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Full text of "Die Anfänge des Talmuds und die Entstehung des Christentums"

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■ 


Vogelstein,  Hermann 

Die  Anfange  des  Talmuds 
und  die  Entstehung  des 
Christentums 


Die 


Anfänge  des  Talmuds 


und  die 


Entstehung  des  Christentums. 


V  o  r t  rag, 


s 

gehalten  im  Verein  für  jüdische  beschichte    und    Literatur    zu    Königs*« 
am  19.  Februar  1902 


Pr.  Hermann  Vogelstein, 

Rabbiner   der    Synagogengenieinde   Königsberg  i.   Pr. 


Kb'nissherg  i.  Pr, 

Ostdeutsche    B u  c h h  a n d lnug 

1902. 


Digitized  by  the  Internet  Agshive 

in  2011  with  funding  from 

University  of  Toronto 


http://www.archive.org/details/dieanfngedestaOOvoge 


Die 


Anfänge  des  Talmuds 


und  die 


Entstehung  des  Christentums. 


Vortrag, 


gehalten  im  Verein  für  jüdische  Geschichte    und    Literatur   zu   Königsberg 
am  19.  Februar  1902 


Dr.  Hermann  Vogelstein, 

Rabbiner   der   Synagogengemeinde   Königsberg  i.    pr. 


>  / 


Königsberg  i.  Pr. 

Ostdeutsche  Buchhandlung 

1902. 


bM 

I/o 


Schreiners  treffliches  Buch  „Die  jüngsten  Urteile  über 
das  Judentum"  habe  ich  erst  gestern  nach  Beendigung  des 
Druckes  zu  Gresicht  bekommen. 

S.  22  Z.  6  ist  statt  „wochentägliche  Abendgebet"  zu 
lesen  „tägliche  Morgengebet". 

Königsberg,  28.  März  1902. 


-Hit  lebhafter  Befriedigung  las  ich  vor  wenigen  Wochen 
ein  Preisausschreiben  für  eine  populäre  Darstellung  des  Wesens 
des  Judentums  In  der  That  ist  in  der  Gegenwart  eine  solche 
Darstellung  eine  unbedingte  Notwendigkeit  für  Juden  wie  für 
NichtJuden.  Freilich  glaube  ich  kaum,  dass  die  Aufgabe 
bereits  jetzt  befriedigend  gelöst  werden  wird.  Vorläufig 
haben  wir  noch  keine  wissenschaftliche  systematische 
Darstellung  der  jüdischen  Theologie,  und  eine  solche  würde 
die  unerlässliche  Grundlage  einer  populären  Schrift  sein. 
Für  eine  systematische  Theologie  des  Judentums  aber  fehlt 
ups  noch  die  Vorbedingung,  nämlich  eine  geschichtliche 
Theologie,  eine  Religionsgeschichte  des  Judentums,  die  ohne 
Voreingenommenheit  lediglich  nach  den  Gesetzen  historischer 
Kritik  die  religiösen  Anschauungen  eines  jeden  Zeitalters 
zur  Darstellung  bringt,  und  auf  Grund  deren  dann  als  das 
Facit  das  allen  Zeiten  gemeinsame  religiöse  Ideal  des 
Judentums  erschlossen  werden  kann.  So  lange  dies  ge- 
schichtliche Fundament  uns  fehlt,  werden  wir  nur  subjektive 
Anschauungen,  nicht  aber  auf  wissenschaftlich  völliggesicherter 
Grundlage  sich  aufbauende  Darstellungen  geben  können. 


—     4     — 

Gern  bin  ich  daher  der  Aufforderung  gefolgt,  in  einer 
zusammenhängenden  Reihe  von  Vorträgen  ein  Bild  der 
Entwicklung  des  Judenturas  während  des  talmudischen 
Zeitalters  zu  zeichnen  und  den  Versuch  zu  machen,  auch 
weiteren  Kreisen  das  Verständnis  dieser  religionsgeschichtlich 
so  überaus  wichtigen,  für  die  gesamte  spätere  Entwicklung 
des  Judentums  grundlegenden,  aber  nur  überaus  wenig 
gekannten  und  noch  viel  weniger  verstandenen  Zeit  zu 
erschliessen1).  Bietet  sich  mir  auch  zuweilen  Gelegenheit, 
von  der  Kanzel  herab  die  eine  oder  die  andere  Frage  im 
geschichtlichen  Zusammenbange  zu  erörtern,  so  muss  denn 
doch  die  Predigt  den  Forderungen  der  Gelegenheit  und  ihres 
erwecklichen  Zwecks  folgen,  sie  kann  und  soll  kein  wissen- 
schaftlich belehrender  Vortrag  sein.  Von  der  Kanzel  herab 
spricht  der  Theologe,  dem  die  geschichtliche  Betrachtung 
lediglich  Mittel  zum  Zweck  ist:  hier  spricht  der  Historiker, 
den  keine  theologische  Nebenabsicht,  sondern  einzig  und 
allein  das  Bestreben  leitet,  seinen  Zuhörern  in  grossen 
Zügen  ein  objektives,  anschauliches  Bild  des  Werdeganges 
jüdischer  Religions-  und  Geistesgeschichte  zu  geben V  Für 
heute  will  ich  es  versuchen,  Ihnen  die  Anfänge  des  Talmuds 
und  die  Entstehung  des  Christentums   darzustellen. 

Aus  dem  Volk  des  Wortes  waren  die  Juden  das  Volk 
des  Buches  geworden*2).  Die  Offenbarung  war  zu  Ende, 
aber  neben  ihr  musste  doch  noch  ein  lebendiger  Geist  das 
Ganze  weiter  leiten  und  durchziehen,  wenn  es  nicht  erstarren 
sollte;  der  Geist,  der  früher  in  unmittelbarer  Wirksamkeit 
die  Männer  ausrüstete  und  die  Lehre  schuf,  musste  als  der 
erhaltende  und  belebende  weiter   wirken3).     Die    Bibel  und 


")  Vorausgegangen  waren  4  Vorträge  des  Heirn  Rabbiner  Dr.  Perles: 
1.  Das  babylonische  Exil.  2  Von  der  Eückkehr  ans  dem  Exil  bis  zur  Zeit 
Alexanders  d.  Gr.  3.  Judentum  und  Griechentum  in  ihren  gegenseitigen 
Beziehungen.  4.  Rom  und  Judäa.  Es  folgen  noch  3  Vorträge  des  Verf. ; 
1.  Die  Halacha.  2.  Die  Haggada.  3.  Talmudismus  und  antitalmudische 
Reaktion.  —  2)  Wellhausen,  Israel,  und  jüd.  Gesch.  158.  —  3)  Geiger,  Das 
Judentum  und  seine  Geschichte  I  (2.  Aufl.)  73. 


-    5    - 

innerhalb  derselben  ganz  besonders  die  Thora  war  als  die 
Offenbarung  Gotles  als  die  bestimmende  Norm  für  alle 
Beziehungen  des  Lehens  unbestritten  anerkannt.  "War 
vordem  die  Gottesschau  der  Propheten,  die  lebendige  Offen- 
barung, die  dem  schöpferischen  religiösen  Genius  dieser 
Männer  zuteil  ward,  die  Quelle  religiöser  Erweckuug  und 
sittlicher  Belehrung  und  Leitung,  so  erblickte  man  von  dem 
Augenblick  an,  da  dieser  lebendige  Quell  versiegt  war,  in 
der  immer  reineren  Erkenntnis  des  offenbarten  Gotteswortes 
gleichsam  das  Fortwirken  der  Offenbarung,  so  wird  die 
gesamte  Richtung  des  Judentums  charakterisiert  und 
bestimmt  durch  das  Bestreben,  „die  Wunder  der  Lehre  zu 
schauen1)."  Man  war  durchdrungen  von  der  Ueberzeugung, 
dass  die  Lehre  ewig  und  unverbrüchlich  ist,  dass  sie  das 
religiöse  und  sittliche  Ideal  aller  Zeiten  darstellt;  aber  gerale 
darum  gelangte  man  ganz  selbstverständlich  zu  der  Anschau- 
ung, dass  ihre  Befolgung  und  Anwendung  in  jeder  Zeit  ihre 
Weiterbildung  und  Auslegung  nicht  nur  gestattete,  sondern 
erheischte.  Die  geschriebene  Lehre  war  über  allen  Zweifel 
erhaben,  aber  sie  war  kein  toter  Buchstabe,  ihr  Geist  war 
lebendig,  wirkte  auf  das  Leben  und  wurde  durch  das  Leben 
in  seiner  praktischen  Ausprägung  bestimmt.  Das  ist  von 
Anbeginn  der  Grundgedanke  der  jüdischen  Schriftgelehrsam- 
keit; durch  die  konsequente  Befolguug  dieses  Grundsatzes 
haben  die  Pharisäer,  haben  die  Lehrer  des  Talmuds  das 
Judentum  vor  Erstarrung,  vor  geist-  und  gemütloser  Buch- 
stabenknechtschaft bewahrt.  Und  darum  ist  es  nicht  wahr, 
was  noch  immer  so  manches  Mal  behauptet  wird,  das 
Judentum  habe  seit  der  Zerstörung  des  zweiten  Tempels 
vollständig  still  gestanden.  Vielmehr  ist  gerade  die  Tradition 
die  Trägerin  der  Entwicklung,  einer  Entwicklung,  in  die 
wir  uns  freilich  ohne  Voreingenommenheit  hineindenken 
müssen,  um  sie  zu  verstehen  und  zu  würdigen. 

Die    heilige    Schrift  ist  für  das  Judentum  die    Quelle 


l)  Ps.  119,18. 


—     6     — 

religiöser  Belehrung  und  Erbauung  für  den  einzelnen  wie  für 
die  Gesamtheit:  das  Sittengesetz  wie  die  Gebote  der  äusseren 
Frömmigkeit,  die  Formen  der  gottesdienstlichen  und  häus- 
lichen Gottesverehrung  sind  in  ihr  enthalten.  Sie  war  für 
die  wiedererwachte  staatliche  Gemeinschaft  das  Staatsgrund- 
gesetz, und  in  Strafrecht  und  Civilrecht  und  Prozessordnung 
hatte  man  —  darüber  bestand  nicht  der  leiseste  Zweifel  — 
auf  die  grundlegenden  Bestimmungen  der  Bibel  zurückzu- 
gehen, und  für  ihre  sinngemässe  Anwendung  zu  sorgen. 
Diese  letzterwähnte  Bedeutung  der  Bibel  dürfte  die  Not- 
wendigkeit der  Tradition  am  leichtesten  einleuchtend 
erscheinen  lassen.  Ein  Gesetzbuch,  und  wenn  es  noch  so 
eingehend  die  einzelnen  Materien  behandelt  —  und  das  ist 
bei  der  Bibel  keineswegs  der  Fall  —  kann  unmöglich  für 
alle  die  verschiedenartigen  Verwicklungen,  die  das  Leben 
schafft,  Vorsorge  treffen,  unmöglich  alle  einzelnen  Fälle 
berücksichtigen.  Sache  des  gelehrten  Richters  ist  es,  die 
einzelnen  Fälle  unter  die  entsprechenden  Bestimmungen  des 
Gesetzes  unterzuordnen  und  so  das  Recht  gleichzeitig  auszu- 
legen und  weiterzubilden.  Und  wie  bei  uns  im  modernen 
Staatsleben  nach  dieser  Richtung  hin  den  Entscheidungen 
des  obersten  Gerichtshofs  eine  ganz  besondere  Autorität 
beigemessen  wird,  und  wie  sie  vorzugsweise  aus  diesem 
Gesichtspunkte  gesammelt  und  der  Oeffentlichkeit  übergeben 
Averden,  so  mass  man  im  Judentum  den  Auslegungen  und  Ent- 
scheidungen der  Schriftgelehrten  hohen  Wert  bei,  so  sammelte 
man  diese  und  überlieferte  sie  als  die  miindliclie  Lehre, 
die  als  ein  bedeutsamer,  wenngleich  nicht  gleichbedeutender 
Faktor  des  religiösen  und  rechtlichen  Lebens  neben  der 
schriftlichen  Lehre  einherging.  Nur  beschränkte  sich  die  Tra- 
dition keineswegs  lediglich  aut  das  juristische  Gebiet,  sondern 
umfasste  in  völlig  analoger  Weise  die  äusseren  Formen  des 
religiösen  Lebens  und  ganz  ähnlich  das  Sittengesetz  der 
Religion.  Da  galt  es,  für  bestehende,  vielfach  in  sehr  alte 
Zeit  hinaufragende  praktisch-religiöse  gesetzliche  Bestim- 
mungen und  Institutionen,  deren  Ursprung  man  nicht  kannte, 
eine  Stütze  in  dem  Schriitwort  zu  finden,    oder  es  galt  die 


—    7     — 

Auslegung  des  Textes,  um  die  rechte  Art  der  Ausübung 
der  Gebote  festzustellen,  oder  schliesslich  die  Ausgleichung 
thatsächlicher  oder  scheinbarer  Widersprüche  in  der  h.  Sehr. 
Immer  aber  hatte  man  die  Empfindung,  dass  diese  münd- 
liche Lehre  in  engsten  Zusammenhange  und  in  innigster 
Uebereinstimmung  mit  der  schriftlichen  Lehre  stehe  und 
stehen  müsse;  man  war  sich  bewusst,  dass  es  derselbe  Geist 
ist,  der  sie  durchwehte,  und  gab  dieser  Anschauung  Ausdruck 
in  einem  Ausspruch,  den  allerdings  eine  spätere  Zeit  in 
Verkennung  des  Sinnes  buchstäblich  nahm,  dass  Gott  dem 
Mose  am  Sinai  nicht  nur  die  Thora,  sondern  alle  rabbinischen 
Erläuterungen,  Auslegungen  und  Anwendungen,  mit  einem 
Worte  die  gesamte  mündliche  Lehre  offenbart  habe1).  So 
lebhaft  war  das  Bewusstsein  der  Continuität  von  schriftlicher 
und  mündlicher  Lehre. 

Und  in  der  That  reichen  die  Anfänge  der  mündlichen 
Lehre  zurück  bis  in  die  erste  Zeit  nach  der  Rückkehr  aus 
dem  babylonischen  Exil,  und  es  ist  verständlich,  wenn  man 
für  Normen  und  Vorschriften,  die  seit  uralter  Zeit  in  Geltung 
waren,  die  Bezeichnung  TD2  TWU?  !"DSn  „eine  Norm,  die  bis  auf 
Moseunddiesinaitische  G  esetzgelmng  zurückgeht2),"  anwandte. 
Bis  in  die  Zeit,  da  das  lebendige  prophetische  Wort  noch 
in  Israel  erklang,  bis  in  die  Zeit  der  Erbauung  des  zweiten 
Tempels,  also  noch  vor  Esra,  reichen  die  ersten  dürftigen 
Nachrichten  über  die  Tradition  zurück,  und  die  Bibel 
selbst  berichtet  uns  über  sie3).  Später,  in  den  Büchern  Esra 
und  Nehemia  sowie  in  der  Chronik,  finden  wir  wiederholt  die 
Bemerkung,  dass  dieses  oder  jenes  ausgeführt  worden  sei  21fOD 
„wie  es  geschrieben  ist,"  gemäss  der  biblischen  Vorschrift4). 
Je  entschiedener  man  dann  die  Durchführung  der  biblischen 
Gesetzgebung  anstrebte,    um  so  mehr    ergab    sich  die  Not- 


x)  Jerasch.  Pea  17a-,,.  Meg  7 -Art  2.5.  Chagig  76d .,J2 :  vgl.  Pesikta 
Raub.  8a;  Sprüche  der  Väter  11  u.  a.:  vgl.  Lazarus,  Ethik  des  Judentums 
I  322.  434  u.  5.  —  2J  In  der  Mischnah:  Pea  2C.  Ednjoth  87.  Jad.  43.  — 
3)  Haggai  2uf.  —  *)  Esra  32.  I  Chron  1640  II  Chron  254  vgl.  II  Kön  146: 
vgl.  Neh.  818.  II  Chron  3016. 


—     8     — 

wendigkeit  der  schriftgemässen  Tradition,  wollte  man  die 
Bibel  nicht  nur  dem  Buchstaben,  sondern  auch  dem  Sinne  nach 
anwenden.     Einige  wenige  Beispiele  mögen  das  darthun. 

Die  heil.  Schrift  knüpft  das  Wochenfest  an  das 
Pessachfest,  in  der  Weise,  dass  sie  die  Feier  des  Wochen- 
festes auf  den  50.  Tag  nach  der  Darbringung  des  Garben- 
opfers festsetzt  und  für  dies  Garbenopfer  selbst  den  Tag 
nach  dem  Ruhetage  bestimmt.  Diese  Stelle  forderte  alsbald 
die  Auslegung  für  die  religiöse  Praxis  heraus.  Ist  unter 
dem  Ruhetag  der  erste  Sabbath  nach  dem  Pessachfeste  oder 
der  erste  Tag  dieses  Festes  zu  verstehen?  Die  erstere  Ansicht 
erlangte  bei  den  Samaritanern  Geltung  und  wurde  innerhalb 
des  Judentums  von  den  Sadducäern  verfochten,  die  letztere, 
pharisäische  Ansicht  wurde  für  die  religiöse  Praxis  im 
Judentum  massgebend. 

Zwei  andere  Beispiele  mögen  zeigen,  wie  es  der 
Schriftgelehrsamkeit  zu  verdanken  war,  dass  der  Geist  der 
heil.  Schrift  nicht  unter  Buchstabenknechtschaft  ertötet 
wurde.  Das  Sabbathgebot  wurde  auf  das  peinlichste  be- 
obachtet, und  man  scheute  eine  jede,  auch  die  geringfügigste 
Verletzung  desselben.  Wie  weit  dies  ging,  zeigt  ein  Er- 
eignis aus  der  Zeit  der  syrischen  Religionsverfolgung. 
Ein  syrischer  Befehlshaber  griff  die  Flüchtlinge  in  einer 
Höhle  am  Sabbath  an.  Doch  die  Angegriffenen  setzten  sich 
nicht  zur  Wehr,  verrammelten  nicht  einmal  die  Zugänge, 
sondern  Hessen  sich  ohne  jeden  Widerstand  mit  Weib  und 
Kind  hinschlachten.  Zweifellos  entspricht  dies  nicht  dem 
Geiste  des  Sabbathgebotes,  vielmehr  ist  der  Beschluss  der 
Makkabäer,  auch  am  Sabbath  ihr  Leben  zu  verteidigen1), 
sinngemäss.  Die  spätere  Ueberlieferung  ging  in  dieser  Hin- 
sicht noch  viel  weiter  und  bezeichnete,  gestützt  auf  das 
Schriftwort,  dass  die  Gebote  dem  Menschen  gegeben  seien, 
dass  er  durch  sie  lebe,2)  eine    jede    Arbeit    zur    Beseitigung 


l'  I  Makk.  235ff   —  2)  Levit,  185;  vgl.  Ezech.  20n,  13,  21. 


—     9     — 

eigener    oder    fremder  Lebensgefahr    am  Sabbath  nicht  nur 
als    erlaubt,  sondern  geradezu  als  geboten1). 

Ein  drittes  charakteristisches  Beispiel  sei  der 
Rechtspflege  entnommen.  An  zwei  Stellen  spricht  die  heil. 
Schrift  den  unbedingt  giltigen  Rechtsgrundsatz,  dass  die 
Strafe  der  zugefügten  Beschädigung  entsprechen  müsse,  in 
der  Form  aus :  Wenn  —  bei  einem  Streite  —  ein  Schaden 
geschehen  ist,  so  gieb  Leben  um  Leben,  Auge  um  Auge, 
Zahn  um  Zahn,  Hand  um  Hand,  Fuss  um  Fuss  u.  s.  w.2) 
Die  Sadducäer,  die  sich  stets  sklavisch  an  den  Buchstaben 
hielten,  haben,  so  lange  sie  die  Macht  in  Händen  hatten, 
diese  Rechtsbestimmung  buchstäblich  durchzuführen  gesucht. 
Die  Männer  der  Tradition  hingegen  haben  von  Anfang  an 
behauptet,  dass  hier  nicht  die  buchstäbliche,  sondern  die 
sinngemässe  Befolgung  d.  h.  die  Verhängung  einer  der 
Schwere  des  Vergehens  entsprechenden  Strafe  gefordert 
werde.  Und  der  Tag,  an  dem  diese  traditionelle,  dem  Geiste 
der  Bibel  entsprechende  mildere  Handhabung  der  Rechts- 
pflege über  die  drakonische  sadducäische  Auffassung  endgiltig 
den  Sieg  davontrug,  ward  als  festlicher  Gedenktag  be- 
gangen.3) 

Wenn  wir  uns  solche  Beispiele  vor  Augen  halten, 
werden  wir  die  Bedeutung  der  Tradition,  die  Lehre  und 
Leben  in  Einklang  zu  bringen  wusste,  vollauf  würdigen 
und  den  Ausspruch,  der  uns  als  der  älteste  der  gesamten 
Traditionswissenschaft  überliefert  wird,  verstehen:  Seid 
vorsichtig  im  Recht,  stellt  viele  Schüler  auf  und  macht 
einen  Zaun  um  die  Lehre4).  Denn  ich  würde  ein  völlig 
falsches  Bild  entwerfen,  wollte  ich  nur  die  Erleichterungen, 
welche  die  Tradition  geschaffen  hat,  darstellen.  Man  hat 
vielmehr  in  bewusster  Absicht  Verordnungen,  die  man  als 
rabbinische  bezeichnet,  geschaffen,  lediglich  oder  doch  vor- 


*)  Joma  85b  Synhedr.  74b.  Es  heisst  da  u.  a.  Der  Sabbath  ist  euch 
übergeben,  nicht  ihr]dem  Sabbath  (vgl.  Marc.  227.)  —  2)  Exod  2023ff.  vgl.  Levit. 
24]9f.  —  3)  s.  Megillath  Tanith.  —  4)  Sprüche  der  Väter  lv 


—     10    - 

nehmlich  zu  dem  Zwecke,  um  einer  Uebertretung  der 
biblischen  Bestimmungen  vorzubeugen.  So  ward  das  ganze 
Leben  und  alle  Verhältnisse  des  Lebens  durch  religiöse 
Satzungen  geregelt,  deren  Erfüllung  dem  Volke  ein  religiöses 
Herzensbedürfnis  war,  so  ward  aber  auch  das  Verlangen 
nach  Kenntnis  und  religiöser  Bildung  in  allen  Schichten 
geweckt. !) 

In  dieser  Weise  vollzog  sich  die  älteste  Entwicklung 
der  Tradition,  das  sind  die  Anfänge  des  Talmuds. 
Von  Fall  zu  Fall  suchte  man  den  Sinn  des  Schriftworts 
zu  ermitteln  und  es  anzuwenden:  allgemein  giltige  Regeln 
und  Normen  für  die  Schriftauslegung  gab  es  noch  nicht; 
die  Gefahr  einer  gewissen  Willkürlichkeit  lag  nahe  und 
hemmte  allgemach  die  weitere  Entwicklung. 

Da  trat  unter  der  Regierung  des  Herodes  in  den 
letzten  Jahrzehnten  vor  der  gewöhnlichen  Zeitrechnung  als 
Reformator  der  Ueberlieferungswissenschaft  der  Babylonier 
Hillel  auf,  der  der  gesamten  religiösen  Entwicklung  des 
Judentums  den  Stempel  seines  Geistes  aufdrückte  und  den 
daium  der  Talmud  mit  vollem  Rechte  Esra  an  die  Seite 
stellt.-)     Durch  die  Aufstellung    seiner  Deutungsregeln  hat 


a)  Ganz  falsch  ist  es,  wenn  Schurer  [Gesch.  d.  jüd.  Volkes  im  Zeit- 
alter Jesu  Christi  3,  Ann".  II  306]  sagt:  „Die  ganze  Frömmigkeit  des  Israeliten 
ging  darin  auf,  das  von  Gott  ihm  gegebene  Gesetz  mit  Furcht  und  Zittern, 
mit  dem  Eifer  eines  geängsteten  Gewissens  in  allen  seinen  Einzelheiten  zu 
beobachten,"  oder  wenn  er  |das.  S.  465]  den  „Glauben  an  die  göttliche 
Vergeltung,  und  zwar  an  eine  Vergeltung  im  allerstrengsten  juristischem 
Sinne"  als  das  Motiv  hinstellt,  aus  welchem  der  Enthusiasmus  für  das  Gesetz 
entsprang.  Das  Wesen  der  jüdischen  Frömmigkeit  und  die  Hoheit  der 
religiösen  Anschauung  erhellt  vielmehr  aus  Sätzen  wie;  „Grösser  ist 
derjenige,  der  die  Gebote  aus  Liebe  [zu  Gott]  erfüllt,  als  derjenige,  der  sie 
aus  Furcht  beobachtet"  [Sota  31b]  oder  —  einer  der  ältesten  Aussprüche 
der  Traditon  —  „Seid  nicht  wie  Knechte,  die  ihrem  Herrn  nur  aus  Rücksicht 
auf  Lohn  dienen,  sondern  gleicht  den  Knechten,  die  ihrem  Herrn  ohne 
Rücksicht  auf  Lohn  dienen,  und  die  Furcht  Gottes  leite  euch"  [Sprüche 
der  Väter  13]  oder  „Der  Lohn  einer  guten  That  ist  die  gute  That  selbst.' 
[Das.  4J.  —  -    Sukka  20a,  Tosefta   Sota  133. 


-   11  - 

er  die  Ueberlieferung  in  ruhige,  sichere  Bahnen  gelenkt. 
Aber  nicht  nur  als  eine  Grösse  auf  wissenschaftlichem  Ge- 
biete, sundern  fast  noch  mehr  um  seiner  Charaktereigen- 
schaften willen  verdient  er  unsere  Bewunderung.  Hillel 
kann  in  jeder  Hinsicht  —  in  Bezug  auf  die  Wertschätzung 
der  Tradition  und  strengste  Wahiung  der  äusseren  Formen 
der  Religion  wie  hinsichtlich  der  Verinnerlichung  des  reli- 
giösen Gefühls  —  als  das  Prototyp  des  Judentums  zur 
Zeit  der  Entstehung  des  Christentums  gelten;  und  es  ist 
bezeichnend,  dass  manche  der  schönsten  Aussprüche,  die 
das  Neue  Testament  überliefert,  zumteil  wörtlich  mit  Aus- 
sprüchen Hillels  übereinstimmen.  Sein  Wahlspruch  war! 
Sei  von  den  Schülern  Ahrons.  Liebe  den  Frieden  und  suche 
den  Frieden,  liebe  die  Menschen  und  bringe  sie  der  Gottes- 
lehre näher.1)  Seine  hohe  ethische  Auffassung  des  Juden- 
tums bekundet  er  in  der  Antwort,  in  der  er  einem  Proselyten 
das  Wesen  des  Judentums  in  einem  Satze  darlegt:  Was 
dir  verhasst  ist,  das  thu  auch  deinem  Nächsten  nicht.  Das 
ist  die  ganze  Lehre.  Alles  andere  ist  nur  Erklärung.  Nun 
gehe  hin  und  leine.2)  Dieser  Satz  ist  natürlich  nichts 
anderes  als  die  praktische  Durchführung  des  biblischen 
Gebotes:  Liebe  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst3).  Sprüch- 
wörtlich war  seine  Sanftmut  und  Bescheidenheit4).  Sein 
Ausspruch  lautet:  Meine  Erniedrigung  ist  meine  Erhöhung, 
und  meine  Erhöhung  ist  meine  Erniedrigung5).  Aber  diese 
Sanftmut  ist  mit  Thatkraft  verbunden.  Das  beweist  sein 
Wort:  Wenn  ich  nicht  für  mich  bin,  wer  ist  dann  für  mich? 
doch  bin  ich  allein  für  mich,  was  bin  ich  dann  ?  Und  wenn 
nicht  jetzt,  wann  dann?0)  Und  deutlicher  noch  das  Wort: 
Wo  keine  Männer  sind,  da  bemühe  dich,  dich  als  Mann 
zu  zeigen.7)  Seine  menschenfreundliche,  auf  tiefster  Sitt- 
lichkeit beruhende  Gesinnung    spiegelt    sich  wieder  in  dem 


J)  Sprüche  der  Väter  112.  —  *)  Sabbath  31a:  vgl.  Matth.  712.  Gal.  514.  — 
3)  Levit  1918,  34.  —  *)  Sabbath  30bf.  —  5)  Levit  Kabb.  15,  cf.  Erubl3b: 
vgl.  Matth.  2312.  Luc.  llu;  s.  Bacher,  Agada  der  Tannaiten  I8f.  —  6)  Sprüche  der 
Väter  114.  —  7)  Das.  26. 


■     —     12    — 

Satze:  Sondere  dich  nicht  von  der  Gesamtheit  ab,  glaube 
nicht  an  dich  selbst  bis  zu  deinem  Todestage  und  richte 
deinen  Nächsten  nicht,  ehe  du  in  gleiche  Lage  gekommen 
bist.1)  Bis  ins  Sagenhafte  ausgeschmückt  ist  der  Bericht  von 
seinem  Lerneifer,  der  zum  mindesten  seine  Gesinnung  richtig 
zum  Ausdruck  bringt2).  Die  religiöse  Innerlichkeit  seines 
Wesens  charakterisirt  der  Inhalt  einer  seiner  Festpredigten: 
Bin  ich,  d  h.  Gott,  da,  so  ist  alles  da;  wo  ich  fehle,  wer  ist  dann 
da  ?3)  Sein  rührendes  Gott  vertrauen  giebt  sich  in  der  Art  kund, 
in  der  er  es  verschmäht  vorzusorgen4),  und  die  Seinen  standen 
so  unter  dem  Einfluss  seiner  frommen  Gesinnung,  dass  er 
das  gleiche  Gottvertrauen  unbedingt  bei  ihnen  voraussetzen 
durfte5). 

Wollen  wir  ein  Bild  des  Judentums  aus  der  Zeit,  als 
das  Christentum  entstand,  und  nicht  etwa  ein  Zerrbild,  wie 
es  gewöhnlich,  —  nebenbei  bemerkt  auch  in  Sudermanns  Jo- 
hannes, —  gezeichnet  wird,  haben,  so  müssen  wir  von  den 
hervorragenden  Vertretern  des  Judentums  ausgehen.  Bei 
den  christlichen  Gelehrten,  welche  jene  Zeit  schildern,  ist 
teilweise  wenigstens  neuerdings  das  Bestreben  anzuerkennen, 
ein  gerechteres  Urteil  über  das  Judentum  zu  gewinnen6). 
Alter  so  weit  ich  übersehe,  können  sie  sich  ausnahmslos 
von  den  eingeimpften  Vorurteilen  nicht  völlig  losmachen 
und  dasWirken  des  Stifters  des  Christentums  scheint  ihnen  um 
so  bedeutsamer,  je  heller  es  sich  von  dem  künstlich  ver- 
düsterten Bilde  des  Judentums  abhebt7).  Ich  glaube, 
wir  Juden  sind  unbefangenere  Beurteiler  jener  Zeit.  Wir 
haben  auch  nicht  das  leiseste  Interesse  daran,  jene  Zeit 
besser  darzustellen,  als  die  nüchterne  historische  Forschung 
erheischt.     Wäre  sie   wirklich  in  religiöser  Hinsicht  so  leer 


!)  Da8.2B.  —  -i  Joma35b;  vgl.  Sprüche  der  Väter  113,25.  6.  —  3)Sakka  53a. 
—  4)  Beza  16a.  —  5)  Berach.  60a  vgl.  Jerusch.  Berach  14b.  —  c)  Genannt  seien 
hier  Werale,  Die  Anfänge  unserer  Religion  S  lOff.  und  Oscar  Holtzinann, 
Die  jüd.  Schriftgelehrsamkeit  zur  Zeit  Jesu.  —  7)  Sehr  scharf  verurteilt  der 


—    13    — 

und  so  veräusserlicht  gewesen,  wie  man  sie  gewöhnlich 
schildert,  hätte  wirklich  alles  geschmachtet  unter  der  drüc- 
kenden Last  des  „Gesetzes"1)  wäre  wirklich  das  Kostbarste 
an  der  Religion,  das  Kostbarste  an  der  Menschenseele,  die 
Innerlichkeit,  das  warme  Empfinden  erstickt  und  ertötet 
gewesen  unter  äusserer  Werkheiligkeit,  wäre  wirklich  Har- 
nacks  ungeheuerliche  Beschuldigung  wahr,  dass  die  Phari- 
säer dem  Volke  „die  Seele  mordeten3)"  —  wir  hätten  keinen 
Grund  es  zu  leugnen.     Wir  würden    es  als    eine  Verirrung 


selbst  zum  Christentum  übergetreten  greise  Petersburger  Professor  Chwolson 
[Das  letzte  Passamahl  Christi  und  der  Tag  seines  Todes  S.  81.]  diese 
unwissenschaftliche  und  unwahrhafte  Methode  der  Darstellung  des  Judentums: 
..Statt  dessen  sehe  ich,  dass  man  jene  welthistorische  Frage  mit  stümper- 
haften Sprachkenntnissen  und  völliger  Unkenntnis  der  betreffenden  Literatur 
zu  lösen  sucht.  Mit  einem  groben  in  pechschwarze  Farbe  und  Strassen- 
schmutz  eingetauchten  Anstreicherpinsel,  malt  man  einen  schmutzig  schwarzen 
Hintergrund  und  schreibt  darunter;  „das  ist  das  Judentum  zur  Zeit 
Christi":  dann  nimmt  man  einen  anderen,  feineren,  in  Goldlack  eingetauchten 
Pinsel  und  malt  auf  jenem  Hintergrunde  das  Bild  Jesu.  Mit  Hilfe  von  zwei, 
manchmal  auch  von  drei  Pinseln  bekommt  man  das  Bild  fertig  und  legt 
demselben  einen  vornehm  und  gelahrt  klingenden  Namen  bei.  Statt  dieses 
Verfahrens  möchte  ich  mir  erlauben  ein  anderes  rationelleres  und  historisch 
richtigeres  vorzuschlagen  u.  s.  w."  Interessant  ist  es,  dass  Holtzmann 
a.  a  0.  das  vom  NT.  gezeichnete  Bild  der  Schriftgelehrten  ein  Karrikatur- 
liild  nennt,  dass  er  die  gegen  die  Schriftgelehrten  erhobenen  Beschuldigungen 
eingehend  als  unberechtigt  zurückweist,  dass  er  offen  ausspricht,  dass  das 
ganze  Auftreten  Jesu  an  das  der  Schriftgelehrten  erinnert,  dass  er 
aber  andererseits  auf  Grund  geringfügiger  Beweismomente,  die  noch 
dazu  falsch  sind  [vgl.  hierzu  Bück  in  Monatsschrift  f.  d.  Gesch.  und 
Wissensch.  d.  Judts.  Jahrg.  45  S.  108f]  behauptet,  Jesus  habe  die  jüdische 
Schriftgelehrsamkeit  überholt  [S.  28f],  und  am  Schlüsse  seiner  Schrift  das 
Recht  des  überlieferten  Karrikaturbildes  eines  Schriftgelehrten  im  ganzen 
zugiebt.  Der  innere  Widerspruch,  an  dem  dieser  letzte  Satz  leidet, 
scheint  ihm  gar  nicht  zum  Bewusstsein  gekommen  zu  sein.  Er  kann  sich 
eben  beim  besten  Willen  nicht  von  dem  eingewurzelten  Vorurteil  frei  machen. 
*)  Bezeichnend  ist,  dass  Schürer  auch  in  der  neuesten  Auflage  seiner 
Geschichte  des  jüd.  Volkes  im  Zeitalter  Jesu  Christi  in  einem  eigenen 
Kapitel  „das  Leben  unter  dem  Gesetz"  schildert  [§  28]-  —  2)  Harnack,  Wesen 
des  Christentums  S.  66. 


—    14    — 

bezeichnen,  wie  sie  in  der  Entwicklung  einer  jeden  Religion 
vorkommt,  eine  Verirrung,  die  glücklich  überwunden  wurde. 
Und  wir  würden  mit  solchem  Eingeständnis  dem  Judentum 
wahrlich  nichts  vergeben.  Aber  wenn  wir  noch  so  vor- 
urteilsfrei abwägen  und  prüfen,  ja  selbst  wenn  wir  darauf 
ausgehen,  die  ungünstigen  Momente  hervorzusuchen  —  wir 
können  jenes  Eingeständnis  nicht  aussprechen,  weil  es  der 
Wahrheit  nicht  entspricht.  Wir  sehen  gerade  im  Gregenteil, 
dass  die  religiöse  Innerlichkeit,  das  reiche,  vielleicht  über- 
reiche religiöse  Gefühls-  und  Phantasieleben  jener  Tage  in 
Verbindung  mit  den  äusseren  Verhältnissen  zu  einer  Fülle 
von  religiösen  Bewegungen  und  Sektenbildungen  geführt 
hat:  dass  gerade  durch  die  Tradition  und  die  unermüdliche 
Thätigkeit  der  Schriftgelehrten.  durch  den  unablässigen 
Hinweis  auf  den  heiligen  Gott  und  die  von  ihm  gebotene 
religiöse  Regelung  aller  Lebensverhältnisse  der  sittliche 
Grundcharakter  der  Religion  dem  Volke  zum  Bewusstsein 
gebracht,  das  sittliche  Urteil  nicht  erstickt,  sondern  er- 
zogen, geläutert,  ja  befreit  worden  ist1).  Dass  man  sich 
auf  christlicher  Seite  von  der  veralteten  Vorstellung  noch 
immer  nicht  losmachen  kann,  das  verdanken  wir  zum  grossen 
Teile  der  griechischen  Bibelübersetzung,  die  das  Wort 
Thora,  d.  h.  Lehre,  ungenau  wiedergiebt  durch  vo/uog,  d.  h. 
Gesetz.  Der  Uebersetzungsfehler  scheint  geringfügig,  ist 
aber  einer  der  schwerwiegendsten,  den  die  Uebersetzungs- 
literatur  überhaupt  kennt.  Denn  damit  war  die  Handhabe 
gegeben  und  wird  bis  auf  den  heutigen  Tag  weidlich  aus- 
genutzt, das  Judentum  als  eine  „Gesetzesreligion"  als  minder- 
wertig hinzustellen.-)     Freilich,  die  alten  Uebersetzer  hatten 


l)  vgl.  Holtzmaim  a.  a.  0.  10:  Wernle  a.  a.  0.  13.  15.  Harnack  a. 
a.  0.  45  „In  seinem  Volke  faud  Jesus  eine  reiche  und  tiefe  Ethik  vor."  — 
-)  Ein  Beleg  hierfür  ist  Wernle  a.  a.  0.  8,  der,  gestützt  auf  das  Wort 
vofiog,  die  jüdische  Idee  als  „die  juristisch  nationale  Auffassung  der 
Religion,  wie  sie  nirgend*  in  der  Welt  so  schroff  zur  Ausbildung  gelangte", 
definirt. 


-     15    — 

sich  eine  solche  Wirkung  sicher  nicht  träumen  lassen.     Doch 
kehren  wir  zur  Betrachtung  jener  Zeit  zurück. 

Tm  Jahre  3  v.  Chr.  war  der  Zwingherr  Judäas,  der 
staatsmännisch  hervorragend  befähigte,  aber  skruppellose 
und  den  -luden  in  tiefster  Seele  verhasste  König  Herodes 
gestorben.  Sein  Reich  ward  unter  seine  Söhne  geteilt  und 
kam  teils  nach  kurzer,  teils  nach  etwas  längerer  Zeit  unter 
die  unmittelbare  Herrschaft  der  Römer.  Römer  und  Hero- 
dianer  waren  gleich  verhasst.  Der  Freiheitsdrang  des 
Volkes,  die  Erinnerung  an  die  ruhmreiche  Zeit  der  Hasmonäer 
war  noch  überaus  lebendig,  und  die  brutalen  Gewaltthaten 
der  Machthaber,  die  vielfache  Verletzung  des  religiösen 
Empfindens  des  Volkes  steigerten  den  Hass  gegen  die 
Fremdherrschaft.  Man  sah  das  Unrecht  und  die  Gewaltthat 
triumphiren,  man  war  fest  durchdrungen,  dass  Gott  einen 
Umschwung  herbeiführen,  an  Stelle  des  Reiches  des  Frevels 
die  Gottesherrschaft  setzen,  dass  er  den  Befreier,  den 
Königssohn  aus  dem  Hause  Davids,  den  Messias  senden 
müsse,  der  dem  Lande  Ruhe  und  Frieden  bringen  sollte. 
Die  patriotischen  Eiferer  sammelten  sich  um  kühne  Führer, 
die  in  sich  den  Beruf  zur  Abschüttlung  der  Fremdherrschaft 
fühlten.  Jnsurgenten scharen  machten  das  Land  unsicher. 
Eine  dieser  Räuberbanden,  wie  die  Römer  sie  nannten,  nach 
der  anderen  wurde  überwältigt,  die  Teilnehmer  ans  Kreuz 
geschlagen.  Mit  einem  jeden  solchen  Versuch  wurde  die  all- 
gemeine Lage  trüber.  Viele  Messiasse  waren  aufgetreten,  der 
Messias  war  noch  nicht  gekommen,  aber  immer  sehnsüchtiger 
wurde  er  erwartet.  Und  die  tiefer  und  innerlicher  angelegten 
Gemüter  sahen  in  der  grausen  Not  der  Zeit  eine  ernste 
Mahnung  zur  Selbstprüfung,  eine  göttliche  Strafe  für  die 
Sündhaftigkeit  des  Volkes.  Auch  sie  erwarteten  den  Messias, 
der  das  Reich  Gottes,  oder  wie  man  vielfach  sagte,  das 
Himmelreich  auf  Erden,  W12®  HD^Ö  das  Reich,  in  dem 
Gottesfurcht,  Wahrheit,  Recht,  Frieden  und  Liebe  herrscht, 
aufrichten  sollte.  Waren  doch  die  Greuel  der  Zeit  gar 
gemahnten    doch    Vorkommnisse    wie    die    blut- 


-     16     - 

schänderische  Ehe  des  galüäischen  Fürsten  Herodes  Antipas 
mit  der  seinem  Bruder  entführten  Frau  Herodias,  dass  das 
Ende  der  Tage  gekommen  sei. 

In  härenem  Gewände  nach  der  Art  uralter  Propheten 
trat  ein  Prediger  auf,  Johannes  mit  Namen :  Thut  Busse ; 
denn  das  Himmelreich  ist  nahe.  Und  scharenweie  strömten 
empfängliche  Gemüter  ihm  zu  und  traten  durch  das  Tauch- 
bad im  Jordan,  das  Sinnbild  der  Läuterung,  dem  Essäer- 
orden  bei.  Unter  denen,  die  der  Predigt  des  Johannes 
gelauscht  hatten  und  von  ihr  tief  ergriffen  waren,  war 
der  Sohn  eines  Zimmermanns  aus  dem  galüäischen  Städtchen 
Nazareth,  Josua  oder  nach  damaliger  Aussprache  Jesua  mit 
Namen,  bekannt  unter  der  griechischen  Form  seines  Namens 
Jesus,  der  Stifter  des  Christentums.  Das  Christentum  ist 
eine  gewaltige  Erscheinung  in  der  Kultur-  und  Religions- 
geschichte der  Menschheit,  es  ist  auf  jüdischem  Boden  und 
aus  dem  Judentum  herausgewachsen ;  und  wer  die  Geschichte 
des  Judentums  jener  Zeit  darstellt,  darf  an  dieser  ge- 
waltigen Erscheinung  nicht  vorübergehen,  ohne  die  Frage 
aufzuwerfen:  Wie  ist  das  Christentum  entstanden?  Und 
worin  unterscheidet  es  sich  vom  Judentum,  d.  h.  was  ist 
das  Neue  in  ihm? 

Was  die  erste  Frage  betrifft,  so  findet  sie  ihre  Be- 
antwortung zumteil  in  dem  Zeitgemälde,  das  wir  entworfen 
haben.  Es  war  eine  Zeit  hochgradiger  religiöser  Erregung 
und  Erwartung,  eine  grosse  Zeit,  die  ein  Helden-  und 
Märtyrergeschlecht  im  Schosse  trägt1).  Und  auf  die  Frage 
nach  dem  Wie  der  Entstehung  möchte  ich,  obgleich 
nicht  mit  allen  Einzelheiten  einverstanden,  die  Worte 
eines  christlichen  Theologen  aus  einem  kürzlich  er- 
schienenen, sehr  beachtenswerten  Buche  anführen :  „Das 
Christentum  entstand  dadurch,  dass  eine  Laie,  Jesus  von 
Nazareth,  mit  einem  mehr  als  prophetischen  Selbstbe- 
wusstsein  auftrat    und  Menschen    so  an  sich  fesselte,    dass 


!)  Wernle  a.  a.  0.  22. 


—     17    — 

sie  über  seinen  sohmachvolleu'Tod  hinaus  für  ihn  zu  leben 
und  zu  sterben  imstande  waren.  Jesus  hat  ueue  Werte 
geprägt,  neue  Gedanken  in  die  Welt  hinausgeworfen;  aber 
einzig  seine  Person  gab  diesen  Worten  und  Gedanken  die 
Siegeskraft,  mit  der  sie  die  Welt  umgestalteten1)  "  In  der 
That  ist  es  vorzugsweise  die  machtvolle  Persönlichkeit 
seines  Stifters  und  der  gewaltige  Eindruck  dieser  Per- 
sönlichkeit auf  die  Jünger,  der  uns  die  Entstehung  des 
Christentums  verständlich  erscheinen  lässt. 

Aber  was  hat  es  Neues  gebracht?  Hier  kann  selbst- 
velbstverständlich  nicht  die  spätere  Entwicklung  des  Christen- 
tums, sondern  einzig  und  allein  seine  Erscheinungsform 
zur  Zeit  seiner  Entstehung  in  Frage  kommen.  Auch  hier 
wiederum  möchte  ich  die  Antwort,  die  ich  zu  geben  suche, 
an  die  Worte  eines  christlichen  Theologen  anknüpfen,  an 
eine  Stelle  aus  dem  in  den  letzten  Jahren  viel  gelesenen 
Buche  Das  Wesen  des  Christentums  von  dem 
bekannten  Berliner  Professor  Harnack.  Vorweg  möchte  ich  nur 
darauf  aufmerksam  machen,  dass  Wernle  neue  Werte  und  neue 
Gedanken  in  der  Lehre  Jesu  findet,  während  Harnack  der 
entgegengesetzten  Ansicht  ist. 

„Drittens,  was  ist  denn  Neues  in  dieser  ganzen 
Bewegung  gewesen?  War  es  neu,  die  Souveränetät 
Gottes,  die  Souveränetät  des  Guten  und  Heiligen  in 
der  Religion  gegenüber  allem  anderen,  was  sich  ein- 
gedrängt hatte,  aufzurichten?  Was  hat  also  Johannes, 
was  hat  Christus  selbst  Neues  gebracht,  was  nicht 
schon  längst  verkündigt  worden  war?  Meine  Heiren! 
Die  Frage  nach  dem  Neuen  in  der  Religion  ist  keine 
Frage,  die  von  solchen  gestellt  wird,  die  in  ihr  leben. 
Was  kann  ,.neu"  gewesen  sein,  nachdem  die  Menschheit 
schon  so  lange  vor  Jesus  Christus  gelebt  und  so  viel 
Geist  und  Erkenntnis  erfahren  hatte.     Der  Monotheis- 


!)  Das.  23. 


—    18    — 

mus  war  längst  aufgerichtet,  und  die  wenigen  mög- 
lichen Typen  monotheistischer  Frömmigkeit  waren 
längst  hier  und  dort,  in  ganzen  Schulen,  ja  in  einem 
Volke,  in  die  Erscheinung  getreten.  Kann  der  kraft- 
volle und  tiefe  religiöse  Individualismus  jenes  Psalmisten 
noch  überboten  werden,  der  da  bekannt  hat:  ,,Herr, 
wenn  ich  nur  Dich  habe,  frage  ich  nicht  nach  Himmel 
und  Erde1'?  Kann  das  Wort  Micha's  überboten  werden: 
,.Es  ist  Dir  gesagt,  Mensch,  was  gut  ist  und  was  der 
Herr  von  Dir  fordert,  nämlich  Gottes  Wort  halten 
und  Liebe  üben  und  demütig  sein  vor  Deinem  Gott"?1) 
Jahrhunderte  waren  bereits  verflossen,  seitdem  diese 
Worte  gesprochen  waren.  Also,  „Was  wollt  ihr  mit 
eurem  Christus?"  wenden  uns  namentlich  jüdische 
Gelehrte  ein:  „er  hat  nichts  Neues  gebracht."  Ich 
antworte  hierauf  mit  W  e  1 1  h  a  u  s  e  n  :  Gewiss,  das,  was 
Jesus  verkündigt,  was  Johannes  vor  ihm  in  seiner 
Busspredigt  ausgesprochen  hat,  das  war  auch  bei  den 
Propheten,  das  war  sogar  in  der  jüdischen  Ueber- 
lieferung  seiner  Zeit  zu  finden.  Selbst  die  Pharisäer 
hatten  es;  aber  sie  hatten  leider  noch  sehr 
viel  anderes  daneben.  Es  war  bei  ihnen  be- 
schwert, getrübt,  verzerrt,  unwirksam  gemacht  und  um 
seinen  Ernst  gebracht  durch  tausend  Dinge,  die  sie  auch 
für  Religion  hielten  und  so  wichtig  nahmen  wie  die  Barm- 
herzigkeit und  das  Gericht.  Alles  stand  bei  ihnen  auf 
einer  Fläche,  alles  war  in  ein  Gewebe  gewoben,  das  Gute 
und  Heilige  nur  ein  Einschlag  in  einen  breiten  irdischen 
Zettel.  Nun  fragen  Sie  noch  einmal :  „Was  war  denn 
das  Neue?"  In  der  monotheistischen  Religion  ist 
diese  Frage  nicht  am  Platze.  Fragen  Sie  vielmehr: 
„War  es  r  e  i  n  und  war  es  kraftvoll,  was  hier  ver- 


x)  Nur  nebenbei  sei  daranf  aufmerksam  gemacht,  dass  Harnaeks  Ueber- 
setzung  nicht  korrekt  ist.  Die  Forderung  des  Propheten  lautet:  Eecht  thur, 
Liebe  üben  und  demütig  wandeln  vor  deinem  Gott. 


-     19    — 

kündet  wurde?"  Tcli  antworte:  Suchen  Sie  in  der 
ganzen  Religionsgeschichte  des  Volkes  Israel,  suchen  Sie 
in  der  Geschichte  überhaupt,  wo  eine  Botschaft  von  Gott 
und  vom  Guten  so  rein  und  so  ernst  —  denn  Reinheit 
und  Ernst  gehören  zusammen  —  gewesen  ist,  wie  wir  sie 
hier  hören  und  lesen !  Die  reine  Quelle  des  Heiligen  war 
zwar  längst  erschlossen,  aber  Sand  und  Schutt  war  über 
sie  gehäuft  worden  und  ihr  Wasser  war  verunreinigt. 
Dass  nachträglich  Rabbinen  und  Theologen  dieses 
Wasser  destillieren,  ändert,  selbst  wenn  es  gelänge, 
nichts  an  der  Sache.  Nun  aber  brach  der  Quell 
frisch  hervor  und  brach  sich  durch  Schutt  und  Trümmer 
einen  neuen  Weg,  durch  jenen  Schutt,  den  Priester 
und  Theologen  aufgehäuft  hatten,  um  den  Ernst  der 
Religion  zu  ersticken;  denn  wie  oft  ist  in  der  Ge- 
schichte die  Theologie  nur  das  Mittel,  um  die  Religion 
zu  beseitigen !  Und  das  andere  war  die  Kraft.  Phari- 
säische Lehrer  hatten  verkündigt,  im  Gebot  der 
Gottes-  und  Nächstenliebe  sei  alles  befasst;  herrliche 
Worte  hatten  sie  gesprochen;  sie  könnten  aus  dem 
Munde  Jesu  stammen!  Aber  was  hatten  sie  damit  aus- 
gerichtet? Dass  das  Volk,  dass  vor  allem  ihre  eigenen 
Schüler  den  verwarfen,  der  mit  jenen  Worten  Ernst 
machte!  Schwächlich  war  alles  geblieben,  und  weil 
schwächlich,  darum  schädlich.  Worte  thun  es  nicht, 
sondern  die  Kraft  der  Persönlichkeit,  die  hinter  ihnen 
steht.  Er  aber  predigte  gewalti  g,  „nicht  wie  die 
Schriftgelehrten  und  Pharisäer":  das  war  der  Eindruck, 
den  seine  Jünger  von  ihm  gewannen.  Seine  Worte 
wurden  ihnen  zu  „Worten  des  Lebens",  zu  Samen- 
körnern, die  aufgingen  und  Frucht  trugen  —  das 
war  das  Neue1)." 


l)  Harna.k,  Wesen  des  Christentums  S. 


—    20    — 

In  der  That,  das  Evangelium  Jesu  hat  nichts  wesentlich 
Neues  gebracht,  konnte  es  nicht  bringen.  Denn  Jesus  selbst 
wurzelt  mit  allen  seinen  Anschauungen  in  dem  Boden  des 
Judentums,  zu  dem  er  sich  in  keiner  Weise  in  direkten 
Gegensatz  gestellt  hat1).  Und  über  die  Tiefe  der  religiösen 
Empfindung,  die  Kraft  und  Reinheit  des  religiösen  Ausdrucks 
in  Propheten  und  Psalmen  kann  nichts  hinausgehen.  Gewiss 
enthält  das  Evangelium  herrlich  schöne  Worte ;  aber  es  ist 
ein  Leichtes,  sie  in  der  jüdischen  Bibel,  in  den  damals 
bereits  vorhandenen  Aussprüchen  der  Tradition  wiederzu- 
finden2).    Nur  wenige  Momente  seien  hervorgehoben. 

Man  hört  es  wer  weiss  wie  oft,  dass  das  Gebotder  Nächsten- 
liebe erst  eine  christliche  Errungenschaft  sei,  man  bezeichnet 
wohl  auch  das  Christentum  als  die  Religion  der  Liebe. 
Hören  wir  doch,  was  Jesus  selbst  auf  die  Frage  erwidert 
nach  dem  vornehmsten  Gebot  im  Gesetz:  ,,Du  sollst  lieben 
Gott  deinen  Herrn  von  ganzem  Herzen,  von  ganzer 
Seele  und  von  ganzem  Gemüte.  Dies  ist  das  vornehmste 
und  grösste  Gebot.  Das  andere  aber  ist  dem  gleich:  Du 
sollst  Deinen  Nächsten  lieben  als  dich  selbst.  In  diesen 
zweien  Geboten  hanget  das  ganze  Gesetz  und  die  Propheten'5)." 
Die  erste  Stelle  aus  dem  5.  Buche  Mosis4)  kehrt  in  dem 
Bekenntnisgebet  des  Judentums  zweimal  täglich  wieder,  die 
letztere  Stelle  aus  dem  19.  Kapitel  des  3.  Buches  ist  nach 
Hilleis  oben  erwähntem  Ausspruch  der  Ausdruck  des  Inhalts 
des  Judentums. 

Man  hört  andererseits  den  Einwand,  das  Judentum  als 
Religion  sei  nicht  aus  seiner  nationalen  Beschränktheit 
herausgetreten,  erst  das  Christentum  habe  die  universelle, 
allgemein  menschliche  Grundlage  der  religiösen  Idee  ge- 
schaffen.    Diesen  Einwand  hat  selbst  Harnack    nicht    mehr 


:)  s.  Chwolson  a.  a.  0.  87ff.  —  2)  Hier  sei  nur  auf  die  allgemein 
verständliche  Zusammenstellung  der  jüdischen  Quellen  und  Belegstellen  zur 
Bergpredigt  in  Friedemanns  Brochure  „Jüdische  Moral  und  christlicher 
Staat"  hingewiesen.  —  3)  Matth.  223Gff.  Marc.  I228ff.  Luc.  1027,  —  4)Deuteron,  65. 


—    21     — 

wiederholt.  Denn  die  universelle  Tendenz  in  den  Reden 
der  Propheten  Israels,  die  das  Haus  Gottes  als  ein  Bethaus 
für  alle  Völker  bezeichnen1),  die  verheissen,  dass  Gott 
dereinst  allen  Menschen  eine  reine  Sprache  geben  wird, 
dass  sie  einmütig  den  Willen  Gottes  thun'-')  —  diese  uni- 
verselle Tendenz  wird  dem  Judentum  heutzutage  von  unbe- 
fangenen christlichen  Gelehrten  nicht  mehr  bestritten.  Wir 
wollen  nicht  in  den  gleichen  Fehler  verfallen  und  darum 
nicht  besonders  betonen,  dass  Jesus  selbst  hervorhebt,  er 
sei  nur  an  Israel  gesandt,  dass  er  jene  heidnische  Frau, 
die  an  ihn  herantritt,  anfangs  zurückweist3). 

Man  führt  ferner  an,  das  Christentum  erst  habe  die  Er- 
kenntnis von  dem  unendlichen  Wert  der  einzelnen  Menschen- 
seele gebracht.  Ich  erinnere  nur  an  Harnacks  eigenes  Wort, 
dass  der  religiöse  Individualismus  des  Psalmisten  nicht  über- 
boten werden  kann:  Herr,  wenn  ich  nur  Dich  habe,  frage 
ich  nicht  nach  Himmel  und  Erde4).  Ich  erinnere  nur  noch 
an  Psalmenstellen  wie  „Meine  Seele  lechzt  nach  Gott,  dem 
lebendigen  Gott.  Wann  darf  ich  kommen  und  vor  Gottes 
Antlitz  erscheinen?5)"  oder  „Was  bist  du  betrübt,  meine 
Seele,  und  unruhig  in  mir  ?  Harre  auf  Gott :  denn  noch 
werde  ich  ihm  danken,  dass  er  meines  Antlitzes  Hilfe  und 
mein  Gott  ist'1)"  oder  „Vater  und  Mutter  haben  mich  ver- 
lassen, aber  der  Ewige  nimmt  mich  auf7)"  und  zahllose 
andere. 

Aber  mit  Recht  weist  Harnack  auf  die  Gebete  hin,  mit 
Recht  sagt  er,  dass  für  die  höheren  Religionen  die  Gebete  das 
Entscheidende  sind8).  Und  wir  verstehen  den  Stolz,  mit  dem  er 
auf  das, .Vater  unser"  hinweist.  In  der  That;  ein  herrlich  schönes 
Gebet.  Nur  dass  wir  es  W  o  r  t  für  Wort  aus 
jüdischen  Quellen  belegen  können,  nur  dass 
wir  seine  Worte  vom  ersten  bis  zum  letzten  in  den  Gebeten 


l)  Jes.  567.  —  a)  Zephanja  3g  und  zahlreiche  ähnlich^  Stellen.  — 
3)  Mattb.  1521ff.  Marc.  725ff.  -  4)  Ps.  7S,-.  —  5)  ps.  423.  —  G;Ps.426. 12.  435 
-    i)  Ps.  2710.  —  8)  Harnack  a.  a.  0.  41. 


der  Juden  wiederfinden.  „Schon  die  Anrede  „Vater"  —  so 
sagt  Harnack  —  zeigt  die  Sicherheit  des  Mannes,  der  sich  in 
Gott  geborgen  weiss,  und  spricht  die  Gewissheit  der  Erhörung 
aus  i)"  tfÖttDW  W3K  „Unser  Vater,  der  im  Himmel  ist" 
—  diese  Anrede  kehrt  in  vielen  unserer  Gebete  —  ich 
nenne  nur  das  wochentägliche  Abendgebet  —  wieder.  An 
den  heiligsten  Tagen  des  Jahres  sprechen  wir  unsere  innigsten 
Bitten  aus  mit  der  Anrede  13D7E  1TDX  „unser  Vater,  unser 
König."  Die  Bezeichnung  der  Menschen  als  Kinder  Gottes 
entstammt  einer  Stelle  des  5.  B.  Mose,  und  im  Anschluss 
an  diese  formulirt  ein  Talmudlehrer  die  erhebende  Lehre 
von  Gottes  unvergänglicher  Vaterliebe  in  den  "Worten:  Ihr 
seid  Kinder  Gottes,  mögt  ihr  eurem  Vater  gegenüber  euch 
kindlich  verhalten  oder  nicht"2).  Angesichts  solcher  That- 
sachen  ist  es  geradezu  unbegreiflich  und  eben  nur  durch 
das  eingewurzelte  Vorurteil  und  durch  die  völlige  Unkenntnis 
der  einschlägigen  jüdischen  Literatur  zu  erklären,  wenn 
die  Verkündigung  Gottes  als  des  himmlischen  Vaters  Jesu 
„allereigenste  That"  genannt,  wenn  behauptet  wird,  dass 
die  etwa  vorhandenen  vereinzelten  schwachen  Anklänge  an 
den  Gottvaterglauben  im  Alten  Testament  in  dem  späteren 
Judentum  völlig  verloren  gegangen  seien,  wenn  auf  Grund 
einer  durch  nichts  belegten  und  durch  nichts  belegbaren 
Geschichtskonstruktion  gesagt  wird:  „Den  Gottvaterglauben 
hat  das  Spätjudentum  nicht,  weder  dem  Namen  noch  der 
Sache  nach,  es  konnte  sich  auch  gar  nicht  zu  ihm  erheben3)". 
Ob  wohl  auf  einem  andern  Gebiete  der  Wissenschaft  mit 
solcher  Leichtfertigkeit  unbewiesene  Behauptungen  aufgestellt 
werden  dürften,  ohne  den  gerechten  Unwillen  der  gesamten 
Gelehrtenwelt  zu  erregen  ?  ! 


i)  Das.  —  2)  R.  MeTr  in  Sifre  zu  Deuteron  14,  (§  96).  —  3)  Bousset, 
Jesu  Predigt  im  Gegensatz  zum  Judentum  S.  41-  43.  Weit  richtiger  ist 
die  Anschauung  Wernles  a.  a.  0.  I2f.,  der  übrigens  die  Quelle  dieser 
falschen  Auffassung  im  NT  sucht  und  darauf  hinweist,  dass  Paulus  und 
Johannes  „als  christliche  Apologeten  ein  Interesse  daran  haben,  die  Welt 
ohne  Christus  recht  weit  von  Gott  wegzurücken." 


—     23     - 

Und  damit  gelangen  wir  zu  einem  weiteren  Punkte. 
Ein  alter  Ladenhüter,  der  von  den  modernen  christlichen 
Theologen  darum  auch  schon  vielfach  in  die  Rumpelkammer 
geworfen  ist,  in  die  er  gehört,  ist  die  Behauptung,  das 
Judentum  lehre  einen  Gott  des  Zornes  und  der  Rache,  einen 
Gott,  dessen  Wesen  charakterisirt  sei  durch  die  Worte 
„Auge  um  Auge,  Zahn  um  Zahn  u.  s.  w.1)"  Ich  habe  oben 
bereits  dieses  Satzes  Erwähnung  gethan  als  eines  unzweifelhaft 
EU  allen  Zeiten  giltigen  Rechtsgrundsatzes  zwischen  Mensch 
und  Mensch,  dass  die  Strafe  im  rechten  Verhältnis  zu  dem 
Vergehen  stehen  müsse.  Auf  das  Verhältnis  Gottes  zum 
Menschen  wird  dieser  Satz  in  der  ganzen  Bibel  und  Tradition 
nicht  ein  einzigesmal  angewendet.  Und  was  den  Zorn 
Gottes  betrifft,  so  möchte  ich  nur  auf  eine  Bemerkung  des 
Ihnen  allen  bekannten  Prof.  Cornill  hinweisen2). 

„Der  Zorn  Gottes  ist  eben  nichts  anderes,  als 
die  Reaction  der  göttlichen  Heiligkeit  gegen  alles 
Unheilige  und  Widergöttliche:  „denn,"  wie  es  in  einer 
Psalmenstelle  heisst,  ,, Du  bist  nicht  ein  Gott,  dem  gott- 
loses Wesen  gefiele,  der  Böse  kann  nicht  bleiben  vor 
Dir"  (Ps.  5,5).  Ein  Gott,  dem  dieser  Zug  fehlte,  wäre 
wie  ein  Mensch,  dem  das  Gewissen  fehlt,  und  um  die 
wahre  Meinung  des  Alten  Testamentes  über  das  Ver- 
hältnis dieses  einen  Zuges  zu  dem  Gesamtbilde 
Gottes  zu  erfahren,  brauchen  wir  nur  an  das  Psalmen- 
wort zu  denken:  „Denn  einen  Augenblick  währet  sein 
Zorn  und  ein  Leben  lang  seine  Gnade ;  wo  Abends 
Weinen  einkehrt,  da  ist  am  nächsten  Morgen  Jubel" 
(Ps.  30,6).  Diejenigen,  die  sich  so  ereifern  über  den 
zornigen  Judengott,  wissen  nicht  oder  vergessen,  dass 
der  Zorn  Gottes  nicht  nur  eine  jüdische,  sondern 
ebenso    auch  eine  christliche    Lehre  ist,    so  dass  also 


—  J)  Nicht  recht  klar  ist  es,  ob  Harnack  .  48  sich  diese  falsche 
Anschauung  zu  eigen  macht.  —  2)  Cornill,  die  Psalmen  in  der  Weltliteratur. 
Im  Jahrbmh  für  jüd.  Gesch.  und  Literatur  1898,  S.  42. 


—     24     — 

alle  Nackenschläge  und  Fusstritte,  welche  um  des- 
willen dem  Alten  Testamente  versetzt  werden,  auch 
das  Neue  treffen." 

Wer  sich  über  die  jüdische  Anschauung  Klarheit  ver- 
schaffen will,  der  lese  den  biblischen  Bericht  über  die 
Offenbarung  Gottes  an  den  Propheten  Elia,  dass  nicht  in 
der  verzehrenden  Allgewalt,  sondern  in  dem  sanften  Säuseln 
das  wahre  Wesen  Gottes  zu  erkennen  ist1). 

Aber,  so  wird  gesagt,  das  alles  zugegeben:  Die 
Pharisäer  hatten  aber  leider  noch  vieles  andere.  Der  Be- 
weis wird  nicht  erbracht,  ja  nicht  einmal  versucht.  Der 
Satz  gilt  nun  einmal  als  unumstössliches  Axiom.  Und  doch 
müssen  selbst  die  Gegner  der  pharisäischen  Richtung  zu- 
gestehen, dass  der  Kultus  im  Judentum  gänzlich  zu- 
rücktritt hinter  der  Moral,  dass  der  Ausdruck  „Gottes 
Willen  thun"  sich  niemals  auf  die  äussere  Form  der  Gottes- 
verehrung sondern  auf  die  Regelung  des  täglichen  Lebens, 
auf  die  Moral,  bezieht2).  Aber  ganz  abgesehen  davon,  ist 
dieserEinwand  ein  völlig  unwissenschaft- 
licher. Wollten  wir  in  den  gleichen  Fehler  verfallen, 
wir  könnten  ihn  ebenso  gegen  das  Christentum  erheben3). 
Das  Gleiche  gilt  von  Harnacks  Bemerkung,  ein  Beweis 
für  die  Minderwertigkeit  der  pharisäischen  Lehre  sei,  dass  die 
Schüler  jener  Lehrer  den  verwarfen,  der  die  reinen  Lehren 
in  die  That  umsetzen  wollte.  Gesetzt  auch,  die  Behauptung 
wäre  richtig,  was  sie  nicht  ist  —  welche  Sophisterei 
liegt  in  diesen  Worten!  Dürfen  wir  etwa  die  Lehre 
Jesu  deshalb  als  minderwertig  bezeichnen,  weil  später  die 
fanatischen  Kreuzfahrerhorden  in  Frankreich  und  Deutschland 
die  Juden  nur  um  ihrer  Religion  willen  scharenweise  gemordet 
haben?  Oder  wegen  der  ansäglichen  Gräuel  der  Inquisition? 
Oder  wegen  der  Schmach  der  Hexenprozesse?! 


i)  I  Kön.  199ff.  —  a)  s.  z.  B.  Wenfie,  a.  a.  0.  13  ff.  —  y)  vgl. 
hierzu  die  treffliche  Besprechung  des  Harnacksehen  Buches  von  Back  in  der 
Monatssckr.  f.  Gesch.  und  Wisseusch.  d.  Judentums  45.  Jahrg.,  hes.  S.  106f. 


—    25     — 

Und  nun  noch  ein  letztes  Wort  zu  den  Harnaokschen 
Ausführungen:  Was  soll  man  dazu  sagen,  wenn  Harnack 
die  religiösen  Aussprüche  der  jüdischen  Bibel,  des  Alten 
Testaments,  als  unübertrefflich  hinstellt  und  auf  derselben 
Seite  ausspricht,  dass  in  der  ganzen  Religionsgeschichte 
Israels  die  Botschaft  von  Gott  und  vom  Guten  nirgend  so 
rein  und  so  ernst  zu  finden  sei  wie  im  Evangelium  Jesu! 
Der  Widerspruch  ist  zu  grell,  als  dass  es  lohnte  darauf  ein- 
zugehen. Wir  wollen  den  herrlich  schönen  Stellen  im 
Neuen  Testament  nichts  von  ihrer  Bedeutung  rauben,  aber 
wir  stellen  nur  mit  Harnack  fest,  dass  ein  Hinausgehen 
über  die  Religion  Israels  nicht  zu  finden  ist. 

Wie  aber  erklärt  sich  die  Entstehung  dieser  neuen 
Religion?  Mit  schwärmerischer  Verehrung  hingen  die  Jünger 
an  ihrem  Meister,  den  ein  ungewöhnliches  Selbstbewusstsein 
und  gleichzeitig  ein  seltenes  Mass  von  Demut  und  Be- 
scheidenheit erfüllte.  Nicht  wie  die  anderen  Messiasse  jener 
Tage  wollte  er  mit  dem  Schwerte  in  der  Hand  das  Gottes- 
reich herbeiführen,  sondern  an  die  Armen  und  Elenden,  an 
die  Sünder  wandte  er  sich,  diese  für  das  Reich  Gottes  vor- 
zubereiten und  aus  Sünde  zu  Gott  emporzuziehen.  Aber  der 
Messiasbegriff  hatte  in  jener  Zeit  einen  stark  ausgeprägten 
politischen  Charakter,  jeder  Messias  galt  als  Prätendent  für 
die  jüdische  Königskrone,  als  Rebell  gegen  Rom.  Der 
regierenden  sadducäischen  Hohenpriesterpartei,  die  bis  in  das 
letzte  Jahrzehnt  vor  der  Zerstörung  des  Tempels  die  Macht 
im  Synhedrium  besass,  war  ein  jeder,  der  als  Messias  auf- 
trat und  anerkannt  wurde,  unbequem.  Gern  benutzte  man 
die  erste  wirkliche  oder  scheinbare  Gelegenheit,  die  sich 
bot,  sich  einer  so  unbequemen  Persönlichkeit  zu  entledigen. 
Die  Berichte  über  den  Prozess  Jesu  sind  nicht  historisch 
getreu.  Nur  das  lassen  sie  erkennen,  dass  der  Prozess  sehr 
summarisch  unter  Verletzung  der  nach  pharisäischen  Grund- 
sätzen dem  Angeklagten  zustehenden  Rechtsmittel  geführt 
wurde,  ein  Beweis  mehr  dafür,  dass  die  Sadducäer  den  Pro- 
zess leiteten.    Denn  nicht  die  Pharisäer,  die  noch  ein  Viertel- 


—     26     — 

Jahrhundert  später  in  dem  Prozesse  des  Paulus  für  den 
Apostel  eintraten1),  sondern  die  Sadducäer  waren  die  Gegner 
Jesu2).  Den  römischen  Statthalter  Pontius  Pilatus,  dem 
das  Todesurteil  zur  Bestätigung  vorgelegt  werden  musste, 
interessirte  lediglich  die  Frage,  ob  der  Verurteilte  sich 
wirklich  für  den  Messias,  den  König  der  Juden  hielt,  also 
ein  Empörer  war.  Die  Antwort  Jesu  „Du  sagst  es"  nahm 
er  als  Bekräftigung,  und  so  Hess  er  durch  seine  römischen 
Kriegsknechte  das  Todesurteil  nach  römischer  Art  durch 
Kreuzigung  vollstrecken. 

Entsetzt  waren  die  Jünger  auseinandergestoben.  Aber 
so  unbegrenzt  war  ihre  Verehrung  für  den  Meister,  dass, 
als  sie  den  ersten  Schrecken  überwunden  hatten,  nicht  wie 
sonst  das  unglückliche  Ende  eines  messianischen  Präten- 
denten ein  Beweis  gegen  seine  Messianität  war.  Xach  wie 
vor  hielten  sie  ihn  für  den  Messias,  glaubten  an  seine 
Wiederkunft,  und  bald  bildete  sich,  gestützt  besonders  auf 
das  53.  Kapitel  des  Jesaja  die  Ueberzeugung  heraus,  dass 
gerade  Leiden  und  Tod  das  Los  des  Messias  sein  müsse. 
Um  seinen  messianischen  Beruf  zu  erfüllen,  habe  Jesus  um 
der  Menschen  willen  das  alles  freudig  auf  sich  genommen; 
jetzt  gelte  es  sich  auf  seine  Wiederkunft  vorzubereiten. 
Dieser  Glaube  einte  die  Jünger,  ihn  verbreiteten  sie  weiter. 
Manche  schlössen  sich  der  kleinen  Gemeinde  an,  sämtlich 
ebenso  wie  die  Jünger  selbst  ohne  mit  dem  Judentum  zu 
brechen.  Die  älteste  Christengemeinde  kann  man  höchstens 
als  eine  Sekte  innerhalb  des  Judentums  bezeichnen:  in  allem, 
auch  in  der  Beobachtung  des  Ceremonialgesetzes  völlig  mit 
der  grossen  Mehrzahl  der  Juden  übereinstimmend,  nur  durch 
den  Glauben,  dass  der  Messias,  den  die  Juden  erwarteten, 
schon  gekommen  sei,  sich  von  ihnen  unterscheidend.  Auf  die 
innere  Entwicklung  des  Christentums  näher  einzugehen, 
ist  hier  nicht  der  Ort.    Zwei  Momente  sind  es  gewesen,  die 


l)  Apostelgesch.  o34ff    -    2)  s.  Chwolson,  a.  a.  0.  S.  86ff. 


—     27     — 

die  Losreissung  dieser  jüdischen  Sekte  von  dem  Gesamt- 
körpei  des  Judentums  bewirkt  haben.  Den  Heiden  das 
Evangelium  zu  bringen  zog  der  Apostel  Paulus  aus,  und 
um  die  Heiden  zu  gewinnen,  bat  er  im  Gegensatz  zu  seinem 
Meister,  der  erklärt  hatte,  dass  auch  nicht  ein  Jota  des 
Gesetzes  unerfüllt  bleiben  sollte,  das  gesamte  Ceremonial- 
gesetz  für  unverbindlich  erklärt.  Damit  war  nicht  nur  die 
Ueberlieferung,  sondern  auch  die  Lehre  selbst  beseitigt, 
denn  die  Logik  der  Thatsachen  drängte  Paulus  dazu,  das 
gesamte  Gesetz  als  störend  hinzustellen.  Das  war  ein 
Schritt,  der  eine  tiefe  Kluft  zwischen  den  Anhängern  Jesu 
und  den  Juden  hervorrufen,  der  diese  Sekte  allmählich  vom 
Judentum  losreissen  musste. 

Und  das  zweite  Moment  ist  das  Aufhören  des  Opfer- 
kultus  seit  der  Zerstörung  des  Tempels  im  Jahre  70  n.  Chr. 
So  wenig  das  Judentum  seinem  Wesen  nach  mit  dem  Opfer- 
kultus eng  verknüpft  ist,  so  sehr  auch  seit  Esra  die  gesamte 
Entwicklung  derart  war,  dass  das  Aufhören  des  Opfers 
ohne  wesentliche  Erschütterung  überwunden  werden  konnte, 
so  verstehen  wir  doch  psychologisch  die  Frage,  die  damals 
wie  nach  der  Zerstörung  des  ersten  Tempels  sich  vielen 
aufdrängte:  Wie  vermögen  wir  unsere  Sünden  zu  tilgen 
ohne  Opfer?  Ihnen  hielt  man  von  christlicher  Seite  die 
paulinische  Lehre  entgegen,  dass  Jesus  gestorben  sei,  um 
alle  diejenigen,  die  an  ihn  glauben,  eben  durch  seinen  Tod 
von  Sünde  zu  erlösen.  So  mache  sein  Tod  alle  Opfer 
überflüssig. 

So  trennten  sich  die  Wege.  Und  der  äussere  Umstand, 
dass  nach  der  Zerstörung  Jerusalems  alle  Juden  im  römi- 
schen Reiche  eine  besondere  Kopfsteuer  zu  zahlen  hatten, 
diente  natürlich  nur  dazu,  diejenigen,  die  sich  innerlich 
allmählich  dem  Judentum  entfremdet  hatten,  von  ihm  ganz 
loszureissen  und  die  Heiden,  die  für  die  neue  Lehre  ge- 
wonnen waren,  gar  nicht  erst  in  Beziehung  mit  der  Mutter- 
religion treten  zu  lassen. 

Dem  Christentum    gebührt    unstreitig    das    Verdienst, 


—     28     — 

den  Glauben  an  den  einen  Gott  der  Heidenwelt  vermittelt 
und  dadurch  die  Religions-  und  Kulturgeschichte  der  späteren 
Jahrhunderte  bestimmt  zu  haben.  In  den  Kirchen  erklingen 
in  allen  Sprachen  die  Psalmen  Israels,  die  Worte  der  Pro- 
pheten ertönen  von  allen  Kanzeln,  und  Moral  und  Staatsgesetz 
baut  sich  in  allen  Kulturländern  auf  den  Zehngeboten  auf. 
Auf  die  innere  Entwicklung  des  Judentums  hat  die 
allmähliche  Loslösung  der  Tochterreligion  keinen  nennens- 
werten Einfluss  ausgeübt ;  für  sie  ist  die  geradlinige  fort- 
schreitende talmudische  Entwicklung  bestimmend  geblieben. 


Druck  von    Julius    Jacoby,    Königsberg  i  Pr. 


Von  demselben  Verfasser  igt  erschienen: 

Die  Landwirtschaft  in  Palästina 
zur  Zeit  der  Misnäh. 

Teil  I.  Der  Getreidebau, 
von  Hermann  V  o  g  e  I  s  t  e  i  n. 

Berlin  1894.     M.  2,50 


Geschichte  der  Juden  in  Rom. 

Von   Hermann   Vogelstein   nnd   Paul   Rieger. 

2.  Bände.     Berlin  1895/0.     Äff.   15. 


fhJ 


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UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


535 
V6 


Vogelstein,  Hermann 

Die  Anfänge  des  Talmuds 
und  die  Entstehung  des 
Christentums