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Full text of "Die auswartige Politik und die offentliche Meinung"

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J67-733't 


VERÖFFENTLICHUNGEN  DES  VERBANDES 

FÜR  INTERNATIONALE  VERSTÄNDIGUNG 

HEFT  2 


DIE  AUSWÄRTIGE  POLITIK 

UND 

DIE  ÖFFENTLICHE  MEINUNG 


PROFESSOR  Dr.  OTFRIED  NIPPOLD, 

OBERURSEL  BEI  FRANKFURT  A.  M. 


PREIS  50  Pf. 

KOSTENLOS  FÜR  MITGLIEDER  DES  VERBANDES 

(MITGLIEDERBEITRAG  MINDESTENS  3  MARK  JÄHRLICH) 


STUTTGART 

DRUCK  VON  W.  KOHLHAMMER 

I912 


Veröffentlichungen  des  Verbandes  für  internationale 
Verständigung. 


Heft  I.    Der  internationale  Geist.   VonNicolas  Murray  Butler. 

Heft  2.    Die  auswärtige  Politik   und   die   öffentliche  Meinung. 
Von  Prof.  Dr.  Otfried  Nippold. 

Heft  3.    Die  wichtigste  Aufgabe  des  Völkerrechts.    Von  Prof. 
Walther  Schücking. 

Heft  4.  Der  Beitrag   der   christlichen  Kirchen  zur  internatio- 
nalen  Verständigung.      Von  Prof.  Dr.  Martin  Rade. 


Das  verflossene  Jahr  ist  für  alle  diejenigen,  die  der  aus- 
wärtigen Politik  Interesse  entgegenbringen,  ein  besonders  lehr- 
reiches gewesen.  Von  allen  Lehren,  die  es  uns  gebracht  hat, 
scheint  mir  aber  keine  so  beherzigenswert,  so  sehr  des  Nach- 
denkens und  des  entsprechenden  Handelns  wert  zu  sein,  wie  die- 
jenige, die  das  Verhältnis  der  öffentlichen  Meinung  zu  den  Fragen 
der  auswärtigen  Politik  betrifft.  Deutlicher  als  je  zuvor  ist  es 
zutage  getreten,  dass  wir  hier  vor  Aufgaben  stehen,  die  mit 
äusserster  Dringlichkeit  an  unser  patriotisches  und  staatsbürger- 
liches Empfinden  appellieren,  weil  von  ihrer  Lösung  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  die  Zukunft  des  deutschen  Volkes  abhängt. 

Man  hat  auf  die  öffentliche  Meinung  gerade  in  der  aus- 
wärtigen Politik  mit  Recht  in  immer  steigendem  Maasse  Wert 
gelegt.  Als  Ziel  schwebt  uns  dabei  eine  internationale  Politik 
vor,  die  von  der  öffentlichen  Meinung  der  Völker  getragen  wird. 
Und  es  ist  in  der  auswärtigen  Politik,  die  durch  innere  Partei- 
gegensätze ja  nicht  berührt  zu  werden  braucht,  zweifellos  auch 
wesentlich  leichter  als  in  der  inneren  Pohtik,  eine  einheitliche 
öffentliche  Meinung  zu  erzielen,  die  uns  mehr  oder  weniger  ein 
Bild  von  dem  Denken  und  Empfinden  der  gesamten  Bevölke- 
rung bietet.  Je  deutlicher  eine  solche  öffentliche  Meinung  zutage 
tritt,  um  so  mehr  wird  man  mit  der  Zeit  auch  dazu  gelangen, 
ein  Verantwortlichkeitsgefühl  der  gesamten  Nation  für  ihre  aus- 
wärtige Politik  zu  schaffen.  Die  Teilnahme  weiterer  Kreise  an 
diesen  Fragen  ist  daher  von  der  grössten  Bedeutung.  Je  mehr 
man  davon  überzeugt  ist,  dass  unsere  heutigen  international- 
politischen Verhältnisse  unzulängliche  sind  (und  wer  hätte  wohl 
diese  Ueberzeugung  nicht?),  desto  grössere  Hoffnungen  wird 
man  an  das  allmähliche  Erstarken  der  öffentlichen  Meinung  in 
der  Kulturwelt  knüpfen. 

Ja,  wer  sehnte  sich  wohl  nicht  heraus  aus  unseren  heutigen 
politischen  Zuständen  des  gegenseitigen  Misstrauens,  der  Un- 
sicherheit, der  stets  neuen  Beunruhigungen!  Und  gerade  die- 
jenigen, die  dieses  Uebel  an  der  Wurzel  fassen  möchten,  die  die 
Schuld  an  diesen  Zuständen  nicht  etwa  nur  einzelnen  Staats- 
männern und  Diplomaten  in  die  Schuhe  schieben  (obschon  auch 
in  der  Diplomatie  zweifellos  manches  besser  sein  könnte),  sondern 


die  erkannt  haben,  dass  das  ganze  System  der  internationalen 
einseitigen  Machtpolitik  von  heute  im  Grunde  ein  verkehrtes  ist, 
und  dass  eine  Besserung  daher  nicht  von  heute  auf  morgen 
kommen  kann,  gerade  sie  werden  die  grössten  Hoffnungen  darauf 
setzen,  dass  die  öffentliche  Meinung  allmählich  ein  wirklicher 
Machtfaktor  wird,  der  bei  den  Entschliessungen  der  Regierungen 
mit  in  die  Wagschale  fällt  und  die  Richtungen,  die  die  inter- 
nationale Staatenpolitik  einschlägt,  mit  beeinflusst.  Nur  auf  diesem 
Wege  wird  man  in  den  Kulturstaaten  allmählich  zu  einer  wirklich 
nationalen  Politik  gelangen,  in  der  die  ganzen  Nationen  mit 
ihren  Regierungen  einiggehen.  Wenn  irgend  etwas  geeignet 
wäre,  die  Aera  des  politischen  Misstrauens  endlich  einmal  zu 
beseitigen  und  den  Gedanken  an  einen  Zwiespalt  zwischen  den 
Absichten  der  Diplomaten  und  den  Wünschen  der  Völker  gar 
nicht  mehr  aufkommen  zu  lassen,  dann  wäre  es  daher  eine 
Organisation  der  öffentlichen  Meinung  der  Kulturwelt.  Mit  ihrer 
Hilfe  allein  könnte  man  wohl  mit  der  Zeit  dazu  gelangen,  der 
internationalen  Politik  mehr  und  mehr  den  Stempel  einer  wahren 
Kulturpolitik  aufzuprägen,  unter  der  der  ewigen  Unruhe  endlich 
ein  Ziel  gesetzt  wäre  und  unter  der  der  Friede  nicht  mehr  so 
leicht  eine  Störung  erfahren  würde. 

In  diesen  Hoffnungen  auf  die  öffentliche  Meinung  haben 
nun  die  Ereignisse  des  letzten  Jahres  wohl  manchen  etwas 
stutzig  gemacht.  Ich  meine  damit  nicht  die  politischen  Ereignisse 
selbst,  sondern  gewisse  Nebenerscheinungen,  vor  allem  die  Art, 
wie  sich  die  öffentliche  Meinung  oder  dasjenige,  was  man  dafür 
hielt  oder  ausgab,  in  den  auswärtigen  politischen  Fragen  geltend 
gemacht  hat.  Und  diese  Erscheinungen  sind  es,  die  ich  als  die 
bemerkenswerteste  Lehre  dieser  politischen  Episode  bezeichnen 
möchte,  eine  Lehre,  die  wir  nicht  an  uns  vorübergehen  lassen 
sollten,  ohne  daraus  für  die  Zukunft  Nutzen  gezogen  zu 
haben. 

Die  öffentliche  Meinung,  die  Meinung  des  Volkes,  —  wenn 
nicht  aller  Volksgenossen,  so  doch  des  Grossteiles  derselben, 
der  überwältigenden  Volksmehrheit!  Kommt  diese  Meinung 
auch  wirklich  zum  Ausdruck,  genügend  zum  Ausdruck.^  Und 
wo.?  Bietet  vor  allem  die  Presse  ein  wirkliches  Spiegelbild 
dieser  öffentlichen  Meinung,  oder  gibt  sie  etwa  nur  die  Ansichten 
ihrer  Redakteure  wieder.?  War  das,  was  man  im  verflossenen 
Jahr  zu  hören  und  zu  lesen  bekam,  wirklich  immer  der  Ausdruck 
der  öffentlichen  Meinung?  Diese  Fragen  sind  es  wohl  wert,  ein- 
mal näher  untersucht  zu  werden,  denn  von  ihrer  richtigen  Be- 
antwortung kann  das  Wohl  und  Wehe  der  ganzen  Nation  ab- 
hängen. 


Das  vergangene  Jahr  hat  nach  dieser  Richtung  hin  uns  viele 
Dinge  klarer  erkennen  und  durchschauen  lassen,  als  dies  wohl 
jemals  früher  der  Fall  gewesen  ist.  Es  hat  deutlich  gezeigt, 
dass  man  sich  mit  Bezug  auf  die  öffentliche  Meinung  in  den 
hier  einschlägigen  Fragen  keinem  übertriebenen  Optimismus  hin- 
geben darf  und  dass  noch  eine  grosse  Arbeit  getan  werden 
muss,  wenn  man  überhaupt  auf  eine  Besserung  der  Zustände  in 
der  internationalen  Politik  hoffen  will. 

Festgestellt  muss  zunächst  werden,  dass  bis  vor  kurzem  in 
weiteren  Kreisen  das  Interesse  für  die  Fragen  der  auswärtigen 
Politik  ein  recht  massiges  war.  Nur  bei  besonderen  Gelegen- 
heiten pflegte  sich  die  öffentliche  Meinung  auch  mit  diesen 
Fragen  stärker  zu  befassen.  Man  hatte  sich  in  Deutschland  von 
früherher  daran  gewöhnt,  diesen  Zweig  der  staatlichen  Verwaltung 
als  in  starker  Hand  so  wohl  aufgehoben  zu  betrachten,  dass 
man  es  kaum  für  nötig  erachtete,  ihm  eine  besondere  Aufmerksam- 
keit zu  schenken.  Erst  ganz  allmählich  ist  das  Interesse  an  diesen 
Fragen  ein  regeres  geworden,  und  lebhafter  als  zuvor  ist  es  im 
vergangenen  Jahre  zutage  getreten. 

Aber  wie  hat  sich  dieses  relativ  neue  Interesse  nun  geltend 
gemacht?  Es  konnte  angesichts  des  soeben  hervorgehobenen 
Umstandes  wohl  nicht  besonders  überraschen,  dass  das  Ver- 
ständnis für  die  auswärtigen  politischen  Fragen  im  allgemeinen 
noch  ein  recht  mangelhaftes  war.  Auffallender  war  schon,  dass 
diese  Erscheinung  auch  unter  den  Gebildeten,  und  zwar  bis  in 
die  höchsten  Bildungsschichten  hinauf,  zutage  trat.  Was  man 
namentlich  vermissen  musste,  war  Unabhängigkeit  des  Urteils,  auch 
da,  wo  man  diese  hätte  erwarten  dürfen.  Aber  es  standen  eben 
nur  wenige  diesem  Komplex  von  verwickelten  Problemen  mit  ge- 
schultem Blicke  gegenüber,  so  dass  sie  sich  ein  selbständiges 
Urteil  zu  bilden  vermochten. 

Hand  in  Hand  mit  dieser  häufig  zu  konstatierenden  Un- 
kenntnis und  Unselbständigkeit  ging  und  geht  heute  noch  eine 
Hypernervosität  in  der  Beurteilung  aller  Vorgänge  auf  inter- 
nationalpolitischem Gebiete.  Auch  die  allerunschuldigsten  Vor- 
fälle werden  sofort  unter  die  Kriegslupe  genommen.  Der  Un- 
bewanderte —  ihre  Zahl  ist  leider  erschreckend  viel  grösser  als 
man  hätte  denken  sollen  —  glaubt  wegen  jeder  noch  so 
geringfügigen  Meinungsdifferenz  zwischen  den  Regierungen  (und 
solche  Meinungsverschiedenheiten  kommen  im  offiziellen  diplo- 
matischen Verkehr  alle  Tage  vor)  werden  die  Staaten  nun  so- 
fort zum  Schwerte  greifen.  Während  die  Regierungen  selbst 
ganz  ruhig  miteinander  verhandeln,  sind  draussen  die  Unein- 
geweihten in  der  grössten  Aufregung. 

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Diese  Aufregung  wäre  wohl  in  den  meisten  Fällen  eitie  viel 
geringere,  wenn  man  sich  in  weiteren  Kreisen  darüber  im  klaren 
wäre,  nicht  nur  wie  die  internationale  Politik  wirklich  gemacht 
wird,  sondern  auch  wie  vielfach  Stimmungen  in  der  Bevölkerung 
künstlich  gemacht  werden.  Es  ist  das  ein  Punkt,  über  den  sich 
die  wenigsten  klar  zu  sein  scheinen  und  der  doch  von  der 
allergrössten  Bedeutung  ist.  Wie  entstehen  denn  viele  solche 
Stimmungen?  Doch  einfach  dadurch,  dass  der  Durchschnitts- 
zeitungsleser auf  den  Inhalt  seiner  Tageszeitung  schwört  und 
dass  nachher  am  Stammtisch  das  Gelesene  sich  zu  einer  festen 
Meinung  verdichtet,  und  dass  der  neu  Hinzukommende  dieser 
Milieusuggestion  unterliegt.  Ja,  der  Einfluss  der  sogenannten 
Massensuggestion  auf  die  Bildung  der  öffentlichen  Meinung  darf 
nicht  verkannt  werden  und  die  Politiker  sind  nur  zu  sehr  gewöhnt, 
mit  diesem  Faktor  zu  rechnen! 

Wenn  wir  nun  aber  fragen,  woher  die  Nachrichten  stammen, 
die  Stimmungen  in  international-politischen  Fragen  erzeugen,  so 
werden  wir  finden,  dass  die  Quellen  recht  verschiedene  sein  können. 

Nachrichten  aus  dem  Gebiete  der  auswärtigen  Politik  ge- 
langen in  die  Presse  einmal  indirekt  aus  Regierungskreisen  durch 
die  offiziösen  Pressebureaus  des  Auswärtigen  Amts  oder  des 
Reichsmarineamtes,  durch  das  Wolffsche  Telegraphenbureau, 
gelegentlich  auch  durch  die  Korrespondenten  grösserer  Zeitungen. 
Sie  sollen  natürUch  dazu  dienen,  die  Politik  der  Reichsregierung 
zu  erklären  und  zu  stützen. 

Daneben  gibt  es  eine  Reihe  von  Organisationen,  die  sich 
mit  Fragen  der  auswärtigen  Politik  befassen  und  die  durch  ihre 
Korrespondenzen  auf  die  Presse  und  indirekt  auf  ein  weiteres 
Publikum  einwirken.  Solche  Organisationen  sind  der  Alldeutsche 
Verband,  der  Flottenverein,  der  Wehrverein,  der  Kolonialverein 
u.  a.  Ihre  Artikel  werden  oft  von  grossen  Blättern  übernommen 
und  gehen  von  dort  in  die  Provinzpresse  bis  in  die  kleinsten 
Winkelblättchen  über.  Nach  ihrer  Herkunft  fragt  im  allgemeinen 
kein  Mensch,  trotzdem  solche  Nachrichten  durch  die  verschiedenen 
Pressemedien  hindurch  oft  hunderttausende  von  Lesern  finden. 

Schliesslich  kommt  noch  als  eine  weitere  Quelle  die  Presse 
selbst  in  Betracht.  Die  Sache  steht  in  der  Zeitung  gedruckt, 
also  muss  sie  wahr  sein,  und  man  darf  seinen  Kombinationen 
freien  Lauf  lassen. 

Es  ist  nun  klar,  dass  die  von  manchen  solchen  Organisationen, 
wie  die  obigen,  ausgehenden  Nachrichten,  ebenso  wie  diejenigen 
gewisser  Pressorgane,  auch  im  Sinne  von  deren  Tendenzen  ge- 
halten sind,  und  dass  sie  weder  stets  auf  unbedingte  Richtigkeit 
und  Zuverlässigkeit  noch  auch  auf  Objektivität  Anspruch  erheben, 


und  dass  also  auf  diesem  Wege  in  der  Bevölkerung  häufig  ein- 
fach Stimmungsmache  betrieben  wird.  Das  Merkwürdige  ist 
nur,  dass  die  Objekte  dieser  Mache,  die  Leser,  hiervon  meist 
nichts  zu  merken  scheinen  und  alles  ohne  weiteres  für  bare 
Münze  nehmen.  Der  deutlichste  Beweis  dafür,  dass  die  Zahl 
der  urteilsfähigen,  der  selbständig  denkenden  Leser  heute  in 
unserem  papierenen  Zeitalter  leider  noch  eine  recht  kleine  ist. 
Und  das  Bedenkliche  dabei  ist,  dass  je  nach  dem  Inhalte  einer 
solchen  Nachricht  die  nationalen  Leidenschaften  durch  eine  solche 
künstliche  Mache  in  kurzer  Zeit  bis  zur  höchsten  Erregung  an- 
schwellen können.  Wie  gefährlich  das  aber  ist,  dafür  bieten  uns 
manche  andere  Völkerschaften  ja  recht  deutliche  Belege. 

Einer  solchen  Stimmungsmache  konnte  man  nun  im  vergange- 
nen Jahre  nicht  etwa  nur  gelegentlich  begegnen,  sondern  sie 
ist  in  letzter  Zeit  vollkommen  systematisch  und  kontinuierlich 
betrieben  worden.  Der  Reichskanzler  hat  sich  mit  Recht  gegen 
dieses  Treiben  gewendet.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
die  oben  geschilderte  Nervosität  des  Publikums  zum  grossen 
Teil  auf  solche  Stimmungsmache  zurückzuführen  ist.  Lässt  sich 
doch  ohne  Mühe  konstatieren,  dass  durch  dieselbe  von  einem 
Tag  zum  anderen  die  Stimmung  eines  grossen  Prozentsatzes  der 
Bevölkerung  völlig  umgewandelt  werden  kann.  So  wird  also 
die  Unruhe  und  Nervosität  gewissermassen  künstlich  und  syste- 
matisch gezüchtet.  Ich  widerstehe  nur  ungerne  der  Versuchung, 
dies  durch  einige  Illustrationen  aus  dem  letzten  Jahre  zu  belegen; 
aber  ich  möchte  hier  nicht  in  eine  Erörterung  tagespolitischer 
Fragen  eintreten.    An  Material  fehlt  es  dazu  wahrlich  nicht. 

In  welchem  Sinne  die  öffentliche  Meinung  dabei  von  manchen 
Organisationen  und  Pressorganen  bearbeitet  worden  ist,  bedarf 
wohl  keiner  Darlegung.  Die  Mache,  die  von  gewissen  Seiten 
betrieben  wird,  dient  weder  der  Erhaltung  des  Friedens  noch 
der  internationalen  Verständigung,  sondern  sie  zielt  mehr  oder 
weniger  bewusst  auf  das  Gegenteil. 

Wenn  ich  damit  hier  auf  den  Chauvinismus  zu  sprechen 
komme,  der  von  bestimmten  Pressorganen  und  Organisationen 
auch  in  Deutschland  gepflegt  wird,  so  möchte  ich  von  vorn- 
herein feststellen,  dass  es  mir  ferne  liegt,  in  diesen  Erscheinungen 
eine  spezifisch  deutsche  Eigentümlichkeit  sehen  zu  wollen.  Wir 
finden  dieselbe  Erscheinung  heute  in  nahezu  allen  Ländern  und 
sie  muss  in  jedem  dieser  Länder  bekämpft  werden.  Ich  will 
auch  nicht  behaupten,  dass  der  Chauvinismus  in  Deutschland 
schlimmer,  oder  dass  er  auch  nur  annähernd  ebenso  schlimm  sei,  als 
in  manchen  anderen  Ländern.  Aber  hier  in  Deutschland  können 
wir  uns  doch  nur  mit  dem  deutschen  Chauvinismus  befassen  und 


müssen  es  den  Franzosen  und  Engländern  überlassen,  den  ihrigen 
bei  sich  zu  bekämpfen.  Beim  deutschen  Chauvinismus  muss  nun 
das  allerdings  auffallen,  dass  er  sich  früher  nicht  so  offen  hervor- 
gewagt hat,  wie  heute.  Es  ist  als  ob  seine  Anhänger  glaubten, 
ihre  Stunde  sei  jetzt  gekommen.  Und  so  sind  sie  denn  eifriger 
als  jemals  früher  am  Werk. 

Die  Kreise,  die  wir  heute  an  diesem  Treiben  zum  Kriege  be- 
teiligt sehen,  haben  grossenteils  anfänglich  durchaus  lobenswerte 
Tendenzen  verfolgt.  Sie  sind  von  dem  durchaus  richtigen  Gedanken 
ausgegangen,  dass  das  deutsche  Nationalgefühl  der  Stärkung  be- 
dürfe. Es  bedarf  derselben  vielfach  heute  noch !  Aber  die  Kreise, 
die  sich  seine  Stärkung  zur  besonderen  Aufgabe  gemacht  haben, 
sind  sich  daneben  gar  nicht  bewusst  geworden,  dass  manches,  was 
man  vor  25  Jahren  noch  besonders  betonen  musste,  heute  doch 
nicht  mehr  so  der  Betonung  bedarf,  dass  eine  Wahrheit,  die 
man  jahrzehntelang  gepredigt  hat,  schliesslich  Wurzel  fassen, 
und  dass  ihre  allzu  häufige  Betonung  dann  leicht  vom  Uebel 
werden  kann.  Und  so  sind  sie  mit  ihren  Bestrebungen  vielfach  auf 
Abwege  geraten  und  haben  oft  über  das  Ziel  hinausgeschossen. 
An  Stelle  eines  durchaus  berechtigten  Nationalgefühls  haben  sie 
einen  Nationalismus  und  Chauvinismus  grossgezüchtet,  der  geeignet 
ist,  ihrem  Vaterlande  die  ernstesten  Gefahren  zu  bereiten.  Wer  sich 
etwas  mit  Volkspsychologie  befasst  hat,  der  wird  die  Gefahr,  die 
in  diesem  Treiben  liegt,  nicht  verkennen.  Es  handelt  sich  um  eine 
eigentliche  Schädigung  der  Volksseele,  die  hier  ganz  systematisch 
betrieben  wird.  Mit  Zuhilfenahme  patriotischer  Schlagwörter 
(auf  Schlagwörter  reagiert  die  grosse  Menge  ja  immer  gerne) 
und  indem  man  der  nationalen  Eigenliebe  durch  Selbstbeweih- 
räucherung schmeichelt,  versucht  man  die  Massen  mehr  und 
mehr  für  diese  chauvinistische  Gedankengänge  zu  gewinnen. 

Das  ist  natürlich  nur  möglich  durch  Herabsetzung  der  anderen 
Nationen.  An  der  eigenen  Nation  ist  alles  gut,  an  den  anderen 
Nationen  alles  schlecht;  das  ist  so  ungefähr  die  Quintessenz 
aller  nationalistischen  Argumentationen.  Und  diesem  Grund- 
satze entspricht  auch  das  Verhalten  der  nationalistischen  Presse. 
Die  für  das  Ausland  günstigen  Momente  und  Nachrichten  wer- 
den entweder  systematisch  totgeschwiegen  oder  lächerlich  ge- 
macht, die  ungünstigen  aber  ins  Ungeheuere  aufgebauscht.  So 
wird  das  Feuer  stets  von  neuem  geschürt.  Es  war  für  den 
besonnen  und  gerecht  Urteilenden  wirklich  kein  Vergnügen,  im 
vergangenen  Jahre  im  deutschen  Blätterwalde  herumzuwandeln. 
Wer  nur  seine  täglichen  Zeitungen  liest,  macht  sich  keinen 
Begriff  davon,  in  welch  unverantwortlicher  Weise  da  häufig 
gearbeitet    worden    ist.      Und    was    die    Zeitungen    nicht    aus- 

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sprechen,  das  vollenden  dann  die  politischen  Broschüren- 
schreiber, die  nachgerade  zu  einer  wahren  Landplage  geworden 
sind.  Es  ist  gegenüber  diesem  Treiben  für  die  ernsthafte 
anständige  Presse  gar  nicht  immer  so  leicht,  ihren  Standpunkt 
zu  wahren. 

Was  diese  Machenschaften  der  chauvinistischen  Kreise  vor 
allem  bedenklich  macht,  das  ist  nun  aber  der  Umstand,  dass 
sie  ihre  Behauptungen  immer  als  die  Meinung  des  deutschen 
Volkes  auszugeben  suchen,  dass  sie  ihren  Mitbürgern  zu  sugge- 
rieren suchen,  dass  sie  die  Majorität,  dass  sie  das  Volk  seien. 
Gerade  so,  wie  man  sich  in  diesen  Kreisen  immer  so  geberdet, 
als  ob  man  den  Patriotismus  allein  gepachtet  hätte  —  während 
man  doch  in  Wirklichkeit  häufig  gegen  die  Interessen  des  Vater- 
landes handelt  — ,  so  nimmt  man  auch  das  deutsche  Volk  ohne 
weiteres  für  seine  Argumentationen  in  Anspruch.  Hätten  diese 
Kreise  darin  recht,  dann  würde  man  im  Auslande  nicht  mit  Unrecht 
in  Deutschland  heute  eine  Hauptgefahr  für  den  Weltfrieden  erblicken. 
Damit  komme  ich  wieder  zu  meiner  oben  gestellten  Frage 
zurück:  Was  ist  denn  eigentlich  die  öffentliche  Meinung?  Jeden- 
falls, wie  wir  gesehen  haben,  nicht  alles,  was  sich  als  solche 
ausgibt.  Ja,  mehr  als  das:  Ich  möchte  geradezu  sagen,  was 
in  solchen  Zeiten  wie  im  vergangenen  Jahre  am  wenigsten  zum 
Ausdruck  kommt,  was  sich  unter  dem  Einflüsse  der  Milieu- 
suggestion kaum  hervorwagt,  das  ist  gerade  die  eigentliche 
Volksmeinung,  die  wirkliche  öffentliche  Meinung. 

Ich  glaube  nicht,  dass  das  schwer  nachzuweisen  ist.  Wenn 
wir  fragen,  welches  ist  denn  wohl  die  Grundstimmung  des 
deutschen  Volkes  mit  Bezug  auf  die  auswärtige  Politik,  so  dür- 
fen wir  unbedenklich  sagen:  Das  deutsche  Volk  will,  ebenso 
wie  seine  Regierung,  eine  Friedenspolitik.  Es  will  keinen  vom 
Zaun  gebrochenen  Krieg.  Das  deutsche  Volk  ist  sich  seiner 
Kraft  bewusst  und  es  wird  seine  Ehre  im  Ernstfall  auch  mit 
dem  Schwerte  zu  wahren  wissen  Aber  daneben  ist  es  fried- 
liebend und  will  nichts  davon  wissen,  dass  man  ohne  jede  Not 
einen  Krieg  bloss  um  des  Krieges  willen  heraufbeschwört,  einen 
Krieg,  der  auch  den  Sieger  in  das  grösste  Elend  stürzen  und 
niemandem  Nutzen  bringen  würde.  Und  das  deutsche  Volk  will 
auch  mit  seinen  Nachbarn,  soviel  an  ihm  liegt,  in  Freundschaft 
leben.  Es  will  keine  Feindschaften  ä  tout  prix  pflegen.  Und 
es  bringt  anderen  Völkern  dieselbe  Achtung  entgegen,  die  es 
von  ihnen  für  sich  in  Anspruch  nimmt. 

Mit  dieser  Auffassung  des  deutschen  Volkes  steht  die  Politik  der 
deutschen  Regierung  glücklicherweise  durchaus  im  Einklang.  Die 
deutsche  Politik  der  letzten  40  Jahre  darf  in  Wahrheit  eine  Friedens- 


poiitik  genannt  werden.  Von  seiten  des  deutschen  Kaisers  ist  dlesef 
redliche  Friedenswille  des  öfteren  ausdrückhch  betont  worden. 

Dasselbe  wie  von  Deutschland  dürfen  wir  nun  aber  auch  von 
anderen  Ländern  sagen.  Das  französische  und  das  englische 
Volk  sind  in  ihrer  grossen  Mehrheit  ebenso  friedlich  gesinnt 
wie  das  deutsche,  und  ihre  Regierungen  haben  denselben  Wunsch 
wie  die  deutsche,  dass  der  Frieden  erhalten  bleibe.  Wenn  man 
noch  hinzunimmt,  dass  ein  wirklicher  Grund  zu  einem  Kriege 
zwischen  diesen  Mächten  gar  nicht  vorhanden  ist  und  dass  sie 
unendlich  mehr  gemeinsame  als  divergierende  Interessen  haben, 
so  muss  man  sich  in  der  Tat  wundern,  wenn  trotz  alledem  eine 
solche  Gewitterschwüle  in  der  politischen  Atmosphäre  liegt  und 
so  viele  Leute  von  einem  Kriege  zwischen  diesen  Mächten  reden. 
Ein  Krieg,  zu  dem  kein  Grund  vorliegt  und  den  keiner  der  Be- 
teiligten will,  das  wäre  denn  doch  eine  Ironie  der  Weltgeschichte, 
wie  sie  ärger  nicht  erdacht  werden  kann. 

Aber  welches  ist  denn  nun  der  Grund  aller  dieser  Befürchtungen? 
Doch  lediglich  der,  dass  man  mit  etwas  Unberechenbarem  zu  rech- 
nen hat.  Dieses  Unberechenbare  aber,  das  sind  heute  weniger  die 
beteiligten  Regierungen,  als  eben  vor  allem  die  Stimmungen,  die  in 
gewissen  Teilen  der  Bevölkerung  künstlich  gemacht  werden  und  die 
dann  mit  dem  Ansprüche  auftreten,  als  öffentliche  Meinung  zu  gelten. 
Der  Reichskanzler  hat  im  vergangenen  Jahr  mit  Recht  betont, 
die  Gefahr  tür  den  Frieden  liege  weniger  bei  den  Regierungen, 
als  bei  gewissen  Minderheiten.  Gewiss  sind  es  Minderheiten,  um 
die  es  sich  dabei  handelt,  ja  es  sind,  wenn  man  die  Gesamtheit 
der  Bevölkerung  in  Betracht  zieht,  sogar  verschwindende  Minder- 
heiten. Aber  was  ihnen  an  Zahl  abgeht,  das  ersetzen  diese  Kreise 
dadurch,  dass  sie  mit  mehr  Lärm  auftreten  und  eine  Suggestion 
auf  die  übrige  Bevölkerung  auszuüben  suchen.  Denn  sie  haben 
den  Vorteil  voraus,  dass  sie  organisiert  sind,  während  die  übrige 
Bevölkerung  nicht  organisiert  ist,  so  dass  die  wahre  öffentliche 
Meinung,  der  eigentliche  Volkswille,  häufig  entweder  gar  nicht 
oder  doch  nur  mangelhaft  zum  Ausdruck  kommt. 

Zieht  man  die  Politik  der  Regierungen  und  die  wirkliche 
Volksstimmung  in  Betracht,  so  wird  man  also  zu  dem  Ergebnis 
kommen,  dass  die  Kriegsgefahr  der  Gegenwart  nicht  in  erster 
Linie  von  diesen  droht,  sondern  dass  sie  vor  allem  in  dem 
Treiben  der  Chauvinisten  zu  erblicken  ist,  darin,  dass  eine  von 
diesen  künstlich  gemachte  anscheinende  öffentliche  Meinung  ein- 
mal die  Oberhand  gewinnen  könnte.  Was  die  Politik  der  Re- 
gierungen anlangt,  so  möchte  ich  in  dieser  Beziehung  nur  an  ein 
Wort  erinnern,  das  Graf  Berchtold  im  September  19 12  ge- 
sprochen hat :   dass  gegenwärtig  kein  Grund  vorliege,  eine  Span- 

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nung  zwischen  den  beiden  Mächtegruppen  zu  besorgen  und  däss 
ein  Zusammenwirken  aller  Grossmächte  in  der  gleichen,  auf  die 
Erhaltung  des  Friedens  abzielenden  Richtung  ohne  Rücksicht  auf 
ihre  Zugehörigkeit  zu  einem  der  beiden  europäischen  Allianz- 
systeme möglich  sei.  Auch  Sir  Edward  Grey  hat  ja  im  Früh- 
jahr betont:  die  Teilung  der  europäischen  Mächte  in  zwei 
Gruppen  müsse  keineswegs  zur  nötigen  Folge  haben,  dass  sich 
dieselben  in  zwei  entgegengesetzten  diplomatischen  Lagern  gegen- 
überstehen. Angesichts  der  jetzigen  Lage  am  Balkan  darf  man  daher 
sehr  wohl  auf  ein  Zusammenwirken  der  sechs  Grossmächte  rechnen. 

Ich  halte,  wie  ich  schon  anfangs  erklärt  habe,  unser  heuti- 
ges politisches  System  für  nichts  weniger  als  vollkommen  und 
ich  gestehe  sogar  gern,  dass  ich  es  für  viel  erspriesslicher  hal- 
ten würde,  wenn  wir  in  Europa  statt  zwei  Mächtegruppen 
nur  eine  hätten,  wenn  Dreibund  und  Triple -Entente  sich 
überhaupt  zu  einer  gemeinsamen  Wahrung  der  gemeinsamen 
europäischen  Interessen  vereinigen  könnten.  Und  ich  gestehe 
auch,  dass  mir  persönlich  ein  Dreibund,  der  aus  Deutschland, 
Frankreich  und  England  bestehen  würde,  viel  lieber  wäre  als 
der  jetzige,  weil  ein  solcher  Dreibund  eine  wirkliche  Friedens- 
garantie wäre  und  es  den  Mächten  erlauben  würde,  nicht  nur 
Macht-,  sondern  auch  Kulturpolitik  zu  treiben.  Das  aber  sind 
vorläufig  fromme  Wünsche.  Worauf  es  heute  ankommt,  das  ist, 
die  heutige  politische  Lage  in  der  richtigen  Beleuchtung  zu 
sehen,  fern  von  übertriebenem  Optimismus,  aber  ebenso  von 
schwarzmalendem  Pessimismus.  Und  da  müssen  wir,  wenigstens 
wenn  wir  den  wirklichen  Willen  der  Völker  und  die  Absichten 
der  Regierungen  in  Betracht  ziehen,  sagen,  dass  zu  dem  vielen 
Gerede  vom  Kriege  häufig  doch  eigentlich  recht  wenig  wirklicher 
Grund  vorliegt  und  dass  die  Trübungen  am  politischen  Horizonte 
doch  vielfach  in  recht  übertriebenem  Lichte  geschildert  werden, 
dank  der  Mache  derjenigen  Kreise  im  In-  und  Auslande,  die 
die  Staatsschifife  gern  auf  den  Krieg  lossteuern  sehen  möchten. 

Diese  mit  dem  Anspruch,  als  öffentliche  Meinung  zu  gelten,  auf- 
tretende Stimmungsmache,  sie  bildet  in  Wahrheit  also  heute  die 
hauptsächlichste  Kriegsgefahr  und  gegen  sie  muss  man  sich 
daher  vor  allem  wenden.  Dass  die  Chauvinisten  eine  solche 
Gefahr  sind,  und  dass  sie  eine  solche  Gefahr  bewusst  sein  wollen, 
das  haben  sie  während  der  Marokkoverhandlungen  ja  bewiesen. 
Wenn  damals  der  Friede  bedroht  erschien,  so  lag  die  Ursache 
dazu  durchaus  ausserhalb  der  eigentlichen  Verhandlungen.  Die 
deutsche  und  die  französische  Regierung  suchten  dabei  zwar 
jede  ihren  Vorteil,  aber  sie  hatten  durchaus  nicht  im  Sinne,  es 
deshalb  zu  einem  Kriege  kommen  zu  lassen.    Die  englische  Ein- 

1 1 


mischung  will  ich  dabei  gewiss  nicht  entschuldigen.  Der  Reichs- 
kanzler hat  damals  für  sie  das  rechte  Wort  gefunden.  Aber  dass 
die  Alldeutschen  sich  berufen  fühlten,  auch  gegen  den  Willen 
des  Kaisers  und  der  Reichsregierung  auf  den  Krieg  hinzuarbeiten, 
das  zeigt,  wessen  man  sich  von  diesen  Kreisen  zu  gewärtigen 
hat.  Der  Staatssekretär  von  Kiderlen -Wächter,  der  später  im 
Reichstage  bestätigt  hat,  dass  er  sich  im  Anfang  der  Alldeutschen 
hatte  bedienen  wollen,  um  für  die  Regierungspläne  Stimmung 
zu  machen,  ist  nachher  die  Geister,  die  er  gerufen  hatte,  nicht 
wieder  los  geworden,  und  er  wird  es  sich  zweimal  überlegen, 
bevor  er  sich  wieder  an  die  Alldeutschen  wendet.  Es  ist  eben 
ein  gefährliches  Ding,  mit  den  Volksleidenschaften  spielen  zu 
wollen. 

Doch  ich  glaube,  mir  weitere  Beispiele  sparen  zu  können. 
Die  Marokkokrise  vor  allem  war  lehrreich  über  die  Maassen,  nicht 
nur  für  die  chauvinistischen  Umtriebe,  sondern  auch  für  die  Leicht- 
gläubigkeit des  Publikums.  Kein  Sensationsgerücht  war  so  un- 
sinnig, dass  es  nicht  ohne  viele  Prüfung  sofort  seine  Gläubigen  ge- 
funden hätte.  An  die  einfachsten  Vorgänge,  die  für  den  Ein- 
geweihten durchaus  natürlich  waren,  konnten  sich  die  törichtsten 
Vermutungen  und  Gerüchte  knüpfen.  Dinge,  die  für  die  be- 
teiligten Diplomaten  absolut  nichts  Beunruhigendes  hatten,  waren 
im  Publikum  Gegenstände  der  grössten  Sorge.  Und  viele  gute 
Vaterlandsfreunde,  die  aber  mehr  mit  dem  Herzen  als  mit  dem 
Verstände  arbeiteten,  haben  sich  kritiklos  zu  Forderungen  hin- 
reissen  lassen,  die  der  Politiker  nur  als  utopische  bezeichnen 
kann.  Viele  gutgesinnte  Männer  glaubten,  patriotisch  zu  handeln, 
wenn  sie  die  phantastischen  Forderungen  der  Alldeutschen  und 
ihrer  Presse  unterstützten.  Mit  Recht  konnte  damals  der  Reichs- 
kanzler sagen :  Um  utopistischer  Eroberungspläne  und  um  Partei- 
zwecke willen  die  nationalen  Leidenschaften  bis  zur  Siedehitze 
bringen,  das  heisst  den  Patriotismus  kompromittieren,  ein  wert- 
volles Gut  verkaufen. 

Doch  was  folgt  nun  aus  alle  dem.?  Welche  Nutzanwendung 
ist  aus  dem  Gesagten  zu  ziehen?  Wir  haben  gesehen,  dass  die 
wahre  Meinung  der  Bevölkerung  über  die  auswärtige  Politik 
sehr  häufig  gar  nicht  oder  nur  ungenügend  zum  Ausdruck  ge- 
langt ist,  und  zwar  vor  allem  deshalb,  weil  es  ihr  an  einer 
Organisation  fehlt.  Diejenigen,  die  das  Kriegsfeuer  zu  schüren 
suchen,  sind  organisiert.  Nicht  aber  organisiert  sind  diejenigen, 
die  lediglich  das  wollen,  was  in  Wirklichkeit  die  öffentliche 
Meinung  ist.  Diese  letzteren  sind  also  offenbar  trotz  ihrer  weit 
grösseren  Zahl  im  Nachteil.  Also  —  so  scheint  man  doch 
folgern  zu  dürfen  —  muss  eben  eine  Organisation  geschaffen  wer- 

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den,  die  dieser  öffentlichen  Meinung  zum  Ausdruck  verhilft,  ja, 
die  noch  mehr  tut,  die  auf  eine  Erziehung  der  öffentlichen  Mei- 
nung in  den  Fragen  der  auswärtigen  Politik  hinarbeitet,  eine  Er- 
ziehung, die  weiteren  Kreisen  zu  einem  selbständigen,  vorurteils- 
freien und  ruhigen  Urteil  in  diesen  Fragen  verhilft,  die  ihr  Ver- 
antwortlichkeitsgefühl stärkt  und  sie  dadurch  immun  macht  gegen- 
über der  Sensationsmache  namentlich  der  nationalistischen  Presse. 

Eine  solche  Organisation  der  öffentlichen  Meinung  darzu- 
stellen, ist  nun  eine  der  Aufgaben,  die  sich  der  Verband  für 
internationale  Verständigung  gestellt  hat.  Wir  wissen  wohl,  es 
gibt  eine  Menge  Leute,  die  unsere  Auffassung  durchaus  teilen, 
die  aber  der  Meinung  sind,  dass  das  alles  ja  doch  nichts  hilft 
und  die  daher  lieber  die  Hände  in  den  Schoss  legen.  Gegen 
diesen  Indifferentismus  und  Skeptizismus  vor  allem  haben  wir 
anzukämpfen.  Gelingt  es  uns,  ihn  zu  besiegen,  dann  haben  wir 
auch  gewonnenes  Spiel.  Denn  in  der  Sache  wissen  wir  uns  mit 
der  Mehrheit  des  deutschen  Volks  eins. 

Friedrich  Curtius  hat  kürzlich  in  der  »Korrespondenz«  unseres 
Verbandes  trefflich  ausgeführt :  Die  Schwierigkeit  der  Aufgabe 
unseres  Verbandes  liege  vor  allem  in  ihrer  Vemünftigkeit.  Für 
eine  einseitige  Idee,  ein  leidenschaftlich  gesteigertes  Verlangen 
sei  die  Propaganda  leicht,  man  könne  sich  starker  Worte  be- 
dienen, und  auf  leicht  erregbare  Stellen  der  menschlichen  Seele 
wirken  und  insofern  sei  sowohl  der  kriegerische  Nationalismus 
wie  der  prinzipielle  Pazifismus  dem  bescheidenen  und  nüchternen 
Programm  unseres  Verbandes  überlegen.  Und  doch  komme  es 
darauf  an,  nicht  einzelne,  sondern  Massen  zu  gewinnen  und  da- 
durch eine  Macht  zu  werden,  mit  der  die  Regierungen  rechnen 
müssen.  Es  müsse  dahin  kommen,  dass  der  Verband  nicht  nach 
Tausenden,  sondern  nach  Hunderttausenden  zähle.  —  Das  ist  voll- 
kommen richtig.  Der  Verband  will  nur,  was  der  weitaus  über- 
wiegende Teil  der  Bevölkerung  auch  will.  Es  kommt  nur  dar- 
auf an,  die  Gleichgültigkeit  der  Massen  oder  vielleicht  richtiger 
deren  Hoffnungslosigkeit  zu  bekämpfen  und  ihnen  zu  zeigen,  wie 
sehr  eine  Organisation  aller  vernünftigen  Vaterlandsfreunde  nottut 
und  dass  sie  auch  sehr  wohl  durchführbar  ist. 

Was  ich  heute  hier  über  die  Uebelstände  in  der  Beeinflussung 
der  öffentlichen  Meinung  ausgeführt  habe,  sollte  mit  dazu  dienen, 
Ihnen  diese  Notwendigkeit  vor  Augen  zu  führen.  Ich  habe  es 
dabei  nach  Möglichkeit  vermieden,  meinen  Worten  einen  polemi- 
schen Anstrich  zu  geben.  Aber  schliesslich  musste  ich  doch 
die  Grenzen  abstecken  und  zeigen,  was  wir  wollen  und  wer  alles 
bei  uns  mitmachen  kann.  Ich  glaube,  es  gibt  heute,  wo  so  viel 
vom  Kriege  geredet  wird,  keine  Organisation,  die  so  notwendig 

13 


wäre  wie  unsere,  und  keine,  die  so  geschaffen  ist,  eine  zahl- 
reiche Gefolgschaft  zu  erhalten.  Ein  Verband,  der  sich  die  Auf- 
gabe stellt,  eine  Organisation  der  öffentlichen  Meinung  zu  schaffen, 
die  breiten  Massen  über  die  auswärtige  Politik  aufzuklären  und 
sie  so  gegen  die  Suggestionen  der  nationalistischen  Mache  zu 
wappnen,  er  müsste  alle  Volkskreise  umfassen  und  mit  Leichtig- 
keit stärker  werden  können,  als  alle  anderen  Organisationen,  da 
das,  was  er  anstrebt,  nicht  nur  vernunftgemäss,  sondern  auch 
im  Interesse  des  gesamten  Vaterlandes,  aller  Volksgenossen  ge- 
legen ist,  ohne  alle  Parteiunterschiede. 

Was  wir  dringend  brauchen,  das  ist  eine  feste  unabhängige 
öffentliche  Meinung,  die  nicht  heute  so  und  morgen  so  denkt, 
die  sich  durch  keinerlei  Machenschaften  beirren  lässt.  Nur  wenn 
wir  eine  solche  öffentliche  Meinung  haben,  ist  es  in  Wahrheit 
ein  Fortschritt,  dass  diese  sich  auch  der  auswärtigen  Politik 
zuwendet.  Mit  Recht  betont  Curtius,  dass,  wenn  der  Weg  der 
Suggestion  das  einzige  wäre,  auf  dem  eine  nationale  Ueberzeu- 
gung  gebildet  werden  könnte,  dass  es  dann  viel  besser  wäre, 
die  öffentliche  Meinung  zu  ignorieren  und  zu  der  Staatsauffas- 
sung Ludwigs  XIV.-  zurückzukehren.  Wir  brauchen  eine  öffent- 
liche Meinung,  die  so  hoch  steht,  dass  die  Suggestionen  nicht 
an  sie  heranreichen,  die  die  wirkliche  Meinung  des  Volkes  zum 
Ausdruck  bringt  und  davon  Zeugnis  ablegt,  dass  das  deutsche 
Volk  über  seiner  Ehre  wacht,  dass  es  aber  dabei  friedliebend 
ist  und  auch  den  Nachbarn  zu  Ehren  kommen  lässt.  Und  diese 
öffentliche  Meinung  muss  stark  werden,  so  stark,  dass  sie  in 
kritischen  Zeiten  auch  eine  Stütze  unserer  auswärtigen  Politik 
bedeuten  kann.  Wenn  unser  Verband  auch  unabhängig  von  den 
Regierungen  sein  muss,  so  könnten  doch  Zeiten  kommen,  in 
denen  die  Leidenschaften  wachgerufen  sind,  wo  man  vielleicht 
froh  sein  wird,  an  uns  appellieren  zu  können.  Sind  wir  einmal 
stark,  dann  braucht  uns  also  um  den  Frieden  nicht  bange  zu 
sein,  wenigstens  da,  wo  ein  Krieg  vermeidbar  erscheint. 

Unser  Verband  ist  aber  im  übrigen  weit  davon  entfernt,  einer 
Verständigung  ä  tout  prix  das  Wort  reden  zu  wollen.  Wir  werden, 
wo  es  nötig  ist,  stets  die  nötige  Reserve  bewahren.  Aber  wir  wol- 
len anderseits  auch  nicht,  dass  man  in  Europa  den  Deutschen  allein 
alle  Schuld  beimesse  an  der  kriegerischen  Atmosphäre  der  Gegen- 
wart. Wir  wollen  den  andern  Völkern  zeigen,  dass  man  mit 
uns  auch  leben  kann,  und  dass  wir  bei  aller  Wahrung  unserer 
Eigenart  doch  auch  Verständnis  für  die  Eigenart  fremder  Nationen 
besitzen  und  andere  auch  zu  ihrem  Recht  kommen  lassen.  Ge- 
rechtigkeit wollen  wir  setzen  an  die  Stelle  der  nationalen 
Selbstbeweihräucherung. 

14 


Und  wenn  wir  gegen  den  Chauvinismus  ankämpfen,  so  er- 
warten und  verlangen  wir  von  unseren  Mitgliedern  andererseits 
keineswegs,  dass  sie  auf  irgendein  pazifistisches  Programm  ein- 
geschworen sind.  Ich  betone  dies,  ohne  den  Herren  von  den 
Friedensgesellschaften  zu  nahe  treten  zu  wollen.  Unser  Pro- 
gramm ist  ein  wesentlich  anderes,  es  hat  keinerlei  pazifistische 
Voraussetzungen.  Wir  befassen  uns  nicht  mit  der  Frage, 
ob  man  den  Krieg  abschaffen  kann,  ja  wir  glauben,  dass  es 
Kriege  geben  kann,  denen  ein  Volk  gar  nicht  ausweichen  darf. 
Nur  suchen  soll  man  den  Krieg  nicht.  Man  soll  die  Völker 
nicht  zu  durchaus  vermeidbaren,  grundlosen  Kriegen  treiben,  die 
dabei  auch  für  den  Sieger  das  Opfer,  das  er  bringt,  auch  nicht 
annähernd  verlohnen  würden.  Wir  sind  auch  der  Meinung,  dass 
in  einer  Aera  des  politischen  Misstrauens,  wie  die  unsrige,  jedes 
Volk  gerüstet  sein  muss.  Was  wir  bekämpfen  möchten,  sind 
nicht  sowohl  die  Rüstungen,  als  vielmehr  das  gegenseitige  Miss- 
trauen, das  zu  diesen  Rüstungen  geführt  hat,  und  das  von  den 
Chauvinisten  in  allen  Ländern  systematisch  geschürt  wird.  Ge- 
lingt uns  unsere  Aufgabe,  die  Volkpsyche,  die  öffentliche  Mei- 
nung zu  erziehen  und  sie  in  das  Verständnis  der  international- 
politischen Probleme  allmählich  einzuführen,  dann  muss  mit  der 
Zeit  auch  dieses  Misstrauen  schwinden  und  dann  wird  sicherlich 
auch  das  heutige  Wettrüsten  eines  Tages  ein  Ende  nehmen. 

Diese  Hoffnung  dürfen  wir  um  so  mehr  hegen,  als  unser 
heutiges  politisches  System  mit  den  zwei  Mächtegruppen  ja 
doch  nur  eine  politische  Tageserscheinung  ist.  Wie  alle  Zeit- 
strömungen wird  auch  dieses  System  einem  andern  Platz  machen. 
Einen  Erfolg  müssen  unsere  Bemühungen  also  unter  allen  Um- 
ständen haben.  Um  so  weniger  dürfen  wir  aber  zu  bequem 
dazu  sein,  um  an  die  Vorarbeiten  für  künftige  bessere  Zeiten 
mit  Hand  anzulegen. 

Die  Arbeit,  die  sich  unser  Verband  zu  leisten  vorgenommen 
hat,  und  die  ich  heute  als  eine  Erziehung  der  öffentlichen  Mei- 
nung in  den  Fragen  der  auswärtigen  Politik  gekennzeichnet 
habe,  erschöpft  sich  nun  aber  keineswegs  etwa  in  einer  Abwehr 
des  Chauvinismus  oder  anderer  politischer  Tageserscheinungen. 
Unser  Programm  ist  vielmehr  ein  eminent  positives.  Jeder,  der 
sich  mit  dem  Wesen  des  modernen  Staates  beschäftigt  hat,  weiss, 
wie  ungemein  mannigfaltig  die  Aufgaben  sind,  die  dieser  Staat 
heute  auf  internationalem  Boden  zu  leisten  hat.  Wer  einen  Ein- 
blick getan  hat  in  das  vielverzweigte  Getriebe  des  Weltverkehrs, 
der  weiss  auch,  wie  zahlreich  und  wie  fein  die  Fäden  sind,  die 
herüber-  und  hinüberlaufen  und  wie  man  sie  nicht  ohne  Not 
und    ohne   Schaden   durchschneiden   kann.     In   diese  modernen 

15 


Hill  HIHI  IUI  III III  lim  IUI  iiiiMMiii  IUI  IUI  Hill  iiiiiiiii 
3  1197  22466  7698 


staatlichen  und  sonstigen  Aufgaben  möchten  wir  unsere  Mit- 
bürger einführen  und  ihnen  ein  Bild  geben  von  dem,  was  da 
geleistet  wird  und  noch  zu  leisten  ist.  Diese  Aufgaben  liegen 
auf  den  verschiedensten  Gebieten.  Ich  will  hier  nur  an  die  zahl- 
reichen völkerrechtlichen  Aufgaben  erinnern,  die  unser  Zeitalter 
zu  lösen  unternommen  hat,  und  die  in  den  Haager  Friedens- 
konferenzen ihren  offiziellen  Mittelpunkt  erhalten  haben.  Eine 
Aufklärung  weiterer  Kreise  über  alle  diese  unser  Zeitalter  be- 
schäftigenden Probleme  tut  dringend  not.  Sie  ist  das  beste 
Mittel,  der  Bevölkerung  zu  zeigen,  wie  fest  die  Bande  sind,  die 
sich  heute  von  Staat  zu  Staat,  von  Land  zu  Land,  von  Volk  zu 
Volk  schlingen  und  wie  leichtsinnig  diejenigen  handeln,  die  gegen 
diese  moderne  kulturelle  Entwicklung  ankämpfen,  indem  sie 
einen  Krieg  vom  Zaune  brechen  möchten.  Je  mehr  die  Er- 
kenntnis hievon  in  den  Völkern  wächst,  desto  leichter  wird 
es  sein,  den  heute  sich  wieder  in  allen  Ländern  breitmachen- 
den Chauvinismus  in  seine  Schranken  zurückzuweisen,  desto 
eher  wird  man  zu  einer  internationalen  Verständigung  gelangen. 

Die  Arbeit  für  dieses  Ziel  muss  aber  natürlich  in  allen 
Ländern  in  gleicher  Weise  erfolgen.  Wir  laufen  niemandem 
nach  und  verlangen  von  niemandem,  dass  er  uns  nachläuft.  Wohl 
aber  arbeiten  gleichartige  Verbände  wie  der  unsere  heute  bereits 
in  verschiedenen  Ländern  für  unsere  Sache.  Ihre  Zusammen- 
arbeit soll  einmal  das  schöne  Ziel  ergeben:  Die  internationale 
Verständigung. 

Für  dieses  einfache  und  vernünftige  Ziel  zu  arbeiten,  das 
darf  man  heute  als  eine  wahrhaft  patriotische  Aufgabe  bezeichnen. 
Wir  tun  nicht  so,  als  ob  wir  die  alleinigen  Vaterlandsfreunde 
wären.  Aber  wir  wissen,  dass  unser  Streben  dem  Vaterlande 
zum  Segen  gereichen  muss  und  in  dieser  Ueberzeugung  geben 
wir  dem  Wunsche  Ausdruck,  dass  alle  ehrlichen  und  besonnenen 
Vaterlandsfreunde  sich  um  unser  Banner  scharen  mögen! 


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