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DIE
ANTHROPOPHAGIE.
EINE ETHNOGRAPHISCHE STUDIE
RICHARD ANDRES.
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LEIPZIG,
VERLAG VON VEIT & COMP.
1887.
Von demselben Verfasser erschien früher:
DTE METALLE
BEI DEN NATURVÖLKERN.
MIT BERÜCKSICHTIGUNG
PRÄHISTORISCHER VERHÄLTNISSE.
Mit 57 Abbildungen im Text. gr. 8. 1884. geh. 5 c#.
Demnächst erscheint:
GRUNDRISS
DER
ANTHROPOLOGIE.
Von
Dr. E. Schmidt,
Privatdozenten an der Universität Leip/.i(jf.
gr. 8. Mit zahlreichen Abbildungen im Text.
Leipzig. Veit & Comp.
DIE
ANTHROPOPHAGIE.
EINE ETHNOGRAPHISCHE STUDIE
VON
RICHARD ANDREE.
LEIPZIG,
VERLAG VON VEIT & COMP.
1887
Das Eecht der Herausgabe von Übersetzungen vorbehalten.
Druck von Metzger & Witt ig in Leipzig.
'\ 0 r w 0 r t .
Bei der Anthropophagie ist zu unterscheiden zwischen der zu-
fälligen oder notgedrungenen und der gewohnheitsmäßigen. Die
erstere, welche infolge von Hungersnot, bei Belagerungen, Schiff-
brüchen u. s. w. überall und zu allen Zeiten Yorkommt, ist hier
ausgeschlossen. Sie bietet kein ethnologisches Interesse. Zur Dar-
stellung soll dagegen die gewohnheitsmäßige Anthi-oi^ophagie ge-
langen, welche einen Teil der Sitten eines Volkes ausmacht. Mit
dieser allein habe ich es zu thun; die Thatsachen sollen möglichst
vollständig vorgeführt, die verschiedenen Stufen und die Ursachen,
die gleichfalls sehr mannigfacher Art sind, erläutert werden. Zu-
nächst behandle ich die Anthropophagie in vorgeschichtlicher Zeit,
woran sich eine kurze Übersicht der alten geschichtlichen Nach-
richten über den Kannibalismus anschließt, kurz deshalb, weil die-
ses Thema bereits wiederholt bearbeitet worden ist. Es schließt
sich daran ein Kapitel über die anthropophagen Überlebsel Europas,
über dasjenige, was in Sagen, Märchen, Volkssitten und Aber-
glauben auf ehemaligen Kannibalismus in Europa schließen läßt.
Dann folgt jener Teil meiner Arbeit, auf welchen ich den Nach-
druck lege: die heutige Verbreitung und Ausübung der Anthropo-
phagie, wobei die Thatsachen in geographischer Ordnung vorgeführt
werden. Eine Ableitung der Ergebnisse aus dieser Stoffsammlung
ergiebt sich dann von selbst und die verschiedenartigen Beweg-
gründe, sowie die allgemeinen Betrachtungen über die noch bei
rv Vorwort.
Millionen heute herrschende Menschenfresserei, das allmähliche
Schwinden derselben, gleichlaufend mit dem Vordringen der euroi^äi-
schen Einflüsse und unserer Civilisation, können klar gelegt werden.
Bereits in den Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leip-
zig 1873 habe ich eine Abhandlung über die Verl)reitung der An-
thropophagie veröftentlicht , welche der nachstehenden Darstellung
zu Grunde liegt. Seit jener Zeit hat sich der Stoff gehäuft, es
sind nicht nur zahlreiche Belege, namentlich Afrika betreffend,
hinzugekommen, sondern auch die Frage nach der prähistorischen
AnthrojDophagie ist jetzt eingehender erörtert worden, als es nach
dem damaligen Stande der Wissenschaft der Fall sein konnte. Da
jene kleine Abhandlung oft verlangt wurde und an einem weniger
zugängigen Orte sich befindet, so habe ich mich entschlossen, die-
selbe in ausführlicherer und mit den neuesten Ergebnissen der
Wissenschaft vermehrter Form hier wieder zu veröffentlichen.
Leipzig, im Juli 1886.
Dr. R. Andree.
Inhalt.
Seite
Die prähistorische Anthropophagie ... 1
Der primitive Mensch als Jäger 1. — Höhlen der Quaternärzeit mit
Menschenknochen 2. — Zweifel an der prähistorischen Anthropophagie 2. —
Die Kannibalen von Chauvaux 3. — Analogien mit heutigen Natur-
völkern 3. — Prähistorische Anthropophagie in Frankreich 4. — Grotta
dei Colombi 5. — Grotte von Peniche 5. — Die Höhle von Holzen 5. —
Die Höhle von Scharzfeld 6.
Überlebsei im Volksglauben 6
Mythen und Überlieferungen der klassischen Völker 6. — Anthropopha-
gie und Folklore 7. — Der wilde Jäger und deutsche Menschenfi-esser-
märchen 7. — Striglen der Neugi-iechen 8. — Aberglauben verknüpft mit
dem Genüsse von Menschenfleisch 8. — Kannibalismus in der russischen
Volkslitteratur 9. — Finnische Sagen und Märchen 9. — Märchen der
Turkvölker Sibiriens 10. — Grabschändungen und anthropophager Aber-
glauben 11.
Alte geschichtliche Nachrichten über Anthropophagie .... 12
Nachrichten bei Herodot imd Strabo 12. — Massageten, Issedonen, Der-
biker 13. — Irland 13. — Griechische Mysterien 14. — Komischer Aber-
glaube 14.
Asien 15
Malayischer Archipel 15. — Marco Polos Bericht über Sumatra 15. — Die
Batta 16. — Die Dajaks 18. — Philippinen 19. — Die Manobos 19. --
Die Asuan 19. — Samojeden 20.
Afrika 21
Guineaküste und Nigerdelta 21. — Sien-a Leone 22. — Bonny 22. —
Bassam 22. — Aschanti 23. — Dahomeh 24. — Hutchinsons Schilderun-
gen aus dem Nigerdelta 25. — Bischof Crowthers Zeugnis 26. — Alt-
calabar 27. — Die Tangale 27. — Äquatoriales Westafi-ika 27. — Die
„Anziquen" 27. — Die Fan 28. — Die Kissama 30. — Die Kim-
bunda 31. — Die Jagas und das Sambamentofest 31. — Kannibalen-
höhlen im Basutolande 32. — Südafrika 35. — Centralafrika 36. —
Darfor 36. — Burum 36. — Die Niam-Niam 36. — Die Monbuttu 38. —
Die Mambanga 39. — Manjuema 40. — Kongovölker 41. — Haiti und
der Wodudienst 42.
VI Inhalt.
Seite
Australien 43
Westaustralien 43. — Südausti-alien 44. — Victoria 45. — Neu-Süd-
Wales 46. — Queensland 46. — Nordaustralien 48. — Tasmania 48.
Die Südsee 48
Die Polynesier eine Kannibalenrasse 48. — Mythologisches 49. — Neu-
Guinea und Nachbarschaft 49. — Loiüsiade-Archipel 51. — Bismarck-
Archipel 52. — Salomonen 52. — Neu-Hebriden 54. — Neu-Caledo-
nien 57. — Loyalty - Inseln 59. — Fidschi -Inseln 59. — Sandwich-
Inseln 63. — Markesas - Inseln 64. — Paumotu 65. — G-esellschafts-
Inseln 66. — Samoa-Inseln 67. — Tonga-Inseln 68. — Neu-Seeland 68.
— Mikronesien 71.
Amerika 72
Die Cariben Westindiens 72. — Mexiko 73. — Yukatan 76. — Central-
amerika 76. — Peru 76. — Gebiet des Amazonas 77. — Südamerika 78. —
Die Kaschibos 79. — Mesayas und Miranhas 80. — Die Apiacas 82. —
Die Tupi 83. — Die Botokuden 87. — Die Puiis 89. — Aurakaner 89.
— Die Feuerländer 90. — Eskimos 91. — Tinne-Indianer 91. — Chippe-
ways 92. — Potowatomis 93. — Sioux und Mohawks 94. — Prähisto-
rischer Kannibalismus in Florida 95. — Die Hametze auf Vancouver 96.
Ergebnisse 98
Die prähistorische Anthropophagie.
Schon die weite Verbreitung, welche die Anthropophagie bei
niedrigstehenden Naturvölkern der Gegenwart besitzt und die zahl-
reichen Nachrichten über dieselbe bei frühgeschichtlichen Völkern
in den Werken des klassischen Altertums legen die Vermutung
nahe, daß auch in vorgeschichtlicher Zeit Völker existierten, welche
unter die Anthroi^ophagen gerechnet werden müssen. Es scheinen
aber auch direkte Beweise hierauf hinzudeuten.
Der prähistorische Mensch, der gleichzeitig mit den großen,
jetzt meist ausgestorbenen Säugetieren, dem Höhlenbären, dem
Mammut, Een, Höhlenlöwen, dem haarigen Ehinoceros u. s. w.,
lebte, war Jäger und ernährte sich zum großen Teil vom Fleische
der Jagdtiere, deren Felle Avohl zu Kleidungsstücken verarbeitet
wurden. Die Knochen der erlegten Tiere wurden, wie zahlreiche
Höhlenfunde beweisen, mit der Steinaxt oder dem Feuersteinmesser
geöffnet; an der Art und Weise nun, wie namentlich die langen
Röhrenknochen zerbrochen oder geöffnet sind, will man erkennen
können, ob dieses von Menschenhand geschehen sei. Für die Zeit-
bestimmung der Funde ist dieses von der größten Wichtigkeit,
denn wenn die Knochen im frischen Zustande von den Menschen
geöffnet w^aren, so konnte über die Gleichalterigkeit des Menschen
und der betreffenden Tiere kein Zweifel aufkommen.
Die Jagdmittel, welche die primitiven Höhlenmenschen besaßen,
waren sicher nur unvollkommener Art, schwer wurde es ihnen, die
großen Tiere zu überwältigen und wenn einmal die Jagd versagte
und Hungersnot herrschte, so ist es nur zu leicht erklärlich, daß
der primitive Mensch prähistorischer Zeit zum Anthropophagen
wurde, wie heute noch der Hunger selbst in Kulturländern zum
Kannibalismus zwingt. Jenem, dem zahlreiche" Empfindungen und
Begriffe noch fehlten, die uns heute geläufig sind, wie z. B. Scham-
haftigkeit oder Pietät, konnte es kaum einen Unterschied machen,
E. Andree, Anthropophagie. 1
Die iDrähistorische Anthropophagie.
ob er Fleisch von einem Jagdtiere oder Menschen verzehrte, wenn
er nur seinen Hunger zu stillen vermochte. Verzehrte der Mensch
in der Quaternärzeit seinesgleichen, so wird er sich auch an
dem Mark der Menschenknochen erlabt haben, wie er sicher die
Markknochen der großen Säugetiere mit Steinhammer und Flint-
messer öfinete, um deren Inhalt zu verzehren. Findet man daher
im Inhalt der Höhlen der Quaternärzeit Menschenknochen, welche
in absichtlicher Weise geöffnet erscheinen und die Spuren der
menschlichen Bearbeitung zeigen, so kann man wohl schließen,
daß sie zu dem Zwecke zerbrochen wurden, um das Mark zu Xah-
rungszwecken zu erlangen. Eine große Anzahl Entdeckungen sind
nach dieser Richtung hin in der letzten Zeit gemacht worden;
man hat die deutlichsten Beweise künstlicher Öffnung von Mark-
knochen, die Schnitte der Feuersteingeräte an denselben finden
wollen und sich immer mehr der Ansicht zugeneigt, daß man es
mit Überresten prähistorischer Kannibalenmahlzeiten in solchen
Fällen zu thun hat.
Allemal kommt es hierbei aber auf eine sehr genaue Unter-
suchung der Menschenknochen an, auf die Art und Weise, wie
dieselben geöffnet wurden. Das Zerschlagen und Offnen kann zu
verschiedenen Zwecken stattgefunden haben; es ist bekannt, daß
heute noch einzelne Völker das Mark von Röhrenknochen nur ge-
winnen, um damit Felle zu gerben. Das kann auch bei einem prä-
historischen Volke der Fall gewesen sein und dann ist es aus-
geschlossen , hier aus dem Knochenbefunde auf Anthropophagie zu
schließen. Mit absoluter Sicherheit wird sich niemals sagen lassen:
die und die aufgefundenen, zerschlagenen und geöÖ'neten Menschen-
knochen sind die Überreste einer kannibalischen Mahlzeit oder das
prähistorische Volk, welches in dieser oder jener Höhle hauste, be-
stand aus Kannibalen. Es hat daher auch die Vorstellung von
prähistorischen Anthropophagen wiederholt Gegner gefunden. Mögen
nun aber auch die Schlüsse, welche man auf prähistorischen Kanni-
balismus aus den zerschlagenen Menschenknochen zieht, hinfällig
sein — die Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit für letztere ist
trotzdem vorhanden; sie werden gestützt durch die Analogie, welche
zwischen den vorgeschichtlichen Völkern und den heute der Anthro-
pophagie ergebenen Naturvölkern besteht, eine schlagende Ana-
logie, die nicht mehr besonders hervorgehoben zu werden braucht.
Der erste, welcher auf Kannibalismus in vorgeschichtlicher Zeit
schon vor vierzig Jahren hinwies, war Professor A. Speing in
Lüttich, welcher die Höhlen von Chauvaux bei Namur in Belgien
Die prähistorische Anthropophagie.
durchforschte und hier in großer Masse Menschen- und Tierknochen
mit Asche und Kohlenstücken vermengt vorfand. Alle Röhren-
knochen waren zerschlagen. ,,uni zu dem Marke zu gelangen'-, und ein
Unterschied zwischen Menschen- und Tierknochen fand hierbei nicht
statt. Wohl aber durfte Speing sich wundern, daß kein einziger
Knochen einem alten Mann oder einer alten Frau angehört hatte,
denn sämtliche UbeiTeste stammten von Jünglingen, jungen Frauen
oder Kindern, woraus Speixg auf Feinschmeckerei der alten kanni-
balischen Höhlenbewohner schließt, die nicht von der Not gedrängt,
nur das zarte Fleisch jugendlicher Genossen verzehrten. Speixgs
Darlegungen erregten anfangs heftigen Widerspruch, aber dem
massenhaften von ihm vorgelegten Material gegenüber neigte sich
die Wagschale mehr zu gunsten seiner Ansicht.^
Nachdem durch Speing einmal der Kannibalismus des vor-
historischen Menschen angeregt worden war, begannen die Forscher
eifrig nach neuen Belegen zu suchen und die aufgefundenen
Menschenknochen unter dem Gesichtspunkte der Anthropophagie zu
betrachten. Besonders reiche Beweise brachte man aus Frankreich
bei. denen gegenüber die Zweifel zu schwinden begannen, zumal es
ja an und für sich nicht die geringste Unwahrscheinlichkeit dar-
bietet, daß unsere Vorfahren demselben Gelüste gehuldigt haben,
welches unter den heutigen Naturvölkern noch so weit verbreitet
ist. Wie bei den Australiern und nach ScHWEiNruETH bei den
Niam-Niam, nach Bowdich bei den Aschanti noch heute Schädel-
und Knochenstücke von Menschen als Zierat getragen werden, so
schmückten die alten Bewohner des Departements Aveyron in Süd-
frankreich sich mit durchbohi'ten Menschenzähnen, die, an Schnüren
aufgereiht, als Ketten getragen wurden, wie Caetailhac nach-
gewiesen hat.- Es mag uns in diesem Falle freistehen, ein pietät-
volles Erinnerungszeichen an einen Verstorbenen nach Art der
Australier oder an eine Siegestrophäe nach Art der Niam-Niam zu
denken, die von einem erschlagenen, möglicherweise verzehrten
Feinde herrührt. F. Gaeeigou, der es sich zur besondern Aufgabe
setzte, die Anthropophagie der ,,Eenntierfranzosen-' nachzuweisen,
hat dafür eine Anzahl Beweise s;esammelt.^ Er führt aus, daß die
^ A. Spring, Rapport sur un memoire siir Tethiiogi-aphie de Thomme du
renne par Ed. Dupoxt. Bull, de l'aead. royale du Belgique. T. XXII. Xo. 9 und 10.
- In MoRTiLLETS Materiaux pour Thistoire positive et philosophique de
l'homme III. 65.
^ L'Anthropophagie chez les peuples des ages du renne etc. Bull, de la
soc. d'Anthropol. 1867. 326.
1*
Die prähistorische Authi-opophagie.
Meiisclienknochen, welche zuerst mit Tierknoclien in den zur Renn-
tierzeit gerechneten Höhlen des Thals von Tarascon (Ariege). von
Sabart (Sounchut) von Niaux = Grande und Niaux-Petite, von Be-
deillac etc. im südlichen Frankreich vorkommen, für ihn als restes
de repas faits par Vliomme gelten. Er hat dann seine Beweise
durch Belege aus dem Departement Lot vermehrt, wo namentlich
in der Höhle Cuzoul de Mousset viele zerschlagene und kalcinierte
Menschenknochen auf Kannibalismus deuten.^ In den Dolmen des
Departements Lozere hat Peunieres neben einem mit Bronze-
schmuck versehenen Skelette, Knochen von alten und jungen Men-
schen, nur Bruchstücke, im ,, angenagten'- Zustande, nebst einem
aufgeschlagenen Röhrenknochen gefunden, die auf Kannibalismus
hinwiesen; Zweifel, welche der verdiente Beoca erhob, scliienen
durch eingesandte Belegsstücke widerlegt.^ Felix Regnault be-
hauptete mit vielen Beweisstücken den Kannibalismus der alten
Bewohner von Montesquieu im Departement Ariege. Die zerbroche-
nen Menschenknochen wurden dort zusammen mit Feuersteingeräten
und den Knochen vom Höhlenbär, Hirsch, Ochs, Pferd, Hund und
der Höhlenhyäne gefunden ; die Menschenknochen waren casses par
des Instruments tranchants und zwar nach einer ganz bestimmten
Weise, die Regnaflt als bec de -flute bezeichnet.^ A. Roujor bringt
'von der Station Villeneuve St. Georges (Steinzeit) Beweise für die
Anthropojjhagie bei.^
In der vortrefflichen Arbeit von Eduard Piette über die
Grotte von Gourdan, Departement Haute Garonne^, wird die Frage
aufgeworfen, ob die alten Renntierjäger, deren Spuren dort massen-
haft vorhanden sind, auch Anthropophagen waren? Zahh'eiche
menschliche Schädelfragmente mit sehr deutlichen Spuren von Schnit-
ten, als ob die Schädelhaut mit Feuersteingeräten abgezogen worden
wäre, wurden dort aufgefunden. Dann zerlegte man den Schädel,
wie die Bruchstücke beweisen, und suchte wohl zum Gehirn zu
gelangen. Bemerkenswert ist, daß man nur Schädel und Atlas-
knochen, keine anderen menschlichen Teile in der Grotte fand.
Piette meint, daß die Renntierjäger von Gourdan eine Art von
Kopfschneller gewesen seien, welche die Häupter ihrer Feinde als
Siegestrophäen in die Grotte hineinbrachten, diese dort skalpierten
» Bull. d. 1. soc. de Geologie de France. T. XXVI. 461.
2 Bull. d. 1. soc. d"Anthropol. 1868. 317. 404.
^ Bull. d. 1. soc. d'Aiithropol. 1869. 476. 485.
'' Bull. d. 1. soc. d'Aiithropol. 1866. 607. 611 und 1867. 239.
5 Bull. d. 1. soc. d'Anthropol. 1873. 407.
Die prähistorische Anthropophagie.
und dann das Gehirn verzehrten. Für diese Ansicht sprechen ge-
nau die Kopfjäger von der Insel Lazon, über welche freilich damals
PiETTE noch nicht unterrichtet sein konnte (siehe unten).
Bei den Ausgrabungen in der Grrotta dei Colombi auf der Insel
Palmaria (Golf von Spezia) hat Capellini neben rohen Feuerstein-
werkzeugen, Topfscherben und Knochennadeln, Knochen von Ziegen,
Schweinen, Rindern etc. auch Oberschenkelbeine gefunden, die vom
Feuer versengt sind und an der hinteren Fläche Einschnitte tra-
gen, ,,die daher rühren, daß man mit einem Feuerstein das Fleisch
abgeschnitten hat--. Nach Capellini s Meinung gehören sie einem
Affen (Macacus inuus) an; aber die Untersuchungen von Boyd
Dawkins und Prof. Busk haben ergeben, daß es sich hier um das
Oberschenkelbein eines etwa achtjährigen Kindes handelt. Aus der
Roheit der aufgefundenen Artefakte geht hervor, daß in der Höhle
sehr niedrig stehende "Wilde lebten, welche auf Grund des obigen
Fundes für Kannibalen angesehen werden. ^
Auf der iberischen Halbinsel sind die Menschenknochen, welche
sich in den neolithischen Ablagerungen der Grotte von Peuiche
vorgefunden haben, von Delgado als Beweise für den Kannibalis-
mus der Vorzeit angesprochen worden. Ein zur Prüfung dieser
Frage auf dem Lissabonner prähistorischen internationalen Con-
gress 1880 niedergesetzter Ausschuß war geteilter Ansicht, indem
einzelne Mitglieder zustimmten, andere die Möglichkeit und Wahr-
scheinlichkeit prähistorischer Anthropophagie in diesem Falle zu-
gaben und wieder andere dieselbe leugneten.^
Was schließlich unser Vaterland betrifft, so ist auch dieses
nicht frei befunden von prähistorischen Kannibalen. In einer der
Bronzezeit zugerechneten Höhle beim Dorfe Holzen, unweit Eschers-
hausen, hat A. Wollemaxx an den Herdstellen Anhäufungen von
Menschenknochen gefunden, deren Röhrenknochen sämtlich zer-
schlagen und angebraunt waren, „so daß an den Feuern ohne
Zweifel einst Menschen verbrannt wurden'-. Unverletzt dagegen
waren die kein Mark enthaltenden Knochen; Wollemann deutet
daher die Knochenreste als Überbleibsel kannibalischer Mahlzeiten-^,
eine Ansicht , der sich unter näherer Begründung auch Prof.
Neheing angeschlossen hat.^
' Boyd Dawkixs, Die Höhlen. Deutsch. Leipzig 1876. 208. iind Archiv
für Anthropologie. IV. 163.
- Archiv für Anthropologie. XIII. Supplement. 106—108.
* Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. 1883. 517.
* Daselbst. 1884. 88.
6 Überlebsel im Volksglauben.
Mindestens den Verdacht der Anthroi^ophagie erregen die alten
Hölilenbewobuer der neolitliisclien Zeit, welche in der Einhornhöhle
bei Scharzfeld am Harze wohnten. C. STEUCKaiAisTf, der diese Höhle
untersuchte, fand darin zahlreiche menschliche Gebeine ohne jede
Ordnung wild durcheinander zwischen den zerschlagenen Tier-
knochen und Topfscherben, also inmitten der Küchenabfälle. Ein
Knochen scheint nachweisbar von Menschenhand gespalten. Sichere
Beweise aber, daß die Mehrzahl der Knochen absichtlich wegen der
Markgewinnung geöfihet wurde, fehlen. ^
Überlebsei im Volksglauben.
Wie die vergleichende Mythologie in den Volksmärchen und
Sagen reichen Stoff zum Wiederaufbau der alten Götterwelt ge-
funden hat, so können, und mit noch größerem Eeclite, die An-
klänge, welche Märchen und Sagen verschiedener, heute auf einer
hohen Kulturstufe stehender Völker an Menschenfresserei zeigen, als
Überlebsel aufgefaßt werden und dazu dienen, das ehemalige Vor-
handensein der Anthropophagie bei solchen Völkern darzuthun. Mit
größerem Rechte sage ich, weil die Analogie der Naturvölker, bei
denen heute noch die Anthropophagie in ausgedehntem Maße
herrscht, hier bestätigend zu Hilfe kommt, eine Analogie, die bei
Götterrekonstruktionen nicht im gleichen Maße zur Seite steht.
Was in den Mythen und Überlieferungen der klassischen Völ-
ker von menschenfressenden Göttern und Helden berichtet wird,
gehört auch in das Gebiet, welches hier berührt wird; die An-
schauung ist dieselbe, wie in unseren heutigen Märchen und Sagen
von Menschenfressern, wenn auch eine Niederschrift schon vor
tausenden von Jahren erfolgte. An das Treiben der Hölilenkanni-
balen, wie prähistorische Funde es uns kennen lehren, oder wie
es unsere Zeit in den Höhlen des Basutolandes gesehen hat, er-
innert die Schilderung der Odyssee, wo der Kyklop Polyphem nach
den Gefährten des Dulders von Ithaka griff.
^ Archiv für Anthropoloyio. XIV. 227—229.
I
Überlebsel im Volksglauben.
Deren er zween anpackt, und wie junge Hund' auf den Boden
Schmettert: blutig entspritzt ihr Gehirn und netzte die Erde.
Dann zerstückt' er sie Glied vor Glied, und tischte den Schmaus auf,
Schluckte drein, wie ein Leu des Felsengebirgs, und verschmähte
Weder Eingeweide, noch Fleisch, noch die niarkichten Knochen.
Tantalus, der am Tische der Götter speisen durfte, suchte
deren Allwissenheit zu prüfen, indem er ihnen das Fleisch seines
w'egen Blutschande zerstückelten Sohnes Pelops vorsetzt. Nur
Demeter ißt aus Versehen von der Schulter, während die ührigen
Götter die Speise erkennen. Atreus tötet die beiden Söhne des
Thyestes, läßt die zerstückelten Leichname teils kochen, teils
braten und setzt dem Vater beim Gastmahle das Fleisch zu essen,
das Blut unter den Wein gemischt zum Trinken vor. Und so öfter.
Sehi- reich an Beziehungen zur Anthropophagie ist das Gebiet
dessen, was wir heute unter der Bezeichnung „Folklore'' zusam-
menfassen. Jedoch kann dieses Kapitel nicht eingehend hier be-
handelt werden, da der Schwerpunkt meiner Arbeit auf ethnogra-
phischem Gebiete liegt; aber zeigen läßt sich, daß in der Volks-
litteratur die wesentlichen Gesichtspunkte, welche bei der Anthropo-
phagie in Betracht kommen, von dem rohen, sättigenden Genuß des
Menschenfleisches, also der rein materiellen Seite, bis zu den damit
verkniq^ften verfeinerten abergläubigen Wahnvorstellungen vorhan-
den sind.
Der wilde Jäger oder Wod jagt und erlegt (in den pomnier-
schen Sagen) ein paar Frauenzimmer und wirft denen, die ihm bei
der Jagd behilflich waren, als Speise und Belohnung ein Frauen-
bein zu. „Hast mit Jacht, käst uk mit frete.'"' ^ So verlangt der
wendische Bauer von Dissenchen in der Lausitz im Übermut vom
Nachtjäger die Hälfte des Jagdertrags. Da bekommt er die Hälfte
eines Menschen. ^ Als die Hexen in Swinemünde hungrig waren,
sagte die eine zur anderen: Drüben unsere Nachbarin liegt in den
Wochen, da wollen wir ihr Kind holen und es schlachten.^
Nach dem altertümlichen serbischen Volksglauben fressen die
Hexen das Herz aus dem Leibe des Menschen. Li einem Liede^
ruft ein Hirtenknabe, den seine Schwester nicht erwecken kann:
Hexen haben mich ausgegessen, Mutter nahm mir das Herz, Base
leuchtete ihr. Daß der nämliche Wahn unter den alten Deutschen
^ Jahn, Volkssagen aus Pommern. No. 19 und 21.
^ Veckenstedt, Wendische Sagen. Graz 1880. 43.
^ Kuhn und Schwaetz, Norddeutsche Sagen. No. 32.
* Vuk. Nr. 363.
überlebsei im Volksglauben.
herrschte, bezeugen Stellen der Volksrechte: si stria liominem come-
derit. ^ unsere heutigen Märchen stellen die Hexen als Waldfrauen
dar, die sich Kinder zur Speise füttern und mästen^, also rein
materiell das Fleisch genießen.
Die Striglen der Neugriechen hingen mit den Strigen des
griechisch-römischen Altertums zusammen, jenen boshaften Zauber-
frauen des populären Aberglaubens, von denen man erzählt, daß
sie des Nachts in Vogelgestalt zu den Wiegen der Kinder flögen
und diesen das Blut aussaugten. In einer unter Johannes' von
Damaskus Namen überlieferten Abhandlung werden die argr/yai
nach damaliger volkstümlicher Auflassung geschildert als nachts
durch die Luft fahrende Frauen, welche die kleinen Kinder er-
würgen oder ihnen die Leber ausfressen. Der altertümliche Strigen-
glaube hat sich noch an einzelnen Orten Griechenlands erhalten.^
Auch jener Zug, welcher bei den heutigen Anthropophagen
charakteristisch ist und häufig wiederkehrt, die völlige Vernichtung
des gehaßten Feindes dadurch, daß man ihn verspeist, ist schon
vorhanden in unseren Volksmärchen. Die Stiefmutter Schneewittchens
verzehrt Leber und Lunge von einem Frischlinge im Wahne es
seien Leber und Lunge des von ihr gehaßten Schneewittchen.
Es zeigen sich desgleichen in der Volkslitteratur jene aber-
gläubischen Vorstellungen, die mit dem Genüsse von Menschenfleisch
noch heute bei den antropophagen Naturvölkern verknüpft sind, nem-
lich, daß der Verspeisende besondere Kräfte und Eigenschaften dadurch
erhalte. „Wer ein gekochtes Menschenherz ißt, wird unsichtbar."^
Nicht anders die Chinesen noch heute, bei denen dieser Aber-
glaube bis zur Ausführung herrscht. The people in the district
Cheung-lok seized a youth, carried him to the top of a hdl, xchere
they killed him and ate his heart (1871).^ Ein englischer Kaufmann
in Schanghai betraf seinen chinesischen Diener darüber, wie er ein
Menschenherz nach Hause brachte, um es dort zu kochen und zu
verzehren. Es sei das Herz eines Taipingrebellen, sagte er, und
er esse es, um tapfer zu werden.^
1 In der lex sal. 67. Gkimm, D. M. 611.
^ Geimm, Kindermärchen. 51. 56. 113. Auch der siebenbürgische Menschen-
fresser mästet die drei Schwestern mit Stritzelu und Nüssen. Häi.tkich, Deutsche
Volksmärchen aus Siebenbürgen.^ No. 38.
^ B. Schmidt, Volksleben der Neugriechen. 136.
■* Grohmann, Aberglauben aus Böhmen. No. 1448.
■' "W. Lobscheid, Evidence of the affinity of the Polyncsians and American
Indians. Hongkong 1872. 62.
® Tylor, Early history of Maukind. London 1865. 131.
Überlebsel im Volksglauben. 9
Auch dämouisclie Verwandlungen werden durch den Genuß von
Meuschenlleisch bewn-kt. So wird bei den Indern der Knabe Vija-
yadatta dadurch, daß ihm Menschenhirn an die Lippen spritzt, zum
mörderischen, leichenzertieischenden Rakschasa ^ und nach dem
Yolksghiuben im Braunschweigischen, muß jeder, der Menschenfleisch
kostet, auf immer Menschenfresser werden. Bei Seesen ging ein
Mädchen durch den Wahl, dem begegnete eine Menschenfresserin,
die der Kleinen Wurst anbot. Da kam eine weiße Katze, die
warnte das Mädchen, ja die Wurst nicht anzunehmen, denn sie war
aus Menschenfleisch. Die Katze hängte hierauf die Würste an die
Büsche, da kamen Raben und Wölfe und fraßen sie auf. Seit jener
Zeit mögen Raben und Wölfe am liebsten Menschenfleisch. -
Daß in der russischen Volkslitteratur Spuren vorhanden sind,
die auf alte Menschenopfer und Kannibalismus hindeuten, hat
WojEWODSKT nachzuweisen unternommen. Er führt ein Volkslied
s^, in welchem ein Rätsel aufgegeben ist: Ein menschlicher Körper
wird in seine Teile zerlegt und diese werden zu allerlei verbraucht,
z. B. aus dem Blut wird Bier gebraut, aus dem Fette macht man
Lichter u. dergl. Mit Rücksicht auf die einzelnen Teile werden
einzelne Fragen vorgelegt, wie: Was ist das? Etwas Liebes brennt
vor mir als Licht. Wojewodsky leitet die Entstehung jener Ge-
dichte aus einer Zeit her, in welcher noch Kannibalismus herrschte.^
Auch das russische Märchen von der schönen Wasilissa gehört
hierher. Sie kommt zu einer Hexe, Baba-Jaga, welche im dichten
Walde eine Hütte bewohnt. Der Zaun um die Hütte besteht aus
Menschenknochen, auf denselben sind Menschenschädel befestigt, an
der Thür statt der Pfosten Menschenbeine, statt der Riegel Hände;
in der Nacht leuchten an den Schädeln die Augen u. s. w. Den
knöchernen Schädeln Averden auch heute noch magische Wirkungen
in Rußland zugeschrieben."*
Die Märchen und Sagen der finnischen Völker im Innern des
europäischen Rußland zeigen ebenfalls Anklänge an ehemalige
Menschenfresserei. Ein wotjäkisches Märchen ° berichtet von dem
schlauen Knaben Wanka, den eine Hexe durch ihre Tochter braten
lassen will. Die Tochter befiehlt ihm sich auf die Schaufel zu
^ Brockhavs, Somadeva. 142.
- CoLSHORX, Märchen und Sagen. Hannover 1854. Xo. 8.
^ Parallel läuft eine tscliechische Sage, mitgetlieilt von Gr. Krek, Einleitung
in die slawische Litteraturgeschichte. Graz 1874. 265.
* Nach einem Eeferat von L. Stieda im Archiv f. Anthropologie. XI. 348.
= M. Buch, Die Wotjäken. Helsingfors 1882. 116.
10 Überlebsel im Volksglauben.
setzen, um ihn in den geheizten Backofen zu schieben; er stellt
sich aber ungeschickt und als die Tochter es ihm vormacht, schiebt
er diese schnell in den Ofen, wo sie gebraten wird. Nun kommt
die Alte zu Hause, sieht in den Ofen und spricht: ,,Ach, Wanka,
wie schön du gebraten bist.'' Sie zieht den'Menschenbraten hervor
und verzehrt ihn. Sie verspeist somit ihr eigenes Kind und diesen
Zug finden wir auch anderweitig und die Backofengeschichte spielt
gleichfalls in deutschen Märchen.
In den Märchen und Sagen der Turkvölker Südsibiriens leben
auch die Menschenfresser fort, wiewohl wir bei den heutigen Vieh-
züchtern jener Gegenden keinerlei Spuren von Kannibalismus nachzu-
weisen vermögen. In dem von den Altajern erzählten Märchen von
Tardanak und Täktäbäi Märgän Averden deutliche Menschenfresser-
geschichten erzählt, wie in unseren Kindermärchen, ^
Tardanak wird von dem siebenköpfigen Jälbägän in einen Sack
gesteckt um als Speise zubereitet zu werden ; mit List befreit er
sich daraus, schneidet den Kindern Jälbägäns die Köpfe ab und
kocht deren Leiber in einem Kessel. Da kehrt Jälbägän zurück:
Sah das Fleisch, welches im Kessel gekocht war.
Als er das Fleisch sah, sprach er:
Meine Kinder haben gut gethan,
Den Tardanak haben sie getötet
Und gekocht, das ist gut.
Das im Kessel befindliche Fleisch nahm und aß er.
So ist also auch hier der Menschenfresser geprellt und verzehrt
die eigenen Kinder im Wahne, einen Fremden zu essen.
Die Anschauungen, wie sie in den Märchen und im Yolksaljer-
glauben hier uns entgegentreten, namentlich der Wahn, dass im
menschlichen Fleische und Blute Heilkraft vorhanden sei, sie be-
stehen noch jetzt beim gemeinen Volke und äußern sich praktisch.
Als die Hinrichtungen in Deutschland noch öffentlich waren,
ist es häufig vorgekommen, daß Zuschauer ihre Taschentücher in
das Blut hingerichteter Verl)recher eintauchten, um sie dann zu
Heilzwecken zu benutzen, gerade so wie der arme Heinrich des
Hartmann v, d. Aue durch das Herzblut einer reinen Jungfrau
vom Aussatz geheilt werden sollte. Bei Daher in Pommern wurde
eine Kindsmörderin hingerichtet; als ihr Blut umherspritzte, drängten
sich alle Leute, die etwas zu verkaufen hatten, besonders Bäcker
^ Radloff, Yolkslittcratur der türkischen Stamme Süd-Sibiriens. St. Pcters-
ImriT 18(56. I. 28. 32.
Überlebsel im Volksglauben. 11
und Brauer, heran, um in einem Lappen einige Tropfen davon auf-
zufangen. Der Lappen mit solchem Blut wurde von den Bäckern
in den Brotteig, von den Brauern in das Bier getaucht, damit sie
Kundenzulauf erhielten, ^)
Mit solchem Aherglauben hängen auch sich wiederholende
Grabschändungen zusammen, wobei den Leichen Blut oder Stück-
chen Fleisch entnommen werden, um sie Erkrankten einzugeben,
wie derlei Fälle 1871 und 1877 festgestellt sind zu Eostasin bei
Lauenburg (Pommern) und Heidemühl (Kreis Schlochau). Gottfi-ied
Dallian aus Neukirch bei Elbing ermordete und beraubte am 31.
Dezember 1865 die ledige Elisabeth Zernickel und verzehrte, wie
die Gerichtsverhandlung ergab , einen Teil ihres ausgebratenen
Bauchfleisches „um Ruhe in seinem Gewissen zu finden". Die Her-
zen ungeborener Kinder gelten vielfach als Schutzmittel für Räuber
und Diebe. Sie werden roh, sowie sie dem Leibe der Mutter ent-
rissen waren, gegessen. ^ Berliner Zeitungen vom 13. November
1879 meldeten:
,,In einem Gebüsch im Friedrichshain, gegenüber der Elbinger
Straße, fand man gestern früh um 8 Uhr einen Sarg, dessen Deckel
abgehoben war und in welchem die nur spärlich bekleidete Leiche
eines etwa ein Jahr alten Mädchens lag. Die sofort benachrichtigte
Polizei des 51. Reviers konstatierte eine grausige Yerstümmelung
der Leiche: Brust und Leib waren aufgeschnitten und Herz, Leber
und Lunge gewaltsam aus dem Körper gerissen. Die sofort ange-
stellten Ermittelungen ergaben, daß das Kind die erst am Mittwoch
der vorigen Woche am Keuchhusten verstorbene, Sonntag begrabene
Emma Schönberg, das Töchterchen des in der Fischerstraße 29
wohnenden Schuhmachermeisters Schönberg. ist. Die Bestattung
hatte auf dem katholischen Kirchhof in Weißensee stattgehabt.
Der Chef der Kriminalpolizei , Graf Pückler und der Staatsanwalt
haben alle zur Entdeckung der Thäter führenden Maßregeln selbst
angeordnet.'- Offenbar liegt hier ein ähnlicher Fall vor, wie die
bereits oben gemeldeten. Man sieht also, wie die düstern Anschau-
ungen, die mit ehemaliger Anthopophagie zusammenhängen, bis auf
unsre Tage in der Hauptstadt des deutschen Reichs in niederen
Volksschichten fortbestehen, Anschauungen, denen wir bei ganzen
Völkern im folgenden noch sehr häufig begegnen werden. Ich
nehme, der Parallele wegen, hier einen Fall vorweg.
^ Jahx, Volkssagen aus Pommern. No. 440.
^ Maxxhardt, Die praktischen Folgen des Aberglaubens. Berlin 1878. IT ff.
12 Alte geschichtliche Nachrichten über Anthropophagie.
Die mohammedanischen Xubier, mit denen S, W, Bakee seineu
Eroberimgszug 1872 nilaufwärts nach Unjoro unternahm, waren
ijicht frei von dem schrecklichen Aberglauben, dass das Verzehren
von Menschenfleisch besondere Eigenschaften verleihe. „Diese aber-
gläubischen Leute hatten die Vorstellung, dass jede abgeschossene
Kugel einen Mann aus Unjoro töten würde, wenn sie nur ein Stück-
chen von der Leber ihrer Feinde verzehren könnten. Sie hatten
daher die Leber eines Erschossenen herausgeschnitten, unter sich
verteilt und positiv roh verzehrt. Den Körper hatten sie mit ihren
Schwertbajonetten in Stücken zerlegt, welche sie, zur Warnung für
die Leute von Unjoro, auf die Büsche gehängt hatten.-*^
Alte geschichtliche Nachrichten über Anthropophagie.
Den Übergang aus der vorgeschichtlichen Zeit zum Kannibalis-
mus der Gegenwart vermitteln uns eine große Anzahl historischer
Belegstellen in den Schriften der Alten, die sämtlich, mit größerer
oder geringerer Wahrscheinlichkeit, einzelne Völker oder Völker-
stämme der alten Welt des Kannibalismus bezichtigen, in ihrer Ge-
samtheit aber jedenfalls den Beweis herstellen, daß die Anthropo-
phagie im Altertum eine Thatsache war. Hier, wo der Schwerpunkt
auf die Anthropophagie bei den Völkern der Gegenwart gelangt ist,
kann dieses Kapitel nur kurz behandelt werden, um so mehr, als
dasselbe schon wiederholt bearbeitet worden ist. ^
Herodot wie Steabo sind eine wahre Fundgrube von Nach-
richten über alte Anthropophagen; bemerkbarer Weise beschuldigen
sie jedoch meistens solche Völker, die an der Peripherie ihres geo-
graphischen W^issens wohnten, Stämme im heutigen Rußland und
in Mittelasien. Wenn unter den Massageten, so heißt es beim
^ S. W. Baker, Ismailia. London 1874. II. Sbi.
^ Petrus Petitüs, De natura et moribus anthropophagorum. Utrecht 1688.
Eine im Archiv für Anthropologie IV. 245—286 befindliche Abhandlung darf
nur mit der allergrößten Vorsicht benutzt werden. Eine sehr gute und klare
Übersicht giebt Dr. Leonard Kortu „Geschichtliches und Geogi-aphisches über
den Kannibalismus". Ausland 1883. 1001. Aus dieser Übersicht habe ich im
nachstehenden einiges entlehnt.
Alte geschichtliche Nachrichten über Anthropophagie. 1 3
Hekodot^, Jemand ein sehr hohes Alter erreicht, so kommen seine
nächsten Blutsverwandten zusammen und opfern ihn und mit ihm
mehrere Schafe. Nach vollbrachtem Opfer kocht man sowohl den
geopferten Anverwandten, als die geschlachteten Schafe und verzehrt
beide gemeinschaftlich. Die Massageten halten diese Behandlung
ihrer Anverwandten für ein großes Glück. Solche Personen jedoch,
die an Krankheiten sterben, verzehren sie nicht, sondern begraben
sie; dies wird aber als ein Unglück beklagt, da dem Gestorbenen
nicht die Ehre des Begräbnisses im Leibe seiner Verwandten zu
teil geworden. Gleichfalls nach Heeodot^ war es unter den Nach-
barn der Massageten, den Issedonen, Sitte, daß die Söhne nach
dem Tode der Väter Opfertiere schlachteten, dann die gestorbenen
Väter wie die geschlachteten Tiere zerstückelten, beides kochten und
verzehrten. Besonders aber hoben sie die Schädel der Verstorbenen
als große Heiligtümer auf, fassten sie in Gold und brauchten sie
bei ihren jähidichen Opfern. Heeodot nennt selbst in Indien mehrere
Völker^, unter welchen entweder die Kinder ihre verstorbenen
Eltern verzehrten, oder wo man jeden kranken Verwandten bald um-
brachte, damit das Fleisch sich nicht verschlechtere, weil es zum
Verzehren bestimmt war. Aeistoteles hebt die Anthropophagie
einiger Völker am Pontus hervor; es sei dieses, sagt er, tierische
Wildheit {d-7^Qi6vi-^g), krankhaftes Gelüste wie bei den Schwangeren.
Steabo berichtet ganz ähnliches von den Derbikern in Margiana.
Sie erwürgen Greise, sobald sie das siebzigste Jahr zurückgelegt
haben und die Verwandten verzehren deren Fleisch. Alte Frauen
von gleichem Alter werden zwar erwürgt, aber nicht gegessen, son-
dern begraben.^
Von Irland (Uqvi]) erzählt Steabo^, daß seine rohen Bewohner
„sowohl Menschen- als Vielfresser und und es für rühmlich halten,
ihre verstorbenen Eltern zu verzehren und sich öffentlich zu be-
gatten , sowohl mit andern Frauen , als mit ihren Müttern und
Schwestern. Doch auch dieses erzählen wir nur so, ohne glaub-
würdige Zeugen zu haben; obgleich wenigstens die Menschenfresserei
auch eine Skythische Sitte sein soll und in Belagerungsnöten auch
die Kelten, Iberer und mehrere andere dasselbe gethan haben."
Desgleichen bemerkt Diodoeus Siculus, daß unter den wilden Be-
wohner des Nordens und an den Grenzen Skvthiens es Menschen-
1 Herodot I. 216. - Herodot IV. 26.
ä Herodot III. 38. 97. 99. ■* Strabo p. 520 ed. Casaub.
^ p. 201 ed. Casaubon.
14 Alte geschichtliche Nachrichten über Anthropophagie.
fresser gäbe, wie unter den Briten, welche die Iris genannte Insel
(das heutige Irland) bewohnen.^ Bei den blutigen Bacchanalen,
die Omophagien genannt wurden und die man alle drei Jahre be-
ging, geschah es nach dem Zeugnis des Porphyeiüs - daß man,
namentlich auf Chios und Tenedos, einen Menschen gliedweise zer-
stückelte und dessen Fleisch roh verschlang. Aber nicht allein auf
Griechenland beschränkten sich solche Mysterienbräuche. Nach
Sallust ^ tranken Catilina und seine Genossen zur Bekräftigung
ihres Bundes nicht bloß Menschenblut unter Wein gemischt, sondern
es wurde auch nach den bestimmten Versicherungen der Alten ein
Knabe geopfert, auf seine Eingeweide geschworen und davon gegessen.
JüVENAL redet von den Knabengedärmen, welche der Haruspex durch-
wühlt. Kleine Kinder zu religiösen Zwecken geopfert zu haben macht
HoRAz in seiner fünften Epode der vormals geliebten Canidia zum Vor-
wurf. Unter den christlichen Vätern erwähnt Tertulliax die Schauer-
lichkeit, wie man bis auf seine Zeit im Bunde des Jupiter Menschen-
blut getrunken. ^ Juvenal, welcher unter Domitian nach Ägypten
verbannt wurde, warf auch den Ägyptern vor, dass sie den Genuß
von Menschenfleisch gestatteten. ^ Noch in die ersten- christlichen
Jahrhunderte hinein hören Avir die Beschuldigung des Kannibalismus
vorgetragen. Der heilige Hieeontjius, welcher gegen Ende des
vierten und im Anfang des fünften Jahrhunderts schrieb, schildert
als Augenzeuge, daß die Atticoten sich von Menschenfleisch nährten
und den Busen der Weiber und den Hintern als besondere Lecker-
bissen genossen. ^
^ Editio DiNDORF et Müller. Paris 1855. p. 273.
2 abst. II. 55. 3 Qj^til. 22.
■* Adv. gnost. c. 7. Et Latio in hodiernuin diein Jovi media in urbe
humanus sanguis ingvistatur.
° Sat. XV. Noch im 13. Jahrhundert werden die Ägypter, und zwar das
ganze Volk, der Menschenfresserei angeklagt. Damals bereiste ein Arzt aus Bag-
dad, Abd-Allätif, ihr Land: „Als die Armen Menschenfleisch zu essen begannen,
waren Abscheu und Erstaunen darüber so außerordentlich, daß die fürchter-
lichen Berichte nicht aufhörton, das Tagesgespräch zu bilden. Endlich gewöhnte
sich aber das Volk daran und erlangte solchen Geschmack an der schrecklichen
Nahrung, daß selbst reiche und geachtete Leute sie als gewöhnliche Speise zu
sich nahmen und selbst Vorräte von Menschenfleisch einlegten." Winwood
Keade, Savage Africa. London 1863. 157. Bei dem alten Kulturs-olke der
Ägypter läßt sich dagegen keine 8pur von Anthropophagie dai'thun.
^ Sanctus HiERoxYMus, adversus Jovinianum. Hb. II. t. IV. 2» pars. p. 202
der Folioausgabe. Paris 1706. Quum ipse adolescentulus in Gallia vidcrim
Atticotos, gentem britannicam, humanis vesci carnibus ; et quum per sylvas por-
corum greges et armentorum pecudumque repcriant, pastorum nates et femina-
Sumatra. 1 5
Das Angeführte genügt immerhin, um das Vorhandensein der
Anthropophagie im Gesichtskreise der Alten nachzuweisen und den
Zusammenhang festzustellen, welcher zwischen den Kannibalen der
vorgeschichtlichen Zeit und jenen der Gegenwart besteht. Eine nur
zu reiche Ausbeute auf diesem Felde werden wir aber halten, wenn
wir uns den Völkern der Gegenwart zuwenden und unsern Eund-
gang mit Asien beginnen.
Asien.
Malayischer Archipel. Die Zeugnisse für die Anthropo-
phagie im indischen Archipel beginnen mit dem 13. Jahrhundert,
mit Maeco Polo, welcher die verschiedenen Inseln desselben er-
wähnt und die sechs ..Königreiche*' von Giava minore (Sumatra)
schildert, die er besuchte. Dagroian, sagt er, ist eins der König-
reiche, welches eine besondere Sprache hat. Man erzählte mir von
einem abscheulichen Gebrauche, daß, wenn einer krank ist, sie zum
Zauberer senden, ob er wohl genesen könne; sagen diese Teufel
nein, so schicken die Verwandten zu einem besonders dafür Ange-
stellten, welcher den Kranken erwürgen muß. Hierauf schneiden
sie ihn in Stücken, und die Verwandten verzehren ihn mit vielem
Vergnügen, selbst bis auf das Mark der Knochen: denn — sagen
sie — wenn irgend etwas von ihm übrig bleibt, werden daraus
Würmer entstehen, welchen Nahrung mangelt und die so, zur großen
Qual der Seele des Verstorbenen, sterben würden. Die Knochen
werden dann in irgend eine Felsenhöhle getragen, damit die wilden
Tiere sie nicht berühren können. Wenn sie einen Fremden ge-
fangen nehmen, so verzehren sie ihn auch.^ Ob nun hier speziell
die heutigen menschenfressenden Batta gemeint sind, läßt sich nicht
mehr nachweisen.
Die Anthropophagie hat sicher in früherer Zeit weit ausge-
dehnter als jetzt auf Sumatra geherrscht, und erst als der Islam
sich an den Küsten verbreitete und eine Anzahl kleiner mohamme-
rum et papillas solere abscindere , et has solas ciborum delicias arbitrari. Daß
diese Stelle sich auf Anthropophagie beziehe, ist bestritten worden (Archiv für
Anthropol. IV. 252).
^ I viaggi di Marco Polo. Ausgabe von Lodovico Pasixi. Venezia 1857. 157.
16 Die Batta.
danischer Staaten entstand, wurden die Anthropophagen nach dem
Innern zurückgedrängt, wo wir nun in den Batta den letzten Rest
derselben finden. Es ist der Yenetianer Nicolo di Conti, der uns
wohl die früheste bestimmte Nachricht bringt, daß die Batta ent-
schiedene Anthropophagen seien. Er hatte 25 Jaln-e lang Asien
bereist und erhielt 1444 vom Papste Eugeniüs IV. Absolution dafür,
daß er während dieser Zeit seinen Christenglauben verleugnet hatte.
Auf Sumatra verbrachte Conti ein Jahr, er berichtet, was damals
von großer Wichtigkeit, daß dort vortrefflicher Pfeffer wachse, und
daß in einem Teile des Landes, ,,Batech" genannt, das Volk
Menschenfleisch esse.-^
Die Batta, ein vergleichsweise hochstehendes malayisches Volk,
mit eigentümlicher Schrift und Litteratur, bewohnen im Innern Su-
matras die Hochebenen von Tobah, Sipirok, Sikunna und erstrecken
sich nordwärts bis über Singkel, wo das Pupa- und Duragebirge die
Grenze zwischen ihnen und den Atschinesen bildet. Im Süden reichen
sie bis in die Gegend von Ajer Bangis. Bei ihnen ist die Anthropo-
phagie, wie aus den mannigfachsten Zeugnissen hervorgeht, so eigen-
tümlicher Art und entspringt aus so merkwürdigen Motiven, daß
wir hier etwas ausführlicher uns damit beschäftigen müssen. Oft
angezweifelt, hat William Maesden in seinem immer noch brauch-
baren Werke über Sumatra die Thatsache, daß die Batta immer
Anthropophagen sind, festbegründet.- Die Batta, sagt er, essen
nicht Menschenfleisch, um den Hunger zu stillen, oder aus Mangel
an anderen Nahrungsmitteln, ebenso wenig wird es, wie unter den
Neuseeländern, als ein Leckerbissen gesucht. Sie essen es bloß als
eine Art von Ceremonie, um ihren Abscheu gegen das Laster durch
eine schmähliche Strafe an den Tag zu legen und als einen schreck-
lichen Beweis des Hasses und der Verspottung ihrer unglücklichen
Feinde. Die Gegenstände dieser unmenschlichen Mahlzeiten sind
im Kriege gemachte Gefangene und Missethäter, die großer Ver-
brechen überwiesen sind. Nachdem das Urteil vollzogen, wird
der Unglückliche an einen Pfahl gebunden; das versammelte Volk
wirft seine Lanzen nach ihm in einer gewissen Entfernung, und ,
sobald er tödlich verwundet ist, laufen sie wüthend hin, schneiden \
1 Purchas His Pilgrims. Tlie Third Part. London 1625. 128. — AVas
Odoardo Barbosa (1516), Beaulif.u (1622), de Bakros (1558) u. a. über die
Anthropophagie der Batta sagen, mag nachgelesen werden in J. R. Forstei:
nnd M. C. Sprengel: Beiträge zur A^ölker- und Länderkunde. Leipzig 1783.
III, 298.
^ Beschreibung der Insel Sumatra. Leipzig 1785, 387.
Die Batta. 17
Stücken aus seinem Leibe mit ihren Messern, tauchen sie in die
Schüssel mit Salz und Citronensaft. rösten sie ein wenig über einem
Feuer, das zu dem Zweck bereitet wird, und verzehren die Bissen
mit einem wilden Enthusiasmus. Zuweilen verzehren sie den ganzen
Körper, und man hat Beispiele, daß sie mit noch erhöhter Barbarei
das Fleisch mit den Zähnen abgerissen haben. Folgen bei Marsdex
einzelne Belege.
Der Botaniker Chaeles Miller, der gleichzeitig mit Maesdex
über Sumatra schrieb^, bestätigt gleichtalls, daß die Batta ..Men-
schenfleisch eher zur Erschreckung der Feinde, denn als gewöhn-
liche Nahrung essen; demungeachtet ziehen sie es allem übrigen
vor und sprechen mit besonderer Entzückung von den Fußsohlen
und flachen Händen als herrlichen Leckerbissen'-.
Sehen wir hier nun Rachsucht als Ursache des Kannibalismus,
so erstaunen wir nicht wenig, wenn wir durch Fraxz Juxghuhx
erfahren, daß die Menschenfresserei bei den Batta in einigen Fällen
sogar gesetzlich als Strafe vorgeschrieben ist und zwar dann, wenn
ein niedrig stehender Mann mit der Frau eines Radscha Ehebruch
getrieben hat, wenn Jemand sich des Landesverrats, der Spionage
oder Desertion zum Feinde schuldig gemacht und wenn ein Feind
mit den Wafi"en in der Hand gefangen genommen wird. Im letztern
Falle ist ein Auffressen bei lebendigem Leibe vorgeschrieben, in
den beiden erstem Fällen ein Verzehren, nachdem der Betreffende
getödtet worden ist.- Daß der Kannibalismus der Batta in der That
integrierender Teil des Adat (der Gesetzgebung) ist, bestätigt neuer-
dings Dr. S. Frledmaxx^, und der amerikanische Reisende Albert
S. Bickjvioee* führt eine Reihe von Beispielen an, daß noch vor kur-
zem, aller holländischen Oberaufsicht zum Trotz, jene fürchterlichen
Gesetze streng ausgeführt werden. Eine Folge dieser fortgesetzten
Übung des Kannibalismus ist gewesen, daß ein Geschmack am
Menschenfleisch bei einzelnen Batta sich eingestellt hat, wie denn
der Radscha von Sijnrok dem niederländischen Gouverneur von Pa-
dang versicherte, daß er zwischen dreißig- und vierzigmal Menschen-
fleisch gegessen, und daß er in seinem ganzen Leben nie etwas
genossen habe, das ihm halb so gut schmeckte.^
^ Account of Sumatra. Philosophical Transactions vol. LXVIII. I. 1778. 161.
- Feaxz Juxghuhx. die Battaländer auf Sumati'a. Berlin 1847. II. 155 if.
^ Die ostasiatische Inselwelt. Leij^zig 1868. II. 45 f.
•* Reisen im ostindisehen Archipel. Aus dem Englischen. Jena 1869. 323.
337. 3.S8. 339.
* BiCKMORE a. a. O. 323.
E. Andree, Anthropophagie. 2
18 Malayischer Archipel.
Auf den übrigen Inseln des malavischen Archipels dürfen wir
die Anthropophagie größtenteils als eingegangen betrachten. Zwar
herrschen dort barbarische Gebräuche, Avie das Kopfschnellen, noch
immer im ausgedehnten Maßstabe, aber Kannibalismus nicht mehr.
Der Malaye zeichnet sich durch Blutdurst aus, ja er ist nach
Müller^ der Kannibale -/xti V%oyr^v\ um so erfreulicher, daß die
Menschenfresserei l)is auf geringe Spuren im Archipel verschwunden
ist. Zu PiGAFETTAS Zeiten scheint sie noch weiter verbreitet ge-
wesen zu sein, denn er führt mehrere zu den Molukken gehörige
Inseln — die sich heute nicht mehr identifizieren lassen — , ferner
das Innere, damals noch von Heiden bewohnte Amboinas, endlich
ßuru an, wo Kannibalen hausen.^ Mit dem Vordringen des Moha-
medanismus ist die Anthropophagie auch hier ausgerottet worden.
Einst mag auch bei den Dajaks auf Borneo die Anthropo-
phagie weit verbreitet gewesen sein; heute lassen sich nur verhillt-
nismäßig geringe Spuren derselben nachweisen. Am schlimmsten
scheint es hiermit noch bei den Kajans im Innern zu stehen, Avie
aus dem Zeugnisse Spensee St. Johns hervorgeht. Das Fleisch
eines im Kriege gefallenen Feindes nahmen sie in Körben mit sich,
um es Abends im Lager zu rösten und zu verspeisen. Als 1855
mehrere Muka- Leute in Bintulu hingerichtet wurden, versicherten
einige Kajans sich des Fleisches, das sie brieten und verspeisten.
Perhaps to strike terror into tlieir enemies, sagt unsere Quelle.^
Von den Tring-Dajaks am Mahakkanflusse in Südostborneo
giebt Bock auf das entschiedenste an, daß sie Kannibalen seien.
Augenzeuge ist er indessen nicht gewesen. Eine Tringpriesterin
erklärte ihm, daß die innere Fläche der Hände, das Fleisch an
den Knieen und das Gehirn die größten Leckerbissen seien; der
Häuptling des Stammes berichtete, daß sein Volk nicht jeden Tag
Menschentleisch äße, dieses wäre nur ein Festmahl l)ei Schädel-
Jagden.^ Im Verein mit der letzteren Thatsache läßt sich hier
Rachsucht als Motiv des Kannibalismus der Dajaks annehmen.
Von Celebes sagt Bickmore, daß im Innern ein Kopfjägervolk
wohne, welches die Küstenstämme Turaju nennen und das Menschen
fressen soll. Barbosa, dessen Werk 1516 erschien, und der mit
Magalhaes später ermordet wurde, behauptet ähnliches von allen
^ Allgemeine Ethnographie. Wien 1873. 295.
2 PioAFETTA, Erste Keise um die Welt. In M. C. Sprengel „Beitrüge zur
Völker- und Länderkunde". Vierter Teil. Leipzig 1784. 138. 139. 141.
^ Si'EXSER St. John, Forests of the far east. I. 123. 124.
* C. Bock, Unter den Kannibalen auf Borneo. Jena 1882. 152. 153.
Philippinen. 1 9
Einwohnern der Insel zu seiner Zeit. Er sagt, wenn sie nach den
Molukken kämen, um Handel zu treiben, pflegten sie den König
jener Inseln zu bitten, er möge die Güte haben, ihnen die Leute
zu überlassen, die er zum Tode verurteilt hätte, damit sie an den
Leichen solcher Unglücklichen ihren Gaumen befriedigen könnten,
,,als ob sie um ein Schwein bäten''. ^
Philippinen. Schon als die Spanier unter Magalhaes nach
den Philippinen kamen, finden wir bei deren Bewohnern wenigstens
eine beschränkte Anthropophagie erwähnt. Antonio Pigafetta,
der überlebende Reisegefährte des großen Seemanns und der Schil-
derer seiner Fahrten, berichtet nämlich^: ,,An einem Vorgebirge
dieser Insel Buthuan und Callaghan (Busuagan und Calamianes?)
erzählte man uns als eine zuverlässige Sache, daß an dem Ufer
eines gewissen Flusses einige haarigte große Männer wohnten, die
sehr tapfer mit Bogen und hölzernen Degen einer Hand breit
stritten; und wenn sie einige ihrer Feinde getötet hatten, sogleich
das Herz roh mit Pomeranzen- und Citronensaft fräßen. Diese
haarigten Menschen heißen Benaian".
Den Namen Benaian finden wir wieder in Cap Benuian, der
Nordspitze der Insel Mindanao, und es ist erlaubt, hierbei an den
Stamm der Manobos zu denken, ein heidnisches malayisches Volk
an der Ostküste von Mindanao. Sempera erzählt nämlich von ihren
nächtlichen Überfällen und fügt hinzu: ,,Ist der Feind glücklich
niedergeworfen und getötet, so zieht der anführende Bangani
(Priester) ein heiliges, nur diesem Dienste geweihtes Schwert, öffnet
der Leiche die Brust und taucht die Talismane des Gottes, die ihm
um den Hals hängen, in das rauchende Blut ein. Dann reißt er
das Herz oder die Leber heraus und verzehrt ein Stück davon, als
Zeichen, daß er nun seine Rache an dem Feinde befriedigt habe.
Dem gemeinen Volk wird es nie gestattet, Menschenfleisch zu
kosten; es ist das Vorrecht, aber auch die Pflicht des fürstlichen
Priesters.'*
Desgleichen giebt Jagoe^ uns Nachrichten, weiche wenigstens
das sporadische Vorkommen der Anthropophagie auf den Philippinen
annehmbar erscheinen lassen. Er erzählt, daß fast in jedem größern
Dorfe auf Samar und Leyte unter den Bisaya-Indiern ein oder
mehrere Asuän-Familien wohnen, ,,die allgemein gefürchtet und ge-
^ Abert S. Bickmore a. a. 0. 70.
^ PiGAFETTA a. a. 0. 110.
' Dr. C. Semper, Die Philippinen und ihre Bewohner. Würzburg 1869. 62.
* F. Jagor, Reisen in den Philippinen. Berlin 1873. 236.
2*
20 Philippinen. Asiatisches Festland.
mieden, wie Ausgestoßene behandelt werden und sich nur unter
einander verheiraten können. Sie stehen im Rufe Menschenfresser
zu sein. Vielleicht stammen sie von solchen ab? — Der Glaube
ist sehr allgemein und festgewurzelt. Darüber zur Rede gestellt,
antworten alte einsichtsvolle Indier, sie glaubten allerdings nicht,
daß die Asuänen jetzt noch Menschen fräßen, aber ohne Zweifel
hätten ihre Vorfahren es gethan'*.
Im Zusammenhang mit der bekannten Kopfjägerei, und Rach-
sucht als Beweggrund zeigend, steht eine kannibalische Gewohnheit
des Stammes der Gaddanen auf Luzon. Nach Dr. Jos£ de la
Campa entnehmen sie den abgeschlagenen Köi^fen ihrer Feinde das
Gehirn, um es zu verzehren.^ Die prähistorische Analogie für diese
Art der Anthropophagie scheint — bevor letztere bekannt war —
in den Höhlenbewohnern von Gourdan (Pyrenäen) durch Piette
nachgewiesen. -
Asiatisches Festland. Das asiatische Festland angehend,
so kommen auch hier einzelne Berichte vor, welche diese oder jene
Völkerschaft der Anthropophagie bezichtigen. Indessen hier kann
es sich nur um einen Nachhall früherer Unsitte handeln, oder einen
gelegentlichen Kannibalenschmaus aus Hungersnot. Vergebens aber
sehen wir uns nach Zeugnissen um , welche gewohnheitsmäßige
Anthropophagie bei einem asiatischen Volke — die Batta ausge-
nommen — heute bestätigen. Der Vollständigkeit halber wollen
wir indessen hier anführen, was wir an Andeutungen gefunden
haben. Staatsrat von Eichw^ald giebt an, daß noch im Jahre 1863
bei den Ostjaken infolge von Hungersnot das Verzehren von Kin-
dern vorgekommen sei.^ Derselbe will auch die Samojeden des
Kannibalismus bezichtigen, da der Name derselben sich aus dem
Russischen sehr gut als ,, Selbstesser'' erklären läßt. Indessen be-
merkt Fe. Müller^ mit Recht, daß dieser Name der Volksetymo-
logie zu Liebe aus Samod entstanden sein dürfte, mit welcher
Bezeichnung noch gegenwärtig um Archangel die Samojeden von
den Russen bezeichnet werden. Er ist wahrscheinlich mit dem
Namen Suomi (Finne) und Same (Lappe) verwandt und datiert aus
der Zeit, wo Finnen, Lappen und Samojeden in unmittelbarer Nähe l
zusammenwohnten. Die Kaschmiris l)erichten, daß die Darden
^ Mitteilungen der Wiener anthroiiologischen Gesellschaft, ^'erhandlungen
1884. 53.
2 Oben S. 4.
^ Archiv für Anthropologie. III. .3.3.8.
* Allgemeine Ethnographie. 337. Amnerkung.
Afrika. 21
Anthropophagen seien, und ein Dardenstamm sagt dies dem andern
nach, wiewohl dies nach Leitxer unbegründet ist; doch soll unter
ihnen das Trinken des Blutes vom Feinde vorkommen.^
Auf Hörensagen beruhen die Angaben des Mönchs Eubeük
(RuBRUQüis, Rüysbeoek), daß bis zu seiner Zeit (13. Jahrh.) die
Bewohner von Tebec (Tibet) die abscheuliche Sitte gehabt haben
sollen, die Eltern nach dem Tode zu verzehren, sie seien deshalb
von den Nachbarn verabscheut worden. -
Afrika.
Gruineaküste und Xigerdelta. Der verdiente Anthropologe
Waitz war geneigt, die Anthropophagie bei den Bewohnern Afrikas
schon vor einem Vierteljahrhundert für fast eingegangen zu be-
trachten'^, und nur noch mit den Verleumdungen in Verbindung
zu bringen, welche ein Xegerstamm gern über den andern aus-
sprengt. So führt er nur wenige auf die Westküste und das Niger-
delta bezügliche Beispiele an, ohne großen Wert darauf zu legen
und bemerkt nur, daß wohl Feindschaft und Eachsucht die Trieb-
federn des einst weit verbreiteten Kannibalismus gewesen seien,
wie der überall weit verbreitete Ausdruck ,,den Feind auffressen'',
d. h. zu Grunde richten, noch andeute.^ Abgesehen jedoch von
den zahlreichen Beispielen, welche neuere Reisende beibringen,
lagen schon zu Waitz Zeit gehäufte Beweise des Kannibalismus
in Afrika vor, der dort noch immer eine klassische Stätte hat. Im
mohammedanischen Afrika ist die Anthropophagie so ziemlich ver-
schwunden und der Sudan kennt sie kaum. Sie tritt dagegen gleich
in dem noch dem Fetischdienste ergebenen Küstensaume auf und
reicht, mit geringen Unterbrechungen, von Sierra Leone bis an den
Gabon und darüber hinaus.
^ Dr. G. AY. Leitxer, Results of a tour in Dardistau etc. Yol. I. Part. III. 9.
Anmerkung. Labore 1873.
- Recueil des voyages public par la Societe de Geographie. Paris 1839.
IV. 289.
^ Waitz, Anthropologie der Naturvölker. Leipzig 1860. II. 166.
* LivixGSToxE erwähnt z. B. diesen Ausdruck von den Bangwaketse. Mis-
sionsreisen und Forschungen in Südaftüka. Aus dem Engl. Leipzig 1858. I. 106.
2^ SieiTR Leone. Guineaküste.
Daß es bei den Westafrikanern sich auch um reine Gefräßig-
keit und nicht nur um religiöse oder andere Beweggründe bei der
Anthropophagie handelt, dafür liegen die Beweise vor. T. J. Hut-
chinson, lange Jahre britischer Konsul in Westafrika, berichtet:
„Ich habe (1860) in einer in Sierra Leone erscheinenden Zeitun.ff
gelesen, daß der Missionar Peiddy mit eigenen Augen sah — nicht,
daß er bloß davon hörte — wie Körbe mit getrocknetem Menschen-
fleisch umhergeschleppt und der Inhalt zum Zwecke des Verzehrens
verkauft wurde. Das Fleisch stammte von Gefallenen aus einer
Fehde zwischen den Susu- und Timney- Stämmen. Die Thatsache
ist bei Gelegenheit der 67. Jahresversammlung der Missionsgesell-
schaft konstatiert worden und sie hat sich ereignet in einer unserer
Kolonieen, auf Avelche unsre Kegierung schon 8 Millionen verwendet
hat." Auf einem Palmölhulk bei Bonny (Nigermündung) wurde, in
Gegenwart des Kapitän Straw, ein Ju-ju-Mann von Hütchenson
wegen seines notorischen Kannibalismus und darüber, daß er am
Tage zuvor einen Menschenkopf, der als Leckerbissen galt, verzehrt
habe, zur Rede gestellt. Kaltblütig antwortete er: / no eat hini,
for my cook done spoil him; he no init nuff pepper ort him. Also
weil der Koch den Kopf nicht genug gepfeffert hatte, verschmähte
ihn der Kannibale. ^
Wenn Hutchinson auch das Hinterland von Liberia als Stätte
des Kannibalismus anführt, so spricht er nicht aus eigener Erfah-
rung. An und für sich erscheint die Sache nicht unwahrscheinlich,
wir bemerken nur, daß der amerikanische Neger Anderson, der es
bereiste und ein Buch darüber schrieb, durchaus nichts von An-
thropophagie in jenen Gegenden berichtet.
Der französische Viceadmiral Fleceiot de Langle, ein ge-
nauer Kenner der afrikanischen Westküste, bringt Belege bei, daß
die Schwarzen im Hinterlande von Bassam (Guineaküste) ihre Kriegs-
gefangenen verzehren. ,,Jene von N'diou sind Fremde, die, so
sagte man mir, aus dem Gebirge herabkommen. Sie gehören zu
den Bambaras. Die Quaquas haben gleichfalls diesen abscheulichen
Gebrauch, und er mangelt auch nicht den Bourbourys, sie haben
acht senegal'sche Jäger verschlungen, die sie aus einem Hinterhalt i
gefangen nahmen, und man mußte diesen Schimpf durch Verbren- \
nung von Badou, Mapoyenne ti. s. w. rächen." Ein gewisser Bieter, ^
' Transaet. Ethiiolog. Soc. New Series. I. 338. (1861). Die erwähnte
afrikanische Zeitung ist der zu Freetown erscheinende ,.African" vom 5. April
1860. Hutchinson, Ten years wanderings among the f^thiopians. London. 1861. 58.
Guineaküste. Aschauti.' 23
der in Fleueiot de Langles Berichten eine Rolle sjiielt, war zu
zehn Unzen Strafgeld verurteilt worden, weil er einen seiner Sklaven
aufgefressen hatte. ^ Die Sache ist dort übrigens nicht neu. denn
von Groß-Bassam an der Guineaküste berichtet bereits Bjecquaed,
daß die dortigen Neger noch aus Aberglauben gelegentlich Kanni-
balen seien. So findet bei der Gründung eines neuen Dorfes ein
Menschenopfer statt; aus den Eingeweiden des Geopferten weissagen
die Fetischeros: Herz. Leber und die übrigen Eingeweide werden
mit einer Henne, einer Ziege und einem Fische gekocht und alle
Festteilnehmer sind dann gezwungen, von dem Mahle zu essen.
Solche Fälle ereigneten sich noch 1850.-
Bei den Aschauti ist Anthropophagie nur eine sehr vereinzelte
Erscheinung, die keineswegs auf das ganze Volk sich ausdehnt und
wenn sie vorkommt, auf Aberglauben zurückzuführen ist. Bowdich,
dessen Werk über Aschauti auch heute noch eine der vorzüglichsten
Quellen über dieses Land ist, erzählt folgendes: ,,Die Fetisch-
männer, die der Armee folgen, schneiden einigen Feinden das Herz
aus, und nach vielen Zeremonien und Verzauberungen mit allerlei
geweihten Kräutern essen alle die, welche noch nie zuvor einen
Feind getötet haben, einen Teil davon; denn man sagt, wenn sie
es nicht thäten, so würde ihre Kraft und ihr Mut im Geheimen
durch die Geister der Gebliebenen gequält werden. Man sagt, daß
der König und alle die Großen das Herz eines berühmten Feindes
unter sich teilten; doch flüsterte man sich dies nur zu. Dagegen
rühmten sie sich, die kleineren Gebeine und Zähne des er-
schlagenen Monarchen bei sich zu tragen. Man zeigte mir einen
Mann, der das Herz des Feindes, den er getötet hatte, immer
auffraß. ••' '^
So wenig Wert wir hierauf legen . um im allgemeinen die
Aschanti als Anthropophagen zu erklären, eben so gering sind die
Anhaltepunkte. die benachbarten Dahomeher denselben beizugesellen,
so übel berüchtigt sie auch sonst wegen ihi'er Menschenopfer sind.
Zwar erzählt Robeet Noeeis ^, daß bei gewissen Menschenopfern
..der Körper des preisgegebenen fast ganz aufgefressen werde'*,
* Fleüriot de Laxgle im Tour du Monde. Bd. XXVI. 382. 374.
- H. Hecquard, Reise an die Küste und in das Innere von Westafrika.
Leipzig, s. a. 49.
^ Mission von Cap Coast- Castle nach Ashantee von T. Edward Bowdich.
Aus dem Englischen. Weimar. 1820. 402.
■* EoBET XoRRis, Eeise nach Abomey im Jahre 1772. In M. C. Sprengels
Beiträgen ziu- Länder- und Völkerkunde. XIU. 285. Leipzig 1790.
24 Nigerdelta.
indessen wollen wir diese vereinzelte Nachricht auf sich beruhen
lassen, zumal andere Berichterstatter, die in Abomeh die ,, großen
Gebräuche '' mit ansahen, wohl der Schauderdinge genug erzählen,
von Anthropophagie indessen nichts wissen. Manches deutet jedoch
darauf hin, daß die Dahomeher ehemals Anthropophagen waren.
Der dänische Arzt Isert erzählt, daß noch zu seiner Zeit (zweite
Hälfte des vorigen Jahrhunderts) der König von Dahomeh in das
in einer Schale aufgefangene Blut der beim Jahresfeste hingerichteten
Schlachtopfer einen Finger tauchte und diesen ableckte. Isert ver-
mutet hierin wohl mit Recht einen letzten Rest, gleichsam ein Sinn-
bild der ehemaligen Menschenfresserei.^
Wir führen gern alle Zeugnisse an, welche bei der Anschuldi-
gung der Anthropophagie entlastend wirken können; bei der Gegend,
der wir uns jedoch nun nähern, dem Nigerdelta, Calabar u. s. w.,
vermögen wir nur in den schwärzesten Farben zu schildern, wobei
sehr unverdächtige und mit dem Lande durch viele Jahre hindurch
vertraute Männer unsre Führer sind: Consul Hutchinson und der
schwarze Bischof S. A. Crowther.
Hutchinson^ erzählt, daß Consul Campbell aus Lagos ihm
geschrieben habe, wie die Edjo (Edschu) im Nigerdelta allgemein
als Kannibalen gelten. In Brass und Bonny (beide im Nigerdelta)
verzehre man alle Kriegsgefangenen, in dem Wahne, dadurch tapferer
zu werden. Consul Hutchinson bezweifelte die Thatsachen, bis es
ihm gelang, sich durch den Augenschein von der Richtigkeit zu
überzeugen.
Ich mußte, schreibt er (in den ersten Monaten des Jahres 1859),
amtlich Bonny im Nigerdelta besuchen. Insgeheim wurde mir mit-
geteilt, daß dem Jujuhause gegenüber ein Mann geschlachtet und
der Körper verzehrt werden sollte. Dieser Mann hatte einen Sklaven,
der beim Palmölhandel beschäftigt war, ermordet; die Leiche war
in voriger Woche an einem der Creeks des Hamballalandes verzehrt
worden. Die Neger hielten die Sache geheim, und kein Weißer
durfte davon wissen. Hutchinson wußte sich zu verbergen und sah,
wie am andern Morgen das Schlachtopfer hingerichtet wurde. „Der
Henker ging fort und alle sprangen auf mit einem Geheul und Ge-
schrei, wie man es von wilden Tieren hört. Sie stürzten auf den
geschlachteten Mann zu, schwenkten ihre großen Messer in der Luft
1 Labaethes Reise nach der Küste von Gninea. Aus dem Französischen.
Weimar 1803. 238.
^ Ten years wanderings among the Ethiopaus. 66.
Xigerdelta. 2o
umher und schnitten Stücke ab. Ich glaubte mich an das jenseitige
Ufer des Styx versetzt, ich sah schwarze Geschöpfe in Menschenge-
stalt wie gierige Geier. Selbst Knaben und Mädchen trugen Fleisch-
stücke, von welchen das Blut herabträufelte und den Weg bezeich-
nete. Ein Weib riß einer andern Frau zankend und schreiend
einen Bissen weg, Fleisch von einem Manne, der vor wenigen
Minuten noch unter den Lebenden war. Nachdem das Fleisch ver-
teilt war, trug man die Eingeweide fort. Diese waren für die
Iguana, die große Eidechse, bestimmt, die ein Schutzgeist des
Volkes von Bonny ist. Bevor ich meinen Schlupfwinkel verließ,
fragte ich mich, ob ich denn meinen eigenen Augen trauen konnte?
Das Alles geschah im Jahre 1859 nach Christi Geburt, bei Leuten,
unter welchen der europäische Handel seit länger als einem halben
Jahrhundert seinen ,civilisierenden- Einfluß übt. ^
Als Ergänzung hierzu fühi-en wir noch folgendes an: Ein un-
genannter britischer Seeoffizier, welcher sich außerordentlich vertraut
mit den Verhältnissen an der afrikanischen ^^'estküste gezeigt hat,
berichtete gelegentlich des Aschantikriegs wiederholt über den Kanni-
balismus, der im Xigerdelta herrscht, an die ,,Times"^ ,,John Jumbo
(in England erzogener Sohn des mächtigsten Bonnyhäuptlings) er-
zählte mir, daß Ja Ja's Leute ihre gefangenen und erschlagenen
Feinde gleich als Rationen behandelten, und Kapitän Hopkins (eng-
lischer Konsul für die sogenannten .Oelflüsse'^) sah, wie sieben Mann
ganz nahe bei Bonny getötet, gekocht und gefi'essen wurden vor
zwei oder drei Jahren. König Georg Peppel (von Bonny) liebt dies
nicht, ebenso wenig seine Häuptlinge.^ Doch es ist schwer, die
Eingeborenen in den Landdistrikten von einer gelegentlichen Mahl-
zeit ,, Menschen-Beefsteak" abzuhalten, die, wie ein Bonny-Häuptling
sich äußerte, entschieden dem ,,Ochsen- Beefsteak*' (beefee-heefee)
vorzuziehen sei. Doch der Kannibalismus verliert entschieden an
Popularität und wird wohl mit der gegenwärtigen Generation auf-
hören." ^
Endlich die Zeugnisse des Missionsbischofs Samuel Ceowthee,
^ Hutchinson a. a. 0.
^ Vor Zeiten ist König Peppel indessen selbst Menschenfresser gewesen ; er
hat mit vielem Behagen das Herz des von ihm gefangenen Königs Amakri von
Xeucalabar vei'zehrt. So berichtet der „Fellow royal geogi-aph. society", nämlich
Eichard Burtox in seinen "Wanderings in AYestafrica from Liverpool to Fernando
Po. London 1863. IL 280. Dort mag man noch melu' über die Anthropophagie
im Xegei'delta nachlesen.
3 The Mail (Times) vom 26. Dezember 1873.
26 Nigerdelta.
der alljährlicli den Niger von der Mündung auf\Yärts bis zum Benu6
befuhr, dessen Berichte im ,,Church Missionary Intelligencer'* regel-
mäßig abgedruckt wurden und fast jedesmal von Klagen üljer-
strömen, wie der Satan unter den Schwarzen noch seine Hand im
Spiele habe. ,, Wenige Schritte von unserer zeitweiligen Schulhütte,
so schreibt er, steht hier in Bonnytown das große Jujuhaus. Auf
den Pfosten der Eingangsthüren , an den Wänden und dann im
Innern sieht man als Schmuck und Verzierung des Götzenhauses
Hunderte von Menschenschädeln aufgestellt. Man sagt, sie seien
von Kriegsgefangenen, welche dem Juju geopfert wurden; das Fleisch
wurde verzehrt, Aveil man dadurch Rache an den Feinden zu nehmen
gedachte. Draußen, der Vorderseite gegenüber, befand sich ein
etwa sechs Fuß hohes Gerüst, auf welchem die Knochen der Ge-
opferten lagen. — — Ueberall an der Bucht von Benin ist es
während der letztverfiossenen Monate sehr unruhig gewesen. Brass,
Bonny und Okrika führten Krieg gegen Neucalabar. Auf einem
Zuge gegen den Feind machten die Leute von Neucalabar 45 Ge-
fangene. Diese alle wurden getötet und gefressen. Die einzelnen
Glieder sind unter das Volk, Alt und Jung, Weiber und Männer
verteilt worden. Jeder trug seinen Anteil ganz offen nach Hause;
mehrere Supercargos, welche von den Schiffen nach Hause kamen,
sind Augenzeugen gewesen. Mau macht auch gar kein Hehl aus
der Sache. ' Bei einer andern Gelegenheit nahmen die Krieger der
Okrika den Neu-Calabaresen 103 Gefangene ab. und zur Wieder-
vergeltung wurden diese allesammt totgeschlagen und dann aufge-
fressen.''^
Daß der Kannibalismus vom Nigerdelta aus am Strome weiter
aufwärts reiche, dafür finden wir ebenfalls in Ceowthees Berichten
manche Belege. Von seiner Reise im Jahre 1872 erzählt er unter
andern von Onitscha (linkes Ufer unter 6*^ 10' N.): ,.Ein euro-
päischer Matrose starb in der Faktorei und wir suchten einen Be-
gräbnisplatz für ihn. Da noch niemand im Friedhofe unsrer neuen
Kirche beerdigt war, so ließ ich das Grab dort graben und den
Toten nach dem Ritus der Kirche von England bestatten. Nach-
dem dies geschehen, erzählten uns einige Mitglieder der Gemeinde,
daß wenn das Grab nicht mindestens eine Woche vor einem be-
nachbarten Stamme geschützt würde, der kannibalische Gewohnheiten
- ^ The Curch Missionary Intelligenccr. Juli 1866. •223. Aui-h Hutchinson
erwähnt die Metzeleien zwischen Okrika und Neu-Calabaresen und erzählt ab-
scheuliche Einzelheiten, wie Suppen aus rotem Pfeffer, Palmöl und Meuschen-
flcisch gekocht wurden!
Äquatoriales Westafrika. 27
habe und Obotschi heiße, dieser sicher den Sarg ausgraben und
den Leichnam verzehren würde. Auf diesen Wink hin gab ich dem
Agenten des Handelshauses Auftrag, eine Woche lang Wächter auf
dem Kirchhof während der Nacht aufzustellen, damit das Heran-
kommen der Kannibalen verhindert werde. Das ist das Volk, wel-
ches wir zum Christentum bekehren sollen!'' ^ Auch Robiks, der
18(34 die Nigerexpedition auf dem ,,Investigator'' mitmachte, sagt,
der ganze untere Lauf des Stroms bis Onitscha aufwärts sei von
Kannibalen bewohnt. ^
Noch weiter östlich , am Altcalabar , hausen kannibalische
Stämme. Wie Hutchikson angiebt, wurde im Jahre 1859 zu Duke-
town (Atarpah, linkes Ufer jenes Flusses) auf öffentlichem Markte
Menschenfleisch zum Verkaufe ausgestellt, gerade wie Ochsenfleisch
auch. ^
Spuren des Kannibalismus zeigen sich auch in den Hinterlanden
des Niger und Benue. Die Tangale, ein heidnischer Negerstamm
im Süden von Jakoba in Bautschi, sind nach Eduaed Vogel, der
sie 1855 besuchte, ,, wilde Bursche, die Menschenfleisch allem andern
vorziehen. Sie essen alle im Kriege erlegten Feinde, die Brust
gehört dem Sultan, der Kopf als der schlechteste Teil wird den
Weibern übergeben."^
Äquatoriales Westafrika. Unzweifelhaft ist auch das
äquatoriale Westafrika eine Stätte der Anthropophagie. Schon bei
den alten Schriftstellern, wie Battel und dem Compilator Dappee,
flnden wir verschiedene darauf bezügliche Stellen, und Huxlet
macht darauf aufmerksam, daß in Ph. Pigaeettas Uebersetzung
von Edoaedo Lopez ,,Regnum Congo" (Frankfurt 1598) von dem
landeinwärts vom Ogow6 wohnenden Anziquen^ die Rede ist, welche
einander essen und weder Freunde noch Verwandte schonen. ,,Ihre
Fleischerläden, so heißt es in dem Bericht, sind mit Menschenfleisch
gefüllt statt mit Ochsen- oder Schaffleisch ; denn sie essen die
Feinde, die sie im Kampfe gefangen nehmen. Sie mästen, schlachten
und verzehen auch ihre Sklaven, wenn sie nicht glauben, einen
guten Preis für sie noch zu erhalten; überdies bieten sie sich zu-
weilen aus Lebensmüdigkeit oder Ruhmsucht — denn sie halten es
1 The Curch Missionaiy lutelligencer. Februar 1873. 48.
'^ Transact. Etlinolog. Soc. New Series. V. 83.
^ Hutchinson a. a. 0.
* Zeitschrift für allgemeine Erdkuucle. VI. 482. 484 (1856).
^ Unter dem Namen Anziko versteht man heute au der Loangoküste den
Gorilla. Correspoudeuzblatt der Afrikanischen Gesellschaft. 1873. 36.
28 Gabon. Corisco Bai.
für etwas Großes und für das Zeichen einer edlen Seele, das Leben
zu verachten — selbst als Speise an. Es giebt allerdings viele
Kannibalen, wie in Ostindien, in Brasilien und anderswo, aber keine
solchen wie diese; denn die andern essen nur ihre Feinde, diese
aber ihre eigenen Blutsverwandten.-' ^
Dieser offenbar übertriebene Bericht ist denn auch mit einer
Illustration versehen, die von den Gebrüdern de Bey herrührt, und
bei der ein Frankfurter Metzgerladen als Modell gedient hat; nur
daß hier statt der Teile von Ochsen oder Schweinen menschliche
Glieder zur Schau gestellt sind.
Auch Edwaed Bowdich, derselbe, der sich durch seine Reise
nach Aschanti um die Völkerkunde verdient machte, bringt uns Be-
lege für den Kannibalismus der Völker am Gabon. Einige Tage-
reisen weit im Innern, erzählt er, liegt das Land Kaylee, dessen
Bewohner eine vergleichsweise hohe Stufe einnehmen; aber sie sind
Menschenfresser und essen nicht allein ihre Gefangenen, sondern
auch ihre Toten, deren Leichname sogleich nach ihrem letzten
Atemzuge feilgeboten werden. Häufig ißt ein Vater sein eigenes
Kind. Geflügel und Ziegen giebt es hier in Menge, aber sie
werden nicht gegessen, so lange man noch Menschenfleisch haben
kann. ^
BowDiCHs ,, Kaylee •' vermag ich mit keinem Völker- oder
Ländernamen auf unsern heutigen Karten zu identifizieren, indessen
dürfte der immerhin übertriebene Bericht auf die Fan zu beziehen
sein. Als Du Chaillu deren grauenvollen Kannibalismus betonte
und das erzählte, was er mit eigenen Augen gesehen, erhob sich
arges Kopfschütteln. Und doch hatte er nichts neues gesagt.^
Als Du Chaillu von der Corisco-Bai aus vordringend auf die
ersten Fandörfer traf, begegneten ihm sofort Spuren von Kanni-
balismus; er traf ein altes Weib, das einen Menschenschenkel
schleppte, ,, gerade als wollte sie zu Markte damit gehen'', und in
einem Palaverhause war ein Körper verteilt worden ; der Kopf
^ HrxLEY, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Braun-
schweig 1863. 62. 63. Ein übereinstimmender Bericht bei Dapper, Besehreibung
von Afrika. Amsterdam 1670. 588.
^ Edward Bowdich a. a. 0. 543.
' Wenn H. Zöller ueuei'dings ( Deutsche Besitzungen an der westaft'ikani-
schen Küste. IV. 95. 97) sagt: „Das meiste, was über die kannibalischen Sitten
der Fan gesagt wird, halte ich für erdichtet" und „die Fan stehen in dem
wahrscheinlich ungerechtfertigten Eufe, Menschenfresser zu sein", so ist die
Widerlegung dieser Ansicht im folgenden enthalten.
Die Fan. 29
wurde für den König aufbewahrt.^ Später sah er heim Fankönige
Ndiayai, wie der Leichnam eines Menschen, der an einer Krankheit
gestorben, zum Verspeisen verteilt wurde, worüber er sich nicht
wenig entsetzte. ..Sie sprachen frei und offen über die ganze Sache
und man sagte mir, daß sie regelmäßig die Toten der Oscheba
kaufen, die umgekehrt wieder die ihrigen kaufen. Sie kaufen auch
die Toten anderer Familien ihres eigenen Stammes und erhandeln
die Körper vieler Sklaven von den Nbichos und Mbondemos, wofür
sie gern Elfenbein geben, einen kleinen Stoßzahn für einen Leich-
nam.*^ Auf die Autorität des Missionars Walker am Gabon ge-
stützt, erzählt Du Chaillu ferner, daß Fan, die aus dem Innern
an den Gabon kamen, dort einen frischbegrabenen Toten ausgruben,
kochten, verzehrten. Andre räucherten das Fleisch eines Menschen
und nahmen es mit sich als Vorrat. Ohne alle Scham und Scheu
betreiben sie die Menschenfresserei ganz offen; Du Chaillu sah bei
ihnen hochgeschätzte Messer, deren Heft mit Menschenhaut über-
zogen war. ^ Noch weiter nach dem Innern hin verzeichnet Du
Chaillu außer den bereits erwähnten Oscheba auf seiner Karte
noch die Moschobo als Kannibalen.
Mag einige Färbung in diesen, übrigens mit Bowdich überein-
stimmenden Erzählungen unterlaufen, so sind sie nichtsdestoweniger
im allgemeinen wahr, und an Kontrolle fehlt es keineswegs. Win-
wooD Reade berichtet ähnliches, und er bestätigt ausdrücklich die
Geschichte, daß die Fans am Gabon Leichen ausgegraben und ver-
zehi't haben. Nur darin weicht er von Du Chaillu ab, daß er
angiebt, die Fan schämten sich ihres Kannibalismus und jedes
Dorf schiebe die Sache auf sein Nachbardorf. Doch bleibt die
Thatsache selbst dadurch unberührt, und im Gespräch mit einem
,, Veteran-Kannibalen" erfuhr er, daß Menschenfleisch so gut und
fett wie Ochsenfleisch sei. Der Alte verneinte aber auf das be-
stimmteste, daß die Fan ihre Verwandten verzehrten, obgleich alle
Nachbarstämme dies von ihnen behaupten.-^ Jene Menschenfresser
ihrerseits hielten alle Weißen für Kannibalen und glaubten fest.
^ Paul B. Du Chaillu, Exjjlorations and Adventures in eqnatorial Africa.
London 1861. 74.
"^ Du Chaillu a. a. 0. 88.
^ AV. WiswooD Keade, Savage Africa. London 1863. 159. Auch O. Lenz
(Skizzen aus Westafrika. 89) sagt, dass die Fan bis zum heutigen Tage Kanni-
balen seien, doch würde Menschenfleisch nur bei Feierlichkeiten verzehrt. Alles
aber, was sich auf Anthropophagie beziehe, würde heimlich betrieben. Vergl.
auch Petermaxxs Mitteilungen. 1875. 128.
30 Die Fan. Die Kissama.
daß die Sklaven nur darum von ihnen fortgeführt würden, um in
fernen Landen verspeist zu werden. ., Warum die Schwarzen besser
als die Weißen schmeckten", wurde Winwood Reade gefragt,
worauf er ,,aus Politik" zur Antwort gab, das Fleisch der Weißen
sei giftig. 1
Wäre noch weitere Bestätigung des Kannibalismus der Fan
notwendig, so finden wir diese bei französischen Reisenden. Der
Marinearzt Dr. Geiffox du Bellay, der mit dem Lieutenant Serval
mehrere Fahrten vom Gabon aus ins Lmere machte und von 1861
bis 1864 vollauf Gelegenheit hatte, die Fan kennen zu lernen, giebt
uns weitere bestätigende Nachrichten, indessen mit dem Zusätze,
die Fan hielten die Sache geheim und schlössen selbst ihre Kinder
bei den Kannibalenschmausereien aus.^ Nach Geiffox du Bellay
sind auch die Bakalai am Gabon Anthropophagen.-^
Noch weiter südlich trefien wir in Angola auf die Kissama
(Quissama) am Koanza, die 1870 Chaeles Hamilton besuchte.
Unter diesem Volke fand der Reisende noch Kannibalen „weiter
nach dem Lmern hin": bei denjenigen Kissama jedoch, welche am
Koanza und dessen Nähe wohnen, kommt die Anthropophagie nur
selten vor. Die wenigen Menschenfresser, mit welchen Hamilton
in Berührung kam, sahen häßlich und ungesund aus. Literessant
ist es von Hamilton zu erfahren, daß die Menschenfresserei, ähn-
lich wie bei den Batta auf Sumatra, bei den Kissama als eine
Strafe ausgeübt wird. Wer unter den Kannibalen seine Schulden
nicht bezahlen kann, oder wer ein Verbrechen begangen hat, wird
ohne weiteres getödtet und verzehrt. In neuer Zeit kommt es aber
vor, daß ,,die Aufgeklärteren" dem Verbrecher die Wahl lassen, ob
er sterben oder als Sklave an die Portugiesen verkauft werden
^ Der Glaube, daß die Weißen die schwarzen Sklaven des Fleisches wegen
zum Verzehren exportierten, ist an der Guineaküste weit verbreitet gewesen.
Überhaupt haben die Wilden uns oft für Menschenfresser angesehen. Der Fran-
zose Lambert erzählt dies von Futa Djalon, wo ihm die Fuhlas alle Einzelheiten
berichteten, wie wir Europäer unsere Kannibalenschmäuse einrichten. Freiherr
VON Wreue wurde 1843 im Wadi Öchura in Hadhramaut belehrt, daß der Kaiser
von Rußland eine Leibgarde von 7000 Menschenfressern unterhalte (Reise in
Hadhramaut. Braunschweig 1870. 71). Aloisius da Cadämosto, der 1455 in den
Gambia einlief, hörte dort von den Schwarzen, die Christen fräßen Menschen-
fleisch und würden nicht so viele Sklaven kaufen, wenn es nicht in der Al)sicht,
sie zu fressen, geschähe. (Cadamostos Reise, aus dem Italienischen übersetzt in
Spkenoels Beiträge zur Völker- und Länderkunde. XL 161. Leipzig 1789.)
2 Tour du Monde. XIL 308 (1865).
3 Tour du Monde. XIL 309.
Kimbunda. Die Jatras. 31
wolle; in der Regel zieht er den Tod vor, denn die Portugiesen
sind außerordentlich verhaßt.^ Es ist das Innere des portugiesischen
Westafrika von altersher ein bevorzugter Boden für die mit Anthro-
pophagie verknüi^ften Greuel gewesen, denn dort war der Sitz der
mit Sagen umwobenen Jagas, worunter Herrscher und Volk ver-
standen werden.
Mit Opfergebräuchen vermischt ist die gelegentliche Anthro-
pophagie bei den Kimbunda (portugies. Westafrika). Damit die
Regierung des Fürsten glücklich ausfalle, wird der Ouri-Kongo ge-
opfert, der tapferste unter allen Kriegsgefangenen. Durch das Ver-
zehren seines Fleisches wird auch der Fürst tapfer. Ladislaüs
Magtae berichtet als Augenzeuge: Der Wahrsager zerlegt den
Rumpf, reißt die Eingeweide heraus und wahrsagt daraus. Dann
werfen seine Gehilfen die Eingeweide weg, mit Ausnahme des
Herzens. Endlich wird der Kadaver in kleine Stücken zerschnitten
und unter den anwesenden Hokaführern verteilt, wobei der Wahr-
sager Sorge trägt, daß jeder außer dem Stück Fleisch auch etwas
vom Herzen bekomme (wohl weil letzteres als Sitz der Tapferkeit
gedacht ist). Der Fürst und die Kriegshäupter mischen das er-
haltene Menschenfleisch mit Hunde- und Rindfleisch, kochen es an
den vielen Feuern und essen es. Sie glauben nun infolge dessen
eine solche Kraft zu erlangen, daß sie immer mit Erfolg gegen
ihre Feinde kämpfen werden.^
Menschenopfer mit Anthropophagie verknüpft fanden am Hofe
der Jagas bei der Sambamento genannten Festlichkeit noch zur
portugiesischen Zeit in Kassanje statt. Wenn der Nicango, das
Schlachtopfer, auserwählt war, wurde er bei Hofe mit denselben
Ehren wie der Fürst selbst behandelt, ein Verfahi'en, daß wii' auch
anderweitig bei den dem Tode geweihten Opfern finden (Mexiko,
Brasilien). Am Tage des Festes wurde der Nicango vor den Jaga
geführt mit dem Rücken dem letzteren zugewendet, worauf der
Jaga mit einem halbmondförmigen Messer den Rücken des Xicango
durchschnitt, bis er zum Herzen gelangt, das er herauszog. Er
nahm einen Bissen davon, den er dann wieder ausspuckte und ließ
dann das Herz verbrennen. Unterdessen hielten die Macotas (Hof-
würdenträger) das Schlachtopfer so, daß sein Blut über die Brust
und den Bauch des Jaga strömte; nachdem dieses geschehen, rieben
sie sich selbst den Körper damit ein, dabei ausrufend: Groß ist
' Journal of tlie Authropological Institute. London 1872. I. 187.
^ L. Magyar, Eeisen in Südafrika. Pest 1859. I. 275.
32 Die Jagas. Kannibalenhöhlen im Basutolande.
der Jaga! Der Leichnam des Nicango wird dann abseit enthäutet,
in kleine Stücken zerhackt und mit Ochsen-, Hunde- und Hühner-
fleisch zusammen gekocht. Dieses Gericht wird zuerst dem Jaga,
dann seinen Würdenträger und zuletzt allem Volk zur Speise vor-
gesetzt. Wer sich weigert davon zu essen, verfällt der Sklaverei.
Mit Gesang und Tanz endigte das Sambamentofest. Früher erhielt
auch der portugiesische Direktor der Messe in Kassanje sein Teil
von dem Gericht, wofür er ein Fäßchen Branntwein spendete.^
Südafrika. Erst in der letzten Zeit haben wir Nachrichten
von dem Vorhandensein der Anthropophagie auch an der Südspitze
Afrikas erhalten, und die Kannibalenhöhlen im Basutolande haben
nicht geringes Aufsehen erregt. Das Basutoland liegt zwischen
dem Oranjefreistaat und den englischen Besitzungen mitten inne
und war der Schauplatz fortwährender Kriege zwischen den Weißen
sowohl und den Basuto. als zwischen eingebornen Stämmen selbst.
Während der Verwilderung und Hungersnot, die infolge dieser
Kriege eintrat, soll erst der Kannibalismus entstanden sein. Die
ausführlichsten Nachrichten über denselben erhielten wir durch
James Henry Bowkee, Dr. Bleek und Dr. John Beddoe.- Bowkee
besuchte 1868 eine der Höhlen, die in der Nähe der verlassenen
Missionsstation Cana gelegen ist. ,,Der Eingang, sagt er, liegt
unter weit vorstehendem und überhängendem Gestein und bildet
so ziemlich in der ganzen Breite der Höhle einen weiten, von der
Natur gewölbten Bogen. Die Länge der Höhle beträgt etwa 130.
die Breite 100 Ellen. Die hohe, gewölbte Decke ist von Rauch
und Ruß geschwärzt; auf dem Fußboden lagen ganze Haufen von
Menschenknochen umher, teils förmlich aufgeschichtet, teils ül^erall
zerstreut. Auch vor der Höhle lagen auf dem Abhänge, soweit das
Auge reichen konnte, Knochen und Schädel umher, letztere in
außerordentlich großer Menge und zumeist von Frauen und Kindern.
Sie waren vermittels stumpfer Äxte oder auch geschärfter Steine
in Stücke geschlagen worden, gleich den Markknochen, welche man
dann der Länge nach gespalten hatte. Nur an einigen wenigen
waren Spuren von Feuer zu bemerken; die Höhlenmänner zogen
das Kochen dem Braten vor.
,,Man kann sich denken, unter welcher Aufregung ich diese
düstere Höhle untersuchte. Der Führer geleitete mich an eine
^ Tra VASSOS Vam)kz, Six ycars of a travellers Lite| iu Wostern Afriea.
London. 1861. II. 159.
^ The Cave Cannibals of Soutli Afrioa. Anthropological Review. VII.
121 (1869).
Kannibalenhöhlen im Basutolancle. 33
Stelle, wo einige rauhe, unregelmäßige Stufen in eine dunkle Ga-
lerie führten; dort wurden die Schlachtopfer aufbewahrt, bis an sie
die Reihe kam. An ein Entrinnen von dort war nicht zu denken.
Bei Wilden, welche etwa durch Hungersnot zum äußersten getrieben
werden, um ihr nacktes Leben zu fristen, findet der Kannibalismus
eine Erklärung. Mit dem Volke hier aber verhält sich die Sache
ganz anders. Diese Menschen bewohnen ein fruchtbares Land, in
welchem auch Wild in Menge vorhanden ist. Aber trotzdem machten
sie nicht bloß Jagd auf ihi'e Feinde, um dieselben aufzufressen,
sondern sie verzehrten sich untereinander, sie machten Gefangene
von ihrem eigenen Stamme, und wenn eben keine anderen Schlacht-
opfer vorhanden waren, dann kamen ihre eigenen Kinder und Weiber
an die Reihe. Eine träge oder zanksüchtige Frau wurde sofort
schnell abgethan und gab ein leckeres Mahl; ein Kind, das zu
viel schrie, wurde ohne weiteres still gemacht und abgekocht;
Kranke und Schwache ließ man nicht etwa des natürlichen Todes
sterben, sie hätten ja dann nicht den Magen stillen können. So
war es mit diesem Volke beschaffen. Man sagt zwar, daß sie den
Kannibalismus schon seit vielen Jahren aufgegeben hätten, ich fand
aber in der Höhle ganz untrügliche Beweise dafür, daß die Praxis
noch nicht verloren gegangen ist, denn einige Knochen waren sehr
frisch; sie hatten augenscheinlich einem starkknochigen Mann an-
gehört, dessen Schädel hart wie Erz war; an den Gelenken befand
sich noch Mark und eine fettige Substanz. Er konnte erst vor
einigen Monaten geschlachtet worden sein.
,, Diese Höhle gehört zu der größten in der ganzen Gegend
und diente den Kannibalen als eine Art Hauptquartier. Vor dreißig
Jahren war übrigens das ganze Land vom Molutaflusse bis zum
Caledon, dann auch ein Teil der Region am Putesanaflusse von
Anthropophagen bewohnt, welche Schrecken unter den umwohnen-
den Stämmen verbreiteten. Sie schickten Jagdpartien aus, welche
sich in der Nähe betretener Pfade oder Gärten, Triften und Trank-
plätze in den Hinterhalt legten und es vorzugsweise auf den Fang
von Frauen und Kindern abgesehen hatten.
„Noch heute leben viele alte Kannibalen, und an demselben
Tage, an welchem ich jene Höhle besuchte, machte ich mit einem
derselben Bekanntschaft. Er ist nun etwa sechzig Jahre alt. Als
er noch in der Höhle hauste, fing er einst drei junge Weiber; da-
von nahm er eines zu seiner Gefährtin, die beiden andern wurden
gekocht. Jene Ehe ist dann eine recht glückliche gewesen, und
die Frau Gemahlin hat sich bald an die neue Lebensweise gewöhnt;
R. A u d r e e , Anthropophagie. 3
34 Kannibalenhöhlen im Basutolande.
man zeigte mir den Winkel, welcher dieser glücklichen Familie
zum Aufenthalt gedienf
So weit BowKEK. Der deutsche Sprachforscher Dr. Bleek
fügte dem Aufsatze einige Bemerkungen hinzu, welche für die
Geschichte dieses Kannibalismus von Interesse sind. Danach findet
man weiteres darüber in dem Werke : „Relation d'un voyage d'ex-
ploration au nordest de la colonie du Cap de bonne Esp6rance par
Aeboüsset et Daumas", Paris 1842, 105 — 123. Die Reise fällt in
das Jahr 1836. Ferner kurze Notizen in Edwaed Salomons „Two
lectures on the Native Tribes of the inferior", Capstadt 1855, 62
bis 64. Salomon zufolge fand sich der Kannibalismus bei vier
Stämmen; zwei davon, die Bakufeng und Makatla, sind Betschu-
anen; die beiden andern, Bamakakana und Bannitlapatla, sind
Kaffern. Höchst wahrscheinlich wurden sie Kannibalen infolge der
Kriege, durch welche jene Gegenden arg verwüstet wurden. Die
Liebhaberei nach Menschenfleisch blieb, als die Not längst vorüber
war, und der Kanidbalismiis hielt sich dann längere Zeit. Die ein-
heimische Sage der Zulu wie der Betschuanen Aveiß viel von den
Amazimu und Marimo, den Menschenfressern, zu erzählen.^
Dr. John Beddoe endlich berichtet über die Art und Weise,
wie die Anthropophagen mit ihren Schlachtopfern umgingen, und
zwar war das Verfahren ein außerordentlich regelmäßiges, man
kann sagen mit Fleischerkunst ausgeübtes. Jeder Schädel ist ver-
mittels einer Axt am Nasenbein querüber auseinander gehauen;
die Backenknochen wurden als unbrauchbar weggeworfen. Dann
wurde in den Oberkopf ein Loch geschlagen und das Hirn heraus-
gezogen. Die Rippenstücke wanderten in den Kochtoi)f. Die Röhren-
knochen wurden der Länge nach gespalten, und dann nahm man
das Mark heraus. Vielfach bemerkte man noch die Knorpel und
sah man Spuren von Messerschnitten an den Schädeln, von denen
das Fleisch streifenweise abgelöst wurde. Alle Europäer (Boers),
welche bei dem Angritte auf Tliaba Bosiu (Moscheschs Feste im
' In den Nurseiy tales, Traditions and histories of the Zulus, die Callawav
sammelte (Natal and London. 1868), kommt ein Märchen vor, in dem, wie iin
deutschen Märchen, ilie MeiLSchenfresserin verstcckti; Kinder wittert und aus-
ruft: „Ich rieche Mensclienfleisch." Wie Mehexskv (Beiträge zur Kenntnis Süd-
afrikas. Berlin 1875. 132) hervorhebt, fehlt bei den Kaffern auch heute der
Glaube an die magische Wirksamkeit des Menschenfleisches nicht. Der Schmied
legt erst ein Stückchen Mensclienfleisch in die Kohlen, che er die Arbeit be-
ginnt und der Giftmisclier meint in demselben ein Mittel zu haben, seinen Feind
schnell aus der Welt zu schaÜ'cn.
Südafrika. 35
Basutoliinde) fielen, wurden sofort aufgefressen, weil man wähnte,
daß dadurch ihr Mut in den Leib der Kannibalen übergehen würde.
Daß die. Anthropophagie in Südafrika nicht bloß auf die Basuto
beschränkt bleibt, hat Karl Mauch angedeutet.^ Er selbst hat
zwar keinen Fall von Kannibalismus darthun können, indessen
fand er, daß die Eingel}ornen allgemein davon sprachen. ,,Am
glaubwürdigsten, schreibt er, scheint mir noch die Aussage meines
Dolmetschers 1871 zu sein. Als Avir nämlich in die Nähe von
Lomando, einem Baromapulana- Häuptling in den östlichen Zout-
pansbergen kamen, riet mir der Dolmetscher ja recht vorsichtig zu
sein, insofern Lomando ein unversöhnlicher Feind der Boers sei.
Unter andern erwähnte er auch, daß er (Lomando) sich öfter junge
Mädchen im Felde fangen lasse, um sie zu schlachten und aufzu-
essen; besonders sollen die Schamteile für ihn das Leckerste daran
sein. Was das Aussehen dieses Häuptlings betrifft, so entspricht
es ganz solcher Möglichkeit; ich habe nirgends eine Physiognomie
beobachtet, welche so sehr der tierischen sich nähert: breite, auf-
geworfene Lippen mit ungemein stark ausgebildeten Freßwerkzeugen ;
die Lider Ijedecken zur Hälfte die kleinen blutrünstigen Augen;
eine sehr niedrige Stirne, rohes Geschwätz bei kreischender Stimme;
roh gebaut und äußerst schmutzig; eine treffliche Kreatur, einen
Kannibalen darzustellen, wie ich in meinem Journal sagte.
,,Ein Missionär, der seine Station in der Nähe des westlichen
Endes der Zoutj^ansberge hat, sagte mir, alle Baromapulana seien
Kannibalen; er bewache deshalb seine Kinder ängstlich, damit sie
nicht gestohlen würden.
„Albasini, portugiesischer Konsul in derselben Gegend, wollte
ebenfalls bemerkt haben, daß in den Zout})ansbergen noch Menschen-
fresser wohnen.^'
Auf diese Zeugnisse gestützt mag es wohl erlaubt sein, die
Baromapulana unter die Anthropophagen einzureihen. Weiter nörd-
lich bei den Matebele fand Mauch keine Spuren von Kannibalis-
mus, und ebenso wenig erzählen andere Reisende, die mit diesem
mordlustigen Kaffernstamme in Berührung kamen, wie z. B. Mohr,
etwas davon. ,, Gegen Nordosten — also nach dem untern Sambesi
hin — habe ich nie etwas von Kannibalen gehört'', schrieb mir
Mauch.
Alle diese Mitteilungen über den Kannibalismus unter süd-
afrikanischen Bantu- Stämmen reichen aber nicht hin dieselben im
1 Brieflic'hr Mittciluii-- .1. d. Stuttgart 29. Novemlx-r 1873.
3*
36 Darfor. Burum. Niara-Niam.
ganzen zu gewolmlieitsmäßigen Kannibalen zu stempeln und es
muß, in Übereinstimmung mit Fritsch^ dargethan werden, daß die
Menscbenfresserei unter ihnen sporadisch wohl vorgekommen, nie
aber zur Stammessitte geworden ist.
Centralafrika. In vorislamischer Zeit hat die Anthropophagie
am Nile weiter abwärts geherrscht, wenigstens im Bereiche der
Neger, und Spuren davon sind bis auf unsere Zeit gekommen, so-
viel der Islam auch hier aufräumte.
In Darfor war es Brauch l)ei der Thronbesteigung des Sultans
und dann an einem bestimmten Festtage in der Residenz zwei
Knaben, Söhne der gleichen Eltern, zu opfern; das Fleisch wurde
vom Sultan und den höchsten Beamten verzehrt; wer sich dessen
weigerte, wurde als Verräter betrachtet. Dieses aus der Heiden-
zeit stammende Opfer hat sich selbst lange in dem islamitischen
Darfor erhalten und ist erst vom Sultan Hussein (regierte in den
fünfziger Jahren) abgeschafft worden. ^
Unsicher ist die Anthropophagie der Burum, die zwischen 11"
und 12'' nördl. Br. in mehreren Stämmen die innere Dschesireh
(Insel, das Land zwischen dem blauen und weißen Nil) bewohnen.
Sie zeigen ,,den vollendeten Negertypus, sind meist von kolossalem
Bau und großer Wildheit, ja es wird ihnen sogar allgemein Anthro-
pophagie zur Last gelegt", meldet von ihnen Ernst Marno, welcher
1870 an die Grenze ihres Gebietes gelangte.^ Wie Marno mir
mündlich berichtete, besaß er einen Diener, der diesem Stamme
angehörte und ihm offen eingestand, daß bei seinem Volke Kanni-
balismus herrsche, doch konnte der Reisende sich nicht persönlich
hiervon überzeugen.
Desto sicherer ist die Anthropophagie der Niam-Niam. deren
Gebiet zwischen 4'^ und 7" n. Br. von 29 '^ östl. L. v. Gr. nach
Westen hin an den Zuflüssen des weißen Nil sich erstreckt, und
die sich selbst Sandeh nennen. Alle Reisenden, die an den weißen
Nil kamen, hörten von ihnen und l)ericliteten neben manchem Mär-
chen — man gab sie ja lange Zeit für ,, geschwänzte" Menschen
aus — auch daß sie Kannibalen seien. Theodor von Heuglin,
der von Norden her ihrem Lande am nächsten kam, sucht sie vom
^ G. Fbiscii, Eingeboreue Südafrikas. 147.
^ Webner Munzinqer, Ostafrikanische Studien. Schaff hausen 1864. 558.
^ Reisen in Hoch-Sciuiar. In Peteiimanns gcograpliisclmn MittciUuigen.
1872. 455.
Niam-Niam. 37
Verdachte der Anthropophagie zu reinigen \ indessen sollten bald
vollgültige Beweise hierfür beigebracht werden.
Ein italienischer Handwerker, Caelo PiaggiAj trieb sich meh-
rere Jahre lang mit nubischen Elfenbeinhändlern und Sklavenjägern
im Niam-Niamlande herum und brachte ein volles Jahr, bis Februar
1865, bei dem Häuptlinge Tombo zu, wo er nicht nur Nächrichten
ül)er die Anthropoi^hagie einzog, sondern selbst Zeuge war, wie das
Fleisch der erschlagenen Feinde verzehrt wurde. ^ Hätten an Piaggias
Berichten noch Zweifel aufkommen können, so sind wir über den
Kannibalismus der Niam-Niam durch Georg Schweikfueth völlig
aufgeklärt, welcher auf seiner epochemachenden Reise 1870 sie
genau kennen lernte. Der Name Niam-Niam ist der Sprache der
I )inka entlehnt und bedeutet „Fresser, Vielfresser", auf die Anthropo-
])hagie dieses Volkes anspielend. ,,Im großen und ganzen darf man
getrost die Niam-Niam als ein Volk von Anthropophagen bezeichnen,
und wo sie Anthropophagen sind, sind sie es ganz und ohne Reserve
um jeden Preis und unter jeder Bedingung. Die Anthropophagen
rühmen sich selbst vor aller Welt ihrer wilden Gier, tragen mit
Ostentation die Zähne der von ihnen Verspeisten auf Schnüre ge-
reiht wie Glasperlen am Halse und schmücken die Pfähle bei den
Wohnungen mit Schädeln ihrer Opfer. Am häufigsten und von all-
gemeinstem Gebrauche wird das Fett von Menschen verwertet. Dem
Genüsse ansehnlicher Mengen schreiben sie allgemein berauschende
Wirkung zu. Verspeist werden im Kriege Leute jedes Alters, ja
die Alten häufiger noch als die Jungen, da ihre Hilflosigkeit sie
bei Überfällen zur leichten Beute des Siegers gestaltet. Verspeist
ferner werden Leute, die eines plötzlichen Todes starben und in
dem Distrikte, wo sie lebten, vereinzelt und ohne den Anhang einer
Familie dastanden; es ist das jene Kategorie von Menschen, welche
bei uns der Anatomie verfallen. — — Nach den von Niam-Niam
selbst eingezogenen Nachrichten und Erklärungen verabscheuen die-
jenigen, welche überhaupt Anthropophagen sind, nur dann den
^ Theodor v. Heuglin, Reise in das Gebiet des Weißen Nil. Leipzig und
Heidelberg 1869. 206. Audi Rob. Hartmann, Naturgescliichtlich - medizinische
Skizzen der Nilländer. Berlin 1865. 305, bezweifelte die Anthropophagie der
Niam-Niam. — W. G. Brown, der Ei-forscher Darfors, hörte dort (1798) von
Sklaven aus dem Süden, daß in ihrem Lande die Menschenfi-esserei herrsche.
Browns Reisen in Afrika. Aus dem Englischen. Weimar 1800. 364. Richtige
Nachrichten über diese Anthropophagen hatte 1856 bereits Brün-Bollet einge-
zogen (Petermanns Mitteilungen. Ergänzungsheft VH. 21).
- Petermanns Mitteilungen. Ergänzmigsheft X. 79.
38 Niam-Niam. Monbuttu.
Genuß von Menschenfleisch, wenn der Körper einem an ekelhaften
Hautkrankheiten Verstorbenen angehörte'^^
Die Details, welche ScHWEiNruRTH über den Kannibalismus
der Niam-Niam beibringt, sind haarsträubender Natur. Das Fett
der Babuckr, eines Negerstammes, der vorzugsweise den Niam-Niam
Fleisch liefert, dient allgemein als Speiseöl, und der Reisende mußte
seine Lampe damit speisen, da anderes Ol nicht aufzutreiben war.
„Im Niam-Niamlande war ich selbst Zeuge, daß man die Krieger,
welche die Nubier auf einem Sklavenraubzug ins Babuckr-Gebiet
begleitet hatten, mit alten untauglichen Weibern beschenkte — zum
Essen, und mir gab man nach einiger Zeit die Köpfe." Ebenso
sah SciiWEiNFüETH neugeborene Kinder von Sklavinnen, die als
Leckerbissen zum Fressen bestimmt waren. „Diese Wahrnehmung
war das Ungeheuerlichste, was ich gesehen; ich hätte sofort meinen
Revolver in Thätigkeit setzen mögen, doch wandte ich schnell der
gräßlichen Scene den Rücken". 2
Südlich von den Niam-Niam, bereits an der Wasserscheide des
Nil und Kongo, wohnen die nicht minder kannibalischen Monbuttu
und Abanga, die gleichfalls durch Schweinfubth bekannt geworden
sind. „Der Kannibalismus der Monbuttu übertrifft den aller be-
kannten Völker in Afrika. Da sie im Rücken ihres Gebiets von
einer Anzahl völlig schwarzer, auf niederer Kulturstufe stehender
und daher von ihnen verachteten Völkern umgeben sind, so eröffnet
sich ihnen daselbst die willkommene Gelegenheit auf Kriegs- und
Raubzügen sich mit hinreichend großen Vorräten von dem über
alles geschätzten Mensclienfleische zu versorgen. Das Fleisch der
im Kampfe gefallenen wird auf der Wahlstatt verteilt und im ge-
dörrten Zustande zum Transport nach Hause hergerichtet. Die
lebendig Eingefangenen treiben die Sieger erbarmungslos vor sich
her, gleich einer erbeuteten Hammelherde, um sie später einen nach
dem andern als Opfer ihrer wilden Gier fallen zu lassen. Die er-
beuteten Kinder verfallen nach allen Angaben, die mir gemacht
wurden, als besonders delikate Bissen der Küche des Königs. Es
ging während unseres Aufenthalts bei Munsa das Gerücht, daß für
ihn fast täglich kleine Kinder eigens geschlachtet wurden. Jeden-
falls bot sich den Blicken der Fremden nur selten Gelegenheit dar,
Augenzeuge von Mahlzeiten der Eingcbornen zu sein. Mir selbst
* G. ScHWEiNFURTH, Dic Niam-Niam. Globus XXITI. 23.
^ ScHWEiNFURTH in Petermanns Mitteilungen. 1871. 13!) und in seinem
Reisewerk „Im Herzen von Afrika". II. 240.
Monbuttu. Mambaiiffa. 39
sind nur zwei Fälle bekannt, wo ich die Monbuttu mitten bei der
Arbeit überraschte, Menschenfleisch als Speise herzurichten. Das
eine Mal stieß ich auf eine Anzahl junger Weiber, wie sie eben
damit beschäftigt waren, vor der Thür ihrer Hütte auf dem ge-
glätteten Estrich von Thon die ganze untere Hälfte eines Kadavers
durch Brühen mit kochendem Wasser von seinen Haaren zu säu-
bern. Durch diese Behandlung war die schwarze Hautfarbe einem
fahlen Aschgrau gewichen. Der ekelhafte Anblick erinnerte mich
lel)haft an das Abbrühen unserer Mastschweine. Ein anderes Mal
fand ich in einer Hütte den noch frischen Arm eines Menschen
über dem Feuer hängend, um ihn zu dörren und zu räuchern.
Sichtbare Spuren und untrügliche Anzeichen von Kannibalismus
fanden sich übrigens auf Schritt und Tritt in diesem Lande.*' ^
Dabei sind diese Monbuttu ein durch Begabung, Urteil und National-
stolz, ja durch eine Art Kultur vor den Nachbarn ausgezeich-
netes Volk.
Die Nachfolger Schweinfueths in den Ländern westlich vom
weißen Nil haben dessen Mitteilungen über die Anthropophagie der
Niam-Niam und der Monbuttu vollauf bestätigt. Von den Mam-
banga, einem der südlichen Stämme der Niam-Niam, hebt Junker
hervor, daß sie durch geordnete staatliche Verhältnisse, Lebens-
weise, Sitten und Kunstleistungen weit über benachbarten Neger-
stämmen stehen. Dabei aber findet man den Kannibalismus in
seiner tierischsten Form. Alle Leichen werden bei diesem Volke
verzehrt und der einzige menschliche Zug, der hierbei den Kanni-
balen geblieben, ist die Scheu vor dem Fleische der Blutsverwandten ;
deren Leichen werden wenigstens an Fernstehende verschachert.
Stirbt ein Mambanga, so kann nach dortigem Aberglauben dieses
nur durch den bösen Willen anderer bewirkt worden sein, da die
Vorstellung des natürlichen Todes jenem Volke fremd ist. Nun
wird das Orakel befragt, welches einen oder mehrere Menschen als
Urheber des Todes bezeichnet und die infolge des Spruchs erdrosselt
und auch verzehrt werden. ,,Das Lynchen und der Kannibalen-
schmaus wird stets abseit der Hütten vollzogen. Die Weiber tragen
die Zukost in der Form des Lugmagerichts, einer Mehlspeise, für
die Männer an den Ort der Greuelthat.'*^
Li meiner ersten Bearbeitung unseres Themas habe ich die
Annahme gewagt, daß das noch unerforscht äquatoriale Afi'ika als
* ScHWEiNFURTH, Im Hei'zcn von Afrika. II. 98.
^ Dr. W. Junker in Petermanns Mitteilunp-en. 1881. 256.
40 Kongolandschaften. Manjuema.
von Kannibalen bewohnt zu betrachten sei.i Damals hatte Stanley
noch nicht seine epochemachende Fahrt quer durch Afrika gemacht,
vom Kongo waren nur Quellströme und Mündung bekannt, doch
der Ausspruch Schweinfurths , daß die Sitten der Monbuttu auf
das Gabonland deuteten, ließ bereits auf Verwandtschaft der damals
noch unbekannten Centralafrikaner mit den Fan einerseits, den
Monbuttu anderseits schließen. Jetzt hat sich in der That heraus-
gestellt, daß die Landschaften am mittleren und oberen Kongo,
sowie an den Zuflüssen des letzteren zu der innerafrikanischen Zone
der Kannibalen gehören.
Schon Speke^ wußte, daß im Westen des Tanganjika Menschen-
fresser wohnen und Burton ^ nannte sie Wabembe. Die erste Be-
stätigung aber brachte Livingstone, indem er uns die Manjuema
kennen lehrte. Ihr Land liegt zwischen dem nördlichen Teile des
Tanganjika-Sees und dem Lualabaflusse, zwischen 25 "^ und 29°
östl. L. V. Gr. und 3*' und 6° s. Br. Erforscht wurde es 1870 und
1871 durch David Livingstone, der zum ersten Mal während seiner
dreißigjährigen Wanderungen in Südafrika auf Kannibalen stieß.
„Die Manjuema, berichtet Livingstone, sind sicherlich Menschen-
fresser, aber sie essen nur im Kriege getötete Feinde, scheinen
bei ihren kannibalischen Orgien von Kache angestachelt zu sein
und lassen nicht gerne Fremde als Zuschauer zu. Ich bot ver-
gebens eine Belohnung jedem, der mir die Gelegenheit verschaffen
würde, ein Kannibalenfest mit anzusehen. Einige intelligente Männer
sagten mir, das Fleisch sei nicht gut, und nach seinem Genüsse
träume man von dem Toten. Frauen nehmen niemals Teil."^
In Nyangwe am oberen Kongo sah Livingstone auf dem
Markte einen Mann, der zehn menschliche Unterkiefer an einer
Strippe über die Schulter gehängt trug; auf Livingstone s Befragen
bekannte er, er habe die Eigentümer dieser Unterkiefer getötet
und gegessen.^ Nach demselben zuverlässigen Reisenden endet in
dem an den Lualal)a angrenzenden Metambalande ein Streit zwischen
Ehegatten oft damit, daß der Mann die Frau erschlägt, ihr Herz
mit Ziegenfleisch zu einem Gerichte bereitet und dieses verzehrt'',
worin unschwer die Befriedigung der Eachsucht erkannt werden
^ Mitteilungen des Vereins für Erdkunde zu Leipzig. 1873. 39.
^ Entdeckung der Nilquellen. I. 125.
^ Transactions of the Ethnological Society. New Series I. 320.
^ Petermanns Mitteilungen. 1873. 32.
^ LiviNGSTONES letzte Heise. Deutsche Ausgabe, II. 153.
« Daselbst. II. 58.
Manjuema. Kongolandschaften. 41
kann. Stanley äußert sich über Manjuema in ähnlicher Art wie
Livingstone; er fand dort die Dörfer mit Menschenschädeln gleich-
sam gepflastert.^ Im Dorfe Kimpungu sah er 186 solcher Schädel.
Leutnant Wissmann hörte in Manjuema von einem Manne das
folgende: ,,Bis vor kurzem haben wir auch Menschenfleisch gegessen
und zwar auch das von den an einer Krankheit Gestorbenen, nur
haben wir, wenn jemand an einer Krankheit gestorben ist, die
äußersten Glieder der Finger und Zehen abgenommen, eingesalzen,
in Blätter gewickelt und ins Wasser geworfen, während wir den
ganzen andern Körper gegessen haben.'' Durch das Einsalzen und
Wegwerfen sollte erreicht werden, daß die Krankheit nicht auf den
Essenden überging. Er erzählte weiter, daß sie nicht die in ihren
eigenen Dörfern Gestorbenen gegessen, sondern die Leichen ge-
wissermaßen ausgetauscht hätten. Die von einem fremden Dorfe
herübergekommene Leiche wird später wieder erstattet durch einen
im Dorfe selbst Gestorbenen. ^
Als Stanley den Kongo abwärts fuhr, war es nichts unge-
wöhnliches, daß die feindlich gesinnten Stämme am Ufer nach seinem
Fleische schrieen. „Wir werden Fleisch in Menge haben" hieß es
da. Auf der Insel Asama im Kongo ,, verzierten Menschenschädel
die Dorfstraße und eine große Menge Schenkelknochen, Rippen
und Rückenwirbel lagen in einem Winkel voll Unrat, als gebleichte
Zeugen ihres gräßlichen Appetits nach Menschenfleisch." Also
Küchenabfälle mit Menschenknochen. Und so ganz ähnlich da,
wo der Aruwimi in den Kongo mündet, wo auch die abgenagten
Menschenknochen offen und frei auf den Unrathaufen des Dorfes
umherlagen und „der dünne Vorderarm eines Menschen, der neben
einem Feuer zugleich mit versengten Rippen vorgefunden wurde",
Stanley einen handgreiflichen Beweis für die gräßliche Gewohnheit bot.^
Der Kannibalismus der centralafrikanischen Völker, welche an
den südlichen Zuflüssen des Kongo wohnen, in jenen Gegenden,
welche von Pogge und Wissmann besucht wurden, tritt nicht so
öffentlich hervor, wie bei den Monbuttu und manchen Westafrikanern.
Wissmann hat dort mit eigenen Augen keinen Fall beobachtet, ist
aber durch die Gesamtheit der Berichte von dem Vorhandensein
überzeugt. Nach ihm sind die Baluba alle Kannibalen; auch die
Tuschilange waren früher Anthropophagen, sind aber seit der Ein-
' Stanley, Dm-eli den dunklen Weltteil. IL 157 und Anmerkung auf S. 159.
^ Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft, 1885. 459.
3 Stanley a. a. 0. II. 221. 232. 203. 302.
42 Kongolandscliaften.
führiing des Hanft-aucbens davon abgekommen. Die Bassange (be-
sonders rein erhaltene Baluba) verzehren die im Kriege Gefallenen;
dies geschieht Nachts und abseits der Dörfer. Vom Menschenfressen
ausgeschlossen sind bei ihnen die Kinder bis zu einem gewissen
Jahre und die Weiber, die schon geboren haben, sowie jedes Weib
bis zu einem bestimmten Alter. Wenn es feststeht, daß sie un-
fruchtbar ist, hat sie Teil am Menschenessen. ^ Etwas eingehender
läßt sich PoGGE über den Kannibalismus der Bassange aus. ..Die
Körper der im Kriege Erschlagenen werden eine Nacht ins Wasser
gelegt und am nächsten Tage werden die Unterschenkel und Hände
abgeschnitten und auf Ameisenhaufen gelegt. Nach einigen Stunden
wird wieder nachgesehen und wenn die Ameisen an dem Fleische
fressen, so ist es gut. Die betreffenden Körper werden alsdann
zerlegt und von bestimmten Männern mit dem Fleisch der im Kriege
erbeuteten Ziegen zusammen gekocht und dann vor das Haus des
Soba (Häuptlings) gebracht, welcher davon genießt und das Fleisch
an die Krieger verteilt. ^
Die südlichen Zuflüsse des Kongo, deren Erforschung das Werk
deutscher Reisender ist, haben gleichfalls Kannibalen zu Anwohnern.
Vom Tschuapa und Bussera beglaubigt dieses Leutnant von Feanqois.
Das Schlachten von Menschen, bloß um sich Fleisch zu verschaffen,
kommt am Bussera vor; im allgemeinen ist aber Anthropophagie
,, ein Akt religiösen Ceremoniells bei besonderen Gelegenheiten.'' Die
Anwohner des Tschuapa riefen dem vorüberfahrenden Feanqois zu:
,,Wir werden euch den Kopf abschneiden! Wir werden euch fressen!
Buala! Buala! (Fleisch, Fleisch),''^ gerade wie es Stanley auf dem
Kongo ergangen war. Auch an den meisten anderen südlichen Zu-
flüssen des Kongo, so am Saie oder Tschia, dem Quilu, dem San-
kurru wohnen wilde Kannibalen. „Hier wird allerdings der Mensch
als Nahrungsmittel, gewissermaßen als Schlachtvieh, betrachtet und
die vielen in den Dörfern aufgehäuften Schädel, sowie die sehr
freimütigen Aussagen der Eingeborenen zeugen am besten für das
Blühen des Kannibalismus." ^
Haiti. Im Anhange zu Afrika müssen wir hier noch einen
Blick auf die nach Amerika ausgewanderten Neger werfen. Die
Negerrepublik Haiti ist äußerlich ganz nach europäischem Muster
' Verliiuidluiigen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft. 1883. 458.
- Mitteilungen der Afrikanischen Gcsellschiift in Dexüschland. IV. 259(1885).
^ Verhandlungen der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. 1886. 159. 161.
* L(>utenant TArPENBECK in den Mitteilungen der Afrikanischen Gesell-
Hchaft. V. lieft 2 (1886).
Haiti. Australien. 43
eingerichtetes Staatswesen, in welchem das schwarze Element voll-
ständig dominiert; innerlich aber ist diese Republik noch stark der
afrikanischen Barbarei ergeben. Sie ist, mit dem ebenbürtigen
Liberia, ein wenig günstiges Zeugnis für die Entwickelungsfähigkeit
der Neger, wenn sie sich selbst überlassen sind. In Haiti ist näm-
lich der Fetischdienst des Wodu die eigentliche Eeligion des Volkes,
während amtlich der Katholizismus herrscht und jener Wodudienst
ist mit Menschenopfern und Anthropophagie verknüpft. Aber auch
ohne religiösen Hintergrund herrscht letztere in Haiti. Noch 1878
wurden zwei Frauen auf frischer That ertappt, welche die Leiche
eines Kindes verzehrten. Eine Mutter, die ihre eigenen Kinder
verzehrt hatte, gestand dieses ruhig ein und fügte hinzu: wer hätte
denn mehr Eecht gehabt, dieses zu thun, als ich? Habe ich sie
doch geboren. Bei den Wodumysterien wird die ,, Ziege ohne
Hörner'' geopfert, d. h. ein Kind. Am 13. Februar 18G4 wurden
zu Port au Prince acht Wodukannibalen hingerichtet. Auch der
Handel mit Menschenfleisch ist, wie in Afrika, auf Haiti bekannt.^
Australien.
Der australische Kontinent zählt heute noch höchstens 50,000
eingeborene Schwarze und diese sind, wo sie sich dem Einflüsse
der Weißen entziehen, Anthropophagen , wofür die bündigsten Be-
weise vorliegen.
Er kommt am Schwanenfluß, also Westaustralien, nach Salvado
vor, wo man selbst Tote ausgrub, um sie zu essen 2, und John
FoEREST, welcher 1869 längere Zeit in der Umgebung des Barlee-
^ Der amtliche Bericht über die Hinrichtung jener Wodukannibalen ist
nach dem Moniteur Haitien vom 12. März 1864 mitgeteilt im Globus VIII. 249.
Vollauf Material zur Bestätigung aller von den Negern Haitis begangenen kan-
nibalischen Scheußlichkeiten enthält das Werk Spenser St. Johns Hayti or the
Black Eepublic. London 1884. Der Verfasser war zwölf Jahre englischer Gre-
schäftsträger in Haiti und ist wegen seiner Zuverlässigkeit bekannt. Der Missions-
bischof Cleveland Cox hat schon früher über die zunehmende Verwilderung
unter den Schwarzen Haitis geklagt und dieselben beschuldigt, daß sie bei ihren
Jahresfesten die eigenen Kinder schlachten und fressen. Globus. XXIV. 48,
'■^ Waitz (Gerland), Anthropologie der Naturvölker. VI. 749.
44 West- und Südausti-alien.
Sees zubrachte, wurde dort von den Eingeborenen bedroht, daß sie
ihn fressen wollten, auch fand er dort einen Schwarzen, der ihm
mitteilte, daß kürzlich sein Bruder gefressen worden sei. ^ Weiteres
über die Anthropophagie der Westaustralier teilt Oldpield mit, nach
welchem einmal die l)ei ihnen allgemein herrschende Blutrache, ander-
erseits Hunger zum Kannibalismus treiben. Die erschlagenen Feinde
werden verzehrt, tlie hloodreverrjers siibsisting entirely on the ßesh of
their victims, wenn sie sich im feindlichen Grebiete befinden. Dabei
wird weder Geschlecht noch Alter geschont und wenn keine Gelegen-
heit vorhanden, das Fleisch zu kochen, so wird es roh verzehrt.^ Auf
reinen Fleischgenuß gerichtet ist der westaustralische Kannibalismus,
wenn sie die Alten erschlagen und verzehren, that so much f/ood
foot may not he lost. Man glaubt, die Alten hätten keine Seelen
mehr, welche, zurückkehrend, dem Fresser etwa Ungemach bereiten
könnten. ^ In Hungerszeiteu töten die Watchandie in Westaustralien
eines ihrer Kinder durch einen Schlag mit der Keule in den Nacken
um das Fleisch zu verzehren. Die Mutter, welche keinerlei laute
Klagen ausstoßen darf, da sie sonst Prügel erhält, bekommt den
Kopf als ihren Anteil; der Mann verzehrt die fetten Stücke, die
übrigen Kinder, wenn vorhanden, werden mit den Eingeweiden ab-
gefunden. Alles wird roh verzehrt, da solche Greuel gewöhnlich in
der nassen Winterszeit stattfinden, wenn es unmöglich ist, Feuer
anzuzünden. Bei andern Kannibalenschmäusen werden die Einge-
weide und Füße nicht verzehrt; die letzteren häutet man — aus
einem unaufgeklärten Grunde — nur ab. Das Fleisch der Europäer,
sagen die Westaustralier, schmecke „salzig"; das Fleisch der Weiljer
ziehen sie jenem der Männer vor. ^
Die Anthropophagie wird von W. P. Stanbkidge, der 18 Jahre
mit den Schwarzen in naher Berührung lebte, für Südaustralien
nachgewiesen.''' ,,Eine ganz abscheuliche Erscheinung im Leben
dieser Wilden, sagt er, ist ihr Kannibalismus, der sich auf die
gräßlichste Weise äußert. Die Eltern ermorden nicht selten ihre
neugeborenen Kinder, um sie aufzufressen. Auch herrscht ein ent-
setzlicher Aberglaube, demgemäß ein älterer Bruder in dem Wahne
lel)t, daß er sofort auch die Körperkraft seines jüngeren Bruders
sich aneignen könne, wenn er diesen erschlägt und verzehrt. Das
' Petekmanns Mittcihuigen. 1870. 147. 148.
^ Oldpield in Transactions of tlie Ethnolog. Society. New Sories. III. 245.
^ Oldfield a. a. 0. 248.
* Oldpield a. a. O. 286. 288.
^ Tiausactious of the Ethuological Society. New Series. I. 291.
Südaustralien. 45
geschieht unter Festlichkeiten und bei diesen dringen Vater und
Mutter mit eifriger Ermahnung in den älteren Sohn, so viel Fleisch
von dem Leichnam hinabzuwürgen, als irgend möglich ist.'' Hier
liegt also entschieden Aberglauben als Beweggrund vor. Übrigens
herrscht in Südaustralien auch der Kannibalismus aus reiner Gour-
mandise, wenigstens bei den Narrinyeri. If a man liad n fat wife,
he was always particulary careful not to leave her unprotected lest she
might he seized hy prowliny canmhals.^
Am Cooper Creek, nördliches Südaustralien, sind deutsche
Missionare angestellt, die dort (1868) vollauf Gelegenheit hatten den
Kannibalismus der Schwarzen zu beobachten. Einer derselben
schreibt : „Die zahlreichen Arten von Ratten und Mäusen liefern
hauptsächlich die Fleischkost der Eingeborenen. — Die zahlreichen
kleinen Eidechsen schmecken den Kindern gut. Zudem fangen sie
vier Arten Fische und essen eine große Anzahl von Würmern, die
als eine Delikatesse gelten. Kannibalismus ist hier eine Thatsache
und eine Mutter verzehrt mit lächelnder Miene ihr eigenes Kind.
Die Schwarzen essen Teile von jeder Leiche, wenn etwas Eßbares
daran ist. Vor einiger Zeit starb der Älteste des Stammes. Als
ich fragte, ob sie diese Leiche auch verzehren würden, antwortete
mir einer der Schwarzen: „Nein, der Kerl ist zu mager, er hat
kein Fett." ^ Bedarf man einer Bestätigung dieses Berichtes, so
giebt sie Waeburton, nach dem die Bewohner des untern Barku-
thales (Cooper Creek, Lak Eyre) entschieden Anthropophagen sind.-^
Auch am Peakfluß werden die gestorbenen Kinder verzehrt, als
Grund wird von den Schwarzen angegeben, daß, wenn sie dieses
nicht thäten, sie sich fortwährend grämen müßten. Den Kopf be-
kommt die Mutter und die Kinder im Lager bekommen auch ihr
Teil, damit sie gut wachsen. Auch verzehren sie einzelne Teile
von verstorbenen Männern und Frauen, namentlich solche, in denen
sie den Sitz gewisser tüchtiger Eigenschaften wähnen.^
Was die Eingeborenen der Kolonie Victoria betrifft, so hat
über deren Kannibalismus RichaeD Obeeländee, der längere Zeit
unter ihnen lebte, seine eigenen und fremde Erfahrungen zusammen-
gestellt.^ „Die Eingeborenen Australiens, so berichtet er, sind Kan-
1 The Native Tribes of South Australia. Adelaide 1879. 2.
^ Auszug aus der zu Tanunda erscheinenden „Deutschen Zeitung". Globus
XVI. 15.
' Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. 1868. IL 16.
* Verhandlungen der Berliner Anthropologischen .Gesellschaft. 1879. 237.
5 Globus IV. 279.
46 Victoria. Queensland.
uihalen, machen daraus kein Geheimnis und sprechen davon als von
einer selbstverständlichen Sache, wie sie denn auch die Art und
Weise der Zubereitung des Mahles ganz unbefangen beschreiben."
Nach BucKLEY, den Oberländer citiert, begegnete jener auf seinen
^\^anderungen dem wegen seines Kannibalismus übel berüchtigten
Pallidurgbarran-Stamme, der nicht nur das Fleisch seiner getöteten
Feinde verzehrt, sondern Menschenfleisch bei allen möglichen Gelegen-
heiten. ,,Der Barrabulstamm, schreibt Oberländer ferner, fing einen
alten Mann und ein Mädchen ein, die zu einem andern Stamm ge-
hörten, und welche sie beschuldigten, meinen Freund Gellibrand
gemordet zu lialjen. Das Mädchen ward getötet und gebraten und
das Fett als Haarpomade benutzt. Etwas warmes Fleisch ward
lachend einem Engländer zum Kosten gereicht. Dr. Cotten nahm,
so viel mir erinnerlich, einen Teil des Schenkels als Beweis der
Thatsache mit sich fort.''
In Neu-Süd-Wales, Avoher Majokibanks 91 Beispiele des Kan-
nibalismus zusammenstellt, aß man besonders das Nierenfett der
Gefallenen, dessen Genuß man übernatürliche Kräfte zuschriel). ^
Angas, bekannt durch seine Arl)eiten über die Australier, teilte
den Gelehrten von der Novara-Expedition mit, daß in der Nähe der
Moreton-Bai (Queensland) ein Knabe starb, dessen Kopf und Haut,
der rohen Sitte gemäß, vom üljrigen Körper getrennt und an einem
Stocke über Feuer getrocknet wurden. Vater und Mutter waren
Ijei dem Vorgange zugegen und stießen laute Schreie aus. Das
Herz, die Leber und die Eingeweide wurden unter die anwesenden
Krieger verteilt, welche Stücke davon an den knöchernen Spitzen
ihrer Speere mit forttrugen, während die gerösteten Oberschenkel
— angeblich die größten Leckerbissen — von den Eltern selbst
verzehrt wurden. Haut, Schädel und Knochen dagegen packten die
Eingel)orenen sorgfältig zusammen und nahmen sie in ihren Säcken
aus Grasgeflecht auf die Reise mit. Nicht selten soll eine Mutter
ihr eigenes Kind in dem dunkeln Wahn auffressen, daß jene Kraft,
welche ihre Leibesfrucht ihr entzogen, auf solche Weise wieder in
den Körper zurückkehre! Fällt den Eingeborenen ein Krieger eines
feindlichen Stammes in die Hände, so sollen sie ihrem erbarmungs-
würdigen Opfer mit fanatischer Wildheit das Fett der Nieren aus
dem Leibe reißen und sich in dem Glauben damit beschmieren,
(laß dies dem Körper Kraft, dem Herzen Mut verleihe. -
* Waitz (Gkulanj)], Anthropulogie der Naturvölker. VI. 748.
^ Reise der österreiehiselien Fregatte Xovara uin die Erde. 111. 32.
Queensland. 47
Ein Gutsbesitzer am obern Mary River (nördlicb von Brisbane,
Queensland), giebt höcbst eingebende auf SelbstbetracLtung gegrün-
dete Schilderungen des merkwürdigen Gebrauches, wie die Schwarzen
den Toten die Haut abziehen, die Knochen vom Fleisch befreien
und beides zu abergläubigen Zwecken bewahren. In seiner Gegen-
wart schämte man sich indessen auch das schon geröstete Fleisch
zu verzehren. Er fügt aber seinem Bericht hinzu: „Ich fühle mich
verpflichtet es auszusprechen, daß die Eingeborenen das Fleisch
ihrer verstorbenen Freunde verzehren und indem sie das thun,
glauben sie fest, daß sie sich damit eine Wohlthat erweisen und
den Toten ehren. Sie verzehren es nicht etwa, weil sie nach dem-
selben lüstern wären; doch ist dem früher so gewesen, und noch
vor einigen Jahren schmausten die alten Männer mit großem Appe-
tit das gut geröstete Fleisch junger Frauen. Infolge des Verkehrs
mit den Weißen geschieht das aber nicht mehr häufig und man
begräbt oftmals auch Frauen und Kinder uuzerstückelt, aber die
Männer, insbesondere die Häuptlinge, werden auch jetzt (1871) noch
verzehrt. Es ist mir mitgeteilt worden, daß noch ganz vor kurzem
alte abgemagerte Männer, deren Fleisch gewiß nicht saftig war, ge-
wissenhaft gefressen worden sind. Wenn man das Fleisch eines
Menschen genießt, gewinnt man dadurch die Kraft und die guten
Eigenschaften, welche derselbe gehabt hat. Das ist Wahnglaube." ^
Auch die Schwarzen im nördlichen Queensland machen kein
Geheimnis daraus, daß sie Menschenlleisch verzehren; doch scheint
es, daß sie mehr aus gewissen Traditionen als aus Nahrungs-
bedürfnis Anthropophagen sind. Die meisten Schwarzen werden
begraben, ohne gefressen zu werden. Auch an der Wide Bay Aver-
den diejenigen, die man verzehrt, vorher abgehäutet. Die Haut
wird um ein Bündel Speere gewickelt, so, daß das Haar auf die
Si^itzen zu stehen kommt. Die Fingernägel läßt man an der Haut
sitzen. Die Reliquie wird von Lager zu Lager geschleppt und in
jedem aufgestellt, wo sich die Trauerweiber um dieselbe versammeln
und sich mit Beilen Einschnitte beibringen. Am Carpentariagolf
verzehrt man die im Gefecht Gebliebenen. Sterben sie infolge der
Wunden Abends oder in der Nacht, so kocht man sie am Morgen.
Ein großes Loch wird im Boden ausgehöhlt und der Leichnam wird
in einem Stück gekocht, wozu drei bis vier Stunden nötig sind.
Die Weichteile werden nicht gegessen, sondern herausgenommen
und begraben. Am Golf häutet man die Toten nicht, ehe man sie
' Journal of tlie Authropological Institute. II. 179 (1873).
48 Nordaustralien. Die Südsee.
verzehrt. Nachdem das Fleisch gegessen ist, werden die Knochen
auf einen Baum gelegt oder begraben. Die Leichen der Feinde
bleiben da liegen, wo sie gefallen sind; man verzehrt nur die
Leichen von der eigenen Partei. Kinder werden verzehrt, wenn
sie sterben; Kindsmord ist nicht häufig in Queensland.^
Der kannibalische Ring um den australischen Kontinent wird
geschlossen, wenn wir die Beweise für die Anthropophagie im Nor-
den beibringen. Schon als Owen Stanley mit dem Aufnahmeschiff
Rattlesnake Nordaustralien besuchte, wurde die Bemerkung gemacht,
daß man die Leichen der erschlagenen Feinde verspottete und zer-
stückelte. Der Kopf aber wird als Trophäe mitgenommen und die
Krieger verzehren die Augen nebst den Wangen, im Glauben, da-
durch tapfer zu werden. ^
Wenn auch in Tasmanien dieselben Naturverhältnisse herrschten
wie auf dem australischen Kontinente und die dortige, jetzt aus-
gestorbene Rasse den Australiern sehr nahe stand, so ist sie doch,
zur Zeit der Entdeckung wenigstens, von Kannibalismus frei zu
sprechen gewesen. Es waren wenigstens keine Beweise dafür bei-
zubringen.^
Die Südsee.
In der Südsee treffen wir auf den klassischen Boden der
Menschenfresserei. Von Neu-Guinea bis zm- Osterinsel hin waren
oder sind noch deren Bewohner Anthropophagen, weder Melanesier
noch Polynesier machen eine Ausnahme, und nur der Grad der-
selben ist ein verschiedener, von der rohesten, rein auf das Nah-
rungsbedürfnis gerichteten Form bis zu den letzten Überbleibseln
des Kannibalismus, die sich noch in symbolischen Handlungen oder
Sagen offenbaren. The Polynesians may, without injustice, he called a
race of cannihals, sagt H. Hale ^ und unserm J. R. Forstee, welcher
' E. Pai-meu, Notes on sonic Australiaii Tribes. Journal of thc Anthro-
pological Institute. XIII. 282.
^ Macgiu.ivray, Narrative of thc Voyage of II. M. S. Rattlksnake. Loudon
1852. I. 152.
^ BoNwicK, Daily Life of thc Tasnianians. 23.
^ Uuitcd States Exploring Expedition. Vll. 37.
Die Südsee. Neu -Guinea. 49
vor länger als 100 Jahren noch keinen sicheren Überblick über
alle Südseeinsulaner haben konnte, drängte sich damals schon die
Überzeugung auf ,,daß alle Bewohner der verschiedenen Inseln im
»Südmeere, selbst in dem glücklichsten, fruchtbarsten Erdstriche, wo
die Hauptnahrung in Früchten l)esteht, nichts destoweniger vor Zeiten
Mcnsclienfresser gewesen sind.^
In der Mythologie der Polynesier finden wir Züge, die auf
Anthropophagie hinweisen. So glaubten sie, daß die Geister der
Gestorbenen von den Göttern oder Dämonen verzehrt, und daß der
geistige Teil ihrer Opfer von dem Geiste des Idols, dem das Opfer
galt, verspeist wurde. Die Vögel, welche zum Bereiche der Tempel
gehörten, nährten sich nach polynesischer Meinung von den Kör-
pern der Menschenopfer und man nahm an, daß der Gott in Vogel-
gestalt sich dem Tempel njflierte und die auf dem Altar liegenden
Opfer verschlang. Auf einigen Insehi war sogar das Wort ,, Men-
schenfresser" eine Bezeichnung der Hauptgötter. Kriege, nur zu
dem Zwecke unternommen, um sich Menschenfleisch zur Speise zu
verschaffen, waren bei den Polynesiern nichts seltenes; die Genug-
thuung und der gestillte Rachedurst, welche nach dem Verzehren
des Feindes sich einstellten, waren indessen keineswegs der einzige
Beweggrund zur Anthropophagie der Polynesier: wir finden viel-
mehr auch Beispiele, daß Hungersnot sie zu dieser Unsitte trieb. ^
Neu-Guinea und Nachbarschaft. ,, Unter allen wilden
Völkern, die als Anthropophagen berüchtigt sind, werden die Papuas
zuerst genannt und obschon es sich nicht leugnen läßt, daß sie in
ihren Sitten noch sehr roh sind, so ist dies doch keineswegs auf
die ganze Bevölkerung bezüglich und man thut ihnen gewiß hierin
entschieden Unrecht. Obwohl auch in einem neuen Reisewerke ^
bemerkt wird, daß die Papuas ihre Gefangenen, ja die Bewohner an
der van Dammen-Bai (Geelvinksbai) ihre eigenen Toten verzehren,
so sind doch noch von keinem glaubwürdigen Manne bestimmte
Nachrichten darüber vorhanden und wir müssen diese vagen Ge-
rüchte daher mit Recht als unwahr bezeichnen." So urteilt in
seiner verdienstvollen Schrift über Neu-Guinea Otto Finscii. * Aber
was er als vages Gerücht hinstellt, hat sich als entschieden wahre
' liemerkuugen auf seiner Reise um die Welt. 290.
- W. Ellis, Polynesian Researches. London 1829. II. 222.
•' De Papoewas der Geelvinksbaai door A. Goudswaart. Sclnedam 186H.
* Xeu-Guinea und seine Bewohner. Bremen 1865. 48. Der Ansicht, daß
kein Kannibalismus auf Neu-Guinea herrsche, schließt sich auch Fr. Müli.ek in
seiner „Allgemeinen Ethnographie" Wien 1878. 109 an.
K. A 11(1 reo, Aiitliropoitluigio. ^
50 Neu-Grumea.
Thatsache erwiesen. Da auch sonst die Melanesier des großen
Oceans der Anthropophagie ergeben sind und auf den umliegenden
Inseln Neu-Guineas dieselbe entschieden nachgewiesen war. so ließ
sich dadurch mit Wahrscheinlichkeit schon auf das Vorkommen von
Kannibalismus auf Neu -Guinea schließen. Neuere Reisende be-
stätigen dies denn auch vollständig.
Schon der Amerikaner BiCKMORe brachte beglaubigte Beweise
von der Anthropophagie der Papuas bei^ und übereinstimmend be-
richten, Wallace ausgenommen, dasselbe die späteren Reisenden,
die sich die Aufgabe gestellt haben, das unbekannte Innere dieser
das deutsche Reich an Größe übertreffenden Insel zu erforschen.
Der Florentiner Odoardo Beccaei, welcher 1871 nach Wonim di
Bati, der nordwestlichen Halbinsel von Neu-Guinea, ging und dort
das Arfakgebirge bestieg, brachte Berichte von Menschenfressern,
die zwischen 132° und 133" östl. L. v. Greenwich hausen und dem
Stamme der Kraton angehören. -
Noch eingehender erforschte den Nordwesten Neu-Guineas unser
Landsmann Dr. A. B. Meyer, dem es auch gelang die Nordwest-
halbinsel an ihrer engsten Stelle, von der Geelvinksbai zum Mac
Cluergolf zu kreuzen. '^ Nach ihm sind Kannibalen in dem besuchten
Teile: Der Stamm der Karoans in den Bergen an der Nordküste,
zwischen Amberbaki und den zwei kleinen Inseln Amsterdam und
Middelburg; die Tarungarös an der Ostküste der Geelvinksbai,
welche sogar ihre eigenen Todten verzehren; die Bergbewohner der
Insel Jobi in der Geelvinksbai. Daß auch an Mac Cluer Inlet
Kannibalen wohnen, ist l)estätigt worden. Ein Hamburger, Namens
Schlüter, Steuermann des Schiffes ,, Franz'*. Kapitän Redlick, wurde
dort nebst einigen Matrosen von den Papuas ermordet und der
Kfh'per als Speise an benachbarte Stämme verkauft.^
Während wir so Kunde vom Vorkommen der Anthropophagie
im Nordwesten Neu-Guineas erhalten, kam gleichzeitig Bestätigung
über deren Verbreitung im Südosten. Mokesby, der die dortigen
Küsten aufnahm, stellt sofort dort Kannibalismus fest" und die
' Ar.BF.RT S. liicKMoiiK, licisoii iiii Ostiiidisclicn .\ii-lii])('l. Aus dem Eiifj^-
lisolicii. Jena 1S69. 284.
-' Occiui Highway.s. Juni 1.S7.S. llf).
■' Seine Berichte stehen: Aushuid. 1873. 9G4. Ocean Highways. Dezem-
ber 1878. 888. Mitteilungen (hn- k. k. geograpliisehen Gesellschaft in Wien 1878.
538. Xature, 4. Dezember ls78. 77.
'' A cruise anuing tlie cannibals. Ocean Highways. Dezember 1878. 8(J4.
• Ocean HiuliwaYs. Dezember 1873. 393.
Neu-Guinea. Louisiaden. 5 1
ilaiui spälei- duit angesiedelten englischen Missionare geben dann
weitere Einzelheiten. Die Kiefern der Verzehrten werden als Arm-
schmuck getragen. Am Flusse Aivei oder Alele sind die Einge-
bornen ,,alle Menschenfieisch essende Kannibalen, sei es gekocht
oder ungekocht; sie sagen es sei eine bessere Nahrung als alles
andere". Am Südkap kam ein befreundeter Häuptling zu der Frau
des Missionars Gill und bot ihr eine Menschenbrust zur Speise an.
die er als saftigen Bissen rühmte.^ Das sind deutliche Beweise,
daß hier das Menschenfleisch als Genußmittel betrachtet wird; ol)
andere Beweggründe dort für die Anthropophagie noch vorhanden
sind, läßt sich aus den Berichten noch nicht ersehen.
In der Verlängerung der östlichen Halbinsel Neu-Guineas. nur
durch eine schmale, korallenreiche See getrennt, ethnographisch und
physikalisch aber mit dem Hauptlande übereinstimmend, liegt der
Louisiade- Archipel, dessen melanesische Eingeborene Anthropophagen
sind; vollauf Bestätigung ihres abscheulichen Kannibalismus ver-
danken wir dem französischen Schitfsarzt V. de Rochas.^ An der
()stlichen Insel Rössel strandete im Sommer 1858 das Schiff St. Paul,
welches 317 chinesische Kulis von Hongkong nach Australien führen
sollte. Die Schiffbrüchigen retteten sich auf eine kleine Xebeninsel
und der Kapitän fuhr in der Schaluppe fort, um Hilfe zu holen.
Er gelangte nach Neu-Caledonien, wo die französische Beluirdc so-
fort ein Kriegsschiff, auf dem Rochas sich befand, nach Rössel al)-
ordnete, um die Schiffluiichigen zu retten. Am 5. Januar 18511
traf das Schiff dort ein; aber von mehr als 300 Männern waren
nur noch vier am Leben, die übrigen waren von den Eingeborenen
ermordet und aufgefressen Avorden. Einzelheiten übergelien wir, da
sie nicht geeignet sind, Licht auf die Motive der That zu werfen,
wenn es auch fast scheint, als sei bloße Lust nach dem Genüsse
von Menschenfleisch die Ursache des schauderliaften Vorfalls ge-
wesen.
Von den übrigen Satelliten Xeu-Guineas erwähnen wir, daß
auf Rook kein Kannibalismus herrscht. ,,Die Menschenfresserei,
welche an den Küsten Neu-Guineas herrscht, erregt auf Rook Ab-
scheu.'''^ Dagegen sind die Eiugeborenen derMassims-Inseln (d'Entre-
casteaux-Inseln, an der Südostspitze Neu-Guineas) Kannibalen.^
' CiiALMERs and Gill. New-Guinea. London 1885. 48. 144. 234.
- Xaufrage et seines d'antliropophagie ä l'ile de Kossei dans ranliiixl dt
la Louisiade. Im Tour du Monde. IV. 87 (18G1I.
' Missionar D. Carlo 8alerio in Petermanxs Mitteilungen. I8f!'<i. 342.
■* Salerio a. a. O. 848.
4*
52 Bismarck-Archipel Salomonen.
Den Kannibalismus der Melanesier des Bismarck-Archipels
kennt Wilfked Powell aus eigener Anschauung, er wohnte den
Menschenfresserniahlzeiten bei und sein Reisewerk ist ein fortlaufen-
der Bericht über die verschiedensten kannibalischen Einzelheiten.
Beim Häuptling Toragood der Duke of York Insel bei Neu-Bri-
tannion sah Powell abgehackte Menschenglieder an einem Tabu-
baum hängen. Von einem l)ei seinem Hause liegenden Leichnam
sagte Toragood: ,,der Mann half meine Mutter verzehren'*; jetzt
kam er selbst an die Reihe. ,,Ich glaube, sagt Powell, es ist für
diese armen Geschöpfe fast unmöglich den Kannibalismus aufzu-
geben, so groß ist ihre Begierde nach Menschenfleisch." Frauen
werden durch die Heirat völliges Eigentum des Mannes und wenn
letzter erzürnt ist, kann er die Frau töten, um sie zu verzehren,
was vorkommt. Jeder Häuptling hat zwei ständige Minister: einen
Sprecher und einen Schlächter. Ersterer besorgt das Reden, letz-
terer das Schlachten und Zerlegen. Das wertvollste Stück vom
Manne ist der Schenkel, vom Weibe die Brust. Der Kopf wird
nie gegessen, ebensowenig die Eingeweide, welche man verscharrt.
Bein- und Armknochen von Feinden werden am stumpfen Ende
der Speere befestigt; die Eingebornen glauben, dies verleihe ihnen
die Stärke des Mannes, dessen Gebein sie tragen und machen sie
unverwundl)ar gegenüber den Verwandten der Gefressenen. Selten
verzehren sie einen Mann aus ihrem eignen Stamm. Sollte aber
einer von seinem Häuptling getötet oder wegen Verbrechen hinge-
richtet sein, so kann der Leichnam an einen andern Stamm ver-
kauft werden. Auch die Neu-L'länder sind Kannibalen.^
Den Naturforschern des „Challenger-' erschienen die Bewohner
der Admiralitätsinseln unzweifelhaft als Kannibalen; sie zeigton
ihnen durch Pantomimen, wie sie menschliche Glieder kochten und
verzehrten.^
Salomonen. Am 7. Februar 1567 entdeckte der Spanier
Alvaeo Mendana de Neyea die Salomonen, landete auf der von
ihm so benannten Insel Santa Ysabel im Sternhafen (Puerto de la
Esti'clla) und trat mit den Eingeborenen in Verkehr, deren Häupt-
ling Tauriqui ]^)ili])an Harra nach polynesischer Sitte durch Namen-
tauscli mit ilini Freundschaft schloß. Während eines zweimonat-
lichen Aufenthalts liatte er Gelegcidicit, die Sitten der Eingel>oreiieii
' W. Powm.i,, Unter den K:iuiiilt:il<Mi von Neu- IJritaiiincu. L{'i])/,ij;- lsS-4.
(iO. S2. S7. 21 it.
'-' Si'KV, Die K.\|ir(liti((ii des ('li;illi'iiycr. Ia'[\)/A<^ ISTT. 24i"). 24.S.
Salomonen. 5d
genügend kennen zu lernen, deren Anthropophagie ihm sofort auf-
tiel. „Diese Menschen, sagt er, sind Barbaren, Anthropophagen,
Fresser von Menschentieisch; sie verschlingen sich untereinander,
wenn sie Kriegsgefangene machen und selbst dann, wenn sie, ohne
in offener Feindschaft miteinander zu sein, sich durch Hinterlist
gefangen nehmen. Der Beweis, daß sie Anthropophagen sind, be-
steht darin, daß sie dem General bei verschiedenen Gelegenheiten
Stücke von Indianern anboten, als ein sehr delikates und von ihnen
geschätztes Gericht'*.^
Seitdem haben alle Reisenden und Missionare, welche von den
Salomons-Inseln berichteten, deren Bewohner als unzweifelhafte Kan-
nibalen geschildert. Die Anthropophagie besteht dort völlig unver-
mindert fort, wofür wir Belege aus der allerneuesten Zeit anführen
wollen. Im Jahre 1872 besuchte das britische Kriegsschiif Blanche,
Kapitän Cürtland H. Si3Ipsün, die Insel Ysabel, wo sich ihm in
einem der an der Küste gelegenen Dörfer ein schauderhafter An-
blick darbot. An dem Hause eines Häuptlings waren 25 Köpfe von
Feinden angenagelt, welche erst vor drei Wochen hinterrücks getötet
und dann verspeist worden waren. ^
Noch eingehender berichtet Kapitän Edwin Redlick vom
Schoner ,, Franz'', der in neuester Zeit eine Kreuzfahrt durch das
Inselgewirr des westlichen stillen Ozeans bis Neu-Guinea unternahm.
Er ankerte in der Makira-Bai der Insel San Christoval (Bauro) und
ging, begleitet von einem dort wohnenden Engländer, Perry, der
Jagd wegen ans Land. ,,Beini Verlassen der Bai begegneten Avir
verschiedenen großen Canoes und an eins derselben heranrudernd,
fiinden wir, daß in demselben ein zugerichteter oder gekochter
Leichnam lag. Perry nahm die Sache kühl, als etwas alltägliches
und da er uns höchst entsetzt sah und den Matrosen übel wurde,
bemerkte er, daß er mindestens zwanzig Körper in diesem Zustande
gesehen habe, die gleichzeitig am Strande lagen, um verspeist zu
werden. An Bord des Kriegscanoes waren zwei Gefangene, ein
' Courte relation du voyage que fit Alvaro de Mendana ä la recherche de
la Nouvelle-Guiuee, traduit de Tespagnol par M. Ed. Dulaurier. Nouvelles
Aunales desVoyages. Juillet 1852. — Figueroa, der auch eine Schilderung der
Reise des Mendana 1612 in Madrid verötfentlichte, erzählt den Vorfall folgen-
dermaßen : „Der Kazike sandte Mendana das Viertel eines Kindes mit Arm und
Hand. Der spanische General ließ es in Gegenwart jener, die es gebracht, ver-
graben. Sie schienen beleidigt und verwirrt von dem schlechten Elrfolge ihrer
Gesandtschaft ixnd schlichen mit gesenktem Haupte hinweg."
- Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. VHl. 96 (1873).
54 Salomonen. Xcu-Hebridcn.
Knabe und ein Mädchen von etwa 14 Jahren. In der Absicht, ihr
Leben zu retten, erbot ich mich sie zu kaufen; doch konnte ich
bieten, was ich Avollte, die Eingeborenen gingen nicht darauf ein.
Wir hörten später, daß die Schwarzen nach Makira gingen, die
Hälfte des Körpers dort verkauften und das Übrige einem andern
Stamm ; auch ihre beiden Gefangenen verkauften sie. Wir kamen
bald nachher an zwei Häuser, in denen eine große Zahl Schädel
von Leuten aufbewahrt wurden, die sie gefressen hatten. Wir fanden
die Eingeborenen ruhig und inoffensiv, doch alle Kannil^alen.'' ^
Die neuesten Nachrichten über den Kannibalismus auf den
Salomonen verdanken wir dem dort stationierten katholischen Mis-
sionar Verguet. Er ist dort noch en pleine viyueur; die Eingebore-
nen kennen nichts delikateres als Menschentieisch. Das ganze Dorf
erschallt von Freudenrufen, wenn ein Kannibalenfest stattfindet,
man zerschlägt Kokosnüsse, raspelt Taro und Ignamen, um Pa-
steten zu backen, während der Leichnam zubereitet wird. Verguet
schildert als Augenzeuge; nach ihm ward der Kadaver in große
Bananenblätter gewickelt und dann mit stets erneuerten heißen
Kieseln umgeben, bis er gar war. So bleibt das Fleisch saftig. Man
sieht sich vor, daß die Haare nicht verbrannt werden; diese zieht
man skalpartig mit der Haut ab und setzt diese Perrücke auf eine
Kokosnuß, die im Gemeindehaus aufgehangen wird. Wenn die
Insulaner Menschentieisch verzehren, verstecken sie sich vor den
Europäern, doch verbergen sie die Sache nicht, wenn sie zufällig
bei ihren Mahlzeiten überrascht werden. Nicht selten, namentlich
auf Ysabel, sieht man Armbänder von Menschenzähnen oder am
Halse der Eingeborenen hängen Finger, Ohren oder andere Teile
(jii^on VC nomme pas. Nach Verguet scheint keinerlei besonderer
Aberglauben hier mit dem Kannibalismus verknüpft zu sein.^
Neu -Heb ri den. Cook und seine Begleiter, welche nicht ,,so
lieblos^' sein wollten, die Bcnvohner der Neu-Hebi-ideninsel Tanna
auf eine bloße Vermutung hin der Anthropojdiagie zu beschuldigen,
wurden verhindert, in das Innere der Insel vorzudringen, wobei
man ihnen andeutete, man würde sie, falls sie weiter vorwärts
gingen, fressen. ,,Sie deuteten durch Zeichen sehr verständlich an,
daß sie einen Menschen zuerst totschlügen, hierauf die Glieder ein-
zeln ablöseten und dann das Fleisch von den Knochen schabten.
Endlich setzten sie die Zähne an den Arm, damit uns gar kein
' A cruise amonpj tho cannibals. Occan Highways. Dtzoinber 1873. 361.
'^ Revue d'Ethnographic. IV. 214 (1885).
Neu-Hebriden. 55
Zweifel übrig bleiben sollte, daß sie wirklich MenschenHeisch äßen.''^
Und noch wiederholt geschah während der Anwesenheit des Ent-
deckers dasselbe, so daß schon damals kein Zweifel darüber herr-
schen konnte, die Bewohner von Tanna seien Anthropopluigen.
(t. Fürster, nach dem Grunde forschend, ruft dann aus: ,, Gemeinig-
lich püegt man dieselbe dem äußersten Mangel an Lebensmitteln
Schuld zu geben; allein was für einer Ursache will man sie hier
beimessen, wo das fruchtbare Land seinen Einwohnern die nahr-
liaftesten PÜanzen und Wurzeln im Übertluß und nebenher auch
noch zahmes Vieh liefert? Wohl ungleich wahrscheinlicher und
richtiger läßt sich diese widernatürliche Gewohnheit aus der Be-
gierde nach Rache herleiten." -
Die Neu-Hebriden-Bewohner sind, wie die übrigen Melanesier,
l)is zu dieser Stunde greuliche Kannibalen. Der Missionar George
Turner, der lange auf Tanna lebte, bemerkt von den dunkelfarbi-
gen Eingeborenen: ,,Wenn der Körper eines Feindes erhalten wird,
richtet man ihn für den Ofen her und serviert ihn bei der nächsten
Mahlzeit mit Yams. Es kann darüber kein Zweifel herrschen. Sie
sind ganz erpicht auf Menschentieisch und verteilen es in kleinen
Bissen weit und breit unter ihre Freunde als eine köstliche Speise.
Ich erinnere mich eines Tages mit einem Eingeborenen darüber
gesprochen zu haben und versuchte, ihm die Sache vergeblich zu-
wider zu machen. Er nahm alles mit herzlichem Lachen auf und
antwortete: ,,Scliweinetleisch ist gut für Sie, dies aber paßt für
uns,'^ und indem er mich wie durch die That überzeugen wollte,
biß er in seinen Arm und schüttelte ihn, als ob er mit den Zähnen
ein Stück herausbeißen wollte. Auf anderen Liseln ist es anders,
doch auf Tanna ziehen kannibalische ,, Kenner" einen schwarzen
Mann einem Weißen vor. Der letztere, sagen sie, schmecke ,, salzig".
Sie betrachten alles, was ihnen in den Weg kommt, als ,, Fisch",
wie die Niedermetzelungen weißer Männer gezeigt haben. ^
Wie auf Tanna, so liegen die Verhältnisse auf den übrigen
Eilanden der Neu-Hebriden, auf Erromango^, Malikollo, Espiritu
Santo. Von dieser nördlichen Insel haben wir einen den Kanniba-
lismus bestätigenden Bericht des dort wohnenden Missionars John
' Gr. FoRSTEK, Säuiiutlichc Schrifteu. iL 232.
•* Forster a. a. 0. II. 243.
' George Turner, Nineteen Years in Polynesia. London 186L 83.
* Auf dieser Insel wurde am 20. November 1839 der ,, Apostel der Sndsee",
Williams, nebst seinem Gefährten Harris verzehrt.
56 Ncu-Hobridcn.
GooDWiLL, der vom 24. Juni 1873 datiert ist. ^ Es lierrsclite einer
der Läufigen Kriege unter den Eingeljorenen. „Der zwei Miles
von meiner Station wohnende Häuptling tötete fünf , Buschleute '
und verteilte sie unter die uns hefreundeten Dorfbewohner, damit
sie sich daran ergötzen möchten. Ich that alles, was in meiner
Macht stand, sie davon abzuhalten und erklärte ihnen, wie ab-
scheulich der Kannibalismus sei. Ihre ständige Antwort aber war:
Es waren Ihre Feinde, die Sie zu töten und auszuplündern suchten;
sie stahlen Ihre Hühner, zerbrachen Ihre Fenster, Möbel u. s. w.
und das ist Grund genug, sie zu töten und zu verzehren.'*
Auch der SchAveizer 0. Rietmann, welcher die Neu-Hcbriden
besucht hat, bemerkt nach den Angal)en dortiger Missionare, daß
die Eingeborenen von Mallicolo arge Kannibalen seien. Während
er sich auf Deck die Hände wusch, kam ein Schwarzer grinsend
auf ihn zu, ergriff' seinen Arm und gab zu verstehen, daß der gut
zu essen sei. Sein Geberdenspiel und das mehrfach wiederholte
Wort kaikai, daß in den meisten Dialekten der Gruppe , .essen"
bedeutet, zeigten genügsam an, Avonach ihn gelüstete. ,,Wenn, sagt
Rietmann, unter den Eingeborenen Australiens manche Stämme
Kannibalen sind, so erklärt sich das. Die Natur hat sie nur karg
mit Nahrung aus dem Tier- und Ptianzenreiche beschenkt und man
begreift, daß solche Wilden ihre Zuflucht zu Menschenfieisch nehmen.
Aber auf den von der Natur geradezu beglückten Inseln der Süd-
see bringt die Natur nahrhafte und wohlschmeckende Pflanzen in
Fülle hervor: Yams, Taro, Brotfrucht, Bananen und viele andere;
den Eingeborenen stehen Schweine, Vögel und Fische zu Gebote,
und doch sind sie auf manchen Eilanden die eingefleischtesten
Kannibalen. "2
Noch einige Nachrichten finden wir Ijei Eckakdt.'^ Nach ihm
ward auf Aneityum 1853 der letzte Mensch gefressen; an den
Küsten derjenigen Inseln, wo häufig Europäer verkehren, ist die
Anthropo])hagie verschwunden, doch im Innern dauert sie fort; so
bei den Ermama Kararei, den Buschlcuten, auf Tanna. Das Schiff'
Rosario konstatierte 1871 beim Besuche Espiritu Sautos noch un-
verblümte Vorliebe für Menschenfieisch. Auf Vat6 dagegen liefert
man die im Kriege Erschlagenen den Verwandten gegen eine An-
zahl Schweine aus.
* The illustrated Missionary News. 1. Januar 1^14.
■^ 0. RiETJiANN, Wandeioingcn in Australien und Polynesien. St. Gallen
1868. 171.
' M. PxKAKDT, Der Archii^el der Neu-Hebriden. llamliurg 1877. 15.
Neu-Caledonien. 57
Neii-Caledonien. Als Cook 1774 Neu-Culedoiiien entdeckte,
erkannte er die seitdem festgestellte Anthropupliagie der Einge-
borenen nicht, ja er erzählt sogar eine Geschichte, Avie die Insu-
laner sich erstaunt und angeekelt von den Matrosen abgewendet
hätten, welche einen Rinderkuochen benagten, wobei sie nicht un-
deutlich zu verstehen gaben, daß sie glaubten, jene nagten an
Menschenknochen, da ihnen größere Säugetiere völlig unbekannt
waren.
Alle späteren Reisenden und namentlich die auf Neu-Caledonien
angesiedelten Franzosen bestätigen dagegen den ausgedehnten Kan-
nibalismus der schwarzen Eingeborenen. Der Schiffsarzt Rochas
sagt trocken, Avenn auch nicht ganz richtig: L'a7ithroi)oj)ha(/ie est
pnrement alimentaire cliez les Neo-Caledoniens. Sie führen Krieg aus
keinem anderen Grunde als um sich Fleisch zu verschaffen, da in
ihrem Lande von Säugetieren nur eine Fledermausart vorkommt,
die nicht eßbar ist. Nach dem Kampfe werden die wenigen Toten
in Stücke zerhackt und unter die Häuptlinge verteilt. Die Neu-
Caledonier ziehen das. Fleisch ihrer Landsleute demjenigen der
Europäer vor, da letzteres ihnen zu salzig schmeckt. Daß die
Häuptlinge allein das Recht haben die Körper der Feinde zu ver-
zehren beruht auf angemaßtem Privileg; sie verteilen dann das er-
haltene Fleisch in ihren Familien. ^ Völlig beglaubigt ist der Fall,
daß im Jahre 1850 fünfzehn Mann von der Besatzung des franzö-
sischen Kriegsschiffs Alcmene von den Neu-Caledoniern erschlagen
und verzehrt wurden. -
Noch weit eingehender spricht sich der Ligenieur Jules Gar-
nier über den Kannibalismus aus. Sein Besuch ^eu-Caledoniens
fällt in das Jahr 1864, er hat vortrefflich darüber geschrieben und
wiederholt mit eigenen Augen die Kannibalenschmausereien gesehen.^
Die Gegend, in welcher er beobachtete, ist der Distrikt von Houagap
an der Nordostküste, wo von befreundeten Eingeborenen sehr häufig
den französischen Postenkommandanten das Fleisch von erlegten
Feinden angeboten wurde. Garnier wohnte einem Pilufeste des
Widustammes bei, der die französische Herrschaft anerkannt hat.
Im Schein des Feuers sah er zwölf Häuptlinge sitzen, zwischen
denen auf Bananenblättern Stücke gebratenen Menschenfleisches mit
* De Kochas, Sur les Neo-Caladonicn.s. Bull. soc. d'Anthropol. 1S6Ü. 414.
■■^ Bull. soc. d'Anthropol. 1862. 566.
^ Jules Garnier, Voyage a la Nouvelle Caledonic. Tour du Moude.
Vol. XVI. 11. Pai-is 1868. " ''->'"•
■^" Neu-Caledonien.
gekochten Yams und Tarowurzeln lagen. Es waren die Leichen der
im Kampfe erschlagenen Feinde, welche das Material zu dem gräß-
lichen Mahle geliefert hatten. Folgen ekelhafte Einzelheiten, die
wir hier übergehen.
Gaenier hat sich die Frage vorgelegt, wie die Xeu-Oaledunier
und die Melanesier überhaupt zu der gräßlichen Sitte gelangt sind
und teilt uns ein Gespräch mit. das er darüber mit einem Neu-
Caledonier geführt hat. Dieser erklärte die Sache damit, daß die
Europäer andere und bessere Speisen hätten; für die Neu-Caledonicr
aber sei Menschenfieisch das beste. Das wäre also eine physio-
logische Entschuldigung der Unsitte. Übrigens benutzte man nicht
bloß erschlagene Feinde und Kriegsgefangene, sondern auch Übel-
thäter zum Verzehren; letztere wurden auf Befehl des Häuptlings
getötet. Ferner wurden alte Leute und zwar mit ihrer Genehmigung
den Göttern geopfert und gegessen. Endlich sollen nach Gaenier
auch mißgestaltete Kinder von ihren eigenen Eltern geschlachtet
und gefressen werden.
Auch der Missionar X. Montrüuzier,. welcher zwanzig Jahre
auf Neu-Caledonien zugebracht hat, ist in der Lage gewesen sehr
eingehend über die dortige Anthropophagie zu berichten. Die Insel
ist in zwei große Conföderationen gespalten, die der Ot und die
der Wawap. Die Kriege zwischen beiden werden bis aufs Messer
geführt und diejenigen, welche in der Schlacht fallen, werden von
den Siegern verzehrt, deren Erfolg nicht als vollständig gilt, wenn
sie sich nicht die Leichen der Feinde verschaffen können. Alte
Rivalität, bei dem geringsten Anlasse erneut, führt zu diesen Krie-
gen, die man' außerdem zu bestimmten Zeiten unternimmt. So
pflegte der zu den Ot gehörige Stamm der Puebo alle fünf Jahre
den zu den Wawap gehörigen Stamm der Balade zu überfallen.
Abgesehen von den Kriegen haben die Neu-Caledonier noch
andere Mittel sich Leichen für den Ofen zu verschaffen. Dahin
gehört zunächst die Anklage wegen Zauberei und jeder, der einmal
angeklagt wird, ist sicher, auch geopfert zu werden, denn Anklage
und Verurteilung sind eins. Die Häuptlinge pflegen hiervon reich-
lichen Gebrauch zu machen.
Auch bei den Festlichkeiten verschafi't man sich Menschen-
fleisch, indem man einen oder mehrere der geladenen Gäste tötet.
Der Häuptling bestimmt seinen Vertrauten das Schlachtopfer; ein
plötzlicher Tumult wird erregt und der Betreffende dabei erschlagen,
nur um das nötige Fleisch zum Feste zu liefern. Die Häuptlinge
töten oft ihre eigenen Untertanen, um sich Fleisch für Gäste zu
Neu-Caledonien. Lnyalty-Iiiseln. Fiflscln-Inseln.
59
verschaffen, wofür Montkouzier verschiedene Beispiele anführt.
Daß aber die Schlachtopfer vorher gemästet werden, bestreitet der
Missionar auf das Entschiedenste.^
Wenn nun im Jahre 1873 Balansa von Neu-Caledonien schreibt:
Avjourdlmi heureusement cette horrible coutuine a disparu de Vile^, so
müssen wir dem leider das viel jüngere Zeugnis Moncelon's gegen-
überstellen, welcher noch heute vorkommende Fälle von Anthropo-
phagie erwähnt; namentlich Averden Weiber weggefangen und ver-
zehrt. Auch er führt teils Hunger, teils Rachsucht als Motive an.=*
Auf den Loyalitätsinselu bei Neu-Caledonien haben wir das
Aufhören der Anthropophagie den Missionaren zu verdanken. Trotz
des Zwiespaltes, in den die Eingeborenen durch die einander feind-
lich gegenüberstehenden katholischen und protestantischen Missio-
nare gerieten, ist dort ein Fortschritt zu bemerken gewesen, aber
mit diesen eine totale Umwälzung unter den Eingeborenen hervor-
rufenden Fortschritten ist auch ihr Untergang besiegelt. Sie nehmen
an Zahl stark ab. Uidolatrie a disparu depuis peu d'annees, et avec
eile V anthropophatjie et tous les maux qu'elle entrahie. A des trihus
independantes et en etat de guerre pres(pte permanent, (juerres qid le
plus souvent avaient pour enjeu la cliair humaine, une religion taute
de palx est veime.^ So wie auf der Hauptinsel Lifu liegen auch die
Verhältnisse auf den beiden kleinern Inseln Mar6 und Uea.
Noch 1845 fand Tuexer auf Mar6 den gräßlichsten Kanni-
balismus, der ganze Körper wurde in sitzender Stellung, die Beine
zum Kinn heraufgezogen, im Ofen gebraten und so aufgetischt.''
Fidschi-Inseln. Auf diesen, wo der Kannibalismus zu den
sozialen Einrichtungen gehörte, hat derselbe wohl seinen höchsten
Grad erreicht. Die Ursachen dafür sind auch dort verschiedener
Art. Wir erkennen dieselben am besten, wenn wir dem Berichte
des Missionars Thomas Williams folgen^, der sich längere Zeit
auf den Inseln aufhielt.
Daß nicht bloß Geschmack am MenschenÜeisch die Insulaner
zum Kannibalismus trieb, erkennt man daran, daß derselbe im Zu-
sammenhang mit den Tempelbauten oder dem Stapellauf der Kähne
vorkam. Menschen wurden als Walzen bei letzterem benutzt und
1 Bull. soc. d'Authropol. 1870. 30 ff.
^ B. Balaxba, Nouvelle Caledonie. Bull. d. 1. soc. de geographie. 1873. 139.
3 Bull. soc. d'Authropol. 1885. 363.
* Balansa, Les iles Loyalty. Bull. d. 1. soc. de geogr. 1873. 528.
' G. TüRXER, Nineteen years in Polynesia. London 1861. 427.
« Fiji and the Fijians. London 1858. L 205 ff.
60 Fidschi-Inseln.
(laun den Zimmerlcuten zur Speise übergeben. Das Deck der
neuen Kähne wurde mit Menschenblut abgewaschen; wird der Mast
zum ersten Male niedergeholt, so schlachtet man ebenfalls Menschen
ab und verspeist sie. Hier liegt sicher ein abergläubisches Motiv
zu Grrunde: durch die Menschenopfer wollte man den Kähnen glück-
liche Fahrt verschaffen.
Daß die natürlichen Todes Gestorbenen verzehrt wurden, leugnet
Williams; man begrub dieselben stets. Auch die im Kriege Er-
schlagenen wurden nicht immer alle gefressen; denn die Leichen
Hochstehender wurden davon zuweilen ausgenommen. Auch ist
manchmal die Masse des vorhandenen Menschenlieisches zu groß,
um verzehrt Averden zu können, so daß man Stücke wegwarf. Im
Jahre 1851 wurden einmal zu Namena fünfzig Kadaver gleichzeitig
gekocht, es war Überfluß an Fleisch vorhanden, so daß man die
Köpfe, Hände, Eingeweide wegwarf und nur das übrige verzehrte.
Ist wenig Menschenfleisch vorhanden, so verzehrt man jedoch alles
am Körper.
Wenn die Körper für den Ofen zugerichtet werden, so wird
dieses durch einen besonderen Trommelschlag kund gcthan. ,,Bakolo",
der für das Kaniiibalenmahl bestimmte Körper des Erschlagenen,
wird unter bestimmten, von Williams mitgeteilten Gesängen und
Kriegstänzen herangeschleppt, vor dem Häuptling niedergeworfen
und von diesem dem Priester übergeben, um ihn dem Kriegsgott
zu opfern — woraus ein religiöses Motiv sich für diese Form des
Kannibalismus ergiebt. Während der große Ofen geheizt ist\ zer-
legt ein Fleischer kunstgerecht den vorher gewaschenen Körper;
die einzelnen Teile werden in Blätter gewickelt und dann auf die
heißen Steine gelegt. Zuweilen werden die Kadaver auch ganz, in
sitzender Stellung gebraten. Kocht man dagegen das Menschen-
fleisch, so löst man es vorher von den Knochen.
Wie sehr auch Eachsucht beim Kannibalismus dieser Insulaner
das Motiv ist, erkennt man daraus, daß, als 1850 Tuikilakila seinen
eigenen ihm feindlichen Vetter Ratu Rakesa besiegte, ersterer nicht
zugab, daß der Leichnam des letzteren begraben wurde. Er ließ
ihn dem Kriegsgott opfern und sprach dabei: „Wäre ich in seine
Hände gefallen, so hätte er mich verzehrt; nun er mein ist, ver-
zehre ich ihn'-. Daß aber auch reine Genußsucht nach Menschen-
' Die Öfen sind bis 3 Meter tiefe und sehr weite Löcher in der Erde, welche
mit Steinen ausgelegt sind und mit Holz geheizt werden. Sind die Steine heiß
geworden, so legt mau den zu kochenden Gegenistiiiid darauf und deckt ihn mit
Laub und Asche zu. Wu^uaüs. I. 147.
Pidschi-Tiiseln. 61
lieisch Beweggrund für die Anthropophagie ist, ergiebt sich aus
folgendem abscheulichen Fall. Ein gewisser Loti ging mit seinem
Weibe in die Taropflanzung, um dort zu arbeiten. Als das Werk
gethan war, ließ er sie Holz holen, den Ofen heizen und einen
Bambussplitter herbei])ringen, um die Speise zu zerlegen. Nachdom
sie gehorsam dieses ausgeführt, erschlug er das Weil), kochte und
vorzehrte er es, wobei ihm von einem Bekannten Gesellschaft ge-
leistet wurde. Niemals hatte der Unmensch mit dem Weibe, mit
dem er ruhig lebte, Streit gehabt. Schiffbrüchige verzehrt man
regelmäßig, da der Glaube herrscht, das Meer habe sie nur darum
nicht verschlungen, damit sie verspeist werden könnten.
Einzelne heidnische Häuptlinge verabscheuten allerdings den
Kannibalismus und konnten nie dazu vermocht werden Menschen-
fleisch zu essen. Diese aber waren Ausnahmen von der Regel.
Die Anthropophagie war weit verbreitet und Menschenfleisch galt
als Delikatesse. Man raubte Menschen um sie zu fressen. Dabei
wurde weder Alter noch Geschlecht verschont, Kinder wie Greise
wanderten in den Ofen, Herz, Schenkel und Oberarm galten als
die größten Leckerbissen, der Kopf war weniger beliebt.
Die W^eiber aßen selten „Bakolo'^ und einigen Priestern w^ar
es verboten. Auf der Insel Moala wurden sogar oft die Gräber
ge()ft"net, um die Leichen daraus als Nahrung zu verwenden. Häupt-
linge sandten zuweilen ihren Freunden Leichname als Geschenk in
weite Entfernung. Während der Lisulaner sonst alles Fleisch nur
im durchaus frischen Zustande verzehrt, erregt ihm faulendes Men-
schenfleisch keine Abscheu. Gewöhnlich kocht man Menschen-
körper allein und die Ofen und Töpfe, in denen sie zubereitet
wurden, sind ebenso streng tabu wie die bei der Mahlzeit benutzten
Schalen und Gabeln. Zuweilen dienen die Schädel der Opfer als
Trinkschalen, aus den Schienbeinen macht man Nadeln zum Segel-
nähen. Der schrecklichste, bei der Anthropophagie vorkommende
Brauch jener Insulaner, ist aber das vakototoga, die Tortur, wobei
dem noch lebenden Feinde Stücken Fleisch vom Körper abge-
schnitten, dann gekocht und vor seinen Augen verzehrt werden.
Williams erzählt von einem Häuptling, der 900 Menschen verzehrt
hatte, deren Zahl durch aufgestellte Steine bezeichnet wurde.
Während die Polynesier bis zur Zeit der Ankunft der Euro-
päer die Töpferei nicht kannten, besaßen die Fidschi-Insulaner
schon Töpfe und in diesen kochten sie ihre Speisen, zumal auch
das Menschenfleisch. Noch mehr, sie bedienten sich auch der
Gabeln, was um so mehr autfallen muß. als dieses Kulturinstrument
62 Fidschi-Inseln.
selbst bei uns in Europa ziemlich späten Datums ist. Wir wissen,
daß sie zu ihren Kannibalenmahlzeiten ganz besondere, aus Holz
geschnitzte Gabeln gebrauchten, die als Erbstücke in den Familien
sich erhielten und mit individuellen Namen belegt waren, wie denn
die Gabel eines Häuptlings, der sich durch großen Kannibalismus
auszeichnete, undro-undro hieß, d. h. ,,ein kleines Ding, das eine
große Last trägt.*' ^
Williams, der durchaus glaul)würdige ^Missionar, sagt aus-
drücklich, daß er in seinem Berichte alle Färbung vermieden habe
und daß er das schauderhafte Bild durch Mitteilung mancher Einzel-
heiten noch düsterer habe gestalten können. Es wird anderweitig
genügend bestätigt.
W^er sich für die scheußlichen Einzelheiten interessiert, die l)oi
den Kannibalenmahlzeiten der Fidschi -Insulaner stattfinden, der
möge den Bericht des englischen Matrosen John Jackson nach-
lesen, der 1840 — 42 freiwillig unter ihnen lebte.- Diese eingehen-
den und ausführlichen Berichte liegen allerdings vierzig und fünfzig
Jahre zurück. Seitdem haben die Fidschi-Inseln, die jetzt britische
Besitzung sind, aucli eine europäische Bevölkerung, wenigstens an
ihrem Rande und auf den kleinen Eilanden erhalten: der 1883 ver-
storbene König Thakombau war Christ geworden, die Missionare
sind thätig und die Anthropophagie hat abgenommen. Aber ganz
ausgerottet ist sie noch keineswegs, und der Insulaner, der heute
als guter Christ erscheint, kann morgen, wenn Gelegenheit sich
bietet, wieder plötzlich in die alte Gewohnheit zurückverfallen.
Fälle von Kannibalismus sind nicht ganz selten und man darf die
Insulaner noch zu den Anthropophagen rechnen. Im Juli 1807
verließ der zu Mbau angesiedelte wesleyanische Missionar T. Bakkr
nebst mehreren Gefährten, trotz verschiedener wohlgemeinter ^^'ar-
nungen, seine Station, um im Innern von Viti Levu bei dem Stamme
der Navosa das Christentum zu predigen: Er wurde erschlagen und
verzehrt.^ Glücklicher passierte dieselbe Stelle zwei Jahre vorher
Dr. Eduard Gräffe, der über den Kannibalismus, wie er gegen-
wärtig auf den Fidschi-Inseln herrscht, bemerkt, daß wesentlich
der Geschmack am Menschenfleisch dort die noch nicht ganz aus-
gerottete Anthropophagie Ijegründe.^
' Williams, Fiji. I. 2i:i.
* Er ist abgedruckt im Appoiulix A. im Journal of a cruise amon<j; flu
islaiids ut' the westcrii Pacific Ijy John Ei.imiin.stoxe Ekskine. EoikIdu 1S5I5.
=* Globus. XIII. 2."). * Petekmanns Mittcilunjzt'u. isdU. (J2. GT.
Fidschi-Inseln. Sandwich-Inseln. 63
Indessen haben wir doch gesehen, daß außer der reinen Goiir-
mandise, welche allerdings bei den Fidschi-Insulanern in Bezug auf
Menscheufieisch nicht geleugnet werden kann, noch anderweitige
Beweggründe der Anthropophagie auf diesen Inseln herrschte. Auch
Erskine^ l)erichtet, daß die erschlagenen Feinde den Göttern ge-
weiht wurden, bevor man sie fraß.
Die Weihung der zu Fressenden den Göttern, das Tabu, welches
dabei über manche Gegenstände ausgesprochen war, beweisen den
ursprünglich religiösen Beweggrund der Anthropophagie, wozu dann
noch Rachsucht sich gegen den erschlagenen Feind gesellt, die
schließlich in Feinschmeckerei und gewohnheitsmäßigen Menschen-
fleischgenuß überging. So haben wir eine völlige Skala.
Ein furchtbarer Ausbruch des Kannibalismus, der wie eine
Seuche ganze Distrikte erfaßte und an dem auch bereits ,. bekehrte"
Stämme Teil nahmen, fand im Jahre 1873 statt. Besonders waren
die Kannibalen, die Alles mordeten und fraßen, was ihnen unter
die Hände kam, darauf erpicht, ,. einen Jehovapriester zu fressen'*,
was ihnen indessen nicht gelang. Die Einzelheiten schildert der
zu ßewa angesessene Missionar A. J. Webb.^
Sandwich-Inseln. In Melanesien, wo die Anthropophagie
bis auf unsere Tage herrscht, scheint dieselbe den Höhepunkt er-
reicht zu haben; in Polynesien dagegen ist sie heute bis auf geringe
Reste verschwunden. Der Einfluß der Missionare hat hier durch-
greifend gewirkt, er konnte dieses um so mehr, als bereits im ver-
flossenen Jahrhundert die Entdecker jene Unsitte im Absterben
begriffen sahen. Daß sie aber einst allgemein über Polynesien ver-
breitet war, darf nicht bezweifelt werden.
Da Gerland eine sehr große Anzahl von Belegstellen für den
Kannibalismus der Polynesier zusammengestellt hat^, so können wir
uns hier etwas kürzer fassen.
Auf den Hawaiischen Inseln war wohl schon zu Cooks Zeiten
die Menschenfresserei in der Abnahme begriffen, ja man schämte
sich derselben. Daß Teile von Cooks Leichnam selbst verzehrt
worden seien, wie wohl angegeben wurde, ist noch neuerdings von
Dr. WiNSLOW eingehend widerlegt worden, der überhaupt die Sand-
wich-Insulaner von der Anthropophagie freisprechen möchte.'* Letz-
teres ist indessen ein vergebliches Beginnen, indem, nach Forster,
' A. a. O. 2G1.
^ The illustrated Missionary News. 1. Dezember 1873.
^ Waitz, Anthropologie. \L lüTff.
* Xatnre, 10. Juli 1873. Vol. VIII. 211.
64 Randwich-Tnseln. Markesas.
die Hawaier selbst erzählten, daß ihre Vorfahren Kannibalen ge-
wesen seien ; als ein Kest der Anthropophagie muß auch angesehen
werden, daß der König bei seiner Einweihung that, als ob er das
ihm dargereichte linke Auge eines geopferten Menschen verschlinge.
John Tuenbull, der in den ersten Jahren unseres Jahrhunderts
die Südsee durchkreuzte, bemerkt dieses und glaubt überhaupt, daß
zu seiner Zeit noch Anthropophagie vorkam. Er fand den Spuck-
napf des Königs mit den Zähnen erschlagener Feinde ausgelegt.^
Durch das Verzehren des linken Auges glaubte man die Kraft des
Herzens des Opfers in sich aufzunehmen.
Markes as-Inseln. Ist, wie von anderen polynesischen Ei-
landen, auch die Anthropophagie der Eingeborenen der Markesas-
Inseln geleugnet worden, so kann daran doch keineswegs gezweifelt
werden, wenn auch ein allmähliches Eingehen des Kannibalismus
daselbst beachtet wurde, so daß derselbe gegenwärtig fast erloschen
ist. Bemerkenswert bleibt, daß die Weiber sich an den Kanni-
balenschmausereien ebensowenig wie die Kinder beteiligen durften.
Allgemein ausgeübt wurde sie nur im Ki'iege, wo man namentlich
Augen und Herz, letzteres roh, verschlang. Von den Menschenopfern
durften nach Ellts außer den Priestern nur Häuptlinge und Greise
essen.
Camille de RoQUEFEuiii, ein französischer Seemann, welcher
1817 auf den Markesas-Inseln des Sandelholzhandels wegen war,
fand damals die Anthropophagie noch in voller Blüte. Sein Gewähr-
mann war ein lange Zeit auf den Inseln ansässiger Engländer
Namens Ross, der ihm berichtete, wie 1815 noch die ganze IMann-
scliaft eines europäischen Bootes von den Einwohnern ^^ ahitoas
niedergemetzelt und verzehrt wurde. In viele feindliche, sich stets
untereinander bekriegende Parteien getrennt, rieben sich die In-
sulaner untereinander auf. Die Leichen der erschlagenen Feinde
sowie die Kriegsgefangenen wurden regelmäßig verzehrt und es g:ib
nur eine Ausnahme von dieser Regel, nämlich dann, wenn die
Priester im Namen ihrer Eatuas (G()tter) dagegen ehdvamen.
Gew()hnli(h rettete diese Weihung das Leben des Gefangenen nicht.
aber er wurde wenigstens nicht gefressen und man beerdigte ihn
bei den Hütten, wo die Fetische in die Erde verscharrt waren, -
' JoiiN 'ruuNiuuj.s Tvciso Ulli die Welt. Aus dem KiiüliscliiMi. Wciiiiiir
KSOß. 204.
- (!amii,i,k DK RoyiTEFRun,, ,l(iuni:il (Tun vi)V:ii;-c iiiitoiir du Monde. I*;iris
1828. I. 820.
Markesas. Paumotu. Osterinsel. 65
Berichte aus der jüngsten Zeit, welche die Anthropophagie der
Markesaner bestätigen, sind folgende. Dem L-länder Lamont, der
1852 als Geschäftsmann Nukahiwa besuchte, wurde in der Hana-
pae-Oao-Bucht von den Eingeborenen ein Ofen gezeigt, welcher
kurz vorher erbaut war, um einen weißen Ansiedler zu braten,
weil er einen der Ortshäuptlinge erschlagen.^
Im Jahi-e 1872 unternahm die französische Fregatte ,,La Flore"
eine Expedition nach verschiedenen Inseln der Südsee und besuclite
auch die Markesas. Berichte von dieser Reise hat der Schiftsialnirich
Julien Viaud veröffentlicht und in einem derselben sagt er: Die
Anthropophagie ist auf Nukahiwa seit mehreren Jahren erloschen
und herrschte jetzt nur noch auf der Nachbariusel Hivaoa (Domi-
nica).^ Noch neuer ist der Bericht Clavels. Dieser hält es für
ausgemacht, daß die Anthroj^ophagie auf den Markesas nicht in der
Vorliebe für den Genuß von Menschenfleisch, sondern nur in der
Befriedigung der Rachsucht begründet sei. Seine Anschauung be-
gründet er durch folgende Beispiele: Vor wenigen Jahren wurde
ein verstümmelter Leichnam gefunden; infolge der deshalb ange-
stellten Untersuchung stellte sich heraus, daß die Mörder kleine
Stückchen vom Fleisch des Ermordeten in Zündholzschachteln mit
sich genommen und zwischen ihrer Nahrung genossen hatten. Ein
Häuptling von Hatih6u, der seine Schwiegermutter verzehrt hatte,
gal) auf Clavels Frage, ob sie gut geschmeckt habe, eine abwei-
sende Antwort. Jetzt ist die Anthi'opophagie dort so gut wie er-
loschen.^
Paumotu. Ursprünglich sind alle Bewohner der Paumotu-
Inseln Anthropophagen gewesen und auf den östlichen sind sie es
noch jetzt, was ihren Zusammenhang mit den Rarotongern (Hervey-
Gruppe) beweist, bei denen das Menschenfressen allgemein geübt
wurde; auf den westlichen Inseln ist es aber schon vor der Ein-
führung des Christentums durch den Einfluß der Tahitier unter-
drückt worden."* Auf dem östlich von den Niedrigen Inseln ge-
legenen Rapanui (Osterinsel) cannihaUsm was ■practise.d four nr six
years since (1862 oder 1864); aome Spaniards were eatenJ'
* Lamont, Wild Life among tlie Pacific Isländers. London 1867.
- L'Illustration, Journal universel. Paris. 4. Oktober 187.3. 228.
3 Bull. SOG. d'Antln-opol. 1884. 497.
* Meinicke, Der Archipel der Paumotu. Zeitschrift der (Jesellschaft für
Erdkunde zu Berlin. V. 396 (1870).
^ Palmer im Journal Roy. Geogr. Soc. XL. 171 (1870).
E. A 11 tl r e e , Anthropophagie. 5
66 Gesellschaftsinseln.
Gesellschaftsinseln. Meinicke nimmt an, auf Tahiti sei die
Anthropophagie niemals Sitte gewesen. ^ Indessen da alle übrigen poly-
nesischen Inseln sie kannten und teilweise noch kennen, so wird auch
Tahiti keine Ausnahme gemacht haben, wenn auch der Kannibalismus
dort zur Zeit der Entdecker schon in den letzten Zügen lag. Nur um zu
prahlen , verschlangen dort einige Leute ein paar Bissen Rippenfett
wie Cook und Ellis bezeugen, und das Darreichen des Auges eines
Geoijferten war hier so gut Sitte wie auf den Sandwich und Samoa-
Inseln. Wilson berichtet darüber folgendermaßen: Motuaro, das
Oberhaupt von Eimeo, leistete dem jungen Könige (Pomare, Otu),
der auf den Schultern eines Mannes getragen wurde und von allen
seinen Vornehmen umgeben war, seine Huldigung. Er brachte von
Eimeo drei Menschenopfer, der Priester höhlte von jedem ein Auge
aus und reichte es auf einem Pisangblatte dem Oberherrn dar. Zu-
gleich hielt er dabei eine feierliche Rede; die toten Körper wurden
hierauf fortgetragen und im Morai begraben. Dieselbe Ceremonie
wurde hernach von einem jeden Oberhaupte oder Fürsten der ver-
schiedenen Distrikte wiederholt. Einige brachten ein, andere zwei
Menschenopfer; sie waren an einem langen Pfahl Ijefestigt und
wurden nach Überreichung des Auges beerdigt.
,,Man erklärte die grausamen Opfer auf folgende Art: der Kopf
wird für heilig gehalten, und das Auge für dessen kostbarsten
Teil. Dies wird daher dem Könige, als des Volkes Haupt und
Auge, überreicht. Bei der Überreichung des Auges sperrt der
König den Mund auf, als ob er es verschlingen wolle. Hier-
durch glauben sie, erhalte er großen Zuwachs von Weisheit und
Klugheit; auch glauben sie, daß ein Schutzgott bei dieser Feier-
lichkeit zugegen sei, das Opfer annehme und durch Mitteilung von
mehr Lebenskraft die Seele des Königs stärke.''-' Elus erzählt
Kannibalengeschichten von der kleinen westlich von Tahiti gelege-
nen Insel Tapamanoa. ^
Ist dies sclion als Rest der ehemals auf Tahiti lierrschenden
Anthropophagie aufzufassen, so erhalten wir liiej-für weitere Be-
stätigung durch ein von Cook mitg(^teiltes Märclien: In den Bergen
der Insel lebten vor Zeiten zwei Kaiinil)al<'ii, die großen Schaden
verursachten. Zwei Brüder nuichten sich auf, sie zu tiUcn, luden
' Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkniule. V. MiH!.
^ James Wilson, Missioiisrcise nach dem siiilliclicii Stillen Ozean in den
•laln-cn I7»()^1798. Aus dem lMi};-lisclicn. WciniMr ISdO. XM.
' IVilync;«. ilcsearchea. II. 22:5.
Gresellschaftsinseln. Samoa. 6 «
sie eiu und setzten ihnen glüliende in Brotfruclitteig gehüllte Steine
vor. Der erste Kannibale starb daran; der zweite al)er, gewarnt
durch das Zischen der heißen Steine im Halse seines Gefährten,
wollte nicht essen. Da überredeten ihn die Brüder, die Wirkung
ginge rasch vorüber. Jener aß und starb. Die Brüder zerschnitten
die Leichen der Menschenfresser und begruben sie. Eines der
Weiber der Kannibalen, das zwei große Hauzähne hatte, aber kein
Menschenfleisch aß, wurde nach seinem Tode unter die Götter ver-
setzt. G. Forstee schloß ganz richtig aus diesem Märchen, daß
hierdurch auf ehemals weiter verbreitete Anthropophagie hinge-
wiesen werde ^, was auch daraus erhellt, daß die Tahitier direkt
zu Cooks Leuten ihre Vorfahren als Tahe-ui, Menschenfresser, be-
zeichneten. ^
Samoa-Inseln. Hier ist der Kannibalismus jetzt erloschen.
Daß er herrschte, darf nicht bezweifelt werden, wenn auch nur
noch spärliche Anzeichen für densell)en aufgefunden werden kihmen.
George Tuener berichtet, daß bei den Kriegen der Eingeborenen
gelegentlich ein Leichnam gekocht wurde, doch war dies stets ein
wegen seiner Grausamkeit berüchtigter Feind , von dem zu essen,
als der Gipfelpunkt des Hasses und der Rache betrachtet wurde,
nicht etwa um einem Gelüste zu fridmen. Letzteres war jedoch in
alten Zeiten wohl der Fall. ,,Ich will dich braten'', ist die größte
Beleidigung, die man einem Samoaner zurufen kann, ja ein Häupt-
ling erklärte auf diesen Schimpf hin Krieg. Stolze Häuptlinge ver-
ließen die Missionskapelle, wenn eingeborene Prediger vom hölli-
schen Feuer berichteten. Unterwirft sich ein kriegführender Teil
dem andern, so ist es Sitte, sich vor dem Sieger zu beugen und
Brennholz und ein Bündel Laub emporzuhalten, wie sie beim Braten
der Schweine benutzt werden, gleichsam als wollten sie sagen:
„Töte und koche uns, wenns dir beliebt.''^
Nach W. J. Peitchaed dem Jüngern sind die Samoa-Insulaner
zwar im allgemeinen von der Anthropophagie freizusprechen; doch
kommen einzelne Fälle noch immer vor, wenn auch hierbei eine
gewisse Renommage der bewegende Grund zu sein scheint.'*
Auf der nordwestlich von den Samoa-Inseln gelegenen Insel
Rotumah, die gleichfalls von Polynesiern bewohnt ist, erscheint die
' (J. Forster, Sämmtliche Hcliriftcn. II. 57.
- J. R. Forster, Bemerkungen auf seiner Reise um die Welt. 200.
•' (I. Turner, Nineteen Years in Polynesia. London ISGl. 194.
* Polynesian Reminiscenses. London 1806.
5*
68 Tonga-Inseln. Neu-Seeland.
Anthropophagie erloschen; als in Tueneks Gegenwart 1845 einige
Maoris die dortigen Insulaner aufforderten, die Leichen der im
Kriege Gefallenen zu verzehren, wiesen die Eingeborenen dies mit
Abscheu zurück.^
Tonga-Inseln. Auf diesen war gleichfalls zur Zeit der Ent-
decker die Anthropophagie im Erlöschen und kam nur noch infolge
von Hungersnot, wo nach Mariner auch Weiber sich beteiligten,
oder als Äußerung des Hasses vor. Ein beleidigter Insulaner er-
schlug seinen Feind, schnitt ihm die Leber, den Sitz der Leiden-
schaften, heraus und tauchte sie, zum Entsetzen der übrigen Ton-
ganer, in sein Getränk. Die schlimmsten Flüche auf Tonga sind
nach Mariner: ,, Koche deinen Großvater" oder ,, Grabe deinen
Vater bei Mondlicht aus und friß ihn". Weiße zu fressen, galt für
schädlich, da einige Tonganer, welche drei Weiße gefressen hatten,
nach dem Genüsse des Fleisches erkrankten und starben. Zu
Mariners Zeiten (1818) hatten einige Tonganer auf den benach-
barten Fidschi-Inseln die Anthropophagie wieder gelernt und übten
sie zur Abscheu ihrer Landsleute aus. ^
Neu-Seeland. Als Cook auf seiner ersten Reise Neu-Seeland
wieder aufgefunden hatte und er beim Königin-Charlotte-Sund mit sei-
nen Begleitern Banks und Solander ans Land gegangen war, sollte
er sofort mit eigenen Augen beobachten, wie Maoris neben einem
Hunde auch Menschenfleisch verzehrten , das in Körben neben
jenem lag. Auf die Frage, warum sie denn nicht den im Wasser
schwimmenden Leichnam einer Frau äßen, antworteten jene, die
Frau sei eines natürlichen Todes verstorben und ihre Verwandte,
sie aber verzehrten nur die Leichen ihrer in der Schlacht erlegten
Feinde. Georg Forster nimmt Gelegenheit, die angezweifelte
Anthropophagie der Maoris zu bestätigen und macht die Bemerkung,
daß dieses Volk weit über die erste Barbarei hinaus sei, darum
also die Menschenfresserei desselben um so mehr auffalle. Mangel
an animalischer Nahrung könne nicht die Ursache dieses schreck-
lichen Gebrauches sein, denn überall gebe es Fische im Überfluß,
man züchte viel Hunde und auch an wilden Vögeln sei kein Mangel.
Was aber auch die Ursache sein möge, als sicher erscheine die
außerordentliche Vorliebe der Neu - Secländcr für Menschenfleisch.
H('>clist wahrscheinlich, nimmt Förster an, liege Rachsucht zu
(iruiuU' und mit der Zeit werde wohl der schauderhafte Gebraucli
' TuHNKR a. a. O. 358.
- Makinek, Tonga Island«.- London ISIS. I. 321.
Neu-Seeland. 6°
aufhören, wozu die Einfüliriing der europäischen Haustiere wohl
auch das ihrige mit beitragen werde.
Alle späteren Eeisenden, sowie die Missionare bestätigten im
vollsten Maße die weite Verbreitung der Anthropophagie unter den
Neu-Seeländern und wenn die Missionare entsetzt darüber jammerten,
antworteten die Maoris : „Die großen Fische fressen die kleinen, Hunde
fressen Menschen, Menschen Hunde, Hunde einander, Vögel einander,
ein Gott den andern."
Aus den Überlieferungen der Maoris soll hervorgehen, daß der
Kannibalismus erst lange nach ihi-er Einwanderung auf Neu-Seeland
aufkam und Hochstetter nimmt an, daß die Anthropophagie da-
selbst zur Zeit der Entdeckung ihren Gipfelpunkt erreicht hatte ; den
Frauen war übrigens der Genuß von Menschenfleisch nur in Aus-
nahmefällen gestattet. Was den Ursprung der Menschenfresserei
betrifft, so ist derselbe Forscher der Ansicht^, daß mit der Zunahme
der Bevölkerung auf den Inseln das Erträgnis der ohnehin wenig
ergiebigen Jagd und damit die einzige Quelle der Fleischnahrung
immer spärlicher wurde, und daß um neue Jagdgebiete, um gutes
Ackerland und um ergiebige Fischplätze Streitigkeiten entstanden,
die zum Kriege fühi'ten. Durch diese Kriege verwilderte der Geist
des Volkes, die Feldarbeiten wurden vernachlässigt, Not trat ein
und Hunger im Verein mit Rachedurst und Haß führten im Kriege
zu den ersten Fällen des Kannibalismus. Aber die Kriege dauerten
fort, der Mangel an Fleischnahrung wird mit der allmählichen Aus-
rottung der Tier- und Vogelarten (der Moas etc.), die das Haupt-
jagdwild ausmachten, immer fühlbarer, und was anfangs nur in der
höchsten Not und in der äußersten Aufregung der Leidenschaften
als vereinzelter Fall vorgekommen, wurde nach und nach ein fürchter-
licher Brauch, der erst dann wieder aufhörte, als durch die Ein-
führung ergiebiger Nahrungsquellen dem Mangel und Elend abgeholfen
und die Grundursache der blutigen Kriege gehoben wm-de. Das
geschah mit der Einführung der Schweine, Kartoffeln und Getreide-
arten durch die Seefahrer zu Ende des vorigen Jahrhunderts. Dazu
kamen die wohlthätigen Einflüsse des Christentums, das die wilden
Sitten milderte und so verzeichnet die Geschichte schon im Jahre
1843 — siebzig Jahre nach Cook — den letzten (?) wirklichen Fall
von Kannibalismus. 2
* Hochstettee, Neuseeland. Stitttgart 1863. 469.
^ „Saraca, der 'letzte' Menschenfresser auf Neuseeland, ist im April 1872
in Olunemuri gestorben. Er befehligte auf dem letzten Kriegszuge, nach wel-
70 Neu -Seeland.
Dieser Ansicht Hochstetteks widerspricht aber Georg Forstees
Bemerkung auf das bestimmteste, daß zu seiner Zeit (Cooks zweite
Eeise) an animalischer Nahrung kein Mangel auf Neu-Seeland ge-
wesen sei und auch wir sind geneigt, eher das von Forstee her-
vorgehobene weit verbreitete Motiv der Rachsucht als die Ursache
der Anthropo2:)hagie anzunehmen.
Darwin führt an, daß schon zur Zeit, als er Neu-Seeland be-
suchte (1835), der Kannibalismus dort selten gewesen sei i; indessen
fällt gerade in jene Zeit eine der kannibalischen Hauptthaten der
Maoris. Damals überfielen Neu- Seeländer die nach Osten zu ge-
legene Warekaüri- oder Chatham- Insel, deren Eingeborene (sog.
Moriori) sie zum großen Teil erschlugen und verzehrten. ,,Die Grau-
samkeit der Kannibalen war so raffiniert, daß die armen Geschöpfe
das Holz herbeitragen und die Ofen herrichten mußten, in denen
sie gebraten werden sollten. Die zum Schmause ausersehenen wur-
den dann in einer Reihe auf die Erde neben den Ofen gelegt und
von einem der Maorihäuptlinge durch Schläge mit einem Mere
(Steinkeule) getötet.*' ^ Die Moriori waren, wie alle Polynesier, früher
selbst Anthropophagen gewesen.
Der heutigen dahinschwindenden Maorigeneration erscheint
übrigens jene alte Zeit nur wie ein Traum. Nachkommen jener
Kannibalen sitzen im Parlamente von Neu-Seeland und Hochstettee
erzählt eine bezeichnende Geschichte, welche darthut, wie bei den
Maoris jetzt alles verschwunden ist, was auf den Kannibalismus
hindeutet. ,,Ein alter Häuptling, der mit einem jungen Manne auf
der Reise war, erinnerte sich, als sie an einem Kriegspah vorbei
kamen, vergangener Tage und erzählte seinem jungen Freunde:
„Siehe, hier haben wir deinen Vater gefangen, dort haben wir ihn
getötet und gegessen. Der junge Mann hörte der Geschichte zu, als
ob sie ihn weiter gar nichts anginge; beide schliefen gemütlich
in demselben Zelte, aßen aus demselben Topfe und waren gute
Freunde.'^ ^
Mikronesien. Hier war die Anthropophagie zur Zeit der
ehern ein Kannibalenfest veranstaltet wurde. Zum Begräbnis hatten sich viele
Maoris versammelt; sie legten ihn in einen Sarg, an dessen Koi^fende ein
Fenster angebracht war. Beim Leichenschmaus wurde präserviertes Schaf-
fleisch genossen." (Globus. XXII. 144.) Hier muß man wirklich ausrufen:
Tempora mutantur!
' Naturwissenschaftliche Reisen. Deutsch von Dikffenbach. II. 205.
"^ Bericht von H. H. Travers in Petermann's Mitteilungen. 1866. 63.
' V. IIOCHSTETTER a. a. 0. 471.
Mikronesien. '1
Entdeckung so gut wie verscliwunden und nur wenig Tbtitsächlicbes
liegt darüber vor. Von den Kingsmill-Insehi sagt Wilkes: ,,Die
Körper der Erscblagenen werden gewöbnlicb nicbt verzebrt; docb
kommt es gelegentlicb vor, daß, wenn ein berübmter Krieger er-
scbbigen wurde, die jungen Männer aus Haß Teile seines Fleiscbes
essen. ^ Daß die Antbropopbagie aber einst über die verscbiedenen
Inselgruppen verbreitet war, dafür liegen nocb einzebie Andeutun-
gen vor. So bericbtet Chamisso^ von den Marshall-Insulanern, daß
beim Abschlüsse eines Friedens dieselben vom Fleische eines ge-
fallenen feindlichen Häuptlings kosteten und sich den Namen des
gefallenen Häuptlings beilegten, eine Sitte, die häufig mit kanniba-
lischen Gewohnheiten verknüpft erscheint.
Daß auf den Pelew- oder Pelau-Inseln Anthropophagie niemals
vorkam, sucht Chamisso"^ zu beweisen. Weder Wilson noch Sempee
berichten davon, obgleich sie das Kopfschnellen der Insulaner recht
gut kennen und bei dem besten und gründlichsten Kenner der
Pelau-Inseln, Johann Kubaky, finden wir auch nur eine leise hier-
auf bezügliche Andeutung, welche aber auch nur auf ehemals vor-
handene Anthropophagie hinweist. Die Bewohner der Insel Corror
hatten nämlich jene von Molegojok anf Baobeltaop als Menschen-
fresser geschildert, wiewohl Kubary dort keine Spur von Anthro-
pophagie fand.^ Hierbei bleibt stets zu beachten, daß die Pelauer
wesentlich Papuas sind, wiewohl mit malayischem Blute durchsetzt,
und daß flist überall noch die Papuas heute als Anthropophagen auf-
treten, und der malayische Stamm auch Kannibalen stellt. Wir
glauben daher im Gegensatz zu Chamisso annehmen zu dürfen, daß
die Pelauer allerdings früher Anthropophagen waren.
^ Ch. Wilkes, Voyage round the World (U. St. Explor. Exped.). New York
1851. 559.
'■* Bemerkungen auf einer Entdeekuugsreisc. Weimar 1821. 136.
^ Chamisso a. a. 0. 137.
* Journ. d. Mus. Godefproy. Heft IV. 20.
72 Westindien. Die Cariben.
Amerika.
Westindien. Als die Spanier die Antillen entdeckten, stießen
sie auf das Volk der Calinago oder Calina, das allgemeiner unter
dem Namen der Cariben bekannt ist. Menschenraubend zogen sie
von Insel zu Insel in Flotten, die ein Dutzend Segel und oft fünf-
hundert Streiter zählten. Die männlichen Gefangenen wurden ge-
braten und verzehrt. Die Anthropophagie der Cariben ist von Las
Casas bestritten worden, auch Kolumbus wollte anfangs in diesem
Punkte nicht den Erzählungen der Domingoindianer trauen, bis er
selbst mit den Thatsachen vertraut wurde und Meldung davon macht,
daß die Cariben sogar die mit gefangenen Weibern erzeugten Kin-
der verzehrt haben sollen.^
Was die Verbreitung der Cariben betrifft, die vom südameri-
kanischen Festlande kamen, so wissen wir, daß sie die ganzen
kleinen Antillen einnahmen und auch die Westküsten von Portorico
und Haiti besetzt hatten. Mit dem Verschwinden und Aussterben
der Cariben auf den Antillen ist auch dort die Anthropophagie ver-
schwunden, die indessen mit dem Namen dieses Volkes stets ver-
knüpft bleiben wird, da aus ihm das Wort ,, Kannibale*' entstand.
Die von den Bahamainseln stammenden Gefangenen am Borde des
Kolumbus widersetzten sich nämlich der Fahrt nach der Insel Haiti,
indem sie Kolumbus die Einwohner als Menschenfresser schilderten.
Sie ließen dabei den Namen Cariben laut werden, den der Admiral
mißhörte, so daß durch ihn der Ausdruck Caniba oder Canibalen
für die anthropophagen Stämme Amerikas verbreitet worden ist.
Nach Antonio de Hereera bedeutet der Name Canibal soviel wie
ein Tapferer. Du Tertrej^, der uns mit Einzelheiten des west-
indischen Kannibalentums vertraut macht, sagt, daß Auffressen der
gefallenen Feinde sei auf dem Schlachtfelde erfolgt; die Gefangenen
aber habe man zu Hause verzehrt, wobei dem tapfersten Krieger
das Herz zu teil wurde — ein deutliches Zeichen, daß auch hier
Aberglaube im Spiele war. Übrigens sollen viele nach dem Genüsse
von Menschenfleisch erkrankt sein."^
' Navabbete, Coleccion de los viages. Madrid 1825. I. 204.
"^ Histoire generale des Antilles. II. 401.
' Herkeka (bei Purchas Ilis Pilgrims III. 865) berichtet, daß ein Mönch
auf Dominica verzehrt worden sei; alle, die von seinem Fleische aßen, wurden
krank oder starben. Purchas macht dazu die Marginalbemerkung : Frier
vnwholsomc food.
Älcxiko. *3
Mexiko. Beenal Diaz und Sahagun sind diejenigen Schrift-
steller, welche am ausführlichsten über die Anthropophagie und die
Menschenopfer der Mexikaner handeln und nach ihnen sind diese
beiden zu einer speziellen Studie von Jourdanet gemacht worden,
der wir in der nachstehenden Darstellung folgen wollen.^
Zur Zeit der spanischen Eroberung waren die Tempel außer-
ordentlich zahlreich in Mexiko. Bei diesen Tempeln beftmd sich
oft eine Terrasse mit zwei Türmchen, welche für die Idole bestimmt
waren und vor den Türmchen lagen die Steine, auf denen man die
Menschenopfer darbrachte. Diese Steine waren der Länge nach
konvex gestaltet, so daß das darauf gelegte menschliche Schlacht-
opfer seine hervortretende Brust besser dem Schlachtmesser dar-
bot. Noch existieren altmexikanische Darstellungen, welche uns
zeigen, wie die Ceremonie vor sich ging. Das Opfer wurde von
fünf kräftigen Gehilfen gehalten und der Oberpriester öffnete ihm
mit einem Obsidianmesser die Brust, indem er die Knorpelansätze
der Rippen beim Brustbein durchschnitt. Dann griff er in die
Brust des Unglücklichen, nahm das Herz und schnitt es heraus,
um es zu Füßen des Idols niederzulegen, vor dem Weihrauch brannte.
Noch mehrmals griff er in die Brust, um mit dem Blute des Ge-
opferten die Priester und Gehilfen zu besprengen. Der Leichnam
diente dann teilweise zur Nahrung für die Priester, teils erhielt
denselben derjenige zur Speise, welcher das Opfer veranlaßt hatte.
Solche Menschenopfer waren ungewöhnlich häufig, da sie auch
bei jeder der überaus zahlreichen religiösen Festlichkeiten darge-
bracht wurden. Die zahlreichen Tempel der größeren Städte in
Betracht ziehend kommt Jouedanet zu einer Schätzung von 20000
Opfern dieser Art im Jaln-e, während andere Autoren eine noch
weit größere Anzahl herausrechnen. Fehlten einmal Opfer, dann
bedrohten die Priester das Volk mit den schrecklichsten Landplagen
und um diese hintanzuhalten begann man Kriege, nur um sich
Gefangene zu verschaffen, mit deren Blut die erzürnten Götter ver-
söhnt werden soUten.
Oben ist die Ausübung des Opferns in seiner einfachsten Form
geschildert worden; allein es liegen auch Berichte vor, daß der
Akt mit ganz besonders barbarischen Bräuchen umgeben wurde.
So erzählt Sahagun 2; „Man band ihnen Hände und Füße. So
* D. Jourdanet, Histoire veridique de la conquete de la Nouvelle-Espagne
par Bernal Diaz. Seconde edition. — — suivie d'une etiide sur les sacrifices
humains et lanthropophagie chez les Azteques etc. Paris 1878.
=* Tom. I. lib. II. cap. X.
"^4 Mexiko.
gefesselt nahmen die Priester oder ihre Gehilfen sie auf ihre Schul-
tern und führten unter diesem Gewicht verschiedene Tänze um ein
großes Feuerbecken auf. Plötzlich warf man das Opfer in das
lodernde Feuer, ließ es eine Weile schmoren, ergriff es dann noch
lebend mit einem Haken und schleifte es über den Boden weg zum
Opferstein, wo man ihm das Herz herausriß." Bei anderen Ge-
legenheiten baten die Gehilfen, daß die Opferung auf ihrem Rücken,
statt auf dem Steine stattfände, damit sie recht von dem Opfer-
blute überströmt wurden. Sahagun berichtet auch, daß man den
Geopferten häufig die Haut abzog und daß sich damit irgend ein
kräftiger Mann wie mit einer Kleidung bedeckte.
Im Gegensatz zu dieser Barbarei stand die aufmerksame Be-
handlung, welche häufig die zum Abschlachten Bestimmten vor
ihrem Tode erlitten, und so gleich einer demonstratio ad ocidos der
Vergänglichkeit menschlicher Freuden und Lüste erscheint; denn
so kann man die ein Jahr lang dauernde Behandlung des Ge-
fangenen vor seiner Opferung auffassen. Man wählte zu diesem
Zweck einen schönen, jungen Gefangenen von tadelloser Korper-
beschaffenheit und von aufgewecktem Geiste aus. Man lehrte ihn,
berichtet Sahagun, das Flötenspiel, man gewöhnte ihn an das
Rauchen nach Art der Großen und Prinzen, die besten Speisen
wurden ihm vorgesetzt, die schönsten Kleider angelegt und während
der letzten Lebensmonate führte man ihm die schönsten Mädchen
zu. War aber das Freudenjahr abgelaufen, dann fand unwiderruf-
lich seine Opferung statt, nicht in der Hauptstadt Mexiko, sondern
in einer Stadt zweiten Ranges. Er wurde in einem Schiffe über
den See gefahren und in dem Maße, als er dem Bestimmungsorte
sich näherte, entäußerte man ihn seiner Kleidung, bis er zuletzt
nackt anlangte. Am Tage seiner Hinrichtung wurde sofort ein
neuer Gefangener auserwählt, der anstatt des Geopferten nun ein
Jahr lang in Herrlichkeit und Freuden lebte. Oft fanden beim
Opfer auch Tänze statt, an denen man den Gefangenen zwang teil-
zunehmen.
Gewöhnlich waren es Kriegsgefangene, die man den Idolen
opferte; mehrere Gefährten des Beenal Diaz sind so gemordet
worden. Doch kamen auch freiwillige Opferungen vor, wie es denn
sich ereignete, daß sogar hochgestellte Personen ihr Leben den
Göttern darbrachten. Blutopfer der Priester selbst für die Götter
waren nichts ungewöhnliches; sie schnitten sich z. B. die Olii'cn ab
und brachten sie dem Idole dar, oder nahmen Blut von der Zunge,
um das Götzenbild damit zu bestreichen.
Mexiko. '5
Die Leichname der Geopferten wurden auf bestimmte Art ver-
teilt und verzehrt. Sobald das Herz dem Gotte und das Blut den
Tempelpriestern verteilt war, warf man den Kadaver auf die Stufen
des Gebäudes. Hier wurde er von Priestern zerstückelt und unter
die Anwesenden verteilt; war viel Menschentleisch vorhanden, so
wurden die nicht gleich zur VerAvendung gelangenden Überreste
eingesalzen oder getrocknet, wie Beenal Diaz Aviederholt versichert.
Bei den Mexikanern war es außerdem ein Zeichen des Sieges,
wenn sie ihren toten Feind verzehrten. Zu den Spaniern sagten
sie: „bald werden wir euch verschmausen". Aber außerdem war
das Verzehren von Menschentleisch bei ihnen auch Sache der
Leckerei, denn bei großen Tafeln durfte es nicht fehlen. Beenal
Diaz erwähnt auch die Käfige aus Holz, in welchem die zur Opfe-
rung bestimmten Sklaven eingeschlossen waren; man nährte sie
gut, damit sie der Tafel ihres Herrn keine Schande machten.
Dieser selbst, der die Sklaven gewissermaßen als seine Kinder be-
trachtete, aß jedoch nicht von ihrem Fleisch, das seine Freunde
verzehrten. Hervorzuheben ist, daß die Mexikaner nur von dem
Fleische rituell Geopferter aßen — kein anderes Menschenfleisch,
abgesehen von demjenigen der im Kriege erschlagenen Feinde. Bei
der Belagerung Mexikos durch Coetez herrschte die größte Hun-
gersnot, die zum Verzelu-en der Baumwurzeln zwang, aber die zahl-
reichen Leichen in der Stadt blieben von den Belagerten unbe-
rührt. Damit stimmt denn allerdings nicht, wenn Sandoval auf
seinem Zuge gegen die Otomi fand, daß deren Krieger „Mais und
gebratene Kinder als Proviant mit sich führten''.^
Die Anthropophagie verbreitete sich in Mexiko auch über die
Nebenstämme des Landes aus, in einer Form, Avelche religiösen
Beigeschmack hat. Nach Mendieta töteten nämlich die in der
Gegend des heutigen Veracruz wohnenden Totonaken alle drei Jahr
einige Kinder, deren Herzblut mit Ullisaft (von Cassidea elastica)
und gewissen Kräutern zu einem Teig gemischt wurde, der für
heilig galt und Toyolliaytlaqual hieß. Diese Speise mußten alle
sechs Monate die Männer, welche über 25, die Frauen, welche über
16 Jahre alt waren, genießen. Welchen Zweck damit die Poto-
naken verbanden, giebt IVIendieta nicht an.^
Man darf Yukatan nicht ausschließen, wenn von der Anthro-
» Drei Berichte von F. Coetez an Karl V. Deutsch. Berlin 1834. 337.
^ Fkay Geronimo de Mendieta. Ed. Icazbalceta. Mexico. Lib. II. cap. 16.
19 und H. Strebel, Alt-Mexiko. 12.
76 Yukatan. Centralamerika.
pophagie im Kreise altauierikanischer Kulturvölker die Rede ist.
Waldeck vernahm zu Merida aus glaulj würdiger Quelle, daß zu
Ende des vorigen Jahrhunderts dort noch Kannibalismus vorge-
kommen sei; er berichtet P^iiizelheiten, läßt uns aber über die Be-
weggründe im Unklaren. Derselbe Reisende fragte weshalb die
Lancadones und Cholos eine große Affenart verzehrten und erhielt
von einem Indianer die Antwort: seit durch die Spanier das Men-
schenessen verhindert worden sei, hätten ihre Vorfahren ,,die kleinen
Waldmenschen-' angegriften und verzehrt.^ Auch die Mittelameri-
kaner haben dereinst sich anthropophagen Genüssen ergeben.
Centralamerika. Im September des Jahres 1528 hielt, wie
OviEDO uns berichtet, der Fray Feancisco de Bobadilla, ein
großes Examen mit den Indianern Nicaraguas ab, um die Natur
ihrer Religion zu ergründen. Es waren Leute vom Stamme der
Niquirans, wahrscheinlich mexikanischen Ursprungs, die ihm die
vorgelegten Fragen beantworteten. Quiateot war der Regengott
und auf des Priesters Frage, wie er veranlaßt würde, daß es regne,
antworteten die Indianer: ,,Wir gehen in seinen Tempel und opfern
ihm einige junge Kinder. Nachdem wir diesen die Köpfe abge-
schnitten haben, besprengen wir mit deren Blut die Bildnisse und
Steinidole in dem Hause der Götter, das in unsrer Sprache Teobat
heißt.'' Frage des Priesters: ,,Was beginnt ihr mit den Körpeni
der Geopferten?'' — Antwort der Indianer: „Diejenigen der Kinder
begraben wir-; die der Männer werden von den Kaziken und Häupt-
lingen verzehrt, doch nicht von dem übrigen Volke." Hiernach
wurden also auch Männer geopfert, die in der ersten Antwort nicht
erwähnt sind. Die Weiber waren von allen Dingen, welche die
Tempel anging, ausgeschlossen und doch wurden auch ihre Körper
in den Tempeln geopfert, indessen die Abschlachtung erfolgte im
Vorhofe. Das Fleisch der Weiber wurde aber niemals angerührt,
da sie in religiösen Dingen für unrein galten. Schlachtopfer waren
aber nur Sklaven und Kriegsgefangene.^
Peru. Wenn wir Antonio de Heeeeea Glauben schenken
dürfen, so wurde der Kannibalismus auch von den Eingebornen am
Cauca, im heutigen Columbia, in einer schauderhaften Weise aus-
geübt; der Bericht ist jedenfalls übertrieben, wie Heeeeea denn
gern in seinem Werke über Westindien Märchen einfließen läßt.
* Waldeck, Voyage pittoresque et archeologique dans Ic Yucatan. 1838.
Nach KoTTENKAMP, Geschichte der Kolonisation Amerikas. I. 24.
^ Nach SauiEE in Transact. Araeric. Ethnolog. Soc. III. 138. 139. (New
York 1853.J
Peru. Gebiet des Amazonas. ' •
Er sagt nämlich^: „Das Volk des Landes ist so fleischermäßig, daß
die Lebendigen das Grab der Toten sind; denn es ist gesehen
worden, daß der Mann sein Weib ißt, der Bruder den Bruder oder
die Schwester, der Sohn den Vater, und wenn sie einen Gefangenen
gemästet haben, so holen sie ihn an dem Tage, an dem er gefressen
werden soll, mit mancherlei Gesängen herbei, und der Herrscher
betiehlt, daß ein Indianer ihm jedes Glied abschneiden muß, und
so fressen sie ihn bei lebendigem Leibe. Nach der Aussage der
Einwohner von Arma haben sie mehr als achttausend Indianer
verzehrt, und einige Spanier haben diese Qual auch ausgestanden.^'
Wir erwähnen diese Erzählung des Herbeea nur, weil sie uns
geeignet erscheint, den Übergang zu der Anthropophagie der Inka-
peruaner zu machen. Denn sowie bei dem hochstehenden Volke auf
der Hochebene von Anahuac Menschenopfer und Kannibalismus
herrschten, so kamen sie auch in Peru vor. Gaecilasso de la
Vega entwirft ein abschreckendes Bild von der Wildheit der ältesten
Urbewohner Perus vor dem Auftreten der Inkas, indem er die Opfer-
feste beschreibt, bei denen Menschen zu Tode gemartert und ge-
fressen wurden. Selbst unter den Inkas hatten die Peruaner diese
blutige Sitte noch, obgleich dieses traurige Erbteil einer barba-
rischen Vorzeit unter einer humaneren Regierung schon vor der
Ankunft der Europäer mehr und mehr in Vergessenheit geraten war.-
Gebiet des Amazonas. Auf den Antillen (abgesehen von
rückfälligen Negern), in Mexiko, im Gebiete der Cordilleren ist un-
zweifelhaft heute die Anthropophagie erloschen. Dagegen ist sie,
was man mit Unrecht bezweifelt hat, noch weit in den Tiefebenen
Südamerikas, zumal bei den umherstreifenden Horden im Gebiete
des Amazonas und seiner Nebenflüsse vertreten. Zu den Zweiflern
gehört in erster Linie der verdiente Eduaed Pöppig, welcher von
den am Ostabhange der Andes lebenden Indianervölkern bemerkt:
,,Der ungewöhnliche Grad von Bildungsfähigkeit der meisten den
Anden näher lebenden Stämme wird wohl am besten durch die
Thatsache bewiesen, daß vor kaum 150 Jahren noch unter ilmen
Gewohnheiten herrschten, die sie der Anthropophagie dringend ver-
dächtig machten. Wenn man mit allem Ernste annimmt, daß der-
gleichen Völker die niedrigsten und wildesten sind, so ist es um
so mehr Beweis ihrer guten Anlagen, wenn die Zucht der Euro-
» Herrera bei Purchas His Pilgi-ims, The Third Part. London 1625. 890.
- Garoii.asso de LA Vega , Histoire des Yncas rois du Perou. Traduit de
TEspagiiol. Cap. IX. 21. Prescott, Eroberung von Peru. I. 81.
78 Südamerika.
päer sie in ungewöhnlich kurzer Zeit von ihren Lastern zu ent-
wöhnen und bis zu einem unverhältnismäßig hohen Grade zu civi-
lisieren vermag''.-^ Andere, wie Azaea, haben die Anthropophagie
der Südamerikaner ganz ableugnen , und alles darül^er gesagte den
sensationsbedürftigen Übertreibungen der Eroberer und Missionare
zuschreiben wollen.^ Die Thatsachen indessen beweisen, daß noch
heute im östlichen Peru Menschenfresser wohnen, und daß mit
Nichten anthropophage Völker zu den ,, wildesten und niedrigsten"
gehören. Im Gegenteil, wenn auch nicht immer, nehmen gerade
diese sehr häutig eine höhere Stufe als ihre Nachbarn ein, die der
Menschenfresserei nicht ergeben sind. Unter den neueren ist es
WoLDEMAE Schultz, welcher, mit philanthropischem Blicke auf die
südamerikanischen Indianer schauend, deren Anthropophagie in der
Gegenwart in Abrede zu stellen versucht.^
Diesem gegenüber haben wir festzustellen, daß bei den auf
tiefer Gesittungsstufe stehenden Jagd- und Fischernomaden des süd-
amerikanischen Kontinentes, zumal liei den schwachen Horden, die
verborgen in den Urwäldern am Amazonas und seinen Nebenstrihnen
hausen, die Anthropophagie noch jetzt eine sehr verbreitete ist. Bei
der atomistischen Zersplitterung dieser Völkerschaften kann nicht die
Rede davon sein, alle einzeln in ihrer Beziehung zur Anthropophagie
hier aufzuführen, doch genügt wohl eine Anzahl aus der Menge
hervorgegriftener Beispiele. Kael Feiedeich Philipp von Maetius
hat uns bewiesen, daß die physiologische Entschuldigung für die
Anthropophagie bei den südamerikanischen Indianern in Wegfall
kommt. ,,Nur selten, sagt er, verfällt der Mensch in diesen frucht-
baren und fischreichen Gegenden einem Hunger, der ihn zwänge,
auf seines gleichen wie auf ein zahmes Wild Jagd zu machen. Die
weibliche Bevölkerung ist mit so instinktivem Fleiße dem Anbau
von Nährpfianzen und der Mehlbereitung ergeben, daß es nicht
leicht zu jener Extremität des Hangers kommt. Aber außer allen
ül)rigen Veranlassungen zu Streit und Krieg zwischen den Söhnen
des Waldes, reizt ihn die Aussicht seine Gefangenen vorteilhaft zu
verkaufen, zu fortwährenden Kämpfen und ein bei dieser Veran-
lassung getöteter Widersacher wird als Edelwild, das sich zur Wehre
' E. Pöi'Piu, Roiso in Chile, Peru und auf dem Anuizonenstronu". Leipzig
1835. II. 449.
^ AzARA, VoyiVges dans rAim'riinu' lueridionale. II. 2.
•' WonnEMAR SciuTLTz, Natur- und Kulturstudien über Südamerika und
.seine IJewolmer im 4. und f). Jahresberieht des Vereins für l^rkunde zu Dresden.
1868. 72.
Kaschibos. 79
gesetzt bat, wie im Triumph verspeist. Es ist also weder dringen-
der Hunger noch Nationalhaß, sondern Berechnung einer seltenen,
leckeren, den rohen Stolz befriedigenden Mahlzeit, in gewissen
B'ällen vielleicht auch Blutrache und Aberglauben, was diesen Wilden
zum KannÜKilen macht. In der Kette ungünstiger Verhältnisse,
welche ihn in seiner Entmenschung erhalten, ist die Anthropophagie
eines der mächtigsten Grlieder, Von allen tierischen Zügen in der
sittlichen Physiognomie des Menschen ist sie der tierischste und
obgleich sie ehemals vielleicht bei allen Völkerschaften Brasiliens
im Schwange ging, ist sie doch gegenwärtig bei den meisten ver-
abscheut. Die europäische Kultur kann sich rühmen erfolgreich
gegen diese entmenschte Sitte angekämpft zu haben". ^
Die Kaschibos am Ucayale, denen wir uns zuerst zuwenden,
haben wahrlich keinen Mangel an Wild, und der Fluß liefert ihnen
Fische und Schildkröten in Menge, dessenungeachtet sind sie Kanni-
balen. Allerdings sind die Nachrichten darüber nicht immer be-
stimmt, The Caslähos are said to he cannihals meint Herndon-,
während Professor Raimondi angiebt, daß sie nur ihre Alten aus
religiösen Gründen verzehren. ^ J. J. v. Tschüdi dagegen behauptet,
daß sie Kriege führten, um sich Gefangene zum Verzehren zu ver-
schaffen. Auch Leute des eigenen Stammes verzehren sie, dagegen
niemals Weiber, wie 1842 die Missionare von Ocopa aussagten,
nicht etwa aus. Rücksicht und Schonung, sondern weil sie die Wei-
ber für etwas untergeordnetes und ihr Fleisch für giftig halten.^
Am Cosiabatay, einem Nebenflüßchen des Ucayale, fand Mak-
COY einen gekreuzigten Kaschibo-Indianer, die Schetibos hatten ihn
hier lebendig ans Kreuz geschlagen. C'etait une vieille coiitume des
Scheti/)Os de tue?' tout Cachiho qu'ils renconti'aient, et cela pour puiiir
la nation dans Vindividu, de son f/oüt decide pour la chair hmnaiiic
Marcoy bildet die ekelhafte Scene, wie die Aasgeier den Gekreu-
zigten zerfleischen, auch ab.^
Diese Kaschibos (Carapuchos, Callisecas, Fledermausindiancr)
reichen vom Pachitea bis zum Aguaita (linkes Ucayaleufer) und sind,
wie Dr. Abendroth, der sich unter ihnen aufhielt, versichert, gegen-
' v. Maktius, Beiträge zur Ethnographie und Spracheukunde Amerikas.
Leipzig 1867. I. 538.
- Herndon, Exploration of tlie Amazon. Washington 1854. 209.
^ Anthropologieal Review. I. 38 (1863).
* J. J. V. TscHUDi, Peru. II. 222.
■'' Paul Marcov, Voyage de l'oot'an pacifitjue a l'ocean atl;uiti([ue ä travers
rAmeri(iue du Sud, im Tour du Monde. XI. 220.
80 Kaschibos. Mesayas. Miranhas.
wärtig die einzigen Anthropophagen in Peru.^ Noch 1865 wurden
die peruanischen Offiziere Juan Tavara und x4.1berto West am
Ucayale von den Kaschibos ermordet und gefressen, und als 1866
die ersten Dampfer vom Amazonas aus in den Ucayale einfahrend
bis zu diesen wilden Indianern kamen, wurden sie von ihnen ange-
fallen. In einem Gefechte kamen 25 Kaschibos um, die auch nach
dem Berichte dieser Dampferexpedition „unzweifelhaft Kannibalen''
sind. Über die Motive des Kannibalismus bei den Kaschibos bleiben
wir im Unklaren.
Kannibalischen Gewohnheiten ergeben sind, wie Martius be-
zeugt, die Miranhas und nach Marcoys Berichten die ihnen benach-
barten Mesayas. Beide Völker, noch verhältnismäßig zahlreich,
haben der Civilisation und den Seuchen Stand gehalten, beide leben
in arger Feindschaft miteinander und verzehren gegenseitig ihre
Gefangenen aus Rachsucht. Sie leben am Japure und an dessen
Mündung in den Amazonenstrom sowie an letzterem selbst.
Die Mesayas gehören zu dem weit verbreiteten Stamme der
Umaüas und sollen nach Marcoy noch tausend bis zwölfhundert
Köpfe zählen. Ihre Altesten erzählen den Ursprung der Anthropo-
phagie bei ihnen folgendermaßen: Vor langer Zeit, als die Tiere
noch sprechen konnten, trieb sich eine Horde Miranhas am Japure
umher und fand dort einen auf dem Sande schlafenden Umaüa.
Diesen schlugen die Miranhas, welche sehr hungrig .waren, tot und
fraßen ihn auf. Die Umaüas erhielten Kunde von diesem Vor-
gange durch einen Vogel, den Surucua; sie begannen von nun an
einen Rachekrieg gegen die Miranhas, und wer von diesen in ihre
Gewalt geriet, wurde aus Rache und Wiedervergeltung aufgefressen.
Dabei ging oder geht man mit ausgesuchtem Raffinement zu Werke.
Der Gefangene wurde im Dorfe der Mesayas streng überwacht, aber
nicht etwa eingesperrt. Man gab ihm eine Frau, die ihn recht gut
und vollauf füttern mußte, damit er wohlbeleibt werde. Nach etwa
einem Vierteljahre führte man ihn Al)ends bei Vollmond in den
Wald; dort mußte er selber das Holz sammeln, mit welchem er
gebraten werden sollte. Wenn er mit seiner Last im Dorfe ange-
kommen war und dieselbe niedergelegt hatte, bezeichneten die
Krieger, die ihn bisher bewachten, mit rotem Oker jene Körper-
teile, die sie am andern Tage verspeisen wollten, und nachher
wurde l)ei Mondschein ein Tanz aufgeführt, an welchem der Ge-
fangene teilnahm. Inzwischen brachten die Frauen das zum
' Dr. AnENi»ui)Tii im (Jlolm.s. XIX. 879.
Mesayas. Miranhas. 8 1
Schmause notwendige Geschirr herbei, und nach Mitternacht mußte
der Miranha in seine Hütte gehen. Am nächsten Morgen wurde
der Gefangene gerufen; sobald er aus der Hütte trat, erhielt er
sofort mehrere Keulenschläge auf die Schläfe und sank leblos nie-
der. Dann schnitt man ihm den Kopf ab, der auf eine Lanze ge-
steckt und im Dorfe umhergetragen wurde; den Körper schleppte
man zu den Kochkesseln, wo er zerlegt wurde; auch die Knochen
wurden entzwei geschlagen, damit man das Mark genießen könne.
Von dem Schlachtopfer durfte nichts übrig bleiben als der mit
Farbe bemalte Kopf, der in der Hütte des tapfersten Kriegers als
Trophäe aufbewahrt wurde. Aber was geschah unmittelbar nach
dem Schmause? Alle Mesayas waren bemüht, das genossene Men-
schenfleisch so rasch wie möglich wieder von sich zu geben; sie
ekelten sich selber vor der abscheulichen Speise, und damit ist der
Beweis geliefert, daß sie dieselbe nicht aus Gier nach Menschen-
fleisch verzehrt hatten, sondern lediglich der Rache und der Wieder-
vergeltung wegen. Der letzte Kannibalenschmaus soll nach Marcoy
im Jahre 1846 stattgefunden haben. ^
Was die Miranhas betrifft, so herrscht seit langer Zeit in
ihrem Lande Hungersnot. Zu x4.ckerbauern haben sie sich nie
emporgeschwungen, sie sind Jäger und Fischer. Seit langem nun
giebt es in ihrem Gebiete am rechten Japureufer, wie Marcoy er-
zählt, weder Tapire noch Peccaris mehr, weder Affen noch große
Nagetiere, selbst der Jaguar kommt nicht mehr vor, und da wird
OS begreiflich, wenn den Miranhas nachgesagt wird, sie fräßen ihre
Kranken und Alten. Der Grund aber, weshalb sie ihr armseliges
Gebiet nicht verlassen, ist die Feindschaft der angrenzenden Stämme,
die jeden Miranha niedermachen, der sich bei ihnen blicken läßt.^
Nachbarn der Miranhas waren die jetzt untergegangenen Yamas.
Diese zerbrachen die Knochen ihrer Todten, um das Mark auszu-
saugen, und sie thaten dieses, weil sie meinten, im Marke stecke
die Seele des Verstorbenen, und diese gehe in den Menschen über,
welcher das Mark verzehrt."*
Am Madeira sind die wilden, in den Wäldern hausenden, von
allem europäischen Einflüsse noch völlig unberührten Parentintins
bei Crato unzweifelhaft Kannibalen, die einen brasilianischen Serin-
gucii-n (Kautschuksammler) bei Crato überfielen und auf einer Sand-
bank brieten und verzehrten, wobei sie von den Verfolgern über-
' Paul Makcoy im l'our du Monde. XV. 135.
'^ Paul Marcoy a. a. O. 138. ^ Maucov a. a. 0. 139.
R. Andree, AntUropopLagie. (j
82 Südamerika.
rascht wurden. Desgleichen gelten die Araras für AntLropophagen
und beide Stämme sind Ursache, daß die Seringueiros nicht in die
ausgedehnten, reichen Kautschukwälder der Nebenflüsse des Madeira
vorzudringen wagen. ^
Am Uaupös sind die Cobeus echte Kannibalen; sie verzehren
die Leichen der im Kriege erschlagenen Feinde, ja sie führen
Kriege zu dem ausgesprochenen Zwecke sich IMenschenfleisch zu
verschaffen. Haben sie mehr davon, als sie auf einmal verzehren
können, so räuchern sie den Rest über Feuer und bewahren ihn
lange auf.^
Die Indianer am Putumajo - — auf columbischem Gebiete im
Territorium von Caqueta — haben im Jahre 1883, wie aus einem
amtlichen Berichte hervorgeht, einen jungen Columbianer Namens
Portes erschlagen und verzehrt. ,,Die Indianer sind in der Tliat
Kannibalen, essen aber nur ihre Kriegsgefangenen, um Rache an
denselben zu üben. Besondere Vorliebe für Menschenfleisch ist
nicht vorhanden."^
Am Jauari sind die Majorunas noch jetzt Kannibalen, wofür
Bates die Beweise beibringt."*
Alle Tupivölker waren bei der Entdeckung Südamerikas Kan-
nibalen und so kann es nicht Wunder nehmen, wenn nun auch
heute noch die zu ihnen zählenden Stämme kannibalischen Sitten
ergeben sind, so die im Gebiete des Tapajoz wohnenden Ai)iacas,
die zu den Centraltupis gerechnet werden. Ihr Name stammt von
dem Tupiworte Apiaba, Mensch und ihre Sprache ist der herr-
schenden lingua geral so nahe verwandt, daß über ihre ethnische
Stellung keine Zweifel aufkommen. Wie de Castelnau berichtet''',
töten sie im Kriege alle ihre Feinde, gleichviel welchem Geschlechte
dieselben angehören, um deren Leichname dann zu braten und zu
verzehren. Die Kinder der Feinde führen sie aber mit in ihre
Aldeas, um sie gleich ihren eigenen Kindern zu behandeln und mit
diesen zu erziehen. Wenn aber diese gefangenen Kinder das Alter
von 12 bis 14 Jahren erreicht haben, so dienen sie zu einer Kanni-
balenmahlzeit, welche von dem ganzen Dorfe unter großen Feier-
' Keij.er-Lkuzingek, Vom Amazonas und Madtnra. Stuttgart 1874. 32. 99.
^ A. R. Wai,i,aoe, Amazon and Rio Negi'o. London 1853. 4flS. — v. Mau-
Tirs, Beitrüge zur Ethnograijhie Amerikas. I. ßOO.
^ Nach Panama Sfcir and Herald vom 12. April 1883 im Ausland 1883. 437.
* Tlic Naturalist on tlie Amazonas.. London lSf>4. 4r)4.
•'■ Expedition dans Ics j)arties centrales de l'Auierique du Sud. Paris ISöü.
HI. 314.
Die Tupi. 83
lichkeiten l)egaiigeu wird. Mit Arafedern schön geschmückt zieht
die Bevölkerung auf, die Kriegstrompeten erklingen und die un-
glücklichen Kinder werden in einem Kreis vor die tanzende Menge
geführt. Hinter den armen Geschöpfen stehen die Pflegeeltern,
welche sie aufgezogen und diese sind es auch, welche sie erschlagen.
Während der nächtliche Tanz fortdauert, werden die Leichen zer-
stückelt und verzehrt. xA.uch junge Weiher hält man zuweilen
jahrelang gefangen, ehe sie geschlachtet und gefressen werden.
Anthropophagie der Tupi zur Zeit der Entdeckung.
Sowohl in dem Berichte Maecoys üher die Behandlung der zum
Verzehren bestimmten Gefangenen, als in dem, was de Castelxau
üher die Apiacas sagt, erkennt man wesentliche Züge aus den
eigentümlichen Gebräuchen wieder, die von den ersten Entdeckern
uns geschildert werden, als sie die kannibalischen Gewohnheiten der
Tupivölker kennen lernten.
Ameeigo Vespucci, der 1501 die brasilianische Küste besuchte,
bringt in einem Briefe an Loeexzo Medici ausführliche Mitteilungen
ü])er die Anthropophagie der Tupivölker. mit welchen er zusammen-
traf. ^ Nachdem er ü1)er die Kämpfe der Eingeborenen untereinander
gesprochen, fährt er fort: „Wenn sie Sieger sind, schneiden sie die
Besiegten in Stücken, verzehren dieselben und versichern, daß es
ein sehr vortreffliches Gericht sei. Sie ernähren sich auch vom
Menschenfleisch; der Vater verzehrt den Sohn und der Sohn den
Vater, je nach Umständen und den Zufällen des Kampfes. Ich
habe einen abscheulichen Menschen gesehen, der sich rühmte, mehr
als 300 Leute verzehrt zu haben. Ich habe auch einen Ort gesehen,
den ich etwa 27 Tage bewohnte und wo Stücke gesalzenen Menschen-
fleischs an den Balken der Häuser hingen, wie wir bei uns ge-
trocknetes oder geräuchertes Schweinefleisch, Würste oder andere
Eßwaren aufhängen. Sie waren höchst erstaunt, daß wir nicht
gleich ilmen das Fleisch unserer Feinde verzehrten; sie sagten, daß
nichts vortreftlicher schmecke als dieses Fleisch und daß man nichts
saftigeres und delikateres haben könne.''
PiGAFETTA, welcher mit Magalhaes auf der ersten Weltum-
segelung die brasilianische Küste berührte und zwei Monate im
' Eelation du voyage d'Amf'ric Vespuce aux cotes du Bresil fait eu 1501
et 1502. adressee a Lorenzo di Piei-fi-ancesco de Medici. Chaktox, Voyageurs
anciens et modernes. III. 198. Paris 1863. Der Brief ward bereits 1503 iu
Paris gedruckt.
6*
84 Die Tupi.
Hafen Sta. Lucia blieb, erzählt uns ein Geschichtchen ^ — das den
Ursprung der Anthropophagie bei den Tupivölkern erklären soll.
,,Die Einwohner haben den Gebrauch Menschenfleisch zu essen,
üben aber diese Grausamkeit nur gegen ihre Feinde aus, und sagen,
diese Gewohnheit habe ihren Anfang durch eine Frau genommen,
deren einziger Sohn ermordet war. Als man nachher verschiedene
von den Thätern gefangen zu der Alten geführt, wäre sie als ein
wüthender Hund auf einen von ihnen gestürzt und hätte ihm einen
Teil der Schulter abgefressen. Dieser wäre nachher zu den Sei-
nigen entflohen und hätte ihnen seine Schulter gewiesen, worauf sie
alle angefangen, das Fleisch ihrer Feinde zu verzehren. Doch
essen sie solches nicht auf einmal, sondern schneiden es in Stücken
und hängen es in den Rauch, und einen Tag essen sie ein Stück
gekocht, und den andern gebraten, zum Andenken ihrer Feinde.'*
Daß der Kannibalismus sich nach Süden zu bis an den la
Plata erstreckte, dafür haben wir abermals Pigafettas Zeugnis. -
Unter 34 ^j^ Grad fanden die Weltumsegler einen großen Fluß von
süßem Wasser — den la Plata — und „gewisse Leute, die man
Kannibalen nennt und die Menschenfleisch essen. Unter anderen
sahen wir einen derselben von unserem Schifl", der so groß wie ein
Riese war und eine Stimme hatte wie ein Stier''. Der Name Kan-
nibalen für Anthropophagen war also damals — 28 Jahre nach
Entdeckung der Neuen Welt — schon gang und gäbe.
Nehmen wir eine der alten Reisebeschreibungen, eines der zahl-
reichen Flugblätter zur Hand, die im Beginn des IG. Jahrhunderts,
kurz nach der Entdeckung Brasiliens, erschienen und von dieser
handehi, so flnden wir unfehlbar Berichte über die dort herrschende
Menschenfresserei.
So zeigt ein um jene Zeit zu Nürnberg oder Augsburg ge-
drucktes Blatt das Bild eines brasilianischen Indianers nebst Er-
läuterung, in der es heißt: ,,Sy streiten auch miteinander. Sy essen
auch einander selbst die erschlagen werden und hencken dasselbig
Fleisch in den rauch." ^ Keiner aber hat die Anthropophagie der
Tupivölker besser und eingehender geschildert als unser Landsmann
Hans Stauen aus Homburg in Hessen, der als Abenteurer im Jahre
^ Ant(jn PuiAFKTTA: Erstc Reise um die Welt durch Ferdinand Maüelhan.
Aus dem Italienischen, lu C. !\I. Si-iMCNuEr-s ßeiträgen zur Volker- und Länder-
kunde. Leipzig 1784. IV. 13.
- A. a. O. Ifi.
^ Vierter und Fünfter Jahresbericht des \'ereins für Erdkunde zu Dresden.
1868. 14.
Die Tupi. 85
1547 beschloß. ,, Indien zu besehen'' und zehn Monate lan^ij Ge-
fangener der Tupinamba im heutigen Brasilien war, die er gründ-
lich kennen lernte.^
Im 25. Kapitel des zweiten Teiles erläutert Hans Staden
,,warumb ein Feind den andern esse'' und er giebt darauf die Ant-
wort: „Sie thuen das nicht aus Hunger, sondern nur aus großem
Haß und Neid. Treffen sie im Kriege aufeinander, so rufen sie
einander zu, daß sie ihrer Freunde Tod aneinander rächen, die
Feinde erschlagen und verzehren wollen." Staden, der selbst
nur durch ein Wunder dem Tode unter den Tupinamba entrann,
hat wiederholt den Kannibalenmahlzeiten beigewohnt, er spricht als
unverdächtiger Augenzeuge und schildert im 38. Kapitel des zwei-
ten Teils „mit was Ceremonien sie ihre Feinde tödten und essen".
Dort heißt es:
,.Wenn sie ihre feinde erstmals heimbringen, so schlagen sie
die weiber und die jungen. Darnach vermalen sie ihnen mit
grawen federn, scheren im die augenbrawen über den äugen ab,
danzen umb in her, binden inen wol, das er inen nicht entläufft,
geben im ein weib, das in verwaret, und auch mit im zu tliun hat.
Und wann die schwanger wirdt, das kind ziehen sie auf biß es
groß wird. Darnach wann es inen in den Sinn kompt, schlagen sie
es todt und essen's. Geben im wol essen, halten inen eine Zeit-
lang, rüsten zu, machen der gefeß vil, da sie die geträncke in tliun,
backen sonderliche gefeß, darin tliun sie die reidtschaft, darmit sie
in vermalen, machen fedderqueste , welche sie an das holtz
binden, darmit sie in todtschlagen , machen eine lange schnür,
Massurana genant, da binden sie inen ein, wann er sterben sol
Wenn sie alle reidschaft bey einander haben, so bestimmen sie
ein zeit, wann er sterben sol, laden die wilden von andern dörfern,
daß sie auff die zeit dahin kommen. Dann machen sie alle gefeße
voU geträncke, und einen tag oder zwen zu vorn. Ehe dann die
weiber die getrencke machen, führen sie den gefangen ein mal
oder zwey auff den platz tantzen umb inen her.
„Wenn sie nun alle bey einander sein, die von außen kom-
* WarhafFtig historia und beschreibung einer landscliaflft der wilden, nacke-
ten, grimmigen menschenfresser leuthen, in der newen weit America gelegen,
vor und nach Christi geburt im Land zu Hessen unbekannt, bisz auff dise II
nechst vergangene jar, da die Hans Staden von Homberg ausz Hessen durch
sein eygne erfarung erkant, und ietzund durch den truck an tag gibt. Franck-
furt am Main durch Weygandt Han. 1556. Herausgegeben von Dr. K. Kixpfel
in der Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart. Band 47. Stuttgart 1859,
86 Die Tupi.
men, so lieyßet sie der oberste der liütteii wilkommen, spricht: so
kompt helfet iinsern feindt essen. Des tiiges zuvor, ehe sie anheben
zu trincken, binden sie dem gefangenen die schnür Massurana umb
den Hals. Desselbigen tages vermalen sie das holtz, Iwera Pemme
genant, darmit sie ihn todt schlagen wollen. Ist lenger denn ein
klaffter, streichen ding daran, das klebet. Dann nemen sie eyer-
schalen, die sin graw, und sein von einem vogel Mackukawa ge-
nant, die stoßen sie klein, wie staub, und streichen das an das
holtz. Dann sitzet ein fraw und kritzelt in dem angeklebten eyer-
schalen staub. Dieweil sie malet, stehet es vol weiber umb sie her,
die singen. Wenn das Iwera Pemme dann ist, wie es sein sol,
mit fedderquesten und anderer reidschaft, hencken sie es dann
in eine ledige hütte über die erden an einen reidel, und singen
dann darum her die ganze nacht.
,,Dasselbigen gleichen vermalen sie den gefangenen sein an-
gesicht. Auch dieweil das weib an im malet, dieweil singen die
andern. Und wann sie anheben zutrincken, so nemen sie den ge-
fangenen bey sich, der trinket mit inen und sie schwatzen mit im.
„Wann das trinken nun ein ende hat, des andern tages darnach
ruhen sie, machen dem gefangnen ein hütlin auff den platz, da er
sterben sol, da liegt er die nacht inne, wol verwart. Dann gegen
morgen ein gute weil vor tage, gehen sie tanzen und singen umb
das holtz her damit sie in todtschlagen wollen, bis das der tag
anbricht, dann zihen sie den gefangenen aus dem hütlin, brechen
das hütlin ab, machen räum, dann binden sie im die Mussurana
von dem hals ab und binden sie in umb den leib her, zihen sie
zu beiden selten steiff. Er stehet mitten darin gebunden, irer viel
halten die schnür auff beiden enden. Lassen in so ein weil stehen,
legen steinlein bey ihn, damit er nach den weibern werfe, so umb
ihn herlaufen und dräwen im zu essen. Dieselbigen sein nun ge-
malet und darzu geordiniret, wenn er zerschnitten würd, mit den
ersten vier stücken um die hütten her zulaufen. Daran haben die
andern kurtzweil.
„Wann das nun geschehen ist, machen sie ein fewer ungefehr-
lich zweier schritt we;t von dem Schlaven. Das fewer muß er
lehen. Darnach kompt ein fraw mit dem holtz Iwera Pemme ge-
lauö'en, keret die fedderquesten in die höhe, kreischt von freuden,
läuft vor dem gefangenen über, das er es sehen soll.
„Wann das geschehen ist, so nimpt eine mannsperson das
holtz, gehet mit vor den gefangenen stehen, hält es vor in, daß er
es ansiehet, dieweil gehet der, welcher in todtschlagen wil, hin,
Die Tupi. Botokuden. 87
selb Xnil oder XV und machen iren leib gniw mit äscbeii, dann
kom^)! er mit seinen zucbtgesellen auf den platz bey den gefange-
nen, so uberlift'ert der ander so vor dem gefangnen steht, diesem
das holtz, so kompt dann der könig der hütten und nimpt das
holtz und steckts dem, der den gefangen soll todtschlagen, einmal
zwischen den beynen her, welches nun eine ehr unter inen ist.
Dann nimpt er wiederumb das holtz, der den todtschlagen sol, und
sagt dann: Ja hie bin ich, ich wil dich tödten, denn die deinen
haben meiner freunde auch viel getödtet und gessen, antw^ortet
er: Wenn ich todt bin, so habe ich noch viel freunde, die werden
mich wol rechen, darmit schlecht er inen hinten auf den kopff, das
im das Hirn darauß springt, alsbaldt nemen in die weiber, ziehen
in auf das fewer, kratzen ihm die haut alle ab, machen in ganz
weiß, stopfen in den hintersten mit einem holtze zu, auf daß im
nichts entgeht. Wann im dann die haut abgefegt ist, nimpt in
eine mannsperson, schneidet im die Beine über den knien ab, und
die arme an dem leibe, dann kommen die vier weiber, und nemen
die stücke, und laufen mit um die hütten her, machen ein groß
geschi'ey von fi'euden, darnach schneiden sie im den rücken mit
den hintersten von den vorderleib ab, dasselbige theilen sie dann
unter sich, aber das eingew^eyd behalten die ^veiber, sieden, und in
die brühe machen sie einen brey, mingau genannt, den trinken sie
und die kinder. Das eingeweyd essen sie, essen auch das fleisch
um das haupt her, das hirn in dem haupt, die zungen, und was
sie 'sonst daran genießen können, essen die jungen. Wann das
alles geschehen ist, so gehet dann ein ieder wiederumb heim, und
nemen ir theil mit sich. Derjenige, so disen getödtet hat, gibt sich
noch einen namen.'-
Botokuden. Die Botokuden, wie sie von den Portugiesen
nach dem Stöpsel (botoque) in ihrer Unterlippe bezeichnet werden,
sind unzweifelhaft Anthropophagen bis zum heutigen Tage. Dieses
Volk haust in der Provinz Minas Geraes in dem weiten Raum
zwischen dem Rio Doce und Rio Jequitinhonha , vom 17. bis 20.^
s. B. Um über ihi-en Kannibalismus aufgeklärt zu -werden, können
wir uns an die Berichte deutscher Reisender halten: Eschwege,
Neuwied, Tschudi, welche uns die besten Nachrichten über sie ver-
mittelt haben. Eschwege drang 1811 in die Wälder dieser Anthi'o-
pophagen vor. Damals lebten die Botokuden mit ihren Nachbarn,
Portugiesen wie Negern, in fortwährenden Kriegen, helen über die-
selben her, mordeten und fraßen sie. ,,Ein Augenzeuge der Grreuel-
thaten erzählte mir, daß ihre Anzahl nicht sehr beträchthch war,
88 Die Botokudcn.
SO daß sich alle an einem einzigen Neger, den sie brateten, satt
aßen; von anderen schnitten sie Arme und Beine ab und nahmen
sie als Lebensvorrat mit sich. Die getöteten Weißen hatten sie alle
liegen lassen, aber alle Teile des Körpers (juerüber eingeschnitten,
so ungefähr, wie man Fische zuzubereiten pflegt, wenn man sie
einsalzen will. Den Getöteten saugen sie zuerst das Blut aus und
dieses scheint ihnen das leckerste zu sein. Überhaupt hat man
aber bemerkt, daß, sobald sie Negertieisch haben, sie das Fleisch
der Weißen nicht achten. Bei großem Überflüsse schneiden sie den
Negern auch nur die Waden und das Inwendige der Hände aus,
welches wahre Leckerbissen sein sollen.'' ^
Prinz Maximilian zu Wieb, der 1815 — 1817 das Land am Rio
Doce und Mucury durchstreifte, brachte unzweifelhafte Beweise der
Anthropophagie der Botokuden mit. „Sie schälen das Fleisch vom
Körper ihrer Feinde ab, kochen es in ihren Töpfen oder braten es ;
den Kopf stecken sie auf einen Pfahl." Neuwied hel)t hervor, daß
die Botokuden keineswegs aus Wohlgeschmack am Menschenfleisch
zu Kannibalen geworden sind, dagegen spräche, daß sie einzelne
Gefangene am Leben lassen; nur wilde Rachgierde treibe sie zu
der schauderhaften Sitte. ^
Bei J. J. V. TscHUDi, der die Botokuden am Mucury besuchte,
erscheint die Anthropophagie dieses Volkes nicht in so grau-
sigem Lichte wie bei v. Eschwege. „Die Botokuden,'' sagt er,
,, werden zu den Anthropophagen gezählt und sie sind in der That
Menschenfresser, aber nicht in der grausam blutdürstigen Bedeutung,
die man gewöhnlich mit diesem Begrift" verbindet, sondern bloß aus
unersättlichem Heißhunger und aus Rache. Ich glaube nicht, daß
sie einen Feind erschlagen, um ihn zu fressen, sondern daß sie
einen erschlagenen Feind auffressen, weil er ihnen gerade wie ge-
legen und bequem Nahrung darliictet und sie überhaupt alles
fressen, Avas sie nur verdauen können. Das Verzehren der
Fcindesleichen war und ist meistens in erster Linie eine Folge des
heftigen Dranges den Hunger zu stillen, dann aber mag auch eine
Befriedigung des Rachedurstes dazu kommen und in diesem Falle
werden nur gewisse Körperteile des getöteten Gegners als Lecker-
bissen dem Siegesmahle beigefügt. Auffallenderweise sucht jeder
Stamm den Vorwurf dieser scheußlichen Sitte von sich ab und auf
* W. C. v. EscHWEOE, Journal von Brasilion. Weimar 181-8. 80.
■'• Maximilian Prinz zu Neuwied, Reise nach Brasilien. Frankfurt a. M.
1821. IL 49. 50.
Die Botokuden. Die Puris. o^
andere Horden zu wälzen. Es mag doch vielleiclit bei ihnen das
Gefühl vorhanden sein, daß sie sich durch das Auffressen ihres-
gleichen selbst unter die Tiere stellen.'^ ^ Darnach stimmen Neuwied
und V. TsCHUDi überein und wir dürfen bei den Botokuden Rach-
gier als den Beweggrund des Kannibalismus annehmen.
Südlich von den Botokuden treffen wir, gleichfalls noch in der
Provinz Minas Geraes unter 21.'^ s. Br. an den oberen Zuflüssen
des Parahyba, sj^eziell am Rio Xipolo zwischen der Serra Geraldo
und Serra do Onqa. auf die Coroatos-Indianer, ein sehr rohes Volk,
welches im Beginn unseres Jahrhunderts noch 1900 Köpfe zählte.
Bei ihnen, die einst wohl mehr der Anthropophagie ergeben waren,
finden wir gleichsam die Ausläufer kannil)alischer Gewohnheiten,
da sie bei ihren Festen an dem abgeschnittenen Arme eines er-
legten Feindes, der zuvor in Maiswein getaucht wird, zu saugen
pflegen. ,,Der Arm des Puri geht beim Tanze in der Reihe herum,
wird auch wohl aufgestellt und mit Pfeilen nach ihm geschossen,
andere tauchen ihn in das Getränk, saugen davon und mißhandeln
ihn auf alle mögliche Art."^ Unschwer ist aus dieser Schilderung
zu erkennen, wie es sich auch hier um einen Racheakt handelt.
Die Puris, die am Parahybastrome hausen und stark dem Ein-
flüsse der Brasilianer ausgesetzt sind, erscheinen heute nicht mehr
als Anthropophagen ; daß sie es einst waren, beweist ihr Name,
denn Puru oder Puri bedeutet nach Vaenhagen einfach Anthropo-
phage. ^ Noch zu Neuwieds Zeit kamen bei ihnen Fälle von Kan-
nibalismus vor. ^
Es mag hier und da in Brasilien außer den angeführten noch
Horden geben, welche kannibalischen Gewohnheiten fröhnen^; im
allgemeinen läßt sich aber darthun, daß in Südamerika teils durch
Verdrängung der Ureinwohner, teils durch Sittigung derselben die
Anthropophagie ganz außerordentlich abgenommen hat, wie ein Ver-
gleich mit den Berichten der ersten Besucher des Landes ergiebt.
Araukaner. Noch haben bei diesen sich wenigstens Spuren
erhalten, die auf ehemals weiter verbreitete Anthropophagie hin-
. * JoH. Jak. V. Tschudi, Reisen durch Südamerika. Leipzig 1866. II. 280.
^ Hauptmann Marliers Bericht bei v. Eschwege a. a. 0. 121. 127. 201.
•'' A. V. Varnhagen, Historia geral do Brazit etc. Rio de Janeiro 1854.
Tom. I. 100. Schulz, Natur- und Kulturstudien über Südamerika. 15.
* Neuwied a. a. O. I. 161.
* Nach Dr. Couto da Magalhaes fressen die Cliavantes am Araguay die
Leichen ihrer verstorbenen Kinder, weil sie wähnen, daß dadurch die Seele die-
ser Kinder in die ihrige übergehe. (Brazil and River Plate Mail 21. Febr. 1874.)
90 Araukaner. Feuerländer.
weisen. Als Genugtlimiiig für die Manen der im Kriege gefallenen
Tapferen des eigenen Stammes bringen sie Menschenopfer dar, zu
denen Gefangene des feindlichen Stammes benutzt werden. Dem
mit einer Keule erschlagenen Opfer wird das Herz aus der Brust
gerissen und frisch dem Toqui dargereicht, der einige Tropfen Blut
daraus saugt, um es alsdann den übrigen Häuptlingen zu geben,
die damit ein gleiches thun. ^
Feuerländer. Unmöglich ist es nicht, daß der Kannibalis-
mus sich einst durch ganz Südamerika bis zur Magalhaesstraße
und darüber hinaus erstreckte. Nach Charles Daewin sind
die Feuerländer demselben infolge häutiger Hungersnot ergeben,
auch herrscht bei ihnen Elternmord^, wie dieses auch Admiral
FiTZEOY bestätigt. ,,Fast immer im Kriege mit den Nachbar-
stämmen begriffen, treffen sie sich selten, ohne daß ein feindlicher
Zusammenstoß erfolgt. Diejenigen, Avelche besiegt und gefangen-
genommen worden sind, werden, falls sie nicht schon tot sind, von
den Siegern erschlagen und verzehrt. Arme und Brust essen die
Frauen, die Beine erhalten die Männer und der Rumpf Avird ins
Meer geworfen.'' Auch im strengen Winter nehmen sie, wenn sie
keine andere Nahrung finden können, ,,das älteste Weib aus ihrer
Mitte, halten ihr den Kopf über dichten, durch grünes verbranntes
Holz erzeugten Rauch, pressen ihr die Kehle zu und ersticken sie.
Sie verzehren dann das Fleisch bis auf den letzten Bissen, den
Rumpf aber werfen sie, wie bei dem vorhergehenden Falle, ins
Meer".^ Auch W. Paeker Snow, der gute Gelegenheit hatte, sie
kennen zu lernen, sagt, daß sie nur im Falle von Hungersnot die
alten Weiber, zuletzt aber ihre Hunde fressen^ und an anderer
Stelle sagt derselbe : They are cannihals from necessity, hut, I hclicve,
not from choice.^ Ein neuerer Beobachter, der Franzose Maeguin,
der längere Zeit unter ihnen lebte, spricht sie gänzlich fi-ei. On
les dit aathrojwphages, tnais rien pour moi nc justifie cette accnsatio/i^',
und so auch Dr. Hyades, der gleichftills einige Zeit unter ihnen
lebte und das Verzehren der alten Weiber für Fabel erklärt.''
^ E. Reukl Smith, The Araucarians. New York 1855. 274.
'' Charles Darwins Naturwissenschaftliche Reisen. Deutsch von Dieffen-
itAcii. lirauiischweig 1844. I. 230.
^ LuBROcK, Die vorgeschichtliche Zeit. Jena 1874. II. 240.
^ A two years' cruisc oiF Tierra de fuego. London 1857. II. H58.
* Transact. Ethnolog. Soc. New Serics. I. 264 (1861).
* Bulletins de la societc de geograi^hie. 1875. 501.
^ Revue d'Ethnographie. IV. 552.
Eskimos. Die Tinne. 91
Eskimos. Bei den Eskimos mag wohl gelegentliclie Antliro-
[)()pliagie aus Xot imd Hunger vorkommen, aber vom Kannibalis-
mus aus anderen Beweggründen sind sie freizusprechen. Sie sind
kein ki-iegerisches Volk, das seinen Rachedurst durch das Verzehren
des überwundenen Feindes stillt, wie etwa ihre südlicher lebenden
indianischen Nachbarn, die unter gleichen äußeren Bedingungen (bis
zum Eismeer hin) leben, jedoch kriegerischer und rachdürstiger Natur
sind. Ob aber unter den Eskimos Anthropophagie herrschte, läßt
sich jetzt nicht mehr nachweisen. Die Anklänge einiger Legenden
in dieser Richtung, sowie die von Eskimos selbst gezeichneten und
ausgeführten Holzschnitte, welche das Menschenfressen darstellen^
erscheinen nicht als genügender Beweis.
Nordamerika. Bei den Indianern Nordamerikas mag in frü-
heren Zeiten die Anthropophagie viel weiter verbreitet gewesen sein,
als sie jetzt noch vorhanden ist. In der That war sie zur Zeit der
Entdeckung schon auf ein geringes zusammengeschmolzen. Heute
ist nur wenig von derselben vorhanden, und auf Rachsucht am
Feinde als Beweggrund zurückzuführen, abgesehen von dem durch
Not erzeugten Kannibalismus. So systematisch wie in Mexiko oder
weit ausgedehnt wie bei deji Jagdnomaden der Südhälfte des Kon-
tinents scheint die Anthropophagie im Norden überhaupt nie ver-
treten gewesen zu sein.
Für das Vorkommen der Anthropophagie in den Hudsonsbai-
Ländern bei den dortigen Indianern haben wir das Zeugnis des
heldenmütigen Samuel Heaene, der auf sehi- beschwerlichen, an
Entbehrungen überreichen Reisen 1770 — 1771 von Fort Churchill
an der Hudsonsbai bis zur Mündung des von ihm entdeckten
Kupferminenflusses in das Eismeer vordrang. Er berichtet^: „Die-
jenigen, welche mit der Geschichte der Hudsonsbai bekannt sind,
und das Elend kennen, welches die Bewohner dieser Gegenden
häufig erfahren, werden darin nur die alltäglichen Begebenheiten
des Lebens der Wilden finden, die nicht selten durch die Not ge-
zwungen werden, einander zu verzehren. Die südlichen Wilden —
es sind die Tinn6völker gemeint — haben über diesen Punkt die
sonderbare Meinung, daß sobald einer ihres Stammes, durch Not
gedrungen, MenschenÜeisch genossen hat, bekommt er davon einen
* Antbropological Keview. HI. 145 (1865).
^ Samuel Hearnes Tagebuch seiner Reise von Fort Prinz Wallis in der
Huclsonsbai nach dem nördlichen AVeltmcer. In „Auswahl der Nachrichten
zur Aufklärung der Völker- imd Länderkunde" von M. C. Sprengel. Halle
1797. VII. 126.
"2 Die Tinne. Chippeways.
solchen Geschmack, daß sicli niemand unter seiner Gesellschaft des
Lebens sicher glaubt. Und ungeachtet es allgemein bekannt ist,
daß nur die Not zu diesem schrecklichen Genüsse treibt, so werden
doch diejenigen, die daran Teil genommen haben, allgemein ver-
mieden und durchgängig verabscheut und verachtet. Kein Wilder
erlaubt ihnen, sein Zelt neben dem seinigen aufzuschlagen, sie
werden oft sogar heimlich ermordet. Ich habe mehrere dieser Un-
glücklichen gesehen, die vorher allgemein geschätzt, im besten An-
sehen standen und nun so verachtet und vernachlässigt Avurden,
daß nie ein Lächeln ihren Blick erheiterte, eine tiefe Schwermut
herrschte in allen Zügen, und in dem kummervollen Auge lag deut-
lich die Frage: Warum verachtet ihr mich wegen meines Unglücks?
Die Zeit ist vielleicht nicht fern, wo die Not auch euch dazu ver-
leiten kann.** Heaene war 1775 Zeuge in Cumberland House —
westlich vom Winnipegsee — , daß ein Indianer in Gefahr geriet,
von seinen Gefährten umgebracht zu werden, da er im Verdachte
stand, Menschenfleisch genossen zu haben. ^
J. Long, ein britischer Holzhändler, welcher gegen Ende des
vorigen Jahrhunderts Canada und die Region der großen Seen Nord-
amerikas durchstreifte, ein mit den Sprachen nnd Sitten der Rot-
häute außerordentlich vertrauter Mann, führt die Anthropophagie der
Chippeways auf Blutdurst und Rachsucht zurück. Nachdem er ver-
schiedene Mordgeschichten erzählt, fährt er fort-: „Ein Missionar
der Jesuiten erzählte mir über diesen Gegenstand eine Geschichte,
die niemand ohne Schaudern anhören wird. Ein indianisches Weib
in seiner Mission fütterte ihre Kinder mit einem geftmgenen Eng-
länder, den ihr Mann eingebracht hatte. Sie hieb ihm sogleich
einen Arm ab und gab den Kindern das strömende Blut zu trinken.
Als der Jesuit ihr die Grausamkeit dieser Handlung vorhielt, sah
sie ihn an und sagte: Ich will Krieger aus ihnen haben, und darum
füttere ich sie mit Speise von Menschen.*' Hier liegt also ein aber-
gläubiges Motiv zu Grunde.
Eine Autorität wie Alexander Mackenzie, den seine Ent-
deckungsreisen und sein langer Aufenthalt in Britisch Nordamerika
wohl zu einem maßgebenden Urteil befälligen, leugnet die Anthro-
pophagie der Chippeways im allgemeinen und giebt nur Fälle zu.
» A. a. O. 127.
^ J. LoNGS See- und Landroiscn, enthaltcnci eine Reschrpibunjx dn- Sitten
und Gewohnheiten der Nordamerikanischen Wilden. Aus dem Englischen. Ham-
burg 1791. ]115.
Chippeways. Potowatomis. 93
in denen Hungersnot zu derselben trieb. „Wenn man, sagt er, bei
irgend einem Volke, nach dem unfruchtbaren Zustande seines Lan-
des, voraussetzen könnte, daß es von Natur kannibalisch wäre, so
möchte man bei der zuweilen eintretenden Schwierigkeit, sich Nah-
rung zu verschallen, dieses Volk (die Chippeways) dem Vorwurf
unterworfen glauben. Aber bei aller meiner Bekanntschaft mit
ihnen erfuhr ich nie ein Beispiel dieser Neigung; auch sah und
hörte ich unter allen Eingeborenen, die ich auf meinem Wege von
5000 (englischen) Meilen traf, nie von einem Beispiele von Kanni-
balensinn, sondern nur von solchen, die von der unwiderstehlichsten
Notwendigkeit herrührten, die, wie man weiß, auch Menschen von
den civilisiertesten Völkern einander zu verzehren zwingt."^ xA.uf sol-
chem Boden steht auch P. Kaxe, der bei den Cliii^peways nur Kanni-
balismus verursacht from absolute icant zuläßt, dabei aber darauf
hinweist, daß unter den Chippeways ein Stamm als ,,Windigo'' be-
zeichnet werde, was bedeutet „Einer, der Menschenfleisch verzehrt'^,
worin eine geschichtliche Reminiscenz an früheren Kannibalismus
erkannt werden mag.- Wie weit die Ableugnungen Mackexzies
und Kaxes berechtigt sind, mag das Folgende ergeben.
Der apostolische Vikar H. Faeaud, der achtzehn Jahr lang als
Missionar in der Athabaska-ßegion verlebte, bestätigt nämlich auf
das entschiedenste den jetzt noch vorhandenen Kannibalismus der
nördlichen Indianer. Derselbe sei allerdings teilweise aus Not im
AVinter bei Nahrungsmangel verursacht, dann schlachte man ge-
wöhnlich Weiber oder Kinder — teilweise aber sei er eine Folge
der Rachsucht im Kriege. Und hier beschuldigt er Kris und
Schwarzfüße, die auf dem Schlachtfelde, nachdem sie den getöteten
Feind skalpiert, diesem das Herz herausreißen und an Ort und
Stelle verzehren.^
Gewöhnlich scheint der Kannibalismus nur bei den Chippe-
ways, Miamis, Potowatomis und überhaupt bei den Rothäuten vom
Algonkiuervolke gewesen zu sein; bei den Potowatomis hingegen
scheint er nur das Privilegium einer Gesellschaft oder Brüderschaft
zu sein. Die Mitglieder dieser Brüderschaft sind nicht allein mit
' Alexander Mackexzies Reisen von Montreal durch Nordwestanierika nacli
dem Eismeer und der Südsee in den Jahren 17S9 und 1793. Aus dem Eng-
lischen. Hamburg 1802. 144.
^ P. Kaxe, An artist among the Indians. London 1859. 58. 60.
^ H. Fakalu, Dix-huit ans chez les sauvages. Paris 1866. Danach Bull,
d. I. suc. d'AnthruiJulogie. 1885. 38.
94 Sioux. Mohawks.
großen Helclentugenden begabt, sondern sie sollen diese auch durch
Zaubersprüche mitzuteilen imstande sein.^
Wie Keating bezeugt, ist bei den Chippeways Kannibalismus
nach einer Schlacht stets allgemein gewesen; ja, fügt er hinzu,
man hat unter ihnen Beispiele, wo das Menschenfleisch gediirrt und
Jahre lang aufgehoben wurde, um nach langer Zeit einen Schmaus
daraus zu bereiten, zu dem sie Gäste einluden. ^ Die Dakotas
(Sioux) spricht er dagegen frei von der Anklage des Kannibalismus.'*
Sein Führer und Dolmetscher, ein Halbblutindianer E,enville, ver-
sicherte Ke.\ting, daß er dabei zugegen war, als die Briten im
Jahre 1813 in Verbindung mit einem Corps von etwa 3000 India-
nern das Fort Meigs belagerten, letztere einen gefangenen Ameri-
kaner schlachteten und in so viele Teile teilten, als Nationen
gegenwärtig waren, indem sie den tapfersten unter jeder Nation auf-
riefen, um seinen Anteil an dem Kopf und Herzen zu empfangen.
Der dazu aufgeforderte Dakota aber äußerte hierüber seinen Ali-
scheu, weigerte sich das Fleisch zu essen und entfernte sicli. Der
englische Oberst Dickson aber, welcher die Truppen kommandierte,
ließ den Winnebago rufen, der die Sache angeregt, machte ihm
Vorwürfe und schickte ihn aus dem Lager fort."*
Furchtbare Rachsucht, die über das Leben hinaus den Feind
noch verfolgen will, war der wesentlichste Beweggrund des Kanni-
balismus der Rothäute und so sind denn unter ihnen darauf zie-
lende Ausdrücke wie ,, das Herz des Feindes verzehren'' oder ,, Feindes-
blut trinken'' sehr verl)reitet. Algonkiner und Irokesen sind ganz
entschieden in diesem Sinne Anthropophagen gewesen und die
Mohawks, die zu den Irokesen gehören, haben sogar ihren Namen
davon, dehn er lautet richtig Mauquawog = Menschenfresser.'^
Nach Dr. Samuel Mitchills Berichten waren die im Staate New-
York einst lebenden Indianer Anthropophagen. Die Ottawas
kochten Suppe aus dorn Fleische gefangener Irokesen. Unter den
' William Keatino, Expcd. to the source of St. Peters River. London
182.J. 1. 103. Keating war Mitglied der großen Ver. Staaten Expedition unter
Major Stephen Long.
^ Keating. I. 412.
^ Nach ScHOOLCRAKT sollen indessen die Sioux (Dakotas) früher wenigstens
(las Herz des Feindes gefressen haben. Tndian tribes. TU. 241. Und, wie die
:iiiieril<iuiischeii Zeitungen beriehteten, hat der berühmte Sioux-IIäuptliiig SiTTiN(i
r.iii.i, iioeli vor wenigen .Jahren das Herz der im Kampfe gefallenen aiiuTika-
nisclu-u Offiziere verzehrt, um so tapfer wie sie zu werden.
' KlCATlNO. I. lOH.
■■" DiiAKE, The buok of the Indiaiis. Boston isr)4. III. 37.
Miamis. Präliistorischcr Kannibalismus. 95
Miamis bestand ein Aiisscliuß von sieben Kriegern, whose husinesta
it. was to perfoTm the maneating required hy imhlic authority. Ihr
letztes Kannibalenfest, bei dem ein Weißer aus Kentucky verzehrt
wurde, fand gegen Ende des vorigen Jahrhunderts statt. Im Be-
ginne unseres Säculums lebten noch Mitglieder des Menschenfresscr-
koniitees der Miamis.^
Das mag genug sein, um festzustellen, daß die Indianer im
Osten der Felsengebirge in geschichtlicher Zeit und bis auf unsere
Tage herab nicht frei zu sprechen sind von Kanni])alismus, wenn
auch hervorgehoben werden muß, daß derselbe nur in geringem
Umfange sich zeigt. Es hindert uns al)er nichts anzunehmen, daß
die Anthropophagie einst weit häutiger war, worauf auch die Spuren
})rähistorischen Kannibalismus hindeuten.
Diese zuerst nachgewiesen zu haben ist das Verdienst des
Prof. Jefeies Wyman, welcher die uralten Muschelhügel am St.
Johns River im östlichen Florida untersuchte und dabei zahlreiche
Menschenknochen fand, die keineswegs, nach ihrer zerstreuten Lage
zu schließen, von Begräbnissen herrühren konnten. Fast alle waren
zerbrochen und oft fehlten wichtige Teile des Skelettes. Die Art
und Weise, wie das Zerbrechen stattgefunden hatte, entsprach jener
der Tierknochen, die in den Küchenabfallen (als welche die Muschel-
hügel zu gelten haben) vorkommen; die Knochen von Hirschen und
Alligatoren waren wie die Menschenknochen behandelt und überall
zeigte sich Methode, welche das Zerl)rechen der Knochen etwa
durch Tiere ausschloß. Wie in ähnlichen Fällen in Europa schliel.U
Wyman aus dieser Art der Knochenbehandlung auf Kannibalismus
der alten Bewohner von Florida, welche ihre Küchenabfälle in den
Muschelhügeln hinterließen. ^
Nordamerikas Westküste. Kannibalismus ist auch bei den
kalifornischen Indianern bekannt gewesen. Noch existieren unter
ihnen Sagen von Menschenfressern und die das Land erobernden
Spanier erzählten, daß die Wappo (oder Ash-o-chi-mi) in den heißen
Quellen des Calistoga- Thaies einst Menschenfleisch kochten, daher
der frühere spanische Name Carne Humana für diese Quellen.^
In Nordwestamerika ist die Vancouverinsel, das Küstengebiet
von Britisch-Columbia mit seinen Fjorden, sowie das benachbarte
Inselgewirr der Sitz einer ganz eigentümlichen Art von Anthropo-
' Aroliacolog-ia Americana. Worcester, Mass. 1820. I. 353.
- Human Romains in tlie Sliell Iloaps of the St. Johns River. In Se\enth
Annual Report of the Pcabody Museum. Cambridge, Mass. 1874. 20.
=* Contributiuns to North American EthnoloffV- ITT. li^ß. 344.
96 Vancouver. Die Hametze.
phagie, die hier mit sozialen Rangstufen und einer Art von Kultus
verknüpft ist. Dort wohnen die in ethnologischer Beziehung sehr
ausgezeichneten Quakult, Tschimsian und Bella Coola-Indianer, üher
die wir Kapitän Jacobsen eingehende Nachrichten verdanken. Der
letztere Stamm ist von ihm 1885, vertreten durch neun Individuen,
in verschiedenen deutschen Städten gezeigt worden und es hat sich
herausgestellt, daß die Art der von ihm hetriehenen Anthropophagie
identisch ist mit derjenigen, welche die Quakult auf Nordvancouver
üben, die Jacobsen ausführlich geschildert hat.^
Diese Indianer, die durch ihre künstlerischen Leistungen her-
vorragen, sind Menschenfresser bis auf unsere Tage gewesen, wo
die überhand nehmende Herrschaft der Engländer ihrem Kanni-
balismus ein Ziel setzt. , Sie haben unter sich eine Anzahl gesell-
schaftlicher Rangstufen, deren höchste die der ,, Hametze'' oder
Menschenfresser ist. Diejenigen, welche dieser Kaste angehören,
sind stolz darauf und genießen unter ihrem Stamme besondere Ehren.
Freilich ist bei ihnen jetzt die Zeit vorüber, in der sie Sklaven
oder Kriegsgefangene schlachten und verzehren konnten, ohne daß
Jemand sie daran hinderte; aber sie entschädigen sich auf weit
gräßlichere Weise, indem sie bei ihrem Feste menschliche Leichen
verzehren, die bereits ein oder mehrere Jahre alt sind.
Nicht das Bedürfnis nach Fleischnahrung treibt die Hametzen
zu dieser Art von Kannibalismus. Menschenfleisch zu essen gilt
bei ihnen als Vorrecht, das nur solchen ausgezeichneten Leuten
gestattet wird, die eine ganze Reihe von Kasteiungen und Vorbe-
reitungen durchgemacht haben. Ein aus gewöhnlichem Geschlechte
stammender Indianer wird nie zur Hametzenwürde zugelassen, dieses
ist nur den Söhnen von Häuptlingen oder sonst hervorragenden
Leuten gestattet. Die Vorbereitungen dauern vier Jahre und es
erhält der Eintretende als besonderes und ehrendes Abzeichen ein
aus Cedernbast gefertigtes Band, welches er über der linken Schulter
unter dem rechten Arme durchgehend trägt. Während der letzten
vier Monate der Lehrzeit verlassen die angehenden Hametze Haus
und Familie, um in stiller Waldeseinsamkeit und unter körper-
lichen Entbehrungen sich zur letzten großen Ceremonie vorzu-
bereiten. Nachdem diese Periode vorüber, ist der Augenblick ge-
kommen, daß der so vorbereitete „Hametze" werden soll. Er muß
zunächst Menschenblut genießen. ,,Der künftige Hametze springt
plötzlich aus dem Walde hervor, mitten in das Dorf hinein, stürzt
' Kapitän Jacühskxs Rc-iso an der Nonlkü.stf Amerikas. Leipzig 1884. 47 ff.
Vancouver. Die Hamctze. 97
sich auf einen der Anwesenden und beißt ihn in den Arm oder
das Bein, indem er zugleich etwas Blut aussaugt/' Der Gebissene
hat das Recht Zahlung für diesen Akt zu verlangen, die in Decken
(Blankets) bis zu 40 Stück geleistet wird.^
Die Hametze genießen besondere Vorrechte. Ihre Tanzmasken,
ihre Rasseln, ihre Kopf-, Hals- und Armringe sind besonders schön
liergestellt und verziert. Wenn ein Hametze an einem Tanzfest
teilnehmen soll, sind vier Häuptlinge nötig, welche ihn viermal
hintereinander einladen müssen, ehe er sein Erscheinen zusagt.
Beim Feste bilden sie den Gegenstand allgemeiner Hochachtung
und sie selbst fühlen sich als Wesen höherer Gattung und lassen
sich feiern.
Mit dem Trinken des Menschenbluts hat ein Hametze jedoch
noch nicht den höchsten Grad seiner Würde erreicht. Die Cere-
monie, bei welcher dieses geschieht, wird von den Hametzen allein
in tiefster Einsamkeit gefeiert. Ist das Kannibalenmahl vorüber,
so hat der Hametze das Recht an seiner Maske einen kleinen, aus
Holz geschnitzten Menschenschädel zu befestigen. Jakobsen sah
Indianer, die nicht weniger als acht solcher Schädel an der Maske
trugen. Wenn die Leiche, von der diese Leute einige Bissen zu
sich nehmen, genügend alt und mumifiziert ist, so soll der Genuß
unschädlich sein, dagegen ist es wiederholt vorgekommen, daß beim
Genuß vom Fleische verhältnismäßig frischer Kadaver einige Hametze
durch Blutvergiftung ihr Ende gefunden haben.
Noch im Jahre 1859 sah es der Verwalter der Hudsonsbai in
Fort Rupert, Hcndt, mit eigenen Augen an, daß dort (Nordvan-
couver) ein gefangener Sklave bei Gelegenheil eines großen Festes
an einen Pfahl gebunden und ihm der Leib aufgeschnitten wurde,
worauf die Hametze ihre Hände mit dem hervorströmenden Blut
füllten und letzteres tranken. Wahrscheinlich wurde der Sklave
nachher ganz verzehrt. Zur Strafe für diese Unthat ließ die eng-
lische Regierung das Dorf jener Indianer durch ein Kanonenboot
zerstören.
Bei den W^intertänzen der Indianer auf West -Vancouver sah
Jakobsen Szenen, wie die eben geschilderte, wenigstens panto-
mimisch dargestellt.^
' Bei den von Jacobsen 1885 umher geführten Bella Coola sah ich zahl-
reiche auf diese Art von Hametzen herbeigeführte Bißnarben auf Armen und
Brust mehrerer Individuen.
^ Jacobsen s Reise. 109.
R. Andree, Anthropophagie. 1
98 Ergebnisse.
Das Leicherifressen ist auch bei den Vancouver gegenüber am
Festlande wohnenden Tschimsian festgestellt, während bei den
nördlicher wohnenden Tlinkit (im ehemals russischen Nordamerika)
und bei der Haida (auf den Königin Charlotte-Inseln) nichts sicheres
über etwa vorhandene Anthropophagie verlautet.^
Ergebnisse.
Wenn auch nicht geleugnet werden kann, daß die Beweise für
ein Vorkommen der Anthropophagie in vorgeschichtlicher Zeit noch
wenig zahlreich und teilweise nicht recht beglaubigt sind, so liegt
dies vor allem in der ungenügenden Zahl der Untersuchungen, so-
wie in der Schwierigkeit derselben. Immerhin aber mag nach dem
angeführten Beweismaterial die Anthropophagie prähistorischer
Menschen angenommen werden dürfen und diese Annahme hat
nichts überraschendes, wenn wir gewahren, wie weit verbreitet heut-
zutage der Kannibalismus noch ist und wie derselbe sich einst über
weit ausgedehnte Landstriche erstreckte. Wenn es sich auch nicht
absolut beweisen läßt, so kann man doch annehmen, daß die Anthro-
pophagie eine der Kinderkrankheiten des Menschengeschlechts war:
daß dieselbe auch einst weit über unsern, heute davon freien Erd-
teil sich verbreitete, dafür sprechen die zahlreichen sie erwähnenden
Stellen der alten Schriftsteller, die, mögen sie auch hier und da
auf Übertreibung beruhen oder gar Fabeln sein, doch vereinigt mit
dem, was Mythen und Sagen, Märchen und Yolksüberlieferungen
aller Art uns lehren, in ihrer Gesamtheit den Beweis herstellen.
Allenthalljen zeigt ja die Volkslitteratur der europäischen Völker
Anklänge an anthropophage Gewohnheiten und nicht nur von dem
rein materiellen Genüsse des Menschenfleisches ist darin die Eede.
sondern auch jene abergläubigen Wahnvorstellungen, die bei den
Naturvölkern mit dem Kannibalismus verknüpft sind, desgleichen
die Anthropophagie aus Rachsucht haben darin ihren Platz ge-
funden als Niederschlag und Üljerlebsel des einst auch bei Europas
Urvölkern vorhandenen Kannibalismus.
^ Krause, Die Tlinkit-Indiauer. Jena 1885. 318.
Ergebnisse. J J
Alle jetzt noch vorliaiidene Anthropophagie — und sie ist nur
noch über einen verhältnismäßig geringen Bruchteil der Menschheit
verbreitet — erscheint aber nur als Überrest der einst allgemein
vorhandenen. Diejenigen Völker, bei denen wir sie noch finden,
haben sie seit Urzeiten, über die ersten Vorkommnisse bei ihnen
liegen keine Nachrichten vor und nirgends läßt sich erkennen, daß
erst neuerdings der Kannibalismus eingeführt worden sei.
Kein Erdteil ist vom Kannibalismus frei zu sprechen; wo er
heute nicht mehr herrscht, da bestand er früher, reiche und arme
Länder kannten ihn oder kennen ihn noch, er kommt in Amerika
vor von den eisigen Gegenden des Hudsonbaigebietes durch die
Tropen bis zur Südspitze des Kontinents. In allen Zonen ist die
Anthropophagie verbreitet, doch ist sie heute wesentlich im Grebiete
der Tropen zu Hause, wenn wir auch keinen genügenden Grund
hierfür anzugeben im stände sind. Sie ist bei seßhaften, ackerbau-
treibenden Völkern, wie in Afrika, im günstigen Schwange und
hndet sich nicht minder bei umherschweifenden Horden, wie in
Amerika und Australien.
Wie die Anthropophagie aus dem Hunger sich heraus zur Ge-
wohnheit entwickelt und durch die physikalischen Verhältnisse eines
Landes bedingt wird, kann an dem Beispiele von Australien gezeigt
werden. Li Australien liegt der Fall vor, daß unfi'uchtbare Land-
striche häufig genug die dürftige Nahrung versagen, von der sonst
die dünn gesäte Bevölkerung das kümmerliche Leben fristet. Mit
der eintretenden oft alle Lebenskeime versengenden Dürre ver-
schwanden die Tiere, die neben dürftigen Vegetabilien den Unter-
halt der Schwarzen ermöglichte. Geht die Horde, durch Nahrungs-
mangel gezwungen, nicht sofort zum Kannibalismus innerhalb des
eigenen Stammes über, so wandert sie aus und sucht andere Land-
striche auf, die weniger oder nicht von der Trockenheit gelitten
haben und Erhaltungsmittel darbieten. Von gleichen Gründen ge-
trieben, ziehen aber auch andere, feindlich gesinnte Stämme nach
denselben Gegenden, wo nun um das Jagdrecht ein Streit entsteht.
Der Kampf beginnt und die Hungernden verzehren das Fleisch der
gefallenen Feinde, das ihnen willkommene Nahrung bietet. Jetzt
ist auch der Augenblick gekommen, daß die Rachsucht als Be-
weggrund der Anthropophagie einsetzt. Der getötete Feind soll
gänzlich vernichtet werden und der Australier ißt mit Vorliebe
,, Zunge und Herz'' des erlegten Feindes i, die Organe, von denen
' W. Powell, Unter den Kannibalen von Neu-Britannien. Leipzig 1884. 220.
J^^" Ergebnisse.
die Feindschaft und die Schmälireden des Getöteten a-usgingeu.
Und weiter kommt der Aberglaube zur Geltung: er reibt sei-
nen Körper mit dem Nierenfett des Erschlagenen ein, in dem
Wahne, dadurch die Stärke jenes auf sich zu übertragen oder er
verzehrt das Fett aus demselben Grunde. So reihen Aberglauben
und Eachsucht sich den Motiven an, die zum Kannibalismus treiben.
Die Anthropophagie erscheint unter sehr verschiedenen Formen,
die indessen nicht notwendigerweise sich auseinander entwickelt
haben müssen, sondern die auch parallel nebeneinander laufen kön-
nen. Bedingt sind diese verschiedenen Formen aber durch die
Beweggründe, die zur Anthropophagie fülii-ten oder nach denen sie
ausgeübt wird und diese geben auch die Grundlage für eine Ein-
teilung ab.
Daß der Hunger zu allen Zeiten und bei allen Völkern m
unglücklichen Verhältnissen Menschen zum Kannibalismus getrieben
hat, ist natürlich und braucht nicht an Beispielen hier näher
erörtert zu werden. Nur in den äußersten Fällen griff man
aber zur Ernährung durch Menschenfleisch, wenn die anderweitige,
gewohnheitsmäßige Nahrung fehlte und der notgedrungene Kanni-
balismus hörte auf, wenn mit dem gänzlichen Nahrungsmangel die
Ursache zu demselben schwand. Bei manchen Völkern und in man-
chen Gegenden aber kehren Not und Hunger, bedingt durch phy-
sikalische Verhältnisse so oft, ja regelmäßig wieder, daß das, was
vielleicht anfangs aus Widerwillen geschah, zur Gewohnheit und
Sitte wurde.
Gewiß ist der Hunger eines der treibenden Motive gewesen,
das bei den Feuerländern nach Daewin, den Eothäuten des Hudson-
baigebietes nach Heaene, den Botokuden nach v. Tschudi zur
Anthropophagie führte. MenschenÜeisch ist an und für sich nicht
ungesund und die meisten Urteile stimmen darin überein, daß es
sogar wohlschmeckend sei. Die Fan sagen (nachWiNWooD Eeade),
es schmecke wie Affenfleisch, die Battas loben es (nach Bickmoee)
vor allen anderen Speisen und dasselbe behaupten die Melanesier
der Neu-Hebriden und der Fidschi-Inseln (nach Wilkes). Die Boto-
kuden (nach v. Tschudi), Avie die Bewohner der Neu-Hel)riden (nach
Tuenee) ziehen das Fleisch der Schwarzen dem der Weißen vor.
Aber es fehlt auch nicht an gegenteiligen Behauptungen, wie denn
die Manjuema Livingstone versicherten, Menschentieisch sei nicht
gut, man träume nach dem Genüsse und die Niam-Niam sagten
ScHWEiNFUETH allgemein, Menschentieisch wirke berauschend.
Aber der Hunger, der die physiologische Entschuldigung der
Ergebnisse. 101
Anthropophagie abgeben soll, ist in verhältnismäßig wenigen Fällen
als die Avirkliche Ursache derselben zu betrachten. Die meisten
Völker und Stämme, welche demselben huldigen, leben im Über-
fluß, es mangelt ihnen nicht an animalischer wie vegetabilischer
Nahrung. Das trifft bei fast allen Kannibalen der Südsee wie
Afrikas zu und auch die höhere oder tiefere Gesittung ist von
keinerlei Einfluß auf die abschreckende Erscheinung. Die Niam-
Niam in Centralafrika ragen weit hervor über viele benachbarte
Negerstämme, wde Dor, Schilluk, Dinka u. s. w. , und doch sind
letztere keineswegs Anthropophagen, während erstere Kannibalen in
der vollsten Bedeutung des Wortes sind. Auch die Fidschi- Insu-
laner haben verhältnismäßig entwickelte Zustände, überragen viele
Polynesier, bei denen die Anthropophagie bereits auch ohne Zu-
thun der Weißen verschwand. Endlich die Battas auf Sumatra,
bei denen jeder Reisende sich wundert, neben einer Schrift und
Litteratur den Kannibalismus in Gesetzesform gebracht zu sehen.
Daß selbst kultivierte Völker ihr huldigten, ist an den Azteken
gezeigt worden.
Als die wesentlichsten Beweggründe zur Anthropophagie stellen
sich aber stets der Aberglauben — sei er religiöser oder sonstiger
Art — und die Rachsucht dar und diese beiden finden wir überall
da verbreitet und zur That treibend, w^o der Kannibalismus vor-
handen ist. Sahen wir Kriegsgefangene als Beute, so werden die
schönsten, tapfersten und durch ihre Stellung hervorragenden
zunächst verzehrt. Beschränkt sich der Kannibalismus auf das
Essen von einzelnen Teilen, so sind es die Augen, das Herz, das
Gehirn, welche bevorzugt werden, denn sie sind der Sitz der Tugen-
den, der Tapferkeit und der Stärke des zu Verzehrenden, und diese
will der Überwinder sich so zu eigen machen. So erklärt sich
auch, daß häufig die Anthropophagie ein Vorrecht ist, ausgeübt
von Häuptlingen oder auserlesenen Kriegern, welche allein der Gunst
teilhaft werden sollen, ilu-e moralischen Eigenschaften solchergestalt
zu stärken und zu vermehren. Es geschieht dieses zuweilen in
einer sozusagen sublimierten Weise bei Völkern, denen vielleicht
der direkte Genuß des Menschenfleisches zuwider ist, welche aber
doch den vermeintlichen moralischen Gewinn aus demselben ziehen
wollen. So verzehren die südamerikanischen Tarianas und Tucanos
nicht direkt das Fleisch Verstorbener, um deren Eigenschaften und
Tugenden in sich aufzunehmen, sondern der Körper liegt erst einen
Monat in der Erde, w^ird dann ausgegraben und über Feuer zu
einer verkohlten Masse gedörrt. Diese wird gepulvert mit Caxiri
102 Ergebnisse.
vermisclit getrunken.^ Wenn, nach Bowdich, der Fetisclimann der
Aschanti das Herz eines gefangenen Feindes frißt, so tlmt er dies,
um nicht durch den Geist des Gestorbenen gequält zu werden, von
dem er annimmt, daß er seinen Sitz im Herzen hat. Die Yamas
am Amazonenstrom verzehren das Mark aus den Knochen ihrer
Toten, weil sie wähnen, daß dadurch die Seele des Verstorbenen in
ihren Körper übergehe (Maecoy). Die Dajaks geben nach MIillee-
Knaben die Stirnhaut und das Herz erlegter Feinde zu essen, um
sie tapfer und muthig zu machen. Eine Chippeway-Indianerin füt-
terte ihre Kinder aus dem gleichen Grunde mit dem Fleische eines
Engländers (Long); bei den Südaustraliern erlangt ein älterer Bru-
der die Körperkraft seines jüngeren Bruders, wenn er ihn frißt
(Stanbridge) ; in Queensland verzehrt die Mutter ihr neugeborenes
Kind in dem Wahne, die ihr durch die Leibesfrucht entzogene
Kraft wieder zu gewinnen (Axgas) und daselbst glaubt man sogar
durch Verzehren die Toten zu ehren. Die Maoris wähnten nach
Cook, daß die verzehrten Feinde in ein ewiges Feuer kämen.
Überall sehen wir daher, wie der Glaube an das Dasein einer
Seele, einer besonderen geistigen Kraft in dem zu Verzehrenden,
als die letzte Ursache der Anthropophagie zu betrachten ist. Der
Geist und die Tugenden des Verzehrten sollen durch den Genuß
des Menschenfleisches in den Besitz des Essenden übergehen, gerade
so, wie ihm durch andere Nahrung Zuwachs an physischer Kraft
entsteht.'^
Eng verschwistert mit dem Aberglauben ist der andere Be-
weggrund, die Rachsucht. Am klarsten und deutlichsten wird uns
derselbe bei den Mesayas am Amazonenstrom, die das Fleisch des
erschlagenen Feindes, nachdem sie es mit Widerwillen hinabgewürgt
haben, wieder durch Erbrechen von sich geben (Margot). Die
Strafe ist dann vollzogen, der Rachsucht Genüge geleistet, der Ge-
nuß des Menschenfleisches an und für sich erscheint den Mesayas
ekelhaft. Wilde Rachsucht war auch bei den Kariben die Ursache
^ Wallace, Amazon and Eio Xegro. London 1858. -498.
' Allgemeine Ethnographie. 315.
^ In Parallele dazu steht der bei Naturvölkern weit verbreitete Wahn, daß
gewisse Tiere oder Pflanzen durch Verspeisen besondere Eigenschaften verleihen.
Ich könnte Dutzende von Beispielen anführen, erwähne aber nur die Zaparos
am Napo in Südamerika, welche mit Vorliebe Fische, Affen und Vögel ver-
speisen, „um flink und gewandt zu werden". Sie verschmähen aber das Fleisch
schwerfälliger Tiere, wie Tapir und Peccari, „damit sie nicht plump wie diese
werden". Denn solche Eigenschaft ist störend für ein Urwaldjägervolk (Journal
Anthropol. Institut. VII. 503).
Ergebnisse. 103
ihrer Anthropophagie und die meisten von ihnen wurden nach dem
Genüsse krank (du Teetee). Neben dem Hunger wirkt bei den
Botokuden auch Rachsucht bestimmend, um den Feind zu fressen
(v. TscHUDi), und Pigafetta. Yespucci, Haxs Stadex berichten
dasselbe von den Tupivölkern an Südamerikas Ostküste. Hier ging,
wie wir durch Haxs Stadex wissen, die Leidenschaft so weit, daß
der Yertilger des erschlagenen Feindes dessen Namen annahm, um
so, neben der Vernichtung des Körpers, auch dessen geistiges Fort-
leben noch gänzlich zu verwischen. Teilweise ist Rachsucht auch
der Beweggrund bei den Negern des Nigerdeltas (nach Ceowthee);
alleiniges Motiv scheint dieselbe bei den Manjuema in Innerafrika
{nach Livingstoxe) zu sein. Rachsucht erniedrigt die Melanesier
der Salomonen und Neu-Hebriden zu Kannibalen. Sie ist vorzugs-
weise der Beweggrund für die Anthropophagie der amerikanischen
Rothäute.
Förmlich in ein System gebracht ist die Rachsucht bei einigen
Völkern, welche das Menschenfressen als integrierenden Teil ihrer
Gesetzgebung betrachten. Die höchste Strafe, welche man einem
Feinde, einem Verbrecher angedeihen lassen kann, besteht darin,
daß man ihn auffi'ißt. Als einziges Beispiel hierfür wurden nach
JuxGHUHNS Eröffnungen die Battas auf Sumatra angeführt, wir
haben indesen oben die Belegstellen beigebracht, daß auch noch
einige andere Völker die Anthropophagie unter demselben Gesichts-
punkte betrachten: die Kissama in Westafrika nach Hamilton und
die Neu-Caledonier nach Gaexiee.
Am scheußlichsten erscheint uns die Antln-opophagie aber ent-
schieden da, wo alles Gefühl so abgestumpft ist, daß sie zur reinen
Leckerei wird, oder wenn man das Fleisch des Menschen genau so
verzehrt, wie jedes beliebige andere Fleisch. Wenn — wie überein-
stimmend verschiedene glaubwürdige Beobachter berichten — die
Fan am Gabon und die Obotschi am Niger fremde Leichen aus-
graben und fressen, so tinden wir dafür keine Beschönigung. Das
Menschenfleisch wird dann AVare. wie bei uns im Fleischerladen;
HuTCHixsox sah es am Altkalabar in Körben auf dem Markte zum
Verkauf ausgestellt; A. Vespucci und Pigafetta schildern, wäe es
bei den Tupivölkern geräuchert aufbewahrt wird; Monbuttu, Abanga
und Niam-Niam, Neu-Caledonier und Fidschi -Insulaner ^ind auch
in diese Kategorie der Erzkannibalen einzureihen, mögen immerhin
auch noch andere Motive bei ihnen mit unterlaufen. Am empörend-
sten aber erscheint uns das Auffressen der eigenen Kinder, wie es
bei den Neu-Caledoniern nach Gaexiee. bei den Niam-Niam nach
1 0 4 Ergebnisse .
ScHWEiNFUETH, den Australiern nach Angas, Stanbeidge u. a. vor-
kommt und mit dem sonst anderwärts häufigen Kindermord nicht
verwechselt werden darf.
Noch ist hervorzuheben, daß bei einigen Völkern die Anthro-
pophagie sich als ein Vorrecht gewisser Klassen zeigt. Bei den
Potawatomis war sie nach Keating das Privilegium einer eigenen
Bruderschaft, die mit besonderen Heldentugenden ausgestattet er-
scheint; auf den Salomonen erhielt der Häuptling als den ihm zu-
kommenden Teil die in ein Bananenblatt gewickelte Scham, auf
Tahiti rechte man ein Auge des Opfers dem Könige, welcher so
that, als ob er es verschlinge, und gleiches wird von den hawaii-
schen Inseln berichtet. Letztere beide Fälle sind noch als Über-
reste des ehemals herrschenden Kannibalismus zu deuten, der in
Dahomeh, wo der König den Finger in das Blut der Schlachtopfer
taucht und ableckt, in Aschanti, wo noch Fetischmänner die Her-
zen fressen, auf den Samoa- und Tonga-Inseln überhaupt nur noch
rudimentär vorhanden ist und wo wir, in Ermangelung anderer
Nachrichten, hieraus, sowie aus verschiedenen anderen Anzeichen,
auf die ehemalige Ausdehnung des Kannibalismus schließen müssen.
Zeigen viele Völker schäm- und scheulos ihre Anthropophagie,
so fehlt es bei anderen keineswegs an Anzeichen, daß sie sich der-
selben schämen und damit, so will es uns scheinen, ist auch der
Anfang zu einem Aufgeben des entsetzlichen Brauches gemacht. Die
Kannibalenschmäuse werden oft geheim gehalten und Livingstone
konnte unter keiner Bedingung zu einem solchen Banket der Man-
juema Zutritt erhalten. Geifeon du Bellat giebt an, die Fan
hielten ihre Menschentieischmahlzeiten geheim und schlössen die
Kinder dabei aus: das letztere war auch auf den Markesas der
Fall, wo ebenfalls die Weiber sich nicht bei der Sache beteiligen
durften, was überhaupt mehrfach Brauch war. Die Maoris ließen
nur ausnahmsweise Frauen dabei zu.
Erfreulich ist es nun zu sehen, wie mehr und mehr dieAntkro-
pophagie an Boden verliert und wie selbst in der kurzen Spanne
geschichtlicher Zeit, die seit der großen Periode der Entdeckungen
verflossen ist, in einem sehr bedeutenden Baume der Kannibalismus
bereits verschwand. Nicht immer war es die Einwirkung weißer
Ansiedler oder der Eifer der Glaubensboten, welche die Ausrottung
des Ül)els bewirkten; auch von selbst, ohne fremde Dazwischenkunft
sind Völker zum Aufgeben ihrer kannibalischen Gewohnheiten ge-
langt. Bei vielen Polynesiern — wo heute noch durch Anklänge sich
das ehemalige Vorhandensein der Anthropophagie konstatieren läßt —
Ergebnisse. 105
war sie verschwunden oder im Erlöschen, als weiße Menschen zu-
erst ihre Insehi betraten, so auf Tahatii, Hawaii, den Schiff erinsehi,
iti Mikronesien. Sicherlich waren die Bewohner des malayischen
Archipels einst allgemein Anthropophagen ; heute suchen wir dort
nur mühsam die Anklänge an diese Unsitte, sowie die Überreste
derselben zusammen. Freilich verschwand an manchen Stellen auch
die Anthropophagie mit dem Volke selbst und da, wo vor nur hun-
dert Jahren im Gebiete der großen nordamerikanischen Seen noch
anthropophage Rothäute der Jagd oblagen und rachsüchtig den an
den Kriegspfahl gebundenen Feind zerstückelten und verzehrten, da
breitet sich nun, mächtig das Land überflutend, die angelsächsische
Easse aus. Auf Anahuacs Hochebene, wo der Weltseele blutige
Menschenopfer, verbunden mit kannibalischen Schmausereien, dar-
gebracht wurden, lebt freilich noch heute dasselbe Indianervolk,
das jedoch mit seiner Sprache auch die alten Sitten und die
Anthropophagie aufgab und einbezogen ist in den Kreis unserer
Civilisation.
An Verteidigern der Anthropophagie hat es nicht gefehlt. Zeno,
Diogenes, Chetsippus und Montaigne entschuldigten sie aus mora-
lischen Gründen ^ und auch unser Geoeg Foestee glaubt ein be-
schönigendes Wort für sie einlegen zu müssen: ,,So sehr es auch
unserer Erziehung zuwider sein mag," sagt er, ,,so ist es doch an
und für sich weder unnatürlich noch strafbar, Menschenfleisch zu
essen. Nur um deswillen ist es zu verbannen, weil die geselligen
Empfindungen der Menschenliebe und des Mitleids so leicht dabei
verloren gehen können. Da nun aber ohne diese keine menschliche
Gesellschaft bestehen kann, so hat der erste Schritt zur Kultur bei
allen Völkern dieser sein müssen, daß man dem Menschenfressen
entsagt und Abscheu dafür zu erregen versucht hat.''^
^ WiNwooD Eeade. Savage Afinca. 158.
- Sämtliche Schriften. Leipzig- 1843. I. 407.
Verlag yoii VEIT & COMP, in Leipzig.
du Bois-Reymond. Emil, Reden. Zwei Bände. (Erste und
zweite Folge.) gr. 8. 1886/87. geh. U Ji: eleg. geb. 21 Jt.
Jeder Band ist einzeln käuflich.
Erste Folge.
Litteratur, Philosophie, Zeitgeschichte.
gr. 8. 1886. geh. 8 Jt\ eleg. geb. 10 Ji.
Inhalt: Voltaire als Naturforscher. — Leibnizische Gedanken in der
neueren Naturwissenschaft. — Aus den Tagen des norddeutschen Bundej^. —
Der deutsche Krieg. — Das Kaiserreich und der Friede. — Ueber die Grenzen
des Naturerkennens. — Ueber eine kaiserliche Akademie der deutschen Sprache.
— La Mettrie. — Darwin versus Galiani. — Culturgeschichte und Naturwissen-
schaft. — Ueber das Nationalgefühl. — Friedrich II. und Rousseau. — Die
sieben Welträthsel. — Friedrich II. in englischen Urtheilen. — Die Humboldt-
denkmäler vor der Berliner Universität. — Diderot.
Zweite Folge.
Biographie, Wissenschaft, Ansprachen.
gl-. 8. 1887. geh. 9 Jt\ eleg. geb. 11 Jl.
Inhalt: Ueber die Lebenskraft. — Ueber thierische Bewegung. — Ge-
dächtnissrede auf Paul Erman. — Eduard Hallmann"s Leben. — Ueber lebend»
nach Berlin gebrachte Zitterwelse aus Westafrika. — Gedächtnissrede auf
Johannes Müller. — Ueber Universitätseinrichtungen. — Uelier Geschichte der
Wissenschaft. — Der physiologische Unterricht sonst und jetzt. — 'Aus den
Llanos'. — Ueber die Uebung. — Ueber die wissenschaftlichen Zustände der
Gegenwart. — Die Britisclie Naturforscherversammlung zu Southampton im
Jahre 1882. — Darwin und Kopernicus. — Die Berliner Französische Colonie in
der Akademie der Wissenschaften. — Akademische Ansprachen.
Hoernes, Dr. Rudolf, o. ö. Professor an der Universität Graz,
Elemeute der Palaeoutolosie (Palaeozoologie). Mit 672
Figuren in Holzschnitt, gr. 8. 1884. geh. 16 J(.
Kollmann. Dr. J.. o. W. Professor der Anatomie zu Basel. Plastisolie
Anatomie des menschliclien Körpers. Ein Handbuch für
Künstler uud Kunstfreunde. Mit zahlreichen Abbildungen im
Text. Roy.-8. 1886. geh. 14 J(.
Verlag you VEIT i- COMP, in Leipzig.
Fuchs, Dr. Max, Die geographische Verbreitung des Kaffeebaumes.
Eine pflanzeiigeographisclie Studie, gr. 8. 1886. geh. 1 c# 80 .f^
Hahn, Dr. F. G., Professor der Erdkunde an der Universität Königsborg,
Insel-Studien. Yersucli einer auf orographische und geologische Ver-
hältnisse gegründeten Eintheilung der Inseln. Mit einer Karte in
Farbendruck, gr. 8. 1883. geh. 7 c// 20 M
Hartmann, Dr. Robert, Professor an der Universität Berlin,
Der Gorilla. Mit 13 in den Text eingedruckten Holzschnitten und
21 Tafeln. 4. 1880. geh. 30 c/fi
Hirschberg, Dr. J., Professor der Augenheilkunde zu Berlin, Eine
Woche in Tunis. Tagebuchblätter, gr. 8. 1885. geh. 2 oft
Der Periplus des Erythräischen Meeres von einem Unbekannten. Grie-
chisch und deutsch mit kritischen und erklärenden Anmerkungen
nebst vollständigem Wörterverzeichniss von B. Fabricius. gr. 8.
1883. geh. (j oM
Im Periplus schildert ein ägyptischer Kaufmann seine im letzten Drittel des
ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung unternommenen Fahrten an der West-
seite des roten Meeres mit der sich anschließenden < »stküste Afrika's und an
der Ostküste des roten Meeres hin bis nach Indien, um Vorderindien herum, an
Ceylon vorüber bis an die Mündung des Ganges. Zum ersten Male werden diese
für die Kulturgeschichte so wichtigen Aufzeichnungen in deutscher Übersetzung
mit ausführlichem Kommentar veröffentlicht.
Ploss, Dr. H. H., Ueber die Lage und Stellung der Frau während
der Geburt bei verschiedenen Völkern. Eine anthropologische Studie.
Mit 6 Holzschnitten, gr. 8. 1872. geh. 'l o# 50 .^
Zur Geschichte, Verbreitung und Methode der Frucht-Abtrei-
bung. Culturgeschiehtlich-medicinische Skizze, gr. 8. 1883. geh.
- 1 dft 40 ^
Richthofen, Ferd. Freiherr von, Professor der p]rdlmnde an der
Universität Leipzig, Aufgaben und Methoden der heutigen Geographie.
Akademische Antrittsrede gehalten in der Aula der Universität Leipzig
am 27. April 1883. gi". 8. 1883. geh. 1 o// 80 .9/
Sachs, Carl, Aus den LIanos. Schilderung einer naturwissenschaft-
lichen Reise nach Venezuela. Mit Abbildungen im Text und einem
Titelbilde, gr. 8. 1879. geh. 0 o'H
Das Werk des in den Tiroler Alpen verunglückten hoffnungsvollen jungen
Gelehrten ist eine der besten Erscheinungen auf dem Gebiete der neueren Keise-
beschreibung. Es schildert in lebendiger und anziehender Weise die Erlebnisse
und Eindrücke des Verfassers a'uf einer im Auftrage der Berliner Akademie der
Wissenschaften auf Kosten der Humboldtstiftung in den Jahren 1876—1877 aus-
geführten Reise nach Venezuela.
5npau, |)rof. Dr. A., ^z\Qi\\^Q,zUx öon ^ißetcrmonn'g 9Jätt^ettunflcn,
(^ruttb^üflc bcr p^nfifrficn ©rbfunbe. W\i 130-5l66ilbungen im ^ejt
unb 20 Aorten in Jnrbenbrucf. gr. 8. 1884. ge^. 10 c//
Drnck Ton Metzger & Wittig in Leipzip.
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Universityoi Toronto
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LOWE-MARTIN CO. UMITED
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