrel  epo  nt  (Prof.  der  Chirurgie  in 
Bonn)  66i). 

D  u  b  o  i  s  -  R  e  y  m  o  n  d  (Prof.  der  Physiologie 
in  Berlin)  64. 

Duchenne  (de  Boulogne,  Arzt  in  Paris) 
635. 

V.  D  umreich  er,  Baron  (Prof.  der  chirur- 
gischen Klinik  in  Wien)  216. 

Dupuytren,  Baron  (1778—1835)  14.201. 
357.'  632. 

Ebert  (Prof.  der  Kinderheilkunde  in  Ber- 
lin t  1872)  669. 

Eberth  (Prof.  der  patholog.  Anatomie  in 
Zürich)  66.  71.  86.  370.  754. 

Eichhorst  (Arzt  in  Königsberg)   118.   119. 

Eschricht  (Prof.  d.  Anatomie  in  Copen- 
hagen)  618. 

Esmarch,  Friedrich  (Prof.  der  Chirur- 
gie in  Kiel)  34.  89.  41.  104.  134.  188. 
428.  471.  521.  569.  602.   603.  657.  799. 

Estlander  (Prof.  der  Chirurgie  in  Hel- 
singfors)  860. 

Eustachio  (f  1579)  11. 

Fabry  v.  Hilden  (1560—1634)  12.  44. 

Falopia  (1490—1563)  11. 

Fick,  Adolph  (Prof.  der  Physiologie  in 
Würzburg)  412. 

Fischer  (Prof.  der  Chirurgie  in  Breslau) 
270.  368.  899. 

Flourens  (1791—1867)  209.  539.  540. 

Fock,  Carl  (1828—1863)  867.  575. 

Förster  (1822—1865)  476.  497.  738. 

Follin  (1823—1867)  14.  494.  505.  685. 

Fox,  Wilson  (Arzt  in  London)  462. 

Frey  (Prof.  d.  Zoologie  in  Zürich)  732. 

Frisch  (Prof.  d.  Anatomie  an  der  Kunst- 
Akademie  in  Wien)  870. 

Froriep,  Robert  (1804—1861)  120.  122. 
138.  139.  625. 

Galenus,  Claudius  (131—201)  7. 

V.  Gersdorf,  Hans  (1520)   12. 

Goll  (Arzt  in  Zürich)  422. 

Golubew  (russischer  Arzt)  64. 

Golz  (Prof.  d.  Physiologie  in  Strassburg)  161. 

Y.  Graefe,  CarlFerd.  (1787—1840)  14.48. 

V.  Graefe,  Albrecht  (Prof.  d.  Augen- 
heilkunde in  Berlin  f  1870)  428. 

Grawitz  (Arzt  in  Schlesien)  710. 

Gross  (Prof.  der  Chirurgie  in  Philadelphia) 
246.  615. 

BiUroth  chir.  Path.  u.  Ther.  7.  Aufl. 


Gruber,  W.  (Prof.  der  Anatomie  in  Petcrs- 

liiirg)  559. 
Guerin   (Chirurg   in   Paris)   523. 
Güterbock  (Arzt  in  Berlin)  73. 
Guido  de  Cauliaco  (M.Jahrhundert)   9. 

812. 
Giirlt  (Prof.    d.  Chirurgie    in  Berlin)    201. 

203. 
Güssen  bauer    (I)oceiit  in   Wien)   73.    116. 

117.  754. 
V.  Haller,  Albrecht  (1707—1777)  13. 
HaUier  (Prof.  d.  Botanik  in  Jena)   167. 
Harvev,  William  (1578—1658)  11.465. 
Hebra'(Prof.  d.  Dermatologie  in  Wien)  288. 
van  Hecke  (belgischer  Ingenieur)  416. 
Heiberg  (Arzt  in  ('hristiania)  86- 
Heine,     Bernhard     (Instrumentenmacher 

u.  Prof.    honorarius    chirurgiae  in  Würz- 
burg f  Zeitgenosse    von  Cajetan    v.  Tex- 
tor) 539. 
Heine,    C.  (Prof.    der   Chirurgie    in   Prag) 

371.  658. 
Hei  nicke  (Prof.  der  Chirurgie  in  Erlangen) 

423. 
Heister,  Lorenz  (1683—1758)   13.  751. 

752. 
Heitzmann  (Arzt  in  New-York)  460.497. 
Henke  (Prof.  der  Anatomie  in  Prag)  511. 

622. 
Henle    (Prof.    d.   Anatomie    in    Göttingen) 

65.  66.  606. 
Hennen,  John  (f  1828)  270. 
Hering  (Prof.  d.  Physiologie  in  Prag)  67. 
Hjelt  (Arzt  in  Schweden)   117.   118. 
Hippokrates    (460—377   a.    Chr.)    5.    7. 

408.  665.  811. 
His,    Wilhelm    (Prof.    der    Anatomie    in 

Leipzig)  70.  662. 
F.  A.  Ho  ff  mann  (Arzt  in  Berlin)  86. 
Howship  (englischer  Chirurg)  497. 
Hueter  (Prof.  der  Chirurgie  in  Greifswald) 

48.   167.   253.  400.  412.   413.   553.  611. 

618.  622.  624. 
Hufschmidt  (Arzt  in  Schlesien)  99. 
Hunter,  John  (1728—1793)  18.  15.  128. 

655.  657. 
Hutchinson  (Chirurg  in  London)  765. 
Jackson  (Arzt  in  Boston)   14. 
Jacobson  (Prof.  in  Königsberg)   99. 
Jeffrav  (?)  814. 

Jobert  (de  Lamballe)  (1799—1863)  14. 
Joch  mann  (f  Arzt  in  Preussen)  179. 
V.  Kern,  Vincenz  (1760—1829)   14. 
Key,    Axel  (Prof.  d.  pathol.  Anatomie  in 

Stockholm)  71. 
Klebs  (Prof.  der  pathol.  Anatomie  in  Prag) 

167.  462.  675.  754. 
Ki  lian  (Prof.  d.  Geburtshülfe  in  Prag  f)  504. 
Koch  mann  (Arzt  in  Schlesien)    802.  303. 

304. 
Köberle  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Strassburg) 

688. 
Kölliker  (Prof.  d.  Anatomie  in  Würzburg) 
497.  662.  712. 

53 


826 


Namen-Registev. 


König  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Rostock)  511. 

Kost  er  (Prof.  der  pathol.  Anatomie  in  Bonn) 
558.  710.  759. 

Kocher  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Bern)   128. 

Krause  (Arzt  in  Hannover)   130. 

Kühne  (Prof.  d.  Physiologie  in  Heidelberg) 
518. 

Kundrat  (Docent  in  Wien)  347.  458.  459. 

Laennec  (1781  —  1826)  461. 

Lambl  (Prof.  in  Charkow)  766. 

Lanfranchi  (f   1300)  9. 

Langenbeck,  Conrad  Martin  (1776 
bis  1850)  14.  17.  130. 

V.  L  a  n  g  e  n  b  e  c  k  ^  Bernhard  (Prof.  der 
Chirurgie  in  Berlin)  132.  243.  245.  246. 
270.  428.  610.   61.5.  632.  656.  731.  814. 

Langhans  (Prof.  d.  pathol.  Anatomie  in 
Bern)  457. 

Larrey,  Jean  Domini  que  (1766 — 1843) 
14.  235.  270. 

Lau  dien  (Arzt  in.  Königsberg)  99. 

Lawrence,   Sir   Will.  (1783—1767)   14. 

Leber  (Prof.  d.  Augenheilkunde  in  Göt- 
tingen) 370. 

Leber t  (Prof.  d.  medicinischen  Klinik  in 
Breslau,  jetzt  Arzt  in  der  Schweiz)  462. 
711. 

Leiter  (Instrumentenmacher  in  Wien)  214. 

Leroy,  d'Etiolles  (1798—1861)  14. 

Leube  (Prof.  d.  med.  Klinik  in  Jena)  435. 
436. 

Leyden  (Prof.  d.  medicinischen  Klinik  in 
Strassburg)  98.  424. 

Liebermeister  (Prof.  der  medicinischen 
Klinik  in  Tübingen)  98.  418. 

V.  Liebig,  Justus  (Prof.  der  Chemie  in 
München  f  1873)   168. 

Liebreich  (Prof.  d.  Medicin  in  Berlin)   25. 

V.  Linhart  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Würz- 
burg) 587.  812. 

Lister  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Edinburg) 
105.  188.  189.  523.  807. 

Löffler  (preussischer  Generalarzt  f  1873) 
270. 

Lösch  (Arzt  in  Petersburg)  95. 

Lukowsky  (russischer  Arzt)  376. 

Lorinser  (Arzt  in  Wien)   622. 

Lossen  (Docent  d.  Chirurgie  in  Heidel- 
berg) 209.  280. 

Lott  (Docent  in  Wien)  86. 

Lotze  (Prof.  d.  Philosophie  und  d.  Me- 
dicin  in  Göttingen)  63.  65.   66. 

Lowdham  (1679)  812. 

Lücke    (Prof.    d.  Chirurgie    in    Strassburg) 

■  323.  368.  6.36.  675.  710.  732.  734.  743. 
7.54. 

V.  Luschka  (Prof.  d.  Anatomie  in  Tü- 
bingen) 746. 

Maas  (Docent  d.  Chirurgie  in  Breslau) 
209.  540. 

Malgaigne  (1806  —  1865)    14.  2.57.  263. 

654. 
Martin  (Prof.  d.  Geburtshülfe  in  Berlin)  47. 
Maslowsky  (Arzt  in  Petersburg)  116. 


Mathvsen  (holländ.  Militärarzt)  213. 

Meckel  von  Hemsbach  (1821  —  18.56) 
518.  668. 

Menel  (Chur- Sächsischer  Regiments  -  Chi- 
rurg, Anfang  dieses  Jahrb.  f)  245.  261. 

Menzel  (Arzt  in  Triest)  107.  462.  608. 

Meyer,  Herr  mann  (Prüf.  d.  Anatomie  in 
Zürich)  620. 

Meynert  (Pi'of.  d.  Psychiatrie  in  Wien)  422. 

Middeldorpf  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Bres- 
lau, 1824—1868)  14.  32.  44.  687. 

Minnich  (Arzt  in  Venedig)   107. 

Mondino  de  Luzzi  (14.  Jahrb.)  9. 

Monro,  Alexander  (1696 — 1767)  13. 

Mo  ran  (französischer  Arzt)  551. 

Morton  (Arzt  in  Boston)   14. 

Moreau  (1782)  113. 

Mosengeil  (Docent  in  Bonn)  99. 

Mott,  Valent.  (1785—1865)  14. 

Müller,  Johannes  (1801  —  18.58)  .587. 
663.  680.  689.  713.  727. 

Müller,  Max  (Arzt  in  Cöln)  217. 

Müller,  W.  (Prof.  d.  path.  Anatomie  in 
Jena)  434. 

Nassiloff  (russischer  Arzt)  370. 

Nest orianer  7. 

Neudörfer  (Militärarzt  in  Wien)  48. 

Neumann,  E.  (Prof.  d.  pathol.  Anatomie 
in  Königsberg)  118.  733. 

Neumann,  J.  (Docent  in  Wien)  304. 

V.  Niemeyer  (f  1871)  456. 

Ollier  (Arzt  in  Lion)  539. 

Oribasius  (326—403)  7. 

Orth  (Docent  d.  path.  Anatomie  in  Berlin) 
371.  375.  376. 

Panum  (Prof.  d.  Physiologie  in  Kopen- 
hagen) 47.  48.  389. 

Paracelsus,  Bombastus  Theo- 
phrastus  (1493—1554)   11. 

Pare,  Ambroise  (1517—1590)  12.32.277. 

Park  (1762)  813. 

Pasteur  (Prof.  d.  Chemie  in  Paris)   168. 

Paulus  ab  Aegina  (660)  7. 

Pean  (Prof.  d.  Chirugie  in  Paris)  688.  697 
724. 

Percv.  Pierre  Francois  (1754 — 1825) 
13." 

Petit,  Jean  Louis  (1674—1760)  13.  38. 

Petrequin  (Chirurg  in  Lyon)  655. 

Pfleger  (Arzt  in  Ybs)  372. 

Pfolsprundt  (Mitte  des  15.  Jahrhunderts) 
12. 

Piorry  (Prof.  d.  Medicin  in  Paris)  404. 

Pirogoff.  Nicolaus  (Prof.  d.  Chirurgie 
in  Russland)  213.  270.  275.  522.  576. 

V.  Pitha  (Prof.  d.  Chirurgie  an  der  Jo- 
sephs-Aeademie  in  Wien)  367.  438.  617. 

Ploucquet  (1744—1814)  812. 

Rollender  (?)  434, 

Polli  (Prof.  in  Padua)   106.  418. 

Ponfi  ck  (Prof.  d.  pathol.  Anatomie  in  Ro- 
stock) 509. 

Porta  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Pavia)  128. 
129.  130.  137. 


Namen-Regisfer, 


827 


Patt,   Percival   (1713  —  1768)    13.    185. 

511.  620. 
Pravaz  (f  Arzt  in  Lyon)  655. 
Purmann,  Gottfried  (1674—1671))   12. 
Putz  (Arzt  in  Baldenburg)  429. 
Ravaton  (franz.  Chirurg,  Mitte  des  vorigen 

Jahrh.)  812. 
Raynaud  (Arzt  in  Paris)  358. 
-V.    Recklinghausen     (Prof.     d.     pathol. 

Anatomie   in  Strassburg)    67.  69.  71.  83. 

127.  254.  387. 
Redfern  (englischer  Arzt)  70. 
Reichert    (Prof.    d.    Anatomie   in   Berlin) 

662.- 
Remak,  Robert  (f  1865)   309.  347.  662. 

633. 
Reverdin  (Arzt  in  Genf)  77.  81.  107.  484. 

634.  670. 
Rhazes  (850—932)  8. 
Rhea   Barton    (Prof.    in    Philadelphia    in 

Amerika)  246.  615. 
Richardson  (Ai-zt  in  London)  24. 
Richter,  Aug.  Gottlob  (1742—1811)  13. 
Ricord  (Chirurg  in  Paris)  641. 
Rindfleisch,    Eduard    (Prof.    d.    päthol. 

Anatomie  in  Würzburg)  68.  110.  124.  309. 

347.  457.  458.  459.  460.  462.  503.  504. 

673.  674.  699.  704.  710.  717.  725.  739. 

754. 
Ris  (Arzt  in  Zürich)  217.  234. 
Rizzoli  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Bologna)  245. 
Robin  (Prof.  d.  Anatomie  in  Paris)  794. 
Rokitansky    (Prof.    d.    pathol.   Anatomie 

in  Wien)   74.    119.   422.   667.   678.   684. 

703.  713. 
Rollet  (Prof.  d.  Physiologie  in  Graz)  291. 
Romberg   (Prof.  d.    Medicin  in  Berlin,  f 

1873)  465. 
Rose,  E.  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Zürich)  421. 

423. 
Rosenb erger  (Arzt  in  Würzburg)  77. 
Roser  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Marburg)  323. 

327.  423.  708. 
Roux  1780—1854)  14. 
Rust,   Joh.  Nepomuk  (1775—1840)  14- 

490.  561. 
Salernitanis  che  Schule  8. 
Samuel   (Prof.   der   allgem.  Pathologie   in 

Königsberg)   66.  72.  293.  343.  345.  346. 

347.  407. 
Sattler  (Arzt  in  Wien)    718.  719.  729. 
.Scarpa  (1748—1832)  13. 
Schiff   (Prof.   d.    Physiologie    in  Florenz) 

65.  66,  117.  410. 
Schmidt,  Alexander   (Prof.  in  Dorpat) 

72.  73.  113. 
Schneider  (Chursächs.  Regiments-Chirurg, 

Anfang  dieses  Jahrhunderts  f)  245.  261. 
Schneider  (Arzt  in  Königsberg)  98. 
Schönlein,  Lucas  (1793—1864)  679. 
Schüller  (Arzt  in  Hannover)  86. 
Schuh,  Franz  (1804—1866)  14.  722.  780. 
Schulze,  Max  (Prof.  d,  Anatomie  in  Bonn 

t  1873)  83. 


Schüppel   (Prof.   d.   pathol.    Anatomie    in 

Tübingen)  457.  461. 
Schwalbe  (Arzt  in  Weinheim)  743. 
Schwann,  Theodor  (Prof.  d.  PhysioI();j;ir, 

in  Lüttich)   119.  661. 
Scultet  (1595—1645)  214.  812. 
Seegen  (Prof.  d.  Balneologie  in  Wien)  307. 
Senator  (Arzt  in  Berlin)  98.  99. 
Seutin,  Bar.  (1793—1862)  14.  21.5.  218. 

234. 
V.  Siebold,  Carl  Caspar  (1736—1807) 

13. 
Silvestri  (Arzt  in  Vicenza)  39. 
Simon    (Prof.    d.  Chirurgie   in  Heidelberg) 

Simpson,  Sir  James  (Prof. jHHBHfojiirta - 

hülfe  in  Edinburg  f  1869)   ISTm 
Sims  (amerikanischer  Gynaekolog)  40. 
So  bor  off  (russischer  Arzt)  638. 
Skutsch  (Arzt  in  Schlesien)  203. 
Sprengel,  Kurt  (1766—1833)  812. 
Stanley  (1791—1862)  14. 
Steudener   (Docent   d.    pathol.   Anatomie 

in  Halle)  309. 
Störk  (Docent  in  Wien)  744. 
Stricker,  Salomon  (Prof.  d.  allgem.  Pa- 
thologie in  Wien)  69.  71.  391.  430. 
Stricker  (Arzt  in  Frankfurt  a.  M.)  278. 
Strom  eye  r    (früher   Prof.    d.  Chirurgie  in 

Freiburg,  München,  Kiel,  Generalstabsarzt 

in   Hannover)    135.   270.   340.   413.  602. 

628. 
Stromeyer  (Arzt  in  Göttingen)  370. 
Süsrutas  (1.  Jahrhundert?)  4. 
Sydenham  (1624—1689)  465. 
Syme  (f   1869  in  Edinburg)   14.  576.  627. 
Szymanowski  (Prof.  d.  Chirurgie  in  Kiew, 

t  1868)  214. 
Taylor  (Chirurg  in  New-York)  568. 
V.   Textor,    Cajetan    (1782—1860)    14. 

418. 
Theden,  Chr.  Ant.  (1714—1797)  13.40. 
Thiersch   (Prof.    d.  Chirurgie   in  Leipzig) 

73.   93.   107.    127.  347.  482.    672.   67.5. 

677.  762.  767. 
Tillmann  (Docent  in  Leipzig)  710. 
Traube  (Prof.    d.  medicinischen   Klinik  in 

Berlin)  97.  98.  179. 
Troja,  Michele  (1747—1827)  539. 
Trotula  (12.  Jahrhundert)  8. 
Tschausüff  (russischer  Arzt)   127. 
Valsalva  (1666—1723)  653. 
Vanzetti    (Prof.    d.    Chirurgie    in    Padua) 

654. 
Velpeau  (1759—1867)  14.  581.  780. 
Verduin  (1696)  812. 
Vermale  (franz.   Chirurg  Mitte  d.  vorigen 

Jahrh.)  812. 
Verneuil    (Prof.    der   Chirurgie   in    Paris) 

685.  739. 
Vesalius,  Andreas  (1513 — 1564)  11.  12. 
Vi  dal   (de    Cassis)   Prof.   der  Chirurgie    in 

Paris  t)  641. 
Villemin  (Arzt  in  Paris)  462. 


828 


Namen -Register. 


Virchow    (Prof.    d.   pathol.   Anatomie    in 

Berlin)    29.   63.   64.   65.   66.  68.  70.  87. 

110.  113.  205.  209.  347.   381.  387.  388. 

389.  403.  412.  438.  445.  461.  467.  497. 

499.  505.  518.  547.  659.   660.  661.  662. 

665.  668.  669.  672.  673.   674.  675.  678. 

680.  682.  692.  694.  695.   696.  700.  710. 

711.  712.  713.  714.  716.   717.  725.  732. 

735.  744.  748.  752.  753.  754.  755. 
Voikmann,  Eich.  (Prof.    d.  Chirurgie  in 

Halle)  187.  216.  252.  309.  334.  489.  497. 

499.  503.  505.  513.  568.  579.   589.  606. 

617.  618.  636.  754. 
Wagner.    A.  (weiland   Prof.   d.  Chirurgie 
■''^^'"'jt  1871)  245.  307.  539. 
'rof.  in  Leipzig)  467. 
W'fflW!fpi3i''(Prof.  d.  Medicin  in  Berlin) 

:  4 (;■-'."""    ■"  _ 

Waldt'v.er   (Prof.    d.  Anatomie   in  Strass- 

burg) '^662.  675.  7.54.  756. 
Waller  (englischer  Arzt)  69. 
V.  Wälther,  Philipp  (1782—1849)  14. 
Wardrop  (f  englischer  Chirurg)  655. 
Weber,   Otto   (1827  —  1867)    14.   98.  99. 

100.  116.  125.  176.  319.  389.  390.  400. 


412.  497.  518.  5.59.  .590.   659.  672.  674. 

675.  697.  732. 
Wegner  (Docent  der    patholog.    Anatomie 

in  Berlin)  205.  209.  497.  .540.  549.  712. 
Wells,    Spencer     (Chirurg    in    London) 

417.  684. 
Wernher    (Prof.  d.  Chirurgie   in  Giessen) 

602.  779. 
Wertheim  (Arzt  in  Wien)  491. 
White  (1769)  813. 
V.  Wini warter,   A.  (Arzt  in  Wien)  703. 

708.  733. 
J.  W^olff  (Arzt  in  Berlin)  208.  .540. 
Würtz,  Felix  (f  1567)   12. 
Wunderlich  (Prof.  der  medicinischen  Kli- 
nik in  Leipzig)  97. 
Wutzer  (1789—1860)  14. 
W  yss,  0.  (Prof.  d.  Poliklinik  in  Zürich)  462. 
Wywodzoff  (Arzt  in  Petersburg)  93.  94. 
Zaleski  (?)  674. 

Zeis  (Arzt  in  Dresden  f  1868)  77. 
Zenker    (Prof.    der    pathol.    Anatomie    in 

Erlangen)  319.  749. 
Ziemssen  (Prof.  der  medicinischen  Klinik 

in  Erlangen)  438.  635. 


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