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Full text of "Die Anarchisten; eine kriminal-psychologische und sociologische Studie"

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Die Anarchisten; eine 
Kriminal-psychologische und ... 




Cesare Lombroso, H Kurella 




HARVARD LAW LIBRARY 



Received JAN 6 1922 







igiti2ed by 



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DIE 

ANARCHISTEN." 

EINE KRIMINALPSYCHOLOGISCHE 

UND 

SOCIOLOGISCHE STUDIE 

VON 

CESABE LOMBROSO. 

NACH DER ZWEITEN AUFLAaE DES ORIGINALS 
DEUTSCH HERAUSGEGEBEN 

VON 

DB- HANS KÜRELLA. 

MIT BIKER TAFEL UND FÜNF TEXTABBILDUNGF.N. 



(^''0 



HAMBURG. 
VERLAGSANSTALT UND DRUCKEREI A.-G. (VORM. J. F. RICHTER) 

KÖNIGLICH SCHWEDISCH-NORWEGISCHE HOFVERLAGSHANDLIJNU. 

1895. 



S 



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Giiogle 






JAN 6 1922 



Draok der VerlAftaaitalt und Drnekerei A.-G. (yormali J. F. RiehUr) io Hamburg. 
ROnigUeh Sehwtdisch-Norwegiiche Hofbuohdruokerei. 



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Vorrede zur ersten Auflage. 



Ich bin darauf gefafst, dafs dieses Buch, welches wie das 
über den Antisemitismus und den politischen Verbrecher allem 
Parteigetriebe, das unser Land zerfleischt, völlig fernsteht, das- 
selbe Schicksal haben wird wie jene, d. h. dafs es überall 
widerwillig aufgenommen werden wird. Ja, vielleicht werden 
sich der Dolch des Anarchisten und der Säbel des Schutz- 
manns gleichzeitig regen^ um sich gf»gen mich zu richten, Jener, 
um in hergebrachter Weise durch die Gewalt zu widerlegen. 
Dieser mit ähnlicher Logik als Schiedsrichter des italienischen 
Denkens und seiner Bewegung. 

Nun, das wäre der einzige und beste Lohn, den ich mir 
wünschen kann, denn damit wäre mit experimenteller Exaktheit 
die Unparteilichkeit der psychiatrisch anthropologischen Methode 
nachgewiesen, wenn es sich darum handelt, dieselbe auf die 
brennendsten Tagesfragen anzuwenden, wie ich das hier und 
in andern Werken versucht habe; einer Methode, die hoch 
über den vergänglichen und oft so niedrigen Interessen der 
Politik steht, welche die Zeit und die Selbstsucht beständig 
wechseln lassen. 

Turin, im Juli ^894. C. LombrOSO. . 



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Vorrede zur zweiten Auflage. 



Gerne nehme ich wieder in gröfserer Mufse meine Arbeit 
auf, um sie zu ergänzen, wo sie lückenhaft war, und um den 
vielfachen Bemerkungen zu entsprechen, welche wohlwollende 
und einsichtige £[ritiker darüber gemacht haben. 

Man hat mir vorgeworfen, so z. B. ein so kompetenter 
Kritiker, wie Professor Majarano,* ich gäbe eine individuelle 
Pathologie an Stelle einer socialen; ich strebte jedoch nach 
einer socialen Psychiatrie, nicht nach einerjndividuellen, woher 
kommt es nun, dafs ein Mensch, der zu anderen Zeiten und 
an anderen Orten Seeräuber, Bandit oder Bravo geworden 
wäre, heute Anarchist im schlimmsten Sinne des Wortes wird? 

Meine Antwort findet sich in der Kritik der heutigen 
gesellschaftlichen Zustände, die ich im ersten Kapitel versucht 
habe, mit ihrer Verlogenheit und ihrem bis zum Delir gehenden 
Fanatismus der Klassen. Stets, auch in barbarischen Zeiten, 
hat es altruistisch gestimmte Irre und Verbrecher gegeben, die 
sich äufsem mufsten; sie thaten das früher in religiösen 
Bewegungen, später in antimonarchischen Parteien und Ver- 
schwörungen; sie wurden Kreuzfahrer, fahrende Ritter, später 
Rebellen und Märtyrer des Glaubens oder des Unglaubens' 
wie Arnold von Brescia und Giordano Brunno, oder Tribunen, 



' Teoria sociologica della eosHtuzione poUHca. 



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wie Cola di Rienzi, oder Tyrannenmörder wie Brutus und 
Ravaillac. Wer sich aber heute an die Spitze derartiger Be- 
wegungen stellen wollte, wie das Lazzaretti, Ooccapieller, 
Lavigerie versucht haben, würde bald lächerlich werden. 

Wenn nun derartige Fanatiker des Altruismus auftauchen, 
besonders in einem romanischen Volke, so finden sie nirgends 
ein Arbeitsfeld, wenigstens unter normalen Verhältnissen, als 
das sociale und wirthschaftliche. In Deutschland und England 
fänden sie noch ein Gebiet für ihre Leidenschaften im religiösen 
Pietismus, im Kastengeist oder wenigstens auf dem Gebiete 
religiöser Philanthropie. 

Daraufhat schon Ferrbro in einer ausgezeichneten Studie 
hingewiesen (LIdea liberale): „Das geeignetste Terrain für den 
Fanatiker ist die Religion, und in der That rekrutirt sich in 
England die religiöse Propaganda aus Tausenden von Fanatikern, 
die sich unter den verschiedensten Doktrinen fieberhaft um die 
Rettung der Seele vom Untergänge im Laster bemühen. Darin 
haben sie ein ungeheueres Feld, um ihren Bewegungs- und 
Thätigkeitsdrang zu befriedigen, Reden zu halten, Wohl- 
thätigkeitsanstalten und Kirchen zu organisiren." 

Man hat mich nun gefragt, wie es kommt, dafs ein un- 
wissender Bauer, wie Oaserio, plötzlich mit soviel Kaltblütigkeit, 
Kühnheit und Sicherheit ein Verbrechen plant und ausführt, 
vor dem der hartgesottenste Zuchthäusler zurückschrecken 
würde. Ich hätte, so sagt ein Journalist in der FanfuUa, das 
erklären sollen, denn in der That könnten die Epilepsie des 
Vaters, die Pellagra des Bruders und der Fanatismus des 
Verbrechers selbst wohl eine so tiefgreifende und plötzliche 
Veränderung erleichtem, aber damit wären für den Laien 
noch nicht die unmittelbaren psychologischen Momente und 
Motive der That aufgedeckt. Darauf antworte ich, dafs die 
Laien nichts von dem durch die Psychiatrie geführten Nachweis 



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— VI - 

wissen, dais ein leidenschaftliches Temperament und erbliche 
Epilepsie und Pellagra das Niveau des Gefühlsiebens steigern 
und es in einer bestimmten Richtung hin konzentriren und 
polarisiren, so dafs der unendliche Abstand zwischen einem 
apathischen Bauemburschen und einem fanatischen Sektirer 
verringert wird; dazu kommt, dafs die unglückliche Lage des 
lombardischen Landvolks wohl einen Vorwand, ja einen Grund 
dafür abgeben kann, fanatisch die Leiden Anderer mitzufühlen, 
wenn auch höchst verschroben. Ich habe diese sociale Lage 
30 Jahre lang während meiner Untersuchungen über die Pellagra 
erforscht, die — und leider fand ich dafür lange kein Gehör — 
durch die Grundbesitzer hervorgerufen wird, die völlig straflos 
ihren Arbeitern giftigen Mais vorsetzen. 

Wer die verschiedenen Formen, unter denen die erblichen 
Folgen der Epilepsie und Pellagra auftreten, nicht kennt und 
sich darüber aus der Litteratur nicht unterrichten kann, der 
wird den Zusammenhang zwischen diesen Krankheiten und 
einem politischen Verbrechen nicht verstehen und wird leicht, 
anstatt sich seiner Unwissenheit zu schämen, den Unterrichteten 
als Narren verlachen. 

Wer wie der Leitartikler der Fanfulla erklärt: Hier ist 
ein grofses Verbrechen begangen worden, und deshalb kann 
nur von Strafe die Bede sein, und der Meinung ist, die Buch- 
losigkeit des Verbrechens dürfe nicht von der Psychiatrie 
abgeschwächt werden, dem kann ich nur antworten: Wir treiben 
unser Metier, Ihr das Eure. Ihr wollt verurtheilen, wollt Ihr 
auch zur Folter zurückkehren? Thut es, aber fragt dann uns 
nicht und verlangt nicht, dafs wir die Thatsachen so drehen, 
wie es Euch pafst. Wie man ehemals hysterische Weiber 
als Märtyrer oder Hexen tödtete, so kann man jetzt wohl einen 
Irren, einen Epileptiker oder einen Fanatiker hinrichten, wenn 
er einmal die Waflfe seines Wahnsinns so richtet, dafs eine. 



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— VII — 

blolfl durch Blut zu beruhigende Entrüstung erregt wird. Aber ein 
solches Moment kann doch nicht für eine psychiatrische Diagnose 
ausschlaggebend sein, ebensowenig wie man von einem Botaniker 
verlangen kann, dafs er Sturmhut und Schirling aus der Botanik 
verweist, weil diese anstatt der Anmuth der Rose Gift be- 
uitzen. Sie bleiben doch Blumen, auch wenn sie nicht duftig 
und reizend sind. 

Was nun diejenigen Kritiker betrifft, die sich nicht ein- 
mal damit entschuldigen können, dafs sie Journalisten sind, 
und die den merkwürdigen Muth haben, zu behaupten, dafs 
ich in diesem Buch alle Anarchisten für epileptisch erkläre, 
so kann ich nur sagen, dafs es zu eigenthümlichen Betrachtungen 
über die Wissenschaft in Italien anregt, wenn ein Gelehrter, 
der ein populäres Buch von wenigen Seiten rezensiren soll, 
mit geschlossenen Augen das Gegentheil von dem verkündet, 
was darin steht; was soll man von solchen Leuten, die sich 
in einer so einfachen Frage derart kompromittiren, erwarten, 
wenn sie komplicirtere Fragen zu beantworten haben? 

Turin, im Oktober 1894. C. LombrOSO. 



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lahaltsverzeichnifs. 



Seite 

Vorrede zur ersten Auflage III 

Vorrede zur zweiten Auflage IV 

Erstes Kapitel. 

Wesen und Ursache des Anarchismus. Charakteristik und Kritik 
der anarchistischen Lehre. Ihre Absurdität. Bevolution und 
Kevolte ! 1 

Zweites Kapitel. 

Das Verbrecherthum in der Anarchie. Rothwelsch. Tätto wirungen. 
Sittliches Gefühl. Lyrik. Betheiligung gemeiner Verbrecher. 
Bavachol und Pini. Verbrecherthum und Politik 25 

Drittes Kapitel. 

Epilepsie, Hysterie und Anarchie. Monges. Vaillant 37 

Viertes Kapitel. 

Geisteskranke politische Verbrecher. Beispiele. Stiiproben 
mattoider Anarchisten 45 

Fünftes Kapitel. 

Attentate als Mittel indirekten Selbstmords 55 

Sechstes Kapitel. 

Die LeidenschaftsYerbrecher und der Fall Caserio. Anthropo- 
logische und psychologische Momente. Caserio. Epilepsie und 

Hyperästhesie. Santiago 60 

Nachtrag: Nach der Hinrichtung Caserios 78 

Siebentes Kapitel. 

Altruismus und Anarchismus 85 

Achtes Kapitel. 

Der Philoneismus der Anarchisten 100 

Neuntes Kapitel. 

Kosmische, ethnologische und wirthschaftliche Faktoren. Geo- 
graphie der politischen Verbrechen. Bodenbeschaflenheit. Basse 
und Rassenmischung , 105 

Zehntes Kapitel. 

Vorbeugende Malsregeln. Einflufs der Presse, der Religion. 
Des Sozialismus und die soziale Reform. Politik und Verwaltung. 114 



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Erstes Kapitel. 
Wesen und Ursache des Anarchismus. 

In unserer Zeit, in der das staatliche Leben einer 
wachsenden Diflferenzirung und Komplicirtheit zustrebt, kann 
man nur einen enormen Rückschritt in einer Theorie der Ge- 
sellschaft sehen, die, wie die der Anarchisten, die Rückkehr 
zu prähistorischen Zuständen, noch hinter die Zeit des ersten 
pater familias^ anstrebt. Immerbin mufe auch in den absurde- 
sten Theorien, falls sie eine gröfsere Anhängerschaft finden, 
etwas Richtiges stecken. Die Anlehnung an primitive Ur- 
zustände allein berechtigt auch noch nicht zu einer unbedingten 
Ablehnung eines socialen Systems, denn unser Fortschritt bewegt 
sich nicht in einer beständig aufsteigenden Kurve, sondern in einer 
von Zeit zu Zeit nach abwärts gerichteten Zickzacklinie. MtUta 
renascentur quaejam ceciderunt^ das gilt z. B. für die Ehescheidung, 
in der etwas von der Tendenz zur Rückkehr zu vorchristlichen 
Zuständen und selbst zum primitiven Hetärismus steckt und 
auch für den Hypnotismus, in dem allerlei vermeintlich ver- 
gessene Magie wieder auftaucht, die man schou lange zu den 
kindischen Fabeln der Urzeit verweisen wollte; das gilt auch 
vom modernen Monismus, von den neuen Ideen übex den 
Schutzzweck und das Recht der Strafverhängung, ja selbst 

LoMBRoso, Die Anarchisten. 1 



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— 2 — 

vom allgemeinen Stimmrecht und dem Referendum. Die Ent- 
stehung jener seltsamen Partei wird nur durch eine Betrachtung 
unserer socialen Verhältnisse verständlich. 

Auch müssen wir bedenken, dals ein Beamter in gut 
besoldeter Stellung, oder ein satter, intellektuell und moralisch 
bomirter Rentier uns wohl versichern werden, daJs wir in der 
besten der möglichen Gesellschaften leben, während Männer 
wie Hugo, Zola, Tolstoi dem Fragenden sagen werden, dafs 
unser fin de siede recht traurig und unglücklich sei. 

Ich erinnere an die Worte, die vor vielen Jahren einer der 
solidesten und regierungsfähigsten Männer, die ein romanisches 
Volk je gehabt hat, Tocqübville, sagte: Unsere Regierungen 
begehen den Fehler, sich ausschliefslich auf die Interessen und 
den leidenschaftlichen Egoismus einer Klasse zu stützen; aber 
wenn eine Regierung unpopulär geworden ist, wird sie selbst 
von der Klasse geschmäht, der sie sich geopfert hat und die 
dann die empfangenen Wohlthaten vergiist. Wenn ich den auiser- 
ordentlichen Unterschied bedenke; der heute nicht nur zwischen 
den Gesetzen, sondern auch den gesetzgeberischen Grundsätzen 
besteht, und die Verschiedenheit der Form, welche der Grund- 
besitz angenommen hat und noch bewahrt, so fühle ich mich 
zu glauben versucht, dafs die Institutionen, welche man als 
nothwendig bezeichnet, nur solche sind, an die wir uns am 
meisten gewöhnt haben, und dass auf dem Gebiete der sozialen 
Organisation sehr viel zahlreichere Aenderungen nöthig sind, 
als die Meisten von uns sich vorstellen können.^ 

Vor allem fühlt die Menschheit die Mängel der heutigen 
ökonomischen Ordnung; zwar giebt es keine Theuerungen 
mehr, die [früher Tausende dahinrafften, und unsere Arbeiter 
sind wahrscheinlich besser gekleidet als eine Burgherrin von 
ehedem, aber die Bedürfnisse sind gewachsen und noch mehr 



* Alexis db Tocqübville, Souvenirs 1892. 



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— 3 — 

der Widerwille gegen die hergebrachte Art, sie zu befriedige». 
Im Grande findet auch heute das Elend keine andere Milderung 
als Almosen, die kaum der momentanen Noth abhelfen, zugleich 
aber das Selbstgefühl verletzen. 

Auch das Heilmittel der Kooperation kann nur in einer 
begrenzten Sphäre wirksam sein und in den agrarischen 
Verhältnissen Italiens kann sie gar nicht zur Geltung kommen. 
Aber selbst wenn diese Mittel erspriefslich und wirksam wären, 
sie können die erregte Gesellschaft nicht beruhigen, denn der 
sociale und ökonomische Fanatismus, der den Chauvinismus 
und die religiöse Bewegung früherer Generationen abgelöst hat, 
ist allzublind und gewaltsam, und macht an so schwachen 
Dämmen nicht halt, unter unseren Augen verschwinden all- 
mählich die alten Ideale und Interessenmittelpunkte, — die 
religiösen und nationalen Leidenschaften, der Corpsgeist und die 
Kirchthurmpolitik, der Parteisinn und die Elasteninteressen. 
Ohne Ideale aber können die Menschen nicht leben, und so 
haben sie sich einem socialpolitischen Idealsysteme ergeben, 
das zu positiv, zu praktisch und vital wichtig ist, als dals es 
der logischen Analyse der modernen wissenschaftlichen Kritik 
weichen sollte ; auf diese Ideale konzentriren sich heut 
die Kräfte, die früher den vielen anderen Interessen zu- 
gewendet wurden; man hat kein lebendiges Gefühl mehr für 
die alten Tugend-Ideale, den Opfermuth, die Toleranz, die 
Selbstverleugnung, aber man sieht noch genug von ihren 
Trümmer und Spuren, um sie als lästig und hemmend zu 
empfinden; wenn die Geschichte auch schon ihr Urtheil über 
das religiöse und das feudale Zeitalter gesprochen hat, so hat 
sie doch noch lange nicht ihre Folgen beseitigt, an denen 
wir nun noch zu leiden haben. Die feudale üebermacht und 
auch die Intoleranz und Heuchelei der Kirche bestehen an 
vielen Orten noch neben dem drückenden IJebergewicht der ßour- 



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— 4 — 

geoisie. Die Theokratie ist anscheinend längst aus unserem öffent- 
lichen Leben verschwunden ; wenn man aber versucht, eine Frage 
zu behandeln, die sich auch nur an wenigen Punkten mit einer 
religiösen Frage berührt — etwa die Ehescheidung oder 
den Antisemitismus — , so zeigt sich gleich, däss man in 
ein Wespennest religiöser Atavismen gestochen hat, wenn die 
Entrüstung auch das Banner der individuellen Freiheit öder 
der Frauenrechte schwingt Auch die Herrschaft der Krieger- 
kaste ist seit ein paar Jahrhunderten verschwunden, aber sobald 
man an den Militarismus rührt, hat man gleich die ganze 
Meute der Officiellen und der Officiösen hinter sich; der Staat 
soll dann ohne Millionen für Hunderte betrefeter Sinekuren- 
inhaber und Generale k la suite verloren sein; dabei findet 
man die halbverhungerten Schullehrer mit Elogen ab, maskirt 
mühsam den Staatsbankerott und vertheuert dem darbenden 
Landarbeiter sein Stückchen Brot. 

Aehnlich steht es mit den Idealen des Nationalgefühls 
und der ästhetischen Bildung, sie sind dem Untergange geweiht ; 
aber man versuche nur einmal, die Massen des französischen 
Volkes zum Aufgeben ihres Hasses gegen die Italiener, die 
Engländer, die halbe Welt zu bewegen; man mache den 
Itdienem der mittleren Schichten klar, wie lächerlich ihre 
hohle Anbetung des klassischen Alterthums ist, für das sie im 
Grunde genommen weder Verständniis, noch Geschmack besitzen, 
an dessen Studium ihre Söhne die schönsten Lebensjahre 
verderben, — und sie werden Einen nicht verstehen wollen 
und sich höchlichst entrüsten. 

Der vierte Stand hat sich gegen die Gewinnsucht des 
Handels und der Industrie erhoben und ein Mifsverhältnifs 
entdeckt zwischen dem, was den drei oberen Ständen au 
Arbeit und Gewinn zutheil wird, und seinem eigenen Lohne. 
Dies Gefühl wird um so lebhafter ausgedrückt, je geringer 



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— 5 — 

das Elend des vierten Standes ist. Die halbverhungerten 
Indier und die pellagrösen Lombarden haben nicht mehr die 
Kraft, sich aufzulehnen; dagegen zeigen die Landarbeiter der 
Romagna, die gutgenährten Fabrikarbeiter Deutschlands und 
Australiens einekräftige Initiativeund treten für ihre schwächeren 
Genossen ein.* 

Es kann nicht bestritten werden, dafs viele unsrer staatlichen 
und gesellschaftlichen Institutionen, gleichviel ob unter der 
Monarchie oder unter der Republik, eine grofse konventionelle 
Lüge sind, was wir — wenigstens wir Romanen — in 
unserem Innern alle einräumen, wenn unsere Lippen es auch 
leugnen. Der Glaube an den Parlamentarismus, der seine 
klägliche Impotenz täglich von neuem zeigt, ist eine Lüge; ebenso 
unwahr ist der Glaube an die — so oft tief unter dem Durch- 
schnitt der Gebildeten stehenden — leitenden Politiker, und 
nicht besser steht es mit dem Vertrauen auf eine Rechtspflege, 
die nur 20% der Verbrecher zu trefien weifs, von denen die 
meisten arme Narren sind, während sie die Anderen in die 
Lage versetzt, sich noch von den Schwachen und Unschul- 
digen, die sie ausbeuten, be wundem zu lassen. 

Die Italiener beherrschen kaum einen handbreiten Streifen 
des Meeres, das sie von allen Seiten umgiebt, sie lassen weite 
Strecken ihres Heimatlandes unangebaut und stürzen sich dabei 



* Interessant ist in dieser Beziehung die von der Pariser Polizei- 
präfektur versuchte Statistik der Anarchisten, welche 500 Individiuen 
aufzählt und sie in zwei Klassen, Agiiatoren uud Adepten, theilt. Unter den 
Agitatoren finden sich 10 Journalisten, 25 Buchdrucker und zwei 
Korrektoren, unter den Adepten 17 Schneider, 16 Schuster, 20 Arbeiter 
der Nahrungsmittelindustrie, 15 Kunsttischler, 12 Barbiere, 15 Mechaniker, 
10 Maurer und 250 Andere aus verschiedenen Professionen. Unter den 
Letzteren finden sich ein Architekt, ein Exgerichtsvollzieher, ein Sänger, 
ein Börsenspekulant, ein Versicherungsagent u. s. w. Viele der Letzteren 
werden wohl kaum arge Noth leiden, was auch für Leute wie Krapotkin 
und H. Dupont gilt. 



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— 6 — 

mit kindlicher Freude auf fast wüste überseeische Territorien, die 
uns noch viel Blut kosten, aber nichts einbringen werden. 

Die fressenden Schäden, die an unserem Leben nagen, 
die Pellagra, den Alkoholismus, den Aberglauben, die Schul' 
misere, den organisirten Rechtsbruch behandelt man bei uns 
mit theatralischen Phrasen, mit Rhetorik und Verfügungen 
im Kurialstil, die so lange wiederholt werden, bis man sich 
einbildet, etwas gethan zu haben. Und dabei wird die Gesell- 
schaft Roms, über der zwei Grewalten thronen, wie der Taikun 
und der Mikado im alten Japan, von einer Schar jammervoller 
Rhetoren verwüstet, und zeigt auf kleinem Räume alle Leiden 
Italiens vereint: Einen Klerus, der trotz aller liberalen Illusionen 
durch seinen EinfluJs auf die Höhen und Tiefen der Gesellschaft — 
die Patrizier und die Plebejer — mächtig ist; eine Clique, die die 
Macht, aber nicht das Prestige dieser beiden Extreme geerbt 
hat und schwerlich mehr Geist und Kraft als sie besitzt; 
eine überall herrschende Mittelmäfsigkeit, die sich ihrer Un- 
fähigkeit nicht bewuist ist und die den Erfolg anbetet, ohne 
einen Zweck zu ahnen oder zu wollen. 

Ueberall sehen wir, wie Prunk und Schein die Stelle 
wirklicher Institutionen, wie Kirchthurmpolitik und Parteigeist 
die Stelle der Vaterlandsliebe einnimmt; überall eine schwüle 
Euhe, wie die eines Tropenmeeres, selten unterbrochen von 
kurzen Stürmen, die von Männern ausgehen, welche mehr 
Herrschsucht als Ehrlichkeit besitzen und es oft verstehen, 
ihren Einflufs auf das Volk dadurch zu Geld zu machen, dafs 
sie ihn en detail verschachern. 

Der Einflufs des Unterrichts kann diese Uebel nur steigern; 
heute, wo ein Tag mehr bringt, als früher ganze Jahre, und 
ein Jahr mehr, als einst ein Jahrhundert, zwingt man die 
Jugend, in einer längst verstaubten Atmosphäre zu leben. 
Heute finden die tüchtigsten Köpfe kaum Zeit genug, um 



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— 7 — 

sich den heute unentbehrlichsten Wissensstoff, das Noth- 
wendigste aus dem Gebiete der lebenden Sprachen, der Statistik, 
der Naturwissenschaften und Hygiene anzueignen, und da 
soll sich nun die Jugend abquälen, todte Sprachen zu stammeln, 
nur um einen ästhetischen G-eschmack zu erwerben. So 
rauscht der Strom des modernen Lebens mit seiner Fluth von 
Thatsachen an uns vorüber, ohne dafs wir seine Bewegung 
merken. 

Wenn man bedenkt, dafs man fänf oder sechs Jahre Latein 
lernt, in einem Alter, in dem man allein noch im stände ist, sich 
eine moderne Sprache anzueignen, in dem man das unentbehr- 
liche Deutsch und Englisch hätte lernen können, so ist das nur 
vom Standpunkte eines jesuitischen Erziehungsprinzips begreif- 
lich, welches der Jugend bis zum zwanzigsten Jahre alles vor- 
enthält, was Charakter, Intelligenz und ein männliches Urtheil 
bilden könnte. Wie werden unsere Enkel lächeln, wenn sie 
daran denken, dafs Tausende von Menschen im Ernst geglaubt 
haben, irgend ein Bruchstück eines Klassikers, unter Gähnen 
und Widerwillen mühsam eingezwängt und sehr viel schneller 
vergessen, oder gar trockne Regeln einer altsprachlichen Gram- 
matik wären das zweckmäfsigste Werkzeug zur Schärfung eines 
jungen Goistes, werthvoller als die Anschauung von Dingen, 
die dem Interesse unmittelbar naheliegen, und wichtiger, als 
die immanente Logik der Thatsachen. Wer wird später noch 
glauben, dafs ein Arzt, ein Ingenieur, ein Oompagniechef Latein 
verstehen muls, nachdem die hygienischen, mathematischen und 
taktischen Normen sich völlig geändert haben und jedes gründ- 
liche Fachwissen nur aus der Litteratur modemer Sprachen 
erworben werden kann. Inzwischen füllt eine Generation nach 
der andern ihr Gehirn jahrelang mit substanzlosen Formen und 
treibt einen Fetischdienst des Alterthums, der wesenloser ist, 
als die Form (die wenigstens einmal ein ästhetisches Meister- 



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— 8 — 

werk anregen könnte) nnd um 8o nnfruchtbarer und sinnloaer, 
je mehr Zeit bei diesem sinnlosen Treiben nutzlos verthan 
wird. Wenn nun endlich das jugendliche Oehim mit antiken 
klassischen Hadern genügend voUgestopfi; ist, preist man 
noch ein paar Jahre lang metaphysischen Dunst hinein. Da 
können wir noch Gk)tt danken, dais unsere arische Abstammung 
nicht früher entdeckt worden ist, denn sonst hätte jede Universität 
zwei oder drei Katheder für die Erklärung des Mana-Darma^ 
sastra oder des Kodex des Manu, und unsere Knaben müTsten acht 
oder zehn Jahre Sanskrit studiren, wozu die Geheimräthe im 
Unterrichtsministerium, besonders die des Sanskrit ganz un- 
kundigen, verkündigen würden, es besitze die geheimnüs- 
volle Gabe, den jugendlichen Geist zu schärfen. 

Es ist kein Wunder, wenn die so ohne solide Basis er* 
zogene Jugend sich der ersten besten, wenn auch noch so 
unsinnigen und unzeitgemälsen neuen Richtung hingiebt, falls 
sie nur an das falschverstandene Alterthum erinnert. Wer das 
bezweifelt, der denke an die Alterthumsschwärmerei der Männer 
von 1793 und lese Le hacheUer et Vinsurge von Valläs, dann 
wird er sich überzeugen, wieviel verfehlte und rebellische 
Existenzen dieses veraltete Unterrichtssystem geschaffen hat. 
Diese Erziehung führt dazu, dais man in Italien viel leichter 
bereit ist, eine Denkmalsenthüllung oder ein Gentennarfest zu 
feiern, als eine Schule zu gründen, einen Sumpf zu drainiren 
oder einen Industriezweig einzuführen, und sie bedingt auch 
den Enthusiasmus für Gewaltthaten, voh dem alle romanischen 
Revolutionäre, von Cola Rienzi bis auf Robespierre, erfüllt 
waren. 

Die klassische Bildung bringt, wie Fbbbbro^ mit Recht 
bemerkt, eine Verherrlichung der Gewalt in allen ihren Formen 



^ G. Fbrbebo in der Bifortna sociale, 1894. 



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— 9 — 

mit sieb und führt so von der Apotheose flarmodions und 
Aristogitons durch eine Kette von Gewaltthftten zur Verherr- 
lichung des Tyrannenmörders Brutus. Ja, der ganze Vortrag der 
G-eschichte des Mittelalters und der neueren Zeit, selbst die 
Benaissancegeschichte, wie sie in unseren Schulen gelehrt wird, 
was sind sie anderes, als Verherrlichung der Gewalthaber und 
ihrer Gewaltthaten von einem gewissen Standpunkte aus. Noch 
in unseren Tagen ist einem Dichter, der überall als der moralische 
Vertreter des neuen Italiens gilt, zugejubelt worden, als er in 
glänzenden Versen Eisen und Wein verlangte. Eisen, um die 
Tyrannen zu tödten, Wein, um ihren Leichenschmaus zu feiern.^ 
An diesem Punkte besteht Uebereinstimmung zwischen 
allen Parteien; die Ultramontanen feiern den Dolchstofs 
Ravaillacs, die Konservativen die Massenabschlachtung der 
Pariser Kommunarden, die Republikaner die Bomben Orsinis; 
sie alle preisen die Herrlichkeit blutiger Thaten, wo sie Nutzen 
von ihnen haben. Der gefeierte Heros unseres Ein de siäcle 
ist nicht ein grofser Eorscher, ein groiser Künstler, sondern 
Napoleon I. In einer derart von einer Atmosphäre der Gewalt 
umgebenen Gesellschaft kann man sich nicht wundem, wenn 
die Brutalität von Zeit zu Zeit unter Sturm und Blitzen zum 
Ausbruch kommt. Man kann nicht ungestraft die Gewalt ver- 
göttern, auch wenn man zugleich nur an eine ganz bestimmte 
Art ihrer Anwendung denkt; früher oder später geht das 
EvaDgelium der Macht von der einen Partei auf die andere 
über. Gegenüber diesen Gefahren sollten die Menschen in 
sich gehen und den alten barbarischen Glauben an die brutale 
Gewalt abschwören ; die Ueberzeiiigung dafs die Gewalt immer 
unsittlich ist, auch da, wo sie einem gewaltsamen Eingriff 



Ferro e vino voglio io, 

II ferro per uccidere i tiranni, 

II vin per celebrarne il funeral. 



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— 10 — 

entgegengesetzt wird, sollte nicht mehr als krankhafte 
Passiyität, sondern als ein, tieferer Kenntniss des Lebens 
entspringender, Grundsatz gelten. Dieser G-rundsatz einer 
neuen Religion, der der moralischen Kraft, sollte unermüdlich 
gelehrt werden, um den grofsen Umschwung zu beschleunigen, 
der sich im Schofee der modernen Oivilisation vorbereitet; 
sonst kommt der Europäer mit all seiner Wissenschaft und 
Kultur moralisch dem Australier immer näher, der, nach Gut 
und Böse gefragt, erklärte : Gut ist, wenn ich einem Anderen 
sein Weib raube, böse, wenn ein Anderer meines raubt. 

Zu den schlimmsten Erfahrungen der Gegenwart gehört 
der völlige Mifeerfolg der Repräsentativ- Verfassungen. Man 
hat lange geglaubt, dafs die Verleihung der Gewalt an eine 
kollektive Körperschaft eine höhere Moral und Intelligenz und 
ein Minimum von Willkür garantiren würde. 

Aber man hatte nicht bedacht, dafs jedes Regime die 
Keime seines Verfalls in sich trägt; das mufste sich vor allem 
zeigen bei einem auf einer vielköpfigen Menge basirten und 
deshalb anpassungsfähigen Regime; in einer vielköpfigen Körper- 
schaft, auch wenn sie eine Elite darstellt, werden die Ergeb- 
nisse nicht durch Addition, sondern durch Subtraktion der vor- 
handenen Gedanken erreicht. 

Auch in vielen der kleinsten Einzelheiten sind die Formen 
unserer Institutionen verfehlt. Wer kann an die Brauchbar- 
keit oder an die Kompetenz von Marineministem glauben, 
die sich, sagen wir, aus Maklern rekrutiren, oder eines Unter- 
richtsministers, der eigentlich Krämer ist? Gerade die leitenden 
Männer der Regierung, welche am sachverständigsten sein 
müTsten, sind es am wenigsten, weil die parlamentarische 
Situation im gegebenen Momente einen Lombarden, einen Demo- 
kraten oder einen Venetianer braucht. 

Der Parlamentarismus eignet sich viel mehr zum Werk- 



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— 11 — 

zenge der Gewissenlosigkeit als zum Bollwerke der Unbestecb- 
liclikeLt ; er wirkt nur wie ein Narbengewebe, das einen Absceis 
zudeckt und den Eiter zurückhält» ja er verfiihrt geradezu zu 
Verbrechen. Die jüngst in Prankreich und Italien geführten 
Gründer- und Bankprozesse zeigen, dafs viele Politiker persön- 
liche Vortheile oder Einfluls auf ihre Wähler durch Theil- 
nahme an schwindelhaften Bankuntemehmungen zu gewinnen 
gesucht haben, oder dafs sie mit den dadurch erlangten 
Mitteln den Boulangismus bekämpften. Eine Unterschlagung, 
auch an sakrosankten Dingen, im Parteiinteresse zu begeben, 
erscheint heute Vielen gar nicht mehr als ein Verbrechen, ganz 
wie einst die Borgia oder der Rath der Zehn den Giftmord 
für erlaubt hielten, wenu er als politische Waffe verwendet 
wurde. Hat man erst einmal eine Zeitung oder einen guten 
Freund mit Staatsgeldem subventionirt, dann ist kein sehr 
grofser Schritt mehr nöthig, um Staatsgelder in die eigene 
Tasche zu stecken, besonders wenn man bestrebt ist, den Mangel 
an staatsmännischer Fähigkeit durch ein recht weites Gewissen 
wieder gut zu machen. 

Der Parlamentarismus wirkt vor allem durch die ünver- 
antwortlichkeit der Volksvertreter corrumpirend. 

Verbrechen wie Panama und Panamino hat es übrigens 
unter Politikern inimer gegeben. Im alten Bom hatten viele 
Kriege keine andere Ursache als die Beutegier einer kleinen 
Gruppe aristokratischer Finanzgröfsen ; in England und Frank- 
reich war es vor zwei oder drei Jahrhunderten etwas ganz 
Selbstverständliches, dais der leitende Minister sich vom Aus- 
lande eine Pension zahlen lieis, — manchmal auch der Monarch 
selbst ; so konnten die Minister und die Maitressen der Könige 
in wenigen Jahren der Macht oder Gunst riesige Vermögen 
ansammeln, oft inmitten eines allgemeinen Nothstandes, der 
selbst den Hof nicht unberührt liefs. 



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— 12 ~ 

Solange die Könige absolut waren, flofe das, was heute 
die Banken tind die Panamiten versohlingen, in die Tasche 
der Günstlinge und Maitressen, denen heute sehr viel weniger 
zufällt als den Deputirten; diese erfreuen sich heute einer 
Unverletzbarkeit und ünverantwortlichkeit, um die ein König 
sie beneiden könnte; Niemand kontrollirt sie, da sie ja nicht 
Staatsbeamte sind, und im schlimmsten Falle verlieren sie 
ihr Mandat, und geniefseu in Ruhe die im öffentlichen 
Leben am öffentlichen Besitze gewonnene Beute. Ist es da 
ein Wunder, wenn ein Deputirter, dessen Moral nicht ganz 
fleckenlos ist, tüchtig zugreift? Ein König, der heute so handeln 
würde, wie seine Parlamentarier, würde dagegen der Verachtung 
anheimfallen und vielleicht Thron, Besitz und wohl gar das 
Leben verlieren. 

Wenn unverantwortlichen und fast unangreifbaren Personen 
unermefsliche Schätze anvertraut sind, nach denen sie ohne 
jede Gefahr die Hand ausstrecken können, dann verbiete 
man ihnen einmal, daran zu rühren! Und das Uebel ist um 
so gröfser, als zwar verschwenderische Könige vereinzelt auf- 
treten, Senatoren und Abgeordnete dagegen in Scharen. 

Die Missethaten dieser modernen Machthaber hat nun die 
Masse des niederen, mundtodten Volks mit verdoppelte Mühe 
und Anstrengung zu büfsen. 

Da ist es denn nicht mehr ganz unbegreiflich, wie sich 
in einem tollen, aber naiven Geiste der Protest gegen die 
Verlogenheit und Ungerechtigkeit der herrschenden Klasse, 
die Wahrheit und Ehre ungestraft mit Fülsen tritt, in der 
Form anarchistischer Ideen regt; man lernt so manches, was 
die Wortführer des Anarchismus verkünden, begreifen; so die 
folgenden Ausführungen Krapotkins: „Mit welchem Rechte 
existirt die Begierung? Wozu die Abdankung der eigenen 
Freiheit und Initiative in die Hände von wenigen Personen? 



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— 13 — 

Warum verleihen wir diesen die Macht, mit oder ohne. Ein- 
wilHgung des Einzelnen die Kräfte Aller zu beherrschen und 
nach Grutdünken zu verwenden? Sind diese wenigen so ganz 
besonders begabt, dafs sie ohne weiteres an Stelle Aller treten 
und die Interessen Aller besser wahrnehmen können, als die 
Interessenten selbst? Sind sie so unfehlbar und unbestechlich, 
dafs man verständigerweise das Los jedes Einzelnen ihrer 
Einsicht und ihrem Wohlwollen überlassen darf?" 

„Und wenn es auch wirklich grenzenlos weise und gute 
Menschen gäbe, wenn wir wirklich einmal annehmen wollten 
— und das wäre eine aus der Geschichte nicht demonstrirbare 
und für die Zukunft kaum zu begründende Hypothese — , daCs 
die Regierungsautorität den Fähigsten und Besten gehörte, ihre 
Thätigkeit zu erspriefelicher Wirksamseit würde damit nicht 
gesteigert werden; sie würde eher leiden und schwinden unter 
dem Drucke der für Regierende unvermeidlichen Notwendig- 
keit, sich mit tausend Dingen zu befassen, die sie nicht 
verstehen, und vor allem unter dem beständigen Ringen nach 
Sicherung der eigenen Macht, nach Befriedigung der Anhänger, 
nach Bändigung der Unzufriedenen und Niederwerfung der 
Widerspenstigen. " 

„Und schliefslich, gut oder schlecht, weise oder unwissend, 
wem verdanken sie ihre hohe Stellung? Wenn sie sich selbst 
eingesetzt haben, durch Kriegsrecht oder in siegreicher Revolution, 
welche Sicherheit bieten sie der Allgemeinheit für eine Führung 
der Geschäfte im Geiste des allgemeinen Wohls?** 

„Es handelt sich also nur um eine Frage der Usurpation, 
und wenn die beherrschte Masse unzufrieden ist, bleibt ihr 
nur der Appell an die Gewalt. Alle Theorien, die eine 
Regierungsautorität begründen wollen, beruhen auf dem Vor- 
urtheil, dafs eine Oberleitung unentbehrlich ist, wenn die 
Menschen einander in ihren Interessen achten sollen." 



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— 14 - 

„Was zeigt nun ein Blick auf die wirkliebe Lage der 
Dinge? Im ganzen Verlaufe der Geschichte und auch heute 
noch ist „Regierung^ entweder die brutale, willkürliche 
Gewaltherrschaft Weniger über Alle, oder ein zur Sicherung 
der Herrschaft oder der Privilegien einer Klasse au^eriphtetes 
System, einer Klasse, die durch Gewalt, durch Schlauheit oder 
durch ererbten Besitz alle Mittel der Produktion, vor allem 
Grund und Boden, an sich gebracht hat und sich ihrer 
bedient, um das Volk in Knechtschaft und unter Zwangs- 
arbeit auszubeuten." 

„Die Unterdrückung hat zwei Formen, direkte physische 
Gewalt oder VorenÜialtung der Existenzmittel und dadurch 
erzwungene Unterwerfung unter die Willkür; erstere ist 
der Ursprung der politischen, letztere der ökonomischen 
Privilegien. Es ist nicht wahr, dass mit der Aenderung der 
socialen Zustände auch Wesen und Funktion der Regierung 
sich ändern. Organ und Funktion hängen untrennbar zu- 
zusammen und bedingen sich gegenseitig. Schafft ein Heer 
in einem Lande, in dem es weder Anlässe noch Gefahren 
für einen inneren oder äufseren Krieg giebt, und es wird einen 
Krieg provoziren, oder, wenn das nicht geschieht, sich zer- 
setzen. Eine Polizei wird, wo es keine Verbrechen zu ent- 
decken und keine Verbrecher zu arretiren giebt, beides erfinden 
oder provoziren, oder aber zu existiren aufhören. In Frank- 
reich besteht seit Jahrhunderten die Institution der Louveterie, 
deren Beamte für Ausrottung der Wölfe und anderen Baub- 
zeugs zu sorgen haben. Niemand wird sich wundern zu er- 
fahren, dafs dank dieser Behörde die Wölfe in Frankreich 
noch nicht ausgestorben sind und im Winter gefährlich werden. 
Das Publikum denkt nicht viel an die Wölfe, weil das ja 
Sache der Louveterie ist, die Louvetiers veranstalten Wolfs- 
jagden, aber in intelligenter Weise, denn sie respektiren die 



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— 15 — 

junge Brut und das Fortpflanzungsgeschäfl;, damit das interessante 
Thier nicht ausstirbt; der Bauer hat freilich wenig Vertrauen 
zu den Louvetiers, er meint, sie koDserviren den Wolf; denn 
was sollten die Lieutenants de Louveterie anfangen, wenn 
es keine Wölfe mehr gäbe?" 

„Eine Regierung, d. h. eine Zahl von Personen, die Ge- 
setze machen und Aber die Kräfte der Gesamtheit verfügen, 
um jeden zum Respekt gegen dieselben zu zwingen, bildet 
schon eine privilegirte, dem Volke fremde Klasse. Sie wird, 
wie jede geschlossene Körperschaft, danach streben, die Sphäre 
ihres Einflusses zu erweitem und sich der Kontrolle des 
Volkes zu entziehen. Nehmen wir aber eine Regierung an, 
die selbst keine privilegirte Klasse darstellt, keine neuen 
Privilegien um sich her schafft, immer den Vertreter oder 
Diener der Gesellschaft darstellt, wozu würde die nützen? Es 
wiederholt sich immer wieder die Geschichte des Gefesselten, 
der endlich trotz des Blockes zu existiren lernte, der aber 
glaubte, er lebte dank dem Block. Wir sind daran gewöhnt, 
unter einer Regierung zu leben, die alle für sie verwendbaren 
Elräflie und Intelligenzen an sich reust, alle ihr feindlichen 
hemmt oder unterdrückt, und bilden uns ein, alles, was die 
Gesellschaft leistet, geschähe dank der Regierung, und ohne 
die Regierung würde die GeseUschaft weder Intelligenz noch 
guten Willen, noch Kraft haben. Ganz ebenso hat sich der 
Grundherr des Bodens bemächtigt und lä&t ihn zu seinem 
persönlichen Vortheil von Arbeitern bebauen, denen er nicht 
mehr lälst, als unbedingt nöthig ist, damit er noch Kraft und 
Willen zum Weiterarbeiten hat. — Dabei glaubt der Arbeiter, 
er würde ohne seinen Herrn nicht existiren können, wie wenn 
dieser den Boden und seine natürlichen Kräfte geschaffen hätte.'' 
„Die Sitten und Gewohnheiten folgen Immer den Gefühlen 
der Allgemeinheit. Je weniger sie der Sanktion des Gesetzes 



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— 16 — 

bedürfen, desto mehr werden sie geachtet, denn dann haben 
sie überall die Billigung gefunden, und die an ihnen Interessirten 
verstehen ihnen ohne den Schutz der Regierung selbi^ Respekt 
zu verschaffen. Für eine Karawane in der afrikanischen 
Wüste ist sparsames Umgehen mit Wasser eine über Leben 
und Tod entscheidende Frage, und Niemand wagt es, damit 
verschwenderisch zu verfahren. Verschwörer haben Ver- 
schwiegenheit nöthig, das G-eheimnifs wird gewahrt oder es 
trifft; den, der es verrftth, die Infamie. Spielschulden können 
nicht eingeklagt werden, und der Spieler würde sich selbst 
für ehrlos halten, wenn er nicht bezahlte." 

„Ist es vielleicht ein Verdienst der Polizei, wenn die Zahl 
der Morde nicht gröDser ist? In den meisten Gemeinden 
Italiens sieht man nur selten einen Gendarmen, Millionen 
gehen über Berge und Felder, fem von den Augen der 
schützenden Obrigkeit, man könnte sie ohne die geringste 
Gefahr einer Strafe anfallen, und doch sind sie ebenso sicher, 
wie die Passanten der best überwachten Strafsen. Die Statistik 
zeigt, dafs die Zahl der Verbrechen von den Repressivmitteln 
völlig unabhängig ist und- vielmehr in grofsem Umfange ent- 
sprechend den wirthschaftlichen Verhältnissen und dem Zustande 
der öffentlichen Meinung variirt." 

„Die Revolution wird nicht Kräfte schaffen, die jetzt 
nicht existiren, sondern sie wird freien Spielraum für die 
Bethätigung aller vorhandenen Kräfte und Fähigkeiten schaffen." 

Dieser Schlufssatz mag nicht ganz unrichtig sein ; gewisse That- 
saohen der athenischen und florentinischen Geschichte sprechen in 
der That dafür; eine Verringerung der staatlichen und eine 
Steigerung der individuellen Thätigkeit würde die Entwickelung 
von Persönlichkeiten begünstigen, die unter moderen sozialen 
und politischen Verhältnissen ungünstiger situirt sind, sofern 



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— 17 — 

niclit etwa das üebergewicht der grofsen Masse das IndiTiduain 
schwerer bedrücken würde als jede organiirtse Regierung. 

Soviel von gewissen noch einigermafsen begreiflicher 
Theorien, die von einem ihrer Anhänger folgendermalsen formnlirt 
worden sind:* 

1. „Die Glückseligkeit ist ein gerechtfertigter Ansprach 
des Menschen und der eigentliche Zweck seines Lebens. *" 

2. „Der Mensch ist von Natur gut und des G-lücks fähig 
und würdig." 

3. „Absolute individuelle Freiheit, die Macht, ohne 
Hindernils zu thun, was man will, ist die Bedingung des 
Glücks." (Dabei wird übersehen, dafs der Wille des Einen 
recht oft das Unglück des Anderen bedeutet, z. B. der Wille 
zu Diebstahl und Nothzucht.) 

4. „Alle Hemmungen, äufsere oder sociale sowohl wie 
innere oder moralische, sind künstlich und müssen als die 
Ursache des menschlichen Jammers und Unglücks betrachtet 
werden." (Und was soll mit den Irren und den geborenen 
Verbrechern geschehen?) 

5. „Das System des Rechts imd der Gesetze ist eine 
widernatürliche Erfindung einer Menschenklasse, welche die 
übrigen leiten und ausnützen will; diese ganze Klasse ist uns 
gegenüber solidarisch verantwortlich für den gegenwärtigen künst- 
lichen und unglücklichen Zuitand der Dinge." 

6. „Es ist möglich und noth wendig, durch Bruch mit der 
Vergangenheit einen vollkommen guten und glücklichen Zu- 
stand der Dinge herbeizuführen, nicht nur durch die Ex- 
propriation der Ausbeuter — wie der Sozialismus sie verlangt — , 
sondern durch definitive Zerstörung der Hemmungen, der 
sozialen wie der moralischen." (Schon die blofse Thatsache 



^ L*i€Ue anarchiste, par Paul Dbjabdiks, Paris 1893. 
LoMBBÖso, Der Anarchist. 



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— 18 — 

des Entsoblusses zu einem plötzlichen Brache mit der Ver- 
gangenheit genügt, um den Menschen unglücklich zu machen; 
zahlreiche Naturyött;er sind daran zu G-runde gegangen, dafs 
Eroberer sie in zu plötzliche Beziehung mit einer neuen Civili- 
sation gebracht haben.) 

Das praktische Ziel der Anarchisten ist jüngst folgender- 
mausen formulirt worden:^ 

1. „Gründung einer Proletariatsherrschaft mit allen 
Mitteln." (In den Worte „allen" gährt schon der gemeine 
Verbrecherinstinkt.) 

2. „Gründung einer frei auf Gütergemeinschaft basirten 
Gesellschaft." (Diese B,ückkehr zu Urzuständen ist absolut 
unmöglich.) 

3. „Einfache Organisation der Produktion." 

4. „Freier Austausch gleichwerthiger Produkte durch 
Vermittelung der Produktionsgenossenschaften ohne Zwischeur 
händler und Ausbeuter." 

5. „Organisation der Erziehung auf wissenschaftlicher^ 
nicht religiöser Grundlage unter Gleichstellung beider Ge- 
schlechter." (Nachdem die Natur die Geschlechter verschieden 
gemacht hat, kann kein Gesetz sie gleich machen.) 

6. „Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten durch 
freie Verträge unter föderalistisch geordneten Vereinigungen und 
Gemeinden." 

Kaum eines dieser Ziele ist erreichbar, aber nicht alle 
sind völlig absurd, und hier und da giebt es in der anarchistischen 
Wüste eine Oase, die eine Zukunft hat, wie die stärkere 
Betonung individueller Rechte, die Kritik zweckloser Bevor^ 
mundung. Aber nach Herausnahme der wenigen stich- 



^ Der Anarchismus und seine Träger, Enthüllungen aus dem Lager 
der Anarchisten. Berlin 1890. — D. Lauein, Vordre par Vanarchie, 
Paris, Monffetard 1893« — M. Zablbt, Le crime social. 1894. 



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— 19 — 

haltigen Ideen bricht das ganze Lehrgebäude des Anarchismus 
zusammen, in seiner Grundlage wie in seinen Anwendungen. 

Wenn Krapotkin im Ernste meint, man müsse zum 
ursprünglichen Kommunismus zurückkehren, so würde ich 
mich nicht aus Spencerianischen Skrupeln entsetzen, wenn ich 
sähe, dafs er einen gangbaren Weg für diese Umkehr gefunden 
hat ; aber er ertheilt zum Beispiel dem Schriftsteller den naiven 
ßath, sein Buch selbst zu drucken und zu verlegen, im Gegen- 
satz zu der wirklich modernen Errungenschaft der Arbeits- 
theilung, die keine Theorie beseitigen wird; schliefslich spricht 
er sich in Ermangelung eines Besseren dafür aus, dem Volke 
freizustellen, sich auf die vorhandenen Vorräthe zu stürzen, 
wie ein Rudel Wölfe auf ihre Beute, — ohne daran zu denken, 
dafs die Massen nach Verzehrung des Baubs übereinander 
herfallen würden, und dafs alle völlig freien Kollektivunter- 
nehmungen bisher daran gescheitert sind, dafs die Laster und 
Thorheiten der Individuen sich in ihnen summiren. 

Wenn solche Kollektivkörper nicht mehr kleine Gruppen 
darstellen, wie heute unsere Kommissionen und Kollegien, 
sondern ganze Volksmassen, so würden sie hundertfach un- 
produktiver, gefährlicher und verbrecherischer sein und alle 
Individualitäten, die heute- so wenig von den Institutionen 
begünstigt sind, nicht langsam ersticken lassen, sondern mit 
einem Griff erdrosseln. Es ist eine alte Erfahrung, dafs die 
Eesultate einer Berathung um so ungerechter und thörichter 
werden, je grösser die Zahl der Berathenden ist, weil alle 
Fehler und Vorurtheile, die im Individuum Vernunft und 
Bildung zurückdrängen, in der Menge keimen und giftige 
Absonderungen 'bilden. Das sagt schon das alte Sprichwort: 
Senatores honi viri, senatus mala hestia. Darum steht die 
Qualität eines Rathschlusses in umgekehrtem Verhältnüs zur 
Zahl der Berathenden. Dies Gesetz gilt selbst für die Beschlufs- 



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— 20 — 

feussung über Geldangelegenheiten, bei denen die Menschen am 
Zähesten ihre Interessen zu wahren pflegen. Was kann man 
dann erst bei Fragen erwarten, die, wie politische, administrative 
und kommunale, das persönliche Interesse nicht unmittelbar 
berühren. Ich erinnere hier an das alte Sprichwort: Danari 
dd comune, danari di nessuno, ^ und an Moltebs treffende 
Bemerkung) dafis eine groise, parlamentarische Versammlung 
sich leichter zu einer Kriegserklärung bestimmen läfst, als ein 
Souverän oder ein Minister, die eine volle Verantwortung 
tragen, während ein Abgeordneter, der nur mix Hundertstel 
der Verantwortung trägt, leichteren Herzens beistimmt. 

Wenn in den Theorien des Anarchismus nun auch ein 
Schinuner von Wahrheit läge, so ist er doch deshalb absurd, 
weil jede Reform nur unmerklich und ganz allmählich ein- 
geführt werden darf, wenn sie nicht eine Eeaktion wecken soll, 
die alle Vorarbeiten zugleich zerstört.^ Die Abneigung gegen 
d^ Neue wurzelt so tief in der menschlichen Natur, dals 
jeder gewaltsame Anlauf gegen die bestehende Ordnung, gegen 
das Alte zum Verbrechen gestempelt wurde, weil er gegen die 
Meinungen der Mehrheit verstöJst; denn so sehr eine solche 
Bewegung im Interesse einer unterdrückten Minorität liegen 
kann, sie ist als antisoziales Handeln ein Verbrechen, das 
zudem durch den Anreiz, den es zu einer Reaktion im Sinne des 
Misoneismus giebt, völlig unnütz ist. Der Misoneismus herrscht 
überall und über alle, in Religion und Sitte, in Moral und 
Wissenschaft, in Kunst und Politik, vom Wilden, der es als 
eine Qual empfindet, wenn sein schwaches Gehirn neue 
Sensationen assimiliren soll, vom Kinde, das ärgerlich wird und 
weint, wenn es nicht immer dasselbe Bild wiederzusehen bekommt 



^ Oeffentliches Geld ist herrenlos. 

' LoMBBoso und Laschi, Der politische Verbrecher etc. Hamburg 
1892. Bd. II. Kap. 13. 



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— 21 — 

und nicht dasselbe Märchen mit denselben Worten wieder 
hört, — bis zum Weibe, das am Alten viel zäher als der 
Mann hängt, selbst bis zum modernen Akademiker, der trotz 
des hohen Grades seiner Vollendung jede Entdeckung ungläubig 
ablehnt. 

Dieses allgemeine Gefühl bewirkt es, dafs jeder Neuerer 
nur Gegner auf seinem Wege findet. Und nicht nur die Masse, 
sondern auch die Mehrheit der Gebildeten verabscheut den 
Neuerer. Die Akademien — diese letzten Burgen der Ideen 
und des Geschmacks versunkener Zeiten — weisen den wahren 
Forscher zurück. Auch geniale Männer zeigen Misoneismus in 
der Art, wie sie die Ideen vertheidigen, die sie einst kämpfend 
zur Geltung gebracht haben, und dulden an ihnen nicht die 
Aenderungen, die sie selbst an älteren Ideen vorgenommen 
haben. In diesem Sinne sagt Spencer, dafs jeder erreichte 
Portflchritt zum Hindemisse künftiger Portschritte wird. 

Man kann also mit Bestimmtheit behaupten, dais die un- 
geheure Majorität neuerungsfeindlich ist, daJs sie alles Neue 
mit MiTstrauen anfeindet und allem abgeneigt ist, was eine 
tiefgreifende Störung bedingt. Es drückt sich darin vielleicht 
das tiefe, unbewufste Vibriren der erblichen Instinkte der Mensch- 
heit aus, die sich Kraft ihrer konservativen Mission gegen 
alles auflehnen, was sie in ihrem Wesen verändern will. 

Wenn nun die Menschheit organische Portschritte nur lang- 
sam erwirbt, wenn der Mensch und die Gesellschaft aus Instinkt 
konservativ sind, so ergiebt sich daraus mit logischer Konsequenz, 
dafs Portschrittsbestrebungen, die sich in Gewaltthaten äufsem, 
Entrüstung und Widerstand wecken müssen und dafs 'in ihnen 
das Wesen des politischen Verbrechens gegeben ist und die 
Basis für eine Repression, die völlig fehlen würde, wenn man 
sie in anderen Momenten suchen wollte. 

Wenn dagegen eine Beform, die ohne gewaltsame 



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— 22 — 

Mittel betrieben wird, den Beifall der Majorität findet, so 
beweist das, dafs sie in dem Augenblicke hervorgetreten ist, 
in dem ihr Erscheinen nothwendig war; dann verletzt sie 
nicht den Misoneismus, verstöfst nicht gegen die Tendenz der 
Beharrung, die ein physiologisches, nicht ein pathologisches 
Oesetz ist, kurz — dann ist die Betreibung der Beform kein 
politisches Verbrechen. In der That ist die Hauptbedingung 
dafür, dafs eine Handlung antisozial, d. h. ein Verbrechen ist, 
dafs sie den Willen einer Minorität verwirklicht. Wenn erst 
die Majorität sie billigt, so wird sie zu einer normalen Handlung. 

Das politische wird aber zu einem gemeinen Verbrechen, 
sobald die Neuerer auf dem Gebiete der Theorie, auf dem 
jeder geistig gesunde Mensch sich frei ergehen darf, zur Praxis 
mit dem Entschlüsse übergehen, jedes Mittel zur Erreichung 
il»res Zieles anzuwenden, auch Baub und Mord; wenn sie 
glauben, durch Abschlachtung einiger völlig harmloser Opfer, die 
eine unvermeidliche gewaltsame Beaktion wecken muGs, die 
Anhängerschaft zu gewinnen, die ihre rednerische und litte- 
rarisohe Propaganda nicht anzuziehen vermag. Hier ver- 
schmelzen Verbrechen und Narrheit und steigern sich gegen- 
seitig, und wenn damit überhaupt ein Ziel erreicht wird, so 
ist es das Gegentheil dessen, welches den Anarchisten vor- 
schwebt, d. h. sie werden auch in den unteren Volksschichten 
sehr unpopulär und wecken die Entrüstung auch der freiest 
gesinnten Elemente der höheren Klassen. 

Ich weife, dafe die Anarchisten darauf erwidern: Wenn 
die Uebelstände fortdauern, ist es dann nicht unsere Pflicht, 
ihnen entgegenzuarbeiten, auch wenn die sich von uns ab- 
wenäen, die unter ihnen leiden? Nun, diese Versuche der 
Bemedur hören auf, eine Pflicht zu sein und werden vielmehr 
verbrecherisch, denn ein Heilmittel, das kein Vertrauen beim 
Publikum findet, schädigt den Arzt, der es empfiehlt; die 



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— 23 — 

Massen — mag man sie immerhin imbecill nennen — verhalten 
sich wie die Frauen ans dem Volke, die, wenn Jemand ihnen 
gegen die Brutalitäten ihrer Männer beistehien will, sidi gegen 
den ungerufenen Helfer wenden und ihm zurufen: „Wenn 
wir Lust haben, uns schlagen zu lassen, was mischst du dich 
dahinein?** Wer in solchen Fällen den Kürzeren zieht, ist 
der Unberufene, der sich einmischt, mag er nun Marcel, Gola 
di ßienzi, Pombal oder wie aonst heiisen; gegen sein Leben 
und sein Werk wendet sich die Masse, der er zu Hülfe kommen 
wollte, und erfüllt so jenes rauhe, aber unerbittliche Gesetz 
der Geschichte. 

Darin aber unterscheiden sich die Berolutionen, die ein 
lange vorbereitetes, unvermeidliches, vielleicht nur durch ein 
nervöses G^nie oder eine historische Konstellation beschleunigtes 
ErgebnÜB der Entwickelung sind, von Revolten und Aufständen, 
diesen Früchten einer künstlichen Ausbrütung lebensunfähiger 
Embryonen. 

Die Revolution ist die historische Vollendung der Evolution, 
ihre Bewegung ist stufenweise, langsam, sie bietet stets die 
Garantie] des Erfolges, hat eine allgemeine Ausdehnimg, wird 
inspirirt und bestimmt durch geniale Naturen, nicht durch 
verbrecherische Abenteurer, und tritt zumeist unter hoch- 
civilisirten Völkern auf, so unter der germanischen und angel- 
sächsischen Rasse. 

Die Revolution ist eine historische Analogie gewisi^er 
Krisen des individuellen Lebens. Das Kind mufs durch die 
Krise der Pubertät hindurch, um zum Manne zu werden, die 
Völker müssen eine Revolution durchmachen, um auf dem 
langen Wege des Fortschritts sich um eine Stufe zu erheben. 
Die Revolution ist also keine £lrankheitserscheinung, sondern 
eine nothwendige Phase der Entwickelung unserer Species. 

Rebellionen dagegen sind dasj Werk einer Minderheit, 



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— 24 — 

entspringen wenig bedeutenden, oft nur lokalen oder persönliehen 
Anlftssen, sind in halbbarbarischen Ländei^, wie etwa in San 
Domingo, in südamerikanisoben Republiken bäufig und baben 
unter ibren Tbeilnebmem viele Verbreober und" Verräckte, 
die ibr abnormes Triebleben zu anderer Denk- und Gefüblsart 
fiibrt, als das normaler und ehrlicber Mensoben; zu ibnen gesellen 
sidi die impulsiven Naturen die niobt jene Hemmung von 
Seiten des normalen Gf^fühls spüren, die den Durcbsobnitts- 
menscben davor zurückscbaudem lälBt, seine Ziele durch 
Attentate auf Regenten, durcb Idordbrennerei, kurz durob Mittel 
zu erstreben, die dem normalen sittlichen Gefiibl ebenso wider* 
streben wie den herrscbenden Anschauungen und Gesetzen. 



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Zweites Kapitel. 
Das Verbrecherthum in der Anarchie. 

Aus dem Weöen der Rebellion xmd den Grundsätzen des 
Anarchismus ist es begreiflich, dafs seine eifrigen Adepten 
(auTser Männern wie Krapotkin, B^dus, Ibsen) zumeist Ver- 
brecher oder Verrückte sind, und manchmal beides zusammen. 

Zur Illustration dieser These gebe ich hier eine Sammlung 
von Portraits aus meinem Buche über den politischen Verbrecher, 
in der die Königsmörder Fieschi, Kammerer, Reinsdorf, Hödel, 
Stellmaoher und die Penier Brady und Pitzharris den voll- 
ständigsten Qttunertypus zeigen, ganz wie die verrückten 
Bevolutionsmänner von 1793, die Marat, Jourdan, Carrier; 
dagegen lassen die eigentlichen, die „guten" Revolutionäre, einen 
vollkommen normalen Typus erkennen, so Corday, Cavour, 
Mirabeau, und ebenso viele russische Preiheitshelden, Ossinskij, 
Michailow, Wera Ssassulitsch, Solowjew, Urbanowa, ja sie 
sind manchmal ungewöhnlich schön. 

Ein italienischer Richter, dem ich viel Material zur Kennt- 
nüjs der Anarchisten verdanke, sagte mir einmal, er hätte 
keinen Anarchisten gesehen, der nicht irgend eine körperliche 
Müsbildung, wie Gesichtsasymmetrie, Lahmheit oder dergleichen 
besessen hätte. 



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— 26 — 

An 41 weiteren Pariser Anarchisten habe ich den Yer- 
brechertypns in 31Vo gefunden, an den Photographien von 43 
Anarchisten Chicagos in 40%, an 100 Turiner Anarchisten 
in 30 Vo, während unter 320 Kämpfern der italienischen 
Freiheitsbewegung der kriminelle Typus sich bei 0,57 % &nd, 
also seltener als bei normalen Individuen (2%) und bei den 
russischen Nihilisten (6,7%). 

Für das kriminelle Element unter den Anarchisten spricht 
die Verbreitung des Argot, [und zwar des echten Verbrecher- 
jargons unter ihnen, wie das ein Blick in ihr Lieblings- 
joumal, den Fere Feinard, und in ihre Liederbücher ergiebt. 
Sie nennen einander mit dem Worte des Verbrecherjargons 
„copain" für „compagnon" und bezeichnen ihre Agitatoren als 
„Trimarders", von dem Wort der Graunersprache „trimard" für 
LandstraCse. Das Argot findet sich selbst in der Korrespondenz 
der Zeitungen mit ihren Abonnenten ; so wird im Pere Peinard 
über den Empfang von Geld quittirt mit den Worten „regu 
galette," „regu quatre balles pour la propagande." 

Auch ein anderes, charakteristisches Merkmal des Ver- 
brecherthums, das Tättowiren, ist unter den Anarchisten nach- 
weisbar. Während der 1888 in London vorgekommenen 
anarchistischen Unruhen fielen einem Augenzeugen unter den 
Theilnehmern der Strafsendemonstrationen zahlreiche Tättowirte 
auf, die man mit ziemlicher Sicherheit mit Verbrechern 
identificiren kann. Er berichtet darüber: „Sie hatten auf dem 
Handrücken eingeritzte Herzen, Todtenköpfe, kreuzweis über- 
einander gelegte Knochen, Anker und Arabesken; bei einem 
jungen Burschen sah ich auf der Stirn die Zeichnung eines 
Lorbeerzweigs, bei einem andern an derselben Stelle die Worte : 
„I love you." 

Die Kriminalität der Anarchisten ergiebt sich aus ihren 
moralischen Defekten, aus einer Gefühlsart, aus der heraus 



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— 27 — 

Diebstahl, Baub, Mord tmd ScheuJslichkeiten aller Art als 
ganz einfache Selbstverständlichkeiten betrachtet werden. 

Ich kenne einen Anarchisten, der eine höchst charakte- 
ristische Antwort gab auf den Einwand, dals das italienische 
Landvolk Umsturzideen immer widerstreben würde; er erwiderte 
nämlich: „Oh, die sollen uns nicht viel Kopfzerbrechen machen, 
die werden ein paar Musketensalven schon zur Baison bringen.^ 
Diese menschenfreundliche Absicht steht ganz auf der Höhe 
der anarchistischen Gewohnheit, in Theatern und Restaurants 
mit Bomben nach dem „Bourgeois" zu werfen, d. h. nach 
einem Manne, dessen ganze Schuld darin besteht, dafs er sein 
Billet bezahlt und dem Wirth nicht mit der Zeche durchbrennt ; 
diese Taktik im Kampfe gegen die Dissidenten wendet sich 
so ziemlich gegen alle ehrlichen Leute. 

Die Lyrik der Anarchisten erinnert ganz an die Lieder der 
Gaunerbanden, die ich in meiner Schrift PaUmsesti del carcere 
veröffentlicht habe, und enthält viele Argotworte. Sie bildet 
bereits einen ganzen Parnafs. Ich nenne darunter „Coulisses 
de l'anarchie" von Flor O'Squard 1882, „Les ramages du 
beflfroi rövolutionnaire" 1890, „Tablettes d'un l^zard" von P. 
Paillette, 1893, „Bonde pour r^creations enfantines" von Louise 
Quitrine. 

Dieser kindliche Bundgesang lautet folgendermafsen: 

Nos peres jadis ont danse 
Au 80X1 du canon du passei 
Maintenant la danse tragique 
Demande plus forte musique 
Dynamitons 1 Dynamitonsl 

Refrain : 

Danse dynamite, que Ton danse vite! 

Dansons et ckantons! 
Danse dynamite, que Ton danse vite 
Dansons et chantons et dynamitons. 



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— 28 — 

Le gaz est ausd de la fSte 
Si vons rösistez, mes agneaax 
Au beau milieu de la tempete 
Je fais ^clater ses boyauz. 

Ha bontique est tonte la France! 
lies snccnrsales sont partont 
Oü la faim ponsse k la vengeance 
Prends la bonteille et verse tont. 

Refrain: 
J'ai tont ce qn'il fant dans ma bontiqne 
Sans le tonnerre et les Blairs 
Ponr watriner tonte la cliqne 
Des a£EjEimenr8 de rUnivers. 

Die beliebte „Boulang^re^ bezieht sich auf eine Bäckerin, 

die einem Beitier ein Brot verweigert hatte und die dafür 

von den liebenswürdigen kleinen Mädchen der Anarchie in den 

Backofen gesteckt werden soll 

Ponr rire, les fillettes, 
Et tin, tin, tin, sonnons le toesin — 

Ponr rire les fillettes 
Chanffent le four ä point, tin, tin, 

Chanffent le four k point 

Si bien qne la megdre, 
Et tin, tin, tin, sonnons le toesin — 

Si bien qne la megdre 
Fnt cnite sans levain, tin, tin, 

Fut cnite sans levain. 

C'est ponr apprendre anx riches, 
Et tin, tin, tin, sonnons le toesin — 

C'est ponr apprendre anx riches 
A nons faire crdver d'faim tin, tin, 

A nous faire cröver d'faim tin, tin. 

Schliefslioh wollen wir noch das Lied vom P^re la Purge 
mittheilen, welches die anarchistische Jugend des fünfzehnten 
Quartiers von Paris „avec les types de Duval" drucken liefs. 

Je suis le Pore la Pnrge 
Pharmacien de l'hnmanit^ 
Contre la bile je m'insurge 
Avec ma fille Egalit^. 



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— 29 — 

Pendant qne le penple s'etiole 
Snr le pavö sans boulotter, 
Bourgeoisie, assez de ta fiolel 
Avec ma pnrge il fant compter. 

J'ai des poignards, des faulx, des piques, 
Des revolvers et des flingots 
Poor attaquer les flancs iniques 
Des Gkillifets et des sergots. 

J'ai du p^trole et de l'essence 
Pour badigeonner les chateaux, 
Des torches pour la oirconstance 
A porter au lieu des flambeaux. 

J'ai du piorate de potasse, 
Du nitre, du chlore ä foison 
Pour enlever tonte la crasse 
Du palais et de la prison. 

J*ai des pay^s, j'ai de la poudre 
De la dynamitel Ob cr^nom! 
Qui rivalise avec la foudre 
Pour vous enlever le ballon. 

Die Helden des Anarchismus haben fast alle eine lange 
Verbrecheroarriere hinter sich. So war Ortiz Führer einer 
kürzlich zur Abnrtheilung gekommenen Bande, die das Aus- 
räumen ganzer Häuser als Einbruchs-Spezialität betrieb. In 
Mailand zählt aller Auswurf der anderen Parteien, das ganze 
Heer der weggejagten und bankerotten Tagediebe zur Gruppe 
der „amorphen Anarchisten", von der die Legitimität des 
Diebstahls gepredigt und diese Lehre eifrig bethätigt wird, 
ohne dals die Führer es verhindern wollen oder können; aus 
dieser Gruppe hat sich die berüchtigte Polettosche Gauner- 
bande rekrutirt, zu deren Spezialitäten die Falschmünzerei und 
die von dieser erfundene, organisirte ßestehluDg der Pferde- 
bahnpassagiere gehörte, deren Thäter lange unbekannt geblieben 
waren. Bekannt sind die sozialpolitischen Thesen zweier 
anderer Führer, Grave und Common weal. Der Eine lehrte: 



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— 30 — 

^Der Diebstahl ist nur die gewaltsame Rücknahme dessen, was 
die Reichen gewaltsam den Armen weggenommen haben, ^ der 
Andere: „Die offene Aneignung fremden Besitzes im Namen 
der anarchistischen Theorie und als Protest gegen die bestehende 
Gesellschafbsordnung ist nicht nur erlaubt, sondern löblich. 
Die gewaltsame Aneigung hat dem Anarchisten nur als Vor- 
bereitung zu der definitiven, heiligen Jacquerie zu dienen, die 
der Anarchismus früher oder später herbeiführen wird." ^ 




Eavachol. 

Schon bei Hebzen^ hiefs es vor einen MenscheDalter: „An 
allem sich rächen, alles zerstören, vernichten, auch das, was 
den Geist erhebt, auch die Wissenschaft und die Kunst,** das 
ist die oberste Maxime. Bakunin empfiehlt der Jugend die 
heilsame und heilige Unwissenheit; der ron ihm aufgestellte 
Idealtypus ist der Kosak Zdenko Razin, der unter Peter dem 
Grossen einen furchtbaren Aufstand führte. 

Ravachol und Pini stellen den vollkommensten Typus des 



* Gbave, La societe moderne mourante et Vanarchie, 1890. 
2 Vom anderen Ufer. 1850. 



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— 31 — 

geborenen Verbrechers dar, nicht nur in ihrer änfseren Erschei- 
nung, sondern auch durch ihre Zugehörigkeit zum Gewohnheits- 
verbrecherthum, in ihrer Freude am Bösen, in dem völligen 
Mangel moralischen G-efühls, m dem zur Schau getragenen 
Hasse gegen ihre Familie und ihrer Gleichgültigkeit gegen das 
Leben der Menschen. In ßavachols Physiognomie frappirt 
auf dem ersten Blick der Ausdruck der Brutalität; das 
Gesicht ist auiserordentlich asymmetrisch, die Nase stark 
nach rechts abgebogen, die Stirn zeigt starke Augenbrauenbogen, 
der Schädel eine enorme Verengerung der Schläfengegend 
(Stenokrotaphie); er hat Henkelohren, die in ungleicher Höhe 
am Kopfe sitzen, schliefslich veryotlständigt der sehr massive, 
vorspringende Unterkiefer von quadratischer Form den von 
mir aufgestellten Verbrechertypus. Dazu kommt eine Sprach- 
artikulationsstörung, welche häufig bei degenerirten Individuen 
zu finden ist. Sein Seelenleben und seine Galgenphysiognomie 
harmoniren auf das Vollständigste. Er verläfet mit 15 Jahren 
die Elementarschule fast als völliger Analphabet und wird aus 
jeder Lehre fortgeschickt. Er bleibt völlig arbeitsscheu, stiehlt, 
macht falsches Geld, gräbt eine Leiche aus und beraubt sie 
ihrer Ringe, ermordet einen alten Eremiten, um sich in den 
Besitz seiner Ersparnisse zu bringen. Um dieselbe Zeit macht 
er einen Mordversuch gegen seine Mutter und einen schamlosen 
Nothzuchtsversuch an seiner Schwester. Es fehlt uuch nicht an 
einer erblichen Anlage zum Verbrecher, da sein Gro&vater und 
Urgrofsvater als Bäuber und Brandstifter auf dem Schaffot 
gestorben sind. 

Ein anderes Beispiel ist das Pinis, der mit 37 Jahren 
einer der Führer der Pariser Anarchisten war; er hat eine 
geisteskranke Schwester, auf der Photographie erscheint er 
fast bartlos, mit fliehender Stirn, enormen Augenbrauenbogen, 
massigem Kiefer, sehr langen Ohren. Er erklärt sich- nicht 



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— 82 — 

nur mit Stolz für einen Anarehiaten, sondern prahlt anoh 
damit, Diebstähle im Betrage von mehr als 300000 Francs 
ausgefiihrt zu haben, um die Unterdrückten an den Reichen 
und der Bourgeoisie zu rächen, er bezeichnet diese Diebstähle 
als die legitime Expropriation der Ezpropriirten und besals 




Pini 



eine Schar aufrichtiger Bewunderer. Bei einigen ehrlichen- 
Fanatikem des Anarchismus erregten seine Diebstähle Wider- 
willen; Pini machte auf einen derselben, den er im Verdacht 
hatte, seine Diebstähle zur Anzeige gebracht zu haben, auf 
Cerelli, einen Mordversuch, in Gremeinschaft mit Parmigiani; 
einen anderen Mordversuch machte er auf Prampolini, einen 



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— 33 — 

unserer wenigen edlen Politiker, von dem er viele WoUtliaten 
empfangen liatte, aus Wuth über eine Polemik desselben gegen 
die Theorien des Anarchismus.^ 

Politik und KrimiDalität. — Die Geschichte ist 
reich an Beispielen einer Verkuppelung verbrecherischer Bestre- 
bungen mit politischen, wobei bald die politische Leidenschaft, 
bald die Verbrechernatur das vorherrschende Element bildet. 

Während der nüchterne Pompejus alle ehrlichen Leute 
auf seiner. Seite hat, haben seine genialen Zeitgenossen Cicero, 
Caesar, Brutus nur die bösen Elemente zu Anhängern: Existenzen 
wie Clodius und Catilina, Wollüstlinge und Trunkenbolde wie 
Antonius, den Bankrotteur Curio, den wahnsinnigen Clelius, 
den Verschwender Dolabella, der alle Ansprüche seiner Gläubiger 
durch ein Gesetz zurückweisen will. 

Die griechischen Klephten, diese tapferen Kämpfer für die 
Unabhängigkeit ihrer Heimath, waren in Priedenszeiten Räuber; 
in Italien verwendeten der Papst und die Bourbonen 1860 das 
Brigantenthum gegen die ijationale Partei und ihre Truppen, 
und auf Seiten Garibaldis stand in Sicilien die Maffia, wie in 
Neapel die Liberalen von der Camorra unterstützt wurden. 
Und diese Alliance mit der Camorra ist noch nicht völlig • auf- 
gelöst, wie die Ereignisse in Neapel zur Zeit der jüngsten 
Wirren im italienischen Parlament gezeigt haben ; es wird 
damit wohl kaum bald besser werden. 

Das Verbrecherthum nimmt besonders an den Anfangs- 
stadien von Aufständen und Revolutionen massenhaft theil, denn 
zu einer Zeit, wo die Schwachen und Unentschlossenen noch 
zaudern, überwiegt die impulsive Thatkraft der abnormen und 
krankhaften Naturen, deren Beispiel dann Epidemien yon 
Ausschreitungen hervorruft. 



^ Piai ist am 22. Oktober 1894 in Cagenna als Führer einer 
Sträflingsmeuterei erschossen worden. 

LoMBBOSO, Die Anarchisten. 3 



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— 34 — 

Chekü hat in seinen Bemerkungen über die revolutionären 
Bewegungen Frankreiclis vor 1848 gezeigt, dals damals die 
politische Leidenschaft . allmählich zu unverhohlenen verbreche- 
rischen Bestrebungen entartete; so hatten damalige Vorläufer 
des Anarohismus einen gewissen Coffireau zum Führer, der 
als wüthender Kommunist schliefslich den Diebstahl zu einem 
social-politischen G-rundsatz machte, mit seinen Anhängern 
die Kaufleute ausplünderte, die nach ihrer Meinung nur 
ihre Kunden betrogen; damit glaubten sie nur gerechtfertigte 
Repressalien zu üben und zugleich aus den Bestohlenen Unzu- 
friedene zu machen, die sich ihrerseits der Sache der Revolution 
anschliefsen würden. Daneben beschäftigte sich diese Gruppe 
mit der Herstellung geMschter Banknoten, was 1847 zu ihrer 
Entdeckung und schweren Bestrafung durch die Assisen fährte, 
nachdem die eigentlichen Republikaner sich längst von ihnen 
losgesagt hatten. 

In England sammelte sich zur Zeit der Verschwörungen 
gegen Cromwell Räuberbanden in der Umgebung von London, 
und die Zahl der Diebe in der Stadt vervielfältigte sich; die 
Räuberbanden nahmen einen politischen Anstrich an und fragten 
die Ueberfallenen, ob sie der Republik einen Treueid geschworen 
hätten; je nach der Antwort lielsen sie sie laufen oder beraubten 
und miJshandelten sie. Zu ihrer Unterdrückung muisten Mann- 
schaften der Armee abgesandt werden, die nicht immer sieg- 
reich blieben. 

Auch als Vorboten der französischen Revolution erscheinen 
Vagabundenhorden, Räuberbanden und Diebsgesellschaften in 
unerhörter Menge. Merciek berichtet, dafis eine Armee von 
10000 Strolchen 1789 allmählich sich Paris näherte und in die 
Stadt eindrang; es war dies das Gesindel, das während der 
Schreckenszeit den Massenhinrichtungen beiwohnte und später 
die Füsilladen in Toulon und die Massenertränkungen in 



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— 35 — 

Nantes betrieb; zugleich waren die Revolutionstmppen und 
die Revolutionsausschüsse, nach der Bezeichnung Meissners, 
^ wahre Bandenorganisationen, um ungestraft jede Art Mord, 
Räuberei und Erpressung zu üben". Die Verbrecher, die 
während der Revolution gelegentlich gefafist wurden, suchten 
sich durch den Ruf: Ä Varistoct'ate! zu salviren; vor Gericht 
benahmen sie sich in der frechsten Weise und grinsten die 
Richter an, wenn sie verurtheilt wurden; die festgenommenen 
Weiber masturbirten am Pranger. 1790 wurden in die 
Conciergerie nur 490, im Jahre 1791 nicht mehr als 1198 
Arrestanten eingeliefert. 

Ganz ähnliche Dinge spielten sich 1871 im Kommune- 
aufstande ab. Unter der in ihren patriotischen HoflFnungen 
getäuschten, von ruhmlosen Kämpfen entnervten, von Hunger 
und Alkohol geschwächten Bevölkerung von Paris vermochte 
sich Niemand mehr aufzuraffen, als die unruhigen Elemente, 
die Deklassirten, die Verbrecher, die Verrückten und die 
Trunkenbolde, die nun der Stadt ihren Willen aufzwangen; 
dafs es diese Elemente waren, zeigt die Hinschlachtung wehr- 
loser Gefangener, die raffinirte Art der Morde der Opfer, die 
z. B. über eine Mauer springen mufsten und dabei erschossen 
wurden, während andere von Kugeln durchlöchert wurden; so 
erhielt ein Bürger 69 Kugeln, der Abbä Bengy 62 Bajonett- 
stiche etc. Diese verbrecherischen Ausschreitungen der Rebellen 
erloschen auch nach der Unterdrückung durch die blutigen 
Standgerichte nicht; in Paris selbst tauchten sie 1883 in an- 
archistischen Ausschreitungen wieder auf; damals waren unter 
33 verhafteten Ruhestörern 13 wegen Diebstahls vorbestrafte ; in 
gröfeerem Mafsstabe wiederholten sich diese letzten Pariser 
Unruhen bald darauf in Belgien, als die streikenden Glasarbeiter 
sengten und plünderten; unter den 67 Hauptpersonen dieser 

8» 



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— 36 — 

Unruhen waren 22 mehr als zehnmal wegen Diebstahls und 
Körperverletzung vorbestraft. 

Aber die sittliche Defektheit demagogischer Führer bedarf 
keiner ausführlichen zahlenmäisigen Beläge — die honetten 
Leute eignen sich heutzutage in keiner Partei mehr zur Rolle 
aktiver Politiker. 



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Drittes Kapitel. 
Epilepsie, Hysterie und Anarcliie. 

Die von mir oft betonte . genetische Beziehung zwischen 
angeborener Verbrechematur und Epilepsie macht es verständ- 
lich, dafs unter politischen Verbrechern so häufig gewisse 
neuropathische Zustände vorkommen, die ich als politische 
Hysterie und Epilepsie bezeichnen möchte. Fundamentale 
seelische Merkmale, die Eitelkeit, die religiöse Stimmung, das 
enorme Selbstgefühl, die zeitweisen Anflüge von Genialität, die 
Neigung, lebhaft zu halluciniren, besonders auch ihre enorme 
Impulsivität lassen diese Kranken wie gemacht erscheinen für 
die Bolle fanatischer Neuerer auf religiösem und politischem 
Gebiete. Maudslbt legt z. B. überzeugend dar, dals Muhammed 
seine erste Vision oder Offenbarung in einem epileptischen 
Anfall gehabt hat, und dais.er — ob Betrüger oder Betrogener 
— mit derartigen Erlebnissen seine himmlische Inspiration und 
Mission begründet hat.^ 

Ich habe anderwärts die Beobachtung eines epileptischen 
Irren mitgetheilt, der wegen Fruchtabtreibung und Betrugs 
bestraft war und in dessen Aufzeichnungen sich folgender 

^ S. LoMBROso, Der Verbrecher, Bd. II. I. Theil; Ber politische 
Verbrecher, JJI. Theil. 



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— 88 — 

Satz findet: „Ich schlielse mit der Versicherung, dals ich nie 
den Ehrgeiz gehabt habe, einen Staat zu regieren, sollte mich 
jedoch ein Plebiscit zur Ministerwürde erheben, so würde ich 
die ersten Stunden meiner Amtsthätigkeit zur vollständigen 
Reform des Richterstandes und der GerichtsveriGEissung ver- 
wenden.^ In meinem Werke über den genialen Menschen habe 
ich einen Epileptiker geschildert, der Betrug, Erpressung und 
Nothzucht begangen und seine Frau ermordet hatte, zugleich 
aber ein genial angehauchter Dichter war und eine neue Religion 
verkündigte, deren Ritual vor allem Nothzuchtshandlungen ent- 
hielt und die er auf offener Strafse, zwischen zwei epileptischen 
AnMlen, wiederholt durch die Propaganda der That zu ver- 
breiten suchte. Ein anderer Epileptiker plante eine Expedition 
nach Neuguinea, mit deren Erträgen er den damals florirenden 
verrückten Yolksmann Coooapiellbb unterstützen wollte, um 
dann ins Parlament zu kommen, alle Gesetze zu erneuern und 
das allgemeine Stimmrecht einzuführen. Ich erinnere schlielBlioh 
an die von Zola in Bite humaine geschilderten Verbrecher 
(Lanthibr), der von Alkoholisten und Degenerirten abstammte 
und dieser Herkunft seine Widerstandsunfähigkeit gegen den 
Wein und seinen wilden Mordtrieb verdankte, den er in Rache- 
akten gegen die G^esellschaft bethätigte. Interessant ist der bei 
ihm im Rausche auftretende Hunger nach Menschenfleisch. 
Zola hat in dieser Figur, ohne es zu wissen, einen Fall von 
politischer Epilepsie geschildert. 

Das schlagendste Beispiel sah ich vor kurzer Zeit in einem 
wegen Landstreichens verwarnten jungen Menschen mit fliehen- 
der Stirn, fast ganz unerregbarer Tastempfindung, der mir auf 
meine Frage, ob er sich für Politik interessire, bestürzt ant- 
wortete: ^Sprechen Sie mir nicht davon, das ist mein Unglück I 
Wenn ich beim Firnissen bin und mir die Reformen einfallen, 
erzähle ich den Kameraden davon, werde schwindlich, sehe 



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— 39 — 

sobwarz und falle zu Boden. ^ Dann entwickelte er ein 
präadamitisches Beformprojekt : Abschaffong des G-eldes, der 
Schulen, der Kleider, allgemeines Vertauschen aller Arbeits- 
arten etc. In diesen Entwürfen erschöpfte sich seine Thätigkeit, 
er litt an echter politischer Epilepsie, üeberzeugung und 
Willen fehlten ihm nicht, es fehlte ihm nur die Genialität. 
Besäise er diese und lebte er zu günstiger Zeit und in einem 
geeigneten Volke, so wäre er ein Reformator geworden, an 
dessen Epilepsie Niemand gedacht hätte. 

In einem anderen von mir beobachteten Falle handelt es 
sich um einen 37jährigen Anstreicher, dessen Vater geistes- 
krank war, während die Mutter an Schwindsucht und ein 
Bruder an Melancholie litt. Er hatte am Hinterkopf eine von 
einer Verletzung, am Halse eine von einem Selbstmordversuche 
herrührende Narbe. Anthropologisch zeigte er fliehende Stirn, 
Henkelohren, Schielen, Linkshändigkeit und Abstumpfung der 
Hautempfindung. Er zeigte normale sympathische, schwache 
religiöse Gefühle; er litt an Schwindelan&Uen, in denen] er 
manchmal zu Boden stürzt, dieselben stellen sich u. a. beim 
Lesen ein und hindern ihn an der Zeitungslektüre. Er erhielt 
seine erste Strafe wegen Trunkenheit, die zweite, weil er seinem 
Arbeitgeber 2 Francs gestohlen hatte, die er vertrank; er sah 
in diesem Diebstahl nur eine legitime Ergänzung seines 
schlechten Lohns. 

üeber die von ihm geplanten Reformen liefs er sich 
folgendermaßen aus: Der Besitz von Geld soll verboten sein, 
ebenso jede mehrstündige Arbeit und der Austausch von 
Produkten; keine Kleidung, aulser einem Lendengürtel; keine 
Gesetze, keine Häuser, zum Schlafen nur ein Schutzdach; 
absolut freie Ehe oder vielmehr allgemeine freie Liebe ; völlige 
Abschaffung der Schulen und der Priester, die nöthigenfalls 
niedergeschossen werden müssen, mit Ausnahme derer, die 



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— 40 — 

arbeiten wollen; später widersprach er sich und wollte einen 
Priester in jeder Parochie leben lassen; den Herren müsse 
man ihr ganzes Geld fortnehmen nnd sie zwingen, tüx ihr 
Brot zn arbeiten. So, — damit schlofe er seine Darlegung, — 
war die Welt in alten Zeiten, wie ich habe erzählen hören. 

Ich erinnere hier daran, dafs in der kleinen, aus nur 15 
Mitgliedern bestehenden anarchistischen Gruppe in Neapel 
der fanatischste der Druckereiarbeiter Pelico war, der schon 
zwölfmal wegen Verleumdung, Erregung von Klassenhais und 
Mordversuch bestraft worden war und an Epilepsie leidet. 
Wahrscheinlich waren auch der von Züccarelli untersuchte 
Anarchist M. und Caserio epileptisch; jedenfalls war es der 
Vater Caserios. 

Viele Kritiker, welche meine speziellen Studien über dieses 
Problem — Der politische Verbrecher, III. Theil; Der Ver- 
brecher, Bd. n. Kap. 1 — nicht kennen, haben meine Hypothese 
über den Einflufs der Epilepsie auf politische Verbrechen 
bezweifelt; für sie möchte ich feststellen, daJs die Hypothese 
durch das Bekenntnifs eines Anarchistenführers bestätigt wird: 
„Unter den Anarchisten giebt es eine Gruppe, die sich selbst 
als Zwangsanarchisten bezeichnen und die Behauptung auf- 
stellen, dafs jeder auftauchende Trieb dazu zwingt, ihn zu 
befriedigen ; wenn der Eine den Trieb fühlt, etwas zu stehlen, 
der Andere, Jemanden zu ermorden, so ist die Handlung erlaubt, 
ja ihre Ausführung nothwendig.** Zu dieser Gruppe gehörte 
Caserio. 

Neuerdings hat der spanische Anarchist Santyago San 
Salvador bekannt, dafs er als Jüngling sehr fromm war und 
zu den Carlisten gehörte, dabei hatte er jedoch gehoflft, der 
Carlismus würde die allgemeine Gleichheit einfuhren. Auf 
die Frage, ob er die Nutzlosigkeit seiner Handlung nicht ein- 
sähe, antwortete er mit einer Phrase, die mir für einen Fall 



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— 41 — 

von politischer Epilepsie charakteristisch scheint: „Auch wenn 
ich es eingesehen hätte, hätte ich doch nicht anders handeln 
können, denn es war eine instinktive That. Ich hin Anarchist 
aus üeberzeugung, aber auch aus Instinkt. Ich habe das 
Attentat im Theater begangen, obschon ich wuiste, dais Tödten 
ein Verbrechen ist; ich habe es aus Zwang gethan, ich war 
dazu von einer Macht gedrängt, die mich beherrschte, durch 
ein Verlangen, das ich nicht unterdrücken konnte." 

In neuster Zeit tödtete ein Epileptiker einen grofsen ameri- 
kanischen Staatsmann: Ignazio Monges,^ 38 Jahre alt, schleuderte 
einen Stein gegen den General B-ocha, Präsidenten der argen- 
tinischen Republik, und verletzte ihn schwer am Kopf. Der 
Verbrecher war ein Mann von mittlerer Gröfise (1,67 m), kräf- 
tiger Konstitution, neuropathischem Temperament, mit langem, 
schwarzem Bart, mehr dunkler als heller Iris; die Stirn hoch 
und asymmetrisch, der Schädel mäfsig entwickelt, brachycephal, 
ziemlich schief und mit Plagiocephalie links vorn. Das Gesicht 
breit, niedrig (Chamäprosopie) ; die Jochbeine vorstehend, der 
Mund grofs, die Lippen dick und gewulstet. Das Gesicht 
zeigt verschiedene Narben älteren Datums, Spuren des Sturzes 
im epileptischen Anfall. Er schläft wenig und wird von düstern, 
schrecklichen Träumen gequält. Sein Puls ist voll und frequent, 
das Muskelsystem gut entwickelt, doch zeigt es emotiven^Tremor. 
Am Dynamometer ergiebt sich für die rechte Hand 40, für 
die linke 50 Kilogramm; somit also Linkshändigkeit und 
recht bedeutende Kraft. Die Haut ist wenig empfindlich, 
Hallucinationen und Illusionen fehlen. 

Ueber sein Leben berichtet er, er wäre als uneheliches 
Kind in der Provinz Corriente geboren. Vater und Brüder 
waren immer gesund. 15 jährig trat er in ein Kolleg ein, wo 

* Antonio F. Pinero, Ar eh. di Fsich. e scienze penali. IX. f. 5. 
Turin 1888. 



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— 42 — 

er eine dementare Bildung erwarb, nahm dann an allen 
revolutionären Bewegungen seiner Heimath theil und war ein 
eifriger Anhänger seiner Partei bis zu deren Niederlage und 
Zersprengung im Jahre 1874. Er siedelte nach Uruguay über, 
wurde jedoch von der Behörde um sein Geschäft gebracht und 
leistete bei dieser Gelegenheit bewaffiieten Widerstand, wobei 
er mehrere Soldaten verletzte und selbst an der Stirn ver- 
wundet wurde; er verlangte gleich darauf auf dem Ministerium 
Genugthuung. Seit dieser Zeit hatte er keine rechte Beschäf- 
tigung mehr, infolge der häufigen epileptischen AnMle, an 
denen er von seinem zwanzigsten Jahre an, nach einem Sturze 
auf den Kopf, litt. 

lieber die Motive für sein Attentat gab er an, dafe er 
mit der blofsen Absicht ausgegangen wäre, der Erö&ung der 
Kammer beizuwohnen, ohne jeden vorgefafsten Plan; als er 
Truppen aufgestellt sah, reizte es ihn, in den für die Ab- 
geordneten umstellten Baum einzudringen, und als General 
Bocha erschien, kam ihm der Gedanke, ihn zu tödten. Als er ge« 
fragt wurde, ob ihm dieser Gedanke vor oder nach dem Eintreffen 
des Generals gekommen wäre, gerieth er in heftigen Zorn. Er 
ist von hypochondrischer, melancholischer Gemüthsart. 

Einige Monate vorher hatte er in der Haft einen seiner 
Mitgefangenen durch einen Faustschlag zu Boden gestreckt 
und gleich darauf einen epileptischen Anfall bekommen; der 
Zorn äuiserte sich bei ihm in der Form impulsiver Tobsucht. 

Der Urheber eines der neusten anarchistischen Attentate, 
Vaillant, der Bombenwerfer im Parlament, hat in seiner 
Physiognomie kaum etwas vom Verbrechertypus, abgesehen von 
seinen greisen flenkelohren, aber er war sicher hysterisch, 
was auch seine Empfänglichkeit für hypnotische Prozeduren 
beweist. Man hat ihn als einen gemeinen Verbrecher geschildert, 
ich glaube jedoch, dais diese Darstellung auf Rechnung der 



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— 43 — 

bekannten Schwarz&rberei der Staatsanwälte zu setzen ist, 
und halte ihn fCb* eine aus dem Gleichgewicht gekommene 
leidenschaftliche Natur, die in der Kindheit und Jugend 
einen Anlauf zum Yerbrecherthum nahm (Betrugsv^isuch), 
aber eher zu den Leidenschafts- als zu den Instinktverbrechem 
zu rechnen ist. Was seine Asoendenz betrifft, so ist mir 
bekannt, dals er einem verbotenen Liebesverhältnifs entstammt 
und schlechte, degenerirte Eltern hatte. Als ursächliches Moment 
kommt femer in Betracht ein beständig unglücklicher Kampf 
ums Dasein. Er wuchs unter kümmerlichen Verhältnissen 
auf, war erst Schuhmacher, dann Gerber, Spezereihändler, 
französischer Sprachlehrer und wurde sehr bald ein „R6volt6". 
Er litt stets Noth, und der Kontrast zwischen seinen Ansprüchen 
und seinen Verhältnissen drängte ihn zu Ausschreitungen und 
zum Lebensüberdrufs ; er zog schlieMich den Tod dem Leben 
vor und sagte in seinem Verhör auf die Frage nach seinen 
Beweggründen: „La sociätä m'a forcö h le faire, j'ötais dans 
une Situation misärable. J'avais faim. Je ne regrette qu'une 
chose, ma gösse. Mais c'est ^gal, je suis content et on fera 
bien de me guillotiner, je recommengerais dans huit jours.^ 

Die den Hysterikern eigne groJse Beweglichkeit und Un- 
beständigkeit zeigte er aufser in dem fortwährenden Wechsel 
der Beschäftigung auch in seinen Ueberzeugungen. Er war 
von Mönchen erzogen, zeigte aber früh socialistische Neigungen; 
als er unter den Socialisten nicht zu Ansehen gelangte, wurde 
er Anarchist, also in erster Linie aus Eitelkeit. In seiner 
Schrift zeigt sich in dem übermäTsig grofsen Anfangsbuchstaben, 
der Steilheit der Züge,^ den imposanten Schnörkeln Energie, 
Stolz und Eitelkeit. 

Als er die HofiPaung aufgeben mufste, die Welt durch 
ein Buch, das er plante, zu befreien, glaubte er sie dadurch 
in Aufruhr bringen zu können, dafs er eine Bombe unter die 



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— 44 — 

Parlamentarier warf; kurz vorher hatte er sich photographiren 
lassen nnd sein Portrait an möglichst viele Menschen vertheilt ; 
die erste Frage nach seiner Yerhaftnng war, ob die Zeitungen 
sein Bild bringen würden.* 

Dabei war er beständig ein leidenschaftlicher und mais- 
loser Altruist, wie aus einem Bruchstück seiner Yertheidigungs- 
rede hervorgehen wird, das wir weiter unten mittheilen werden. 

* Bevue des Bevues 15. Febr. 1894. 



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Viertes Kapitel. 

Geisteskranke politische Verbrecher. 

Auoli unter den Anarchisten sind Individuen nicht selten, 
bei denen eine Geistesstörung das Ferment ihrer Erregung 
und manchmal auch einer gewissen Genialität wird. Aehnlicbe 
Beispiele aus fernerer und näherer Vergangenheit sind Cola 
di Bienzi, der kanadische Führer Biel und der von M. du 
Camp geschilderte Kommunarde Gaillard; dieser, ein früherer 
Schuhmacher, war „directeur des barricades** geworden und 
begeisterte sich für sein neues Ressort derart, dafe er Barrikaden 
aus Stiefelleisten, aus Broten, aus Dominosteinen, kurz aus 
allem, was ihm in die Hand kam, konstrüiren wollte ; seine 
Eitelkeit ging so weit, dafe er eigens eine Barrikade baute, um sich 
auf derselben in heroischer Pose, von Freiheitskämpfern umgeben, 
photographiren zu lassen. Hierher gehört eine Reihe von geistes- 
kranken Politikern, die auf eigene Faust und isolirt handeln, 
Angriffe auf Staatsoberhäupter machen und ein wirres Echo 
der Parteikämpfe und der politischen i^md religiösen Gegensätze 
ihrer Zeit darstellen. So rief in Frankreich die Steigerung 
der religiösen Kämpfe unter Heinrich III. das Attentat Ohätels 
au,f das Leben des Königs hervor; Chätel war ein Geisteskranker, 
der in dem Geständnifs seines Verbrechens beichtete/ dais sein 
Gewissen durch eine blutschänderische Neigung zu seiner 



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— 46 — 

Schwester und durch Mordgedanken getrübt gewesen wäre, und 
dafs er diese seine Schuld durch die Beseitigung des seinem 
Bekenntnisse feindlichen Königs hatte sühnen wollen. 

Er behauptete, diese Ideen aus der Philosophie geschöpft 
zu haben; bei der Untersuchung fand man bei ihm drei 
Blätter mit Anagrammen des königlichen Namens und neun 
andere, welche eine Beichte seiner Sünden enthielten, die nach 
der Beihenfolge der zehn Gebote angeordnet waren. 

Sicher war religiöser Fanatismus eines der Motive, die 
Ravaillac die Waffe gegen Heinrich IV. in die Hand gaben, 
aber die eigentliche Ursache war sein Yerfolgungs Wahnsinn. Er 
war wegen Gehirnschwäche aus seinem Kloster fortgeschickt 
worden, gerieth dann durch eine falsche Anklage ins Gefängnifs 
und bekam Visionen, in denen er sich zum Werkzeug der 
Vorsehung auserlesen siebt, die ihn antreibt, den König, dessen 
Armee gegen den Papst liistete, zu tödten. Seine Richter 
erklären ihn (nach Mathieu) während der Untersuchung für 
einen Irren von melancholischer Stimmung; trotzdem blieb 
ihm ein schreckliches Ende nicht erspart; er glaubte bis 
zuletzt, das Volk müsse ihm für seine That dankbar sein. 

Es ist bemerkenswerth, dals nach seiner Verhaftung zahl- 
reiche Schriftstücke bei ihm gefunden wurden; unter anderen 
ein G^edicht über den Gang zum Bichtplatz. Dasselbe war 
sorgfUtig und offenbar zum eigenen Gebrauch aufgezeichnet, 
da die den Seelenzustand des Kandidaten schildernden Worte 
sorgfältiger und mit andern Buchstaben geschrieben waren, als 
der Text; hieraus, wie aus vielen andern Schriftstücken erhellt 
seine Schreibsucht (Graphomanie). 

Ganz ähnliche Dinge fanden sich bei Guiteau, und dieser ist 
Ravaillac auch darin ähnlich, dais er, wie jener aus Mitleid mit 
der Königin, aus Rücksicht auf Frau Gurfield seinen Angriff 
aufschob. 



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— 48 — 

In England waren politische Mi&tände der Anlafs zu 
dem Attentat der Geisteskranken Margarethe Nicholson auf 
Heinrich III. und eines andern Attentats des gleichfalls geistes- 
kranken Hatfield. 

Der Urheber des ersten irisdien Dynamitattentats in 
London, Moony, ist durch New* Yorker Aerzte gleichfalls für 
geisteskrank erklärt worden, nachdem er vor Gericht seine 
Befriedigung darüber ausgesprochen hatte, der erste Irländer 
zu sein, der die Wohlhabenden durch Dynamit in Schrecken 
versetzte. 

Unter den Anarchisten fehlen auch die Mattoiden nicht, 
deren häufiges Auftreten in Revolutionen und Revolten ich 
schon in meinem Buche über den politischen Verbrecher nach- 
gewiesen habe. Die Diagnose dieser Anomalie ist immer laicht, 
weil ihre Merkmale mehr negativ sind und ihnen ausgesprochene 
Anomalien in Schädel- und Gesichtsbildung, ebenso wie aus- 
gesprochene Wahnsysteme fehlen ; dazu kommt, dafs bei ihnen 
das moralische Gefühl fast intakt ist, dafs sie einen bedeutenden, 
häufig sogar übertriebenen Ordnimgssinn besitzen und einen 
Gemeinsinn, der fast bis zum Altruismus gehen kann. ' 

Auch ihre Intelligenz zeigt keine sehr auffälligen Merkmale; 
sie können im praktischen Leben bemerkenswerth gewandt und 
verschlagen sein, so daJs viele von ihnen als Aerzte, Professoren, 
Offiziere und Staatsmänner vorwärts kommen; als ein besonderer, 
krankhafter Zug ihres Wesens tritt eine aufserordentliche Viel- 
geschäftigkeit hervor, die sich in der Regel auf aufserhalb 
ihres Berufes liegende Dinge bezieht und über die Leistungs- 
fähigkeit ihrer nicht über den Duichschüitt hervorragenden 
Intelligenz täuschen kann; so will der Koch Passanante den 
Gesetzgeber spielen, der Kutscher Lazzaretti den Theologen 
und Propheten; zwei Steuerbeamte beschäftigen sich in ihrem 
höheren Alter plötzlich mit Philologie und Kriminalistik. 



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— 49 — 

Charakteristisch ist für diese £j>ankea auch der beständige 
Berufswechsel ; so ist Gkiiteau der Reihe nach Journalist, Advo- 
kat, Prediger, Impresario, und Mangione Soldat, Landwirth, 
Ziegelfabrikant, Brückenbauer gewesen ; de Tommasi war noch 
vielseitiger und der Reihe nach Cafetier, Journalist, Fuhrwerks- 
untemehmer, Wurstfabrikant, Wurmdoktor, Tischler und Kellner. 

Der hervorstechendste Charakterzug ist die auiserordentliche 
Federgewandtheit dieser Kranken. So hat der Geistliche Bluet 
nicht weniger als 180 Bücher hinterlassen, von denen das 
eine immer . insipider ist als das andere. Der Ziegelfabrikant 
Slangione, der mit seiner verkrüppelten rechten Hand nicht 
schreiben konnte, versagte sich oft die Nahrung, um etwas drucken 
lassen zu können, und gab manchmal mehr als 100 Thal^ 
dafür aus. Passanante verschrieb ganze Ries Papier und 
hielt die Publikation eines albernen Briefes für wichtiger als 
sein Leben. Die Schrift dieser Individiuen ist durch Ver- 
längerung der Striche und Unterstreichen von Worten gekenn- 
zeichnet, wie u. a. der Namenszug von Guiteau zeigi . Mit 
dem anscheinenden Ernst dieser Individiuen kontrastirt in ihrer 
Schrift und ihren Reden Absurdität, Weitschweifigkeit, Klein- 
lichkeit. 

Das Pathologische ihres Wesens drückt sich weniger in 
der üebertriebenheit ihrer Gedanken aus, als in dem Mifs- 
verhältnife, in welchem diese Gedanken zu ihrem ganzen Wesen 
stehen ; so steht neben einem eigenartigen, gut ausgedrückten, ja 
erhabenen Gedanken häufig etwas ganz Paradoxes, Mittelmäfsiges 
und Unedles, das oft mit Bildungsstufe und Lebensstellung des 
Individuums unvereinbar ist, — Züge, wie wir sie bei Don 
Quixote finden und die uns 2ium Lächeln, anstatt zur Bewunde- 
rung lierausf ordern; jedenfalls sind Züge von Genie bei ihnen 
mehr die Ausnahme als die Eegel, und ein wirklicher jBn- 
thusiasmus findet sich. 'nur selten. Sie füllen ganze Bände mit 

LoHBBOSO, Die Anarchisten. 4 



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— 50 — 

Dingen ohne Saft und Kraft und suchen die Mittelmäisigkeit 
ihrer Ideen und die Ohnmacht ihres Stils zu verdecken durch 
FragezeicheUi Gedankenstriche, beständige Unterstreichungen 
und eigens erfundene Worte, wie sie auch die Paranoiker zu 
erfinden pflegen. Dazu kommt dann noch häufig eine besondere 
Art des Drucks, mit allerlei das Papier kreuz und quer durch- 
ziehenden Linien, mit weiüsen Buchstaben auf schwarzem 
Grunde u. s. w. 

Wie bei den Monomanen, so findet sich auch bei ihnen 
meistens ein stilles Delir, dessen Ruhe mit einem Schlage 
aufhört, um akut deliranten und impulsiven Erscheinungen Platz 
zu machen. Eine solche Veränderung vollzieht sich erst unter 
dem Drange der Noth oder der Steigerung der verschiedenen 
Neurosen, welche das Leiden häufig begleiten. Oft führt auch 
eine Verletzung des eitlen Selbstgefühls zu derartigen Aus- 
brüchen. So machte der friedliche und menschenfreundliche 
Mangione plötzlich einen Mordanfall auf Giusso, gegen den 
er früher Pamphlete losgelassen hatte; ebenso plötzlich wird 
Sbarbaro aus einen menschenfreundlichen reformeifrigen 
Politiker ein gemeiner Erpresser und Verleumder, wirft in der 
Fakultätsitzung mit Tintenfässern nach seinen Kollegen und 
insultirt die Minister. Coccapieller trieb es nicht ganz so 
arg, aber er bedrohte im GefängniJs die Aufseher und suchte 
eines Tages eine Unterredung mit dem Staatsanwalt, um diesem 
zu erklären, er wäre nur deshalb nicht König, weil er es nicht 
sein wollte. Büffet versuchte Casse im Korridor der Deputirten- 
kammer zu tödten, um dadurch die Rückkehr der Franzosen 
zu den Sitten der alten Gallier zu erreichen. 

Immerhin sind derartige Handlungen Mattoider ziemlich 
selten, und dieselben entwickeln dabei viel weniger Grausamkeit 
und Energie, als die Verbrechematuren, da ihnen die Gewöhnung 
an das Böse und die Schlauheit des Schurken durchaus fehlen. 



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— 51 — 

Ihre Verbrechen werdea in der OefiFentlichkeit begangen und 
mit der Absicht, das öffentliche Wohl zu fördern ; ihre Urheber 
entwickeln dabei eine unwiderstehliche Impulsivität, eine halb 
unbewuiBte Inspiration, wie man sie häufig in den Handlungen 
von Epileptikern und Geisteskranken findet. Sbarbaro,Lazzaretti, 
Cordigliani und Coccapieller sind immer als Reformatoren 
öffentlicher MÜBstände aufgetreten. Guiteau schildert sich 
selbst in einem Zustande von wahrhaft epileptoider Impulsivität: 
„Wenn der Geist von der Inspiration ergriffen wird, so ist er 
wahrhaft; auüser sich. Mir war anfangs der Gedanke an den 
Angriff gegen ein Menschenleben grauenhaft, bis ich einsah, 
dais ich ihn einer wahrhaften Inspiration verdankte. Fünfzehn 
Tage lang fühlte ich mich so erleuchtet, ich konnte nicht mehr 
essen, nicht mehr schlafen, bis das Werk vollbracht war; 
nachher aber schlief ich ausgezeichnet." 

Die geringe Gewandtheit dieser Mattoiden bei gewaltsamen 
Angriffen führt dazu, dais sie ihre Anfälle und Mordversuche 
mit viel geringerer Kraft ausführen, als eigentliche Verbrecher, 
und dais sie oft gar keine Mordwaffen gebrauchen und sich 
ungeschickt zeigen. So griffen Caporali, Cordigliani, Cocca- 
pieller und Passanante zu Steinen und Küchenmessem. Vita 
schleuderte eine mit einer harmlosen Flüssigkeit gefüllte Büchse, 
die in einer Art hergerichtet war, dais sie auch mit SchieiB- 
pulver oder Nitroglyceiin gefüllt nichts hätte schaden können. 
Häufig laden sie ihre Waffen nur mit Pulver, wie der Urheber 
des Attentats gegen Ferry. Sie haben auch keine Mit- 
schuldigen, legen keinen Hinterhalt, besorgen sich keinen Alibi- 
beweis, simuliren und leugnen nicht. 

Mit hysterischen Frauen haben diese politischen Verbrecher 
die Eigenthümlichkeit gemein, dafs sie in ihrer Schreibwuth 
häufig ihre schwarzen Pläne den verbreitetsten Zeitungen, den 
Gerichten, oder dem ersten besten vorher anzeigen, bald in 

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— 52 — 

offenen Briefen, bald in Zeitungsanzeigen, oder in voluminösen 
Schriften, wie es Mangione, Oaporali, Baffier, Vita und Guiteau 
gethan haben. 

Dazu kommt, dafs sie trotz der Unversehrtheit ihres 
moralischen Gefühls nach der That keinerlei B.eue zeigen, sich 
ihrer vielmehr sogar rühmen können ; es erstickt nämlich in ihnen 
das Gefühl der Q^nugthuung, endlich in den Augen der Welt 
etwas zu sein oder die Menschheit gefördert zu haben, jedes 
andere Gefühl. Es giebt eine besondere Abart dieser Individuen, 
die fast immer Anomalien, besonders der Leber und des Herzens 
besitzen; sie haben weder ein unversehrtes Affektleben, noch 
moralische Integrität; weil sie mit ihren Ideen nicht durch- 
dringen, fühlen sie sich beständig beleidigt, glauben sich ver- 
folgt, und werden dann ihrerseits zu Verfolgern, indem sie 
sich gegen die Reichen, die Häupter der Regierung, ja gegen 
das politische Regime selbst wenden. 

Andere vermischen politische und persönliche Streitigkeiten, 
verfolgen Deputirte, Magistratspersonen, denen sie die Mifs- 
erfolge ihrer Prozesse zuschreiben, beleidigen die Richter und 
machen sich zum Anwalt aller Unterdrückten. Büchner 
{Friedreichs Blätter, 1870) erzählt, dalis ein Mattoide in Berlin 
eine Gesellschaft gründete zum Schutze aller Derjenigen, die 
unter der Ungerechtigkeit der Richter gelitten hätten, und 
das Programm des Vereins an den König schickte. Ein weiteres 
Beispiel ist das Sandons, der Napoleon III. viel zu schaffen 
machte und Billaut stark zusetzte. Tardibu ^ giebt in seinem 
bekannten Werke Andeutungen über ihn. 

Der Stil mancher anarchistischen Schriftstücke, so der in 
den Manuskripten Passanantes und Gordiglianis, besonders der 
der anarchistischen Presse zeigt, dafs mattoide Anarchisten 



^ Jßtudes mid Aegales sur la folie. Paris 1866. 



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— 53 — 

häufig sind. Ich gebe hier als Beispiel ein Gität aus der 
anarchistischen Zeitung L^Ordine, deren Stil typisch mattoid ist: 

^Was ist der Atavismus? Wir glauben uns nicht zu 
irren, wenn wir antworten: Nachfolge und deshalb Vererbung. 
Die Ausnahme einer fortschreitenden Rückbildung. Ein un- 
geordnetes Ergebnifs. Während die Erbfolge in der Natur 
sieh beständig durch die Unveränderlichkeit ihrer Wirkungen 
vollzieht, kein Zeichen eines Rückschritts erkennen läCst und 
nicht rückläufig sein kann. Welchen andern Grund hat die 
Bewegung, als den, einem Triebe zu genügen, der Anziehung 
der bewegenden Kraft des Fortschritts. Jeder Tag ist der 
Erbe vergangener Tage. Jede Empfindungsfähigkeit ist die 
Steigerung früher durchlebter Empfindungen, sie ist der Fort- 
schritt der Wissenschaft. Wo die Sensibilität sich nicht in 
den komplizirtesten Integrationen bethätigt, ist das Raffinement 
weniger merklich. Es bleibt dann in der Sphäre des Instinkts, 
wo es unserer Erfahrung weniger differenzirt erscheint, und 
wir es der Anschauung zuschreiben. Die Nachfolge, die in 
den Schlangenlinien der Täuschungen entwickelte Erblichkeit 
inficirt sich mit ihren eigenen Giftstoffen, sie stürzt die Massen 
in ein Chaos von Schmerzen, von Racheakten und Revolten, 
dann ist die Unordnung fertig, der Atavismus eine Krankheit. 
Wird die Expropriation sich niederlassen ? Dem sei nicht so» 
So kann die Anarchie sich nicht gestalten, noch die Harmonie, 
auf welcher die Anarchie balancirt. Das wäre immer die 
Aneignung dessen, was Allen gehört, es wäre die Zerstörung 
der Synthese d«s „Allen Aller, Alles Allen". 

„Alles von Allen, in der Natur wie in der Wissenschaft, 
ist die kosmische Harmonie, ist die harmonische Association, 
in welcher alle Glieder des Weltwesens sich in ihren Hand- 
lungen ein Gleichgewicht zwischen Egoismus und Altruismus 
zu finden wissen. Unsere Wissenschaft findet die Fahnen ihrer 



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— 54 — 

Wahrheit in den versohiedenen, miteinander al^feetimmten 
Harmonien, und die Mathematik kommt ihr nur zu Hülfe, um 
die Proportionen dieser Harmonien zu erforschen und zu be- 



^Es hat sich der Begriff des Privilegs gebildet, als spätes 
Erbtheil der menschlichen Familie; um es anzunehmen und 
durchzuführen, verwirrt sie ihr Erbrecht, zer&Ut sie in zwerg- 
hafte Gruppen, trübt sie die ursprünglichen Gefühle des gemein- 
samen Handelns, das sie durch Bevorzugungen vergiftet, zer- 
stört sie die Brüderlichkeit unter den Mitgliedern der Gesell- 
schaft und schafft Leidenschaften.^ 

^Der Mensch verfällt dem Atavismus, wenn er die ungesunde 
Erbschaft ist, die aus der Unordnung seiner kleinen, rebellischen 
Associationen gegen die grofse üniversalassociation entsteht." 

^Es sei uns gestattet, hier eine Parenthese einzuschalten. 
Die "Worte, besonders die von den Gelehrten gebrauchten, 
haben selbst in ihrem Rhythmus etwas methodisches. Das ist 
schön, denn es verhilft manchmal, und das sollte es immer, 
zum leichteren Yerständniis der Kede. Z. B. diejenigen, 
welche auf on endigen — Komposition, Kreation, Produktion, 
Lektion — bedeuten eine sich vollziehende Handlung ; die auf 
ismus: Nationalismus, Militarismus, Partikularismus, Doktrinaris- 
mus, Kretinismus (das Geschöpf Gottes im Koth, d. h. in der 
Ejeide), Religiosismus gehören mehr, ganz wie der Atavismus, 
der Bezeichnung eines Zustandes, bezeichnen eine Institution; 
die auf mig: Ftmktionirung, Zusammensetzung, bedeuten ein 
bestimmtes Stadium der Qualität der Handlung. Wenn diese 
rhythmische Klassificirung uns nicht irre geführt hat, so war 
unsere Parenthese hier recht am Platze, insoweit sie unsere 
Auffassung des gesunden Atavismus bestätigt.^ ^ 

* VOrdine, Turin, 20. August 1892. 
« rOrdine, 27. August 1892. 



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Fünftes Kapitel. 

Attentate als Mittel des indirekten Selbstmords. 

loh mxÜB hier noch jene merkwürdigen Mordthaten er- 
wähnen, die einen Ersatz des Selbstmordes darstellen; es sind 
dies Morde, oder vielmehr sehr ungeschickt ausgeführte Selbst- 
morde, in Form von Attentaten gegen regierende Häupter, durch 
die der Verbrecher ein Leben enden will, das ihm zur Last 
ist, während ihm der Muth zum direkten Selbstmorde fehlt. 
Wir nennen als ein neueres Beispiel den Spanier Oliya 
y Manouso. Wie sein Bild zeigt, fällt er durch zahlreiche 
Degenerationszeichen unter den politischen Verbrechern aus 
Leidenschaft auf. 1878 beging er ein Attentat auf König 
Alfons, der Niemandem, nicht einmal den Revolutionären, 
irgend einen Grund für einen solchen Angriff gegeben hätte. 
Oliva war ein eigensinniger, wenig begabter Mensch und hatte 
gegen den Willen seiner Familie Mathematik studirt, er machte 
aber gar keine Fortschritte und gab das Studium auf, um nach- 
einander Setzer, Steinmetzgeselle, Feldarbeiter, Böttcher und 
schlieiSslich Soldat zu werden; er zeigte übrigens militä- 
rische Tüchtigkeit. %äter ging er wieder in eine Druckerei 
und las hier so leidenschaftlich Bücher und Journale ultra- 
radikaler Richtung, dafis er darüber seine Arbeit ganz verüach- 



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— 56 — 

lässigte. Schlieüslicb konnte er die allen seinen Neigungen 
widersprechende Lebensweise nicht länger ertragen, äuiserte 
oft Selbstmordgedanken und ging, als ihn sein Yater mit einer 
kleinen Summe zur Auswanderung nach Algier ausrüstete, nach 
Madrid, wo er sein Attentat beging. 

Ein anderer Fall indirekten Selbstmords (wie Esqüirol, 
Maudslbt und v.Krafft-Ebing mehrere beschrieben haben) war 
das Attentat Nobilings auf den deutschen Kaiser im Juni 1878. 
Nobiling wandte den zweiten Schuis seines Gewehrs gegen sich 
selbst. Auch er war ein stellen- und aussichtsloser De- 
klassirter, mit zahlreichen Degenerationszeichen (Hydrocephalie, 
Gesichtsasymmetrie; er fällt dadurch unter den im übrigen 
sonormalen Yerbrechem aus Leidenschaft auf. — Erst 
Doktor der Philosophie, wurde er später praktischer Land- 
wirth und gab eine Arbeit ökonomischen Inhalts heraus, auf 
welche hin er eine Anstellung im preuTsischen statistischen 
Bureau erbat und erhielt; er war jedoch unfähig, eine ihm auf- 
getragene wichtigere Arbeit auszuführen, und wurde deshalb 
wieder entlassen. Er fand dann eine bescheidene Anstellung, 
reiste nach Frankreich und England, und konnte nach seiner 
Rückkehr keine dauernde Beschäftigung mehr finden. Nun 
plante er das Attentat und führte es bald darauf aus. Er war 
ein eigensinniger und egoistischer Mensch, und seine Bekannten 
bezeichneten ihn vor Gericht als einen unverbesserlichen, aber 
sanften Phantasten, befangen in spiritistischen Träumereien und 
sozialistischen Theorien, die er ziemlich konfus bei jeder Gelegen- 
heit auskramte; das verschaffte ihm die Spitznamen Petroleur 
und Kommunist. 

Passanante erklärte bei seiner Festnahme, er hätte das 
Attentat auf den König in der sicheren Erwartung der Todes- 
strafe begangen, da ihm die Mifshandlungen seines Brotherrn 
das Leben unerträglich gemacht hatten. In der That hatte er. 



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— 57 — 

sioh einige Tage vor seinem Attentat viel mehr mit seiner 
Entlassung als mit Königsmord beschäftigt, und nacli der Ver- 
haftung bemühte er sich, seine Lage zu verschlimmern; so 
erinnerte er den Polizeiof&zier daran, daCs er das revolutionäre 
Manifest mit der von Passarante herrührenden Aufechrift: 
,,Tod dem König, hoch die Bepublik'' vergessen hätte. Diese 
Absicht zusammen mit seiner Eitelkeit erklärt, dafs er nicht 
appelliren wollte, und bei der Mittheilung seiner Begnadigung 
beschäftigte er sich nicht mit dem Gedanken an die Erhaltung 
seines Lebens, sondern mit den zu erwartenden Zeitungsnotizen. 

.Prattini schleuderte auf der Piazza Colonna in Rom eine 
Bombe, die zahlreiche Verwundungen herbeiführte, imd erklärte 
vor Gericht, er hätte Niemanden treffen, sondern gegen die 
jetzige Ordnung der Dinge protestiren wollen und wäre damit 
zufrieden, den Feudaladel (I) getroffen zu haben; wie sehr aber 
seine Verzweiflung am Leben seine Narrenpläne bestimmte, 
geht aus folgenden Bruchstücken seiner Aufzeichnungen hervor: 

„Ich fürchte nicht für meine Freiheit und noch weniger 
für mein Leben, nein, man kann es mir nehmen, und es wäre 
das die gröJfete Wohlthat, die man mir erweisen könnte. . . , 
Und alle die Andern, die der Hunger aus ihrem Vaterlaade 
vertreibt, wie den Wolf aus dem Busch, was sagt der Sindaco 
von ihnen? Wie schön ist es, an nichts mehr denken zu 
müssen, weil man den Wanst voll hat! Und mir hätte man 
diesen Vorwurf machen können, wenn die vorzüglichen (I) 
Signori mir nicht vor ein paar Monaten zu Anfang des Winters 
den . . . Schurkenstreich . . . gespielt hätten, mich rufen zu 
lassen und mich mit der Streichung eines Gehaltsviertels zu 
überraschen, wenn es mir gefiele, zu bleiben. Und das nach 
drei Dienstjahren, verstanden! . . . Moral — weil sie sich in 
die Nonnen verliebt hatten . . . Ich konnte die Erniedrigung, 
die Schande nicht mehr ertragen, zu der die civile Gesell- 



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— 58 — 

sobaft; mich verartheilt hatte, aber ehe ich fiel, wollte ich noch 
etwas thxin, was meinesgleichen nützen, nicht schaden ktontel 
. . . Darum konnte, ja durfte ich keinen Hals gegen irgend 
einen Menschen haben l . . . Und der Hunger, der an mir 
nagte? Die Arbeit, die ich nicht fand? Qualificirter Mord, — 
weil ich kein wirklicher Mörder werden wollte . . . stehlen, — 
und warum hatte ich nicht zum zweiten Male den Muth, Selbst- 
mord zu begehen? . . . Die Thiere finden ihre Nahrung, jedes 
nach seiner Art, weil keins die Nahrung des anderen stiehlt, 
und jedes zufrieden ist, wenn es seine Bedürfhisse befriedigt 
hat. Die Natur hat die Gemeinschaft; geschaffen ... die 
Usurpation, das Privateigenthum, das ist der Ursprung alles 
Verderbens! ..." 

Den sichersten Beweis für die Rolle des Selbstmords als 
verborgenes Motiv des politischen Mordes liefert ein merk- 
würdiges psychologisches Dokument, das ich einer für alle 
modernen Ideen zugänglichen Frau, der Königin von Rumänien, 
verdanke. 

Der Rumäne C, 30 Jahre alt, der ein Jahr vorher wegen 
Mordes verurtheilt und dann begnadigt wurde, begeht ein 
Attentat auf den König, indem er von der Straise aus nach 
den erleuchteten Fenstern seiner Zimmer schiefst, wobei er 
kaum ein paar Scheiben traf. Bei der Haussuchung fanden sich 
mehrere Photographien, auf denen er bewaffaet dargestellt ist 
und welche die Königin mit Recht mit derjenigen Cavaglias ver- 
gleicht; er hatte sich sechs Monate vor dem Attentat in einer 
Situation photographiren lassen, die die Vereitelung eines Selbst- 
mordversuches durch seine Geliebte darstellt; offenbar trug er 
sich, wenn auch in eitler Weise, mit Selbstmordgedanken schon 
lange vor dem Attentat, das sich somit als ein indirekter Selbst- 
mord erweist. 

Henry und Vaillant möchte ich gleichfalls unter die 



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— 59 — 

indirekten Selbstmörder zählen und wohl auch Lega, der nach 
seiner That die AbschafiPiing der Todesstrafe in Italien bedauerte; 
Henry protestirte gegen die Versuche seiner Mutter und seines 
Adyokaten, die Geisteskrankheit seines Vaters in seinem Interesse 
geltend zu machen, und rief dabei den Geschworenen zu: „Es 
ist das Geschäft der Advokaten, zu ver theidigen, 
was mich betrifft, ich will sterben.** 

Auch Caserio machte eine Bemerkung, die dieser ähnlich 
ist: ^Die Enthauptung ist heut nicht mehr schmerzhaft.** 



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Sechstes Kapitel. 
Die Leidenschaftsverbrecher und der Fall Caserio. 

Den gröfsten Antheil an anaroliistischen Yerbreohen hat 
der Klassenhals, die heftige Leidenschaft, welche sich gelegentlich 
mit einer verbrecherischen Anlage verbindet, aber auch ohne 
eine solche allein zur Entwickelnng kommt; ich habe in meinem 
Buch über den politischen Verbrecher geschildert, dafs Ver- 
brecher aus bloüser Leidenschaft, kraft ihrer sonstigen Vorwurfe- 
freiheit einen G-egensatz zu den geborenen Verbrechern bilden. 
Zunächst fehlt ihnen nicht nur der anthropologische Verbrecher- 
typus, sondern sie haben eine, ich möchte sagen, antikriminelle, 
durch breite Stirn, heitern und sanften Blick, dichten Bart- 
wuchs ausgezeichnete Physiognomie. Von 30 bekannten 
Nihilisten haben 18 ein schönes Gesicht, nämlich die 
Perowskaja, Oydowina, Helfmann, Bakunin, Lawroff, Ste- 
fanowitch, Michailoff, Sassulitsoh, Ossinsky, Antonoff, 
Ubanowa, Wilaschenoff, Scheliaboff, Tschemischewski, Zünde- 
lewitsch, Piguer, Preznakoff, deren Physiognomien sämtlich 
kontrastiren mit den harten Zügen und dem hydrocephalen 
Schädel Fieschis, der Mikrocephalie Chevaliers und Marats 
und dem muskulären Typus der Louise Michel. Unter den 
Helden der italienischen Freiheitsbewegung, deren Bilder sich 



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— 61 — 

in dem Mailänder Museum des Risorgimento Italiano befinden, 
und die in der Sammlung von Muoni reproduzirt sind, zeichnen 
sich durch besondere Schönheit aus die Physiognomien von 
DandolOy Poma, Forro, Schiaffino, Fabbrizi, Pepe, Paoli, Fabretti, 
Pisacane u. A. Ich erinnere femer an die schönen Erscheinungen 
von Desmoulins, Barras, Brissot, Camot. Kotzebues Mörder, 
Sand, war gleichfalls ein schöner Mann. Unter diese Kategorie 
von politischen Verbrechern sind die unter gemeinen Verbrechern 
seltenen Frauen stark vertreten, und zwar sind die meisten 
zwischen 18 und 25 Jahre alt. 

RiGis theilt in seinem Buche über die Königsmörder mit, 
dafs dieselben meistens noch sehr jung waren, Solowieff, La 
Sala, Chätel und Staps waren 18 Jahre alt, Sand 25, die 
Renault 20, Barriäre und Booth 27, Alibaud 26, Corday 25, 
Meunier 23, Moncusi 22, Otero 19. ^ 

Dbsmarais schreibt: „Die napoleonische Polizei beobachtete 
die jungen Leute zwischen 18 und 20 Jahren, überzeugt, dais 
der Enthusiasmus und die Selbstaufopferung Krankheiten der 
frühen Jugend sind." ^ 

Eigenthümlich ist, dais diese Leidenschaftsverbrecher fast 
nie Mitschuldige haben; in den Fällen von Ravaillac, Gorday, 
Sand, Moncusi, Oliva, Verger, Passanante und Nobiling hat 
die Polizei durchaus Mitschuldige finden wollen, es ist ihr aber 
nie gelungen. Viele dieser Fanatiker haben eine Anlage zum 
Mysticismus oder zum politischen Fanatismus geerbt; die Väter der 
Corday, Orsinis und Padelewskis waren revolutionäre Fanatiker; 
der Vater von Booth nannte sich Julius Brutus, der Vater von 
Guiteau und der von Nobiling huldigten einem übertriebenen 
Pietismus. Die Mutter von Staps sprach mit Vorliebe in Bibel- 
versen. Man .vergleiche hiermit folgendes Citat aus Plutarch : 

* R^GiSy Lea regicides, 1890. 

* Quime ans d^haute poUce. 1833. 



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— 62 — 

^Julius Bratns hat unter seinen Ahnen jenen Gr. Brnios, der 
die Tftrqninier vertrieb, und Servilia, ans deren Familie d^ 
T3rranneDmörder Servilius Ala hervorging.^ 

Die schon erwähnte Vorwnrfisfireiheit der Lebensführung 
vieler dieser Fanatiker ist traditionell geworden. Sand soll 
wie ein Heiliger gelebt und den Tod erlitten haben, und der 
Ort seiner Hinrichtung wurde vom Volke Sands Himmelfahrts- 
wiese genannt. Nach den Mittheilungen von Stepniae soll 
der Nihilist Lisogub, ein Millionär, wie ein Bettler gelebt 
haben, um der Kasse seiner Sekte möglichst viel zufliefsen 
lassen zu können, so daCs ihn seine Freunde mit Gewalt daran 
hindern mufsten, sich durch Entbehrungen krank zu machen. 
Etwas ähnliches erzählt man von einem der ersten Proselyten 
des italienischen Socialismus, von Caffiero. Charlotte Corday war 
mit ihren 25 Jahren das Muster einer Jungfrau und eine äulserst 
sanfte Natur, die ihre Zeit mit historischen und philosophischen 
Studien ausfüllte und sich an den Schriften von Plutarch, 
Montesquieu und Rousseau begeisterte. Die ei&ige Propaganda 
einiger girondistischer Flüchtlinge, vielleicht auch eine stille 
Liebe zu einem von ihnen, begeisterte sie für die Sache dieser 
Partei. Sie war in der Konventssitzung zugegen, in der die 
Girondisten preisgegeben wurden, und beschlois, Märat, den 
Urheber dieser Entscheidung, zu tödten. Berühmt ist ihre 
Antwort auf die Frage, wie sie, ein zartes Weib, ohne körper- 
liche Kraft und ohne Helfer, Marat anfallen konnte : „Der Zorn 
hatte mein Herz geschwellt, und mir den Weg gezeigt, das 
seine zu treffen." ^ 

b'Atala giebt eine Charakteristik von 60 politischen 
Märtyrern ; 29 unter ihnen erscheinen als hochherzige und edle 
Naturen, muthig, aber zu kühn uud wagelustig. 



^ D'ÄBREirrjgs, Vita e ritratH di donne oeUbri, 18S8. 



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— 63 — 

Wera Sassulitsch wurde naoli ihrem Attentat auf General 
TrepofiF freigesprochen aber, selbst yoll der höchsten Ansprüche 
an sich selbst, erklärte sie nach d^ Freisprechung, sie wäre 
beim Lesen des Urtheils von Traurigkeit ergriffen worden, 
denn ihre Yerurtheilung würde ihr den Trost gewährt haben, 
sich ganz ihrer Sache hingeben zu können. Den G^eechworenen 
sagte sie: „Es ist etwas Furchtbares, die Hand gegen das 
Leben eines Menschen zu erheben, ich weiGs es, aber ich wollte 
zeigen, dals es unmöglich ist, ihn nach soviel Greuelthaten 
unbestraft zu lassen ; ick wollte die allgemeine Aufmerksamkeit 
auf diese Dinge lenken, um zu verhindern, dafs sie sich wieder- 
holten." Es war in diesen Worten soviel aufrichtige Leiden- 
schaft, dafs sie Alle überzeugte. 

Zu diesen Gharakterzttgen kommt das dieser Elategorie 
eigenthümliche Bedürfnüs, Schmerz zu empfinden und zu leiden. 
Das Leid ist etwas Gutes, lä&t Dostojewseij einen 
seiner politischen Helden sagen, wohl verstanden, um so mehr, 
je wichtiger die Sache, die Idee ist, für die sie leiden; oft 
aber suchen sie die Unlust an und für sich, und genielBen 
z. B. um der Unlust willen bittere Substanzen. Etwas ähn- 
liches findet sich bei religiösen Fanatikern, die sich geüseln 
und zu Ehren eines Heiligen oder des göttlichen Herzens 
Stachelgürtel tragen, und das erklärt uns die groüse Unvor- 
sichtigkeit der Nihilisten und der christlichen Märtyrer. 

Eine der Angeklagten in dem Petersburger Prozefs der 
Fünfzig, die in den letzten Stadien der Tuberkulose sich 
befand, improvisirte vor ihren Richtern eine Rede, die fast 
einer Dichtung glich, und die eine lodernde Sehnsucht nach 
dem Martjrrium offenbarte : „Beeilt euch, Ihr Richter, und ver- 
urtheilt mich ohne weiteres; schwer und schrecklich ist mein 
Verbrechen I In das bäuerliche Gewand von grauer Wolle 
gekleidet, ohne Schuhe, habe ich es gewagt, dorthin zu wandern. 



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— 64 — 

wo unsere Brüder seufzen, wo Arbeit und Elend nie aufhören. 
Wozu die Phrasen und Verhandlungen? Bin ich nicht von 
vornherein eine tiberführte Verbrecherin? Bin ich nicht das 
verkörperte Verbrechen? Die Schultern noch im bäuerlichen 
Kleide, die Fülse nackt, mit schwieligen Händen stehe ich 
hier, gebrochen durch harte Arbeit ; aber der schlimmste 
Beweis gegen mich ist meine Liebe zum Vaterlande. Aber, 
so schuldig ich auch bin, Ihr Richter seid ohnmächtig gegen 
mich, ja, ich bin unerreichbar für alle Strafen, denn ich habe 
einen Glauben, den ihr nicht habt: den Glauben an den Sieg 
meines Ideals. Ihr könnt mich lebenslang verurtheilen, aber 
mein Leiden wird, wie Ihr seht, meine Strafe nicht lange 
dauern lassen, und selbst die Schergen werden die Kerker- 
schlüssel zu Boden werfen und werden schluchzend an meinem 
Kopfkissen beten." 

Renan sieht einen wesentlichen Grund für die Ausbreitung 
des Christenthums neben dem Geiste des Gründers und dem 
Einfluis seiner Vorgänger — der Essäner — in der seine An- 
hänger beseelenden Leidenschaft für das Martyrium, die mächtig 
genug war, um Bekehrungen, wie die von Justinus oder Ter- 
tullian, zu bewirken, nachdem sie Zuschauer des unbeugsamen 
Muthes der Märtyrer geworden waren. So versteht man auch 
leicht, dafs die Gnostiker, welche das Martyrium für nutzlos 
erklärten, von allen christlichen Sekten in den Bann gethan 
wurden: „Dans Taffaire des bäbis, on vit des göns, qui ötaient ä 
peine de la secte, venir se d^noncer eux mömes, afin qu'on 
les adjoignit äux patients. E est si doux h Thomme de 
souffirir pour quelque chose, que dans bien des cas l'appät du 
martyre suffit pour croire. Un disciple qui fut le compagnon 
de supplice de Bäb, suspendu ä c5tö de lui aux remparts de 
Träbiz et attendant la mort, n'avait qu'un mot ä la bouche : 
^Es^tu content de moi, mattre?" 



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^ün joär Sans pareil peutrStre dans rhistoire du niobde 
fat celni (1852) de la grande bouoherie qui se fit des Mbis 
ä Töh^ran. On vit ce jour 1^ dans les mes et les bazars de 
T^höran un speetacle que la pepolation semble devoir n'anblier 
Jamals. Quand la eonyersation, encore aujourd'hni se met 
snr cette mati&re, on peut jnger de radmiratien mdl^ d'horceur 
qüe la foule 6prouva, et que les annöes n'ont pas diminuee.*' 

„Quand un des supplioi^s tombait, et qu^on le faisait 
relever k coups de fouet öu de bayonnette, pour peu que' la 
perte de son sang^ qui ruisselait sur tous ses membres^ lui 
laissät encore un peu de force, il se mettait h danser et oriait 
avec im surcroft d'enthousiasme : En Y^rit^, nous sommes & 
Dieu et nous retoumons ä luil Quelques -uns des en&nts 
expirdrent dans le trajet. Les bourreaux jetärent leurs ^ oörps 
sous les pieds de leur p^rs et de leurs soeurs, qui marebaient 
fi^rement dessus, et ne leurs donnferent pas deux regards. Quand 
on arriva au lieu d'ex^cution, on proposa encore aux victimes 
la vie pour leur abjuration. Un bourreau imagina de dire ä 
un päre que, s'il ne eödait pas, il couperait la gorge & ses 
deux fils sur sa poitrine. C'ötaient deux petit gargons, doht 
rain6 avait quatorze ans, et qui, rouges de leur propre sang, 
les cbairs calcinöes ^coutaient froidement le dialogue. Lö; 
p^re r^pondit, en se coucbant par terre, qu'il ötait pröt, et 
Faiüö des enfants, röclamant avec emportement son droit 
d'ainesse, demanda h Stre ^rge le premier.^ \ : - 

Diese Beispiele, die sich beliebig veinnebren lieisen, zeigten, 
wie lebendig bei diesen Verbrechern aus Leidenscbäft ^ie« 
Ueberzeugung einer hohen Mission ist, -^ eiije Ueberzeugüiig, 
die sie ihrer Strafe unerschrocken und ohne Keue eäatgegengeben , 
läfst, Während beiden eigentlichen Verbrecberiiaturen die Gleich- 
gültigkeit dem Tode gegenüber und die Reuelosigkeit duroK 
schwere sittliche Defekte bedingt sind; der Leidensch&fts-' 

LoMBBOSO, Die AnarchisteB. 5 



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— 66 — 

Verbrecher zeigt bei allem Mangel an Reue die Zartheit und 
Besoheidenheit, die sein ganzes übriges Leben beweist 

Auch manchen der dem Anarchismus nahe stehenden 
neueren politischen Verbrechern hat nur Leidenschaft und 
Fanatismus die Waffe in die Hand gedrückt, und deshalb zeigt 
sich ihr Leben im übrigen vo r w u rfsfrei, sicher aber findet 
sich gerade bei ihnen neben der Leidenschaft eine krankhafte 
Veranlagung ihres Nervensystems. So waren Booth, Alibaud 
und Nobiling Söhne von Selbstmördern, Sand hatte selbst 
Anfalle von Melancholie und Selbstmordgedanken, Haillaraud, 
der gegen Bazaine, und la Sala, der gegen Napoleon m. 
einen Mordversuch machte, litten an epileptoiden Anfällen. 
Ersterer, der mit seinem Attentate die Ehre Frankreichs retten 
wollte, hatte eine atrophische Lähmung des rechten Arms und 
einen Herzfehler; la Sala, der durch seine That den Welt- 
frieden sichern wollte, war zugleich rückenmarkskrank. Orsinis 
Unbesonnenheit trug so sehr den Stempel der Tollheit, dals die 
Mazzinisten eine Zeitlang jede Narrheit als Orsinade bezeichneten. 

Santo Caserio kann wohl auch als ein in diese Elategorie 
gehörender Fall gelten. Er war bei Begehung seines Attentats 
21 Jahre alt und der vorletzte von acht Söhnen, die bis auf 
ihn alle gesund waren. Sein Vater war Bauer und zugleich 
Fahrmann am Ticino, er war in jeder Beziehung ein tadelloser 
Mensch, bei der Geburt seines Sohnes Santo war er 37 Jahre 
alt. Als Knabe war er 1848 einmal von den österreichischen 
Grenzwächtem am Ticin als Schmuggler festgenommen und 
eingeschlossen worden. Er war dabei in Todesangst und hatte 
seitdem häufige epileptische Anfälle; wahrscheinlich verdankter 
diese seine Krankheit zugleich einer erblichen Veranlagung, 
da in seiner Familie die so oft zu Geistesstörungen führende 
Pellagra zu Hause war ; zwei seiner noch in Mombello lebenden 
Brüder sind noch pellagrös ; die starke Verbreitung der Pellagra 



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— 67 — 

in Motta VisooDti, dem Geburtsorte Sante Caserios, ist mir 
aus meiner früheren irrenärztliohen Thätigkeit in Pavia wohl 
bekannt. 

Die Physiognomie Caserios, die ich hier nach einer 
authentischen Abbildung der lUustraaione Italiana wiedergebe, 
hat nur wenige Merkmale des Verbrechertypus : den spärlichen 




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Caserio. 

Bartwuchs, das angewachsene Ohrläppchen und stark entwickelte 
Supraciliarbogen; die Formen des Körpers und des Schädels 
sind wohlgebildet, das Auge sanft; als sonstige Abnormität ist 
nur ein Muttermaal am Arm nachweisbar. Aus dem Wenigen, 
was aus seinem Leben bekannt ist, scheint sich zu ergeben, dals 
alles, was vom Verbrecher in ihm war, sich im politischen 
Fanatismus äuiserte; in der That sind seit seiner Knabenzeit 
keine anderen Andeutungen verbrecherischer Beanlagung bei 



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— 68 — 

ihm nachweisbar, als die Unlust, im Eltemhanse zu bleiben, 
und die Neigung zum Yagabundiren, Erscheinungen, die bei 
der an der Scholle hängenden Bevölkerung seiner engeren 
Heimaih äufserst selten sind. Sein Bruder sagte von ihm aus: 
^Sante hatte von Kindheit an unsere Dorfschule besucht, aber 
fast gar nichts gelernt, er war von etwas unzugänglicher Art und 
selten lustig. Seine Mutter yerwöhnte ihn sehr, er war sanft 
und sehr fromm, ministrirte mit Leidenschaft bei der Messe 
und stellte bei Processionen den heil. Johannes vor ; sein Wunsch 
war, ins Seminar einzutreten und Priester, besonders Missionar 
zu werden. Er war intolerant mit seinen Spielkameraden und 
entrüstete sich, wenn sie Aepfel stahlen,^ 

Als er 10 Jahre alt war, entfernte er sich heimlich von 
Hause und ging nach Mailand, wo er bei einen Töpfer Be- 
schäftigung fand. Aus seiner weiteren Entwickelung ist 
bemerkenswerth, dafs er nicht mit seinen Kameraden dem 
Spiel, dem Weine und den Mädchen huldigte, sondern gern 
las und diskutirte; in einer solchen Diskussion ereiferte er sich 
— er war 13 Jahre alt — so sehr, dafs er seinen Gegner 
mit einer Flasche über den Kopf schlug. Seine Bekehrung 
zu den Lehren des Anarchismus datirt in das Jahr 1890; die 
ersten Gedanken dieser Art scheinen ihm im Wirthshaus bei- 
gebracht worden zu sein; sehr bald wurde er selbst einer der 
eifrigsten Wortführer des Anarchismus und beschäftigte sich 
in ^inen Mulsestunden beständig mit anarchistischen Büchern 
und Zeitungen; er versuchte auch Propaganda für seine, An- 
schauungen unter den Bauern zu maqhen, wurde aber ausgelacht. 

Anfangs verbarg er seine Sympathien, die sein Brotherr 
und seine Familie nicht ahnten. Der Erste, der etwas davon 
merkte, war ein Üterer Bruder, der ihn ernsthaft tadelte und 
alles versuchte, um ihm den Kopf zurechtzusetzen; darüber 
kam es zum Brudi zwischen den Brüdern. Auch Yater und 



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— 69 — 

Mtitter wurden durch seine veiÄnderte Haltung betrübt. Als 
die Anarobisten 1892 Flugblätter an die Soldaten der Kaserne 
bei Porta Vittoria vertheilten, wurde Caserio mit Anderen 
verhaftet und bekam vier Tage Gefängnilis^ Seine Mutter nahm 
sich das so zu Herzen, dafs sie erkrankte und viele Monate 
krank blieb. 

In der öflFentliohen Yerhandlung^ g^on Caserio in Lyon 
gab er zu, anarchistische Schriften an Soldaten vertheilt zu 
haben, verweigerte aber weitere Auskunft unter Berufnng auf 
seine Aussagen vor dem Untersuchungsrichter. Vor diesem 
hatte er erklärt, dais er sich erst 1891 definitiv der anarchistischen 
Partei angeschlossen hätte, und zwar infolge der Lektüre 
gewisser Broschüren und der Unterhaltung mit anderen Arbeitern, 
mit denen er im Wirthshaus zum Bocciaspiel zusammen kam; 
er fügte hinzu, dafs er kein Redner wäre und deshalb an 
anarchistischen Konventikeln nicht aktiv theilgenommen hätte. 
Dagegen schriebe er: gern und hätte eine ungedruckte Abband^ 
lung über die vor einigen Jahren in BAvenna bei Eröffiiung der 
Volksküchen vorgekommenen anarchistischen Unruhen verfsiist. 

Es ist verständlich, dafs der abnorme Reizzustand des 
Gehirns, der bei ihm durch die ererbte epileptische Veran- 
lagung bedingt war, zuerst in religiösem Fanatismus sich äufserte 
und erst Später in politischem. An einem Orte, wie in einem 
lombardischen Dörfchen, in dem der leiseste Hauch von Modernität 
etwas Unerhörtes ist, findet eine fanatische Natur kein anderes 
Gebiet als das der Religion, da alles, was der Bauer dort an 
Ideen besitzt, religiöser Natur ist. Ich mufs hier darauf hin- 
weisen, dafs auch Henri und Vaillant, Faure und Salvador 
mit einem ähnlichen religiösen Enthusiasmus angefangen haben, 
der ansdieinend ihren späteren Thaten lebhaft widerspricht. 
Der religiöse Fanatismus des Anarchisten Oyvoit war so gro&, 
dafis er mit Vei^ügen Andersgläubige gemordet hätte. (Rev. 



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— 70 — 

des BevueSf Febr. 1894.) Der Grund beider Erseheiiiiuigen 
ist derselbe: die Neigung, abstrakte Ideale und unreelle Gefühle 
aufis äuiserste zu übertreiben. Aber die Zeiten haben sich 
geändert, und dasselbe Individuum, das ein Heiliger geworden 
wäre, wenn es im Mittelalter inmitten der Frommen gelebt 
hätte, geräth beute mit 17 Jahren in Berührung mit der 
£anatisohen Propaganda der Anarchisten; diese und die Presse 
dieser Partei verwandeln nun den religiösen in einen sooial- 
politisohen Fanatismus. Im übrigen ist fbr einen Kenner 
der lombardisohen ländlichen Arbeiterverhältnisse diese Meta- 
morphose in den Ideen eines intelligenten Bauemjungen wohl 
verständlich, die bäuerliche Bevölkerung ist hier durch drückende 
Pachtverträge in eine schlimmere Lage gebracht, als ein römischer 
Sklave und geht entweder an Hunger oder an Pellagra zu 
Grunde; sein Arbeitgeber erhält ihn nicht einmal, wie der 
Patron seinen Sklaven. Aber er lehnt sich nicht gegen sein 
Schicksal auf, oder doch nur äufserst selten ; er ist dafür schon zu 
sehr erschöpft und gedrückt, denn ein gewisses Mals von physischer 
Kraft ist zur Auflehnung erforderlich. Wenn in Italien einmal 
der Bauer protestirt, so ist es nicht der ausgemergelte Lombarde, 
sondern der Romagnole, der etwas Wein trinkt und Fleisch 
ifst. Wenn ein Oaserio zum Bebellen wurde, so liegt das 
daran, dals in seiner Familie noch ein gewisser Wohlstand 
herrschte. Vielleicht ist die Lage seiner Landsleute daran 
schuld, dals er trotz seiner Liebe zur Familie nicht nach Hause 
zurückkehren wollte, und wenn er einmal kam, schnell wieder 
verschwand ; dann trieb er sich, wie er schreibt, niedergeschlagen 
und weinend herum und wurde den Gedanken an die traurige 
Lage seiner Klasse nicht los. 

Von grolser Wichtigkeit ist die Epilepsie des Vaters, sie 
giebt für eine ursprünglich sanfte Natur die treibende Kraft 
zu wilden Entschlüssen und feinatischen Excessen ab, und 



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— 71 — 

führt einen an sich apathischen Bauern in die vordersten 
Beihen der Bebellen; so kommt es, dais er, der des Nachts 
arbeitet, am Tage ao&eizende Zeitungen liest und seine Freiheit 
in einer so gefährlichen Unternehmung, wie es die Propaganda 
unter Soldaten ist, au& Spiel setzt. Bei seiner gro&en Ignoranz 
will er eine Zeitung redigiren; schlielslich kommt er zu einem 
bestialischen Verbrechen, ohne vor der That oder nach seiner 
Verhaftung eine Spur von innerer Bewegung zu verrathen, als 
wäre er ein an Blutthaten gewöhnter professioneller Mörder; 
die Kraft seiner fanatischen Ideen zeigt sich so durch den 
Einfluls der Epilepsie yerd<^ppelt und macht ihn blind, wild 
und unbezähmbar.^ Dazu trägt auch noch der Umstand bei, 
daüs er beständig mit einem einzigen Gedanken beschäftigt ist, 
femer seine sehr spärliche Bildung, die ihn zu keiner Kritik 
der anarchistischen Ideen kommen liefs, und seine merkwürdige 
Gleichgültigkeit gegen alle Freuden der Jugend, wie Spiel 
und Mädchen. (In keinem seiner Briefe findet sich auch nur 
eine Anspielung auf ein Mädchen, einen Spaziergang, einen 
neuen Bock, wie das bei seinem Alter natürlich wäre.) Dais 
er so ganz von einem Gedanken ausgefüllt war, macht es 
begreiflich, dais er ohne jede vorausgegangene Gewaltthat, jede 
Gewöhnung an Wa£fenfiihrung, bei seinem ersten Verbrechen 
seine Absicht so gründlich erreichte und dais er unter der 
Wucht der allgemeinen Entrüstung nichts empfand, wo doch 
selbst Verrückte unter gleichen Umständen eine Beaktion 
erkennen lassen; das macht es übrigens wahrscheinlich, dais 
er in Camot eine Art von Dionysius oder Tiberius zu treffen 
glaubte, nicht den milden Begenten, der er wirklich war.^ 

^ Am 12. Juli 1893 schreibt er in einem Briefe: „Ich maus bald 
einen Bourgeois am Kragen packen; mein Herz schreit nach Bache; 
ein einziger Tag ist für mich lang genug, um eine furchtbare Bache zu 
nehmen.^ 

' Im Verhör entspann sich folgendes Gespräch zwischen dem Bichter 



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— 72 — 

Eine so rerkehrte . AuffassaBg war die Folge seiner ün« 
wiflsenH^t; seitdem er sich vom Backofen weg der Politik zw 
gewandt liat, hat er keinen anderen /Wissens- und. Gedanken- 
Stoff in sioli aufgenommen, als den ihm vom Anarchismus 
gebotenen, und wie mancher Fromme nichts aufoimmt» als 
was er . in Andachtsbübhem findet, nahm er von politischen 
Dingen nur auf, was die anarchistische Oanaille ihm einimpfte.^ 
Wenn aber ein Mensch ganz einem einzigen Gedanken zu- 
gewandt ist, gewinnt dieser eine ungeheure Gewalt über ihn; 
ich erinnere nur an die syrischen Assassinen, ao die Hypnoti- 
sirten im Zustande des Monoideismus, die ihre Suggestion mit 
unwiderstehlicher Gewalt tlber alle Hindemisse hinweg dem 
angewiesenen Ziele zufuhrt. Das alles muGste durch die youi 
Vater ererbte Hpilepsie gesteigert werden, die ich als politische 
Epilepsie (im Sinne der oben gegebenen Beispiele) bei ihm 
vermtithe. 

Seine epileptische Degeneration yerräth sich u. a. darin, dafs 
er, ein. ausgezeichneter Sohn und Freund, in Wuth geräth, wenn 
er in seinem Hauptgedanken, dem Anarchismus, benlhrt wird; 
dieser Kontrast entspricht ganz dem Wesen des epileptischen 
Charakters. In einem Brid;'e nach Hause spricht er liebevoll 
von seiner Familie und erklärt sieh für unfähig, Jemandem 
ein Leid zu thun, setzt aber gleich hinzu: ^ Aber wenn mein 
Tag gekommen ist, werdet Ihr sehen, daüs ich mehr Energie 
zeigen werde, als die Genossen. ^ Diese Letzteren bezeichnen 
ihn als sanft und nüchtern/ sagen aber, er würde eine Bestie,^ 
wenn man ihn bei der Anarchie fauste. Eine merkwürdige 
Scene deutet femer auf Epilepsie bei ihm. Als er dem 



BemoiBt tind ihmi Sagen Sie einmal, Oaserio, warum wollten Sie deil; 
Präsidenten tödten? Kannten Sie ihn? -^ Nein. — Hatten Sie ihm denn 
etwas vorzuwerfen? — Er ist ein Tyrann und deshalb habe idi ihn 
gvtödtet — Sie sind also Anarchist? — Ja, und ich bin stole darauf. 



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— 73 — 

Untersuohungsriiditer zeigte, wie er den Stofs gegen Oarnot 
geführt hatte, wurde er plötadioh roth im Qesicht^ seine Augea. 
waren mit Blut nnterlanfen, er zitterte an all^i Mnskeln und 
irerz^rrte sein Gksioht so furchtbar, dafs der Richter, .der an 
solche Scenen nicht gewöhnt war, ihm ^itsetat zurief: ^Genug, 
Sie sind ein Scheusal.^ Darauf antwortete er, halb italienisch^ 
halb im schlechten Französisch: „Oh, das ist gar nichts; Sie 
werden mich vor den Geschwor^ien und epäter auf dem Gerüst 
der Guillotine sehen; oh, besonders diese letzte Scene wird 
wundervoll („bellissima") sein." Dabei lachte er höhnisch. 
Aber fünf Minuten darauf verfiel er in einen Zustand körper- 
licher und moralischer Haltlosigkeit, warf sich auf seine Pritsche 
und seufzte tief. Nach einer Stunde erwachte er, sprang auf, 
griff sich mit beiden Händen an den Kopf und bat die ihn 
Tag und Nacht bewachenden Aufseher, ihm Rum oder irgend 
ein anderes starkes Getränk zu besorgen. 

Offenbar war diese Scene, die der Richter so wenig ver- 
stand, ein Anfall von psychischer Epilepsie, mit nachfolgendem 
tiefen Schlafe, wie er nach derartigen Anfällen eintritt; dieser 
Schlaf war bei ihm nicht etwa die Folge von vorausgehender 
Schlaflosigkeit oder Müdigkeit, da er nach der Aussage der 
Wärter immer lange und gut schlief. In seinen Briefen findet 
sich. alles, was ihn selbst, seine Angehörigen und Freunde 
betraf, mit gewöhnlichen Buchstaben geschrieben ; sobald er 
aber etwas schreibt, was die Anarchie oder mit ihr zusammen- 
hängende politische Ereignisse betrifft, wie die Verfolgung und 
Füsilirung spanischer Anarchisten, werden die einzelnen Buch- 
staben sehr grofs, so dafs, wie in der hier g^ebenen Probe, 
die Worte anarchia und Spagna eine halbe Zeile einnehmen; 
es ist das eine graphologische Eigenthümliehkeit der Hysteriker 
und Epileptiker. 

Das weseptUidiste J\ierkmal der Leidenscha;ftsverbrecher ist 



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— 74 — 

ihre Ehrlichkeit fremdem Eigenthum gegenüber, die manchmal 
mit einer aolserordentliohen Ueberempfindliohkeit gegen eigene 
und anderer Leute Leiden gepaart ist Diese Eigenthttmlkdi- 
keiten treten auch bei Caserio hervor und lassen sich besonders 
aus einer Zahl von etwa zwanzig Briefen naohweis^ii, die er 
im Laufe einiger Monate geschrieben hat. Dieses Material 
besitzt gewüs grölsere Beweiskraft, als Zeugenaussagen, die 
parteiisch oder einseitig sein können. So schreibt er einmal, 




Gaserios Schriftprobe. 

als er arbeitslos ist: ^Als Anarohist dürfte ich jetzt ohne 
alle Skrupel einen Bourgeois am Kragen nehmen und mir 
Geld aneignen, wo ich es finde, aber ich muüs gestehen, dais 
ich mich dazu nicht im stände fühle. ^ und ein anderes Mal 
schreibt er: ,,E8 erniedrigt mich, nun die Hülfe der Genossen 
in Anspruch nehmen zu müssen. Aber was soll ich thun? 
Zwar habe ich als Anarchist keine Veranlassung, das Eigen- 
thum zu achten, und sollte es, da ich in Noth bin, nehmen, 
wo ich es finde, aber für meine eigene Person fühle ich mich 
aulser stände, einen Bourgeois zu packen und mir sein G^ld 



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— 75 — 

geben zu lassen. Sobald ich wieder einem Bourgeois meine 
Arme verkanfen kann, werde ich die Summe zurückgeben.^ 
Darin spricht sich ein Gegensatz zum geborenen Verbrecher 
aus, der übrigens auch darin hervortritt, dafs er als Knabe 
einen Widerwillen gegen kindliche Diebstähle, selbst gegen 
Obststehlen, hatte. Der Verbrecher von Natur sucht die 
nichtigsten Ausflüchte, um seine Thaten zu rechtfertigen; 
Oaserio würde einen derartigen Vorwand in der Berufung auf 
s^ine Partei gehabt haben, aber er hatte einen instinktiven 
Widerwillen dagegen, ihren Lehren zu folgen, und entzieht 
sich ihrer Anwendung. 

Seine eigenthümliche Hyperästhesie äulsert sich in seiner 
Weigerung, zu den Eltern zurückzukehren, die er damit be- 
gründet, dals er zu Hause zu viel Elend sehen müsse: „Tausend- 
mal gehe ich schlafen mit dem Gedanken an die Schmerzen 
der Meinigen und fange an zu weinen. Dann aber sagt mir 
ein anderer Gedanke, der stärker ist als der erste: Du bist 
nicht die Ursache des Elends deiner Familie, es ist die gegen- 
wärtige Gesellschaft. — Du sagst mir, vor allem, ich wäre fem 
von der Mutter. Aber ich bin nicht im stände, die Gemein- 
heiten der Vorgesetzten gegen die untergebenen Soldaten mit- 
anzusehen, und würde mein Gewehr sofort auf sie abschieJsen. 
(Wieder eine epileptoide Anwandlung!) Auch wenn ich frei 
käme, könnte ich nicht die Niederträchtigkeit der gemeinen 
Bourgeois ertragen, würde verhaftet werden und dann doch 
nicht bei der Mutter sein. Wenn ein Krieg kommt, muis ich 
doch Mutter, Weib und Eänder verlassen und mit den anderen 
Schwachköpfen marschiren. Wir dürfen nicht an den Schmerz 
der Angehörigen, spndem nur an unsere Pflicht denken und 
die heutige infame Gesellschaft bekämpfen, die Bourgeois ver- 
nichten. Es lebe die Anarchie 1^ (Dieser Schluls ist in riesen* 
greisen Buchstaben geschrieben.) 



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— 76 — 

Kurz vor seiner That befindet er sich in einem Zustande 
gesteigerter Aufioahme&liigkeit, daüs ihm die kleinsten Umstftnde 
seiner Reise na<di Marseille im GMläohtnifis bleiben, wie seine 
Anssag^i nach der That ergaben ; das ist nnr durdi eine 
krankhafte Hypermnesie zu erklären; er erzählt jede kleine 
Soene, die sich neben dem Bahngeleise abspielte, erinnert sich 
genau an die durchreiste Landschaft, rechnet geäau die klein- 
sten Ausgaben nach, die er auf dem Wege zu seiner Mord- 
that gemacht hat. In der grolsen festlich bewegten Stadt, die 
er nicht kennt, deren unruhiges Treiben und festliche Be- 
leuchtung einen Menschen, wie er, hätte verwirren müssen, 
weiis er sich zurechtzufinden; auf der Stralse, wo er seine 
That ausführen will, und kurz vor dem Momente, yon dem er 
auch für sieh den Tod erwartet, bleibt er ein genauer Be- 
obachter, achtet auf die kleinsten Vorgänge und erfalst jeden 
kleinen Umstand, der för eine ungestörte Ausführung seiner 
That von Bedeutung werden kann; wenige Sekunden vor der 
That bewerkstelligt er gewandt seinen Uebergang über die 
belebte StraCse, um zur Buchten der im Wagen heran- 
kommenden Würdenträger zu sein. 

Das ist das klassische Bild des von einem Gedanken 
YöUig beherrschten und erfüllten Fanatikers, eine Wieder- 
holung der Sendboten des Alten vom Berge, nur mit dem 
Unterschiede, dafs sein Inspirator Bakunin heilst und dais die 
Mission, deren Erfüllung das Paradies gewinnen sollte, die 
Beseitigung eines — republikanischen Präsidenten war. 

Santiago. — Eine Persönlichkeit von ganz analogem 
Typus war der kürzlich in Barcelona hingerichtete Salvador 
Santiago. Dieser Anarchist war geständig, in, der Absicht, 
seinen im Oktober. 1893 hiDgerichteten Genossen Pallas zu 
rächen, am 7, November 1893 zwei Orsinibomben in das 
Parkett des Lyceum - Theaters in Barcelona geschleudert zu 



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.— 77 ~ 

haben; es wurde gerade die Oper Teil gespielt, und die Bomben 
tödieten 20 Pentonen. Santiago war ein Bauer von 33 Jahren» 
rerheirathet und Vater einer kleinen Tochter; noch vier Jahre 
vor dem Attentat war er eifriger OarKst und guter Katholik; 
auf seinen Bath ging seine Sehwest^ in ein Kloster. Er 
selbst giebt an, wie seine ganze Familie, besonders wie der 
Vater, der unter Don Carlos gefochten hatte, ein wüthender 
Oarlist gewesen zu sein; andere Meinungen wären ihm ganz 
unbekannt geblieben. Als ihm der Bichter sagte, er wäre 
also nur Carlist gewesen, weil er von keiner anderen Biohtung 
etwas wuiste, er würde also sicher auch nicht Anarchist ge- 
worden sein, wenn er bessere Bücher und Gredanken kennen 
gelernt hätte, antwortete er: „O nein, ich bin Anarchist aus 
Instinkt, ich sage das noch einmal. Als ich noch Carlist war, 
erwartete und verlangte ich, Don Carlos würde nach dem 
Siege die allgemeine Grleichheit durchführen und jeden Unter- 
schied zwischen Bourgeoisie und Proletariat aufheben. Aber 
ich sehe, dafs der Anarchismus jetzt noch aussichtslos isf 

Santiagos Vater war ein Verbrecher; sein Onkel, ein Geist- 
licher, erschofs sich im Alter von 33 Jahren, nachdem er an 
seinem Geburtstage geschrieben hatte: „Christus lebte nicht 
mehr als 33 Jahre; warum soll ich länger leben?" Spanische 
Augenzeugen berichten, Santiagos Gesichts- und Schädel- 
bildung hätte völlig der von Ignaz von Loyola geglichen. 

Sein religiöser Fanatismus wurde früh durch den anar- 
chistischen Fanatismus ersetzt; als ihm Jemand vom Anarchismus 
erzählt hatte, sagte er sich von der Kirche los, wurde ein 
eifriger Besucher anarchistischer Meetings und fing an, Flug- 
blätter und Zeitungen dieser Sekte zu lesen; die spanische 
Uebersetzung der Broschüre Malatbstas Unter Bauern, be- 
trachtete er als eine Art Evangelium und verbreitete sie uhter 
seinen Genossen — ganz wie Caserio. Mit Pallas wurde er in 



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— 78 — 

Versammlimgen bekannt nnd betrieb mit demselben Salz- 
schmuggeL Die beiden Fanatiker verstanden sich, fänden Gleieh* 
gesinnte nnd gründeten mit ihnen den terroristisch-imarohistisoben 
Klab BmiYenuta Salud; Pallas eröffnete die Campagne des 
Terrorismus mit dem Attentate gegen den Marschall Martinez 
Campos. Als er, zum Tode durch Erschielsen yerurtheilt, zum 
Orte der Hinrichtung geführt wurde, schrie er: „Die Bache wird 
schrecklich seinl^ Santiago glaubte sich zum Vollstrecker dieses 
Testamentes berufen. Seine Frau erzählte darüber: „Nach 
dem Tode von Pallas kam eines Tages Salvador mit zwei 
Bomben nach Hause, die in ein Tuch eingebunden waren, und 
legte sie auf ein Wandbrett; am anderen Tage steckte er sie 
in einen Topf und diesen in einen Koffer. Einige Tage 
darauf verlangte er von mir einen Peseta, das letzte Geld, 
das im Hause war; ich gab es ihm. Er ging fort und kam 
um Mittemacht wieder, war sehr aufgeregt und rief mir wie 
im Delirium zu: „Antonia, meine Pflicht ist erfällt, Pallas ist 
gerächt." 

Er ist eine Wiederholung des Typus Caserios; beide sind 
erst eifrige Katholiken, dann wüthende Anarchisten, unwissende 
Bauern, die der Fanatismus einer Sekte zu Verbrechern macht. 



Nachtrag. 
Nach der Hinrichtung Caserios. 

Hervorragende Zeitungen, unter ihnen die mir immer 
gastlich geöfi&iete Neue Freie Presse haben gegen mich geltend 
gemacht, dafs das Verhalten Caserios bei der Schwurgerichts- 
Verhandlung in Lyon Merkmale gezeigt hätte, welche von 
meiner Schilderung seiner Persönlichkeit nicht unerheblich 



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— 79 — 

abwichen. Nun zeigt nicht nur der Gresunde, sondern auch 
der Irre ein anderes Verhalten als gewöhnlich, wenn er sich 
Yor einem greisen Publikum und einer feierlichen Versamm- 
lung befindet, und die BefiBmgenheit kann seine ganze Per- 
sönlichkeit £Bist so sehr verändern, wie eine hypnotische 
Suggestion. Auch der Bescheidenste kann dann etwas von der Eitel- 
keit erwachen fühlen, die Jeder im Innersten in sich trägt, und 
hochfahrend erscheinen. Ich habe den Eindruck, als wenn Caserio 
in der Gerichtsverhandlung viel weniger von seinem sonstigen 
Verhalten oder vielmehr von meiner Schilderung desselben 
abgewichen ist, als es a priori zu erwarten war. Man hat u. a. 
gesagt, ich hätte seiner äulseren Erscheinung eine Schönheit 
zugeschrieben, die Andere nicht finden konnten. Nun war der 
erste Eindruck, den Oaserio mit seiner äulseren Erscheinung 
auf alle Zuschauer der Gerichtsverhandlung machte, der, dafe 
er nichts von einem Verbrecher an sich zu haben schien; die 
Leute fragten : Kann man mit solchem Gesicht ein Verbrecher 
sein? und der Berichterstatter des Jowmal des Debets fragte: 
wo ist der Verbrecher? 

Man hat bei ihm jedes Element einer impulsiven und 
epileptoiden Natur leugnen wollen, weil er sich heftig dagegen 
sträubte, für geisteskrank zu gelten. Man braucht aber nicht 
Psychiater zu sein, um zu wissen, daüs die Geisteskranken, be- 
sonders die irren Epileptiker, immer für geistig gesund gelten 
wollen, und dafs die Irrenhäuser leer stehen würden, wenn 
man sich nach ihnen richten wollte. Thatsächlich grenzte sein 
Zustand an Tobsucht, und er beschimpfte seinen Vertheidiger, 
wenn man ihn an seinen Lieblingsideen feüate, der Anarchie, 
der Freundschaft mit Gori, oder wenn man eine An- 
spielung auf seinen abnormen geistigen Zustand machte dieses 
Verhalten mufs als ein hinreichender Beweis für seine 
Abnormität gelten. Man hat ihn feig genannt, aber ohne 



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— 80 — 

er8k)htliohen Gnmd; jedenfalls war er, als er vor den Ge- 
schworenen stand, entschlossen, die Schiffe hinter sich zu ver- 
breniwn, alle Thatsaehen zu bestreiten, die seine Schuld hätten 
mildem können, wie besonders die Geistesstörung, und jede 
Berufung abzulehnen, für die es einige berechtigte Anlässe 
gegeben hätte, wie die Beeinflussung der Geschworenen durch 
den Präsidenten; eine feige Verbreohematur Würde den Ver- 
such gemacht haben, durch eine Berufong die Hinrichtung 
noch etwas hinauszuschieben oder eine Strafmilderung zu 
erlangen, was allerdings bei der Stimmung des Publikums 
damals völlig unmöglich war. 

Seine Haltung im Augenblick des Todes scheint mir die 
Schilderung zu rechtfertigen, die ich von ihm gegeben habe. 
Der geborene Verbrecher ist für Schmerzen, die er fühlen soll, 
ebenso apathisdli und unempfindlich wie für die, die er^ Andern 
yerursacht, und zeigt sich im letzten Augenblick gleichgültig 
oder gar heiter. 

Oaserio hatte vorausgeisagt, er würde in seinen letzten Stunden 
den gröfsten Muth zeigen, erschien aber blafs, schwankend und' 
weinend vor dem SchafiEbt, d. h. er betrug sich wie ein Durch- 
schnittsmensch, der jung und vor der Zeit sterben muls. Aber 
die Zähigkeit des Monoideismus hatte ihn nicht verlassen, er 
bereute und beichtete nicht und nannte keine Mitschuldigen; 
unter dem Fallbeil nahm er noch einmal seine Ejräfte zusamäien 
und stiefe ein Hoch auf die Anarchie hervor; der Fanatismus 
überwog also bei ihm die Furcht, zu deren ersten körper- 
lichen Zeichen die Stimmlosigkeit gehört. Gasierio ist für auf- 
geblasen erklärt worden, aber als Grapholog muls ich das auf 
Grund seiner auf groise Bescheidenheit deutenden Unterschrifi; 
bestreiten. Menschen, die wie der Geistliche von Motta, so 
urtheilen, gehen von falschen Kriterien aus; sie kennen nur 
den eigenen Gesichtspunkt und finden nicht den in diesem 



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— 81 — 

Falle richtigen, nämlich den des fraglichen Indiyiduums selbst, den 
sie mit ihr^r unzureichenden Psychologie nicht konstruiren können. 
Wenn Oaserio lieber den Tod wählt, als auf die Gelegen- 
heit verzichtet, seine einfältige ,,Denkschrift'' zu verlesen, wenn 
er sich weigert, zu beichten^ und sich entrüstet, wenn man 
von seinen Mitschuldigen spricht, so liegt das daran, dafs er 
in seinem schwachsinnigen Monoideismus seine wichtigste 
Lebensaufgabe in der Propaganda des Anarchismus sieht; seine 
herrschende Idee ist, sich für seine Genossen zu opfern; um 
dieses Ziel zu erreichen, wird er Mörder und kommt um sein 
Leben. Wenn man gesunden Menschenverstand hat und seine 
Ideen nicht theilt, so ist man schnell mit dem Urtheil über 
ihn fertig und erklärt ihn für aufgeblasen, gemein und grausam; 
man übersieht dabei leicht andere Züge, wie seine Abneigung 
gegen die Unwahrheit, die einfältige, von einem Gedanken 
besessene Naturen, wie die seine^ oft charakterisirt; so protestirt 
er 'bei der Gerichtsverhandlung gegen die Aussagen einiger 
Zeugen, dais er von drei Polizisten festgenommen worden wäre, 
es wäre nur einer gewesen ; wenn er eitel gewesen wäre, so 
würde er eher das Gegentheil behauptet haben. 

Was seine A£Pektivitäi; betrifft, so will ich keinen besonderen 
Werth auf die Rührung legen, die er zeigte, als der Ver- 
theidiger von seiner Mutter sprach, sondern nur auf folgenden 
Brief hiüweisen, den er nach seiner Verurtheilung zum Tode 
geschrieben hat. 

Lyon, den 3. August 1894. 

Liebe Mutter 1 

Ich schreibe Euch diese wenigen Zeilen, um Euch 

mitzutheilen, dafs ich verurtheilt bin, und zwar zum Tode. 

Liebe Mutter, denkt nicht schlecht von mir, sondern 

denkt, dals, wenn ich auch die That begangen habe, ich 

kein Schurke geworden bin, und doch werden Euch viele 

LoMBROSO, Die Anarchisten. 6 



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— 82 — 

sagen, dals ich ein Mörder, ein Verbrecher geworden bin. 
Nein, denn Ihr kennt mein gutes Herz, die Sanftmnth, 
die ich hatte, als ich noch bei Euch war. Nun, auch 
heute habe ich dasselbe Herz; meine That habe ich 
gerade nur deswegen gethan, weil ich überdrüssig war, 
eine so infame Welt zu sehen. 

Solche Worte lassen sich nicht finden, wenn man absolut 
schlecht ist. Auch dieser beschränkte Mensch geht von seinem 
Programm aus, und das Unglück seiner Genossen hat einen 
so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, dals er sein Gottvertrauen 
verlor ; beständig klagte er darüber, dafs Hunderte von Arbeitern 
Beschäftigung suchen und nicht finden, dals Kinder ihre Eltern 
vergebens um Brot bitten müssen, u. s. w. In seinem Heimaths- 
dorfe soll er öfters darüber geweint haben, dafs seine kleine 
achtjährige Nichte für zwanzig Centisimi täglich 15 Stunden 
arbeiten mufste, dals er soviel Bauern an Pellagra sterben sah. 
Wenn er über diese Erfahrungen nachdachte, so fand er, 
wie er sagte, dafs Hunger und Kälte nicht deswegen herrschen, 
weil es an Brot und Kleidern fehlt; die Magazine wären voll 
davon, aber Viele schwellen im Luxus, ohne zu arbeiten. Als 
Knabe hätte man ihn gelehrt, das Vaterland zu lieben, als er 
aber sah, wie das Elend die Bauern nach Brasilien trieb, sagte 
er, für die Armen gäbe es kein Vaterland. Er hätte an Gott 
geglaubt, als er aber die Welt gesehen hätte, sich gesagt, 
Gott hätte nicht die Menschen geschaffen, sondern die Menschen 
Gott ; er wäre Anarchist geworden, als er sah, dafe die Regierung 
die Bauern tödten liefs. 

Dieses traurige und ärmliche Programm illustrirt immerhin 
meinen zu Anfang aufgestellten Satz, da(s unter den Ursachen, 
die ihn zum Anarchisten machten, sicher auch die elende 
Lage der lombardischen Landbevölkerung mitgewirkt hat. Die 
Art, wie er dieselbe auffafst, ist freilich durchaus schwachsinnig. 



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— 83 — 

Man hat mir ferner vorgeworftn, es wAre eine üeher- 
treibnng , Wenn ich ihn auf Q-nind seiner Briefe für nüchtern 
und enthaltsam gehalten hätte, — Eigenschaften, die für einen 
Zustand von Monoideismus sprechen. Man verwechselt aber 
dabei die völlige Enthaltsamkeit mit einer Nüchternheit, die 
zwar die natürlichen Triebe nicht ganz unterdrückt, ihnen aber 
so wenig wie möglich nachgiebt. Ich habe z. B. in französischen 
Zeitungen gelesen, dafs er bei den reichlichen Mahlzeiten, die 
ihm der Tradition gemäfs in seinen letzten Lebenstagen ge- 
währt wurden, nur eine geringe Menge Wein mit Wasser 
gemischt trank. Man kann Jemand doch nicht schon deshalb 
als Trinker bezeichnen, weil er sich nicht völlig aller Weine 
enthält. Auch dafs er einige Monate vor der That an einer 
sexuellen Ejrankheit gelitten hat und deshalb einmal in einem 
Krankenhause behandelt worden ist, beweist noch nicht, dais 
er ein ausschweifender Mensch war. Denn aus seinem ganzen 
unruhigen Leben ist nicht eine Thatsache bekannt, die auf 
einen Streit eines Weibes wegen hindeutet, der bei seiner 
impukiveü Natur bei einer Liebschaft unvermeidlich gewesen 
wäre. Auch seine Briefe an seine Mutter erwähnen nie den 
Namen eines Weibes; auch sein Mentor, der anarchistische 
Advokat Gori, giebt AeuJserungen Caserios an, dafs er vom 
Tage seines Anschlusses an die Anarchisten an gegen das 
weibliche Geschlecht gleichgültig geworden wäre. Vergleicht 
man ihn mit dem Bombenwerfer Vaillant, der die Frau eines 
Freundes entführte und mit ihr lebte, so erscheint er daneben 
noch in einem günstigen Lichte. 

In der Neuen Freien Presse hiels es, er hätte den Tod 
durchaus verdient. Nun ist es für Jeden, der tiefer blickt, klar, 
dafs die Wahrsprüche der Justiz und die Schwere der Strafen 
bei Verbrechen von politischem Anstrich nach den augenblicklich 
gegebenen Zuständen wechseln; deshalb ist es begreiflich, dafs 

6* 



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— 84 — 

die tiefe Entrüstung der Franzosen über das Ende ihres grofsen 
Präsidenten nur duroh den Tod des Mörders beruhigt werden 
konnte. Caserio aber war ganz jung, fest noch unmündig, er 
war minorenn, impulsiv und ein Epileptoider, er war von jeder 
früheren und anderen Neigung zum Verbrecher frei, und die 
Umwandlung seiner Anschauungen, die ihn aus einem bigotten 
Menschen zum Anarchisten machte, lieJses als möglich erscheinen, 
dafs er unter anderen Verhältnissen wieder andere, harmlosere 
Anschauungen annehmen konnte^ und deshalb scheint es mir, 
als wäre bei ihm die Anwendung der Todesstrafe nicht so 
gut begründet gewesen, wie bei Pini und Ravachol. 

Aber ich wiederhole, dafs, wenn die Justiz weniger die 
Aufgabe hat, Strafen nach Verdienst zu verhängen, als die 
öffentliche Stimmung und Meinung, auch die nicht absolut 
gerechten, zu befriedigen, dafs man dann Gaserio die Todes- 
strafe nicht ersparen konnte. 



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Siebentes Kapitel. 
Altruismus und Anarchismus. 

Merkwürdige Erscheinnogen, die auf altruistische Begimgeu 
bei manchen der Anarchisten deuten, bilden ein neues eigen- 
artiges Problem für den Sociologen und den Psychiater. Wie 
kommt in diese Gesellschaft von Verbrechern, die fast alle 
mehr oder weniger verrückt, in ihren Nerven zerrüttet oder 
von Leidenschaften zerfressen sind, ein Schimmer von Altruismus 
hinein, wie er nicht zu dem Tjrpus des Durchschnittsmenschen, 
und noch weniger zu den schlimmsten Egoisten von der Welt, 
den Verbrechern und Verrückten, pafst? 

Das ist eine Eigenschaft, die ich mit Erstaunen bei näherer 
Betrachtung an Vaillant, Henry, Caserio und selbst bei solchen 
Anarchisten habe nachweisen können, die in erster Linie Ver- 
brecher waren, Auch 0. Dbsjardins hat auf diese Thatsache 
hingewiesen: Es giebt Anarchisten aus Schurkerei, aber viele 
von Haus aus gutartige Naturen werden durch ihre lieber- 
empfindlichkeit Rebellen ; ich habe von einem derselben erfahren, 
der sich der Partei anschlofs, als er sah, wie sein Meister 
einem Lehrjungen den Arm zerbrach. Auch E. Redus ist 
wegen seiner grofen Herzensgüte bekannt.^ 

* Beoue liUraire et poliUque (Bevue bleue) December 1893. 



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— 86 — 

Pini und Eavachol waren dafür bekannt, daüs sie alles 
Geld, das sie gestohlen oder geraubt hatten, verschwenderisch 
an die Genossen oder für die ^ Sache'' weggaben. Spiels wurde, 
wie mir aus Chicago mitgetheilt worden ist, von seinen Freunden, 
an die er alles fortgab, geradezu yerehrt ; von den vier Dollars', 
die er wöchentlich verdiente, gab er einen regelmässig an einen 
kranken Freund, und er unterstützte selbst einen Mann, der 
ihn beleidigt hatte; die „Genossen'' sprachen davon, man müiste 
ihn nach dem Siege der ^Sache" einschlielsen, um ihn daran 
zu hindern, der Anarchie durch seine Sentimentalität zu 
schaden. Von einem andern wüthenden Anarchisten, Pallas, 
wird erzählt, dals er für einen Freund, mit dem er schifiPbrücbig 
auf einer unbekannten Insel lebte, sein Leben wagte ; ein Schiff 
hatte nahe der Insel Anker geworfen und Pallas aufgenommen; 
als der Freund desselben den Kapitän zu lange auf sich warten 
liefs, gab dieser den Befehl zur Abfahrt; da sprang Pallas ins 
Meer und zwang ihn dadurch, so lange zu warten, bis er beide 
an Bord nehmen konnte. 

Dbümont erzählt eine noch frappantere Anekdote von dem 
bekannten russischen Anarchisten Stepniak. Er hatte eben 
einen politischen Mord begangen und sich in der ersten Ver- 
wirrung der Umgebung auf seine Troika schwingen können, 
auf der ihn ein Freund, als Kutscher gekleidet, erwartete, 
als dieser, der keine Zeit verlieren wollte, auf die Pferde 
loshieb. Da hielt ihn Stepniak fest und sagte: „Ich bin 
äuiserst sensibel und kann es nicht mit ansehen, daJs die Pferde 
so leiden; wenn du sie noch länger so mifshandelst, steige ich 
ab und gebe mich an." 

Aus der Enquöte Hamons über eine gro&e Zahl von 
Anarchisten ergiebt sich, dafs bei vielen eine übertriebene 
Sympathie für die Leiden Anderer, ein heftiger, aus knmk- 
hafter Hyperästhesie entspringender Zorn gegen ihre Peiniger 



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— 87 — 

den AnscIilTiis an die Anarchisten yeranlaDst hat. Der eine 
erzählte : „Ich fing an, die Unglücklichen auszufragen, die mit 
mir im Hospital waren. Die Wirkung war schrecklich, ich 
verstand die Nothwendigkeit der Solidarität und wurde 
Anarchist." — „Warum ich Anarchist geworden hin?" sagte 
ein Anderer; „sucht doch draussen unter Hunger, Kälte und 
Erschöpfung meine tausend Genossen, die vergehlich um Arbeit 
bitten bei Meistern, die sie abweisen und dabei in den Bart 
murmeln: „Sie sind noch nicht hungrig genug."" 

Auch Caserio hatte derartige Stimmungen und weinte über 
das elende Los seiner Schicksalsgenossen in der Lombardei. 

Eigentiiümlich sind in dieser Beziehung die Aeuiserungen, 
welche zahlreiche Anarchisten vor und nach ihrer Verurtheilung 
vor Gericht gemacht haben und in denen sich ein ungeheuchelter 
Fanatismus äulsert, der die Geschworenen und die Regierung 
sicher nicht zu ihren Gunsten stimmen konnte. Der Fanatismus 
schafft bekanntlich auch bei ganz ungebildeten Leuten oft eine 
bedeutende Beredsamkeit, und giebt ihren Aeuiserungen oft 
eine bemerkenswerthe, formelle rednerische Form. So äuliserte 
der gemeine Dieb und Mörder Ravachol u.a. folgendes: 

„Ich ergreife das Wort, nicht um mich wegen der That, 
die mir zur Last gelegt wird, zu entschuldigen, denn die 
G^ellschaft allein bringt durch ihre Organisation den bestän- 
digen Kampf der Einen gegen die Anderen zu stände, und 
sie allein ist verantwortlich; in allen Gesellschaftsklassen 
findet man heute Menschen, die das Unglück, wenn nicht den 
Tod — denn diesen Wunsch wagt man sich selbst nicht zu 
gestehen — ihrer Nächsten wünschen, wenn sie sich einen 
y ortheil davon versprechen. Wünscht der Handwerksmeister 
nicht den Untergang seines Konkurrenten? würde nicht jeder 
Kaufmann gern der Einzige sein, der seinen Geschäftszweig 
betreibt ? und wünscht der Arbeitslose nicht, um wieder Brot 



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— 88 ~ 

zxL haben, Dem, der Arbeit hat^ daCs sein Arbeitgeber 
ihn entlielBe? In einer Gesellschaft, in der solche Dinge vor 
sich gehen, braucht man über Handlungen wie die, welche 
man mir Torwirft, sich nicht zu wundem, denn sie sind nur 
die Folge des Ejtmpfes ums Dasein, den die Menschen, um 
zu leben, unter Verwendung aller Mittel betreiben. Und da Jeder 
für sich allein dasteht, und, wenn er ron der Noth gezwungen 
ist, nicht viel nachzudenken Lust hat, so habe ich nicht gezaudert, 
wenn ich Hunger hatte, die Mittel zu verwenden, die zu meiner 
Verfügung standen, auf die Gefehr hin, daJs dabei Opfer fallen 
könnten.^ 

„Fragen die Unternehmer, welche Arbeiter entlassen, ob 
diese vor Hunger sterben? Denken Die, die alles in Ueberfluis 
haben, an die Andern, denen das Nötiiigste fehlt? Manche 
von ihnen leisten wohl Hülfe, aber sie können nicht allen Denen 
aufhelfen, die in Noth sind und die infolge von Entbehrungen 
aller Art oder an Selbstmord frühzeitig sterben müssen, um 
einer elenden Existenz ein Ende zu machen und nicht mehr 
Hunger, Schande, zahllose Demüthigungen ohne Hofihung auf 
Erlösung zu leiden. Was hat man mit der Familie Hayen 
und der Frau Soubeim gemacht, die ihre kleinen Kinder 
tödteten, um sie nicht länger leiden zu sehen? Und ebenso 
handeln viele Mütter, die aus Furcht, ihr Band nicht ernähren 
zu können, nicht zögern, ihr Leben und ihre Gesundheit zu 
wagen, indem sie die Frucht der Liebe noch im eigenen Leibe 
tödten." 

„Und alles das geschieht in Frankreich, wo Ueberfluis 
herrscht, wo die Schlachthäuser voll von Fleisch, die Bäckereien 
voll von Brot sind, wo Kleider und Schuhe die Magazine 
in Massen füllen, wo zahllose Wohnungen leer stehen; wie 
kann man behaupten, dafe in der Gesellschaft alles gut steht, 
wenn das G^ntheil so klar ist?^ 



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— 89 — 

^Gs wird Leute geben, die diese Opfer bedauern, dann 
aber sagen werden, dafs sie keine Schuld haben und dals Jeder 
sich helfen muis, wie er kann. Aber was kann der machen, 
dem das Nöthigste fehlt, wenn er keine Arbeit hat, wenn ihm 
nidits übrig bleibt, als vor Hunger zu sterben? Man wird 
über seine Leiden ein paar bemitleidende Worte hinwerfen, und 
damit ist alles zu Ende. Ich habe das lieber Andern überlassen 
und bin Schmuggler, Falschmünzer, Baubmörder und Mörder 
geworden. Ich hätte betteln können, aber das ist gemein und 
degradirend, und es wird auch durch Eure Gesetze bestraft, 
die aus dem Elend ein Vergehen machen/^ 

^Wenn alle Darbenden, anstatt zu warten, Zugriffen, wo 
etwas ist, gleichviel, mit welchen Mitteln, so würden die Zu- 
friedenen vielleicht schneller verstehen, dafs es gefährlich ist, 
einen Zustand der Gesellschaft zu heiligen, in dem die Unruhe 
permanent und das Leben in jedem Augenblicke bedroht ist, 
und man würde schlie&lich verstehen, dafs die Anarchisten 
Hecht haben, wenn sie sagen, dajls man um moralische und 
physische Buhe zu haben, die Ursachen zerstören mufs, welche 
Verbrecher und Verbrechen erzeugen, und Die nicht mehr 
beseitigen sollte, die, wenn sie noch etwas Energie besitzen, 
sieh gegen den langsamen Tod an Entbehrungen sträuben, 
und lieber mit Gewalt das nehmen, was ihnen ihr Wohlergehen 
sichert, wenn sie auch ihr Leben dabei wagen." 

„Darum habe ich die Handlungen begangen, die man mir 
vorwirft, und die nur die Folge eines barbarischen Zustandes 
der Gesellschaft sind, die beständig die Zahl der Opfer ihrer 
strengen Gesetze vermehrt, die gegen die Wirkungen wüthet 
und nie die Ursache trifft." 

„Man sagt, daUs nur ein grausamer Mensch einem Wesen 
seinesgleichen den Tod geben könnte; wer so spricht, bedenkt 
aber nicht, dafs man sich zu diesem Schritte nur dann 



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— 90 — 

dntsohlielBt, wenn man selbst den Tod vor Augen hat. Und 
Sie, meine Herren Geschworenen, werden mich sieher zum 
Tode verortheilen, weil sie das für nothwendig halten, und 
weil mein Verschwinden für Sie, die Abscheu vor Blutyergie&en 
haben, eine Genugthuung sein wird; Sie zögern also ebenso 
wenig wie ich, wenn Sie Blutvergiefsen für notiiwendig halten; 
der Unterschied liegt nur darin, dafs Sie dabei keine Gefahr 
laufen, während ich dabei meine Freiheit und mein Leben riskire.^ 

„Also, meine Herren, es gilt keine Verbrecher zu ver- 
urtheilen, sondern Ursachen der Verbrechen zu beseitigen. 
Bei der Abfassung des Strafgesetzbuches haben die Gesetz- 
geber vergessen, dafs sie nicht die Ursachen, sondern nur die 
Wirkungen treffen. Solange die Ursachen bestehen bleiben, 
werden sie auch ihre Folgen haben, werden sich immer Ver- 
brecher finden, denn wenn man heute einen beseitigt, werden 
morgen zehn andere da sein. Was soll man also thun? Man 
mufs das Elend beseitigen, diesen Keim des Verbrechens, indem 
man Jedem die Befriedigung aller seiner Bedürfnisse sichert. 
Und wie leicht wäre das zu verwirklichen! Man brauchte 
nur die Gesellschaft auf neue Grundlagen zu stellen ; es brauchte 
nur alles gemeinsam zu sein, indem Jeder nach seinen Kräften 
und Fähigkeiten producirt und nach seinen Bedürfnissen 
konsumirt.*^ 

„Dann wird man nicht mehr Menschen um ein Metall 
betteln sehen, um Sklaven desselben zu werden. Man wird 
nicht mehr Männer, wie Pranzini, Prado, Anastay u. A., 
immer um dieses Metall zu erhalten, zum Morde schreiten 
sehen. Das beweist, dafs die Ursache aller Verbrechen immer 
dieselbe ist; man mufs von Sinnen sein, um das nicht einzur 
sehen. Ja, ich wiederhole es, nur die Gesellschaft; macht die 
Verbrecher, und Sie, Geschworene, sollten, anstatt sie zu 
strafen, ihre Existenz zur Umwandlung der Gesellschaft be- 



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— 91 — 

nutzen. Mit einem Schlage würden Sie die Verbrechen unter- 
drücken, und die Hingabe Ihrer Arbeit an die Ursachen 
wäre etwas gröJTseres, als Ihre Justiz, welche durch die Bestrafung 
der Wirkungen nur beeinträchtigt wird. Ich bin nur ein unge* 
bildeter Arbeiter, aber ich habe das Leben der Elenden 
gelebt und fühle die Unbilligkeit der heutigen repressiven 
Gesetze. Woher nimmt man das Becht, einen Menschen zu 
tödten oder einzusperren, der, mit dem Bedürfnüs zu leben auf 
die Welt gekommen, sich in die Nothwendigkeit versetzt sieht, 
das zu nehmen, was ihm zur Existenz fehlt?" 

„Ich habe für mich und meine Familie gearbeitet, und 
so lange ich und sie nicht allzusehr litten, bin ich das geblieben, 
was man ehrlich nennt. Dann ist die Arbeit ausgeblieben 
und der Hunger gekommen, und dann hat mich jenes grofse 
Naturgesetz, jene gebieterische Stimme, die keinen Einwand 
zuläfst, angetrieben, gewisse Verbrechen zu begehen, die man 
mir hier vorwirft, und als deren Urheber ich mich bekenne. 
Verurtheilen Sie mich, meine Herren Geschwomen, aber wenn 
Sie mich verstanden haben, so verurteilen Sie dann zugleich 
alle Unglücklichen, aus denen das Elend zusammen mit ihrem 
natürlichen Stolze Verbrecher gemacht hat, aus denen jedoch 
der Reichthum oder die blojjse Wohlhabenheit ehrliche Männer 
gemacht hätten, und eine weise Gesellschaft Menschen, wie 
alle andern." — 

Bei BÄvachol findet sich der politische Fanatismus 
vermischt mit dem des Verbrechers, es ist die Verbrechematur, 
die sich auf ihren Fanatismus beruffc, um ihre Schuld zu 
leugnen. Dagegen findet sich bei dem Anarchisten Henry 
noch etwas von moralischem Gefühl neben dem Fanatismus, 
wie unter anderem seine Aeuiserungen vor Gericht ergeben: 

„Die Verhandlungen haben gezeigt, dais ich mich als 
verantwortlichen Urheber dieser Ereignisse bekenne, daraus 



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— 92 — 

folgt, daüs ich hier keine Yeriheidigongsrede halten will; ich 
suche mich durchaus nicht den Aepressalien der von mir 
angegriffenen Gesellschaft zu entziehen, denn ich kann kein 
anderes Tribunal anerkennen, als mein Gewissen ; jeder Wahr* 
Spruch eines anderen Tribunals ist mir gleichgültig. Ich will 
nur die Erklärung meiner Handlungen geben und sagen, was 
mich dazu geführt hat, sie zu begehen. Ich bin noch nicht 
lange Anarchist und habe mich erst 1891 in die revolutionäre 
Bewegung gestürzt. Bis dahin hatte ich in einer ganz von 
der bürgerlichen Moral durchdrungenen Umgebung gelebt. Ich 
war daran gewöhnt worden, die Familie, das Eigenthum, die 
Behörde und das Vaterland zu achten^ ja zu lieben, aber die 
Erzieher der gegenwärtigen Generation vergessen zu oft das 
Eine, daCs das Leben mit seinen Kämpfen und seinen Schmerzen, 
mit seinen Härten und Ungerechtigkeiten schlieMich den ün^ 
wissenden die Augen für die Wirklihkeit öffnet. Und so ist es 
mir auch ergangen. Man hatte mir gesagt, dals das Leben leicht 
wäre und den Intelligenten und Energischen weit offen stände, 
aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dafe nur die Kriecher und 
die Unverschämten einen guten Platz am Bankette des Lebens 
finden. Man hatte mir gesagt, dafs die Gesellschaft auf Gleich- 
heit und Gerechtigkeit gegründet wäre, und ich fand um mich 
her nur Verlogenheit und Schelmereien. Jeder Tag zerstörte 
eine meiner Illusionen. Wohin ich auch ging, überall fand 
ich dieselben Leiden bei den Einen, dieselben Genüsse bei den 
Andern. Ich mufste also einsehen, dafs die grofsen Worte, die 
man mich zu verehren gelehrt hatte, nur Masken waren, welche 
die schändlichsten Schurkereien verdeckten. Der Fabrikant 
der ein kolossales Vermögen aus der Arbeit seiner darbenden 
Lohnsklaven erbeutet, war ein Ehrenmann, der Deputirte, der 
Minister, dessen Hände immer für Trinkgelder offen standen, 
waren dem öffentlichen Wohl ergebene Männer, der Officier, 



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— 93 — 

der das neue Modellgewehr an siebenjährigen Kindern versuchte, 
hatte seine Pflicht gethan, und der Ministerpräsident lobte ihn 
Yor versammeltem Volke. Alles, was ich sah, empörte mich, 
und mein Geist wandte sich der Prüfung unserer Gresellschafts* 
Ordnung zu." 

^ Diese Kritik ist zu oft gemacht worden, als dals ich sie 
zu wiederholen brauchte. Es wird genügen, wenn ich sage, 
dals ich der Feind einer Gesellschaft wurde, die ich als ver- 
brecherisch verurtheile. Einen Augenblick hat mich der 
Socialismus angezogen, aber ich habe mich bald von dieser 
Partei entfernt. Ich halte zu viel Freiheitsliebe, zu viel Achtung 
vor der individuellen Initiative, zu viel Widerwillen gegen das 
Beerdendasein, um eine bloJse Nummer in der Armee des 
vierten Standes zu werden. Ich habe einen tiefen Hais mit 
in den Kampf gebracht, der täglich durch den widerwärtigen 
Anblick dieser Gesellschaft neu belebt wurde, wo alles gemein, 
schief und schmutzig ist, wo alles die Expansion der mensch- 
lichen Affekte, die edlen Triebe des Herzens, den freien Flug 
des Gedankens hemmt. So habe ich den Entschluis gefafst, 
so stark und gerecht zuzusehlagen, wie ich konnte. Auf allen 
Seiten wurde spionirt, durchsucht, verhaftet, wie es der Polizei 
gefiel. Eine Schar von Menschen wurde ihrer Familie ent 
rissen und ins Ge&ngnüs geworfen. Was sollte aus den 
Frauen und Kindern der Kameraden werden, wenn diese im 
G^fängnifs waren? Der Anarchist galt nicht mehr als Mensch, 
sondern als wildes Thier; von allen Seiten wurde auf ihn Jagd 
gemacht, und die bürgerliche Presse, diese gemeine Sklavin der 
Gewalt, verlangte in allen Tonarten ihre Ausrottung. Zugleich 
wurde Beschlag auf die Flugschriften und Zeitungen unserer 
Partei gelegt und uns das Vereinsrecht entzogen." 

„Da man derart eine ganze Partei für die Handlung eines 
Einzelnen verantwortlich machte und sie en bloc zu treffen 



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— 94 — 

suchte, fingen wir auch an, auf die Massen loszuschlagen. 
Sollten wir denn nur die Abgeordneten angreifen, welche die 
Gresetze gegen uns machen, die Richter, welche sie anwenden, 
und die Polizisten, die uns verhaften? Ich glaube es nicht; 
alle diese Menschen sind nur Werkzeuge, sie handeln nicht in 
eigenem Namen, sondern sind von der Bourgeoisie zu ihrer 
Vertheidigung eingesetzt und deshalb nicht schuldiger, als die 
anderen; die braven Bourgeois, die, ohne jede öfientliche 
Stellung, einfach die durch die Arbeit des Proletariats ge- 
schafienen Dividenden einstecken, sollen auch ihren Antheil 
an seinen B.epressalien erhalten. In dem mitleidslosen Kriege, 
den wir der Bourgeoisie erklärt haben, verlangen wir kein 
Mitleid. Wir geben den Tod und wissen ihn zu ertragen, 
deswegen erwarte ich das Verdikt mit Gleichgültigkeit. Ich 
weifs, daJs mein Kopf nicht der letzte sein wird, der feilt, 
denn die Halbverhungerten lernen den Weg, der zum „Terminus" 
und dem „Restaurant Foyot" führt; die Geschworenen mögen 
sich die andern Orte, wo unsere Bomben platzten, ergänzen. 

Viele der Onseren sind gestorben, in Chicago am Galgen, 
in Deutschland unter dem Beil, in Barcelona vor der Flinte, 
in Xeres garrottirt, in Montbrissont und Paris guillotinirt, aber 
man hat den Anarchismus nicht zerstören können ; seine Wurzel 
liegt zu tief, er ist im Schoijse einer faulen und sich zersetzen- 
den Gesellschaft entstanden, er ist die gewaltsame Reaktion 
gegen die hergebrachte Ordnung und repräsentirt die Be- 
strebungen der Gleichheit und Freiheit, welche eine Bresche in 
die bestehenden Autoritäten schlagen werden. Er ist überall, 
das macht ihn unüberwindlich, und deshalb wird er Euch 
schlieislich besiegen und tödten." — 

Diese Worte erinnern durch ihre glühende Leiden- 
schaftlichkeit an die oben angeführten AeuJserungen der 
sterbenden Nihilistin und an die letzten Worte Vaillants: 



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— 95 ~ 

„Es ist hohe Zeit, dais Ihr auf unsere Enfe mit Strick und 
Galgen antwortet; aber täuscht Euch nicht; das Knallen meiner 
Bomben drückt nicht nur den Schrei Vaillants aus, sondern 
den einer ganzen Klasse, welche ihr Recht wiederverlangt, 
und die bald gründlich von Worten zu Handlungen über- 
gehen wird." 

Um diesen Gegensatz zweier Gefühle, des altruistischen 
Gefühls für die eigenen unglücklichen Genossen und der 
Grausamkeit, die so deutlich bei Yaillant, Henry und ihren 
Vorgängern hervortritt, zu erklären, mufe man sich daran er- 
innem,da& Vaillant hysterisch war und dafe bei Hysterischen 
ähnliches vorkommt. 

Die Hysterie, die der Epilepsie so nahe verwandt ist und 
wie diese Defekte des Gemüthlebens bedingt, zeigt uns gleich- 
falls häufig neben grenzenloser Selbstsucht und Lieblosigkeit 
Spuren von übertriebenem Altruismus; aber diese Art von 
Altruismus ist, wie sich aus seinen Entstehungsbedingungen 
ergiebt, nur eine Varietät des moralischen Irreseins.^ 

Die Selbstaufopferung kann für derartige kranke Frauen 
ein wahres Bedürfnifs werden, und sie folgen zweifellos den 
Geboten der Nächstenliebe aus demselben krankhaften Drange 
heraus, der sie zur Lüge und Verleumdung treibt, so dafs 
manche von ihnen Verbrecherinnen sind und zugleich Heilige zu 
sein scheinen. Übrigens giebt es bekanntlich keine schlechteren 
Menseben als die grofsen Philanthropen, wie andererseits häufig 
schwere Verbrecher Zeichen einer geradezu wunderbaren Caritas 
geben, ihre Freiheit und ihr Leben riskiren, um eine Katze, 
einen Vogel, ein Kind zu retten, und das an demselben Tage, 
an dem sie einen Mord begangen haben. Solche Erscheinungen 



* Legrakd du Saülle hat das in seiner Darstellung der Hysterie 
{L'hysUrisme, 1880) dargestellt unter Anfuhrung von Beispielen wohl- 
thätiger, anscheinend aufopferungsfahiger hysterischer Frauen. 



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— 96 — 

erklären sich aus einer Steigerung des Kontrastes, dem das 
psychische Leben wie die Nerven unterworfen sind; wenn das 
Gute erschöpft ist, stellt sich eine Neigung zum Schlimmen 
ein, wie die durch Roth ermüdete Netzhaut Grün sieht, und 
umgekehrt. Dazu kommt, dafe bei vielen Verbrechern ihre 
kriminelle Anlage in ihrer Impulsivität besteht, in dem 
explosiven Drange zu einer bestimmten Handlung, und diese 
fast immer gewaltsame flandlung kann sich auf einem andern 
Gebiete, als dem des Bösen abspielen, wie bei vielen Epilep- 
tikern, die aufserhalb ihrer Anfälle Muster von Güte sind. 

Femer haben viele wirklich grausame Verbrechematuren 
ein Gefühl dafür, abnorm zu sein und au&erhalb der Mensch- 
heit zu stehen, und dies Gefühl erzeugt manchmal den Drang, 
einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, sich glücklich als 
Mensch unter Menschen zu fühlen; in diesem Drange verstecken 
sie ihre bösen Instinkte unter dem Deckmantel des Altruismus. 

Die Umwandlung verbrecherischer Antriebe ist überhaupt 
keine seltene Erscheinung, denn in dem rebellischen Bewufst- 
sein und Streben findet die Verbrechematur nicht nur ein 
geeignetes Gebiet, sondern auch den Nimbus des Heldenthums, 
eine Art von moralischem Alibi für ihre gemeinen Verbrechen; 
damit gewinnen Verbrecher auch den Einfluls auf ehrliche Leute, 
den die bis zum Gröfsenwahn eitle Verbrechernatur so brennend 
begehrt. Daraus erklärt sich vielleicht auch das Streben und 
der Stolz mancher Anarchisten, noch im Verbrechen relativ 
ehrlich zu sein. So stahlen Engel und Flegger für die an- 
archistische Sache und behielt^i nichts für sich. 

Inanderen Fällen erklärt sich der Widerspruch daraus, dals, 
wenn Viele sich als Vorbereitung eines politischen Verbrechens 
oder zur Unterstützung der Partei zu einem Raube vereinigen, 
die Thäter selbst und auch das Publikum dann die That nicht 
so schlimm finden, grade umgekehrt, wie bei den Thaten von 



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— 97 — 

Verbreoberbanden; der Grundsatz, dais ein Vergeben Aller ein 

Vergeben Niemandee ist, wirkt auob mildernd auf das Urtbeil 

ein, und der altmistisobe Zweck rechtfertigt ja oft genug in 

der Welt unerlaubte Mittel. 

Eine Handlung, deren man sieb scbämen würde, wenn 

man sie zum eigenen Nutzen tbut, wenn man sie zu Gunsten 

eines Dritten begebt (z. B. eine Unterstützung erbittet 

für Jemanden, der gerade so scblecbt gestellt ist wie der 

Bittende), macbt auf die Meisten keinen ungünstigen Eindruck 

mebr, ja sie erscheint manchmal als ein yerdienstlicbes Werk. 

So erklärt es sieb, dais Individuen, die Yon Hause aus nicht 

bösartig sind, in solchen Fällen Nichtswürdigkeiten begeben, 

besonders wenn man bedenkt, welche enorme Verblendung der 

Fanatismus mit sich bringt und dafs die Ketzerrichter der 

Inquisition ihr Mörderhandwerk treiben konnten und doch 

fromme und ehrbare Leute waren. 

Desjabdins macht mit Recht die Bemerkung, dafs viele 

Anarchisten durch ihren Optimismus, aus dem heraus sie alle 

Menschen für gut halten, zum Verbrechen kommen. Rheins und 

Krapotkin haben mir gegen über behauptet, daüs auch die Wilden 

gütig und ehrlich wären; sie glauben also ein Recht zu haben, 

schlechte Menschen, die ihren Nächsten schaden, aus dem Wege 

zu räumen. So schreibt Randon: ^Aus Übermais von Liebe 

kommen wir schiiefslich dazu, andere zu verwünschen.**^ 

Wenn es wahr ist, was von Oaserio berichtet wird, dafis 

er vor seiner Hinrichtung gesagt hat: ^Meine That war nur 

ein politischer Akt,*^ so beweist das nur von neuem, dais die 

Anarchisten eine ganz andere, ja entgegengesetzte Vorstellung 

vom politischen Verbrechen haben, als die öffentliche Meinung ; 

ihre Leidenschaft führt sie wieder auf das Niveau des Wilden 

herab, auf dem die Rache ein Recht und eine Pflicht ist, und 

* ifer. anarchisU. 16. Nov. 1893. 
LoMBBOSO, Die Anarchisten. 7 



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— 98 — 

alle Yerbreohen im allgemeinen bloüse „Akte" sind (entsprechend 
der Etymologie, nach der das lateinische crimen von dem 
Sanskritworte m=thun herkommt, und facinus von facere und 
crimen), eine Anschanung, zu der die klassische Bildung sehr 
erheblich beigetragen hat, indem sie rachsüchtige Politiker, wie 
Timoleon, Aristogiton, Brutus u. s. w. als Heroen verherrlichte. 

Wenn der Fanatismus auf grausame Naturen aufgepropft 
wird und in der angeborenen Verbrechematur zu Tumchem 
anfängt, so ist es sehr natürlich, dass er eine blutige Farbe 
annimmt, und dafs diese Farbe auch als Berufsmerkmal auf 
Die übergeht, die nicht aus angeborener Schurkerei, sondern 
aus Leidenschaft in die Reihe der Anarchisten geriethen. 

Man hat sich gewundert, dafs eine so widerspruchsvolle 
und absurde Lehre wie die der Anarchisten soviel fanatische 
Anhänger hat finden können, aber so absurd diese Lehre sein 
mag, sie ist doch nicht ohne alle Prämissen für ihre tischen 
Schlüsse, und dann ist der Fanatismus niemals die Frucht 
richtiger und allgemein anerkannter Gedanken. Die Fanatiker 
laufen immer den Hypothesen nach, die am schlechtesten be- 
gründet und aufs entschiedenste in Frage gestellt sind. 

Für einen theologischen oder metaphysischen Satz finden 
sich hundert Fanatiker, und für ein geometrisches Theorem 
nicht einer, und je sonderbarer und absurder ein Gedanke ist, 
desto mehr Narren, Halbnarren und Hysteriker zieht er an, 
besonders auf dem Gebiete der Politik, wo jeder persönliche 
Triumph zu einen Triumph vor der OeflFentlichkeit wird, 
wo selbst Tod und Untergang ein Echo finden, das den 
Fanatiker nicht nur für das Leben, das er verliert, sondern 
auch für die furchtbarsten Martern entschädigt. Wie wenig 
kennen die Politiker, die immer neue Strafen gegen die 
Fanatiker ersinnen, die G^chichte und die Seele des 
Menschen. 



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Aber, so fragt man, warum tragen die Handlungen der 
Anarchisten den Stempel ernster Absicht, strategischer Plan- 
mäfsigkeit, wenn alle diese sonderbaren Altruisten Narren oder 
Fanatiker sind? Nun, die strategischen Pläne und die weit- 
ausgesponnenen Verschwörungen existiren nur in der Phantasie 
un&higer Polizeimänner; höchstens bilden einmal fünf oder 
sechs Individuen eine Gruppe, denn Irre und Leidenschafts- 
verbrecher haben nie Komplizen ; ihr Handeln trägt den Stempel 
der Verkehrtheit. Was kann deutlicher dafür reden, als diese 
wilden Angriffsmittel gegenüber wehrlosen, ihnen völlig un- 
bekannten Menschen, wie Vaillant und Lieuthant sie gewählt 
haben? "Was kann verkehrter, verderbter sein als der Glaube, 
durch Mord Wohlthäter der Menschheit zu werden? 

Die Mehrzahl der Anarchisten gehört, wie Bourdbau sich 
ausdrückt, zu den philanthropischen Mördern, — „es ist 
die Liebe zu den Menschen, die sie treibt, toll gegen das 
Menschenleben zu wüthen". Und ihr tollster Wahnsinn ist 
der, dafe sie beanspruchen, morden zu dürfen, aber gegen ihre 
eigene Tödtung protestiren und jedesmal nach Rache schreien, 
wenn ihre Opfer an ihnen Vergeltung üben und wenn sich 
ihre furchtbaren Mittel gegen sie selbst wenden. 



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Achtes Kapitel. 
Der Philoneismus der Anarchisten. 

Die Anarchisten besitzen als charakteristisches Merkmal 
nicht nur ihren eigenthümlichen Altruismus, sondern in noch 
höherem Grade zeichnet sie der völlige Mangel des allen Menschen 
eigenen Misoneismus aus, der bei Menschen ihrer Bildungsstufe 
doppelt zäh zu sein pflegt. Hamon, der unter den Anarchisten 
gelebt hat, um zu ermitteln, warum und wie sie es geworden 
sind, erfuhr am häufigsten, daüs die Einzelnen einen Geist der 
Revolte und Rachsucht in sich hatten, der durch persönliche 
Erlebnisse oder ihre besondere Lektüre in ihnen wachgerufen 
war. So schreibt ihm ein 24 jähriger Mensch, Namens Vogt: 
„Ich hatte Noth gelitten, zwei Tage nichts zu essen gehabt, 
und da offenbarte sich in mir der Geist der Rebellion." 

— „In der Volksschule bin ich geschlagen worden, das konnte 
ich mir nicht gefallen lassen, ich lief fort und wurde Rebell.** 

— „Ich habe Victor Hugo gelesen," bekennt ein Dritter, und 
mein Geist hat sich gegen die ganze moderne Unterdrückung 
aufgebäumt." 

Wer die Schriften von Valles liest, sieht, wie sich in 
ihm der Geist der Auflehnung selbst der Mutter und den 
Verwandten gegenüber zeigte. Ja, in den meisten Fällen is 



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— 101 — 

dieser Hang zur Bebellion ererbt oder angeboren und tritt 
ohne bestimmten änfseren Anla& hervor. So erklärt der 
anarchistische Schriftsteller Lazare: „Ich hatte yon Kindheit 
auf einen Widei'willen gegen Lehrer und Meister und hatte 
jedesmal, wenn mir etwas befohlen wurde, Lust, es nicht zu 
thun; im College war ich der Typus des unbotmässigen Schülers/ 
„Ich wurde aus allen Schulen fortgeschickt/ erzählt ein Fünfter, 
„weil ich alles auf den £[opf stellte." Femer erhielt Hamon 
die Erklärung: „Mein Vater war für alles Neue eingenommen, 
und ich konnte auf der Schule nur in den Gegenständen 
arbeiten, die meiner Neigung entsprachen.^ 

Henry war der Sohn eines wilden Kommunarden, wie 
Padelewski Bruder, Enkel und Urenkel von Rebellen war. 

Dieser Philoneismus der Anarchisten hängt eng mit ihrer 
neuropathischen Veranlagung zusammen. Ich habe an vielen 
Stellen meiner übrigen Arbeiten ausgeführt, dab die Menschen 
das Neue hassen, dafs aber Verrückte, Halbverrückte, moralisch 
Irre und geborene Verbrecher eine ganz besondere Neigung 
dafür haben, die sich unter dem Einfiuis der Unbildung und 
Krankheit in nutzlosen Wunderlichkeiten, in originellen Sonder- 
barkeiten und Brutalitäten äuisert. 

Nero, der vollständigste Typus eines historisch gewordenen 
moralisch Irren hatte nicht nur den Anspruch, Künstler zu 
sein, sondern hier und da auch künstlerische Anflüge als Sänger 
und Bildhauer und zeigte, was auch Hamerung und CosSA 
nicht entgangen ist, im Verbrechen einen wahrhaft künstlerischen 
Geschmack und originellen Philoneismus; die Inbrandsteckung 
Roms ist eine von der Utas inspirirte gigantische Künstlerlaune 
gewesen ; der Philoneismus, die Sucht nach neuem hat einen 
bedeutenden Antheil an seinen Verbrechen, so der Einfall, in 
den Eiingeweiden einer G-eliebten nach den Ursachen ihrer 
Neigungen zu suchen; einige seiner erotischen Verbrechen 



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— 102 — 

waren wie die des Tiberius Originaleinfälle, so der Einfall, 
Frauen im Wasser scbwimmend ihr Kind säugen zu lassen, 
und es war nicht bloüs eine Verrücktheit, als er sterbend aus- 
rief, dals Rom in ihm einen grofsen Künstler verliere. 

Der Verbrecher ist besonders, infolge seiner impulsiven 
Natur und aus Hafs gegen die ihn hindernden und strafenden 
Staatseinrichtungen, ein politischer Verbrecher in Permanenz, 
der aufhört latent zu sein, wenn er bei Aufetänden Gelegen- 
heit findet, seioen Leidenschaften ungezügelt zu fröhnen und 
dafür zum ersten Mal den Beifall eines groJjsen Publikums zu finden. 

Aus meiner Sammlung von GefängniCsinschriften ergiebt 
sich, dafs das BedürfniJs der Neuerung und die politische 
Unzufriedenheit der geborenen Verbrecher ihren Ausgangspunkt 
in ihrer Persönlichkeit hat; man lese folgende Inschriften: 

„Italien ist frei, aber wir sind hierl" — „Boulanger wird 
alles in die Luft sprengen." — „Der Reiche bestiehlt den 
Armen, der Arme den Reichen, und wenn er mehr nimmt, 
dann sind es die Zinsen." 

Gewifs haben die Verbrecher, deren Blick durch die 
Leidenschaft geschärft ist, eine besonders feine Aufiassung für 
die Fehler der Regierung und sind in ihrem ürtheil oft 
gerechter, als der Durchschnittsbiedermann; dieser Umstand 
kommt zu ihrer Impulsivität und Bösartigkeit hinzu, um sie 
in die ersten Reihen der Rebellen zu treiben. Selbst in den 
scheulslichen Inschriften, mit denen sie die Mauern der Ge- 
fängnisse bedecken, finden sich unter Abscheulichkeiten, Läste- 
rungen und Malicen Anwandlungen von Genialität, die sich 
beim Durchschnittsmenschen nicht finden, gewiJs weil die Ver- 
brecher in ihrem degenerirten Gehirn Reizzustände erleben, 
die der gewöhnliche Mensch nicht kennt. Ich erinnere nur an 
Verlaine und an seine geniale, fast photographisch getreue 
Schilderung eines Gefängnifshofes. 



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— 103 — 

Nicht ohne Bereohtigung ist folgende Satire geg^i die 
B^erung an einer Zellenwand: 

^0 Stra^esetzbuoh 1 Wamm ixUM du den Betrag mit 
den strengsten Strafen, wenn die freie Regierung Italiens mit 
dem unmoralischen Lottospiel der Meister und Herr der Be- 
trüger ist?*' 

JBin andermal fand ich unter diesen Palimpsesten eine 
Darstellung der Schäden der klassischen Bildung, in der sich 
mancher der Unterrichtsminister hätte spiegeln können, die uns 
die Kette der Klassiker immer fester umlegen. 

Das sind wohl alles nur blitzartige Einfälle, aber sie zeigen 
doch die Existenz jenes Gegensatzes, jener geistigen Aus- 
schreitungen, deren ein Durchschnittsmensch nicht fähig ist, 
der, er mag ein ausgezeichneter Kritiker sein, nichts Neues 
schafft. Bei diesen Wesen aber bereitet die angeborene Ano- 
malie den Boden für eine Atrophie des Misoneismus vor, der 
ein Merkmal des normalen, ehrlichen Menschen bildet. Jene 
Wesen hassen den gegebenen Zustand der Gesellschaft in dem 
Glauben, nicht die Natur der Dinge, sondern die Willkür der 
Begierung habe die Ordnung geschaffen, die sie bestraft imd 
im Zaume hält; dazu kommt, dafe ihre Impulsivität sie viel 
mehr, als Durchschnittsmenschen geneigt macht, zu handeln und 
unter dem ersten besten Verwände das Banner des Aufetandes 
zu erheben, um unter ihm ihre ungezügelten Triebe zu be- 
friedigen. 

Die Anarchisten werden aber auch deshalb leicht mit den 
Resten ihres Misoneismus fertig, weil sie eigentlich eine Rück- 
kehr zum Alten wollen und ihre Liebe zum Neuen mit 
atavistischen Trieben verschmilzt, wozu dann noch ein Interesse 
des Eigennutzes, die Hoffnung auf eine Änderung des eigenen 
Elends kommt, denn der Mensch glaubt gern an das, was ihm 
Vortheile verspricht. 



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— 104 — 

Diese Beziehungen zwischen ümsturzgelttsten und Ver- 
breoherinstinkten sind übrigens notorisch; schon griechisdie 
Philosophen haben darauf hingewiesen und Yon Sokrates 
wird der Ausspruch überliefert, die politisohen Unruhen rührten 
daher, dafs auf Erden nichts Dauer hat, und dals in gewissen 
Zwischenräumen (für die er eine geometrische Formel gab) 
lasterhafte und von Grund aus unyerbesserliche Menschen auf- 
treten. Aristoteles, der das berichtet, fügt hinzu: „Das ist 
wahr, denn es giebt Menschen, die von Natur un&hig sind, 
erzogen zu werden und Tugenden zu entwickeln; aber warum 
giebt es Beyolutionen in einem vollkommenen Staate?^ 



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Neuntes Kapitel. 
Ko8iiii8ch6, ethnologische und wirthschaftliche Faktoren. 

Die grofse Bedeutung organischer Faktoren, besonders die 
der individuellen Organisation darf nioht dazu führen, dafs 
gewisse mehr allgemeine und äufsere Faktoren vergessen 
werden; ich habe bei einer Untersuchung der topographischen 
und chronologischen Vertheilung der Revolten in Europa mit 
Sicherheit gefunden, dafs sich ihr Maximum stets in warmen 
Ländern und in der heifsen Jahreszeit findet. 

So ergiebt eine genaue Aufstandsstatistik mit Rücksicht 

auf die J ahreszeit folgendes : ^ 

Zahl der Aufstände: 

im im In der neueren Zeit 

Alterthum Mittelalter Amerika Europa* 



Im Frühling 


31 


14 


76 


142 


„ Sommer 


44 


28 


92 


167 


„ Herbst 


20 


18 


54 


.94 


„ Winter, 


20 


16 


61 


92 



* Vgl. auch: Lombboso und Laschi, Der politische Verbrecher und 
die Bevolutionen, Hamburg, 1892. Bd. I, I. Theil. 

* Für die europäischen Staaten gebe ich noch folgendes an : 



Jahres- 
zeit 


g 
1 


1 


1 
1 




'73 

1 

's 

0) 

ja 

1 


1 

1 


t3 <u 
Co 


53 

1 
1 


Bosnien, Her- 
zegowina, 
Serbien, 
Bulgarien 




a o 


1 

'S 

a 


II 

o 


p s 

* a 






Frühling 
Sommer 
Herbst . . 
Winter . 


23 

38 
18 
20 


27 
29 
14 

18 


7 

12 
4 
6 


9 

11 

5 

3 


6 

7 
3 
3 


16 
20 
15 
10 


7 

8 
6 
2 


6 

5 

3 

10 


7 
3 
1 
4 


6 
3 
3 
3 


5 

9 
5 

4 


7 

11 

4 

3 


3 
6 
7 
2 


4 
4 
2 
2 


6 
1 
2 
1 


3 

2 

1 



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— 106 — 

Es zeigt sioli, dafb der Sommer anf beiden Hemisphären 
das Maximum ergiebt, der Frühling immer höhere Zahlen als 
der Herbst und Winter; das gilt auch für die Verbrechen, viel- 
leicht der ersten warmen Tage wegen, vielleicht aber auch 
wegen der zu Ende gehenden Wintervorräthe, während Herbst 
und Winter geringe unterschiede ergeben. 

Untersucht man nicht die europäische Geschichte, sondern 
die einzelnen Staaten auf diese Verhältnisse, so finden wir, von 
wenigen Ausnahmen abgesehen, die meisten Aufstände in den 
warmen Monaten. So fällt in neun Staaten, zu denen alle 
des Südens gehören, das Maximum in den Sommer, in fiinf, 
darunter die nördlichsten, in den Frühling; in einen Lande 
(Oesterreich- Ungarn) fällt es in den Herbst, gleichfalls in einem 
Schweiz) in den Winter. Von den Monaten prävalirt der 
Juli in Italien, Spanien, Portugal und Frankreich ; der August 
in Deutschland, England und Schottland und der Türkei ; femer 
in Griechenland mit gleicher Häufigkeit wie im März; der 
März in Irland, Dänemark, Schweden und Norwegen; der 
Januar in der Schweiz, der September in Belgien und den 
Niederlanden, der April in RuMand und Polen, der Mai in 
Bosnien, Herzegowina, Serbien und Bulgarien. Der Einflufe 
der warmen Monate scheint also in südlichen Ländern beträcht- 
lieber zu sein. 

Wie sehr das Klima die politischen Unruhen beeinflufst, 
ergiebt sich aus der angehängten Tafel, in der die geographische 
Verbreitung der in Europa in der Zeit von 1791 — 1880 auf- 
getretenen Unruhen dargestellt ist. Man ersieht daraus, dals 
die Zahl der Aufstände und Revolutionen parallel der Wärme 
von Norden nach Süden zunimmt; in der That kämen in 
Griechenland auf zehn Millionen Einwohner 95 Revolutionen 
als Maximum, in Ruiüsland auf zehn Millionen 0,8, und die 
kleinsten Quotienten geben die nordischen Länder England, 



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— 107 — 

Schottland, Deutschland, Skandinavien, Polen, während die 
gröJflten von den südlichen geliefert werden, von Portugal, 
Spanien, der europäischen Türkei, Mittel- und Süditalien, und 
eine mittlere Zahl sich gerade für die centralen B.egionei| 
findet. 

Zusammengefaist findet man in: 
Nordeuropa 12 Revolutionen auf 10 Millionen Einwohner 
Central „ 25 . „ v n rj « 

Süd „56 „ „ „ „ „ 

Es giebt jedoch zwei bemerkenswerthe Ausnahmen: die 
Schweiz und Irland, welche in ihren Revolutionen ein zu ihrer 
geographischen Lage umgekehrtes Verhältnifs zeigen. In der 
Schweiz dürfte das abhängen von der Buntscheckigkeit der 
Kantonregierungen und den unaufhiirlichen Verfassungsände- 
rungen (1830 — 79 gab es in der That 116 Revisionen der 
Kantonal Verfassungen und 3 der Bundesverfassung ; von 1830 
bis 62 änderten 27 Revisionen die aristokratische Regierung 
im demokratischen Sinne um, zwischen 1862 — 66 schliefslich 
wurden 66 Revisionen durchgeführt, um zur direkten Volks- 
regierung durch das Referendum zu gelangen). Für Irland 
erklärt sich das aus den traurigen politischen und socialen 
Verhältnissen, die, wie Tardb richtig bemerkt, dem Irländer, 
wenn er nicht revoltiren will, nur die Wahl zwischen Aus- 
wanderung und Selbstmord lassen. Gladstone hat in seinen 
bewunderungswürdigen Entwürfen gezeigt, wie radikal die 
Reformen gedacht sein müssen, um dieses Land von Wunden 
zu heilen, die zugleich ethnischer, socialer und ökonomischer 
Natur sind. Auch der russische Nihilism^us zeigt uns, dafs, 
wenn sociale Milsstände mit voller Wucht wirken, die klima- 
tischen Einflüsse zurücktreten, um später vielleicht wieder 
hervorzutreten, üebrigens mufs man sich erinnern, dafs Irland, 
dank dem Golfstrom, ein sehr mildes Klima hat, so dals es 



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— 108 — 

mit seiner mittleren Wintertemperatur von 5^ C. sich auf der- 
selben Winterisotherme befindet, wie die Bretagne, das sttdliehe 
Frankreich, die nördlichen Appenningegenden nnd Dalmatien. 
üebrigens hat auch Irland dieselbe Yertheilnng des Selbstmords 
wie diese Gebiete.^ 

Auch orographische Einflüsse machen sich geltend; im 
allgemeinen neigen die Bergvölker mehr zu Beyolten lud zum 
Fortschritt, als die Bewohner der Ebene. 

So haben die Tibetaner, ein von indolenten und servilen 
Nachbarn umgebenes Volk, eine merkwürdige Energie im Kampfe 
gegen die Chinesen entfaltet, so sind die nüchternen und ehr- 
lichen Afghanen, besonders der Bergstamm Jussuf, geborene 
Eroberer, stolz auf ihre Unabhängigkeit gegenüber der Indolenz 
der Hindu. Nach Herodot gestattete Cyrus den Persem nicht, 
ihre bergige Heimath zu verlassen, in der ihre ganze Energie 
wurzelte. Man kann sagen, daüs die ersten Freiheitsbestrebungen 
und der letzte Widerstand gegen die Tyrannei immer in den 
Bergen zu Hause war; man denke an die Samniten, die Marser, 
die Ligurer und die Kantabrer in ihren Kriegen gegen Bom, 
an die Kämpfe der Asturier gegen Gothen und Sarazenen, 
an die Kämpfe der Hajduken, der Albanesen, der Mainoten, 
der Drusen und Maroniten gegen die Türken; an die Tlaska- 
lauer und Chilenen in Amerika, an die drei Urkantone der 
Schweiz im Kampfe gegen Oesterreich imd Burgund. Auch 
die ersten Kämpfe um religiöse Freiheit spielten sich in Frank- 
reich auf den Cevennen und in Italien in Veltlin und Pinerolo 
ab, trotz der Dragonaden und der Martern der Inquisition. 

Athen war nach Plutarch nach dem Auftreten Chilons 
in drei Parteien getheilt, welche der geographischen G^altung 
des Landes entsprachen, die Bergstämme wollten um jeden 

* MoBSBLLi, II suicidio. BibUoteca intemazionale. Seite 102—103. 
Mailand 1872. 



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— 109 — 

Preis eine demokratische Regierung, die Flachländer eine 
oligarchische, und die Küstenbevölkerung war für einen Korn- 
promifs. 

Die Illyrer kamen nie unter die Herrschaft ihrer griechischen 
Nachbarn und leisteten den Macedoniem zftben Widerstand, 
bis sie nach dem Tode Alexanders ihre Unabhängigkeit wieder 
erlangten. Ganz analoge Erscheinungen waren die neueren 
Kämpfe im Kaukasus. 

Au den Punkten, nach denen die Thäler konvergiren, 
konzentnren sich die moralischen, politischen und industriellen 
Bestrebungen der Bevölkerung. Die blühende koHimerzielle 
Entwicklung Mailands hängt offenbar mit der Thatsache zu- 
sammen, dais alle grofsen Thäler der lombardischen und 
piemontesischen Alpen mit ihren Achsen in der Richtung auf 
Mailand konvergiren: Yal d'Aosta, Biellese, Val Sesia, Val 
d'Assola, Val Ticino, Val Teilina etc., und mit den Thälem 
konvergiren auch die Verkehrslinien dorthin. Dasselbe gilt 
auch von Bologna. 

Polen verdankte vielleicht die vorzeitige Entwickelung 
seiner Kultui*, wie später sein Unglück, seiner keil- oder 
brückenförmigen Lage zwischen Slaven, Deutschen und Byzan- 
tinern. 

Alle greisen Kulturen sind an der Mündung grofser Flüsse 
entstanden: Nil, Ganges, gelber Fluis, Euphrat, Tigris. Aehn- 
liehen Einfluis haben die Häfen leicht zugänglicher Gestade; 
Griechenland, speciell Athen, ward durch seine Lage am 
Mittelmeer in den Stand gesetzt, zuerst die Entwickelungsreeultate 
anderer Völker, Phöniziens, Egyptens, Indiens, zu geniefsen und 
jeden dort gemachten Fortschritt zu erben und aufzusparen; 
dazu waren die Griechen am meisten geeignet, fremde Rassen 
in sich aufzunehmen und die fruchtbarste Kreuzung einzugehen. 

In Frankreich haben die Departements der grofsen Flüsse 



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— 110 — 

Seine, Rhone, Loire, oder solche mit grofsen Häfen, unab- 
hängig von andern Ursachen, grofse Genialität und zahlreiche 
republikanische Abstimmungen. Einer von uns hat im Genialen 
Menschen die gröfsere Genialität der Seestädte (Genua, Venedig, 
Neapel) nachgewiesen. 

Ein gesundes und fruchtbares Klima begünstigt gleichfalls, 
'wie ich im Genialen Menschen mit langen Zahlenreihen 
bewiesen habe, die Häufigkeit der Genialität und der Bebellion. 

Was den Rasseneinfluis betrifiPt;, so habe ich aus der neueren 
französischen Politik die grofse Neigung der Franzosen ligurischer 
und gallischer Rasse zu Rebellionen nachgewiesen. 

Ethnologisch klarer ist das Vorkommen von Rassenkreuzung, 
die beide Theile zu kräftigerer Entwicklung anzuregen pflegt ; 
dies Phänomen erinnert an die von Darwin festgestellte Noth- 
wendigkeit der gekreuzten Befruchtung auch bei zweigeschlecht- 
lichen Pflanzen und stimmt mit der Hypothese von Romanbs 
überein, wonach die Variation die erste Ursache der Ent- 
wickelung darstellt. 

Ein Beispiel dieses Einflusses ist der jonische Stamm, der 
revolutionär beanlagt war und die gröfeten Genies hervor- 
gebracht hat, gewifs — zumal gegenüber seiner Verwandtschaft 
mit den Dörfern — deshalb, weil seine frühe Berührung mit 
Lydiem und Persem in den asiatischen Kolonien und den 
benachbarten Inseln eine doppelte Kreuzung, des Bluts und 
des Klimas, herbeiführte. 

Eine hohe Anlage zu revolutionärer und evolutionärer 
Bewegung zeigen die Japaner, die — ursprünglich inferior 
gegenüber den Chinesen und ohne deren Handels- und Unter- 
nehmungsgeist und ihre unermüdliche Leistungsfähigkeit, ihnen 
an Anpassungsvermögen überlegen sind, und in kurzer Zeit 
europäische Kleidung, Werkzeuge, Eisenbahnen, Universität 
und selbst politische Reformen angenommen haben. Zweifellos 



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— 111 — 

yerdanken sie die Be&higQDg zu all dem ihrer starken Darch- 
setznng mit malayischem Blut, während die einer höheren 
Stufe der gelben Rasse angehörenden Chinesen viel weniger 
Misohblnt besitzen. 

Die Pfropfang der germanischen Rasse auf die slayische 
in^Polen und der Status nasoendi dieser Verbindung erklärt 
das schnelle, die andern, noch rohen Slaven riesengrofs über- 
ragende Emporkommen der polnischen Kultur, obwohl die 
Deutschen, welche den ersten Samen der Civilisation einführten, 
selbst noch nicht hoch entwickelt waren. ^ 

Unzweifelhaft ist auch die reichliche Mischung mit deutschem 
Blut in der Bevölkerung der Pranche-Oomtö die Ursache des 
in neuerer Zeit auffallend häufigen Auftretens grofser wissen- 
schaftlicher Revolutionäre in diesem Gebiet (Nodier, Fourier, 
Proudhon, Cuvier). 

Sizilien hat eine entschiedener evolutive Tendenz als das 
Gebiet von Neapel, weil seine Bevölkerung stärker gemischt 
ist; das zeigt sich besonders in Palermo, wo die Beimischung 
sarazenischen und normannischen Bluts am stärksten war. — 
Triest, wo das slavische Blut sich mit deutschem und romani- . 
schem mischt, giebt es eine aufserordentlich hohe Quote der 
Genialität (Lustig, Tanzi, Revere, Fortis, Ascoli, Beisso, Tedeschi). 

Der rassenverändemde Einfluls des Klimawechsels und der 
Kreuzung von Einwanderern der verschiedensten Völker mit 
den Eingeborenen bedingt eine gröfsere wissenschaftliche und 
kommerzielle Thätigkeit und zugleich eine grölsere Neigung 
zu politischen Unruhen in den halbspanischen Staaten Süd- 
amerikas. Spanien hat Männer ^ie Ramos-Meija, Roca, Mitre 
und Drago nicht aufzuweisen. 

^ Schon in prähistorischer Zeit mofs diese Zumisohung germanischen 
Blutes vorgekommen sein ; die prähistorischen Funde Preufsens, Polens 
und Wolhyniens zeigen dolichocephale, orthognathe Schädel von germani- 
schem Typus. 



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112 



Eine Regierung, die das öfifentliohe Wohl vemaohlässigt 
und die guten Elemente verfolgt, stiftet Unruhe und Revolution. 
Die Verfolgung macht aus Ideen Grefiihle. 

Benjamin Franklin fafste kurz vor der amerikanischen 
Revolution, in seiner kleinen Schrift Regelfiy aus einem grofsen 
Lande ein Meines zu machen, die Ursachen der MiTsregierung, 
die sein Vaterland der Rebellion in die Arme trieb, folgender- 
malsen zusammen: ^Wollt ihr,^ so schrieb er nach London, 
„eure Kolonien aufbringen und zur Rebellion zwingen? Dafür 
giebt es ein unfehlbares Mittel: Betrachtet sie als immer zum 
Aufstände geneigt und behandelt sie dementsprechend ; lafst sie 
durch Militär überwachen, und wenn die Frechheit der Soldaten 
Revolten hervorruft, so unterdrückt sie mit Kugeln und Bajonetten. 

In Fankreich steigerte die nur für die wohlhabenden 
Klassen berechnete Regierung die politischen Verbrechen und 
Aufstände, die unter dem cäsarodemokratischen Regime 
Napoleons III., der das Volk durch Prunk und sociale Reform- 
bestrebungen köderte, abnahmen. Das zeigt umstehende Statistik 
der in der Zeit von 1826 — 80 erhobenen Anklagen wegen 
politischer Vergehen (einschlieislich der Preisvergehen), aus der 
sich ergiebt, daiGs das Minimum in die Regierungszeit Napoleons 
(1851—70) fällt. 





Im 1 


m 






kontradiktorischen 


Eontumacial- 


Ver- 
urtheilung 


Jahresmittel. 


Verfahren. 


Verfahren. 




Sachen Angeklagt 


Sachen 


Angeklagt 




1826-30 


13 


4 


284 


401 


237 


1831—35 


90 


249 


406 


640 


176 


1836-40 


13 


80 


63 


91 


27 


1841—45 


4 


35 


41 


66 


21 


1846-50 


9 


120 


271 


533 


184 


1851-55 


4 


40 


— 


— 


— 


1856-60 


1 


2 


— 


— 


— 


1861-65 


1 


4 


— 


— 


— 


1866—70 


1 


3 


— 


— 


— 


1871-76 


10 


42 


64 


124 


53 


1876-80 


— 


— 


6 


11 


5 




146 


529 


1135 


1866 


703 



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— 113 — 

Die allgemeinen Faktoren dieser Art — die u. a. das 
Vorwiegen des Anarchismus unter den romanischen Völkern 
erklären — kann ich hier nicht weiter erörtern, ohne einen 
ganzen Band zu füllen; ich hahe das Wesentlichste auch 
bereits in meinem Buche über die politischen Verbrecher 
erörtert; ich will hier nur auf die Bedeutung auch dieser 
Faktoren für die letzten Unruhen in Sicilien hinweisen ; diese 
erklären sich aus der bunteren Mischung und gröfseren 
Genialität der Bevölkerung, aus der schlimmen Mifsregierung 
— denn aufser der Konfusion in der Centralregierung 
hat die Insel auch mit kommunalen und provinziellen Ver- 
waltungsnöthen 'zu kämpfen — natürlicher und wahrer, als 
aus Verschwörungen mit RuMand oder Frankreich, denn 
alle diese Umstände liefsen das Gefühl der Unzufriedenheit 
mit den Zuständen gewaltig anschwellen. 

Auch die geniale und rebellische Art der Romagnolen 
(„Romagna tua non fu mai senza guerra" — Die Romagna hat 
nie im Frieden gelebt) erklärt uns, wie die Geschichte von 
Livomo, die dortige Neigung zum Anarchismus. 



LoMBROSO, Die Anarchisten. 



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Zehntes Kapitel. 

Vorbeugende Marsregeln. 

Man behauptet, diese Geschwüre des Anarchismus könnten 
nur mit Feuer und Schwert geheilt werden. Nun finde ich 
es gerecht und vernünftig, dafs gegen die Anarchisten energische 
Mafsregeln ergriffen werden; was aber in Prankreich und 
neuerdings auch in Italien geschieht, ist übertrieben ; und fast 
ebenso impulsiv und nur auf den Moment berechnet, wie die 
Erscheinungen, gegen die sie sich richten; derartige Mafsregeln 
müssen schliefslich zu neuen Gewaltthaten führen. Ich 
bin kein Gegner der Todesstrafe, billige ihre Anwendung aber 
nur an solchen geborenen Verbrechern, deren Leben eine 
Gefahr für die Oeffentlichkeit ist; ich würde deshalb nicht 
gezaudert haben, Pini und Kavachol zum Tode zu verurtheilen, 
wenn es aber ein schweres Verbrechen giebt, gegen welches 
nicht nur die Todesstrafe, sondern überhaupt die schwersten, 
entehrenden Strafen nicht angewendet werden sollten, so ist 
es das der Anarchisten. Ich behaupte das, erstens weil viele 
derselben nur geisteskrank sind und für Geisteskranke die Irren- 
anstalt, nicht das Schaffet oder das Zuchthaus angezeigt ist, 
und zweitens weil sie, auch wo sie nur Verbrecher sind, 
ihr Altruismus mildernder Umstände würdig macht, denn wegen 



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— 115 — 

dieser Eigenschaft können sie, wenn sie nur in eine andere 
Richtung gebracht . sind (was bei Hysterikern wie Vaillant und 
Henry sicher möglich ist), der Gesellschaft, für die sie heute 
e.o gefährlich sind, noch nützlich werden. Louise Michel machte 
sich in Neukaledonien um Elranke und Unglückliche so ver- 
dient, ^dafs sie allgemein „der rothe Engel^ genannt wurde. 
Und die Hinrichtung eines Menschen, de^i sein Attentat nur 
ein indirektes Mittel des Selbstmordes ist, leistet dem Feinde 
der Gesellschaft nur den Dienst, dafs er sein Ziel erreicht. 

Die Todesstrafe sollte, auch wenn die besonderen Umstände 
eines politischen Verbrechens nicht vorliegen, nicht eintreten 
bei Gelegenheits- und Leidenschaftsverbrechem, deren seelisches 
Gleichgewicht gestört ist durch krankhafte Empfindlichkeit 
für die Leiden des Proletariats, durch ungenügende Bildung 
oder eigenes Elend, denn diese Individuen sind nicht gefähr- 
liche Verbrecher. Man muis ferner das jugendliche Alter der 
Meisten berücksichtigen — Längs war 20 Jahre, Schwabe 23, 
Caserio 21 — , und dafs in diesen Alter die Kühnheit und der 
Fanatismus eine Gluth besitzten, die sich später erheblich 
abkühlt; man sagt in BuMand, es gäbe keinen Ehrenmann, der 
nicht mit 20 Jahren Nihilist und mit 40 gemäüsigt wäre. 
Auch ist zu bedenken, dafs mit den Köpfen nicht zugleich 
die darin beherbergten Gedanken fallen, daüs diese vielmehr 
«durch den Anschein des Märtyrerthums ihrer Anhänger gewinnen, 
während eine sterile Idee von selbst verschwindet; im übrigen 
ist es ebensowenig möglich, im Laufe einer einzigen ephemeren 
Generation eine Idee mit absoluter Sicherheit zu verwerfen, 
wie über ein Individuum während seines Lebens ein definitives 
Urtheil zu haben ; deshalb darf man eine Idee auch nicht zum 
Grunde eines Todesurtheils über ihre Anhänger machen. 
Uebrigens verschwindet mit dem Tode des einzelnen Anarchisten 
durchaus nicht die Wahrscheinlichkeit neuer Attentate, denn 

8* 



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— 116 — 

Fanatiker und Neuropathen werden daroh die Hinrichtung 
Gleichdenkender nicht abgeschreckt, sondern gereizt; kaum war 
Ravachol todt, so gab es für die Massen schon einen Halbgott 
Rav^hol, und an Stelle der Marseillaise sang man die Ravachole. 
DuBOis, dem ich diese Angaben entnehme, weist darauf hin, 
dafs die gröiste Verbreitung des Anarchismus da stattgefunden 
hat, wo Prozesse und Hinrichtungen von Anarchisten Sensation 
und damit Propaganda gemacht haben, so in Rohan, Vienne, 
Grenet, St. Etienne, Ntmes, Bourg; in Fourmies erschien 
der Anarchismus nach der blutigen Unterdrückung von Arbeits- 
einstellungen. 

In Paris und Barcelona folgten auf die Hinrichtung von 
Anarchisten neue schlimmere Attentate. Der Tod Oarnots, 
dieses tadellosesten und meist verehrten der Staatsoberhäupter, 
ist noch in frischen Gedächtniss; Prankreich verdiente 
bis zu diesem letzten Attentate sicher nicht den Vorwurf 
schwächlicher Nachsicht den Anarchisten gegenüber, aber dem 
Crescendo der Strafen entsprach ein Crescendo der Attentate; 
in England und in der Schweiz aber^ wo es keine Ausnahme- 
gesetze gegen die Anarchisten giebt, sind sie machtlos und 
haben nie vielen Schaden gestiftet. Am schlagendsten jedoch 
beweist die neueste Geschichte ßufslands die Nutzlosigkeit 
von Ausnahmemafsregeln; hier fehlte es nicht an furchtbarer 
Represion (man denke an das langsame, stumme Sterben 
in den Bergwerken und Kerkern Sibiriens), und doch folgten 
jeder Bestrafung eines Attentats mehrere andere, noch furcht- 
barere. „Für die Gluth umstürzlerischer Bestrebungen giebt 
es,** so schreibt einer unserer scharfsinnigsten Denker, ^ 
keine kräftigere Nahrung, als die Märtyrerlegenden, welche die 
Phantasie zahlreicher Träumer, Fanatiker und suggestionsfähiger 



^ ö. Ferrebo, La Biforma sociale^ 1894. p. 986. 



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— 117 — 

Schwärmer erregen, von denen die moderne Gesellschaft wimmelt 
und die stets ein bedeutendes Element aller revolutionären 
Unruhen gewesen sind. In jeder Gesellschaft hat eine Anzahl 
von Leuten das Bedürfniis, das Martyrium zu bewundem, sich 
dafür zu begeistern und selbst danach zu streben ; sie finden ihre 
Lust daran, als Verfolgte und Opfer der Gewalt und Schlechtig- 
keit zu erscheinen, und wählen unter den politischen Parteien 
für sich die aus, die die meisten Gefahren verspricht, wie 
gewisse Touristen am liebsten die Berge besteigen, wo die Ab- 
gründe am tie&ten und die Felsen am steilsten sind. Für 
Menschen dieses Schlages hat der Anarchismus deshalb ein^n 
Reiz, weil er für sie Reklame macht durch die sensationellen 
Verfolgungen, die seinen Anhängern zu theil werden. Nichts 
ist gefährlicher, als die Phantasie dieser Leute durch den 
Leichnam eines Hingerichten zu erregen. Vaillant war nach 
seiner Hinrichtung ein Märtyrer, zu seinem Grabe wurde osten- 
tativ gepilgert. Das vergossene Blut, das immer der beste 
Nährboden für Mythen war, ernährt die Pflanze der Legende, 
bis sie aufschiefst und Früchte trägt. 

Man hatte in Frankreich die Ueberzeugung, mit dem Fallen 
von sieben Köpfen wäre die Hydra der Anarchie getödtet; in 
Wirklichkeit dagegen verendete sie nicht unter den Schlägen der 
Verurtheilungen und der Schande, sondern schöpfte daraus neue 
Kräfte und producirte sogar einen besseren Typus ihrer Heroen. 
D^ese Quasi -Purifikation des Anarchismus ist eine der über- 
raschendsten, aber wichtigsten Seiten dieser furchtbaren Erschei- 
nung. Der erste ^Heros^ der Anarchie der letzten Jahre war 
Ravachol, eine typische wilde Verbrechernatur, ein blutdürstiger 
Raubmörder, eine Bestie in Menschengestalt, der seine scheufs- 
lichen Instinkte in seinen politischen Fanatismus übertrug. Nach 
ihm kam Vaillant, der zwar nicht gerade fleckenlos war, aber 
doch besser als Ravachol, er hatte Diebstähle und Betrügereien 



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— 118 — 

begangen, aber nie ein Menschenleben angetastet; ihm folgte 
Henry, ein zerfahrener und excentrisoher Jüngling, aber 
völlig unbescholten und befähigt, durch den Ausdruck seiner 
tiefen und aufrichtigen üeberzeugung vor den Q-eschworeneti 
auch auf die heftigsten Feinde des Anarchistnujg einen Eindruck 
zu machen. Der letzte der anarchistischen Mörder, Caserio, 
ist sicherlich ein ehrlicher Fanatiker, der nie ein gemeines 
Verbrechen begangen hat und unfähig dazu war und den nur 
die Verblendung des Parteifanatismus zu seiner That führen 
konnte. Nach einer anderthalbjährigen Politik energischer 
Unterdrückung findet sich die französische Regierung, ja ganz 
Europa vor dem merkwürdigen Ergebnifs, dafs der Anarchismus, 
der sich früher aus den Galeerensklaven rekrutirte, heute seine 
Anhänger unter ehrlichen Leuten findet, die der Fanatismus 
oder ein übertriebenes Verlangen, die Rolle eines Opfers tu 
spielen, in den Tod treibt, in der charakteristischen Entechlofsen- 
heit der Märtyrematuren aller früheren Glaübensformeil. 

Aber das ist noch nicht alles; die Anarchisten purifieit^en 
sich nicht nur, sie werden auch kühner; wenn der öesetz-i 
geber sie durch das abzuschrecken glaubt, was der letzte Talisman 
der bürgerlichen Gesellschaft geworden zu sein scheint, mit 
dem Beil, so mufs die Gesellschaft mit Schrecken sehen, 
wie diese Fanatiker sie immer oflTener angreifen, ohne sich zu 
verbergen, trotz des ungeheueren Machtunterschiedes. Von 
Bavachol, der seine Bomben heimlich legte und sich dann 
sofort in Sicherheit brachte, sind wir erst auf Vaillant und 
Henry gekommen, die ihre Bomben mitten in eine Menschen- 
masse werfen, wo sie gesehen und verhaftet werden müssen, und 
dann bis auf Caserio, der den Dolch führte inmitten der gröfsten 
Oeffentlichkeit, vor einer ungeheueren Volksmenge, in de^en 
Angesicht jede Hoffnung, der Verhaftung und der Guillotine 
zu entrinnen, ausgeschlofsen war. Von den anonymen Dynämi- 



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- 119 — 

Garden sind wir also bis auf Leute gekammen, die ihr Leben 
kaltblütig verkaufen, um eine verhafste Person aus dem Wege 
ÄU räumen, und die ihr Attentat begehen mit dem vollen 
Bewuftsein, dafs ihr Kopf von nun an verloren ist. 

Diese beklagen swerthen Erscheinungen, von denen ober- 
^äohlich denkende und unterrichtete Staatsmänner erschreckt 
werden, können den Kenner der Geschichte und der 
Menschen nicht erschrecken. Die Purifikation des Anarchimus 
iist nur ein Ergebnifs der Verfolgung. Es ist begreiflich, dafs 
^ie ersten Attentate von einem echten und eigentlichen Ver- 
brecher, wie Ravachol, und nicht von einem der unbescholtenen 
Fanatiker begangen wurden, aus denen sich jetzt der Anarchis- 
mus rekrutirt. Obgleich individuelle und politische Moral nicht 
öelten miteinander in Konflikte gerathen , obgleich oft ein 
ehrlicher Mensch schliefslich zu politischen Zwecken straf- 
bare Handlungen begeht, ist es doch kaum denkbar, dafs 
im Grunde gutartige Personen sich ohne eine unmittelbare 
und sehr starke Provokation dazu entschlieüsen könnten, eine 
E.eihe so grausamer und gefährlicher Attentate zu begehen, 
wie die in den letzten Jahren in Frankreich begangenen. 
Der erste Gedanke an ein solches Verbrechen konnte 
nur der wilde Einfall eines verdorbenen Verbrechers sein, 
der mit kaltem Blute, angeblich wegen der Verfolgung 
seiner Genossen, in Wirklichkeit aber zur Befriedigung 
seiner angeborenen Bestiennatur, sich mit dem Sprengen 
der Häuser einiger Justizbeamter vergnügen wollte und das 
Spiel, das ihm Spafs machte, auch ohne besonderen Zweck 
fortsetzte, bis er ergriffen wurde. Dann kamen die strengen 
Verfolgungen, die Ausnahmegesetze, die wiederholten Hin- 
richtungen, es entstand die Legende des^ anarchistischen 
Märtyrerthums, und das alles drängte auch unbescholtene 
Anarchisten zu Attentaten; diese Leute wären sonst ruhig 



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— 120 — 

geblieben ; als sie aber die Gefangensetzung von mehreren 
hundert Genossen, die Konfiaoirung ihrer Zeitungen, die Hin- 
richtungen sahen, mufste sich in ihnen das Gefühl der Solidarität 
mit den leidenden Genossen regen, das bei allen ehrlichen 
Fanatikern und allen extremen Parteien so stark ist. Man 
muis daran denken, dafs Henry, Vaillant und die zahlreichen 
gefangengesetzten Anarchisten intime Freunde in der Partei 
hatten, für die die gemeinsamen Gedanken, Gefahren und 
fanatischen Entschlüsse ein Band engster Solidarität bilden 
muisten, man darf nicht vergessen, dafs die Verfolgung ihrer 
Genossen denselben Zorn, dieselbe Entrüstung bei ihnen erregt, 
die sich in der Gelehrtenwelt Europas erheben würde, wenn 
die Nachricht sich verbreitete, der Zar habe irgend einen 
greisen Denker seiner Entdeckungen wegen nach Sibirien 
verbannt; man darf femer nicht vergessen, dafs sie ihre Kame- 
raden gerade um der Ideen willen verurtheilt und verfolgt 
sahen, die ihnen die theuersten sind, und deren Gemeinsamkeit 
mehr als irgend etwas anderes ihr Zusammenhalten bedingt; 
dann wird man leicht begreifen, wie sich mit seit Beginn der 
Verfolgungen der Typus des Fanatikers beständig gehoben hat, 
wie von jenem Augenblicke an aus Verbrechern ehrliche 
Fanatiker geworden sind, Menschen, die von einem auiserordent* 
lieh starken Solidaritätsgefühl beseelt sind, und bei denen oft 
infolge des mangelhaften moralischen Gleichgewichts das 
Bedürfnifs nach Selbstaufopferung bis zum Pathologischen 
gesteigert ist. 

Hiermit hängt eine andere Thatsache, ihr gröiserer per- 
sönlicher Muth, eng zusammen. Je fanatischer ein Attentäter 
ist, je aufriehtiger er es meint, desto gleichgültiger sind ihm 
die Folgen seiner Handlungen, ja bei seinem Aufopferungs- 
bedürfnils ist ihm der Preis der That nicht leicht zu hoch^ 
selbst wenn er mit absoluter Sicherheit weiJGs, dafs er fest- 



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— 121 — 

genommeD, verurtheilt und hingerichtet werden wird. Ein 
Dynamitarde wie Bavaohol, den seine Verbrechernatur zur 
That treibt, sucht sich schon vorher die Flucht zu sichern 
und läfst sich schliefslich nur aus Leichtsinn fangen, Menschen 
wie Henry und Caserio dagegen, bei denen Fanatismus den 
Antrieb zur That bildete, begehen ihre Verbrechen schon mit 
der festen Ueberzeugung, dafs sie dafür ihr Leben lassen müssen, 
und treffen daher nicht die mindesten Anstalten zu ihrer 
Sicherung. 

„ ... Es ist — so fährt Ferrero fort — ein historisches Gesetz 
von absoluter Unabänderlichkeit, ein Gesetz, das durch die 
neuesten Vorkommnisse auf das Traurigste bestätigt worden ist, 
dafs Gewalt wiederum Gewalt hervorruft. Man braucht sich nur 
die italienische Geschichte der letzten Jahre zu vergegen- 
wärtigen, und man hat eine Miniaturausgabe von dem, was sich im 
grofsen in Frankreich und Spanien vollzieht. In Italien 
scheint Crispi mit besonderer Vorliebe zum Gegenstand von 
Attentaten gemacht zu werden — innerhalb weniger Jahre 
haben wir zwei Angriffe auf sein Leben zu verzeichnen — , 
während Niemand daran gedacht hat, das Leben anderer 
italienischer Politiker, z. B. Depretis', zu gefährden. Woran 
kann das liegen? Der Grund ist der, dafs von allen Staats- 
männern Italiens Crispi am meisten dazu neigt, alle schwierigen 
Fragen auf dem Wege der Gewalt zu lösen ; auf diese Weise 
bringt er seine Gegner gewissermafsen selbst auf die Idee, 
Gewalt anzuwenden, und veranlafst sie, auf dem Wege der 
unbewufsten Suggestion zur Nachahmung seines Beispiels. 
Depretis dagegen, der stets die Anwendung von Gewandtheit 
und List den Gewaltmitteln vorgezogen hat, ist nie der Gegen- 
stand gewaltthätiger Angriffe geworden, ebensowenig wieCavour, 
Gladstone und im allgemeinen alle englischen Staatsmänner, 
die sich auf dem Gebiete der inneren Politik stets bemüht 



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— 122 — 

haben, durch moralische Kraft zu wirken. Dasselbe sehen wir 
in Frankreich, wo die anarchistische Partei immer gewaJLt- 
thätiger vorging, je energischer die Repressivmafsregeln waren, 
die die Begierung gegen sie anwendete, und durch die sie alle 
latenten WiLnsche und Pläne der bekämpften Partei weckte. 
Man könnte hier mit Recht einwenden dafs sowohl die fran- 
zösische als die spanische Regierung durch das ' brutale Vor- 
gehen der Anarchisten zu energischen Repressivmalsregeln 
gedrängt worden sind; aber man darf nicht vergessen, 
dafs in diesen Kämpfen die besser gestellten, reicheren, 
mächtigeren und besser unterrichteten Klassen mit dem guten 
Beispiel der Besonnenheit, Ruhe und Kaltblütigkeit voran- 
gehen müssen, statt beim blofsen Herannahen der Gefahr blind 
zu den Schrecken der Guillotine ihre Zuflucht zu nehmen, 
wodurch sie Märtyrer schaffen und in der Partei, die sie 
unterdrücken wollen, den Geist des Kampfes und Widerstandes 
erst recht beleben." 

Auiserdem hat die gewaltsame Unterdrückung noch einen 
Nachtheil: sie erfüllt einmal die Anarchisten mit Stolz und 
bringt ihnen die üeberzeugung bei, dals sie wirklich eine 
Gefahr für den Staat bilden, und beeinflufst ferner die höheren 
Klassen, deren Abneigung das beste Bollwerk gegen sie bildet, zu 
ihren Gunsten, indem diese Mitleid für sie zu enipfinden anfangen. 

Ein charakteristisches Merkmal dieser politischen Leiden- 
schafts- oder Gelegenheitsverbrecher ist ihre, ich möchte sagen 
„spezifische" Unfähigkeit, sich den Regierungsformen, unter 
denen sie leben und gegen die sich ihre verbrecherische That 
richtet, anzupassen. Die gemeinen Verbrecher dagegen sind 
nicht nur unfähig, sich dem sozialen Milieu des Landes, in 
dem sie leben, anzupassen, sondern sie sind ebenso ungeeignet 
für jedes andere Land, das auf dei'selben Höhe der Oivilisation 
steht, wie ihr Vaterland. 



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— 123 — 

Während daher die gemeinen Verbrecher aus dem ganzen 
Bereich der civilisirten Welt^ entfernt werden müssen, genügt 
es für die politischen Verbrecher, dafs man die Länder von 
ihrer Gegenwart befreit, an deren politische Formen sie sich 
bewiesenermafsen nicht anzupassen vermögen. 

Verbannung und, in ernsten Fällen, Deportation scheinen 
also für diese Kategorie von Verbrechern am meisten an- 
gezeigt. 

Ich mache den Vorschlag, bei der Bestrafung der rein poli- 
tischen Verbrecher (mit Ausschlufs der Irren, sowie der ge- 
borenen Verbrecher) von einem bestimmten Strafmafs abzusehen, 
und eine Rückberufung der Verbannten, etwa infolge einer alle fünf 
Jahre abzuhaltenden parlamentarischen Abstimmung zuzulassen, 
denn es wäre ja nicht unmöglich, dafs sich, wie es z. B. bei 
dem Vergehen der Gotteslästerung und des Atheismus vorkommt, 
im Laufe der Zeit die öffentliche Meinung über die Tragweite 
der inkriminirten Handlung so weit ändert, dafe diese ihren 
verbrecherischen Charakter ganz verliert. Aus diesem Grunde 
ist auch die moderne Strafrechtsschule, obschon ein Feind des 
Geschworenengerichts, wo es sich um gemeine Verbrechen 
handelt, doch Befünworterin desselben für die Fälle von 
politischen Verbrechen, denn hier bildet das Schwurgericht 
das einzige Mittel der Diagnose: ob eine Handlung im ge- 
gebenen Moment für das öffentliche Bewufstsein noch ein Ver 
brechen bedeutet oder nicht. 

In Frankreich dagegen, wo alles Lächerliche wirkt, wie 
ein tödtKches Gift, wäre es vielleicht angebracht, diese Ver- 
brecher, soweit sie epileptisch oder hysterisch sind, in die 
Irrenanstalten zu überweisen, denn — Märtyrer werden verehrt 
und angebetet, über Narren dagegen lacht man, und ein 
lächerlicher Mensch ist niemals gefährlich. 

Internationale Mafsregeln dagegen sind unnütz, denn dies€f 



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— 124 — 

Individuen haben kein Centrum, von dem aus ihre Ansehläge 
zu fürchten wären ; die schlaue Polizei glaubt alle Augenblick 
ein solches Centrum aufgedeckt zu haben, das sich jedoch in 
nichts auflöst, sobald man sich ihm nähert, und das ist sehr 
natürlich, denn das Grundprinzip des Anarchismus besteht ja 
in einer starken XJebertreibung des Individualismus und in der 
Leugnung jeder Abhängigkeit. 

Andererseits giebt es Länder, welche infolge der Milde 
ihrer Gesetze weniger unter dem Anarchismus zu leiden 
haben, oder in denen er nicht Wurzel gefaist hat, weil sie zu 
gut regiert sind; diese Staaten werden sich aber auch nie zu 
drakonischen Gesetzen entschliefsen, weil sie wissen, dafs sie 
sich dadurch herabwürdigen, und dals sie zugleich damit die 
Gefahr heraufbeschwören würden, der sie entgehen wollen. 

Indessen könnten alle Staaten bestimmte gemeinsame, 
nicht gewaltsame Mafsregeln adoptiren, so das Photographiren 
aller Anhänger der Anarchie, deren man habhaft werden kann, 
die internationale Verpflichtung, die Ortsveränderungen gemein- 
gefidirlicher Personen anzuzeigen, die Einschlieisung aller 
epileptischen Monomanen und der von anarchistischen Ideen 
angesteckten Mattoiden in Irrenhäuser, — übrigens eine wich- 
tigere Mafsregel, als man auf den ersten Blick glauben sollte, 
— die dauernde Detention der gefilhrlichsten Individuen sofort 
nach Begehung eines ernsten gemeinen Verbrechens, wenn 
irgend möglich ihre Deportation nach einer der Inseln 
Oceaniens; femer wäre es angebracht, Flugschriften zu 
vertheilen in Tausenden von Exemplaren, die in möglichst 
populärer, anekdotenhafter Form die Verschrobenheit einzelner 
Anarchistenführer darstellen, und schlieMich müfste der Be- 
völkerung freie Hand gelassen werden, gegen die Thaten der 
Anarchisten selbständig zu reagiren, selbst mit Gewaltmitteln: 
auf diese Weise würde man eine populäre antianarchistische 



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— 125 — 

Tradition schaffen, und zwar gerade in jenem Milieu, auf das 
es die Anarchisten besonders abgesehen haben. 

Indessen sind dies alles Mafsregeln, die der Mediziner als 
^Palliativraittel** bezeichnen würde, ganz abgesehen von manchen 
absurden Vorschlägen, welche an das Sprüchwort erinnern: 
Videbis, quam parva sapientia regitur mundus. 

„Und was soll man,'' so fragt Fbrrbro, „von den neuesten 
Prefsgesetzen sagen, die, neben anderen Unverständigkeiten 
Anarchisten und Sozialisten urtheilslos verwechseln ? Dabei be- 
sitzen die ersteren gar keine organisirte Presse, und wenn sie 
sie hätten, würden sie keinen Nutzen daraus zu ziehen ver- 
stehen, so dafs man mit diesen Gesetzen gerade die Feinde 
derer getroffen hat, die man hat treffen wollen. 

Jeder, der die anarchistische Bewegung etwas näher be- 
obachtet hat, weifs ganz genau, dafs die Centren der litte- 
rarischen Propaganda des Anarchismus au&erhalb Italiens liegen, 
dafs fast alle Journale und Flugschriften der anarchistischen 
Propaganda aus dem Auslande kommen, so dafs sich die An- 
archisten Italiens — vorläufig wenigstens — von diesen Ge- 
setzen nicht allzusehr beunruhigt fühlen. 

Aber das Gesetz wäre ganz ebenso nutzlos, wenn die 
Anarchisten wirklich eine mächtige Presse in Italien besäfsen. 
Die Presse dient nämlich bis zu einem gewissen Grade als 
Ableitungsmittel, als Blitzableiter, — je mehr die Anarchisten 
schreiben und drucken können, desto weniger werden sie 
handeln, desto weniger werden ihre politischen Leidenschaften 
in sensationellen Attentaten einen Ausweg suchen. Ein 
Beweis hierfür ist folgende Aeufserung Caserios in einem 
Briefe an seinen Freund: „Was die Propaganda betrifft, so 
wird hier viel dafür gethan, aber nur durch die That, denn 
die liberale republikanische Regierung Frankreichs hat alle 
anarchistischen Journale verboten und die Korrespondenz, 



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— 126 — 

sowie alle Geldmittel der Partei mit Beschlag belegt." Die 
JonrDalistik hat im übrigen auch auf unser ganzes politischea 
Leben mäüsigend und mildernd eingewirkt, sodaCs heute 
wüthende Zeitungsartikel an Stelle der thätlichen Reibereien 
zwischen gegnerischen Parteien getreten sind; und viel- 
leicht würden heute auch innerhalb der konservativen Parteien 
viele ihrer Mitglieder zu Gewaltmitteln greifen, wenn sie nicht 
ihrem Zorn gegen die feindliche Partei mit der Feder Ausdruck 
geben dürften. Warum sollte für die anarchistische Partei 
nicht dasselbe gelten? Es ist als ein wahres Unglück zu be- 
trachten, dais die Anarchisten noch nicht die litterarischen und 
journalistischen Gewohnheiten anderer politischen Parteien an- 
genommen haben: wenn sie z. B. in Livorno eine regelmäMg 
erscheinende Zeitung besäfsen und gewohnt wären, dafür zu 
schreiben, so hätten sie sich vielleicht mit einer beleidigenden 
Polemik begnügt, statt den Journalisten der ihnen feindlichen 
Partei zu erdolchen. 

„Aber," wird man mir entgegnen, „die anarchistische 
Presse mufs deshalb mit Energie unterdrückt werden, weil sie 
es ist, welche den gefährlichen Ansteckungsstoff anarchistischer 
Ideen und Theorien verbreitet." Nun ist es aber sehr naiv, zu 
glauben, dafs solche Ma&regeln gegen die Presse leicht durch- 
führbar, ja überhaupt nur möglich sind: die Presse ist heute 
der Proteus des modernen Lebens; sie ist ein so subtiles, be- 
wegliches und zugleich so mächtiges Instrument geworden, dais 
es für eine Regierung, wenn sie nicht eine so unbeschränkte 
Gewalt der Ausübung besitzt, wie die russische, fast ebenso 
unmöglich ist, das Leben der Presse zu regeln, wie den Wind 
in Ketten zu legen. Und selbst angenommen, dafs es 
gelänge, die ganze anarchistische Presse zu unterdrücken^ so 
würde darum die Propaganda des Anarchismus nicht aufhören, 
denn, wie bei allen Parteien, die sich vorzugsweise an ein 



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— 127 — 

unwissendes Pnbliknm wenden, wird auch bei der anarchistischen 
viel mehr mündlich als durch Mittel der Presse Propaganda 
getrieben. 

„Gewalt ist immer etwas Unmoralisches, auch wenn siö 
ihrerseits Unterdrückung der Gewalt zum Ziele hat." Civili- 
sation und eine bessere Organisation der Gesellschaft, das 
werden die Mittel sein, mit denen man einst der Gewalt Herr 
werden wird, ohne seinerseits Gewalt anzuwenden. Ein vages 
Bild von dieser zukünftigen Ordnung der Dinge können wir 
uns machen, wenn wir die heutigen Zustände in England ins 
Auge fassen. Dort hat die Regierung dem Volke schon oft 
das Beispiel des Vertrauens auf die Macht der Moral gegeben, 
dort ist sie sich ihrer Pflicht bewufst, die brutalen Instinkte, 
die auf dem Grunde des menschlichen Geistes schlummern, 
nicht zu wecken, indem sie zu Gewaltmitteln greift, um vor- 
übergehende Unruhen in den Massen zu bekämpfen. 

Welch ein Glück wäre es, wenn dieses in England all- 
gemein übliche milde System in ganz Europa auf die chroni- 
schen Uebel der Gesellschaft, wie z. B. den Anarchismus, An- 
wendung fände I 

Man hat oft von religiösem Gefühl und religiöser Er- 
ziehung als einem Mittel gegen anarchistische Ausschreitungen 
gesprochen, und, welcher Ansicht auch die Freidenker hierüber 
sein mögen, wenn es sich hier in der That um wirksame Heil- 
mittel handelte;, so hätte der Staat die Pflicht, auf sie zurück- 
zugreifen und sich ihrer zu bedienen; indessen haben wir es 
hier leider, wie die Geschichte lehrt, mit stumpfen Waflfen zu 
thun, denn von jeher haben despotische Regierungen mit Vor- 
liebe Büttel und Priester neben sich stehen gehabt, und 
weder der eine, noch der andere hat sie vom Untergange 
retten können. Die Sache liegt nämlich so, dafs die eigent- 
liche Hauptsache, das religiöse Gefühl, sich nicht wie eine 



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— 128 — 

XJnifonn oder eine Steuer einfülireii läfst, und, wenn man 
versucht, es gewaltsam zu produciren, seinen Zweck verfehlt; 
wenn das religiöse Gefühl auf Wahrheit und auf allgemeinen 
Ueberzeugungen gegründet ist, dann läfst es sich nicht aus 
dem Herzen der Menschen vertreiben und kehrt, so zu sagen, 
wenn man es zur Thür hinausjagt, durch das Fenster zurück; 
wenn es aber keine sichere Basis hat, wenn jeder wissenschaft- 
liche Fortschritt es in seinen Grundfesten erschüttert — ja 
dann ist es selber äulserst hülfsbedürftig und nicht geeignet, 
eine mächtige Stütze für andere Zwecke abzugeben. 

Aufserdem ist das religiöse Gefühl innerhalb der leitenden 
Klassen, wie wir aus ihrem eigenen Geständnifs wissen, feist 
erloschen, und eine Anschauung, die hier keinen Boden mehr 
hat, kann sich nicht in weiteren Schichten verbreiten; es ist 
wahr, dafe die gebildeten Klassen sagen: wir wollen im Volke 
Propaganda für die Religion machen, wenn wir selbst auch 
nicht mehr theil daran haben können, aber, abgesehen davon, 
dals wir nicht mehr in den Zeiten der eleusischen Mysterien 
leben, wo die ungeheuren Unterschiede zwischen den einzelnen 
Klassen eine solche Trennung ermöglichten, ist es un- 
möglich, erfolgreich Propaganda für etwas zu machen, wovon 
man selbst nicht durchdrungen ist, und andererseits ist man 
im Volke nicht besonders geneigt, etwas zu glauben, was, wie 
man weife, die höheren Klassen abgestreift haben. 

Das heilige Feuer der Begeisterung, dem Amerika, Italien 
und die Niederlande ihre Freiheit verdanken, war nicht ein 
nur innerhalb der Volksmassen verbreiteter Enthusiasmus, 
sondern eine Strömung, die durch das ganze Volk ging, bis 
hinauf in die höchsten Schichten. 

Man versuche nur einmal, mit allen der Regierung zu 
Gebote stehenden Mitteln, einen Kreuzzug predigen zu wollen, 
nicht einmal die Geistlichkeit würde man auf seiner Seite haben. 



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— 129 - 

Wenn wir hier auf die Schrecken der Pariser Kommune 
und die Ereignisse von Alcolea hinweisen wollten, üher denen 
in der That das Banner der Irreligiosität und des Atheismus 
schwebte, so würde das nicht viel mehr beweisen, als wollte 
man zur Diskreditirung der Brclig-ion an die Hinschlachtungen 
der Albigenser und der Hugenotten erinnern, bei denen die 
Religion nur den Deckmantel für politische Zwecke einerseits 
und brutale Instinkte andererseits abgab. 

Diese entsetzlichen, blutigen, im Namen des Atheismus 
verübten Ausschreitungen fanden in einem Lande statt, wo 
bald darauf die frommen Pilgerfahrten wieder aufgenommen 
würden, wo Bischöfe im Unterrichsrath sitzen, und in jenem 
anderen Lande, das für seinen Papst und seinen König von 
Gottes Gnaden blutige Kämpfe ausgefochten hat. Dagegen 
finden sich keine Spuren davon bei den Völkern, welche uns 
Darwin und Kant, Spinoza und Bentham gegeben haben, in 
den Ländern, wo ütilitarismus und Positivismus nicht nur ein 
schwaches, fernes Echo gefunden haben, nicht mehr geahnt, 
als verstanden, und mehr aus Mode und aus Trotz gegen die 
herrschenden Klassen, als aus wirklicher Ueberzeugung pro- 
klamirt werden, sondern wo sie in die Massen gedrungen sind 
und solide Resultate erzielt haben, wie die Konsumvereine^ 
das Genossenschaftswesen, die Fröbelschen Kindergärten, die 
Asyle für irre Verbrecher, die absolute Verweltlichung des 
Unterrichts und vor allem jene durchgehende Toleranz gegen- 
über allen Arten von Anschauungen, die man in einem Milieu, 
wo konfuse, einseitige Anschauungen herrschen, niemals findet. 

Mag man das religiöse Gefühl zu heben und zu stärken 
suchen, soviel man irgend will, man soll sich nur nicht 
schmeicheln, dals dasselbe gegenüber dem Lichte der modernen 
Aera besonders wirksam sein wird. Es hat sich weder nach 
den schrecklichen Kämpfen des Konzils von ^Trient, noch 

LOMBBOSO, Die Anarehisten. 9 



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— 130 — 

nach der berühmten Heiligen Allianz von Thron und Altar 
irgendwie wirksam erwiesen. Wie kann man da heute die 
Wiederbelebung dieses Gefühles erwarten, wo die Enkel 
Voltaires Zeitgenossen Darwins geworden sind. 

Dürfen wir hoflfen, in den Werken des heiligen Fran- 
ziskus ein Heilmittel zu finden gegen die sozialen Nothstände 
und die Unzufriedenheit, die sich, durch einen heftigen 
Fanatismus genährt, täglich mehr fühlbar macht? 

Was würden überdies Diejenigen, welche den Anarchismus 
im Namen Christi bekämpfen, wohl sagen, wenn man sie mit 
den eigenen Worten des Erlösers, der ja selbst die Gereohtig- 
auf Erden geleugnet und die Bande der Familie verachtet hat, 
widerlegte, oder wenn man ihnen die Worte eines anderen 
grofsen Denkers der Kirche entgegenhielte, die des 
heiligen Thomas, nach dessen Ansicht die Religion das einzige 
Recht bildet, und der drei Fälle nennt, in denen die Gesetze 
als ungerecht erklärt werden müssen, erstens, wenn 
sie dem allgemeinen Wohl widersprechen, zweitens, wenn der 
Gesetzgeber in ihnen die Grenzen seiner Macht überschritten 
hat, und drittens, wenn sie in der Vertheilung der Güter un- 
gerecht verfahren. Derselbe Mann geht sogar so weit, den 
Aufstand gegen eine Macht, die nicht im Sinne des öffent- 
lichen Wohles handelt, für gerechtfertigt zu erklären und den 
Armen einen Anspruch auf den üeberflufs der Reichen zu- 
zusprechen. Ein anderer Kirchenvater leugnet in seiner EffiiJc 
das Recht des Grundbesitzes und spricht von einem Recht des 
Raubes im Falle der Bedürftigkeit, — das stark an anarchi- 
stischer Plünderung erinnert.^ 

Auch die Jesuiten, die immer die markirtesten Vertreter 
des Misoneismus waren, die Jesuiten, die heute den Hypnotismus 



* Siehe Zablet, Le crime social 1892. 



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-^ 131 — 

für Teufelswerk erklären und Garibaldi für eine Höllenausgeburt, 
die das göttliche Recht der Könige unterstützen, heute, wo 
die Könige selbst nicht mehr daran glauben, — sie ver- 
wandelten sich, wenn einmal die Fürsten ihnen in ihrer 
misoneistischen Leidenschaft nicht folgten, zu Königsmördern. 
So wurden in England 1581 drei Jesuiten wegen Verschwörung 
gegen das Leben der Elisabeth hingerichtet und später zwei 
wegen des Schiefspul verkomplotts von 1605. Dasselbe geschah 
in Holland wegen Verschwörungen gegen Moritz von Nassau 
1598, später in Portugal nach dem Mordversuch auf König 
Joseph, wobei drei gehängt wurden und 1766 in Spanien wegen 
Verschwörung gegen Ferdinand IV. Gleichzeitig wurden in 
Paris zwei Jesuiten gehängt als Mitschuldige bei dem Attentat 
gegen Ludwig XV. 

Wo sie nicht aktiven Antheil an politischen Vergehen 
nahmen, beförderten sie dieselben indirekt durch eine ganze,' 
den Königsmord empfehlende Litteratur; in ihren Büchern 
beliebten sie sich des Ausdrucks tyrannicidium zu bedienen. In 
seinem Buche 2)6 Bege etBegis Constitutione lobt Mariana zuerst 
Clement und vertheidigt den Königsmord, ^ und zwar obgleich 
das Konzil von Konstanz die Behauptung von der Berechtigung 
des Tyrannenmordes verworfen hatte. Marianas Werk wurde 



^ In sonderbarer Weise äufsert sich Mabiana über die beste Art, 
einen König umzubringen. „Man streitet, ob es sich mehr ziemt, Gift 
oder Dolch zu verwenden. Der Zusatz von Gift zu den Speisen empfiehlt 
sich besonders, da man seinen Zweck dabei erreicht, ohne sein Leben 
zu riskiren. Aber diese Todesart wäre ein Selbstmord, und es ist un- 
erlaubt, Mitschuldiger eines Selbstmordes zu sein. Glücklicherweise 
kann man sich des Giftes noch auf andere Weise bedienen, indem 
man Möbel, Kleider und Betten vergiftet; es giebt ein Mittel, welches 
man nach dem Beispiel der maurischen Herrscher ins Werk setzen muis, 
die unter dem Anschein, ihre Eivalen durch Geschenke zu ehren, ihnen 
mit einer unsichtbaren Substanz imprägnirte Kleider schicken, deren 
blofse Berührung tödtet." (Vergl J7 diritto della Bivoluzione von G. Oimbali, 
Antologia giuridica. 1886—87—88.) 



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— 132 — 

später gebilligt von Di Sala {Tractatus de legibus), von Grbtzbr 
{Opera omnia), von Bbcano {Opmcula iheologica, Summa theo- 
logiae scholasticae). 

Auch Andere hatten ähnliche Ideen geäufsert wie der 
Pater Emanüel Sa (Aphorismi confessariorumjy Grbgor von 
Valbncia (Comment Theolog,), Kbllbr (TyrannicidiumJ und 
SüARBZ (Befensio fidei Cath.), während Azor (Institut, moral), 
Lorin (Comm. in librum psalmorum), Comitolo (Eesponsa 
moralia) jedem Privaten das Recht zusprachen, zur eigenen 
Vertheidigung den Herrscher zu tödten. 

Ich sage alles das ohne Beziehung auf die gegenwärtige 
Organisation der katholischen Kirche, deren konzentrirte 
Macht in Italien bei der Zersetzung aller übrigen Parteien 
jeden Augenblick ausschlaggebend werden kann ; eine dauernde 
Bedeutung kann ich freilich dieser Macht nicht zuschreiben, 
da die Entwickelung der Dinge durch die Priester ebensowenig 
aufgehalten werden kann, wie durch Polizisten oder Soldaten. 

Im übrigen ist in der Kirche die Disziplin heute so viel 
stärker als der Fanatismus, dafe sie selbst eins der ernstesten 
Hindemisse gegen jeden religiös gefärbten Fanatismus bildet. 
Wir müssen zu anderen, durchgreifenderen Malsregeln unsere 
Zuflucht nehmen. 

Das einzige Mittel gegen die anarchistischen Verbrecher, 
die durch Gelegenheit oder Infektion, Elend oder Leidenschaft 
zur That getrieben worden sind, ist eine Heilung der chro- 
nischen, sozialen Uebel, welche die eigentliche Basis für den 
Anarchismus bilden, und zwar mufs man, wie der Arzt sagen 
würde, die allgemeine Dyskrasie an der Wurzel angreifen, um 
das lokale Uebel zu heben, und ohne Verzug einschreiten. 

Vor allem muls die Grundlage unserer Erziehung fürs 
Leben eine andere werden, denn heutzutage führt uns die 
Bewunderung der Schönheit einerseits und der Gewalt ohne 
praktischen Zweck andererseits direkten Weges zu Auflehnung 



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— 133 — 

und Rebellion, wodurch eine ungezählte Schar von Deklassirten 
geschaffen und die Gewalt zum Ideal erhoben wird. 

Ich habe dies ausführlich in meinem Buch über das 
politische Verbrechen nachgewiesen, und zwar an den Helden 
von 1789, die nichts anderes waren, als schwächliche Nach- 
ahmungen der Heldengestalten Plutarchs. 

Wenn man Handfertigkeitsübungen und das Studium der 
Naturwissenschaften und lebenden Sprachen an Stelle der prä- 
tentiösen und leeren klassischen Erziehung setzte, so würde 
man damit mehr gegen die Anarchie erreichen, als mit allen 
Repressivgesetzen, die man nur vertheidigen kann, wenn man 
die Geschichte nicht kennt. 

Die andere dringende Mafsregel ist ökonomischer Natur. 
Es giebt jetzt, wie ich oben nachgewiesen habe, einen wirth- 
schaftlichen, wie es früher religiösen und patriotischen Fanatismus 
gegeben hat, und es ist nothwendig und gerecht, diesem Fana- 
tismus in Gestalt von ökonomischen Reformen ein ähnliches 
Sicherheitsventil zu geben, wie dem politischen in Gestalt des 
Parlamentarismus und der Konstitution, dem religiösen in Form 
von Freiheit des Kultus etc. Die radikalsten Heilmittel werden 
immer die sein, welche die übertriebene Anhäufung von 
Besitz, Macht und Reichthum verhindern, und die andererseits 
den Intelligenten und Arbeitsfähigen das Fortkommen sichern. 

In Frankreich selbst hat die Revolution von 1789 nur 
die groCsen Feudalherren durch grofse Kapitalisten ersetzt» 
und während damals ein Viertel des Bodens den Bauern ge- 
hörte, besitzen sie jetzt nur ein Achtel davon. 

In den Vereinigten Staaten besitzen 91 % der Einwohner 
nur 20 Vo der Reichthümer des Landes, während sich die 
anderen 80 % in den Händen der übrigen 9 7o befinden, 
so daCs also 4047 Familien ungefähr 36 Mal so viel besitzen, 
wie die übrigen 11 587 887 Familien zusammen. 

Und in dieser Richtung ist der Sozialismus, in dem kurz- 



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— 134 — 

sichtige Politiker oft genug den treuen Verbündeten des An- 
archismns sehen, gerade dessen heftigster Gegner. 

^Niemand, ^ sagt einer unserer gemälsigtsten Sozialisten, 
^selbst nicht die eingefleischtesten Konservativen, haben so 
energisch wie die Sozialisten Front gemacht gegen die absurde, 
wilde Theorie vom politischen Morde als einem ökonomischen 
Vergeltungsakt. Die Jesuiten haben Judith und Joel ver- 
herrlicht und Kavaillac und den Henkern der mörderischen 
Inquisition die Waflfe in die Hand gedrückt; der dritte Stand 
läfst in seinen Schulen das Lob von Timoleon und Brutus 
singen und pensionirt die Familien von Agesilao Milano und 
Feiice Orsini. Die Sozialisten dagegen, Anhänger einer auf 
das positive Studium der Geschichte und der Gesellschaft ge- 
gründeten Moral, hören nie auf, dem Volke zu predigen, dafe 
die besitzenden Klassen ihm nicht mit Absicht Leid zufügen, 
sondern dafs sein Elend eine unvermeidliche Konsequenz des 
heutigen ökonomischen Systems bildet, dafs das Einzige, was 
ihnen helfen kann, eine durchgreifende Aenderung dieses Systems 
ist, welches augenblicklich noch von ihnen selbst, direkt oder 
indirekt, gebildet und gestützt wird; dafs man durch Bomben 
und Dolchstiche nur einzelne Personen aus dem Wege räumt, 
während die sozialen Institutionen dieselben bleiben, und dafs 
eine Veränderung des alten, abgebrauchten Systems lediglich 
erreicht werden kann durch die unermüdliche Thatkraft, die 
neu entstandenen Bestrebungen der Arbeiter selbst, die sich 
zusammenthun und organisiren und schliefslich, wie es schon 
der dritte Stand einmal gethan hat, zur Eroberung ihrer Rechte 
schreiten und eine mit ihren Interessen in Einklang stehende 
nei;e Gesellschaft gründen müssen.".^ Das Verschwinden des 
Anarchismus in Deutschland, Oesterreich und England infolge 



^ La Giustizia. 1. JuU 1894. 



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— 135 — 

der starken Ausbreitung des Sozialismus in diesen Ländern, 
femer die Thatsachen, dafs die Anarchisten Andrea Costa in 
effigie aufgehängt und Prampolini, den Urheber der neuen 
sozialistischen Bewegung in Italien, zu erdolchen versucht haben, 
und schlieislich die Angriffe der ganzen anarchistischen Presse 
Europas gegen die Sozialisten beweisen zur Q-enüge, welche 
Kluft diese beiden Lager voneinander trennt. 

Der Sozialismus bekämpft den Anarchismus gerade inner- 
halb jener Klassen, die am meisten dazu neigen, sich von 
ihm verführen zu lassen, und zwar widerlegt er sie mit 
wissenschaftlich begründeten Schlüssen,^ er weist nach, daJs jede 
neue politische oder wirthschaftliche Gesellschaftsform langsam 
und allmählich vorbereitet sein will, und dals nur durch lang- 
same Veränderungen in dem kapitalistischen System die 
Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen gehoben werden 
können, indem man die allzugrofse Konzentration des Besitzes 
verhindert, an der die alte Nationalökonomie, die, nur von 
den besitzenden Klassen gemacht, nur an diese dachte und 
alle übrigen ignorirte, mit so zähem Egoismus festhält. 

Vor allen Dingen aber muJs praktischer und nicht, wie 
bei uns in Italien, eine Art buddhistischer Sozialismus ge- 
trieben werden; die Sozialisten dürfen nicht vergessen, daCs 
ihre Partei aus lauter Exklusivität in Gefahr geräth, sich ganz 
aufzulösen, und dafs ihre gute Sache es entschuldigt, wenn 
sie um des Erfolges wülen, der schliefslich in der Politik 
alles bedeutet, sich mit anderen Parteien verbünden, wenn 
auch nur zur Erlangung bestimmter Ziele, wie z. B. der Ab- 
schaffung des Krieges, Einführung des achtstündigen Arbeits- 
tages und Aenderung des Agrarrechts. 

Ebenso, wie wir es schliefslich zur Abschaffung der Ma- 
jorate gebracht haben, was in der gleichmäfsigen Vertheilung des 

^ Das pol Verbr. u, d. Bevol. Lombroso u. Lasohi. Erster Theii. 



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— 136 — 

Besitze» einen grofsen Schritt yorwärts bedeutet und noch bis 
vor kurzem als ein Ding der Unmöglichkeit erschien, so glaube 
ich, könnte man ohne ernstere Störungen noch weiter in 
dieser Theilung gehen, und zwar durch progressive Einkommen- 
steuern und durch ein Gesetz, nach welchem Erbschaften von 
mehr als einer Million auf die besitzlosen Klassen übergehen 
müJBten; und wenn durch die greisen Latifundien, wie wir 
sie in Sicilien und der römischen Campagna besitzen, weiterhin 
Reichthümer in den Händen einiger Weniger aufgehäuft und 
ganze Bevölkerungen elend und krank gemacht werden, dann 
sehe ich nicht ein, weshalb eine Mafsregel nicht angebracht sein 
sollte, die, sobald es sich um eine unnöthige Festung handelt. 
Niemandem ungerecht oder gewaltsam erscheint: nämlich die 
zwangsweise Expropriation von selten des Staates oder der 
Kommunen zu Gunsten der Unbemittelten; jedenfalls würde 
uns diese Maisregel besser als eine ganze Armee vor dem 
schrecklichsten aller Kriege, dem Bürgerkriege, schützen. Die- 
selbe Idee ist auch bereits manchem hervorragenden, nichts 
weniger als revolutionären, vielmehr ultrakonservativen Politiker 
gekommen, wie z. B. Jacini, der in dieser Maisregel das einzige 
erfolgreiche Mittel gegen die Pellagra sah; warum sollte sich 
nicht dasselbe für die Schwefelbergwerke in Sicilien und die 
Marmorbrüche in Carrara einführen lassen? Und wenn der 
Mangel an Steinkohle eines der Haupthindemisse für die Aus- 
breitung bestimmter Industriezweige in Italien bildet, warum 
verwendet man nicht wenigstens einen Theil jener Summen, 
die jetzt thörichterweise für militärische und Kolonialzwecke 
ausgegeben werden, zur elektrischen Uebertragung der Wasser- 
kräfte, die bei uns im Ueberflufs vorhanden sind? ^ 

Crispis Gesetzesvorschlag für die sicilianischen Latifundien 
könnte wenigstens als Versuch in dieser Richtung gelten, als 
ein Beweis des guten Willens, jene Besitzrechte, die für un- 



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— 137 — 

verletzlicli gelten, zu yerändem; aber leider hat die Kammer, 
die fast einstimmig die gewaltsamsten BepressivvorscUäge an- 
genommen hat, nicht einmal Zeit gefanden, diese Projekte zu 
diskutiren, geschweige sie zn genehmigen. Orispis Vorschlag 
war freilich nnr ein Versuch, denn die Erfahrung lehrt, dafs 
der kleine Grundbesitz jetzt von dem gro&en aufgesaugt wird, 
und diesem Schicksal werden die neugeschaffenen Besitzer 
wohl auch bald verfallen, wie ihre Vorgänger, denen vor ein 
paar Jahrzehnten Parzellen der Güter der todten Hand zu- 
gewiesen waren. Man müfste ebenso verrannt sein, wie die 
Anarchisten, wenn man absolut eine Rückkehr zu den primi- 
tivsten Formen des Eigenthums verlangen wollte; gegen die 
Absorbirung des kleinen Grundbesitzes giebt es nur das flülfs- 
mittel einer kräftigen Kooperativ-Organisation der kleinen Be- 
sitzer; deshalb ist die thörichteste Politik die, alle Regungen, 
die auf KoUektiveigenthum hinzielen, mit Feuer und Schwert 
zu unterdrücken. Gewifs hat die Regierung die Pflicht, dafür 
zu sorgen, dafs diese Bestrebungen nicht das wirthschaftliche 
Gebiet verlassen; will die Regierung eine langsame Entwickelung 
zum Besseren, so sollte sie vor allem die ländlichen Pacht- 
und Arbeitsverteäge und die Versuche zur Einführung dcis be- 
trügerischen Trucksystems streng überwachen. Die Sitte der 
GroJsgrundbesitzer in der Lombardei, ihre Arbeiter mit 
giftigem Mais zu bezahlen, sollte mindestens so energisch be- 
kämpft werden, wie der Anarchismus, denn in diesem Falle 
haben die Verbrecher nicht die Entschuldigung, geistes- oder 
nervenkrank zu sein oder für ein soziales System zu 
schwärmen. Ferner ist die Erhaltung aller Reste des 
KoUektiveigenthums an Grund und Boden der Gemeinde 
möglichst zu konserviren. 

Englimd scheint das einzige Jja,nd Europas zu sein, in 
dem die Regierung dem Sozialismus die Lösung der brennendsten 



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— 138 — 

wirthschaftlichen Fragen vorwegnimmt; ich erinnere an das 
Verhalten in der irischen Agrarfrage, an die Beilegung der 
Gmbenarbeitemnruhen, an die völlige Koalitionsfreiheit der 
Arbeiter, an die Gewerbegerichte mit ihrem gleichen Votum 
für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, an die freiwillige Einführung 
des Achtstundentages in den Staatswerkstätten, an die Beform- 
bestrebungen der County Councils und an die wichtigen re- 
formatorischen Pläne, wie sie neben dem leitenden Minister, 
Lord flosebery, auch von Chamberlain u. a. gehegt werden. 
Für die aus dem Klima und der Geschichte entsprungenen 
Uebel, unter denen Italien leidet, giebt es kein unmittelbares 
Heilmittel. In politischer Beziehung wäre eine Verringerung 
der Macht und der Immunität der Abgeordneten dringend er- 
forderlich; heute haben diese siebenhundert Könige fast alle 
Privilegien der früheren Gewalthaber, auch das der Straflosigkeit 
für gemeine Verbrechen. Kein Wunder, dafs die Anarchisten 
anfangen, ihre Angriffe gegen Abgeordnete zu richten. Ich 
habe schon früher darauf hingewiesen, dals gegen diese Uebel 
sich die Einführung des Tribunats empfehlen würde, und 
unsere neueste Geschichte hat mir recht gegeben, denn ohne 
das eines Tribunen würdige, unerschrockene Auftreten Cola- 
jannis wäre unser Panamino von allen Parteien vertuscht 
worden. Wenn die Korruption und der ihr folgende An- 
archismus aufgehalten werden soll, so ist eine weitgehende 
Decentralisation nothwendig; das in Frankreich und Italien 
herrschende System der Oentralisirung macht die Ueberwachung 
der Art, in welcher ungeheure Unternehmungen und Summen 
verwaltet werden, illusorisch und verführt dadurch zu Unter- 
schlagung und zu unsauberen Geschäften. Unter der Selbst- 
verwaltung kleinerer kommunaler Bezirke ist die Kontrolle 
von Seiten der Bürgerschaft leicht und die Gelegenheit zu 
korrupten Praktiken gering. 



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DaJfl Italiens Grofsmaclitspolitik und sein übertriebener 
Militarismus gesunde wirthschaftliche und politische Zustände 
unmöglich macht, bedarf keiner weiteren Ausführung. 

Wie die Cholera bei ihrem Auftreten diejenigen Quartiere 
einer Stadt bezeichnet, deren Bevölkerung und Häuser einer 
hygienischen Reform bedürfen, so wüthet die Anarchie in den 
schlechtest regierten Ländern, und deshalb sollte ihr Erscheinen 
auf die Apathie der Massen und der Politiker als Impuls zur 
Besserung der Zustände wirken und auf die Mafsregeln hin- 
weisen, durch welche die als ihre Ursache wirkenden Uebel- 
stände beseitigt werden können. 

Bei uns scheint man freilich das gerade Gegentheil thun 
zu wollen. Die Polizei scheint durch ihre Ausweisungen eine 
Karrikatur der Auslese der Besten geben zu wollen, die 
Sozialpolitik verkündet in der Theorie die Freiheit der Arbeiter- 
koalition, verhindert aber in der Praxis ihre schüchternste An- 
wendung und schützt das ausbeuterische Spekulantenthum 
gegen so legitime Vertheidigungsmittel, wie Arbeitseinstellung 
und Boycott. 

Damit beugt man dem Anarchismus nicht vor, sondern 
man provocirt ihn geradezu; die politische Vergewaltigung 
freierer Regungen hat bisher nicht zu den sonst so zahlreichen 
Fehlem unseres Volkes gehört, aber diese guten Traditionen 
scheinen zu verschwinden. Ich hoffe von Herzen, da(s man 
dem Anarchismus gegenüber nicht zu kindischen und unnützen 
Grausamkeiten greift, die die wirklichen Reformparteien 
schädigen, den Anarchismus selbst aber nur größer und furcht- 
barer machen müssen. 



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Vertheilung der Frequeni der Revili 




liithographie u.Druck der V^erlagsanstalt u.Ditickepoi A.G. vorm. J. F niehtöp, in 

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ihrtiMM in Europa (1791—1880) 




'Uli 

■f o oo S 



1. Rnssland 6 

Deutschland 25 

3. Oesterreich-UDgam .... 18 

4. England und Schotüand . . 23 

5. Polen ........ 10 

6. Skandinavien 12 

7. Frankreich 61 

8. Belgien und Niederlande . . 23 

9. Bo8n., Herzeg., Serb. u. Bulg. 16 

10. Nord-ItaHen 27 

11. Irland 16 

12. Mittel-Italien 24 

13. Südliches undinsuläresltalien 37 

14. Europ. Tflrkei 28 

16. Spanien 99 

16. Portugal 29 

17. Schweiz 24 

18. Griechenland 19 



B«TOl«tlon«n «nf 10 lUllloikeii 
Binwolmer. 



0,8 
5 
5 
7 

12 
13 
16 
20 
25 
27 



46 
56 
58 
80 
96 



18 



61 

112 

66 

33 

71 

166 

82 

100 

112 

100 

100 

27 

33 

61 

69 

30 



Zwischen und 16 

« 16 n 80 

„ 30 „ 46 

« 46 „ 60 

60 „ mehr. 



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in Hömbupg. 



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9nla|0at|latt ni IriAetet JL'd. {mmalfi h I« fltillter) it iawbiri* 

pom Stanöpunfte 5er gcrtdjtitdjen 2Tte6t5m 
Dr. ^t((e$ be (a fontette. 

^utoriftrte bcutfd^c Ucberfc^una. 

Tlit einem SBormort öon ^^rofeffor 3f* 3«. e^atcot. 

®r. 8« (IV. u. 546 ©.). ?5ret5 9 3Rf. gel^., 11 aJlf. eleg. geb. 

aSon SJleßmcr bis SSraib. — SSroib unb 6i|ai^cot. S)ic öerfd^iebenen l^^^noti- 
fd^en Sttftänbe. — S)ic l^^^notifd^ett ©uggefttonen. 

U. ^ie bem ^t^tittotii^tittti^ tieYtoanbtett 3nft&n^^* 
5)er natürtid^c (Somnambulismus. — S)er ^otl^ologifd^e Somnambulismus, foweit 
CS fid^ nid^t um ©^fterie l^anbelt. — ©rfd^einungen ber $^ftcrie. — S)er zweite 
8uftanb. 

in. 92n^en nttb ®efal^Yen beS $)|f notiStttnS. 
Slntoenbung beS §^^notiSmuS ju ßeilätoedfen. — ©efol^ren bcS ^^^notiSmuS. 

IT. ^er $)|tinottStitnS bor bem ®efe^. 
3)er S^^notiSmuS hei SluSfül^rung öon SSerbred^en unb SBergel^cn. — S)ic SluS- 
beutung beS aJlagnetiSmuS. — S)er aJlagnetiSmuS ais ©etoerbc unb baS ©efefe. — 
^a» gerid^tSärjtlid^e ©utod^ten in gätten, »o eS ^iä) um §^^notiSmuS unb öertoanbte 
guftänbe ^onbelt. 

Hrffteil bßr prBlfe. 

Dr. (SilleSbelaXourette, ein @(^ä(er (S^arcotS, ^at in bem unS üorliegenben SBetle bie 



in bem Xitel angebeuteten 3ufl&nbe üom geri(^t8SrstIi(^en @tanb))unfte einer fe^r genauen unb auS* 
ffi^U(^en !Betta(^tun0 unterworfen, unb bie SBerUaSanftalt unb ^ruderet 9l.>(B. (tiormalS 
9. 9- Sltd^ter) in Hamburg tiermittelt un8 biefe Slrbeit in beutfd^er Ueberfe^ung, bie, toie mir ^er 



glei(^ anffigen moDen, bem anontjmen Ueberfe^er boDftftnbig gelungen ift. $rof. (S^arcot giebt in einem 
htrun Sorworte ber Arbeit feine« Sd^üler« eine gemid^tige ttmpfe^Iung mit auf ben SBeg, unb man 
mu| gefielen, bag biefe Qhn^feMung boabere(^tigt ift. tai 8Ber{ bon i&iüei be la Xourette ift eine 



überouft fleißige @tubie, bie mit IBenfi^ung ber gefamten, fel^r umfangreichen Sitteratur über ben frag* 
lid^en ®egenflanb eine erfc^öpfenbe 2)arfteaung ber (£inaell^eiten beS ^^pnotiSmuS liefert. (IBol^ia.) 

SBon Dr. %. ^uUtm. 

SnS ^eutfd^e übertragen 
bon Dr. med. Otto ^otnhl&tf^, 

ameitem Vr^t ber ^obinaial'^rrenanflalt ftreuaburg £).'@(^. 

®r. 8<> (Vm unb 272 @.). ?ßreiS M. 5.— eleg. ge^., M. 6.— eleg. geb. 
3fn biefem »erfe toerben bie interejfonten UebergangSjufldnbe bon ber a?*f^«^" »efunb^eit 
»um arrefein (ßwcifelfud^t, ©elbftmorb, »roubttiftungStriebe, (fccflnber, Duerulanten, W^fflf er, ^l^fterifd^e 
Sflgner u. f. to.) in feffeinber SBeife be^anbelt. SBenn eS bem Sud^e gelingt, in »eitere ftreife au 
bringen, totrb eS mond^en 9ht^en ftiften tonnen. 

(Dr. ^0^. 0. aSufc^monn in 9Keb.=Sf>ii:. Slunbft^au, ÄBien.) 
J>a« red^t gut auSgeflattete ©ud^ fei hiermit auf baS toärmfte empfohlen. 

(a)eutf(i)e 9RebicinaI^3eitung 21. 3. 1891.) 
SWd^t bIo6 ber «rat unb ber ^f^dEiotoge, fonbern ieber (Sebilbete föitfa in btefer Slrbeit beS 
fcanaöflf(|en »eleftrten monfierlel «nregenbeS unb Sele^renbeä finben. (SBofj. Seitung 24. 8. 1891.) 

^8 ganae Werl ift ftußerft aetoanbt gefc^rieben unb birgt bei SSenufeung ber öorj^üglid^ftcn 
Duellen einen 6d^a^ bon «Biffen, ber für «erjte wie für Säten in gteit^em ®tabe öon Sntereffe ift. 

(©c^Ieftfc^e Bettung 27. 6. 1891.) 
(Jtn «bf(^nitt über ba8 Srrefein in ber ©ejc^it^te, Sitteratur unb Äunft oetoollftänbigt bo8 
«Bcrf, ba8, in leid&t berftanblid^er ffieife gefc^rieben, jur Orientirung über biefe Sfcagcn empfol^Ien 
loerben lann. (^rc^it, für ©trafred|t.) 



«on$rof.Dr.e*a»ettber. 

<l5ret8 80 Pfennig. 



^6er hen ^9pttofi$mtt$, 

befonbcrs in pvatti\diet Bestellung. 

$on $rof. Dr. gf. Sil^nl^e. 

^rei8 1 SRorf. 



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9trla|six|liU itk Inuknei %S. (mtmüt h |* jUditer) it ianhiri* 

Soeben ist erschienen: 

Frankreicli an lor ZeMo. 

Von 

« « « 

Über 300 Seiten 8®. 4 Mark. 

Soviel auch schon über das moderne Frankreich erschienen 
sein mag, keine Veröffentlichung enthält so überraschende, von 
den Meisten ungeahnte Thatsachen, wie das hier angezeigte Werk. 
Es sind »Enthüllungen«, nicht geschrieben, um Aufsehen zu erregen, 
sondern von dem in Frankreichs Verhältnisse auf das Genaueste 
eingeweihten Verfasser dem Leser dargeboten, damit dieser selbst 
sich die Schlüsse ziehen, die Katastrophe voraussehen möge, die 
aus den herrschenden Gegensätzen, den tiefgehenden Widersprüchen 
hervorgehen muss und hervorgehen wird. 

Der Inhalt ist kurz folgender: Staatshaupt. — Französische 
Republik. — Ausdehnung Frankreichs. — Frankreich und das Aus- 
land. — Code Napoleon — Bourgeoisie. — Radikale, Sozialisten, 
Anarchisten, Blanquisten. — Wahlen, Wähler, Gewählte. — Orden 
und Ehrenzeichen. — Heer. — Fremdenlegion. — Späher und 
Verräther. — Steuerwesen. — Religiöse und andere Regungen. — 
Pariserthum. — Panama und anderes. — Russland und Frankreich. 
— Napoleon I. und Jeanne d*Arc. — Schluss. — Nachschrift. 



In Vorbereitung befindet sich: 

Der Verbrecher 

Band III. 
Kriminal-Anthropologischer 

Bilder-Atlas. 

50 bis 60 Tafeln in Autotypie, Lithographie und Chromo- 
lithographie mit erläuterndem Text. 
Preis etwa Mk. 12. — . 



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gegen bte Sx>|ialtremükratie. 

2lttti|ro|iolo9if(tie yiattieretett 
^ifo jlmmott. 

— — 112 Letten. S«. $reiiS 1 M. — — 

3)ic (Sd^rift, toeld^c in fteinem Umfanöc große SBal^rl^citcn unb toid^tigc 
öcl^rcn bietet fottte gebet lefen, ber jid^ ouS ber feid^ten ?ß]^rafc ber ®egen- 
noart ju felbftänbiöem fo^ialpolitifc^ett 3)enfen l^eraujSringctt toill. 

(2&gl. siunbfcl^au 92t. 268.) 

©ne öorjüglic^c ©d^rift. @ie beföm^ft bie @ojiaIbemo!ratie auf einem 
Gebiete, ouf welt^ent fid^ hie lefttere öorjuggtoeife mit il^rer SBiffenfd^aftlid^feit 
brüftet, unb weift bie gonje ^ol^Il^eit ber materialiftifd|en Söegrünbung il^rer 
Seigren OUfiS fd^Iagenbfte nad^. (SBürttemBrrg. »ollSieitunfi ^. 238.) 

«Ott 

g. jlttbrefett. 

Stoeite öeränberte unb erweiterte Sluflage. 
@r. 8«. A 3.-. 

3)ie ewigen, nie gelöften unb wol^I nie lösbaren fragen über ®ott, 
©c^idffal, menfd^Iid^e SBittengfreil^eit, S^fatt u. a. im allgemeinen unb über 
©l^riftentl^um unb hit ^^erfon unb ha^ SBer! . ©l^rifti im befonberen fmb eS, 
weld^e ben SSerfaffer befd^äftigt unb jur Darlegung ber t)on il^m gefunbenen 
9lefuttate veranlaßt l^aben. feol^Ibefannt mit bem l^eutigen ©tanb^unft ber 
l^iertjon l^anbelnben SBiffenfd^aften unb öon ber Ueberjeugung burd^brungen, 
baß ber religöfe &iauhe unb hie äBiffenfd^aft fid^ wol^l miteinanber vertragen, 
ni(|t aber fid^ gegenfeitig aui^fd^Iießen, bel^anbelt er in ben brei erften Kapiteln 
bie allgemeinen Sragen, in ben folgenben f^eciett hie 9leIigott nnh bie fojiate 
©ntwidfelung unb f(|tie6t mit einer SBetrad^tung über hen SSerlauf unb bie 
©efejf ber SSöIfergefd^id^te. SBenn wir au6) mand^en ^nfi(^ten, befonberi? 
mehreren SluSIegungen öon ©d^riftworten nid^t beiftimmen fönnen unb uni8 
aud| tomthevn, aus welchem ®runbe ber SSerfaffer eine Äritif beS gol^anniS- 
©öangeftumS öermeibet unb einen Swfammenl^ang beSfelben mit ^l^ilo leugnet, 
fo ift bod^ entfd^teben anperiennen, baß er baS wal^re SBefen ber 9leIigion 
im ©egenfat äum ^lerifaliSmuS unb gormcnbienft, hen wal^ren SBertl^ ber 
©^mbole, bie 3lbweid^ungen ber Äird^en öon bem urf^üngliien SBefen beS 
e^riftent^umS, bie notl^wenbigen ?ßf(i(|ten beS ©l^riften bem ©taate unb hen 
aJlitmenfjlen gegenüber u. a. in eingel^enber unb üarer SBeife barfteüt; öiel 
5U htrj ift bagegen bie barauf folgenbe $oIemif gegen ben ^tl^eiSmuS, ein 
Kapitel, baS entWeber gang eingel^enb unb überjeugenb, ober — gar nid^t ju 
bel^anbeln war. 2)aS ^'a^itel über bie fo^iale (Sntwidfelung t^eranlagt ben SSer* 
fajfer 5U managen ber 2:age§ftrömung nid^t immer entf^red^enben, trojbem aber 
ober öietteid^t gerabe beSl^alb intereffanten unb wal^ren S3emer!ungen, bie ftetS 
pm S^ad^benfen anregen; gerabe bieS lejtere ift ein entfd^iebener SSorjug beS 
in mel^rfad^er S3ejie]^ung em^fel^IenSwertl^en S3udbeS. 

(S)eutf($e «ebue, 3lanuar^eft 1898.) 



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zfidÄJÖooQle