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Vogelstein, Hermann
Die Anfange des Talmuds
und die Entstehung des
Christentums
Die
Anfänge des Talmuds
und die
Entstehung des Christentums.
V o r t rag,
s
gehalten im Verein für jüdische beschichte und Literatur zu Königs*«
am 19. Februar 1902
Pr. Hermann Vogelstein,
Rabbiner der Synagogengenieinde Königsberg i. Pr.
Kb'nissherg i. Pr,
Ostdeutsche B u c h h a n d lnug
1902.
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in 2011 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/dieanfngedestaOOvoge
Die
Anfänge des Talmuds
und die
Entstehung des Christentums.
Vortrag,
gehalten im Verein für jüdische Geschichte und Literatur zu Königsberg
am 19. Februar 1902
Dr. Hermann Vogelstein,
Rabbiner der Synagogengemeinde Königsberg i. pr.
> /
Königsberg i. Pr.
Ostdeutsche Buchhandlung
1902.
bM
I/o
Schreiners treffliches Buch „Die jüngsten Urteile über
das Judentum" habe ich erst gestern nach Beendigung des
Druckes zu Gresicht bekommen.
S. 22 Z. 6 ist statt „wochentägliche Abendgebet" zu
lesen „tägliche Morgengebet".
Königsberg, 28. März 1902.
-Hit lebhafter Befriedigung las ich vor wenigen Wochen
ein Preisausschreiben für eine populäre Darstellung des Wesens
des Judentums In der That ist in der Gegenwart eine solche
Darstellung eine unbedingte Notwendigkeit für Juden wie für
NichtJuden. Freilich glaube ich kaum, dass die Aufgabe
bereits jetzt befriedigend gelöst werden wird. Vorläufig
haben wir noch keine wissenschaftliche systematische
Darstellung der jüdischen Theologie, und eine solche würde
die unerlässliche Grundlage einer populären Schrift sein.
Für eine systematische Theologie des Judentums aber fehlt
ups noch die Vorbedingung, nämlich eine geschichtliche
Theologie, eine Religionsgeschichte des Judentums, die ohne
Voreingenommenheit lediglich nach den Gesetzen historischer
Kritik die religiösen Anschauungen eines jeden Zeitalters
zur Darstellung bringt, und auf Grund deren dann als das
Facit das allen Zeiten gemeinsame religiöse Ideal des
Judentums erschlossen werden kann. So lange dies ge-
schichtliche Fundament uns fehlt, werden wir nur subjektive
Anschauungen, nicht aber auf wissenschaftlich völliggesicherter
Grundlage sich aufbauende Darstellungen geben können.
— 4 —
Gern bin ich daher der Aufforderung gefolgt, in einer
zusammenhängenden Reihe von Vorträgen ein Bild der
Entwicklung des Judenturas während des talmudischen
Zeitalters zu zeichnen und den Versuch zu machen, auch
weiteren Kreisen das Verständnis dieser religionsgeschichtlich
so überaus wichtigen, für die gesamte spätere Entwicklung
des Judentums grundlegenden, aber nur überaus wenig
gekannten und noch viel weniger verstandenen Zeit zu
erschliessen1). Bietet sich mir auch zuweilen Gelegenheit,
von der Kanzel herab die eine oder die andere Frage im
geschichtlichen Zusammenbange zu erörtern, so muss denn
doch die Predigt den Forderungen der Gelegenheit und ihres
erwecklichen Zwecks folgen, sie kann und soll kein wissen-
schaftlich belehrender Vortrag sein. Von der Kanzel herab
spricht der Theologe, dem die geschichtliche Betrachtung
lediglich Mittel zum Zweck ist: hier spricht der Historiker,
den keine theologische Nebenabsicht, sondern einzig und
allein das Bestreben leitet, seinen Zuhörern in grossen
Zügen ein objektives, anschauliches Bild des Werdeganges
jüdischer Religions- und Geistesgeschichte zu geben V Für
heute will ich es versuchen, Ihnen die Anfänge des Talmuds
und die Entstehung des Christentums darzustellen.
Aus dem Volk des Wortes waren die Juden das Volk
des Buches geworden*2). Die Offenbarung war zu Ende,
aber neben ihr musste doch noch ein lebendiger Geist das
Ganze weiter leiten und durchziehen, wenn es nicht erstarren
sollte; der Geist, der früher in unmittelbarer Wirksamkeit
die Männer ausrüstete und die Lehre schuf, musste als der
erhaltende und belebende weiter wirken3). Die Bibel und
") Vorausgegangen waren 4 Vorträge des Heirn Rabbiner Dr. Perles:
1. Das babylonische Exil. 2 Von der Eückkehr ans dem Exil bis zur Zeit
Alexanders d. Gr. 3. Judentum und Griechentum in ihren gegenseitigen
Beziehungen. 4. Rom und Judäa. Es folgen noch 3 Vorträge des Verf. ;
1. Die Halacha. 2. Die Haggada. 3. Talmudismus und antitalmudische
Reaktion. — 2) Wellhausen, Israel, und jüd. Gesch. 158. — 3) Geiger, Das
Judentum und seine Geschichte I (2. Aufl.) 73.
- 5 -
innerhalb derselben ganz besonders die Thora war als die
Offenbarung Gotles als die bestimmende Norm für alle
Beziehungen des Lehens unbestritten anerkannt. "War
vordem die Gottesschau der Propheten, die lebendige Offen-
barung, die dem schöpferischen religiösen Genius dieser
Männer zuteil ward, die Quelle religiöser Erweckuug und
sittlicher Belehrung und Leitung, so erblickte man von dem
Augenblick an, da dieser lebendige Quell versiegt war, in
der immer reineren Erkenntnis des offenbarten Gotteswortes
gleichsam das Fortwirken der Offenbarung, so wird die
gesamte Richtung des Judentums charakterisiert und
bestimmt durch das Bestreben, „die Wunder der Lehre zu
schauen1)." Man war durchdrungen von der Ueberzeugung,
dass die Lehre ewig und unverbrüchlich ist, dass sie das
religiöse und sittliche Ideal aller Zeiten darstellt; aber gerale
darum gelangte man ganz selbstverständlich zu der Anschau-
ung, dass ihre Befolgung und Anwendung in jeder Zeit ihre
Weiterbildung und Auslegung nicht nur gestattete, sondern
erheischte. Die geschriebene Lehre war über allen Zweifel
erhaben, aber sie war kein toter Buchstabe, ihr Geist war
lebendig, wirkte auf das Leben und wurde durch das Leben
in seiner praktischen Ausprägung bestimmt. Das ist von
Anbeginn der Grundgedanke der jüdischen Schriftgelehrsam-
keit; durch die konsequente Befolguug dieses Grundsatzes
haben die Pharisäer, haben die Lehrer des Talmuds das
Judentum vor Erstarrung, vor geist- und gemütloser Buch-
stabenknechtschaft bewahrt. Und darum ist es nicht wahr,
was noch immer so manches Mal behauptet wird, das
Judentum habe seit der Zerstörung des zweiten Tempels
vollständig still gestanden. Vielmehr ist gerade die Tradition
die Trägerin der Entwicklung, einer Entwicklung, in die
wir uns freilich ohne Voreingenommenheit hineindenken
müssen, um sie zu verstehen und zu würdigen.
Die heilige Schrift ist für das Judentum die Quelle
l) Ps. 119,18.
— 6 —
religiöser Belehrung und Erbauung für den einzelnen wie für
die Gesamtheit: das Sittengesetz wie die Gebote der äusseren
Frömmigkeit, die Formen der gottesdienstlichen und häus-
lichen Gottesverehrung sind in ihr enthalten. Sie war für
die wiedererwachte staatliche Gemeinschaft das Staatsgrund-
gesetz, und in Strafrecht und Civilrecht und Prozessordnung
hatte man — darüber bestand nicht der leiseste Zweifel —
auf die grundlegenden Bestimmungen der Bibel zurückzu-
gehen, und für ihre sinngemässe Anwendung zu sorgen.
Diese letzterwähnte Bedeutung der Bibel dürfte die Not-
wendigkeit der Tradition am leichtesten einleuchtend
erscheinen lassen. Ein Gesetzbuch, und wenn es noch so
eingehend die einzelnen Materien behandelt — und das ist
bei der Bibel keineswegs der Fall — kann unmöglich für
alle die verschiedenartigen Verwicklungen, die das Leben
schafft, Vorsorge treffen, unmöglich alle einzelnen Fälle
berücksichtigen. Sache des gelehrten Richters ist es, die
einzelnen Fälle unter die entsprechenden Bestimmungen des
Gesetzes unterzuordnen und so das Recht gleichzeitig auszu-
legen und weiterzubilden. Und wie bei uns im modernen
Staatsleben nach dieser Richtung hin den Entscheidungen
des obersten Gerichtshofs eine ganz besondere Autorität
beigemessen wird, und wie sie vorzugsweise aus diesem
Gesichtspunkte gesammelt und der Oeffentlichkeit übergeben
Averden, so mass man im Judentum den Auslegungen und Ent-
scheidungen der Schriftgelehrten hohen Wert bei, so sammelte
man diese und überlieferte sie als die miindliclie Lehre,
die als ein bedeutsamer, wenngleich nicht gleichbedeutender
Faktor des religiösen und rechtlichen Lebens neben der
schriftlichen Lehre einherging. Nur beschränkte sich die Tra-
dition keineswegs lediglich aut das juristische Gebiet, sondern
umfasste in völlig analoger Weise die äusseren Formen des
religiösen Lebens und ganz ähnlich das Sittengesetz der
Religion. Da galt es, für bestehende, vielfach in sehr alte
Zeit hinaufragende praktisch-religiöse gesetzliche Bestim-
mungen und Institutionen, deren Ursprung man nicht kannte,
eine Stütze in dem Schriitwort zu finden, oder es galt die
— 7 —
Auslegung des Textes, um die rechte Art der Ausübung
der Gebote festzustellen, oder schliesslich die Ausgleichung
thatsächlicher oder scheinbarer Widersprüche in der h. Sehr.
Immer aber hatte man die Empfindung, dass diese münd-
liche Lehre in engsten Zusammenhange und in innigster
Uebereinstimmung mit der schriftlichen Lehre stehe und
stehen müsse; man war sich bewusst, dass es derselbe Geist
ist, der sie durchwehte, und gab dieser Anschauung Ausdruck
in einem Ausspruch, den allerdings eine spätere Zeit in
Verkennung des Sinnes buchstäblich nahm, dass Gott dem
Mose am Sinai nicht nur die Thora, sondern alle rabbinischen
Erläuterungen, Auslegungen und Anwendungen, mit einem
Worte die gesamte mündliche Lehre offenbart habe1). So
lebhaft war das Bewusstsein der Continuität von schriftlicher
und mündlicher Lehre.
Und in der That reichen die Anfänge der mündlichen
Lehre zurück bis in die erste Zeit nach der Rückkehr aus
dem babylonischen Exil, und es ist verständlich, wenn man
für Normen und Vorschriften, die seit uralter Zeit in Geltung
waren, die Bezeichnung TD2 TWU? !"DSn „eine Norm, die bis auf
Moseunddiesinaitische G esetzgelmng zurückgeht2)," anwandte.
Bis in die Zeit, da das lebendige prophetische Wort noch
in Israel erklang, bis in die Zeit der Erbauung des zweiten
Tempels, also noch vor Esra, reichen die ersten dürftigen
Nachrichten über die Tradition zurück, und die Bibel
selbst berichtet uns über sie3). Später, in den Büchern Esra
und Nehemia sowie in der Chronik, finden wir wiederholt die
Bemerkung, dass dieses oder jenes ausgeführt worden sei 21fOD
„wie es geschrieben ist," gemäss der biblischen Vorschrift4).
Je entschiedener man dann die Durchführung der biblischen
Gesetzgebung anstrebte, um so mehr ergab sich die Not-
x) Jerasch. Pea 17a-,,. Meg 7 -Art 2.5. Chagig 76d .,J2 : vgl. Pesikta
Raub. 8a; Sprüche der Väter 11 u. a.: vgl. Lazarus, Ethik des Judentums
I 322. 434 u. 5. — 2J In der Mischnah: Pea 2C. Ednjoth 87. Jad. 43. —
3) Haggai 2uf. — *) Esra 32. I Chron 1640 II Chron 254 vgl. II Kön 146:
vgl. Neh. 818. II Chron 3016.
— 8 —
wendigkeit der schriftgemässen Tradition, wollte man die
Bibel nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Sinne nach
anwenden. Einige wenige Beispiele mögen das darthun.
Die heil. Schrift knüpft das Wochenfest an das
Pessachfest, in der Weise, dass sie die Feier des Wochen-
festes auf den 50. Tag nach der Darbringung des Garben-
opfers festsetzt und für dies Garbenopfer selbst den Tag
nach dem Ruhetage bestimmt. Diese Stelle forderte alsbald
die Auslegung für die religiöse Praxis heraus. Ist unter
dem Ruhetag der erste Sabbath nach dem Pessachfeste oder
der erste Tag dieses Festes zu verstehen? Die erstere Ansicht
erlangte bei den Samaritanern Geltung und wurde innerhalb
des Judentums von den Sadducäern verfochten, die letztere,
pharisäische Ansicht wurde für die religiöse Praxis im
Judentum massgebend.
Zwei andere Beispiele mögen zeigen, wie es der
Schriftgelehrsamkeit zu verdanken war, dass der Geist der
heil. Schrift nicht unter Buchstabenknechtschaft ertötet
wurde. Das Sabbathgebot wurde auf das peinlichste be-
obachtet, und man scheute eine jede, auch die geringfügigste
Verletzung desselben. Wie weit dies ging, zeigt ein Er-
eignis aus der Zeit der syrischen Religionsverfolgung.
Ein syrischer Befehlshaber griff die Flüchtlinge in einer
Höhle am Sabbath an. Doch die Angegriffenen setzten sich
nicht zur Wehr, verrammelten nicht einmal die Zugänge,
sondern Hessen sich ohne jeden Widerstand mit Weib und
Kind hinschlachten. Zweifellos entspricht dies nicht dem
Geiste des Sabbathgebotes, vielmehr ist der Beschluss der
Makkabäer, auch am Sabbath ihr Leben zu verteidigen1),
sinngemäss. Die spätere Ueberlieferung ging in dieser Hin-
sicht noch viel weiter und bezeichnete, gestützt auf das
Schriftwort, dass die Gebote dem Menschen gegeben seien,
dass er durch sie lebe,2) eine jede Arbeit zur Beseitigung
l' I Makk. 235ff — 2) Levit, 185; vgl. Ezech. 20n, 13, 21.
— 9 —
eigener oder fremder Lebensgefahr am Sabbath nicht nur
als erlaubt, sondern geradezu als geboten1).
Ein drittes charakteristisches Beispiel sei der
Rechtspflege entnommen. An zwei Stellen spricht die heil.
Schrift den unbedingt giltigen Rechtsgrundsatz, dass die
Strafe der zugefügten Beschädigung entsprechen müsse, in
der Form aus : Wenn — bei einem Streite — ein Schaden
geschehen ist, so gieb Leben um Leben, Auge um Auge,
Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss u. s. w.2)
Die Sadducäer, die sich stets sklavisch an den Buchstaben
hielten, haben, so lange sie die Macht in Händen hatten,
diese Rechtsbestimmung buchstäblich durchzuführen gesucht.
Die Männer der Tradition hingegen haben von Anfang an
behauptet, dass hier nicht die buchstäbliche, sondern die
sinngemässe Befolgung d. h. die Verhängung einer der
Schwere des Vergehens entsprechenden Strafe gefordert
werde. Und der Tag, an dem diese traditionelle, dem Geiste
der Bibel entsprechende mildere Handhabung der Rechts-
pflege über die drakonische sadducäische Auffassung endgiltig
den Sieg davontrug, ward als festlicher Gedenktag be-
gangen.3)
Wenn wir uns solche Beispiele vor Augen halten,
werden wir die Bedeutung der Tradition, die Lehre und
Leben in Einklang zu bringen wusste, vollauf würdigen
und den Ausspruch, der uns als der älteste der gesamten
Traditionswissenschaft überliefert wird, verstehen: Seid
vorsichtig im Recht, stellt viele Schüler auf und macht
einen Zaun um die Lehre4). Denn ich würde ein völlig
falsches Bild entwerfen, wollte ich nur die Erleichterungen,
welche die Tradition geschaffen hat, darstellen. Man hat
vielmehr in bewusster Absicht Verordnungen, die man als
rabbinische bezeichnet, geschaffen, lediglich oder doch vor-
*) Joma 85b Synhedr. 74b. Es heisst da u. a. Der Sabbath ist euch
übergeben, nicht ihr]dem Sabbath (vgl. Marc. 227.) — 2) Exod 2023ff. vgl. Levit.
24]9f. — 3) s. Megillath Tanith. — 4) Sprüche der Väter lv
— 10 -
nehmlich zu dem Zwecke, um einer Uebertretung der
biblischen Bestimmungen vorzubeugen. So ward das ganze
Leben und alle Verhältnisse des Lebens durch religiöse
Satzungen geregelt, deren Erfüllung dem Volke ein religiöses
Herzensbedürfnis war, so ward aber auch das Verlangen
nach Kenntnis und religiöser Bildung in allen Schichten
geweckt. !)
In dieser Weise vollzog sich die älteste Entwicklung
der Tradition, das sind die Anfänge des Talmuds.
Von Fall zu Fall suchte man den Sinn des Schriftworts
zu ermitteln und es anzuwenden: allgemein giltige Regeln
und Normen für die Schriftauslegung gab es noch nicht;
die Gefahr einer gewissen Willkürlichkeit lag nahe und
hemmte allgemach die weitere Entwicklung.
Da trat unter der Regierung des Herodes in den
letzten Jahrzehnten vor der gewöhnlichen Zeitrechnung als
Reformator der Ueberlieferungswissenschaft der Babylonier
Hillel auf, der der gesamten religiösen Entwicklung des
Judentums den Stempel seines Geistes aufdrückte und den
daium der Talmud mit vollem Rechte Esra an die Seite
stellt.-) Durch die Aufstellung seiner Deutungsregeln hat
a) Ganz falsch ist es, wenn Schurer [Gesch. d. jüd. Volkes im Zeit-
alter Jesu Christi 3, Ann". II 306] sagt: „Die ganze Frömmigkeit des Israeliten
ging darin auf, das von Gott ihm gegebene Gesetz mit Furcht und Zittern,
mit dem Eifer eines geängsteten Gewissens in allen seinen Einzelheiten zu
beobachten," oder wenn er |das. S. 465] den „Glauben an die göttliche
Vergeltung, und zwar an eine Vergeltung im allerstrengsten juristischem
Sinne" als das Motiv hinstellt, aus welchem der Enthusiasmus für das Gesetz
entsprang. Das Wesen der jüdischen Frömmigkeit und die Hoheit der
religiösen Anschauung erhellt vielmehr aus Sätzen wie; „Grösser ist
derjenige, der die Gebote aus Liebe [zu Gott] erfüllt, als derjenige, der sie
aus Furcht beobachtet" [Sota 31b] oder — einer der ältesten Aussprüche
der Traditon — „Seid nicht wie Knechte, die ihrem Herrn nur aus Rücksicht
auf Lohn dienen, sondern gleicht den Knechten, die ihrem Herrn ohne
Rücksicht auf Lohn dienen, und die Furcht Gottes leite euch" [Sprüche
der Väter 13] oder „Der Lohn einer guten That ist die gute That selbst.'
[Das. 4J. — - Sukka 20a, Tosefta Sota 133.
- 11 -
er die Ueberlieferung in ruhige, sichere Bahnen gelenkt.
Aber nicht nur als eine Grösse auf wissenschaftlichem Ge-
biete, sundern fast noch mehr um seiner Charaktereigen-
schaften willen verdient er unsere Bewunderung. Hillel
kann in jeder Hinsicht — in Bezug auf die Wertschätzung
der Tradition und strengste Wahiung der äusseren Formen
der Religion wie hinsichtlich der Verinnerlichung des reli-
giösen Gefühls — als das Prototyp des Judentums zur
Zeit der Entstehung des Christentums gelten; und es ist
bezeichnend, dass manche der schönsten Aussprüche, die
das Neue Testament überliefert, zumteil wörtlich mit Aus-
sprüchen Hillels übereinstimmen. Sein Wahlspruch war!
Sei von den Schülern Ahrons. Liebe den Frieden und suche
den Frieden, liebe die Menschen und bringe sie der Gottes-
lehre näher.1) Seine hohe ethische Auffassung des Juden-
tums bekundet er in der Antwort, in der er einem Proselyten
das Wesen des Judentums in einem Satze darlegt: Was
dir verhasst ist, das thu auch deinem Nächsten nicht. Das
ist die ganze Lehre. Alles andere ist nur Erklärung. Nun
gehe hin und leine.2) Dieser Satz ist natürlich nichts
anderes als die praktische Durchführung des biblischen
Gebotes: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst3). Sprüch-
wörtlich war seine Sanftmut und Bescheidenheit4). Sein
Ausspruch lautet: Meine Erniedrigung ist meine Erhöhung,
und meine Erhöhung ist meine Erniedrigung5). Aber diese
Sanftmut ist mit Thatkraft verbunden. Das beweist sein
Wort: Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich?
doch bin ich allein für mich, was bin ich dann ? Und wenn
nicht jetzt, wann dann?0) Und deutlicher noch das Wort:
Wo keine Männer sind, da bemühe dich, dich als Mann
zu zeigen.7) Seine menschenfreundliche, auf tiefster Sitt-
lichkeit beruhende Gesinnung spiegelt sich wieder in dem
J) Sprüche der Väter 112. — *) Sabbath 31a: vgl. Matth. 712. Gal. 514. —
3) Levit 1918, 34. — *) Sabbath 30bf. — 5) Levit Kabb. 15, cf. Erubl3b:
vgl. Matth. 2312. Luc. llu; s. Bacher, Agada der Tannaiten I8f. — 6) Sprüche der
Väter 114. — 7) Das. 26.
■ — 12 —
Satze: Sondere dich nicht von der Gesamtheit ab, glaube
nicht an dich selbst bis zu deinem Todestage und richte
deinen Nächsten nicht, ehe du in gleiche Lage gekommen
bist.1) Bis ins Sagenhafte ausgeschmückt ist der Bericht von
seinem Lerneifer, der zum mindesten seine Gesinnung richtig
zum Ausdruck bringt2). Die religiöse Innerlichkeit seines
Wesens charakterisirt der Inhalt einer seiner Festpredigten:
Bin ich, d h. Gott, da, so ist alles da; wo ich fehle, wer ist dann
da ?3) Sein rührendes Gott vertrauen giebt sich in der Art kund,
in der er es verschmäht vorzusorgen4), und die Seinen standen
so unter dem Einfluss seiner frommen Gesinnung, dass er
das gleiche Gottvertrauen unbedingt bei ihnen voraussetzen
durfte5).
Wollen wir ein Bild des Judentums aus der Zeit, als
das Christentum entstand, und nicht etwa ein Zerrbild, wie
es gewöhnlich, — nebenbei bemerkt auch in Sudermanns Jo-
hannes, — gezeichnet wird, haben, so müssen wir von den
hervorragenden Vertretern des Judentums ausgehen. Bei
den christlichen Gelehrten, welche jene Zeit schildern, ist
teilweise wenigstens neuerdings das Bestreben anzuerkennen,
ein gerechteres Urteil über das Judentum zu gewinnen6).
Alter so weit ich übersehe, können sie sich ausnahmslos
von den eingeimpften Vorurteilen nicht völlig losmachen
und dasWirken des Stifters des Christentums scheint ihnen um
so bedeutsamer, je heller es sich von dem künstlich ver-
düsterten Bilde des Judentums abhebt7). Ich glaube,
wir Juden sind unbefangenere Beurteiler jener Zeit. Wir
haben auch nicht das leiseste Interesse daran, jene Zeit
besser darzustellen, als die nüchterne historische Forschung
erheischt. Wäre sie wirklich in religiöser Hinsicht so leer
!) Da8.2B. — -i Joma35b; vgl. Sprüche der Väter 113,25. 6. — 3)Sakka 53a.
— 4) Beza 16a. — 5) Berach. 60a vgl. Jerusch. Berach 14b. — c) Genannt seien
hier Werale, Die Anfänge unserer Religion S lOff. und Oscar Holtzinann,
Die jüd. Schriftgelehrsamkeit zur Zeit Jesu. — 7) Sehr scharf verurteilt der
— 13 —
und so veräusserlicht gewesen, wie man sie gewöhnlich
schildert, hätte wirklich alles geschmachtet unter der drüc-
kenden Last des „Gesetzes"1) wäre wirklich das Kostbarste
an der Religion, das Kostbarste an der Menschenseele, die
Innerlichkeit, das warme Empfinden erstickt und ertötet
gewesen unter äusserer Werkheiligkeit, wäre wirklich Har-
nacks ungeheuerliche Beschuldigung wahr, dass die Phari-
säer dem Volke „die Seele mordeten3)" — wir hätten keinen
Grund es zu leugnen. Wir würden es als eine Verirrung
selbst zum Christentum übergetreten greise Petersburger Professor Chwolson
[Das letzte Passamahl Christi und der Tag seines Todes S. 81.] diese
unwissenschaftliche und unwahrhafte Methode der Darstellung des Judentums:
..Statt dessen sehe ich, dass man jene welthistorische Frage mit stümper-
haften Sprachkenntnissen und völliger Unkenntnis der betreffenden Literatur
zu lösen sucht. Mit einem groben in pechschwarze Farbe und Strassen-
schmutz eingetauchten Anstreicherpinsel, malt man einen schmutzig schwarzen
Hintergrund und schreibt darunter; „das ist das Judentum zur Zeit
Christi": dann nimmt man einen anderen, feineren, in Goldlack eingetauchten
Pinsel und malt auf jenem Hintergrunde das Bild Jesu. Mit Hilfe von zwei,
manchmal auch von drei Pinseln bekommt man das Bild fertig und legt
demselben einen vornehm und gelahrt klingenden Namen bei. Statt dieses
Verfahrens möchte ich mir erlauben ein anderes rationelleres und historisch
richtigeres vorzuschlagen u. s. w." Interessant ist es, dass Holtzmann
a. a 0. das vom NT. gezeichnete Bild der Schriftgelehrten ein Karrikatur-
liild nennt, dass er die gegen die Schriftgelehrten erhobenen Beschuldigungen
eingehend als unberechtigt zurückweist, dass er offen ausspricht, dass das
ganze Auftreten Jesu an das der Schriftgelehrten erinnert, dass er
aber andererseits auf Grund geringfügiger Beweismomente, die noch
dazu falsch sind [vgl. hierzu Bück in Monatsschrift f. d. Gesch. und
Wissensch. d. Judts. Jahrg. 45 S. 108f] behauptet, Jesus habe die jüdische
Schriftgelehrsamkeit überholt [S. 28f], und am Schlüsse seiner Schrift das
Recht des überlieferten Karrikaturbildes eines Schriftgelehrten im ganzen
zugiebt. Der innere Widerspruch, an dem dieser letzte Satz leidet,
scheint ihm gar nicht zum Bewusstsein gekommen zu sein. Er kann sich
eben beim besten Willen nicht von dem eingewurzelten Vorurteil frei machen.
*) Bezeichnend ist, dass Schürer auch in der neuesten Auflage seiner
Geschichte des jüd. Volkes im Zeitalter Jesu Christi in einem eigenen
Kapitel „das Leben unter dem Gesetz" schildert [§ 28]- — 2) Harnack, Wesen
des Christentums S. 66.
— 14 —
bezeichnen, wie sie in der Entwicklung einer jeden Religion
vorkommt, eine Verirrung, die glücklich überwunden wurde.
Und wir würden mit solchem Eingeständnis dem Judentum
wahrlich nichts vergeben. Aber wenn wir noch so vor-
urteilsfrei abwägen und prüfen, ja selbst wenn wir darauf
ausgehen, die ungünstigen Momente hervorzusuchen — wir
können jenes Eingeständnis nicht aussprechen, weil es der
Wahrheit nicht entspricht. Wir sehen gerade im Gregenteil,
dass die religiöse Innerlichkeit, das reiche, vielleicht über-
reiche religiöse Gefühls- und Phantasieleben jener Tage in
Verbindung mit den äusseren Verhältnissen zu einer Fülle
von religiösen Bewegungen und Sektenbildungen geführt
hat: dass gerade durch die Tradition und die unermüdliche
Thätigkeit der Schriftgelehrten. durch den unablässigen
Hinweis auf den heiligen Gott und die von ihm gebotene
religiöse Regelung aller Lebensverhältnisse der sittliche
Grundcharakter der Religion dem Volke zum Bewusstsein
gebracht, das sittliche Urteil nicht erstickt, sondern er-
zogen, geläutert, ja befreit worden ist1). Dass man sich
auf christlicher Seite von der veralteten Vorstellung noch
immer nicht losmachen kann, das verdanken wir zum grossen
Teile der griechischen Bibelübersetzung, die das Wort
Thora, d. h. Lehre, ungenau wiedergiebt durch vo/uog, d. h.
Gesetz. Der Uebersetzungsfehler scheint geringfügig, ist
aber einer der schwerwiegendsten, den die Uebersetzungs-
literatur überhaupt kennt. Denn damit war die Handhabe
gegeben und wird bis auf den heutigen Tag weidlich aus-
genutzt, das Judentum als eine „Gesetzesreligion" als minder-
wertig hinzustellen.-) Freilich, die alten Uebersetzer hatten
l) vgl. Holtzmaim a. a. 0. 10: Wernle a. a. 0. 13. 15. Harnack a.
a. 0. 45 „In seinem Volke faud Jesus eine reiche und tiefe Ethik vor." —
-) Ein Beleg hierfür ist Wernle a. a. 0. 8, der, gestützt auf das Wort
vofiog, die jüdische Idee als „die juristisch nationale Auffassung der
Religion, wie sie nirgend* in der Welt so schroff zur Ausbildung gelangte",
definirt.
- 15 —
sich eine solche Wirkung sicher nicht träumen lassen. Doch
kehren wir zur Betrachtung jener Zeit zurück.
Tm Jahre 3 v. Chr. war der Zwingherr Judäas, der
staatsmännisch hervorragend befähigte, aber skruppellose
und den -luden in tiefster Seele verhasste König Herodes
gestorben. Sein Reich ward unter seine Söhne geteilt und
kam teils nach kurzer, teils nach etwas längerer Zeit unter
die unmittelbare Herrschaft der Römer. Römer und Hero-
dianer waren gleich verhasst. Der Freiheitsdrang des
Volkes, die Erinnerung an die ruhmreiche Zeit der Hasmonäer
war noch überaus lebendig, und die brutalen Gewaltthaten
der Machthaber, die vielfache Verletzung des religiösen
Empfindens des Volkes steigerten den Hass gegen die
Fremdherrschaft. Man sah das Unrecht und die Gewaltthat
triumphiren, man war fest durchdrungen, dass Gott einen
Umschwung herbeiführen, an Stelle des Reiches des Frevels
die Gottesherrschaft setzen, dass er den Befreier, den
Königssohn aus dem Hause Davids, den Messias senden
müsse, der dem Lande Ruhe und Frieden bringen sollte.
Die patriotischen Eiferer sammelten sich um kühne Führer,
die in sich den Beruf zur Abschüttlung der Fremdherrschaft
fühlten. Jnsurgenten scharen machten das Land unsicher.
Eine dieser Räuberbanden, wie die Römer sie nannten, nach
der anderen wurde überwältigt, die Teilnehmer ans Kreuz
geschlagen. Mit einem jeden solchen Versuch wurde die all-
gemeine Lage trüber. Viele Messiasse waren aufgetreten, der
Messias war noch nicht gekommen, aber immer sehnsüchtiger
wurde er erwartet. Und die tiefer und innerlicher angelegten
Gemüter sahen in der grausen Not der Zeit eine ernste
Mahnung zur Selbstprüfung, eine göttliche Strafe für die
Sündhaftigkeit des Volkes. Auch sie erwarteten den Messias,
der das Reich Gottes, oder wie man vielfach sagte, das
Himmelreich auf Erden, W12® HD^Ö das Reich, in dem
Gottesfurcht, Wahrheit, Recht, Frieden und Liebe herrscht,
aufrichten sollte. Waren doch die Greuel der Zeit gar
gemahnten doch Vorkommnisse wie die blut-
- 16 -
schänderische Ehe des galüäischen Fürsten Herodes Antipas
mit der seinem Bruder entführten Frau Herodias, dass das
Ende der Tage gekommen sei.
In härenem Gewände nach der Art uralter Propheten
trat ein Prediger auf, Johannes mit Namen : Thut Busse ;
denn das Himmelreich ist nahe. Und scharenweie strömten
empfängliche Gemüter ihm zu und traten durch das Tauch-
bad im Jordan, das Sinnbild der Läuterung, dem Essäer-
orden bei. Unter denen, die der Predigt des Johannes
gelauscht hatten und von ihr tief ergriffen waren, war
der Sohn eines Zimmermanns aus dem galüäischen Städtchen
Nazareth, Josua oder nach damaliger Aussprache Jesua mit
Namen, bekannt unter der griechischen Form seines Namens
Jesus, der Stifter des Christentums. Das Christentum ist
eine gewaltige Erscheinung in der Kultur- und Religions-
geschichte der Menschheit, es ist auf jüdischem Boden und
aus dem Judentum herausgewachsen ; und wer die Geschichte
des Judentums jener Zeit darstellt, darf an dieser ge-
waltigen Erscheinung nicht vorübergehen, ohne die Frage
aufzuwerfen: Wie ist das Christentum entstanden? Und
worin unterscheidet es sich vom Judentum, d. h. was ist
das Neue in ihm?
Was die erste Frage betrifft, so findet sie ihre Be-
antwortung zumteil in dem Zeitgemälde, das wir entworfen
haben. Es war eine Zeit hochgradiger religiöser Erregung
und Erwartung, eine grosse Zeit, die ein Helden- und
Märtyrergeschlecht im Schosse trägt1). Und auf die Frage
nach dem Wie der Entstehung möchte ich, obgleich
nicht mit allen Einzelheiten einverstanden, die Worte
eines christlichen Theologen aus einem kürzlich er-
schienenen, sehr beachtenswerten Buche anführen : „Das
Christentum entstand dadurch, dass eine Laie, Jesus von
Nazareth, mit einem mehr als prophetischen Selbstbe-
wusstsein auftrat und Menschen so an sich fesselte, dass
!) Wernle a. a. 0. 22.
— 17 —
sie über seinen sohmachvolleu'Tod hinaus für ihn zu leben
und zu sterben imstande waren. Jesus hat ueue Werte
geprägt, neue Gedanken in die Welt hinausgeworfen; aber
einzig seine Person gab diesen Worten und Gedanken die
Siegeskraft, mit der sie die Welt umgestalteten1) " In der
That ist es vorzugsweise die machtvolle Persönlichkeit
seines Stifters und der gewaltige Eindruck dieser Per-
sönlichkeit auf die Jünger, der uns die Entstehung des
Christentums verständlich erscheinen lässt.
Aber was hat es Neues gebracht? Hier kann selbst-
velbstverständlich nicht die spätere Entwicklung des Christen-
tums, sondern einzig und allein seine Erscheinungsform
zur Zeit seiner Entstehung in Frage kommen. Auch hier
wiederum möchte ich die Antwort, die ich zu geben suche,
an die Worte eines christlichen Theologen anknüpfen, an
eine Stelle aus dem in den letzten Jahren viel gelesenen
Buche Das Wesen des Christentums von dem
bekannten Berliner Professor Harnack. Vorweg möchte ich nur
darauf aufmerksam machen, dass Wernle neue Werte und neue
Gedanken in der Lehre Jesu findet, während Harnack der
entgegengesetzten Ansicht ist.
„Drittens, was ist denn Neues in dieser ganzen
Bewegung gewesen? War es neu, die Souveränetät
Gottes, die Souveränetät des Guten und Heiligen in
der Religion gegenüber allem anderen, was sich ein-
gedrängt hatte, aufzurichten? Was hat also Johannes,
was hat Christus selbst Neues gebracht, was nicht
schon längst verkündigt worden war? Meine Heiren!
Die Frage nach dem Neuen in der Religion ist keine
Frage, die von solchen gestellt wird, die in ihr leben.
Was kann ,.neu" gewesen sein, nachdem die Menschheit
schon so lange vor Jesus Christus gelebt und so viel
Geist und Erkenntnis erfahren hatte. Der Monotheis-
!) Das. 23.
— 18 —
mus war längst aufgerichtet, und die wenigen mög-
lichen Typen monotheistischer Frömmigkeit waren
längst hier und dort, in ganzen Schulen, ja in einem
Volke, in die Erscheinung getreten. Kann der kraft-
volle und tiefe religiöse Individualismus jenes Psalmisten
noch überboten werden, der da bekannt hat: ,,Herr,
wenn ich nur Dich habe, frage ich nicht nach Himmel
und Erde1'? Kann das Wort Micha's überboten werden:
,.Es ist Dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der
Herr von Dir fordert, nämlich Gottes Wort halten
und Liebe üben und demütig sein vor Deinem Gott"?1)
Jahrhunderte waren bereits verflossen, seitdem diese
Worte gesprochen waren. Also, „Was wollt ihr mit
eurem Christus?" wenden uns namentlich jüdische
Gelehrte ein: „er hat nichts Neues gebracht." Ich
antworte hierauf mit W e 1 1 h a u s e n : Gewiss, das, was
Jesus verkündigt, was Johannes vor ihm in seiner
Busspredigt ausgesprochen hat, das war auch bei den
Propheten, das war sogar in der jüdischen Ueber-
lieferung seiner Zeit zu finden. Selbst die Pharisäer
hatten es; aber sie hatten leider noch sehr
viel anderes daneben. Es war bei ihnen be-
schwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um
seinen Ernst gebracht durch tausend Dinge, die sie auch
für Religion hielten und so wichtig nahmen wie die Barm-
herzigkeit und das Gericht. Alles stand bei ihnen auf
einer Fläche, alles war in ein Gewebe gewoben, das Gute
und Heilige nur ein Einschlag in einen breiten irdischen
Zettel. Nun fragen Sie noch einmal : „Was war denn
das Neue?" In der monotheistischen Religion ist
diese Frage nicht am Platze. Fragen Sie vielmehr:
„War es r e i n und war es kraftvoll, was hier ver-
x) Nur nebenbei sei daranf aufmerksam gemacht, dass Harnaeks Ueber-
setzung nicht korrekt ist. Die Forderung des Propheten lautet: Eecht thur,
Liebe üben und demütig wandeln vor deinem Gott.
- 19 —
kündet wurde?" Tcli antworte: Suchen Sie in der
ganzen Religionsgeschichte des Volkes Israel, suchen Sie
in der Geschichte überhaupt, wo eine Botschaft von Gott
und vom Guten so rein und so ernst — denn Reinheit
und Ernst gehören zusammen — gewesen ist, wie wir sie
hier hören und lesen ! Die reine Quelle des Heiligen war
zwar längst erschlossen, aber Sand und Schutt war über
sie gehäuft worden und ihr Wasser war verunreinigt.
Dass nachträglich Rabbinen und Theologen dieses
Wasser destillieren, ändert, selbst wenn es gelänge,
nichts an der Sache. Nun aber brach der Quell
frisch hervor und brach sich durch Schutt und Trümmer
einen neuen Weg, durch jenen Schutt, den Priester
und Theologen aufgehäuft hatten, um den Ernst der
Religion zu ersticken; denn wie oft ist in der Ge-
schichte die Theologie nur das Mittel, um die Religion
zu beseitigen ! Und das andere war die Kraft. Phari-
säische Lehrer hatten verkündigt, im Gebot der
Gottes- und Nächstenliebe sei alles befasst; herrliche
Worte hatten sie gesprochen; sie könnten aus dem
Munde Jesu stammen! Aber was hatten sie damit aus-
gerichtet? Dass das Volk, dass vor allem ihre eigenen
Schüler den verwarfen, der mit jenen Worten Ernst
machte! Schwächlich war alles geblieben, und weil
schwächlich, darum schädlich. Worte thun es nicht,
sondern die Kraft der Persönlichkeit, die hinter ihnen
steht. Er aber predigte gewalti g, „nicht wie die
Schriftgelehrten und Pharisäer": das war der Eindruck,
den seine Jünger von ihm gewannen. Seine Worte
wurden ihnen zu „Worten des Lebens", zu Samen-
körnern, die aufgingen und Frucht trugen — das
war das Neue1)."
l) Harna.k, Wesen des Christentums S.
— 20 —
In der That, das Evangelium Jesu hat nichts wesentlich
Neues gebracht, konnte es nicht bringen. Denn Jesus selbst
wurzelt mit allen seinen Anschauungen in dem Boden des
Judentums, zu dem er sich in keiner Weise in direkten
Gegensatz gestellt hat1). Und über die Tiefe der religiösen
Empfindung, die Kraft und Reinheit des religiösen Ausdrucks
in Propheten und Psalmen kann nichts hinausgehen. Gewiss
enthält das Evangelium herrlich schöne Worte ; aber es ist
ein Leichtes, sie in der jüdischen Bibel, in den damals
bereits vorhandenen Aussprüchen der Tradition wiederzu-
finden2). Nur wenige Momente seien hervorgehoben.
Man hört es wer weiss wie oft, dass das Gebotder Nächsten-
liebe erst eine christliche Errungenschaft sei, man bezeichnet
wohl auch das Christentum als die Religion der Liebe.
Hören wir doch, was Jesus selbst auf die Frage erwidert
nach dem vornehmsten Gebot im Gesetz: ,,Du sollst lieben
Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer
Seele und von ganzem Gemüte. Dies ist das vornehmste
und grösste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du
sollst Deinen Nächsten lieben als dich selbst. In diesen
zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten'5)."
Die erste Stelle aus dem 5. Buche Mosis4) kehrt in dem
Bekenntnisgebet des Judentums zweimal täglich wieder, die
letztere Stelle aus dem 19. Kapitel des 3. Buches ist nach
Hilleis oben erwähntem Ausspruch der Ausdruck des Inhalts
des Judentums.
Man hört andererseits den Einwand, das Judentum als
Religion sei nicht aus seiner nationalen Beschränktheit
herausgetreten, erst das Christentum habe die universelle,
allgemein menschliche Grundlage der religiösen Idee ge-
schaffen. Diesen Einwand hat selbst Harnack nicht mehr
:) s. Chwolson a. a. 0. 87ff. — 2) Hier sei nur auf die allgemein
verständliche Zusammenstellung der jüdischen Quellen und Belegstellen zur
Bergpredigt in Friedemanns Brochure „Jüdische Moral und christlicher
Staat" hingewiesen. — 3) Matth. 223Gff. Marc. I228ff. Luc. 1027, — 4)Deuteron, 65.
— 21 —
wiederholt. Denn die universelle Tendenz in den Reden
der Propheten Israels, die das Haus Gottes als ein Bethaus
für alle Völker bezeichnen1), die verheissen, dass Gott
dereinst allen Menschen eine reine Sprache geben wird,
dass sie einmütig den Willen Gottes thun'-') — diese uni-
verselle Tendenz wird dem Judentum heutzutage von unbe-
fangenen christlichen Gelehrten nicht mehr bestritten. Wir
wollen nicht in den gleichen Fehler verfallen und darum
nicht besonders betonen, dass Jesus selbst hervorhebt, er
sei nur an Israel gesandt, dass er jene heidnische Frau,
die an ihn herantritt, anfangs zurückweist3).
Man führt ferner an, das Christentum erst habe die Er-
kenntnis von dem unendlichen Wert der einzelnen Menschen-
seele gebracht. Ich erinnere nur an Harnacks eigenes Wort,
dass der religiöse Individualismus des Psalmisten nicht über-
boten werden kann: Herr, wenn ich nur Dich habe, frage
ich nicht nach Himmel und Erde4). Ich erinnere nur noch
an Psalmenstellen wie „Meine Seele lechzt nach Gott, dem
lebendigen Gott. Wann darf ich kommen und vor Gottes
Antlitz erscheinen?5)" oder „Was bist du betrübt, meine
Seele, und unruhig in mir ? Harre auf Gott : denn noch
werde ich ihm danken, dass er meines Antlitzes Hilfe und
mein Gott ist'1)" oder „Vater und Mutter haben mich ver-
lassen, aber der Ewige nimmt mich auf7)" und zahllose
andere.
Aber mit Recht weist Harnack auf die Gebete hin, mit
Recht sagt er, dass für die höheren Religionen die Gebete das
Entscheidende sind8). Und wir verstehen den Stolz, mit dem er
auf das, .Vater unser" hinweist. In der That; ein herrlich schönes
Gebet. Nur dass wir es W o r t für Wort aus
jüdischen Quellen belegen können, nur dass
wir seine Worte vom ersten bis zum letzten in den Gebeten
l) Jes. 567. — a) Zephanja 3g und zahlreiche ähnlich^ Stellen. —
3) Mattb. 1521ff. Marc. 725ff. - 4) Ps. 7S,-. — 5) ps. 423. — G;Ps.426. 12. 435
- i) Ps. 2710. — 8) Harnack a. a. 0. 41.
der Juden wiederfinden. „Schon die Anrede „Vater" — so
sagt Harnack — zeigt die Sicherheit des Mannes, der sich in
Gott geborgen weiss, und spricht die Gewissheit der Erhörung
aus i)" tfÖttDW W3K „Unser Vater, der im Himmel ist"
— diese Anrede kehrt in vielen unserer Gebete — ich
nenne nur das wochentägliche Abendgebet — wieder. An
den heiligsten Tagen des Jahres sprechen wir unsere innigsten
Bitten aus mit der Anrede 13D7E 1TDX „unser Vater, unser
König." Die Bezeichnung der Menschen als Kinder Gottes
entstammt einer Stelle des 5. B. Mose, und im Anschluss
an diese formulirt ein Talmudlehrer die erhebende Lehre
von Gottes unvergänglicher Vaterliebe in den "Worten: Ihr
seid Kinder Gottes, mögt ihr eurem Vater gegenüber euch
kindlich verhalten oder nicht"2). Angesichts solcher That-
sachen ist es geradezu unbegreiflich und eben nur durch
das eingewurzelte Vorurteil und durch die völlige Unkenntnis
der einschlägigen jüdischen Literatur zu erklären, wenn
die Verkündigung Gottes als des himmlischen Vaters Jesu
„allereigenste That" genannt, wenn behauptet wird, dass
die etwa vorhandenen vereinzelten schwachen Anklänge an
den Gottvaterglauben im Alten Testament in dem späteren
Judentum völlig verloren gegangen seien, wenn auf Grund
einer durch nichts belegten und durch nichts belegbaren
Geschichtskonstruktion gesagt wird: „Den Gottvaterglauben
hat das Spätjudentum nicht, weder dem Namen noch der
Sache nach, es konnte sich auch gar nicht zu ihm erheben3)".
Ob wohl auf einem andern Gebiete der Wissenschaft mit
solcher Leichtfertigkeit unbewiesene Behauptungen aufgestellt
werden dürften, ohne den gerechten Unwillen der gesamten
Gelehrtenwelt zu erregen ? !
i) Das. — 2) R. MeTr in Sifre zu Deuteron 14, (§ 96). — 3) Bousset,
Jesu Predigt im Gegensatz zum Judentum S. 41- 43. Weit richtiger ist
die Anschauung Wernles a. a. 0. I2f., der übrigens die Quelle dieser
falschen Auffassung im NT sucht und darauf hinweist, dass Paulus und
Johannes „als christliche Apologeten ein Interesse daran haben, die Welt
ohne Christus recht weit von Gott wegzurücken."
— 23 -
Und damit gelangen wir zu einem weiteren Punkte.
Ein alter Ladenhüter, der von den modernen christlichen
Theologen darum auch schon vielfach in die Rumpelkammer
geworfen ist, in die er gehört, ist die Behauptung, das
Judentum lehre einen Gott des Zornes und der Rache, einen
Gott, dessen Wesen charakterisirt sei durch die Worte
„Auge um Auge, Zahn um Zahn u. s. w.1)" Ich habe oben
bereits dieses Satzes Erwähnung gethan als eines unzweifelhaft
EU allen Zeiten giltigen Rechtsgrundsatzes zwischen Mensch
und Mensch, dass die Strafe im rechten Verhältnis zu dem
Vergehen stehen müsse. Auf das Verhältnis Gottes zum
Menschen wird dieser Satz in der ganzen Bibel und Tradition
nicht ein einzigesmal angewendet. Und was den Zorn
Gottes betrifft, so möchte ich nur auf eine Bemerkung des
Ihnen allen bekannten Prof. Cornill hinweisen2).
„Der Zorn Gottes ist eben nichts anderes, als
die Reaction der göttlichen Heiligkeit gegen alles
Unheilige und Widergöttliche: „denn," wie es in einer
Psalmenstelle heisst, ,, Du bist nicht ein Gott, dem gott-
loses Wesen gefiele, der Böse kann nicht bleiben vor
Dir" (Ps. 5,5). Ein Gott, dem dieser Zug fehlte, wäre
wie ein Mensch, dem das Gewissen fehlt, und um die
wahre Meinung des Alten Testamentes über das Ver-
hältnis dieses einen Zuges zu dem Gesamtbilde
Gottes zu erfahren, brauchen wir nur an das Psalmen-
wort zu denken: „Denn einen Augenblick währet sein
Zorn und ein Leben lang seine Gnade ; wo Abends
Weinen einkehrt, da ist am nächsten Morgen Jubel"
(Ps. 30,6). Diejenigen, die sich so ereifern über den
zornigen Judengott, wissen nicht oder vergessen, dass
der Zorn Gottes nicht nur eine jüdische, sondern
ebenso auch eine christliche Lehre ist, so dass also
— J) Nicht recht klar ist es, ob Harnack . 48 sich diese falsche
Anschauung zu eigen macht. — 2) Cornill, die Psalmen in der Weltliteratur.
Im Jahrbmh für jüd. Gesch. und Literatur 1898, S. 42.
— 24 —
alle Nackenschläge und Fusstritte, welche um des-
willen dem Alten Testamente versetzt werden, auch
das Neue treffen."
Wer sich über die jüdische Anschauung Klarheit ver-
schaffen will, der lese den biblischen Bericht über die
Offenbarung Gottes an den Propheten Elia, dass nicht in
der verzehrenden Allgewalt, sondern in dem sanften Säuseln
das wahre Wesen Gottes zu erkennen ist1).
Aber, so wird gesagt, das alles zugegeben: Die
Pharisäer hatten aber leider noch vieles andere. Der Be-
weis wird nicht erbracht, ja nicht einmal versucht. Der
Satz gilt nun einmal als unumstössliches Axiom. Und doch
müssen selbst die Gegner der pharisäischen Richtung zu-
gestehen, dass der Kultus im Judentum gänzlich zu-
rücktritt hinter der Moral, dass der Ausdruck „Gottes
Willen thun" sich niemals auf die äussere Form der Gottes-
verehrung sondern auf die Regelung des täglichen Lebens,
auf die Moral, bezieht2). Aber ganz abgesehen davon, ist
dieserEinwand ein völlig unwissenschaft-
licher. Wollten wir in den gleichen Fehler verfallen,
wir könnten ihn ebenso gegen das Christentum erheben3).
Das Gleiche gilt von Harnacks Bemerkung, ein Beweis
für die Minderwertigkeit der pharisäischen Lehre sei, dass die
Schüler jener Lehrer den verwarfen, der die reinen Lehren
in die That umsetzen wollte. Gesetzt auch, die Behauptung
wäre richtig, was sie nicht ist — welche Sophisterei
liegt in diesen Worten! Dürfen wir etwa die Lehre
Jesu deshalb als minderwertig bezeichnen, weil später die
fanatischen Kreuzfahrerhorden in Frankreich und Deutschland
die Juden nur um ihrer Religion willen scharenweise gemordet
haben? Oder wegen der ansäglichen Gräuel der Inquisition?
Oder wegen der Schmach der Hexenprozesse?!
i) I Kön. 199ff. — a) s. z. B. Wenfie, a. a. 0. 13 ff. — y) vgl.
hierzu die treffliche Besprechung des Harnacksehen Buches von Back in der
Monatssckr. f. Gesch. und Wisseusch. d. Judentums 45. Jahrg., hes. S. 106f.
— 25 —
Und nun noch ein letztes Wort zu den Harnaokschen
Ausführungen: Was soll man dazu sagen, wenn Harnack
die religiösen Aussprüche der jüdischen Bibel, des Alten
Testaments, als unübertrefflich hinstellt und auf derselben
Seite ausspricht, dass in der ganzen Religionsgeschichte
Israels die Botschaft von Gott und vom Guten nirgend so
rein und so ernst zu finden sei wie im Evangelium Jesu!
Der Widerspruch ist zu grell, als dass es lohnte darauf ein-
zugehen. Wir wollen den herrlich schönen Stellen im
Neuen Testament nichts von ihrer Bedeutung rauben, aber
wir stellen nur mit Harnack fest, dass ein Hinausgehen
über die Religion Israels nicht zu finden ist.
Wie aber erklärt sich die Entstehung dieser neuen
Religion? Mit schwärmerischer Verehrung hingen die Jünger
an ihrem Meister, den ein ungewöhnliches Selbstbewusstsein
und gleichzeitig ein seltenes Mass von Demut und Be-
scheidenheit erfüllte. Nicht wie die anderen Messiasse jener
Tage wollte er mit dem Schwerte in der Hand das Gottes-
reich herbeiführen, sondern an die Armen und Elenden, an
die Sünder wandte er sich, diese für das Reich Gottes vor-
zubereiten und aus Sünde zu Gott emporzuziehen. Aber der
Messiasbegriff hatte in jener Zeit einen stark ausgeprägten
politischen Charakter, jeder Messias galt als Prätendent für
die jüdische Königskrone, als Rebell gegen Rom. Der
regierenden sadducäischen Hohenpriesterpartei, die bis in das
letzte Jahrzehnt vor der Zerstörung des Tempels die Macht
im Synhedrium besass, war ein jeder, der als Messias auf-
trat und anerkannt wurde, unbequem. Gern benutzte man
die erste wirkliche oder scheinbare Gelegenheit, die sich
bot, sich einer so unbequemen Persönlichkeit zu entledigen.
Die Berichte über den Prozess Jesu sind nicht historisch
getreu. Nur das lassen sie erkennen, dass der Prozess sehr
summarisch unter Verletzung der nach pharisäischen Grund-
sätzen dem Angeklagten zustehenden Rechtsmittel geführt
wurde, ein Beweis mehr dafür, dass die Sadducäer den Pro-
zess leiteten. Denn nicht die Pharisäer, die noch ein Viertel-
— 26 —
Jahrhundert später in dem Prozesse des Paulus für den
Apostel eintraten1), sondern die Sadducäer waren die Gegner
Jesu2). Den römischen Statthalter Pontius Pilatus, dem
das Todesurteil zur Bestätigung vorgelegt werden musste,
interessirte lediglich die Frage, ob der Verurteilte sich
wirklich für den Messias, den König der Juden hielt, also
ein Empörer war. Die Antwort Jesu „Du sagst es" nahm
er als Bekräftigung, und so Hess er durch seine römischen
Kriegsknechte das Todesurteil nach römischer Art durch
Kreuzigung vollstrecken.
Entsetzt waren die Jünger auseinandergestoben. Aber
so unbegrenzt war ihre Verehrung für den Meister, dass,
als sie den ersten Schrecken überwunden hatten, nicht wie
sonst das unglückliche Ende eines messianischen Präten-
denten ein Beweis gegen seine Messianität war. Xach wie
vor hielten sie ihn für den Messias, glaubten an seine
Wiederkunft, und bald bildete sich, gestützt besonders auf
das 53. Kapitel des Jesaja die Ueberzeugung heraus, dass
gerade Leiden und Tod das Los des Messias sein müsse.
Um seinen messianischen Beruf zu erfüllen, habe Jesus um
der Menschen willen das alles freudig auf sich genommen;
jetzt gelte es sich auf seine Wiederkunft vorzubereiten.
Dieser Glaube einte die Jünger, ihn verbreiteten sie weiter.
Manche schlössen sich der kleinen Gemeinde an, sämtlich
ebenso wie die Jünger selbst ohne mit dem Judentum zu
brechen. Die älteste Christengemeinde kann man höchstens
als eine Sekte innerhalb des Judentums bezeichnen: in allem,
auch in der Beobachtung des Ceremonialgesetzes völlig mit
der grossen Mehrzahl der Juden übereinstimmend, nur durch
den Glauben, dass der Messias, den die Juden erwarteten,
schon gekommen sei, sich von ihnen unterscheidend. Auf die
innere Entwicklung des Christentums näher einzugehen,
ist hier nicht der Ort. Zwei Momente sind es gewesen, die
l) Apostelgesch. o34ff - 2) s. Chwolson, a. a. 0. S. 86ff.
— 27 —
die Losreissung dieser jüdischen Sekte von dem Gesamt-
körpei des Judentums bewirkt haben. Den Heiden das
Evangelium zu bringen zog der Apostel Paulus aus, und
um die Heiden zu gewinnen, bat er im Gegensatz zu seinem
Meister, der erklärt hatte, dass auch nicht ein Jota des
Gesetzes unerfüllt bleiben sollte, das gesamte Ceremonial-
gesetz für unverbindlich erklärt. Damit war nicht nur die
Ueberlieferung, sondern auch die Lehre selbst beseitigt,
denn die Logik der Thatsachen drängte Paulus dazu, das
gesamte Gesetz als störend hinzustellen. Das war ein
Schritt, der eine tiefe Kluft zwischen den Anhängern Jesu
und den Juden hervorrufen, der diese Sekte allmählich vom
Judentum losreissen musste.
Und das zweite Moment ist das Aufhören des Opfer-
kultus seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n. Chr.
So wenig das Judentum seinem Wesen nach mit dem Opfer-
kultus eng verknüpft ist, so sehr auch seit Esra die gesamte
Entwicklung derart war, dass das Aufhören des Opfers
ohne wesentliche Erschütterung überwunden werden konnte,
so verstehen wir doch psychologisch die Frage, die damals
wie nach der Zerstörung des ersten Tempels sich vielen
aufdrängte: Wie vermögen wir unsere Sünden zu tilgen
ohne Opfer? Ihnen hielt man von christlicher Seite die
paulinische Lehre entgegen, dass Jesus gestorben sei, um
alle diejenigen, die an ihn glauben, eben durch seinen Tod
von Sünde zu erlösen. So mache sein Tod alle Opfer
überflüssig.
So trennten sich die Wege. Und der äussere Umstand,
dass nach der Zerstörung Jerusalems alle Juden im römi-
schen Reiche eine besondere Kopfsteuer zu zahlen hatten,
diente natürlich nur dazu, diejenigen, die sich innerlich
allmählich dem Judentum entfremdet hatten, von ihm ganz
loszureissen und die Heiden, die für die neue Lehre ge-
wonnen waren, gar nicht erst in Beziehung mit der Mutter-
religion treten zu lassen.
Dem Christentum gebührt unstreitig das Verdienst,
— 28 —
den Glauben an den einen Gott der Heidenwelt vermittelt
und dadurch die Religions- und Kulturgeschichte der späteren
Jahrhunderte bestimmt zu haben. In den Kirchen erklingen
in allen Sprachen die Psalmen Israels, die Worte der Pro-
pheten ertönen von allen Kanzeln, und Moral und Staatsgesetz
baut sich in allen Kulturländern auf den Zehngeboten auf.
Auf die innere Entwicklung des Judentums hat die
allmähliche Loslösung der Tochterreligion keinen nennens-
werten Einfluss ausgeübt ; für sie ist die geradlinige fort-
schreitende talmudische Entwicklung bestimmend geblieben.
Druck von Julius Jacoby, Königsberg i Pr.
Von demselben Verfasser igt erschienen:
Die Landwirtschaft in Palästina
zur Zeit der Misnäh.
Teil I. Der Getreidebau,
von Hermann V o g e I s t e i n.
Berlin 1894. M. 2,50
Geschichte der Juden in Rom.
Von Hermann Vogelstein nnd Paul Rieger.
2. Bände. Berlin 1895/0. Äff. 15.
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PLEASE DO NOT REMOVE
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UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY
535
V6
Vogelstein, Hermann
Die Anfänge des Talmuds
und die Entstehung des
Christentums