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Full text of "Die Anthropophagie. Eine ethnographische Studie"

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DIE 


ANTHROPOPHAGIE. 


EINE  ETHNOGRAPHISCHE  STUDIE 


RICHARD  ANDRES. 


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LEIPZIG, 
VERLAG   VON   VEIT  &  COMP. 

1887. 


Von  demselben  Verfasser  erschien  früher: 

DTE  METALLE 

BEI   DEN  NATURVÖLKERN. 

MIT  BERÜCKSICHTIGUNG 
PRÄHISTORISCHER  VERHÄLTNISSE. 

Mit  57  Abbildungen  im  Text.     gr.  8.     1884.    geh.  5  c#. 


Demnächst  erscheint: 

GRUNDRISS 


DER 


ANTHROPOLOGIE. 

Von 

Dr.  E.  Schmidt, 

Privatdozenten  an  der  Universität  Leip/.i(jf. 

gr.  8.     Mit  zahlreichen  Abbildungen  im  Text. 

Leipzig.  Veit  &  Comp. 


DIE 


ANTHROPOPHAGIE. 


EINE  ETHNOGRAPHISCHE  STUDIE 


VON 


RICHARD  ANDREE. 


LEIPZIG, 

VERLAG   VON   VEIT   &   COMP. 

1887 


Das  Eecht  der  Herausgabe  von  Übersetzungen  vorbehalten. 


Druck  von  Metzger  &  Witt  ig  in  Leipzig. 


'\  0  r  w  0  r  t . 

Bei  der  Anthropophagie  ist  zu  unterscheiden  zwischen  der  zu- 
fälligen oder  notgedrungenen  und  der  gewohnheitsmäßigen.  Die 
erstere,  welche  infolge  von  Hungersnot,  bei  Belagerungen,  Schiff- 
brüchen u.  s.  w.  überall  und  zu  allen  Zeiten  Yorkommt,  ist  hier 
ausgeschlossen.  Sie  bietet  kein  ethnologisches  Interesse.  Zur  Dar- 
stellung soll  dagegen  die  gewohnheitsmäßige  Anthi-oi^ophagie  ge- 
langen, welche  einen  Teil  der  Sitten  eines  Volkes  ausmacht.  Mit 
dieser  allein  habe  ich  es  zu  thun;  die  Thatsachen  sollen  möglichst 
vollständig  vorgeführt,  die  verschiedenen  Stufen  und  die  Ursachen, 
die  gleichfalls  sehr  mannigfacher  Art  sind,  erläutert  werden.  Zu- 
nächst behandle  ich  die  Anthropophagie  in  vorgeschichtlicher  Zeit, 
woran  sich  eine  kurze  Übersicht  der  alten  geschichtlichen  Nach- 
richten über  den  Kannibalismus  anschließt,  kurz  deshalb,  weil  die- 
ses Thema  bereits  wiederholt  bearbeitet  worden  ist.  Es  schließt 
sich  daran  ein  Kapitel  über  die  anthropophagen  Überlebsel  Europas, 
über  dasjenige,  was  in  Sagen,  Märchen,  Volkssitten  und  Aber- 
glauben auf  ehemaligen  Kannibalismus  in  Europa  schließen  läßt. 
Dann  folgt  jener  Teil  meiner  Arbeit,  auf  welchen  ich  den  Nach- 
druck lege:  die  heutige  Verbreitung  und  Ausübung  der  Anthropo- 
phagie, wobei  die  Thatsachen  in  geographischer  Ordnung  vorgeführt 
werden.  Eine  Ableitung  der  Ergebnisse  aus  dieser  Stoffsammlung 
ergiebt  sich  dann  von  selbst  und  die  verschiedenartigen  Beweg- 
gründe,   sowie    die    allgemeinen  Betrachtungen    über    die    noch   bei 


rv  Vorwort. 

Millionen  heute  herrschende  Menschenfresserei,  das  allmähliche 
Schwinden  derselben,  gleichlaufend  mit  dem  Vordringen  der  euroi^äi- 
schen  Einflüsse  und  unserer  Civilisation,  können  klar  gelegt  werden. 
Bereits  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Leip- 
zig 1873  habe  ich  eine  Abhandlung  über  die  Verl)reitung  der  An- 
thropophagie veröftentlicht ,  welche  der  nachstehenden  Darstellung 
zu  Grunde  liegt.  Seit  jener  Zeit  hat  sich  der  Stoff  gehäuft,  es 
sind  nicht  nur  zahlreiche  Belege,  namentlich  Afrika  betreffend, 
hinzugekommen,  sondern  auch  die  Frage  nach  der  prähistorischen 
AnthrojDophagie  ist  jetzt  eingehender  erörtert  worden,  als  es  nach 
dem  damaligen  Stande  der  Wissenschaft  der  Fall  sein  konnte.  Da 
jene  kleine  Abhandlung  oft  verlangt  wurde  und  an  einem  weniger 
zugängigen  Orte  sich  befindet,  so  habe  ich  mich  entschlossen,  die- 
selbe in  ausführlicherer  und  mit  den  neuesten  Ergebnissen  der 
Wissenschaft  vermehrter  Form  hier  wieder  zu  veröffentlichen. 

Leipzig,  im  Juli  1886. 

Dr.  R.  Andree. 


Inhalt. 

Seite 

Die  prähistorische  Anthropophagie       ...  1 

Der  primitive  Mensch  als  Jäger  1.  —  Höhlen  der  Quaternärzeit  mit 
Menschenknochen  2.  —  Zweifel  an  der  prähistorischen  Anthropophagie  2.  — 
Die  Kannibalen  von  Chauvaux  3.  —  Analogien  mit  heutigen  Natur- 
völkern 3.  —  Prähistorische  Anthropophagie  in  Frankreich  4.  —  Grotta 
dei  Colombi  5.  —  Grotte  von  Peniche  5.  —  Die  Höhle  von  Holzen  5.  — 
Die  Höhle  von  Scharzfeld  6. 

Überlebsei  im  Volksglauben 6 

Mythen  und  Überlieferungen  der  klassischen  Völker  6.  —  Anthropopha- 
gie und  Folklore  7.  —  Der  wilde  Jäger  und  deutsche  Menschenfi-esser- 
märchen  7.  —  Striglen  der  Neugi-iechen  8.  —  Aberglauben  verknüpft  mit 
dem  Genüsse  von  Menschenfleisch  8.  —  Kannibalismus  in  der  russischen 
Volkslitteratur  9.  —  Finnische  Sagen  und  Märchen  9.  —  Märchen  der 
Turkvölker  Sibiriens  10.  —  Grabschändungen  und  anthropophager  Aber- 
glauben 11. 

Alte  geschichtliche  Nachrichten  über  Anthropophagie      ....  12 
Nachrichten  bei  Herodot  imd  Strabo   12.   —    Massageten,  Issedonen,  Der- 
biker  13.  —  Irland  13.  —  Griechische  Mysterien  14.  —  Komischer  Aber- 
glaube 14. 

Asien 15 

Malayischer  Archipel  15.  —  Marco  Polos  Bericht  über  Sumatra  15.  —  Die 
Batta  16.  —  Die  Dajaks  18.  —  Philippinen  19.  —  Die  Manobos  19.  -- 
Die  Asuan  19.  —  Samojeden  20. 

Afrika 21 

Guineaküste  und  Nigerdelta  21.  —  Sien-a  Leone  22.  —  Bonny  22.  — 
Bassam  22.  —  Aschanti  23.  —  Dahomeh  24.  —  Hutchinsons  Schilderun- 
gen aus  dem  Nigerdelta  25.  —  Bischof  Crowthers  Zeugnis  26.  —  Alt- 
calabar  27.  —  Die  Tangale  27.  —  Äquatoriales  Westafi-ika  27.  —  Die 
„Anziquen"  27.  —  Die  Fan  28.  —  Die  Kissama  30.  —  Die  Kim- 
bunda  31.  —  Die  Jagas  und  das  Sambamentofest  31.  —  Kannibalen- 
höhlen im  Basutolande  32.  —  Südafrika  35.  —  Centralafrika  36.  — 
Darfor  36.  —  Burum  36.  —  Die  Niam-Niam  36.  —  Die  Monbuttu  38.  — 
Die  Mambanga  39.  —  Manjuema  40.  —  Kongovölker  41.  —  Haiti  und 
der  Wodudienst  42. 


VI Inhalt. 

Seite 
Australien 43 

Westaustralien  43.  —  Südausti-alien  44.  —  Victoria  45.  —  Neu-Süd- 
Wales  46.  —  Queensland  46.  —  Nordaustralien  48.  —  Tasmania  48. 

Die  Südsee 48 

Die  Polynesier  eine  Kannibalenrasse  48.  —  Mythologisches  49.  —  Neu- 
Guinea  und  Nachbarschaft  49.  —  Loiüsiade-Archipel  51.  —  Bismarck- 
Archipel  52.  —  Salomonen  52.  —  Neu-Hebriden  54.  —  Neu-Caledo- 
nien  57.  —  Loyalty  -  Inseln  59.  —  Fidschi -Inseln  59.  —  Sandwich- 
Inseln  63.  —  Markesas  -  Inseln  64.  —  Paumotu  65.  —  G-esellschafts- 
Inseln  66.  —  Samoa-Inseln  67.  —    Tonga-Inseln  68.  —   Neu-Seeland  68. 

—  Mikronesien  71. 

Amerika       72 

Die  Cariben  Westindiens  72.  —  Mexiko  73.  —  Yukatan  76.  —  Central- 
amerika  76.  —  Peru  76.  —  Gebiet  des  Amazonas  77.  —  Südamerika  78.  — 
Die  Kaschibos  79.  —  Mesayas  und  Miranhas  80.  —  Die  Apiacas  82.  — 
Die  Tupi  83.  —  Die  Botokuden  87.  —   Die  Puiis  89.  —  Aurakaner  89. 

—  Die  Feuerländer  90.  —  Eskimos  91.  —  Tinne-Indianer  91.  —  Chippe- 
ways  92.  —  Potowatomis  93.  —  Sioux  und  Mohawks  94.  —  Prähisto- 
rischer Kannibalismus  in  Florida  95.  —  Die  Hametze  auf  Vancouver  96. 

Ergebnisse       98 


Die  prähistorische  Anthropophagie. 

Schon  die  weite  Verbreitung,  welche  die  Anthropophagie  bei 
niedrigstehenden  Naturvölkern  der  Gegenwart  besitzt  und  die  zahl- 
reichen Nachrichten  über  dieselbe  bei  frühgeschichtlichen  Völkern 
in  den  Werken  des  klassischen  Altertums  legen  die  Vermutung 
nahe,  daß  auch  in  vorgeschichtlicher  Zeit  Völker  existierten,  welche 
unter  die  Anthroi^ophagen  gerechnet  werden  müssen.  Es  scheinen 
aber  auch  direkte  Beweise  hierauf  hinzudeuten. 

Der  prähistorische  Mensch,  der  gleichzeitig  mit  den  großen, 
jetzt  meist  ausgestorbenen  Säugetieren,  dem  Höhlenbären,  dem 
Mammut,  Een,  Höhlenlöwen,  dem  haarigen  Ehinoceros  u.  s.  w., 
lebte,  war  Jäger  und  ernährte  sich  zum  großen  Teil  vom  Fleische 
der  Jagdtiere,  deren  Felle  Avohl  zu  Kleidungsstücken  verarbeitet 
wurden.  Die  Knochen  der  erlegten  Tiere  wurden,  wie  zahlreiche 
Höhlenfunde  beweisen,  mit  der  Steinaxt  oder  dem  Feuersteinmesser 
geöffnet;  an  der  Art  und  Weise  nun,  wie  namentlich  die  langen 
Röhrenknochen  zerbrochen  oder  geöffnet  sind,  will  man  erkennen 
können,  ob  dieses  von  Menschenhand  geschehen  sei.  Für  die  Zeit- 
bestimmung der  Funde  ist  dieses  von  der  größten  Wichtigkeit, 
denn  wenn  die  Knochen  im  frischen  Zustande  von  den  Menschen 
geöffnet  w^aren,  so  konnte  über  die  Gleichalterigkeit  des  Menschen 
und  der  betreffenden  Tiere  kein  Zweifel  aufkommen. 

Die  Jagdmittel,  welche  die  primitiven  Höhlenmenschen  besaßen, 
waren  sicher  nur  unvollkommener  Art,  schwer  wurde  es  ihnen,  die 
großen  Tiere  zu  überwältigen  und  wenn  einmal  die  Jagd  versagte 
und  Hungersnot  herrschte,  so  ist  es  nur  zu  leicht  erklärlich,  daß 
der  primitive  Mensch  prähistorischer  Zeit  zum  Anthropophagen 
wurde,  wie  heute  noch  der  Hunger  selbst  in  Kulturländern  zum 
Kannibalismus  zwingt.  Jenem,  dem  zahlreiche"  Empfindungen  und 
Begriffe  noch  fehlten,  die  uns  heute  geläufig  sind,  wie  z.  B.  Scham- 
haftigkeit  oder  Pietät,   konnte  es  kaum  einen  Unterschied  machen, 

E.  Andree,  Anthropophagie.  1 


Die  iDrähistorische  Anthropophagie. 


ob  er  Fleisch  von  einem  Jagdtiere  oder  Menschen  verzehrte,  wenn 
er  nur  seinen  Hunger  zu  stillen  vermochte.  Verzehrte  der  Mensch 
in  der  Quaternärzeit  seinesgleichen,  so  wird  er  sich  auch  an 
dem  Mark  der  Menschenknochen  erlabt  haben,  wie  er  sicher  die 
Markknochen  der  großen  Säugetiere  mit  Steinhammer  und  Flint- 
messer öfinete,  um  deren  Inhalt  zu  verzehren.  Findet  man  daher 
im  Inhalt  der  Höhlen  der  Quaternärzeit  Menschenknochen,  welche 
in  absichtlicher  Weise  geöffnet  erscheinen  und  die  Spuren  der 
menschlichen  Bearbeitung  zeigen,  so  kann  man  wohl  schließen, 
daß  sie  zu  dem  Zwecke  zerbrochen  wurden,  um  das  Mark  zu  Xah- 
rungszwecken  zu  erlangen.  Eine  große  Anzahl  Entdeckungen  sind 
nach  dieser  Richtung  hin  in  der  letzten  Zeit  gemacht  worden; 
man  hat  die  deutlichsten  Beweise  künstlicher  Öffnung  von  Mark- 
knochen, die  Schnitte  der  Feuersteingeräte  an  denselben  finden 
wollen  und  sich  immer  mehr  der  Ansicht  zugeneigt,  daß  man  es 
mit  Überresten  prähistorischer  Kannibalenmahlzeiten  in  solchen 
Fällen  zu  thun  hat. 

Allemal  kommt  es  hierbei  aber  auf  eine  sehr  genaue  Unter- 
suchung der  Menschenknochen  an,  auf  die  Art  und  Weise,  wie 
dieselben  geöffnet  wurden.  Das  Zerschlagen  und  Offnen  kann  zu 
verschiedenen  Zwecken  stattgefunden  haben;  es  ist  bekannt,  daß 
heute  noch  einzelne  Völker  das  Mark  von  Röhrenknochen  nur  ge- 
winnen, um  damit  Felle  zu  gerben.  Das  kann  auch  bei  einem  prä- 
historischen Volke  der  Fall  gewesen  sein  und  dann  ist  es  aus- 
geschlossen ,  hier  aus  dem  Knochenbefunde  auf  Anthropophagie  zu 
schließen.  Mit  absoluter  Sicherheit  wird  sich  niemals  sagen  lassen: 
die  und  die  aufgefundenen,  zerschlagenen  und  geöÖ'neten  Menschen- 
knochen sind  die  Überreste  einer  kannibalischen  Mahlzeit  oder  das 
prähistorische  Volk,  welches  in  dieser  oder  jener  Höhle  hauste,  be- 
stand aus  Kannibalen.  Es  hat  daher  auch  die  Vorstellung  von 
prähistorischen  Anthropophagen  wiederholt  Gegner  gefunden.  Mögen 
nun  aber  auch  die  Schlüsse,  welche  man  auf  prähistorischen  Kanni- 
balismus aus  den  zerschlagenen  Menschenknochen  zieht,  hinfällig 
sein  —  die  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  für  letztere  ist 
trotzdem  vorhanden;  sie  werden  gestützt  durch  die  Analogie,  welche 
zwischen  den  vorgeschichtlichen  Völkern  und  den  heute  der  Anthro- 
pophagie ergebenen  Naturvölkern  besteht,  eine  schlagende  Ana- 
logie, die   nicht  mehr  besonders  hervorgehoben  zu  werden  braucht. 

Der  erste,  welcher  auf  Kannibalismus  in  vorgeschichtlicher  Zeit 
schon  vor  vierzig  Jahren  hinwies,  war  Professor  A.  Speing  in 
Lüttich,  welcher  die   Höhlen  von  Chauvaux   bei  Namur   in  Belgien 


Die  prähistorische  Anthropophagie. 


durchforschte  und  hier  in  großer  Masse  Menschen-  und  Tierknochen 
mit  Asche  und  Kohlenstücken  vermengt  vorfand.  Alle  Röhren- 
knochen waren  zerschlagen.  ,,uni  zu  dem  Marke  zu  gelangen'-,  und  ein 
Unterschied  zwischen  Menschen-  und  Tierknochen  fand  hierbei  nicht 
statt.  Wohl  aber  durfte  Speing  sich  wundern,  daß  kein  einziger 
Knochen  einem  alten  Mann  oder  einer  alten  Frau  angehört  hatte, 
denn  sämtliche  UbeiTeste  stammten  von  Jünglingen,  jungen  Frauen 
oder  Kindern,  woraus  Speixg  auf  Feinschmeckerei  der  alten  kanni- 
balischen Höhlenbewohner  schließt,  die  nicht  von  der  Not  gedrängt, 
nur  das  zarte  Fleisch  jugendlicher  Genossen  verzehrten.  Speixgs 
Darlegungen  erregten  anfangs  heftigen  Widerspruch,  aber  dem 
massenhaften  von  ihm  vorgelegten  Material  gegenüber  neigte  sich 
die  Wagschale  mehr  zu  gunsten  seiner  Ansicht.^ 

Nachdem  durch  Speing  einmal  der  Kannibalismus  des  vor- 
historischen Menschen  angeregt  worden  war,  begannen  die  Forscher 
eifrig  nach  neuen  Belegen  zu  suchen  und  die  aufgefundenen 
Menschenknochen  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Anthropophagie  zu 
betrachten.  Besonders  reiche  Beweise  brachte  man  aus  Frankreich 
bei.  denen  gegenüber  die  Zweifel  zu  schwinden  begannen,  zumal  es 
ja  an  und  für  sich  nicht  die  geringste  Unwahrscheinlichkeit  dar- 
bietet, daß  unsere  Vorfahren  demselben  Gelüste  gehuldigt  haben, 
welches  unter  den  heutigen  Naturvölkern  noch  so  weit  verbreitet 
ist.  Wie  bei  den  Australiern  und  nach  ScHWEiNruETH  bei  den 
Niam-Niam,  nach  Bowdich  bei  den  Aschanti  noch  heute  Schädel- 
und  Knochenstücke  von  Menschen  als  Zierat  getragen  werden,  so 
schmückten  die  alten  Bewohner  des  Departements  Aveyron  in  Süd- 
frankreich sich  mit  durchbohi'ten  Menschenzähnen,  die,  an  Schnüren 
aufgereiht,  als  Ketten  getragen  wurden,  wie  Caetailhac  nach- 
gewiesen hat.-  Es  mag  uns  in  diesem  Falle  freistehen,  ein  pietät- 
volles Erinnerungszeichen  an  einen  Verstorbenen  nach  Art  der 
Australier  oder  an  eine  Siegestrophäe  nach  Art  der  Niam-Niam  zu 
denken,  die  von  einem  erschlagenen,  möglicherweise  verzehrten 
Feinde  herrührt.  F.  Gaeeigou,  der  es  sich  zur  besondern  Aufgabe 
setzte,  die  Anthropophagie  der  ,,Eenntierfranzosen-'  nachzuweisen, 
hat  dafür  eine  Anzahl  Beweise  s;esammelt.^    Er  führt  aus,  daß  die 


^  A.  Spring,    Rapport  sur  un  memoire  siir  Tethiiogi-aphie  de  Thomme  du 
renne  par  Ed.  Dupoxt.  Bull,  de  l'aead.  royale  du  Belgique.  T.  XXII.  Xo.  9  und  10. 

-  In  MoRTiLLETS   Materiaux    pour    Thistoire   positive    et   philosophique    de 
l'homme  III.  65. 

^  L'Anthropophagie  chez  les  peuples  des   ages  du  renne  etc.   Bull,   de  la 
soc.  d'Anthropol.    1867.   326. 

1* 


Die  prähistorische  Authi-opophagie. 


Meiisclienknochen,  welche  zuerst  mit  Tierknoclien  in  den  zur  Renn- 
tierzeit gerechneten  Höhlen  des  Thals  von  Tarascon  (Ariege).  von 
Sabart  (Sounchut)  von  Niaux  =  Grande  und  Niaux-Petite,  von  Be- 
deillac  etc.  im  südlichen  Frankreich  vorkommen,  für  ihn  als  restes 
de  repas  faits  par  Vliomme  gelten.  Er  hat  dann  seine  Beweise 
durch  Belege  aus  dem  Departement  Lot  vermehrt,  wo  namentlich 
in  der  Höhle  Cuzoul  de  Mousset  viele  zerschlagene  und  kalcinierte 
Menschenknochen  auf  Kannibalismus  deuten.^  In  den  Dolmen  des 
Departements  Lozere  hat  Peunieres  neben  einem  mit  Bronze- 
schmuck versehenen  Skelette,  Knochen  von  alten  und  jungen  Men- 
schen, nur  Bruchstücke,  im  ,, angenagten'-  Zustande,  nebst  einem 
aufgeschlagenen  Röhrenknochen  gefunden,  die  auf  Kannibalismus 
hinwiesen;  Zweifel,  welche  der  verdiente  Beoca  erhob,  scliienen 
durch  eingesandte  Belegsstücke  widerlegt.^  Felix  Regnault  be- 
hauptete mit  vielen  Beweisstücken  den  Kannibalismus  der  alten 
Bewohner  von  Montesquieu  im  Departement  Ariege.  Die  zerbroche- 
nen Menschenknochen  wurden  dort  zusammen  mit  Feuersteingeräten 
und  den  Knochen  vom  Höhlenbär,  Hirsch,  Ochs,  Pferd,  Hund  und 
der  Höhlenhyäne  gefunden ;  die  Menschenknochen  waren  casses  par 
des  Instruments  tranchants  und  zwar  nach  einer  ganz  bestimmten 
Weise,  die  Regnaflt  als  bec  de  -flute  bezeichnet.^  A.  Roujor  bringt 
'von  der  Station  Villeneuve  St.  Georges  (Steinzeit)  Beweise  für  die 
Anthropojjhagie  bei.^ 

In  der  vortrefflichen  Arbeit  von  Eduard  Piette  über  die 
Grotte  von  Gourdan,  Departement  Haute  Garonne^,  wird  die  Frage 
aufgeworfen,  ob  die  alten  Renntierjäger,  deren  Spuren  dort  massen- 
haft vorhanden  sind,  auch  Anthropophagen  waren?  Zahh'eiche 
menschliche  Schädelfragmente  mit  sehr  deutlichen  Spuren  von  Schnit- 
ten, als  ob  die  Schädelhaut  mit  Feuersteingeräten  abgezogen  worden 
wäre,  wurden  dort  aufgefunden.  Dann  zerlegte  man  den  Schädel, 
wie  die  Bruchstücke  beweisen,  und  suchte  wohl  zum  Gehirn  zu 
gelangen.  Bemerkenswert  ist,  daß  man  nur  Schädel  und  Atlas- 
knochen, keine  anderen  menschlichen  Teile  in  der  Grotte  fand. 
Piette  meint,  daß  die  Renntierjäger  von  Gourdan  eine  Art  von 
Kopfschneller  gewesen  seien,  welche  die  Häupter  ihrer  Feinde  als 
Siegestrophäen  in  die  Grotte  hineinbrachten,  diese  dort  skalpierten 


»  Bull.  d.  1.  soc.  de  Geologie  de  France.    T.  XXVI.  461. 

2  Bull.  d.  1.  soc.  d"Anthropol.    1868.    317.    404. 

^  Bull.  d.  1.  soc.  d'Aiithropol.    1869.    476.   485. 

''  Bull.  d.  1.  soc.  d'Aiithropol.    1866.    607.  611  und  1867.  239. 

5  Bull.  d.  1.  soc.  d'Anthropol.    1873.    407. 


Die  prähistorische  Anthropophagie. 


und  dann  das  Gehirn  verzehrten.  Für  diese  Ansicht  sprechen  ge- 
nau die  Kopfjäger  von  der  Insel  Lazon,  über  welche  freilich  damals 
PiETTE  noch  nicht  unterrichtet  sein  konnte  (siehe  unten). 

Bei  den  Ausgrabungen  in  der  Grrotta  dei  Colombi  auf  der  Insel 
Palmaria  (Golf  von  Spezia)  hat  Capellini  neben  rohen  Feuerstein- 
werkzeugen, Topfscherben  und  Knochennadeln,  Knochen  von  Ziegen, 
Schweinen,  Rindern  etc.  auch  Oberschenkelbeine  gefunden,  die  vom 
Feuer  versengt  sind  und  an  der  hinteren  Fläche  Einschnitte  tra- 
gen, ,,die  daher  rühren,  daß  man  mit  einem  Feuerstein  das  Fleisch 
abgeschnitten  hat--.  Nach  Capellini s  Meinung  gehören  sie  einem 
Affen  (Macacus  inuus)  an;  aber  die  Untersuchungen  von  Boyd 
Dawkins  und  Prof.  Busk  haben  ergeben,  daß  es  sich  hier  um  das 
Oberschenkelbein  eines  etwa  achtjährigen  Kindes  handelt.  Aus  der 
Roheit  der  aufgefundenen  Artefakte  geht  hervor,  daß  in  der  Höhle 
sehr  niedrig  stehende  "Wilde  lebten,  welche  auf  Grund  des  obigen 
Fundes  für  Kannibalen  angesehen  werden.  ^ 

Auf  der  iberischen  Halbinsel  sind  die  Menschenknochen,  welche 
sich  in  den  neolithischen  Ablagerungen  der  Grotte  von  Peuiche 
vorgefunden  haben,  von  Delgado  als  Beweise  für  den  Kannibalis- 
mus der  Vorzeit  angesprochen  worden.  Ein  zur  Prüfung  dieser 
Frage  auf  dem  Lissabonner  prähistorischen  internationalen  Con- 
gress  1880  niedergesetzter  Ausschuß  war  geteilter  Ansicht,  indem 
einzelne  Mitglieder  zustimmten,  andere  die  Möglichkeit  und  Wahr- 
scheinlichkeit prähistorischer  Anthropophagie  in  diesem  Falle  zu- 
gaben und  wieder  andere  dieselbe  leugneten.^ 

Was  schließlich  unser  Vaterland  betrifft,  so  ist  auch  dieses 
nicht  frei  befunden  von  prähistorischen  Kannibalen.  In  einer  der 
Bronzezeit  zugerechneten  Höhle  beim  Dorfe  Holzen,  unweit  Eschers- 
hausen,  hat  A.  Wollemaxx  an  den  Herdstellen  Anhäufungen  von 
Menschenknochen  gefunden,  deren  Röhrenknochen  sämtlich  zer- 
schlagen und  angebraunt  waren,  „so  daß  an  den  Feuern  ohne 
Zweifel  einst  Menschen  verbrannt  wurden'-.  Unverletzt  dagegen 
waren  die  kein  Mark  enthaltenden  Knochen;  Wollemann  deutet 
daher  die  Knochenreste  als  Überbleibsel  kannibalischer  Mahlzeiten-^, 
eine  Ansicht ,  der  sich  unter  näherer  Begründung  auch  Prof. 
Neheing  angeschlossen  hat.^ 


'  Boyd  Dawkixs,   Die  Höhlen.    Deutsch.    Leipzig  1876.    208.  iind  Archiv 
für  Anthropologie.    IV.   163. 

-  Archiv  für  Anthropologie.    XIII.    Supplement.    106—108. 

*  Verhandlungen  der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft.    1883.    517. 

*  Daselbst.    1884.    88. 


6  Überlebsel  im  Volksglauben. 


Mindestens  den  Verdacht  der  Anthroi^ophagie  erregen  die  alten 
Hölilenbewobuer  der  neolitliisclien  Zeit,  welche  in  der  Einhornhöhle 
bei  Scharzfeld  am  Harze  wohnten.  C.  STEUCKaiAisTf,  der  diese  Höhle 
untersuchte,  fand  darin  zahlreiche  menschliche  Gebeine  ohne  jede 
Ordnung  wild  durcheinander  zwischen  den  zerschlagenen  Tier- 
knochen und  Topfscherben,  also  inmitten  der  Küchenabfälle.  Ein 
Knochen  scheint  nachweisbar  von  Menschenhand  gespalten.  Sichere 
Beweise  aber,  daß  die  Mehrzahl  der  Knochen  absichtlich  wegen  der 
Markgewinnung  geöfihet  wurde,  fehlen.  ^ 


Überlebsei  im  Volksglauben. 

Wie  die  vergleichende  Mythologie  in  den  Volksmärchen  und 
Sagen  reichen  Stoff  zum  Wiederaufbau  der  alten  Götterwelt  ge- 
funden hat,  so  können,  und  mit  noch  größerem  Eeclite,  die  An- 
klänge, welche  Märchen  und  Sagen  verschiedener,  heute  auf  einer 
hohen  Kulturstufe  stehender  Völker  an  Menschenfresserei  zeigen,  als 
Überlebsel  aufgefaßt  werden  und  dazu  dienen,  das  ehemalige  Vor- 
handensein der  Anthropophagie  bei  solchen  Völkern  darzuthun.  Mit 
größerem  Rechte  sage  ich,  weil  die  Analogie  der  Naturvölker,  bei 
denen  heute  noch  die  Anthropophagie  in  ausgedehntem  Maße 
herrscht,  hier  bestätigend  zu  Hilfe  kommt,  eine  Analogie,  die  bei 
Götterrekonstruktionen  nicht  im  gleichen  Maße  zur  Seite  steht. 

Was  in  den  Mythen  und  Überlieferungen  der  klassischen  Völ- 
ker von  menschenfressenden  Göttern  und  Helden  berichtet  wird, 
gehört  auch  in  das  Gebiet,  welches  hier  berührt  wird;  die  An- 
schauung ist  dieselbe,  wie  in  unseren  heutigen  Märchen  und  Sagen 
von  Menschenfressern,  wenn  auch  eine  Niederschrift  schon  vor 
tausenden  von  Jahren  erfolgte.  An  das  Treiben  der  Hölilenkanni- 
balen,  wie  prähistorische  Funde  es  uns  kennen  lehren,  oder  wie 
es  unsere  Zeit  in  den  Höhlen  des  Basutolandes  gesehen  hat,  er- 
innert die  Schilderung  der  Odyssee,  wo  der  Kyklop  Polyphem  nach 
den  Gefährten  des  Dulders  von  Ithaka  griff. 


^  Archiv  für  Anthropoloyio.    XIV.    227—229. 


I 


Überlebsel  im  Volksglauben. 


Deren  er  zween  anpackt,  und  wie  junge  Hund'  auf  den  Boden 
Schmettert:  blutig  entspritzt  ihr  Gehirn  und  netzte  die  Erde. 
Dann  zerstückt'  er  sie  Glied  vor  Glied,  und  tischte  den  Schmaus  auf, 
Schluckte  drein,  wie  ein  Leu  des  Felsengebirgs,  und  verschmähte 
Weder  Eingeweide,  noch  Fleisch,  noch  die  niarkichten  Knochen. 

Tantalus,  der  am  Tische  der  Götter  speisen  durfte,  suchte 
deren  Allwissenheit  zu  prüfen,  indem  er  ihnen  das  Fleisch  seines 
w'egen  Blutschande  zerstückelten  Sohnes  Pelops  vorsetzt.  Nur 
Demeter  ißt  aus  Versehen  von  der  Schulter,  während  die  ührigen 
Götter  die  Speise  erkennen.  Atreus  tötet  die  beiden  Söhne  des 
Thyestes,  läßt  die  zerstückelten  Leichname  teils  kochen,  teils 
braten  und  setzt  dem  Vater  beim  Gastmahle  das  Fleisch  zu  essen, 
das  Blut  unter  den  Wein  gemischt  zum  Trinken  vor.   Und  so  öfter. 

Sehi-  reich  an  Beziehungen  zur  Anthropophagie  ist  das  Gebiet 
dessen,  was  wir  heute  unter  der  Bezeichnung  „Folklore''  zusam- 
menfassen. Jedoch  kann  dieses  Kapitel  nicht  eingehend  hier  be- 
handelt werden,  da  der  Schwerpunkt  meiner  Arbeit  auf  ethnogra- 
phischem Gebiete  liegt;  aber  zeigen  läßt  sich,  daß  in  der  Volks- 
litteratur  die  wesentlichen  Gesichtspunkte,  welche  bei  der  Anthropo- 
phagie in  Betracht  kommen,  von  dem  rohen,  sättigenden  Genuß  des 
Menschenfleisches,  also  der  rein  materiellen  Seite,  bis  zu  den  damit 
verkniq^ften  verfeinerten  abergläubigen  Wahnvorstellungen  vorhan- 
den sind. 

Der  wilde  Jäger  oder  Wod  jagt  und  erlegt  (in  den  pomnier- 
schen  Sagen)  ein  paar  Frauenzimmer  und  wirft  denen,  die  ihm  bei 
der  Jagd  behilflich  waren,  als  Speise  und  Belohnung  ein  Frauen- 
bein zu.  „Hast  mit  Jacht,  käst  uk  mit  frete.'"' ^  So  verlangt  der 
wendische  Bauer  von  Dissenchen  in  der  Lausitz  im  Übermut  vom 
Nachtjäger  die  Hälfte  des  Jagdertrags.  Da  bekommt  er  die  Hälfte 
eines  Menschen.  ^  Als  die  Hexen  in  Swinemünde  hungrig  waren, 
sagte  die  eine  zur  anderen:  Drüben  unsere  Nachbarin  liegt  in  den 
Wochen,  da  wollen  wir  ihr  Kind  holen  und  es  schlachten.^ 

Nach  dem  altertümlichen  serbischen  Volksglauben  fressen  die 
Hexen  das  Herz  aus  dem  Leibe  des  Menschen.  Li  einem  Liede^ 
ruft  ein  Hirtenknabe,  den  seine  Schwester  nicht  erwecken  kann: 
Hexen  haben  mich  ausgegessen,  Mutter  nahm  mir  das  Herz,  Base 
leuchtete  ihr.    Daß  der  nämliche  Wahn  unter  den  alten  Deutschen 


^  Jahn,  Volkssagen  aus  Pommern.    No.  19  und  21. 
^  Veckenstedt,  Wendische  Sagen.   Graz  1880.    43. 
^  Kuhn  und  Schwaetz,  Norddeutsche  Sagen.    No.  32. 
*  Vuk.    Nr.  363. 


überlebsei  im  Volksglauben. 


herrschte,  bezeugen  Stellen  der  Volksrechte:  si  stria  liominem  come- 
derit.  ^  unsere  heutigen  Märchen  stellen  die  Hexen  als  Waldfrauen 
dar,  die  sich  Kinder  zur  Speise  füttern  und  mästen^,  also  rein 
materiell  das  Fleisch  genießen. 

Die  Striglen  der  Neugriechen  hingen  mit  den  Strigen  des 
griechisch-römischen  Altertums  zusammen,  jenen  boshaften  Zauber- 
frauen des  populären  Aberglaubens,  von  denen  man  erzählt,  daß 
sie  des  Nachts  in  Vogelgestalt  zu  den  Wiegen  der  Kinder  flögen 
und  diesen  das  Blut  aussaugten.  In  einer  unter  Johannes'  von 
Damaskus  Namen  überlieferten  Abhandlung  werden  die  argr/yai 
nach  damaliger  volkstümlicher  Auflassung  geschildert  als  nachts 
durch  die  Luft  fahrende  Frauen,  welche  die  kleinen  Kinder  er- 
würgen oder  ihnen  die  Leber  ausfressen.  Der  altertümliche  Strigen- 
glaube  hat  sich  noch   an   einzelnen  Orten  Griechenlands  erhalten.^ 

Auch  jener  Zug,  welcher  bei  den  heutigen  Anthropophagen 
charakteristisch  ist  und  häufig  wiederkehrt,  die  völlige  Vernichtung 
des  gehaßten  Feindes  dadurch,  daß  man  ihn  verspeist,  ist  schon 
vorhanden  in  unseren  Volksmärchen.  Die  Stiefmutter  Schneewittchens 
verzehrt  Leber  und  Lunge  von  einem  Frischlinge  im  Wahne  es 
seien  Leber  und  Lunge  des  von  ihr  gehaßten  Schneewittchen. 

Es  zeigen  sich  desgleichen  in  der  Volkslitteratur  jene  aber- 
gläubischen Vorstellungen,  die  mit  dem  Genüsse  von  Menschenfleisch 
noch  heute  bei  den  antropophagen  Naturvölkern  verknüpft  sind,  nem- 
lich,  daß  der  Verspeisende  besondere  Kräfte  und  Eigenschaften  dadurch 
erhalte.     „Wer  ein  gekochtes  Menschenherz  ißt,  wird  unsichtbar."^ 

Nicht  anders  die  Chinesen  noch  heute,  bei  denen  dieser  Aber- 
glaube bis  zur  Ausführung  herrscht.  The  people  in  the  district 
Cheung-lok  seized  a  youth,  carried  him  to  the  top  of  a  hdl,  xchere 
they  killed  him  and  ate  his  heart  (1871).^  Ein  englischer  Kaufmann 
in  Schanghai  betraf  seinen  chinesischen  Diener  darüber,  wie  er  ein 
Menschenherz  nach  Hause  brachte,  um  es  dort  zu  kochen  und  zu 
verzehren.  Es  sei  das  Herz  eines  Taipingrebellen,  sagte  er,  und 
er  esse  es,  um  tapfer  zu  werden.^ 


1  In  der  lex  sal.  67.     Gkimm,  D.  M.    611. 

^  Geimm,  Kindermärchen.  51.  56.  113.  Auch  der  siebenbürgische  Menschen- 
fresser mästet  die  drei  Schwestern  mit  Stritzelu  und  Nüssen.  Häi.tkich,  Deutsche 
Volksmärchen  aus  Siebenbürgen.^   No.  38. 

^  B.  Schmidt,  Volksleben  der  Neugriechen.    136. 

■*  Grohmann,  Aberglauben  aus  Böhmen.     No.  1448. 

■'  "W.  Lobscheid,  Evidence  of  the  affinity  of  the  Polyncsians  and  American 
Indians.     Hongkong  1872.    62. 

®  Tylor,  Early  history  of  Maukind.     London  1865.    131. 


Überlebsel  im  Volksglauben.  9 

Auch  dämouisclie  Verwandlungen  werden  durch  den  Genuß  von 
Meuschenlleisch  bewn-kt.  So  wird  bei  den  Indern  der  Knabe  Vija- 
yadatta  dadurch,  daß  ihm  Menschenhirn  an  die  Lippen  spritzt,  zum 
mörderischen,  leichenzertieischenden  Rakschasa  ^  und  nach  dem 
Yolksghiuben  im  Braunschweigischen,  muß  jeder,  der  Menschenfleisch 
kostet,  auf  immer  Menschenfresser  werden.  Bei  Seesen  ging  ein 
Mädchen  durch  den  Wahl,  dem  begegnete  eine  Menschenfresserin, 
die  der  Kleinen  Wurst  anbot.  Da  kam  eine  weiße  Katze,  die 
warnte  das  Mädchen,  ja  die  Wurst  nicht  anzunehmen,  denn  sie  war 
aus  Menschenfleisch.  Die  Katze  hängte  hierauf  die  Würste  an  die 
Büsche,  da  kamen  Raben  und  Wölfe  und  fraßen  sie  auf.  Seit  jener 
Zeit  mögen  Raben  und  Wölfe  am  liebsten  Menschenfleisch.  - 

Daß  in  der  russischen  Volkslitteratur  Spuren  vorhanden  sind, 
die  auf  alte  Menschenopfer  und  Kannibalismus  hindeuten,  hat 
WojEWODSKT  nachzuweisen  unternommen.  Er  führt  ein  Volkslied 
s^,  in  welchem  ein  Rätsel  aufgegeben  ist:  Ein  menschlicher  Körper 
wird  in  seine  Teile  zerlegt  und  diese  werden  zu  allerlei  verbraucht, 
z.  B.  aus  dem  Blut  wird  Bier  gebraut,  aus  dem  Fette  macht  man 
Lichter  u.  dergl.  Mit  Rücksicht  auf  die  einzelnen  Teile  werden 
einzelne  Fragen  vorgelegt,  wie:  Was  ist  das?  Etwas  Liebes  brennt 
vor  mir  als  Licht.  Wojewodsky  leitet  die  Entstehung  jener  Ge- 
dichte aus  einer  Zeit  her,  in  welcher  noch  Kannibalismus  herrschte.^ 
Auch  das  russische  Märchen  von  der  schönen  Wasilissa  gehört 
hierher.  Sie  kommt  zu  einer  Hexe,  Baba-Jaga,  welche  im  dichten 
Walde  eine  Hütte  bewohnt.  Der  Zaun  um  die  Hütte  besteht  aus 
Menschenknochen,  auf  denselben  sind  Menschenschädel  befestigt,  an 
der  Thür  statt  der  Pfosten  Menschenbeine,  statt  der  Riegel  Hände; 
in  der  Nacht  leuchten  an  den  Schädeln  die  Augen  u.  s.  w.  Den 
knöchernen  Schädeln  Averden  auch  heute  noch  magische  Wirkungen 
in  Rußland  zugeschrieben."* 

Die  Märchen  und  Sagen  der  finnischen  Völker  im  Innern  des 
europäischen  Rußland  zeigen  ebenfalls  Anklänge  an  ehemalige 
Menschenfresserei.  Ein  wotjäkisches  Märchen  °  berichtet  von  dem 
schlauen  Knaben  Wanka,  den  eine  Hexe  durch  ihre  Tochter  braten 
lassen  will.      Die   Tochter  befiehlt    ihm    sich    auf   die   Schaufel    zu 


^  Brockhavs,  Somadeva.    142. 

-  CoLSHORX,  Märchen  und  Sagen.     Hannover  1854.   Xo.  8. 
^  Parallel  läuft  eine  tscliechische  Sage,  mitgetlieilt  von  Gr.  Krek,  Einleitung 
in  die  slawische  Litteraturgeschichte.    Graz  1874.    265. 

*  Nach  einem  Eeferat  von  L.  Stieda  im  Archiv  f.  Anthropologie.  XI.  348. 
=  M.  Buch,  Die  Wotjäken.     Helsingfors  1882.    116. 


10  Überlebsel  im  Volksglauben. 

setzen,  um  ihn  in  den  geheizten  Backofen  zu  schieben;  er  stellt 
sich  aber  ungeschickt  und  als  die  Tochter  es  ihm  vormacht,  schiebt 
er  diese  schnell  in  den  Ofen,  wo  sie  gebraten  wird.  Nun  kommt 
die  Alte  zu  Hause,  sieht  in  den  Ofen  und  spricht:  ,,Ach,  Wanka, 
wie  schön  du  gebraten  bist.''  Sie  zieht  den'Menschenbraten  hervor 
und  verzehrt  ihn.  Sie  verspeist  somit  ihr  eigenes  Kind  und  diesen 
Zug  finden  wir  auch  anderweitig  und  die  Backofengeschichte  spielt 
gleichfalls  in  deutschen  Märchen. 

In  den  Märchen  und  Sagen  der  Turkvölker  Südsibiriens  leben 
auch  die  Menschenfresser  fort,  wiewohl  wir  bei  den  heutigen  Vieh- 
züchtern jener  Gegenden  keinerlei  Spuren  von  Kannibalismus  nachzu- 
weisen vermögen.  In  dem  von  den  Altajern  erzählten  Märchen  von 
Tardanak  und  Täktäbäi  Märgän  Averden  deutliche  Menschenfresser- 
geschichten erzählt,  wie  in  unseren  Kindermärchen,  ^ 

Tardanak  wird  von  dem  siebenköpfigen  Jälbägän  in  einen  Sack 
gesteckt  um  als  Speise  zubereitet  zu  werden ;  mit  List  befreit  er 
sich  daraus,  schneidet  den  Kindern  Jälbägäns  die  Köpfe  ab  und 
kocht  deren  Leiber  in   einem  Kessel.     Da  kehrt  Jälbägän   zurück: 

Sah  das  Fleisch,  welches  im  Kessel  gekocht  war. 

Als  er  das  Fleisch  sah,  sprach  er: 

Meine  Kinder  haben  gut  gethan, 

Den  Tardanak  haben  sie  getötet 

Und  gekocht,  das  ist  gut. 

Das  im  Kessel  befindliche  Fleisch  nahm  und  aß  er. 

So  ist  also  auch  hier  der  Menschenfresser  geprellt  und  verzehrt 
die  eigenen  Kinder  im  Wahne,  einen  Fremden  zu  essen. 

Die  Anschauungen,  wie  sie  in  den  Märchen  und  im  Yolksaljer- 
glauben  hier  uns  entgegentreten,  namentlich  der  Wahn,  dass  im 
menschlichen  Fleische  und  Blute  Heilkraft  vorhanden  sei,  sie  be- 
stehen noch  jetzt  beim  gemeinen  Volke  und  äußern  sich  praktisch. 

Als  die  Hinrichtungen  in  Deutschland  noch  öffentlich  waren, 
ist  es  häufig  vorgekommen,  daß  Zuschauer  ihre  Taschentücher  in 
das  Blut  hingerichteter  Verl)recher  eintauchten,  um  sie  dann  zu 
Heilzwecken  zu  benutzen,  gerade  so  wie  der  arme  Heinrich  des 
Hartmann  v,  d.  Aue  durch  das  Herzblut  einer  reinen  Jungfrau 
vom  Aussatz  geheilt  werden  sollte.  Bei  Daher  in  Pommern  wurde 
eine  Kindsmörderin  hingerichtet;  als  ihr  Blut  umherspritzte,  drängten 
sich  alle  Leute,  die  etwas   zu  verkaufen  hatten,  besonders  Bäcker 


^  Radloff,  Yolkslittcratur  der  türkischen  Stamme  Süd-Sibiriens.    St.  Pcters- 
ImriT  18(56.    I.  28.  32. 


Überlebsel  im  Volksglauben.  11 

und  Brauer,  heran,  um  in  einem  Lappen  einige  Tropfen  davon  auf- 
zufangen. Der  Lappen  mit  solchem  Blut  wurde  von  den  Bäckern 
in  den  Brotteig,  von  den  Brauern  in  das  Bier  getaucht,  damit  sie 
Kundenzulauf  erhielten,  ^) 

Mit  solchem  Aherglauben  hängen  auch  sich  wiederholende 
Grabschändungen  zusammen,  wobei  den  Leichen  Blut  oder  Stück- 
chen Fleisch  entnommen  werden,  um  sie  Erkrankten  einzugeben, 
wie  derlei  Fälle  1871  und  1877  festgestellt  sind  zu  Eostasin  bei 
Lauenburg  (Pommern)  und  Heidemühl  (Kreis  Schlochau).  Gottfi-ied 
Dallian  aus  Neukirch  bei  Elbing  ermordete  und  beraubte  am  31. 
Dezember  1865  die  ledige  Elisabeth  Zernickel  und  verzehrte,  wie 
die  Gerichtsverhandlung  ergab ,  einen  Teil  ihres  ausgebratenen 
Bauchfleisches  „um  Ruhe  in  seinem  Gewissen  zu  finden".  Die  Her- 
zen ungeborener  Kinder  gelten  vielfach  als  Schutzmittel  für  Räuber 
und  Diebe.  Sie  werden  roh,  sowie  sie  dem  Leibe  der  Mutter  ent- 
rissen waren,  gegessen. ^  Berliner  Zeitungen  vom  13.  November 
1879  meldeten: 

,,In  einem  Gebüsch  im  Friedrichshain,  gegenüber  der  Elbinger 
Straße,  fand  man  gestern  früh  um  8  Uhr  einen  Sarg,  dessen  Deckel 
abgehoben  war  und  in  welchem  die  nur  spärlich  bekleidete  Leiche 
eines  etwa  ein  Jahr  alten  Mädchens  lag.  Die  sofort  benachrichtigte 
Polizei  des  51.  Reviers  konstatierte  eine  grausige  Yerstümmelung 
der  Leiche:  Brust  und  Leib  waren  aufgeschnitten  und  Herz,  Leber 
und  Lunge  gewaltsam  aus  dem  Körper  gerissen.  Die  sofort  ange- 
stellten Ermittelungen  ergaben,  daß  das  Kind  die  erst  am  Mittwoch 
der  vorigen  Woche  am  Keuchhusten  verstorbene,  Sonntag  begrabene 
Emma  Schönberg,  das  Töchterchen  des  in  der  Fischerstraße  29 
wohnenden  Schuhmachermeisters  Schönberg.  ist.  Die  Bestattung 
hatte  auf  dem  katholischen  Kirchhof  in  Weißensee  stattgehabt. 
Der  Chef  der  Kriminalpolizei ,  Graf  Pückler  und  der  Staatsanwalt 
haben  alle  zur  Entdeckung  der  Thäter  führenden  Maßregeln  selbst 
angeordnet.'-  Offenbar  liegt  hier  ein  ähnlicher  Fall  vor,  wie  die 
bereits  oben  gemeldeten.  Man  sieht  also,  wie  die  düstern  Anschau- 
ungen, die  mit  ehemaliger  Anthopophagie  zusammenhängen,  bis  auf 
unsre  Tage  in  der  Hauptstadt  des  deutschen  Reichs  in  niederen 
Volksschichten  fortbestehen,  Anschauungen,  denen  wir  bei  ganzen 
Völkern  im  folgenden  noch  sehr  häufig  begegnen  werden.  Ich 
nehme,  der  Parallele  wegen,  hier  einen  Fall  vorweg. 


^  Jahx,  Volkssagen  aus  Pommern.    No.  440. 

^  Maxxhardt,  Die  praktischen  Folgen  des  Aberglaubens.  Berlin  1878.  IT  ff. 


12  Alte  geschichtliche  Nachrichten  über  Anthropophagie. 

Die  mohammedanischen  Xubier,  mit  denen  S,  W,  Bakee  seineu 
Eroberimgszug  1872  nilaufwärts  nach  Unjoro  unternahm,  waren 
ijicht  frei  von  dem  schrecklichen  Aberglauben,  dass  das  Verzehren 
von  Menschenfleisch  besondere  Eigenschaften  verleihe.  „Diese  aber- 
gläubischen Leute  hatten  die  Vorstellung,  dass  jede  abgeschossene 
Kugel  einen  Mann  aus  Unjoro  töten  würde,  wenn  sie  nur  ein  Stück- 
chen von  der  Leber  ihrer  Feinde  verzehren  könnten.  Sie  hatten 
daher  die  Leber  eines  Erschossenen  herausgeschnitten,  unter  sich 
verteilt  und  positiv  roh  verzehrt.  Den  Körper  hatten  sie  mit  ihren 
Schwertbajonetten  in  Stücken  zerlegt,  welche  sie,  zur  Warnung  für 
die  Leute  von  Unjoro,  auf  die  Büsche  gehängt  hatten.-*^ 


Alte  geschichtliche  Nachrichten  über  Anthropophagie. 

Den  Übergang  aus  der  vorgeschichtlichen  Zeit  zum  Kannibalis- 
mus der  Gegenwart  vermitteln  uns  eine  große  Anzahl  historischer 
Belegstellen  in  den  Schriften  der  Alten,  die  sämtlich,  mit  größerer 
oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit,  einzelne  Völker  oder  Völker- 
stämme der  alten  Welt  des  Kannibalismus  bezichtigen,  in  ihrer  Ge- 
samtheit aber  jedenfalls  den  Beweis  herstellen,  daß  die  Anthropo- 
phagie im  Altertum  eine  Thatsache  war.  Hier,  wo  der  Schwerpunkt 
auf  die  Anthropophagie  bei  den  Völkern  der  Gegenwart  gelangt  ist, 
kann  dieses  Kapitel  nur  kurz  behandelt  werden,  um  so  mehr,  als 
dasselbe  schon  wiederholt  bearbeitet  worden  ist.  ^ 

Herodot  wie  Steabo  sind  eine  wahre  Fundgrube  von  Nach- 
richten über  alte  Anthropophagen;  bemerkbarer  Weise  beschuldigen 
sie  jedoch  meistens  solche  Völker,  die  an  der  Peripherie  ihres  geo- 
graphischen W^issens  wohnten,  Stämme  im  heutigen  Rußland  und 
in  Mittelasien.      Wenn    unter    den   Massageten,    so    heißt    es    beim 


^  S.  W.  Baker,  Ismailia.    London  1874.    II.  Sbi. 

^  Petrus  Petitüs,  De  natura  et  moribus  anthropophagorum.  Utrecht  1688. 
Eine  im  Archiv  für  Anthropologie  IV.  245—286  befindliche  Abhandlung  darf 
nur  mit  der  allergrößten  Vorsicht  benutzt  werden.  Eine  sehr  gute  und  klare 
Übersicht  giebt  Dr.  Leonard  Kortu  „Geschichtliches  und  Geogi-aphisches  über 
den  Kannibalismus".  Ausland  1883.  1001.  Aus  dieser  Übersicht  habe  ich  im 
nachstehenden  einiges  entlehnt. 


Alte  geschichtliche  Nachrichten  über  Anthropophagie.  1 3 

Hekodot^,  Jemand  ein  sehr  hohes  Alter  erreicht,  so  kommen  seine 
nächsten  Blutsverwandten  zusammen  und  opfern  ihn  und  mit  ihm 
mehrere  Schafe.  Nach  vollbrachtem  Opfer  kocht  man  sowohl  den 
geopferten  Anverwandten,  als  die  geschlachteten  Schafe  und  verzehrt 
beide  gemeinschaftlich.  Die  Massageten  halten  diese  Behandlung 
ihrer  Anverwandten  für  ein  großes  Glück.  Solche  Personen  jedoch, 
die  an  Krankheiten  sterben,  verzehren  sie  nicht,  sondern  begraben 
sie;  dies  wird  aber  als  ein  Unglück  beklagt,  da  dem  Gestorbenen 
nicht  die  Ehre  des  Begräbnisses  im  Leibe  seiner  Verwandten  zu 
teil  geworden.  Gleichfalls  nach  Heeodot^  war  es  unter  den  Nach- 
barn der  Massageten,  den  Issedonen,  Sitte,  daß  die  Söhne  nach 
dem  Tode  der  Väter  Opfertiere  schlachteten,  dann  die  gestorbenen 
Väter  wie  die  geschlachteten  Tiere  zerstückelten,  beides  kochten  und 
verzehrten.  Besonders  aber  hoben  sie  die  Schädel  der  Verstorbenen 
als  große  Heiligtümer  auf,  fassten  sie  in  Gold  und  brauchten  sie 
bei  ihren  jähidichen  Opfern.  Heeodot  nennt  selbst  in  Indien  mehrere 
Völker^,  unter  welchen  entweder  die  Kinder  ihre  verstorbenen 
Eltern  verzehrten,  oder  wo  man  jeden  kranken  Verwandten  bald  um- 
brachte, damit  das  Fleisch  sich  nicht  verschlechtere,  weil  es  zum 
Verzehren  bestimmt  war.  Aeistoteles  hebt  die  Anthropophagie 
einiger  Völker  am  Pontus  hervor;  es  sei  dieses,  sagt  er,  tierische 
Wildheit  {d-7^Qi6vi-^g),  krankhaftes  Gelüste  wie  bei  den  Schwangeren. 
Steabo  berichtet  ganz  ähnliches  von  den  Derbikern  in  Margiana. 
Sie  erwürgen  Greise,  sobald  sie  das  siebzigste  Jahr  zurückgelegt 
haben  und  die  Verwandten  verzehren  deren  Fleisch.  Alte  Frauen 
von  gleichem  Alter  werden  zwar  erwürgt,  aber  nicht  gegessen,  son- 
dern begraben.^ 

Von  Irland  (Uqvi])  erzählt  Steabo^,  daß  seine  rohen  Bewohner 
„sowohl  Menschen-  als  Vielfresser  und  und  es  für  rühmlich  halten, 
ihre  verstorbenen  Eltern  zu  verzehren  und  sich  öffentlich  zu  be- 
gatten ,  sowohl  mit  andern  Frauen ,  als  mit  ihren  Müttern  und 
Schwestern.  Doch  auch  dieses  erzählen  wir  nur  so,  ohne  glaub- 
würdige Zeugen  zu  haben;  obgleich  wenigstens  die  Menschenfresserei 
auch  eine  Skythische  Sitte  sein  soll  und  in  Belagerungsnöten  auch 
die  Kelten,  Iberer  und  mehrere  andere  dasselbe  gethan  haben." 
Desgleichen  bemerkt  Diodoeus  Siculus,  daß  unter  den  wilden  Be- 
wohner des  Nordens   und  an  den  Grenzen  Skvthiens   es  Menschen- 


1  Herodot  I.  216.  -  Herodot  IV.  26. 

ä  Herodot  III.  38.  97.  99.  ■*  Strabo  p.  520  ed.  Casaub. 

^  p.  201  ed.  Casaubon. 


14  Alte  geschichtliche  Nachrichten  über  Anthropophagie. 

fresser  gäbe,  wie  unter  den  Briten,  welche  die  Iris  genannte  Insel 
(das  heutige  Irland)  bewohnen.^  Bei  den  blutigen  Bacchanalen, 
die  Omophagien  genannt  wurden  und  die  man  alle  drei  Jahre  be- 
ging, geschah  es  nach  dem  Zeugnis  des  Porphyeiüs  -  daß  man, 
namentlich  auf  Chios  und  Tenedos,  einen  Menschen  gliedweise  zer- 
stückelte und  dessen  Fleisch  roh  verschlang.  Aber  nicht  allein  auf 
Griechenland  beschränkten  sich  solche  Mysterienbräuche.  Nach 
Sallust  ^  tranken  Catilina  und  seine  Genossen  zur  Bekräftigung 
ihres  Bundes  nicht  bloß  Menschenblut  unter  Wein  gemischt,  sondern 
es  wurde  auch  nach  den  bestimmten  Versicherungen  der  Alten  ein 
Knabe  geopfert,  auf  seine  Eingeweide  geschworen  und  davon  gegessen. 
JüVENAL  redet  von  den  Knabengedärmen,  welche  der  Haruspex  durch- 
wühlt. Kleine  Kinder  zu  religiösen  Zwecken  geopfert  zu  haben  macht 
HoRAz  in  seiner  fünften  Epode  der  vormals  geliebten  Canidia  zum  Vor- 
wurf. Unter  den  christlichen  Vätern  erwähnt  Tertulliax  die  Schauer- 
lichkeit, wie  man  bis  auf  seine  Zeit  im  Bunde  des  Jupiter  Menschen- 
blut getrunken.  ^  Juvenal,  welcher  unter  Domitian  nach  Ägypten 
verbannt  wurde,  warf  auch  den  Ägyptern  vor,  dass  sie  den  Genuß 
von  Menschenfleisch  gestatteten.  ^  Noch  in  die  ersten-  christlichen 
Jahrhunderte  hinein  hören  Avir  die  Beschuldigung  des  Kannibalismus 
vorgetragen.  Der  heilige  Hieeontjius,  welcher  gegen  Ende  des 
vierten  und  im  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  schrieb,  schildert 
als  Augenzeuge,  daß  die  Atticoten  sich  von  Menschenfleisch  nährten 
und  den  Busen  der  Weiber  und  den  Hintern  als  besondere  Lecker- 
bissen genossen. ^ 


^  Editio  DiNDORF  et  Müller.    Paris  1855.  p.  273. 

2  abst.  II.  55.  3  Qj^til.  22. 

■*  Adv.  gnost.  c.  7.  Et  Latio  in  hodiernuin  diein  Jovi  media  in  urbe 
humanus  sanguis  ingvistatur. 

°  Sat.  XV.  Noch  im  13.  Jahrhundert  werden  die  Ägypter,  und  zwar  das 
ganze  Volk,  der  Menschenfresserei  angeklagt.  Damals  bereiste  ein  Arzt  aus  Bag- 
dad, Abd-Allätif,  ihr  Land:  „Als  die  Armen  Menschenfleisch  zu  essen  begannen, 
waren  Abscheu  und  Erstaunen  darüber  so  außerordentlich,  daß  die  fürchter- 
lichen Berichte  nicht  aufhörton,  das  Tagesgespräch  zu  bilden.  Endlich  gewöhnte 
sich  aber  das  Volk  daran  und  erlangte  solchen  Geschmack  an  der  schrecklichen 
Nahrung,  daß  selbst  reiche  und  geachtete  Leute  sie  als  gewöhnliche  Speise  zu 
sich  nahmen  und  selbst  Vorräte  von  Menschenfleisch  einlegten."  Winwood 
Keade,  Savage  Africa.  London  1863.  157.  Bei  dem  alten  Kulturs-olke  der 
Ägypter  läßt  sich  dagegen  keine  8pur  von  Anthropophagie  dai'thun. 

^  Sanctus  HiERoxYMus,  adversus  Jovinianum.  Hb.  II.  t.  IV.  2»  pars.  p.  202 
der  Folioausgabe.  Paris  1706.  Quum  ipse  adolescentulus  in  Gallia  vidcrim 
Atticotos,  gentem  britannicam,  humanis  vesci  carnibus ;  et  quum  per  sylvas  por- 
corum  greges  et  armentorum  pecudumque  repcriant,  pastorum  nates  et  femina- 


Sumatra.  1 5 

Das  Angeführte  genügt  immerhin,  um  das  Vorhandensein  der 
Anthropophagie  im  Gesichtskreise  der  Alten  nachzuweisen  und  den 
Zusammenhang  festzustellen,  welcher  zwischen  den  Kannibalen  der 
vorgeschichtlichen  Zeit  und  jenen  der  Gegenwart  besteht.  Eine  nur 
zu  reiche  Ausbeute  auf  diesem  Felde  werden  wir  aber  halten,  wenn 
wir  uns  den  Völkern  der  Gegenwart  zuwenden  und  unsern  Eund- 
gang  mit  Asien  beginnen. 


Asien. 


Malayischer  Archipel.  Die  Zeugnisse  für  die  Anthropo- 
phagie im  indischen  Archipel  beginnen  mit  dem  13.  Jahrhundert, 
mit  Maeco  Polo,  welcher  die  verschiedenen  Inseln  desselben  er- 
wähnt und  die  sechs  ..Königreiche*'  von  Giava  minore  (Sumatra) 
schildert,  die  er  besuchte.  Dagroian,  sagt  er,  ist  eins  der  König- 
reiche, welches  eine  besondere  Sprache  hat.  Man  erzählte  mir  von 
einem  abscheulichen  Gebrauche,  daß,  wenn  einer  krank  ist,  sie  zum 
Zauberer  senden,  ob  er  wohl  genesen  könne;  sagen  diese  Teufel 
nein,  so  schicken  die  Verwandten  zu  einem  besonders  dafür  Ange- 
stellten, welcher  den  Kranken  erwürgen  muß.  Hierauf  schneiden 
sie  ihn  in  Stücken,  und  die  Verwandten  verzehren  ihn  mit  vielem 
Vergnügen,  selbst  bis  auf  das  Mark  der  Knochen:  denn  —  sagen 
sie  —  wenn  irgend  etwas  von  ihm  übrig  bleibt,  werden  daraus 
Würmer  entstehen,  welchen  Nahrung  mangelt  und  die  so,  zur  großen 
Qual  der  Seele  des  Verstorbenen,  sterben  würden.  Die  Knochen 
werden  dann  in  irgend  eine  Felsenhöhle  getragen,  damit  die  wilden 
Tiere  sie  nicht  berühren  können.  Wenn  sie  einen  Fremden  ge- 
fangen nehmen,  so  verzehren  sie  ihn  auch.^  Ob  nun  hier  speziell 
die  heutigen  menschenfressenden  Batta  gemeint  sind,  läßt  sich  nicht 
mehr  nachweisen. 

Die  Anthropophagie  hat  sicher  in  früherer  Zeit  weit  ausge- 
dehnter als  jetzt  auf  Sumatra  geherrscht,  und  erst  als  der  Islam 
sich  an  den  Küsten  verbreitete  und  eine  Anzahl  kleiner  mohamme- 


rum  et  papillas  solere  abscindere ,  et  has  solas  ciborum  delicias  arbitrari.  Daß 
diese  Stelle  sich  auf  Anthropophagie  beziehe,  ist  bestritten  worden  (Archiv  für 
Anthropol.  IV.  252). 

^  I  viaggi  di  Marco  Polo.    Ausgabe  von  Lodovico  Pasixi.  Venezia  1857.  157. 


16 Die  Batta. 

danischer  Staaten  entstand,  wurden  die  Anthropophagen  nach  dem 
Innern  zurückgedrängt,  wo  wir  nun  in  den  Batta  den  letzten  Rest 
derselben  finden.  Es  ist  der  Yenetianer  Nicolo  di  Conti,  der  uns 
wohl  die  früheste  bestimmte  Nachricht  bringt,  daß  die  Batta  ent- 
schiedene Anthropophagen  seien.  Er  hatte  25  Jaln-e  lang  Asien 
bereist  und  erhielt  1444  vom  Papste  Eugeniüs  IV.  Absolution  dafür, 
daß  er  während  dieser  Zeit  seinen  Christenglauben  verleugnet  hatte. 
Auf  Sumatra  verbrachte  Conti  ein  Jahr,  er  berichtet,  was  damals 
von  großer  Wichtigkeit,  daß  dort  vortrefflicher  Pfeffer  wachse,  und 
daß  in  einem  Teile  des  Landes,  ,,Batech"  genannt,  das  Volk 
Menschenfleisch  esse.-^ 

Die  Batta,  ein  vergleichsweise  hochstehendes  malayisches  Volk, 
mit  eigentümlicher  Schrift  und  Litteratur,  bewohnen  im  Innern  Su- 
matras die  Hochebenen  von  Tobah,  Sipirok,  Sikunna  und  erstrecken 
sich  nordwärts  bis  über  Singkel,  wo  das  Pupa-  und  Duragebirge  die 
Grenze  zwischen  ihnen  und  den  Atschinesen  bildet.  Im  Süden  reichen 
sie  bis  in  die  Gegend  von  Ajer  Bangis.  Bei  ihnen  ist  die  Anthropo- 
phagie, wie  aus  den  mannigfachsten  Zeugnissen  hervorgeht,  so  eigen- 
tümlicher Art  und  entspringt  aus  so  merkwürdigen  Motiven,  daß 
wir  hier  etwas  ausführlicher  uns  damit  beschäftigen  müssen.  Oft 
angezweifelt,  hat  William  Maesden  in  seinem  immer  noch  brauch- 
baren Werke  über  Sumatra  die  Thatsache,  daß  die  Batta  immer 
Anthropophagen  sind,  festbegründet.-  Die  Batta,  sagt  er,  essen 
nicht  Menschenfleisch,  um  den  Hunger  zu  stillen,  oder  aus  Mangel 
an  anderen  Nahrungsmitteln,  ebenso  wenig  wird  es,  wie  unter  den 
Neuseeländern,  als  ein  Leckerbissen  gesucht.  Sie  essen  es  bloß  als 
eine  Art  von  Ceremonie,  um  ihren  Abscheu  gegen  das  Laster  durch 
eine  schmähliche  Strafe  an  den  Tag  zu  legen  und  als  einen  schreck- 
lichen Beweis  des  Hasses  und  der  Verspottung  ihrer  unglücklichen 
Feinde.  Die  Gegenstände  dieser  unmenschlichen  Mahlzeiten  sind 
im  Kriege  gemachte  Gefangene  und  Missethäter,  die  großer  Ver- 
brechen überwiesen  sind. Nachdem  das  Urteil  vollzogen,  wird 

der  Unglückliche   an  einen  Pfahl  gebunden;   das  versammelte  Volk 
wirft    seine  Lanzen   nach  ihm  in   einer  gewissen  Entfernung,    und     , 
sobald  er  tödlich  verwundet  ist,  laufen  sie  wüthend  hin,  schneiden     \ 


1  Purchas  His  Pilgrims.  Tlie  Third  Part.  London  1625.  128.  —  AVas 
Odoardo  Barbosa  (1516),  Beaulif.u  (1622),  de  Bakros  (1558)  u.  a.  über  die 
Anthropophagie  der  Batta  sagen,  mag  nachgelesen  werden  in  J.  R.  Forstei: 
nnd  M.  C.  Sprengel:  Beiträge  zur  A^ölker-  und  Länderkunde.  Leipzig  1783. 
III,  298. 

^  Beschreibung  der  Insel  Sumatra.     Leipzig  1785,    387. 


Die  Batta.  17 

Stücken  aus  seinem  Leibe  mit  ihren  Messern,  tauchen  sie  in  die 
Schüssel  mit  Salz  und  Citronensaft.  rösten  sie  ein  wenig  über  einem 
Feuer,  das  zu  dem  Zweck  bereitet  wird,  und  verzehren  die  Bissen 
mit  einem  wilden  Enthusiasmus.  Zuweilen  verzehren  sie  den  ganzen 
Körper,  und  man  hat  Beispiele,  daß  sie  mit  noch  erhöhter  Barbarei 
das  Fleisch  mit  den  Zähnen  abgerissen  haben.  Folgen  bei  Marsdex 
einzelne  Belege. 

Der  Botaniker  Chaeles  Miller,  der  gleichzeitig  mit  Maesdex 
über  Sumatra  schrieb^,  bestätigt  gleichtalls,  daß  die  Batta  ..Men- 
schenfleisch eher  zur  Erschreckung  der  Feinde,  denn  als  gewöhn- 
liche Nahrung  essen;  demungeachtet  ziehen  sie  es  allem  übrigen 
vor  und  sprechen  mit  besonderer  Entzückung  von  den  Fußsohlen 
und  flachen  Händen  als  herrlichen  Leckerbissen'-. 

Sehen  wir  hier  nun  Rachsucht  als  Ursache  des  Kannibalismus, 
so  erstaunen  wir  nicht  wenig,  wenn  wir  durch  Fraxz  Juxghuhx 
erfahren,  daß  die  Menschenfresserei  bei  den  Batta  in  einigen  Fällen 
sogar  gesetzlich  als  Strafe  vorgeschrieben  ist  und  zwar  dann,  wenn 
ein  niedrig  stehender  Mann  mit  der  Frau  eines  Radscha  Ehebruch 
getrieben  hat,  wenn  Jemand  sich  des  Landesverrats,  der  Spionage 
oder  Desertion  zum  Feinde  schuldig  gemacht  und  wenn  ein  Feind 
mit  den  Wafi"en  in  der  Hand  gefangen  genommen  wird.  Im  letztern 
Falle  ist  ein  Auffressen  bei  lebendigem  Leibe  vorgeschrieben,  in 
den  beiden  erstem  Fällen  ein  Verzehren,  nachdem  der  Betreffende 
getödtet  worden  ist.-  Daß  der  Kannibalismus  der  Batta  in  der  That 
integrierender  Teil  des  Adat  (der  Gesetzgebung)  ist,  bestätigt  neuer- 
dings Dr.  S.  Frledmaxx^,  und  der  amerikanische  Reisende  Albert 
S.  Bickjvioee*  führt  eine  Reihe  von  Beispielen  an,  daß  noch  vor  kur- 
zem, aller  holländischen  Oberaufsicht  zum  Trotz,  jene  fürchterlichen 
Gesetze  streng  ausgeführt  werden.  Eine  Folge  dieser  fortgesetzten 
Übung  des  Kannibalismus  ist  gewesen,  daß  ein  Geschmack  am 
Menschenfleisch  bei  einzelnen  Batta  sich  eingestellt  hat,  wie  denn 
der  Radscha  von  Sijnrok  dem  niederländischen  Gouverneur  von  Pa- 
dang  versicherte,  daß  er  zwischen  dreißig-  und  vierzigmal  Menschen- 
fleisch gegessen,  und  daß  er  in  seinem  ganzen  Leben  nie  etwas 
genossen  habe,  das  ihm  halb  so  gut  schmeckte.^ 


^  Account  of  Sumatra.  Philosophical  Transactions  vol.  LXVIII.  I.  1778.  161. 
-  Feaxz  Juxghuhx.  die  Battaländer  auf  Sumati'a.  Berlin  1847.  II.  155  if. 
^  Die  ostasiatische  Inselwelt.     Leij^zig  1868.   II.  45  f. 

•*  Reisen  im  ostindisehen  Archipel.    Aus  dem  Englischen.    Jena  1869.   323. 
337.  3.S8.  339. 

*  BiCKMORE  a.  a.  O.  323. 
E.  Andree,  Anthropophagie.  2 


18  Malayischer  Archipel. 


Auf  den  übrigen  Inseln  des  malavischen  Archipels  dürfen  wir 
die  Anthropophagie  größtenteils  als  eingegangen  betrachten.  Zwar 
herrschen  dort  barbarische  Gebräuche,  Avie  das  Kopfschnellen,  noch 
immer  im  ausgedehnten  Maßstabe,  aber  Kannibalismus  nicht  mehr. 
Der  Malaye  zeichnet  sich  durch  Blutdurst  aus,  ja  er  ist  nach 
Müller^  der  Kannibale  -/xti  V%oyr^v\  um  so  erfreulicher,  daß  die 
Menschenfresserei  l)is  auf  geringe  Spuren  im  Archipel  verschwunden 
ist.  Zu  PiGAFETTAS  Zeiten  scheint  sie  noch  weiter  verbreitet  ge- 
wesen zu  sein,  denn  er  führt  mehrere  zu  den  Molukken  gehörige 
Inseln  —  die  sich  heute  nicht  mehr  identifizieren  lassen  — ,  ferner 
das  Innere,  damals  noch  von  Heiden  bewohnte  Amboinas,  endlich 
ßuru  an,  wo  Kannibalen  hausen.^  Mit  dem  Vordringen  des  Moha- 
medanismus   ist   die  Anthropophagie  auch  hier  ausgerottet  worden. 

Einst  mag  auch  bei  den  Dajaks  auf  Borneo  die  Anthropo- 
phagie weit  verbreitet  gewesen  sein;  heute  lassen  sich  nur  verhillt- 
nismäßig  geringe  Spuren  derselben  nachweisen.  Am  schlimmsten 
scheint  es  hiermit  noch  bei  den  Kajans  im  Innern  zu  stehen,  Avie 
aus  dem  Zeugnisse  Spensee  St.  Johns  hervorgeht.  Das  Fleisch 
eines  im  Kriege  gefallenen  Feindes  nahmen  sie  in  Körben  mit  sich, 
um  es  Abends  im  Lager  zu  rösten  und  zu  verspeisen.  Als  1855 
mehrere  Muka- Leute  in  Bintulu  hingerichtet  wurden,  versicherten 
einige  Kajans  sich  des  Fleisches,  das  sie  brieten  und  verspeisten. 
Perhaps  to  strike  terror  into  tlieir  enemies,  sagt  unsere  Quelle.^ 

Von  den  Tring-Dajaks  am  Mahakkanflusse  in  Südostborneo 
giebt  Bock  auf  das  entschiedenste  an,  daß  sie  Kannibalen  seien. 
Augenzeuge  ist  er  indessen  nicht  gewesen.  Eine  Tringpriesterin 
erklärte  ihm,  daß  die  innere  Fläche  der  Hände,  das  Fleisch  an 
den  Knieen  und  das  Gehirn  die  größten  Leckerbissen  seien;  der 
Häuptling  des  Stammes  berichtete,  daß  sein  Volk  nicht  jeden  Tag 
Menschentleisch  äße,  dieses  wäre  nur  ein  Festmahl  l)ei  Schädel- 
Jagden.^  Im  Verein  mit  der  letzteren  Thatsache  läßt  sich  hier 
Rachsucht  als  Motiv  des  Kannibalismus  der  Dajaks  annehmen. 

Von  Celebes  sagt  Bickmore,  daß  im  Innern  ein  Kopfjägervolk 
wohne,  welches  die  Küstenstämme  Turaju  nennen  und  das  Menschen 
fressen  soll.  Barbosa,  dessen  Werk  1516  erschien,  und  der  mit 
Magalhaes   später   ermordet  wurde,   behauptet  ähnliches  von  allen 


^  Allgemeine  Ethnographie.    Wien  1873.    295. 

2  PioAFETTA,  Erste  Keise  um  die  Welt.     In  M.  C.  Sprengel  „Beitrüge  zur 
Völker-  und  Länderkunde".   Vierter  Teil.    Leipzig  1784.    138.  139.  141. 
^  Si'EXSER  St.  John,  Forests  of  the  far  east.    I.   123.  124. 
*  C.  Bock,  Unter  den  Kannibalen  auf  Borneo.    Jena  1882.    152.  153. 


Philippinen.  1 9 

Einwohnern  der  Insel  zu  seiner  Zeit.  Er  sagt,  wenn  sie  nach  den 
Molukken  kämen,  um  Handel  zu  treiben,  pflegten  sie  den  König 
jener  Inseln  zu  bitten,  er  möge  die  Güte  haben,  ihnen  die  Leute 
zu  überlassen,  die  er  zum  Tode  verurteilt  hätte,  damit  sie  an  den 
Leichen  solcher  Unglücklichen  ihren  Gaumen  befriedigen  könnten, 
,,als  ob  sie  um  ein  Schwein  bäten''. ^ 

Philippinen.  Schon  als  die  Spanier  unter  Magalhaes  nach 
den  Philippinen  kamen,  finden  wir  bei  deren  Bewohnern  wenigstens 
eine  beschränkte  Anthropophagie  erwähnt.  Antonio  Pigafetta, 
der  überlebende  Reisegefährte  des  großen  Seemanns  und  der  Schil- 
derer seiner  Fahrten,  berichtet  nämlich^:  ,,An  einem  Vorgebirge 
dieser  Insel  Buthuan  und  Callaghan  (Busuagan  und  Calamianes?) 
erzählte  man  uns  als  eine  zuverlässige  Sache,  daß  an  dem  Ufer 
eines  gewissen  Flusses  einige  haarigte  große  Männer  wohnten,  die 
sehr  tapfer  mit  Bogen  und  hölzernen  Degen  einer  Hand  breit 
stritten;  und  wenn  sie  einige  ihrer  Feinde  getötet  hatten,  sogleich 
das  Herz  roh  mit  Pomeranzen-  und  Citronensaft  fräßen.  Diese 
haarigten  Menschen  heißen  Benaian". 

Den  Namen  Benaian  finden  wir  wieder  in  Cap  Benuian,  der 
Nordspitze  der  Insel  Mindanao,  und  es  ist  erlaubt,  hierbei  an  den 
Stamm  der  Manobos  zu  denken,  ein  heidnisches  malayisches  Volk 
an  der  Ostküste  von  Mindanao.  Sempera  erzählt  nämlich  von  ihren 
nächtlichen  Überfällen  und  fügt  hinzu:  ,,Ist  der  Feind  glücklich 
niedergeworfen  und  getötet,  so  zieht  der  anführende  Bangani 
(Priester)  ein  heiliges,  nur  diesem  Dienste  geweihtes  Schwert,  öffnet 
der  Leiche  die  Brust  und  taucht  die  Talismane  des  Gottes,  die  ihm 
um  den  Hals  hängen,  in  das  rauchende  Blut  ein.  Dann  reißt  er 
das  Herz  oder  die  Leber  heraus  und  verzehrt  ein  Stück  davon,  als 
Zeichen,  daß  er  nun  seine  Rache  an  dem  Feinde  befriedigt  habe. 
Dem  gemeinen  Volk  wird  es  nie  gestattet,  Menschenfleisch  zu 
kosten;  es  ist  das  Vorrecht,  aber  auch  die  Pflicht  des  fürstlichen 
Priesters.'* 

Desgleichen  giebt  Jagoe^  uns  Nachrichten,  weiche  wenigstens 
das  sporadische  Vorkommen  der  Anthropophagie  auf  den  Philippinen 
annehmbar  erscheinen  lassen.  Er  erzählt,  daß  fast  in  jedem  größern 
Dorfe  auf  Samar  und  Leyte  unter  den  Bisaya-Indiern  ein  oder 
mehrere  Asuän-Familien  wohnen,  ,,die  allgemein  gefürchtet  und  ge- 


^  Abert  S.  Bickmore  a.  a.  0.    70. 

^    PiGAFETTA    a.  a.  0.   110. 

'  Dr.  C.  Semper,  Die  Philippinen  und  ihre  Bewohner.  Würzburg  1869.  62. 
*  F.  Jagor,  Reisen  in  den  Philippinen.    Berlin  1873.   236. 

2* 


20  Philippinen.     Asiatisches  Festland. 

mieden,  wie  Ausgestoßene  behandelt  werden  und  sich  nur  unter 
einander  verheiraten  können.  Sie  stehen  im  Rufe  Menschenfresser 
zu  sein.  Vielleicht  stammen  sie  von  solchen  ab?  —  Der  Glaube 
ist  sehr  allgemein  und  festgewurzelt.  Darüber  zur  Rede  gestellt, 
antworten  alte  einsichtsvolle  Indier,  sie  glaubten  allerdings  nicht, 
daß  die  Asuänen  jetzt  noch  Menschen  fräßen,  aber  ohne  Zweifel 
hätten  ihre  Vorfahren  es  gethan'*. 

Im  Zusammenhang  mit  der  bekannten  Kopfjägerei,  und  Rach- 
sucht als  Beweggrund  zeigend,  steht  eine  kannibalische  Gewohnheit 
des  Stammes  der  Gaddanen  auf  Luzon.  Nach  Dr.  Jos£  de  la 
Campa  entnehmen  sie  den  abgeschlagenen  Köi^fen  ihrer  Feinde  das 
Gehirn,  um  es  zu  verzehren.^  Die  prähistorische  Analogie  für  diese 
Art  der  Anthropophagie  scheint  —  bevor  letztere  bekannt  war  — 
in  den  Höhlenbewohnern  von  Gourdan  (Pyrenäen)  durch  Piette 
nachgewiesen. - 

Asiatisches  Festland.  Das  asiatische  Festland  angehend, 
so  kommen  auch  hier  einzelne  Berichte  vor,  welche  diese  oder  jene 
Völkerschaft  der  Anthropophagie  bezichtigen.  Indessen  hier  kann 
es  sich  nur  um  einen  Nachhall  früherer  Unsitte  handeln,  oder  einen 
gelegentlichen  Kannibalenschmaus  aus  Hungersnot.  Vergebens  aber 
sehen  wir  uns  nach  Zeugnissen  um ,  welche  gewohnheitsmäßige 
Anthropophagie  bei  einem  asiatischen  Volke  —  die  Batta  ausge- 
nommen —  heute  bestätigen.  Der  Vollständigkeit  halber  wollen 
wir  indessen  hier  anführen,  was  wir  an  Andeutungen  gefunden 
haben.  Staatsrat  von  Eichw^ald  giebt  an,  daß  noch  im  Jahre  1863 
bei  den  Ostjaken  infolge  von  Hungersnot  das  Verzehren  von  Kin- 
dern vorgekommen  sei.^  Derselbe  will  auch  die  Samojeden  des 
Kannibalismus  bezichtigen,  da  der  Name  derselben  sich  aus  dem 
Russischen  sehr  gut  als  ,, Selbstesser''  erklären  läßt.  Indessen  be- 
merkt Fe.  Müller^  mit  Recht,  daß  dieser  Name  der  Volksetymo- 
logie zu  Liebe  aus  Samod  entstanden  sein  dürfte,  mit  welcher 
Bezeichnung  noch  gegenwärtig  um  Archangel  die  Samojeden  von 
den  Russen  bezeichnet  werden.  Er  ist  wahrscheinlich  mit  dem 
Namen  Suomi  (Finne)  und  Same  (Lappe)  verwandt  und  datiert  aus 
der  Zeit,  wo  Finnen,  Lappen  und  Samojeden  in  unmittelbarer  Nähe  l 
zusammenwohnten.     Die    Kaschmiris    l)erichten,    daß    die    Darden 


^  Mitteilungen  der  Wiener  anthroiiologischen  Gesellschaft,   ^'erhandlungen 
1884.    53. 

2  Oben  S.  4. 

^  Archiv  für  Anthropologie.    III.   .3.3.8. 

*  Allgemeine  Ethnographie.    337.  Amnerkung. 


Afrika. 21 

Anthropophagen  seien,  und  ein  Dardenstamm  sagt  dies  dem  andern 
nach,  wiewohl  dies  nach  Leitxer  unbegründet  ist;  doch  soll  unter 
ihnen  das  Trinken  des  Blutes  vom  Feinde  vorkommen.^ 

Auf  Hörensagen  beruhen  die  Angaben  des  Mönchs  Eubeük 
(RuBRUQüis,  Rüysbeoek),  daß  bis  zu  seiner  Zeit  (13.  Jahrh.)  die 
Bewohner  von  Tebec  (Tibet)  die  abscheuliche  Sitte  gehabt  haben 
sollen,  die  Eltern  nach  dem  Tode  zu  verzehren,  sie  seien  deshalb 
von  den  Nachbarn  verabscheut  worden. - 


Afrika. 


Gruineaküste  und  Xigerdelta.  Der  verdiente  Anthropologe 
Waitz  war  geneigt,  die  Anthropophagie  bei  den  Bewohnern  Afrikas 
schon  vor  einem  Vierteljahrhundert  für  fast  eingegangen  zu  be- 
trachten'^, und  nur  noch  mit  den  Verleumdungen  in  Verbindung 
zu  bringen,  welche  ein  Xegerstamm  gern  über  den  andern  aus- 
sprengt. So  führt  er  nur  wenige  auf  die  Westküste  und  das  Niger- 
delta bezügliche  Beispiele  an,  ohne  großen  Wert  darauf  zu  legen 
und  bemerkt  nur,  daß  wohl  Feindschaft  und  Eachsucht  die  Trieb- 
federn des  einst  weit  verbreiteten  Kannibalismus  gewesen  seien, 
wie  der  überall  weit  verbreitete  Ausdruck  ,,den  Feind  auffressen'', 
d.  h.  zu  Grunde  richten,  noch  andeute.^  Abgesehen  jedoch  von 
den  zahlreichen  Beispielen,  welche  neuere  Reisende  beibringen, 
lagen  schon  zu  Waitz  Zeit  gehäufte  Beweise  des  Kannibalismus 
in  Afrika  vor,  der  dort  noch  immer  eine  klassische  Stätte  hat.  Im 
mohammedanischen  Afrika  ist  die  Anthropophagie  so  ziemlich  ver- 
schwunden und  der  Sudan  kennt  sie  kaum.  Sie  tritt  dagegen  gleich 
in  dem  noch  dem  Fetischdienste  ergebenen  Küstensaume  auf  und 
reicht,  mit  geringen  Unterbrechungen,  von  Sierra  Leone  bis  an  den 
Gabon  und  darüber  hinaus. 


^  Dr.  G.  AY.  Leitxer,  Results  of  a  tour  in  Dardistau  etc.  Yol.  I.  Part.  III.  9. 
Anmerkung.    Labore  1873. 

-  Recueil  des  voyages  public  par  la  Societe  de  Geographie.  Paris  1839. 
IV.   289. 

^  Waitz,  Anthropologie  der  Naturvölker.   Leipzig  1860.   II.  166. 

*  LivixGSToxE  erwähnt  z.  B.  diesen  Ausdruck  von  den  Bangwaketse.  Mis- 
sionsreisen und  Forschungen  in  Südaftüka.   Aus  dem  Engl.  Leipzig  1858.  I.  106. 


2^  SieiTR  Leone.     Guineaküste. 

Daß  es  bei  den  Westafrikanern  sich  auch  um  reine  Gefräßig- 
keit und  nicht  nur  um  religiöse  oder  andere  Beweggründe  bei  der 
Anthropophagie  handelt,  dafür  liegen  die  Beweise  vor.  T.  J.  Hut- 
chinson, lange  Jahre  britischer  Konsul  in  Westafrika,  berichtet: 
„Ich  habe  (1860)  in  einer  in  Sierra  Leone  erscheinenden  Zeitun.ff 
gelesen,  daß  der  Missionar  Peiddy  mit  eigenen  Augen  sah  —  nicht, 
daß  er  bloß  davon  hörte  —  wie  Körbe  mit  getrocknetem  Menschen- 
fleisch umhergeschleppt  und  der  Inhalt  zum  Zwecke  des  Verzehrens 
verkauft  wurde.  Das  Fleisch  stammte  von  Gefallenen  aus  einer 
Fehde  zwischen  den  Susu-  und  Timney- Stämmen.  Die  Thatsache 
ist  bei  Gelegenheit  der  67.  Jahresversammlung  der  Missionsgesell- 
schaft konstatiert  worden  und  sie  hat  sich  ereignet  in  einer  unserer 
Kolonieen,  auf  Avelche  unsre  Kegierung  schon  8  Millionen  verwendet 
hat."  Auf  einem  Palmölhulk  bei  Bonny  (Nigermündung)  wurde,  in 
Gegenwart  des  Kapitän  Straw,  ein  Ju-ju-Mann  von  Hütchenson 
wegen  seines  notorischen  Kannibalismus  und  darüber,  daß  er  am 
Tage  zuvor  einen  Menschenkopf,  der  als  Leckerbissen  galt,  verzehrt 
habe,  zur  Rede  gestellt.  Kaltblütig  antwortete  er:  /  no  eat  hini, 
for  my  cook  done  spoil  him;  he  no  init  nuff  pepper  ort  him.  Also 
weil  der  Koch  den  Kopf  nicht  genug  gepfeffert  hatte,  verschmähte 
ihn  der  Kannibale.  ^ 

Wenn  Hutchinson  auch  das  Hinterland  von  Liberia  als  Stätte 
des  Kannibalismus  anführt,  so  spricht  er  nicht  aus  eigener  Erfah- 
rung. An  und  für  sich  erscheint  die  Sache  nicht  unwahrscheinlich, 
wir  bemerken  nur,  daß  der  amerikanische  Neger  Anderson,  der  es 
bereiste  und  ein  Buch  darüber  schrieb,  durchaus  nichts  von  An- 
thropophagie in  jenen  Gegenden  berichtet. 

Der  französische  Viceadmiral  Fleceiot  de  Langle,  ein  ge- 
nauer Kenner  der  afrikanischen  Westküste,  bringt  Belege  bei,  daß 
die  Schwarzen  im  Hinterlande  von  Bassam  (Guineaküste)  ihre  Kriegs- 
gefangenen verzehren.  ,,Jene  von  N'diou  sind  Fremde,  die,  so 
sagte  man  mir,  aus  dem  Gebirge  herabkommen.  Sie  gehören  zu 
den  Bambaras.  Die  Quaquas  haben  gleichfalls  diesen  abscheulichen 
Gebrauch,  und  er  mangelt  auch  nicht  den  Bourbourys,  sie  haben 
acht  senegal'sche  Jäger  verschlungen,  die  sie  aus  einem  Hinterhalt  i 
gefangen  nahmen,  und  man  mußte  diesen  Schimpf  durch  Verbren-  \ 
nung  von  Badou,  Mapoyenne  ti.  s.  w.  rächen."    Ein  gewisser  Bieter,    ^ 


'  Transaet.  Ethiiolog.  Soc.  New  Series.  I.  338.  (1861).  Die  erwähnte 
afrikanische  Zeitung  ist  der  zu  Freetown  erscheinende  ,.African"  vom  5.  April 
1860.  Hutchinson,  Ten  years  wanderings  among  the  f^thiopians.  London.  1861.  58. 


Guineaküste.     Aschauti.'  23 


der  in  Fleueiot  de  Langles  Berichten  eine  Rolle  sjiielt,  war  zu 
zehn  Unzen  Strafgeld  verurteilt  worden,  weil  er  einen  seiner  Sklaven 
aufgefressen  hatte.  ^  Die  Sache  ist  dort  übrigens  nicht  neu.  denn 
von  Groß-Bassam  an  der  Guineaküste  berichtet  bereits  Bjecquaed, 
daß  die  dortigen  Neger  noch  aus  Aberglauben  gelegentlich  Kanni- 
balen seien.  So  findet  bei  der  Gründung  eines  neuen  Dorfes  ein 
Menschenopfer  statt;  aus  den  Eingeweiden  des  Geopferten  weissagen 
die  Fetischeros:  Herz.  Leber  und  die  übrigen  Eingeweide  werden 
mit  einer  Henne,  einer  Ziege  und  einem  Fische  gekocht  und  alle 
Festteilnehmer  sind  dann  gezwungen,  von  dem  Mahle  zu  essen. 
Solche  Fälle  ereigneten  sich  noch  1850.- 

Bei  den  Aschauti  ist  Anthropophagie  nur  eine  sehr  vereinzelte 
Erscheinung,  die  keineswegs  auf  das  ganze  Volk  sich  ausdehnt  und 
wenn  sie  vorkommt,  auf  Aberglauben  zurückzuführen  ist.  Bowdich, 
dessen  Werk  über  Aschauti  auch  heute  noch  eine  der  vorzüglichsten 
Quellen  über  dieses  Land  ist,  erzählt  folgendes:  ,,Die  Fetisch- 
männer, die  der  Armee  folgen,  schneiden  einigen  Feinden  das  Herz 
aus,  und  nach  vielen  Zeremonien  und  Verzauberungen  mit  allerlei 
geweihten  Kräutern  essen  alle  die,  welche  noch  nie  zuvor  einen 
Feind  getötet  haben,  einen  Teil  davon;  denn  man  sagt,  wenn  sie 
es  nicht  thäten,  so  würde  ihre  Kraft  und  ihr  Mut  im  Geheimen 
durch  die  Geister  der  Gebliebenen  gequält  werden.  Man  sagt,  daß 
der  König  und  alle  die  Großen  das  Herz  eines  berühmten  Feindes 
unter  sich  teilten;  doch  flüsterte  man  sich  dies  nur  zu.  Dagegen 
rühmten  sie  sich,  die  kleineren  Gebeine  und  Zähne  des  er- 
schlagenen Monarchen  bei  sich  zu  tragen.  Man  zeigte  mir  einen 
Mann,  der  das  Herz  des  Feindes,  den  er  getötet  hatte,  immer 
auffraß.  ••'  '^ 

So  wenig  Wert  wir  hierauf  legen .  um  im  allgemeinen  die 
Aschanti  als  Anthropophagen  zu  erklären,  eben  so  gering  sind  die 
Anhaltepunkte.  die  benachbarten  Dahomeher  denselben  beizugesellen, 
so  übel  berüchtigt  sie  auch  sonst  wegen  ihi'er  Menschenopfer  sind. 
Zwar  erzählt  Robeet  Noeeis  ^,  daß  bei  gewissen  Menschenopfern 
..der   Körper   des    preisgegebenen   fast   ganz    aufgefressen    werde'*, 


*  Fleüriot  de  Laxgle  im  Tour  du  Monde.    Bd.  XXVI.  382.  374. 

-  H.  Hecquard,  Reise  an  die  Küste  und  in  das  Innere  von  Westafrika. 
Leipzig,    s.  a.    49. 

^  Mission  von  Cap  Coast- Castle  nach  Ashantee  von  T.  Edward  Bowdich. 
Aus  dem  Englischen.   Weimar.  1820.    402. 

■*  EoBET  XoRRis,  Eeise  nach  Abomey  im  Jahre  1772.  In  M.  C.  Sprengels 
Beiträgen  ziu-  Länder-  und  Völkerkunde.    XIU.    285.    Leipzig  1790. 


24  Nigerdelta. 

indessen  wollen  wir  diese  vereinzelte  Nachricht  auf  sich  beruhen 
lassen,  zumal  andere  Berichterstatter,  die  in  Abomeh  die  ,, großen 
Gebräuche ''  mit  ansahen,  wohl  der  Schauderdinge  genug  erzählen, 
von  Anthropophagie  indessen  nichts  wissen.  Manches  deutet  jedoch 
darauf  hin,  daß  die  Dahomeher  ehemals  Anthropophagen  waren. 
Der  dänische  Arzt  Isert  erzählt,  daß  noch  zu  seiner  Zeit  (zweite 
Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts)  der  König  von  Dahomeh  in  das 
in  einer  Schale  aufgefangene  Blut  der  beim  Jahresfeste  hingerichteten 
Schlachtopfer  einen  Finger  tauchte  und  diesen  ableckte.  Isert  ver- 
mutet hierin  wohl  mit  Recht  einen  letzten  Rest,  gleichsam  ein  Sinn- 
bild der  ehemaligen  Menschenfresserei.^ 

Wir  führen  gern  alle  Zeugnisse  an,  welche  bei  der  Anschuldi- 
gung der  Anthropophagie  entlastend  wirken  können;  bei  der  Gegend, 
der  wir  uns  jedoch  nun  nähern,  dem  Nigerdelta,  Calabar  u.  s.  w., 
vermögen  wir  nur  in  den  schwärzesten  Farben  zu  schildern,  wobei 
sehr  unverdächtige  und  mit  dem  Lande  durch  viele  Jahre  hindurch 
vertraute  Männer  unsre  Führer  sind:  Consul  Hutchinson  und  der 
schwarze  Bischof  S.  A.  Crowther. 

Hutchinson^  erzählt,  daß  Consul  Campbell  aus  Lagos  ihm 
geschrieben  habe,  wie  die  Edjo  (Edschu)  im  Nigerdelta  allgemein 
als  Kannibalen  gelten.  In  Brass  und  Bonny  (beide  im  Nigerdelta) 
verzehre  man  alle  Kriegsgefangenen,  in  dem  Wahne,  dadurch  tapferer 
zu  werden.  Consul  Hutchinson  bezweifelte  die  Thatsachen,  bis  es 
ihm  gelang,  sich  durch  den  Augenschein  von  der  Richtigkeit  zu 
überzeugen. 

Ich  mußte,  schreibt  er  (in  den  ersten  Monaten  des  Jahres  1859), 
amtlich  Bonny  im  Nigerdelta  besuchen.  Insgeheim  wurde  mir  mit- 
geteilt, daß  dem  Jujuhause  gegenüber  ein  Mann  geschlachtet  und 
der  Körper  verzehrt  werden  sollte.  Dieser  Mann  hatte  einen  Sklaven, 
der  beim  Palmölhandel  beschäftigt  war,  ermordet;  die  Leiche  war 
in  voriger  Woche  an  einem  der  Creeks  des  Hamballalandes  verzehrt 
worden.  Die  Neger  hielten  die  Sache  geheim,  und  kein  Weißer 
durfte  davon  wissen.  Hutchinson  wußte  sich  zu  verbergen  und  sah, 
wie  am  andern  Morgen  das  Schlachtopfer  hingerichtet  wurde.  „Der 
Henker  ging  fort  und  alle  sprangen  auf  mit  einem  Geheul  und  Ge- 
schrei, wie  man  es  von  wilden  Tieren  hört.  Sie  stürzten  auf  den 
geschlachteten  Mann  zu,  schwenkten  ihre  großen  Messer  in  der  Luft 


1  Labaethes  Reise  nach  der  Küste  von  Gninea.     Aus  dem  Französischen. 
Weimar  1803.    238. 

^  Ten  years  wanderings  among  the  Ethiopaus.    66. 


Xigerdelta.  2o 

umher  und  schnitten  Stücke  ab.  Ich  glaubte  mich  an  das  jenseitige 
Ufer  des  Styx  versetzt,  ich  sah  schwarze  Geschöpfe  in  Menschenge- 
stalt wie  gierige  Geier.  Selbst  Knaben  und  Mädchen  trugen  Fleisch- 
stücke, von  welchen  das  Blut  herabträufelte  und  den  Weg  bezeich- 
nete. Ein  Weib  riß  einer  andern  Frau  zankend  und  schreiend 
einen  Bissen  weg,  Fleisch  von  einem  Manne,  der  vor  wenigen 
Minuten  noch  unter  den  Lebenden  war.  Nachdem  das  Fleisch  ver- 
teilt war,  trug  man  die  Eingeweide  fort.  Diese  waren  für  die 
Iguana,  die  große  Eidechse,  bestimmt,  die  ein  Schutzgeist  des 
Volkes  von  Bonny  ist.  Bevor  ich  meinen  Schlupfwinkel  verließ, 
fragte  ich  mich,  ob  ich  denn  meinen  eigenen  Augen  trauen  konnte? 
Das  Alles  geschah  im  Jahre  1859  nach  Christi  Geburt,  bei  Leuten, 
unter  welchen  der  europäische  Handel  seit  länger  als  einem  halben 
Jahrhundert  seinen  ,civilisierenden-  Einfluß  übt.  ^ 

Als  Ergänzung  hierzu  fühi-en  wir  noch  folgendes  an:  Ein  un- 
genannter britischer  Seeoffizier,  welcher  sich  außerordentlich  vertraut 
mit  den  Verhältnissen  an  der  afrikanischen  ^^'estküste  gezeigt  hat, 
berichtete  gelegentlich  des  Aschantikriegs  wiederholt  über  den  Kanni- 
balismus, der  im  Xigerdelta  herrscht,  an  die  ,,Times"^  ,,John  Jumbo 
(in  England  erzogener  Sohn  des  mächtigsten  Bonnyhäuptlings)  er- 
zählte mir,  daß  Ja  Ja's  Leute  ihre  gefangenen  und  erschlagenen 
Feinde  gleich  als  Rationen  behandelten,  und  Kapitän  Hopkins  (eng- 
lischer Konsul  für  die  sogenannten  .Oelflüsse'^)  sah,  wie  sieben  Mann 
ganz  nahe  bei  Bonny  getötet,  gekocht  und  gefi'essen  wurden  vor 
zwei  oder  drei  Jahren.  König  Georg  Peppel  (von  Bonny)  liebt  dies 
nicht,  ebenso  wenig  seine  Häuptlinge.^  Doch  es  ist  schwer,  die 
Eingeborenen  in  den  Landdistrikten  von  einer  gelegentlichen  Mahl- 
zeit ,, Menschen-Beefsteak"  abzuhalten,  die,  wie  ein  Bonny-Häuptling 
sich  äußerte,  entschieden  dem  ,,Ochsen- Beefsteak*'  (beefee-heefee) 
vorzuziehen  sei.  Doch  der  Kannibalismus  verliert  entschieden  an 
Popularität  und  wird  wohl  mit  der  gegenwärtigen  Generation  auf- 
hören." ^ 

Endlich  die  Zeugnisse  des  Missionsbischofs  Samuel  Ceowthee, 


^  Hutchinson  a.  a.  0. 

^  Vor  Zeiten  ist  König  Peppel  indessen  selbst  Menschenfresser  gewesen ;  er 
hat  mit  vielem  Behagen  das  Herz  des  von  ihm  gefangenen  Königs  Amakri  von 
Xeucalabar  vei'zehrt.  So  berichtet  der  „Fellow  royal  geogi-aph.  society",  nämlich 
Eichard  Burtox  in  seinen  "Wanderings  in  AYestafrica  from  Liverpool  to  Fernando 
Po.  London  1863.  IL  280.  Dort  mag  man  noch  melu'  über  die  Anthropophagie 
im  Xegei'delta  nachlesen. 

3  The  Mail  (Times)  vom  26.  Dezember  1873. 


26  Nigerdelta. 

der  alljährlicli  den  Niger  von  der  Mündung  auf\Yärts  bis  zum  Benu6 
befuhr,  dessen  Berichte  im  ,,Church  Missionary  Intelligencer'*  regel- 
mäßig abgedruckt  wurden  und  fast  jedesmal  von  Klagen  üljer- 
strömen,  wie  der  Satan  unter  den  Schwarzen  noch  seine  Hand  im 
Spiele  habe.  ,, Wenige  Schritte  von  unserer  zeitweiligen  Schulhütte, 
so  schreibt  er,  steht  hier  in  Bonnytown  das  große  Jujuhaus.  Auf 
den  Pfosten  der  Eingangsthüren ,  an  den  Wänden  und  dann  im 
Innern  sieht  man  als  Schmuck  und  Verzierung  des  Götzenhauses 
Hunderte  von  Menschenschädeln  aufgestellt.  Man  sagt,  sie  seien 
von  Kriegsgefangenen,  welche  dem  Juju  geopfert  wurden;  das  Fleisch 
wurde  verzehrt,  Aveil  man  dadurch  Rache  an  den  Feinden  zu  nehmen 
gedachte.  Draußen,  der  Vorderseite  gegenüber,  befand  sich  ein 
etwa  sechs  Fuß  hohes  Gerüst,  auf  welchem  die  Knochen  der  Ge- 
opferten lagen.  —  —  Ueberall  an  der  Bucht  von  Benin  ist  es 
während  der  letztverfiossenen  Monate  sehr  unruhig  gewesen.  Brass, 
Bonny  und  Okrika  führten  Krieg  gegen  Neucalabar.  Auf  einem 
Zuge  gegen  den  Feind  machten  die  Leute  von  Neucalabar  45  Ge- 
fangene. Diese  alle  wurden  getötet  und  gefressen.  Die  einzelnen 
Glieder  sind  unter  das  Volk,  Alt  und  Jung,  Weiber  und  Männer 
verteilt  worden.  Jeder  trug  seinen  Anteil  ganz  offen  nach  Hause; 
mehrere  Supercargos,  welche  von  den  Schiffen  nach  Hause  kamen, 
sind  Augenzeugen  gewesen.  Mau  macht  auch  gar  kein  Hehl  aus 
der  Sache. '  Bei  einer  andern  Gelegenheit  nahmen  die  Krieger  der 
Okrika  den  Neu-Calabaresen  103  Gefangene  ab.  und  zur  Wieder- 
vergeltung wurden  diese  allesammt  totgeschlagen  und  dann  aufge- 
fressen.''^ 

Daß  der  Kannibalismus  vom  Nigerdelta  aus  am  Strome  weiter 
aufwärts  reiche,  dafür  finden  wir  ebenfalls  in  Ceowthees  Berichten 
manche  Belege.  Von  seiner  Reise  im  Jahre  1872  erzählt  er  unter 
andern  von  Onitscha  (linkes  Ufer  unter  6*^  10'  N.):  ,.Ein  euro- 
päischer Matrose  starb  in  der  Faktorei  und  wir  suchten  einen  Be- 
gräbnisplatz für  ihn.  Da  noch  niemand  im  Friedhofe  unsrer  neuen 
Kirche  beerdigt  war,  so  ließ  ich  das  Grab  dort  graben  und  den 
Toten  nach  dem  Ritus  der  Kirche  von  England  bestatten.  Nach- 
dem dies  geschehen,  erzählten  uns  einige  Mitglieder  der  Gemeinde, 
daß  wenn  das  Grab  nicht  mindestens  eine  Woche  vor  einem  be- 
nachbarten Stamme  geschützt  würde,  der  kannibalische  Gewohnheiten 


-  ^  The  Curch  Missionary  Intelligenccr.  Juli  1866.  •223.  Aui-h  Hutchinson 
erwähnt  die  Metzeleien  zwischen  Okrika  und  Neu-Calabaresen  und  erzählt  ab- 
scheuliche Einzelheiten,  wie  Suppen  aus  rotem  Pfeffer,  Palmöl  und  Meuschen- 
flcisch  gekocht  wurden! 


Äquatoriales  Westafrika.  27 


habe  und  Obotschi  heiße,  dieser  sicher  den  Sarg  ausgraben  und 
den  Leichnam  verzehren  würde.  Auf  diesen  Wink  hin  gab  ich  dem 
Agenten  des  Handelshauses  Auftrag,  eine  Woche  lang  Wächter  auf 
dem  Kirchhof  während  der  Nacht  aufzustellen,  damit  das  Heran- 
kommen der  Kannibalen  verhindert  werde.  Das  ist  das  Volk,  wel- 
ches wir  zum  Christentum  bekehren  sollen!''  ^  Auch  Robiks,  der 
18(34  die  Nigerexpedition  auf  dem  ,,Investigator''  mitmachte,  sagt, 
der  ganze  untere  Lauf  des  Stroms  bis  Onitscha  aufwärts  sei  von 
Kannibalen  bewohnt.  ^ 

Noch  weiter  östlich ,  am  Altcalabar ,  hausen  kannibalische 
Stämme.  Wie  Hutchikson  angiebt,  wurde  im  Jahre  1859  zu  Duke- 
town  (Atarpah,  linkes  Ufer  jenes  Flusses)  auf  öffentlichem  Markte 
Menschenfleisch  zum  Verkaufe  ausgestellt,  gerade  wie  Ochsenfleisch 
auch.  ^ 

Spuren  des  Kannibalismus  zeigen  sich  auch  in  den  Hinterlanden 
des  Niger  und  Benue.  Die  Tangale,  ein  heidnischer  Negerstamm 
im  Süden  von  Jakoba  in  Bautschi,  sind  nach  Eduaed  Vogel,  der 
sie  1855  besuchte,  ,, wilde  Bursche,  die  Menschenfleisch  allem  andern 
vorziehen.  Sie  essen  alle  im  Kriege  erlegten  Feinde,  die  Brust 
gehört  dem  Sultan,  der  Kopf  als  der  schlechteste  Teil  wird  den 
Weibern  übergeben."^ 

Äquatoriales  Westafrika.  Unzweifelhaft  ist  auch  das 
äquatoriale  Westafrika  eine  Stätte  der  Anthropophagie.  Schon  bei 
den  alten  Schriftstellern,  wie  Battel  und  dem  Compilator  Dappee, 
flnden  wir  verschiedene  darauf  bezügliche  Stellen,  und  Huxlet 
macht  darauf  aufmerksam,  daß  in  Ph.  Pigaeettas  Uebersetzung 
von  Edoaedo  Lopez  ,,Regnum  Congo"  (Frankfurt  1598)  von  dem 
landeinwärts  vom  Ogow6  wohnenden  Anziquen^  die  Rede  ist,  welche 
einander  essen  und  weder  Freunde  noch  Verwandte  schonen.  ,,Ihre 
Fleischerläden,  so  heißt  es  in  dem  Bericht,  sind  mit  Menschenfleisch 
gefüllt  statt  mit  Ochsen-  oder  Schaffleisch ;  denn  sie  essen  die 
Feinde,  die  sie  im  Kampfe  gefangen  nehmen.  Sie  mästen,  schlachten 
und  verzehen  auch  ihre  Sklaven,  wenn  sie  nicht  glauben,  einen 
guten  Preis  für  sie  noch  zu  erhalten;  überdies  bieten  sie  sich  zu- 
weilen aus  Lebensmüdigkeit  oder  Ruhmsucht  —  denn  sie  halten  es 


1  The  Curch  Missionaiy  lutelligencer.    Februar  1873.    48. 
'^  Transact.  Etlinolog.  Soc.     New  Series.    V.  83. 
^  Hutchinson  a.  a.  0. 

*  Zeitschrift  für  allgemeine  Erdkuucle.    VI.    482.  484  (1856). 
^  Unter  dem  Namen  Anziko  versteht  man  heute  au  der  Loangoküste  den 
Gorilla.     Correspoudeuzblatt  der  Afrikanischen  Gesellschaft.    1873.    36. 


28  Gabon.     Corisco  Bai. 


für  etwas  Großes  und  für  das  Zeichen  einer  edlen  Seele,  das  Leben 
zu  verachten  —  selbst  als  Speise  an.  Es  giebt  allerdings  viele 
Kannibalen,  wie  in  Ostindien,  in  Brasilien  und  anderswo,  aber  keine 
solchen  wie  diese;  denn  die  andern  essen  nur  ihre  Feinde,  diese 
aber  ihre  eigenen  Blutsverwandten.-'  ^ 

Dieser  offenbar  übertriebene  Bericht  ist  denn  auch  mit  einer 
Illustration  versehen,  die  von  den  Gebrüdern  de  Bey  herrührt,  und 
bei  der  ein  Frankfurter  Metzgerladen  als  Modell  gedient  hat;  nur 
daß  hier  statt  der  Teile  von  Ochsen  oder  Schweinen  menschliche 
Glieder  zur  Schau  gestellt  sind. 

Auch  Edwaed  Bowdich,  derselbe,  der  sich  durch  seine  Reise 
nach  Aschanti  um  die  Völkerkunde  verdient  machte,  bringt  uns  Be- 
lege für  den  Kannibalismus  der  Völker  am  Gabon.  Einige  Tage- 
reisen weit  im  Innern,  erzählt  er,  liegt  das  Land  Kaylee,  dessen 
Bewohner  eine  vergleichsweise  hohe  Stufe  einnehmen;  aber  sie  sind 
Menschenfresser  und  essen  nicht  allein  ihre  Gefangenen,  sondern 
auch  ihre  Toten,  deren  Leichname  sogleich  nach  ihrem  letzten 
Atemzuge  feilgeboten  werden.  Häufig  ißt  ein  Vater  sein  eigenes 
Kind.  Geflügel  und  Ziegen  giebt  es  hier  in  Menge,  aber  sie 
werden  nicht  gegessen,  so  lange  man  noch  Menschenfleisch  haben 
kann. ^ 

BowDiCHs  ,, Kaylee •'  vermag  ich  mit  keinem  Völker-  oder 
Ländernamen  auf  unsern  heutigen  Karten  zu  identifizieren,  indessen 
dürfte  der  immerhin  übertriebene  Bericht  auf  die  Fan  zu  beziehen 
sein.  Als  Du  Chaillu  deren  grauenvollen  Kannibalismus  betonte 
und  das  erzählte,  was  er  mit  eigenen  Augen  gesehen,  erhob  sich 
arges  Kopfschütteln.     Und  doch  hatte  er  nichts  neues  gesagt.^ 

Als  Du  Chaillu  von  der  Corisco-Bai  aus  vordringend  auf  die 
ersten  Fandörfer  traf,  begegneten  ihm  sofort  Spuren  von  Kanni- 
balismus; er  traf  ein  altes  Weib,  das  einen  Menschenschenkel 
schleppte,  ,, gerade  als  wollte  sie  zu  Markte  damit  gehen'',  und  in 
einem    Palaverhause    war    ein    Körper    verteilt    worden ;    der    Kopf 


^  HrxLEY,  Zeugnisse  für  die  Stellung  des  Menschen  in  der  Natur.  Braun- 
schweig 1863.  62.  63.  Ein  übereinstimmender  Bericht  bei  Dapper,  Besehreibung 
von  Afrika.    Amsterdam  1670.    588. 

^  Edward  Bowdich  a.  a.  0.  543. 

'  Wenn  H.  Zöller  ueuei'dings  ( Deutsche  Besitzungen  an  der  westaft'ikani- 
schen  Küste.  IV.  95.  97)  sagt:  „Das  meiste,  was  über  die  kannibalischen  Sitten 
der  Fan  gesagt  wird,  halte  ich  für  erdichtet"  und  „die  Fan  stehen  in  dem 
wahrscheinlich  ungerechtfertigten  Eufe,  Menschenfresser  zu  sein",  so  ist  die 
Widerlegung  dieser  Ansicht  im  folgenden  enthalten. 


Die  Fan.  29 

wurde  für  den  König  aufbewahrt.^  Später  sah  er  heim  Fankönige 
Ndiayai,  wie  der  Leichnam  eines  Menschen,  der  an  einer  Krankheit 
gestorben,  zum  Verspeisen  verteilt  wurde,  worüber  er  sich  nicht 
wenig  entsetzte.  ..Sie  sprachen  frei  und  offen  über  die  ganze  Sache 
und  man  sagte  mir,  daß  sie  regelmäßig  die  Toten  der  Oscheba 
kaufen,  die  umgekehrt  wieder  die  ihrigen  kaufen.  Sie  kaufen  auch 
die  Toten  anderer  Familien  ihres  eigenen  Stammes  und  erhandeln 
die  Körper  vieler  Sklaven  von  den  Nbichos  und  Mbondemos,  wofür 
sie  gern  Elfenbein  geben,  einen  kleinen  Stoßzahn  für  einen  Leich- 
nam.*^ Auf  die  Autorität  des  Missionars  Walker  am  Gabon  ge- 
stützt, erzählt  Du  Chaillu  ferner,  daß  Fan,  die  aus  dem  Innern 
an  den  Gabon  kamen,  dort  einen  frischbegrabenen  Toten  ausgruben, 
kochten,  verzehrten.  Andre  räucherten  das  Fleisch  eines  Menschen 
und  nahmen  es  mit  sich  als  Vorrat.  Ohne  alle  Scham  und  Scheu 
betreiben  sie  die  Menschenfresserei  ganz  offen;  Du  Chaillu  sah  bei 
ihnen  hochgeschätzte  Messer,  deren  Heft  mit  Menschenhaut  über- 
zogen war.  ^  Noch  weiter  nach  dem  Innern  hin  verzeichnet  Du 
Chaillu  außer  den  bereits  erwähnten  Oscheba  auf  seiner  Karte 
noch  die  Moschobo  als  Kannibalen. 

Mag  einige  Färbung  in  diesen,  übrigens  mit  Bowdich  überein- 
stimmenden Erzählungen  unterlaufen,  so  sind  sie  nichtsdestoweniger 
im  allgemeinen  wahr,  und  an  Kontrolle  fehlt  es  keineswegs.  Win- 
wooD  Reade  berichtet  ähnliches,  und  er  bestätigt  ausdrücklich  die 
Geschichte,  daß  die  Fans  am  Gabon  Leichen  ausgegraben  und  ver- 
zehi't  haben.  Nur  darin  weicht  er  von  Du  Chaillu  ab,  daß  er 
angiebt,  die  Fan  schämten  sich  ihres  Kannibalismus  und  jedes 
Dorf  schiebe  die  Sache  auf  sein  Nachbardorf.  Doch  bleibt  die 
Thatsache  selbst  dadurch  unberührt,  und  im  Gespräch  mit  einem 
,, Veteran-Kannibalen"  erfuhr  er,  daß  Menschenfleisch  so  gut  und 
fett  wie  Ochsenfleisch  sei.  Der  Alte  verneinte  aber  auf  das  be- 
stimmteste, daß  die  Fan  ihre  Verwandten  verzehrten,  obgleich  alle 
Nachbarstämme  dies  von  ihnen  behaupten.-^  Jene  Menschenfresser 
ihrerseits    hielten    alle   Weißen    für  Kannibalen  und   glaubten   fest. 


^  Paul  B.  Du  Chaillu,  Exjjlorations  and  Adventures  in  eqnatorial  Africa. 
London  1861.     74. 

"^  Du  Chaillu  a.  a.  0.    88. 

^  AV.  WiswooD  Keade,  Savage  Africa.  London  1863.  159.  Auch  O.  Lenz 
(Skizzen  aus  Westafrika.  89)  sagt,  dass  die  Fan  bis  zum  heutigen  Tage  Kanni- 
balen seien,  doch  würde  Menschenfleisch  nur  bei  Feierlichkeiten  verzehrt.  Alles 
aber,  was  sich  auf  Anthropophagie  beziehe,  würde  heimlich  betrieben.  Vergl. 
auch  Petermaxxs  Mitteilungen.    1875.    128. 


30  Die  Fan.     Die  Kissama. 


daß  die  Sklaven  nur  darum  von  ihnen  fortgeführt  würden,  um  in 
fernen  Landen  verspeist  zu  werden.  ., Warum  die  Schwarzen  besser 
als  die  Weißen  schmeckten",  wurde  Winwood  Reade  gefragt, 
worauf  er  ,,aus  Politik"  zur  Antwort  gab,  das  Fleisch  der  Weißen 
sei  giftig.  1 

Wäre  noch  weitere  Bestätigung  des  Kannibalismus  der  Fan 
notwendig,  so  finden  wir  diese  bei  französischen  Reisenden.  Der 
Marinearzt  Dr.  Geiffox  du  Bellay,  der  mit  dem  Lieutenant  Serval 
mehrere  Fahrten  vom  Gabon  aus  ins  Lmere  machte  und  von  1861 
bis  1864  vollauf  Gelegenheit  hatte,  die  Fan  kennen  zu  lernen,  giebt 
uns  weitere  bestätigende  Nachrichten,  indessen  mit  dem  Zusätze, 
die  Fan  hielten  die  Sache  geheim  und  schlössen  selbst  ihre  Kinder 
bei  den  Kannibalenschmausereien  aus.^  Nach  Geiffox  du  Bellay 
sind  auch  die  Bakalai  am  Gabon  Anthropophagen.-^ 

Noch  weiter  südlich  trefien  wir  in  Angola  auf  die  Kissama 
(Quissama)  am  Koanza,  die  1870  Chaeles  Hamilton  besuchte. 
Unter  diesem  Volke  fand  der  Reisende  noch  Kannibalen  „weiter 
nach  dem  Lmern  hin":  bei  denjenigen  Kissama  jedoch,  welche  am 
Koanza  und  dessen  Nähe  wohnen,  kommt  die  Anthropophagie  nur 
selten  vor.  Die  wenigen  Menschenfresser,  mit  welchen  Hamilton 
in  Berührung  kam,  sahen  häßlich  und  ungesund  aus.  Literessant 
ist  es  von  Hamilton  zu  erfahren,  daß  die  Menschenfresserei,  ähn- 
lich wie  bei  den  Batta  auf  Sumatra,  bei  den  Kissama  als  eine 
Strafe  ausgeübt  wird.  Wer  unter  den  Kannibalen  seine  Schulden 
nicht  bezahlen  kann,  oder  wer  ein  Verbrechen  begangen  hat,  wird 
ohne  weiteres  getödtet  und  verzehrt.  In  neuer  Zeit  kommt  es  aber 
vor,  daß  ,,die  Aufgeklärteren"  dem  Verbrecher  die  Wahl  lassen,  ob 
er    sterben    oder    als   Sklave    an    die   Portugiesen    verkauft   werden 


^  Der  Glaube,  daß  die  Weißen  die  schwarzen  Sklaven  des  Fleisches  wegen 
zum  Verzehren  exportierten,  ist  an  der  Guineaküste  weit  verbreitet  gewesen. 
Überhaupt  haben  die  Wilden  uns  oft  für  Menschenfresser  angesehen.  Der  Fran- 
zose Lambert  erzählt  dies  von  Futa  Djalon,  wo  ihm  die  Fuhlas  alle  Einzelheiten 
berichteten,  wie  wir  Europäer  unsere  Kannibalenschmäuse  einrichten.  Freiherr 
VON  Wreue  wurde  1843  im  Wadi  Öchura  in  Hadhramaut  belehrt,  daß  der  Kaiser 
von  Rußland  eine  Leibgarde  von  7000  Menschenfressern  unterhalte  (Reise  in 
Hadhramaut.  Braunschweig  1870.  71).  Aloisius  da  Cadämosto,  der  1455  in  den 
Gambia  einlief,  hörte  dort  von  den  Schwarzen,  die  Christen  fräßen  Menschen- 
fleisch und  würden  nicht  so  viele  Sklaven  kaufen,  wenn  es  nicht  in  der  Al)sicht, 
sie  zu  fressen,  geschähe.  (Cadamostos  Reise,  aus  dem  Italienischen  übersetzt  in 
Spkenoels  Beiträge  zur  Völker-  und  Länderkunde.    XL  161.    Leipzig  1789.) 

2  Tour  du  Monde.    XIL  308  (1865). 

3  Tour  du  Monde.    XIL    309. 


Kimbunda.     Die  Jatras.  31 


wolle;  in  der  Regel  zieht  er  den  Tod  vor,  denn  die  Portugiesen 
sind  außerordentlich  verhaßt.^  Es  ist  das  Innere  des  portugiesischen 
Westafrika  von  altersher  ein  bevorzugter  Boden  für  die  mit  Anthro- 
pophagie verknüi^ften  Greuel  gewesen,  denn  dort  war  der  Sitz  der 
mit  Sagen  umwobenen  Jagas,  worunter  Herrscher  und  Volk  ver- 
standen werden. 

Mit  Opfergebräuchen  vermischt  ist  die  gelegentliche  Anthro- 
pophagie bei  den  Kimbunda  (portugies.  Westafrika).  Damit  die 
Regierung  des  Fürsten  glücklich  ausfalle,  wird  der  Ouri-Kongo  ge- 
opfert, der  tapferste  unter  allen  Kriegsgefangenen.  Durch  das  Ver- 
zehren seines  Fleisches  wird  auch  der  Fürst  tapfer.  Ladislaüs 
Magtae  berichtet  als  Augenzeuge:  Der  Wahrsager  zerlegt  den 
Rumpf,  reißt  die  Eingeweide  heraus  und  wahrsagt  daraus.  Dann 
werfen  seine  Gehilfen  die  Eingeweide  weg,  mit  Ausnahme  des 
Herzens.  Endlich  wird  der  Kadaver  in  kleine  Stücken  zerschnitten 
und  unter  den  anwesenden  Hokaführern  verteilt,  wobei  der  Wahr- 
sager Sorge  trägt,  daß  jeder  außer  dem  Stück  Fleisch  auch  etwas 
vom  Herzen  bekomme  (wohl  weil  letzteres  als  Sitz  der  Tapferkeit 
gedacht  ist).  Der  Fürst  und  die  Kriegshäupter  mischen  das  er- 
haltene Menschenfleisch  mit  Hunde-  und  Rindfleisch,  kochen  es  an 
den  vielen  Feuern  und  essen  es.  Sie  glauben  nun  infolge  dessen 
eine  solche  Kraft  zu  erlangen,  daß  sie  immer  mit  Erfolg  gegen 
ihre  Feinde  kämpfen  werden.^ 

Menschenopfer  mit  Anthropophagie  verknüpft  fanden  am  Hofe 
der  Jagas  bei  der  Sambamento  genannten  Festlichkeit  noch  zur 
portugiesischen  Zeit  in  Kassanje  statt.  Wenn  der  Nicango,  das 
Schlachtopfer,  auserwählt  war,  wurde  er  bei  Hofe  mit  denselben 
Ehren  wie  der  Fürst  selbst  behandelt,  ein  Verfahi'en,  daß  wii'  auch 
anderweitig  bei  den  dem  Tode  geweihten  Opfern  finden  (Mexiko, 
Brasilien).  Am  Tage  des  Festes  wurde  der  Nicango  vor  den  Jaga 
geführt  mit  dem  Rücken  dem  letzteren  zugewendet,  worauf  der 
Jaga  mit  einem  halbmondförmigen  Messer  den  Rücken  des  Xicango 
durchschnitt,  bis  er  zum  Herzen  gelangt,  das  er  herauszog.  Er 
nahm  einen  Bissen  davon,  den  er  dann  wieder  ausspuckte  und  ließ 
dann  das  Herz  verbrennen.  Unterdessen  hielten  die  Macotas  (Hof- 
würdenträger) das  Schlachtopfer  so,  daß  sein  Blut  über  die  Brust 
und  den  Bauch  des  Jaga  strömte;  nachdem  dieses  geschehen,  rieben 
sie   sich   selbst   den  Körper  damit  ein,    dabei   ausrufend:    Groß  ist 


'  Journal  of  tlie  Authropological  Institute.    London  1872.    I.  187. 
^  L.  Magyar,  Eeisen  in  Südafrika.    Pest  1859.    I.  275. 


32  Die  Jagas.     Kannibalenhöhlen  im  Basutolande. 

der  Jaga!  Der  Leichnam  des  Nicango  wird  dann  abseit  enthäutet, 
in  kleine  Stücken  zerhackt  und  mit  Ochsen-,  Hunde-  und  Hühner- 
fleisch zusammen  gekocht.  Dieses  Gericht  wird  zuerst  dem  Jaga, 
dann  seinen  Würdenträger  und  zuletzt  allem  Volk  zur  Speise  vor- 
gesetzt. Wer  sich  weigert  davon  zu  essen,  verfällt  der  Sklaverei. 
Mit  Gesang  und  Tanz  endigte  das  Sambamentofest.  Früher  erhielt 
auch  der  portugiesische  Direktor  der  Messe  in  Kassanje  sein  Teil 
von  dem  Gericht,  wofür  er  ein  Fäßchen  Branntwein  spendete.^ 

Südafrika.  Erst  in  der  letzten  Zeit  haben  wir  Nachrichten 
von  dem  Vorhandensein  der  Anthropophagie  auch  an  der  Südspitze 
Afrikas  erhalten,  und  die  Kannibalenhöhlen  im  Basutolande  haben 
nicht  geringes  Aufsehen  erregt.  Das  Basutoland  liegt  zwischen 
dem  Oranjefreistaat  und  den  englischen  Besitzungen  mitten  inne 
und  war  der  Schauplatz  fortwährender  Kriege  zwischen  den  Weißen 
sowohl  und  den  Basuto.  als  zwischen  eingebornen  Stämmen  selbst. 
Während  der  Verwilderung  und  Hungersnot,  die  infolge  dieser 
Kriege  eintrat,  soll  erst  der  Kannibalismus  entstanden  sein.  Die 
ausführlichsten  Nachrichten  über  denselben  erhielten  wir  durch 
James  Henry  Bowkee,  Dr.  Bleek  und  Dr.  John  Beddoe.-  Bowkee 
besuchte  1868  eine  der  Höhlen,  die  in  der  Nähe  der  verlassenen 
Missionsstation  Cana  gelegen  ist.  ,,Der  Eingang,  sagt  er,  liegt 
unter  weit  vorstehendem  und  überhängendem  Gestein  und  bildet 
so  ziemlich  in  der  ganzen  Breite  der  Höhle  einen  weiten,  von  der 
Natur  gewölbten  Bogen.  Die  Länge  der  Höhle  beträgt  etwa  130. 
die  Breite  100  Ellen.  Die  hohe,  gewölbte  Decke  ist  von  Rauch 
und  Ruß  geschwärzt;  auf  dem  Fußboden  lagen  ganze  Haufen  von 
Menschenknochen  umher,  teils  förmlich  aufgeschichtet,  teils  ül^erall 
zerstreut.  Auch  vor  der  Höhle  lagen  auf  dem  Abhänge,  soweit  das 
Auge  reichen  konnte,  Knochen  und  Schädel  umher,  letztere  in 
außerordentlich  großer  Menge  und  zumeist  von  Frauen  und  Kindern. 
Sie  waren  vermittels  stumpfer  Äxte  oder  auch  geschärfter  Steine 
in  Stücke  geschlagen  worden,  gleich  den  Markknochen,  welche  man 
dann  der  Länge  nach  gespalten  hatte.  Nur  an  einigen  wenigen 
waren  Spuren  von  Feuer  zu  bemerken;  die  Höhlenmänner  zogen 
das  Kochen  dem  Braten  vor. 

,,Man  kann  sich  denken,  unter  welcher  Aufregung  ich  diese 
düstere   Höhle    untersuchte.     Der    Führer    geleitete   mich    an    eine 


^  Tra VASSOS  Vam)kz,  Six  ycars  of  a  travellers  Lite|  iu  Wostern  Afriea. 
London.  1861.    II.    159. 

^  The  Cave  Cannibals  of  Soutli  Afrioa.  Anthropological  Review.  VII. 
121  (1869). 


Kannibalenhöhlen  im  Basutolancle.  33 

Stelle,  wo  einige  rauhe,  unregelmäßige  Stufen  in  eine  dunkle  Ga- 
lerie führten;  dort  wurden  die  Schlachtopfer  aufbewahrt,  bis  an  sie 
die  Reihe  kam.  An  ein  Entrinnen  von  dort  war  nicht  zu  denken. 
Bei  Wilden,  welche  etwa  durch  Hungersnot  zum  äußersten  getrieben 
werden,  um  ihr  nacktes  Leben  zu  fristen,  findet  der  Kannibalismus 
eine  Erklärung.  Mit  dem  Volke  hier  aber  verhält  sich  die  Sache 
ganz  anders.  Diese  Menschen  bewohnen  ein  fruchtbares  Land,  in 
welchem  auch  Wild  in  Menge  vorhanden  ist.  Aber  trotzdem  machten 
sie  nicht  bloß  Jagd  auf  ihi'e  Feinde,  um  dieselben  aufzufressen, 
sondern  sie  verzehrten  sich  untereinander,  sie  machten  Gefangene 
von  ihrem  eigenen  Stamme,  und  wenn  eben  keine  anderen  Schlacht- 
opfer vorhanden  waren,  dann  kamen  ihre  eigenen  Kinder  und  Weiber 
an  die  Reihe.  Eine  träge  oder  zanksüchtige  Frau  wurde  sofort 
schnell  abgethan  und  gab  ein  leckeres  Mahl;  ein  Kind,  das  zu 
viel  schrie,  wurde  ohne  weiteres  still  gemacht  und  abgekocht; 
Kranke  und  Schwache  ließ  man  nicht  etwa  des  natürlichen  Todes 
sterben,  sie  hätten  ja  dann  nicht  den  Magen  stillen  können.  So 
war  es  mit  diesem  Volke  beschaffen.  Man  sagt  zwar,  daß  sie  den 
Kannibalismus  schon  seit  vielen  Jahren  aufgegeben  hätten,  ich  fand 
aber  in  der  Höhle  ganz  untrügliche  Beweise  dafür,  daß  die  Praxis 
noch  nicht  verloren  gegangen  ist,  denn  einige  Knochen  waren  sehr 
frisch;  sie  hatten  augenscheinlich  einem  starkknochigen  Mann  an- 
gehört, dessen  Schädel  hart  wie  Erz  war;  an  den  Gelenken  befand 
sich  noch  Mark  und  eine  fettige  Substanz.  Er  konnte  erst  vor 
einigen  Monaten  geschlachtet  worden  sein. 

,, Diese  Höhle  gehört  zu  der  größten  in  der  ganzen  Gegend 
und  diente  den  Kannibalen  als  eine  Art  Hauptquartier.  Vor  dreißig 
Jahren  war  übrigens  das  ganze  Land  vom  Molutaflusse  bis  zum 
Caledon,  dann  auch  ein  Teil  der  Region  am  Putesanaflusse  von 
Anthropophagen  bewohnt,  welche  Schrecken  unter  den  umwohnen- 
den Stämmen  verbreiteten.  Sie  schickten  Jagdpartien  aus,  welche 
sich  in  der  Nähe  betretener  Pfade  oder  Gärten,  Triften  und  Trank- 
plätze in  den  Hinterhalt  legten  und  es  vorzugsweise  auf  den  Fang 
von  Frauen  und  Kindern  abgesehen  hatten. 

„Noch  heute  leben  viele  alte  Kannibalen,  und  an  demselben 
Tage,  an  welchem  ich  jene  Höhle  besuchte,  machte  ich  mit  einem 
derselben  Bekanntschaft.  Er  ist  nun  etwa  sechzig  Jahre  alt.  Als 
er  noch  in  der  Höhle  hauste,  fing  er  einst  drei  junge  Weiber;  da- 
von nahm  er  eines  zu  seiner  Gefährtin,  die  beiden  andern  wurden 
gekocht.  Jene  Ehe  ist  dann  eine  recht  glückliche  gewesen,  und 
die  Frau  Gemahlin  hat  sich  bald  an  die  neue  Lebensweise  gewöhnt; 

R.  A  u  d  r  e  e ,  Anthropophagie.  3 


34  Kannibalenhöhlen  im  Basutolande. 

man  zeigte  mir  den  Winkel,  welcher  dieser  glücklichen  Familie 
zum  Aufenthalt  gedienf 

So  weit  BowKEK.  Der  deutsche  Sprachforscher  Dr.  Bleek 
fügte  dem  Aufsatze  einige  Bemerkungen  hinzu,  welche  für  die 
Geschichte  dieses  Kannibalismus  von  Interesse  sind.  Danach  findet 
man  weiteres  darüber  in  dem  Werke :  „Relation  d'un  voyage  d'ex- 
ploration  au  nordest  de  la  colonie  du  Cap  de  bonne  Esp6rance  par 
Aeboüsset  et  Daumas",  Paris  1842,  105 — 123.  Die  Reise  fällt  in 
das  Jahr  1836.  Ferner  kurze  Notizen  in  Edwaed  Salomons  „Two 
lectures  on  the  Native  Tribes  of  the  inferior",  Capstadt  1855,  62 
bis  64.  Salomon  zufolge  fand  sich  der  Kannibalismus  bei  vier 
Stämmen;  zwei  davon,  die  Bakufeng  und  Makatla,  sind  Betschu- 
anen;  die  beiden  andern,  Bamakakana  und  Bannitlapatla,  sind 
Kaffern.  Höchst  wahrscheinlich  wurden  sie  Kannibalen  infolge  der 
Kriege,  durch  welche  jene  Gegenden  arg  verwüstet  wurden.  Die 
Liebhaberei  nach  Menschenfleisch  blieb,  als  die  Not  längst  vorüber 
war,  und  der  Kanidbalismiis  hielt  sich  dann  längere  Zeit.  Die  ein- 
heimische Sage  der  Zulu  wie  der  Betschuanen  Aveiß  viel  von  den 
Amazimu  und  Marimo,  den  Menschenfressern,  zu  erzählen.^ 

Dr.  John  Beddoe  endlich  berichtet  über  die  Art  und  Weise, 
wie  die  Anthropophagen  mit  ihren  Schlachtopfern  umgingen,  und 
zwar  war  das  Verfahren  ein  außerordentlich  regelmäßiges,  man 
kann  sagen  mit  Fleischerkunst  ausgeübtes.  Jeder  Schädel  ist  ver- 
mittels einer  Axt  am  Nasenbein  querüber  auseinander  gehauen; 
die  Backenknochen  wurden  als  unbrauchbar  weggeworfen.  Dann 
wurde  in  den  Oberkopf  ein  Loch  geschlagen  und  das  Hirn  heraus- 
gezogen. Die  Rippenstücke  wanderten  in  den  Kochtoi)f.  Die  Röhren- 
knochen wurden  der  Länge  nach  gespalten,  und  dann  nahm  man 
das  Mark  heraus.  Vielfach  bemerkte  man  noch  die  Knorpel  und 
sah  man  Spuren  von  Messerschnitten  an  den  Schädeln,  von  denen 
das  Fleisch  streifenweise  abgelöst  wurde.  Alle  Europäer  (Boers), 
welche    bei   dem  Angritte    auf  Tliaba  Bosiu  (Moscheschs  Feste  im 


'  In  den  Nurseiy  tales,  Traditions  and  histories  of  the  Zulus,  die  Callawav 
sammelte  (Natal  and  London.  1868),  kommt  ein  Märchen  vor,  in  dem,  wie  iin 
deutschen  Märchen,  ilie  MeiLSchenfresserin  verstcckti;  Kinder  wittert  und  aus- 
ruft: „Ich  rieche  Mensclienfleisch."  Wie  Mehexskv  (Beiträge  zur  Kenntnis  Süd- 
afrikas. Berlin  1875.  132)  hervorhebt,  fehlt  bei  den  Kaffern  auch  heute  der 
Glaube  an  die  magische  Wirksamkeit  des  Menschenfleisches  nicht.  Der  Schmied 
legt  erst  ein  Stückchen  Mensclienfleisch  in  die  Kohlen,  che  er  die  Arbeit  be- 
ginnt und  der  Giftmisclier  meint  in  demselben  ein  Mittel  zu  haben,  seinen  Feind 
schnell  aus  der  Welt  zu  schaÜ'cn. 


Südafrika.  35 

Basutoliinde)  fielen,  wurden  sofort  aufgefressen,  weil  man  wähnte, 
daß  dadurch  ihr  Mut  in  den  Leib  der  Kannibalen  übergehen  würde. 
Daß  die.  Anthropophagie  in  Südafrika  nicht  bloß  auf  die  Basuto 
beschränkt  bleibt,  hat  Karl  Mauch  angedeutet.^  Er  selbst  hat 
zwar  keinen  Fall  von  Kannibalismus  darthun  können,  indessen 
fand  er,  daß  die  Eingel}ornen  allgemein  davon  sprachen.  ,,Am 
glaubwürdigsten,  schreibt  er,  scheint  mir  noch  die  Aussage  meines 
Dolmetschers  1871  zu  sein.  Als  Avir  nämlich  in  die  Nähe  von 
Lomando,  einem  Baromapulana- Häuptling  in  den  östlichen  Zout- 
pansbergen  kamen,  riet  mir  der  Dolmetscher  ja  recht  vorsichtig  zu 
sein,  insofern  Lomando  ein  unversöhnlicher  Feind  der  Boers  sei. 
Unter  andern  erwähnte  er  auch,  daß  er  (Lomando)  sich  öfter  junge 
Mädchen  im  Felde  fangen  lasse,  um  sie  zu  schlachten  und  aufzu- 
essen; besonders  sollen  die  Schamteile  für  ihn  das  Leckerste  daran 
sein.  Was  das  Aussehen  dieses  Häuptlings  betrifft,  so  entspricht 
es  ganz  solcher  Möglichkeit;  ich  habe  nirgends  eine  Physiognomie 
beobachtet,  welche  so  sehr  der  tierischen  sich  nähert:  breite,  auf- 
geworfene Lippen  mit  ungemein  stark  ausgebildeten  Freßwerkzeugen ; 
die  Lider  Ijedecken  zur  Hälfte  die  kleinen  blutrünstigen  Augen; 
eine  sehr  niedrige  Stirne,  rohes  Geschwätz  bei  kreischender  Stimme; 
roh  gebaut  und  äußerst  schmutzig;  eine  treffliche  Kreatur,  einen 
Kannibalen  darzustellen,  wie  ich  in  meinem  Journal  sagte. 

,,Ein  Missionär,  der  seine  Station  in  der  Nähe  des  westlichen 
Endes  der  Zoutj^ansberge  hat,  sagte  mir,  alle  Baromapulana  seien 
Kannibalen;  er  bewache  deshalb  seine  Kinder  ängstlich,  damit  sie 
nicht  gestohlen  würden. 

„Albasini,  portugiesischer  Konsul  in  derselben  Gegend,  wollte 
ebenfalls  bemerkt  haben,  daß  in  den  Zout})ansbergen  noch  Menschen- 
fresser wohnen.^' 

Auf  diese  Zeugnisse  gestützt  mag  es  wohl  erlaubt  sein,  die 
Baromapulana  unter  die  Anthropophagen  einzureihen.  Weiter  nörd- 
lich bei  den  Matebele  fand  Mauch  keine  Spuren  von  Kannibalis- 
mus, und  ebenso  wenig  erzählen  andere  Reisende,  die  mit  diesem 
mordlustigen  Kaffernstamme  in  Berührung  kamen,  wie  z.  B.  Mohr, 
etwas  davon.  ,, Gegen  Nordosten  —  also  nach  dem  untern  Sambesi 
hin  —  habe  ich  nie  etwas  von  Kannibalen  gehört'',  schrieb  mir 
Mauch. 

Alle  diese  Mitteilungen  über  den  Kannibalismus  unter  süd- 
afrikanischen Bantu- Stämmen  reichen  aber  nicht   hin   dieselben  im 


1  Brieflic'hr  Mittciluii--  .1.  d.  Stuttgart  29.  Novemlx-r  1873. 

3* 


36  Darfor.    Burum.    Niara-Niam. 

ganzen  zu  gewolmlieitsmäßigen  Kannibalen  zu  stempeln  und  es 
muß,  in  Übereinstimmung  mit  Fritsch^  dargethan  werden,  daß  die 
Menscbenfresserei  unter  ihnen  sporadisch  wohl  vorgekommen,  nie 
aber  zur  Stammessitte  geworden  ist. 

Centralafrika.  In  vorislamischer  Zeit  hat  die  Anthropophagie 
am  Nile  weiter  abwärts  geherrscht,  wenigstens  im  Bereiche  der 
Neger,  und  Spuren  davon  sind  bis  auf  unsere  Zeit  gekommen,  so- 
viel der  Islam  auch  hier  aufräumte. 

In  Darfor  war  es  Brauch  l)ei  der  Thronbesteigung  des  Sultans 
und  dann  an  einem  bestimmten  Festtage  in  der  Residenz  zwei 
Knaben,  Söhne  der  gleichen  Eltern,  zu  opfern;  das  Fleisch  wurde 
vom  Sultan  und  den  höchsten  Beamten  verzehrt;  wer  sich  dessen 
weigerte,  wurde  als  Verräter  betrachtet.  Dieses  aus  der  Heiden- 
zeit stammende  Opfer  hat  sich  selbst  lange  in  dem  islamitischen 
Darfor  erhalten  und  ist  erst  vom  Sultan  Hussein  (regierte  in  den 
fünfziger  Jahren)  abgeschafft  worden.  ^ 

Unsicher  ist  die  Anthropophagie  der  Burum,  die  zwischen  11" 
und  12''  nördl.  Br.  in  mehreren  Stämmen  die  innere  Dschesireh 
(Insel,  das  Land  zwischen  dem  blauen  und  weißen  Nil)  bewohnen. 
Sie  zeigen  ,,den  vollendeten  Negertypus,  sind  meist  von  kolossalem 
Bau  und  großer  Wildheit,  ja  es  wird  ihnen  sogar  allgemein  Anthro- 
pophagie zur  Last  gelegt",  meldet  von  ihnen  Ernst  Marno,  welcher 
1870  an  die  Grenze  ihres  Gebietes  gelangte.^  Wie  Marno  mir 
mündlich  berichtete,  besaß  er  einen  Diener,  der  diesem  Stamme 
angehörte  und  ihm  offen  eingestand,  daß  bei  seinem  Volke  Kanni- 
balismus herrsche,  doch  konnte  der  Reisende  sich  nicht  persönlich 
hiervon  überzeugen. 

Desto  sicherer  ist  die  Anthropophagie  der  Niam-Niam.  deren 
Gebiet  zwischen  4'^  und  7"  n.  Br.  von  29 '^  östl.  L.  v.  Gr.  nach 
Westen  hin  an  den  Zuflüssen  des  weißen  Nil  sich  erstreckt,  und 
die  sich  selbst  Sandeh  nennen.  Alle  Reisenden,  die  an  den  weißen 
Nil  kamen,  hörten  von  ihnen  und  l)ericliteten  neben  manchem  Mär- 
chen —  man  gab  sie  ja  lange  Zeit  für  ,, geschwänzte"  Menschen 
aus  —  auch  daß  sie  Kannibalen  seien.  Theodor  von  Heuglin, 
der  von  Norden  her  ihrem  Lande  am  nächsten  kam,  sucht  sie  vom 


^  G.  Fbiscii,  Eingeboreue  Südafrikas.    147. 

^  Webner  Munzinqer,  Ostafrikanische  Studien.    Schaff  hausen  1864.    558. 
^  Reisen  in  Hoch-Sciuiar.     In    Peteiimanns    gcograpliisclmn    MittciUuigen. 
1872.    455. 


Niam-Niam.  37 


Verdachte   der  Anthropophagie  zu  reinigen  \  indessen  sollten  bald 
vollgültige  Beweise  hierfür  beigebracht  werden. 

Ein  italienischer  Handwerker,  Caelo  PiaggiAj  trieb  sich  meh- 
rere Jahre  lang  mit  nubischen  Elfenbeinhändlern  und  Sklavenjägern 
im  Niam-Niamlande  herum  und  brachte  ein  volles  Jahr,  bis  Februar 
1865,  bei  dem  Häuptlinge  Tombo  zu,  wo  er  nicht  nur  Nächrichten 
ül)er  die  Anthropoi^hagie  einzog,  sondern  selbst  Zeuge  war,  wie  das 
Fleisch  der  erschlagenen  Feinde  verzehrt  wurde. ^  Hätten  an  Piaggias 
Berichten  noch  Zweifel  aufkommen  können,  so  sind  wir  über  den 
Kannibalismus  der  Niam-Niam  durch  Georg  Schweikfueth  völlig 
aufgeklärt,  welcher  auf  seiner  epochemachenden  Reise  1870  sie 
genau  kennen  lernte.  Der  Name  Niam-Niam  ist  der  Sprache  der 
I  )inka  entlehnt  und  bedeutet  „Fresser,  Vielfresser",  auf  die  Anthropo- 
])hagie  dieses  Volkes  anspielend.  ,,Im  großen  und  ganzen  darf  man 
getrost  die  Niam-Niam  als  ein  Volk  von  Anthropophagen  bezeichnen, 
und  wo  sie  Anthropophagen  sind,  sind  sie  es  ganz  und  ohne  Reserve 
um  jeden  Preis  und  unter  jeder  Bedingung.  Die  Anthropophagen 
rühmen  sich  selbst  vor  aller  Welt  ihrer  wilden  Gier,  tragen  mit 
Ostentation  die  Zähne  der  von  ihnen  Verspeisten  auf  Schnüre  ge- 
reiht wie  Glasperlen  am  Halse  und  schmücken  die  Pfähle  bei  den 
Wohnungen  mit  Schädeln  ihrer  Opfer.  Am  häufigsten  und  von  all- 
gemeinstem Gebrauche  wird  das  Fett  von  Menschen  verwertet.  Dem 
Genüsse  ansehnlicher  Mengen  schreiben  sie  allgemein  berauschende 
Wirkung  zu.  Verspeist  werden  im  Kriege  Leute  jedes  Alters,  ja 
die  Alten  häufiger  noch  als  die  Jungen,  da  ihre  Hilflosigkeit  sie 
bei  Überfällen  zur  leichten  Beute  des  Siegers  gestaltet.  Verspeist 
ferner  werden  Leute,  die  eines  plötzlichen  Todes  starben  und  in 
dem  Distrikte,  wo  sie  lebten,  vereinzelt  und  ohne  den  Anhang  einer 
Familie  dastanden;  es  ist  das  jene  Kategorie  von  Menschen,  welche 
bei  uns  der  Anatomie  verfallen.  —  —  Nach  den  von  Niam-Niam 
selbst  eingezogenen  Nachrichten  und  Erklärungen  verabscheuen  die- 
jenigen,   welche    überhaupt   Anthropophagen    sind,    nur    dann    den 


^  Theodor  v.  Heuglin,  Reise  in  das  Gebiet  des  Weißen  Nil.  Leipzig  und 
Heidelberg  1869.  206.  Audi  Rob.  Hartmann,  Naturgescliichtlich  -  medizinische 
Skizzen  der  Nilländer.  Berlin  1865.  305,  bezweifelte  die  Anthropophagie  der 
Niam-Niam.  —  W.  G.  Brown,  der  Ei-forscher  Darfors,  hörte  dort  (1798)  von 
Sklaven  aus  dem  Süden,  daß  in  ihrem  Lande  die  Menschenfi-esserei  herrsche. 
Browns  Reisen  in  Afrika.  Aus  dem  Englischen.  Weimar  1800.  364.  Richtige 
Nachrichten  über  diese  Anthropophagen  hatte  1856  bereits  Brün-Bollet  einge- 
zogen (Petermanns  Mitteilungen.  Ergänzungsheft  VH.  21). 

-  Petermanns  Mitteilungen.   Ergänzmigsheft  X.   79. 


38  Niam-Niam.     Monbuttu. 


Genuß  von  Menschenfleisch,  wenn  der  Körper  einem  an  ekelhaften 
Hautkrankheiten  Verstorbenen  angehörte'^^ 

Die  Details,  welche  ScHWEiNruRTH  über  den  Kannibalismus 
der  Niam-Niam  beibringt,  sind  haarsträubender  Natur.  Das  Fett 
der  Babuckr,  eines  Negerstammes,  der  vorzugsweise  den  Niam-Niam 
Fleisch  liefert,  dient  allgemein  als  Speiseöl,  und  der  Reisende  mußte 
seine  Lampe  damit  speisen,  da  anderes  Ol  nicht  aufzutreiben  war. 
„Im  Niam-Niamlande  war  ich  selbst  Zeuge,  daß  man  die  Krieger, 
welche  die  Nubier  auf  einem  Sklavenraubzug  ins  Babuckr-Gebiet 
begleitet  hatten,  mit  alten  untauglichen  Weibern  beschenkte  —  zum 
Essen,  und  mir  gab  man  nach  einiger  Zeit  die  Köpfe."  Ebenso 
sah  SciiWEiNFüETH  neugeborene  Kinder  von  Sklavinnen,  die  als 
Leckerbissen  zum  Fressen  bestimmt  waren.  „Diese  Wahrnehmung 
war  das  Ungeheuerlichste,  was  ich  gesehen;  ich  hätte  sofort  meinen 
Revolver  in  Thätigkeit  setzen  mögen,  doch  wandte  ich  schnell  der 
gräßlichen  Scene  den  Rücken". 2 

Südlich  von  den  Niam-Niam,  bereits  an  der  Wasserscheide  des 
Nil  und  Kongo,  wohnen  die  nicht  minder  kannibalischen  Monbuttu 
und  Abanga,  die  gleichfalls  durch  Schweinfubth  bekannt  geworden 
sind.  „Der  Kannibalismus  der  Monbuttu  übertrifft  den  aller  be- 
kannten Völker  in  Afrika.  Da  sie  im  Rücken  ihres  Gebiets  von 
einer  Anzahl  völlig  schwarzer,  auf  niederer  Kulturstufe  stehender 
und  daher  von  ihnen  verachteten  Völkern  umgeben  sind,  so  eröffnet 
sich  ihnen  daselbst  die  willkommene  Gelegenheit  auf  Kriegs-  und 
Raubzügen  sich  mit  hinreichend  großen  Vorräten  von  dem  über 
alles  geschätzten  Mensclienfleische  zu  versorgen.  Das  Fleisch  der 
im  Kampfe  gefallenen  wird  auf  der  Wahlstatt  verteilt  und  im  ge- 
dörrten Zustande  zum  Transport  nach  Hause  hergerichtet.  Die 
lebendig  Eingefangenen  treiben  die  Sieger  erbarmungslos  vor  sich 
her,  gleich  einer  erbeuteten  Hammelherde,  um  sie  später  einen  nach 
dem  andern  als  Opfer  ihrer  wilden  Gier  fallen  zu  lassen.  Die  er- 
beuteten Kinder  verfallen  nach  allen  Angaben,  die  mir  gemacht 
wurden,  als  besonders  delikate  Bissen  der  Küche  des  Königs.  Es 
ging  während  unseres  Aufenthalts  bei  Munsa  das  Gerücht,  daß  für 
ihn  fast  täglich  kleine  Kinder  eigens  geschlachtet  wurden.  Jeden- 
falls bot  sich  den  Blicken  der  Fremden  nur  selten  Gelegenheit  dar, 
Augenzeuge  von  Mahlzeiten  der  Eingcbornen   zu  sein.     Mir  selbst 


*  G.  ScHWEiNFURTH,  Dic  Niam-Niam.   Globus  XXITI.  23. 
^  ScHWEiNFURTH  in   Petermanns  Mitteilungen.    1871.    13!)    und    in    seinem 
Reisewerk  „Im  Herzen  von  Afrika".   II.  240. 


Monbuttu.     Mambaiiffa.  39 


sind  nur  zwei  Fälle  bekannt,  wo  ich  die  Monbuttu  mitten  bei  der 
Arbeit  überraschte,  Menschenfleisch  als  Speise  herzurichten.  Das 
eine  Mal  stieß  ich  auf  eine  Anzahl  junger  Weiber,  wie  sie  eben 
damit  beschäftigt  waren,  vor  der  Thür  ihrer  Hütte  auf  dem  ge- 
glätteten Estrich  von  Thon  die  ganze  untere  Hälfte  eines  Kadavers 
durch  Brühen  mit  kochendem  Wasser  von  seinen  Haaren  zu  säu- 
bern. Durch  diese  Behandlung  war  die  schwarze  Hautfarbe  einem 
fahlen  Aschgrau  gewichen.  Der  ekelhafte  Anblick  erinnerte  mich 
lel)haft  an  das  Abbrühen  unserer  Mastschweine.  Ein  anderes  Mal 
fand  ich  in  einer  Hütte  den  noch  frischen  Arm  eines  Menschen 
über  dem  Feuer  hängend,  um  ihn  zu  dörren  und  zu  räuchern. 
Sichtbare  Spuren  und  untrügliche  Anzeichen  von  Kannibalismus 
fanden  sich  übrigens  auf  Schritt  und  Tritt  in  diesem  Lande.*' ^ 
Dabei  sind  diese  Monbuttu  ein  durch  Begabung,  Urteil  und  National- 
stolz, ja  durch  eine  Art  Kultur  vor  den  Nachbarn  ausgezeich- 
netes Volk. 

Die  Nachfolger  Schweinfueths  in  den  Ländern  westlich  vom 
weißen  Nil  haben  dessen  Mitteilungen  über  die  Anthropophagie  der 
Niam-Niam  und  der  Monbuttu  vollauf  bestätigt.  Von  den  Mam- 
banga,  einem  der  südlichen  Stämme  der  Niam-Niam,  hebt  Junker 
hervor,  daß  sie  durch  geordnete  staatliche  Verhältnisse,  Lebens- 
weise, Sitten  und  Kunstleistungen  weit  über  benachbarten  Neger- 
stämmen stehen.  Dabei  aber  findet  man  den  Kannibalismus  in 
seiner  tierischsten  Form.  Alle  Leichen  werden  bei  diesem  Volke 
verzehrt  und  der  einzige  menschliche  Zug,  der  hierbei  den  Kanni- 
balen geblieben,  ist  die  Scheu  vor  dem  Fleische  der  Blutsverwandten ; 
deren  Leichen  werden  wenigstens  an  Fernstehende  verschachert. 
Stirbt  ein  Mambanga,  so  kann  nach  dortigem  Aberglauben  dieses 
nur  durch  den  bösen  Willen  anderer  bewirkt  worden  sein,  da  die 
Vorstellung  des  natürlichen  Todes  jenem  Volke  fremd  ist.  Nun 
wird  das  Orakel  befragt,  welches  einen  oder  mehrere  Menschen  als 
Urheber  des  Todes  bezeichnet  und  die  infolge  des  Spruchs  erdrosselt 
und  auch  verzehrt  werden.  ,,Das  Lynchen  und  der  Kannibalen- 
schmaus wird  stets  abseit  der  Hütten  vollzogen.  Die  Weiber  tragen 
die  Zukost  in  der  Form  des  Lugmagerichts,  einer  Mehlspeise,  für 
die  Männer  an  den  Ort  der  Greuelthat.'*^ 

Li  meiner  ersten  Bearbeitung  unseres  Themas  habe  ich  die 
Annahme  gewagt,  daß  das  noch  unerforscht  äquatoriale  Afi'ika  als 


*  ScHWEiNFURTH,  Im  Hei'zcn  von  Afrika.    II.  98. 

^  Dr.  W.  Junker  in  Petermanns  Mitteilunp-en.    1881.    256. 


40  Kongolandschaften.     Manjuema. 

von  Kannibalen  bewohnt  zu  betrachten  sei.i  Damals  hatte  Stanley 
noch  nicht  seine  epochemachende  Fahrt  quer  durch  Afrika  gemacht, 
vom  Kongo  waren  nur  Quellströme  und  Mündung  bekannt,  doch 
der  Ausspruch  Schweinfurths  ,  daß  die  Sitten  der  Monbuttu  auf 
das  Gabonland  deuteten,  ließ  bereits  auf  Verwandtschaft  der  damals 
noch  unbekannten  Centralafrikaner  mit  den  Fan  einerseits,  den 
Monbuttu  anderseits  schließen.  Jetzt  hat  sich  in  der  That  heraus- 
gestellt, daß  die  Landschaften  am  mittleren  und  oberen  Kongo, 
sowie  an  den  Zuflüssen  des  letzteren  zu  der  innerafrikanischen  Zone 
der  Kannibalen  gehören. 

Schon  Speke^  wußte,  daß  im  Westen  des  Tanganjika  Menschen- 
fresser wohnen  und  Burton  ^  nannte  sie  Wabembe.  Die  erste  Be- 
stätigung aber  brachte  Livingstone,  indem  er  uns  die  Manjuema 
kennen  lehrte.  Ihr  Land  liegt  zwischen  dem  nördlichen  Teile  des 
Tanganjika-Sees  und  dem  Lualabaflusse,  zwischen  25  "^  und  29° 
östl.  L.  V.  Gr.  und  3*'  und  6°  s.  Br.  Erforscht  wurde  es  1870  und 
1871  durch  David  Livingstone,  der  zum  ersten  Mal  während  seiner 
dreißigjährigen  Wanderungen  in  Südafrika  auf  Kannibalen  stieß. 
„Die  Manjuema,  berichtet  Livingstone,  sind  sicherlich  Menschen- 
fresser, aber  sie  essen  nur  im  Kriege  getötete  Feinde,  scheinen 
bei  ihren  kannibalischen  Orgien  von  Kache  angestachelt  zu  sein 
und  lassen  nicht  gerne  Fremde  als  Zuschauer  zu.  Ich  bot  ver- 
gebens eine  Belohnung  jedem,  der  mir  die  Gelegenheit  verschaffen 
würde,  ein  Kannibalenfest  mit  anzusehen.  Einige  intelligente  Männer 
sagten  mir,  das  Fleisch  sei  nicht  gut,  und  nach  seinem  Genüsse 
träume  man  von  dem  Toten.     Frauen  nehmen  niemals  Teil."^ 

In  Nyangwe  am  oberen  Kongo  sah  Livingstone  auf  dem 
Markte  einen  Mann,  der  zehn  menschliche  Unterkiefer  an  einer 
Strippe  über  die  Schulter  gehängt  trug;  auf  Livingstone s  Befragen 
bekannte  er,  er  habe  die  Eigentümer  dieser  Unterkiefer  getötet 
und  gegessen.^  Nach  demselben  zuverlässigen  Reisenden  endet  in 
dem  an  den  Lualal)a  angrenzenden  Metambalande  ein  Streit  zwischen 
Ehegatten  oft  damit,  daß  der  Mann  die  Frau  erschlägt,  ihr  Herz 
mit  Ziegenfleisch  zu  einem  Gerichte  bereitet  und  dieses  verzehrt'', 
worin   unschwer    die  Befriedigung    der  Eachsucht    erkannt   werden 


^  Mitteilungen  des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Leipzig.    1873.    39. 

^  Entdeckung  der  Nilquellen.    I.    125. 

^  Transactions  of  the  Ethnological  Society.    New  Series  I.  320. 

^  Petermanns  Mitteilungen.    1873.   32. 

^  LiviNGSTONES  letzte  Heise.  Deutsche  Ausgabe,    II.    153. 

«  Daselbst.    II.   58. 


Manjuema.     Kongolandschaften.  41 

kann.  Stanley  äußert  sich  über  Manjuema  in  ähnlicher  Art  wie 
Livingstone;  er  fand  dort  die  Dörfer  mit  Menschenschädeln  gleich- 
sam gepflastert.^    Im  Dorfe  Kimpungu  sah  er  186  solcher  Schädel. 

Leutnant  Wissmann  hörte  in  Manjuema  von  einem  Manne  das 
folgende:  ,,Bis  vor  kurzem  haben  wir  auch  Menschenfleisch  gegessen 
und  zwar  auch  das  von  den  an  einer  Krankheit  Gestorbenen,  nur 
haben  wir,  wenn  jemand  an  einer  Krankheit  gestorben  ist,  die 
äußersten  Glieder  der  Finger  und  Zehen  abgenommen,  eingesalzen, 
in  Blätter  gewickelt  und  ins  Wasser  geworfen,  während  wir  den 
ganzen  andern  Körper  gegessen  haben.''  Durch  das  Einsalzen  und 
Wegwerfen  sollte  erreicht  werden,  daß  die  Krankheit  nicht  auf  den 
Essenden  überging.  Er  erzählte  weiter,  daß  sie  nicht  die  in  ihren 
eigenen  Dörfern  Gestorbenen  gegessen,  sondern  die  Leichen  ge- 
wissermaßen ausgetauscht  hätten.  Die  von  einem  fremden  Dorfe 
herübergekommene  Leiche  wird  später  wieder  erstattet  durch  einen 
im  Dorfe  selbst  Gestorbenen.  ^ 

Als  Stanley  den  Kongo  abwärts  fuhr,  war  es  nichts  unge- 
wöhnliches, daß  die  feindlich  gesinnten  Stämme  am  Ufer  nach  seinem 
Fleische  schrieen.  „Wir  werden  Fleisch  in  Menge  haben"  hieß  es 
da.  Auf  der  Insel  Asama  im  Kongo  ,, verzierten  Menschenschädel 
die  Dorfstraße  und  eine  große  Menge  Schenkelknochen,  Rippen 
und  Rückenwirbel  lagen  in  einem  Winkel  voll  Unrat,  als  gebleichte 
Zeugen  ihres  gräßlichen  Appetits  nach  Menschenfleisch."  Also 
Küchenabfälle  mit  Menschenknochen.  Und  so  ganz  ähnlich  da, 
wo  der  Aruwimi  in  den  Kongo  mündet,  wo  auch  die  abgenagten 
Menschenknochen  offen  und  frei  auf  den  Unrathaufen  des  Dorfes 
umherlagen  und  „der  dünne  Vorderarm  eines  Menschen,  der  neben 
einem  Feuer  zugleich  mit  versengten  Rippen  vorgefunden  wurde", 
Stanley  einen  handgreiflichen  Beweis  für  die  gräßliche  Gewohnheit  bot.^ 

Der  Kannibalismus  der  centralafrikanischen  Völker,  welche  an 
den  südlichen  Zuflüssen  des  Kongo  wohnen,  in  jenen  Gegenden, 
welche  von  Pogge  und  Wissmann  besucht  wurden,  tritt  nicht  so 
öffentlich  hervor,  wie  bei  den  Monbuttu  und  manchen  Westafrikanern. 
Wissmann  hat  dort  mit  eigenen  Augen  keinen  Fall  beobachtet,  ist 
aber  durch  die  Gesamtheit  der  Berichte  von  dem  Vorhandensein 
überzeugt.  Nach  ihm  sind  die  Baluba  alle  Kannibalen;  auch  die 
Tuschilange  waren  früher  Anthropophagen,  sind  aber  seit  der  Ein- 


'  Stanley,  Dm-eli  den  dunklen  Weltteil.  IL  157  und  Anmerkung  auf  S.  159. 
^  Verhandlungen  der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft,  1885.  459. 
3  Stanley  a.  a.  0.  II.   221.  232.  203.  302. 


42  Kongolandscliaften. 


führiing  des  Hanft-aucbens  davon  abgekommen.  Die  Bassange  (be- 
sonders rein  erhaltene  Baluba)  verzehren  die  im  Kriege  Gefallenen; 
dies  geschieht  Nachts  und  abseits  der  Dörfer.  Vom  Menschenfressen 
ausgeschlossen  sind  bei  ihnen  die  Kinder  bis  zu  einem  gewissen 
Jahre  und  die  Weiber,  die  schon  geboren  haben,  sowie  jedes  Weib 
bis  zu  einem  bestimmten  Alter.  Wenn  es  feststeht,  daß  sie  un- 
fruchtbar ist,  hat  sie  Teil  am  Menschenessen.  ^  Etwas  eingehender 
läßt  sich  PoGGE  über  den  Kannibalismus  der  Bassange  aus.  ..Die 
Körper  der  im  Kriege  Erschlagenen  werden  eine  Nacht  ins  Wasser 
gelegt  und  am  nächsten  Tage  werden  die  Unterschenkel  und  Hände 
abgeschnitten  und  auf  Ameisenhaufen  gelegt.  Nach  einigen  Stunden 
wird  wieder  nachgesehen  und  wenn  die  Ameisen  an  dem  Fleische 
fressen,  so  ist  es  gut.  Die  betreffenden  Körper  werden  alsdann 
zerlegt  und  von  bestimmten  Männern  mit  dem  Fleisch  der  im  Kriege 
erbeuteten  Ziegen  zusammen  gekocht  und  dann  vor  das  Haus  des 
Soba  (Häuptlings)  gebracht,  welcher  davon  genießt  und  das  Fleisch 
an  die  Krieger  verteilt.  ^ 

Die  südlichen  Zuflüsse  des  Kongo,  deren  Erforschung  das  Werk 
deutscher  Reisender  ist,  haben  gleichfalls  Kannibalen  zu  Anwohnern. 
Vom  Tschuapa  und  Bussera  beglaubigt  dieses  Leutnant  von  Feanqois. 
Das  Schlachten  von  Menschen,  bloß  um  sich  Fleisch  zu  verschaffen, 
kommt  am  Bussera  vor;  im  allgemeinen  ist  aber  Anthropophagie 
,, ein  Akt  religiösen  Ceremoniells  bei  besonderen  Gelegenheiten.''  Die 
Anwohner  des  Tschuapa  riefen  dem  vorüberfahrenden  Feanqois  zu: 
,,Wir  werden  euch  den  Kopf  abschneiden!  Wir  werden  euch  fressen! 
Buala!  Buala!  (Fleisch,  Fleisch),''^  gerade  wie  es  Stanley  auf  dem 
Kongo  ergangen  war.  Auch  an  den  meisten  anderen  südlichen  Zu- 
flüssen des  Kongo,  so  am  Saie  oder  Tschia,  dem  Quilu,  dem  San- 
kurru  wohnen  wilde  Kannibalen.  „Hier  wird  allerdings  der  Mensch 
als  Nahrungsmittel,  gewissermaßen  als  Schlachtvieh,  betrachtet  und 
die  vielen  in  den  Dörfern  aufgehäuften  Schädel,  sowie  die  sehr 
freimütigen  Aussagen  der  Eingeborenen  zeugen  am  besten  für  das 
Blühen  des  Kannibalismus."  ^ 

Haiti.  Im  Anhange  zu  Afrika  müssen  wir  hier  noch  einen 
Blick  auf  die  nach  Amerika  ausgewanderten  Neger  werfen.  Die 
Negerrepublik   Haiti  ist  äußerlich   ganz   nach  europäischem  Muster 


'  Verliiuidluiigen  der  Berliner  Anthropologischen  Gesellschaft.  1883.  458. 
-  Mitteilungen  der  Afrikanischen  Gcsellschiift  in  Dexüschland.  IV.  259(1885). 
^  Verhandlungen  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin.  1886.  159.  161. 
*  L(>utenant  TArPENBECK  in  den  Mitteilungen  der  Afrikanischen  Gesell- 
Hchaft.    V.    lieft  2  (1886). 


Haiti.     Australien.  43 


eingerichtetes  Staatswesen,  in  welchem  das  schwarze  Element  voll- 
ständig dominiert;  innerlich  aber  ist  diese  Republik  noch  stark  der 
afrikanischen  Barbarei  ergeben.  Sie  ist,  mit  dem  ebenbürtigen 
Liberia,  ein  wenig  günstiges  Zeugnis  für  die  Entwickelungsfähigkeit 
der  Neger,  wenn  sie  sich  selbst  überlassen  sind.  In  Haiti  ist  näm- 
lich der  Fetischdienst  des  Wodu  die  eigentliche  Eeligion  des  Volkes, 
während  amtlich  der  Katholizismus  herrscht  und  jener  Wodudienst 
ist  mit  Menschenopfern  und  Anthropophagie  verknüpft.  Aber  auch 
ohne  religiösen  Hintergrund  herrscht  letztere  in  Haiti.  Noch  1878 
wurden  zwei  Frauen  auf  frischer  That  ertappt,  welche  die  Leiche 
eines  Kindes  verzehrten.  Eine  Mutter,  die  ihre  eigenen  Kinder 
verzehrt  hatte,  gestand  dieses  ruhig  ein  und  fügte  hinzu:  wer  hätte 
denn  mehr  Eecht  gehabt,  dieses  zu  thun,  als  ich?  Habe  ich  sie 
doch  geboren.  Bei  den  Wodumysterien  wird  die  ,, Ziege  ohne 
Hörner''  geopfert,  d.  h.  ein  Kind.  Am  13.  Februar  18G4  wurden 
zu  Port  au  Prince  acht  Wodukannibalen  hingerichtet.  Auch  der 
Handel  mit  Menschenfleisch  ist,  wie  in  Afrika,  auf  Haiti  bekannt.^ 


Australien. 

Der  australische  Kontinent  zählt  heute  noch  höchstens  50,000 
eingeborene  Schwarze  und  diese  sind,  wo  sie  sich  dem  Einflüsse 
der  Weißen  entziehen,  Anthropophagen ,  wofür  die  bündigsten  Be- 
weise vorliegen. 

Er  kommt  am  Schwanenfluß,  also  Westaustralien,  nach  Salvado 
vor,  wo  man  selbst  Tote  ausgrub,  um  sie  zu  essen  2,  und  John 
FoEREST,  welcher  1869  längere  Zeit  in  der  Umgebung  des  Barlee- 


^  Der  amtliche  Bericht  über  die  Hinrichtung  jener  Wodukannibalen  ist 
nach  dem  Moniteur  Haitien  vom  12.  März  1864  mitgeteilt  im  Globus  VIII.  249. 
Vollauf  Material  zur  Bestätigung  aller  von  den  Negern  Haitis  begangenen  kan- 
nibalischen Scheußlichkeiten  enthält  das  Werk  Spenser  St.  Johns  Hayti  or  the 
Black  Eepublic.  London  1884.  Der  Verfasser  war  zwölf  Jahre  englischer  Gre- 
schäftsträger  in  Haiti  und  ist  wegen  seiner  Zuverlässigkeit  bekannt.  Der  Missions- 
bischof Cleveland  Cox  hat  schon  früher  über  die  zunehmende  Verwilderung 
unter  den  Schwarzen  Haitis  geklagt  und  dieselben  beschuldigt,  daß  sie  bei  ihren 
Jahresfesten  die  eigenen  Kinder  schlachten  und  fressen.    Globus.    XXIV.    48, 

'■^  Waitz  (Gerland),  Anthropologie  der  Naturvölker.    VI.    749. 


44  West-  und  Südausti-alien. 


Sees  zubrachte,  wurde  dort  von  den  Eingeborenen  bedroht,  daß  sie 
ihn  fressen  wollten,  auch  fand  er  dort  einen  Schwarzen,  der  ihm 
mitteilte,  daß  kürzlich  sein  Bruder  gefressen  worden  sei.  ^  Weiteres 
über  die  Anthropophagie  der  Westaustralier  teilt  Oldpield  mit,  nach 
welchem  einmal  die  l)ei  ihnen  allgemein  herrschende  Blutrache,  ander- 
erseits Hunger  zum  Kannibalismus  treiben.  Die  erschlagenen  Feinde 
werden  verzehrt,  tlie  hloodreverrjers  siibsisting  entirely  on  the  ßesh  of 
their  victims,  wenn  sie  sich  im  feindlichen  Grebiete  befinden.  Dabei 
wird  weder  Geschlecht  noch  Alter  geschont  und  wenn  keine  Gelegen- 
heit vorhanden,  das  Fleisch  zu  kochen,  so  wird  es  roh  verzehrt.^  Auf 
reinen  Fleischgenuß  gerichtet  ist  der  westaustralische  Kannibalismus, 
wenn  sie  die  Alten  erschlagen  und  verzehren,  that  so  much  f/ood 
foot  may  not  he  lost.  Man  glaubt,  die  Alten  hätten  keine  Seelen 
mehr,  welche,  zurückkehrend,  dem  Fresser  etwa  Ungemach  bereiten 
könnten.  ^  In  Hungerszeiteu  töten  die  Watchandie  in  Westaustralien 
eines  ihrer  Kinder  durch  einen  Schlag  mit  der  Keule  in  den  Nacken 
um  das  Fleisch  zu  verzehren.  Die  Mutter,  welche  keinerlei  laute 
Klagen  ausstoßen  darf,  da  sie  sonst  Prügel  erhält,  bekommt  den 
Kopf  als  ihren  Anteil;  der  Mann  verzehrt  die  fetten  Stücke,  die 
übrigen  Kinder,  wenn  vorhanden,  werden  mit  den  Eingeweiden  ab- 
gefunden. Alles  wird  roh  verzehrt,  da  solche  Greuel  gewöhnlich  in 
der  nassen  Winterszeit  stattfinden,  wenn  es  unmöglich  ist,  Feuer 
anzuzünden.  Bei  andern  Kannibalenschmäusen  werden  die  Einge- 
weide und  Füße  nicht  verzehrt;  die  letzteren  häutet  man  —  aus 
einem  unaufgeklärten  Grunde  —  nur  ab.  Das  Fleisch  der  Europäer, 
sagen  die  Westaustralier,  schmecke  „salzig";  das  Fleisch  der  Weiljer 
ziehen  sie  jenem  der  Männer  vor.  ^ 

Die  Anthropophagie  wird  von  W.  P.  Stanbkidge,  der  18  Jahre 
mit  den  Schwarzen  in  naher  Berührung  lebte,  für  Südaustralien 
nachgewiesen.'''  ,,Eine  ganz  abscheuliche  Erscheinung  im  Leben 
dieser  Wilden,  sagt  er,  ist  ihr  Kannibalismus,  der  sich  auf  die 
gräßlichste  Weise  äußert.  Die  Eltern  ermorden  nicht  selten  ihre 
neugeborenen  Kinder,  um  sie  aufzufressen.  Auch  herrscht  ein  ent- 
setzlicher Aberglaube,  demgemäß  ein  älterer  Bruder  in  dem  Wahne 
lel)t,  daß  er  sofort  auch  die  Körperkraft  seines  jüngeren  Bruders 
sich  aneignen  könne,  wenn  er  diesen  erschlägt  und   verzehrt.     Das 


'  Petekmanns  Mittcihuigen.    1870.    147.   148. 

^  Oldpield  in  Transactions  of  tlie  Ethnolog.  Society.    New  Sories.    III.  245. 

^  Oldfield  a.  a.  0.  248. 

*  Oldpield  a.  a.  O.  286.  288. 

^  Tiausactious  of  the  Ethuological  Society.    New  Series.    I.    291. 


Südaustralien.  45 


geschieht  unter  Festlichkeiten  und  bei  diesen  dringen  Vater  und 
Mutter  mit  eifriger  Ermahnung  in  den  älteren  Sohn,  so  viel  Fleisch 
von  dem  Leichnam  hinabzuwürgen,  als  irgend  möglich  ist.''  Hier 
liegt  also  entschieden  Aberglauben  als  Beweggrund  vor.  Übrigens 
herrscht  in  Südaustralien  auch  der  Kannibalismus  aus  reiner  Gour- 
mandise,  wenigstens  bei  den  Narrinyeri.  If  a  man  liad  n  fat  wife, 
he  was  always  particulary  careful  not  to  leave  her  unprotected  lest  she 
might  he  seized  hy  prowliny  canmhals.^ 

Am  Cooper  Creek,  nördliches  Südaustralien,  sind  deutsche 
Missionare  angestellt,  die  dort  (1868)  vollauf  Gelegenheit  hatten  den 
Kannibalismus  der  Schwarzen  zu  beobachten.  Einer  derselben 
schreibt :  „Die  zahlreichen  Arten  von  Ratten  und  Mäusen  liefern 
hauptsächlich  die  Fleischkost  der  Eingeborenen.  —  Die  zahlreichen 
kleinen  Eidechsen  schmecken  den  Kindern  gut.  Zudem  fangen  sie 
vier  Arten  Fische  und  essen  eine  große  Anzahl  von  Würmern,  die 
als  eine  Delikatesse  gelten.  Kannibalismus  ist  hier  eine  Thatsache 
und  eine  Mutter  verzehrt  mit  lächelnder  Miene  ihr  eigenes  Kind. 
Die  Schwarzen  essen  Teile  von  jeder  Leiche,  wenn  etwas  Eßbares 
daran  ist.  Vor  einiger  Zeit  starb  der  Älteste  des  Stammes.  Als 
ich  fragte,  ob  sie  diese  Leiche  auch  verzehren  würden,  antwortete 
mir  einer  der  Schwarzen:  „Nein,  der  Kerl  ist  zu  mager,  er  hat 
kein  Fett."  ^  Bedarf  man  einer  Bestätigung  dieses  Berichtes,  so 
giebt  sie  Waeburton,  nach  dem  die  Bewohner  des  untern  Barku- 
thales  (Cooper  Creek,  Lak  Eyre)  entschieden  Anthropophagen  sind.-^ 
Auch  am  Peakfluß  werden  die  gestorbenen  Kinder  verzehrt,  als 
Grund  wird  von  den  Schwarzen  angegeben,  daß,  wenn  sie  dieses 
nicht  thäten,  sie  sich  fortwährend  grämen  müßten.  Den  Kopf  be- 
kommt die  Mutter  und  die  Kinder  im  Lager  bekommen  auch  ihr 
Teil,  damit  sie  gut  wachsen.  Auch  verzehren  sie  einzelne  Teile 
von  verstorbenen  Männern  und  Frauen,  namentlich  solche,  in  denen 
sie  den  Sitz  gewisser  tüchtiger  Eigenschaften  wähnen.^ 

Was  die  Eingeborenen  der  Kolonie  Victoria  betrifft,  so  hat 
über  deren  Kannibalismus  RichaeD  Obeeländee,  der  längere  Zeit 
unter  ihnen  lebte,  seine  eigenen  und  fremde  Erfahrungen  zusammen- 
gestellt.^   „Die  Eingeborenen  Australiens,  so  berichtet  er,  sind  Kan- 


1  The  Native  Tribes  of  South  Australia.    Adelaide  1879.    2. 
^  Auszug  aus  der  zu  Tanunda  erscheinenden  „Deutschen  Zeitung".   Globus 
XVI.    15. 

'  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin.    1868.    IL    16. 

*  Verhandlungen  der  Berliner  Anthropologischen  .Gesellschaft.    1879.     237. 

5  Globus  IV.   279. 


46  Victoria.     Queensland. 


uihalen,  machen  daraus  kein  Geheimnis  und  sprechen  davon  als  von 
einer  selbstverständlichen  Sache,  wie  sie  denn  auch  die  Art  und 
Weise  der  Zubereitung  des  Mahles  ganz  unbefangen  beschreiben." 
Nach  BucKLEY,  den  Oberländer  citiert,  begegnete  jener  auf  seinen 
^\^anderungen  dem  wegen  seines  Kannibalismus  übel  berüchtigten 
Pallidurgbarran-Stamme,  der  nicht  nur  das  Fleisch  seiner  getöteten 
Feinde  verzehrt,  sondern  Menschenfleisch  bei  allen  möglichen  Gelegen- 
heiten. ,,Der  Barrabulstamm,  schreibt  Oberländer  ferner,  fing  einen 
alten  Mann  und  ein  Mädchen  ein,  die  zu  einem  andern  Stamm  ge- 
hörten, und  welche  sie  beschuldigten,  meinen  Freund  Gellibrand 
gemordet  zu  lialjen.  Das  Mädchen  ward  getötet  und  gebraten  und 
das  Fett  als  Haarpomade  benutzt.  Etwas  warmes  Fleisch  ward 
lachend  einem  Engländer  zum  Kosten  gereicht.  Dr.  Cotten  nahm, 
so  viel  mir  erinnerlich,  einen  Teil  des  Schenkels  als  Beweis  der 
Thatsache  mit  sich  fort.'' 

In  Neu-Süd-Wales,  Avoher  Majokibanks  91  Beispiele  des  Kan- 
nibalismus zusammenstellt,  aß  man  besonders  das  Nierenfett  der 
Gefallenen,  dessen  Genuß  man  übernatürliche  Kräfte  zuschriel).  ^ 

Angas,  bekannt  durch  seine  Arl)eiten  über  die  Australier,  teilte 
den  Gelehrten  von  der  Novara-Expedition  mit,  daß  in  der  Nähe  der 
Moreton-Bai  (Queensland)  ein  Knabe  starb,  dessen  Kopf  und  Haut, 
der  rohen  Sitte  gemäß,  vom  üljrigen  Körper  getrennt  und  an  einem 
Stocke  über  Feuer  getrocknet  wurden.  Vater  und  Mutter  waren 
Ijei  dem  Vorgange  zugegen  und  stießen  laute  Schreie  aus.  Das 
Herz,  die  Leber  und  die  Eingeweide  wurden  unter  die  anwesenden 
Krieger  verteilt,  welche  Stücke  davon  an  den  knöchernen  Spitzen 
ihrer  Speere  mit  forttrugen,  während  die  gerösteten  Oberschenkel 
—  angeblich  die  größten  Leckerbissen  —  von  den  Eltern  selbst 
verzehrt  wurden.  Haut,  Schädel  und  Knochen  dagegen  packten  die 
Eingel)orenen  sorgfältig  zusammen  und  nahmen  sie  in  ihren  Säcken 
aus  Grasgeflecht  auf  die  Reise  mit.  Nicht  selten  soll  eine  Mutter 
ihr  eigenes  Kind  in  dem  dunkeln  Wahn  auffressen,  daß  jene  Kraft, 
welche  ihre  Leibesfrucht  ihr  entzogen,  auf  solche  Weise  wieder  in 
den  Körper  zurückkehre!  Fällt  den  Eingeborenen  ein  Krieger  eines 
feindlichen  Stammes  in  die  Hände,  so  sollen  sie  ihrem  erbarmungs- 
würdigen Opfer  mit  fanatischer  Wildheit  das  Fett  der  Nieren  aus 
dem  Leibe  reißen  und  sich  in  dem  Glauben  damit  beschmieren, 
(laß  dies  dem  Körper  Kraft,  dem  Herzen  Mut  verleihe. - 


*  Waitz  (Gkulanj)],  Anthropulogie  der  Naturvölker.    VI.    748. 

^  Reise  der  österreiehiselien  Fregatte  Xovara  uin  die  Erde.    111.   32. 


Queensland.  47 

Ein  Gutsbesitzer  am  obern  Mary  River  (nördlicb  von  Brisbane, 
Queensland),  giebt  höcbst  eingebende  auf  SelbstbetracLtung  gegrün- 
dete Schilderungen  des  merkwürdigen  Gebrauches,  wie  die  Schwarzen 
den  Toten  die  Haut  abziehen,  die  Knochen  vom  Fleisch  befreien 
und  beides  zu  abergläubigen  Zwecken  bewahren.  In  seiner  Gegen- 
wart schämte  man  sich  indessen  auch  das  schon  geröstete  Fleisch 
zu  verzehren.  Er  fügt  aber  seinem  Bericht  hinzu:  „Ich  fühle  mich 
verpflichtet  es  auszusprechen,  daß  die  Eingeborenen  das  Fleisch 
ihrer  verstorbenen  Freunde  verzehren  und  indem  sie  das  thun, 
glauben  sie  fest,  daß  sie  sich  damit  eine  Wohlthat  erweisen  und 
den  Toten  ehren.  Sie  verzehren  es  nicht  etwa,  weil  sie  nach  dem- 
selben lüstern  wären;  doch  ist  dem  früher  so  gewesen,  und  noch 
vor  einigen  Jahren  schmausten  die  alten  Männer  mit  großem  Appe- 
tit das  gut  geröstete  Fleisch  junger  Frauen.  Infolge  des  Verkehrs 
mit  den  Weißen  geschieht  das  aber  nicht  mehr  häufig  und  man 
begräbt  oftmals  auch  Frauen  und  Kinder  uuzerstückelt,  aber  die 
Männer,  insbesondere  die  Häuptlinge,  werden  auch  jetzt  (1871)  noch 
verzehrt.  Es  ist  mir  mitgeteilt  worden,  daß  noch  ganz  vor  kurzem 
alte  abgemagerte  Männer,  deren  Fleisch  gewiß  nicht  saftig  war,  ge- 
wissenhaft gefressen  worden  sind.  Wenn  man  das  Fleisch  eines 
Menschen  genießt,  gewinnt  man  dadurch  die  Kraft  und  die  guten 
Eigenschaften,  welche  derselbe  gehabt  hat.    Das  ist  Wahnglaube."  ^ 

Auch  die  Schwarzen  im  nördlichen  Queensland  machen  kein 
Geheimnis  daraus,  daß  sie  Menschenlleisch  verzehren;  doch  scheint 
es,  daß  sie  mehr  aus  gewissen  Traditionen  als  aus  Nahrungs- 
bedürfnis Anthropophagen  sind.  Die  meisten  Schwarzen  werden 
begraben,  ohne  gefressen  zu  werden.  Auch  an  der  Wide  Bay  Aver- 
den  diejenigen,  die  man  verzehrt,  vorher  abgehäutet.  Die  Haut 
wird  um  ein  Bündel  Speere  gewickelt,  so,  daß  das  Haar  auf  die 
Si^itzen  zu  stehen  kommt.  Die  Fingernägel  läßt  man  an  der  Haut 
sitzen.  Die  Reliquie  wird  von  Lager  zu  Lager  geschleppt  und  in 
jedem  aufgestellt,  wo  sich  die  Trauerweiber  um  dieselbe  versammeln 
und  sich  mit  Beilen  Einschnitte  beibringen.  Am  Carpentariagolf 
verzehrt  man  die  im  Gefecht  Gebliebenen.  Sterben  sie  infolge  der 
Wunden  Abends  oder  in  der  Nacht,  so  kocht  man  sie  am  Morgen. 
Ein  großes  Loch  wird  im  Boden  ausgehöhlt  und  der  Leichnam  wird 
in  einem  Stück  gekocht,  wozu  drei  bis  vier  Stunden  nötig  sind. 
Die  Weichteile  werden  nicht  gegessen,  sondern  herausgenommen 
und  begraben.     Am  Golf  häutet  man  die  Toten  nicht,  ehe  man  sie 


'  Journal  of  tlie  Authropological  Institute.    II.    179  (1873). 


48  Nordaustralien.    Die  Südsee. 

verzehrt.  Nachdem  das  Fleisch  gegessen  ist,  werden  die  Knochen 
auf  einen  Baum  gelegt  oder  begraben.  Die  Leichen  der  Feinde 
bleiben  da  liegen,  wo  sie  gefallen  sind;  man  verzehrt  nur  die 
Leichen  von  der  eigenen  Partei.  Kinder  werden  verzehrt,  wenn 
sie  sterben;  Kindsmord  ist  nicht  häufig  in  Queensland.^ 

Der  kannibalische  Ring  um  den  australischen  Kontinent  wird 
geschlossen,  wenn  wir  die  Beweise  für  die  Anthropophagie  im  Nor- 
den beibringen.  Schon  als  Owen  Stanley  mit  dem  Aufnahmeschiff 
Rattlesnake  Nordaustralien  besuchte,  wurde  die  Bemerkung  gemacht, 
daß  man  die  Leichen  der  erschlagenen  Feinde  verspottete  und  zer- 
stückelte. Der  Kopf  aber  wird  als  Trophäe  mitgenommen  und  die 
Krieger  verzehren  die  Augen  nebst  den  Wangen,  im  Glauben,  da- 
durch tapfer  zu  werden. ^ 

Wenn  auch  in  Tasmanien  dieselben  Naturverhältnisse  herrschten 
wie  auf  dem  australischen  Kontinente  und  die  dortige,  jetzt  aus- 
gestorbene Rasse  den  Australiern  sehr  nahe  stand,  so  ist  sie  doch, 
zur  Zeit  der  Entdeckung  wenigstens,  von  Kannibalismus  frei  zu 
sprechen  gewesen.  Es  waren  wenigstens  keine  Beweise  dafür  bei- 
zubringen.^ 


Die  Südsee. 


In  der  Südsee  treffen  wir  auf  den  klassischen  Boden  der 
Menschenfresserei.  Von  Neu-Guinea  bis  zm-  Osterinsel  hin  waren 
oder  sind  noch  deren  Bewohner  Anthropophagen,  weder  Melanesier 
noch  Polynesier  machen  eine  Ausnahme,  und  nur  der  Grad  der- 
selben ist  ein  verschiedener,  von  der  rohesten,  rein  auf  das  Nah- 
rungsbedürfnis gerichteten  Form  bis  zu  den  letzten  Überbleibseln 
des  Kannibalismus,  die  sich  noch  in  symbolischen  Handlungen  oder 
Sagen  offenbaren.  The  Polynesians  may,  without  injustice,  he  called  a 
race  of  cannihals,  sagt  H.  Hale  ^  und  unserm  J.  R.  Forstee,  welcher 

'  E.  Pai-meu,  Notes  on  sonic  Australiaii  Tribes.  Journal  of  thc  Anthro- 
pological  Institute.    XIII.    282. 

^  Macgiu.ivray,  Narrative  of  thc  Voyage  of  II.  M.  S.  Rattlksnake.  Loudon 
1852.    I.    152. 

^  BoNwicK,  Daily  Life  of  thc  Tasnianians.    23. 

^  Uuitcd  States  Exploring  Expedition.    Vll.    37. 


Die  Südsee.     Neu -Guinea.  49 


vor  länger  als  100  Jahren  noch  keinen  sicheren  Überblick  über 
alle  Südseeinsulaner  haben  konnte,  drängte  sich  damals  schon  die 
Überzeugung  auf  ,,daß  alle  Bewohner  der  verschiedenen  Inseln  im 
»Südmeere,  selbst  in  dem  glücklichsten,  fruchtbarsten  Erdstriche,  wo 
die  Hauptnahrung  in  Früchten  l)esteht,  nichts  destoweniger  vor  Zeiten 
Mcnsclienfresser  gewesen  sind.^ 

In  der  Mythologie  der  Polynesier  finden  wir  Züge,  die  auf 
Anthropophagie  hinweisen.  So  glaubten  sie,  daß  die  Geister  der 
Gestorbenen  von  den  Göttern  oder  Dämonen  verzehrt,  und  daß  der 
geistige  Teil  ihrer  Opfer  von  dem  Geiste  des  Idols,  dem  das  Opfer 
galt,  verspeist  wurde.  Die  Vögel,  welche  zum  Bereiche  der  Tempel 
gehörten,  nährten  sich  nach  polynesischer  Meinung  von  den  Kör- 
pern der  Menschenopfer  und  man  nahm  an,  daß  der  Gott  in  Vogel- 
gestalt sich  dem  Tempel  njflierte  und  die  auf  dem  Altar  liegenden 
Opfer  verschlang.  Auf  einigen  Insehi  war  sogar  das  Wort  ,, Men- 
schenfresser" eine  Bezeichnung  der  Hauptgötter.  Kriege,  nur  zu 
dem  Zwecke  unternommen,  um  sich  Menschenfleisch  zur  Speise  zu 
verschaffen,  waren  bei  den  Polynesiern  nichts  seltenes;  die  Genug- 
thuung  und  der  gestillte  Rachedurst,  welche  nach  dem  Verzehren 
des  Feindes  sich  einstellten,  waren  indessen  keineswegs  der  einzige 
Beweggrund  zur  Anthropophagie  der  Polynesier:  wir  finden  viel- 
mehr  auch  Beispiele,   daß  Hungersnot  sie  zu  dieser  Unsitte  trieb. ^ 

Neu-Guinea  und  Nachbarschaft.  ,, Unter  allen  wilden 
Völkern,  die  als  Anthropophagen  berüchtigt  sind,  werden  die  Papuas 
zuerst  genannt  und  obschon  es  sich  nicht  leugnen  läßt,  daß  sie  in 
ihren  Sitten  noch  sehr  roh  sind,  so  ist  dies  doch  keineswegs  auf 
die  ganze  Bevölkerung  bezüglich  und  man  thut  ihnen  gewiß  hierin 
entschieden  Unrecht.  Obwohl  auch  in  einem  neuen  Reisewerke  ^ 
bemerkt  wird,  daß  die  Papuas  ihre  Gefangenen,  ja  die  Bewohner  an 
der  van  Dammen-Bai  (Geelvinksbai)  ihre  eigenen  Toten  verzehren, 
so  sind  doch  noch  von  keinem  glaubwürdigen  Manne  bestimmte 
Nachrichten  darüber  vorhanden  und  wir  müssen  diese  vagen  Ge- 
rüchte daher  mit  Recht  als  unwahr  bezeichnen."  So  urteilt  in 
seiner  verdienstvollen  Schrift  über  Neu-Guinea  Otto  Finscii.  *  Aber 
was   er  als  vages  Gerücht  hinstellt,  hat  sich  als  entschieden  wahre 


'  liemerkuugen  auf  seiner  Reise  um  die  Welt.    290. 

-  W.  Ellis,  Polynesian  Researches.    London  1829.    II.   222. 

•'  De  Papoewas  der  Geelvinksbaai  door  A.  Goudswaart.    Sclnedam   186H. 

*  Xeu-Guinea  und  seine  Bewohner.  Bremen  1865.  48.  Der  Ansicht,  daß 
kein  Kannibalismus  auf  Neu-Guinea  herrsche,  schließt  sich  auch  Fr.  Müli.ek  in 
seiner  „Allgemeinen  Ethnographie"  Wien  1878.  109  an. 

K.  A  11(1  reo,  Aiitliropoitluigio.  ^ 


50  Neu-Grumea. 


Thatsache  erwiesen.  Da  auch  sonst  die  Melanesier  des  großen 
Oceans  der  Anthropophagie  ergeben  sind  und  auf  den  umliegenden 
Inseln  Neu-Guineas  dieselbe  entschieden  nachgewiesen  war.  so  ließ 
sich  dadurch  mit  Wahrscheinlichkeit  schon  auf  das  Vorkommen  von 
Kannibalismus  auf  Neu -Guinea  schließen.  Neuere  Reisende  be- 
stätigen dies  denn  auch  vollständig. 

Schon  der  Amerikaner  BiCKMORe  brachte  beglaubigte  Beweise 
von  der  Anthropophagie  der  Papuas  bei^  und  übereinstimmend  be- 
richten, Wallace  ausgenommen,  dasselbe  die  späteren  Reisenden, 
die  sich  die  Aufgabe  gestellt  haben,  das  unbekannte  Innere  dieser 
das  deutsche  Reich  an  Größe  übertreffenden  Insel  zu  erforschen. 
Der  Florentiner  Odoardo  Beccaei,  welcher  1871  nach  Wonim  di 
Bati,  der  nordwestlichen  Halbinsel  von  Neu-Guinea,  ging  und  dort 
das  Arfakgebirge  bestieg,  brachte  Berichte  von  Menschenfressern, 
die  zwischen  132°  und  133"  östl.  L.  v.  Greenwich  hausen  und  dem 
Stamme  der  Kraton  angehören. - 

Noch  eingehender  erforschte  den  Nordwesten  Neu-Guineas  unser 
Landsmann  Dr.  A.  B.  Meyer,  dem  es  auch  gelang  die  Nordwest- 
halbinsel an  ihrer  engsten  Stelle,  von  der  Geelvinksbai  zum  Mac 
Cluergolf  zu  kreuzen. '^  Nach  ihm  sind  Kannibalen  in  dem  besuchten 
Teile:  Der  Stamm  der  Karoans  in  den  Bergen  an  der  Nordküste, 
zwischen  Amberbaki  und  den  zwei  kleinen  Inseln  Amsterdam  und 
Middelburg;  die  Tarungarös  an  der  Ostküste  der  Geelvinksbai, 
welche  sogar  ihre  eigenen  Todten  verzehren;  die  Bergbewohner  der 
Insel  Jobi  in  der  Geelvinksbai.  Daß  auch  an  Mac  Cluer  Inlet 
Kannibalen  wohnen,  ist  l)estätigt  worden.  Ein  Hamburger,  Namens 
Schlüter,  Steuermann  des  Schiffes  ,, Franz'*.  Kapitän  Redlick,  wurde 
dort  nebst  einigen  Matrosen  von  den  Papuas  ermordet  und  der 
Kfh'per  als  Speise  an  benachbarte  Stämme  verkauft.^ 

Während  wir  so  Kunde  vom  Vorkommen  der  Anthropophagie 
im  Nordwesten  Neu-Guineas  erhalten,  kam  gleichzeitig  Bestätigung 
über  deren  Verbreitung  im  Südosten.  Mokesby,  der  die  dortigen 
Küsten    aufnahm,    stellt   sofort    dort  Kannibalismus    fest"    und   die 


'  Ar.BF.RT  S.  liicKMoiiK,  licisoii  iiii  Ostiiidisclicn  .\ii-lii])('l.  Aus  dem  Eiifj^- 
lisolicii.    Jena  1S69.    284. 

-'  Occiui  Highway.s.    Juni  1.S7.S.    llf). 

■'  Seine  Berichte  stehen:  Aushuid.  1873.  9G4.  Ocean  Highways.  Dezem- 
ber 1878.  888.  Mitteilungen  (hn- k.  k.  geograpliisehen  Gesellschaft  in  Wien  1878. 
538.     Xature,  4.  Dezember  ls78.    77. 

''  A  cruise  anuing  tlie  cannibals.    Ocean   Highways.    Dezember  1878.    8(J4. 

•  Ocean  HiuliwaYs.     Dezember  1873.    393. 


Neu-Guinea.     Louisiaden.  5 1 


ilaiui  spälei-  duit  angesiedelten  englischen  Missionare  geben  dann 
weitere  Einzelheiten.  Die  Kiefern  der  Verzehrten  werden  als  Arm- 
schmuck  getragen.  Am  Flusse  Aivei  oder  Alele  sind  die  Einge- 
bornen  ,,alle  Menschenfieisch  essende  Kannibalen,  sei  es  gekocht 
oder  ungekocht;  sie  sagen  es  sei  eine  bessere  Nahrung  als  alles 
andere".  Am  Südkap  kam  ein  befreundeter  Häuptling  zu  der  Frau 
des  Missionars  Gill  und  bot  ihr  eine  Menschenbrust  zur  Speise  an. 
die  er  als  saftigen  Bissen  rühmte.^  Das  sind  deutliche  Beweise, 
daß  hier  das  Menschenfleisch  als  Genußmittel  betrachtet  wird;  ol) 
andere  Beweggründe  dort  für  die  Anthropophagie  noch  vorhanden 
sind,  läßt  sich  aus  den  Berichten  noch  nicht  ersehen. 

In  der  Verlängerung  der  östlichen  Halbinsel  Neu-Guineas.  nur 
durch  eine  schmale,  korallenreiche  See  getrennt,  ethnographisch  und 
physikalisch  aber  mit  dem  Hauptlande  übereinstimmend,  liegt  der 
Louisiade- Archipel,  dessen  melanesische  Eingeborene  Anthropophagen 
sind;  vollauf  Bestätigung  ihres  abscheulichen  Kannibalismus  ver- 
danken wir  dem  französischen  Schitfsarzt  V.  de  Rochas.^  An  der 
()stlichen  Insel  Rössel  strandete  im  Sommer  1858  das  Schiff  St.  Paul, 
welches  317  chinesische  Kulis  von  Hongkong  nach  Australien  führen 
sollte.  Die  Schiffbrüchigen  retteten  sich  auf  eine  kleine  Xebeninsel 
und  der  Kapitän  fuhr  in  der  Schaluppe  fort,  um  Hilfe  zu  holen. 
Er  gelangte  nach  Neu-Caledonien,  wo  die  französische  Beluirdc  so- 
fort ein  Kriegsschiff,  auf  dem  Rochas  sich  befand,  nach  Rössel  al)- 
ordnete,  um  die  Schiffluiichigen  zu  retten.  Am  5.  Januar  18511 
traf  das  Schiff  dort  ein;  aber  von  mehr  als  300  Männern  waren 
nur  noch  vier  am  Leben,  die  übrigen  waren  von  den  Eingeborenen 
ermordet  und  aufgefressen  Avorden.  Einzelheiten  übergelien  wir,  da 
sie  nicht  geeignet  sind,  Licht  auf  die  Motive  der  That  zu  werfen, 
wenn  es  auch  fast  scheint,  als  sei  bloße  Lust  nach  dem  Genüsse 
von  Menschenfleisch  die  Ursache  des  schauderliaften  Vorfalls  ge- 
wesen. 

Von  den  übrigen  Satelliten  Xeu-Guineas  erwähnen  wir,  daß 
auf  Rook  kein  Kannibalismus  herrscht.  ,,Die  Menschenfresserei, 
welche  an  den  Küsten  Neu-Guineas  herrscht,  erregt  auf  Rook  Ab- 
scheu.'''^ Dagegen  sind  die  Eiugeborenen  derMassims-Inseln  (d'Entre- 
casteaux-Inseln,  an  der  Südostspitze  Neu-Guineas)  Kannibalen.^ 


'  CiiALMERs  and  Gill.    New-Guinea.    London  1885.   48.  144.  234. 
-  Xaufrage  et  seines  d'antliropophagie  ä  l'ile  de  Kossei  dans  ranliiixl  dt 
la  Louisiade.    Im  Tour  du  Monde.    IV.  87  (18G1I. 

'  Missionar  D.  Carlo  8alerio  in  Petermanxs  Mitteilungen.    I8f!'<i.    342. 
■*  Salerio  a.  a.  O.  848. 

4* 


52  Bismarck-Archipel     Salomonen. 

Den  Kannibalismus  der  Melanesier  des  Bismarck-Archipels 
kennt  Wilfked  Powell  aus  eigener  Anschauung,  er  wohnte  den 
Menschenfresserniahlzeiten  bei  und  sein  Reisewerk  ist  ein  fortlaufen- 
der Bericht  über  die  verschiedensten  kannibalischen  Einzelheiten. 
Beim  Häuptling  Toragood  der  Duke  of  York  Insel  bei  Neu-Bri- 
tannion  sah  Powell  abgehackte  Menschenglieder  an  einem  Tabu- 
baum hängen.  Von  einem  l)ei  seinem  Hause  liegenden  Leichnam 
sagte  Toragood:  ,,der  Mann  half  meine  Mutter  verzehren'*;  jetzt 
kam  er  selbst  an  die  Reihe.  ,,Ich  glaube,  sagt  Powell,  es  ist  für 
diese  armen  Geschöpfe  fast  unmöglich  den  Kannibalismus  aufzu- 
geben, so  groß  ist  ihre  Begierde  nach  Menschenfleisch."  Frauen 
werden  durch  die  Heirat  völliges  Eigentum  des  Mannes  und  wenn 
letzter  erzürnt  ist,  kann  er  die  Frau  töten,  um  sie  zu  verzehren, 
was  vorkommt.  Jeder  Häuptling  hat  zwei  ständige  Minister:  einen 
Sprecher  und  einen  Schlächter.  Ersterer  besorgt  das  Reden,  letz- 
terer das  Schlachten  und  Zerlegen.  Das  wertvollste  Stück  vom 
Manne  ist  der  Schenkel,  vom  Weibe  die  Brust.  Der  Kopf  wird 
nie  gegessen,  ebensowenig  die  Eingeweide,  welche  man  verscharrt. 
Bein-  und  Armknochen  von  Feinden  werden  am  stumpfen  Ende 
der  Speere  befestigt;  die  Eingebornen  glauben,  dies  verleihe  ihnen 
die  Stärke  des  Mannes,  dessen  Gebein  sie  tragen  und  machen  sie 
unverwundl)ar  gegenüber  den  Verwandten  der  Gefressenen.  Selten 
verzehren  sie  einen  Mann  aus  ihrem  eignen  Stamm.  Sollte  aber 
einer  von  seinem  Häuptling  getötet  oder  wegen  Verbrechen  hinge- 
richtet sein,  so  kann  der  Leichnam  an  einen  andern  Stamm  ver- 
kauft werden.     Auch  die  Neu-L'länder  sind  Kannibalen.^ 

Den  Naturforschern  des  „Challenger-'  erschienen  die  Bewohner 
der  Admiralitätsinseln  unzweifelhaft  als  Kannibalen;  sie  zeigton 
ihnen  durch  Pantomimen,  wie  sie  menschliche  Glieder  kochten  und 
verzehrten.^ 

Salomonen.  Am  7.  Februar  1567  entdeckte  der  Spanier 
Alvaeo  Mendana  de  Neyea  die  Salomonen,  landete  auf  der  von 
ihm  so  benannten  Insel  Santa  Ysabel  im  Sternhafen  (Puerto  de  la 
Esti'clla)  und  trat  mit  den  Eingeborenen  in  Verkehr,  deren  Häupt- 
ling Tauriqui  ]^)ili])an  Harra  nach  polynesischer  Sitte  durch  Namen- 
tauscli  mit  ilini  Freundschaft  schloß.  Während  eines  zweimonat- 
lichen Aufenthalts  liatte  er  Gelegcidicit,  die  Sitten  der  Eingel>oreiieii 


'    W.   Powm.i,,  Unter  den   K:iuiiilt:il<Mi   von   Neu- IJritaiiincu.      L{'i])/,ij;-    lsS-4. 
(iO.  S2.  S7.  21  it. 

'-'  Si'KV,    Die    K.\|ir(liti((ii  des  ('li;illi'iiycr.    Ia'[\)/A<^    ISTT.    24i").   24.S. 


Salomonen.  5d 


genügend  kennen  zu  lernen,  deren  Anthropophagie  ihm  sofort  auf- 
tiel.  „Diese  Menschen,  sagt  er,  sind  Barbaren,  Anthropophagen, 
Fresser  von  Menschentieisch;  sie  verschlingen  sich  untereinander, 
wenn  sie  Kriegsgefangene  machen  und  selbst  dann,  wenn  sie,  ohne 
in  offener  Feindschaft  miteinander  zu  sein,  sich  durch  Hinterlist 
gefangen  nehmen.  Der  Beweis,  daß  sie  Anthropophagen  sind,  be- 
steht darin,  daß  sie  dem  General  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
Stücke  von  Indianern  anboten,  als  ein  sehr  delikates  und  von  ihnen 
geschätztes  Gericht'*.^ 

Seitdem  haben  alle  Reisenden  und  Missionare,  welche  von  den 
Salomons-Inseln  berichteten,  deren  Bewohner  als  unzweifelhafte  Kan- 
nibalen geschildert.  Die  Anthropophagie  besteht  dort  völlig  unver- 
mindert fort,  wofür  wir  Belege  aus  der  allerneuesten  Zeit  anführen 
wollen.  Im  Jahre  1872  besuchte  das  britische  Kriegsschiif  Blanche, 
Kapitän  Cürtland  H.  Si3Ipsün,  die  Insel  Ysabel,  wo  sich  ihm  in 
einem  der  an  der  Küste  gelegenen  Dörfer  ein  schauderhafter  An- 
blick darbot.  An  dem  Hause  eines  Häuptlings  waren  25  Köpfe  von 
Feinden  angenagelt,  welche  erst  vor  drei  Wochen  hinterrücks  getötet 
und  dann  verspeist  worden  waren. ^ 

Noch  eingehender  berichtet  Kapitän  Edwin  Redlick  vom 
Schoner  ,, Franz'',  der  in  neuester  Zeit  eine  Kreuzfahrt  durch  das 
Inselgewirr  des  westlichen  stillen  Ozeans  bis  Neu-Guinea  unternahm. 
Er  ankerte  in  der  Makira-Bai  der  Insel  San  Christoval  (Bauro)  und 
ging,  begleitet  von  einem  dort  wohnenden  Engländer,  Perry,  der 
Jagd  wegen  ans  Land.  ,,Beini  Verlassen  der  Bai  begegneten  Avir 
verschiedenen  großen  Canoes  und  an  eins  derselben  heranrudernd, 
fiinden  wir,  daß  in  demselben  ein  zugerichteter  oder  gekochter 
Leichnam  lag.  Perry  nahm  die  Sache  kühl,  als  etwas  alltägliches 
und  da  er  uns  höchst  entsetzt  sah  und  den  Matrosen  übel  wurde, 
bemerkte  er,  daß  er  mindestens  zwanzig  Körper  in  diesem  Zustande 
gesehen  habe,  die  gleichzeitig  am  Strande  lagen,  um  verspeist  zu 
werden.     An   Bord    des  Kriegscanoes    waren    zwei    Gefangene,   ein 


'  Courte  relation  du  voyage  que  fit  Alvaro  de  Mendana  ä  la  recherche  de 
la  Nouvelle-Guiuee,  traduit  de  Tespagnol  par  M.  Ed.  Dulaurier.  Nouvelles 
Aunales  desVoyages.  Juillet  1852.  —  Figueroa,  der  auch  eine  Schilderung  der 
Reise  des  Mendana  1612  in  Madrid  verötfentlichte,  erzählt  den  Vorfall  folgen- 
dermaßen :  „Der  Kazike  sandte  Mendana  das  Viertel  eines  Kindes  mit  Arm  und 
Hand.  Der  spanische  General  ließ  es  in  Gegenwart  jener,  die  es  gebracht,  ver- 
graben. Sie  schienen  beleidigt  und  verwirrt  von  dem  schlechten  Elrfolge  ihrer 
Gesandtschaft  ixnd  schlichen  mit  gesenktem  Haupte  hinweg." 

-  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkunde  zu  Berlin.    VHl.   96  (1873). 


54  Salomonen.     Xcu-Hebridcn. 

Knabe  und  ein  Mädchen  von  etwa  14  Jahren.  In  der  Absicht,  ihr 
Leben  zu  retten,  erbot  ich  mich  sie  zu  kaufen;  doch  konnte  ich 
bieten,  was  ich  Avollte,  die  Eingeborenen  gingen  nicht  darauf  ein. 
Wir  hörten  später,  daß  die  Schwarzen  nach  Makira  gingen,  die 
Hälfte  des  Körpers  dort  verkauften  und  das  Übrige  einem  andern 
Stamm ;  auch  ihre  beiden  Gefangenen  verkauften  sie.  Wir  kamen 
bald  nachher  an  zwei  Häuser,  in  denen  eine  große  Zahl  Schädel 
von  Leuten  aufbewahrt  wurden,  die  sie  gefressen  hatten.  Wir  fanden 
die  Eingeborenen  ruhig  und  inoffensiv,  doch  alle  Kannil^alen.''  ^ 

Die  neuesten  Nachrichten  über  den  Kannibalismus  auf  den 
Salomonen  verdanken  wir  dem  dort  stationierten  katholischen  Mis- 
sionar Verguet.  Er  ist  dort  noch  en  pleine  viyueur;  die  Eingebore- 
nen kennen  nichts  delikateres  als  Menschentieisch.  Das  ganze  Dorf 
erschallt  von  Freudenrufen,  wenn  ein  Kannibalenfest  stattfindet, 
man  zerschlägt  Kokosnüsse,  raspelt  Taro  und  Ignamen,  um  Pa- 
steten zu  backen,  während  der  Leichnam  zubereitet  wird.  Verguet 
schildert  als  Augenzeuge;  nach  ihm  ward  der  Kadaver  in  große 
Bananenblätter  gewickelt  und  dann  mit  stets  erneuerten  heißen 
Kieseln  umgeben,  bis  er  gar  war.  So  bleibt  das  Fleisch  saftig.  Man 
sieht  sich  vor,  daß  die  Haare  nicht  verbrannt  werden;  diese  zieht 
man  skalpartig  mit  der  Haut  ab  und  setzt  diese  Perrücke  auf  eine 
Kokosnuß,  die  im  Gemeindehaus  aufgehangen  wird.  Wenn  die 
Insulaner  Menschentieisch  verzehren,  verstecken  sie  sich  vor  den 
Europäern,  doch  verbergen  sie  die  Sache  nicht,  wenn  sie  zufällig 
bei  ihren  Mahlzeiten  überrascht  werden.  Nicht  selten,  namentlich 
auf  Ysabel,  sieht  man  Armbänder  von  Menschenzähnen  oder  am 
Halse  der  Eingeborenen  hängen  Finger,  Ohren  oder  andere  Teile 
(jii^on  VC  nomme  pas.  Nach  Verguet  scheint  keinerlei  besonderer 
Aberglauben  hier  mit  dem  Kannibalismus  verknüpft  zu  sein.^ 

Neu -Heb  ri  den.  Cook  und  seine  Begleiter,  welche  nicht  ,,so 
lieblos^'  sein  wollten,  die  Bcnvohner  der  Neu-Hebi-ideninsel  Tanna 
auf  eine  bloße  Vermutung  hin  der  Anthropojdiagie  zu  beschuldigen, 
wurden  verhindert,  in  das  Innere  der  Insel  vorzudringen,  wobei 
man  ihnen  andeutete,  man  würde  sie,  falls  sie  weiter  vorwärts 
gingen,  fressen.  ,,Sie  deuteten  durch  Zeichen  sehr  verständlich  an, 
daß  sie  einen  Menschen  zuerst  totschlügen,  hierauf  die  Glieder  ein- 
zeln ablöseten  und  dann  das  Fleisch  von  den  Knochen  schabten. 
Endlich   setzten   sie  die  Zähne   an   den  Arm,   damit    uns   gar   kein 


'  A  cruise  amonpj  tho  cannibals.    Occan  Highways.    Dtzoinber  1873.   361. 
'^  Revue  d'Ethnographic.    IV.  214  (1885). 


Neu-Hebriden.  55 


Zweifel  übrig  bleiben  sollte,  daß  sie  wirklich  MenschenHeisch  äßen.''^ 
Und  noch  wiederholt  geschah  während  der  Anwesenheit  des  Ent- 
deckers dasselbe,  so  daß  schon  damals  kein  Zweifel  darüber  herr- 
schen konnte,  die  Bewohner  von  Tanna  seien  Anthropopluigen. 
(t.  Fürster,  nach  dem  Grunde  forschend,  ruft  dann  aus:  ,, Gemeinig- 
lich püegt  man  dieselbe  dem  äußersten  Mangel  an  Lebensmitteln 
Schuld  zu  geben;  allein  was  für  einer  Ursache  will  man  sie  hier 
beimessen,  wo  das  fruchtbare  Land  seinen  Einwohnern  die  nahr- 
liaftesten  PÜanzen  und  Wurzeln  im  Übertluß  und  nebenher  auch 
noch  zahmes  Vieh  liefert?  Wohl  ungleich  wahrscheinlicher  und 
richtiger  läßt  sich  diese  widernatürliche  Gewohnheit  aus  der  Be- 
gierde nach  Rache  herleiten." - 

Die  Neu-Hebriden-Bewohner  sind,  wie  die  übrigen  Melanesier, 
l)is  zu  dieser  Stunde  greuliche  Kannibalen.  Der  Missionar  George 
Turner,  der  lange  auf  Tanna  lebte,  bemerkt  von  den  dunkelfarbi- 
gen Eingeborenen:  ,,Wenn  der  Körper  eines  Feindes  erhalten  wird, 
richtet  man  ihn  für  den  Ofen  her  und  serviert  ihn  bei  der  nächsten 
Mahlzeit  mit  Yams.  Es  kann  darüber  kein  Zweifel  herrschen.  Sie 
sind  ganz  erpicht  auf  Menschentieisch  und  verteilen  es  in  kleinen 
Bissen  weit  und  breit  unter  ihre  Freunde  als  eine  köstliche  Speise. 
Ich  erinnere  mich  eines  Tages  mit  einem  Eingeborenen  darüber 
gesprochen  zu  haben  und  versuchte,  ihm  die  Sache  vergeblich  zu- 
wider zu  machen.  Er  nahm  alles  mit  herzlichem  Lachen  auf  und 
antwortete:  ,,Scliweinetleisch  ist  gut  für  Sie,  dies  aber  paßt  für 
uns,'^  und  indem  er  mich  wie  durch  die  That  überzeugen  wollte, 
biß  er  in  seinen  Arm  und  schüttelte  ihn,  als  ob  er  mit  den  Zähnen 
ein  Stück  herausbeißen  wollte.  Auf  anderen  Liseln  ist  es  anders, 
doch  auf  Tanna  ziehen  kannibalische  ,, Kenner"  einen  schwarzen 
Mann  einem  Weißen  vor.  Der  letztere,  sagen  sie,  schmecke  ,, salzig". 
Sie  betrachten  alles,  was  ihnen  in  den  Weg  kommt,  als  ,, Fisch", 
wie  die  Niedermetzelungen  weißer  Männer  gezeigt  haben. ^ 

Wie  auf  Tanna,  so  liegen  die  Verhältnisse  auf  den  übrigen 
Eilanden  der  Neu-Hebriden,  auf  Erromango^,  Malikollo,  Espiritu 
Santo.  Von  dieser  nördlichen  Insel  haben  wir  einen  den  Kanniba- 
lismus bestätigenden  Bericht  des  dort  wohnenden  Missionars  John 


'  Gr.  FoRSTEK,  Säuiiutlichc  Schrifteu.    iL    232. 
•*  Forster  a.  a.  0.   II.   243. 

'  George  Turner,  Nineteen  Years  in  Polynesia.    London  186L    83. 
*  Auf  dieser  Insel  wurde  am  20.  November  1839  der  ,, Apostel  der  Sndsee", 
Williams,  nebst  seinem  Gefährten  Harris  verzehrt. 


56  Ncu-Hobridcn. 


GooDWiLL,  der  vom  24.  Juni  1873  datiert  ist.  ^  Es  lierrsclite  einer 
der  Läufigen  Kriege  unter  den  Eingeljorenen.  „Der  zwei  Miles 
von  meiner  Station  wohnende  Häuptling  tötete  fünf  ,  Buschleute ' 
und  verteilte  sie  unter  die  uns  hefreundeten  Dorfbewohner,  damit 
sie  sich  daran  ergötzen  möchten.  Ich  that  alles,  was  in  meiner 
Macht  stand,  sie  davon  abzuhalten  und  erklärte  ihnen,  wie  ab- 
scheulich der  Kannibalismus  sei.  Ihre  ständige  Antwort  aber  war: 
Es  waren  Ihre  Feinde,  die  Sie  zu  töten  und  auszuplündern  suchten; 
sie  stahlen  Ihre  Hühner,  zerbrachen  Ihre  Fenster,  Möbel  u.  s.  w. 
und  das  ist  Grund  genug,  sie  zu  töten  und  zu  verzehren.'* 

Auch  der  SchAveizer  0.  Rietmann,  welcher  die  Neu-Hcbriden 
besucht  hat,  bemerkt  nach  den  Angal)en  dortiger  Missionare,  daß 
die  Eingeborenen  von  Mallicolo  arge  Kannibalen  seien.  Während 
er  sich  auf  Deck  die  Hände  wusch,  kam  ein  Schwarzer  grinsend 
auf  ihn  zu,  ergriff'  seinen  Arm  und  gab  zu  verstehen,  daß  der  gut 
zu  essen  sei.  Sein  Geberdenspiel  und  das  mehrfach  wiederholte 
Wort  kaikai,  daß  in  den  meisten  Dialekten  der  Gruppe  , .essen" 
bedeutet,  zeigten  genügsam  an,  Avonach  ihn  gelüstete.  ,,Wenn,  sagt 
Rietmann,  unter  den  Eingeborenen  Australiens  manche  Stämme 
Kannibalen  sind,  so  erklärt  sich  das.  Die  Natur  hat  sie  nur  karg 
mit  Nahrung  aus  dem  Tier-  und  Ptianzenreiche  beschenkt  und  man 
begreift,  daß  solche  Wilden  ihre  Zuflucht  zu  Menschenfieisch  nehmen. 
Aber  auf  den  von  der  Natur  geradezu  beglückten  Inseln  der  Süd- 
see bringt  die  Natur  nahrhafte  und  wohlschmeckende  Pflanzen  in 
Fülle  hervor:  Yams,  Taro,  Brotfrucht,  Bananen  und  viele  andere; 
den  Eingeborenen  stehen  Schweine,  Vögel  und  Fische  zu  Gebote, 
und  doch  sind  sie  auf  manchen  Eilanden  die  eingefleischtesten 
Kannibalen. "2 

Noch  einige  Nachrichten  finden  wir  Ijei  Eckakdt.'^  Nach  ihm 
ward  auf  Aneityum  1853  der  letzte  Mensch  gefressen;  an  den 
Küsten  derjenigen  Inseln,  wo  häufig  Europäer  verkehren,  ist  die 
Anthropo])hagie  verschwunden,  doch  im  Innern  dauert  sie  fort;  so 
bei  den  Ermama  Kararei,  den  Buschlcuten,  auf  Tanna.  Das  Schiff' 
Rosario  konstatierte  1871  beim  Besuche  Espiritu  Sautos  noch  un- 
verblümte Vorliebe  für  Menschenfieisch.  Auf  Vat6  dagegen  liefert 
man  die  im  Kriege  Erschlagenen  den  Verwandten  gegen  eine  An- 
zahl Schweine  aus. 

*  The  illustrated  Missionary  News.    1.  Januar  1^14. 

■^  0.  RiETJiANN,  Wandeioingcn  in  Australien  und  Polynesien.  St.  Gallen 
1868.    171. 

'  M.  PxKAKDT,  Der  Archii^el  der  Neu-Hebriden.    llamliurg  1877.    15. 


Neu-Caledonien.  57 


Neii-Caledonien.  Als  Cook  1774  Neu-Culedoiiien  entdeckte, 
erkannte  er  die  seitdem  festgestellte  Anthropupliagie  der  Einge- 
borenen nicht,  ja  er  erzählt  sogar  eine  Geschichte,  Avie  die  Insu- 
laner sich  erstaunt  und  angeekelt  von  den  Matrosen  abgewendet 
hätten,  welche  einen  Rinderkuochen  benagten,  wobei  sie  nicht  un- 
deutlich zu  verstehen  gaben,  daß  sie  glaubten,  jene  nagten  an 
Menschenknochen,  da  ihnen  größere  Säugetiere  völlig  unbekannt 
waren. 

Alle  späteren  Reisenden  und  namentlich  die  auf  Neu-Caledonien 
angesiedelten  Franzosen  bestätigen  dagegen  den  ausgedehnten  Kan- 
nibalismus der  schwarzen  Eingeborenen.  Der  Schiffsarzt  Rochas 
sagt  trocken,  Avenn  auch  nicht  ganz  richtig:  L'a7ithroi)oj)ha(/ie  est 
pnrement  alimentaire  cliez  les  Neo-Caledoniens.  Sie  führen  Krieg  aus 
keinem  anderen  Grunde  als  um  sich  Fleisch  zu  verschaffen,  da  in 
ihrem  Lande  von  Säugetieren  nur  eine  Fledermausart  vorkommt, 
die  nicht  eßbar  ist.  Nach  dem  Kampfe  werden  die  wenigen  Toten 
in  Stücke  zerhackt  und  unter  die  Häuptlinge  verteilt.  Die  Neu- 
Caledonier  ziehen  das.  Fleisch  ihrer  Landsleute  demjenigen  der 
Europäer  vor,  da  letzteres  ihnen  zu  salzig  schmeckt.  Daß  die 
Häuptlinge  allein  das  Recht  haben  die  Körper  der  Feinde  zu  ver- 
zehren beruht  auf  angemaßtem  Privileg;  sie  verteilen  dann  das  er- 
haltene Fleisch  in  ihren  Familien.  ^  Völlig  beglaubigt  ist  der  Fall, 
daß  im  Jahre  1850  fünfzehn  Mann  von  der  Besatzung  des  franzö- 
sischen Kriegsschiffs  Alcmene  von  den  Neu-Caledoniern  erschlagen 
und  verzehrt  wurden. - 

Noch  weit  eingehender  spricht  sich  der  Ligenieur  Jules  Gar- 
nier über  den  Kannibalismus  aus.  Sein  Besuch  ^eu-Caledoniens 
fällt  in  das  Jahr  1864,  er  hat  vortrefflich  darüber  geschrieben  und 
wiederholt  mit  eigenen  Augen  die  Kannibalenschmausereien  gesehen.^ 
Die  Gegend,  in  welcher  er  beobachtete,  ist  der  Distrikt  von  Houagap 
an  der  Nordostküste,  wo  von  befreundeten  Eingeborenen  sehr  häufig 
den  französischen  Postenkommandanten  das  Fleisch  von  erlegten 
Feinden  angeboten  wurde.  Garnier  wohnte  einem  Pilufeste  des 
Widustammes  bei,  der  die  französische  Herrschaft  anerkannt  hat. 
Im  Schein  des  Feuers  sah  er  zwölf  Häuptlinge  sitzen,  zwischen 
denen  auf  Bananenblättern  Stücke  gebratenen  Menschenfleisches  mit 


*  De  Kochas,  Sur  les  Neo-Caladonicn.s.    Bull.  soc.  d'Anthropol.    1S6Ü.  414. 
■■^  Bull.  soc.  d'Anthropol.    1862.    566. 

^  Jules  Garnier,    Voyage    a    la    Nouvelle    Caledonic.     Tour    du    Moude. 
Vol.  XVI.    11.    Pai-is  1868.  "    ''->'"• 


■^" Neu-Caledonien. 

gekochten  Yams  und  Tarowurzeln  lagen.  Es  waren  die  Leichen  der 
im  Kampfe  erschlagenen  Feinde,  welche  das  Material  zu  dem  gräß- 
lichen Mahle  geliefert  hatten.  Folgen  ekelhafte  Einzelheiten,  die 
wir  hier  übergehen. 

Gaenier  hat  sich  die  Frage  vorgelegt,  wie  die  Xeu-Oaledunier 
und  die  Melanesier  überhaupt  zu  der  gräßlichen  Sitte  gelangt  sind 
und  teilt  uns  ein  Gespräch  mit.  das  er  darüber  mit  einem  Neu- 
Caledonier  geführt  hat.  Dieser  erklärte  die  Sache  damit,  daß  die 
Europäer  andere  und  bessere  Speisen  hätten;  für  die  Neu-Caledonicr 
aber  sei  Menschenfieisch  das  beste.  Das  wäre  also  eine  physio- 
logische Entschuldigung  der  Unsitte.  Übrigens  benutzte  man  nicht 
bloß  erschlagene  Feinde  und  Kriegsgefangene,  sondern  auch  Übel- 
thäter  zum  Verzehren;  letztere  wurden  auf  Befehl  des  Häuptlings 
getötet.  Ferner  wurden  alte  Leute  und  zwar  mit  ihrer  Genehmigung 
den  Göttern  geopfert  und  gegessen.  Endlich  sollen  nach  Gaenier 
auch  mißgestaltete  Kinder  von  ihren  eigenen  Eltern  geschlachtet 
und  gefressen  werden. 

Auch  der  Missionar  X.  Montrüuzier,.  welcher  zwanzig  Jahre 
auf  Neu-Caledonien  zugebracht  hat,  ist  in  der  Lage  gewesen  sehr 
eingehend  über  die  dortige  Anthropophagie  zu  berichten.  Die  Insel 
ist  in  zwei  große  Conföderationen  gespalten,  die  der  Ot  und  die 
der  Wawap.  Die  Kriege  zwischen  beiden  werden  bis  aufs  Messer 
geführt  und  diejenigen,  welche  in  der  Schlacht  fallen,  werden  von 
den  Siegern  verzehrt,  deren  Erfolg  nicht  als  vollständig  gilt,  wenn 
sie  sich  nicht  die  Leichen  der  Feinde  verschaffen  können.  Alte 
Rivalität,  bei  dem  geringsten  Anlasse  erneut,  führt  zu  diesen  Krie- 
gen, die  man'  außerdem  zu  bestimmten  Zeiten  unternimmt.  So 
pflegte  der  zu  den  Ot  gehörige  Stamm  der  Puebo  alle  fünf  Jahre 
den  zu  den  Wawap  gehörigen  Stamm  der  Balade  zu  überfallen. 

Abgesehen  von  den  Kriegen  haben  die  Neu-Caledonier  noch 
andere  Mittel  sich  Leichen  für  den  Ofen  zu  verschaffen.  Dahin 
gehört  zunächst  die  Anklage  wegen  Zauberei  und  jeder,  der  einmal 
angeklagt  wird,  ist  sicher,  auch  geopfert  zu  werden,  denn  Anklage 
und  Verurteilung  sind  eins.  Die  Häuptlinge  pflegen  hiervon  reich- 
lichen Gebrauch  zu  machen. 

Auch  bei  den  Festlichkeiten  verschafi't  man  sich  Menschen- 
fleisch, indem  man  einen  oder  mehrere  der  geladenen  Gäste  tötet. 
Der  Häuptling  bestimmt  seinen  Vertrauten  das  Schlachtopfer;  ein 
plötzlicher  Tumult  wird  erregt  und  der  Betreffende  dabei  erschlagen, 
nur  um  das  nötige  Fleisch  zum  Feste  zu  liefern.  Die  Häuptlinge 
töten   oft  ihre   eigenen  Untertanen,   um   sich  Fleisch  für  Gäste  zu 


Neu-Caledonien.     Lnyalty-Iiiseln.     Fiflscln-Inseln. 


59 


verschaffen,  wofür  Montkouzier  verschiedene  Beispiele  anführt. 
Daß  aber  die  Schlachtopfer  vorher  gemästet  werden,  bestreitet  der 
Missionar  auf  das  Entschiedenste.^ 

Wenn  nun  im  Jahre  1873  Balansa  von  Neu-Caledonien  schreibt: 
Avjourdlmi  heureusement  cette  horrible  coutuine  a  disparu  de  Vile^,  so 
müssen  wir  dem  leider  das  viel  jüngere  Zeugnis  Moncelon's  gegen- 
überstellen, welcher  noch  heute  vorkommende  Fälle  von  Anthropo- 
phagie erwähnt;  namentlich  Averden  Weiber  weggefangen  und  ver- 
zehrt.    Auch  er  führt  teils  Hunger,  teils  Rachsucht  als  Motive  an.=* 

Auf  den  Loyalitätsinselu  bei  Neu-Caledonien  haben  wir  das 
Aufhören  der  Anthropophagie  den  Missionaren  zu  verdanken.  Trotz 
des  Zwiespaltes,  in  den  die  Eingeborenen  durch  die  einander  feind- 
lich gegenüberstehenden  katholischen  und  protestantischen  Missio- 
nare gerieten,  ist  dort  ein  Fortschritt  zu  bemerken  gewesen,  aber 
mit  diesen  eine  totale  Umwälzung  unter  den  Eingeborenen  hervor- 
rufenden Fortschritten  ist  auch  ihr  Untergang  besiegelt.  Sie  nehmen 
an  Zahl  stark  ab.  Uidolatrie  a  disparu  depuis  peu  d'annees,  et  avec 
eile  V anthropophatjie  et  tous  les  maux  qu'elle  entrahie.  A  des  trihus 
independantes  et  en  etat  de  guerre  pres(pte  permanent,  (juerres  qid  le 
plus  souvent  avaient  pour  enjeu  la  cliair  humaine,  une  religion  taute 
de  palx  est  veime.^  So  wie  auf  der  Hauptinsel  Lifu  liegen  auch  die 
Verhältnisse  auf  den  beiden  kleinern  Inseln  Mar6  und  Uea. 

Noch  1845  fand  Tuexer  auf  Mar6  den  gräßlichsten  Kanni- 
balismus, der  ganze  Körper  wurde  in  sitzender  Stellung,  die  Beine 
zum  Kinn  heraufgezogen,  im  Ofen  gebraten  und  so  aufgetischt.'' 

Fidschi-Inseln.  Auf  diesen,  wo  der  Kannibalismus  zu  den 
sozialen  Einrichtungen  gehörte,  hat  derselbe  wohl  seinen  höchsten 
Grad  erreicht.  Die  Ursachen  dafür  sind  auch  dort  verschiedener 
Art.  Wir  erkennen  dieselben  am  besten,  wenn  wir  dem  Berichte 
des  Missionars  Thomas  Williams  folgen^,  der  sich  längere  Zeit 
auf  den  Inseln  aufhielt. 

Daß  nicht  bloß  Geschmack  am  MenschenÜeisch  die  Insulaner 
zum  Kannibalismus  trieb,  erkennt  man  daran,  daß  derselbe  im  Zu- 
sammenhang mit  den  Tempelbauten  oder  dem  Stapellauf  der  Kähne 
vorkam.     Menschen  wurden  als  Walzen  bei  letzterem  benutzt  und 


1  Bull.  soc.  d'Authropol.    1870.   30  ff. 

^  B.  Balaxba,  Nouvelle  Caledonie.  Bull.  d.  1.  soc.  de  geographie.  1873.  139. 

3  Bull.  soc.  d'Authropol.    1885.    363. 

*  Balansa,  Les  iles  Loyalty.    Bull.  d.  1.  soc.  de  geogr.    1873.   528. 

'  G.  TüRXER,  Nineteen  years  in  Polynesia.    London  1861.    427. 

«  Fiji  and  the  Fijians.    London  1858.    L   205  ff. 


60  Fidschi-Inseln. 


(laun  den  Zimmerlcuten  zur  Speise  übergeben.  Das  Deck  der 
neuen  Kähne  wurde  mit  Menschenblut  abgewaschen;  wird  der  Mast 
zum  ersten  Male  niedergeholt,  so  schlachtet  man  ebenfalls  Menschen 
ab  und  verspeist  sie.  Hier  liegt  sicher  ein  abergläubisches  Motiv 
zu  Grrunde:  durch  die  Menschenopfer  wollte  man  den  Kähnen  glück- 
liche Fahrt  verschaffen. 

Daß  die  natürlichen  Todes  Gestorbenen  verzehrt  wurden,  leugnet 
Williams;  man  begrub  dieselben  stets.  Auch  die  im  Kriege  Er- 
schlagenen wurden  nicht  immer  alle  gefressen;  denn  die  Leichen 
Hochstehender  wurden  davon  zuweilen  ausgenommen.  Auch  ist 
manchmal  die  Masse  des  vorhandenen  Menschenlieisches  zu  groß, 
um  verzehrt  Averden  zu  können,  so  daß  man  Stücke  wegwarf.  Im 
Jahre  1851  wurden  einmal  zu  Namena  fünfzig  Kadaver  gleichzeitig 
gekocht,  es  war  Überfluß  an  Fleisch  vorhanden,  so  daß  man  die 
Köpfe,  Hände,  Eingeweide  wegwarf  und  nur  das  übrige  verzehrte. 
Ist  wenig  Menschenfleisch  vorhanden,  so  verzehrt  man  jedoch  alles 
am  Körper. 

Wenn  die  Körper  für  den  Ofen  zugerichtet  werden,  so  wird 
dieses  durch  einen  besonderen  Trommelschlag  kund  gcthan.  ,,Bakolo", 
der  für  das  Kaniiibalenmahl  bestimmte  Körper  des  Erschlagenen, 
wird  unter  bestimmten,  von  Williams  mitgeteilten  Gesängen  und 
Kriegstänzen  herangeschleppt,  vor  dem  Häuptling  niedergeworfen 
und  von  diesem  dem  Priester  übergeben,  um  ihn  dem  Kriegsgott 
zu  opfern  —  woraus  ein  religiöses  Motiv  sich  für  diese  Form  des 
Kannibalismus  ergiebt.  Während  der  große  Ofen  geheizt  ist\  zer- 
legt ein  Fleischer  kunstgerecht  den  vorher  gewaschenen  Körper; 
die  einzelnen  Teile  werden  in  Blätter  gewickelt  und  dann  auf  die 
heißen  Steine  gelegt.  Zuweilen  werden  die  Kadaver  auch  ganz,  in 
sitzender  Stellung  gebraten.  Kocht  man  dagegen  das  Menschen- 
fleisch, so  löst  man  es  vorher  von  den  Knochen. 

Wie  sehr  auch  Eachsucht  beim  Kannibalismus  dieser  Insulaner 
das  Motiv  ist,  erkennt  man  daraus,  daß,  als  1850  Tuikilakila  seinen 
eigenen  ihm  feindlichen  Vetter  Ratu  Rakesa  besiegte,  ersterer  nicht 
zugab,  daß  der  Leichnam  des  letzteren  begraben  wurde.  Er  ließ 
ihn  dem  Kriegsgott  opfern  und  sprach  dabei:  „Wäre  ich  in  seine 
Hände  gefallen,  so  hätte  er  mich  verzehrt;  nun  er  mein  ist,  ver- 
zehre ich  ihn'-.     Daß  aber  auch  reine  Genußsucht  nach  Menschen- 


'  Die  Öfen  sind  bis  3  Meter  tiefe  und  sehr  weite  Löcher  in  der  Erde,  welche 
mit  Steinen  ausgelegt  sind  und  mit  Holz  geheizt  werden.  Sind  die  Steine  heiß 
geworden,  so  legt  mau  den  zu  kochenden  Gegenistiiiid  darauf  und  deckt  ihn  mit 
Laub  und  Asche  zu.    Wu^uaüs.    I.  147. 


Pidschi-Tiiseln.  61 


lieisch  Beweggrund  für  die  Anthropophagie  ist,  ergiebt  sich  aus 
folgendem  abscheulichen  Fall.  Ein  gewisser  Loti  ging  mit  seinem 
Weibe  in  die  Taropflanzung,  um  dort  zu  arbeiten.  Als  das  Werk 
gethan  war,  ließ  er  sie  Holz  holen,  den  Ofen  heizen  und  einen 
Bambussplitter  herbei])ringen,  um  die  Speise  zu  zerlegen.  Nachdom 
sie  gehorsam  dieses  ausgeführt,  erschlug  er  das  Weil),  kochte  und 
vorzehrte  er  es,  wobei  ihm  von  einem  Bekannten  Gesellschaft  ge- 
leistet wurde.  Niemals  hatte  der  Unmensch  mit  dem  Weibe,  mit 
dem  er  ruhig  lebte,  Streit  gehabt.  Schiffbrüchige  verzehrt  man 
regelmäßig,  da  der  Glaube  herrscht,  das  Meer  habe  sie  nur  darum 
nicht  verschlungen,  damit  sie  verspeist  werden  könnten. 

Einzelne  heidnische  Häuptlinge  verabscheuten  allerdings  den 
Kannibalismus  und  konnten  nie  dazu  vermocht  werden  Menschen- 
fleisch zu  essen.  Diese  aber  waren  Ausnahmen  von  der  Regel. 
Die  Anthropophagie  war  weit  verbreitet  und  Menschenfleisch  galt 
als  Delikatesse.  Man  raubte  Menschen  um  sie  zu  fressen.  Dabei 
wurde  weder  Alter  noch  Geschlecht  verschont,  Kinder  wie  Greise 
wanderten  in  den  Ofen,  Herz,  Schenkel  und  Oberarm  galten  als 
die  größten  Leckerbissen,  der  Kopf  war  weniger  beliebt. 

Die  W^eiber  aßen  selten  „Bakolo'^  und  einigen  Priestern  w^ar 
es  verboten.  Auf  der  Insel  Moala  wurden  sogar  oft  die  Gräber 
ge()ft"net,  um  die  Leichen  daraus  als  Nahrung  zu  verwenden.  Häupt- 
linge sandten  zuweilen  ihren  Freunden  Leichname  als  Geschenk  in 
weite  Entfernung.  Während  der  Lisulaner  sonst  alles  Fleisch  nur 
im  durchaus  frischen  Zustande  verzehrt,  erregt  ihm  faulendes  Men- 
schenfleisch keine  Abscheu.  Gewöhnlich  kocht  man  Menschen- 
körper  allein  und  die  Ofen  und  Töpfe,  in  denen  sie  zubereitet 
wurden,  sind  ebenso  streng  tabu  wie  die  bei  der  Mahlzeit  benutzten 
Schalen  und  Gabeln.  Zuweilen  dienen  die  Schädel  der  Opfer  als 
Trinkschalen,  aus  den  Schienbeinen  macht  man  Nadeln  zum  Segel- 
nähen. Der  schrecklichste,  bei  der  Anthropophagie  vorkommende 
Brauch  jener  Insulaner,  ist  aber  das  vakototoga,  die  Tortur,  wobei 
dem  noch  lebenden  Feinde  Stücken  Fleisch  vom  Körper  abge- 
schnitten, dann  gekocht  und  vor  seinen  Augen  verzehrt  werden. 
Williams  erzählt  von  einem  Häuptling,  der  900  Menschen  verzehrt 
hatte,  deren  Zahl  durch  aufgestellte  Steine  bezeichnet  wurde. 

Während  die  Polynesier  bis  zur  Zeit  der  Ankunft  der  Euro- 
päer die  Töpferei  nicht  kannten,  besaßen  die  Fidschi-Insulaner 
schon  Töpfe  und  in  diesen  kochten  sie  ihre  Speisen,  zumal  auch 
das  Menschenfleisch.  Noch  mehr,  sie  bedienten  sich  auch  der 
Gabeln,  was  um  so  mehr  autfallen  muß.  als  dieses  Kulturinstrument 


62  Fidschi-Inseln. 


selbst  bei  uns  in  Europa  ziemlich  späten  Datums  ist.  Wir  wissen, 
daß  sie  zu  ihren  Kannibalenmahlzeiten  ganz  besondere,  aus  Holz 
geschnitzte  Gabeln  gebrauchten,  die  als  Erbstücke  in  den  Familien 
sich  erhielten  und  mit  individuellen  Namen  belegt  waren,  wie  denn 
die  Gabel  eines  Häuptlings,  der  sich  durch  großen  Kannibalismus 
auszeichnete,  undro-undro  hieß,  d.  h.  ,,ein  kleines  Ding,  das  eine 
große  Last  trägt.*' ^ 

Williams,  der  durchaus  glaul)würdige  ^Missionar,  sagt  aus- 
drücklich, daß  er  in  seinem  Berichte  alle  Färbung  vermieden  habe 
und  daß  er  das  schauderhafte  Bild  durch  Mitteilung  mancher  Einzel- 
heiten noch  düsterer  habe  gestalten  können.  Es  wird  anderweitig 
genügend  bestätigt. 

W^er  sich  für  die  scheußlichen  Einzelheiten  interessiert,  die  l)oi 
den  Kannibalenmahlzeiten  der  Fidschi -Insulaner  stattfinden,  der 
möge  den  Bericht  des  englischen  Matrosen  John  Jackson  nach- 
lesen, der  1840 — 42  freiwillig  unter  ihnen  lebte.-  Diese  eingehen- 
den und  ausführlichen  Berichte  liegen  allerdings  vierzig  und  fünfzig 
Jahre  zurück.  Seitdem  haben  die  Fidschi-Inseln,  die  jetzt  britische 
Besitzung  sind,  aucli  eine  europäische  Bevölkerung,  wenigstens  an 
ihrem  Rande  und  auf  den  kleinen  Eilanden  erhalten:  der  1883  ver- 
storbene König  Thakombau  war  Christ  geworden,  die  Missionare 
sind  thätig  und  die  Anthropophagie  hat  abgenommen.  Aber  ganz 
ausgerottet  ist  sie  noch  keineswegs,  und  der  Insulaner,  der  heute 
als  guter  Christ  erscheint,  kann  morgen,  wenn  Gelegenheit  sich 
bietet,  wieder  plötzlich  in  die  alte  Gewohnheit  zurückverfallen. 
Fälle  von  Kannibalismus  sind  nicht  ganz  selten  und  man  darf  die 
Insulaner  noch  zu  den  Anthropophagen  rechnen.  Im  Juli  1807 
verließ  der  zu  Mbau  angesiedelte  wesleyanische  Missionar  T.  Bakkr 
nebst  mehreren  Gefährten,  trotz  verschiedener  wohlgemeinter  ^^'ar- 
nungen,  seine  Station,  um  im  Innern  von  Viti  Levu  bei  dem  Stamme 
der  Navosa  das  Christentum  zu  predigen:  Er  wurde  erschlagen  und 
verzehrt.^  Glücklicher  passierte  dieselbe  Stelle  zwei  Jahre  vorher 
Dr.  Eduard  Gräffe,  der  über  den  Kannibalismus,  wie  er  gegen- 
wärtig auf  den  Fidschi-Inseln  herrscht,  bemerkt,  daß  wesentlich 
der  Geschmack  am  Menschenfleisch  dort  die  noch  nicht  ganz  aus- 
gerottete Anthropophagie  Ijegründe.^ 


'   Williams,  Fiji.    I.  2i:i. 

*  Er   ist  abgedruckt   im   Appoiulix   A.  im   Journal   of  a   cruise  amon<j;   flu 
islaiids  ut'  the  westcrii   Pacific  Ijy  John  Ei.imiin.stoxe  Ekskine.    EoikIdu   1S5I5. 
=*  Globus.    XIII.  2.").         *  Petekmanns  Mittcilunjzt'u.    isdU.     (J2.    GT. 


Fidschi-Inseln.     Sandwich-Inseln.  63 

Indessen  haben  wir  doch  gesehen,  daß  außer  der  reinen  Goiir- 
mandise,  welche  allerdings  bei  den  Fidschi-Insulanern  in  Bezug  auf 
Menscheufieisch  nicht  geleugnet  werden  kann,  noch  anderweitige 
Beweggründe  der  Anthropophagie  auf  diesen  Inseln  herrschte.  Auch 
Erskine^  l)erichtet,  daß  die  erschlagenen  Feinde  den  Göttern  ge- 
weiht wurden,  bevor  man  sie  fraß. 

Die  Weihung  der  zu  Fressenden  den  Göttern,  das  Tabu,  welches 
dabei  über  manche  Gegenstände  ausgesprochen  war,  beweisen  den 
ursprünglich  religiösen  Beweggrund  der  Anthropophagie,  wozu  dann 
noch  Rachsucht  sich  gegen  den  erschlagenen  Feind  gesellt,  die 
schließlich  in  Feinschmeckerei  und  gewohnheitsmäßigen  Menschen- 
fleischgenuß  überging.     So  haben  wir  eine  völlige  Skala. 

Ein  furchtbarer  Ausbruch  des  Kannibalismus,  der  wie  eine 
Seuche  ganze  Distrikte  erfaßte  und  an  dem  auch  bereits  ,. bekehrte" 
Stämme  Teil  nahmen,  fand  im  Jahre  1873  statt.  Besonders  waren 
die  Kannibalen,  die  Alles  mordeten  und  fraßen,  was  ihnen  unter 
die  Hände  kam,  darauf  erpicht,  ,. einen  Jehovapriester  zu  fressen'*, 
was  ihnen  indessen  nicht  gelang.  Die  Einzelheiten  schildert  der 
zu  ßewa  angesessene  Missionar  A.  J.  Webb.^ 

Sandwich-Inseln.  In  Melanesien,  wo  die  Anthropophagie 
bis  auf  unsere  Tage  herrscht,  scheint  dieselbe  den  Höhepunkt  er- 
reicht zu  haben;  in  Polynesien  dagegen  ist  sie  heute  bis  auf  geringe 
Reste  verschwunden.  Der  Einfluß  der  Missionare  hat  hier  durch- 
greifend gewirkt,  er  konnte  dieses  um  so  mehr,  als  bereits  im  ver- 
flossenen Jahrhundert  die  Entdecker  jene  Unsitte  im  Absterben 
begriffen  sahen.  Daß  sie  aber  einst  allgemein  über  Polynesien  ver- 
breitet war,  darf  nicht  bezweifelt  werden. 

Da  Gerland  eine  sehr  große  Anzahl  von  Belegstellen  für  den 
Kannibalismus  der  Polynesier  zusammengestellt  hat^,  so  können  wir 
uns  hier  etwas  kürzer  fassen. 

Auf  den  Hawaiischen  Inseln  war  wohl  schon  zu  Cooks  Zeiten 
die  Menschenfresserei  in  der  Abnahme  begriffen,  ja  man  schämte 
sich  derselben.  Daß  Teile  von  Cooks  Leichnam  selbst  verzehrt 
worden  seien,  wie  wohl  angegeben  wurde,  ist  noch  neuerdings  von 
Dr.  WiNSLOW  eingehend  widerlegt  worden,  der  überhaupt  die  Sand- 
wich-Insulaner von  der  Anthropophagie  freisprechen  möchte.'*  Letz- 
teres ist  indessen  ein  vergebliches  Beginnen,  indem,  nach  Forster, 


'  A.  a.  O.    2G1. 

^  The  illustrated  Missionary  News.     1.  Dezember  1873. 

^  Waitz,  Anthropologie.    \L    lüTff. 

*  Xatnre,  10.  Juli   1873.    Vol.  VIII.    211. 


64  Randwich-Tnseln.     Markesas. 

die  Hawaier  selbst  erzählten,  daß  ihre  Vorfahren  Kannibalen  ge- 
wesen seien ;  als  ein  Kest  der  Anthropophagie  muß  auch  angesehen 
werden,  daß  der  König  bei  seiner  Einweihung  that,  als  ob  er  das 
ihm  dargereichte  linke  Auge  eines  geopferten  Menschen  verschlinge. 
John  Tuenbull,  der  in  den  ersten  Jahren  unseres  Jahrhunderts 
die  Südsee  durchkreuzte,  bemerkt  dieses  und  glaubt  überhaupt,  daß 
zu  seiner  Zeit  noch  Anthropophagie  vorkam.  Er  fand  den  Spuck- 
napf des  Königs  mit  den  Zähnen  erschlagener  Feinde  ausgelegt.^ 
Durch  das  Verzehren  des  linken  Auges  glaubte  man  die  Kraft  des 
Herzens  des  Opfers  in  sich  aufzunehmen. 

Markes as-Inseln.  Ist,  wie  von  anderen  polynesischen  Ei- 
landen, auch  die  Anthropophagie  der  Eingeborenen  der  Markesas- 
Inseln  geleugnet  worden,  so  kann  daran  doch  keineswegs  gezweifelt 
werden,  wenn  auch  ein  allmähliches  Eingehen  des  Kannibalismus 
daselbst  beachtet  wurde,  so  daß  derselbe  gegenwärtig  fast  erloschen 
ist.  Bemerkenswert  bleibt,  daß  die  Weiber  sich  an  den  Kanni- 
balenschmausereien  ebensowenig  wie  die  Kinder  beteiligen  durften. 
Allgemein  ausgeübt  wurde  sie  nur  im  Ki'iege,  wo  man  namentlich 
Augen  und  Herz,  letzteres  roh,  verschlang.  Von  den  Menschenopfern 
durften  nach  Ellts  außer  den  Priestern  nur  Häuptlinge  und  Greise 
essen. 

Camille  de  RoQUEFEuiii,  ein  französischer  Seemann,  welcher 
1817  auf  den  Markesas-Inseln  des  Sandelholzhandels  wegen  war, 
fand  damals  die  Anthropophagie  noch  in  voller  Blüte.  Sein  Gewähr- 
mann war  ein  lange  Zeit  auf  den  Inseln  ansässiger  Engländer 
Namens  Ross,  der  ihm  berichtete,  wie  1815  noch  die  ganze  IMann- 
scliaft  eines  europäischen  Bootes  von  den  Einwohnern  ^^  ahitoas 
niedergemetzelt  und  verzehrt  wurde.  In  viele  feindliche,  sich  stets 
untereinander  bekriegende  Parteien  getrennt,  rieben  sich  die  In- 
sulaner untereinander  auf.  Die  Leichen  der  erschlagenen  Feinde 
sowie  die  Kriegsgefangenen  wurden  regelmäßig  verzehrt  und  es  g:ib 
nur  eine  Ausnahme  von  dieser  Regel,  nämlich  dann,  wenn  die 
Priester  im  Namen  ihrer  Eatuas  (G()tter)  dagegen  ehdvamen. 
Gew()hnli(h  rettete  diese  Weihung  das  Leben  des  Gefangenen  nicht. 
aber  er  wurde  wenigstens  nicht  gefressen  und  man  beerdigte  ihn 
bei  den  Hütten,  wo  die  Fetische  in  die  Erde  verscharrt  waren, - 


'  JoiiN  'ruuNiuuj.s  Tvciso  Ulli  die  Welt.  Aus  dem  KiiüliscliiMi.  Wciiiiiir 
KSOß.    204. 

-  (!amii,i,k  DK  RoyiTEFRun,,  ,l(iuni:il  (Tun  vi)V:ii;-c  iiiitoiir  du  Monde.  I*;iris 
1828.    I.    820. 


Markesas.     Paumotu.     Osterinsel.  65 

Berichte  aus  der  jüngsten  Zeit,  welche  die  Anthropophagie  der 
Markesaner  bestätigen,  sind  folgende.  Dem  L-länder  Lamont,  der 
1852  als  Geschäftsmann  Nukahiwa  besuchte,  wurde  in  der  Hana- 
pae-Oao-Bucht  von  den  Eingeborenen  ein  Ofen  gezeigt,  welcher 
kurz  vorher  erbaut  war,  um  einen  weißen  Ansiedler  zu  braten, 
weil  er  einen  der  Ortshäuptlinge  erschlagen.^ 

Im  Jahi-e  1872  unternahm  die  französische  Fregatte  ,,La  Flore" 
eine  Expedition  nach  verschiedenen  Inseln  der  Südsee  und  besuclite 
auch  die  Markesas.  Berichte  von  dieser  Reise  hat  der  Schiftsialnirich 
Julien  Viaud  veröffentlicht  und  in  einem  derselben  sagt  er:  Die 
Anthropophagie  ist  auf  Nukahiwa  seit  mehreren  Jahren  erloschen 
und  herrschte  jetzt  nur  noch  auf  der  Nachbariusel  Hivaoa  (Domi- 
nica).^ Noch  neuer  ist  der  Bericht  Clavels.  Dieser  hält  es  für 
ausgemacht,  daß  die  Anthroj^ophagie  auf  den  Markesas  nicht  in  der 
Vorliebe  für  den  Genuß  von  Menschenfleisch,  sondern  nur  in  der 
Befriedigung  der  Rachsucht  begründet  sei.  Seine  Anschauung  be- 
gründet er  durch  folgende  Beispiele:  Vor  wenigen  Jahren  wurde 
ein  verstümmelter  Leichnam  gefunden;  infolge  der  deshalb  ange- 
stellten Untersuchung  stellte  sich  heraus,  daß  die  Mörder  kleine 
Stückchen  vom  Fleisch  des  Ermordeten  in  Zündholzschachteln  mit 
sich  genommen  und  zwischen  ihrer  Nahrung  genossen  hatten.  Ein 
Häuptling  von  Hatih6u,  der  seine  Schwiegermutter  verzehrt  hatte, 
gal)  auf  Clavels  Frage,  ob  sie  gut  geschmeckt  habe,  eine  abwei- 
sende Antwort.  Jetzt  ist  die  Anthi'opophagie  dort  so  gut  wie  er- 
loschen.^ 

Paumotu.  Ursprünglich  sind  alle  Bewohner  der  Paumotu- 
Inseln  Anthropophagen  gewesen  und  auf  den  östlichen  sind  sie  es 
noch  jetzt,  was  ihren  Zusammenhang  mit  den  Rarotongern  (Hervey- 
Gruppe)  beweist,  bei  denen  das  Menschenfressen  allgemein  geübt 
wurde;  auf  den  westlichen  Inseln  ist  es  aber  schon  vor  der  Ein- 
führung des  Christentums  durch  den  Einfluß  der  Tahitier  unter- 
drückt worden."*  Auf  dem  östlich  von  den  Niedrigen  Inseln  ge- 
legenen Rapanui  (Osterinsel)  cannihaUsm  was  ■practise.d  four  nr  six 
years  since  (1862  oder  1864);  aome  Spaniards  were  eatenJ' 


*  Lamont,  Wild  Life  among  tlie  Pacific  Isländers.  London  1867. 
-  L'Illustration,  Journal  universel.  Paris.  4.  Oktober  187.3.  228. 
3  Bull.  SOG.  d'Antln-opol.    1884.    497. 

*  Meinicke,    Der  Archipel   der  Paumotu.     Zeitschrift   der   (Jesellschaft  für 
Erdkunde  zu  Berlin.    V.    396  (1870). 

^  Palmer  im  Journal  Roy.  Geogr.  Soc.  XL.  171  (1870). 

E.  A 11  tl  r  e  e ,  Anthropophagie.  5 


66  Gesellschaftsinseln. 

Gesellschaftsinseln.  Meinicke  nimmt  an,  auf  Tahiti  sei  die 
Anthropophagie  niemals  Sitte  gewesen.  ^  Indessen  da  alle  übrigen  poly- 
nesischen  Inseln  sie  kannten  und  teilweise  noch  kennen,  so  wird  auch 
Tahiti  keine  Ausnahme  gemacht  haben,  wenn  auch  der  Kannibalismus 
dort  zur  Zeit  der  Entdecker  schon  in  den  letzten  Zügen  lag.  Nur  um  zu 
prahlen ,  verschlangen  dort  einige  Leute  ein  paar  Bissen  Rippenfett 
wie  Cook  und  Ellis  bezeugen,  und  das  Darreichen  des  Auges  eines 
Geoijferten  war  hier  so  gut  Sitte  wie  auf  den  Sandwich  und  Samoa- 
Inseln.  Wilson  berichtet  darüber  folgendermaßen:  Motuaro,  das 
Oberhaupt  von  Eimeo,  leistete  dem  jungen  Könige  (Pomare,  Otu), 
der  auf  den  Schultern  eines  Mannes  getragen  wurde  und  von  allen 
seinen  Vornehmen  umgeben  war,  seine  Huldigung.  Er  brachte  von 
Eimeo  drei  Menschenopfer,  der  Priester  höhlte  von  jedem  ein  Auge 
aus  und  reichte  es  auf  einem  Pisangblatte  dem  Oberherrn  dar.  Zu- 
gleich hielt  er  dabei  eine  feierliche  Rede;  die  toten  Körper  wurden 
hierauf  fortgetragen  und  im  Morai  begraben.  Dieselbe  Ceremonie 
wurde  hernach  von  einem  jeden  Oberhaupte  oder  Fürsten  der  ver- 
schiedenen Distrikte  wiederholt.  Einige  brachten  ein,  andere  zwei 
Menschenopfer;  sie  waren  an  einem  langen  Pfahl  Ijefestigt  und 
wurden  nach  Überreichung  des  Auges  beerdigt. 

,,Man  erklärte  die  grausamen  Opfer  auf  folgende  Art:  der  Kopf 
wird  für  heilig  gehalten,  und  das  Auge  für  dessen  kostbarsten 
Teil.  Dies  wird  daher  dem  Könige,  als  des  Volkes  Haupt  und 
Auge,  überreicht.  Bei  der  Überreichung  des  Auges  sperrt  der 
König  den  Mund  auf,  als  ob  er  es  verschlingen  wolle.  Hier- 
durch glauben  sie,  erhalte  er  großen  Zuwachs  von  Weisheit  und 
Klugheit;  auch  glauben  sie,  daß  ein  Schutzgott  bei  dieser  Feier- 
lichkeit zugegen  sei,  das  Opfer  annehme  und  durch  Mitteilung  von 
mehr  Lebenskraft  die  Seele  des  Königs  stärke.''-'  Elus  erzählt 
Kannibalengeschichten  von  der  kleinen  westlich  von  Tahiti  gelege- 
nen Insel  Tapamanoa.  ^ 

Ist  dies  sclion  als  Rest  der  ehemals  auf  Tahiti  lierrschenden 
Anthropophagie  aufzufassen,  so  erhalten  wir  liiej-für  weitere  Be- 
stätigung durch  ein  von  Cook  mitg(^teiltes  Märclien:  In  den  Bergen 
der  Insel  lebten  vor  Zeiten  zwei  Kaiinil)al<'ii,  die  großen  Schaden 
verursachten.     Zwei   Brüder  nuichten  sich  auf,   sie  zu  tiUcn,  luden 


'  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Erdkniule.    V.    MiH!. 

^  James  Wilson,    Missioiisrcise   nach   dem   siiilliclicii  Stillen  Ozean    in   den 
•laln-cn    I7»()^1798.    Aus  dem  lMi};-lisclicn.     WciniMr   ISdO.    XM. 
'   IVilync;«.    ilcsearchea.    II.    22:5. 


Gresellschaftsinseln.     Samoa.  6 « 

sie  eiu  und  setzten  ihnen  glüliende  in  Brotfruclitteig  gehüllte  Steine 
vor.  Der  erste  Kannibale  starb  daran;  der  zweite  al)er,  gewarnt 
durch  das  Zischen  der  heißen  Steine  im  Halse  seines  Gefährten, 
wollte  nicht  essen.  Da  überredeten  ihn  die  Brüder,  die  Wirkung 
ginge  rasch  vorüber.  Jener  aß  und  starb.  Die  Brüder  zerschnitten 
die  Leichen  der  Menschenfresser  und  begruben  sie.  Eines  der 
Weiber  der  Kannibalen,  das  zwei  große  Hauzähne  hatte,  aber  kein 
Menschenfleisch  aß,  wurde  nach  seinem  Tode  unter  die  Götter  ver- 
setzt. G.  Forstee  schloß  ganz  richtig  aus  diesem  Märchen,  daß 
hierdurch  auf  ehemals  weiter  verbreitete  Anthropophagie  hinge- 
wiesen werde ^,  was  auch  daraus  erhellt,  daß  die  Tahitier  direkt 
zu  Cooks  Leuten  ihre  Vorfahren  als  Tahe-ui,  Menschenfresser,  be- 
zeichneten. ^ 

Samoa-Inseln.  Hier  ist  der  Kannibalismus  jetzt  erloschen. 
Daß  er  herrschte,  darf  nicht  bezweifelt  werden,  wenn  auch  nur 
noch  spärliche  Anzeichen  für  densell)en  aufgefunden  werden  kihmen. 
George  Tuener  berichtet,  daß  bei  den  Kriegen  der  Eingeborenen 
gelegentlich  ein  Leichnam  gekocht  wurde,  doch  war  dies  stets  ein 
wegen  seiner  Grausamkeit  berüchtigter  Feind ,  von  dem  zu  essen, 
als  der  Gipfelpunkt  des  Hasses  und  der  Rache  betrachtet  wurde, 
nicht  etwa  um  einem  Gelüste  zu  fridmen.  Letzteres  war  jedoch  in 
alten  Zeiten  wohl  der  Fall.  ,,Ich  will  dich  braten'',  ist  die  größte 
Beleidigung,  die  man  einem  Samoaner  zurufen  kann,  ja  ein  Häupt- 
ling erklärte  auf  diesen  Schimpf  hin  Krieg.  Stolze  Häuptlinge  ver- 
ließen die  Missionskapelle,  wenn  eingeborene  Prediger  vom  hölli- 
schen Feuer  berichteten.  Unterwirft  sich  ein  kriegführender  Teil 
dem  andern,  so  ist  es  Sitte,  sich  vor  dem  Sieger  zu  beugen  und 
Brennholz  und  ein  Bündel  Laub  emporzuhalten,  wie  sie  beim  Braten 
der  Schweine  benutzt  werden,  gleichsam  als  wollten  sie  sagen: 
„Töte  und  koche  uns,  wenns  dir  beliebt.''^ 

Nach  W.  J.  Peitchaed  dem  Jüngern  sind  die  Samoa-Insulaner 
zwar  im  allgemeinen  von  der  Anthropophagie  freizusprechen;  doch 
kommen  einzelne  Fälle  noch  immer  vor,  wenn  auch  hierbei  eine 
gewisse  Renommage  der  bewegende  Grund  zu  sein  scheint.'* 

Auf  der  nordwestlich  von  den  Samoa-Inseln  gelegenen  Insel 
Rotumah,  die  gleichfalls  von  Polynesiern  bewohnt  ist,  erscheint  die 


'  (J.  Forster,  Sämmtliche  Hcliriftcn.    II.    57. 

-  J.  R.  Forster,  Bemerkungen  auf  seiner  Reise  um  die  Welt.    200. 
•'  (I.  Turner,  Nineteen  Years  in  Polynesia.    London  ISGl.    194. 
*  Polynesian  Reminiscenses.    London  1806. 

5* 


68  Tonga-Inseln.     Neu-Seeland. 

Anthropophagie  erloschen;  als  in  Tueneks  Gegenwart  1845  einige 
Maoris  die  dortigen  Insulaner  aufforderten,  die  Leichen  der  im 
Kriege  Gefallenen  zu  verzehren,  wiesen  die  Eingeborenen  dies  mit 
Abscheu  zurück.^ 

Tonga-Inseln.  Auf  diesen  war  gleichfalls  zur  Zeit  der  Ent- 
decker die  Anthropophagie  im  Erlöschen  und  kam  nur  noch  infolge 
von  Hungersnot,  wo  nach  Mariner  auch  Weiber  sich  beteiligten, 
oder  als  Äußerung  des  Hasses  vor.  Ein  beleidigter  Insulaner  er- 
schlug seinen  Feind,  schnitt  ihm  die  Leber,  den  Sitz  der  Leiden- 
schaften, heraus  und  tauchte  sie,  zum  Entsetzen  der  übrigen  Ton- 
ganer, in  sein  Getränk.  Die  schlimmsten  Flüche  auf  Tonga  sind 
nach  Mariner:  ,, Koche  deinen  Großvater"  oder  ,, Grabe  deinen 
Vater  bei  Mondlicht  aus  und  friß  ihn".  Weiße  zu  fressen,  galt  für 
schädlich,  da  einige  Tonganer,  welche  drei  Weiße  gefressen  hatten, 
nach  dem  Genüsse  des  Fleisches  erkrankten  und  starben.  Zu 
Mariners  Zeiten  (1818)  hatten  einige  Tonganer  auf  den  benach- 
barten Fidschi-Inseln  die  Anthropophagie  wieder  gelernt  und  übten 
sie  zur  Abscheu  ihrer  Landsleute  aus.  ^ 

Neu-Seeland.  Als  Cook  auf  seiner  ersten  Reise  Neu-Seeland 
wieder  aufgefunden  hatte  und  er  beim  Königin-Charlotte-Sund  mit  sei- 
nen Begleitern  Banks  und  Solander  ans  Land  gegangen  war,  sollte 
er  sofort  mit  eigenen  Augen  beobachten,  wie  Maoris  neben  einem 
Hunde  auch  Menschenfleisch  verzehrten ,  das  in  Körben  neben 
jenem  lag.  Auf  die  Frage,  warum  sie  denn  nicht  den  im  Wasser 
schwimmenden  Leichnam  einer  Frau  äßen,  antworteten  jene,  die 
Frau  sei  eines  natürlichen  Todes  verstorben  und  ihre  Verwandte, 
sie  aber  verzehrten  nur  die  Leichen  ihrer  in  der  Schlacht  erlegten 
Feinde.  Georg  Forster  nimmt  Gelegenheit,  die  angezweifelte 
Anthropophagie  der  Maoris  zu  bestätigen  und  macht  die  Bemerkung, 
daß  dieses  Volk  weit  über  die  erste  Barbarei  hinaus  sei,  darum 
also  die  Menschenfresserei  desselben  um  so  mehr  auffalle.  Mangel 
an  animalischer  Nahrung  könne  nicht  die  Ursache  dieses  schreck- 
lichen Gebrauches  sein,  denn  überall  gebe  es  Fische  im  Überfluß, 
man  züchte  viel  Hunde  und  auch  an  wilden  Vögeln  sei  kein  Mangel. 
Was  aber  auch  die  Ursache  sein  möge,  als  sicher  erscheine  die 
außerordentliche  Vorliebe  der  Neu  -  Secländcr  für  Menschenfleisch. 
H('>clist  wahrscheinlich,  nimmt  Förster  an,  liege  Rachsucht  zu 
(iruiuU'  und  mit   der  Zeit  werde  wohl  der   schauderhafte  Gebraucli 


'  TuHNKR  a.  a.  O.    358. 

-  Makinek,  Tonga  Island«.-    London  ISIS.    I.    321. 


Neu-Seeland.  6° 


aufhören,  wozu  die  Einfüliriing  der  europäischen  Haustiere  wohl 
auch  das  ihrige  mit  beitragen  werde. 

Alle  späteren  Eeisenden,  sowie  die  Missionare  bestätigten  im 
vollsten  Maße  die  weite  Verbreitung  der  Anthropophagie  unter  den 
Neu-Seeländern  und  wenn  die  Missionare  entsetzt  darüber  jammerten, 
antworteten  die  Maoris :  „Die  großen  Fische  fressen  die  kleinen,  Hunde 
fressen  Menschen,  Menschen  Hunde,  Hunde  einander,  Vögel  einander, 
ein  Gott  den  andern." 

Aus  den  Überlieferungen  der  Maoris  soll  hervorgehen,  daß  der 
Kannibalismus  erst  lange  nach  ihi-er  Einwanderung  auf  Neu-Seeland 
aufkam  und  Hochstetter  nimmt  an,  daß  die  Anthropophagie  da- 
selbst zur  Zeit  der  Entdeckung  ihren  Gipfelpunkt  erreicht  hatte ;  den 
Frauen  war  übrigens  der  Genuß  von  Menschenfleisch  nur  in  Aus- 
nahmefällen gestattet.  Was  den  Ursprung  der  Menschenfresserei 
betrifft,  so  ist  derselbe  Forscher  der  Ansicht^,  daß  mit  der  Zunahme 
der  Bevölkerung  auf  den  Inseln  das  Erträgnis  der  ohnehin  wenig 
ergiebigen  Jagd  und  damit  die  einzige  Quelle  der  Fleischnahrung 
immer  spärlicher  wurde,  und  daß  um  neue  Jagdgebiete,  um  gutes 
Ackerland  und  um  ergiebige  Fischplätze  Streitigkeiten  entstanden, 
die  zum  Kriege  fühi'ten.  Durch  diese  Kriege  verwilderte  der  Geist 
des  Volkes,  die  Feldarbeiten  wurden  vernachlässigt,  Not  trat  ein 
und  Hunger  im  Verein  mit  Rachedurst  und  Haß  führten  im  Kriege 
zu  den  ersten  Fällen  des  Kannibalismus.  Aber  die  Kriege  dauerten 
fort,  der  Mangel  an  Fleischnahrung  wird  mit  der  allmählichen  Aus- 
rottung der  Tier-  und  Vogelarten  (der  Moas  etc.),  die  das  Haupt- 
jagdwild ausmachten,  immer  fühlbarer,  und  was  anfangs  nur  in  der 
höchsten  Not  und  in  der  äußersten  Aufregung  der  Leidenschaften 
als  vereinzelter  Fall  vorgekommen,  wurde  nach  und  nach  ein  fürchter- 
licher Brauch,  der  erst  dann  wieder  aufhörte,  als  durch  die  Ein- 
führung ergiebiger  Nahrungsquellen  dem  Mangel  und  Elend  abgeholfen 
und  die  Grundursache  der  blutigen  Kriege  gehoben  wm-de.  Das 
geschah  mit  der  Einführung  der  Schweine,  Kartoffeln  und  Getreide- 
arten durch  die  Seefahrer  zu  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts.  Dazu 
kamen  die  wohlthätigen  Einflüsse  des  Christentums,  das  die  wilden 
Sitten  milderte  und  so  verzeichnet  die  Geschichte  schon  im  Jahre 
1843  —  siebzig  Jahre  nach  Cook  —  den  letzten  (?)  wirklichen  Fall 
von  Kannibalismus.  2 


*  Hochstettee,  Neuseeland.    Stitttgart  1863.    469. 

^  „Saraca,  der  'letzte'  Menschenfresser  auf  Neuseeland,  ist  im  April  1872 
in  Olunemuri  gestorben.     Er  befehligte  auf  dem  letzten  Kriegszuge,  nach  wel- 


70  Neu -Seeland. 


Dieser  Ansicht  Hochstetteks  widerspricht  aber  Georg  Forstees 
Bemerkung  auf  das  bestimmteste,  daß  zu  seiner  Zeit  (Cooks  zweite 
Eeise)  an  animalischer  Nahrung  kein  Mangel  auf  Neu-Seeland  ge- 
wesen sei  und  auch  wir  sind  geneigt,  eher  das  von  Forstee  her- 
vorgehobene weit  verbreitete  Motiv  der  Rachsucht  als  die  Ursache 
der  Anthropo2:)hagie  anzunehmen. 

Darwin  führt  an,  daß  schon  zur  Zeit,  als  er  Neu-Seeland  be- 
suchte (1835),  der  Kannibalismus  dort  selten  gewesen  sei  i;  indessen 
fällt  gerade  in  jene  Zeit  eine  der  kannibalischen  Hauptthaten  der 
Maoris.  Damals  überfielen  Neu- Seeländer  die  nach  Osten  zu  ge- 
legene Warekaüri-  oder  Chatham- Insel,  deren  Eingeborene  (sog. 
Moriori)  sie  zum  großen  Teil  erschlugen  und  verzehrten.  ,,Die  Grau- 
samkeit der  Kannibalen  war  so  raffiniert,  daß  die  armen  Geschöpfe 
das  Holz  herbeitragen  und  die  Ofen  herrichten  mußten,  in  denen 
sie  gebraten  werden  sollten.  Die  zum  Schmause  ausersehenen  wur- 
den dann  in  einer  Reihe  auf  die  Erde  neben  den  Ofen  gelegt  und 
von  einem  der  Maorihäuptlinge  durch  Schläge  mit  einem  Mere 
(Steinkeule)  getötet.*' ^  Die  Moriori  waren,  wie  alle  Polynesier,  früher 
selbst  Anthropophagen  gewesen. 

Der  heutigen  dahinschwindenden  Maorigeneration  erscheint 
übrigens  jene  alte  Zeit  nur  wie  ein  Traum.  Nachkommen  jener 
Kannibalen  sitzen  im  Parlamente  von  Neu-Seeland  und  Hochstettee 
erzählt  eine  bezeichnende  Geschichte,  welche  darthut,  wie  bei  den 
Maoris  jetzt  alles  verschwunden  ist,  was  auf  den  Kannibalismus 
hindeutet.  ,,Ein  alter  Häuptling,  der  mit  einem  jungen  Manne  auf 
der  Reise  war,  erinnerte  sich,  als  sie  an  einem  Kriegspah  vorbei 
kamen,  vergangener  Tage  und  erzählte  seinem  jungen  Freunde: 
„Siehe,  hier  haben  wir  deinen  Vater  gefangen,  dort  haben  wir  ihn 
getötet  und  gegessen.  Der  junge  Mann  hörte  der  Geschichte  zu,  als 
ob  sie  ihn  weiter  gar  nichts  anginge;  beide  schliefen  gemütlich 
in  demselben  Zelte,  aßen  aus  demselben  Topfe  und  waren  gute 
Freunde.'^  ^ 

Mikronesien.     Hier   war    die    Anthropophagie    zur   Zeit   der 


ehern  ein  Kannibalenfest  veranstaltet  wurde.  Zum  Begräbnis  hatten  sich  viele 
Maoris  versammelt;  sie  legten  ihn  in  einen  Sarg,  an  dessen  Koi^fende  ein 
Fenster  angebracht  war.  Beim  Leichenschmaus  wurde  präserviertes  Schaf- 
fleisch genossen."  (Globus.  XXII.  144.)  Hier  muß  man  wirklich  ausrufen: 
Tempora  mutantur! 

'  Naturwissenschaftliche  Reisen.   Deutsch  von  Dikffenbach.    II.    205. 

"^  Bericht  von  H.  H.  Travers  in  Petermann's  Mitteilungen.    1866.    63. 

'  V.  IIOCHSTETTER   a.   a.   0.   471. 


Mikronesien.  '1 


Entdeckung  so  gut  wie  verscliwunden  und  nur  wenig  Tbtitsächlicbes 
liegt  darüber  vor.  Von  den  Kingsmill-Insehi  sagt  Wilkes:  ,,Die 
Körper  der  Erscblagenen  werden  gewöbnlicb  nicbt  verzebrt;  docb 
kommt  es  gelegentlicb  vor,  daß,  wenn  ein  berübmter  Krieger  er- 
scbbigen  wurde,  die  jungen  Männer  aus  Haß  Teile  seines  Fleiscbes 
essen.  ^  Daß  die  Antbropopbagie  aber  einst  über  die  verscbiedenen 
Inselgruppen  verbreitet  war,  dafür  liegen  nocb  einzebie  Andeutun- 
gen vor.  So  bericbtet  Chamisso^  von  den  Marshall-Insulanern,  daß 
beim  Abschlüsse  eines  Friedens  dieselben  vom  Fleische  eines  ge- 
fallenen feindlichen  Häuptlings  kosteten  und  sich  den  Namen  des 
gefallenen  Häuptlings  beilegten,  eine  Sitte,  die  häufig  mit  kanniba- 
lischen Gewohnheiten  verknüpft  erscheint. 

Daß  auf  den  Pelew-  oder  Pelau-Inseln  Anthropophagie  niemals 
vorkam,  sucht  Chamisso"^  zu  beweisen.  Weder  Wilson  noch  Sempee 
berichten  davon,  obgleich  sie  das  Kopfschnellen  der  Insulaner  recht 
gut  kennen  und  bei  dem  besten  und  gründlichsten  Kenner  der 
Pelau-Inseln,  Johann  Kubaky,  finden  wir  auch  nur  eine  leise  hier- 
auf bezügliche  Andeutung,  welche  aber  auch  nur  auf  ehemals  vor- 
handene Anthropophagie  hinweist.  Die  Bewohner  der  Insel  Corror 
hatten  nämlich  jene  von  Molegojok  anf  Baobeltaop  als  Menschen- 
fresser geschildert,  wiewohl  Kubary  dort  keine  Spur  von  Anthro- 
pophagie fand.^  Hierbei  bleibt  stets  zu  beachten,  daß  die  Pelauer 
wesentlich  Papuas  sind,  wiewohl  mit  malayischem  Blute  durchsetzt, 
und  daß  flist  überall  noch  die  Papuas  heute  als  Anthropophagen  auf- 
treten, und  der  malayische  Stamm  auch  Kannibalen  stellt.  Wir 
glauben  daher  im  Gegensatz  zu  Chamisso  annehmen  zu  dürfen,  daß 
die  Pelauer  allerdings  früher  Anthropophagen  waren. 


^  Ch.  Wilkes,  Voyage  round  the  World  (U.  St.  Explor.  Exped.).    New  York 
1851.    559. 

'■*  Bemerkungen  auf  einer  Entdeekuugsreisc.    Weimar  1821.    136. 

^  Chamisso  a.  a.  0.   137. 

*  Journ.  d.  Mus.  Godefproy.    Heft  IV.  20. 


72  Westindien.     Die  Cariben. 

Amerika. 

Westindien.  Als  die  Spanier  die  Antillen  entdeckten,  stießen 
sie  auf  das  Volk  der  Calinago  oder  Calina,  das  allgemeiner  unter 
dem  Namen  der  Cariben  bekannt  ist.  Menschenraubend  zogen  sie 
von  Insel  zu  Insel  in  Flotten,  die  ein  Dutzend  Segel  und  oft  fünf- 
hundert Streiter  zählten.  Die  männlichen  Gefangenen  wurden  ge- 
braten und  verzehrt.  Die  Anthropophagie  der  Cariben  ist  von  Las 
Casas  bestritten  worden,  auch  Kolumbus  wollte  anfangs  in  diesem 
Punkte  nicht  den  Erzählungen  der  Domingoindianer  trauen,  bis  er 
selbst  mit  den  Thatsachen  vertraut  wurde  und  Meldung  davon  macht, 
daß  die  Cariben  sogar  die  mit  gefangenen  Weibern  erzeugten  Kin- 
der verzehrt  haben  sollen.^ 

Was  die  Verbreitung  der  Cariben  betrifft,  die  vom  südameri- 
kanischen Festlande  kamen,  so  wissen  wir,  daß  sie  die  ganzen 
kleinen  Antillen  einnahmen  und  auch  die  Westküsten  von  Portorico 
und  Haiti  besetzt  hatten.  Mit  dem  Verschwinden  und  Aussterben 
der  Cariben  auf  den  Antillen  ist  auch  dort  die  Anthropophagie  ver- 
schwunden, die  indessen  mit  dem  Namen  dieses  Volkes  stets  ver- 
knüpft bleiben  wird,  da  aus  ihm  das  Wort  ,, Kannibale*'  entstand. 
Die  von  den  Bahamainseln  stammenden  Gefangenen  am  Borde  des 
Kolumbus  widersetzten  sich  nämlich  der  Fahrt  nach  der  Insel  Haiti, 
indem  sie  Kolumbus  die  Einwohner  als  Menschenfresser  schilderten. 
Sie  ließen  dabei  den  Namen  Cariben  laut  werden,  den  der  Admiral 
mißhörte,  so  daß  durch  ihn  der  Ausdruck  Caniba  oder  Canibalen 
für  die  anthropophagen  Stämme  Amerikas  verbreitet  worden  ist. 
Nach  Antonio  de  Hereera  bedeutet  der  Name  Canibal  soviel  wie 
ein  Tapferer.  Du  Tertrej^,  der  uns  mit  Einzelheiten  des  west- 
indischen Kannibalentums  vertraut  macht,  sagt,  daß  Auffressen  der 
gefallenen  Feinde  sei  auf  dem  Schlachtfelde  erfolgt;  die  Gefangenen 
aber  habe  man  zu  Hause  verzehrt,  wobei  dem  tapfersten  Krieger 
das  Herz  zu  teil  wurde  —  ein  deutliches  Zeichen,  daß  auch  hier 
Aberglaube  im  Spiele  war.  Übrigens  sollen  viele  nach  dem  Genüsse 
von  Menschenfleisch  erkrankt  sein."^ 


'  Navabbete,  Coleccion  de  los  viages.   Madrid  1825.    I.  204. 

"^  Histoire  generale  des  Antilles.    II.   401. 

'  Herkeka  (bei  Purchas  Ilis  Pilgrims  III.  865)  berichtet,  daß  ein  Mönch 
auf  Dominica  verzehrt  worden  sei;  alle,  die  von  seinem  Fleische  aßen,  wurden 
krank  oder  starben.  Purchas  macht  dazu  die  Marginalbemerkung :  Frier 
vnwholsomc  food. 


Älcxiko.  *3 

Mexiko.  Beenal  Diaz  und  Sahagun  sind  diejenigen  Schrift- 
steller, welche  am  ausführlichsten  über  die  Anthropophagie  und  die 
Menschenopfer  der  Mexikaner  handeln  und  nach  ihnen  sind  diese 
beiden  zu  einer  speziellen  Studie  von  Jourdanet  gemacht  worden, 
der  wir  in  der  nachstehenden  Darstellung  folgen  wollen.^ 

Zur  Zeit  der  spanischen  Eroberung  waren  die  Tempel  außer- 
ordentlich zahlreich  in  Mexiko.  Bei  diesen  Tempeln  beftmd  sich 
oft  eine  Terrasse  mit  zwei  Türmchen,  welche  für  die  Idole  bestimmt 
waren  und  vor  den  Türmchen  lagen  die  Steine,  auf  denen  man  die 
Menschenopfer  darbrachte.  Diese  Steine  waren  der  Länge  nach 
konvex  gestaltet,  so  daß  das  darauf  gelegte  menschliche  Schlacht- 
opfer seine  hervortretende  Brust  besser  dem  Schlachtmesser  dar- 
bot. Noch  existieren  altmexikanische  Darstellungen,  welche  uns 
zeigen,  wie  die  Ceremonie  vor  sich  ging.  Das  Opfer  wurde  von 
fünf  kräftigen  Gehilfen  gehalten  und  der  Oberpriester  öffnete  ihm 
mit  einem  Obsidianmesser  die  Brust,  indem  er  die  Knorpelansätze 
der  Rippen  beim  Brustbein  durchschnitt.  Dann  griff  er  in  die 
Brust  des  Unglücklichen,  nahm  das  Herz  und  schnitt  es  heraus, 
um  es  zu  Füßen  des  Idols  niederzulegen,  vor  dem  Weihrauch  brannte. 
Noch  mehrmals  griff  er  in  die  Brust,  um  mit  dem  Blute  des  Ge- 
opferten die  Priester  und  Gehilfen  zu  besprengen.  Der  Leichnam 
diente  dann  teilweise  zur  Nahrung  für  die  Priester,  teils  erhielt 
denselben  derjenige  zur  Speise,  welcher  das  Opfer  veranlaßt  hatte. 

Solche  Menschenopfer  waren  ungewöhnlich  häufig,  da  sie  auch 
bei  jeder  der  überaus  zahlreichen  religiösen  Festlichkeiten  darge- 
bracht wurden.  Die  zahlreichen  Tempel  der  größeren  Städte  in 
Betracht  ziehend  kommt  Jouedanet  zu  einer  Schätzung  von  20000 
Opfern  dieser  Art  im  Jaln-e,  während  andere  Autoren  eine  noch 
weit  größere  Anzahl  herausrechnen.  Fehlten  einmal  Opfer,  dann 
bedrohten  die  Priester  das  Volk  mit  den  schrecklichsten  Landplagen 
und  um  diese  hintanzuhalten  begann  man  Kriege,  nur  um  sich 
Gefangene  zu  verschaffen,  mit  deren  Blut  die  erzürnten  Götter  ver- 
söhnt werden  soUten. 

Oben  ist  die  Ausübung  des  Opferns  in  seiner  einfachsten  Form 
geschildert  worden;  allein  es  liegen  auch  Berichte  vor,  daß  der 
Akt  mit  ganz  besonders  barbarischen  Bräuchen  umgeben  wurde. 
So   erzählt  Sahagun  2;    „Man  band    ihnen   Hände    und  Füße.     So 


*  D.  Jourdanet,  Histoire  veridique  de  la  conquete  de  la  Nouvelle-Espagne 
par  Bernal  Diaz.  Seconde  edition.  —  —  suivie  d'une  etiide  sur  les  sacrifices 
humains  et  lanthropophagie  chez  les  Azteques  etc.    Paris  1878. 

=*  Tom.  I.    lib.  II.    cap.  X. 


"^4  Mexiko. 

gefesselt  nahmen  die  Priester  oder  ihre  Gehilfen  sie  auf  ihre  Schul- 
tern und  führten  unter  diesem  Gewicht  verschiedene  Tänze  um  ein 
großes  Feuerbecken  auf.  Plötzlich  warf  man  das  Opfer  in  das 
lodernde  Feuer,  ließ  es  eine  Weile  schmoren,  ergriff  es  dann  noch 
lebend  mit  einem  Haken  und  schleifte  es  über  den  Boden  weg  zum 
Opferstein,  wo  man  ihm  das  Herz  herausriß."  Bei  anderen  Ge- 
legenheiten baten  die  Gehilfen,  daß  die  Opferung  auf  ihrem  Rücken, 
statt  auf  dem  Steine  stattfände,  damit  sie  recht  von  dem  Opfer- 
blute überströmt  wurden.  Sahagun  berichtet  auch,  daß  man  den 
Geopferten  häufig  die  Haut  abzog  und  daß  sich  damit  irgend  ein 
kräftiger  Mann  wie  mit  einer  Kleidung  bedeckte. 

Im  Gegensatz  zu  dieser  Barbarei  stand  die  aufmerksame  Be- 
handlung, welche  häufig  die  zum  Abschlachten  Bestimmten  vor 
ihrem  Tode  erlitten,  und  so  gleich  einer  demonstratio  ad  ocidos  der 
Vergänglichkeit  menschlicher  Freuden  und  Lüste  erscheint;  denn 
so  kann  man  die  ein  Jahr  lang  dauernde  Behandlung  des  Ge- 
fangenen vor  seiner  Opferung  auffassen.  Man  wählte  zu  diesem 
Zweck  einen  schönen,  jungen  Gefangenen  von  tadelloser  Korper- 
beschaffenheit  und  von  aufgewecktem  Geiste  aus.  Man  lehrte  ihn, 
berichtet  Sahagun,  das  Flötenspiel,  man  gewöhnte  ihn  an  das 
Rauchen  nach  Art  der  Großen  und  Prinzen,  die  besten  Speisen 
wurden  ihm  vorgesetzt,  die  schönsten  Kleider  angelegt  und  während 
der  letzten  Lebensmonate  führte  man  ihm  die  schönsten  Mädchen 
zu.  War  aber  das  Freudenjahr  abgelaufen,  dann  fand  unwiderruf- 
lich seine  Opferung  statt,  nicht  in  der  Hauptstadt  Mexiko,  sondern 
in  einer  Stadt  zweiten  Ranges.  Er  wurde  in  einem  Schiffe  über 
den  See  gefahren  und  in  dem  Maße,  als  er  dem  Bestimmungsorte 
sich  näherte,  entäußerte  man  ihn  seiner  Kleidung,  bis  er  zuletzt 
nackt  anlangte.  Am  Tage  seiner  Hinrichtung  wurde  sofort  ein 
neuer  Gefangener  auserwählt,  der  anstatt  des  Geopferten  nun  ein 
Jahr  lang  in  Herrlichkeit  und  Freuden  lebte.  Oft  fanden  beim 
Opfer  auch  Tänze  statt,  an  denen  man  den  Gefangenen  zwang  teil- 
zunehmen. 

Gewöhnlich  waren  es  Kriegsgefangene,  die  man  den  Idolen 
opferte;  mehrere  Gefährten  des  Beenal  Diaz  sind  so  gemordet 
worden.  Doch  kamen  auch  freiwillige  Opferungen  vor,  wie  es  denn 
sich  ereignete,  daß  sogar  hochgestellte  Personen  ihr  Leben  den 
Göttern  darbrachten.  Blutopfer  der  Priester  selbst  für  die  Götter 
waren  nichts  ungewöhnliches;  sie  schnitten  sich  z.  B.  die  Olii'cn  ab 
und  brachten  sie  dem  Idole  dar,  oder  nahmen  Blut  von  der  Zunge, 
um  das  Götzenbild  damit  zu  bestreichen. 


Mexiko.  '5 

Die  Leichname  der  Geopferten  wurden  auf  bestimmte  Art  ver- 
teilt und  verzehrt.  Sobald  das  Herz  dem  Gotte  und  das  Blut  den 
Tempelpriestern  verteilt  war,  warf  man  den  Kadaver  auf  die  Stufen 
des  Gebäudes.  Hier  wurde  er  von  Priestern  zerstückelt  und  unter 
die  Anwesenden  verteilt;  war  viel  Menschentleisch  vorhanden,  so 
wurden  die  nicht  gleich  zur  VerAvendung  gelangenden  Überreste 
eingesalzen  oder  getrocknet,  wie  Beenal  Diaz  Aviederholt  versichert. 

Bei  den  Mexikanern  war  es  außerdem  ein  Zeichen  des  Sieges, 
wenn  sie  ihren  toten  Feind  verzehrten.  Zu  den  Spaniern  sagten 
sie:  „bald  werden  wir  euch  verschmausen".  Aber  außerdem  war 
das  Verzehren  von  Menschentleisch  bei  ihnen  auch  Sache  der 
Leckerei,  denn  bei  großen  Tafeln  durfte  es  nicht  fehlen.  Beenal 
Diaz  erwähnt  auch  die  Käfige  aus  Holz,  in  welchem  die  zur  Opfe- 
rung bestimmten  Sklaven  eingeschlossen  waren;  man  nährte  sie 
gut,  damit  sie  der  Tafel  ihres  Herrn  keine  Schande  machten. 
Dieser  selbst,  der  die  Sklaven  gewissermaßen  als  seine  Kinder  be- 
trachtete, aß  jedoch  nicht  von  ihrem  Fleisch,  das  seine  Freunde 
verzehrten.  Hervorzuheben  ist,  daß  die  Mexikaner  nur  von  dem 
Fleische  rituell  Geopferter  aßen  —  kein  anderes  Menschenfleisch, 
abgesehen  von  demjenigen  der  im  Kriege  erschlagenen  Feinde.  Bei 
der  Belagerung  Mexikos  durch  Coetez  herrschte  die  größte  Hun- 
gersnot, die  zum  Verzelu-en  der  Baumwurzeln  zwang,  aber  die  zahl- 
reichen Leichen  in  der  Stadt  blieben  von  den  Belagerten  unbe- 
rührt. Damit  stimmt  denn  allerdings  nicht,  wenn  Sandoval  auf 
seinem  Zuge  gegen  die  Otomi  fand,  daß  deren  Krieger  „Mais  und 
gebratene  Kinder  als  Proviant  mit  sich  führten''.^ 

Die  Anthropophagie  verbreitete  sich  in  Mexiko  auch  über  die 
Nebenstämme  des  Landes  aus,  in  einer  Form,  Avelche  religiösen 
Beigeschmack  hat.  Nach  Mendieta  töteten  nämlich  die  in  der 
Gegend  des  heutigen  Veracruz  wohnenden  Totonaken  alle  drei  Jahr 
einige  Kinder,  deren  Herzblut  mit  Ullisaft  (von  Cassidea  elastica) 
und  gewissen  Kräutern  zu  einem  Teig  gemischt  wurde,  der  für 
heilig  galt  und  Toyolliaytlaqual  hieß.  Diese  Speise  mußten  alle 
sechs  Monate  die  Männer,  welche  über  25,  die  Frauen,  welche  über 
16  Jahre  alt  waren,  genießen.  Welchen  Zweck  damit  die  Poto- 
naken  verbanden,  giebt  IVIendieta  nicht  an.^ 

Man  darf  Yukatan  nicht  ausschließen,  wenn  von  der  Anthro- 


»  Drei  Berichte  von  F.  Coetez  an  Karl  V.    Deutsch.    Berlin  1834.    337. 
^  Fkay  Geronimo  de  Mendieta.    Ed.  Icazbalceta.    Mexico.  Lib.  II.  cap.  16. 
19  und  H.  Strebel,  Alt-Mexiko.    12. 


76  Yukatan.     Centralamerika. 


pophagie  im  Kreise  altauierikanischer  Kulturvölker  die  Rede  ist. 
Waldeck  vernahm  zu  Merida  aus  glaulj würdiger  Quelle,  daß  zu 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  dort  noch  Kannibalismus  vorge- 
kommen sei;  er  berichtet  P^iiizelheiten,  läßt  uns  aber  über  die  Be- 
weggründe im  Unklaren.  Derselbe  Reisende  fragte  weshalb  die 
Lancadones  und  Cholos  eine  große  Affenart  verzehrten  und  erhielt 
von  einem  Indianer  die  Antwort:  seit  durch  die  Spanier  das  Men- 
schenessen verhindert  worden  sei,  hätten  ihre  Vorfahren  ,,die  kleinen 
Waldmenschen-'  angegriften  und  verzehrt.^  Auch  die  Mittelameri- 
kaner haben  dereinst  sich  anthropophagen  Genüssen  ergeben. 

Centralamerika.  Im  September  des  Jahres  1528  hielt,  wie 
OviEDO  uns  berichtet,  der  Fray  Feancisco  de  Bobadilla,  ein 
großes  Examen  mit  den  Indianern  Nicaraguas  ab,  um  die  Natur 
ihrer  Religion  zu  ergründen.  Es  waren  Leute  vom  Stamme  der 
Niquirans,  wahrscheinlich  mexikanischen  Ursprungs,  die  ihm  die 
vorgelegten  Fragen  beantworteten.  Quiateot  war  der  Regengott 
und  auf  des  Priesters  Frage,  wie  er  veranlaßt  würde,  daß  es  regne, 
antworteten  die  Indianer:  ,,Wir  gehen  in  seinen  Tempel  und  opfern 
ihm  einige  junge  Kinder.  Nachdem  wir  diesen  die  Köpfe  abge- 
schnitten haben,  besprengen  wir  mit  deren  Blut  die  Bildnisse  und 
Steinidole  in  dem  Hause  der  Götter,  das  in  unsrer  Sprache  Teobat 
heißt.''  Frage  des  Priesters:  ,,Was  beginnt  ihr  mit  den  Körpeni 
der  Geopferten?''  —  Antwort  der  Indianer:  „Diejenigen  der  Kinder 
begraben  wir-;  die  der  Männer  werden  von  den  Kaziken  und  Häupt- 
lingen verzehrt,  doch  nicht  von  dem  übrigen  Volke."  Hiernach 
wurden  also  auch  Männer  geopfert,  die  in  der  ersten  Antwort  nicht 
erwähnt  sind.  Die  Weiber  waren  von  allen  Dingen,  welche  die 
Tempel  anging,  ausgeschlossen  und  doch  wurden  auch  ihre  Körper 
in  den  Tempeln  geopfert,  indessen  die  Abschlachtung  erfolgte  im 
Vorhofe.  Das  Fleisch  der  Weiber  wurde  aber  niemals  angerührt, 
da  sie  in  religiösen  Dingen  für  unrein  galten.  Schlachtopfer  waren 
aber  nur  Sklaven  und  Kriegsgefangene.^ 

Peru.  Wenn  wir  Antonio  de  Heeeeea  Glauben  schenken 
dürfen,  so  wurde  der  Kannibalismus  auch  von  den  Eingebornen  am 
Cauca,  im  heutigen  Columbia,  in  einer  schauderhaften  Weise  aus- 
geübt; der  Bericht  ist  jedenfalls  übertrieben,  wie  Heeeeea  denn 
gern    in    seinem  Werke    über  Westindien  Märchen  einfließen    läßt. 


*  Waldeck,  Voyage  pittoresque  et  archeologique  dans  Ic  Yucatan.  1838. 
Nach  KoTTENKAMP,  Geschichte  der  Kolonisation  Amerikas.    I.   24. 

^  Nach  SauiEE  in  Transact.  Araeric.  Ethnolog.  Soc.  III.  138.  139.  (New 
York  1853.J 


Peru.     Gebiet  des  Amazonas.  '  • 

Er  sagt  nämlich^:  „Das  Volk  des  Landes  ist  so  fleischermäßig,  daß 
die  Lebendigen  das  Grab  der  Toten  sind;  denn  es  ist  gesehen 
worden,  daß  der  Mann  sein  Weib  ißt,  der  Bruder  den  Bruder  oder 
die  Schwester,  der  Sohn  den  Vater,  und  wenn  sie  einen  Gefangenen 
gemästet  haben,  so  holen  sie  ihn  an  dem  Tage,  an  dem  er  gefressen 
werden  soll,  mit  mancherlei  Gesängen  herbei,  und  der  Herrscher 
betiehlt,  daß  ein  Indianer  ihm  jedes  Glied  abschneiden  muß,  und 
so  fressen  sie  ihn  bei  lebendigem  Leibe.  Nach  der  Aussage  der 
Einwohner  von  Arma  haben  sie  mehr  als  achttausend  Indianer 
verzehrt,  und  einige  Spanier  haben  diese  Qual  auch  ausgestanden.^' 

Wir  erwähnen  diese  Erzählung  des  Herbeea  nur,  weil  sie  uns 
geeignet  erscheint,  den  Übergang  zu  der  Anthropophagie  der  Inka- 
peruaner zu  machen.  Denn  sowie  bei  dem  hochstehenden  Volke  auf 
der  Hochebene  von  Anahuac  Menschenopfer  und  Kannibalismus 
herrschten,  so  kamen  sie  auch  in  Peru  vor.  Gaecilasso  de  la 
Vega  entwirft  ein  abschreckendes  Bild  von  der  Wildheit  der  ältesten 
Urbewohner  Perus  vor  dem  Auftreten  der  Inkas,  indem  er  die  Opfer- 
feste beschreibt,  bei  denen  Menschen  zu  Tode  gemartert  und  ge- 
fressen wurden.  Selbst  unter  den  Inkas  hatten  die  Peruaner  diese 
blutige  Sitte  noch,  obgleich  dieses  traurige  Erbteil  einer  barba- 
rischen Vorzeit  unter  einer  humaneren  Regierung  schon  vor  der 
Ankunft  der  Europäer  mehr  und  mehr  in  Vergessenheit  geraten  war.- 

Gebiet  des  Amazonas.  Auf  den  Antillen  (abgesehen  von 
rückfälligen  Negern),  in  Mexiko,  im  Gebiete  der  Cordilleren  ist  un- 
zweifelhaft heute  die  Anthropophagie  erloschen.  Dagegen  ist  sie, 
was  man  mit  Unrecht  bezweifelt  hat,  noch  weit  in  den  Tiefebenen 
Südamerikas,  zumal  bei  den  umherstreifenden  Horden  im  Gebiete 
des  Amazonas  und  seiner  Nebenflüsse  vertreten.  Zu  den  Zweiflern 
gehört  in  erster  Linie  der  verdiente  Eduaed  Pöppig,  welcher  von 
den  am  Ostabhange  der  Andes  lebenden  Indianervölkern  bemerkt: 
,,Der  ungewöhnliche  Grad  von  Bildungsfähigkeit  der  meisten  den 
Anden  näher  lebenden  Stämme  wird  wohl  am  besten  durch  die 
Thatsache  bewiesen,  daß  vor  kaum  150  Jahren  noch  unter  ilmen 
Gewohnheiten  herrschten,  die  sie  der  Anthropophagie  dringend  ver- 
dächtig machten.  Wenn  man  mit  allem  Ernste  annimmt,  daß  der- 
gleichen Völker  die  niedrigsten  und  wildesten  sind,  so  ist  es  um 
so  mehr  Beweis  ihrer  guten  Anlagen,   wenn  die   Zucht  der   Euro- 


»  Herrera  bei  Purchas  His  Pilgi-ims,  The  Third  Part.    London  1625.  890. 
-  Garoii.asso  de  LA  Vega  ,    Histoire  des  Yncas  rois  du  Perou.    Traduit  de 
TEspagiiol.  Cap.  IX.  21.     Prescott,  Eroberung  von  Peru.    I.    81. 


78  Südamerika. 


päer  sie  in  ungewöhnlich  kurzer  Zeit  von  ihren  Lastern  zu  ent- 
wöhnen und  bis  zu  einem  unverhältnismäßig  hohen  Grade  zu  civi- 
lisieren  vermag''.-^  Andere,  wie  Azaea,  haben  die  Anthropophagie 
der  Südamerikaner  ganz  ableugnen ,  und  alles  darül^er  gesagte  den 
sensationsbedürftigen  Übertreibungen  der  Eroberer  und  Missionare 
zuschreiben  wollen.^  Die  Thatsachen  indessen  beweisen,  daß  noch 
heute  im  östlichen  Peru  Menschenfresser  wohnen,  und  daß  mit 
Nichten  anthropophage  Völker  zu  den  ,, wildesten  und  niedrigsten" 
gehören.  Im  Gegenteil,  wenn  auch  nicht  immer,  nehmen  gerade 
diese  sehr  häutig  eine  höhere  Stufe  als  ihre  Nachbarn  ein,  die  der 
Menschenfresserei  nicht  ergeben  sind.  Unter  den  neueren  ist  es 
WoLDEMAE  Schultz,  welcher,  mit  philanthropischem  Blicke  auf  die 
südamerikanischen  Indianer  schauend,  deren  Anthropophagie  in  der 
Gegenwart  in  Abrede  zu  stellen  versucht.^ 

Diesem  gegenüber  haben  wir  festzustellen,  daß  bei  den  auf 
tiefer  Gesittungsstufe  stehenden  Jagd-  und  Fischernomaden  des  süd- 
amerikanischen Kontinentes,  zumal  liei  den  schwachen  Horden,  die 
verborgen  in  den  Urwäldern  am  Amazonas  und  seinen  Nebenstrihnen 
hausen,  die  Anthropophagie  noch  jetzt  eine  sehr  verbreitete  ist.  Bei 
der  atomistischen  Zersplitterung  dieser  Völkerschaften  kann  nicht  die 
Rede  davon  sein,  alle  einzeln  in  ihrer  Beziehung  zur  Anthropophagie 
hier  aufzuführen,  doch  genügt  wohl  eine  Anzahl  aus  der  Menge 
hervorgegriftener  Beispiele.  Kael  Feiedeich  Philipp  von  Maetius 
hat  uns  bewiesen,  daß  die  physiologische  Entschuldigung  für  die 
Anthropophagie  bei  den  südamerikanischen  Indianern  in  Wegfall 
kommt.  ,,Nur  selten,  sagt  er,  verfällt  der  Mensch  in  diesen  frucht- 
baren und  fischreichen  Gegenden  einem  Hunger,  der  ihn  zwänge, 
auf  seines  gleichen  wie  auf  ein  zahmes  Wild  Jagd  zu  machen.  Die 
weibliche  Bevölkerung  ist  mit  so  instinktivem  Fleiße  dem  Anbau 
von  Nährpfianzen  und  der  Mehlbereitung  ergeben,  daß  es  nicht 
leicht  zu  jener  Extremität  des  Hangers  kommt.  Aber  außer  allen 
ül)rigen  Veranlassungen  zu  Streit  und  Krieg  zwischen  den  Söhnen 
des  Waldes,  reizt  ihn  die  Aussicht  seine  Gefangenen  vorteilhaft  zu 
verkaufen,  zu  fortwährenden  Kämpfen  und  ein  bei  dieser  Veran- 
lassung getöteter  Widersacher  wird  als  Edelwild,  das  sich  zur  Wehre 


'  E.  Pöi'Piu,  Roiso  in  Chile,  Peru  und  auf  dem  Anuizonenstronu".  Leipzig 
1835.    II.  449. 

^  AzARA,  VoyiVges  dans  rAim'riinu'  lueridionale.    II.    2. 

•'  WonnEMAR  SciuTLTz,  Natur-  und  Kulturstudien  über  Südamerika  und 
.seine  IJewolmer  im  4.  und  f).  Jahresberieht  des  Vereins  für  l^rkunde  zu  Dresden. 
1868.    72. 


Kaschibos.  79 

gesetzt  bat,  wie  im  Triumph  verspeist.  Es  ist  also  weder  dringen- 
der Hunger  noch  Nationalhaß,  sondern  Berechnung  einer  seltenen, 
leckeren,  den  rohen  Stolz  befriedigenden  Mahlzeit,  in  gewissen 
B'ällen  vielleicht  auch  Blutrache  und  Aberglauben,  was  diesen  Wilden 
zum  KannÜKilen  macht.  In  der  Kette  ungünstiger  Verhältnisse, 
welche  ihn  in  seiner  Entmenschung  erhalten,  ist  die  Anthropophagie 
eines  der  mächtigsten  Grlieder,  Von  allen  tierischen  Zügen  in  der 
sittlichen  Physiognomie  des  Menschen  ist  sie  der  tierischste  und 
obgleich  sie  ehemals  vielleicht  bei  allen  Völkerschaften  Brasiliens 
im  Schwange  ging,  ist  sie  doch  gegenwärtig  bei  den  meisten  ver- 
abscheut. Die  europäische  Kultur  kann  sich  rühmen  erfolgreich 
gegen  diese  entmenschte  Sitte  angekämpft  zu  haben". ^ 

Die  Kaschibos  am  Ucayale,  denen  wir  uns  zuerst  zuwenden, 
haben  wahrlich  keinen  Mangel  an  Wild,  und  der  Fluß  liefert  ihnen 
Fische  und  Schildkröten  in  Menge,  dessenungeachtet  sind  sie  Kanni- 
balen. Allerdings  sind  die  Nachrichten  darüber  nicht  immer  be- 
stimmt, The  Caslähos  are  said  to  he  cannihals  meint  Herndon-, 
während  Professor  Raimondi  angiebt,  daß  sie  nur  ihre  Alten  aus 
religiösen  Gründen  verzehren. ^  J.  J.  v.  Tschüdi  dagegen  behauptet, 
daß  sie  Kriege  führten,  um  sich  Gefangene  zum  Verzehren  zu  ver- 
schaffen. Auch  Leute  des  eigenen  Stammes  verzehren  sie,  dagegen 
niemals  Weiber,  wie  1842  die  Missionare  von  Ocopa  aussagten, 
nicht  etwa  aus.  Rücksicht  und  Schonung,  sondern  weil  sie  die  Wei- 
ber für  etwas  untergeordnetes  und  ihr  Fleisch  für  giftig  halten.^ 

Am  Cosiabatay,  einem  Nebenflüßchen  des  Ucayale,  fand  Mak- 
COY  einen  gekreuzigten  Kaschibo-Indianer,  die  Schetibos  hatten  ihn 
hier  lebendig  ans  Kreuz  geschlagen.  C'etait  une  vieille  coiitume  des 
Scheti/)Os  de  tue?'  tout  Cachiho  qu'ils  renconti'aient,  et  cela  pour  puiiir 
la  nation  dans  Vindividu,  de  son  f/oüt  decide  pour  la  chair  hmnaiiic 
Marcoy  bildet  die  ekelhafte  Scene,  wie  die  Aasgeier  den  Gekreu- 
zigten zerfleischen,  auch  ab.^ 

Diese  Kaschibos  (Carapuchos,  Callisecas,  Fledermausindiancr) 
reichen  vom  Pachitea  bis  zum  Aguaita  (linkes  Ucayaleufer)  und  sind, 
wie  Dr.  Abendroth,  der  sich  unter  ihnen  aufhielt,  versichert,  gegen- 


'  v.  Maktius,  Beiträge  zur  Ethnographie  und  Spracheukunde  Amerikas. 
Leipzig  1867.    I.    538. 

-  Herndon,  Exploration  of  tlie  Amazon.    Washington  1854.    209. 

^  Anthropologieal  Review.    I.    38  (1863). 

*  J.  J.  V.  TscHUDi,  Peru.    II.    222. 

■''  Paul  Marcov,  Voyage  de  l'oot'an  pacifitjue  a  l'ocean  atl;uiti([ue  ä  travers 
rAmeri(iue  du  Sud,  im  Tour  du  Monde.    XI.    220. 


80  Kaschibos.     Mesayas.    Miranhas. 

wärtig  die  einzigen  Anthropophagen  in  Peru.^  Noch  1865  wurden 
die  peruanischen  Offiziere  Juan  Tavara  und  x4.1berto  West  am 
Ucayale  von  den  Kaschibos  ermordet  und  gefressen,  und  als  1866 
die  ersten  Dampfer  vom  Amazonas  aus  in  den  Ucayale  einfahrend 
bis  zu  diesen  wilden  Indianern  kamen,  wurden  sie  von  ihnen  ange- 
fallen. In  einem  Gefechte  kamen  25  Kaschibos  um,  die  auch  nach 
dem  Berichte  dieser  Dampferexpedition  „unzweifelhaft  Kannibalen'' 
sind.  Über  die  Motive  des  Kannibalismus  bei  den  Kaschibos  bleiben 
wir  im  Unklaren. 

Kannibalischen  Gewohnheiten  ergeben  sind,  wie  Martius  be- 
zeugt, die  Miranhas  und  nach  Marcoys  Berichten  die  ihnen  benach- 
barten Mesayas.  Beide  Völker,  noch  verhältnismäßig  zahlreich, 
haben  der  Civilisation  und  den  Seuchen  Stand  gehalten,  beide  leben 
in  arger  Feindschaft  miteinander  und  verzehren  gegenseitig  ihre 
Gefangenen  aus  Rachsucht.  Sie  leben  am  Japure  und  an  dessen 
Mündung  in  den  Amazonenstrom  sowie  an  letzterem  selbst. 

Die  Mesayas  gehören  zu  dem  weit  verbreiteten  Stamme  der 
Umaüas  und  sollen  nach  Marcoy  noch  tausend  bis  zwölfhundert 
Köpfe  zählen.  Ihre  Altesten  erzählen  den  Ursprung  der  Anthropo- 
phagie bei  ihnen  folgendermaßen:  Vor  langer  Zeit,  als  die  Tiere 
noch  sprechen  konnten,  trieb  sich  eine  Horde  Miranhas  am  Japure 
umher  und  fand  dort  einen  auf  dem  Sande  schlafenden  Umaüa. 
Diesen  schlugen  die  Miranhas,  welche  sehr  hungrig  .waren,  tot  und 
fraßen  ihn  auf.  Die  Umaüas  erhielten  Kunde  von  diesem  Vor- 
gange durch  einen  Vogel,  den  Surucua;  sie  begannen  von  nun  an 
einen  Rachekrieg  gegen  die  Miranhas,  und  wer  von  diesen  in  ihre 
Gewalt  geriet,  wurde  aus  Rache  und  Wiedervergeltung  aufgefressen. 
Dabei  ging  oder  geht  man  mit  ausgesuchtem  Raffinement  zu  Werke. 
Der  Gefangene  wurde  im  Dorfe  der  Mesayas  streng  überwacht,  aber 
nicht  etwa  eingesperrt.  Man  gab  ihm  eine  Frau,  die  ihn  recht  gut 
und  vollauf  füttern  mußte,  damit  er  wohlbeleibt  werde.  Nach  etwa 
einem  Vierteljahre  führte  man  ihn  Al)ends  bei  Vollmond  in  den 
Wald;  dort  mußte  er  selber  das  Holz  sammeln,  mit  welchem  er 
gebraten  werden  sollte.  Wenn  er  mit  seiner  Last  im  Dorfe  ange- 
kommen war  und  dieselbe  niedergelegt  hatte,  bezeichneten  die 
Krieger,  die  ihn  bisher  bewachten,  mit  rotem  Oker  jene  Körper- 
teile, die  sie  am  andern  Tage  verspeisen  wollten,  und  nachher 
wurde  l)ei  Mondschein  ein  Tanz  aufgeführt,  an  welchem  der  Ge- 
fangene   teilnahm.      Inzwischen     brachten     die     Frauen     das     zum 


'  Dr.  AnENi»ui)Tii  im  (Jlolm.s.   XIX.   879. 


Mesayas.     Miranhas.  8 1 


Schmause  notwendige  Geschirr  herbei,  und  nach  Mitternacht  mußte 
der  Miranha  in  seine  Hütte  gehen.  Am  nächsten  Morgen  wurde 
der  Gefangene  gerufen;  sobald  er  aus  der  Hütte  trat,  erhielt  er 
sofort  mehrere  Keulenschläge  auf  die  Schläfe  und  sank  leblos  nie- 
der. Dann  schnitt  man  ihm  den  Kopf  ab,  der  auf  eine  Lanze  ge- 
steckt und  im  Dorfe  umhergetragen  wurde;  den  Körper  schleppte 
man  zu  den  Kochkesseln,  wo  er  zerlegt  wurde;  auch  die  Knochen 
wurden  entzwei  geschlagen,  damit  man  das  Mark  genießen  könne. 
Von  dem  Schlachtopfer  durfte  nichts  übrig  bleiben  als  der  mit 
Farbe  bemalte  Kopf,  der  in  der  Hütte  des  tapfersten  Kriegers  als 
Trophäe  aufbewahrt  wurde.  Aber  was  geschah  unmittelbar  nach 
dem  Schmause?  Alle  Mesayas  waren  bemüht,  das  genossene  Men- 
schenfleisch so  rasch  wie  möglich  wieder  von  sich  zu  geben;  sie 
ekelten  sich  selber  vor  der  abscheulichen  Speise,  und  damit  ist  der 
Beweis  geliefert,  daß  sie  dieselbe  nicht  aus  Gier  nach  Menschen- 
fleisch  verzehrt  hatten,  sondern  lediglich  der  Rache  und  der  Wieder- 
vergeltung wegen.  Der  letzte  Kannibalenschmaus  soll  nach  Marcoy 
im  Jahre  1846  stattgefunden  haben.  ^ 

Was  die  Miranhas  betrifft,  so  herrscht  seit  langer  Zeit  in 
ihrem  Lande  Hungersnot.  Zu  x4.ckerbauern  haben  sie  sich  nie 
emporgeschwungen,  sie  sind  Jäger  und  Fischer.  Seit  langem  nun 
giebt  es  in  ihrem  Gebiete  am  rechten  Japureufer,  wie  Marcoy  er- 
zählt, weder  Tapire  noch  Peccaris  mehr,  weder  Affen  noch  große 
Nagetiere,  selbst  der  Jaguar  kommt  nicht  mehr  vor,  und  da  wird 
OS  begreiflich,  wenn  den  Miranhas  nachgesagt  wird,  sie  fräßen  ihre 
Kranken  und  Alten.  Der  Grund  aber,  weshalb  sie  ihr  armseliges 
Gebiet  nicht  verlassen,  ist  die  Feindschaft  der  angrenzenden  Stämme, 
die  jeden  Miranha  niedermachen,  der  sich  bei  ihnen  blicken  läßt.^ 
Nachbarn  der  Miranhas  waren  die  jetzt  untergegangenen  Yamas. 
Diese  zerbrachen  die  Knochen  ihrer  Todten,  um  das  Mark  auszu- 
saugen, und  sie  thaten  dieses,  weil  sie  meinten,  im  Marke  stecke 
die  Seele  des  Verstorbenen,  und  diese  gehe  in  den  Menschen  über, 
welcher  das  Mark  verzehrt."* 

Am  Madeira  sind  die  wilden,  in  den  Wäldern  hausenden,  von 
allem  europäischen  Einflüsse  noch  völlig  unberührten  Parentintins 
bei  Crato  unzweifelhaft  Kannibalen,  die  einen  brasilianischen  Serin- 
gucii-n  (Kautschuksammler)  bei  Crato  überfielen  und  auf  einer  Sand- 
bank  brieten  und  verzehrten,   wobei   sie   von  den  Verfolgern  über- 


'  Paul  Makcoy  im  l'our  du  Monde.    XV.    135. 
'^  Paul  Marcoy  a.  a.  O.    138.  ^  Maucov  a.  a.  0.   139. 

R.  Andree,  AntUropopLagie.  (j 


82  Südamerika. 


rascht  wurden.  Desgleichen  gelten  die  Araras  für  AntLropophagen 
und  beide  Stämme  sind  Ursache,  daß  die  Seringueiros  nicht  in  die 
ausgedehnten,  reichen  Kautschukwälder  der  Nebenflüsse  des  Madeira 
vorzudringen  wagen.  ^ 

Am  Uaupös  sind  die  Cobeus  echte  Kannibalen;  sie  verzehren 
die  Leichen  der  im  Kriege  erschlagenen  Feinde,  ja  sie  führen 
Kriege  zu  dem  ausgesprochenen  Zwecke  sich  IMenschenfleisch  zu 
verschaffen.  Haben  sie  mehr  davon,  als  sie  auf  einmal  verzehren 
können,  so  räuchern  sie  den  Rest  über  Feuer  und  bewahren  ihn 
lange  auf.^ 

Die  Indianer  am  Putumajo  - —  auf  columbischem  Gebiete  im 
Territorium  von  Caqueta  —  haben  im  Jahre  1883,  wie  aus  einem 
amtlichen  Berichte  hervorgeht,  einen  jungen  Columbianer  Namens 
Portes  erschlagen  und  verzehrt.  ,,Die  Indianer  sind  in  der  Tliat 
Kannibalen,  essen  aber  nur  ihre  Kriegsgefangenen,  um  Rache  an 
denselben  zu  üben.  Besondere  Vorliebe  für  Menschenfleisch  ist 
nicht  vorhanden."^ 

Am  Jauari  sind  die  Majorunas  noch  jetzt  Kannibalen,  wofür 
Bates  die  Beweise  beibringt."* 

Alle  Tupivölker  waren  bei  der  Entdeckung  Südamerikas  Kan- 
nibalen und  so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  nun  auch 
heute  noch  die  zu  ihnen  zählenden  Stämme  kannibalischen  Sitten 
ergeben  sind,  so  die  im  Gebiete  des  Tapajoz  wohnenden  Ai)iacas, 
die  zu  den  Centraltupis  gerechnet  werden.  Ihr  Name  stammt  von 
dem  Tupiworte  Apiaba,  Mensch  und  ihre  Sprache  ist  der  herr- 
schenden lingua  geral  so  nahe  verwandt,  daß  über  ihre  ethnische 
Stellung  keine  Zweifel  aufkommen.  Wie  de  Castelnau  berichtet''', 
töten  sie  im  Kriege  alle  ihre  Feinde,  gleichviel  welchem  Geschlechte 
dieselben  angehören,  um  deren  Leichname  dann  zu  braten  und  zu 
verzehren.  Die  Kinder  der  Feinde  führen  sie  aber  mit  in  ihre 
Aldeas,  um  sie  gleich  ihren  eigenen  Kindern  zu  behandeln  und  mit 
diesen  zu  erziehen.  Wenn  aber  diese  gefangenen  Kinder  das  Alter 
von  12  bis  14  Jahren  erreicht  haben,  so  dienen  sie  zu  einer  Kanni- 
balenmahlzeit,  welche   von   dem   ganzen  Dorfe  unter  großen  Feier- 


'  Keij.er-Lkuzingek,  Vom  Amazonas  und  Madtnra.   Stuttgart  1874.    32.  99. 

^  A.  R.  Wai,i,aoe,  Amazon  and  Rio  Negi'o.  London  1853.  4flS.  —  v.  Mau- 
Tirs,  Beitrüge  zur  Ethnograijhie  Amerikas.    I.   ßOO. 

^  Nach  Panama  Sfcir  and  Herald  vom  12.  April  1883  im  Ausland  1883.  437. 

*  Tlic  Naturalist  on  tlie  Amazonas..    London  lSf>4.    4r)4. 

•'■  Expedition  dans  Ics  j)arties  centrales  de  l'Auierique  du  Sud.  Paris  ISöü. 
HI.    314. 


Die  Tupi. 83 

lichkeiten  l)egaiigeu  wird.  Mit  Arafedern  schön  geschmückt  zieht 
die  Bevölkerung  auf,  die  Kriegstrompeten  erklingen  und  die  un- 
glücklichen Kinder  werden  in  einem  Kreis  vor  die  tanzende  Menge 
geführt.  Hinter  den  armen  Geschöpfen  stehen  die  Pflegeeltern, 
welche  sie  aufgezogen  und  diese  sind  es  auch,  welche  sie  erschlagen. 
Während  der  nächtliche  Tanz  fortdauert,  werden  die  Leichen  zer- 
stückelt und  verzehrt.  xA.uch  junge  Weiher  hält  man  zuweilen 
jahrelang  gefangen,  ehe  sie  geschlachtet  und  gefressen  werden. 

Anthropophagie  der  Tupi  zur  Zeit  der  Entdeckung. 
Sowohl  in  dem  Berichte  Maecoys  üher  die  Behandlung  der  zum 
Verzehren  bestimmten  Gefangenen,  als  in  dem,  was  de  Castelxau 
üher  die  Apiacas  sagt,  erkennt  man  wesentliche  Züge  aus  den 
eigentümlichen  Gebräuchen  wieder,  die  von  den  ersten  Entdeckern 
uns  geschildert  werden,  als  sie  die  kannibalischen  Gewohnheiten  der 
Tupivölker  kennen  lernten. 

Ameeigo  Vespucci,  der  1501  die  brasilianische  Küste  besuchte, 
bringt  in  einem  Briefe  an  Loeexzo  Medici  ausführliche  Mitteilungen 
ü])er  die  Anthropophagie  der  Tupivölker.  mit  welchen  er  zusammen- 
traf. ^  Nachdem  er  ü1)er  die  Kämpfe  der  Eingeborenen  untereinander 
gesprochen,  fährt  er  fort:  „Wenn  sie  Sieger  sind,  schneiden  sie  die 
Besiegten  in  Stücken,  verzehren  dieselben  und  versichern,  daß  es 
ein  sehr  vortreffliches  Gericht  sei.  Sie  ernähren  sich  auch  vom 
Menschenfleisch;  der  Vater  verzehrt  den  Sohn  und  der  Sohn  den 
Vater,  je  nach  Umständen  und  den  Zufällen  des  Kampfes.  Ich 
habe  einen  abscheulichen  Menschen  gesehen,  der  sich  rühmte,  mehr 
als  300  Leute  verzehrt  zu  haben.  Ich  habe  auch  einen  Ort  gesehen, 
den  ich  etwa  27  Tage  bewohnte  und  wo  Stücke  gesalzenen  Menschen- 
fleischs  an  den  Balken  der  Häuser  hingen,  wie  wir  bei  uns  ge- 
trocknetes oder  geräuchertes  Schweinefleisch,  Würste  oder  andere 
Eßwaren  aufhängen.  Sie  waren  höchst  erstaunt,  daß  wir  nicht 
gleich  ilmen  das  Fleisch  unserer  Feinde  verzehrten;  sie  sagten,  daß 
nichts  vortreftlicher  schmecke  als  dieses  Fleisch  und  daß  man  nichts 
saftigeres  und  delikateres  haben  könne.'' 

PiGAFETTA,  welcher  mit  Magalhaes  auf  der  ersten  Weltum- 
segelung   die    brasilianische  Küste    berührte    und    zwei  Monate    im 


'  Eelation  du  voyage  d'Amf'ric  Vespuce  aux  cotes  du  Bresil  fait  eu  1501 
et  1502.  adressee  a  Lorenzo  di  Piei-fi-ancesco  de  Medici.  Chaktox,  Voyageurs 
anciens  et  modernes.  III.  198.  Paris  1863.  Der  Brief  ward  bereits  1503  iu 
Paris  gedruckt. 

6* 


84  Die  Tupi. 

Hafen  Sta.  Lucia  blieb,  erzählt  uns  ein  Geschichtchen  ^  —  das  den 
Ursprung  der  Anthropophagie  bei  den  Tupivölkern  erklären  soll. 
,,Die  Einwohner  haben  den  Gebrauch  Menschenfleisch  zu  essen, 
üben  aber  diese  Grausamkeit  nur  gegen  ihre  Feinde  aus,  und  sagen, 
diese  Gewohnheit  habe  ihren  Anfang  durch  eine  Frau  genommen, 
deren  einziger  Sohn  ermordet  war.  Als  man  nachher  verschiedene 
von  den  Thätern  gefangen  zu  der  Alten  geführt,  wäre  sie  als  ein 
wüthender  Hund  auf  einen  von  ihnen  gestürzt  und  hätte  ihm  einen 
Teil  der  Schulter  abgefressen.  Dieser  wäre  nachher  zu  den  Sei- 
nigen entflohen  und  hätte  ihnen  seine  Schulter  gewiesen,  worauf  sie 
alle  angefangen,  das  Fleisch  ihrer  Feinde  zu  verzehren.  Doch 
essen  sie  solches  nicht  auf  einmal,  sondern  schneiden  es  in  Stücken 
und  hängen  es  in  den  Rauch,  und  einen  Tag  essen  sie  ein  Stück 
gekocht,    und  den  andern  gebraten,   zum  Andenken  ihrer  Feinde.'* 

Daß  der  Kannibalismus  sich  nach  Süden  zu  bis  an  den  la 
Plata  erstreckte,  dafür  haben  wir  abermals  Pigafettas  Zeugnis. - 
Unter  34  ^j^  Grad  fanden  die  Weltumsegler  einen  großen  Fluß  von 
süßem  Wasser  —  den  la  Plata  —  und  „gewisse  Leute,  die  man 
Kannibalen  nennt  und  die  Menschenfleisch  essen.  Unter  anderen 
sahen  wir  einen  derselben  von  unserem  Schifl",  der  so  groß  wie  ein 
Riese  war  und  eine  Stimme  hatte  wie  ein  Stier''.  Der  Name  Kan- 
nibalen für  Anthropophagen  war  also  damals  —  28  Jahre  nach 
Entdeckung  der  Neuen  Welt  —  schon  gang  und  gäbe. 

Nehmen  wir  eine  der  alten  Reisebeschreibungen,  eines  der  zahl- 
reichen Flugblätter  zur  Hand,  die  im  Beginn  des  IG.  Jahrhunderts, 
kurz  nach  der  Entdeckung  Brasiliens,  erschienen  und  von  dieser 
handehi,  so  flnden  wir  unfehlbar  Berichte  über  die  dort  herrschende 
Menschenfresserei. 

So  zeigt  ein  um  jene  Zeit  zu  Nürnberg  oder  Augsburg  ge- 
drucktes Blatt  das  Bild  eines  brasilianischen  Indianers  nebst  Er- 
läuterung, in  der  es  heißt:  ,,Sy  streiten  auch  miteinander.  Sy  essen 
auch  einander  selbst  die  erschlagen  werden  und  hencken  dasselbig 
Fleisch  in  den  rauch."  ^  Keiner  aber  hat  die  Anthropophagie  der 
Tupivölker  besser  und  eingehender  geschildert  als  unser  Landsmann 
Hans  Stauen  aus  Homburg  in  Hessen,  der  als  Abenteurer  im  Jahre 


^  Ant(jn  PuiAFKTTA:  Erstc  Reise  um  die  Welt  durch  Ferdinand  Maüelhan. 
Aus  dem  Italienischen,  lu  C.  !\I.  Si-iMCNuEr-s  ßeiträgen  zur  Volker-  und  Länder- 
kunde.    Leipzig  1784.    IV.    13. 

-  A.  a.  O.  Ifi. 

^  Vierter  und  Fünfter  Jahresbericht  des  \'ereins  für  Erdkunde  zu  Dresden. 
1868.   14. 


Die  Tupi.        85 

1547  beschloß.  ,, Indien  zu  besehen''  und  zehn  Monate  lan^ij  Ge- 
fangener der  Tupinamba  im  heutigen  Brasilien  war,  die  er  gründ- 
lich kennen  lernte.^ 

Im  25.  Kapitel  des  zweiten  Teiles  erläutert  Hans  Staden 
,,warumb  ein  Feind  den  andern  esse''  und  er  giebt  darauf  die  Ant- 
wort: „Sie  thuen  das  nicht  aus  Hunger,  sondern  nur  aus  großem 
Haß  und  Neid.  Treffen  sie  im  Kriege  aufeinander,  so  rufen  sie 
einander  zu,  daß  sie  ihrer  Freunde  Tod  aneinander  rächen,  die 
Feinde  erschlagen  und  verzehren  wollen."  Staden,  der  selbst 
nur  durch  ein  Wunder  dem  Tode  unter  den  Tupinamba  entrann, 
hat  wiederholt  den  Kannibalenmahlzeiten  beigewohnt,  er  spricht  als 
unverdächtiger  Augenzeuge  und  schildert  im  38.  Kapitel  des  zwei- 
ten Teils  „mit  was  Ceremonien  sie  ihre  Feinde  tödten  und  essen". 
Dort  heißt  es: 

,.Wenn  sie  ihre  feinde  erstmals  heimbringen,  so  schlagen  sie 
die  weiber  und  die  jungen.  Darnach  vermalen  sie  ihnen  mit 
grawen  federn,  scheren  im  die  augenbrawen  über  den  äugen  ab, 
danzen  umb  in  her,  binden  inen  wol,  das  er  inen  nicht  entläufft, 
geben  im  ein  weib,  das  in  verwaret,  und  auch  mit  im  zu  tliun  hat. 
Und  wann  die  schwanger  wirdt,  das  kind  ziehen  sie  auf  biß  es 
groß  wird.  Darnach  wann  es  inen  in  den  Sinn  kompt,  schlagen  sie 
es  todt  und  essen's.  Geben  im  wol  essen,  halten  inen  eine  Zeit- 
lang, rüsten  zu,  machen  der  gefeß  vil,  da  sie  die  geträncke  in  tliun, 
backen  sonderliche  gefeß,  darin  tliun  sie  die  reidtschaft,  darmit  sie 
in  vermalen,  machen  fedderqueste ,  welche  sie  an  das  holtz 
binden,  darmit  sie  in  todtschlagen ,  machen  eine  lange  schnür, 
Massurana  genant,  da  binden  sie  inen  ein,  wann  er  sterben  sol 
Wenn  sie  alle  reidschaft  bey  einander  haben,  so  bestimmen  sie 
ein  zeit,  wann  er  sterben  sol,  laden  die  wilden  von  andern  dörfern, 
daß  sie  auff  die  zeit  dahin  kommen.  Dann  machen  sie  alle  gefeße 
voU  geträncke,  und  einen  tag  oder  zwen  zu  vorn.  Ehe  dann  die 
weiber  die  getrencke  machen,  führen  sie  den  gefangen  ein  mal 
oder  zwey  auff  den  platz  tantzen  umb  inen  her. 

„Wenn  sie  nun   alle  bey   einander   sein,    die  von    außen   kom- 


*  WarhafFtig  historia  und  beschreibung  einer  landscliaflft  der  wilden,  nacke- 
ten,  grimmigen  menschenfresser  leuthen,  in  der  newen  weit  America  gelegen, 
vor  und  nach  Christi  geburt  im  Land  zu  Hessen  unbekannt,  bisz  auff  dise  II 
nechst  vergangene  jar,  da  die  Hans  Staden  von  Homberg  ausz  Hessen  durch 
sein  eygne  erfarung  erkant,  und  ietzund  durch  den  truck  an  tag  gibt.  Franck- 
furt  am  Main  durch  Weygandt  Han.  1556.  Herausgegeben  von  Dr.  K.  Kixpfel 
in  der  Bibliothek  des  litterarischen  Vereins  in  Stuttgart.  Band  47.  Stuttgart  1859, 


86 Die  Tupi. 

men,  so  lieyßet  sie  der  oberste  der  liütteii  wilkommen,  spricht:  so 
kompt  helfet  iinsern  feindt  essen.  Des  tiiges  zuvor,  ehe  sie  anheben 
zu  trincken,  binden  sie  dem  gefangenen  die  schnür  Massurana  umb 
den  Hals.  Desselbigen  tages  vermalen  sie  das  holtz,  Iwera  Pemme 
genant,  darmit  sie  ihn  todt  schlagen  wollen.  Ist  lenger  denn  ein 
klaffter,  streichen  ding  daran,  das  klebet.  Dann  nemen  sie  eyer- 
schalen,  die  sin  graw,  und  sein  von  einem  vogel  Mackukawa  ge- 
nant, die  stoßen  sie  klein,  wie  staub,  und  streichen  das  an  das 
holtz.  Dann  sitzet  ein  fraw  und  kritzelt  in  dem  angeklebten  eyer- 
schalen  staub.  Dieweil  sie  malet,  stehet  es  vol  weiber  umb  sie  her, 
die  singen.  Wenn  das  Iwera  Pemme  dann  ist,  wie  es  sein  sol, 
mit  fedderquesten  und  anderer  reidschaft,  hencken  sie  es  dann 
in  eine  ledige  hütte  über  die  erden  an  einen  reidel,  und  singen 
dann  darum  her  die  ganze  nacht. 

,,Dasselbigen  gleichen  vermalen  sie  den  gefangenen  sein  an- 
gesicht.  Auch  dieweil  das  weib  an  im  malet,  dieweil  singen  die 
andern.  Und  wann  sie  anheben  zutrincken,  so  nemen  sie  den  ge- 
fangenen bey  sich,  der  trinket  mit  inen  und  sie  schwatzen  mit  im. 
„Wann  das  trinken  nun  ein  ende  hat,  des  andern  tages  darnach 
ruhen  sie,  machen  dem  gefangnen  ein  hütlin  auff  den  platz,  da  er 
sterben  sol,  da  liegt  er  die  nacht  inne,  wol  verwart.  Dann  gegen 
morgen  ein  gute  weil  vor  tage,  gehen  sie  tanzen  und  singen  umb 
das  holtz  her  damit  sie  in  todtschlagen  wollen,  bis  das  der  tag 
anbricht,  dann  zihen  sie  den  gefangenen  aus  dem  hütlin,  brechen 
das  hütlin  ab,  machen  räum,  dann  binden  sie  im  die  Mussurana 
von  dem  hals  ab  und  binden  sie  in  umb  den  leib  her,  zihen  sie 
zu  beiden  selten  steiff.  Er  stehet  mitten  darin  gebunden,  irer  viel 
halten  die  schnür  auff  beiden  enden.  Lassen  in  so  ein  weil  stehen, 
legen  steinlein  bey  ihn,  damit  er  nach  den  weibern  werfe,  so  umb 
ihn  herlaufen  und  dräwen  im  zu  essen.  Dieselbigen  sein  nun  ge- 
malet und  darzu  geordiniret,  wenn  er  zerschnitten  würd,  mit  den 
ersten  vier  stücken  um  die  hütten  her  zulaufen.  Daran  haben  die 
andern  kurtzweil. 

„Wann  das  nun  geschehen  ist,  machen  sie  ein  fewer  ungefehr- 
lich  zweier  schritt  we;t  von  dem  Schlaven.  Das  fewer  muß  er 
lehen.  Darnach  kompt  ein  fraw  mit  dem  holtz  Iwera  Pemme  ge- 
lauö'en,  keret  die  fedderquesten  in  die  höhe,  kreischt  von  freuden, 
läuft  vor  dem  gefangenen  über,  das  er  es  sehen  soll. 

„Wann  das  geschehen  ist,  so  nimpt  eine  mannsperson  das 
holtz,  gehet  mit  vor  den  gefangenen  stehen,  hält  es  vor  in,  daß  er 
es  ansiehet,   dieweil  gehet   der,    welcher  in   todtschlagen  wil,    hin, 


Die  Tupi.     Botokuden.  87 


selb  Xnil  oder  XV  und  machen  iren  leib  gniw  mit  äscbeii,  dann 
kom^)!  er  mit  seinen  zucbtgesellen  auf  den  platz  bey  den  gefange- 
nen, so  uberlift'ert  der  ander  so  vor  dem  gefangnen  steht,  diesem 
das  holtz,  so  kompt  dann  der  könig  der  hütten  und  nimpt  das 
holtz  und  steckts  dem,  der  den  gefangen  soll  todtschlagen,  einmal 
zwischen  den  beynen  her,  welches  nun  eine  ehr  unter  inen  ist. 
Dann  nimpt  er  wiederumb  das  holtz,  der  den  todtschlagen  sol,  und 
sagt  dann:  Ja  hie  bin  ich,  ich  wil  dich  tödten,  denn  die  deinen 
haben  meiner  freunde  auch  viel  getödtet  und  gessen,  antw^ortet 
er:  Wenn  ich  todt  bin,  so  habe  ich  noch  viel  freunde,  die  werden 
mich  wol  rechen,  darmit  schlecht  er  inen  hinten  auf  den  kopff,  das 
im  das  Hirn  darauß  springt,  alsbaldt  nemen  in  die  weiber,  ziehen 
in  auf  das  fewer,  kratzen  ihm  die  haut  alle  ab,  machen  in  ganz 
weiß,  stopfen  in  den  hintersten  mit  einem  holtze  zu,  auf  daß  im 
nichts  entgeht.  Wann  im  dann  die  haut  abgefegt  ist,  nimpt  in 
eine  mannsperson,  schneidet  im  die  Beine  über  den  knien  ab,  und 
die  arme  an  dem  leibe,  dann  kommen  die  vier  weiber,  und  nemen 
die  stücke,  und  laufen  mit  um  die  hütten  her,  machen  ein  groß 
geschi'ey  von  fi'euden,  darnach  schneiden  sie  im  den  rücken  mit 
den  hintersten  von  den  vorderleib  ab,  dasselbige  theilen  sie  dann 
unter  sich,  aber  das  eingew^eyd  behalten  die  ^veiber,  sieden,  und  in 
die  brühe  machen  sie  einen  brey,  mingau  genannt,  den  trinken  sie 
und  die  kinder.  Das  eingeweyd  essen  sie,  essen  auch  das  fleisch 
um  das  haupt  her,  das  hirn  in  dem  haupt,  die  zungen,  und  was 
sie  'sonst  daran  genießen  können,  essen  die  jungen.  Wann  das 
alles  geschehen  ist,  so  gehet  dann  ein  ieder  wiederumb  heim,  und 
nemen  ir  theil  mit  sich.  Derjenige,  so  disen  getödtet  hat,  gibt  sich 
noch  einen  namen.'- 

Botokuden.  Die  Botokuden,  wie  sie  von  den  Portugiesen 
nach  dem  Stöpsel  (botoque)  in  ihrer  Unterlippe  bezeichnet  werden, 
sind  unzweifelhaft  Anthropophagen  bis  zum  heutigen  Tage.  Dieses 
Volk  haust  in  der  Provinz  Minas  Geraes  in  dem  weiten  Raum 
zwischen  dem  Rio  Doce  und  Rio  Jequitinhonha ,  vom  17.  bis  20.^ 
s.  B.  Um  über  ihi-en  Kannibalismus  aufgeklärt  zu  -werden,  können 
wir  uns  an  die  Berichte  deutscher  Reisender  halten:  Eschwege, 
Neuwied,  Tschudi,  welche  uns  die  besten  Nachrichten  über  sie  ver- 
mittelt haben.  Eschwege  drang  1811  in  die  Wälder  dieser  Anthi'o- 
pophagen  vor.  Damals  lebten  die  Botokuden  mit  ihren  Nachbarn, 
Portugiesen  wie  Negern,  in  fortwährenden  Kriegen,  helen  über  die- 
selben her,  mordeten  und  fraßen  sie.  ,,Ein  Augenzeuge  der  Grreuel- 
thaten  erzählte  mir,    daß  ihre  Anzahl  nicht    sehr  beträchthch  war, 


88  Die  Botokudcn. 


SO  daß  sich  alle  an  einem  einzigen  Neger,  den  sie  brateten,  satt 
aßen;  von  anderen  schnitten  sie  Arme  und  Beine  ab  und  nahmen 
sie  als  Lebensvorrat  mit  sich.  Die  getöteten  Weißen  hatten  sie  alle 
liegen  lassen,  aber  alle  Teile  des  Körpers  (juerüber  eingeschnitten, 
so  ungefähr,  wie  man  Fische  zuzubereiten  pflegt,  wenn  man  sie 
einsalzen  will.  Den  Getöteten  saugen  sie  zuerst  das  Blut  aus  und 
dieses  scheint  ihnen  das  leckerste  zu  sein.  Überhaupt  hat  man 
aber  bemerkt,  daß,  sobald  sie  Negertieisch  haben,  sie  das  Fleisch 
der  Weißen  nicht  achten.  Bei  großem  Überflüsse  schneiden  sie  den 
Negern  auch  nur  die  Waden  und  das  Inwendige  der  Hände  aus, 
welches  wahre  Leckerbissen  sein  sollen.''  ^ 

Prinz  Maximilian  zu  Wieb,  der  1815 — 1817  das  Land  am  Rio 
Doce  und  Mucury  durchstreifte,  brachte  unzweifelhafte  Beweise  der 
Anthropophagie  der  Botokuden  mit.  „Sie  schälen  das  Fleisch  vom 
Körper  ihrer  Feinde  ab,  kochen  es  in  ihren  Töpfen  oder  braten  es ; 
den  Kopf  stecken  sie  auf  einen  Pfahl."  Neuwied  hel)t  hervor,  daß 
die  Botokuden  keineswegs  aus  Wohlgeschmack  am  Menschenfleisch 
zu  Kannibalen  geworden  sind,  dagegen  spräche,  daß  sie  einzelne 
Gefangene  am  Leben  lassen;  nur  wilde  Rachgierde  treibe  sie  zu 
der  schauderhaften  Sitte.  ^ 

Bei  J.  J.  V.  TscHUDi,  der  die  Botokuden  am  Mucury  besuchte, 
erscheint  die  Anthropophagie  dieses  Volkes  nicht  in  so  grau- 
sigem Lichte  wie  bei  v.  Eschwege.  „Die  Botokuden,''  sagt  er, 
,, werden  zu  den  Anthropophagen  gezählt  und  sie  sind  in  der  That 
Menschenfresser,  aber  nicht  in  der  grausam  blutdürstigen  Bedeutung, 
die  man  gewöhnlich  mit  diesem  Begrift"  verbindet,  sondern  bloß  aus 
unersättlichem  Heißhunger  und  aus  Rache.  Ich  glaube  nicht,  daß 
sie  einen  Feind  erschlagen,  um  ihn  zu  fressen,  sondern  daß  sie 
einen  erschlagenen  Feind  auffressen,  weil  er  ihnen  gerade  wie  ge- 
legen   und     bequem    Nahrung    darliictet    und    sie   überhaupt    alles 

fressen,  Avas  sie  nur  verdauen  können. Das  Verzehren  der 

Fcindesleichen  war  und  ist  meistens  in  erster  Linie  eine  Folge  des 
heftigen  Dranges  den  Hunger  zu  stillen,  dann  aber  mag  auch  eine 
Befriedigung  des  Rachedurstes  dazu  kommen  und  in  diesem  Falle 
werden  nur  gewisse  Körperteile  des  getöteten  Gegners  als  Lecker- 
bissen dem  Siegesmahle  beigefügt.  Auffallenderweise  sucht  jeder 
Stamm  den  Vorwurf  dieser  scheußlichen  Sitte  von  sich  ab  und  auf 


*  W.  C.  v.  EscHWEOE,  Journal  von  Brasilion.    Weimar  181-8.    80. 
■'•  Maximilian  Prinz  zu  Neuwied,    Reise  nach   Brasilien.     Frankfurt  a.  M. 
1821.    IL   49.  50. 


Die  Botokuden.     Die  Puris. o^ 

andere  Horden  zu  wälzen.  Es  mag  doch  vielleiclit  bei  ihnen  das 
Gefühl  vorhanden  sein,  daß  sie  sich  durch  das  Auffressen  ihres- 
gleichen selbst  unter  die  Tiere  stellen.'^  ^  Darnach  stimmen  Neuwied 
und  V.  TsCHUDi  überein  und  wir  dürfen  bei  den  Botokuden  Rach- 
gier als  den  Beweggrund  des  Kannibalismus  annehmen. 

Südlich  von  den  Botokuden  treffen  wir,  gleichfalls  noch  in  der 
Provinz  Minas  Geraes  unter  21.'^  s.  Br.  an  den  oberen  Zuflüssen 
des  Parahyba,  sj^eziell  am  Rio  Xipolo  zwischen  der  Serra  Geraldo 
und  Serra  do  Onqa.  auf  die  Coroatos-Indianer,  ein  sehr  rohes  Volk, 
welches  im  Beginn  unseres  Jahrhunderts  noch  1900  Köpfe  zählte. 
Bei  ihnen,  die  einst  wohl  mehr  der  Anthropophagie  ergeben  waren, 
finden  wir  gleichsam  die  Ausläufer  kannil)alischer  Gewohnheiten, 
da  sie  bei  ihren  Festen  an  dem  abgeschnittenen  Arme  eines  er- 
legten Feindes,  der  zuvor  in  Maiswein  getaucht  wird,  zu  saugen 
pflegen.  ,,Der  Arm  des  Puri  geht  beim  Tanze  in  der  Reihe  herum, 
wird  auch  wohl  aufgestellt  und  mit  Pfeilen  nach  ihm  geschossen, 
andere  tauchen  ihn  in  das  Getränk,  saugen  davon  und  mißhandeln 
ihn  auf  alle  mögliche  Art."^  Unschwer  ist  aus  dieser  Schilderung 
zu  erkennen,  wie  es  sich  auch  hier  um  einen  Racheakt  handelt. 

Die  Puris,  die  am  Parahybastrome  hausen  und  stark  dem  Ein- 
flüsse der  Brasilianer  ausgesetzt  sind,  erscheinen  heute  nicht  mehr 
als  Anthropophagen ;  daß  sie  es  einst  waren,  beweist  ihr  Name, 
denn  Puru  oder  Puri  bedeutet  nach  Vaenhagen  einfach  Anthropo- 
phage. ^  Noch  zu  Neuwieds  Zeit  kamen  bei  ihnen  Fälle  von  Kan- 
nibalismus vor.  ^ 

Es  mag  hier  und  da  in  Brasilien  außer  den  angeführten  noch 
Horden  geben,  welche  kannibalischen  Gewohnheiten  fröhnen^;  im 
allgemeinen  läßt  sich  aber  darthun,  daß  in  Südamerika  teils  durch 
Verdrängung  der  Ureinwohner,  teils  durch  Sittigung  derselben  die 
Anthropophagie  ganz  außerordentlich  abgenommen  hat,  wie  ein  Ver- 
gleich mit  den  Berichten   der  ersten  Besucher  des  Landes  ergiebt. 

Araukaner.  Noch  haben  bei  diesen  sich  wenigstens  Spuren 
erhalten,    die  auf  ehemals  weiter   verbreitete  Anthropophagie  hin- 


.    *  JoH.  Jak.  V.  Tschudi,  Reisen  durch  Südamerika.  Leipzig  1866.    II.  280. 
^  Hauptmann  Marliers  Bericht  bei  v.  Eschwege  a.  a.  0.    121.    127.    201. 
•''  A.  V.  Varnhagen,  Historia   geral  do  Brazit  etc.     Rio  de  Janeiro    1854. 
Tom.  I.   100.     Schulz,  Natur-  und  Kulturstudien  über  Südamerika.    15. 

*  Neuwied  a.  a.  O.  I.   161. 

*  Nach  Dr.  Couto  da  Magalhaes  fressen  die  Cliavantes  am  Araguay  die 
Leichen  ihrer  verstorbenen  Kinder,  weil  sie  wähnen,  daß  dadurch  die  Seele  die- 
ser Kinder  in  die  ihrige  übergehe.  (Brazil  and  River  Plate  Mail  21.  Febr.  1874.) 


90  Araukaner.     Feuerländer. 


weisen.  Als  Genugtlimiiig  für  die  Manen  der  im  Kriege  gefallenen 
Tapferen  des  eigenen  Stammes  bringen  sie  Menschenopfer  dar,  zu 
denen  Gefangene  des  feindlichen  Stammes  benutzt  werden.  Dem 
mit  einer  Keule  erschlagenen  Opfer  wird  das  Herz  aus  der  Brust 
gerissen  und  frisch  dem  Toqui  dargereicht,  der  einige  Tropfen  Blut 
daraus  saugt,  um  es  alsdann  den  übrigen  Häuptlingen  zu  geben, 
die  damit  ein  gleiches  thun.  ^ 

Feuerländer.  Unmöglich  ist  es  nicht,  daß  der  Kannibalis- 
mus sich  einst  durch  ganz  Südamerika  bis  zur  Magalhaesstraße 
und  darüber  hinaus  erstreckte.  Nach  Charles  Daewin  sind 
die  Feuerländer  demselben  infolge  häutiger  Hungersnot  ergeben, 
auch  herrscht  bei  ihnen  Elternmord^,  wie  dieses  auch  Admiral 
FiTZEOY  bestätigt.  ,,Fast  immer  im  Kriege  mit  den  Nachbar- 
stämmen begriffen,  treffen  sie  sich  selten,  ohne  daß  ein  feindlicher 
Zusammenstoß  erfolgt.  Diejenigen,  Avelche  besiegt  und  gefangen- 
genommen worden  sind,  werden,  falls  sie  nicht  schon  tot  sind,  von 
den  Siegern  erschlagen  und  verzehrt.  Arme  und  Brust  essen  die 
Frauen,  die  Beine  erhalten  die  Männer  und  der  Rumpf  Avird  ins 
Meer  geworfen.''  Auch  im  strengen  Winter  nehmen  sie,  wenn  sie 
keine  andere  Nahrung  finden  können,  ,,das  älteste  Weib  aus  ihrer 
Mitte,  halten  ihr  den  Kopf  über  dichten,  durch  grünes  verbranntes 
Holz  erzeugten  Rauch,  pressen  ihr  die  Kehle  zu  und  ersticken  sie. 
Sie  verzehren  dann  das  Fleisch  bis  auf  den  letzten  Bissen,  den 
Rumpf  aber  werfen  sie,  wie  bei  dem  vorhergehenden  Falle,  ins 
Meer".^  Auch  W.  Paeker  Snow,  der  gute  Gelegenheit  hatte,  sie 
kennen  zu  lernen,  sagt,  daß  sie  nur  im  Falle  von  Hungersnot  die 
alten  Weiber,  zuletzt  aber  ihre  Hunde  fressen^  und  an  anderer 
Stelle  sagt  derselbe :  They  are  cannihals  from  necessity,  hut,  I  hclicve, 
not  from  choice.^  Ein  neuerer  Beobachter,  der  Franzose  Maeguin, 
der  längere  Zeit  unter  ihnen  lebte,  spricht  sie  gänzlich  fi-ei.  On 
les  dit  aathrojwphages,  tnais  rien  pour  moi  nc  justifie  cette  accnsatio/i^', 
und  so  auch  Dr.  Hyades,  der  gleichftills  einige  Zeit  unter  ihnen 
lebte  und  das  Verzehren  der  alten  Weiber  für  Fabel  erklärt.'' 


^  E.  Reukl  Smith,  The  Araucarians.    New  York  1855.    274. 
''  Charles  Darwins  Naturwissenschaftliche  Reisen.    Deutsch  von  Dieffen- 
itAcii.    lirauiischweig  1844.    I.   230. 

^  LuBROcK,  Die  vorgeschichtliche  Zeit.    Jena  1874.    II.   240. 

^  A  two  years'  cruisc  oiF  Tierra  de  fuego.    London  1857.    II.    H58. 

*  Transact.  Ethnolog.  Soc.    New  Serics.  I.    264  (1861). 

*  Bulletins  de  la  societc  de  geograi^hie.    1875.    501. 
^  Revue  d'Ethnographie.    IV.    552. 


Eskimos.     Die  Tinne.  91 


Eskimos.  Bei  den  Eskimos  mag  wohl  gelegentliclie  Antliro- 
[)()pliagie  aus  Xot  imd  Hunger  vorkommen,  aber  vom  Kannibalis- 
mus aus  anderen  Beweggründen  sind  sie  freizusprechen.  Sie  sind 
kein  ki-iegerisches  Volk,  das  seinen  Rachedurst  durch  das  Verzehren 
des  überwundenen  Feindes  stillt,  wie  etwa  ihre  südlicher  lebenden 
indianischen  Nachbarn,  die  unter  gleichen  äußeren  Bedingungen  (bis 
zum  Eismeer  hin)  leben,  jedoch  kriegerischer  und  rachdürstiger  Natur 
sind.  Ob  aber  unter  den  Eskimos  Anthropophagie  herrschte,  läßt 
sich  jetzt  nicht  mehr  nachweisen.  Die  Anklänge  einiger  Legenden 
in  dieser  Richtung,  sowie  die  von  Eskimos  selbst  gezeichneten  und 
ausgeführten  Holzschnitte,  welche  das  Menschenfressen  darstellen^ 
erscheinen  nicht  als  genügender  Beweis. 

Nordamerika.  Bei  den  Indianern  Nordamerikas  mag  in  frü- 
heren Zeiten  die  Anthropophagie  viel  weiter  verbreitet  gewesen  sein, 
als  sie  jetzt  noch  vorhanden  ist.  In  der  That  war  sie  zur  Zeit  der 
Entdeckung  schon  auf  ein  geringes  zusammengeschmolzen.  Heute 
ist  nur  wenig  von  derselben  vorhanden,  und  auf  Rachsucht  am 
Feinde  als  Beweggrund  zurückzuführen,  abgesehen  von  dem  durch 
Not  erzeugten  Kannibalismus.  So  systematisch  wie  in  Mexiko  oder 
weit  ausgedehnt  wie  bei  deji  Jagdnomaden  der  Südhälfte  des  Kon- 
tinents scheint  die  Anthropophagie  im  Norden  überhaupt  nie  ver- 
treten gewesen  zu  sein. 

Für  das  Vorkommen  der  Anthropophagie  in  den  Hudsonsbai- 
Ländern  bei  den  dortigen  Indianern  haben  wir  das  Zeugnis  des 
heldenmütigen  Samuel  Heaene,  der  auf  sehi-  beschwerlichen,  an 
Entbehrungen  überreichen  Reisen  1770 — 1771  von  Fort  Churchill 
an  der  Hudsonsbai  bis  zur  Mündung  des  von  ihm  entdeckten 
Kupferminenflusses  in  das  Eismeer  vordrang.  Er  berichtet^:  „Die- 
jenigen, welche  mit  der  Geschichte  der  Hudsonsbai  bekannt  sind, 
und  das  Elend  kennen,  welches  die  Bewohner  dieser  Gegenden 
häufig  erfahren,  werden  darin  nur  die  alltäglichen  Begebenheiten 
des  Lebens  der  Wilden  finden,  die  nicht  selten  durch  die  Not  ge- 
zwungen werden,  einander  zu  verzehren.  Die  südlichen  Wilden  — 
es  sind  die  Tinn6völker  gemeint  —  haben  über  diesen  Punkt  die 
sonderbare  Meinung,  daß  sobald  einer  ihres  Stammes,  durch  Not 
gedrungen,  MenschenÜeisch  genossen  hat,  bekommt  er  davon  einen 


*  Antbropological  Keview.    HI.    145  (1865). 

^  Samuel  Hearnes  Tagebuch  seiner  Reise  von  Fort  Prinz  Wallis  in  der 
Huclsonsbai  nach  dem  nördlichen  AVeltmcer.  In  „Auswahl  der  Nachrichten 
zur  Aufklärung  der  Völker-  imd  Länderkunde"  von  M.  C.  Sprengel.  Halle 
1797.    VII.   126. 


"2  Die  Tinne.     Chippeways. 


solchen  Geschmack,  daß  sicli  niemand  unter  seiner  Gesellschaft  des 
Lebens  sicher  glaubt.  Und  ungeachtet  es  allgemein  bekannt  ist, 
daß  nur  die  Not  zu  diesem  schrecklichen  Genüsse  treibt,  so  werden 
doch  diejenigen,  die  daran  Teil  genommen  haben,  allgemein  ver- 
mieden und  durchgängig  verabscheut  und  verachtet.  Kein  Wilder 
erlaubt  ihnen,  sein  Zelt  neben  dem  seinigen  aufzuschlagen,  sie 
werden  oft  sogar  heimlich  ermordet.  Ich  habe  mehrere  dieser  Un- 
glücklichen gesehen,  die  vorher  allgemein  geschätzt,  im  besten  An- 
sehen standen  und  nun  so  verachtet  und  vernachlässigt  Avurden, 
daß  nie  ein  Lächeln  ihren  Blick  erheiterte,  eine  tiefe  Schwermut 
herrschte  in  allen  Zügen,  und  in  dem  kummervollen  Auge  lag  deut- 
lich die  Frage:  Warum  verachtet  ihr  mich  wegen  meines  Unglücks? 
Die  Zeit  ist  vielleicht  nicht  fern,  wo  die  Not  auch  euch  dazu  ver- 
leiten kann.**  Heaene  war  1775  Zeuge  in  Cumberland  House  — 
westlich  vom  Winnipegsee  — ,  daß  ein  Indianer  in  Gefahr  geriet, 
von  seinen  Gefährten  umgebracht  zu  werden,  da  er  im  Verdachte 
stand,  Menschenfleisch  genossen  zu  haben.  ^ 

J.  Long,  ein  britischer  Holzhändler,  welcher  gegen  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  Canada  und  die  Region  der  großen  Seen  Nord- 
amerikas durchstreifte,  ein  mit  den  Sprachen  nnd  Sitten  der  Rot- 
häute außerordentlich  vertrauter  Mann,  führt  die  Anthropophagie  der 
Chippeways  auf  Blutdurst  und  Rachsucht  zurück.  Nachdem  er  ver- 
schiedene Mordgeschichten  erzählt,  fährt  er  fort-:  „Ein  Missionar 
der  Jesuiten  erzählte  mir  über  diesen  Gegenstand  eine  Geschichte, 
die  niemand  ohne  Schaudern  anhören  wird.  Ein  indianisches  Weib 
in  seiner  Mission  fütterte  ihre  Kinder  mit  einem  geftmgenen  Eng- 
länder, den  ihr  Mann  eingebracht  hatte.  Sie  hieb  ihm  sogleich 
einen  Arm  ab  und  gab  den  Kindern  das  strömende  Blut  zu  trinken. 
Als  der  Jesuit  ihr  die  Grausamkeit  dieser  Handlung  vorhielt,  sah 
sie  ihn  an  und  sagte:  Ich  will  Krieger  aus  ihnen  haben,  und  darum 
füttere  ich  sie  mit  Speise  von  Menschen.*'  Hier  liegt  also  ein  aber- 
gläubiges Motiv  zu  Grunde. 

Eine  Autorität  wie  Alexander  Mackenzie,  den  seine  Ent- 
deckungsreisen und  sein  langer  Aufenthalt  in  Britisch  Nordamerika 
wohl  zu  einem  maßgebenden  Urteil  befälligen,  leugnet  die  Anthro- 
pophagie der  Chippeways   im  allgemeinen  und  giebt  nur  Fälle  zu. 


»  A.  a.  O.  127. 

^  J.  LoNGS  See-  und  Landroiscn,  enthaltcnci  eine  Reschrpibunjx  dn-  Sitten 
und  Gewohnheiten  der  Nordamerikanischen  Wilden.  Aus  dem  Englischen.  Ham- 
burg 1791.  ]115. 


Chippeways.     Potowatomis.  93 


in  denen  Hungersnot  zu  derselben  trieb.  „Wenn  man,  sagt  er,  bei 
irgend  einem  Volke,  nach  dem  unfruchtbaren  Zustande  seines  Lan- 
des, voraussetzen  könnte,  daß  es  von  Natur  kannibalisch  wäre,  so 
möchte  man  bei  der  zuweilen  eintretenden  Schwierigkeit,  sich  Nah- 
rung zu  verschallen,  dieses  Volk  (die  Chippeways)  dem  Vorwurf 
unterworfen  glauben.  Aber  bei  aller  meiner  Bekanntschaft  mit 
ihnen  erfuhr  ich  nie  ein  Beispiel  dieser  Neigung;  auch  sah  und 
hörte  ich  unter  allen  Eingeborenen,  die  ich  auf  meinem  Wege  von 
5000  (englischen)  Meilen  traf,  nie  von  einem  Beispiele  von  Kanni- 
balensinn, sondern  nur  von  solchen,  die  von  der  unwiderstehlichsten 
Notwendigkeit  herrührten,  die,  wie  man  weiß,  auch  Menschen  von 
den  civilisiertesten  Völkern  einander  zu  verzehren  zwingt."^  xA.uf  sol- 
chem Boden  steht  auch  P.  Kaxe,  der  bei  den  Cliii^peways  nur  Kanni- 
balismus verursacht  from  absolute  icant  zuläßt,  dabei  aber  darauf 
hinweist,  daß  unter  den  Chippeways  ein  Stamm  als  ,,Windigo''  be- 
zeichnet werde,  was  bedeutet  „Einer,  der  Menschenfleisch  verzehrt'^, 
worin  eine  geschichtliche  Reminiscenz  an  früheren  Kannibalismus 
erkannt  werden  mag.-  Wie  weit  die  Ableugnungen  Mackexzies 
und  Kaxes  berechtigt  sind,  mag  das  Folgende  ergeben. 

Der  apostolische  Vikar  H.  Faeaud,  der  achtzehn  Jahr  lang  als 
Missionar  in  der  Athabaska-ßegion  verlebte,  bestätigt  nämlich  auf 
das  entschiedenste  den  jetzt  noch  vorhandenen  Kannibalismus  der 
nördlichen  Indianer.  Derselbe  sei  allerdings  teilweise  aus  Not  im 
AVinter  bei  Nahrungsmangel  verursacht,  dann  schlachte  man  ge- 
wöhnlich Weiber  oder  Kinder  —  teilweise  aber  sei  er  eine  Folge 
der  Rachsucht  im  Kriege.  Und  hier  beschuldigt  er  Kris  und 
Schwarzfüße,  die  auf  dem  Schlachtfelde,  nachdem  sie  den  getöteten 
Feind  skalpiert,  diesem  das  Herz  herausreißen  und  an  Ort  und 
Stelle  verzehren.^ 

Gewöhnlich  scheint  der  Kannibalismus  nur  bei  den  Chippe- 
ways, Miamis,  Potowatomis  und  überhaupt  bei  den  Rothäuten  vom 
Algonkiuervolke  gewesen  zu  sein;  bei  den  Potowatomis  hingegen 
scheint  er  nur  das  Privilegium  einer  Gesellschaft  oder  Brüderschaft 
zu  sein.     Die  Mitglieder   dieser  Brüderschaft    sind   nicht  allein  mit 


'  Alexander  Mackexzies  Reisen  von  Montreal  durch  Nordwestanierika  nacli 
dem  Eismeer  und  der  Südsee  in  den  Jahren  17S9  und  1793.  Aus  dem  Eng- 
lischen.   Hamburg  1802.    144. 

^  P.  Kaxe,  An  artist  among  the  Indians.    London  1859.    58.    60. 

^  H.  Fakalu,  Dix-huit  ans  chez  les  sauvages.  Paris  1866.  Danach  Bull, 
d.  I.  suc.  d'AnthruiJulogie.    1885.  38. 


94  Sioux.     Mohawks. 


großen  Helclentugenden  begabt,  sondern  sie  sollen  diese  auch  durch 
Zaubersprüche  mitzuteilen  imstande  sein.^ 

Wie  Keating  bezeugt,  ist  bei  den  Chippeways  Kannibalismus 
nach  einer  Schlacht  stets  allgemein  gewesen;  ja,  fügt  er  hinzu, 
man  hat  unter  ihnen  Beispiele,  wo  das  Menschenfleisch  gediirrt  und 
Jahre  lang  aufgehoben  wurde,  um  nach  langer  Zeit  einen  Schmaus 
daraus  zu  bereiten,  zu  dem  sie  Gäste  einluden. ^  Die  Dakotas 
(Sioux)  spricht  er  dagegen  frei  von  der  Anklage  des  Kannibalismus.'* 
Sein  Führer  und  Dolmetscher,  ein  Halbblutindianer  E,enville,  ver- 
sicherte Ke.\ting,  daß  er  dabei  zugegen  war,  als  die  Briten  im 
Jahre  1813  in  Verbindung  mit  einem  Corps  von  etwa  3000  India- 
nern das  Fort  Meigs  belagerten,  letztere  einen  gefangenen  Ameri- 
kaner schlachteten  und  in  so  viele  Teile  teilten,  als  Nationen 
gegenwärtig  waren,  indem  sie  den  tapfersten  unter  jeder  Nation  auf- 
riefen, um  seinen  Anteil  an  dem  Kopf  und  Herzen  zu  empfangen. 
Der  dazu  aufgeforderte  Dakota  aber  äußerte  hierüber  seinen  Ali- 
scheu,  weigerte  sich  das  Fleisch  zu  essen  und  entfernte  sicli.  Der 
englische  Oberst  Dickson  aber,  welcher  die  Truppen  kommandierte, 
ließ  den  Winnebago  rufen,  der  die  Sache  angeregt,  machte  ihm 
Vorwürfe  und  schickte  ihn  aus  dem  Lager  fort."* 

Furchtbare  Rachsucht,  die  über  das  Leben  hinaus  den  Feind 
noch  verfolgen  will,  war  der  wesentlichste  Beweggrund  des  Kanni- 
balismus der  Rothäute  und  so  sind  denn  unter  ihnen  darauf  zie- 
lende Ausdrücke  wie  ,, das  Herz  des  Feindes  verzehren''  oder  ,, Feindes- 
blut trinken''  sehr  verl)reitet.  Algonkiner  und  Irokesen  sind  ganz 
entschieden  in  diesem  Sinne  Anthropophagen  gewesen  und  die 
Mohawks,  die  zu  den  Irokesen  gehören,  haben  sogar  ihren  Namen 
davon,  dehn  er  lautet  richtig  Mauquawog  =  Menschenfresser.'^ 
Nach  Dr.  Samuel  Mitchills  Berichten  waren  die  im  Staate  New- 
York  einst  lebenden  Indianer  Anthropophagen.  Die  Ottawas 
kochten  Suppe   aus   dorn  Fleische   gefangener  Irokesen.     Unter  den 


'  William  Keatino,  Expcd.  to  the  source  of  St.  Peters  River.  London 
182.J.  1.  103.  Keating  war  Mitglied  der  großen  Ver.  Staaten  Expedition  unter 
Major  Stephen  Long. 

^  Keating.    I.   412. 

^  Nach  ScHOOLCRAKT  sollen  indessen  die  Sioux  (Dakotas)  früher  wenigstens 
(las  Herz  des  Feindes  gefressen  haben.  Tndian  tribes.  TU.  241.  Und,  wie  die 
:iiiieril<iuiischeii  Zeitungen  beriehteten,  hat  der  berühmte  Sioux-IIäuptliiig  SiTTiN(i 
r.iii.i,  iioeli  vor  wenigen  .Jahren  das  Herz  der  im  Kampfe  gefallenen  aiiuTika- 
nisclu-u  Offiziere  verzehrt,  um  so  tapfer  wie  sie  zu  werden. 

'    KlCATlNO.     I.     lOH. 

■■"  DiiAKE,  The  buok   of  the   Indiaiis.    Boston   isr)4.    III.    37. 


Miamis.     Präliistorischcr  Kannibalismus.  95 

Miamis  bestand  ein  Aiisscliuß  von  sieben  Kriegern,  whose  husinesta 
it.  was  to  perfoTm  the  maneating  required  hy  imhlic  authority.  Ihr 
letztes  Kannibalenfest,  bei  dem  ein  Weißer  aus  Kentucky  verzehrt 
wurde,  fand  gegen  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  statt.  Im  Be- 
ginne unseres  Säculums  lebten  noch  Mitglieder  des  Menschenfresscr- 
koniitees  der  Miamis.^ 

Das  mag  genug  sein,  um  festzustellen,  daß  die  Indianer  im 
Osten  der  Felsengebirge  in  geschichtlicher  Zeit  und  bis  auf  unsere 
Tage  herab  nicht  frei  zu  sprechen  sind  von  Kanni])alismus,  wenn 
auch  hervorgehoben  werden  muß,  daß  derselbe  nur  in  geringem 
Umfange  sich  zeigt.  Es  hindert  uns  al)er  nichts  anzunehmen,  daß 
die  Anthropophagie  einst  weit  häutiger  war,  worauf  auch  die  Spuren 
})rähistorischen  Kannibalismus  hindeuten. 

Diese  zuerst  nachgewiesen  zu  haben  ist  das  Verdienst  des 
Prof.  Jefeies  Wyman,  welcher  die  uralten  Muschelhügel  am  St. 
Johns  River  im  östlichen  Florida  untersuchte  und  dabei  zahlreiche 
Menschenknochen  fand,  die  keineswegs,  nach  ihrer  zerstreuten  Lage 
zu  schließen,  von  Begräbnissen  herrühren  konnten.  Fast  alle  waren 
zerbrochen  und  oft  fehlten  wichtige  Teile  des  Skelettes.  Die  Art 
und  Weise,  wie  das  Zerbrechen  stattgefunden  hatte,  entsprach  jener 
der  Tierknochen,  die  in  den  Küchenabfallen  (als  welche  die  Muschel- 
hügel zu  gelten  haben)  vorkommen;  die  Knochen  von  Hirschen  und 
Alligatoren  waren  wie  die  Menschenknochen  behandelt  und  überall 
zeigte  sich  Methode,  welche  das  Zerl)rechen  der  Knochen  etwa 
durch  Tiere  ausschloß.  Wie  in  ähnlichen  Fällen  in  Europa  schliel.U 
Wyman  aus  dieser  Art  der  Knochenbehandlung  auf  Kannibalismus 
der  alten  Bewohner  von  Florida,  welche  ihre  Küchenabfälle  in  den 
Muschelhügeln  hinterließen.  ^ 

Nordamerikas  Westküste.  Kannibalismus  ist  auch  bei  den 
kalifornischen  Indianern  bekannt  gewesen.  Noch  existieren  unter 
ihnen  Sagen  von  Menschenfressern  und  die  das  Land  erobernden 
Spanier  erzählten,  daß  die  Wappo  (oder  Ash-o-chi-mi)  in  den  heißen 
Quellen  des  Calistoga- Thaies  einst  Menschenfleisch  kochten,  daher 
der  frühere  spanische  Name  Carne  Humana  für  diese  Quellen.^ 

In  Nordwestamerika  ist  die  Vancouverinsel,  das  Küstengebiet 
von  Britisch-Columbia  mit  seinen  Fjorden,  sowie  das  benachbarte 
Inselgewirr  der  Sitz   einer  ganz  eigentümlichen  Art  von  Anthropo- 


'  Aroliacolog-ia  Americana.     Worcester,  Mass.    1820.    I.   353. 
-  Human  Romains  in  tlie  Sliell  Iloaps  of  the  St.  Johns  River.   In  Se\enth 
Annual  Report  of  the  Pcabody  Museum.     Cambridge,  Mass.  1874.  20. 
=*  Contributiuns  to  North  American  EthnoloffV-     ITT.    li^ß.  344. 


96  Vancouver.     Die  Hametze. 

phagie,  die  hier  mit  sozialen  Rangstufen  und  einer  Art  von  Kultus 
verknüpft  ist.  Dort  wohnen  die  in  ethnologischer  Beziehung  sehr 
ausgezeichneten  Quakult,  Tschimsian  und  Bella  Coola-Indianer,  üher 
die  wir  Kapitän  Jacobsen  eingehende  Nachrichten  verdanken.  Der 
letztere  Stamm  ist  von  ihm  1885,  vertreten  durch  neun  Individuen, 
in  verschiedenen  deutschen  Städten  gezeigt  worden  und  es  hat  sich 
herausgestellt,  daß  die  Art  der  von  ihm  hetriehenen  Anthropophagie 
identisch  ist  mit  derjenigen,  welche  die  Quakult  auf  Nordvancouver 
üben,  die  Jacobsen  ausführlich  geschildert  hat.^ 

Diese  Indianer,  die  durch  ihre  künstlerischen  Leistungen  her- 
vorragen, sind  Menschenfresser  bis  auf  unsere  Tage  gewesen,  wo 
die  überhand  nehmende  Herrschaft  der  Engländer  ihrem  Kanni- 
balismus ein  Ziel  setzt.  ,  Sie  haben  unter  sich  eine  Anzahl  gesell- 
schaftlicher Rangstufen,  deren  höchste  die  der  ,, Hametze''  oder 
Menschenfresser  ist.  Diejenigen,  welche  dieser  Kaste  angehören, 
sind  stolz  darauf  und  genießen  unter  ihrem  Stamme  besondere  Ehren. 
Freilich  ist  bei  ihnen  jetzt  die  Zeit  vorüber,  in  der  sie  Sklaven 
oder  Kriegsgefangene  schlachten  und  verzehren  konnten,  ohne  daß 
Jemand  sie  daran  hinderte;  aber  sie  entschädigen  sich  auf  weit 
gräßlichere  Weise,  indem  sie  bei  ihrem  Feste  menschliche  Leichen 
verzehren,  die  bereits  ein  oder  mehrere  Jahre  alt  sind. 

Nicht  das  Bedürfnis  nach  Fleischnahrung  treibt  die  Hametzen 
zu  dieser  Art  von  Kannibalismus.  Menschenfleisch  zu  essen  gilt 
bei  ihnen  als  Vorrecht,  das  nur  solchen  ausgezeichneten  Leuten 
gestattet  wird,  die  eine  ganze  Reihe  von  Kasteiungen  und  Vorbe- 
reitungen durchgemacht  haben.  Ein  aus  gewöhnlichem  Geschlechte 
stammender  Indianer  wird  nie  zur  Hametzenwürde  zugelassen,  dieses 
ist  nur  den  Söhnen  von  Häuptlingen  oder  sonst  hervorragenden 
Leuten  gestattet.  Die  Vorbereitungen  dauern  vier  Jahre  und  es 
erhält  der  Eintretende  als  besonderes  und  ehrendes  Abzeichen  ein 
aus  Cedernbast  gefertigtes  Band,  welches  er  über  der  linken  Schulter 
unter  dem  rechten  Arme  durchgehend  trägt.  Während  der  letzten 
vier  Monate  der  Lehrzeit  verlassen  die  angehenden  Hametze  Haus 
und  Familie,  um  in  stiller  Waldeseinsamkeit  und  unter  körper- 
lichen Entbehrungen  sich  zur  letzten  großen  Ceremonie  vorzu- 
bereiten. Nachdem  diese  Periode  vorüber,  ist  der  Augenblick  ge- 
kommen, daß  der  so  vorbereitete  „Hametze"  werden  soll.  Er  muß 
zunächst  Menschenblut  genießen.  ,,Der  künftige  Hametze  springt 
plötzlich  aus  dem  Walde  hervor,  mitten  in  das  Dorf  hinein,  stürzt 


'  Kapitän  Jacühskxs  Rc-iso  an  der  Nonlkü.stf  Amerikas.    Leipzig  1884.    47  ff. 


Vancouver.     Die  Hamctze.  97 

sich  auf  einen  der  Anwesenden  und  beißt  ihn  in  den  Arm  oder 
das  Bein,  indem  er  zugleich  etwas  Blut  aussaugt/'  Der  Gebissene 
hat  das  Recht  Zahlung  für  diesen  Akt  zu  verlangen,  die  in  Decken 
(Blankets)  bis  zu  40  Stück  geleistet  wird.^ 

Die  Hametze  genießen  besondere  Vorrechte.  Ihre  Tanzmasken, 
ihre  Rasseln,  ihre  Kopf-,  Hals-  und  Armringe  sind  besonders  schön 
liergestellt  und  verziert.  Wenn  ein  Hametze  an  einem  Tanzfest 
teilnehmen  soll,  sind  vier  Häuptlinge  nötig,  welche  ihn  viermal 
hintereinander  einladen  müssen,  ehe  er  sein  Erscheinen  zusagt. 
Beim  Feste  bilden  sie  den  Gegenstand  allgemeiner  Hochachtung 
und  sie  selbst  fühlen  sich  als  Wesen  höherer  Gattung  und  lassen 
sich  feiern. 

Mit  dem  Trinken  des  Menschenbluts  hat  ein  Hametze  jedoch 
noch  nicht  den  höchsten  Grad  seiner  Würde  erreicht.  Die  Cere- 
monie,  bei  welcher  dieses  geschieht,  wird  von  den  Hametzen  allein 
in  tiefster  Einsamkeit  gefeiert.  Ist  das  Kannibalenmahl  vorüber, 
so  hat  der  Hametze  das  Recht  an  seiner  Maske  einen  kleinen,  aus 
Holz  geschnitzten  Menschenschädel  zu  befestigen.  Jakobsen  sah 
Indianer,  die  nicht  weniger  als  acht  solcher  Schädel  an  der  Maske 
trugen.  Wenn  die  Leiche,  von  der  diese  Leute  einige  Bissen  zu 
sich  nehmen,  genügend  alt  und  mumifiziert  ist,  so  soll  der  Genuß 
unschädlich  sein,  dagegen  ist  es  wiederholt  vorgekommen,  daß  beim 
Genuß  vom  Fleische  verhältnismäßig  frischer  Kadaver  einige  Hametze 
durch  Blutvergiftung  ihr  Ende  gefunden  haben. 

Noch  im  Jahre  1859  sah  es  der  Verwalter  der  Hudsonsbai  in 
Fort  Rupert,  Hcndt,  mit  eigenen  Augen  an,  daß  dort  (Nordvan- 
couver)  ein  gefangener  Sklave  bei  Gelegenheil  eines  großen  Festes 
an  einen  Pfahl  gebunden  und  ihm  der  Leib  aufgeschnitten  wurde, 
worauf  die  Hametze  ihre  Hände  mit  dem  hervorströmenden  Blut 
füllten  und  letzteres  tranken.  Wahrscheinlich  wurde  der  Sklave 
nachher  ganz  verzehrt.  Zur  Strafe  für  diese  Unthat  ließ  die  eng- 
lische Regierung  das  Dorf  jener  Indianer  durch  ein  Kanonenboot 
zerstören. 

Bei  den  W^intertänzen  der  Indianer  auf  West -Vancouver  sah 
Jakobsen  Szenen,  wie  die  eben  geschilderte,  wenigstens  panto- 
mimisch dargestellt.^ 


'  Bei  den  von  Jacobsen  1885  umher  geführten  Bella  Coola  sah  ich  zahl- 
reiche auf  diese  Art  von  Hametzen  herbeigeführte  Bißnarben  auf  Armen  und 
Brust  mehrerer  Individuen. 

^  Jacobsen  s  Reise.    109. 

R.  Andree,  Anthropophagie.  1 


98  Ergebnisse. 

Das  Leicherifressen  ist  auch  bei  den  Vancouver  gegenüber  am 
Festlande  wohnenden  Tschimsian  festgestellt,  während  bei  den 
nördlicher  wohnenden  Tlinkit  (im  ehemals  russischen  Nordamerika) 
und  bei  der  Haida  (auf  den  Königin  Charlotte-Inseln)  nichts  sicheres 
über  etwa  vorhandene  Anthropophagie  verlautet.^ 


Ergebnisse. 

Wenn  auch  nicht  geleugnet  werden  kann,  daß  die  Beweise  für 
ein  Vorkommen  der  Anthropophagie  in  vorgeschichtlicher  Zeit  noch 
wenig  zahlreich  und  teilweise  nicht  recht  beglaubigt   sind,  so   liegt 
dies  vor  allem  in  der  ungenügenden  Zahl  der  Untersuchungen,  so- 
wie in  der  Schwierigkeit  derselben.   Immerhin  aber  mag  nach  dem 
angeführten     Beweismaterial     die     Anthropophagie     prähistorischer 
Menschen     angenommen    werden    dürfen    und    diese    Annahme    hat 
nichts  überraschendes,  wenn  wir  gewahren,  wie  weit  verbreitet  heut- 
zutage der  Kannibalismus  noch  ist  und  wie  derselbe  sich  einst  über 
weit  ausgedehnte  Landstriche  erstreckte.   Wenn  es  sich  auch  nicht 
absolut  beweisen  läßt,  so  kann  man  doch  annehmen,  daß  die  Anthro- 
pophagie eine  der  Kinderkrankheiten  des  Menschengeschlechts  war: 
daß  dieselbe  auch  einst  weit  über  unsern,  heute  davon  freien  Erd- 
teil sich  verbreitete,  dafür  sprechen  die  zahlreichen  sie  erwähnenden 
Stellen  der  alten  Schriftsteller,    die,    mögen   sie   auch  hier  und  da 
auf  Übertreibung  beruhen  oder  gar  Fabeln  sein,  doch  vereinigt  mit 
dem,   was  Mythen   und   Sagen,    Märchen    und  Yolksüberlieferungen 
aller  Art   uns   lehren,   in  ihrer   Gesamtheit   den  Beweis    herstellen. 
Allenthalljen    zeigt  ja   die  Volkslitteratur   der    europäischen  Völker 
Anklänge  an  anthropophage  Gewohnheiten  und  nicht   nur  von  dem 
rein  materiellen  Genüsse  des  Menschenfleisches  ist  darin  die  Eede. 
sondern    auch  jene   abergläubigen  Wahnvorstellungen,    die  bei   den 
Naturvölkern   mit   dem  Kannibalismus  verknüpft   sind,    desgleichen 
die  Anthropophagie    aus    Rachsucht   haben    darin   ihren   Platz    ge- 
funden als  Niederschlag  und  Üljerlebsel  des  einst  auch  bei  Europas 
Urvölkern  vorhandenen  Kannibalismus. 


^  Krause,  Die  Tlinkit-Indiauer.     Jena  1885.    318. 


Ergebnisse.  J  J 

Alle  jetzt  noch  vorliaiidene  Anthropophagie  —  und  sie  ist  nur 
noch  über  einen  verhältnismäßig  geringen  Bruchteil  der  Menschheit 
verbreitet  —  erscheint  aber  nur  als  Überrest  der  einst  allgemein 
vorhandenen.  Diejenigen  Völker,  bei  denen  wir  sie  noch  finden, 
haben  sie  seit  Urzeiten,  über  die  ersten  Vorkommnisse  bei  ihnen 
liegen  keine  Nachrichten  vor  und  nirgends  läßt  sich  erkennen,  daß 
erst  neuerdings  der  Kannibalismus  eingeführt  worden  sei. 

Kein  Erdteil  ist  vom  Kannibalismus  frei  zu  sprechen;  wo  er 
heute  nicht  mehr  herrscht,  da  bestand  er  früher,  reiche  und  arme 
Länder  kannten  ihn  oder  kennen  ihn  noch,  er  kommt  in  Amerika 
vor  von  den  eisigen  Gegenden  des  Hudsonbaigebietes  durch  die 
Tropen  bis  zur  Südspitze  des  Kontinents.  In  allen  Zonen  ist  die 
Anthropophagie  verbreitet,  doch  ist  sie  heute  wesentlich  im  Grebiete 
der  Tropen  zu  Hause,  wenn  wir  auch  keinen  genügenden  Grund 
hierfür  anzugeben  im  stände  sind.  Sie  ist  bei  seßhaften,  ackerbau- 
treibenden Völkern,  wie  in  Afrika,  im  günstigen  Schwange  und 
hndet  sich  nicht  minder  bei  umherschweifenden  Horden,  wie  in 
Amerika  und  Australien. 

Wie  die  Anthropophagie  aus  dem  Hunger  sich  heraus  zur  Ge- 
wohnheit entwickelt  und  durch  die  physikalischen  Verhältnisse  eines 
Landes  bedingt  wird,  kann  an  dem  Beispiele  von  Australien  gezeigt 
werden.  Li  Australien  liegt  der  Fall  vor,  daß  unfi'uchtbare  Land- 
striche häufig  genug  die  dürftige  Nahrung  versagen,  von  der  sonst 
die  dünn  gesäte  Bevölkerung  das  kümmerliche  Leben  fristet.  Mit 
der  eintretenden  oft  alle  Lebenskeime  versengenden  Dürre  ver- 
schwanden die  Tiere,  die  neben  dürftigen  Vegetabilien  den  Unter- 
halt der  Schwarzen  ermöglichte.  Geht  die  Horde,  durch  Nahrungs- 
mangel gezwungen,  nicht  sofort  zum  Kannibalismus  innerhalb  des 
eigenen  Stammes  über,  so  wandert  sie  aus  und  sucht  andere  Land- 
striche auf,  die  weniger  oder  nicht  von  der  Trockenheit  gelitten 
haben  und  Erhaltungsmittel  darbieten.  Von  gleichen  Gründen  ge- 
trieben, ziehen  aber  auch  andere,  feindlich  gesinnte  Stämme  nach 
denselben  Gegenden,  wo  nun  um  das  Jagdrecht  ein  Streit  entsteht. 
Der  Kampf  beginnt  und  die  Hungernden  verzehren  das  Fleisch  der 
gefallenen  Feinde,  das  ihnen  willkommene  Nahrung  bietet.  Jetzt 
ist  auch  der  Augenblick  gekommen,  daß  die  Rachsucht  als  Be- 
weggrund der  Anthropophagie  einsetzt.  Der  getötete  Feind  soll 
gänzlich  vernichtet  werden  und  der  Australier  ißt  mit  Vorliebe 
,, Zunge  und  Herz''  des  erlegten  Feindes i,  die   Organe,   von   denen 


'  W.  Powell,  Unter  den  Kannibalen  von  Neu-Britannien.  Leipzig  1884.  220. 


J^^" Ergebnisse. 

die  Feindschaft  und  die  Schmälireden  des  Getöteten  a-usgingeu. 
Und  weiter  kommt  der  Aberglaube  zur  Geltung:  er  reibt  sei- 
nen Körper  mit  dem  Nierenfett  des  Erschlagenen  ein,  in  dem 
Wahne,  dadurch  die  Stärke  jenes  auf  sich  zu  übertragen  oder  er 
verzehrt  das  Fett  aus  demselben  Grunde.  So  reihen  Aberglauben 
und  Eachsucht  sich  den  Motiven  an,  die  zum  Kannibalismus  treiben. 

Die  Anthropophagie  erscheint  unter  sehr  verschiedenen  Formen, 
die  indessen  nicht  notwendigerweise  sich  auseinander  entwickelt 
haben  müssen,  sondern  die  auch  parallel  nebeneinander  laufen  kön- 
nen. Bedingt  sind  diese  verschiedenen  Formen  aber  durch  die 
Beweggründe,  die  zur  Anthropophagie  fülii-ten  oder  nach  denen  sie 
ausgeübt  wird  und  diese  geben  auch  die  Grundlage  für  eine  Ein- 
teilung ab. 

Daß  der  Hunger  zu  allen  Zeiten  und  bei  allen  Völkern  m 
unglücklichen  Verhältnissen  Menschen  zum  Kannibalismus  getrieben 
hat,  ist  natürlich  und  braucht  nicht  an  Beispielen  hier  näher 
erörtert  zu  werden.  Nur  in  den  äußersten  Fällen  griff  man 
aber  zur  Ernährung  durch  Menschenfleisch,  wenn  die  anderweitige, 
gewohnheitsmäßige  Nahrung  fehlte  und  der  notgedrungene  Kanni- 
balismus hörte  auf,  wenn  mit  dem  gänzlichen  Nahrungsmangel  die 
Ursache  zu  demselben  schwand.  Bei  manchen  Völkern  und  in  man- 
chen Gegenden  aber  kehren  Not  und  Hunger,  bedingt  durch  phy- 
sikalische Verhältnisse  so  oft,  ja  regelmäßig  wieder,  daß  das,  was 
vielleicht  anfangs  aus  Widerwillen  geschah,  zur  Gewohnheit  und 
Sitte  wurde. 

Gewiß  ist  der  Hunger  eines  der  treibenden  Motive  gewesen, 
das  bei  den  Feuerländern  nach  Daewin,  den  Eothäuten  des  Hudson- 
baigebietes nach  Heaene,  den  Botokuden  nach  v.  Tschudi  zur 
Anthropophagie  führte.  MenschenÜeisch  ist  an  und  für  sich  nicht 
ungesund  und  die  meisten  Urteile  stimmen  darin  überein,  daß  es 
sogar  wohlschmeckend  sei.  Die  Fan  sagen  (nachWiNWooD  Eeade), 
es  schmecke  wie  Affenfleisch,  die  Battas  loben  es  (nach  Bickmoee) 
vor  allen  anderen  Speisen  und  dasselbe  behaupten  die  Melanesier 
der  Neu-Hebriden  und  der  Fidschi-Inseln  (nach  Wilkes).  Die  Boto- 
kuden (nach  v.  Tschudi),  Avie  die  Bewohner  der  Neu-Hel)riden  (nach 
Tuenee)  ziehen  das  Fleisch  der  Schwarzen  dem  der  Weißen  vor. 
Aber  es  fehlt  auch  nicht  an  gegenteiligen  Behauptungen,  wie  denn 
die  Manjuema  Livingstone  versicherten,  Menschentieisch  sei  nicht 
gut,  man  träume  nach  dem  Genüsse  und  die  Niam-Niam  sagten 
ScHWEiNFUETH  allgemein,  Menschentieisch  wirke  berauschend. 

Aber   der  Hunger,    der  die   physiologische  Entschuldigung  der 


Ergebnisse.  101 

Anthropophagie  abgeben  soll,  ist  in  verhältnismäßig  wenigen  Fällen 
als  die  Avirkliche  Ursache  derselben  zu  betrachten.  Die  meisten 
Völker  und  Stämme,  welche  demselben  huldigen,  leben  im  Über- 
fluß, es  mangelt  ihnen  nicht  an  animalischer  wie  vegetabilischer 
Nahrung.  Das  trifft  bei  fast  allen  Kannibalen  der  Südsee  wie 
Afrikas  zu  und  auch  die  höhere  oder  tiefere  Gesittung  ist  von 
keinerlei  Einfluß  auf  die  abschreckende  Erscheinung.  Die  Niam- 
Niam  in  Centralafrika  ragen  weit  hervor  über  viele  benachbarte 
Negerstämme,  wde  Dor,  Schilluk,  Dinka  u.  s.  w. ,  und  doch  sind 
letztere  keineswegs  Anthropophagen,  während  erstere  Kannibalen  in 
der  vollsten  Bedeutung  des  Wortes  sind.  Auch  die  Fidschi- Insu- 
laner haben  verhältnismäßig  entwickelte  Zustände,  überragen  viele 
Polynesier,  bei  denen  die  Anthropophagie  bereits  auch  ohne  Zu- 
thun  der  Weißen  verschwand.  Endlich  die  Battas  auf  Sumatra, 
bei  denen  jeder  Reisende  sich  wundert,  neben  einer  Schrift  und 
Litteratur  den  Kannibalismus  in  Gesetzesform  gebracht  zu  sehen. 
Daß  selbst  kultivierte  Völker  ihr  huldigten,  ist  an  den  Azteken 
gezeigt  worden. 

Als  die  wesentlichsten  Beweggründe  zur  Anthropophagie  stellen 
sich  aber  stets  der  Aberglauben  —  sei  er  religiöser  oder  sonstiger 
Art  —  und  die  Rachsucht  dar  und  diese  beiden  finden  wir  überall 
da  verbreitet  und  zur  That  treibend,  w^o  der  Kannibalismus  vor- 
handen ist.  Sahen  wir  Kriegsgefangene  als  Beute,  so  werden  die 
schönsten,  tapfersten  und  durch  ihre  Stellung  hervorragenden 
zunächst  verzehrt.  Beschränkt  sich  der  Kannibalismus  auf  das 
Essen  von  einzelnen  Teilen,  so  sind  es  die  Augen,  das  Herz,  das 
Gehirn,  welche  bevorzugt  werden,  denn  sie  sind  der  Sitz  der  Tugen- 
den, der  Tapferkeit  und  der  Stärke  des  zu  Verzehrenden,  und  diese 
will  der  Überwinder  sich  so  zu  eigen  machen.  So  erklärt  sich 
auch,  daß  häufig  die  Anthropophagie  ein  Vorrecht  ist,  ausgeübt 
von  Häuptlingen  oder  auserlesenen  Kriegern,  welche  allein  der  Gunst 
teilhaft  werden  sollen,  ilu-e  moralischen  Eigenschaften  solchergestalt 
zu  stärken  und  zu  vermehren.  Es  geschieht  dieses  zuweilen  in 
einer  sozusagen  sublimierten  Weise  bei  Völkern,  denen  vielleicht 
der  direkte  Genuß  des  Menschenfleisches  zuwider  ist,  welche  aber 
doch  den  vermeintlichen  moralischen  Gewinn  aus  demselben  ziehen 
wollen.  So  verzehren  die  südamerikanischen  Tarianas  und  Tucanos 
nicht  direkt  das  Fleisch  Verstorbener,  um  deren  Eigenschaften  und 
Tugenden  in  sich  aufzunehmen,  sondern  der  Körper  liegt  erst  einen 
Monat  in  der  Erde,  w^ird  dann  ausgegraben  und  über  Feuer  zu 
einer  verkohlten  Masse  gedörrt.     Diese  wird   gepulvert   mit  Caxiri 


102  Ergebnisse. 

vermisclit  getrunken.^  Wenn,  nach  Bowdich,  der  Fetisclimann  der 
Aschanti  das  Herz  eines  gefangenen  Feindes  frißt,  so  tlmt  er  dies, 
um  nicht  durch  den  Geist  des  Gestorbenen  gequält  zu  werden,  von 
dem  er  annimmt,  daß  er  seinen  Sitz  im  Herzen  hat.  Die  Yamas 
am  Amazonenstrom  verzehren  das  Mark  aus  den  Knochen  ihrer 
Toten,  weil  sie  wähnen,  daß  dadurch  die  Seele  des  Verstorbenen  in 
ihren  Körper  übergehe  (Maecoy).  Die  Dajaks  geben  nach  MIillee- 
Knaben  die  Stirnhaut  und  das  Herz  erlegter  Feinde  zu  essen,  um 
sie  tapfer  und  muthig  zu  machen.  Eine  Chippeway-Indianerin  füt- 
terte ihre  Kinder  aus  dem  gleichen  Grunde  mit  dem  Fleische  eines 
Engländers  (Long);  bei  den  Südaustraliern  erlangt  ein  älterer  Bru- 
der die  Körperkraft  seines  jüngeren  Bruders,  wenn  er  ihn  frißt 
(Stanbridge)  ;  in  Queensland  verzehrt  die  Mutter  ihr  neugeborenes 
Kind  in  dem  Wahne,  die  ihr  durch  die  Leibesfrucht  entzogene 
Kraft  wieder  zu  gewinnen  (Axgas)  und  daselbst  glaubt  man  sogar 
durch  Verzehren  die  Toten  zu  ehren.  Die  Maoris  wähnten  nach 
Cook,  daß  die  verzehrten  Feinde  in  ein  ewiges  Feuer  kämen. 

Überall  sehen  wir  daher,  wie  der  Glaube  an  das  Dasein  einer 
Seele,  einer  besonderen  geistigen  Kraft  in  dem  zu  Verzehrenden, 
als  die  letzte  Ursache  der  Anthropophagie  zu  betrachten  ist.  Der 
Geist  und  die  Tugenden  des  Verzehrten  sollen  durch  den  Genuß 
des  Menschenfleisches  in  den  Besitz  des  Essenden  übergehen,  gerade 
so,  wie  ihm  durch  andere  Nahrung  Zuwachs  an  physischer  Kraft 
entsteht.'^ 

Eng  verschwistert  mit  dem  Aberglauben  ist  der  andere  Be- 
weggrund, die  Rachsucht.  Am  klarsten  und  deutlichsten  wird  uns 
derselbe  bei  den  Mesayas  am  Amazonenstrom,  die  das  Fleisch  des 
erschlagenen  Feindes,  nachdem  sie  es  mit  Widerwillen  hinabgewürgt 
haben,  wieder  durch  Erbrechen  von  sich  geben  (Margot).  Die 
Strafe  ist  dann  vollzogen,  der  Rachsucht  Genüge  geleistet,  der  Ge- 
nuß des  Menschenfleisches  an  und  für  sich  erscheint  den  Mesayas 
ekelhaft.    Wilde  Rachsucht  war  auch  bei  den  Kariben  die  Ursache 


^  Wallace,  Amazon  and  Eio  Xegro.     London  1858.     -498. 

'  Allgemeine  Ethnographie.     315. 

^  In  Parallele  dazu  steht  der  bei  Naturvölkern  weit  verbreitete  Wahn,  daß 
gewisse  Tiere  oder  Pflanzen  durch  Verspeisen  besondere  Eigenschaften  verleihen. 
Ich  könnte  Dutzende  von  Beispielen  anführen,  erwähne  aber  nur  die  Zaparos 
am  Napo  in  Südamerika,  welche  mit  Vorliebe  Fische,  Affen  und  Vögel  ver- 
speisen, „um  flink  und  gewandt  zu  werden".  Sie  verschmähen  aber  das  Fleisch 
schwerfälliger  Tiere,  wie  Tapir  und  Peccari,  „damit  sie  nicht  plump  wie  diese 
werden".  Denn  solche  Eigenschaft  ist  störend  für  ein  Urwaldjägervolk  (Journal 
Anthropol.  Institut.   VII.  503). 


Ergebnisse.  103 

ihrer  Anthropophagie  und  die  meisten  von  ihnen  wurden  nach  dem 
Genüsse  krank  (du  Teetee).  Neben  dem  Hunger  wirkt  bei  den 
Botokuden  auch  Rachsucht  bestimmend,  um  den  Feind  zu  fressen 
(v.  TscHUDi),  und  Pigafetta.  Yespucci,  Haxs  Stadex  berichten 
dasselbe  von  den  Tupivölkern  an  Südamerikas  Ostküste.  Hier  ging, 
wie  wir  durch  Haxs  Stadex  wissen,  die  Leidenschaft  so  weit,  daß 
der  Yertilger  des  erschlagenen  Feindes  dessen  Namen  annahm,  um 
so,  neben  der  Vernichtung  des  Körpers,  auch  dessen  geistiges  Fort- 
leben noch  gänzlich  zu  verwischen.  Teilweise  ist  Rachsucht  auch 
der  Beweggrund  bei  den  Negern  des  Nigerdeltas  (nach  Ceowthee); 
alleiniges  Motiv  scheint  dieselbe  bei  den  Manjuema  in  Innerafrika 
{nach  Livingstoxe)  zu  sein.  Rachsucht  erniedrigt  die  Melanesier 
der  Salomonen  und  Neu-Hebriden  zu  Kannibalen.  Sie  ist  vorzugs- 
weise der  Beweggrund  für  die  Anthropophagie  der  amerikanischen 
Rothäute. 

Förmlich  in  ein  System  gebracht  ist  die  Rachsucht  bei  einigen 
Völkern,  welche  das  Menschenfressen  als  integrierenden  Teil  ihrer 
Gesetzgebung  betrachten.  Die  höchste  Strafe,  welche  man  einem 
Feinde,  einem  Verbrecher  angedeihen  lassen  kann,  besteht  darin, 
daß  man  ihn  auffi'ißt.  Als  einziges  Beispiel  hierfür  wurden  nach 
JuxGHUHNS  Eröffnungen  die  Battas  auf  Sumatra  angeführt,  wir 
haben  indesen  oben  die  Belegstellen  beigebracht,  daß  auch  noch 
einige  andere  Völker  die  Anthropophagie  unter  demselben  Gesichts- 
punkte betrachten:  die  Kissama  in  Westafrika  nach  Hamilton  und 
die  Neu-Caledonier  nach  Gaexiee. 

Am  scheußlichsten  erscheint  uns  die  Antln-opophagie  aber  ent- 
schieden da,  wo  alles  Gefühl  so  abgestumpft  ist,  daß  sie  zur  reinen 
Leckerei  wird,  oder  wenn  man  das  Fleisch  des  Menschen  genau  so 
verzehrt,  wie  jedes  beliebige  andere  Fleisch.  Wenn  —  wie  überein- 
stimmend verschiedene  glaubwürdige  Beobachter  berichten  —  die 
Fan  am  Gabon  und  die  Obotschi  am  Niger  fremde  Leichen  aus- 
graben und  fressen,  so  tinden  wir  dafür  keine  Beschönigung.  Das 
Menschenfleisch  wird  dann  AVare.  wie  bei  uns  im  Fleischerladen; 
HuTCHixsox  sah  es  am  Altkalabar  in  Körben  auf  dem  Markte  zum 
Verkauf  ausgestellt;  A.  Vespucci  und  Pigafetta  schildern,  wäe  es 
bei  den  Tupivölkern  geräuchert  aufbewahrt  wird;  Monbuttu,  Abanga 
und  Niam-Niam,  Neu-Caledonier  und  Fidschi -Insulaner  ^ind  auch 
in  diese  Kategorie  der  Erzkannibalen  einzureihen,  mögen  immerhin 
auch  noch  andere  Motive  bei  ihnen  mit  unterlaufen.  Am  empörend- 
sten aber  erscheint  uns  das  Auffressen  der  eigenen  Kinder,  wie  es 
bei  den  Neu-Caledoniern  nach  Gaexiee.   bei  den  Niam-Niam  nach 


1 0  4  Ergebnisse . 

ScHWEiNFUETH,  den  Australiern  nach  Angas,  Stanbeidge  u.  a.  vor- 
kommt  und  mit  dem  sonst  anderwärts  häufigen  Kindermord  nicht 
verwechselt  werden  darf. 

Noch  ist  hervorzuheben,  daß  bei  einigen  Völkern  die  Anthro- 
pophagie sich  als  ein  Vorrecht  gewisser  Klassen  zeigt.  Bei  den 
Potawatomis  war  sie  nach  Keating  das  Privilegium  einer  eigenen 
Bruderschaft,  die  mit  besonderen  Heldentugenden  ausgestattet  er- 
scheint; auf  den  Salomonen  erhielt  der  Häuptling  als  den  ihm  zu- 
kommenden Teil  die  in  ein  Bananenblatt  gewickelte  Scham,  auf 
Tahiti  rechte  man  ein  Auge  des  Opfers  dem  Könige,  welcher  so 
that,  als  ob  er  es  verschlinge,  und  gleiches  wird  von  den  hawaii- 
schen Inseln  berichtet.  Letztere  beide  Fälle  sind  noch  als  Über- 
reste des  ehemals  herrschenden  Kannibalismus  zu  deuten,  der  in 
Dahomeh,  wo  der  König  den  Finger  in  das  Blut  der  Schlachtopfer 
taucht  und  ableckt,  in  Aschanti,  wo  noch  Fetischmänner  die  Her- 
zen fressen,  auf  den  Samoa-  und  Tonga-Inseln  überhaupt  nur  noch 
rudimentär  vorhanden  ist  und  wo  wir,  in  Ermangelung  anderer 
Nachrichten,  hieraus,  sowie  aus  verschiedenen  anderen  Anzeichen, 
auf  die  ehemalige  Ausdehnung  des  Kannibalismus  schließen  müssen. 

Zeigen  viele  Völker  schäm-  und  scheulos  ihre  Anthropophagie, 
so  fehlt  es  bei  anderen  keineswegs  an  Anzeichen,  daß  sie  sich  der- 
selben schämen  und  damit,  so  will  es  uns  scheinen,  ist  auch  der 
Anfang  zu  einem  Aufgeben  des  entsetzlichen  Brauches  gemacht.  Die 
Kannibalenschmäuse  werden  oft  geheim  gehalten  und  Livingstone 
konnte  unter  keiner  Bedingung  zu  einem  solchen  Banket  der  Man- 
juema  Zutritt  erhalten.  Geifeon  du  Bellat  giebt  an,  die  Fan 
hielten  ihre  Menschentieischmahlzeiten  geheim  und  schlössen  die 
Kinder  dabei  aus:  das  letztere  war  auch  auf  den  Markesas  der 
Fall,  wo  ebenfalls  die  Weiber  sich  nicht  bei  der  Sache  beteiligen 
durften,  was  überhaupt  mehrfach  Brauch  war.  Die  Maoris  ließen 
nur  ausnahmsweise  Frauen  dabei  zu. 

Erfreulich  ist  es  nun  zu  sehen,  wie  mehr  und  mehr  dieAntkro- 
pophagie  an  Boden  verliert  und  wie  selbst  in  der  kurzen  Spanne 
geschichtlicher  Zeit,  die  seit  der  großen  Periode  der  Entdeckungen 
verflossen  ist,  in  einem  sehr  bedeutenden  Baume  der  Kannibalismus 
bereits  verschwand.  Nicht  immer  war  es  die  Einwirkung  weißer 
Ansiedler  oder  der  Eifer  der  Glaubensboten,  welche  die  Ausrottung 
des  Ül)els  bewirkten;  auch  von  selbst,  ohne  fremde  Dazwischenkunft 
sind  Völker  zum  Aufgeben  ihrer  kannibalischen  Gewohnheiten  ge- 
langt. Bei  vielen  Polynesiern  —  wo  heute  noch  durch  Anklänge  sich 
das  ehemalige  Vorhandensein  der  Anthropophagie  konstatieren  läßt  — 


Ergebnisse.  105 

war  sie  verschwunden  oder  im  Erlöschen,  als  weiße  Menschen  zu- 
erst ihre  Insehi  betraten,  so  auf  Tahatii,  Hawaii,  den  Schiff erinsehi, 
iti  Mikronesien.  Sicherlich  waren  die  Bewohner  des  malayischen 
Archipels  einst  allgemein  Anthropophagen ;  heute  suchen  wir  dort 
nur  mühsam  die  Anklänge  an  diese  Unsitte,  sowie  die  Überreste 
derselben  zusammen.  Freilich  verschwand  an  manchen  Stellen  auch 
die  Anthropophagie  mit  dem  Volke  selbst  und  da,  wo  vor  nur  hun- 
dert Jahren  im  Gebiete  der  großen  nordamerikanischen  Seen  noch 
anthropophage  Rothäute  der  Jagd  oblagen  und  rachsüchtig  den  an 
den  Kriegspfahl  gebundenen  Feind  zerstückelten  und  verzehrten,  da 
breitet  sich  nun,  mächtig  das  Land  überflutend,  die  angelsächsische 
Easse  aus.  Auf  Anahuacs  Hochebene,  wo  der  Weltseele  blutige 
Menschenopfer,  verbunden  mit  kannibalischen  Schmausereien,  dar- 
gebracht wurden,  lebt  freilich  noch  heute  dasselbe  Indianervolk, 
das  jedoch  mit  seiner  Sprache  auch  die  alten  Sitten  und  die 
Anthropophagie  aufgab  und  einbezogen  ist  in  den  Kreis  unserer 
Civilisation. 

An  Verteidigern  der  Anthropophagie  hat  es  nicht  gefehlt.  Zeno, 
Diogenes,  Chetsippus  und  Montaigne  entschuldigten  sie  aus  mora- 
lischen Gründen  ^  und  auch  unser  Geoeg  Foestee  glaubt  ein  be- 
schönigendes Wort  für  sie  einlegen  zu  müssen:  ,,So  sehr  es  auch 
unserer  Erziehung  zuwider  sein  mag,"  sagt  er,  ,,so  ist  es  doch  an 
und  für  sich  weder  unnatürlich  noch  strafbar,  Menschenfleisch  zu 
essen.  Nur  um  deswillen  ist  es  zu  verbannen,  weil  die  geselligen 
Empfindungen  der  Menschenliebe  und  des  Mitleids  so  leicht  dabei 
verloren  gehen  können.  Da  nun  aber  ohne  diese  keine  menschliche 
Gesellschaft  bestehen  kann,  so  hat  der  erste  Schritt  zur  Kultur  bei 
allen  Völkern  dieser  sein  müssen,  daß  man  dem  Menschenfressen 
entsagt  und  Abscheu  dafür  zu  erregen  versucht  hat.''^ 


^  WiNwooD  Eeade.    Savage  Afinca.    158. 

-  Sämtliche  Schriften.    Leipzig-  1843.   I.  407. 


Verlag  yoii  VEIT  &  COMP,  in  Leipzig. 

du  Bois-Reymond.   Emil,   Reden.    Zwei   Bände.     (Erste  und 
zweite  Folge.)    gr.  8.     1886/87.    geh.    U  Ji:  eleg.  geb.  21  Jt. 
Jeder  Band  ist  einzeln  käuflich. 

Erste  Folge. 

Litteratur,  Philosophie,    Zeitgeschichte. 

gr.  8.     1886.     geh.  8  Jt\  eleg.  geb.  10  Ji. 

Inhalt:  Voltaire  als  Naturforscher.  —  Leibnizische  Gedanken  in  der 
neueren  Naturwissenschaft.  —  Aus  den  Tagen  des  norddeutschen  Bundej^.  — 
Der  deutsche  Krieg.  —  Das  Kaiserreich  und  der  Friede.  —  Ueber  die  Grenzen 
des  Naturerkennens.  —  Ueber  eine  kaiserliche  Akademie  der  deutschen  Sprache. 
—  La  Mettrie.  —  Darwin  versus  Galiani.  —  Culturgeschichte  und  Naturwissen- 
schaft. —  Ueber  das  Nationalgefühl.  —  Friedrich  II.  und  Rousseau.  —  Die 
sieben  Welträthsel.  —  Friedrich  II.  in  englischen  Urtheilen.  —  Die  Humboldt- 
denkmäler vor  der  Berliner  Universität.  —  Diderot. 

Zweite  Folge. 
Biographie,    Wissenschaft,  Ansprachen. 

gl-.  8.     1887.     geh.  9  Jt\   eleg.  geb.  11  Jl. 

Inhalt:  Ueber  die  Lebenskraft.  —  Ueber  thierische  Bewegung.  —  Ge- 
dächtnissrede auf  Paul  Erman.  —  Eduard  Hallmann"s  Leben.  —  Ueber  lebend» 
nach  Berlin  gebrachte  Zitterwelse  aus  Westafrika.  —  Gedächtnissrede  auf 
Johannes  Müller.  —  Ueber  Universitätseinrichtungen.  —  Uelier  Geschichte  der 
Wissenschaft.  —  Der  physiologische  Unterricht  sonst  und  jetzt.  —  'Aus  den 
Llanos'.  —  Ueber  die  Uebung.  —  Ueber  die  wissenschaftlichen  Zustände  der 
Gegenwart.  —  Die  Britisclie  Naturforscherversammlung  zu  Southampton  im 
Jahre  1882.  —  Darwin  und  Kopernicus.  —  Die  Berliner  Französische  Colonie  in 
der  Akademie  der  Wissenschaften.  —  Akademische  Ansprachen. 


Hoernes,  Dr.  Rudolf,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Graz, 
Elemeute  der  Palaeoutolosie  (Palaeozoologie).  Mit  672 
Figuren  in  Holzschnitt,     gr.  8.     1884.     geh.  16  J(. 

Kollmann.  Dr.  J..  o.  W.  Professor  der  Anatomie  zu  Basel.  Plastisolie 
Anatomie  des  menschliclien  Körpers.  Ein  Handbuch  für 
Künstler  uud  Kunstfreunde.  Mit  zahlreichen  Abbildungen  im 
Text.     Roy.-8.     1886.     geh.  14  J(. 


Verlag  you  VEIT  i-  COMP,  in  Leipzig. 

Fuchs,  Dr.  Max,  Die  geographische  Verbreitung  des  Kaffeebaumes. 

Eine  pflanzeiigeographisclie  Studie,     gr.  8.    1886.    geh.    1  c#  80  .f^ 

Hahn,  Dr.  F.  G.,  Professor  der  Erdkunde  an  der  Universität  Königsborg, 
Insel-Studien.  Yersucli  einer  auf  orographische  und  geologische  Ver- 
hältnisse gegründeten  Eintheilung  der  Inseln.  Mit  einer  Karte  in 
Farbendruck,     gr.  8.     1883.     geh.  7  c//  20  M 


Hartmann,  Dr.  Robert,  Professor  an  der  Universität  Berlin, 
Der  Gorilla.  Mit  13  in  den  Text  eingedruckten  Holzschnitten  und 
21  Tafeln.     4.     1880.     geh.  30  c/fi 


Hirschberg,  Dr.  J.,  Professor  der  Augenheilkunde  zu  Berlin,  Eine 
Woche  in  Tunis.    Tagebuchblätter,    gr.  8.     1885.    geh.  2  oft 


Der  Periplus  des  Erythräischen  Meeres  von  einem  Unbekannten.  Grie- 
chisch und  deutsch  mit  kritischen  und  erklärenden  Anmerkungen 
nebst  vollständigem  Wörterverzeichniss  von  B.  Fabricius.  gr.  8. 
1883.     geh.  (j  oM 

Im  Periplus  schildert  ein  ägyptischer  Kaufmann  seine  im  letzten  Drittel  des 
ersten  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  unternommenen  Fahrten  an  der  West- 
seite des  roten  Meeres  mit  der  sich  anschließenden  <  »stküste  Afrika's  und  an 
der  Ostküste  des  roten  Meeres  hin  bis  nach  Indien,  um  Vorderindien  herum,  an 
Ceylon  vorüber  bis  an  die  Mündung  des  Ganges.  Zum  ersten  Male  werden  diese 
für  die  Kulturgeschichte  so  wichtigen  Aufzeichnungen  in  deutscher  Übersetzung 
mit  ausführlichem  Kommentar  veröffentlicht. 

Ploss,  Dr.  H.  H.,    Ueber  die  Lage  und  Stellung  der  Frau  während 
der  Geburt  bei  verschiedenen  Völkern.    Eine  anthropologische  Studie. 
Mit  6  Holzschnitten,     gr.  8.     1872.     geh.  'l  o#  50  .^ 
Zur  Geschichte,  Verbreitung  und  Methode  der  Frucht-Abtrei- 
bung.    Culturgeschiehtlich-medicinische  Skizze,     gr.  8.     1883.     geh. 
- 1  dft  40  ^ 

Richthofen,  Ferd.  Freiherr  von,  Professor  der  p]rdlmnde  an  der 
Universität  Leipzig,  Aufgaben  und  Methoden  der  heutigen  Geographie. 

Akademische  Antrittsrede  gehalten  in  der  Aula  der  Universität  Leipzig 
am  27.  April  1883.     gi".  8.     1883.     geh.  1  o//  80  .9/ 

Sachs,  Carl,  Aus  den  LIanos.  Schilderung  einer  naturwissenschaft- 
lichen Reise  nach  Venezuela.  Mit  Abbildungen  im  Text  und  einem 
Titelbilde,     gr.  8.     1879.     geh.  0  o'H 

Das  Werk  des  in  den  Tiroler  Alpen  verunglückten  hoffnungsvollen  jungen 
Gelehrten  ist  eine  der  besten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  neueren  Keise- 
beschreibung.  Es  schildert  in  lebendiger  und  anziehender  Weise  die  Erlebnisse 
und  Eindrücke  des  Verfassers  a'uf  einer  im  Auftrage  der  Berliner  Akademie  der 
Wissenschaften  auf  Kosten  der  Humboldtstiftung  in  den  Jahren  1876—1877  aus- 
geführten Reise  nach  Venezuela. 

5npau,  |)rof.  Dr.  A.,  ^z\Qi\\^Q,zUx  öon  ^ißetcrmonn'g  9Jätt^ettunflcn, 
(^ruttb^üflc  bcr  p^nfifrficn  ©rbfunbe.  W\i  130-5l66ilbungen  im  ^ejt 
unb  20  Aorten  in  Jnrbenbrucf.     gr.  8.     1884.    ge^.  10  c// 


Drnck  Ton  Metzger  &  Wittig  in  Leipzip. 


1 

Universityoi  Toronto 

Library 

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