J67-733't
VERÖFFENTLICHUNGEN DES VERBANDES
FÜR INTERNATIONALE VERSTÄNDIGUNG
HEFT 2
DIE AUSWÄRTIGE POLITIK
UND
DIE ÖFFENTLICHE MEINUNG
PROFESSOR Dr. OTFRIED NIPPOLD,
OBERURSEL BEI FRANKFURT A. M.
PREIS 50 Pf.
KOSTENLOS FÜR MITGLIEDER DES VERBANDES
(MITGLIEDERBEITRAG MINDESTENS 3 MARK JÄHRLICH)
STUTTGART
DRUCK VON W. KOHLHAMMER
I912
Veröffentlichungen des Verbandes für internationale
Verständigung.
Heft I. Der internationale Geist. VonNicolas Murray Butler.
Heft 2. Die auswärtige Politik und die öffentliche Meinung.
Von Prof. Dr. Otfried Nippold.
Heft 3. Die wichtigste Aufgabe des Völkerrechts. Von Prof.
Walther Schücking.
Heft 4. Der Beitrag der christlichen Kirchen zur internatio-
nalen Verständigung. Von Prof. Dr. Martin Rade.
Das verflossene Jahr ist für alle diejenigen, die der aus-
wärtigen Politik Interesse entgegenbringen, ein besonders lehr-
reiches gewesen. Von allen Lehren, die es uns gebracht hat,
scheint mir aber keine so beherzigenswert, so sehr des Nach-
denkens und des entsprechenden Handelns wert zu sein, wie die-
jenige, die das Verhältnis der öffentlichen Meinung zu den Fragen
der auswärtigen Politik betrifft. Deutlicher als je zuvor ist es
zutage getreten, dass wir hier vor Aufgaben stehen, die mit
äusserster Dringlichkeit an unser patriotisches und staatsbürger-
liches Empfinden appellieren, weil von ihrer Lösung nicht mehr
und nicht weniger als die Zukunft des deutschen Volkes abhängt.
Man hat auf die öffentliche Meinung gerade in der aus-
wärtigen Politik mit Recht in immer steigendem Maasse Wert
gelegt. Als Ziel schwebt uns dabei eine internationale Politik
vor, die von der öffentlichen Meinung der Völker getragen wird.
Und es ist in der auswärtigen Politik, die durch innere Partei-
gegensätze ja nicht berührt zu werden braucht, zweifellos auch
wesentlich leichter als in der inneren Pohtik, eine einheitliche
öffentliche Meinung zu erzielen, die uns mehr oder weniger ein
Bild von dem Denken und Empfinden der gesamten Bevölke-
rung bietet. Je deutlicher eine solche öffentliche Meinung zutage
tritt, um so mehr wird man mit der Zeit auch dazu gelangen,
ein Verantwortlichkeitsgefühl der gesamten Nation für ihre aus-
wärtige Politik zu schaffen. Die Teilnahme weiterer Kreise an
diesen Fragen ist daher von der grössten Bedeutung. Je mehr
man davon überzeugt ist, dass unsere heutigen international-
politischen Verhältnisse unzulängliche sind (und wer hätte wohl
diese Ueberzeugung nicht?), desto grössere Hoffnungen wird
man an das allmähliche Erstarken der öffentlichen Meinung in
der Kulturwelt knüpfen.
Ja, wer sehnte sich wohl nicht heraus aus unseren heutigen
politischen Zuständen des gegenseitigen Misstrauens, der Un-
sicherheit, der stets neuen Beunruhigungen! Und gerade die-
jenigen, die dieses Uebel an der Wurzel fassen möchten, die die
Schuld an diesen Zuständen nicht etwa nur einzelnen Staats-
männern und Diplomaten in die Schuhe schieben (obschon auch
in der Diplomatie zweifellos manches besser sein könnte), sondern
die erkannt haben, dass das ganze System der internationalen
einseitigen Machtpolitik von heute im Grunde ein verkehrtes ist,
und dass eine Besserung daher nicht von heute auf morgen
kommen kann, gerade sie werden die grössten Hoffnungen darauf
setzen, dass die öffentliche Meinung allmählich ein wirklicher
Machtfaktor wird, der bei den Entschliessungen der Regierungen
mit in die Wagschale fällt und die Richtungen, die die inter-
nationale Staatenpolitik einschlägt, mit beeinflusst. Nur auf diesem
Wege wird man in den Kulturstaaten allmählich zu einer wirklich
nationalen Politik gelangen, in der die ganzen Nationen mit
ihren Regierungen einiggehen. Wenn irgend etwas geeignet
wäre, die Aera des politischen Misstrauens endlich einmal zu
beseitigen und den Gedanken an einen Zwiespalt zwischen den
Absichten der Diplomaten und den Wünschen der Völker gar
nicht mehr aufkommen zu lassen, dann wäre es daher eine
Organisation der öffentlichen Meinung der Kulturwelt. Mit ihrer
Hilfe allein könnte man wohl mit der Zeit dazu gelangen, der
internationalen Politik mehr und mehr den Stempel einer wahren
Kulturpolitik aufzuprägen, unter der der ewigen Unruhe endlich
ein Ziel gesetzt wäre und unter der der Friede nicht mehr so
leicht eine Störung erfahren würde.
In diesen Hoffnungen auf die öffentliche Meinung haben
nun die Ereignisse des letzten Jahres wohl manchen etwas
stutzig gemacht. Ich meine damit nicht die politischen Ereignisse
selbst, sondern gewisse Nebenerscheinungen, vor allem die Art,
wie sich die öffentliche Meinung oder dasjenige, was man dafür
hielt oder ausgab, in den auswärtigen politischen Fragen geltend
gemacht hat. Und diese Erscheinungen sind es, die ich als die
bemerkenswerteste Lehre dieser politischen Episode bezeichnen
möchte, eine Lehre, die wir nicht an uns vorübergehen lassen
sollten, ohne daraus für die Zukunft Nutzen gezogen zu
haben.
Die öffentliche Meinung, die Meinung des Volkes, — wenn
nicht aller Volksgenossen, so doch des Grossteiles derselben,
der überwältigenden Volksmehrheit! Kommt diese Meinung
auch wirklich zum Ausdruck, genügend zum Ausdruck.^ Und
wo.? Bietet vor allem die Presse ein wirkliches Spiegelbild
dieser öffentlichen Meinung, oder gibt sie etwa nur die Ansichten
ihrer Redakteure wieder.? War das, was man im verflossenen
Jahr zu hören und zu lesen bekam, wirklich immer der Ausdruck
der öffentlichen Meinung? Diese Fragen sind es wohl wert, ein-
mal näher untersucht zu werden, denn von ihrer richtigen Be-
antwortung kann das Wohl und Wehe der ganzen Nation ab-
hängen.
Das vergangene Jahr hat nach dieser Richtung hin uns viele
Dinge klarer erkennen und durchschauen lassen, als dies wohl
jemals früher der Fall gewesen ist. Es hat deutlich gezeigt,
dass man sich mit Bezug auf die öffentliche Meinung in den
hier einschlägigen Fragen keinem übertriebenen Optimismus hin-
geben darf und dass noch eine grosse Arbeit getan werden
muss, wenn man überhaupt auf eine Besserung der Zustände in
der internationalen Politik hoffen will.
Festgestellt muss zunächst werden, dass bis vor kurzem in
weiteren Kreisen das Interesse für die Fragen der auswärtigen
Politik ein recht massiges war. Nur bei besonderen Gelegen-
heiten pflegte sich die öffentliche Meinung auch mit diesen
Fragen stärker zu befassen. Man hatte sich in Deutschland von
früherher daran gewöhnt, diesen Zweig der staatlichen Verwaltung
als in starker Hand so wohl aufgehoben zu betrachten, dass
man es kaum für nötig erachtete, ihm eine besondere Aufmerksam-
keit zu schenken. Erst ganz allmählich ist das Interesse an diesen
Fragen ein regeres geworden, und lebhafter als zuvor ist es im
vergangenen Jahre zutage getreten.
Aber wie hat sich dieses relativ neue Interesse nun geltend
gemacht? Es konnte angesichts des soeben hervorgehobenen
Umstandes wohl nicht besonders überraschen, dass das Ver-
ständnis für die auswärtigen politischen Fragen im allgemeinen
noch ein recht mangelhaftes war. Auffallender war schon, dass
diese Erscheinung auch unter den Gebildeten, und zwar bis in
die höchsten Bildungsschichten hinauf, zutage trat. Was man
namentlich vermissen musste, war Unabhängigkeit des Urteils, auch
da, wo man diese hätte erwarten dürfen. Aber es standen eben
nur wenige diesem Komplex von verwickelten Problemen mit ge-
schultem Blicke gegenüber, so dass sie sich ein selbständiges
Urteil zu bilden vermochten.
Hand in Hand mit dieser häufig zu konstatierenden Un-
kenntnis und Unselbständigkeit ging und geht heute noch eine
Hypernervosität in der Beurteilung aller Vorgänge auf inter-
nationalpolitischem Gebiete. Auch die allerunschuldigsten Vor-
fälle werden sofort unter die Kriegslupe genommen. Der Un-
bewanderte — ihre Zahl ist leider erschreckend viel grösser als
man hätte denken sollen — glaubt wegen jeder noch so
geringfügigen Meinungsdifferenz zwischen den Regierungen (und
solche Meinungsverschiedenheiten kommen im offiziellen diplo-
matischen Verkehr alle Tage vor) werden die Staaten nun so-
fort zum Schwerte greifen. Während die Regierungen selbst
ganz ruhig miteinander verhandeln, sind draussen die Unein-
geweihten in der grössten Aufregung.
5
Diese Aufregung wäre wohl in den meisten Fällen eitie viel
geringere, wenn man sich in weiteren Kreisen darüber im klaren
wäre, nicht nur wie die internationale Politik wirklich gemacht
wird, sondern auch wie vielfach Stimmungen in der Bevölkerung
künstlich gemacht werden. Es ist das ein Punkt, über den sich
die wenigsten klar zu sein scheinen und der doch von der
allergrössten Bedeutung ist. Wie entstehen denn viele solche
Stimmungen? Doch einfach dadurch, dass der Durchschnitts-
zeitungsleser auf den Inhalt seiner Tageszeitung schwört und
dass nachher am Stammtisch das Gelesene sich zu einer festen
Meinung verdichtet, und dass der neu Hinzukommende dieser
Milieusuggestion unterliegt. Ja, der Einfluss der sogenannten
Massensuggestion auf die Bildung der öffentlichen Meinung darf
nicht verkannt werden und die Politiker sind nur zu sehr gewöhnt,
mit diesem Faktor zu rechnen!
Wenn wir nun aber fragen, woher die Nachrichten stammen,
die Stimmungen in international-politischen Fragen erzeugen, so
werden wir finden, dass die Quellen recht verschiedene sein können.
Nachrichten aus dem Gebiete der auswärtigen Politik ge-
langen in die Presse einmal indirekt aus Regierungskreisen durch
die offiziösen Pressebureaus des Auswärtigen Amts oder des
Reichsmarineamtes, durch das Wolffsche Telegraphenbureau,
gelegentlich auch durch die Korrespondenten grösserer Zeitungen.
Sie sollen natürUch dazu dienen, die Politik der Reichsregierung
zu erklären und zu stützen.
Daneben gibt es eine Reihe von Organisationen, die sich
mit Fragen der auswärtigen Politik befassen und die durch ihre
Korrespondenzen auf die Presse und indirekt auf ein weiteres
Publikum einwirken. Solche Organisationen sind der Alldeutsche
Verband, der Flottenverein, der Wehrverein, der Kolonialverein
u. a. Ihre Artikel werden oft von grossen Blättern übernommen
und gehen von dort in die Provinzpresse bis in die kleinsten
Winkelblättchen über. Nach ihrer Herkunft fragt im allgemeinen
kein Mensch, trotzdem solche Nachrichten durch die verschiedenen
Pressemedien hindurch oft hunderttausende von Lesern finden.
Schliesslich kommt noch als eine weitere Quelle die Presse
selbst in Betracht. Die Sache steht in der Zeitung gedruckt,
also muss sie wahr sein, und man darf seinen Kombinationen
freien Lauf lassen.
Es ist nun klar, dass die von manchen solchen Organisationen,
wie die obigen, ausgehenden Nachrichten, ebenso wie diejenigen
gewisser Pressorgane, auch im Sinne von deren Tendenzen ge-
halten sind, und dass sie weder stets auf unbedingte Richtigkeit
und Zuverlässigkeit noch auch auf Objektivität Anspruch erheben,
und dass also auf diesem Wege in der Bevölkerung häufig ein-
fach Stimmungsmache betrieben wird. Das Merkwürdige ist
nur, dass die Objekte dieser Mache, die Leser, hiervon meist
nichts zu merken scheinen und alles ohne weiteres für bare
Münze nehmen. Der deutlichste Beweis dafür, dass die Zahl
der urteilsfähigen, der selbständig denkenden Leser heute in
unserem papierenen Zeitalter leider noch eine recht kleine ist.
Und das Bedenkliche dabei ist, dass je nach dem Inhalte einer
solchen Nachricht die nationalen Leidenschaften durch eine solche
künstliche Mache in kurzer Zeit bis zur höchsten Erregung an-
schwellen können. Wie gefährlich das aber ist, dafür bieten uns
manche andere Völkerschaften ja recht deutliche Belege.
Einer solchen Stimmungsmache konnte man nun im vergange-
nen Jahre nicht etwa nur gelegentlich begegnen, sondern sie
ist in letzter Zeit vollkommen systematisch und kontinuierlich
betrieben worden. Der Reichskanzler hat sich mit Recht gegen
dieses Treiben gewendet. Es unterliegt keinem Zweifel, dass
die oben geschilderte Nervosität des Publikums zum grossen
Teil auf solche Stimmungsmache zurückzuführen ist. Lässt sich
doch ohne Mühe konstatieren, dass durch dieselbe von einem
Tag zum anderen die Stimmung eines grossen Prozentsatzes der
Bevölkerung völlig umgewandelt werden kann. So wird also
die Unruhe und Nervosität gewissermassen künstlich und syste-
matisch gezüchtet. Ich widerstehe nur ungerne der Versuchung,
dies durch einige Illustrationen aus dem letzten Jahre zu belegen;
aber ich möchte hier nicht in eine Erörterung tagespolitischer
Fragen eintreten. An Material fehlt es dazu wahrlich nicht.
In welchem Sinne die öffentliche Meinung dabei von manchen
Organisationen und Pressorganen bearbeitet worden ist, bedarf
wohl keiner Darlegung. Die Mache, die von gewissen Seiten
betrieben wird, dient weder der Erhaltung des Friedens noch
der internationalen Verständigung, sondern sie zielt mehr oder
weniger bewusst auf das Gegenteil.
Wenn ich damit hier auf den Chauvinismus zu sprechen
komme, der von bestimmten Pressorganen und Organisationen
auch in Deutschland gepflegt wird, so möchte ich von vorn-
herein feststellen, dass es mir ferne liegt, in diesen Erscheinungen
eine spezifisch deutsche Eigentümlichkeit sehen zu wollen. Wir
finden dieselbe Erscheinung heute in nahezu allen Ländern und
sie muss in jedem dieser Länder bekämpft werden. Ich will
auch nicht behaupten, dass der Chauvinismus in Deutschland
schlimmer, oder dass er auch nur annähernd ebenso schlimm sei, als
in manchen anderen Ländern. Aber hier in Deutschland können
wir uns doch nur mit dem deutschen Chauvinismus befassen und
müssen es den Franzosen und Engländern überlassen, den ihrigen
bei sich zu bekämpfen. Beim deutschen Chauvinismus muss nun
das allerdings auffallen, dass er sich früher nicht so offen hervor-
gewagt hat, wie heute. Es ist als ob seine Anhänger glaubten,
ihre Stunde sei jetzt gekommen. Und so sind sie denn eifriger
als jemals früher am Werk.
Die Kreise, die wir heute an diesem Treiben zum Kriege be-
teiligt sehen, haben grossenteils anfänglich durchaus lobenswerte
Tendenzen verfolgt. Sie sind von dem durchaus richtigen Gedanken
ausgegangen, dass das deutsche Nationalgefühl der Stärkung be-
dürfe. Es bedarf derselben vielfach heute noch ! Aber die Kreise,
die sich seine Stärkung zur besonderen Aufgabe gemacht haben,
sind sich daneben gar nicht bewusst geworden, dass manches, was
man vor 25 Jahren noch besonders betonen musste, heute doch
nicht mehr so der Betonung bedarf, dass eine Wahrheit, die
man jahrzehntelang gepredigt hat, schliesslich Wurzel fassen,
und dass ihre allzu häufige Betonung dann leicht vom Uebel
werden kann. Und so sind sie mit ihren Bestrebungen vielfach auf
Abwege geraten und haben oft über das Ziel hinausgeschossen.
An Stelle eines durchaus berechtigten Nationalgefühls haben sie
einen Nationalismus und Chauvinismus grossgezüchtet, der geeignet
ist, ihrem Vaterlande die ernstesten Gefahren zu bereiten. Wer sich
etwas mit Volkspsychologie befasst hat, der wird die Gefahr, die
in diesem Treiben liegt, nicht verkennen. Es handelt sich um eine
eigentliche Schädigung der Volksseele, die hier ganz systematisch
betrieben wird. Mit Zuhilfenahme patriotischer Schlagwörter
(auf Schlagwörter reagiert die grosse Menge ja immer gerne)
und indem man der nationalen Eigenliebe durch Selbstbeweih-
räucherung schmeichelt, versucht man die Massen mehr und
mehr für diese chauvinistische Gedankengänge zu gewinnen.
Das ist natürlich nur möglich durch Herabsetzung der anderen
Nationen. An der eigenen Nation ist alles gut, an den anderen
Nationen alles schlecht; das ist so ungefähr die Quintessenz
aller nationalistischen Argumentationen. Und diesem Grund-
satze entspricht auch das Verhalten der nationalistischen Presse.
Die für das Ausland günstigen Momente und Nachrichten wer-
den entweder systematisch totgeschwiegen oder lächerlich ge-
macht, die ungünstigen aber ins Ungeheuere aufgebauscht. So
wird das Feuer stets von neuem geschürt. Es war für den
besonnen und gerecht Urteilenden wirklich kein Vergnügen, im
vergangenen Jahre im deutschen Blätterwalde herumzuwandeln.
Wer nur seine täglichen Zeitungen liest, macht sich keinen
Begriff davon, in welch unverantwortlicher Weise da häufig
gearbeitet worden ist. Und was die Zeitungen nicht aus-
8
sprechen, das vollenden dann die politischen Broschüren-
schreiber, die nachgerade zu einer wahren Landplage geworden
sind. Es ist gegenüber diesem Treiben für die ernsthafte
anständige Presse gar nicht immer so leicht, ihren Standpunkt
zu wahren.
Was diese Machenschaften der chauvinistischen Kreise vor
allem bedenklich macht, das ist nun aber der Umstand, dass
sie ihre Behauptungen immer als die Meinung des deutschen
Volkes auszugeben suchen, dass sie ihren Mitbürgern zu sugge-
rieren suchen, dass sie die Majorität, dass sie das Volk seien.
Gerade so, wie man sich in diesen Kreisen immer so geberdet,
als ob man den Patriotismus allein gepachtet hätte — während
man doch in Wirklichkeit häufig gegen die Interessen des Vater-
landes handelt — , so nimmt man auch das deutsche Volk ohne
weiteres für seine Argumentationen in Anspruch. Hätten diese
Kreise darin recht, dann würde man im Auslande nicht mit Unrecht
in Deutschland heute eine Hauptgefahr für den Weltfrieden erblicken.
Damit komme ich wieder zu meiner oben gestellten Frage
zurück: Was ist denn eigentlich die öffentliche Meinung? Jeden-
falls, wie wir gesehen haben, nicht alles, was sich als solche
ausgibt. Ja, mehr als das: Ich möchte geradezu sagen, was
in solchen Zeiten wie im vergangenen Jahre am wenigsten zum
Ausdruck kommt, was sich unter dem Einflüsse der Milieu-
suggestion kaum hervorwagt, das ist gerade die eigentliche
Volksmeinung, die wirkliche öffentliche Meinung.
Ich glaube nicht, dass das schwer nachzuweisen ist. Wenn
wir fragen, welches ist denn wohl die Grundstimmung des
deutschen Volkes mit Bezug auf die auswärtige Politik, so dür-
fen wir unbedenklich sagen: Das deutsche Volk will, ebenso
wie seine Regierung, eine Friedenspolitik. Es will keinen vom
Zaun gebrochenen Krieg. Das deutsche Volk ist sich seiner
Kraft bewusst und es wird seine Ehre im Ernstfall auch mit
dem Schwerte zu wahren wissen Aber daneben ist es fried-
liebend und will nichts davon wissen, dass man ohne jede Not
einen Krieg bloss um des Krieges willen heraufbeschwört, einen
Krieg, der auch den Sieger in das grösste Elend stürzen und
niemandem Nutzen bringen würde. Und das deutsche Volk will
auch mit seinen Nachbarn, soviel an ihm liegt, in Freundschaft
leben. Es will keine Feindschaften ä tout prix pflegen. Und
es bringt anderen Völkern dieselbe Achtung entgegen, die es
von ihnen für sich in Anspruch nimmt.
Mit dieser Auffassung des deutschen Volkes steht die Politik der
deutschen Regierung glücklicherweise durchaus im Einklang. Die
deutsche Politik der letzten 40 Jahre darf in Wahrheit eine Friedens-
poiitik genannt werden. Von seiten des deutschen Kaisers ist dlesef
redliche Friedenswille des öfteren ausdrückhch betont worden.
Dasselbe wie von Deutschland dürfen wir nun aber auch von
anderen Ländern sagen. Das französische und das englische
Volk sind in ihrer grossen Mehrheit ebenso friedlich gesinnt
wie das deutsche, und ihre Regierungen haben denselben Wunsch
wie die deutsche, dass der Frieden erhalten bleibe. Wenn man
noch hinzunimmt, dass ein wirklicher Grund zu einem Kriege
zwischen diesen Mächten gar nicht vorhanden ist und dass sie
unendlich mehr gemeinsame als divergierende Interessen haben,
so muss man sich in der Tat wundern, wenn trotz alledem eine
solche Gewitterschwüle in der politischen Atmosphäre liegt und
so viele Leute von einem Kriege zwischen diesen Mächten reden.
Ein Krieg, zu dem kein Grund vorliegt und den keiner der Be-
teiligten will, das wäre denn doch eine Ironie der Weltgeschichte,
wie sie ärger nicht erdacht werden kann.
Aber welches ist denn nun der Grund aller dieser Befürchtungen?
Doch lediglich der, dass man mit etwas Unberechenbarem zu rech-
nen hat. Dieses Unberechenbare aber, das sind heute weniger die
beteiligten Regierungen, als eben vor allem die Stimmungen, die in
gewissen Teilen der Bevölkerung künstlich gemacht werden und die
dann mit dem Ansprüche auftreten, als öffentliche Meinung zu gelten.
Der Reichskanzler hat im vergangenen Jahr mit Recht betont,
die Gefahr tür den Frieden liege weniger bei den Regierungen,
als bei gewissen Minderheiten. Gewiss sind es Minderheiten, um
die es sich dabei handelt, ja es sind, wenn man die Gesamtheit
der Bevölkerung in Betracht zieht, sogar verschwindende Minder-
heiten. Aber was ihnen an Zahl abgeht, das ersetzen diese Kreise
dadurch, dass sie mit mehr Lärm auftreten und eine Suggestion
auf die übrige Bevölkerung auszuüben suchen. Denn sie haben
den Vorteil voraus, dass sie organisiert sind, während die übrige
Bevölkerung nicht organisiert ist, so dass die wahre öffentliche
Meinung, der eigentliche Volkswille, häufig entweder gar nicht
oder doch nur mangelhaft zum Ausdruck kommt.
Zieht man die Politik der Regierungen und die wirkliche
Volksstimmung in Betracht, so wird man also zu dem Ergebnis
kommen, dass die Kriegsgefahr der Gegenwart nicht in erster
Linie von diesen droht, sondern dass sie vor allem in dem
Treiben der Chauvinisten zu erblicken ist, darin, dass eine von
diesen künstlich gemachte anscheinende öffentliche Meinung ein-
mal die Oberhand gewinnen könnte. Was die Politik der Re-
gierungen anlangt, so möchte ich in dieser Beziehung nur an ein
Wort erinnern, das Graf Berchtold im September 19 12 ge-
sprochen hat : dass gegenwärtig kein Grund vorliege, eine Span-
10
nung zwischen den beiden Mächtegruppen zu besorgen und däss
ein Zusammenwirken aller Grossmächte in der gleichen, auf die
Erhaltung des Friedens abzielenden Richtung ohne Rücksicht auf
ihre Zugehörigkeit zu einem der beiden europäischen Allianz-
systeme möglich sei. Auch Sir Edward Grey hat ja im Früh-
jahr betont: die Teilung der europäischen Mächte in zwei
Gruppen müsse keineswegs zur nötigen Folge haben, dass sich
dieselben in zwei entgegengesetzten diplomatischen Lagern gegen-
überstehen. Angesichts der jetzigen Lage am Balkan darf man daher
sehr wohl auf ein Zusammenwirken der sechs Grossmächte rechnen.
Ich halte, wie ich schon anfangs erklärt habe, unser heuti-
ges politisches System für nichts weniger als vollkommen und
ich gestehe sogar gern, dass ich es für viel erspriesslicher hal-
ten würde, wenn wir in Europa statt zwei Mächtegruppen
nur eine hätten, wenn Dreibund und Triple -Entente sich
überhaupt zu einer gemeinsamen Wahrung der gemeinsamen
europäischen Interessen vereinigen könnten. Und ich gestehe
auch, dass mir persönlich ein Dreibund, der aus Deutschland,
Frankreich und England bestehen würde, viel lieber wäre als
der jetzige, weil ein solcher Dreibund eine wirkliche Friedens-
garantie wäre und es den Mächten erlauben würde, nicht nur
Macht-, sondern auch Kulturpolitik zu treiben. Das aber sind
vorläufig fromme Wünsche. Worauf es heute ankommt, das ist,
die heutige politische Lage in der richtigen Beleuchtung zu
sehen, fern von übertriebenem Optimismus, aber ebenso von
schwarzmalendem Pessimismus. Und da müssen wir, wenigstens
wenn wir den wirklichen Willen der Völker und die Absichten
der Regierungen in Betracht ziehen, sagen, dass zu dem vielen
Gerede vom Kriege häufig doch eigentlich recht wenig wirklicher
Grund vorliegt und dass die Trübungen am politischen Horizonte
doch vielfach in recht übertriebenem Lichte geschildert werden,
dank der Mache derjenigen Kreise im In- und Auslande, die
die Staatsschifife gern auf den Krieg lossteuern sehen möchten.
Diese mit dem Anspruch, als öffentliche Meinung zu gelten, auf-
tretende Stimmungsmache, sie bildet in Wahrheit also heute die
hauptsächlichste Kriegsgefahr und gegen sie muss man sich
daher vor allem wenden. Dass die Chauvinisten eine solche
Gefahr sind, und dass sie eine solche Gefahr bewusst sein wollen,
das haben sie während der Marokkoverhandlungen ja bewiesen.
Wenn damals der Friede bedroht erschien, so lag die Ursache
dazu durchaus ausserhalb der eigentlichen Verhandlungen. Die
deutsche und die französische Regierung suchten dabei zwar
jede ihren Vorteil, aber sie hatten durchaus nicht im Sinne, es
deshalb zu einem Kriege kommen zu lassen. Die englische Ein-
1 1
mischung will ich dabei gewiss nicht entschuldigen. Der Reichs-
kanzler hat damals für sie das rechte Wort gefunden. Aber dass
die Alldeutschen sich berufen fühlten, auch gegen den Willen
des Kaisers und der Reichsregierung auf den Krieg hinzuarbeiten,
das zeigt, wessen man sich von diesen Kreisen zu gewärtigen
hat. Der Staatssekretär von Kiderlen -Wächter, der später im
Reichstage bestätigt hat, dass er sich im Anfang der Alldeutschen
hatte bedienen wollen, um für die Regierungspläne Stimmung
zu machen, ist nachher die Geister, die er gerufen hatte, nicht
wieder los geworden, und er wird es sich zweimal überlegen,
bevor er sich wieder an die Alldeutschen wendet. Es ist eben
ein gefährliches Ding, mit den Volksleidenschaften spielen zu
wollen.
Doch ich glaube, mir weitere Beispiele sparen zu können.
Die Marokkokrise vor allem war lehrreich über die Maassen, nicht
nur für die chauvinistischen Umtriebe, sondern auch für die Leicht-
gläubigkeit des Publikums. Kein Sensationsgerücht war so un-
sinnig, dass es nicht ohne viele Prüfung sofort seine Gläubigen ge-
funden hätte. An die einfachsten Vorgänge, die für den Ein-
geweihten durchaus natürlich waren, konnten sich die törichtsten
Vermutungen und Gerüchte knüpfen. Dinge, die für die be-
teiligten Diplomaten absolut nichts Beunruhigendes hatten, waren
im Publikum Gegenstände der grössten Sorge. Und viele gute
Vaterlandsfreunde, die aber mehr mit dem Herzen als mit dem
Verstände arbeiteten, haben sich kritiklos zu Forderungen hin-
reissen lassen, die der Politiker nur als utopische bezeichnen
kann. Viele gutgesinnte Männer glaubten, patriotisch zu handeln,
wenn sie die phantastischen Forderungen der Alldeutschen und
ihrer Presse unterstützten. Mit Recht konnte damals der Reichs-
kanzler sagen : Um utopistischer Eroberungspläne und um Partei-
zwecke willen die nationalen Leidenschaften bis zur Siedehitze
bringen, das heisst den Patriotismus kompromittieren, ein wert-
volles Gut verkaufen.
Doch was folgt nun aus alle dem.? Welche Nutzanwendung
ist aus dem Gesagten zu ziehen? Wir haben gesehen, dass die
wahre Meinung der Bevölkerung über die auswärtige Politik
sehr häufig gar nicht oder nur ungenügend zum Ausdruck ge-
langt ist, und zwar vor allem deshalb, weil es ihr an einer
Organisation fehlt. Diejenigen, die das Kriegsfeuer zu schüren
suchen, sind organisiert. Nicht aber organisiert sind diejenigen,
die lediglich das wollen, was in Wirklichkeit die öffentliche
Meinung ist. Diese letzteren sind also offenbar trotz ihrer weit
grösseren Zahl im Nachteil. Also — so scheint man doch
folgern zu dürfen — muss eben eine Organisation geschaffen wer-
12
den, die dieser öffentlichen Meinung zum Ausdruck verhilft, ja,
die noch mehr tut, die auf eine Erziehung der öffentlichen Mei-
nung in den Fragen der auswärtigen Politik hinarbeitet, eine Er-
ziehung, die weiteren Kreisen zu einem selbständigen, vorurteils-
freien und ruhigen Urteil in diesen Fragen verhilft, die ihr Ver-
antwortlichkeitsgefühl stärkt und sie dadurch immun macht gegen-
über der Sensationsmache namentlich der nationalistischen Presse.
Eine solche Organisation der öffentlichen Meinung darzu-
stellen, ist nun eine der Aufgaben, die sich der Verband für
internationale Verständigung gestellt hat. Wir wissen wohl, es
gibt eine Menge Leute, die unsere Auffassung durchaus teilen,
die aber der Meinung sind, dass das alles ja doch nichts hilft
und die daher lieber die Hände in den Schoss legen. Gegen
diesen Indifferentismus und Skeptizismus vor allem haben wir
anzukämpfen. Gelingt es uns, ihn zu besiegen, dann haben wir
auch gewonnenes Spiel. Denn in der Sache wissen wir uns mit
der Mehrheit des deutschen Volks eins.
Friedrich Curtius hat kürzlich in der »Korrespondenz« unseres
Verbandes trefflich ausgeführt : Die Schwierigkeit der Aufgabe
unseres Verbandes liege vor allem in ihrer Vemünftigkeit. Für
eine einseitige Idee, ein leidenschaftlich gesteigertes Verlangen
sei die Propaganda leicht, man könne sich starker Worte be-
dienen, und auf leicht erregbare Stellen der menschlichen Seele
wirken und insofern sei sowohl der kriegerische Nationalismus
wie der prinzipielle Pazifismus dem bescheidenen und nüchternen
Programm unseres Verbandes überlegen. Und doch komme es
darauf an, nicht einzelne, sondern Massen zu gewinnen und da-
durch eine Macht zu werden, mit der die Regierungen rechnen
müssen. Es müsse dahin kommen, dass der Verband nicht nach
Tausenden, sondern nach Hunderttausenden zähle. — Das ist voll-
kommen richtig. Der Verband will nur, was der weitaus über-
wiegende Teil der Bevölkerung auch will. Es kommt nur dar-
auf an, die Gleichgültigkeit der Massen oder vielleicht richtiger
deren Hoffnungslosigkeit zu bekämpfen und ihnen zu zeigen, wie
sehr eine Organisation aller vernünftigen Vaterlandsfreunde nottut
und dass sie auch sehr wohl durchführbar ist.
Was ich heute hier über die Uebelstände in der Beeinflussung
der öffentlichen Meinung ausgeführt habe, sollte mit dazu dienen,
Ihnen diese Notwendigkeit vor Augen zu führen. Ich habe es
dabei nach Möglichkeit vermieden, meinen Worten einen polemi-
schen Anstrich zu geben. Aber schliesslich musste ich doch
die Grenzen abstecken und zeigen, was wir wollen und wer alles
bei uns mitmachen kann. Ich glaube, es gibt heute, wo so viel
vom Kriege geredet wird, keine Organisation, die so notwendig
13
wäre wie unsere, und keine, die so geschaffen ist, eine zahl-
reiche Gefolgschaft zu erhalten. Ein Verband, der sich die Auf-
gabe stellt, eine Organisation der öffentlichen Meinung zu schaffen,
die breiten Massen über die auswärtige Politik aufzuklären und
sie so gegen die Suggestionen der nationalistischen Mache zu
wappnen, er müsste alle Volkskreise umfassen und mit Leichtig-
keit stärker werden können, als alle anderen Organisationen, da
das, was er anstrebt, nicht nur vernunftgemäss, sondern auch
im Interesse des gesamten Vaterlandes, aller Volksgenossen ge-
legen ist, ohne alle Parteiunterschiede.
Was wir dringend brauchen, das ist eine feste unabhängige
öffentliche Meinung, die nicht heute so und morgen so denkt,
die sich durch keinerlei Machenschaften beirren lässt. Nur wenn
wir eine solche öffentliche Meinung haben, ist es in Wahrheit
ein Fortschritt, dass diese sich auch der auswärtigen Politik
zuwendet. Mit Recht betont Curtius, dass, wenn der Weg der
Suggestion das einzige wäre, auf dem eine nationale Ueberzeu-
gung gebildet werden könnte, dass es dann viel besser wäre,
die öffentliche Meinung zu ignorieren und zu der Staatsauffas-
sung Ludwigs XIV.- zurückzukehren. Wir brauchen eine öffent-
liche Meinung, die so hoch steht, dass die Suggestionen nicht
an sie heranreichen, die die wirkliche Meinung des Volkes zum
Ausdruck bringt und davon Zeugnis ablegt, dass das deutsche
Volk über seiner Ehre wacht, dass es aber dabei friedliebend
ist und auch den Nachbarn zu Ehren kommen lässt. Und diese
öffentliche Meinung muss stark werden, so stark, dass sie in
kritischen Zeiten auch eine Stütze unserer auswärtigen Politik
bedeuten kann. Wenn unser Verband auch unabhängig von den
Regierungen sein muss, so könnten doch Zeiten kommen, in
denen die Leidenschaften wachgerufen sind, wo man vielleicht
froh sein wird, an uns appellieren zu können. Sind wir einmal
stark, dann braucht uns also um den Frieden nicht bange zu
sein, wenigstens da, wo ein Krieg vermeidbar erscheint.
Unser Verband ist aber im übrigen weit davon entfernt, einer
Verständigung ä tout prix das Wort reden zu wollen. Wir werden,
wo es nötig ist, stets die nötige Reserve bewahren. Aber wir wol-
len anderseits auch nicht, dass man in Europa den Deutschen allein
alle Schuld beimesse an der kriegerischen Atmosphäre der Gegen-
wart. Wir wollen den andern Völkern zeigen, dass man mit
uns auch leben kann, und dass wir bei aller Wahrung unserer
Eigenart doch auch Verständnis für die Eigenart fremder Nationen
besitzen und andere auch zu ihrem Recht kommen lassen. Ge-
rechtigkeit wollen wir setzen an die Stelle der nationalen
Selbstbeweihräucherung.
14
Und wenn wir gegen den Chauvinismus ankämpfen, so er-
warten und verlangen wir von unseren Mitgliedern andererseits
keineswegs, dass sie auf irgendein pazifistisches Programm ein-
geschworen sind. Ich betone dies, ohne den Herren von den
Friedensgesellschaften zu nahe treten zu wollen. Unser Pro-
gramm ist ein wesentlich anderes, es hat keinerlei pazifistische
Voraussetzungen. Wir befassen uns nicht mit der Frage,
ob man den Krieg abschaffen kann, ja wir glauben, dass es
Kriege geben kann, denen ein Volk gar nicht ausweichen darf.
Nur suchen soll man den Krieg nicht. Man soll die Völker
nicht zu durchaus vermeidbaren, grundlosen Kriegen treiben, die
dabei auch für den Sieger das Opfer, das er bringt, auch nicht
annähernd verlohnen würden. Wir sind auch der Meinung, dass
in einer Aera des politischen Misstrauens, wie die unsrige, jedes
Volk gerüstet sein muss. Was wir bekämpfen möchten, sind
nicht sowohl die Rüstungen, als vielmehr das gegenseitige Miss-
trauen, das zu diesen Rüstungen geführt hat, und das von den
Chauvinisten in allen Ländern systematisch geschürt wird. Ge-
lingt uns unsere Aufgabe, die Volkpsyche, die öffentliche Mei-
nung zu erziehen und sie in das Verständnis der international-
politischen Probleme allmählich einzuführen, dann muss mit der
Zeit auch dieses Misstrauen schwinden und dann wird sicherlich
auch das heutige Wettrüsten eines Tages ein Ende nehmen.
Diese Hoffnung dürfen wir um so mehr hegen, als unser
heutiges politisches System mit den zwei Mächtegruppen ja
doch nur eine politische Tageserscheinung ist. Wie alle Zeit-
strömungen wird auch dieses System einem andern Platz machen.
Einen Erfolg müssen unsere Bemühungen also unter allen Um-
ständen haben. Um so weniger dürfen wir aber zu bequem
dazu sein, um an die Vorarbeiten für künftige bessere Zeiten
mit Hand anzulegen.
Die Arbeit, die sich unser Verband zu leisten vorgenommen
hat, und die ich heute als eine Erziehung der öffentlichen Mei-
nung in den Fragen der auswärtigen Politik gekennzeichnet
habe, erschöpft sich nun aber keineswegs etwa in einer Abwehr
des Chauvinismus oder anderer politischer Tageserscheinungen.
Unser Programm ist vielmehr ein eminent positives. Jeder, der
sich mit dem Wesen des modernen Staates beschäftigt hat, weiss,
wie ungemein mannigfaltig die Aufgaben sind, die dieser Staat
heute auf internationalem Boden zu leisten hat. Wer einen Ein-
blick getan hat in das vielverzweigte Getriebe des Weltverkehrs,
der weiss auch, wie zahlreich und wie fein die Fäden sind, die
herüber- und hinüberlaufen und wie man sie nicht ohne Not
und ohne Schaden durchschneiden kann. In diese modernen
15
Hill HIHI IUI III III lim IUI iiiiMMiii IUI IUI Hill iiiiiiiii
3 1197 22466 7698
staatlichen und sonstigen Aufgaben möchten wir unsere Mit-
bürger einführen und ihnen ein Bild geben von dem, was da
geleistet wird und noch zu leisten ist. Diese Aufgaben liegen
auf den verschiedensten Gebieten. Ich will hier nur an die zahl-
reichen völkerrechtlichen Aufgaben erinnern, die unser Zeitalter
zu lösen unternommen hat, und die in den Haager Friedens-
konferenzen ihren offiziellen Mittelpunkt erhalten haben. Eine
Aufklärung weiterer Kreise über alle diese unser Zeitalter be-
schäftigenden Probleme tut dringend not. Sie ist das beste
Mittel, der Bevölkerung zu zeigen, wie fest die Bande sind, die
sich heute von Staat zu Staat, von Land zu Land, von Volk zu
Volk schlingen und wie leichtsinnig diejenigen handeln, die gegen
diese moderne kulturelle Entwicklung ankämpfen, indem sie
einen Krieg vom Zaune brechen möchten. Je mehr die Er-
kenntnis hievon in den Völkern wächst, desto leichter wird
es sein, den heute sich wieder in allen Ländern breitmachen-
den Chauvinismus in seine Schranken zurückzuweisen, desto
eher wird man zu einer internationalen Verständigung gelangen.
Die Arbeit für dieses Ziel muss aber natürlich in allen
Ländern in gleicher Weise erfolgen. Wir laufen niemandem
nach und verlangen von niemandem, dass er uns nachläuft. Wohl
aber arbeiten gleichartige Verbände wie der unsere heute bereits
in verschiedenen Ländern für unsere Sache. Ihre Zusammen-
arbeit soll einmal das schöne Ziel ergeben: Die internationale
Verständigung.
Für dieses einfache und vernünftige Ziel zu arbeiten, das
darf man heute als eine wahrhaft patriotische Aufgabe bezeichnen.
Wir tun nicht so, als ob wir die alleinigen Vaterlandsfreunde
wären. Aber wir wissen, dass unser Streben dem Vaterlande
zum Segen gereichen muss und in dieser Ueberzeugung geben
wir dem Wunsche Ausdruck, dass alle ehrlichen und besonnenen
Vaterlandsfreunde sich um unser Banner scharen mögen!
i6