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HARVARD LAW LIBRARY
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WIENER
STAATSWISSENSCHAFTLICHE STUDIEN
HERAUSGEGEBEN
VON
EDMUND BERNATZIK UND EUGEN VON PHILIPPOVICH.
VIERTER BAND.
Wien und Leipzig:.
FRANZ DEUTICKE
1903.
+
9
Die Verlagsbuchhandlung behält sich das Recht der Übersetzung in fremde
Sprachen vor.
>&G b 1930
K. u. k. Hofbuchdrucker Fr. Winiker & Sehickardt, Brunn.
Inhalt.
Seite
Die Frauen im österreichischen Staatsdienst Von Hans
Nawiasky I— VIII. 1—246
Die Entwicklung des gutsherrlich-bäuerlichen Verhält-
nisses in Gralizienbis zu seiner Auflösung (1772 — 1848).
Von Ludwig von Mises I— VI. 247-390
Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in
Österreich. Von Max Adler I— VIII. 391—511
Wiener Staatswissensehaftliche Studien
herausgegeben von
Edmund Bernatzik und Eugen von Philippovich
in Wien.
Vierter Band. Drittes Heft.
K DIE ANFÄNGE
DER
MERKANTILISTISCHEN GEWERBEPOLITIK
IN ÖSTERREICH.
Von
MAX ADLER.
Wien und Leipzig.
FRANZ DEÜTICKE
1903.
Verlags-Nr. 931.
K. u. k. Hofbuctadrncker Fr. Winiker & Schickardt, Brflnn.
Inhal tsüb ersieht.
Seite
Inhaltsübersicht III
Verzeichnis der benützten Handschriften und Druckwerke V
a) Handschriften V
b) Druckwerke VI
I. Einleitung
II . Die soziale und wirtschaftliche Lage des österreichischen
Handwerks am Ende des 17. Jahrhunderts .... 4
1. Die Reste der Handwerkersolidarität 5
2. Gewerbe demente und Gewerbepolitik 13
III. Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbe- und Wirt-
schaftspolitik 32
1. Die Vorbereitung des Merkantilismus durch die öster-
reichischen Staatsökonomen 32
2. Die politische und finanzielle Lage des Staates ... 45
3. Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik ... 51
IV. Der Kampf der Zünfte gegen die neue Gewerbe- und Arbeits-
verfassung 67
1. Die „Störer" 67
2. Fabrik und Verlag 85
V. Der Gesellenstand 93
1. Das Arbeitsverhältnis 94
2. Gesellenverbindungen und Gesellenkämpfe .... 100
VI. Territoriale und Reichs-Gewerbereform 105
Verzeichnis der benützten Handschriften
und Druckwerke.
A. Handschriften.
Aus dem Archiv des Ministeriums des Innern (IV. F. 28, Gewerbe in genere,
N.-Öst. 1522—1749).
Neue Ordnung Kaiser Maximilians II. für die Hof befreiten, 15. Juni 1572.
Verbot der Errichtung von Zünften ohne landesfürstliche Bewilligung,
23. Jänner 1617.
„ Allerun terthänigst-Gehorsambster Vorschlag einer neuen Ge werbt, Handt-
werkhs- und Zunfft-Ordnung, Mittels diser Ordnung eines ergebigen
Gefälls pro aerario Camerali." Anonym, aus dem Anfang des 18. Jahrh.
Aktenstücke zur Affaire Wiest, 1709.
Aktenstücke zur Affaire Neuhold, 1702, 1712, 1726, 1727.
Bericht des kaiserlichen Konkommissarius in Regensburg, Freiherrn
v. Kirchner, 28. April 1722.
Patent vom 20. Juni 1722 „wegen der widerspenstigen Handwerks-pursch
und deren Bestraffung".
Originalbericht der Hofkommission in Handwerkssachen bezüglich der
Besteuerung gewerbetreibender Livräbedienter, 13. März 1726.
Referate der Hofkanzlei vom 23. Juni 1733 und vom 13. August 1736 über
die Beschwerden der Bürger gegen die „Dekreter" und gewerbetreibenden
Livr£bedienten ; Resolutionen hierüber, 15. Mai, 18. September und
4. Oktober 1736.
Referat der Hofkanzlei vom 12. August 1741 über die Zahl der Wiener
Hofbefreiten und Schutz verwandten, speziell der darunter befindlichen
Akatholiken, mit gewerbestatistischen Tabellen aus dem Jahre 1736.
Aus der Hofbibliothek:
Referat Dr. J. J. Bechers über Handel und Gewerbe in den kaiserlichen
Erblanden, 1674 (Nr. 12.467).
Handschriftlicher Vermerk in P. Abraham a Santa Clara's „Mercks Wienn* 4
(1680), 1681.
Aus dem Hofkammerarchiv:
„Instruction und Ordnung für unser Kay. Commercien Collegium, wie
daßselbe hinführo die das(igen) Commercien betrefende materien von
unsertwegen fürnehmen, handien und verrichten solle, 44 1711 (Alt 4743,
Commerz 1749—1769, Nr. 1).
Ausweis über die bei der k. k. Nadel- und Drahtzugfabrik zu Lichtenwörth
bei Wr.-Neustadt befindlichen Personen nebst Angabe ihrer Besoldungen
und Kostgelder, 23. April 1751 (Alt. 4747, Commerz 1749—1756, Nr. */i).
VI Verzeichnis der benützten Handschriften und Druckwerke.
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S. 207 ff.
I. Einleitung.
Die bedeutsame Umwälzung, die der Übergang vom lokalen
zum territorialen, nationalen und internationalen Wirtschafts-
system im europäischen Kulturleben des 16 v 17, und 18. Jahr-
hunderts hervorrief, war aufs engste mit jenen historischen Ver-
änderungen verknüpft, die mit den religiösen Reformbestrebungen
eingesetzt hatten und mit der Umbildung der einzelnen noch
ständisch und körperschaftlich gegliederten Nationen in den
modernen „Staat" endigten. Die mittelalterliche Gesellschafts-
organisation, die ihr Gepräge von dem Widerstreit der Ideen des
Gottes- und Weltkönigtums erhalten hatte, war überall noch von
einem stark sozialen Element durchsetzt gewesen. Der neuzeit-
liche Staat, der unter der Führung eines fürstlichen oder
oligarchischen Absolutismus gegenüber der religiösen Frage das
zeitweilige materielle Interesse in den Vordergrund stellte, war
bestrebt, die alten Genossenschaften und Verbände, welche sich
aus jener Gesellschaftsorganisation noch erhalten hatten, auf-
zulösen und den Einzelnen in ein ausschließliches Abhängigkeits-
verhältnis von der Staatsmacht zu bringen.
Dieser Kampf zwischen der alten körperschaftlichen
Gliederung und der neuen auf geldwirtschaftlicher Grundlage
sich bildenden individualistischen Gesellschaftsverfassung 1 ) war
nun im 17. Jahrhundert, in der Zeit des Colbert 'sehen Frank-
reich, in der Zeit der aufkommenden Handelsbilanz, in der Zeit
jener endlosen Staatskriege, die sich aus dem Zusammentreffen
der politischen und wirtschaftlichen Gegensätze entwickelt hatten,
an einem entscheidenden Wendepunkte angelangt. Es kam nun,
bei der gesteigerten Spannung der interpolitischen Beziehungen 2 ),
*) Vgl. Georg Wiebe, Zur Geschichte der Preisrevolution des
XVI. und XVII. Jahrhunderts, in den „Staats- und sozialwiss. Bei-
trägen", herausgegeben von Miaskowski, Lpz. 1895, 2. Bd., 2. H.,
S. 246.
2 ) G. Schmoller, Studien über die wirtschaftliche Politik
Friedrichs des Großen und Preußens überhaupt von 1680 — 1786, im
„Jahrb. f. Gesetzgebung, Verwaltung u. Volks wirtsch. u , Lpz. 1884, S. 43.
Wiener staatswisa. Stadien. IV. Bd., 3. Heft. 26
2 Einleitung. [392
überall darauf an, bis zu welchem Grade die Staatsmacht im-
stande gewesen war, sich jener Kräfte, die aus dem Boden der
wirtschaftlichen Entwicklung erwachsen waren, zu bemächtigen
und sie zu ihrer eigenen Erstarkung auszunützen. Wo der Staat
diesen Weg gegangen war, dort hatte er alle Autonomie-
bestrebungen in seinem Innern niedergerungen und zumal dem
Kampf der gewerblichen Körperschaften um ihr Selbstbestim-
mungsrecht die Grundlage entzogen, sei es, daß die Zünfte in-
folge des Überwiegens der Handelselemente ihre Existenzberech-
tigung verloren hatten (Holland), sei es, daß die königliche
Zentralmacht durch straffe Reglementierung das gesamte Zunft-
wesen unter staatliche Aufsicht stellte (Frankreich, später auch
Preußen), sei es endlich, daß die Zünfte innerhalb einer eigen-
artigen Staatsverfassung von vornherein keinen ausschließlich
wirtschaftlichen, sondern einen vorwiegend politischen Charakter
trugen (England). Indem diese Staaten das gewerbliche Aufsichts-
recht von den Zünften und Städten übernahmen, unterzogen sie
dasselbe bloß einer Umbildung im Sinne einer geschlossenen staat-
lichenWirtschaftspolitik 1 ) und schufen so, kleine Engherzigkeiten ins
Große übertragend, jenes System des Merkantilismus, das zwar
die wirtschaftlichen Kräfte der Nationen zu reicher Entfaltung
gebracht, zugleich aber die europäischen Völker auf Jahrhunderte
hinaus in kultureller und geistiger Beziehung voneinander
getrennt und den historischen Kampf der mittelalterlichen
Universalideen mit dem individualistischen Materialismus der
Neuzeit zu Gunsten des letzteren entschieden hat.
In Deutschland, dem großen Schlachtfeld der kulturellen
und politischen Kämpfe jener Zeit, war diese Entscheidung durch
die unheilvolle Kulturspaltung verzögert worden. Die beiden
großen Kulturlager, die sich nach den Religionskriegen in
Deutschland gegenüberstanden, hielten sich in politischer
Beziehung das Gleichgewicht und verhinderten gegenseitig das
Aufkommen einer machtvollen Einheitspolitik.
Der Zersplitterung in den Verfassungsverhältnissen ent-
sprachen die ungeklärten und zerrütteten wirtschaftlichen Zu-
l ) Bob. v. M o h 1, Gesch. und Literatur der Staatswissenschaften,
Erlangen 1855/58, 3. Bd., S. 296; G. Schmoller, a. a. 0., S. 22;
K. Bücher, Die Entstehung der Volkswirtschaft, 2. A., Tüb. 1898,
S. 110; Franz Eulenburg, Das Wr. Zunftwesen („Ztschr. f. Sozial-
u. Wirtschaftsgesch.", 2. Bd.), S. 94; R i c h. M a y r, Die wirtschaftliche
Ausdehnung Westeuropas seit den Kreuzzügen (Helmolts Weltgeschichte,
7, Bd., Lpz. u. Wien 1900), S, 104,
393] Einleitung. 3
stände. Längst waren damals jene Tage vorüber, die das deutsche
Städtewesen auf seiner Höhe gesehen hatten. Der mächtige
Hansabund, der fremden Städten und Königen seinen Willen
diktiert hatte — eine Parallelerscheinung zu den weltlichen und
kirchlichen Universalideen des Mittelalters *) — war zerfallen,
als die in seinem Machtbereich gelegenen Territorien politisch
und wirtschaftlich selbständig geworden waren. Die kommer-
ziellen Vorteile, die sich aus der Entdeckung der neuen Handels-
und Verkehrswege ergaben, die großen Silber- und Goldschätze
aus Amerika, dessen Edelmetallproduktion seit der Mitte des
16. Jahrhunderts die europäisch-afrikanische um ein beträchtliches
überholt hatte 2 ), waren hauptsächlich den Ländern Westeuropas
zugeflossen, während Deutschland, obzwar unter den Edelmetall
produzierenden Ländern Europas an erster Stelle stehend, einen
großen Teil seines Geldreichtums im Austausch gegen die fremd-
ländischen Manufaktur waren verlor. Das Reich war aus seiner
Vermittlerrolle im europäischen Handelsverkehr verdrängt worden
und geriet in wirtschaftliche Abhängigkeit von den Weststaaten,
die es als Absatzmarkt ausbeuteten. Dazu kam noch die Schwäche
und Unentschiedenheit der inneren Wirtschaftsverfassung, die,
soweit sie sich innerhalb der alten korporativen Organisations-
formen bewegte, jeglicher wirtschaftlichen Gesamttendenz von
Staat und Reich widerstrebte, zumeist aber, den überhasteten
Reformen der merkantilistischen Staatspraxis ausgesetzt, den
letzten Rest ihres sozialen Inhalts verlor. Seit dem Eindringen
des römischen Rechts und dem Emporkommen des Absolutismus
fuhrt die staatliche Gewalt Schlag auf Schlag gegen die autonome
Verwaltung und Justiz der zünftigen Behörden, ohne daß es
zugleich gelungen wäre, die fallen gelassene Organisationsidee
durch eine gleichwertige neue zu ersetzen. Zum Brennpunkt
aller staatswirtschaftlichen Fragen wurde der Fiskus, dessen
Interesse die Förderung einer schrankenlosen individuellen
Erwerbsfreiheit erheischte, während er die genossenschaftliche
Organisationen durch seine stetig sich mehrenden Ansprüche 3 )
zwang, an ihrer eigenen Zersetzung mitzuarbeiten.
1 ) Edm. Freih. v. Heyking, Zur Gesch. der Handelsbilanz-
theorie, Berlin 1880, I. T., S. 3.
2 ) Wiebe, a. a. 0., Tabelle S. 272 f.
3 ) Vgl. Herrn. Ign. Bidermann, Die technische Bildung im
Kaisertume Osterreich, Wien 1854, S. 7; Mor. Mayer, Gesch. der
preußischen Handwerkerpolitik, • I. Bd., Minden 1884, S. 52 £,
26*
4 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [394
- Das Reich als Ganzes konnte dem wachgewordenen Bedürf-
nisse nach wirtschaftlicher Neuorganisation nur in ganz unzu-
reichendem Maße Genüge leisten. Und wenn auch einzelne
Territorialstaaten, wie Brandenburg — Preußen, Braunschweig —
Hannover *), später auch Osterreich und Sachsen, sich mit Erfolg
bemühten, den Übergang von der lokalen zur landschaftlichen
und territorialen Ordnung der gewerblichen Verhältnisse inner-
halb ihres Gebietes durchzuführen, so stand diese Regelung nicht
nur im Widerspruch mit den bereits weit über das Territorium
hinausreichenden Verkehrs- und Handelsinteressen der einzelnen
Länder 2 ), sie widerstrebte überdies, in ihren letzten wirtschaft-
lichen und politischen Konsequenzen, dem Interesse der deutschen
Reichseinheit. Daher zeigt denn der Entwicklungsgang der
merkantilistischen Praxis im gesamten Reich wie in den einzelnen
Territorien nicht jene durchsichtigen und einfachen Linien, wie
etwa in den Weststaaten, die schon früh zu geschlossener poli-
tischer Einheit gelangt waren. Wie diese Politik in Osterreich
dennoch auf dem Gebiete der gewerblichen Arbeitsverfassung
im weiteren Sinne dieses Wortes durchgedrungen ist, bis sie mit
der Annahme des Reichsschlusses vom 4. September 1731 zur
endgiltigen Beseitigung der Zunftautonomie geführt hat, soll im
Folgenden dargestellt werden.
IL Die soziale und wirtschaftliche Lage
des österreichischen Handwerks am Ende des
17. Jahrhunderts.
•
Von der allgemeinen Mobilisierung aller Besitzwerte, die,
mit der Grundrentenaccumulation beginnend, seit dem Empor-
kommen der städtischen Kultur das ganze europäische Wirt-
schaftsleben in die Bahn der kapitalistischen Betriebs- und Ver-
kehr sweise gelenkt hat, waren die kaiserlichen Erblande nach
der formellen Beendigung der Religionskriege noch wenig berührt
worden. Die Notwendigkeit einer zusammenfassenden inner-
politischen Führung, die in Westeuropa Hand in Hand mit der
*) Gr. S c h m o 1 1 e r, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-,
Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte, Lpz. 1898, S. 382 f.
2 ) G. Schmoller (unter Mitwirkung von W. Stieda), Die Straß-
burger Tucher- und Weberzunft, Straßb. 1879, S. 540.
3951 Die Beste der Handwerkersolidarität. 5
zentralistischen Staatswirtschaft ging, war hier bis an die Wende
des 17. und 18. Jahrhunderts in der Praxis noch fast gar nicht aner-
kannt. Innere und auswärtige Kriegswirren, der relativ bedeu-
tende Einfluß der Stände, die zahlreichen ethnographischen,
kulturellen und staatsrechtlichen Unterschiede innerhalb des
weitausgedehnten Ländergebiets verhinderten lange Zeit die
Ausgestaltung der habsburgischen Hausmacht zu einem einheit-
lich geleiteten Verwaltungs- und Wirtschaftskörper und sicherten
so der bodenständigen und lokalen Handwerksverfassung eine
ungewöhnlich lange Lebensdauer. Bis in die letzten Decennien
des 17. Jahrhundertss ist sich die Regierung der politischen
Bedeutung wirtschaftlicher Fragen kaum bewußt. Erst als durch
den Verlauf und die Ergebnisse des spanischen Erbfolgekrieges
der Blick der österreichischen Staatsmänner auf die interstaat-
lichen Wechselbeziehungen des europäischen Wirtschaftslebens
gerichtet worden war, und vollends, als nach der Zurückdrängung
der osmanischen Herrschaft ein noch unentwickelteres Wirt-
schaftsgebiet im Osten sich eröffnet hatte, wendet sich auch die
Aufmerksamkeit der österreichischen Regierung und Diplomatie
den Fragen einer systematischen äußeren und inneren Wirtschafts-
politik zu. Bis dahin ist Osterreich mehr Objekt als mittätiger
Faktor der neu-europäischen Wirtschaftsbestrebungen. Diese
Passivität trägt aber alle Merkmale der Übergangsperiode an
sich. Die kapitalistische Strömung ist hier zwar nicht so mächtig,
ein Erwerbsleben im neuzeitlichen Sinne des Wortes zu schaffen,
sie reicht aber gerade hin, den traditionellen volksgenossenschaft-
lichen Charakter der Handwerksorganisation nach und nach auch
hier fast spurlos verschwinden zu machen.
1. Die Beste der Handwerkersolidarität.
Es ist ein Kennzeichen müder Epochen, daß sie historische
Folgeerscheinungen, denen ihrerseits wieder nur die Bedeutung
von Trägern und Erregern der Entwicklung zukommt, mitten
im Fluß der Ereignisse als dauernde Einrichtungen stabilisieren,
indem sie sie mit dem Geist ihrer eigenen Erschlaffung und
zähen Langlebigkeit erfüllen. Durch eine solche Erstarrung und
Verdinglichung aller Lebenswerte *) charakterisiert sich Deutsch-
l ) Vgl* "1 ähnlichem Zusammenhange den Gegensatz: „Persön-
lichkeit und Dinglichkeit der Verbände bei Gierke, Das
deutsche Genossenschaftsrecht, I. Bd., Rechtsgeschichte der deutschen
Genossenschaften, 1868, S. 8 ff., sowie die treffende Charakterisierung
6 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [396
land in der Zeit nach dem „30jährigen Kriege". Die landes-
herrliche Macht, die einen jahrzehntelangen Kampf um ihr
spezifisches Regierungs- und Kulturprinzip geführt hatte, hielt
ihre qualifizierte Führung fest und wandelte sich zum fürstlichen
Absolutismus ; zugleich vollzog sich der endgiltige Übergang vom
Lehensadel zum Hof- und Beamtenadel. Die kirchlichen Kulte
waren nach einem entscheidungslosen Ringen um ihre weltlichen
Symbole in einen Zustand des Dogmatismus und Formensinns
geraten. Das ganze öffentliche Leben und die Kunst verrieten
ihre Schwäche durch die oberflächliche Annahme ausländischer
Moden und formeller Äußerlichkeiten. Der soziale Gedanke
endlich, dessen Weiterführung und Entwicklung an der Kultur-
spaltung gescheitert war, geriet nun entweder unter die Vormund-
schaft des fürstlichen Absolutismus, der ihn seiner Industrie- und
Finanzpolitik anzupassen suchte ; oder aber man meinte mit der
jener Zeit ganz besonders eigentümlichen Verwechslung von
Folge und Ursache in der unstreitbar sozialen Form der Zunft
einen sozialen Inhalt gefunden zu haben. Der eine wie der
andere Standpunkt war unhistorisch und konnte nach dem
gänzlichen Verfall des mittelalterlichen Zunftwesens für die Frage
der innern Reorganisation des Handwerks billigerweise nicht in
Betracht kommen.
Der Ursprungscharakter der Zunft war religiös-sozialer
Natur gewesen. Hervorgegangen aus dem einverständlichen
Bestreben, die Reibungsmomente des wirtschaftlichen Lebens zu
verringern, sollte sie jedem einzelnen Handwerker einen gewissen
Grad von Selbständigkeit garantieren, ohne ihn jedoch ein fest-
gesetztes Existenzmaximum überschreiten zu lassen. Zu ihren
nächsten Aufgaben gehörte es, Produktion und Verkauf, Arbeits-
zeit, Arbeitslohn und Arbeitsvertrag zu regeln, die Zahl der
Hilfskräfte zu bestimmen, Rohmaterialien zu beschaffen und zu
verteilen und für die Errichtung der erforderlichen gemeinsamen
Anlagen, wie Walkmühlen, Färbhäuser, Tuchhallen u. s. w.,
aufzukommen, deren Benützung dem einzelnen gegen mäßiges
Entgelt freistand. Hatten jedoch derartige Funktionen die Insti-
tution der Zunft ehedem zu einer unentbehrlichen gemacht und
ihr sogar den Charakter eines „Amtes" verliehen, so war nun-
des bezüglichen historisch-biologischen Vorganges durch Gr. S i m m e 1 (in
der Ztschr.: „Das freie Wort," Frkf. 1901, I. Jahrg., 6. H.): „Die
Bedeutung jedes einzelnen gesellschaftlichen Elementes ist in die ein-
seitige Sachlichkeit seiner Leistung übergegangen."
397] Die Reste der Handwerkersolidarität. 7
mehr an die Stelle der früheren sozialen Betätigung, die sich
dem Volksganzen organisch eingefügt hatte, im Verlauf des
aufgedrungenen Existenzkampfes das nackte wirtschaftliche
Selbstinteresse getreten. Die bindende und organisatorische Kraft
der Zünfte war den gesteigerten Anforderungen der Produktions-
und Konsumtionsverhältnisse nicht mehr gewachsen: der Staat
nahm einen immer größeren Teil der gewerbepolizeilichen
Befugnisse für sich in Anspruch x ).
Auch das österreichische Zunftwesen war in dieser Periode
bereits auf dem Punkte der Rechtsversteinerung angelangt. Auch
hier entspann sich der Rechtskampf zwischen Staat und Zunft.
Wie aber in Osterreich dem ständischen und körperschaftlichen
Wesen überhaupt ein größerer Einfluß eingeräumt war als in
andern Staaten, so gestaltete sich hier auch der Widerstand der
Zünfte zu einem zäheren und erfolgreicheren als etwa in Frank-
reich oder Preußen.
Die lokalen Handwerksprivilegien mit ihren alten Bann-
und Verbietungsrechten präponderierten in Osterreich noch zu
einer Zeit, wo in den meisten Ländern Westeuropas das Privi-
legienkapital bereits durch das Geldkapital expropriiert, die
Ware bereits zum Gegenstand interlokaler und interstaatlicher
Gewinnspekulationen geworden war.
Zunächst unterlag das Produktionsquantum des einzelnen
Meisters der althergebrachten Beschränkung. So setzt z. B. die
Ordnung der Reichenberger Tuchmacher vom 16. Jänner 1664
fest, daß künftighin kein Meister in 14 Tagen mehr als ein
breites Tuch von „Zwei-, Drei- oder Viersiegler Haaren" ver-
fertigen oder verfertigen lassen dürfe, „damit hinfüro das Hand-
werk in bessern Beruff und mehren Auffnehmen gerathe und
die Tücher nicht obenhien, wie bißhero geschehen, verfertiget
werdeu und also dardurch der Käuffer nicht vervortheilt, auch
der arme Meister nicht gar verterbet werde, sondern sich neben
dem reichen erhalten könne" 3 ). Die Müller der Asperer Zeche
x ) Adolf Bruder, Die Behandlung der Handwerkerkorporationen
durch die Juristen des 17. und 18. Jahrhunderts (in der „Ztschr. f. die
gesamte Staatswissenschaft"), Tübingen 1880, S. 484 ff.; Heinr.
Reschauer, Geschichte des Kampfes der Handwerkerzünfte und der
Kaufmannsgremien mit der österr. Bureaukratie, Wien 1882, S. 6 ff.;
G. Schmoller, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, a. a. 0.,
S. 533, 552.
2 ) H. Hall wich, Beichenberg und Umgebung, II. Halbb.,
Reichenb. 1874, S. 53.
7)
12
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8 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [398
erringen im Jahre 1680 das Zugeständnis, daß kein Meister mehr
als eine Mühle betreiben dürfe. Hat er zwei, so muß er die
zweite einem andern Müller um Billiges überlassen 1 ). Ebenso
bezeichnet es die Radkersburger Schneiderordnung von 1728 als
einen alten lokalen Brauch, daß keiner mehr als 3 „Stock"
(Stühle) besetzen dürfe, sei es mit Gesellen oder Lehrbuben.
Nur 2 Wochen vor den 3 größten Feiertagen ist dies gestattet.
Im übrigen darf eine Ausnahme nur mit Bewilligung der Obrig-
keit gemacht werden 3 ). Tritt in derartigen Verfügungen die
soziale Grundstimmung des zünftigen Beschränkungsrechtes noch
ziemlich deutlich zu Tage, so enthält die bezügliche Anordnung
des Iglauer Tuchmachergewerks vom Jahre 1670 einige nähere
Bestimmungen, die bereits auf eine weitgehende im Unterschied
der Besitzverhältnisse begründete Klassendifferenzierung der
Privilegienrechte schließen lassen. Es durfte darnach ein
Ratsverwandter nur 12 breite, 24 vordere, 7 Boy und 2 Gallustücher,
Geschworener
Ansässiger „„„_ „.„„_ „
Inwohner „ 8 „ 18 „ 7 „ „ 2 „
fabrizieren 3 ). Den patrizischen Ständen der Ratsverwandten und
Geschworenen wird also bezüglich der Fabrikation der wert-
volleren und einträglicheren „breiten" Tücher ein größerer
Spielraum gewährt als der übrigen Handwerkerschaft.
Das Bestreben der Zünfte, für den einzelnen Meister eine
Art Existenzmaximum zu fixieren, fand seine notwendige Er-
gänzung in ihrem zähen Festhalten an den alten Preis- und
Lohnsätzen. Auf die große Teuerung des 30-jährigen Krieges
war eine Periode der Billigkeit gefolgt ; die Preise waren niedriger
als zu Beginn des Jahrhunderts 4 ). Allein die österreichischen
Zünfte zeigten sich von allen Preisschwankungen unberührt.
Immer häufiger wurden Klagen der Konsumenten laut, daß
„Lohn, Stuck, Gemächt und Arbeit" nie abnähmen, „es seyen
der Lebensmittlen halber wohlfaile oder bekleme Zeiten" 5 ).
*) Patent v. 10. Febr. 1680, Art. 55, Cod. Austr., IL T., S. 23.
3 ) Jak. Gomilscbak, Zünfte in Radkersburg und Materialien
zu ihrer Geschichte, in den „Beitr. zur Kunde steierm. Geschichtsquellen",
16. Bd., S. 64.
8 ) Karl Werner, Urkundliche Geschichte der Iglauer Tuch-
macherzunft, Lpz. 1861, S. 96.
4 ) Wiebe, a. a. 0., S. 215.
ö ) Handwerkerpatent v. 9. Dez. 1689, P. 7, Cod. Austr., I. T.,
S. 458 ff.
399 1 Die Reste der Handwerkersolidarität. 9
Billigere Arbeit wurde mit „Ausschelten a oder Geldstrafe bedroht.
Mit aller Strenge wurde darauf geachtet, daß vor dem Beginne
einer bestellten Arbeit die eventuellen früheren Verbindlichkeiten
des Auftraggebers andern Meistern gegenüber gelöst sein
mußten 1 ), daß ferner eine begonnene Arbeit nur durch denjenigen
beendigt werde, der sie übernommen hatte 2 ).
Die Maßregeln, die der Zunft ihre soziale Eigenart bewahren
und insbesondere gewisse nichtbürgerliche Elemente von vorn-
herein ausschließen sollten, nahmen an Zahl und Absonderlich-
keit beständig zu. Von „Mißbräuchen" der Zunftprivilegien zu
sprechen, wie die damaligen Regierungen es taten, hieße die
Dinge nur von einer Seite betrachten. Es sind Zeichen einer
nervösen, unruhigen Furcht vor einer drohenden Ära schranken-
losen Erwerbstreibens, die den verendenden Organismus der
werktätigen Volksgenossenschaft zu immer härterer und krasserer
Auslegung seiner Prohibitivrechte drängt ; nur daß in jener Zeit
der steigende Bevölkerungsüberschuß und das Bedürfnis der
Kapitalisten und Regierungen nach industriellen Arbeitskräften
jene Maßregeln als besonders lästig empfinden lassen. Hieher
gehört in erster Linie die Einrichtung der „geschlossenen Zunft",
d. h. der Gebrauch, daß nur eine bestimmte Anzahl von Mit-
gliedern in der Innung geduldet wurde. So setzen es z. B. die
Schiffsmüller der Asperer Zeche auf ihre Bitte vom 7. Dez. 1674
durch, daß in ihrem neuerlich restringierten Distrikt, der von
Korneuburg bis zum Einfluß der March in die Donau reichte,
„über jetzige darin befindliche Anzahl von 39 Schiff-Mühlen sambt
der Hoff-Mühlen zu Ortt keine mehr eingeführt, noch auf einigen
neuen Mühlschlag denen Grund-Obrigkeiten eine Licentz gegeben,
noch ein anderwerts erkauffender alter Mühlschlag allda an-
gehangen oder angerichtet werden solle." 8 ) Ein weiterer natür-
licher Beschränkungsgrund erwuchs aus der patriarchalischen
Tradition, die in erster Linie Familienangehörige, zunächst also
die Söhne und Schwiegersöhne der Zunftgenossen, für die In-
korporierung in Betracht zog. Fernestehende waren selten will-
kommen. Man gab ihnen unnütze und schwierige Meisterstücke
auf, nahm ihnen Mißratenes weg, ließ sich bei der Beschau von
parteiischen Motiven leiten und verhängte über nicht beförderte
*) Ebend., P. 10 u. 11.
3 ) Ebend., P. 12.
») Cod. Austr., I. T., S. 91 f.
10 Die soz. u. Wirtschaft]. Lage am Ende des 17. Jahrb. [400
Gesellen noch obendrein eine Geldstrafe. 1 ) Aus ähnlichen Beweg-
gründen wurden die Inkorporationskosten mit Absicht sehr hoch
bemessen 2 ). Die Wiener Schuhmacherinnung fordert für die Ein-
verleibung der Schuster auf dem freien Landgut in St. Ulrich
24 fl. und die Quatembergelder 3 ). Das Einkaufsgeld für die
Wiener „Fischkäufler" wird durch ein Patent vom 14. Juli 1687
auf 50 fl. reduziert; nur für diejenigen, die eines „Fischkäuflers a
Tochter oder Wittib ehelichen, soll es bloß 25 fl. betragen 4 ).
In andern Fällen mag die Einkaufssumme noch bedeutend höher
gewesen sein. Ein Steuerprojekt aus der Regierungszeit Karls VI. 5 )
bezeichnet als die "Hauptursache der Handwerker-„Mißbräuche tf
das Privilegium der Zünfte, ihre Aufnahmsbedingungen stellen
zu dürfen, welches Recht jedoch bei ihnen zu einem Monopo-
lium und Propolium ausgeartet sei. Ein Schlosser z. B. brauche
zur Erlangung des Meisterrechts mindestens eine Summe von
300 fl. 6 ) Mit der Zeit wurde sogar der Eintritt in die Lehrzeit
erschwert. So erließen Ausschuß und Mitel der Iglauer Tuch-
macherzunft am 2. April 1700 eine Verfügung, wonach die
Lehrjungen die Summe von 5 Schock, die sie bei ihrem Eintritt
in die Lehre zu bezahlen hatten, nach der Freisprechung nicht,
1 ) Ebend., S. 458 ff., P. 4.
2 ) Ebend., P. 3.
8 ) Cölestin Wolfsgruber, Regg. aus dem Archiv des Bene-
diktinerstiftes Schotten in Wien, in den „Quellen zur Gesch. der Stadt
Wien«, her. v. Anton Mayer III. Bd., Wien 1897, S. 120, Nr. 2780,
Vergleich vom 11. Juni 1677.
4 ) Cod. Austr., I. T., S. 353.
5 ) Ms. im Archiv des Min. des Innern (IV. F. 28, Gewerbe in
genere, N.-Ost. 1522 — 1749) anonym, ohne Angabe einer Jahreszahl.
Die Abfassung des Libells dürfte in die Zeit zwischen 1728 und 1731
fallen. Für den letzteren terminus spricht der Umstand, daß der epo-
chale Reichsschluß von 1731 in der Schrift nirgends erwähnt wird, was
im Fall ihrer späteren Datierung bei der Ähnlichkeit der beiderseitigen
Materien sicherlich der Fall gewesen wäre. Als untere Grenze wäre das
Jahr 1728 anzusetzen. Nach Siegm. Mayer (Die Aufhebung des Befähi-
gungsnachweises in Osterreich, Lpz. 1894, S. 254) ist nämlich dem auf
der Münchner Bibliothek befindlichen Original jenes Projekts („ Aller-
un terthänigst — Gehorsambster Vorschlag einer neuen Ge werbt, Handt-
werkhs- und Zunfft-Ordnung, Mittels diser Ordnung eines ergebigen
Gefälls pro aerario Camerali") ein „Verzeicbnuß" der in Wien befind-
lichen Handwerker aus dem Jahre 1728 beigegeben, wonach also der
„Vorschlag" selbst in oder nach diesem Jahr entstanden sein müßte.
6 ) Die Ziffern des „Vorschlags" sind allerdings nicht sehr zuver-
lässig, da sie in erster Linie das Interesse des Fiskus berücksichtigen.
401] Die Reste der Handwerkersolidarität. 11
wie herkömmlich, zurückerhalten sollten; auch wurde verboten,
den Lehrlingen das übliche Lehrkleid zu geben 1 ).
Solchen Abwehrbestrebungen kam die zünftige Tradition
zu Hilfe, die aus Sitte, Recht und Aberglauben eine Fülle von
Ausschließungsgründen entwickelt hatte. Zahlreiche Bevölkerungs-
schichten galten bei den Zünften von vornherein als handwerks-
untauglich. Berufe wie die der Abdecker, Grerichtsdiener, Bader,
Müller, Leinweber, Spielleute, Schäfer u. a. 3 ) waren für „ un-
ehrlich" erklärt und durften, wie ihre Kinder, nicht in Dienst
und Arbeit genommen werden. Die Ordnung der Ledererzunft
in Radkersburg 3 ) verbietet den Umgang und die Gemeinschaft
mit dem Freimanne sowie das Berühren der Leichen und Aase ;
Felle von Hunden und Katzen durfte niemand kaufen, verkaufen
oder verarbeiten, auch durfte man diese Tiere bei Strafe von
1 Pfd. Wachs nicht töten. In Niederösterreich wurde demjenigen,
der, wenn auch mit gutem Grund, einen Hund tötete, das
Handwerk gelegt, er selbst wurde „infam" gemacht und verstoßen 4 ).
Dasselbe widerfuhr demjenigen Handwerksgesellen, der ein
Mädchen „aus zweiter Hand" ehelichte 5 ). Insbesondere aber waren
die Ausleger und Ausüber des verhaßten römischen Rechtes, die
Gerichtsfunktionäre und ihre gerichtlichen Strafmittel, dem Miß-
trauen der Zünfte ausgesetzt. Es erscheint wie ein trotziger
Vorbehalt, wenn die zünftige Wiener Handwerkerschaft erst nach
dem umständlichsten Ceremoniell einwilligt, sich an dem Bau des
Amtshauses zu beteiligen, das im Jahre 1722 in der Rauhen-
straße errichtet werden sollte. Zuerst mußte der betreffende
kaiserliche Befehl auf dem Rathause verlesen werden ; der Unter-
richter mußte sich mit den Meistern und Gesellen in feierlichem
Zuge nach dem Amtshause verfügen, um ihnen zu zeigen, daß
es von Verbrechern ganz leer sei; dreimal rief er der Stadt
Befehl, daß keiner dem andern wegen der Beteiligung an den
Bauarbeiten einen Vorwurf machen solle; dann erst tat jeder
x ) Karl Werner, Urkundliche Geschichte der Iglauer Tuch-
macherzunft, Lpz. 1861, S. 96 f.
2 ) Cod. Au str., I. T., S. 458 ff.
8 ) Jak. Gomilschak, Zünfte in Radkersburg und Materialien
zu ihrer Geschichte, in den „Beitr. zur Kunde steierm. Geschichtsqaellen",
Graz, 16. Bd., S. 62 (Ordnung v. 20. Juni 1616, gleichlautend bestätigt
am 26. Juni 1660, Art. 13 u. 10).
4 ) Cod. Austr., I. T., S. 458 ff., P. 14.
5 ) Ebend., P. 15.
12 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [402
von den Anwesenden drei Streiche an das Haus und sprach es
so völlig frei und „ehrlich" 1 ).
Bei dem Mangel bürgerlicher Selbstbestimniungsrechte blieb
freilich die Ausbildung starker lokaler Zünfte in den österreichi-
schen Städten dauernd erschwert. Dagegen war der interlokale
Zusammenhang des Handwerks ein um so engerer. Nicht bloß
durch das natürliche Kommunikationsmittel der Gesellenwanderung.
Die einheitliche Verfassung des gesamten Handwerks beruhte
nicht zuletzt auf der führenden Stellung der Hauptladen gegen-
über den provinziellen Nebenladen. Die Hauptlade gab in wirt-
schaftlichen und juristischen Fragen den Ton an, ihre Privilegien
waren verbindlich für die der Filialladen, ja, sie besaß sogar
das Recht der direkten Einflußnahme auf die Einkaufung der
Meister in der Provinz. So erstreckte sich beispielsweise das
Geltungsgebiet der Wiener Hauptinnungen bis über die Landes-
grenze hinüber 2 ). Eine ähnliche Stellung beanspruchte Prag als
Vorort der böhmischen Zünfte. Insbesondere bildeten die Tuch-
macherzünfte Böhmens eine Art Rechtsverband, an dessen Spitze
die Prager Innung stand 8 ). Der praktische Zweck solcher inter-
lokalen Verbände war wieder ein rein prohibitiver : es sollte durch
sie in erster Linie dem „Für kauf", d. h. dem Einkauf von
Rohmaterialien und Handwerkserzeugnissen für den Weiterver-
kauf gesteuert werden. Auf diesem Gebiete waren die Erfolge
der Hauptinnung freilich oft sehr exklusiver Art. So, wenn
z. B. die Wiener Schneider das Zugeständnis erringen, daß
„Tändler, Gewändtier, Störer, oder jemands ander erfrembder
auf denen Tändl- oder anderen freyen Jahrmärckten allhier" kein
neugeschnittenes Gewand verkaufen dürfen 4 ).
überhaupt boten die Jahrmärkte den häufigsten Anlaß zur
Durchbrechung der interlokalen Handwerkersolidarität. Hier, wo
die Innung sich in die feilschende Krämerkompagnie verwandelte,
machte sich zu allererst und ganz von selbst der zersetzende
*) Jos. Freih. v. Hormayr, Wien, seine Geschichte und Denk-
würdigkeiten, Wien, 1823, 4. Bd., S. 262.
2 ) Die Zunft der Wiener Kämpeimacher z. B. sucht ihren Einfluß
bis nach Olmütz in Mähren auszudehnen, wogegen jedoch das Olmützer
Handwerk erfolgreich Beschwerde fuhrt (Resolution v. 16. Nov. 1677,
Cod. Austr., I. T., S. 640).
3 ) Ludw. Hübner, Geschichte der Reichenberger Tuehmacher-
zunft, Reichenberg 1878, S. 78 f.
4 ) Resolution v. 27. März 1688, Cod. Austr., II. T., S. 440 f.
403] Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 13
Einfluß des handelskapitalistischen Elements im Handwerk
bemerkbar. Streitigkeiten über Produktionsabgrenzung und
Verkaufsrecht x ) standen auf der Tagesordnung, ohne daß im all-
gemeinen der Jahrmarktsbesuch sich besonders lohnend gestaltet
hätte. Mit Recht bemerkt denn auch J. J. Becher 2 ), es sei
sehr übel mit den Handwerkern bestellt, wenn sie mit ihren
Waren auf den Jahrmärkten herumlaufen und so mehr Reisegeld
verzehren, als ihr Erlös beträgt.
Am entschiedensten und dauerhaftesten hat sich die innere
Einheit der Handwerksverfassung in der Gesellenorganisation
erhalten. Wie die Meisterzunft, so verdankte auch die Gesellen-
bruderschaft ihren Ursprung zumeist religiös-sittlichen Zwecken.
Die leichtere Beweglichkeit des Gesellenelements gegenüber dem
Meisterstande schuf hier jedoch ungleich günstigere Vorbedin-
gungen für die Bildung und Aufrechterhaltung interlokaler Ver-
bände. In diesen besaß der Gesellenstand eine treffliche Organi-
sation zur Pflege des Korpsgeistes, ein nie versagendes Mittel
zur Kontrolle und, wenn nötig, zur Ausübung seiner alther-
gebrachten Gerichtsbarkeit über die Handwerksgenossen. Und
wenn auch die Kraft dieser interlokalen Verbände unter dem
Überhandnehmen der Staatsgewalt erheblich gelitten hat, so war
es doch nur ihrem Einflüsse zuzuschreiben, wenn die Gesellen-
frage, die seit dem Ausgange des Mittelalters zur brennendsten
aller Handwerkerfragen geworden war, fortan nicht mehr von
der Tagesordnung der inneren Politik Deutschlands verschwand.
2. Gewerbeelemente und Gewerbepolitik.
Mag nun auch ein beträchtlicher Teil des Handwerks sich
bereits offenkundig der Realisierung von Handelsprofit zugewendet
haben : im allgemeinen war der Boden für eine Industrialisierung
Österreichs auf Grundlage des Großkapitals noch nicht vorhanden.
Hiezu fehlte in erster Linie jene Sättigung mit Bevölkerungs-
massen, die allüberall erst den Erwerbsstachel der modernen
Konkurrenz hervorzutreiben geeignet ist, jene Gelegenheit zur
Bildung großer disponibler Industrierentenfonds, wie sie sich im
volks- und städtereichen Westen bot.
x ) Resolution v. 6. Juni 1696 in Angelegenheit der Konkurrenz-
streitigkeit zwischen den Wiener und Passauer Taschnern, Cod. Aus tr.,
II. T., 8. 330.
3 ) Joh. Joachim Becher, Politische Diskurs, 2. A., Frkf. 1673,
S. 10.
14 Die soz. u. wirtachaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [404
Die Bevölkerungszahl der Erblande dürfte nach dem 30-
jährigen Kriege die des damaligen Holland kaum um vieles
überragt haben 1 ). Noch lagen auf dem entvölkerten Lande die
Spuren der Kriegsnot. „Den Krieg betreffend, a sagt Hörnigk in
seinem Hauptwerke 2 ), „so haben die Teutsche Erbländer nun in
vier und zwanzig Jahren, auser was sich nemlich in Unter-
Osterreich zugetragen, keinen Feind im Eingeweid gehabt. Und
gleichwohl ist vieler Orten der elende Anblick noch so frisch,
ob wäre der Feind erst gestern oder vorgestern abgezogen. So
gar, wo auch in hundert Jahren kein Krieg hinkommen, glaubt
man, zwey oder drey hundert Burger, guten theils arme Tag-
löhner, seyen etwas in einer Landstatt." Die Häuser und Kul-
turen lagen wüst. In den Städten und Märkten des Landes unter
der Enns — außer Wien — hatte der gesamte Schätzungswert
der Häuser, Weingärten, Acker, Wiesen und Gewerbe im
Jahre 1560 bei 522.779 Pfd. betragen; bis zum Jahre 1665 sank
er auf 243.201 Pfd. Die Anzahl der bewohnbaren Häuser, die
sich 1560 auf 1696 belaufen hatte, betrug im Jahre 1665 nur
mehr 936; daneben gab es 1756 baufällige und 710 ganz ver-
fallene Häuser 3 ). Die Einfälle der Türken und Ungarn richteten
x ) P. de 1 a Court, „Interest von Holland, oder : Grundfäste der
Holländischen Wohlfahrt, u von V. D. H. (Van der Hoeve = de la
Court), deutsche Übersetzung, T' Amsterdam 1665, 8. Kap., berechnet
die Einwohnerzahl Hollands auf 2,400.000. Für die österreichischen
Erbländer existieren aus jener Zeit keine genauen statistischen Daten.
Die erste Volkszählung (1754) ergab für Österreich (ohne Ungarn) bloß
6,134.558 Einwohner (K. Th. Inama-Sternegg, Bevölkerung des
Mittelalters und der neuen Zeit bis Ende des 18. Jahrhunderts, im
„Handwörterbuch der Staatswissenschaften", II. Bd., Jena 1891, Art.
„Bevölkerungswesen", S. 437).
2 ) Ph. W. v. Hörnigk, „Oesterreich Über alles, wann es nur
will. Das ist: wohlmeinender Fürschlag, Wie mittelst einer wolbestellten
Lands-Oeconomie, die Kayserl. Erbland in kurzem über alle andere
Staat von Europa zu erheben und mehr als einiger derselben von denen
andern Independent zu machen. Durch einen Liebhaber der Kayserl.
Erbland Wolfart« (ohne Autornamen), 1. A., 1684, S. 113.
3 ) So gab es im Jahre 1665
in Klosterneuburg 156 bewohnbare, 215 baufällige und 41 verfallene
„ Krems 106 „ 133 „ „156 „
„ Langenlois 105 „ 193 „ „ 28 „
„ Brück 43 „ 135 „ „ 48 „
Häuser (Karl Oberleitner, Die Finanzlage Niederösterreichs im
16. Jahrhundert, Arch. f. Kunde österr. Geschichtsquellen, 30. Bd.,
Wien 1863, S. 25 f.).
405] G-ewerbeelemente und Gewerbepolitik. 15
besonders in diesem Lande arge Verheerungen an. Die unter-
österreichischen Stände beantworteten eine Aufforderung des
Kaisers vom 16. Dezember 1707, die in Ungarn stehenden
Truppen mit Nahrungsmitteln und Pferdefutter zu versorgen,
mit einer Erklärung, worin sie u. a. anführen, daß infolge der
ungarischen Einfälle 16.000 Häuser im Lande öde stünden und
daß mit Einrechnung der in den Jahren 1656 und 1683 an-
gerichteten Verwüstungen 8000 Häuser niedergebrannt worden
seien 1 ). Durch die Belagerung Wiens war vornehmlich der Wiener
Handwerkerstand in Mitleidenschaft gezogen worden, dessen an
der Stadtperipherie gelegenes Besitztum am allermeisten den
feindlichen Angriffen ausgesetzt gewesen war 2 ). Nach der Auf-
hebung der Belagerung machte sich der Mangel an Arbeits-
kräften insbesondere im Baugewerbe empfindlich fühlbar. Hatte
doch überdies das „große Sterben" fünf Jahre vorher den größten
Teil der hauptstädtischen Bevölkerung dahingerafft 3 ). Nur die
außergewöhnlichen Zeitumstände bewogen zu der außerordent-
lichen Maßregel, daß man fremden Bauhandwerkern die Erlaub-
nis erteilte, in Wien, in den Vorstädten und auf dem Lande
x ) Biedermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staats-Idee, a. a. O-,
II. Abt., S. 141, Anm. 66.
2 ) Infolge der Verringerung der Häuser in der inneren Stadt, die
immer mehr zum Wohnsitz der vornehmeren und wohlhabenderen
Bevölkerungsschichten ausgestaltet wurde, sahen sich die handwerk-
treibenden Einwohner größtenteils auf die äußeren Stadtteile beschränkt
(Karl Weiß, Gesch. der Stadt Wien, Wien 1872, II. Abt., S. 254 f.).
Im Jahre 1550 hatte die innere Stadt Wien ca. 1015 steuerbare Häuser
besessen, im Jahre 1706 besaß sie deren nur mehr 586 (Oberleitner,
a. a. 0., S. 27).
3 ) P. Abraham a Santa Clara schätzt in seinem „Mercks
Wienn" (Wien 1680) die Zahl der im Jahre 1679 an der Pest Ver-
storbenen auf 70.000. Das Exemplar der Wiener Hofbibliothek enthält
jedoch auf einer der letzten leeren Seiten einen handschriftlichen Ver-
merk aus dem Jahre 1681, worin diese Zahl unter dem ausdrücklichen
Hinweis: „P. Abrah. sagt 70.000 p. 154 tt auf 140.514 korrigiert wird.
Davon entfielen nach /des Verfassers Aufstellung 59.484 auf die innere
Stadt, 30.470 auf die Vorstädte und 50.560 auf die Umgebung. Für
die innere Stadt ist die Zahl der Todesfälle von Monat zu Monat aus-
gewiesen; dem Verfasser — er nennt sich Hilar. Adelsheim — standen
also wahrscheinlich amtliche Daten zur Verfügung. — In Prag starben
im Jahre 1680 32.000 und bei einem neuerlichen Ausbruche in Wien
in den Jahren 1713 und 1714 8644 Menschen an der Pest. (H. Hall-
wich, Reichenberg und Umgebung, I. Halbb., Reich enb. 1872, S. 293;
Weiß, a. a. O., S. 82.)
16 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [406
ohne Behinderung vonseiten der Zünfte zu arbeiten, jedoch ohne
Präjudiz für deren Privilegien und vorbehaltlich einer weiteren
Verfügung *).
Die Gesamtzahl der Handwerksmeister und Gesellen in den
Städten und Märkten der Erblande betrug im Jahre 1674, also
noch vor den letzterwähnten Bevölkerungsverlusten, nach einem
Referat Dr. J. J. Bechers ca. 100.000 2 ), zu denen noch un-
gefähr 50.000 n Störer a (samt den Hof- und Herrenbefreiten)
hinzukamen. In Wien gab es um diese Zeit bloß 1679 bürger-
liche Hand werksleute mit 4000 Gesellen und daneben über
4000 „Stör er" und Befreite. In Prag, wo 20 Jahre vorher
1245 Handwerker ansässig gewesen waren, gab es im Jahre 1674
nur mehr 355 und von diesen lebten kaum 100 in auskömm-
lichen Verhältnissen. Iglau hatte damals bloß 300 Bürger; vor
dem 30-jährigen Kriege hatte es im Tuchmachergewerbe allein
7 — 8000 Personen beschäftigt. Löwenberg in Schlesien zählte
im Jahre 1674 nur 258 verarmter Bürger ; 50 Jahre vorher hatte
es 1700 Bürger gehabt, darunter 700 Tuchmacher. Reichenbach
in Schlesien hatte vorzeiten 400 > Barchentweber beherbergt;
1674 besaß es im ganzen kaum 150 Bürger. Klagenfurt zählte
in diesem Jahre nicht mehr als 200, Judenburg, früher eine
ansehnliche Stadt, nicht mehr als 68 Handwerksmeister und
insgesamt etwa 90 Bürger. In ähnlicher Weise war die Hand-
werkerbevölkerung anderer Städte, wie Stein, Ybbs, Enns, Kloster-
neuburg und Korneuburg zurückgegangen.
Es waren keine günstigen materiellen Vorbedingungen,
unter denen die österreichischen Länder nach dem äußeren
Abschluß der deutschen Religionskriege in den politischen und
wirtschaftlichen Kampf der europäischen Staaten eintraten.
x ) Cod. Austr., I. T., S. 457 f.
2 ) „Referat Dr. J. J. Bechers, Rom. Kays. Maj. Commercien
Raths, wie die Commercien, auch gemeiner Handel und Wandel gegen-
wärtig in Ihro Kays. Maj. Erblanden beschaffen seye, auch wie solchem
durch restabilirung eineß Commercien Collegij könnte geholffen werden,
daß sie denn Kays. Erblanden zur Ehr und nutzen beßer florirten.
Überreicht Ihro Kayserl. Maj. zu Laxenburg den 11. May. 1674 u (Ms.
in der Wiener Hofbibliothek Nr. 12, 467).
Die obige Zahl ergab sich, wie aus einer Bemerkung in Bechers
Referat (Blatt 60) hervorgeht, aus den Erhebungen, die sein Schwager
Hörnigk im Auftrag des Kaisers angestellt hatte. Eine genaue und
verläßliche Gewerbestatistik ist für diese Zeit ebensowenig vorhanden,
wie eine allgemeine Bevölkerungsstatistik.
407] Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 17
Überdies hatte sich die Staatsgewalt zunächst verpflichtet geglaubt,
den Kulturkampf im Innern beendigen zu müssen. Aber wenn
Frankreich ohne sonderliche Einbuße an seiner wirtschaftlichen
Macht es sich gestatten konnte, hunderttausende industrieller
Arbeiter und Unternehmer durch die Aufhebung des Edikts von
Nantes aus dem Lande zu weisen, — für Osterreich wurden die
Maßregeln der Gegenreformation von entscheidender Bedeutung.
Nicht nur wegen des zeitweiligen Entgangs an industriellen
Arbeitskräften, obzwar auch dieser ins Gewicht fällt; ganze
Industriezweige, wie die Blechschmiederei und Blaufärberei in
Böhmen, waren durch die Ausweisung der Arbeiter aus dem
Lande verbannt worden 1 ), die böhmischen Bergwerke, Tuch-
manufakturen und Leinenwebereien, sowie die Eisenwerke der
Steiermark verloren einen großen Teil ihrer Arbeiter 2 ), und
durch die Gegenreformation in Tirol wurden gerade die kapitals-
kräftigsten Bevölkerungskreise betroffen 3 ). Aber was das Wich-
tigste war : Osterreich hatte sich durch die gegenref ormatorischen
Maßregeln auf Jahrzehnte hinaus die Hände gebunden. Dies
wurde erst fühlbar, als im Verlaufe der Reichstagsverhandlungen
über die Handwerker-„Mißbräuche a die Frage der Beschaffung
industrieller Arbeitskräfte sich immer deutlicher als der Angel-
punkt der ganzen innern Wirtschaftspolitik Deutschlands dar-
stellte.
Außer der Eisenindustrie^ die besonders in Niederösterreich
(Waidhofen a. d. Ybbs), Ober-Steiermark, Kärnten, Krain und
Schlesien gepflegt wurde 4 ), der Leinenmanufaktur, die ihren Sitz
in Krain, Mähren, Deutsch-Böhmen und Schlesien hatte, und der
Tuchmacherei in den letzteren drei Ländern 5 ), gab es in den
Erblanden bis in den Anfang des 18. Jahrhunderts keine eigent-
liche Industrie für den Bedarf weiterer Kreise. Weder die Ur-
x ) Hörnigk, a. a. 0., S. 110 ff.
2 ) K. Th. v. Inama-Sternegg, Die volkswirtschaftlichen
Folgen des 30-jährigen Krieges für Deutschland, im „Histor. Taschen-
buch 44 , her. v. Raumer, 4. Folge, 5. Jahrg., 1864, S. 73.
3 ) Arnold Luschin von Ebengreuth, Österreichische
Reichsgeschichte, Bamberg 1896, S. 385 f.
4 ) Hörnigk, a. a. 0., S. 112;
5 ) Ebend., S. 253. — Über die bedeutende Industrie Schlesiens,
dessen Wohlstand hauptsächlich auf der Tuch- und Leinenmanufaktur
und dem russisch-polnischen Handel beruhte, vgl. Grünhagen, Der
materielle Zustand Schlesiens vor. der preußischen Besitzergreifung, in der
n Ztschr. f. preuß. Gesch. u. Landesk.", X. Jahrg., Berl. 1873.
Wiener staatswiss. Studien. IV. Bd., 3. Heft. 27
18 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [408
Produktion noch die gewerbliche Produktion war eine nennens-
werte. Zu einer Zeit, wo Colbert an den Intendanten von
Montpellier schrieb, die Leiter der Fabriksunternehmungen müßten
selbst so viel Geschäftsgeist aufbringen, die ungünstigen Kon-
junkturen zu überwinden, da staatliche Autorität und Hilfe diesen
Mangel nicht ersetzen könne 1 ), war die österreichische Bevölke-
rung in industriepolitischen Fragen noch ganz und gar indiffe-
rent, während die Wortführer des industriellen Merkantilismus
alles vom Eingreifen der Staatsmacht erwarteten. Nicht nur die
westeuropäischen Staaten, auch die großen deutschen Städte
waren dem österreichischen Handwerk in technischer Beziehung"
weit überlegen 2 ). Das große Geschenk, das Kaiser Leopold im
Jahre 1699 der Pforte übersandte, war von einem Augsburger
Juwelier angefertigt worden 3 ). Die Hauptstadt beschränkte sich
auf die Produktion für den lokalen Bedarf. Viele Handwerker
betrieben hier neben ihrer Profession als altes Wiener Spezifikum
den Weinbau, der selbst in mittleren Jahren 'ein lohnenderes
Erträgnis lieferte als die Gewerbe 4 ). Unstreitig lag dem Charakter
des Österreichers der Gedanke an intensive industrielle Erwerbs-
tätigkeit ferne. Selbst Hörnigk, der es in allem den emsigen
Nachbarn gleichtun möchte, muß zugeben, daß insbesondere bei
den Wienern „die Lüsternheit und die Sehnung nach fröhlichem
Leben gleichsam zu einem allgemeinen Herkommen erwachsen"
sei, wenn er auch in seiner patriotischen Besorgnis hinzufügt,
daß es ihnen „zu denen Fabricaturen" weder an Geschicklich-
keit noch „application" mangle, „wann nur Willen, Aufmunterung
und Anführung da ist" 5 ). Inländische Hutfabrikate, Posamentier-
arbeiten, Perücken, Stickereien und Galanteriewaren kämen als
„französisch" in den Handel. Einheimische Kunstfertigkeit gelte
nichts, das Ausland werde allezeit bevorzugt, weshalb denn die
besten „Künstler" nach Frankreich und Holland auswanderten 6 ).
x ) 1671, nach K. Walcker, Gesch. der Nationalökonomie, Lpz.
1884, S. 15.
2 ) Franz Krone s, Handbuch der Geschichte Österreichs, IV. Bd.,
Berl. 1879, S. 455 ff.; Weiß a. a. O., II. Bd., S. 254 f.
3 ) H. A. Berlepsch, Chronik der Gewerke, St. Gallen, ohne
Jahreszahl, III. Bd., S. 83.
4 ) Weiß, a. a. 0., IL Bd., S. 252.
5 ) Hörnigk, a. a 0., S. 89 f.
6 ) Ebend., S. 182 f.: auch H. J. Bid ermann (die technische
Bildung im Kaisertume Österreich, S. 15, Anm.) sieht sich zu der
Bemerkung veranlaßt, daß die technische Bildung weder in Osterreich
409] Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 19
Der österreichische Handel war bis in die ersten Jahrzehnte
des 18. Jahrhunderts eine Domäne des Auslandes. Daher der
verhältnismäßig bedeutende Ausfuhrhandel mit Rohprodukten.
So lag z. B. der Handel mit Eisenwaren aus Steiermark seit
jeher in den Händen der Nürnberger und Augsburger, die
besonders zu Kriegszeiten einen schwunghaften Waffenhandel
betrieben 1 ). Frankreich, Holland, England und einzelne Reichs-
städte exploitierten den stetig wachsenden Luxusbedarf des öster-
reichischen Konsums durch die Einfuhr von Manufakturen, die
zum größten Teil aus österreichischem Material angefertigt waren.
Aus dem industriereichen Schlesien wurde insbesondere Flachs
und Wolle ausgeführt 2 ). „Aus unserm Quecksilber," sagt Hör-
nigk, „wird uns von Venedig und Amsterdam Sublimat, Prae-
cipitat und Zinober zugeführt. Aus unsern Bley kommt uns
von andern Orten das Menig und Bleyweiß zu. Unser Kupffer
wird zu Mompelier zu Grünspan. Aus demselben und unserm
Gallmey werden uns anderswo gemachte Meßine Geschirr zu-
gebracht. Die Vogtländer und Oberpfälzer schicken uns die aus
unser Pilsnischer langer Woll gewebete Wüllenzeug in das Hauß.
Die Anneberger und Niederländische Spitzen werden aus unserem
Schlesischen Garn und Zwirn geklüppelt und uns in mehr als
hundertfachen Preiß wiederum aufgehencket a 3 ).
Aber auch das inländische Handelsgewerbe befand sich
zumeist in fremden Händen oder war mindestens an die Inter-
essen des Auslandes gebunden. Die Notwendigkeit, den immer
bunter und vielschichtiger sich gestaltenden Konsumbedürfnissen
Rechnung zu tragen, brachte den Händler in Berührung mit dem
interstaatlichen Markt- und Geldverkehr, dessen Konjunkturen
für ihn maßgebender wurden als die Rücksicht auf die ein-
heimische Produktion. Die Lederhändler ließen die Häute außer
Landes gerben, die Tuchhändler das Gespinst außer Landes ver-
weben 4 ). Das inländische Handwerk machten die großen Händler
durch das System der Verlagsarbeit von sich abhängig. So standen
eine so niedrige, noch in Frankreich eine so hohe gewesen sei, wie
man gemeiniglich annehme. •
*) Joh. Falke, Geschichte des deutschen Handels, II. Bd.,
Lpz. 1860, S. 161 ff.
3 ) Gust. v. Gülich, Geschichtliche Darstellungen des Handels,
der Gewerbe und des Ackerbaus, II. Bd., Jena 1830, S. 281.
8 ) Hörnigk, a. a. 0., S. 109 f.
4 ) Bechers Referat v. 1674.
27*
20 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrb. [410
z. B. die Verhältnisse im Iglauer Tuchgewerbe, wo die Tuch-
händler auf Grund ihrer Privilegien die ausschließliche Berechti-
gung besaßen, die einzelnen Tuchmacher mit Wolle zu versorgen.
Nach Abzug des Wollenpreises erstanden sie dann die fertigen
Produkte um sehr geringen Preis. Immer wieder wußten es die
Kaufherren zu hintertreiben, daß fremde Kaufleute günstigere
Bedingungen stellten. Die Beschwerden der Tuchmacher blieben
wirkungslos, da die Händler nur an ihren Privilegien festhielten *).
Außerhalb der Kaufherren- und Krämerzunft stand die
Genossenschaft der „Niederlagsverwandten" in Wien. Es waren
dies andersgläubige, ausländische Kaufleute, die das Recht besaßen,
in Wien Verkaufsgewölbe zu eröffnen und Handelsgeschäfte zu
treiben. Sie hatten außer Zöllen, Mautgebühren und außer-
ordentlichen freiwilligen Beiträgen keine Steuern zu entrichten
und unterstanden unmittelbar der kaiserlichen Jurisdiktion 2 ).
Nach der Niederlagsordnung vom 22. Jänner 1515 s ) durften sie
nur in grosso und nur mit ausländischen Gütern handeln.
In Wahrheit trieben sie jedoch auch Kleinhandel mit inländischen
Waren, die sie im Lande von den Juden aufkauften und für
ausländische ausgaben. Sie überschwemmten mit ihren billigen
Waren das Land, bezogen aber von demselben nichts anderes
als Bargeld. Nach Bechers Meinung fügten sie dem Lande
größeren Schaden zu als die aus diesem Grunde vertriebenen
Juden 4 ); sie galten ihm als eine wahre „Niderlag u der öster
reichischen Erbländer 5 ).
Die Klage der Handwerker über die jüdischen Händler
war in dieser Zeit eine allgemeine. In industriereichen Gegenden
setzten sich diese mit den Grundobrigkeiten in Verbindung und
bewogen sie durch Gewährung finanzieller Vorteile zur Über-
lassung von Handelsmonopolen; aus ihren „herrschaftlichen
Niederlagen" mußten sodann die Handwerker ihre Rohstoffe
beziehen 6 ). In Vorderösterreich beherrschten sie, wie in ganz
l ) Karl Werner, Urkundliche Gesch. der Iglauer Tuchmacher-
zunft, Lpz. 1861, S. 82 ff.
2 )J. L. E. Graf v. Barth-Barthenheim, Österreichische
Gewerbs- u. Handelsgesetzkunde, I. T., 1. Bd., Wien 1819, S. 40 f.
») Weiß, a. a. 0., S. 246 f.
4 ) Eine gewisse Anzahl von Juden wurde mit Erlaß vom 2. Aug.
16&9 für ewig aus Niederösterreich abgeschafft. Ähnliche .Edikte erflossen
in den Jahren. 1670 und 1673 (Cod. Austr., I. T., S. 560 ff.)
5 ) Bechers Referat v. J674. .
6 ) Hübner, a f a. 0„ S, 64, ff.
411] Gewerbeelemente und Gewetbepolitik. 21
Süddeutschland, den Viehhandel l ), in den böhmischen Ländern
insbesondere den Woll- und Tuchhandel. Nach Bechers
Schätzung besaßen sie in Prag allein gegen 2000 Gewölbe voll
bürgerlicher Waren und Manufakturen 2 ). Ein Bericht der
böhmischen Statthalterei vom 5. August 1717 bezeichnet das
Vorwiegen des jüdischen Handels nicht nur als ein Hindernis
für die Einführung der Zeug- und feineren Tuchmanufaktur,
sondern auch als einen effektiven Schaden für die bereits be-
stehende Tuchindustrie. In Prag, dem Hauptmarkte für Tücher,
könne seit Jahren kein einziger Christ mit Landtüchern handeln ;
es habe zwar ein Braunauer christlicher Tuchhändler sich etabliert,
derselbe werde aber, „gleich wie es ihme die Juden selbst schon
prognostiziret," binnen kurzem von den Juden ruiniert sein 8 ).
Schon im Landtagsschluß von 1650 war die Ausweisung aller
seit 1. Jänner 1618 ohne spezielle königliche Erlaubnis in Prag
angesiedelten Juden verlangt worden. Allein die Kammer wollte
auf die Einnahmen, die ihr aus der Judensteuer zuflössen, nicht
verzichten; daher scheiterten damals wie in der Folgezeit alle
auf Ausweisung der Juden abzielenden Bestrebungen 4 ). Wohl
aber beschlossen sämtliche Tuchmacher und Rotgerber des König-
reichs Böhmen im Jahre 1651, in alle Zukunft von den Juden
keine Wolle und kein ungegerbtes Leder zu erkaufen „bei Ver-
lust des Handwerks" 5 ).
Zu den kapitalskräftigsten Gewerbeelementen zählte end-
lich das städtische Patriziat. Durch glückliche Spekulationen mit
städtischen Gründen und Grundzinsen, durch weitausgreifende
Unternehmungen im Warenhandel und Kreditgeschäft war dieser
Stand allgemach zur wohlhäbigsten und einflußreichsten Klasse
des Bürgertums geworden. Vermöge seiner Kapitalsmacht übte
er einen starken Druck auf die minder bemittelte Bevölkerung
aus, von der er sich, eine Art bürgerlicher Kaufmannsadel, in
X ) Vgl. Eberhard Gothe in, Wirtschaftsgeschichte des Schwarz-
waldes und der angrenzenden Landschaften, I. Bd., Städte- und Gewerbe-
geschichte, Straßb. 1892, S. 435.
2 ) Bechers Referat v. 1674.
3 ) Hallwich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., IL Halbb.,
S. 68 ff., 64 ff.
4 ) A. F. Pribram, das böhmische Kommerzkollegium und seine
Tätigkeit, in den n Beiträgen zur Geschichte der deutschen Industrie in
Böhmen", VI. Bd., Prag 1898, S. 55 ff.
5 ) Hall wich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., IL Halbb.,
S. 302.
22 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [412
Sitte und Lebenshaltung vollkommen getrennt hatte. Vieler
Orten gelang es den Patriziern, die gesamte städtische Ver-
waltung dauernd zu monopolisieren, zum Nachteil der übrigen
Bürgerschaft, die sich durch den „perpetuierlichen Rat a um
ihren Anteil am Stadtregiment gebracht sah 1 ). „In etlichen
Stätten," sagt Becher mit Beziehung auf dieses gemeinschäd-
liche Vorrecht, „seind die Ratsherren perpetuirlich, und darneben
von allen imposten und contributionen frey, kauffen die Grund
in ihren burgfrieden an sich, führen auch die Handelschaft,
machen, dass ihre Erben auch in den Rath kommen. Solcher
gestalt kompt die übrige Bürgerschafft umb die liegende Gütter
und negotiation, und muss gleichwohl die Last der gemein allein
tragen, also nothwendig verderben. Und wann man gleich, wie
denn Mit Leydenten Stätten 2 ) zu helffen, bisweilen zusammen
Kunfften, und deliberation hält, so kommen doch die Jenige von
den Stätten allein dazu, welche sich beßer, als die burger befinden,
auch zu weilen Ursach an der gemein Verderben seyn, nehmlich
die Rathsherren, welche auf Ihre Mühl Reden." 8 ) Großen Ein-
fluß besaß das Patriziat in Wien, wo nach der Stadtordnung von
1526, die bis 1783 in Kraft blieb, die 12 Mitglieder des Stadt-
rats aus der Mitte der behausten Bürger genommen wurden,
die aber kein Handwerk betreiben durften. Nur in den äußern
Rat von 76 Mitgliedern, der bloß die Bedeutung eines Beirats
hatte, konnten auch Handwerker gelangen 4 ).
Die Zentralisationsversuche, die in den zwei Jahrhunderten
seit Ferdinands I. Regierung auf dem Gebiete des Gewerbe-
wesens unternommen worden waren, trugen zu deutlich den
Charakter äußerlich-administrativer Vorkehrungen und er-
mangelten zu sehr der konkreten, durch eine Fülle von Wirt-
schaftsobjekten dargebotenen Anlässe, um dauernd wirken zu
können. Wie scharf auch die zahlreichen Handwerkerpatente
immer wieder den zentralistischen Standpunkt der Regierung
betonten — sie blieben eben nur Deklarierungen von Regierungs-
absichten, solange die vorhandenen Ansätze kapitalistischer
Wirtschaftsformen noch nicht zu tatsächlichen Stützen einer
zentralistischen Wirtschaftspolitik geworden waren. Überdies
aber mußten noch zwei Bedingungen hinzutreten, um die alte
*) Laschin, a. a. 0., S. 450 f.
2 ) S. S. 31 u. 81.
8 ) Bechers Referat v. 1674.
4 ) Luschin, a. a. 0., S. 446.
413] Gre Werbeelemente und Gewerbepolitik. 23
bodenständige, zugleich aber einheitlich organisierende Handwerks-
verfassung durch die formell zwar ebenfalls einheitlichen, ihrem
inneren Wesen nach jedoch individualisierenden und zersplittern-
den Wirtschaftsnormen der merkantilistischen Territorialpolitik
zu ersetzen : die endgiltige Wendung der Konsum enteninter essen
zur Luxuskultur des westeuropäischen Städtelebens und die
finanzielle Zwangslage des Staates, die der systematischen Aus-
nützung der gewerblichen Volkskraft insbesondere im Hinblick
auf die rivalisierenden Tendenzen der Nachbarterritorien nicht
länger entraten wollte. Alle diese Bedingungen begannen sich
für Osterreich in vollem Maße erst seit der Wende des 17. zum
18. Jahrhundert einzustellen.
Das Bestreben nach möglichster Beschränkung der Zunft-
autonomie und damit nach strenger Unterordnung des Hand-
werks unter die Grundobrigkeit und den städtischen Eat hatte
die österreichische Handwerkerpolitik schon seit jeher gezeigt.
Die Wiener Stadtverfassung von 1526, in der sich bereits ein
direkter Einfluß des römischen Rechtes konstatieren läßt, hebt
die Gerichtsbarkeit der Zünfte ausdrücklich auf, damit nicht der
Meister oder Knecht „jr selbs Richter seie". 1 ) In der gleichen
Richtung bewegen sich die Handwerkerordnung für die fünf
niederösterreichischen Länder von 1527, die wesentlich gleich-
lautende niederösterreichische Polizeiordnung von 1552 2 ), die
Landesverordnungen für Tirol 8 ) und die zahlreichen Patente des
16. und 17. Jahrhunderts gegen die Handwerker- „Mißbräuche".
Gegenüber den konservativen Preis- und Lohnsätzen der
Zünfte sucht die Regierung ihre sehr eingehenden, der jeweiligen
Preiskonjunktur angepaßten Taxen und Verordnungen zur
Geltung zu bringen. In der Taglohnsatzung vom 31. Mai 1673
für die Maurer, Zimmerleute und Tagwerker wird den Handels-
leuten und Handwerkern anbefohlen, die Preise ihrer Waren
herabzusetzen 4 ). In einem Bericht vom 15. März 1688 schreibt
die niederösterreichische Regierung an den Kaiser: „So ist man
auch sonderlich beflissen gewesen, die grosse Theurung, so seit-
hero der Türckischen Belagerung nicht allein in allen Comesti-
bilibus eingeschlichen, sondern auch durch die Handwercks-
x ) Franz Eulenburg, Das Wiener Zunftwesen, in der „Ztschr.
f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte,« Freib., II. Bd., S. 93 ff.
2 ) Ebend.
s ) Luschin, a. a. 0., S. 452.
4 ) Cod. Au str., II. T., S. 324 ff.
24 Die soz. u. wirtgchaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [414
Leuthe gleichsamb ad beneplacitum eingeführt worden, abzu-
stellen und in eine billiche Moderation, wie es modernus rerum
Status leidet, zu bringen. Und weilen es auch vorhin in diesem
Land an guten Satzungen nicht, sondern viel mehr an der
manutenenz ermanglet, als werden die Transgressores mit öffent-
lichen Bestraffungen angesehen, dardurch andern einen Schrocken
zu machen, und zur Observanz der Satzungen anzuhalten 1 )."
Am 21. Juni des darauffolgenden Jahres wurde eine Handwerker-
Preisordnung erlassen s ), auf deren Bestimmungen auch im Hand-
werkerpatent vom 9. Dezember 1689 hingewiesen wird 8 ).
Mit derselben Genauigkeit wurde auch die Frage der
lokalen Produktionsabgrenzung behandelt. Brandenburg hatte
auf diesem Gebiet bereits den entscheidungsvollen Schritt zur
Kombinationspolitik vollzogen, die beiden Teilen die Produktion
der strittigen Ware gestattete 4 ). Die österreichischen Behörden
standen hierin noch für lange Zeit auf dem Boden des zünftigen
Berufskonservatismus, eröffneten aber damit immer wieder die
Möglichkeit zu hartnäckigen Gewerbeprozessen, die erst mit der
detaillierten Festsetzung der beiderseitigen Produktionsbefugnisse
endigten. Die Riemer machten den Sattlern 5 ), die Schneider den
Pfaidlern 6 ), die Uhrmacher den Schlossern 7 ) ihre Produktions-
rechte streitig. Hiebei spielte der Unterschied zwischen den alt-
bürgerlichen und den unter dem zentral istischen Regime neu-
gegründeten Genossenschaften eine große Rolle. Langwierige
Kämpfe, die der niederösterreichischen Regierung und dem
Wiener Rat viel zu schaffen gaben, entbrannten zwischen dem
noch jungen (seit 1628 bestehenden) Gewerbe der Lustgärtner
und einigen verwandten bürgerlichen Zünften, wie denen der
Obstler, Greisler, Küchengärtner, Kranzeibinder u. s. w. Da die
Lustgärtner unter Regierungsjurisdiktion standen, richteten sich
die Angriffe der bürgerlichen Zünfte gewissermaßen gegen die
*) Joh. Quintin Graf Jörger, „Unterschiedliche Motiven,
Und Anders,« 4. T., 1690.
2 ) Cod. Austr., III. T., S. 290 ff.
3 ) Cod. Austr., I. T., S. 458 ff., P. 7.
4 ) Mor. Meyer, a. «. 0., IL Bd., Minden 1888, S. 26. --
„Man darf sagen : wie die Freimeisterschaft die Brücke zur subjektiven
Gewerbefreiheit schlug, so bereitete die Kombinationspolitik den Weg
zur objektiven Gewerbefreiheit vor" (ebend., S. 27).
5 ) Vergleich v. 11. Febr. 1682, Cod. Austr., IL T., S. 253.
6 ) Vergleich v. 21. Febr. 1698, Cod. Austr., IL T., S. 292.
7 ) S. S. 78 ff.
415 1 Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 25
Regierung selbst. Schon im Jahre 1678 hatten die bürgerlichen
Küchengärtner gelegentlich die von den Lustgärtnern feilgehal-
tenen Sämereien durch die Rumorsoldaten konfiszieren lassen.
Bürgermeister und Rat entschieden nun zwar im Jahre 1688
zu Gunsten der Lustgärtner und diese Entscheidung wurde gegen
den Rekurs der bürgerlichen Küchengärtner vom Kaiser bestätigt ;
ebenso errangen die Lustgärtner im Jahre 1709 einige Zugeständ-
nisse gegen die Greisler. Aber erst durch die Entscheidung vom
Jahre 1768 wurde der Streit endgiltig beigelegt, indem den Lust-
gärtnern als Hausoffizieren sowohl die Bestandnehmung von
Gärten als auch der Privathandel mit Blumen, Früchten und
grünen Waren verboten wurde 1 ).
Rein prinzipieller Art und ohne nachhaltige Wirkung in
der Praxis sind ferner die Bestimmungen der bereits genannten
Handwerksordnung von 1689 gegen die zünftigen Prohibitiv-
rechte. Das Patent wendet sich gegen den Gebrauch der „ge-
schlossenen Zünfte" und setzt fest, daß die Verminderung oder
Vermehrung der Mitgliederzahl Sache der Obrigkeit sein solle 2 ).
Diese Bestimmung wird in der „Renovatio Privilegiorum" vom
7. Juni 1706 wiederholt, jedoch mit dem Unterschied, daß nun-
mehr bloß von einer eventuellen Vermehrung der Mitgliederzahl
die Rede ist, die sich der Kaiser nach Notwendigkeit vorbehält 3 ) —
also zugleich eine Einschränkung der zünftigen wie der ständi-
schen Freiheiten. Gleichwohl enthält noch die Iglauer Tuch-
macherordnung vom 3. Mai 1725 eine Bestimmung, wonach die
Zahl der Innungsmitglieder auf 400 herabgesetzt wird 4 ). In der
Frage der Meisterprüfung sucht die Verordnung von 1689 einen
liberaleren Modus herbeizuführen, indem sie dem Wiener Magistrat
sowie den Ortsobrigkeiten auf dem Lande befiehlt, zu allen
Handwerksakten 1 oder 2 Kommissäre zu entsenden 6 ). Auch
sollen die übermäßigen Inkorporationskosten herabgesetzt
werden 6 ). Bezüglich des Unterschieds zwischen Haupt- und
Nebenladen wird den Wiener Zünften im allgemeinen bedeutet,
daß ihnen außer einer „prärogativen und schlechten recognition u
*) Karl U h 1 i r z, Die Bruderschaft der Lust- und Ziergärtner in
Wien bis zum Jahre 1768 (ohne Datum und Druckort), S. 19 ff.
2 ) Cod. Austr., I. T., S. 458 ff.
3 ) Ebend., III. T., S. 518.
4 ) Werner, a. a. 0., S. 106.
5 ) Cod. Austr., I. T., S. 458 ff., P. 4.
6 ) Ebend., P. 3.
26 Die 80z. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrh. [416
kein weiteres Recht gegen die Nebenladen zustehe, und daß die-
jenigen, welche sich in eine Filiallade einverleiben lassen wollen,
sich in Wien nicht anzumelden brauchen l ). Die Unehrlichkeits-
erklärungen sollen, unter weitgehendster Schonung der Sitte und
des Herkommens, möglichst eingeschränkt 2 ), die Kinder „unehr-
licher" Professionisten wieder zur Arbeit zugelassen werden 3 ).
Wie wenig Erfolg indes die letztere Maßregel hatte, bewies die
von Jahr zu Jahr wachsende Zahl der bettelnden Abdecker und
Gerichtsdiener. So wurde denn durch die Bettlerordnung vom
26. März 1693 neuerdings angekündigt, man wolle, „wann künff-
tig ein- oder mehr zu ihrer Eltern Profession nie applicirte
Kinder, die sich eines Ehren-Brieffs würdig zeigen wurden, vor-
kommen mögten, denenselben in Gnaden zuhelffen jedesmal eine
gnädigste Reflexion machen". 4 )
Die Kampfmittel des „Scheltens" und „Auftreibens", des
„Unehrlichmaehens" und „Nachschreibens" waren in der Hand
der Zünfte zu gefährlichen Waffen geworden^ Kaiser Ferdinand III.
hatte sich veranlaßt gesehen, einen eigenen Erlaß über das
„Schelten" herauszugeben 6 ). Der Erlaß verbietet das „Schelten"
da es wider natürliche Billigkeit und geschriebenes Kecht, sowie
auch gegen die Handwerksordnung Ferdinands I. gerichtet sei.
Der Schelter hat fürderhin seine Bezichtigung vor der» Orts-
obrigkeit des Gescholtenen binnen 14 Tagen vorzubringen und
innerhalb eines gesetzten kurzen Termins nachzuweisen, widrigen-
falls er an Geld und Leib gestraft wird, Abbitte und alle gebühr
liehe Satisfaktion leisten, sowie Unkosten und Schaden ersetzen
muß. Die Beweislast fällt immer dem Schelter, nie dem Beschul-
digten zu. Das Nachschreiben ist gänzlich untersagt. Doch setzt
die Behörde gelegentlich ihre eigene Verordnung außer Kraft.
So, wenn sie den bürgerlichen Hufschmieden von Wien aus-
drücklich die Erlaubnis des Nachschreibens erteilt für den Fall,
daß ein Handwerksbursch nach ungebührlichem Verhalten an
einen andern Ort entweicht 6 ). Oder wenn sie in einem andern
Falle die Scheltung der Gesellen und Lehrjungen selbst wieder
x ) Ebend., P. 5.
2 ) Ebend., P. 8, 10, 11, 12, 14, 15.
8 ) Ebend., Zusatz.
4 ) Ebend., I. T., S. 207.
5 ) Ebend., S. 463 f., Erlaß v. 26. Jänner 1656.
6 ) Ebend., S. 462, Verordnung v. 23. Aug. 1680.
417] Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 27
mit der Strafe des Scheltens bedroht 1 ). Derselben Inkonsequenz
macht sich ja noch die Reichsverordnung von 1731 schuldig.
Neben dem „ Schelten" ? das gleicherweise von Meistern und
Gesellen betrieben wurde, war insbesondere das „Schenken" und
„Zechen" der wandernden Gesellen samt allen damit zusammen-
hängenden Handwerksbräuchen Gegenstand der staatlichen Auf-
merksamkeit. Die zahlreichen Reichsverordnungen 2 ) und terri-
torialen Gesetze über den Gegenstand zeigen, welch große
Bedeutung die Behörde diesen Bräuchen beimaß. Für Nieder-
österreich waren schon unterm 1. August 1567 und unterm
12. November 1671 Patente erflossen, womit die Zusammenkünfte,
Kollationen, Abend- und Ausschenken der Gesellen bei schwerer
Ungnade und Strafe von 1 fl. Rh. verboten wurden 3 ). Durch
die Handwerksordnung von 1689 werden nun die „geschenkten
Handwerke" (Tuchscherer, Zinngießer, Sattler u. a.) mit Hin-
weis auf das bezügliche Verbot in den Reichsrezessen von 1548
und 1577 neuerdings gänzlich aufgehoben 4 ). Eine tatsächliche
Wirkung kam jedoch dieser „Aufhebung" ebensowenig zu wie
den meisten andern Handwerkerreglements dieser Periode.
Wirksam wurden die territorialen Verfügungen erst nach der
Durchbrechung der interlokalen Handwerkersolidarität durch
die Reichsgesetzgebung.
Wenn nun der in seiner Konstituierung begriffene moderne
Staat die Leitung des gesamten Produktionswesens sowie die
zünftige Gerichtsbarkeit an sich zu bringen sucht, so sind für
ihn hiebei in erster Linie fiskalische und steuertechnische Gründe
maßgebend. Die städtische Zunft mit ihrer strengen Kontrolle
der Produktion, mit ihrer starren Exklusivität gegenüber dem
Störergewerbe in Stadt und Land, bot einen trefflichen statisti-
schen Behelf für die Steuerkontingentierung, den der Staat vor-
erst nicht zu entbehren vermochte, wie oft man auch in der
Theorie die Aufhebung der Zunftinstitution in Betracht ge-
zogen hat 5 ).
*) Ebend., II. T., S. 279, Verordnungen v. 18. Aug. 1676 und
v. 14. Sept. 1677 in der Streitsache zwischen den Wiener und Grazer
Schnürmachern.
*) 1530, 1548, 1559, 1566, 1570, 1577, 1594, 1666 u. 1672;
letztere wurde erst 1726 publiziert (W. Stieda, Art. „Zunftwesen" im
Handwörterbuch der Staatswissenschaften, VI. Bd., 1894, S. 878 ff.).
8 ) Cod. Austr., I. T., S. 456 f.
4 ) Ebend., S. 458 ff., P. 13.
5 ) Mor. Meyer, a. a. O., I. Bd., S. 52 ff.
28 Die soz. u. Wirtschaft!. Lage am Ende des 17. Jahrh. [418
Die ungünstige Finanzlage Österreichs, die sich um die
Wende des 17. Jahrhunderts als ausgesprochene Geldnot bei
Hofe und in der ganzen Bevölkerung äußerte, hatte ein überaus
drückendes Steuersystem im Gefolge. Zur bisherigen Landes-
kontribution traten nunmehr die verschiedenen Formen der
„Akzise". Auf Vorschlag des Grafen J ö r g e r wurde im Jahre 1682
eine allgemeine Vermögenssteuer für alle Erbländer nach gleichen
Grundsätzen und ohne Befragung der Stände eingeführt 1 ) —
ein ganz außergewöhnlicher Vorgang, da im übrigen die Steuer-
verwaltung eine Aufgabe der Landschaften war 2 ). Wie im
Jahre 1667 bei einem ähnlichen Anlasse die Stände Branden-
burgs 8 ), so erhoben nun auch die österreichischen Stände hef-
tigen Widerspruch gegen die neue Steuer, deren zentralistische
Tendenz ihren partikulären Sonderinteressen zuwiderlief. Ein
Ausschuß aus allen Erbkönigreichen und Ländern, der im
Jahre 1696 zusammentrat, sprach sich gegen die Einführung
der geplanten Akzisen und Aufschläge aus. Tatsächlich wurde
damals die Akzise nur in Schlesien eingeführt, dessen Repräsen-
tanten zugestimmt hatten 4 ). Einen neuerlichen Protest erhoben
die niederösterreichischen Stände in der Landtagsschrift vom
29. November 1707 5 ). Doch zeigt die Vermögenssteuerordnung
vom 24. November 1702 6 ), daß die neue Steuer unterdessen in
den niederösterreichischen Landen Eingang gefunden hatte. Die
Ordnung bestimmt, daß die Meister neben ihrem Vermögen und
ihren Einkünften auch die Zahl der Gesellen attestieren und
außer ihrem Meisterskontingent (2 Gr. von jedem fl.) auch für
jeden Gesellen 1 fl., in den Städten zu Händen der Kommission,
auf dem Lande zu Händen des Herrn, zu erlegen haben. Dieser
Betrag sei jedoch vom Sold oder Lohn abzuziehen. In dieser
Form entsprach die Vermögenssteuer ungefähr der branden-
burgischen Akzise, die ebenfalls keine reine Konsumtionssteuer,
sondern eine direkte Grund-, Gewerbe- und Kopfsteuer war 7 ).
*) Luschin, a. a. O., S. 479, Gutachten vom 14. April 1679.
2 ) Ebend., S. 474.
8 ) Mor. Meyer, a. a. 0., I. Bd., S. GO ff.
4 ) H. J. Bid ermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staats-Idee,
a. a. 0., II. Abt., S. 98, Anm. 19.
5 ) Ebend.
6 ) Cod. Austr., II. T., S. 369 ff.
7 ) Mor. Meyer, a. a. 0., I. Bd., S. 60 f. Die erste Akzise-
Ordnung (für Berlin — Köln) erging schon im Jahre 1641; fakultativ
419J Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 29
In Böhmen und Glatz wurde die Akzise als Klassensteuer ein-
geführt x ) — mit welchem Erfolg, besagt ein Passus in der Chronik
der Stadt Komotau: „Was der Accis ist, das weiß Böhmerlandt
schon zu sagen, nachdem er 1709 unter Kaiser Josef I. ein-
geführt; 1714 aber durch Karl VI. wieder aufgehoben worden.
Während dieser Dauer: da wurden Bettelleuth! aa )
Was die Stände zur Opposition gegen die Akzise trieb, war
insbesondere auch der Umstand, daß sie durch die staatliche
Gewerbesteuer ihre eigenen Patrimonialrechte gegenüber den
Zünften angegriffen sahen. Dies zu verhindern hatten die Stände
ein wesentliches materielles Interesse. An vielen Orten handelte
es sich der Grundobrigkeit um die erfolgreiche Vertretung von
Besitzansprüchen und Steuerforderungen, deren Geltendmachung
sowohl gegenüber einer autonomen als auch gegenüber einer
staatlich reglementierten Körperschaft sich naturgemäß sehr
schwierig gestalten mußte. Erfolg hatten indes die ständischen
Bestrebungen nur in der ersteren Beziehung. Während sich noch
im Jahre 1651 die ßeichenberger und Friedländer Bürger in
einer gegen die Grundobrigkeit gerichteten Eingabe an die
Prager Statthalter als des Königs freie Kronlehensuntertanen
bezeichnen 8 ), sieht sich im Jahre 1706 die Reichenberger Tuch-
macherzunft, die stärkste in ganz Böhmen, bereits genötigt, eine
Einladung der Jungbunzlauer zu gemeinsamem Vorgehen gegen
die sächsischen Tuchhändler mit der Motivierung abzulehnen,
daß die Reichenberger Tuchmacher, als ihrer „gnäd. Erb- und
Grundt-Obrigkeit Leibeigene Untertanen" nicht in der Lage
wären, selbständige Verfügungen zu treffen 4 ). In den nieder-
österreichischen Ländern kommt der Konflikt zwischen den
Ständen und Handwerksgenossenschaften beim Regierungsantritte
Leopolds I. zum Ausbruch. Den Handwerkerzünften war die
Erlaubnis erteilt worden, sich nach der Ankunft des Kaisers aus
Frankfurt um die Bestätigung oder Erweiterung ihrer Privilegien
zu melden. Durch eine Mitteilung der deputierten Räte vom
und versuchsweise wurde die Akzise in Brandenburg im Jahre 1667
eingeführt (ebend.).
x ) Cod. Austr., III. T„ S. 574 ff.
3 ) H. J. Bidermann, Die technische Bildung im Kaisertume
Österreich, a. a. 0., S. 17 f.
s ) Hallwich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb.
S. 265 ff.
4 ) Hübner, a. a. 0., S. 78 f.
30 Die soz. u. wirtschaftl. Lage am Ende des 17. Jahrb. [420
28. Mai 1658 hievon unterrichtet, betonten die 3 Stände ihr
Recht, vor irgend einer diesbezüglichen Entscheidung des Herr-
schers vernommen zu werden, da sonst „den Landesmitgliedern,
an ihrer Jurisdiktion merklich Eingriff geschehe". Die Regierung
forderte nun die Stände auf, ihre Beschwerden vorzubringen.
Die Stände verharrten auf ihrem vermeintlichen Rechtsstand-
punkte 1 ). Erst im Jahre 1661 entschlossen sie sich zur Formu-
lierung ihrer Beschwerden, die in der Handwerksordnung von
1689 2 ) volle Berücksichtigung fanden. Die Verordnung verbietet
in erster Linie die Erteilung von Privilegien an „Künstler" und
Handwerker ohne Konsens der Obrigkeiten, sowie die Präterier-
ung der Grundobrigkeit als erster Instanz durch die klage-
führenden Zünfte. Dieser Einfluß der Stände auf das Gewerbe-
wesen erscheint auch im Reichsschluß von 1731 festgehalten.
Sehr deutlich spiegelt sich die Verschiebung der Machtver-
hältnisse in den stetig wachsenden Ansprüchen der grundherr-
lichen Steuerverwaltung, besonders dort, wo ein betriebsames
Gewerbe eine ausgiebige Besteuerung zu ermöglichen schien.
Außer der regulären Urbarsteuer, dem Hausgulden der Unter-
tanen 3 ), wurde unter allen möglichen Titeln eine große Zahl
außerordentlicher Steuern eingehoben. Da gab es „Walkmühlen-
zinse", „Stuhlgelder", „Ortstaler", „Weberzinse" 4 ) und Natural-
abgaben 5 ), deren Erträgnisse oft reichlicher waren als die der
sämtlichen obrigkeitlichen Dorfschaften 6 ).
Außer der spezifischen Gewerbesteuer forderte auch der
Staat noch zahlreiche andere außerordentliche Abgaben. In dem
Zeitraum von 1650 bis 1710 ergingen Steuerausschreibungen auf
Vieh, Leder, Fleisch, Papier, Tabak, Straßenbenützung, Wein-
ausfuhr, Salzgenuß, Tanzvergnügen, Handelsbefugnis und Kapital-
besitz 7 ). Um dem drohenden finanziellen und militärischen
x ) A. F. Pribram, Die niederösterreichischen Stände und die
Krone in der Zeit Leopolds I. (Mitteilungen des Instituts für österr.
Geschichtsforschung, 14. Bd., S. 589 ff.)
2 ) Cod. Austr. I. T., S. 458 ff., erweitert am 9. Dezember 1689
(ebend.).
8 ) Luschin, a. a. 0., S. 474.
4 ) Nähere Zahlenangaben bezüglich der Reichenberger Verhältnisse
bei Hall wich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb., S. 318 ff.
und bei Hübner, a. a. 0., S. 68.
6 ) Bechers Referat von 1674.
6 ) H a 1 1 w i c h, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb., S. 367.
7 ) Bidermann, Die technische Bildung im Kaisert. Osten*.,
a. a. 0., S. 17 f.
421] Gewerbeelemente und Gewerbepolitik. 31
Zusammenbruch vorzubeugen, beantragte der Präsident der
Hofkammer, Graf Starhemberg, am 11. Dezember 1703 in
geheimer Konferenzsitzung neben andern außerordentlichen
Steuern auch die Einziehung verschiedener Depositengelder
sowie der Kapitalien in den Laden der Zünfte als Zwangsanleihe
gegen Rückzahlung nach Friedensschluß. Man beschränkte sich
jedoch darauf, den betreffenden Amtern und juristischen Per-
sonen ein „freiwilliges" Subsidium abzufordern, das allerdings
keinen nennenswerten Ertrag lieferte 1 ).
Wie Zunft- und Steuerpolitik, so verquickte man auch Zunft-
und Steuerreform. Charakteristisch für die leitenden ökonomischen
Grundsätze jener Zeit ist das bereits angeführte anonyme Steuer-
projekt aus der ßegierungsperiode Karls VI. 2 ) Der Vorschlag
geht dahin, es möge eine neue Handwerksordnung erlassen
werden, worin insbesondere die großen Unkosten beim Eintritt
in die Meisterschaft abzustellen wären. Dafür solle man eine
Zunftsteuer einheben. Es werde z. B. einem Schlosser leichter
fallen, dem Arar jährlich 10 — 12 fl. zu erlegen, als die 300 und
mehr fl. zu entrichten, die er zur Erlangung der Meisterschaft
brauche, abgesehen von den sonstigen Jahresbeiträgen an die
Zunft. Dadurch ließe sich eine jährliche Steuersumme von
63.242 fl. erzielen. Das Projekt kam zwar nicht zur Ausführung,
doch findet sich eine ähnliche Idee bereits im Patent vom 12. April
1725 verwirklicht, das den Ausfall einer Steuersumme von 17.626 fl.,
die den 18 sogenannten „mitleidenden" Städten und Märkten in
Niederösterreich von ihrer jährlichen Kontributionsquote abge-
schrieben worden war 3 ), durch die Einkünfte aus der Erteilung
der Schutzdekrete zu ersetzen sucht 4 ).
*) Franz Freih. v. Mensi, Die Finanzen Österreichs von 1701
bis 1740, Wien 1890, S. 95 ff., Anm. 3, S. 97.
2 ) S. S. 81.
3 ) Die 18 „mitleidenden" Städte und Märkte hatten die Hälfte
jenes Fünftels der jährlichen Landeskontribution beizusteuern, das in
Niederösterreich auf den 4. Stand entfiel. Diese Quote wurde auf die
einzelnen Häuser je nach Maßgabe ihres kapitalisierten Ertragswertes
und des Einkommens aus Handel und Gewerbe aufgeteilt. (Mens i, a. a.
0., S. 17 ff.)
4 ) Referat der Hofkanzlei v. 12. Aug. 1741 (auf Verlangen der
Königin) über die Zahl der Hofbefreiten und Schutz verwandten zu Wien
sowie über ihre konfessionellen Verhältnisse, Ms. im Arch. des Min.
des Innern, IV. F. 28, Gewerbe in genere, N.-Öst. 1522 — 1749;
s. S. 182 f.
32 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [422
III. Die Anfange der merkantilistischen Gewerbe-
und Wirtschaftspolitik.
1. Die Vorbereitung des Merkantilismus durch
die österreichischen Staatsökonomen,
Der erste Anstoß nach der merkantilistischen Richtung
hin ging in Osterreich von dem Westdeutschen Dr. Johann
Joachim Becher 1 ) aus, der nach mehrjähriger Tätigkeit in
kurmainzischen und bairischen Diensten seit Anfang des Jahres
1666 in Wien 2 ) wirkte, wo er sogleich eine Reihe kommerzieller
und industrieller Neuerungen ins Leben rief. Seine Vorbilder
suchte er in der Wirtschaftspolitik der westeuropäischen Länder,
insbesondere in denjenigen Hollands. Der politische Aufschwung
dieses Landes, sagt er in seinen „Politischen Discursen", sei
einzig und allein aus seinen kommerziellen Erfolgen zu erklären.
Nur vermöge seiner großen Handelsmacht sei es in der Lage,
so kostbare Kriege zu führen 8 ). Als seine Hauptaufgabe be-
trachtete Becher den Kampf gegen die wirtschaftliche Über-
macht Frankreichs. Tatsächlich war die Gefahr einer französi-
schen Weltherrschaft vielleicht niemals größer als zur Zeit
Ludwigs XIV 4 ). Wenn jedoch Becher die wirtschaftliche Ab-
*) Geb. zu Speier 1635, gest. zu London 1682 (Oppenheim
in der „Allg. deutschen Biographie", 2. Bd. Lpz. 1875, S. 201 ff.). —
Von den Naturwissenschaften ausgehend lernte Becher auch Handwerke
und Handwerksgebräuche kennen und geriet auf diesem Wege — seiner
eigenen Angabe zufolge — in das Studium politicum und juridicum
(ebend.).
2 ) Becher, Politische Discurs, a. a. O., S. 419 f.
3 ) Ebend., S. 174 f,
4 ) Ausführlich äußert sich hierüber Joh. George Leib in seinem
Werk: „Von Verbesserung Land und Leuten, und wie ein Regent seine
Macht und Ansehen erheben könne" (Lpz. u. Frkf. 1710, „Vierdte
Probe," Vorrede) : Er habe schon von Anfang an die Meinung geäußert,
daß man dem Bourbonischen Hause Spanien nicht überlassen dürfte,
„ sintern ahln Franckreich, was zur Oeconomia regia gehöret, exact ver-
stehet, und dieserwegen die unarbeitsamen Spanier, wie es bereits schone
thut, mit seiner ingenieusen Nation so viel immer möglich meliren, hie-
durch aber die anjetzt in Spanien gäntzlich darnieder liegende Manu-
facturen in kurtzen auf einen weit andern Fuß setzen, mithin seine
Commerzien vor allen andern Reichen erheben und ausbreiten, Engel-
und Holland vornehmlich umb die Ihrigen bringen und hiedurch ein
Reich und Land nach dem andern mit viel leichterer Mühe als sonsten
unter sein Joch zwingen, auch die ihme bißanhero gantz unmöglich ge-
machte Universal-Monarchie umb so viel eher ins Werck richten würde."
423] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonomen. 33
hängigkeit der Deutschen von Frankreich und insbesondere die
Nachahmung des französischen Modewesens verspottet, so handelt
er zwar von seinem kulturellen und nationalen Standpunkt aus
ganz folgerichtig, aber dieser franzosenfeindlichen Haltung
widerspricht seine eigene Tätigkeit als Nationalökonom. Seine
Theorie atmet den Geist des Colbertismus. Der Mißerfolg seiner
Unternehmungen ist nicht in letzter Linie darauf zurückzuführen,
daß er Maßregeln und Einrichtungen, die sich in Frankreich als
zeitenreif erwiesen hatten, unter ganz anders gearteten Vor-
bedingungen ohneweiters auf österreichischen Boden zu ver-
pflanzen gedachte.
Als Zentralstelle für die Einführung und Verteilung der
neuen Manufakturen 1 ) wurde zunächst im Februar des Jahres
1666 das Wiener Kommerzkollegium gegründet 2 ) und Becher, der
hiezu die Instruktion geliefert hatte 8 ), als Rat in dasselbe auf-
genommen 4 ). Allein die Sitzungen des Kollegiums fanden sehr
selten und unregelmäßig statt. Auch eine Beschwerde, die Becher
hierüber zu Ende des Jahres 1671 an den Kammerpräsidenten
Grafen Georg Ludw. von Sinzendorf richtete 5 ), hatte keinen
Erfolg. Hauptsächlich um die Notwendigkeit der Wiederher-
stellung des Kommerzkollegiums darzulegen, überreichte er dem
Kaiser am 11. Mai 1674 das bereits mehrfach erwähnte Referat
über die erbländischen Handels- und Gewerbeverhältnisse. Er
führt darin aus, daß dieses Institut in den meisten europäischen
Ländern schon bestehe ; so in Spanien (praesidente de la contrac-
tion zu Sevilla, Junta de medios zu Madrid), Schweden, Däne-
nark, Frankreich, England, Holland, Brandenburg 6 ) und Sachsen.
Das österreichische Kommerzkollegium dagegen sei sogleich in
seiner Blüte erstickt. In den 8 Jahren seines Bestehens hätten
nicht 8 Ratssitzungen stattgefunden 7 ). Der Handwerkerstand
*) Als Hauptmanufakturen hatte. Becher die Seiden-, Woll- und
Leinenmanufaktur ins Auge gefaßt (Becher, Politische Discurs, a.a.O.,
S. 454 ff., 466 ff., 474 ff.).
a ) Ebend., S. 481 ff.
3 ) Die Instruktion wurde am 22. Febr. 1666 vom Kaiser rati-
fiziert, ebend.
4 ) 4. Febr. 1666, ebend., S. 492 f.
5 ) Hatschek, a. a. 0., S. 23.
6 ) Mor. Meyer, a. a. 0., I. Bd., S. 99, verlegt die Errichtung
des brandenburgischen Kommerzkollegiums in das Jahr 1684, ebenso
Mas eher, a. a. 0., S. 356.
7 ) Bechers Referat v. 1674, a. a, 0., 3. Kap.
Wiener staatewias. Stadien. IV. Bd., 3. Heft. 28
34 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [424
bedürfe der Aufsicht. Es sei sehr bedenklich, ein solch großes
„Corpus" „ohne Rath, Regierung und Direction zu lassen".
Gegenwärtig habe die Obrigkeit bloß in Recht- und Schuld-
sachen mit den Gewerbsleuten zu tun. „Was aber ihr auf-
nehmen in Handwerk (woran gleichwohl gemeiner Handel und
Wandel meisten theils ligt) betrifft, da ist niemand, der sie
höret, noch sich ihrer annimbt, Eben als wann nicht an
100.000 Mann Bürger und derer Nahrung dem gemeinen Wesen
wo nicht mehr dannoch so viel gelegen wäre, als an 100.000
Soldaten im Feld, welche zu Regiren und zu Ernähren um so
viel Kostbare und Theuere Generalen, Obristen, Offizir, Com-
mißarien etc. erfordert und erhalten werden, da doch solches
bey allen disen Handwercks Leuten zu practiren etwan ein
Commerzien Collegium von sechs oder acht personen sufficient
wäre." x ) Dem Kommerzkollegium fiele ferner die Aufgabe zu ?
über Vorschläge und Erfindungen von „Plantagien" und Manu-
fakturen zu beraten, deren er einen ganzen Katalog beifügen
könne 2 ). Die ersten Meister und Manufakturisten müsse man
aus dem Ausland berufen. Einem eventuellen Einwand, daß auf
diese Weise Ketzer ins Land kämen, hält er entgegen, daß die
besten Meister in Italien, Frankreich, Brabant, Holland und in
der Schweiz zum größten Teil katholisch wären. „Wann Anstalt
und Verlag 3 ) an der Hand wären," führt er dann fort, „getraute
x ) Ebend., 1. Kap.
2 ) Schon am 15. Dez. 1668 hatte Graf Sinzendorf für seine
Seidenfabrik in Walpersdorf, die nach den Plänen Bechers errichtet
worden war, ein Privilegium auf 15 Jahre erlangt (Becher, Politische
Discurse, a. a. O., S. 506 ff.); überdies war mit Erlaß v. 1. Mai 1669
trotz des Protestes der Wiener Kaufleute (ebend., S. 503 ff.), die aus
dem Handel mit ausländischen Seidenwaren großen Gewinn zogen, eine
Seidenkompagnie gegründet und zugleich die Seideneinfuhr verboten
worden (Cod. Austr., II. T., S. 296 f.). Becher empfiehlt nun im
Referat, die ganze Seidenmanufaktur und -fabrikation, sowie die Gold-
und Silberweberei von der Kompagnie und vom Hofkammerpräsidenten
zu erhandeln und nach Tirol zu verlegen, die Leinenmanufaktur und
den Leinenhandel in dem „Ländel ob der Enns u und in Schlesien zu
restabilieren, die Ledermanufaktur in Böhmen, die Wollmanufaktur in
Mähren und Österreich und endlich die Textilindustrie im allgemeinen
in den „mitleidenden Städten" einzuführen, die dadurch „populirt" und
wieder „nahrhaft" gemacht werden könnten. (Referat v. 1674. 4. Kap.;
über die „mitleidenden Städte" vgl. S. 22, 31 u. 81.) Die Vorschläge
Hörnigks bezüglich der Verteilung der Manufakturen weichen in manchen
Punkten von denjenigen Bechers ab. (Vgl. Horni gk, a f a. 0,, S, 253 ff.)
3 ) = Vorschuß („Vorlage").
425] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonomen. 35
ich mir Jährlich auf 1000 Familien in die Erbland zu bringen
und hielte dise Werbung so nutzlich, als Soldaten werben, dann
dadurch kompt ein Land in populosität und Nahrung." Die fremden
Meister möge man privilegier en oder in privilegierte geschlossene
Handwerke reduzieren 1 ). Zur Hereinbringung der 2 Tonnen
Gold, die man jährlich zur Ausführung aller dieser Maßregeln
benötige, beantragt Becher eine Auflage von 1 — 2 kr. per Tag
auf jeden der 100.000 Handwerker ; das ergäbe für jeden Hand-
werker monatlich 1 / 2 — 1 fl., also insgesamt eine jährliche Steuer-
summe von 600.000 — 1,200.000 fl. Eine solche Besteuerung
hielte er nicht für beschwerlich, da seiner Meinung nach Meister
und Gesellen an Feiertagen für gewöhnlich doppelt so viel ver-
spielen und vertrinken ; auch wäre die Auflage durch den Hand-
werker vom Käufer hereinzubringen 2 ).
Die Schrift hatte nicht die gehoffte Wirkung. Das
Kommerzkollegium wurde in der nächsten Zeit nicht mehr ein-
berufen.
Die Ablehnung der administrativen Grundlage entschied
zugleich den Mißerfolg der weitreichenden Industriepläne
Bechers. Was ihm noch fernerhin gelang, trägt den Charakter
der Vereinzelung und des Experiments an sich. Der erste und
einzige dauernde Erfolg ward ihm in der Zuchthausfrage zu teil.
„Die Bettelleuth zu zwingen und von der Strassen zu halten"
gab es seiner Anschauung nach kein besseres Mittel als ein
„Zucht- und Werckhaus" 3 ). Damit wäre zugleich ein industrieller
Vorteil verknüpft. Er kann diejenigen nicht loben, die verordnen,
daß man die Bettler vertreibe. Ja er würde sogar empfehlen,
fremde Bettler zu industriellen Zwecken ins Land zu bringen 4 ).
Auf seine Anregung hin begann» man im Jahre 1671 mit der
Errichtung eines Zuchthauses in der ehemaligen Judenstadt zu
Wien 5 ). In dieses Haus sollten zufolge der Instruktion vom
24. Juli 1671 nicht nur das herrenlose und zahlreiche Bettler-
volk und sonstiges schlimmes Gesindel, wie leichtfertige Weibs-
personen und Kupplerinnen, sondern auch die „trutzige Dienst-
boten" und die „unbändige Handwercks-Pursch" gebracht
werden. Insbesondere Wurden solche Leute mit dieser Strafe
x ) Referat v. 1674, a. a. O., 4. Kap.
a ) Ebend., 6. Kap.
8 ) Politische Discurs, a. a. O., S. 172.
4 ) Ebend., S. 244.
5 ) Ebend,, S. 643 ff.
28*
36 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [4^6
bedroht, die sich mit ihrer Hände Arbeit selbst erhalten konnten L ).
Auf Bechers Antrag ist ferner die Errichtung eines Zentral -
arbeitshauses in Wiener-Neustadt zurückzuführen 2 ). Aber erst
unter der Regierung Karls VI. wurden die Zwangsarbeitshäuser
in Osterreich allgemein eingeführt 8 ).
Nicht so leicht als die Dekretierung der Zwangsarbeit war
die Schaffung einer Anstalt für freiwillige industrielle Arbeit.
Das Institut, dessen sich Becher für diesen Zweck bediente, war
das „Kay serliche Kunst- und Werckhaus", späterhin das Manu-
fakturhaus auf dem Tabor genannt 4 ). Worauf es den beteiligten
Kreisen ankam, geht aus dem „Accord a vom 21. Mai 1675 her-
vor, der zwischen Becher und dem Hofkammerpräsidenten
Grafen von Sinzendorf abgeschlossen wurde 5 ). Dem „Accord"
zufolge fragte Sinzendorf zunächst nach einem „fundus", „damit
man bei diesen schwähren Zeiten die hochbenöttigten Geltmitteln
nit aus der Kays. Cammer-Cassa dahin anwenden müsse;"
worauf dann Becher in einem Aufsatz einen Plan auseinander-
setzte, wie man metallische Farben, für die nach seiner Berech-
nung über 100.000 Rtl. ausgegeben wurden 6 ), mit Hilfe eines
chemischen Laboratoriums selbst erzeugen könne; auch seien
ihm gewisse chemische und mechanische Industrien, wie Berei-
tung der Majolic, Verstärkung der Weine, Zeitigung der Metalle
und vorteilhafte Goldscheidungen, ferner Bereitung, Spinnung
und Verwebung der Wolle zu allerhand Zeugen bekannt,
„welches alles bis dato noch nit in den Erblanden gebräuchlich,
läuffig, zünfftig a sei, daher leicht privilegiert und ohne jemandes
Präjudiz und Schaden leicht eingeführt werden könne 7 ). Mit
einem Kapital von 7000 Rtl., die ihm für das Unternehmen
zur Verfügung gestellt worden waren, nahm Becher den Bau
des Manufakturhauses in Angriff 8 ). Schon am 19. März 1676 ist
er in der Lage, dem Kaiser in einem Referat mitzuteilen, daß
das Haus erbaut und eingerichtet sei und nur mehr der „Con-
tinuation" bedürfe. Das Manufakturhaus war als ein staatliches
x ) Cod. Austr., II. T., S. 545 ff.
2 ) Becher, Politische Discurs, a. a. O., S. 649.
3 ) Bid ermann, a. a. 0., IL Abt., S. 66 und 305, Anm. 186.
4 ) Hatschek, a. a. O., S. 25 ff.
5 ) Ebend., S. 75 f., Beil. I.
6 ) Ebend., vergl. die übereinstimmende Berechnung Hörnigks,
a. a. 0., S. 254.
7 ) Ebend.
8 ) Ebend., S. 34 ff.
426] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonomen. 37
Gewerbeunternehmen geplant, das eine Anzahl teils neuer, teils
wenig ausgeübter Gewerbe in sich vereinigen sollte 1 ). Daß es
nur als Musteranstalt gedacht war, deutet darauf hin, daß
Becher in derselben Richtung eine durchgreifende Aktion großen
Stiles vorbereitete. Becher war kein Anhänger der Zunftauf-
hebung; er hält im Gegenteil die — allerdings staatlich beauf-
sichtigte — Zunft wegen des Fehlens der ausländischen Kon-
sumtion in Deutschland für unentbehrlich 2 ). Aber seine fabriks-
mäßigen, auf dem Prinzip der kumulativen Produktion beruhenden
Unternehmungen waren, wenn sie durchdrangen, ganz darnach
angetan, die Zunftinstitution ihrem innern Wesen nach zu ent-
werten. Daher der Widerstand, insbesondere von Seiten des
handeltreibenden Bürgertums, das sich übrigens bereits durch
die Becherschen Kompagnieprojekte 3 ) direkt angegriffen fühlte.
Das Privilegium für das Manufakturhaus wurde am 15. Oktober
1676 erteilt. Becher mußte jedoch über Einflußnahme Sinzendorfs
einen für das Unternehmen sehr ungünstigen Revers unter-
schreiben 4 ), worin er sich verpflichtete, als Entgelt für das
Privilegium dem Kaiser 2 Prozent aus dem Erlös aller fabri-
zierten und verkauften Waren „als gebürende recognition",
ferner den gewöhnlichen Zollaufschlag und dergleichen Gebühren
sowie die kaiserlichen Steuern ordentlich und unverweigerlich
zu entrichten. Er sah sich also enttäuscht, wenn er gehofft hatte,
daß man das Unternehmen als ein staatliches betrachten und
dementsprechend fördern werde. Auch das Rechtsverhältnis war
ein unhaltbares. Bechers Stellung war die eines übrigens wenig
begünstigten Privatunternehmers, der den Intriguen des leicht-
fertigen Sinzendorf und den Anfeindungen seitens der Wiener
Kaufleute schutzlos preisgegeben war. Da den Arbeitern der
Lohn nicht regelmäßig bezahlt werden konnte, war es seinen
Widersachern ein leichtes, sie der Fabrik abspenstig zu
1 ) Es enthielt ein großes chemisches Laboratorium, worin u. a.
die „Wahrheit und Nutzbarkeit der Alchymi", einer Lieblingswissen-
schaft des Kaisers, demonstriert werden sollte, ferner eine Werkstatt
zur Herstellung von Majolicgeschirr und Hausgeräten, eine Apotheke,
eine Seidenmanufaktur mit 3 Bandmühlen, eine Wollmanufaktur als
Hauptzweig aller Industrien, eine venetianische Glashütte und eine
„Schellenbergische Schmelzhütte" für Gold- und Silbererze (ebend.).
2 ) Becher, Politische Discurs, a. a. 0., S. 115,
•) Vergl. ebend., S. 503 ff., 609 ff., 763 ff., 172.
4 j Hatschek, a. a. 0., S. 81, Beil. III.
38 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [428
machen 1 ). Die Waren fanden wenig Absatz, der Betrieb stockte,
die Instrumente wurden verschleppt und zerstört. Nur die Band-
manufaktur, die einigermaßen Anklang fand, blieb erhalten; sie
wurde aus dem Hause genommen und dem Bischof Rochas über-
geben, der schon seinerzeit für die Berufung Bechers gewirkt
hatte 2 ). Becher war bereits zu Ende des Jahres 1676 von Wien
abgereist, teils um das Reichsedikt vom 7. Mai 1676 wegen Ver-
bietung und Konfiskation französischer Waren zur Durchführung
zu bringen, teils um in Westdeutschland und Holland tüchtige
Manufakturmeister für das Manufakturhaus anzuwerben. Es ist
wahrscheinlich dem Einflüsse Sinzendorfs zuzuschreiben, daß
Becher von dieser Reise nicht mehr nach Wien zurückkehrte 3 ).
Die Leitung des Manufakturhauses wurde nun an Wilhelm
Freiherrn v. Schröder übertragen. Dieser hatte schon im
Jahre 1674 dem Kaiser ein ausführliches Gutachten über den damali-
gen Zustand der Manufakturen in den Erblanden überreicht und
Vorschläge erstattet, „wie die Commerzien befestigt, ersprießlich
erweitert, perpetuiert und in specie zu dero kaiserlichem Cameral-
nutzen eingerichtet werden möchten". 4 ) Wahrscheinlich war das
Werk unter Schröder noch im Betrieb 5 ). Während der Türken-
belagerung brannte das Haus bis auf den Grund nieder 6 ). Als
man nach der Errettung aus der Türkengefahr die Notwendig-
keit fühlte, das Gewerbewesen aufs neue zu beleben, wurde auch
die Wieder erbauung des Manufakturhauses ins Auge gefaßt.
Schröder verlangte im Jahre 1684 von der Hofkammer, deren
Präsidium nach der Absetzung des Grafen Sinzendorf (1679) und
nach dem Tode seines Nachfolgers, des Freiherrn v. Abele, an
den Grafen Andreas Rosenberg übertragen worden war, die un-
entgeltliche Überlassung des Grundes und beantwortete die Fragen
einer für diese spezielle Angelegenheit eingesetzten Kommission
mit einer Schrift unter dem Titel : „Gehorsamer Bericht Wilhelm
v. Schröders wegen Wiedererbauung des Manufacturhauses aufm
Tabor". 7 ) Hatte Becher vor allem die kommerzielle Seite der
x ) Ebend., S. 42 ff., 48, 50 f. Vergl. S. 59 f.
2 ) Ebend., S. 51, 45.
8 ) Ebend., S. 49 f.
4 ) Röscher, a. a. 0., S. 294; Marchet in der „Allg. deut-
schen Biographie", 32. Bd., Lpz. 1891, S. 531.
5 ) Hatschek, a. a. 0., S. 57.
6 ) Ebend., S. 57 f.
7 ) Ebend., S. 81 ff., Beil. III.
429] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonomen. 39
Angelegenheit betont, so beschäftigte sich Schröder, gewitzigt
durch die seinem Vorgänger in den Weg gelegten Hindernisse,
hauptsächlich mit der rechtlichen Stellung des Manufakturhauses,
mit seinem Verhältnis zu den staatlichen und zünftigen Behörden.
Dem genannten Bericht zufolge dachte sich Schröder das Manu-
faktürhaus 1. als eine staatliche oder doch vom Staat privilegierte
Anstalt zur Ausbildung tüchtiger Handwerker; 2. als eine
gewerbliche Musteranstalt und 3. als Mittel zur Hebung von
Export und Import 1 ). Bezüglich seiner leitenden Grundsätze
verweist Schröder auf ein Gutachten, das er seinerzeit für einen
Reichsstand ausgearbeitet habe 2 ). Als das Hauptübel des ganzen
Gewerbewesens bezeichnet er in diesem Gutachten die „Innungen
und narrischen Handwerksordnungen der Zünffte u , deren von
alten römischen Kaisern überkommene Privilegien nicht eher
abgeschafft werden könnten, solange nicht „communi cönsensu
statuum Imperii" auf dem Reichstage vorgegangen würde. In-
zwischen aber könne diesem Unwesen durch die Erriehfcmg
eines Manufakturhauses auf die einfachste Art ein Riegel vor-
geschoben werden. Dieses Haus solle eine Freistätte sein für
alle nicht zunftmäßigen Handwerker, sie kämen wo immer her.
Dabei müßte das Haus kein die Rechte der Zunft einschränkendes
Privilegium bekommen. Es würde genügen, den im Hause
beschäftigten Handwerkern das Recht zu erteilen, das Handwerk
ungehindert im Hause zu lehren und ihre Lehrlinge, „sobald sie
zur perfection kommen, a ohne Rücksicht auf die Zahl der Lehr-
jahre freizusprechen. Die Freigesprochenen sollten befugt sein,
sich im ganzen Lande wo immer niederzulassen, ihr Handwerk
frei auszuüben und Lehrlinge auszubilden. Vom Wanderzwang
wären sie befreit. Die Lehrlinge müßten im Hause eingeschrieben
werden und der Lehrbrief würde „sub sigillo des Hauses" aus-
gestellt, so daß zwischen dem Manufakturhause und den schon
außerhalb Wohnenden immer ein gewisser Zusammenhang
bestünde. So könnte sich die Einrichtung im ganzen Lande
verzweigen. Diese Handwerksbetriebe würden sich sehr rasch
vermehren, erstens, weil eine große Zahl der Lehrjahre sowie
die Wanderpflicht wegfielen, und daher jeder binnen kurzer
Zeit in der Lage wäre, sich niederzulassen, Geld zu gewinnen
und Lehrjungen aufzunehmen, dann aber auch aus dem Grunde,
*) Ebend., S. 62 f.
2 ) Ebend., S. 87 ff., Beil. IV.
40 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [430
weil die betreffenden Handwerker von den Zünften nicht
gelitten würden und daher im Lande bleiben müßten, um dort,
wo sie privilegiert sind, ihr Handwerk zu treiben. Sie könnten
sieh also nicht verlaufen und es sei gut so ; denn „nicht das im
Lande herumblauffen, sondern das fleissige arbeiten perfectionirt
einen solchen Kerl a . Jeder von diesen Handwerkern könne ins
Manufakturhaus kommen, um alles zu besichtigen und sich von
den Werkmeistern informieren zu lassen. Bezüglich der Art der
Privilegierung empfiehlt Schröder die Methode der Engländer,
wonach die Lizenzen verkäuflich sind. So genieße der Hand-
werker sein Privileg und die Manufaktur erleide keinen Schaden.
Ein Privilegium privativum begehrte Schröder bloß für die
Kupfermanufaktur und die Glashütte ; im übrigen genügte seiner
Ansicht nach ein Privilegium cumulativum, das ja allerdings die
wichtigste Vorbedingung für die Loslösung vom sachlichen
Beschränkungsrechte der Zünfte in sich enthielt *). Doch erschien
es *ihm nicht genug Schutz und Garantie, daß das Haus der
niederösterreichischen Regierung unterstehen sollte, wie dies
wahrscheinlich bei allen privilegierten Unternehmungen der Fall
war. Er wünschte die Aufnahme des Hauses unter die Hof-
befreiungen als das „hoffbefreyte Haus a2 ). „Denn wie die Hoff-
befreyten jeder seiner Profession nach arbeiten, handeln und
wandeln darff, also würde sub hoc nomine auch dieses Haus
privilegiret seyn, womit auch zugleich ein großer Stein des An-
stoßes aus dem Wege gelegt würde, daß nemblich die Juris-
diction über das Haus von der Regierung weg und nachm Hoff
unter den Hoffmarschall gezogen werde. Denn es ist bekannd,
daß die burgerschafft solchen Befreyungen feind ist und ihnen
in Weg leget, was sie kan, wan nun etwan eine Differenz sich
ereignen sollte, so weis man wol, dass die Herren Statthalter
es alle Zeiten mit dem burgermeister und dieser mit seinen
burgern es halt, also hatte das Haus Niemanden, der es schüzen
wird, aber wan der Herr Hoffmarschall es unter sich hat, so
wird es damit ebenso gehalten wiebishero mit denHoffbefreyten" 8 ).
Erst am 16. Mai 1685 erfloß die Entscheidung der Hof-
kammer, worin sie sich mit dem zustimmenden Gutachten des
Rat von Abrecht und der Niederösterreichischen Kammer-
prokuratoren einverstanden erklärt. Der Kaiser erteilte seine
x ) Vergl. S. 105.
2 ) Hatschek, a. a. 0., S. 86, Beil. III.
») Ebend.
431] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonomen. 41
Einwilligung, und am 20. Dezember 1685 wurde das Dekret an
Schröder ausgefolgt 1 ). Am 18, Oktober 1686 wurde der Grund
als Eigentum Schröders grundbücherlich einverleibt. Allein zur
Wiedererbauung des Manufakturhauses kam es nicht mehr 2 ).
Schröder wurde noch zu Ende des Jahres 1686 nach Ungarn
berufen und starb im Jahre 1689 als Zipses Kammerrat, wie es
heißt, in größter Dürftigkeit 3 ).
Äußerlich weniger hervortretend, aber dennoch von nach-
haltigstem Einflüsse auf die zeitgenössische und spätere Staats-
wirtschaft und Staatswirtschaftslehre, war die Wirksamkeit
Philipp Wilhelms von Hörnigk 4 ). Daß er eine nennenswerte
praktische Tätigkeit in gewerblichen Angelegenheiten entwickelt
hätte, ist kaum anzunehmen; erwiesen ist bloß, daß er um das
Jahr 1674 vom Kaiser den Auftrag erhielt, statistische Er-
hebungen über den Stand der Gewerbeverhältnisse zu pflegen 5 ).
Seine Bedeutung liegt auf schriftstellerischem Gebiete. In seinem
Hauptwerke „ Osterreich über Alles" stellt er sich als der konse-
quenteste Vertreter des politischen Merkantilismus in Osterreich
dar. Noch nachdrücklicher als Becher betont er die Notwendig-
keit, daß der Kaiser in der Industriefrage die Initiative ergreife,
u. zw. nicht nur in seiner Eigenschaft als Oberhaupt des Reiches,
sondern auch als Besitzer so hochgesegneter und ausgedehnter
Länder 6 ). Er steht auf demselben Standpunkte wie der Verfasser
einer kurz vorher 7 ) erschienenen anonymen Abhandlung „Teutsch-
x ) Ebend., S. 67 f.
2 ) Ebend., S. 70 f.
3 ) Ebend., S. 71 f. — Eine abenteuerliche Version verzeichnet
Greorg H. Zincke in seiner w Cameralisten-Bibliothek", Lpz., 1751/52,
III. T., S. 782: Karl Philipp Pescherin habe zur Ausgabe von
1708 des Schröderschen Hauptwerkes („Fürstliche Schatz- und Rent-
kammer," 1. Ausg. 1686) eine Zugabe geliefert (Lpz., 1713 bei Boetius),
die merkwürdige Nachrichten über Schröders Lebensschicksale enthalte;
darnach wäre er von seinen Feinden ermordet worden.
4 ) Geb. zu Mainz ca. 1638, gest. ca. 1712 (Inama in der
„Allg. deutschen Biographie", 13. Bd., Lpz. 1881, S. 157 f.), Jurist,
ursprünglich im Dienst des bereits genannten Christoph Rojas, Bischofs
von Croatien, später geheimer Rat des Kardinals Lamberg. Fürstbischofs
von Passau (ebend.).
5 ) §. oben §. 16, Anm. 2. Die Tatsache, daß in diesem Jahre .*uich
Becher und Schröder mit derartigen Untersuchungen hervortraten, steht
wohl in direktem Zusammenhange mit dem staatsrechtlich und wirtschafts-
politisch so bedeutsamen Reichsgutachten von 1672.
6 ) Hörnigk, a. a. O., S. 7.
7 ) 1684, ebend., S. 4, 6.
42 Die Anfänge der merk antilis tischen Wirtschaftspolitik. [432
land über Frankreich", der vorschlägt, es mögen sich die vor-
nehmsten Reichsstände „einzelner weiß, jeder in seinem eigenen
Hauß, die wahre Lands-Oeconomie . . . durch bessere Einrichtung
des Gewerbs und der Manufacturen empfohlen seyn lassen",
wobei Hörnigk aber zwischen der Landesökonomie und der
Kameralökonomie ausdrücklich unterscheidet 1 ). In diesem letzteren
Punkt weicht er insbesondere von Schröder ab, der die ökono-
mischen Angelegenheiten des Landes vom rein fiskalischen Stand-
punkt aus behandelt 2 ). Allerdings täuschte sich Hörnigk, wenn
er annahm, daß wirtschaftliche Maßregeln der einzelnen deutschen
Territorien im stände wären, den Mangel einer einheitlichen
Reichsaktion zu ersetzen 3 ). Die Entwicklung der nächsten Jahr-
zehnte lehrte, daß eine territoriale Gewerbegesetzgebung ohne
Beeinträchtigung anderer Reichsstände ebensowenig möglich war,
wie eine Gewerbereform von Reichs wegen ohne Schädigung der
wirtschaftlich schwächeren Territorien 4 ).
Hörnigks Vorschläge bezwecken ausschließlich die Schaffung
eines einheitlichen, dem Ausland gegenüber konkurrenzfähigen
Wirtschaftsgebiets, und von diesem Gedanken ausgehend gelangt
er als erster dazu, die einzelnen Teile der großen habsburgischen
Hausmacht unter dem Gesamttitel „Osterreich" zusammenzufassen.
Für die Verteilung der neu einzuführenden Manufakturen,
wie der Seiden- und Tuchmanufaktur, ist ihm neben Gründen
örtlicher Natur vor allem die Beschaffenheit des vorhandenen
x ) Ebend. S. 6.
2 ) Dies deutet schon der Titel des Schröder sehen Hauptwerkes :
„Fürstliche Schatz- und Rentkammer" an. Eine vermittelnde Stellung
nimmt J. G. Leib in seinem schon genannten Werke (s. S. 32, Anm. 4) ein,
indem er Vorschläge erstattet, «Wie ein Regent Land und Leute ver-
bessern, des Landes Gewerbe und Nahrung erheben, seine Gefällen und
Einkommen sondern Ruin deren Unterthanen billigmäßiger Weise vermehren
und sich dadurch in Macht und Ansehen setzen könne („Erste Probe").
3 ) Hörnigk, a. a. 0., S. 6.
4 ) Auch ^Schmoller weist gelegentlich darauf hin, daß das
preußische Schutzsystem nicht nur gegen Frankreich, Holland und Eng-
land, sondern auch zugleich gegen die deutschen Nachbarn gerichtet
war („Studien über die wirtschaftliche Politik Friedrichs d. Gr. und
Preußens überhaupt v. 1680—1786", a. a. 0., S. 58 f.). Die auf
möglichste Vermehrung und Mechanisierung des Arbeitermaterials ge-
richteten Reichsschlüsse gegen die „Mißbräuche" im Handwerk stellen
im Grunde bloß die innerpolitische Seite der merkantilis tischen Bestre-
bungen dar und trugen ihrerseits nicht weniger zur wirtschaftlichen und
politischen Zerklüftung Deutschlands bei, als die territorialen Schutzzölle.
433] Die Vorbereitung des Merkantilismus durch Staatsökonora en. 43
Arbeitermaterials maßgebend, wie denn überhaupt die Frage
der „Bevolckung u in seinem System eine große Rolle spielt.
Er fände es sogar begreiflich, wenn man zu ihrer Beobachtung
eigene Stellen und Kollegien errichten würde 1 ). So wünscht er
z. B. die Verlegung der Wollenzeugmacherei nach Böhmen und
Schlesien, weil die Bewohner dieser Länder „zu den Wollen-
Manufakturen insgemein geneigter" und überdies „die fremde
Bursch aus der Nachbarschaft leichter hineinzuziehen wären".
Und er bedauert die Stadt Prag, die gerade in letzterer Bezie-
hung wegen ihrer vielen Obrigkeiten, Gerichte und Instanzen
weniger günstig gestellt sei 2 ). Er empfiehlt ferner die Anlegung
neuer Industriestädte nach dem Muster Brandenburgs (Friedrichs-
werder, Dorotheenstadt) 3 ), sowie die Errichtung jährlicher Wett-
fabriken, von denen weder Meister noch Gesellen, die Landes-
kinder sind oder an einem Orte seßhaft zu werden gedenken,
ausgeschlossen bleiben könnten, und die mit Privilegien und
anderen Benefizien auszustatten wären 4 ); ein Vorschlag, der
ungefähr auf die Idee des Becherschen Manufakturhauses hinaus-
läuft. Wie Becher, der die Verleger für die Grundsäulen der
produzierenden Stände erklärt 5 ), so mißt auch Hörnigk dem
Arbeit und Erwerb schaffenden Verlagsystem die größte Be-
deutung bei. „Ein einziger großer Verläger, u sagt er mit Bezug
auf die häufigen Zunftstreitigkeiten, „nutzt dem Staat hundert
mahl mehr, als etlich Dutzend derjenigen, die nur von anderer
Leute Blut und Aussaugung in Führung unnöthiger gericht-
licher Process und Handhabung der Chicanerien leben müssen;
und wolle mich nur niemand zu klarer Erweissung dieser Thesis
oder dieses Paradoxi, wann es jemand also nennen wolte, an-
treiben ; dann die Argumenta dörfften nicht allen gefallen." 6 )
Noch nicht völlig durchdrungen von der großen Bedeutung des
*) Hörnigk, a. a. 0., S. 114.
2 ) Ebend., S. 253 f.
•) Ebend., S. 256. — Später faßte Karl VI. für die Errichtung
neuer Manufakturen insbesondere Korneuburg ins Auge und forderte
der Stadt ein Gutachten ab. Der Stadtrat von Korneuburg verhielt sich
jedoch ablehnend (A. Starzer, Geschichte der landesfürstlichen Stadt
Korneuburg, Korneub. 1899, S. 653).
4 ) Hörnigk, a. a. 0., S. 234.
5 ) Becher, Politische Discurs, a. a. 0., S. 106.
6 ) Hörnigk, a. a„ 0., S. 247 f. — Die Häufung der gelehrten
Ausdrücke deutet darauf hin, daß es Hörnigk hier auf eine direkte
Verspottung der Zunftjuristen abgesehen hat.
44 Die Anfänge der merkantil istischen Wirtschaftspolitik. [434
Kampfes, der zwischen der sozialen, bürgerlich-autonomen Zunft-
form und dem auf Kapitalbesitz und Arbeitspflicht sich
gründenden Staatsinteresse begonnen hatte, stellt er sich ohne
Bedenken und ohne sich auf eine ernsthafte Erörterung des
Rechtsverhältnisses einzulassen, auf den Standpunkt der Staats-
notwendigkeit, den er gegenüber den Ansprüchen der Zünfte
in seiner Weise dahin formuliert, daß „dergleichen Lumpenpossen
etlicher albern Leut, welche gemeiniglich auf ein Monopoliuni,
Erpressung unbillichen Wehrts und Druckung der Verleger,
auch Verhütung, daß ein guter Meister mehr nicht als ein
schlimmer aufkommen möge, angesehen seynd", nicht die Macht
haben könnten, „den allgemeinen Wohlstand, die Aufnahme und
die Erhaltung der Erbland in den Koth vertretten zu lassen" *■).
Er rät daher, die neu einzuführenden Manufakturen nicht zünftig
zu machen und erst, bis sie in völligem Flor sind, das weitere
zu bedenken. Die Italiener, Niederländer und Holländer, die
zunächst als Lehrmeister berufen werden müßten, seien die Zünfte
nicht gewohnt und wüßten sich nicht darin zu schicken. Wohl
■eber möge man den Meistern und Verlegern gegen die tiber-
mäßigen Ansprüche, den Übermut und die Faulheit der Gesellen
beistehen a ).
Mit Hilfe der neuorganisierten Industriebetriebe, gestützt auf
die Kaufmannschaft, dieses „vornehmste Instrument" zur Förde-
rung der Landesökonomie 8 ) und durch rationelle Ausbeutung
der einheimischen Bodenschätze, besonders der Gold- und Silber-
bergwerke — der reichsten im ganzen christlichen Europa 4 ) —
könne Osterreich nicht nur seinen zumal in Kriegszeiten so
empfindlichen „Geldgebresten" 5 ) abhelfen, sondern auch die
Unterbilanz im Handelsverkehr mit den übrigen Staaten 6 )
beseitigen. Und gerade dies letztere erscheint dem Verfasser
als das Wichtigste. „Dann ob heutigen Tags eine Nation
x ) Ebend., S. 236 f.
2 ) Ebend., S, 237 f.
3 ) Ebend., S. 18 f.
4 ) Ebend., S. 289 f.
5 ) Ebend., S. 130, 9 f. (Hinweis auf den Türkenkrieg.)
6 ) Die 4 ausländischen Hauptmanufakturen (Seide, Wolle, Leinen
und französische Waren) nennt Hörnigk die 4 verschwenderischen
Raubtiere, die .allein den Erblanden jährlich ca. 16, mindestens aber
10 Millionen Gulden entzögen (S. 146. f.). S.. 118 ff. citiert Hörnigk
die satirischen Ausfuhrungen Bechers über die französischen Manu-
fakturen.
435] Die politische und finanzielle Lage des Staates. 45
mächtig und reich sey oder nicht hangt nicht ab der Menge
und Wenigkeit ihrer Kräfften oder Reichthum, sondern furnehm-
lich ab deine, ob ihre Nachbarn deren mehr oder weniger als
sie besitzen. Dann mächtig und reich zu seyn ist zu einem
Eelativo worden gegen die jenige, so schwächer und ärmer
seynd." x )
2. Die politische und finanzielle Lage des Staates.
Die unruhigen und kriegerischen Zeiten mögen der Aus-
führung der begonnenen und geplanten Unternehmungen wenig
förderlich gewesen sein. Die Aufmerksamkeit des Staates wurde
vom materiellen Tagesinteresse in Anspruch genommen. Un-
geheuren Aufwand verursachte das stehende Heer, dessen Mann-
schaftsstand in der Zeit von 1673 bis 1705 von 60.000 auf
132.000 Mann stieg 2 ). Nach den Militärkassenquittungen betrugen
die Ausgaben für den Krieg gegen die Türken und um Ungarn
von 1683 bis 1699 insgesamt 136,986.257 fl. 8 ) Eine große Menge
baren Geldes verschlang in den Jahren von 1673 bis 1710 der
Unterhalt der kaiserlichen Armeen am Rhein und im Pogebiet 4 ).
Die riesigen Ausgaben konnten kaum erschwungen werden.
Nach einem Bericht des schwedischen Gesandten Esaias Pufen-
dorf betrugen die Einkünfte des Kaisers im Jahre 1673 mit
Hinzurechnung der Kammergüter, Salzwerke, Zölle, der Berg-
werke in Ungarn und Tirol und des Friauler Quecksilbers im
ganzen 9 Millionen Taler Silbermünze 5 ). Der ehemals blühende
Bergbau war, wie in ganz Deutschland, stark zurückgegangen.
Joachimsthal, das ergiebigste böhmische Silberbergwerk, das in den
Jahren 1527 bis 1544 im Durchschnitt jährlich 8954 kg Silber
produziert hatte, lieferte im 17. Jahrhundert bloß 696 kg pro
*) Ebend., S. 29.
2 ) Inama-Sternegg, Die volkswirtschaftlichen Folgen des
30-jährigen Krieges für Deutschland, a. a. 0., S. 19.
8 ) Krön es, a. a. 0., IV. Bd., S. 448 f.
4 ) Frankfurter Relationen („ Jacobi Franci Historische
Beschreibung aller denckwürdigen Geschichten" etc.) 1673 ff.
5 ) Esaias Pufendorf, kgl. Schwed. Gesandten in Wien Bericht
über Kaiser Leopold, seinen Hof und die Österreichische Politik
1671 — 1674, nach einer Handschrift herausgegeben und erläutert von
Karl Gustav Heibig, Lpz. 1862, S. 78 f. — „Diese Ansicht stimmt
zu der gewöhnlichen Durchschnittsberechnung von 12 Millionen Gulden
(bis 1 686) a (Hansv. Zwiedineck-Südenhorst, Deutsche Geschiebte
im Zeiträume der Gründung des preußischen Königtums," I. Bd., Stuttg.
1890, S. 304).
46 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [436
Jahr. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts hatte Böhmen allein
jährlich über 12.000 kg Silber produziert; ebensoviel hatten auch
die tirolisch-salzburgischen Bergwerke ergeben. Seit der Mitte
des 17. Jahrhunderts betrug die Silberproduktion in ganz Öster-
reich-Ungarn insgesamt nur 8 — 10.000 kg im Jahresdurchschnitt x ).
Zwar stand die Gold- und Silbergewinnung der Erblande in
Europa noch immer an erster Stelle 2 ) ; allein gegenüber dem
überwiegenden Einfluß, den damals bereits die Einfuhr amerika-
nischer Edelmetalle ausübte, kam sie nur wenig in Betracht 3 ).
Der Heeresbedarf, der in dieser Periode fast die Hälfte der
gesamten Staatseinnahmen verschlang 4 ), mußte auf dem Wege
unregelmäßig und widerwillig entrichteter Militärkontributionen
hereingebracht werden. Auf diesem Gebiete machte sich denn
auch in erster Linie die Notwendigkeit einer Zusammenfassung
des gesamten Finanzwesens fühlbar. Die Reform der Militär-
verpflegung vom Jahre 1697, wie sie im Militär verpflegsreglement
vom Dezember dieses Jahres zum Ausdruck kommt, geht von
der Anschauung aus, daß die einzelnen österreichischen Länder
nur Teile eines geschlossenen Ganzen seien, denen der Kaiser
als oberster Kriegsherr gemeinschaftlich zu tragende Lasten
auferlege. Das Reglement teilt die gesamte Kriegssteuer in der
Weise auf, daß bei einem jährlichen Erfordernis von 12 Mil-
lionen fl. Ungarn 4 Millionen, Siebenbürgen 1 Million, Böhmen
2,284.722, Schlesien 1,523.148, Mähren 761.577, Innerösterreich
1,215.478, Niederösterreich 5 ) 810.185 und Oberösterreich 6 ) den
Rest beisteuern sollten. Nach demselben Modus wurde auch die
Aufteilung der Truppenkontingente vorgenommen 7 ).
x ) Wiebe, a. a. 0., S. 262 f., 265.
2 ) Ebend., S. 264 ff., 272 f., Tabellen S. 265 und 272. Vgl.
die schon angeführte Stelle bei Hörnigk, a. a. 0., S. 289 f.
8 ) Von der gesamten Goldproduktion der letzten zwei Jahrzehnte
des 17. Jahrhunderts entfielen im Jahresdurchschnitt auf Europa und
Afrika 35'5°/ , auf Amerika 64*5%; von der gesamten Silberproduktion
auf Europa 9-9%, auf Amerika 90*1% (nach Wiebe a. a. O., S. 272 f.).
4 ) Die Schätzung Inamas (Die volkswirtsch. Folgen des 30-jähr.
Krieges für Deutschland, a. a. 0., S. 19), daß die militärischen Aus-
gaben ca. Ys der Staatseinnahmen betragen hätten, ist wohl zu niedrig
gegriffen, selbst wenn man bloß die Ausgaben für den Türken- und
Ungarnkrieg in Rechnung zieht.
5 ) Das heutige Nieder- und Oberösterreich.
6 ) D. i. Tirol, Vorarlberg und die Vorlande.
7 ) Bid ermann, Gesch. der österreichischen Gesamt-Staatsidee,
437J Die politische und finanzielle Lage des Staates. 47
Damit war aber nun zugleich die Frage aktuell geworden,
wie die Steuerkraft der Bevölkerung zu heben wäre. Die Wiener
Hofkammer, die nach der Auflösung des Kommerzkollegs wieder
die unmittelbare Leitung des Kommerz- und Manufakturwesens
übernommen hatte 1 ), brachte die Frage zur Diskussion, indem
sie am 18. September 1698 zunächst an die österreichische Hof-
kanzlei ein Requisitionsschreiben erließ, worin sie bekannt gibt,
der Kaiser habe der „deputirten gehaimen Comission in Came-
ralibus" einen Bericht darüber abgefordert, „wie das Gelt in
Ihren Erbkönigreichen und Ländern mehrers in die Circulation
gebracht werden könnte, also dass solches nicht allein, wie es
auß der bisherigen leydigen Erfahrung zu ersehen gewest, in
denen Händen einiger Potentiorum oder solcher, welche einen
besonderen Wuecher und Monopolium mit demselben treiben,
steckhen bleibe, sondern unter alle Inwohner und Unterthanen
der Proportion nach gebracht werden könne." 2 ) Die kaiserliche
Hofkammer ersucht also die österreichische Hofkanzlei, zu er-
heben, „was die Governi der Länder für Sentimenti haben" und
von jeder Regierung ein Gutachten abzuverlangen. Auf Grund
dieser Gutachten werde dann die Kammer „ein vollkhommenes
Systema über das Universale deß Commercii respectu aller
Länder in corpore und auch, wie selbiges particulariter respectu
eines Jeden Landes insonderheit zu fassen seye a , aufstellen und
dem Kaiser darüber Vortrag erstatten 3 ). Die ganze Aktion war
vom Hofkammerrate J. David von Palm eingeleitet worden, der
damals in der Wiener Hofkammer maßgebenden Einfluß aus-
übte 4 ). Ein Schreiben gleichen Inhalts erging am 18. Oktober
desselben Jahres an die böhmische Hofkanzlei. Diese antwortete
Ende 1699 mit einem Gutachten, worin sie die Hebung von
Handel und Industrie als das einzige Mittel zur Beseitigung der
Geldnot bezeichnet und eine Verbesserung der Zunftordnungen
verlangt, um den fremden Industriellen und Arbeitern, deren
Mitwirkung unentbehrlich sei, die Ausübung ihrer Gewerbe in
a. a. 0., II. Abt., S. 39. Bid ermann hält diese Beform für die weitaus
wichtigste Kundgebung der Gesamt- Staatsidee unter Leopold I. (ebend.).
x ) Ebend., S. 42.
2 ) Ebend., S. 113 f., Anm. 23, nach den Miscellen des Grazer
Statthaltereiarchivs und der Hofdekretsammlung vom September 1698
im Innsbrucker Statthaltereiarchiv.
8 ) Ebend.
4 ) Ebend., I. Abt., S. 42.
48 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [438
Osterreich möglich zu machen 1 ). Zugleich übersandte der
böhmische Kammersekretär Joh. Chr. Borschek sein Gutachten,
das sich mit dem der Hofkanzlei vollkommen deckt und eine
ausfuhrliche Begründung desselben darstellt 2 ). In gleichem Sinne
äußert sich auch eine Kommission aus den böhmischen Ständen,
die auf Anordnung eines Reskripts vom 23. Oktober 1705 zu-
sammentrat und am 29. November dieses Jahres ihr Gutachten
erstattete 3 ).
So sah sich Osterreich durch die politischen, militärischen
und finanziellen Verhältnisse auf den Weg der merkantilistischen
Staatswirtschaft gedrängt, der ihm schon vor Jahrzehnten durch
die ersten österreichischen Staatsökonomen vorgezeichnet wor-
den war.
Zu einer Ausdehnung der merkantilistischen Bestrebungen
auf die agrarische Produktion fehlte es in den Erblanden an
einer vorgeschrittenen landwirtschaftlichen Technik und an dem
Ausbau der nötigen Verkehrswege. Es konnte hier demnach bloß
die industrielle Produktion in Betracht kommen.
Ein Bedürfnis nach Einführung der verfeinerten Manufak-
turen des Auslandes war, wenigstens in den wohlhabenderen
Konsumentenkreisen, unzweifelhaft vorhanden. Hiefür spricht
schon die oben dargelegte überaus rege Anteilnahme fremder
Handelselemente am inländischen Warenverkehr 4 ). Daß Öster-
reichs Industriebilanz, abgesehen von einzelnen Provinzial-
bilanzen 5 ), eine passive gewesen ist, geht aus den diesbezüglichen
*■) P r i b r a m, Das böhmische Kommerzkollegium und seine Tätig-
keit, a. a. 0., S. 13 ff.
2 ) Ebend., S. 16 ff.
3 ) Ebend., S. 23 f.
4 ) Bezüglich der deutschen Verhältnisse im allgemeinen bestätigt
diese Auffassung eine französische Handelsbilanz aus den letzten Regie-
rungsjahren Ludwigs XIV. Darnach führte Deutschland (inkl. Polen)
nach Frankreich für 8 Millionen Livres Waren aus, u. zw. für
3,700.000 Livres Manufaktur- und Fabrikserzeugnisse, für 2,300.000
Livres Rohstoffe, für 2,300.000 Livres Viktualien ; dagegen exportierte
Frankreich Waren im Werte von 14 Millionen Livres nach Deutschland,
u. zw. für 5,100.000 Livres Manufakturen — trotz der Verluste an
Industriekräften durch die Auswanderungen seit 1685, — für 2 Millio-
nen Livres Rohstoffe und für 7 Millionen Livres Viktualien (M. Ar-
no uld, De la balance du commerce, et de relations commerciales
extärieures de la France, I. Bd., Paris 1791, S. 209 f.).
5 ) So weist eine Bilanz für Böhmen über die Zeit von 1732 bis
1735 folgende Ziffern auf:
439J Die politische und finanzielle Lage des Staates. 49
Klagen der zeitgenössischen Publizistik zur Genüge deutlich
hervor. Der verfeinerte Bedarf der oberen Gesellschaftsschichten
zog den fremden Luxus ins Land und durch das geöffnete Tor
drang der Strom der ausländischen Warenerzeugnisse nach, die
durch Billigkeit, durch technische Vollendung und durch den
Reiz der Neuheit die einheimische Produktion zu entwerten
drohten. An dieser wirtschaftlichen Spannung zwischen dem
kaufkräftigen Konsum und der durch die inländische Produktion
gebotenen Bedarfsdeckung fand der Merkantilismus einen seiner
wichtigsten Stützpunkte. Eine weitere nicht zu unterschätzende
Förderung erhielt die industrialistische Richtung durch den
stetig wachsenden Bevölkerungsüberschuß. In den gewerbe-
reicheren Städten hatte sich ein vieltausendköpfiges Proletariat
angesammelt, das in der Folgezeit unter der Anleitung technisch
geschulter Handwerker aus dem Auslande das Hauptkontingent
für die Fabriksarbeit stellte. Die vielen beschäftigungslosen
Hände waren für die Behörden ohnedies ein Gegenstand wach-
sender Besorgnis. In Wien war die Zahl der Bettler so groß,
daß man vor der Türkenbelagerung zu der Maßregel griff, ihrer
7000 aus der Stadt zu schaffen x ). In Iglau gab es, wie in anderen
Städten, zahlreiche Bürger, die, außer stände, sich als Hand-
werksmeister fortzubringen, um Taglohn dienten, und im Jahre
1719 zählte die Stadt unter 6246 Einwohnern 386 Bettler 2 ). In
den 20-er Jahren des 18. Jahrhunderts, als die orientalische
Kompagnie in Oberösterreich nach Arbeitern für die Linzer
Schafwollwarenfabrik suchte, wurde die Zahl der Bettler in
diesem Lande auf 18.000 geschätzt 3 ). Auch an Unternehmern,
besonders fremder Herkunft, war kein Mangel. Aber das wich-
Einfuhr
Ausfuhr
fl.
kr.
/Ä
fl. kr.
,Ä
1732
3,225.215
7
*7.
4,479.794 45
3
1733
3,149.197
57
4,617.161 10
3
1734
2,990.166
53
3
5,871.372 50
374
1735
3,041.906
15
41 A
6,004.048 6
374
12,406.486 13 5 3 / 4 20,972.376 53 1
(Edm. Schebek, Böhmens Glasindustrie und Glashandel, Prag 1878,
S. 169, Anm., nach den Mss. der fürstl. Kinskyschen Bibliothek*)
*) Weiß, a. a. O., IL Bd., S. 75.
2 ) Christian d'Elvert, Gesch. u. Beschreibung der (kgl. Kreis- und)
Bergstadt Iglau, Brunn 1850, S. 317 f.
8 ) F. M. Mayer, Die Anfänge des Handels und der Industrie in
Osterreich und die orientalische Kompagnie, Innsbr. 1882, S. 57 f.
(s. S. 60).
Wiener gtaatswiss. Studien. IV. Bd., 3* Heft. 29
50 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [440
tigste fehlte: das war die Vorarbeit von Generationen, die auch
in Frankreich, dem Mutterlande der neuzeitlichen Industrie, die
volle Entfaltung der industriellen Kräfte erst ermöglicht hatte.
Geschulte Arbeitskräfte waren selten und vielbegehrt. Mit
bedeutendem Kostenaufwand und unter Zusicherung weitgehender
Privilegien suchte man sie aus dem Ausland zu gewinnen.
Dabei lagen die Verhältnisse für die Einbürgerung der zumeist
protestantischen Ausländer keineswegs günstig. Das Haus Habs-
burg stand am Ende eines schweren Kampfes um die kirchliche
Einheit. Wie in Frankreich *), so galt auch in den österreichi-
schen Erblanden die Bestimmung, daß nur Katholiken zum
Meisterrecht fähig seien. Sogar von der Fabriksarbeit sollte zu-
nächst das protestantische Element ferngehalten werden. Das
Privilegium vom Jahre 1666 zur Errichtung einer Seidenkom-
pagnie bestimmt, daß die Kompagnie nur „gute katholische
Arbeiter" halten solle 2 ). Mit der unaufhörlichen Veränderung
und Steigerung der Konsumbedürfnisse zumal der obern Gesell-
schaftsschichten sieht sich die Behörde allerdings zu Konzessionen
genötigt. Protestantische Apothekergehilfen 8 ), Gärtner 4 ), Gold-
schmiede 6 ) und andere Professionisten werden zur Ausübung
ihres Gewerbes in Österreich zugelassen und die seit 1705 er-
teilten „Privilegia privativa" gewähren den in den Fabriken
Beschäftigten freie Religionsübung. Aber im Prinzip galt auch
fernerhin der Katholizismus als Norm. Noch im Jahre 1741
stellt die österreichische Hofkanzlei gegenüber den Beschwerden
der Geistlichkeit fest, daß nach der Individualbeschreibung von
1736 unter den Wiener „Dekretern" und „ Störern" bloß
101 akatholische Familien zu finden wären und daß die Zahl der
akatholischen Hofbefreiten bloß 4 betrüge 6 ). Zugleich kündigt
sie an, daß wie vorher so auch in Hinkunft die Ausübung der
Profession durch Akatholiken „unter dem Billichen Vorwandt
der überhäufften Bürgerlichen Maisterschaften Vollends und mit
*) H. W. Farn am, Die innere französische Gewerbepolitik von
Colbert bis Turgot (in Schmollers „ Staats- und sozialwiss. Forschungen",
I. Bd., 4. H.), Lpz. 1878, S. 27.
2 ) Becher, Politische Discurse, a. a. 0., S. 503 ff.
3 ) Cod. Austr., I. T., S. 71.
4 ) S. S. 72 ff.
5 ) Referat der Hofkanzlei vom 12. August 1741, a. a. 0.
6 ) Ebend. In öffentlichen Schriften war die Zahl der Akatholiken
sogar auf etliche 1000 angegeben worden (ebend.).
441] Merkantili/tische Industrie- und Handelspolitik. 51
rigor eingestellt a werden solle, was ja mit dem consilium
abeundi gleichbedeutend sei 1 ).
Aus solchen Hemmnissen erklärt sich die vielfach zögernde
und unsichere Haltung Österreichs in der Frage der Industrie-
förderung.
3. Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik.
Das hervorstechendste Kennzeichen der merkantilistischen
Staatswirtschaft ist darin zu suchen, daß sie, obgleich eine
reiche industrielle Tätigkeit voraussetzend, das Hauptgewicht
auf den Handelsverkehr, auf die Waren- und Geldcirculation legt.
Der Inbegriff jener zahlreichen und vielseitigen Staats-
handlungen, aus denen sich die merkantilistische Politik zu-
sammensetzt, läßt sich in die Gruppe der interpolitischen und
in die der innerpolitischen Maßregeln scheiden, deren jede wieder
unter dem Gesichtspunkt von Aktion und Reaktion eine positive
und eine negative Seite aufweist. Nach außen hin verfolgen
die merkantilistischen Maßregeln einerseits den Zweck, aus-
ländische Absatzmärkte für die einheimischen Industrieerzeug-
nisse zu gewinnen und so den Geldstrom des Handelsverkehrs
möglichst nach dem Inlande zu lenken; andererseits suchen sie
die Einfuhr handelsfertiger Erzeugnisse des Auslands und damit
die Geldausfuhr aus dem Inland möglichst zu erschweren. In
Hinsicht auf die innere Politik erstrebt der Merkantilismus die
Schaffung einer reichen einheimischen Industrie, die nicht nur
den inländischen Konsum möglichst vollständig befriedigen, son-
dern auch zugleich reichliche Arbeitsgelegenheit bieten soll;
andererseits aber bedingt die Zusammenfassung der Produktions-
kräfte in einen geschlossenen Wirtschafts- und Handelskörper
eine völlig neue Arbeitsorganisation. Die bürgerliche Gewerbe-
autonomie mußte fallen, wo der Staat das Recht und die Pflicht
der Ordnung der gewerblichen Produktion für sich in Anspruch
nahm und damit mußte an die Stelle einer Arbeitsverfassung
mit korporativer Gebundenheit eine Arbeitsverfassung treten,
welche das Individuum nicht mehr den Berufsgenossen, sondern
nur dem Staate gegenüber band. So hat der Merkantilismus
auflösend und individualisierend in Bezug auf die sozialen
Ordnungen, reglementierend und zwingend in Bezug auf das
Verhältnis der Individuen zum Staate gewirkt.
x ) Ebend.
29*
52 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [442
Die zeitliche und kausale Verknüpfung jener Staatsaktionen,
die man als „merkantilistische" bezeichnet, weist wie überall so
auch in Deutschland und Österreich sehr wenig Regelmäßigkeit
auf und hängt wesentlich von der jeweiligen Situation und
Auffassung der leitenden Kreise ab.
Merkantilistische Kundgebungen waren bereits die seit 1548
wiederholt ergangenen Reichstagsmandate gewesen, die dem
drohenden Verfall des deutschen Tuchergewerbes durch das
Verbot der Wolleausfuhr zu fremden Nationen entgegenzuwirken
suchten 1 ). Für ganz Deutschland war ferner auf Anregung
Brandenburgs der Reichsschluß vom 27. Jänner 1659 zustande ge-
kommen, der die Einfuhr ausländischer Industrieerzeugnisse, wie
Gold- und Silberarbeiten, Galanterie- und Luxuswaren, sowie die
Ausfuhr von Geld verbot. Am 7. Mai 1676 wurde er als Reichs-
edikt „wegen Verbiet- und Abschaffung der französischen Waren"
publiziert. Den Einheimischen wurde eine Frist von 1 Jahre,
den Fremden eine solche von 2 Monaten gewährt, um die noch
vorhandenen Vorräte zu verkaufen. Nach Ablauf dieser Frist
sollten die betreffenden Waren konfisziert werden. Spezialverord-
nungen für Osterreich ergingen am 9. Dezember 1673 und am
20. September 1674 2 ).
Als Mittel zur Hebung des industriellen Exports wurde die
Herabsetzung der inländischen Zölle, der Ausbau der Handels-
wege und die Gründung von Handelskompagnien in Betracht
gezogen. Die zahlreichen Aufschläge und Zölle bildeten ein
Haupthindernis für den Warenverkehr. Ein Eimer Wein, der
von Poysdorf in Osterreich unter der Enns nach Oppeln in
Schlesien transportiert wurde, stellte sich um das Jahr 1674 auf
das Doppelte des ursprünglichen Preises 8 ). In Böhmen allein
*) Schmolle r, Die Straßburger Tücher- und Weberzunft, a. a. 0.,
S. 506.
2 ) Das Reichsedikt wurde im Jahre 1688 erneuert. — Karl
Friedr. Gerstlacher, Handbuch der deutschen Reichsgesetzte, IX. T.,
Karlsruhe 1788, S. 1404; Cod. Austr., II. T., S. 374.
3 ) Bechers Referat von 1674 enthält hierüber folgende Auf-
stellung :
Preis des Eimers vom besten 1668-er Gewächs . 3 fl. 30 kr.
Kaiserlicher Aufschlag . . . . . . . 20 kr.
Landschaftsgebühr (von 1 fl. 4 kr.) . . . . 14 kr.
Von hier bis Oppeln ....... 6 kr.
Zu Ratibor an der schlesischen Grenze (kaiserl. und
kandschaftsaufschlag) , , f , , , 48 kr,
H
443] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 53
betrug die Zahl der öffentlichen und privaten Mauten über 700 x ).
Schon Leopold I. hatte den Wunsch geäußert, die Durchfuhr
böhmischer Produkte durch Inner- und Oberösterreich (Tirol) in
der Richtung zum adriatischen Meer zu erleichtern. Dasselbe
Bestreben tritt in einem Hofdekret Josefs I. vom 3. Oktober 1708
zu Tage, das auf den Wunsch der unterösterreichischen Stände
Verhandlungen mit der böhmischen Hofkanzlei behufs gemein-
samen Vorgehens wider Vagabunden und wegen Einführung
wechselseitiger Kompaßbriefe anzubahnen sucht 2 ). Den Handels-
verkehr Schlesiens mit Hamburg, Holland, England, Spanien
und Portugal beförderte die Anlage des „neuen Grabens",
später „Friedrich Wilhelm-Kanal" genannt 3 ). Der natürliche
Verkehrsweg der Donau nach dem Osten war durch die vor-
gelagerte Osmanenherrschaft gesperrt. Erst der erfolgreiche Ver-
lauf der Türkenkriege eröffnete dem Staate die Möglichkeit,
seine handelspolitische Machtsphäre nicht nur auf dieser Linie,
sondern auch zu Lande weiter gegen Osten und Südosten hin
auszudehnen. Dahin hatte schon die Gründung der levantinischen
Handelskompagnie abgezielt, die im Jahre 1671 nach Bechers
Plänen entstanden war. Mangel an Fachkenntnissen, uneigen-
nütziger Führung und sicheren Verkehrswegen hatte damals das
Unternehmen zum Scheitern gebracht 4 ). Um 1690 trat die Frage
des Orienthandels wieder für einige Zeit in den Vordergrund.
Das verbündete Holland suchte den kaiserlichen Hof zu bewegen,
einen Handelsweg über Fiume nach Konstantinopel zu schaffen
und ganz nach dem Muster der französischen R^unionsbestre-
bungen beanspruchte Osterreich, so versichert wenigstens ein
Bericht des venetianischen Botschafters Federigo Corner, unter
Fuhrlohn bis Ratibor (26 Meilen), wobei die Fuhrleute
sich selbst beköstigen, auch Rosse, Wagen und Maut
bezahlen . . . . . . . . 2 fl.
Summe . . 6 fl. 58 kr.
(Von hier noch 12 Meilen mit geringen Unkosten bis
Oppeln und Breslau.)
x ) Pribram, Das böhmische Kommerzkollegium und seine Tätig-
keit, a. a. 0., S..37, 41 f.
2 ) Bidermann, Geschichte der Österr. Gesamtstaatsidee, a. a. 0.,
IL Abt., S. 21, 144 f., Anm. 73.
3 ) H. Hall wich, Anfänge der Großindustrie in Österreich,
Wien 1898, S. 35.
4 ) J. J. Becher, Närrische Weisheit und weise Narrheit, Frkf.
1683, S. 151 ff.
54 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [444
Berufung auf archivalische Belege das ganze Litorale als Besitz-
tum der ungarischen Krone und die Herzegowina als eine
Dependenz Bosniens *). Aber erst unter der Regierung Karls VT.
gelangten diese Bestrebungen und damit die Kompagnieprojekte
teilweise ans Ziel.
Der enge Zusammenhang der Handelsinteressen mit der
äußeren Politik offenbarte sich beim Ausbruch des spanischen
Erbfolgekrieges. Am 27. Juli 1702, kaum dritthalb Monate nach
der Kriegserklärung Österreichs, hob ein kaiserliches Patent das
Kommerzium mit Frankreich auf. Das Verbot wurde am
20. Mai 1703 wiederholt und am 29. November dieses Jahres
auch auf Bayern ausgedehnt 2 ).
Die innere Verwaltungstätigkeit dieser Jahre galt, in An-
passung an die äußern Verhältnisse, hauptsächlich der Verein-
heitlichung des Militär-, Finanz- und Steuerwesens. Sie brachte
die schon erwähnte Reform der Militärverpflegung und Militär-
kontingentierung zu stände, sie erschloß dem Staate neue Steuer-
quellen und suchte dem erschütterten Staatskredit durch die
Gründung der Wiener Stadtbank aufzuhelfen 8 ). Die Frage der
finanziellen Kräftigung der Steuerträger war schon im Jahre 1698
durch das Requisitionsschreiben über den Geldumlauf in Angriff
genommen worden, und die Errichtung des Versatz- und Frag-
amtes zu Wien 4 ) bewies, wie tief bereits die Geldnot in die
bürgerlichen Kreise eingedrungen war.
Von größter Bedeutung sowohl für die staatlichen Bilanz-
bestrebungen als auch für die Frage der Besteuerungsmöglich-
keit waren die zahlreichen Luxuspatente und Kleidertrachtord-
nungen. Bei Hofe und in den oberen Gesellschaftsschichten,
vornehmlich bei den Frauen, herrschte die französische Mode,
die dem einheimischen Gewerbe beträchtliche Geldsummen ent-
zog. Hörnigk, der mit Becher in der Verurteilung des un-
deutschen Modewesens übereinstimmt, fordert in seinem Werke
den Kaiser auf, er möge in der Verachtung der fremden Waren
1 ) Fontes rerum Austriaca rum, Diplomataria et acta,
27. Bd., Die Relationen der Botschafter Venedigs über Deutschland und
Österreich im 17. Jahrhundert, herausg. v. Jos. Fiedler, Wien 1867,
S. 302 f.
2 ) Cod. Austr., III. T., S. 446, 449 f., 460 f.
3 ) Patent vom 15. Juni 1703, Cod. Austr., III. T., S. 497 ff.
— Jos. Bitter v. Hauer, Beiträge zur Gesch. der Osten*. Finanzen,
Wien 1848, S. 113 ff.
4 ) Patent vom 14. März 1707, Cod. Austr., III. T., S. 531 ff.
445] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 55
mit gutem Beispiel vorangehen, wozu um so mehr Hoffnung sei,
als der Kaiser am Tag seines zweiten Beilagers zu Graz (1673)
sich gegen einen vornehmen Minister geäußert habe, er trage
nicht einen Faden am Leib, der nicht in seinen Erblanden
gearbeitet worden wäre 1 ). Ein Versuch, den Luxus der wohl-
habenden Kreise zu treffen, wurde in der Verordnung vom
5. Mai 1697 unternommen, wonach jeder, der Gold- oder Silber-
kleidung tragen wollte, eine Steuer von 10 fl. bar Geld pro Jahr
zu entrichten hatte 2 ). Die starke Geldausfuhr aus den Erblanden,
besonders nach Italien, wurde durch die Resolution vom
3. Dezember 1708 mit dem Hinweis auf die herrschenden
Kriegszeiten und den drückenden Geldmangel beschränkt. Es
wurde verboten, Geld ohne Konsens auszuführen und die An-
ordnung getroffen, daß alle Geldausfuhr und Uberwechslung der
Landesobrigkeit anzuzeigen sei, welche bei unverdächtigen
Geldern ohne Einhebung einer Taxe einen Passierschein auszu-
folgen habe 8 ). In erster Linie aber richteten sich die Luxuspatente
gegen den Aufwand des „ gemeinen Mannes". In diesem Sinne
ist bereits die Kleidertrachtordnung vom 28. September 1671
gehalten, die sämtliche Untertanen mit Ausnahme der 3 oberen
Stände und der wirklichen Räte in 5 Klassen einteilt und die
Befugnisse einer jeden Klasse bezüglich des Tragens kostbarer
Stoffe und Schmuckgegenstände genau feststellt 4 ). Im Jahre 1712
erging für alle deutsch-erbländischen Provinzen ein scharfes
Luxusedikt mit besonderer Berücksichtigung des Bauern- und
Bürgerstandes 5 ). Der Hofkammerpräsident Graf Starhemberg
erließ am 19. Jänner 1715 an die Grazer Hofkammer die
Weisung, es mögen „in Anbetracht des Verfalls von Handel
und Wandel" Erhebungen über den Wohlstand der Bevölkerung
gepflogen werden, indem er insbesondere darauf hinwies, daß
der Luxus es sei, der die Steuerkraft des Volkes lähme. Dem-
gegenüber hebt der Grazer Handelsstand in seinem von der
Grazer Hofkammer abverlangten Gutachten hervor, daß der
wirtschaftliche Niedergang hauptsächlich durch den Luxus der
zahlungsunfähigen Adeligen und Klöster verschuldet werde,
l ) Österreich über Alles, a. a. 0., S. 277 ff.
') Hauer, a. a. 0., S. 4.
8 ) Cod. Au str., III. T., S. 559.
4 ) Cod. Austr., II. T., S. 153 ff.
5 ) Bidermann, Gesch. der Österr. Gesamtstaatsidee, a. a. 0.,
II. Abt., S. 9.
56 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [446
denen man „ex metu reverentiae" den Kredit nicht verweigern
könne. Das Gutachten befürwortet die Einführung der Land-
tafeln zum Schutze des bürgerlichen Besitzes 1 ). Bei einer ähn-
lichen Gelegenheit konstatiert ein Bericht der böhmischen Statt-
halterei an das Prager Merkantilkollegium 3 ), daß zwar der
„gemeine Mann", von dem ein kaiserliches Requisitionsschreiben
behauptet hatte, er treibe übermäßigen Luxus und kleide sich
in ausländisches Tuch 8 ), „meistens in Landttüchern vndt höch-
stens in görlitzer Tuch sich kleide;" wohl aber muß der Bericht
zugeben, daß die weiblichen Angehörigen der Bürger und Hand-
werksleute „in gespunnenen Silber vndt Goldt, in seidenen, auch
reichen Zeigen vndt außländischen Spitzen (fast dem höheren
Standt gleich) daher gehen, dardurch aber das wenige, was ihre
respective Männer vndt Vätter mit saurem Schweis mühesamb
erworben, durch die hoffarth dilapidiren vndt ihre nahrung
schwächen thetten". 4 )
In den erhöhten Steuerforderungen kommt der Zusammen-
hang zwischen den äußeren und inneren Bestrebungen der mer-
kantilistischen Wirtschaftspolitik am deutlichsten zum Ausdruck.
Der Einzelne sollte sein Vermögen für die Zwecke der merkan-
tilistischen Staatswirtschaft stets zur Verfügung halten; damit
war aber zugleich als selbstverständlich hingestellt, daß er auch
seine gewerbliche Kraft dem Staatswillen unterzuordnen habe.
An diesem Punkte der staatlichen Entwicklung beginnt der
langsame, aber stetige Umwandlungsprozeß von der genossen-
schaftlich organisierten Produktion zum fabriks- und handwerks-
mäßigen Einzelbetrieb.
Fabriken im Sinne zunftfreier Unternehmungen, die auf
Arbeitsteilung, modernem technischen Betrieb und Massenproduk-
tion beruhten, waren schon früher gelegentlich für private und
lokale Zwecke ins Leben gerufen worden. Schon Wallenstein
hatte in seinem Herzogtum Friedland Fabriken errichtet, denen er
die Aufgabe stellte, seine Truppen auszurüsten 5 ). Im Jahre 1672,
x ) Ebend., S. 35 f., 181 f., Anm. 37 u. 38.
2 ) Bericht vom 5. August 1717 über die Vorteile der Einführung
der Zeug- und feineren Tuchmanufaktur in Böhmen, vgl. oben S. 21, Anm. 3.
8 ) Resolution vom 27. Febr. 1716 an das Prager Merkantilkol-
legium, Hallwich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb.,
S. 351.
4 ) Ebend., II. Halbb., S. 61 f.
5 ) H. H a 1 1 w i c h, Anfänge der Großindustrie in Österreich, a. a. 0.,
S. 14 ff.
447] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 57
also noch vor der Gründung des Wiener Manufakturhauses,
erhielt ferner der Linzer Ratsbürger und Handelsmann Chri-
stian Sind auf Antrag der Stände Oberösterreichs ein Privi-
legium zur Errichtung einer Schafwollwarenfabrik in Linz 1 ),
die zunächst ebenfalls militärischen Zwecken dienen sollte. Die
ersten rein industriekapitalistischen Gründungen fanden auf
böhmischem Boden statt. Christoph Weife errichtet im Jahre 1667
eine Papierfabrik in Hohenelbe, der später eine solche in Bensen
folgt 2 ). Wie in Wien der Bischof Rochas 8 ), so wirkte auch im
nördlichen Böhmen ein geistlicher Würdenträger, der Ossegger Abt
Benedikt Lit wehr ich, für die Einführung neuer Industrien. Er
verschrieb einen geschickten Strumpfwirker aus Sachsen, Paul
Rodig, nach Ossegg, damit er die Arbeitslosen, Kinder und Erwach-
sene, mit der Strumpfwirkerei und ihren technischen Hilfsmitteln,
den Spinn- und Spulrädern, Reiß- und Krempelkämmen bekannt
mache. Im Jahre 1697 war die Errichtung der Wollstrumpffabrik
beendigt. Sie zählte 15 eiserne Wirkstühle, auf denen anfangs
nur ausländische Gesellen arbeiteten. Nach und nach zog die
Fabrik auch die Einheimischen zur Arbeit heran. Noch vor Ab-
lauf des Jahrhunderts gab es auf der Ossegger Herrschaft gegen
50 ausgelernte Strumpfwirker, die gehalten waren, daselbst ihr
Gewerbe auszuüben und nicht in die Fremde gehen durften.
Von Ossegg aus verbreitete sich die neue Industrie auch in die
umliegenden Orte, wie Dux, Oberleutensdorf, Bilin, Teplitz,
Graupen und Klostergrab. Das Unternehnfen, das in mancher
Hinsicht an die von Becher, Schröder und Hörnigk geplanten
Musterfabriken erinnert, erwies sich jedoch nicht als lebensfähig.
Nachdem die Zöglinge der Ossegger Fabrik mit der Zeit aus
Arbeitern zu selbständigen Handwerkern geworden waren,
richteten sie die Mutterfabrik durch ihre Konkurrenz zu Grunde
und kehrten in den 50-er Jahren des 18. Jahrhunderts zur
Zunftorganisation zurück 4 ).
Die kurze Regierungszeit Josefs I. brachte eine Reihe tief-
einschneidender organisatorischer Maßregeln. Im Jahre 1705
wurde die Bechersche Idee des Kommerzkollegiums wieder auf-
*) Ebend., S. 30.
2 ) Ebend., S. 35.
3 ) S. S. 38.
4 ) Ludw. Schlesinger, Zur Gesch. der Industrie in Oberleutens-
dorf, in den „Mitteilungen des Vereines f. Gesch. der Deutschen in
Böhmen«, III. Jahrg., Prag 1865, S. 88 f.
58 Die Anfänge der raerkanti listischen Wirtschaftspolitik. [448
gegriffen. Die Leitung der Gewerbe- and Handelsangelegen-
heiten in den einzelnen Ländern wurde besonderen „Kommerz-
Deputationen" übertragen, an deren Stelle seit 1714 eigene
Merkantilkommissiofien und Kommerzkollegien traten x ). Die
Fabriksunternehmer wurden durch die sogenannten „Privilegia
privativa" gegen die Zunftverfassung geschützt. Die „Privilegia
privativa" gewährten den Fabrikanten Steuerfreiheiten und
Staatsvorschüsse, die Fabriksgebäude wurden jeder Einquartie-
rungslast enthoben, die Einfuhr und Nachahmung von Artikeln,
wie sie die privilegierte Fabrik erzeugte, wurde bei Konfiskation
und Strafe verboten. Auch Ausländer und Nichtkatholiken
konnten sich am Fabriksbetrieb beteiligen. Keiner, der bei der
Manufaktur arbeitete, durfte als Soldat geworben werden, wenn
nicht der Direktor seine Einwilligung gab und solange er nicht
seine bedungene Zeit vollendet hatte. Die Gesellen und Lehr-
linge der Fabrik sollten in ihrem handwerksmäßigen Fortkommen
nicht behindert werden 2 ). Die erste auf Grund eines solchen
Privilegiums errichtete Fabrik war die Weinkörner-Olfabrik des
Adam Ignatius Höger. Das bezügliche Patent erfloß am
22. April 1709. Die Fabrik sollte in Wien unter dem Namen
des Kaisers eingerichtet werden und Höger den Titel eines
kaiserlichen Administrators führen. Ohne Högers Erlaubnis
sollte niemand innerhalb 16 Jahren in den Erblanden eine solche
Fabrik errichten und solches Ol feilhalten. Von jedem verkauften
Zentner Ol sollte Hoger 1 n. an das Ärar entrichten. Er erhielt
die Befugnis, das Werk unter dem Namen einer „befreiten 01-
Fabrica a überall mit Einwilligung der Obrigkeit auf seine
eigenen Spesen einrichten zu dürfen 3 ). Die neue Fabrik wurde
von der Bevölkerung sehr übel aufgenommen ; schon am 26. Okto-
*) W. G. K o p e t z, Allgemeine österreichische Gewerbsgesetzkunde,
Wien 1829, II. Bd., S. 435.
2 ) Cod. Austr., III. T., S. 727 ff., erneuertes Patent vom
14. November 1713 wegen der venetianischen „Spiegel-Fabrica" zu
Neuhaus, die bereits 1701 bewilligt, aber erst einige Jahre nachher ins
Leben getreten war. — Cod. Austr., III. T., S. 781 f. erneuertes
Patent vom 22. Jänner 1715 für die „Linzer wüllene Zeug-Manufactur" .
3 ) Cod. Austr., III. T., S. 593 f. — Für den gleichen Zweck
war schon am 10. Juli 1569 dem Joh. Franz Rizo, kais. Diener und
Musikus, ein Privileg auf 6 Jahre erteilt worden. (Alex. Gigl, Drei
österreichische Industriezweige im XVI. und XVII. Jahrhundert, in den
Blättern des Ver. f. Landeskunde v. N.-O., neue Folge, IV. Jahrg.
1870, S. 28.)
449] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 59
ber 1711 mußte das Patent erneuert werden, u. zw. erweitert
durch eine Strafandrohung gegen jene, welche der Fabrik
Hindernisse in den Weg legen und den Weinkörner-Einsammlern
und Offizianten die Weinkörner verweigern würden 3 ). In den
ersten zwei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstanden ferner
teils mit, teils ohne volle Privilegierung: die Maschinen- und
Instrumentenfabrik des Schneider und die Blechwarenfabrik des
Tenninger in der Leopoldstadt 2 ), eine Strumpfwirkwarenfabrik
am Spittelberg 3 ) und mehrere Seidenmanufakturen, wie die von
Hengstberger am Neubau (gegr. 1700), die erste Seidenfabrik in
Wien 4 ), die des Sickingen am Tabor 5 ) und die Taffetfabrik von
Franz Dunant, wahrscheinlich ebenfalls am Tabor gelegen. Als die
letztere im Jahre 1718 zur Hälfte abbrannte und Dunant von
der Regierung ein unverzinsliches Kapital von 10.000 fl. zum
Wiederaufbau erbat, sagte sie die Unterstützung zu, wenn er
sich verpflichte, die Seide nur aus den österreichischen Gebieten
(Neapel, Friaul, ßoveredo) zu beziehen. Die Wiener Kaufleute
wurden angewiesen, ihm die Seidenwaren abzunehmen, widrigen-
falls er die Erlaubnis erhielte, nach der Elle zu verkaufen. Es
wurde beschlossen, ihm zunächst 2000 fl. vorzustrecken und
diese Summe nach und nach auf die verlangten 10.000 fl. zu
erhöhen. Das Unternehmen kam aber nicht mehr zu stände 6 ).
Ein Beispiel von den Schwierigkeiten, mit denen die neuen
Unternehmungen zu kämpfen hatten, bietet die Geschichte der
Porzellanfabrik in der Roßau. Ein in Wien lebender Holländer,
Claudius Innocenz du Paquier, warb für die Wiener Fabrik zwei
Angehörige der Meißner Porzellanmanufaktur, der ersten ihrer
Art in Europa (gegr. 1710). Das Privilegium vom 27. Mai 1718
enthielt keinerlei besondere Vergünstigungen. Es berechtigte die
Inhaber bloß, ihre mit großer Sachkenntnis und Mühe und ohne
Inanspruchnahme des Arars hergestellte Porzellanmajolika zu
erzeugen und sowohl im großen als im kleinen in den Erb-
ländern zu verkaufen. Die Waren fanden jedoch keinen Absatz,
die Fabrik geriet in Geldkalamitäten, der unentbehrliche Werk-
l ) Cod. Austr., III. T., S. 634. Das Patent stammt von Eleonora
Magdalena Theresia, der Matter Josefs I.
*) Weiß, a. a. O., IL T., S. 257.
*) Ebend.
4 ) Ebend.
5 ) Ebend.
6 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der In-
dustrie in Österreich, a. a. O., S. 62 f.
60 Die Anfänge der merkantilis tischen Wirtschaftspolitik. [450
meister und „Arcanist" Stenzel konnte nicht bezahlt werden und
ging nach zweijähriger Tätigkeit wieder davon, nachdem er
durch Zerstörung und Verwüstung der Modelle und des Materials
einen Schaden von 15.000 fl. angerichtet hatte. Die materiellen
Schwierigkeiten dauerten fort, bis die Fabrik im Jahre 1744 in
den Besitz des Staates überging 1 ).
Das Jahr 1718 bezeichnet für die Handels- und Industrie-
geschichte Österreichs einen wichtigen Abschnitt. Durch den
Passarowitzer Frieden und den Handelsvertrag mit der Pforte
wurde das türkische Reich und damit der Orient dem öster-
reichischen Handel eröffnet. Fast gleichzeitig erfolgten nun zwei
handelspolitische Aktionen von größter Bedeutung : die Erklärung
von Triest und Fiume zu Freihäfen und die Errichtung der
orientalischen oder levantinischen Compagnie 2 ), die, unter viel
günstigeren Bedingungen ins Leben tretend als ihre Vorgängerin,
den Levantehandel binnen kurzem wieder zu seiner früheren
Bedeutung erhob und Wien zum Stapelplatz des mittel-
europäischen Baumwollhandels machte 8 ). Die Compagnie gründete
auch eigene Industrieunternehmungen. In Fiume errichtete
sie zwei Fabriken: eine Kerzenfabrik zur Bearbeitung des
wallachischen und ungarischen Wachses, das früher zur
Bearbeitung nach Venedig ausgeführt worden war, und eine
Fabrik für Stricke und Taue; die Kerzenfabrik stellte jedoch
noch vor 1730 ihren Betrieb ein 4 ). Im Jahre 1722 ging die
Linzer Schafwollwarenfabrik in den Besitz der Compagnie über.
Die Fabrik gründete sich vornehmlich auf den hausindustriellen
Betrieb. Sie kaufte in den Städten und Dörfern Gespinste zu-
sammen und forderte die Herrschaften auf, ihre Untertanen zur
Spinnerei anzuhalten. Es gelang, ca. 1500 von den zahlreichen
Bettlern Oberösterreichs 5 ) für die Spinnarbeit zu gewinnen 6 ).
x ) J. v. Falke, Die Wr. k. k. Porzellanfabrik, Wien 1887,
S. 6 ff.
2 ) Patent vom 27. Mai 1719, Cod. Austr., III. T., S. 939 ff.
— Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der Industrie
in Osterreich und die orientalische Compagnie, a. a. 0., S. 34.
3 ) Hallwich, Anfänge der Großindustrie in Österreich, a. a. O.,
S. 40.
4 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der In-
dustrie in Österreich, a. a. 0., S. 47 f.
6 ) S. S. 49.
6 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der In-
dustrie in Österreich, a. a. 0., S. 48 ff.
451] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 61
Am 20. Mai 1722 erhielt die Compagnie neben andern Privile-
gien die Erlaubnis, Meister, Künstler und Handwerker, auch
protestantischer Konfession, aus Holland, Schweden, Hamburg
u. s. w. zum Bau von Schiffen und zur Erzeugung von Gegen-
ständen für den Schiffsbetrieb herbeizuziehen 1 ). Im Jahre 1726
errichtete die Compagnie eine Kotton- und Barchentfabrik in
Schwechat und gab dadurch den Anstoß zur Gründung ähn-
licher Fabriken in der Umgebung von Schwechat, wie in Potten-
dorf und Trumau 9 ). Wie alle Fabriksgründungen, so stießen
auch die Unternehmungen der Compagnie auf lebhaften Wider-
stand. Die Handelsleute, die Kommunen, die Herrschaften und
ihre Beamten waren auf die „ketzerischen Negozianten" der
Compagnie sehr schlecht zu sprechen und tadelten es, daß man
durch derartige Privilegierungen die Kaufleute um ihren Erwerb
bringe 8 ). Die Compagnie konnte sich auf die Dauer nicht halten.
Auch Unternehmungen im Lawschen Stil, wie die Klassen-
lotterie von 1721, schlugen fehl. Bereits die „ Universalbilanz"
von 1730 offenbarte die unhaltbare Lage der Gesellschaft. Ein
Unternehmen nach dem andern löste sich auf; nur wenige blieben
bestehen und gingen in staatlichen Betrieb über 4 ).
In Böhmen lag die Aufgabe der Industrieförderung in den
Händen des böhmischen Kommerzkollegiums, das im Bunde mit
den Fabrikanten einen harten Kampf gegen die starken Zunft-
organisationen des Landes zu führen hatte, zumal da Regierung
und Kammer aus finanziellen Gründen in der Begel auf Seiten
der Zünfte standen 5 ). Eine Tuchfabrik in Planitz bei Klattau,
die Joh. Baptist Fremmrich im Jahre 1710 mit Hilfe des Grund-
herrn Adolf Bernhard Grafen von Martinitz gegründet hatte,
brachte es zu keiner besonderen Bedeutung 6 ). Größeren Erfolg
hatte die Tuchfabrik, die Graf Waldstein im Jahre 1713 zu
Oberleutensdorf errichtete 7 ). Nach den Aufzeichnungen in den
Rechnungsbüchern betrugen die Gesamtauslagen der Fabrik im
1 ) Ha 11 wich, Anfänge der Großindustrie in Osterreich, a. a. 0.,
S. 42.
2 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der In-
dustrie in Österreich, a. a. 0., S. 58 ff.
3 ) Ebend., S. 56 ff.
4 ) Ebend., S. 45, 115 ff.
5 ) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. 0., S. 107 f.
6 ) Ebend., S. 94 f.
7 ) Ebend., S. 95 f.
62 Die Anfänge der merkantil istischen Wirtschaftspolitik. [452
Jahre 1736 40.806 fl. ; für böhmische und schlesische Wolle
wurden 8780 und 6683 fl. ausgegeben, für spanische hingegen,
die man über Holland bezog, bloß 3546 fl. 1 ). Der erste Versuch
zur fabriksmäßigen Verarbeitung der ostindischen Baumwolle
wurde in Osterreich zu Grottau bei ßeichenberg gemacht, wo
die Gräfin Gallas im Jahre 1723 die Erlaubnis zur Errichtung
einer „Tuch-, Zeug-, Strumpf- und Canevasfabrik a erteilte. Das
Kommerzkollegium in Prag befürwortete das Ansuchen des
Reichenberger Stadthauptmanns um die kaiserliche Privilegie-
rung mit der anerkennenden Bemerkung, daß „Supplicant von
denen Görlitzern, welchen vornemblich die Anrichtung dieser
Fabrique ein hefftiger dorn und Stachel im Augen ist, undt
ihme ein nahmhaftes quantum bey deren nachlaßung offeriret,
sich nicht abwendig machen lassen, sondern in solchen Vor-
nehmen zu höchsten Nutzen des landes beständig fortfahret". 2 )
Schlesiens Handel und Industrie war um die Wende des
Jahrhunderts durch den nordischen Krieg und das Aufkommen
der russischen Großmacht stark geschädigt worden. Immerhin
gelang es der eifrigen Tätigkeit der Behörden, dem Lande in
den letzten Jahrzehnten der österreichischen Verwaltung einen
Teil seiner früheren wirtschaftlichen Bedeutung wiederzugewinnen.
Schon 1716 wurde Gewerbetreibenden, die sich hier niederließen,
Freiheit von Steuern und Religionszwang zugesichert und am
1. Juli dieses Jahres erging ein Edikt, um der fortwährenden
Auswanderung schlesischer Schäfer und Weber nach Rußland
entgegenzutreten. Durch das Tuchreglement von 1718 und die
Leinwand- und Schleierordnung von 1724 wurden die Haupt-
gewerbe einer strengen Beaufsichtigung unterworfen. Weitgehende
Zollbegünstigungen hoben den Warenverkehr. Die Tuchbereitung
stieg von 59.000 Stück im Jahre 1720 mit gelegentlichen
Schwankungen auf 95.700 Stück im Jahre 1735. Binnen kurzem
überstieg die Warenausfuhr Schlesiens nach den übrigen Erb-
landen die Einfuhr aus den letzteren um das Doppelte 8 ).
In Inner Österreich entfaltete seit 1716 die Kommerzien-
kommission in Graz eine rege Tätigkeit. Sie beschäftigte sich
in erster Linie mit den Anstalten zur Förderung des Seehandels.
x ) Schlesinger, a. a. 0., S. 139 f.
2 ) Hallwich, Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb.
S. 371 ff.
3 ) Grrünhagen, a. a. 0., S. 400 ff.
J
453] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 63
Auf ihre Anregung ist die Errichtung des Hauptkommerzien-
kollegs in Wien zurückzuführen, das 1718, kurz nach dem Ab-
schluß des Handelsvertrages mit der Pforte, ins Leben trat, ohne
jedoch in der Folgezeit zu größerer Bedeutung zu gelangen 1 ).
Es handelte sich damals für Innerösterreich insbesondere um die
Gründung einer Sozietät für industriellen Kredit. Überdies
plante man die Errichtung von Fabriken für seidene Strümpfe,
Leinwand und weiß-irdenes Geschirr, sowie einer Tuchfabrik in
der Karlau, die zugleich Zwangs- und Arbeitshaus sein sollte 2 ).
Auch die Kärntner Landschaft trug sich damals mit der Absicht,
ihre zu Grunde gegangene Tuchfabrik in Klagenfurt wieder ins
Leben zu rufen 8 ).
Die Reichshauptstadt hatte nach der außerordentlichen
Entvölkerung durch die Kriegsereignisse und Pestfälle einen
beträchtlichen Bevölkerungszuwachs von auswärts erhalten. Die
Werbungen für die kaiserlichen Truppen zogen viel fremdes
Volk nach Wien. Bei Ausbruch des spanischen Erbfolgekrieges
wurden hier allein binnen Jahresfrist 24.000 Mann angeworben,
darunter eine große Zahl Reichsdeutscher 4 ). Die Vernachlässigung
der Landwirtschaft durch die merkantilistische Staatsrichtung 5 )
mag schon damals eine merkliche Bevölkerungsbewegung vom
Lande in die Stadt zur Folge gehabt haben. Dazu kam der
wachsende und immer anspruchsvoller gewordene Konsum der
Großstadt, der nach den modernen Industriebetrieben und den
technisch geschulten Arbeitskräften des Auslands verlangte. So
x ) Bidermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staatsidee, a. a. O.,
II. T., S. 34.
2 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der In-
dustrie in Österreich, a. a. O., S. 63 f., Denkschrift der inneröster-
reichischen Kammer von 1721.
3 ) Zwei Laibacher, Reigersfeld und Mühlbacher, die eine
Tuchfabrik in Laibach errichten wollten, wurden indes von der Sub-
delegiertenkommission in Kommerzienangelegenheiten vorläufig mit
dem Bemerken abgewiesen, sie möchten vorerst die Entwicklung der
Fabriksunternehmungen in Graz und Klagenfurt abwarten.
4 ) J. v. Zahn, Ferdinand III. und Leopold I. vom westphäli-
schen bis zum Karlowitzer Frieden (1648 — 1699), IX. Bd. der Samm-
lung „Österreichische Gesch. für das Volk", Wien 1869, S. 73.
6 ) Rieh. M a y r (Die wirtschaftliche Ausdehnung Westeuropas seit
den Kreuzzügen, in Helmolts „Weltgeschichte", a. a. 0., 7. Bd.,
S. 117) bezeichnet es als das Hauptgebrechen des Merkantilismus, daß
er die Interessen der Landwirtschaft übersah.
64
Die Anfänge der merkantil istischen Wirtschaftspolitik. [454
zählte denn die Stadt im Jahre 1713 bereits 130.000 Einwohner x ).
Bis zum Jahre 1736 hatten sich die Bevölkerungsverhältnisse
durch den Zufluß von außen her derart gestaltet, daß von den
3345 bürgerlichen Professionisten Wiens 1663 von auswärtigen
Orten herstammten 2 ). Die nichtbürgerliche Gewerbebevölkerung
suchte der Staat wenigstens zum Teil auf gesetzlichen Boden
hinüberzuretten, indem er sie in zwei neugeschaffene Handwerker-
kategorien einreihte: in die der Hof befreiten und Dekreter.
Ausländische und akatholische Gewerbsleute, die sich durch
irgend welche Kunstfertigkeit oder durch Einführung einer
neuen Industrie auszeichneten, sollten auf diese Weise den An-
griffen seitens der Zünfte entzogen werden. So wird unter den
4 verdienstvollen Akatholiken, die im Jahre 1736 mit einer Hof-
befreiung ausgestattet waren, insbesondere der Engländer Niko-
laus de la Hay genannt, der die Galanteriearbeit, besonders im
„Goldverschneiden", in Wien eingeführt hatte 8 ). Auch durch
die häufige Erteilung von Schutzdekreten auf Grund des Patentes
vom 12. April 1725, einer Maßregel, die zugleich aus fiskalischen
und industriepolitischen Erwägungen hervorgegangen war, er-
hielten gewisse Industriezweige, wie die Band- und Tücher-
fabrikation, die Galanteriearbeit, die Stickerei und die Seiden-
manufaktur, eine bedeutende Förderung 4 ).
Einen Einblick in den Umfang der industriellen Haupt-
produktion gewährt die stets wachsende Zahl der Einfuhrverbote
und Schutzzölle. Durch die Beratungen der Subdelegiertenkom-
mission von 1727 wurden alle diese Prohibitivmaßregeln in ein
gewisses System gebracht. Darnach zerfielen fortan die fremden
Warenerzeugnisse in solche, deren Einfuhr überhaupt verboten
war, und in solche, auf die ein höherer Aufschlag gesetzt wurde.
Zu den ersteren gehörten: Baum- und Schafwollwaren, halb-
*) Nach Weiß, a. a. 0., IL Abt., S. 82.
2 ) Referat der Hofkanzlei vom 12. August 1741, a. a. 0., Beil. A.
aus
n
n
r>
n
r>
»
ien 1663 ausländn
»chen Professionisten stammten
dem Reich
815 aus Frankreich
13
Bayern
324 „ Polen
12
der Pfalz
323 n Savoyen
7
Schlesien
63 „ Lothringen
3
der Schweiz
45 „ England
1
Venedig
28 (meist Händler) „ Moskau
1
Brandenburg
27 „ Rom
1
8 ) Ebend., Text.
4 ) Ebend.
^Ä
455] Merkantilistische Industrie- und Handelspolitik. 65
seidene Waren, Pferde-, Kalb- und Schafleder, Gold- und Silber-
Drahtgespinste, Gold- und Silberzeuge, Seidenstrümpfe und
-Bänder, Hüte, Leinwand-Tischzeuge, Atlas und Brokat 1 ). Für
Böhmen sollte auf einige dieser Waren (Leder, Gold- und Silber-
zeuge, Atlas und Brokat) nur ein erhöhter Eingangszoll gelegt
werden. Höhere Aufschläge für die gesamten Erblande wurden
festgesetzt auf Tücher, Seidenwaren, Gold- und Silberborten,
feine wollene und Kastorstrümpfe, Teppiche, deren Erzeugung
besonders in Böhmen blühte, ferner auf Zinn zur Förderung
der Schlackenwalder Zinnindustrie und auf Weißblech 2 ). Auch
für Schlesien, das mittlerweile wieder zum ersten Industrie- und
Handelslande Österreichs geworden war, wurden wiederholt
protektionistische Zölle erlassen 8 ).
Die höheren Aufschläge galten aber nur für Waren, die
im Inlande konsumiert wurden; für die Durchfuhr waren sie
nicht zu entrichten, da sich sonst der Handel in die Nachbar-
länder ziehen konnte. Dagegen wrurde den ungarischen und
siebenbürgischen Kaufleuten der Weg nach den Messen von
Frankfurt und Leipzig erschwert, indem sie für Waren, die aus
diesen Städten herstammten, in Ungarn einen höheren Zoll
zahlen mußten, als für solche, die sie etwa in Wien oder Breslau
kauften. Die erhöhten Zölle sollten den Fundus für die Ein-
lösung der Privatmauten in Böhmen und Osterreich bilden und
so die Schaffang eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets vorbereiten
x ) Daß die verschiedenen Luxusverbote, abgesehen von ihrer
fiskalischen Seite, hauptsächlich als Kundgebungen der merkantilistischen
Industriepolitik aufzufassen sind, beweisen die verhältnismäßig zahl-
reichen Privilegien für Gold- und Silbermanufakturen. So suchte ein
Gold- und Silberbortenfabrikant, namens Stephan Rambo, im Jahre 1725
für seine nichtzünftige, mit Hilfe französischer „Künstler" betriebene
Profession um eine „Ordnung wegen Lehrnung deren Jungen und
Fürderung auch Erhaltung deren Gesöllen a an, welche ihm auch zuge-
sichert wurde. Im folgenden Jahre empfahl die Subdelegiertenkommission
in Kommerzienangelegenheiten die Erteilung zweier angesuchter Privi-
legien für Gold- und Silberwarenfabriken mit der Begründung: da es
unmöglich sei, den so hoch gestiegenen Luxus „ex rationibus politicis
abzubringen", so sei es immerhin gut, wenn im Lande derartige Fabriken
bestünden. Tatsächlich wurden die Privilegien erteilt. (Franz Mart.
Mayer, Die Anfänge des Handels und der Industrie in Österreich,
a. a. 0., S. 70 f.)
2 ) Ebend., S. 73.
3 ) So z. B. in den Jahren 1718 und 1739. (Hallwich, Anfänge
der Großindustrie in Österreich, a. a. 0., S. 40 f.)
Wiener staatswiss. Studien. IV. Bd., 3. Heft. 30
66 Die Anfänge der merkantilistischen Wirtschaftspolitik. [456
helfen 1 ). Doch geschah in der Frage der Mauteneinlösung bis
zum Regierungsantritt Maria Theresias kein entscheidender
Schritt 2 ).
Wie wenig tief übrigens diese, bloß auf den kulturellen
und gesellschaftlichen Überbau der fiskalisch-kapitalistischen
Betriebsweise zugeschnittenen Einheitsbestrebungen des Merkan-
tilismus selbst bei den Landesbehörden zu wurzeln vermochten,
zeigt die stetig wiederholte Weisung der obersten Verwaltung
an die Gubernien, über den regionalen und lokalen Wirtschafts-
und Rechtsbeliebungen der einheimischen Produktion nicht die
Erfordernisse der modernen Staats Wirtschaft aus dem Auge zu
lassen 8 ). Daß dies von Seiten der Landesstellen gelegentlich mit
Bewußtsein geschieht, geht aus der oben erwähnten Denkschrift
der innerösterreichischen Kammer vom Jahre 1721 4 ) mit aller
wünschenswerten Deutlichkeit hervor. Es wird dort bezüglich
der projektierten Tuchfabrik in der Karlau bei Graz folgender-
maßen argumentiert: zu den „Landwirtschafts-Hauptregeln"
gehöre es, daß alle Gebrauchsartikel im Lande selbst verfertigt
würden und daß man das Geld hiefür nicht den Fremden zu-
wende; zu den „Fremden" rechnet aber die Denkschrift auch
die Böhmen, Mährer und Schlesier, denen alljährlich aas Steier-
mark 160.000 fl. für geliefertes Tuch zuflössen, während „dahier
vill hundert Persohnen theils in Ellendt, theils in liederlichem
Müssiggang zu großer Beschwehrde des Publici herumbwallen,
viele Landtskhinder aber ihr Brodt in der Frembde zu suchen
genöthiget seynd u . 5 )
So. war es dem Staate bis dahin nicht einmal noch in der
Sphäre der politischen Administration geglückt, die staatswirt-
schaftliche Einheit der österreichischen Länder vollständig zur
Geltung zu bringen.
*) Franz Martin Mayer, a. a. 0., S. 73 f.
2 ) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a, a. 0., S. 41 f.
8 ) S. S. 76 f. und 119 f.
4 ) S. S. 63, Anm. 2.
5 ) Franz Martin Mayer, a. a. O., S. 63 f.
457 J Die „Störer«. 67
IV. Der Kampf der Zünfte gegen die neue Gewerbe-
und Arbeitsverfassung.
Noch viel schwieriger mußte sich der Versuch gestalten,
auf dem Gebiete des Produkt ionswesens selbst ein einheitliches
Organisationsprinzip zu statuieren. Mit der Durchbrechung der
zunftgenössischen Produkt ionsform durch den merkantilis tischen
Staat war die überaus tiefgreifende und bedeutungsvolle Frage
der Arbeitsorganisation nur aufgeworfen worden, ohne daß jedoch
damals oder in der Folgezeit eine endgiltige Lösung gelungen
wäre. Hiezu fehlte es an einer allseitigen und gründlichen Er-
kenntnis der Verhältnisse. Wo gab es Männer, die im stände
gewesen wären, nicht nur den Staat vor der drohenden Über-
wältigung durch den wirtschaftlich ausgereiften Westen zu
bewahren, sondern auch das alte gute Recht des Bürgers gegen
die übergroßen Ansprüche der Staatsmacht zu schützen? die
vermocht hätten, der zunehmenden Masse Deklassierter Unter-
halt zu bieten und doch zugleich die altbewährten Grenzen des
Erwerbsstrebens intakt zu erhalten ? — Das eine war zu tun —
das andere durfte nicht außer acht gelassen werden. Je häufiger
aber die Behörden unter dem Drucke der außer- und inner-
politischen Verhältnisse sich genötigt glaubten, in den Über-
gangsprozeß vom zünftigen Handwerk zum freien Gewerbe zu
Ungunsten des ersteren eingreifen zu müssen, desto mehr waren
andererseits die Zünfte gezwungen, ihren Standpunkt zu betonen,
desto mehr wurde für sie der Kampf gegen die neuen Wirt-
schaftsformen zur Lebensfrage. Sie führten ihn mit Ausdauer
und Erbitterung in der Gruppe der Meister wie der Gesellen^
erlagen aber schließlich, die einen der Schwäche ihrer inneren
Organisation, die . andere dem entschiedenen Eingreifen der er-
starkten Staatsgewalt.
1. Die „Störer".
Das unbefugte Gewerbe hatte schon zur Zeit, als sich die
ersten Spuren merkantilistischer Tendenzen in Osterreich
zeigten, beträchtliche Dimensionen angenommen. Ein Teil der
angesammelten nichtbürgerlichen Bevölkerung hatte, ohne die
Bewilligung der staatlichen oder zünftigen Behörden einzuholen,
zum Erwerb gegriffen. Um das Jahr 1674 war die Zahl der
bürgerlichen Handwerker in Wien bereits weit hinter der der
30*
68 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [458
„Störer" zurückgeblieben 1 ). Auch auf dem Lande, wo mit der
zunehmenden Besteuerung und Volksdichtigkeit der Städte immer
häufiger Ansiedlungen von Handwerkerfamilien stattfanden *),
wo überdies der Einfluß der städtischen Hauptinnungen sich
weniger geltend machte, fühlte sich das Störergewerbe heimisch.
Wollte man den bürgerlichen Handwerkerstand steuerkräftig
erhalten, so mußte man ihn zunächst gegen diese immer bedroh-
licher werdende Konkurrenz schützen. Dieser Gedanke liegt
wohl auch den scharfen Äußerungen zu Grunde, womit Becher 8 )
die „Störer" charakterisiert. Er nennt sie Hummeln, die „denn
nahrhafften Handwercksleuten ihren saweren Schweiß abstehlen,
und daß brod von dem Maul hinweg nehmen, die arbeit wohl-
feiler geben, auch solches thuen können, weil sie keine Contri-
bution und theweren Hauß Zinß als die bürger geben, noch
ehrliche Gesellen fördern, welche theuer zu unterhalten, sie aber
Ihre Arbeit nur auf die wohlfeyle, geschwinde und leichtigkeit
richten, und darzu allerhand Fretter und Pfutscher brauchen."
Hiezu würden auch die Hof- und Herrenbefreiten gerechnet. „Es
ist kein Fürst oder Graf beynahe, der nicht einen Handwercker
under seinen Laqueyen habe, zu geschweigen der Soldaten. Ja
die Clöster vieler Orten halten Selbsten die Stöhrer auf, laßen
nicht allein alles darinnen machen, was ihnen vonnöthen, sondern
laßen auch noch Waaren auf den Kauff verferttigen und schicken
sie per tertios auf die Jahr Märkt. a4 ) Nicht nur, daß sie wenig
oder gar nichts zur gemeinen Steuer beitragen, saugen sie die
bürgerlichen Meister ärger aus, als die größte Kontribution,
schneiden ihnen die Nahrung ab oder verursachen doch, daß
ihrer nicht um vieles mehr in den Erblanden zu finden seien 6 ).
x ) S. S. 16.
*) „Je dichter die Bevölkerung wurde, je mehr der Verkehr zu-
nahm, je teurer es in den großen Städten wurde, desto mehr zog sich
ein Teil des Handwerks in die kleinen Städte und auf das Land."
(Schmoller, Die Straßburger Tucher- und Weberzunft, a. a. 0.,
S. 538; vgl. auch Moritz M e y e r, Gesch. der preußischen Handwerker-
politik, a. a. 0., IL Bd., 1888, S. 32.)
3 ) Im Referat von 1674, a. a. 0.
4 ) Auch der böhmische Rammersekretär Borscheck verlangt in
seinem Gutachten Ende 1699, es möge der Geistlichkeit verboten
werden, die Arbeiten durch ihre Ordensgeistlichen verrichten zu lassen.
(Pribram, Das böhmische Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. 0., S. 19.)
5 ) Referat von 1674, 1. Kap.
459] Die „Störer«. 69
Immer wieder mußten Resolutionen zur Abstellung der
„Störer a in den einzelnen Gewerben erlassen werden 1 ). 1693 er-
schien eine Verordnung gegen die „ Störer" aller Gewerbe 2 ).
Die zahlreichen Erneuerungen der Zunftprivilegien sind in erster
Linie auf das Überhandnehmen der unbefugten Handwerker
zurückzuführen. Die Handwerksordnungen enthalten meist bezüg-
lich der „Störer" sehr strenge Bestimmungen. So setzt z. B. die
Radkersburger Schneiderhandwerksordnung vom 4. Juni 16§9
fest: wer mit „Störern" umgeht oder zecht, zahlt 2 Pf. Wachs
(Art. 8); wer solches sehen und nicht anzeigen würde, x / 2 -Pf-
(Art. 9) 8 ). In der Bestätigung dieser Ordnung unterm 29. Dezem-
ber 1728 werden die betreffenden Bestimmungen noch verschärft :
Gesellen, die bei „Störern" arbeiten, darf über 14 Tage keine
Arbeit gegeben werden (Art. 30); die „Störer" werden von der
Zunft mit 4 Pfd. Pfennigen bestraft (Art. 31); wenn sie sich
widersetzen, solle* sie durch die Behörden verhaftet werden
(Art. 32); Landschneider dürfen nicht in der Stadt arbeiten
(Art. 33); „Störer" werden nach Verbüßung ihrer Strafe von
der Behörde abgeschafft (Art. 34). Noch unterm 20. Dezember 1741
wurden die alten Privilegien wegen der vielen „Fretter" unter
den verschiedenen umliegenden Herrschaften auf Ansuchen der
Zünfte bestätigt 4 ).
Auch gegen die zahlreichen Militärhandwerker unter den
„Arsenalisten", „Piquenierern" und Angehörigen der „Stadt-
Quardia" standen die Behörden den Zünften bei. Zufolge einer
kaiserlichen Resolution vom 14. Juli 1687 war es den „Arsiona-
lischen Lehen- Wächtern" nicht gestattet, wie Bürger in der Stadt
ein Gewerbe zu treiben. Als sie trotzdem ihr Handwerk weiter
ausübten, nahmen ihnen die Wiener bürgerlichen Schneider eines
Tages Waren und Werkzeug weg. Bei dieser Gelegenheit ließ
der Kämmerer und Arsenalhauptmann, Graf von St. Hilier, einen
der bürgerlichen Schneider, Simon Lucas, im Arsenal eigen-
mächtig festnehmen. Der Kaiser sprach ihm jedoch, als er davon
vernahm, seine Mißbilligung aus und befahl ihm, falls es noch
nicht geschehen sei, den bürgerlichen Schneider zu entlassen 5 ).
x ) S. Cod. Austr., I. T., S. 370, 464; II. T., S. 290 ff., 317,
440 f., etc.
2 ) Hatschek, a. a. 0., S. 10.
8 ) Gomilschak, a. a. O., S. 62.
4 ) Ebend. S. 64.
3 ) Resolution vom 20. Oktober 1687, Cod. Austr. II. T., S. 441.
70 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [460
Ebenso wurden die Beschwerden der Wiener bürgerlichen Fleisch-
hacker über die große Zahl und den ungebührlich ausgedehnten
Gewerbebetrieb der „Commiss- oder Quardi-Fleischhacker" zu
Gunsten der Zunft erledigt, allerdings erst, nachdem diese mit
einer Preiserhöhung und die Stadt Wien mit der Zurückhaltung
eines Teils ihrer Landeskontribution gedroht hatte 1 ).
Zweifelhafter war die Haltung der obersten Behörden
bezüglich der bürgerlichen Beschwerden gegen den Gewerbe-
betrieb der kaiserlichen Livreebedienten 2 ). Der „esclat" des
Hofes erforderte die Besoldung zahlreicher „Künstler und Hand-
werker in wirklichen Hofdiensten", wie Kammermaler, Kammer-
goldschmiede, Leibbarbierer, „ Guardarobba, u Büchsenspanner,
Hofschmiede, Hofzuschrotter u. a., denen zugleich das Recht ein-
geräumt wurde, ihre Kunst und ihr Handwerk nach altem Her-
kommen ohne ausdrücklichen Freiheitsbrief in Wien auszuüben 3 ).
Auch andere Hofbedienstete, wie Trabanten und Hartschierer,
übten zuweilen ein Gewerbe aus und arbeiteten sogar öfters mit
Gesellen 4 ).
Allmählich werden diese Hofprivilegien zum Gewerbebetrieb
auch auf unbezunftete Handwerker außerhalb der Hofdienste
ausgedehnt. Es waren wohl zunächst ausländische „Künstler"
und Handwerker, denen der Kaiser oder ein Mitglied des Kaiser-
hauses auf diese Weise die Ausübung ihres Handwerks in Wien
ermöglichen wollte 5 ). Später war hiebei hauptsächlich das
Bestreben maßgebend, wenigstens einen Teil der zahlreichen
„ Störer u vor den Angriffen der Zünfte sicherzustellen. Die „Hof-
befreiten" waren von den Zunftverbindlichkeiten und Steuer-
leistungen der übrigen Handwerker befreit und hatten bloß ein
x ) Resolutionen v. 1692, 1693, 1698 und 1700, ebend. I. T.,
S. 364, 249.
2 ) Eine solche erwähnt ein Referat der Hofkanzlei vom 13. Aug.
1736, Arch. des Min. des Innern, IV. T. 28, Gewerbe in genere,
N.-Öst. 1522—1749.
3 ) Cod. Austr., I. T., S. 476 ff.
4 ) Cod. Austr., IV. T., S. 270 ff.
°) Die Institution königlicher Freimeister findet bereits in einer
Goldschmiedeordnung aus dem Jahre 1562 Erwähnung (Hans Rizzi,
Das österreichische Gewerbe im Zeitalter des Merkantilismus, in der
„Ztschr. f. Volkswirtsch., Sozialpolitik und Verwaltung", Wien und
Lpz. 1903, S. 79). Eine der ältesten Hofbefreiungen erhielt ein gewisser
Domenigo Barchino im Jahre 1583 von Elisabeth, Tochter Maximi-
lians II. (Alex. Gigl, Gesch. der Wr. Marktordnungen, Wien 1865,
S. 237).
461] Die „Störer«. 71
jährliches Schutzgeld zu entrichten. Schon in den letzten Jahr-
zehnten des 16. Jahrhunderts war ihre Zahl derart gestiegen,
daß Maximilian II. sich genötigt sah, für sie eine eigene Ordnung
zu erlassen 1 ). Beim Regierungsantritt Leopolds I. häuften sich
wieder die Klagen der Wiener Zünfte über die Mißbräuche und
das Überhandnehmen der Hofbefreiten. Die Resolution vom
13. Juli 1660 an den Obersthofmarschall und die Stadt Wien
versucht nun das Verhältnis zwischen den beiden Handwerker-
kategorien zu regeln. Es sollten fortan nur mehr die von Leopold
erteilten Hoffreiheiten Gültigkeit haben. Die übrigen Hofbefreiten
sollten gehalten sein, das Bürgerrecht zu erwerben, wenn sie ihr
Gewerbe weiter betreiben wollten. Die Stadt Wien wurde an-
gewiesen, ihnen nicht nur das Bürgerrecht zu erteilen, sondern
auch die ihr untergebenen Handels- und Handwerkszünfte zu
veranlassen, die Betreffenden ohne allzu große Kosten, schwierige
Meisterstücke und andere schädliche Bedingungen aufzunehmen 2 ).
Die Entscheidung war also durchaus nicht im Sinne der Be-
schwerden erflossen. Sie bedeutet vielmehr einen entschiedenen
Eingriff in die Rechte der Wiener Zünfte. Die Bestimmungen
zu Gunsten der Bürgerschaft fielen dagegen kaum ins Gewicht.
So sollten bei einigen Handlungen und Handwerken, wie bei
den „Eißlern" und gemeinen Gewandschneidern, welche die
Kleider auf Kauf machen, die Hoffreiheiten gänzlich kassiert
und keine mehr ausgefolgt werden. Die Zahl der Hofbefreiten
sollte restringiert werden, vorbehaltlich der kaiserlichen Ent-
schließung in speziellen Fällen, wie bei Künstlern oder auch
andern treuen und verdienstvollen Personen. Reiste der Hof
außer Landes, so hatten nach Disposition und Anordnung des
Hofmarschalls die Hofbefreiten, welche Handelsleute und Krämer
waren oder für gewöhnlich Waren vorrätig hielten, den kaiser-
lichen Hof entweder in eigener Person oder durch einen stell-
vertretenden Diener, die bloß arbeitenden Handwerker aber in
eigener Person zu begleiten. Weigerten sie sich dessen, so sollte
ihr Gewerbe bis zur Ankunft des Kaisers niedergelegt werden.
Da sich zwischen dem Hofmarschall amt und dem Wiener Magi-
strat wegen der n Sperrinventur" und der Verlassenschaft nach
Hofbefreiten öfters Rechtsstreitigkeiten zum Schaden der Gläu-
biger und Erben ereigneten, die besonders darin ihren Grund
1 ) Neue Ordnung Maximilians II. v. 15. Juni 1572, Arch. des
Min. des Innern, IV. F. 28, Gewerbe in genere, N.-Ost., 1522 — 1749.
2 ) Cod. Austr., I. T., S. 476 ff.
72 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [44)2
hatten, daß die Verstorbenen zugleich Bürger und Hofbefreite
gewesen waren, so durfte in Hinkunft ein Bürger nur mit Ver-
lust seines Bürgerrechtes Hofbefreiter und ein Hofbefreiter nur
nach Ablegung seiner Hoffreiheit Bürger werden *), eine Bestim-
mung, die nur geeignet war, die zwischen den beiden gewerb-
lichen Gruppen bestehende Kluft noch zu erweitern.
In einzelnen charakteristischen Streitfällen und Episoden
kommen die vorhandenen Gegensätze zum Ausbruch.
Langwierige Konflikte ergaben sich im Wiener Gärtner-
gewerbe aus der Sonderstellung, die ein Teil der zumeist aus-
ländischen Hof- und Herrschaftsgärtner für sich beanspruchte 2 ).
Der Kampf wurde auf das religiöse Gebiet hinübergeBpielt, in-
dem sich die Gegnerschaft der zünftigen Ziergärtner besonders
gegen die aus dem Reiche eingewanderten, „nach Reichsmanier a
gelernten protestantischen Gärtner wendete, die bei den öster-
reichischen Herrschaften und bei Hof sehr gesucht waren.
Bereits im Jahre 1674 hatte die Wiener Lustgärtnerinnung ein
Schutzpatent gegen die ungehorsamen Gewerbegenossen erlangt,
die sich weigerten, an der Fronleichnamsprozession teil-
zunehmen 8 ). Desgleichen bestimmten die Verordnungen von
1698 und 1702, „daß die unkatholischen Lustgartner expresse
entweders zur katholischen Religion sich zu bequemen oder aus
dem Land zu gehen nachdrücklichst angehalten werden sollten." 4 )
Aber allmählich vollzieht sich in den maßgebenden Kreisen ein
vollständiger Umschwung. Die vorgeschrittene Gewerbetechnik
der Reichsdeutschen bewog in der Praxis zu Kompromissen.
Schon der oben erwähnte Bericht derer von Wien aus dem
Jahre 1719 sieht sich genötigt, lebhafte Klage wegen der Ab-
nahme des Eifers im katholischen Gottesdienst zu führen. Er
weiß bereits 3 unter den Gegnern der katholischen Gärtnerzunft
anzuführen, „nemblich Cornelius Schröder, bei Ihro Durchl.
Prinz Eugenio, Johann Christian Förster, bei dem Fürst von
Schwarzenberg und Friedrich Antoni Härtung, bei Sr. Exzellenz
Herrn Grafen von Harrach zu Prukh an der Leitha Gärtner, a
die, „der lutherischen Sect zugethan, meristenteils nur lutherische
Jung in die Lehr nemben, auch sich lutherische Gesellen anhero
ins Land verschreiben und andurch ihre Sect ausbreiten."
x ) Ebend.
2 ) Ublirz, a. a. 0., S. 16 ff.
s ) Ebend., 8. 27, Urk. im Stadtarchiv.
4 ) Ebend., S. 17 ff., Bericht derer von Wien aus dem Jahre 1719.
463] Die „Störer«. 73
„Anbelangent den Grottsdienst, u fährt dann der Bericht fort, „so
wird diser um willen sich die kais. und fürstl. und anderer
Herren Gärtner der Laad und Bruderschaft entziehen wollen,
also lau gepflogen, daß so vorhin etlich hundert Grartnerspersonen
demselben beigewohnt, dermahlen kaum 30 oder 40 dabei er-
scheinen, geschweigend daß die bei denen Quatembermessen
gepflogene zierliche Beleichtung unterlassen werde." Bürger-
meister und Rat sprechen sich daher „zur Beibehaltung der
katholischen Religion, zur Wideremporbringung des bei denen
Lustgartnern in Abgang kommenden Gottesdienst und Ab-
stellung aller besorgenden größeren Uneinigkeiten und Irrungen"
gegen die geforderte Exemption der Hof- und Herrschaftsgärtner
aus 1 ). Alle diese Argumente machten jedoch offenbar nicht den
gewünschten Eindruck 2 ), denn im Jahre 1730 wurde mit Hof-
dekret angeordnet, daß die herrschaftlichen Lust- und Blumen-
1 ) Ebend.
2 ) Ahnlich verhielten sich die Behörden gegenüber den Graz er
Blumen- und Lustgärtnern, als diese im Jahre 1689 unter Berufung auf
die Notwendigkeit einer religiösen Lebensführung um Erteilung eines
eigenen Zunftstatuts einkamen. Sie wollen, heißt es in ihrer Eingabe,
wie andere Zech- und Bruderschaften in Graz, an der Fronleichnams-
prozession teilnehmen, und da alle diesse „mit Blumen und Khreuzen
gezühret," so schmerze es sie, die „Urheber und Pflanzer der Blumen tf ,
daß sie nicht auch „bekhrenczter mit brangen terffen" ; sie wollen auch
sonst insbesondere durch Gottesdienste für Mehrung von Zucht und
Ehrbarkeit in ihren Kreisen sorgen; solange sie keine Zunft hätten,
würden ihre Leute auswärts als nicht ehrlich „erlehrnete" und als Fretter
behandelt. Ein ausführliches, wahrscheinlich vom Landeshauptmann her-
rührendes Promemoria spricht sich jedoch gegen dieses Ansuchen aus
(1691) und zwar mit der folgenden Begründung: Die fromme Gesinnung
der Bittsteller in Ehren erhelle doch aus dem, was man sonst von den
Handwerkern wisse, daß sie bei ihren Versammlungen nur fressen und
saufen, Einen und den Andern strafen und allerlei Spesen machen; daß
sie Fremde, die herkommen, um ihr Handwerk zu treiben, nur hindern
und strapazieren; daß das Publikum zu den zünftigen Meistern kommen
muß, ob diese nun ihr Handwerk verstehen oder nicht; dass sie bei
ihren Zusammenkünften selber die Preise festsetzen und denjenigen, der
billiger arbeiten will, bestrafen ; übrigens seien in Frankreich, Italien und
anderwärts, wo es keine Zünfte gebe, die besten Meister zu finden und
das Publikum stehe sich besser dabei ; und endlich habe man die Petenten,
die schon 1687 dasselbe Ansuchen gestellt hätten, bereits damals abge-
wiesen (v. Z a h n, Nachträge zu den Materialien zur inneren Geschichte
der Zünfte in Steiermark vom 15. bis inkl. 17. Jahrhundert, in den
„Beiträgen zur Kunde Steiermark. Geschichtsquellen", 18. Jahrgang,
Graz 1882).
74 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeits Verfassung. [464
gärtner, so lange sie keine Jungen halten, nicht zum Eintritt in
die Zunft gezwungen werden dürfen. Die Streitigkeiten zogen
sich bis in das Jahr 1762 hinaus und endeten, abgesehen von
einigen materiellen Vorteilen, die man den zünftigen Gärtnern
gewährte, mit dem formellen Siege der Hof- und Herrschafts-
gärtner. Sie wurden von aller Zunft befreit und bei ihrer Reichs-
raanier hinsichtlich der Aufnahme und Lossprechung der Lehr-
jungen, sowie der Ausfertigung der Lehrbriefe beschützt 1 ).
Daß jedoch die Hof Privilegien durchaus keinen ausreichen-
den Schutz gegen die Angriffe des zünftigen Handwerks boten,
beweist der Verlauf der Affäre Neuhold, die den niederösterrei-
chischen und böhmischen Behörden fast drei Jahrzehnte hin-
durch zu schaffen machte. Am 11. September des Jahres 1702
hatte Kaiser Leopold den Thomas Neuhold auf dessen Ansuchen
zum Hofdrechsler ernannt. In dem betreffenden Freiheitsbrief
war ausdrücklich bemerkt worden, daß er hinsichtlich der Auf-
nahme und Beförderung der Gesellen sowie in Bezug auf die
Lehre und das Ledigzählen der Jungen dieselben Freiheiten und
Gerechtigkeiten genießen solle, wie die bürgerlichen Drechsler-
meister. An diese Bestimmung, die für die Hofdrechsler über-
haupt galt, hielt sich nun die Wiener Innung keineswegs, sondern
erklärte die Gesellen der hofbefreiten Drechslermeister für „unehr-
lich". In dem darob entstandenen Prozesse fiel die Entscheidung am
22. Jänner 1712 zu Gunsten der Hofbefreiten aus 2 ). Auf diese Resolu-
tion gestützt, schickte Thomas Neuhold einige Jahre darauf seinen
ehelichen Sohn, den Drechslergesellen Franz Lorenz Neuhold,
den er selbst bei der Wiener Lade aufgedungen und frei-
gesprochen hatte, nach Prag, damit er dort bei einem Drechsler-
meister in Arbeit trete 8 ). Nach kurzem Aufenthalt an seinem
neuen Arbeitsort mußte der junge Neuhold in der „Vier- Wochen-
schenke" vom 22. Dezember 1726 hören, daß man ihn nicht für
einen „guth Ehrlichen gesellen" halten wolle, es sei denn, daß
er von den Wiener Stadtmeistern als solcher anerkannt würde
und hierüber eine Bescheinigung beibrächte. Zwei Gesellen aus
Wien hatten ihre Prager Kollegen verständigt, daß Neuhold
1 ) Uhlirz, a. a. 0., S. 17 ff.
2 ) Extractus Protocolli dieser Resolution „In Causa deren zweyen
armen Hofbefreyten Träxler Maistern in Wienn", Ms. im Arch. des
Min. des Innern, IV. F. 28. Gewerbe in genere, N.-Öst. 1522—1749.
3 ) Schreiben der Wr. Hofkanzlei vom 1. April 1727 an die böh-
mische Hofkanzlei, Ms. ebond.
-- -"1
465] Die „Störer". 75
nicht vom bürgerlichen Handwerk sei. Die. Prager Meister wiesen
nun darauf hin, daß von den hofbefreiten Meistern noch keiner
jemals ausgelernt habe und beriefen sich überdies auf ihre
Gesellen, denen sie Sicherheit bieten müßten. Neuholds Ausrede,
die Wiener Stadtmeister würden schon von selbst schreiben,
wenn sie etwas gegen ihn hätten, wurde nicht angenommen. Es
blieb bei dem Beschluß, daß Neuhold einen Schein von den
Wiener Stadtmeistern und nicht etwa bloß von den Hofbefreiten
oder vom Hof mar schall vorweisen müsse. Nur dem Umstände,
daß sein Meister ihn nicht sogleich verabschiedete, wie das Hand-
werk es verlangte, hatte er es zu verdanken, wenn ihm noch
eine Frist von längstens 14 Tagen zur Beibringung der Beschei-
nigung gewährt wurde. Diesen Sachverhalt berichtet nun der
junge Neuhold unterm 26. Dezember seinem Vater nach Wien,
indem er ihn bittet, ihm mit den bestmöglichsten Mitteln zu
Hilfe zu kommen, da er sonst „wahrhafftig von Prag ohne
schenkh und grues nach hauß" müßte. Die Gesellen zu binden
sei unmöglich und wenn er schon sogar von Prag hinwegginge,
etwa in das Reich, so würde er anderswo noch größere Schwie-
rigkeiten finden. Der Vater möge ihm also, sobald es nur sein
könne, eine tröstliche Antwort zukommen lassen, damit ihm die
Schande erspart bliebe, wieder nach Haus zurückkehren zu
müssen 1 ).
Es waren also weder die Meister noch die Gesellen allein,
die dem Ankömmling den Eintritt in das Handwerk versagten;
die ganze Zunftorganisation setzte sich gegen die Durchbrechung
des alten Herkommens zur Wehr,
Nach Erhalt des Briefes schickte Thomas Neuhold die
Resolution vom 22. Jänner 1712 nach Prag, damit sein Sohn sie
*■) Brief des jungen Neuhold vom 26. Dezember, ebend. Das
Jahresdatum 1726 ist nicht angegeben; ein früheres Datum ist jedoch
nicht anzunehmen, da die unten erwähnte Resolution der Wr. Hof kanzlei vom
1. April 1727, welche sich auf die in dem Brief geschilderten Vor-
gänge beruft, bei der prinzipiellen Wichtigkeit der Sache und bei dem
Umstände, daß Thomas Neuhold als Hofbefreiter mit den Hofkreisen in
naher Fühlung stand, sicherlich noch vor Verlauf eines Jahres ergangen
ist. — Der Brief trägt die Aufschrift: „Dises zu Khomen meinen herz-
liebsten H: Vatter Thomas Neuholdt Kayßerl. hoff-bauambts Träxler
meister in der Cärner Strasse bey burger Spittall gegen über in Träxler
laden abzulegen," und die Unterschrift: „Meines herzliebsten H: Vatter:
getreuer Sohn Franz Lorenz Neuholdt Dräxler gesell, in arbeith bey
Maister Joachimb Fridrich auf der Kleinen seith in der Pforrer gassc
in zeich schmittischen hauß abzugeben. u
76 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeits Verfassung. [466
bei der Lade als Legitimation vorweise und die Prager Meister
sich künftig nicht mehr mit der Unkenntnis jenes kaiserlichen
Befehls entschuldigen könnten. Zugleich befahl er seinem Sohn,
nicht früher von Prag zu weichen, als bis er über den Verlauf
der Sache nach Wien berichtet hätte. Die Resolution fand keine
Beachtung. Das Prager Handwerk bedeutete dem jungen Neu-
hold, daß in dergleichen Angelegenheiten der Kaiser wohl in
Wien, nicht aber in Prag zu disponieren habe. Man schaffte ihn
als unehrlichen Gesellen ohne Gruß und Geschenk von Prag ab,
verbot sogar, ihm auf der Herberge Speise und Trank zu reichen,
und so mußte er all sogleich „bey dem schlimmsten winter wetter
und weeg" und bevor er noch nach Wien hätte berichten können,
„in einem stuckh alß ein Mitlloser Mensch und wanderen ter
Pursch bettlendt widerumb anhero nacher wienn laufen," wo er
elend und krank anlangte. Als Gescholtener erhielt er keine
Arbeit und lag nun seinem Vater „feiernd über den Hals".
Diese Darstellung des Sachverhaltes gibt Thomas NeuhoJd
in dem Gesuch, das er zur Wahrung seiner Rechte bei Hofe
einreicht l ). Er bittet zum Schluß, der Kaiser möge der hiesigen
böhmischen Hofkanzlei den Befehl erteilen, schleunigst ihre Ver-
fügungen zu treffen, damit „nach Untersuchung und befindung
der Sachen wahren beschaffenheit die Verächter der allerhöchsten
Kayßerl. geboth zur gebührenden Straff gezogen", er selbst aber
nebst seinem Sohn „zur billichen Satisfaction propter hierum
ceßans et damnum emergens gelangen möge". 2 )
Daraufhin ergeht am 1. April 1727 an die böhmische Hof-
kanzlei die entsprechende Verordnung, die den Standpunkt der
wirtschaftlichen Einheit Österreichs nachdrücklich hervorhebt.
Das Verfahren der bürgerlichen Drechslermeister in Prag wider-
spreche der Hoffreiheit, die dem Thomas Neuhold erteilt wurde,
wie auch der Resolution von 1712, wonach die Gesellen und
Jungen der Hofbefreiten in allem den Bürgerlichen gleichzu-
halten seien. Da nun „ein solches nit weniger daß zwischen
denen Ländern wohleingeführte reeiprocum erfor-
1 ) Ms. ebend., ohne Datierung (Kopie); die Überreichung des
Gesuchs dürfte Ende Februar oder anfangs März des Jahres 1727 statt-
gefunden haben, jedenfalls geraume Zeit nach dem 26. Dezember 1726,
da seitdem drei Touren von Wien nach Prag und umgekehrt zu rechnen
sind und jedenfalls kürzere Zeit vor dem 1. April 1727, an welchem
Tage die Resolution an die böhmische Hofkanzlei erging.
2 ) Ebend.
— -1
467J Die „Störer". 77
dert a und dergleichen Zwiespalt und Eigenmächtigkeit gar
nachteilige Folgen und Weiterungen haben dürfte, so erwartet
die österreichische geheime Hofkanzlei, daß die böhmische Hof-
kanzlei in dieser Angelegenheit sowie in anderen derartigen
Fällen die nötigen Verfügungen treffen werde 1 ).
Allein noch im August desselben Jahres klagt Thomas
Neuhold in einem neuerlichen Bittgesuch, daß die böhmische
Hofkanzlei der Verordnung vom 1. April nicht Folge geleistet
und die bürgerlichen Drechslermeister und Gesellen in Prag
nicht zur Verantwortung gezogen habe, seine Klagesache also
noch nicht zur Austragung gelangt sei. Überdies hatten unter-
dessen, wie aus dem Q-esuch hervorgeht, die Wiener bürgerlichen
Drechslermeister sich ebenfalls eigenmächtig Genugtuung ver-
schafft; sie hatten zwei Drechslergesellen, die bei der Frei-
sprechung Josef Neuholds, eines zweiten Sohnes des Thomas
Neuhold, zugegen waren, für unehrlich erklärt, ja der Irten-
geselle, der bei der Ceremonie fungiert hatte, war um 10 Uhr
nachts, als er schon zu Bette lag, von seinem Meister ohne Gruß
und Geschenk aus dem Haus gejagt worden. Thomas Neuhold
bittet also, zu verfügen, daß die Wiener bürgerlichen Drechsler-
meister und Gesellen als Anstifter der Verfolgung und Zurück-
treibung seines Sohnes nach Hof zur Verantwortung vorgefordert
und bei Androhung von Strafe ermahnt würden, die Feindselig-
keiten gegen die Hofbefreiten einzustellen 2 ).
Mittlerweile hatte die böhmische Hofkanzlei am 1. August
1727 gemäß der Resolution vom 1. April an die königl. Statt-
halterei in Prag ein Reskript wegen Gleichhaltung der Bürger-
lichen und Hofbefreiten erlassen 3 ). Es wurde nunmehr der nieder-
1 ) Ms. ebend.
2 ) Ms. ebend., wie das erste Gesuch ohne , Datierung, aber jeden-
falls zwischen dem 11. und 22 August 1727 eingereicht, da die Frei-
sprechung des Josef Neuhold am 11. August stattfand und die weiter
unten erwähnte Verordnung vom 22. August sich bereits auf die Wiener
Vorgänge bezieht. Die juristischen Ausdrücke sowie der streng prin-
zipielle Standpunkt der Gesuche lassen einen Rechtskundigen als Ver-
fasser erkennen. Aus der Bereitwilligkeit, womit die Wiener Hofkanzlei
auf seine Intentionen einging, ist zu entnehmen, daß sich ihr eigener
Standpunkt mit dem seinigen deckte.
s ) Verordnung der Wr. Hofkanzlei vom 22. August 1727 an die
n.-öst. Regierung, Ms. ebend. (Die Kopie des Reskripts vom 1. April,
die der Verordnung zufolge beiliegen soll, fehlt in dem betreffenden
Faszikel.)
78 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitaverfassung. [468
österreichischen Regierung aufgetragen, auch auf die Übertreter
der bezüglichen Verordnung von 1712 in Wien zu inquirieren,
die Schuldigen exemplarisch zu bestrafen und das Universale
wegen der zu errichtenden Gewerbe- und Handwerksordnung,
die schon gelegentlich gewerbestatistischer Erhebungen im
Jahre 1724 beschlossen worden war 1 ), ehestens fertigzustellen
und nach Hof zu schicken 2 ).
Die Notwendigkeit einer prinzipiellen und allgemeinen
Änderung der Gewerbe Verhältnisse machte sich den Staats-
behörden immer deutlicher fühlbar. Auch das „Dekreter "-Patent
vom 12. April 1725 war mit dem Vorbehalt erlassen worden,
daß es nur bis zur Einführung einer „Universal-Grewerb- und
Zunftordnung" Geltung haben solle 8 ).
Schutzdekrete waren an und für sieh ebensowenig eine
Neuerung, wie die Hofbefreiungen. Doch hatte vorerst die Rück-
sicht auf das bürgerliche Handwerk hierin einige Mäßigung
geboten. Schon unterm 7. September 1637 erging eine Verord-
nung an den Hofmarschall, wonach die vom Hofm arschall am t
zur Treibung der Gewerbe und Hantierungen ausgehenden
Schutzdekrete fürderhin nicht gestattet sein sollten und die
Supplikanten diesbezüglich an den Kaiser verwiesen wurden.
Desgleichen wurde mittels Dekret vom 29. Mai 1643 dem Hof-
marschallamt und der Stadt Wien mitgeteilt, daß die von
ersterem ausgegebenen Schutzdekrete und Interimserlaubnisse
für Handelsleute und Handwerker, welche weder Bürgerliche noch
Hofbefreite sind, aufzuheben seien 4 ). Bestätigt wurde die Ver-
ordnung am 12. September 1659, am 22. November 1660 und
am 6. Mai 1661 5 ).
Das Hofmarschallamt scheint sich an diese Verfügung nicht
gehalten zu haben. So wurde auch einem Großuhrmacher namens
Johann Wiest unterm 11. August 1708 auf unbestimmte Zeit
ein absolutes Schutzdekret erteilt. Darüber führten nun die
Wiener bürgerlichen Schlosser und Großuhrmacher Klage, indem
sie Folgendes gegen ihn vorbrachten: Wiest habe die Profession
x ) Cod. Austr., IV. T., S. 249.
2 ) Verordnung vom 22. August 1727.
3 ) Cod. Austr., IV. T., S. 270 ff.
4 ) Referat der Hofkanzlei über die Angelegenheit des Johann
Wiest, überreicht am 3. August 1709, Ms. im Arch. des Min. des Innern,
IV. F. 28. Gewerbe in genere, N.-Öst. 1522—1749.
5 ) Ebend.
J
469] Die „Störer". 79
nie dem Handwerksbrauch nach erlernt, denn sein ehemaliger
Lehrmeister in Schwaben sei nur ein Schlosser, „derentwegen
er Wiest zwar all hier sich zu einem Groß Uhrmacher verdinget,
darauf aber sich wenig beflissen, undt nach fruchtlos- vollbrachten
zwey Lehr- Jahren keine stundt gewandert, sondern lüderlichen
Leben und Gesellen nachgehangen : darfür noch andere verführet,
endlichen mit einem vagirenden Weibsbild sich verehelichet, undt
nun über sechs Jahr lang gestöhret, die Leuth mit seiner
ohnnützen arbeith angesetzet, ihnen befuegten Meistern ihre
nahrung entzogen, dem publico aber nicht einen kreutzer con-
tribuiret hätte." Es habe auch niemals mehr als zwei Hofbefreite 1 )
gegeben. Beim Wiener Handwerk Meister zu werden habe sich
Wiest niemals getraut ; eine landesfürstliche Gnade habe er
ebenfalls nie verdient und sei in der Tat bereits zweimal wegen
Mangel an genügender Kundschaft mit seinem Gesuch um Er-
teilung der Hoffreiheit abgewiesen worden. Dennoch habe der
Obersthofmarschall demselben am 11. August 1708 ein Schutz-
dekret erteilt, „dessen er sich auf ewig zu bedienen glaubete. a
Um eine Hoffreiheit, „die er ohne Lehr- und Gebuhrts Brieff
niemal, weniger auf eine nicht erlehrnte profeßion erhalten
wurde," werde er sich ohnehin nicht bewerben; habe doch der
Obersthofmarschall, als der Wiener Magistrat bei Androhung der
Geschäftssperre die Vorweisung seines Schutzpatents von ihm
verlangte, am 7. Juni 1709 ausdrücklich zu seinen Gunsten ent-
schieden. Unter Berufung auf die Verordnungen vom 22. Novem-
ber 1660 und vom 6. Mai 1661 bitten also die bürgerlichen
Schlosser und Großuhrmacher, dem genannten Wiest nicht nur
keine Hoffreiheit zu erteilen, sondern auch dem Hofmarschall die
Kassierung seines Schutzdekrets anzubefehlen 2 ).
Auf Grund dieser Beschwerde bringt nun die Hofkanzlei
in ihrem Referat vom 3. August 1709 die Verordnungen an den
Hofmarschall aus den Jahren 1637, 1643, 1659, 1660 und 1661
in Erinnerung. Sie führt aus, daß bis jetzt kein Hofmarschall
solche Schutzdekrete erteilt habe. Die betreffenden Bestimmungen
sprächen ganz klar. Auch sei in dem Schutzdekret des Johann
Wiest keine bestimmte Zeit angegeben, während die vom Hof
ausgehenden Schutzdekrete in der Regel nur auf 6 Monate er-
/
x ) Offenbar nur in ihrer Profession ; Wiest rechnen die Beschwerde-
führenden, wie aus dem Folgenden ersichtlich ist, nicht etwa unter die
Hofbefreiten, die obige Bemerkung flechten sie nur gelegentlich hi er ein
2 ) Referat der Hofkanzlei vom 3. August 1709.
SO Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [470
teilt würden. Die Hofkanzlei meint also, der Kaiser solle die
oberwähnten Resolutionen erneuern, dem Wiest keine Hoffreiheit
erteilen und sein Schutzpatent kassieren lassen. Dieser Rat wurde
approbiert 1 ). Aus Anlaß dieser Affäre erging am 7. November
desselben Jahres sowohl an den Obersthofmarschall als auch an
die Stadt Wien eine Verordnung wegen Abstellung der Schutz-
dekrete 2 ).
In diesem Falle stand also die Hofkanzlei ganz offen auf
Seiten der Zünfte. Aber schon anderthalb Decennien nachher,
im Dekret von 1725, nimmt die Verwaltungsbehörde gerade den
entgegengesetzten Standpunkt ein.
• Das Dekret vom 12. April 1725 8 ) bestimmt, daß unbefugten
Handwerkern und „Störern", die sich einige Zeit in Wien auf-
halten und weder den bürgerlichen Zünften noch den Hof-
befreiten einverleibt sind, von Jahr zu Jahr von der Regierung
und Kammer bis zur Errichtung einer „Universal-Grewerb- und
Zunftordnung" ein Schutzdekret ausgefolgt werden solle. Doch
müssen sie ein Schutzgeld erlegen, das von der aus Regierung
und Kammer verordneten Kommission zu bestimmen sei. Erlegen
sie kein Schutzgeld, so bekommen sie auch kein Schutzdekret
und überdies wird ihnen ihr Werkzeug weggenommen. Auch
unbefugten Handwerkern augsburgischer oder helvetischer Kon-
fession kann ein solches Schutzdekret erteilt werden, wenn sie
geschickte Künstler oder Handwerker einer besonderen in Wien
noch nicht eingeführten Profession sind; doch dürfen sie ihr
Religionsbekenntnis nicht öffentlich ausüben 4 ). Nicht „ehrlich"
1 ) 2. September 1709, ebend. ; Josef I. bemerkt am Rande des
Referats : „Ich thue in allen approbirn, waß die Cantzley hier einratht."
2 ) Ms. ebend.
3 ) Cod. Austr., IV. T., S. 270 ff.; vgl. S. 64 f.
*) Unterm 19. September 1725 berichten die preußischen Gesandten
in Wien, Brand und Graeve, über die Erteilung der Dekrete Folgendes
nach Berlin : „Inmittelst ist bey hiesiger Stadt die Verfugung gemachet,
dass alle in denen Vor-Städten und auf denen frey Gründen sich auf-
haltende Handwerker, so weder Meister noch Bürger sind, von ihrer
Nahrung jährlich 6 Kayser Gulden erlegen müssen, wogegen sie ein
solch Schutz Dekret bekommen, als beyliegend Exemplar, vor einen
Evangelischen Buchbinder, aus Berlin gebürtig, ausweiset, und solcher
gestalt ihre Handthierung ungehindert treiben können. Man sagt, dass
solche Auflage auch auf die handthierende Weibes Personen, als zum
Exempel Wäscherinnen etc. kommen solle." Das erwähnte Schutzdekret
ist vom 5. Juli 1725 datiert und verfügt, daß Andreas Tilla, Buch-
binder, „in Hoff Oesterreichischen Hauss zu St. Ulrichs wohnhafft,"
471] Die „Störer". 81
Geborenen, die keinen ordentlichen Lehrgang durchgemacht,
kann auch gratis von Hof aus ein Ehrenbrief, der Lehrbrief,
und, wenn sie sich durch Fleiß und Energie auszeichnen, nach-
her auch ein Schutzdekret erteilt werden. Nur wenige Berufe,
wie Apotheker, Fleischhauer, Maurer, Zimmermeister, Schmiede
u. a., blieben von den Schutzbefugnissen unberührt. Die Bestim-
mungen des Dekrets traten zunächst für Wien und Niederöster-
reich in Geltung, für Böhmen erst im Jahre 1765 x ).
Über die Motive, die dieser tief einschneidenden Maßregel
zu Grunde lagen, spricht sich die Wiener Hofkanzlei in ihrem
Referat vom 12. August 1741 2 ) aus, worin sie auf Verlangen der
Königin über die Zahl der Hofbefreiten und Schutzverwandten
zu Wien sowie über die Zahl der darunter befindlichen Akatho-
liken berichtet. Bezüglich der Schutzdekrete führt sie aus, die-
selben seien ursprünglich zu dem Zwecke erlassen worden, n umb
virtuose Künstler zu schüzen und nacher Wienn zu ziehen,
welche vormahls durch den Neid derer Zünfften verdrungen
worden waren. u Außerdem aber habe man damals beabsichtigt,
„nebst der guthen Ordnung zugleich einen fundam zu erzeigen,
wormit man dem aerario jene 17.000 fl., so einig praegravirt-
mitleydigen orthen an ihrer Jährlichen Contributionsquota abge-
schriben worden 3 ), ersetzen könte. a Die Einführung der „Dekreter"
hatte nun zwar den Aufschwung einiger Industriezweige zur
Folge gehabt ; zugleich aber war das bürgerliche Gewerbe durch
befugt sein solle, seine Profession ungehindert auszuüben, sich in den
Vorstädten sowohl auf bürgerlichen als „außer des Burgfrieds" gelegenen
Gründen niederzulassen und dort seine erlernte Profession zu treiben,
doch muß derselbe „primo zu einen jährlichen Schutz Geld Sechs Gulden
in deren von Wien Steuer Amt gegen Quittung von halb zu halb Jahr
u. zw. jederzeit vorhinein also gewiss erlegen, wie im widrigen ihine
das ertheilte Schutz Dekret nebst seinem Werckzeug abgenommen
werden, Secundo : Selber in seiner Wohnung kein frey offenes Exercitium
Religionis üben, sondern sich in der Stille, denen Generalien gemäß,
halten, Tertio : Bey Verlust seines Schutz Decrets alle sowohl in als
vor der Stadt mit keinem derley Schutz Decret versehene unbefugte
Handwerker oder Störer Hoff Commission also gleich, zur Fürkehrung
des weitern hier anzuzeigen schuldig seyn sollet (Mor. Meyer, Gesch.
der preuß. Handwerkerpolitik, II. Bd., a. a. 0., S. 153 f., Beil. Nr. 63
und 64.)
*) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. O., S. 53.
2 ) S. S. 31, Anm. 4.
3 ) S. S. 22 u. 31, Anm. 3.
Wiener staatswiss. Studien. IV. Bd., 3. Heft. 31
82 Kamjrf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [472
die Überschwemmung mit den neuen Handwerksbetrieben schwer
geschädigt worden. Die fiskalische Tendenz des Erlasses hatte
nämlich bewirkt, „daß jene, so das Werck manipuliret, in auß-
theillung derer Decreten nicht so viel auff die Pollitische grund-
regulln, als Viellmehr auf die erfordernus des fundi gesehen
hatten," so daß bereits im Jahre 1732 der Befehl erteilt werden
mußte, keine weiteren Schutzdekrete mehr auszugeben 1 ). Doch
liefen immer wieder Beschwerden ein, die der übergroßen Anzahl der
Schutzdekreter galten 2 ).
Auch nach der Einführung und Systemisierung der neuen
Gewerbekategorien bildeten die gänzlich unbefugten „Störer"
einen Hauptbestandteil der arbeitenden Bevölkerung; ja sie
nahmen in der Folge rascher überhand als alle andern gewerb-
lichen Gruppen, obwohl die Behörden sich ihrer mehrmals durch
Deportation zu entledigen suchten 3 ). Nach einer statistischen
Aufstellung aus dem Jahre 1734 4 ) waren die einzelnen Kate-
gorien des Wiener Gewerbes in folgender Stärke vertreten :
Dekretisten 3184, darunter 2835 Handw. und 349 Handelsl.,
Bürger 2959 „ 2640 „ „ 319 „
„Störer« 2189 „ 1966 „ „ 223 „
Hofbefreite 256 „ 256 „ „ — „
*) Referat der Hofkanzlei vom 12. August 1741, a. a. 0.
2 ) Referat der Hofkanzlei vom 23. Juni 1733 und Resolutionen
vom 15. Mai, 18. September und 4. Oktober 1736, Mss. im Arch. des
Min. des Innern, im selben Faszikel.
3 ) So ordnet bereits ein Dekret vom 27. Mai 1678 die Abschaffung
aller Raitzen (Serben) an, die keine Hoffreiheit haben oder diese miß-
brauchen (Cod. Austr., IL T., S. 202). — Der preußische Gesandte
Graeve berichtet unterm 21. Juni 1724: „Inmittels verlautet, dass gleich
nach geendigten Fronleichnams Processionen in hiesiger Stadt und Vor-
städten, besonders auf denen Frey Gründen, mit denen sogenannten
Stöhrern oder Beinhasen eine grosse Veränderung vorgehen und solche
entweder kurzum gegen ein erträgliches Geldquantum Meister, oder nach
Belgrad gebracht werden sollen, welches auch alles übrige Herren lose
Gesindel zu gewarten. Weiln nun deren viele viele Tausend seyn, als
ist über das herumliegende Bayreuthische Dragoner Regiment und die
gewöhnliche Stadt Guarde das Jörgerische Dragoner Regiment ein-
gerücket, deme noch mehrere folgen dürfften. Die der Evangelische
Religion zugethane sehr zahlreiche Handwercker möchten darunter vor-
nehmlich mitleiden." (Moritz Meyer, Geschichte der preußischen Hand-
werkerpolitik, II. Bd., a. a. 0., S. 134, Beil. Nr. 39.)
4 ) J. V. Goehlert, Historisch-statistische Notizen über Nieder-
österreich, in den Blättern des Ver. für Landeskunde Niederösterreichs,
V. Jahrg., Neue Folge, 1871, S. 206 ff. (ohne Quellenangabe).
473]
Die „Störer".
83
Gratisten *)
Unter der
Tag- und
Nacht-
wache
stehend
Universitäts-
hand-
werker 2 )
Summe
372 darunter 62 Handw. und 310 Handelsl.,
32
71
32
21
n
18
Ti
rt
9013, darunter 7809 3 ) Handw. und 1204 *) Handelsl.
Danach befanden sich bloß 33*8% der Wiener Handwerks-
betriebe in den Händen bürgerlicher Meister. Zieht man jedoch
den geringen Anteil der Bürgerlichen an den Handelsbetrieben
(26-5 ü /o) m Rechnung, so sinkt ihr Gesamtanteil an den Gewerbe-
unternehmungen überhaupt auf 32*8%.
Zwei Jahre darauf hat sich dieses Verhältnis neuerdings
zu Ungunsten der Bürgerlichen verschoben. Eine amtliche Tabelle
aus dem Jahre 1736 5 ) weist folgende Zahlen aus:
Bürger 3345
Dekretisten
v Störer a
Kaiserl. Livreebediente
Unter der Universität .
Unter der „Stadt-Quardia"
3126
2941
976 6 )
L ) Gratisten hießen die Inhaber anzünftiger (freier) Gewerbe.
(Ebend.)
2 ) Jene Gewerbsleute, die unter der Jurisdiktion der Universität
standen, übten zumeist einen Künstlerberuf aus; unter den 18 Univer-
sitätshandwerkern des Jahres 1734 gab es 5 Bildhauer, 3 Maler und
7 Kupferstecher (ebend.).
8 ) Darunter 128 Bader, 35 Barbierer, 97 Bäcker, 90 Bildhauer,
40 Kaffeesieder, 190 Maler, 174 Perückenmacher, 1400 Schneider,
1314 Schuster, 30 Schulmeister (15 Bürgerliche, 2 Dekretisten und
13 „Störer"), 119 Weber, 500 Tischler, 122 Schlosser, 214 Gold-
arbeiter etc.
4 ) Darunter 320 Krämer, 315 Tandler, 39 Greisler, 109 Kräut-
lerinnen, 248 Brotsitzer (Gratisten), 41 Obsthändler, 65 Hühner-
händler etc.
5 ) Beil. 4 zum Referat vom 12. August 1741: Summarium aller
Mitte Juni 173G in und vor der Stadt befindlichen Professionisten und
Gewerbsleute; das Summarium ist aus der Dekretisten- und Störerliste
gezogen, weshalb jene Professionen, bei denen keine Dekretisten und
Störer vorkommen, darin nicht berücksichtigt sind.
6 ) Die große Zahl der handwerktreibenden Soldaten und Livree-
31*
84 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeits Verfassung. [474
„\Arsenalisten a ..... 105
„Piquenirer" ...... 35
Hofbefreite 301
Summe . . . 10.829 (Handwerker
und Handelsleute).
Gegenüber der außerordentlichen Vermehrung der nicht-
zünftigen Betriebe verwandelt sich die absolute Zunahme der
bürgerlichen Gtewerbeunternehmungen in einen relativen Rück-
gang; ihr Anteil beträgt jetzt kaum 309%« Ein Vergleich der
Zahlen aus beiden Jahren 1 ) ergibt folgende Tabelle:
1734 1736
Zahl der Betriebe 9.013 10.829 (+ 1816 = 20 %)
3.345 (+ 386 = 13 %)
7.484 (+ 1430 = 23-6%)
2.941 (+ 752 = 34-3%)
301 (+ 45 = 17-6%)
3.126 (— 58 = 1-8%)
Bloß die Zahl der unbefugten n Störer a erfuhr einen Zu-
wachs über dem Durchschnitt von 20% 5 a U e übrigen Gruppen
blieben dahinter zurück. Die Zahl der Dekreter hatte sogar um
1*8% abgenommen, was darauf zurückzuführen ist, daß seit 1732
keine neuen Schutzdekrete mehr erteilt wurden 3 ). Auch die Zahl
davon zünftig
2.959
nichtzünftig
6.054
„Störer"
2.189
Hofbefreite
256
Dekretisten
3.184
bedienten bedeutet wohl keine effektive Zunahme, sondern dürfte auf
das Bestreben der Regierung zurückzuführen sein, diese Kategorien durch
ausdrückliche Erlaubniserteilungen den Dekretern gleichzustellen und so
zugleich dem Interesse des Fiskus und den Angriffen der Zünfte Rech-
nung zu tragen. Tatsächlich verweist die subdelegierte Hofkommission
in Handwerkersachen in einem Originalbericht vom 13. März 1726
mehrere Hofdiener, wie Leiblakaien, Trabanten, Hartschierer, Hofdamen,
Bediente, Reitknechte u. dgl., die sich weigerten, für ihren Gewerbe-
betrieb ein Schutzgeld zu entrichten, auf das Störerdekret vom 12. April
1725, das für alle Professionisten Geltung habe, die weder den bürger-
lichen Zünften noch den Hofbefreiten einverleibt seien (Ms. im Arch.
des Min. des Innern im selben Faszikel). In der erwähnten Tabelle von
1734 sind diese beiden Gruppen nur zum Teil berücksichtigt.
*) Schätzungen aus früheren Jahren, wie diejenigen Bechers für
das Jahr 1674 (s. S. 16) oder wie die eines „Verzeicbnuß deren
hier in Wien befindlichen Handtwerchs, Gewerb und Professionen etc."
(Ms. nach Hatschek, a. a. 0., S. 5, in der Münchner Hofbibliothek),
wonach die Zahl der Wiener Handwerker im Jahre 1702 ca. 3700
betragen hätte, können wegen ihrer Unvollständigkeit, resp. Ungenauig-
keit nicht in Rechnung gezogen werden.
2 ) Referat der Hofkanzlei vom 12. August 1741.
475J Fabrik und Verlag. 85
•
der Hofbefreiten wurde in den nächsten Jahren, wo es nur mög-
lich war, reduziert, so daß sie bis zum Jahre 1741 bereits auf
227 gesunken war 1 ).
2. Fabrik und Verlag.
Von der Schaffung zunftfreier Kleinbetriebe nach dem Vor-
bilde der Wiener Freimeisterschaften war man allgemach sichtlich
zurückgekommen. Hatte sich einmal der Staatswille als oberstes
Geltungsprinzip in wirtschaftlichen Fragen durchgesetzt, so war
ja in der Tat die Beibehaltung der staatlich beaufsichtigten
Zünfte, die sich zugleich in vieler Hinsicht als ein zeitweiliges
Gebot der Staatsraison darstellte, ganz und gar unbedenklich.
Dagegen hatte sich unter den Gesichtspunkten des Umfanges,
der Bestimmung und der Organisation der Warenerzeugung immer
deutlicher eine andere Scheidung vollzogen, die den bereits
keimenden Gegensatz zwischen Klein- und Großbetrieb zum
Ausdruck bringt: die Scheidung zwischen den zünftigen „Pro-
fessionisten a auf der einen und den unbezunfteten „Manufakturen
und Fabriken" auf der andern Seite. Wie rasch diese Entwick-
lung vor sich ging, beweist die Tatsache, daß schon im Jahre
1711, also kurze Zeit nach der Herausgabe der ersten „Privilegia
privativa", ein Regulativ erlassen werden mußte, das auf den
Modus bei der Systemisierung der neuen Betriebe Bezug nimmt.
Es ist dies eine Resolution unter dem Titel: „Instruction und
Ordnung für unser Kay. Commercien Collegium, wie daßselbe
hinführo die das. (igen) Commercien^ betrefende materien von
unsertwegen fürnehmen, handien und verrichten solle. u 2 ) Danach
sollten „Privilegia privativa" für den zunftfreien Gewerbebetrieb
nur dann erteilt werden, wenn die einzuführende Manufaktur in
dem betreffenden Erbland bis dahin noch nicht üblich gewesen
war, wenn sie ferner einen starken Verlag und die ausschließ-
liche Unterordnung der Arbeitsleute unter die Direktion des
Verlegers erforderte.
Durch diese letztere Bestimmung wurde die neue Art von
Betrieben zugleich nach ihrer sozialbiologischen Seite hin aufs
allerschärfste gegen die Zunftinstitution abgegrenzt. Die Zunft,
die mit ihren Wurzeln in dem religiös-sozialen Kulturboden der
x ) Ebend.
2 ) Ms. im Hofkammer-Archiv, Alt. 4743, Kommerz 1749—1769
Nr. 1.
86 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeite Verfassung. [476
mittelalterlichen „Zucht" haftete, hatte eine gewerbliche Produk-
tion nur unter der Voraussetzung der sozialen „Einung tt gestattet.
Über dem einzelnen Handwerksgenossen stand als richtung-
gebende und wirtschaftsordnende Gewalt bloß die Satzung der
Zunft. Soziale Differenzierung und Vermögensunterschiede konnten
zwar gelegentlich eine ungleiche Handhabung des Zunftrechts bewir-
ken *) ; ein Überordnungsverhältnis auf rein kapitalistischer Grund-
lage war im Bereiche der Zunftverfassung prinzipiell unmöglich 2 ).
Indem jedoch der merkantilistische Staat den kapitalistischen
Unternehmer nicht nur durch weitgehende, wenngleich bedingte
Privilegierung dem Zunftrecht gegenüber sicherstellt, sondern
überdies jenes rein kapitalistisch begründete Überordnungs-
verhältnis durch ausdrückliche Verzeichnung — vielleicht zum
erstenmale ! — sanktioniert, gibt er Kunde von dem fundamentalen
Umsturz, dem inzwischen der Begriff der Arbeit und die Arbeits-
tätigkeit selbst unterworfen worden war. Dem bürgerlichen Hand-
werker, dem nur die Berufsgenossenschaft Lebenszweck und
Richtung gab, trat nun der dienstbare Manufakturist und Fabriks-
handwerker gegenüber, der sich, freiwillig oder gezwungen, den
Zwecken des Industrie- und Handelskapitals unterordnete 3 ).
1 ) S. S. 8.
2 ) Ein Fall von verlagsähnlichem Verhältnis zwischen Handwerks-
meistern — der Grazer Hofschlosser Emmelle (1725 — 1750) beschäftigt
nicht nur die Arbeitskräfte seiner eigenen Werkstatt, sondern überdies
je einen Meister in Graz und Obersteiermark (Otto v. Zwiedineck-
Südenhorst, Das Schlossergewerbe in Graz, in den „Sehr, des Ver.
f. Sozialpolitik", LXXI. Bd., Lpz. 1896, S. 225) — ist wohl damit zu
erklären, daß der Betreffende als Hofschlosser eben kein echter Zunft-
angehöriger, sondern eher eine Art „eingekaufter" Freimeister gewesen
sein dürfte. Übrigens wurde der Vorgang, als er den übrigen Meistern
bekannt wurde, von Seiten der Zunft beanständet und mit Strafe belegt.
8 ) Ihre offizielle Festlegung erfährt die neue Betriebsweise erst
in den Instruktionen vom 4. Jänner und vom 12. Okt. 1754, die aus-
drücklich zwei Arten von Gewerben unterscheiden: die „Polizei-" und
die „Kommerzialgewerbe". Die epsteren, von „Professionisten" ausgeübt,
stehen unter der Leitung der vereinigten Hofkanzlei und haben vor-
nehmlich den Lokalbedürfnissen Rechnung zu tragen. Zu den letzteren,
die der Leitung der Hofknmmer unterstellt sind, gehören alle jene Ge-
werbe, deren Erzeugnisse sich vornehmlich zum Betriebe einer Kaufmann-
schaft intra vel extra provinciam eignen, im allgemeinen also jene
Betriebe, aus denen sich später die „Manufakturen und Fabriken" ent
wickeln, wenn auch der Umfang ihrer Produktion, abgesehen etwa von
der Montan- und Textilindustrie, für den Anfang ein bescheidener ist.
(Rizzi, a. a. 0., S. 97.)
477] Fabrik und Verlag. 87
Mit der zähen Kraft tiefeingewurzelter sozialer Instinkte
revoltiert die einheimische Bürgerschaft gegen diese gefahr-
drohende Wendung. Ihr Unwille richtet sich in erster Linie gegen
das zumeist ausländische Unternehmertum, dem zuliebe jener
Keil einer kapitalistischen Arbeitsorganisation in die alte einheit-
liche Handwerksverfassung getrieben worden war. Zahlreiche
Gewerke hatten in ihre Ordnung Bestimmungen gegen die Ein-
wanderung fremder Gewerbetreibender aufgenommen. Die Mehr-
zahl der ausländischen Handwerker, denen in Wien das Bürger-
recht zuerkannt wurde, bestand aus Reichsdeutschen 1 ); andere
Nationen waren in kaum nennenswerten Zahlen vertreten — dies
zu einer Zeit, wo in Preußen die Einbürgerungen französischer
R^fugies bereits in die Hunderttausende gingen 2 ). Auch dem
ausländischen Maschinenwesen stand man noch auf lange Zeit
mißtrauisch gegenüber. Eine „General-Tabella" über alle Tuch-
macher in Böhmen, ihren Aufenthaltsort, die Zahl ihrer Werk-
stühle, sowie die Quantität und Qualität ihrer Tucherzeugung
weiß bloß einen einzigen Werkstuhl nach holländischer Art an-
zuführen 8 ). Begünstigte der Staat ein Fabriksunternehmen, so
mußte im Patent zumeist ausdrücklich auf die zu gewärtigende
Gegnerschaft der Zünfte Bedacht genommen werden. So erklärt
das Patent vom 14. November 1713 bezüglich der „Spiegel-
Fabrika" zu Neuhaus, daß die bei der Fabrik beschäftigten Per-
sonen nicht belästigt und, welcher Nation sie immer angehören
mögen, nicht weggeschafft werden dürfen 4 ). Die Linzer Stadt-
repräsentanz verbietet den Bürgern und Einwohnern, Arbeiter
oder Beamte der Linzer Schafwollwarenfabrik bei sich zu be-
herbergen. Ja, sie überredet sogar den Dechanten, keinen Arbeiter
zu trauen, so daß die Compagnie sich schließlich gezwungen
sieht, einen Teil der verheirateten Arbeiter zu entlassen und den
ledigen das Heiraten zu verbieten 5 ). Zu einer feierlichen Rechts-
verwahrung gestaltete sich ein Gutachten der Reichenberger und
Friedländer Tuchmacher vom 8. März 1713. Es handelte sich
x ) S. S. 64, Anm. 2.
2 ) Moritz Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a.a. O.,
IL Bd., S. 17.
8 ) Zu KlÖsterle im Saazer Kreis (Pribram, das böhm. Kommerz-
kollegium und seine Tätigkeit, a. a. 0., S. 278 ff.).
4 ) Cod. Austr., III. T., S. 727 ff.
5 ) Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der
Industrie in Osterreich, a. a. 0., S. 57.
88 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeitsverfassung. [478
darum, ob dem Fabriksbesitzer Fremmrich in Planitz die Eröff-
nung eines Lagers in Prag und anderwärts zu gestatten sei. Das
Gutachten betont nun, Fremmrich habe schon mit der Errichtung*
seiner Tuch- und Wollemanufaktur in Planitz keineswegs wohl-
getan, sondern im Gegenteil „solches widerrechtlich, mithin cum
jactura alterius et in praejudicium tertii angefangen und sträfflich
unterfangen, in welchem eine sammentliche Zunft der Tuchmacher
in diesem Königreich Böheim und wir arme Contribuenten nit
allein hart gekränket, sondern auch solches Unterfangen unsere
von uralten Zeiten her allergnädigst habenden Privilegien
vermög welcher: Keiner, bevoraus aber Ausländer und unan-
gesessene, keine gemeinen Anlagen tragende Privatpersonen, zu
Schaden denen Tuchmachern sich einlassen und dadurch in
ihrem Handel und Wandel bei Vermeidung dero kaiserlichen
Zorns und Ungnaden, einigen Eintrag und Verhinderung 1 nit
verursachen sollen, schnurstracks zuwiderlaufen thut." Von der
Erteilung eines Privilegs an Fremmrich oder gar von einer
Lizenz zur Errichtung noch weiterer Fabriken in Osterreich
außerhalb Planitz könne gar keine Rede sein. Die Tuchmacher
stellen daher an das Kreisamt das dringende Ersuchen, „hohen
Orts gnädigst zu committiren und darob zu sein, damit dick-
berührter Joh. Bapt. Fremmrich mit seinem Gesuch und aufrichten
wollender Manufactur — darwider wir ein- vor allemal solen-
nissiine protestiren — nit allein abgewiesen, sondern auch die
zu Planitz bereits unberechtigt unterfangene Fabrik gänzlich
abgeschafft und wir armen Handwerksleute in diesen schweren
Zeiten unsre Nahrung ohne dergleichen Turbirung ruhig ge-
nießen, in widriger Entstehung aber — wie wir nit hoffen —
nit gänzlich verderbet werden möchten." J ) Tatsächlich wurde
das Gesuch Fremmrichs nur teilweise genehmigt. Mangel an
Arbeit zwang ihn bald darauf, den Fabriks betrieb gänzlich ein-
zustellen ; er verließ das Land, um anderweitig seinen Unterhalt
zu suchen 2 ).
Es ist sehr bemerkenswert, daß auch die Regierung, wenn-
gleich unausgesprochen, die herrschende Anschauung von der
Inferiorität der Fabriksarbeit zu teilen scheint. War doch im
Jahre 1681 die neuerfundene Bandwebemaschine sogar von Reichs
x ) Hall wich, Die erste Fabrik in Reichenberg, Reichenb. 1869
S. 4 f.
2 ) Ders., Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb., S. 358.
479] Fabrik und Verlag. 89
wegen verboten und das Verbot noch 1719 wiederholt worden 1 ).
Nicht minder charakteristisch ist die bei den Verwaltungsbehörden
beliebte Verquickung von Fabriks- und Zuchthausfragen. Der
Bericht der böhmischen Statthalterei vom 5. August 1717 2 ) spricht
die Erwartung aus, daß die Einführung der feineren Tuch-
manufaktur in Böhmen insbesondere mit Hilfe eines projektierten
„armen -Waisen- undt Arbeitshauses" möglich sein werde. Noch
deutlicher tritt der erwähnte Zusammenhalt in der Denkschrift
der innerösterreichischen Kammer von 1721 8 ) zu Tage. Die
Kammer hält dafür, daß dem herrschenden Elend und Müßig-
gang durch Errichtung einer Tuchfabrik abgeholfen werden
könne, die zugleich ein Zwangsarbeitshaus sein müßte. Arme
arbeitsfähige Leute seien „in kundtbahrlichem Ueberfluß" vor-
handen. Im ersten Jahre solle man bloß versuchsweise 1000 Stück
Soldatentuch erzeugen. Bei dieser Arbeit könnten etwa 150 bis
200 Arme beschäftigt werden. Es sei also notwendig, diese Anzahl
von Arbeitern unter den Grrazer Straßenbettlern „aufzufangen
und einzusperren", die andern würden wahrscheinlich aus Furcht
„retiriren", die Stadt wäre von der schweren Bürde der Vaganten
gesäubert und die Bürger würden sicherlich ihre Dankbarkeit
durch reichliche Beiträge für das Fabriksunternehmen bekunden.
Auch die Hofkammer und die Herrschaften sollten ihre bisher
für die Bettler bestimmten Summen der Fabrik zuwenden. Ja
für so verdienstvoll hält die Denkschrift das geplante Zwitter-
werk, daß sie beantragt, zu seiner Fundierung „Extraordinari-
Sammlungen" in den Gnadenorten und Kirchen, bei den in Graz
wohnhaften Kavalieren, Prälaten, Räten, Offizieren und Bürgern
zu veranstalten und sogar die Pfarrer, Advokaten und Notare
anzuweisen, allen jenen, die ihr Testament machen wollen, die
Tuchfabrik bestens für ein Legat zu empfehlen. Das Fabriks-
gebäude müsse übrigens gemauert und mit Mauern umfaßt sein,
damit das schlechte Gesindel nicht ausbrechen könne 4 ). — Wenn
also die innerösterreichische Kammer das Arbeitermaterial für
x ) Mascher, a. a. 0., S. 441 f.; vgl. auch In am a-Sternegg,
Die^ volkswirtschaftlichen Folgen des dreißigjährigen Krieges, a. a. 0.,
S. 87 f.
2 ) S. S. 56, Anm. 2.
8 ) 8. S. 63, Anm. 2.
4 ) Das Arbeitshaus wurde jedoch erst unter Maria Theresia ein-
gerichtet (Franz Mart. Mayer, Die Anfänge des Handels und der
Industrie in Österreich, a. a. 0., S. 64 ff.).
90 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeits Verfassung. [480
die projektierte Fabrik von vornherein ausschließlich aus der
Masse der deklassierten Bevölkerung erwartet, so zeigt sie damit,
daß sie sich des klaffenden Gegensatzes zwischen zünftiger und
staatsbehördlich organisierter Fabriksarbeit ganz und gar bewuüt
ist. Zugleich aber acceptiert sie den neuen Arbeitsbegriff und
sucht ihn zu verallgemeinern, indem sie den Zünften zumutet,
die Meister der Fabrik für „ehrlich" zu halten und ihnen das
Recht zuzuerkennen, auch ihrerseits Meister und Gesellen zu
kreieren; ähnlich wie Friedrich I. von Preußen im Patent vom
10. November 1716 den Gewerken befiehlt, auch solche junge
Leute als Gesellen aufzunehmen, die das „Raschmachen" im
Zuchthause erlernt hätten 1 ).
Tatsächlich bestand das Fabrikspersonal zumal der staat-
lichen und herrschaftlichen Betriebe im ganzen und großen aus
Unfreien, aus Leuten, die ihr bürgerliches Selbstbestimmungs-
recht entweder verloren oder noch nicht gewonnen hatten.
Zuchthäusler, Vagabunden, Bettler und Waisenknaben werden um
geringes Entgelt oder ohne jede andere Vergütung als drn
nackten Lebensunterhalt zur Arbeit herangezogen ; in den herr-
schaftlichen Fabriken vollends wurde die Arbeit der Untertanen
einfach als robotmäßige Pflicht gefordert 2 ). Etwas günstiger
gestaltete sich, wenigstens bezüglich der Lohnverhältnisse, bloß
die Lage der industriell geschulten Meister und Vorarbeiter 8 );
*) Mor. Meyer, Gesch. der preußischen Handwerkerpolitik, a. a. O.,
II. Bd. S. 24.
2 ) Vgl. Schlesinger, a. a. O., S. 139 f.
3 ) Durch Wilhelm v. Schröder (Fürstliche Schatz- und Rente
kammer, Ausg. v. 1704, Lpz., S. 67 ff.) sind uns einige Daten über die
Lohnverhältnisse zweier Industriezweige: der Kappelmacherei und der
Zeugmach erei ; überliefert. In beiden arbeiten die Gesellen auf Stücklohn.
Die Kappelmacher verfertigen „grüne gekrausete käplein u ; aus 1 qu-
Wolle werden 330 gemacht, der Geselle bekommt für das Hundert 1 fl.
20 kr. nebst Kost, der Meister verkauft das Hundert um 20 fl. Da ein
Geselle in der Woche 100 — 120 Stück anfertigt, so stellt sich sein
wöchentliches Einkommen auf 1 fl. 20 kr. bis 1 fl. 44 kr. nebst Kost.
Weniger günstig sind die Lohnverhältnisse bei den Zeugmachern. Die
Bearbeiter der langen Wolle erhalten vom Pfd. 1 Gr. (3 kr.), die der
kurzen Wolle 2 kr. samt Kost ; der Wochenverdienst beträgt 1 fl. 5 kr.,
resp. 84 kr. nebst Kost. Am schlechtesten sind die Garnspinner bestellt^
die es wöchentlich auf höchstens 36 kr. (nebst Kost) bringen. — Die
herrschaftliche Tuchfabrik zu Oberleutensdorf bezahlte im Jahre 1736
insgesamt 1935 fl. an Besoldungen. Der Verwalter als oberster Leiter
bezog 130 fl., der Kontrolleur 120 fl., der holländische Spinnmeister
481] Fabrik und Verlag. 91
aber auch hier drückt die teilweise Naturallöhnung den Lohn-
wert herab und deutet in jedem Falle auf eine Verschärfung des
Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Unternehmer und dem
Arbeitenden hin.
Die bezeichnete Wandlung des Arbeitsbegriffes hatte sich
schon zu Beginn der Neuzeit im Übergang vom Zeitlohn zum
Stücklohn angekündigt, dessen Einführung einen wesentlichen
Schritt auf dem Wege zur Ausbildung der Hausindustrie und
des Verlagssystems darstellt. Das Verlagswesen erfreut sich von
Seiten des Staates und der Obrigkeiten einer ganz besonderen
Begünstigung. Hier bot sich, über die Schwierigkeiten groß-
kapitalistischer Industriegründungen hinweg, die nächste Gelegen-
heit zur Anlage und Förderung von Exportindustrien. Die
böhmischen Grlashandlungscompagnien, Vereinigungen von kleinen
Verlegern und Meistern auf zunftähnlicher Grundlage, dehnen
ihren Handel bis nach Portugal aus und erregen durch die
bedeutende Verbilligung der Glaswaren die Opposition der Glas-
hüttenmeister, die sich nun ihrerseits zu Rechtsverbänden zu-
sammenschließen 1 ). Vieler Orten sucht man mit staatlicher Bei-
hilfe das Tucherhandwerk in den Dienst des Verlagsgeschäftes
zu zwingen. So hatte eine kaiserliche Kommission, die im Jahre
1722 zur Beilegung von Zunftstreitigkeiten in Iglau zusammen-
getreten war, auch in dieser Stadt eine „Woll- und Tuch-Sozietät"
ins Leben gerufen (1725). Sie war nach dem Muster der im
Jahre 1592 gegründeten Iglauer „Tuch-Kompagnie" errichtet-, nur
sollten jetzt nicht bloß Iglauer, sondern auch Handwerker aus
172 fl., der deutsche Spinn meister 70 fl. Von Arbeitslöhnen findet sich
keine Spur (Schlesinger, a.a.O., S. 139 f.). — Gelegentlich der
Übernahme einer Nadel- und Drahtzugfabrik zu Lichtenwörth bei Wiener-
Neustadt durch das k. k. Hof]tollegium der Münz- und Bergwesens-
direktion macht ein Ausweis vom 23. April 1751 folgende Angaben
Aber die Besoldungen und Kostgelder des Fabrikspersonals: In der
Nadlerei erhält der Verwalter nebst freier Wohnung und Brennholz
jährlich 300 fl., der Nadlermeister samt 2 Söhnen und einer Tochter
800 fl. nebst den genannten Naturalien, 4 Nadlergesellen erhalten je
30 kr. Wochenlohn nebst Kostgeld (ä 10 kr. per Tag), Zimmer und Bett,
26 Lehrbuben — arme Spitalknaben — erhalten je 2 kr. täglich und
Kost für 6 kr. per Tag, ein armer italienischer Lehrjunge genießt nur
dieses Kostgeld. Von den Drahtzugarbeitern erhalten der Meister
wöchentlich 5 fl. nebst Wohnung und Brennholz, die 4 Drahtzieher-
gesellen wöchentlich zusammen 2 fl. nebst Zimmer und Bett (Ms. im
k. k. Hofkammerarchiv, Alt. 4747, Kommerz 1749 — 1756, Nr. 5/1).
*) Schebek, a. a. 0., S. 357 ff., 365 ff.
92 Kampf der Zünfte gegen die neue Arbeits Verfassung. [482
andern Orten an der Compagnie teilnehmen können. Die Tuch-
macher, besonders die wohlhabenderen unter ihnen, versuchten
gegen die geplante Einschränkung ihrer Selbständigkeit zu
protestieren. Sie wendeten insbesondere ein, daß der Wollepreis,
der an die Sozietät zu entrichten war, auf Grund eines mono-
polistischen Privilegiums erhöht, dagegen der frühere Tuchpreis
beibehalten werden solle. Wie ernst die Behörden diesen Wider-
stand nahmen, geht daraus hervor, daß sie zu militärischen
Repressalien griffen, um ihn zu brechen. Man ließ in der Nacht
des 30. Juli 1726, angeblich zur Unterdrückung eines drohenden
Tuchmacheraufstandes, insgeheim 136 Mann vom althannschen
Regiment bei den Stadttoren ein, ließ die Haupt- und Torwachen
besetzen und die Verdächtigen unter den Tuchmachern in ihren
Betten verhaften. Die zwei Haupträdelsführer transportierte man
auf den Brünner Spielberg, etliche Weiber in die öffentlichen
Zwangsarbeitshäuser und sperrte die Stadt auf einige Tage. Bei-
nahe zwei Monate lang blieb die fremde Besatzung in Iglau.
Unter ihrem Schutze wurde die neue Einrichtung ins Werk
gesetzt und überdies die, wie man behauptete, allzu freiheitliche
Ordnung der Tuchmacher vom Jahre 1725 zum Nachteile des
Handwerks abgeändert 1 ).
Mit der Einführung des Verlagssystems hatte auch die
Frauen- und Kinderarbeit ihren Anfang genommen. Neben den
armen Meistern, „ Störern a und Gesellen drängen sich nun auch
in großer Zahl deren Angehörige zur Hausindustrie 2 ). Sogar in
den bürgerlichen Werkstätten hatte die kärglich entlohnte Frauen-
arbeit unter dem entschiedensten Proteste der Zunftgenossen
gelegentlich Eingang gefunden 3 ).
*) K. Werner, a. a. 0., S. 113 ff.
2 ) Hörnigk führt als nachahmenswertes Beispiel die Anneberger
Spitzenindustrie an, die in einem Gebiet von 8 — 10 Meilen ungefähr
10.000 Weiber und Kinder beschäftige, von denen jedes wöchentlich
12 — 16 Groschen verdiene; setzt man nur 10 Gr. an, so ergäbe dies
einen jährlichen Gesamtlohn von 350.000 Rh. fl. (Österreich über alles,
a. a. Ö., S. 268 f.)
3 ) Um die Frauenarbeit einzuschränken, beschlossen die Reichen-
berger Tuchmacher im Jahre 1654, den Spinnerinnen für das Ver-
spinnen eines Stückes Garn nicht mehr als 6 kr. zu geben; Dawider-
handelnde sollten ohne Ausrede 4 Wochen des Handwerks müßig gehen
und mit allen ihren Leuten feiern (Hübner, a. a. 0., S. 57 f.). Wegen
der Anstellung oder Zulassung weiblicher Arbeitspersonen wurden die
Wiener Nndler von den Regensburgern und die Käppelmacher in der
483] Der Gesellenstand. 93
V. Der Gesellenstand.
Dieselben Ursachen, die den Zerfall der alten zünftigen
Organisation und ihre Umbildung in die mannigfachen neuen
Erwerbstypen hervorriefen, hatten auch im Gesellenstand eine
tiefgreifende und überaus folgenschwere Differenzierung bewirkt :
seine Umwandlung in den Arbeiterstand xat' lioyrp — ein
Prozeß, der bereits im 13. Jahrhundert seinen Anfang nimmt 1 ),
dessen Ergebnis aber erst im 17. Jahrhundert mit dem Beginn
der kapitalistischen Industriepolitik deutlich zu Tage tritt, in
jener Periode der geschichtlichen Entwicklung also, deren
sozialer Inhalt in der Auflösung und Verdinglichung aller
gesellschaftlichen Bildungen und ihrer Unterordnung unter den
Zweck des Staatsganzen zu suchen ist. Der Geselle war nicht
mehr wie früher der junge Handwerker, der sich dem Meister
in der sicheren Hoffnung zugesellte *), dereinst ebenfalls zum
Meisterrecht zu gelangen. Behördliche Autorität und mit der
zunehmenden Konkurrenz der Arbeitskräfte auch die materielle
Oberlausitz von den Böhmen und Schlesien* als „unehrlich 41 erklärt
(Moritz Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0., IL Bd.,
S. 179 f., Beil. Nr. 84, Bericht der preuß. Gesandten Brand u. Graeve
vom 25. Dezember 1725).
*) Bruno Schoenlank, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren. Alt-
nürnberger Studien. Lpz. 1894, S. 1 ff. u. Art. „Gesellenverbände"*
im Handwörterbuch der Staats Wissenschaften, IV. Bd. 1900, S. 182 tf.
2 ) Das etymologische Moment ist in dem ganzen Zusammenhang
von Fragen, die sich an die historische Wandlung des Arbeitsbegrifles
knüpfen, von größter Bedeutung. Man vergleiche z. B., wie aus dem
Begriff des „Handwerks" (ahd. hantwerah, mhd. hantwerc und antwerc)
der Bestandteil antwerc (= machina, Werkzeug) mit der Zeit fast völlig
entweicht, um dem andern Bestandteil hantwerc (= artificiura) Platz zu
machen (Jak. und Wilh. Grimm, Deutsches Wörterbuch, I. Bd., Lpz.
1854, S. 507, IV. Bd., 2. Abt., Lpz. 1877, S. 423 ; vgl. S. 119, Anm. 7). —
Der inhaltliche Gegensatz der beiden wurzelverwandten Begriffe „Zunft"
und „Zuchthaus" wurde bereits gelegentlich implicite angedeutet.
(S. S. 35 ff., 63, 89 f.). — Wenn nun Schoenlank („Soziale
Kämpfe vor 300 Jahren," a. a. 0., S. 2) von dem Bestreben spricht,
„die Gesellenschaft für einen stetig wachsenden Perzentsatz der Arbeiter
aus einem bloßen Übergangszustand in einen dauernden Zustand zu ver-
wandeln", so ist damit das Richtige wohl gemeint aber nicht zum
Ausdruck gebracht ; natürlich sollte nicht der Zustand der Gesellen-
schaft an und für sich, sondern bloß das Merkmal ihrer wirtschaftlichen
Unselbständigkeit beibehalten werden.
94 Der Gesellenstand. [484
Not trieben den Gesellen ebenso zur Arbeit, wie sie den „ Störer a
zwangen, dem Zunfthandwerker das Brot streitig zu machen.
1. Das Arbeitsverhältnis.
Vor allen andern Faktoren äußert sich hier wieder die
modifizierende Kraft der erstarkten Staatsgewalt, die sich das
Recht anmaßt, den Gesellenstand als eine gesonderte, dem Zunft-
verband in vielen Beziehungen entrückte Körperschaft unter
seine bevormundende Obhut zu nehmen. In der „Mißbrauchs u -
verordnung vom 9. Dezember 1689 wird mit Bezug auf die
Beschwerde, daß die Gesellen, weil man deren nicht jederzeit
genügend haben könne, ihren Meistern vorschreiben, wie sie im
Essen und Trinken traktiert werden sollen, als Norm aus-
gesprochen: die Gesellen sollen so gehalten werden, daß sie
keinen Grund haben, sich zu beschweren oder sich an andere
Orte zu begeben x ). Die Bestimmung könnte beim ersten Anblick
als gesellenfreundlich gelten ; sie ist jedoch im Grunde eine bloße
Wiederholung der bezüglichen Bestimmung im Augsburger
Reichsschluß von 1548 2 ) und wie diese schon durch den Mangel
jeglicher Strafandrohung völlig belanglos. Der wahren Anschau-
ung der Behörden wie der Öffentlichkeit gibt Becher in seinem
Referat von 1674 3 ) Ausdruck, wenn er über das „leidige 4 )
Gesindt undt handtwercksbursch" Klage führt, „so sich in ihrem
Preiß übernehmen, Von dem Meister nicht gut genueg im Eßen und
Trincken tractirt werden können, und so man sie nur mit einem
krummen Wort anredet, schelten, verschwehren, auf Einmal alle
aus der Arbeit gehen, rottiren sich und dörffen wohl gar nach
dem Gewehr greiffen." „Diese Handwercksbursch nun" fährt er
fort, „deren in denn Kay. Erblanden auf die 40.000, geben
Ewer Kay. Maj. nicht einen heller, als was sie indirecte* an dem
Aufschlag auf Speiß und Tranck contribuiren, zihen hingegen,
daß bare gelt, ja gleichsam dem Meister daß Mark auß den
Beinen herauß, tragens auß dem Land, und so lang sie in dem
Land seind, muß Man gleich wohl sie zu defendiren Sich so-
wohl Ihrer als anderer wegen annehmen und kostbare Land-
defensiones unterhalten. Wäre also auch hierauf zu reflectiren,
1 ) Cod. Austr., I. TV, S. 458 ff., P. 18.
2 ) W. Stieda, Art. „Zunftwesen" im Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, VI. Bd., 1894, S. 878 ff.
8 ) A. a. 0., 1. Kap.
4 ) Spätere Korrektur: „ledige."
485J Das Arbeitsverhältnis. 95
wie solcher Leut insolentz zu refraeniren und auf was für con-
ditiones solche in Ewer Kay. Maj. Erblanden zu dulten und
darinnen Arbeit finden möchten." — Die Trennung des Gesellen-
standes von der Zunftorganisation, seine bloße Bewertung als
Arbeits- und Steuerfaktor im großen Staatskörper erscheint hier
mit aller Deutlichkeit ausgesprochen.
Aber es lag dennoch im Interesse der staatlichen Ordnung,
dem Meister gegenüber dem Gesellen einen „vernünftigen und
heilsamen Zwang" *) zu gestatten. Diese Erkenntnis war, neben
fiskalischen Rücksichten, das gewichtigste Motiv für die Erhal-
tung der Zunftinstitution 2 ). Für Übertretungen im Arbeitsver-
hältnis enthalten die Handwerksordnungen zumeist ausführliche
Strafbestimmungen 8 ). Als ein vortreffliches Mittel zur Diszipli-
nierung des „ledigen Gesind" wie der Handwerksburschem em-
pfiehlt Becher die Werk- und Zuchthäuser 4 ) ; die Handwerks-
leute könnten sich daraus ihr Gesinde und ihre Gesellen nehmen
und brauchten sich mit den „liederlichen Handwercks-Bursch"
nicht so zu plagen, „welche versoffene Narren nichts können,
als sich auff ihre Handwercks-Gerechtigkeit beruffen und ihre
Meister trutzen" und denen auf diese Weise „die Flügel nicht
wenig beschnitten" würden ). In ähnlichem Sinne ist auch die
Instruktion vom 24. Juli 1671 bezüglich des neuen Wiener
Zuchthauses gehalten.
l ) So formuliert diese Notwendigkeit der Reichsschluß vom 4. Sep-
tember 1731, Art. 2.
3 ) Von diesem Standpunkt aus beurteilt auch der mehrfach ge-
nannte böhm. Kammersekretär Borschek die Frage der Zunftaufhebung,
indem er in seinem Gutachten von 1699 dagegen anführt, es würde in
diesem Falle das „ohnedem insolente mechanische Gesindel mit ihren
numerosen Gesellen und Lehrjungen — als gesetzt in denen Präger
Städten die Mälzer — unmöglich zu bändigen, sondern man immerfort
exemplo Holl- und Engeland in nächster Gefahr eines motus universalis
sein, wohingegen sie jetzo noch ziemlichen einzuhalten und bei ein und
des änderten Gesellen Exzess demselben auch abwesender, soweit die
Zunftscommunication reichet, beigekommen und er in seiner Profession
gestecket werden kann" (Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und
«eine Tätigkeit, a. a. 0., S. 52).
8 ) Die Strafen bestanden aus Leistungen in Geld oder Wachs;
nach der Radkersburger Müller-Hand Werksordnung von 1650 (Art. 18)
stand dem Meister gegenüber dem Gesellen, der die Vorschriften beim
Mahlen übertrat, sogar das Recht der körperlichen Züchtigung (des
„Hobelns") zu (Gomilschak, a. a. O., S. 51 ff.).
4 ) Becher, Politische Discurs, a. a. 0., S. 244 ff.
5 ) Ebend., S. 246.
96 Der Gesellenstand. [486
Die Beschränkungsmittel der Zunft gegen Außenstehende
kehrten sich zwar mit voller Wucht auch gegen den Gesellen-
stand; aber alle jene Bestimmungen, die aus den Jahrhunderten
der beginnenden Übervölkerung (13. — 16. Jahrhundert) datierten:
die Begünstigung der Meisterkinder, die Einführung eines kost-
spieligen und zeitraubenden Meisterstücks (seit der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts), die Erhöhung des Einkaufsgeldes,
die Geschlossenheit der Zünfte, die Wanderpflicht (seit dem
15. Jahrhundert) und die Mutjahre l ) verloren an Bedeutung, je
mehr der Zunftcharakter des Gesellenstandes abhanden kam, je
größer die Zahl der Gesellen geworden war, die auf ihr Lohn-
verhältnis endgültig ihren Lebensunterhalt gründeten. Fragen
der Arbeitsbedingungen traten nunmehr in den Vordergrund.
Die Gesellenlöhnung hatte bereits mit der Einführung des
Stücklohns, der darauf berechnet war, das materielle Interesse
des Arbeitenden an die Quantität der erzeugten Ware zu binden,
eine entschieden antisoziale Richtung genommen. Aber auch die
allgemeine Tendenz der Löhne war fast kontinuierlich eine
sinkende. Die „Preisrevolution" des 16. und 17. Jahrhunderts
mit ihrem Gefolge von Preisschwankungen 2 ), die systematisch
betriebene Münzverfälschung, die noch lange über die Kipper-
und Wipperzeit hinaus andauerte 8 ), und nicht in letzter Linie
die starke Bevölkerungsvermehrung drückten den Lohnwert
beharrlich herab. Der stark verminderten Kaufkraft des Geldes
entsprach die geringe Steigerung der Löhne nur in unvollkom-
mener Weise 4 ). Überdies kamen tatsächliche Reduktionen vor,
1 ) Schoenlank, Art. „ Gesellenverbände u im Handwörterbuch der
Staatswissenachaften, IV. Bd., 1900, S. 182 ff.
2 ) Die Meinung Fr. Wilh. Stahls (Das deutsche Handwerk,
T. u. einziger Bd., Gießen 1874, S. 276), die teilweise Naturallöhnung
sei in jener Zeit der Preisschwankungen sowohl für den Meister als fin-
den Gesellen von Vorteil gewesen, wäre nur dann stichhältig, wenn es
feststünde, daß die Meister und Fabriksunternehmer jenen Preisschwan-
kungen bei der Bemessung des Naturallohnes keine Rechnung trugen.
8 ) So berichtet das „Wiener Diarium" (Nr. 33) unterm
24. November 1703: „Ingleichen wurden heunt Abends von Ober-Oester-
reich 4 Manns- und 3 Weibs- Persohnen allhier gefänglich eingebracht,
welche vielerley Sorten falsch Geld gemacht haben, die aber sambt denen
andern falschen Müntzern, allhier schon sitzen, schlechten Lohn davon
bekommen werden."
4 ) Wiebe, a. a. 0., S. 174 ff.; Mor. Meyer, a. a. 0., I. Bd.,
S. 26 f.; Georg Schanz, Zur Gesch. der deutschen Gesellen verbände,
Lpz. 1877, S. 134 f.
487J Das Arbeitsverhältnis. 97
die mit der notwendigen Rücksichtnahme auf den Meister und
die Konsumenten begründet wurden, wie denn überhaupt das
Bestreben nach Festsetzung eines Maximallohnes vorherrschte.
Schon eine landesfürstliche Resolution vom Jahre 1352 verordnet
bei Strafe von 5 Pfd. Wr. Pfennigen einen Taglohn von 5 r
höchstens 6 Pfennigen x ). Ebenso bestimmt die „Policey Ordnung
und Satzung" für Wien vom 19. Dezember 1527, daß der Tag-
lohn der Hauer und Arbeiter die festgesetzte Taxe nicht über-
steigen dürfe 2 ). Am 13, August 1563 ergeht ein Erlaß gegen
die übermäßigen Lohnforderungen der Bindergesellen in Wien;
dürfe doch der Meister selbst von einem Bürger nicht mehr als
8 Kreuzer des Tags nehmen 3 ). Mit der Begründung, daß die
früheren Satzungen von 1640 und 1656 nicht eingehalten worden
seien, ergeht am 17. Juni 1661 neuerlich eine „Taglohnsatzung"
für die Maurer, Zimmerleute und Tagewerker. Trotz der wohl-
feilen Zeiten, heißt es dort, steigern sich die Ansprüche der
Gesellen ins Unerschwingliche. Es werden also für die genannten
Kategorien Arbeitszeit und Arbeitslohn festgesetzt 4 ), mit dem
ausdrücklichen Bemerken jedoch, daß diese Satzung „einiger
Staigerung im geringsten nit wil Ursach geben", so daß sie für
ungünstigere Lohnverhältnisse nicht gilt. Die Übertreter der
Satzung, die mehr geben, fordern oder nehmen, haben eine
bedeutende Geldstrafe zu entrichten. Stehen die Gesellen wegen
des Lohnes auf, so sollen sie für unehrlich gehalten, „auch
endlichen als trutzige Gesellen nach Beschaffenheit der Sachen
mit Leibs-Straff belegt und an das Creutz gespannt werden."
Die Satzung wurde in der folgenden Zeit je nach dem Stande
der Lebensmittelpreise wiederholt erhöht oder erniedrigt ) und
x ) Alex. Grigl, Gesch. der Wr. Marktordnungen, a. a. 0., S. 230.
2 ) Franz Eulenburg, Das Wr. Zunftwesen, a. a. 0., S. 73.
3 ) Cod. Austr., IL T. f S. 365 f.
4 ) Die Arbeitszeit dauerte zwischen Greorgii- und Michaelistag
(23. April bis 29. September) mindestens von 4 Uhr früh bis 7 Uhr
abends und von Michaelis bis Greorgii vom Beginn des Tags bis Sonnen-
untergang; im „großen" Sommer wurden 3, im Frühling und Herbst 2
und im Winter 1 Feierstunde gewährt. Der Taglohn des Maurer- und
Zimmergesellen betrug in den genannten Zeiträumen 17 (15), der de&
„Pallirs" 19 (16), der des Mörtelrührers 13 (11) und der des Tag-
werkers 12 (10) kr., der des Zi egeldeck ergesellen 33 kr. Der Meister
erhielt vom Bauherrn für jeden Gesellen den „Meistergroschen" (3 kr. ;
Cod. Austr., II. T., S. 324 ff.).
5 ) So am 9. September 1661, 10. März 1662, 13. März 1668,
14. Juli 1670 (ebend.).
Wiener staatawiss. Studien. IV. Bd., 3. Heft. 32
98 Der Gesellenstand. [488
durch die Ordnung vom 31. Mai 1673 auch außerhalb Nieder-
österreichs, zumal in Böhmen und Mähren eingeführt 1 ). In der
„Neuen Satzung und Ordnung" vom 21. Juni 1689, die sich
„wider den wucherlichen Gewinn und Lohn" richtet, zeigen
diese Lohnkategorien im Verhältnis zu 1661 eine absolute
Steigerung 2 ), dagegen im Verhältnis zu 1686, wo die Löhne in
Wien einen Höhepunkt erreicht hatten 3 ), einen fast noch größeren
absoluten Rückgang 4 ). In den folgenden Jahrzehnten, in der Zeit
der zunehmenden Bevölkerungsdichtigkeit also, blieben die Löhne
stationär 5 ). Auch in den zahlreichen Verordnungen über den
„ Weingart s-Baulohn a kommt das Streben nach Maximallöhnen
zum Ausdruck 6 ) ; auch hier wird wieder sowohl der Bauherr, der
die Satzung überschreitet, als auch der Arbeiter, der einen
höheren als den bedungenen Taglohn „erpreßt", strenge bestraft 7 ),
dies selbst dort, wo eine höhere Arbeitsleistung vorliegt 8 ).
l ) Als Löhne wurden festgesetzt: für den Polier 20 kr., für den
Maurer- und Zimmergesellen 18 kr., für den Mörtelrührer 13 kr., für
den Ziegeldeckergesellen 33 kr. und für den Tagwerker 12 kr. Auf dem
Lande wurden durchgehends 2 kr. weniger bezahlt. Repetiert wurde die
Ordnung am 11. April 1680 und am 19. August 1685 (ebend.).
*) Der Lohn eines Maurer- und Zimmergesellen in Wien und
4 Meilen Wegs um die Stadt betrug nach der Neuen Ordnung vom
21. Juni 1689 von Georgii bis Michaelis (resp. umgekehrt) 24 (21) kr.,
der eines Poliers 27 (24) kr. und der eines Tagwerkers 15 (14) kr.
(Cod. Austr., III. T., S. 290 ff.).
3 ) Durch die Ordnung vom 12. März 1686 für denselben Greltungs-
bezirk wurde der Lohn des Maurer- und Zimmergesellen für den Sommer
mit (höchstens) 33, für den Winter mit (höchstens) 30 kr. festgesetzt
(Cod. Austr., II. T., S. 328 f.).
4 ) Bis zur Satzung von 1689 wurden diese Löhne noch öfters
reduziert, so am 17. April 1687, am 14. Jänner 1688 und später (ebend.).
5 ) Die Satzung von 1689 wurde noch in den Jahren 1705, 1711
und 1712 wiederholt (Cod. Austr., III. T., S. 627 f., 661).
6 ) Die Weingartenordnung vom 31. August 1666 setzt als Lohn
für einen Mann im Sommer 16, im Winter 15 kr. fest, für ein Weib
oder einen Buben 10 und 9 kr. „Ehrentrunk, Jausen und Nachtessen
geben u wird mit Strafe bedroht (Cod. Austr., II. T., S. 425). Weitere
Verordnungen datieren vom 27. Februar 1687 und vom 9. November
1696 (Cod. Austr., III. T., S. 396 f.).
7 ) Cod. Austr., III. T., S. 519, Ordnung vom 8. Juni 1706.
8 ) Cod. Austr., IV. T., S. 124, Ordnung vom 22. Jänner 1723.
Es wird darin mißfällig vermerkt, „daß theils Clöster und andere aus-
wendige Weingartsinhaber, damit ihre Weingarten vor andern gut und
schleunig gepflogen würden," die Satzung überschreiten. Dies wird
neuerlich bei Strafe verboten.
489J Das Arbeitsverhältnis. 99
Der gesteigerten Betriebsamkeit des Gewerbelebens fiel
in der Regel auch ein alter Brauch zum Opfer, der im
Mittelalter als Schutzmittel gegen aufreibende Überarbeit gedient
hatte: der „blaue Montag". Frühere Verordnungen gegen diesen
Brauch, wie sie die „Neu Pollicey und Ordnung der Handt-
wercher u vom Jahre 1527 oder das „Generale" vom 12. Novem-
ber 1571 *) enthielten, waren wirkungslos geblieben. Der dreißig-
jährige Krieg hatte zwar den montäglichen „Badgang" der
Gesellen beseitigt, nicht aber den Feiertag selbst 3 ). Die Hand-
werkerordnung von 1661 begnügt sich noch damit, den Vorgang
•zu charakterisieren und seine Abstellung zu fordern 3 ). Die
Oesellen, heißt es dort, setzen die Arbeit an Werktagen aus und
verbringen den Tag mit Müßiggehen, Essen, Trinken und gegen-
seitiger Verführung, wobei dennoch der ganze Wochenlohn von
<len Meistern gefordert wird, „was sie den ,blauen Montag*
nennen." Erst in der Erneuerung dieser Ordnung (9. Dezember
1689) 4 ) geht die Behörde zum direkten Angriff über. Es wird
verfügt, daß der Geselle bei halbem Werktagsversäumnis den
halben, bei ganzem den ganzen Wochenlohn verlieren solle ; der
Meister soll davon jenen Betrag, der ihm für die versäumte Zeit
gebührt, abziehen und den Rest in die Lade legen, der Geselle
aber in der Arbeit fortfahren. Bei Widersetzlichkeit oder gar
Ausstand soll er durch den Rumorhauptmann oder Profoßen, auf
-dem Land durch den Gerichtsdiener, angehalten werden, die
versäumte Zeit in Band und Eisen auszudienen. Entläuft er, so
«oll er von keinem Meister im Lande mehr aufgenommen und
befördert werden ö ). Doch erzielte auch diese Verordnung keinen
praktischen Erfolg ; noch im Jahre 1770 mußten Verbote gegen
■den „blauen Montag" erlassen werden 6 ) und in einzelnen Zunft-
privilegien wurde er sogar ausdrücklich gestattet. So darf nach
der Ordnung der Radkersburger Schlosser-, Messerschmied- und
*) Cod. Austr., I. T., S. 462.
2 ) Schoenlank, Soziale Kämpfe vor 300 Jahren, a. a. O.,
S. 72 f.
8 ) Cod. Austr., I. T., S. 458 ff., P. 16.
4 ) Ebend.
5 ) Ebend.
6 ) Stahl, a. a. O., S. 325 ff. In Wien hatte man schon im
Jahre 1550 versucht, den „blauen Montag" durch Umwandlung des
Wochenlohnes in Taglohn auszumerzen; allein die betreffende Verord-
nung hatte sogar auf die ständigen Taglöhnerkategorien, wie Stein-
metzen und Maurer, keine Wirkung auszuüben vermocht (ebend.).
32*
100 Der Gesellenstand. [490
Btichsenmacherinnung der „Blaumontag a von 2 Uhr an gefeiert
werden 1 ). Ebenso läßt die Radkersburger Schneiderordnung
den „Blaumontag a alle 14 Tage zu, falls in die Woche kein
anderer Feiertag fällt 2 ).
Hatte in diesem Punkte die Halbheit der merkantilistischen
Praxis vielfach zur Erhaltung eines alten Gesellenvorrechts bei-
getragan so schlug sie in einem andern Falle, in der Frage der
Arbeitskündigung, zum Nachteil des Gesellenstandes aus. Die
nivellierende Tendenz einer konsequent merkantilistischen Gewerbe-
politik kommt in den Colbertschen Reglements von 1669 zum Aus-
druck, wo für den Meister wie für den Gesellen die einmonatliche
Kündigungsfrist normiert wird 8 ). Im österreichischen Arbeits-
vertrag überwiegt noch für lange Zeit das Meisterrecht. Anläß-
lich eines Streitfalles zwischen den Wiener bürgerlichen Meistern
und Gesellen wegen der von den Meistern aufgebürdeten 14-tägigen
Kündigung ergeht am 19. August 1701 eine Resolution an die
niederösterreichische Regierung, wonach auf deren Rat den
Meistern eine 8-tägige, den Gesellen jedoch nur eine 14-tägige
Kündigungsfrist eingeräumt wird 4 ). Noch weiter geht die
Radkersburger Schneiderordnung von 1728. Kein Geselle darf
danach eigenwillig vor 14 Tagen aus der Arbeit treten ; entlassen
kann ihn der Meister hingegen jeden Tag 5 ).
2. Gesellenverbindungen und Gesellenkämpfe.
Während jene große Masse von Arbeitern, die in den neu-
geschaffenen Industriebetrieben verwendet werden konnten, ihrer
ganzen Herkunft und Bestimmung nach von vornherein aus der
Sphäre sozialer Selbstbetätigung so gut wie ausgeschaltet oder
mindestens in sozialer Beziehung indifferent war, hatte sich im
zünftigen Gesellenstande, der sich immerhin noch einer freieren
Beweglichkeit erfreute, der alte Geist der Widerspenstigkeit und
des Aufruhrs gegen Meister und Behörden stets wach erhalten*
Der Interessengegensatz zwischen den Meistern und Gesellen
war bereits im 14. Jahrhundert in den interlokalen Gesellen-
x ) Gomilschak, a. a. 0., S. 51 ff., erneuertes Privilegium von
1665, Art. 7.
2 ) Ebend., S. 62, erneuertes Privilegium von 1728, Art. 10.
3 ) Nur bei Unfähigkeit des Gesellen genügten 8 Tage, Farnam^
a. a. 0., S. 33.
4 ) Cod. Au str., III. T., S. 333 f.
5 ) Gomilschak, a. a. 0., S. 64, Art. 29.
491] Gesellenverbindungen und Gesellenkämpfe. 101
verbänden deutlich zu Tage getreten, die sich als Gegengewicht
gegen die interlokalen Zunftkartelle der Meister herausgebildet
hatten 1 ). Mit der allmählichen Umbildung des Gesellenstandes
in den Arbeiterstand hatten auch die urwüchsigen Berufsorgani-
sationen der Gesellenbruderschaften und Gesellenzechen immer
bestimmter den Charakter von Interessengliederungen an-
genommen. Die alte Trinkstube, die „Uerte", der ehemalige
Schauplatz fröhlichen Lebens und Treibens, war zur Herberge
geworden — eine sozialbiologisch sehr bezeichnende Wandlung ").
Die örtliche Gesellenorganisation verfolgte nun hauptsächlich
<len Zweck, auf die Arbeitsvermittlung Einfluß zu nehmen, den
■arbeitslosen oder arbeitsunfähigen Mitgliedern zeitweilig Unter-
kunft zu bieten und die ankommenden Gesellen freizuhalten.
Die Kontrolle über das Herbergenwesen steht dem Meister-
verbande zu, dessen sich der Staat nun immer offenkundiger als
seines Aufsichtsorganes bedient. Eine Resolution vom 10. Juni
1677, die den Wiener Goldschmiedgesellen die Gründung einer
Almosenbüchse gestattet, fügt die Einschränkung bei, daß ihre
Zusammenkünfte und „Besitzung der Laad a nur dann erlaubt
sein sollen, wenn bei jeder Zusammenkunft 2 Meister (1 Hof-
befreiter und 1 Bürgerlicher) zugegen sind 3 ). Den Gesellen der
Iglauer Tuchscherer wird im Jahre 1667 die Bitte, eine eigene
'Gesellenzeche errichten zu dürfen, von ihren Meistern sogar rund-
weg abgeschlagen. Die Tuchknappen appellierten an den Rat, der
unterm 28. Juli 1669 aus diplomatischen Gründen in ihr Be-
gehren willigte; seine Absicht war, die streitbare Tuchmacher-
zunft, deren Widerstand gegen die Unternehmungen der Iglauer
Kaufherren ihm sehr mißfallen hatte, numerisch zu schwächen.
Notgedrungen gab nun die Zunft ebenfalls ihre Zustimmung,
zumal, da eine Gesellenauswanderung zu befürchten stand 4 ).
Tatsächlich war ein derartiger Schritt der Gesellenschaft
geeignet, ganze Industrien lahmzulegen. Dies zeigte sich 1687 in
Zittau, wo die Tuchmachergesellen wegen der Nichtbewilligung
ihrer Organisation auswanderten und so die Meister, die vor dem
Ruin standen, zur Nachgiebigkeit zwangen 5 ). Ein ähnlicher Fall
1 ) Schanz, a. a. 0., S. 28 ff.
2 ) Schoenlank, Art. „Gresellenverbände" im Handwörterbuch
<ler Staatswissenschaften, a. a. 0., S. 185.
3 ) Cod. Austr., L T., S. 447.
4 ) Werner, a. a. 0., S. 83 ff.
5 ) Mas eher, a. a. 0., S. 341.
102 Der Gesellenstand. [492*
ereignete sich 1722 in Reichenberg. Die dortigen Leinweber-
gesellen, die gleich den Friedländischen unter allen Hilfsarbeitern
zuerst die Anerkennung ihrer Bruderschaft durch die Meister
errungen hatten und über einen ziemlichen Grad von Selb-
ständigkeit verfügten, protestierten gegen die Überwachung ihrer
„Bruderlade a durch 2 Meister-Alteste und verlangten die Ab-
setzung ihres Herbergsvaters, dem sie vorwarfen, daß er es mit
den Meistern hielte. Es kommt zu stürmischen Auftritten. Die
Gesellen ziehen unter Mitnahme ihrer Lade aus der Städte
Militär wird aufgeboten, sie zur Arbeit zurückzuzwingen. Da
fliehen sie über die sächsische Grenze nach Burkersdorf. Erst
nach Verlauf eines Jahres, da man alle ihre Forderungen
bewilligt und jedem von ihnen Straflosigkeit und Arbeit zu-
gesichert hat, kehren sie zurück und erhalten nun sogar die
Erlaubnis, jene Gesellen, welche sich ihnen nicht angeschlossen
hatten, zu bestrafen 1 ).
Das „Schelten" und „Auftreiben" der Gesellen bedeutete
für den ungestörten Wechsel des Arbeitsortes ein beträchtliches
Hemmnis. Die behördlichen Verbote stießen allenthalben auf
passiven Widerstand. Zum offenen Aufruhr kam es aber, als der
Versuch gemacht wurde, die indirekte Einflußnahme des Gesellen
auf die Arbeitsvermittlung durch die Wohlverhaltungszeugnisse
der Meister zu beseitigen und so der meisterlichen Autorität zum
vollständigen Siege zu verhelfen. Ein kaiserliches Dekret vom
23. November 1712 ordnete an, daß zur Einführung besserer
Mannszucht unter den Wiener Schuhknechten sowie zur Bei-
legung ihrer Streitigkeiten mit den Meistern gedruckte Zettel
über das Wohlverhalten der Schuhknechte, die sogenannten
„Kundschaften" 2 ), eingeführt werden sollen. Trotz der verhängten
Strafen (körperliche Züchtigung, Anschlagen des Namens am
Galgen, Landesverweisung, Kondamnierung zu Band und Eisen,
Verschickung auf die Grenzhäuser und Übergabe an die Werber)
wurde die Annahme der „Kundschaftszettel" beharrlich ver-
weigert und die Arbeit niedergelegt. Auch die verschärften
x ) Hallwich, Reichenberg und Umgebung, a. a. O., I. Halbb. r
S. 363 ff.
2 ) Die Bemerkung Mor. Meyers (Gesch. der preußischen Hand-
werkerpolitik, a. a. 0., IL Bd., S. 47), daß das Wort im sächsisch-
polnischen Entwurf zur Reichsgewerbeordnung (1725) zum erstenmal
vorkomme, könnte also höchstens für den Verlauf der Reichs Verhand-
lungen als zutreffend gelten.
493] Gesellenverbindungen und Gesellenkämpfe. 103
Edikte vom 4. und 26. Juli 1713 *) hatten keinen Erfolg. Am
15. Februar 1715 ergeht eine neuerliche Verordnung. Die Schuh-
knechte, heißt es da, seien ungeachtet der gegen die Wider-
spenstigen vorgekehrten „ scharfen Exemplifikationen" abermals
in den Ausstand getreten, rottieren sich zusammen und halten
gefährliche Zusammenkünfte, ziehen in Müßiggang herum und
verüben gegen Meister und arbeitende Gesellen „höchst straf-
bare Thätigkeiten", locken andere, die ihnen nicht anhangen
wollen, an sich, traktieren sie solang mit Prügel, bis sie sich
betreffs der „Kundschaftszettel" anschließen und bedrohen die-
jenigen, die sich die „Kundschaftszettel" bereits einhändigen
ließen. Es wird ihnen also anbefohlen, die Arbeit binnen 3 Tagen
wieder aufzunehmen, u. zw. bei Androhung von Verhaftung und
Kriminalprozeß, Leibes- und Lebensstrafe. Die Wirte, Gastgeber
und andere sollen ihnen bei schwerer Strafe keinen Unterstand
geben 2 ).
Eine Zeit der schärfsten Maßregelungen brach über den
Gesellenstand herein. Am 8. März 1718 fiel eines der letzten
Rechte der Wiener Handwerksgesellen: der Brauch des Degen-
tragens im Sonntagsstaat wurde aus Anlaß vorgefallener Exzesse
abgeschafft 3 ). Hingegen erbauten die niederösterreichischen
Stände, wohl mit Rücksicht auf die stattgefundenen Unruhen,
im Jahre 1721 auf ihre Kosten in der Leopoldstadt eine Kaserne
für ein Kavallerieregiment; zur Aufrechterhaltung der öffent-
lichen Ruhe und Sicherheit wurden mehrere Pikette desselben
zwischen der Stadt und den Vorstädten aufgestellt'). Schon im
darauffolgenden Jahre brach neuerlich ein Aufstand der. Wiener
Schuhknechte aus 5 ), den die Regierung mit blutiger Strenge
x ) Cod. Austr., III. T., S. 692, 713 f.
3 ) Ebend., S. 784.
3 ) Nach Franz Tscliischka, Geschichte der Stidt Wien, Stutt-
gart 1847, S. 365 f. — Das Verbot des Waffentragens wurde aus
dem gleichen Anlasse auch in Schlesien verfügt (nach S t a h 1, a. a. 0.,
S. 291).
4 ) Ebend., S. 366.
ö ) ßidermann (Die technische Bildung im Kaisertume Oster-
reich, a. a. 0., S. 19) betont mit Recht, daß die sozialpolitische Seite
dieses Aufstandes bisher fast gänzlich übersehen worden ist. Hall-
wich (Reichenberg und Umgebung, a. a. 0., I. Halbb., S. 366 f.,
Anm. 47) registriert die Ansicht Bidcrmanns mit der Behauptung, er
lege den damaligen Aufständen überhaupt eine zu große Bedeutung
bei. Demgegenüber muß jedoch bemerkt werden, daß gerade Hallwichs
sonst so inhaltsreiche und darum immerhin schätzenswerte Darbietungen
104 Der Gesellenstand. [494
unterdrückte; 2 der Aufruhrer wurden hingerichtet 1 ). Auf diese
Vorgänge bezieht sich das Patent vom 20. Juni 1722 „wegen
der widerspenstigen Handwerks-pursch und deren Bestraffung" .
Das Patent hebt hervor, es sei schon öfter hinterbracht worden,
daß die Handwerksburschen sich nicht allein ihren Meistern,
sondern auch der kaiserlichen Obrigkeit „freventlich widersetzen" ,
die aufgestellten Ordnungen nicht einhalten und „wan sie darzue
Verhalten werden wollen, oder sonst einem gesellen was zue stehet,
nicht allein zugleich Selbsten auß der arbeit außstehen, sondern
auch die in der Arbeit Verbleibende Mitgesellen mittels verbottener
Scheltung auß denen Werckstädten vertreiben, sich zusammen
rottiren und solger gestalten ihren Ohnfueg durch Spörung der
arbeit behaubten und an statt das Sye gsellen ihre vermeinte
beschwärde bey der gehörigen obrigkeit anbringen und ihre
außrichtung gezimmend erwartten, mit derlei aufrühren ihr ver-
langen mit truzen und bochen erzwingen wollen." Es folgen die
üblichen Strafandrohungen, die Erneuerung des Scheltverbots
und am Schlüsse die Verfügung, daß das Patent in die Meister-
und Gesellenlade gelegt und alle Quartal sowie bei jeder Zu-
sammenkunft vorgelesen werden solle 2 ).
Indem die Gesellen sich gegen den vom Staat bevormun-
deten Meister wandten, griffen sie zugleich die staatliche Auto-
rität an. Was aber diesen Angriffen eine ganz besondere Bedeu-
tung verlieh, war die Tatsache, daß sie in eine Zeit fielen, wo
der Staat unter dem Drucke der allgemeinen Weltlage aufs leb-
hafteste damit beschäftigt war, sich nach außen und innen hin
wirtschaftlich zu konsolidieren. Die geänderten Wirtschaftsver-
hältnisse hatten den Mangel einer passenden Arbeitsorganisation
aufgedeckt und in vielen Fällen bereits zu Abbröckelungen von
der Machtsphäre der Zunftinstitution geführt; die Gesellen-
aufstände aber lieferten dem Staat den Vorwand, an die innere
Organisation der Zunft selbst Hand anzulegen, die durchgehende
Einheit der volksgenossenschaftlichen Berufsgliederung durch
eine gemeinsame Aktion der merkantil istischen Regierungen
endgültig zu beseitigen.
an einer gewissen Einseitigkeit leiden, indem sie die Frage des „indu-
striellen Aufschwungs" allzusehr in den Vordergrund rücken.
*■) Tschischka, a. a. 0., S. 366.
2 ) Ms. im Arch. des Min. des Innern, IV. F. 28. Gewerbe in
genere, N.-Öst. 1522—1749.
495] Territoriale und Reichs-Gewcrbereform. 105
VI. Territoriale und Reichs-Gewerbereform.
Wie der Staat den alten Verband der Zunftgenossen-
schaften lockerte und so den einzelnen Meister in erhöhtem
Maße den Schwankungen der Erwerbsverhältnisse preisgab, so ent-
kleidete er auch den Gesellen seines Zunftcharakters, nahm ihm sein
.gefährliches Verbindungsrecht und seine Gerichtsbarkeit und reflek-
tierte ausschließlich auf seine Eigenschaft als Arbeiterindividuum,
^ine Entwicklung, die bereits durch die individualisierende Wirkung
■des eingedrungenen römischen Rechts vorbereitet worden war 1 ).
Nichts ist bezeichnender für die auflösende und mechanisierende
Tendenz des innerpolitischen Merkantilismus als das Aufkommen
•des Prinzips der gewerblichen Kumulation oder Kombination, wie
es insbesondere in der Gewerbegesetzgebung Preußens zu Tage
tritt. Friedrich Wilhelm I. bringt gelegentlich seine Meinung
über die Sache in drastischer Weise zum Ausdruck, indem er
^iuf eine Eingabe des Berliner Generalkommissariats vom
23. Februar 1718, die sich im allgemeinen für die Beibehaltung
der geschlossenen Zünfte ausspricht, in einer Randnote entgegnet,
daß es in Holland, Brabant, Frankreich und England, wo keine
Zünfte bestünden, bessere Arbeiter gebe als in Deutschland und
sodann fortfährt: „Die Innung kan ich im Reich nit aufheben,
^aber das kan ich tuhn, das ich lasse Mester werden sonder geldt
jzu zahlen und lasse arbeitten wer will, So wie es hier unter die
Franzosen ist, heute ist er ein Becker, Morgen wirdt er ein
«trumpf Stricker gesell und so weitter." 2 ) Eines der Hauptmerk-
male des späteren Maschinenzeitalters, der Verzicht auf die
berufliche Qualifikation des Produzenten, kündigt sich hier
bereits deutlich an. Zugleich aber lag es im Wesen der merkan-
tilistischen Bevölkerungspolitik, eine möglichst große Zahl von
Arbeitskräften für die einheimische Industrie zu gewinnen,
solcher Arbeitskräfte freilich, denen die Waffe der interlokalen
Organisation so gut wie völlig entwunden sein mußte. Daher
das unaufhörliche Drängen Preußens nach einer gemeinsamen
Beschlußfassung aller deutschen Territorien gegen die Handwerker-
„Mißbräuche u , wie es ja auch in der Frage des Reichsverbots
x ) Otto Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, I. Bd., Rechts-
geschichte der deutschen Genossenschaften, 1868, S. 647.
2 ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0.,
II. Bd., S. 21.
106 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [496«
französischer Manufakturen die Initiative ergriffen hatte. In beiden
Fällen aber war das Bestreben der preußischen Politik nur
darauf gerichtet, die übrigen Reichsstände auf einen gemein-
samen Beschluß zu binden, um sodann mit voller Energie den
merkantilistischen Standpunkt des preußischen Staates zur Gel-
tung zu bringen.
In der Haltung Österreichs tritt diese aus der Doppelnatur
der deutschen Wirtschafts- und Verfassungsverhältnisse resul-
tierende Zwiespältigkeit der territorialen Interessen schon während
der langwierigen Reichsverhandlungen über die Zunftreform aufs
allerdeutlichste zu Tage. Den Wendepunkt bezeichnet das Reichs-
gutachten von 1672. Bis dahin hält es die in wirtschaftlicher
und verwaltungstechnischer Beziehung noch wenig geklärte
Politik der habsburgischen Hausmacht für ungefährlich, diese
„schlechten Dinge" zur Sprache zu bringen; aus diplomatischen
Gründen sucht sie den Gegenstand sogar möglichst lange auf
der Tagesordnung festzuhalten. Von da ab jedoch führt Oster-
reich durch sein passives Verhalten den völligen Stillstand der
Verhandlungen herbei, um erst nach Verlauf von mehr als einem
halben Jahrhundert, nachdem es auch innerhalb seiner eigenen
Grenzen die Grundlagen einer merkantilistischen Politik ge-
schaffen, den Reichsschluß auch tatsächlich zur Durchführung
zu bringen.
Die Notwendigkeit einer allgemeinen Zunftreform war schon
in den Wahlkapitulationen von 1661 betont worden 1 ). Im Oktober
des Jahres 1666, gelegentlich der Beratungen über das Münz-
wesen, wurde beschlossen, die Regelung des Polizeiwesens, in
dessen Bereich auch die Handwerkerangelegenheiten fielen, den
speziellen Obrigkeiten zu überlassen. Es wurde bloß auf An-
regung Straßburgs, Regensburgs und Nördlingens das Überein-
kommen getroffen, den Reichskonstitutionen und besonders den
Reichspolizeiordnungen von 1548 und 1567 zur Anerkennung zu
verhelfen 2 ). Im Mai des Jahres 1667 brachte jedoch Österreich
und im Bunde mit ihm das Kurfürstenkollegium es dahin, daß
die Angelegenheit dennoch in Beratung gezogen wurde. „Die
Ursach," sagt Henniges 3 ), der brandenburgische Vertreter auf
*■) W. Stieda, Art. „Zunftwesen" im Handwörterbuch der Staats-
wissenschaften, 1894, 6. Bd., S. 878 ff.
3 ) Ebend.
3 ) Henniges, Meditationes ad instrumentum pacis Caesareo-
Suecicum, spec. VII. 1706 ff., S. 1370 f.
497] Territoriale und Reichs-Ge Werbereform. 107
dem Reichstage, „mag gewesen seyn, damit die Fürstliche hie-
durch von der Capitulation divertiret würden, umb derer vor-
nehmen und Ausmachung dieselbe in die Churfürstliche so
eyfferig und beständig drangen, diese aber solche delicate materie
gerne durch tractirung anderer von sich abgewelzet wissen
möchten, in der Hoffnung, daß wan man ein mahl sich mit Ein-
richtung einer Polizey-Ordnung werde occupiret haben, dieses
abermahl ein Arbeit von mehr dann 1 oder 2 Jahren sein
dörffte: und werde man nachgehends nicht gerne liegen lassen,
was man angefangen, ehe es ausgemachet, wie mit dem Müntz-
Wesen auch geschehen." Auch die Reichsstädte, in denen sich der
zünftige Einfluß besonders stark geltend machte 1 ), waren für
sofortige Beratung. Allmählich accommodierte sich daher auch die
fürstliche Bank, „zu mahlen es die Directoria heimblich gerne sahen,"
welch letztere besorgten, es würden auch Materien zur Sprache
kommen, deren Verhandlung man am liebsten noch verschoben
oder ganz ausgeschaltet wissen wollte. Wurde doch von einigen
die Beratung des „punctus Justitiae" und der Reichs-Hofrats-
Ordnung gefordert, womit Osterreich keineswegs einverstanden
war ; es ließ auch ausdrücklich verlauten, daß es damit noch zu
früh sei. Der Einwand Magdeburgs, daß dieser Punkt schon seit
1613 zur Beratung stehe, bewog Osterreich erst recht, auf die
Verhandlung der Polizeiordnung zu dringen. Es sollten jedoch
nur 3 Punkte auf die Tagesordnung gesetzt werden: 1. „von
Duelliren und Kugelwexeln," 2. „wie die Commercia in Römi-
schen Reich wieder in bessern Stand zu bringen" und 3. „von
Einrichtung der Zünfften und Abschaffung deren Mißbrauch." 2 )
Zum erstenmal wurde dieser dritte Punkt im Juli 1669 proponiert,
wobei Kur-Brandenburg in beiden höheren Kollegien zur Er-
wägung stellte, „ob nicht in Betrachtung der mannigfaltigen
übermäßigen Excessen samt den daher entspringenden schädlichen
consequentien entweder sothane Zünfte gänzlich zu cassiren oder
doch wenigstens so genau zu coerziren, daß denen Ständen und
Obrigkeiten die freye Macht und Gewalt, hierinnen zu ihrer
x ) „Es kann im Zweifel niemand durch eineu andern Weg zur
Ratsherrenstclle gelangen, als eben dadurch, daß er ein Mitglied einer
Zunft und von derselben zum Ratsherrn erwählet werde" (Jak. Gott-
lieb S i e b e r, Abhandlung von den Schwierigkeiten, in den Reichsstädten
das Reichsgesetz vom 16. August 1731 wegen der Mißbräuche bei den
Zünften zu vollziehen, Goslar und Lpz. 1771. Der Verfasser war Syn-
dikus v. Goslar.)
2 ) Henniges, a. a. 0., S. 1370 f.
108 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [498
Lande und Unterthanen AufFnehmen und Nutzen nach befinden
zu verordnen, publica Imperii lege gegeben werde; Zumahlen
ohne deme die Stände in denen den Zünften und Innungen er-
theilten Privilegiis oder derselben contirmationen sich jedesmahl
die Gewalt vorbehielten, solche entweder zu mehren, zu verringern
oder gar zu cassiren 1 )". Die landespolizeiliche Gewalt wurde nicht
mehr als ausreichend erachtet ; bei der interlokalen Erstreckung
der zünftigen Machtsphäre konnte die staatliche Reglementierung
des Handwerks nur auf der Grundlage eines Reichsgesetzes er-
folgen. Diese Auffassung fand allgemeine Anerkennung. Dagegen
behauptete sich gegenüber dem Vorschlag auf gänzliche Ab-
Schaffung der Zünfte der besonders von Osterreich und Salzburg
vertretene Grundsatz: „Maneat usus et tollatur abusus." Es
wurde bloß beschlossen, zunächst den Städten einen Bericht ab-
zufordern, der als Beratungsmaterial dienen sollte. Dadurch
wurde die Angelegenheit abermals 2 Jahre verzögert, so daß
erst am 29. Mai 1671 die Verhandlungen im Fürstenrate auf-
genommen werden konnten. Wieder stellte Brandenburg, unter-
stützt von Braunschweig-Celle und Braunschweig-Calenberg, den
Antrag, die Zünfte aufzuheben. Als Osterreich und Salzburg
opponierten, weil die Zünfte in allen Reichskonstitutionen immer
wieder aufs neue bestätigt worden seien, schlug Brandenburg vor,
es solle der Ortsobrigkeit anheimgestellt werden, jedem Bürger
durch einen „Zettel" an die Zunftmeister den Handwerksbetrieb
zu ermöglichen. Auch dieser Antrag, für den fast die ganze
weltliche Fürstenbank stimmte, wurde abgelehnt. Dennoch wurden
auf Betreiben Salzburgs die Verhandlungen im Plenum weiter-
geführt und nach umständlichen Debatten, wobei es sich ins-
besondere um die Frage der territorialen Hoheitsrechte handelte,
kam endlich das Reichsgutachten vom 3. März 1672 2 ) zu stände,
welches in einer Reihe von Bestimmungen die Autonomie der
Meister- und Gesellenzünfte zu beseitigen sucht und dessen
Haupttendenz dahin gerichtet ist, das zünftige Handwerk den
Zwecken der merkantilistischen Industriepolitik endgültig dienst-
bar zu machen.
Das Gutachten enthält zwei Bestimmungen, deren gegen-
seitiger Widerspruch von vornherein an der ernsten Absicht
seiner Urheber zweifeln läßt. Während nämlich der Schlußsatz
1 ) Ebend., S. 1403 ff.
2 ) Ebend., S. 1538 f.; abgedruckt bei Job. Jos. Pachner,
Sammlung derer Reichsschlüsse, I. T., Regensb. 1711, S. 554 ff.
499] Territoriale und Reichs-Gewerbereform. 109
die gleichmäßige Anwendung des Gesetzes in allen Territorien
erwartet, bestimmt er zugleich, daß den Obrigkeiten, die von
Kaiser und Reich Regalien besitzen, alle landesherrliche Gewalt,
daher auch die Möglichkeit einer Änderung vorbehalten bleiben
solle 1 ). Es war aber klar, daß die einzelnen merkantilistisch
wirtschaftenden Territorien sich auf Grund dieser Gewalt wohl
den Vorteil der angebahnten Gewerbefreiheit zuwenden, hingegen
die nachteilige Wirkung, die eine Erhöhung der staatlichen
Kontrolle auf den Zufluß industrieller Arbeitskräfte ausüben
mußte 2 ), möglichst auf die konkurrierenden Nachbarländer über-
wälzen würden. An eine gleichmäßige Anwendung der landes-
herrlichen Macht war also schon aus diesem Grunde nicht zu
denken.
Während der ganzen vorhergegangenen Reichstagsverhand-
lungen hatten die Vertreter Österreichs zwar eine zustimmende,
in objektiver Hinsicht aber wenig zielbewußte Haltung ein-
genommen, wie ja auch in der innern Politik der Erblande noch
kein entscheidender Kurs vorhanden gewesen war. In den 70-er
und 80-er Jahren tritt jedoch ein völliger Umschwung ein. Es
ist, als ob Osterreich plötzlich zum Bewußtsein der Situation
gekommen wäre. Nachdem es noch an dem Zustandekommen
des Reichsgutachtens von 1672 regen Anteil genommen hatte,
zieht es sich nun auf einmal von den Verhandlungen zurück
und bringt auch in den folgenden Jahrzehnten den Bestrebungen
nach Schaffung eines Reichsgesetzes kein sonderliches Interesse
entgegen. „Und damit," sagt Henniges mit Hinweis auf das
Reichsgutachten, „wurde auch diese Sache in so weit abgethan,
daß bißhero hievon wenig mehr auff dem Reichstag gehöret
worden ; ausser daß anno 1 680 verschiedene Stände, und insonder-
heit Chur-Mayntz erinnern lassen, wie daß die bei denen Hand-
werkern oder Innungen eingerissene Mißbrauch, excessen und
insolentien hin und wieder im Reich mehr überhand als ab-
nahmen." 8 ) Im Kommissionsdekret vom 23. Jänner 1681 4 ) ver-
sprach zwar der Kaiser, nachdem er über Antrag Salzburgs am
18. Oktober 1680 um Notifizierung des Reichsgutachtens und
Hinausgabe desselben in Form eines Reichsedikts ersucht worden
*) Diese Bestimmung war schon in der Reichspolizeiordnung von
1548 enthalten gewesen.
2 ) S. S. 43, Anm. 2.
8 ) Henniges, a. a. 0., 1409 f.
4 ) Pachner, a. a. O., II. T., S. 291.
110 Territoriale und Reichs-Gewerbereforin. [500
war 1 ), die eheste Ausfertigung der erforderlichen Edikte; allein
die Angelegenheit blieb bis zum Reichsschluß von 1731 ohne
Entscheidung.
Die Reichstagsverhandlungen hatten vor allem klärend
gewirkt; sie hatten gezeigt, welche Richtung Österreich in der
innern Wirtschaftspolitik einzuschlagen hatte, um sich nicht nur
wirtschaftlich, sondern auch politisch als deutsche Vormacht
behaupten zu können. Schon die Handwerkerordnung vom
9. Dezember 1689 bedeutete neben der mehr registrierenden als
selbsttätig eingreifenden Resolution von 1661 2 ) einen entscheidenden
Schritt im Sinne der merkantilistischen Grewerbepolitik. Zwar wird
hier noch die Grundobrigkeit als erstrichterliche Instanz anerkannt ;
doch tritt bereits der bevormundende Standpunkt des Staates gegen-
über den Meistern und Gesellen sehr deutlich hervor und es zeigt
sich insbesondere ein lebhaftes Bestreben nach Vermehrung der
Arbeitskräfte durch Heranziehung solcher Bevölkerungsschichten,
die bisher vom zünftigen Handwerk ausgeschlossen waren. Auch
die Aufhebung der Zünfte wurde in Erwägung gezogen. Kurze
Zeit nach dem Requisitionsschreiben von 1698 über den Geld-
umlauf erging, wahrscheinlich auf Anregung des bereits genann-
ten Hofkammerrats J. David v. Palm 8 ), der Befehl, Unter-
suchungen über die Mängel des gewerblichen Zunftwesens an-
zustellen 4 ). Das betreffende Hofdekret ordnet an, man möge die
Stadt- und Marktmagistrate befragen, „ob und wie die Zunfften
abzuschaffen oder wenigstens dergestalten, daß sie Keinem, der
in einer Stadt oder Markht sich bürgerlich niederlassen und ein
Handtwerk oder Gewerb treiben wolte, hindern oder in ihr
Zunftgremium zu tretten necessitieren könnten, zu restringieren
wären", „nachdeme in andern Königreichen und Republiquen die
Zunfften entweder nit üblich oder doch nit also privilegiert
seindt, dass derentwegen Keiner, der nicht zunftmäßig ist, zu
arbeiten und sein Gewerb zu treiben befuegt sein sollte." 5 ) Die
böhmische Statthalterei antwortet unterm 15. November 1699 mit
x ) Ebend., S. 285 f.
2 ) Beide Verordnungen im Cod. Austr., I. T., S. 458 ff.
3 ) Nach Bidermann, Gesch. der österr. Geaamt-Staatsidee,
a. a. 0., I. Abt., S. 113 f., Anm. 23.
• 4 ) Bidermann, ebend., fand ein darauf bezügliches Hofdekret
vom 13. März 1699 im Innsbrucker Statth.- Archiv. — Kopetz,
a. a. 0., I. Bd., S. 19, erwähnt Akten im Prager Statth.-Arch.
5 ) Bidermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staatsidee, a. a. 0.,
II. Abt., S. 90 f., Anm. 13.
501] Territoriale und Reichs-Grewerbereform. 111
-einem Gutachten, worin sie ausführt, die Kassierung der Zünfte
sei trotz der großen Mißbräuche bedenklich, „weilen dieselbe
mit denen im römischen Reich stabilirten Zünften dermahlen eine
unauflösliche Connexion haben" und bei Aufhebung der Zünfte
die Gesellen beiderseits für untüchtig gehalten würden. Zudem
seien ja die „titulo oneroso u erworbenen Zunftprivilegien „meistens
«tuf die gute Ordnung und Polizei, auch ad puritatem sanguinis
et orthodoxae fidei eingerichtet", weshalb eine Wegnahme der-
selben und die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit den
Mitgliedern der Zünfte „schwer und betrüblich fallen thäte".
Die Statthalterei schlägt also vor, daß fremde Handwerker und
Künstler gehalten sein sollen, sich durch Erwerbung des Bürger-
rechts und der Meisterschaft „gegen einer leidentlichen Gebührnus
und Vorzeigung einer Prob, was sie verstehen thun a , zu inkor-
porieren; hingegen solle das Handwerk sie „ohne Zumuthung
der Wanderschaft oder vorgehende Meisterjahren" aufnehmen,
ihnen auch die Förderung und Aufdingung der Gesellen sowie
die „Auslehrnung" der Jungen zugestehen. Die Akatholiken
sowie die Handwerker neuartiger Professionen sollten auf 4 oder
5 Jahre mit einer Hoffreiheit versehen und durch 1, 2 oder
3 Jahre von allen Steuerleistungen befreit, hierauf aber, wenn
sie weder ihren Glauben wechseln noch das Bürgerrecht erwerben
würden, wieder entlassen werden, nachdem inzwischen die ein-
heimischen Katholiken die Profession von ihnen erlernt hätten l ). —
Diesen Kompromißstandpunkt hat sich die österreichische Gewerbe-
politik auch tatsächlich zu eigen gemacht.
Allein nicht nur in der Frage der Zunftaufhebung, auch
bezüglich jener Einschränkungen der Zunftrechte, die in der
bloßen Erweiterung der freien Gewerbebefugnisse bestanden,
war eine Reichs Vereinbarung erforderlich, um den interlokalen
Zusammenhang der Zünfte zu beseitigen. Einem solchen Reichs-
schluß konnte aber eben nur die Bedeutung einer vorbeugenden
Maßregel zukommen ; das Schwergewicht lag in der territorialen
Gesetzgebung.
Der österreichische Staat war denn auch ernsthaft
bestrebt, die unmittelbare Leitung seines Gewerbewesens in die
Hand zu bekommen. Was Brandenburg schon zu Ende des
17. Jahrhunderts gelungen war, die Unterordnung der feudalen
x ) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. O., S. 50 f.
112 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [502"
Interessen unter das zentralistische Staatsprinzip l ) 7 das wurde in
Osterreich durch Josef I. in Angriff genommen, unter dessen
Regierung die ersten Spuren des absolutistischen Liberalismus
zu Tage treten. Durch das Patent vom 1. Oktober 1708 wurde
zugleich mit der Aufhebung der Sternberger Seilerzunft, die der
Grundherr Joh. Adam Andr. Fürst v. Liechtenstein eigen-
mächtig errichtet hatte, die Verfügung getroffen, daß niemand
mehr in der Markgrafschaft Mähren dergleichen Zünfte errichten
und privilegieren dürfe; es sollte jedoch den privatim errichteten
Zünften freigestellt bleiben, um die Bewilligung des Kaisers ein-
zukommen 2 ). Es folgte die Gründung der Kommerzkollegien,
die Einführung der „Privilegia privativa" und speziell für die
böhmischen Erblande die „königliche Pragmatica" vom 6. Sep-
tember 1718, wonach zur Vermeidung langwieriger Zunftstreitig-
keiten an Stelle des schriftlichen das mündliche Prozeßverfahren
vor eigens bestellten Kommissionen angeordnet wurde 8 ). Für das
Gebiet der Reichshauptstadt ergingen jene zahlreichen Verord-
nungen, die einerseits die Schaffung einer möglichst breiten
gesetzlichen Basis für nichtzünftige Gewerbebetriebe 4 ), anderer-
seits die Zügelung des unruhigen und fluktuierenden Gesellen-
elements 5 ) bezweckten. Alle diese Maßregeln verfolgten nur ein
Ziel : die Schaffung eines einheitlichen, von den übrigen Staaten
unabhängigen Wirtschaftsgebiets. Den Abschluß des Werkes
sollte die Einführung einer „General-Gewerbe- und Zunft-Ord-
nung" bilden, die Karl VI. schon im Jahre 1724 gelegentlich
gewerbestatistischer Erhebungen angekündigt hatte 6 ).
Auf dem Reichstag aber wiederholte sich das diplomatische
Spiel, das schon ein halbes Jahrhundert vorher so ergebnislos
verlaufen war. Im Vordergrund der Verhandlungen stand die
x ) Vgl. Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik ,
a. a. O., I. Bd., S. 60.
2 ) Codex Ferdinandeo-Leopoldinus, herausg. von Joh.
Jak. Equite de Weingarten, Prag 1720, S. 665. — Eine Verordnung
Matthias* vom 23. Jänner 1617, womit für Niederösterreich die Errich-
tung von Zünften ohne landesfürstliche Bewilligung verboten wurde (Ms.
im Arch. des Min. des Innern), war ohne dauernde Wirkung.
3 ) Ebend., S. 732.
4 ) S. 58 f., 64, 70 ff.
ö ) S. S. 95, 101 ff.
6 ) Cod. Austr., IV. T., S. 249. Dieselben Erhebungen wurden
im nächsten Jahre in Ungarn und im Jahre 1727 in Innerösterreich
vorgenommen (Bidermann, Gesch. der Österr. Gesamt-Staatsidee,
a. a. 0., IL Abt., S. 315, Anm. 208).
503] Territoriale und Reichs -Gewerbereform. 113
Oesellenfrage, deren einheitliche und gleichmäßige Lösung aber
bei dem Widerstreit der verschiedenen staatsrechtlichen Interessen
gänzlich ausgeschlossen war. Der industrielle Vorteil einer durch-
gehend^ strengeren Gesellenzucht mußte unbedingt jenen Staaten
zufallen, die auf dem Gebiete politischer und wirtschaftlicher
Konzentration bereits einen Vorsprung erreicht hatten. Osterreich
handelte also ganz folgerichtig, wenn es gegenüber den drin-
genden Vorstellungen Preußens und Sachsens eine vorsichtig
abwägende Haltung einnahm. Als gelegentlich einer neuerlichen
Urgierung des kursächsischen Gesandten am Wiener Hofe
{v. Zech) auch dem kaiserlichen Konkommissarius in Regens-
burg, Ifreiherrn v. Kirchner, zu Anfang des Jahres 1722 ein
Bericht abgefordert wurde, befürwortete dieser zwar die Geneh-
migung des Reichsgutachtens, riet jedoch, mit dem Beifügen,
«daß er eher für die gänzliche Aufhebung als für die vorgeschla-
gene Verbesserung der Zünfte wäre, die Sache durch ein Kom-
missionsdekret binnen kurzem an den Reichskonvent zu bringeu,
um diesem unbeschadet der Genehmigung des Reichsgutachtens
das Projekt mit Berufung auf die Länge der verflossenen Zeit
•zur eventuellen Revidierung abermals vorzulegen x ) — im Grunde
also ein Vorschlag, der auf neuerliche Vertagung der Angelegen-
heit hinauslief.
Dennoch war ein Reichsbeschluß auf die Dauer nicht zu
umgehen. Einen Begriff von der Heftigkeit und Wirkungsweite
jener Kämpfe, die dort entstanden, wo das alte Handwerksher-
kommen mit den Erfordernissen der merkantilistischen Staats-
verwaltung zusammenstieß, liefert der Aufstand der Tuchmacher-
Gesellen zu Lissa in Posen (1723). Fast das gesamte Tuchmacher-
handwerk Mitteleuropas wurde in diese Streitsache hineingezogen.
Es zeigte sich dabei die bemerkenswerte Erscheinung, daß die
brandenburgischen, sächsischen und polnischen Zünfte für die
Meister von Lissa eintraten, während die schlesischen, böhmischen,
mährischen, ungarischen und österreichischen Zünfte es mit den
Gesellen hielten 3 ). Da der Reichsabschied bei dem Widerstand
der Reichsstädte und der passiven Haltung Österreichs sich ver-
zögerte, beabsichtigte Preußen, wenigstens ein Separatabkommen
mit den benachbarten Staaten (Sachsen, Polen, Hannover, Braun-
x ) Ms. im Arch. des Min. des Innern, IV. F. 28., Gewerbe in
«genere, N.-Öst, 1522 — 1749.
2 ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. O.,
IL Bd., S. 34. .
Wiener gtaatswiag. Studien. IV. Bd., 3. Heft. 33
114 Territoriale und Reichs-Gewerbercform. [504
schweig, Osterreich) herbeizuführen. Es käme insbesondere darauf
an, schreibt Hille, der Direktor der Neumärkischen Kriegs- und
Domänenkammer, in einer Eingabe 1 ) an den König, die innere
Verbindung der inländischen mit den benachbarten ausländischen
Tuchmachergewerken aufzuheben ; dann könne man viel leichter
Bestimmungen treffen, wodurch die inländischen über die aus-
ländischen Zünfte 2 ) gehoben würden. Der Zeitpunkt sei sehr
günstig, die polnisch-sächsische Aktion zu unterstützen, da der
Kaiser wegen der Wirren in Wien und in Schlesien derzeit um
so eher zum Abschluß eines Übereinkommens bereit sein werde.
Dem österreichischen Staat konnte aber bei seinem Mangel an
industriellen Arbeitskräften die Einwanderung fremder Gesellen,
die sich als Folge einer strengeren Gewerbegesetzgebung der
Nachbarländer ergeben mußte, nur willkommen sein. Bestimmend
mögen auf die Haltung Österreichs die Bedürfnisse technisch
vorgeschrittener Gewerbe gewirkt haben, wie denn die Nadler
ausdrücklich erklärten, daß ihnen die inländischen Gesellen nur
für die grobe Arbeit genügten, während sie für die feinere Arbeit
meistenteils Gesellen aus den preußisch-brandenburgischen Län-
dern benötigten 8 ). Osterreich hatte also keinen Grund, sich für
die von Preußen angestrebte Vereinbarung einzusetzen, wenn
schon der Kaiser als Reichsoberhaupt sich genötigt sah, dem
allgemeinen Verlangen nach einem Reichsgesetz Rechnung zu
tragen. Unterm 25. Dezember 1725 wissen die preußischen Ge-
sandten bereits aus Wien zu berichten, daß daselbst eine Kom-
mission „zur Abstellung derer Handwercks-Mißbräuche" unter
dem Vorsitz des n. ö. Referendarius v. Blömegen zusammen-
getreten sei 4 ) und am 16. Jänner 1726 fügt Graeve hinzu, es
habe den Anschein, als sei man in Wien gesonnen, „nunmehro
mit Ernst zum Werck zu thun. a5 ) In diesem Jahre brach der
große Aufstand der Augsburger Schuhknechte aus und die
Reichsversammlung stellte aus diesem Anlasse an den Kaiser
neuerlich das Ersuchen um Ratifizierung der früheren Reichs-
x ) „Principia Regulativa wegen Abschaffung der Handwerkermiss-
bräuche bey denen in- und ausländische Tuchmacher-Zünfften"
(30. August 1723, ebend., S. 36).
2 ) Soll wohl hier soviel bedeuten wie Manufakturen.
3 ) Bericht der preußischen Gesandten Brand und Graeve aus Wien?
(25. Dezember 1725, Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerker-
politik, a. a. 0., IL Bd., Beil. Nr. 84, S: 179 f.)
4 ) Ebend.
5 ) Ebend., Beil. Nr. 88, S. 182 f.
505] Territoriale und Reichs-Gewerbereform. 115
gutachten über die Handwerker- „Mißbräuche." x ) Das kaiserliche
Kommispionsdekret vom 12. Mai 1727 verspricht nun zwar die
Erfüllung dieser Bitte, will aber doch abwarten, ob vor der
Publikation nicht noch von irgend einer Seite etwas hinzuzufügen
wäre, nachdem seit 1672 „die Zeiten und Weltsachen sich viel
und merklich geändert 2 )." Ein neuerliches Kommissionsdekret
vom 23. Oktober 1730 kündigt endlich die bedingungslose Publi-
^ierung der Reichsgutachten an — falls nicht in nächster Zeit
«in Abänderungsvorschlag ergehen sollte 8 ). Noch immer wird
also die Möglichkeit einer Verzögerung offen gelassen. Aus jenen
Tagen stammt ein Bericht der preußischen Gesandten am Wiener
Hofe, wonach dem Fortgang der Verhandlungen insbesondere
«der Umstand hinderlich sei, daß die Referenten in Handwerker-
sachen sich seit einigen Monaten in Triest befänden, um dort
die österreichischen Handelsinteressen wahrzunehmen 4 ). Wenn
nichts anderes, so ist dieses Detail geeignet, den Nachweis zu
liefern, daß der „Zauderpolitik" Österreichs keine andere Ur-
sache zu Grunde lag, als der bedenklichen Hast der preußischen
Diplomatie.
Immerhin begannen am 19. Februar 1731 die Verhandlungen
auf dem Regensburger Reichstag 5 ). Am 22. Juni 1731 kam das
Reichsgutachten zu stände 6 ), am 16. August 1731 erfolgte die
Intimation an Kur-Mainz und die andern ausschreibenden
Fürsten 7 ) und am 4. September desselben Jahres die kaiserliche
Ratifikation 8 ).
x ) 4. Oktober 1726, Pachner, a. a. 0., IV. T., S. 204 ff.
Außer dem Reichsgutachten vom 3. März 1672 und dem Reich san suchen
■vom 18. Dezember 1680 war noch am 16. März 1707 eine Wieder-
holung des letztern ergangen, u. zw. anläßlich des Vorgehens der großen
Hüttenstube der Steinmetzen zu Straßburg, also einer außerhalb des
Reichs domizilierenden Körperschaft, welche sich die Gerichtsbarkeit
über die Steinmetzen-Meister Und Gesellen des römischen Reiches an-
gemaßt hatte (ebend.).
2 ) Ebend., S. 263 ff.
3 ) Ebend., S. 333.
4 ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handelspolitik, a. a. O.,
II. Bd., S. 61 (Bericht vom 2. September 1730).
5 ) Ebend., S. 63, nach einem Bericht des preußischen Gesandten
in Regensburg, v. Broich.
6 ) Pachner, a. a. 0., IV. T., S. 347 ff.
7 ) Ebend., S. 373 ff . ; daselbst der Wortlaut der Verordnung.
8 ) Ebend., S. 354 f.
33*
116 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [50S
Die Verordnung wiederholt im allgemeinen nur die 15 Punkte
•des Reichsgutachtens von 1672, erweitert sie jedoch durch einzelne
verschärfte Bestimmungen insbesondere gegen die Gesellen und
ihr Verbindungsrecht. Zu dem Verbot des Gesellenauftreibens
kam nun die Verstärkung der meisterlichen Kontrolle durch
Einführung der Wohlverhaltungszeugnisse, und die Verfügung,,
daß die Originale des Geburts- und Lehrbriefs bis zur Erlangung
der Meisterschaft in der Meisterlade des Aufdingungsortes hinter-
legt und nur von Fall zu Fall Abschriften davon gegen Ent-
richtung einer Schreibgebühr *) ausgestellt werden sollten (P. 2) r
bedeutete für die Freizügigkeit des Gesellen wie für die Auf-
rechterhaltung seines interlokalen Zusammenhangs mit den Hand-
werksgenossen ein empfindliches Hemmnis. Indem man so vor
allem die verpönte Gesellengerichtsbarkeit durch das obligatorische
Aufsichtsrecht der Meister zu verdrängen suchte, stellte man
zugleich die so außerordentlich erhöhte Gewerbetätigkeit gegen-
über den „Missbräuchen" der Gesellen noch nachdrücklicher, als
dies im vorhergegangenen Reichsgutachten geschehen war 2 ), in
den Schutz der Behörden (P. 3, 4, 5, 7, 9, 11, 13), hob die alten
Gesellenvorrechte sowie jene Gebräuche, die den fortwährenden
Kontakt der Gesellen untereinander vermittelten 8 ), auf und kün-
digte nun auch gegen eventuelle Gesellenaufstände die schärfsten
Repressalien an (P. 9; 6, 7, 8, 9, 10; 5). Die wenigen Bestim-
mungen, die sich auf die Meisterzünfte beziehen, verfügen die
Aufhebung des Unterschieds zwischen Haupt- und Nebenladen,
die Abschaffung allzugroßer Aufding-, Lehr-, Lossprech- und
Meisterkosten, sowie unnützer Meisterstücke und anderer „Miss-
bräuche" (P. 6, 7, 12, 13), durch welche den Kommerzien Ab-
bruch getan würde. Hieher gehörten insbesondere die Vorrechte
x ) Diese betrug 30 bis (höchstens) 40 kr., die Gebühr für die
Ausstellung eines neuen Attestes beim Wechsel des Arbeitsorts (höch-
stens) 15 kr.
*) Neu waren insbesondere die ausdrücklichen Verbote des „Auf-
stehens 4 * aus der Arbeit, der großen „Geschenke** — in Hinkunft
sollten höchstens „Geschenke" im Werte von 15 — 20 kr. Rh. gereicht
werden — und des Betteins (P. 5, 7), sowie die Bestimmung, daß
Unterbrechung der Arbeitszeit durch irgend einen Dienst nicht hand-
werksuntauglich machen solle (P. 9).
8 ) Neu hinzugekommen waren: die Aufhebung des Unterschieds-
zwischen „geschenkten" und „ungeschenkten" Handwerkern (P. 7), die
Einziehung oder Restringierung etwa ausgestellter Gesellenbriefe (P. 10) r
das Verbot der Bruderschaftssiegel — da die Gesellen ja ohnedies keine
Bruderschaft bilden dürften — (P. 6) und des Degentragens (P. 9).
507] Territoriale und Reichs-Gewerbereform. 117
der Meisterangehörigen, die „geschlossenen" Zünfte, das Fern-
halten tüchtiger Meister vom Handwerk und die Festsetzung
eines Maximums an Arbeitskräften (P. 13, Abs. 7). Bei Dawider-
handeln droht die Verordnung mit Aufhebung der Zünfte 1 ).
Der Reichsschluß sollte den Meistern und Gesellen publiziert,
jährlich vorgelesen, auf den Zunftstuben oder Herbergen an-
geschlagen, besonders aber den Lehrjungen bei der Lossprechung
unter Gelöbnis vorgehalten werden (P. 4). Endlich sollte auf
gleichmäßige Durchführung des Gesetzes, sowie auf Ausarbeitung
einer „billig-mäßig-beständigen Tax- und Gesindeordnung" Bedacht
genommen werden (P. 15). Der frühere Schlußpassus der Ver-
ordnung, wonach den Reichsständen kraft ihrer Regalien alle
landesherrliche Gewalt, daher auch die Möglichkeit einer Ände-
rung vorbehalten blieb, wurde nunmehr der prinzipiellen Ein-
gangsbestimmung des Reichsgutachtens, welche alle Zusammen-
künfte, Artikel und Gebräuche der Handwerker von der obrig-
keitlichen Bewilligung abhängig machte, als staatsrechtliche
Klausel angefügt (P. 1).
So war nun zwar ein einheitliches Gesetz erzielt worden,
aber noch lange kein einheitliches Vorgehen in der Handwerker-
frage. Hatte die Durchführung von Reichsgesetzen schon seit
jeher an der mangelhaften Publikation gelitten 2 ), so war diese
nun, wo zu den staatsrechtlichen Gegensätzen der staatswirt-
schaftliche Interessenkampf hinzutrat, noch weit schwieriger
geworden 3 ). Von allen Seiten erhoben sich Bedenken wegen der
Form der Publikation, unter allerlei staatsrechtlichen Ver-
wahrungen suchte man der Reihe nach das Risiko der ersten
Publikation von sich abzuwälzen. Unterm 16. Februar 1732
berichten die preußischen Gesandten aus Wien, daß es mit der
Verkündigung des Edikts in Osterreich, Böhmen, Mähren und
Schlesien noch gute Weile habe 4 ). In Böhmen war schon
am 16. November 1731 ein allgemeines Handwerkerpatent er-:
*) Auch diese Bestimmung war neu.
2 ) Rieh. Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte,
2. A., Lpz. 1894, S. 634.
8 ) yj Vielleicht ist kein Gesetz in Deutschland, welches in der
Ausführung mehr Hindernisse gefunden und noch findet, als das bekannte
Reich sgesetz wegen der Abstellung der Misbräuche bey den Zünften und
Handwerkern" (Sieb er, a. a, 0., S. 2).
4 ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0.,
II. Bd., S. 65.
1 18 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [508
schienen 1 ), dessen Bestimmungen aber nicht eingehalten wurden.
Die Publikation verzögerte sich nun auch im ober- und nieder-
sächsischen und demzufolge auch im fränkischen Kreise 2 ). Der
sächsische Vertreter in Wien (v. Lautensack) erklärte, daß man
in Sachsen die Publikation nicht annehmen werde, es geschähe
denn gleichzeitig mit Böhmen und Österreich. Eine ähnliche
Erklärung ließ auch die preußische Regierung durch ihre
Gesandten in Wien, Dresden und Regensburg abgeben 8 ). Zugleich
suchte sie Sachsen, Braunschweig, Anhalt und Hessen für eine
gemeinsame Publikation am 10. März zu gewinnen. Allein Sachsen
lehnte ab 4 ). Andererseits weigerte sich Preußen, die Form des
kaiserlichen Edikts zu acceptieren, da „bekandter massen Ihro
Kay serlicher Majestät die Potestas Legislatoria im Teutschen
Reich nicht vor Haubts, noch allein zustehet, sondern der
Churfürsten, Fürsten und Stände Concurrentz und Bewilligung
dazu erfordert wird". 5 ) Osterreich wieder erklärte, „dass von der
Reichskanzlei keine Intimationes an die Böhmische und Oster-
reichische Kanzlei ergangen, noch ergehen würden, u. zw. aus
der Ursache, weil noch anno 1711 zu Fürth a. M. zwischen
Kur-Mainz und den Böhmischen und Osterreichischen Bevoll-
mächtigten ein Vergleich geschlossen sei, infolge dessen von der
Kaiserlichen Reichshof-Kanzlei keine Insinuanda anzunehmen,
sondern man wohl gar die erlassenden Ausschreiben uneröffnet
zurückgeben wolle." 6 ) Dagegen erließ der Kaiser am 14. April
1732 auf Anregung der Stadt Frankfurt a. M. neuerlich ein
Kommissionsdekret an das Reich, womit an die bereits unterm
16. August 1731 erfolgte Intimation des Reichsgutachtens er-
innert und dessen Ausführung gefordert wurde 7 ). Allein der
1. Mai 1732, der als gemeinschaftlicher Termin für die Publikation
1 ) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. 0., S. 54.
2 ) Sieber, a. a. O., S. VI. f.
3 ) 26. Februar 1732 (Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerker-
politik, a. a. 0., IL Bd., S. 66).
4 ) Ebend.
5 ) Aus dem w Vorschlag des preußischen Kabinets-Ministeriums an
das General-Direktorium betreffend die Art der Publikation des Kaiser-
lichen Edikts" (19. Februar 1732, ebend., S. 295, Beil. Nr. 222).
6 ) Erklärung des geh. Reichs-Referendarius v. Glaudorf auf eine
Anfrage des preuß. Gesandten (nach einem Bericht der preuß. Gesandten
aus Wien vom 16. Februar 1732, ebend., S. 65).
7 ) Pachner, a. a. 0., IV. T., S. 372 ff.
509] Territoriale und Reichs-Ge Werbereform. 119
festgesetzt worden war 1 ), verstrich ohne Ergebnis. Ja sogar als
Osterreich die Publikation tatsächlich, wenn auch ohne durch-
greifenden Erfolg, in einzelnen JLandesteilen vollzogen hatte,
verharrten die andern Reichsstände in ihrer zuwartenden Haltung.
Schon am 19. April 1732, ungefähr zu gleicher Zeit mit dem
letzten Kommissionsdekret, war in Osterreich eine „Allgemeine
Zunft- und Handwerks-Ordnung" 2 ) erschienen, wodurch die
Bestimmungen des ßeichsgesetzes, allerdings mit geringen Ande-
rungen und ohne Bezugnahme auf den ßeichsschluß, für Oster-
reich ob und unter der Enns in Geltung gesetzt wurden, in einer
solchen Form also, daß der Erlaß bloß als Ausführung des
kaiserlichen Beschlusses von 1724 3 ) angesehen werden konnte.
Die Publikation der Ordnung erfolgte am 13. Juni 1732 und am
21. Juni wurde dasselbe Patent auch in Innerösterreich veröffent-
licht 4 ). Nur den Zentralstellen in Tirol und in den Vorlanden wurde
(unterm 24. Mai 1732) der Wortlaut der Reichsverordnung über-
mittelt, nachdem sie das niederösterreichische Statut als auf den
schwäbischen Reichskreis nicht anwendbar bezeichnet hatten 6 ).
Die gemeinsame Publikation für das ganze Reich wurde
endlich auf den 30. September 1732 festgesetzt und an diesem
Tage auch in den meisten Orten unter dem passiven Widerstand
der Zünfte vorgenommen 6 ), die sich vielfach darauf beriefen,
daß in der Verordnung nur von Mißbräuchen bei den Hand-
werkern, nicht aber bei den Amtern, Gilden und Innungen die
Rede sei : 7 ) ein letzter Versuch, die Autonomie des bürgerlichen
Handwerks gegen die neustaatliche Auffassung der Gewerbe-
tätigkeit auszuspielen. Die Gesellen drohten in vielen Fällen mit
dem Verlassen des Arbeitsortes, wenn man das Patent genau
durchführen und die „Kundschaftszettel" fordern würde. In
x ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0.,
II. Bd., S. 65.
2 ) Ein gedrucktes Exemplar im Arch. des Min. des Innern.
5 ) S. S-. 142, Anm. 6.
4 ) Pribram, Das böhm. Kommerzkollegium und seine Tätigkeit,
a. a. O., S. 54.
5 ) Bidermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staatsidee, a. a. O.,
II. Abt., S. 70 -f., 313 f., Anm. 211.
6 ) Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0.,
II. Bd., S. 66 f.
7 ) Sieb er, a. a. 0., S. 11, bemerkt hierüber: „Obgleich diese
Äusserung irrig ist, so muß doch der, so aufrichtig seyn will, gestehen,
daß man ihnen diese Art zu schließen eben nicht verargen kann. a
120 Territoriale und Reichs-Gewerbereform. [510
Frankfurt a. O. wurde diese Drohung tatsächlich von der Mehr-
zahl der Gesellen verwirklicht, so daß die großen Bestellungen
für die Zeit der Messe (17. Oktober 1732) nicht ausgeführt
werden konnten 1 ). In Osterreich kam überdies hinzu, daß die
Verordnung seitens der Behörden sehr nachsichtig gehandhabt
wurde. In Breslau wurde, wie gerüchtweise verlautete, die Exe-
kution des Patents suspendiert 2 ) und noch am 10. Juni 1733
mußte infolge einer Beschwerde Salzburgs an die Tiroler Behör-
den der Auftrag ergehen, die Kundmachung bestimmt binnen
14 Tagen vorzunehmen 3 ).
Erst nach der allgemeinen Publikation trat der diplomatische
Erfolg Preußens deutlich zu Tage. Während seine straffe bureau-
kratische Verwaltung die strikte Durchführung des zunftfeind-
lichen Reichsschlusses ermöglichte, während es zu Gunsten einer
konsequent merkantilistischen Gewerbepolitik jeden Widerstand
gegen das Edikt mit Strenge unterdrückte 4 ), hatte die Verkün-
digung des Reichsschlusses in den benachbarten Gebieten, wie
in Sachsen und Schlesien, wo die gleichen verwaltungspolitischen
Vorbedingungen fehlten, nur den Erfolg, daß die Gesellen
massenweise das Land verließen 5 ). War dies auch nicht immer
im direkten Interesse Preußens gelegen, so bedeutete auf alle
Fälle ein Entgang an industriellen Arbeitskräften für die benach
harten Territorien eine schwere wirtschaftliche Schädigung. Daß
es übrigens Preußen bei seinen Bemühungen um ein Reichsgesetz
weniger um eine prinzipielle Entscheidung, als vielmehr um die
wirtschaftliche Bindung der übrigen Territorialmächte zu tun
gewesen war, beweist seine Verordnung vom 17. Februar 1734,
wonach Handwerksbursche aus fremden Ländern, die keine
Geburts- und Lehrbriefe noch „Kundschaften" vorlegen können,
nur ein Attest über ihr Wohlverhalten von ihrem letzten Arbeits-
orte beizubringen brauchen 6 ). Damit hatte Preußen eine der
x ) Schmoller, Umrisse und Untersuchungen, a, a. O., S. 396.
2 ) Ebend.
3 ) Bidermann, Gesch. der österr. Gesamt-Staatsidee, a. a. O.,
II. Abt., S. 71.
4 ) Schmoll er, Umrisse und Untersuchungen, a. a. 0., S. 397;
Mor. Meyer, Gesch. der preuß. Handwerkerpolitik, a. a. 0., IL Bd.,
S. 67.
5 ) Ebend., S. 68, Bericht der kurmärkischen Kammer an den
König (19. Oktober 1732).
6 ) Ebend., S. 76.
511] Territoriale und Reichs-Gewerbereform. 121
wichtigsten Bestimmungen des Reichsschlusses von 1731 für sein
eigenes Gebiet selbst außer Kraft gesetzt.
Die scheinbar einheitliche Stellungnahme der deutschen
Territorien in der Frage der Gewerbereform war gleichbedeutend
gewesen mit einer Erklärung der gegenseitigen wirtschaftlichen
Kampfbereitschaft. Nur wenige Jahre verstrichen und es ent-
brannte der schlesische Krieg, den Osterreich mit dem Verlust
seines reichsten Industrielandes bezahlte. Die erste militärisch-
politische Probe auf das merkantilistische Exempel war zu Un-
gunsten Österreichs ausgefallen. Die prinzipielle Richtung seiner
Gewerbepolitik aber war mit der Annahme des Reichsschlusses
von 1731 gleichwohl dauernd festgelegt.
y/t
c
-M-.