Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http : //books . google . com/|
I *
t
r-
\
' 1
^
I i
I
I
IV Ernst Mach.
den Fachmännern geschätzt wird, könnte man nach manchen
Anzeichen wohl bezweifeln. Die französische Ausgabe ist
sogar mit einer Einleitung versehen worden, der man kaum
eine andere Absicht zuschreiben kann, als die, die Wirkung
des Buches abzuschwächen. Seinem eigentlichen Publikum,
den philosophisch und naturwissenschaftlich gebildeten
deutschen Lesern, ist das Buch wohl kaum bekannt ge-
worden. Es hat mich deshalb ungemein gefreut, dass Pro-
fessor Dr. Kleinpeter die eben ■ nicht leichte Arbeit "der
Übersetzung und die Firma J. A. Barth den Verlag über-
nommen hat.
Doch zuvor einige Worte über den Mann I Auf meine
Bitte sandte mir Stallo in einem Brief vom ii. August 1899
folgende biographische Skizze:
„Ich bin am 16. März 1823 zu Sierhausen im Olden-
burgischen geboren. Mein Vater war ein armer Landschul-
lehrer, der nicht einmal die Mittel besass, mich auf ein
Gymnasium zu schicken. Er unterrichtete mich daher selbst
in der Mathematik und Hess mir von zwei Geistlichen eines
benachbarten Ortes (die beide Schüler meines Grossvaters
gewesen waren), Unterricht in den alten Sprachen geben.
Da ich keine Aussicht hatte, eine Universität beziehen zu
können, beschloss ich in meinem 17. Jahre, nach Amerika
auszuwandern. Nicht lange nach meiner Ankunft in Cincin-
nati kamen französische und belgische Jesuiten dahin, um
ein seit mehreren Jahren bestehendes Lyceum, das ,Athenä-
um', in ein sogenanntes College umzuwandeln. Sie suchten
einen Lehrer der deutschen Sprache, und ich meldete mich
mit dem Anerbieten, den deutschen Unterricht zu über-
nehmen, wenn mir Gelegenheit geboten würde, meine Studien
besonders in der Mathematik und im Griechischen fortzu-
setzen. So war ich denn von 1840 bis 1844 ^^b Schüler,
halb Lehrer an dem neuen Institut, an dem ich in den
beiden letzten Jahren statt der deutschen Sprache besonders
Vorwort zur detUschen Ausgabe. V
Mathematik lehrte. Im Herbst 1 844 wurde ich als Lehrer
der Mathematik und Physik an das St. Johns Colleg« in
New-York berufen, wo ich nach drei Jahren auf den Rat
eines Freundes den Beschluss fasste, Jurist zu werden. Zu
diesem Zweck besuchte ich im Winter 1847 eine sogenannte
Law-School, setzte dann meine juridischen Studien auf dem
Bureau eines alten Advokaten fort, und machte schon Ende
1848 mein Examen. Nach vier Jahren wurde ich vom Gou-
verneur des Staates als Richter des Common Pleas Ge-
richtes in Cincinnati ernannt, und im Herbst 1852 vom
Volke flir diese Stelle gewählt, die ich indes 1855 vor
Ablauf meines Amtstermins niederlegte, um mich von neuem
der juristischen Praxis zu widmen, der ich dann bis zum
Jahre 1885 ohne Unterbrechung obgelegen habe. Im letzt-
genannten Jahre schickte mich der Präsident Cleveland
als Gesandten der Vereinigten Staaten nach Rom. Im
Jahre 1889 kamen die „Republikaner** wieder ans Ruder
und damit hatte meine Mission ein Ende. Um aber
nicht von neuem Juristerei treiben zu müssen, zog ich
nach Florenz und werde auch wohl hier meine Tage be-
schliessen.'*
Wenige Monate nachdem Stallo diese Zeilen ge-
schrieben hatte, machte eine kurze Krankheit seinem Leben
ein Ende. Er starb am 6. Januar 1900 mit Hinterlassung
einer schwer leidenden Witwe und zweier Kinder, des Fräu-
leins HuLDA Stallo in Florenz imd des Herrn Edmund
K. Stallo, Advokaten in Cincinnati. Ausführlichere bio-
graphische Daten finden sich in dem Buche des mit Stallo
befreundeten Ex-Gouverneurs Gustav Körner: „The Ger-
naan Element in America", und eine vortreffliche Charakte*
ristik gibt Th; J. Mc. Cormack in seinem Artikel John
Bernard Stallo, American Citizen, Jurist, and Philosopher
(The Open Court, May 1900). Schätzen die Amerikaner
Stallo als einen ihrer ausgezeichnetsten Bürger, so freuen
i
,)
VI Ernst Mach,
wir uns, ihn zugleich als einen der edelsten Söhne deutschen
Stammes kennen zu lernen.
Das vorliegende Buch ist nicht das einzige, welches
Stallo publiziert hat. Den grössten Leserkreis unter den
Deutsch -Amerikanern möchten wohl die „Abhandlungen,
Reden und Briefe" gefunden haben, welche zu New-York
bei E. Steiger (1893) in einem stattlichen Bande erschienen
sind. Hier lernt man nun alle Seiten Stallo's kennen.
Überall zeigt sich grosse allgemeine, historische und philo-
sophische Bildung. Tiefer historischer und politischer Blick,
scharfe psychologische Charakteristik der Personen, Völker
und Racen offenbaren sich in den Essays über Jefferson,
Humboldt, über das Negerstimmrecht. Die Art, wie Stallo
in dem Artikel über „das Bibellesen in den Staatsschulen"
gegenüber den Protestanten far die Rechte der Katholiken,
der Juden und der Ungläubigen eintritt, geben Zeugnis
von seinem edlen religiösen Freisinn, von seiner Begeisterung
für Gewissens- und Gedankenfreiheit. Der feine schalk-
hafte Humor, der sich auch mit philosophischer Gedanken-
tiefe verbinden darf, blickt in seinen Schriften oft hervor,
so namentlich in den Versuchen über „die englische Sprache"
und über den „Materialismus". In den bemerkenswerten
Sängerfestreden gibt er seiner Hoffnung auf die Zukunft
Amerikas, und seinem Glauben an die Bedeutung des
deutschen Kulturelementes für dieselbe, freudigen Ausdruck,
wobei seine Rede zu einem Strom von mächtiger Gewalt
anschwillt.
Der Inhalt dieses Buches ist zu reich, um in einem
Vorwort gewürdigt zu werden. Es sei mir jedoch erlaubt,
einige Stellen wörtlich anzuführen.
„Was auch aus Amerika werden möge: die Schicksale
der südamerikanischen Staaten belehren uns, dass die Ge-
schichte der neuen Welt nicht an das Mittelalter, sondern
an die letzten Jahrhunderte anknüpft, und dass zur Lösung
Voncort zur deutschen Ausgabe. VH
des Problems, mit welchem die Völker erst in der neueren
Zeit mit Bewusstsein gerungen, hier ein entscheidender
Versuch gemacht werden wird. So gewinnt denn die Frage
nach dem künftigen Verlauf des deutschen Lebens in den
Vereinigten Staaten die Form: sind die Deutschen kraft
ihrer historischen Begabung berufen, zu dem hier erstehenden
Gebäude der Kultur einen notwendigen Baustein zu liefern,
wenn auch nicht Grundstein zu werden — sind sie bestimmt,
in dem hier von freien Menschen aufzuftihrendem Chor als
wesendicher Ton, wenn auch nicht als Dominante, sich ver-
nehmbar zu machen?" S. 155. — „Aber im grossen und
allgemeinen ist es nicht zu verkennen, dass die Kulturbe-
Strebongen der Deutschen mehr nach innen, die der Eng-
länder nach aussen gerichtet sind." S. 162. — „Man pflegt
auf die sogenannten Freiheitskriege zu Anfang des gegen-
wärtigen Jahrhunderts als auf eine grosse nationale That
hinzuweisen; allein am Ende dieser Kriege hatte Deutsch-
land 34 Fürsten, 34 Staaten, 34 Kerker für still duldende
und stumm denkende Menschen. Wenn man die innere
Kulturarbeit der Deutschen mit ihrer äusseren Geschichte
vergleicht, so wird alle Logik, die man bei der Betrachtung
der Lebensverläufe anderer Völker anzuwenden pflegt, zu
Schanden. Für die ganze deutsche Geschichte ist die
Thatsache charakteristisch, dass mitten unter den Gräueln
des dreissigjähri'gen Krieges ein Ratsherr und späterer
Bürgermeister der Stadt Magdeburg, in der an einem
Schreckenstage, am 30. Mai 1631, dreissigtausend Männer,
Frauen und Kinder gemordet wurden, sich mit der Er-
findung der Luftpumpe beschäftigte. Gegen Ende des
letzten Jahrhunderts verkaufen deutsche Fürsten vor den
Augen des deutschen Volkes Tausende seiner Söhne an eine
fremde Macht als Kanonenfutter im Kampfe gegen die
Freiheit; das ist im Beginn der sogenannten klassischen
Periode, wo Goethe, Schiller, Wieland leben, wo Kant
vm . Ernst Mach.
seine Kritik der reinen Vernunft schreibt, wo Haydn und
Mozart die Flut der Töne aus ungeahnten Tiefen des
deutschen Gemütes hervorquellen lassen; die Augen der
Deutschen strahlen im Glänze des neuen Gedankenlichts,
aber für die vorüberziehenden Hessen und Braunschweiger
haben sie keinen Blick ; sie überhören keinen Ton aus den
neuen Oratorien und Symphonien, aber für den Chor der
wehklagenden Frauen, denen die rohe Gewalt eben ihre
Söhne und Gatten entreisst, haben sie kein Ohr." S. 163
bis 164. — „Amerika ist meines Erachtens das Land der
Freiheit in viel höherem Sinne, ^Is in dem, dass es nicht
das Joch eines fremden Gewalthabers trägt, und dass keiner
seiner Bewohner sich den Knecht eines Herrn oder den
Herrn eines Knechtes nennt. Es gibt eine Knechtschaft,
in der wir gefesselt sind, nicht durch äussere Bande, sondern
durch den Zwang unserer eigenen Vergangenheit, — in der
wir uns beschränkt fühlen durch die yns von allen Seiten
her umengenden Formen der eigenen Entwicklung und
gebannt sind durch den Zauber veralteter Bedingungen
unseres physischen und geistigen Werdens. Es gibt eine
Befangenheit des Geistes und eine Sklaverei der Seele, die
dem Menschen schwerere Frohndienste auferlegt, als die
Zwingherrschaft eines Fürsten. Diese Knechtschaft zu zer-
stören, diesen Bann zu lösen, ist die grösste der Aufgaben,
denen wir auf dem Boden der neuen ' Welt gegenüber
stehen. Diese Aufgabe wird zum grossen Teil dem deutschen
Gedanken zufallen, der sich aber vergebens bemühen wird,
sie zu bewältigen, wenn er nicht die Macht des deutschen
Gemütes zu Hilfe nimmt. Der Verstand hat noch nie die
Welt erlöst, ausgenommen, wenn er auftrat im Bunde mit
dem Herzen. Ich halte daher die Pflege der Kunst, be-
sonders der Musik, durch welche ja die Herrschaft des
Gefühlslebens in edelster Form zur Geltung kommt, für
Vorwort zur deutschen Ausgabe, IX
mindestens eben so wichtig, wie die Pflege der Wissen-
schaft" S. 172.^)
Welch edle Freude Stallo über den nationalen Auf-
schwung Deutschlands empfand, davon geben seine in der
Turnhalle zu Cincinnati am 7. Dezember 1870 gesprochenen y
Worte Zeugnis. So objektiv, so frei von jeder Überhebimg,
von Unterschätzung des Besiegten, so frei von jedem un-
edlen Rachegefühl, habe ich nur noch R. Virchow, fast
ein Jahr später, auf der Naturforscherversammlung zu Rostock
sprechen gehört.
Noch viel Wichtiges über allgemeine und amerikanische
Fragen findet sich in den „Reden, Abhandlungen und
Briefen". Möchten dieselben auch von den Deutschen
Europas gelesen werden 1 Möchten sich diese daran er*
freuen, zu sehen, wie ein Spross deutschen Stammes sich
in freier Luft entwickelt hat!
Vermöge seiner eigentümlichen Lebensverhältnisse musste
Stallo fast ganz Autodidakt sein; er Hess sich bei seinen
naturwissenschaftlichen Studien nur durch die Schriften der
^) Um Stallo keine Ungerechtigkeit gegen andere Völker zu
imputieren, müssen wir beachten, dass seine Worte unter gesteigertem
Heimatsgefühl, fem von der Heimat, bei einem deutschen Fest ge-
sprochen wurden. Er würde wohl unbedenklich zugegeben haben,
dass der Geist eines Galilei, Newton, Lagrange keinen Vergleich
zu scheuen hat. Den Männern, welche die französische Revolution
vorbereitet und ins Werk gesetzt haben, hätte er grosse Gemütstiefe
nicht abgesprochen, ebensowenig wie seinen anglo-amerikanischen
Mitbürgern, welche idealen menschlichen Aufgaben beispiellos grosse
Opfer bringen. Anderseits würde er die lieben Fürsten, die gleich
Xegerhäuptlingen ihre Unterthanen verkauften, kaum zu den gemüt-
vollen Deutschen gezählt haben. Die Grösse der individuellen
Variationen innerhalb eines Volkes setzt eben jeden Vergleich der
Völker nach Einzelerscheinungen gar zu sehr der Gefahr des
Zufalls aus. Zur Gewinnung brauchbarer Mittelwerte von Verstand
und Gemüt eines Volkes fehlt aber ausser der Klarheit der Mass-
begriffe derzeit noch vor allem die zuverlässige statistische Methode.
4-
Ernst Mach,
grossen Forscher alter und neuer Zeit leiten. Ohne persön»
liehe Führung eines Lehrers, war er darauf angewiesen,
seine Zweifel durch stilles anhaltendes Nachdenken zu lösen.
So gewann er die Eigenartigkeit und Selbständigkeit, welcher
der orthodoxe Jünger der modernen physikalischen Schule
fast befremdet und betroffen gegenüber steht. Die „Concepts",
die im November 1881 in erster Auflage erschienen, sind
eine späte aber reife Frucht seines Denkens. Stallo hatte
damals schon das 58. Jahr überschritten. Die Arbeiten aber,
durch welche die Entwicklung der in den „Concepts" ge-
botenen Einsichten vorbereitet wurden, reichen viele Jahre
zurück. Spuren derselben finden sich schon in dem noch
ganz in I^GEL^schen Bahnen sich bewegenden Buche: ^^
„General Principles of the Philosophy of Nature", welches
Stallo 1848 zu Boston publizierte, als er eben die Lehr-
stellung am St. Johns College aufgegeben hatte. Bezeichnet
auch Stallo selbst später diese Arbeit als eine Jugendver-
irrung, so war sie doch für seine Entwicklung gewiss nicht
gleichgiltig. Die Erfahrung, dass man mit blossen Abstrak-
tionen und logischer Ordnung, ohne greifbare Bausteine,
keinen wirklichen soliden Bau ausführen kann, möchte für
ihn nicht ohne Folgen geblieben sein, und dürfte seinen
Blick für die metaphysisch-spekulativen Schwächen der ver-
meintlich ganz auf positiven Grundlagen ruhenden modernen
Physik sehr geschärft haben. Mehrere Stellen des vor-
liegenden Buches, namentlich die Äusserungen über Hegel
(S. XVIII, 159, 160) sprechen für diese Auffassung. —
Deutlicher treten Stallo's selbsterworbene Ansichten schon
hervor in den Artikeln über „Materialismus** (i^SS) ^^^^
„die Naturwissenschaft und ihre Grundlagen" (1865) —
beide abgedruckt in „Reden, Abhandlungen" — sowie in
seinen Aufsätzen von 1873 und 1874 (The Populär Science
Monthly, New- York).
Durch seine pliiio soph isdien tmd histörisr^hen Studien
Vorwort xur deutschen Ausgabe, XI
war Stallo in die Lage gesetzt, in den gegenwärtig ver-
breiteten physikalischen Ansichten Züge und Elemente der
Anschauungen vergangener Zeiten zu erkennen, welche die
modernen Physiker im allgemeinen wohl für längst über-
wunden halten, und welche sie in unverhüllter Form kaxim
als die ihrigen anericennen würden. Er spricht sich hierüber
(in den Reden, Abhandlungen u. s. w.) folgendermassen aus :
„Denn die Erkenntnis jedes Zeitalters hat die Er-
kenntnis aller früheren Zeitalter in zweifacher Weise zur
Voraussetzung: einmal, indem der Weg zu jeder Wahrheit
über eine Reihe früher erkannter Wahrheiten führt, indem
die Höhe jeder Erkenntnis nur auf der Leiter anderer Er-
kenntnisse erklommen werden kann, indem jede ins Uni-
versum blickende Generation auf den Schultern der ihr
vorhergehenden steht; dann aber auch, indem jedes Zeit-
alter dem nachfolgenden seine Erkenntnis nicht nur als
Erkenntnis, sondern auch als Anlage und Fähigkeit zu
höherer Erkenntnis vererbt. Mit anderen Worten: jede
spätere Generation hat fiir ihre Geistesblicke nicht nur einen
höheren Standpunkt und einen weiteren Horizont, sondern
auch ein helleres Auge." S. 107 — 108. — An einer anderen
Stelle heisst es:
„Bündig gefasst wird also die Entwicklung der Er-
kenntnis bedingt:
L durch die Weite des Horizonts an dem jedesmaligen
Standorte der Kultur und die Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungen innerhalb dieses Horizonts — geographisches
Moment;
n. durch innere, unbewusste Überlieferung der Er-
kenntnis ;
1. in der Organisation, indem die Thätigkeit sich in
Anlage, das Denken in Geist verwandelt — ethnolo-
gisches und psychologisches Moment;
2. in der Sprache die, wie wir später sehen werden,
Xn Ernst Mach.
immer eine ganze Philosophie enthält, welche denen, die
sich der Sprache bedienen, wohl zu Gute, abier selten zum
Bewusstsein kommt — sprachliches Moment;
III. durch bewusste Überlieferung in religiösen Vor-
stellungen, philosophischen Begriffen und wissenschaftlichen
Xenntnissen — kulturgeschichtliches Moment/'
S. I20.
Indem' Stallo die moderne Physik unter Leitung dieser
Gesichtspunkte durchforschte, musste er die scholastisch-
metaphysischen Elemente erschauen, welche dieselbe überall
durchsetzen. 'Die allmähliche gänzliche Befreiung der Wissen-
schaft von dieser tiberlieferten, oft primitiv-barbarischen
Denkweise erscheint nach dieser Erkenntnis nur als eine not-
wendige Consequenz der Weiterentwickelung, Verfestigung
und kritischen Klärung der Physik. Nicht in allen Punkten
kann ich mich Stallo vollkommen anschliessend so kann
ich an dessen allseitiger scharfer Opposition gegen die
sogenannten metageometrischen Untersuchungen nicht teil-
nehmen. Aber in dem Streben „to eliminate from science
the latent metaphysical Clements" stimme ich mit ihm voll-
ständig überein, und seine Arbeiten bieten mir eine wert-
volle und willkommene Ergänzung der meinigen. Als wich-
tigere Punkte der Übereinstimmung möchte ich noch be-
sonders hervorheben die Abweisung der mechanisch-ato-
mistischen Theorie, nicht als Hilfsmittel der physikalischen
Forschung und Darstellung, sondern als allgemeine
Grundlage der Physik und als Welta.nsicht. Ge-
meinsam ist ferner die Auffassung physikalischer Begriffe,
wie Masse, Kraft u. s. w. nicht als besonderer Realitäten,
sondern als blosser Relationen, Beziehungen gewisser Elemente
der Erscheinungen zu anderen Elementen. Durch die An-
nahme der Relativität aller physikalischen Eigenschaften
und Bestimmungen, darunter der räumlichen und zeitlichen,
ergiebt sich endlich notwendig auch die Übereinstimmung
Vorwort zur deutscJien Aufgabe. xni
in Abweisung aller Aussagen über das Weltall. Meine
Schriften wenden sich, wie dies durch meine Erziehung,
meine Anlage und meinen Beruf bedingt ist, an jene Phy-
siker, welche der logischen Klärung und philosophischen
Vertiefung ihrer Wissenschaft nicht abgeneigt sind. Dem
entsprechend suche ich die wissenschaftlichen Mängel und
Inkonsequenzen zunächst im Einzelnen auf, um von hier
aus allgemeinere Gesichtspunkte zu gewinnen. Stallo hin-
gegen schlägt den umgekehrten Weg ein. Von sehr all-
gemeinen Betrachtungen ausgehend wendet er die gefundenen
Sätze auf die Physik an. Er spricht vorzugsweise zu den
naturwissenschaftlich gebildeten Philosophen. Beide Wege
führen fast immer zu übereinstimmenden Ansichten. Ich
kann hier nur wiederholen, was ich schon anderwärts ge-
sagt habe : Es wäre mir, als ich um die Mitte der sechziger
Jahre meine kritischen Arbeiten begann, sehr ermutigend
und förderlich gewesen, von den verwandten Bemühungen
eines Genossen wie Stallo Kenntnis zu haben.
Das Buch selbst, dem ich nun den besten Erfolg
wünsche, mag das weitere sagen. Der SxALLp'sche Text
wurde überall aufrecht erhalten. Derselbe ist überall inter-
essant und belehrend, auch an den wenigen Stellen, wo
er durch die Entwicklung der Wissenschaft überholt sein
möchte. Durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn
Verlegers konnte dem Buch ein Porträt Stallo's beigegeben
werden.
Wien im Juni 1901.
£. Mach.
\
Vorwort des Verfassers..
Der Zweck des vorliegenden Werkes ist nicht der,'
einen Beitrag zur Physik oder gar zur Metaphysik zu liefern,
sondern der eines solchen zur Theorie unserer Erkenntnis.
Seinen Inhalt bildet das Ergebnis einer einigermassen
sorgfaltigen Untersuchung des wahren Verhältnisses der
physikalischen Wissenschaften zum allgemeinen Fortschritte
menschlichen Wissens. Die allgemeine Anschauung der
zeitgenössischen Physiker geht dahin, dass zu jener Zeit,
wo sich der menschliche Geist von den antik-mittelalter-
lichen Überlieferungen über die Erscheinungen der Natur
und deren Bedeutung ab wandte und statt dessen die Auf-
einanderfolge und Verknüpfung derselben zu betrachten be-
gann, wie sich dieselbe durch Beobachtung und Experimente
ergibt, ein vollständiger Bruch in der Stetigkeit der Ent-
wicklung menschlichen Wissens eingetreten sei, und von
da ab die Aufrichtung jenes Baues, der in Ermangelung
eines besseren Wortes noch immer mit dem Namen „Phi-
losophie" bezeichnet werden mag, auf ganz andern Grund-
lagen erfolgt sei, als es jene waren, die ihn vor den Tagen
Galileis und Bacon's zu stützen hatten. Nach dieser An-
sicht wäre Bacon's Forderung (in der Einleitung zu seinem
Novum Organum), dass „die gesamte Geistesarbeit von
neuem zu beginnen habe" — ut opus mentis Universum
de integro resumatur — vollständig erfüllt worden und
Newton's Warnung an die Physiker, „sich vor der Meta*
physik zu hüten" — to beware of metaphysics — wirklich
beachtet worden. Ganz allgemein geht der Glaube dahin,
dass die moderne physikalische Wissenschaft sich nicht nur
den Nebelregionen metaphysischer Spekulation entrungen
Vorwort des Verfassers. XV
und deren Methoden verlassen, sondern auch sich von der
Kontrolle ihrer Grundvoraussetzungen freigemacht habe.
Meine Überzeugung ist es nun, dass dieser Glaube
den Thatsachen nicht völlig entspricht und dass die über-
handnehmenden falschen Begriffe über die logisch-psycho-
logischen Voraussetzungen der Wissenschaft eine Quelle von
Irrtümern bilden, deren Einwirkung auf den Charakter und
die Richtung moderner Gedankenbildung von Tag zu Tag
offenkundiger wird. Die seichte Halbweisheit des Materia-
lismus — ich denke hier natürlich nur an seine rein in-
tellektuelle und nicht an die ihm zugeschriebene ethische
Bedeutung — die einige Zeit hindurch sich wie ein Mehl-
thau selbst auf die alten Hochländer des Denkens am
europäischen Kontinent legte und deren Atmosphäre zu
vergiften drohte, erhebt den Anspruch, für ein System blosser
Thatsachen und ScWüsse aus allgemein giltig erkannten
Prinzipien der Physik angesehen zu werden. Es bildet
einen Teil meines Unternehmens, diesem Anspruch* durch
eine Prüfung der Grundbegriffe und Haupttheorien jenes
Zweiges der Naturwissenschaft entgegenzutreten, welcher im
gewissen Sinne Grundlage und Stütze aller übrigen ist, —
der Physik. Es wird sich zugleich, selbst bei einem ganz
flüchtigen Blick auf eines der folgenden Kapitel, heraus-
stellen, dass es in keiner Weise meine Absicht war, in
offener oder versteckter Weise eine Rückkehr zu metaphy-
sischen Methoden und Zielen anzustreben ; sondern dass im
Gegenteil seine ganze Tendenz durchaus darauf gerichtet
ist, aus der Wissenschaft jene versteckten metaphysischen
Hemente zu eliminieren, den Geist experimenteller Forschung
zu stärken und nicht zu unterdrücken, die grossen An-
strengungen, welche die wissenschaftliche Forschung unter-
nimmt, um einen sicheren Halt auf festem empirischen
Boden zu gewinnen, auf welchen die wirklichen Data der
Erfahrung ohne alle öntologischen Vorurteile zurückgeführt
XVI Vorwort des Verfassers,
werden können, zu rechtfertigen und zu beglaubigen, nicht
aber in Misskredit zu bringen. Eine aufmerksame Prüfung
dieser Seiten wird es, denke ich, klar machen, dass diese
Bemühungen stetig durchkreuzt werden durch das Eindringen
alten metaphysischen Geistes in die Denkweise der Männer
der Wissenschaft Sobald einmal diese Thatsache festgestellt
war, lag es an mir, nach Möglichkeit deren Gründen nach-
zuforschen und soweit dies innerhalb der engen mir gesteckten
Grenzen möglich war, deren Folgen zu entwickeln« Zur
VoUführung dieser Aufgabe wiurde es — zumal ich mich
auch an Leser wende, die mit den Gesetzen der Logik
nicht vollkommen vertraut sind — notwendig, eine Ex-
kursion in das Gebiet der Logik zu unternehmen und in
Kürze die Theorie des Begriflfes auseinanderzusetzen. Diese
Erörterung ist notgedrungen ziemlich oberflächlich gehalten ;
doch hofie ich, dass auch jene, welche mit dem Gegen-
stande vertraut sind, dieselbe nicht ohne Interesse finden
werden. Die mechanische Atomtheorie, welche man als
die einzig und allein ausreichende Grundlage der Physik
ansieht, ist ferner verknüpft worden mit einigen bemerkens-
werten Spekulationen über die Natur des Raumes oder hat
vielmehr diese selbst im Gefolge gehabt; und dies zwingt
zu einer zweiten Exkursion in das Gebiet der Mathematik,
um die Giltigkeit jener Doktrin zu prüfen, die unter dem
Namen „Transcendentalgeometrie" mit ihren Hypothesen eines
nicht homaloiden Raumes und eines Raumes von mehr als
drei Dimensionen bekannt geworden ist.
Was hier geboten wird, ist natürlich nicht eine neue
Theorie des Universums, oder ein neues System der Phi-
losophie. Ich habe es nicht unternommen, alle oder einen
Teil der Probleme der Erkenntnistheorie aufzulösen, sondern
nur zu zeigen, dass einige derselben von neuem aufgestellt
werden müssen, um sie zu vernünftigen zu gestalten, wenn
nicht um sie zu vertiefen. Es ist eine alte, wenn auch
Vorwort des Verfassers, XVII
im allzu oft aüsserächt gelassene Wahrheit, dass zähl-
reiche Fragen der Wissenschaft wie der Philosophie unbe-
antwortet bleiben, nicht aus Unzulänglichkeit unserer Kennt-
nisse \' sondern weil deren Aiifstellung auf irrtümliche
Voraussetzungen gegründet würde lind sie nun eine Beant-
wortung in ebenso vernunftwidrigen Ausdrücken erheischen.
Die gänzliche Zerfahrenheit, welche bekanntennassen in
der Erörterung 'sogenannter letzter wissenschaftlicher Fragen
überhand genonunen hat, zeigt zur Genüge, dass eine Be-
stimmung der der wissenschaftlichen Forschung gegenüber
ihrem Gegenstande zukommenden Stellung eines der
dringendsten geistigen Bedürfnisse unserer Zeit ist, so wie
sie auch zu allen Zeiten eine unerlässliche Vorbedingung
wahren geistigen Fortschrittes bedeutet hat. Und solch
eine, wenn auch nur unvollständige Bestimmung bedeutet
an und für sich einen entscheidenden Fortschritt auf dem
Wege unserer berechtigten, auf Erkenntnis gerichteten Be-
strebungen. „Ein Problem richtig vorlegen," sagt Whewell,
„ist kein zu verachtender Schritt zu seiner Lösung." Oder
nm mit Kant zu reden: „Es ist schon ein grosser und
nötiger Beweis der Klugheit imd Einsicht zu wissen, was
man vernünftigerweise fragen solle.'* Oder wie sich Bacon
in seiner kernigen Weise ausdrükt : „Prudens interrogatio
quasi dimidium scientiae.*'
Meine Ansichten bezüglich des gegenwärtigen Standes
der physikalischen Wissenschaft und des Wertes zahlreicher
ihrer geläufigsten theoretischen Ideen stehen ohne Zweifel
im Widerspruch mit den Grundsätzen vieler ausgezeichneter
Männer der Wissenschaft. Dass ich dessenungeachtet ihnen
unerschrocken Ausdruck gegeben habe, wird, ich will . es
hoffen, nicht* als. ein Mangel an . Wertschätzung der Ver-
diensfte jener aufgefasst werden, deren Bemühungen die
moderne Kultur ihr Dasein verdankt und die in deren Inter-
esse thätige. wissenschaftliche Forschung ihre praktischen
XVm Vorwort des Verfassers,
Erfolge. Und wenn dies auch als ein Zeichen von Dünkel
aufgefasst werden sollte, will ich es doch heraussagen, däss
zahlreiche der hier citierten Äusserungen berühmter Männer
die Möglichkeit eines Zweifels an manchen ihrer wissen**
schaftlichen Glaubensartikel hindurchschimmern lassen. Ich
habe im Verlaufe meiner Entwicklungen oft die Gelegenheit
ergriffen^ auf diese Eingebungen anzuspielen, um so :2ü
zeigen, dass meine Gedanken nach all dem bloss die un-
vermeidliche Folge der Bestrebungen der modernen Wüssen-
schaft gewesen sind und somit vielmehr „partus temporis
quam ingenii."
Zum Schlüsse möchte ich die Bemerkung nicht unter-
lassen, dass diese Abhandlung in keinem Sinne als eine
weitere Ausführung der Lehren eines Buches („The Philo*
sophy of Nature", Boston, Crosby & Nichols, 1848) auf-
gefasst werden möchte, das ich vor mehr als einem drittel
Jahrhundert veröffentlicht habe, zu einer Zeit, wo ich mich
noch unter dem Banne der ontologischen Träumereien
Hegel^s befunden habe, jung an Jahren war und :noch
ernstlich an der metaphysischen Krankheit gelitten habe,
welche zu den unvermeidlichen Kinderkrankheiten unseres
Geistes zu gehören scheint. Die auf jene Schrift verwandte
Mühe war übrigens nicht völlig verloren, und es stehen
Dinge in derselben, deren ich mich noch heute nicht -zu
schämen brauche; doch bedaure ich aufrichtig deren Ver-
öffentlichung und hoffe dieselbe bis zu einem gewissen Grade
durch den Inhalt des gegenwärtig vorliegenden Bandes ge-
sühnt zu haben.
Es mag noch bemerkt werden, dass Teile des 7. tmd
II. Kapitels dieses Buches und einige Sätze aus den andern
in der Zeitschrift „The Populär Science Mon\hly" im Ok-
tober, November, Dezember 1873 und' Januar 1874 er-
schienen sind.
J. B. Stallo.
Inhalt.
Seite
Vorwort zur deutschen Ausgabe III
Vorwort des Verfassers XIV
I. Einleitung I
II. Die Grundprinzipien der mechanischen Weltanschauung . lo
IIL Der Satz von der Gleichheit der Ureinheiten der Masse 15
VI. Der Satz von der absoluten Härte und Unelasticität der
Ureinheiten der Masse 26
V. Der Satz von der absoluten Trägheit der Ureinheiten der
Masse 39
VI. Der Satz von der kinetischen Natur aller potentiellen
Energie. — Die Entwicklung der Lehre von der Erhal-
tung der Energie 55
VII. Die Theorie von der atomistischen Konstitution der
Materie 75
VIIL Die kinetische Gastheorie. — Die Bedingungen der Giltig-
keit wissenschaftlicher Hypothesen 97
IX. Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. — Die
Bildung von Begriffen. — Metaphysische Theorieen . . 126
X, Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie. —
Darlegung ihres ersten und zweiten metaphysischen Grund-
fehlers 148
XI. Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie (Fort-
setzung). Darlegung ihres dritten metaphysischen Grund-
fehlers 173
XII. Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie (Fort-
setzimg). Darlegung ihres vierten metaphysischen Grund-
fehlers 186
•
XX Inhalt.
Seite
XIII. Die Theorie von der absoluten Endlichkeit der Welt und
des Raumes. — Die Annahme eines absoluten Maximums
materieller Existenz — ein notwendiges Korrelat der An-
nahme des Atoms als absoluten Minimums. — Ontologie
in der Mathematik. — Die Verdinglichung des Raumes.
— Moderne transcendentale Geometrie. — Nichthomaloider
(sphärischer und pseudosphärischer) Raum 212
XIV. Der metageometrische Raum im Lichte der modernen
Analysis. — Riemann's Abhandlung 259
XV. Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen. Die
Nebularhypothese 283
XVI. Schluss 309
Register 325
I.
Einleitung.
Die moderne physikalische Wissenschaft strebt nach
einer mechanischen Erklärung aller Erscheinungen der Natur,
die sie alle auf Masse und Bewegung zurückzuführen trachtet,
indem sie alle Verschiedenheiten imd Veränderungen als
blosse Unterschiede und Änderungen in der Verteilung und
Ansammlung letzter unveränderlicher Teile im Räume auf-
zufassen sucht. Natürlicherweise hat sich das Übergewicht
der Mechanik zuerst auf jenen Gebieten der Wissenschaft
geltend gemacht, die von der sichtbaren Bewegung sinnen-
fälliger Massen handeln — der Astronomie und der Physik
der Massen-, aber die Anerkennung desselben ist nun in
sämtlichen Naturwissenschaften allgemein geworden; nicht
nur in der Molekularphysik und Chemie, sondern auch auf
solchen Gebieten der wissenschaftlichen Forschung, die sich
mit den Erscheinungen des organischen Lebens befassen.
Man sagt, dass die theoretischen Fortschritte der Natur-
wissenschaften während der drei letzten Jahrhunderte nicht
minder wie die praktischen ein Werk der Mechanik ge-
wesen seien, welche nicht nur die zu erfolgreichen wissen-
schaftlichen Forschungen notwendigen Instrumente geschaffen,
sondern ausserdem noch ihre Prinzipien und Methoden bei-
gesteuert habe. Es ist in der That unzweifelhaft, dass der
Versuch einer beständigen Anwendung mechanischer Prin-
zipien eine neue Epoche in der Geschichte der Wissenschaft
bezeichnet. Die Begründer der modernen Physik sind von
der stillschweigenden, wenn nicht ausdrücklichen Voraus-
StaLLO, Begriffe u. Theorieen. I
2 /. Kapitel.
Setzung ausgegangen, dass jede wirkliche Erklärung einer
Naturerscheinung eine mechanische sein müsse. Dass dies
nicht sofort ausdrücklich hervorgehoben worden ist, findet
seine Erklärung einerseits in der Thatsache, dass sich die
Prinzipien zuerst in Gedanken und in ihrer Wirkungsweise
äussern, ehe sie in bestimmter Form ausgedrückt werden
können, und andererseits in dem Umstände, dass die Wissen-
schaft so lange Zeit gezwungen war, unter dem Schatten
der Metaphysik und Theologie zu blühen. Doch es war nicht
lange nach den Tagen Stevin's, Fermat's und Galilei's, als
die Lehre, dass jeder physikalische Vorgang mechanischer
Natur sei, ausdrücklich formuliert wurde. Noch zu Lebzeiten
Galilei's — ein Jahr vor seinem Tode — verkündete
Descartes, dass alle Veränderungen der Materie, wie alle
Verschiedenheit ihrer Formen von Bewegung abhängig seien. ^)
Und neun Jahre vor dem Erscheinen von Newton's Prinzipien
erklärte Thomas Hobbes, dass „eine Veränderung (nämlich
eine physikalische) notwendigerweise nichts anderes sein
könne, als eine Bewegung der Teile des veränderten
Körpers", ^) gleichzeitig noch hinzufügend, dass „es keine
andere Ursache von Bewegung in einem Körper geben
könne als einen zweiten benachbarten und bewegten
Körper". ^) Noch zuversichtlicher sprach sich Lefbniz
aus, der den in Frage stehenden Satz nicht nur als eine
experimentelle, sondern als eine selbstverständliche Wahrheit
hinstellte. „Alles in der Natur," sagte er, „geht in mecha-
nischer Weise vor sich — ein Prinzip, dessen man sich
diwch die Vernunft allein und niemals durch Experimente,
^) „Omnis materiae variatio sive omnium ejus formarum diver-
sitas pendet a motu.!' Cartes., Princ. Phil. II, 23.
^) „Necesse est ut mutatio aliud non sit praeter partium cor-
poris mutati motum." Hobbes, Philosophia prima, pars secunda, IX, 9.
') ,, Causa motus nulla esse potest in corpore nisi contiguo
et moto."
Einleitung. 3
so gross auch deren Zahl sein möge, vergewissern kann".'*)
Er bestand auch darauf, dass alle Bewegung durch Stoss
verursacht sei. „Ein Körper bewegt sich von Natur niemals
ausser durch einen andern Körper, welcher ihn berührt und
drückt."^) In ähnlicher Weise drückt sich Huygens,
Leibniz' und Newton's grosser Zeitgenosse, dahin aus, „dass
in der wahren Philosophie die Ursachen aller Wirkungen
in mechanischer Weise begriffen werden, und seiner Ansicht
nach auch begriffen werden müssten, wofern wir nicht jede
Hoffnung auf Verständnis der Physik aufgeben wollten". ^)
Und in dem ersten umfassenden Handbuch der Physik, das
publiziert worden ist, dem von Musschenbroek, ist es als
«in Axiom hingestellt, „dass keine Veränderung in den
Körpern vor sich gehen kann, deren Ursache nicht Be-
wegung wäre". '')
Seinen bestimmtesten Ausdruck hat indessen der Satz,
dass der wahre Endzweck und der Gegenstand jeder physi-
*) „Tout se fait mecaniquement dans la nature, principe qu'on
pent rendre certain' par la seule raison et jamais par les experiences,
<juelque nombre qu'on en fasse." Leibniz, Nouveaux Essais, Opp.
«d. Erdmann, p. 383.
^) „Un Corps n'est jamais mü naturellement que par un autre
-Corps qui le presse en le touchant." Fünfter Brief an Clarke, Erd-
mann, S. 767. Daher auch Wolff, der dogmatisierende Ausleger
der Leibnizschen Philosophie, erklärt: ,, Corpus non agit in alterum,
nisi dum in ipsum impingit." WOLFF, Cosmologia gen., 129.
^) „. . . in Vera philosophia, in qua omnium effectuum causae
concipiuntur per rationes mechanicas : id quod meo judicio fieri debet
fiisi velimus . omnem spem abjicere aliquid in physicis intelligendi."
Hugenii Opp. reliqua, Amst., 1728, vol. I (Tract. de lumine), p. 2.
') „Nulla autem corporibus inducitur mutatio, cujus causa non
fuerit motus, sive excitatus, sive minutus, aut suffocatus ; omne enim
incrementum vel decrementum, g.eneratio, corruptio, vel qualiscunque
aheratio, quae in corporibus contingit, a motu pendet." P. v. MusscHEN-
BROEK, Introd. ad philos. naturalem, vol. I., cap. i, § 18 (ed.
Patov., 1768).
1*
4 /. Kapitel,
kaiischen Wissenschaft eine Zurückführung der Naturer-
scheinungen auf ein zusammenhängendes mechanisches-
System sei, in den wissenschaftlichen Schriften der zweiten-
Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden, seit der Zeit der
Entdeckungen, die in der organischen Chemie mit Hilfe der
Atomtheorie gemacht worden sind, seit der Entdeckung der
Spektralanalyse, seit der Aufstellung der Lehre von der Er-
haltung der Energie und der Ausbreitung der mechanischen-
Wärmetheorie mit ihrer Ergänzung, der kinetischen Gas-
theorie. So sagte Kirchhoff, einer der Begründer der
Theorie der Spektralanalyse, in seiner Prorektoratsrede^
Heidelberg 1865: „Das höchste Ziel, welches die Natur-
wissenschaften zu erstreben haben, aber niemals erreichen
werden, ist die Ermittelung der Kräfte, welche in der
Natur vorhanden sind und des Zustandes, in dem die Materie^
in einem Augenblick sich befindet, mit einem Worte, die
Zurückfiihrang aller Naturerscheinungen auf die Mechanik/^
Zu demselben Schlüsse kam auch Helmholtz in seiner
Antrittsrede vor der Naturforscherversammlung in Innsbruck
im Jahre 1869: „Das Endziel der Naturwissenschaften ist^
die allen Veränderungen zu Grunde liegenden Bewegungen,
und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik auf-
zulösen/* ®) Nicht weniger deutlich lauten die Worte
Clerk Maxwell's: „Wenn eine Naturerscheinung als eine
Veränderung in der Configuration und in dem Bewegungs-
zustande eines materiellen Systems beschrieben werden
kann, muss man ihre Erklärung als vollendet ansehen; denn
wir können keine weitere Erklärung als notwendig, wünschens-
wert oder möglich finden, da, sobald wir auf den Sinn der
Worte Konfiguration, Masse und Kraft achten, wir alsbald
sehen, dass die durch dieselben bezeichneten Begriffe so
elementarer Natur sind, dass sie nicht durch Hilfe anderer
erklärt werden können." ®)
®) Pop. Wiss. Vorträge, I., S. 93.
Einleitung. 5
Solche Citate, wie diese, aus den Schriften unserer
hervorragendsten Physiker, könnten leicht ins Unbegrenzte
vermehrt werden. Und wenn wir uns von den Physikern
zn den Physiologen wenden, stossen wir auf Erklärungen
von derselben Deutlichkeit. „So oft nun," heisst es bei
Z^UDWiG 1852, „eine Zergliederung der leistungserzeugenden
Einrichtungen des tierischen Körpers geschah, so oft stiess
man schliesslich auf eine begrenzte Zahl chemischer Atome,
^ie Gegenwart des Licht-(Wärme-)Äthers und diejenige der elek-
irischen Flüssigkeiten. Dieser Erfahrung entsprechend zieht
inan den Schluss, dass alle vom tierischen Körper ausgehenden
Erscheinungen eine Folge der einfachen Anziehungen und
Abstossungen sein möchten, welche an jenen elementaren
Wesen bei einem Zusammentreffen derselben beobachtet
werden."^®) In einem ähnlichen Sinne äusserte sich Wundt
-25 Jahre später: „Die jetzt zur Herrschaft gelangte Auf-
fassung dagegen, die man als physikalische oder mecha-
jiische zu bezeichnen pflegt, ist aus der in den verwandten
Zweigen der Naturwissenschaft schon länger zur Geltung
gekommenen kausalen Naturansicht entsprungen, welche die
I^atur als einen einzigen Zusammenhang von Ursachen und
Wirkungen ansieht, wobei als letzte Gesetze, nach denen
die natürlichen Ursachen wirken, sich stets die Grundgesetze
^er Mechanik ergeben. Die Physiologie erscheint daher
®) „When a physical phenomenon can be completely described
as a change in the configuration and motion of a material System,
the dynamical explanation of that phenomenon is said to be com-
plete. We can not conceive any further explanation to be either
■necessary, desirable, or possible, for as soon as we know what is
jneant by ^the words configuration , mass and force, we see that the
ideas which they represent are so elementary that they can not be
^xplained by means of anything eise." „On the Dynamical Evidence
^f the Molecular Constitution of Bodies." Nature, 4. u. II. März 1875.
^^) Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Bd. i,
£inl., S. 2.
6 /. Kapitel
*
als ein Zweig der angewandten Naturlehre. Ihre Aufgabe
erkennt sie darin, die Lebenserscheinungen auf die allge-
meinen Naturgesetze, also schliesslich auf die Grundgesetze
der Mechanik zurückzuführen." ^^) Und noch handgreif-
licher äusserte sich Haeckel : „Die allgemeine Entwicklungs-
lehre . . . nimmt an, dass in der ganzen Natur ein grosser^
einheitlicher, ununterbrochener und ewiger Entwicklungs-
vorgang stattfindet, und dass alle Naturerscheinungen ohne
Ausnahme, von der Bewegung der Himmelskörper und dem
Fall des rollenden Steines bis zum Wachsen der Pflanze und
zum Bewusstsein des Menschen, nach einem und demselben
grossen Kausalgesetze erfolgen, dass alle schliesslich auf
Mechanik der Atome zurückzuführen sind." ^^) Diese Theorie
erklärt Haeckel für die einzig mögliche: „Der Monismus,
die universale Entwicklungstheorie, oder die monistische
Progenesistheorie ist die einzige wissenschaftliche Theorie,
welche das Weltganze vernunftgemäss erklärt, und das Kau-
salitätsbedürfnis unserer menschlichen Vernunft befriedigt,
indem sie alle Naturerscheinungen als Teile eines einheit-
lichen grossen Entwicklungsprozesses in mechanischea
Kausalzusammenhang bringt." ^^) Im gleichen Sinne spricht
HUXLEY von „jener rein mechanischen Anschauung, welche
die moderne Physiologie anstrebt". ^^)
Eine äusserst klare und vollständige Auseinandersetzung
der Ziele moderner physikalischer Wissenschaft ist in folgender
Stelle aus einem der letzten Vorträge von Emil du Bois-
Reymond enthalten, — eines Mannes, gleich berühmt als
Physiker wie als Physiologe: „Naturerkennen — genauer
gesagt, naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der
Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Natur-
^^) WUNDT, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 4. Aufl., S.2,
^*) Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, S. 9 u. lo.
^») c. 1., S. II.
^*) Lay Sermons, Addresses and Reviews (Appleton's ed.) p.'SSl^
Einleitung, 7
Wissenschaft — ist Zurückführen der Veränderungen in der
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren
von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder
Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome. Es
ist physiologische Erfahrungsthatsache, dass dort, wo solche
Auflösung gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich
befriedigt fühlt. Die Sätze der Mechanik sind mathematisch
darstellbar, und tragen in sich dieselbe apodiktische Ge-
wissheit wie die Sätze der Mathematik. Indem die Ver-
änderungen in der Körperwelt auf eine konstante Summe
potentieller und kinetischer Energie, welche einer konstanten
Menge von Materie anhaftet, zurückgeführt werden, bleibt
in diesen Veränderungen selber nichts zu erklären übrig."
„Kant's Behauptung in der Vorrede zu den ,Meta-
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft', dass in
jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen-
schaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik an-
zutreffen sei', ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen,
dass für Mathematik Mechanik der Atome gesetzt wird.
Sichtlich dies meinte er selber, als er der Chemie den
Namen einer Wissenschaft absprach, und sie unter die
Experimentallehren verwies. Es ist nicht wenig merkwürdig,
dass in unsere Zeit die Chemie, indem sie durch die Ent-
deckung der Substitution gezwungen wurde, den elektro-
chemischen Dualismus aufzugeben, sich von dem Ziel, eine
Wissenschaft in diesem Sinne zu werden, scheinbar wieder
weiter entfernt hat. Denken wir uns alle Verände-
rungen in der Körperwelt in Bewegungen von
Atomen aufgelöst, die durch deren konstante
Zentralkräfte bewirkt werden, so wäre dasWelt-
all naturwissenschaftlich erkannt."^^)
1*) Emil Du Bois-Reymond „Über die Grenzen des Naturer-
kennens", S. 2 ß.
8 /. KapüeL
Mit wenigen Ausnahmen sehen die heutigen Männer
der Wissenschaft die Annahme, dass jeder physikalische
Vorgang mechanischer Natur sei, für ein Axiom an, das
sich entweder von selbst versteht oder doch wenigstens als
eine Induktion aus aller vergangenen Erfahrung betrachtet
werden kann. Und sie halten die mechanische Erklärung
einer Naturerscheinung nicht nur für eme unbezweifelbare,
sondern auch ftir eine endgiltige und einzig mögliche. Sie
sehen deren Giltigkeit ftir eine unbedingte, weder durch
den gegenwärtigen Stand der menschlichen Intelligenz, noch
durch die Natur und Ausdehnung der Erscheinungen, die
sich als Gegenstände wissenschaftlicher Forschung darstellen,
beschränkte an. Denkende Männer wie du Bois-Reymond
haben zuweilen daran gedacht, dass sie nicht unbeschränkt
ist; aber die einzigen Grenzen, welche sie ihr zuschrieben,
waren die des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt.
Obwohl sie einräumen, dass es so eine Gruppe von Er-
scheinungen gibt — nämlich die des organischen Lebens
— welche, was ihre charakteristischen Seiten betrifft, unter
alleiniger Verwendung mechanischer Prinzipien völlig unver-
ständlich bleiben, so halten sie doch eben diese Prinzipien für
den allein brauchbaren Führer auch auf diesem Gebiete und
zählen die der Erklärung widerstehenden Erscheinungen zu
jener endlosen Reihe von Thatsachen, an denen alle Hilfsmittel
wissenschaftlicher Erkenntnis fruchtlos sich abmühen. Es
ist behauptet worden, dass, wenn es theoretisch unmöglich
ist, einen lebenden Organismus aus Molekeln und Atomen,
sowie aus mechanischen Kräften unter Beachtung des
Energieprinzipes, der Gesetze der elektrischen und magne-
tischen Anziehung, der 2 Hauptsätze der Thermodynamik
u. s. w. herzustellen, der Versuch zur Aufstellung einer
Theorie des Lebens in Übereinstimmung mit den Gesetzen
der unorganischen Natur vollständig aufgegeben werden
müsse. Eine solche Behauptung hätte meiner Ansicht nach
Einleitung. 9
nicht früher aufgestellt werden sollen, bevor nicht die Gründe,
auf denen sie ruht, einer sorgsamen Prüfung unterzogen
worden wären. Es ist daher meine Absicht, auf den nach-
folgenden Seiten zu untersuchen, ob die Giltigkeit der
mechanischen Theorie des Weltalls in ihrer gegenwärtigen
Form und mit ihren gewöhnlichen Annahmen in der That
eine unbedingte innerhalb der Grenzen des menschlichen
Erkenntnisvermögens ist oder nicht und zu diesem Zwecke
womöglich die Natur dieser Theorie sowie ihre logisch-
psychologische Wurzel darzulegen. Offenbar ist die erste
Frage, die sich uns bei der Untersuchung der Giltigkeit der
Theorie entgegenstellt, die, ob dieselbe frei ist von Wider-
sprüchen mit sich selbst und den Thatsachen, die sie zu
erklären vorgibt, oder nicht. Unsere erste Aufgabe wird
es sein, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Die Grundprinzipien der mechanischen Welt-
anschauung.
Die mechanische Weltanschauung unternimmt es, alle
physikalischen Erscheinungen dadurch zu erklären, dass sie
dieselben als Änderungen in der Struktur und Konfiguration
materieller Systeme beschreibt. Sie ist bestrebt, alle Ver-
schiedenheit in der materiellen Körperwelt durch Unter-
schiede in der Gruppierung von Ureinheiten der Masse,
alle Veränderungen der Erscheinungswelt durch Bewegung
unveränderlicher Elemente begreiflich zu machen und auf
diese Weise die augenscheinUchste qualitative Verschieden-
heit als eine bloss quantitative hinzustellen. Im Lichte dieser
Theorie erscheinen Masse') und Bewegung als die
letzten von einander durchaus verschiedenen Elemente
wissenschaftlicher Analyse. In diesem Sinne besteht Masse
unabhängig von Bewegung und ist gegen diese indifferent.
Sie bleibt die gleiche, mag sie sich bewegen oder ruhen.
Bewegung kann von einer Masse auf eine andere übertragen
werden, ohne die Identität einer derselben zu zerstören.
Die erste Forderung aller Wissenschaft ist die, dass es
etwas Unveränderliches gebe inmitten all des Wechsels der
Erscheinungswelt. Wissenschaft ist lediglich möglich auf
Grund der Voraussetzung, dass alle Veränderung ihrer Natur
*) Es ist kaum nötig zu bemerken, dass ich absichtlich Masse
und nicht, wie es gewöhnlich geschieht, Materie als Korrelat der
Bewegung wähle. Wenn ein Körper in Gedanken all' jener Eigen-
schaften entblösst wird, die zufolge der Lehren der modernen Wissen-
schaft Bewegungszustände sind, bleibt als Rest nicht Materie, sondern
Masse übrig.
Die Grundprinzipien der mechan, Weltanschauung, n
nach nur eine Transformation sei. Ohne diese Voraus-
setzung könnte sie sich nie ihrer beiden grossen Aufgaben
entledigen, aus dem gegenwärtigen Stande der Dinge einer-
seits die Zukunft, andererseits die Vergangenheit zu er-
schliessen, indem sie erstere als notwendige Folge, letztere
als notwendig vorausgehend darstellt. Es ist klar, dass die
Berechnungen der Wissenschaft durch das plötzliche Ver-
schwinden eines oder mehrerer Elemente oder dureh das
unvermutete Auftauchen neuer durchaus vereitelt würden.
Wenn somit die wissenschaftliche Analyse Masse und Be-
wegung für ihre letzten nicht weiter zurtickführbaren Grund-
begriffe hält, die bei allen möglichen Umformungen bestehen
bleiben, so folgt daraus, dass beide quantitativ unveränder-
lich sind. Demgemäss fordert die mechanische Naturan-
schauung die Erhaltung sowohl der Masse wie der Bewegung.
Masse kann umgeformt werden durch eine Anhäufung oder
Scheidung ihrer Teile *, aber bei allen diesen Umformungen
bleibt sie ein und dieselbe. In ähnlicher Weise kann auch
Bewegung unter eine grössere oder kleinere Zahl von Massen-
einheiten verteilt werden; sie kann übertragen werden von
einer Masseneinheit auf eine beliebige andere Zahl von
Masseneinheiten, wenn nur ihre Geschwindigkeit im Ver-
hältnis zur Zahl dieser Einheiten vermindert wird; die
Summe der Bewegungen mehrerer Einheiten bleibt dessen-
ungeachtet stets gleich der Bewegung einer Einheit. Sie
kann sich ändern ihrer Richtung und Form nach; eine
gradlinige Bewegung kann krummlinig werden, eine fort-
schreitende sich in eine schwingende umsetzen, eine Massen-
in eine Molekurlarbewegung *, doch, während all' dieser
Wandlungen vermehrt sie sich weder, noch vermindert sie
sich oder geht verloren. Die Erhaltung der Masse (oder
wie man sich gewöhnlich, aber ungenau ausdrückt, die Er-
haltung oder Unzerstörbarkeit der Materie) ist lange ein
ständiges Axiom der physikalischen Wissenschaft gewesen.
12 //. Kapitel.
Das Gesetz der Erhaltung der Bewegung (d. i. der Energie,
was, wie später gezeigt werden wird, zufolge der mecha-
nistischen Anschauung dasselbe ist) wird, wiewohl es erst
kürzlich als ausdrückliches Prinzip der Wissenschaft formu-
liert worden ist, nun allgemein als von gleicher Evidenz
und der gleichen axiomatischen Bedeutung wie sein älterer
Partner angesehen. Und in der That lässt sich sagen, dass,
während die Chemie auf das Prinzip der Erhaltung' der
Materie^) gegründet worden ist, der neuere Fortschritt der
theoretischen Physik hauptsächlich darin bestanden habe»
dieselbe auf die Grundlage des Energieprinzipes aufzubauen.
Die Physik umfasst ausser den allgemeinen Gesetzen der
Dynamik und deren Anwendungen auf feste, flüssige und
gasförmige Körper die Theorie jener Agentien, welche
früher als Imponderabilien bezeichnet zu werden pflegten,
des Lichtes, der Wärme, der Elektrizität und des Magne-
tismus u. s. w. ; und all' diese wurden nun als Arten von
Bewegung aufgefasst, als verschiedene Äusserungen der
nämlichen Grundeigenschaft der Energie, die nur Ge-
setzen unterworfen sind, welche in blossen Folgerungen aus
deren Erhaltungsgesetze bestehen. Die einzige augenschein-
liehe Ausnahme bildet der zweite Hauptsatz der Thermo-
dynamik, von dem indessen auch eine Zurückführung auf
das Prinzip der kleinsten Wirkung oder vielmehr auf die
von Hamilton gegebene Ausdehnung desselben, das Prinzip
der variierenden Wirkung, von Boltzmann und Clausius
versucht worden ist, während andere (unter ihnen Rankine,
S^iLY und Eddy) den Satz aus dem Prinzip der Erhaltung
der Energie abzuleiten versucht hatten.
*) Nach und nach bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass die
Erhaltung der Energie ein ebenso wichtiges Prinzip der Chemie ist,
wie das der Erhaltung der Masse ; doch nimmt bisher die chemische
Zeichensprache nur auf die Massenverhältnisse und nicht auch auf
die umgesetzten Energiemengen Rücksicht.
Die Orundprmxipien der niechan. Weltanschauung, 13
Es ist auf diese Weise ersichtlich, dass die Theorie,
derzufolge die Ursache aller Erscheinungen und aller Ver-
schiedenheiten Bewegung, und jeder scheinbare qualitative
Unterschied in Wirklichkeit bloss ein quantitativer ist, drei
Annahmen einschliesst , die in folgender Form aufgestellt
werden können:
I. Die Urelemente aller Naturerscheinungen — die
letzten Ergebnisse wissenschaftlicher Analyse — sind Masse
und Bewegung.
n. Masse und Bewegung sind disparat. Die Masse
besteht für sich ohne Rücksicht auf die Bewegung, die ihr
mitgeteilt, oder ganz genommen werden kann durch eine
Übertragung derselben von einer Masse auf eine andere.
Die Masse bleibt dieselbe, mag sie sich in Ruhe oder Be-
wegung befinden.
III. Sowohl Masse wie Bewegung sind unveränderlich.
Unter den Folgerungen, die aus der ersten und zweiten
dieser Annahmen gezogen werden können, gibt es zwei,
die ebenso klar wie wichtig sind, nämlich die der Trägheit
und Gleichförmigkeit der Masse. Da Masse und Bewegung
von einander durchaus verschieden sind, ist es klar, dass
Masse nicht Bewegung noch Ursache von Bewegung werden
kann — d. h. sie ist träge. Und die Masse an sich kann
nicht ungleichförmig sein, denn Ungleichförmigkeit bedeutet
einen Unterschied, und jeder Unterschied ist durch Be-
wegung bedingt.
Die hier ausgesprochenen Annahmen liegen der ganzen
mechanistischen Naturanschauung zu Grunde. Sie finden
allgemeine Zustimmimg imter den Physikera der Gegenwart
und können als Grundsätze der ganzen modernen Wissen-
schaft gelten.
Zu diesen Annahmen tritt indessen nach der allgemein
herrschenden Anschauungsweise der Physiker und Chemiker
noch die der molekularen oder atomistischen Zusammen«
14 //. Kapitel.
Setzung der Körper hinzu, derzufolge die Masse nicht kon-
tinuierlichy sondern diskret zusammengesetzt ist aus unver-
änderlichen und in diesem Sinne wenigstens einfachen Ein-
heiten. Diese Annahme führt zu vier anderen Sätzen, welche
in Verbindung mit den Prinzipien der Erhaltung von Masse
und Bewegung die Grundlagen der mechanischen Atom-
theorie ausmachen. Sie lauten:
1. Die Ureinheiten der Masse sind einfach
und in jeder Beziehung unter einander gleich.
Das ist offenbar nichts weiter als die Behauptung der
Homogeneität der Materie gemäss der Hypothese ihrer
molekularen oder atomistischen Zusammensetzung.
2. Die Ureinheiten der Masse sind absolut
hart und unelastisch — eine notwendige Konsequenz
ihrer Einfachheit, welche jede Bewegung von Teilen und
somit jede Veränderung der Gestalt ausschliesst.
3. Die Ureinheiten der Masse sind absolut
träge und somit rein passiv; infolgedessen kann
zwischen ihnen keine andere Art von Einwirkung möglich
sein, als ihre gegenseitige Verschiebung, verursacht durch
einen Anstoss von aussen.
4. Die ganze sogenannte potentielle Energie
ist in Wirklichkeit eine kinetische. Da Masse
und Bewegung von einander völlig verschieden und gegen-
seitig in einander nicht verwandelbar sind, und die Masse
in was immer für Lage absolut träge ist, kann Bewegung
nicht anders entstehen und durch nichts anderes verursacht
sein, als wieder durch Bewegung. Eine Energie der Lage
ist somit unmöglich.
Es ist nun notwendig, diese Sätze gesondert der Reihe
nach zu betrachten imd sich zu vergewissern, ob imd bis
zu welchem Grade sie mit den Thatsachen der wissen-
schaftlichen Erfahrung übereinstimmen und zu deren Er-
klärung dienen.
111.
Der Satz von der Gleichheit der Ureinheiten der
Masse.
Wenn alle Verschiedenheit in der Natur durch Be-
wegung verursacht wird, muss die Masse als Substrat dieser
Bewegung völlig homogen sein. Dies ist so klar, dass gleich
bei der ersten bestimmten Ankündigung der mechanischen
Theorie diese zwei Sätze — das Prinzip und seine Folge
■ — Hand in Hand neben einander gingen. Daher ist die
obcitierte Äusserung Descartes' ^) von der Erklärung be-
gleitet, dass die in der Welt vorhandene Materie überall
eme und dieselbe sei. ^) Es ist allerdings richtig, dass Des-
CARTES nicht die absolute Gleichheit der einzelnen mate-
riellen Urbestandteile behauptet hat, weil er nur zwei
Grundeigenschaften der Materie anerkannt hat, Ausdehnung
imd Beweglichkeit, und infolgedessen die atomistische Kon-
stitution der Materie geleugnet hat. Als aber diese mit
der Zeit eine der Hauptlehren der modernen Physik wurde,
nahm die Forderung der grundsätzlichen Homogeneität der
Masse notwendigerweise die Form der Behauptung einer
absoluten Gleichheit ihrer Urelemente an. Aus Gründen,
die gleich ihre Erörterung finden werden, zeigen die Phy-
siker und insbesondere die Chemiker unserer Zeit die
Neigung, diese wesentliche Eigentümlichkeit der mechanischen
Theorie zu ignorieren; doch unter denen, welche es be-
^) Siehe oben S. 2.
^) „Materia itaque in tcrto universo una et eadem existit.*'
Cart., Princ. Phil. II, 23.
i6 ///. Kapitel,
greifen, dass schliesslich alle wissenschaftlichen Theorieen
zum mindesten unter einander in Übereinstimmung sein
müssen, hat es ihr an direkter oder impliciter Anerkennung
nicht gefehlt. „Die abweichenden Eigenschaften der Materie,"
erklärt Professor Wundt, „verlegt die Chemie noch jetzt
in eine ursprüngliche qualitative Verschiedenheit der Atome.
Nun geht offenbar die ganze Entwicklung der physikalischen
Atomistik darauf aus, alle qualitativen Eigenschaften der
Materie aus den Bewegungsformen der Atome abzuleiten.
Die Atome selbst bleiben so notwendig als voll-
kommen qualitätslose Elemente zurück."*) Von
gleicher Bedeutung sind die Worte Herbert Spencer's : „Die
Eigenschaften der verschiedenen Elemente ergeben sich aus
Unterschieden der Anordnung letzter, homogener Urein-
heiten.'* *) Selbst in den Schriften ausgezeichneter Chemiker
herrscht kein Mangel an Äusserungen , aus denen deutlich
hervorgeht, wie sehr die logische Notwendigkeit die modernen
Physiker dazu drängt, auf der grundsätzlichen Gleichheit der
materiellen Elemente zu bestehen. „Es ist denkbar,** sagt
Thomas Graham, „dass die verschiedenen Arten der Materie,
die jetzt unter dem Namen verschiedener Elemente bekannt
sind, eine und dieselbe letzte, atomistische Molekel besitzen,
die in verschiedenen Bewegungszuständen auftritt. Die dem
Wesen nach gleichförmige Beschaffenheit der Materie ist
eine Hypothese, die in schöner Übereinstimmung mit der
gleichen Wirkung der Schwerkraft auf alle Körper steht.
Wir kennen die Behutsamkeit, mit der dieser Punkt von
Newton erforscht worden ist und die Sorgfalt, die er
darauf verwendete, sich zu überzeugen, .dass jede Art von
*) „Die Theorie der Materie,*' Deutsche Rundschau, Dezember,
1875, S. 381.
*) „The properties of the different elements result from difife-
rences of arrangement, arising by the compounding and recompounding
of ultimate homogeneous units." Contemporary Review, June, 1872.
Der Sat% von der Qleichkeii der Ureinheiten der Masse. 17
Substanz, Metalle, Steine, Hölzer, Getreidekömer , Salz,
thierische Stoffe u. s. w. beim Falle dieselbe Beschleunigung
erleiden und daher gleich schwer sind.''
„Im Gaszustande ist die Materie zahlreicher und mannig-
facher Eigenschaften beraubt, die ihr in flüssiger oder fester
Form zukommen. Dem Gase verbleiben nur einige wenige
und einfache Eigenschaften, die abhängen mögen von der
Bewegung seiner Atome oder Molekeln. Denken wir uns
nun, dass bloss eine Art von Substanz existiert — die
ponderable Materie; und femer, dass die Materie in letzte
Atome zerlegbar ist, die der Gestalt und dem Gewichte
nach gleich sind. Wir werden dann eine Substanz und
ein gemeinsames Atom haben. Würde dieses Atom sich
im Ruhezustande befinden, so wäre die Gleichförmigkeit der
Materie eine vollkommene. Das Atom besitzt jedoch immer
mehr oder weniger Bewegung, die es, wie man annehmen
muss, einem ursprünglichen Anstoss verdankt. Durch diese
Bewegung entsteht sein Volumen. Je rascher die Bewegung,
desto grösser ist der vom Atom eingenommene Raum,
etwa so wie die Bahn eines Planeten mit der Grösse der
Wurfgeschwindigkeit wächst. Die Materie unterscheidet sich
also lediglich durch ihre Dichte. Da die Eigenbewegung
eines Atoms unveränderlich ist, kann die leichte Materie
nicht mehr in schwere verwandelt werden. Kurz, Materie
verschiedener Dichte bildet verschiedene Substanzen, d, h.
verschiedene nicht mehr in einander verwandelbare Elemente."
„Diese mehr oder weniger sich bewegenden, leichtere
oder schwerere Formen der Materie haben indessen noch
eine besondere Beziehung zur Yolumsgleichheit. Gleiche
Volumen können sich mit einander verbinden, können ihre
Bewegungen vereinen und eine neue Atomgruppe bilden,
welche das Ganze, die Hälfte oder irgend eine andere Ver-
hältniszahl der ursprünglichen Bewegung und somit auch
des Volums besitzt. Dies nennt man eine chemische Ver-
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 2
i8 ///. Kajntel.
bindung. Sie ist direkt verknüpft mit dem Volumen, in-
direkt mit dem Gewichte. Die sich vereinigenden Gewichts-
mengen sind verschieden, weil . die atomistischen wie die
molekularen Dichten verschieden sind." *)
Ganz analoge Ansichten wurden auch von C. R. A.
Wriüht geäussert, welcher die Behauptung aufstellt, dass
es nur eine Art von Urmaterie gebe und alle sogenannten
Elemente und Verbindungen nur allotropische Modifikationen
derselben vorstellen, die sich von einander nur durch den
verschiedenen auf eine Masseneinheit entfallenden Betrag
latenter Energie unterscheiden. ®) Und wiewohl Prout^s
Vermutung, dass die verschiedenen chemischen Elemente
in Wirklichkeit nur Verbindungen oder allotropische Modi-
fikationen des Wasserstoffs seien, längst verlassen worden ist
(selbst von Dumas und einigen anderen, welche zu verschie-
denen Zeiten auf sie zurückzugreifen versucht haben), da sich
die Annahme, dass die Atomgewichte aller Elemente genaue
Multipla jenes von Wasserstoff seien, als unhaltbar erwiesen
hatte, ist in letzter Zeit doch wieder die Aufmerksamkeit
auf die Thatsache gelenkt worden, dass sich spektroskopische
Anzeichen für das Vorherrschen einiger weniger gasförmiger
Elemente, wie des Wasserstoffs und des Stickstoffs, auf ge-
wissen Nebelflecken ergeben haben, die das früheste Stadium
planetarischer oder stellarischer Entwicklung darzubieten
scheinen, sowie solche von einer fortschreitenden Zunahme
metallischer imd anderer Substanzen bei entwickelteren
Formen — mit anderen Worten, von einer fortschreitenden
Differenzierung der Materie, einem allmählichen Fortschritt
von der Homogeneität zur Heterogeneität in den aufein-
anderfolgenden Stadien der Entwicklung der Himmels-
körper. ')
*) „Speculative Ideas respecting the Constitution of Matter,"
Phil. Mag., 4th ser., vol. XXVII, p. 8i s.
®) Chemical News, October 31, 1873.
DefT Satz von der OleichJieit der Ureinheiten der Masse, i^
Während nun aber auf diese Weise die absolute Gleich-
lieit der Urelemente der Masse ein wesentliches Bestandstück
^er wahren Fundamente der mechanischen Theorie bildet,
ist die gesamte moderne Chemie auf einem Grundsatz auf-
-gebaüt, der diese Gleichheit geradezu umstösst, — einem
<jrundsatz, von dem jüngst gesagt worden ist, dass „er in
^er Chemie dieselbe Rolle einnimmt wie das Gesetz der
<}ravitation in der Astronomie'*. *) Dies Prinzip ist bekannt
cinter dem Namen des Gesetzes von Avogadro oder
Ampere. Es sagt aus, dass gleiche Rauminhalte aller Sub-
tstanzen, sobald sie sich im Gaszustande und unter gleichen
Druck- und Temperaturverhältnissen befinden, gleiche An-
jKihlen von Molekeln besitzen — was zur Folge hat, dass
^ie Molekulargewichte dem spezifischen Gewichte der Gase
proportional sind; so zwar, dass wenn diese verschieden
-sind, es auch die Molekulargewichte sind, und da die
Jdolekeln gewisser Elemente einatomig sind, während die
Molekeln verschiedener anderer Substanzen die gleiche Zahl
^on Atomen enthalten , dasselbe auch von den Atomge-
ivichten solcher Stoffe gilt.
Obwohl das Gesetz von Avogadro, wie alle physi-
Icalischen Theorien, eine Hypothese ist, wird es doch für
-die einzig mögliche Annahme gehalten, welche im Stande
ist, die bekannte indirekte Proportionalität zwischem dem
Volumen eines Gases und seinem Druck (Gesetz von Boyle*
Mariotte) und die direkte mit der Temperatur (Gesetz
von Charles), sowie auch das Gesetz der einfachen Völum-
-verhältnisse (Gay-Lussac) bei einer chemischen Verbindung
.2U erklären. Es hat auch als Grundlage für unzählige Ab-
leitungen bei der Bildung und Umformung chemischer Ver-
") Vgl, J. W. Clarke „Evolution and the Spectroscope", Po-
pulär science Monthly, January 1873, p. 320 seq. Lockyer's neueste
Forschungen haben diesen Ansichten grössere Bedeutung verschafft.
8) J. P. COOKE, The New Chemistry, p. 13.
2*
20 ///. KapiteL
bindungen gedient, welche bisher stets durch das Experiment
bestätigt worden sind.
Dass dieses Grundprinzip der modernen Chemie in
äusserstem, unversöhnlichem Widerspruch mit dem ersten
Satze der mechanischen Atomtheorie steht, ist auf den
ersten Blick offenkundig. Gewiss ist auch eine Lösung-
desselben mit Hilfe der von Graham gemachten Annahme
unmöglich. Denn diese erklärt die Unterschiede der Dichte
dadurch, dass sie den gleichen Uratoraen ungleiche Volu-
mina zuschreibt, welche eine Folge der ungleichen Ge-
schwindigkeiten sind, die in unabänderlicher Weise an die
verschiedenen Arten der Atome gebunden sind. Auf diese
Weise Hessen sich wohl Ungleichheiten des Volums-
gleicher Massen, nicht aber Ungleichheiten der Masse in
gleichen Volumen erklären, ausser man nehme eine zweite
neue Hypothese hinzu, welche durch die erste allerdings
einigermassen gestützt wird, und darin besteht, dass einige^
wenn nicht alle Molekeln Gruppen von verschiedenen
Graden der Kompliziertheit bilden. Zwei Massen oder
Molekeln von gleichem Volumen können verschiedene Dichten,
oder Gewichte haben, bloss wenn die Zahl der in einer
enthaltenen Einheiten verschieden ist von der in der anderen,
AvoGADRo's Gesetz zwingt jedoch die Chemiker anzunehmen,,
dass die Molekeln verschiedener Elemente, ungeachtet der
Verschiedenheit ihrer Gewichte, aus der gleichen Anzahl von
Atomen bestehen. So werden Wasserstoff und Chlor, deren
Molekulargewichte beziehungsweise 2 und 7 1 betragen, beide
als zweiatomig betrachtet. In dem Falle von Elementen
einer Valenz, wie der eben erwähnten, ist der Grund, auf
dem diese Annahme beruht, sehr einfach. Ein Volumen
Wasserstoff verbindet sich mit einem Volumen Chlor und
bildet zwei Volumen Chlorwasserstoff. Jedes Volumen der
Verbindung enthält gemäss dem Gesetze von Avogadro,
ebenso viel Molekeln, als ein Volumen des beitragenden
Der Satz von der Gleichheit der UreinJieiten der Masse. 2 1
einen Elementes vor der Verbindung; die zwei Elemente
der Verbindung enthalten demnach doppelt so viel Molekeln
als jedes Volumen der zusammensetzenden Gase. In jedem
Molekel der Verbindung sind aber sowohl Chlor wie Wasser-
stoff anwesend, woraus folgt, dass jedes Molekel von Wasser-
stoff ebenso wie auch jedes von Chlor wenigstens ein Atom
zu jedem Molekel Chlorwasserstoff beigesteuert und daher
aus mindestens zwei Atomen bestanden haben muss.
Die Beweisführung in dem Falle zwei- oder mehr-
wertiger Elemente (wie Sauerstoff^ Schwefel, Selen u. a.) ist,
wiewohl weniger einfach, doch in gleichem Grade zwingend
auf Grund des AvoGADRo'schen Gesetzes.
Man könnte einwenden, dass das in Frage stehende
Gesetz lediglich die geringst mögliche Zahl von Atomen in
einem jeden Molekel bestimmt und das Maximum derselben
unbestimmt lässt, so dass trotz alldem die schwereren Mo-
lekeln von entsprechend grösserer Kompliziertheit sein
mögen. Doch hier stossen wir auf ein Hindernis, das uns
ein Zweig der mechanischen Theorie bietet, — die Thermo-
dynamik. Die moderne Wissenschaft betrachtet Wärme als
eine Form der Energie, die in einer lebhaften Bewegung
der kleilisten Teilchen eines Körpers besteht; und zum
mindesten im Falle gasförmiger Körper unterscheidet sie
zwischen jenem Theile der Energie, der in der Form
von Temperatur sich äussert und einer fortschreitenden Be-
wegung der Molekeln, oder vielmehr deren Massenmittel-
punkten zugeschrieben wird, und einem anderen Teil — der
sogenannten inneren Energie — die als abhängig von der
schwingenden oder drehenden Bewegung der zusammen-
setzenden Atome betrachtet wird. Es ist nun durch Experi-
mente erwiesen, dass sich das Verhältnis der spezifischen
Wärme eines Gases bei konstantem Druck zu jener bei
konstantem Volumen •) nahezu gleich ergibt dem durch die
*)• Die spezifische Wärme (d. h. die zur Temperaturerhöhung
2 2 IIL Kapitel,
Theorie auf Gnind der Voraussetzung berechneten Wertev
dass die gesamte einem Gase zugefuhrte Wärme zur Er-
zeugung fortschreitender Bewegung verwandt wird, mag diese-
sich nun in Ausdehnung oder vermehrtem Drucke oder
nach beiden Richtungen hin äussern; und dass die noch>
vorhandene Differenz durch die Annahme gerechtfertigt:
wird, dass ein Teil der Wärme sich in intramolekulare Be-
wegung verwandelt, d. h. in Bewegungen von Teilen inner-
halb eines Molekels, welche dessen Lage oder Wirkungs-
weise als ganzes nicht zu verändern vermögen. Nun ist
leicht einzusehen und von Clausius, Boltzmann, Max-
well u. a. gezeigt worden, dass die für intramolekularer
Bewegung aufgebrauchte Energie in dem Masse wachse»
muss wie die Kompliziertheit der molekularen Konstitution ;:
es würde somit ins Unermessliche gehen, wenn ein Molekel
aus einer so grossen Zahl von Atomen bestehen würde, ais-
hinreichend wäre um die Unterschiede in den Molekular-
gewichten der Elemente zu rechtfertigen. Das Molekular-
gewicht des Chlors ist z. B. 3 5. 5 mal so gross als das des^
Wasserstoffs; und wenn nun diese Gewichte proportional
der in jedem Molekel enthaltenen Zahl von Atomen wären,,
müsste man, selbst wenn zugegeben wird, dass der Wasser-
stoff nur zweiatomig ist, annehmen, dass das Chlormolekel
nicht weniger als 71 Atome enthalte. Wenn aber diese:
Annahme richtig wäre, müsste fast die gesamte dem Chlor
zugeführte Wärme absorbiert, d. h. in innere Energie ver-
wandelt werden, und die berechnete spezifische Wärme müsste
weit den durch das Experiment sich ergebenden Betrag:
übersteigen.
der Masseneinheit einer Substanz um einen Grad erforderliche Wärme-
menge) eines Gases bei konstantem Druck, unter dem die Ausdehnung;
erfolgt, ist notwendigerweise grösser als jene bei konstantem Volumen,
da ja im ersteren Falle ein Teil der Wärme zur Leistung der
mechanischen Arbeit der Ausdehnung verwandt werden muss.
Der Satz von der Qleichheit der Ureinheiien der Masse, 23
Hier liegen also Schwierigkeiten nicht spekulativer,
sondern rein physikalischer und chemischer Natur vor, die
eine unbegrenzte Vervielfältigung der Atome innerhalb eines
Molekels behufs Erklärung der Verschiedenheit der Molekular-
gewichte unmöglich machen. Von mehreren Elementen
ist es bekannt, dass sie dem AvoGADRo'schen Gesetze nur
unter der Voraussetzung ihrer Einatomigkeit Folge leisten.
Zu diesen gehört Quecksilber, dessen Molekulargewicht mit
dem Atomgewicht übereinstimmt, wie es sich bei Anwen-
dung aller möglichen chemischen Methoden, einschliesslich
des Gesetzes von Dulong und Petit ergibt. Und nun
ist durch Kundt und Warburg ^®) gezeigt worden, dass
das Verhältnis der spezifischen Wärmen des Quecksilber-
dampfes bei konstantem Druck und konstantem Volumen,
wie es sich durch das Experiment ergibt, genau gleich dem
Werte ist, der auf Grundlage der absoluten Einfachheit des
Quecksilbermolekels und des Nichtabsorbierens eines Teiles
der Wärme für intramolekulare Bewegungen berechnet
worden ist.
Angesichts all' dieser Thatsachen erscheint der Schluss
unausweichlich, dass der Anspruch, demzufolge die moderne
Wissenschaft durchaus eine teilweise und fortschreitende
Lösung des Problems vorstellt, alle physikalischen Erschei-
nungen auf Mechanik der Atome zurückzuführen, durch den
gegenwärtigen Zustand der theoretischen Chemie in höchst
unvollkommener Weise gestützt wird, sowie auch, dass
diese Wissenschaft, welche sich speziell mit den Atomen
und deren Bewegungen befasst, auf Annahmen beruht, welche
die einzige wahre Grundlage zerstören, auf der ein in sich
zusammenhängender Aufbau der Mechanik der Atome auf-
gerichtet werden kann. Und dass diese Annahmen bald
verlassen werden, dazu scheint wenig Hoffnung zu sein;
10"
) Pogg. Ann., Bd. 157, S. 353.
24 -^^^* Kapitel
denn nach der Ansicht der ausgezeichnetsten Chemiker der
Gegenwart würde ein solcher Verzicht die Masse experi-
menteller Thatsachen, die in mühsamer Weise durch Ex-
periment und Beobachtung ermittelt worden sind — unter
mindestens teilweiser Beihilfe der fraglichen Annahmen —
in einen Zustand hoffnungsloser vorwissenschaftlicher Ver-
wirrung zurückversetzen.
Von den Spekulationen jener, welche die spezifischen
Unterschiede zwischen den letzten Einheiten der Masse von
Unterschieden ihnen zugeschriebener, unwandelbarer Ge-
schwindigkeiten oder ihnen zukommender verschiedener
Beträge an latenter Energie herzuleiten suchen, ist zu sagen,
dass sie nicht nur eine Lösung der Schwierigkeiten der
theoretischen Chemie bei den unerbittlichen Anforderungen
der mechanischen Theorie nicht erreichen, sondern auch,
dass eine Verleihung unzerstörbarer Energie oder Bewegung
an eine gegebene Masse der Grundvoraussetzung der abso-
luten Unvergleichbarkeit von Masse und Bewegung wider-
spricht. Helmholtz und andere haben die Bedingungen
der Wirbelbewegung in einer vollkommen homogenen, un-
zusammendrückbaren und reibungslosen Flüssigkeit untersucht,
welche, wie Maxwell gezeigt hat, notwendigerweise kon-
tinuierlich sein muss und nicht molekular oder atomistisch
zusammengesetzt sein kann. Wenn diese Bedingungen ver-
wirklicht werden könnten, hätten wir zwar unveränderliche,
aber nicht unterscheidbare Volumina einer sogenannten
stetig homogenen Flüssigkeit vor uns, der unveränderliche
Quantitäten unzerstörbarer Bewegung zukommen würden.
Es kann aber keine Energie oder Bewegung von einander
verschiedenen oder getrennten Massen (Molekeln oder
Atomen) anhaften, wenn, wie die mechanische Theorie an-
nimmt, Masse und Bewegung disparat sind, wenn die
Masse dieselbe bleibt in Ruhe und Bewegung, und wenn
die Bewegung von einer Masse auf eine andere übertragbar
Der Saiz von der Gleichheit der üreinheiten der Masse. 25
ist Dies ist ein Punkt, den Sir Isaak Newton, der
grösste unter den Gründern der mechanischen Theorie, aus-
drücklich hervorgehoben hat. Er unterscheidet zwischen
zwei Arten von Kraft — der Kraft der Trägheit (vis
inertiae) und der sogenannten vis impressa. Die
erste allein ist nach ihm eiQe visinsita, d. h. eine der
Materie anhaftende Kraft ; während er von der anderen aus-
drücklich sagt, „dass diese Kraft in der Wirkung allein be-
steht und nach derselben nicht im Körper verbleibt". ^^)
^^) ,)Consistit haec vis in actione sola, neque post actioncm
permanet in corpore." Phil. Nat. Princ. Math., def. IV.
IV.
Der Satz von der absoluten Härte und Unelasticität
der Ureinheiten der Masse.
Aus der wesentlichen Verschiedenheit von Masse und
Bewegung und der Einfachheit der Ureinheiten der Masse
ergibt sich die vollkommene Härte und Unelasticität der-
selben. Denn die Elasticität bedingt Bewegung von Teilen
gegen einander und kann somit nicht eine Eigenschaft wahr-
haft einfacher Atome sein. „Der Begriff ,elastisches Atom*,"
bemerkt Professor Wittwer mit Recht, „ist eine contra-
dictio in adjecto, da die Elasticität immer wieder Teile
voraussetzt, die sich einander nähern, die sich von einander
entfernen können". *)
Die ersten Begründer der mechanischen Theorie be-
trachteten die absolute Härte der die Materie zusammen-
setzenden Teile als einen wesentlichen Grundzug der Natur-
ordnung. „Es scheint mir wahrscheinlich," sagt Sir Isaak
Newton, „dass Gott zu Beginn die Materie in festen, dichten,
harten, undurchdringlichen, beweglichen Teilen von solcher
Gestalt und solchen anderen Eigenschaften und in solchem
Verhältnis zum Räume geschaffen hat, wie es dem von ihm
angestrebten Endzweck am besten entsprach ; und dass diese
Urteilchen fest und unvergleichlich härter als irgend ein
aus ihnen zusammengesetzter Körper, ja selbst so hart
waren, um sich niemals abnützen oder in Stücke brechen
^) Beiträge zur Molekularphysik, Schlömilch's Zeitsch. f. Math*
u. Phys., 15. Bd., S. II4.
Der Satz von der absoluten Härte u. Unelasiidtät etc. 27
zu lassen; denn keine gewöhnliche Kraft ist im Stande,
das zu scheiden, was Gott selbst geschaffen hat." -)
Seltsam genug begegnet die Forderung der absoluten
Starrheit der Ureinheiten der Masse, die nicht weniger ge-
bieterisch auftritt als die ihrer unbedingten Einfachheit,
einer gleich bezeichnenden Verleugnung von Seite der
modernen Physik. Die berühmteste unter den Hypothesen,
welche seit der allgemeinen Annahme der modernen Theorieeh
der Wärme, des Lichtes, der Elektricität und des Magnetis-
mus und der Aufstellung der Lehre von der Erhaltung der
Energie ersonnen worden sind, um einen sicheren Grund
für die mechanische Deutung physikalischer Erscheinungen
zu geben, ist unter dem Namen der kinetischen Gastheorie
bekannt. Im Lichte dieser Theorie erscheint ein Gas als
ein Schwärm von unzähligen, festen Teilen, die sich un*
aufhörlich mit verschiedenen Geschwindigkeiten nach allen
Richtungen hin geradlinig fortbewegen, wobei sich die Ge-
schwindigkeiten und Richtungen infolge der gegenseitigen
Zusammenstösse in Zwischenräumen ändern, die kurz im
Vergleich zu unseren gewöhnlichen Zeitmassen, aber unend-
lich lang im Vergleich zu der Dauer eines solchen Zusammen-
stosses sind. Es ist leicht einzusehen, dass diese Bewegungen
bald ein Ende finden würden, wenn die Teile vollkommen
unelastisch oder nur unvollkommen elastisch wären; denn
in diesem Falle würde bei einem jeden Zusammenstoss ein
Verlust an Bewegung stattfinden. Die vorausgesetzte unauf-
hörliche Dauer der Bewegung der Teilchen zwingt also zur
Annahme ihrer vollkommenen Elasticität. Diese Notwendig-
keit geht nicht nur aus den besonderen Erfordernissen der
kinetischen Gastheorie, sondern auch aus dem Prinzip der
Erhaltung der Energie in seiner allgemeinen Anwendung
auf die letzten Bestandteile der sinnlich wahrnehmbaren
*) Optics, 4. Aufl., S. 375.
28 IV. Kapitel.
Massen hervor, wenn diese als in Bewegung befindlich voraus-
gesetzt werden. In dem Falle des Zusammenstosses ge-
wöhnlicher unelastischer oder nur teilweise elastischer Körper
findet ein Verlust an Bewegung statt, welcher auf Rechnung
einer Verwandlung derselben in die Bewegung kleiner Teile
der zusammenstossenden Körper gesetzt wird. Bei Atomen
und Molekeln, welche keine solchen Teile mehr besitzen,
ist aber eine solche Verwandlung unmöglich, und sind wir
daher zur Annahme gezwungen, dass die letzten Molekeln
eines Gases absolut elastisch sind.
Die Notwendigkeit, vollkommene Elasticität den Atomen
oder Molekeln zuzuschreiben, ist von den Begründern der
kinetischen Gastheorie ausdrücklich anerkannt worden. „Die
Gase ," sagt Kroenig, *) „bestehen aus Atomen , die sich
wie feste, vollkommen elastische Kugeln mit bestimmten
Geschwindigkeiten durch den leeren Raum bewegen." Diese
Anschauung ist von Clausius*) übernommen und von
Maxwell mit besonderem Nachdruck betont worden, der
dem ersten Teil seiner Abhandlung „Illustration öf the
Dynamical Theory of Gases'* die Überschrift „Von den
Bewegungen und Zusammenstössen vollkommen elastischer
Kugeln'* gegeben hat. *) Die höchsten wissenschaftlichen
Autoritäten sind in der Behauptung einig, dass die Hypo-
these der atomistischen oder molekularen Zusammensetzung
der Materie im Widerspruch mit der Lehre von der Er-
haltung der Energie steht, sofern man nicht die Atome
oder Molekeln als vollkommen elastisch ansieht. „Die
moderne Lehre von der Erhaltung der Energie," sagt Lord
Kelvin (Sir William Thomson), „verbietet uns, den
letzten Elementen der Materie Starrheit oder einen be-
schränkten Grad von Elasticität zuzuschreiben." ®)
') Pogg. Ann., Bd. 99, S. 316.
*) Ib., Bd. 100, S. 353.
*) Phil. Mag., 4 th ser., vol. 19, p. 19.
Der Satx von rfer absoluten Eärte w. Unelasticitäi etc. 29
Natürlicherweise haben hervorragende Verteidiger der
kinetischen Theorie ihren Scharfsinn an der Aufsuchung
von Methoden versucht, um die mechanische Theorie aus
diesem Dilemma zu befreien. Die berühmteste dieser Be-
mühungen ist die von Lord Kelvin unternommene, der
auf seine Hypothese durch die Untersuchungen von Helm-
HOLTZ ^ über die Eigenschaften der rotierenden Bewegung
in einer absolut homogenen, unzusammendrückbaren, voll-
kommenen Flüssigkeit, von denen schon im vorigen Kapitel
die Rede war, geführt worden ist. Lord Kelvin nimmt
die Allgegenwart dieser Flüssigkeit an und definiert die
Atome als Wirbelringe, die durch drehende Bewegung in
derselben entstehen. Diese Ringe würden beständig und
von unveränderlichem Volumen sein, welches sie einer un-
wandelbaren Menge an Bewegung verdanken, und dabei
doch einer grossen Mannigfaltigkeit der Form fähig sein;
sie würden im Stande sein, sich selbst zu verketten oder
mit anderen Wirbelringen zu verbinden, ohne aber im freien
Zustande bestehen zu können; sie wären endlich ausser
Stande sich zu durchdringen oder mit einander zu ver-
schmelzen, und ihre gegenseitigen Annäherungen würden,
ebenso mit dem Zurückprallen endigen, wie es beim Stosse
vollkommen elastischer Körper der Fall ist.
Gerne zollen wir unsere Bewundenmg dem Scharfsin»,
der darauf verwandt wurde, die mechanische Theorie aus
einer ihrer verhängnisvollsten Verlegenheiten zu befreien;
andererseits aber ist zu fürchten, dass der Erfolg dieser
Anstrengung ein illusorischer ist. Denn es scheint klar zu
sein, dass eine Bewegung in einem vollkommen homogenen
und daher kontinuierlichen Mittel keine sinnenfällige Be-
wegung sein kann. Jede Teüung einer solchen Flüssigkeit
ist nur in Gedanken ausführbar; trotz der Verdrängung
«) Ib., vol. 45, p. 321.
') Crelle's Journal f. reine u. ang. Math., 55 Bd., S. 25.
1 . 'IV. Kapitel
les Teiles derselben durch einen andt
bener Raum in jedem Augenblick c
n Materie, die von der in einem fr-
rhanden gewesenen in keiner Weise
entsteht also keine Veränderung, ke
r Erscheinung. Eine Flüssigkeit, dei
ler Veränderung abgeht, ist aber ein e
äger einer wirklichen Bewegung, wie
! ist ebenso unnütz für die Erklärung
iterieller Einwirkungen, wie es das „•
ne Trägheit gewesen ist, von dem I
SS es vom leeren Raum nicht zu xmte
Überdies würden, wie Maxwell b
irbelringe der wesentlichen Eigenscha
hren: der Trägheit. Denn solche A
s der Substanz des überall vorhandene]
oss in den Bewegungen desselben besi
üssten die Erhaltungsgesetze der Masse
id von diesen müsste die Bildung d«
' den Erscheinungen, welche die sini
aterie zeigt, abgeleitet werden können,
öglich. Die Bewegung kann in Folge
eder Träger ihrer Bewegung werden, nc
;h selbst das Moment der Bewegung erz
1 Produkt zweier durchaus verschiedene
irch die Unterdrückung des einen ]
hwinden müsste. Auf dem Boden
leorie kann der fundamentale Gegensa
>
^OlgQWftQliO SM008
Äuissi
^
-•«««MWiyjo^
W^H Su
^!
p«!a
log
'^XiV
miß
^008
»Hq i
^^^00
ino
•"0 W
y;y
^Oog
^) Qui coelos materia fluida repletos ess -
a inertem esse statuunt, hi verbis toUunt vaci^t*^^^' ■'^^ . •
m hujusmodl materia fluida ratione nulla sec^^*^^ ^ O^ '*"'^C
atio, disputatio tota fit de rerum norainibus, rxo^ ^e . "^^^^ ^t^ ^^^c
Newton! Phil. Nat. Princ. Math., ed. Le Soeur et J^ ^(^ ^ ^^ .^'^l>.
A/0
^HOd^^
®) Encycl. Brit., Qth ed., „Atom".
V
Der Saix von der absoluten Härte u. Unelastidtät eic. 31
\ Bewegung, Trägheit und Energie nicht aufgehoben
den, ohne alle Unterschiede in unseren Grundbegriffen
r die Natur physikalischer Vorgänge zu verwischen.
Ein anderer Versuch, sich von der Notwendigkeit zu
eien, den Uratomen Elastizität beilegen zu müssen, der
einiger Beziehung an den von Lord Kelvin erinnert,
rt von A. Secchi her. Dieser berühmte Physiker und
ronom leitet das Abprallen der letzten Teilchen eben-
3 von deren rotierenden Bewegung her; nur sind seine
»me ungleich denen von Lord Kelvin wirkliche Körper,
von einander durch grosse Zwischenräume geschieden
d, und nicht blosse Bewegungen in einem kontinuierlichen
,..^ 1 unzusammendrückbaren Äther. SECCHI begreift sehr
hl die Unmöglichkeit, den letzten einf9,chen Atomen
istizität beizulegen. „Es ist klar," schreibt er, ^^) „dass,
irend es möglich ist, Elastizität in einem zusammen-
etzten Molekel anzunehmen, das gleiche nicht auch bei
em einfachen Atom der Fall ist. In der That setzt ja
Elastizität in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes
h -e Räume im Innern eines Molekels voraus, dessen Form
I
ch den Druck derart geändert wird, dass sie nach Auf-
en des Druckes wieder die ursprüngliche wird. Nun
achten wir aber ein Atom als undurchdringlich und
it als eine Gruppe von festen Körpern, somit kann das-
•^rr^ ^ e nicht leere Räume einschliessen, welche eine Aus-
'^Sit^ aung oder Zusammenziehung gestatten.**
„In der That ist das, was wir ein Molekel eines ein-
en, d. i. eines chemisch nicht mehr weiter zerlegbaren
3s nennen, kein einfaches Atom oder muss es zum min-
en nicht sein. Insofern als dieses Gasmolekel ein
Ajjjjegrat wirklicher Atome ist, kann es ganz gut sein, dass
es innere Poren und allgemein gesprochen eine Reihe von
ttr,
^^) L'unite des forces physiques, 2. Aufl., S. 47 ff.
32 IV, Kapitel.
Eigenschaften besitzt, welche den es zusammensetzenden
Atomen nicht zukommen ; es ist somit nicht absurd, es als
elastisch ahzusehen. Huygens hat diese Annahme für
den Äther gelten lassen. Seiner Meinung nach waren die
Teile des Äthers aus kleineren zusammengesetzt Bei
näherer Prüfung sieht man jedoch, dass dies mehr eia
Verschieben als ein Lösen der Schwierigkeit ist. Wir
hoffen zeigen zu können, dass es keineswegs notwendig ist,,
solch^ eine Elasticität als ursprüngliche Kraft anzunehmen
und dass das scheinbare Abprallen der Atome und ihre
gegenseitigen Zusammenstösse einfach auf eine geeignete
Bewegungsform zurückgeführt werden können, zu welchem
Zwecke es hinreichend ist, sie als in Drehung befindlick
anzunehmen. Lasst uns dies beweisen!"
„Unter den schönen Sätzen Poinsot's über den Stoss
drehender Körper findet sich einer, der sich auf die Re-
flexion von einer widerstehenden Wand bezieht. Er lehrt
uns, dass in Folge der Rotation allein ein harter und un-
elastischer Körper ganz so wie ein vollkommen elastischer
zurückgeworfen werden kann; ja noch mehr: es kann ge-
schehen, dass ein solcher gegen ein festes Hindernis ge-
worfener Körper mit einer grösseren Geschwindigkeit zurück-
kehrt. Der tiefsinnige Mathematiker zeigt, wie dieses auf
den ersten Blick paradox erscheinende Ergebnis durch die
Umwandlung eines Teiles der drehenden Bewegung in fort-
schreitende zustande kommt, wodurch die Geschwindigkeit
des Schwerpunktes eine grössere wird. Nach den gewöhn-,
liehen Theorieen des Stosses, bei denen keine Rücksicht
auf die drehende Bewegung genommen wird, erscheint
dieser Satz absurd und trotzdem ist er vollkommen be-
gründet. So stellen sich neben die Fälle der gewöhnlichen
Reflexion die der „fortschreitenden'*; man kann sie unter
Benutzung eines PoiNSOT'schen Ausdruckes als ,negative
Reflexionen' bezeichnen."
Der Satz von der absoluten Härte u. Unelasticität etc, 33
„Bei der negativen Reflexion kehrt nach dem Stosse
der Schwerpunkt des Körpers mit einer grösseren Ge-
schwindigkeit, als er vordem besessen, zurück. Diese Fragen
bilden einen ganz neuen und sehr interessanten Zweig der
Mechanik; sie lassen sich leicht erledigen durch Betrach-
tung der fortschreitenden uud drehenden Bewegung in
/ Bezug auf die Mittelpunkte der Schwere, der Rotation und
des Stosses \ und wir sehen leicht ein, dass sich allgemein
sagen lässt: ein Stoss kann, mag er wie immer sein, nie-
mals in einem Körper die drehende und fortschreitende
Bewegung zugleich vernichten; denn, wenn der Stoss ein
exzentrischer ist, kann er die drehende, aber nicht die
fortschreitende Bewegung zerstören, und wenn die Richtung
des Stosses durch den Schwerpunkt geht, kann derselbe
die fortschreitende, aber nicht die drehende Bewegung auf-
heben. Auf diese Weise wird die auf der einen Seite
verlorene Bewegungsgrösse auf der andern wieder gewonnen ;
die Drehung mag entweder ihren Sinn ändern oder bloss
beschleunigt werden je nach der Lage des gestossenen
Punktes des Körpers; daher der Begriff „Mittelpunkt des
Stosses". Beispiele für die Reflexion nach Art des Stosses
drehender Körper finden sich bei den Bewegungen von
Wurfscheiben, Spinnmaschinen u. s. f. Billardspieler wissen
sehr wohl, wie die Drehung der Bälle die Gesetze des
Stosses elastischer Körper, wie sie aus den elementaren
Leitfäden bekannt sind, abändert." ^^)
^*) Die Sätze, auf die sich Secchi bezieht, finden sich in der
letzten von einer Reihe von Abhandlungen (Questions Dynamiques
sur la Percussion des Corps), die PoiNSOT zu Liouville's Journal
der reinen und angewandten Mathematik beigesteuert hat (II. ser.,
t. n (1857), p, 281 ff., und t. IV (1859), p. 421 flf.). Diese bemerkens-
werte Abhandlung ist von dem achtzigjährigen Geometer kurz vor
seinem Tode veröffentlicht und wahrscheinlich auch geschrieben worden ;
der letzte Teil ist in der That nach seinem Tode in derselben Nummer
StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 3
34 • ^^» Kapitel.
Unglücklicherweise findet die hier vorgetragene Theorie
wenig Stütze an den Sätzen Poinsot's. Secchi behauptet,
dass der Stoss eines rotierenden Körpers, falls er excentrisch
ist, „die drehende aber nicht die fortschreitende Bewegung
zerstören kann," und wenn er ein zentraler ist, „die fort-
schreitende aber nicht die drehende Bewegung zu nichte
machen kann," so dass -in jedem Falle die auf der einen
Seite verlorene Bewegungsgrösse auf der andern gewonnen
wird."*^ Aus einem sorgfaltigen Studium von Poinsot's
Abhandlung ergibt sich jedoch, dass nach dem Zusammen-
stosse rotierender unelastischer Körper nur in gewissen spe-
ziellen Fällen deren Rotation oder fortschreitende Bewegung
oder beide erhalten bleiben oder das Wachstum, die Ver-
minderung oder der Verlust der einen durch die Ver-
minderung, den Zuwachs oder Gewinn der anderen aus-
geglichen wird. PoiNSOT^^) zeigt, dass, wenn ein rotierender
unelastischer Körper auf ein festes Hindernis stösst, es von
der Entfernung des augenblicklichen Mittelpunktes der
Drehung vom Schwerpunkte abhängt, ob der Körper mit
einer in Bezug auf den Anfangszustand grösseren oder
gleichen Geschwindigkeit zurückgeworfen wird, oder aber
seine Geschwindigkeit in progressiver Richtung verliert. Im
ersteren Falle gibt es stets zwischen dem Schwerpunkt und
dem Mittelpunkt des Stosses „zwei Punkte derart, dass, wenn
der rotierende Körper das Hindernis in der Richtung des
einen derselben trifft, sein Schwerpunkt mit vergrösserter
Geschwindigkeit zurückgeworfen wird." ^*) Im zweiten Falle
von Liouville's Journal erschienen, welche die bei seinem Leichen-
begängnisse gehaltenen Reden von Bertrand und Matthieu enthält,
^*) SECCm spricht fortwährend von dem Gewinn oder Verlust
an „Bewegungsgrösse", doch verlangt seine Beweisführung, dass dies
als Verlust oder Gewinn an „Energie" gedeutet werde. Ob dies
auch seine eigene Meinung ist, wage ich nicht zu entscheiden.
1») LlOUVlLLE Journal, 2. ser., t. 2, p. 288 seq.
Der Satz von der ahsolvien Härte u. ünelasticität etc. 35
„gibt es stets in jedem sich fortbewegenden Körper zwei
Punkte vollkommener Reflexion, d. i. zwei Punkte von der
Art, dass, wenn der Körper ein Hindernis in der Richtung
des einen trifft, er mit einer ganz gleichen Geschwindigkeit
zurückgeworfen wird," ^'^) so zwar, dass der Schwerpunkt
des Körpers so zurückgeworfen wird, als ob der Körper
vollkommen elastisch wäre." Doch verliert, wenn
dies geschieht, der Körper in dem einen Falle
ein Drittel, im zweiten zwei Drittel seiner
Winkelgeschwindigkeit.^*) Endlich drittens, „wenn
sich das Hindernis im Schwerpunkt oder im Mittelpunkte
des Stosses entgegenstellt, wird die Geschwindigkeit in fort-
schreitender Richtung in beiden Fällen in gleicher Weise
zerstört, nur mit dem Unterschiede, dass im ersten Falle
die Winkelgeschwindigkeit nicht geändert, im zweiten aber
zugleich mit der progressiven Geschwindigkeit vernichtet
wird."^'0
Die Wahrheit ist also, dass bloss in den von Poinsot
besonders angeführten Fällen vollkommener Reflexion ein
durch kein Wachstum der translatorischen Bewegung aus-
geglichener Verlust von ein oder zwei Drittel der rotierenden
Bewegung auftritt, während es Fälle gibt, in denen sowohl
die translatorische wie die drehende Bewegung zugleich
verschwinden. ^®)
1*) L. c, p. 304.
") L. c, p. 305.
1*) L. c, p. 307.
*') L. c, p. 308.
^®) Wiewohl ich seit langem Prioritätsfragen und Ansprüchen
gegenüber höchst gleichgiltig geworden bin, mag es vielleicht doch
nicht unschicklich erscheinen, zu sagen, dass die vorhergehenden
Seiten geschrieben worden waren, ehe ich die sehr tüchtige Schrift
von Dr. C. ISENKRAHE „Das Rätsel von der Schwerkraft" (Braun-
schweig, Vieweg u. Sohn, 1879) gesehen hatte, mit dem ich mich
insoweit übereinzustimmen glücklich schätze, als es sich um die
3*
36 • IV, Kapitel,
Dass Secchi es für möglich gehalten hätte, die Er^
füUung des Erhaltungsgesetzes der Energie beim Zusammen«
stosse der Atome auf die Rotation als einen Ersatz für die
„geheimnisvolle Eigenschaft** vollkommener Elasticität zu
übertragen, erscheint äusserst unglaubwürdig, wenn wir die
Art und Weise des Gebrauches betrachten, den er von seiner
eigenen Theorie macht. Diese Theorie dient ihm zufolge
zur Erklärung einer Menge von Thatsachen, worunter sich
die Bildung molekularer Aggregate aus einfachen Atomen
und die Erscheinungen der Gravitation befinden. Die Zu-
sammenballung der Atome behufs Bildung zusammengesetzter
Molekeln erklärt er auf folgende Weise: ^*) „Setzen wir
einen extremen Fall voraus, nämlich den Zusammenstoss
zweier Atome von bloss fortschreitender Geschwindigkeit,
oder aber den Fall des Zusammenstosses , bei dem keine
Reflexion stattfindet (was geschehen würde, wenn die ro-
tierenden Atome in der Richtung ihrer Drehungsaxen auf
einander stossen würden). „Offenbar werden die Atome in
derselben Weise vereint bleiben, wie die sogenannten „harten"
Körper der Mechaniker, und sie werden ein System bilden,
das jene translatorische Bewegung besitzt, die sich aus den
zwei anderen Bewegungen ergibt. Dieses System wird im
Giltigkeit des Versuches von Secchi handelt, die Eigentümlichkeit
vollkommener Reflexion aus der Rotation unelastischer Körper mit
Hilfe der PoiNSOT'schen Theorie abzuleiten, während ich im übrigen
seiner eigenen Theorie der Gravitation nicht beistimmen kann. Es
gibt noch andere Übereinstimmungen — und das sind übrigens die
interessantesten, weil sie unzweifelhaft ganz zufällig sind — und*zwar
zwischen der in dieser Schrift enthaltenen Kritik SPiLLER'scher Speku-
lationen und meiner Beurteilung derselben, die zuerst in ,,The Populär
Science Monthly", Jänner I874, erschienen ist. Es ist zu bedauern,
dass ISENKRAHE vor der Veröffentlichung seiner Schrift nicht William
B. Taylor's hier später citierte bedeutsame Publikation über „Kinetic
Theories of Gravitation" gesehen hatte.
^^) L'unite, p. 51 seq.
Der Satx von der absoluten Härte u. Unelastidtät etc. 37
Stande sein, wie ein einziger Körper von einfacher, doppelter,
dreifacher oder überhaupt so vielfacher Masse zu wirken,
als Atome in demselben vereint sind. Hier haben wir ein
deutliches Beispiel einer Verkettimg von Atomen, die nicht
durch irgend eine Anziehungskraft, sondern durch die ein-
fache Trägheit an einander gebunden sind." Nach dieser
Stelle zu urteilen, konnte Secchi kaum sich in Unkenntnis
der Thatsache befunden haben, dass der Zusammenstoss
drehender unelastischer Körper nicht immer zu einem schein-
bar elastischen Abprall führt. In den Anwendungen auf
die Gravitationserscheinungen kehrt sich die Theorie ein-
fach gegen ihre eigenen Grundlagen. Sie sucht dieselben
durch die Annahme zu begründen, dass die Dichte des
Äthermediums, welches die ponderablen Körper oder Mo-
lekeln umgibt, mit der Entfernung von deren Mittelpunkte
wächst ; ^^) und diese Zunahme der Dichte wird als eine
Folge der fortschreitenden Umwandlung der drehenden in
eme translatorische Bewegung der Ätherteilchen hingestellt,
so dass dieselben ununterbrochen von den „Herden der
^®) Diese Annahme ist identisch mit der von Sir Isaak Newton,
der in seinem Briefe an Boyle (Newton's Works, ed. HoRSLEY,
vol. IV, p. 385 seq.) über die „Ursachen der Schwerkraft" speku-
lierend sagt: ,,Ich will den Äther als aus Teilen bestehend annehmen,
die sich von einander durch unendlich kleine Grade ihrer Feinheit
in der Weise unterscheiden, dass von den höchsten Luftschichten an
bis zur Oberfläche der Erde, und von der Oberfläche der Erde bis
zum Mittelpunkte derselben der Äther unmerklich feiner und feiner
wird. Denken wir uns nun einen Körper in der Luft oder auf der
Erde liegend und den Äther der Annahme gemäss gröber in den
höheren als in den tieferen Teilen des Körpers und diesen gröberen
Äther weniger geeignet zum Eindringen in die Poren des Körpers
als den feineren , so wird derselbe trachten , den Körper zu ver-
lassen und dem feineren Äther der Unterseite den Weg frei zu
machen , was nicht anders geschehen kann , als wenn der Körper
herabfällt und so darüber Raum geschaffen wird zum Eindringen
des Äthers."
38 IV. Kapitel
Bewegung" weg nach aussen getrieben werden. „Oflenbar
vermag/' sagt Secchi, ^^) „ein Herd der Bewegung, selbst
wenn er allein dasteht, wofern er nur durch genügend leb-
hafte und dauernde Bewegung ausgezeichnet ist, die Be-
wegung eines unbegrenzten Mediums zu bestimmen und
so zu gestalten, dass die Dichte im Mittelpunkte den kleinsten
Wert besitzt und von da aus im Verhältnis zur Annäherung
an den Umfang wächst." Secchi gibt keinen Grund an,
weshalb ein stetiges Wachstum der fortschreitenden Be-
wegung der Ätherteilchen auf Kosten ihrer drehenden Be-
wegung stattfinden, und warum stets oder doch im allge-
meinen nur eine Umwandlung der drehenden in eine fort-
schreitende Bewegung tmd nicht auch eine solche in ent-
gegengesetzter Richtung vor sich gehen sollte; auch gibt
er keine Quelle jener „lebhaften und dauerhaften Bewegung"
im Mittelpunkte an, welche eine unaufhörliche Bewegung
des grenzenlosen Ätherraumes erzeugen sollte ; so zwar, dass
diese Erklärung der Erscheinungen der Gravitation von sehr
zweifelhaftem Werte ist. Aber auch abgesehen davon ist
es sicher, dass, wenn die drehende Bewegung der harten
Partikeln nach und nach in eine fortschreitende umgewandelt
wird, dies einmal ein Ende nehmen muss, und wir abermals
vor dem ungelösten Probleme stehen, den fortdauernden
Stoss einfacher, harter und somit unelastischer Körper mit der
Erhaltung ihrer ursprünglichen Energie in Einklang zu bringen.
Die Schwierigkeit bleibt also bestehen und erscheint un-
lösbar. Es gibt keine bekannte Methode in der Physik,
welche uns befähigen würde, auf die Annahme vollkommener
Elasticität der Partikel wägbarer Körper und ihrer hypothe-
tischen imponderablen Hüllen zu verzichten, wiewohl diese
Annahme im klaren Widerspruch zu einer der wesentlichsten
Fordenmgen der mechanischen Theorie steht.
21) L. c, p. 538.
V.
Der Satz von der absoluten Trägheit der Urein-
heiten der Masse.
Da Masse und Bewegung gegenseitig in einander nicht
verwandelbar sind, ist die Masse absolut trag. Sie kann
Bewegung in einer andern Masse nur dadurch verursachen,
dass sie ihre eigene Bewegtmg teilweise oder gänzlich auf
dieselbe überträgt. Und da Bewegung nicht für sich selbst
bestehen kann, sondern^ die Masse als ihr notwendiges
Substrat verlangt, kann die Übertragung derselben nur dann
Platz greifen, wenn sich die betreffenden Massen berühren.
Alle physikalischen Wirkungen geschehen somit durch Stoss ;
eine Wirkung in die Ferne ist unmöglich; es gibt in der
Natur kein Ziehen, sondern nur ein Drücken; und jede
Kraft ist (in der Sprache Newtons) nicht bloss eine vis
impressa, sondern eine vis a tergo.
Die Notwendigkeit, alle physikalischen Wirkungen
auf den Stoss zurückzuführen, ist ein beständiger Lehrsatz
der Physiker seit dem Entstehen der modernen physika-
lischen Wissenschaft gewesen. Und gerade so, wie in den
in den zwei vorhergehenden Kapiteln diskutierten Fällen,
befindet sich auch hier die Wissenschaft im Widerspruche
zu ihren eigenen Grundannahmen. Ihre erste nind grösste
Leistung war die Zurückführung aller Erscheinungen der
Himmelsbewegung auf das Prinzip der allgemeinen Gravi-
tation durch Newton — ein Prinzip, welches aussagt, dass
sich alle Körper mit einer ihren Massen gerade und dem
40 F. Kapitel.
Quadrate ihrer Entfernung verkehrt proportionalen Kraft
anziehen.
Dass die Theorie der allgemeinen Gravitation in dem.
Sinne einer Anziehung aus der Ferne ohne Dazwischen-
kunft eines Mediums, welches im Stande wäre, mechanische
Impulse fortzuleiten, im Widerspruch mit den Elementen
der mechanischen Theorie steht, ist von niemand besser
gefühlt worden, als von Newton selbst. Gleich am Anfang
seiner „Prinzipien" verwahrt er sich sorgsam gegen die
Zumutung, dass er die Gravitation als eine wesentliche
Eigenschaft der Materie, die sich von derselben nicht
trennen Hesse, angesehen und die gegenseitige Anziehung
der Körper für eine letzte physikalische Thatsache gehalten
hätte. Die Kraft, welche die Körper gegen einander treibt,
war ihm, wie er ausdrücklich bemerkt, ein rein mathema-
tischer Begriff, der keine Betrachtungen über die wirklichen
physikalischen Ursachen in sich schliesst. *) Und offenbar
besorgt, es könnte diese Verleugnung trotzdem ausser Acht
gelassen werden, wiederholt er sie in nicht weniger deut-
lichen Ausdrücken am Schlüsse seines grossen Werkes.
„Den Grund für diese Eigenschaft der Gravitation," sagt
er da, „war ich nicht im Stande zu finden, und Hypothesen
mache ich nicht." *) Wenn nach all' dem noch immer die
Möglichkeit eines Zweifels an Newton's Ansichten über die
Natur der Gravitation vorhanden wäre, so müsste sie vollends
beseitigt werden durch die wohlbekannte Stelle in seinem
dritten Briefe an Bentley: „Es ist unbegreiflich, wie eine
unbelebte, rohe Materie ohne Vermittelung von etwas Un-
^) „Mathematicus duntaxat est hie conceptus. Nam virium causas
et sedes physicas jam non expendo." Princ, Def. VIII.
*) „Rationem vero harum gravitatis proprietatum nondum potui
deducere ; et hypotheses non lingo." Princ. , Schol. Gen. ad fin.
Dieselbe Abläugnung findet sich auch in den Worten des Scholiums
zum 29. Theorem vor: Prop. 69, i. Buch der Prinzipien.
Der Satz von der absoluten, Trägheit d, Ureinkeiten eic, 4t
materiellem auf eine andere Materie, mit der sie nicht in
gegenseitiger Berührung steht, einwirken könnte, wie es bei
der Gravitation der Fall sein müsste, wenn diese im Sinne
Epikurs eine der Materie anhaftende wesentliche Eigenschaft
derselben wäre. Und das ist der Grund, weshalb ich
wünsche, Sie möchten nicht mir die Idee einer angeborenen
Gravitation zuschreiben. Dass die Gravitation der Materie
eigentümlich, anhaftend und wesentlich sei, so dass ein Körper
auf einen zweiten in die Ferne ^ durch den leeren Raum,
ohne Vermittlung irgend eines Mediums wirken könnte, er-
scheint mir als eine so grosse Absurdität, dass ich glaube,
niemand, der in philosophischen Dingen die erforderliche
Fähigkeit zum Denken besitzt, könnte darauf verfallen. Die
Gravitation muss durch ein Agens verursacht sein, das nach
bestimmten Giesetzen wirkt; ob jedoch dieses Agens mate-
rieller oder immaterieller Natur sei, habe ich der Über-
legung meiner Leser überlassen." »)
Es gibt noch eine weitere Beweisstelle dafür, dass
Newton die allgemeine Gravitation als eine sekundäre Er-
scheinung aufgefasst hat, die auf Grund der Prinzipien des
gewöhnlichen Stosses oder Druckes zu erklären wäre. In
der letzten Ausgabe der Optik legt er gewisse „Fragen"
vor, die sich auf die Möglichkeit einer Ableitung einiger
Eigenschaften des Lichtes aus der Wellenbewegung eines
alles durchdringenden Äthers beziehen, und bemerkt dazu
(Frage 21): „Ist nicht dieses Medium viel dünner inner-
halb der dichtem Körper der Sonne, der Sterne, Planeten
und Kometen, als in den leeren Himmelsräumen dazwischen ?
Und wird dasselbe nicht immer dichter und dichter beim
*) Newton's Works, ed. S. Horsley, vol. IV, p. 438. Zöllner
versucht in der Einleitung zu seinen „Prinzipien einer elektro-dyna-
mischen Theorie der Materie" die Beweiskraft dieser und anderer
Stellen in den Schriften Newton's zu entkräften, jedoch, wie mir
scheint, ohne allen Erfolg.
42 F. Kapitel,
Übergange zu grösseren Entfernungen und verursacht es
nicht auf diese Weise die gegenseitige Anziehung grosser
Körper, sowie auch die ihrer Teile zu einander, indem
jeder Körper in der Richtung vom dichteren zum dünneren
Medium sich zu bewegen trachtet ?'* *)
Ungeachtet dieser ausdrücklichen Erklärungen schlugen
Newton's Zeitgenossen Lärm über die angebliche Rückkehr
geheimer Ursachen in die Physik. E^ ist von Interesse, die
Energie zu bemerken, mit der die Philosophen und Mathe-
matiker jener Tage gegen die Annahme einer physikalischen
Wirkung in die Ferne protestierten. Huygens zögerte nicht
zu erklären, dass „ihm Newton' s Attraktionsprinzip absurd
erscheine''. Leibniz nannte es „eine unkörperliche und
unerklärliche Kraft"; Johann Bernoulli, der an die Pariser
Akademie zwei Abhandlungen einschickte, in welchen er
die Bewegungen der Planeten durch eine verbesserte Form
der DESCARTEs'schen Wirbeltheorie zu erklären suchte, be-
zeichnete „die zwei Annahmen einer Anziehungskraft und
eines vollkommen leeren Raumes" als „unannehmbar für
alle jene, die in der Physik nur Unbezweifelbares und
Evidentes anzunehmen gewohnt sind." Auch bei den Phy-
sikern und Astronomen einer späteren Generation fand das
Prinzip der Femwirkung keine bessere Aufnahme. Euler
bemerkte, dass die Wirkung der Gravitation entweder der
Intervention eines Geistes, oder eines subtilen materiellen
Mediums, das sich unserer Wahrnehmung entziehe, zuzu-
*) Optik, 4. Aufl. S. 325. Die „Fragen" erschienen zuerst in
der zweiten Aullage der Optik, in deren Vorrede Newton bemerkt:
„To shew that I do not take gravity for an essential property of
bodies, I have added one question concerning its cause, chusing to
propose it by way of a question, because I am not satisfied about
it for want of experiments." Ich habe bereits an einem andern Orte
(siehe oben S. 26) eine ähnliche Erklärung seiner Ansichten im Briefe
an BOYLE citiert.
Der Satz von der absokUen Trägheit d, üreinheüen etc. 43
schreiben sei; und er bestand darauf, dass letztere die
einzig zulässige Alternative sei, wiewohl der genaue Nach-
weis der Gravitationskraft schwierig oder unmöglich sein
möchte.*^) Sein grosser Nebenbuhler und Widersacher
D'Alembert rechnete die Gravitation zu jener Klasse von
Bewegungsursachen, deren wahre Natur uns völlig unbekannt
sei, im Gegensatze zur Einwirkung durch den Stoss, von
der wir einen klaren mechanischen Begriff besitzen. *) Und
trotz der Behauptung John Stuart Mill's und anderer, dass
die Denker unserer Zeit sich von den alten Vorurteilen
gegen eine Fernwirkung emanzipiert hätten, lässt es sich
leicht zeigen, dass dasselbe heute so vorherrschend ist wie
vor zwei Jahrhimderten. Es mögen nur einige Beispiele
angeführt werden: Professor Challis, der eine Reihe von
Jahren hindurch sich angestrengt bemüht hat, eine hydro-
dynamische Theorie der Attraktion aufzustellen, sagt: „E^
gibt keine andere Kraft als den bei Berührung zweier
Körper erfolgenden Druck. Diese Annahme beruht auf
*) Euler, „Theoria motus corporum solidonim," S. 68. Vgl.
auch „Lettres ä une princesse d'Allemagne", Nr. 68 vom 18. Ok-
tober 1760.
*) D'Alembert, „Dynamique" (2 me ed.), p. IX seq. Es ist be-
kannt genug, wie langsam und mit welchem Widerstreben Newton's
Lehre in Frankreich Aufnahme und Anerkennung gefunden hat, in
welchem Lande der Cartesianismus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
unbestrittenen Einfluss behielt. Wie die Cartesianer im allgemeinen
über die Femwirkung dachten, mag einer von Saurin vor der
Akademie der Wissenschaften im Jahre 1709 gelesenen Abhandlung
entnommen werden, aus der Edleston (Correspondence between
Newton and Cotes) folgende Stelle citiert: „II (Newton) aime
niieux considerer la pesanteur comme une qualite inherente dans les *
Corps et ramener les idees tant decriees de qualite occulte et d'at-
traction." Wenn wir die mechanischen Prinzipien (d. i. die des
Stßsses und der durch denselben erzeugten Bewegung) verlassen, er-
klärt er weiter, „nous voilä replonges de nouveau dans les anciennes
tenebres du peripatetisme dont le ciel nous veuille preserver".
44 ^« Kapitel
dem Prinzip, keine Grundvorstellimgen zuzulassen, die sich
nicht auf Empfindung und Erfahrang zurückführen liessen.
Es ist allerdings richtig, dass wir Körper unter dem Ein«
flusse äusserer Kräfte sich bewegen sehen, so z. B. wenn
ein Körper in Folge der Wirkung der Schwere zu Boden
fallt. So weit unser Gesichtssinn reicht, bemerken wir in
solchen Fällen weder eine Berührung noch einen Druck von
Seite eines andern Körpers. Wir haben aber auch ein Ge-
fühl der Berührung oder des Druckes durch Berührung —
so z. B. der Hand mit einem andern Körper — und wir
fühlen in uns selbst das Vermögen, Bewegung durch solch
einen Druck zu erzeugen. Das Bewusstsein dieses Ver-
mögens und das Gefühl der Berührung geben eine deut-
liche Vorstellung der Art, als ob die ganze Welt auf die-
selbe Art wirken würde, wie es bei dem bewegten Körper
der Fall ist ; und die Regel der Philosophie, welche persön-
liche Empfindung und Erfahrung zur Grundlage unserer
wissenschaftlichen Kenntnis macht, die ebenso auch die Grund-
lage jener Kenntnis ausmachen, welche die gewöhnlichen
Handlungen des menschlichen Lebens regelt, verbietet die
Anerkennung einer andern Methode. Wenn daher ein Körper
ohne sichtbare Berührung und ohne Druck eines andern
Körpers sich zu bewegen veranlasst wird, so muss noch
immer geschlossen werden, dass der pressende Körper, wie-
wohl er unsichtbar ist, existiert; ausser wir fügen uns in
die Annahme, dass es physikaHsche Wirkungen ^ibt und
geben wird, die uns ewig unverständlich bleiben. Die Zu-
lassung dieser Annahme ist unverträglich mit den Prinzipien
der Philosophie, die ich verteidigen will, und die annimmt,
dass die Belehrung durch die Sinne imstande ist, mit Hilfe
der Mathematik Erscheinungen jeder Art zu erklären . . .
Da jede physikalische Kraft in Druck besteht, muss es
ein Medium geben, durch welches der Druck vermittelt
wird." ^ Mit gleichem Feuereifer verwirft James Groll die
Der Satz von der absoluten Trägheit d. Ureinheiten etc. 4S
„AnDahme" einer allgemeinen Anziehung. „Kein Prinzip,"
behauptet er, ,,kann je allgemein angenommen werden, das
im Widerspruche zu dem alten Sprichwort steht : ,Ein Körper
kann nicht wirken, wo er nicht ist'." ®) Secchi protestiert
fast in den nämlichen Worten: „Wir haben bereits anders-
wo gesagt," erklärt er, „wie unmöglich es ist , sich einen
klaren Begriff der sogenannten Anziehungskraft im strengen
Sinne des Wortes zu bilden, d. h, sich ein wirksames Prinzip
vorzustellen, das seinen Sitz innerhalb der Molekeln hat
und ohne Mithilfe eines Mediums durch den leeren Raum
wirkt. Dies käme der Annahme gleich, dass Körper auf
einander durch die Entfernung einwirken, d. i. wo sie nicht
sind; eine Annahme, gleich absurd in dem Falle sehr grosser
wie in dem sehr kleiner Entfernungen." •) Friedrich Mohr
(welcher zu der Ehre berechtigt zu sein scheint, das Prinzip
der Erhaltung der Energie zuerst ausdrücklich ausgesprochen
zu haben, selbst vor Julius Robert Mayer) legt sein wissen-
schaftliches Glaubensbekenntnis in einer Reihe von „Thesen"
nieder, unter welchen sich diese befindet: „Die Gravitation
kann nicht wirken ausser durch Vermittlung ponderabler
Materie." Jö) Ebenso auch E. Du Bois-Reymond : „Durch
aen leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an
sich unbegreiflich, ja widersinnig, und erst seit Newton's
Zeit und durch Missverstehen seiner Lehre und gegen seine
ausdrückliche Warnung den Naturforschem eine geläufige
"orstellung geworden." ^^) Und endlich erklären Balfour
') „On the Fundamental Ideas of Matter and Force in Theo-
fetical Physics." Phil. Mag., 4th ser., vol. 31, p. 467.
*) „On Certain Hypothetical Elements in the Theory of Gravi-
tation." Phil. Mag., 4th ser., vol. 34, p. 450.
') L'unite etc., p. 532 seq.
^®) „Nonnisi materia ponderabili interposita attractio agere potest'',
Geschichte der Erde, Appendix, S. 512.
^^) Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 14.
46 V. Kapitel.
Stewart und P. G. Tait: „Unstreitig mag die Annahme
einer Wirkung in die Ferne dazu angethan sein, manches
zu erklären ; doch ist es (wie Newton lange zuvor in seinem
berühmten Briefe an Bentley ausgeführt hatte) unmöglich
für irgend wen, ,der in philosophischen Dingen kompetentes
Urteil besitzt', auch nur einen Augenblick die Möglichkeit
einer solchen Wirkung zuzulassen." **)
Der entscheidendste Beweis für den Widerstreit zwischen
der Annahme einer Wirkung in die Ferne und den Grund-
begriffen mechanischer Wirkungsweise wird indessen durch
die unaufhörlich von Seiten ausgezeichneter Männer seit
Newton's Tagen sich erneuernden Versuchen geliefert, die
Erscheinungen der Gravitation auf Grund der Prinzipien des
Flüssigkeitsdruckes oder des Stosses fester Körper zu er-
klären. ^'*) Diese Versuche sind in letzter Zeit mit ausser-
^*) The Unseen Universe, 3^ ed. (1875), p. 100.
^^) Einige dieser Versuche sind sehr geschickt besprochen in
einer neueren Abhandlung von William B. Taylor : „Kinetic Theories
of Gravitation", Smithsonian Report, 1876. Diese interessante Arbeit
ist vollständig erschöpfend in Bezug auf die Aufzählung von Theorieen
englischen und französischen Ursprungs und mag durch eine Samm-
lung von Verweisungen auf deutsche Artikel . und Bücher ergänzt
werden , die den gleichen Gegenstand behandeln. Siehe : Schramm,
„Die allgemeine Bewegung und Materie", Wien 1872; AUREL Anders-
SOHN, „Die Mechanik der Gravitation", Breslau 1874 (enthält eine
Photographie der Ergebnisse . eines Experimentes , bei welchem die
Wirkung der Gravitation durch eine Kugel nachgeahmt wird, die
im Wasser schwimmt, das durch strahlenförmig ausgehende Impulse
erregt ist) ; „Zur Lösung des Problems über Sitz und Wesen der An-
ziehung" , 47. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu
Breslau 1874; Hugo Fritsch, „Theorie der NEWTON'schen Gravi-
tation und des MARiOTTE'schen Gesetzes", Königsberg 1874; Ph.
Spiller, „Die Urkraft des Weltalls", Berlin 1876 etc. Es ist einiger-
maassen sonderbar, dass Taylor jede Beziehung auf Hüygens Arbeit
„Dissertatio de causa gravitatis" (Hugenii Opp. Reliqua, vol. i, pag.
95 seq., Amst. 1728), sowie auf die ähnlich durchgearbeitete Theorie
von Secchi unterlässt, von der bereits im vierten Kapitel die Rede
Der Satz von der absoluten Trägheit d, Ureinheüen etc. 47
ordentlichem Interesse infolge der Ergebnisse gewisser Ex-
perimente von Professor Guthrie wieder aufgenommen
worden, welcher gefunden hatte, dass leichte in der Nähe
einer schwingenden Scheibe befindliche aufgehängte Körper-
chen gegen dieselbe „wie durch ein unsichtbares Band'*
gezogen werden — eine Erscheinung, die wie Lord Kelvin
ausgeführt hat, durch die Thatsache erklärt wird, dass in
einer bewegten Flüssigkeit der Druck dort am kleinsten
ist, wo die durchschnittliche Energie der Bewegung am
grössten ist. ^*)
In den Augen moderner Physiker sind alle Arten von
Wirkungen, die sich strahlenförmig von einem Mittelpunkte
auszubreiten scheinen, fortschreitende Schwingungen elastischer
Medien. Es ist daher natürlich, nach der physikalischen Ur-
sache der Gravitation in derselben Richtung zu suchen.
Zahlreiche Theorieen sind ersonnen worden, in denen die
Gravitation auf die Wellenbewegung einer elastischen inter-
stellaren und interatomistischen Flüssigkeit zurückgeführt
wurde, die dem Lichte ähnlich oder mit ihm identisch
sein sollte. Die am meisten berücksichtigungswerte dieser
Theorieen ist die von Professor Challis, der annimmt,
dass der ganze Raum mit einem schwingenden Medium er-
fiillt sei, welches „eine kontinuierliche elastische vollkommene
Flüssigkeit ist, die einen ihrer Dichte proportionalen Druck
war. In unserm eigenen Lande [Amerika] rühren von Professor
PUNY Earle Chase reiche Beiträge zu dieser Art von Literatur her.
^^) Güthrie's Experimente sind schon früher ohne seiner Kennt-
WS von GuYOT, Schellbach und andern gemacht worden, wie aus
einer Mitteilung Güthrie's selbst an das Philosophical Magazine
(4- Reihe, Bd. 41, S. 405 ff.) hervorgeht. Experimente ähnlicher Art
wie die von Aurel Anderssohn sind lange zuvor von Hocke und
HUYGENS gemacht worden, wobei beide gezeigt haben, dass Kugeln,
die auf wellenförmig bewegtem Wasser schwimmen, gegen den Mittel-
punkt der Erregung treiben. Vgl. Hugenii, „Diss. de causa gravi-
tatis", Opp. Reliqua, I, p. 99 seq.
48 V. Kapitel.
ausübt". Wiewohl nun Challis mit grossem Eifer die
Häufung hypothetischer Medien zu vermeiden trachtet und
die Gravitation als eine zufällige oder übrig bleibende
Wirkung der Licht- und Wärmeschwingungen darzustellen
sucht (indem er zu diesem Zwecke auf Versuche zurück-*
greift ähnlich denen Bernoulli's, der mehr als ein Jahr-
hundert vorher zu zeigen versucht hatte, dass die relativen
Bewegungen der ein materielles System zusammensetzenden
Körper Resultierende einfacher, regelmässiger und bestän-
diger Schwingungen verschiedener Art sind, so ist er doch
schliesslich anzunehmen genötigt, dass es einen Äther höherer
Ordnung gibt, welcher „dieselbe Beziehung zum ersten wie
dieser zur Luft hat, und so fort nach Belieben", und dass
„die Gravitation durch die anziehende Wirkung eines Mo-
lekels höherer Ordnung, als es das angezogene ist, zu Stande
kommt'*. Ich werde in einem folgenden Kapitel Gelegen-
heit finden, den wissenschaftlichen Wert solcher Theorieen
zu erörtern, in denen Thatsachen durch eine endlose Zahl
willkürlicher Annahmen erklärt werden, die sich in dem
Masse vermehren, wie die durch die Theorieen selbst ge-
schaffenen Schwierigkeiten ; vorläufig genügt die Bemerkung,
dass alle hydrodynamischen Theorieen der Gravitation Arago's
verhängnisvoller Kritik verfallen : „Wenn . die allgemeine
Anziehung durch den Antrieb einer Flüssigkeit zu Stande
kommt, bedarf sie einer endlichen Zeit, um die ungeheuren
Räume zu durchmessen, welche die himmlischen Körper
von einander scheiden," ^^) wogegen kein vernünftiger Grund
mehr vorliegt, daran zu zweifeln, dass die Fortpflanzung
der Gravitation eine augenblickliche ist. Wäre dies anders,
würde sich die Gravitation gleich dem Lichte und der
Elektricität mit einer messbaren Geschwindigkeit fortpflanzen,
dann müsste notwendigerweise eine Zusammensetzung dieser
15
) Astronomie populaire, vol. 4, p. 119.
Der Satz von der absoliäen Trägheit d. Ureinheüen etc. 49
Geschwindigkeit mit der Winkelgeschwindigkeit der Planeten
stattfinden; die scheinbare Richtung der Anziehung müsste
gegen einen Punkt gerichtet sein, der sich vor dem wirk-
lichen Platze der Sonne befindet, gerade so wie der schein-
bare Sonnenort infolge der Aberration des Lichtes in der
-Richtung der Bahnbewegung der Erde verschoben ist. Solch
eine Wirkung würde im Falle ihrer Ebdstenz schon lang
entdeckt worden sein. Es gab eine Zeit, wo man an die
allmähliche Fortpflanzung der Gravitation geglaubt hat.
Daniell Bernoulli schrieb das NichtzusammentrefFen der
Gezeiten mit dem Durchgang des Mondes durch den Me-
ridian der verhältnismässigen Langsamkeit in der Fort-
pflanzung der Gravitation zu; und zu einer späteren Zeit
dachte Laplace ' einen Augenblick daran , die wachsende
Beschleunigung der durchschnittlichen Bewegung des Mondes
(die zuerst von Halley durch eine Vergleichung heutiger
Mondesfinsternisse mit den von Ptolemaeus und den Arabern
erwähnten ermittelt wurde) durch die Annahme einer Ge-
schwindigkeit der Fortpflanzung der Gravitation zu erklären,
welche die des Lichtes nicht weniger als achtmillionenmai
übersteigen sollte. Heute weiss man jedoch, dass die Ver-
zögerung in dem Eintritte der Gezeiten eine Folge der
Trägheit des Wassers und der es beim Flusse aufhaltenden
Hindemisse ist; und was die Beschleunigung der Mond-
bewegung betrifiit, so ist noch von Laplace selbst gezeigt
worden, dass sie wenigstens zuin grössten Teil durch die
-säkulare Abnahme der Excentricität der Erdbahn verursacht
wird. Aus diesem Grunde zögerte Laplace nicht zu er-
klären, dass, falls die Gravitation zu ihrer Fortpflanzung Zeit
benötigt, deren Geschwindigkeit wenigstens fünfzigmillionen-
mal grösser sein müsste als die des Lichtes, Die von
LXpxace angegebene Ursache der in Frage stehenden Er-
scheinung hat sich allerdings nicht als ausreichend erwiesen.
Eine Revision der Berechnungen des französischen Astro-
StalLO, Begriffe u. Theorieen. 4
so V. Kapitel.
nomen durch Adams, die einige Jahre später stattfand, hat
ergeben, dass die Abnahme der Excentricität der Erde ina
besten Falle eine Beschleunigung der Mondbewegung im
Betrage von sechs Sekunden in einem Jahrhundert zu recht-
fertigen vermöchte und nicht, wie Laplace angenommen,
eine solche von zehn und noch viel weniger die thatsäch-
lieh stattfindende von zwölf Sekunden. Ein Teil dieser
Erscheinung muss somit auf Rechnung anderer Ursachen
gesetzt werden; und dies ist auch glücklich gelungen, in-
dem eine Abhängigkeit der Gezeitenverspätung von der
täglichen Umdrehung der Erde nachgewiesen wurde, die
eine scheinbare Beschleunigung der mittleren Bewegung des
Mondes zur Folge hat.
In dieser Beziehung versagt also völlig jede Analogie
zwischen der Wirkung der Schwere und der der anderen
physikalischen Agentien, die sich auf Ätherschwingungen
zurückfähren lassen, wie des Lichtes, der strahlenden Wärme
und der Elektrizität, die sich alle mit endlicher Geschwin-
digkeit fortpflanzen. Wie Taylor bemerkt hat, gibt es
überdies noch andere Eigentümlichkeiten der Gravitation,
welche zu der Annahme berechtigen, dass sie von einer
wesentlich anderen Natur ist, als die übrigen Formen strahlen-
förmig sich ausbreitender Wirkung. Die Gravitation ist einer
Veränderung durch entgegenstehende Hindernisse völlig un-
fähig, oder, wie sich Jevons ^®) ausdrückt „alle Körper sind
für sie absolut durchsichtig*'; ihre Richtung ist die der
geraden Linie zwischen den Mittelpunkten der einander an-
ziehenden Massen und ist nie einer Reflexion oder Brechung
imterworfen; unähnlich den Kräften der Kohäsion, Kapil-
larität, chemischen Affinität, der magnetischen und elek-
trischen Anziehung ist sie unfähig einer Erschöpfung oder
vielmehr Sättigung, indem jeder Körper jeden anderen im
^•) Principles of Science, vol. II, p. 144.
Der Satx von der absoluten Trägheit d. Ureinheiten etc. 5 1
Verhältnis seiner Massen anzieht; sie ist völlig unabhängig
von der Natur, dem Volumen oder der Struktur der zwischen-
liegenden Körper, und ihre Energie ist unveränderlich, un-
aufhörlich imd unerschöpflich.
Im ganzen und grossen kann man mit Sicherheit
sagen, dass Schwingungen eines hypothetischen Äthers nicht
als eine zulässige Grundlage für eine physikalische Theorie
der Gravitation angesehen werden können, und dass, - falls
eine solche Theorie aufgestellt werden sollte, man auf die
Analogien der in neuerer Zeit in der Thermodynamik auf-
gestellten kinetischen Theorie zurückgreifen müsste. Dies
ist ganz unumwunden von den führenden Physikern der
Gegenwart zugestanden worden. „Alle bisher gemachten
Versuche," erklären Stewart undTAiT, ^') „die Gravitation
mit dem Lichtäther oder dem die elektrischen und mag-
netischen Femwirkungen vermittelnden Medium in Verbin-
'dung zu bringen, sind vollständig misslungen, so dass wir
offenbar auf die Stosstheorie als die einzig mögliche an-
gewiesen sind". Die einzige von den modernen Physikern
und Astronomen ernst genommene Stosstheorie ist die von
l^E Sage, ^*) welche mit wenigen Worten so lautet: Der
Raum wird beständig nach allen Richtimgexi hin von
Strömen imendlich kleiner Körperchen durchkreuzt, die
sich mit einer beinahe unendlichen Geschwindigkeit be-
wegen und aus unbekannten Gegenden des Weltalls kommen.
*') The Unseen Universe, § 140.
^®) AsAGO nimmt an (Astr. pop., 4 Bd., S. Ii8), dass die Theorie
von Le Sage bloss eine Wiederholung der systematischen Ausfüh-
rungen von Fatio de Duiller's (dem verrückten und ränkevollen
Parteigänger Newton's bei seinem Prioritätsstreit mit Leibnitz über
die Erfindung der Differentialrechnung) und Vakignon's in verbesserter
Form ist, die Le Sage vor ihrer Veröffentlichung mitgeteilt worden
waren. Doch ist dies wahrscheinlich ein Irrtum ; Varignon's Speku-
lationen wenigstens sind ähnlich denen Newton's in der 21. Frage
seiner Optik.
4*
5« . V, KapiteL
Diese Körper heisst man „ausserweltliche Körperchen'^ In*
folge ihrer ausserordentlichen Kleinheit stossen sie selten,
wenn überhaupt mit einander zusammen und der grösste
Teil derselben findet leicht einen Weg durch die gewöhn r
liehen Körper der Sinnenwelt, so dass alle Teile dieser
Körper — die inneren sowie die äusseren — in gleicher
Weise dem Stosse dieser Körperchen ausgesetzt sind und
auf diese Weise die Kraft desselben der Masse und nicht
der Oberfläche proportional erscheint. Ein einzelner Körper
würde durch diese Partikeln gleichmässig auf allen Seiten
getroffen werden ; aber zwei Körper wirken als gegenseitige
Schirme, so dass jeder Körper auf der dem anderen gegen^
überliegenden Seite weniger Stösse empfangt. Infolge
dessen werden beide gegeneinander getrieben. Da die
Bewegung der Körperchen nach allen Richtungen hin gerad-
linig erfolgt, ist die sich ergebende Verminderung des
Druckes umgekehrt proportional dem Quadrate der Ent-
fernung zwischen den aufeinander wirkenden Körpern.
Bei aller Achtung vor der Autorität jener Männer der
Wissenschaft, durch welche diese Theorie Unterstützung
fand, muss es doch herausgesagt werden, dass die Über-
spanntheit ihrer Annahmen sie sogleich als ein Überbleibsel
der Träumereien eines Zeitalters kennzeichnet, in welchena
die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theorie noch wenig
verstanden wurde. Ihre intellecluelle Verwandtschaft mit
den alten Wirbeln und harmonischen Kreisen ist unver-
kennbar. Sie ignoriert vollständig die Notwendigkeit, über
den Ursprung der ungeheuren Menge an Energie, die fort-
dauernd durch die angenommenen Ströme ausserweltlicher
Körperchen ausgegeben wird, Rechenschaft zu geben ; so-
wohl das angenommene Agens als auch die Art seiner
Wirkung sind aus der Erfahrung unbekannt; und es ist
noch zweifelhaft, ob deren Annahmen, selbst wenn sie zu-
gestanden werden, als Erklärung aller oder einiger jener
Der Satz von der absoluten Trägheit d, Ureinheiten etc, 53
Eigentümlichkeiten dienen könnten, an der, wie wir ge-
sehen haben, jede hydrodynamische Theorie verzweifeln
musste. Die Nichtigkeit der Theorie von Le Sage ist in-
dessen am schlagendsten von Clerk Maxwell ^•) dargethan
worden, der sie durch das Energieprinzip prüft. Wenn
die ausserweltlichen Körperchen, welche an die tastbaren
Körper anstossen, vollkommen elastisch sind und mit der
gleichen Geschwindigkeit, mit der sie sich nähern, ¥deder
abspringen, dann „führen sie ihre Energie mit sich in die
ausserweltlichen Gegenden fort", und in diesem Falle „werden
die vom Körper nach irgend einer Richtung hin abprallen«
den Körperchen, sowohl der Zahl wie der Geschwindigkeit
nach vollkommen äquivalent jenen sein, die von dem Fort-
schreiten in dieser Richtung durch eben diesen Körper ab-
gehalten worden sind, mag auch wie immer die Gestalt des
Körpers sein, und mögen sich wie viel Körper auch immer
im Felde befinden." In diesem Falle gibt es also keine
"Wirkung der Gravitation. Wenn andererseits die Körper-
chen unelastisch oder unvollkommen elastisch wären — so
zwar dass die Wirkung der Gravitation der verhältnismässig
kleinen Differenz in den Stössen auf beiden Seiten des
Körpers zu verdanken wäre — müsste die Energie wenig-
stens der Stösse, die sich Gleichgewicht halten (zum Teil
oder gänzlich — entsprechend dem Grade der Elastizität der
Körperchen) sich in Wärme verwandeln, und „der Betrag
der so erzeugten Wärme müsste in wenigen Sekunden den
Körper und in gleicher Weise das ganze materielle Weltall
bis zur Weissglut erhitzen." *^)
^•) Encyclopaedia Britannica, „Atom".
*^) S. TOLVER Preston hat kürzlich (PhiL Mag., September und
November 1877 und Februar und Mai 1878) eine Abändenmg der
Le SAGE'schen Theorie vorgeschlagen, bei welcher er auf die ausser-
weltliche Natur der Körperchen verzichtet und sich allein auf die
Forderungen der kinetischen Gastheorie stützt. Seine Theorie beruht
54 . . ^« Kapitell
Es befindet sich somit wieder einmal die Wissenschaft
in einem unlösbaren Widerstreit mit einer der Grund-
forderungen der mechanischen Theorie. Die Wirkung in
die Feme, deren Unmöglichkeit die Theorie zu behaupten
sich genötigt sieht, erweist sich als eine letzte, auf Grund
der Prinzipien des Stosses und Druckes einander unmittel-
bar berührender Körper nicht weiter erklärbare Thatsache.
Und diese Thatsache bildet die Grundlage der herrlichsten
Theorie, welche die Wissenschaft je ausgesonnen hat —
eine Grundlage, die sich mit jeder Erweiterung imseres
teleskopischen Gesichtskreises vertieft und mit jeder weiteren
Ausdehnimg der mathematischen Analyse verbreitert.
auf der Annahme, dass „der Bereich der Gravitationswirkung ein be-
■
grenzter ist", und „dass sich die Sterne in geraden Linien und nicht
in Kreisen bewegen". In Anbetracht dieser Annahmen und meiner
Diskussion der kinetischen Gastheorie in einem besonderen Kapitel
halte ich es nicht für notwendig, hier näher darauf einzugehen.
VI.
Der Satz von der kinetischen Natur aller poten-
tiellen Energie. — Die Entwicklung der Lehre von
der Erhaltung der Energie.
Nach der mechanischen Theorie ist Bewegung wie
Masse unzerstörbar und unverwandelbar ; sie kann nicht
verschwinden und wiedererscheinen. Jede Veränderung
ihres Betrages rührt von einer Verteilung unter eine grössere
oder kleinere Zahl von Masseneinheiten her. Und nachdem
Masse und Bewegung ineinander nicht verwandelbar sind,
kann nur Bewegung Ursache von Bewegung sein. Es gibt
demnach keine potentielle Energie ; alle Energie ist in
Wirklichkeit kinetisch.
Der innige logische Zusammenhang dieser Annahme
mit der im vorigen Kapitel erörterten liegt auf der Hand
und ist der Kenntnis unserer leitenden Physiker nicht ent-
gangen. Nachdem Stewart und Tait einen Abriss der
Le SAGE'schen Hypothese gegeben haben, die ihrer Meinung
nach wenigstens die Rudimente der einzig haltbaren physi-
kalischen Theorie der Gravitation enthält, fahren sie fort
zu sagen: „Wenn Le Sage's Theorie oder etwas Ähnliches
überhaupt eine Darstellung des Mechanismus der Gravitation
ist, bedeutet dies einen empfindlichen Schlag für den Be-
griff jener ruhigen Form von Kraft, die wir potentielle
Energie genannt haben. Nicht insofern als es aufhören
würde, zwischen ihr und der kinetischen Energie einen
tiefgreifenden spezifischen Unterschied zu geben ; sondern
es müssten von nun an beide als kinetisch be-
5 6 VI. Kapitel,
trachtet werden."^) Diese Erklärung ist vor kurzem
von Professor Tait in seinem Vortrag über die Kraft
wiederholt worden. ^
Der hier vorliegende Satz ist jedem konsequenten Ver-
teidiger der mechanischen Theorie unabweisbar. Doch
wiederum verweigert die moderne Wissenschaft hartnäckig
ihre Zustimmung. Sie behauptet, dass alle oder fast alle
physikalischen Veränderungen im Weltall gegenseitige Ver-
wandlungen kinetischer und potentieller Energie sind —
dass Energie unaufhörlich als virtuelle aufgestapelt und als
lebendige Kraft wieder abgegeben wird. Wenn die Linse
eines gewöhnlichen Pendels von dem höchsten zu dem
tiefsten Orte ihrer Bahn herabsteigt, vermindert sich ihre
potentielle Energie in demselben Verhältnisse, als ihre wirk-
liche Bewegung wächst; steigt sie wieder empor, ver-
schwindet ihre Bewegungsenergie im gleichen Masse bis zu
ihrer Ankunft am höchsten, dem ersteren entgegengesetzten
Punkte der Bahn, woselbst sie ftir einen Augenblick be-
wegungslos bleibt, indem sie ihre ganze Energie ihrer Lage
verdankt. Und diese Verwandlungen und Rückverwand-
lungen der beiden Formen von Energie sind in gleicher
Weise ftir die vorausgesetzten Schwingungen der letzten
Atome oder Molekeln wie für die Kreisbewegungen der
grossen ein Planetensystem zusammensetzenden Massen
typisch. Ein Planet, der sich in einer exzentrischen Bahn
bewegt, gewinnt an Bewegungsenergie bei der Annäherung
an die Sonne und verliert dieselbe wieder im gleichen
Masse bei der Entfernung. Die gleiche gegenseitige Um-
wandlung zeigt sich auf einem zweiten weiten Gebiet der
Physik: dem der Wirkungsweise chemischer Affinität. Ein
Klumpen Kohle liegt in der Erde Millionen von Jahren
*) The Unseen Universe, § 142.
*) On some Recent Advances in Physical Science, second ed.,
pp. 262, 263.
Der Satz von der kinetischen Natur etc. 57
begraben; während dieser ganzen Zeit findet keine be-
merkenswerte Veränderung seiner Lage zu den umliegenden
Gegenständen, noch eine solche in der Lage seiner Teile
zu einander statt — er ist ohne äussere oder innere Be-
wegung (ausgenommen jene, mit der er an der Bewegung
des Planeten als ein Teil desselben teilnimmt); wird er
aber auf die Oberfläche in eine sauerstoffhaltige Luf\ und
in Berührung mit einer Flamme gebracht, so wird seine
latente Kraft auf einmal fühlbar — er verbrennt, indem er
Anlass zu einer lebhaften Wirkung gibt, die sich als Licht
und Wärme offenbart. Die Tendenz der modernen Wissen-
schaft geht dahin, alle physikalischen Veränderungen auf
einige wenige Formen potentieller Energien zurückzuführen,
unter denen sich Gravitation und chemische Affinität obenan
befinden. Nach der Meinung modemer Physiker ist die
einzige glaubhafte Theorie über den Ursprung der Stern -
und Planetenwelten, die bisher vorgebracht wurde, die
unter dem Namen der Nebularhypothese bekannte ; und ob
wir sie nun in der bekannten KANT-LAPLACE'schen Form
oder in irgend einer ihrer neueren Abänderungen accep-
tieren, in jedem Falle werden alle zwischen den Massen,
wenn nicht gar auch die zwischen den Molekeln thätigen
Kräfte des Weltalls aus der infolge der blossen Lage der
gleichmässig im Räume verteilten Urteilchen erfolgten An-
ziehung abgeleitet. Und alle Veränderungen in den ver-
hältnismässig kleinen organischen imd unorganischen Formen
werden wenigstens annäherungsweise in der Physiologie so
gut wie in der Physik auf die Verwandtschaften chemischer
Elemente zurückgeführt.
In Wirklichkeit lehrt die moderne Wissenschaft, dass
Verschiedenheit und Veränderung in den Erscheinungen
der Natur niu: unter der Voraussetzung möglich sind, dass
die Bewegungsenergie fähig ist, als Energie der Lage auf-
bewahrt werden zu können. Die beinahe beständige Bil-
58 VL Kapitel.
düng materieller Formen, die chemische Wirkung und
Gegenwirkung, die Krystallisation, die Entwickelung pflanz-
licher und tierischer Organismen — all' dies hängt von der
Überfuhrung kinetischer Energie in die potentielle Form
ab. Um dies klar zu machen und um zu zeigen, dass die
Mühe, den Unterschied zwischen kinetischer und poten-
tieller Energie zum Verschwinden zu bringen, eine frucht-
los angewandte ist, wird es nützlich sein, in Kürze einen
Rückblick über die Geschichte der Lehre von der Er-
haltung der Energie zu werfen.
In einem gewissen Sinne ist diese Lehre gleichalterig
mit dem Erwachen menschlicher Geisteskräfte. Sie ist
weiter nichts als die Anwendung des einfachen Grundsatzes^
dass aus nichts nichts werden kann. •^) Die Geschichte
*) Es kann ganz gut behauptet werden, dass der menschliche
Verstand mit diesem Prinzipe steht und . fällt. Wenn alle Verände-
rungen in den Erscheinungen des Universums auf das eine Prinzip
der Erhaltung der Energie zurückgeführt sein würden, dann wäre die
Zeit gekommen, die endliche Vollendung der physikalischen Wissen-
schaft in einem neuen Epos ,,de rerum natura" zu feiern, und ia
dessen erstem Kapitel würden wieder die LuCREz'schen Worte ge-
schrieben stehen :
,,res . . . non posse creari
De nihilo, neque item genitas in nil revocari."
Die Einmütigkeit und Begeisterung, mit der die frühen griechi-
schen Philosophen der Erklärung, dass nichts völlig neu erstehea
oder zu Grunde gehen könne , Ausdruck verliehen , ist nicht wenig
bemerkenswert. Diogenes von Apollonia erklärte : „ovdsv ex rov firj
oVTOS yivso&at^'' (Diog. Laert., IX, 57); ParmenideS: „öJs dyeveTot^
eov xai dvcoXeS'^ov iartv'' [Ksusien, Rel., V, 58); EmpedokleS: „e«
lov yd^ firj kovros df.ii]'/avov sotI yeveod'ai^^ (Karsten, V., 48)»
Demokrit: „/u,rj8tv r' ix rov firj mnoe yiveod'ai xal eig ro fjtrj ov
(pd'ei^ead'ai (Diog. Laert., IX, 44). Die erste Anwendung dieses
Prinzips auf die Bewegung ist durch Epikur geschehen (Diog. Laert.,
lib. X; Lucret. „De rerum nat.", V 294 — 307), welcher die Erhaltung
von Masse und Bewegung durch das später auch von Leibniz (Opp^
Math., vol. VI, p. 440. — Vgl. Berthold „Notizen etc." in Pogg,
Der Satz von der kinetischen Natur etc. 59
ihrer Entwickelung und Verwendung in der Physik beginnt
jedoch mit ihrer nachdrücklichen Hervorhebung in den
„Principia Philosophiae" des Erfinders des Systems kos-
mischer Wirbel.*)
Ann., 157. Bd., S. 342) benutzte Argument zu beweisen suchte, nach
dem es keinen Ort ausserhalb des Weltalls gebe, dem Masse oder
Bewegung abgegeben oder von dem sie aufgenommen werden könnte,
und das in Wirklichkeit eine Anticipation des modernen Begrififes
„Konservatives System" ist. Eine ausführliche Darlegung der Epikur-
schen Lehre ist von Gassendi gegeben worden (,,Ad librum deci-
mum Biogenis Laertii Notae" opp., ed. Lugd., Bd. III, S. 241 ff.).
Es ist nicht unwahrscheinlich, da.ss diese Darstellung von Einfluss
auf die Gedankenrichtung Descartes' war, ungeachtet der grossen
Verschiedenheit zwischen seinen philosophischen Absichten und denen
Gassendi's.
"*) Descartes ist der Vater der neuen Philosophie genannt
worden ; mit gleichem Rechte könnte er auch der Vater der heutigen
Physik genannt werden. Sein Anrecht auf diese Ehre muss in der
Philosophie nicht weniger wie in der Physik andere Stützen finden,
als die Entdeckung oder selbst nur exakte Formulierung ewiger Wahr-
heiten. Wenige seiner philosophischen Lehrsätze haben, wenigstens
in der Form, in der er sie aufstellte, Stand gehalten, und einige der
Wahrheiten, die er verwarf, zählen heute zu unseren unveräusser-
lichsten Besitztümern. Als Physiker hat er eine Reihe von Theorieen
aufgestellt, die sich als völlig unbegründet erwiesen haben, und er
hat die meisten Gesetze mechanischer Wirkung, deren Entdeckung
den Ruhm seines älteren Zeitgenossen Galilei gebildet, ignoriert oder
missverstanden. In der Philosophie war er der unmittelbare Vor-
fahre Spinoza's, dessen System, wiewohl es in Wirklichkeit eine un-
willkürliche reductio ad absurdum aller ontologischen Speku-
lation ist, doch infolge der scheinbaren Eleganz seiner pseudomathe-.
matischen Trugschlüsse dazu beigetragen hat, die Entdeckung der
wahren Prinzipien philosophischer Untersuchung in unberechenbarer
Weise hinauszuschieben. In der Physik haben seine Grillen das
Feld der Forschung in dem Masse verunstaltet, dass noch heute die
Spuren hiervon nicht verschwunden sind. Wiewohl er sich als frei
von den metaphysischen Überlieferungen jener Epoche, die damals
ihrem Ende entgegen ging, ausgab, stak er doch mitten in denselben.
Doch gerade aus diesem Grunde beeinflussten seine Schriften den
66 VI, Kapitel.
Descartes verkündete die Lehre von der Erhaltung
der Bewegung in vollkommen bestimmten Ausdrücken. Er
erklärte Gott für den Urquell aller Bewegung und für den
Erhalter der gleichen Bewegungsgrösse in der Welt.*')
Wenn ihn seine Voraussetzung, dass Ausdehnung und Be-
weglichkeit die einzigen Giundeigenschaften der Materie
Gedankenkreis des 17. Jahrhunderts in weit höherem Masse als die
Untersuchungen jener, die ihre Zuflucht zu den wissenschaftlichen
Methoden des Experimentes und der Beobachtung genommen hatten,
— Methoden, die gar sehr von den Denkgewohnheiten jenes Zeit-
alters abstachen. Descartes war im wesentlichen ein Metaphysiker,
ein Ontologe vom mittelalterlichen Schlage ; aber er brachte fast alle
Probleme zur Sprache, deren Lösung die Aufgabe der Physiker und
Mathematiker der zwei seither verflossenen Jahrhunderte geworden
ist. Auf diese Weise wurden seine Spekulationen, wiewohl an sich
läppisch, das Ferment, welches den Prozess der allmählichen Klänmg
in der rasch anschwellenden Menge wissenschaftlichen Materials ein-
geleitet hat. Dieses Ferment war nicht von geringer Wichtigkeit,
wiewohl es im Verlaufe seiner Wirkung fast völlig verloren ge-
gangen ist.
Indem ich all' dies sage, denke ich nicht daran, die allgemeine
Bewunderung zu schmälern, die man der Frische und Schärfe seines
Geistes zollt; auch vergesse ich nicht, dass er der Begründer der
analytischen Geometrie war. Und ich halte es nicht für notwendig
hinzuzufügen, dass, während ich meiner Schätzung des Wertes von
Spinoza's philosophischem System unumwunden Ausdruck gegeben
habe, mir die Rührung nicht fremd ist, die der Gedanke an. die an-
ziehende Gestalt des einsamen Denkers stets erregt, und ich keines-
wegs gefühllos dem Zauber der einfachen Schönheit eines Lebens
gegenüberstehe, das vielleicht vollkommener als irgend ein anderes
die tuskulanische Definition verwirklichte: vivere est cogitare.
'^) ,,Generalem (motus causam) quod attinet, manifestum mihi
videtur illam non aliam esse quam Deum ipsum, qui materiam simul
cum motu et quiete in principio creavit, jamque per solum suum
concursum ordinarium, tantumdem motus et quietis in ea tota, quan-
tum tunc posuit, conservat." Princ. Phil., II, § 36. Die Lehre findet
sich mit im wesentlichen gleichen Ausdrücken in verschiedenen
anderen Teilen des nämlichen Werkes aufgestellt ; vgl. II, § 42 ;
in, § 46.
Der Sat% von der kinetischen Natur etc. 6i
seien, nicht von der Annahme der atomistischen Konstitution
der Materie abgehalten hätte, würde er ohne Zweifel die
Erhaltung der Bewegung^ in demselben Sinne behauptet
haben, in dem heutzutage Personen ohne wissenschaftliche
Bildung das Prinzip von der Erhaltung der Energie auf-
fassen: nämlich in dem Sinne, dass die Atome, aus denen
die materielle Welt zusammengesetzt ist, sich beständig in
einem Zustande geradlinig fortschreitender oder schwingen-
der Bewegung befinden und bloss die Richtung derselben
ändern, oder dass, falls sie sich mit verschiedenen Ge-
schwindigkeiten bewegen, die Summe derselben konstant
ist. In Anbetracht seiner allgemeinen physikalischen Theorie
war Descartes gezwungen, nicht auf das Atom — die vor-
ausgesetzte Ureinheit der Masse, deren Existenz er leugnete^
— sondern auf die Masse überhaupt zu verzichten; und
das Erhaltungsgesetz der Bewegung nahm in seinem System
die Form an, dass die „Bewegungsgrösse" genannte Summe
der Produkte aller Massen in ihre bezüglichen Geschwindig-
keiten konstant bleibt. ®) Zu bemerken ist, dass der Aus-
druck ,^Bewegungsgrösse" für das Produkt einer Masse in
ihre Geschwindigkeit (d. i. das Moment) von Newton an-
genommen und seither sich in der Physik bis auf den
heutigen Tag erhalten hat.
Es ist klar, dass die Erhaltung der Bewegung als einer
absoluten Quantität im populären Sinne (in dem sie that-
*) Die Unbestimmtheit von Descartes' mechanischen Begriffen
kommt auffallig zum Ausdruck bei seinen Bemühungen, dies Gesetz
mit dem dritten Bewegungsgesetz in Übereinstimmung zu bringen,
demzufolge ein Körper beim Zusammenstoss mit einem Stärkeren
keine Bewegung verliert — „ubi corpus quod movetur alteri occurit,
si minorem babeat vim ad pergendum secundum lineam rectam, quam
hoc alterum ad ei resistendum , et motum suum retinendo solam
tnotus determinationerti amittit; si vero habeat majorem, tune alterum
corpus secum movet ac quantum ei dat de suo motu, tantundem
perdit." Princ. Phil., II, § 40.
62 VI, Kapitel,
sächlich eine Erhaltung von Geschwindigkeiten bedeutet)
nur in einer Welt ohne Unterschiede der Dichtigkeit und
Struktur möglich wäre. Wenn die Bewegung in diesem
Sinne erhalten würde, könnte weder eine Verschiedenheit
noch eine Veränderung in den Erscheinungen stattfinden.
Auf das Weltall mit seinen bekannten unaufhörlichen Um-
wandlungen kann dieses Prinzip der Erhaltung der Be-
wegung keine Anwendung finden. Dies ist wenigstens
dunkel von Leibniz erschaut worden, der die Existenz
irgend eines Erhaltungsgesetzes der Bewegung im Sinne
Descartes' leugnete. Seine Ableugnung fand ihren deut-
lichsten Ausdruck in der Abhandlung „Brevis demonstratio
erroris memorabilis Cartesii et aliorum circa legem naturae,
secundum quam volunt a Deo eandem semper quantitatem
motus conservari, qua et in re mechanica abutuntur" (Acta
Erud., Lips., 1686). ') Der Cartesianischen Lehre von der
Erhaltung der Bewegungsgrösse setzte er das Prinzip von
der Erhaltung der lebendigen Kraft (vis viva) entgegen
— dem Produkte der Masse in das Quadrat ihrer Ge-
schwindigkeit.
Hier lag der Ursprung des berühmten Streites zwischen
den Leibnizianern und den Cartesianem in Bezug auf die
Frage nach der wahren Schätzung der Kräfte des Weltalls,
an dem sich so viele Mathematiker und Philosophen be-
teiligt haben und zu dem, wie bekannt, auch Kant einen
späten und übel angebrachten Beitrag geliefert hat. Diese
Streitfrage ist seit langem endgiltig abgethan; sie ist aber
für meinen Endzweck, die vorherrschenden Missverständnisse
über die wahre Bedeutung des Prinzips der Erhaltung der
Energie aufzuklären, von so grosser Bedeutung, dass ich ihr
eine kurze Betrachtung widme.
Kraft im gewöhnlichen Sinne des Wortes (als Ursache
') Leibn., opp. math., vol. VI, p. 117.
Der Satz von der kinetischen Natur etc. 63
von Bewegung oder vielmehr als Inbegriff all ihrer Be-
dingungen) findet einfach ihr Mass in der Geschwindigkeit
der Masseneinheit. Auf diese Weise werden Kraft und
Masse an einander gemessen. Zwei Kräfte sind gleich,
wenn sie derselben Masse dieselbe Geschwindigkeit (oder
allgemeiner dieselbe Beschleunigung) erteilen*, und zwei
Massen sind gleich, wenn sie durch gleiche Kräfte gleiche
Beschleimigungen erfahren. Wenn die Bewegung einer
Masseneinheit sich auf mehrere Einheiten verteilt, wird die
Bewegung einer jeden proportional der Anzahl der Ein-
heiten verringert. Die Geschwindigkeit (bezw. Beschleuni-
gimg) eines Körpers ist daher der Kraft direkt und der
Masse indirekt proportional. In dem Falle konstanter,
gleichförmig beschleunigender Kräfte sind die Geschwindig-
keiten offenbar der Dauer der Einwirkimg proportional.
Wir haben daher
^ , . j. , . Kraft ^ ^ „,. ,
Geschwindigkeit = -^j-z X Dauer der Wirkung, oder
Masse X Geschwindigkeit == Kraft X Dauer der Wirkung;
. . . (i) d. i. die während einer bestimmten Zeit ausgeübte
Kraft ist gleich dem Produkte aus der Masse in deren Ge-
schwindigkeit. Andererseits ist der Weg, welchen der
Körper unter Einwirkung einer konstanten Kraft zurücklegt,
wie die Geschwindigkeit der Kraft gerade und der Masse
verkehrt proportional; ungleich der Geschwindigkeit ist er
aber nicht einfach der Zeit, sondern der Hälfte ihres
Quadrates proportional. Es ist daher
Weg (der Wirkung) = — X V2 (Iraner der Wirkung)-',
iVLasse
oder (insofern als nach der ersten Gleichung
^ , ,,,. , Masse X Geschwindigkeit . .
Dauer der Wirkung = — — ist)
ivratt
V2 Masse X (Geschwindigkeit) ^
= Kraft X Weg (der Wirkung) ... (2)
64 VI. Kapitel,
Das erste Glied der letzten Gleichung — das Produkt
der Masse in die Hälfte des Quadrates der Geschwindig-
keit — ist Leibniz' lebendige Kraft und wird jetzt
kinetische Energie genannt. ®)
Es ist klar, dass die erste Formel (von Descartes) die
Messung einer gegebenen Kraft bei gegebener Zeit, die
zweite (von Leibniz) die bei gegebenem Weg ausdrückt.
Zwischen beiden liegt kein Widerspruch, vielmehr ist die
eine eine Folge der anderen. Und noch immer ist die
Streitfrage von Interesse angesichts der Cartesianischen
Behauptung (die in manchen Gemütern als unausrottbare
Einbildung zurückgeblieben ist), dass die Kraft in dem
Sinne, wie sie durch das Verhältnis des Wachstums der
Bewegungsgrösse definiert wird, erhalten bleibt, und dass
die Momente während zweier gleicher 2^itintervalle gleich
sind. Im Lichte der modernen Wissenschaft erscheint
nichts nachweislicher falsch als die Lehre von der Er-
haltung der Energie, wie sie von Descartes aufgestellt
worden ist. Dessenungeachtet gibt es einen Sinn, in dem
die Bewegungsgrösse — oder wie es jetzt gewöhnlich heisst,
das Moment — bei der gegenseitigen Einwirkung der ein
materielles System zusammensetzenden Körper konstant
bleibt. Da das Moment das Produkt von Masse und Ge-
schwindigkeit ist, und die Geschwindigkeit notwendigerweise
eine bestimmte Richtung hat, so folgt, wie Newton selbst
gezeigt hat, aus seinem dritten Bewegungsgesetz (nach dem
Wirkung und Gegenwirkung gleich und entgegengesetzt
sind — somit eine jede sogenannte Kraft nur die eine
Seite der gegenseitig gleichen und entgegengesetzten Ein-
wirkung zweier Körper darstellt — ), dass das Moment
®) Leibniz und seine Zeitgenossen bezeichneten das ganze
Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit als lebendige
Kraft ; doch ist dies nur dann richtig, wenn die Schätzung der Kräfte
in Form einer .Proportion geschieht.
Der Satz von der kinetischen Natur etc. 65
irgend eines Körpersystems, d. i. die Summe ihrer Be-
wegungsgrössen , nach welcher Richtung hin auch diese
Grössen gemessen werden mögen, sich niemals durch gegen-
seitige Einwirkung ändern kann. Welches Moment auch
von einem Teil des Systems erworben werden mag, wird
stets von einem zweiten Teil in derselben Richtung ver-
loren. Daraus ergibt sich der wichtige Grundsatz der
Dynamik (angeführt in Newton's viertem Corollarsatz aus
seinen Bewegungsgesetzen), dass der Massenmittelpunkt eines
Systems durch gegenseitige Einwirkung von Teilen desselben
niemals geändert wird.
Zur Erklärung der Anwendung des Cartesianischen
Satzes auf das Weltall als ein einziges konservatives System
und seiner Anpassung an die Thatsachen würde es not-
wendig sein, eine bestimmte Richtung im Räume anzu-
nehmen und auf dieselbe alle Bewegungen der das System
zusammensetzenden Teile zu projizieren — mit anderen
Worten die Komponenten dieser Bewegungen zu nehmen,
wie sie durch die Kosinusse der Winkel zwischen ihren
Richtungen und der angenommenen Bezugsrichtung dar-
gestellt werden. Dann würde die Summe der Momente,
d. i. der Produkte der Massen in ihre auf die angenommene
Richtung bezogenen Geschwindigkeiten, konstant sein ; wobei
die Bewegung in einer Richtung als positiv, die in der
entgegengesetzten als negativ in Rechnung zu ziehen wäre
(und dementsprechend auch das Moment, von dem sie einen
Faktor darstellt).®)
*) Es ist zuweilen behauptet worden, dass Bewegungsgrössen
einander mitunter teilweise oder völlig gegenseitig autheben, wie in
dem Falle eines zentralen Stosses zweier unelastischer Körper, die
sich mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen
bew^egen, in welchem Falle die Körper nach dem Stosse in Ruhe
bleiben und somit ihr resultierendes Moment = o ist. Da jedoch
die Momente der beiden Körper gleich und entgegengesetzt sind,
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 5
66 VI. Kapitel
Wiewohl das Verdienst, das Prinzip von der Erhaltung
der lebendigen Kraft formuliert zu haben, Leibniz zukommt,
ist die erste klare Aufhellung des Verhältnisses dieses
Prinzips zu jenem von der Erhaltung des Momentes Huygens
zu verdanken und in den Worten enthalten: „Die in zwei
Körpern enthaltene Bewegungsgrösse kann durch deren
Zusammenstoss vermehrt oder vermindert werden ; aber es
verbleibt stets die gleiche Grösse auf der einen Seite, wenn
wir den Betrag der entgegengesetzten Bewegung subtra-
hieren Die Summe der Produkte jeder festen
Masse multipliziert mit dem Quadrate ihrer Geschwindigkeit
ist stets dieselbe vor und nach dem Zusammenstosse." ^®)
Der in diesem Punkte, bezüglich der Verbesserung der
Cartesianischen Lehre, gemachte Fortschritt bestand in der
Leugnung der Erhaltung der Bewegung in dem Sinne
einer einfachen Erhaltung der Geschwindigkeit oder der
war ihre Summe vor dem Stosse auch = o, so dass der angeführte
Fall keine Ausnahme der Regel bildet, dass die Momente der stossea-
den Körper durch deren Stoss nicht geändert werden.
^^) „La quantite du mouvement qu'ont deux corps se peut au-
gmenter ou diminuer par leur rencontre; mais il y reste toujours la
meme quantite vers le meme cote , en soustrayant la quantite du
mouvement contraire ... La somme des produits faits de la gran-
deur de chaque corps dur multiplie par le carre de sa vitesse, est
toujours la meme devant et apres la rencontre." Vgl. Akin ,,On the
History of Force", Phil. Mag., 4th ser., vol. 28, p. 472. Professor
BoHN (ib., p. 313) erhebt für Johann Bernoulli den Anspruch auf
die Ehre der Priorität in Bezug auf die klare Auseinandersetzung des
Prinzips der Erhaltung der lebendigen Kraft; doch scheint es beim
Durchlesen der von ihm citierten Stellen, dass Bernoulli's Begriff
auf einer metaphysischen Annahme von der Substantialität der Be-
wegung und der Gleichheit von Ursache und Wirkung beruhte. In
der That hatte Johann Bernoulu das Prinzip in der Form und auf
Grund der Betrachtungen von Leibniz angenommen, der wie Des-
CARTES mehr ein Metaphysiker als ein Physiker war, während Huygens,
ein wahrer Mann der Wissenschaft, zu seinen Sätzen durch eine Reihe
von Verallgemeinerungen spezieller Fälle gekommen war.
Der Satz von der kinetischen Natur etc, 67
Bewegungsgrösse oder des Verhältnisses, in dem sich diese
unabhängig von ihrer Richtung ändert, und in der Behaup-
tung der Erhaltung der Energie der Bewegung — einer
dem Produkte aus der Masse und dem Quadrat ihrer Ge-
schwindigkeit proportionalen Grösse. Dies war der Stand
der Lehre zur Zeit Newton's.
Das LEiBNiz'sche Prinzip könnte selbst heutigen Tages
(indem alle erforderlichen Voraussetzungen in Newton's
Bewegungsgesetzen und insbesondere in seiner Interpretation
des dritten derselben gelegen sind) so verallgemeinert
werden, dass es nicht nur die Erhaltung der lebendigen
Kraft, sondern auch das Prinzip der virtuellen Geschwindig-
keiten, die Erhaltung des Momentes (und zwar auch des
Winkelmomentes) und das moderne Prinzip der Erhaltung
der Energie umfassen würde. Die Formel würde diese sein :
Weder das Moment, noch die Energie eines Systems von
Körpern ändert sich je durch gegenseitige Einwirkungen. Es
ist klar, dass dies nichts anderes ist als eine Ausdehnung des
Prinzips der Trägheit, nach dem ein Körper, mag er als ein-
fach oder als aus Teüen zusammengesetzt betrachtet werden,
sich nicht selbst bewegen kann, d. i. keine Veränderung in
seinem eigenen Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen
Bewegung — dabei als ganzer Körper betrachtet — her-
vorbringen kann.
Die moderne Wissenschaft hat eine Reihe von Begriffen
■«•sonnen, welche dazu dienen, die Erfassung der Gesetze,
welche die Veränderungen im Zustande materieller Aggre-
gate bestimmen, zu erleichtern. Indem jeder wahrnehmbare
Körper als ein System von Masseneinheiten behandelt wird,
wird „Arbeit" als eine Veränderung in der Konfigi^ration
solch eines Systems entgegen den wirksamen Kräfteh und
„Energie" als Fähigkeit, Arbeit zu leisten, definiert. Wird
ein solches System als ausschliesslich unter der Wirkung
<ier gegenseitigen. Kräfte seiner Teileinheiten stehend be-
68 VI. Kapitel.
trachtet, d. i. wenn es weder auf andere Systeme einwirkt^
noch auf dasselbe von aussen eingewirkt wird, so heisst es
ein „konservatives System**. In Wirklichkeit gibt es kein
begrenztes materielles System, welches nicht in gegenseitige
Wirkungen mit äusseren Systemen oder Körpern verwickelt
ist, so dass aus diesem Grunde ein „konservatives System'*
angemessener als eine Gruppe von Körpern definiert wird,
die, wenn sie nach einer Reihe von Veränderungen der
Lage in den ursprünglichen Anfangszustand zurückkehren^
nach aussen hin ebenso viel Arbeit leisten, als an sie ab*
gegeben worden ist, so dass die von äusseren Körpern
erhaltene Energie durch die an dieselben abgegebene auf-
gewogen wird. Wenn wir nun das Prinzip der Erhaltung
der lebendigen Kraft durch diese Begriffe ausdrücken, so
nimmt es die folgende Form an: Bei Veränderungen ia
der Konfiguration eines konservativen Systemes ist seine
aktuelle Energie (Bewegungsenergie oder lebendige Kraft,
jetzt kinetische Energie genannt) die nämliche, sobald seine
Konfiguration die gleiche ist, d. i. sobald die Teileinheiten
sich in gleicher relativer Lage befinden, auf welchen Bahnen
imd mit welchen Geschwindigkeiten sie auch von der einen
Lage in die andere gekommen sein mögen. Die Bedeutung
dieses Satzes kann am leichtesten an der Betrachtung des
einfachen Falles der Pendelschwingungen deutlich gemacht
werden, die seit den Tagen Galilei's als Musterbeispiel zur
Erläuterung dynamischer Gesetze dienen. Die Pendel-
linse ändert ihre Geschwindigkeit an jedem Punkte; aber
die Geschwindigkeiten in den Punkten, die gleich weit vom.
Orte der Maximalgeschwindigkeit abstehen, sind gleich
gross. ^^) Ein noch einfacherer Fall ist der eines vertikal
aufwärts geworfenen Körpers, der zu seinem Ausgangspunkte
^*) Dies ist natürlich nur von einem idealen, reibungslos im
leeren Raum schwingenden Pendel genau richtig.
Der Satx von der kinetischere Natur etc, 69
zurückkehrt; durch die Wirkung der Schwere wird sein
Aufstieg verzögert, sein Fall beschleunigt (wobei die Wirkung
der Luft ausser Betracht bleiben soll) ; in demselben Punkte
ist aber die Geschwindigkeit im Ab- und Aufstieg die
gleiche. Einen ähnlichen, wenn nicht den gleichen Fall
bieten die Himmelskörper dar, welche sich in elliptischen
Bahnen bewegen und — abermals abgesehen von Ursachen,
welche die genaue Periodizität der Bewegung verhindern
— an denselben oder an symmetrisch gelegenen Punkten
die gleiche Energie besitzen. Die hier angeführten Bei-
spiele beziehen sich alle auf Fälle ungleichförmiger (gleich-
förmig beschleunigter oder verzögerter Bewegung); ist die-
selbe eine gleichförmige, so ist das Erhaltungsgesetz das
wohlbekannte Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten..
Die nächste zu beantwortende Frage ist offenbar diese :
Was ist das Energiegesetz ohne Betrachtung vollständiger
Kreisläufe in den Veränderungen der Lage in den Zwischen-
Zeiten, während des Überganges des Systems aus einer an-
genommenen Anfangslage in eine andere und während der
Rückkehr von dieser zu der Anfangsstellung? Die Antwort
auf diese Frage, welche erst in neuerer Zeit feste Form
angenommen hat, bildet den wirklichen und vollständigen
Ausdruck der Lehre von der Erhaltung der Energie. Sie
lautet: Bei einer Reihe von Veränderungen in der Kon-
figuration eines konservativen Systems bleibt die Summe
aus der kinetischen und potentiellen Energie (d. i. aus der
wirklichen Energie des Systems vermehrt um die beim
Übergange aus der Anfangslage in die jetzige geleistete
Arbeit) konstant, indem die geleistete Arbeit als Kraft zur
Wiederherstellung der Anfangslage und somit auch der ver-
loren gegangenen wirklichen Energie aufgespeichert wird.
Im buchstäblichen Sinne lässt sich diese Fassung des Prinzips
nur auf Fälle anwenden, in denen Arbeit gegen die Kräfte
des Systems geleistet wird, wie z. B., wenn ein Körper
70 VI. Kapitel.
aufwärts entgegen der Wirkung der Schwere geworfen wird
— wenn also kinetische Energie als potentielle aufger
speichert wird. Wenn aber kinetische Energie wiederher-
gestellt und potentielle verloren wird» wie in dem Beispiele
eines fallenden Körpers, muss die Fassung des Satzes inso«
weit abgeändert werden, dass sie die Konstanz der Summe
ausspricht, die man durch Addition der einer gegebenen
Lage entsprechenden kinetischen Energie zu der Arbeit
erhält, die geleistet werden mtisste, um die Anfangslage
mit dem Maximum an potentieller Energie wiederherzu-
stellen. In solchen Fällen ist der mathematische Ausdrück
für die potentielle Energie, nach Arbeitseinheiten gemessen^
negativ. In der Anwendung auf die Energie des Weltalls
(das notwendigerweise konservativ sein muss, nachdem sich
keine Körper ausserhalb desselben befinden) lautet das Er-
haltungsgesetz folgendermassen : Die kinetische Energie des
Weltalls vermehrt um die Arbeit, die gegen die wechsel-
seitigen Kräfte seiner Bestandteile geleistet werden müsste,
um letztere bis zu der Grenze der Wirksamkeit dieser Kräfte
d. i. bis zu imendlichen gegenseitigen Abständen zu ent-
fernen, ist zu allen Zeiten konstant.^-)
Die Übereinstimmung des Prinzips der Erhaltung der
Energie mit den Thatsachen der Erfahrung ist hinlänglich
ersichtlich, solange es sich um sichtbare oder in anderer
Weise wahrnehmbare Veränderungen in der Lage oder
^*) Es ist zu bemerken, dass ich hier die Lehre von der Er-
haltung der Energie in ihrer Anwendung auf das Weltall in dem
Sinne nehme, wie es allgemein unter den Physikern üblich ist Die
Diskussion der Frage über die Zulässigkeit der Annahme, logische
Begriffe und mathematische Formeln, die auf Grund endlicher Be-
dingungen aufgestellt worden sind, auf das Unendliche anzuwenden
und die grenzenlose Welt so zu behandeln wie ein bestimmtes
mechanisches System und deren Energie als eine konstante Grösse
anzusehen, muss einer späteren Stufe im Verlaufe unserer Unter-
suchung vorbehalten bleiben.
Der Satz von der kinetischen Natur etc. 71
Konfiguration eines Körpers oder eines Systems yon
Körpern handelt, wie z. B. um die Wirkung der Schwere,
die Spannung eines elastischen Körpers u. s. w. In diesen
Fällen sehen wir leicht, dass Energie abwechselnd als
Energie der Lage aufgespeichert und als kinetische wieder-
hergestellt wird. Doch gibt es auch eine Reihe von Fällen,
in denen ein Verlust von Energie ohne sichtbare Lagen-
änderung eintritt. Wenn zwei gleich grosse unelastische
Körper, die sich mit gleichen Geschwindigkeiten nach ent-
gegengesetzten Richtungen bewegen, zentral zusammen-
stossen, so findet wenigstens dem Augenscheine nach
eine völlige Vernichtung der Bewegung und kein Ge-
winn an der Lage statt, denn die Körper verbleiben in
Ruhe an dem Orte des Zusammenstosses. Ein ähnlicher
Verlust an Energie wird beobachtet, wenn Arbeit gegen
Reibung geleistet wird. Was wird aus der Bewegungsenergie,
die in Fällen dieser Art' zu verschwinden scheint ? Auf diese
Frage wusste offenbar Newton keine bestimmte Antwort.
Er behauptete ausdrücklich, dass „Bewegung gewonnen
werden oder verloren gehen kann" und dass, „da die Träg-
heit ein passives Prinzip ist, . . . irgend ein anderes Prinzip
notwendig ist, um Körper in Bewegung zu setzen, und ein
anderes, um sie, wenn sie in Bewegung sind, in derselben
zu erhalten . . . Infolge der Unzusammendrückbarkeit der
Flüssigkeiten und der Reibung ihrer Teile, sowie der un-
vollkommenen Elasticität der festen Körper ist Bewegung
viel mehr in der Lage, verloren als gewonnen zu werden,
und ist fortwährend in At)nahme begriffen." ' ^) Es wäre
jedoch ein Irrtum, mit Stewart und Tait^*) zu behaupten,
dass die Antwort zu Newton's Zeiten unbekannt war. Die
Antwort der modernen Wissenschaft, dass der scheinbare
i"») „Opticks," 4th ed., p. 373.
^*) The Unscen Universe, § 100.
72 VI, Kapitel.
Verlust an Massenbewegung von einer wirklich stattfinden-
den Umwandlung derselben in Molekularbewegung herrühre,
ist von Leibniz anticipiert worden , wie aus folgender be-
merkenswerten Stelle in seinem fünften Briefe an Clarke
erhellt: „Ich habe behauptet, dass die wirksamen Kräfte
sich in der Welt erhalten. Man wirft mir vor, dass zwei
weiche unelastische Körper beim Zusammenstosse einen
Teil ihrer Kraft verlieren. Ich entgegne, dass dies nicht
der Fall ist. Es ist allerdings richtig, dass die Körper als
ganze eine Einbusse an ihrer Gesamtbewegung erleiden^
aber ihre Teile nehmen dieselbe auf, indem sie durch die
Kraft des Stosses in eine heftige innere Bewegung geraten.
Der Verlust ist nur ein scheinbarer. Die Kräfte sind nicht
vernichtet, sondern nur unter die kleinen Teilchen zerstreut.
Dies bedeutet keinen Verlust, sondern ist dasselbe, wie
wenn grosses Geld in kleines umgewechselt wird." ^^) Die
**) „J'avais soutenu que les Forces actives se conservent dans
le monde. On m'objecte, que deux corps moux, ou non-elastiques,
concourant entre eux, perdent de leur force. Je reponds que non.
II est vrai que les Touts la perdent par rapport ä leur raouvement
total; mais les parties la regoivent, etant agitees interieurement par
la force du concours. Ainsi ce defaut n'arrive qu'en apparence.
Les forces ne sont detruites, mais dissipees parmi les parties menues.
Ce n'est pas les perdre, mais c'est faire comme fönt ceux qui changent
la grosse monnaie en petite." Opp. phil. , ed. Erdmann, p. 775.
Es ist seltsam, dass diese Stelle so viele Jahre hindurch selbst nach
der Annahme der modernen Lehre von der Erhaltung und Verwand-
lung der Energie und der Wechselbeziehung der Kräfte unbemerkt
geblieben ist. Ich fand sie vor mehreren Jahren; kürzlich hat Du
Bois-Reymond auf sie die Aufmerksamkeit gelenkt in seinem Vor-
trage: ,,Leibnizische Gedanken in der neueren Naturwissenschaft".
Es gibt noch eine andere Stelle von gleicher Bedeutung in Leibniz'
Mathematischen Werken (her. v. Gerhardt), Bd. 2, S. 230. Dr.
Berthold hat (Pogg. Ann., Bd. 157, S. 350) gezeigt, dass die „Allo-
tropie der Kraft" mehr als ein Jahrhundert vorher in Ausdrücken von
merkwürdiger Präcision von Diderot in seinen „Pensees sur l'inter-
pretation de la nature", Londres, 1754, § 45 verkündet wurde.
Der Satz von der kinetischen Natur etc, 73
hier verkündete Wahrheit war lange Zeit hindurch, um
einen Ausdruck von Coleridge zu gebrauchen „eine bett-
lägerige Wahrheit" ; trotz der lebhaften und selbst stürmischen
Erörterungen über die Kräfte und deren Messung und in-
mitten eines raschen Wachstums physikalischer Thatsachen
und Theorieen blieb sie für mehr als ein Jahrhundert be-
graben. Diese scheinbare Anomalie erklärt sich durch den
Umstand, dass bis zur Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts
W^ärme, Elektricität, Magnetismus u. s. w. für materielle Sub-
stanzen gehalten wurden, deren gegenseitige Verwandelbar-
keit mit mechanischer Bewegung oder Energie völlig un-
begreiflich erschien. Erst nach der Aufstellung der dyna-
mischen Theorieen der „Imponderabilien" zeigte sich die
Fruchtbarkeit der Lehre von der Erhaltung und Verwand-
lung der Energie und führte zu einem gründlichen . Umbau
der ganzen Physik. ^®)
Die Wechselbeziehung und gegenseitige Verwandlung
der verschiedenen Formen von Energie ist in so ausführ-
licher Weise in den wissenschaftlichen Tagesschriften be-
handelt worden, dass es nicht notwendig ist, darauf näher
einzugehen. Der Zweck meiner kurzen Übersicht über die
Geschichte der Lehre von der Erhaltung der Energie oder
vielmehr der Entwicklung der daselbst auftretenden wissen-
schaftlichen Begriffe war einfach der, zu zeigen, dass die
Geschichte in der That ein fortschreitendes Verlassen des
an die Spitze dieses Kapitels gestellten Satzes lehrt, der
seinem Wesen nach mit Descartes' Theorie von der Er-
haltung der Bewegung identisch ist — ein Umstand, dessen
Bedeutung ich später auseinanderzusetzen hoffe.
^®) Ich kenne wohl die Anticipationen der modernen Wärme-
theorie von Bacon, Locke, Rumford, Sir Humphry Davy u. a. ;
doch fand ihre übrigens klare Behauptung, dass die Wärme nur eine
„Art von Bewegung" sei, ebensowenig Aufmerksamkeit von Seite der
zeitgenössischen Physiker als die oben erwähnte Lehre von Leibniz.
74 ■ ^^» Kapitel,
Wir haben nun die vier Hauptsätze der mechanischen
Atomtheorie auseinandergesetzt und haben (ohne auf das
Gebiet des Organischen einzugehen) gefunden, dass jeder
einzehie derselben von den Wissenschaften der Chemie,
Physik und Astronomie verleugnet wird. Bevor wir daran
gehen, die Ursachen und Folgen dieses Ergebnisses zu
untersuchen, und die Beziehung der mechanischen Theorie
zu den Denkgesetzen, wie die Geschichte ihrer Entwicklung
zu betrachten, ist es von Wichtigkeit, diese Erörterung durch
eine Untersuchung über die Natur, die Giltigkeit und den
wissenschaftlichen Wert der Hypothese von der atomistischen
Konstitution der Materie zu ergänzen.
VII.
Die Theorie von der atomistischen Konstitution
der Materie.
Die Lehre, dass eine erschöpfende Zerlegung der
Materie in ihre wirklichen Elemente, falls sie praktisch
ausführbar wäre, ein Aggregat unteilbarer und unzerstörbarer
Partikel ergeben würde, ist eines der frühesten Erzeugnisse
menschlichen Denkens und hat sich fester behauptet, als
irgend ein anderer Lehrsatz der Wissenschaft oder der
Philosophie. Allerdings ist die Atomtheorie seit ihrem
ersten Auftreten bei den alten griechischen Philosophen
und ihrem ersten ausführlichen Entwurf bei Lucrez abge-
ändert und verfeinert worden. Es wird wahrscheinlich
niemand heutzutage mehr die Atome mit Hacken und
Schlingen suchen, oder den bitteren Geschmack von Wermut
durch die Rauheit und die Süsse von Milch und Honig
durch die sanfte Rundung der sie zusammensetzenden Atome
zu erklären suchen. ^) Immerhin sind aber die Atome der
modernen Wissenschaft noch von bestimmtem Gewichte,
wenn nicht von bestimmter, gleichförmiger und konstanter
Gestalt und gelten selbst nach den Ansichten jener, die wie
BoscoviCH, Faraday, AMPfeRE oder Fechner sie als blosse
Kraftcentra betrachten, ftir mehr als abstrakte Einheiten.
Es ist auch nicht schwer, der Atomenlehre eine solche
Fassung zu geben, die sie auf alle Bedeutungen, welche sie
bei den Männern der Wissenschaft gefunden hat, anwendbar
^) LucRETius, De Rerum Natura, II, 398 seq.
76 VII. Kapitel.
macht. Denn welche Verschiedenheit der Ansichten auch
über die Form, Grösse u. s. w. der Atome vorherrschen
mag, so Istimmen doch alle, welche die Atomhypothese in
irgend einer ihrer Formen als physikalische Theorie vor-
bringen, in den drei nachfolgenden Sätzen mit einander
überein :
1. Die Atome sind absolut einfach, unver-
änderlich, unzerstörbar; sie sind physikalisch,
wenn nicht mathematisch unteilbar.
2. Die Materie ist diskret zusammengesetzt,
die sie zusammensetzenden Atome sind durch
leere Zwischenräume geschieden. Im Gegen-
satz zur Kontinuität des Raumes steht die
Diskontinuität der Materie. Die Ausdehnung
eines Körpers ist einfach ein Wachstum, seine
Zusammenziehung eine Verminderung der
Zwischenräume der Atome.
3. Die Atome, welche die verschiedenen
chemischen Elemente zusammensetzen, haben
bestimmte eigentümliche Gewichte, die ihren
Äquivalentgewichten entsprechen/"')
Eingestandenermassen ist die Atomtheorie bloss eine
Hypothese. Dies ist an und für sich nicht entscheidend
gegen ihre Wertschätzung; alle sogenannten physikalischen
Theorien sind Hypothesen, deren allenfalsige Anerkennung
als Wahrheiten von ihrer Übereinstimmung unter einander,
ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik, ihrer
^) Um Verwirrungen zu vermeiden, habe ich absichtlich für den
Augenblick den Unterschied zwischen den Molekeln als den letzten
Ergebnissen der physikalischen Teilung der Materie und den Atomen
als den letzten Produkten der chemischen Zerlegung ausser Acht ge-
lassen , indem ich es vorgezogen habe , das Wort Atom in dem
Sinne letzter Teile aufzufassen, in die durch irgend welche Mittel
die Körper noch zerlegbar sind.
Die Theorie v, d, atomistischen Konstitution d, Materie. 77
Überemstimmung mit den Thatsachen, zu deren Erklärung
und Verknüpfung sie dienen, ihrer Überemstimmung mit
der ermittelten Naturordnung, von der Ausdehnung, bis
zu welcher sie sich als vertrauenswürdige Anticipationen
oder Vorhersagungen von Thatsachen erweisen, die durch-
nachfolgende Beobachtung und Experiment bestätigt werden,,
imd endlich von deren Einfachheit oder vielmehr von
deren vereinfachenden Wirksamkeit herrührt. Die Ver-
dienste der Atomtheorie sind demnach darnach zu be-
urteilen, ob sie in ausreichender und einfacher Weise von
den Erscheinimgen, zu deren Erklärung sie aufgestellt
worden ist, Rechenschaft gibt, und ob sie in Überein-
stimmung mit sich selbst und mit den bekannten Gesetzen
der Vernunft und der Natur steht.
Für welche Thatsachen soll also die Atomtheorie
Rechenschaft geben, und bis zu welchem Grade ist diese
ausreichend ?
Man behauptet, dass der erste der drei obigen Sätze
(der die beständige Integrität der Atome oder deren Un-
veränderlichkeit dem Gewichte und Volumen nach behauptet)
Rechenschaft gebe für die Unzerstörbarkeit und Undurch-
dringlichkeit der Materie, der zweite (der sich auf die Dis-
kontinuität der Materie bezieht) eine unerlässliche Forderung
für die Erklärung gewisser physikalischer Erscheinungen wie
die der Dispeßion und Polarisation des Lichtes sei, und der
dritte (demzufolge die Atome der chemischen Elemente
bestimmte spezifische Gewichte haben) den notwendigen
allgemeinen Ausdruck der chemischen Gesetze der kon-
stanten Zusanmiensetzung, der äquivalenten Verhältnisse und
der multiplen Proportionen vorstelle.
Die Diskussion dieser Ansprüche erfordert zunächst
eine Richtigstellung der Thatsachen und eine Zurück-
führung derselben auf einen exakten Ausdruck, um dann
78, VIL Kautel
zu sehen, inwieweit sie durch die Theorie eine Verein-
fachung erfahren.
I. Die Unzerstörbarkeit der Materie ist eine unzweifel-
hafte Wahrheit. Doch in welchem Sinne und aus welchen
Gründen behauptet man sie? Die einmütige Antwort aller
Atomisten lautet: Die Erfahrung lehrt, dass alle Verände-
rungen, denen die Materie unterworfen ist, blosse Varia-
tionen der Form sind, und dass bei denselben eines unver-
änderlich bleibt — die Masse oder Quantität der Materie.
Die Konstanz der Masse wird durch die Wage erwiesen,
welche zeigt, dass weder Schmelzen, noch Sublimieren,
weder Erzeugen noch Verderben das Gewicht eines dem
Experimente unterworfenen Körpers vermehren oder ver-
mindern kann. Wenn ein Pfund Kohle verbrannt wird,
zeigt die Wage die fortdauernde Existenz dieses Pfundes
in der Kohlensäure, welche das Produkt dieser Verbrennung
bildet, und aus welcher das ursprüngliche Gewicht der
Kohle wieder zurückgewonnen werden kann. Die Quantität
der Materie wird durch ihr Gewicht gemessen und dieses
Gewicht ist unveränderlich.
Das ist die jedermann bekannte Thatsache wie ihre
nicht minder bekannte Deutung. Deren Korrektheit zu
prüfen, mag es gestattet sein, ein wenig ' die Methode ihrer
Bestätigung zu ändern. Statt das Pfund Kohle zu ver-
brennen, lassen wir es einfach auf den Gipfel eines Berges
führen oder an einen niedrigeren Breitengrad schaffen; ist
dann sein Gewicht noch immer dasselbe? In relativer Be-
ziehung wohl; es wird noch immer demselben Gegen-
gewicht Gleichgewicht halten. Aber das „absolute Gewicht*'
ist nicht mehr dasselbe. Dies wird sofort ersichtlich, wenn
wir der Wage eine andere Form geben, indem wir ein
Pendel statt eines Paares von Wagschalen wählen. Das
Pendel schwingt auf dem Gipfel eines Berges oder in der
Nähe des Äquators langsamer als das am Fusse des Berges
Die Theoiie v, d, atomistiscJien Konstitution d. Mateine. 79
oder näher an den Polen gelegene, weil es infolge der
grösseren Entfernung vom Mittelpunkte der Erdanziehung
spezifisch leichter ist, entsprechend dem Gesetze, nach dem
die Anziehungen der Körper umgekehrt proportional dem
Quadrate ihrer Entfernung sind.
Es ist demnach evident, dass die Konstanz, auf deren
Beobachtung die Behauptung von der Unzerstörbarkeit der
Materie gegründet wurde , lediglich eine solche einer Be-
ziehungsart ist, und dass die gewöhnliche Feststellung derselben
eine rohe und unangemessene ist. Denn wiewohl es richtig
ist, dass das Gewicht eines Körpers ein Mass der Masse
bildet, so ist es doch in Wirklichkeit nur ein spezieller
Fall der viel allgemeineren Thatsache, dass die Massen
der Körper umgekehrt proportional den ihnen unter Ein-
wirkung derselben Kraft erteilten Geschwindigkeiten oder,
noch allgemeiner ausgedrückt, den in ihnen durch die näm-
liche Kraft erzeugten Beschleunigungen sind. In dem
Falle der Schwere sind die anziehenden Kräfte den Massen
direkt proportional, so dass die. Wirkung dieser Kräfte (das
Gewicht) das einfachste Mass der Beziehung zweier Massen
als solcher zu einander darstellt; jedoch muss in einer
jeden auf die Giltigkeit der Atomtheorie bezüglichen Unter-
suchung darauf Bedacht genommen werden, dass dieses
Gewicht nicht das Äquivalent oder vielmehr das Bild einer
absoluten substanziellen Einheit in einem dieser (gewogenen)
Körper, sondern nur einen blossen Ausdruck der gegen-
seitigen Anziehung beider Körper vorstellt. Es ist auch
notwendig, daran zu erinnern, dass dieses Gewicht ohne
einer gleichzeitigen Verringerung der Masse des Körpers
durch eine blosse Änderung seiner Lage ins Unbegrenzte
vermindert werden kann.
Die Massen finden ihr wahres und einziges Mass in
der Wirkung der Kräfte, und die Beständigkeit derselben
ist der einfache imd zutreffende Ausdruck der Thatsache,
8o VIL Kapitel.
welche gewöhnlich als Unzerstörbarkeit der Materie hin-
gestellt wird. Es ist klar, dass diese Beständigkeit in
keiner Weise durch die atomistische Hypothese erklärt wird.
Es kann sein, dass diese Beständigkeit eine Eigenschaft
kleiner, unwahrnehmbarer Teile ist, von denen man an-
nimmt, dass sie die Materie zusammensetzen, ebensogut wie
auch eine Eigenschaft wahrnehmbarer Massen; doch be-
deutet sicherlich die hypothetische Zurückführung einer
Thatsache auf Atome keine Erklärung des wirklichen Auf-
tretens derselben Thatsache bei der zusammengesetzten
Masse. Was auch für ein Geheimnis in der Erscheinung
gelegen sein mag, so ist dasselbe doch sicherlich nicht
grösser in dem Falle eines Atoms als in dem eines Sonnen-
oder Planetensystems. Es bedeutet keine Erklärung des
Magnetismus, wenn man einen Magnet in Teile bricht und
zeigt, dass jeder Teil mit derselben magnetischen Polarität
behaftet ist wie der ganze Magnet. Eine Erscheinung wird
nicht erklärt, wenn sie zerstäubt wird. Eine Thatsache
kehrt sich in keine Theorie um, wenn man sie durch ein
verkehrtes Femrohr betrachtet. Die Hypothese letzter un-
zerstörbarer Atome ist keine notwendige Folge der Be-
harrlichkeit des Gewichtes und kann im besten Falle als
Grund für die Unzerstörbarkeit der Materie angeführt
werden, wenn gezeigt werden kann, dass eine absolute
Grenze der Zusammendrückbarkeit der Materie existiert —
mit anderen Worten, dass für jede bestimmte Masse ein
unbedingt kleinstes Volumen gegeben ist. Dies bringt uns
zu der Betrachtung jener allgemeinen Eigenschaft der
Materie, welche wahrscheinlich nach den Meinungen der
meisten am dringendsten die Annahme von Atomen fordert
— der Undurchdringlichkeit.
„Zwei Körper können nicht denselben Raum ein-
nehmen'* — dies ist die gewöhnliche Fassung der in
Frage stehenden Thatsache. Gleich der Unzerstörbarkeit
Die Theorie v, d, atomisiischen Konstitution d, Materie, 8i
der Materie beansprucht sie, eine Thatsache der Erfahrung
zu sein. ^Dass alle Körper undurchdringlich sind'', sagt
Sir Isaak Newton, folgern wir nicht aus Vernunftgründen,
sondern aus der sinnlichen Beobachtung."*) Lasst uns
sehen, in welchem Sinne und bis zu welchem Grade dieser
Anspruch berechtigt isti
Der Satz, demgemäss der von einem Körper erfüllte
Raum von keinem zweiten eingenommen werden kann,
enthält die Annahme in sich, dass der Raum eine absolute,
objektive, nur durch sich selbst messbare Grösse ist, sowie
die weitere Annahme, dass es einen kleinsten Raum gibt,
welchen ein gegebener Körper in einer jeden anderen
Körper ausschliessenden Weise erfüllt. Eine Bestätigung
dieses Satzes durch die Erfahrung müsste darauf hinaus-
laufen, nachzuweisen, dass es eine absolute Grenze für die
Zusammendrückbarkeit aller Materie gibt. Berechtigt uns
nun die Erfahrung, eine solche Grenze anzunehmen ? Sicher-
lich nicht Es ist wohl wahr, dass in dem Falle fester
und flüssiger Körper praktische Grenzen vorhanden sind,
über welche hinaus eine Zusammenpressung durch die uns
zur Verfügung stehenden mechanischen Mittel unmöglich
ist; aber selbst hier stellt sich uns die Thatsache entgegen,
dass die Volumina von Rtissigkeiten, die in wirksamer
Weise allen Anstrengungen zu ihrer weiteren Zusammen-
pressung durch äusseren Druck widerstehen, durch blosse
Mischung verringert werden. So geben Wasser und
Schwefelsäure bei gewöhnlichen Temperaturen in keiner
merklichen Weise äusserem Drucke nach; im Falle der
Mischung wird aber das neue Volumen wesentlich kleiner
als das beiden Flüssigkeiten vor derselben zukommende.
Doch abgesehen hiervon wie auch von den Erscheinungen,
') „Corpora omnia impenetrabilia esse, non ratione, sed sensu
coUigimus.*^ — Phil. Natur. Princ. Math., IIb. III, reg. 3.
Stallo, Begriffe u. Theorieen. 6
82 VII. Kapitel.
welche bei den Prozessen der Mischung und chemischea
Wirkung auftreten, muss es gesagt werden, dass die Er-
fahrung in keiner Weise die Undurchdringlichkeit der
Materie in allen Aggregatzuständen verbürgt. Wenn Gase
einem Drucke unterworfen werden, so ist das Ergebnis
einfach ein Wachstum der Spannkraft, das nach dem
Gesetze von Bovle oder Mariotte (die Abweichungen und
scheinbaren Ausnahmen, wie sie in den experimenten' Re-
sultaten Regnault's u. a. hervortreten, brauchen hier als-
für die Beweisführung belanglos nicht berücksichtigt zu
werden) proportional dem ausgeübten Drucke stattfindet.
Eine bestimmte Grenze ist nur in dem Falle jener Gase
erreicht worden, in denen der Druck Verflüssigung oder
Festwerdung erzeugt. Die ausgezeichnetste Erscheinung;
hingegen, welche die Erfahrung zu diesem Gegenstände
beisteuert, ist die Diffusion der Gase. Sobald zwei oder
mehr Gase, die chemisch auf einander nicht einwirken, in
einen gegebenen Raum eingeleitet werden, diffundiert jedes
Gas in diesen Raum, als ob es allein da wäre; oder, wie
dies Dalton, der berühmte Vater der neueren Atomtheorie,,
ausdrückt : „Gase verhalten sich gegen einander passiv, und
jedes dringt in das andere wie in ein Vacuum ein.''
Was auch immer für eine Realität dem Begrifie der
Undurchdringlichkeit der Materie entsprechen mag, keines-
wegs ist die letztere im Sinne der Atomisten durch die
Erfahrung gegeben.
Aus dem Ganzen ersieht man wohl , dass die Giltig-
keit des ersten Satzes der Atomtheorie durch die Thatsachen
nicht aufrecht erhalten wird. Selbst wenn die angenommene
Unveränderlichkeit der vorausgesetzten letzten Bestandteile
der Materie sich als mehr als eine blosse Wiedergabe einer
beobachteten Thatsache in Form einer Hypothese erweisen
liesse und mit dem Namen einer Verallgemeinerung oder
Theorie bezeichnet werden könnte, würde noch immer die
Die Theorie v. d. atomistischen Konstitution d, Materie. 85
Kritik entgegnen können, dass es sich um eine roh be-
obachtete und unvollkommen aufgefasste Thatsache handelt.
In diesem Zusammenhang mag noch angeführt werden,
dass die Atomtheorie nahezu wertlos als Erklärung für die
Undurchdringlichkeit der Materie geworden ist, seit sie in
den Dienst der Wellentheorie der Strahlung gepresst worden
ist und die Form angenommen hat, in welcher sie von der
Mehrzahl der Physiker aufgefasst wird, wie wir sofort sehen
werden. Nach derselben sind die Atome entweder blosse
Punkte ohne alle Ausdehnung, oder sie sind unendlich klein
im Vergleiche zu den Entfernungen zwischen ihnen, wie
auch immer der Aggregatzustand der betreffenden Substanz
sein mag. Nach dieser Ansicht beruht der Widerstand,
welchen ein Körper, d. i. ein System von Atomen, dem
Eindringen eines zweiten Körpers entgegensetzt, nicht auf
der Starrheit oder der Unveränderlichkeit des Volumens
der einzelnen Atome, sondern auf dem Verhältnis der an-
ziehenden und abstossenden Kräfte, mit denen sie der An-
nahme nach versehen sind. Es gibt Physiker, die der
Meinung sind, dass die Ansicht von der atomistischen Zu-
sammensetzung der Materie mit ihrer Durchdringlichkeit ver-
einbar ist ' — wie z. B. Cauchv, der, nachdem er dife Atome
als „materielle Punkte ohne Ausdehnung" definiert hatte,
also fortfahrt: „Die Eigenschaft der Materie, welche wir
Undurchdringlichkeit nennen, ist also erklärt, wenn wir die
Atome als materielle .Punkte ansehen, die auf einander An-
ziehungen imd Abstossungen äussern, die mit der Entfernung
zwischen ihnen sich ändern . . , Daraus folgt noch, dass,
wenn es dem Schöpfer der Natur gefiele, bloss die Gesetze
zu ändern, nach denen sich die Atome anziehen oder ab-
stossen, wir sofort die härtesten Körper sich einander durch-
dringen, die kleinsten Teile der Materie ungemessene Räume
einnehmen oder die grössten Massen auf den kleinsten
6*
84 ^I^' Kapitel,
Raum sich zurückziehen und das ganze Weltall sich auf
diese Weise in einen Punkt konzentrieren sehen könnten. *)
2. Der zweite Hauptsatz der modernen Atomtheorie
behauptet die wesentliche Unstetigkeit der Materie. Die
Verteidiger der Theorie behaupten, dass es eine Reihe von
physikalischen Erscheinungen gibt, welche unerklärlich bleiben,
wofern nicht angenommen wird, dass die Bestandteile der
Materie durch weite Zwischenräume von einander geschieden
sind. Die bekanntesten derselben sind die Dispersion und
die Polarisation des Lichtes. Der Grund, weshalb die An-
nahme einer diskreten molekularen Struktur für die Er-
klärung dieser Erscheinungen als unerlässlich betrachtet wird,
mag in einigen wenigen Worten auseinandergesetzt werden.
Gemäss der Wellentheorie ist die Dispersion des Lichtes,
d. h. die Trennung seiner farbigen Bestandteile mit Hilfe
der Brechung, eine Folge der ungleichen Verzögerung, welche
die verschiedenen Wellenarten, die den verschiedenen Färben
entsprechen, bei ihrem Durchgange durch das brechende
Medium erleiden. Diese ungleiche Verzögerung setzt Unter-
schiede in den Geschwindigkeiten voraus, mit welchen sich
die verschieden farbigen Strahlen durch irgend ein Medium
fortpflanzen, sowie eine Abhängigkeit dieser Geschwindig-
keiten von den Wellenlängen. Nun sind aber nach einem
*) „Ainsi, cette propriete de la mallere que nous nommons
impenetrabilite se trouve expliquee, quand on considere les atomes
comme des points materiels qui excrcent les uns sur les autres des
attractions ou repulsions variables avec les distances qui les separent . . .
II resulte encore de ce qui precede, que s'il plaisait ä l'auteur de
la nature de modifier seulement les lois suivant lesquelles les atomes
s'attirent ou se repoussent, nous pourrions voir, ä l'instant meme,
les Corps les plus durs se penetrer les uns les autres, les plus petites
parcelles de matiere occuper des espaces demesures, ou les masses
les plus cpnsiderables se reduire aux plus petits volumes, et l'univers
entier se concentrer pour ainsi dire en un seul point." Sept legons
de Physique Generale, ed. Moigno, p. 38 seq.
Die Theorie v. d, atomistischen Konstitution d, Materie, 8$
wohlbegründeten mechanischen Satze die Geschwindigkeiten,
mit denen sich Wellen durch ein kontinuierliches Medium
fortpflanzen, bloss abhängig von dem Verhältnis der Elasti-
cität des Mediums zu seiner Dichte, hingegen völlig un-
abhängig von der Länge und Form dieser Wellen. Die
Richtigkeit dieses Satzes ist durch Versuche am Schall be-
zeugt. Töne jeglicher Höhe pflanzen sich mit der gleichen
Geschwindigkeit fort. Wäre dies nicht der Fall, so müsste
Musik, aus der Entfernung gehört, offenbar zu einem Chaos
werden; Unterschiede in der Fortpflanzungsgeschwindigkeit
des Schalles würden den Rhytmus zerstören und in manchen
Fällen eine Umkehrung der Reihenfolge bewirken. Nun
sind aber Unterschiede der Farbe Unterschieden der Ton-
höhe analog, indem beide sich auf Differenzen der Wellen-
länge zurückfuhren lassen. Die Wellenlänge wächst, wenn
wir die Skala der Töne von den höheren zu den tieferen
durchschreiten; und ähnlich wächst die Wellenlänge des
Lichtes, wenn wir im Spektrum vom violetten gegen das
rote Ende uns wenden. Es folgt daraus, dass die Strahlen
verschiedener Farbe, gleich den Tönen verschiedener
Höhe, mit gleicher Geschwindigkeit fortgepflanzt und in
gleicher Weise gebrochen werden sollten; dass folglich
keine Dispersion des Lichtes stattfinden sollte.
Diese theoretische Unmöglichkeit der Dispersion ist
stets als eine der gefurchtesten Schwierigkeiten der Wellen-
theorie betrachtet worden. Um dieselben zu vermeiden,
führte Cauchy auf Anregung seines Freundes Coriolis eine
Reihe analytischer Untersuchungen aus, in denen es ihm
zu zeigen glückte, dass die Geschwindigkeiten, mit denen
die verschieden farbigen Strahlen sich fortbewegen, mit der
W'ellenlänge sich ändern können, falls angenommen wird,
dass der Äther als Medium der Fortpflanzung, statt kon-
tinuierlich zu sein, aus Teilchen besteht, die von einander
durch merkliche Entfernungen geschieden sind.
86 VII. Kapitel.
Mit Hilfe einer ähnlichen Annahme hat es Fresnel
versucht, die durch die Erscheinungen der Polarisation sich
darbietenden Schwierigkeiten zu beseitigen. Im gewöhn-
lichen Lichte werden die verschiedenen Schwingungen als'
nach verschiedenen Richtungen hin stattfindend angesehen,
wobei alle zur Fortpflanzungsrichtung senkrecht stehen,
während im polarisierten Lichte die Schwingungen, wiewohl
noch immer senkrecht zum Strahl, parallel sind, so dass sie
alle in einer Ebene stattfinden. Bald nachdem diese Hypo-
these zu einer ausfuhrlichen Theorie der Polarisation aus-
gearbeitet worden war, bemerkte Poisson, dass bei einer
beträchtlichen Entfernung von der Lichtquelle alle transversalen
Schwingungen in einem kontinuierlichen elastischen Medium
zu longitudinalen werden müssten. Wie in dem Falle der
Dispersion wurde diesem Vorwurfe durch die Hypothese
von der Existenz „endlicher Intervalle" zwischen den Äther-
teilchen begegnet.
Dies sind in bündiger Fassung die Betrachtungen,
welche die theoretische Physik zur Stütze der Atomtheorie,
wie man annimmt, beitragen soll. In Bezug auf das Zwingende
der auf ihnen beruhenden Beweisführung ist im allgemeinen
zu bemerken, dass der Nachweis unstetiger molekularer An-
ordnung der Materie keineswegs ein Beweis für den Wechsel
unveränderlicher und unteilbarer Atome mit absolut leeren
Räumen ist. Doch steht zu befürchten, dass das in Frage
stehende Argument nicht nur formell, sondern auch inhalt-
lich ein täuschendes ist. Es ist sehr fraglich, ob die An-
nahme „endlicher Intervalle" zwischen den Teilen des Licht-
äthers im Stande ist, die Wellentheorie des Lichtes aus
ihren Verlegenheiten zu befreien. Dieser Gegenstand ist
nach einer seiner Seiten von E. B. Hunt in einem Artikel
über die Dispersion des Lichtes ^) einer gründlichen Dis-
*) Siluman's Journal, 2d series, vol. VII, pag. 364 seq.
Die Theorie t\ d, atomistiscken Konstitution d, Materie-, 87
lussion unterzogen worden und scheinen mir seine Be-
merkungen einer ernsten Aufmerksamkeit wert zu sein. Sie
sind kurz folgende:
Cauchy unterwirft die Erscheinungen der Dispersion
der Geltung der Wellentheorie dadurch, dass er die Unter-
schiede in den Geschwindigkeiten verschieden farbiger
Strahlen von den Unterschieden in den entsprechenden
Wellenlängen mit Hilfe der Hypothese endlicher Zwischen-
Täume zwischen den Teilen des richtvermittelnden Mediums
ableitet. Er nimmt es also als ausgemacht an, dass diese
farbigen Strahlen sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten
fortpflanzen. Ist dies aber wirklich der Fall ? Die Astronomie
bietet die Mittel, diese Frage zu beantworten.
Wir empfinden weisses Licht, wenn alle farbigen
Strahlen, aus denen es zusammengesetzt ist, das Auge
gleichzeitig treffen. Das von einem leuchtenden Körper
kommende Licht wird farblos erscheinen, selbst wenn die
es zusammensetzenden Strahlen sich mit ungleichen Ge-
schwindigkeiten fortpflanzen, wofern sie nur in ihrer Wirkimg
auf die Netzhaut in einem gegebenen Moment zusammen-
treffen; für gewöhnlich ist es unwesentlich, ob sie den
leuchtenden Körper gleichzeitig oder nacheinander verlassen
^aben. Dies wird jedoch anders, sobald es sich um leuch-
tende Körper handelt, die plötzlich sichtbar werden, wie
-dies bei den Satelliten des- Jupiter oder Saturn nach ihren
Verfinsterungen der Fall ist. Zu gewissen Zeiten sind mehr
als 49 Minuten für die Fortpflanzung des Lichtes vom
Jupiter auf die Erde erforderlich. In dem Momente nun,
wo einer von Jupiters Trabanten, der durch den Planet
verfinstert war, aus dem Schatten hervortritt, müssten die
roten Strahlen, deren Geschwindigkeit am grössten ist, die
Erde zuerst erreichen, hernach die orangefarbenen und so
weiter durch die Farbenskala, bis endlich durch die An-
kunft der violetten Strahlen, deren Geschwindigkeit als die
88 VIL Kapitel
kleinste angenommen wird, die Ergänzung der Farben voll-
zogen wäre. Der Trabant würde unmittelbar nach seinem
Auftauchen rot erscheinen und allmählich im Verhältnis zur
Ankunft der anderen Farben in weiss tibergehen. Umge-
kehrt würden beim Beginne der Verfinsterung die violetten
Strahlen nach den roten und anderen Farben fortfahren an-
zukommen, und der Trabant würde bis zu dem Augenblicke
seines völligen Verschwindens ins violette abdunkeln.
Zum Unglück für die Hypothese Cauchv's ist es der
sorgsamsten Beobachtung der fraglichen Verfinsterungen
nicht gelungen, irgend welche Veränderungen der Farbe
aufzufinden, weder vor, noch nach der Verfinsterung, indem
der Übergang zwischen Licht und Schatten stets plötzlich
und ohne farbige Abstufung vor sich ging.
Die Astronomie weist noch eine Reihe anderer Er-
scheinungen auf, die in gleicher Weise der Lehre von den
ungleichen Geschwindigkeiten farbiger Strahlen widerstreiten.
Fixsterne jenseits der parallaktischen Grenze, deren Licht
mehr als drei Jahre braucht, um uns zu erreichen, sind
grossen periodischen Schwankungen des Glanzes unterworfen ;
aber selbst diese Schwankungen sind von keinen Verände*
rungen der Farbe begleitet. Femer kommt die Annahme
verschiedener Geschwindigkeiten der farbigen Strahlen bei
der Theorie der Aberration ausser Betracht Die Aberration
kommt durch die Thatsache zustande, dass in allen Fällen^
wo die Bahn des Planeten, auf dem sich der Beobachter
befindet, mit der Richtung des Lichtes einen Winkel ein-
schliesst, eine Zusammensetzung der Bewegungen des Lichtes
und der Planeten stattfindet, so dass die Richtung, in der
das Licht das Auge trifft, eine Resultierende zweier Kompo-
nenten ist — der Richtung des Strahles und der Bewegung
des Beobachters. Wenn die verschieden farbigen Strahlen
sich nun mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen
würden, würde es oß*enbar mehr Resultanten geben, und
Die Theorie v. d, atomütischen Konstitution d. Materie» 89
jeder Stern würde als farbiges Spektrum längs der Richtung
der Erdbewegung erscheinen.
Die Behauptung einer Abhängigkeit der Geschwindig-
keit der Wellenbewegung, welche den verschiedenen Farben
entspricht oder sie hervorruft, von der Wellenlänge steht
somit in Widerspruch mit den beobachteten Thatsachen.
Die Hypothese „endlicher Zwischenräume" ist eine nutzlose
Ergänzung der Wellentheorie; andere Methoden müssten
gesucht werden, um die Theorie von ihren Schwierigkeiten
zu befreien. ®)
Der hier angeführte negative Beweisgrund gegen die
Annahme einer atomistischen oder molekularen Konstitution
des Lichtäthers wird durch einen positiven aus einem Zweig
der mechanischen Atomtheorie selbst verstärkt, nämlich aus
®) Seit dem Erscheinen von Cauchy's „Memoire sur la dis-'
persion de la lumi^re" (Prag 1836) ist die Abhängigkeit der Dis-
persion verschiedener Substanzen von ihrem Aggregatzustand und
ihrer chemischen Zusammensetzung Gegenstand eingehender experi-
menteller Untersuchungen gewesen, und die hervorragendsten Phy-
siker (Briot, Holtzmann, Redtenbacher, C. Neumann, Ketteler)
suchten aufs neue nach einer Erklärung der Erscheinungen der Dis-
persion durch die Wirkung der ponderablen Materie oder die gegen-
seitige Einwirkung zwischen ihr und dem Äther. Man vergleiche
Briot „Essai sur la theorie mathematique de la lumiere" (Paris,
Mallet-Bachelier, 1864), S. Sgff. ; Redtenbacher, „Dynamidensystem**,
S. i3oflF. ; Ketteler, „Über den Einfluss der ponderablen Moleküle
auf die Dispersion des Lichtes" u. s. w. (Pogg. Ann., Bd. 140, S. 2 ff.
und S. 177 ff.). Eine elektromagnetische Theorie des Lichtes ist auf
Grund der annähernden Gleichheit der Geschwindigkeiten, mit der
sich Licht und elektromagnetische Störungen durch Luft und andere
Media auszubreiten scheinen, und auf Grund der (von Faraday
beobachteten) Einwirkung eines Magnetes auf die Drehung der Polari-
sationsebene um den Lichtstrahl als Axe von Clerk Maxwell 1865
aufgestellt und kürzlich in grösserer Ausführung in seinem „Treatise
on Electricity and Magnetism" Bd. 2, S. 383 fif. auseinandergesetzt
worden. Diese Theorie wird nun durch Helmholtz, Lorentz, Fitz-
gerald, J. J. Thomson und Lord Rayleight entwickelt.
'9© VII. Kapitel,
der modernen Thermodynamik. Maxwell hat sehr richtig
bemerkt, daiss solch ein Medium (dessen Atome oder Mole-
iteln den intramolekularen Raum der gewöhnlichen Sub-
stanzen durchdringen sollten) nichts anderes als ein Gas
sein würde — freilich ein Gas von grosser Feinheit — ,
und dass das sogenannte Vacuumin Wirklichkeit voll dieses
feinen Gases von der beobachteten Temperatur und dem
ungeheuren Drucke wäre, welchen der Äther angesichts der
ihm von der Wellentheorie beigelegten Funktion ausüben
müsste. Solch ein Gas müsste daher' eine entsprechend
hohe spezifische Wärme besitzen, welche gleich der eines
Gases von derselben Temperatur und demselben Drucke
wäre, so dass die specifische Wärme jedes Vacuums un-
vergleichlich grösser als die desselben mit einem anderen
bekannten Gase gefüllten Raumes sein würde. Diese be-
merkenswerte Folgerung entbehrt nicht nur der experi-
mentellen Bestätigimg, sondern ist — insoweit als sie auf
alle Vacua anzuwenden wäre, einschliesslich der intramole-
kularen Räume der gewöhnlichen Körper jedweden Aggregat-
zustandes — in Wirklichkeit eine verhängnisvolle Ver-
schlimmerung einer eigentümlichen Schwierigkeit der Mo-
lekulartheorie, welche schon an sich bis zu hohem Grade
bedenklich ist. Im dritten Kapitel '^) habe ich auf die
Thatsache aufmerksam gemacht, dass im Falle der Er-
hitzung eines Körpers nur ein Teil der ihm mitgeteilten
Energie in der Form von Temperatur erscheint, d. h. (im
Sinne der modernen Theorieen) von progressiver Bewegung
der Molekeln, während der andere Teil auf die Erzeugung
schwingender oder drehender Bewegungen der sie zusammen-
setzenden Elemente verwandt wird. In Gemässheit der
kinetischen Gastheorie wächst dieser letztere Teil, die so-
genannte innere Energie mit der Zahl der Variablen oder
') Siehe oben S. 2 1 f.
Die Theorie v. d, atomistischen Konstitution d, Materie, 91
Freiheitsgraden in jedem Molekel und mit ihr somit die
spezifische Wärme, d. i. das Verhältnis der gesamten Energie
zu der auf äussere Arbeit verwandten, die entweder in Aus-
dehnung oder Druckzunahme besteht, und sich so als Tem-
peratur äussert. Wären die Molekeln materielle Punkte
ohne innere Bewegung oder vollkommen elastische und
vollkommen 'glatte Kugeln, so würde die ganze Energie
zur Erzeugung fortschreitender Bewegung erzeugt werden,
imd kein Teil derselben würde sich in innere Energie ver-
wandeln. Wenn aber die Molekeln, wiewohl vollkommen
elastisch, nicht vollkommene Kugeln wären — wie sie es
<lenn nicht sein könnten, wenn sie jedes aus mehreren
Atomen bestünden — so müsste die spezifische Wärme zum
mindesten einem durch die Theorie bezeichneten Minimum
;gleichkommen. Nun fallen die spezifischen Wärmen von
Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff (die alle zweiatomig
sind, indem deren Molekeln zum mindesten g,us zwei Atomen
bestehen), wie aus einer Vergleichung ihrer experimentell
gewonnenen spezifischen Wärmen bei konstantem Druck
und konstantem Volumen hervorgeht, unter dieses Minimum.
Und dieses theoretische Minimum würde durch die Hinzu-
nahme der spezifischen Wärme des intramolekularen Äthers,
wenn dieser atomistisch oder molekular zusammengesetzt
wäre, sehr wesentlich vergrössert werden; der Widerstreit
zwischen den Anforderungen der Theorie und den experi-
mentellen Ergebnissen würde dadurch ins Unmessbare ver-
grössert werden.
3. Der dritte Satz der atomistischen Hypothese schreibt
den Atomen, welche die verschiedenen chemischen Elemente
zusammensetzen sollen, bestimmte Gewichte zu, die ihren
Äquivalenten in Verbindungen entsprechen, und gilt all-
gemein als notwendig, um für jene Thatsachen Rechenschaft
zu geben, deren Aufzählung und Erörterung die Wissen-
schaft der Chemie bildet. Die eigentliche Bestätigung dieser
92 VIL Kapitel.
Thatsachen ist sehr schwer, weil sie allgemein durch die
Brille der Atomtheorie betrachtet und in deren Kunstaus-
drücken formuliert werden. So wird die Differenzierung
und Bildung von Körpern durch Vereinigung stets als Zer-
Setzung und Zusammensetzung bezeichnet; die Äquivalent*
gewichte der Verbindungen Atomgewichte oder -volumina
genannt ; und so bildet der grösste Teil der chemischen Nomen*
clatur eine systematische Reproduktion der AnnahAien de*
Atomismus. Fast alle zu verificierenden Thatsachen be-
dürften vorerst einer vorbereitenden Ausschälung aus den
Hüllen dieser Theorie.
Die gewöhnlich als chemische Zusammensetzung und
Zerlegung beschriebenen Theorieen stellen sich der Be-
obachtung in folgender Weise dar: Eine Reihe verschieden*
artiger Körper vereinigen sich nach bestimmten Gewichts-
oder Volumsverhältnissen; sie wirken auf einander ein; sie
verschwinden und lassen einen neuen Körper entstehen
dessen Eigenschaften weder die Summe noch das Mittel
der Eigenschaften der einwirkenden Körper sind (ausge-
nommen das Gewicht, welches der Summe der Gewichte
der einzelnen Körper gleich ist); und diese Verwandlung
mehrerer Körper in einen ist in den meisten Fällen von
Veränderungen des Volumens und in allen von Entwick-
lung oder Absorption von Wärme oder anderen Formen
der Energie begleitet. Umgekehrt gibt ein einziger homo-
gener Körper Veranlassung zur Entstehung verschieden-
artiger Körper, zwischen denen und dem ursprünglichen
Körper die Konstanz des Gewichtes die einzige Identitäts-
relation bildet.
Des Vergleiches halber mögen diese Erscheinungen in
drei Klassen eingeteilt werden, von denen die erste die
Konstanz des Gewichtes und die Verbindung nach be-
stimmten Verhältnissen, die zweite die Veränderungen des
Volumens und die Entwicklung oder den Verbrauch von
Die Theorie v, d. atomistischen Konstitution d. Materie, 93
Energie, und die dritte die Entstehung ganz neuer chemischer
Eigenschaften umfasst.
Offenbar ist die atomistische Hypothese in keinem
Sinne eine Erklärung der Erscheinungen der zweiten Klasse.
Es ist klar irnd wird auch zugegeben, dass sie in keiner
Weise die Veränderungen des Volums, der Temperatur oder
der latenten Energie zu erklären vermag. Mit den Er-
scheinungen der dritten Klasse ist sie aber offenbar unver-
träglich. Denn im Lichte der Atomhypothese sind chemische
Verbindungen tmd Zersetzungen ihrer Natur nach nichts
anderes als Anhäufungen oder Trennungen von Massen,
deren Integrität unangetastet bleibt. Die radikale Verände-
rung der chemischen Eigenschaften, welche das Ergebnis
eines jeden wirklichen chemischen Vorganges ist und den-
selben von einer bloss mechanischen Mischung oder Trennung
unterscheidet, verlangt jedoch eine vollständige Zerstörung
dieser Integrität. Es mag sein, dass der Anschein dieser
Unverträglichkeit durch die Wahl passender Hilfshjrpothesen
verwischt werden kann; dies führt jedoch zu einem Ver-
lassen der Einfachheit der Atomhypothese und damit zu
einem Aufgeben ihrer Ansprüche auf die Verdienste einer
Theorie.
Im besten Fall kann die Atomhypothese als eine Er-
klärung der Erscheinungen der ersten Klasse dienen. Er-
klärt sie dieselben in dem Sinne einer Verallgemeinerung,
einer Zurückfuhrung vieler Thatsachen auf eine? Das ist
keineswegs der Fall; sie erklärt sie, so wie sie die Unzer-
störbarkeit und Undurchdringlichkeit der Materie zu er-
klären behauptete, durch einfache Wiederholung der be-
obachteten Thatsachen in Form einer Hypothese. Es ist
dies (um einen scholastischen Ausdruck zu gebrauchen) ein
Beispiel für eine Erklärung „idem per idem". Sie sagt:
Die grossen Massen verbinden sich nach bestimmten Ge-
wichtsverhältnissen, weil die kleinen Massen, die Atome,
94 VlI. Kapitel
von denen sie Vielfache sind, von bestimmten Gewichts-
verhältnissen sind. Sie zerteilt die Thatsache mid erhebt
darauf hin den Anspruch, sie in eine Theorie verwandelt
zu haben. ^
Die Wahrheit ist, wie Lord Kelvin bemerkt hat, die,
dass „die Annahme von Atomen keine Eigenschaft eines
Körpers zu erklären vermag, welche nicht vorher den Atomen
selbst beigelegt worden ist'*.
Die vorhergehenden Betrachtungen wollen natürlich
nicht die Verdienste der atomistischen Hypothese als eines
graphischen oder erläuternden Verfahrens — als einer Hilfe
für die Darstellungskunst der Phasen chemischer oder ph)rsi-
kalischer Umwandlung schmälern. Es ist eine ausser Frage
stehende Thatsache, dass die Chemie einen grossen Teil
ihrer praktischen Fortschritte ihrem Gebrauche verdankt^
und dass die auf sie gegründeten Strukturformeln den
Chemiker befähigt haben, nicht nur den Zusaromenhang
und die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Stufen
in der Metamorphose von „Elementen" und „Verbindungen"
zu skizzieren, sondern in vielen Fällen auch (wie z. B. in
der Reihe der Kohlenwasserstoffe in der organischen Chemie)
mit Erfolg Resultate der experimentellen Forschung voraus-
zusagen. Die Frage, inwieweit die chemische Atomtheorie
als „Arbeitshypothese" dem Chemiker unentbehrlich ist, ist
gegenwärtig Gegenstand der eifrigsten Diskussion unter
*) Dass die Annahme von Atomen verschiedenen spezifischen
Gewichtes auf Grund der Atomtheorie selbst einfach absurd ist, ist
bereits gezeigt worden (siehe oben S. 20). Entsprechend der mecha-
nischen Auffassung, welche der ganzen atomistischen Hypothese zu
Grunde liegt, sind Unterschiede des Gewichtes Unterschiede der
Dichte, und Unterschiede der Dichte sind Unterschiede der Ent-
fernungen zwischen den in einem gegebenen Raum befindlichen
Partikehi. Im Atom gibt es aber keine Vielheit von Partikeln und
keinen leeren Raum ; somit sind Unterschiede der Dichte oder des
Gewichtes in dem Falle von Atomen unmöglich.
Die Theorie v, d, atomisiischen Konstitution d. Materie, 95
Männern vom höchsten wissenschaftlichen Rufe, von denen
viele die vor einigen Jahren abgegebene Erklärung Cournot's
anzunehmen nicht zögern, „dass der Glaube an Atome viel-
mehr ein Hindernis als eine Hilfe ist", ®) nicht nur deshalb,
weil, wie Cournot bedauert, er zwischen die Erscheinungen
der organischen und anorganischen Welt eine unüberbrtlck-
bare Kluft schafft, sondern auch weil er selbst als Dar-
stellung der Phasen und Resultate der gewöhnlichsten
ehemischen Vorgänge gleichzeitig unangemessen und irre-
führend erscheint. Die Abänderungen, denen man letzthin
sich genötigt sah, ihn zu unterwerfen, um den Anforde-
rungen des gegenwärtigen Standes der chemischen Wissen-
schaft zu genügen, — wie z. B. die in den Lehren von
den konstanten und wechselnden Valenzen, den molekularen
oder atomistischen Verkettungen u. s. f. mit den (von
Kekule u. a. verbreiteten) Begleittheorieen von molekularer
Berührung, bezeugen die bei dem Versuche, die Atom-
hypothese in Einklang mit den theoretischen Anforderungen
des Tages zu bringen, aufgetretenen Schwierigkeiten. Und
in dem Masse, als die Aufmerksamkeit des modernen Che-
mikers auf die Übertragung und Umwandlung der in jedem
Falle chemischer Verbindung und Zersetzung wie nicht
weniger in jedem Falle einer allotropischen Veränderung
auftretenden Energie gerichtet ist, wird die Nichteignung
der Atomhypothese als Bild der wirklichen Natur chemischer
Prozesse immer augenscheinlicher. ^^)
®) En somme, pour rharmonie generale du Systeme des nos
connaissances , par consequent (autant que nous pouvons en juger)
pour la plus juste percepüon de l'harmonie qui certainement existe
dans l'ensemble des choses, la foi dans les atoines est plutot un
embarras qu'un secours." CoüRNOT, Traite de l'Enchainement des
Idees Fondamentales dans les Sciences et dans l'Histoire, L, p. 264 seq.
^®) Als ein Beispiel für die Missgunst, mit der die Atomhypothese
von Seiten hervorragender Chemiker betrachtet zu werden beginnt,
96 VIL Kapitel.
Als nächsten Gegenstand der Erörterung nehme ich
mir eine der bekanntesten Anwendungen der Atomhypothese
auf die Physik vor — die kinetische Gastheorie.
mag es gestattet sein, eine SteUe aus einem Aufsatz des kürzlich
verstorbenen SiR Benjamin C. Brodie, Professor der Chemie zu Ox-
ford, zu zitieren: „I can not but say that I think the atomic doctrine
has proved itself inadequate to deal with the complicated System of
Chemical fact wich has been brought to light by the efforts ofmodern
chemists. I do not think that the atomic theory has succeeded in
constructing an adequate, a worthy, or even a useful representation
of those facts." „On the Mode of Representation afforded by the
Chemical Calculus as contrasted with the Atomic Theory." Chemical
News, August 1867, p. 72. Es ist übrigens wohl nicht notwendig,
hinzuzufügen, dass ich mit Brodie's eigenem theoretischen Schema,
soweit ich es verstehe, nicht sympathisiere.
vm.
Die kinetische Gastheorie. — Die Bedingungen der
Giltigkeit wissenschaftlicher Hypothesen.
Im vierten Kapitel ^) habe ich bereits einen Grundriss
jener Lehre gegeben, die gegenwärtig unter dem Namen
der kinetischen Gastheorie allgemein bekannt und ange-
nommen ist. Die Annahmen dieser Theorie bestehen darin,
dass ein jedes Gas aus einer grossen Zahl kleiner fester
Teile besteht — den Molekeln oder Atomen — welche
sich in beständiger geradliniger Bewegung befinden, die
sich im ganzen betrachtet infolge der vollkommenen Elasti-
cität der einzelnen Teile erhält, während die Richtungen
der Bewegungen der Partikeln sich unaufhörlich infolge der
gegenseitigen Zusammenstösse ändern. Von den zusammen-
stossenden Teilchen wird vorausgesetzt, dass sie auf einander
bloss in sehr kleinen Entfernungen und durch sehr kurze
Zeiten vor und nach dem Stosse einwirken, während in
den Zwischenräumen und Zwischenpausen ihre Bewegung
eine freie und folglich geradlinige ist. Die Dauer der freien
Bewegung wird überdies als unendlich gross im Vergleiche
zur Dauer der Zusammenstösse und gegenseitigen Ein-
wirkungen betrachtet.
Diese Theorie wurde zuerst durch Krönig ^) in Vor-
^) Siehe oben S. 26 ff.
*) Pogg. Ann., Bd. 99, S. 315 ff. Wie es in solchen FäUen
üblich ist, sind Vorläufer dieser Theorie seither in den Schriften ver-
schiedener älterer Physiker gefunden worden. Vgl. P. DU Bois-Rey-
MOND in Pogg. Ann., Bd. 107, S. 490 ff.
Stallo, Begriffe u. Theorieen. 7
98 rill Kapitel.
schlag gebracht und ist seither durch Clausius, Maxweli.,
BOLTZMANN, Stefan, PFAUNDLER Und andere Physiker besten
Rufes wohl ausgearbeitet worden. So wie in dem Falle
der atomistischen Hypothese überhaupt nehme ich mir
auch jetzt vor, nicht so sehr die logische Berechtigung als
den wissenschaftlichen Wert der in Frage stehenden Theorie
zu erörtern. Zu diesem Zwecke wird es indessen notwendig
sein, zunächst sich über die wahre Natur und Rolle einer
wissenschaftUchen Hypothese zu vergewissern — nicht nur
bezüglich der Kriterien ihres Wertes, sondern auch wegen
der Bedingimgen, ihrer Giltigkeit
Eine wissenschaftliche Hypothese kann, allgemein aus-
gedrückt, als eine provisorische oder versuchsweise Er*
klärung physikalischer Erscheinungen betrachtet werden, ^)
Doch was bedeutet eine Erklärung im wahren wissenschaft-
lichen Sinne? Die Antworten auf diese Frage, welche von
Logikern und Vertretern der Wissenschaft gegeben werden,
sind, wiewohl verschieden in der Ausdmcksweise, im wesent-
liche!^ von der gleichen Bedeutung. Die Erscheinungen
werden erklärt durch Hervorhebung der teilweisen oder
gänzlichen Identität mit anderen Erscheinungen. Wissen-
schaft ist Kenntnis, und alle Kenntnis ist in der Sprache
Sir WiLUAM Hamilton's *) eine „VereinheitUchung des Viel-
faltigen". „Die Grundlage aller wissenschaftlichen Erklärung,"
sagt Bain, ^) besteht darin, eine Thatsache einer oder meh-
reren anderen ähnlich zu machen. Sie ist mit dem Vor-
8) WUNDT hat kürzlich (Logik I. Bd., S. 403) die Hypothesen
von „Anticipationen von Thatsachen" zu unterscheiden und den Aus-
druck „Hypothese" auf einen Sinn zu beschränken gesucht, welcher
trotz seiner ethymologischen Berechtigung im. Widerspruche sowohl
mit dem gewöhnlichen wie mit dem wissenschaftlichen Sprachge-
brauche steht«
♦) Lectures on Metaphysics (Boston ed.), pp. 47, 48.
^) Logic, II. (Inductive), chap. XII, § 2.
Die kinetische Gastheorie. 99
gang der Verallgemeinerung identisch." Und „Verallge-
meinerung ist bloss die Hervorhebung des Einen aus dem
Vielen." •) Ähnlich spricht sich Jevons ') aus : „Die Wissen-
schaft entsteht aus der Entdeckung von Identitäten im Ver-
schiedenen," und ®) „jeder grosse Fortschritt in der Wissen-
schaft besteht in einer grossen Verallgemeinerung, die auf
tiefliegenden und feinen Ähnlichkeilen beruht." Dieselbe
Sache drückt der eben citierte Autor an einer anderen
Stelle so aus:®) „Jede Erklärung besteht in der Aufdeckung
und Hervorhebung einer Ähnlichkeit zwischen Thatsachen
oder in der Aufzeigung eines grösseren oder geringeren
Grades von Identität zwischen scheinbar verschiedenen Er-
scheinungen."
Air dies kann in gewöhnlichen Worten so ausgedrückt
werden : ' Sobald sich eine neue Erscheinung dem Manne
der Wissenschaft oder einem gewöhnlichen Beobachter dar-
bietet, entsteht bei beiden die Frage: Was ist das? — und
diese Frage meint einfach: Von welcher bekannten, ver-
trauten Thatsache ist diese scheinbar fremde, bis jetzt un-
bekannte Thatsache eine neue Darbietung — von welcher
oder von welchen bekannten, vertrauten Thatsachen ist sie
eine Verkleidung oder Komplikation ? Oder insofern als die
teilweise oder gänzliche Identität mehrerer Erscheinungen
die Grundlage der Klassification bildet (wobei eine Klasse
eine Anzahl von Objekten vorstellt, die eine oder mehrere
Eigenschaften gemeinsam haben), kann man auch sagen,
dass jede Erklärung einschliesslich der Erklärung durch eine
Hypothese ihrer Natur nach eine Klassifikation ist.
Da nun von dieser Art die wesentliche Natur einer
wissenschaftlichen Erklärung ist, von der die Hjrpothese
®) Hamilton, 1. c, p. 48.
') Principles of Science, I, p. i.
*) Ib., II, p. 281.
®) Principles of Science, IT, p. 166.
7*
loo VIIL Kapitel.
eine versuchsweise Form ist, so folgt daraus, dass keine
Hypothese giltig sein kann, welche nicht das Ganze öder
eine Seite der Erscheinung, zu deren Erklärung sie auf-
gestellt wurde, mit irgend welchen anderen vorher beobach-
teten Erscheinungen identificiert. Der erste und der Haupt-
grundsatz jeder Verwendung der Hypothese in der Wissen-
schaft lässt sich formell in zwei Sätze auflösen, von denen
der erste aussagt, dass jede giltige Hypothese eine Identifi-
cierung von zwei Teilen sein müsse — der Thatsache, die
zu erklären ist, und der Thatsache , durch welche erklärt
wird, und der zweite, dass diese letztere Thatsache aus
der Erfahrung bekannt sein muss.
Die Prüfung nach dem ersten dieser Sätze ergibt die
Hinfälligkeit aller jener Hypothesen, welche bloss eine An-
nahme an Stelle einer Thatsache setzen, und somit, in der
Sprache der Scholastiker, obscurum per obscurius
erklären, oder (falls die Annahme einfach die Aufstellung
der Thatsache in einer anderen Form ist) idemper idem
erläutern. Die Nichtigkeit einer solchen Hypothese grenzt
an kindische Lächerlichkeit, wenn eine einzelne Thatsache
durch eine Reihe willkürlicher Annahmen ersetzt wird, unter
denen sich die Thatsache selbst befindet. Manche der
Anwendungen der atomistischen Hypothese, sowohl in Physik
wie in Chemie, die in dem letzten Kapitel erörtert wurden,
bieten auffallende Beispiele dieser Art nutzloser Annahmen,
und ähnliche Beispiele finden sich in Menge unter mathe-
matischen Formeln vor, die nicht selten als physikalische
Theorieen prunken. Diese Formeln sind in vielen Fällen
einfach die Resultate einer Reihe von Umformungen einer
Gleichung, welche eine Hypothese enthält, deren Elemente
nichts mehr und nichts weniger als die Elemente der zu
erklärenden Erscheinung sind, derart, dass das einzige Ver-
dienst der entstandenen Formel darin besteht, nicht im
Widerstreit zu einer anfänglichen zu stehen. ^^)
Die kinetische Oastheorie, loi
Um die erste Bedingung ihrer Giltigkeit zu erfüllen,
muss eine Hypothe die zu erklärende Thatsache in Be-
^®) Ich hoffe nicht missverstanden zu werden, als ob ich die
Verdienste, welche die Physik der Mathematik schuldet, herabsetzen
wollte. Diese Verdienste — insbesondere die ihr durch die moderne
Analysis erwiesenen — sind unberechenbar. Es gibt jedoch Mathe-
matiker, welche sich einbilden, eine Lösung aller Geheimnisse er-
langt zu haben, die ein Fall physikalischer Wirkung in sich birgt,
sobald sie denselben durch eine Gruppe von Integralzeichen auf die
Form eines Differentialausdruckes gebracht haben. Selbst wenn ihre
Gleichungen integrabel sind, sollten sie sich gegenwärtig halten, dass
die Operationen der Mathematiker rein deduktiv sind und, soweit
sie auch eine physikalische Theorie ausbreiten mögen, sie dieselbe
doch niemals vertiefen können. Zugegeben, dass die mathematischen
Wissenschaften viel mehr als xa&d^/uara rpvxrjs sind, und deren
Dienst in der Erforschimg der Ursachen der Naturerscheinungen weit
wichtiger ist als die lediglich regelnde Funktion der formalen Logik
in der Wissenschaft überhaupt — zugegeben auch, dass die An-
wendung der Mathematik auf die Physik nicht allein die Bedeutung
vieler experimenteller Resultate ins rechte Licht rückt, sondern sehr
oft einen zuverlässigen Führer zu erfolgreichen Untersuchungen ab-
gibt — mögen dessen ungeachtet einige unserer hervorragenden
Mathematiker und Physiker noch mit Nutzen das 96. Aphorisma im
ersten Buche von Bacon's Novum Organum lesen: „Naturalis Philo-
sophia adhuc sincera non invenitur, sed infecta et corrupta ; in Aristo-
telis schola per logicam ; in Piatonis schola per theologiam naturalem ;
in secunda schola Piatonis, Prodi etaliorumper mathematicam,
quae philosophiam naturalem terminare, nongenerare
aut procreare debe t." In Bezug auf den Wert der im Texte er-
wähnten Formeln dürfte es nicht unangebracht sein, die Worte CoURNOTS
(De l'Enchainement, etc., I, p. 249) zu eitleren : „Tant qu'un calcul ne
fait que rendre ce que l'on a tire de l'observation pour l'introduire dans
les Clements du calcul ä vrai dire il n'ajoute rien aux donnees de l'obser-
vation." Zu demselben Ergebnis führten die bewunderungswürdigen Be-
trachtungen von PoiNSOT (Theorie Nouvelle de la Rotation des Corps,
ed. 185 1, p. 79): Ce qui a pu faire Illusion ä quelques esprits sur
cette espece de force qu'ils supposent aux formules de l'analyse,
c'est qu'on en retire, avec assez de facilite, des verites deja connues,
et qu'on y a, pour ainsi dire, soi-meme introduites, et il semble alors
I02 VIIL Kapitel,
Ziehung zu einer oder mehreren anderen Thatsachen bringen,
indem sie das Ganze oder einen Theil der ersteren mit
dem Ganzen oder einem Theil der letzteren identificiert.
In diesem Sinne ist sehr richtig bemerkt worden, dass jede
gute Hypothese die Zahl der unbegrifFenen Elemente einer
Erscheinung wenigstens um eins erniedrigt. ^^) In dem
nämlichen Sinne ist zuweilen gesagt worden, dass jede
wahre Theorie oder Hypothese in Wirklichkeit eine Ver-
einfachimg der Beobachtungsdaten ist — eine Behauptung,
die indessen mit gehöriger Rücksicht auf den soeben be-
sprochenen zweiten Satz verstanden werden muss, d. i. mit
dem Vorbehalt, dass die Theorie nicht ein blosses asylum
ignorantiae von der Art ist, wie sie die Scholastiker als ein
principium expressivum bezeichnet haben, wie die Erklärung
der Lebenserscheinungen durch Bezugnahme auf die Lebens-
kraft oder die gewisser chemischer Vorgänge durch die
que l'analyse nous donne ce qu'eUe ne fait que nous rendre dans
un autre langage. Quand un theoreme est connu, on n'a qu'ä l'ex-
primer par des equations; si le theoreme est vrai, chacune d'elles
ne peut manquer d'etre escacte, aussi bien que les transformees qu'on
en peut deduire; et si Ton arrive ainsi ä quelque formule evidente,
ou bien etablie d'aiUeurs, on n'a qu'ä prendre cette expression comme
un point de depart, ä revenir sur ses pas, et le calcul seul parait
avoir conduit comme de lui-meme au theoreme dont il s'agit, Mais
c'est en cela que le lecteur est trompe."
^^) „Der Verstand hat das Bedürfnis jede Erscheinung zu er-
klären, d. h. dieselbe als das Resultat bekannter Kräfte oder Er-
scheinungen begrifflich abzuleiten ... Es geht hieraus hervor, dass
jede Hypothese nur bekannte Kräfte oder Erscheinungen zur Er-
klärung annehmen darf, indem die Annahme einer bisher unbekannten
Kraft nur die Qualität des zu erklärenden Phänomens ändern, aber
nicht die Zahl der unerklärlichen Momente reduzieren kann. Soll
eine Hypothese nicht vollkommen unnütz und demgemäss die Ver-
standesarbeit, welche sie zur Befriedigung eines Bedürfnisses erzeugte,
keine zwecklose sein, so muss jede Hypothese die Zahl der
unbegriffenen Momente einer Erscheinung mindestens
um eins erniedrigen." Zöllner, Natur der Kometen, S. 189 f.
Die kinetische Oastheorie, 103
katalytische Wirkung. Wirkliche wissenschaftliche Erklärungen
sind gewöhnlich von komplizierter Form ^ nicht nur weil
die meisten Erscheinungen im allgemeinen komplizierterer
Natur sind, sobald sie einer eingehenderen Untersuchung
unterworfen wef den, sondern weil auch die einfachste That-
sache nicht die Wirkung einer einzelnen Ursache, sondern
das Ergebnis einer grossen und oft unbestimmbaren Viel-
fältigkeit von Agentien ist, — das Resultat des Zusammen-
wirkens zahlreicher Bedingungen. Die NEwroN'sche Theorie
der Planetenbewegung ist weit verwickelter als die Kepler's,
nach der jeder Planet längst seiner Bahn durch einen an-
gelus rector geführt wurde, und die durch die moderne
Himmelsmechanik gegebene Erklärung der Präcession der
Nachtgleichen ist weit weniger einfach als die Erklärung,
dass sich unter den grossen ursprünglich vom Schöpfer des
Weltalls geschaffenen Perioden der Cyclus des Hipparch
befunden habe. Das alte Sprichwort „simplex veri Judicium"
muss mit einiger Einschränkung verstanden werden, bevor
es mit Vertrauen als eine sichere Regel zur Bestimmung des
Wertes wissenschaftlicher Lehren hingenommen werden kann.
Ich komme nun zu dem zweiten Erfordernis für die
Giltigkeit einer Hypothese : die erklärende Erscheinung (d. h.
diejenige, mit der die zu erklärende Erscheinung identifiziert
wird) muss durch die Erfahrung gegeben sein. Dieser Satz
ist in Wirklichkeit gleichbedeutend mit jenem Teile von
Newton's^^) erster Regel des Philosophierens, in dem er
darauf besteht , dass die zur Erklärung herangezogene Ur-
sache eine vera causa sein muss — ein Ausdruck, den er
nicht ausdrücklich in den Prinzipien erklärt, dessen Be-
deutung aber aus der folgenden Stelle der Optik ^^) ent-
nommen werden kann: „Uns zu sagen, dass jede Art von
Dingen mit einer besonderen geheimen Eigenschaft begabt
") Phil. Nat. Princ. Math., lib. III.
^*) 4. Aufl. S. 377.
I04 VIIL Kapitel,
ist, durch die sie wirkt und ofFeabare Wirkungen hervor-
bringt, heisst so viel wie uns gar nichts zu sagen. Aber
zwei oder drei allgemeine Prinzipien ' der Bewegung aus
den Erscheinungen abzuleiten und hernach uns zu zeigen^
wie die Eigenschaften und Wirkungen aller körperlichen
Dinge aus diesen offenkundigen Prinzipien sich ergeben,
würde einen sehr grossen Fortschritt in der Philosophie be-
deuten, wenn auch die Ursachen dieser Prinzipien noch
nicht entdeckt wären."
Die in Frage stehende Forderung war lange Zeit
Gegenstand lebhafter Diskussion zwischen J. St. Mill,
Whewell und anderen ; doch wird ma.n, glaube ich, finden,
dass, abgesehen von einigen Zugeständnissen für unvermeid-
liche Verwicklungen, wenig wirkliche Nichtübereinstimmung
zwischen den Denkern besteht. Die jüngste Behauptung
von G. H. Lewes, ^*) dass „eine Erklärung um giltig zu
sein durch Teile bereits beobachteter Erscheinungen aus-
gedrückt werden müsse" und die Gegenbehauptimg von
Jevons, ^^) dass „Übereinstimmung mit der Thatsache (d. h.
mit der zu erklärenden) der einzige und hinreichende Prüf-
stein einer wahren Hypothese sei'* sind beide zu weit und
sind in der That durch Lewes und Jevons selbst im Ver-
laufe der Diskussion abgeändert worden; doch ist die Be-
hauptung von Lewes dessen imgeachtet in dem Sinne wahr,
dass keine Erklärung eine wirkliche ist, die nicht experi-
mentelle Data unter einen Begriff bringt. Die Verwirrung,
welche wie in so vielen anderen Fällen wissenschaftlicher
Kontroverse der scheinbaren Nichtübereinstimmung der
beiden Parteien zu Grunde liegt, entspringt aus einer Nicht-
beachtung des Umstandes, dass die Identifizierung zweier
Erscheinungen sowohl eine teilweise wie eine indirekte sein
kann — dass sie dadurch bewerkstelligt werden kann, dass
^*) Problems of Life and Mind, II, 7.
") Princ. of Science, II, 138.
Die kinetische Gastheorie, 105
in den Erscheinungen ein gemeinsamer bekannter Zug unter
der Bedingung aufgezeigt wird, dass in einer oder in beiden
Erscheinungen noch irgend ein anderer bisher noch nicht
direkt beobachteter oder gar nicht der Beobachtung zu-
gänglicher Zug angenommen wird. Das passendste Beispiel
hierzu bietet die so viel erörterte Wellentheorie des Lichtes.
Diese Hypothese identifiziert das Licht mit anderen Formen
der Strahlung und selbst mit dem Schall, indem sie zeigt,
dass alle diese Erscheinungen das Element der Schwingung
(welches aus der Erfahrung sehr wohl bekannt ist) gemein-
sam haben, wenn man ein alles durchdringendes materielles
Medium von einer aus Erfahrung ganz unbekannten Art
als Träger der Lichtschwingungen voraussetzt. In diesem
sowie in allen ähnlichen Fällen liegt die Identität nicht in
dem erdichteten Element, dem Äther, sondern in dem
wirklichen Element, der Schwingung. Es besteht nicht
in dem Agens, sondern in dem Gesetze seiner
Wirkungsweise. Und es ist klar, dass eine jede Hypo-
these, welche Übereinstimmungen zwischen den Erscheinungen
in lediglich rein erdichteten Punkten lehrt, völlig eitel
ist, weil sie in keinem Sinne eine Identifikation von Er-
scheinungen ist. Ja sie ist mehr als eitel; sie ist ohne
einen Sinn — eine blosse Sammlung von Worten oder
Zeichen ohne begriffliche Bedeutung. So drückt sich denn
Jevons^*) aus: „Keine Hypothese kann so sehr im Geiste
erdacht sein, dass sie sich nicht mehr oder weniger an die
Erfahrung anschliesst. So wie das Material unserer Ideen
unzweifelhaft der Empfindung entstammt, so können wir
uns ein Agens nur begabt mit einigen der Eigenschaften
der Materie vorstellen. Alles was der Geist bei der Schaffung
neuer Wesen thun kann, ist die Abänderung der Kombi-
nationen oder nach Analogie die Abänderung der Stärke
^*) Princ. of Science, II, 141.
lo6 VIII. Kapitel,
sinnlicher Empfindungen." J. St. Mill ist daher offenbar
im Unrecht , wenn er sagt, ^ ') dass „da eine Hypothese
•
eine blosse Annahme ist, sie keine anderen Grenzen kennt
als die der menschlichen Einbildungskraft", und dass „wir,
falls es uns gefällt, zur Erklärung einer Wirkung irgend
eine Ursache von ganz unbekannter Art, die nach einem
gänzlich erdichteten Gesetze wirkt, annehmen können." Das
Gebrechen des zweiten Teiles dieses Satzes ist offenbar von
Mill selbst gefühlt worden, denn er fugt am Schluss des
nächsten Satzes hinzu, „dass es wahrscheinlich keine
Hypothese in der Geschichte der Wissenschaft gibt, bei
der sowohl das Agens selbst wie das Gesetz seiner Wirkung
Qin erdichtetes wäre." Gewiss gibt es keine solche —
zum mindesten keine, welche in irgend einer Weise dem
Interesse der Wissenschaft dienlich wäre.
Eine Hypothese kann nicht nur eine sondern mehrere
erdichtete Annahmen enthalten, vorausgesetzt nur, dass sie
eine Übereinstimmung unter den Erscheinungen in einem
besonderen Punkte, der wirklich und beobachtbar ist, her-
vortreten kssen, oder seine Wahrscheinlichkeit oder wenig-
stens Möglichkeit zeigen. Dies ist besonders dann be-
rechtigt, wenn die hervorgehobene Übereinstimmung nicht
zwischen zwei, sondern einer grösseren Zahl von Erscheinungen
und noch mehr, wenn sie nicht bloss in einem, sondern in
mehreren thatsächlichen Punkten zwischen verschiedenen
Erscheinungen stattfindet, so dass, wie sich Whewell^^)
ausdrückt, „die Hypothesen, welche zur Erklärung einer
Klasse von Fällen angenommen wurden, sich als ausreichend
zur Erklärung anderer Erscheinungen von verschiedener
Natur herausstellen." Ein Beispiel hierzu bietet die eben
erwähnte Hypothese des Lichtäthers, von der man zuerst
geglaubt hat, dass sie auch die Verzögerung der Kometen
^^ Logic, 8th ed., p. 394.
^®) History of the Inductive Sciences (Am. ed.), II, 186.
Die kinetische Oastlmn-ie, 107
erkläre. Während jedoch die Wahrscheinlichkeit der Wahr-
heit einer Hypothese- in direktem Verhältnis zu der Zahl
der von ihr in gegenseitige Beziehung gebrachten Er-
scheinungen ist, steht sie im umgekehrten Verhältnisse zu
der Zahl solcher Erdichtungen, oder noch genauer, ihre
UnWahrscheinlichkeit wächst im geometrischen Verhältnis,
wenn die Zahl der willkürlichen Annahmen im arithmetischen
zunimmt. ^•) Dies findet wieder seine Dlustration in der
Wellentheorie des Lichtes. Die grosse Zahl der willkür-
lichen (erdichteten) Annahmen dieser Theorie in Verbindung
mit dem Mangel an Übereinstimmungen, durch welche sich
anfänglich die Theorie so auszuzeichnen schien, kann schwer-
lich anders als ein ständiges Hindernis ihrer Giltigkeit in
^*) ,,Eii general," sagt Cournot (De rEnchainement, etc. I, 103)
une theorie scientifique quelconque, imaginee pour relier un certain
nombre de faits donnes par l'observation , peut etre assimilee ä la
courbe que Ton trace d'apr^s une loi geometrique, en s'imposant la
condition de la faire passer par un certain nombre de points dönnes
d'avance. Le jugement que la raison porte sur la valeur intrins^que
de cette theorie est un jugement probable, une induction dont la
probabilite tient d'une part ä la simplicite de la formule theorique,
d'autre part au nombre des faits ou des groupes des faits qu'elle
relie, le meme groupe devant comprendre tous les faits qui s'expli-
quent dejä les uns par les autres, independamment de l'hypoth^se
theorique. S'il faut compliquer la formule ä mesure que
de nouveaux faits se rev^lent ä l'observation eile
devient de moins en moins probable en tant que loi
de la Nature; ce n'est bientot plus qu'un echafaudage artificiel
qui croule enfin lorsque, par un surcroit de complication, eile perd
meme l'utilite d'ün Systeme artificiel, celle d'aider le travail de la
pensee et de diriger les recherches. Si au contraire les faits acquis
a Tobservation posterieurement ä la construction de Thypothöse sont
relies par eile aussi bien que les faits qui ont servi ä la construire,
si surtout des faits prevus comme consequences de l'hypothese re-
Coivent des observations posterieures une confirmation eclatante , la
probabilite de l'hypothese peut aller jusqu'ä ne laisser aucune place
au doute dans un esprit eclaire."
io8 VIIL Kapitel.
ihrer gegenwärtigen Form betrachtet werden. Mögen wir
auch noch so geneigt sein, den Anforderungen der Theorie
stattzugeben, wenn dieselbe von uns das Zugeständnis ver-
langt, den ganzen Raum und alle wahrnehmbare Materie
von einem diamantharten Medium durchdrungen anzunehmen,
das in jedem Punkte des Raumes eine i 1^8000000000
grössere elastische Kraft als die Luft an der Erdoberfläche
ausübt und somit jeden Quadratcentimeter mit einer Kraft
von I 186000000000 kg drückt*^) — einem Medium,
welches gleichzeitig unserer sinnlichen Wahrnehmung ent-
geht, ganz und gar ungreübar ist imd den Bewegungen der
gewöhnlichen Körper keinen nennenswerten Widerstand
entgegensetzt, — so werden wir doch verblüfft, wenn man
uns sagt, dass dies Zugeständnis eines diamantharten Mediums,
des Äthers, nicht im Stande ist, die beobachteten Unregel-
mässigkeiten in der periodischen Wiederkehr der Kometen
zu erklären ; dass ferner der angenommene Lichtäther nicht
nur als Medium für die Hervorbringung und Verbreitung
elektrischer Erscheinimgen un verwendbar ist, so dass man
gezwungen ist, für diese einen besonderen alles durch-
dringenden elektrischen Äther anzunehmen, ^^) sondern dass
es auch sehr zweifelhaft ist, ob die Annahme eines einzigen
Äthermediums im Stande ist, für alle bekannten Erscheinungen
der Optik Rechenschaft zu geben (wie z. B. für die Nicht-
interferenz zweier ursprünglich in zwei verschiedenen Ebenen
polarisierter Lichtstrahlen, wenn dieselben auf dieselbe
Polarisationsebene gebracht werden, und für gewisse Er-
scheinungen der Doppelbrechung, angesichts deren es not-
wendig erscheint anzunehmen, dass die Härte des Mediums
^^) Vgl. Herschel, Familiär Lectures, etc., p. 282 ; F. de Wrede
(Präsident der königlichen Akademie der Wissenschaften in Stock-
holm) Adresse, Phil. Mag., 4th ser., vol. 44, p. 82.
■^) W. A. NojiTON, On Molecular Physics, Phil. Mag., 4th ser.,
vol 23, p. 193.
Die kinetische Gastheorie, 109
sich mit der Richtung der Spannung ändert — eine Voraus-
setzung, die im Widerspruche zu den Thatsachen über die
Intensität des reflektierten Lichtes steht); und dass es fUr
die entsprechende Erklärung der Lichterscheinungen „not-
wendig ist, das, was wir Äther nennen, als aus zwei Medien
bestehend zu betrachten, von denen jedes eine gleich grosse
und enorme Elasticität besitzt, und die beide in gleichen
Mengen im Räume vorhanden sind, und deren Schwingungen
in zu einander senkrechten Ebenen stattfinden, wobei sich
die beiden Medien zu einander indifferent verhalten, ein-
ander weder anziehen noch abstossen." ^^) Diese endlose
Überhäufung des Raumes mit Äthermedien und gewöhn-
licher Materie erinnert in bedenklicher Weise an die drei
Arten von Äthersubstanzen, die LEffiNiz und Descartes als
Grundlage für ihre Wirbelsysteme forderten. Es versetzt
**) Hudson, On Wave Theories of Light, Heat, and Electricity,
Phil. Mag. (IV), vol. 44, p. 210 seq. In diesem Artikel weist der
Verfasser auch auf die Plumpheit der Hilfshypothesen hin, die ^r
Vermeidung anderer Schwierigkeiten der Wellentheorie ersonnen
worden sind, unter denen sich auch die im letzten Kapitel erörterten
befinden. „Waves of sound," sagt er, „in our atmosphere are
IG 000 time as long as the waves of light and their velocity of
propagation about 850000 tim^s less, and, even when air has been
raised to a temperature at which waves of red light are propagated
from matter, the velocity of sound- waves is only increased to
about double what it was at zero centigrade. Even their velocity
through glass is 55 000 times less than the speed of the aethereal
undulations, and the extreme slowness of change of temperature in
the conduction of heat (as contrasted with the rapidity with which
the vibrations of the aether exhaust themselves, becoming insensible
almost instantly when the action of the existing cause ceases) marks
distinclly the essential difference between molecular and aethereal
vibrations. It appears to me, therefore, a very crude hypothesis to
imagine a combination of aethereo-molecular vibrations as accounting
for the very minute difference in the retardation of doubly refracted
rays in crystals.*'
HO VIIL Kapitel,
zum mindesten unsere Gedanken in eine quälende Unruhe,
wenn wir gezwungen sind, im Interesse der angenommenen
Form der Wellentheorie nicht nur alle Mutmassungen, die
aus der gewöhnlichen Beobachtung entstehen, und alle
Analogien der Erfahrung zurückzuweisen, sondern auch
Hypothesen und Äthermedien ins unendliche auf einander
zu häufen. Der Umstand aber, dass die in Frage stehende
Theorie nicht nur für alle in der Zeit ihrer Vexbreitimg
bekannten Erscheinungen der Optik Rechenschaft zu geben
vermochte, sondern auch das grosse Verdienst glücklicher
Vorhersagung für sich hat, indem sie eine Reihe von nach-
her entdeckten Thatsachen vorausgesagt hatte, vermag uns
nur teilweise wieder zu beruhigen. Diese Voraussagungen
sind allerdings nicht nur zahlreich gewesen, es sind auch
mehrere unter ihnen, wie Hamilton's Ankündigung der
konischen Refraktion (die später von Lloyd bestätigt wurde)
und Fresnel's Voraussicht der Zirkularpolarisation nach zwei
inneren Reflexionen in einem Prisma (aus der imaginären
Form eines algebraischen Ausdruckes), sehr auffallend. Wie-
wohl aber Anticipationen gerade dieser Art sehr geeignet
sind, eine Hypothese zu beglaubigen, so sind sie doch, wie
J. St. MiLL -^) gezeigt hat, keineswegs unbedingte Erprober
ihrer Wahrheit. Gebraucht man das Wort „Ursache" in
dem Sinne, in welchem es gewöhnlich verstanden wird, so
kann eine Wirkung einer von mehreren Ursachen zuge-
schrieben werden und kann infolgedessen in vielen Fällen
durch irgend eine unter mehreren widerstreitenden Hypo-
thesen erklärt werden, wie dies aus einem ganz flüchtigen
**) Logik, S. 356. Lange vor Mill bemerkte Leibniz, dass der
Erfolg im Erklären (oder Vorhersagen) von Thatsachen kein Beweis
für die Giltigkeit einer Hypothese ist, da ja auch richüge Schlüsse
aus falschen Prämissen gezogen werden können — oder wie sich
Leibniz ausdrückt, „comme le vrai peut etre tire du faux.** Vgl.
Nouveaux Essais, chap. 17, sec. 5, Leibnitii opp., ed. Erdmann, p. 397.
Die kifietischc Oastheorie, iix
Blick auf die Geschichte der Wissenschaft erhellt. Wenn
eine Hypothese mit Erfolg eine Reihe von Erscheinungen
erklärt, in Bezug auf welche sie ersonnen worden ist, so
ist es nichts seltsames, wenn sie noch andere damit durch
unmittelbar folgende Entdeckung verknüpfte ebenfalls zu
erklären vermag. Es gibt wenige aufgegebene physikalische
Theorien, die sich nicht der Vorhersage von Erscheinungen
rühmen könnten, auf die sie hingewiesen haben und die
nachher beobachtet worden sind ; unter sie gehört die Ein-
fluidumtheorie der Ellektrizität und die Corpusculartheorie
des Lichtes.
Es gibt natürlich noch andere Bedingungen für die
Giltigkeit einer Hypothese, die ich noch nicht angeführt •
habe. Zu diesen gehören die von Sir W. Hamilton, Mill,
Bain u. a. näher erörterten wie z. B. die, dass die Hypo-
these nicht sich selbst oder bekannten Naturgesetzen wider-
sprechen dürfe (welch letztere Bestimmung allerdings etwas
zweifelhaft ist, da ja die betreffenden Gesetze unvollständige
Induktionen aus vergangener Erfahrung sein können, die
durch die von der Hypothese geforderten Elemente zu er-
gänzen wären) ; dass sie von der Art sein müsse, um Schlüsse
deduktiver Natur zu erlauben u. s. w. Angesichts meines
gegenwärtigen Vorhabens ist es nicht nötig, auf dies alles
einzugehen. Die zwei Bedingungen, welche ich einzu-
schärfen und zu erläutern suchte, sind meines Erachtens
nach ausreichende Prüfsteine der Giltigkeit und der Ver-
dienste der kinetischen Gastheorie.
Die fundamentale Thatsache, die durch diese Theorie
erklärt werden soll , ist die , dass die Gase Körper sind,
welche sich bei konstanter Temperatur und bei Abwesenheit
äusseren Druckes in gleicher Weise ausdehnen. Aus dieser
Thatsache ergeben sich die zwei grossen empirischen Ge-
setze, welche jene physikalischen Eigenschaften ausdrücken,
die durch die Erfahrung direkt bestätigt werden, als not-
112 VIII. Kapitel.
wendige und unmittelbare Folgerungen, da sie in der That
nichts anderes vorstellen als teilweise und sich ergänzende
Ausdrücke derselben. Da die Begrenzung eines Gasvolumens
durch den Druck allein bewerkstelligt wird — der Zusammen-
halt einer Gasmenge dem Drucke allein verdankt wird —
so folgt, dass sie ihm proportional, d. h. mit anderen Worten,
dass das Volumen eines Gases dem Drucke verkehrt pro-
portional sein müsse; und dies ist das Gesetz von Boyle
oder Mariotte. Da femer die Temperatur durch die gleich-
förmige Ausdehnung einer Gassäule (beim Luftthermometer)
gemessen wird, muss sie, wenn sich alle Gase in gleicher
Weise ausdehnen, dem Volumen eines Gases proportional
sein und umgekehrt; das ist das Gesetz von Charles.^*)
**) Einer der sonderbarsten VorfäUe in der Geschichte der Physik
ist die ernsthafte Diskussion der Frage nach dem wahren Gesetz der
Ausdehnung der Gase. „Nach Gay-Lussac bildet," sagt Balfoür
Stewart (Treatise on Heat, p. 60) „die Vermehrung des Volumens,
welche ein Gas bei der Temperaturerhöhung um l^ erfährt, ein be-
stimmtes festes Verhältnis zu seinem Anfangsvolumen bei o^ C. ;
während nach Dalton ein Gas von irgend einer Temperatur beim
Wachsen derselben um i ® sich um einen konstanten Bruchteil des
Volumens bei dieser Temperatur ausdehnt . . . Die Aus-
dehnung der Gase ist seither durch Rudberg, Dulong und Petit,
Magnus und Regnault untersucht worden, und das Ergebnis ihrer
Arbeiten lässt wenig Zweifel, dass Gay Lussac's Ausdrucksweise des
Gesetzes der Wahrheit bedeutend näher liegt als die Dalton 's. Da
die Versuche von Rudberg und den anderen notwendigerweise unter
der Voraussetzung gemacht worden sind, dass der Ausdehnungs-
coefficient für sämtliche Gase der nämliche ist (da sich die Frage
nicht auf die Ausdehnung spezieller Gase, sondern die der Gase
überhaupt bezog), und als Normaltemperatur die Angaben eines Luft-
thermometers benutzt wurden, so wäre es in der That sehr über-
raschend gewesen, wenn das Ergebnis die Dalton 'sehe Ansicht be-
stätigt hätte. Ein Thermometer wird durch Einteilung einer ge-
gebenen Länge einer Röhre in gleiche Teile graduiert. Es ist somit
klar, dass der aus der Ausdehnung der Luft in einer solchen Röhre
bei der Erwärmung iim i ® sich ergebende Zuwachs des Volumens
Die kinetische Oasiheorie. 113
Die vorhergehende Realdefinition eines Gases (d. h*
die Hervorhebung seiner Eigenschaften) bezieht sich bloss
auf ideale oder vollkommene Gase. Aus der wirklichen
Erfahrung kennen wir kein Gas, das sich in Abwesenheit
von Druck völlig gleichförmig ausdehnt ; *) und aus diesem
Grunde auch keines, das sich genau an die Gesetze von
BoYLE und Charles hält. Überdies sind wir nicht im
Stande, direkt ein Gas zu beobachten, das völlig frei von
Druck ist; was uns die Erfahrung lehrt, ist einfach, dass
sich die Gase (wenn alles andere unverändert bleibt) im
Verhältnis zur Verkleinerung des Druckes, dem sie unter-
worfen sind, ausdehnen. Doch ist im Falle vieler Gase —
jener, welche entweder völlig incoercibel, oder nur mit
grosser Schwierigkeit coercibel sind (d. h. sich in den
ein bestimmter Teil eines anfanglich angenommenen konstanten Vo-
lumens ist ; und das gleiche muss natürlich auch von jedem anderen
Gas gelten, wenn es sich im gleichen Verhältnisse ausdehnt. Die
dem Gesetze von Dalton gegebene Form würde zu folgender be-
merkenswerten Reihe gleicher Brüche führen — von denen der erste
den Wert der Ausdehnung der Luft im Thermometer und die folgen-
den den Wert (oder vielmehr die Werte) der Ausdehnung des ge-
prüften Gases vorstellen würde (wobei a die lineare Ausdehnung der
Luft in dem Thermometer, v ihr anfängliches Volumen, a die ent-
sprechende Ausdehnung des untersuchten Gases, v sein Anfangs-
/ » * f
, . . a a a a a
Volumen bedeutet) : — = -7 =
a
V V V -\- a V -f- 2 a v -f- ^a
; = , . , etc. Die Versuche einer experimentellen Lösung
V -[- 4«
dieser Frage deuten — beiläufig bemerkt — auf einen Zweifel be-
züglich der Korrektheit der herrschenden thermometrischen Systeme,
die auf die Annahme der Gleichheit der Volumverhältnisse gegründet
sind, in denen ein Glied konstant bleibt, während das andere variabel
ist, nämlich von Brüchen, die gleiche Nenner aber ungleiche Zähler
haben. Dieser Zweifel wird nicht völlig durch die Überlegung ver-
scheucht, dass die Durchmesser unserer Thermometerröhren sehr
klein sind.
♦) Diese Stelle ist in ihrer nachlässigen Stilisierung Unverstand-
lieh. Anm. d. Ubers.
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 8
114 VIIL Kapitel,
flüssigen oder festen Aggregatzustand verwandeln lassen) und
beinahe aller Gase bei sehr hohen Temperaturen — die Ab-
weichung von der Gleichförmigkeit der Ausdehnung sehr gering.
Wie erklärt nun die kinetische Gastheorie diese so-
eben angeführten Thatsachen? Sie behauptet diese auf
Grund von wenigstens drei willkürlichen Annahmen zu er-
klären, von denen nicht eine durch die Erfahrung gegeben
ist, nämlich durch die Annahmen:
1. dass ein Gas aus festen Teilchen zusammengesetzt
ist, die unzerstörbar und von konstanter Masse und Vo-
lumen sind;
2. dass diese das Gas zusammensetzenden Teilchen
absolut elastisch sind;
3. dass sich diese Teilchen in beständiger Bewegung
befinden und, sehr kleine Entfernungen ausgenommen, in
keiner Weise auf einander einwirken, so dass deren Be-
wegungen absolut frei und infolgedessen geradlinig sind.
Ich enthalte mich dabei der Aufstellung einer vierten
Annahme — der von der absoluten Gleichheit der Teilchen,
wenigstens in Bezug auf die Masse — weil man (wiewohl
unberechtigterweise) diese für eine Folge der übrigen An-
nahmen erklärt hat.
Die erste dieser Annahmen ist in dem letzten Kapitel
hinlänglich betrachtet worden. Die zweite Annahme be-
hauptet die absolute Elasticität der das Gas zusammen-
setzenden festen Teile. Worin liegt die Bedeutung und der
Zweck dieser Annahme ? Die Elasticität eines festen Körpers
ist jene Eigenschaft, vermöge welcher er Teile des Raumes
von bestimmten Rauminhalt und bestimmter Gestalt ein-
nimmt und einzunehmen trachtet, und infolgedessen gegen
jede Kraft, die eine Änderung dieses Volumens oder dieser
Gestalt bewirkt oder zu bewirken strebt, eine Gegenkraft
ausübt, welche im Falle vollkommener Elasticität der ein-
wirkenden Kraft genau proportional ist. Es ist nun sofort
Die kinetische Gastheorie. 115
einleuchtend, dass die Eigenschaft — die Thatsache —
die in den das Gas zusammensetzenden festen Teilen an-
genommen wird, die wirkliche zu erklärende Thatsache beim
Gas in sich enthält. Ein vollkommenes Gas wirkt gegen
einen Druck, der sein Volumen zu verkleinem sucht, mit
einer diesem Drucke proportionalen Kraft ; und aus diesem
Grunde werden die Gase als elastische Flüssigkeiten be-
zeichnet. Dieser Widerstand eines Gase§ gegen die Ver-
kleinerung seines Volumens ist offenbar eine einfachere
Thatsache als der Widerstand eines festen Körpers, der
sowohl gegen die Verkleinerung wie gegen die Ver-
grösseruhg des Volumens und ausserdem noch
gegen die Veränderung der Gestalt gerichtet
ist. Der Widerstand gegen mehrere Arten von Ver-
änderung verlangt eine grössere Zahl von Kräften und ist
somit eine verwickeitere Erscheinung als der Widerstand
gegen eine Art von Veränderung.-^)
Es erscheint auf diese Weise die Voraussetzung einer
absoluta fclasticität der festen Körper, deren Aggregat ein
Gas bilden soll , als eine üagrante Verletzung der ersten
*^) Es kann eingewendet werden , dass die grössere jEinfachheit
der Eigenschaften eines Gases rein begrifflicher Natur ist. Die
Identifizierung von Begriffen mit Thatsachen ist unzweifelhaft der
grosse fundamentale Irrtum der Spekulation; jetzt aber handelt es
sich um die begrifflichen Elemente der imter Diskussion stehenden
Hypothese. Die Ansicht, dass ein fester Körper von konstantem
Volumen (oder genauer ausgedrückt, von veränderlichem Volumen,
der sich durch eigene Bewegung auf ein festes Volumen ausdehnt
oder zusammenzieht) ein einfacheres Ding sei als ein sich gleich-
förmig ausdehnender Körper, beruht sicherlich auf keiner Thatsache
der Erfahrung, sondern stellt ein blosses Vorurteil des Geistes vor,
ähnlich dem Gedanken, dass ein Körper in Ruhe eine einfachere
Erscheinung sei als ein solcher in gleichförmiger Bewegung und über-
haupt die Ruhe einfacher sei als die Bewegung. Dieses Vorurteil
hat seine Wurzel in dem gewohnheitsmässigen Vergessen der prin-
-zipiellen Relativität aller Erscheinungen, die später erörtert werden soll.
8*
|i6 VIIL Kapitel,
Bedingung der Giltigkeit einer Hypothese — der Bedingung,
welche eine Verringerung der Zahl der nicht verwandten
Elemente der zu erklärenden Thatsache verlangt und folg-
lich eine blosse Wiederholung der Thatsache in Form einer
Hypothese und a fortiori eifte Einsetzung mehrerer will*
kürlicher Annahmen für; eine Thatsache verbietet. Offene
bar ist die von der kinetischen Gastheorie gebotene Er-
klärung, insoweit als uns deren zweite Annahme auf die-
selbe Erscheinung führt, von der sie ausgeht, die der
Elasticität (gleich der Erklärung der Undurchdringlichkeit
oder der Verbindung der Elemente nach bestimmten Ge-
wichtsverhältnissen durch die Atomtheorie) einfach eine
lUüstrierung idem per idem, und das wahre Gegenteil
eines wissenschaftlichen Verfahrens. Sie ist eine blosse
Versatio in loco — eine Bewegung ohne Fortschritt
Sie ist völlig eitel, oder vielmehr, da sie die Erscheinung,
die sie zu erklären vorgibt, verwickelt, schlimmer als nichtig
—- eine völlige Umkehrung der vernünftigen Ordnung, eine
Auflösung einer Identität in eine Verschiedenheit, eine 2^r-
splitterung des Einen in das Viele, eine Entwicklung des
Einfachen in das Verwickelte, eine Deutung des* Bekannten
durch Glieder des Unbekannten, eine Aufhellung des Evi-
denten durch das Mysteriöse, eine Zurückführung einer
augenscheinlichen und wirklichen Thatsache auf ein gründe
loses und schattenhaftes Phantom.^®)
.*•) Alle Theoretiker, die für eine physikalische Thatsache durch
eine Häufung willkürlicher Annahmen, unter denen sich, die That-
sache selbst befindet, Rechenschaft zu geben versuchen ,. verfallen
Aristoteles' scharfem Verweise der PLATOnischen Ideenlelure — ihre
Bemühungen sind ebenso hinfällig als die einer' Person, welche zum
Zwecke der Erleichterung des Zählens mit der MultipUkatioa der
fahlen beginnt — ol de ras Weas ahtag ri&t/uevoi n^ohov g/sv
iijrovpres ttovöl tcjv orrtov Xaßetv tds alriag ers^rovxois faa
tQy. a^itd'fiov exofiioav disTte^ $i tis aptd'fifjoai ftovXo./iievos iXaTtor
Die kinetische Oastheorie, tjj
Ich übergehe die bereits diskutierte Frage, ob die
vorausgesetzte vollkoimnene Elasticität und Kpnstanz de^
Volumens der angenommenen Urteilchen (im Lichte der
mechanischen Theorie überhaupt) mit deren absoluten
Elasticität verträglich ist oder nicht und wende mich zur
Betrachtung der dritten Annahme der kinetischen Hypothese.
Diese Annahme bildet eine unvermeidliche Ergänzung zu
der anfanglichen theoretischen Verwicklung der Erscheinung
der Elasticität y die durch die willkürliche Einsetzung der
Reaction eines festen Körpers gegen Vergrösserung und
Verkleinerung des Volumens und gegen Änderung der Ge?
stalt für die einfache Gegenwirkung des Gases gegen die
Verringerung seines Volumens hervorgerufen wurde. Um
einer grundlosen Eigentümlichkeit der Hypothese (der Hinzu-
fügung des elastischen Widerstandes gegen Ausdehnung und
Torsion zu dem gegen Kompression) los zu werden und
in Übereinstimmung mit der zu erklärenden Thatsache zu
gelangen, wird es notwendig, eine andere willkürliche
Eigentümlichkeit hinzuzufügen, — die Teile mit unaufhör*
liehen, geradlinigen Bewegungen nach allen Richtungen hin
zu versehen. Bezüglich dieser Annahme, die wie die
anderen Annahmen der mechanischen Theorie auf einer
völligen Ausserachtlassung der Relativität und der daraus
sich ergebenden gegenseitigen Abhängigkeit der Naturer*
scheinungen beruht, ist für den Augenblick zu bemerken,
v(ov ftev ovTcov oXoito firi Svvnoaa&ai, TtXeico de Ttoirjoag d^i&fioirj,
Met., A. 9, 990, et seq. Occam's Regel „Entia non sunt multipli-
canda praeter necessitatem" findet in der Physik nicht weniger An-
wendung als in der Metaphysik ; und es gibt physikalische Theorieen^
von denen MiCHEL Montaigne, falls er heute leben würde, das
sagen würde, was er dreihundert Jahre vorher von gewissen schola-
tischen Träumereien gesagt hatte: „On eschange un mot pour un
autre mot, et souvent plus incogneu . . . Pour satisfaire ä un double^
ils m'en donnent trois; c'.est la teste d'Hydra . . . Nous commüniquoTi»
une question; on nous en redonne une ruchee." Essais, III, 13. »
ii8 VIIL Kapitel
dass sie yöHig grundlos und nicht nur durch die Erfahrung
ganz und gar unbestätigt, sondern auch ohne alle Analogie
mit derselben ist. Körper, welche sich bis nahe an die
Grenze der unmittelbaren Berührung unabhängig und ohne
einer .gcig^nseitigen Anziehung oder Abstossung oder einer
anderen ^ Axt .gegenseitiger Wirkung bewegen und demnach
eine vpllkommene Verwirklichung des abstrakten Begriffes
einer freien und unaufhörlichen geradlinigen Bewegung dar-»
stellen, sind etwas ganz Unerhörtes auf dem weiten Felde
sinnlicher Erfahrung. Ein so vollständiges Verlassen der
Analogieen der Erfahxun'g ist am überraschendsten angesichts
des Umstandes, dass die Atomtheorie, von der die kinetische
Gastheorie einen Zweig ausmacht, eingestandenermassen eine
Verkörperung von Eingebungen ist, die aus der Himmels-
mechanik stammen. Es gibt schwerlich ein Lehrbuch der
faiodernen Physik, in dem die Atome oder Molekeln nicht
mit Planeten- oder Stemsystemen verglichen würden. „Ein
zusammengesetztes Atom," sagt Jevons, '^"^ ,,kann.etwa mit
einem Sternsystem verglichen werden, worin jeder Stern
ein kleineres System für sich vorstellt." Die Körper aber,
von denen die Himmelsmechanik handelt, sind alle dem
Gesetz der Massenanziehung unterworfen ; und die Bedeutung
des allerersten Satzes der NEWTON'schen Prinzipien geht
dahin, dass diese Körper, sobald sich ihre Bewegungen in
irgend einem Augenblicke nicht in derselben Geraden voll?
ziehen, niemals zusammenstossen , sondern sich stets in
krummen von einander getrennten Bahnen bewegen. Schiefe
Stösse zwischen denselben, die Drehungen ebensogut wie
Abweichungen von den Bahnen vor dem Zusammenstosse
'^ „A Compound atom may perhaps be compared with a stellar
System, each star a minor System in itself." Principles of Sciencci
I, 453. In Arwed Walter's „Untersuchungen über Molekular-
mechanik*' S. 216, wird das System des Jupiter um seiner Satelliten
ein „Planetenmolekel" genannt.
Die kinetische Gastheorie. 119
erzeugen, wie sie Clausius und die anderen Förderer der
kinetischen Theorie sich erdacht hatten, sind unmöglich*
Und dies ist richtig nicht nur, wenn die gegenseitigen
Wirkungen der Körper umgekehrt dem Quadrate ihrer Ent-
fernung sich ändern, sondern auch wenn dies nach einer
höheren Potenz derselben geschieht — ein Satz, der an-
gesichts gewisser Spekulationen von Boltzmann, Stefan-
und Maxwell, auf die ich sofort zu sprechen komme, wohl
im Auge zu behalten . ist.
Es gibt noch eine andere ausserordentliche und in
Anbetracht aller Lehren der Wissenschaft unverantwortliche
Eigentümlichkeit der Annahme über die Bewegungen der-
angenommenen Elementarpartikeln. Ich meine die völlige.
Diskontinuität zwischen der heftigen gegenseitigen Wirkung,
die diesen Teilen während weniger Augenblicke vor und
nach deren Züsammenstössen zugeschrieben wird und der
völligen Abwesenheit jeder gegenseitigen Wirkung während
der vergleichsweise langen Zeiträume ihrer geradlinigen
Bewegung in ihren „freien Bahnen". Und dies führt mich
dazu, einige Worte über gewisse Hilfsannahmen zu sagen,
die von Maxwell u. a. aufgestellt worden sind, um über
die Anomalien, die sich bei Gasen von verschiedenen
Graden der Coercibilität in ihren Abweichungen von Boyle's
und Charles' Gesetz vorfinden, Rechenschaft zu geben.
Maxwell nimmt an, dass die Gasmolekeln weder genau
sphärisch, noch absolut elastisch sind, und dass deren
Mittelpunkte einander mit einer Kraft abstossen, die der
5. Potenz ihrer Entfernung proportional ist;^®) während
Stefan ^•) die Hypothese den Erscheinungen durch die
**) Seit dem dies geschrieben worden, hat Maxwell selbst diese
Annahme als den Thatsachen nicht entsprechend aufgegeben.
*®) „Über die dynamische Diffusion der Gase." Sitz. Ber. der
kais. Akad. d. Wiss., math. nat. Klasse, Bd. 65, S. 323. Vgl. auch
I20 VIIL Kapitel,
Forderung anzupassen sucnt, dass die Molekeln absolut
elastische und vollkommene Kugeln sind, deren Durchmesser
der vierten Wurzel der absoluten Temperatur der Gase
proportional ist. Diese Annahmen, welche für alle An-
sprüche auf Einfachheit, die zu Gunsten der kinetischen The-
orie in Anschlag gebracht wurden, sehr fatal ist, sind in
keiner Beziehung natürliche Folgen ihrer ursprünglichen
Forderungen; beide sind sowohl völlig grundlos als auch
ohne jede Analogie aus der Erfahrung, und die erste der-
selben, die von Maxwell, steht in direktem Gegensatz zu
allen Induktionen aus dem weiten Umfang wirklicher Be-
obachtung. Beide sind nur Lückenbüsser der Hypothese,
Stihnopfer für ihre Nichtübereinstimmung mit den That-
sachen, blosse Erdichtungen, um den durch die Hypothese
selbst geschaffenen Notwendigkeiten Genüge zu leisten.
Es wäre zu viel verlangt, im Detail die logischen und
mathematischen Methoden durchzugehen, durch welche aus
einer Hypothese, die auf solchen Grundlagen ruht, Formeln
herzuleiten versucht wurde, die den Thatsachen der Er-
fehrung entsprechen. Gleichwohl mag nicht unerwähnt
bleiben, dass die Methoden der Ableitung nicht weniger
ausserordentlich sind als die Prämissen. Um über die Ge-
setze von BoYLE* und Charles Rechenschaft zu geben,
nahm man seine Zuflucht zur Wahrscheinlichkeitsrechnung,
oder, wie sich Maxwell ^^) ausdrückt, zur statistischen
Methode. Man behauptet, dass, wiewohl die einzelnen
Molekeln sich mit ungleichen Geschwindigkeiten bewegen,
sei es weil diese Geschwindigkeiten von Anfang an un-
gleich sind, oder weil sie infolge der Zusammenstösse
unter ihnen ungleich werden, dessenungeachtet ein Durch-
schnitt aller Geschwindigkeiten, die den Molekeln eines
BOLTZMÄNN, „über das Wirkungsgesetz der Molekularkräfte ,« Sitz.
Ber. etc., Bd. 66, S. 213.
30) Theory of Heat, p. 288.
Die kinetische' Gastheorie. 121
Systems (d. i. eines Gases) angehören, da sein wird, den
Maxwell die „Geschwindigkeit des mittleren Quadrates"
nennt. Der Druck ist unter dieser Voraussetzung pro-
portional dem Produkte aus dem Quadrate dieser mittleren
Geschwindigkeit in die mit der Masse eines jeden Molekels
multiplizierte Zahl der Molekel. Das Produkt aus der Zahl
der Molekeln in die Masse eines jeden Molekel wird dann
durch die Dichte ersetzt — mit anderen Worten, die ganze
molekulare Annahme wird für den Augenblick verlassen — ,
und die Geschwindigkeit als Repräsentant der Temperatur
eliminiert;, es ergibt sich dann natürlich, dass der Druck
der Dichte proportional ist.
Ähnliche Verfahrungsweisen führen zu dem CJesetz von
Charles und dem „Gesetz" von Avogadro (demgemäss die
Zahl der Molekeln in irgend zwei gleichen Rauminhalten
von Gasen was immer für einer Art bei gleichen Tempe-
raturen und Drucken die gleiche ist — ein Gesetz, das
selbst nur eine H)q>othese ist). Es wird, wiederum aus
statistischen Gründen, behauptet, dass nicht nur die mittlere
Geschwindigkeit einer Anzahl von Molekeln in einem ge-
gebenen Gase dieselbe ist, sondern dass, „wenn zwei Reihen
von Molekeln, deren Massen verschieden sind, sich in dem-
selben Gefass in Bewegung befinden, sie infolge ihrer
Zusammenstösse Energie unter einander austauschen, bis die
durchschnittliche kinetische Energie eines einzelnen Molekels
in jeder Reihe die gleiche ist."*^) „Dies," sagt Maxwell,
„folgt aus der gleichen Untersuchung, welche das Gesetz
der Verteilung der Geschwindigkeiten in einer einzigen
Gruppe von Molekeln bestimmt.** All dies zugestanden,
ergeben sich die Gesetze von Charles und Avogadro (von
Maxwell Gesetz von Gay-Lussac genannt) in leichter
Weise. Und zum Schlüsse dieser irrigen Beweisgänge fügt
*^) Maxwell, 1. c, p. 289 seq.
122 VIIL Kapitel.
Maxwell eine Untersuchung über die Eigenschaften der
Molekeln hinzu, in der er den Anspruch erhebt, klar ge-
stellt zu haben, dass die Molekeln derselben Substanz „bei
den Prozessen, die in dem gegenwärtigen Zustande der
Dinge vor sich gehen, unveränderlich bleiben, und jedes
einzelne von derselben Art, von genau derselben Grösse
ist, als ob dieselben alle wie Flintenkugeln nach derselben
Schablone gegossen und nicht bloss nach ihrer Gestalt wie
kleines Schrot ausgesucht und gruppiert worden wären, und
dass folglich, wie er sich an einem anderen Orte ausdrückt, ^^)
dieselben nicht die Ergebnisse irgend einer Art von Ent-
wicklung sind, sondern in der Sprache von Sir John Herschel
„den Charakter von fabriksmässig erzeugter Ware haben."
Aus welchen logischen, mathematischen oder anderen
Gründen wird nun die statistische Methode lieber auf die
Geschwindigkeiten der Molekeln statt auf ihre Massen und
Volumina angewandt? Was für ein Grund liegt vor oder
könnte dafür vorliegen, dass die Massen der Molekeln
nicht derselben Durchschnittsrechnung unterworfen werden,
wie deren Bewegungen? Es gibt keinen derartigen wie
immer beschaffenen Grund. In Ermangelung eines solchen
erscheinen die Ableitungen der kinetischen Theorie, ab-
gesehen davon, dass sie auf gebrechliche Prämissen ge-
stützt sind, als Trugschlüsse.
Auf Grund dieser Betrachtung zögere ich nicht zu er-
klären, dass die kinetische Hypothese keinen der Charaktere
einer berechtigten physikalischen Theorie besitzt. Ihre
Prämissen sind ebenso wenig zulässig, als ihre Schlüsse
überzeugend. Sie stellt als Forderung auf, was sie zu er-
klären vorgibt ; sie ist eine Lösung in Ausdrücken, die ge-
heimnisvoller sind als das Problem — eine Auflösung einer
Gleichung durch imaginäre Wurzeln unbekannter Grössen.
^'^) Bradford Lecture on the Theory of Molecules, vgL Populär
Science Monthly, January 1874.
Die kinetische Gasiheorie. 123
Sie ist eine vermeintliche Erklärung , der die Behauptung,
dass sie die Thatsachen so lasse, wie sie sie vorfinde, zu
einem unverdienten Lobe gereichen würde und die dem
alten Horazischen Tadelspruch verfällt : ,^Nil agit exemplum,
litem quod lite resolvit/*
Viel ist von der Unterstützung gesprochen worden,
welche der kirietischeti Gastheorie durch die Enthüllungen
des Spektroskops zu teil wifäl Die Spektra der Gase sind
unähnlich denen der festeii"**und flüssigen Körper nicht
kontinuierlich, sondern bestehen aus verschiedenen farbigen
Linien oder Bändern — was, wie man behauptet, zeigen
soll, dass in Gasen die Schwingungen der Molekeln mit
einander nicht interferieren, dass glühende Gase verschiedene
Arten von Licht aussenden und nicht (nach einem Aus-
drucke von Jevons) Lichtgeräusche, weil es keine Molekular-
stösse gibt, welche die natürlichen Schwingungsperioden
stören. ^•^) Das Spektroskop ist ohne Zweifel der wichtigste
je genannte Zeuge zu Gunsten der kinetischen Theorie;
doch fällt das Zeugnis dieses Zeugen nicht durchwegs zu
ihren Gunsten aus. „Das Spektroskop," sagt Maxweli^
selbst, ^*) zeigt , dass einige Molekeln viele verschiedene
Arten von Schwingungen ausführen können. Es muss so?
mit Systeme von sehr beträchtlicher Kompliziertheit geben,
die mehr als 6 Variable besitzen. Nun führt jede hinzu-
tretende Variable einen neuen Betrag an Ks^azität für innere
^^) Nach der letzten Deutung der spektroskopischen Erscheinungen
zeigt die Kontinuität oder Diskontinuität eines Spektrums nicht so
sehr den Aggregatzustand als die molekulare Zusammensetzung des
untersuchten Körpers. Man sagt, dass ein Körper ein Linienspektrum
gibt, wenn von seinen Molekeln jedes nur wenige Atome enthält;
dass, falls es mehr Atome enthält, das Spektrum die Erscheinung
schattierter Bänder zeigt ; und dass das Spektrum kontinuierlich wird,
sobald jedes Molekel eine grosse Zahl von Atomen enthält.
**) „On the Dynamical Evidence of the Molecular Constitution
of Bodies", Nature, 4. u. ii. März 1875, Nr. 279, 280.
124 ^^U' Keqntel.
Bewegung ein, ohne den äusseren Druck zu vermehren.
Jede hmzukommende Variable vermehrt folglich die spezi-
fische Wärme, mag dieselbe bei konstantem Druck oder bei
konstantem Volumen genommen werden. Dasselbe gilt von
jeder Kapazität, welche das Molekel zur Aufstapelung
potentieller Energie besitzen mag. Die berechnete spezifische
Wärme ist jedoch schon zu gross, wenn das Molekel aus
nur zwei Atomen besteht. Daher vermag jeder neu hinzu-
gefügte Grad an Kompliziertheit, welchen wir dem Molekel
beilegen, die Schwierigkeit, den beobachteten mit dem be-
rechneten Werte der spezifischen Wärme in Einklang zu
bringen, nur zu vergrössem.**
Es mag sonderbar erscheinen, dass so viele unter den
Meistern der wissenschaftlichen Forschung, die in der strengen
Schule exakten Denkens und genauer Analyse geschult waren,
ihre Mühen auf eine so offenbar aller wissenschaftlichen
Nüchternheit widerstreitende Theorie vergeudet haben sollten
•i— - eine Hypothese^ in der das wirklich zu erklärende Ding
nur einen kleinen Teil der zur Erklärung notwendigen An-
nahmen bildet. Aber selbst der Geist der Männer der
Wissenschaft war getrübt durch vorwissenschaftliche Vor-
urteile, deren letztes nicht die eingewurzelte Einbildung
war, dass das Geheimnis, von dem die Thatsache umhüllt
ist, durch eine Zersplitterung und Verweisung derselben iil
die Regionen des Aussersinnlichen verschwinde. Der Irr-
tum in der Annahme, dass die Elasticität eines festen Atoms
weniger der Erklärung bedürfe als die einer grossen gas-
förmigen Masse, ist eng an die Einbüdung geknüpft, dass
die Kluft zwischen der Welt der Materie und des Geistes
verengt, wenn nicht überbrückt werden könne durch eine
Verdünnung der Materie oder durch ihre Auflösung in
„Kräfte". Die wissenschaftliche Tagesliteratur wimmelt von
Theorieen, welche die Thatsachen durch einen Prozess der
Verfeinerung oder Verflüchtigung in Ideen zu verwandeln
Die kinetische Oastheorie»
"5
suchen. Alle solchen Versuche sind kindisch; das unwahr-
nehmbare Hirngespinst erweist sich schliesslich als miss-
licher als die wahrnehmbare Gegenwart. Der Glaube an
Gespenster (mit gebührender Achtung vor Maxwell's thermo-
dynamischen „Dämonen" und der Bevölkerung des „unsicht-
baren Universums" sei es gesagt) ist in der Physik keine
geringere Thorheit als in der Geisterlehre.
IX.
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. —
Die Bildung von Begriffen. — Metaphysische
Theorieen.
Es ist, wie ich annehme, im Verlaufe der vorher-
gehenden Erörterungen klar geworden, dass, während die
moderne physikalische Wissenschaft eingestandenermassen
die Naturerscheinungen auf Masse und Bewegung zurück-
zuführen und sie so als Resultate oder Phasen mechanischer
Wirkung hinzustellen sucht — wobei sie diese Art der
Behandlung als die einzige ihrer Natur nach nichtmeta-
physische hinstellt — , dessenungeachtet alle Teile dieser
Wissenschaft, welche entschiedene Fortschritte über die erste
klassifikatorische Stufe gemacht haben, auf Grund von An-
nahmen verfahren und zu Konsequenzen führen, welche mit
dem Ziele dieses Strebens und mit den Grundprinzipien
der mechanischen Theorie unverträglich sind. Wir finden
uns darum inmitten eines Wirrwarrs, der, wenn dies über-
haupt möglich, nur durch eine Untersuchung über den Ur-
sprung dieser Theorie und eine Bestimmung ihrer Stellung
zu den Gesetzen des Denkens und den Formen und Be-
dingungen seiner Entwicklung aufzuklären ist.
Die Aufklärung, welche gewöhnlich von den Psycho-
logen imd Logikern über die Natur und die Verfahrungs-
weisen des Denkens gegeben wird, mag, so weit sie sich
auf den in Betracht kommenden Gegenstand bezieht, in
einigen wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Denken
besteht in dem weitesten Sinne des Wortes, in der Auf-
Dcis VerJmltnis der Gedanken zu den Dingen. 127
Stellung oder Erkenntnis von Beziehungen zwischen den
Erscheinungen. Die wichtigsten unter diesen Beziehungen
— in der That die Grundlage aller anderen wie z. B. der
Ausscheidung und Einordnung, der Gleichzeitigkeit und
Folge, der Ursache und Wirkung, des Mittels und Zwecks
— sind die der Identität und Verschiedenheit. Der Unter-
schied zwischen den Erscheinungen ist ein ursprünglich
Gegebenes der Empfindung (primary datum of Sensation).
Auf ihm beruht der wirkliche Vorgang der Empfindung.
Es ist eine der vielen feinen Beobachtungen von Hobbes,
dass „es auf dasselbe hinauskommt, stets dasselbe oder gar
nichts zu empfinden." ') „Wir kennen etwas," sagt J. St. Mill, ^
„nur dadurch, dass wir erkennen, dass es sich von etwas
-anderem unterscheidet; alle Kenntnis ist nur eine solche
von Unterschieden; zwei Gegenstände sind die geringiste
Zahl, die erforderlich ist, um Kenntnis zu bilden; was ein
Ding ist, sieht man nur an dem Gegensatz zu dem, was
es nicht ist."
Während die Auffassung (apprehension) von Unter-
schieden in den Erscheinungen (die indessen durch deren
Reproduktion im Gedächtnis ersetzt sein können und es
auch in den meisten Fällen sind) Grundlage und Vorbe-
dingung des Denkens ist, beginnt das eigentliche, d. h. das
diskursive Denken, mit der Auffassung einer Identität Aschen
Erscheinungsunterschieden. Die Gegenstände werden als
verschiedene wahrgenommen; sie werden als identische
begriffen durch ein Aufmerken des Geistes auf den oder
die Punkte der Übereinstimmung. Sie werden so klassi-
fiziert, dass die Punkte der Übereinstimmung, d. i. die
Eigenschaften der Gegenstände der Erkenntnis, welche ihnen
*) „Sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt",
Hobbes, Physica, IV, .25 (opp. ed. Molesworth, vol. I. p. 321).
*) Examination of Sir William Hamilton's Phil. (Am. ed., v.
I, p. 14).
128 IX. KapiteL
gemeinsam angehören, dabei als Grundlage der Klassifikation
dienen. Ist die Zahl der Gegenstände gross und haben
einige derselben mehr gemeinsame Eigenschaften als die
anderen, so wird eine Reihe von Klassen gebildet. Die
Gegenstände werden zunächst in Gruppen (von den Logikern
infimae species genannt) geschieden, von denen jede solche
Gegenstände umfasst, die durch die grösste Zahl gemein-
samer, mit ihrer Unterscheidbarkeit verträglicher Eigen-
schaften ausgezeichnet sind; diese Gruppen werden dann
zusammengefasst und verteilt in höhere Gruppen oder Arten,
die eine geringere Zahl von Eigenschaften gemeinsam haben,
und so fort, bis wir bei der kleinsten Zahl von Eigen-
schaften anlangen, in denen alle in den infimae species
und den Zwischengattungen enthaltenen Gegenstände über-
einstimmen, und die so die höchste Klasse, das summtun
genus, charakterisieren.
Daraus folgt, dass in dem Verhältnisse, als wir die
Skala der Klassifikation von den infimae species zu dem
summum genus emporsteigen, die Zahl der in den auf-
einanderfolgenden Klassen (Arten oder Gattungen) enthal-
tenen Gegenständen zunimmt, während die Zahl der charakte-
ristischen Eigenschaften abnimmt. Nun wird die Gesamt-
heit der charakteristischen Eigenschaften einer besonderen
Klasse ein Begriff genannt; die Zahl der durch jeden
Begriff bezeichneten Objekte heisst sein Umfang, und
die Zahl der von ihm eingeschlossenen Eigenschaften (die
als Bestandteile eines Begrififes den Namen Merkmal
fuhren) sein Inhalt, woraus sich das logische Gesetz er-
gibt, dass je grösser der Umfang eines Begriffes ist, d. h.
je grösser die Zahl der von ihm bezeichneten Gegenstände
wird, desto kleiner sein Inhalt, d. h. die Zahl der von ihm
umfassten Merkmale ist; oder mathematisch genau ausge-
drückt, dass der Umfang im umgekehrten geometrischen
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 129
Verhältnis wächst, wenn der Inhalt nach einer arithmetischen
Progression zunimmt. ^)
Man sieht leicht ein, dass der Aufstieg von einer
tieferen (inhaltreicheren aber umfangärmeren) zu einer höheren
(umfangreicheren aber inhaltsärmeren) Klasse durch eine
fortschreitende Absonderung und gedankliche Vereinigung
jener Merkmale bewerkstelligt wird, welche die bezüglichen
Klassen gemeinsam haben ; dieser Prozess wird Abstraktion
genannt.
Im Sinne der vorhergehenden Darlegung ist das eigent-
liche Denken als „der Vorgang der Erkenntnis oder der
Beurteilung der Dinge durch Begriffe"*) und ein Begriff
als „eine Sammlung von Merkmalen, die durch ein Zeichen
verbunden ist und einen möglichen Gegenstand der An-
schauung vorstellt,'* ^) definiert worden. Diese Definition
eines Begriffes unterliegt jedoch der Kritik, dass sie ent-
weder zu weit oder zu eng ist. Es kann einerseits be-
hauptet werden, dass sie zu weit ist: denn sie lässt sich
sowohl auf die Gesamtheit der Merkmale, welche das Ge-
dankenbild eines einzelnen Gegenstandes ausmachen, ohne
Rücksicht auf die Frage, ob dieselben auch von anderen
Gegenständen geteilt werden oder nicht, anwenden wie auch
auf die künstliche Auswahl oder Vereinigung von Merk-
malen, die für eine Klasse, d. h. für eine Mehrheit von
Gegenständen charakteristisch sind. Mit anderen Worten,
diese Definition ist ebensogut eine solche von E in z ein-
begriffen (die durch Einzelnausdrücke dargestellt werden),
wie von Allgemeinbegriffen (die durch allgemeine
Ausdrücke . oder wie Mill sagen würde , durch Klassen-
^) Die exakte Aufstellung dieses Gesetzes siehe bei Droeisch,
Neue Darstellung der Logik, logisch-mathematischer Anhang (3. Aufl.,
S. 206).
*) Mansel, Prolegoraena Logica, p. 22.
^] Ib., p. 60.
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 9
130 IX, KapiieL
namen dargestellt werden). In der Sprache der alten
Logiker umschliesst sie die infimae species und kann für
ein einzelnes Objekt oder eine besondere Eigenschaft stehen,
ohne Rücksicht auf die Thatsache oder den Grad ihrer
Allgemeinheit. Dieser Einwand würde vermieden werden,
wenn man mit Sir William Hamilton*) einen Begriff als
„die Erkenntnis des allgemeinen Charakters, des oder der
Punkte, in denen eine Mehrheit von Gegenständen über-
einstimmt," bezeichnen würde. Andererseits wird das Wort
„Begriff' sehr allgemein in einem Sinne gebraucht, für den
Mansel's Definition zu eng ist. Deutsche Logiker zum
Beispiel bezeichnen gewöhnlich nicht nur jede Gedanken-
reproduktion einer sinnlichen Vorstellung, insofern als sie
das Element eines Urteils oder eines logischen Satzes ist
oder sein kann, als Begriff, sondern auch das Endergebnis
einer Reihe von Abstraktionen. Diese Endergebnisse der
Abstraktion, die summa genera, sind nun durch die Defi-
nition von Mansel ausgeschlossen. Es ist weder notwendig
noch praktisch, hier auf eine genaue Erörterung der
Fragen einzugehen , die sich aus diesen Unterschieden im
Gebrauch der Ausdrücke ergeben; noch kann ich mich
mit der Erwägung der Einwürfe aufhalten, die kürzlich von
Tauschinsky, Lotze, Sigwart, Wundt u. a. gegen die Be-
gründung der Theorie des Begriffes auf Klassifikation oder
Unterordnung vorgebracht worden sind. Die bezüglich dieses
Kapitels zwischen den Logikern der alten und der neuen
Schule stattgehabten Kontroversen, ebenso wie die end-
losen Streitereien zwischen den Nominalisten und Realisten,
denen ein so breiter Raum in den Schriften von J. S. Mill ')
gewidmet ist, sind in der Hauptsache blosse Wortstreitig-
®) ,,The Cognition of the general character," point or points in
which a plurality of objects coincide." Lectures on Logic, p. 87.
') Vgl. Mill's Examination of Sir William Hamilton's Philo-
sophy, chap. XVIL
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 131
keiten, und liegen die Punkte der Nichtübereinstimmung
der Untersuchung ferne, auf die ich nun eingehen will.
Auf einen oder den anderen dieser Punkte dürfte ich später
Gelegenheit finden zurückzukommen • für den Augenblick hat
meine kurze Übersicht über die Nebenumstände des logischen
Begriffes lediglich als ein Schlüssel für das Verständnis der
Bedeutung gewisser logischer Ausdrücke, die ich gezwungen
bin zu gebrauchen, für den Fall zu dienen, als sich ihr
Sinn nicht hinlänglich klar aus dem Kontexte ergeben sollte.
Nun ist es bei jedwelcher Erörterung der Denkthätig-
keiten von der äussersten Wichtigkeit, sich die folgenden
unumstösslichen Wahrheiten, von denen einige — obwohl
alle unter ihnen ganz offenkundig zu sein scheinen — bis
auf die allerjüngste Zeit nicht klar äufgefasst worden sind,
gegenwärtig zu halten:
I. Das Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen,
wie sie an sich sind, oder wie man voraussetzt, dass sie
es sind, sondern mit unseren Gedankenvorstellungen von
denselben. Seine Elemente sind nicht reine Gegenstände,
sondern ihre gedanklichen Gegenstücke. Was im Geiste
bei einem Denkakt gegenwärtig ist, ist niemals ein Ding,
sondern stets ein Bewusstseinszustand. Wie oft und in
welchem Sinne man auch immer behaupten mag, dass der
Geist und sein Objekt beide reelle und verschiedene Wesen
seien, so kann man doch für den Augenblick nicht leugnen,
dass das Objekt, von dem der Geist Kenntnis hat, eine
Synthese von objektiven und subjektiven Elementen ist, und
somit in erster Linie, bei dem wirklichen Akt seiner Vor-
stellung und im vollen Umfang seiner der Erkenntnis unter-
liegenden Existenz, durch die Bestimmungen der erkennen-
den Fähigkeit beeinflusst ist. Wo immer wir somit von
einem Ding oder von der Eigenschaft eines Dinges sprechen,
muss darunter verstanden werden, dass wir eine Resultierende
zweier Komponenten meinen, von denen keine flir sich auf-
9*
132 IX, Kapitel,
gefasst werden kann. In diesem Sinne sagt man, dass alle
Erkenntnis relativ ist.
2. Gegenstände sind uns lediglich durch ihre Be-
ziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Sie haben
keine Eigenschaften und können keine haben und ihre Be-
griffe haben keine Merkmale ausser diesen Beziehungen
oder vielmehr unseren Gedankenvorstellungen von ihnen.
In der That kann ein Gegenstand nicht anders gekannt
oder begriffen werden als ein Komplex solcher Beziehungen.
Mathematisch ausgedrückt: Dinge und deren Eigenschaften
sind lediglich als Funktionen anderer Dinge und Eigen-
schaften gegeben. In diesem Sinne ist also die Relativität
ein notwendiges Prädikat aller Gegenstände der Erkenntnis.
3. Ein besonderer Denkakt schliesst niemals die Ge-
samtheit aller bekannten oder erkennbaren Eigenschaften
eines gegebenen Objektes in sich, sondern nur solche, die
zu einer bestimmten Klasse von Beziehungen gehören. In
der Mechanik wird z. B. ein Körper einfach als eine Masse
von bestimmtem Gewicht und Volumen (in einigen Fällen
auch Gestalt) ohne Rücksicht auf seine anderen physika-
lischen oder chemischen Eigenschaften betrachtet. In ähn-
licher Weise vollzieht jede der verschiedenen anderen Ab-
teilungen des Wissens eine Klassifikation der Gegenstände
auf Grund ihrer eigenen besonderen Prinzipien, wobei sie
Veranlassung zur Entstehung verschiedener Begriffsreihen
gibt, in denen jeder Begriff das Merkmal oder die Gruppe
von Merkmalen — diese Seite des Gegenstandes — dar-
stellt, welche angesichts der gerade behandelten Frage eine
Klarstellung verlangt. Unsere Gedanken von den Dingen
sind somit, in der Sprache von Leibniz, der auch Sir William
Hamilton und nach ihm Herbert Spencer beigepflichtet
haben, symbolischer Natur, und zwar nicht (oder
wenigstens nicht nur) weil ein vollkommenes Gedankenbild
der Eigenschaften eines Objektes durch deren Zahl und
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 133
durch die Unfähigkeit des Geistes, sie zugleich gegenwärtig
zu halten, ausgeschlossen ist, sondern weil viele (und in
vielen Fällen der grösste Teil) derselben ohne Belang auf
den Fortschritt der Gedankenverbindungen sind.
Ferner folgt aus dem Umstände, dass die in dem Be-
griffe eines Gegenstandes enthaltenen Merkmale die Bilder
(representations) seiner Beziehungen zu anderen Gegen-
ständen sind und die Zahl dieser Gegenstände eine unbe-
grenzte ist, dass die Zahl der Merkmale ebenso unbegrenzt
ist und dass infolgedessen kein Begriff eines Gegenstandes
existiert, in dem seine erkennbaren Eigenschaften völlig er-
schöpft wären. In diesem Zusammenhange ist es der Er-
wähnung wert, dass die gewöhnliche Form der Lehre von
der Beziehung der Begriffe zu Urteilen ernsten Einwendungen
unterliegt. Man sagt, dass ein Urteil „eine Vergleichung
zweier Begriffe mit einer daraus sich ergebenden Erklärung
ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung sei"
(Whately) oder „die Erkenntnis einer Beziehung der Über-
einstimmung oder des Widerstreites zwischen zwei Begriffen"
(Hamilton). Hier ist angenommen, dass die Begriffe vor
dem Urteilsakt existieren, imd dass derselbe einfach die
Thatsache oder den Grad ihrer Übereinstimmung oder ihres
Widerspruches feststellt. In Wahrheit ist aber jeder Begriff
das Ergebnis eines Urteils oder einer Reihe von Urteilen,
wobei das erste Urteil die Erkenntnis einer Beziehung
zwischen zwei Daten der Erfahnmg ist. In den meisten
Fällen ist in der That ein Urteil die Vergleichung zweier
Begriife; aber jedes synthetische Urteil (d. i. jedes Urteil,
in welchem das Prädikat mehr ist als eine blosse Aus-
einandersetzung eines oder mehrerer Merkmale des Subjektes)
formt beide Begriffe, die es in Beziehung setzt, durch Erweite-
rung oder Einengung ihrer gegenseitigen Beziehungen um. ®)
8) Dass dies der Aufmerksamkeit Sir William Hamilton's un-
134 IX' Kapitel,
Wenn ein Knabe lernt, dass „der Walfisch ein Säugetier
ist," so unterliegen seine Begriffe, sowohl vom Walfisch wie
vom Säugetier, beide einer wesentlichen Veränderung. Aus
dem Urteil von Thomas Graham, dass „der Wasserstoff ein
Metall ist" tritt sowohl der Ausdruck „Wasserstoff" wie der
Ausdruck „Metall" mit neuer Bedeutung hervor. Die Aus-
sage Sterrv Hunt's, dass „gerade wie eine Lösung eine
chemische Verbindung ist, ebenso eine chemische Ver-
bindung eine gegenseitige Lösung bedeutet" verbreitert den
Begriff „Lösung" ebenso gut wie den Begriff „chemische
Verbindung".
Es ist aus diesen Betrachtungen klar, dass die Be-
griffe von einem gegebenen Gegenstande Teile oder Glieder
zahlloser Reihen oder Ketten von Abstraktionen sind, die
der Art nach verschieden sind und je nach der Richtung
der zwischen ihm und anderen Gegenständen angestellten
Vergleichungen auseinandergehen; dass die Bedeutung und
der Zweck irgend eines dieser Begriffe nicht nur von der
Zahl, sondern auch von der Natur der Beziehungen ab-
hängig ist, mit Rücksicht auf welche die Klassifikation der
geachtet seiner Definition des Urteils nicht entgangen ist, beweist
folgende Stelle aus seinen „Lectures on Logic" (Am. Ausg. S. 84):
„A concept is a judgment; for, on the one hand it is nothing but
the result of a foregone judgment, or series of judgments, fixed and
recorded in a word, a sign, and it is only amplified by the annexation
of a new attribute through a continuance of the same process." Von
deutschen Denkern hat Herbart eine klare Anschauung derselben
Wahrheit. „Die Ausbildung der Begriffe," sagt er (Lehrbuch zur
Psychologie, § 189, Werke, Bd. V, S. 130), „ist der langsame all-
mählige Erfolg des immer fort gehenden Urteilens." An einer anderen
Stelle (ib., § 78, Werke, Bd. V, S. 59): „Es fragt sich, ob die Be-
griflfe im strengen logischen Sinn nicht vielmehr logische Ideale seien
denen sich unser logisches Denken mehr und mehr annähern soll . . .
Es wird sic)i überdies zeigen, dass die Urteile es sind, wodurch die
Begriffe dem Ideal mehr und mehr angenähert werden, daher sie den
letzten in gewissem Sinne vorangehen."
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 135
Gegenstände ausgeführt worden ist; und dass aus diesem
Grunde auch alle Gedanken von Dingen fragmentarische
und symbolische Darstellungen von Realitäten sind, deren
völlige Zusammenfassung in einen einzigen oder eine Reihe
von Denkakten unmöglich ist. Und dies ist a fortiori wahr,
weil die Beziehungen, deren Gesamtheit ein Objekt der
Erkenntnis vorstellt, abgesehen davon, dass sie endlos an
Zahl sind, auch noch veränderlich sind — weil in der
Sprache von Herakut alle Dinge sich in beständigem
Flusse befinden.
Alle metaphysische oder ontologische Spekulation be-
ruht auf einer Missachtung einiger oder aller der hier aus-
einandergesetzten Wahrheiten. Metaphysisches Denken ist
ein Versuch, die wahre Natur der Dinge aus unseren Be-
griffen von denselben abzuleiten. Was für ein Unterschied
auch immer zwischen den metaphysischen Systemen be-
stehen mag, alle sind sie gegründet auf die ausdrückliche
oder stillschweigende Voraussetzung, dass eine bestimmte
Korrespondenz zwischen den Begriffen und deren Verbin-
dungen auf der einen Seite und den Dingen und ihrer Art
von gegenseitiger Abhängigkeit auf der anderen Seite be-
steht. Dieser Grundirrtum ist zum grossen Teile durch eine
falsche Anschauung von der Funktion der Sprache als eines
Hilfsmittels zur Bildung und Fixierung von Begriffen ver-
schuldet; der Umstand, dass Worte zunächst Dinge oder
wenigstens Gegenstände der Empfindung und deren wahr-
nehmbare gegenseitige Einwirkungen bezeichnen, hat Ver-
anlassung zur Entstehung gewisser falscher Annahmen ge-
geben, welche im Gegensatz zu den gewöhnlichen Über-
tretungen logischer Gesetze, in einem gewissen Sinne natür-
liche Auswüchse der Entwicklung des Denkens vorstellen
(und als solche nicht ohne Analogie zu den organischen
Leiden des körperlichen Lebens stehen) und Strukturfehler
136 IX, Kapitel,
des Geistes genannt werden können. Es sind dies die
folgenden :
1. Jeder Begriff ist das Gegenstück einer unterscheid-
baren objektiven Realität und es gibt infolgedessen ebenso -
viele Dinge oder natürliche Klassen von Dingen, als es
Begriffe gibt.
2. Die allgemeineren oder umfassenderen Begriffe und
die ihnen entsprechenden Realitäten sind früher da, als die
weniger allgemeinen, inhaltreicheren und deren entsprechende
Realitäten; die letzteren Begriffe und Realitäten sind aus
den ersteren entweder durch eine allmähliche Hinzufugung
von Merkmalen oder Eigenschaften oder durch einen Ent-
wicklungsprozess abgeleitet, indem die Merkmale oder Eigen-
schaften des früheren Wesens als Verwicklungen der des
späteren betrachtet werden.
3. Die Aufeinanderfolge in der Entstehung der Be-
griffe ist identisch mit der Aufeinanderfolge in der Ent-
stehung der Dinge.
4. Die Dinge existieren unabhängig von und vor ihren
Beziehungen; alle Beziehungen finden zwischen absoluten
Gliedern statt; welche Realität man daher auch immer den
Eigenschaften der Dinge beilegen mag, so ist dieselbe stets
verschieden von der Realität der Dinge selbst.
Mit Hilfe dieser Vorbereitungen hoffe ich im Stande
zu sein, der mechanischen Theorie ihren wahren Charakter
und ihre Stellung in der Geschichte der Entwicklung des
Denkens zu bestimmen. Bevor ich jedoch dazu schreite,
wird es nicht ohne Interesse sein, im Zusammenhange mit
der vorhergehenden Untersuchung über die Beziehung
zwischen Begriffen und den ihnen entsprechenden Gegen-
ständen eine Frage in Betracht zu ziehen, die lange Zeit
Gegenstand eifriger Debatte gewesen ist, nämlich die, ob
und bis zu welchem Grade die Begreifbarkeit ein Zeugnis
mögUcher ReaHtät ist. Es ist von J. St. Mill und seinen
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 137
Nachfolgern behauptet worden, dass unsere Unfähigkeit, ein
Ding zu begreifen, kein Beweis seiner Unmöglichkeit sei,
während Whewell und Herbert Spencer (wenn auch nicht
genau im selben Sinne und aus gleichen Gründen) daran
festhalten, dass das, was unbegreiflich ist, nicht wirklich
oder wahr sein kann. ®) Ein vertrauenswürdiges Urteil über
die Verdienste dieser Kontroverse kann man sich nur nach
einer sorgfältigen Bestimmung der Bedingungen der Begreif-
barkeit bilden, wie sie durch die Natur des Prozesses der
Begriffsbildung, welchen ich zu beschreiben versucht habe,
gegeben erscheinen.
Es ist gezeigt worden, dass alle wahre Begriffsbildung
in der Aufstellung teilweiser oder vollständiger Identitäten
zwischen der zu begreifenden Thatsache und anderen aus
der Erfahrung bekannten Identitäten besteht. Die erste
Bedingung der Begreifbarkeit ist somit die, dass das frag-
liche Ding oder die fragliche Erscheinung der Klassifikation,
d. i. der völligen oder teilweisen Identifizierung mit früher
beobachteten Gegenständen oder Erscheinungen fähig sei.
Eine zweite und sehr klare Bedingung der Begreif-
barkeit ist die gegenseitige Verträglichkeit der Elemente
des zu bildenden Begriffes. Es ist klar, dass zwei Merk-
male, von denen das eine das Gegenteil des anderen ist,
nicht zugleich demselben Subjekte angehören und Teile
desselben Begriffes sein können.
Das sind die zwei einzigen Bedingungen, welche direkt
®) Die präzise Form von Spencer's Wahrheitskriterium, welche
er das „Universalpostulat" nennt, ist „die Unbegreilbarkeit des Gegen-
teils". In der Sprache der Logik ausgedrückt lautet seine These,
dass jeder Satz, dessen kontradiktorisches Gegenteil unbegreitlich ist,
wahr sein muss. Insofern aber als jede Negation eines Satzes die
Behauptung seines Gegenteils ist, ist dies äquivalent mit der allge-
meinen Behauptung, dass das, was unbegreiflich ist, nicht wahr
sein kann.
138 IX, Kapitel.
aus der Theorie der Begriffsbildung ableitbar sind und da-
her mit einigem Rechte theoretische Bedingungen genannt
werden können. Es gibt aber noch eine dritte, praktische
Bedingung: die Übereinstimmung des neuen Begriffes mit
vorher gebildeten Begriffen, die sich auf dieselbe Materie
beziehen. Wie ich gesagt habe, ist dies eine praktische
Bedingung — nicht so sehr eine der Begreifbarkeit als der
leichten Begreifbarkeit. Die alten Begriffe können ja mangel-
haft oder irrig sein-, der wahre Begriff, dem sie wider-
sprechen, mag sie ergänzen oder verdrängen, berichtigen
oder vernichten.
Nun ist leicht einzusehen, dass die Erfüllung der ersten
Bedingung kein Beweis der Realität sein kann. Thatsachen
oder Erscheinungen können sich der Beobachtung darbieten,
welche völlig ungleich irgend welchen bisher beobachteten
Thatsachen oder Erscheinungen sind, oder deren Ähnlich-
lichkeit mit früheren Thatsachen der Erfahrung noch nicht
entdeckt worden ist. Die Geschichte der Wissenschaft ist
reich an überraschenden Entdeckungen; jede Zeitepoche
thätiger Forschung bringt zahlreiche Erscheinungen ans
Licht, die nicht nur unvorhergesehen, sondern auch ohne
ersichtliche Analogie mit anderen bekannten Thatsachen
waren. Angesichts dessen rief Liebig aus : „Das Geheimnis
all derer, die Erfindungen machen, ist, nichts als unmög-
lich anzuschauen."^^)
So weit stimme ich denn mit Mill überein. Ich ver-
mag ihm jedoch nicht zu folgen, wenn er auch die Er-
füllung der zweiten Bedingung als ein Kriterium der Mög-
lichkeit verwirft und es ablehnt oder ausser Acht lässt,
zwischen dem Fall der Unbegreiflichkeit wegen scheinbarer
oder wirklicher Nichtübereinstimmung einer neuen Er-
scheinung oder Thatsache mit den Daten vergangener Er-
^^) Annalen der Pharmacie, X, 179.
Das Verhältnis der Gedanken xii den Dingen, 139
fahrung und dem davon sehr verschiedenen Fall der Un-
begreiflichkeit auf Grund des Widerspruches zwischen den
einzelnen Elementen eines vorgelegten Begriffes zu unter-
scheiden. Er führt den Begriff eines „runden Quadrates"
als Beispiel eines solchen an, den wir zu bilden unver-
mögend sind, und behauptet, dass diese Unfähigkeit ledig-
lich eine Folge alteingewurzelter Erfahrung sei. „Wir können
kein rundes Viereck begreifen," erklärt er, ^^) „nicht ledig-
lich aus dem Grunde, weil sich uns ein solcher Gegenstand
noch niemals in unserer Erfahrung gezeigt hat, denn das
würde noch nicht ausreichend sein. Ebensowenig sind, so
viel wir wissen, die beiden Ideen unter einander unverträg-
lich. Einen Körper ganz schwarz und noch ganz weiss zu
denken, würde nur so viel sein als sich zwei verschiedene
Empfindungen in uns zugleich durch denselben Gegenstand
erzeugt zu denken — was uns aus unserer Erfahrung ge-
läufig ist — imd wir würden wahrscheinlich ebensogut im
Stande sein ein rundes Quadrat zu begreifen wie ein hartes
oder ein schweres, wenn nicht in unserer Erfahrung es so
eingerichtet wäre, dass in dem Augenblicke, wo ein Ding
rund zu sein beginnt, es aufhört eckig zu sein, so dass der
Beginn des einen Eindruckes unzertrennlich mit dem Ver-
schwinden des anderen verknüpft wäre. Unsere Unfähig-
keit einen Begriff zu bilden, entsteht also stets, weil wir
gezwungen werden einen anderen dem ersten entgegen-
gesetzten Begriff zu bilden."
Also stammt unsere Unfähigkeit ein rundes Quadrat
zu begreifen aus der Thatsache, „dass in unserer Erfahrung
ein Ding in dem Augenblicke, in dem es rund zu sein be-
ginnt, aufhört eckig zu sein," und aus der untrennbaren
Verbindung zwischen beginnender Rundheit und verschwin-
dender Eckigkeit! Ob jemals wer eine solche Erfahrung
^^) Examination of the Philosophy of Sir William Hamilton, I,
88 (Am. Ausg.).
140 IX. Kapitel.
gehabt hat wie die, von der hier die Rede ist, weiss ich
nicht; aber selbst wenn er sie hätte, bin ich gewiss, dass
selbst, wenn sie durch eine reichliche Erbschaft angestammter
Erfahrung im Sinne der modernen Entwicklungslehre ver-
stärkt würde, sie sich als unzureichend erweisen würde, um
über die unzertrennliche Vergesellschaftung, die Mill ins
Spiel bringt, Rechenschaft zu geben. Die Wahrheit ist ein-
fach die, dass ein rundes Quadrat eine Absurdität ist," eine
contradictio in adjecto. Ein Quadrat ist eine Figur, die
von vier gleichen unter einem rechten Winkel sich schneiden-
den Geraden begrenzt ist; eine runde Figur ist eine von
einer krummen Linie umgrenzte Figur; und die älteste
Definition einer Kurve ist die „einer Linie, die weder eine
gerade Linie ist, noch aus solchen besteht."
Mill's Behauptung ist in Wirklichkeit, wenn auch nicht
mit ausdrücklichen Worten, eine Verleugnung der Giltigkeit
der Gesetze des Widerspruches und des ausgeschlossenen
Dritten, oder (wie er es selbst vorziehen würde auszudrücken)
eine Behauptung, dass die Grundsätze der Logik, wie alle
sogenannten Naturgesetze, blosse experimentelle Induktionen
sind, deren einzige Bürgschaft nur die Gleichförmigkeit der
Erfahrung ist. Wenn aber diese Gesetze nicht unbedingt
und allgemein bindend als wesentliche Prinzipien des Denkens
und Redens wären — wenn dasselbe Ding zu gleicher Zeit
sein und nicht sein könnte, und seine Behauptung vmd
Leugnung nicht direkte Alternativen wären — dann wären
wir wohl oder übel im Lande des ausgesprochensten Un-
sinns angelangt, woselbst alles Denken zu Ende wäre und
jede Sprache sinnlos wird. Die in Rede stehenden Gesetze
sind die konstitutiven Prinzipien deutlichen Denkens imd
vernünftiger Rede, weil sie stillschweigende Vorbedingungen
hierzu bedeuten; sie können ebensowenig zu Gunsten von
Mill's Associationstheorie verlassen, als zur Förderung von
Hegel's dialektischer Methode abgeschafft werden.
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 141
Es mag bemerkt werden, dass sich in dem eben
zitierten Kapitel von Mill's Buch Äusserungen vorfinden,
welche darthun, dass der Autor seiner eigenen Theorie
nicht recht froh wurde. So sagt er zum Beispiel: ^^) „Diese
Dinge sind uns buchstäblich unverständlich, so lange unser
Geist und unsere Erfahrung das sind, was sie sind. Ob
sie imbegreiflich sein würden, wenn unser Geist noch der-
selbe wäre, unsere Erfahrung aber eine andere, ist eine
offene Frage. Ein Unterschied kann allerdings gemacht
werden, den man, wie ich denke, als einen für die Frage
schicklichen finden wird. Dass das nämliche Ding zugleich
sei und nicht sei, — dass die identisch gleiche Behauptung
zugleich wahr und falsch sei — ist nicht nur für uns un-
begreiflich, sondern derart, dass wir nicht begreifen können,
wie es begreiflich gemacht werden könnte."
Wie seltsam nehmen sich doch solche Sätze im Munde
John Stuart Mill's aus! Zuerst leugnet er, dass die Un-
begreiflichkeit in irgend einem Sinne oder Falle ein Beweis
für die Unwahrheit oder Nichtrealität sein könne; hierauf
sagt er aber, dass es anders sein könne, wenn die
Unbegreiflichkeit selbst unbegreiflich ist! Das heisst:
Ein Zeuge ist gar nicht vertrauenswürdig; macht er aber
eine Erklärung über seine eigene Vertrauenswürdigkeit, dann
ist er esl
Die ganze Associationstheorie , wie sie hier von Mill
aufgestellt und angewandt wird, ist einfach grundlos, da es
nach dieser Theorie unmöglich ist zu wissen, wie die Er-
fahrung seiner zahlreichen Leser gewesen ist, ausser wieder
durch Erfahrung, welche er aber nicht gehabt haben kann,
da die meisten dieser Leser ihm unbekannt sind. Alle
Versuche, mit irgend wem Fragen auf dieser Grundlage zu
erörtern, sind äusserst thöricht, da Mill durch seine eigene
12
L c, p. 88.
142 IX. Kapitel,
Lehre gezwungen ist, die Antwort als bindend hinzunehmen
„Meine Erfahrung war eine andere". Mill's Theorie ver-
nichtet sich also selbst und jeder ernste Satz, den 'er
je geschrieben, bedeutet eine praktische Ableugnung der-
selben.
In Bezug auf den eben erörterten Fall der Unbegreif-
lichkeit und andere ihm analoge Fälle ist zu bemerken,
dass viel von der Verwicklung und Verworrenheit, die für
die Fehden zwischen Mill und seinen Gegnern charakte-
ristisch ist, davon herrührt, dass es beim Streite unterlassen
wurde, zwischen rein formalen Begriffen und den sinnlichen
Vorstellungen physikalischer Realitäten zu unterscheiden.
Es besteht ein grosser Unterschied zwischen dem Verhältnis
eines Begriffes zu seinem gedachten Gegenstande wie z. B.
in der Mathematik und dem entsprechenden Verhältnis
zwischen dem Begriffe eines materiellen Gegenstandes und
dem Gegenstande selbst. In der Mathematik, sowie in allen
Wissenschaften, welche sich mit einzelnen Beziehungen oder
Gruppen von Beziehungen befassen, die vom Geiste selbst
(und zwar innerhalb der Grenzen der Grundsätze des Geistes,
willkürlich) aufgestellt werden, sind gewisse Begriffe in dem
Sinne erschöpfend, dass sie, wenn es auch nicht ausdrück-
lich hervorgehoben wird, alle zu dem betreffenden Ge-
dankendinge gehörenden Eigenschaften einschliessen. Da
nicht nur die Elemente eines solchen Gegenstandes, sondern
auch die Gesetze ihrer gegenseitigen Abhängigkeit durch
den Geist selbst gegeben sind, kann ein einzelner Begriff
in eine Reihe anderer entwickelt werden. So ist eine
Parabel eine Linie, in der jeder Punkt von einem fixen
Punkt und einer gegebenen Geraden gleich weit entfernt
ist : das ist einer von ihren Begriffen. Und in diesem sind
alle Eigenschaften der Parabel — dass sie ein Kegelschnitt
ist, der durch Schneiden eines Kegels parallel zu einer
seiner Seiten entsteht, dass der Flächeninhalt irgend eines
Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 143
ihrer Segmente gleich zwei Drittteilen des umgeschriebenen
Rechteckes ist, u. s. f. — enthalten und können aus ihm
abgeleitet werden. Eines dieser Merkmale ist implicite
durch die anderen gegeben. Andererseits sind, wie ich
gezeigt habe, unsere Begriffe materieller Gegenstände niemals
erschöpfend, denn die Gesamtheit ihrer Merkmale ist not-
wendigerweise sowohl unvollständig als veränderlich. Zu
welch' seltsamen Grillen diese Verwechslung in anderen
Gebieten der Spekulation Anlass gegeben hat, werden wir
in einem späteren Kapitel sehen.
Ich komme nun zur dritten Bedingung der Begreif-
barkeit : der Übereinstimmung des zu bildenden Begriffes
mit den früheren Begriffen in pari materia. Bei weitem
die grösste Zahl von Fällen der hier gemeinten Uhbegreif-
lichkeit lassen sich auf eine Verletzung dieser Bedingung
zurückführen, — auf die Unverträglichkeit neuer Thatsachen
oder Anschauungen mit den von früher her gegebenen.
So wurden denn viele der von Mill zu Gunsten seiner
Theorie angeführten Fälle dieser Klasse entnommen. Doch
erkannte er nicht immer ihren wahren Charakter, und viele
derselben finden nur in höchst unvollkommener Weise,
wenn überhaupt, durch seine Theorie ihre Erklärung. Eines
dieser Beispiele ist das von der einst fast allgemein herrschend
gewesenen Leugnung der Möglichkeit von Antipoden auf
Grund ihrer Unbegreiflichkeit. Nach Mill ist nun diese
Unbegreiflichkeit verschwunden ; wir begreifen die Antipoden
nicht nur sehr leicht als möglich, sondern erkennen sie als
wirklich. Dies ist einleuchtend genug ; doch findet es seine
Erklärung nicht in dem Gesetz der unzertrennlichen Ver-
gesellschaftung, auf das es Mill zurückführt, sondern in
der Thatsache, dass unsere Vorfahren einen irrigen Begriff
von der Wirkung der Schwere hatten. Sie nahmen an,
dass die Richtung, in der die Schwerkraft wirkt, eine ab-
solute Richtung im Räume sei; sie vergegenwärtigten sich
144 I^* Kapitel,
nicht, dass sie eine Richtung gegen den Erdmittelpunkt ist ;
„abwärts" wurde bei ihnen in einem ganz anderen Sinne
genommen als bei uns. Mit diesem irrigen Begriff konnten
sie die Thatsache nicht vereinbaren, dass die Schwerkraft
unsere Antipoden gerade so erhält wie uns; was auch wir
nicht im Stande sind. Wir haben aber einen passenderen
Begriff von der Schwerkraft und der Art und Richtung
ihrer Wirkung; der falsche Begriff, mit dem der Begriff
von Antipoden unvereinbar war, ist entfernt worden, und
die Unbegreiflichkeit der Antipoden hatte ihr Ende ge-
funden.
Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei einem anderen
von MiLL vorgebrachten Beispiele machen : der Unfähigkeit,
eine actio in distans zu begreifen, worauf schon in einem
vorhergehenden Kapitel in ausgedehntem Masse Bezug ge-
nommen wurde. Diese Unfähigkeit ergibt sich aus der Un-
verträglichkeit dieses Begriffes mit den herrschenden Be-
griffen von der Anwesenheit der Materie. Wenn wir den
Satz, dass ein Körper wirkt, wo er ist, umkehren und sagen,
dass ein Körper ist, wo er wirkt, verschwindet die Unbe-
greiflichkeit sofort. Eine der weisesten Äusserungen über
diesen Gegenstand ist der Satz von Thomas Carlyle (der
von MiLL selbst an einer anderen Stelle zitiert wird) :
„Sie sagen, dass ein Körper dort nicht wirken kann, wo
er nicht ist? Sehr gut; bitte aber, wo ist er?" Natürlich
würde eine Umformung unserer gewöhnlichen Begriffe
über die Anwesenheit der Materie in dem hier ange-
gebenen Sinne eine mechanische Konstruktion der Materie
aus völlig begrenzten, harten, unveränderlichen und von
einander durch absolut leere Räume getrennten Elementen
ausschliessen.
Es ist kaum nötig hinzuzufügen, dass, allgemein ge-
sprochen, die Unbegreiflichkeit einer physikalischen That-
sache, die sich aus ihrer Nichtübereinstimmung mit vorher
Das Verhältnis der Gedanken xu den Dingen. 145
gefassten Begriffen ergibt, kein Beweis für ihre Unmöglich-
keit oder, ihren Mangel an Realität ist. Intellektuelle Fort-
schritte bestehen zumeist in der Verbesserung oder Um-
stürzung alter Ideen, von denen nicht wenige während langer
Zeitperioden als selbstverständliche angesehen worden sind.
Die bereits citierten Beispiele von Mill geben hiervon
passende Illustrationen, und sie können endlos aneinander
gereiht werden. Bis zur Entdeckung der Zusammensetzung
des Wassers, der wahren Theorie der Verbrennung und der
Verwandtschaften des Kaliums und Wasserstoffs zum Sauer-
stoff war es unmöglich, eine Substanz zu begreifen, die bei
Berührung mit Wasser sich entzündet, da es ja eine der
anerkannten Merkmale des Wassers -r- mit anderen Worten,
ein Teil seines Begriffes — war, dem Feuer entgegenzu-
wirken. Dieser vorherige Begriff war falsch ; als er zerstört
wurde, verschwand die Unbegreiflichkeit einer Substanz wie
des Kaliums. In ähnlicher Weise sind wir nun ausser
Stande, ein warmblütiges Tier uns ohne ein Respirations-
system zu denken , weil wir die Bedingung der gleichen
Temperatur eines tierischen Organismus als hauptsächlich
abhängig von den chemischen Veränderungen ansehen, die
in demselben platzgreifen und unter denen die wichtigste
die Oxydation des Blutes ist, welche irgend eine Form der
Berührung zwischen dem Blute und der Luft und somit
eine Form der Atmung verlangt. W^enn indessen zukünftige
Forschungen diesen letzteren Begriff vernichten sollten —
wenn gezeigt werden würde, dass die Wärme eines leben-
den Körpers in zureichender Menge durch mechanische
Agentien, wie z. B. Reibung erzeugt werden könnte, würde
em nicht atmendes warmblütiges Tier auf einmal begreif-
lich werden.
Während also eine physikalische Erscheinung, so wenig
wir auch im Stande sein mögen, sie zu begreifen, ohne
Stallo, BegriflFe u. Theorieen. lO
146 IX. KapifeL
unseren vertrauten Gedanken Gewalt anzuthun, wirklich
sein kann, verhält es sich damit ganz anders auf dem Ge-
biete der formalen Wissenschaften, wie der Logik und
Mathematik. Hier finden wir Begriffe, die auf fundamentale
Postulate oder axiomatische Wahrheiten gestützt sind, mit
denen alle neuen Begriffe, um giltig zu sein, vereinbar sein
müssen. Thatsache ist, dass auf dem Gebiete der idealen
Beziehungen von Raum und Zeit die dritte Bedingung der
Begreiflichkeit im Grunde genommen mit der zweiten identisch
ist, insofern als hier alle niederen Begriffe implicite wenigstens
Bestandteile einiger höheren umfassenderen Begriffe sind,
deren Giltigkeit ihre gegenseitige Übereinstimmung verlangt.
Dies alles gilt auch in gleicher Weise von den rein formalen
Begriffen, welche die theoretische Grundlage einiger phy-
sikalischer Wissenschaften bilden, wie z. B. von den all-
gemeinen Sätzen der Kinematik oder Phoronomie; inner-
halb der Grenzen der ihnen zukommenden Anwendbarkeit
gelten sie mit Recht als Kriterien der Möglichkeit. Und selbst
unter den auf Induktion gegründeten physikalischen Wahr-
heiten gibt es viele, deren Allgemeinheit so wohl begründet
ist, dass ernste, wenn nicht entscheidende Bedenken gegen
die Berechtigung von Begriffen und die Realität von be-
haupteten Erscheinungen obwalten würden, welche diese
verletzen.
Die vorhergehende Diskussion über die Frage der
Begreifbarkeit als eines Kriteriums der Wahrheit ist in
keiner Weise erschöpfend. Es gibt Fragen, die damit zu-
sammenhängen und auf die einzugehen nicht meine Sache
ist. Eine von diesen Fragen ist die Bestimmung der Be-
dingungen, unter denen der Widerspruch zwischen den
Elementen eines vorgelegten Begriffes offenbar wird. In
sehr vielen Fällen ist der Widerspruch verborgen und zeigt
sich erst nach vollständiger Enthüllung aller Verwicklungen
und Verbindungen der Elemente — eine Erklärung, die
Das Verhältnis der Gedanken xn den Dingen. 147
ge^vöhnlich als reductio ad absurdum bezeichnet wird. In
solchen Fällen besteht das Verfahren in Wirklichkeit in
einer Zurückführung der Sätze, in die ein Begriff aufgelöst
werden kann, bis zu ihrer äussersten Gleichförmigkeit, so
dass der Widerspruch zwischen ihnen, falls er besteht,
offenkundig wird. Die Einzelnheiten dieses Gegenstandes
gehören indessen in die Lehrbücher über Logik.
lo"
X,
Charakter und Ursprung der mechanischen
Theorie. — Darlegung ihres ersten und zweiten
metaphysischen Grundfehlers.
Die modernen Physiker erheben den bestimmten An^
Spruch darauf, dass die mechanische Theorie auf der sicher eiv
Grundlage sinnlicher Erfahrung ruhe und sich auf diese
Art von metaphysischen Spekulationen abhebe, von denen
(und zwar in dem im vorigen Kapitel gekennzeichneten
Sinne mit Recht) gesagt wird, dass sie auf blossen Ein-
bildungen des Geistes beruhen. Wir sind nunmehr auf
einer Stufe unserer Diskussion angelangt, wo dieser An-
spruch auf seine Stichhaltigkeit hin geprüft werden kann^
Die mechanische Theorie setzt Masse und Bewegung^
als die absolut realen und unzerstörbaren Elemente aller
Formen physikalischer Erscheinungen voraus. Gewöhnlich
werden diese Elemente als Materie und Kraft bezeichnet ^
doch ist diese Bezeichnung offenbar ungenau. Die Wirkung '
einer Kraft auf einen Körper bedeutet im Lichte der
mechanischen Theorie einfach die Übertragung der Be-
wegung eines Körpers auf einen anderen ; Kraft in dem
Sinne, in dem das Wort hier angewendet wird, ist nichts-
anderes als Bewegung in Anbetracht ihrer wirklichen oder
möglichen Übertragung. Und ihre notwendige Ergänzung^
oder vielmehr ihr wesentliches Korrelat — das was zurück-
bliebe, wenn ein Körper alles dessen, was keine Form von
Kraft oder Bewegung vorstellt, entkleidet würde — ist nicht
Materie sondern Masse.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 149
Nun ist es klar, dass Bewegung an sich ein Gegen-
staüd sinnlicher Erfahrung weder ist noch sein kann. Wir
besitzen experimentelle Kunde über bewegte Körper, aber
nicht über reine Bewjegung. Ebenso klar ist es, dass Masse
— oder um den gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen,
träge Materie oder Materie an sich — nicht ein
Gegenstand sinnlicher Erfahrung sein kann. Dinge sind
Gegenstände sinnlicher Erfahrung lediglich vermöge ihrer
Wirkung imd Gegenwirkung. Wie Leibniz sagt, „was nicht
wirkt, existiert nicht" — quod non agit, non existit. Masse
ist nichts, wovon die Sinne direkte Kenntnis besitzen; sie
stellt sich ihnen weder als Rauminhalt, noch als Festigkeit,
noch als Undurchdringlichkeit dar. Die einzige Kenntnis,
4ie wir von der Masse haben, rührt von der Thatsache
lier, dass verschiedene Geschwindigkeiten, oder Beschleuni-
^ngen, oder Veränderungen der Bewegung in verschiedenen
Körpern (die von gleichem Rauminhalt und gleichen Graden
von Festigkeit und Undurchdringlichkeit sein können) durch
die Wirkung derselben Kraft oder die Übertragung der-
selben Bewegung erzeugt werden können. Für sich allein
ohne Bezug- auf die Atomtheorie betrachtet, ist die Masse
bloss ein anderer Name für die Trägheit; und diese
wird gekannt, gemessen und bestimmt lediglich durch den
Betrag an Kraft oder Bewegung, der auf einen gegebenen
Körper einwirken oder ihm mitgeteilt werden muss, um in
ihm eine bestimmte Geschwindigkeit, oder genauer und
allgemeiner ausgedrückt, ein bestimmtes Mass der Beschleuni-
gung oder Ablenkung zu erzeugen. . Ohne dieser Beziehung
zu und Verbindung mit Kraft oder Bewegung hat sie keine
Existenz^ gerade so wie Kraft oder Bewegung keine Existenz
ohne Bezug auf und Verbindung mit der Trägheit besitzt.
Die Realität einer jeden von beiden bietet sich der Er-
fahrung so gut wie dem Denken erst mit Hilfe der
anderen dar.
ISO X Kapitel,
Die Wahrheit ift, dass weder Masse noch Bewegung-
dem Wesen nach real ist, sondern beide Begriffe sind, oder
vielmehr Teile eines Begriffes — des Begriffes Materie.
Sie sind die letzten Ergebnisse der Verallgemeinerung —
die intellektuellen Fluchtpunkte der Abstraktionslinien , die
von den iniimae species der sinnlichen Erfahrung ausgehen.
Materie ist das summum genus der Klassifikation von
Körpern auf Grund ihrer physikalischen und chemischen
Eigenschaften. Sie ist daher kein reales Ding sondern die
ideale Vereinigung zweier Merkmale, die in gleicher Weise
allen Körpern zukommen. Die zwei Merkmale sind un-
zertrennlich, nicht nur in Wirklichkeit, sondern auch in
Gedanken. Wenn wir beim Aufsteigen in der Klassifikations-
skala allmählich von unseren sinnlichen Vorstellungen
der einzelnen physischen Gegenstände alle Merkmale, in
denen sie sich unterscheiden, ausscheiden*, erreichen wir
schliesslich zwei Merkmale, in denen sie übereinstimmen,
und welche nicht abgesondert werden' können, ohne die
Grenzen zu überschreiten, innerhalb welcher der Begriff
physischer Realität möglich ist. Beide sind unvermeidliche
Bestandstücke des höchsten Begriffes, unter den irgend eine
Form physischer Existenz subsumiert werden kann.
Daraus erhellt sofort der wahre Charakter der mecha-
nischen Theorie. Diese Theorie nimmt nicht ^ nur den
idealen Begriff Materie, sondern auch seine beiden un-
zertrennlichen Teilmerkmale imd erteilt beiden eine völlig
selbständige Realität. Diese Identifizierung eines Begriffes
mit reellen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, diese
'Vermengung von Abstraktionen mit Dingen bildet einen
der alten Grundfehler metaphysischer Spekulation. Es ist
die erste der im letzten Kapitel aufgezählten trügerischen
Annahmen der Metaphysik. ') Die mechanische Theorie
^) Siehe oben S. 136.
CJiarnkter und Ursprung der mechanischen Theotic. 151
nimmt so wie alle metaphysischen Theorieen ideale viel-
leicht rein konventionelle Teilgnippen von Merkmalen oder
einzelne Merkmale hypothetisch an und behandelt sie wie
Arten objektiver Realität. Ihre Grundlage ist somit im
wesentlichen metaphysischer Natur. Die mechanische Theorie
ist in der That ein Überbleibsel des mittelalterlichen Realis-
mus. Ihre wesentlichen Elemente sind legitime logische
Abkömmlinge der universalia ante rem und in re der
Scholastik, die sich von letzteren höchstens dadurch unter-
scheiden, dass sie die letzten Ergebnisse von Abstraktionen
vorstellen, die durch stufenweises Aufsteigen von sinnlichen,
durch Beobachtung und Experiment erhaltenen Eigenschaften
zu Stande kommen, und nicht durch Erklimmen der nebeligen
Höhen traditioneller Schulbegriffe, die vorzeitige, rohe und
unbestimmte Phantasien des menschlichen Geistes darstellen.
Der metaphysische Charakter der mechanischen Theorie
kommt indessen nicht nur in ihrer Annahme der ersten der
trügerischen Annahmen jeder Metaphysik zum Vorschein,
derzufolge jeder Begriff das Gegenstück eines wirklichen
Dinges bildet, sondern auch in der der zweiten. Diese
besteht , wie ich bemerkt habe, ^) darin , dass die allge-
meineren und umfangreicheren Begriffe ' und die ihnen
entsprechenden Realitäten früher existieren als die weniger
allgemeinen und inhaltreicheren Begriffe und deren ent-
sprechende Realitäten, und dass die späteren Begriffe
und Realitäten aus den ersteren entweder durch eine all-
mähliche Hinzufügung von Merkmalen oder Eigenschaften
oder durch einen Entwicklungsprozess abgeleitet werden,
indem die Merkmale oder Eigenschaften der ersteren als
Verwicklungen derer der letzteren aufgefasst werden.
In den fuhrenden metaphysischen Systemen ist die
Ordnung der Realität völlig verkehrt. Die summa genera
^) Siehe oben S. 136 ff.
152 Ä^ KapiteL
der Abstraktion — die höchsten Begriffe — werden als
die realsten, und die Data sinnlicher Erfahrung als die am
wenigsten realen Formen der Existenz geschätzt. Der Grund
dieser Grille ist der, dass man von ersteren, welche die
allen Dingen gemeinsamen Eigenschaften umfassen, annimmt,
dass sie deren Substanz zusammensetzen, d. i. das beständige,
unveränderliche Substrat der Eigenschaften, durch die sich
die besonderen Dinge auszeichnen, wobei diese wegen ihrer
Veränderlichkeit als blosse zufällige, unwesentliche Eigen-
schaften betrachtet werden. Nach dieser älteren Ansicht
von der Beziehung der „Accidentien" zur Substanz oder der
charakteristischen Merkmale der niederen zu denen der
höheren Begriffe werden die niederen Begriffe oder Reali-
täten durch allmähliche Hinzufügung der Merkmale oder
Eigenschaften zu den höheren Begriffen oder Realitäten ge-
bildet ; die Verschiedenheit der objektiven Realitäten denkt
man sich hierbei durch eine Synthese von Substanz und
Accidentien zuwege gebracht. Diese Ansicht mag somit
als die synthetische bezeichnet werden. Im Gegensatz
zu ihr steht die spätere,' analytische, die sich in den
Entwicklungs- oder pantheistischen Systemen uns zeigt, in
denen die niederen begrifflichen oder realen Formen als in
den höheren enthalten und aus ihnen durch Entwicklungs-
prozesse ableitbar vorausgesetzt werden. All das findet seine
genaue Analogie in der mechanischen Theorie. Vor 40
Jahren war das Glaubensbekenntnis eines gewöhnlichen
Physikers ungefähr das folgende: Zu Uranfang existierten
vermöge eines Schöpfungsaktes oder von Ewigkeit her
Myriaden harter und unveränderlicher materieller Partikeln.
Desgleichen existierten bestimmte unveränderliche Kräfte,
wie die der Attraktion und Kohäsion, der Wärme, der
Elektrizität, des Magnetismus, Chemismus und so fort. Der
konstanten oder veränderlichen, geteilten oder vereinten
Wirkung dieser Kräfte auf die materiellen Partikeln ver-
Charakter und Ursprung der mechaniscJien Theorie, 153
danken alle Erscheinungen physischer Realität ihre Ent-
stehung. Bei diesem Vorgang bilden die materiellen Par-
tikeln das passive und die Kräfte das aktive Element ; diese
Elemente existieren aber natürlich vor ihrer Wirkung. Die
Materie ist an sich passiv, tot ; alle Bewegung, alles Leben
wird durch Kraft verursacht; die einzig mögliche Lösung
der Probleme der Physiologie, nicht minder wie die der
Physik und Chemie besteht in der Aufzählung der Kräfte,
welche auf die materiellen Partikeln einwirken, und in der
genauen quantitativen Bestimmung der durch ihren Ein-
fluss hervorgerufenen Effekte. •
In der Hauptsache ist dieses Glaubensbekenntnis offen-
bar eine Reproduktion der alten synthetischen Anschauung
der Metaphysik. Es ist nach und nach einer neuen Lehre
gewichen, welche in ähnlicher Weise eine Reproduktion
der nachfolgenden metaphysischen Anschauung ist, welche
ich als die analytische oder Entwicklungslehre bezeichnet
habe. Die neuen Theorieen von der Wechselbeziehung und
gegenseitigen Verwandelbarkeit der Kräfte gemäss dem
Prinzipe von der Erhaltung der Energie haben den Begriff
einer Vielheit von einander unabhängiger Kräfte erschüttert,
wenn nicht zerstört, imd überdies anerkennen Physiologen
wie Du Bois-Reymond die Kraft als den unveränderlichen
Begleiter, wenn nicht als das wesentliche Merkmal oder die
primäre Qualität der Materie, indem sie behaupten, dass
zu jeder konstanten Urmasse ein konstantes Urquantum an
Kraft gehöre, und dass alle Transformationen der Materie
durch Differenziierung dieser Urkraft verursacht werden.
Daraus ergibt sich in natürlicher Weise die Vermutung,
dass alle Verschiedenheiten physikalischer Existenz potentiell
in der Materie im allgemeinen oder in der Materie per se
(an sich) enthalten sind und sich aus ihr allmählich ent-
wickelt haben.
Im August 1874 trug Professor Tvndall, damals Prä-
154 ^- Kapitel,
sident der British Association, eine Inauguraladresse der
Versammlung der Gesellschaft zu Belfast vor, in der folgende
Erklärung enthalten war:
„Wenn ich jede Maske fallen lasse, so fühle ich mich
genötigt, Ihnen zu bekennen, dass wenn ich den Blick
zurück über die Grenzen experimenteller Gewissheit schweifen
lasse, ich in jener Materie, die wir in unserer Unkenntnis
und trotz der eingestandenen Ehrfurcht für Ihren Schöpfer
bisher nur mit Schimpf bedacht haben, die Verheissung und
die Macht jedweder Art oder Form des Lebens erblicke."
Diese Ankündigung gab Veranlassung zur Entstehung
einer Bewegung, die kaum durch den wesentlichen Inhalt
derselben gerechtfertigt ist; denn die Feierlichkeit ihres
Geständnisses stand einigermassen ausser Verhältnis zu ihrer
Neuheit. Tyndalls Worte sind. wenig mehr, als eine neue
Verkündigung eines alten Gedankens von Francis Bacon,
der mehr als zwei Jahrhunderte vorher erklärt hatte:
. „Und die Materie (was auch immer sie ist) muss so
ausgestattet, hergerichtet und gebildet angenommen werden,
dass alles Gute, alle Wirklichkeit, jede Wirkung und Be-
wegung deren natürliche Folge und Emanation ist/' '^)
Das nämliche ist auch seither des öfteren durch die
metaphysischen Evolutionisten in Ausdrücken wiederholt
worden, die im wesentliclien dem folgenden vouSchelling
gleichkommen. „Die Materie ist das allgemeine Samenkorn
des Universums, worin alles verhüllt ist, was in späteren
Entwicklungen sich entfaltet."^)
Nichtsdestoweniger bleibt Tyndall's Aufstellung be-
*) „Atque asserenda materia (qualiscunque ca sit) ita ornata
et apparata et formata, ut omnis virtus, essentia, actus atque motus
naturalis eius consecutio et emanatio esse possit." Baco, De Princ.
atque Origg., Üpp. ed. Bohn, vol. II, p. 691.
*) ScHELLiNG, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 2. Aufl.,
S. 315.
Charakter und Ursprung der mcclianischen Theorie. 155
merkenswert und bezeichnend, indem sie die Veränderungen
anzeigt, denen die mechanische Theorie in den Augen der
modernen Physiker unterworfen ist.
Tyndall ist einer der eifrigsten Verteidiger der mecha-
nischerf Atomtheorie und ein beharrlicher Verfechter ihrer
charakteristischen Züge. Wenn er von Materie spricht, meint
er eine bestimmte Gruppe von einander verschiedener,
realer Atome oder Molekeln. „Viele Chemiker der Gegen-
wart," sagt er in einer zweiten Adresse (die ebenfalls vor
der British Association und zwar in Liverpool vorgetragen
und von ihm kurz vor der Belfaster Versammlung: wieder
veröffentlicht wurde), ^) „vermeiden es , von Atomen und
Molekeln wie von wirklichen Dingen zu sprechen. Ihre
Vorsicht führt sie dazu, bei der klaren, scharfen, mechanisch-
verständlichen Atomtheorie Dalton's oder einer anderen
Form dieser Theorie stehen zu bleiben und die Lehre von den
multiplen Proportionen zur Grenze ihres geistigen Horizontes
zu machen. Ich achte diese Vorsicht, wiewohl ich denke,
dass sie nicht am Platze ist. Die Chemiker, welche vor
diesen Begriffen von Atomen und Molekeln zurückschrecken;
nehmen ohne Zögern die Wellentheorie des Lichtes an.
Sowie Sie und ich, glauben sie alle an einen Äther, dessen
Schwingungen das Licht erzeugen. Lasst uns nun be-
trachten, was alles dieser Glaube in sich schliesst. Bringen
Sie Ihre Phantasie noch einmal ins Spiel und stellen Sie
sich eine Reihe von Schallwellen vor, wie sie die Luft
passieren. Folgen Sie ihnen bis zu ihrem Ursprung, und
was finden Sie? Einen bestimmten, fühlbaren, schwingenden
Körper. Es können die Stimmbänder eines menschlichen
Wesens sein, eine Orgelpfeife oder eine gespannte Saite.
F'olgen Sie in der gleichen Weise einem Zug von Äther-
wellen bis zu seiner Quelle; erinnern Sie sich" gleichzeitig.
^) Fragments öf Science (Am. ed.), p. 358.
iS6 X Kapitel,
dass Ihr Äther materiell, dicht, elastisch und fähig ist, Be-
wegungen auszuführen, die mechanischen Gesetzen unter-
worfen und durch sie bestimmt sind. Was hoffen Sie nun
als Quelle einer Reihe von Ätherwellen zu finden? Fragen
Sie Ihre Einbildungskraft, ob sie sich mit einer schwingenden
multiplen Proportion zufrieden gibt — einem numerischen
Verhältnis in einem Zustande der Schwingung. ®) Ich glaube
nicht, dass sie dies thun wird. Sie können nicht das Ge-
bäude durch diese Abstraktion krönen. Die wissenschaft-
liche Einbildungskraft, welche hier autoritativ ist, verlangt
als Ursprung und Ursache einer Reihe von Ätherwellen ein
Partikel schwingender Materie, genau so bestimmt, wenn
auch ungeheuer klein, wie das, welches einen musikalischen
Ton verursacht. Solch ein Paitikel nennen wir ein Atom
oder ein Molekel. Ich glaube, wenn der forschende Geist
so eingestellt wird, dass er eine Definition ohne den Nebel-
rändem des Halbschattens gibt, er sicherlich schliesslich dieses
Bild geben würde."
Der klare Sinn dieser Sätze ist der, dass ein Ather-
oder anderes Atom oder Molekel sich zu seiner schwingen-
den Bewegung ebenso verhält wie irgend ein gewöhnlicher
Körper zu seiner fortschreitenden Bewegung — wie z. B.
ein Fixstern oder Planet zu seiner Umdrehungs- oder Ura-
laufsbewegung ; und dass ebenso wie der Begriff eines Stern-
oder Planetenkörpers mit Notwendigkeit dem Begriffe seiner
*) Als Tyndall dies schrieb, hatte er wahrscheinlich vor sich
W. K. Clifford's Vortrag vor der Royal Institution vom Jahre 1867,
in dem sich folgende Stelle findet: „Um die Erscheinungen des Lichtes
zu erklären, ist es nicht notwendig, mehr als eine periodische Zu-
standsänderung an einem gegebenen Punkte des Raumes anzunehmen."
(Clifford's Lectures and Essay's, vol. I, p. 85.) Oder es kann sich
auch die Anspielung beziehen auf J. S. MiLL, der in einer Note zum
14. Kapitel des 3. Buches seiner Logik bei Bezugnahme auf gewisse
Beobachtungen von Dr. Whewell den imponderablen Äther als ein
,, schwingendes Agens" charakterisiert.
Cliarckkr und Urspru7ig der mechanischen Theorie. 157
Umdrehungs- oder Umlaufsbewegung vorhergeht, so auch
der Begriff eines Atoms oder Molekels mit Notwendigkeit
dem Begriffe seiner schwingenden Bewegung vorausgeht,
von der Licht, Wärme, Elektrizität, chemische Wirkung u. s. f.
bekannte oder als bekannt angenommene Formen sind. Mit
anderen Worten: um die Existenz von Materie, wie sie sich
uns in ihrer Wirkung und in unseren Gedanken zeigt, zu
begreifen, sind wir nach Tvndall genötigt, letzte materielle
Teile als vor diesen Bewegungen oder Äusserungen von
Kraft, wie sie von uns als Licht, Wärme, Elektrizität, che-
mische Wirkung u. s. f. aufgefasst werden, existierend an-
zunehmen. Und was vom Begriffe, muss auch vom Dinge
gelten. Das Ding muss sein, bevor es wirken kann oder
bevor auf dasselbe gewirkt werden kann, in Gemässheit der
alten Maxime: „Operari sequi tur esse."')
') Es erfordert nur wenig Überlegung, um einzusehen, dass das
Bild bestimmter Atome oder Molekeln, die der Aufnahme von Be-
wegung fähig sind, vor derselben jedoch existieren, im Brennpunkte
von Tyndall's „forschendem Geist'* reine Täuschung ist. Lasst uns
für einen Augenblick ein letztes Teilchen der Materie in seinem Zu-
stande der Existenz vor aller Bewegung betrachten. Es ist ohne
Farbe und weder licht noch dunkel ; denn Farbe und Licht sind
gemäss der Theorie, zu deren eifrigsten Verfechtern Tyndall zählt,
blosse Arten von Bewegung. Es ist in gleicher Weise ohne Tempe-
ratur — weder heiss noch kalt, denn auch die Wärme ist eine Art
von Bewegung. Aus demselben Grunde ist es auch ohne elektrische,,
magnetische, chemische Eigenschaften, kurz es ist aller jener Eigen-
schaften bar, vermöge deren es abgesehen von seiner Grösse, Gegen-
stand der Sinneswahrnehmung werden könnte, wenn wir die Eigen-
schaften des Gewichtes und der Ausdehnung ausnehmen. Gewicht
ist aber ein blosses Spiel anziehender Kräfte , und Ausdehnung ist
uns ja bloss als Widerstand bekannt, der wieder eine Äusserung von
Kraft, also eine Art von Bewegung ist. Die Schwierigkeit, dieser
Urteilchen habhaft zu werden, liegt somit nicht in ihrer ausserordent-
lichen Kleinheit, sondern in ihrer völligen Entblössung von jeder
Eigenschaft. Die feste, fühlbare von Tyndall's „wissenschaftlicher
Einbildungskraft" begehrte Realität ist „nee quid, nee quantum, nee
158 A'. Kapitel,
Diese von Tynpall in seiner Liverpooler Adresse vor-
getragene Anschauung ist .der alte synthetische Verstandes-
begrifF des metaphysischen Realismus. Die Atome oder
Molekeln sind die vor, den verschiedenen Bewegungsarten
existierenden Substanzen, zu denen die ersteren als deren
Accidentien hinzutreten. In der Belfaster Adresse ist je-
doch diese Ansicht (sicherlich unbewusst) derart abgeändert,
dass sie einen Übergang zu der evolutionistischen oder
analytischen bildet. Die Materie soll nun selbst die Formen
und Eigenschaften des Lebens gleich von Anfang anein-
schliessen — sie, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch
wenigstens potentiell in sich bergen — , so dass sie aus ihr
durch von selbst eintretende Entwicklung hervorgehen.
Dass alle Versuche, physikalische Erscheinungen durch
eine Synthese hypothetischer begrifflicher Elemente zu kon-
struieren, unter Zugrundelegung der ersten oder synthetischen
Anschauung, vergeblich sind und dies in der Physik nicht
minder wie in der Metaphysik, ist nun auf Grund verschieden-
artiger Betrachtungen hinlänglich evident. Ob diese Elemente
Substanz und Accidentien, oder Materie und
Kraft heissen, sie sind in gleicher Weise unreal, und keine
Realität kann aus ihrer Verbindung erstehen. Und auch
die eingebildete Entwicklung der Dinge oder vielmehr die
der inhaltreicheren aus den umfangreicheren höheren Be-
griffen in Gemässheit der zweiten analytischen Anschauung
erweist sich bei einer einfachen Betrachtung über die Natur
des Prozesses der Begriffsbildung als ebenso täuschend.
Höhere Begriffe werden aus den niederen durch Nicht-
beachtung oder Verwerfung der unterscheidenden Merkmale
gebildet; und bei diesem logischen Prozess gibt es sicher-
lich nichts, woraus mit Berechtigung geschlossen werden
quäle" und verschwindet völlig vor dem „forschenden Geiste" in
dem Augenblicke, wo dieser sie frei von Bewegung zu begreifen
sucht, die ihrer angeblich als eines Substrates bedarf.
Charakter und Urspruru/ der mechatiisrlieti Theorie, 159
könnte, dass die zurückgewiesenen Merkmale in den bei-
behaltenen enthalten sind, und dass in deren Vereinigung
der höhere Begriff besteht.
Es ist, wie ich wohl glaube, nicht nötig, ausdrücklich
zu sagen, dass diese Erörterungen in keiner Weise die
Giltigkeit der Entwicklungstheorieen auf dem Gebiete wirk-
licher physischer Existenz in ihrer Anwendung auf organische
(und mit gewissen Beschränkungen auf unorganische) Formen
berührt. Fragen der Ableitung und Abstammung, der orga-
nischen und funktionellen Differenziierung und Verteilung
sind Fragen über Thatsachen, die in Übereinstimmung mit
den Daten der Beobachtung und des Experimentes ent-
schieden werden müssen. Existenzformen können genetisch
mit einander verknüpft sein, wenn sie auch nicht implicite
in einander enthalten sind, und wenn auch keine Form
physischer Realität sich berechtigterweise aus einem Begriff
herleiten lässt. Aristoteles' Spruch „£/ de tCjv vorjrwv
ovöev ylvsTac fieyed-og^^ besitzt einen tieferen Sinn als den
ihm von seinen scholastischen Schülern beigelegten: Dinge
entstehen nicht aus Begriffen. Und wie es noch im Ver-
laufe des folgenden Kapitels deutlicher werden wird, ist
die Verzweigung der Begriffe durchaus nicht identisch mit
der der Dinge,
Die Irrtümer des Evolutionismus in seinen eingestandener-
massen metaphysischen Formen (wie er sich in zahlreichen
hylozoischen und pantheistischen Doktrinen zeigt), sind aller-
dings offenkundiger als die des materialistischen Evolutionis-
iTiUs. Es ist für viele der ausgezeichnetesten metaphysischen
Systeme charakteristisch, dass die summa genera, welche
als Grundlage der Entwicklung dienen, durch einen Sprung
in das Ledre jenseits der Grenzen berechtigter Verall-
gemeinerung erreicht werden. So entwickelt Hegel alle
Dinge aus dem reinen Sein, welches, wie er selbst sagt,
aller Eigenschaften bar ist — ein blosses logisches Phantom,
i6o X. Kapitel,
dass durch eine gezwungene Abwerfung der letzten Merk-
male, die das summum genus irgend einer Klassifikation
von Erscheinungen zusammensetzen, heraufbeschworen wird.*)
Dieses Phantom lässt sich, wie Hegel ausdrücklich bemerkt,
vom reinen Nichts nicht unterscheiden und ist somit mit
demselben identisch, und deshalb haben es einige von
Hegel's geistigen Nachfolgern — Dellinghausen, Rohmer,
Werder, George u. a. — kühn unternommen, die Welt
der Erscheinungen aus diesem angeblichen Begriff Nichts
oder Null abzuleiten. Derselbe Versuch ist von anderen
Metaphysikern gemacht worden, in deren Systemen das
anfängliche Nichts unter verschiedenen Vermummungen
erscheint — z. B. von Schopenhauer und Hartmann, deren
treibendes Prinzip ein unpersönlicher Wille ist, ein Begriff,
dessen Merkmale einander widersprechen, und der deshalb
ebenso leer ist wie der Pseudobegriff Nichts. Die impo-
santesten unter den Vermummungen des substanziellen Nichts
als Quelle und Ursprung der gesamten Erscheinungswelt
sind das Absolute und das Ding an sich, die beide
durch ihren Ausdruck jede mögliche Beziehung leugnen,
und somit Verleugnungen aller denkbaren Eigenschaften
**) Genau genommen ist die Grundlage von Hegel's „dialek-
tischer Methode" nicht einmal ein Phantom von Realität. ,,An sich
Sein" ist nicht einmal so viel wie der Ort eines verschwundenen
Merkmales. Die Copula zwischen Subjekt und Prädikat ist nicht
mehr als der formale Ausdruck der Thatsache , dass zwischen zwei
Merkmalen oder zwischen einem Merkmal und einer Gruppe von
solchen die Relation der Identität, Subsumtioti oder Koexistenz be-
steht. Es ist eine blosse abstrakte Linie (oder ein Paar solcher),
die von den Gattungsmerkmalen zu den unterscheidenden Merkmalen
eines Begriffes führt. „Reines Sein" ist lediglich das Gespenst einer
Copula zwischen einem unterdrückten Subjekt und einem verschwun-
denen Prädikat. Es ist ein Zeichen der Behauptung, das ,, überflüssiger
Weise auf der Bühne bleibt," nachdem sowohl das Prädikat wie
Subjekt verschwunden ist.
Charakter und Ursprung der mechaniscJien Tiieorie. i6i
sind, da ja jedes Merkmal im wesentlichen eine Beziehung
ist. Wiewohl aber solche Begriffe, wie Masse und Kraft
etwas weniger hohl sind, sind sie doch nicht weniger nutz-
los als Ausgangspunkte für die Entwicklung konkreter
physischer Realitäten.
Wie alle metaphysischen Theorieen hat auch die
mechanische Theorie durch ihre Identifizierung von Be-
griffen mit Dingen Anlass zur Entstehung einer Reihe falscher
Antagonismen und grundloser Diskussionen gegeben. Eine
der, bemerkenswertesten Kontroversen unserer Zeit ist die
zwischen 'den Kämpen der mechanischen oder Corpus-
culartheorie der Materie, welche behaupten, dass es
ein reelles von der Kraft unabhängiges Ding gebe, und
den Verteidigern der dynamischen- Theorie, welche den
materiellen Partikeln die Rolle von blossen Kraftzentren zu^
schreiben. Die Corpusculartheorie wird von der Majorität
der Physiker wie von der Meinung des gemeinen Mannes
gehalten, während die dynamische Ansicht — ursprünglich
ein Auswuchs metaphysischer Spekulation — auf Grund
angeblich nicht metaphysischer Erwägungen von Boscovich,
AMPfeRE, Faraday und manchen anderen vorgebracht wurde.
Faraday's Ansicht ist von Tvndall kurz und bündig skizziert
worden : ^ „Was wissen wir vom Atom ohne Kraft ? Sie
denken sich einen Kern, der a heissen mag, und denselben
von Kräften unageben, die mit b bezeichnet werden mögen ;
für mich verschwindet der Kern a und die Substanz be-
steht aus den Kräften b. Und in der That, welchen Be-
griff können wir uns von dem Kern, unabhängig von seinen
Kräften b^den? Welcher Gedanke verbleibt, an dem die
®) Faraday as a Discoverer , Am. ed., p. 123. Bezüglich
Faraday's eigener Entwicklung seiner Ansicht vgl. seine „Speculation
louching Electric Conduction and the Nature of Matter", Phil. Mag.,
ser. III, vol. XXIV, p. 136.
StalLO, Begriffe u. Theorieen. 1 1
i62 X. Kapitel.
Einbildung eines von den erkannten Kräften unabhängigen
a haften bleiben kannr*^
Als Faraday solcher Weise urteilte, befand er sich wohl
in Unkenntnis darüber, dass er bloss alte Überlegungeil von
Aristoteles wiederholte,^^) die seither oft Ausdruck in
den Schriften moderner Denker ' ^) gefunden haben, denen
folgendes Beispiel entnonimen werden möge:
„Es ist eine blosse Täuschung der Einbildungskraft,
dass, nachdem man einem Objekt die einzigen Prädikate,
die es hat, hinweggenommen hat, noch Etwas, man weiss
nicht was, von ihm zurückbleibe." ' ^)
Der sich hier darbietende Gegensatz ist völlig mibe-
gründet. Die Materie kann als rein passive räumliche Gegen-
wart nicht besser vergegenwärtigt oder * begrifien werden
wie als eine blosse Verkörperung von Kräften. Die Kraft
ist nichts ohne Masse, und die Masse nichts ohne der Kraft.
Gerade so wie der Metaphysiker das „Ding" oder die Sub-
stanz nicht gesondert von ihren Eigenschaften betrachten
kann, oder umgekehrt die Eigenschaften abgesondert von
der Substanz, so kann der Physiker nicht der Materie (d. i.
Masse) ohne Kraft, oder der Kraft ohne der Materie hab-
haft werden. Masse, Trägheit oder Materie an sich ist vom
absoluten Nichts nicht zu unterscheiden; denn die Masse
enthüllt ihre Gegenwart oder beweist ihre Realität lediglich
durch ihre Wirkung, ihre Kraft, mag sie durch eine andere
ausgeglichen sein oder nicht, ihre Ausdehnung oder Be-
wegung. Andererseits ist die blosse Kraft ebenfalls nichts;
denn wenn wir die Masse, auf die eine gegebene wiewohl
schwache Kraft wirkt, bis zu ihrer Grenze Null, — oder
mathematisch ausgedrückt, bis sie unendlich klein wird —
^^) De Gen. et Corrupt., II, i, 3, 4, 6; Met., III, 5; IV, 2; VI, i.
^') Vgl. u. a. Locke, Essay on Human Understanding, book II,
chaptcrs XXIII u. XXIV.
^'-'j SCHELLING, Logik, S. 18.
Charakicr und Ursp'ung der mechanischen Theorie. 163
reduzieren, so ist die Folge davon die, dass die (Jeschwindig-
keit der resultierenden Bewegung unendlich gross wird, und
dass das „Ding" (wenn wir unter diesen Umständen noch
von einem Ding sprechen mögen) in einem gegebenen
Moment weder hier noch dort ist, sondern überall — kurz,
dass es keine wirkliche Gegenwart gibt. Es ist somit un-
möglich, Materie durch eine Synthese von Kräften zu kon-
struieren. Auch ist es unkorrekt, mit Bain zu sagen, ^*)
dass „Materie, Kraft und Trägheit drei Namen für wesent-
lich das gleiche Ding wären'*, oder dass „Kraft und Materie
nicht zwei Dinge sind, sondern eines", ^*) oder dass „Kraft,
Trägheit, Moment, Materie alle nur eine Thatsache sind",
da in Wirklichkeit Kraft und Trägheit begriffliche Bestand-
teile der Materie sind, und keines im eigentlichen Sinne
eine Thatsache vorstellt.
Der radikale Irrtuni der Corpuscular- so gut wie der
dynamischen Theorie* besteht in der Täuschung, dass die
begrifflichen Elemente der Materie als gesonderte und selb-
ständige Realitäten aufgefasst werden könnten. Die Corpus-
culartheorie greift das Element der Trägheit heraus und
behandelt es als ein an und für sich Seiendes, Reales,
während Boscovich, Fechner und all die anderen, welche
Atome oder Molekeln als blosse „Kraftzentra" definieren,
das entsprechende Element „Kraft'* als ein für sich be-
stehendes Ganzes hinzustellen suchen. In beiden Fällen
werden Ergebnisse der Abstraktion fälschlicherweise für Arten
von Realitäten angesehen.
Eine erschöpfende Prüfung der begriftlichen Ausdrücke
Trägheit und Kraft und ihres wahren Verhältnisses ist
hier unmöglich, ohne Betrachtungen zu anticipieren, die
eigentlich den folgenden Kapiteln zukommen. Die wesent-
^^) Logic, vol. II, p. 225.
^*) Ibid., p. 389.
II'
164 X, Kapitel,
liehe Beziehung der Trägheit zur Kraft geht aus ihren
frühesten Definitionen hervor. Newton spricht ausdrück-
lieh von der Trägheit als einer Kraft. „Der Materie
ist/' erklärt er, „eine Kraft angeboren, vermöge deren
jeder Körper, so viel an ihm liegt, in seinem Zu-
stand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Be-
wegung verharrt.*' ^*) Seit Newton's Zeit ist bei der Defi-
nition diese Ausdrucks weise üblich. Young ^•) definiert die
Trägheit als die „Unfähigkeit der Materie, den Zustand zu
ändern, in den sie durch irgend eine äussere Ursache ver-
setzt worden ist, mag nun dieser Zustand in Ruhe oder
Blewegung bestehen ;" und ähnlich spricht VVhewell * "^ von
„der Quantität der Materie, die der Mitteilung der Bewegung
widerstehend angenommen wird." Alle diese Definitionen
bringen es indessen mit sich, dass die einen Körper oder
ein Partikel als ein Ganzes bewegenden Kräfte streng und
unbedingt äussere Kräfte sind. In der Sprache von Newton ^®)
ist die Kraft eine „vis impressa", „die auf einen Körper
wirkt und sich bemüht, seinen Zustand der Ruhe oder der
geradlinigen, gleichförmigen Bewegung zu ändern."
Es ist leicht einzusehen, wie die Unterscheidung von
Materie und Kraft und die etymologische Bedeutung des
Wortes „Trägheit" zu der Annahme führt, dass die Materie
ihrem Wesen nach passiv, oder wie der gewöhnliche Aus-
druck lautet, tot ist. Wenn ein Körper an sich betrachtet
wird — begrifflich losgelöst von den Beziehungen, die seine
Merkmale entstehen lassen — ist er in der That trag und
all seine Wirkung kommt von aussen. Dieser isolierte Zu-
stand eines Körpers ist jedoch eine reine Fiktion des Ver-
standes. Körper existieren nur vermöge ihrer Beziehungen ;
") Princ, Def. III.
^•) Mechanics, p. 117.
*') Mechanics, p. 245.
") Princ, Def. IV.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 165
ihre Realität liegt in ihren gegenseitigen Einwirkungen.
Träge Materie im Sinne der mechanischen Theorie ist der
Erfahrung unbekannt und ist in Gedanken unbegreiflich.
Jedes Teilchen der Materie, von dem wir irgend eine Kennt-
nis haben, zieht jedes andere Teilchen in Gemässheit der
Gravitationsgesetze an; und jedes materielle Teilchen übt
chemische, elektrische und andere Kräfte auf andere Ele-
mente, die in Bezug auf diese Kräfte seine Korrelate sind.
Ein Körper kann sich thatsächlich nicht von selbst be-
wegen ; dies ist aber aus dem gleichen Grunde wahr, wegen
dessen er nicht an und für sich existieren kann. Die wirk-
liche Anwesenheit eines Körpers in Zeit und Raum, so gut
wie seine Bewegung, bedingt eine gegenseitige Wirkung
zwischen ihm und anderen Körpern und somit eine actio
indistans; es sind daher alle Versuche, die Gravitation
oder die chemische Wirkung auf blossen Stoss zurückzu-
führen, ziellos und absurd.
Die Physiker wissen gar wohl, dass der gewöhnlich
dem Worte Trägheit bei seiner Anwendung auf die
Materie beigelegte Sinn falsch ist. „Die Unfähigkeit aller
materiellen Punkte," sagt Poisson, „sich selbst in Bewegung
zu setzen oder die ihnen mitgeteilte Bewegung ohne Hilfe
einer Kraft zu ändern, ist das, was die Trägheit der Materie
bildet. Dies Wort bedeutet nicht, dass die Materie unfähig
einer Wirkung sei; im Gegenteil findet jeder materielle
Punkt zu jeder Zeit das Prinzip seiner Bewegung in der
Wirkung anderer Punkte, aber niemals in sich selbst."**)
^") „L'impossibilite oü sont tous les points materiels de se mettre
en mouvement ou de changer le mouvement qui leur a ete communi-
que, Sans le secours d'une force, est ce qu'on entend par l'inertie
de la mallere. Ce mot ne signific pas que la matiere soit capable
d'agir; car, au contraire, chaque point materiel trouve toujours dans
l'action d'autres points materiels, mais jamais en lui meme, le prin-
cipe de son mouvement." Poisson, Traite de Mecanique, liv. II,
chap. I, HO.
i66 X. Kapitel.
Trotz der Aufstellung solcher Behauptungen wie dieser
und ungeachtet der klaren Auffassung der wahren Bedeutung
der Trägheitslehre von Seite der leitenden Physiker drängt
sich indessen das Phantom einer ,,toten Materie" unaufhör-
lich wieder vor als Grundlage kosmologischer Spekulationen.
So hat Professor Philipp Spiller, der Verfasser eines sehr
geschickten Handbuches der Physik und ein fruchtbarer
Schriftsteller über wissenschaftliche Dinge, vor einigen Jahren
eine kosmologische Abhandlung veröffentlicht, "^) deren Sätze
auf die ausdrückliche Behauptung gestützt sind, dass „kein
materieller Bestandteil eines Körpers, kein Atom an sich
ursprünglich mit Kraft ausgestattet ist, sondern dass jedes
Atom völlig tot ist und ihm keine Kraft beiwohnt , in die
Entfernung zu wirken." -^) Aus dem weiteren Inhalt dieses
Buches wird es klar, dass der Verfasser nicht nur die den
Atomen einzeln zukommenden Kräfle leugnet, sondern auch
die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Einwirkung. Er sieht
sich infolgedessen zu der Behauptung der unabhängigen
•
Substanzialität der Kraft genötigt; und nimmt demgemäss
die Kraft als eine alles durchdringende gleichsam materielle
Allgegenwart an — oder wie er sich ausdrückt, als einen
„unkörperlichen Stoff*'. In völligster Missachtung der funda-
mentalen Wechselbeziehung von Kraft und Masse identifiziert
Spiller seine Kraftsubstanz mit dem alles vermittelnden
Äther, so dass dieser hypothetische Halbbegriff, der nach
der Anschauung aller Physiker nicht nur unwägbar, sondern
auch bar aller Kohäsions^, chemischen, thermischen, elek-
trischen und magnetischen Kräfte ist (def in der That von
denselben völlig verlassen sein muss, wenn er das blosse
Substrat dieser verschiedenen Arten von Bewegung sein
soll) und daher noch mehr „tot" ist, sofern dies überhaupt
*") Der Weltäther als kosmische Kraft. Berlin, Denicke's Ver-
lag 1873.
81
) Loc. cit., S. 4.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie. 167
möglich ist, als die gewöhnliche Materie, nun plötzlich, ohne
meinen Namen zu ändern und ohne aufzuhören, das Substrat
für Licht- oder andere Schwingungen abzugeben, die wahre
Quintessenz aller möglichen Energie wird.
Professor Spiller's Spekulationen stellen eine sonderbare
Wiederbelebung von Kepler's wohlbekannten Träumen vor,
der sich einbildete, dass die Planeten in ihren Bahnen getragen
und geleitet würden durch eine „immaterielle Species" (species
immateriata), die im Stande wäre, die Trägheit der Körper
zu überwinden. ^^) Kepler's „immateriata species" ist das-
selbe hölzerne Eisen, das Spiller unter dem Namen „un-
körperlicher Stoff" hervorhebt y mit dem einzigen Unter-
schiede, dass die Absurdität der KEPLER'schen Chimäre in
der nebeligen Dämmerung der mechanischen Vorstellungen
jener Zeit weniger in die Augen fallend war, als die Über-
spanntheit des SpiLLER'schen Einfalles im Lichte unserer
heutigen wissenschaftlichen Atmosphäre.
Welche Rolle Spiller's tote Materie möglicherweise in
einem kosmologischen System hätte spielen können, ist
schwer zu sagen. Selbst wenn die Wirkung von Kräften
auf unveränderliche Teilchen , die bar jeder Schwere und
all6r anderen Kräfte wären, begreiflich wäre, so müssten
diese von allen Seiten in gleicher Weise der Wirkung des
allgegenwärtigen Äthers unterliegen und könnten somit nicht
in irgend einer Weise dazu dienen, Unterschiede in der
Dichte zu bedingen oder andere, die nicht im Äther ent-
halten oder aus demselben entwickelbar wären. Sie könnten
'*) „Relinquitur igitur, ut quemadmodum lux omnia terrena
illustrans species est immateriata ignis illius, qui est in corpore Solls:
ita virtus haec, j lanetarum corpora complexa et vehens, sit species
immateriata ejus virtutis, quae in ipso Sole residet, inaestimabilis
vigoris, adeoquc actus primus omnis molüs mundani,'' etc. Kepler,
De Motibus Stellae Martis, pars tertia, cap. XXXIII ; Kepler! Opp.,
ed. Frisch, vol. III, d. 302.
i68 X. Kapitel
nicht einmal zur Ausdehnung eines Körpers etwas hinzu-
fügen, und noch viel weniger zu seiner Härte, da sie ohne
alle Widerstandskraft wären ; aber selbst wenn man das
zugibt und Ausdehnung ohne Widerstand für möglich an-
sieht, würden sie blosse Blasen von leeren Räumen vor-
stellen, die im Äther des Weltalls eingeschlossen wären und
auf dieser Verschiedenheit des Äthers würden alle Er-
scheinungen der materiellen Welt, beruhen.
Die herrschenden Irrtümer über die Trägheit der
Materie haben naturgemäss zu entsprechenden Täuschungen
über die Natur der Kraft geführt. Hier stossen wir bereits
in limine auf eine Zweideutigkeit* in der Bedeutung des
Wortes Kraft in der Physik und Mechanik. Wenn wir von
einer „Naturkraft'' reden, gebrauchen wir das Wort Kraft
in einem von dem in der Mechanik gebräuchlichen völlig
verschiedenen Sinne. Eine „Naturkraft'* ist ein Überbleibsel
ontologischer Spekulation; in der gewöhnlichen Sprache
steht der Ausdruck für ein unterscheidbares, reelles Wesen.
In seiner bestimmten mechanischen Rolle bezeichnet Kraft
einfach das Mass der Veränderung des Momentes — mathe-
matisch ausgedrückt, das Differential des Momentes für einen
gegeben Zeitmoment. „Moment," sagt Tait, -'^ „ist das
Zeitintegral der Kraft, weil die Kraft der Differentialquotient
des Momentes ist.'* In den üblichen Lehrbüchern der
Physik wird die Kraft als Ursache der Bewegung definiert.
„Eine Ursache," sagt Whewell, ^ *) „welche einen Körper
bewegt oder zu bewegen strebt, oder die seine Bewegung
ändert oder zu ändern strebt, wird Kraft genannt." So
sagt Clerk Maxwell: ''^•'*) „Kraft ist, was immer die Be-
wegung eines Körpers ändert oder zu ändern strebt, indem
*') On Some Recent Advances in Physical Science, second ed.,
p. 347.
' ^*) Mechanics, p. i.
26) Theory of Heat, p. 83.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 169
es ihre Richtung oder ihre Grösse verändert." Einen weit
grösseren Einblick in die Natur der Kraft zeigt die Defi-
nition von SoMOFF, wiewohl das Wort „Ursache** noch bei-
behalten ist: „Ein materieller Punkt wird durch die An-
wesenheit von Materie ausserhalb desselben bewegt. Diese
Wirkung äusserer Materie wird einer Ursache zugeschrieben,
welche Kraft heisstl" -*) Nimmt man diese Definitionen
für den korrekten Ausdruck anerkannter Theorieen der
physikalischen Wissenschaft, so ist es auch, abgesehen von
den Betrachtungeh, die ich in diesem und in den vorigen
Abschnitten angestellt habe, klar, dass Kraft kein individuelles
Ding oder Ganzes ist, das sich direkt der Beobachtung
oder dem Denken darbietet, sondern dass, sofern sie als
bestimmter und einheitlicher Ausdruck in Denkakten auf-
tritt, sie lediglich einen Umstand bei der Auffassung der
gegenseitigen Abhängigkeit bewegter Massen bedeutet. —
Die Ursache der Bewegung oder der Veränderung der Be-
wegung in einem Körper ist die Bedingung oder die Gruppe
von Bedingungen, unter denen die Bewegung stattfindet;
und diese Bedingung oder Gruppe von Bedingungen ist
stets eine entsprechende Bewegung oder Veränderung der
Bewegung von Körpern ausserhalb des Körpers, die seine
dynamischen Korrelate bilden. -") Anders ausgedrückt ist
die Kraft ein blosser Schluss, der aus der Bewegung selbst
unter den allgemeinen Bedingungen der Realität gezogen
wird, und ihre Messung und Bestimmung beruht bloss auf
der Wirkung, für welche sie als Ursache gefordert wird;
eine andere Existenz hat sie nicht. Die einzige Realität
der Kraft und ihrer Wirkung besteht in der Übereinstimi^ung
^^) SoMOFF, Theoretische Mechanik, 2 Bd., S. 155.
*') „Der gegenwärtig klar entwickelte mechanische Begriff der
Kraft/' sagt Zöllner (Natur der Kometen, S. 323), „enthält nichts
anderes als den Ausdruck einer räumlichen und zeitlichen Beziehung
zweier Körper.**
lyo . X, Kapitel,
zwischen den physikalischen Erscheinungen in, Gemässheit
des Prinzips der Relativität aller Formen physischer Existenz.
Dass die Kraft keine unabhängige Realität besitzt, ist
so klar und augenfällig, dass von einigen Denkern vorge-
schlagen worden ist, den Ausdruck Kraft, wie den Aus-
druck Ursache abzuschaffen. Wie wünschenswert auch
ein sparsamer Gebrauch derartiger Ausdrücke sein mag
(was z. B. die Klarheit einiger moderner Lehrbücher der
Mechanik zeigt),-®) erscheint es doch unthunlich, sich der-
selben gänzlich zu enthalten, da ja die Kraft als Begriffs-
element; wenn sie in passender Weise nach den Bedingungen
der Erfahrung aufgefasst wird, einen berechtigten Umstand
bei der Auffassung physikalischer Wirkung vorstellt, und
wenn der Gebrauch ihres Namens abkäme, sie sofort wieder
unter einem anderen Namen auftauchen würde. Es gibt
nur wenige Begriffe, welche nicht in der Wissenschaft wie
in der Metaphysik Anlass zu der gleichen Verwirrung, wie
sie in Betreff der „Kraft" und der „Ursache" vorhanden
ist, Anlass gegeben hätten; und der gegen diese geführte
Schlag würde alle Begriffe zerstören. Dessenungeachtet
bleibt es von der grössten Bedeutung, bei allen Spekulationen
über die gegenseitige Abhängigkeit der Naturerscheinungen
niemals die Thatsache aus den Augen zu lassen, dass die
Kraft ein bloss begrifflicher Ausdruck ist und nicht ein
unterscheidbares, wahrnehmbares oder nicht wahrnehm-
bares Ding.
Wie unvollkommen das alles heutzutage verstanden
wird, zeigt die oberflächlichste Prüfung unserer elementaren
Lehrbücher der Physik so gut wie die der wissenschaftlichen
Originalabhandlungen. Die Beziehung zwischen Kraft und
mechanischer Bewegung wird in einem fort als eine That-
**) Vgl. u. a. Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik,
Leipzig 1876.
Charakter 'und Ursprung der niecfianischen Theorie, 171
Sache hingestellt, „die durch Beobachtung erhalten und durch
<ias Experiment bestätigt worden ist." In einem im Juli 1872
veröffentlichten Artikel wird gesagt : „In Bezug auf die erste
Frage (Was erzeugt Bewegung) gibt es keine Meinungs-
verschiedenheit. Alle stimmen darin überein, dass es die
Kraft ist, welche Bewegung erzeugt oder verursacht."*^
Der augenscheinliche Sinn dieser Rede ist der, dass es
fraglich erscheinen könnte, ob materielle Veränderung oder
Bewegung durch Kraft oder durch etwas anderes hervor-
gerufen würde, und dass die Physiker in ihrer Gesamtheit
zu dem Schlüsse gekommen sind, dass sie durch Kraft er-
zeugt wird. Solch eine Frage müsste wahrlich ernstlich
erwogen werden ! Sie komrat gleich der Frage, welche Sachs
in seiner Verzweiflung der Welt verkündet: „Wer will uns
dessen vergewissern, dass das, was die Astronomen als
Uranus ansehen, der Uranus wirklich ist?"*")
In einer anderen Beziehung als über die Natur der
Kraft befinden sich die Physiker allgemein in noch viel
grösserer Verwirrung. Von den Körpern sagt man, sie
wären mit einem bestimmten Quantum an Kraft versehen;
man nimmt an, dass zu jedem besonderen Körper oder
Atom ein unveränderliches Mass an Energie gehöre, oder
solch einem Körper oder Atom angeboren sei. Abgesehen
davon, dass diese Behauptung den soeben besprochenen
Begriff von der unabhängigen Realität der Kraft in sich
schliesst, liegt in ihr noch die Annahme, dass die Kraft
ein Attribut oder ein Begleiter eines solchen einzelnen
Partikels sein könne, wobei die sonst den Physikern wohl
bekannte Thatsache aüsseracht gelassen wird, dass die
wirkliche Auffassung der Kraft von der Beziehung zwischen
*") What determines Molecular Motion, etc. Von James Croll.
Phil. Mag., fourth series, vol. 40, p. 37.
'°) Das Sonnensystem, oder neue Theorie vom Bau der Welten,
von S. Sachs, S. 193 (bei Fechner citiert).
172 X Kapitel,
wenigstens zwei Gliedern abhängig ist. „Kraft/* sagt Clerk.
Maxwell*') ist eine Seite jener gegenseitigen Wirkung
zwischen zwei Körpern, welche von Newton Wirkung und
Rückwirkung genannt wurde, und welche wir jetzt kurz
durch das einzige Wort ,Stress' bezeichnen/* Und an einem
anderen Ort : *^) „Betrachten wir das ganze Phänomen der
Wirkung zweier materieller Teile auf einander, so nennen
wir es dynamische Einwirkung (stress) . . . Wenn wir aber
unsere Aufmerksamkeit auf den einen der materiellen Teile
beschränken, dann sehen wir die Sache so, als wäre bloss
eine einseitige Wirkung da, diejenige nämlich, welche den
von uns in Betracht genommenen Teil beeinfiusst, und wir
nennen die Erscheinung, von diesem Gesichtspunkte aus
betrachtet, rücksichtlich ihrer Wirkung eine äussere Kraft,
welche auf unseren materiellen Teil wirkt, und rücksicht-
lich ihrer Ursache nennen wir sie die Wirkung des anderen
materiellen Teiles. Die dynamische Einwirkung, von ent-
gegengesetztem Gesichtspunkt aus betrachtet, heisst Reaktion
auf den anderen materiellen Teil." Von gleicher Bedeutung
ist die Behauptung von Rankine :**^) „Die Kraft ist eine
Wirkung zweier Körper, die eine Änderung ihrer relativen
Ruhe oder Bewegung verursaclit oder zu verursachen strebt."
Daraus folgt, dass eine „konstante Centralkraft", wie sie zu
einem individuellen Atom oder Molekel gehören würde, ein
Ding der Unmöglichkeit ist.
•*) Matter and motion (deutsch v. Fleischl v. Marxow, S. 92).
82) Ib., cap. XXXVII, XXXVIII.
*) Applied Mcchanics, fourth ed., p. 15.
XI.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie
(Fortsetzung). Die Darlegung ihres dritten meta-
physischen Grundfehlers.
Es gibt nur wenige Überzeugungen, die allgemein für
unzweifelhafter gehalten werden, als die von der absoluten
Starrheit der Materie, von ihrer Undurchdringlichkeit. Mit
Ausnahme von Descartes und dessen unmittelbaren Nach-
folgern, deren Behauptung, dass die Materie nichts als Aus-
dehnung ist, offenbar sich nicht verteidigen lässt, haben
Philosophen und Physiker in gleicher Weise stets die Starr-
heit und Undurchdringlichkeit der Materie an die erste
Stelle ihrer primären Qualitäten gestellt. Angesichts der
beobachteten Umformungen materieller Dinge führt dieser
Glaube unausweichlich zu der Lehre, dass die Materie aus
unteilbaren absolut starren Partikeln bestehe. Tyndall's
an der im letzten Kapitel citierten Stelle seiner Liverpooler
Adresse ausgedrückte Meinung ist sowohl die des grossen
wissenschaftlichen Publikums, wie auch die der Personen
ohne wissenschaftlicher Bildung. Allen diesen erscheint es
gleich Tyndall absurd zu sein, zu leugnen, dass der Be-
griff der Materie den Begriff einer bestimmten, fühlbaren
und unzerstörbaren Starrheit in sich schliesst. Die allge-
meine stillschweigende Annahme geht dahin, dass von den
drei Aggregatzuständen, in denen sich die Materie den
Sinnen darbietet — dem festen, flüssigen und gasförmigen
— die beiden letzten einfach Vermummungen oder Zu-
sammensetzungen des ersten sind ; dass ein Gas z. B. in Wirk-
174 ^^- Kapitel.
lichkeit eine Gruppe oder ein Haufen fester Körper ähn-
lich einer Staubwolke ist, nur mit denx Unterschiede, dass
die Formen und Entfernungen der Teilchen, aus denen das
Gas zusammengesetzt ist, eine grössere Regelmässigkeit als
bei einer Staubwolke zeigen, und dass diese Teilchen in
dem Falle eines Gases durch ihre gegenseitigen Anziehungen
und Abstossungen beherrscht werden, während in dem Falle
einer Staubwolke sie sich unter dem Einflüsse äusserer Kraft
befinden. Und weil der Übergang der drei Aggregatzu-
stände in einander in regelmässiger und unveränderlicher
Ordnung in einer Weise vor sich geht, die zu augenßillig
ist, um übersehen zu werden, nimmt man an, dass der feste
Zustand der ursprüngliche ist, von dem der flüssige und
gasförmige einfach Ableitungen vorstellen, und dass, wenn
diese Zustände unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung
betrachtet werden, die Reihenfolge derselben die vom festen
Zustand zum Dampf oder Gas ist. Nach dieser Anschauung
bildet die feste Form der Materie nicht nur die Grundlage
und den Ursprung aller weiteren Bestimmungen — aller
Entwicklungen und Veränderungen — derselben, sondern
auch das wahre und eigentliche Element ihres Gedanken-
bildes und Begriffes.
Während nun diese Ansicht von der Beziehung der
drei Aggregatzustände zu einander die allgemein herrschende
ist, ist es andererseits nicht schwer zu zeigen, dass sie mit
den Thatsachen unvereinbar ist. Alle Entwicklung schreitet
von dem verhältnismässig Unbestimmten zu dem Verhältnis-:
massig Bestimmten fort und von dem vergleichsweise Ein-
fachen zu dem vergleichsweise Verwickelten. Eine Ver-
gleichung des gasförmigen mit dem festen Zustand (wenn
wir unsere Aufmerksamkeit für den Augenblick zunächst*
auf die beiden Endpunkte der Reihe, den festen Körper
und das Gas beschränken und von dem Mittelglied, der-
Flüssigkeit, absehen) zeigt uns, dass der erstere nicht das-
ClicraJdcr ti. Urspiung der meckan, Theorie (Forts,), 175
Ende, sondern den Beginn der Entwicklung bildet. . Das Gas
ist nicht nur verhältnismässig unbestimmt — ohne festem
Volumen, ohne krystallinische oder andere Struktur — ,
sondern es zeigt auch in seinen Grundeigenschaften jene
Einfachheit und Regelmässigkeit, welche fiir alle Typen
primärer Formen charakteristisch ist. Betrachten wir fürs
erste die physikalischen Seiten eines Gases — *- wobei ich
natürlich nur von Gasen spreche, die annähernd vollkommen
sind, mit Ausschluss von Dämpfen bei niederer Temperatur
und von Gasen, die leicht coercibel sind, so zeigt sich : ihr
Volumen dehnt sich aus und zieht sich zusammen, entsprechend
der Variation des Druckes, dem es unterworfen ist; ihre
Diffusionsgeschwindigkeit ist umgekehrt proportinal der Qua-
dratwurzel aus ihrer Dichte ; das Mass ihrer Ausdehnung ist für
gleiche Zuwüchse der Temperatur gleich; ihre spezifische
Wärme ist bei allen Temperaturen dieselbe und bei einem ge-
gebenen Gewicht auch für alle Dichten und Drucke die
gleiche ; die spezifischen Wärmen gleicher Volumen einfacher
und unverdichtbarer Gase, sowie der ohne Verdichtung ge-
bildeter zusammengesetzter Gase, sind für alle Gase was immer
für einer Art die gleichen, und so weiter. Nach all diesen
Richtungen hin ist der Kontrast zu der flüssigen wie zu
der festen Form, bei der die Verhältnisse ihres Volumens
oder ihres Baues oder beider zur Temperatur, zum äusseren
Druck oder zu anderen Kräften die verwickeltesten sind,,
gross und überraschend. Dieser Kontrast wird jedoch bei
der Betrachtung vom chemischen Gesichtspunkte aus noch
grösser. Wir sind in keiner Weise im Stande, die Volums-
Verhältnisse anzugeben, in denen sich feste und flüssige
Körper . mit einander verbinden — die Verbindung von
festen Körpern als solcher ist thatsächlich unmöglich —
und die Zahlen, welche die Verbindungsgewichtsverhältnisse
ausdrücken, zeigen einen solchen Mangel an angebbaren
Beziehungen und an Regelmässigkeit, dass die beharrlichsten
lyö AV. Kapitel,
Anstrengungen der Vertreter der Wissenschaft (wie Dumas,
Stas, H. Carey Lea, C00K.E, L. Meyer, Mendelejeff,
Baumhauer) nicht im Stande waren, ihn zu beheben. Bei
der Verbindung der Gase herrscht im Gegenteil alle Ord-
nung und Einfachheit. „Das Verhältnis der Volumen, in
denen sich die Gase verbinden, ist stets ein einfaches und
das Volumen der sich ergebenden Gasverbindung steht in
einem einfachen Verhältnis zu den Volumen ihrer Bestand-
teile" — lautet das Gesetz von Gay-Lussac. Dem Gewichte
nach ist das Verbindungsverhältnis zwischen Wasserstoff und
Chlor gleich i : 35,5 ; dem Volumen nach verbindet sich
ein Volumen von Wasserstoff mit einem Volumen von Chlor
(natürlich beide bei derselben Temperatur und dem gleichen
Drucke gemessen) zu zwei Volumen Chlorwasserstoffsäure.
Sauerstoff und Wasserstoff verbinden sich im Gewichtsver-
hältnisse 16: 2 ; hingegen bildet i Volumen von Sauerstoff
mit 2 Volumen Wasserstoff 2 Volumen Wasserdampf. Stick-
stoff und Wasserstoff, deren sogenannte Atomgewichte 14
und I sind, verbinden sich in dem einfachen Verhältnis
eines Volumens Stickstoffs zu drei Volumen Wasserstoff,
dabei 2 Volumina Ammoniak gebend. Und Kohlenstoff,
dessen „Atomgewicht" 12 ist, obwohl es nicht wirklich in
Gasform erhalten werden kann, verbindet sich nach allste-
meiner Annahme der Chemiker (deren Gründe hier nicht
auseinandergesetzt zu werden brauchen) mit Wasserstoff in
dem Volumsverhältnisse 1:4, um 2 Volumen Sumpfgas
zu geben.
All dies berechtigt zu dem Schlüsse, dass, falls es einen
typischen und primären Zustand der Materie gäbe, dies
nicht der feste, sondern der gasförmige sein müsste. Und
da dies so ist, folgt, dass sich die molekulare Entwicklung
der Materie gemäss dem Entwicklungsgesetze vom Unbe-
stimmten zum Bestimmten, vom Einfachen zum Verwickelten,
von der gasförmigen zur festen Form vollzieht. Insofern
Charakter %i, Ursprung der median, Theorie (Forts.). i'ji
also die Erklärung einer Erscheinung auf eine Hin-.
Weisung ihres Entstehens aus den einfachsten Anfängen,
den frühesten Formen hinauskommt, bildet der gasförmige
Zustand der Materie die wirkliche Grundlage für die Er-
klärung des festen , und nicht umgekehrt der feste für die
des gasförmigen Zustandes.
Ich nehme an, dass es aus den vorhergehenden Be-
trachtungen klar geworden ist, dass das wahre Verhältnis
zwischen den molekularen Zuständen der Materie genau das
umgekehrte von dem allgemein angenommenen ist. Die
Allgeraeinheit dieser Annahme lehrt indessen, dass sie nicht
durch einen blossen Denkfehler, sondern durch einen natür-
lichen Hang des Geistes zu stände kommt. Es entsteht da-
her die Frage : Worin liegt der Ursprung dieser allgemeinen
Täuschung über die Beschaffenheit der Materie ? Ich glaube,
dass die Antwort auf diese Frage ausserordentlich einfach
und im Verhältnis zu ihrer Einfachheit wichtig ist. Eine
von den Täuschungen, denen der menschliche Geist infolge
der Gesetze seiner Natur unterworfen ist, und die ich struk-
turelle Täuschungen zu nennen gewagt habe, besteht darin,
dass der Geist die Reihenfolge der Entstehung seiner Ideen
über materielle Objekte mit der Reihenfolge der Entstehung
dieser Objekte selbst verwechselt. Ich habe bisher gezeigt,
dass der Fortschritt unserer Kenntnis auf Vergleichung
(analogy) beruht, — auf einer Zurückführung des Seltsamen-
und Unbekannten auf Vertrautes und Bekanntes. In
einem gewissen Sinne ist es richtig, was so oft gesagt
worden ist, dass alle Erkenntnis auf Wiedererkemiung be-
ruhe. „Der Mensch,'^ sagt Pott,. ^) „stellt fortwährend Ver-
gleichungen an . zwischen . dem Neuen , das. sich ihm dar^l
bietet, und dem. Alten, .das' er bereits terint.^' . Dass dem.
* - ■ . » _
^) Pott; -Etymologische FöTschungen, 2. Aufl., 2 Bd., S. 139/
StALLO; Begriffe .u. Theorreen-. 12
ijS XL Kapitel,
so ist, lehrt die Entwicklung der Sprache. Das Hauptagens
bei der Entwicklung der Sprache bildet die Metapher — die
Übertragung des Wortes von seiner gewöhnlichen über-
lieferten Bedeutung auf eine analoge. Diese Übertragung
eines Namens, der bekannte und vertraute Dinge beschreibt,
zur Bezeichnung von unbekannten und nicht vertrauten ist
typisch für das Verfahren des Geistes in allen Fällen, wo
es sich um neue und seltsame Erscheinungen handelt. Sie
lässt diese Erscheinungen ähnlich den uns bekannten er-
scheinen; sie identificiert das Fremde, so weit als es mög-
lich ist, mit dem Vertrauten ; sie lehrt uns das Ausserordent-
liche und Ungewöhnliche in Ausdrücken dessen kennen,
was uns ordentlich und gewöhnlich ist. Das Sinnenfälligste
ist aber das, was zuerst im Bewusstsein auftritt und darin
am beständigsten verharrt; auf diese Weise erhält es den
Stempel grösster Vertrautheit. Nun ist die am meisten
sich aufdrängende Form der Materie die feste, und aus
diesem Grunde ist sie diejenige, die zuerst vom kindlichen
Gemüte der Menschheit aufgefasst wird und damit als Grund-
lage für die nachfolgende Erkennung anderer Formen dient.
Dementsprechend finden wir, dass auf den ersten Stufen
menschlicher Kultur das Feste allein als materiell auf-
gefasst wird. Es hat lange gedauert, bis selbst die atmo-
sphärische Luft, die sich uns doch in Wind und Sturm so
auffällig bemerkbar macht, als eine Form der Materie er-
kannt wurde. Bis auf den heutigen Tag bedeuten Worte,
die einen Wind oder Hauch bezeichnen — animus, Spiritus,
Geist u. s. w. — das fundamentale Korrelat der Materie
selbst in den Sprachen zivilisierter Völker. Und es ist sehr
fraglich, ob selbst die alten Philosophen oder die mittel-
alterlichen * Alchimisten deutlich eine andere gasförmige
Substanz ausser der Luft als materiell unterschieden. Es
ist gewiss, dass bis zu den Zeiten von Van Helmont im
letzten Teil des i6. und in den ersten Jahrzehnten des
Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.). 179
17. Jahrhundertes die gasförmige Materie keinen Gegen-
stand wissenschaftlicher Forschung gebildet hat.*)
Es ist nun klar, dass, während der Fortschritt der Ent-
wicklung in der Natur vom gasförmigen zum festen Zustand
geht, der Fortschritt der Entwicklung der Kenntnis des
menschlichen Geistes umgekehrt in der Richtung vom festen
zum gasförmigen geschah ; und infolgedessen der gasförmige
Zustand als ' blosse Modifikation des festeji aufgefasst wurde.
Aus dem gleichen Grunde war die erste Form materieller
Einwirkung, die von dem erwachenden Menschengeiste auf-
gefasst wurde , die zwischen festen Körpern , und daraus
folgt wieder, dass der Unterschied zwischen einem festen
und gasförmigen Körper als ein blosser Unterschied der Ent-
fernung zwischen festen Teilchen, wie er durch mechanische
Bewegung erzeugt wird, angesehen wurde.
Dazu kommt, dass in dem Geiste des gewöhnhchen
Mannes die Vertrautheit allgemein mit der Einfachheit ver-
wechselt wird. Wenn nun die Erklärung einer Erscheinung,
^ie wir gesehen haben, auf eine Darlegung ihrer Entstehung
aus den frühesten Anfängen hinauskommt, verfolgt der
Geist bei seinen Versuchen einer Erklärung der Gasform
naturgemäss die Schritte in der Entwicklung seiner Ideen
über die Materie — seines Begriffes Materie — zurück
bis zu den frühesten, vertrautesten und daher scheinbar ein-
fachsten Formen, in denen die Materie von ihm wahrge-
nommen wurde und wird, und nimmt das feste Teilchen,
das Atom, als letzte Thatsache, als primäres Element für
die Vorstellung und begriffliche Auffassung materieller
Existenz.
Die Annahme der Identität in der Reihenfolge der
Begriffsbildung und der der Realität (die dritte der im
9. Abschnitt aufgezählten trügerischen Annahmen) bildet
*) Van Helmont gebraucht zuerst den Ausdruck „Gas". Anm.
des Herausg.
12*
i8o XL Kapitel.
einen der verhängnisvollsten Irrtümer ontologischer Speku-
lation, und ist als solcher von J. S. Mill dargethan worden,
der indessen darin fehlt, dass er die wahre Quelle dieses
Irrtums verkennt, wie oben auseinandergesetzt worden ist,
indem er (nach seiner Gewohnheit) die Ordnung und Ver-
bindung unserer Ideen einer bloss zufälligen Association zu-
schreibt. „Ein grosser Teil des irrigen Denkens, das in der
Welt existiert," erklärt er, ^) „geht von der stillschweigenden
Voraussetzung aus, dass dieselbe Ordnung zwischen den
Gegenständen der Natur wie zwischen unseren Vorstellungen
von denselben bestehen müsse." Die Hartnäckigkeit dieser
Annahme und ihre unvermeidliche Herrschaft in der onto-
logischen Spekulation könnte an zahlreichen Beispielen be-
legt werden. Spinoza erklärt ausdrücklich, „dass die Ord-
nung und der Zusammenhang der Ideen von gleicher Art
sind, wie die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge." ^)
Und selbst in einem neueren Lehrbuch der Logik lesen
wir, dass „die logische Verkettung der Ideen der wirklichen
Verkettung der Dinge entspreche."*) Es tritt hier also
wieder der metaphysische Charakter der mechanischen Theorie
deutlich hervor.
Wiewohl die Ansicht, dass Starrheit und Undurch-
dringlichkeit nicht nur unvermeidliche, sondern auch voll-
kommen einfache Merkmale der Materie sind, durchaus
nicht allgemein ist, gibt es nur wenige Denker, welche
nicht verkennen, dass sie einem Vorurteil des Geistes ihre
Entstehung verdankt. „In der Hypothese," sagt Cournot, ^)
„zu welcher die modernen Physiker geführt worden sind —
2) Logic, 8th ed., p. 521.
*) ,,Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio
rerum." Eth. II, prop. 7.
*) ,,L'enchainement logique des idees correspond ä l'enchaine-
ment reel des choses." Delboeuf, Logique p. 91.
^) De rEnchaincment, etc., vol. I, p. 246 seq.
Charakter ?/. Ursprung der median, Theorie (Forts,). i8i
nämlich der von Atomen; die von einander getrennt sind
und zwar sogar durch solche Entfernungen , die (wiewohl
durch keine Erfahrung abschätzbar) dennoch im Vergleiche
zu den Grössenverhältnissen der Atome oder Elementar-
körperchen sehr gross sind — nötigt uns nichts, die Atomö
eher als kleine harte oder starre statt als kleine weiche,
dehnbare oder flüssige Körper vorzustellen. Der Vorzug,
den wir der Härte über die Weichheit geben, die Neigung,
die wir zeigen, uns die Atome oder das Urmolekel lieber
als eine Miniatur des festen Körpers statt einer flüssigen
Masse von derselben Kleinheit vorzustellen, sind lediglich
Vorurteile der Erziehung, die sich aus unseren Gewohn-
heiten und den Bedingungen unseres animalen Lebens er-
geben. Dieser Hang ist somit um nichts weniger begrün-
deter, als der bei den alten Scholastikern so eingewurzelte
und in modernen Lehren sich fortsetzende alte Glaube,
dass die Undurchdringlic'hkeit zusammen mit der
Ausdehnung den wesentlichen Charakter, die Grund-
eigenschaft der Materie und der Körper ausmache. Es ist
ganz klar, dass Atome, die nie zur Berührung kommen, sich
noch viel weniger zu durchdringen vermögen : so zwar, dass
die angebliche Grundeigenschafc im Gegenteil eine nutzlose
müssige Eigenschaft sein würde , die niemals in Aktion
treten, niemals zur Erklärung einer Erscheinung in Ver-
wendung kommen könnte und von uns ganz umsonst auf-
gestellt sein würde. Dasselbe lässt sich auch von der Aus-
dehnung sagen, insofern sie ein Merkmal oder eine Eigen-
schaft der Atome ist, denn bei weitestgehender Analyse
und bei dem jetzigen Zustand der Wissenschaft bleiben
alle Erklärungen, die man von den physikalisch -chemischen
Erscheinungen geben kann, vollkommen unabhängig von
den Hypothesen, die man über die Gestalt und die Grössen-
verhähnisse der Atome oder der Elementarmolekeln machen
könnte. Was die sinnlich wahrnehmbaren Körper endlicher
i82 XI, KapiicL
Grösse anbelangt, so sind sie sicherlich diirchdringlich ; und
was sie betrifft, ist die Kontinuität der Formen der Aus-
dehnung nur eine Illusion."
„Bei den sinnlich wahrnehmbaren Körpern sind Festig-
keit und Starrheit gerade so wie Biegsamkeit,. Weichheit
oder Flüssigkeit sehr verwickelte Erscheinungen, die wir,
so gut es geht, mit Hilfe von Hypothesen über das Gesetz
der Kräfte, welche die Elementarmolekeln in bestimmten
Distanzen erhalten, und über die Ausdehnung ihrer Wirkungs-
sphäre, verglichen mit der in dieser Sphäre enthaltenen
Molekelzahl und deren gegenseitigen Entfernungen, zu er-
klären suchen. Während nun die vertraute Vorstellung der
Körper im festen Zustand die Begriffsbildung eines starren
Körperchens oder eines elementaren Atoms als philosophisches
und wissenschaftliches Prinzip der Erklärung eingegeben hat,
ist das mit Hilfe des Atombegriffes am schwierigsten in
zufriedenstellender Weise zu Erklärende gerade die Zu-
sammensetzung der Körper im festen Zustand/*
Ich habe bereits im siebenten Kapitel eine Stelle von
ähnlicher Bedeutung aus den Vorlesungen von Cauchy
citiert, in welcher der berühmte Mathematiker die Not-
wendigkeit in Frage stellt, der Materie entweder Undurch-
dringlichkeit oder Ausdehnung (ohne denen oder ohne einer
von denen natürlich keine Starrheit möglich ist) als primäre
Qualität zuzuschreiben.
Starrheit in dem Sinne, in welchem sie einem Atom
beigelegt wird, ist keine Thatsache, sondern die Realisierung
einer Abstraktion. Wie Cournot bemerkt, ist ein absolut
starrer Körper der Erfahrung unbekannt. Der Zusammen-
hang der Körper, mit denen es der Experimentalphysiker
zu thun hat, hängt von dem Übergewicht oder Gleichgewicht
der Kräfte, wie der Kohäsion, Krystallisation und Wärme
ab; und die Annahme der absoluten Starrheit der Materie
ist eine Folge jener oberflächlichen und unvollkommenen
Charakter u. Ursprung der median, Theorie (Forts.), 183
Auffassung der Data sinnlicher Erfahrung (und der Nicht-
achtung der wesentlichen Relativität aller Eigenschaften der
Dinge, die nachher eingehender betrachtet werden soll), die
sich in allen frühen Begriffsbildungen der Menschheit zeigt.
Dieselbe primitive, nachlässige und unvollkommene
Auffassung der Data sinnlicher Erfahrung hat die fernere
Annahme entstehen lassen, dass alle physikalische Wirkung
durch Stoss vor sich gehe. Die einzige Einwirkung zwischen
Körpern, die durch die Sinne des Gesichtes und Gefühles
direkt wahrnehmbar ist, ist die Veränderung in dem Zu-
stande der Ruhe oder Bewegung durch Stoss. Ein Stoss
ist somit die früheste und vertrauteste aller beobachtbaren
Wirkungen eines Körpers auf einen anderen. Und wenn
ein Stoss zwischen zwei sich mit verschiedenen Geschwindig-
keiten bewegenden festen Körpern, oder (was dasselbe ist)
zwischen einem ruhenden und einem bewegten festen Körper
stattfindet, sieht der gewöhnliche Beobachter nicht mehr
als eine Verdrängung des einen Körpers durch den anderen
und eine direkte Übertragung von Bewegung. Von dieser
Verdrängung und Übertragung nimmt man an, dass sie
augenblicklich geschehe, und von den Körpern, dass sie
absolut starr sind. Aber die Beobachtung dieser Thatsache
ist ebenso roh, wie ihre Deutung ungenau. Ein sorgfältigeres
Studium der Erscheinung zeigt, dass es keine derartige
unvermittelte Verdrängung gibt; dass keine direkte Über-
tragung von Bewegimg stattfindet*, dass die Körper nicht
absolut starr sind; dass der scheinbar einfache Stoss fester
Körper eine sehr verwickelte Reihe oder Gruppe von Er-
eignissen ist, die nicht nur direkte Wirkung und Gegen-
wirkung, sondern auch abwechselnde Zusammendrückung
und Ausdehnung, ein Lösen und Anziehen der Kohäsions-
und krystallischen Bande, Umformungen von geradliniger
in schwingende, von Massen- in Molekularbewegung, Ent-
wicklung und Verbrauch von Energie — kurz, momentane,
i84 -^/. Kapitel,
wenn nicht beständige Veränderungen fast aller Eigen-
schaften der Körper in sich schliesst, zwischen denen der
Stoss stattfindet. Was will nun in Anbetracht dessen das
Verlangen der * mechanischen Atomtheorie heissen , keine
andere Einwirkung von Körpern zuzulassen als die durch
Stoss? Offenbar nichts weniger, als dass die ersten rudi-
mentären und unvernünftigen Äusserungen des ungeschulten
Wilden für immer die Grundlage jeder möglichen Wissen-
schaft zu bilden hätten.
Nehmen wir an, Hobbes wäre mit den Umständen über
Ursprung und Umformung der Bewegung, wie sie durch
Beobachtung und Experiment in neuerer Zeit ans Licht
gebracht worden sind, vertraut gewesen; nehmen wir an,
er wäre fähig gewesen, so klar wie Helmholtz und Mayer,
oder wie Thomson und Joule nicht nur die Bewegung
unseres Planeten um seine Axe und um die Sonne, sondern
auch jede Störung derselben — jeden durch eine lebende
Hand erteilten Schlag und jede durch den Fall oder Wurf
unbelebter Masse erzeugte Erschütterung — bis zu der
undifferentiierten Energie eines gasigen Ursphäroids zurück-
zuverfolgen, aus dem sich Sonne und Erde allmählich nieder-
geschlagen oder entwickelt haben sollen-, nehmen wir an,
seine Gedanken wären, sobald er die Ersclieinung des
Stosses zwischen zwei festen Körpern und die scheinbare
Übertragung sichtbarer Bewegung von dem einen auf den
anderen beobachtet hätte, unwillkürlich auf die Urform
dieser Erscheinung verfallen, die abwechselnde Zusammen-
«iehung und Ausdehnung eines formlosen beweglichen
Gases: würde er dann den Satz geschrieben haben, dass
„es keine andere Ursache von Bewegung geben könne
als die eines anstossenden und bewegten Körpers :" .
Die logische und mathematische Unzulässigkeit der
Annahme von der absoluten Starrheit ausgedehnter Atome
oder Molekeln wurde in der ersten Hälfte des i8. Jahr-
Charakter v. Ursp)'ung der mechan. Theone (Forts,), 185
hunderts durch Johann Bernoulli hervorgehoben, der ge-
zeigt hat, dass sie den Begriff einer unendlich grossen
Widerstandskraft gegen Deformation oder Kompression be-
dingen würde. Und dass der feste Zustand nicht die ein-
fachste, sondern die verwickelteste Phase materiellen Zu-
sammenhanges darstellt, ist vor fast 60 Jahren mit Nach-
druck von Fries hervorgehoben worden, der allen Atom-
theorieen vorwarf, dass „sie das, was das schwierigste ist,
nämlich den Bestand fester Formen als gegeben und als
Ausgangspunkt der Erklärung annehmen," ®) während „die
grosse Schwierigkeit der mathematischen Naturphilosophie
in der Möglichkeit starrer Körper bestehe." '^)
Die absolute Starrheit der Materie ist eine der Formen,
in denen der Pseudobegriff eines „Ding an sich" oder eines
„reinen Seins" greifbare Gestalt unter Missachtung der
wesentlichen Relativität der materiellen Dinge angenommen
hat, zu deren Diskussion ich mich im nächsten Abschnitt
wende.
^) Fries, Mathematische Naturphilosophie (Heidelberg 1822),
S. 446.
') Id. ib., S. 616. Es mag bemerkt werden, dass hier Fries
die früher citierten Beobachtungen von Cournot anticipiert.
XII.
Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie
(Fortsetzung). Darlegung ihres vierten metaphy-
sischen Grundfehlers.
Die Realität aller Dinge, welche Gegenstand der Er-
kenntnis sind oder sein können, beruht auf ihren gegen-
seitigen Beziehungen oder besteht vielmehr in denselben.
Ein Ding an und für sich kann weder aufgefasst noch be-
griffen werden; seine Existenz ist weder eine Vorstellung
der Sinne noch eine Äusserung des Denkens. Dinge sind
unSi lediglich durch ihre Eigenschaften bekannt; und die
Eigenschaften der Dinge sind nichts anderes als ihre gegen-
seitigen Einwirkungen und Beziehungen. „Jede Eigenschaft
oder Qualität eines Dinges," sagt Helmholtz^) (bei der
Besprechung der eingewurzelten Vorurteile, nach denen die
Eigenschaften der Dinge analog oder identisch mit unseren
Vorstellungen von denselben sein sollen), „ist in Wirklich-
keit nichts anderes als die Fähigkeit desselben auf andere
Dinge gewisse Wirkungen auszuüben. Die Wirkung ge-
schieht entweder zwischen den gleichartigen Teilen desselben
Körpers, wovon die Verschiedenheiten ihres Aggregatzu-
standes abhängen, oder schreitet, wie die chemischen Re-
aktionen, von einem Körper zu dem anderen, oder sie ge-
schieht auf unsere Sinnesorgane und äussert sich dann durch
Empfindungen, wie die, mit denen wir es hier zu thun
haben. (Gesichtsempfindungen.) Eine solche Wirkung nennen
^) Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. Pop.
wiss. Vorträge II, 55 ff. [Vorträge und Reden, I. 321, Anm. d. Her.].
Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.). 187
wir Eigenschaft, wenn wir das Reagens, an dem sie
sich äussert, als selbstverständlich im Sinne behalten, ohne
es zu nennen. So sprechen wir von der Löslichkeit einer
Substanz, das ist ihr Verhalten gegen Wasser; wir sprechen
von ihrer Schwere, das ist ihre Anziehung gegen die Erde,
und ebenso nennen wir sie mit demselben Rechte blau,
indem dabei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass
es sich bloss darum handelt, ihre Wirkung auf ein normales
Auge zu bezeichnen. Wenn aber überall, was wir eine
Eigenschaft nennen, immer eine Beziehung zwischen zwei
Dingen betrifft, so kann eine solche Wirkung natürlich nie
allein von der Natur des einen Wirkenden abhängen, sondern
sie besteht überhaupt nur in Beziehung auf und hängt ab
von der Natur eines zweiten, auf welches gewirkt wird. Es
hat also gar keinen reellen Sinn, von Eigenschaften des
Lichtes reden zu wollen, die ihni an und für sich zukämen,
unabhängig von allen anderen Objekten, und die durch
die Empfindungen des Auges wieder dargestellt werden
sollen. Der Begriff solcher Eigenschaften ist ein Wider-
spruch in sich ; es kann solche überhaupt nicht geben ;
und es kann deshalb auch nicht die Übereinstimmung der
Farbenempfindungen mit solchen Qualitäten des Lichts ver-
langt werden."
Die W'ahrheit, welche diesen Sätzen zu Grunde liegt,
ist von so ungeheurer Tragweite, dass es schwer möglich
ist, in ihrer Verkündigung zu überschwänglich oder in ihrer
Erläuterung an Beispielen zu verschwenderisch zu sein. Die
wirkliche Existenz der Dinge reicht gerade so weit, als
deren qualitative und quantitative Bestimmungen. Beide
sind ihrer Natur nach relativ, indem sich die Qualität aus
der gegenseitigen Wirkung ergibt, und die Quantität ein-
fach ein Verhältnis von Gliedern vorstellt, von denen keines
absolute Bedeutung besitzt. Jedes objektiv existierende
Ding ist somit ein Glied in einer unendlichen Reihe gegen-
•i88 A7/. Kapitel.
seitig von einander abhängiger Verwickelungen ; andere
Formen von Realität sind der Erfahrung wie dem Denken
unbekannt. Es gibt keine absolute materielle Qualität,
keine absolute materielle Substanz, keine absolute physika-
lische Einheit, kein absolut einfaches physikalisches Wesen,
keinen absoluten Massstab, weder für die Grösse, noch für
die Beschaffenheit, keine absolute Bewegung, keine absolute
Ruhe, keine absolute Zeit, keinen absoluten Raum. Es
gibt keine Forni materieller Existenz, die ihre eigene Stütze
oder ihr eigenes Mass ist, und die, sei es in quantitativer,
sei es in qualitativer Beziehung, anders als im beständigen
Wechsel, im .unaufhörlichen Fluss von Veränderungen existiert.
Ein Gegenstand ist gross nur im Vergleich zu einem anderen,
der als Glied dieser Vergleichung klein ist, jedoch im
Vergleich zu einem dritten Gegenstand sehr gross sein
kann; und die Vergleichung, welche die Grösse der Gegen-
stände bestimmt, findet bloss zwischen denselben und nicht
zwischen einem derselben oder zwischen allen und einem
absoluten MassStab statt. Ein Gegenstand ist hart im Ver-
gleich zu einem zweiten, der weich ist, der jedoch in Ver-
gleich zu einem dritten noch weicheren gestellt werden
kann : es gibt eben keinen Normalgegenstand, der entweder
absolut hart oder absolut weich ist. Ein Körper ist ein-
fach im Vergleich zu der Verbindung, in die er als Be-
standteil eintreten kann ; es gibt jedoch kein physisch reales
Ding utad kann keines geben, das absolut einfach ist. -) :
*) E'ines der merkwürdigsten Beispiele ontologischer Schluss-
weise bildet das Argument, das die Existenz absolut einfacher Sub-
stanzen aus der Existenz zusammengesetzter erschliesst. Leibniz stellt
diese Beweisführung an die Spitze seiner „Monadologie". „Necesse
est," sagt er, ,,dari substantias simplices quia dantur compositae ;
neque enim compositum est nisi aggregatum simplicium." (Leibnitu,
Opera omnia, ed. Dutens, t. IL, p. 21.) Dieses Enthymem ist aber
offenbar ein Fehlschluss — ein Trugschluss von der in der Logik
unter dem Namen eines Fehlers der unterdrückten Relativität bc-
Charakter ti. Ursprung der mechan, TJieorie (Forts.). 189
Es mag in diesem Zusammenhange bemerkt werden
dass nicht nur das Gesetz der Kausalität, der Erhaltung
der Energie und der sogenannten Unzerstörbarkeit der
Materie ihre Wurzel in der Relativität aller objektiven Existenz
haben — indem sie einfach verschiedene Seiten dieser
Relativität vorstellen — , sondern dass auch Newton's erstes
und drittes Bewegungsgesetz ebenso wie auch alle Gesetze
der kleinsten Wirkung in der Mechanik (einschliesslich des
GAUss'schen Gesetzes des kleinsten Zwanges) blosse Folge-
sätze desselben Prinzipes sind. Und die Thatsache, dass
alles in seiner sich offenbarenden Existenz nur eine Gruppe
von Beziehungen und Gegenwirkungen ist, klärt mit einem
Schlag die der Natur anhaftende Teleologie auf.
Obwohl die Wahrheit, dass alle unsere Kenntnis der
objektiven Welt von der Aufstellung oder Erkennung von
Beziehungen abhängt, hinlänglich einleuchtend ist und oft
verkündet worden ist, ist sie doch sowohl von den Männern
der Wissenschaft wie von den Metaphysikern fast völlig
ignoriert worden. Bis zum heutigen Tage wird von den
Physikern und Mathematikern, nicht minder wie von den
Metaphysikern an dem Glauben festgehalten, dass alle Realität
in letzter Linie eine absolute ist. Und auf dieser. Annahme
wird am strengsten von denen beharrt, deren wissenschaft-
liche Überzeugung mit dem Satze beginnt, dass alle unsere
Kenntnis physikalischer Dinge aus der Erfahrung stammt.
So behauptet der Mathematiker, der die Giltigkeit dieses
Satzes voll anerkennt und gleichzeitig zugibt, dass wir keine
andere wirkliche Kenntnis des Bewegungszustandes der
Körpier besitzen und besitzen können als in Bezug auf
andere Körper,, dessenungeachtet, dass Ruhe und Bewegung
kannten Art. Die Existenz einer z< sammengesetzten Substanz beweist
sicherlich die Existenz von Bestandteilen, die im Vergleich zu
dieser Substanz einfach sind. Doch sie beweist gar nichts über
die Einfachheit dieser Teile an sich.
190 XI L Kapitel.
bloss insofern reell sind, als sie und ihre Elemente, Raum
und Zeit, absolut sind. Der Physiker erinnert uns bei einem
jedem Schritte, dass auf dem Gebiete seiner Forschungen
es keine Wahrheiten a priori gibt, und dass nichts von der
materiellen Welt bekannt ist, ausser was durch Beobachtung
und Experiment ermittelt wird; er verkündet dann als das
einmütige Ergebnis seiner Beobachtungen und Experimente,
dass alle Formen materieller Existenz zusammengesetzt und
veränderlich sind ; und doch behauptet er , dass nicht nur
die Gesetze der Veränderung konstant sind, sondern auch
dass die reellen Elemente der materiellen Welt absolut ein-
fache, unveränderliche, individuelle Dinge sind.
Die Annahme, dass alle physische Realität in letzter
Linie absoluter Natur ist — dass das materielle Weltall
ein Aggregat absolut konstanter physischer Einheiten ist,
welche an sich in absoluter Ruhe sich befinden, deren Be-
wegung indessen, wiewohl sie übertragen ist, in Ausdrücken
des absoluten Raumes und der absoluten Zeit messbar ist —
bildet die wahre logische Grundlage der mechanischen Atom-
theorie. Und diese Annahme ist identisch mit jener, welche
allen metaphysischen Systemen zu Grunde liegt, mit dem
•einzigen Unterschiede, dass in einigen dieser Systeme das
physische Substrat der Bewegung (die sogenannte „Substanz"
der Dinge) nicht in individuelle Atome spezialisiert erscheint.
Um zu zeigen, in welch unabwendbarer Weise sich
4as ontologische Vorurteil, dass nichts physisch reell ist,
was nicht absolut ist, in der Wissenschaft während der drei
letzten Jahrhunderte behauptet hat, nehme ich mir vor,
einen kurzen Überblick über die Lehren einiger der be-
rühmtesten Mathematiker und Physiker über Raum und
Bewegung (und gelegentlich auch über die Zeit) zu geben,
wobei ich mit denen des Descartes beginne.
In den einleitenden Teilen seiner Principia stellt Des-
cartes in ausdrücklichster Weise fest, dass Raum und Be-
Charakter u, Ursprung der mec?ian. Theorie (Forts,), igi
wegung wesentlich relativ sind. „Damit der Platz (eines
Körpers) bestimmt werden könne/* sagt er, ^) „müssen wir
ihn auf andere Körper beziehen , die wir als unbeweglich
betrachten mögen, und je nachdem wir ihn auf verschiedene
Körper beziehen,* können wir sagen, dass dasselbe Ding
seinen Platz ändert und nicht ändert. Wenn sich ein Schiff
längst des Ufers bewegt, so bleibt der am Heck Sitzende
stets an demselben Orte im Vergleich zu den Teilen des
Schiffes, zu denen er in gleicher Lage verbleibt, ändert
aber unaufhörlich, seinen Ort in Bezug auf die Küsten . . .
Und wenn wir ausserdem zugeben, dass sich die Erde be-
wegt und zwar genau so von West nach Ost rückt, als sich
das Schiff unterdessen von Ost nach West bewegt, werden
wir wieder sagen, dass der, wer am Heck sitzt, seinen Platz
nicht ändert, weil wir ihn auf einen unbeweglichen Punkt
am Himmel beziehen. Wenn wir aber endlich zugeben,
dass im ganzen Weltall keine wirklich unbeweglichen Punkte
gefunden werden können, was, wie ich später zeigen werde,
wahrscheinlich ist, müssen wir zu dem Schlüsse gelangen,
dass es keinen festen Ort ausser einen gedachten gibt.'*^)
Behauptungen ähnlichen Sinnes finden sich in ver-
schiedenen anderen Teilen desselben Buches. ^) Und vom
Räume zweifelt Descartes nicht, dass er nichts an sich
sei, und dass ein „leerer Raum** eine contradictio in ad-
») Princ. II, § i8.
*) Die Illustrierung der Relativität der Bewegung durch die
Bewegung eines Schiffes kehrt immer wieder, wo auf die im Text
erörterte Frage Bezug genommen wird. Vgl. Leibniz, Opp. ed. Erd-
mann, p. 604 ; Newton, Princ, Def. VIII, Schol. 3 ; Euler, Theoria
motus corporum solidorum, vol. I, 9, 10; BERKELEY, Principles of
Human Knowledge, § 114; Kant, Metaphysische Anfangsgründe der
Naturwissenschaft, Phor. Grundsatz I; Cournot, De l'Enchainement,
etc., vol. I, p. 56; Herbert Spencer, First Principles, chapter III,
§ 17 u. s. w.
^) Princ, II, 24, 25, 29 etc.
192 XIL Kapitel.
jecto ist — dass, wie sich Sir John Hkrschel ausdrückt, ")
„wenn der Zollstab nicht dazwischen wäre, sich die beiden
Enden desselben auf demselben Orte befinden würden."
Im weiteren Verlaufe der Diskussion, während der er mittler-
weüe erklärt hatte, dass Gott stets die gleiche Bewegungs-
grösse im Weltall erhält, nimmt er es jedoch auf einmal
als zugestanden an, ') dass Bewegung und Raum absolute
und somit reelle Wesen sind.
Diese Inkonsequenz Descartes' ist von Leihniz streng
getadelt worden. „Es folgt," sagt Leibniz, ®) „dass Bewegung
nichts als Ortsveränderung ist und daher, so weit als es sich
um Erscheinungen handelt, in einer blossen Beziehung be-
steht. Dies erkennt auch Cartesius an; aber im Verlaufe
seiner Entwicklungen vergisst er seine eigene Definition
und stellt sein Bewegungsgesetz auf, als ob Bewegung
etwas reelles und absolutes wäre." Wie bemerkt
werden wird, nimmt hier Leibniz es als etwas selbstverständ-
liches an, dass das, was reell ist, auch absolut ist. In Anbetracht
dessen ist es kaum überraschend, dass er in dieselbe In-
konseciuenz verfällt wie Descartes und in seinen Briefen"
an Clarke von einem „unbeweglichen Raum" und einer
„absolut wirklichen Bewegung von Körpern" spricht. ^*)
Newton unterscheidet in dem grossen Scholium am
Schluss der den Prinzipien vorgedruckten ,;Definitionen"
scharf zwischen absoluter und relativer Zeit und Bewegung.
„Die absolute, wahre und mathematische Zeit," erklärt er, ^ ")
„fliesst an sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung auf
irgend ein Aussending gleichmässig dahin und wird auch
Dauer genannt; die relative, scheinbare und gewöhnliche
*) Familiär Lecturcs, p. 455.
') Princ. II, i*§ 37-39.
**) Leibniz, Opp. math.-, ed. Gerhardt, sect. 11, Vol. II, p.'247.^
^) Opp. cd. Erdmann, pp. 766, 770. . ' ';
^^) Princ. (cd. Lc Seur & Jacq.), p. ^. • *
Charakter w, Ursprung der median^ Theorie (Forts.), 193
Zeit ist irgend ein sinnliches und äusseres, genaues oder
ungleichmässiges Mass der Dauer vermittels einer Bewegung,
das gewöhnlich für die wahre Zeit gehalten wird . . . Die
absolute Zeit unterscheidet sich in der Astronomie von der
relativen durch die Gleichung der gemeinen Zeit. Denn
die natürlichen Tage, welche bei der gewöhnlichen Messung
der Zeit als gleich genommen werden, sind ungleich lang . . .
Es kann sein, dass es keine gleichförmige Be-
wegung gibt, durch welche die Zeit genau ge-
messen werden könnt e." ^ ^)
„Absoluter Raum, seiner Natur nach ohne Bezug auf
ein Aussending, bleibt sich stets ähnlich und unbeweglich;
von diesem (absoluten Räume) ist der relative Raum irgend
ein bewegliches Mass oder eine Abmessung dieses Raumes,
die durch ihre Lage zu anderen Körpern von unseren
Sinnen bestimmt wird und gewöhnlich für den unbeweg-
lichen Raum genommen wird...^^ Wir definieren alle
Orte durch die Entfernungen der Dinge von einem ge-
gebenen Körper, den wir als unbev/eglich ansehen ... Es
mag sein, dass es keinen wirklich ruhenden Körper gibt,
auf welchen die Orte und Bewegungen zu beziehen wären." *^)
Absolute Bewegung ist nach Newton „die Übertragung
eines Körpers von einem absoluten Orte auf einen anderen"
und relative Bewegung „die Übertragung eines Körpers von
einem relativen Orte an einen anderen . . ." „Absolute
Ruhe und Bewegung unterscheiden sich von relativer Ruhe
und Bewegung durch ihre Eigenschaften und durch ihre
Ursachen und Wirkungen. Es ist eine Eigentümlichkeit
der Ruhe, dass Körper, die sich wirklich in Ruhe befinden,
in Bezug auf einander in Ruhe verbleiben. Während es
nun möglich ist, dass in den Gegenden der Fixsterne oder
^*) L. c, p. 10.
^*) L. c, p. 9.
^*) Ib., p. 10.
StalLO, Begriffe u. Theorieen. 13
194 -X^//. Kapitel,
jenseits derselben es einen Körper gibt, der sich in absoluter
Ruhe befindet, ist es trotzdem unmöglich, aus den relativen
Orten der Körper in unseren Gegenden zu erkennen , ob
ein solcher entfernter Körper in der gegebenen Lage ver-
harrt, und ob daher die wahre Ruhe aus der gegenseitigen
Lage derselben definiert werden kann" (d. h. aus der Lage
der Körper in unseren Gegenden) . . . „Es ist eine Eigen-
schaft der Bewegung, dass die Teile, welche ihre gegebenen
Lagen zu den Ganzen beibehalten, an deren Bewegung teil-
nehmen. Denn alle Teile rotierender Körper streben sich
von der Umdrehungsaxe zu entfernen und das Bewegungs-
moment bewegter Körper entsteht aus dem Bewegungs-
momente der Teile. Wenn sich daher die umgebenden
Körper mit bewegen, befinden sich die, welche sich mit
bewegen, mit ihnen in relativer Ruhe. Und aus diesem
Grunde kann wahre und absolute Bewegung
nicht durch deren Übertragung aus benach-
barten Körpern, die als ruhend angesehen
werden, definiertwerden...^*) Die Umstände, durch
die sieh wahre und relative Bewegungen von einander unter-
scheiden, sind die auf die Körper zur Erzeugung von Be-
wegung einwirkenden Kräfte. Wahre Bewegung wird bloss
durch Kräfte, die auf die bewegten Körper einwirken, er-
zeugt oder verändert; relative Bewegung kann aber ohne
der Wirkung von Kräften erzeugt oder verändert werden.
Denn es reicht aus, dass Kräfte auf andere Körper ein-
wirken, auf die Bezug genommen wird, so dass durch deren
Nachgeben eine Veränderung der Beziehung entsteht, in
der die relative Bewegung oder Ruhe von Körpern be-
steht . . . ^^) Die Wirkungen, durch die sich absolute und
relative Bewegung von einander unterscheiden, sind die
^*) Ib., pp. 10, II.
") L. c, p. II.
iJluirakter u. Urspi-ung der median' Theorie (Forts,), 195
Xräfte, vermöge welcher sich die Körper von ihrer Um-
^rehungsaxe entfernen. Denn bei einer bloss relativen
drehenden Bewegung sind diese Kräfte gleich Null, während
sie bei einer wahren und absoluten Bewegung je nach der
Bewegungsgrösse grösser oder kleiner sind." ^•)
Es ist klar, dass in allen diesen Definitionen Newton
sowie Descartes und Leibniz die wirkliche Bewegung als
«ine absolute annimmt, und dass er die Ausdrücke „rela-
tive Bewegung" und „scheinbare Bewegung" streng
synonym nimmt ungeachtet seines ausdrücklichen Eingeständ-
nisses (an den von mir hervorgehobenen Stellen), dass es
in Wirklichkeit weder eine absolute Zeit noch einen ab-
soluten Raum geben könne. Dieses Zugeständnis führt
natürlich zu dem weiteren, dass es in Wirklichkeit keine
absolute Bewegung geben kann; vor diesem schreckt' aber
Newton zurück, weil er zu dem Auskunftsmittel greift, trotz
der möglichen Nichtexistenz absoluter Zeit und absoluten
Raumes einen haltbaren Grund für die Unterscheidung
^zwischen relativer und absoluter Bewegung in dem, was er
deren Ursachen und Wirkungen nennt, zu suchen. Doch
diese Ursachen und Wirkungen dienen nicht dazu , die
Telative von der absoluten Lageänderung zu unterscheiden,
sondern einfach dazu, die Veränderung der Lage eines
Körpers zu einem zweiten von der gleichzeitigen Verände-
rung- der Lage beider in Vergleich zu einem dritten zu
unterscheiden. ' '
Newton's Lehre ist Ibis zu ihren letzten Konsequenzen
'von Leonhard Euler verfolgt worden. In dem ersten
Kapitel seiner „Theoria motus Corpbrum Solidoruin** ^ '') be-
ginnt Eüler imit der nachdrücklichen Versicherung, dass
Ruhe und Bewegung, so weit als sie aus der sinnlichen
*») Ib.
*") cap. I, explic. 2.
13*
196 XIL Kapitel,
Erfahrung belcannt sind, bloss relativ sind. Nachdem er
auf den typischen Fall eines Schiffers in seinem Schiffe
"Bezug genommen, fahrt er folgendermassen fort: ,,Der hier
besprochene Begriff der Ruhe ist daher relativer Natur, da
er ja nicht lediglich aus dem Zustande des Punktes O,
dem er zugeschrieben wird, hergeleitet ist, sondern aus
einer Vergleichung mit irgend einem anderen Körper A . . .
Daraus erhellt sofort, dass derselbe Körper, welcher in Bezug
auf einen Körper A sich in Ruhe befindet, verschiedene
Bewegungen in Bezug auf andere Körper besit-^t . . . Was
von relativer Ruhe gesagt worden ist, kann leicht auf re-
lative Bewegung angewandt werden ; denn wenn ein Punkt O
seinen Ort mit Bezug auf einea Körper A beibehält, sagt
man, dass er sich in relativer Ruhe befindet, und wenn er
kontinuierlich seinen Platz ändert, sagt man, dass er sich
in relativer Bewegung befinde ...^®) Deshalb unter-
scheiden sich Ruhe und Bewegung nur dem
Namen nach und sind einander nicht in Wirk-
lichkeitentgegengesetzt, da ja beide zu gleicher
Zeit demselben Punkte zugeschrieben werden
können, je nachdem derselbe mit verschiede-»-
nen Körpern verglichen wird. Bewegung und
Ruhe unterscheiden sich nicht anders von ein-
ander, als eine Bewegung von einer anderen."**)
Nachdem auf diese Weise Euler die wesentliche Re-
lativität von Ruhe und Bewegung ausdrücklich anerkannt
hat, schreitet er in dem zweiten Kapitel „Über die inneren
Prinzipien der Bewegung" zur Betrachtung der Frage, ob
Ruhe und Bewegung sich von einem Körper ohne Bezug
auf andere Körper aussagen lassen oder nicht. Auf diese
Frage gibt er ohne Zögern eine bejahende Antwort, indem
'^) Ib., p. 7.
loj Ib., p. 8.
Cliarakter u. Ursprung der mechan. Theorie (Forts.), 197
er es als Axiom hinnimmt, dass „jeder Körper, selbst ohne
Bezug auf andere Körper, sich entweder in Ruhe oder in
Bewegung, d. h. in absoluter Ruhe oder absoluter Bewegung
befinde . . . **^) Insolang wir den Sinnen folgten, haben wir
keine andere Bewegung oder Ruhe erkannt als» die in Bezug
auf andere Körper, die wir daher als relative Bewegung
und Ruhe bezeichnet haben. Wenn wir nun aber alle
Körper bis auf einen wegdenken und wenn auf diese Weise
die Bezugnahme, durch die wir bisher Ruhe und Bewegung
unterschieden haben, unmöglich geworden ist, entsteht zu-
erst die Frage, ob der Schluss über Ruhe oder Bewegung,
des zurückbleibenden Körpers noch zu Recht besteht. Denn
wenn dieser Schluss nur aus einer Vergleichung des Ortes
des betreffenden Körpers mit jenen anderer Körper ge-
zogen werden kann, so folgt, dass, wenn diese Körper fort
sind, auch der Schluss mit ihnen verschwinden muss. Wie-
wohl wir aber von der Ruhe oder Bewegung
eines Körpers ausser mit Bezug auf andere
Körper nichts wissen, darf man dessenunge-
achtet nicht schliessen, dass diese Dinge (Ruhe
und Bewegung) an sich nichts wären als eine
blosse vom Verstände. aufgestellte Beziehung,
und dass es nichts den Körpern an sich Anhaf-
tendes gäbe, das unseren Gedanken von Ruhe
und Bewegung entsprechen würde. Denn wenn
wir auch nicht im Stande sind, die Grösse anders als durch
Vergleichung zu erkennen, bleibt noch immer, wenn 4iQ
Dinge, die als Massstab der Vergleichung dienen, nicht
mehr da sind, in dem Körper xias fundamentum quanti-.
t^tis, so zu sagen, zurück; denn wenn der Körper sich
ausdehnt oder zusammenzieht, würde eine derartige Aus-
*^) „Oinne corpus , etiam sine respectu ad alia corpora , vel '
quiescit vel movetur, hoc est, vel absolute quiescit, vel a^bsolute
movetur.*' Ib., p. 30 (cap. II, axioma 7).
198 XU. Kapitel
dehnung oder Zusammenziehung als eine wahre Veränderung
betrachtet werden. Wenn daher nur ein Körper existieren
würde, hätten wir zu sagen, dass er sich entweder in Be-
wegung oder in Ruhe befinde, da nicht beides oder keines
von beiden angenommen werden könnte. Daraus schliesse
ich, dass Ruhe undBewegung nicht blosseGer
dankendinge sind, die aus der Vergleichung:
allein entstehen, so zwar, dass es nichts de»
Körpern Anhaftendes gäbe, das ihnen ent-
sprechen würde, sondern dass mit Recht mit Bezug-
auf einen alleinstehenden Körper gefragt werden könne, ol>
er sich in Ruhe oder Bewegung befinde ... Da wir so-
mit bezüglich eines einzelnen Körpers mit Recht , ohne
Bezugnahme auf andere Körper oder unter der Voraus-
setzung, . dass diese verschwunden sind, fragen können, ob
er sich in Ruhe oder Bewegung befinde, müssen wir not-
wendigerweise entweder das eine oder das andere annehmen.
Was aber diese Ruhe oder Bewegung bedeuten soll an-
gesichts der Thatsache, dass es in diesem Falle keine Ver-
änderung des Ortes mit Bezug auf andere Körper gibt^
können wir uns nicht denken ohne der Zulassung eines ab-
soluten Raumes, in dem unser Körper irgend einen ge-
gebenen Platz annimmt, aus dem er auf andere Plätze
übergehen kann." -^) Dementsprechend beharrt Euler streng
auf der Notwendigkeit der Forderung eines absoluten un-
beweglichen Raumes. „Wer immer,** erklärt er, „den ab-
soluten Raum leugnet, verfällt in die schwersten Verlegen-
heiten. Da er sich genötigt sieht, absolute Ruhe und Be-
wegung als leeren Schall ohne Sinn zu verwerfen, ist er
nicht nur gezwungen, die Gesetze d^r Bewegung zu ver-
werfen, sondern auch zu behaupten, dass es keine Gesetze
der Bewegung gebe. Denn wenn die Frage, die uns zu
21
) Theoria motus etc., p. 31.
Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.), 199
diesem Punkt geführt hat: Was ist der Zustand eines ver-
einzelten von seinen Verbindungen mit anderen Körpern
abgeschnittenen Körpers? absurd ist, dann werden auch
die Dinge, die aus der Einwirkung anderer Körper auf
diesen sich ergeben, ungewiss und unbestimmbar, und auf
diese Weise wird alles und jedes als zufallig und ohne ver-
nünftigen Grund geschehen angenommen werden müssen." --)
. Dass die Grundlage dieses ganzen Raisonnements eine
rein ontologische ist, ist klar. Und als die Denker des
18. Jahrhunderts der Trugschlüsse der ontologischen Speku-
lation gewahr wurden, konnte die üngesundheit von Euler's
„Axiom'V dass Ruhe und Bewegung von aller Bezugnahme
unabhängige wesentliche Merkmale der Substanz seien,
schwerlich sich ihrer Kenntnisnahme entziehen. Trotzdem
waren sie nicht im Stande, sich völlig von Euler's onto-
logischen Vorurteilen zu emanzipieren. Sie verwarfen nicht
auf einmal sein Dilemma als unbegründet — dadurch dass
sie geleugnet hätten, dass Bewegung und Ruhe nicht reell
sein können, ohne absolut zu sein — , sondern versuchten
die absolute Realität von Ruhe und Bewegung mit der in
der Erscheinung hervortretenden Relativität dadurch in Ein-
klang zu bringen, dass sie einen absolut ruhenden Punkt
im Räume verlangten, auf den die Lagen aller Körper be-
zogen werden könnten. An erster Stelle unter denen, die
diesen Versuch gemacht haben , steht Kant. -^) In dem
«2) Ib., p. 32.
2^) Es ist bemerkenswert, wie viele der wissenschaftlichen Ent-
deckungen , Spekulationen und Phantasien der Gegenwart in den
Schriften Kant's antizipiert oder wenigstens vorhergesehen erscheinen.
Einige derselben werden von Zöllner (Natur der Kometen, S. 455 ff.)
aufgezählt — darunter die Beschaffenheit und die Bewegung des Fix-
sternsystems ; der nebelige Ursprung von Planeten- und Sternsystemen ;
der Ursprung, die Beschaffenheit und die Rotation der Saturnringe
und die Bedingungen ihrer Stabilität; die Nichtübereinstimmung des
Mondschwerpunktes mit dem geometrischen Mittelpunkt; die physi-
200 XII. Kapitel.
siebenten Kapitel seiner „Naturgeschichte des Himmels*' —
demselben Werke, in dem er fast 50 Jahre vor Laplace
die ersten Grundzüge der Nebularhypothese gegeben hatte —
versucht er zu zeigen, dass es im Weltall irgendwo einen
grossen Zentralkörper gebe, dessen Schwerpunkt der Kardinal-
kalischc Beschaffenheit der Kometen; der hemmende Einfluss der
Gezeiten auf die Rotation der Erde ; die Theorie der Winde • und
Dove's Gesetz. Fritz Schulze hat gezeigt (Kant und Darwin,
Jena 1875), ^^^^ Kant einer der Vorläufer Darwin's war. Dies-
bezüglich ist es auffallend, eine (ohne Zweifel ganz zufallige) Über-
einstimmung an dem Beispiele zu bemerken , das sowohl Kant wie
A. R. Wallace zum Zwecke der Illustrierung der „Anpassung durch
ein allgemeines Gesetz" benützen. Dieser von beiden vorgebrachte
Fall ist der eines Flussbettes, das nach Ansicht der Teleologen, wie
Wallace sich ausdrückt (Contributions to the Theory of Natural
Selection , p. 276 seq.), ,,mit Absicht hergestellt sein muss , da es
seinen Zweck so gut erfüllt" oder wie Kant sagt „von Gott selbst
ausgehöhlt sein muss". („Wenn man die physisch-theologischen Ver-
fasser hört, so wird man dahin gebracht, sich vorzustellen, ihre Lauf-
rinnen wären alle von Gott ausgehöhlt." Beweisgrund zu einer
Demonstration des Daseins Gottes, Kant's Werke, I, S. 232.) Selbst
von den Grillen der modernen transcendalen Geometrie finden sich
Andeutungen in Kant's Abhandlungen „Von der wahren Schätzung
der lebendigen Kräfte", Werke V, S. 5 und ,,Von dem ersten Grunde
des Unterschiedes der Gegenden im Räume", ib., S. 293 — eine
Thatsache , die sich nicht gut verträgt mit den Bestrebungen jener,
die, wie J. K. Becker, Tobias, Weissenborn, Krause u. a. sich
bemüht haben, die kantische Lehre zur Verteidigung des Euklidischen
Raumes in's Feld zu führen. Es ist wahrscheinlich nicht ohne Be-
deutung, dass in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft Kant
den dritten Paragraphen des ersten Abschnittes der transcendentalen
Ästhetik weglässt, in dem er die Notwendigkeit der Annahme des
a priorischen Charakters der Idee des Raumes aus dem Grunde
betont, dass ohne dieser Annahme die Sätze der Geometrie aufhören
würden, von apodiktischer Gewissheit zu sein, und dass ,, alles, was
von den Dimensionen des Raumes gesagt werden könnte, das wäre,
dass bisher kein Raum von mehr als drei Dimensionen gefunden
worden ist."
Gfiarakter u, Ursprung der mechan, Tfieorie (Forts.). 201
punkt der Beziehung für die Bewegungen sämtlicher Körper
sei. „Wenn man in dem unermesslichen Räume," heisst
es bei ihm, ^*) „darin alle Sonnen der Milchstrasse sich
gebildet haben, einen Punkt annimmt, um welchen durch,
ich weiss nicht was für eine Ursache, die erste Bildung der
Natur aus dem Chaos angefangen hat, so wird daselbst die
grösste Masse, und ein Körper von der ungemeinsten
Attraktion, entstanden sein, der dadurch föhig geworden,
in einer ungeheuren Sphäre um sich alle in der Bildung
begriffene Systeme zu nötigen , sich gegen ihn , als ihren
Mittelpunkt, zu senken, und um ihn ein gleiches System
im ganzen zu errichten, als derselbe elementarische Grund-
stoff, der die Planeten bildete, um die Sonne im kleinen
gemacht hat."
Eine der KANi'schen ähnliche Andeutung ist kürzlich
von Professor C. Neumann gemacht worden, der die Not-
wendigkeit betont, die Existenz eines absolut starren Körpers
an einem bestimmten und ständigen Orte im Räume anzu-
nehmen, auf dessen Mittelpunkt alle Bewegungen bei physi-
kalischen Betrachtungen zu beziehen wären. Die Richtung
seines Gedankenganges erhellt aus den nachfolgenden Aus-
zügen aus seiner Antrittsvorlesung „Über die Prinzipien
der GALiLEi-NEWTON'schen Theorie":^^) „Die
Prinzipien der GALiLEi-NEWTON'schen Theorieen bestehen
in zwei Gesetzen, in dem schon von Galilei ausgesprochenen
Trägheitsgesetz, und in dem später von Newton hinzu-
gefügten Anziehungsgesetz . . . Ein in Bewegung gesetzter
materieller Punkt läuft, falls keine fremde Ursache auf ihn
einwirkt, falls er vollständig sich selber überlassen ist, in
gerader Linie fort, und legt in gleichen Zeiten gleiche
Wegabschnitte zurück. — So lautet das von Galilei
**) „Naturgeschichte des Himmels," Werke (her. v. Rosenkranz),
Bd. VI, S. 152.
**) Leipzig, B. G. Teubncr 1870.
202 XIL Kapitel
ausgesprochene Trägheitsgesetz. In dieser Fassung kann
der Satz als Grundstein eines wissenschaftlichen Ge-
bäudes, als Ausgangspunkt mathematischer Deduktionen
unmöglich stehen bleiben. Denn er ist vollständig unver-
ständlich. Wir wissen ja nicht, was unter einer Be-
wegung in gerader Linie zu verstehen ist; oder wir
wissen vielmehr, dass diese Worte in sehr verschiedenartiger
Weise interpretiert werden können, unendlich vieler Be-
deutungen fähig sind. Denn eine Bewegung z. B., welche
von unserer Erde' aus betrachtet, geradlinig ist, wird
von der Sonne aus betrachtet krummlinig erscheinen, —
und wird, wenn wir unseren Standpunkt auf den Jupiter,
auf den Saturn, auf andere Himmelskörper verlegen, jedes-
mal durch eine andere krumme Linie repräsentiert sein.
Kurz ! Jede Bewegung, welche mit Bezug auf einen Himmels-
körper geradlinig ist, wird mit Bezug auf jeden anderen
Himmelskörper krummlinig erscheinen/'
„Jene Worte des Galilei, dass ein sich selber tiber-
lassener Punkt in gerader Linie dahingeht, treten uns
also entgegen als ein Satz ohne Inhalt, als ein in der Luft
schwebender Satz, der (um verständlich zu sein) noch eines
bestimmten Hintergrunds bedarf. Irgend ein spezieller
Körper im Weltall muss uns gegeben sein, als Basis unserer
Beurteilung, als derjenige Gegenstand, mit Bezug auf welchen
alle Bewegungen zu taxieren sind, — nur dann erst werden
wir mit jenen Worten einen bestimmten Inhalt zu verbinden
im Stande sein. Welcher Körper ist es nun, dem wir diese
bevorzugte Stellung einräumen sollen? Oder sind vielleicht
verschiedene Körper anzuführen? Sind vielleicht die
Bewegungen in der Nähe unserer Erde auf die Erdkugel,
die Bewegungen in der Nähe der Sonne auf den Sonneu-
ball zu beziehen?"
„Leider erhalten wir auf diese Fragen weder bei
Galilei noch bei Newton eine bestimmte Antwort. Wenn
Charakter u. Urspnaig der median. Theorie (Forts.). 203
wir aber das von ihnen begründete und bis auf die heutige
Zeit mehr und mehr erweiterte theoretische Gebäude auf-
merksam durchmustern, so können uns seine Fundamente
nicht länger verborgen bleiben. Wir erkennen alsdann
leicht, dass sämtliche im Universum vorhandene oder über-
haupt denkbare Bewegungen zu beziehen sind auf ein und
denselben Körper. Wo dieser Kprper sich befindet,
welche Gründe vorhanden sind, einem einzigen Körper eine
so hervorragende, gleichsam souveräne Stellung einzu-
räumen, — hierauf allerdings erhalten wir keine Antwort/*
„Als erstes Prinzip der GAULEi-NEWTON'schen
Theorie würde daher der Satz hinzustellen sein, dass an
irgend einer unbekannten .Stelle des Weltraumes ein unbe-
kannter Körper vorhanden ist, und zwar ein absolut
starrer Körper, ein Körper, dessen Figur und Dimensionen
für alle Zeiten unveränderlich sind/*
„Es mag mir gestattet sein, diesen Körper kurzweg zu
bezeichnen als den Körper Alpha. Hinzuzufügen würde
sodann sein, dass unter der Bewegung eines Punktes
nicht etwa seine Ortsveränderung in Bezug auf Erde oder
Sonne, sondern seine Ortsveränderung in Bezug auf jenen
Körper Alpha zu verstehen ist."
„Von hier aus betrachtet, gewirint nun das GALiLEi'sche
Gesetz seinen deutlich erkennbaren Inhalt. Es präsentiert
sich uns als ein z w e i t e s Prinzip, darin bestehend, dass
ein sich selbst überlassener materieller Punkt in gerader
Linie fortschreitet, also in einer Bahn dahingeht, die gerad-
linig ist in Bezug auf jenen Körper Alpha."
Nachdem so Neumann gezeigt oder zu zeigen ver-
sucht hat, dass die Realität der Bewegung mit Notwendig-
keit eine Bezugnahme auf einen starren, unveränderlich in
seiner Lage im Räume verharrenden Körper erfordert, ver-
sucht er diese Annahme dadurch zu verifizieren, dass er
sich selbst die Frage stellt, welche Konsequenzen sich aus
204 XIL Kapitel.
der Hypothese der blossen Relativität der Bewegung er-
geben würden, wenn alle Körper bis auf einen vernichtet
würden. „Nehmen wir an," fügt er hinzu [S. 27], „dass
unter den Sternen sich einer befinde, der aus flüssiger
Materie besteht, und der — ebenso etwa wie unsere Erd-
kugel — in rotierender Bewegung begriffen ist, um eine
durch seinen Mittelpunkt gehende Axe. Infolge einer
solchen Bewegung, infolge der durch sie entstehenden
Centrifugalkräfte wird alsdann jener Stern die Form eines
abgeplatteten Ellipsoids besitzen. Welche Form wird
- — fragen wir nun — der Stern annehmen, falls
plötzlich alle übrigen Himmelskörper ver-
nichtet (in nichts verwandelt) würden:"
„Jene Centrifugalkräfte hängen nur ab von dem Zu-
stande des Sternes selber; sie sind völlig unabhängig von
den übrigen Himmelskörpern. Folglich werden — so lautet
unsere Antwort — jene Centrifugalkräfte und die durch sie
bedingte ellipsoidische Gestalt ungeändert fortbestehen,
völlig gleichgiltig, ob die übrigen Himmelskörper fört-
existieren oder plötzlich verschwinden."
„Wir können aber, falls die Bewegung als etwas nur
Relatives, nur als eine relative Ortsveränderung zweier
Punkte gegen einander, definiert wird, die vorgelegte Frage
noch von einer anderen Seite her in Erwägung ziehen, und
gelangen alsdann zu einer ganz entgegengesetzten Antwort.
Denken wir uns nämlich sämtliche übrigen Weltkörper ver-
nichtet, so sind jetzt im Universum nur noch diejenigen
materiellen Punkte vorhanden, aus denen der Stern selber
besteht. Diese aber besitzen kfeine relative Ortsverände-
rung, befinden sich also (auf Grund der für den Augen-
blick acceptierten Definition) in Ruhe. Folglich wird der
Stern — so lautet gegenwärtig unsere Antwort — von dem
Augenblick an, wo die übrigen Weltkörper vernichtet sind.
Charakter u, Ursprung der mechan, Theorie (Forts.), 203^
sich im Zustande der Ruhe befinden, mithin die diesem
Zustande entsprechende Kugelgestalt annehmen."
„Ein so unleidlicher Widerspruch kann nur dadurch
vermieden werden, dass man jene Definition, die Bewegung
sei etwas Relatives, fallen lässt, also nur dadurch, dass
man die Bewegung eines materiellen Punktes als etwas
Absolutes auffasst; wodurch man dann zu jenem Prinzip
des Körpers Alpha hingeleitet wird."
Welche Antwort ^ann nun auf diese Bedenken Professor
Neumann's gegeben werden ? Keine, wenn wir die Zulässig-
keit der Hypothese von der Vernichtung aller Körper im
Räume bis auf einen und die Zulässigkeit der ferneren
Annahme zugeben, dass ein absolut starrer Körper mit einem
absolut fixen Standorte im Weltall möglich ist. Ein solches
Zugeständnis verbietet sich jedoch durch das allgemeine
Prinzip der Relativität. In erster Linie würde die Vernich-
tung aller Körper bis auf einen nicht nur die Bewegung
dieses einen zurückbleibenden Körpers zerstören und ihn
zur Ruhe bringen, wie Professor Neumann bemerkt, sondern
sie würde auch seine wahre Existenz zerstören und in
ein Nichts verwandeln, was er nicht sieht. Ein Körper
vermag das System von Beziehungeii , in denen allein sein
Sein besteht, nicht zu überleben; seine Anwesenheit
oder Lage im Räume ist ohne Beziehung auf andere
Körper nicht mehr möglich, als es die Veränderung
der Lage oder Gegenwart ohne solche Bezugnahme
ist. Wie überreichlich bereits gezeigt worden ist, sind alle
Eigenschaften eines Körpers, welche die Elemente seiner
erkennbaren Anwesenheit im Räume ausmachen, ihrer Natur
nach Beziehungen und schliessen Glieder in sich, die über
den Körper selbst hinausgehen.
In zweiter Linie ist die dem Körper Alpha zugeschriebene
absolut feste Lage im Räume unter den bekannten Be*
dingungen der. Realität unmöglich. Die feste Lage eines
^o6 XII, Kapikl.
Punktes im Räume bedingt die Beständigkeit der Grösse
seiner Entfernungen von wenigstens vier festen Punkten im
Räume, die sich nicht in einer Ebene befinden. Die fixe
Lage dieser verschiedenen Punkte hängt ab&r wieder von
der Konstanz der Entfernungen von anderen fixen Punkten
ab und so weiter ad infinitum. Kurz, die fixe Lage eines
Körpers im Räume ist nur unter der Voraussetzung der
absoluten Endlichkeit des Weltalls möglich; und dies führt
zur Lehre von der wirklichen Krtimrpung des Raumes und
zu- den anderen Lehren der modernen transcendentalen
Geometrie, die später zur Erörterung gelangen sollen.
Es gibt nur eine Möglichkeit, den Verlegenheiten Euler's
zu entrinnen, und das ist die Annahme, dass die Realität
von Ruhe und Bewegung, weit entfernt im Absoluten zu
bestehen, von ihrer Relativität abhänge. Die Quelle dieser
Verlegenheiten ist leicht zu entdecken. Sie ist in der alten
metaphysischen Lehre zu finden, dass das Reale nicht nur
vom Phänomenalen verschieden, sondern sein gerades Gegen-
teil sei. Erscheinungen sind Äusserungen der ginne, und
von diesen heisst es, dass sie einander widersprechen und
daher täuschend seien. Nun gibt es aber in Wahrheit keine
physische Realität, die nicht phänomenaler Natur wäre. Der
einzige Zeuge physischer Realität ist die sinnliche Erfahrung.
Die Behauptung, dass das Zeugnis der Sinne trügerisch sei
in dem Sinne, wie es von den Metaphysikern behauptet
worden ist, ist grundlos. Das Zeugnis der Sinne ist ledig-
lich deshalb widersprechend, weil die momentane Äusserung
«ines Sinnes unvollständig ist. und der Kontrolle und Ver-
besserung entweder durch andere Äusserungen desselben
Sinnes oder durch Äusserungen anderer Sinne bedarf. Wenn
der Wüstenreisende vor sich einen See erblickt, der be*
■ständig vor ihm zurückweicht und schliesslich verschwindet,
indem er sich als ein Erzeugnis der Luftspiegelung erweist,
so sagt man , däss er durch seine Sinne getäuscht worden
Charakter u. JJrspmng der median, Tlieorie (Forts.), 207
ist, da sich ja die angenommene Wassermasse als ein blosser
Schein ohne Wirklichkeit herausgestellt hat. Allein die
Sinne haben nicht getäuscht. Der See war ebenso wirk-
lich als sein Bild. Der Irrtum liegt in den trügerischen
Schlüssen des Reisenden, der nicht alle Thatsachen in
Rechnung zieht, indem er die Brechung der vom wirk-
lichen Gegenstande kommenden Strahlen, durch die deren
Richtung und die scheinbare Lage des Gegenstandes ver-
ändert wird, vergisst oder sie nicht kennt. Der wahre
Unterschied zwischen dem Schein und der Wirklichkeit
liegt darin, dass ersterer eine unvollständige Sinnesäusserung
ist, die fälschlicherweise für die vollständige genommen
wird. Die Täuschung ergibt sich aus dem Umstände, dass
die Sinne nicht geschickt und erschöpfend befragt worden
sind und ihre ganze Erzählung nicht gehört worden ist.
Die überwältigende Macht der herrschenden onto-
logischen Begriffe' des EuLER'schen Zeitalters über den
klaren Verstand des grossen Mathematikers zeigt sich am
auffälligsten in seiner Behauptung, dass ohne Annahme eines
absoluten Raumes und absoluter Bewegung keine Be-
wegungsgesetze bestehen könnten, so dass alle Erschei-
nungen physikalischer Wirkung ungewiss und unbestimmbar
würden. Wäre diese Argumentation wohl begründet, so
müsste a fortiori dasselbe von seinen wiederholten Zusiche-
rungen im ersten Kapitel seines Buches gelten, dass wir
keine wirkliche Kenntnis von Ruhe und Bewegung ausser
jener besitzen, die von Körpern herstammt, die sich in
Bezug auf andere Körper in Ruhe oder Bewegung befinden.
Euler's Behauptung kann keinen anderen Sinn als den
haben, dass die Gesetze der Bewegung nicht aufgestellt
oder bestätigt werden können, wenn wir nicht deren abso-
lute Richtung und deren absolutes Wachstum kennen. Eine
solche Kenntnis ist aber, wie er selbst zeigt, unerreichbar.
Daraus folgt, dass die Aufstellung und Bestätigung der Be-
2o8 XIL KapiteL
wegungsgesetze unmöglich ist. Und doch wusste niemand
besser als Euler selbst, dass alle experimentelle Bestim-
mung und Bestätigung dynamischer Gesetze, gleich allen
Erkenntnisakten von der Isolierung der Erscheinungen
abhängt; dass dieselbe nur dadurch ausgeführt werden
kann, dass die Wirktmgen gewisser Kräfte von den Wir-
kungen anderer Kräfte (die aliunde, d. h. durch andere
Wirkungen zu bestimmen sind), mit denen sie verwickelt
erscheinen, gesondert werden — ein Verfahren, das in
vielen Fällen durch den Umstand erleichtert wird, dass diese
letzteren Wirkungen unmerklich klein sind. Sicherlich hängt
die Bestätigung des Trägheitsgesetzes durch die Einwohner
unseres Planeten nicht von ihrer Kenntnis des genauen
. Masses seiner Winkelgeschwindigkeit um die Sonne in
einem gegebenen Momente ab! Und die Giltigkeit der
NEWTON'schen Theorie der Himmelsbewegung wird nicht
darum in Frage gestellt, weil ihr Urheber annimmt, dass
der Schwerpunkt unseres Sonnensystems sich in irgend
einer elliptischen Bahn bewegt, deren Elemente nicht nur
unbekannt sind, sondern wahrscheinlich niemals werden ent-
deckt werden ! Ebenso gut könnte auch behauptet werden,
dass die mathematischen Lehrsätze über die Eigenschaften
der Ellipse von zweifelhafter Giltigkeit wären, da ja keine
solche Kurve genau von irgend einem Himmelskörper be-
schrieben wird, noch auch in exakter Weise von einer
menschlichen Hand gezogen werden kann!
Wiewohl wir bei besonderen Denkakten für den Augen-
blick gezwungen sein können, das Zusammengesetzte als
einfach, das Veränderliche als konstant, das Vorübergehende
als beständig und somit in einem gewissen Sinne die Er-
scheinungen „sub quadam specie absoluti" zu betrachten,*®)
**) „De natura rationis est res sub quadam aeternitatis specie
percipere." Spinoza, Eth., Pars II, Prop. XLIV, Coroll. 2.
Charakter u, Ursprung der mechan. Tfieorie (Forts,), 209
so ist doch dessen ungeachtet nichts Wahres an der alten
ontologischen Maxime, dass die wahre Natur der Dinge
nur durch Entblössung derselben von ihren Beziehungen
entdeckt werden könne — dass dieselben, um wirklich be-
kannt zu sein, uns so bekannt sein müssten, wie sie an
sich sind in ihrer absoluten Existenz. Eine solche Kenntnis
ist unmöglich, nachdem sich alle Erkenntnis auf eine Er-
kenntnis von Beziehungen richtet; und diese Unmöglich-
keit tritt nirgends schärfer hervor, als in der Auseinander-
setzung, die Newton und Euler von der Realität der Ruhe
und Bewegung unter den Bedingungen ihrer Bestimmbarkeit
gegeben haben.
Natürlich folgt aus der wesentlichen Relativität von
Ruhe und Bewegung, dass die alte ontologische Unter-
scheidung zwischen beiden hinfallig wird, und dass in einem
doppelten Sinne sich die Ruhe von der Bewegung nach
den Worten Euler's ^'') „so wie eine Bewegung von der
anderen" unterscheidet, oder, wie es moderne Mathematiker
und Physiker ausdrücken, „die Ruhe nur ein besonderer
Fall der Bewegung ist." -^) Und es folgt daraus weiter,
dass die Ruhe nicht das logische oder kosmologische
primum materieller Existenz ist^ dass sie nicht den natür-
lichen und ursprünglichen Zustand des Weltalls vorstellt,
der keiner Erklärung bedürfen würde, während seine oder
seiner Teile Bewegung eine solche erheischen sollte. Was
einer Erklärung bedarf und einer solchen auch fähig ist,
ist stets eine Veränderung des gegebenen Zustandes rela-
tiver Ruhe oder Bewegung eines endlichen materiellen
Systems; die Erklärung besteht immer in der Hervor-
hebung einer äquivalenten Veränderung in einem anderen
materiellen System. Die Frage nach dem Ursprünge der
*') jjNeque motus a quiete aliter differt, atque alius motus ab
alio." Theoria motus, etc., p. 8.
'^^) Kirchhoff, Vorl. über math. Physik [Mechanik], S. 32.
StalLO, Begriffe u. Theorieen. I4
2IO XIL Kapitel,
Bewegung im Weltall als einem Ganzen lässt somit keine
Beantwortung zu, da sie eine Frage ohne verständlichen
Sinn ist.
Die nämlichen Betrachtungen, welche die Relativität
der Bewegung erweisen, bezeugen auch die Relativität ihrer
begrifflichen Elemente Raum und Zeit. In betreff des
Raumes ist dies sofort einleuchtend. Und was die Zeit
betrifft, „die grosse unabhängige Variable", deren ange-
nommener konstanter Fluss als das letzte Mass aller Dinge
gilt, so reicht es aus, zu bemerken, dass sie selbst* durch
die Wiederkehr gewisser relativer Lagen von Gegenständen
oder Punkten im Räume gemessen wird, und dass die
Perioden dieser Wiederkehr veränderlich sind, abhängig
von veränderlichen physikalischen Bedingungen. Dies gilt
ebensogut von unseren modernen Zeitmessern, der Uhr
und dem Chronometer, wie von der Wasseruhr und dem
Stundenglase der Alten, die alle Veränderungen der Reibung,
Temperatur, der Schwere je nach dem Breitengrad und so
fort unterworfen sind. In gleicher Weise gilt dies auch
von den Aufzeichnungen der grossen himmlischen Zeit-
messer, der Sonne und der Sterne. Nachdeni wir unseren
scheinbaren Sonnentag auf den mittleren und diiesen wieder
auf den Sterntag reduziert haben, finden wir, dass die
Zwischenzeit zwischen zwei Durchgängen der Äquinoktial-
punkte nicht konstant ist, sondern infolge der Nutation, der
Präcession der Tag- und Nachtgleichen und zahlreicher
anderer säkularen Störungen und Variationen, die durch die
wechselseitigen Einwirkungen der Himmelskörper entstehen,
unregelmässigen Schwankungen unterworfen ist. Die Kon-
stanz des Flusses der Zeit ist wie die der räumlichen
Lagen, . die als Grundlage für die Bestimmung des Masses
und Betrages physischer Bewegung dienen, rein begriff-
licher Natur.
Auf die Relativität der Masse ist in den vorhergehenden
Charakter u. Ursprung der nuchan, Theorie (Fo7is.). 211
Kapiteln zu widerholten Malen aufmerksam gemacht worden.
Es ist gezeigt worden, da^ das Mass der Masse der reci-
proke Wert der durch eine gegebene Kraft an einem
Körper hervorgebrachten Beschleunigung ist, während die
Kraft wieder durch die einer gegebenen Masse erteilte Be-
schleunigung gemessen wird. Es ist leicht einzusehen, dass
der Begriff Masse derart erweitert werden kann, dass er
nicht nur das Mass der Masse bei der mechanischen Be-
wegung allein, sondern allgemein bei einer jeden physi-
kalischen Wirkung, einschliesslich der Wärme und der
chemischen Affinität bezeichnet. . Dies würde zu einer
Äquivalenz von Massen führen, die verschieden sind je
nach der Natur des als Grundlage der Vergleichung ge-
wählten Agens. Thermisch äquivalente Massen wären die
reciproken W^erte der spezifischen Wärmen der auf die
jetzige Art bestimmten Massen: chemisch äquivalente Massen
die sogenannten Atomgewichte. Es ist bemerkenswert, dass
die Bestimmung der Massen auf Grundlage der Schwere
statt einer Bewertung auf Grund thermischer, chemischer
oder einer anderen physikalischen Wirkung, eine blosse
Sache der Übereinkunft ist und in keinem eigentlichen
Sinne sich auf die Natur der Dinge gründet.
Aber selbst abgesehen davon wird die Relativität der
Masse auch mit Rücksicht auf die gewöhnliche Methode
der Bestimmung der Masse eines Körpers durch sein Ge-
wicht offenkundig. Das Gewicht eines Körpers ist nicht
nur eine Funktion seiner eigenen Masse allein, sondern
auch eine des Körpers oder der Körper, von denen er
angezogen wird, und der Entfernung zwischen denselben.
Ein Körper, dessen durch eine Federwage oder ein Pendel
bestimmtes Gewicht auf der Oberfläche der Erde ein Kilo-
gramm wäre, würde auf dem Monde ein achtel, weniger
als ein fünfzigstel auf mehreren der kleineren Planeten,
fast ein halb am Mars und zweiundeinhalb Kilogramm am
14*
212 XIL Kapitel,
Jupiter und mehr als 27 Kilogramm auf der Sonne wiegen.
Und während der Fall von Körpern im Vacuum an der
Oberfläche der Erde gegen 4,8 m (je nach der Breite etwas
mehr oder weniger) in der ersten Sekunde ausmacht, er-
streckt sich der entsprechende Fall an der Oberfläche der
Sonne auf mehr denn 125 ra.
Die Gedankenlosigkeit, mit der von Seite einiger der
hervorragendsten Physiker angenommen wird, dass die Materie
aus Teilchen zusammengesetzt ist, die ein absolutes, ur-
sprüngliches, in allen Lagen und unter allen Umständen
verbleibendes Gewicht besitzen, bildet eine der bezeich-
nendsten Thatsachen in der Geschichte der Wissenschaft.
„Das absolute Gewicht der Atome ist unbekannt", sagt
Professor Redtenbacher ^®) — in der Meinung, wie aus
dem Zusammenhange und dem ganzen Tenor seiner Aus-
führungen hervorgeht, dass unsere Unkenntnis des absoluten
Gewichtes lediglich durch die praktische Unmöglichkeit der
Isolierung eines Atoms und einer ausreichenden Verfeinerung
der Instrumente bedingt ist.
Es gibt nichts Absolutes oder Unbedingtes in der
Welt der objektiven Realität. So wie es keinen absoluten
Massstab der Qualität gibt, so gibt es auch weder ein
absolutes Mass der Dauer, noch ein absolutes System von
Koordinaten im Räume, auf welches die Lagen der Körper
und deren Veränderungen zu beziehen wären. Ein physi-
kalisches ens per se und eine physikalische Konstante
sind gleich unmöglich, denn alle physische Existenz zerfällt
in Wirkung und Gegenwirkung und eine Wirkung bedeutet
Veränderung.
'^) Dynamidensystcm, Mannheim, Bassermann, 1857, S. 14.
XIII.
Die Theorie von der absoluten Endlichkeit der
Welt und des Raumes. — Die Annahme eines
absoluten Maximums materieller Existenz — ein
notwendiges Korrelat der Annahme des Atoms als
absoluten Minimums. — Ontologie in der Mathe-
matik. — Die Verdinglichung des Raumes. —
Moderne transcendentale Geometrie. — Nicht-
homaloider (sphärischer und pseudosphärischer)
Raum.
Im letzten Abschnitt ist gezeigt worden, wie die
Theorie, nach welcher Raum und Bewegung bloss unter
der Bedingung absoluten Seins wirklich wären, die An-
nahme der Existenz eines absolut festen Bezugspunktes be-
dingt, und diese wieder mit Notwendigkeit zu der Lehre
von der absoluten Endlichkeit der Welt führt. Wiewohl
der Zusammenhang zwischen dieser Lehre und den herrschen-
den ontologischen Lehrsätzen über Raum und Bewegung
bis jetzt, so weit ich hiervon unterrichtet bin, nicht hervor-
gehoben worden ist, ist auf die Lehre selbst vielfach zu
Gunsten kosmologischer, auf die mechanische Atomtheorie
gegründeter Spekulationen eingegangen worden, um die-
selben dadurch von einigen unvermeidlichen Konsequenzen
dieser Theorie, mit der diese Spekulationen sich schliess-
lich als unvereinbar ergeben haben, zu befreien. Und in
jüngster Zeit sind von Seite hervorragender Mathematiker
mit grossem Eifer Betrachtungen über die wahre Natur des
Raumes und den wirklichen Charakter der räumlichen Be-
ziehungen vorgebracht worden.
214 XIIL KapiteL
Man sieht leicht ein, dass die Behauptung der ab-
soluten Endlichkeit des materiellen Weltalls ein logisch
integrierender Bestandteil der allgemeinen Behauptung ist,
dass das, was reell, absolut ist, und dass die Annahme
eines absoluten Maximums materieller Existenz ein not-
wendiges Korrelat der Annahme ihres absoluten Minimums,
des Atoms, ist. Die erste ausdrückliche Verkündigung
eines wissenschaftlichen Glaubens an dieses Maximum scheint
von K. F. Gauss ') in einem seiner Briefe an Schumacher
gemacht worden zu sein, in dem er die Versuche seines
siebenbürgischen Freundes Bolyai und die des russischen
Geometers Lobatschewsky diskutiert, ein geometrisches
System zu finden, das unabhängig von dem Euklidischen
Parallelenaxiom wäre. Die von Gauss in den soeben ge-
nannten Briefen wie in verschiedenen Teilen seiner anderen
Schriften -) hingeworfenen Winke haben innerhalb der letzten
zwanzig Jahre zu einer ergiebigen Diskussion über die Natur
*) Gauss, Briefwechsel mit Schumacher, Bd. 2, S. 268 — 271.
*) Vgl. ,,Disquisitiones generales circa seriem infinitam i -[~
— ^ X -{- . . ." etc. (Comm. recent. Soc. Gott., II, 1811 — 13);
i . y
„Theoria residuorum biquadriticorum Commentatio secunda" (ib., VII,
1828 — 32). Jenen, die mit Herbarts Theorie, dass unsere Idee der
räumlichen Ausdehnung ein psychisches Erzeugnis qualitaüver Data,
d, h. Empfindungen ist, die an sich ohne Ausdehnung sind, vertraut
sind, wird es nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass Gauss' mathe-
mathischer Transcendentalismus bis zu einem gewissen Grade den
Spekulationen seines Kollegen in der philosophischen Fakultät von
Göttingen zu verdanken ist, wiewohl Gauss gewöhnlich grosse Ver-
achtung für das HERBART'schfe System bezeugte — gerade so wie
Descartes durch die Lehren seines Gegners Gassendi beeinflusst
wurde. Der Zusammenhang zwischen G.\uss' metageometrischen oder
(wie sich Lobatschewsky ausdrückt) pangeometrischen Ansichten
und seinen Forschungen über die geometrische Interpretation der
imaginären Grössen und die Theorie der komplexen Zahlen ist augen-
scheinlich.
Die Theorie vmi d. absoluten Endlichkeit d, Welt etc, 215
des Raumes, die Begründutig der Geometrie und den Ur-
sprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome ge-
führt, welche bereits eine ausgedehnte und rasch anwach-
sende Literatur hervorgebracht hat. ^) Der erste wirkliche
Anstoss zu diesem Betreten neuer Bahnen in der mathe-
matischen Theorie wurde von Riemann in einer bemerkens-
werten Dissertation*) gegeben, die am 10. Juni 1854 vor
der philosophischen Fakultät Göttingen gelesen (und 1866
nach Riemann's Tod durch Dedekind veröffentlicht wurde),
sowie durch Helmholtz in einer gleichfalls bemerkenswerten
zwei Jahre später erschienenen Arbeit. ^) Diesen Publikationen
folgten zahlreiche Artikel, Flugschriften und Bücher, die
sich mit der Auseinandersetzung der vorgebrachten Lehren
befassten, und wie zu erwarten stand, gab es keinen Mangel
an« Schriften, die diesen Lehren mit abweisender Kritik
entgegentraten.
Die Glaubenssätze des neuen geometrischen Glaubens
sind sicherlich überraschend. Unter diesen befinden sich
Sätze, wie die : dass unser gewöhnlicher „euklidische", drei-
dimensionale und „homaloide" (ebene) Raum nur ein Spezial-
fall mehrerer möglicher Raumformen sei; dass der Vor-
rang dieses Euklidischen Raumes vor anderen Raumformen
nur aus empirischen Gründen aufrecht erhalten werden
kann , und im Sinne der logischen und psychologischen
Grundsätze der sensualistischen Schule bloss von Zufällig-
keiten der Begriffsassociation abhängt, die umgestossen
^) Vgl. Halsteadt, Bibliogräphy of Hyper-Space and rioh-
Euclideän Geonietry. American Journal of Mathematics , vol. I.,
pp. 261 seq. and. 384 seq.; ib., vol. II, p. 65 seq.
*) „Über die Hypothesen, welche der Geoftietrie zu Grunde
liegen" (Abhandlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu
Göttingen, Bd. 13, S. 133 ff.).
^) Über die Thatsachen, die der Geometrie zu Gründe liegen'*
(Nachrichten der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingeii,
3. Juni. 1865).
2i6 XIIL Kapitel,
werden • könnten (und nach der Meinung einiger enthusiasti-
scher Verteidiger der neuen Lehren es auch sind) durch
die Entdeckung, dass die Existenz mehrerer Dimensionen
ein notwendiger Schluss aus gewissen Thatsachen der Er-
fahrung ist, die nicht anders erklärt werden können, —
gerade so wie auch von der dritten Dimension gesagt wird,
dass sie nicht direkt wahrnehmbar ist, sondern einfach aus
bekannten Thatsachen der Gesichts- und Tastempfindung
erschlossen wird, fiir deren Erklärung die dritte Dimension
ein unabweisliches Postulat bildet; dass deshalb der wahre
und wirkliche Raum nicht drei, sondern vier oder selbst
eine grössere Zahl von Dimensionen hat oder wenigstens,
so viel wir urteilen können, haben* könnte ; dass der Raum,
in dem wir uns bewegen, nicht homaloidal oder eben ist
oder sein muss, sondern seinem Wesen nach nicht homaloidal,
gekrümmt, sphärisch oder pseudosphärisch ist oder sein
kann, so dass jede Linie, die wir bisher als Gerade be-
trachtet haben, bei hinlänglicher Verlängerung sich als ge-
schlossene Kurve erweisen könnte; dass infolge der wirk-
lich vorhandenen Krümmung des Raumes das Weltall, wie-
wohl unbegrenzt, doch nicht unendlich, sondern endlich
sein kann und wahrscheinlich auch ist; dass auf Grund
der Voraussetzung des pseudosphärischen Charakters des
Raumes ein ganzes Büschel „kürzester Linien" durch den-
selben Punkt gezogen werden kann , die alle zu einer ge-
gebenen anderen „kürzesten Linie" in dem Sinne parallel
sind, dass sie sich mit ihr, wie weit sie auch verlängert
werden mögen, niemals schneiden; dass nicht nur das
Krümmungsmass des Raumes, wie die Zahl seiner Dimen-
sionen in verschiedenen Gegenden des Raumes verschieden
sein kann und vermutlich auch ist, so dass kein giltiger
Schluss aus unseren Erfahrungen in den Gegenden, in
denen wir uns zufällig aufhalten, auf die Krümmung oder
die Dimensionen unmesSbar entfernten oder unmessbar
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeil d. Welt etc, 217
kleinen Raumes gezogen werden kann, sondern dass auch
in einer bestimmten Gegend sowohl die Krümmung des
Raumes wie der Grad oder die Zahl seiner Dimensionen
eine allmähliche Änderung erleiden mag und wahrscheinlich
auch erleidet, u. s. w. ®)
®) Die vorsichtigsten Pangeomcter haben kürzlich Neigung ge-
zeigt , einige der hier aufgezählten Lehren , insbesondere jene , die
sich auf die Vermehrung der Zahl der Dimensionen des Raumes und
die lokalen Unterschiede und Veränderungen in der Beschaffenheit
des Raumes beziehen , als Erfindungen ihrer Feinde oder als Cber-
schwänglichkeiten von Personen, die durch ihren Enthusiasmus zu
weit fortgerissen wurden, zu brandmarken. Es mag mir daher ver-
ziehen werden, eine Stelle aus einem Vortrag von Professor P. G. Tait
zu citieren (der sicherlich hinlängliche Neigung hat, wie das Buch,
aus dem ich citiere, es beweist, wenigstens auf Nüchternheit in
Mathematik und Physik zu bestehen, wie auch immer seiner Meinung
nach die passende Form des Geistes beschaffen sein mag, um das
„unsichtbare Weltall" zu überblicken): ,,The properties of space,"
erklärt er, „involving (we know not why) the essential element of
three dimensions, have recently been subjected to a careful scrutiny
by mathematicians of the highest order, such as Riemann and Helm-
HOLTZ; and the result of their inquiries leaves it as
yet undecided wheter space may or may not have pre-
cisely the same properties throughout the universe.
To obtain an idea of what is meant by such a statement, consider
that in crumpling a leaf of paper, which may be taken as representing
Space of two dimensions, we may have some portions of it plane,
and other portions more or less cylindrically or conically curved.
But an inhabitant of such a sheet, though living in space of two
dimensions only, and therefore, we might say beforehand, incapable
of appreciating the third dimension, would certainly feel some difFe-
rence of sensations in passing from portions of his space which were
less to other portions which were more curved. So it is possible
that, in the rapid march of the solar System through
Space, we may be gradually passing to regions in
which space has not precisely the same properties as
we find here — where it may have something in three
dimensions analogous to curvaturein two dimensions —
something, in fact, which will necessarily imply a
2i8 XIIL Kapitel,
So sehr auch diese Lehren von der uns geläufigen
Erfahrung abzuweichen scheinen, wird doch der Anspruch
fourth-dimension change ofform in p ortion s of matter
in Order that they may adapt themselves to their new
locality." P. G. Tait, On Some Recent Advances in Physical
Science, p. 5. Von derselben Art wie diese Stelle ist eine Note des
berühmten Mathematikers, Professor J. J. Sylvester, zu seiner Err
Öffnungsanrede bei der mathematisch - physikalischen Sektion der
British Association zu Exeter 1869, die, wie folgt, lautet: „It is well
known, to Ihose who have gone into these views, that the laws of
motion accepted as a fact suffice to prove in a general way that
the Space we live in is a flat or level space (a ,homaloid*), our
existence therein being assimilable to the life of a bookworm in the
flat Space; but what ifthe page should be undergoing a
process of gradual bending into a curved form? Mr.
W. K. Clifford has indulged in some remarkable speculations a§
to the possibility of our being able to infer, from certain unexplained
phenomena of light and magnetism, the lact of our level space of
three dimensions being in the act of undergoing in space of four
dimensions (space as inconceivable to us as our space to our sup-
posititious bookworm) a distortion analogous to the rumpling of the
page. I know there are many who , like my honored and deeply
lamented friend , the late eminent Professor DoNKiN , regard the
alleged notion of generalized space as only a disguised form of
algebraical formulization ; but the same might be said with equal
truth of our notion of infinity in algebra, or of impossible lines, or
lines making a zero angle in geometry , the Utility of dealing with
which as positive substantiated notions no one will be found to dis-r
pute. Dr. Salmon, in his -extensions of Chasles's theory of characte-
ristics to surfaces, Mr. CUFFORD in a question of probability, and
myself in my theory of partitions , and also in my paper on Bar
rycentric Projection, in the Philosophical Magazine, haye all feit and
given evidence of the practical Utility of handling space of four
dimensions as if it were conceivable space. Moreover, it should be
borne in mind, that every perspective representation of figured space
of four dimensions is a figure in real space, and that the properties
of figures admit of being studied, to a great extent, if not completely,
in their perspective representations." Nature, vol. I, p. 237 seq.
Diq gesperrte Schrift der obigen Stellen rührt von mir her.
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 219
erhoben, dass dieselben keineswegs der empirischen Grund?
läge entbehren. Es wird hervorgehoben, dass es zahlreiche
optische, magnetische und andere physikalische Elrschei-
nungen giebt, von denen sie die einzig ausreichende Er-
klärung bilden. Überdies ist gesagt worden, dass sie allein
den Schlüssel zu den Geheimnissen des modernen Spiri-
tismus an die Hand geben, indem sie uns in den Stand
setzen, gewisse magische Leistungen, die wir sonst ge-r
zwungen wären, in das Gebiet des Übernatürlichen zu ver*
weisen, in den natürlichen kausalen Zusammenhang einzu-
reihen. In dem ersten Artikel der ersten Nummer des
American Journal of Mathematics zeigt Professor Simon
Newcomb analytisch, dass, „wenn eine vierte Dimension dem
Räume hinzugefügt wird, eine geschlossene materielle Ober-
fläche (oder eine Schale) durch einfache Biegung ohne
Streckung oder Zerreissung umgewendet werden könne^*,
nachdem Felix Klein bereits einige Zeit vorher . gezeigt
hatte, dass Knoten in einem vierdimensionalen Räume nicht
existieren können. Demgemäss erklärt Professor Zöllneh
die bekannten Kunststücke des amerikanischen „Mediums'.'
Slade auf Grund des Prinzips der vierten Dimension — r
wobei eines dieser Kunststücke seltsam genug in der Herr
Stellung eines wirklichen kleeblattförmigen Knotens in einein
Seil, dessen Enden mit einander versiegelt und von Zöllner' s
Hand gehalten wurden, bestand. Schliesslich ist behauptet
worden, dass die Theoreme von Lobatschevvsky, Riemann,
Helmholtz und Beltrami "') die einzig richtige Grundlage .
') Ein italienischer Mathematiker, der die Eigenschaften der
pseudosphärischen Oberflächen untersuchte, welche sich von anderen
Oberflächen konstanter Krümmung durch die Thatsache unterscheiden,
dass sie eine Sorte von Parallelismus im transcendentalen Sinne
zwischen ihren- „kürzesten Linien" zulassen. Eine Bezugnahme auf
Beltrami's Schriften und eine kurze Auseinandersetzung ihres In-
haltes findet sich in Helmholtz's Abhandlung „The Origin and
Meaning of Geometrical Axioms", Mind, vol. I, p. 306 vor.
2 20 XIIL Kapitel,
einer besonderen und erschöpfenden Theorie der Parallelen
bilden. Im Vollgefühle ihres Vertrauens auf die Unein-
nehmbarkeit ihrer Stellungen verkündeten die Anhänger des
geometrischen Transcendentalismus stolz, dass mit dem Er-
scheinen von LoBATSCHEWSKv's „geometrischen Unter-
suchungen" *) eine neue Ära über die mathematische Welt
aufgegangen sei, und dass im Lichte dieser Ära die Ge-
samtheit der geometrischen Wahrheiten in ähnlicher Weise
geordnet und vereinfacht würde, wie die Theorie der himm-
lischen Bewegungen durch den grossen Gedanken von
KoPERNiKus. „Was Vesauus im Vergleich zu Galen,"
ruft Professor Clifford*) aus, „was Kopernikus im Ver-
gleich zu Ptolemaeus war, das war Lobatschewsky im Ver-
gleich zu Euklid."
Der Streit zwischen den Schülern der neuen transcen-
dentalen oder pangeometrischen Schule und den Anhängern
der alten geometrischen Überlieferung bietet ein Schauspiel
dar, das nicht verfehlen kann, den gewöhnlichen Beob-
achter in einiges Erstaunen zu versetzen. Die Schüler der
neuen Schule nehmen ihren Standpunkt mit Festigkeit auf
empirischem Boden ein; ihr eigentlich erster Satz ist der,
dass alle geometrischen Wahrheiten empirischen Ursprungs
sind, und dass alles, was wir vom Räume und seinen Eigen-
schaften wissen, uns durch die sinnliche Erfahrung bekannt
wird. Dieser Satz und die sich daraus ergebende Ver-
leugnung des transcendentalen Ursprungs der geometrischen
Axiome werden von Riemann und Helmholtz mit gleichena
Nachdruck hervorgehoben. Und nun errichten sie auf
dieser Grundlage eine Theorie, die uns in die entlegensten
Gebiete des Transcendentalismus führt — in das Reich
*) „Geometrische Untersuchungen zur Theorie der Parallellinien",
von Nikolaus Lobatschewsky, Berlin, Fincke'sche Buchhandlung 1840.
^) Philosophy of the Pure Sciences, W. K. Clifford's Lectures
and Essays, vol. L 297.
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d» Welt etc. 221
eines metageometrischen Raumes, in dem alle unsere ge-
wohnten Kräfte der Einbildung und Begriifsbildung uns im
Stiche lassen, und in dem die Thatsachen der täglichen
Erfahrung wie deren gegenseitige Beziehungen völlig ausser
acht gelassen werden. Andererseits berufen sich die be-
rühmtesten Meister der alten geometrischen Glaubenslehre
bei ihrer Verteidigung der bekannten Data der sinnlichen
Erfahrung und in ihrem Gegensatz zu den „Ausschweifungen"
der transcendentalen Geometrie auf die Lehre von dem
nichtempirischen oder transcendentalen Ursprünge unserer
Ideen vom Räume und seinen wesentlichen Beziehungen.
Die Pangeometer errichten ein transcendentales Gebäude
auf empirischen Grundlagen, während die gewöhnlichen
Geometer ein den Daten der Erfahrung entsprechendes
System auf transcendentalem Grunde errichten. Dieser
Umstand wird indessen, so seltsam er auch auf den ersten
Blick erscheint, schwerlich den denkenden Studierenden
der Geschichte der Erkennsnislehre oder den verständigen
Leser der Vorhergehenden Seiten überraschen. Es ist
keineswegs etw^as Ungewöhnliches, wenn man findet, dass
ontologische Spekulationen, mögen sie sith nun in der
Maske physikalischer oder metaphysischer Theorien einstellen,
sich schliesslich nicht nur für die Thatsachen, zu deren Er-
klärung sie ersonnen worden sind, sondern auch für die
Stützen selbst, durch die man sie aufrecht zu erhalten ver-
meinte, vernichtend erweisen.
Nachdem ich im allgemeinen Sinn und Zweck der
transcendentalen Theorie des Raumes auseinandergesetzt
habe, gehe ich nun an die Prüfung der Prämissen, auf
denen sie beruht, und der Gründe, durch die man . sie zu
stützen sucht. Hier stossen wir von allem Anfang an auf
eine Annahme, die offenbar der ganzen Theorie zu Grunde
Hegt: die Annahme, dass der Raum ein physisch reelles
Ding ist — nicht bloss ein Gegenstand der Erfahrung,
2 23 XIIL Kajy'äeL
sondern ein selbständiger Gegenstand der direkten Empfin-
dung, dessen Eigenschaften mit Hilfe der gewöhnlichen
Instrumente physikalischer und astronomischer Forschung
zu ermitteln wären — dessen Krümmungsmass z. B. mit
Hilfe des Fernrohres zu bestimmen wäre. Diese Annahme
ist von jedem der drei grossen Ausleger der fraglichen
Theorie ausdrücklich gemacht worden. „Das einzige uns
zur Verfügung stehende Mittel," sagt Lobatschewsky, ***)
„um den Grad der Genauigkeit der Sätze dfer gewöhnlichen
Geometrie zu bestimmen, ist die Berufung auf astronomische
Beobachtungen." Ebenso Riemanx:^^) „Wenn wir an-
nehmen, dass Körper unabhängig von ihrem Orte im Räume
existieren, bleibt das Krümmungsmass überall konstant ;
und dann folgt aus astronomischen Beobach-
tungen, dass es nicht von Null verschieden ist." In
demselben Sinne drückt sich Helmholtz aus:^-) „Alle
Systeme praktisch ausgeführter geometrischer Messungen,
bei denen die drei Winkel grosser geradliniger Dreiecke
einzeln gemessen worden sind, also auch namentlich alle
Systeme astronomischer Messungen, welche die . Parallaxe
der unmessbar weit entfernten Fixsterne gleich Null
ergeben (im pseudosphärischen Räume müssten auch
die unendlich entfernten Punkte positive Parallaxe haben),
bestätigen empirisch das Axiom von den Parallelen und
zeigen, dass in unserem Räume und bei Anwendung
unserer Messungsmethoden das Krümmungsmass des
Raumes als von Null unterscheidbar' erscheint. Freilich
muss mit Riemann die Frage aufgeworfen werden, ob
sich dies nicht vielleicht anders verhalten würde, wenn
^^) Geometrische Untersuchungen u. s. f., S. 60.
^^) Über die Hypothesen u. s. f.
^^) „On the Origin and Meaning of Geometrical Axioms", Mind,
vol. I, p. 314. [Citiert nach „Über den Ursprung und die Natur der
geometrischen Axiome", Vorträge u. Reden, II. Bd., S. 23].
Die Theorie von d, absoluten Endliehkeit d, Welt etc, 223
wir statt unserer begrenzten Standlinien; deren grösste die
grosse Axe der Erdbahn ist, grössere Standlinien benutzen
könnten."
Die hier eingenommenen Ansichten über die Natur
des Raumes und den Ursprung der räumlichen Begriffe
bedeuten offenbar eine entschiedene Überschreitung der
äussersten Aussenposten des alten sensualistischen Terrains.
Trotzdem finden sie, im Grunde genommen, eine Stütze
in den Werken eines in diesem Buche schon wiederholt
citierten englischen Denkers, J. St. Mill, der namentlich
auf dem Kontinente als der geschickteste moderne Aus-
leger und Verteidiger der Lehren des Sensualismus gilt,
wenigstens soweit sich dieselben auf den in Rede stehenden
Gegenstand beziehen. ^^) In wenigen Worten ausgedrückt *
gehen diese Lehren dahin, dass die Idee oder der Begriff
des Raumes direkt aus der sinnlichen Erfahrung abgeleitet
ist; dass die Eigenschaften des Raumes durch Beobachtung
oder Experiment zu ermitteln seien; dass die Grundwahr-
heiten der Geometrie, gleich allen anderen Wahrheiten der
physikalischen Wissenschaft, induktiven Ursprunges und von
induktiver Giltigkeit seien ; und dass die den geometrischen
^^) Ich will nicht sagen, dass sich Riemann und Helmholtz
direkt auf Mill beziehen. Es gibt aber nur wenige deutsche Phy-
siker und JVIathematiker, die nicht eifrig Mill's Logik studiert hätten,
insbesondere seit dem Erscheinen der ScHiEL'schen Übersetzung und
dem überschwänglichen Lobe Liebig's, und das kommt in den meisten
Schriften der Pangeometer deutlich zum Vorschein. Das Interesse,
mit dem jede neue Auflage von Mill's Logik von Seite der Männer
der Wissenschaft aufgenommen wurde, verdankt sie ohne Zweifel
ihrer häufigen Bezugnahme auf wissenschaftliche Methoden und Re-
sultate. Thatsache ist, dass Mill durch eine Reihe von Jahren der
offizielle Logiker i^ncj Metaphysik er der kontinentalen Naturforscher
und Mathematiker gewesen ist. Die Achtung, die ihm von Seiten
der zeitgenössischen Vertreter der Wissenschaft entgegengebracht
wurde, ist nicht unähnlich jener, die Aristoteles unter den frühen
mittelalterlichen Scholastikern genossen hatte.
2 24 XIII. Kapitel,
Sätzen zukommende Gewissheit, wenn auch möglicherweise
dem Grade nach verschieden, der Art nach sich nicht von
jener unterscheidet, die irgend einem allgemeinen Satze
über physikalische Thatsachen zukommt. Nachdem sich
die besonderen Sätze der Pangeometrie wenigstens zum
grossen Teile auf die allgemeine sensualistische Theorie
stützen, wird es von Nutzen sein, auf eine nähere Prüfung
dieser Theorie einzugehen, bevor an die Erörterung der
pangeometrischen Sätze selbst geschritten wird. Zu diesem
Zweck wähle ich eine Auseinandersetzung dieser Theorie
in dem oben citierten Buche, dem System der Logik von
J. S. MiLL, in dem das fünfte Kapitel des zweiten Buches
„Vom Beweise und den notwendigen Wahrheiten" eine
ausführliche Darlegung der Ansichten des Verfassers über
Grundlage und Methode der geometrischen Wissenschaft
enthält.
„Die Grundlage aller, selbst der deduktiven oder be-
weisenden Wissenschaften," sagt Mill, ^ *) „ist die Induktion \
jeder Schritt in den Schlussfolgerungen der Geometrie ist
ein Akt der Induktion Der Charakter der Not-
wendigkeit, den man den Wahrheiten der Mathematik zu-
schreibt, und sogar (mit einigen später vorzubringenden
Einschränkungen) die eigentümliche Gewissheit, welche man
ihnen zuschreibt, ist eine Täuschung, die man nicht anders
aufrecht erhalten kann, als indem man annimmt, dass sich
jene Wahrheiten auf rein imaginäre Gegenstände beziehen
und nur deren Eigenschaften ausdrücken. Es ist anerkannt,
dass die Sätze der Geometrie, zum Teil wenigstens, aus
den sogenannten Definitionen hergeleitet werden, und dass
diese Definitionen, soweit als sie sich erstrecken, für korrekte
Darstellungen der Gegenstände gehalten werden, mit denen
es die Geometrie zu thun hat. Nun haben wir nach-
^*) A System of Logic (eight ed.), p. l68 seq.
Die Iheorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 225
gewiesen, dass aus einer Definition alis solcher niemals ein
Satz, es wäre d6nn eifter in Betreff der Bedeutung eines
Wortes, folgen kann, und dass alles, was anscheinend aus
einer Definition folgt, in Wahrheit aus der stillschweigenden
Voraussetzung folgt, dass eis ein dem entsprechendes wirk-
liches Ding gibt. Diese Voraussetzung trifft in dem Falle
der Definitionen der Geometrie nicht völlig zu^ es gibt
keine wirklichen Dingie, die den Definitionen völlig ent-
sprechen. Es gibt keine Punkte ohne Ausdehnung, keine
Linien ohne Breite, keine Kreise, deren Halbmesser alle
genau gleich gross sind, noch auch Quadrate, deren Winkel
alle vollkommen rechte sind. Man wird vielleicht sagen,
dass die Voraussetzung sich nicht auf das wirkliche, sondern
nur auf das mögliche Dasein solcher Dinge erstreckt. Ich
antworte, dass nach jedem Massstabe voii Möglichkeit, den
wir besitzen, es nicht einmal mögliche Dinge sind. Ihr
Dasein scheint, so weit wir irgend darüber urteilen können,
mindestens mit der physischen Beschaffenheit unseres Pia-?
neten, wenn nicht des Weltalls unvereinbar zu sein. Um
diese Schwierigkeit zu beseitigen und zugleich das Ansehen
des angeblichen Systems notwendiger Wahrheiten zu retten,
pflegt man zu sagen, däss die Punkte, Linien, Kreise und
Quadrate, die den Gegenstand der Geometrie bilden,
bloss in unseren Vorstellungen vorhanden sind und einen
Teil unseres Geistes ausmachen, der aus seinem eigenen
Material heraus eine aprioristische Wissenschaft aufbaut,
deren Gewissheit im Gedanken allein gelegen ist und mit
äusserer Erfahrung nichts zu schaffen hat. Von so hoch-
stehenden Autoritäten auch diese Lehre gebilligt worden sein
mag, erscheint sie mir doch psychologisch unkorrekt. " Die
Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die jemand in seinem
Bewusstsein hat, sind (denke ich) bloss Abbilder der Punkte,
Linien, Kreise und Quadrate, die er in seiner Erfahrung
kennen gelernt hat. Unsere Vorstellung von einem Punkte
StalLO, Begriffe u. Theorieen. 15
226 XIII , Kapitel.
ist, denke ich, einfach unsere Vorstellung von dem mini-
mum visibile, dem kleinsten Teil einer Fläche, den
wir sehen können. Eine Linie, wie sie in der Geometrie
definiert wird, ist ganz undenkbar. Wir können über eine
Linie sprechen, als wenn sie keine Breite hätte, weil wir
eine Fähigkeit besitzen, welche die Grundbedingung der
Herrschaft ist, die wir über unsere. Geistesthätigkeiten aus-
üben, die Fähigkeit nämlich, wenn eine Anschauung unseren
Rinnen oder eine Vorstellung unserem Geiste gegenwärtig
ist, nur einen Teil dieser Anschauung oder Vorstellung statt
des Ganzen zu beachten. Allein wir können uns nicht
eine Linie ohne Breite vorstellen, wir können uns kein
geistiges Bild von einer solchen Linie entwerfen; alle die
Linien, die wir in unserem Bewusstsein haben, sind Linien,
welche Breite besitzen. Wenn jemand daran zweifelt, so
können wir ihn nur auf seine eigene Erfahrung verweisen.
Schwerlich glaubt jemand, der sich einbildet, er könne sich
das vorstellen, was man eine mathematische Linie nennt,
dies auf Grund seines eigenen Bewusstseins ; er glaubt dies,
wie ich vermute, vielmehr darum, weil er annimmt, die
Mathematik könnte ohne die Möglichkeit einer solchen
Vorstellung nicht als Wissenschaft bestehen, eine Annahme,
deren völlige Grundlosigkeit darzuthun nicht schwer halten
wird."
„Da es also weder in der Aussenwelt, noch im mensch-
lichen Geiste irgend welche Gegenstände gibt, die den
Definitionen der Geometrie völlig entsprechen, während
man doch nicht annehmen kann, dass es jene Wissenschaft
mit NichtSeiendem zu thun hat, so bleibt nichts übrig, als
zu denken, dass es die Geometrie mit solchen Winkeln,
Linien und Figuren zu thun hat, wie sie in der Wirklich»
keit vorhanden sind, und die Definitionen, wie man sie
nennt, muss man als einige unserer frühesten und nächst-
liegendsten Verallgemeinerungen in Betreff jener natürlichen
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 227
<jegenstände betrachten. Die Korrektheit dieser Verall'
.gemeinerungen a 1 s solcher ist makellos ; die Gleichheit
^Uer Halbmesser eines Kreises ist von allen Kreisen wahr,
-^o weit sie es von irgend einem ist, allein sie ist nicht
von irgend einem einzigen Kreise genau wahr, sie ist es
nur annähernd, — so annähernd, dass man praktisch keinen
Irrtum von Bedeutung begehen wird, wenn man sie als
^enau wahr annimmt. Wenn wir Veranlassung finden, diese
Induktionen oder ihre Folgesätze auf Fälle auszudehnen,
bei denen der Irrtum bemerklich wäre — auf Linien von
wahrnehmbarer Breite oder Dicke, auf Parallele, die merk-
lich von der gleichen Entfernung abweichen, und Ähnliches,
iso berichtigen wir unsere Schlüsse dadurch, dass wir eine
neue Reihe von Sätzen, die auf die Abweichung Bezug
liaben, mit ihnen in Verbindung setzen, gerade wie wir
auch Sätze in Betreif der physikalischen oder chemischen
Eigenschaften des Materials mit einbeziehen, wenn jene
Eigenschäften das Ergebnis irgendwie beeinflussen können,
Amd sie können dies sehr leicht, selbst in Bezug auf Ge-
-stalt und Grösse, wie z, B. in dem Fall der Ausdehnung
^ines Körpers durch Wärme. So lange jedoch keine prak-
tische Notwendigkeit vorhanden ist, andere Eigenschaften
-des Gegenstandes als seine rein geometrischen, oder auch
irgend welche von den natürlichen Unregelmässigkeiten in
•diesen zu beachten, so ist es zweckmässig, die Betrachtung
xlieser anderen Eigenschaften und Unregelmässigkeiten zu
-vernachlässigen und so zu verfahren, als ob sie nicht vor-
lianden wären ; demzufolge kündigen wir in den Definitionen
^ausdrücklich unsere Absicht an, in dieser Weise vorzugehen.
Irrig wäre jedoch die Voraussetzung, dass, weil wir unsere
Aufmerksamkeit auf eine gewisse Anzahl von den Eigen-
ischaften eines Gegenstandes zu beschränken beschliessen,
wir uns darum den Gegenstand seiner anderen Eigenschaften
-entkleidet denken oder eine dem entsprechende Vorstellung
15*
338 XIIL Kapitel, '
Von ihm haben. Wir denken die ganze Zeit über an genau
solche Gegenstände, wie wir sie gesehen und getastet haben^
,und mit all den Eigenschäften, die ihnen von Natur aus
zukommen, aber der wissenscliaftlichen Zweckmässigkeit zu
Liebe nehmen wir an, sie* wären aller Eigenschaften mit
Ausnahme derjenigen entkleidet, die fiir unseren Zweck
wesentlich sind, und in Bezug auf welche wir sie zu unter-
suchen gedenken."
„Die eigentümliche Genauigkeit, die man fiir eine
charakteristische Eigenschaft der ersten Grundsätze der Geo-
metrie hält, scheint mithin auf einer Fiktion zu beruhen.
Die Sätze, auf denen die Deduktionen der Wissenschaft
beruhen, entsprechen so wenig als in anderen Wissenschaften
den Thatsachen genau; allein wir nehmen an, dass sie
es thtin, um die Konsequenzen, die sich aus dieser An-
nahme ergeben, weiter zu verfolgen. Die Ansicht Dugali>
Stewart's rücksichtlich der Grundlagen der Geometrie ist
meines Erachtens wesentlich richtig ; dass diese , Wissenschaft
nämlich auf Hypothesen gebaut ist, dass sie diesen allein
die besondere Gewissheit verdankt, die man fiir ihre unter -^
scheidende Eigentümlichkeit hält und dass wir in jeder
Wissenschaft ohne Ausnahme, sobald wir von einer Reihe
von Hypothesen ausgehen, zu einem System von Lehren
gelangen können, die ebenso gewiss wie die der Geometrie
sind, d. h. sich ebenso streng im Einklang mit den »Hypo-
thesen befinden und mit ebenso unwiderstehlicher Gewalt
«
unsere Beistimmung erzwingen, vorausgesetzt, dass
jene Hypothesen wahr sind."
Ich habe diese Stelle aus Mill's Logik ausfiihrlich
citiert, nicht nur weil sie die durchgearbeitetste und zu-
sammenhängendste Aufstellung der sensualistischen Theorieen
über den Charakter notwendiger Wahrheiten, insbesondere
der der Geometrie ist, sondern auch weil diese Auseinander^
Setzung gewisse Besonderheiten in sich birgt, die der Auf-
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc, i2(^
merksamkeit wert sind. Eine dieser Eigentümlichkeiten ist
das Zugeständnis, dass der Geist das Vermögen der Ab-^
straktion besitzt und Verallgemeinerungen bilden und dis-
kutieren kann, die „a 1 s Verallgemeinerungen makellos sind".
Die Unverträglichkeit dieses Eingeständnisses mit der Be-
hauptung, dass „die Punkte, Linien, Kreise und Quadrate,
die jemand in seinem Bewusstsein hat, bloss Abbilder der
Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die er in seiner Er-
fahrung kennen gelernt hat, seien", ist evident. Diese Un-
verträglichkeit entging auch nicht der Kenntnisnahme anderer
Verkünder der empirischen oder sensualistischen Lehre,
wie es sich z. B. in den Schriften von Buckle zeigt, der
nicht zögert, die wahren Konsequenzen (vor denen Mill
selbst zurückgeschreckt zu haben scheint) aus Mill's Prä-
missen zu ziehen* Buckle behauptet nicht nur kühn, dass
es keine Linien ohne Breite gibt (auf die Dicke vergisst
er seltsamerweise), sondern auch, dass die Vernachlässigung
dieser Breite durch die Geonieter alle Ergebnisse geometrischer
Schlüsse ungiltig macht und uns der einzige Trost bleibt,
dass dieser Fehler im Grunde nicht sehr beträchtlich ist."
„Nachdem ja," erklärt er, ^*) „die Breite -der feinsten Linie
so unbedeutend ist, dass sie ausser durch ein Instrument
unter dem Mikroskop einer Messung nicht fähig ist, so
folgt, dass die Annahme, es körine Linien ohne Breite
geben, so nahe der Wahrheit kommt, dass unsere Sinne,
wenn sie nicht durch die Kunst unterstützt werden, deri
Fehler nicht entdecken können. Früher, vor der Erfindung
des Mikrometers, war es überhaupt unmöglich, ihn zu ent-
decken. Infolgedessen kommen die Schlüsse der Geometer
dei: Wahrheit so nahe, dass wir berechtigt sind, sie für
richtig zu halten. Der Fehler ist zu klein, um wahrge-
**) History of GiviliÄation in England, vol. II, p. 342 (Appleton's
American edition)^
230 XIIL Kapitel,
nommen werden zu können, Dass aber ein Fehler da ist^
scheint mir sicher zu sein. Es scheint gewiss, dass, wenn»-
etwas in den Prämissen verschwiegen wird, etwas in den*
Schlüssen mangelhaft sein muss. In allen solchen Fällen
ist das Untersuchungsgebiet nicht vollständig berücksichtigt
worden ; und da ein Teil der vorauszusetzenden Thatsachei»
unterdrückt wurde, muss, glaube ich, zugegeben werden,,
dass die ganze Wahrheit unerreichbar ist, und dass kein
Problem der Geometrie eine erschöpfende Lösung ge-
funden hat.*'
Ob Buckle im Stande war, sich eine Linie als Grenze
zweier Flächen zu denken und ob seiner Meinung nach'
eine solche Grenze Breite besitzt (d. h. selbst wieder eine-
Fläche ist, so dass wir von Grenze zu Grenze getrieben;
würden, ad infinitum), sagt er uns nicht. Noch sagt er
uns, ob in Anbetracht der Thatsache, als die Breite der
Linie von dem Material, aus dem sie hergestellt ist, ab-
hängt, wir eine Papp-, eine Holz-, eine Steingeometrie u. s. w^
als verschiedene Wissenschaften zu unterscheiden hätten
oder nicht.
Um jedoch Mill und dem unter Diskussion befind-
lichen Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen,,
müssen wir uns Mill's eigene Ausführung vor Augen halten.
Kehren wir zu seiner Auseinandersetzung zurück, so erhebt
sich sofort die Frage: Was meint er mit der Behauptung,,
dass keine räumlichen Elemente in Wirklichkeit so sind^
wie sie in der Wissenschaft der Geometrie betrachtet
werden — dass es z. B. keine vollkommen geraden Linien
gibt? Der einzig mögliche Sinn ist der, dass keine der so-
genannten geraden Linien , von denen wir empirische
Kenntnis besitzen, mit den geraden Linien, von denen wir
anderweitige Kenntnis haben, kongruent sind, — dass-
sie nicht übereinstimmen mit den Normaltypen der Geraden
in unserem Bewusstsein. Mill behauptet aber, dass ,,die
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 231
Linien u. s. f., die jemand in seinem Bewusstsein hat, bloss
Abbilder der Linien sind, die er in seiner Erfahrung kennen
gelernt hat." Es gibt somit keinen Massstab, mit dem die
Linien der Erfahrung verglichen werden und von dem sie
sich als abweichend herausstellen könnten. Mill's Theorie
bricht also gleich mit der ersten Thatsache, die er zu ihrer
Unterstützung anfährt, in ^sich zusammen.^®) Es ist dies
keine blosse tadelsüchtige Kritik; es ist eine einfache Dar-
legung der völligen Sinnlosigkeit der Prämissen, aus denen
Mill's Schlüsse gezogen worden sind. Die ganze Grund-
lage seiner Theorie zerbröckelt in dem Augenblick, wo
an ihr gerührt wird. Bei weiterer Prüfung zeigt sich, dass
er vollständig die Bedeutung der Thatsachen verkennt, die
er anführt. Die wirkliche Bedeutung der eben angeführten
Behauptung Mill's ist ganz verschieden von der, welche
er ihr beilegt. Die Wahrheit, welche dieser Behauptung
zu Grunde liegt, ist, dass wir, im Sinne Mill's, überhaupt
keine empirische Kenntnis von Linien, Kreisen und Quadraten
besitzen. Wir haben empirische Kenntnis von sogenannten
geraden Stäben, Seilen, Kanten oder Rinnen, von sphärischen
und kubischen Körpern mit kreisförmigen oder quadratischen
Durchschnitten oder Seiten ; unsere Kenntnis von Punkten,
**) Dass ein so scharfer Denker wie J. St. Mill gegen die
mannigfachen Widersprüche und Absurditäten blind war, an denen
seine Logik und Teile seiner anderen Schriften so reich sind, ist
lediglich aus der Thatsache erklärlich , dass er seine Erkenntnis-
theorie auf gut Glauben als ein heiliges Vermächtnis von seinem
Vater übernommen hatte, der sie wieder seinerseits von französischen
und englischen Nominalisten und Sensualisten des 17. und 18. Jahr-
hunderts übernommen hatte. Die Lehren dieser Sensualisten waren
notwendigerweise roh und ungereift, da sie zu einer Zeit entstanden
sind, wo die rationale Psychologie in ihrer Kindheit war und an
die vergleichende nicht einmal noch gedacht worden war ; und sie
waren überspannt, weil sie durch den Widerstand gegen einen ebenso
überspannten Realismus erzeugt wurden.
233 • XIIL Kapitel.
Linien, Oberflächen und geometrischen Kjörpern kommt
aber lediglich durch den Prozess der Abstraktion zu Stande.
Nichts ist klarer und leichter zu beweisen, als dass die
Elemente der geometrischen Wissenschaft — die Grund-
lagen, auf denen die Wissenschaft der Geometrie beruht, — '■
nicht durch Induktion haben erhalten werden können, und
dass es a fortiori nicht richtig ist/ wie Mill behauptet,
dass „jeder Schritt in den Schlussfolgerungen der Geometrie
ein Akt der Induktion ist." Induktion besteht in der An-
häufung von Beispielen , die alle dasselbe Element oder
denselben charakteristischen Zug unter anderen Elementen
und Eigentümlichkeiten enthalten. Doch hat noch niemand
zwei Körper gesehen, deren Kanten, wiewohl gerade ge-
nannt, sich nicht durch eine Prüfung bei einer hinläng-
lichen Vergrösserung als in verschiedenen Graden gebrochen
erwiesen hätten. Die Erfahrung liefert nicht zwei Beispiele;
die die Form der Geradheit in gleichem Grade darbieten.
Noch weniger hat jemand eine grössere Zahl von/Körpern
gesehen, deren Kanten genau übereinstimmend gewesen
wären. Dasselbe gilt natürlich mutatis mutandis von Punkten^
Kurven, Oberflächen und Körpern. Die Unterschiede ihrer
Formen wie ihrer Grössen werden in dem Masse offen-
barer, als die Vergrösserung wächst, mit der sie betrachtet
werden. Ihre wahren Gestalten bleiben aber unentdeckbar
durch jede noch so grosse uns zur Verfugung stehende
Vergrösserung. In Wirklichkeit können wir nie Einblick
gewinnen in die wirkliche Gegenwart einer streng richtigen
und vollständigen geometrischen Thatsache. Es ist also
einfach ein Unsinn, mit Mill zu sagen, dass die Punkte;
Linien, Flächen, Körper u. s. f., von welchen die Geometrie
handelt und über die sie gütige Schlüsse ziehen kann,
wirkliche, d. h. physische und nicht imaginäre Punkte,
Linien, Flächen und Körper sind,, und dass die Punkte*
Linien, Flächen und Körper unseres Bevirusstseins Kopien
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc, 233
derselben vorstellen. Es ist allerdings richtig, dass die
geometrischen Elemente nicht imaginärer Natur sind , da
sie sich ja . auf wirkliche Thatsachen beziehen ; . auch sind
sie in keinem eigentlichen Sinne hypothetischer Art,
wie von Dugald Stewart behauptet worden ist; sie sind
vielmehr Begriffe, Ergebnisse der Abstraktion. Wäre
dies anders, so würde ein geometrisches deduktives Ver-
fahren — und in der That jede andere Art eines Vernunft-
schlusses — völlig unmöglich sein. Jedes deduktive Ver-
fahren hängt von dem Vermögen der Abstraktion ab. Diese
Wahrheit findet ihre Anwendung nicht nur in der Geometrie
und in der Mathematik überhaupt, sondern auch in was
immer für einer Wissenschaft. Es ist dies aus zwei Gründen
so : Erstens wird uns kein physisches Ding (oder historisches
Ereignis) je experimentell mit allen seinen Eigenschaften,
Beziehungen und Nebensächlichkeiten bekannt ; Empfindung
und Wahrnehmung teilen dem Verstände nie di6 voll-
ständige Thatsache mit. Zweitens ist, wie ich oben-ge-
zeigt habe, der. Verstand bei der Behandlung der sogenannten
Thatsachen^ die die sinnliche Erfahrung liefert, an gewisse
bestimmte Beziehungen eingeschränkt, die > er von' anderen
absondert oder abstrahiert. In den Prozessen des diskur-
siven Denkens hat der Verstand niemals die, sinnlichen
Objekte oder die Gesamtheit von Beziehungen , die deren
geistige Bilder oder Repräsentanten ausmachen, vor sich,
sondern nur eine einzige Beziehung oder eine Klasse von
Beziehungen. Er operiert nach den Richtungen der Ab-
straktion, und das Endergebnis seiner Bemühungen enthält
nie mehr als die Grundzüge. des vorgestellten Gegenstandes^
Während aller seiner Operationen^ ist der Verstand völlig
eingedenk des- Umstandes , dass kein Glied seiner Kette
von Abstraktiorien noch auch die Gruppe seiner Absträktions-
ergebnisse, die wir einen Begriff nennen (in dem engeren
Sinne einer Vereinigung von Merkmalen, die einen Gegen-
234 XIII , Kapitel,
stand der Anschauung oder Empfindung darstellt) eine
Kopie oder ein genaues Abbild des dargestellten Gegen-
standes ist. Er ist sich stets dessen bewusst, dass, um
wahre Übereinstimmung zwischen Begriffen oder einem
Teile ihrer Merkmale mit den Formen objektiver Realität
herzustellen, die in den Begriffen verkörperte Gruppe von
Beziehungen durch eine unbestimmbare Zahl anderer Be-
ziehungen ergänzt werden müsste, die nicht wahrgenommen
wurden und möglicherweise einer Wahrnehmung nicht fähig
sind. Doch beeinträchtigt dies in keiner Weise die Giltig-
keit der Denkhandlung. Wenn der Mathematiker die Eigen-
schaften eines Kegelschnittes bestimmt, weiss er sehr wohl,
dass er keinen Körper finden wird, dessen geometrischer
Umriss eine genaue Verwirklichung des Gesetzes von der
Konstanz des Verhältnisses zwischen den Entfernungen eines
seiner Punkte von einem fixen Punkt und einer fixen Ge-.
raden vorstellt, und dass es in der Natur keine Wurfbahn
gibt, die genau mit einer solchen Kurve übereinstimmt.
Diese Kenntnis erschüttert indes nicht im geringsten sein
Vertrauen auf die uneingeschränkte Giltigkeit seiner Schlüsse.
Kommt er dazu, die Ergebnisse seiner Schlüsse auf natür-
liche Thatsachen anzuwenden, so ergänzt er sie, soweit er
es vermag, durch die Ergebnisse anderer Schlussweisen,
die sich auf andere bekannte Beziehungen derselben That*
Sache stützen, und kommt so der Thatsache so nahe als
möglich, ohne vor der stets vor Augen gehaltenen Über-
legung zu erschrecken, dass es ihm niemals gelingen wird,
biS: zum wirklichen Vorhandensein der ganzen Thatsache
mit samt allen ihren Beziehungen vorzudringen.
Es ist klar, dass die Übereinstimmung der Ergebnisse
des abstrakten oder begrifflichen Denkens mit den Daten
der Erfahrung in direktem Verhältnisse steht zu dem Grade
der Unabhängigkeit der benützten ßeziehungen von anderen
Beziehungen, welche die Bedingungen der wirklichen Existenz
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 235
des durch das Denken dargestellten Gegenstandes ausmachen.
Hierin liegt der Vorrang der Geometrie vor den physi-
kalischen Wissenschaften. In den sogenannten physikalischen
Wissenschaften stehen die Beziehungen, von denen diese
Wissenschaften handeln, mit einander in einem engen Zu-
sammenhang; die thermischen, elektrischen, magnetischen^
optischen und chemischen Eigenschaften bestimmen ein-
ander in verschiedener Weise. Wenn die Natur und der
Grad dieser gegenseitigen Abhängigkeit genau bekannt wäre
und in den Bereich einer erschöpfenden begrifflichen Analyse
gebracht werden könnte, würden diese Wissenschaften in
demselben Masse deduktiv werden, wie es die Geometrie
ist. Alle physikalischen Wissenschaften streben den Fort-
schritt in dieser Richtung an, doch ist. derselbe so gering,
dass wenig Hoffnung vorhanden ist, das hier gesteckte
Ziel zu erreichen. Ein Grund dafür ist der, dass die Zahl
der neu entdeckten Beziehungen . sich in demselben (wenn
nicht in einem stärkeren) Verhältnis vervielfältigt wie die
Natur und der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen
den schon bekannten und ans Licht gebrachten Beziehungen.
Die Schwierigkeit der Bestimmung der fjaglichen gegen-
seitigen Abhängigkeit wächst im geometrischen Verhältnisse,
wenn die Zahl der neuen Beziehungen im arithmetischen
zunimmt.
Die vorhergehenden Betrachtungen reichen meines Er-
achtens nach aus, die Unhaltbarkeit der sensualistischen
Ansicht über den Raum und die Natur der Berechtigung
geometrischer Wahrheiten zum mindesten in der ihr von
MiLL gegebenen Form darzuthun. Diese Überlegungen ver-
mögen jedoch nicht im geringsten den allgemeinen Satz
anzufechten, dass alle unsere Kenntnis der objektiven Welt
aus der Erfahrung abgeleitet ist. Dieser Satz scheint mir
unleugbar zu sein und wird ohne Zweifel, ausdrücklich oder
mehr weniger indirekt, gegenwärtig von jedem Menschen
i$6 XIIL Kapitel.
gesunden Geistes gebilligt, nachdem sich die einzigen dies-»
bezüglich vorhandenen Streitfragen nur um den Sinn von
Worten bewegen. Die Sensualisten aber und besonders,
wie ich bereits gezeigt habe, die Begründer und Förderer
der transcendentälen Geometrie fugen noch einen Satz hin-
zu, der sorgsam von dem eben aufgestellten zu unter-
scheiden ist. Sie behaupten > dass der Raum nicht nur
objektive Realität besitzt , sondern ein direkter ' und unab-
hängiger Gegenstand der Empfindung ist, dessen Eigen-
schaften in empirischer Weise wie die irgend eines anderen
physischen Dinges ermittelt werden können. Dieser Be-
hauptung ist von den Gegnern des geometrischen Trans-
cendentsdismus die Gegenbehauptung entgegengestellt worden,
dass der Raum gleich der Zeit kein unabhängiger Gegen-
stand der Empfindung, sondern wie es Kant gelehrt oder
gelehrt haben soll, eine blosse Form der Anschauung ist,
ein Zustand oder eine Bedingung des Geistes, die unab-
hängig von und vor aller sinnlichen Erfahrung vorhanden
ist. . Der Streit zwischen den Verfechtern der neuen Lehre
und ihren Gegnern ist in dem durchgängigen beiden Par-
teien gemeinsamen Glauben gefuhrt worden, dass diese
Ansichten strikte Alternativen sind, und dass keine andere
Ansicht zulässig oder möglich ist. Es sei nun gestattet, diese
zwei widerstreitenden Behauptungen durch Thatsacheil der
Erkenntnis zu prüfen, über die keine Meinungsverschieden-
heit besteht, oder die vernünftigerweise nicht angefochten
werden können.
Was nun zunächst die Behauptung von Riemann und
Helmholtz angeht, s6 befindet sich der Raum, wenn er
ein physischer reeller Gegenstand ist, sicherlich nicht ausser-
halb der anderen physischen Gegenstände ,' ist denselben
nicht koordiniert und von ihnen verschieden. Wenn wir
sagen, dass sich alle Dinge im Räume befinden,^ so meinen
wir damit nicht, dass sie in ihm enthalten sind 'wie Wasser
Die Theorie von d. absoluten Endliöhkeii d, Welt etc. 237
in einem Gef^Lsse, sondern wir meinen^ dass es keinen ob-
jektiv reellen Gegenstand gibt, der nicht räumlich ausge-
dehnt wäre oder, in der gewöhnlichen Sprechweise, dass
die räumliche Ausdehnung eine primäre Eigenschaft aller
Arten objektiver Existenz ist. Diese Thatsache ist so klar^
dass sich Descartes durch sie zu der Behauptung ver-
leiten Hess, die räumliche Ausdehnung sei die einzige
wahre Eigenschaft objektiver Existenz. In welcher Weise
denn und durch welche Mittel unterscheiden wir den Raum
von den gewöhnlich sogenannten physischen Dingen ? Sicher-
lich nicht, oder wenigstens nicht direkt durch die Empfin-
dung. Verschiedene Empfindungsakte können verschiedene
Eigenschaften desselben Gegenstandes zeigen, und diese
Eigenschaften können somit von einander getrennt werden.
Kein Akt der Empfindung sondert die Ausdehnung eines.
Körpers von allen seinen anderen Eigenschaften ab und
zeigt die Eigenschaft der Ausdehnung für sich allein. Die
Sensualisten behaupten aber (und hier stossen sie auf den
Grund ihrer Gegner, der kantischen Idealisten), dass, wie-
wohl es keine physischen Gegenstände ohne räumliche
Ausdehnung gibt, und wiewohl die Ausdehnung in eineni
Sinrie eine gemeinsame Eigenschaft aller physischen Gegen-
stände ist, trotzdem diese Gegenstände nicht allen Raum
erfüllen, indem sich zwischen ihnen reiner Raum befinde.
Die Antwort darauf besteht darin, dass diese Behauptung,,
auch wenn sie wahr ist, den Sensualisten nichts hilft. Denn
eine Empfindung ist nur dann und dort möglich, wo eine
objektive Verschiedenheit und Veränderung vorkommt ; wir
haben direkte Empfindungen von den verschiedenen und
veränderlichen sogenannten physikalischen Eigenschaftea-
und nicht von jenen , die durchaus homogen und unver-
änderlich sind. Hier kommt das HoBBEs'sche Gesetz zur
Geltung : „Sentire semper idem et non sentire
ad idem recidunt". Es ist gerade die Thatsache der
^3^ • XIIL Kapitel.
Homogeneität und Un Veränderlichkeit im Verein mit der
der beständigen Anwesenheit bei allen physischen Gegen-
ständen, welche die Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung
von allen anderen charakteristischen Eigenschaften eines
realen Dinges unterscheidet und den Sensualisten in den
Stand setzt, von der Existenz des Raumes überhaupt zu
reden. Könnte dieser Unterschied verwischt werden —
könnte diese Schranke begrifflicher Art, welche die durch
physische Wirkung erzeugten Empfindungen von den Be-
wusstseinszuständen sondert, die den Raum vorstellen, ein-
mal niedergerissen werden — dann wäre gar kein Grund
mehr vorhanden fiir die Unterscheidung zwischen den
„Eigenschaften" des Raumes und denen irgend einer Materie.
Wir würden uns zu der Aussage genötigt sehen, dass die
einzige Art objektiver Existenz entweder Raum oder Materie
ist (wobei die Unterscheidung eine blosse Sache der Nomen-
klatur wäre), und dass alle Eigenschaften, die wir jetzt der
Materie zuschreiben, in Wahrheit und in der That Eigen-
schaften des Raumes seien.
Dass alles dies der Aufmerksamkeit von Riemann und
Helmholtz entgangen sein sollte, ist erstaunlich in Anbe-
tracht der von ihnen beiden zu dem Zwecke gemachten
Annahme, um die angebliche Notwendigkeit zu rechtfertigen,
dem Räume ein konstantes Krümmungsmass zuzuschreiben
und so die Zahl der Arten des Raumes auf die drei zu
beschränken, die ihrer Behauptung nach zulässig sein sollten,
nämlich auf den sphärischen Raum mit einem positiven
Krümmungsmass, den pseudosphärischen mit einem negativen
Krümmungsmass, und den ebenen oder homaloidalen Raum
mit dem Krümmungsmass Null. ^ "^ Ich meine die An-
nahme, dass die Körper in der Sprache des bereits citierten
^*) Feux Ki^in („Über die nicht-euklidische Geometrie", Mathe-
matische Annalen, Bd. IV, S. 577) bezeichnet diese Arten des Raumes
als elliptisch, parabolisch und hyperbolisch.
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d^ Welt etc. 239
RiEMANN „unabhängig von ihrem Orte im Räume existieren",
womit offenbar gemeint ist, dass sie eine vom Räume ver-
schiedene, wenn nicht ganz unabhängige physikalische Be-
schaffenheit besitzen. Auf dem Boden dieser Annahme
lässt sich aber kein vernünftiger Grund, der auf den Prä-
missen der transcendentalen Theorie beruhen oder mit
denselben verträglich wäre, angeben, warum der Raum
seinem Wesen nach nicht paraboloidal oder hyperboloidal
oder polyhedral oder von sonst einer Form sein könnte,
die die schöpferische Phantasie des nächsten nicht-homaloi-
dalen Geistes auszusinnen vermöchte.
Dies führt mich zu der Behauptung der Transcenden-
talisten, dass die Eigenschaften des Raumes, wie z. B. der
Grad und die Form seinei Krümmung, durch das Experi-
ment zu bestimmen seien. Wie könnte eine solche Be-
stimmung ausgeführt werden? Nehmen wir an, es würde
ein Astronom in geeigneten Zwischenräumen sein Fernrohr
auf einen Fixstern richten — von dessen Erdabstand er
sich auf irgend eine Weise (sagen wir durch das Spektroskop)
überzeugt hätte, das er grösser als der des Arcturus ist —
um seine Parallaxe zu bestimmen. Nehmen wir an, er
würde diese Parallaxe merklich kleiner finden als die des
weniger weit entfernten 'Sterns — mit anderen Worten,
nehmen wir an, er würde den Winkel seiner Visirlinien
verschieden von dem durch die bekannten Thatsachen und
Gesetze der Astronomie und Optik geforderten finden : was
wäre sein Schluss? Es ist nicht schwer, die Antwort auf
diese Frage vorauszusagen, denn der vorausgesetzte Fall
ist nicht ohne Präcedenz in der Geschichte der Astronomie.
Eine Veränderung in der Lage der Visirlinien ist wieder-
holentlich von Astronomen beobachtet worden, die nicht
im Stande waren, sie durch die ihnen bekannten That-
sachen und Naturgesetze zu erklären. Im Anfange des ver-
gangenen Jahrhundertes machte Bradley (mit Unterstützung
?4Q XIIL Kapitel.
von MoLYNEUx) eine Reihe teleskopischer Beobachtungen
über den Stern y im Drachen, um den Betrag der schein-?
baren Abweichung zu bestimmen, der durch die jährliche
Bewegung der Sonne zu Stande kommt, und so die jähr-,
liehe Parallaxe der Fixsterne zu entdecken — eine zu
damaliger Zeit sehr wünschenswerte Leistung, um einea
ständigen, dem kopemikanischen System wegen des an^.
geblichen Fehlens einer solchen Parallaxe gemachten Vor-
wurf zu beseitigen. Zu seiner Überraschung fand er eine
der Richtung nach verschiedene und dem Grade nach bei
weitem grössere Verschiebung als er erwartet hatte. Diese
Unregelmässigkeit musste erklärt werden, und Bradley
kannte keine physikalische Ursache, der er sie hätte zu-
schreiben können. Er dachte einige Zeit an die Nutationy
dann an die Refraktion; doch überzeugte er sich bald,,
dass keine dieser Thatsachen eine Erklärung zu geben im
Stande sei. Er wurde endlich durch ein sorgfaltiges Studium
der Veränderungen in der Richtung und in dem Wachs-,
tum der Verschiebung dazu geführt, eine Lösung des Ger
heimnisses in der Zusammensetzung der Geschwindigkeit
des Lichtes mit der der Erdbewegung zu finden, und wurde
so der Entdecker dessen, was jetzt unter dem Namen der
Aberration des Lichtes bekannt ist. In allen seinen Ver-'
legenheiten kam er indessen nicht ein einziges Mal auf
den Gedanken, die Unregelmässigkeit der Erscheinung könnte
die Folge einer Krümmung des Raumes sein. Mit Be-
stimmtheit kann auch behauptet werden,, dass keiner der
heute lebenden Astronomen die unregelmässige Parallaxe^
deren Entdeckung ich supponiert habe, einer räumlichen
Pseudosphäricität zuschreiben würde. Denn abgesehen von
allen anderen Betrachtungen, würde d^r Astronom jeden
Versuch dieser Art sofort mit der Entgegnung niederschlagen^
dass eine dem Räume . wesentlich zukommende Krümmung.
Unterschiede zwischen seinen verschiedenen Teilen — Un-
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 241
gleichmässigkeiten seiner inneren Beschaffenheit — bedingen
würde, und dass die angenommene Hypothese somit nichts
geringeres zur Folge hätte als die Beilegung von Eigen-
schaften an den Raum, durch deren Fehlen er sich ja
einzig und allein von der Materie unterscheidet.
Die Theorie der geometrischen Transcendentalisten ist
somit unmöglich wegen der Absurdität ihrer Grundvoraus-
setzungen. Der Raum ist kein Gegenstand der Empfindung
und kann es nicht sein. Dem Räume Beziehungen und
sinnliche Wirkungen von der Art beizulegen, wie sie bei
einer Empfindung zum Vorschein kommen, ist unmöglich
ohne Verschiedenheiten zwischen seinen Bestandteilen an-
zunehmen, deren Leugnung die Grundlage jeden Raum-
begriffes bildet, welches auch immer die logische oder
psychologische Lehre sein möge, auf die der Begriff be-
zogen wird. Sind wir nun genötigt, die Gegenbehauptung
der kantischen Idealisten anzunehmen, dass der Raum eine
rein subjektive Form der Anschauung ist, die in unserem
Geiste unabhängig und vor allen Empfindungsvorgängen
vorhanden ist — die Lehre der metaphysischen und mathe-
matischen Gegner? Untersuchen wir, auf welche Gründe
diese Lehre sich stützt.
Der kantische Idealist behauptet, dass die Idee des
Raumes nicht nur ein unveränderliches Element einer jeden
einzelnen Empfindung, sondern eine der Empfindung voraus-
gehende Bedingung sei; dass, bevor wir im Stande sind,
irgend einen subjektiven Eindruck auf eine objektive Ur-
sache zu beziehen und somit überhaupt von der Existenz
objektiv realer Dinge oder Erscheinungen zu reden, die
Grundlage dieser Beziehung — der Beziehung nicht nur
zwischen dem Drinnen und Draussen, sondern auch zwischen
mindestens zwei Elementen des Draussen , deren gegen-
seitige Einwirkung die Empfindung hervorbringt — bereits
im Geiste vorhanden sein müsse. Die Empfindung, sagt
StalLO, Begriffe u. Theorieen. l6
242 . XIIL Kapitel,
man, geht auf Objekte; sie ist im wesentlichen ein Schritt
voa einer subjektiven Affektion oder einem subjektiven
Gefühl zur objektiven Realität. Wo ist der Grund für
diesen Schritt? Nicht in der objektiven Welt, behauptet
der Kantianer; denn die Gegenstände werden lediglich
durch Vermittlung dieses Schrittes erreicht und gelangen
so in die Anschauung und Empfindung. Er muss somit
im Subjekt, im Geiste gelegen sein; und er muss vor der
einzelnen Empfindung da seih. Dass dem so ist, geht
überdies (wie behauptet wird) aus der Thatsache hervor,
dass die Idee des Raumes absolut unvernichtbar ist. Wir
können in Gedanken den Raum seines sinnlichen Inhaltes
entleeren; der Geist vermag alles wegzudenken, was Gegen-
stand der Empfindung ist; doch vermag er nicht den
Raum selbst wegzudenken. Der Raum ist ein integrierender
Bestandteil aller möglichen Bewusstseinszustände.
Die vorhergehende Darlegung ist eine gute und hin-
länglich erschöpfende Auseinandersetzung der kantischen
Ansicht. Diese Ansicht hat einen gemeinsamen Zug mit
der der Sensualisten , auf den ich schon gelegen tUch an-
gespielt habe — nämlich die Annahme, dass der Raiun
entweder als Gegenstand der Empfindung oder als eine
Form der Anschauung, als eine unabhängige That-
sache existiert und somit an sich einer objektiven oder
subjektiven Auffassung (apprehension) fähig ist. Ich habe
bereits gezeigt, dass diese Annahme im sensualistischen
Sinne unbegründet ist. Bei sorgfaltiger Prüfung erweist
sie sich als ebenso unbegründet im Sinne der Idealisten.
Es ist nicht wahr, dass wir in Gedanken den Raum seines
ganzen Inhaltes entäussern und im Geiste oder vor dem
Geiste die Form oder das Bild des reinen Raumes haben
können. Im Gegenteil ist die Idee des Raumes stets im-
wandelbar im Bewusstsein mit einer bestimmten Sinnes-
qualität verknüpft. Wenn wir es versuchen, uns den Raum
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt etc, «43
vorzustellen, erscheint er stets mit der Gesichtsvorstellung
irgend einer, wenn auch noch so schwachen Farbenempfin-
dung verknüpft. In ähnlicher Weise erweist er sich bei
dem Versuche seiner Vorstellung nach der Tastsphäre hin
als ebenso untrennbar von einer Reproduktion irgend einer
Form des Druckes oder des Tastsinnes.^*) In dieser Be-
ziehungen ist den Argumenten von Hume und Berkeley (die
notwendigerweise einfache Berufimgen auf das Bewusstsein
sind) nie mit Erfolg entgegengetreten worden. Die Scheidung
zwischen der „Idee" der räumlichen Ausdehnung und den
Erregungen ,. die eine Empfindung zusammensetzen, die
wir im Stande — imd fiir die Zwecke des diskursiven
Denkens gezwungen — waren, auszuführen, ist nicht eine
in der Anschauung gelegene, sondern eine be-
griffliche. Wenn wir ein objektiv reelles Ding be-
trachten, so können wir kraft unseres Abstraktionsver-
mögens auf die Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung bei
völliger Ausserach tlassung. seiner sinnlichen Qualitäten unsere
Aufmerksamkeit richten; doch sobald wit es versuchen,
uns seine Ausdehnung als wirklich vorzustellen — ein Ge-
dankenbild der Ausdehnung zu bilden, oder sie als eine
besondere Form der Anschauung vorzustellen — sind wir
sofort gezwungen, sie mit einem Datum der Empfindung
zu bekleiden oder zu vergesellschaften, das wir als eine
zufallige Rückwirkung eines physikalischen Prozesses deuten.
Anschauung (im kantischen Sinne) ist ein wesentlicher Teil
der Empfindung und erscheint als solche in den Sinnes-
äusserungen ebenso wie in deren gedanklichen Repro-
duktionen.
Dies genügt für die Beurteilung des kantischen Argu-
mentes, dass der Raum eine subjektive Form der An-
**) Vgl. Sir William Hamilton's Lectures on Metaphysics,
Lect. 22; Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raum-
vorstellungen, Leipzig, Hirzel, 1873, S. 19.
I6*
^44 XIIL Kapitel,
schauung sein müsse, weil der Geist nicht im Stande sei,
ihn aus seinem Bewusstsein auszuscheiden. Eine zweite
einfache Überlegung ist ebenso verhängnisvoll für die Be-
hauptung, dass der Raum eine subjektive Form sein müsse,
die vor allen einzelnen Empfindungen existiere
und damit die unvermeidliche Grundlage für den Schritt
sei, durch welchen der Verstand ein äusseres Objekt er-
reicht. Die offenkundige Antwort darauf ist die, dass, wenn
der Raum rein subjektiv und ganz im Geiste gelegen ist,
er ganz gewiss keinen Grund für einen Schritt abgeben
kann, der aus demGeisteherausführt. Diese Über-
legung bildet die wahre Grundlage des nachkantischen
Idealismus Fichte's und in einem gewissen Sinne auch
Schopenhauer's. Das ganze Argument aber, so wie die
aus demselben erwachsenen idealistischen Verwicklungen
beruhen auf der alten ontologischen Annahme, dass Dinge
oder Wesen unabhängig von einander und anders als Glieder
einer Beziehung existieren können. Dass dies von objektiv
realen Dingen nicht richtig ist, ist hinlänglich auf den
vorhergehenden Seiten dieses Buches gezeigt worden; es
ist gleicherweise unrichtig für das Verhältnis des erkennen-
den Subjektes zu seinem Objekt. In jedem Akt primärer
Erkenntnis entsteht die sogenannte objektive Erscheinung
und ihr subjektives Gegenstück in demselben Augenblick,
da die Realität des einen von der des anderen abhängig
ist. Dies ist die ursprünglichste und nicht weiter zurück-
führbare Thatsache der Erkenntnis, die deshalb nicht weniger
eine Thatsache ist, weil sie von den Metaphysikern in
mannigfachster Weise missverstanden worden ist und An?
lass zur Entstehung einer Schar absurder Erkenntnistheorieen
gegeben hat.
Was ist denn nun die wirkliche Natur des Raumes
und welches ist die wahre Quelle unserer Kenntnisse über
ihn? Sind die vorausgegangenen Betrachtungen giltig und
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit rf. Welt etc. 245
entscheidend, dann lässt diese Frage nur eine Antwort zu.
Der Raum ist ein Begriff, ein Produkt der Abstraktion.
Alle Gegenstände unserer sinnlichen Erfahrung zeigen die
Eigenschaft der Ausdehnung in Verbindung mit einer Zahl
verschiedener und veränderlicher Qualitäten der Empfindung ;
und wenn wir nach und nach von diesen verschiedenen
Empfindungen abstrahiert haben, kommen wir schliesslich
zu der Abstraktion oder dem Begriff einer Form räumlicher
Ausdehnung. Ich sage ausdrücklich Form der Aus-
dehnung, und nicht einfach Ausdehnung oder Raum,
denn das erstere und nicht das letztere ist das summum
gen US der hier angeführten Abstraktionskette. Wenn das
Wort „Begriff* in dem Sinne gebraucht wird, in welchem
es den Repräsentanten eines möglichen Gegenstandes der
Anschauung vorstellt, ist eine räumlich ausgedehnte
Form das letzte Resultat des Verfahrens, durch welches
ein Gegenstand oder eine Erscheinung begriffen werden
kann. Die Abstraktion oder der Begriff (jetzt das Wort
in einem weiteren Sinne gebrauchend) Ausdehnung im
allgemeinen oder Raum, wird durch eine andere
Reihe von Abstraktionen erreicht, von denen ich später
etwas zu sagen haben werde. DiQ Unterlassung des Unter-
scheidens dieser Begriffe, die keinen Bezug auf Grenzen
und Formen haben, und den wahren summa genera der
Klassifikation der sinnlichen Gegenstände ist eine der Quellen
der Verwirrung, die überall die Theorie des transcendentalen
Raumes erflillt, wie wir gleich sehen werden.
Die Lehren der Idealisten (oder richtiger gesagt In-
tellektualisten) über die Natur des Raumes sind also ebenso
unhaltbar wie die der Sensualisten. Die Meinung der
Schüler von Kant und Schopenhauer, dass die Lehren
der transcendentalen Geometrie durch eine Berufung auf
die „Transcendentale Ästhetik" der „Kritik der reinen Ver-
nunft'* zurückgewiesen werden könnten, ist ein Irrtum. Der
246 XIIL Kapitel,
Satz, dass der Raum eine rein subjektive Form der An-
schauung ist, kann nicht im geringsten die Position der
geometrischen Transcendentalisten erschüttern. Ihre ein«
fache Elrwiderung gegen die Kantianisten ist die, dass,
wenn der Raum eine angeborene Form oder Bedingung
des Geistes wäre, die die Wahrnehmung der äusseren Gegen-
stände nach einer gewissen Ordnung oder nach gewissen
Gesetzen bedingt, es wieder eine Frage der Thatsächlich-
keit wäre, zu bestimmen, welches diese Ordnung und welches
diese Gesetze wären. Mag der Raum geistiger Natur sein
oder nicht, die Frage, ob er eben, sphärisch oder pseudo-
sphärisch sei, bleibt bestehen. Mag die Form der im Räume
möglichen Linien und Flächen das Ergebnis physikalischer
Beschaffenheit ausserhalb des Geistes, oder der inneren
Beschaffenheit des Geistes selbst sein — in jedem Falle
ist die Thatsache dieselbe, wie auch immer sie zu beweisen
sein mag. Dies steht in völligem Einklang zu Kant's eigener
bestimmter Erklärung in seinen „Noten zur transcendentalen
Ästhetik", ^•) worin er erklärt , dass unsere Art der An-
schauung nicht notwendig beschränkt ist auf die be-
sondere Beschaffenheit unseres Geistes, sondern auch von
anderen denkenden Wesen geteilt werden kann, „wiewohl
dies eine Materie ist, die wir ausser Stande sind zu ent-
scheiden ^^ Aus dieser Erklärung ergibt sich der unwider-
legbare Schluss, dass die Frage nach der bestimmten Form
der Anschauung in einem gegebenen Geiste lediglich eine
Frage der Thatsachen ist. In dieser Beziehung ist denn
Helmholtz -^) unzweifelhaft im Recht gegen Land, Krause,
Becker und die anderen Kantianer.
^*) Kritik der reinen' Vernunft (her. v. Rosenkranz), S. 49.
^^) Vgl- jjl"^^ Origin and Meaning of Geometrical Axioms'^
Mind, III. Bd., S. 212 ft [Deutscher Text in den „Wissenschaftlichen
A-bhandlungen", Bd. II, S. 640; Anna. d. Herausg.], und „Die That
Sachen in der Wahrnehmung", Berlin 1879 [Vorträge und Reden^
ßd. II, S. 213 ff. ; Anm. d. Herausg.].
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc, «47
Nachdem wir so zu dem Schlüsse gelangt sind, dass
der Raum weder ein physischer Gegenstand der Empfindung,
noch eine angeborene Form des Geistes, die unabhängig
und vor aller Empfindung besteht, sondern ein Begriff ist,
sind wir nun im Stande, auf eine Reihe von Betrachtungen
einzugehen, die ähnlich denjenigen sind, die wir gegen die
behauptete experimentelle Bestimmbarkeit der Krümmung
des Raumes ins Feld geRihrt haben, und durch die der
wahre Charakter der transcendentalen Theorie des Raumes
so gründlich dargelegt wird, dass keine vernünftige Meinungs-
verschiedenheit mehr über deren Verdienste bestehen bleiben
kann. Die erste dieser Betrachtungen ist diese : Wenn die
Lehren der Transcendentalisten wirklich begründet sind,
so folgt, dass dem Räume eine zwingende Kraft inne wohnt,
die sich aus seiner Beschaffenheit ergibt und die andere
Linien und Flächen als die, welche sich der ihm zu-
kommenden Form anpassen, unmöglich macht. Wenn der
Raum nicht „eben" ist, sondern z. B. sphärisch — ich
nehme für den Augenblick und zu dem Zwecke der Be-
weisführung an, dass die Behauptung einer „Ebenheit" des
gewöhnlichen „Euklidischen" Raumes einen Sinn hat —
dann folgt jede Linie in ihm notwendig einer bestimmten
Bahn, an die sie durch ein inneres Gesetz gebunden ist,
das die Anordnung ihrer Teile bestimmt. Eine berechtigte
und unvermeidliche Konsequenz davon ist die, dass in
einem Räume von einer bestimmten besonderen Krümmung
selbst Linien von verschiedenen Krümmungsgraden unmög-
lich sind. Sobald einmal das Krümmungsmass eines solchen
Raumes bestimmt ist, müssen alle Linien sich demselben
anpassen. Es ist keine Antwort darauf zu entgegnen, dass
LOBATSCHEWSKY Und Beltrami die praktische Möglichkeit
der Herstelhmg eines in sich konsequenten und logisch
zusammenhängenden Systems der Geometrie auf Grund des
Nichtparallelismus der „kürzesten Linien" dargethan haben,
248 XIII . Kapitel.
und Professor Lipschitz gezeigt hat, dass die Gesetze der
von bewegenden Kräften abhängigen Bewegungen konse-
quent auf spärische oder pseudosphärische Räume über-
tragen werden können, so zwar, dass der zusammenfassende
Ausdruck aller Gesetze der Dynamik, das Prinzip von
Hamilton, direkt auf Räume übertragen werden kann, deren
Krümmungsmass von Null verschieden ist. Denn die Kon-
struktionen von LoBATSCHEWSKY Und Beltrami (die auch
als Grundlage den Untersuchungen von Lipschitz dienen),
sind alle Konstruktionen von Linien und Flächen; und
diese Konstruktionen beruhen auf Postulaten, die mit den
Postulaten des nichteuklidischen Raumes ganz unverträglich
sind. Eines dieser Postulate besteht darin, dass es im
sphärischen so gut wie im pseudosphärischen Räume mög-
lich sein soll, Linien von beliebigem Krümmungsmass und
somit auch vom Krümmungsmass Null zu ziehen, d. h.
gerade Linien im alten Sinne. Wie könnte in der That
das „Krümmungsmass" anders bestimmt werden? Dieses
Krümmungsmass hängt ab von dem Radius der Krümmung ;
nach Gauss ist das zu einer jeden Fläche, die die Ver-
schiebung von auf ihr gelegenen Figuren ohne Verände-
rung ihrer Seiten und Winkel zulässt, gehörige Krümmungs-
mass konstant gleich dem Produkte der reciproken Werte
des grössten und kleinsten Krümmungsradius. Diese Radien
sind gerade im alten Sinne; denn wenn sie nicht gerade
wären, hätten sie ein gewisses Krümmungsmass, das wieder
nur durch Bezugnahme auf andere besondere Radien be-
stimmt werden könnte u. s. f. ad infinitum, bis wir schliess-
lich zu der alten Euklidischen geraden Linie kommen
würden.
Die rechten Prämissen der Theorie des nichteuklidi-
schen Raumes führen zu dem unausweichbaren Schlüsse,
dass die Linien solch eines Raumes, wiewohl Kurven, weder
Tangenten noch- Normalen haben, weder Halbmesser noch
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt eic, 349
Sehnen, und dass sie auf Grund der nichteuklidischen Postu-
late allein völlig unbestimmt sind. Es ist dies wieder ein
bemerkenswertes Beispiel für den ontologischen Irrtum, dass
Dinge und Formen an sich bestimmbar sind, ohne Bezug
auf und Vergleich mit entsprechenden anderen Dingen und
Formen. Was nach dieser Seite der Lehre der Trans-
cendentalisten besonders bemerkenswert ist, ist die dem
wirklichen Raum zugeschriebene wesentliche Unterscheidung
zwischen den Formen seiner behaupteten Krümmung —
die Behauptung, dass sein Krümmungsmass entweder
positiv, oder negativ, oder Null sein müsse. Diese Be-
hauptung ist um so bemerkenswerter, als die Transcenden-
talisten den Anspruch erheben, dass die neue Lehre das
alte System der Geometrie von seinen willkürlichen Be-
schränkungen befreit hätte und eine Erweiterung, eine
logische Ausdehnung der Idee des Raumes sei.
Die Quelle aller dieser Verlegenheiten, in die wir uns
durch die Annahmen und Theorieen der Transcendentalisten
verwickelt finden, liegt so klar auf der Hand, dass es ein
Wunder ist, wie sie so gänzlich von den Gegnern der neuen
Lehre nicht weniger wie von ihren Anhängern übersehen
werden konnte. Der Grundfehler dieser Lehre ist die Be-
hauptung, dass der Raum, mit dem sich die gewöhnliche
„Euklidische" Geometrie abgibt, ein „ebener" und nicht ein
sphärischer oder pseudosphärischer sei. In Wahrheit
ist der Raum, dessen Vor Stellung oder Begriff
allen möglichen geometrischen Konstruktionen
zu Grunde liegt, einschliesslich der der Pan-
geometer, weder eben, noch sphärisch, noch
pseudosphärisch, noch von einer anderen be-
stimmten Gestalt, sondern er ist einfach die
anschauliche und begriffliche Möglichkeit für
die Konstruktion einiger oder aller charakte-
ristischen Linien der ebenen, sphärischen.
2 5© XI IL Kapitel,
parabolischen, hyperbolischen u. s. f. und bis
zu einem gewissen Masse der pseudosphäri-
schen Flächen innerhalb seiner — eine Möglich-
keit, die er dem Umstände verdankt, dass er nicht mehr
und nicht weniger als ein Begriff ist, der durch die Weg-
lassung unserer Gedankenbilder der physischen Gegenstände
gebildet wurde und zwar nicht nur durch die Weglassung
aller Merkmale, die deren physikalische Eigenschaften ausser
der Ausdehnung ausmachen, sondern auch aller Ge-
staltsbestimmungen, durch die sie sich unter-
scheiden. Dies ist der einzige Sinn, in dem wir ein
Recht haben, vom Raum als einem ebenen oder homaloiden
zu sprechen. Der Raum besitzt keine innere Struktur oder
bestimmte Gestalt, weil er kein physischer Gegenstand ist
und somit keine „Eigenschaften" hat, die durch Experiment
oder Beobachtung ermittelt werden . könnten. Noch besitzt
er irgend welche Eigenschaften, die mit Recht so genannt
werden könnten und a priori durch einen Akt der An-
schauung bestimmbar wären. Raum ist eines der letzten Er-
gebnisse der Abstraktion, bei welchem die begriffliche Unter-
scheidung mit der Bezeichnung zusammenfallt und somit die
begriffliche Bestimmung an ihrem Ende angelangt ist. Ich
wiederhole : der Raum hat keine Eigenschaften, denn als ein
Wesen betrachtet besitzt er keine Beziehungen, da sein wahres
Wesen in der Verneinung oder Abstraktion von allen Be*
Ziehungen besteht. Es ist aus diesem Grunde ein Missbrauch
der Worte, die Geometrie (wie es so oft geschieht und erst
kürzlich von Professor Henrici -^) geschehen ist) als eine
Wissenschaft zu definieren, „deren Gegenstand die Unter-
suchung der Eigenschaften des Raumes bildet". Gegen-
stand der Geometrie ist die Untersuchung der möglichen
Bestimmungen oder Beschränkungen des Raumes, d. h. der
**) Encycl. Britan., Geometry.
Die Theorie von d. obsoluten Endlichkeit d. Welt etc. 2S1
Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Aus-
dehnung oder der Eigenschaften der Figuren. ^'^) Die ganze
Wissenschaft der Geometrie beschäftigt sich damit, was der
Begriff Raum notwendig ausschliesst, nämlich mit Grenzen,
Die Geometrie nimmt in der That nur so weit Rücksicht
auf den Raum, als die Grenzen, von denen sie handelt,
räumliche Grenzen sind. Aus dieser Thatsache entsteht
der Unterschied zwischen dem Ziel der Geometrie und
jenem der anderen Zweige der reinen Mathematik und die
Nichtanwendbarkeit vieler Methoden und Resultate der
mathematischen Analysis auf die Beziehungen zwischen den
Formen des Raumes — ein Unterschied, dessen Missach-
tung eine so ergiebige Quelle von Irrtümern bei jenen
war, die Schlüsse über die ,,Eigenschaften" des Raumes
(wie z. . B. über die mögliche Zahl seiner Dimensionen)
aus dem abstrakten Begriff „Gross e" zu ziehen versuchten.
Die Geometrie ist ohne Zweifel eine empirische Wissen-
schaft, wiewohl nicht in dem Sinne, in dem der Ausdruck
j,empirisch" gewöhnlich verstanden wird und besonders nicht
in dem Sinne, in dem er von Mill und den geometrischen
Transcendentalisten gedeutet wurde. Sie ist eine empirische
Wissenschaft insofern, als sie von einer Eigenschaft physischer
Dinge, der Ausdehnung, handelt, die ein letztes oder
vielmehr ein erstes und nicht weiter zurückfuhrbares Datum
des Empfindungsaktes ist — . gerade so ein Datum, wie es
das der Farbenempfindung ist, mit der, wie ich gezeigt
habe, die Gesiclitsanschauung des Raumes stets verknüpft
ist. Alle Versuche, wie z. B. die von Herbart, die Idee
der Ausdehnung durch eine Bearbeitung solcher Daten der
Empfindung, die gewöhnlich als qualitative bezeichnet werden.
*^) In diesem Sinne definiert D'Alembert (Elemens de Philo-
sophie, § 15 — Oeuvres, tome i, p. 268) die Geometrie als die
,, Wissenschaft von den Eigenschaften der Ausdehnung, insofern
man diese bloss als ausgedehnt und begrenzt ansieht.'*
252 XIIL Kapitel.
zu erhalten, sind ebenso misslungen, wie die entsprechenden
Versuche, die qualitativen Elemente der Empfindung aus
den Formen der Ausdehnung abzuleiten. Das primäre Datum
der Ausdehnung bildet das empirische Element in der
Wissenschaft der Geometrie. Dieses primäre Datum ist
nicht der Raum, sondern begrenzte Ausdehnung,
denn Empfindung und Anschauung haben wir nur von be-
sonderen Körpern, und somit von begrenzter Ausdehnung,
und nicht von Ausdehnung überhaupt, oder vom Raum.
Formen von begrenzter Ausdehnung geben hingegen Anlass
zur Entstehung des Begrififes Raum durch Anwendung des
bereits erwähnten Abstraktionsprozesses. Andererseits sind
die Schlüsse der Geometrie nicht aus empirischen Daten
allein abgeleitet und kommen nicht durch Induktion zu
Stande, wie Mill behauptet. In diesem Sinne ist die Geo-
metrie keine empirische Wissenschaft. Es gibt auch
kein geometrisches Axiom, das rein durch die
Empfindung gegeben Wäre, wie von den Sen-
sualisten behauptet wird, oder durch Anschau-
ung nach den Lehren der Idealisten oder In-
tellektualisten. Alle geometrischen Axiome, die als
Ausgangspunkte der Deduktion dienen, enthalten zwei Ele-
mente : ein Element der Anschauung (als Teil der Empfin-
dung) und ein Element willkürlicher Verstandesbestimmung,
das man Definition nennt. Die Thatsachen der Aus-
dehnung und ihre Grenzen — Oberflächen, Linien und
Punkte — sind durch Anschauung gegeben; ohne sinnliche
Erfahrung würden wir über geometrische Körper, Flächen,
Linien und Punkte nichts wissen; es lässt sich jedoch aus
der Existenz dieser Elemente, oder unserer Anschauung von
denselben nichts herleiten, solange sie nicht definiert sind.
Dies geht aus einer einfachen Betrachtung der geometrischen
Axiome hervor. Das Axiom , das durch zwei Punkte* nur
eine einzige Gerade gezogen werden kann (oder was das-
Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 255
selbe ist, dass zwei Gerade keinen Raum einschliessen) ver-
langt die Definition der Geraden — eine Definition, die
nebenbei bemerkt, weit schwieriger auf rein geometrischer
Grundlage herzustellen ist , als die von den Parallelen. *^)
Das Axiom von den Parallelen in der ihm jetzt allgemein
gegebenen Form, dass durch einen gegebenen Punkt nur
eine Parallele zu einer gegebenen geraden Linie gezogen
werden kann, setzt die Definition nicht nur von der geraden
Linie, sondern vom Parallelsein überhaupt voraus, was in
der Elementargeometrie die Schwierigkeit bietet, den Be-
griff der unendlichen Ausdehnung in sich zu enthalten,,
und das zu unzähligen Schwierigkeiten geführt hat (wie
z. B. zu den unendlich fernen und doch reellen Schnitt-
punkten) , worunter die von der . pangeometrischen Sorte
nicht die geringsten sind. Euklid's Aufzählung von Defi-
nitionen, Postulaten und Axiomen leidet nicht oder zum
mindesten nicht nur an dem Fehler, dass die Grenzen
zwischen diesen verschiedenen Vorbedingungen geometrischen
Schliessens nicht korrekt gezogen sind — dass er Defi-
nitionen mit Axiomen und Postulate mit beiden ^*) ver-
^') Die wirkliche Quelle dieser Schwierigkeit liegt in einem,
fundamentalen Mangel der gangbaren Erkenntnistheorieen — der
mangelnden Einsicht, dass jede Art von Deduktion eine schliessliche
Bezugnahme auf primäre Konstanten verlangt, die nicht durch Er-
fahrung gegeben, sondern durch den Verstand bestimmt sind. Diese
primäre Konstante ist in der Geometrie die gerade Linie oder -ein-
fach die Richtung. Dass die sich beim 10. Axiom Euklids („zwei
Gerade können keinen Raum einschliessen") aufwerfenden Schwierig-
keiten derselben Art sind wie die des 12. (das gewöhnlich als das
1 1 . bezeichnet wird — das Axiom von den Parallelen) ist schon lang
erkannt worden. „La definition et les proprietes de la ligne droite,"^
sagt D'Alembert (Elemens de Philosophie, § 12 — Oeuvres, tome I,
p. 280), „ainsi que des lignes paralleles sont donc l'ecueil et, pouc
ainsi dire, le scandale des elemens de geometrie."
**) Hankel (Vorlesungen über die komplexen Zahlen und ihre
Funktionen, S. 52) macht darauf aufmerksam, dass diese Verwirrung
2 54 ' XIIL Kapitel.
wechselt, und es ausserdem * unterlässt, zwischen Axiomen
der Grösse im allgenieinen und Axiomen räum-
licher Grössezu unterscheiden — sondern an seiner
Unkenntnis oder Missachtung der Thatsache, auf die ich
bereits hingewiesen habe, dass jedes Axiom, das geometrisch
fruchtbar ist, eine Definition enthält. Und diese Unkennt-
nis — sehr entschuldbar zu Euklid's Zeiten — scheint
unglücklicherweise noch heute von den Verfassern geo-
metrischer Lehrbücher geteilt zu werden.
Einer der Punkte, auf den die Debatte zwischen
Helmholtz und seinen Gegnern in ausgedehntem Masse
eingegangen ist, besteht in der Frage, ob Beltrami's pseudo-
sphärischer Raum vorstellbar ist oder nicht; und um diese
im bejahenden Sinne zu beantworten, schlägt Helmholtz
eine bemerkenswerte Definition der Vorstellbarkeit vor. Er
definiert das Vermögen, sich räumliche Formen vorzustellen,
als „diie Fähigkeit, sich vollständig die Sinneseindrücke vor-
zustellen, welche der Gegenstand in uns nach den be-
kannten Gesetzen der Sinnesorgane unter allen denkbaren
Bedingungen der Beobachtung erregen würde und durch
die er von anderen ähnlichen Gegenständen unterschieden
werden könnte.*' ^^) Wie immer auch der allgemeine Wert
nicht EuKUD, sondern seinen Herausgebern und Kommentatoren zur
Last zu legen ist. „In allen Manuskripten," sagt Hankel, die F.
Peyrard bei der Vorbereitung seiner ausgezeichneten Ausgabe Euklid's
(Oeuvres d'Euclide trad. en Latin et en Frangais, tome I, p. 454)
gesammelt hat, erscheint das berühmte II. Prinzip der Parallelen-
theorie nicht unter den xoivaa %woiai^ die sich auf gleiche und un-
gleiche Grössen beziehen, sondern als das 5. Postulat {aXrrifKt),
Ebenso erscheint das lo. Axiom in allen diesen Manuskripten als
das 4. Postulat, während die Manuskripte in Betreff des 12. Axioms
von einander abweichen , wodurch es evident wird , dass die drei
Axiome den Platz, den sie imverantwortiicher Weise noch in der
Liste der Axiome inne haben , einem Missverständnisse verdanken."
**) jjOrigin and Meaning of Geometrical Axioms", Mind, vol. III,
p. 215 [Wiss. Abh., Bd. II, S. 640 ff., Anm. d. Herausg.].
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 255
dieser Definition beschaffen sein mag, so verfällt sie doch
sicherlich dem Vorwurfe der Unerheblichkeit für die be-
treffende Sache. In der Sprache der alten Logiker beruht
dieselbe auf einer ignoratio elenchi, einem Missverständnis
der Fragestellung. Geben wir zum Zwecke der Beweis-
fuhnmg zu, dass der Akt der Vorstellung einer räumlichen
Form richtig als eine Anticipation von Sinnesieindrücken
beschrieben wird, so geht die Frage nach dem Vorhanden-
sein der gesuchten Fähigkeit nicht dahin, worin die Natur
dieser Eindrücke besteht, sondern ob sie in der Vorstellung
in der verlangten räumlichen Ordnung und in der Form,
die den bekannten Gesetzen des Vorstellungsvermögens ent-
spricht, existieren können oder nicht Helmholtz beruft
sich auf die Versuche von Beltrami, den pseudosphärischen
Kaum durch Projektion seiner Punkte, Linien und Flächen
auf das Innere einer gewöhnlichen Kugeloberfläche, „deren
Punkte den imendlich fernen Pimkten des pseudosphärischen
Raumes entsprechen", vorstellbar zu machen und behauptet,
dass dieser Versuch erfolgreich sei. In demselben Sinne
bemerkt Professor Sylvester in der Note zu seiner bereits
erwähnten Exeter Ansprache, dass „jede perspektivische Dar-
stellimg einer vierdimensionalen räumlichen Figur eine Figur
des wirklichen Raumes sei, und dass die Eigenschaften der
Figuren in ausgedehntem Masse, wenn nicht gar vollständig
an deren perspektivischen Darstellungen studiert werden
können." So wurde es eine ständige Behauptung der
Pangeometer, dass die Raumformen irgend einer gegebenen
Dimension in einen Raum der nächst niederen Dimension
projiciert werden könne. Wenn eine gerade Linie ortho-
gonal auf eine andere Gerade projiciert wird , die zu ihr
senkrecht steht, so erscheint sie als ein Punkt; eine Form
der ersten Dimension erscheint so gewissermassen auf die
nullte Dimension reduziert. Der sie darstellende Punkt be-
fähigt uns aber an sich nicht, die Linie wieder zu erzeugen
256 XIII. Kapitel
und über sie zu urteilen, von der er die Projektion ist.
Man könnte sagen, dass wir zum mindesten wissen, dass
die Linie eine gerade ist; das ist aber ein Schluss, der
nur aus den von anderswo uns bekannten Eigenschaften
der Linien folgt; aus der blossen Betrachtung des Punktes
lässt sich nicht einmal schliessen, dass er eine Projektion
einer Linie überhaupt ist. In ähnlicher Weise kann eine
Ebene so auf eine andere projiciert werden, dass sie als
eine Linie erscheint, wodurch eine Form von zwei Dimen-
sionen auf eine von einer Dimension reduziert erscheint;
doch folgt daraus nicht, dass wir die Eigenschaften der
Ebene durch blosse Betrachtung oder Analyse der Linie
studieren können. Die sogenannten Projektionen von Körpern
auf Flächen sind in Wirklichkeit Projektionen verschiedener
Flächen, die mit einander verschiedene Winkel einschliessen,
auf eine Normalfläche, und die Schlüsse aus solch' einer
Projektion auf die Eigenschaften geometrischer Körper
hängen von unseren Associationen der Gesichts- mit den
Tasteindrücken ab, auf der unsere Auffassung der geo-
metrischen Körperlichkeit beruht. Nachdem es eingestan-
denermassen keine Tast- oder andere Eindrücke gibt, welche
die Existenz einer vierten Dimension beweisen, ist die
Analogie, auf der die behauptete Vorstellbarkeit trans-
cendentaler Raumformen beruht, ohne Grund.
Es kommt aber wenig darauf an, welcher Grund fiir
die (kürzlich in anderer Form durch Felix Klein ^®) vor-
gebrachte) Behauptung vorhanden ist, dass die Hilfsmittel
^^) „Über die nicht-euklidische Geometrie", Math. Ann., Bd. 4,
S. 573. In diesem Artikel wird wie in fast allen Schriften der
Pangeometer, die ad libitum von imaginären und unendlich fernen
Punkten handeln, die analytische Darstellbarkeit (mit Hilfe von
Symbolen , wobei unendliche und imaginäre Elemente als gleich-
berechtigt mit reellen behandelt werden) mit der Vorstellbarkeit ver-
wechselt.
Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d, Welt etc, 257
der projektiven Geometrie ausreichend sind, uns eine Vor-
stellung der Eigenschaften des mehr als dreidimensionalen
Raumes im dreidimensionalen Räume zu verschaffen; denn
die Frage nach der Vorstellbarkeit ist dem erörterten Gegen-
stande völlig fremd. Wenn z. B. gezeigt würde, dass eine
pseudosphärische Fläche in Gedanken oder wirklich im
Räume konstruiert werden könnte, so würde dies sicherlich
nicht beweisen oder zu beweisen trachten, dass der Raum
an sich pseudosphärisch ist. Es- liegt kein Zweifel über
die Vorstellbarkeit einer sphärischen Fläche vor, es folgt
daraus aber nicht, dass der Raum an sich sphärisch ist.
Als Grimdbedingung des Schlusses auf die wesentliche
Pseudosphäricität des Raumes würde die Behauptung not-
wendig sein, dass nur pseudosphärische Flächen existieren
und demnach (in Gemässheit der Lehren des Sensualismus)
in demselben als existierend vorgestellt werden können.
Und in Anbetracht dessen hört nicht nur das ganze Argu-
ment von Helmholtz auf, als Stütze des geometrischen
Transcendentalismus verwendbar zu sein, sondern prallt auf
ihn selbst zurück. Wenn pseudosphärische Flächen als
existierend vorgestellt werden können und somit auf Grund
seiner eigenen Prinzipien in einem „ebenen" Räume mög-
lich sind, warum können nicht gewöhnliche gerade Linien
und ebene Flächen im pseudosphärischen Räume existieren?
Und was wird dann aus dem teleskopischen Nachweis der
Krümmung des Raumes ? Oder missverstehe ich Helmholtz'
wahre Meinung? — behauptet er einfach, dass pseudo-
sphärische Oberflächen vorstellbar sein würden durch pseudo-
sphärische Wesen mit pseudosphärischen Sinnesorganen und
daraus sich ergebendem pseudosphärischen Verstände in
einem pseudosphärischen Räume, falls er existierte? Das
wäre eine Behauptung, die selbst Land und Krause schwer-
lich bezweifeln würden.
Die Geschichte der Erkenntnis bietet vielleicht kein
StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 17
258 XIIL Kapitel,
zweites Beispiel dar, das für die Unüberwindbarkeit in-
tellektueller Überlieferungen instruktiver wäre als die Lehren
der transcendentalen Geometrie. Werfen wir noch einen
Blick zurück auf den Inhalt dieses Kapitels, so sehen wir,
dass selbst die Wissenschaft der Mathematik — die exakteste
von .allen, deren Methoden ebenso unfehlbar sein sollen,
als ihre Grundlagen ewig, und die stets seit den Zeiten
des Erwachens menschlicher Intelligenz ihre gerade Bahn
durch alle Wechsel der Spekulation hindurch verfolgt hat —
von den Vorurteilen des ontologischen Realismus nicht aus-
genommen ist. Die Verselbstständigung des Raumes durch
die Mathematiker steht in einer strikten Analogie zu der
Verselbständigung der Masse und Bewegung durch die
Physiker.
Der ganze Umfang der Verwirrung, in die die Sinne
der zeitgenössischen Mathematiker durch das falsche Licht
der Ontologie gefilhrt worden sind, kann indessen in noch
viel helleres Licht durch eine weitere Prüfung des speku-
lativen Hintergrundes der Transcendentalgeometrie gerückt
werden, wie er in der berühmten bereits citierten Abhand-
lung von RiEMANN zu Tage tritt.
XIV.
Der metageometrische Raum im Lichte
er modernen Analysis. — Ribmann's Abhandlung.
Die Abhandlung Bernhard Riemann's „Über die Hypo-
lesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen" verdankt
ire grosse Berühmtheit der Thatsache, dass ihr Verfasser
in Mathematiker ersten Ranges, einer der Lieblingsschüler
)n Gauss war. Unter dem Einfluss seiner Lehren, wenn
icht auf seinen besonderen Rat hin, ist sie geschrieben
orden und von ihm kurz vor seinem (Gauss') Tode 1854
er philosophischen Fakultät von Göttingen vorgelegt worden.
ire Hauptsätze wurden ausdrücklich als Ausdruck seiner
igenen spekulativen Ideen anerkannt. Jeder verständige
,eser dieser Abhandlung wird mit mir, denke ich, darin
bereinstimmen, dass ihr wahrer Wert in keinem richtigen
erhältnis zu der Aufmerksamkeit steht, mit der sie auf-
^nommen wurde und dem Interesse, das ihr noch allgemein
itgegengebracht wird. Nicht nur, dass ihre Darlegungen
»wohl bezüglich des Problems, wie der vorgeschlagenen
«3sungsmethoden, roh und verworren sind, tragen sie durch-
is den Stempel von Riemann's sehr unvollkommener Ver-
autheit mit der Natur logischer Prozesse und selbst mit
er Bedeutung logischer Ausdrücke an sich. Aus dem
ganzen Gedankengang der Abhandlung geht hervor, dass
ihr Verfasser den Diskussionen über die Natur des Raumes,
die von den besten Denkern unserer Zeit seit den Tagen
Kant's so eifrig betrieben wurden, völlig fremd gegenüber-
stand, und dass er so wenig mit der Geschichte der Logik
17*
26o XIV. Kapitel.
vertraut war, dass er weder den geringsten Argwohn gegen
die Vieldeutigkeit solcher Ausdrücke wie „Begriff* und
„Grösse", noch die Notwendigkeit empfand, dass ihre exakte
Definition der Untersuchung über die wahren Grundlagen
menschlicher Erkenntnis vorhergehen müsse. ')
Der Beweisgang der Abhandlung ist im allgemeinen
der, dass die Natur des Raumes aus seinem Begriffe her-
zuleiten ist; dass die Bildung eines solchen Begrififes not-
wendig die Subsumption unter einen höheren Begriff ver-
langt; dass dieser höhere Begriff der einer „mehrfach aus-
gedehnten Grösse ist"; dass, um zu bestimmen, wie viele
^) RiEMANN selbst entschuldigt sich bescheiden wegen der philo-
sophischen Mängel seiner Abhandlung auf Grund seiner Unerfahren-
heit in philosophischen Dingen. Die Plumpheit seiner Spekulationen
bietet meines Erachtens ein sehr schlagendes Beispiel für die wohl-
bekannte Thatsache , dass die ausschliessliche Hingabe an ana-
lytische Arbeiten die Neigung hervortreten lässt, gewisse besondere
Verstandeskräfte auf Kosten der Allgemeinheit und Stärke des Ver-
standes zu entwickeln. Wiewohl Sir WiLUAM Hamilton ohne Zweifel
die Sachlage zu Ungunsten der Mathematiker übertrieben hatte, glaube
ich , dass seine Vermutungen der Aufmerksamkeit nicht völlig un-
wert sind, und dass eine gewisse Stärke in den (von Sir Wiluam
Hamilton citierten) Worten D'Alembert's gelegen ist, die wohl am
besten im Original ohne Übersetzung angeführt werden mögen: „II
semble que les grands geom^tres devraient ^tre excellens metaphysi-
ciens, au moins sur les objets dont ils s'occupent; cependant il s'en
faut bien qu'ils le soient toujours. La logique de quelques
uns d'^tre eux est renfermee dans leurs formules et
ne s'etend pas au dela. . On peut les comparer ä un homme
qui aurait le sens de la vue contraire ä celui du toucher, ou dans
lequel le second de ces sens ne se perfectionnerait qu'aux depens
de l'autre. Ces mauvais metaphysiciens dans une science oü il est
si facile de ne le pas etre , le seront k plus forte raison infailUble-
ment, comme l'experience le prouve, sur les matieres ou ils n'auront
pas le calcul pour guide. Ainsi la geometrie qui mesure les corps,
peut servir en certains cas ä mesurer les esprits meme." D'Alembert,
Element de Philosophie, § 1 1 ; Oeuvres, tome I, p. 276.
Der metageometr, Baum im Lichtf, d, modern, Analysis. 261
Arten des Raumes möglich sind, es notwendig ist zu er-
mitteln, auf wie viel Arten eine Glosse „mehrfach ausge-
dehnt" sein könne; und dass, nachdem die Zahl der be-
grifflich möglichen Arten mehrfacher Ausdehnung auf diese
Art festgestellt worden ist, es eine Sache der experimentellen
Untersuchung ist, festzustellen, welche dieser Arten durch
unseren Raum dargestellt ist, d. h^ durch den Raum, in
dem sich die Welt, wie wir sie kennen, befiMdet. Nach-
dem auf diese Weise Riemann versichert hat, dass der
Begriff „Raum" unter den Begriff „Grösse" zu subsumieren
sei, geht er zu der Erklärung über, dass alle Grössen ihrer
Natur nach Mannigfaltigkeiten sind , welche stetig heissen, *
wenn ein stetiger Übergang von einer „Bestimmungsweise"
zu einer anderen stattfindet, und diskret, wenn ein solcher
nicht vorhanden ist; dass ferner die „B^stimmungsweisen**
diskreter Grössen „Punkte" heissen und die der stetigen
„Elemente" dieser Mannigfaltigkeit; und dass stetige Grössen
durch Messung, diskrete durch Zählung bestimmt werden.
Der Raum ist nach Riemann, wiewohl eine stetige Grösse,,
eine Grösse n facher Ausdehnung und ist somit eine Mannig-
faltigkeit und daher eine Grösse trotz seiner Stetigkeit.
Der Grad der Mannigfaltigkeit seiner Ausdehnung — d. h.
ob derselbe einfach, zweifach, dreifach oder allgemein n-fach
ausgedehnt ist — bestimmt den logischen Umfang des
Begriffes Raum.
Wir haben hier fünf verschiedene Sätze, die aus Gründen
der Zweckmässigkeit der Bezugnahme und Erörterung, in
deutlich geschiedener Form, wie folgt, hier aufgezählt
werden mögen:
1 . Die Natur des Raumes ist aus dem Begriff desselben
abzuleiten.
2. Der Begriff des Raumes kann nur durch Subsumption
unter einen höheren Begriff gebildet und bestimmt werden.
3. Unser Raum ist eine dreifach ausgedehnte Mannig-
202 XIV. Kajntel.
faltigkeit; der höhere Begriff, unter den dieser Begriff zu
subsumieren kommt, ist der einer n-fach ausgedehnten
Mannigfaltigkeit; der Umfang dieses höheren Begriffes be-
stimmt, wenn man Riemann's Ausdrucksweise auf ihre ein-
fache logische Bedeutung zurückführt, die Zahl der möglichen
Arten des Raumes.
4. Die begriffliche Möglichkeit des Raumes ist gleich-
bedeutend mit seiner empirischen Realität.
5. Stetige und diskrete Grössen sind einander beige-
ordnet, d. h. sie sind Arten derselben Gattung, indem beide
ihrer Natur nach Mannigfaltigkeiten sind. *)
•) Die Ordnung und Aufzählung dieser Sätze ist natürlich meine
eigene; in Riemann's Abhandlung erscheinen sie in sehr gemischter
Reihenfolge. Zum Beweise der Korrektheit meiner Darstellung der
RiEMANN'schen Lehren im allgemeinen wird es vielleicht gut sein,
wenn ich den einleitenden Teil seiner Abhandlung im Original eitlere
und dabei die wichtigsten Stellen durch gesperrten Druck hervorhebe :
„Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen."
„Plan der Untersuchung.**
„Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes,
als die ersten Grundbegriffe für die Konstruktionen im Räume als
etwas Gegebenes voraus. Sie gibt von ihnen nur Nominaldefinitionen,
während die wesenüichen Bestimmungen in Form von Axiomen auf-
treten. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln ;
man sieht weder, ob und in wie weit ihre Verbindung notwendig,
noch a priori, ob sie möglich ist.*'
„Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis Legendre, um
den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen, weder
von den Mathematikern, noch von den Philosophen, welche sich
damit beschäftigten, gehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl
darin, dass der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehn-
ter Grössen, unter welchen die Raumgrössen enthal-
ten sind, ganz unbearbeitet blieb. Ich habe mir daher
zunächst dieAufgabe gestellt, den Begriff einer mehr-
fach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössen-
b e g r i f f e n zu konstruieren. Es wird daraus hervorgehen, dass
eine mehrfach ausgedehnte Grösse verschied euer Mass-
verhältnisse fähig ist, und der Raum also nur einen
Dei' metagomdr, Raum im Lichte d. modern. Änalysis, 263
Ich gehe nun daran, diese Sätze der Reihe nach in
Betracht zu ziehen.
besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse
bildet. Hiervon ist aber eine notwendige Folge , dass die Sätze
der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Grössenbegriffen ableiten
lassen, sondern dass diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der
Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Grössen unter-
scheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können. Hieraus
entsteht die Aufgabe, die einfachsten Thatsachen aufzusuchen, aus
denen sich die Massverhältnisse des Raumes bestimmen lassen —
eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt
ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher Thatsachen an-
geben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Raumes hin-
reichen ; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von
Euklid zu Grunde . gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle
Thatsachen, nicht notwendig, sondern nur von empi-
rischer Gewissheit, sie sind Hypothesen, man kann also
ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der Grenzen der Beobach-
tung allerdings sehr gross ist, untersuchen, und hiernach über die
Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung
sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der Seite des
Ünmessbarkleinen urteilen."
,,I. Begriff einer n-fach ausgedehnten Grösse."
„Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die
Entwicklung des Begriffes mehrfach ausgedehnter Grössen, zu lösen
versuche , glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurteilung
Anspruch machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philo-
sophischer Natur, wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als
in den Konstruktionen liegen, wenig geübt bin, und ich ausser einigen
ganz kurzen Andeutungen, welche Herr Hofrat Gauss in der zweiten
Abhandlung über die biquadratischen Reste, in den göttingischen ge-
lehrten Anzeigen, und in seiner Jubiläumsschrift darüber veröffent-
licht hat, und einigen philosophischen Untersuchungen Herbart's
durchaus keine Vorarbeiten benutzen konnte.
„Grössenbegriffe sindnurda möglich, wo sich ein
allg^emeiner Begriff vorfindet, der verschiedene Be-
stimmungsweisen zulässt. Je, nachdem unter diesen
Bestimmungsweisen von einer zu einer anderen ein
stetiger Übergang stattfindet oder nicht, bilden sie
204 XIV, Kapitel.
I. Der erste Satz ist in klaren Worten ein Ausdruck
des allgemeinen ontologischen Irrtums (der im neunten
eine stetige oder diskrete Mannigfaltigkeit; die ein-
zelnen Bestimmungsweisen heissen im ersten Fall
Punkte, in letzterem Elemente dieser Mannigfaltig-
keit. Begriffe, deren Bestimmungsweisen eine diskrete Mannigfaltig-
keit bilden , sind so häufig , dass sich für beliebig gegebene Dinge
wenigstens in den gebildeteren Sprachen immer ein Begriff auffinden
lässt, unter welchem sie enthalten sind (und die Mathematiker konnten
daher in der Lehre von den diskreten Grössen unbedenklich von der
Forderung ausgehen , gegebene Dinge als gleichartig zu betrachten),
dagegen sind die Veranlassungen zur Bildung von Begriffen, deren
Bestimmungsweisen eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, im gemeinen
Leben so selten, dass die Orte der Sinnengegenstände und die Farben
wohl die einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen
eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden. Häufigere Ver-
anlassung zur Erzeugung und Ausbildung dieser Begriffe findet sich
erst in der höheren Mathematik."
,, Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze
unterschiedene Teile einer Mannigfaltigkeit heissen
Quant a. Ihre Vergleichung der Quantität nach ge-
schieht bei den diskreten Grössen durch Zählung, bei
den stetigen durch Messung... Für den gegenwärtigen Zweck
genügt es, aus diesem allgemeinen Teile der Lehre von
den ausgedehnten Grössen, wo weiter nichts voraus-
gesetzt wird, als was in dem Begriffe derselben ent-
halten ist, zwei Punkte hervorzuheben, wovon der erste die Er-
zeugung des Begriffs einer mehrfach ausgedehnten
Mannigfaltigkeit, der zweite die Zurückführung der
Ortsbestimmungen in einer gegebenen Mannigfaltig-
keit aufQuantitätsbestimmungen betri f f t , und das wesent-
liche Kennzeichen einer n fachen Ausdehnung deutlich machen wird."
Ich muss bemerken, dass meine Auffassungen mehrerer Stellen
dieses Textes mehr oder weniger Mutmassungen sind. Es ist Raum
für ernste Zweifel vorhanden, z. B. ob der Ausdruck ,, Bestimmungs-
weisen" in dem Sinne gemeint ist, dass er die zu einer Gattung ge-
hörige Art bezeichnet, oder aber die Teile eines Ganzen. — Eine
schlechte Übersetzung der RiEMANN'schen Abhandlung, die durch ihre
plumpe Buchstäblichkeit viel zur Erhöhung der Dunkelheit und Ver-
Der metageometr, Rau7n im Lichte d. modern. Änalysis, 265
Kapitel hinlänglich zur Sprache gekommen ist), dass Dinge
und deren Eigenschaften aus den Begriffen von denselben
abzuleiten sind. Wie ich bereits hervorgehoben habe, de-
finiert RiEMANN den Ausdruck „Begriff" nicht; noch unter-
sucht er die Frage, wie Begriffe gebildet werden oder wie
sie Eigentum des Verstandes werden. Er behauptet in der
That, dass Grössenbegriffe nur möglich sind, wenn sie unter
höhere Begriffe subsumiert werden können, oder wie er sich
ausdrückt, „wenn sich ein allgemeiner Begriff vorfindet, der
verschiedene Bestimmungsweisen zulässt". Die Frage aber,
wo dieser Prozess der Subsumption beginnt oder endet, und
worin die Natur und der Ursprung der höchsten Begriffe
oder des summum genus gelegen ist, von dem alle
niederen Gattungen oder Arten Spezialisierungen sein müssen,
fallt ihm nicht auf. Es ist indessen eine unvermeidliche
Schlussfolgerung aus Riemann's erstem Satz, dass er den
allgemeinsten Begriff für eine a priori'sche Form oder einen
a priori'schen Besitz des Geistes hält, und dass er den
Prozess der Deduktion, durch welchen seine „Bestimmungs-
weisen" abgeleitet werden, für eine Reihe synthetischer
Urteile a priori (im Sinne Kant's) ansieht. Angesichts
dessen erscheint eine weitere Betrachtung des Satzes über-
flüssig; er wird durch den ganzen Gedankengang der vor-
hergehenden Kapitel dieses Buches widerlegt. Es mag in-
dessen gestattet sein zu bemerken, dass er in der ganzen
worrenheit des Originals beiträgt, ist 1873 von W. K. Clifford
veröffentlicht worden (Nature, vol. VIII, p. 14 u. 36 seq.). Diese
Übersetzung ist ohne Zweifel nicht von, sondern für Professor
Clifford von irgend wem gemacht worden, der eine höchst unzu-
reichende Kenntnis des Deutschen besessen hat. Die Verdienste
dieser Übersetzung werden nicht schlecht illustriert durch die Wieder-
gabe des RiEMANN'schen Ausdruckes „Mannigfaltigkeiten" (Helm-
HOLTZ übersetzt „aggregates") durch „manifoldnesses", der „Grössen-
begriffe" durch „magnitude-notions", etc. An einer Stelle ist der
ganze Sinn verkehrt, indem ,, könnten" statt „konnten" gelesen wurde.
266 XIV. Kapitel
Geschichte des Intellektualismus (gewöhnlich Idealismus ge-
nannt) ohne Parallele dasteht; Kant z. B. verwirft aus-
drücklich jeden Glauben an die Lehre, dass der Geist von
allem Anfange an mit fertigen Begriffen versehen sei.
2. Der zweite Satz, dass Grössenbegriffe nur durch
Subsumption unter allgemeinere Begriffe gebildet werden
können, ist wahrscheinlich eine vage Reminiscens der alten
logischen Regel, nach der alle Definition per genus et
differentiamzu geschehen habe. Trotz des von Riemann
im zweiten Satze seiner Abhandlung ausgesprochenen Be-
dauerns, dass die Wissenschaft der Geometrie bis jetzt nur
Nominaldefinitionen des Raumes und der räumlichen Kon-
struktionen gegeben habe — ein Bedauern das, beiläufig
bemerkt, so weit es die räumlichen Konstruktionen angeht,
unbegründet ist — scheint er keine besonders klare Ein-
sicht in die Natur des Unterschiedes zwischen Definitionen
und Begriffen zu besitzen. Denn wenn er wirklich sich
diesen Unterschied vergegenwärtigt haben würde, hätte er
nicht umhin können, sich die Frage zu stellen, was bei seiner
Definition aus dem summum genus „Grösse" geworden
ist, das den logischen Endpunkt des von ihm besprochenen
Prozesses der Subsumption vorstellt. Ist dieses summum
genus auch ein Begriff? Dann müsste es in Gemässheit
seiner Regel unter einem noch höheren Begriff subsumierbar
sein, der ex vi termini nicht vorhanden sein kann, da
er selbst dann der höchste wäre. Oder ist dieses Etwas
ein Gegebenes der Erfahrung? Wenn es dies ist, wie ist
dann der zweite Satz mit dem ersten in Einklang zu bringen,
nach dem alles aus dem Begriff herzuleiten ist, ebensowohl
wie es unter einen solchen zu subsumieren ist? Oder ist
dies der alte Fall der Henne von Newmarket, die ein Ei
legt, aus dem dieselbe Henne eben als ein Küchlein her-
vorkommt ?
Der hier zur Sprache gebrachte Satz bringt unseren
Der metageometr, Ratim im Lichte d. modern, Analysis, 267
Autor von allem Anfang an in die unerträglichste Verlegenheit.
„Begriffe", erklärt er, „deren Bestimmungsweisen eine dis-
krete Mannigfaltigkeit bilden, sind so häufig, dass sich für
beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebildeteren
Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem
sie enthalten sind". Der Sinn dieser Stelle ist meines Er-
achtens der, dass von diskreten Mannigfaltigkeiten stets
mehrere ähnliche oder verwandte Arten bestehen, die sich
leicht unter einen höheren Begriff bringen lassen. „Da-
gegen", fährt RiEMANN fort, „sind die Veranlassungen zur
Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige
Mannigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass
die Orte der Sinnengegenstände und die Farben wohl die
einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen
eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden" — das
heisst, wie ich annehme, es gibt nur eine Art stetiger Man-
nigfaltigkeit ausser dem Räume, die mit ihm eine Coordi-
nation und Subsumption unter den Begriff einer „mehrfach
ausgedehnten Mannigfaltigkeit'* gestattet, nämlich die Farbe.
Diese sonderbare Behauptung (die, wie nebenbei bemerkt
werden mag, das gerade Gegenteil der Wahrheit ist, die,
wie wir später sehen werden, die ist, dass es nur eine Art
diskreter Grössen, nämlich Zahlen, gibt, hingegen unzählige
Arten stetiger) ist mit einem ausserordentlichen Aufwände
analytischer Kunst von Benno Erdmann ausgearbeitet
worden^), der zu dem Ergebnisse kommt, dass es zwei
dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten gibt, die dem drei-
dimensionalen Raum beigeordnet sind und sich mit ihm
unter den Begriff einer stetigen mehrfach ausgedehnten
„Mannigfaltigkeit" unterordnen lassen, nämlich Ton und
Farbe. Ton ist nach Erdmann eine Funktion dreier un-
abhängiger Variablen, der Höhe, Stärke und Klangfarbe.
*^) Die Axiome der Geometrie, Leipzig 1877, P* 4^ seq.
268 XJV, Kapitel,
Ähnlich hängt die Farbe von den Variablen Farbenton,
Sättigungsgrad und Stärke ab. ^)
Dies alles ist einfach kindisch. Sich einzubilden, dass
Schlüsse über die Natur des Raumes und den Ursprung
seiner Begriffe aus der blossen Thatsache, dass der Raum
eine Funktion dreier Variablen ist, gezogen werden können
und derselbe daher in eine Linie mit ähnlichen Funktionen
gestellt werden könne, ist ein Hohn auf alles vernünftige
Schliessen, von dem sich ein alter Scholastiker mit der
verächtlichen Bemerkung abgewandt hätte, dass Coordination
und Subsumption zum Zwecke einer wirksamen Hilfe bei
der Büdung eines besonderen Begriffes nicht nur unter ein
g e n u s , sondern unter das genus proximum stattfinden
müsse. *) Weissenborn's Bemerkung, •) dass aus denselben
logischen Gründen der Raum mit dem von einem Kapital
gelieferten Zinsenbetrage in eine Reihe gestellt werden
könnte, der eine Funktion der drei Variablen Kapital,
Prozentsatz und Zeit ist, ist vollkommen zutreffend.
Die Zahl der dem Räume in demselben Sinne gleichgestellten
Arten kann ins Unendliche vermehrt werden. So kann z. B.
der Raum mit der Geschwindigkeit eines Eisenbahnzuges
auf einer geraden Strecke in eine Linie gestellt werden, da
ja diese Geschwindigkeit eine Funktion der bewegenden
*) Es ist in diesem Zusammenhange bezeichnend , dass nach
Helmholtz (der mit der RiEMANN'schen Theorie der Begriffsbildung
übereinstimmt) die drei Variablen der Funktion „Farbe" die drei
Grundfarben sind, von denen jede andere eine Mischung darstellen
soll. ,,The Origin and Meaning" etc., Mind, vol. I, p. 309.
*) Davon scheint Erdmann eine gewisse Ahnung zu haben,
denn er bemerkt, dass sich der Raum von Farbe und Schall durch
clen Umstand der unbedingten Gleichwertigkeit seiner drei Dimensionen
unterscheidet, während die „Dimensionen" von Farbe und Schall nicht
gleichbedeutend sind.
*) „Über die neueren Ansichten vom Raum", Vierteljahrsschrift
für wissenschaftliche Philosophie, 2. Band, S. 321.
Der metageometr. Raum im Lichte d. modern, Analysis. 269
Kraft der Maschine, des Zuggewichtes und der Steigung
des Geleises ist ; oder mit der Verdunstung einer Flüssigkeit,
die eine Funktion der Natur dieser Flüssigkeit, ihrer
Temperatur und des athmosphärischen Druckes ist; oder
mit der Arbeitsfähigkeit eines Mannes, die von seiner all-
gemeinen .Gesundheit und Stärke , der Menge der einge-
nommenen Nahrung und des genossenen Schlafes abhängt;
u. s. w. bis ins Unendliche. All' dies ist ganz absurd, doch
nicht mehr als die Gleichstellung des Raumes mit Ton
und Farbe auf Grund der blossen gemeinsamen Abhängigkeit
von drei Variablen, die willkürlich „Dimensionen" genannt
werden.
3. Ich komme nun zu Riemann's drittem Satze, dass
«
der Raum „eine mehrfach oder n-fach ausgedehnte Mannig-
faltigkeit" sei. Der Ausdruck „Mannigfaltigkeit", wie er hier
zur Verwendung kommt, bildet eine standige Verlegenheit fiir
die Leser der RiEMANN'schen Abhandlung. Weissenborn, der
mit Recht den Gebrauch eines Eigenschaftswortes zur Be-
zeichnung eines Substantivums tadelt , vermutet, dass der
Ausdruck von Riemann eigens zu dem Zwecke ersonnen
worden ist, um den Begriff „Raum" dem zweiten seiner Sätze
gemäss unter einen zweiten Begriff unterordnen zu können. ')
Dies ist indessen ein Irrtum. Riemann tibernahm den Aus-
druck von Gauss, der wahrscheinlich der Erfinder seines
Gebrauches zur Bezeichnung des „allgemeinen Raumes"
(zum Unterschied vom „flachen Räume" im metageome-
trischen Sinne) gewesen ist.®) Gauss wieder entnahm den
"') 1. c, S. 320.
*) In seiner Anzeige der Theoria residuorum biquadraticorum,
Commentatio secunda, sagt Gauss: „Der Verfasser hat sich vorbe-
halten , den Gegenstand , welcher in der vorliegenden Abhandlung
eigentlich nur gelegentlich berührt ist, künftig vollständig zu be-
arbeiten, wo dann auch die Frage, warum die Relationen
zwischen Dingen, die eine Mannigfaltigkeit von mehr
270 XIV. KapUeL
Ausdruck ohne Zweifel Herbart®), dessen Versuche, die
Vorstellung des Raumes aus den mannigfach verschiedenen
Sinnesempfindungen zu konstruieren, ich bereits erwähnt
habe, und dessen Philosophie grösstenteils eine Art von
Reproduktion der alten eleatischen Schwierigkeiten „über
das Eine und das Viele" darstellt. Herbart endlich hat
den Ausdruck von Kant übernommen, dessen Schüler er
war oder zu sein glaubte, und dessen Phrase „Mannig-
faltigkeiten der Empfindung" sich zu verschiedenen Malen
nicht nur in seinen eigenen Schriften, sondern auch in denen
seiner Nachfolger findet.
Der einzige Kommentar, den ich über diesen Satz für
nötig erachte, ist die Bemerkung, dass der Raum überhaupt
keine Mannigfaltigkeit ist, sondern dass sein wahres Wesen
in der Stetigkeit besteht. Dies folgt, wie mehr als zur Ge-
nüge gezeigt worden, sowohl aus der Natur seines Begriffes,
wie aus seiner Relativität. Die Bestimmung von Punkten
im Räume oder von „Elementen" des Raumes erfolgt durch
die Aufstellung quantitativer Beziehungen zwischen seinen
Teilen, d. h. rein willkürlichen Zerteilungen, mit Hilfe von
Zahlen auf die sofort in Betracht zu ziehende Weise. Ich
habe bereits im letzten Kapitel gezeigt, dass der Raum
nicht in irgend einem vernünftigen Sinne als Grösse be-
zeichnet werden kann.
4. Riemann's vierter Satz beruht auf einer Verwechselung
begrifflicher mit reeller oder empirischer Mög-
ais zwei Dimensionen darbieten, nicht noch andere,
in der allgemeinen Arithmetik zulässige Arten von
Grössen liefern können, ihre Beantwortung finden
wird." Gauss, Werke, 2. Bd., S. 178. Diese Note erschien ur-
sprünglich in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vom 25. April 1831.
•) In seiner Synechologie spricht Herba&T über „die Mannig-
faltigkeit der irrationalen Fortschreitungen in Bezug auf den Raum."
Herbart's Werke, 4. Bd., S. 153.
Der metageometr. Baum hn Lichte d. modern, Analysis. 271
lichkeit. Die begriffliche Möglichkeit ist lediglich durch die
Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Elemente
des zu bildenden Begriffes bestimmt — sie wird einfach
durch das logische Gesetz des Widerspruches geprüft ; während
die empirische Möglichkeit von der Verträglichkeit des
wahrzunehmenden Dinges mit verschiedenen Bedingungen der
Sinneswelt oder, was dasselbe bedeutet, den Naturgesetzen
abhängt. Auch dieser Gegenstand ist schon im letzten
Kapitel einigermassen erörtert worden, woselbst hervor-
gehoben wurde, dass Begreifbarkeit eines Dinges oder einer
Erscheinung (im strengen Sinne des Wortes) kein Beweis
ihrer Vorstellungs- oder Darstellungsmöglichkeit unter den
Bedingungen unserer physischen und intellektuellen Organi-
sation ist. Auf dieser Unterscheidung beruht die Nützlich-
keit und der Zweck des in gewissen analytischen Unter-
suchungen nicht selten angewandten Kunstgriffes, die Exi-
stenz einer vierten Dimension des Raumes anzunehmen, um
gewisse Funktionen auf eine symmetrische Form zu bringen ;
und diese Unterscheidung bildet auch die Grundlage der
von Bügle ^^) vor 2 6 Jahren gemachten Beobachtung:
„Der Raum stellt sich uns in der Wahrnehmung in
den drei Dimensionen der Länge, Breite und Tiefe dar.
Bei einer grossen Zahl von Problemen, die sich auf die
Eigenschaften krummer Flächen, die Rotation starrer Körper
um Axen, die Schwingung elastischer Medien u. ä. ä. be-
ziehen, scheint diese Beschränkung in der analytischen
Untersuchung von einem willkürlichen Charakter zu sein,
und, wenn auf die Auflösungsverfahren allein
das Augenmerk gerichtet wird, kann kein Grund
entdeckt werden, weshalb der Raum nicht auch in vier
oder mehr Dimensionen existieren könnte. Das Verfahren
des Verstandes in dieser so entstandenen imaginären Welt
^^) Laws of Thought, S. 175 Anm.
272 XIV. Kapitel.
kann durch Analogie in völlig durchsichtiger Weise ver-
standen werden/^ Aus demselben Grunde und in demselben
Sinne hat Hermann Grassmann, der zuweilen als einer der
Gründer der transcendentalen Geometrie angeführt wird,
die Theorie der Ausdehnung in ihrer allgemeinen An-
wendung auf eine unendliche Zahl von Dimensionen ent-
wickelt, wiewohl er sicher nicht (wie es Victor Schlegel ^^)
vorauszusetzen scheint) sich der Täuschung hingibt, dass
dies zu einer Quelle von Schlüssen über die Zahl der
wirklichen oder empirisch möglichen Dimensionen des Raumes
werden könnte. Diesbezüglich liegt Grassmann's eigene
ausdrückliche Erklärung vor^*): „Es ist klar*', sagt er,
„wie der Begriff des Raumes keineswegs durch das Denken
erzeugt werden kann, sondern demselben als ein Gegebenes
gegenübertritt. Wer das Gegenteil behaupten wollte, müsste
sich der Aufgabe unterziehen, die Notwendigkeit der drei
Dimensionen des Raumes aus den reinen Denkgesetzen
abzuleiten- — eine Aufgabe, deren Lösung sich sofort als
unmöglich darstellt."
5. Nahe verwandt dem dritten und vierten ist der
fünfte Satz Riemanns, dass stetige Grössen den diskreten
beigeordnet sind, indem beide ihrer Natur nach Mannig-
faltigkeiten und somit Arten derselben Gattung vorstellen.
Dieser verderbliche Trugschluss ist einer der gangbaren
traditionellen Irrtümer der Mathematiker und ist die Quelle
zahlloser Täuschungen gewesen. Dieser Irrtum ist es, der
der Bildung einer vernünftigen, verständigen und konse-
quenten Theorie der irrationalen und imaginären Grössen
im Wege gestanden ist, und der die wahren Prinzipien der
Lehre von den „komplexen Zahlen" und der Quatemionen^
rechnung in unergründlichen Nebel gehüllt hat.
^^) System der Raumlehre, Vorrede, S. VL
^*) Die lineare Ausdehnungslehre (1844), Einleitung S. 20 fF.
Der metageometr, Raum im Lichte d, modern. Analysis, 273
Der Satz, dass diskrete und stetige Grössen beige*
ordnete Arten derselben Gattung sind, läuft auf nichts
weniger als den Satz hinaus, dass die Zeichen logisch
gleichwertig mit dem Bezeichneten sind. Es gibt -keine
anderen „diskreten Grössen" als die, welche in der be-
sondem (gewöhnlichen) und allgemeinen Arithmetik be-
handelt werden, nämlich die Zahlen. Nun ist eine Zahl
ein Aggregat oder eine Vereinigung von Einheiten, von
denen jede einfach einen Akt der Apprehension
vorstellt, wie auch inuner die Ausdehnung und die Natur
des vorgestellten Objektes beschaffen sein mag. Wird
dieses Objekt als Grösse bezeichnet, so ist die Zahl
überhaupt keine Grösse, noch auch ein MxsS der Grösse,
sondern nur ein Hilfsmittel des Geistes zur Aufnahme von
Grössen, — ein rein subjektives Instrument für deren Ver*
gleichung und Messung. All die Unsicherheit und Ver-
wirrung, die fiir die zahlreichen Versuche Grössen zu de-
finieren und zu klassifizieren charakteristisch ist, verdanken
ihre Entstehung der Unkenntnis oder Vernachlässigung
dieser elementaren Wahrheit. Grösse („quantity") ist definiert
worden als das, „was einer Vermehrung, Verminderung und
Teilung f^hig ist*', und als die „Gattung, von der Aus-
dehnung („magnitude") und Vielheit Arten sind"; oder
es sind Grössen vorerst in extensive (Raum) und in-
tensive (Kräfte, Farben, Töne und alle subjektiven Em-
pfindungen) und die extensiven hernach in stetige und
diskrete geteilt worden. Thatsache ist nun, dass alle
Gegenstände der Wahrnehmung, einschliesslich aller Daten
der Sinne an sich, d. i. beim Akt der Wahrnehmung
wesentlich stetig sind. Sie werden bloss dadurch diskret,
dass sie, willkürlich oder notwendig , mehreren Akten der
Wahrnehmung unterworfen und dadurch in Teile geschieden
oder anderen auf ähnliche Weise als Ganzes wahrgenonunenen
Gegenständen beigeordnet werden. Die Behauptung, dass
StaLLO> Begriffe u. Theorieen. l8
2 74 XIV, Kapitel.
ein Gegebenes der Empfindung oder des subjektiven Ge-
fühls an sich diskret ist, ist gleichbedeutend mit der Aus-
sage, dass es absolut ist, und mit der Verleugnung .der
prinzipiellen Relativität der Grösse. Und (mit denen, die
von positiven, negativen, gebrochenen, irrationalen, imaginären,
komplexen, linearen oder gerichteten Zahlen sprechen) zu
behaupten, dass die Zahl stetig sein kann, heisst die klarste
und nichtmisszuverstehendste Thatsache aller unserer Denk-
handlungen zu ignorieren imd alle Lehren der Geschichte
der Mathematik zu missdeuten. Zahlen an sich, die ja nur
Gruppen oder Reihen intellektueller Apprehensionen ohne
Bezug auf deren Inhalt sind, sind nicht positiv oder negativ,
poch weniger gebrochen, irrational oder imaginär imd können
es nicht sein. Sie können in Wirklichkeit nicht nur auf
die Daten der Empfmdung und des subjektiven Gefühls,
^sondern auch durch Analogie auf Beziehungen zwischen
ihnen, einschliesslich der durch den Verstand aufgestellten,
angewandt werden. Sie können demnach nicht nur fiir
Dinge, sondern auch für deren Wirkungen und Gegen-
wirkungen und für die Operationen stehen, denen sie unter-
worfen werden. Eine Zahl kann Bewegung in einer ge-
gebenen Richtung und in der ihr entgegengesetzten dar-
stellen und erhält dementsprechend die Vorzeichen plus
und minus; diese Zeichen bedeuten aber keine Veränderung
in der Natur der Zahlen, sondern bloss eine Besonderheit
ihrer Anwendung. In ähnlicher Weise können Zahlen Ver-
hältnisse darstellen imd die Form von Brüchen annehmen;
doch hören die Zahlen deshalb nicht auf zu sein, was sie
sind, nämlich Einheiten oder Verbindungen von Einheiten
und somit ihrem Wesen nach Ganze. Brüche können
eigentlich nur Zahlen genannt werden in dem Sinne, als
sie auf eine Teilung nicht der anfänglichen, die
ursprünglichen Akte der Apprehension dar-
stell endenEinheiten, sondern deraufgefassten
Dei' Dietageometr, Baum im Lichte d. modern. Analysis, 275
Objekte in Untereinheiten ausgehen. Dann
können Zahlen Zeichen für Grössenoperationen sein, die
nicht wirklich ausgeführt werden können, wie die Zurück-
ftihrung der Diagonale und der Seite eines Quadrates auf eiu
gemeinsames Mass — mit anderen Worten die Aufstellung
eines bestimmten Zahlenverhältnisses zwischen zwei Grössen,
die kein solches Verhältnis zulassen. In diesem Falle
findet die Vergeblichkeit des Versuches Ausdruck in einem
der Zahl vorgesetzten Zeichen, welches zugleich mit dem
dadurch Bezeichneten gewöhnlich als eine irrationale Grösse
hingestellt wird; die Irrationalität liegt aber nicht in der
Zahl, sondern in dem Versuche ihrer Anwendung auf in-
kommensurable Grössen. Dasselbe lässt sich mutatis mu-
tandis von den „imaginären Grössen'' tmd den „komplexen
Zahlen" sagen. Der Gegenstand des ApprehensionsakteSy
der durch eine numerische Einheit dargestellt wird, kann
nicht nur geradlinige Bewegung oder Übertragung nach einer
gegebenen Richtung, sondern auch eine Drehung sein; wie
sich die Quaternionenrechnung ausdrückt, kann die Einheit
der Operation ein Tensor oder ein Ver3or oder beides sein ;
woraus sich ergibt, dass, sobald der Versuch gemacht wird,
solch eine Operation in Ausdrücken linearer Einheiten mit
ihren positiven oder negativen Vorzeichen darzustellen, die
eine bestimmte Richtung der Bewegung anzeigen, deren
Mass diese Linien sind, dieser Versuch misslingt imd diese
Thatsache in. der Form eines Symbols zum Vorschein
kommt, das (weil es nm einen Teil eines symbolischen
Systems bildet, der nicht umfassend genug ist, die neue
Operation mit zu enthalten) eine sogenannte' imaginäre
*Form annimmt. Aber auch hier ist es wieder nicht die
Zahl, die imaginär ist, sondern die Operation, die
nach den konventionellen Regeln der sym-
bolischen Darstellung gedeutet wird, infolge-
dessen diese Regeln auf sie auszudehnen und der Sinn der
276 XIV. Kapitel.
Symbole zu erweitem ist Dies bedingt aber wieder eine
Änderung, nicht der Natur der Zeichen d. i. der Zahlen,
sondern der Natur und Bedeutung des Bezeichneten. Auf
diese Weise wird der Spielraum der arithmetischen (und
natürlich auch der algebraischen) Symbole beständig er-
weitert nicht nur durch Ausdehnung, sondern auch durch
völlige Veränderung der Dinge, Beziehungen oder Opera-
tionen, die nach und nach zu Gegenständen der intellektuellen
Apprehension werden. Alles dieses ist vollkommen richtig
und berechtigt, sofern nur die Veränderung in der Be-
deutung der Symbole in Gemässheit des logischen Gesetzes
der Einstimmigkeit vor sich geht und mit gebührender
Rücksichtnahme auf die Wirkung geschieht, welche eine
solche Änderung auf die Regeln ausübt, denen die Synthese
und Analyse der Symbole imterliegt. So ist z. B. in dem
Verfahren der gewöhnlichen arithmetischen oder algebraischen
Multiplikation das Gesetz der Vertauschbarkeit der Faktoren
von allgemeiner Giltigkeit. Da die Multiplikation nichts
anderes als eine abgekürzte Addition ist, können der
Multiplikand und der Multiplikator ihre Plätze oder Funk-
tionen ohne Einfluss auf das Ergebnis vertauschen. In der
Quaternionenrechnung verallgemeinert der Mathematiker
das Prinzip der Multiplikation dahin, dass er sie als das
Verfahren der Aufsuchung einer Grösse definiert, die auf
demselben Wege aus dem Multiplikand entsteht oder sich
zu ihm verhält, wie der Multiplikator aus der positiven Ein-
heit entsteht oder sich zu ihr verhält. Unter Zugrunde-
legung dieser neuen Definition multipliziert er Linien und
andere Grössen mit einander; jetzt aber wird das Gesetz
der Vertauschbarkeit nicht mehr allgemein anwendbar. Der
Grund dafür liegt darin, dass die scheinbare Ausdehnung
des Prinzips der Multiplikation in Wirklichkeit auch eine
Beschränkung, oder vielmehr eine Veränderung des Sinnes
der arithmetischen oder algebraischen Symbole bedeutet —
Der metageometr, Raum im Lichte d, modern, Analysis, 277
eine Entfernung der Bedingung, von der die Giltigkeit des
Vertauschungsgesetzes abhängt. Ich will hier nebenbei be-
merken, dass es ein Irrtum ist, mit Kelland und anderen
zu sagen, dass der Quaternionenkalkül aus dem gewöhn-
lichen arithmetischen oder algebraischen Kalkül durch Be-
seitigung der Beschränkungen hervorgehe. Das eben an?
geführte Beispiel zeigt, dass er ebenso wohl eine Auferlegung
von Beschränkung in sich schliesst. Aus diesem Grunde
erfordert Peacock's Gesetz, ^^) das er das „Prinzip von der
Permanenz aequivalenter Formen'* nennt in dem Sinne, dass
„alle die algebraischen Formen, die aequivalent sind, wenn
die Symbole von allgemeiner Form und besonderem Werte
sind, es auch sind, wenn die Symbole sowohl dem Werte
als der Form nach allgemein sind", um als Grundprinzip
für die „Theorie der komplexen Zahlen" verwendbar zu
sem, eine viel tiefergreifende Abänderung als ihm in Hankel's
neuer Formulierung als „Prinzip von der Permanenz der
formalen Rechengesetze" zu Teil wird. Denn der Ausdruck
„formale Gesetze" ist zweideutig und lässt dem Zweifel Raum,
ob die Gesetze in dem Sinne formal sind, dass sie sich
auf alle Operationen anwenden lassen, die in irgend einer
Weise durch arithmetische oder algebraische Symbole dar-
zustellen sind.
Der Irrtum über die wahre Natur und Rolle der
arithmetischen und algebraischen Grössen ist beinahe im-
ausrottbar geworden durch den eingewurzelten Gebrauch des
Wortes „Grösse*' zum Zwecke der unterschiedslosen Be-
zeichnung ausgedehnter Gegenstände, oder Formen der Aus-
dehnung und abstrakter numerischer Einheiten, oder Aggregate,
durch die ihre Massverhältnisse bestimmt werden. Die Wirkung
dieses unterschiedslosen Gebrauches ist ein weiteres Beispiel
für die in der Geschichte der Erkenntnis wohlbekannte
^*) Peacock, Symbolical Algebra, S. 59.
278 XIV. Kapitel.
Thatsache, dass Worte einen mächtigen Einfluss auf die
Gedanken der Menschen geübt haben, und dadurch zu
einer ergiebigen Quelle unberechenbarer Irrtümer und Ver-
wirrungen geworden sind. Es ist natürlich nicht zu er-
warten, dass die Mathematiker heutigen Tages aufhören
würden, von arithmetischen oder algebraischen Symbolen
als „Grössen" zu reden; doch dürfte eine kleine Hoffnung
für die Befolgung des Rates bestehen, zu dem alten Aus-
druck „geometrische (und andere) Grössen" zurückzukehren.
Der Unfug liegt nicht so sehr in dem Gebrauche eines be-
sonderen Wortes, als in der Verwendung desselben Wortes
zur Bezeichnung von Gegenständen, die von einander toto
genere verschieden sind. ^*)
Die Unkenntnis oder das Vergessen dieses eben her-
vorgehobenen Unterschiedes illustriert auch eine Phase in
der Geschichte des Irrtums, von dem ich bereits zu wider-
holten Malen in den vorhergehenden Seiten auf Beispiele
gestossen bin : die Vermengung rein konventioneller Formen
des Denkens und der Sprache mit Formen oder Gesetzen
objektiver Existenz. Diese Vermengung, die der alten An-
nahme zu Grunde liegt, dass unsere willkürlichen oder kon-
ventionellen Klassifikationen der Naturerscheinungen mit
wirklichen Unterschieden derselben übereinstimmen und als
Quelle von Schlüssen über ihre Natur und ihren Ursprung
benützt werden können — dass, wie sich irgend wer aus-
**) Die durch den Gebrauch ungeeigneter und irreführender Aus-
drücke in der Mathematik hervorgerufenen Verlegenheiten sind von
Gauss selbst in der bereits citierten Notiz (Werke, 2. Bd., S. 178)
bemerkt worden , woselbst er von der der Deutung „negativer und
imaginärer Zahlen" anhaftenden Schwierigkeit spricht und bemerkt:
„Wenn -\- ly — I, V i nicht positive, negative, imaginäre (oder
selbst unmögliche) Einheiten, sondern z. B. direkte, inverse,
laterale Einheiten genannt würden, so würde diese Dunkelheit ver-
schwinden.**
Der metageomeir. Baum ijn Lichte d, modern» Analysis. 279
gedrückt hat, der Plan der Schöpfung des Herrn wie die
Partitur der Schöpfung von Haydn in Takte geteilt ist [that,
as some on has said, the score of the Lord's creation, like
that of Haydn's Creation, is crossed with bars] hat eine
endlose Reihe wunderlicher Einbildungen zur Folge, durch
die der Fortschritt der Wissenschaft unaufhörlich gehemmt
wird.
Aus den hier auseinander gesetzten Gründen sind auch
die Ausdrücke „abstrakte und konkrete Zahlen"' trügerisch
und irreführend. Die Zahlen sind an sich ihrem Wesen
nach abstrakt. In einem anderen Sinne sind sie notwendig
konkret : sie stehen stets für irgend ein besonderes Objekt, eine
Beziehung oder Operation. Sie sind nichts an sich. Diese *
Bemerkung ist doppelt wahr von algebraischen Symbolen,
die zuerst einer Deutung durch Beilegung besonderer nume-
rischer Werte bedürfen, die wieder ohne Bedeutung bleiben,
so lange nicht die Einheiten, aus denen sie bestehen, auf
besondere Gegenstände, Beziehungen oder Operationen be-
zogen werden können. Dies ist ohne Zweifel die Ansicht
Dühring's, wenn er irgendwo in seiner Geschichte der Prinzipien
des Mechanik bemerkt, dass das System der algebraischen Sym-
bole an einem Grundfehler leidet, insofern es nicht die
numerischen Einheiten zur Schau trägt, welche die wesent-
lichen Koeffizienten eines jeden Buchstabensymbols ausmachen.
Er hätte diese Bemerkung dahin ausdehnen können, dass
der Gebrauch von Buchstaben als algebraischer Symbole
d. h. als Stellvertreter von Zahlen an sich schon eine ernst- ""
liehe (wenn auch vielleicht unvermeidliche) Schwäche der
mathematischen Bezeichnungsweise ist. In der einfachen
Formel, die z. B. die Geschwindigkeit eines sich bewegen-
den Körpers in ihrer Abhängigkeit von Raum und Zeit
s
ausdrückt (v = — ), haben die Buchstaben eine Tendenz, dem
Mathematiker zu suggerieren, dass er vor sich direkte Stell-
28o XIV. Kapitel.
Vertreter der Dinge oder Elemente hat, mit denen er sich
))eschäftigt und nicht bloss deren in Zahlen ausgedrückte
Verhältnisse. In jeder algebraischen Operation verdunkelt
der Gebrauch von Buchstaben die wirkliche Natur sowohl
des Prozesses wie des Resultates und ist geneigt, ontologi-
sehe Vorurteile zu stärken.
Die richtige Theorie von den Beziehungen arithmeti-
scher oder algebraischer Grössen und Ausdehnungsgrössen
ist schon vor langer Zeit in Deutschland von Martin Ohm
und in England von George Peackok (dem Dekan von
Ely), August de Morgan, D, F. Gregory u. a. aufgestellt
worden; die Schriften dieser Denker haben indes wenig
Eindruck auf die zeitgenössischen und die nachfolgenden
Generationen der Mathematiker ausgeübt. Dies erscheint
namentlich sonderbar in den Büchern und Artikeln, welche
die Theorien über „imaginäre Grössen" und „komplexe
Zahlen'* und die Lehren der Quaternionenrechnung aus-
einandersetzen. Die ungeheuere Ausdehnung des Bereichs
der Analysis seit Descartes* neuer Anwendung der Algebra
zur Bestimmung geometrischer Grössen ist grösstenteils der
wachsenden Einsicht in den wahren Charakter der „arithmeti-
schen Grössen" und der fortschreitenden Entwickelung der
wesentlichen Verwickelungen der Zahlen zugeschrieben worden,
Man nahm an, dass Euklid's Leugnung der Existenz nume-
rischer Verhältnisse zwischen inkommensurablen Grössen,
ebenso wie die Proteste der frühen abendländischen Arith-
metiker und Algebraiker gegen die negativen oder irrationalen
Zahlen als „numeri absurdi infra nil" oder „numeri fipti",
oder Girolamo Cardano's Bezeichnung der negativen Wurzeln
einer Gleichung als „aestimationes fictae", als Lösungen
„vere sophisticae", insgesamt einfach als Beweise für die
Unkenntnis dieser verschiedenen Schriftsteller über die
wahre Natur der Zahlen hinzunehmen sind. Es ist nichts
Ungewöhnliches, in Lehrbüchern über die Theorie der
Der metageometr, Raum im Lichte d, modern. Analysis. 281
yykomplexen Zahlen'' auf das Dogma zu stossen, dass Arith-
metik und Algebra wesentlich linear sind, da das Zählen
nur durch das Fortschreiten um gleiche Schritte in Richtung
einer Geraden möglich sei.^*) Ich kann noch hinzufügen,
dass der Glaube keineswegs ungewöhnlich ist, die Meta-
geometrie wäre ein Fortschritt über die alten Lehren be-
treffs der Beziehungen der geometrischen Formen im ge-
wöhnlichen Raum in demselben Sinne! tmd nach derselben
Logik, nach der die Quatemionenrechnung einen Fortschritt
über die gewöhnliche analytische Geometrie bedeutet.
Die vorausgegangene Diskussion hat uns bis zu dem
Punkte geführt, wo, wie ich hoffe, der Leser in der Lage
ist, die grosse fundamentale Absurdität des RiEMANN'schen
Versuches sich zu vergegenwärtigen, Schlüsse über die
Natur des Raumes und den Umfang seines Begriffes aus
algebraischen Darstellungen von „Mannigfaltigkeiten" zu
ziehen. Ein algebraisch Mannigfaltiges und eine räumliche
Grösse sind völlig disparat. Dass kein Schluss über Formen
räumlicher Ausdehnung oder Grösse aus Formen algebrai-
scher Funktionen möglich ist, erhellt aus den elementarsten
Betrachtungen. Dieselbe algebraische Formel kann für die
verschiedensten Dinge gelten. Gleichungen zweiten Grades
können z. B. entweder geometrische Flächen oder Kurven
darstellen. Die Gleichung y = x- kann entweder den
Flächeninhalt eines Quadrates mit der Seite x oder eine
(auf ein Koordinatensystem bezogene) Parabel mit dem
Parameter i vorstellen. Wäre Riemann's Beweisführung im
Grunde richtig, so könnte sie in eine sehr bündige und
einfache Form gekleidet werden. Sie würde weiter nichts
bedeuten als einen Hinweis darauf, dass, weil algebraische
Grössen ersten, zweiten und dritten Grades beziehungsweise
geometrische Grössen erster, zweiter und dritter Dimension
^^) Vgl. RiECKE, Die Rechnung mit Richtungszahlen, Stuttgart 1856.
282 XIV, Kapitel.
bezeichnen, es auch geometrische Grössen von vier, fünf, sechs
u. s. f. Dimensionen geben muss, die den algebraischen
Grössen vierten, fünften, sechsten Grades u. s. w. ent-
sprechen.^*)
Es ist kaum nötig nach air dem zu bemerken, dass
das analytische Argument zu Gunsten der Existenz oder der
•Möglichkeit eines transzendentalen Raumes ein weiteres^
offenkundiges Beispiel für die Verdinglichung von Begriffen
bietet.
^*) Es ist hier nicht unwert einer Bemerkung, dass die Gewohn-
heit, X* und x'* als „x Quadrat" und „x zum Kubus'* zu lesen, statt
X zur zweiten oder dritten Potenz, auf der stillschweigenden oder
ausdrücklichen Annahme beruht, dass einer algebraischen Grösse eine
eigene geometrische Bedeutung zukommt. Die Gewohnheit ist daher
eine irreführende und verdiente ausser Gebrauch zu kommen. Prio-
cipiis obstal
XV.
Kosmologische undkosmogenetische Spekulationen.
Die Nebularhypothese.
Wie alle metaphysischen Theorien hat auch die mecha-
nische Atomtheorie ihre Kosmogönien. ' Alle metaphysischen
Kosmogonien sind Versuche, das Weltall und seine Er-
scheinungen aus ein oder mehreren Urelementen durch
Verwendung einiger allgemeiner Prinzipien abzuleiten. Die
Kosmogonien der mechanischen Atomtheorie sind Versuche,
das Weltall und seine Erscheinungen aus den Elementen
der Masse und Bewegung durch Anwendung mechanischer
Prinzipien, welche die einfachen Bewegungsgesetze aus-
drücken, abzuleiten. Wie gezeigt worden ist, bildet das
letzte Problem der mechanischen Atomtheorie, dessen
schliesslicher und vollständiger Losung die heutigen Physiker
mit einem grösseren oder geringeren Grad von Vertrauen
entgegensehen — wiewohl manche unter ihnen einsichtig
genug sind, dieses Streben für ein nie erfüllbares zu halten
— die Darstellung aller organischer und aller Lebens-
erscheinungen als Resultate gewöhnlicher chemischer und
physischer Wirkung, und die der chemischen und physischen
Wirkung wieder als Austausch und Übertragung mecha-
nischer Bewegung zwischen konstanten und gleichförmigen
Massenelementen.
Eine notwendigerweise kosmologischen Spekulationen
jedweder Art vorausgehende Frage ist kürzlich von Mathe-
matikern wie von Physikern sehr ausführlich diskutiert
worden — die Frage über die Endlichkeit oder Unendlich-
284 XV, Kapitel
keit des Weltalls in Zeit, Raum und Masse. ^) Eine Kosmo-
logie im eigentlichen Sinne des Wortes enthält unvermeid-
licherweise die Annahme in sich, dass das Weltall wenig-
stens der Zeit nach endlich ist, denn sie ist ja eine Theorie
über den Ursprung oder Beginn des Weltalls. Der Blick
kosmogenetischer Theoretiker wendet sich zurück entweder
bis zum absoluten Nichts oder bis zu einem Zustande
physischer Gleichförmigkeit, der völlig bar aller Unterschiede
und Veränderungen in den Erscheinungen ist, die ein
wesentliches Vorerfordernis des Zeitbegriffes bilden. Diese
allgemeine kosmogenetische Annahme der endlichen Dauer
des Weltalls in der Vergangenheit ist vor kurzem durch
die Behauptung einer endlichen Dauer in der Zukunft er-
gänzt worden — eine Behauptung, die sich auf verschiedene
physikalische Betrachtungen stützt, von denen die bemerkens-
werteste die Lehre von der fortschreitenden Zerstreuung
der Energie ist. Diese Lehre ist vielleicht in ihrer ver-
nünftigsten Form von Lord Kelvin (Sir William Thomson) -)
aufgestellt worden und besteht aus folgenden Sätzen:
1. „In der materiellen Welt ist eine allgemeine Ten-
denz zur Zerstreuung mechanischer Energie vorhanden."
2. „Eine Wiederherstellung mechanischer Energie ist
ohne Verbrauch eines das Äquivalent übersteigenden Be-
trages derselben, in keinem unbelebten materiellen Prozesse
möglich und hat wahrscheinlich auch nie bei materiellen
Massen stattgefunden, die mit vegetativem Leben ausge-
stattet oder dem Willen eines belebten Wesens, unter-
worfen sind."
3. „In einer endlichen Zeit der Vergangenheit muss
die Erde ungeeignet gewesen sein und innerhalb einer end-
') Vgl. WUNDT, „über das kosmologische Problem," Viertelj.
f. wiss. Philos., I. Bd., S. Soff.
*) ,,On a Universal Tendency in Nature.to the Dissipation of
Mechanical Energy," Phil. Mag., series IV, vol. IV, p. 304 seq.
Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 285
Mchen Zeitperiode muss sie wieder ungeeignet werden als
Wohnsitz von Menschen gegenwärtiger Beschaffenheit, wenn
nicht Vorgänge stattgefunden haben oder stattfinden werden,
die unter der Herrschaft der Gesetze, denen jetzt die be-
kannten Vorgänge in der materiellen Welt unterworfen sind,
unmöglich hätten geschehen können."
Das Schlussverfahren, durch welches man zu diesen
Schlüssen (die, nebenbei bemerkt, vorsichtig und ausdrück-
lich auf unseren Planeten oder wenigstens unser Planeten-
system beschränkt sind) gelangt ist, besteht in der Er-
wägung, dass alle Vorgänge der Natur, die ihr Leben und
Treiben bilden, auf Transformationen der Energie beruhen,
und jede solche Transformation in Gemässheit des zweiten
Hauptsatzes der Thermodynamik in Wirklichkeit (um einen
Ausdruck von P. G. Taih zu gebrauchen) ein Sinken von
einem höheren auf ein tieferes Niveau der Umformbarkeit
oder Disponibilität bedeutet, so dass der schliessliche Effekt
in einer Verwandlung aller Energie der Welt in Wärme
und einer Zurückführung ihrer Temperatur auf vollständige
Gleichförmigkeit bestehen muss. Von diesem Zustande der
Gleichförmigkeil in der Verteilung der Wärme aus ist keine
Wiederherstellung verwandelbarer Energie möglich; denn
die Wärme gestattet keine andere Umwandlung in andere
Energieformen als durch Übergang von einem Körper
höherer zu einem Körper tieferer Temperatur.*^)
*) Die Lehre von der Zerstreuung der Energie ist ausführlich
von Clausius entwickelt worden, welcher die Summe der möglichen
Umformungen der Energie der Welt ihre „Entropie" nennt und
verkündet , dass „die Entropie der Welt einem Maximi m zustrebe".
(Pogg. Ann., Bd. 121, S. 1 ; Abhandlungen über die mechanische
Wärmetheorie, Bd. 2, S. 44). Es ist zu bedauern, dass Tait, während
er das Wort „Entropie" annimmt, es, wie er selbst sagt (Thermo-
dynamics, § 14; ib., § 178), „in dem entgegengesetzten Sinne wie
Clausius" gebraucht; und dass Maxwell (Theory ofHeat, pp. 186,
188) ihm folgt. Nichts ist verwerflicher als ein willkürlicher Wechsel
3 86 XV, KapM.
Es ist klar, dass, wenn das Gesetz von der Zerstreuung
der Energie auf das Weltall im allgemeinen angewandt
wird — d. h. wenn es erlaubt ist, die Dynamik eines end-
lichen materiellen Systems auf den Kosmos als unendliches
Ganzes auszudehnen, es früher oder später ein Ende finden
wird, so wie. es, nach der mechanischen Atomtheorie, einen
Anfang gehabt hat. Die Vorgänge in der Natur endigen
in eine gänzliche Gleichförmigkeit ihrer Elemente — in eine
völlige Abwesenheit von Unterschieden und Veränderungen,
welche Zeugen ihrer realen oder wirklichen Existenz sind.
Diesem Schlüsse hat man durch die Annahme einer End*
lichkeit des Weltalls der Masse oder dem Räume nach oder
durch beide Annahmen zu entgehen gesucht. Der erste
Antrieb in dieser Richtung kam wahrscheinlich von einem
Artikel von W. M. Rankine *) (der kurz vor dem Erscheinen
des von Lord Kelvin veröffentlicht wurde), in welchem
dargelegt wird, dass „wenn sich zwischen den Atmosphären
der himmlischen ' Körper ein interstellares vollkommen
durchsichtiges und wärmedurchlässigen Medium vorfinden
würde, — d. h. ein solches, das nicht imstande wäre,
Licht und Wärme aus der strahlenden Form in die der
sogenannten körperlichen Wärme überzuführen und das so-
mit ausser Stande wäre, irgend einen Temperaturgrad zu
erreichen — , und wenn dies interstellare Medium Grenzen
hätte, jenseits deren leerer Raum sein würde, die strahende
Wärme der Welt vollständig reflektiert und zuletzt in
in der wissenschaftlichen Terminologie, namentlich wenn mit Vor-
bedacht der tiberlieferte Sinn eines Ausdruckes geändert wird. Ich
kann noch hinzufugen, dass Tait bei seinem Versuche, den Clausiüs-
schen Sinn umzukehren, nicht einmal glücklich ist, imd dass Max-
well sich im Irrtum befindet, wenn er sagt, dass „Clausius das
Wort (Entropie) gebrauche, um den nicht verwandelbaren Teil der
Energie zu bezeichnen."
*) „On the Reconcentration of the Mechanical Energy of the
Universe," Phil. Mag. (IV), vol. IV, p. 358 seq.
Kosmologische und kpamogenetische Spekulationen, 287
Biennptinkte' rückkonzentriert werden würde, in denen ein
Stern (d. i., eine erloschene Masse träger Zusammensetzung)
verdampft und in seine Bestandteile aufgelöst werden würde,
und auf diese Weise chemische Kraft auf Kosten eines
entsprechenden Betrages strahlender Wärme aufgespeichert
werden würde."
Die Annahme der Endlichkeit der Masse des Weltalls
war nicht neu; sie ist oft zuvor gemacht worden. Hier
aber bot sie sich in einer neuen Form dar. Bisher ging
die Annahme dahin, dass die Masse, wiewohl begrenzt,
durch den unbegrenzten Raum zertreut sei; und in dies^
Form ist sie von Wundt wiederbelebt worden, der sich
Vorstellt, dass die Endlichkeit der Masse sich mit der Un-
endlichkeit ihres Volumens vereinbare lasse durch die
Annahme einer endlos fortschreitenden Abnahme ihrer
Dichte derart, dass die Masse als die endliche Summe einer
unendlichen konvergenten Reihe zu nehmen wäre. Hingegen
verlangt Rankine vom Physiker das Zugeständnis, dass die
Masse des Weltalls auch ihrer Ausdehnung nach endlich
und überall von leerem Räume begrenzt sei. Der Begriff
eines solcherart im unbegrenzten Räume abgegrenzten
materiellen Weltalls bietet offenbar unüberwindbare Schwierig-
keiten; und angesichts dieser Schwierigkeiten haben viele
Astronomen und Physiker den Satz der Metageometer mit
Vergnügen begrüsst, dass der Raum selbst, wiewohl infolge
der ihm anhaftenden Krümmung unbegrenzt, nicht unend-
lich ist, dass daher die Masse des Weltalls trotz ihrer Zer-
streuimg endlich sein müsse. Dieser Satz war doppelt
willkommen, weü er auf den ersten Blick die Mittel zu
enthalten schien, einer anderen von den Astronomen auf-
geworfenen Schwierigkeit zu entkommen. Im Jahre 1826
bemerkte Olbers*), dass, wenn die Zahl der im Welträum
*) Bode's astron. Jahrbuch, 1826, S. iiof. Citiert bei Zöllner.
288 XV. Kapitel.
Wärme und Licht ausstrahlenden Körper unendlich ist, jeder
Punkt des Raumes eine unendliche Zahl von Licht- und
Wärmestrahlen empfangen und somit unendlich heiss und
glänzend sein müsste — wobei er allerdings hinzufügte, dass
diese Folge durch die Annahme einer Absorption des
grössten Teiles dieser Strahlen durch die dunklen und
kalten Körper im Räume vermieden werden könnte. Doch
diese Rettung erschien mit einem Male fraglich durch die
Überlegung, dass die zwischen den leuchtenden Sternen
verstreuten dunklen und kalten Körper rasch die Glühhitze
erreichen müssten, und ihr Absorptionsvermögen bald er-
schöpft sein müsste.
Eine weitere Schwierigkeit ähnlicher Art soll noch, wie
angenommen wurde, aus der Thatsache der Gravitation
entspringen, insbesondere wegen ihrer augenblicklichen
Wirkungsweise. Es ist gesagt worden, dass ein Weltall, das
aus einer unendlichen Anzahl von einander gegenseitig an-
ziehenden Körpern besteht, nicht nur ohne einen bestimmten
Schwerpunkt wäre, auf welchen alle kosmischen Bewegungen
bezogen werden könnten — da ja sein Schwerpunkt über-
all und somit nirgends wäre — sondern auch dass sich in
jedem Punkte des Raumes ein unendlicher Druck ergeben
würde. (Ich folge hier der Ausdrucksweise von Wundt
wiewohl es vielleicht korrekter wäre, von einer unendlichen
Spannung zu reden.) Diese Schwierigkeit ist speziell von
Wundt als eine solche hingestellt worden, die unüberwindbar
ist, solange man die Masse des Weltalls für eine unendliche
ansieht; sie kann seiner Meinung nach nur durch die
Annahme der Begrenztheit der Masse überwunden werden.
Es ist nicht notwendig, auf eine eingehende Prüfung
der Giltigkeit dieser Betrachtungen, die zur Stütze der Theorie
von der Endlichkeit des materiellen Weltalls herangezogen
worden sind, einzugehen. Was die letzte derselben betrifft,
die sich auf die Wirkung der Strahlung und Gravitation
Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 289
bezieht, so ist leicht zu sehen, wie von Lasswitz hervor-
gehoben wurde ^), dass sie ihre Kraft verlieret], sobald wir
uns erinnern, dass die Intensität beider, der Strahlung und
der Gravitation, abnimmt, wie das Quadrat der Entfernung
wächst, und dass die unendlichen Reihen, welche die ver-
schiedenen Wirkungen der Wärme, des Lichtes und der
Gravitation ausdrücken, konvergent sind, ihre Summation
somit zu endlichen Resultaten führt. Was die Anwendung
der Lehre von der Zerstreuung der Energie auf ein un-
endliches Weltall betrifft, so ist von ihr zu bemerken, dass
sie ganz und gar unzulässig ist. Diese Lehre ist ohne
Zweifel in ihrer Anwendung auf ein endliches materielles
System nicht zu verwerfen. Ein jedes solches System muss
ein Ende nehmen, sowie es einen Anfang gehabt hat. Das
gilt von jedem solchen System, so ausgedehnt es auch sein
mag. Es ist aber nicht wahr von einem absolut unbegrenzten
Weltall. Weder das Gesetz von der Erhaltung der Energie,
noch dass von ihrer Zerstreuung kann rechtmässigerweise
darauf angewendet werden. Das Weltall, aufgefasst als ab-
solute Unendlichkeit, ist kein konservatives System und ist
in keinem eigentlichen Sinne physikalischen Gesetzen unter-
worfen. Wir können mit dem Unendlichen nicht rechnen,
wie mit einem physischen reellen Ding, weil eine bestimmte
physische Realität an die Gleichzeitigkeit von Wirkung und
Gegenwirkung gebunden ist, und physikalische Gesetze auf
dasselbe nicht angewendet werden können, da sie ja Be-
stimmungen der Art der gegenseitigen Wirkung zwischen
bestimmten endlichen Körpern sind. Das sogenannte
Weltall ist kein bestimmter Körper, und es gibt keine
Körper ausserhalb desselben, mit denen es in Wechs^el-
wirkung treten könnte. Operationen mit dem Ausdruck
„Unendlich" analog den Operationen mit endUchen Aus-
•) Viertel], f. wiss. Philos., Bd. i, S. 329 ff.
StALLO, Begriflfe u. Theorieen. 19
290 . XV. Kapitel.
drücken siiad in der Physik ebensowenig berechtigt wie
in der Mathematik. Das Unendliche ist einfach ein Aus-
druck der wesentlichen Relativität aller materiellen Dinge
und ihrer Eigenschaften und haftet somit in einem ge^^
wissen Sinne jeder endlichen Form an. Es bildet die
Grundlage aller Beziehungen, welche die sinnliche Wirklich-
keit ausmachen, aber es ist nicht selbst eine Gruppe solcher
Beziehungen. Es bildet den Hintergnmd aller materieller
Wirkungen und Formen; kein System von Elementen oder
Kräften kann ohne dessen bestehen, oder ist ohne Bezug
darauf erkennbar ; und in diesem Sinne, aber auch in diesem:
Sinne allein ist das Weltall notwendig unendlich der Masse
wie dem Räume und der Zeit nach.
Daraus folgt, dass alle Kosmogonieen, die zu ihrem In-
halte Theorieen über den Ursprung des Weltalls als eines
absoluten Ganzen haben, im Lichte physikalischer oder
dynamischer Gesetze als völlig absurd erscheinen. Die
einzige Frage, zu der eine Reihe oder Gruppe von Er-
scheinungen berechtigten Anlass gibt, bezieht sich auf dereü
Verzweigung und wechselseitige Abhängigkeit ; und die Ver-
suche, die Grundlage dieses Zusammenhanges und der gegen-
seitigen Abhängigkeit zu überschreiten — die Bedingungen des
Auftauchens der Naturerscheinungen jenseits der Grenzen des
Raumes und der Zeit zu bestimmen -r- sind ebenso eitel
als (um ein glückliches Gleichniss Sir William Hamilton's.
zu gebrauchen) die Versuche des Adlers, sich aus der
Atmosphäre emporzuschwingen, in der er schwebt und
durch die er allein getragen wird.
Dies führt mich zur Diskussion einer kosmogenetischen
Theorie, die unter dem Namen der Nebularhjrpothese grosse
Berühmtheit und sehr allgemeine Anerkennung erlangt hat'
In ihrer heute allgemein üblichen Form kann diese Theorie
kurz wie folgt skizziert werden:
Im Uranfange waren die Stoffe, welche sich . jetzt,
Kosmologische und kosniogeneiische^ Spekulationen, 2^9 1
wenigstens zürn Teile, in den Körpern der Stem-, Sonnen-,
Planeten-, Satelliten- und Meteoritensysteme auifgehäuft vor-
finden, gleichförmig durch den Raum ausgebreitet. Auf
irgend eine Weise kam es durch die Wirkung kosmischer
(Anziehungs- oder anderer) Kräfte dazu, dass diese gleich-
förmig zerteilte und sehr verdünnte Materie sich in grosse
nebelige Kugeln teilte , die sich langsam zu drehen be-
gannen, nachdem die Drehung vielleicht bei der Teilung
oder aus inneren Unterschieden ihrer Dichten und Unregel-
mässigkeiten in der Form, welche die Richtungen der Schwere
von den gerade radialen ablenkten, entstanden war, so dass
die Mittelpunkte der Anziehung nicht mehr mit den geo-
metrischen Mittelptmkten übereinstimmten. In dem Masse
als diese Kugeln ihre Wärme verloren, zogen sie sich zu-
sammen^ diese Zusammenziehung hatte aber wieder ein
Wachsen der Umdrehungsgeschwindigkeit zur Folge in Ge-
mässheit eines unter dem Namen des Gesetzes der Er-
haltung der Flächen oder des Winkelmomentes
bekannten mechanischen Satzes. Dieses Gesetz ist in seinem
allgemeinsten Ausdruck einfach eine Folge des Trägheits-
gesetzes, aus welchem folgt, dass das resultierende Winkel-
moment irgend eines materiellen Systems weder der Grösse
noch der Richtung der Axe nach durch die gegenseitige
Einwirkung seiner Bestandteile geändert werden könne.')
^ Alle mechanischen oder dynamischen Gesetze der Erhaltung —
die Erhaltung des Moments, des Winkelmomentes und der Energie —
sind (wie ich bereits im. sechsten Kapitel gezeigt habe) iin Grunde
nichts anderes, als Anwendungen des Trägheitsprinzips auf zusammen-
gesetzte materielle Systeme. Es ist das grosse Verdienst von PoiNSOT,
die formalen Anälogieen zwischen den Gesetzen der drehenden und
der fortschreitenden Bewegung (die bis zu einem gewissen Masse in
Euler's Schriften vorgebildet wurden) ans Licht gebracht zu haben.
Es ist kaum notwendig hinzuzufügen, dass das Gesetz der Erhaltung
der Flächen seiner Form nach eine Verallgemeinerung des zweiten
K£PL£R^schen Gesetzes ist.
19*
292 XV, Kapitel»
Zum Zwecke seiner Anwendung auf eine rotierende Nebel-
masse mag indessen das Gesetz besser in einer anderen
Form aufgestellt werden, nämlich in der, dass, welche Ver^
änderung des Volumens oder der Form auch immer in
einem materiellen System durch die gegenseitige Wirkung
seiner Bestandteile hervorgerufen werden mag, die Summe
aus allen von den Radienvektoren der verschiedenen Ele-
mente oder Teile um den Mittelpunkt der Rotation in der
Zeiteinheit beschriebenen Flächen konstant ist. Nachdem
nun die Flächen den Quadraten der Durchmesser proportional
sind, folgt, dass die Winkelgeschwindigkeit mit grosser Be-
schleunigung wächst, wie die Kontraktion der Nebelmasse
fortschreitet. Eine unmittelbare Folge des Wachstums der
Geschwindigkeit war eine proportionale Zunnahme der Flieh-
kraft in den äquatorialen Gegenden der rotierenden Kugel,
so dass im Verlaufe der Zeit diese Kraft der centripetal
wirkenden Gravitation das Gleichgewicht hielt und sie her-
nach übertraf. Dies führte zunächst zu einer unverhältnis-
mässigen Zusammenziehung der Kugel an den Polen und zur
Annahme einer an den Polen abgeplatteten sphärischen oder
linsenförmigen Form und eventuell auch nach und nach
zu einer fortdauernden Abscheidung äquatorialer Ringe oder
Zonen, die zuerst um die übrige Masse in der Richtung
der ursprünglichen Rotation rotierten, später aber — infolge
der Unbeständigkeit im Falle der geringsten Abweichung
von der vollständigsten Regelmässigkeit der Form und Be-
schaffenheit — sich in Teile auflösten und eine oder meh-
rere kleinere Kugeln oder Sphäroide bildeten. Diese fuhren
fort sich um die Sonne mit einer Geschwindigkeit zu drehen^
die nahezu der Umdrehungsgeschwindigkeit ihres Materials
im Momente seiner Abscheidung und Zusammenballung
gleich kam. In den meisten Fällen vereinigte sich die
ganze Masse eines solchen Ringes in einen einzigen Körper^
d. i. in einen Planeten, während in einigen Fällen mehrere
Kosmologische und kasmogenetisdie Spekulationen. 295
Körper gebildet wurden, wie sie uns z. B. in dem Planeten-
^Stem in der Zone der Asteroiden entgegentreten. Jieder
dieser Planeten begann während der Umdrehung um die
übrige Masse, deren Kondensation die Sonne erzeugt haben
soll, sich auch um eine eigene Axe zu drehen, wobei die
Richtung dieser Rotation mit jener der Bewegung in seiner
Bahn übereinstimmte. Er wurde so denselben <lynamischen
Bedingungen unterworfen, welche die Entwicklung des ihn
erzeugenden Systems bestimmten; auch aus ihm schieden
sich Ringe ab, die entweder ihre Form behielten (wie im
Falle der Ringe des Saturns) oder sich in kleinere Satelliten
umbildeten.
Die Gründe, welche zur Stütze dieser Hypothese ins
Feld geführt worden sind, sind so allgemein bekannt, dass
es kaum notwendig ist, sie zu wiederholen. Zu ihnen zählt
die Existenz von Nebelmassen in den Sternregionen von
verschiedenen Graden der Kondensation; die Beweise vom
Wachstum der Temperatur von der Oberfläche unseres
Planeten gegen das Innere; die kjthe Übereinstimmung der
ümdrehimgen der verschiedenen Planeten, sowohl der Rich-
tung als der Ebene nach, und die weitere Übereinstimmung
ihrer Bahnbewegung mit der Richtung und Ebene der
Rotation der Sonne; die ähnliche Übereinstimmung der
Richtungen der Bahnbewegung der Satelliten mit den Axen-
drehtmgen ihrer Planeten ; die an den Polen abgeplattete Form
der Erde und, so weit als wir davon Kenntnis haben, auch
die der anderen Planeten, die nicht nur theoretisch, sondern
auch experimentell diu-ch Plateau als die besondere Form
nachgewiesen worden ist, die ein rotierender Körper im
flüssigen oder halbflüssigen Zustande annehmen muss. Diese
Betrachtungen wurden zumeist in derselben Reihenfolge
und Form von Kant und Laplace angeführt und sind seit-
her durch eine Mannigfaltigkeit anderer mehr oder weniger
plausibler Betrachtungen ergänzt worden, von denen die
294 X^' Kapitel,
Übereinstinimung der theoretischen Konsequenzen der That-
sache, .dass das Wegschleüdern der planetarischen Massen
von der sie erzeugenden Kugel mit stets wachsender Ge-.
schwindigkeit entsprechend dem Fortschreiten der Zusammen-
Ziehung der Kugel stattgefunden haben muss, mit gewissen
wohlbekannten Eigentümlichkeiten unseres eigenen Planeten-
systems hervorgehoben werden mag. . Nicht ganz erfolglose
Versuche sind auch gemacht worden, um aus den Elementen
dieser Theorie das empirische Gesetz über die Entfernung
der verschiedenen Planeten von der Sonne, das unter dem
Namen des Gesetzes von Bode oder Tixius bekannt ist,
herzuleiten.
Die Nebularhypothese, als eine Theorie von dem Ur-
sprünge nicht nur unseres Planetensystems, sondern der
Planeten- und Stemsysteme im Weltall überhaupt, wird ge-
wöhnlich Laplace zugeschrieben, dem die Thatsache unbe-
kannt gewesen sein soll, dass die Hypothese, welche er vor-
führt, von Kant in seiner „Naturgeschichte des Himmels"
im Jahre 1755 fast ein halbes Jahrhundert vor dem ersten
Erscheinen der „Exposition du Systeme du Mond" im Jahre
1796 veröffentlicht wurde. In Wahrheit ist aber die Nebular-
hypothese in ihrer jetzt allgemein angenommenen Form
Kant zu verdanken und imterscheidet sich in verschiedenen
wesentlichen Einzelnheiten von der Hypothese Laplace's,
Diese letztere Hypothese beschränkt sich ausschliesslich auf
unser Planetensystem, und es findet sich keine Andeutung
in irgend einer der Schriften des französischen Astronomen
— ganz gewiss keine in seiner „Exposition du Systeme du
Monde** — vor, dass er dazu gelangt wäre, sie auf das
ganze Weltall auszudehnen, wie es ausdrücklich von Kant
geschehen ist. Aber auch ein noch viel wichtigerer Unter-
schied findet sich zwischen den Hypothesen der zwei Denker.
Kantus Annahme ging dahin, „dass alle Materien, daraus
die Kugeln, die zu unserer Sonn*enwelt ge-
Kosmologische und kosmogenetisehe Spekulationen. 295
boren, alle Planeten und Kometen bestehen,
dm Anfange aller Dinge in ihren elementarischen Grundstoff
Aulgelöset, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllt haben,
darin .jetzt diese gebildeten Körper heirumlaufen." ®) Diese
.'Annahme ist allen neuen Formen der Nebularhypothese,
die mir bekannt geworden sind, gemeinsam, — sie alle ver-
langen eine Zerstreuung der ganzen Masse der Sonne,
Planeten, Kometen und Satelliten^ die unser Planetensystem
ausmachen, durch den ganzen Planetenraum, Die Annahme
Lapläce's besteht hingegen einfach darin, dass d i e Atmo-
sphäre der Sonne sich einstens bis über die Bahnen
der äüssersten Planeten hinaus erstreckt habe, und dass
die Bildung der Planeten mit ihren Satelliten ebenso wie
die der Kometen der allmählichen Abkühlung und Zu-
sammenziehung dieser Atmosphäre zu verdanken ist. •)
Es ist kaum nötig hinzuzufügen, dass die LAPLACE'sche
Form der Nebularhypothese viel zu eng ist, um den
Zwecken einer allgemeinen kosmologischen Theorie dienen
.zu können. Eine solche Theorie verlangt die Ableitung
der verschiedenen Zusammenballungen kosmischer Materie
aus einer ursprünglichen homogenen Materie. Diese Forde-
rung wird durch die Hypothese von Kant erfüllt ; sie wird
aber nur sehr zum Teil, wenn überhaupt, durch die von
Laplace befriedigt. " Und dies zeigt uns das Vorhandensein
einer sehr bedenklichen Schwierigkeit. Es steht zu fürchten,
dass die Nebularh)rpothese in dem Masse, als sie auf kosmo-
genetisehe Dimensionen erweitert wird, ihre Giltigkeit als
®) „Naturgeschichte des Himmels," Kant's Werke [her. v.
Rosenkranz] 6. Bd., S. 95.
®) „La consideraüon des mouvemens planetaires nous conduit
donc a penser qu'en vertu d'une chaleur excessive l'atmosph^re
du'soleil s'est primitivement etendue äu dela des orbes de toutes
les planstes, et qu'elle s'est resserree successivement jusqu'ä ses limites
actuelles." Systeme du Monde [2^^ ed.), p. 345.
296 XV, Kapitel,
physikalische Theorie verliert. Diese Sache ist vor fast
zwanzig Jahren von Babinet in einem Artikel über die
Kosmogonie des Laplace ^^) untersucht worden, in welchem
er zeigt, dass die wirklichen Rotationsgeschwindigkeiten der
verschiedenen Planeten thatsächlich bedeutend grösser sind
als die mit Hilfe des Gesetzes von der Erhaltung der
Flächen aus der Nebularhypothese abzuleitenden, wenn diese
Hypothese die Annahme einer Zerstreuung der Sonnen-
masse durch den ganzen Raum unseres Planetensystems in
sich schliesst. „Verschiedene Personen," sagt Babinet, „haben
gedacht, dass die Sonne selbst sich ursprünglich so weit
erstreckt habe, dass sie den ganzen jetzt von den Planeten
eingenommenen Raum erfüllt hat, wiewohl Laplace aus-
drücklich erwähnt, dass im Augenblicke der Bildung dieser
Körper es einzig und allein die Atmosphäre der Sonne
war, die eine so weite Ausdehnung hatte. Wir sind im
Stande, diese Frage mathematisch zu prüfen, indem wir
aus der wirklichen Umdrehungszeit der Sonne, die 253
Tage beträgt, die berechnen, welche statthaben müsste,
wenn unter Erhaltung der Summe der von allen materiellen
Punkten beschriebenen Flächen die Sonne sich soweit
ausgedehnt hätte, dass ihr Radius, der jetzt 112 mal so
gross als der der Erde ist, gleich der Entfernung der Erde
von der Sonne, oder gleich der des Neptuns von der Soime
geworden wäre Die Berechnung auf Grund der
ersten Annahme ergibt eine Umdrehungsdauer von 1,162 00©
Tagen, d. h. mehr als dreitausend (3 181) Jahre. Die auf
Grund der zweiten Annahme berechnete Umlaufszeit würde
^®) „Note sur un Point de la Cosmogonie de Laplace," Comptes
Rendus, vol. 52, p. 481 seq. Meine Aufmerksamkeit wurde auf diesen
Artikel durch eine Stelle in einer interessanten kleinen Broschüre
von Dr. E. Büdde aus Bonn „Zur Kosmogonie der Gegenwart"
(Bonn, Weber, 1872) gelenkt, auf die ich noch später Gelegenheit
haben werde zurückzukommen.
Kosmologisclie und kosmogenetische Spekulationen. 297
offenbar 900 000 mal grösser sein, d. h. mehr als 2 7 000
Jahrhunderte umfassen/'
„Da diese Zahlen unendlich grösser als die der
wirklichen Umlaufszeiten der Erde und des Neptuns
sind, ist es offenbar unmöglich, die Annahme zuzulassen,
dass diese Planeten aus der über die Planetenbahnen
hinausreichenden Sonnenmasse gebildet worden wären.
Dies schliesst' indessen nicht den Gedanken aus, dass die
Sterne sich auf Kosten einer allgemeinen kosmischen Materie
gebildet hätten, die mit ausserordentlich schwachen Rotations-
bewegungen um den Schwerpunkt jeder Masse ausgestattet
war, die im Prozess der Bildung als unabhängige Sonne
begriffen war."
Daraus ergibt sich der Schluss, dass, wenn die ganze
Masse der Sonne sich bis zu den Grenzen des Planeten-
systems erstreckt hätte, sie eine so schwache Rotations-
bewegung gehabt haben müsste, dass die Fliehkraft im
Stande war, der Schwerkraft derart Gleichgewicht zu halten,
dass die Abscheidung eines äquatorialen Ringes von der
ganzen Masse stattfinden konnte."
Die hier ans Licht tretenden Widersprüche zwischen
den wirklichen Umlaufszeiten der Planeten und den ihnen
entsprechenden, durch Rechnung in Übereinstimmung mit
den Fordenmgen der Nebularhypothese gefundenen sind
so gross, dass keine Möglichkeit vorhanden zu sein scheint,
dieselbe durch die Annahme einer fortschreitenden Kon-
traktion der Bahnen der verschiedenen Planeten seit ihrer
Bildung und die daraus folgende Verstärkung ihrer Um-
laufsbewegungen zu erklären.
Die Berechnungen von Babinet bilden nicht die einzige
Schwierigkeit, welche die Nebularhypothese, sei es in ihrer
allgemein kosmogenetischen oder in ihrer speziell Laplace-
-schen Form besjtzt Im Fortschritte der astronomischen
Entdeckungen hat es sich gezeigt, dass mehrere der voraus-
29S XV. Kapitel,
gesetzten Übereinstimmungen zwischen den Thatsacben und
der Hypothese nicht zutreffen. So gibt ies eine Ausnahnie
zu der Gleichförmigkeit der Richtung dei* Umdrehungs- und
.Umlaufsbewegungen der Planeten und Satelliten in dem
Falle des Uranus, bei dem die Bahnebenen seiner SäteJlUto
nahezu senkrecht zur .Ekliptik stehen, während die . Be-
wegungen der Satelliten um den Planeten, wie die Achsen-
drehung des Planeten retrograd sind — eine Thatsache, dte
schon lange vorher von Sir Willian Herschel entdeckt
und durch -verschiedene nachfolgende Beobachtungen be-
stätigt worden ist. Eine andere Schwierigkeit entstand
durch die kürzliche (1877) Entdeckung zweier Marssatelliten
durch Professor Asaph Hall und die annähernde Bestim-
mung ihrer bezüglichen Entfernungen vom Hauptplaneten^
sowie auch durch die ihrer Umlaufszeiten. Es stellte sich
heraus, dass die Entfernungen des inneren imd äusseren
Satelliten vom Mittelpunkt des Planeten dreimal, beziehungs-
weise sechsmal so gross als der Radius desselben sind, und
dass die Umlaufszeit beziehungsweise 7-65 und 30.25
Stunden beträgt, während die Zeit einer Umdrehung des
Planeten (Mars) selbst 24 • 62 3 Stunden ausmacht. Es scheint
so, dass der eine der Satelliten um den Planet in wenige
als ein Drittel der für die Achsendrehung desselben er-
forderlichen Zeit einen Umlauf vollendet.
Auf den ersten Blick scheint diese Thatsache mit der
Nebularhypothese ganz unverträglich zu sein. Im Lichte
dieser Hypothese erscheinen die Umlaufszeiten der Satelliten
als Fortsetzungen der Achsendrehungen der Materie, aus
der die Satelliten gebildet wurden ; ihre Umlaufszeit müsste
somit, wenigstens annäherungsweise, der Dauer gleich sein^
in der der Planet zur Zeit der Bildung des Satelliten seine
Achsendrehung ausgeführt hatte. Diese Zeitdauer ist aber
wegen der durch die nachfolgende Zusammenziehung er-
Kosmohgische und kosmogenetisclie Spekulationen. 299
zeugten Beschleunigung notwendigerweise grösser als die
Dauer der gegenwärtigen Umdrehung des Planeten.
Bisher sind zwei Versuche gemacht worden, um diese
Unregelmässigkeit mit den Anforderungen der Nebular-
hypothese zu versöhnen. Einer derselben gründet sich, auf
die Annahme, dass die Bahnen der Satelliten durch den
Widerstand des Äthermediums, von dem man früher an-
nahm,, dass er die Umlaufsdauer des ENCKE'schen Kometen
verkürzt hätte, zusammengezogen worden seien. .Dieser
Widerstand ist jedoch ganz und gar unzureichend, diese
Unregelmässigkeit zu erklären, selbst werm die sehr zweifel-
hafte Existenz eines interstellaren und interplanetarischen
Mediums, das der Bewegung der Planeten einen wesent-
lichen Widerstand entgegenstellen könnte, begründet wäre.
Der zweite Versuch sucht die Unregelmässigkeit auf eine
Verzögerung oder Umdrehung des Planeten imd eine eiit-
sprechende Verstärkung der Umlaufsbewegung der Satelliten
durch die Wirkung von Ebbe und Flut zurückzuführen.
Während zugegeben wird, dass die Verzögerung der Rota-
tionsdauer des Planeten durch die Wirkung der durc.h den
Satelliten an ihm erzeugten Ebbe und Flut. im Stande ist,
eine Übereinstimmung dieser Dauer mit der Umlaufszeit
des Satelliten hervorzubringen, wird von G. H. Darwin
behauptet, dass die Rotationsdauer des Planeten über die
Umlaufszeit des Satelliten hinaus durch die Reibung der
von der Sonne erzeugten Gezeiten verlängert werden könne.
Die Wirkimg, auf die hier angespielt wird, bildet das Er-
gebnis einer Umwandlung der Energie der Planetendrehung
in Wärme und einer Übertragung des Winkelmomentes der
Drehung auf das. des Umlaufes jener Körper, durch deren
gegenseitige Anziehung die Gezeiten um ihren gemeinsamen
Massenmittelpunkt erregt werden \ da aber ein grosser
Planet mehr Rotationsenergie und ein grösseres Winkel-
moment besitzt als ein kleiner, werden die schnellsten
300 XV. Kapitel.
Veränderungen in der Dauer der Umdrehung und des Um-
laufes im Falle des kleinsten Planeten hervorgerufen werden.
Da nun Mars der kleinste von Satelliten begleitete Planet
ist, so wurde behauptet, dass die Langsamkeit seiner Rota-
tion im Vergleich mit der Umlaufszeit seines inneren 'Satel-
liten auf die eben angeführte Art innerhalb des Zeitraumes,
den die Verteidiger der Nebularhypothese für die Geschichte
imseres Planetensystems zulassen, bewirkt worden seL
Welches nun auch immer das Gewicht der verschie-
denen gegen gewisse mehr oder weniger wesentliche Eigen-
tümlichkeiten der Nebularhypothese erhobenen Einwendtmgen
sein mag, so gibt es doch einen Vorwurf, der von grund-
legender Bedeutung ist: die bereits hervorgehobene Unzu-
lässigkeit aller Spekulationen über den Ursprung des Weit-
aus als eines unbegrenzten Ganzen. Aber auch abgesehen
davon ist es klar, dass die Ableitung der Formen und Be-
wegungen der Stern- und Planetensysteme aus einer ur-
sprünglichen homogenen durch den Raum verstreuten Masse
immöglich ist. Erstens müsste sich eine solche Masse ent-
weder in Ruhe oder in gleichförmiger Bewegung befinden ;
dieser Zustand der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung
könnte aber in Gemässheit der elementarsten Prinzipien sich
nur durch äussere Antriebe oder Anziehungen ändern. Und
nachdem es kein „Ausserhalb'' dem allumfassenden Kosmos
oder Chaos gegenüber gibt, müsste der ursprüngliche Zu-
stand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung not-
wendigerweise ewig bestehen bleiben. ^*) Zweitens würde
ein solches Nebelweltall von völlig gleichförmiger Tempe-
ratur sein ; alle Teile würden gleich heiss (oder kalt) sein,
und es könnte keine Strahlung oder Verlust an Wärme
*^) Wie sich DÜHRING ausdrückt (Kritische Geschichte der all-
gemeinen Prinzipien der Mechanik, 2. Aufl., § 151): „Wenn je ein
vollkommenes Gleichgewicht zwischen den Teilen (der Nehelmasse)
bestanden hat, müsste es fortfahren, auch jetzt zu existieren!"
Kosmologiscke und kostnogenetisehe Spekulationen» 30X
stattfinden, der zu einer Zusatnmenziehung irgend eines
Teiles der Nebelmasse führen würde. Sein therraodynamischer
Zustand würde aus dem gleichen Grunde konstant bleiben
wie sein dynamischer.
Die Häufung der in der Nebularhypothese sich dar-
bietenden Schwierigkeiten wurde so gross und begann sich
in so ausgedehntem Masse fühlbar zu. machen, dass eine
Neigung entstand, sie durch eine andere Hypothese abzu^
ändern oder zu ergänzen, welche die H3rpothese der mete-
orischen Anhäufung genannt wurde. Diese Hypothese
empfiehlt sich dem modernen Physiker als Fall einer äugen*
scheinlichen Dokumentierung der allgemeinen Lehre, dass,
sobald es sich darum handelt, die Natur der Agentien zu
ermitteln, welche eiü besonderes physikalisches System oder
eine besondere Form gebildet haben, wir zuerst nach
Agentien Umschau halten müssen, die an ihrer Erhaltung
oder Zerstörung beteiligt sind — eine Lehre, die in die
Regel gefasst werden kann : quod sustinet vel delet,
formavit. Diese Lehre ist in Wirklichkeit nichts anderes
als eine neue Aufstellung des alten Gesetzes der Ökonomie
[the old law of parsimony], welches die unnötige Mehrung
erklärender Elemente und Agentien verbietet. Es ist in
ausgedehntem Masse mit Erfolg in der Geologie zur Ver-
wendung gelangt, welche nun alle vergangenen Phasen
der Erdgeschichte durch die regelmässige und gewöhnliche
Wirkung der Kräfte zu erklären sucht, die gegenwärtig an
der Arbeit sind, die jetzige Gestalt der Erde zu erhalten
oder abzuändern. Die Theorie der meteorischen Anhäufimg
ist zuerst von Julius Robert Mayer ^^) aufgestellt und auf
die Überlegimg gegründet worden, dass der grosse jährliche
Fall meteorischer Massen auf die Erde die Cirkulation oder
Bewegung einer grossen Zahl kleiner Körper innerhalb
^■) In seinen „Beiträgen zur Mechanik des Himmels" (1848 zu-
erst veröffentlicht), Mechanik der Wärme [i. Aufl.], S. 157.
302^ XV. Kapitel
unseres Planetenraumes anzeigt und dass ein grosser Körper,
wie die Sonne, in einer bedeutend grösseren Zahl als die
Erde getroffen werden muss, da die Zahl sowohl mit ^ der
Oberfläche wie mit der Masse der grösseren Körper wächst.
Diese Meteore bilden nach Mayer in einem gewissen Sinne
die Feuerung der Sonne, und sind alle Körper innerhalb
unseres' Planetensystemes Zuwüchsen sowohl an Masse wie
an Temperatur infolge ihrer Zusammenstösse mit ihnen
imterworfen. Nun wird angenommen, dass in astronomisch
frühen Epochen das Verhältnis dieser meteorischen Massen
zu den Massen der grossen Sonnen- und Planetenkörper
weit grösser gewesen sein mag als jetzt — dass in der
That es eine Zeit gegeben haben mag, in welcher der jetzt
von unserem Planetensystem eingenoihmene Raum den
Anblick eines Schwarmes solcher Meteore aller möglichen
Gestalten und Grade des Zusammenhangs geboten hat, die
sich mit allen möglichen Geschwindigkeitsgraden, nach allen
Richtungen hin und in Bahnen jedweden Grades von Ex-
centrizität bewegt haben. Diese Massen hätten sich kon-
solidiert und aus deren Zusammenstoss seien in den so ge-
bildeten Körpern Drehungs- wie Umlaufsbewegungen ent-
standen.
Hier drängt sich von selbst die Frage auf: Wie kann
eine Theorie, welche die geordnete, symmetrische und har-
monische Welt, wie wir sie kennen, aus dem wüstesten
Durcheinander ursprünglicher Unterschiede und Unregel-
mässigkeiten — aus einer Quelle äüsserster Ungeftigtheit
und Unordnung — abzuleiten sucht, Rechenschaft geben
für die Regelmässigkeiten und Übereinstimmungen, deren
einfache und natürliche Erklärung das deutlich ersichtliche
Verdienst der Hypothese von Laplace gewesen ist?
Auf diese Frage ist von den Verteidigern der neuen
Theorie eine Antwort in der Berufung auf ein P'rinzip ge-
sucht worden, das lange vorher von Laplace selbst aufge-
Kosmohgiscfie und kosmogenetische Spekulationen, 3*03
stellt worden ist. Dieses Prinzip bezieht sich auf die That-
sache, dass bei allen durch die gegenseitige Anziehung
planetarischer Massen verursachten Störungen es eine un-
veränderliche durch den Schwerpunkt des ganzen Systems
hindurchgehende Ebene gibt, um welche diese Körper be-
ständig mit nur beiderseits geringen Abweichungen auf und
ab schwingen. Wenn wir auf diese unveränderliche Ebene
die von den Radienvektoren der verschiedenen Massen-
elemente in einer gegebenen Zeit beschriebenen Flächen-
räume projizieren und jede Masse mit der Grösse des be-
züglichen Flächenraumes multiplizieren, so ist die Summe
dieser Produkte ein Maximum, und der Grad ihres Wachs-
tums ist konstant. '*) Solch' eine Ebene existiert nicht nur
für das Sonnensystem, sondern für jedes System von Körpern,
die nur ihrer gegenseitigen Anziehung unterliegen. Nun ist
es evident, dass sowohl die Summe der Produkte der Massen
in die Projektionen der von ihren Radienvektoren be-^
schriebenen Flächenräume wie das Mass ihres Wachstums'
kleiner als die Summe der Produkte der Massen in' die von
den Radien Vektoren selbst beschriebenen Flächenräume, bez.
das Mass ihres Wachstums sein müssen, da ja diese Radien
(ausgenommen den Fall, wo sie parallel sind) durch die
Projektion verkürzt werden ; femer steht die Differenz zwischen
diesen beiden Summen im direkten Verhältnis zu den Ab-
weichungen der Bewegungen von der Richtung der totalen
Zunahme, wobei diese Richtung zum Zwecke der Bezug-
nahme als positiv, die entgegengesetzte natürlich als negativ
genommen wird. Wenn nun einige der Bewegungen auf Wider-
stand stossen, werden einige Komponenten der Geschwindig-
keiten der bewegten Massen notwendigerweise zerstört, so dass
*') Vgl. Laplace, Mecanique Celeste, I ere partie, liv. II, chap.
VII. („Des inegalites seculaires des mouvemens Celestes"). Die Theorie
ist zuerst im „Journal de l'Ecole Polytechnique" 1798 veröffentlicht
worden.
304 XV, Kapitel
die fragliche Differenz verkleinert und eventuell vernichtet
wird. Wenn dies geschehen ist, werden die absoluten Werte
der von den Radienvektoren der Massen in einer gegebenen
Zeit beschriebenen Flächenräume ihren Maximalprojektionen
gleich ; mit anderen Worten, ihre Ebenen fallen in die Laplace-
sche unveränderliche Ebene oder werden ihr parallel. Daraus
ergibt sich das allgemeine Prinzip, dass die Bewegungen der
irgend ein endliches System zusammensetzenden Körper, wie
auch immer die ursprüngliche Abweichung der Richtung sei (mit
Ausnahme sehr weniger besonderer Fälle), infolge irgend wel-
chen Widerstandes gegen diese Bewegungen parallel oder tiber-
einstimmend zu werden strebt mit einer unveränderlichen
Ebene. ^^)
Bevor ich diesen Gegenstand verlasse, will ich be-
merken, dass das eben aufgestellte Prinzip, welches eine
weitere Verallgemeinerung zulässt, so dass es die Form
annimmt — dass alle Bewegungen von Elementen endlicher
materieller Systeme, die von der gegenseitigen Wirkung
solcher Elemente abhängen, infolge irgend welcher ständiger
Beeinflussungen oder Beschränkungen dieser Bewegungen
von aussen, von Unregelmässigkeit und Unordnimg zur
Regelmässigkeit und Ordnung streben — meines Erachtens
eines der bedeutendsten Prinzipien im ganzen Bereiche der
mathematischen Physik ist. Denn die hier bezeichnete
Bedingung — dass die inneren Bewegungen des Systems
ständiger Beeinflussung von aussen unterworfen seien —
ist thatsächlich von jedem materiellen System unzertrennlich,
da es kein solches System gibt, das zu irgend einer Zeit
**) Mögliche Ausnahmen von diesem Gesetz sind natürlich jene
Fälle, in denen die zerstörten Komponenten genau gleich und ent-
gegengesetzt sind. Die Unwahrscheinlichkeit des Eintreffens solcher
Fälle ist so gross, dass Budde, der das Gesetz im wesentlichen so
aufstellt, wie ich es im Texte gethan habe (1. c, S. 30) nicht einmal
auf die Möglichkeit einer Ausnahme anspielt.
Kosmohgische und kosmogenetische Spekulationen. 305
tinter dem ausschliesslichen Einflüsse seiner eigenen inneren
Kräfte stünde. Infolgedessen herrscht in jedem endlichen
Teile der Welt eine angeborene Neigung vom Unregel-
mässigen zum Regelmässigen, eine innewohnende Tendenz
vom Chaos zum Kosmos; eine Tendenz, welche, die ein-
fache und direkte Folge der Relativität aller materiellen
Formen ist — der Thatsache, dass jedes endliche Ganze
stets ein Teil eines noch grösseren Ganzen ist — kurz der
Thatsache, dass das Endliche bloss als der stets zurück-
weichende Hintergrund des Unendlichen existiert. Es ist
sogar möglich, dass dieses Prinzip umfassender ist und
über den Bereich der Physik hinaus gilt, und dass es bis
zu einem gewissen Masse seine Anwendungen innerhalb der
Domäne jener Wissenschaften finden mag, die gewöhnlich
als historische bezeichnet werden. Wiewohl Versuche einer
Übertragung von Gesetzen über die gegenseitige Abhängigkeit
von Erscheinungen, deren Zusammenhang einfach und leicht
zu verfolgen ist (wie z. B. von Bewegungen anorganischer
Massen), auf eine Gruppe von Erscheinungen, deren Be-
ziehungen kompliziert und unvollkommen verstanden sind
(wie z. B. die organischen und die Lebenserscheinungen),
äusserst gefahrlich sind und niemals ohne sorgfältiger Be-
zugnahme auf die Natur und den Grund der Analogieen,
durch die sie sich Eingang verschaffen, unternommen werden
sollen,, bleibt es dessen ungeachtet richtig, dass ein grosser
Teil des Fortschrittes, der jetzt in verschiedenen Abteilungen
der Wissenschaft stattfindet, dem freien Austausch nicht nur
der Ergebnisse, sondern auch der Prinzipien und Methoden
zu verdanken ist.**)
^'*) Beispiele für die Anwendung dynamischer und , allgemein,
physikalischer Gesetze nicht nur auf die Lebens-, sondern auch auf
die psychischen Erscheinungen sind kürzlich durch die Auseinander-
setzungen von AVENARIUS über die Entwicklung des Denkens gemäss
dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses (Die Philosophie als Denken
StalLO, BegrifTe u. Theorieen. 20
5o(5 XV. KapiteL
Die Theorie von der meteorischen Zusammenballung
unternimmt es, noch weitere Elemente des allgemeinen
Problems der Erklärung der wirklichen Gestalt unseres
Planetensystems in Angriff zu nehmen, wie z. B. <lie ver«
hältnismässige Kleinheit der der Sonne zunächst steheliden
Planeten. Die Schlussweise ist ungefähr diese: Irgendwo
innerhalb des Raumes, der die verschiedenen Bewegungen
der Körper lunfasst, deren Materien sich, im 'Ballungspro-
zesse befinden, wird sich wahrscheinlich eine Masse bilden;
welche die anderen überragt. Diese Masse • — der Kern
der künftigen Sonne des Systems — muss nach und njfcch
in seine Nähe die Perihele aller bewegten meteorischen
Massen oder Gruppen von solchen ziehen. In dieser Gegend
müssen somit die Bewegungen aller Körper die grösste
Geschwindigkeit besitzen ; hier müssen die Meteore an ein-
ander mit grösster Schnelligkeit vorbeifliegen, und ihre An-
näherung und Zusammenballung am schwierigsten sein -^r-
ein Umstand, der auch das rasche Wachstum der Körper
dieser Gegend nach ihrer anfänglichen Bildung verhindert
An den Grenzen des Systems hingegen, wo die Bewegungen
der Meteore träge sind, sind die Bedingungen fiir die
Bildung grosser Massen verhältnismässig günstig« In
ähnlicher Weise lässt sich eine grobe Erklärung der That-
sache geben, dass die Dichten der Planeten im all-
gemeinen ihrer Grösse verkehrt proportional sind. Ein
grösserer Körper zieht einen Meteor mit grösserer Stärke an
als ein kleiner; seine Zunahme erfolgt somit durch heftigere
der Welt gemäss dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses, Leipzig^ 1876)
und die vorausgegangenen Auseinandersetzungen von Schleicher
über die Entwicklung der Sprache im Lichte der Lehre von der
natürlichen Zuchtwahl — die, wie nebenbei bemerkt werden mag,
nicht ohne Analogie zu dem im Texte auseinandergesetzten Prinzipe
ist — beigebracht worden. (Die Darwin'sche Theorie und die Sprach-^
Wissenschaft, Weimar 1863.)
Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 307
Stösse/die eine heuere Temperatur und eine dementsprechende
Ausdehnung erzeugen.
Es ist nicht meine Absicht, die Verdienste dieser
Theorie im einzelnen durchzugehen, oder eine Meinung
über ihre ^ Richtigkeit und Zulänglichfceit auszudrücken ;
doch finde ich es für schicklich zu erklären, dass sie mir
in einem vorteilhaften Gegensatz zur Nebularhypothese
gerade wegen des Fehlens einiger charakteristischer Eigen-
heiten der letzteren erscheint, denen diese Hypothese ihren
Anschein der Wahrheit verdankt. Die Nebularhypothese
fand willige und zumeist begeisterte Aufnahme nicht so sehr
aus physikalischen wie aus metaphysischen Gründen. Die
Geneigtheit, das Vielfältige aus dem absolut Einfachen, das
Mannigfache aus dem absolut Gleichförmigen abzuleiten,
hat ihre Wurzel in dem zweiten der grossen Strukturfehler,
die ich im 9. Kapitel erörtert habe — nämlich in der
Annahme, dass das abstrakte Resultat einer Verallgemeinerung,
d. i. ein allgemeiner Begriff vorteühaft zum Ausgangspunkt
für die Entwicklung der besonderen unter ihm subsumierten
Dinge gemacht werden könne. Der Enthusiasmus für die
Nebularhypothese war in dieser Beziehung eine ontologische
Nachwirkung. Und in einer anderen Beziehung war er
selbst noch mehr als das — bedeutete er ein Wiederauf-
leben der alten Traditionen über den Ursprung des Welt-
alls aus dem Nichts. Der anfängliche Nebel der Nebular-
hypothese wird von äusserster Feinheit angenommen —
von einer Dichte, die kleiner als ein hunderttausendstel der
des Wasserstoffes, des leichtesten der dem Chemiker be-
kannten gasförmigen Körper, ist. Infolge dieser äthe-
rischen Feinheit wurde er leicht in den Begriffen des ge-
wöhnlichen Volkes an die Stelle des alten leeren Raumes
gesetzt, aus dem die Welt entstanden ist, und in den Ein-
bildungen jener, welche die Materie als eine Art von Ver-
dichtung des Geistes ansehen, an Stelle des allumfassenden,
20*
3o8 XV. Kapitel,
vorweltlichen, unpersönlichen Geistes. So hat er sich der
Annahme einer jeden Weltbildungshjrpothese angepasst, nach
der es im Anfange ein Etwas „ohne Form und Gehalt"
gegeben haben muss und hat zur gleichen Zeit dem mystischen
Gejammer nach dem Ätherischen und „Spiritualistischen"
entsprochen, das ein besonderes Kennzeichen jener breiten
Klasse von Philosophen bildet, deren Philosophie dort be-
ginnt, wo klares Denken aufhört.
XVL
Schluss.
Die Betrachtungen der vorhergehenden Seiten fuhren
zu dem Schlüsse, dass die mechanische Atomtheorie die
wahre Grundlage der modernen Physik weder ist noch sein
kann. Bei näherer Prüfimg erscheint diese Theorie nicht
niu:, wie allgemein zugegeben wird, als unzureichend für die
Erklärung der Erscheinungen des organischen Lebens, sondern
sie erweist sich gleicherweise auch als unzulänglich, um
als Grundlage für die Erklärung der allergewöhnlichsten
Fälle unorganischer physischer Wirkung dienen zu können.
Ihr Anspruch, dass sie im Gegensatze zu metaphysischen
Theorien keine Annahmen zulässt und mit keinen anderen
Elementen rechnet als mit den Daten der sinnlichen Er-
fahrung, erweist sich als ganz und gar unbegründet. Bei der
Verkündigung dieses Schlussergebnisses ist es indessen von
nöten, sich vor zwei fundamentalen Missverständnissen zu
hüten. In erster Linie schliesst die Leugnung der Theorie ,
vpn der atomistischen Konstitution der Materie, wie sie all-
gemein von Physikern und Chemikern angenommen wird,
keine Behauptung über die wirkliche Konstitution der
Körper in sich — der Elemente wie der chemischen Ver-
bindungen — und sicherHch enthält sie nicht die meta-
physische Behauptung von der absoluten Kontinuität der
Materie in sich. Welches die wirkliche Beschaffenheit be-
sonderer Körper ist, ist eine Frage, die in jedem einzelnen
Falle durch Experiment und Beobachtung zu entscheiden
ist. Es gibt ohne Zweifel eine grosse Klasse von Körpern,
3IO XVL KapiteL
die eine molekulare Konstitution besitzen ; daraus folgt jedoch
nicht, dass diese Molekeln ursprüngliche, unveränderliche Ein-
heiten sind, die unabhängig und vor aller physischen Wirkimg
existieren und folglich von jeder Veränderung unbedingt
ausgeschlossen sind. Auf Grund empirischer Betrachtungen
ist der Schluss aus der molekularen Struktur eines Körpers
auf die beständige Existenz absolut unveränderlicher und un-
zerstörbarer Atome oder Molekeln ebenso unvernünftig, als
es die Behauptung sein würde, dass ursprünglich und vor
aller Bildung organischer Körper eine unbestimmte Zahl von
Elementarzellen vorhanden gewesen wäre, weil alle organischen
Körper aus Zellen zusammengesetzt sind.
In zweiter Linie darf die Abweichung von dem Satze,
dass alle physische Wirkung in dem Sinne eine mechanische
sei, als sie in einer Übertragung von Bewegung zwischen
verschiedenen Massen durch Stoss oder Berührung bestehe,
nicht als ein Zweifel an der Beständigkeit physikalischer
Gesetze oder der Allgemeinheit ihrer Anwendung aufgefasst
werden. Nicht die allgemeine Gütigkeit und die be-
herrschende Stellung des Gesetzes physischer Verursachung
ist es, die geleugnet wird, sondern die Lehre, dass die ein-
zige Form dieser Verursachung die Übertragung von Be-
wegung durch unmittelbare Berührung von Massen sei, die
an sich absolut träge sind. Bezeichnet man physische
Wirkungen, die nach beständigen und gleichförmigen Ge-
setzen vor sich gehen, als mechanische, dann ist alle physische
Wirkung unzweifelhaft eine mechanische.
Es könnte eingewendet werden, dass ein physikalischer
Vorgang völlig unbestimmbar ist, wenn nicht eine molekulare
oder atomistische Konstitution der Materie vorausgesetzt
wird. Dies ist nur in dem Sinne richtig, als wir ausser
Stande sind, Formen physikaHscher Vorgänge anders in
Betracht zu ziehen wie als Wirkungen zwischen verschiedenen
physischen Teilen, Ein physischer Vorgang kann nicht
Schluss. 5x1
quantitativen Bestimmimgen -unterworfen werden ohne logische
Isolierung der begrifflichen Elemente der Materie und, ohne
schllessliche Bezugnahme auf die begriftiichen Konstanten
der Masse und Energie. Alles diskursive Denken beruht
auf der Bildung von Begriffen, auf. der intellektuellen
Scheidung .und Gruppierung von Merkmalen — init an-
deren Worten, auf der Betrachtung von Erscheinungen von
einer besonderen Seite aus. • In diesem Sinne bestehen die
Schritte zur Erreichung einer wissenschaftlichen, so gut wie
einer anderen Erkenntnis in einer Reihe logischer Fiktionen,
die bei den Operationen des Denkens ebenso berechtigt
wie unvermeidlich sind, deren Beziehungen zu den Er-
scheinungen, von denen sie nur eine teilweise und nicht
selten bloss symbolische Darstellung bilden, nie aus den
Augen gelassen werden dürfen. Wenn der alte Grieche
die Eigenschaften eines Kreises zu bestimmen suchte, so
begann er mit der Konstruktion eines Polygons, dessen
Seiten so lange immer wieder geteilt wurden, bis sie als
unendlich klein angenommen werden konnten; und seiner
Ansicht nach war jede Linie von bestimmter Grösse und
Gestalt — d. h. jede Linie, die Gegenstand einer mathe-
matischen Untersuchung werden konnte — aus einer un-
endlichen Zahl unendlich kleiner gerader Linien zusammen-
gesetzt. Doch fand er rasch, dass, während diese Fiktion
ihn in den Stand setzte, eine Regel zur Berechnung des
Flächeninhaltes des Kreises abzuleiten und ausserdem eine
Reihe seiner Eigenschaften zu bestimmen, dessenunge-
achtet der Kreis und sein geradliniger Durchmesser im
Grunde inkommensurabel sind, und die Quadratur des
Kreises unmöglich ist. Der moderne Analytiker bestimmt
in ähnlicher Weise den Ort einer Kurve durch das Ver-
hältnis kleiner beliebig gewählter Zuwüchse der Koordinaten ;
doch bleibt er dabei dessen wohl eingedenk, dass die Kurve
selbst mit dieser willkürlichen Darstellung nichts zu thun
312 XVL Kapitel.
hat, und anerkennt ganz ausdrücklich die Kontinuität der
Kurve durch die Differentiierung oder den Grenzübergang
dieser Zuwüchse — wobei er zu gleicher Zeit seine Ko-,
ordinaten durch Veränderung des Anfangspunktes oder
ihres Neigungswinkels umformt oder selbst ihr System, z. B.
vom bilinearen zum polaren, ändert, wenn er es für pausend
findet, ohne daran zu denken, dass es im geringsten die
Natur der Kurve berühren kann, deren Eigenschaften unter
Diskussion stehen. Der Astronome beginnt bei der Be-
rechnimg der Anziehung einer homogenen Kugel auf einen
materiellen Punkt mit der Annahme der atomistischen oder
molekularen Konstitution der anziehenden Kugel; hernach
ninamt er aber die Reihe als unendlich und die Differenzen
als unendlich klein an und entledigt sich völlig des piole-
kularen Gerüstes, indem er integriert, anstatt die Summe
einer Reihe endlicher Differenzen zu bilden. Man beachte :
Der Astronom heginnt mit zwei Fiktionen — der Fiktion
eines „materiellen Punktes" (der in Wirklichkeit eine con-
tradictio in adjecto bedeutet), um so die Anziehungskraft
zu isolieren und sie als von der Kugel allein herrührend zu
betrachten, und der Fiktion endlicher Differenzen, welche
die molekulare Konstitution der Kugel darstellen; die
Giltigkeit seines Resultates hängt aber von der schliess-
lichen Aufhebung dieser Fiktionen und der Wiederherstellung
der Thatsache her. In ähnlicher Weise stellt der Chemiker
die Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Substanzen ver-
binden, als Atome von bestimmtem Gewichte und die aus
ihnen gebildeten Verbindungen als Gruppen solcher Atome
dar^ und diese mythische Münze ist in mannigfacher Weise
dienlich gewesen. Abgesehen jedoch davon, dass die Sym-
bole zu einem ganz unzulänglichen Mittel für eine natür-
liche Darstellung der Thatsachen geworden sind, ist es
wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass das Symbol
nicht die Thatsache ist, Newton leitete viele Hauptsätze
Schluss. 313
der Optik aus der Corpusculartheorie des Lichtes und- aus
seiner Hypothese von den „Anwandlungei;! leichten Durchr
ganges und leichter Reflexion" ab. Seine Theorie diente
eine Zeit lang einem guten Zwecke ; dessen ungeachtet war
sie aber nicht mehr als eine passende Art von Symbolisierung
der bekannten Erscheinimgen und hätte verworfen werden
müssen, nachdem die Erscheinung der Interferenz beobachtet
worden war. Im Jahre 1824 leitete Sadi Carnot das noch
heute nach seinem Namen benannte Gesetz der Wirkungs-
weise der Wärme aus einer Hypothese über die Natur der
Wärme ab (die von ihm, wie fast von allen Physikern seiner
Zeit als ein unwägbarer Stoff angesehen wurde), welche
gegenwärtig als irrig anerkannt oder allgemein angesehen
wird. Für gewisse Zwecke wie für die mathematische Be-
stimmung des Druckes und der Ausdehnung der Gase finden
die thermischen Erscheinungen eine passende Darstellung
durch die Hypothese, dass ein Gas aus einer Gruppe von
Atomen oder Molekeln im Zustande unaufhörlicher Bewegung
besteht Einige von den Eigenschaften der Gase ^ind mit
Erfolg von Clausius und anderen aus auf dieser Hypothese
beruhenden Formeln abgeleitet worden und Maxwell glückte
es selbst, die Erscheinung der alimählichen Abnahme der
schwingenden Bewegung einer zwischen zwei anderen auf-
gehängten Scheibe, die sich infolge der Reibung des gas-
förmigen Mediums und unabhängig von dem Grade seiner
Dichte vollzieht, vorherzusagen, was seitdem durch das Ex-
periment bestätigt worden ist ; aber weder Clausius' Formeln
noch Maxwell's Experimente beweisen etwas über die wirk-
liche Natur der Gase. Dass kein giltiger Schluss auf die
wirkliche Beschaffenheit der Körper und die wahre Natur
physischer Wirkung aus den Formen gezogen werden . kann,
in denen man es für nötig oder passend findet, sie darzu-
stellen oder zu begreifen, wird durch die Thatsache illustriert,
dass wir gewöhnlich und zwar nicht nur beim gewöhnlichen
314 XVL Kapitel .
Denken und Sprechen, sondern auch für Zwecke wissen-
schaftlicher Diskussion auf Darstellungsarten von Natur-
erscheinungen zurückgreifen, die auf längst als unhaltbar
aufgegebene Ansichten und Hypothesen gegründet sind.
Gerade so wie wir gewöhnlich von den Bewegungen der
Sonne und der Sterne in Ausdrücken der alten geocentrischen
Lehre denken und sprechen, wiewohl niemand in unseren
Tagen die Wahrheit der heliocentrischen Theorie bezweifelt,
so würde es auch der moderne Astronome für schwierig
finden, sich dieser geocentrischen Fiktionen zu enthalten,
wenn er diese Bewegungen der Rechnung unterwirft. Selbst
die alten Epicykeln leben in einigen der analytischen Formeln,
durch die jene Berechnung ausgeführt wird, wieder auf.
Der Fortschritt der modernen theoretischen Physik be-
steht in der allmählichen Zurückführung der verschiedenen
Formen physikalischer Vorgänge auf das Prinzip von der
Erhaltung der Energie. Behufs didaktischer Darlegung dieses
Prinzips nehmen wir unsere Zuflucht zu erdichteten Systemen
von Molekeln oder Partikeln, deren Bewegungen einfache
Funktionen ihrer gegenseitigen Entfernungen sind. Wie
wir gesehen haben, ergibt sich jedoch sofort ein Widerstreit
dieser Fiktion mit den Thatsachen der Erfahrung, wenn
wir eine durchgreifende Unterscheidung zwischen den Molekeln
and ihren Bewegungen durchzufuhren suchen. Die Erhaltung
der Energie würde sich als unmöglich herausstellen, wenn
die letzten Bestandteile eines materiellen Systems an sich
vollständig träge wären. Genau das Nämliche hat sich auch
in schlagender Weise bei den jüngsten Versuchen einer
Ausdehnung des Prinzips von der Erhaltung der Energie
auf die chemischen Erscheinungen herausgestellt. Diese
Versuche sind durch die Beobachtung eingegeben worden,
dass jeder chemische Vorgang von der Absorption oder
Entwicklung von Wärme abhängt oder doch wenigstens von
einer solchen begleitet wird, und dass der Betrag der ab-
• Schltiss. 315
sorbierten oder frei gewordenen Wärme das Mass solcher
Wirkung abgibt. Die Bestimmung chemischer Erscheinungen
mit Hilfe ihrer thermischen Begleitumstände, die bis vor
kurzem unter dem Namen der Thermochemie bekannt war
und als ein verhältnismässig unbedeutender Teil der che-
mischen Wissenschaft behandelt wurde, ist nun nahe daran,
als die wahre Grundlage der theoretischen Chemie ange-
sehen zu werden. Die Prinzipien dieser neuen Wissenschaft
sind bereits bis zu einem gewissen Grade in verschiedenen
Lehrbüchern systemisiert worden, unter denen Mohr's
„Mechanische Theorie der chemischen Affinität", ^) Nau-
mann'» „Grundriss der Thermochemie" ^) und Berthelot's
„Chenodsche Mechanik auf Grund der Thermodynamik"*)
erwähnt werden mögen.*)
Die Wichtigkeit der Rolle, welche der Wärme bei
chemischen Umwandlungen zukommt, hat sich zum ersten
Male deutlich herausgestellt bei der Verkündigung des
Empirischen Gesetzes von Dulong und Petit im Jahre 18 19,
nach dem die spezifischen Wärmen der Elemente umgekehrt
proportional ihren Atomgewichten sind, oder wie man sich
in der Sprache der Atomtheorie gewöhnlich ausdrückt, die
Atome aller elementaren Körper dieselbe spezifische Wärme
haben. Wiewohl es augenfällige Ausnahmen dieses Gesetzes
gibt (wie in dem Falle von Kohlenstoff, Bor und Silicium),
bewährt es sich in so vielen Fällen so gut, dass Hofihung
auf eine solche Erklärung dieser Ausnahmen vorhanden ist,
die dieselben schliesslich als Bestätigungen des 'Gesetzes
^) Braunschweig 1868.
*) Braunschweig 1869.
') M. Berthelot, Essai de Mecanique Chimique fondee sur
la Thermochimie, Paris 1879.
*) Die Fortschritte, welche seither die Termochemie über Berthe-
Lot hinaus gemacht hat, sind in dem Folgenden nicht berücksichtigt.
Anm. d. Her.
31 6 XVL Kapitel.
erweisen wird; thatsächlich ist auch einiger Fortschritt in
dieser Richtung bereits geschehen. Neumann, Regnault
und Kopp haben gezeigt, dass das Gesetz nicht nur auf
Elemente, sondern auch auf Verbindungen anwendbar ist,
indem sich die spezifische Wärme einer Verbindung gleich
der Sunune der spezifischen Wärmen ihrer Elemente ergibt.
Das Gesetz von Dulong und Petit würde, falls es
allgemein giltig wäre, auf ein bemerkenswertes Gesetz
chemischer Verbindung führen. Denn es ist offenbar identisch
mit dem Satze, dass sich chemische Elemente nur dann
verbinden, wenn sie bei der Verbindung die gleiche Tempe-
raturerhöhung erfahren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass,
wenn das wahre Verhältnis der Temperatur eines Körpers
zu seiner gesamten physikalischen und chemischen Energie
völlig bekannt wäre, dieses Gesetz eines der Grundprinzipien
der theoretischen Chemie werden würde.
Das nächste bemerkenswerte Ergebnis thermochemischer
Forschung war die Entdeckung, dass die Natur chemischer
Reaktionen zwischen verschiedenen Substanzen von den
Verhältnissen zwischen den spezifischen Energien der Re-
agentien, wie sie durch die Mengen der beim Prozesse ent-
wickelten oder verbrauchten Wärmen gegeben sind, ab-
hängig ist. Es stellte sich heraus, dass es gewisse Elemente
gibt, wie z. B. Sauerstoff und Wasserstoff — die sich leicht
und unter gewissen Bedingungen von selbst mit einander
verbinden, deren Verbindung, wie sich Berthelot ausdrückt,
direkt vor sich geht, ohne Zuhilfenahme äusserer Energie,
und von einer Entwicklung von Wärme oder Licht oder
beider begleitet ist. Derartige Verbindungen bezeichnet
Berthelot als e x o t h e r m i s c h e. Sie führen zur Bildung
von Verbindungen, die nicht wieder in ihre ursprünglichen
Elemente ohne Zurückerstattung der bei ihrer Verbindung
verloren gegangenen Energie aufgelöst werden können*
Andererseits gibt es Fälle endothermischer Yerbindung,
Schluss, 317
in denen umgekehrt die Vereinigung der Elemente von
«iner Absorption, und die Zerlegung der erhaltenen Ver-
bindung von einem Freiwerden der Wärme begleitet ist.
Die Verbindung von Kohle und Schwefel ist z. B. endo-
thermisch. Schwefelkohlenstoff bildet sich beim Vorüber-
streichen schwefliger Dämpfe über rotglühende Kohlen ; die
Vereinigung von Schwefel und Kohle ist nur unter der
Bedingung fortwährender Zufuhr an Wärme während der
Verbindung möglich, die wieder bei der Auflösung der
Verbindung in ihre Elemente frei wird. Diese Thatsachen
werden von der modernen Chemie auf Grund der Theorie
erklärt, dass die chemische Affinität umgewandelte Wärme
ist, indem beide, Wärme wie chemische Affinität, Formen
der Energie vorstellen, dass im Falle exothermischer Ver-
bindung die Summe der spezifischen Energien der Elemente
die spezifische Energie der gebildeten Verbindimg über-
steigt, während bei einer endothermischen Verbindung die
spezifische Energie der Verbindung grösser ist als die ver-
einigten spezifischen Energien der Komponenten. Es hat
sich herausgestellt, dass, wenn wir eine Anzahl von Elementen
oder Verbindungen durch eine Reihe von chemischen Re-
aktionen verfolgen, der Gesamtbetrag an Energie (der vor
der Absorption oder nach dem Freiwerden in Form von
Wärme erscheint), der frei wird oder verschluckt wird, genau
gleich der Differenz zwischen den spezifischen Energien der
anfanglichen und der schliesslichen Verbindungen oder Ele-
mente ist. Zu beachten ist, dass diese Regel nicht nur
auf die Fälle sogenannter chemischer Verbindung oder Zer-
legung, sondern auch auf die der Allotropie und des Poly-
merismus anwendbar ist, da es sich ja gezeigt hat, dass
allotropische Formen der Elemente und isomerische Formen
der Verbindungen in einander durch Hinzufügung oder Ent-
ziehung bestimmter Wärmemengen verwandelbar sind.
Ein drittes Ergebnis des Studiums der thermischen
3i8 XVL Kapitel
Verhältnisse von Elementen und Verbindungen l^ildet die
Aufstellung des bemerkenswerten Prinzipes, dass der Über-
gang irgend eines Körpers oder Körpersystemes von ge-
ringerer zu grösserer Stabilität stets von einer Wärmeent-
wicklung begleitet ist, „mag nun," wie sich Odling aus-
drückt, „solch' eine Veränderung für gewöhnlich als Ver-
bindung oder als Zerlegung bezeichnet werden,*' und dass
jeder chemische Vorgang, der ohne Vermittlung einer äusseren
Energie vor sich geht, die Erzeugung eines oder mehrerer
Körper anstrebt, deren Bildung den grössten Betrag an
Wärme frei werden lässt.^)
Diese kurze Skizze zeigt zur Genüge die Thatsachen
und Verallgemeinerungen, auf die man die neue Theorie
einer „chemischen Mechanik" zu gründen suchte. Wenig
Gebrauch ist bisher vom Gesetze von Dulong und Petit
gemacht worden; die anderen Ergebnisse experimenteller
Induktion auf dem Felde der Thermochemie sind aber von
Berthelot in der Einleitung seines Werkes ^) in folgender
Weise, übersichtlich zusammengestellt worden:
„I. Das Prinzip der Molekulararbeit. — Die
bei irgend einer Reaktion auftretetide Wärmemenge bildet
*) Eine Art Anticipation dieses Prinzipes findet sich in einem
der wohlbekannten Gesetze, die Berthollet am Anfang dieses Jahr-
hunderts in seiner „Statique Chimique" aufgestellt hat — nämlich
in dem Gesetze, nach dem sich zwei in einer Lösung befindliche
lösbare Salze zersetzen, sobald die entstehende Verbindung oder
Mischung von Verbindungen unlöslich oder weniger löslich als die
gemischten Salze ist. Die Beziehung dieses Gesetzes zu dem im
Texte aufgestellten Prinzip vom Maximum der Wärmeentwicklung
wird bei Berücksichtigung der Thatsache verstanden werden, dass
sich — allgemein gesprochen — die Löslichkeit der Substanzen bei
Anwendung von Wärme vermehrt. Berthollet's Gesetz ist indes
Ausnahmen unterworfen ; es gibt Fälle, in denen lösbare Basen durch
unlösbare ersetzt werden und das Ergebnis trotzdem die Bildung lös-
licher Salze ist.
«) Mecanique Chimique, pp. XXVIII, XXIX.
Schluss, ^i^
ein Mass ' der bei dieser Reaktion geleisteten chemischen
oder physikalischen Arbeit."
„2. Das Prinzip der Wärmeäquivalenz che*
mische r Umwandlungen. — Wenn ein System ein-
facher oder zusammengesetzter Körper, die sich unter be-
stimmten Bedingungen befinden, physischen oder chemischen
Veränderungen unterworfen wird, die im Stande sind, es
in einen neuen Zustand zu versetzen, ohne irgend einen
mechanischen Effekt ausserhalb des Systemes hervorzurufen^
hängt die durch diesen Wechsel erzeugte oder verbrauchte
Wärmemenge bloss von dem Anfangs- imd Ekidzustande des
Systems ab; sie bleibt die gleiche, welches auch immer
die Natur und die Aufeinanderfolge der Zwischenzustände
sein mag."
„3. Das Prinzip des Arbeitsmaximums. —
Alle chemischen Veränderungen, die sich ohne Dazwischen-
kunft äusserer Energie vollziehen, streben die Erzeugung
jenes Körpers oder Körpersystems an, das den grössten
Betrag an Wärme frei werden lässt."
Dieses dritte Prinzip kann auch, wie Berthelot be-
merkt, in der Form aufgestellt werden, dass „jede chemische
Reaktion,, die ohne Mitwirkung vorgängiger Arbeit und ohne
Dazwischenkunft äusserer Energie ausführbar ist, mit Not-
wendigkeit stattfindet, sobald sie zu einer Entwicklung von
Wärme führt."
Die Beziehung dieser Sätze zur Lehre von der Er-
haltung der Energie liegt auf der Hand. Sie bilden offen-
bar Anwendungen der zwei Hauptsätze dieser Theorie auf
die Erscheinungen der chemischen Umwandlung, indem die
beiden ersten Sätze von Berthelot das Prinzip der Wechsel-
wirkung, Äquivalenz und gegenseitigen Verwandelbar keit der
verschiedenen Arten der Energie und das dritte die Tendenz
aller Energie zur Zerstreuung darstellt.
Das Studium der chemischen Veränderungen unter
320 XVL Kapitel.
dem Gesichtspunkte der Lehre von der Erhaltung der
Energie lässt diese Veränderungen in einem völlig neuen
Lichte erscheinen. Es zeigt, dass die Frage über die Mög-
lichkeit einer chemischen „Verbindung" oder „Zersetzung^'
ebenso eine Frage bestimmter Energie-, wie bestimmter
Massenverhältnisse ist; dass jedes Element so gut wie jede
Verbindung ebenso einen bestimmten und unveränderlichen
Betrag an Energie, wie an „Materie" (d. i. Masse) enthält,
und dass diese Energie ein ebenso wesentlicher Bestand-
teil der Existenz eines solchen Elementes oder einer solchen
Verbindung ist, wie deren Gewicht.
Und nun erhebt sich die Frage: Wie ist all dies zu
deuten mit Hilfe der gewöhnlichen Bewegungsgesetze und
der mechanischen Prinzipien überhaupt, in Übereinstimmung
mit der Annahme, dass alle Erscheinungen chemischer Um-
wandlung auf Bewegimgen absolut träger Atome oder Massen -
elemente zurückfiihrbar sind? Denn dies ist die Annahme,
welche der neuen Theorie chemischer Mechanik zu Grunde
liegt. Naumann erklärt ausdrücklich sowohl in einem der
ersten, wie in dem allerletzten Satze seines Buches, dass
„die Chemie in der für sie zu erstrebenden Gestaltimg eine
Mechanik der Atome sein müsse.** •) Und wiewohl Berthe-
lot den Gebrauch des Wortes Atom vermeidet, erklärt er
nicht weniger deutlich, dass zwei Daten zur Erklärung der
Mannigfaltigkeit chemischer Stoffe ausreichend sind: Die
Massen der Elementarteile und die Natur ihrer Bewegung. "^
^) Thermochemie, S. 150.
') „La matiere multiforme dont la chimie etudie la diversite
obeit aux lois d'une mecanique commune . . . Au poitit de vue
mecanique, deux donnees fondamentales caracterisent cette diversite
en apparence indefinie des substances chimiques, savoir: la masse
des particules elementaires, c'est-ä-dire leur equivalent, et la nature
de leurs mouvements. La connaissance de ces deux donnees doit
suffir pour tout expliquer." Mecanique Chimique, tome II, p. 757.
)S€hlU88. 321
Die Erklärung chemischer Erscheinungen durch die
Theorie der chemischen Mechanik hätte also durch Zurück-
führung derselben auf Masse und Bewegung zu geschehen*
Auf Grund welcher mechanischen Prinzipien ist diese Zurück-
fuhrung möglich? Die zu erklärende fundamentale That*
Sache ist die Umwandlung von Wärme in chemische Energie,
Diese Umwandlung hat aber nicht nur eine Veränderung
der einen Art von Bewegung in eine andere im Gefolge,
sondern auch eine Einschränkung einer bestimmten Be*
wegungsgrösse auf eine bestimmte Masse. Nach der mecha-
nisdien Theorie besteht die Wärme wenigstens in der Form,
in der sie allgemein Gasen bei chemischen Prozessen zu-
geführt wird, in geradlinigen atomistischen oder molekularen
Bewegungen von allen möglichen Geschwindigkeiten und
Richtungen. Der Bereich dieser Bewegimgen ist lediglich
durch die Zusammenstösse der bewegten Massen beschränkt.
Durch diese Zusanamenstösse ändern sich die Ordnung, die
Geschwindigkeit und die Richtung der Bahn eines jeden
Atoms oder Molekels unaufhörlich. Welches auch immer
nun die Natur jener Bewegungsform sein mag, welche wir
chemische Energie nennen, so wissen wir doch wenigstens,
dass ein bestimmter imwandelbarer Betrag derselben zu
eiiier bestimmten Masse oder Atomenanzahl einer gegebenen
Substanz gehört. Wenn sich daher Wärme in chemische
Energie verwandelt, muss die oben beschriebene Bewegung
sich notwendigerweise derart ändern, dass ein bestimmter
Betrag derselben in eine Art von Synthese oder Vereinigung
mit einer bestimmten Zahl von Partikeln gebracht wird.
Das ist aber sicherlich immöglich, wenn die Partikeln bloss
träge Massen sind, deren Bewegungen nur durch den Stoss
anderer Massen bestimmt sind, wie es die mechanische
Theorie anninunt. Die verlangte Spezialisierung oder In-
dividualisierung von Bewegung kann in keiner anderen
StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 21
32 2 XVL Kapitel,
Weise erklärt werden als dadurch, dass man den Massen
selbst eine ihnen innewohnende einschränkende Kraft bei-
legt. Selbst wenn eine Individualisierung der Wärmebe-
wegung sich in mechanischer Weise aus dem Zusamraen-
stosse träger Partikel — z. B. durch Umwandlung gerad-
liniger in drehende Bewegung infolge schiefer Stösse —
ergeben könnte, würde noch immer die Unmöglichkeit be-
stehen bleiben, die Thatsache zu erklären, dass eine solche
Umwandlung stets in dem Augenblicke aufhört, wo jedes
Atom oder Molekel den ihm zukommenden Betrag an
Energie erreicht hat.
Angesichts aller dieser Umstände berührt es sonder-
bar, in den Schriften ausgezeichneter Physiker Sätze wie
diese zu lesen : „Die allein wirklichen Dinge im physischen
Weltall sind Materie und Energie, und von diesen ist die
Materie rein passiv ," ^) und „Wir sehen , dass , während
(wenigstens nach unserer jetzigen Kenntnis) die Materie
überall dieselbe ist, wiewohl sie sich in verschiedenen Ver-
bindungen verbirgt, die Energie fortwährend die Form
wechselt, in der sie uns entgegentritt.' Das eine ist wie
das ewige imveränderliche Fat um oder die Necessitas
der Alten-, das andere der Proteus selbst in der Mannig-
faltigkeit und Schnelligkeit seiner Verwandlungen."*)
Es besteht nicht viel Zweifel daran, dass das Prinzip
von der Erhaltung der Energie sich als das grosse theoretische
Hilfsmittel zur Erklärung der chemischen wie der physischen
Erscheinungen erweisen wird ; bisher wenigstens haben sich
aber die Versuche, die Gesetze der chemischen Vorgänge
in Ausdrücken der Masse und Bewegung oder der kinetischen
Energie darzustellen, in der Chemie ebenso als misslungen
herausgestellt wie in der Physik. Bis zu welchem Grade
®) The Unseen Universe, § 104.
•) Ib., § 103.
Schlu$s. \ 323
es möglich sein möchte, sßäter die ' Erscheinungien- dei»
Chemie unter die Herrschaft der die gegenseitige Wirkung
fester Körper bestimmenden mechanischen Gesetze zu bringen,
ist schwer zu sagen. Es gibt indessen verschiedene wohl-
bekannte Thatsacheh, die zu zeigen scheinen, 4ass,^ welches
auch, immer die Natur der chemischen Energie sein möge,
sie sich schwerlich aus dem Stossei" fester Teilchen ergeben
dürfte. Die chemischen Energien der. Elemente sind wedey
ihren nach dem Gewichte noch nach dem Volumen ge-
messenen Massen proportional; und ihre mechanischen
Äquivalente sind so ungeheuer gross, dass sie sich ausser
aller Analogie zur gewöhnlichen mechanischen Wirkimg zu
befinden scheinen. Im Jahre 1856 veröffentlichten W. Weber
und R. Kohlrausch die Ergebnisse einer Reihe von Unter-
suchungen, diurch die sie zu einem mechanischen Masse
für die Stärke eines elektrischen Stromes zu gelangen
suchten. Sie wandten diese Resultate auf die elektrolytische
Zersetzung des Wassers an, um so die durch die chemische
Vereinigung von Sauerstoff und Wasserstoff dargestellte
Energie zu bestimmen. Sie verkündeten nun ihre Schlüsse
mit den folgenden Worten: ^^) „Wenn alle Wasserstoffteilchen
von I Milligramm Wasser, die in einem Würfel von der
Länge eines Millimeters enthalten sind, auf ein Band be-
festigt werden würden, und die Sauerstoffteilchen auf ein
anderes, müsste sich jedes Band unter einem Zuge befinden,
der dem des anderen entgegengesetzt gerichtet wäre und
147830 kg betragen müsste, um eine Zersetzung des
Wassers mit einer Geschwindigkeit von i Milligramm für
die Sekunde zu bewirken." Sucht man aber nach dem
Äquivalente der chemischen Energie in Wärmeeinheiten,
so findet man, dass die Verbindung von i g Wasserstoff
™i* 35>5 Z Chlor, die 36,5 g Chlorwasserstoff gibt, von
^^) Pogg. Ann., Bd. 99, S. 24.
21'
324 XVL Kapitel.
einer Wärmeentwicklung begleitet ist, durch welche die
Temperatur von 24 kg Wasser um i ® erhoben werden
kann; da nun die zu einer Temperaturerhöhung von i kg
Wasser um i ^ erforderliche Wärmemenge im mechanischen
Masse 425 Kilogrammetem äquivalent ist, gibt die Bildung
von 36,5 g Chlorwasserstoffgas Anlass zur Entstehung einer
Kraft, durch die ein Gewicht von 10 000 kg zur Höhe
eines Meters in einer Sekunde erhoben werden kann.
Register.
Aberration 88, 239.
Absolute, das 160.
Actio in distans 40, 144.
Adams, Mbndbeschleunigung 50.
Aether 108.
Akin, Geschichte der Kraft 66.
Allotropie 317.
Ampere, Gesetz von 19.
— Atome 75, 161.
Andetssohn, Mechanik der Gravi*
tation 46, 47.
Antipoden 144.
Arago, Gravitation 48, 51.
Aristoteles , Dynamische Theorie
der Materie 162.
— Hypothesen II 6.
— Maxime von 159.
Astronomie 88.
Atomtheorie 14, 75 flf.
Atomvolumen 176.
Atome, Elasticität der 27, 28.
Avenarius, Die Philosophie als
Denken der Welt gemäss dem
Prinzip des kleinsten Kraftmasses
305-
Avogadro, Gesetz von 19, 23, 12 1.
Axiome, geometrische 252.
Babinet, Kosmogonie von Laplace
296.
Bacon, Anticipation der modernen
Wärmetheorie 73.
Bacon, Materie als Samenkorn 1 54.
— über Mathematik 99.
Bain, Erklärung 98.
— Hypothesen iii.
— Materie, Kraft und Trägheit 163.
Baumhauer, Atomgewichte 176.
Becker 200, 246.
Begriffe, Natur der 128.
Beltrami, Pseudo-sphärischer Raum
213, 219, 247, 255.
Berkeley 243.
BemouUi, Daniel, Bewegung als
Ergebnis von Schwingungen 48.
— Gezeiten 49.
— Johann, Gravitation 42.
— — Erhaltung der lebendigen
Kraft 66.
Starrheit der Atome 184.
Berthelot, chemische Mechanik 318,
320.
Berthold, Erhaltung der Energie
58, 72.
BerthoUet, Gesetz der chemischen
Reaktion 318.
Bertrand 34.
Bohn, Erhaltung der Energie 66.
Boltzmann, zweiter Hauptsatz der
Thermodynamik 12.
— molekularer Bau 22.
— kinetische Gastheorie 98, II 9.
Boole, Denkgesetze 271.
Boscovich, Atome 75, 161, 163.
326
Eegister,
Bolyai 21 4.
Boyle's Gesetz 19, 82, 1 12, 1 13, 119.
Bradley, Aberration des Lichtes 239.
Briot, Lichttheorie 89.
Brodie, Atomtheorie 96.
Buckle, Grundlagen der Geometrie
229.
Budde, Nebularhypothese 296.
Calorisches Äquivalent chemischer
Prozesse 318 f.
Cardan, negative Wurzeln einer
Gleichung 280.
Cauchy, Undurchdringlichkeit 83,
84, 182.
— Dispersion des Lichtes 85, 87 f.
Causalität, Gesetz der 189.
Challis, Gravitation 43, 47, 48.
Charles, Gesetz von 19, 113, 119,
121.
Chase, Gravitation 47.
Chasles, 218.
Clarke, F. W., Planetenentwicklung
19. '
Clausius, molekularer Bau 22.
— 2. Hauptsatz der Wärmetheorie
12.
— kinetische Gastheorie 28, 98.
— molekulare Rotation 118 f.
— Entropie 285.
Clifford, Lichttheorie 156,
— Pangeonietrie 217, 220.
Coleridge 82.
Conservatives System 68.
Cöoke, Avogadro's Gesetz 19.
— Atomgewichte 176.
Coriolis, Dispersion des Lichtes 85.
Corpusculartheorie der Materie 161.
Cotes , Materie ohne Trägheit 30.
Coumot, Atome 95.
— Hypothesen 107.
Cournot, Starrheit der Materie i8o,
182.
— mathematische Analyse loi.
CroU, Gravitation 44 f.
— Kraft 171.
D'Alembert, Gravitation 43.
— über Mathematik 260.
— Geometrie 251, 253.
Dalton 82, iii?. . •
Darwin 200.
— G. H., Gezeiten 299.
D^vy 73.
Delboeuf 180.
Dellingshausen 160.
Demokrit 58.
De Morgaij, algebraische Grössen
280.
Deseartes; Philosophische u. wissen-.
schaftliche Würdigung 58.
-~ mechanische Theorie 2.
— GleiQhfbrtnigkeit der Materie 15.
— Wirbeltheorie 42.
— Unbestimmtheit seiner mecha-
nischen Begriffe 61.
— Erhaltung .der Bewegung 64.
— Materie, blosse Ausdehnung 173,
237-
— Relativität der Bewegung 199 ff.
— ujid Leibniz 72.
-— und Gasäen<;)i 214.
Diderot 72.
Ding an sich 160.
Diogenes von Apollonia 58..
Donkin 218.
Drobisch 129.
Du Bois-Reymond , Emil, mecha-
nische Theorie 6, 8. .
— Gravitation 45.
— Kraft eine primäre Qualität der
Materie 153.
Register.
•325
Du.Bois-Reymond, Paul 97.
Dühring, Prinzipien der. Mechanik
300.
Dülong und Petit, Gesetz von, 23,
318.
— Ausdehnung der Gase 112.
DumflS'j Atomgewichte 18, 176.
Dynamische Theorie der Materie
.162.
Eddy,. 2. Gesetz der Thermodyna-
mik 12.
Edleston 43.
Elasticität von Atomen 28.
— von Wirbelringen 29 f.
— die sich aus der Drehung er-
gibt 31 fr.
Empedokles 58.
Endothermische Verbindung 316.-
Energid, Erhaltung von 55 ff.
-^ kinetische 14, 55 ff., 68, 69.
— potentielle 14, 55 ff.
— Zerstreuung von 284.
Epikur 58.
Erdmann, Benno, Raumdimensionen
267 f.
Erklärung, Natur der 98.
Euklid, geometrische Axiome 253.
Euler, Gravitation 42. .
— Relativität der Bewegung 195 ff.,
209.
— Isolierung der Erscheinungen 208.
Evolutionismus 159.
Exothermische Verbindung 316.
Faraday, Atome 75, 161, 162.
Fatio de Duillers, Gravitation 51.
Fechner, Atome 75, 163.
Fermat 2.
Fichte 's Idealismus 244.
Fiktionen, logische 311.
Fitzgcsrald, El. L. 89.
Fresnel, Polarisation des Lichtes
86, 110.. ^
Fries, Starrheit der Matede 185. -
Fritsch, Gravitation 46,
felilei 2, 201.
Gä&e, Diffusion 82.
— kinetische Theorie 97 ff.
Gassendi 58, 214.
Gauss, Gesetz des kleihsten Zwanges
189. '- - ^
— Transcendentalgeometrie 214.
269
— Imaginäre Zahlen 278.
Gay-Lussac, Gesetz' von 19, II2,
121, 176.1
Gedanken, Verhältnis zu den Dingen
126.
Geometrie 253.
— transcendentale 21 3.
Geometrische Axiome 252.
— Induktiver Ursprung nach Mill
223 ff.
George 160.
Graham Thomas, Gleichheit von
Atomen 17.
— Hypothese zur Erklärung des
Avogadroschen Gesetzes 20.
— Wasserstoff ein Metall 134.
Grassmann , Dimensionen des
Raumes nicht ableitbar aus den
Denkgesetzen 272.
Gregory 280.
Grössen, imaginäre 272.
Guthrie, Gravitation 47.
Guyot, Guthrie's Experimente 47.
Haeckel, mechanische Theorie 6.
Halley, Beschleunigung der Mond-
bewegung 49.
32»
Register,
Hall, Asaph, Marssatelliten 298.
Halstead^Bibliographie des n-dimen-
sionalen Raumes 214.
Hamilton, Sir William, Erkenntnis
98.
— Hypothesen lil.
— Definition eines Begriffes 130.
— Unsere Gedanken Symbole 132.
— Verhältnis von Urteilen und Be-
griffen 133.
— Raum 243.
— Analysis 260.
Hamilton, William Rowan, Prinzip
der variierenden Wirkung 12.
— konische Refraktion iio.
Hankel 253, 277.
Hartmann 's Philosophie 160.
Hegel's Philosophie li, 159, 160.
Helmholtz, mechanische Theorie 4.
— Wirbelbewegung 24, 29.
— elektromagnetische Lichttheorie
— jede Eigenschaft relativ 186.
— Transcendentalgeometrie 215,
219, 222, 246, 268.
— Begreifbarkeit eines pseudo-
sphärischen Raumes 254, 257.
Henrici, Geometrie 250.
Heraklit 135.
Herbart, Verhältnis von Urteil und
Begriff 134.
— Idee der Ausdehnung 251.
— und Gauss '214.
— Mannigfaltigkeit 270.
Herschel, Sir William, Satelliten
des Uranus 298.
— Sir John, Äther 108.
Molekeln 122.
Raum 192.
Hipparch's Cyclus 103.
Hobbes, mechanische Theorie 2, 184.
Hobbes, Empfindung 127, 237.
Hooke 47.
Holtzmann 89.
Hudson, Wellentheorie des Lichtes
109.
Hume 243.
Hunt, T. Sterry, Lösung 134.
Huygens, mechanische Theorie 3.
— Beschaffenheit des Äthers 32.
— Gravitation 42, 46, 47.
— Erhaltung der lebendigen Kraft
66.
Huxley, mechanische Theorie 6.
Isenkrahe, Gravitation 35.
Jevons, Gravitation 50.
— wissenschaftliche Kenntnis 99.
— Natur von Hypothesen 104.
— Planetenmolekel Il8.
— Spektroskopie von Gasen 123.
Kant, Kraflmars 62.
— seine Anticipation wissenschaft-
licher Entdeckungen und Theorien
199.
— Pangeometrie 200.
— Absoluter Schwerpunkt des Welt-
alls 201.
— Natur des Raumes 236, 241, 246.
— Nebularhypothese 294 ff.
Kekule, Atomstösse 95.
Kelvin, Lord, (Sir William Thom-
son) Wirbelatomtheorie 29.
— Elasticität von Molekeln 28, 31.
— Atome 94.
— Guthrie's Experimente 47.
— Elektromagnetische Lichttheorie
89.
— Zerstreuung von Energie 284,
Kepler, species iramateriata 167.
Eegister,
329
Ketteier, Dispersion des Lichtes 89.
Kirchhofi, mechanische Theorie 4.
— Vorlesungen über mathematische
Physik 170.
— Ruhe ein besonderer Fall von
Bewegung 209.
Klein, Felix, nicht-euklidische Geo-
metrie 218, 256.
Kohlrausch R., Intensität chemischer
Energie 323.
Kosmogenetische Spekulationen
283 fr.
Kraft, Definitionen 168, 169.
^ Mass 63.
Kroenig, kinetische Gastheorie 28,
97.
Krümmungsmass 248.
Kundt und Warburg, Verhältnis der
spezifischen Wärme des Queck-
silberdampfes bei konstantem
Druck zu dem bei konstantem
Volumen 23.
Land, Transcendentalgeometrie
246, 257.
Laplace, Verzögerung der Gezeiten
49.
— Mondbeschleunigung 49.
— Nebularhypothese 294 ff.
— unveränderliche Ebene 303.
Lasswitz , kosmische Gravitation
und Wärme 289.
Lea, H. Carey, Atomgewichte 176.
Leibniz, mechanische Theorie 2.
— Erhaltung der Energie 58, 62,
64, 66.
•^ Brief an Clarke 72.
— Hypothesen lio.
~- Symbolischer Charakter der Ge-
danken 132.
— Einfachheit von Elementen 188.
Leibniz, Relativität der Bewegung
192.
Le Sage, Theorie der Gravitation
51, 54.
Lewes, G. H. 104.
Liebig 138, 223.
Licht, Wellentheorie 84, I07.
— Dispersion 84, 89.
— Polarisation 85.
Lipschitz, transcendentale Mechanik
248.
Lloyd, konische Refraktion lio.
Lobatschewsky, Pangeometrie 214,
219 f., 247.
Locke 73, 162.
Lockyer, Planetenentwicklung 19.
Lorentz, elektromagnetische Licht-
theorie 89.
Lotze, Begriffe 130.
Ludwig, mechanische Theorie 5.
Lukrez, Atome 75.
— Erhaltung der Materie "58.
Magnus, Ausdehnung von Gasen
112.
Mansel, Theorie des Begriffes 129.
Mariotte's Gesetz 19, 82, 112.
Masse, Relativität derselben 78, 21 if.
— Erhaltung derselben 12, 13.
Materie, Unzerstörbarkeit 12, 77.
— Starrheit 174.
Mathematik 10 1, 260.
Matthieu 34.
Maximum an Arbeit, Prinzip des
319-
Maxwell, James Clerk, mechanische
Theorie 4.
— molekularer Bau 22.
— Wirbelbewegung 24.
— Wirbelringe 30.
— Gravitation 53.
330
JRegister.
Maxwell, elektromagnetische Licht-
theorie 89.
^ — Lichtäther 90.
— kinetische Gastheorie 28, 98,
119, 121.
— Molekeln 123.
— Dämon 125.
— Definition der Kraft 168, 172.
— Entropie 285,
Mayer, Julius Robert, Theorie der
meteorischen Anhäufung 301 if.
Mendelejeff, Atomgewichte 176.
Metaphysik, Charakter der 135 f.
Meyer L., Atomgewichte 176.
Mill J, St., Gavitatipn 43.
Natur einer Erklärung 104, 106,
110, III.
— Relativität der Kenntnis 127.
— Nominalismus und Konzeptu-
alismus 130.
— Begreifbarkeit ein Prüfstein auf
die Wahrheit 136 flf.
— Äther 156.
' — Reihenfolge der Gegenstände
der Natur und unserer Gedanken
von denselben 180.
— Induktiver Ursprung der geo-
metrischen Axiome 223 ff. 252.
Mohr, Gravitation 45.
— mechanische Theorie der Affini-
tät 315.
Molekulararbeit, Prinzip der 318.
Moment, Erhaltung desselben 67.
f — Erhaltung des Winkelm. 67,
291.
Montaigne, Hypothesen 117.
Musschenbroek, mechanische Theo-
rie 3.
Naumann, Thermochemie 315.
Nebularhypothese 290 ff.
Neumann C, Dispersion des Lichtes
89.
— Körper Alpha 201.
Newcomb, transcendentaler Raum
218.
Newton, Sir Isa^Jc, Trägheit 25,
162, 164.
— Gravitation 37i 39; 40.
— Gleichförmigkeit der Masse 16»
— Brief an Bentley. 40.
— Fragen 41.
— Undurchdringlichkeit 26, 8l;
•*— Er.haltung des Schwerpunkts 65,
— Verlust von Energi.e 71.
-^ regula philosophandi 103.
— Relativität der Bewegung. ,192..
Norton, W. A., Äther 108.
r
/>
Occam's Re^el 117.
Odling 318.
Ökonomie, Gesetz der 301.
Ohm, Martin, Beziehung der Zahlen
zu geometrischen Grössen 280.
Olbers, kosmische Hitze 287.
Pangeometrie 215. .
Parmenides 58.
Peacock, Prinzip von der Perma-
nenz äquivalenter Formen 277,
280.
Petit 23, 318.
Peyrard, Ausgabe Euklids 254.
Pfaundler 98.
Plateau 293.
Poinsot, Theorie der drehenden
Bewegung 291.
— Abprallen rotierender Körper
32 ff-» 47. .
— mathematische Analysis lol. ,
Polymerismus 317. .
Poisson, Trägheit 165.
Begister.
331
Poisson, Polarisation des Lichtes S6.
Pott, Entwicklung der Sprache 177.
Preston 53.
Prout, Atomgewichte 18.
Huatemionen , Theorie der 272,
277, 280.
Rankine, 2. Gesetz der Thermo-
dynamik 12.
— Definition der Kraft 172.
— Endlichkeit des materiellen Welt-
alls 286.
Raum, Natur desselben 245, 247.
— Eigenschaften desselben 249.
— Relativität desselben 2lo.
— ein Begriff 245.
— nicht-homaloidaler 213 ff.
Rayleigh, Lord, elektromagnetische
Theorie des Lichtes 89.
Realismus, mittelalterlicher 151.
Redtenbacher, Dispersion des Lich-
tes 89.
— absolute Atomgewichte 212.
Reductio ad absurdum 147.
Kegnault, Ausdehnung der Gase
82, 112.
Relativität, Prinzip der 132, 186 ff.
Riemann, über die Hypothesen,
welche der Geometrie zu Grunde
liegen 215, 21 9, 222, 259 ff.
Rohmer 160.
Rudberg, Ausdehnung der Gase 1 12.
Rumford 73.
Sachs, Uranus 171.
Salmon 218.
Saurin 43.
Schellbach 47.
Schelling, Materie als Samenkorn
des Weltalls 154.
Schelling, dynamische Theorie der
Materie 162.
Schlegel, Theorie des Raumes 272.
Schleicher 306.
Schopenhauer 's Philosophie 160,
244.
Schramm, Gravitation 46.
Schulze 200.
Schumacher 214.
Secchi, Elasticität der Atome 31 ff.
— Gravitation 38, 45.
Sigwart, Theorie des Begriffes 130.
Somoff, Definition der Kraft 169.
Spencer, Herbert, Gleichheit der
Elemente 16.
— symbolischer Charakter der Ge-
danken 132.
— Begreifbarkeit als Prüfstein der
Wahrheit 136.
Spiller, Gravitation 36, 46.
— Äther 166.
Spinoza, Philosophie von 60.
— Reihenfolge der Gegenstände
der Natur und unserer Gedanken
von denselben 180.
— das Absolute 208.
Stas, Atomgewichte 176.
Stefan, kinetische Gastheorie 98,
119.
Stevin 2.
Stewart, Balfour, Gravitation 46, 51.
— Ausdehnung der Gase 112.
— kinetische Natur aller Energie
55-
— Energieverlust 71.
Stewart, Dugald 233.
Stumpf, Ursprung des Raumbegriffes
243-
Sylvester , transcendentaler Raum
217.
Szikly 12.
332
Begister.
Tait, P. G., kinetische Natur aller
Energie 55.
— Gravitation 46, 51.
— Kraft und Moment 168.
— transcendentaler Raum 217.
— Energieverlust 71.
— Elntropie 285.
— Sinken der Energie 285.
Tauschinsky, Theorie des Begriffes
130.
Taylor, Gravitation 36, 46, 50.
Thermometer, Graduierung 112.
Thomson, J. J., elektromagnetische
Lichttheorie 89.
Tyndall, Belfaster Ansprache 154.
— Liverpooler Ansprache 155.
— Atome 157, 161.
— Starrheit der Molekeln 173.
Universalia ante rem 151.
— in re 151.
Van Helmont 178.
Varignon, Gravitation 51.
Virtuellen Geschwindigkeiten, Prin-
zip der 67.
Vis viva 62.
— Erhaltung derselben 64.
Wallace 200.
Walter , Arwed , Planetenmolekel
118.
Warburg 23.
Wärme, Verwandlung in chemische
Energie 316 f.
Weber, W., Intensität der chemi-
schen Energie 323.
Weissenborn 2CX), 268.
Weltall, Endlichkeit desselben 283 f.
Werder 160.
Whately, Theorie des Begriffes 133.
Whewell, Begreifbarkeit als Prüf-
stein auf die Wahrheit 136.
— Trägheit 164.
— Bedingungen einer Hypothese
104, 108.
— Äther 156.
— Kraft 168.
Wittwer, Elasticität von Atomen 26.
Wolff, Mechanische Theorie 3.
Wrede 108.
Wright, Allotropie der Elemente 18.
Wundt, mechanische Theorie 5.
— Gleichheit von Atomen 16.
— Theorie des Begriffes 135.
— Hypothesen 98.
— kosmologisches Problem 284.
Young, Trägheit 164.
Zahlen, komplexe 277.
Zeit, Relativität derselben 210.
Zöllner, Erfordernisse einer giltigen
Hypothese 102.
— Newton's Brief an Bentley 41.
— Begriff der Kraft 169.
— über Kant 199.
— 4. Dimension 218.
Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S.
I
^
' I
/
r-
This book should be retomed to the
Library on or bcfore the last date stamped
bclow«
A fine ofj^r Cents a day is inciined by
retaining it beyond the spedfied time.
Platte retum piompdy.
JAN. .U- '59 '^
fr*.m,i