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Full text of "Die Begriffe und Theorien der modernen Physik"

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IV Ernst Mach. 

den Fachmännern geschätzt wird, könnte man nach manchen 
Anzeichen wohl bezweifeln. Die französische Ausgabe ist 
sogar mit einer Einleitung versehen worden, der man kaum 
eine andere Absicht zuschreiben kann, als die, die Wirkung 
des Buches abzuschwächen. Seinem eigentlichen Publikum, 
den philosophisch und naturwissenschaftlich gebildeten 
deutschen Lesern, ist das Buch wohl kaum bekannt ge- 
worden. Es hat mich deshalb ungemein gefreut, dass Pro- 
fessor Dr. Kleinpeter die eben ■ nicht leichte Arbeit "der 
Übersetzung und die Firma J. A. Barth den Verlag über- 
nommen hat. 

Doch zuvor einige Worte über den Mann I Auf meine 
Bitte sandte mir Stallo in einem Brief vom ii. August 1899 
folgende biographische Skizze: 

„Ich bin am 16. März 1823 zu Sierhausen im Olden- 
burgischen geboren. Mein Vater war ein armer Landschul- 
lehrer, der nicht einmal die Mittel besass, mich auf ein 
Gymnasium zu schicken. Er unterrichtete mich daher selbst 
in der Mathematik und Hess mir von zwei Geistlichen eines 
benachbarten Ortes (die beide Schüler meines Grossvaters 
gewesen waren), Unterricht in den alten Sprachen geben. 
Da ich keine Aussicht hatte, eine Universität beziehen zu 
können, beschloss ich in meinem 17. Jahre, nach Amerika 
auszuwandern. Nicht lange nach meiner Ankunft in Cincin- 
nati kamen französische und belgische Jesuiten dahin, um 
ein seit mehreren Jahren bestehendes Lyceum, das ,Athenä- 
um', in ein sogenanntes College umzuwandeln. Sie suchten 
einen Lehrer der deutschen Sprache, und ich meldete mich 
mit dem Anerbieten, den deutschen Unterricht zu über- 
nehmen, wenn mir Gelegenheit geboten würde, meine Studien 
besonders in der Mathematik und im Griechischen fortzu- 
setzen. So war ich denn von 1840 bis 1844 ^^b Schüler, 
halb Lehrer an dem neuen Institut, an dem ich in den 
beiden letzten Jahren statt der deutschen Sprache besonders 



Vorwort zur detUschen Ausgabe. V 

Mathematik lehrte. Im Herbst 1 844 wurde ich als Lehrer 
der Mathematik und Physik an das St. Johns Colleg« in 
New-York berufen, wo ich nach drei Jahren auf den Rat 
eines Freundes den Beschluss fasste, Jurist zu werden. Zu 
diesem Zweck besuchte ich im Winter 1847 eine sogenannte 
Law-School, setzte dann meine juridischen Studien auf dem 
Bureau eines alten Advokaten fort, und machte schon Ende 
1848 mein Examen. Nach vier Jahren wurde ich vom Gou- 
verneur des Staates als Richter des Common Pleas Ge- 
richtes in Cincinnati ernannt, und im Herbst 1852 vom 
Volke flir diese Stelle gewählt, die ich indes 1855 vor 
Ablauf meines Amtstermins niederlegte, um mich von neuem 
der juristischen Praxis zu widmen, der ich dann bis zum 
Jahre 1885 ohne Unterbrechung obgelegen habe. Im letzt- 
genannten Jahre schickte mich der Präsident Cleveland 
als Gesandten der Vereinigten Staaten nach Rom. Im 
Jahre 1889 kamen die „Republikaner** wieder ans Ruder 
und damit hatte meine Mission ein Ende. Um aber 
nicht von neuem Juristerei treiben zu müssen, zog ich 
nach Florenz und werde auch wohl hier meine Tage be- 
schliessen.'* 

Wenige Monate nachdem Stallo diese Zeilen ge- 
schrieben hatte, machte eine kurze Krankheit seinem Leben 
ein Ende. Er starb am 6. Januar 1900 mit Hinterlassung 
einer schwer leidenden Witwe und zweier Kinder, des Fräu- 
leins HuLDA Stallo in Florenz imd des Herrn Edmund 
K. Stallo, Advokaten in Cincinnati. Ausführlichere bio- 
graphische Daten finden sich in dem Buche des mit Stallo 
befreundeten Ex-Gouverneurs Gustav Körner: „The Ger- 
naan Element in America", und eine vortreffliche Charakte* 
ristik gibt Th; J. Mc. Cormack in seinem Artikel John 
Bernard Stallo, American Citizen, Jurist, and Philosopher 
(The Open Court, May 1900). Schätzen die Amerikaner 
Stallo als einen ihrer ausgezeichnetsten Bürger, so freuen 



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,) 



VI Ernst Mach, 

wir uns, ihn zugleich als einen der edelsten Söhne deutschen 
Stammes kennen zu lernen. 

Das vorliegende Buch ist nicht das einzige, welches 
Stallo publiziert hat. Den grössten Leserkreis unter den 
Deutsch -Amerikanern möchten wohl die „Abhandlungen, 
Reden und Briefe" gefunden haben, welche zu New-York 
bei E. Steiger (1893) in einem stattlichen Bande erschienen 
sind. Hier lernt man nun alle Seiten Stallo's kennen. 
Überall zeigt sich grosse allgemeine, historische und philo- 
sophische Bildung. Tiefer historischer und politischer Blick, 
scharfe psychologische Charakteristik der Personen, Völker 
und Racen offenbaren sich in den Essays über Jefferson, 
Humboldt, über das Negerstimmrecht. Die Art, wie Stallo 
in dem Artikel über „das Bibellesen in den Staatsschulen" 
gegenüber den Protestanten far die Rechte der Katholiken, 
der Juden und der Ungläubigen eintritt, geben Zeugnis 
von seinem edlen religiösen Freisinn, von seiner Begeisterung 
für Gewissens- und Gedankenfreiheit. Der feine schalk- 
hafte Humor, der sich auch mit philosophischer Gedanken- 
tiefe verbinden darf, blickt in seinen Schriften oft hervor, 
so namentlich in den Versuchen über „die englische Sprache" 
und über den „Materialismus". In den bemerkenswerten 
Sängerfestreden gibt er seiner Hoffnung auf die Zukunft 
Amerikas, und seinem Glauben an die Bedeutung des 
deutschen Kulturelementes für dieselbe, freudigen Ausdruck, 
wobei seine Rede zu einem Strom von mächtiger Gewalt 
anschwillt. 

Der Inhalt dieses Buches ist zu reich, um in einem 
Vorwort gewürdigt zu werden. Es sei mir jedoch erlaubt, 
einige Stellen wörtlich anzuführen. 

„Was auch aus Amerika werden möge: die Schicksale 
der südamerikanischen Staaten belehren uns, dass die Ge- 
schichte der neuen Welt nicht an das Mittelalter, sondern 
an die letzten Jahrhunderte anknüpft, und dass zur Lösung 



Voncort zur deutschen Ausgabe. VH 

des Problems, mit welchem die Völker erst in der neueren 
Zeit mit Bewusstsein gerungen, hier ein entscheidender 
Versuch gemacht werden wird. So gewinnt denn die Frage 
nach dem künftigen Verlauf des deutschen Lebens in den 
Vereinigten Staaten die Form: sind die Deutschen kraft 
ihrer historischen Begabung berufen, zu dem hier erstehenden 
Gebäude der Kultur einen notwendigen Baustein zu liefern, 
wenn auch nicht Grundstein zu werden — sind sie bestimmt, 
in dem hier von freien Menschen aufzuftihrendem Chor als 
wesendicher Ton, wenn auch nicht als Dominante, sich ver- 
nehmbar zu machen?" S. 155. — „Aber im grossen und 
allgemeinen ist es nicht zu verkennen, dass die Kulturbe- 
Strebongen der Deutschen mehr nach innen, die der Eng- 
länder nach aussen gerichtet sind." S. 162. — „Man pflegt 
auf die sogenannten Freiheitskriege zu Anfang des gegen- 
wärtigen Jahrhunderts als auf eine grosse nationale That 
hinzuweisen; allein am Ende dieser Kriege hatte Deutsch- 
land 34 Fürsten, 34 Staaten, 34 Kerker für still duldende 
und stumm denkende Menschen. Wenn man die innere 
Kulturarbeit der Deutschen mit ihrer äusseren Geschichte 
vergleicht, so wird alle Logik, die man bei der Betrachtung 
der Lebensverläufe anderer Völker anzuwenden pflegt, zu 
Schanden. Für die ganze deutsche Geschichte ist die 
Thatsache charakteristisch, dass mitten unter den Gräueln 
des dreissigjähri'gen Krieges ein Ratsherr und späterer 
Bürgermeister der Stadt Magdeburg, in der an einem 
Schreckenstage, am 30. Mai 1631, dreissigtausend Männer, 
Frauen und Kinder gemordet wurden, sich mit der Er- 
findung der Luftpumpe beschäftigte. Gegen Ende des 
letzten Jahrhunderts verkaufen deutsche Fürsten vor den 
Augen des deutschen Volkes Tausende seiner Söhne an eine 
fremde Macht als Kanonenfutter im Kampfe gegen die 
Freiheit; das ist im Beginn der sogenannten klassischen 
Periode, wo Goethe, Schiller, Wieland leben, wo Kant 



vm . Ernst Mach. 

seine Kritik der reinen Vernunft schreibt, wo Haydn und 
Mozart die Flut der Töne aus ungeahnten Tiefen des 
deutschen Gemütes hervorquellen lassen; die Augen der 
Deutschen strahlen im Glänze des neuen Gedankenlichts, 
aber für die vorüberziehenden Hessen und Braunschweiger 
haben sie keinen Blick ; sie überhören keinen Ton aus den 
neuen Oratorien und Symphonien, aber für den Chor der 
wehklagenden Frauen, denen die rohe Gewalt eben ihre 
Söhne und Gatten entreisst, haben sie kein Ohr." S. 163 
bis 164. — „Amerika ist meines Erachtens das Land der 
Freiheit in viel höherem Sinne, ^Is in dem, dass es nicht 
das Joch eines fremden Gewalthabers trägt, und dass keiner 
seiner Bewohner sich den Knecht eines Herrn oder den 
Herrn eines Knechtes nennt. Es gibt eine Knechtschaft, 
in der wir gefesselt sind, nicht durch äussere Bande, sondern 
durch den Zwang unserer eigenen Vergangenheit, — in der 
wir uns beschränkt fühlen durch die yns von allen Seiten 
her umengenden Formen der eigenen Entwicklung und 
gebannt sind durch den Zauber veralteter Bedingungen 
unseres physischen und geistigen Werdens. Es gibt eine 
Befangenheit des Geistes und eine Sklaverei der Seele, die 
dem Menschen schwerere Frohndienste auferlegt, als die 
Zwingherrschaft eines Fürsten. Diese Knechtschaft zu zer- 
stören, diesen Bann zu lösen, ist die grösste der Aufgaben, 
denen wir auf dem Boden der neuen ' Welt gegenüber 
stehen. Diese Aufgabe wird zum grossen Teil dem deutschen 
Gedanken zufallen, der sich aber vergebens bemühen wird, 
sie zu bewältigen, wenn er nicht die Macht des deutschen 
Gemütes zu Hilfe nimmt. Der Verstand hat noch nie die 
Welt erlöst, ausgenommen, wenn er auftrat im Bunde mit 
dem Herzen. Ich halte daher die Pflege der Kunst, be- 
sonders der Musik, durch welche ja die Herrschaft des 
Gefühlslebens in edelster Form zur Geltung kommt, für 



Vorwort zur deutschen Ausgabe, IX 

mindestens eben so wichtig, wie die Pflege der Wissen- 
schaft" S. 172.^) 

Welch edle Freude Stallo über den nationalen Auf- 
schwung Deutschlands empfand, davon geben seine in der 
Turnhalle zu Cincinnati am 7. Dezember 1870 gesprochenen y 

Worte Zeugnis. So objektiv, so frei von jeder Überhebimg, 
von Unterschätzung des Besiegten, so frei von jedem un- 
edlen Rachegefühl, habe ich nur noch R. Virchow, fast 
ein Jahr später, auf der Naturforscherversammlung zu Rostock 
sprechen gehört. 

Noch viel Wichtiges über allgemeine und amerikanische 
Fragen findet sich in den „Reden, Abhandlungen und 
Briefen". Möchten dieselben auch von den Deutschen 
Europas gelesen werden 1 Möchten sich diese daran er* 
freuen, zu sehen, wie ein Spross deutschen Stammes sich 
in freier Luft entwickelt hat! 

Vermöge seiner eigentümlichen Lebensverhältnisse musste 
Stallo fast ganz Autodidakt sein; er Hess sich bei seinen 
naturwissenschaftlichen Studien nur durch die Schriften der 



^) Um Stallo keine Ungerechtigkeit gegen andere Völker zu 
imputieren, müssen wir beachten, dass seine Worte unter gesteigertem 
Heimatsgefühl, fem von der Heimat, bei einem deutschen Fest ge- 
sprochen wurden. Er würde wohl unbedenklich zugegeben haben, 
dass der Geist eines Galilei, Newton, Lagrange keinen Vergleich 
zu scheuen hat. Den Männern, welche die französische Revolution 
vorbereitet und ins Werk gesetzt haben, hätte er grosse Gemütstiefe 
nicht abgesprochen, ebensowenig wie seinen anglo-amerikanischen 
Mitbürgern, welche idealen menschlichen Aufgaben beispiellos grosse 
Opfer bringen. Anderseits würde er die lieben Fürsten, die gleich 
Xegerhäuptlingen ihre Unterthanen verkauften, kaum zu den gemüt- 
vollen Deutschen gezählt haben. Die Grösse der individuellen 
Variationen innerhalb eines Volkes setzt eben jeden Vergleich der 
Völker nach Einzelerscheinungen gar zu sehr der Gefahr des 
Zufalls aus. Zur Gewinnung brauchbarer Mittelwerte von Verstand 
und Gemüt eines Volkes fehlt aber ausser der Klarheit der Mass- 
begriffe derzeit noch vor allem die zuverlässige statistische Methode. 



4- 



Ernst Mach, 



grossen Forscher alter und neuer Zeit leiten. Ohne persön» 
liehe Führung eines Lehrers, war er darauf angewiesen, 
seine Zweifel durch stilles anhaltendes Nachdenken zu lösen. 
So gewann er die Eigenartigkeit und Selbständigkeit, welcher 
der orthodoxe Jünger der modernen physikalischen Schule 
fast befremdet und betroffen gegenüber steht. Die „Concepts", 
die im November 1881 in erster Auflage erschienen, sind 
eine späte aber reife Frucht seines Denkens. Stallo hatte 
damals schon das 58. Jahr überschritten. Die Arbeiten aber, 
durch welche die Entwicklung der in den „Concepts" ge- 
botenen Einsichten vorbereitet wurden, reichen viele Jahre 
zurück. Spuren derselben finden sich schon in dem noch 
ganz in I^GEL^schen Bahnen sich bewegenden Buche: ^^ 
„General Principles of the Philosophy of Nature", welches 
Stallo 1848 zu Boston publizierte, als er eben die Lehr- 
stellung am St. Johns College aufgegeben hatte. Bezeichnet 
auch Stallo selbst später diese Arbeit als eine Jugendver- 
irrung, so war sie doch für seine Entwicklung gewiss nicht 
gleichgiltig. Die Erfahrung, dass man mit blossen Abstrak- 
tionen und logischer Ordnung, ohne greifbare Bausteine, 
keinen wirklichen soliden Bau ausführen kann, möchte für 
ihn nicht ohne Folgen geblieben sein, und dürfte seinen 
Blick für die metaphysisch-spekulativen Schwächen der ver- 
meintlich ganz auf positiven Grundlagen ruhenden modernen 
Physik sehr geschärft haben. Mehrere Stellen des vor- 
liegenden Buches, namentlich die Äusserungen über Hegel 
(S. XVIII, 159, 160) sprechen für diese Auffassung. — 
Deutlicher treten Stallo's selbsterworbene Ansichten schon 
hervor in den Artikeln über „Materialismus** (i^SS) ^^^^ 
„die Naturwissenschaft und ihre Grundlagen" (1865) — 
beide abgedruckt in „Reden, Abhandlungen" — sowie in 
seinen Aufsätzen von 1873 und 1874 (The Populär Science 
Monthly, New- York). 

Durch seine pliiio soph isdien tmd histörisr^hen Studien 



Vorwort xur deutschen Ausgabe, XI 

war Stallo in die Lage gesetzt, in den gegenwärtig ver- 
breiteten physikalischen Ansichten Züge und Elemente der 
Anschauungen vergangener Zeiten zu erkennen, welche die 
modernen Physiker im allgemeinen wohl für längst über- 
wunden halten, und welche sie in unverhüllter Form kaxim 
als die ihrigen anericennen würden. Er spricht sich hierüber 
(in den Reden, Abhandlungen u. s. w.) folgendermassen aus : 

„Denn die Erkenntnis jedes Zeitalters hat die Er- 
kenntnis aller früheren Zeitalter in zweifacher Weise zur 
Voraussetzung: einmal, indem der Weg zu jeder Wahrheit 
über eine Reihe früher erkannter Wahrheiten führt, indem 
die Höhe jeder Erkenntnis nur auf der Leiter anderer Er- 
kenntnisse erklommen werden kann, indem jede ins Uni- 
versum blickende Generation auf den Schultern der ihr 
vorhergehenden steht; dann aber auch, indem jedes Zeit- 
alter dem nachfolgenden seine Erkenntnis nicht nur als 
Erkenntnis, sondern auch als Anlage und Fähigkeit zu 
höherer Erkenntnis vererbt. Mit anderen Worten: jede 
spätere Generation hat fiir ihre Geistesblicke nicht nur einen 
höheren Standpunkt und einen weiteren Horizont, sondern 
auch ein helleres Auge." S. 107 — 108. — An einer anderen 
Stelle heisst es: 

„Bündig gefasst wird also die Entwicklung der Er- 
kenntnis bedingt: 

L durch die Weite des Horizonts an dem jedesmaligen 
Standorte der Kultur und die Mannigfaltigkeit der Er- 
scheinungen innerhalb dieses Horizonts — geographisches 
Moment; 

n. durch innere, unbewusste Überlieferung der Er- 
kenntnis ; 

1. in der Organisation, indem die Thätigkeit sich in 
Anlage, das Denken in Geist verwandelt — ethnolo- 
gisches und psychologisches Moment; 

2. in der Sprache die, wie wir später sehen werden, 



Xn Ernst Mach. 

immer eine ganze Philosophie enthält, welche denen, die 
sich der Sprache bedienen, wohl zu Gute, abier selten zum 
Bewusstsein kommt — sprachliches Moment; 

III. durch bewusste Überlieferung in religiösen Vor- 
stellungen, philosophischen Begriffen und wissenschaftlichen 
Xenntnissen — kulturgeschichtliches Moment/' 

S. I20. 

Indem' Stallo die moderne Physik unter Leitung dieser 
Gesichtspunkte durchforschte, musste er die scholastisch- 
metaphysischen Elemente erschauen, welche dieselbe überall 
durchsetzen. 'Die allmähliche gänzliche Befreiung der Wissen- 
schaft von dieser tiberlieferten, oft primitiv-barbarischen 
Denkweise erscheint nach dieser Erkenntnis nur als eine not- 
wendige Consequenz der Weiterentwickelung, Verfestigung 
und kritischen Klärung der Physik. Nicht in allen Punkten 
kann ich mich Stallo vollkommen anschliessend so kann 
ich an dessen allseitiger scharfer Opposition gegen die 
sogenannten metageometrischen Untersuchungen nicht teil- 
nehmen. Aber in dem Streben „to eliminate from science 
the latent metaphysical Clements" stimme ich mit ihm voll- 
ständig überein, und seine Arbeiten bieten mir eine wert- 
volle und willkommene Ergänzung der meinigen. Als wich- 
tigere Punkte der Übereinstimmung möchte ich noch be- 
sonders hervorheben die Abweisung der mechanisch-ato- 
mistischen Theorie, nicht als Hilfsmittel der physikalischen 
Forschung und Darstellung, sondern als allgemeine 
Grundlage der Physik und als Welta.nsicht. Ge- 
meinsam ist ferner die Auffassung physikalischer Begriffe, 
wie Masse, Kraft u. s. w. nicht als besonderer Realitäten, 
sondern als blosser Relationen, Beziehungen gewisser Elemente 
der Erscheinungen zu anderen Elementen. Durch die An- 
nahme der Relativität aller physikalischen Eigenschaften 
und Bestimmungen, darunter der räumlichen und zeitlichen, 
ergiebt sich endlich notwendig auch die Übereinstimmung 



Vorwort zur deutscJien Aufgabe. xni 

in Abweisung aller Aussagen über das Weltall. Meine 
Schriften wenden sich, wie dies durch meine Erziehung, 
meine Anlage und meinen Beruf bedingt ist, an jene Phy- 
siker, welche der logischen Klärung und philosophischen 
Vertiefung ihrer Wissenschaft nicht abgeneigt sind. Dem 
entsprechend suche ich die wissenschaftlichen Mängel und 
Inkonsequenzen zunächst im Einzelnen auf, um von hier 
aus allgemeinere Gesichtspunkte zu gewinnen. Stallo hin- 
gegen schlägt den umgekehrten Weg ein. Von sehr all- 
gemeinen Betrachtungen ausgehend wendet er die gefundenen 
Sätze auf die Physik an. Er spricht vorzugsweise zu den 
naturwissenschaftlich gebildeten Philosophen. Beide Wege 
führen fast immer zu übereinstimmenden Ansichten. Ich 
kann hier nur wiederholen, was ich schon anderwärts ge- 
sagt habe : Es wäre mir, als ich um die Mitte der sechziger 
Jahre meine kritischen Arbeiten begann, sehr ermutigend 
und förderlich gewesen, von den verwandten Bemühungen 
eines Genossen wie Stallo Kenntnis zu haben. 

Das Buch selbst, dem ich nun den besten Erfolg 
wünsche, mag das weitere sagen. Der SxALLp'sche Text 
wurde überall aufrecht erhalten. Derselbe ist überall inter- 
essant und belehrend, auch an den wenigen Stellen, wo 
er durch die Entwicklung der Wissenschaft überholt sein 
möchte. Durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn 
Verlegers konnte dem Buch ein Porträt Stallo's beigegeben 
werden. 

Wien im Juni 1901. 

£. Mach. 



\ 



Vorwort des Verfassers.. 



Der Zweck des vorliegenden Werkes ist nicht der,' 
einen Beitrag zur Physik oder gar zur Metaphysik zu liefern, 
sondern der eines solchen zur Theorie unserer Erkenntnis. 
Seinen Inhalt bildet das Ergebnis einer einigermassen 
sorgfaltigen Untersuchung des wahren Verhältnisses der 
physikalischen Wissenschaften zum allgemeinen Fortschritte 
menschlichen Wissens. Die allgemeine Anschauung der 
zeitgenössischen Physiker geht dahin, dass zu jener Zeit, 
wo sich der menschliche Geist von den antik-mittelalter- 
lichen Überlieferungen über die Erscheinungen der Natur 
und deren Bedeutung ab wandte und statt dessen die Auf- 
einanderfolge und Verknüpfung derselben zu betrachten be- 
gann, wie sich dieselbe durch Beobachtung und Experimente 
ergibt, ein vollständiger Bruch in der Stetigkeit der Ent- 
wicklung menschlichen Wissens eingetreten sei, und von 
da ab die Aufrichtung jenes Baues, der in Ermangelung 
eines besseren Wortes noch immer mit dem Namen „Phi- 
losophie" bezeichnet werden mag, auf ganz andern Grund- 
lagen erfolgt sei, als es jene waren, die ihn vor den Tagen 
Galileis und Bacon's zu stützen hatten. Nach dieser An- 
sicht wäre Bacon's Forderung (in der Einleitung zu seinem 
Novum Organum), dass „die gesamte Geistesarbeit von 
neuem zu beginnen habe" — ut opus mentis Universum 
de integro resumatur — vollständig erfüllt worden und 
Newton's Warnung an die Physiker, „sich vor der Meta* 
physik zu hüten" — to beware of metaphysics — wirklich 
beachtet worden. Ganz allgemein geht der Glaube dahin, 
dass die moderne physikalische Wissenschaft sich nicht nur 
den Nebelregionen metaphysischer Spekulation entrungen 



Vorwort des Verfassers. XV 

und deren Methoden verlassen, sondern auch sich von der 
Kontrolle ihrer Grundvoraussetzungen freigemacht habe. 

Meine Überzeugung ist es nun, dass dieser Glaube 
den Thatsachen nicht völlig entspricht und dass die über- 
handnehmenden falschen Begriffe über die logisch-psycho- 
logischen Voraussetzungen der Wissenschaft eine Quelle von 
Irrtümern bilden, deren Einwirkung auf den Charakter und 
die Richtung moderner Gedankenbildung von Tag zu Tag 
offenkundiger wird. Die seichte Halbweisheit des Materia- 
lismus — ich denke hier natürlich nur an seine rein in- 
tellektuelle und nicht an die ihm zugeschriebene ethische 
Bedeutung — die einige Zeit hindurch sich wie ein Mehl- 
thau selbst auf die alten Hochländer des Denkens am 
europäischen Kontinent legte und deren Atmosphäre zu 
vergiften drohte, erhebt den Anspruch, für ein System blosser 
Thatsachen und ScWüsse aus allgemein giltig erkannten 
Prinzipien der Physik angesehen zu werden. Es bildet 
einen Teil meines Unternehmens, diesem Anspruch* durch 
eine Prüfung der Grundbegriffe und Haupttheorien jenes 
Zweiges der Naturwissenschaft entgegenzutreten, welcher im 
gewissen Sinne Grundlage und Stütze aller übrigen ist, — 
der Physik. Es wird sich zugleich, selbst bei einem ganz 
flüchtigen Blick auf eines der folgenden Kapitel, heraus- 
stellen, dass es in keiner Weise meine Absicht war, in 
offener oder versteckter Weise eine Rückkehr zu metaphy- 
sischen Methoden und Zielen anzustreben ; sondern dass im 
Gegenteil seine ganze Tendenz durchaus darauf gerichtet 
ist, aus der Wissenschaft jene versteckten metaphysischen 
Hemente zu eliminieren, den Geist experimenteller Forschung 
zu stärken und nicht zu unterdrücken, die grossen An- 
strengungen, welche die wissenschaftliche Forschung unter- 
nimmt, um einen sicheren Halt auf festem empirischen 
Boden zu gewinnen, auf welchen die wirklichen Data der 
Erfahrung ohne alle öntologischen Vorurteile zurückgeführt 



XVI Vorwort des Verfassers, 

werden können, zu rechtfertigen und zu beglaubigen, nicht 
aber in Misskredit zu bringen. Eine aufmerksame Prüfung 
dieser Seiten wird es, denke ich, klar machen, dass diese 
Bemühungen stetig durchkreuzt werden durch das Eindringen 
alten metaphysischen Geistes in die Denkweise der Männer 
der Wissenschaft Sobald einmal diese Thatsache festgestellt 
war, lag es an mir, nach Möglichkeit deren Gründen nach- 
zuforschen und soweit dies innerhalb der engen mir gesteckten 
Grenzen möglich war, deren Folgen zu entwickeln« Zur 
VoUführung dieser Aufgabe wiurde es — zumal ich mich 
auch an Leser wende, die mit den Gesetzen der Logik 
nicht vollkommen vertraut sind — notwendig, eine Ex- 
kursion in das Gebiet der Logik zu unternehmen und in 
Kürze die Theorie des Begriflfes auseinanderzusetzen. Diese 
Erörterung ist notgedrungen ziemlich oberflächlich gehalten ; 
doch hofie ich, dass auch jene, welche mit dem Gegen- 
stande vertraut sind, dieselbe nicht ohne Interesse finden 
werden. Die mechanische Atomtheorie, welche man als 
die einzig und allein ausreichende Grundlage der Physik 
ansieht, ist ferner verknüpft worden mit einigen bemerkens- 
werten Spekulationen über die Natur des Raumes oder hat 
vielmehr diese selbst im Gefolge gehabt; und dies zwingt 
zu einer zweiten Exkursion in das Gebiet der Mathematik, 
um die Giltigkeit jener Doktrin zu prüfen, die unter dem 
Namen „Transcendentalgeometrie" mit ihren Hypothesen eines 
nicht homaloiden Raumes und eines Raumes von mehr als 
drei Dimensionen bekannt geworden ist. 

Was hier geboten wird, ist natürlich nicht eine neue 
Theorie des Universums, oder ein neues System der Phi- 
losophie. Ich habe es nicht unternommen, alle oder einen 
Teil der Probleme der Erkenntnistheorie aufzulösen, sondern 
nur zu zeigen, dass einige derselben von neuem aufgestellt 
werden müssen, um sie zu vernünftigen zu gestalten, wenn 
nicht um sie zu vertiefen. Es ist eine alte, wenn auch 



Vorwort des Verfassers, XVII 

im allzu oft aüsserächt gelassene Wahrheit, dass zähl- 
reiche Fragen der Wissenschaft wie der Philosophie unbe- 
antwortet bleiben, nicht aus Unzulänglichkeit unserer Kennt- 
nisse \' sondern weil deren Aiifstellung auf irrtümliche 
Voraussetzungen gegründet würde lind sie nun eine Beant- 
wortung in ebenso vernunftwidrigen Ausdrücken erheischen. 
Die gänzliche Zerfahrenheit, welche bekanntennassen in 
der Erörterung 'sogenannter letzter wissenschaftlicher Fragen 
überhand genonunen hat, zeigt zur Genüge, dass eine Be- 
stimmung der der wissenschaftlichen Forschung gegenüber 
ihrem Gegenstande zukommenden Stellung eines der 
dringendsten geistigen Bedürfnisse unserer Zeit ist, so wie 
sie auch zu allen Zeiten eine unerlässliche Vorbedingung 
wahren geistigen Fortschrittes bedeutet hat. Und solch 
eine, wenn auch nur unvollständige Bestimmung bedeutet 
an und für sich einen entscheidenden Fortschritt auf dem 
Wege unserer berechtigten, auf Erkenntnis gerichteten Be- 
strebungen. „Ein Problem richtig vorlegen," sagt Whewell, 
„ist kein zu verachtender Schritt zu seiner Lösung." Oder 
nm mit Kant zu reden: „Es ist schon ein grosser und 
nötiger Beweis der Klugheit imd Einsicht zu wissen, was 
man vernünftigerweise fragen solle.'* Oder wie sich Bacon 
in seiner kernigen Weise ausdrükt : „Prudens interrogatio 
quasi dimidium scientiae.*' 

Meine Ansichten bezüglich des gegenwärtigen Standes 
der physikalischen Wissenschaft und des Wertes zahlreicher 
ihrer geläufigsten theoretischen Ideen stehen ohne Zweifel 
im Widerspruch mit den Grundsätzen vieler ausgezeichneter 
Männer der Wissenschaft. Dass ich dessenungeachtet ihnen 
unerschrocken Ausdruck gegeben habe, wird, ich will . es 
hoffen, nicht* als. ein Mangel an . Wertschätzung der Ver- 
diensfte jener aufgefasst werden, deren Bemühungen die 
moderne Kultur ihr Dasein verdankt und die in deren Inter- 
esse thätige. wissenschaftliche Forschung ihre praktischen 



XVm Vorwort des Verfassers, 

Erfolge. Und wenn dies auch als ein Zeichen von Dünkel 
aufgefasst werden sollte, will ich es doch heraussagen, däss 
zahlreiche der hier citierten Äusserungen berühmter Männer 
die Möglichkeit eines Zweifels an manchen ihrer wissen** 
schaftlichen Glaubensartikel hindurchschimmern lassen. Ich 
habe im Verlaufe meiner Entwicklungen oft die Gelegenheit 
ergriffen^ auf diese Eingebungen anzuspielen, um so :2ü 
zeigen, dass meine Gedanken nach all dem bloss die un- 
vermeidliche Folge der Bestrebungen der modernen Wüssen- 
schaft gewesen sind und somit vielmehr „partus temporis 
quam ingenii." 

Zum Schlüsse möchte ich die Bemerkung nicht unter- 
lassen, dass diese Abhandlung in keinem Sinne als eine 
weitere Ausführung der Lehren eines Buches („The Philo* 
sophy of Nature", Boston, Crosby & Nichols, 1848) auf- 
gefasst werden möchte, das ich vor mehr als einem drittel 
Jahrhundert veröffentlicht habe, zu einer Zeit, wo ich mich 
noch unter dem Banne der ontologischen Träumereien 
Hegel^s befunden habe, jung an Jahren war und :noch 
ernstlich an der metaphysischen Krankheit gelitten habe, 
welche zu den unvermeidlichen Kinderkrankheiten unseres 
Geistes zu gehören scheint. Die auf jene Schrift verwandte 
Mühe war übrigens nicht völlig verloren, und es stehen 
Dinge in derselben, deren ich mich noch heute nicht -zu 
schämen brauche; doch bedaure ich aufrichtig deren Ver- 
öffentlichung und hoffe dieselbe bis zu einem gewissen Grade 
durch den Inhalt des gegenwärtig vorliegenden Bandes ge- 
sühnt zu haben. 

Es mag noch bemerkt werden, dass Teile des 7. tmd 
II. Kapitels dieses Buches und einige Sätze aus den andern 
in der Zeitschrift „The Populär Science Mon\hly" im Ok- 
tober, November, Dezember 1873 und' Januar 1874 er- 
schienen sind. 

J. B. Stallo. 



Inhalt. 

Seite 

Vorwort zur deutschen Ausgabe III 

Vorwort des Verfassers XIV 

I. Einleitung I 

II. Die Grundprinzipien der mechanischen Weltanschauung . lo 
IIL Der Satz von der Gleichheit der Ureinheiten der Masse 15 

VI. Der Satz von der absoluten Härte und Unelasticität der 
Ureinheiten der Masse 26 

V. Der Satz von der absoluten Trägheit der Ureinheiten der 

Masse 39 

VI. Der Satz von der kinetischen Natur aller potentiellen 
Energie. — Die Entwicklung der Lehre von der Erhal- 
tung der Energie 55 

VII. Die Theorie von der atomistischen Konstitution der 
Materie 75 

VIIL Die kinetische Gastheorie. — Die Bedingungen der Giltig- 

keit wissenschaftlicher Hypothesen 97 

IX. Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. — Die 

Bildung von Begriffen. — Metaphysische Theorieen . . 126 
X, Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie. — 
Darlegung ihres ersten und zweiten metaphysischen Grund- 
fehlers 148 

XI. Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie (Fort- 
setzung). Darlegung ihres dritten metaphysischen Grund- 
fehlers 173 

XII. Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie (Fort- 
setzimg). Darlegung ihres vierten metaphysischen Grund- 
fehlers 186 



• 



XX Inhalt. 

Seite 

XIII. Die Theorie von der absoluten Endlichkeit der Welt und 
des Raumes. — Die Annahme eines absoluten Maximums 
materieller Existenz — ein notwendiges Korrelat der An- 
nahme des Atoms als absoluten Minimums. — Ontologie 
in der Mathematik. — Die Verdinglichung des Raumes. 
— Moderne transcendentale Geometrie. — Nichthomaloider 
(sphärischer und pseudosphärischer) Raum 212 

XIV. Der metageometrische Raum im Lichte der modernen 
Analysis. — Riemann's Abhandlung 259 

XV. Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen. Die 

Nebularhypothese 283 

XVI. Schluss 309 

Register 325 



I. 

Einleitung. 

Die moderne physikalische Wissenschaft strebt nach 
einer mechanischen Erklärung aller Erscheinungen der Natur, 
die sie alle auf Masse und Bewegung zurückzuführen trachtet, 
indem sie alle Verschiedenheiten imd Veränderungen als 
blosse Unterschiede und Änderungen in der Verteilung und 
Ansammlung letzter unveränderlicher Teile im Räume auf- 
zufassen sucht. Natürlicherweise hat sich das Übergewicht 
der Mechanik zuerst auf jenen Gebieten der Wissenschaft 
geltend gemacht, die von der sichtbaren Bewegung sinnen- 
fälliger Massen handeln — der Astronomie und der Physik 
der Massen-, aber die Anerkennung desselben ist nun in 
sämtlichen Naturwissenschaften allgemein geworden; nicht 
nur in der Molekularphysik und Chemie, sondern auch auf 
solchen Gebieten der wissenschaftlichen Forschung, die sich 
mit den Erscheinungen des organischen Lebens befassen. 

Man sagt, dass die theoretischen Fortschritte der Natur- 
wissenschaften während der drei letzten Jahrhunderte nicht 
minder wie die praktischen ein Werk der Mechanik ge- 
wesen seien, welche nicht nur die zu erfolgreichen wissen- 
schaftlichen Forschungen notwendigen Instrumente geschaffen, 
sondern ausserdem noch ihre Prinzipien und Methoden bei- 
gesteuert habe. Es ist in der That unzweifelhaft, dass der 
Versuch einer beständigen Anwendung mechanischer Prin- 
zipien eine neue Epoche in der Geschichte der Wissenschaft 
bezeichnet. Die Begründer der modernen Physik sind von 
der stillschweigenden, wenn nicht ausdrücklichen Voraus- 

StaLLO, Begriffe u. Theorieen. I 



2 /. Kapitel. 

Setzung ausgegangen, dass jede wirkliche Erklärung einer 
Naturerscheinung eine mechanische sein müsse. Dass dies 
nicht sofort ausdrücklich hervorgehoben worden ist, findet 
seine Erklärung einerseits in der Thatsache, dass sich die 
Prinzipien zuerst in Gedanken und in ihrer Wirkungsweise 
äussern, ehe sie in bestimmter Form ausgedrückt werden 
können, und andererseits in dem Umstände, dass die Wissen- 
schaft so lange Zeit gezwungen war, unter dem Schatten 
der Metaphysik und Theologie zu blühen. Doch es war nicht 
lange nach den Tagen Stevin's, Fermat's und Galilei's, als 
die Lehre, dass jeder physikalische Vorgang mechanischer 
Natur sei, ausdrücklich formuliert wurde. Noch zu Lebzeiten 
Galilei's — ein Jahr vor seinem Tode — verkündete 
Descartes, dass alle Veränderungen der Materie, wie alle 
Verschiedenheit ihrer Formen von Bewegung abhängig seien. ^) 
Und neun Jahre vor dem Erscheinen von Newton's Prinzipien 
erklärte Thomas Hobbes, dass „eine Veränderung (nämlich 
eine physikalische) notwendigerweise nichts anderes sein 
könne, als eine Bewegung der Teile des veränderten 
Körpers", ^) gleichzeitig noch hinzufügend, dass „es keine 
andere Ursache von Bewegung in einem Körper geben 
könne als einen zweiten benachbarten und bewegten 
Körper". ^) Noch zuversichtlicher sprach sich Lefbniz 
aus, der den in Frage stehenden Satz nicht nur als eine 
experimentelle, sondern als eine selbstverständliche Wahrheit 
hinstellte. „Alles in der Natur," sagte er, „geht in mecha- 
nischer Weise vor sich — ein Prinzip, dessen man sich 
diwch die Vernunft allein und niemals durch Experimente, 



^) „Omnis materiae variatio sive omnium ejus formarum diver- 
sitas pendet a motu.!' Cartes., Princ. Phil. II, 23. 

^) „Necesse est ut mutatio aliud non sit praeter partium cor- 
poris mutati motum." Hobbes, Philosophia prima, pars secunda, IX, 9. 

') ,, Causa motus nulla esse potest in corpore nisi contiguo 
et moto." 



Einleitung. 3 

so gross auch deren Zahl sein möge, vergewissern kann".'*) 
Er bestand auch darauf, dass alle Bewegung durch Stoss 
verursacht sei. „Ein Körper bewegt sich von Natur niemals 
ausser durch einen andern Körper, welcher ihn berührt und 
drückt."^) In ähnlicher Weise drückt sich Huygens, 
Leibniz' und Newton's grosser Zeitgenosse, dahin aus, „dass 
in der wahren Philosophie die Ursachen aller Wirkungen 
in mechanischer Weise begriffen werden, und seiner Ansicht 
nach auch begriffen werden müssten, wofern wir nicht jede 
Hoffnung auf Verständnis der Physik aufgeben wollten". ^) 
Und in dem ersten umfassenden Handbuch der Physik, das 
publiziert worden ist, dem von Musschenbroek, ist es als 
«in Axiom hingestellt, „dass keine Veränderung in den 
Körpern vor sich gehen kann, deren Ursache nicht Be- 
wegung wäre". '') 

Seinen bestimmtesten Ausdruck hat indessen der Satz, 
dass der wahre Endzweck und der Gegenstand jeder physi- 



*) „Tout se fait mecaniquement dans la nature, principe qu'on 
pent rendre certain' par la seule raison et jamais par les experiences, 
<juelque nombre qu'on en fasse." Leibniz, Nouveaux Essais, Opp. 
«d. Erdmann, p. 383. 

^) „Un Corps n'est jamais mü naturellement que par un autre 
-Corps qui le presse en le touchant." Fünfter Brief an Clarke, Erd- 
mann, S. 767. Daher auch Wolff, der dogmatisierende Ausleger 
der Leibnizschen Philosophie, erklärt: ,, Corpus non agit in alterum, 
nisi dum in ipsum impingit." WOLFF, Cosmologia gen., 129. 

^) „. . . in Vera philosophia, in qua omnium effectuum causae 
concipiuntur per rationes mechanicas : id quod meo judicio fieri debet 
fiisi velimus . omnem spem abjicere aliquid in physicis intelligendi." 
Hugenii Opp. reliqua, Amst., 1728, vol. I (Tract. de lumine), p. 2. 

') „Nulla autem corporibus inducitur mutatio, cujus causa non 
fuerit motus, sive excitatus, sive minutus, aut suffocatus ; omne enim 
incrementum vel decrementum, g.eneratio, corruptio, vel qualiscunque 
aheratio, quae in corporibus contingit, a motu pendet." P. v. MusscHEN- 
BROEK, Introd. ad philos. naturalem, vol. I., cap. i, § 18 (ed. 
Patov., 1768). 



1* 



4 /. Kapitel, 

kaiischen Wissenschaft eine Zurückführung der Naturer- 
scheinungen auf ein zusammenhängendes mechanisches- 
System sei, in den wissenschaftlichen Schriften der zweiten- 
Hälfte des 19. Jahrhunderts gefunden, seit der Zeit der 
Entdeckungen, die in der organischen Chemie mit Hilfe der 
Atomtheorie gemacht worden sind, seit der Entdeckung der 
Spektralanalyse, seit der Aufstellung der Lehre von der Er- 
haltung der Energie und der Ausbreitung der mechanischen- 
Wärmetheorie mit ihrer Ergänzung, der kinetischen Gas- 
theorie. So sagte Kirchhoff, einer der Begründer der 
Theorie der Spektralanalyse, in seiner Prorektoratsrede^ 
Heidelberg 1865: „Das höchste Ziel, welches die Natur- 
wissenschaften zu erstreben haben, aber niemals erreichen 
werden, ist die Ermittelung der Kräfte, welche in der 
Natur vorhanden sind und des Zustandes, in dem die Materie^ 
in einem Augenblick sich befindet, mit einem Worte, die 
Zurückfiihrang aller Naturerscheinungen auf die Mechanik/^ 
Zu demselben Schlüsse kam auch Helmholtz in seiner 
Antrittsrede vor der Naturforscherversammlung in Innsbruck 
im Jahre 1869: „Das Endziel der Naturwissenschaften ist^ 
die allen Veränderungen zu Grunde liegenden Bewegungen, 
und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik auf- 
zulösen/* ®) Nicht weniger deutlich lauten die Worte 
Clerk Maxwell's: „Wenn eine Naturerscheinung als eine 
Veränderung in der Configuration und in dem Bewegungs- 
zustande eines materiellen Systems beschrieben werden 
kann, muss man ihre Erklärung als vollendet ansehen; denn 
wir können keine weitere Erklärung als notwendig, wünschens- 
wert oder möglich finden, da, sobald wir auf den Sinn der 
Worte Konfiguration, Masse und Kraft achten, wir alsbald 
sehen, dass die durch dieselben bezeichneten Begriffe so 
elementarer Natur sind, dass sie nicht durch Hilfe anderer 
erklärt werden können." ®) 

®) Pop. Wiss. Vorträge, I., S. 93. 



Einleitung. 5 

Solche Citate, wie diese, aus den Schriften unserer 
hervorragendsten Physiker, könnten leicht ins Unbegrenzte 
vermehrt werden. Und wenn wir uns von den Physikern 
zn den Physiologen wenden, stossen wir auf Erklärungen 
von derselben Deutlichkeit. „So oft nun," heisst es bei 
Z^UDWiG 1852, „eine Zergliederung der leistungserzeugenden 
Einrichtungen des tierischen Körpers geschah, so oft stiess 
man schliesslich auf eine begrenzte Zahl chemischer Atome, 
^ie Gegenwart des Licht-(Wärme-)Äthers und diejenige der elek- 
irischen Flüssigkeiten. Dieser Erfahrung entsprechend zieht 
inan den Schluss, dass alle vom tierischen Körper ausgehenden 
Erscheinungen eine Folge der einfachen Anziehungen und 
Abstossungen sein möchten, welche an jenen elementaren 
Wesen bei einem Zusammentreffen derselben beobachtet 
werden."^®) In einem ähnlichen Sinne äusserte sich Wundt 
-25 Jahre später: „Die jetzt zur Herrschaft gelangte Auf- 
fassung dagegen, die man als physikalische oder mecha- 
jiische zu bezeichnen pflegt, ist aus der in den verwandten 
Zweigen der Naturwissenschaft schon länger zur Geltung 
gekommenen kausalen Naturansicht entsprungen, welche die 
I^atur als einen einzigen Zusammenhang von Ursachen und 
Wirkungen ansieht, wobei als letzte Gesetze, nach denen 
die natürlichen Ursachen wirken, sich stets die Grundgesetze 
^er Mechanik ergeben. Die Physiologie erscheint daher 



®) „When a physical phenomenon can be completely described 
as a change in the configuration and motion of a material System, 
the dynamical explanation of that phenomenon is said to be com- 
plete. We can not conceive any further explanation to be either 
■necessary, desirable, or possible, for as soon as we know what is 
jneant by ^the words configuration , mass and force, we see that the 
ideas which they represent are so elementary that they can not be 
^xplained by means of anything eise." „On the Dynamical Evidence 
^f the Molecular Constitution of Bodies." Nature, 4. u. II. März 1875. 

^^) Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, Bd. i, 
£inl., S. 2. 



6 /. Kapitel 

* 

als ein Zweig der angewandten Naturlehre. Ihre Aufgabe 
erkennt sie darin, die Lebenserscheinungen auf die allge- 
meinen Naturgesetze, also schliesslich auf die Grundgesetze 
der Mechanik zurückzuführen." ^^) Und noch handgreif- 
licher äusserte sich Haeckel : „Die allgemeine Entwicklungs- 
lehre . . . nimmt an, dass in der ganzen Natur ein grosser^ 
einheitlicher, ununterbrochener und ewiger Entwicklungs- 
vorgang stattfindet, und dass alle Naturerscheinungen ohne 
Ausnahme, von der Bewegung der Himmelskörper und dem 
Fall des rollenden Steines bis zum Wachsen der Pflanze und 
zum Bewusstsein des Menschen, nach einem und demselben 
grossen Kausalgesetze erfolgen, dass alle schliesslich auf 
Mechanik der Atome zurückzuführen sind." ^^) Diese Theorie 
erklärt Haeckel für die einzig mögliche: „Der Monismus, 
die universale Entwicklungstheorie, oder die monistische 
Progenesistheorie ist die einzige wissenschaftliche Theorie, 
welche das Weltganze vernunftgemäss erklärt, und das Kau- 
salitätsbedürfnis unserer menschlichen Vernunft befriedigt, 
indem sie alle Naturerscheinungen als Teile eines einheit- 
lichen grossen Entwicklungsprozesses in mechanischea 
Kausalzusammenhang bringt." ^^) Im gleichen Sinne spricht 
HUXLEY von „jener rein mechanischen Anschauung, welche 
die moderne Physiologie anstrebt". ^^) 

Eine äusserst klare und vollständige Auseinandersetzung 
der Ziele moderner physikalischer Wissenschaft ist in folgender 
Stelle aus einem der letzten Vorträge von Emil du Bois- 
Reymond enthalten, — eines Mannes, gleich berühmt als 
Physiker wie als Physiologe: „Naturerkennen — genauer 
gesagt, naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der 
Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Natur- 



^^) WUNDT, Lehrbuch der Physiologie des Menschen, 4. Aufl., S.2, 
^*) Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, S. 9 u. lo. 
^») c. 1., S. II. 
^*) Lay Sermons, Addresses and Reviews (Appleton's ed.) p.'SSl^ 



Einleitung, 7 

Wissenschaft — ist Zurückführen der Veränderungen in der 
Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren 
von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden, oder 
Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome. Es 
ist physiologische Erfahrungsthatsache, dass dort, wo solche 
Auflösung gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich 
befriedigt fühlt. Die Sätze der Mechanik sind mathematisch 
darstellbar, und tragen in sich dieselbe apodiktische Ge- 
wissheit wie die Sätze der Mathematik. Indem die Ver- 
änderungen in der Körperwelt auf eine konstante Summe 
potentieller und kinetischer Energie, welche einer konstanten 
Menge von Materie anhaftet, zurückgeführt werden, bleibt 
in diesen Veränderungen selber nichts zu erklären übrig." 
„Kant's Behauptung in der Vorrede zu den ,Meta- 
physischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft', dass in 
jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissen- 
schaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik an- 
zutreffen sei', ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen, 
dass für Mathematik Mechanik der Atome gesetzt wird. 
Sichtlich dies meinte er selber, als er der Chemie den 
Namen einer Wissenschaft absprach, und sie unter die 
Experimentallehren verwies. Es ist nicht wenig merkwürdig, 
dass in unsere Zeit die Chemie, indem sie durch die Ent- 
deckung der Substitution gezwungen wurde, den elektro- 
chemischen Dualismus aufzugeben, sich von dem Ziel, eine 
Wissenschaft in diesem Sinne zu werden, scheinbar wieder 
weiter entfernt hat. Denken wir uns alle Verände- 
rungen in der Körperwelt in Bewegungen von 
Atomen aufgelöst, die durch deren konstante 
Zentralkräfte bewirkt werden, so wäre dasWelt- 
all naturwissenschaftlich erkannt."^^) 



1*) Emil Du Bois-Reymond „Über die Grenzen des Naturer- 
kennens", S. 2 ß. 



8 /. KapüeL 

Mit wenigen Ausnahmen sehen die heutigen Männer 
der Wissenschaft die Annahme, dass jeder physikalische 
Vorgang mechanischer Natur sei, für ein Axiom an, das 
sich entweder von selbst versteht oder doch wenigstens als 
eine Induktion aus aller vergangenen Erfahrung betrachtet 
werden kann. Und sie halten die mechanische Erklärung 
einer Naturerscheinung nicht nur für eme unbezweifelbare, 
sondern auch ftir eine endgiltige und einzig mögliche. Sie 
sehen deren Giltigkeit ftir eine unbedingte, weder durch 
den gegenwärtigen Stand der menschlichen Intelligenz, noch 
durch die Natur und Ausdehnung der Erscheinungen, die 
sich als Gegenstände wissenschaftlicher Forschung darstellen, 
beschränkte an. Denkende Männer wie du Bois-Reymond 
haben zuweilen daran gedacht, dass sie nicht unbeschränkt 
ist; aber die einzigen Grenzen, welche sie ihr zuschrieben, 
waren die des menschlichen Erkenntnisvermögens überhaupt. 
Obwohl sie einräumen, dass es so eine Gruppe von Er- 
scheinungen gibt — nämlich die des organischen Lebens 
— welche, was ihre charakteristischen Seiten betrifft, unter 
alleiniger Verwendung mechanischer Prinzipien völlig unver- 
ständlich bleiben, so halten sie doch eben diese Prinzipien für 
den allein brauchbaren Führer auch auf diesem Gebiete und 
zählen die der Erklärung widerstehenden Erscheinungen zu 
jener endlosen Reihe von Thatsachen, an denen alle Hilfsmittel 
wissenschaftlicher Erkenntnis fruchtlos sich abmühen. Es 
ist behauptet worden, dass, wenn es theoretisch unmöglich 
ist, einen lebenden Organismus aus Molekeln und Atomen, 
sowie aus mechanischen Kräften unter Beachtung des 
Energieprinzipes, der Gesetze der elektrischen und magne- 
tischen Anziehung, der 2 Hauptsätze der Thermodynamik 
u. s. w. herzustellen, der Versuch zur Aufstellung einer 
Theorie des Lebens in Übereinstimmung mit den Gesetzen 
der unorganischen Natur vollständig aufgegeben werden 
müsse. Eine solche Behauptung hätte meiner Ansicht nach 



Einleitung. 9 

nicht früher aufgestellt werden sollen, bevor nicht die Gründe, 
auf denen sie ruht, einer sorgsamen Prüfung unterzogen 
worden wären. Es ist daher meine Absicht, auf den nach- 
folgenden Seiten zu untersuchen, ob die Giltigkeit der 
mechanischen Theorie des Weltalls in ihrer gegenwärtigen 
Form und mit ihren gewöhnlichen Annahmen in der That 
eine unbedingte innerhalb der Grenzen des menschlichen 
Erkenntnisvermögens ist oder nicht und zu diesem Zwecke 
womöglich die Natur dieser Theorie sowie ihre logisch- 
psychologische Wurzel darzulegen. Offenbar ist die erste 
Frage, die sich uns bei der Untersuchung der Giltigkeit der 
Theorie entgegenstellt, die, ob dieselbe frei ist von Wider- 
sprüchen mit sich selbst und den Thatsachen, die sie zu 
erklären vorgibt, oder nicht. Unsere erste Aufgabe wird 
es sein, auf diese Frage eine Antwort zu finden. 



Die Grundprinzipien der mechanischen Welt- 
anschauung. 

Die mechanische Weltanschauung unternimmt es, alle 
physikalischen Erscheinungen dadurch zu erklären, dass sie 
dieselben als Änderungen in der Struktur und Konfiguration 
materieller Systeme beschreibt. Sie ist bestrebt, alle Ver- 
schiedenheit in der materiellen Körperwelt durch Unter- 
schiede in der Gruppierung von Ureinheiten der Masse, 
alle Veränderungen der Erscheinungswelt durch Bewegung 
unveränderlicher Elemente begreiflich zu machen und auf 
diese Weise die augenscheinUchste qualitative Verschieden- 
heit als eine bloss quantitative hinzustellen. Im Lichte dieser 
Theorie erscheinen Masse') und Bewegung als die 
letzten von einander durchaus verschiedenen Elemente 
wissenschaftlicher Analyse. In diesem Sinne besteht Masse 
unabhängig von Bewegung und ist gegen diese indifferent. 
Sie bleibt die gleiche, mag sie sich bewegen oder ruhen. 
Bewegung kann von einer Masse auf eine andere übertragen 
werden, ohne die Identität einer derselben zu zerstören. 

Die erste Forderung aller Wissenschaft ist die, dass es 
etwas Unveränderliches gebe inmitten all des Wechsels der 
Erscheinungswelt. Wissenschaft ist lediglich möglich auf 
Grund der Voraussetzung, dass alle Veränderung ihrer Natur 



*) Es ist kaum nötig zu bemerken, dass ich absichtlich Masse 
und nicht, wie es gewöhnlich geschieht, Materie als Korrelat der 
Bewegung wähle. Wenn ein Körper in Gedanken all' jener Eigen- 
schaften entblösst wird, die zufolge der Lehren der modernen Wissen- 
schaft Bewegungszustände sind, bleibt als Rest nicht Materie, sondern 
Masse übrig. 



Die Grundprinzipien der mechan, Weltanschauung, n 

nach nur eine Transformation sei. Ohne diese Voraus- 
setzung könnte sie sich nie ihrer beiden grossen Aufgaben 
entledigen, aus dem gegenwärtigen Stande der Dinge einer- 
seits die Zukunft, andererseits die Vergangenheit zu er- 
schliessen, indem sie erstere als notwendige Folge, letztere 
als notwendig vorausgehend darstellt. Es ist klar, dass die 
Berechnungen der Wissenschaft durch das plötzliche Ver- 
schwinden eines oder mehrerer Elemente oder dureh das 
unvermutete Auftauchen neuer durchaus vereitelt würden. 
Wenn somit die wissenschaftliche Analyse Masse und Be- 
wegung für ihre letzten nicht weiter zurtickführbaren Grund- 
begriffe hält, die bei allen möglichen Umformungen bestehen 
bleiben, so folgt daraus, dass beide quantitativ unveränder- 
lich sind. Demgemäss fordert die mechanische Naturan- 
schauung die Erhaltung sowohl der Masse wie der Bewegung. 
Masse kann umgeformt werden durch eine Anhäufung oder 
Scheidung ihrer Teile *, aber bei allen diesen Umformungen 
bleibt sie ein und dieselbe. In ähnlicher Weise kann auch 
Bewegung unter eine grössere oder kleinere Zahl von Massen- 
einheiten verteilt werden; sie kann übertragen werden von 
einer Masseneinheit auf eine beliebige andere Zahl von 
Masseneinheiten, wenn nur ihre Geschwindigkeit im Ver- 
hältnis zur Zahl dieser Einheiten vermindert wird; die 
Summe der Bewegungen mehrerer Einheiten bleibt dessen- 
ungeachtet stets gleich der Bewegung einer Einheit. Sie 
kann sich ändern ihrer Richtung und Form nach; eine 
gradlinige Bewegung kann krummlinig werden, eine fort- 
schreitende sich in eine schwingende umsetzen, eine Massen- 
in eine Molekurlarbewegung *, doch, während all' dieser 
Wandlungen vermehrt sie sich weder, noch vermindert sie 
sich oder geht verloren. Die Erhaltung der Masse (oder 
wie man sich gewöhnlich, aber ungenau ausdrückt, die Er- 
haltung oder Unzerstörbarkeit der Materie) ist lange ein 
ständiges Axiom der physikalischen Wissenschaft gewesen. 



12 //. Kapitel. 

Das Gesetz der Erhaltung der Bewegung (d. i. der Energie, 
was, wie später gezeigt werden wird, zufolge der mecha- 
nistischen Anschauung dasselbe ist) wird, wiewohl es erst 
kürzlich als ausdrückliches Prinzip der Wissenschaft formu- 
liert worden ist, nun allgemein als von gleicher Evidenz 
und der gleichen axiomatischen Bedeutung wie sein älterer 
Partner angesehen. Und in der That lässt sich sagen, dass, 
während die Chemie auf das Prinzip der Erhaltung' der 
Materie^) gegründet worden ist, der neuere Fortschritt der 
theoretischen Physik hauptsächlich darin bestanden habe» 
dieselbe auf die Grundlage des Energieprinzipes aufzubauen. 
Die Physik umfasst ausser den allgemeinen Gesetzen der 
Dynamik und deren Anwendungen auf feste, flüssige und 
gasförmige Körper die Theorie jener Agentien, welche 
früher als Imponderabilien bezeichnet zu werden pflegten, 
des Lichtes, der Wärme, der Elektrizität und des Magne- 
tismus u. s. w. ; und all' diese wurden nun als Arten von 
Bewegung aufgefasst, als verschiedene Äusserungen der 
nämlichen Grundeigenschaft der Energie, die nur Ge- 
setzen unterworfen sind, welche in blossen Folgerungen aus 
deren Erhaltungsgesetze bestehen. Die einzige augenschein- 
liehe Ausnahme bildet der zweite Hauptsatz der Thermo- 
dynamik, von dem indessen auch eine Zurückführung auf 
das Prinzip der kleinsten Wirkung oder vielmehr auf die 
von Hamilton gegebene Ausdehnung desselben, das Prinzip 
der variierenden Wirkung, von Boltzmann und Clausius 
versucht worden ist, während andere (unter ihnen Rankine, 
S^iLY und Eddy) den Satz aus dem Prinzip der Erhaltung 
der Energie abzuleiten versucht hatten. 



*) Nach und nach bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass die 
Erhaltung der Energie ein ebenso wichtiges Prinzip der Chemie ist, 
wie das der Erhaltung der Masse ; doch nimmt bisher die chemische 
Zeichensprache nur auf die Massenverhältnisse und nicht auch auf 
die umgesetzten Energiemengen Rücksicht. 



Die Orundprmxipien der niechan. Weltanschauung, 13 

Es ist auf diese Weise ersichtlich, dass die Theorie, 
derzufolge die Ursache aller Erscheinungen und aller Ver- 
schiedenheiten Bewegung, und jeder scheinbare qualitative 
Unterschied in Wirklichkeit bloss ein quantitativer ist, drei 
Annahmen einschliesst , die in folgender Form aufgestellt 
werden können: 

I. Die Urelemente aller Naturerscheinungen — die 
letzten Ergebnisse wissenschaftlicher Analyse — sind Masse 
und Bewegung. 

n. Masse und Bewegung sind disparat. Die Masse 
besteht für sich ohne Rücksicht auf die Bewegung, die ihr 
mitgeteilt, oder ganz genommen werden kann durch eine 
Übertragung derselben von einer Masse auf eine andere. 
Die Masse bleibt dieselbe, mag sie sich in Ruhe oder Be- 
wegung befinden. 

III. Sowohl Masse wie Bewegung sind unveränderlich. 

Unter den Folgerungen, die aus der ersten und zweiten 
dieser Annahmen gezogen werden können, gibt es zwei, 
die ebenso klar wie wichtig sind, nämlich die der Trägheit 
und Gleichförmigkeit der Masse. Da Masse und Bewegung 
von einander durchaus verschieden sind, ist es klar, dass 
Masse nicht Bewegung noch Ursache von Bewegung werden 
kann — d. h. sie ist träge. Und die Masse an sich kann 
nicht ungleichförmig sein, denn Ungleichförmigkeit bedeutet 
einen Unterschied, und jeder Unterschied ist durch Be- 
wegung bedingt. 

Die hier ausgesprochenen Annahmen liegen der ganzen 
mechanistischen Naturanschauung zu Grunde. Sie finden 
allgemeine Zustimmimg imter den Physikera der Gegenwart 
und können als Grundsätze der ganzen modernen Wissen- 
schaft gelten. 

Zu diesen Annahmen tritt indessen nach der allgemein 
herrschenden Anschauungsweise der Physiker und Chemiker 
noch die der molekularen oder atomistischen Zusammen« 



14 //. Kapitel. 

Setzung der Körper hinzu, derzufolge die Masse nicht kon- 
tinuierlichy sondern diskret zusammengesetzt ist aus unver- 
änderlichen und in diesem Sinne wenigstens einfachen Ein- 
heiten. Diese Annahme führt zu vier anderen Sätzen, welche 
in Verbindung mit den Prinzipien der Erhaltung von Masse 
und Bewegung die Grundlagen der mechanischen Atom- 
theorie ausmachen. Sie lauten: 

1. Die Ureinheiten der Masse sind einfach 
und in jeder Beziehung unter einander gleich. 
Das ist offenbar nichts weiter als die Behauptung der 
Homogeneität der Materie gemäss der Hypothese ihrer 
molekularen oder atomistischen Zusammensetzung. 

2. Die Ureinheiten der Masse sind absolut 
hart und unelastisch — eine notwendige Konsequenz 
ihrer Einfachheit, welche jede Bewegung von Teilen und 
somit jede Veränderung der Gestalt ausschliesst. 

3. Die Ureinheiten der Masse sind absolut 
träge und somit rein passiv; infolgedessen kann 
zwischen ihnen keine andere Art von Einwirkung möglich 
sein, als ihre gegenseitige Verschiebung, verursacht durch 
einen Anstoss von aussen. 

4. Die ganze sogenannte potentielle Energie 
ist in Wirklichkeit eine kinetische. Da Masse 
und Bewegung von einander völlig verschieden und gegen- 
seitig in einander nicht verwandelbar sind, und die Masse 
in was immer für Lage absolut träge ist, kann Bewegung 
nicht anders entstehen und durch nichts anderes verursacht 
sein, als wieder durch Bewegung. Eine Energie der Lage 
ist somit unmöglich. 

Es ist nun notwendig, diese Sätze gesondert der Reihe 
nach zu betrachten imd sich zu vergewissern, ob imd bis 
zu welchem Grade sie mit den Thatsachen der wissen- 
schaftlichen Erfahrung übereinstimmen und zu deren Er- 
klärung dienen. 



111. 

Der Satz von der Gleichheit der Ureinheiten der 

Masse. 

Wenn alle Verschiedenheit in der Natur durch Be- 
wegung verursacht wird, muss die Masse als Substrat dieser 
Bewegung völlig homogen sein. Dies ist so klar, dass gleich 
bei der ersten bestimmten Ankündigung der mechanischen 
Theorie diese zwei Sätze — das Prinzip und seine Folge 
■ — Hand in Hand neben einander gingen. Daher ist die 
obcitierte Äusserung Descartes' ^) von der Erklärung be- 
gleitet, dass die in der Welt vorhandene Materie überall 
eme und dieselbe sei. ^) Es ist allerdings richtig, dass Des- 
CARTES nicht die absolute Gleichheit der einzelnen mate- 
riellen Urbestandteile behauptet hat, weil er nur zwei 
Grundeigenschaften der Materie anerkannt hat, Ausdehnung 
imd Beweglichkeit, und infolgedessen die atomistische Kon- 
stitution der Materie geleugnet hat. Als aber diese mit 
der Zeit eine der Hauptlehren der modernen Physik wurde, 
nahm die Forderung der grundsätzlichen Homogeneität der 
Masse notwendigerweise die Form der Behauptung einer 
absoluten Gleichheit ihrer Urelemente an. Aus Gründen, 
die gleich ihre Erörterung finden werden, zeigen die Phy- 
siker und insbesondere die Chemiker unserer Zeit die 
Neigung, diese wesentliche Eigentümlichkeit der mechanischen 
Theorie zu ignorieren; doch unter denen, welche es be- 



^) Siehe oben S. 2. 

^) „Materia itaque in tcrto universo una et eadem existit.*' 
Cart., Princ. Phil. II, 23. 



i6 ///. Kapitel, 

greifen, dass schliesslich alle wissenschaftlichen Theorieen 
zum mindesten unter einander in Übereinstimmung sein 
müssen, hat es ihr an direkter oder impliciter Anerkennung 
nicht gefehlt. „Die abweichenden Eigenschaften der Materie," 
erklärt Professor Wundt, „verlegt die Chemie noch jetzt 
in eine ursprüngliche qualitative Verschiedenheit der Atome. 
Nun geht offenbar die ganze Entwicklung der physikalischen 
Atomistik darauf aus, alle qualitativen Eigenschaften der 
Materie aus den Bewegungsformen der Atome abzuleiten. 
Die Atome selbst bleiben so notwendig als voll- 
kommen qualitätslose Elemente zurück."*) Von 
gleicher Bedeutung sind die Worte Herbert Spencer's : „Die 
Eigenschaften der verschiedenen Elemente ergeben sich aus 
Unterschieden der Anordnung letzter, homogener Urein- 
heiten.'* *) Selbst in den Schriften ausgezeichneter Chemiker 
herrscht kein Mangel an Äusserungen , aus denen deutlich 
hervorgeht, wie sehr die logische Notwendigkeit die modernen 
Physiker dazu drängt, auf der grundsätzlichen Gleichheit der 
materiellen Elemente zu bestehen. „Es ist denkbar,** sagt 
Thomas Graham, „dass die verschiedenen Arten der Materie, 
die jetzt unter dem Namen verschiedener Elemente bekannt 
sind, eine und dieselbe letzte, atomistische Molekel besitzen, 
die in verschiedenen Bewegungszuständen auftritt. Die dem 
Wesen nach gleichförmige Beschaffenheit der Materie ist 
eine Hypothese, die in schöner Übereinstimmung mit der 
gleichen Wirkung der Schwerkraft auf alle Körper steht. 
Wir kennen die Behutsamkeit, mit der dieser Punkt von 
Newton erforscht worden ist und die Sorgfalt, die er 
darauf verwendete, sich zu überzeugen, .dass jede Art von 



*) „Die Theorie der Materie,*' Deutsche Rundschau, Dezember, 
1875, S. 381. 

*) „The properties of the different elements result from difife- 
rences of arrangement, arising by the compounding and recompounding 
of ultimate homogeneous units." Contemporary Review, June, 1872. 



Der Sat% von der Qleichkeii der Ureinheiten der Masse. 17 

Substanz, Metalle, Steine, Hölzer, Getreidekömer , Salz, 
thierische Stoffe u. s. w. beim Falle dieselbe Beschleunigung 
erleiden und daher gleich schwer sind.'' 

„Im Gaszustande ist die Materie zahlreicher und mannig- 
facher Eigenschaften beraubt, die ihr in flüssiger oder fester 
Form zukommen. Dem Gase verbleiben nur einige wenige 
und einfache Eigenschaften, die abhängen mögen von der 
Bewegung seiner Atome oder Molekeln. Denken wir uns 
nun, dass bloss eine Art von Substanz existiert — die 
ponderable Materie; und femer, dass die Materie in letzte 
Atome zerlegbar ist, die der Gestalt und dem Gewichte 
nach gleich sind. Wir werden dann eine Substanz und 
ein gemeinsames Atom haben. Würde dieses Atom sich 
im Ruhezustande befinden, so wäre die Gleichförmigkeit der 
Materie eine vollkommene. Das Atom besitzt jedoch immer 
mehr oder weniger Bewegung, die es, wie man annehmen 
muss, einem ursprünglichen Anstoss verdankt. Durch diese 
Bewegung entsteht sein Volumen. Je rascher die Bewegung, 
desto grösser ist der vom Atom eingenommene Raum, 
etwa so wie die Bahn eines Planeten mit der Grösse der 
Wurfgeschwindigkeit wächst. Die Materie unterscheidet sich 
also lediglich durch ihre Dichte. Da die Eigenbewegung 
eines Atoms unveränderlich ist, kann die leichte Materie 
nicht mehr in schwere verwandelt werden. Kurz, Materie 
verschiedener Dichte bildet verschiedene Substanzen, d, h. 
verschiedene nicht mehr in einander verwandelbare Elemente." 

„Diese mehr oder weniger sich bewegenden, leichtere 
oder schwerere Formen der Materie haben indessen noch 
eine besondere Beziehung zur Yolumsgleichheit. Gleiche 
Volumen können sich mit einander verbinden, können ihre 
Bewegungen vereinen und eine neue Atomgruppe bilden, 
welche das Ganze, die Hälfte oder irgend eine andere Ver- 
hältniszahl der ursprünglichen Bewegung und somit auch 
des Volums besitzt. Dies nennt man eine chemische Ver- 

STALLO, Begriffe u. Theorieen. 2 



i8 ///. Kajntel. 

bindung. Sie ist direkt verknüpft mit dem Volumen, in- 
direkt mit dem Gewichte. Die sich vereinigenden Gewichts- 
mengen sind verschieden, weil . die atomistischen wie die 
molekularen Dichten verschieden sind." *) 

Ganz analoge Ansichten wurden auch von C. R. A. 
Wriüht geäussert, welcher die Behauptung aufstellt, dass 
es nur eine Art von Urmaterie gebe und alle sogenannten 
Elemente und Verbindungen nur allotropische Modifikationen 
derselben vorstellen, die sich von einander nur durch den 
verschiedenen auf eine Masseneinheit entfallenden Betrag 
latenter Energie unterscheiden. ®) Und wiewohl Prout^s 
Vermutung, dass die verschiedenen chemischen Elemente 
in Wirklichkeit nur Verbindungen oder allotropische Modi- 
fikationen des Wasserstoffs seien, längst verlassen worden ist 
(selbst von Dumas und einigen anderen, welche zu verschie- 
denen Zeiten auf sie zurückzugreifen versucht haben), da sich 
die Annahme, dass die Atomgewichte aller Elemente genaue 
Multipla jenes von Wasserstoff seien, als unhaltbar erwiesen 
hatte, ist in letzter Zeit doch wieder die Aufmerksamkeit 
auf die Thatsache gelenkt worden, dass sich spektroskopische 
Anzeichen für das Vorherrschen einiger weniger gasförmiger 
Elemente, wie des Wasserstoffs und des Stickstoffs, auf ge- 
wissen Nebelflecken ergeben haben, die das früheste Stadium 
planetarischer oder stellarischer Entwicklung darzubieten 
scheinen, sowie solche von einer fortschreitenden Zunahme 
metallischer imd anderer Substanzen bei entwickelteren 
Formen — mit anderen Worten, von einer fortschreitenden 
Differenzierung der Materie, einem allmählichen Fortschritt 
von der Homogeneität zur Heterogeneität in den aufein- 
anderfolgenden Stadien der Entwicklung der Himmels- 
körper. ') 

*) „Speculative Ideas respecting the Constitution of Matter," 
Phil. Mag., 4th ser., vol. XXVII, p. 8i s. 
®) Chemical News, October 31, 1873. 



DefT Satz von der OleichJieit der Ureinheiten der Masse, i^ 

Während nun aber auf diese Weise die absolute Gleich- 
lieit der Urelemente der Masse ein wesentliches Bestandstück 
^er wahren Fundamente der mechanischen Theorie bildet, 
ist die gesamte moderne Chemie auf einem Grundsatz auf- 
-gebaüt, der diese Gleichheit geradezu umstösst, — einem 
<jrundsatz, von dem jüngst gesagt worden ist, dass „er in 
^er Chemie dieselbe Rolle einnimmt wie das Gesetz der 
<}ravitation in der Astronomie'*. *) Dies Prinzip ist bekannt 
cinter dem Namen des Gesetzes von Avogadro oder 
Ampere. Es sagt aus, dass gleiche Rauminhalte aller Sub- 
tstanzen, sobald sie sich im Gaszustande und unter gleichen 
Druck- und Temperaturverhältnissen befinden, gleiche An- 
jKihlen von Molekeln besitzen — was zur Folge hat, dass 
^ie Molekulargewichte dem spezifischen Gewichte der Gase 
proportional sind; so zwar, dass wenn diese verschieden 
-sind, es auch die Molekulargewichte sind, und da die 
Jdolekeln gewisser Elemente einatomig sind, während die 
Molekeln verschiedener anderer Substanzen die gleiche Zahl 
^on Atomen enthalten , dasselbe auch von den Atomge- 
ivichten solcher Stoffe gilt. 

Obwohl das Gesetz von Avogadro, wie alle physi- 
Icalischen Theorien, eine Hypothese ist, wird es doch für 
-die einzig mögliche Annahme gehalten, welche im Stande 
ist, die bekannte indirekte Proportionalität zwischem dem 
Volumen eines Gases und seinem Druck (Gesetz von Boyle* 
Mariotte) und die direkte mit der Temperatur (Gesetz 
von Charles), sowie auch das Gesetz der einfachen Völum- 
-verhältnisse (Gay-Lussac) bei einer chemischen Verbindung 
.2U erklären. Es hat auch als Grundlage für unzählige Ab- 
leitungen bei der Bildung und Umformung chemischer Ver- 



") Vgl, J. W. Clarke „Evolution and the Spectroscope", Po- 
pulär science Monthly, January 1873, p. 320 seq. Lockyer's neueste 
Forschungen haben diesen Ansichten grössere Bedeutung verschafft. 

8) J. P. COOKE, The New Chemistry, p. 13. 

2* 



20 ///. KapiteL 

bindungen gedient, welche bisher stets durch das Experiment 
bestätigt worden sind. 

Dass dieses Grundprinzip der modernen Chemie in 
äusserstem, unversöhnlichem Widerspruch mit dem ersten 
Satze der mechanischen Atomtheorie steht, ist auf den 
ersten Blick offenkundig. Gewiss ist auch eine Lösung- 
desselben mit Hilfe der von Graham gemachten Annahme 
unmöglich. Denn diese erklärt die Unterschiede der Dichte 
dadurch, dass sie den gleichen Uratoraen ungleiche Volu- 
mina zuschreibt, welche eine Folge der ungleichen Ge- 
schwindigkeiten sind, die in unabänderlicher Weise an die 
verschiedenen Arten der Atome gebunden sind. Auf diese 
Weise Hessen sich wohl Ungleichheiten des Volums- 
gleicher Massen, nicht aber Ungleichheiten der Masse in 
gleichen Volumen erklären, ausser man nehme eine zweite 
neue Hypothese hinzu, welche durch die erste allerdings 
einigermassen gestützt wird, und darin besteht, dass einige^ 
wenn nicht alle Molekeln Gruppen von verschiedenen 
Graden der Kompliziertheit bilden. Zwei Massen oder 
Molekeln von gleichem Volumen können verschiedene Dichten, 
oder Gewichte haben, bloss wenn die Zahl der in einer 
enthaltenen Einheiten verschieden ist von der in der anderen, 
AvoGADRo's Gesetz zwingt jedoch die Chemiker anzunehmen,, 
dass die Molekeln verschiedener Elemente, ungeachtet der 
Verschiedenheit ihrer Gewichte, aus der gleichen Anzahl von 
Atomen bestehen. So werden Wasserstoff und Chlor, deren 
Molekulargewichte beziehungsweise 2 und 7 1 betragen, beide 
als zweiatomig betrachtet. In dem Falle von Elementen 
einer Valenz, wie der eben erwähnten, ist der Grund, auf 
dem diese Annahme beruht, sehr einfach. Ein Volumen 
Wasserstoff verbindet sich mit einem Volumen Chlor und 
bildet zwei Volumen Chlorwasserstoff. Jedes Volumen der 
Verbindung enthält gemäss dem Gesetze von Avogadro, 
ebenso viel Molekeln, als ein Volumen des beitragenden 



Der Satz von der Gleichheit der UreinJieiten der Masse. 2 1 

einen Elementes vor der Verbindung; die zwei Elemente 
der Verbindung enthalten demnach doppelt so viel Molekeln 
als jedes Volumen der zusammensetzenden Gase. In jedem 
Molekel der Verbindung sind aber sowohl Chlor wie Wasser- 
stoff anwesend, woraus folgt, dass jedes Molekel von Wasser- 
stoff ebenso wie auch jedes von Chlor wenigstens ein Atom 
zu jedem Molekel Chlorwasserstoff beigesteuert und daher 
aus mindestens zwei Atomen bestanden haben muss. 

Die Beweisführung in dem Falle zwei- oder mehr- 
wertiger Elemente (wie Sauerstoff^ Schwefel, Selen u. a.) ist, 
wiewohl weniger einfach, doch in gleichem Grade zwingend 
auf Grund des AvoGADRo'schen Gesetzes. 

Man könnte einwenden, dass das in Frage stehende 
Gesetz lediglich die geringst mögliche Zahl von Atomen in 
einem jeden Molekel bestimmt und das Maximum derselben 
unbestimmt lässt, so dass trotz alldem die schwereren Mo- 
lekeln von entsprechend grösserer Kompliziertheit sein 
mögen. Doch hier stossen wir auf ein Hindernis, das uns 
ein Zweig der mechanischen Theorie bietet, — die Thermo- 
dynamik. Die moderne Wissenschaft betrachtet Wärme als 
eine Form der Energie, die in einer lebhaften Bewegung 
der kleilisten Teilchen eines Körpers besteht; und zum 
mindesten im Falle gasförmiger Körper unterscheidet sie 
zwischen jenem Theile der Energie, der in der Form 
von Temperatur sich äussert und einer fortschreitenden Be- 
wegung der Molekeln, oder vielmehr deren Massenmittel- 
punkten zugeschrieben wird, und einem anderen Teil — der 
sogenannten inneren Energie — die als abhängig von der 
schwingenden oder drehenden Bewegung der zusammen- 
setzenden Atome betrachtet wird. Es ist nun durch Experi- 
mente erwiesen, dass sich das Verhältnis der spezifischen 
Wärme eines Gases bei konstantem Druck zu jener bei 
konstantem Volumen •) nahezu gleich ergibt dem durch die 

*)• Die spezifische Wärme (d. h. die zur Temperaturerhöhung 



2 2 IIL Kapitel, 

Theorie auf Gnind der Voraussetzung berechneten Wertev 
dass die gesamte einem Gase zugefuhrte Wärme zur Er- 
zeugung fortschreitender Bewegung verwandt wird, mag diese- 
sich nun in Ausdehnung oder vermehrtem Drucke oder 
nach beiden Richtungen hin äussern; und dass die noch> 
vorhandene Differenz durch die Annahme gerechtfertigt: 
wird, dass ein Teil der Wärme sich in intramolekulare Be- 
wegung verwandelt, d. h. in Bewegungen von Teilen inner- 
halb eines Molekels, welche dessen Lage oder Wirkungs- 
weise als ganzes nicht zu verändern vermögen. Nun ist 
leicht einzusehen und von Clausius, Boltzmann, Max- 
well u. a. gezeigt worden, dass die für intramolekularer 
Bewegung aufgebrauchte Energie in dem Masse wachse» 
muss wie die Kompliziertheit der molekularen Konstitution ;: 
es würde somit ins Unermessliche gehen, wenn ein Molekel 
aus einer so grossen Zahl von Atomen bestehen würde, ais- 
hinreichend wäre um die Unterschiede in den Molekular- 
gewichten der Elemente zu rechtfertigen. Das Molekular- 
gewicht des Chlors ist z. B. 3 5. 5 mal so gross als das des^ 
Wasserstoffs; und wenn nun diese Gewichte proportional 
der in jedem Molekel enthaltenen Zahl von Atomen wären,, 
müsste man, selbst wenn zugegeben wird, dass der Wasser- 
stoff nur zweiatomig ist, annehmen, dass das Chlormolekel 
nicht weniger als 71 Atome enthalte. Wenn aber diese: 
Annahme richtig wäre, müsste fast die gesamte dem Chlor 
zugeführte Wärme absorbiert, d. h. in innere Energie ver- 
wandelt werden, und die berechnete spezifische Wärme müsste 
weit den durch das Experiment sich ergebenden Betrag: 
übersteigen. 



der Masseneinheit einer Substanz um einen Grad erforderliche Wärme- 
menge) eines Gases bei konstantem Druck, unter dem die Ausdehnung; 
erfolgt, ist notwendigerweise grösser als jene bei konstantem Volumen, 
da ja im ersteren Falle ein Teil der Wärme zur Leistung der 
mechanischen Arbeit der Ausdehnung verwandt werden muss. 



Der Satz von der Qleichheit der Ureinheiien der Masse, 23 

Hier liegen also Schwierigkeiten nicht spekulativer, 
sondern rein physikalischer und chemischer Natur vor, die 
eine unbegrenzte Vervielfältigung der Atome innerhalb eines 
Molekels behufs Erklärung der Verschiedenheit der Molekular- 
gewichte unmöglich machen. Von mehreren Elementen 
ist es bekannt, dass sie dem AvoGADRo'schen Gesetze nur 
unter der Voraussetzung ihrer Einatomigkeit Folge leisten. 
Zu diesen gehört Quecksilber, dessen Molekulargewicht mit 
dem Atomgewicht übereinstimmt, wie es sich bei Anwen- 
dung aller möglichen chemischen Methoden, einschliesslich 
des Gesetzes von Dulong und Petit ergibt. Und nun 
ist durch Kundt und Warburg ^®) gezeigt worden, dass 
das Verhältnis der spezifischen Wärmen des Quecksilber- 
dampfes bei konstantem Druck und konstantem Volumen, 
wie es sich durch das Experiment ergibt, genau gleich dem 
Werte ist, der auf Grundlage der absoluten Einfachheit des 
Quecksilbermolekels und des Nichtabsorbierens eines Teiles 
der Wärme für intramolekulare Bewegungen berechnet 
worden ist. 

Angesichts all' dieser Thatsachen erscheint der Schluss 
unausweichlich, dass der Anspruch, demzufolge die moderne 
Wissenschaft durchaus eine teilweise und fortschreitende 
Lösung des Problems vorstellt, alle physikalischen Erschei- 
nungen auf Mechanik der Atome zurückzuführen, durch den 
gegenwärtigen Zustand der theoretischen Chemie in höchst 
unvollkommener Weise gestützt wird, sowie auch, dass 
diese Wissenschaft, welche sich speziell mit den Atomen 
und deren Bewegungen befasst, auf Annahmen beruht, welche 
die einzige wahre Grundlage zerstören, auf der ein in sich 
zusammenhängender Aufbau der Mechanik der Atome auf- 
gerichtet werden kann. Und dass diese Annahmen bald 
verlassen werden, dazu scheint wenig Hoffnung zu sein; 



10" 



) Pogg. Ann., Bd. 157, S. 353. 



24 -^^^* Kapitel 

denn nach der Ansicht der ausgezeichnetsten Chemiker der 
Gegenwart würde ein solcher Verzicht die Masse experi- 
menteller Thatsachen, die in mühsamer Weise durch Ex- 
periment und Beobachtung ermittelt worden sind — unter 
mindestens teilweiser Beihilfe der fraglichen Annahmen — 
in einen Zustand hoffnungsloser vorwissenschaftlicher Ver- 
wirrung zurückversetzen. 

Von den Spekulationen jener, welche die spezifischen 
Unterschiede zwischen den letzten Einheiten der Masse von 
Unterschieden ihnen zugeschriebener, unwandelbarer Ge- 
schwindigkeiten oder ihnen zukommender verschiedener 
Beträge an latenter Energie herzuleiten suchen, ist zu sagen, 
dass sie nicht nur eine Lösung der Schwierigkeiten der 
theoretischen Chemie bei den unerbittlichen Anforderungen 
der mechanischen Theorie nicht erreichen, sondern auch, 
dass eine Verleihung unzerstörbarer Energie oder Bewegung 
an eine gegebene Masse der Grundvoraussetzung der abso- 
luten Unvergleichbarkeit von Masse und Bewegung wider- 
spricht. Helmholtz und andere haben die Bedingungen 
der Wirbelbewegung in einer vollkommen homogenen, un- 
zusammendrückbaren und reibungslosen Flüssigkeit untersucht, 
welche, wie Maxwell gezeigt hat, notwendigerweise kon- 
tinuierlich sein muss und nicht molekular oder atomistisch 
zusammengesetzt sein kann. Wenn diese Bedingungen ver- 
wirklicht werden könnten, hätten wir zwar unveränderliche, 
aber nicht unterscheidbare Volumina einer sogenannten 
stetig homogenen Flüssigkeit vor uns, der unveränderliche 
Quantitäten unzerstörbarer Bewegung zukommen würden. 
Es kann aber keine Energie oder Bewegung von einander 
verschiedenen oder getrennten Massen (Molekeln oder 
Atomen) anhaften, wenn, wie die mechanische Theorie an- 
nimmt, Masse und Bewegung disparat sind, wenn die 
Masse dieselbe bleibt in Ruhe und Bewegung, und wenn 
die Bewegung von einer Masse auf eine andere übertragbar 



Der Saiz von der Gleichheit der üreinheiten der Masse. 25 

ist Dies ist ein Punkt, den Sir Isaak Newton, der 
grösste unter den Gründern der mechanischen Theorie, aus- 
drücklich hervorgehoben hat. Er unterscheidet zwischen 
zwei Arten von Kraft — der Kraft der Trägheit (vis 
inertiae) und der sogenannten vis impressa. Die 
erste allein ist nach ihm eiQe visinsita, d. h. eine der 
Materie anhaftende Kraft ; während er von der anderen aus- 
drücklich sagt, „dass diese Kraft in der Wirkung allein be- 
steht und nach derselben nicht im Körper verbleibt". ^^) 



^^) ,)Consistit haec vis in actione sola, neque post actioncm 
permanet in corpore." Phil. Nat. Princ. Math., def. IV. 



IV. 

Der Satz von der absoluten Härte und Unelasticität 

der Ureinheiten der Masse. 

Aus der wesentlichen Verschiedenheit von Masse und 
Bewegung und der Einfachheit der Ureinheiten der Masse 
ergibt sich die vollkommene Härte und Unelasticität der- 
selben. Denn die Elasticität bedingt Bewegung von Teilen 
gegen einander und kann somit nicht eine Eigenschaft wahr- 
haft einfacher Atome sein. „Der Begriff ,elastisches Atom*," 
bemerkt Professor Wittwer mit Recht, „ist eine contra- 
dictio in adjecto, da die Elasticität immer wieder Teile 
voraussetzt, die sich einander nähern, die sich von einander 
entfernen können". *) 

Die ersten Begründer der mechanischen Theorie be- 
trachteten die absolute Härte der die Materie zusammen- 
setzenden Teile als einen wesentlichen Grundzug der Natur- 
ordnung. „Es scheint mir wahrscheinlich," sagt Sir Isaak 
Newton, „dass Gott zu Beginn die Materie in festen, dichten, 
harten, undurchdringlichen, beweglichen Teilen von solcher 
Gestalt und solchen anderen Eigenschaften und in solchem 
Verhältnis zum Räume geschaffen hat, wie es dem von ihm 
angestrebten Endzweck am besten entsprach ; und dass diese 
Urteilchen fest und unvergleichlich härter als irgend ein 
aus ihnen zusammengesetzter Körper, ja selbst so hart 
waren, um sich niemals abnützen oder in Stücke brechen 



^) Beiträge zur Molekularphysik, Schlömilch's Zeitsch. f. Math* 
u. Phys., 15. Bd., S. II4. 



Der Satz von der absoluten Härte u. Unelasiidtät etc. 27 

zu lassen; denn keine gewöhnliche Kraft ist im Stande, 
das zu scheiden, was Gott selbst geschaffen hat." -) 

Seltsam genug begegnet die Forderung der absoluten 
Starrheit der Ureinheiten der Masse, die nicht weniger ge- 
bieterisch auftritt als die ihrer unbedingten Einfachheit, 
einer gleich bezeichnenden Verleugnung von Seite der 
modernen Physik. Die berühmteste unter den Hypothesen, 
welche seit der allgemeinen Annahme der modernen Theorieeh 
der Wärme, des Lichtes, der Elektricität und des Magnetis- 
mus und der Aufstellung der Lehre von der Erhaltung der 
Energie ersonnen worden sind, um einen sicheren Grund 
für die mechanische Deutung physikalischer Erscheinungen 
zu geben, ist unter dem Namen der kinetischen Gastheorie 
bekannt. Im Lichte dieser Theorie erscheint ein Gas als 
ein Schwärm von unzähligen, festen Teilen, die sich un* 
aufhörlich mit verschiedenen Geschwindigkeiten nach allen 
Richtungen hin geradlinig fortbewegen, wobei sich die Ge- 
schwindigkeiten und Richtungen infolge der gegenseitigen 
Zusammenstösse in Zwischenräumen ändern, die kurz im 
Vergleich zu unseren gewöhnlichen Zeitmassen, aber unend- 
lich lang im Vergleich zu der Dauer eines solchen Zusammen- 
stosses sind. Es ist leicht einzusehen, dass diese Bewegungen 
bald ein Ende finden würden, wenn die Teile vollkommen 
unelastisch oder nur unvollkommen elastisch wären; denn 
in diesem Falle würde bei einem jeden Zusammenstoss ein 
Verlust an Bewegung stattfinden. Die vorausgesetzte unauf- 
hörliche Dauer der Bewegung der Teilchen zwingt also zur 
Annahme ihrer vollkommenen Elasticität. Diese Notwendig- 
keit geht nicht nur aus den besonderen Erfordernissen der 
kinetischen Gastheorie, sondern auch aus dem Prinzip der 
Erhaltung der Energie in seiner allgemeinen Anwendung 
auf die letzten Bestandteile der sinnlich wahrnehmbaren 



*) Optics, 4. Aufl., S. 375. 



28 IV. Kapitel. 

Massen hervor, wenn diese als in Bewegung befindlich voraus- 
gesetzt werden. In dem Falle des Zusammenstosses ge- 
wöhnlicher unelastischer oder nur teilweise elastischer Körper 
findet ein Verlust an Bewegung statt, welcher auf Rechnung 
einer Verwandlung derselben in die Bewegung kleiner Teile 
der zusammenstossenden Körper gesetzt wird. Bei Atomen 
und Molekeln, welche keine solchen Teile mehr besitzen, 
ist aber eine solche Verwandlung unmöglich, und sind wir 
daher zur Annahme gezwungen, dass die letzten Molekeln 
eines Gases absolut elastisch sind. 

Die Notwendigkeit, vollkommene Elasticität den Atomen 
oder Molekeln zuzuschreiben, ist von den Begründern der 
kinetischen Gastheorie ausdrücklich anerkannt worden. „Die 
Gase ," sagt Kroenig, *) „bestehen aus Atomen , die sich 
wie feste, vollkommen elastische Kugeln mit bestimmten 
Geschwindigkeiten durch den leeren Raum bewegen." Diese 
Anschauung ist von Clausius*) übernommen und von 
Maxwell mit besonderem Nachdruck betont worden, der 
dem ersten Teil seiner Abhandlung „Illustration öf the 
Dynamical Theory of Gases'* die Überschrift „Von den 
Bewegungen und Zusammenstössen vollkommen elastischer 
Kugeln'* gegeben hat. *) Die höchsten wissenschaftlichen 
Autoritäten sind in der Behauptung einig, dass die Hypo- 
these der atomistischen oder molekularen Zusammensetzung 
der Materie im Widerspruch mit der Lehre von der Er- 
haltung der Energie steht, sofern man nicht die Atome 
oder Molekeln als vollkommen elastisch ansieht. „Die 
moderne Lehre von der Erhaltung der Energie," sagt Lord 
Kelvin (Sir William Thomson), „verbietet uns, den 
letzten Elementen der Materie Starrheit oder einen be- 
schränkten Grad von Elasticität zuzuschreiben." ®) 

') Pogg. Ann., Bd. 99, S. 316. 

*) Ib., Bd. 100, S. 353. 

*) Phil. Mag., 4 th ser., vol. 19, p. 19. 



Der Satx von rfer absoluten Eärte w. Unelasticitäi etc. 29 

Natürlicherweise haben hervorragende Verteidiger der 
kinetischen Theorie ihren Scharfsinn an der Aufsuchung 
von Methoden versucht, um die mechanische Theorie aus 
diesem Dilemma zu befreien. Die berühmteste dieser Be- 
mühungen ist die von Lord Kelvin unternommene, der 
auf seine Hypothese durch die Untersuchungen von Helm- 
HOLTZ ^ über die Eigenschaften der rotierenden Bewegung 
in einer absolut homogenen, unzusammendrückbaren, voll- 
kommenen Flüssigkeit, von denen schon im vorigen Kapitel 
die Rede war, geführt worden ist. Lord Kelvin nimmt 
die Allgegenwart dieser Flüssigkeit an und definiert die 
Atome als Wirbelringe, die durch drehende Bewegung in 
derselben entstehen. Diese Ringe würden beständig und 
von unveränderlichem Volumen sein, welches sie einer un- 
wandelbaren Menge an Bewegung verdanken, und dabei 
doch einer grossen Mannigfaltigkeit der Form fähig sein; 
sie würden im Stande sein, sich selbst zu verketten oder 
mit anderen Wirbelringen zu verbinden, ohne aber im freien 
Zustande bestehen zu können; sie wären endlich ausser 
Stande sich zu durchdringen oder mit einander zu ver- 
schmelzen, und ihre gegenseitigen Annäherungen würden, 
ebenso mit dem Zurückprallen endigen, wie es beim Stosse 
vollkommen elastischer Körper der Fall ist. 

Gerne zollen wir unsere Bewundenmg dem Scharfsin», 
der darauf verwandt wurde, die mechanische Theorie aus 
einer ihrer verhängnisvollsten Verlegenheiten zu befreien; 
andererseits aber ist zu fürchten, dass der Erfolg dieser 
Anstrengung ein illusorischer ist. Denn es scheint klar zu 
sein, dass eine Bewegung in einem vollkommen homogenen 
und daher kontinuierlichen Mittel keine sinnenfällige Be- 
wegung sein kann. Jede Teüung einer solchen Flüssigkeit 
ist nur in Gedanken ausführbar; trotz der Verdrängung 

«) Ib., vol. 45, p. 321. 

') Crelle's Journal f. reine u. ang. Math., 55 Bd., S. 25. 



1 . 'IV. Kapitel 

les Teiles derselben durch einen andt 
bener Raum in jedem Augenblick c 
n Materie, die von der in einem fr- 
rhanden gewesenen in keiner Weise 

entsteht also keine Veränderung, ke 
r Erscheinung. Eine Flüssigkeit, dei 
ler Veränderung abgeht, ist aber ein e 
äger einer wirklichen Bewegung, wie 
! ist ebenso unnütz für die Erklärung 
iterieller Einwirkungen, wie es das „• 
ne Trägheit gewesen ist, von dem I 
SS es vom leeren Raum nicht zu xmte 
Überdies würden, wie Maxwell b 
irbelringe der wesentlichen Eigenscha 
hren: der Trägheit. Denn solche A 
s der Substanz des überall vorhandene] 
oss in den Bewegungen desselben besi 
üssten die Erhaltungsgesetze der Masse 
id von diesen müsste die Bildung d« 
' den Erscheinungen, welche die sini 
aterie zeigt, abgeleitet werden können, 
öglich. Die Bewegung kann in Folge 
eder Träger ihrer Bewegung werden, nc 
;h selbst das Moment der Bewegung erz 
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hwinden müsste. Auf dem Boden 
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^) Qui coelos materia fluida repletos ess - 
a inertem esse statuunt, hi verbis toUunt vaci^t*^^^' ■'^^ . • 
m hujusmodl materia fluida ratione nulla sec^^*^^ ^ O^ '*"'^C 
atio, disputatio tota fit de rerum norainibus, rxo^ ^e . "^^^^ ^t^ ^^^c 
Newton! Phil. Nat. Princ. Math., ed. Le Soeur et J^ ^(^ ^ ^^ .^'^l>. 



A/0 



^HOd^^ 



®) Encycl. Brit., Qth ed., „Atom". 



V 






Der Saix von der absoluten Härte u. Unelastidtät eic. 31 

\ Bewegung, Trägheit und Energie nicht aufgehoben 

den, ohne alle Unterschiede in unseren Grundbegriffen 

r die Natur physikalischer Vorgänge zu verwischen. 

Ein anderer Versuch, sich von der Notwendigkeit zu 

eien, den Uratomen Elastizität beilegen zu müssen, der 

einiger Beziehung an den von Lord Kelvin erinnert, 

rt von A. Secchi her. Dieser berühmte Physiker und 

ronom leitet das Abprallen der letzten Teilchen eben- 

3 von deren rotierenden Bewegung her; nur sind seine 

»me ungleich denen von Lord Kelvin wirkliche Körper, 

von einander durch grosse Zwischenräume geschieden 

d, und nicht blosse Bewegungen in einem kontinuierlichen 

,..^ 1 unzusammendrückbaren Äther. SECCHI begreift sehr 

hl die Unmöglichkeit, den letzten einf9,chen Atomen 

istizität beizulegen. „Es ist klar," schreibt er, ^^) „dass, 

irend es möglich ist, Elastizität in einem zusammen- 

etzten Molekel anzunehmen, das gleiche nicht auch bei 

em einfachen Atom der Fall ist. In der That setzt ja 

Elastizität in dem gebräuchlichen Sinne des Wortes 

h -e Räume im Innern eines Molekels voraus, dessen Form 

I 

ch den Druck derart geändert wird, dass sie nach Auf- 
en des Druckes wieder die ursprüngliche wird. Nun 
achten wir aber ein Atom als undurchdringlich und 
it als eine Gruppe von festen Körpern, somit kann das- 
•^rr^ ^ e nicht leere Räume einschliessen, welche eine Aus- 
'^Sit^ aung oder Zusammenziehung gestatten.** 

„In der That ist das, was wir ein Molekel eines ein- 
en, d. i. eines chemisch nicht mehr weiter zerlegbaren 
3s nennen, kein einfaches Atom oder muss es zum min- 
en nicht sein. Insofern als dieses Gasmolekel ein 
Ajjjjegrat wirklicher Atome ist, kann es ganz gut sein, dass 
es innere Poren und allgemein gesprochen eine Reihe von 




ttr, 




^^) L'unite des forces physiques, 2. Aufl., S. 47 ff. 



32 IV, Kapitel. 

Eigenschaften besitzt, welche den es zusammensetzenden 
Atomen nicht zukommen ; es ist somit nicht absurd, es als 
elastisch ahzusehen. Huygens hat diese Annahme für 
den Äther gelten lassen. Seiner Meinung nach waren die 
Teile des Äthers aus kleineren zusammengesetzt Bei 
näherer Prüfung sieht man jedoch, dass dies mehr eia 
Verschieben als ein Lösen der Schwierigkeit ist. Wir 
hoffen zeigen zu können, dass es keineswegs notwendig ist,, 
solch^ eine Elasticität als ursprüngliche Kraft anzunehmen 
und dass das scheinbare Abprallen der Atome und ihre 
gegenseitigen Zusammenstösse einfach auf eine geeignete 
Bewegungsform zurückgeführt werden können, zu welchem 
Zwecke es hinreichend ist, sie als in Drehung befindlick 
anzunehmen. Lasst uns dies beweisen!" 

„Unter den schönen Sätzen Poinsot's über den Stoss 
drehender Körper findet sich einer, der sich auf die Re- 
flexion von einer widerstehenden Wand bezieht. Er lehrt 
uns, dass in Folge der Rotation allein ein harter und un- 
elastischer Körper ganz so wie ein vollkommen elastischer 
zurückgeworfen werden kann; ja noch mehr: es kann ge- 
schehen, dass ein solcher gegen ein festes Hindernis ge- 
worfener Körper mit einer grösseren Geschwindigkeit zurück- 
kehrt. Der tiefsinnige Mathematiker zeigt, wie dieses auf 
den ersten Blick paradox erscheinende Ergebnis durch die 
Umwandlung eines Teiles der drehenden Bewegung in fort- 
schreitende zustande kommt, wodurch die Geschwindigkeit 
des Schwerpunktes eine grössere wird. Nach den gewöhn-, 
liehen Theorieen des Stosses, bei denen keine Rücksicht 
auf die drehende Bewegung genommen wird, erscheint 
dieser Satz absurd und trotzdem ist er vollkommen be- 
gründet. So stellen sich neben die Fälle der gewöhnlichen 
Reflexion die der „fortschreitenden'*; man kann sie unter 
Benutzung eines PoiNSOT'schen Ausdruckes als ,negative 
Reflexionen' bezeichnen." 



Der Satz von der absoluten Härte u. Unelasticität etc, 33 

„Bei der negativen Reflexion kehrt nach dem Stosse 
der Schwerpunkt des Körpers mit einer grösseren Ge- 
schwindigkeit, als er vordem besessen, zurück. Diese Fragen 
bilden einen ganz neuen und sehr interessanten Zweig der 
Mechanik; sie lassen sich leicht erledigen durch Betrach- 
tung der fortschreitenden uud drehenden Bewegung in 
/ Bezug auf die Mittelpunkte der Schwere, der Rotation und 
des Stosses \ und wir sehen leicht ein, dass sich allgemein 
sagen lässt: ein Stoss kann, mag er wie immer sein, nie- 
mals in einem Körper die drehende und fortschreitende 
Bewegung zugleich vernichten; denn, wenn der Stoss ein 
exzentrischer ist, kann er die drehende, aber nicht die 
fortschreitende Bewegung zerstören, und wenn die Richtung 
des Stosses durch den Schwerpunkt geht, kann derselbe 
die fortschreitende, aber nicht die drehende Bewegung auf- 
heben. Auf diese Weise wird die auf der einen Seite 
verlorene Bewegungsgrösse auf der andern wieder gewonnen ; 
die Drehung mag entweder ihren Sinn ändern oder bloss 
beschleunigt werden je nach der Lage des gestossenen 
Punktes des Körpers; daher der Begriff „Mittelpunkt des 
Stosses". Beispiele für die Reflexion nach Art des Stosses 
drehender Körper finden sich bei den Bewegungen von 
Wurfscheiben, Spinnmaschinen u. s. f. Billardspieler wissen 
sehr wohl, wie die Drehung der Bälle die Gesetze des 
Stosses elastischer Körper, wie sie aus den elementaren 
Leitfäden bekannt sind, abändert." ^^) 



^*) Die Sätze, auf die sich Secchi bezieht, finden sich in der 
letzten von einer Reihe von Abhandlungen (Questions Dynamiques 
sur la Percussion des Corps), die PoiNSOT zu Liouville's Journal 
der reinen und angewandten Mathematik beigesteuert hat (II. ser., 
t. n (1857), p, 281 ff., und t. IV (1859), p. 421 flf.). Diese bemerkens- 
werte Abhandlung ist von dem achtzigjährigen Geometer kurz vor 
seinem Tode veröffentlicht und wahrscheinlich auch geschrieben worden ; 
der letzte Teil ist in der That nach seinem Tode in derselben Nummer 
StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 3 



34 • ^^» Kapitel. 

Unglücklicherweise findet die hier vorgetragene Theorie 
wenig Stütze an den Sätzen Poinsot's. Secchi behauptet, 
dass der Stoss eines rotierenden Körpers, falls er excentrisch 
ist, „die drehende aber nicht die fortschreitende Bewegung 
zerstören kann," und wenn er ein zentraler ist, „die fort- 
schreitende aber nicht die drehende Bewegung zu nichte 
machen kann," so dass -in jedem Falle die auf der einen 
Seite verlorene Bewegungsgrösse auf der andern gewonnen 
wird."*^ Aus einem sorgfaltigen Studium von Poinsot's 
Abhandlung ergibt sich jedoch, dass nach dem Zusammen- 
stosse rotierender unelastischer Körper nur in gewissen spe- 
ziellen Fällen deren Rotation oder fortschreitende Bewegung 
oder beide erhalten bleiben oder das Wachstum, die Ver- 
minderung oder der Verlust der einen durch die Ver- 
minderung, den Zuwachs oder Gewinn der anderen aus- 
geglichen wird. PoiNSOT^^) zeigt, dass, wenn ein rotierender 
unelastischer Körper auf ein festes Hindernis stösst, es von 
der Entfernung des augenblicklichen Mittelpunktes der 
Drehung vom Schwerpunkte abhängt, ob der Körper mit 
einer in Bezug auf den Anfangszustand grösseren oder 
gleichen Geschwindigkeit zurückgeworfen wird, oder aber 
seine Geschwindigkeit in progressiver Richtung verliert. Im 
ersteren Falle gibt es stets zwischen dem Schwerpunkt und 
dem Mittelpunkt des Stosses „zwei Punkte derart, dass, wenn 
der rotierende Körper das Hindernis in der Richtung des 
einen derselben trifft, sein Schwerpunkt mit vergrösserter 
Geschwindigkeit zurückgeworfen wird." ^*) Im zweiten Falle 



von Liouville's Journal erschienen, welche die bei seinem Leichen- 
begängnisse gehaltenen Reden von Bertrand und Matthieu enthält, 

^*) SECCm spricht fortwährend von dem Gewinn oder Verlust 
an „Bewegungsgrösse", doch verlangt seine Beweisführung, dass dies 
als Verlust oder Gewinn an „Energie" gedeutet werde. Ob dies 
auch seine eigene Meinung ist, wage ich nicht zu entscheiden. 

1») LlOUVlLLE Journal, 2. ser., t. 2, p. 288 seq. 



Der Satz von der ahsolvien Härte u. ünelasticität etc. 35 

„gibt es stets in jedem sich fortbewegenden Körper zwei 
Punkte vollkommener Reflexion, d. i. zwei Punkte von der 
Art, dass, wenn der Körper ein Hindernis in der Richtung 
des einen trifft, er mit einer ganz gleichen Geschwindigkeit 
zurückgeworfen wird," ^'^) so zwar, dass der Schwerpunkt 
des Körpers so zurückgeworfen wird, als ob der Körper 
vollkommen elastisch wäre." Doch verliert, wenn 
dies geschieht, der Körper in dem einen Falle 
ein Drittel, im zweiten zwei Drittel seiner 
Winkelgeschwindigkeit.^*) Endlich drittens, „wenn 
sich das Hindernis im Schwerpunkt oder im Mittelpunkte 
des Stosses entgegenstellt, wird die Geschwindigkeit in fort- 
schreitender Richtung in beiden Fällen in gleicher Weise 
zerstört, nur mit dem Unterschiede, dass im ersten Falle 
die Winkelgeschwindigkeit nicht geändert, im zweiten aber 
zugleich mit der progressiven Geschwindigkeit vernichtet 

wird."^'0 

Die Wahrheit ist also, dass bloss in den von Poinsot 
besonders angeführten Fällen vollkommener Reflexion ein 
durch kein Wachstum der translatorischen Bewegung aus- 
geglichener Verlust von ein oder zwei Drittel der rotierenden 
Bewegung auftritt, während es Fälle gibt, in denen sowohl 
die translatorische wie die drehende Bewegung zugleich 
verschwinden. ^®) 



1*) L. c, p. 304. 
") L. c, p. 305. 

1*) L. c, p. 307. 

*') L. c, p. 308. 

^®) Wiewohl ich seit langem Prioritätsfragen und Ansprüchen 
gegenüber höchst gleichgiltig geworden bin, mag es vielleicht doch 
nicht unschicklich erscheinen, zu sagen, dass die vorhergehenden 
Seiten geschrieben worden waren, ehe ich die sehr tüchtige Schrift 
von Dr. C. ISENKRAHE „Das Rätsel von der Schwerkraft" (Braun- 
schweig, Vieweg u. Sohn, 1879) gesehen hatte, mit dem ich mich 
insoweit übereinzustimmen glücklich schätze, als es sich um die 

3* 



36 • IV, Kapitel, 

Dass Secchi es für möglich gehalten hätte, die Er^ 
füUung des Erhaltungsgesetzes der Energie beim Zusammen« 
stosse der Atome auf die Rotation als einen Ersatz für die 
„geheimnisvolle Eigenschaft** vollkommener Elasticität zu 
übertragen, erscheint äusserst unglaubwürdig, wenn wir die 
Art und Weise des Gebrauches betrachten, den er von seiner 
eigenen Theorie macht. Diese Theorie dient ihm zufolge 
zur Erklärung einer Menge von Thatsachen, worunter sich 
die Bildung molekularer Aggregate aus einfachen Atomen 
und die Erscheinungen der Gravitation befinden. Die Zu- 
sammenballung der Atome behufs Bildung zusammengesetzter 
Molekeln erklärt er auf folgende Weise: ^*) „Setzen wir 
einen extremen Fall voraus, nämlich den Zusammenstoss 
zweier Atome von bloss fortschreitender Geschwindigkeit, 
oder aber den Fall des Zusammenstosses , bei dem keine 
Reflexion stattfindet (was geschehen würde, wenn die ro- 
tierenden Atome in der Richtung ihrer Drehungsaxen auf 
einander stossen würden). „Offenbar werden die Atome in 
derselben Weise vereint bleiben, wie die sogenannten „harten" 
Körper der Mechaniker, und sie werden ein System bilden, 
das jene translatorische Bewegung besitzt, die sich aus den 
zwei anderen Bewegungen ergibt. Dieses System wird im 



Giltigkeit des Versuches von Secchi handelt, die Eigentümlichkeit 
vollkommener Reflexion aus der Rotation unelastischer Körper mit 
Hilfe der PoiNSOT'schen Theorie abzuleiten, während ich im übrigen 
seiner eigenen Theorie der Gravitation nicht beistimmen kann. Es 
gibt noch andere Übereinstimmungen — und das sind übrigens die 
interessantesten, weil sie unzweifelhaft ganz zufällig sind — und*zwar 
zwischen der in dieser Schrift enthaltenen Kritik SPiLLER'scher Speku- 
lationen und meiner Beurteilung derselben, die zuerst in ,,The Populär 
Science Monthly", Jänner I874, erschienen ist. Es ist zu bedauern, 
dass ISENKRAHE vor der Veröffentlichung seiner Schrift nicht William 
B. Taylor's hier später citierte bedeutsame Publikation über „Kinetic 
Theories of Gravitation" gesehen hatte. 
^^) L'unite, p. 51 seq. 



Der Satx von der absoluten Härte u. Unelastidtät etc. 37 

Stande sein, wie ein einziger Körper von einfacher, doppelter, 
dreifacher oder überhaupt so vielfacher Masse zu wirken, 
als Atome in demselben vereint sind. Hier haben wir ein 
deutliches Beispiel einer Verkettimg von Atomen, die nicht 
durch irgend eine Anziehungskraft, sondern durch die ein- 
fache Trägheit an einander gebunden sind." Nach dieser 
Stelle zu urteilen, konnte Secchi kaum sich in Unkenntnis 
der Thatsache befunden haben, dass der Zusammenstoss 
drehender unelastischer Körper nicht immer zu einem schein- 
bar elastischen Abprall führt. In den Anwendungen auf 
die Gravitationserscheinungen kehrt sich die Theorie ein- 
fach gegen ihre eigenen Grundlagen. Sie sucht dieselben 
durch die Annahme zu begründen, dass die Dichte des 
Äthermediums, welches die ponderablen Körper oder Mo- 
lekeln umgibt, mit der Entfernung von deren Mittelpunkte 
wächst ; ^^) und diese Zunahme der Dichte wird als eine 
Folge der fortschreitenden Umwandlung der drehenden in 
eme translatorische Bewegung der Ätherteilchen hingestellt, 
so dass dieselben ununterbrochen von den „Herden der 



^®) Diese Annahme ist identisch mit der von Sir Isaak Newton, 
der in seinem Briefe an Boyle (Newton's Works, ed. HoRSLEY, 
vol. IV, p. 385 seq.) über die „Ursachen der Schwerkraft" speku- 
lierend sagt: ,,Ich will den Äther als aus Teilen bestehend annehmen, 
die sich von einander durch unendlich kleine Grade ihrer Feinheit 
in der Weise unterscheiden, dass von den höchsten Luftschichten an 
bis zur Oberfläche der Erde, und von der Oberfläche der Erde bis 
zum Mittelpunkte derselben der Äther unmerklich feiner und feiner 
wird. Denken wir uns nun einen Körper in der Luft oder auf der 
Erde liegend und den Äther der Annahme gemäss gröber in den 
höheren als in den tieferen Teilen des Körpers und diesen gröberen 
Äther weniger geeignet zum Eindringen in die Poren des Körpers 
als den feineren , so wird derselbe trachten , den Körper zu ver- 
lassen und dem feineren Äther der Unterseite den Weg frei zu 
machen , was nicht anders geschehen kann , als wenn der Körper 
herabfällt und so darüber Raum geschaffen wird zum Eindringen 
des Äthers." 



38 IV. Kapitel 

Bewegung" weg nach aussen getrieben werden. „Oflenbar 
vermag/' sagt Secchi, ^^) „ein Herd der Bewegung, selbst 
wenn er allein dasteht, wofern er nur durch genügend leb- 
hafte und dauernde Bewegung ausgezeichnet ist, die Be- 
wegung eines unbegrenzten Mediums zu bestimmen und 
so zu gestalten, dass die Dichte im Mittelpunkte den kleinsten 
Wert besitzt und von da aus im Verhältnis zur Annäherung 
an den Umfang wächst." Secchi gibt keinen Grund an, 
weshalb ein stetiges Wachstum der fortschreitenden Be- 
wegung der Ätherteilchen auf Kosten ihrer drehenden Be- 
wegung stattfinden, und warum stets oder doch im allge- 
meinen nur eine Umwandlung der drehenden in eine fort- 
schreitende Bewegung tmd nicht auch eine solche in ent- 
gegengesetzter Richtung vor sich gehen sollte; auch gibt 
er keine Quelle jener „lebhaften und dauerhaften Bewegung" 
im Mittelpunkte an, welche eine unaufhörliche Bewegung 
des grenzenlosen Ätherraumes erzeugen sollte ; so zwar, dass 
diese Erklärung der Erscheinungen der Gravitation von sehr 
zweifelhaftem Werte ist. Aber auch abgesehen davon ist 
es sicher, dass, wenn die drehende Bewegung der harten 
Partikeln nach und nach in eine fortschreitende umgewandelt 
wird, dies einmal ein Ende nehmen muss, und wir abermals 
vor dem ungelösten Probleme stehen, den fortdauernden 
Stoss einfacher, harter und somit unelastischer Körper mit der 
Erhaltung ihrer ursprünglichen Energie in Einklang zu bringen. 
Die Schwierigkeit bleibt also bestehen und erscheint un- 
lösbar. Es gibt keine bekannte Methode in der Physik, 
welche uns befähigen würde, auf die Annahme vollkommener 
Elasticität der Partikel wägbarer Körper und ihrer hypothe- 
tischen imponderablen Hüllen zu verzichten, wiewohl diese 
Annahme im klaren Widerspruch zu einer der wesentlichsten 
Fordenmgen der mechanischen Theorie steht. 



21) L. c, p. 538. 



V. 

Der Satz von der absoluten Trägheit der Urein- 

heiten der Masse. 

Da Masse und Bewegung gegenseitig in einander nicht 
verwandelbar sind, ist die Masse absolut trag. Sie kann 
Bewegung in einer andern Masse nur dadurch verursachen, 
dass sie ihre eigene Bewegtmg teilweise oder gänzlich auf 
dieselbe überträgt. Und da Bewegung nicht für sich selbst 
bestehen kann, sondern^ die Masse als ihr notwendiges 
Substrat verlangt, kann die Übertragung derselben nur dann 
Platz greifen, wenn sich die betreffenden Massen berühren. 
Alle physikalischen Wirkungen geschehen somit durch Stoss ; 
eine Wirkung in die Ferne ist unmöglich; es gibt in der 
Natur kein Ziehen, sondern nur ein Drücken; und jede 
Kraft ist (in der Sprache Newtons) nicht bloss eine vis 
impressa, sondern eine vis a tergo. 

Die Notwendigkeit, alle physikalischen Wirkungen 
auf den Stoss zurückzuführen, ist ein beständiger Lehrsatz 
der Physiker seit dem Entstehen der modernen physika- 
lischen Wissenschaft gewesen. Und gerade so, wie in den 
in den zwei vorhergehenden Kapiteln diskutierten Fällen, 
befindet sich auch hier die Wissenschaft im Widerspruche 
zu ihren eigenen Grundannahmen. Ihre erste nind grösste 
Leistung war die Zurückführung aller Erscheinungen der 
Himmelsbewegung auf das Prinzip der allgemeinen Gravi- 
tation durch Newton — ein Prinzip, welches aussagt, dass 
sich alle Körper mit einer ihren Massen gerade und dem 



40 F. Kapitel. 

Quadrate ihrer Entfernung verkehrt proportionalen Kraft 
anziehen. 

Dass die Theorie der allgemeinen Gravitation in dem. 
Sinne einer Anziehung aus der Ferne ohne Dazwischen- 
kunft eines Mediums, welches im Stande wäre, mechanische 
Impulse fortzuleiten, im Widerspruch mit den Elementen 
der mechanischen Theorie steht, ist von niemand besser 
gefühlt worden, als von Newton selbst. Gleich am Anfang 
seiner „Prinzipien" verwahrt er sich sorgsam gegen die 
Zumutung, dass er die Gravitation als eine wesentliche 
Eigenschaft der Materie, die sich von derselben nicht 
trennen Hesse, angesehen und die gegenseitige Anziehung 
der Körper für eine letzte physikalische Thatsache gehalten 
hätte. Die Kraft, welche die Körper gegen einander treibt, 
war ihm, wie er ausdrücklich bemerkt, ein rein mathema- 
tischer Begriff, der keine Betrachtungen über die wirklichen 
physikalischen Ursachen in sich schliesst. *) Und offenbar 
besorgt, es könnte diese Verleugnung trotzdem ausser Acht 
gelassen werden, wiederholt er sie in nicht weniger deut- 
lichen Ausdrücken am Schlüsse seines grossen Werkes. 
„Den Grund für diese Eigenschaft der Gravitation," sagt 
er da, „war ich nicht im Stande zu finden, und Hypothesen 
mache ich nicht." *) Wenn nach all' dem noch immer die 
Möglichkeit eines Zweifels an Newton's Ansichten über die 
Natur der Gravitation vorhanden wäre, so müsste sie vollends 
beseitigt werden durch die wohlbekannte Stelle in seinem 
dritten Briefe an Bentley: „Es ist unbegreiflich, wie eine 
unbelebte, rohe Materie ohne Vermittelung von etwas Un- 



^) „Mathematicus duntaxat est hie conceptus. Nam virium causas 
et sedes physicas jam non expendo." Princ, Def. VIII. 

*) „Rationem vero harum gravitatis proprietatum nondum potui 
deducere ; et hypotheses non lingo." Princ. , Schol. Gen. ad fin. 
Dieselbe Abläugnung findet sich auch in den Worten des Scholiums 
zum 29. Theorem vor: Prop. 69, i. Buch der Prinzipien. 



Der Satz von der absoluten, Trägheit d, Ureinkeiten eic, 4t 

materiellem auf eine andere Materie, mit der sie nicht in 
gegenseitiger Berührung steht, einwirken könnte, wie es bei 
der Gravitation der Fall sein müsste, wenn diese im Sinne 
Epikurs eine der Materie anhaftende wesentliche Eigenschaft 
derselben wäre. Und das ist der Grund, weshalb ich 
wünsche, Sie möchten nicht mir die Idee einer angeborenen 
Gravitation zuschreiben. Dass die Gravitation der Materie 
eigentümlich, anhaftend und wesentlich sei, so dass ein Körper 
auf einen zweiten in die Ferne ^ durch den leeren Raum, 
ohne Vermittlung irgend eines Mediums wirken könnte, er- 
scheint mir als eine so grosse Absurdität, dass ich glaube, 
niemand, der in philosophischen Dingen die erforderliche 
Fähigkeit zum Denken besitzt, könnte darauf verfallen. Die 
Gravitation muss durch ein Agens verursacht sein, das nach 
bestimmten Giesetzen wirkt; ob jedoch dieses Agens mate- 
rieller oder immaterieller Natur sei, habe ich der Über- 
legung meiner Leser überlassen." ») 

Es gibt noch eine weitere Beweisstelle dafür, dass 
Newton die allgemeine Gravitation als eine sekundäre Er- 
scheinung aufgefasst hat, die auf Grund der Prinzipien des 
gewöhnlichen Stosses oder Druckes zu erklären wäre. In 
der letzten Ausgabe der Optik legt er gewisse „Fragen" 
vor, die sich auf die Möglichkeit einer Ableitung einiger 
Eigenschaften des Lichtes aus der Wellenbewegung eines 
alles durchdringenden Äthers beziehen, und bemerkt dazu 
(Frage 21): „Ist nicht dieses Medium viel dünner inner- 
halb der dichtem Körper der Sonne, der Sterne, Planeten 
und Kometen, als in den leeren Himmelsräumen dazwischen ? 
Und wird dasselbe nicht immer dichter und dichter beim 



*) Newton's Works, ed. S. Horsley, vol. IV, p. 438. Zöllner 
versucht in der Einleitung zu seinen „Prinzipien einer elektro-dyna- 
mischen Theorie der Materie" die Beweiskraft dieser und anderer 
Stellen in den Schriften Newton's zu entkräften, jedoch, wie mir 
scheint, ohne allen Erfolg. 



42 F. Kapitel, 

Übergange zu grösseren Entfernungen und verursacht es 
nicht auf diese Weise die gegenseitige Anziehung grosser 
Körper, sowie auch die ihrer Teile zu einander, indem 
jeder Körper in der Richtung vom dichteren zum dünneren 
Medium sich zu bewegen trachtet ?'* *) 

Ungeachtet dieser ausdrücklichen Erklärungen schlugen 
Newton's Zeitgenossen Lärm über die angebliche Rückkehr 
geheimer Ursachen in die Physik. E^ ist von Interesse, die 
Energie zu bemerken, mit der die Philosophen und Mathe- 
matiker jener Tage gegen die Annahme einer physikalischen 
Wirkung in die Ferne protestierten. Huygens zögerte nicht 
zu erklären, dass „ihm Newton' s Attraktionsprinzip absurd 
erscheine''. Leibniz nannte es „eine unkörperliche und 
unerklärliche Kraft"; Johann Bernoulli, der an die Pariser 
Akademie zwei Abhandlungen einschickte, in welchen er 
die Bewegungen der Planeten durch eine verbesserte Form 
der DESCARTEs'schen Wirbeltheorie zu erklären suchte, be- 
zeichnete „die zwei Annahmen einer Anziehungskraft und 
eines vollkommen leeren Raumes" als „unannehmbar für 
alle jene, die in der Physik nur Unbezweifelbares und 
Evidentes anzunehmen gewohnt sind." Auch bei den Phy- 
sikern und Astronomen einer späteren Generation fand das 
Prinzip der Femwirkung keine bessere Aufnahme. Euler 
bemerkte, dass die Wirkung der Gravitation entweder der 
Intervention eines Geistes, oder eines subtilen materiellen 
Mediums, das sich unserer Wahrnehmung entziehe, zuzu- 



*) Optik, 4. Aufl. S. 325. Die „Fragen" erschienen zuerst in 
der zweiten Aullage der Optik, in deren Vorrede Newton bemerkt: 
„To shew that I do not take gravity for an essential property of 
bodies, I have added one question concerning its cause, chusing to 
propose it by way of a question, because I am not satisfied about 
it for want of experiments." Ich habe bereits an einem andern Orte 
(siehe oben S. 26) eine ähnliche Erklärung seiner Ansichten im Briefe 
an BOYLE citiert. 



Der Satz von der absokUen Trägheit d, üreinheüen etc. 43 

schreiben sei; und er bestand darauf, dass letztere die 
einzig zulässige Alternative sei, wiewohl der genaue Nach- 
weis der Gravitationskraft schwierig oder unmöglich sein 
möchte.*^) Sein grosser Nebenbuhler und Widersacher 
D'Alembert rechnete die Gravitation zu jener Klasse von 
Bewegungsursachen, deren wahre Natur uns völlig unbekannt 
sei, im Gegensatze zur Einwirkung durch den Stoss, von 
der wir einen klaren mechanischen Begriff besitzen. *) Und 
trotz der Behauptung John Stuart Mill's und anderer, dass 
die Denker unserer Zeit sich von den alten Vorurteilen 
gegen eine Fernwirkung emanzipiert hätten, lässt es sich 
leicht zeigen, dass dasselbe heute so vorherrschend ist wie 
vor zwei Jahrhimderten. Es mögen nur einige Beispiele 
angeführt werden: Professor Challis, der eine Reihe von 
Jahren hindurch sich angestrengt bemüht hat, eine hydro- 
dynamische Theorie der Attraktion aufzustellen, sagt: „E^ 
gibt keine andere Kraft als den bei Berührung zweier 
Körper erfolgenden Druck. Diese Annahme beruht auf 



*) Euler, „Theoria motus corporum solidonim," S. 68. Vgl. 
auch „Lettres ä une princesse d'Allemagne", Nr. 68 vom 18. Ok- 
tober 1760. 

*) D'Alembert, „Dynamique" (2 me ed.), p. IX seq. Es ist be- 
kannt genug, wie langsam und mit welchem Widerstreben Newton's 
Lehre in Frankreich Aufnahme und Anerkennung gefunden hat, in 
welchem Lande der Cartesianismus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 
unbestrittenen Einfluss behielt. Wie die Cartesianer im allgemeinen 
über die Femwirkung dachten, mag einer von Saurin vor der 
Akademie der Wissenschaften im Jahre 1709 gelesenen Abhandlung 
entnommen werden, aus der Edleston (Correspondence between 
Newton and Cotes) folgende Stelle citiert: „II (Newton) aime 
niieux considerer la pesanteur comme une qualite inherente dans les * 
Corps et ramener les idees tant decriees de qualite occulte et d'at- 
traction." Wenn wir die mechanischen Prinzipien (d. i. die des 
Stßsses und der durch denselben erzeugten Bewegung) verlassen, er- 
klärt er weiter, „nous voilä replonges de nouveau dans les anciennes 
tenebres du peripatetisme dont le ciel nous veuille preserver". 



44 ^« Kapitel 

dem Prinzip, keine Grundvorstellimgen zuzulassen, die sich 
nicht auf Empfindung und Erfahrang zurückführen liessen. 
Es ist allerdings richtig, dass wir Körper unter dem Ein« 
flusse äusserer Kräfte sich bewegen sehen, so z. B. wenn 
ein Körper in Folge der Wirkung der Schwere zu Boden 
fallt. So weit unser Gesichtssinn reicht, bemerken wir in 
solchen Fällen weder eine Berührung noch einen Druck von 
Seite eines andern Körpers. Wir haben aber auch ein Ge- 
fühl der Berührung oder des Druckes durch Berührung — 
so z. B. der Hand mit einem andern Körper — und wir 
fühlen in uns selbst das Vermögen, Bewegung durch solch 
einen Druck zu erzeugen. Das Bewusstsein dieses Ver- 
mögens und das Gefühl der Berührung geben eine deut- 
liche Vorstellung der Art, als ob die ganze Welt auf die- 
selbe Art wirken würde, wie es bei dem bewegten Körper 
der Fall ist ; und die Regel der Philosophie, welche persön- 
liche Empfindung und Erfahrung zur Grundlage unserer 
wissenschaftlichen Kenntnis macht, die ebenso auch die Grund- 
lage jener Kenntnis ausmachen, welche die gewöhnlichen 
Handlungen des menschlichen Lebens regelt, verbietet die 
Anerkennung einer andern Methode. Wenn daher ein Körper 
ohne sichtbare Berührung und ohne Druck eines andern 
Körpers sich zu bewegen veranlasst wird, so muss noch 
immer geschlossen werden, dass der pressende Körper, wie- 
wohl er unsichtbar ist, existiert; ausser wir fügen uns in 
die Annahme, dass es physikaHsche Wirkungen ^ibt und 
geben wird, die uns ewig unverständlich bleiben. Die Zu- 
lassung dieser Annahme ist unverträglich mit den Prinzipien 
der Philosophie, die ich verteidigen will, und die annimmt, 
dass die Belehrung durch die Sinne imstande ist, mit Hilfe 
der Mathematik Erscheinungen jeder Art zu erklären . . . 
Da jede physikalische Kraft in Druck besteht, muss es 
ein Medium geben, durch welches der Druck vermittelt 
wird." ^ Mit gleichem Feuereifer verwirft James Groll die 



Der Satz von der absoluten Trägheit d. Ureinheiten etc. 4S 

„AnDahme" einer allgemeinen Anziehung. „Kein Prinzip," 
behauptet er, ,,kann je allgemein angenommen werden, das 
im Widerspruche zu dem alten Sprichwort steht : ,Ein Körper 
kann nicht wirken, wo er nicht ist'." ®) Secchi protestiert 
fast in den nämlichen Worten: „Wir haben bereits anders- 
wo gesagt," erklärt er, „wie unmöglich es ist , sich einen 
klaren Begriff der sogenannten Anziehungskraft im strengen 
Sinne des Wortes zu bilden, d. h, sich ein wirksames Prinzip 
vorzustellen, das seinen Sitz innerhalb der Molekeln hat 
und ohne Mithilfe eines Mediums durch den leeren Raum 
wirkt. Dies käme der Annahme gleich, dass Körper auf 
einander durch die Entfernung einwirken, d. i. wo sie nicht 
sind; eine Annahme, gleich absurd in dem Falle sehr grosser 
wie in dem sehr kleiner Entfernungen." •) Friedrich Mohr 
(welcher zu der Ehre berechtigt zu sein scheint, das Prinzip 
der Erhaltung der Energie zuerst ausdrücklich ausgesprochen 
zu haben, selbst vor Julius Robert Mayer) legt sein wissen- 
schaftliches Glaubensbekenntnis in einer Reihe von „Thesen" 
nieder, unter welchen sich diese befindet: „Die Gravitation 
kann nicht wirken ausser durch Vermittlung ponderabler 
Materie." Jö) Ebenso auch E. Du Bois-Reymond : „Durch 
aen leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an 
sich unbegreiflich, ja widersinnig, und erst seit Newton's 
Zeit und durch Missverstehen seiner Lehre und gegen seine 
ausdrückliche Warnung den Naturforschem eine geläufige 
"orstellung geworden." ^^) Und endlich erklären Balfour 



') „On the Fundamental Ideas of Matter and Force in Theo- 
fetical Physics." Phil. Mag., 4th ser., vol. 31, p. 467. 

*) „On Certain Hypothetical Elements in the Theory of Gravi- 
tation." Phil. Mag., 4th ser., vol. 34, p. 450. 
') L'unite etc., p. 532 seq. 

^®) „Nonnisi materia ponderabili interposita attractio agere potest'', 
Geschichte der Erde, Appendix, S. 512. 

^^) Über die Grenzen des Naturerkennens, S. 14. 



46 V. Kapitel. 

Stewart und P. G. Tait: „Unstreitig mag die Annahme 
einer Wirkung in die Ferne dazu angethan sein, manches 
zu erklären ; doch ist es (wie Newton lange zuvor in seinem 
berühmten Briefe an Bentley ausgeführt hatte) unmöglich 
für irgend wen, ,der in philosophischen Dingen kompetentes 
Urteil besitzt', auch nur einen Augenblick die Möglichkeit 
einer solchen Wirkung zuzulassen." **) 

Der entscheidendste Beweis für den Widerstreit zwischen 
der Annahme einer Wirkung in die Ferne und den Grund- 
begriffen mechanischer Wirkungsweise wird indessen durch 
die unaufhörlich von Seiten ausgezeichneter Männer seit 
Newton's Tagen sich erneuernden Versuchen geliefert, die 
Erscheinungen der Gravitation auf Grund der Prinzipien des 
Flüssigkeitsdruckes oder des Stosses fester Körper zu er- 
klären. ^'*) Diese Versuche sind in letzter Zeit mit ausser- 



^*) The Unseen Universe, 3^ ed. (1875), p. 100. 

^^) Einige dieser Versuche sind sehr geschickt besprochen in 
einer neueren Abhandlung von William B. Taylor : „Kinetic Theories 
of Gravitation", Smithsonian Report, 1876. Diese interessante Arbeit 
ist vollständig erschöpfend in Bezug auf die Aufzählung von Theorieen 
englischen und französischen Ursprungs und mag durch eine Samm- 
lung von Verweisungen auf deutsche Artikel . und Bücher ergänzt 
werden , die den gleichen Gegenstand behandeln. Siehe : Schramm, 
„Die allgemeine Bewegung und Materie", Wien 1872; AUREL Anders- 
SOHN, „Die Mechanik der Gravitation", Breslau 1874 (enthält eine 
Photographie der Ergebnisse . eines Experimentes , bei welchem die 
Wirkung der Gravitation durch eine Kugel nachgeahmt wird, die 
im Wasser schwimmt, das durch strahlenförmig ausgehende Impulse 
erregt ist) ; „Zur Lösung des Problems über Sitz und Wesen der An- 
ziehung" , 47. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu 
Breslau 1874; Hugo Fritsch, „Theorie der NEWTON'schen Gravi- 
tation und des MARiOTTE'schen Gesetzes", Königsberg 1874; Ph. 
Spiller, „Die Urkraft des Weltalls", Berlin 1876 etc. Es ist einiger- 
maassen sonderbar, dass Taylor jede Beziehung auf Hüygens Arbeit 
„Dissertatio de causa gravitatis" (Hugenii Opp. Reliqua, vol. i, pag. 
95 seq., Amst. 1728), sowie auf die ähnlich durchgearbeitete Theorie 
von Secchi unterlässt, von der bereits im vierten Kapitel die Rede 



Der Satz von der absoluten Trägheit d, Ureinheüen etc. 47 

ordentlichem Interesse infolge der Ergebnisse gewisser Ex- 
perimente von Professor Guthrie wieder aufgenommen 
worden, welcher gefunden hatte, dass leichte in der Nähe 
einer schwingenden Scheibe befindliche aufgehängte Körper- 
chen gegen dieselbe „wie durch ein unsichtbares Band'* 
gezogen werden — eine Erscheinung, die wie Lord Kelvin 
ausgeführt hat, durch die Thatsache erklärt wird, dass in 
einer bewegten Flüssigkeit der Druck dort am kleinsten 
ist, wo die durchschnittliche Energie der Bewegung am 
grössten ist. ^*) 

In den Augen moderner Physiker sind alle Arten von 
Wirkungen, die sich strahlenförmig von einem Mittelpunkte 
auszubreiten scheinen, fortschreitende Schwingungen elastischer 
Medien. Es ist daher natürlich, nach der physikalischen Ur- 
sache der Gravitation in derselben Richtung zu suchen. 
Zahlreiche Theorieen sind ersonnen worden, in denen die 
Gravitation auf die Wellenbewegung einer elastischen inter- 
stellaren und interatomistischen Flüssigkeit zurückgeführt 
wurde, die dem Lichte ähnlich oder mit ihm identisch 
sein sollte. Die am meisten berücksichtigungswerte dieser 
Theorieen ist die von Professor Challis, der annimmt, 
dass der ganze Raum mit einem schwingenden Medium er- 
fiillt sei, welches „eine kontinuierliche elastische vollkommene 
Flüssigkeit ist, die einen ihrer Dichte proportionalen Druck 

war. In unserm eigenen Lande [Amerika] rühren von Professor 
PUNY Earle Chase reiche Beiträge zu dieser Art von Literatur her. 
^^) Güthrie's Experimente sind schon früher ohne seiner Kennt- 
WS von GuYOT, Schellbach und andern gemacht worden, wie aus 
einer Mitteilung Güthrie's selbst an das Philosophical Magazine 
(4- Reihe, Bd. 41, S. 405 ff.) hervorgeht. Experimente ähnlicher Art 
wie die von Aurel Anderssohn sind lange zuvor von Hocke und 
HUYGENS gemacht worden, wobei beide gezeigt haben, dass Kugeln, 
die auf wellenförmig bewegtem Wasser schwimmen, gegen den Mittel- 
punkt der Erregung treiben. Vgl. Hugenii, „Diss. de causa gravi- 
tatis", Opp. Reliqua, I, p. 99 seq. 



48 V. Kapitel. 

ausübt". Wiewohl nun Challis mit grossem Eifer die 
Häufung hypothetischer Medien zu vermeiden trachtet und 
die Gravitation als eine zufällige oder übrig bleibende 
Wirkung der Licht- und Wärmeschwingungen darzustellen 
sucht (indem er zu diesem Zwecke auf Versuche zurück-* 
greift ähnlich denen Bernoulli's, der mehr als ein Jahr- 
hundert vorher zu zeigen versucht hatte, dass die relativen 
Bewegungen der ein materielles System zusammensetzenden 
Körper Resultierende einfacher, regelmässiger und bestän- 
diger Schwingungen verschiedener Art sind, so ist er doch 
schliesslich anzunehmen genötigt, dass es einen Äther höherer 
Ordnung gibt, welcher „dieselbe Beziehung zum ersten wie 
dieser zur Luft hat, und so fort nach Belieben", und dass 
„die Gravitation durch die anziehende Wirkung eines Mo- 
lekels höherer Ordnung, als es das angezogene ist, zu Stande 
kommt'*. Ich werde in einem folgenden Kapitel Gelegen- 
heit finden, den wissenschaftlichen Wert solcher Theorieen 
zu erörtern, in denen Thatsachen durch eine endlose Zahl 
willkürlicher Annahmen erklärt werden, die sich in dem 
Masse vermehren, wie die durch die Theorieen selbst ge- 
schaffenen Schwierigkeiten ; vorläufig genügt die Bemerkung, 
dass alle hydrodynamischen Theorieen der Gravitation Arago's 
verhängnisvoller Kritik verfallen : „Wenn . die allgemeine 
Anziehung durch den Antrieb einer Flüssigkeit zu Stande 
kommt, bedarf sie einer endlichen Zeit, um die ungeheuren 
Räume zu durchmessen, welche die himmlischen Körper 
von einander scheiden," ^^) wogegen kein vernünftiger Grund 
mehr vorliegt, daran zu zweifeln, dass die Fortpflanzung 
der Gravitation eine augenblickliche ist. Wäre dies anders, 
würde sich die Gravitation gleich dem Lichte und der 
Elektricität mit einer messbaren Geschwindigkeit fortpflanzen, 
dann müsste notwendigerweise eine Zusammensetzung dieser 



15 



) Astronomie populaire, vol. 4, p. 119. 



Der Satz von der absoliäen Trägheit d. Ureinheüen etc. 49 

Geschwindigkeit mit der Winkelgeschwindigkeit der Planeten 
stattfinden; die scheinbare Richtung der Anziehung müsste 
gegen einen Punkt gerichtet sein, der sich vor dem wirk- 
lichen Platze der Sonne befindet, gerade so wie der schein- 
bare Sonnenort infolge der Aberration des Lichtes in der 
-Richtung der Bahnbewegung der Erde verschoben ist. Solch 
eine Wirkung würde im Falle ihrer Ebdstenz schon lang 
entdeckt worden sein. Es gab eine Zeit, wo man an die 
allmähliche Fortpflanzung der Gravitation geglaubt hat. 
Daniell Bernoulli schrieb das NichtzusammentrefFen der 
Gezeiten mit dem Durchgang des Mondes durch den Me- 
ridian der verhältnismässigen Langsamkeit in der Fort- 
pflanzung der Gravitation zu; und zu einer späteren Zeit 
dachte Laplace ' einen Augenblick daran , die wachsende 
Beschleunigung der durchschnittlichen Bewegung des Mondes 
(die zuerst von Halley durch eine Vergleichung heutiger 
Mondesfinsternisse mit den von Ptolemaeus und den Arabern 
erwähnten ermittelt wurde) durch die Annahme einer Ge- 
schwindigkeit der Fortpflanzung der Gravitation zu erklären, 
welche die des Lichtes nicht weniger als achtmillionenmai 
übersteigen sollte. Heute weiss man jedoch, dass die Ver- 
zögerung in dem Eintritte der Gezeiten eine Folge der 
Trägheit des Wassers und der es beim Flusse aufhaltenden 
Hindemisse ist; und was die Beschleunigung der Mond- 
bewegung betrifiit, so ist noch von Laplace selbst gezeigt 
worden, dass sie wenigstens zuin grössten Teil durch die 
-säkulare Abnahme der Excentricität der Erdbahn verursacht 
wird. Aus diesem Grunde zögerte Laplace nicht zu er- 
klären, dass, falls die Gravitation zu ihrer Fortpflanzung Zeit 
benötigt, deren Geschwindigkeit wenigstens fünfzigmillionen- 
mal grösser sein müsste als die des Lichtes, Die von 
LXpxace angegebene Ursache der in Frage stehenden Er- 
scheinung hat sich allerdings nicht als ausreichend erwiesen. 
Eine Revision der Berechnungen des französischen Astro- 

StalLO, Begriffe u. Theorieen. 4 



so V. Kapitel. 

nomen durch Adams, die einige Jahre später stattfand, hat 
ergeben, dass die Abnahme der Excentricität der Erde ina 
besten Falle eine Beschleunigung der Mondbewegung im 
Betrage von sechs Sekunden in einem Jahrhundert zu recht- 
fertigen vermöchte und nicht, wie Laplace angenommen, 
eine solche von zehn und noch viel weniger die thatsäch- 
lieh stattfindende von zwölf Sekunden. Ein Teil dieser 
Erscheinung muss somit auf Rechnung anderer Ursachen 
gesetzt werden; und dies ist auch glücklich gelungen, in- 
dem eine Abhängigkeit der Gezeitenverspätung von der 
täglichen Umdrehung der Erde nachgewiesen wurde, die 
eine scheinbare Beschleunigung der mittleren Bewegung des 
Mondes zur Folge hat. 

In dieser Beziehung versagt also völlig jede Analogie 
zwischen der Wirkung der Schwere und der der anderen 
physikalischen Agentien, die sich auf Ätherschwingungen 
zurückfähren lassen, wie des Lichtes, der strahlenden Wärme 
und der Elektrizität, die sich alle mit endlicher Geschwin- 
digkeit fortpflanzen. Wie Taylor bemerkt hat, gibt es 
überdies noch andere Eigentümlichkeiten der Gravitation, 
welche zu der Annahme berechtigen, dass sie von einer 
wesentlich anderen Natur ist, als die übrigen Formen strahlen- 
förmig sich ausbreitender Wirkung. Die Gravitation ist einer 
Veränderung durch entgegenstehende Hindernisse völlig un- 
fähig, oder, wie sich Jevons ^®) ausdrückt „alle Körper sind 
für sie absolut durchsichtig*'; ihre Richtung ist die der 
geraden Linie zwischen den Mittelpunkten der einander an- 
ziehenden Massen und ist nie einer Reflexion oder Brechung 
imterworfen; unähnlich den Kräften der Kohäsion, Kapil- 
larität, chemischen Affinität, der magnetischen und elek- 
trischen Anziehung ist sie unfähig einer Erschöpfung oder 
vielmehr Sättigung, indem jeder Körper jeden anderen im 



^•) Principles of Science, vol. II, p. 144. 



Der Satx von der absoluten Trägheit d. Ureinheiten etc. 5 1 

Verhältnis seiner Massen anzieht; sie ist völlig unabhängig 
von der Natur, dem Volumen oder der Struktur der zwischen- 
liegenden Körper, und ihre Energie ist unveränderlich, un- 
aufhörlich imd unerschöpflich. 

Im ganzen und grossen kann man mit Sicherheit 
sagen, dass Schwingungen eines hypothetischen Äthers nicht 
als eine zulässige Grundlage für eine physikalische Theorie 
der Gravitation angesehen werden können, und dass, - falls 
eine solche Theorie aufgestellt werden sollte, man auf die 
Analogien der in neuerer Zeit in der Thermodynamik auf- 
gestellten kinetischen Theorie zurückgreifen müsste. Dies 
ist ganz unumwunden von den führenden Physikern der 
Gegenwart zugestanden worden. „Alle bisher gemachten 
Versuche," erklären Stewart undTAiT, ^') „die Gravitation 
mit dem Lichtäther oder dem die elektrischen und mag- 
netischen Femwirkungen vermittelnden Medium in Verbin- 
'dung zu bringen, sind vollständig misslungen, so dass wir 
offenbar auf die Stosstheorie als die einzig mögliche an- 
gewiesen sind". Die einzige von den modernen Physikern 
und Astronomen ernst genommene Stosstheorie ist die von 
l^E Sage, ^*) welche mit wenigen Worten so lautet: Der 
Raum wird beständig nach allen Richtimgexi hin von 
Strömen imendlich kleiner Körperchen durchkreuzt, die 
sich mit einer beinahe unendlichen Geschwindigkeit be- 
wegen und aus unbekannten Gegenden des Weltalls kommen. 



*') The Unseen Universe, § 140. 

^®) AsAGO nimmt an (Astr. pop., 4 Bd., S. Ii8), dass die Theorie 
von Le Sage bloss eine Wiederholung der systematischen Ausfüh- 
rungen von Fatio de Duiller's (dem verrückten und ränkevollen 
Parteigänger Newton's bei seinem Prioritätsstreit mit Leibnitz über 
die Erfindung der Differentialrechnung) und Vakignon's in verbesserter 
Form ist, die Le Sage vor ihrer Veröffentlichung mitgeteilt worden 
waren. Doch ist dies wahrscheinlich ein Irrtum ; Varignon's Speku- 
lationen wenigstens sind ähnlich denen Newton's in der 21. Frage 
seiner Optik. 

4* 



5« . V, KapiteL 

Diese Körper heisst man „ausserweltliche Körperchen'^ In* 
folge ihrer ausserordentlichen Kleinheit stossen sie selten, 
wenn überhaupt mit einander zusammen und der grösste 
Teil derselben findet leicht einen Weg durch die gewöhn r 
liehen Körper der Sinnenwelt, so dass alle Teile dieser 
Körper — die inneren sowie die äusseren — in gleicher 
Weise dem Stosse dieser Körperchen ausgesetzt sind und 
auf diese Weise die Kraft desselben der Masse und nicht 
der Oberfläche proportional erscheint. Ein einzelner Körper 
würde durch diese Partikeln gleichmässig auf allen Seiten 
getroffen werden ; aber zwei Körper wirken als gegenseitige 
Schirme, so dass jeder Körper auf der dem anderen gegen^ 
überliegenden Seite weniger Stösse empfangt. Infolge 
dessen werden beide gegeneinander getrieben. Da die 
Bewegung der Körperchen nach allen Richtungen hin gerad- 
linig erfolgt, ist die sich ergebende Verminderung des 
Druckes umgekehrt proportional dem Quadrate der Ent- 
fernung zwischen den aufeinander wirkenden Körpern. 

Bei aller Achtung vor der Autorität jener Männer der 
Wissenschaft, durch welche diese Theorie Unterstützung 
fand, muss es doch herausgesagt werden, dass die Über- 
spanntheit ihrer Annahmen sie sogleich als ein Überbleibsel 
der Träumereien eines Zeitalters kennzeichnet, in welchena 
die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theorie noch wenig 
verstanden wurde. Ihre intellecluelle Verwandtschaft mit 
den alten Wirbeln und harmonischen Kreisen ist unver- 
kennbar. Sie ignoriert vollständig die Notwendigkeit, über 
den Ursprung der ungeheuren Menge an Energie, die fort- 
dauernd durch die angenommenen Ströme ausserweltlicher 
Körperchen ausgegeben wird, Rechenschaft zu geben ; so- 
wohl das angenommene Agens als auch die Art seiner 
Wirkung sind aus der Erfahrung unbekannt; und es ist 
noch zweifelhaft, ob deren Annahmen, selbst wenn sie zu- 
gestanden werden, als Erklärung aller oder einiger jener 



Der Satz von der absoluten Trägheit d, Ureinheiten etc, 53 

Eigentümlichkeiten dienen könnten, an der, wie wir ge- 
sehen haben, jede hydrodynamische Theorie verzweifeln 
musste. Die Nichtigkeit der Theorie von Le Sage ist in- 
dessen am schlagendsten von Clerk Maxwell ^•) dargethan 
worden, der sie durch das Energieprinzip prüft. Wenn 
die ausserweltlichen Körperchen, welche an die tastbaren 
Körper anstossen, vollkommen elastisch sind und mit der 
gleichen Geschwindigkeit, mit der sie sich nähern, ¥deder 
abspringen, dann „führen sie ihre Energie mit sich in die 
ausserweltlichen Gegenden fort", und in diesem Falle „werden 
die vom Körper nach irgend einer Richtung hin abprallen« 
den Körperchen, sowohl der Zahl wie der Geschwindigkeit 
nach vollkommen äquivalent jenen sein, die von dem Fort- 
schreiten in dieser Richtung durch eben diesen Körper ab- 
gehalten worden sind, mag auch wie immer die Gestalt des 
Körpers sein, und mögen sich wie viel Körper auch immer 
im Felde befinden." In diesem Falle gibt es also keine 
"Wirkung der Gravitation. Wenn andererseits die Körper- 
chen unelastisch oder unvollkommen elastisch wären — so 
zwar dass die Wirkung der Gravitation der verhältnismässig 
kleinen Differenz in den Stössen auf beiden Seiten des 
Körpers zu verdanken wäre — müsste die Energie wenig- 
stens der Stösse, die sich Gleichgewicht halten (zum Teil 
oder gänzlich — entsprechend dem Grade der Elastizität der 
Körperchen) sich in Wärme verwandeln, und „der Betrag 
der so erzeugten Wärme müsste in wenigen Sekunden den 
Körper und in gleicher Weise das ganze materielle Weltall 
bis zur Weissglut erhitzen." *^) 



^•) Encyclopaedia Britannica, „Atom". 

*^) S. TOLVER Preston hat kürzlich (PhiL Mag., September und 
November 1877 und Februar und Mai 1878) eine Abändenmg der 
Le SAGE'schen Theorie vorgeschlagen, bei welcher er auf die ausser- 
weltliche Natur der Körperchen verzichtet und sich allein auf die 
Forderungen der kinetischen Gastheorie stützt. Seine Theorie beruht 



54 . . ^« Kapitell 

Es befindet sich somit wieder einmal die Wissenschaft 
in einem unlösbaren Widerstreit mit einer der Grund- 
forderungen der mechanischen Theorie. Die Wirkung in 
die Feme, deren Unmöglichkeit die Theorie zu behaupten 
sich genötigt sieht, erweist sich als eine letzte, auf Grund 
der Prinzipien des Stosses und Druckes einander unmittel- 
bar berührender Körper nicht weiter erklärbare Thatsache. 
Und diese Thatsache bildet die Grundlage der herrlichsten 
Theorie, welche die Wissenschaft je ausgesonnen hat — 
eine Grundlage, die sich mit jeder Erweiterung imseres 
teleskopischen Gesichtskreises vertieft und mit jeder weiteren 
Ausdehnimg der mathematischen Analyse verbreitert. 



auf der Annahme, dass „der Bereich der Gravitationswirkung ein be- 

■ 

grenzter ist", und „dass sich die Sterne in geraden Linien und nicht 
in Kreisen bewegen". In Anbetracht dieser Annahmen und meiner 
Diskussion der kinetischen Gastheorie in einem besonderen Kapitel 
halte ich es nicht für notwendig, hier näher darauf einzugehen. 



VI. 

Der Satz von der kinetischen Natur aller poten- 
tiellen Energie. — Die Entwicklung der Lehre von 

der Erhaltung der Energie. 

Nach der mechanischen Theorie ist Bewegung wie 
Masse unzerstörbar und unverwandelbar ; sie kann nicht 
verschwinden und wiedererscheinen. Jede Veränderung 
ihres Betrages rührt von einer Verteilung unter eine grössere 
oder kleinere Zahl von Masseneinheiten her. Und nachdem 
Masse und Bewegung ineinander nicht verwandelbar sind, 
kann nur Bewegung Ursache von Bewegung sein. Es gibt 
demnach keine potentielle Energie ; alle Energie ist in 
Wirklichkeit kinetisch. 

Der innige logische Zusammenhang dieser Annahme 
mit der im vorigen Kapitel erörterten liegt auf der Hand 
und ist der Kenntnis unserer leitenden Physiker nicht ent- 
gangen. Nachdem Stewart und Tait einen Abriss der 
Le SAGE'schen Hypothese gegeben haben, die ihrer Meinung 
nach wenigstens die Rudimente der einzig haltbaren physi- 
kalischen Theorie der Gravitation enthält, fahren sie fort 
zu sagen: „Wenn Le Sage's Theorie oder etwas Ähnliches 
überhaupt eine Darstellung des Mechanismus der Gravitation 
ist, bedeutet dies einen empfindlichen Schlag für den Be- 
griff jener ruhigen Form von Kraft, die wir potentielle 
Energie genannt haben. Nicht insofern als es aufhören 
würde, zwischen ihr und der kinetischen Energie einen 
tiefgreifenden spezifischen Unterschied zu geben ; sondern 
es müssten von nun an beide als kinetisch be- 



5 6 VI. Kapitel, 

trachtet werden."^) Diese Erklärung ist vor kurzem 
von Professor Tait in seinem Vortrag über die Kraft 
wiederholt worden. ^ 

Der hier vorliegende Satz ist jedem konsequenten Ver- 
teidiger der mechanischen Theorie unabweisbar. Doch 
wiederum verweigert die moderne Wissenschaft hartnäckig 
ihre Zustimmung. Sie behauptet, dass alle oder fast alle 
physikalischen Veränderungen im Weltall gegenseitige Ver- 
wandlungen kinetischer und potentieller Energie sind — 
dass Energie unaufhörlich als virtuelle aufgestapelt und als 
lebendige Kraft wieder abgegeben wird. Wenn die Linse 
eines gewöhnlichen Pendels von dem höchsten zu dem 
tiefsten Orte ihrer Bahn herabsteigt, vermindert sich ihre 
potentielle Energie in demselben Verhältnisse, als ihre wirk- 
liche Bewegung wächst; steigt sie wieder empor, ver- 
schwindet ihre Bewegungsenergie im gleichen Masse bis zu 
ihrer Ankunft am höchsten, dem ersteren entgegengesetzten 
Punkte der Bahn, woselbst sie ftir einen Augenblick be- 
wegungslos bleibt, indem sie ihre ganze Energie ihrer Lage 
verdankt. Und diese Verwandlungen und Rückverwand- 
lungen der beiden Formen von Energie sind in gleicher 
Weise ftir die vorausgesetzten Schwingungen der letzten 
Atome oder Molekeln wie für die Kreisbewegungen der 
grossen ein Planetensystem zusammensetzenden Massen 
typisch. Ein Planet, der sich in einer exzentrischen Bahn 
bewegt, gewinnt an Bewegungsenergie bei der Annäherung 
an die Sonne und verliert dieselbe wieder im gleichen 
Masse bei der Entfernung. Die gleiche gegenseitige Um- 
wandlung zeigt sich auf einem zweiten weiten Gebiet der 
Physik: dem der Wirkungsweise chemischer Affinität. Ein 
Klumpen Kohle liegt in der Erde Millionen von Jahren 

*) The Unseen Universe, § 142. 

*) On some Recent Advances in Physical Science, second ed., 
pp. 262, 263. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc. 57 

begraben; während dieser ganzen Zeit findet keine be- 
merkenswerte Veränderung seiner Lage zu den umliegenden 
Gegenständen, noch eine solche in der Lage seiner Teile 
zu einander statt — er ist ohne äussere oder innere Be- 
wegung (ausgenommen jene, mit der er an der Bewegung 
des Planeten als ein Teil desselben teilnimmt); wird er 
aber auf die Oberfläche in eine sauerstoffhaltige Luf\ und 
in Berührung mit einer Flamme gebracht, so wird seine 
latente Kraft auf einmal fühlbar — er verbrennt, indem er 
Anlass zu einer lebhaften Wirkung gibt, die sich als Licht 
und Wärme offenbart. Die Tendenz der modernen Wissen- 
schaft geht dahin, alle physikalischen Veränderungen auf 
einige wenige Formen potentieller Energien zurückzuführen, 
unter denen sich Gravitation und chemische Affinität obenan 
befinden. Nach der Meinung modemer Physiker ist die 
einzige glaubhafte Theorie über den Ursprung der Stern - 
und Planetenwelten, die bisher vorgebracht wurde, die 
unter dem Namen der Nebularhypothese bekannte ; und ob 
wir sie nun in der bekannten KANT-LAPLACE'schen Form 
oder in irgend einer ihrer neueren Abänderungen accep- 
tieren, in jedem Falle werden alle zwischen den Massen, 
wenn nicht gar auch die zwischen den Molekeln thätigen 
Kräfte des Weltalls aus der infolge der blossen Lage der 
gleichmässig im Räume verteilten Urteilchen erfolgten An- 
ziehung abgeleitet. Und alle Veränderungen in den ver- 
hältnismässig kleinen organischen imd unorganischen Formen 
werden wenigstens annäherungsweise in der Physiologie so 
gut wie in der Physik auf die Verwandtschaften chemischer 
Elemente zurückgeführt. 

In Wirklichkeit lehrt die moderne Wissenschaft, dass 
Verschiedenheit und Veränderung in den Erscheinungen 
der Natur niu: unter der Voraussetzung möglich sind, dass 
die Bewegungsenergie fähig ist, als Energie der Lage auf- 
bewahrt werden zu können. Die beinahe beständige Bil- 



58 VL Kapitel. 

düng materieller Formen, die chemische Wirkung und 
Gegenwirkung, die Krystallisation, die Entwickelung pflanz- 
licher und tierischer Organismen — all' dies hängt von der 
Überfuhrung kinetischer Energie in die potentielle Form 
ab. Um dies klar zu machen und um zu zeigen, dass die 
Mühe, den Unterschied zwischen kinetischer und poten- 
tieller Energie zum Verschwinden zu bringen, eine frucht- 
los angewandte ist, wird es nützlich sein, in Kürze einen 
Rückblick über die Geschichte der Lehre von der Er- 
haltung der Energie zu werfen. 

In einem gewissen Sinne ist diese Lehre gleichalterig 
mit dem Erwachen menschlicher Geisteskräfte. Sie ist 
weiter nichts als die Anwendung des einfachen Grundsatzes^ 
dass aus nichts nichts werden kann. •^) Die Geschichte 



*) Es kann ganz gut behauptet werden, dass der menschliche 
Verstand mit diesem Prinzipe steht und . fällt. Wenn alle Verände- 
rungen in den Erscheinungen des Universums auf das eine Prinzip 
der Erhaltung der Energie zurückgeführt sein würden, dann wäre die 
Zeit gekommen, die endliche Vollendung der physikalischen Wissen- 
schaft in einem neuen Epos ,,de rerum natura" zu feiern, und ia 
dessen erstem Kapitel würden wieder die LuCREz'schen Worte ge- 
schrieben stehen : 

,,res . . . non posse creari 

De nihilo, neque item genitas in nil revocari." 

Die Einmütigkeit und Begeisterung, mit der die frühen griechi- 
schen Philosophen der Erklärung, dass nichts völlig neu erstehea 
oder zu Grunde gehen könne , Ausdruck verliehen , ist nicht wenig 
bemerkenswert. Diogenes von Apollonia erklärte : „ovdsv ex rov firj 
oVTOS yivso&at^'' (Diog. Laert., IX, 57); ParmenideS: „öJs dyeveTot^ 
eov xai dvcoXeS'^ov iartv'' [Ksusien, Rel., V, 58); EmpedokleS: „e« 
lov yd^ firj kovros df.ii]'/avov sotI yeveod'ai^^ (Karsten, V., 48)» 
Demokrit: „/u,rj8tv r' ix rov firj mnoe yiveod'ai xal eig ro fjtrj ov 
(pd'ei^ead'ai (Diog. Laert., IX, 44). Die erste Anwendung dieses 
Prinzips auf die Bewegung ist durch Epikur geschehen (Diog. Laert., 
lib. X; Lucret. „De rerum nat.", V 294 — 307), welcher die Erhaltung 
von Masse und Bewegung durch das später auch von Leibniz (Opp^ 
Math., vol. VI, p. 440. — Vgl. Berthold „Notizen etc." in Pogg, 



Der Satz von der kinetischen Natur etc. 59 

ihrer Entwickelung und Verwendung in der Physik beginnt 
jedoch mit ihrer nachdrücklichen Hervorhebung in den 
„Principia Philosophiae" des Erfinders des Systems kos- 
mischer Wirbel.*) 



Ann., 157. Bd., S. 342) benutzte Argument zu beweisen suchte, nach 
dem es keinen Ort ausserhalb des Weltalls gebe, dem Masse oder 
Bewegung abgegeben oder von dem sie aufgenommen werden könnte, 
und das in Wirklichkeit eine Anticipation des modernen Begrififes 
„Konservatives System" ist. Eine ausführliche Darlegung der Epikur- 
schen Lehre ist von Gassendi gegeben worden (,,Ad librum deci- 
mum Biogenis Laertii Notae" opp., ed. Lugd., Bd. III, S. 241 ff.). 
Es ist nicht unwahrscheinlich, da.ss diese Darstellung von Einfluss 
auf die Gedankenrichtung Descartes' war, ungeachtet der grossen 
Verschiedenheit zwischen seinen philosophischen Absichten und denen 
Gassendi's. 

"*) Descartes ist der Vater der neuen Philosophie genannt 
worden ; mit gleichem Rechte könnte er auch der Vater der heutigen 
Physik genannt werden. Sein Anrecht auf diese Ehre muss in der 
Philosophie nicht weniger wie in der Physik andere Stützen finden, 
als die Entdeckung oder selbst nur exakte Formulierung ewiger Wahr- 
heiten. Wenige seiner philosophischen Lehrsätze haben, wenigstens 
in der Form, in der er sie aufstellte, Stand gehalten, und einige der 
Wahrheiten, die er verwarf, zählen heute zu unseren unveräusser- 
lichsten Besitztümern. Als Physiker hat er eine Reihe von Theorieen 
aufgestellt, die sich als völlig unbegründet erwiesen haben, und er 
hat die meisten Gesetze mechanischer Wirkung, deren Entdeckung 
den Ruhm seines älteren Zeitgenossen Galilei gebildet, ignoriert oder 
missverstanden. In der Philosophie war er der unmittelbare Vor- 
fahre Spinoza's, dessen System, wiewohl es in Wirklichkeit eine un- 
willkürliche reductio ad absurdum aller ontologischen Speku- 
lation ist, doch infolge der scheinbaren Eleganz seiner pseudomathe-. 
matischen Trugschlüsse dazu beigetragen hat, die Entdeckung der 
wahren Prinzipien philosophischer Untersuchung in unberechenbarer 
Weise hinauszuschieben. In der Physik haben seine Grillen das 
Feld der Forschung in dem Masse verunstaltet, dass noch heute die 
Spuren hiervon nicht verschwunden sind. Wiewohl er sich als frei 
von den metaphysischen Überlieferungen jener Epoche, die damals 
ihrem Ende entgegen ging, ausgab, stak er doch mitten in denselben. 
Doch gerade aus diesem Grunde beeinflussten seine Schriften den 



66 VI, Kapitel. 

Descartes verkündete die Lehre von der Erhaltung 
der Bewegung in vollkommen bestimmten Ausdrücken. Er 
erklärte Gott für den Urquell aller Bewegung und für den 
Erhalter der gleichen Bewegungsgrösse in der Welt.*') 
Wenn ihn seine Voraussetzung, dass Ausdehnung und Be- 
weglichkeit die einzigen Giundeigenschaften der Materie 

Gedankenkreis des 17. Jahrhunderts in weit höherem Masse als die 
Untersuchungen jener, die ihre Zuflucht zu den wissenschaftlichen 
Methoden des Experimentes und der Beobachtung genommen hatten, 
— Methoden, die gar sehr von den Denkgewohnheiten jenes Zeit- 
alters abstachen. Descartes war im wesentlichen ein Metaphysiker, 
ein Ontologe vom mittelalterlichen Schlage ; aber er brachte fast alle 
Probleme zur Sprache, deren Lösung die Aufgabe der Physiker und 
Mathematiker der zwei seither verflossenen Jahrhunderte geworden 
ist. Auf diese Weise wurden seine Spekulationen, wiewohl an sich 
läppisch, das Ferment, welches den Prozess der allmählichen Klänmg 
in der rasch anschwellenden Menge wissenschaftlichen Materials ein- 
geleitet hat. Dieses Ferment war nicht von geringer Wichtigkeit, 
wiewohl es im Verlaufe seiner Wirkung fast völlig verloren ge- 
gangen ist. 

Indem ich all' dies sage, denke ich nicht daran, die allgemeine 
Bewunderung zu schmälern, die man der Frische und Schärfe seines 
Geistes zollt; auch vergesse ich nicht, dass er der Begründer der 
analytischen Geometrie war. Und ich halte es nicht für notwendig 
hinzuzufügen, dass, während ich meiner Schätzung des Wertes von 
Spinoza's philosophischem System unumwunden Ausdruck gegeben 
habe, mir die Rührung nicht fremd ist, die der Gedanke an. die an- 
ziehende Gestalt des einsamen Denkers stets erregt, und ich keines- 
wegs gefühllos dem Zauber der einfachen Schönheit eines Lebens 
gegenüberstehe, das vielleicht vollkommener als irgend ein anderes 
die tuskulanische Definition verwirklichte: vivere est cogitare. 

'^) ,,Generalem (motus causam) quod attinet, manifestum mihi 
videtur illam non aliam esse quam Deum ipsum, qui materiam simul 
cum motu et quiete in principio creavit, jamque per solum suum 
concursum ordinarium, tantumdem motus et quietis in ea tota, quan- 
tum tunc posuit, conservat." Princ. Phil., II, § 36. Die Lehre findet 
sich mit im wesentlichen gleichen Ausdrücken in verschiedenen 
anderen Teilen des nämlichen Werkes aufgestellt ; vgl. II, § 42 ; 

in, § 46. 



Der Sat% von der kinetischen Natur etc. 6i 

seien, nicht von der Annahme der atomistischen Konstitution 
der Materie abgehalten hätte, würde er ohne Zweifel die 
Erhaltung der Bewegung^ in demselben Sinne behauptet 
haben, in dem heutzutage Personen ohne wissenschaftliche 
Bildung das Prinzip von der Erhaltung der Energie auf- 
fassen: nämlich in dem Sinne, dass die Atome, aus denen 
die materielle Welt zusammengesetzt ist, sich beständig in 
einem Zustande geradlinig fortschreitender oder schwingen- 
der Bewegung befinden und bloss die Richtung derselben 
ändern, oder dass, falls sie sich mit verschiedenen Ge- 
schwindigkeiten bewegen, die Summe derselben konstant 
ist. In Anbetracht seiner allgemeinen physikalischen Theorie 
war Descartes gezwungen, nicht auf das Atom — die vor- 
ausgesetzte Ureinheit der Masse, deren Existenz er leugnete^ 
— sondern auf die Masse überhaupt zu verzichten; und 
das Erhaltungsgesetz der Bewegung nahm in seinem System 
die Form an, dass die „Bewegungsgrösse" genannte Summe 
der Produkte aller Massen in ihre bezüglichen Geschwindig- 
keiten konstant bleibt. ®) Zu bemerken ist, dass der Aus- 
druck ,^Bewegungsgrösse" für das Produkt einer Masse in 
ihre Geschwindigkeit (d. i. das Moment) von Newton an- 
genommen und seither sich in der Physik bis auf den 
heutigen Tag erhalten hat. 

Es ist klar, dass die Erhaltung der Bewegung als einer 
absoluten Quantität im populären Sinne (in dem sie that- 



*) Die Unbestimmtheit von Descartes' mechanischen Begriffen 

kommt auffallig zum Ausdruck bei seinen Bemühungen, dies Gesetz 

mit dem dritten Bewegungsgesetz in Übereinstimmung zu bringen, 

demzufolge ein Körper beim Zusammenstoss mit einem Stärkeren 

keine Bewegung verliert — „ubi corpus quod movetur alteri occurit, 

si minorem babeat vim ad pergendum secundum lineam rectam, quam 

hoc alterum ad ei resistendum , et motum suum retinendo solam 

tnotus determinationerti amittit; si vero habeat majorem, tune alterum 

corpus secum movet ac quantum ei dat de suo motu, tantundem 

perdit." Princ. Phil., II, § 40. 



62 VI, Kapitel, 

sächlich eine Erhaltung von Geschwindigkeiten bedeutet) 
nur in einer Welt ohne Unterschiede der Dichtigkeit und 
Struktur möglich wäre. Wenn die Bewegung in diesem 
Sinne erhalten würde, könnte weder eine Verschiedenheit 
noch eine Veränderung in den Erscheinungen stattfinden. 
Auf das Weltall mit seinen bekannten unaufhörlichen Um- 
wandlungen kann dieses Prinzip der Erhaltung der Be- 
wegung keine Anwendung finden. Dies ist wenigstens 
dunkel von Leibniz erschaut worden, der die Existenz 
irgend eines Erhaltungsgesetzes der Bewegung im Sinne 
Descartes' leugnete. Seine Ableugnung fand ihren deut- 
lichsten Ausdruck in der Abhandlung „Brevis demonstratio 
erroris memorabilis Cartesii et aliorum circa legem naturae, 
secundum quam volunt a Deo eandem semper quantitatem 
motus conservari, qua et in re mechanica abutuntur" (Acta 
Erud., Lips., 1686). ') Der Cartesianischen Lehre von der 
Erhaltung der Bewegungsgrösse setzte er das Prinzip von 
der Erhaltung der lebendigen Kraft (vis viva) entgegen 
— dem Produkte der Masse in das Quadrat ihrer Ge- 
schwindigkeit. 

Hier lag der Ursprung des berühmten Streites zwischen 
den Leibnizianern und den Cartesianem in Bezug auf die 
Frage nach der wahren Schätzung der Kräfte des Weltalls, 
an dem sich so viele Mathematiker und Philosophen be- 
teiligt haben und zu dem, wie bekannt, auch Kant einen 
späten und übel angebrachten Beitrag geliefert hat. Diese 
Streitfrage ist seit langem endgiltig abgethan; sie ist aber 
für meinen Endzweck, die vorherrschenden Missverständnisse 
über die wahre Bedeutung des Prinzips der Erhaltung der 
Energie aufzuklären, von so grosser Bedeutung, dass ich ihr 
eine kurze Betrachtung widme. 

Kraft im gewöhnlichen Sinne des Wortes (als Ursache 



') Leibn., opp. math., vol. VI, p. 117. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc. 63 

von Bewegung oder vielmehr als Inbegriff all ihrer Be- 
dingungen) findet einfach ihr Mass in der Geschwindigkeit 
der Masseneinheit. Auf diese Weise werden Kraft und 
Masse an einander gemessen. Zwei Kräfte sind gleich, 
wenn sie derselben Masse dieselbe Geschwindigkeit (oder 
allgemeiner dieselbe Beschleunigung) erteilen*, und zwei 
Massen sind gleich, wenn sie durch gleiche Kräfte gleiche 
Beschleimigungen erfahren. Wenn die Bewegung einer 
Masseneinheit sich auf mehrere Einheiten verteilt, wird die 
Bewegung einer jeden proportional der Anzahl der Ein- 
heiten verringert. Die Geschwindigkeit (bezw. Beschleuni- 
gimg) eines Körpers ist daher der Kraft direkt und der 
Masse indirekt proportional. In dem Falle konstanter, 
gleichförmig beschleunigender Kräfte sind die Geschwindig- 
keiten offenbar der Dauer der Einwirkimg proportional. 
Wir haben daher 

^ , . j. , . Kraft ^ ^ „,. , 

Geschwindigkeit = -^j-z X Dauer der Wirkung, oder 

Masse X Geschwindigkeit == Kraft X Dauer der Wirkung; 
. . . (i) d. i. die während einer bestimmten Zeit ausgeübte 
Kraft ist gleich dem Produkte aus der Masse in deren Ge- 
schwindigkeit. Andererseits ist der Weg, welchen der 
Körper unter Einwirkung einer konstanten Kraft zurücklegt, 
wie die Geschwindigkeit der Kraft gerade und der Masse 
verkehrt proportional; ungleich der Geschwindigkeit ist er 
aber nicht einfach der Zeit, sondern der Hälfte ihres 
Quadrates proportional. Es ist daher 

Weg (der Wirkung) = — X V2 (Iraner der Wirkung)-', 

iVLasse 

oder (insofern als nach der ersten Gleichung 

^ , ,,,. , Masse X Geschwindigkeit . . 

Dauer der Wirkung = — — ist) 

ivratt 

V2 Masse X (Geschwindigkeit) ^ 
= Kraft X Weg (der Wirkung) ... (2) 



64 VI. Kapitel, 

Das erste Glied der letzten Gleichung — das Produkt 
der Masse in die Hälfte des Quadrates der Geschwindig- 
keit — ist Leibniz' lebendige Kraft und wird jetzt 
kinetische Energie genannt. ®) 

Es ist klar, dass die erste Formel (von Descartes) die 
Messung einer gegebenen Kraft bei gegebener Zeit, die 
zweite (von Leibniz) die bei gegebenem Weg ausdrückt. 
Zwischen beiden liegt kein Widerspruch, vielmehr ist die 
eine eine Folge der anderen. Und noch immer ist die 
Streitfrage von Interesse angesichts der Cartesianischen 
Behauptung (die in manchen Gemütern als unausrottbare 
Einbildung zurückgeblieben ist), dass die Kraft in dem 
Sinne, wie sie durch das Verhältnis des Wachstums der 
Bewegungsgrösse definiert wird, erhalten bleibt, und dass 
die Momente während zweier gleicher 2^itintervalle gleich 
sind. Im Lichte der modernen Wissenschaft erscheint 
nichts nachweislicher falsch als die Lehre von der Er- 
haltung der Energie, wie sie von Descartes aufgestellt 
worden ist. Dessenungeachtet gibt es einen Sinn, in dem 
die Bewegungsgrösse — oder wie es jetzt gewöhnlich heisst, 
das Moment — bei der gegenseitigen Einwirkung der ein 
materielles System zusammensetzenden Körper konstant 
bleibt. Da das Moment das Produkt von Masse und Ge- 
schwindigkeit ist, und die Geschwindigkeit notwendigerweise 
eine bestimmte Richtung hat, so folgt, wie Newton selbst 
gezeigt hat, aus seinem dritten Bewegungsgesetz (nach dem 
Wirkung und Gegenwirkung gleich und entgegengesetzt 
sind — somit eine jede sogenannte Kraft nur die eine 
Seite der gegenseitig gleichen und entgegengesetzten Ein- 
wirkung zweier Körper darstellt — ), dass das Moment 



®) Leibniz und seine Zeitgenossen bezeichneten das ganze 
Produkt der Masse in das Quadrat der Geschwindigkeit als lebendige 
Kraft ; doch ist dies nur dann richtig, wenn die Schätzung der Kräfte 
in Form einer .Proportion geschieht. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc. 65 

irgend eines Körpersystems, d. i. die Summe ihrer Be- 
wegungsgrössen , nach welcher Richtung hin auch diese 
Grössen gemessen werden mögen, sich niemals durch gegen- 
seitige Einwirkung ändern kann. Welches Moment auch 
von einem Teil des Systems erworben werden mag, wird 
stets von einem zweiten Teil in derselben Richtung ver- 
loren. Daraus ergibt sich der wichtige Grundsatz der 
Dynamik (angeführt in Newton's viertem Corollarsatz aus 
seinen Bewegungsgesetzen), dass der Massenmittelpunkt eines 
Systems durch gegenseitige Einwirkung von Teilen desselben 
niemals geändert wird. 

Zur Erklärung der Anwendung des Cartesianischen 
Satzes auf das Weltall als ein einziges konservatives System 
und seiner Anpassung an die Thatsachen würde es not- 
wendig sein, eine bestimmte Richtung im Räume anzu- 
nehmen und auf dieselbe alle Bewegungen der das System 
zusammensetzenden Teile zu projizieren — mit anderen 
Worten die Komponenten dieser Bewegungen zu nehmen, 
wie sie durch die Kosinusse der Winkel zwischen ihren 
Richtungen und der angenommenen Bezugsrichtung dar- 
gestellt werden. Dann würde die Summe der Momente, 
d. i. der Produkte der Massen in ihre auf die angenommene 
Richtung bezogenen Geschwindigkeiten, konstant sein ; wobei 
die Bewegung in einer Richtung als positiv, die in der 
entgegengesetzten als negativ in Rechnung zu ziehen wäre 
(und dementsprechend auch das Moment, von dem sie einen 
Faktor darstellt).®) 



*) Es ist zuweilen behauptet worden, dass Bewegungsgrössen 
einander mitunter teilweise oder völlig gegenseitig autheben, wie in 
dem Falle eines zentralen Stosses zweier unelastischer Körper, die 
sich mit gleicher Geschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen 
bew^egen, in welchem Falle die Körper nach dem Stosse in Ruhe 
bleiben und somit ihr resultierendes Moment = o ist. Da jedoch 
die Momente der beiden Körper gleich und entgegengesetzt sind, 
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 5 



66 VI. Kapitel 

Wiewohl das Verdienst, das Prinzip von der Erhaltung 
der lebendigen Kraft formuliert zu haben, Leibniz zukommt, 
ist die erste klare Aufhellung des Verhältnisses dieses 
Prinzips zu jenem von der Erhaltung des Momentes Huygens 
zu verdanken und in den Worten enthalten: „Die in zwei 
Körpern enthaltene Bewegungsgrösse kann durch deren 
Zusammenstoss vermehrt oder vermindert werden ; aber es 
verbleibt stets die gleiche Grösse auf der einen Seite, wenn 
wir den Betrag der entgegengesetzten Bewegung subtra- 
hieren Die Summe der Produkte jeder festen 

Masse multipliziert mit dem Quadrate ihrer Geschwindigkeit 
ist stets dieselbe vor und nach dem Zusammenstosse." ^®) 

Der in diesem Punkte, bezüglich der Verbesserung der 
Cartesianischen Lehre, gemachte Fortschritt bestand in der 
Leugnung der Erhaltung der Bewegung in dem Sinne 
einer einfachen Erhaltung der Geschwindigkeit oder der 

war ihre Summe vor dem Stosse auch = o, so dass der angeführte 
Fall keine Ausnahme der Regel bildet, dass die Momente der stossea- 
den Körper durch deren Stoss nicht geändert werden. 

^^) „La quantite du mouvement qu'ont deux corps se peut au- 
gmenter ou diminuer par leur rencontre; mais il y reste toujours la 
meme quantite vers le meme cote , en soustrayant la quantite du 
mouvement contraire ... La somme des produits faits de la gran- 
deur de chaque corps dur multiplie par le carre de sa vitesse, est 
toujours la meme devant et apres la rencontre." Vgl. Akin ,,On the 
History of Force", Phil. Mag., 4th ser., vol. 28, p. 472. Professor 
BoHN (ib., p. 313) erhebt für Johann Bernoulli den Anspruch auf 
die Ehre der Priorität in Bezug auf die klare Auseinandersetzung des 
Prinzips der Erhaltung der lebendigen Kraft; doch scheint es beim 
Durchlesen der von ihm citierten Stellen, dass Bernoulli's Begriff 
auf einer metaphysischen Annahme von der Substantialität der Be- 
wegung und der Gleichheit von Ursache und Wirkung beruhte. In 
der That hatte Johann Bernoulu das Prinzip in der Form und auf 
Grund der Betrachtungen von Leibniz angenommen, der wie Des- 
CARTES mehr ein Metaphysiker als ein Physiker war, während Huygens, 
ein wahrer Mann der Wissenschaft, zu seinen Sätzen durch eine Reihe 
von Verallgemeinerungen spezieller Fälle gekommen war. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc, 67 

Bewegungsgrösse oder des Verhältnisses, in dem sich diese 
unabhängig von ihrer Richtung ändert, und in der Behaup- 
tung der Erhaltung der Energie der Bewegung — einer 
dem Produkte aus der Masse und dem Quadrat ihrer Ge- 
schwindigkeit proportionalen Grösse. Dies war der Stand 
der Lehre zur Zeit Newton's. 

Das LEiBNiz'sche Prinzip könnte selbst heutigen Tages 
(indem alle erforderlichen Voraussetzungen in Newton's 
Bewegungsgesetzen und insbesondere in seiner Interpretation 
des dritten derselben gelegen sind) so verallgemeinert 
werden, dass es nicht nur die Erhaltung der lebendigen 
Kraft, sondern auch das Prinzip der virtuellen Geschwindig- 
keiten, die Erhaltung des Momentes (und zwar auch des 
Winkelmomentes) und das moderne Prinzip der Erhaltung 
der Energie umfassen würde. Die Formel würde diese sein : 
Weder das Moment, noch die Energie eines Systems von 
Körpern ändert sich je durch gegenseitige Einwirkungen. Es 
ist klar, dass dies nichts anderes ist als eine Ausdehnung des 
Prinzips der Trägheit, nach dem ein Körper, mag er als ein- 
fach oder als aus Teüen zusammengesetzt betrachtet werden, 
sich nicht selbst bewegen kann, d. i. keine Veränderung in 
seinem eigenen Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen 
Bewegung — dabei als ganzer Körper betrachtet — her- 
vorbringen kann. 

Die moderne Wissenschaft hat eine Reihe von Begriffen 
■«•sonnen, welche dazu dienen, die Erfassung der Gesetze, 
welche die Veränderungen im Zustande materieller Aggre- 
gate bestimmen, zu erleichtern. Indem jeder wahrnehmbare 
Körper als ein System von Masseneinheiten behandelt wird, 
wird „Arbeit" als eine Veränderung in der Konfigi^ration 
solch eines Systems entgegen den wirksamen Kräfteh und 
„Energie" als Fähigkeit, Arbeit zu leisten, definiert. Wird 
ein solches System als ausschliesslich unter der Wirkung 
<ier gegenseitigen. Kräfte seiner Teileinheiten stehend be- 



68 VI. Kapitel. 

trachtet, d. i. wenn es weder auf andere Systeme einwirkt^ 
noch auf dasselbe von aussen eingewirkt wird, so heisst es 
ein „konservatives System**. In Wirklichkeit gibt es kein 
begrenztes materielles System, welches nicht in gegenseitige 
Wirkungen mit äusseren Systemen oder Körpern verwickelt 
ist, so dass aus diesem Grunde ein „konservatives System'* 
angemessener als eine Gruppe von Körpern definiert wird, 
die, wenn sie nach einer Reihe von Veränderungen der 
Lage in den ursprünglichen Anfangszustand zurückkehren^ 
nach aussen hin ebenso viel Arbeit leisten, als an sie ab* 
gegeben worden ist, so dass die von äusseren Körpern 
erhaltene Energie durch die an dieselben abgegebene auf- 
gewogen wird. Wenn wir nun das Prinzip der Erhaltung 
der lebendigen Kraft durch diese Begriffe ausdrücken, so 
nimmt es die folgende Form an: Bei Veränderungen ia 
der Konfiguration eines konservativen Systemes ist seine 
aktuelle Energie (Bewegungsenergie oder lebendige Kraft, 
jetzt kinetische Energie genannt) die nämliche, sobald seine 
Konfiguration die gleiche ist, d. i. sobald die Teileinheiten 
sich in gleicher relativer Lage befinden, auf welchen Bahnen 
imd mit welchen Geschwindigkeiten sie auch von der einen 
Lage in die andere gekommen sein mögen. Die Bedeutung 
dieses Satzes kann am leichtesten an der Betrachtung des 
einfachen Falles der Pendelschwingungen deutlich gemacht 
werden, die seit den Tagen Galilei's als Musterbeispiel zur 
Erläuterung dynamischer Gesetze dienen. Die Pendel- 
linse ändert ihre Geschwindigkeit an jedem Punkte; aber 
die Geschwindigkeiten in den Punkten, die gleich weit vom. 
Orte der Maximalgeschwindigkeit abstehen, sind gleich 
gross. ^^) Ein noch einfacherer Fall ist der eines vertikal 
aufwärts geworfenen Körpers, der zu seinem Ausgangspunkte 



^*) Dies ist natürlich nur von einem idealen, reibungslos im 
leeren Raum schwingenden Pendel genau richtig. 



Der Satx von der kinetischere Natur etc, 69 

zurückkehrt; durch die Wirkung der Schwere wird sein 
Aufstieg verzögert, sein Fall beschleunigt (wobei die Wirkung 
der Luft ausser Betracht bleiben soll) ; in demselben Punkte 
ist aber die Geschwindigkeit im Ab- und Aufstieg die 
gleiche. Einen ähnlichen, wenn nicht den gleichen Fall 
bieten die Himmelskörper dar, welche sich in elliptischen 
Bahnen bewegen und — abermals abgesehen von Ursachen, 
welche die genaue Periodizität der Bewegung verhindern 
— an denselben oder an symmetrisch gelegenen Punkten 
die gleiche Energie besitzen. Die hier angeführten Bei- 
spiele beziehen sich alle auf Fälle ungleichförmiger (gleich- 
förmig beschleunigter oder verzögerter Bewegung); ist die- 
selbe eine gleichförmige, so ist das Erhaltungsgesetz das 
wohlbekannte Prinzip der virtuellen Geschwindigkeiten.. 

Die nächste zu beantwortende Frage ist offenbar diese : 
Was ist das Energiegesetz ohne Betrachtung vollständiger 
Kreisläufe in den Veränderungen der Lage in den Zwischen- 
Zeiten, während des Überganges des Systems aus einer an- 
genommenen Anfangslage in eine andere und während der 
Rückkehr von dieser zu der Anfangsstellung? Die Antwort 
auf diese Frage, welche erst in neuerer Zeit feste Form 
angenommen hat, bildet den wirklichen und vollständigen 
Ausdruck der Lehre von der Erhaltung der Energie. Sie 
lautet: Bei einer Reihe von Veränderungen in der Kon- 
figuration eines konservativen Systems bleibt die Summe 
aus der kinetischen und potentiellen Energie (d. i. aus der 
wirklichen Energie des Systems vermehrt um die beim 
Übergange aus der Anfangslage in die jetzige geleistete 
Arbeit) konstant, indem die geleistete Arbeit als Kraft zur 
Wiederherstellung der Anfangslage und somit auch der ver- 
loren gegangenen wirklichen Energie aufgespeichert wird. 
Im buchstäblichen Sinne lässt sich diese Fassung des Prinzips 
nur auf Fälle anwenden, in denen Arbeit gegen die Kräfte 
des Systems geleistet wird, wie z. B., wenn ein Körper 



70 VI. Kapitel. 

aufwärts entgegen der Wirkung der Schwere geworfen wird 
— wenn also kinetische Energie als potentielle aufger 
speichert wird. Wenn aber kinetische Energie wiederher- 
gestellt und potentielle verloren wird» wie in dem Beispiele 
eines fallenden Körpers, muss die Fassung des Satzes inso« 
weit abgeändert werden, dass sie die Konstanz der Summe 
ausspricht, die man durch Addition der einer gegebenen 
Lage entsprechenden kinetischen Energie zu der Arbeit 
erhält, die geleistet werden mtisste, um die Anfangslage 
mit dem Maximum an potentieller Energie wiederherzu- 
stellen. In solchen Fällen ist der mathematische Ausdrück 
für die potentielle Energie, nach Arbeitseinheiten gemessen^ 
negativ. In der Anwendung auf die Energie des Weltalls 
(das notwendigerweise konservativ sein muss, nachdem sich 
keine Körper ausserhalb desselben befinden) lautet das Er- 
haltungsgesetz folgendermassen : Die kinetische Energie des 
Weltalls vermehrt um die Arbeit, die gegen die wechsel- 
seitigen Kräfte seiner Bestandteile geleistet werden müsste, 
um letztere bis zu der Grenze der Wirksamkeit dieser Kräfte 
d. i. bis zu imendlichen gegenseitigen Abständen zu ent- 
fernen, ist zu allen Zeiten konstant.^-) 

Die Übereinstimmung des Prinzips der Erhaltung der 
Energie mit den Thatsachen der Erfahrung ist hinlänglich 
ersichtlich, solange es sich um sichtbare oder in anderer 
Weise wahrnehmbare Veränderungen in der Lage oder 



^*) Es ist zu bemerken, dass ich hier die Lehre von der Er- 
haltung der Energie in ihrer Anwendung auf das Weltall in dem 
Sinne nehme, wie es allgemein unter den Physikern üblich ist Die 
Diskussion der Frage über die Zulässigkeit der Annahme, logische 
Begriffe und mathematische Formeln, die auf Grund endlicher Be- 
dingungen aufgestellt worden sind, auf das Unendliche anzuwenden 
und die grenzenlose Welt so zu behandeln wie ein bestimmtes 
mechanisches System und deren Energie als eine konstante Grösse 
anzusehen, muss einer späteren Stufe im Verlaufe unserer Unter- 
suchung vorbehalten bleiben. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc. 71 

Konfiguration eines Körpers oder eines Systems yon 
Körpern handelt, wie z. B. um die Wirkung der Schwere, 
die Spannung eines elastischen Körpers u. s. w. In diesen 
Fällen sehen wir leicht, dass Energie abwechselnd als 
Energie der Lage aufgespeichert und als kinetische wieder- 
hergestellt wird. Doch gibt es auch eine Reihe von Fällen, 
in denen ein Verlust von Energie ohne sichtbare Lagen- 
änderung eintritt. Wenn zwei gleich grosse unelastische 
Körper, die sich mit gleichen Geschwindigkeiten nach ent- 
gegengesetzten Richtungen bewegen, zentral zusammen- 
stossen, so findet wenigstens dem Augenscheine nach 
eine völlige Vernichtung der Bewegung und kein Ge- 
winn an der Lage statt, denn die Körper verbleiben in 
Ruhe an dem Orte des Zusammenstosses. Ein ähnlicher 
Verlust an Energie wird beobachtet, wenn Arbeit gegen 
Reibung geleistet wird. Was wird aus der Bewegungsenergie, 
die in Fällen dieser Art' zu verschwinden scheint ? Auf diese 
Frage wusste offenbar Newton keine bestimmte Antwort. 
Er behauptete ausdrücklich, dass „Bewegung gewonnen 
werden oder verloren gehen kann" und dass, „da die Träg- 
heit ein passives Prinzip ist, . . . irgend ein anderes Prinzip 
notwendig ist, um Körper in Bewegung zu setzen, und ein 
anderes, um sie, wenn sie in Bewegung sind, in derselben 
zu erhalten . . . Infolge der Unzusammendrückbarkeit der 
Flüssigkeiten und der Reibung ihrer Teile, sowie der un- 
vollkommenen Elasticität der festen Körper ist Bewegung 
viel mehr in der Lage, verloren als gewonnen zu werden, 
und ist fortwährend in At)nahme begriffen." ' ^) Es wäre 
jedoch ein Irrtum, mit Stewart und Tait^*) zu behaupten, 
dass die Antwort zu Newton's Zeiten unbekannt war. Die 
Antwort der modernen Wissenschaft, dass der scheinbare 



i"») „Opticks," 4th ed., p. 373. 
^*) The Unscen Universe, § 100. 



72 VI, Kapitel. 

Verlust an Massenbewegung von einer wirklich stattfinden- 
den Umwandlung derselben in Molekularbewegung herrühre, 
ist von Leibniz anticipiert worden , wie aus folgender be- 
merkenswerten Stelle in seinem fünften Briefe an Clarke 
erhellt: „Ich habe behauptet, dass die wirksamen Kräfte 
sich in der Welt erhalten. Man wirft mir vor, dass zwei 
weiche unelastische Körper beim Zusammenstosse einen 
Teil ihrer Kraft verlieren. Ich entgegne, dass dies nicht 
der Fall ist. Es ist allerdings richtig, dass die Körper als 
ganze eine Einbusse an ihrer Gesamtbewegung erleiden^ 
aber ihre Teile nehmen dieselbe auf, indem sie durch die 
Kraft des Stosses in eine heftige innere Bewegung geraten. 
Der Verlust ist nur ein scheinbarer. Die Kräfte sind nicht 
vernichtet, sondern nur unter die kleinen Teilchen zerstreut. 
Dies bedeutet keinen Verlust, sondern ist dasselbe, wie 
wenn grosses Geld in kleines umgewechselt wird." ^^) Die 



**) „J'avais soutenu que les Forces actives se conservent dans 
le monde. On m'objecte, que deux corps moux, ou non-elastiques, 
concourant entre eux, perdent de leur force. Je reponds que non. 
II est vrai que les Touts la perdent par rapport ä leur raouvement 
total; mais les parties la regoivent, etant agitees interieurement par 
la force du concours. Ainsi ce defaut n'arrive qu'en apparence. 
Les forces ne sont detruites, mais dissipees parmi les parties menues. 
Ce n'est pas les perdre, mais c'est faire comme fönt ceux qui changent 
la grosse monnaie en petite." Opp. phil. , ed. Erdmann, p. 775. 
Es ist seltsam, dass diese Stelle so viele Jahre hindurch selbst nach 
der Annahme der modernen Lehre von der Erhaltung und Verwand- 
lung der Energie und der Wechselbeziehung der Kräfte unbemerkt 
geblieben ist. Ich fand sie vor mehreren Jahren; kürzlich hat Du 
Bois-Reymond auf sie die Aufmerksamkeit gelenkt in seinem Vor- 
trage: ,,Leibnizische Gedanken in der neueren Naturwissenschaft". 
Es gibt noch eine andere Stelle von gleicher Bedeutung in Leibniz' 
Mathematischen Werken (her. v. Gerhardt), Bd. 2, S. 230. Dr. 
Berthold hat (Pogg. Ann., Bd. 157, S. 350) gezeigt, dass die „Allo- 
tropie der Kraft" mehr als ein Jahrhundert vorher in Ausdrücken von 
merkwürdiger Präcision von Diderot in seinen „Pensees sur l'inter- 
pretation de la nature", Londres, 1754, § 45 verkündet wurde. 



Der Satz von der kinetischen Natur etc, 73 

hier verkündete Wahrheit war lange Zeit hindurch, um 
einen Ausdruck von Coleridge zu gebrauchen „eine bett- 
lägerige Wahrheit" ; trotz der lebhaften und selbst stürmischen 
Erörterungen über die Kräfte und deren Messung und in- 
mitten eines raschen Wachstums physikalischer Thatsachen 
und Theorieen blieb sie für mehr als ein Jahrhundert be- 
graben. Diese scheinbare Anomalie erklärt sich durch den 
Umstand, dass bis zur Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts 
W^ärme, Elektricität, Magnetismus u. s. w. für materielle Sub- 
stanzen gehalten wurden, deren gegenseitige Verwandelbar- 
keit mit mechanischer Bewegung oder Energie völlig un- 
begreiflich erschien. Erst nach der Aufstellung der dyna- 
mischen Theorieen der „Imponderabilien" zeigte sich die 
Fruchtbarkeit der Lehre von der Erhaltung und Verwand- 
lung der Energie und führte zu einem gründlichen . Umbau 
der ganzen Physik. ^®) 

Die Wechselbeziehung und gegenseitige Verwandlung 
der verschiedenen Formen von Energie ist in so ausführ- 
licher Weise in den wissenschaftlichen Tagesschriften be- 
handelt worden, dass es nicht notwendig ist, darauf näher 
einzugehen. Der Zweck meiner kurzen Übersicht über die 
Geschichte der Lehre von der Erhaltung der Energie oder 
vielmehr der Entwicklung der daselbst auftretenden wissen- 
schaftlichen Begriffe war einfach der, zu zeigen, dass die 
Geschichte in der That ein fortschreitendes Verlassen des 
an die Spitze dieses Kapitels gestellten Satzes lehrt, der 
seinem Wesen nach mit Descartes' Theorie von der Er- 
haltung der Bewegung identisch ist — ein Umstand, dessen 
Bedeutung ich später auseinanderzusetzen hoffe. 



^®) Ich kenne wohl die Anticipationen der modernen Wärme- 
theorie von Bacon, Locke, Rumford, Sir Humphry Davy u. a. ; 
doch fand ihre übrigens klare Behauptung, dass die Wärme nur eine 
„Art von Bewegung" sei, ebensowenig Aufmerksamkeit von Seite der 
zeitgenössischen Physiker als die oben erwähnte Lehre von Leibniz. 



74 ■ ^^» Kapitel, 

Wir haben nun die vier Hauptsätze der mechanischen 
Atomtheorie auseinandergesetzt und haben (ohne auf das 
Gebiet des Organischen einzugehen) gefunden, dass jeder 
einzehie derselben von den Wissenschaften der Chemie, 
Physik und Astronomie verleugnet wird. Bevor wir daran 
gehen, die Ursachen und Folgen dieses Ergebnisses zu 
untersuchen, und die Beziehung der mechanischen Theorie 
zu den Denkgesetzen, wie die Geschichte ihrer Entwicklung 
zu betrachten, ist es von Wichtigkeit, diese Erörterung durch 
eine Untersuchung über die Natur, die Giltigkeit und den 
wissenschaftlichen Wert der Hypothese von der atomistischen 
Konstitution der Materie zu ergänzen. 



VII. 

Die Theorie von der atomistischen Konstitution 

der Materie. 

Die Lehre, dass eine erschöpfende Zerlegung der 
Materie in ihre wirklichen Elemente, falls sie praktisch 
ausführbar wäre, ein Aggregat unteilbarer und unzerstörbarer 
Partikel ergeben würde, ist eines der frühesten Erzeugnisse 
menschlichen Denkens und hat sich fester behauptet, als 
irgend ein anderer Lehrsatz der Wissenschaft oder der 
Philosophie. Allerdings ist die Atomtheorie seit ihrem 
ersten Auftreten bei den alten griechischen Philosophen 
und ihrem ersten ausführlichen Entwurf bei Lucrez abge- 
ändert und verfeinert worden. Es wird wahrscheinlich 
niemand heutzutage mehr die Atome mit Hacken und 
Schlingen suchen, oder den bitteren Geschmack von Wermut 
durch die Rauheit und die Süsse von Milch und Honig 
durch die sanfte Rundung der sie zusammensetzenden Atome 
zu erklären suchen. ^) Immerhin sind aber die Atome der 
modernen Wissenschaft noch von bestimmtem Gewichte, 
wenn nicht von bestimmter, gleichförmiger und konstanter 
Gestalt und gelten selbst nach den Ansichten jener, die wie 
BoscoviCH, Faraday, AMPfeRE oder Fechner sie als blosse 
Kraftcentra betrachten, ftir mehr als abstrakte Einheiten. 
Es ist auch nicht schwer, der Atomenlehre eine solche 
Fassung zu geben, die sie auf alle Bedeutungen, welche sie 
bei den Männern der Wissenschaft gefunden hat, anwendbar 



^) LucRETius, De Rerum Natura, II, 398 seq. 



76 VII. Kapitel. 

macht. Denn welche Verschiedenheit der Ansichten auch 
über die Form, Grösse u. s. w. der Atome vorherrschen 
mag, so Istimmen doch alle, welche die Atomhypothese in 
irgend einer ihrer Formen als physikalische Theorie vor- 
bringen, in den drei nachfolgenden Sätzen mit einander 
überein : 

1. Die Atome sind absolut einfach, unver- 
änderlich, unzerstörbar; sie sind physikalisch, 
wenn nicht mathematisch unteilbar. 

2. Die Materie ist diskret zusammengesetzt, 
die sie zusammensetzenden Atome sind durch 
leere Zwischenräume geschieden. Im Gegen- 
satz zur Kontinuität des Raumes steht die 
Diskontinuität der Materie. Die Ausdehnung 
eines Körpers ist einfach ein Wachstum, seine 
Zusammenziehung eine Verminderung der 
Zwischenräume der Atome. 

3. Die Atome, welche die verschiedenen 
chemischen Elemente zusammensetzen, haben 
bestimmte eigentümliche Gewichte, die ihren 
Äquivalentgewichten entsprechen/"') 

Eingestandenermassen ist die Atomtheorie bloss eine 
Hypothese. Dies ist an und für sich nicht entscheidend 
gegen ihre Wertschätzung; alle sogenannten physikalischen 
Theorien sind Hypothesen, deren allenfalsige Anerkennung 
als Wahrheiten von ihrer Übereinstimmung unter einander, 
ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik, ihrer 



^) Um Verwirrungen zu vermeiden, habe ich absichtlich für den 
Augenblick den Unterschied zwischen den Molekeln als den letzten 
Ergebnissen der physikalischen Teilung der Materie und den Atomen 
als den letzten Produkten der chemischen Zerlegung ausser Acht ge- 
lassen , indem ich es vorgezogen habe , das Wort Atom in dem 
Sinne letzter Teile aufzufassen, in die durch irgend welche Mittel 
die Körper noch zerlegbar sind. 



Die Theorie v, d, atomistischen Konstitution d, Materie. 77 

Überemstimmung mit den Thatsachen, zu deren Erklärung 
und Verknüpfung sie dienen, ihrer Überemstimmung mit 
der ermittelten Naturordnung, von der Ausdehnung, bis 
zu welcher sie sich als vertrauenswürdige Anticipationen 
oder Vorhersagungen von Thatsachen erweisen, die durch- 
nachfolgende Beobachtung und Experiment bestätigt werden,, 
imd endlich von deren Einfachheit oder vielmehr von 
deren vereinfachenden Wirksamkeit herrührt. Die Ver- 
dienste der Atomtheorie sind demnach darnach zu be- 
urteilen, ob sie in ausreichender und einfacher Weise von 
den Erscheinimgen, zu deren Erklärung sie aufgestellt 
worden ist, Rechenschaft gibt, und ob sie in Überein- 
stimmung mit sich selbst und mit den bekannten Gesetzen 
der Vernunft und der Natur steht. 

Für welche Thatsachen soll also die Atomtheorie 
Rechenschaft geben, und bis zu welchem Grade ist diese 
ausreichend ? 

Man behauptet, dass der erste der drei obigen Sätze 
(der die beständige Integrität der Atome oder deren Un- 
veränderlichkeit dem Gewichte und Volumen nach behauptet) 
Rechenschaft gebe für die Unzerstörbarkeit und Undurch- 
dringlichkeit der Materie, der zweite (der sich auf die Dis- 
kontinuität der Materie bezieht) eine unerlässliche Forderung 
für die Erklärung gewisser physikalischer Erscheinungen wie 
die der Dispeßion und Polarisation des Lichtes sei, und der 
dritte (demzufolge die Atome der chemischen Elemente 
bestimmte spezifische Gewichte haben) den notwendigen 
allgemeinen Ausdruck der chemischen Gesetze der kon- 
stanten Zusanmiensetzung, der äquivalenten Verhältnisse und 
der multiplen Proportionen vorstelle. 

Die Diskussion dieser Ansprüche erfordert zunächst 
eine Richtigstellung der Thatsachen und eine Zurück- 
führung derselben auf einen exakten Ausdruck, um dann 



78, VIL Kautel 

zu sehen, inwieweit sie durch die Theorie eine Verein- 
fachung erfahren. 

I. Die Unzerstörbarkeit der Materie ist eine unzweifel- 
hafte Wahrheit. Doch in welchem Sinne und aus welchen 
Gründen behauptet man sie? Die einmütige Antwort aller 
Atomisten lautet: Die Erfahrung lehrt, dass alle Verände- 
rungen, denen die Materie unterworfen ist, blosse Varia- 
tionen der Form sind, und dass bei denselben eines unver- 
änderlich bleibt — die Masse oder Quantität der Materie. 
Die Konstanz der Masse wird durch die Wage erwiesen, 
welche zeigt, dass weder Schmelzen, noch Sublimieren, 
weder Erzeugen noch Verderben das Gewicht eines dem 
Experimente unterworfenen Körpers vermehren oder ver- 
mindern kann. Wenn ein Pfund Kohle verbrannt wird, 
zeigt die Wage die fortdauernde Existenz dieses Pfundes 
in der Kohlensäure, welche das Produkt dieser Verbrennung 
bildet, und aus welcher das ursprüngliche Gewicht der 
Kohle wieder zurückgewonnen werden kann. Die Quantität 
der Materie wird durch ihr Gewicht gemessen und dieses 
Gewicht ist unveränderlich. 

Das ist die jedermann bekannte Thatsache wie ihre 
nicht minder bekannte Deutung. Deren Korrektheit zu 
prüfen, mag es gestattet sein, ein wenig ' die Methode ihrer 
Bestätigung zu ändern. Statt das Pfund Kohle zu ver- 
brennen, lassen wir es einfach auf den Gipfel eines Berges 
führen oder an einen niedrigeren Breitengrad schaffen; ist 
dann sein Gewicht noch immer dasselbe? In relativer Be- 
ziehung wohl; es wird noch immer demselben Gegen- 
gewicht Gleichgewicht halten. Aber das „absolute Gewicht*' 
ist nicht mehr dasselbe. Dies wird sofort ersichtlich, wenn 
wir der Wage eine andere Form geben, indem wir ein 
Pendel statt eines Paares von Wagschalen wählen. Das 
Pendel schwingt auf dem Gipfel eines Berges oder in der 
Nähe des Äquators langsamer als das am Fusse des Berges 



Die Theoiie v, d, atomistiscJien Konstitution d. Mateine. 79 

oder näher an den Polen gelegene, weil es infolge der 
grösseren Entfernung vom Mittelpunkte der Erdanziehung 
spezifisch leichter ist, entsprechend dem Gesetze, nach dem 
die Anziehungen der Körper umgekehrt proportional dem 
Quadrate ihrer Entfernung sind. 

Es ist demnach evident, dass die Konstanz, auf deren 
Beobachtung die Behauptung von der Unzerstörbarkeit der 
Materie gegründet wurde , lediglich eine solche einer Be- 
ziehungsart ist, und dass die gewöhnliche Feststellung derselben 
eine rohe und unangemessene ist. Denn wiewohl es richtig 
ist, dass das Gewicht eines Körpers ein Mass der Masse 
bildet, so ist es doch in Wirklichkeit nur ein spezieller 
Fall der viel allgemeineren Thatsache, dass die Massen 
der Körper umgekehrt proportional den ihnen unter Ein- 
wirkung derselben Kraft erteilten Geschwindigkeiten oder, 
noch allgemeiner ausgedrückt, den in ihnen durch die näm- 
liche Kraft erzeugten Beschleunigungen sind. In dem 
Falle der Schwere sind die anziehenden Kräfte den Massen 
direkt proportional, so dass die. Wirkung dieser Kräfte (das 
Gewicht) das einfachste Mass der Beziehung zweier Massen 
als solcher zu einander darstellt; jedoch muss in einer 
jeden auf die Giltigkeit der Atomtheorie bezüglichen Unter- 
suchung darauf Bedacht genommen werden, dass dieses 
Gewicht nicht das Äquivalent oder vielmehr das Bild einer 
absoluten substanziellen Einheit in einem dieser (gewogenen) 
Körper, sondern nur einen blossen Ausdruck der gegen- 
seitigen Anziehung beider Körper vorstellt. Es ist auch 
notwendig, daran zu erinnern, dass dieses Gewicht ohne 
einer gleichzeitigen Verringerung der Masse des Körpers 
durch eine blosse Änderung seiner Lage ins Unbegrenzte 
vermindert werden kann. 

Die Massen finden ihr wahres und einziges Mass in 
der Wirkung der Kräfte, und die Beständigkeit derselben 
ist der einfache imd zutreffende Ausdruck der Thatsache, 



8o VIL Kapitel. 

welche gewöhnlich als Unzerstörbarkeit der Materie hin- 
gestellt wird. Es ist klar, dass diese Beständigkeit in 
keiner Weise durch die atomistische Hypothese erklärt wird. 
Es kann sein, dass diese Beständigkeit eine Eigenschaft 
kleiner, unwahrnehmbarer Teile ist, von denen man an- 
nimmt, dass sie die Materie zusammensetzen, ebensogut wie 
auch eine Eigenschaft wahrnehmbarer Massen; doch be- 
deutet sicherlich die hypothetische Zurückführung einer 
Thatsache auf Atome keine Erklärung des wirklichen Auf- 
tretens derselben Thatsache bei der zusammengesetzten 
Masse. Was auch für ein Geheimnis in der Erscheinung 
gelegen sein mag, so ist dasselbe doch sicherlich nicht 
grösser in dem Falle eines Atoms als in dem eines Sonnen- 
oder Planetensystems. Es bedeutet keine Erklärung des 
Magnetismus, wenn man einen Magnet in Teile bricht und 
zeigt, dass jeder Teil mit derselben magnetischen Polarität 
behaftet ist wie der ganze Magnet. Eine Erscheinung wird 
nicht erklärt, wenn sie zerstäubt wird. Eine Thatsache 
kehrt sich in keine Theorie um, wenn man sie durch ein 
verkehrtes Femrohr betrachtet. Die Hypothese letzter un- 
zerstörbarer Atome ist keine notwendige Folge der Be- 
harrlichkeit des Gewichtes und kann im besten Falle als 
Grund für die Unzerstörbarkeit der Materie angeführt 
werden, wenn gezeigt werden kann, dass eine absolute 
Grenze der Zusammendrückbarkeit der Materie existiert — 
mit anderen Worten, dass für jede bestimmte Masse ein 
unbedingt kleinstes Volumen gegeben ist. Dies bringt uns 
zu der Betrachtung jener allgemeinen Eigenschaft der 
Materie, welche wahrscheinlich nach den Meinungen der 
meisten am dringendsten die Annahme von Atomen fordert 
— der Undurchdringlichkeit. 

„Zwei Körper können nicht denselben Raum ein- 
nehmen'* — dies ist die gewöhnliche Fassung der in 
Frage stehenden Thatsache. Gleich der Unzerstörbarkeit 



Die Theorie v, d, atomisiischen Konstitution d, Materie, 8i 

der Materie beansprucht sie, eine Thatsache der Erfahrung 
zu sein. ^Dass alle Körper undurchdringlich sind'', sagt 
Sir Isaak Newton, folgern wir nicht aus Vernunftgründen, 
sondern aus der sinnlichen Beobachtung."*) Lasst uns 
sehen, in welchem Sinne und bis zu welchem Grade dieser 
Anspruch berechtigt isti 

Der Satz, demgemäss der von einem Körper erfüllte 
Raum von keinem zweiten eingenommen werden kann, 
enthält die Annahme in sich, dass der Raum eine absolute, 
objektive, nur durch sich selbst messbare Grösse ist, sowie 
die weitere Annahme, dass es einen kleinsten Raum gibt, 
welchen ein gegebener Körper in einer jeden anderen 
Körper ausschliessenden Weise erfüllt. Eine Bestätigung 
dieses Satzes durch die Erfahrung müsste darauf hinaus- 
laufen, nachzuweisen, dass es eine absolute Grenze für die 
Zusammendrückbarkeit aller Materie gibt. Berechtigt uns 
nun die Erfahrung, eine solche Grenze anzunehmen ? Sicher- 
lich nicht Es ist wohl wahr, dass in dem Falle fester 
und flüssiger Körper praktische Grenzen vorhanden sind, 
über welche hinaus eine Zusammenpressung durch die uns 
zur Verfügung stehenden mechanischen Mittel unmöglich 
ist; aber selbst hier stellt sich uns die Thatsache entgegen, 
dass die Volumina von Rtissigkeiten, die in wirksamer 
Weise allen Anstrengungen zu ihrer weiteren Zusammen- 
pressung durch äusseren Druck widerstehen, durch blosse 
Mischung verringert werden. So geben Wasser und 
Schwefelsäure bei gewöhnlichen Temperaturen in keiner 
merklichen Weise äusserem Drucke nach; im Falle der 
Mischung wird aber das neue Volumen wesentlich kleiner 
als das beiden Flüssigkeiten vor derselben zukommende. 
Doch abgesehen hiervon wie auch von den Erscheinungen, 



') „Corpora omnia impenetrabilia esse, non ratione, sed sensu 
coUigimus.*^ — Phil. Natur. Princ. Math., IIb. III, reg. 3. 
Stallo, Begriffe u. Theorieen. 6 



82 VII. Kapitel. 

welche bei den Prozessen der Mischung und chemischea 
Wirkung auftreten, muss es gesagt werden, dass die Er- 
fahrung in keiner Weise die Undurchdringlichkeit der 
Materie in allen Aggregatzuständen verbürgt. Wenn Gase 
einem Drucke unterworfen werden, so ist das Ergebnis 
einfach ein Wachstum der Spannkraft, das nach dem 
Gesetze von Bovle oder Mariotte (die Abweichungen und 
scheinbaren Ausnahmen, wie sie in den experimenten' Re- 
sultaten Regnault's u. a. hervortreten, brauchen hier als- 
für die Beweisführung belanglos nicht berücksichtigt zu 
werden) proportional dem ausgeübten Drucke stattfindet. 
Eine bestimmte Grenze ist nur in dem Falle jener Gase 
erreicht worden, in denen der Druck Verflüssigung oder 
Festwerdung erzeugt. Die ausgezeichnetste Erscheinung; 
hingegen, welche die Erfahrung zu diesem Gegenstände 
beisteuert, ist die Diffusion der Gase. Sobald zwei oder 
mehr Gase, die chemisch auf einander nicht einwirken, in 
einen gegebenen Raum eingeleitet werden, diffundiert jedes 
Gas in diesen Raum, als ob es allein da wäre; oder, wie 
dies Dalton, der berühmte Vater der neueren Atomtheorie,, 
ausdrückt : „Gase verhalten sich gegen einander passiv, und 
jedes dringt in das andere wie in ein Vacuum ein.'' 

Was auch immer für eine Realität dem Begrifie der 
Undurchdringlichkeit der Materie entsprechen mag, keines- 
wegs ist die letztere im Sinne der Atomisten durch die 
Erfahrung gegeben. 

Aus dem Ganzen ersieht man wohl , dass die Giltig- 
keit des ersten Satzes der Atomtheorie durch die Thatsachen 
nicht aufrecht erhalten wird. Selbst wenn die angenommene 
Unveränderlichkeit der vorausgesetzten letzten Bestandteile 
der Materie sich als mehr als eine blosse Wiedergabe einer 
beobachteten Thatsache in Form einer Hypothese erweisen 
liesse und mit dem Namen einer Verallgemeinerung oder 
Theorie bezeichnet werden könnte, würde noch immer die 



Die Theorie v. d. atomistischen Konstitution d, Materie. 85 

Kritik entgegnen können, dass es sich um eine roh be- 
obachtete und unvollkommen aufgefasste Thatsache handelt. 
In diesem Zusammenhang mag noch angeführt werden, 
dass die Atomtheorie nahezu wertlos als Erklärung für die 
Undurchdringlichkeit der Materie geworden ist, seit sie in 
den Dienst der Wellentheorie der Strahlung gepresst worden 
ist und die Form angenommen hat, in welcher sie von der 
Mehrzahl der Physiker aufgefasst wird, wie wir sofort sehen 
werden. Nach derselben sind die Atome entweder blosse 
Punkte ohne alle Ausdehnung, oder sie sind unendlich klein 
im Vergleiche zu den Entfernungen zwischen ihnen, wie 
auch immer der Aggregatzustand der betreffenden Substanz 
sein mag. Nach dieser Ansicht beruht der Widerstand, 
welchen ein Körper, d. i. ein System von Atomen, dem 
Eindringen eines zweiten Körpers entgegensetzt, nicht auf 
der Starrheit oder der Unveränderlichkeit des Volumens 
der einzelnen Atome, sondern auf dem Verhältnis der an- 
ziehenden und abstossenden Kräfte, mit denen sie der An- 
nahme nach versehen sind. Es gibt Physiker, die der 
Meinung sind, dass die Ansicht von der atomistischen Zu- 
sammensetzung der Materie mit ihrer Durchdringlichkeit ver- 
einbar ist ' — wie z. B. Cauchv, der, nachdem er dife Atome 
als „materielle Punkte ohne Ausdehnung" definiert hatte, 
also fortfahrt: „Die Eigenschaft der Materie, welche wir 
Undurchdringlichkeit nennen, ist also erklärt, wenn wir die 
Atome als materielle .Punkte ansehen, die auf einander An- 
ziehungen imd Abstossungen äussern, die mit der Entfernung 
zwischen ihnen sich ändern . . , Daraus folgt noch, dass, 
wenn es dem Schöpfer der Natur gefiele, bloss die Gesetze 
zu ändern, nach denen sich die Atome anziehen oder ab- 
stossen, wir sofort die härtesten Körper sich einander durch- 
dringen, die kleinsten Teile der Materie ungemessene Räume 

einnehmen oder die grössten Massen auf den kleinsten 

6* 



84 ^I^' Kapitel, 

Raum sich zurückziehen und das ganze Weltall sich auf 
diese Weise in einen Punkt konzentrieren sehen könnten. *) 

2. Der zweite Hauptsatz der modernen Atomtheorie 
behauptet die wesentliche Unstetigkeit der Materie. Die 
Verteidiger der Theorie behaupten, dass es eine Reihe von 
physikalischen Erscheinungen gibt, welche unerklärlich bleiben, 
wofern nicht angenommen wird, dass die Bestandteile der 
Materie durch weite Zwischenräume von einander geschieden 
sind. Die bekanntesten derselben sind die Dispersion und 
die Polarisation des Lichtes. Der Grund, weshalb die An- 
nahme einer diskreten molekularen Struktur für die Er- 
klärung dieser Erscheinungen als unerlässlich betrachtet wird, 
mag in einigen wenigen Worten auseinandergesetzt werden. 

Gemäss der Wellentheorie ist die Dispersion des Lichtes, 
d. h. die Trennung seiner farbigen Bestandteile mit Hilfe 
der Brechung, eine Folge der ungleichen Verzögerung, welche 
die verschiedenen Wellenarten, die den verschiedenen Färben 
entsprechen, bei ihrem Durchgange durch das brechende 
Medium erleiden. Diese ungleiche Verzögerung setzt Unter- 
schiede in den Geschwindigkeiten voraus, mit welchen sich 
die verschieden farbigen Strahlen durch irgend ein Medium 
fortpflanzen, sowie eine Abhängigkeit dieser Geschwindig- 
keiten von den Wellenlängen. Nun sind aber nach einem 



*) „Ainsi, cette propriete de la mallere que nous nommons 
impenetrabilite se trouve expliquee, quand on considere les atomes 
comme des points materiels qui excrcent les uns sur les autres des 
attractions ou repulsions variables avec les distances qui les separent . . . 
II resulte encore de ce qui precede, que s'il plaisait ä l'auteur de 
la nature de modifier seulement les lois suivant lesquelles les atomes 
s'attirent ou se repoussent, nous pourrions voir, ä l'instant meme, 
les Corps les plus durs se penetrer les uns les autres, les plus petites 
parcelles de matiere occuper des espaces demesures, ou les masses 
les plus cpnsiderables se reduire aux plus petits volumes, et l'univers 
entier se concentrer pour ainsi dire en un seul point." Sept legons 
de Physique Generale, ed. Moigno, p. 38 seq. 



Die Theorie v. d, atomistischen Konstitution d, Materie, 8$ 

wohlbegründeten mechanischen Satze die Geschwindigkeiten, 
mit denen sich Wellen durch ein kontinuierliches Medium 
fortpflanzen, bloss abhängig von dem Verhältnis der Elasti- 
cität des Mediums zu seiner Dichte, hingegen völlig un- 
abhängig von der Länge und Form dieser Wellen. Die 
Richtigkeit dieses Satzes ist durch Versuche am Schall be- 
zeugt. Töne jeglicher Höhe pflanzen sich mit der gleichen 
Geschwindigkeit fort. Wäre dies nicht der Fall, so müsste 
Musik, aus der Entfernung gehört, offenbar zu einem Chaos 
werden; Unterschiede in der Fortpflanzungsgeschwindigkeit 
des Schalles würden den Rhytmus zerstören und in manchen 
Fällen eine Umkehrung der Reihenfolge bewirken. Nun 
sind aber Unterschiede der Farbe Unterschieden der Ton- 
höhe analog, indem beide sich auf Differenzen der Wellen- 
länge zurückfuhren lassen. Die Wellenlänge wächst, wenn 
wir die Skala der Töne von den höheren zu den tieferen 
durchschreiten; und ähnlich wächst die Wellenlänge des 
Lichtes, wenn wir im Spektrum vom violetten gegen das 
rote Ende uns wenden. Es folgt daraus, dass die Strahlen 
verschiedener Farbe, gleich den Tönen verschiedener 
Höhe, mit gleicher Geschwindigkeit fortgepflanzt und in 
gleicher Weise gebrochen werden sollten; dass folglich 
keine Dispersion des Lichtes stattfinden sollte. 

Diese theoretische Unmöglichkeit der Dispersion ist 
stets als eine der gefurchtesten Schwierigkeiten der Wellen- 
theorie betrachtet worden. Um dieselben zu vermeiden, 
führte Cauchy auf Anregung seines Freundes Coriolis eine 
Reihe analytischer Untersuchungen aus, in denen es ihm 
zu zeigen glückte, dass die Geschwindigkeiten, mit denen 
die verschieden farbigen Strahlen sich fortbewegen, mit der 
W'ellenlänge sich ändern können, falls angenommen wird, 
dass der Äther als Medium der Fortpflanzung, statt kon- 
tinuierlich zu sein, aus Teilchen besteht, die von einander 
durch merkliche Entfernungen geschieden sind. 



86 VII. Kapitel. 

Mit Hilfe einer ähnlichen Annahme hat es Fresnel 
versucht, die durch die Erscheinungen der Polarisation sich 
darbietenden Schwierigkeiten zu beseitigen. Im gewöhn- 
lichen Lichte werden die verschiedenen Schwingungen als' 
nach verschiedenen Richtungen hin stattfindend angesehen, 
wobei alle zur Fortpflanzungsrichtung senkrecht stehen, 
während im polarisierten Lichte die Schwingungen, wiewohl 
noch immer senkrecht zum Strahl, parallel sind, so dass sie 
alle in einer Ebene stattfinden. Bald nachdem diese Hypo- 
these zu einer ausfuhrlichen Theorie der Polarisation aus- 
gearbeitet worden war, bemerkte Poisson, dass bei einer 
beträchtlichen Entfernung von der Lichtquelle alle transversalen 
Schwingungen in einem kontinuierlichen elastischen Medium 
zu longitudinalen werden müssten. Wie in dem Falle der 
Dispersion wurde diesem Vorwurfe durch die Hypothese 
von der Existenz „endlicher Intervalle" zwischen den Äther- 
teilchen begegnet. 

Dies sind in bündiger Fassung die Betrachtungen, 
welche die theoretische Physik zur Stütze der Atomtheorie, 
wie man annimmt, beitragen soll. In Bezug auf das Zwingende 
der auf ihnen beruhenden Beweisführung ist im allgemeinen 
zu bemerken, dass der Nachweis unstetiger molekularer An- 
ordnung der Materie keineswegs ein Beweis für den Wechsel 
unveränderlicher und unteilbarer Atome mit absolut leeren 
Räumen ist. Doch steht zu befürchten, dass das in Frage 
stehende Argument nicht nur formell, sondern auch inhalt- 
lich ein täuschendes ist. Es ist sehr fraglich, ob die An- 
nahme „endlicher Intervalle" zwischen den Teilen des Licht- 
äthers im Stande ist, die Wellentheorie des Lichtes aus 
ihren Verlegenheiten zu befreien. Dieser Gegenstand ist 
nach einer seiner Seiten von E. B. Hunt in einem Artikel 
über die Dispersion des Lichtes ^) einer gründlichen Dis- 



*) Siluman's Journal, 2d series, vol. VII, pag. 364 seq. 



Die Theorie t\ d, atomistiscken Konstitution d, Materie-, 87 

lussion unterzogen worden und scheinen mir seine Be- 
merkungen einer ernsten Aufmerksamkeit wert zu sein. Sie 
sind kurz folgende: 

Cauchy unterwirft die Erscheinungen der Dispersion 
der Geltung der Wellentheorie dadurch, dass er die Unter- 
schiede in den Geschwindigkeiten verschieden farbiger 
Strahlen von den Unterschieden in den entsprechenden 
Wellenlängen mit Hilfe der Hypothese endlicher Zwischen- 
Täume zwischen den Teilen des richtvermittelnden Mediums 
ableitet. Er nimmt es also als ausgemacht an, dass diese 
farbigen Strahlen sich mit verschiedenen Geschwindigkeiten 
fortpflanzen. Ist dies aber wirklich der Fall ? Die Astronomie 
bietet die Mittel, diese Frage zu beantworten. 

Wir empfinden weisses Licht, wenn alle farbigen 
Strahlen, aus denen es zusammengesetzt ist, das Auge 
gleichzeitig treffen. Das von einem leuchtenden Körper 
kommende Licht wird farblos erscheinen, selbst wenn die 
es zusammensetzenden Strahlen sich mit ungleichen Ge- 
schwindigkeiten fortpflanzen, wofern sie nur in ihrer Wirkimg 
auf die Netzhaut in einem gegebenen Moment zusammen- 
treffen; für gewöhnlich ist es unwesentlich, ob sie den 
leuchtenden Körper gleichzeitig oder nacheinander verlassen 
^aben. Dies wird jedoch anders, sobald es sich um leuch- 
tende Körper handelt, die plötzlich sichtbar werden, wie 
-dies bei den Satelliten des- Jupiter oder Saturn nach ihren 
Verfinsterungen der Fall ist. Zu gewissen Zeiten sind mehr 
als 49 Minuten für die Fortpflanzung des Lichtes vom 
Jupiter auf die Erde erforderlich. In dem Momente nun, 
wo einer von Jupiters Trabanten, der durch den Planet 
verfinstert war, aus dem Schatten hervortritt, müssten die 
roten Strahlen, deren Geschwindigkeit am grössten ist, die 
Erde zuerst erreichen, hernach die orangefarbenen und so 
weiter durch die Farbenskala, bis endlich durch die An- 
kunft der violetten Strahlen, deren Geschwindigkeit als die 



88 VIL Kapitel 

kleinste angenommen wird, die Ergänzung der Farben voll- 
zogen wäre. Der Trabant würde unmittelbar nach seinem 
Auftauchen rot erscheinen und allmählich im Verhältnis zur 
Ankunft der anderen Farben in weiss tibergehen. Umge- 
kehrt würden beim Beginne der Verfinsterung die violetten 
Strahlen nach den roten und anderen Farben fortfahren an- 
zukommen, und der Trabant würde bis zu dem Augenblicke 
seines völligen Verschwindens ins violette abdunkeln. 

Zum Unglück für die Hypothese Cauchv's ist es der 
sorgsamsten Beobachtung der fraglichen Verfinsterungen 
nicht gelungen, irgend welche Veränderungen der Farbe 
aufzufinden, weder vor, noch nach der Verfinsterung, indem 
der Übergang zwischen Licht und Schatten stets plötzlich 
und ohne farbige Abstufung vor sich ging. 

Die Astronomie weist noch eine Reihe anderer Er- 
scheinungen auf, die in gleicher Weise der Lehre von den 
ungleichen Geschwindigkeiten farbiger Strahlen widerstreiten. 
Fixsterne jenseits der parallaktischen Grenze, deren Licht 
mehr als drei Jahre braucht, um uns zu erreichen, sind 
grossen periodischen Schwankungen des Glanzes unterworfen ; 
aber selbst diese Schwankungen sind von keinen Verände* 
rungen der Farbe begleitet. Femer kommt die Annahme 
verschiedener Geschwindigkeiten der farbigen Strahlen bei 
der Theorie der Aberration ausser Betracht Die Aberration 
kommt durch die Thatsache zustande, dass in allen Fällen^ 
wo die Bahn des Planeten, auf dem sich der Beobachter 
befindet, mit der Richtung des Lichtes einen Winkel ein- 
schliesst, eine Zusammensetzung der Bewegungen des Lichtes 
und der Planeten stattfindet, so dass die Richtung, in der 
das Licht das Auge trifft, eine Resultierende zweier Kompo- 
nenten ist — der Richtung des Strahles und der Bewegung 
des Beobachters. Wenn die verschieden farbigen Strahlen 
sich nun mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen 
würden, würde es oß*enbar mehr Resultanten geben, und 



Die Theorie v. d, atomütischen Konstitution d. Materie» 89 

jeder Stern würde als farbiges Spektrum längs der Richtung 
der Erdbewegung erscheinen. 

Die Behauptung einer Abhängigkeit der Geschwindig- 
keit der Wellenbewegung, welche den verschiedenen Farben 
entspricht oder sie hervorruft, von der Wellenlänge steht 
somit in Widerspruch mit den beobachteten Thatsachen. 
Die Hypothese „endlicher Zwischenräume" ist eine nutzlose 
Ergänzung der Wellentheorie; andere Methoden müssten 
gesucht werden, um die Theorie von ihren Schwierigkeiten 
zu befreien. ®) 

Der hier angeführte negative Beweisgrund gegen die 
Annahme einer atomistischen oder molekularen Konstitution 
des Lichtäthers wird durch einen positiven aus einem Zweig 
der mechanischen Atomtheorie selbst verstärkt, nämlich aus 



®) Seit dem Erscheinen von Cauchy's „Memoire sur la dis-' 
persion de la lumi^re" (Prag 1836) ist die Abhängigkeit der Dis- 
persion verschiedener Substanzen von ihrem Aggregatzustand und 
ihrer chemischen Zusammensetzung Gegenstand eingehender experi- 
menteller Untersuchungen gewesen, und die hervorragendsten Phy- 
siker (Briot, Holtzmann, Redtenbacher, C. Neumann, Ketteler) 
suchten aufs neue nach einer Erklärung der Erscheinungen der Dis- 
persion durch die Wirkung der ponderablen Materie oder die gegen- 
seitige Einwirkung zwischen ihr und dem Äther. Man vergleiche 
Briot „Essai sur la theorie mathematique de la lumiere" (Paris, 
Mallet-Bachelier, 1864), S. Sgff. ; Redtenbacher, „Dynamidensystem**, 
S. i3oflF. ; Ketteler, „Über den Einfluss der ponderablen Moleküle 
auf die Dispersion des Lichtes" u. s. w. (Pogg. Ann., Bd. 140, S. 2 ff. 
und S. 177 ff.). Eine elektromagnetische Theorie des Lichtes ist auf 
Grund der annähernden Gleichheit der Geschwindigkeiten, mit der 
sich Licht und elektromagnetische Störungen durch Luft und andere 
Media auszubreiten scheinen, und auf Grund der (von Faraday 
beobachteten) Einwirkung eines Magnetes auf die Drehung der Polari- 
sationsebene um den Lichtstrahl als Axe von Clerk Maxwell 1865 
aufgestellt und kürzlich in grösserer Ausführung in seinem „Treatise 
on Electricity and Magnetism" Bd. 2, S. 383 fif. auseinandergesetzt 
worden. Diese Theorie wird nun durch Helmholtz, Lorentz, Fitz- 
gerald, J. J. Thomson und Lord Rayleight entwickelt. 



'9© VII. Kapitel, 

der modernen Thermodynamik. Maxwell hat sehr richtig 
bemerkt, daiss solch ein Medium (dessen Atome oder Mole- 
iteln den intramolekularen Raum der gewöhnlichen Sub- 
stanzen durchdringen sollten) nichts anderes als ein Gas 
sein würde — freilich ein Gas von grosser Feinheit — , 
und dass das sogenannte Vacuumin Wirklichkeit voll dieses 
feinen Gases von der beobachteten Temperatur und dem 
ungeheuren Drucke wäre, welchen der Äther angesichts der 
ihm von der Wellentheorie beigelegten Funktion ausüben 
müsste. Solch ein Gas müsste daher' eine entsprechend 
hohe spezifische Wärme besitzen, welche gleich der eines 
Gases von derselben Temperatur und demselben Drucke 
wäre, so dass die specifische Wärme jedes Vacuums un- 
vergleichlich grösser als die desselben mit einem anderen 
bekannten Gase gefüllten Raumes sein würde. Diese be- 
merkenswerte Folgerung entbehrt nicht nur der experi- 
mentellen Bestätigimg, sondern ist — insoweit als sie auf 
alle Vacua anzuwenden wäre, einschliesslich der intramole- 
kularen Räume der gewöhnlichen Körper jedweden Aggregat- 
zustandes — in Wirklichkeit eine verhängnisvolle Ver- 
schlimmerung einer eigentümlichen Schwierigkeit der Mo- 
lekulartheorie, welche schon an sich bis zu hohem Grade 
bedenklich ist. Im dritten Kapitel '^) habe ich auf die 
Thatsache aufmerksam gemacht, dass im Falle der Er- 
hitzung eines Körpers nur ein Teil der ihm mitgeteilten 
Energie in der Form von Temperatur erscheint, d. h. (im 
Sinne der modernen Theorieen) von progressiver Bewegung 
der Molekeln, während der andere Teil auf die Erzeugung 
schwingender oder drehender Bewegungen der sie zusammen- 
setzenden Elemente verwandt wird. In Gemässheit der 
kinetischen Gastheorie wächst dieser letztere Teil, die so- 
genannte innere Energie mit der Zahl der Variablen oder 



') Siehe oben S. 2 1 f. 



Die Theorie v. d, atomistischen Konstitution d, Materie, 91 

Freiheitsgraden in jedem Molekel und mit ihr somit die 
spezifische Wärme, d. i. das Verhältnis der gesamten Energie 
zu der auf äussere Arbeit verwandten, die entweder in Aus- 
dehnung oder Druckzunahme besteht, und sich so als Tem- 
peratur äussert. Wären die Molekeln materielle Punkte 
ohne innere Bewegung oder vollkommen elastische und 
vollkommen 'glatte Kugeln, so würde die ganze Energie 
zur Erzeugung fortschreitender Bewegung erzeugt werden, 
imd kein Teil derselben würde sich in innere Energie ver- 
wandeln. Wenn aber die Molekeln, wiewohl vollkommen 
elastisch, nicht vollkommene Kugeln wären — wie sie es 
<lenn nicht sein könnten, wenn sie jedes aus mehreren 
Atomen bestünden — so müsste die spezifische Wärme zum 
mindesten einem durch die Theorie bezeichneten Minimum 
;gleichkommen. Nun fallen die spezifischen Wärmen von 
Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff (die alle zweiatomig 
sind, indem deren Molekeln zum mindesten g,us zwei Atomen 
bestehen), wie aus einer Vergleichung ihrer experimentell 
gewonnenen spezifischen Wärmen bei konstantem Druck 
und konstantem Volumen hervorgeht, unter dieses Minimum. 
Und dieses theoretische Minimum würde durch die Hinzu- 
nahme der spezifischen Wärme des intramolekularen Äthers, 
wenn dieser atomistisch oder molekular zusammengesetzt 
wäre, sehr wesentlich vergrössert werden; der Widerstreit 
zwischen den Anforderungen der Theorie und den experi- 
mentellen Ergebnissen würde dadurch ins Unmessbare ver- 
grössert werden. 

3. Der dritte Satz der atomistischen Hypothese schreibt 
den Atomen, welche die verschiedenen chemischen Elemente 
zusammensetzen sollen, bestimmte Gewichte zu, die ihren 
Äquivalenten in Verbindungen entsprechen, und gilt all- 
gemein als notwendig, um für jene Thatsachen Rechenschaft 
zu geben, deren Aufzählung und Erörterung die Wissen- 
schaft der Chemie bildet. Die eigentliche Bestätigung dieser 



92 VIL Kapitel. 

Thatsachen ist sehr schwer, weil sie allgemein durch die 
Brille der Atomtheorie betrachtet und in deren Kunstaus- 
drücken formuliert werden. So wird die Differenzierung 
und Bildung von Körpern durch Vereinigung stets als Zer- 
Setzung und Zusammensetzung bezeichnet; die Äquivalent* 
gewichte der Verbindungen Atomgewichte oder -volumina 
genannt ; und so bildet der grösste Teil der chemischen Nomen* 
clatur eine systematische Reproduktion der AnnahAien de* 
Atomismus. Fast alle zu verificierenden Thatsachen be- 
dürften vorerst einer vorbereitenden Ausschälung aus den 
Hüllen dieser Theorie. 

Die gewöhnlich als chemische Zusammensetzung und 
Zerlegung beschriebenen Theorieen stellen sich der Be- 
obachtung in folgender Weise dar: Eine Reihe verschieden* 
artiger Körper vereinigen sich nach bestimmten Gewichts- 
oder Volumsverhältnissen; sie wirken auf einander ein; sie 
verschwinden und lassen einen neuen Körper entstehen 
dessen Eigenschaften weder die Summe noch das Mittel 
der Eigenschaften der einwirkenden Körper sind (ausge- 
nommen das Gewicht, welches der Summe der Gewichte 
der einzelnen Körper gleich ist); und diese Verwandlung 
mehrerer Körper in einen ist in den meisten Fällen von 
Veränderungen des Volumens und in allen von Entwick- 
lung oder Absorption von Wärme oder anderen Formen 
der Energie begleitet. Umgekehrt gibt ein einziger homo- 
gener Körper Veranlassung zur Entstehung verschieden- 
artiger Körper, zwischen denen und dem ursprünglichen 
Körper die Konstanz des Gewichtes die einzige Identitäts- 
relation bildet. 

Des Vergleiches halber mögen diese Erscheinungen in 
drei Klassen eingeteilt werden, von denen die erste die 
Konstanz des Gewichtes und die Verbindung nach be- 
stimmten Verhältnissen, die zweite die Veränderungen des 
Volumens und die Entwicklung oder den Verbrauch von 



Die Theorie v, d. atomistischen Konstitution d. Materie, 93 

Energie, und die dritte die Entstehung ganz neuer chemischer 
Eigenschaften umfasst. 

Offenbar ist die atomistische Hypothese in keinem 
Sinne eine Erklärung der Erscheinungen der zweiten Klasse. 
Es ist klar irnd wird auch zugegeben, dass sie in keiner 
Weise die Veränderungen des Volums, der Temperatur oder 
der latenten Energie zu erklären vermag. Mit den Er- 
scheinungen der dritten Klasse ist sie aber offenbar unver- 
träglich. Denn im Lichte der Atomhypothese sind chemische 
Verbindungen tmd Zersetzungen ihrer Natur nach nichts 
anderes als Anhäufungen oder Trennungen von Massen, 
deren Integrität unangetastet bleibt. Die radikale Verände- 
rung der chemischen Eigenschaften, welche das Ergebnis 
eines jeden wirklichen chemischen Vorganges ist und den- 
selben von einer bloss mechanischen Mischung oder Trennung 
unterscheidet, verlangt jedoch eine vollständige Zerstörung 
dieser Integrität. Es mag sein, dass der Anschein dieser 
Unverträglichkeit durch die Wahl passender Hilfshjrpothesen 
verwischt werden kann; dies führt jedoch zu einem Ver- 
lassen der Einfachheit der Atomhypothese und damit zu 
einem Aufgeben ihrer Ansprüche auf die Verdienste einer 
Theorie. 

Im besten Fall kann die Atomhypothese als eine Er- 
klärung der Erscheinungen der ersten Klasse dienen. Er- 
klärt sie dieselben in dem Sinne einer Verallgemeinerung, 
einer Zurückfuhrung vieler Thatsachen auf eine? Das ist 
keineswegs der Fall; sie erklärt sie, so wie sie die Unzer- 
störbarkeit und Undurchdringlichkeit der Materie zu er- 
klären behauptete, durch einfache Wiederholung der be- 
obachteten Thatsachen in Form einer Hypothese. Es ist 
dies (um einen scholastischen Ausdruck zu gebrauchen) ein 
Beispiel für eine Erklärung „idem per idem". Sie sagt: 
Die grossen Massen verbinden sich nach bestimmten Ge- 
wichtsverhältnissen, weil die kleinen Massen, die Atome, 



94 VlI. Kapitel 

von denen sie Vielfache sind, von bestimmten Gewichts- 
verhältnissen sind. Sie zerteilt die Thatsache mid erhebt 
darauf hin den Anspruch, sie in eine Theorie verwandelt 
zu haben. ^ 

Die Wahrheit ist, wie Lord Kelvin bemerkt hat, die, 
dass „die Annahme von Atomen keine Eigenschaft eines 
Körpers zu erklären vermag, welche nicht vorher den Atomen 
selbst beigelegt worden ist'*. 

Die vorhergehenden Betrachtungen wollen natürlich 
nicht die Verdienste der atomistischen Hypothese als eines 
graphischen oder erläuternden Verfahrens — als einer Hilfe 
für die Darstellungskunst der Phasen chemischer oder ph)rsi- 
kalischer Umwandlung schmälern. Es ist eine ausser Frage 
stehende Thatsache, dass die Chemie einen grossen Teil 
ihrer praktischen Fortschritte ihrem Gebrauche verdankt^ 
und dass die auf sie gegründeten Strukturformeln den 
Chemiker befähigt haben, nicht nur den Zusaromenhang 
und die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Stufen 
in der Metamorphose von „Elementen" und „Verbindungen" 
zu skizzieren, sondern in vielen Fällen auch (wie z. B. in 
der Reihe der Kohlenwasserstoffe in der organischen Chemie) 
mit Erfolg Resultate der experimentellen Forschung voraus- 
zusagen. Die Frage, inwieweit die chemische Atomtheorie 
als „Arbeitshypothese" dem Chemiker unentbehrlich ist, ist 
gegenwärtig Gegenstand der eifrigsten Diskussion unter 



*) Dass die Annahme von Atomen verschiedenen spezifischen 
Gewichtes auf Grund der Atomtheorie selbst einfach absurd ist, ist 
bereits gezeigt worden (siehe oben S. 20). Entsprechend der mecha- 
nischen Auffassung, welche der ganzen atomistischen Hypothese zu 
Grunde liegt, sind Unterschiede des Gewichtes Unterschiede der 
Dichte, und Unterschiede der Dichte sind Unterschiede der Ent- 
fernungen zwischen den in einem gegebenen Raum befindlichen 
Partikehi. Im Atom gibt es aber keine Vielheit von Partikeln und 
keinen leeren Raum ; somit sind Unterschiede der Dichte oder des 
Gewichtes in dem Falle von Atomen unmöglich. 



Die Theorie v, d, atomisiischen Konstitution d. Materie, 95 

Männern vom höchsten wissenschaftlichen Rufe, von denen 
viele die vor einigen Jahren abgegebene Erklärung Cournot's 
anzunehmen nicht zögern, „dass der Glaube an Atome viel- 
mehr ein Hindernis als eine Hilfe ist", ®) nicht nur deshalb, 
weil, wie Cournot bedauert, er zwischen die Erscheinungen 
der organischen und anorganischen Welt eine unüberbrtlck- 
bare Kluft schafft, sondern auch weil er selbst als Dar- 
stellung der Phasen und Resultate der gewöhnlichsten 
ehemischen Vorgänge gleichzeitig unangemessen und irre- 
führend erscheint. Die Abänderungen, denen man letzthin 
sich genötigt sah, ihn zu unterwerfen, um den Anforde- 
rungen des gegenwärtigen Standes der chemischen Wissen- 
schaft zu genügen, — wie z. B. die in den Lehren von 
den konstanten und wechselnden Valenzen, den molekularen 
oder atomistischen Verkettungen u. s. f. mit den (von 
Kekule u. a. verbreiteten) Begleittheorieen von molekularer 
Berührung, bezeugen die bei dem Versuche, die Atom- 
hypothese in Einklang mit den theoretischen Anforderungen 
des Tages zu bringen, aufgetretenen Schwierigkeiten. Und 
in dem Masse, als die Aufmerksamkeit des modernen Che- 
mikers auf die Übertragung und Umwandlung der in jedem 
Falle chemischer Verbindung und Zersetzung wie nicht 
weniger in jedem Falle einer allotropischen Veränderung 
auftretenden Energie gerichtet ist, wird die Nichteignung 
der Atomhypothese als Bild der wirklichen Natur chemischer 
Prozesse immer augenscheinlicher. ^^) 



®) En somme, pour rharmonie generale du Systeme des nos 
connaissances , par consequent (autant que nous pouvons en juger) 
pour la plus juste percepüon de l'harmonie qui certainement existe 
dans l'ensemble des choses, la foi dans les atoines est plutot un 
embarras qu'un secours." CoüRNOT, Traite de l'Enchainement des 
Idees Fondamentales dans les Sciences et dans l'Histoire, L, p. 264 seq. 
^®) Als ein Beispiel für die Missgunst, mit der die Atomhypothese 
von Seiten hervorragender Chemiker betrachtet zu werden beginnt, 



96 VIL Kapitel. 

Als nächsten Gegenstand der Erörterung nehme ich 
mir eine der bekanntesten Anwendungen der Atomhypothese 
auf die Physik vor — die kinetische Gastheorie. 



mag es gestattet sein, eine SteUe aus einem Aufsatz des kürzlich 
verstorbenen SiR Benjamin C. Brodie, Professor der Chemie zu Ox- 
ford, zu zitieren: „I can not but say that I think the atomic doctrine 
has proved itself inadequate to deal with the complicated System of 
Chemical fact wich has been brought to light by the efforts ofmodern 
chemists. I do not think that the atomic theory has succeeded in 
constructing an adequate, a worthy, or even a useful representation 
of those facts." „On the Mode of Representation afforded by the 
Chemical Calculus as contrasted with the Atomic Theory." Chemical 
News, August 1867, p. 72. Es ist übrigens wohl nicht notwendig, 
hinzuzufügen, dass ich mit Brodie's eigenem theoretischen Schema, 
soweit ich es verstehe, nicht sympathisiere. 



vm. 

Die kinetische Gastheorie. — Die Bedingungen der 
Giltigkeit wissenschaftlicher Hypothesen. 

Im vierten Kapitel ^) habe ich bereits einen Grundriss 
jener Lehre gegeben, die gegenwärtig unter dem Namen 
der kinetischen Gastheorie allgemein bekannt und ange- 
nommen ist. Die Annahmen dieser Theorie bestehen darin, 
dass ein jedes Gas aus einer grossen Zahl kleiner fester 
Teile besteht — den Molekeln oder Atomen — welche 
sich in beständiger geradliniger Bewegung befinden, die 
sich im ganzen betrachtet infolge der vollkommenen Elasti- 
cität der einzelnen Teile erhält, während die Richtungen 
der Bewegungen der Partikeln sich unaufhörlich infolge der 
gegenseitigen Zusammenstösse ändern. Von den zusammen- 
stossenden Teilchen wird vorausgesetzt, dass sie auf einander 
bloss in sehr kleinen Entfernungen und durch sehr kurze 
Zeiten vor und nach dem Stosse einwirken, während in 
den Zwischenräumen und Zwischenpausen ihre Bewegung 
eine freie und folglich geradlinige ist. Die Dauer der freien 
Bewegung wird überdies als unendlich gross im Vergleiche 
zur Dauer der Zusammenstösse und gegenseitigen Ein- 
wirkungen betrachtet. 

Diese Theorie wurde zuerst durch Krönig ^) in Vor- 



^) Siehe oben S. 26 ff. 

*) Pogg. Ann., Bd. 99, S. 315 ff. Wie es in solchen FäUen 
üblich ist, sind Vorläufer dieser Theorie seither in den Schriften ver- 
schiedener älterer Physiker gefunden worden. Vgl. P. DU Bois-Rey- 
MOND in Pogg. Ann., Bd. 107, S. 490 ff. 

Stallo, Begriffe u. Theorieen. 7 



98 rill Kapitel. 

schlag gebracht und ist seither durch Clausius, Maxweli., 
BOLTZMANN, Stefan, PFAUNDLER Und andere Physiker besten 
Rufes wohl ausgearbeitet worden. So wie in dem Falle 
der atomistischen Hypothese überhaupt nehme ich mir 
auch jetzt vor, nicht so sehr die logische Berechtigung als 
den wissenschaftlichen Wert der in Frage stehenden Theorie 
zu erörtern. Zu diesem Zwecke wird es indessen notwendig 
sein, zunächst sich über die wahre Natur und Rolle einer 
wissenschaftUchen Hypothese zu vergewissern — nicht nur 
bezüglich der Kriterien ihres Wertes, sondern auch wegen 
der Bedingimgen, ihrer Giltigkeit 

Eine wissenschaftliche Hypothese kann, allgemein aus- 
gedrückt, als eine provisorische oder versuchsweise Er* 
klärung physikalischer Erscheinungen betrachtet werden, ^) 
Doch was bedeutet eine Erklärung im wahren wissenschaft- 
lichen Sinne? Die Antworten auf diese Frage, welche von 
Logikern und Vertretern der Wissenschaft gegeben werden, 
sind, wiewohl verschieden in der Ausdmcksweise, im wesent- 
liche!^ von der gleichen Bedeutung. Die Erscheinungen 
werden erklärt durch Hervorhebung der teilweisen oder 
gänzlichen Identität mit anderen Erscheinungen. Wissen- 
schaft ist Kenntnis, und alle Kenntnis ist in der Sprache 
Sir WiLUAM Hamilton's *) eine „VereinheitUchung des Viel- 
faltigen". „Die Grundlage aller wissenschaftlichen Erklärung," 
sagt Bain, ^) besteht darin, eine Thatsache einer oder meh- 
reren anderen ähnlich zu machen. Sie ist mit dem Vor- 



8) WUNDT hat kürzlich (Logik I. Bd., S. 403) die Hypothesen 
von „Anticipationen von Thatsachen" zu unterscheiden und den Aus- 
druck „Hypothese" auf einen Sinn zu beschränken gesucht, welcher 
trotz seiner ethymologischen Berechtigung im. Widerspruche sowohl 
mit dem gewöhnlichen wie mit dem wissenschaftlichen Sprachge- 
brauche steht« 

♦) Lectures on Metaphysics (Boston ed.), pp. 47, 48. 

^) Logic, II. (Inductive), chap. XII, § 2. 



Die kinetische Gastheorie. 99 

gang der Verallgemeinerung identisch." Und „Verallge- 
meinerung ist bloss die Hervorhebung des Einen aus dem 
Vielen." •) Ähnlich spricht sich Jevons ') aus : „Die Wissen- 
schaft entsteht aus der Entdeckung von Identitäten im Ver- 
schiedenen," und ®) „jeder grosse Fortschritt in der Wissen- 
schaft besteht in einer grossen Verallgemeinerung, die auf 
tiefliegenden und feinen Ähnlichkeilen beruht." Dieselbe 
Sache drückt der eben citierte Autor an einer anderen 
Stelle so aus:®) „Jede Erklärung besteht in der Aufdeckung 
und Hervorhebung einer Ähnlichkeit zwischen Thatsachen 
oder in der Aufzeigung eines grösseren oder geringeren 
Grades von Identität zwischen scheinbar verschiedenen Er- 
scheinungen." 

Air dies kann in gewöhnlichen Worten so ausgedrückt 
werden : ' Sobald sich eine neue Erscheinung dem Manne 
der Wissenschaft oder einem gewöhnlichen Beobachter dar- 
bietet, entsteht bei beiden die Frage: Was ist das? — und 
diese Frage meint einfach: Von welcher bekannten, ver- 
trauten Thatsache ist diese scheinbar fremde, bis jetzt un- 
bekannte Thatsache eine neue Darbietung — von welcher 
oder von welchen bekannten, vertrauten Thatsachen ist sie 
eine Verkleidung oder Komplikation ? Oder insofern als die 
teilweise oder gänzliche Identität mehrerer Erscheinungen 
die Grundlage der Klassification bildet (wobei eine Klasse 
eine Anzahl von Objekten vorstellt, die eine oder mehrere 
Eigenschaften gemeinsam haben), kann man auch sagen, 
dass jede Erklärung einschliesslich der Erklärung durch eine 
Hypothese ihrer Natur nach eine Klassifikation ist. 

Da nun von dieser Art die wesentliche Natur einer 
wissenschaftlichen Erklärung ist, von der die Hjrpothese 



®) Hamilton, 1. c, p. 48. 

') Principles of Science, I, p. i. 

*) Ib., II, p. 281. 

®) Principles of Science, IT, p. 166. 

7* 



loo VIIL Kapitel. 

eine versuchsweise Form ist, so folgt daraus, dass keine 
Hypothese giltig sein kann, welche nicht das Ganze öder 
eine Seite der Erscheinung, zu deren Erklärung sie auf- 
gestellt wurde, mit irgend welchen anderen vorher beobach- 
teten Erscheinungen identificiert. Der erste und der Haupt- 
grundsatz jeder Verwendung der Hypothese in der Wissen- 
schaft lässt sich formell in zwei Sätze auflösen, von denen 
der erste aussagt, dass jede giltige Hypothese eine Identifi- 
cierung von zwei Teilen sein müsse — der Thatsache, die 
zu erklären ist, und der Thatsache , durch welche erklärt 
wird, und der zweite, dass diese letztere Thatsache aus 
der Erfahrung bekannt sein muss. 

Die Prüfung nach dem ersten dieser Sätze ergibt die 
Hinfälligkeit aller jener Hypothesen, welche bloss eine An- 
nahme an Stelle einer Thatsache setzen, und somit, in der 
Sprache der Scholastiker, obscurum per obscurius 
erklären, oder (falls die Annahme einfach die Aufstellung 
der Thatsache in einer anderen Form ist) idemper idem 
erläutern. Die Nichtigkeit einer solchen Hypothese grenzt 
an kindische Lächerlichkeit, wenn eine einzelne Thatsache 
durch eine Reihe willkürlicher Annahmen ersetzt wird, unter 
denen sich die Thatsache selbst befindet. Manche der 
Anwendungen der atomistischen Hypothese, sowohl in Physik 
wie in Chemie, die in dem letzten Kapitel erörtert wurden, 
bieten auffallende Beispiele dieser Art nutzloser Annahmen, 
und ähnliche Beispiele finden sich in Menge unter mathe- 
matischen Formeln vor, die nicht selten als physikalische 
Theorieen prunken. Diese Formeln sind in vielen Fällen 
einfach die Resultate einer Reihe von Umformungen einer 
Gleichung, welche eine Hypothese enthält, deren Elemente 
nichts mehr und nichts weniger als die Elemente der zu 
erklärenden Erscheinung sind, derart, dass das einzige Ver- 
dienst der entstandenen Formel darin besteht, nicht im 
Widerstreit zu einer anfänglichen zu stehen. ^^) 



Die kinetische Oastheorie, loi 

Um die erste Bedingung ihrer Giltigkeit zu erfüllen, 
muss eine Hypothe die zu erklärende Thatsache in Be- 



^®) Ich hoffe nicht missverstanden zu werden, als ob ich die 
Verdienste, welche die Physik der Mathematik schuldet, herabsetzen 
wollte. Diese Verdienste — insbesondere die ihr durch die moderne 
Analysis erwiesenen — sind unberechenbar. Es gibt jedoch Mathe- 
matiker, welche sich einbilden, eine Lösung aller Geheimnisse er- 
langt zu haben, die ein Fall physikalischer Wirkung in sich birgt, 
sobald sie denselben durch eine Gruppe von Integralzeichen auf die 
Form eines Differentialausdruckes gebracht haben. Selbst wenn ihre 
Gleichungen integrabel sind, sollten sie sich gegenwärtig halten, dass 
die Operationen der Mathematiker rein deduktiv sind und, soweit 
sie auch eine physikalische Theorie ausbreiten mögen, sie dieselbe 
doch niemals vertiefen können. Zugegeben, dass die mathematischen 
Wissenschaften viel mehr als xa&d^/uara rpvxrjs sind, und deren 
Dienst in der Erforschimg der Ursachen der Naturerscheinungen weit 
wichtiger ist als die lediglich regelnde Funktion der formalen Logik 
in der Wissenschaft überhaupt — zugegeben auch, dass die An- 
wendung der Mathematik auf die Physik nicht allein die Bedeutung 
vieler experimenteller Resultate ins rechte Licht rückt, sondern sehr 
oft einen zuverlässigen Führer zu erfolgreichen Untersuchungen ab- 
gibt — mögen dessen ungeachtet einige unserer hervorragenden 
Mathematiker und Physiker noch mit Nutzen das 96. Aphorisma im 
ersten Buche von Bacon's Novum Organum lesen: „Naturalis Philo- 
sophia adhuc sincera non invenitur, sed infecta et corrupta ; in Aristo- 
telis schola per logicam ; in Piatonis schola per theologiam naturalem ; 
in secunda schola Piatonis, Prodi etaliorumper mathematicam, 
quae philosophiam naturalem terminare, nongenerare 
aut procreare debe t." In Bezug auf den Wert der im Texte er- 
wähnten Formeln dürfte es nicht unangebracht sein, die Worte CoURNOTS 
(De l'Enchainement, etc., I, p. 249) zu eitleren : „Tant qu'un calcul ne 
fait que rendre ce que l'on a tire de l'observation pour l'introduire dans 
les Clements du calcul ä vrai dire il n'ajoute rien aux donnees de l'obser- 
vation." Zu demselben Ergebnis führten die bewunderungswürdigen Be- 
trachtungen von PoiNSOT (Theorie Nouvelle de la Rotation des Corps, 
ed. 185 1, p. 79): Ce qui a pu faire Illusion ä quelques esprits sur 
cette espece de force qu'ils supposent aux formules de l'analyse, 
c'est qu'on en retire, avec assez de facilite, des verites deja connues, 
et qu'on y a, pour ainsi dire, soi-meme introduites, et il semble alors 



I02 VIIL Kapitel, 

Ziehung zu einer oder mehreren anderen Thatsachen bringen, 
indem sie das Ganze oder einen Theil der ersteren mit 
dem Ganzen oder einem Theil der letzteren identificiert. 
In diesem Sinne ist sehr richtig bemerkt worden, dass jede 
gute Hypothese die Zahl der unbegrifFenen Elemente einer 
Erscheinung wenigstens um eins erniedrigt. ^^) In dem 
nämlichen Sinne ist zuweilen gesagt worden, dass jede 
wahre Theorie oder Hypothese in Wirklichkeit eine Ver- 
einfachimg der Beobachtungsdaten ist — eine Behauptung, 
die indessen mit gehöriger Rücksicht auf den soeben be- 
sprochenen zweiten Satz verstanden werden muss, d. i. mit 
dem Vorbehalt, dass die Theorie nicht ein blosses asylum 
ignorantiae von der Art ist, wie sie die Scholastiker als ein 
principium expressivum bezeichnet haben, wie die Erklärung 
der Lebenserscheinungen durch Bezugnahme auf die Lebens- 
kraft oder die gewisser chemischer Vorgänge durch die 

que l'analyse nous donne ce qu'eUe ne fait que nous rendre dans 
un autre langage. Quand un theoreme est connu, on n'a qu'ä l'ex- 
primer par des equations; si le theoreme est vrai, chacune d'elles 
ne peut manquer d'etre escacte, aussi bien que les transformees qu'on 
en peut deduire; et si Ton arrive ainsi ä quelque formule evidente, 
ou bien etablie d'aiUeurs, on n'a qu'ä prendre cette expression comme 
un point de depart, ä revenir sur ses pas, et le calcul seul parait 
avoir conduit comme de lui-meme au theoreme dont il s'agit, Mais 
c'est en cela que le lecteur est trompe." 

^^) „Der Verstand hat das Bedürfnis jede Erscheinung zu er- 
klären, d. h. dieselbe als das Resultat bekannter Kräfte oder Er- 
scheinungen begrifflich abzuleiten ... Es geht hieraus hervor, dass 
jede Hypothese nur bekannte Kräfte oder Erscheinungen zur Er- 
klärung annehmen darf, indem die Annahme einer bisher unbekannten 
Kraft nur die Qualität des zu erklärenden Phänomens ändern, aber 
nicht die Zahl der unerklärlichen Momente reduzieren kann. Soll 
eine Hypothese nicht vollkommen unnütz und demgemäss die Ver- 
standesarbeit, welche sie zur Befriedigung eines Bedürfnisses erzeugte, 
keine zwecklose sein, so muss jede Hypothese die Zahl der 
unbegriffenen Momente einer Erscheinung mindestens 
um eins erniedrigen." Zöllner, Natur der Kometen, S. 189 f. 



Die kinetische Oastheorie, 103 

katalytische Wirkung. Wirkliche wissenschaftliche Erklärungen 
sind gewöhnlich von komplizierter Form ^ nicht nur weil 
die meisten Erscheinungen im allgemeinen komplizierterer 
Natur sind, sobald sie einer eingehenderen Untersuchung 
unterworfen wef den, sondern weil auch die einfachste That- 
sache nicht die Wirkung einer einzelnen Ursache, sondern 
das Ergebnis einer grossen und oft unbestimmbaren Viel- 
fältigkeit von Agentien ist, — das Resultat des Zusammen- 
wirkens zahlreicher Bedingungen. Die NEwroN'sche Theorie 
der Planetenbewegung ist weit verwickelter als die Kepler's, 
nach der jeder Planet längst seiner Bahn durch einen an- 
gelus rector geführt wurde, und die durch die moderne 
Himmelsmechanik gegebene Erklärung der Präcession der 
Nachtgleichen ist weit weniger einfach als die Erklärung, 
dass sich unter den grossen ursprünglich vom Schöpfer des 
Weltalls geschaffenen Perioden der Cyclus des Hipparch 
befunden habe. Das alte Sprichwort „simplex veri Judicium" 
muss mit einiger Einschränkung verstanden werden, bevor 
es mit Vertrauen als eine sichere Regel zur Bestimmung des 
Wertes wissenschaftlicher Lehren hingenommen werden kann. 
Ich komme nun zu dem zweiten Erfordernis für die 
Giltigkeit einer Hypothese : die erklärende Erscheinung (d. h. 
diejenige, mit der die zu erklärende Erscheinung identifiziert 
wird) muss durch die Erfahrung gegeben sein. Dieser Satz 
ist in Wirklichkeit gleichbedeutend mit jenem Teile von 
Newton's^^) erster Regel des Philosophierens, in dem er 
darauf besteht , dass die zur Erklärung herangezogene Ur- 
sache eine vera causa sein muss — ein Ausdruck, den er 
nicht ausdrücklich in den Prinzipien erklärt, dessen Be- 
deutung aber aus der folgenden Stelle der Optik ^^) ent- 
nommen werden kann: „Uns zu sagen, dass jede Art von 
Dingen mit einer besonderen geheimen Eigenschaft begabt 

") Phil. Nat. Princ. Math., lib. III. 
^*) 4. Aufl. S. 377. 



I04 VIIL Kapitel, 

ist, durch die sie wirkt und ofFeabare Wirkungen hervor- 
bringt, heisst so viel wie uns gar nichts zu sagen. Aber 
zwei oder drei allgemeine Prinzipien ' der Bewegung aus 
den Erscheinungen abzuleiten und hernach uns zu zeigen^ 
wie die Eigenschaften und Wirkungen aller körperlichen 
Dinge aus diesen offenkundigen Prinzipien sich ergeben, 
würde einen sehr grossen Fortschritt in der Philosophie be- 
deuten, wenn auch die Ursachen dieser Prinzipien noch 
nicht entdeckt wären." 

Die in Frage stehende Forderung war lange Zeit 
Gegenstand lebhafter Diskussion zwischen J. St. Mill, 
Whewell und anderen ; doch wird ma.n, glaube ich, finden, 
dass, abgesehen von einigen Zugeständnissen für unvermeid- 
liche Verwicklungen, wenig wirkliche Nichtübereinstimmung 
zwischen den Denkern besteht. Die jüngste Behauptung 
von G. H. Lewes, ^*) dass „eine Erklärung um giltig zu 
sein durch Teile bereits beobachteter Erscheinungen aus- 
gedrückt werden müsse" und die Gegenbehauptimg von 
Jevons, ^^) dass „Übereinstimmung mit der Thatsache (d. h. 
mit der zu erklärenden) der einzige und hinreichende Prüf- 
stein einer wahren Hypothese sei'* sind beide zu weit und 
sind in der That durch Lewes und Jevons selbst im Ver- 
laufe der Diskussion abgeändert worden; doch ist die Be- 
hauptung von Lewes dessen imgeachtet in dem Sinne wahr, 
dass keine Erklärung eine wirkliche ist, die nicht experi- 
mentelle Data unter einen Begriff bringt. Die Verwirrung, 
welche wie in so vielen anderen Fällen wissenschaftlicher 
Kontroverse der scheinbaren Nichtübereinstimmung der 
beiden Parteien zu Grunde liegt, entspringt aus einer Nicht- 
beachtung des Umstandes, dass die Identifizierung zweier 
Erscheinungen sowohl eine teilweise wie eine indirekte sein 
kann — dass sie dadurch bewerkstelligt werden kann, dass 

^*) Problems of Life and Mind, II, 7. 
") Princ. of Science, II, 138. 



Die kinetische Gastheorie, 105 

in den Erscheinungen ein gemeinsamer bekannter Zug unter 
der Bedingung aufgezeigt wird, dass in einer oder in beiden 
Erscheinungen noch irgend ein anderer bisher noch nicht 
direkt beobachteter oder gar nicht der Beobachtung zu- 
gänglicher Zug angenommen wird. Das passendste Beispiel 
hierzu bietet die so viel erörterte Wellentheorie des Lichtes. 
Diese Hypothese identifiziert das Licht mit anderen Formen 
der Strahlung und selbst mit dem Schall, indem sie zeigt, 
dass alle diese Erscheinungen das Element der Schwingung 
(welches aus der Erfahrung sehr wohl bekannt ist) gemein- 
sam haben, wenn man ein alles durchdringendes materielles 
Medium von einer aus Erfahrung ganz unbekannten Art 
als Träger der Lichtschwingungen voraussetzt. In diesem 
sowie in allen ähnlichen Fällen liegt die Identität nicht in 
dem erdichteten Element, dem Äther, sondern in dem 
wirklichen Element, der Schwingung. Es besteht nicht 
in dem Agens, sondern in dem Gesetze seiner 
Wirkungsweise. Und es ist klar, dass eine jede Hypo- 
these, welche Übereinstimmungen zwischen den Erscheinungen 
in lediglich rein erdichteten Punkten lehrt, völlig eitel 
ist, weil sie in keinem Sinne eine Identifikation von Er- 
scheinungen ist. Ja sie ist mehr als eitel; sie ist ohne 
einen Sinn — eine blosse Sammlung von Worten oder 
Zeichen ohne begriffliche Bedeutung. So drückt sich denn 
Jevons^*) aus: „Keine Hypothese kann so sehr im Geiste 
erdacht sein, dass sie sich nicht mehr oder weniger an die 
Erfahrung anschliesst. So wie das Material unserer Ideen 
unzweifelhaft der Empfindung entstammt, so können wir 
uns ein Agens nur begabt mit einigen der Eigenschaften 
der Materie vorstellen. Alles was der Geist bei der Schaffung 
neuer Wesen thun kann, ist die Abänderung der Kombi- 
nationen oder nach Analogie die Abänderung der Stärke 



^*) Princ. of Science, II, 141. 



lo6 VIII. Kapitel, 

sinnlicher Empfindungen." J. St. Mill ist daher offenbar 
im Unrecht , wenn er sagt, ^ ') dass „da eine Hypothese 

• 

eine blosse Annahme ist, sie keine anderen Grenzen kennt 
als die der menschlichen Einbildungskraft", und dass „wir, 
falls es uns gefällt, zur Erklärung einer Wirkung irgend 
eine Ursache von ganz unbekannter Art, die nach einem 
gänzlich erdichteten Gesetze wirkt, annehmen können." Das 
Gebrechen des zweiten Teiles dieses Satzes ist offenbar von 
Mill selbst gefühlt worden, denn er fugt am Schluss des 
nächsten Satzes hinzu, „dass es wahrscheinlich keine 
Hypothese in der Geschichte der Wissenschaft gibt, bei 
der sowohl das Agens selbst wie das Gesetz seiner Wirkung 
Qin erdichtetes wäre." Gewiss gibt es keine solche — 
zum mindesten keine, welche in irgend einer Weise dem 
Interesse der Wissenschaft dienlich wäre. 

Eine Hypothese kann nicht nur eine sondern mehrere 
erdichtete Annahmen enthalten, vorausgesetzt nur, dass sie 
eine Übereinstimmung unter den Erscheinungen in einem 
besonderen Punkte, der wirklich und beobachtbar ist, her- 
vortreten kssen, oder seine Wahrscheinlichkeit oder wenig- 
stens Möglichkeit zeigen. Dies ist besonders dann be- 
rechtigt, wenn die hervorgehobene Übereinstimmung nicht 
zwischen zwei, sondern einer grösseren Zahl von Erscheinungen 
und noch mehr, wenn sie nicht bloss in einem, sondern in 
mehreren thatsächlichen Punkten zwischen verschiedenen 
Erscheinungen stattfindet, so dass, wie sich Whewell^^) 
ausdrückt, „die Hypothesen, welche zur Erklärung einer 
Klasse von Fällen angenommen wurden, sich als ausreichend 
zur Erklärung anderer Erscheinungen von verschiedener 
Natur herausstellen." Ein Beispiel hierzu bietet die eben 
erwähnte Hypothese des Lichtäthers, von der man zuerst 
geglaubt hat, dass sie auch die Verzögerung der Kometen 

^^ Logic, 8th ed., p. 394. 

^®) History of the Inductive Sciences (Am. ed.), II, 186. 



Die kinetische Oastlmn-ie, 107 

erkläre. Während jedoch die Wahrscheinlichkeit der Wahr- 
heit einer Hypothese- in direktem Verhältnis zu der Zahl 
der von ihr in gegenseitige Beziehung gebrachten Er- 
scheinungen ist, steht sie im umgekehrten Verhältnisse zu 
der Zahl solcher Erdichtungen, oder noch genauer, ihre 
UnWahrscheinlichkeit wächst im geometrischen Verhältnis, 
wenn die Zahl der willkürlichen Annahmen im arithmetischen 
zunimmt. ^•) Dies findet wieder seine Dlustration in der 
Wellentheorie des Lichtes. Die grosse Zahl der willkür- 
lichen (erdichteten) Annahmen dieser Theorie in Verbindung 
mit dem Mangel an Übereinstimmungen, durch welche sich 
anfänglich die Theorie so auszuzeichnen schien, kann schwer- 
lich anders als ein ständiges Hindernis ihrer Giltigkeit in 



^*) ,,Eii general," sagt Cournot (De rEnchainement, etc. I, 103) 
une theorie scientifique quelconque, imaginee pour relier un certain 
nombre de faits donnes par l'observation , peut etre assimilee ä la 
courbe que Ton trace d'apr^s une loi geometrique, en s'imposant la 
condition de la faire passer par un certain nombre de points dönnes 
d'avance. Le jugement que la raison porte sur la valeur intrins^que 
de cette theorie est un jugement probable, une induction dont la 
probabilite tient d'une part ä la simplicite de la formule theorique, 
d'autre part au nombre des faits ou des groupes des faits qu'elle 
relie, le meme groupe devant comprendre tous les faits qui s'expli- 
quent dejä les uns par les autres, independamment de l'hypoth^se 
theorique. S'il faut compliquer la formule ä mesure que 
de nouveaux faits se rev^lent ä l'observation eile 
devient de moins en moins probable en tant que loi 
de la Nature; ce n'est bientot plus qu'un echafaudage artificiel 
qui croule enfin lorsque, par un surcroit de complication, eile perd 
meme l'utilite d'ün Systeme artificiel, celle d'aider le travail de la 
pensee et de diriger les recherches. Si au contraire les faits acquis 
a Tobservation posterieurement ä la construction de Thypothöse sont 
relies par eile aussi bien que les faits qui ont servi ä la construire, 
si surtout des faits prevus comme consequences de l'hypothese re- 
Coivent des observations posterieures une confirmation eclatante , la 
probabilite de l'hypothese peut aller jusqu'ä ne laisser aucune place 
au doute dans un esprit eclaire." 



io8 VIIL Kapitel. 

ihrer gegenwärtigen Form betrachtet werden. Mögen wir 
auch noch so geneigt sein, den Anforderungen der Theorie 
stattzugeben, wenn dieselbe von uns das Zugeständnis ver- 
langt, den ganzen Raum und alle wahrnehmbare Materie 
von einem diamantharten Medium durchdrungen anzunehmen, 
das in jedem Punkte des Raumes eine i 1^8000000000 
grössere elastische Kraft als die Luft an der Erdoberfläche 
ausübt und somit jeden Quadratcentimeter mit einer Kraft 
von I 186000000000 kg drückt*^) — einem Medium, 
welches gleichzeitig unserer sinnlichen Wahrnehmung ent- 
geht, ganz und gar ungreübar ist imd den Bewegungen der 
gewöhnlichen Körper keinen nennenswerten Widerstand 
entgegensetzt, — so werden wir doch verblüfft, wenn man 
uns sagt, dass dies Zugeständnis eines diamantharten Mediums, 
des Äthers, nicht im Stande ist, die beobachteten Unregel- 
mässigkeiten in der periodischen Wiederkehr der Kometen 
zu erklären ; dass ferner der angenommene Lichtäther nicht 
nur als Medium für die Hervorbringung und Verbreitung 
elektrischer Erscheinimgen un verwendbar ist, so dass man 
gezwungen ist, für diese einen besonderen alles durch- 
dringenden elektrischen Äther anzunehmen, ^^) sondern dass 
es auch sehr zweifelhaft ist, ob die Annahme eines einzigen 
Äthermediums im Stande ist, für alle bekannten Erscheinungen 
der Optik Rechenschaft zu geben (wie z. B. für die Nicht- 
interferenz zweier ursprünglich in zwei verschiedenen Ebenen 
polarisierter Lichtstrahlen, wenn dieselben auf dieselbe 
Polarisationsebene gebracht werden, und für gewisse Er- 
scheinungen der Doppelbrechung, angesichts deren es not- 
wendig erscheint anzunehmen, dass die Härte des Mediums 



^^) Vgl. Herschel, Familiär Lectures, etc., p. 282 ; F. de Wrede 
(Präsident der königlichen Akademie der Wissenschaften in Stock- 
holm) Adresse, Phil. Mag., 4th ser., vol. 44, p. 82. 

■^) W. A. NojiTON, On Molecular Physics, Phil. Mag., 4th ser., 
vol 23, p. 193. 



Die kinetische Gastheorie, 109 

sich mit der Richtung der Spannung ändert — eine Voraus- 
setzung, die im Widerspruche zu den Thatsachen über die 
Intensität des reflektierten Lichtes steht); und dass es fUr 
die entsprechende Erklärung der Lichterscheinungen „not- 
wendig ist, das, was wir Äther nennen, als aus zwei Medien 
bestehend zu betrachten, von denen jedes eine gleich grosse 
und enorme Elasticität besitzt, und die beide in gleichen 
Mengen im Räume vorhanden sind, und deren Schwingungen 
in zu einander senkrechten Ebenen stattfinden, wobei sich 
die beiden Medien zu einander indifferent verhalten, ein- 
ander weder anziehen noch abstossen." ^^) Diese endlose 
Überhäufung des Raumes mit Äthermedien und gewöhn- 
licher Materie erinnert in bedenklicher Weise an die drei 
Arten von Äthersubstanzen, die LEffiNiz und Descartes als 
Grundlage für ihre Wirbelsysteme forderten. Es versetzt 



**) Hudson, On Wave Theories of Light, Heat, and Electricity, 
Phil. Mag. (IV), vol. 44, p. 210 seq. In diesem Artikel weist der 
Verfasser auch auf die Plumpheit der Hilfshypothesen hin, die ^r 
Vermeidung anderer Schwierigkeiten der Wellentheorie ersonnen 
worden sind, unter denen sich auch die im letzten Kapitel erörterten 
befinden. „Waves of sound," sagt er, „in our atmosphere are 
IG 000 time as long as the waves of light and their velocity of 
propagation about 850000 tim^s less, and, even when air has been 
raised to a temperature at which waves of red light are propagated 
from matter, the velocity of sound- waves is only increased to 
about double what it was at zero centigrade. Even their velocity 
through glass is 55 000 times less than the speed of the aethereal 
undulations, and the extreme slowness of change of temperature in 
the conduction of heat (as contrasted with the rapidity with which 
the vibrations of the aether exhaust themselves, becoming insensible 
almost instantly when the action of the existing cause ceases) marks 
distinclly the essential difference between molecular and aethereal 
vibrations. It appears to me, therefore, a very crude hypothesis to 
imagine a combination of aethereo-molecular vibrations as accounting 
for the very minute difference in the retardation of doubly refracted 
rays in crystals.*' 



HO VIIL Kapitel, 

zum mindesten unsere Gedanken in eine quälende Unruhe, 
wenn wir gezwungen sind, im Interesse der angenommenen 
Form der Wellentheorie nicht nur alle Mutmassungen, die 
aus der gewöhnlichen Beobachtung entstehen, und alle 
Analogien der Erfahrung zurückzuweisen, sondern auch 
Hypothesen und Äthermedien ins unendliche auf einander 
zu häufen. Der Umstand aber, dass die in Frage stehende 
Theorie nicht nur für alle in der Zeit ihrer Vexbreitimg 
bekannten Erscheinungen der Optik Rechenschaft zu geben 
vermochte, sondern auch das grosse Verdienst glücklicher 
Vorhersagung für sich hat, indem sie eine Reihe von nach- 
her entdeckten Thatsachen vorausgesagt hatte, vermag uns 
nur teilweise wieder zu beruhigen. Diese Voraussagungen 
sind allerdings nicht nur zahlreich gewesen, es sind auch 
mehrere unter ihnen, wie Hamilton's Ankündigung der 
konischen Refraktion (die später von Lloyd bestätigt wurde) 
und Fresnel's Voraussicht der Zirkularpolarisation nach zwei 
inneren Reflexionen in einem Prisma (aus der imaginären 
Form eines algebraischen Ausdruckes), sehr auffallend. Wie- 
wohl aber Anticipationen gerade dieser Art sehr geeignet 
sind, eine Hypothese zu beglaubigen, so sind sie doch, wie 
J. St. MiLL -^) gezeigt hat, keineswegs unbedingte Erprober 
ihrer Wahrheit. Gebraucht man das Wort „Ursache" in 
dem Sinne, in welchem es gewöhnlich verstanden wird, so 
kann eine Wirkung einer von mehreren Ursachen zuge- 
schrieben werden und kann infolgedessen in vielen Fällen 
durch irgend eine unter mehreren widerstreitenden Hypo- 
thesen erklärt werden, wie dies aus einem ganz flüchtigen 



**) Logik, S. 356. Lange vor Mill bemerkte Leibniz, dass der 
Erfolg im Erklären (oder Vorhersagen) von Thatsachen kein Beweis 
für die Giltigkeit einer Hypothese ist, da ja auch richüge Schlüsse 
aus falschen Prämissen gezogen werden können — oder wie sich 
Leibniz ausdrückt, „comme le vrai peut etre tire du faux.** Vgl. 
Nouveaux Essais, chap. 17, sec. 5, Leibnitii opp., ed. Erdmann, p. 397. 



Die kifietischc Oastheorie, iix 

Blick auf die Geschichte der Wissenschaft erhellt. Wenn 
eine Hypothese mit Erfolg eine Reihe von Erscheinungen 
erklärt, in Bezug auf welche sie ersonnen worden ist, so 
ist es nichts seltsames, wenn sie noch andere damit durch 
unmittelbar folgende Entdeckung verknüpfte ebenfalls zu 
erklären vermag. Es gibt wenige aufgegebene physikalische 
Theorien, die sich nicht der Vorhersage von Erscheinungen 
rühmen könnten, auf die sie hingewiesen haben und die 
nachher beobachtet worden sind ; unter sie gehört die Ein- 
fluidumtheorie der Ellektrizität und die Corpusculartheorie 
des Lichtes. 

Es gibt natürlich noch andere Bedingungen für die 
Giltigkeit einer Hypothese, die ich noch nicht angeführt • 
habe. Zu diesen gehören die von Sir W. Hamilton, Mill, 
Bain u. a. näher erörterten wie z. B. die, dass die Hypo- 
these nicht sich selbst oder bekannten Naturgesetzen wider- 
sprechen dürfe (welch letztere Bestimmung allerdings etwas 
zweifelhaft ist, da ja die betreffenden Gesetze unvollständige 
Induktionen aus vergangener Erfahrung sein können, die 
durch die von der Hypothese geforderten Elemente zu er- 
gänzen wären) ; dass sie von der Art sein müsse, um Schlüsse 
deduktiver Natur zu erlauben u. s. w. Angesichts meines 
gegenwärtigen Vorhabens ist es nicht nötig, auf dies alles 
einzugehen. Die zwei Bedingungen, welche ich einzu- 
schärfen und zu erläutern suchte, sind meines Erachtens 
nach ausreichende Prüfsteine der Giltigkeit und der Ver- 
dienste der kinetischen Gastheorie. 

Die fundamentale Thatsache, die durch diese Theorie 
erklärt werden soll , ist die , dass die Gase Körper sind, 
welche sich bei konstanter Temperatur und bei Abwesenheit 
äusseren Druckes in gleicher Weise ausdehnen. Aus dieser 
Thatsache ergeben sich die zwei grossen empirischen Ge- 
setze, welche jene physikalischen Eigenschaften ausdrücken, 
die durch die Erfahrung direkt bestätigt werden, als not- 



112 VIII. Kapitel. 

wendige und unmittelbare Folgerungen, da sie in der That 
nichts anderes vorstellen als teilweise und sich ergänzende 
Ausdrücke derselben. Da die Begrenzung eines Gasvolumens 
durch den Druck allein bewerkstelligt wird — der Zusammen- 
halt einer Gasmenge dem Drucke allein verdankt wird — 
so folgt, dass sie ihm proportional, d. h. mit anderen Worten, 
dass das Volumen eines Gases dem Drucke verkehrt pro- 
portional sein müsse; und dies ist das Gesetz von Boyle 
oder Mariotte. Da femer die Temperatur durch die gleich- 
förmige Ausdehnung einer Gassäule (beim Luftthermometer) 
gemessen wird, muss sie, wenn sich alle Gase in gleicher 
Weise ausdehnen, dem Volumen eines Gases proportional 
sein und umgekehrt; das ist das Gesetz von Charles.^*) 



**) Einer der sonderbarsten VorfäUe in der Geschichte der Physik 
ist die ernsthafte Diskussion der Frage nach dem wahren Gesetz der 
Ausdehnung der Gase. „Nach Gay-Lussac bildet," sagt Balfoür 
Stewart (Treatise on Heat, p. 60) „die Vermehrung des Volumens, 
welche ein Gas bei der Temperaturerhöhung um l^ erfährt, ein be- 
stimmtes festes Verhältnis zu seinem Anfangsvolumen bei o^ C. ; 
während nach Dalton ein Gas von irgend einer Temperatur beim 
Wachsen derselben um i ® sich um einen konstanten Bruchteil des 
Volumens bei dieser Temperatur ausdehnt . . . Die Aus- 
dehnung der Gase ist seither durch Rudberg, Dulong und Petit, 
Magnus und Regnault untersucht worden, und das Ergebnis ihrer 
Arbeiten lässt wenig Zweifel, dass Gay Lussac's Ausdrucksweise des 
Gesetzes der Wahrheit bedeutend näher liegt als die Dalton 's. Da 
die Versuche von Rudberg und den anderen notwendigerweise unter 
der Voraussetzung gemacht worden sind, dass der Ausdehnungs- 
coefficient für sämtliche Gase der nämliche ist (da sich die Frage 
nicht auf die Ausdehnung spezieller Gase, sondern die der Gase 
überhaupt bezog), und als Normaltemperatur die Angaben eines Luft- 
thermometers benutzt wurden, so wäre es in der That sehr über- 
raschend gewesen, wenn das Ergebnis die Dalton 'sehe Ansicht be- 
stätigt hätte. Ein Thermometer wird durch Einteilung einer ge- 
gebenen Länge einer Röhre in gleiche Teile graduiert. Es ist somit 
klar, dass der aus der Ausdehnung der Luft in einer solchen Röhre 
bei der Erwärmung iim i ® sich ergebende Zuwachs des Volumens 



Die kinetische Oasiheorie. 113 

Die vorhergehende Realdefinition eines Gases (d. h* 
die Hervorhebung seiner Eigenschaften) bezieht sich bloss 
auf ideale oder vollkommene Gase. Aus der wirklichen 
Erfahrung kennen wir kein Gas, das sich in Abwesenheit 
von Druck völlig gleichförmig ausdehnt ; *) und aus diesem 
Grunde auch keines, das sich genau an die Gesetze von 
BoYLE und Charles hält. Überdies sind wir nicht im 
Stande, direkt ein Gas zu beobachten, das völlig frei von 
Druck ist; was uns die Erfahrung lehrt, ist einfach, dass 
sich die Gase (wenn alles andere unverändert bleibt) im 
Verhältnis zur Verkleinerung des Druckes, dem sie unter- 
worfen sind, ausdehnen. Doch ist im Falle vieler Gase — 
jener, welche entweder völlig incoercibel, oder nur mit 
grosser Schwierigkeit coercibel sind (d. h. sich in den 

ein bestimmter Teil eines anfanglich angenommenen konstanten Vo- 
lumens ist ; und das gleiche muss natürlich auch von jedem anderen 
Gas gelten, wenn es sich im gleichen Verhältnisse ausdehnt. Die 
dem Gesetze von Dalton gegebene Form würde zu folgender be- 
merkenswerten Reihe gleicher Brüche führen — von denen der erste 
den Wert der Ausdehnung der Luft im Thermometer und die folgen- 
den den Wert (oder vielmehr die Werte) der Ausdehnung des ge- 
prüften Gases vorstellen würde (wobei a die lineare Ausdehnung der 
Luft in dem Thermometer, v ihr anfängliches Volumen, a die ent- 
sprechende Ausdehnung des untersuchten Gases, v sein Anfangs- 

/ » * f 

, . . a a a a a 

Volumen bedeutet) : — = -7 = 



a 



V V V -\- a V -f- 2 a v -f- ^a 

; = , . , etc. Die Versuche einer experimentellen Lösung 



V -[- 4« 

dieser Frage deuten — beiläufig bemerkt — auf einen Zweifel be- 
züglich der Korrektheit der herrschenden thermometrischen Systeme, 
die auf die Annahme der Gleichheit der Volumverhältnisse gegründet 
sind, in denen ein Glied konstant bleibt, während das andere variabel 
ist, nämlich von Brüchen, die gleiche Nenner aber ungleiche Zähler 
haben. Dieser Zweifel wird nicht völlig durch die Überlegung ver- 
scheucht, dass die Durchmesser unserer Thermometerröhren sehr 
klein sind. 

♦) Diese Stelle ist in ihrer nachlässigen Stilisierung Unverstand- 
lieh. Anm. d. Ubers. 

STALLO, Begriffe u. Theorieen. 8 



114 VIIL Kapitel, 

flüssigen oder festen Aggregatzustand verwandeln lassen) und 
beinahe aller Gase bei sehr hohen Temperaturen — die Ab- 
weichung von der Gleichförmigkeit der Ausdehnung sehr gering. 
Wie erklärt nun die kinetische Gastheorie diese so- 
eben angeführten Thatsachen? Sie behauptet diese auf 
Grund von wenigstens drei willkürlichen Annahmen zu er- 
klären, von denen nicht eine durch die Erfahrung gegeben 
ist, nämlich durch die Annahmen: 

1. dass ein Gas aus festen Teilchen zusammengesetzt 
ist, die unzerstörbar und von konstanter Masse und Vo- 
lumen sind; 

2. dass diese das Gas zusammensetzenden Teilchen 
absolut elastisch sind; 

3. dass sich diese Teilchen in beständiger Bewegung 
befinden und, sehr kleine Entfernungen ausgenommen, in 
keiner Weise auf einander einwirken, so dass deren Be- 
wegungen absolut frei und infolgedessen geradlinig sind. 

Ich enthalte mich dabei der Aufstellung einer vierten 
Annahme — der von der absoluten Gleichheit der Teilchen, 
wenigstens in Bezug auf die Masse — weil man (wiewohl 
unberechtigterweise) diese für eine Folge der übrigen An- 
nahmen erklärt hat. 

Die erste dieser Annahmen ist in dem letzten Kapitel 
hinlänglich betrachtet worden. Die zweite Annahme be- 
hauptet die absolute Elasticität der das Gas zusammen- 
setzenden festen Teile. Worin liegt die Bedeutung und der 
Zweck dieser Annahme ? Die Elasticität eines festen Körpers 
ist jene Eigenschaft, vermöge welcher er Teile des Raumes 
von bestimmten Rauminhalt und bestimmter Gestalt ein- 
nimmt und einzunehmen trachtet, und infolgedessen gegen 
jede Kraft, die eine Änderung dieses Volumens oder dieser 
Gestalt bewirkt oder zu bewirken strebt, eine Gegenkraft 
ausübt, welche im Falle vollkommener Elasticität der ein- 
wirkenden Kraft genau proportional ist. Es ist nun sofort 



Die kinetische Gastheorie. 115 

einleuchtend, dass die Eigenschaft — die Thatsache — 
die in den das Gas zusammensetzenden festen Teilen an- 
genommen wird, die wirkliche zu erklärende Thatsache beim 
Gas in sich enthält. Ein vollkommenes Gas wirkt gegen 
einen Druck, der sein Volumen zu verkleinem sucht, mit 
einer diesem Drucke proportionalen Kraft ; und aus diesem 
Grunde werden die Gase als elastische Flüssigkeiten be- 
zeichnet. Dieser Widerstand eines Gase§ gegen die Ver- 
kleinerung seines Volumens ist offenbar eine einfachere 
Thatsache als der Widerstand eines festen Körpers, der 
sowohl gegen die Verkleinerung wie gegen die Ver- 
grösseruhg des Volumens und ausserdem noch 
gegen die Veränderung der Gestalt gerichtet 
ist. Der Widerstand gegen mehrere Arten von Ver- 
änderung verlangt eine grössere Zahl von Kräften und ist 
somit eine verwickeitere Erscheinung als der Widerstand 
gegen eine Art von Veränderung.-^) 

Es erscheint auf diese Weise die Voraussetzung einer 
absoluta fclasticität der festen Körper, deren Aggregat ein 
Gas bilden soll , als eine üagrante Verletzung der ersten 



*^) Es kann eingewendet werden , dass die grössere jEinfachheit 
der Eigenschaften eines Gases rein begrifflicher Natur ist. Die 
Identifizierung von Begriffen mit Thatsachen ist unzweifelhaft der 
grosse fundamentale Irrtum der Spekulation; jetzt aber handelt es 
sich um die begrifflichen Elemente der imter Diskussion stehenden 
Hypothese. Die Ansicht, dass ein fester Körper von konstantem 
Volumen (oder genauer ausgedrückt, von veränderlichem Volumen, 
der sich durch eigene Bewegung auf ein festes Volumen ausdehnt 
oder zusammenzieht) ein einfacheres Ding sei als ein sich gleich- 
förmig ausdehnender Körper, beruht sicherlich auf keiner Thatsache 
der Erfahrung, sondern stellt ein blosses Vorurteil des Geistes vor, 
ähnlich dem Gedanken, dass ein Körper in Ruhe eine einfachere 
Erscheinung sei als ein solcher in gleichförmiger Bewegung und über- 
haupt die Ruhe einfacher sei als die Bewegung. Dieses Vorurteil 
hat seine Wurzel in dem gewohnheitsmässigen Vergessen der prin- 
-zipiellen Relativität aller Erscheinungen, die später erörtert werden soll. 

8* 



|i6 VIIL Kapitel, 

Bedingung der Giltigkeit einer Hypothese — der Bedingung, 
welche eine Verringerung der Zahl der nicht verwandten 
Elemente der zu erklärenden Thatsache verlangt und folg- 
lich eine blosse Wiederholung der Thatsache in Form einer 
Hypothese und a fortiori eifte Einsetzung mehrerer will* 
kürlicher Annahmen für; eine Thatsache verbietet. Offene 
bar ist die von der kinetischen Gastheorie gebotene Er- 
klärung, insoweit als uns deren zweite Annahme auf die- 
selbe Erscheinung führt, von der sie ausgeht, die der 
Elasticität (gleich der Erklärung der Undurchdringlichkeit 
oder der Verbindung der Elemente nach bestimmten Ge- 
wichtsverhältnissen durch die Atomtheorie) einfach eine 
lUüstrierung idem per idem, und das wahre Gegenteil 
eines wissenschaftlichen Verfahrens. Sie ist eine blosse 
Versatio in loco — eine Bewegung ohne Fortschritt 
Sie ist völlig eitel, oder vielmehr, da sie die Erscheinung, 
die sie zu erklären vorgibt, verwickelt, schlimmer als nichtig 
—- eine völlige Umkehrung der vernünftigen Ordnung, eine 
Auflösung einer Identität in eine Verschiedenheit, eine 2^r- 
splitterung des Einen in das Viele, eine Entwicklung des 
Einfachen in das Verwickelte, eine Deutung des* Bekannten 
durch Glieder des Unbekannten, eine Aufhellung des Evi- 
denten durch das Mysteriöse, eine Zurückführung einer 
augenscheinlichen und wirklichen Thatsache auf ein gründe 
loses und schattenhaftes Phantom.^®) 



.*•) Alle Theoretiker, die für eine physikalische Thatsache durch 
eine Häufung willkürlicher Annahmen, unter denen sich, die That- 
sache selbst befindet, Rechenschaft zu geben versuchen ,. verfallen 
Aristoteles' scharfem Verweise der PLATOnischen Ideenlelure — ihre 
Bemühungen sind ebenso hinfällig als die einer' Person, welche zum 
Zwecke der Erleichterung des Zählens mit der MultipUkatioa der 
fahlen beginnt — ol de ras Weas ahtag ri&t/uevoi n^ohov g/sv 
iijrovpres ttovöl tcjv orrtov Xaßetv tds alriag ers^rovxois faa 
tQy. a^itd'fiov exofiioav disTte^ $i tis aptd'fifjoai ftovXo./iievos iXaTtor 



Die kinetische Oastheorie, tjj 

Ich übergehe die bereits diskutierte Frage, ob die 
vorausgesetzte vollkoimnene Elasticität und Kpnstanz de^ 
Volumens der angenommenen Urteilchen (im Lichte der 
mechanischen Theorie überhaupt) mit deren absoluten 
Elasticität verträglich ist oder nicht und wende mich zur 
Betrachtung der dritten Annahme der kinetischen Hypothese. 
Diese Annahme bildet eine unvermeidliche Ergänzung zu 
der anfanglichen theoretischen Verwicklung der Erscheinung 
der Elasticität y die durch die willkürliche Einsetzung der 
Reaction eines festen Körpers gegen Vergrösserung und 
Verkleinerung des Volumens und gegen Änderung der Ge? 
stalt für die einfache Gegenwirkung des Gases gegen die 
Verringerung seines Volumens hervorgerufen wurde. Um 
einer grundlosen Eigentümlichkeit der Hypothese (der Hinzu- 
fügung des elastischen Widerstandes gegen Ausdehnung und 
Torsion zu dem gegen Kompression) los zu werden und 
in Übereinstimmung mit der zu erklärenden Thatsache zu 
gelangen, wird es notwendig, eine andere willkürliche 
Eigentümlichkeit hinzuzufügen, — die Teile mit unaufhör* 
liehen, geradlinigen Bewegungen nach allen Richtungen hin 
zu versehen. Bezüglich dieser Annahme, die wie die 
anderen Annahmen der mechanischen Theorie auf einer 
völligen Ausserachtlassung der Relativität und der daraus 
sich ergebenden gegenseitigen Abhängigkeit der Naturer* 
scheinungen beruht, ist für den Augenblick zu bemerken, 



v(ov ftev ovTcov oXoito firi Svvnoaa&ai, TtXeico de Ttoirjoag d^i&fioirj, 
Met., A. 9, 990, et seq. Occam's Regel „Entia non sunt multipli- 
canda praeter necessitatem" findet in der Physik nicht weniger An- 
wendung als in der Metaphysik ; und es gibt physikalische Theorieen^ 
von denen MiCHEL Montaigne, falls er heute leben würde, das 
sagen würde, was er dreihundert Jahre vorher von gewissen schola- 
tischen Träumereien gesagt hatte: „On eschange un mot pour un 
autre mot, et souvent plus incogneu . . . Pour satisfaire ä un double^ 
ils m'en donnent trois; c'.est la teste d'Hydra . . . Nous commüniquoTi» 
une question; on nous en redonne une ruchee." Essais, III, 13. » 



ii8 VIIL Kapitel 

dass sie yöHig grundlos und nicht nur durch die Erfahrung 
ganz und gar unbestätigt, sondern auch ohne alle Analogie 
mit derselben ist. Körper, welche sich bis nahe an die 
Grenze der unmittelbaren Berührung unabhängig und ohne 
einer .gcig^nseitigen Anziehung oder Abstossung oder einer 
anderen ^ Axt .gegenseitiger Wirkung bewegen und demnach 
eine vpllkommene Verwirklichung des abstrakten Begriffes 
einer freien und unaufhörlichen geradlinigen Bewegung dar-» 
stellen, sind etwas ganz Unerhörtes auf dem weiten Felde 
sinnlicher Erfahrung. Ein so vollständiges Verlassen der 
Analogieen der Erfahxun'g ist am überraschendsten angesichts 
des Umstandes, dass die Atomtheorie, von der die kinetische 
Gastheorie einen Zweig ausmacht, eingestandenermassen eine 
Verkörperung von Eingebungen ist, die aus der Himmels- 
mechanik stammen. Es gibt schwerlich ein Lehrbuch der 
faiodernen Physik, in dem die Atome oder Molekeln nicht 
mit Planeten- oder Stemsystemen verglichen würden. „Ein 
zusammengesetztes Atom," sagt Jevons, '^"^ ,,kann.etwa mit 
einem Sternsystem verglichen werden, worin jeder Stern 
ein kleineres System für sich vorstellt." Die Körper aber, 
von denen die Himmelsmechanik handelt, sind alle dem 
Gesetz der Massenanziehung unterworfen ; und die Bedeutung 
des allerersten Satzes der NEWTON'schen Prinzipien geht 
dahin, dass diese Körper, sobald sich ihre Bewegungen in 
irgend einem Augenblicke nicht in derselben Geraden voll? 
ziehen, niemals zusammenstossen , sondern sich stets in 
krummen von einander getrennten Bahnen bewegen. Schiefe 
Stösse zwischen denselben, die Drehungen ebensogut wie 
Abweichungen von den Bahnen vor dem Zusammenstosse 



'^ „A Compound atom may perhaps be compared with a stellar 
System, each star a minor System in itself." Principles of Sciencci 
I, 453. In Arwed Walter's „Untersuchungen über Molekular- 
mechanik*' S. 216, wird das System des Jupiter um seiner Satelliten 
ein „Planetenmolekel" genannt. 



Die kinetische Gastheorie. 119 

erzeugen, wie sie Clausius und die anderen Förderer der 
kinetischen Theorie sich erdacht hatten, sind unmöglich* 
Und dies ist richtig nicht nur, wenn die gegenseitigen 
Wirkungen der Körper umgekehrt dem Quadrate ihrer Ent- 
fernung sich ändern, sondern auch wenn dies nach einer 
höheren Potenz derselben geschieht — ein Satz, der an- 
gesichts gewisser Spekulationen von Boltzmann, Stefan- 
und Maxwell, auf die ich sofort zu sprechen komme, wohl 
im Auge zu behalten . ist. 

Es gibt noch eine andere ausserordentliche und in 
Anbetracht aller Lehren der Wissenschaft unverantwortliche 
Eigentümlichkeit der Annahme über die Bewegungen der- 
angenommenen Elementarpartikeln. Ich meine die völlige. 
Diskontinuität zwischen der heftigen gegenseitigen Wirkung, 
die diesen Teilen während weniger Augenblicke vor und 
nach deren Züsammenstössen zugeschrieben wird und der 
völligen Abwesenheit jeder gegenseitigen Wirkung während 
der vergleichsweise langen Zeiträume ihrer geradlinigen 
Bewegung in ihren „freien Bahnen". Und dies führt mich 
dazu, einige Worte über gewisse Hilfsannahmen zu sagen, 
die von Maxwell u. a. aufgestellt worden sind, um über 
die Anomalien, die sich bei Gasen von verschiedenen 
Graden der Coercibilität in ihren Abweichungen von Boyle's 
und Charles' Gesetz vorfinden, Rechenschaft zu geben. 
Maxwell nimmt an, dass die Gasmolekeln weder genau 
sphärisch, noch absolut elastisch sind, und dass deren 
Mittelpunkte einander mit einer Kraft abstossen, die der 
5. Potenz ihrer Entfernung proportional ist;^®) während 
Stefan ^•) die Hypothese den Erscheinungen durch die 



**) Seit dem dies geschrieben worden, hat Maxwell selbst diese 
Annahme als den Thatsachen nicht entsprechend aufgegeben. 

*®) „Über die dynamische Diffusion der Gase." Sitz. Ber. der 
kais. Akad. d. Wiss., math. nat. Klasse, Bd. 65, S. 323. Vgl. auch 



I20 VIIL Kapitel, 

Forderung anzupassen sucnt, dass die Molekeln absolut 
elastische und vollkommene Kugeln sind, deren Durchmesser 
der vierten Wurzel der absoluten Temperatur der Gase 
proportional ist. Diese Annahmen, welche für alle An- 
sprüche auf Einfachheit, die zu Gunsten der kinetischen The- 
orie in Anschlag gebracht wurden, sehr fatal ist, sind in 
keiner Beziehung natürliche Folgen ihrer ursprünglichen 
Forderungen; beide sind sowohl völlig grundlos als auch 
ohne jede Analogie aus der Erfahrung, und die erste der- 
selben, die von Maxwell, steht in direktem Gegensatz zu 
allen Induktionen aus dem weiten Umfang wirklicher Be- 
obachtung. Beide sind nur Lückenbüsser der Hypothese, 
Stihnopfer für ihre Nichtübereinstimmung mit den That- 
sachen, blosse Erdichtungen, um den durch die Hypothese 
selbst geschaffenen Notwendigkeiten Genüge zu leisten. 

Es wäre zu viel verlangt, im Detail die logischen und 
mathematischen Methoden durchzugehen, durch welche aus 
einer Hypothese, die auf solchen Grundlagen ruht, Formeln 
herzuleiten versucht wurde, die den Thatsachen der Er- 
fehrung entsprechen. Gleichwohl mag nicht unerwähnt 
bleiben, dass die Methoden der Ableitung nicht weniger 
ausserordentlich sind als die Prämissen. Um über die Ge- 
setze von BoYLE* und Charles Rechenschaft zu geben, 
nahm man seine Zuflucht zur Wahrscheinlichkeitsrechnung, 
oder, wie sich Maxwell ^^) ausdrückt, zur statistischen 
Methode. Man behauptet, dass, wiewohl die einzelnen 
Molekeln sich mit ungleichen Geschwindigkeiten bewegen, 
sei es weil diese Geschwindigkeiten von Anfang an un- 
gleich sind, oder weil sie infolge der Zusammenstösse 
unter ihnen ungleich werden, dessenungeachtet ein Durch- 
schnitt aller Geschwindigkeiten, die den Molekeln eines 

BOLTZMÄNN, „über das Wirkungsgesetz der Molekularkräfte ,« Sitz. 
Ber. etc., Bd. 66, S. 213. 

30) Theory of Heat, p. 288. 



Die kinetische' Gastheorie. 121 

Systems (d. i. eines Gases) angehören, da sein wird, den 
Maxwell die „Geschwindigkeit des mittleren Quadrates" 
nennt. Der Druck ist unter dieser Voraussetzung pro- 
portional dem Produkte aus dem Quadrate dieser mittleren 
Geschwindigkeit in die mit der Masse eines jeden Molekels 
multiplizierte Zahl der Molekel. Das Produkt aus der Zahl 
der Molekeln in die Masse eines jeden Molekel wird dann 
durch die Dichte ersetzt — mit anderen Worten, die ganze 
molekulare Annahme wird für den Augenblick verlassen — , 
und die Geschwindigkeit als Repräsentant der Temperatur 
eliminiert;, es ergibt sich dann natürlich, dass der Druck 
der Dichte proportional ist. 

Ähnliche Verfahrungsweisen führen zu dem CJesetz von 
Charles und dem „Gesetz" von Avogadro (demgemäss die 
Zahl der Molekeln in irgend zwei gleichen Rauminhalten 
von Gasen was immer für einer Art bei gleichen Tempe- 
raturen und Drucken die gleiche ist — ein Gesetz, das 
selbst nur eine H)q>othese ist). Es wird, wiederum aus 
statistischen Gründen, behauptet, dass nicht nur die mittlere 
Geschwindigkeit einer Anzahl von Molekeln in einem ge- 
gebenen Gase dieselbe ist, sondern dass, „wenn zwei Reihen 
von Molekeln, deren Massen verschieden sind, sich in dem- 
selben Gefass in Bewegung befinden, sie infolge ihrer 
Zusammenstösse Energie unter einander austauschen, bis die 
durchschnittliche kinetische Energie eines einzelnen Molekels 
in jeder Reihe die gleiche ist."*^) „Dies," sagt Maxwell, 
„folgt aus der gleichen Untersuchung, welche das Gesetz 
der Verteilung der Geschwindigkeiten in einer einzigen 
Gruppe von Molekeln bestimmt.** All dies zugestanden, 
ergeben sich die Gesetze von Charles und Avogadro (von 
Maxwell Gesetz von Gay-Lussac genannt) in leichter 
Weise. Und zum Schlüsse dieser irrigen Beweisgänge fügt 



*^) Maxwell, 1. c, p. 289 seq. 



122 VIIL Kapitel. 

Maxwell eine Untersuchung über die Eigenschaften der 
Molekeln hinzu, in der er den Anspruch erhebt, klar ge- 
stellt zu haben, dass die Molekeln derselben Substanz „bei 
den Prozessen, die in dem gegenwärtigen Zustande der 
Dinge vor sich gehen, unveränderlich bleiben, und jedes 
einzelne von derselben Art, von genau derselben Grösse 
ist, als ob dieselben alle wie Flintenkugeln nach derselben 
Schablone gegossen und nicht bloss nach ihrer Gestalt wie 
kleines Schrot ausgesucht und gruppiert worden wären, und 
dass folglich, wie er sich an einem anderen Orte ausdrückt, ^^) 
dieselben nicht die Ergebnisse irgend einer Art von Ent- 
wicklung sind, sondern in der Sprache von Sir John Herschel 
„den Charakter von fabriksmässig erzeugter Ware haben." 

Aus welchen logischen, mathematischen oder anderen 
Gründen wird nun die statistische Methode lieber auf die 
Geschwindigkeiten der Molekeln statt auf ihre Massen und 
Volumina angewandt? Was für ein Grund liegt vor oder 
könnte dafür vorliegen, dass die Massen der Molekeln 
nicht derselben Durchschnittsrechnung unterworfen werden, 
wie deren Bewegungen? Es gibt keinen derartigen wie 
immer beschaffenen Grund. In Ermangelung eines solchen 
erscheinen die Ableitungen der kinetischen Theorie, ab- 
gesehen davon, dass sie auf gebrechliche Prämissen ge- 
stützt sind, als Trugschlüsse. 

Auf Grund dieser Betrachtung zögere ich nicht zu er- 
klären, dass die kinetische Hypothese keinen der Charaktere 
einer berechtigten physikalischen Theorie besitzt. Ihre 
Prämissen sind ebenso wenig zulässig, als ihre Schlüsse 
überzeugend. Sie stellt als Forderung auf, was sie zu er- 
klären vorgibt ; sie ist eine Lösung in Ausdrücken, die ge- 
heimnisvoller sind als das Problem — eine Auflösung einer 
Gleichung durch imaginäre Wurzeln unbekannter Grössen. 

^'^) Bradford Lecture on the Theory of Molecules, vgL Populär 
Science Monthly, January 1874. 



Die kinetische Gasiheorie. 123 

Sie ist eine vermeintliche Erklärung , der die Behauptung, 
dass sie die Thatsachen so lasse, wie sie sie vorfinde, zu 
einem unverdienten Lobe gereichen würde und die dem 
alten Horazischen Tadelspruch verfällt : ,^Nil agit exemplum, 
litem quod lite resolvit/* 

Viel ist von der Unterstützung gesprochen worden, 
welche der kirietischeti Gastheorie durch die Enthüllungen 
des Spektroskops zu teil wifäl Die Spektra der Gase sind 
unähnlich denen der festeii"**und flüssigen Körper nicht 
kontinuierlich, sondern bestehen aus verschiedenen farbigen 
Linien oder Bändern — was, wie man behauptet, zeigen 
soll, dass in Gasen die Schwingungen der Molekeln mit 
einander nicht interferieren, dass glühende Gase verschiedene 
Arten von Licht aussenden und nicht (nach einem Aus- 
drucke von Jevons) Lichtgeräusche, weil es keine Molekular- 
stösse gibt, welche die natürlichen Schwingungsperioden 
stören. ^•^) Das Spektroskop ist ohne Zweifel der wichtigste 
je genannte Zeuge zu Gunsten der kinetischen Theorie; 
doch fällt das Zeugnis dieses Zeugen nicht durchwegs zu 
ihren Gunsten aus. „Das Spektroskop," sagt Maxweli^ 
selbst, ^*) zeigt , dass einige Molekeln viele verschiedene 
Arten von Schwingungen ausführen können. Es muss so? 
mit Systeme von sehr beträchtlicher Kompliziertheit geben, 
die mehr als 6 Variable besitzen. Nun führt jede hinzu- 
tretende Variable einen neuen Betrag an Ks^azität für innere 



^^) Nach der letzten Deutung der spektroskopischen Erscheinungen 
zeigt die Kontinuität oder Diskontinuität eines Spektrums nicht so 
sehr den Aggregatzustand als die molekulare Zusammensetzung des 
untersuchten Körpers. Man sagt, dass ein Körper ein Linienspektrum 
gibt, wenn von seinen Molekeln jedes nur wenige Atome enthält; 
dass, falls es mehr Atome enthält, das Spektrum die Erscheinung 
schattierter Bänder zeigt ; und dass das Spektrum kontinuierlich wird, 
sobald jedes Molekel eine grosse Zahl von Atomen enthält. 

**) „On the Dynamical Evidence of the Molecular Constitution 
of Bodies", Nature, 4. u. ii. März 1875, Nr. 279, 280. 



124 ^^U' Keqntel. 

Bewegung ein, ohne den äusseren Druck zu vermehren. 
Jede hmzukommende Variable vermehrt folglich die spezi- 
fische Wärme, mag dieselbe bei konstantem Druck oder bei 
konstantem Volumen genommen werden. Dasselbe gilt von 
jeder Kapazität, welche das Molekel zur Aufstapelung 
potentieller Energie besitzen mag. Die berechnete spezifische 
Wärme ist jedoch schon zu gross, wenn das Molekel aus 
nur zwei Atomen besteht. Daher vermag jeder neu hinzu- 
gefügte Grad an Kompliziertheit, welchen wir dem Molekel 
beilegen, die Schwierigkeit, den beobachteten mit dem be- 
rechneten Werte der spezifischen Wärme in Einklang zu 
bringen, nur zu vergrössem.** 

Es mag sonderbar erscheinen, dass so viele unter den 
Meistern der wissenschaftlichen Forschung, die in der strengen 
Schule exakten Denkens und genauer Analyse geschult waren, 
ihre Mühen auf eine so offenbar aller wissenschaftlichen 
Nüchternheit widerstreitende Theorie vergeudet haben sollten 
•i— - eine Hypothese^ in der das wirklich zu erklärende Ding 
nur einen kleinen Teil der zur Erklärung notwendigen An- 
nahmen bildet. Aber selbst der Geist der Männer der 
Wissenschaft war getrübt durch vorwissenschaftliche Vor- 
urteile, deren letztes nicht die eingewurzelte Einbildung 
war, dass das Geheimnis, von dem die Thatsache umhüllt 
ist, durch eine Zersplitterung und Verweisung derselben iil 
die Regionen des Aussersinnlichen verschwinde. Der Irr- 
tum in der Annahme, dass die Elasticität eines festen Atoms 
weniger der Erklärung bedürfe als die einer grossen gas- 
förmigen Masse, ist eng an die Einbüdung geknüpft, dass 
die Kluft zwischen der Welt der Materie und des Geistes 
verengt, wenn nicht überbrückt werden könne durch eine 
Verdünnung der Materie oder durch ihre Auflösung in 
„Kräfte". Die wissenschaftliche Tagesliteratur wimmelt von 
Theorieen, welche die Thatsachen durch einen Prozess der 
Verfeinerung oder Verflüchtigung in Ideen zu verwandeln 



Die kinetische Oastheorie» 



"5 



suchen. Alle solchen Versuche sind kindisch; das unwahr- 
nehmbare Hirngespinst erweist sich schliesslich als miss- 
licher als die wahrnehmbare Gegenwart. Der Glaube an 
Gespenster (mit gebührender Achtung vor Maxwell's thermo- 
dynamischen „Dämonen" und der Bevölkerung des „unsicht- 
baren Universums" sei es gesagt) ist in der Physik keine 
geringere Thorheit als in der Geisterlehre. 



IX. 

Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. — 
Die Bildung von Begriffen. — Metaphysische 

Theorieen. 

Es ist, wie ich annehme, im Verlaufe der vorher- 
gehenden Erörterungen klar geworden, dass, während die 
moderne physikalische Wissenschaft eingestandenermassen 
die Naturerscheinungen auf Masse und Bewegung zurück- 
zuführen und sie so als Resultate oder Phasen mechanischer 
Wirkung hinzustellen sucht — wobei sie diese Art der 
Behandlung als die einzige ihrer Natur nach nichtmeta- 
physische hinstellt — , dessenungeachtet alle Teile dieser 
Wissenschaft, welche entschiedene Fortschritte über die erste 
klassifikatorische Stufe gemacht haben, auf Grund von An- 
nahmen verfahren und zu Konsequenzen führen, welche mit 
dem Ziele dieses Strebens und mit den Grundprinzipien 
der mechanischen Theorie unverträglich sind. Wir finden 
uns darum inmitten eines Wirrwarrs, der, wenn dies über- 
haupt möglich, nur durch eine Untersuchung über den Ur- 
sprung dieser Theorie und eine Bestimmung ihrer Stellung 
zu den Gesetzen des Denkens und den Formen und Be- 
dingungen seiner Entwicklung aufzuklären ist. 

Die Aufklärung, welche gewöhnlich von den Psycho- 
logen imd Logikern über die Natur und die Verfahrungs- 
weisen des Denkens gegeben wird, mag, so weit sie sich 
auf den in Betracht kommenden Gegenstand bezieht, in 
einigen wenigen Sätzen zusammengefasst werden. Denken 
besteht in dem weitesten Sinne des Wortes, in der Auf- 



Dcis VerJmltnis der Gedanken zu den Dingen. 127 

Stellung oder Erkenntnis von Beziehungen zwischen den 
Erscheinungen. Die wichtigsten unter diesen Beziehungen 

— in der That die Grundlage aller anderen wie z. B. der 
Ausscheidung und Einordnung, der Gleichzeitigkeit und 
Folge, der Ursache und Wirkung, des Mittels und Zwecks 

— sind die der Identität und Verschiedenheit. Der Unter- 
schied zwischen den Erscheinungen ist ein ursprünglich 
Gegebenes der Empfindung (primary datum of Sensation). 
Auf ihm beruht der wirkliche Vorgang der Empfindung. 
Es ist eine der vielen feinen Beobachtungen von Hobbes, 
dass „es auf dasselbe hinauskommt, stets dasselbe oder gar 
nichts zu empfinden." ') „Wir kennen etwas," sagt J. St. Mill, ^ 
„nur dadurch, dass wir erkennen, dass es sich von etwas 
-anderem unterscheidet; alle Kenntnis ist nur eine solche 
von Unterschieden; zwei Gegenstände sind die geringiste 
Zahl, die erforderlich ist, um Kenntnis zu bilden; was ein 
Ding ist, sieht man nur an dem Gegensatz zu dem, was 
es nicht ist." 

Während die Auffassung (apprehension) von Unter- 
schieden in den Erscheinungen (die indessen durch deren 
Reproduktion im Gedächtnis ersetzt sein können und es 
auch in den meisten Fällen sind) Grundlage und Vorbe- 
dingung des Denkens ist, beginnt das eigentliche, d. h. das 
diskursive Denken, mit der Auffassung einer Identität Aschen 
Erscheinungsunterschieden. Die Gegenstände werden als 
verschiedene wahrgenommen; sie werden als identische 
begriffen durch ein Aufmerken des Geistes auf den oder 
die Punkte der Übereinstimmung. Sie werden so klassi- 
fiziert, dass die Punkte der Übereinstimmung, d. i. die 
Eigenschaften der Gegenstände der Erkenntnis, welche ihnen 



*) „Sentire semper idem et non sentire ad idem recidunt", 
Hobbes, Physica, IV, .25 (opp. ed. Molesworth, vol. I. p. 321). 

*) Examination of Sir William Hamilton's Phil. (Am. ed., v. 
I, p. 14). 



128 IX. KapiteL 

gemeinsam angehören, dabei als Grundlage der Klassifikation 
dienen. Ist die Zahl der Gegenstände gross und haben 
einige derselben mehr gemeinsame Eigenschaften als die 
anderen, so wird eine Reihe von Klassen gebildet. Die 
Gegenstände werden zunächst in Gruppen (von den Logikern 
infimae species genannt) geschieden, von denen jede solche 
Gegenstände umfasst, die durch die grösste Zahl gemein- 
samer, mit ihrer Unterscheidbarkeit verträglicher Eigen- 
schaften ausgezeichnet sind; diese Gruppen werden dann 
zusammengefasst und verteilt in höhere Gruppen oder Arten, 
die eine geringere Zahl von Eigenschaften gemeinsam haben, 
und so fort, bis wir bei der kleinsten Zahl von Eigen- 
schaften anlangen, in denen alle in den infimae species 
und den Zwischengattungen enthaltenen Gegenstände über- 
einstimmen, und die so die höchste Klasse, das summtun 
genus, charakterisieren. 

Daraus folgt, dass in dem Verhältnisse, als wir die 
Skala der Klassifikation von den infimae species zu dem 
summum genus emporsteigen, die Zahl der in den auf- 
einanderfolgenden Klassen (Arten oder Gattungen) enthal- 
tenen Gegenständen zunimmt, während die Zahl der charakte- 
ristischen Eigenschaften abnimmt. Nun wird die Gesamt- 
heit der charakteristischen Eigenschaften einer besonderen 
Klasse ein Begriff genannt; die Zahl der durch jeden 
Begriff bezeichneten Objekte heisst sein Umfang, und 
die Zahl der von ihm eingeschlossenen Eigenschaften (die 
als Bestandteile eines Begrififes den Namen Merkmal 
fuhren) sein Inhalt, woraus sich das logische Gesetz er- 
gibt, dass je grösser der Umfang eines Begriffes ist, d. h. 
je grösser die Zahl der von ihm bezeichneten Gegenstände 
wird, desto kleiner sein Inhalt, d. h. die Zahl der von ihm 
umfassten Merkmale ist; oder mathematisch genau ausge- 
drückt, dass der Umfang im umgekehrten geometrischen 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 129 

Verhältnis wächst, wenn der Inhalt nach einer arithmetischen 
Progression zunimmt. ^) 

Man sieht leicht ein, dass der Aufstieg von einer 
tieferen (inhaltreicheren aber umfangärmeren) zu einer höheren 
(umfangreicheren aber inhaltsärmeren) Klasse durch eine 
fortschreitende Absonderung und gedankliche Vereinigung 
jener Merkmale bewerkstelligt wird, welche die bezüglichen 
Klassen gemeinsam haben ; dieser Prozess wird Abstraktion 
genannt. 

Im Sinne der vorhergehenden Darlegung ist das eigent- 
liche Denken als „der Vorgang der Erkenntnis oder der 
Beurteilung der Dinge durch Begriffe"*) und ein Begriff 
als „eine Sammlung von Merkmalen, die durch ein Zeichen 
verbunden ist und einen möglichen Gegenstand der An- 
schauung vorstellt,'* ^) definiert worden. Diese Definition 
eines Begriffes unterliegt jedoch der Kritik, dass sie ent- 
weder zu weit oder zu eng ist. Es kann einerseits be- 
hauptet werden, dass sie zu weit ist: denn sie lässt sich 
sowohl auf die Gesamtheit der Merkmale, welche das Ge- 
dankenbild eines einzelnen Gegenstandes ausmachen, ohne 
Rücksicht auf die Frage, ob dieselben auch von anderen 
Gegenständen geteilt werden oder nicht, anwenden wie auch 
auf die künstliche Auswahl oder Vereinigung von Merk- 
malen, die für eine Klasse, d. h. für eine Mehrheit von 
Gegenständen charakteristisch sind. Mit anderen Worten, 
diese Definition ist ebensogut eine solche von E in z ein- 
begriffen (die durch Einzelnausdrücke dargestellt werden), 
wie von Allgemeinbegriffen (die durch allgemeine 
Ausdrücke . oder wie Mill sagen würde , durch Klassen- 



^) Die exakte Aufstellung dieses Gesetzes siehe bei Droeisch, 
Neue Darstellung der Logik, logisch-mathematischer Anhang (3. Aufl., 
S. 206). 

*) Mansel, Prolegoraena Logica, p. 22. 

^] Ib., p. 60. 
STALLO, Begriffe u. Theorieen. 9 



130 IX, KapiieL 

namen dargestellt werden). In der Sprache der alten 
Logiker umschliesst sie die infimae species und kann für 
ein einzelnes Objekt oder eine besondere Eigenschaft stehen, 
ohne Rücksicht auf die Thatsache oder den Grad ihrer 
Allgemeinheit. Dieser Einwand würde vermieden werden, 
wenn man mit Sir William Hamilton*) einen Begriff als 
„die Erkenntnis des allgemeinen Charakters, des oder der 
Punkte, in denen eine Mehrheit von Gegenständen über- 
einstimmt," bezeichnen würde. Andererseits wird das Wort 
„Begriff' sehr allgemein in einem Sinne gebraucht, für den 
Mansel's Definition zu eng ist. Deutsche Logiker zum 
Beispiel bezeichnen gewöhnlich nicht nur jede Gedanken- 
reproduktion einer sinnlichen Vorstellung, insofern als sie 
das Element eines Urteils oder eines logischen Satzes ist 
oder sein kann, als Begriff, sondern auch das Endergebnis 
einer Reihe von Abstraktionen. Diese Endergebnisse der 
Abstraktion, die summa genera, sind nun durch die Defi- 
nition von Mansel ausgeschlossen. Es ist weder notwendig 
noch praktisch, hier auf eine genaue Erörterung der 
Fragen einzugehen , die sich aus diesen Unterschieden im 
Gebrauch der Ausdrücke ergeben; noch kann ich mich 
mit der Erwägung der Einwürfe aufhalten, die kürzlich von 
Tauschinsky, Lotze, Sigwart, Wundt u. a. gegen die Be- 
gründung der Theorie des Begriffes auf Klassifikation oder 
Unterordnung vorgebracht worden sind. Die bezüglich dieses 
Kapitels zwischen den Logikern der alten und der neuen 
Schule stattgehabten Kontroversen, ebenso wie die end- 
losen Streitereien zwischen den Nominalisten und Realisten, 
denen ein so breiter Raum in den Schriften von J. S. Mill ') 
gewidmet ist, sind in der Hauptsache blosse Wortstreitig- 



®) ,,The Cognition of the general character," point or points in 
which a plurality of objects coincide." Lectures on Logic, p. 87. 

') Vgl. Mill's Examination of Sir William Hamilton's Philo- 
sophy, chap. XVIL 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 131 

keiten, und liegen die Punkte der Nichtübereinstimmung 
der Untersuchung ferne, auf die ich nun eingehen will. 
Auf einen oder den anderen dieser Punkte dürfte ich später 
Gelegenheit finden zurückzukommen • für den Augenblick hat 
meine kurze Übersicht über die Nebenumstände des logischen 
Begriffes lediglich als ein Schlüssel für das Verständnis der 
Bedeutung gewisser logischer Ausdrücke, die ich gezwungen 
bin zu gebrauchen, für den Fall zu dienen, als sich ihr 
Sinn nicht hinlänglich klar aus dem Kontexte ergeben sollte. 

Nun ist es bei jedwelcher Erörterung der Denkthätig- 
keiten von der äussersten Wichtigkeit, sich die folgenden 
unumstösslichen Wahrheiten, von denen einige — obwohl 
alle unter ihnen ganz offenkundig zu sein scheinen — bis 
auf die allerjüngste Zeit nicht klar äufgefasst worden sind, 
gegenwärtig zu halten: 

I. Das Denken beschäftigt sich nicht mit den Dingen, 
wie sie an sich sind, oder wie man voraussetzt, dass sie 
es sind, sondern mit unseren Gedankenvorstellungen von 
denselben. Seine Elemente sind nicht reine Gegenstände, 
sondern ihre gedanklichen Gegenstücke. Was im Geiste 
bei einem Denkakt gegenwärtig ist, ist niemals ein Ding, 
sondern stets ein Bewusstseinszustand. Wie oft und in 
welchem Sinne man auch immer behaupten mag, dass der 
Geist und sein Objekt beide reelle und verschiedene Wesen 
seien, so kann man doch für den Augenblick nicht leugnen, 
dass das Objekt, von dem der Geist Kenntnis hat, eine 
Synthese von objektiven und subjektiven Elementen ist, und 
somit in erster Linie, bei dem wirklichen Akt seiner Vor- 
stellung und im vollen Umfang seiner der Erkenntnis unter- 
liegenden Existenz, durch die Bestimmungen der erkennen- 
den Fähigkeit beeinflusst ist. Wo immer wir somit von 
einem Ding oder von der Eigenschaft eines Dinges sprechen, 
muss darunter verstanden werden, dass wir eine Resultierende 
zweier Komponenten meinen, von denen keine flir sich auf- 

9* 



132 IX, Kapitel, 

gefasst werden kann. In diesem Sinne sagt man, dass alle 
Erkenntnis relativ ist. 

2. Gegenstände sind uns lediglich durch ihre Be- 
ziehungen zu anderen Gegenständen bekannt. Sie haben 
keine Eigenschaften und können keine haben und ihre Be- 
griffe haben keine Merkmale ausser diesen Beziehungen 
oder vielmehr unseren Gedankenvorstellungen von ihnen. 
In der That kann ein Gegenstand nicht anders gekannt 
oder begriffen werden als ein Komplex solcher Beziehungen. 
Mathematisch ausgedrückt: Dinge und deren Eigenschaften 
sind lediglich als Funktionen anderer Dinge und Eigen- 
schaften gegeben. In diesem Sinne ist also die Relativität 
ein notwendiges Prädikat aller Gegenstände der Erkenntnis. 

3. Ein besonderer Denkakt schliesst niemals die Ge- 
samtheit aller bekannten oder erkennbaren Eigenschaften 
eines gegebenen Objektes in sich, sondern nur solche, die 
zu einer bestimmten Klasse von Beziehungen gehören. In 
der Mechanik wird z. B. ein Körper einfach als eine Masse 
von bestimmtem Gewicht und Volumen (in einigen Fällen 
auch Gestalt) ohne Rücksicht auf seine anderen physika- 
lischen oder chemischen Eigenschaften betrachtet. In ähn- 
licher Weise vollzieht jede der verschiedenen anderen Ab- 
teilungen des Wissens eine Klassifikation der Gegenstände 
auf Grund ihrer eigenen besonderen Prinzipien, wobei sie 
Veranlassung zur Entstehung verschiedener Begriffsreihen 
gibt, in denen jeder Begriff das Merkmal oder die Gruppe 
von Merkmalen — diese Seite des Gegenstandes — dar- 
stellt, welche angesichts der gerade behandelten Frage eine 
Klarstellung verlangt. Unsere Gedanken von den Dingen 
sind somit, in der Sprache von Leibniz, der auch Sir William 
Hamilton und nach ihm Herbert Spencer beigepflichtet 
haben, symbolischer Natur, und zwar nicht (oder 
wenigstens nicht nur) weil ein vollkommenes Gedankenbild 
der Eigenschaften eines Objektes durch deren Zahl und 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 133 

durch die Unfähigkeit des Geistes, sie zugleich gegenwärtig 
zu halten, ausgeschlossen ist, sondern weil viele (und in 
vielen Fällen der grösste Teil) derselben ohne Belang auf 
den Fortschritt der Gedankenverbindungen sind. 

Ferner folgt aus dem Umstände, dass die in dem Be- 
griffe eines Gegenstandes enthaltenen Merkmale die Bilder 
(representations) seiner Beziehungen zu anderen Gegen- 
ständen sind und die Zahl dieser Gegenstände eine unbe- 
grenzte ist, dass die Zahl der Merkmale ebenso unbegrenzt 
ist und dass infolgedessen kein Begriff eines Gegenstandes 
existiert, in dem seine erkennbaren Eigenschaften völlig er- 
schöpft wären. In diesem Zusammenhange ist es der Er- 
wähnung wert, dass die gewöhnliche Form der Lehre von 
der Beziehung der Begriffe zu Urteilen ernsten Einwendungen 
unterliegt. Man sagt, dass ein Urteil „eine Vergleichung 
zweier Begriffe mit einer daraus sich ergebenden Erklärung 
ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung sei" 
(Whately) oder „die Erkenntnis einer Beziehung der Über- 
einstimmung oder des Widerstreites zwischen zwei Begriffen" 
(Hamilton). Hier ist angenommen, dass die Begriffe vor 
dem Urteilsakt existieren, imd dass derselbe einfach die 
Thatsache oder den Grad ihrer Übereinstimmung oder ihres 
Widerspruches feststellt. In Wahrheit ist aber jeder Begriff 
das Ergebnis eines Urteils oder einer Reihe von Urteilen, 
wobei das erste Urteil die Erkenntnis einer Beziehung 
zwischen zwei Daten der Erfahnmg ist. In den meisten 
Fällen ist in der That ein Urteil die Vergleichung zweier 
Begriife; aber jedes synthetische Urteil (d. i. jedes Urteil, 
in welchem das Prädikat mehr ist als eine blosse Aus- 
einandersetzung eines oder mehrerer Merkmale des Subjektes) 
formt beide Begriffe, die es in Beziehung setzt, durch Erweite- 
rung oder Einengung ihrer gegenseitigen Beziehungen um. ®) 



8) Dass dies der Aufmerksamkeit Sir William Hamilton's un- 



134 IX' Kapitel, 

Wenn ein Knabe lernt, dass „der Walfisch ein Säugetier 
ist," so unterliegen seine Begriffe, sowohl vom Walfisch wie 
vom Säugetier, beide einer wesentlichen Veränderung. Aus 
dem Urteil von Thomas Graham, dass „der Wasserstoff ein 
Metall ist" tritt sowohl der Ausdruck „Wasserstoff" wie der 
Ausdruck „Metall" mit neuer Bedeutung hervor. Die Aus- 
sage Sterrv Hunt's, dass „gerade wie eine Lösung eine 
chemische Verbindung ist, ebenso eine chemische Ver- 
bindung eine gegenseitige Lösung bedeutet" verbreitert den 
Begriff „Lösung" ebenso gut wie den Begriff „chemische 
Verbindung". 

Es ist aus diesen Betrachtungen klar, dass die Be- 
griffe von einem gegebenen Gegenstande Teile oder Glieder 
zahlloser Reihen oder Ketten von Abstraktionen sind, die 
der Art nach verschieden sind und je nach der Richtung 
der zwischen ihm und anderen Gegenständen angestellten 
Vergleichungen auseinandergehen; dass die Bedeutung und 
der Zweck irgend eines dieser Begriffe nicht nur von der 
Zahl, sondern auch von der Natur der Beziehungen ab- 
hängig ist, mit Rücksicht auf welche die Klassifikation der 



geachtet seiner Definition des Urteils nicht entgangen ist, beweist 
folgende Stelle aus seinen „Lectures on Logic" (Am. Ausg. S. 84): 
„A concept is a judgment; for, on the one hand it is nothing but 
the result of a foregone judgment, or series of judgments, fixed and 
recorded in a word, a sign, and it is only amplified by the annexation 
of a new attribute through a continuance of the same process." Von 
deutschen Denkern hat Herbart eine klare Anschauung derselben 
Wahrheit. „Die Ausbildung der Begriffe," sagt er (Lehrbuch zur 
Psychologie, § 189, Werke, Bd. V, S. 130), „ist der langsame all- 
mählige Erfolg des immer fort gehenden Urteilens." An einer anderen 
Stelle (ib., § 78, Werke, Bd. V, S. 59): „Es fragt sich, ob die Be- 
griflfe im strengen logischen Sinn nicht vielmehr logische Ideale seien 
denen sich unser logisches Denken mehr und mehr annähern soll . . . 
Es wird sic)i überdies zeigen, dass die Urteile es sind, wodurch die 
Begriffe dem Ideal mehr und mehr angenähert werden, daher sie den 
letzten in gewissem Sinne vorangehen." 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 135 

Gegenstände ausgeführt worden ist; und dass aus diesem 
Grunde auch alle Gedanken von Dingen fragmentarische 
und symbolische Darstellungen von Realitäten sind, deren 
völlige Zusammenfassung in einen einzigen oder eine Reihe 
von Denkakten unmöglich ist. Und dies ist a fortiori wahr, 
weil die Beziehungen, deren Gesamtheit ein Objekt der 
Erkenntnis vorstellt, abgesehen davon, dass sie endlos an 
Zahl sind, auch noch veränderlich sind — weil in der 
Sprache von Herakut alle Dinge sich in beständigem 
Flusse befinden. 

Alle metaphysische oder ontologische Spekulation be- 
ruht auf einer Missachtung einiger oder aller der hier aus- 
einandergesetzten Wahrheiten. Metaphysisches Denken ist 
ein Versuch, die wahre Natur der Dinge aus unseren Be- 
griffen von denselben abzuleiten. Was für ein Unterschied 
auch immer zwischen den metaphysischen Systemen be- 
stehen mag, alle sind sie gegründet auf die ausdrückliche 
oder stillschweigende Voraussetzung, dass eine bestimmte 
Korrespondenz zwischen den Begriffen und deren Verbin- 
dungen auf der einen Seite und den Dingen und ihrer Art 
von gegenseitiger Abhängigkeit auf der anderen Seite be- 
steht. Dieser Grundirrtum ist zum grossen Teile durch eine 
falsche Anschauung von der Funktion der Sprache als eines 
Hilfsmittels zur Bildung und Fixierung von Begriffen ver- 
schuldet; der Umstand, dass Worte zunächst Dinge oder 
wenigstens Gegenstände der Empfindung und deren wahr- 
nehmbare gegenseitige Einwirkungen bezeichnen, hat Ver- 
anlassung zur Entstehung gewisser falscher Annahmen ge- 
geben, welche im Gegensatz zu den gewöhnlichen Über- 
tretungen logischer Gesetze, in einem gewissen Sinne natür- 
liche Auswüchse der Entwicklung des Denkens vorstellen 
(und als solche nicht ohne Analogie zu den organischen 
Leiden des körperlichen Lebens stehen) und Strukturfehler 



136 IX, Kapitel, 

des Geistes genannt werden können. Es sind dies die 
folgenden : 

1. Jeder Begriff ist das Gegenstück einer unterscheid- 
baren objektiven Realität und es gibt infolgedessen ebenso - 
viele Dinge oder natürliche Klassen von Dingen, als es 
Begriffe gibt. 

2. Die allgemeineren oder umfassenderen Begriffe und 
die ihnen entsprechenden Realitäten sind früher da, als die 
weniger allgemeinen, inhaltreicheren und deren entsprechende 
Realitäten; die letzteren Begriffe und Realitäten sind aus 
den ersteren entweder durch eine allmähliche Hinzufugung 
von Merkmalen oder Eigenschaften oder durch einen Ent- 
wicklungsprozess abgeleitet, indem die Merkmale oder Eigen- 
schaften des früheren Wesens als Verwicklungen der des 
späteren betrachtet werden. 

3. Die Aufeinanderfolge in der Entstehung der Be- 
griffe ist identisch mit der Aufeinanderfolge in der Ent- 
stehung der Dinge. 

4. Die Dinge existieren unabhängig von und vor ihren 
Beziehungen; alle Beziehungen finden zwischen absoluten 
Gliedern statt; welche Realität man daher auch immer den 
Eigenschaften der Dinge beilegen mag, so ist dieselbe stets 
verschieden von der Realität der Dinge selbst. 

Mit Hilfe dieser Vorbereitungen hoffe ich im Stande 
zu sein, der mechanischen Theorie ihren wahren Charakter 
und ihre Stellung in der Geschichte der Entwicklung des 
Denkens zu bestimmen. Bevor ich jedoch dazu schreite, 
wird es nicht ohne Interesse sein, im Zusammenhange mit 
der vorhergehenden Untersuchung über die Beziehung 
zwischen Begriffen und den ihnen entsprechenden Gegen- 
ständen eine Frage in Betracht zu ziehen, die lange Zeit 
Gegenstand eifriger Debatte gewesen ist, nämlich die, ob 
und bis zu welchem Grade die Begreifbarkeit ein Zeugnis 
mögUcher ReaHtät ist. Es ist von J. St. Mill und seinen 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen, 137 

Nachfolgern behauptet worden, dass unsere Unfähigkeit, ein 
Ding zu begreifen, kein Beweis seiner Unmöglichkeit sei, 
während Whewell und Herbert Spencer (wenn auch nicht 
genau im selben Sinne und aus gleichen Gründen) daran 
festhalten, dass das, was unbegreiflich ist, nicht wirklich 
oder wahr sein kann. ®) Ein vertrauenswürdiges Urteil über 
die Verdienste dieser Kontroverse kann man sich nur nach 
einer sorgfältigen Bestimmung der Bedingungen der Begreif- 
barkeit bilden, wie sie durch die Natur des Prozesses der 
Begriffsbildung, welchen ich zu beschreiben versucht habe, 
gegeben erscheinen. 

Es ist gezeigt worden, dass alle wahre Begriffsbildung 
in der Aufstellung teilweiser oder vollständiger Identitäten 
zwischen der zu begreifenden Thatsache und anderen aus 
der Erfahrung bekannten Identitäten besteht. Die erste 
Bedingung der Begreifbarkeit ist somit die, dass das frag- 
liche Ding oder die fragliche Erscheinung der Klassifikation, 
d. i. der völligen oder teilweisen Identifizierung mit früher 
beobachteten Gegenständen oder Erscheinungen fähig sei. 

Eine zweite und sehr klare Bedingung der Begreif- 
barkeit ist die gegenseitige Verträglichkeit der Elemente 
des zu bildenden Begriffes. Es ist klar, dass zwei Merk- 
male, von denen das eine das Gegenteil des anderen ist, 
nicht zugleich demselben Subjekte angehören und Teile 
desselben Begriffes sein können. 

Das sind die zwei einzigen Bedingungen, welche direkt 



®) Die präzise Form von Spencer's Wahrheitskriterium, welche 
er das „Universalpostulat" nennt, ist „die Unbegreilbarkeit des Gegen- 
teils". In der Sprache der Logik ausgedrückt lautet seine These, 
dass jeder Satz, dessen kontradiktorisches Gegenteil unbegreitlich ist, 
wahr sein muss. Insofern aber als jede Negation eines Satzes die 
Behauptung seines Gegenteils ist, ist dies äquivalent mit der allge- 
meinen Behauptung, dass das, was unbegreiflich ist, nicht wahr 
sein kann. 



138 IX, Kapitel. 

aus der Theorie der Begriffsbildung ableitbar sind und da- 
her mit einigem Rechte theoretische Bedingungen genannt 
werden können. Es gibt aber noch eine dritte, praktische 
Bedingung: die Übereinstimmung des neuen Begriffes mit 
vorher gebildeten Begriffen, die sich auf dieselbe Materie 
beziehen. Wie ich gesagt habe, ist dies eine praktische 
Bedingung — nicht so sehr eine der Begreifbarkeit als der 
leichten Begreifbarkeit. Die alten Begriffe können ja mangel- 
haft oder irrig sein-, der wahre Begriff, dem sie wider- 
sprechen, mag sie ergänzen oder verdrängen, berichtigen 
oder vernichten. 

Nun ist leicht einzusehen, dass die Erfüllung der ersten 
Bedingung kein Beweis der Realität sein kann. Thatsachen 
oder Erscheinungen können sich der Beobachtung darbieten, 
welche völlig ungleich irgend welchen bisher beobachteten 
Thatsachen oder Erscheinungen sind, oder deren Ähnlich- 
lichkeit mit früheren Thatsachen der Erfahrung noch nicht 
entdeckt worden ist. Die Geschichte der Wissenschaft ist 
reich an überraschenden Entdeckungen; jede Zeitepoche 
thätiger Forschung bringt zahlreiche Erscheinungen ans 
Licht, die nicht nur unvorhergesehen, sondern auch ohne 
ersichtliche Analogie mit anderen bekannten Thatsachen 
waren. Angesichts dessen rief Liebig aus : „Das Geheimnis 
all derer, die Erfindungen machen, ist, nichts als unmög- 
lich anzuschauen."^^) 

So weit stimme ich denn mit Mill überein. Ich ver- 
mag ihm jedoch nicht zu folgen, wenn er auch die Er- 
füllung der zweiten Bedingung als ein Kriterium der Mög- 
lichkeit verwirft und es ablehnt oder ausser Acht lässt, 
zwischen dem Fall der Unbegreiflichkeit wegen scheinbarer 
oder wirklicher Nichtübereinstimmung einer neuen Er- 
scheinung oder Thatsache mit den Daten vergangener Er- 



^^) Annalen der Pharmacie, X, 179. 



Das Verhältnis der Gedanken xii den Dingen, 139 

fahrung und dem davon sehr verschiedenen Fall der Un- 
begreiflichkeit auf Grund des Widerspruches zwischen den 
einzelnen Elementen eines vorgelegten Begriffes zu unter- 
scheiden. Er führt den Begriff eines „runden Quadrates" 
als Beispiel eines solchen an, den wir zu bilden unver- 
mögend sind, und behauptet, dass diese Unfähigkeit ledig- 
lich eine Folge alteingewurzelter Erfahrung sei. „Wir können 
kein rundes Viereck begreifen," erklärt er, ^^) „nicht ledig- 
lich aus dem Grunde, weil sich uns ein solcher Gegenstand 
noch niemals in unserer Erfahrung gezeigt hat, denn das 
würde noch nicht ausreichend sein. Ebensowenig sind, so 
viel wir wissen, die beiden Ideen unter einander unverträg- 
lich. Einen Körper ganz schwarz und noch ganz weiss zu 
denken, würde nur so viel sein als sich zwei verschiedene 
Empfindungen in uns zugleich durch denselben Gegenstand 
erzeugt zu denken — was uns aus unserer Erfahrung ge- 
läufig ist — imd wir würden wahrscheinlich ebensogut im 
Stande sein ein rundes Quadrat zu begreifen wie ein hartes 
oder ein schweres, wenn nicht in unserer Erfahrung es so 
eingerichtet wäre, dass in dem Augenblicke, wo ein Ding 
rund zu sein beginnt, es aufhört eckig zu sein, so dass der 
Beginn des einen Eindruckes unzertrennlich mit dem Ver- 
schwinden des anderen verknüpft wäre. Unsere Unfähig- 
keit einen Begriff zu bilden, entsteht also stets, weil wir 
gezwungen werden einen anderen dem ersten entgegen- 
gesetzten Begriff zu bilden." 

Also stammt unsere Unfähigkeit ein rundes Quadrat 
zu begreifen aus der Thatsache, „dass in unserer Erfahrung 
ein Ding in dem Augenblicke, in dem es rund zu sein be- 
ginnt, aufhört eckig zu sein," und aus der untrennbaren 
Verbindung zwischen beginnender Rundheit und verschwin- 
dender Eckigkeit! Ob jemals wer eine solche Erfahrung 

^^) Examination of the Philosophy of Sir William Hamilton, I, 
88 (Am. Ausg.). 



140 IX. Kapitel. 

gehabt hat wie die, von der hier die Rede ist, weiss ich 
nicht; aber selbst wenn er sie hätte, bin ich gewiss, dass 
selbst, wenn sie durch eine reichliche Erbschaft angestammter 
Erfahrung im Sinne der modernen Entwicklungslehre ver- 
stärkt würde, sie sich als unzureichend erweisen würde, um 
über die unzertrennliche Vergesellschaftung, die Mill ins 
Spiel bringt, Rechenschaft zu geben. Die Wahrheit ist ein- 
fach die, dass ein rundes Quadrat eine Absurdität ist," eine 
contradictio in adjecto. Ein Quadrat ist eine Figur, die 
von vier gleichen unter einem rechten Winkel sich schneiden- 
den Geraden begrenzt ist; eine runde Figur ist eine von 
einer krummen Linie umgrenzte Figur; und die älteste 
Definition einer Kurve ist die „einer Linie, die weder eine 
gerade Linie ist, noch aus solchen besteht." 

Mill's Behauptung ist in Wirklichkeit, wenn auch nicht 
mit ausdrücklichen Worten, eine Verleugnung der Giltigkeit 
der Gesetze des Widerspruches und des ausgeschlossenen 
Dritten, oder (wie er es selbst vorziehen würde auszudrücken) 
eine Behauptung, dass die Grundsätze der Logik, wie alle 
sogenannten Naturgesetze, blosse experimentelle Induktionen 
sind, deren einzige Bürgschaft nur die Gleichförmigkeit der 
Erfahrung ist. Wenn aber diese Gesetze nicht unbedingt 
und allgemein bindend als wesentliche Prinzipien des Denkens 
und Redens wären — wenn dasselbe Ding zu gleicher Zeit 
sein und nicht sein könnte, und seine Behauptung vmd 
Leugnung nicht direkte Alternativen wären — dann wären 
wir wohl oder übel im Lande des ausgesprochensten Un- 
sinns angelangt, woselbst alles Denken zu Ende wäre und 
jede Sprache sinnlos wird. Die in Rede stehenden Gesetze 
sind die konstitutiven Prinzipien deutlichen Denkens imd 
vernünftiger Rede, weil sie stillschweigende Vorbedingungen 
hierzu bedeuten; sie können ebensowenig zu Gunsten von 
Mill's Associationstheorie verlassen, als zur Förderung von 
Hegel's dialektischer Methode abgeschafft werden. 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 141 

Es mag bemerkt werden, dass sich in dem eben 
zitierten Kapitel von Mill's Buch Äusserungen vorfinden, 
welche darthun, dass der Autor seiner eigenen Theorie 
nicht recht froh wurde. So sagt er zum Beispiel: ^^) „Diese 
Dinge sind uns buchstäblich unverständlich, so lange unser 
Geist und unsere Erfahrung das sind, was sie sind. Ob 
sie imbegreiflich sein würden, wenn unser Geist noch der- 
selbe wäre, unsere Erfahrung aber eine andere, ist eine 
offene Frage. Ein Unterschied kann allerdings gemacht 
werden, den man, wie ich denke, als einen für die Frage 
schicklichen finden wird. Dass das nämliche Ding zugleich 
sei und nicht sei, — dass die identisch gleiche Behauptung 
zugleich wahr und falsch sei — ist nicht nur für uns un- 
begreiflich, sondern derart, dass wir nicht begreifen können, 
wie es begreiflich gemacht werden könnte." 

Wie seltsam nehmen sich doch solche Sätze im Munde 
John Stuart Mill's aus! Zuerst leugnet er, dass die Un- 
begreiflichkeit in irgend einem Sinne oder Falle ein Beweis 
für die Unwahrheit oder Nichtrealität sein könne; hierauf 
sagt er aber, dass es anders sein könne, wenn die 
Unbegreiflichkeit selbst unbegreiflich ist! Das heisst: 
Ein Zeuge ist gar nicht vertrauenswürdig; macht er aber 
eine Erklärung über seine eigene Vertrauenswürdigkeit, dann 
ist er esl 

Die ganze Associationstheorie , wie sie hier von Mill 
aufgestellt und angewandt wird, ist einfach grundlos, da es 
nach dieser Theorie unmöglich ist zu wissen, wie die Er- 
fahrung seiner zahlreichen Leser gewesen ist, ausser wieder 
durch Erfahrung, welche er aber nicht gehabt haben kann, 
da die meisten dieser Leser ihm unbekannt sind. Alle 
Versuche, mit irgend wem Fragen auf dieser Grundlage zu 
erörtern, sind äusserst thöricht, da Mill durch seine eigene 



12 



L c, p. 88. 



142 IX. Kapitel, 

Lehre gezwungen ist, die Antwort als bindend hinzunehmen 
„Meine Erfahrung war eine andere". Mill's Theorie ver- 
nichtet sich also selbst und jeder ernste Satz, den 'er 
je geschrieben, bedeutet eine praktische Ableugnung der- 
selben. 

In Bezug auf den eben erörterten Fall der Unbegreif- 
lichkeit und andere ihm analoge Fälle ist zu bemerken, 
dass viel von der Verwicklung und Verworrenheit, die für 
die Fehden zwischen Mill und seinen Gegnern charakte- 
ristisch ist, davon herrührt, dass es beim Streite unterlassen 
wurde, zwischen rein formalen Begriffen und den sinnlichen 
Vorstellungen physikalischer Realitäten zu unterscheiden. 
Es besteht ein grosser Unterschied zwischen dem Verhältnis 
eines Begriffes zu seinem gedachten Gegenstande wie z. B. 
in der Mathematik und dem entsprechenden Verhältnis 
zwischen dem Begriffe eines materiellen Gegenstandes und 
dem Gegenstande selbst. In der Mathematik, sowie in allen 
Wissenschaften, welche sich mit einzelnen Beziehungen oder 
Gruppen von Beziehungen befassen, die vom Geiste selbst 
(und zwar innerhalb der Grenzen der Grundsätze des Geistes, 
willkürlich) aufgestellt werden, sind gewisse Begriffe in dem 
Sinne erschöpfend, dass sie, wenn es auch nicht ausdrück- 
lich hervorgehoben wird, alle zu dem betreffenden Ge- 
dankendinge gehörenden Eigenschaften einschliessen. Da 
nicht nur die Elemente eines solchen Gegenstandes, sondern 
auch die Gesetze ihrer gegenseitigen Abhängigkeit durch 
den Geist selbst gegeben sind, kann ein einzelner Begriff 
in eine Reihe anderer entwickelt werden. So ist eine 
Parabel eine Linie, in der jeder Punkt von einem fixen 
Punkt und einer gegebenen Geraden gleich weit entfernt 
ist : das ist einer von ihren Begriffen. Und in diesem sind 
alle Eigenschaften der Parabel — dass sie ein Kegelschnitt 
ist, der durch Schneiden eines Kegels parallel zu einer 
seiner Seiten entsteht, dass der Flächeninhalt irgend eines 



Das Verhältnis der Gedanken zu den Dingen. 143 

ihrer Segmente gleich zwei Drittteilen des umgeschriebenen 
Rechteckes ist, u. s. f. — enthalten und können aus ihm 
abgeleitet werden. Eines dieser Merkmale ist implicite 
durch die anderen gegeben. Andererseits sind, wie ich 
gezeigt habe, unsere Begriffe materieller Gegenstände niemals 
erschöpfend, denn die Gesamtheit ihrer Merkmale ist not- 
wendigerweise sowohl unvollständig als veränderlich. Zu 
welch' seltsamen Grillen diese Verwechslung in anderen 
Gebieten der Spekulation Anlass gegeben hat, werden wir 
in einem späteren Kapitel sehen. 

Ich komme nun zur dritten Bedingung der Begreif- 
barkeit : der Übereinstimmung des zu bildenden Begriffes 
mit den früheren Begriffen in pari materia. Bei weitem 
die grösste Zahl von Fällen der hier gemeinten Uhbegreif- 
lichkeit lassen sich auf eine Verletzung dieser Bedingung 
zurückführen, — auf die Unverträglichkeit neuer Thatsachen 
oder Anschauungen mit den von früher her gegebenen. 
So wurden denn viele der von Mill zu Gunsten seiner 
Theorie angeführten Fälle dieser Klasse entnommen. Doch 
erkannte er nicht immer ihren wahren Charakter, und viele 
derselben finden nur in höchst unvollkommener Weise, 
wenn überhaupt, durch seine Theorie ihre Erklärung. Eines 
dieser Beispiele ist das von der einst fast allgemein herrschend 
gewesenen Leugnung der Möglichkeit von Antipoden auf 
Grund ihrer Unbegreiflichkeit. Nach Mill ist nun diese 
Unbegreiflichkeit verschwunden ; wir begreifen die Antipoden 
nicht nur sehr leicht als möglich, sondern erkennen sie als 
wirklich. Dies ist einleuchtend genug ; doch findet es seine 
Erklärung nicht in dem Gesetz der unzertrennlichen Ver- 
gesellschaftung, auf das es Mill zurückführt, sondern in 
der Thatsache, dass unsere Vorfahren einen irrigen Begriff 
von der Wirkung der Schwere hatten. Sie nahmen an, 
dass die Richtung, in der die Schwerkraft wirkt, eine ab- 
solute Richtung im Räume sei; sie vergegenwärtigten sich 



144 I^* Kapitel, 

nicht, dass sie eine Richtung gegen den Erdmittelpunkt ist ; 
„abwärts" wurde bei ihnen in einem ganz anderen Sinne 
genommen als bei uns. Mit diesem irrigen Begriff konnten 
sie die Thatsache nicht vereinbaren, dass die Schwerkraft 
unsere Antipoden gerade so erhält wie uns; was auch wir 
nicht im Stande sind. Wir haben aber einen passenderen 
Begriff von der Schwerkraft und der Art und Richtung 
ihrer Wirkung; der falsche Begriff, mit dem der Begriff 
von Antipoden unvereinbar war, ist entfernt worden, und 
die Unbegreiflichkeit der Antipoden hatte ihr Ende ge- 
funden. 

Ähnliche Beobachtungen lassen sich bei einem anderen 
von MiLL vorgebrachten Beispiele machen : der Unfähigkeit, 
eine actio in distans zu begreifen, worauf schon in einem 
vorhergehenden Kapitel in ausgedehntem Masse Bezug ge- 
nommen wurde. Diese Unfähigkeit ergibt sich aus der Un- 
verträglichkeit dieses Begriffes mit den herrschenden Be- 
griffen von der Anwesenheit der Materie. Wenn wir den 
Satz, dass ein Körper wirkt, wo er ist, umkehren und sagen, 
dass ein Körper ist, wo er wirkt, verschwindet die Unbe- 
greiflichkeit sofort. Eine der weisesten Äusserungen über 
diesen Gegenstand ist der Satz von Thomas Carlyle (der 
von MiLL selbst an einer anderen Stelle zitiert wird) : 
„Sie sagen, dass ein Körper dort nicht wirken kann, wo 
er nicht ist? Sehr gut; bitte aber, wo ist er?" Natürlich 
würde eine Umformung unserer gewöhnlichen Begriffe 
über die Anwesenheit der Materie in dem hier ange- 
gebenen Sinne eine mechanische Konstruktion der Materie 
aus völlig begrenzten, harten, unveränderlichen und von 
einander durch absolut leere Räume getrennten Elementen 
ausschliessen. 

Es ist kaum nötig hinzuzufügen, dass, allgemein ge- 
sprochen, die Unbegreiflichkeit einer physikalischen That- 
sache, die sich aus ihrer Nichtübereinstimmung mit vorher 



Das Verhältnis der Gedanken xu den Dingen. 145 

gefassten Begriffen ergibt, kein Beweis für ihre Unmöglich- 
keit oder, ihren Mangel an Realität ist. Intellektuelle Fort- 
schritte bestehen zumeist in der Verbesserung oder Um- 
stürzung alter Ideen, von denen nicht wenige während langer 
Zeitperioden als selbstverständliche angesehen worden sind. 
Die bereits citierten Beispiele von Mill geben hiervon 
passende Illustrationen, und sie können endlos aneinander 
gereiht werden. Bis zur Entdeckung der Zusammensetzung 
des Wassers, der wahren Theorie der Verbrennung und der 
Verwandtschaften des Kaliums und Wasserstoffs zum Sauer- 
stoff war es unmöglich, eine Substanz zu begreifen, die bei 
Berührung mit Wasser sich entzündet, da es ja eine der 
anerkannten Merkmale des Wassers -r- mit anderen Worten, 
ein Teil seines Begriffes — war, dem Feuer entgegenzu- 
wirken. Dieser vorherige Begriff war falsch ; als er zerstört 
wurde, verschwand die Unbegreiflichkeit einer Substanz wie 
des Kaliums. In ähnlicher Weise sind wir nun ausser 
Stande, ein warmblütiges Tier uns ohne ein Respirations- 
system zu denken , weil wir die Bedingung der gleichen 
Temperatur eines tierischen Organismus als hauptsächlich 
abhängig von den chemischen Veränderungen ansehen, die 
in demselben platzgreifen und unter denen die wichtigste 
die Oxydation des Blutes ist, welche irgend eine Form der 
Berührung zwischen dem Blute und der Luft und somit 
eine Form der Atmung verlangt. W^enn indessen zukünftige 
Forschungen diesen letzteren Begriff vernichten sollten — 
wenn gezeigt werden würde, dass die Wärme eines leben- 
den Körpers in zureichender Menge durch mechanische 
Agentien, wie z. B. Reibung erzeugt werden könnte, würde 
em nicht atmendes warmblütiges Tier auf einmal begreif- 
lich werden. 

Während also eine physikalische Erscheinung, so wenig 
wir auch im Stande sein mögen, sie zu begreifen, ohne 

Stallo, BegriflFe u. Theorieen. lO 



146 IX. KapifeL 

unseren vertrauten Gedanken Gewalt anzuthun, wirklich 
sein kann, verhält es sich damit ganz anders auf dem Ge- 
biete der formalen Wissenschaften, wie der Logik und 
Mathematik. Hier finden wir Begriffe, die auf fundamentale 
Postulate oder axiomatische Wahrheiten gestützt sind, mit 
denen alle neuen Begriffe, um giltig zu sein, vereinbar sein 
müssen. Thatsache ist, dass auf dem Gebiete der idealen 
Beziehungen von Raum und Zeit die dritte Bedingung der 
Begreiflichkeit im Grunde genommen mit der zweiten identisch 
ist, insofern als hier alle niederen Begriffe implicite wenigstens 
Bestandteile einiger höheren umfassenderen Begriffe sind, 
deren Giltigkeit ihre gegenseitige Übereinstimmung verlangt. 
Dies alles gilt auch in gleicher Weise von den rein formalen 
Begriffen, welche die theoretische Grundlage einiger phy- 
sikalischer Wissenschaften bilden, wie z. B. von den all- 
gemeinen Sätzen der Kinematik oder Phoronomie; inner- 
halb der Grenzen der ihnen zukommenden Anwendbarkeit 
gelten sie mit Recht als Kriterien der Möglichkeit. Und selbst 
unter den auf Induktion gegründeten physikalischen Wahr- 
heiten gibt es viele, deren Allgemeinheit so wohl begründet 
ist, dass ernste, wenn nicht entscheidende Bedenken gegen 
die Berechtigung von Begriffen und die Realität von be- 
haupteten Erscheinungen obwalten würden, welche diese 
verletzen. 

Die vorhergehende Diskussion über die Frage der 
Begreifbarkeit als eines Kriteriums der Wahrheit ist in 
keiner Weise erschöpfend. Es gibt Fragen, die damit zu- 
sammenhängen und auf die einzugehen nicht meine Sache 
ist. Eine von diesen Fragen ist die Bestimmung der Be- 
dingungen, unter denen der Widerspruch zwischen den 
Elementen eines vorgelegten Begriffes offenbar wird. In 
sehr vielen Fällen ist der Widerspruch verborgen und zeigt 
sich erst nach vollständiger Enthüllung aller Verwicklungen 
und Verbindungen der Elemente — eine Erklärung, die 



Das Verhältnis der Gedanken xn den Dingen. 147 

ge^vöhnlich als reductio ad absurdum bezeichnet wird. In 
solchen Fällen besteht das Verfahren in Wirklichkeit in 
einer Zurückführung der Sätze, in die ein Begriff aufgelöst 
werden kann, bis zu ihrer äussersten Gleichförmigkeit, so 
dass der Widerspruch zwischen ihnen, falls er besteht, 
offenkundig wird. Die Einzelnheiten dieses Gegenstandes 
gehören indessen in die Lehrbücher über Logik. 



lo" 



X, 

Charakter und Ursprung der mechanischen 

Theorie. — Darlegung ihres ersten und zweiten 

metaphysischen Grundfehlers. 

Die modernen Physiker erheben den bestimmten An^ 
Spruch darauf, dass die mechanische Theorie auf der sicher eiv 
Grundlage sinnlicher Erfahrung ruhe und sich auf diese 
Art von metaphysischen Spekulationen abhebe, von denen 
(und zwar in dem im vorigen Kapitel gekennzeichneten 
Sinne mit Recht) gesagt wird, dass sie auf blossen Ein- 
bildungen des Geistes beruhen. Wir sind nunmehr auf 
einer Stufe unserer Diskussion angelangt, wo dieser An- 
spruch auf seine Stichhaltigkeit hin geprüft werden kann^ 

Die mechanische Theorie setzt Masse und Bewegung^ 
als die absolut realen und unzerstörbaren Elemente aller 
Formen physikalischer Erscheinungen voraus. Gewöhnlich 
werden diese Elemente als Materie und Kraft bezeichnet ^ 
doch ist diese Bezeichnung offenbar ungenau. Die Wirkung ' 
einer Kraft auf einen Körper bedeutet im Lichte der 
mechanischen Theorie einfach die Übertragung der Be- 
wegung eines Körpers auf einen anderen ; Kraft in dem 
Sinne, in dem das Wort hier angewendet wird, ist nichts- 
anderes als Bewegung in Anbetracht ihrer wirklichen oder 
möglichen Übertragung. Und ihre notwendige Ergänzung^ 
oder vielmehr ihr wesentliches Korrelat — das was zurück- 
bliebe, wenn ein Körper alles dessen, was keine Form von 
Kraft oder Bewegung vorstellt, entkleidet würde — ist nicht 
Materie sondern Masse. 



Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 149 

Nun ist es klar, dass Bewegung an sich ein Gegen- 
staüd sinnlicher Erfahrung weder ist noch sein kann. Wir 
besitzen experimentelle Kunde über bewegte Körper, aber 
nicht über reine Bewjegung. Ebenso klar ist es, dass Masse 
— oder um den gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, 
träge Materie oder Materie an sich — nicht ein 
Gegenstand sinnlicher Erfahrung sein kann. Dinge sind 
Gegenstände sinnlicher Erfahrung lediglich vermöge ihrer 
Wirkung imd Gegenwirkung. Wie Leibniz sagt, „was nicht 
wirkt, existiert nicht" — quod non agit, non existit. Masse 
ist nichts, wovon die Sinne direkte Kenntnis besitzen; sie 
stellt sich ihnen weder als Rauminhalt, noch als Festigkeit, 
noch als Undurchdringlichkeit dar. Die einzige Kenntnis, 
4ie wir von der Masse haben, rührt von der Thatsache 
lier, dass verschiedene Geschwindigkeiten, oder Beschleuni- 
^ngen, oder Veränderungen der Bewegung in verschiedenen 
Körpern (die von gleichem Rauminhalt und gleichen Graden 
von Festigkeit und Undurchdringlichkeit sein können) durch 
die Wirkung derselben Kraft oder die Übertragung der- 
selben Bewegung erzeugt werden können. Für sich allein 
ohne Bezug- auf die Atomtheorie betrachtet, ist die Masse 
bloss ein anderer Name für die Trägheit; und diese 
wird gekannt, gemessen und bestimmt lediglich durch den 
Betrag an Kraft oder Bewegung, der auf einen gegebenen 
Körper einwirken oder ihm mitgeteilt werden muss, um in 
ihm eine bestimmte Geschwindigkeit, oder genauer und 
allgemeiner ausgedrückt, ein bestimmtes Mass der Beschleuni- 
gung oder Ablenkung zu erzeugen. . Ohne dieser Beziehung 
zu und Verbindung mit Kraft oder Bewegung hat sie keine 
Existenz^ gerade so wie Kraft oder Bewegung keine Existenz 
ohne Bezug auf und Verbindung mit der Trägheit besitzt. 
Die Realität einer jeden von beiden bietet sich der Er- 
fahrung so gut wie dem Denken erst mit Hilfe der 
anderen dar. 



ISO X Kapitel, 

Die Wahrheit ift, dass weder Masse noch Bewegung- 
dem Wesen nach real ist, sondern beide Begriffe sind, oder 
vielmehr Teile eines Begriffes — des Begriffes Materie. 
Sie sind die letzten Ergebnisse der Verallgemeinerung — 
die intellektuellen Fluchtpunkte der Abstraktionslinien , die 
von den iniimae species der sinnlichen Erfahrung ausgehen. 
Materie ist das summum genus der Klassifikation von 
Körpern auf Grund ihrer physikalischen und chemischen 
Eigenschaften. Sie ist daher kein reales Ding sondern die 
ideale Vereinigung zweier Merkmale, die in gleicher Weise 
allen Körpern zukommen. Die zwei Merkmale sind un- 
zertrennlich, nicht nur in Wirklichkeit, sondern auch in 
Gedanken. Wenn wir beim Aufsteigen in der Klassifikations- 
skala allmählich von unseren sinnlichen Vorstellungen 
der einzelnen physischen Gegenstände alle Merkmale, in 
denen sie sich unterscheiden, ausscheiden*, erreichen wir 
schliesslich zwei Merkmale, in denen sie übereinstimmen, 
und welche nicht abgesondert werden' können, ohne die 
Grenzen zu überschreiten, innerhalb welcher der Begriff 
physischer Realität möglich ist. Beide sind unvermeidliche 
Bestandstücke des höchsten Begriffes, unter den irgend eine 
Form physischer Existenz subsumiert werden kann. 

Daraus erhellt sofort der wahre Charakter der mecha- 
nischen Theorie. Diese Theorie nimmt nicht ^ nur den 
idealen Begriff Materie, sondern auch seine beiden un- 
zertrennlichen Teilmerkmale imd erteilt beiden eine völlig 
selbständige Realität. Diese Identifizierung eines Begriffes 
mit reellen sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen, diese 
'Vermengung von Abstraktionen mit Dingen bildet einen 
der alten Grundfehler metaphysischer Spekulation. Es ist 
die erste der im letzten Kapitel aufgezählten trügerischen 
Annahmen der Metaphysik. ') Die mechanische Theorie 



^) Siehe oben S. 136. 



CJiarnkter und Ursprung der mechanischen Theotic. 151 

nimmt so wie alle metaphysischen Theorieen ideale viel- 
leicht rein konventionelle Teilgnippen von Merkmalen oder 
einzelne Merkmale hypothetisch an und behandelt sie wie 
Arten objektiver Realität. Ihre Grundlage ist somit im 
wesentlichen metaphysischer Natur. Die mechanische Theorie 
ist in der That ein Überbleibsel des mittelalterlichen Realis- 
mus. Ihre wesentlichen Elemente sind legitime logische 
Abkömmlinge der universalia ante rem und in re der 
Scholastik, die sich von letzteren höchstens dadurch unter- 
scheiden, dass sie die letzten Ergebnisse von Abstraktionen 
vorstellen, die durch stufenweises Aufsteigen von sinnlichen, 
durch Beobachtung und Experiment erhaltenen Eigenschaften 
zu Stande kommen, und nicht durch Erklimmen der nebeligen 
Höhen traditioneller Schulbegriffe, die vorzeitige, rohe und 
unbestimmte Phantasien des menschlichen Geistes darstellen. 

Der metaphysische Charakter der mechanischen Theorie 
kommt indessen nicht nur in ihrer Annahme der ersten der 
trügerischen Annahmen jeder Metaphysik zum Vorschein, 
derzufolge jeder Begriff das Gegenstück eines wirklichen 
Dinges bildet, sondern auch in der der zweiten. Diese 
besteht , wie ich bemerkt habe, ^) darin , dass die allge- 
meineren und umfangreicheren Begriffe ' und die ihnen 
entsprechenden Realitäten früher existieren als die weniger 
allgemeinen und inhaltreicheren Begriffe und deren ent- 
sprechende Realitäten, und dass die späteren Begriffe 
und Realitäten aus den ersteren entweder durch eine all- 
mähliche Hinzufügung von Merkmalen oder Eigenschaften 
oder durch einen Entwicklungsprozess abgeleitet werden, 
indem die Merkmale oder Eigenschaften der ersteren als 
Verwicklungen derer der letzteren aufgefasst werden. 

In den fuhrenden metaphysischen Systemen ist die 
Ordnung der Realität völlig verkehrt. Die summa genera 



^) Siehe oben S. 136 ff. 



152 Ä^ KapiteL 

der Abstraktion — die höchsten Begriffe — werden als 
die realsten, und die Data sinnlicher Erfahrung als die am 
wenigsten realen Formen der Existenz geschätzt. Der Grund 
dieser Grille ist der, dass man von ersteren, welche die 
allen Dingen gemeinsamen Eigenschaften umfassen, annimmt, 
dass sie deren Substanz zusammensetzen, d. i. das beständige, 
unveränderliche Substrat der Eigenschaften, durch die sich 
die besonderen Dinge auszeichnen, wobei diese wegen ihrer 
Veränderlichkeit als blosse zufällige, unwesentliche Eigen- 
schaften betrachtet werden. Nach dieser älteren Ansicht 
von der Beziehung der „Accidentien" zur Substanz oder der 
charakteristischen Merkmale der niederen zu denen der 
höheren Begriffe werden die niederen Begriffe oder Reali- 
täten durch allmähliche Hinzufügung der Merkmale oder 
Eigenschaften zu den höheren Begriffen oder Realitäten ge- 
bildet ; die Verschiedenheit der objektiven Realitäten denkt 
man sich hierbei durch eine Synthese von Substanz und 
Accidentien zuwege gebracht. Diese Ansicht mag somit 
als die synthetische bezeichnet werden. Im Gegensatz 
zu ihr steht die spätere,' analytische, die sich in den 
Entwicklungs- oder pantheistischen Systemen uns zeigt, in 
denen die niederen begrifflichen oder realen Formen als in 
den höheren enthalten und aus ihnen durch Entwicklungs- 
prozesse ableitbar vorausgesetzt werden. All das findet seine 
genaue Analogie in der mechanischen Theorie. Vor 40 
Jahren war das Glaubensbekenntnis eines gewöhnlichen 
Physikers ungefähr das folgende: Zu Uranfang existierten 
vermöge eines Schöpfungsaktes oder von Ewigkeit her 
Myriaden harter und unveränderlicher materieller Partikeln. 
Desgleichen existierten bestimmte unveränderliche Kräfte, 
wie die der Attraktion und Kohäsion, der Wärme, der 
Elektrizität, des Magnetismus, Chemismus und so fort. Der 
konstanten oder veränderlichen, geteilten oder vereinten 
Wirkung dieser Kräfte auf die materiellen Partikeln ver- 



Charakter und Ursprung der mechaniscJien Theorie, 153 

danken alle Erscheinungen physischer Realität ihre Ent- 
stehung. Bei diesem Vorgang bilden die materiellen Par- 
tikeln das passive und die Kräfte das aktive Element ; diese 
Elemente existieren aber natürlich vor ihrer Wirkung. Die 
Materie ist an sich passiv, tot ; alle Bewegung, alles Leben 
wird durch Kraft verursacht; die einzig mögliche Lösung 
der Probleme der Physiologie, nicht minder wie die der 
Physik und Chemie besteht in der Aufzählung der Kräfte, 
welche auf die materiellen Partikeln einwirken, und in der 
genauen quantitativen Bestimmung der durch ihren Ein- 
fluss hervorgerufenen Effekte. • 

In der Hauptsache ist dieses Glaubensbekenntnis offen- 
bar eine Reproduktion der alten synthetischen Anschauung 
der Metaphysik. Es ist nach und nach einer neuen Lehre 
gewichen, welche in ähnlicher Weise eine Reproduktion 
der nachfolgenden metaphysischen Anschauung ist, welche 
ich als die analytische oder Entwicklungslehre bezeichnet 
habe. Die neuen Theorieen von der Wechselbeziehung und 
gegenseitigen Verwandelbarkeit der Kräfte gemäss dem 
Prinzipe von der Erhaltung der Energie haben den Begriff 
einer Vielheit von einander unabhängiger Kräfte erschüttert, 
wenn nicht zerstört, imd überdies anerkennen Physiologen 
wie Du Bois-Reymond die Kraft als den unveränderlichen 
Begleiter, wenn nicht als das wesentliche Merkmal oder die 
primäre Qualität der Materie, indem sie behaupten, dass 
zu jeder konstanten Urmasse ein konstantes Urquantum an 
Kraft gehöre, und dass alle Transformationen der Materie 
durch Differenziierung dieser Urkraft verursacht werden. 
Daraus ergibt sich in natürlicher Weise die Vermutung, 
dass alle Verschiedenheiten physikalischer Existenz potentiell 
in der Materie im allgemeinen oder in der Materie per se 
(an sich) enthalten sind und sich aus ihr allmählich ent- 
wickelt haben. 

Im August 1874 trug Professor Tvndall, damals Prä- 



154 ^- Kapitel, 

sident der British Association, eine Inauguraladresse der 
Versammlung der Gesellschaft zu Belfast vor, in der folgende 
Erklärung enthalten war: 

„Wenn ich jede Maske fallen lasse, so fühle ich mich 
genötigt, Ihnen zu bekennen, dass wenn ich den Blick 
zurück über die Grenzen experimenteller Gewissheit schweifen 
lasse, ich in jener Materie, die wir in unserer Unkenntnis 
und trotz der eingestandenen Ehrfurcht für Ihren Schöpfer 
bisher nur mit Schimpf bedacht haben, die Verheissung und 
die Macht jedweder Art oder Form des Lebens erblicke." 

Diese Ankündigung gab Veranlassung zur Entstehung 
einer Bewegung, die kaum durch den wesentlichen Inhalt 
derselben gerechtfertigt ist; denn die Feierlichkeit ihres 
Geständnisses stand einigermassen ausser Verhältnis zu ihrer 
Neuheit. Tyndalls Worte sind. wenig mehr, als eine neue 
Verkündigung eines alten Gedankens von Francis Bacon, 
der mehr als zwei Jahrhunderte vorher erklärt hatte: 

. „Und die Materie (was auch immer sie ist) muss so 
ausgestattet, hergerichtet und gebildet angenommen werden, 
dass alles Gute, alle Wirklichkeit, jede Wirkung und Be- 
wegung deren natürliche Folge und Emanation ist/' '^) 

Das nämliche ist auch seither des öfteren durch die 
metaphysischen Evolutionisten in Ausdrücken wiederholt 
worden, die im wesentliclien dem folgenden vouSchelling 
gleichkommen. „Die Materie ist das allgemeine Samenkorn 
des Universums, worin alles verhüllt ist, was in späteren 
Entwicklungen sich entfaltet."^) 

Nichtsdestoweniger bleibt Tyndall's Aufstellung be- 



*) „Atque asserenda materia (qualiscunque ca sit) ita ornata 
et apparata et formata, ut omnis virtus, essentia, actus atque motus 
naturalis eius consecutio et emanatio esse possit." Baco, De Princ. 
atque Origg., Üpp. ed. Bohn, vol. II, p. 691. 

*) ScHELLiNG, Ideen zu einer Philosophie der Natur, 2. Aufl., 
S. 315. 



Charakter und Ursprung der mcclianischen Theorie. 155 

merkenswert und bezeichnend, indem sie die Veränderungen 
anzeigt, denen die mechanische Theorie in den Augen der 
modernen Physiker unterworfen ist. 

Tyndall ist einer der eifrigsten Verteidiger der mecha- 
nischerf Atomtheorie und ein beharrlicher Verfechter ihrer 
charakteristischen Züge. Wenn er von Materie spricht, meint 
er eine bestimmte Gruppe von einander verschiedener, 
realer Atome oder Molekeln. „Viele Chemiker der Gegen- 
wart," sagt er in einer zweiten Adresse (die ebenfalls vor 
der British Association und zwar in Liverpool vorgetragen 
und von ihm kurz vor der Belfaster Versammlung: wieder 
veröffentlicht wurde), ^) „vermeiden es , von Atomen und 
Molekeln wie von wirklichen Dingen zu sprechen. Ihre 
Vorsicht führt sie dazu, bei der klaren, scharfen, mechanisch- 
verständlichen Atomtheorie Dalton's oder einer anderen 
Form dieser Theorie stehen zu bleiben und die Lehre von den 
multiplen Proportionen zur Grenze ihres geistigen Horizontes 
zu machen. Ich achte diese Vorsicht, wiewohl ich denke, 
dass sie nicht am Platze ist. Die Chemiker, welche vor 
diesen Begriffen von Atomen und Molekeln zurückschrecken; 
nehmen ohne Zögern die Wellentheorie des Lichtes an. 
Sowie Sie und ich, glauben sie alle an einen Äther, dessen 
Schwingungen das Licht erzeugen. Lasst uns nun be- 
trachten, was alles dieser Glaube in sich schliesst. Bringen 
Sie Ihre Phantasie noch einmal ins Spiel und stellen Sie 
sich eine Reihe von Schallwellen vor, wie sie die Luft 
passieren. Folgen Sie ihnen bis zu ihrem Ursprung, und 
was finden Sie? Einen bestimmten, fühlbaren, schwingenden 
Körper. Es können die Stimmbänder eines menschlichen 
Wesens sein, eine Orgelpfeife oder eine gespannte Saite. 
F'olgen Sie in der gleichen Weise einem Zug von Äther- 
wellen bis zu seiner Quelle; erinnern Sie sich" gleichzeitig. 



^) Fragments öf Science (Am. ed.), p. 358. 



iS6 X Kapitel, 

dass Ihr Äther materiell, dicht, elastisch und fähig ist, Be- 
wegungen auszuführen, die mechanischen Gesetzen unter- 
worfen und durch sie bestimmt sind. Was hoffen Sie nun 
als Quelle einer Reihe von Ätherwellen zu finden? Fragen 
Sie Ihre Einbildungskraft, ob sie sich mit einer schwingenden 
multiplen Proportion zufrieden gibt — einem numerischen 
Verhältnis in einem Zustande der Schwingung. ®) Ich glaube 
nicht, dass sie dies thun wird. Sie können nicht das Ge- 
bäude durch diese Abstraktion krönen. Die wissenschaft- 
liche Einbildungskraft, welche hier autoritativ ist, verlangt 
als Ursprung und Ursache einer Reihe von Ätherwellen ein 
Partikel schwingender Materie, genau so bestimmt, wenn 
auch ungeheuer klein, wie das, welches einen musikalischen 
Ton verursacht. Solch ein Paitikel nennen wir ein Atom 
oder ein Molekel. Ich glaube, wenn der forschende Geist 
so eingestellt wird, dass er eine Definition ohne den Nebel- 
rändem des Halbschattens gibt, er sicherlich schliesslich dieses 
Bild geben würde." 

Der klare Sinn dieser Sätze ist der, dass ein Ather- 
oder anderes Atom oder Molekel sich zu seiner schwingen- 
den Bewegung ebenso verhält wie irgend ein gewöhnlicher 
Körper zu seiner fortschreitenden Bewegung — wie z. B. 
ein Fixstern oder Planet zu seiner Umdrehungs- oder Ura- 
laufsbewegung ; und dass ebenso wie der Begriff eines Stern- 
oder Planetenkörpers mit Notwendigkeit dem Begriffe seiner 



*) Als Tyndall dies schrieb, hatte er wahrscheinlich vor sich 
W. K. Clifford's Vortrag vor der Royal Institution vom Jahre 1867, 
in dem sich folgende Stelle findet: „Um die Erscheinungen des Lichtes 
zu erklären, ist es nicht notwendig, mehr als eine periodische Zu- 
standsänderung an einem gegebenen Punkte des Raumes anzunehmen." 
(Clifford's Lectures and Essay's, vol. I, p. 85.) Oder es kann sich 
auch die Anspielung beziehen auf J. S. MiLL, der in einer Note zum 
14. Kapitel des 3. Buches seiner Logik bei Bezugnahme auf gewisse 
Beobachtungen von Dr. Whewell den imponderablen Äther als ein 
,, schwingendes Agens" charakterisiert. 



Cliarckkr und Urspru7ig der mechanischen Theorie. 157 

Umdrehungs- oder Umlaufsbewegung vorhergeht, so auch 
der Begriff eines Atoms oder Molekels mit Notwendigkeit 
dem Begriffe seiner schwingenden Bewegung vorausgeht, 
von der Licht, Wärme, Elektrizität, chemische Wirkung u. s. f. 
bekannte oder als bekannt angenommene Formen sind. Mit 
anderen Worten: um die Existenz von Materie, wie sie sich 
uns in ihrer Wirkung und in unseren Gedanken zeigt, zu 
begreifen, sind wir nach Tvndall genötigt, letzte materielle 
Teile als vor diesen Bewegungen oder Äusserungen von 
Kraft, wie sie von uns als Licht, Wärme, Elektrizität, che- 
mische Wirkung u. s. f. aufgefasst werden, existierend an- 
zunehmen. Und was vom Begriffe, muss auch vom Dinge 
gelten. Das Ding muss sein, bevor es wirken kann oder 
bevor auf dasselbe gewirkt werden kann, in Gemässheit der 
alten Maxime: „Operari sequi tur esse."') 



') Es erfordert nur wenig Überlegung, um einzusehen, dass das 
Bild bestimmter Atome oder Molekeln, die der Aufnahme von Be- 
wegung fähig sind, vor derselben jedoch existieren, im Brennpunkte 
von Tyndall's „forschendem Geist'* reine Täuschung ist. Lasst uns 
für einen Augenblick ein letztes Teilchen der Materie in seinem Zu- 
stande der Existenz vor aller Bewegung betrachten. Es ist ohne 
Farbe und weder licht noch dunkel ; denn Farbe und Licht sind 
gemäss der Theorie, zu deren eifrigsten Verfechtern Tyndall zählt, 
blosse Arten von Bewegung. Es ist in gleicher Weise ohne Tempe- 
ratur — weder heiss noch kalt, denn auch die Wärme ist eine Art 
von Bewegung. Aus demselben Grunde ist es auch ohne elektrische,, 
magnetische, chemische Eigenschaften, kurz es ist aller jener Eigen- 
schaften bar, vermöge deren es abgesehen von seiner Grösse, Gegen- 
stand der Sinneswahrnehmung werden könnte, wenn wir die Eigen- 
schaften des Gewichtes und der Ausdehnung ausnehmen. Gewicht 
ist aber ein blosses Spiel anziehender Kräfte , und Ausdehnung ist 
uns ja bloss als Widerstand bekannt, der wieder eine Äusserung von 
Kraft, also eine Art von Bewegung ist. Die Schwierigkeit, dieser 
Urteilchen habhaft zu werden, liegt somit nicht in ihrer ausserordent- 
lichen Kleinheit, sondern in ihrer völligen Entblössung von jeder 
Eigenschaft. Die feste, fühlbare von Tyndall's „wissenschaftlicher 
Einbildungskraft" begehrte Realität ist „nee quid, nee quantum, nee 



158 A'. Kapitel, 

Diese von Tynpall in seiner Liverpooler Adresse vor- 
getragene Anschauung ist .der alte synthetische Verstandes- 
begrifF des metaphysischen Realismus. Die Atome oder 
Molekeln sind die vor, den verschiedenen Bewegungsarten 
existierenden Substanzen, zu denen die ersteren als deren 
Accidentien hinzutreten. In der Belfaster Adresse ist je- 
doch diese Ansicht (sicherlich unbewusst) derart abgeändert, 
dass sie einen Übergang zu der evolutionistischen oder 
analytischen bildet. Die Materie soll nun selbst die Formen 
und Eigenschaften des Lebens gleich von Anfang anein- 
schliessen — sie, wenn nicht in Wirklichkeit, so doch 
wenigstens potentiell in sich bergen — , so dass sie aus ihr 
durch von selbst eintretende Entwicklung hervorgehen. 

Dass alle Versuche, physikalische Erscheinungen durch 
eine Synthese hypothetischer begrifflicher Elemente zu kon- 
struieren, unter Zugrundelegung der ersten oder synthetischen 
Anschauung, vergeblich sind und dies in der Physik nicht 
minder wie in der Metaphysik, ist nun auf Grund verschieden- 
artiger Betrachtungen hinlänglich evident. Ob diese Elemente 
Substanz und Accidentien, oder Materie und 
Kraft heissen, sie sind in gleicher Weise unreal, und keine 
Realität kann aus ihrer Verbindung erstehen. Und auch 
die eingebildete Entwicklung der Dinge oder vielmehr die 
der inhaltreicheren aus den umfangreicheren höheren Be- 
griffen in Gemässheit der zweiten analytischen Anschauung 
erweist sich bei einer einfachen Betrachtung über die Natur 
des Prozesses der Begriffsbildung als ebenso täuschend. 
Höhere Begriffe werden aus den niederen durch Nicht- 
beachtung oder Verwerfung der unterscheidenden Merkmale 
gebildet; und bei diesem logischen Prozess gibt es sicher- 
lich nichts, woraus mit Berechtigung geschlossen werden 



quäle" und verschwindet völlig vor dem „forschenden Geiste" in 
dem Augenblicke, wo dieser sie frei von Bewegung zu begreifen 
sucht, die ihrer angeblich als eines Substrates bedarf. 



Charakter und Urspruru/ der mechatiisrlieti Theorie, 159 

könnte, dass die zurückgewiesenen Merkmale in den bei- 
behaltenen enthalten sind, und dass in deren Vereinigung 
der höhere Begriff besteht. 

Es ist, wie ich wohl glaube, nicht nötig, ausdrücklich 
zu sagen, dass diese Erörterungen in keiner Weise die 
Giltigkeit der Entwicklungstheorieen auf dem Gebiete wirk- 
licher physischer Existenz in ihrer Anwendung auf organische 
(und mit gewissen Beschränkungen auf unorganische) Formen 
berührt. Fragen der Ableitung und Abstammung, der orga- 
nischen und funktionellen Differenziierung und Verteilung 
sind Fragen über Thatsachen, die in Übereinstimmung mit 
den Daten der Beobachtung und des Experimentes ent- 
schieden werden müssen. Existenzformen können genetisch 
mit einander verknüpft sein, wenn sie auch nicht implicite 
in einander enthalten sind, und wenn auch keine Form 
physischer Realität sich berechtigterweise aus einem Begriff 
herleiten lässt. Aristoteles' Spruch „£/ de tCjv vorjrwv 
ovöev ylvsTac fieyed-og^^ besitzt einen tieferen Sinn als den 
ihm von seinen scholastischen Schülern beigelegten: Dinge 
entstehen nicht aus Begriffen. Und wie es noch im Ver- 
laufe des folgenden Kapitels deutlicher werden wird, ist 
die Verzweigung der Begriffe durchaus nicht identisch mit 
der der Dinge, 

Die Irrtümer des Evolutionismus in seinen eingestandener- 
massen metaphysischen Formen (wie er sich in zahlreichen 
hylozoischen und pantheistischen Doktrinen zeigt), sind aller- 
dings offenkundiger als die des materialistischen Evolutionis- 
iTiUs. Es ist für viele der ausgezeichnetesten metaphysischen 
Systeme charakteristisch, dass die summa genera, welche 
als Grundlage der Entwicklung dienen, durch einen Sprung 
in das Ledre jenseits der Grenzen berechtigter Verall- 
gemeinerung erreicht werden. So entwickelt Hegel alle 
Dinge aus dem reinen Sein, welches, wie er selbst sagt, 
aller Eigenschaften bar ist — ein blosses logisches Phantom, 



i6o X. Kapitel, 

dass durch eine gezwungene Abwerfung der letzten Merk- 
male, die das summum genus irgend einer Klassifikation 
von Erscheinungen zusammensetzen, heraufbeschworen wird.*) 
Dieses Phantom lässt sich, wie Hegel ausdrücklich bemerkt, 
vom reinen Nichts nicht unterscheiden und ist somit mit 
demselben identisch, und deshalb haben es einige von 
Hegel's geistigen Nachfolgern — Dellinghausen, Rohmer, 
Werder, George u. a. — kühn unternommen, die Welt 
der Erscheinungen aus diesem angeblichen Begriff Nichts 
oder Null abzuleiten. Derselbe Versuch ist von anderen 
Metaphysikern gemacht worden, in deren Systemen das 
anfängliche Nichts unter verschiedenen Vermummungen 
erscheint — z. B. von Schopenhauer und Hartmann, deren 
treibendes Prinzip ein unpersönlicher Wille ist, ein Begriff, 
dessen Merkmale einander widersprechen, und der deshalb 
ebenso leer ist wie der Pseudobegriff Nichts. Die impo- 
santesten unter den Vermummungen des substanziellen Nichts 
als Quelle und Ursprung der gesamten Erscheinungswelt 
sind das Absolute und das Ding an sich, die beide 
durch ihren Ausdruck jede mögliche Beziehung leugnen, 
und somit Verleugnungen aller denkbaren Eigenschaften 



**) Genau genommen ist die Grundlage von Hegel's „dialek- 
tischer Methode" nicht einmal ein Phantom von Realität. ,,An sich 
Sein" ist nicht einmal so viel wie der Ort eines verschwundenen 
Merkmales. Die Copula zwischen Subjekt und Prädikat ist nicht 
mehr als der formale Ausdruck der Thatsache , dass zwischen zwei 
Merkmalen oder zwischen einem Merkmal und einer Gruppe von 
solchen die Relation der Identität, Subsumtioti oder Koexistenz be- 
steht. Es ist eine blosse abstrakte Linie (oder ein Paar solcher), 
die von den Gattungsmerkmalen zu den unterscheidenden Merkmalen 
eines Begriffes führt. „Reines Sein" ist lediglich das Gespenst einer 
Copula zwischen einem unterdrückten Subjekt und einem verschwun- 
denen Prädikat. Es ist ein Zeichen der Behauptung, das ,, überflüssiger 
Weise auf der Bühne bleibt," nachdem sowohl das Prädikat wie 
Subjekt verschwunden ist. 



Charakter und Ursprung der mechaniscJien Tiieorie. i6i 

sind, da ja jedes Merkmal im wesentlichen eine Beziehung 
ist. Wiewohl aber solche Begriffe, wie Masse und Kraft 
etwas weniger hohl sind, sind sie doch nicht weniger nutz- 
los als Ausgangspunkte für die Entwicklung konkreter 
physischer Realitäten. 

Wie alle metaphysischen Theorieen hat auch die 
mechanische Theorie durch ihre Identifizierung von Be- 
griffen mit Dingen Anlass zur Entstehung einer Reihe falscher 
Antagonismen und grundloser Diskussionen gegeben. Eine 
der, bemerkenswertesten Kontroversen unserer Zeit ist die 
zwischen 'den Kämpen der mechanischen oder Corpus- 
culartheorie der Materie, welche behaupten, dass es 
ein reelles von der Kraft unabhängiges Ding gebe, und 
den Verteidigern der dynamischen- Theorie, welche den 
materiellen Partikeln die Rolle von blossen Kraftzentren zu^ 
schreiben. Die Corpusculartheorie wird von der Majorität 
der Physiker wie von der Meinung des gemeinen Mannes 
gehalten, während die dynamische Ansicht — ursprünglich 
ein Auswuchs metaphysischer Spekulation — auf Grund 
angeblich nicht metaphysischer Erwägungen von Boscovich, 
AMPfeRE, Faraday und manchen anderen vorgebracht wurde. 
Faraday's Ansicht ist von Tvndall kurz und bündig skizziert 
worden : ^ „Was wissen wir vom Atom ohne Kraft ? Sie 
denken sich einen Kern, der a heissen mag, und denselben 
von Kräften unageben, die mit b bezeichnet werden mögen ; 
für mich verschwindet der Kern a und die Substanz be- 
steht aus den Kräften b. Und in der That, welchen Be- 
griff können wir uns von dem Kern, unabhängig von seinen 
Kräften b^den? Welcher Gedanke verbleibt, an dem die 



®) Faraday as a Discoverer , Am. ed., p. 123. Bezüglich 
Faraday's eigener Entwicklung seiner Ansicht vgl. seine „Speculation 
louching Electric Conduction and the Nature of Matter", Phil. Mag., 
ser. III, vol. XXIV, p. 136. 

StalLO, Begriffe u. Theorieen. 1 1 



i62 X. Kapitel. 

Einbildung eines von den erkannten Kräften unabhängigen 
a haften bleiben kannr*^ 

Als Faraday solcher Weise urteilte, befand er sich wohl 
in Unkenntnis darüber, dass er bloss alte Überlegungeil von 
Aristoteles wiederholte,^^) die seither oft Ausdruck in 
den Schriften moderner Denker ' ^) gefunden haben, denen 
folgendes Beispiel entnonimen werden möge: 

„Es ist eine blosse Täuschung der Einbildungskraft, 
dass, nachdem man einem Objekt die einzigen Prädikate, 
die es hat, hinweggenommen hat, noch Etwas, man weiss 
nicht was, von ihm zurückbleibe." ' ^) 

Der sich hier darbietende Gegensatz ist völlig mibe- 
gründet. Die Materie kann als rein passive räumliche Gegen- 
wart nicht besser vergegenwärtigt oder * begrifien werden 
wie als eine blosse Verkörperung von Kräften. Die Kraft 
ist nichts ohne Masse, und die Masse nichts ohne der Kraft. 
Gerade so wie der Metaphysiker das „Ding" oder die Sub- 
stanz nicht gesondert von ihren Eigenschaften betrachten 
kann, oder umgekehrt die Eigenschaften abgesondert von 
der Substanz, so kann der Physiker nicht der Materie (d. i. 
Masse) ohne Kraft, oder der Kraft ohne der Materie hab- 
haft werden. Masse, Trägheit oder Materie an sich ist vom 
absoluten Nichts nicht zu unterscheiden; denn die Masse 
enthüllt ihre Gegenwart oder beweist ihre Realität lediglich 
durch ihre Wirkung, ihre Kraft, mag sie durch eine andere 
ausgeglichen sein oder nicht, ihre Ausdehnung oder Be- 
wegung. Andererseits ist die blosse Kraft ebenfalls nichts; 
denn wenn wir die Masse, auf die eine gegebene wiewohl 
schwache Kraft wirkt, bis zu ihrer Grenze Null, — oder 
mathematisch ausgedrückt, bis sie unendlich klein wird — 



^^) De Gen. et Corrupt., II, i, 3, 4, 6; Met., III, 5; IV, 2; VI, i. 
^') Vgl. u. a. Locke, Essay on Human Understanding, book II, 
chaptcrs XXIII u. XXIV. 

^'-'j SCHELLING, Logik, S. 18. 



Charakicr und Ursp'ung der mechanischen Theorie. 163 

reduzieren, so ist die Folge davon die, dass die (Jeschwindig- 
keit der resultierenden Bewegung unendlich gross wird, und 
dass das „Ding" (wenn wir unter diesen Umständen noch 
von einem Ding sprechen mögen) in einem gegebenen 
Moment weder hier noch dort ist, sondern überall — kurz, 
dass es keine wirkliche Gegenwart gibt. Es ist somit un- 
möglich, Materie durch eine Synthese von Kräften zu kon- 
struieren. Auch ist es unkorrekt, mit Bain zu sagen, ^*) 
dass „Materie, Kraft und Trägheit drei Namen für wesent- 
lich das gleiche Ding wären'*, oder dass „Kraft und Materie 
nicht zwei Dinge sind, sondern eines", ^*) oder dass „Kraft, 
Trägheit, Moment, Materie alle nur eine Thatsache sind", 
da in Wirklichkeit Kraft und Trägheit begriffliche Bestand- 
teile der Materie sind, und keines im eigentlichen Sinne 
eine Thatsache vorstellt. 

Der radikale Irrtuni der Corpuscular- so gut wie der 
dynamischen Theorie* besteht in der Täuschung, dass die 
begrifflichen Elemente der Materie als gesonderte und selb- 
ständige Realitäten aufgefasst werden könnten. Die Corpus- 
culartheorie greift das Element der Trägheit heraus und 
behandelt es als ein an und für sich Seiendes, Reales, 
während Boscovich, Fechner und all die anderen, welche 
Atome oder Molekeln als blosse „Kraftzentra" definieren, 
das entsprechende Element „Kraft'* als ein für sich be- 
stehendes Ganzes hinzustellen suchen. In beiden Fällen 
werden Ergebnisse der Abstraktion fälschlicherweise für Arten 
von Realitäten angesehen. 

Eine erschöpfende Prüfung der begriftlichen Ausdrücke 
Trägheit und Kraft und ihres wahren Verhältnisses ist 
hier unmöglich, ohne Betrachtungen zu anticipieren, die 
eigentlich den folgenden Kapiteln zukommen. Die wesent- 



^^) Logic, vol. II, p. 225. 
^*) Ibid., p. 389. 

II' 



164 X, Kapitel, 

liehe Beziehung der Trägheit zur Kraft geht aus ihren 
frühesten Definitionen hervor. Newton spricht ausdrück- 
lieh von der Trägheit als einer Kraft. „Der Materie 
ist/' erklärt er, „eine Kraft angeboren, vermöge deren 
jeder Körper, so viel an ihm liegt, in seinem Zu- 
stand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Be- 
wegung verharrt.*' ^*) Seit Newton's Zeit ist bei der Defi- 
nition diese Ausdrucks weise üblich. Young ^•) definiert die 
Trägheit als die „Unfähigkeit der Materie, den Zustand zu 
ändern, in den sie durch irgend eine äussere Ursache ver- 
setzt worden ist, mag nun dieser Zustand in Ruhe oder 
Blewegung bestehen ;" und ähnlich spricht VVhewell * "^ von 
„der Quantität der Materie, die der Mitteilung der Bewegung 
widerstehend angenommen wird." Alle diese Definitionen 
bringen es indessen mit sich, dass die einen Körper oder 
ein Partikel als ein Ganzes bewegenden Kräfte streng und 
unbedingt äussere Kräfte sind. In der Sprache von Newton ^®) 
ist die Kraft eine „vis impressa", „die auf einen Körper 
wirkt und sich bemüht, seinen Zustand der Ruhe oder der 
geradlinigen, gleichförmigen Bewegung zu ändern." 

Es ist leicht einzusehen, wie die Unterscheidung von 
Materie und Kraft und die etymologische Bedeutung des 
Wortes „Trägheit" zu der Annahme führt, dass die Materie 
ihrem Wesen nach passiv, oder wie der gewöhnliche Aus- 
druck lautet, tot ist. Wenn ein Körper an sich betrachtet 
wird — begrifflich losgelöst von den Beziehungen, die seine 
Merkmale entstehen lassen — ist er in der That trag und 
all seine Wirkung kommt von aussen. Dieser isolierte Zu- 
stand eines Körpers ist jedoch eine reine Fiktion des Ver- 
standes. Körper existieren nur vermöge ihrer Beziehungen ; 



") Princ, Def. III. 
^•) Mechanics, p. 117. 
*') Mechanics, p. 245. 
") Princ, Def. IV. 



Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 165 

ihre Realität liegt in ihren gegenseitigen Einwirkungen. 
Träge Materie im Sinne der mechanischen Theorie ist der 
Erfahrung unbekannt und ist in Gedanken unbegreiflich. 
Jedes Teilchen der Materie, von dem wir irgend eine Kennt- 
nis haben, zieht jedes andere Teilchen in Gemässheit der 
Gravitationsgesetze an; und jedes materielle Teilchen übt 
chemische, elektrische und andere Kräfte auf andere Ele- 
mente, die in Bezug auf diese Kräfte seine Korrelate sind. 
Ein Körper kann sich thatsächlich nicht von selbst be- 
wegen ; dies ist aber aus dem gleichen Grunde wahr, wegen 
dessen er nicht an und für sich existieren kann. Die wirk- 
liche Anwesenheit eines Körpers in Zeit und Raum, so gut 
wie seine Bewegung, bedingt eine gegenseitige Wirkung 
zwischen ihm und anderen Körpern und somit eine actio 
indistans; es sind daher alle Versuche, die Gravitation 
oder die chemische Wirkung auf blossen Stoss zurückzu- 
führen, ziellos und absurd. 

Die Physiker wissen gar wohl, dass der gewöhnlich 
dem Worte Trägheit bei seiner Anwendung auf die 
Materie beigelegte Sinn falsch ist. „Die Unfähigkeit aller 
materiellen Punkte," sagt Poisson, „sich selbst in Bewegung 
zu setzen oder die ihnen mitgeteilte Bewegung ohne Hilfe 
einer Kraft zu ändern, ist das, was die Trägheit der Materie 
bildet. Dies Wort bedeutet nicht, dass die Materie unfähig 
einer Wirkung sei; im Gegenteil findet jeder materielle 
Punkt zu jeder Zeit das Prinzip seiner Bewegung in der 
Wirkung anderer Punkte, aber niemals in sich selbst."**) 

^") „L'impossibilite oü sont tous les points materiels de se mettre 
en mouvement ou de changer le mouvement qui leur a ete communi- 
que, Sans le secours d'une force, est ce qu'on entend par l'inertie 
de la mallere. Ce mot ne signific pas que la matiere soit capable 
d'agir; car, au contraire, chaque point materiel trouve toujours dans 
l'action d'autres points materiels, mais jamais en lui meme, le prin- 
cipe de son mouvement." Poisson, Traite de Mecanique, liv. II, 
chap. I, HO. 



i66 X. Kapitel. 

Trotz der Aufstellung solcher Behauptungen wie dieser 
und ungeachtet der klaren Auffassung der wahren Bedeutung 
der Trägheitslehre von Seite der leitenden Physiker drängt 
sich indessen das Phantom einer ,,toten Materie" unaufhör- 
lich wieder vor als Grundlage kosmologischer Spekulationen. 
So hat Professor Philipp Spiller, der Verfasser eines sehr 
geschickten Handbuches der Physik und ein fruchtbarer 
Schriftsteller über wissenschaftliche Dinge, vor einigen Jahren 
eine kosmologische Abhandlung veröffentlicht, "^) deren Sätze 
auf die ausdrückliche Behauptung gestützt sind, dass „kein 
materieller Bestandteil eines Körpers, kein Atom an sich 
ursprünglich mit Kraft ausgestattet ist, sondern dass jedes 
Atom völlig tot ist und ihm keine Kraft beiwohnt , in die 
Entfernung zu wirken." -^) Aus dem weiteren Inhalt dieses 
Buches wird es klar, dass der Verfasser nicht nur die den 
Atomen einzeln zukommenden Kräfle leugnet, sondern auch 
die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Einwirkung. Er sieht 
sich infolgedessen zu der Behauptung der unabhängigen 

• 

Substanzialität der Kraft genötigt; und nimmt demgemäss 
die Kraft als eine alles durchdringende gleichsam materielle 
Allgegenwart an — oder wie er sich ausdrückt, als einen 
„unkörperlichen Stoff*'. In völligster Missachtung der funda- 
mentalen Wechselbeziehung von Kraft und Masse identifiziert 
Spiller seine Kraftsubstanz mit dem alles vermittelnden 
Äther, so dass dieser hypothetische Halbbegriff, der nach 
der Anschauung aller Physiker nicht nur unwägbar, sondern 
auch bar aller Kohäsions^, chemischen, thermischen, elek- 
trischen und magnetischen Kräfte ist (def in der That von 
denselben völlig verlassen sein muss, wenn er das blosse 
Substrat dieser verschiedenen Arten von Bewegung sein 
soll) und daher noch mehr „tot" ist, sofern dies überhaupt 

*") Der Weltäther als kosmische Kraft. Berlin, Denicke's Ver- 
lag 1873. 



81 



) Loc. cit., S. 4. 



Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie. 167 

möglich ist, als die gewöhnliche Materie, nun plötzlich, ohne 
meinen Namen zu ändern und ohne aufzuhören, das Substrat 
für Licht- oder andere Schwingungen abzugeben, die wahre 
Quintessenz aller möglichen Energie wird. 

Professor Spiller's Spekulationen stellen eine sonderbare 
Wiederbelebung von Kepler's wohlbekannten Träumen vor, 
der sich einbildete, dass die Planeten in ihren Bahnen getragen 
und geleitet würden durch eine „immaterielle Species" (species 
immateriata), die im Stande wäre, die Trägheit der Körper 
zu überwinden. ^^) Kepler's „immateriata species" ist das- 
selbe hölzerne Eisen, das Spiller unter dem Namen „un- 
körperlicher Stoff" hervorhebt y mit dem einzigen Unter- 
schiede, dass die Absurdität der KEPLER'schen Chimäre in 
der nebeligen Dämmerung der mechanischen Vorstellungen 
jener Zeit weniger in die Augen fallend war, als die Über- 
spanntheit des SpiLLER'schen Einfalles im Lichte unserer 
heutigen wissenschaftlichen Atmosphäre. 

Welche Rolle Spiller's tote Materie möglicherweise in 
einem kosmologischen System hätte spielen können, ist 
schwer zu sagen. Selbst wenn die Wirkung von Kräften 
auf unveränderliche Teilchen , die bar jeder Schwere und 
all6r anderen Kräfte wären, begreiflich wäre, so müssten 
diese von allen Seiten in gleicher Weise der Wirkung des 
allgegenwärtigen Äthers unterliegen und könnten somit nicht 
in irgend einer Weise dazu dienen, Unterschiede in der 
Dichte zu bedingen oder andere, die nicht im Äther ent- 
halten oder aus demselben entwickelbar wären. Sie könnten 



'*) „Relinquitur igitur, ut quemadmodum lux omnia terrena 
illustrans species est immateriata ignis illius, qui est in corpore Solls: 
ita virtus haec, j lanetarum corpora complexa et vehens, sit species 
immateriata ejus virtutis, quae in ipso Sole residet, inaestimabilis 
vigoris, adeoquc actus primus omnis molüs mundani,'' etc. Kepler, 
De Motibus Stellae Martis, pars tertia, cap. XXXIII ; Kepler! Opp., 
ed. Frisch, vol. III, d. 302. 



i68 X. Kapitel 

nicht einmal zur Ausdehnung eines Körpers etwas hinzu- 
fügen, und noch viel weniger zu seiner Härte, da sie ohne 
alle Widerstandskraft wären ; aber selbst wenn man das 
zugibt und Ausdehnung ohne Widerstand für möglich an- 
sieht, würden sie blosse Blasen von leeren Räumen vor- 
stellen, die im Äther des Weltalls eingeschlossen wären und 
auf dieser Verschiedenheit des Äthers würden alle Er- 
scheinungen der materiellen Welt, beruhen. 

Die herrschenden Irrtümer über die Trägheit der 
Materie haben naturgemäss zu entsprechenden Täuschungen 
über die Natur der Kraft geführt. Hier stossen wir bereits 
in limine auf eine Zweideutigkeit* in der Bedeutung des 
Wortes Kraft in der Physik und Mechanik. Wenn wir von 
einer „Naturkraft'' reden, gebrauchen wir das Wort Kraft 
in einem von dem in der Mechanik gebräuchlichen völlig 
verschiedenen Sinne. Eine „Naturkraft'* ist ein Überbleibsel 
ontologischer Spekulation; in der gewöhnlichen Sprache 
steht der Ausdruck für ein unterscheidbares, reelles Wesen. 
In seiner bestimmten mechanischen Rolle bezeichnet Kraft 
einfach das Mass der Veränderung des Momentes — mathe- 
matisch ausgedrückt, das Differential des Momentes für einen 
gegeben Zeitmoment. „Moment," sagt Tait, -'^ „ist das 
Zeitintegral der Kraft, weil die Kraft der Differentialquotient 
des Momentes ist.'* In den üblichen Lehrbüchern der 
Physik wird die Kraft als Ursache der Bewegung definiert. 
„Eine Ursache," sagt Whewell, ^ *) „welche einen Körper 
bewegt oder zu bewegen strebt, oder die seine Bewegung 
ändert oder zu ändern strebt, wird Kraft genannt." So 
sagt Clerk Maxwell: ''^•'*) „Kraft ist, was immer die Be- 
wegung eines Körpers ändert oder zu ändern strebt, indem 



*') On Some Recent Advances in Physical Science, second ed., 

p. 347. 

' ^*) Mechanics, p. i. 

26) Theory of Heat, p. 83. 



Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie, 169 

es ihre Richtung oder ihre Grösse verändert." Einen weit 
grösseren Einblick in die Natur der Kraft zeigt die Defi- 
nition von SoMOFF, wiewohl das Wort „Ursache** noch bei- 
behalten ist: „Ein materieller Punkt wird durch die An- 
wesenheit von Materie ausserhalb desselben bewegt. Diese 
Wirkung äusserer Materie wird einer Ursache zugeschrieben, 
welche Kraft heisstl" -*) Nimmt man diese Definitionen 
für den korrekten Ausdruck anerkannter Theorieen der 
physikalischen Wissenschaft, so ist es auch, abgesehen von 
den Betrachtungeh, die ich in diesem und in den vorigen 
Abschnitten angestellt habe, klar, dass Kraft kein individuelles 
Ding oder Ganzes ist, das sich direkt der Beobachtung 
oder dem Denken darbietet, sondern dass, sofern sie als 
bestimmter und einheitlicher Ausdruck in Denkakten auf- 
tritt, sie lediglich einen Umstand bei der Auffassung der 
gegenseitigen Abhängigkeit bewegter Massen bedeutet. — 
Die Ursache der Bewegung oder der Veränderung der Be- 
wegung in einem Körper ist die Bedingung oder die Gruppe 
von Bedingungen, unter denen die Bewegung stattfindet; 
und diese Bedingung oder Gruppe von Bedingungen ist 
stets eine entsprechende Bewegung oder Veränderung der 
Bewegung von Körpern ausserhalb des Körpers, die seine 
dynamischen Korrelate bilden. -") Anders ausgedrückt ist 
die Kraft ein blosser Schluss, der aus der Bewegung selbst 
unter den allgemeinen Bedingungen der Realität gezogen 
wird, und ihre Messung und Bestimmung beruht bloss auf 
der Wirkung, für welche sie als Ursache gefordert wird; 
eine andere Existenz hat sie nicht. Die einzige Realität 
der Kraft und ihrer Wirkung besteht in der Übereinstimi^ung 



^^) SoMOFF, Theoretische Mechanik, 2 Bd., S. 155. 

*') „Der gegenwärtig klar entwickelte mechanische Begriff der 
Kraft/' sagt Zöllner (Natur der Kometen, S. 323), „enthält nichts 
anderes als den Ausdruck einer räumlichen und zeitlichen Beziehung 
zweier Körper.** 



lyo . X, Kapitel, 

zwischen den physikalischen Erscheinungen in, Gemässheit 
des Prinzips der Relativität aller Formen physischer Existenz. 

Dass die Kraft keine unabhängige Realität besitzt, ist 
so klar und augenfällig, dass von einigen Denkern vorge- 
schlagen worden ist, den Ausdruck Kraft, wie den Aus- 
druck Ursache abzuschaffen. Wie wünschenswert auch 
ein sparsamer Gebrauch derartiger Ausdrücke sein mag 
(was z. B. die Klarheit einiger moderner Lehrbücher der 
Mechanik zeigt),-®) erscheint es doch unthunlich, sich der- 
selben gänzlich zu enthalten, da ja die Kraft als Begriffs- 
element; wenn sie in passender Weise nach den Bedingungen 
der Erfahrung aufgefasst wird, einen berechtigten Umstand 
bei der Auffassung physikalischer Wirkung vorstellt, und 
wenn der Gebrauch ihres Namens abkäme, sie sofort wieder 
unter einem anderen Namen auftauchen würde. Es gibt 
nur wenige Begriffe, welche nicht in der Wissenschaft wie 
in der Metaphysik Anlass zu der gleichen Verwirrung, wie 
sie in Betreff der „Kraft" und der „Ursache" vorhanden 
ist, Anlass gegeben hätten; und der gegen diese geführte 
Schlag würde alle Begriffe zerstören. Dessenungeachtet 
bleibt es von der grössten Bedeutung, bei allen Spekulationen 
über die gegenseitige Abhängigkeit der Naturerscheinungen 
niemals die Thatsache aus den Augen zu lassen, dass die 
Kraft ein bloss begrifflicher Ausdruck ist und nicht ein 
unterscheidbares, wahrnehmbares oder nicht wahrnehm- 
bares Ding. 

Wie unvollkommen das alles heutzutage verstanden 
wird, zeigt die oberflächlichste Prüfung unserer elementaren 
Lehrbücher der Physik so gut wie die der wissenschaftlichen 
Originalabhandlungen. Die Beziehung zwischen Kraft und 
mechanischer Bewegung wird in einem fort als eine That- 



**) Vgl. u. a. Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, 
Leipzig 1876. 



Charakter 'und Ursprung der niecfianischen Theorie, 171 

Sache hingestellt, „die durch Beobachtung erhalten und durch 
<ias Experiment bestätigt worden ist." In einem im Juli 1872 
veröffentlichten Artikel wird gesagt : „In Bezug auf die erste 
Frage (Was erzeugt Bewegung) gibt es keine Meinungs- 
verschiedenheit. Alle stimmen darin überein, dass es die 
Kraft ist, welche Bewegung erzeugt oder verursacht."*^ 
Der augenscheinliche Sinn dieser Rede ist der, dass es 
fraglich erscheinen könnte, ob materielle Veränderung oder 
Bewegung durch Kraft oder durch etwas anderes hervor- 
gerufen würde, und dass die Physiker in ihrer Gesamtheit 
zu dem Schlüsse gekommen sind, dass sie durch Kraft er- 
zeugt wird. Solch eine Frage müsste wahrlich ernstlich 
erwogen werden ! Sie komrat gleich der Frage, welche Sachs 
in seiner Verzweiflung der Welt verkündet: „Wer will uns 
dessen vergewissern, dass das, was die Astronomen als 
Uranus ansehen, der Uranus wirklich ist?"*") 

In einer anderen Beziehung als über die Natur der 
Kraft befinden sich die Physiker allgemein in noch viel 
grösserer Verwirrung. Von den Körpern sagt man, sie 
wären mit einem bestimmten Quantum an Kraft versehen; 
man nimmt an, dass zu jedem besonderen Körper oder 
Atom ein unveränderliches Mass an Energie gehöre, oder 
solch einem Körper oder Atom angeboren sei. Abgesehen 
davon, dass diese Behauptung den soeben besprochenen 
Begriff von der unabhängigen Realität der Kraft in sich 
schliesst, liegt in ihr noch die Annahme, dass die Kraft 
ein Attribut oder ein Begleiter eines solchen einzelnen 
Partikels sein könne, wobei die sonst den Physikern wohl 
bekannte Thatsache aüsseracht gelassen wird, dass die 
wirkliche Auffassung der Kraft von der Beziehung zwischen 



*") What determines Molecular Motion, etc. Von James Croll. 
Phil. Mag., fourth series, vol. 40, p. 37. 

'°) Das Sonnensystem, oder neue Theorie vom Bau der Welten, 
von S. Sachs, S. 193 (bei Fechner citiert). 



172 X Kapitel, 

wenigstens zwei Gliedern abhängig ist. „Kraft/* sagt Clerk. 
Maxwell*') ist eine Seite jener gegenseitigen Wirkung 
zwischen zwei Körpern, welche von Newton Wirkung und 
Rückwirkung genannt wurde, und welche wir jetzt kurz 
durch das einzige Wort ,Stress' bezeichnen/* Und an einem 
anderen Ort : *^) „Betrachten wir das ganze Phänomen der 
Wirkung zweier materieller Teile auf einander, so nennen 
wir es dynamische Einwirkung (stress) . . . Wenn wir aber 
unsere Aufmerksamkeit auf den einen der materiellen Teile 
beschränken, dann sehen wir die Sache so, als wäre bloss 
eine einseitige Wirkung da, diejenige nämlich, welche den 
von uns in Betracht genommenen Teil beeinfiusst, und wir 
nennen die Erscheinung, von diesem Gesichtspunkte aus 
betrachtet, rücksichtlich ihrer Wirkung eine äussere Kraft, 
welche auf unseren materiellen Teil wirkt, und rücksicht- 
lich ihrer Ursache nennen wir sie die Wirkung des anderen 
materiellen Teiles. Die dynamische Einwirkung, von ent- 
gegengesetztem Gesichtspunkt aus betrachtet, heisst Reaktion 
auf den anderen materiellen Teil." Von gleicher Bedeutung 
ist die Behauptung von Rankine :**^) „Die Kraft ist eine 
Wirkung zweier Körper, die eine Änderung ihrer relativen 
Ruhe oder Bewegung verursaclit oder zu verursachen strebt." 
Daraus folgt, dass eine „konstante Centralkraft", wie sie zu 
einem individuellen Atom oder Molekel gehören würde, ein 
Ding der Unmöglichkeit ist. 



•*) Matter and motion (deutsch v. Fleischl v. Marxow, S. 92). 
82) Ib., cap. XXXVII, XXXVIII. 



*) Applied Mcchanics, fourth ed., p. 15. 



XI. 

Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie 
(Fortsetzung). Die Darlegung ihres dritten meta- 
physischen Grundfehlers. 

Es gibt nur wenige Überzeugungen, die allgemein für 
unzweifelhafter gehalten werden, als die von der absoluten 
Starrheit der Materie, von ihrer Undurchdringlichkeit. Mit 
Ausnahme von Descartes und dessen unmittelbaren Nach- 
folgern, deren Behauptung, dass die Materie nichts als Aus- 
dehnung ist, offenbar sich nicht verteidigen lässt, haben 
Philosophen und Physiker in gleicher Weise stets die Starr- 
heit und Undurchdringlichkeit der Materie an die erste 
Stelle ihrer primären Qualitäten gestellt. Angesichts der 
beobachteten Umformungen materieller Dinge führt dieser 
Glaube unausweichlich zu der Lehre, dass die Materie aus 
unteilbaren absolut starren Partikeln bestehe. Tyndall's 
an der im letzten Kapitel citierten Stelle seiner Liverpooler 
Adresse ausgedrückte Meinung ist sowohl die des grossen 
wissenschaftlichen Publikums, wie auch die der Personen 
ohne wissenschaftlicher Bildung. Allen diesen erscheint es 
gleich Tyndall absurd zu sein, zu leugnen, dass der Be- 
griff der Materie den Begriff einer bestimmten, fühlbaren 
und unzerstörbaren Starrheit in sich schliesst. Die allge- 
meine stillschweigende Annahme geht dahin, dass von den 
drei Aggregatzuständen, in denen sich die Materie den 
Sinnen darbietet — dem festen, flüssigen und gasförmigen 
— die beiden letzten einfach Vermummungen oder Zu- 
sammensetzungen des ersten sind ; dass ein Gas z. B. in Wirk- 



174 ^^- Kapitel. 

lichkeit eine Gruppe oder ein Haufen fester Körper ähn- 
lich einer Staubwolke ist, nur mit denx Unterschiede, dass 
die Formen und Entfernungen der Teilchen, aus denen das 
Gas zusammengesetzt ist, eine grössere Regelmässigkeit als 
bei einer Staubwolke zeigen, und dass diese Teilchen in 
dem Falle eines Gases durch ihre gegenseitigen Anziehungen 
und Abstossungen beherrscht werden, während in dem Falle 
einer Staubwolke sie sich unter dem Einflüsse äusserer Kraft 
befinden. Und weil der Übergang der drei Aggregatzu- 
stände in einander in regelmässiger und unveränderlicher 
Ordnung in einer Weise vor sich geht, die zu augenßillig 
ist, um übersehen zu werden, nimmt man an, dass der feste 
Zustand der ursprüngliche ist, von dem der flüssige und 
gasförmige einfach Ableitungen vorstellen, und dass, wenn 
diese Zustände unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung 
betrachtet werden, die Reihenfolge derselben die vom festen 
Zustand zum Dampf oder Gas ist. Nach dieser Anschauung 
bildet die feste Form der Materie nicht nur die Grundlage 
und den Ursprung aller weiteren Bestimmungen — aller 
Entwicklungen und Veränderungen — derselben, sondern 
auch das wahre und eigentliche Element ihres Gedanken- 
bildes und Begriffes. 

Während nun diese Ansicht von der Beziehung der 
drei Aggregatzustände zu einander die allgemein herrschende 
ist, ist es andererseits nicht schwer zu zeigen, dass sie mit 
den Thatsachen unvereinbar ist. Alle Entwicklung schreitet 
von dem verhältnismässig Unbestimmten zu dem Verhältnis-: 
massig Bestimmten fort und von dem vergleichsweise Ein- 
fachen zu dem vergleichsweise Verwickelten. Eine Ver- 
gleichung des gasförmigen mit dem festen Zustand (wenn 
wir unsere Aufmerksamkeit für den Augenblick zunächst* 
auf die beiden Endpunkte der Reihe, den festen Körper 
und das Gas beschränken und von dem Mittelglied, der- 
Flüssigkeit, absehen) zeigt uns, dass der erstere nicht das- 



ClicraJdcr ti. Urspiung der meckan, Theorie (Forts,), 175 

Ende, sondern den Beginn der Entwicklung bildet. . Das Gas 
ist nicht nur verhältnismässig unbestimmt — ohne festem 
Volumen, ohne krystallinische oder andere Struktur — , 
sondern es zeigt auch in seinen Grundeigenschaften jene 
Einfachheit und Regelmässigkeit, welche fiir alle Typen 
primärer Formen charakteristisch ist. Betrachten wir fürs 
erste die physikalischen Seiten eines Gases — *- wobei ich 
natürlich nur von Gasen spreche, die annähernd vollkommen 
sind, mit Ausschluss von Dämpfen bei niederer Temperatur 
und von Gasen, die leicht coercibel sind, so zeigt sich : ihr 
Volumen dehnt sich aus und zieht sich zusammen, entsprechend 
der Variation des Druckes, dem es unterworfen ist; ihre 
Diffusionsgeschwindigkeit ist umgekehrt proportinal der Qua- 
dratwurzel aus ihrer Dichte ; das Mass ihrer Ausdehnung ist für 
gleiche Zuwüchse der Temperatur gleich; ihre spezifische 
Wärme ist bei allen Temperaturen dieselbe und bei einem ge- 
gebenen Gewicht auch für alle Dichten und Drucke die 
gleiche ; die spezifischen Wärmen gleicher Volumen einfacher 
und unverdichtbarer Gase, sowie der ohne Verdichtung ge- 
bildeter zusammengesetzter Gase, sind für alle Gase was immer 
für einer Art die gleichen, und so weiter. Nach all diesen 
Richtungen hin ist der Kontrast zu der flüssigen wie zu 
der festen Form, bei der die Verhältnisse ihres Volumens 
oder ihres Baues oder beider zur Temperatur, zum äusseren 
Druck oder zu anderen Kräften die verwickeltesten sind,, 
gross und überraschend. Dieser Kontrast wird jedoch bei 
der Betrachtung vom chemischen Gesichtspunkte aus noch 
grösser. Wir sind in keiner Weise im Stande, die Volums- 
Verhältnisse anzugeben, in denen sich feste und flüssige 
Körper . mit einander verbinden — die Verbindung von 
festen Körpern als solcher ist thatsächlich unmöglich — 
und die Zahlen, welche die Verbindungsgewichtsverhältnisse 
ausdrücken, zeigen einen solchen Mangel an angebbaren 
Beziehungen und an Regelmässigkeit, dass die beharrlichsten 



lyö AV. Kapitel, 

Anstrengungen der Vertreter der Wissenschaft (wie Dumas, 
Stas, H. Carey Lea, C00K.E, L. Meyer, Mendelejeff, 
Baumhauer) nicht im Stande waren, ihn zu beheben. Bei 
der Verbindung der Gase herrscht im Gegenteil alle Ord- 
nung und Einfachheit. „Das Verhältnis der Volumen, in 
denen sich die Gase verbinden, ist stets ein einfaches und 
das Volumen der sich ergebenden Gasverbindung steht in 
einem einfachen Verhältnis zu den Volumen ihrer Bestand- 
teile" — lautet das Gesetz von Gay-Lussac. Dem Gewichte 
nach ist das Verbindungsverhältnis zwischen Wasserstoff und 
Chlor gleich i : 35,5 ; dem Volumen nach verbindet sich 
ein Volumen von Wasserstoff mit einem Volumen von Chlor 
(natürlich beide bei derselben Temperatur und dem gleichen 
Drucke gemessen) zu zwei Volumen Chlorwasserstoffsäure. 
Sauerstoff und Wasserstoff verbinden sich im Gewichtsver- 
hältnisse 16: 2 ; hingegen bildet i Volumen von Sauerstoff 
mit 2 Volumen Wasserstoff 2 Volumen Wasserdampf. Stick- 
stoff und Wasserstoff, deren sogenannte Atomgewichte 14 
und I sind, verbinden sich in dem einfachen Verhältnis 
eines Volumens Stickstoffs zu drei Volumen Wasserstoff, 
dabei 2 Volumina Ammoniak gebend. Und Kohlenstoff, 
dessen „Atomgewicht" 12 ist, obwohl es nicht wirklich in 
Gasform erhalten werden kann, verbindet sich nach allste- 
meiner Annahme der Chemiker (deren Gründe hier nicht 
auseinandergesetzt zu werden brauchen) mit Wasserstoff in 
dem Volumsverhältnisse 1:4, um 2 Volumen Sumpfgas 
zu geben. 

All dies berechtigt zu dem Schlüsse, dass, falls es einen 
typischen und primären Zustand der Materie gäbe, dies 
nicht der feste, sondern der gasförmige sein müsste. Und 
da dies so ist, folgt, dass sich die molekulare Entwicklung 
der Materie gemäss dem Entwicklungsgesetze vom Unbe- 
stimmten zum Bestimmten, vom Einfachen zum Verwickelten, 
von der gasförmigen zur festen Form vollzieht. Insofern 



Charakter %i, Ursprung der median, Theorie (Forts.). i'ji 

also die Erklärung einer Erscheinung auf eine Hin-. 
Weisung ihres Entstehens aus den einfachsten Anfängen, 
den frühesten Formen hinauskommt, bildet der gasförmige 
Zustand der Materie die wirkliche Grundlage für die Er- 
klärung des festen , und nicht umgekehrt der feste für die 
des gasförmigen Zustandes. 

Ich nehme an, dass es aus den vorhergehenden Be- 
trachtungen klar geworden ist, dass das wahre Verhältnis 
zwischen den molekularen Zuständen der Materie genau das 
umgekehrte von dem allgemein angenommenen ist. Die 
Allgeraeinheit dieser Annahme lehrt indessen, dass sie nicht 
durch einen blossen Denkfehler, sondern durch einen natür- 
lichen Hang des Geistes zu stände kommt. Es entsteht da- 
her die Frage : Worin liegt der Ursprung dieser allgemeinen 
Täuschung über die Beschaffenheit der Materie ? Ich glaube, 
dass die Antwort auf diese Frage ausserordentlich einfach 
und im Verhältnis zu ihrer Einfachheit wichtig ist. Eine 
von den Täuschungen, denen der menschliche Geist infolge 
der Gesetze seiner Natur unterworfen ist, und die ich struk- 
turelle Täuschungen zu nennen gewagt habe, besteht darin, 
dass der Geist die Reihenfolge der Entstehung seiner Ideen 
über materielle Objekte mit der Reihenfolge der Entstehung 
dieser Objekte selbst verwechselt. Ich habe bisher gezeigt, 
dass der Fortschritt unserer Kenntnis auf Vergleichung 
(analogy) beruht, — auf einer Zurückführung des Seltsamen- 
und Unbekannten auf Vertrautes und Bekanntes. In 
einem gewissen Sinne ist es richtig, was so oft gesagt 
worden ist, dass alle Erkenntnis auf Wiedererkemiung be- 
ruhe. „Der Mensch,'^ sagt Pott,. ^) „stellt fortwährend Ver- 
gleichungen an . zwischen . dem Neuen , das. sich ihm dar^l 
bietet, und dem. Alten, .das' er bereits terint.^' . Dass dem. 



* - ■ . » _ 

^) Pott; -Etymologische FöTschungen, 2. Aufl., 2 Bd., S. 139/ 
StALLO; Begriffe .u. Theorreen-. 12 



ijS XL Kapitel, 

so ist, lehrt die Entwicklung der Sprache. Das Hauptagens 
bei der Entwicklung der Sprache bildet die Metapher — die 
Übertragung des Wortes von seiner gewöhnlichen über- 
lieferten Bedeutung auf eine analoge. Diese Übertragung 
eines Namens, der bekannte und vertraute Dinge beschreibt, 
zur Bezeichnung von unbekannten und nicht vertrauten ist 
typisch für das Verfahren des Geistes in allen Fällen, wo 
es sich um neue und seltsame Erscheinungen handelt. Sie 
lässt diese Erscheinungen ähnlich den uns bekannten er- 
scheinen; sie identificiert das Fremde, so weit als es mög- 
lich ist, mit dem Vertrauten ; sie lehrt uns das Ausserordent- 
liche und Ungewöhnliche in Ausdrücken dessen kennen, 
was uns ordentlich und gewöhnlich ist. Das Sinnenfälligste 
ist aber das, was zuerst im Bewusstsein auftritt und darin 
am beständigsten verharrt; auf diese Weise erhält es den 
Stempel grösster Vertrautheit. Nun ist die am meisten 
sich aufdrängende Form der Materie die feste, und aus 
diesem Grunde ist sie diejenige, die zuerst vom kindlichen 
Gemüte der Menschheit aufgefasst wird und damit als Grund- 
lage für die nachfolgende Erkennung anderer Formen dient. 
Dementsprechend finden wir, dass auf den ersten Stufen 
menschlicher Kultur das Feste allein als materiell auf- 
gefasst wird. Es hat lange gedauert, bis selbst die atmo- 
sphärische Luft, die sich uns doch in Wind und Sturm so 
auffällig bemerkbar macht, als eine Form der Materie er- 
kannt wurde. Bis auf den heutigen Tag bedeuten Worte, 
die einen Wind oder Hauch bezeichnen — animus, Spiritus, 
Geist u. s. w. — das fundamentale Korrelat der Materie 
selbst in den Sprachen zivilisierter Völker. Und es ist sehr 
fraglich, ob selbst die alten Philosophen oder die mittel- 
alterlichen * Alchimisten deutlich eine andere gasförmige 
Substanz ausser der Luft als materiell unterschieden. Es 
ist gewiss, dass bis zu den Zeiten von Van Helmont im 
letzten Teil des i6. und in den ersten Jahrzehnten des 



Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.). 179 

17. Jahrhundertes die gasförmige Materie keinen Gegen- 
stand wissenschaftlicher Forschung gebildet hat.*) 

Es ist nun klar, dass, während der Fortschritt der Ent- 
wicklung in der Natur vom gasförmigen zum festen Zustand 
geht, der Fortschritt der Entwicklung der Kenntnis des 
menschlichen Geistes umgekehrt in der Richtung vom festen 
zum gasförmigen geschah ; und infolgedessen der gasförmige 
Zustand als ' blosse Modifikation des festeji aufgefasst wurde. 
Aus dem gleichen Grunde war die erste Form materieller 
Einwirkung, die von dem erwachenden Menschengeiste auf- 
gefasst wurde , die zwischen festen Körpern , und daraus 
folgt wieder, dass der Unterschied zwischen einem festen 
und gasförmigen Körper als ein blosser Unterschied der Ent- 
fernung zwischen festen Teilchen, wie er durch mechanische 
Bewegung erzeugt wird, angesehen wurde. 

Dazu kommt, dass in dem Geiste des gewöhnhchen 
Mannes die Vertrautheit allgemein mit der Einfachheit ver- 
wechselt wird. Wenn nun die Erklärung einer Erscheinung, 
^ie wir gesehen haben, auf eine Darlegung ihrer Entstehung 
aus den frühesten Anfängen hinauskommt, verfolgt der 
Geist bei seinen Versuchen einer Erklärung der Gasform 
naturgemäss die Schritte in der Entwicklung seiner Ideen 
über die Materie — seines Begriffes Materie — zurück 
bis zu den frühesten, vertrautesten und daher scheinbar ein- 
fachsten Formen, in denen die Materie von ihm wahrge- 
nommen wurde und wird, und nimmt das feste Teilchen, 
das Atom, als letzte Thatsache, als primäres Element für 
die Vorstellung und begriffliche Auffassung materieller 
Existenz. 

Die Annahme der Identität in der Reihenfolge der 
Begriffsbildung und der der Realität (die dritte der im 
9. Abschnitt aufgezählten trügerischen Annahmen) bildet 

*) Van Helmont gebraucht zuerst den Ausdruck „Gas". Anm. 
des Herausg. 

12* 



i8o XL Kapitel. 

einen der verhängnisvollsten Irrtümer ontologischer Speku- 
lation, und ist als solcher von J. S. Mill dargethan worden, 
der indessen darin fehlt, dass er die wahre Quelle dieses 
Irrtums verkennt, wie oben auseinandergesetzt worden ist, 
indem er (nach seiner Gewohnheit) die Ordnung und Ver- 
bindung unserer Ideen einer bloss zufälligen Association zu- 
schreibt. „Ein grosser Teil des irrigen Denkens, das in der 
Welt existiert," erklärt er, ^) „geht von der stillschweigenden 
Voraussetzung aus, dass dieselbe Ordnung zwischen den 
Gegenständen der Natur wie zwischen unseren Vorstellungen 
von denselben bestehen müsse." Die Hartnäckigkeit dieser 
Annahme und ihre unvermeidliche Herrschaft in der onto- 
logischen Spekulation könnte an zahlreichen Beispielen be- 
legt werden. Spinoza erklärt ausdrücklich, „dass die Ord- 
nung und der Zusammenhang der Ideen von gleicher Art 
sind, wie die Ordnung und der Zusammenhang der Dinge." ^) 
Und selbst in einem neueren Lehrbuch der Logik lesen 
wir, dass „die logische Verkettung der Ideen der wirklichen 
Verkettung der Dinge entspreche."*) Es tritt hier also 
wieder der metaphysische Charakter der mechanischen Theorie 
deutlich hervor. 

Wiewohl die Ansicht, dass Starrheit und Undurch- 
dringlichkeit nicht nur unvermeidliche, sondern auch voll- 
kommen einfache Merkmale der Materie sind, durchaus 
nicht allgemein ist, gibt es nur wenige Denker, welche 
nicht verkennen, dass sie einem Vorurteil des Geistes ihre 
Entstehung verdankt. „In der Hypothese," sagt Cournot, ^) 
„zu welcher die modernen Physiker geführt worden sind — 



2) Logic, 8th ed., p. 521. 

*) ,,Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio 
rerum." Eth. II, prop. 7. 

*) ,,L'enchainement logique des idees correspond ä l'enchaine- 
ment reel des choses." Delboeuf, Logique p. 91. 

^) De rEnchaincment, etc., vol. I, p. 246 seq. 



Charakter ?/. Ursprung der median, Theorie (Forts,). i8i 

nämlich der von Atomen; die von einander getrennt sind 
und zwar sogar durch solche Entfernungen , die (wiewohl 
durch keine Erfahrung abschätzbar) dennoch im Vergleiche 
zu den Grössenverhältnissen der Atome oder Elementar- 
körperchen sehr gross sind — nötigt uns nichts, die Atomö 
eher als kleine harte oder starre statt als kleine weiche, 
dehnbare oder flüssige Körper vorzustellen. Der Vorzug, 
den wir der Härte über die Weichheit geben, die Neigung, 
die wir zeigen, uns die Atome oder das Urmolekel lieber 
als eine Miniatur des festen Körpers statt einer flüssigen 
Masse von derselben Kleinheit vorzustellen, sind lediglich 
Vorurteile der Erziehung, die sich aus unseren Gewohn- 
heiten und den Bedingungen unseres animalen Lebens er- 
geben. Dieser Hang ist somit um nichts weniger begrün- 
deter, als der bei den alten Scholastikern so eingewurzelte 
und in modernen Lehren sich fortsetzende alte Glaube, 
dass die Undurchdringlic'hkeit zusammen mit der 
Ausdehnung den wesentlichen Charakter, die Grund- 
eigenschaft der Materie und der Körper ausmache. Es ist 
ganz klar, dass Atome, die nie zur Berührung kommen, sich 
noch viel weniger zu durchdringen vermögen : so zwar, dass 
die angebliche Grundeigenschafc im Gegenteil eine nutzlose 
müssige Eigenschaft sein würde , die niemals in Aktion 
treten, niemals zur Erklärung einer Erscheinung in Ver- 
wendung kommen könnte und von uns ganz umsonst auf- 
gestellt sein würde. Dasselbe lässt sich auch von der Aus- 
dehnung sagen, insofern sie ein Merkmal oder eine Eigen- 
schaft der Atome ist, denn bei weitestgehender Analyse 
und bei dem jetzigen Zustand der Wissenschaft bleiben 
alle Erklärungen, die man von den physikalisch -chemischen 
Erscheinungen geben kann, vollkommen unabhängig von 
den Hypothesen, die man über die Gestalt und die Grössen- 
verhähnisse der Atome oder der Elementarmolekeln machen 
könnte. Was die sinnlich wahrnehmbaren Körper endlicher 



i82 XI, KapiicL 

Grösse anbelangt, so sind sie sicherlich diirchdringlich ; und 
was sie betrifft, ist die Kontinuität der Formen der Aus- 
dehnung nur eine Illusion." 

„Bei den sinnlich wahrnehmbaren Körpern sind Festig- 
keit und Starrheit gerade so wie Biegsamkeit,. Weichheit 
oder Flüssigkeit sehr verwickelte Erscheinungen, die wir, 
so gut es geht, mit Hilfe von Hypothesen über das Gesetz 
der Kräfte, welche die Elementarmolekeln in bestimmten 
Distanzen erhalten, und über die Ausdehnung ihrer Wirkungs- 
sphäre, verglichen mit der in dieser Sphäre enthaltenen 
Molekelzahl und deren gegenseitigen Entfernungen, zu er- 
klären suchen. Während nun die vertraute Vorstellung der 
Körper im festen Zustand die Begriffsbildung eines starren 
Körperchens oder eines elementaren Atoms als philosophisches 
und wissenschaftliches Prinzip der Erklärung eingegeben hat, 
ist das mit Hilfe des Atombegriffes am schwierigsten in 
zufriedenstellender Weise zu Erklärende gerade die Zu- 
sammensetzung der Körper im festen Zustand/* 

Ich habe bereits im siebenten Kapitel eine Stelle von 
ähnlicher Bedeutung aus den Vorlesungen von Cauchy 
citiert, in welcher der berühmte Mathematiker die Not- 
wendigkeit in Frage stellt, der Materie entweder Undurch- 
dringlichkeit oder Ausdehnung (ohne denen oder ohne einer 
von denen natürlich keine Starrheit möglich ist) als primäre 
Qualität zuzuschreiben. 

Starrheit in dem Sinne, in welchem sie einem Atom 
beigelegt wird, ist keine Thatsache, sondern die Realisierung 
einer Abstraktion. Wie Cournot bemerkt, ist ein absolut 
starrer Körper der Erfahrung unbekannt. Der Zusammen- 
hang der Körper, mit denen es der Experimentalphysiker 
zu thun hat, hängt von dem Übergewicht oder Gleichgewicht 
der Kräfte, wie der Kohäsion, Krystallisation und Wärme 
ab; und die Annahme der absoluten Starrheit der Materie 
ist eine Folge jener oberflächlichen und unvollkommenen 



Charakter u. Ursprung der median, Theorie (Forts.), 183 

Auffassung der Data sinnlicher Erfahrung (und der Nicht- 
achtung der wesentlichen Relativität aller Eigenschaften der 
Dinge, die nachher eingehender betrachtet werden soll), die 
sich in allen frühen Begriffsbildungen der Menschheit zeigt. 
Dieselbe primitive, nachlässige und unvollkommene 
Auffassung der Data sinnlicher Erfahrung hat die fernere 
Annahme entstehen lassen, dass alle physikalische Wirkung 
durch Stoss vor sich gehe. Die einzige Einwirkung zwischen 
Körpern, die durch die Sinne des Gesichtes und Gefühles 
direkt wahrnehmbar ist, ist die Veränderung in dem Zu- 
stande der Ruhe oder Bewegung durch Stoss. Ein Stoss 
ist somit die früheste und vertrauteste aller beobachtbaren 
Wirkungen eines Körpers auf einen anderen. Und wenn 
ein Stoss zwischen zwei sich mit verschiedenen Geschwindig- 
keiten bewegenden festen Körpern, oder (was dasselbe ist) 
zwischen einem ruhenden und einem bewegten festen Körper 
stattfindet, sieht der gewöhnliche Beobachter nicht mehr 
als eine Verdrängung des einen Körpers durch den anderen 
und eine direkte Übertragung von Bewegung. Von dieser 
Verdrängung und Übertragung nimmt man an, dass sie 
augenblicklich geschehe, und von den Körpern, dass sie 
absolut starr sind. Aber die Beobachtung dieser Thatsache 
ist ebenso roh, wie ihre Deutung ungenau. Ein sorgfältigeres 
Studium der Erscheinung zeigt, dass es keine derartige 
unvermittelte Verdrängung gibt; dass keine direkte Über- 
tragung von Bewegimg stattfindet*, dass die Körper nicht 
absolut starr sind; dass der scheinbar einfache Stoss fester 
Körper eine sehr verwickelte Reihe oder Gruppe von Er- 
eignissen ist, die nicht nur direkte Wirkung und Gegen- 
wirkung, sondern auch abwechselnde Zusammendrückung 
und Ausdehnung, ein Lösen und Anziehen der Kohäsions- 
und krystallischen Bande, Umformungen von geradliniger 
in schwingende, von Massen- in Molekularbewegung, Ent- 
wicklung und Verbrauch von Energie — kurz, momentane, 



i84 -^/. Kapitel, 

wenn nicht beständige Veränderungen fast aller Eigen- 
schaften der Körper in sich schliesst, zwischen denen der 
Stoss stattfindet. Was will nun in Anbetracht dessen das 
Verlangen der * mechanischen Atomtheorie heissen , keine 
andere Einwirkung von Körpern zuzulassen als die durch 
Stoss? Offenbar nichts weniger, als dass die ersten rudi- 
mentären und unvernünftigen Äusserungen des ungeschulten 
Wilden für immer die Grundlage jeder möglichen Wissen- 
schaft zu bilden hätten. 

Nehmen wir an, Hobbes wäre mit den Umständen über 
Ursprung und Umformung der Bewegung, wie sie durch 
Beobachtung und Experiment in neuerer Zeit ans Licht 
gebracht worden sind, vertraut gewesen; nehmen wir an, 
er wäre fähig gewesen, so klar wie Helmholtz und Mayer, 
oder wie Thomson und Joule nicht nur die Bewegung 
unseres Planeten um seine Axe und um die Sonne, sondern 
auch jede Störung derselben — jeden durch eine lebende 
Hand erteilten Schlag und jede durch den Fall oder Wurf 
unbelebter Masse erzeugte Erschütterung — bis zu der 
undifferentiierten Energie eines gasigen Ursphäroids zurück- 
zuverfolgen, aus dem sich Sonne und Erde allmählich nieder- 
geschlagen oder entwickelt haben sollen-, nehmen wir an, 
seine Gedanken wären, sobald er die Ersclieinung des 
Stosses zwischen zwei festen Körpern und die scheinbare 
Übertragung sichtbarer Bewegung von dem einen auf den 
anderen beobachtet hätte, unwillkürlich auf die Urform 
dieser Erscheinung verfallen, die abwechselnde Zusammen- 
«iehung und Ausdehnung eines formlosen beweglichen 
Gases: würde er dann den Satz geschrieben haben, dass 
„es keine andere Ursache von Bewegung geben könne 
als die eines anstossenden und bewegten Körpers :" . 

Die logische und mathematische Unzulässigkeit der 
Annahme von der absoluten Starrheit ausgedehnter Atome 
oder Molekeln wurde in der ersten Hälfte des i8. Jahr- 



Charakter v. Ursp)'ung der mechan. Theone (Forts,), 185 

hunderts durch Johann Bernoulli hervorgehoben, der ge- 
zeigt hat, dass sie den Begriff einer unendlich grossen 
Widerstandskraft gegen Deformation oder Kompression be- 
dingen würde. Und dass der feste Zustand nicht die ein- 
fachste, sondern die verwickelteste Phase materiellen Zu- 
sammenhanges darstellt, ist vor fast 60 Jahren mit Nach- 
druck von Fries hervorgehoben worden, der allen Atom- 
theorieen vorwarf, dass „sie das, was das schwierigste ist, 
nämlich den Bestand fester Formen als gegeben und als 
Ausgangspunkt der Erklärung annehmen," ®) während „die 
grosse Schwierigkeit der mathematischen Naturphilosophie 
in der Möglichkeit starrer Körper bestehe." '^) 

Die absolute Starrheit der Materie ist eine der Formen, 
in denen der Pseudobegriff eines „Ding an sich" oder eines 
„reinen Seins" greifbare Gestalt unter Missachtung der 
wesentlichen Relativität der materiellen Dinge angenommen 
hat, zu deren Diskussion ich mich im nächsten Abschnitt 
wende. 



^) Fries, Mathematische Naturphilosophie (Heidelberg 1822), 
S. 446. 

') Id. ib., S. 616. Es mag bemerkt werden, dass hier Fries 
die früher citierten Beobachtungen von Cournot anticipiert. 



XII. 

Charakter und Ursprung der mechanischen Theorie 
(Fortsetzung). Darlegung ihres vierten metaphy- 
sischen Grundfehlers. 

Die Realität aller Dinge, welche Gegenstand der Er- 
kenntnis sind oder sein können, beruht auf ihren gegen- 
seitigen Beziehungen oder besteht vielmehr in denselben. 
Ein Ding an und für sich kann weder aufgefasst noch be- 
griffen werden; seine Existenz ist weder eine Vorstellung 
der Sinne noch eine Äusserung des Denkens. Dinge sind 
unSi lediglich durch ihre Eigenschaften bekannt; und die 
Eigenschaften der Dinge sind nichts anderes als ihre gegen- 
seitigen Einwirkungen und Beziehungen. „Jede Eigenschaft 
oder Qualität eines Dinges," sagt Helmholtz^) (bei der 
Besprechung der eingewurzelten Vorurteile, nach denen die 
Eigenschaften der Dinge analog oder identisch mit unseren 
Vorstellungen von denselben sein sollen), „ist in Wirklich- 
keit nichts anderes als die Fähigkeit desselben auf andere 
Dinge gewisse Wirkungen auszuüben. Die Wirkung ge- 
schieht entweder zwischen den gleichartigen Teilen desselben 
Körpers, wovon die Verschiedenheiten ihres Aggregatzu- 
standes abhängen, oder schreitet, wie die chemischen Re- 
aktionen, von einem Körper zu dem anderen, oder sie ge- 
schieht auf unsere Sinnesorgane und äussert sich dann durch 
Empfindungen, wie die, mit denen wir es hier zu thun 
haben. (Gesichtsempfindungen.) Eine solche Wirkung nennen 

^) Die neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens. Pop. 
wiss. Vorträge II, 55 ff. [Vorträge und Reden, I. 321, Anm. d. Her.]. 



Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.). 187 

wir Eigenschaft, wenn wir das Reagens, an dem sie 
sich äussert, als selbstverständlich im Sinne behalten, ohne 
es zu nennen. So sprechen wir von der Löslichkeit einer 
Substanz, das ist ihr Verhalten gegen Wasser; wir sprechen 
von ihrer Schwere, das ist ihre Anziehung gegen die Erde, 
und ebenso nennen wir sie mit demselben Rechte blau, 
indem dabei als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass 
es sich bloss darum handelt, ihre Wirkung auf ein normales 
Auge zu bezeichnen. Wenn aber überall, was wir eine 
Eigenschaft nennen, immer eine Beziehung zwischen zwei 
Dingen betrifft, so kann eine solche Wirkung natürlich nie 
allein von der Natur des einen Wirkenden abhängen, sondern 
sie besteht überhaupt nur in Beziehung auf und hängt ab 
von der Natur eines zweiten, auf welches gewirkt wird. Es 
hat also gar keinen reellen Sinn, von Eigenschaften des 
Lichtes reden zu wollen, die ihni an und für sich zukämen, 
unabhängig von allen anderen Objekten, und die durch 
die Empfindungen des Auges wieder dargestellt werden 
sollen. Der Begriff solcher Eigenschaften ist ein Wider- 
spruch in sich ; es kann solche überhaupt nicht geben ; 
und es kann deshalb auch nicht die Übereinstimmung der 
Farbenempfindungen mit solchen Qualitäten des Lichts ver- 
langt werden." 

Die W'ahrheit, welche diesen Sätzen zu Grunde liegt, 
ist von so ungeheurer Tragweite, dass es schwer möglich 
ist, in ihrer Verkündigung zu überschwänglich oder in ihrer 
Erläuterung an Beispielen zu verschwenderisch zu sein. Die 
wirkliche Existenz der Dinge reicht gerade so weit, als 
deren qualitative und quantitative Bestimmungen. Beide 
sind ihrer Natur nach relativ, indem sich die Qualität aus 
der gegenseitigen Wirkung ergibt, und die Quantität ein- 
fach ein Verhältnis von Gliedern vorstellt, von denen keines 
absolute Bedeutung besitzt. Jedes objektiv existierende 
Ding ist somit ein Glied in einer unendlichen Reihe gegen- 



•i88 A7/. Kapitel. 

seitig von einander abhängiger Verwickelungen ; andere 
Formen von Realität sind der Erfahrung wie dem Denken 
unbekannt. Es gibt keine absolute materielle Qualität, 
keine absolute materielle Substanz, keine absolute physika- 
lische Einheit, kein absolut einfaches physikalisches Wesen, 
keinen absoluten Massstab, weder für die Grösse, noch für 
die Beschaffenheit, keine absolute Bewegung, keine absolute 
Ruhe, keine absolute Zeit, keinen absoluten Raum. Es 
gibt keine Forni materieller Existenz, die ihre eigene Stütze 
oder ihr eigenes Mass ist, und die, sei es in quantitativer, 
sei es in qualitativer Beziehung, anders als im beständigen 
Wechsel, im .unaufhörlichen Fluss von Veränderungen existiert. 
Ein Gegenstand ist gross nur im Vergleich zu einem anderen, 
der als Glied dieser Vergleichung klein ist, jedoch im 
Vergleich zu einem dritten Gegenstand sehr gross sein 
kann; und die Vergleichung, welche die Grösse der Gegen- 
stände bestimmt, findet bloss zwischen denselben und nicht 
zwischen einem derselben oder zwischen allen und einem 
absoluten MassStab statt. Ein Gegenstand ist hart im Ver- 
gleich zu einem zweiten, der weich ist, der jedoch in Ver- 
gleich zu einem dritten noch weicheren gestellt werden 
kann : es gibt eben keinen Normalgegenstand, der entweder 
absolut hart oder absolut weich ist. Ein Körper ist ein- 
fach im Vergleich zu der Verbindung, in die er als Be- 
standteil eintreten kann ; es gibt jedoch kein physisch reales 
Ding utad kann keines geben, das absolut einfach ist. -) : 

*) E'ines der merkwürdigsten Beispiele ontologischer Schluss- 
weise bildet das Argument, das die Existenz absolut einfacher Sub- 
stanzen aus der Existenz zusammengesetzter erschliesst. Leibniz stellt 
diese Beweisführung an die Spitze seiner „Monadologie". „Necesse 
est," sagt er, ,,dari substantias simplices quia dantur compositae ; 
neque enim compositum est nisi aggregatum simplicium." (Leibnitu, 
Opera omnia, ed. Dutens, t. IL, p. 21.) Dieses Enthymem ist aber 
offenbar ein Fehlschluss — ein Trugschluss von der in der Logik 
unter dem Namen eines Fehlers der unterdrückten Relativität bc- 



Charakter ti. Ursprung der mechan, TJieorie (Forts.). 189 

Es mag in diesem Zusammenhange bemerkt werden 
dass nicht nur das Gesetz der Kausalität, der Erhaltung 
der Energie und der sogenannten Unzerstörbarkeit der 
Materie ihre Wurzel in der Relativität aller objektiven Existenz 
haben — indem sie einfach verschiedene Seiten dieser 
Relativität vorstellen — , sondern dass auch Newton's erstes 
und drittes Bewegungsgesetz ebenso wie auch alle Gesetze 
der kleinsten Wirkung in der Mechanik (einschliesslich des 
GAUss'schen Gesetzes des kleinsten Zwanges) blosse Folge- 
sätze desselben Prinzipes sind. Und die Thatsache, dass 
alles in seiner sich offenbarenden Existenz nur eine Gruppe 
von Beziehungen und Gegenwirkungen ist, klärt mit einem 
Schlag die der Natur anhaftende Teleologie auf. 

Obwohl die Wahrheit, dass alle unsere Kenntnis der 
objektiven Welt von der Aufstellung oder Erkennung von 
Beziehungen abhängt, hinlänglich einleuchtend ist und oft 
verkündet worden ist, ist sie doch sowohl von den Männern 
der Wissenschaft wie von den Metaphysikern fast völlig 
ignoriert worden. Bis zum heutigen Tage wird von den 
Physikern und Mathematikern, nicht minder wie von den 
Metaphysikern an dem Glauben festgehalten, dass alle Realität 
in letzter Linie eine absolute ist. Und auf dieser. Annahme 
wird am strengsten von denen beharrt, deren wissenschaft- 
liche Überzeugung mit dem Satze beginnt, dass alle unsere 
Kenntnis physikalischer Dinge aus der Erfahrung stammt. 
So behauptet der Mathematiker, der die Giltigkeit dieses 
Satzes voll anerkennt und gleichzeitig zugibt, dass wir keine 
andere wirkliche Kenntnis des Bewegungszustandes der 
Körpier besitzen und besitzen können als in Bezug auf 
andere Körper,, dessenungeachtet, dass Ruhe und Bewegung 



kannten Art. Die Existenz einer z< sammengesetzten Substanz beweist 
sicherlich die Existenz von Bestandteilen, die im Vergleich zu 
dieser Substanz einfach sind. Doch sie beweist gar nichts über 
die Einfachheit dieser Teile an sich. 



190 XI L Kapitel. 

bloss insofern reell sind, als sie und ihre Elemente, Raum 
und Zeit, absolut sind. Der Physiker erinnert uns bei einem 
jedem Schritte, dass auf dem Gebiete seiner Forschungen 
es keine Wahrheiten a priori gibt, und dass nichts von der 
materiellen Welt bekannt ist, ausser was durch Beobachtung 
und Experiment ermittelt wird; er verkündet dann als das 
einmütige Ergebnis seiner Beobachtungen und Experimente, 
dass alle Formen materieller Existenz zusammengesetzt und 
veränderlich sind ; und doch behauptet er , dass nicht nur 
die Gesetze der Veränderung konstant sind, sondern auch 
dass die reellen Elemente der materiellen Welt absolut ein- 
fache, unveränderliche, individuelle Dinge sind. 

Die Annahme, dass alle physische Realität in letzter 
Linie absoluter Natur ist — dass das materielle Weltall 
ein Aggregat absolut konstanter physischer Einheiten ist, 
welche an sich in absoluter Ruhe sich befinden, deren Be- 
wegung indessen, wiewohl sie übertragen ist, in Ausdrücken 
des absoluten Raumes und der absoluten Zeit messbar ist — 
bildet die wahre logische Grundlage der mechanischen Atom- 
theorie. Und diese Annahme ist identisch mit jener, welche 
allen metaphysischen Systemen zu Grunde liegt, mit dem 
•einzigen Unterschiede, dass in einigen dieser Systeme das 
physische Substrat der Bewegung (die sogenannte „Substanz" 
der Dinge) nicht in individuelle Atome spezialisiert erscheint. 

Um zu zeigen, in welch unabwendbarer Weise sich 
4as ontologische Vorurteil, dass nichts physisch reell ist, 
was nicht absolut ist, in der Wissenschaft während der drei 
letzten Jahrhunderte behauptet hat, nehme ich mir vor, 
einen kurzen Überblick über die Lehren einiger der be- 
rühmtesten Mathematiker und Physiker über Raum und 
Bewegung (und gelegentlich auch über die Zeit) zu geben, 
wobei ich mit denen des Descartes beginne. 

In den einleitenden Teilen seiner Principia stellt Des- 
cartes in ausdrücklichster Weise fest, dass Raum und Be- 



Charakter u, Ursprung der mec?ian. Theorie (Forts,), igi 

wegung wesentlich relativ sind. „Damit der Platz (eines 
Körpers) bestimmt werden könne/* sagt er, ^) „müssen wir 
ihn auf andere Körper beziehen , die wir als unbeweglich 
betrachten mögen, und je nachdem wir ihn auf verschiedene 
Körper beziehen,* können wir sagen, dass dasselbe Ding 
seinen Platz ändert und nicht ändert. Wenn sich ein Schiff 
längst des Ufers bewegt, so bleibt der am Heck Sitzende 
stets an demselben Orte im Vergleich zu den Teilen des 
Schiffes, zu denen er in gleicher Lage verbleibt, ändert 
aber unaufhörlich, seinen Ort in Bezug auf die Küsten . . . 
Und wenn wir ausserdem zugeben, dass sich die Erde be- 
wegt und zwar genau so von West nach Ost rückt, als sich 
das Schiff unterdessen von Ost nach West bewegt, werden 
wir wieder sagen, dass der, wer am Heck sitzt, seinen Platz 
nicht ändert, weil wir ihn auf einen unbeweglichen Punkt 
am Himmel beziehen. Wenn wir aber endlich zugeben, 
dass im ganzen Weltall keine wirklich unbeweglichen Punkte 
gefunden werden können, was, wie ich später zeigen werde, 
wahrscheinlich ist, müssen wir zu dem Schlüsse gelangen, 
dass es keinen festen Ort ausser einen gedachten gibt.'*^) 
Behauptungen ähnlichen Sinnes finden sich in ver- 
schiedenen anderen Teilen desselben Buches. ^) Und vom 
Räume zweifelt Descartes nicht, dass er nichts an sich 
sei, und dass ein „leerer Raum** eine contradictio in ad- 



») Princ. II, § i8. 

*) Die Illustrierung der Relativität der Bewegung durch die 
Bewegung eines Schiffes kehrt immer wieder, wo auf die im Text 
erörterte Frage Bezug genommen wird. Vgl. Leibniz, Opp. ed. Erd- 
mann, p. 604 ; Newton, Princ, Def. VIII, Schol. 3 ; Euler, Theoria 
motus corporum solidorum, vol. I, 9, 10; BERKELEY, Principles of 
Human Knowledge, § 114; Kant, Metaphysische Anfangsgründe der 
Naturwissenschaft, Phor. Grundsatz I; Cournot, De l'Enchainement, 
etc., vol. I, p. 56; Herbert Spencer, First Principles, chapter III, 
§ 17 u. s. w. 

^) Princ, II, 24, 25, 29 etc. 



192 XIL Kapitel. 

jecto ist — dass, wie sich Sir John Hkrschel ausdrückt, ") 
„wenn der Zollstab nicht dazwischen wäre, sich die beiden 
Enden desselben auf demselben Orte befinden würden." 
Im weiteren Verlaufe der Diskussion, während der er mittler- 
weüe erklärt hatte, dass Gott stets die gleiche Bewegungs- 
grösse im Weltall erhält, nimmt er es jedoch auf einmal 
als zugestanden an, ') dass Bewegung und Raum absolute 
und somit reelle Wesen sind. 

Diese Inkonsequenz Descartes' ist von Leihniz streng 
getadelt worden. „Es folgt," sagt Leibniz, ®) „dass Bewegung 
nichts als Ortsveränderung ist und daher, so weit als es sich 
um Erscheinungen handelt, in einer blossen Beziehung be- 
steht. Dies erkennt auch Cartesius an; aber im Verlaufe 
seiner Entwicklungen vergisst er seine eigene Definition 
und stellt sein Bewegungsgesetz auf, als ob Bewegung 
etwas reelles und absolutes wäre." Wie bemerkt 
werden wird, nimmt hier Leibniz es als etwas selbstverständ- 
liches an, dass das, was reell ist, auch absolut ist. In Anbetracht 
dessen ist es kaum überraschend, dass er in dieselbe In- 
konseciuenz verfällt wie Descartes und in seinen Briefen" 
an Clarke von einem „unbeweglichen Raum" und einer 
„absolut wirklichen Bewegung von Körpern" spricht. ^*) 

Newton unterscheidet in dem grossen Scholium am 
Schluss der den Prinzipien vorgedruckten ,;Definitionen" 
scharf zwischen absoluter und relativer Zeit und Bewegung. 
„Die absolute, wahre und mathematische Zeit," erklärt er, ^ ") 
„fliesst an sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung auf 
irgend ein Aussending gleichmässig dahin und wird auch 
Dauer genannt; die relative, scheinbare und gewöhnliche 



*) Familiär Lecturcs, p. 455. 

') Princ. II, i*§ 37-39. 

**) Leibniz, Opp. math.-, ed. Gerhardt, sect. 11, Vol. II, p.'247.^ 

^) Opp. cd. Erdmann, pp. 766, 770. . ' '; 

^^) Princ. (cd. Lc Seur & Jacq.), p. ^. • * 



Charakter w, Ursprung der median^ Theorie (Forts.), 193 

Zeit ist irgend ein sinnliches und äusseres, genaues oder 
ungleichmässiges Mass der Dauer vermittels einer Bewegung, 
das gewöhnlich für die wahre Zeit gehalten wird . . . Die 
absolute Zeit unterscheidet sich in der Astronomie von der 
relativen durch die Gleichung der gemeinen Zeit. Denn 
die natürlichen Tage, welche bei der gewöhnlichen Messung 
der Zeit als gleich genommen werden, sind ungleich lang . . . 
Es kann sein, dass es keine gleichförmige Be- 
wegung gibt, durch welche die Zeit genau ge- 
messen werden könnt e." ^ ^) 

„Absoluter Raum, seiner Natur nach ohne Bezug auf 
ein Aussending, bleibt sich stets ähnlich und unbeweglich; 
von diesem (absoluten Räume) ist der relative Raum irgend 
ein bewegliches Mass oder eine Abmessung dieses Raumes, 
die durch ihre Lage zu anderen Körpern von unseren 
Sinnen bestimmt wird und gewöhnlich für den unbeweg- 
lichen Raum genommen wird...^^ Wir definieren alle 
Orte durch die Entfernungen der Dinge von einem ge- 
gebenen Körper, den wir als unbev/eglich ansehen ... Es 
mag sein, dass es keinen wirklich ruhenden Körper gibt, 
auf welchen die Orte und Bewegungen zu beziehen wären." *^) 

Absolute Bewegung ist nach Newton „die Übertragung 
eines Körpers von einem absoluten Orte auf einen anderen" 
und relative Bewegung „die Übertragung eines Körpers von 
einem relativen Orte an einen anderen . . ." „Absolute 
Ruhe und Bewegung unterscheiden sich von relativer Ruhe 
und Bewegung durch ihre Eigenschaften und durch ihre 
Ursachen und Wirkungen. Es ist eine Eigentümlichkeit 
der Ruhe, dass Körper, die sich wirklich in Ruhe befinden, 
in Bezug auf einander in Ruhe verbleiben. Während es 
nun möglich ist, dass in den Gegenden der Fixsterne oder 

^*) L. c, p. 10. 
^*) L. c, p. 9. 
^*) Ib., p. 10. 
StalLO, Begriffe u. Theorieen. 13 



194 -X^//. Kapitel, 

jenseits derselben es einen Körper gibt, der sich in absoluter 
Ruhe befindet, ist es trotzdem unmöglich, aus den relativen 
Orten der Körper in unseren Gegenden zu erkennen , ob 
ein solcher entfernter Körper in der gegebenen Lage ver- 
harrt, und ob daher die wahre Ruhe aus der gegenseitigen 
Lage derselben definiert werden kann" (d. h. aus der Lage 
der Körper in unseren Gegenden) . . . „Es ist eine Eigen- 
schaft der Bewegung, dass die Teile, welche ihre gegebenen 
Lagen zu den Ganzen beibehalten, an deren Bewegung teil- 
nehmen. Denn alle Teile rotierender Körper streben sich 
von der Umdrehungsaxe zu entfernen und das Bewegungs- 
moment bewegter Körper entsteht aus dem Bewegungs- 
momente der Teile. Wenn sich daher die umgebenden 
Körper mit bewegen, befinden sich die, welche sich mit 
bewegen, mit ihnen in relativer Ruhe. Und aus diesem 
Grunde kann wahre und absolute Bewegung 
nicht durch deren Übertragung aus benach- 
barten Körpern, die als ruhend angesehen 
werden, definiertwerden...^*) Die Umstände, durch 
die sieh wahre und relative Bewegungen von einander unter- 
scheiden, sind die auf die Körper zur Erzeugung von Be- 
wegung einwirkenden Kräfte. Wahre Bewegung wird bloss 
durch Kräfte, die auf die bewegten Körper einwirken, er- 
zeugt oder verändert; relative Bewegung kann aber ohne 
der Wirkung von Kräften erzeugt oder verändert werden. 
Denn es reicht aus, dass Kräfte auf andere Körper ein- 
wirken, auf die Bezug genommen wird, so dass durch deren 
Nachgeben eine Veränderung der Beziehung entsteht, in 
der die relative Bewegung oder Ruhe von Körpern be- 
steht . . . ^^) Die Wirkungen, durch die sich absolute und 
relative Bewegung von einander unterscheiden, sind die 



^*) Ib., pp. 10, II. 
") L. c, p. II. 



iJluirakter u. Urspi-ung der median' Theorie (Forts,), 195 

Xräfte, vermöge welcher sich die Körper von ihrer Um- 
^rehungsaxe entfernen. Denn bei einer bloss relativen 
drehenden Bewegung sind diese Kräfte gleich Null, während 
sie bei einer wahren und absoluten Bewegung je nach der 
Bewegungsgrösse grösser oder kleiner sind." ^•) 

Es ist klar, dass in allen diesen Definitionen Newton 
sowie Descartes und Leibniz die wirkliche Bewegung als 
«ine absolute annimmt, und dass er die Ausdrücke „rela- 
tive Bewegung" und „scheinbare Bewegung" streng 
synonym nimmt ungeachtet seines ausdrücklichen Eingeständ- 
nisses (an den von mir hervorgehobenen Stellen), dass es 
in Wirklichkeit weder eine absolute Zeit noch einen ab- 
soluten Raum geben könne. Dieses Zugeständnis führt 
natürlich zu dem weiteren, dass es in Wirklichkeit keine 
absolute Bewegung geben kann; vor diesem schreckt' aber 
Newton zurück, weil er zu dem Auskunftsmittel greift, trotz 
der möglichen Nichtexistenz absoluter Zeit und absoluten 
Raumes einen haltbaren Grund für die Unterscheidung 
^zwischen relativer und absoluter Bewegung in dem, was er 
deren Ursachen und Wirkungen nennt, zu suchen. Doch 
diese Ursachen und Wirkungen dienen nicht dazu , die 
Telative von der absoluten Lageänderung zu unterscheiden, 
sondern einfach dazu, die Veränderung der Lage eines 
Körpers zu einem zweiten von der gleichzeitigen Verände- 
rung- der Lage beider in Vergleich zu einem dritten zu 
unterscheiden. ' ' 

Newton's Lehre ist Ibis zu ihren letzten Konsequenzen 
'von Leonhard Euler verfolgt worden. In dem ersten 
Kapitel seiner „Theoria motus Corpbrum Solidoruin** ^ '') be- 
ginnt Eüler imit der nachdrücklichen Versicherung, dass 
Ruhe und Bewegung, so weit als sie aus der sinnlichen 



*») Ib. 

*") cap. I, explic. 2. 



13* 



196 XIL Kapitel, 

Erfahrung belcannt sind, bloss relativ sind. Nachdem er 
auf den typischen Fall eines Schiffers in seinem Schiffe 
"Bezug genommen, fahrt er folgendermassen fort: ,,Der hier 
besprochene Begriff der Ruhe ist daher relativer Natur, da 
er ja nicht lediglich aus dem Zustande des Punktes O, 
dem er zugeschrieben wird, hergeleitet ist, sondern aus 
einer Vergleichung mit irgend einem anderen Körper A . . . 
Daraus erhellt sofort, dass derselbe Körper, welcher in Bezug 
auf einen Körper A sich in Ruhe befindet, verschiedene 
Bewegungen in Bezug auf andere Körper besit-^t . . . Was 
von relativer Ruhe gesagt worden ist, kann leicht auf re- 
lative Bewegung angewandt werden ; denn wenn ein Punkt O 
seinen Ort mit Bezug auf einea Körper A beibehält, sagt 
man, dass er sich in relativer Ruhe befindet, und wenn er 
kontinuierlich seinen Platz ändert, sagt man, dass er sich 
in relativer Bewegung befinde ...^®) Deshalb unter- 
scheiden sich Ruhe und Bewegung nur dem 
Namen nach und sind einander nicht in Wirk- 
lichkeitentgegengesetzt, da ja beide zu gleicher 
Zeit demselben Punkte zugeschrieben werden 
können, je nachdem derselbe mit verschiede-»- 
nen Körpern verglichen wird. Bewegung und 
Ruhe unterscheiden sich nicht anders von ein- 
ander, als eine Bewegung von einer anderen."**) 
Nachdem auf diese Weise Euler die wesentliche Re- 
lativität von Ruhe und Bewegung ausdrücklich anerkannt 
hat, schreitet er in dem zweiten Kapitel „Über die inneren 
Prinzipien der Bewegung" zur Betrachtung der Frage, ob 
Ruhe und Bewegung sich von einem Körper ohne Bezug 
auf andere Körper aussagen lassen oder nicht. Auf diese 
Frage gibt er ohne Zögern eine bejahende Antwort, indem 



'^) Ib., p. 7. 
loj Ib., p. 8. 



Cliarakter u. Ursprung der mechan. Theorie (Forts.), 197 

er es als Axiom hinnimmt, dass „jeder Körper, selbst ohne 
Bezug auf andere Körper, sich entweder in Ruhe oder in 
Bewegung, d. h. in absoluter Ruhe oder absoluter Bewegung 
befinde . . . **^) Insolang wir den Sinnen folgten, haben wir 
keine andere Bewegung oder Ruhe erkannt als» die in Bezug 
auf andere Körper, die wir daher als relative Bewegung 
und Ruhe bezeichnet haben. Wenn wir nun aber alle 
Körper bis auf einen wegdenken und wenn auf diese Weise 
die Bezugnahme, durch die wir bisher Ruhe und Bewegung 
unterschieden haben, unmöglich geworden ist, entsteht zu- 
erst die Frage, ob der Schluss über Ruhe oder Bewegung, 
des zurückbleibenden Körpers noch zu Recht besteht. Denn 
wenn dieser Schluss nur aus einer Vergleichung des Ortes 
des betreffenden Körpers mit jenen anderer Körper ge- 
zogen werden kann, so folgt, dass, wenn diese Körper fort 
sind, auch der Schluss mit ihnen verschwinden muss. Wie- 
wohl wir aber von der Ruhe oder Bewegung 
eines Körpers ausser mit Bezug auf andere 
Körper nichts wissen, darf man dessenunge- 
achtet nicht schliessen, dass diese Dinge (Ruhe 
und Bewegung) an sich nichts wären als eine 
blosse vom Verstände. aufgestellte Beziehung, 
und dass es nichts den Körpern an sich Anhaf- 
tendes gäbe, das unseren Gedanken von Ruhe 
und Bewegung entsprechen würde. Denn wenn 
wir auch nicht im Stande sind, die Grösse anders als durch 
Vergleichung zu erkennen, bleibt noch immer, wenn 4iQ 
Dinge, die als Massstab der Vergleichung dienen, nicht 
mehr da sind, in dem Körper xias fundamentum quanti-. 
t^tis, so zu sagen, zurück; denn wenn der Körper sich 
ausdehnt oder zusammenzieht, würde eine derartige Aus- 

*^) „Oinne corpus , etiam sine respectu ad alia corpora , vel ' 
quiescit vel movetur, hoc est, vel absolute quiescit, vel a^bsolute 
movetur.*' Ib., p. 30 (cap. II, axioma 7). 



198 XU. Kapitel 

dehnung oder Zusammenziehung als eine wahre Veränderung 
betrachtet werden. Wenn daher nur ein Körper existieren 
würde, hätten wir zu sagen, dass er sich entweder in Be- 
wegung oder in Ruhe befinde, da nicht beides oder keines 
von beiden angenommen werden könnte. Daraus schliesse 
ich, dass Ruhe undBewegung nicht blosseGer 
dankendinge sind, die aus der Vergleichung: 
allein entstehen, so zwar, dass es nichts de» 
Körpern Anhaftendes gäbe, das ihnen ent- 
sprechen würde, sondern dass mit Recht mit Bezug- 
auf einen alleinstehenden Körper gefragt werden könne, ol> 
er sich in Ruhe oder Bewegung befinde ... Da wir so- 
mit bezüglich eines einzelnen Körpers mit Recht , ohne 
Bezugnahme auf andere Körper oder unter der Voraus- 
setzung, . dass diese verschwunden sind, fragen können, ob 
er sich in Ruhe oder Bewegung befinde, müssen wir not- 
wendigerweise entweder das eine oder das andere annehmen. 
Was aber diese Ruhe oder Bewegung bedeuten soll an- 
gesichts der Thatsache, dass es in diesem Falle keine Ver- 
änderung des Ortes mit Bezug auf andere Körper gibt^ 
können wir uns nicht denken ohne der Zulassung eines ab- 
soluten Raumes, in dem unser Körper irgend einen ge- 
gebenen Platz annimmt, aus dem er auf andere Plätze 
übergehen kann." -^) Dementsprechend beharrt Euler streng 
auf der Notwendigkeit der Forderung eines absoluten un- 
beweglichen Raumes. „Wer immer,** erklärt er, „den ab- 
soluten Raum leugnet, verfällt in die schwersten Verlegen- 
heiten. Da er sich genötigt sieht, absolute Ruhe und Be- 
wegung als leeren Schall ohne Sinn zu verwerfen, ist er 
nicht nur gezwungen, die Gesetze d^r Bewegung zu ver- 
werfen, sondern auch zu behaupten, dass es keine Gesetze 
der Bewegung gebe. Denn wenn die Frage, die uns zu 



21 



) Theoria motus etc., p. 31. 



Charakter u. Ursprung der mechan, Theorie (Forts.), 199 

diesem Punkt geführt hat: Was ist der Zustand eines ver- 
einzelten von seinen Verbindungen mit anderen Körpern 
abgeschnittenen Körpers? absurd ist, dann werden auch 
die Dinge, die aus der Einwirkung anderer Körper auf 
diesen sich ergeben, ungewiss und unbestimmbar, und auf 
diese Weise wird alles und jedes als zufallig und ohne ver- 
nünftigen Grund geschehen angenommen werden müssen." --) 
. Dass die Grundlage dieses ganzen Raisonnements eine 
rein ontologische ist, ist klar. Und als die Denker des 
18. Jahrhunderts der Trugschlüsse der ontologischen Speku- 
lation gewahr wurden, konnte die üngesundheit von Euler's 
„Axiom'V dass Ruhe und Bewegung von aller Bezugnahme 
unabhängige wesentliche Merkmale der Substanz seien, 
schwerlich sich ihrer Kenntnisnahme entziehen. Trotzdem 
waren sie nicht im Stande, sich völlig von Euler's onto- 
logischen Vorurteilen zu emanzipieren. Sie verwarfen nicht 
auf einmal sein Dilemma als unbegründet — dadurch dass 
sie geleugnet hätten, dass Bewegung und Ruhe nicht reell 
sein können, ohne absolut zu sein — , sondern versuchten 
die absolute Realität von Ruhe und Bewegung mit der in 
der Erscheinung hervortretenden Relativität dadurch in Ein- 
klang zu bringen, dass sie einen absolut ruhenden Punkt 
im Räume verlangten, auf den die Lagen aller Körper be- 
zogen werden könnten. An erster Stelle unter denen, die 
diesen Versuch gemacht haben , steht Kant. -^) In dem 



«2) Ib., p. 32. 

2^) Es ist bemerkenswert, wie viele der wissenschaftlichen Ent- 
deckungen , Spekulationen und Phantasien der Gegenwart in den 
Schriften Kant's antizipiert oder wenigstens vorhergesehen erscheinen. 
Einige derselben werden von Zöllner (Natur der Kometen, S. 455 ff.) 
aufgezählt — darunter die Beschaffenheit und die Bewegung des Fix- 
sternsystems ; der nebelige Ursprung von Planeten- und Sternsystemen ; 
der Ursprung, die Beschaffenheit und die Rotation der Saturnringe 
und die Bedingungen ihrer Stabilität; die Nichtübereinstimmung des 
Mondschwerpunktes mit dem geometrischen Mittelpunkt; die physi- 



200 XII. Kapitel. 

siebenten Kapitel seiner „Naturgeschichte des Himmels*' — 
demselben Werke, in dem er fast 50 Jahre vor Laplace 
die ersten Grundzüge der Nebularhypothese gegeben hatte — 
versucht er zu zeigen, dass es im Weltall irgendwo einen 
grossen Zentralkörper gebe, dessen Schwerpunkt der Kardinal- 



kalischc Beschaffenheit der Kometen; der hemmende Einfluss der 
Gezeiten auf die Rotation der Erde ; die Theorie der Winde • und 
Dove's Gesetz. Fritz Schulze hat gezeigt (Kant und Darwin, 
Jena 1875), ^^^^ Kant einer der Vorläufer Darwin's war. Dies- 
bezüglich ist es auffallend, eine (ohne Zweifel ganz zufallige) Über- 
einstimmung an dem Beispiele zu bemerken , das sowohl Kant wie 
A. R. Wallace zum Zwecke der Illustrierung der „Anpassung durch 
ein allgemeines Gesetz" benützen. Dieser von beiden vorgebrachte 
Fall ist der eines Flussbettes, das nach Ansicht der Teleologen, wie 
Wallace sich ausdrückt (Contributions to the Theory of Natural 
Selection , p. 276 seq.), ,,mit Absicht hergestellt sein muss , da es 
seinen Zweck so gut erfüllt" oder wie Kant sagt „von Gott selbst 
ausgehöhlt sein muss". („Wenn man die physisch-theologischen Ver- 
fasser hört, so wird man dahin gebracht, sich vorzustellen, ihre Lauf- 
rinnen wären alle von Gott ausgehöhlt." Beweisgrund zu einer 
Demonstration des Daseins Gottes, Kant's Werke, I, S. 232.) Selbst 
von den Grillen der modernen transcendalen Geometrie finden sich 
Andeutungen in Kant's Abhandlungen „Von der wahren Schätzung 
der lebendigen Kräfte", Werke V, S. 5 und ,,Von dem ersten Grunde 
des Unterschiedes der Gegenden im Räume", ib., S. 293 — eine 
Thatsache , die sich nicht gut verträgt mit den Bestrebungen jener, 
die, wie J. K. Becker, Tobias, Weissenborn, Krause u. a. sich 
bemüht haben, die kantische Lehre zur Verteidigung des Euklidischen 
Raumes in's Feld zu führen. Es ist wahrscheinlich nicht ohne Be- 
deutung, dass in der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft Kant 
den dritten Paragraphen des ersten Abschnittes der transcendentalen 
Ästhetik weglässt, in dem er die Notwendigkeit der Annahme des 
a priorischen Charakters der Idee des Raumes aus dem Grunde 
betont, dass ohne dieser Annahme die Sätze der Geometrie aufhören 
würden, von apodiktischer Gewissheit zu sein, und dass ,, alles, was 
von den Dimensionen des Raumes gesagt werden könnte, das wäre, 
dass bisher kein Raum von mehr als drei Dimensionen gefunden 
worden ist." 



Gfiarakter u, Ursprung der mechan, Tfieorie (Forts.). 201 

punkt der Beziehung für die Bewegungen sämtlicher Körper 
sei. „Wenn man in dem unermesslichen Räume," heisst 
es bei ihm, ^*) „darin alle Sonnen der Milchstrasse sich 
gebildet haben, einen Punkt annimmt, um welchen durch, 
ich weiss nicht was für eine Ursache, die erste Bildung der 
Natur aus dem Chaos angefangen hat, so wird daselbst die 
grösste Masse, und ein Körper von der ungemeinsten 
Attraktion, entstanden sein, der dadurch föhig geworden, 
in einer ungeheuren Sphäre um sich alle in der Bildung 
begriffene Systeme zu nötigen , sich gegen ihn , als ihren 
Mittelpunkt, zu senken, und um ihn ein gleiches System 
im ganzen zu errichten, als derselbe elementarische Grund- 
stoff, der die Planeten bildete, um die Sonne im kleinen 
gemacht hat." 

Eine der KANi'schen ähnliche Andeutung ist kürzlich 
von Professor C. Neumann gemacht worden, der die Not- 
wendigkeit betont, die Existenz eines absolut starren Körpers 
an einem bestimmten und ständigen Orte im Räume anzu- 
nehmen, auf dessen Mittelpunkt alle Bewegungen bei physi- 
kalischen Betrachtungen zu beziehen wären. Die Richtung 
seines Gedankenganges erhellt aus den nachfolgenden Aus- 
zügen aus seiner Antrittsvorlesung „Über die Prinzipien 
der GALiLEi-NEWTON'schen Theorie":^^) „Die 
Prinzipien der GALiLEi-NEWTON'schen Theorieen bestehen 
in zwei Gesetzen, in dem schon von Galilei ausgesprochenen 
Trägheitsgesetz, und in dem später von Newton hinzu- 
gefügten Anziehungsgesetz . . . Ein in Bewegung gesetzter 
materieller Punkt läuft, falls keine fremde Ursache auf ihn 
einwirkt, falls er vollständig sich selber überlassen ist, in 
gerader Linie fort, und legt in gleichen Zeiten gleiche 
Wegabschnitte zurück. — So lautet das von Galilei 

**) „Naturgeschichte des Himmels," Werke (her. v. Rosenkranz), 
Bd. VI, S. 152. 

**) Leipzig, B. G. Teubncr 1870. 



202 XIL Kapitel 

ausgesprochene Trägheitsgesetz. In dieser Fassung kann 
der Satz als Grundstein eines wissenschaftlichen Ge- 
bäudes, als Ausgangspunkt mathematischer Deduktionen 
unmöglich stehen bleiben. Denn er ist vollständig unver- 
ständlich. Wir wissen ja nicht, was unter einer Be- 
wegung in gerader Linie zu verstehen ist; oder wir 
wissen vielmehr, dass diese Worte in sehr verschiedenartiger 
Weise interpretiert werden können, unendlich vieler Be- 
deutungen fähig sind. Denn eine Bewegung z. B., welche 
von unserer Erde' aus betrachtet, geradlinig ist, wird 
von der Sonne aus betrachtet krummlinig erscheinen, — 
und wird, wenn wir unseren Standpunkt auf den Jupiter, 
auf den Saturn, auf andere Himmelskörper verlegen, jedes- 
mal durch eine andere krumme Linie repräsentiert sein. 
Kurz ! Jede Bewegung, welche mit Bezug auf einen Himmels- 
körper geradlinig ist, wird mit Bezug auf jeden anderen 
Himmelskörper krummlinig erscheinen/' 

„Jene Worte des Galilei, dass ein sich selber tiber- 
lassener Punkt in gerader Linie dahingeht, treten uns 
also entgegen als ein Satz ohne Inhalt, als ein in der Luft 
schwebender Satz, der (um verständlich zu sein) noch eines 
bestimmten Hintergrunds bedarf. Irgend ein spezieller 
Körper im Weltall muss uns gegeben sein, als Basis unserer 
Beurteilung, als derjenige Gegenstand, mit Bezug auf welchen 
alle Bewegungen zu taxieren sind, — nur dann erst werden 
wir mit jenen Worten einen bestimmten Inhalt zu verbinden 
im Stande sein. Welcher Körper ist es nun, dem wir diese 
bevorzugte Stellung einräumen sollen? Oder sind vielleicht 
verschiedene Körper anzuführen? Sind vielleicht die 
Bewegungen in der Nähe unserer Erde auf die Erdkugel, 
die Bewegungen in der Nähe der Sonne auf den Sonneu- 
ball zu beziehen?" 

„Leider erhalten wir auf diese Fragen weder bei 
Galilei noch bei Newton eine bestimmte Antwort. Wenn 



Charakter u. Urspnaig der median. Theorie (Forts.). 203 

wir aber das von ihnen begründete und bis auf die heutige 
Zeit mehr und mehr erweiterte theoretische Gebäude auf- 
merksam durchmustern, so können uns seine Fundamente 
nicht länger verborgen bleiben. Wir erkennen alsdann 
leicht, dass sämtliche im Universum vorhandene oder über- 
haupt denkbare Bewegungen zu beziehen sind auf ein und 
denselben Körper. Wo dieser Kprper sich befindet, 
welche Gründe vorhanden sind, einem einzigen Körper eine 
so hervorragende, gleichsam souveräne Stellung einzu- 
räumen, — hierauf allerdings erhalten wir keine Antwort/* 

„Als erstes Prinzip der GAULEi-NEWTON'schen 
Theorie würde daher der Satz hinzustellen sein, dass an 
irgend einer unbekannten .Stelle des Weltraumes ein unbe- 
kannter Körper vorhanden ist, und zwar ein absolut 
starrer Körper, ein Körper, dessen Figur und Dimensionen 
für alle Zeiten unveränderlich sind/* 

„Es mag mir gestattet sein, diesen Körper kurzweg zu 
bezeichnen als den Körper Alpha. Hinzuzufügen würde 
sodann sein, dass unter der Bewegung eines Punktes 
nicht etwa seine Ortsveränderung in Bezug auf Erde oder 
Sonne, sondern seine Ortsveränderung in Bezug auf jenen 
Körper Alpha zu verstehen ist." 

„Von hier aus betrachtet, gewirint nun das GALiLEi'sche 
Gesetz seinen deutlich erkennbaren Inhalt. Es präsentiert 
sich uns als ein z w e i t e s Prinzip, darin bestehend, dass 
ein sich selbst überlassener materieller Punkt in gerader 
Linie fortschreitet, also in einer Bahn dahingeht, die gerad- 
linig ist in Bezug auf jenen Körper Alpha." 

Nachdem so Neumann gezeigt oder zu zeigen ver- 
sucht hat, dass die Realität der Bewegung mit Notwendig- 
keit eine Bezugnahme auf einen starren, unveränderlich in 
seiner Lage im Räume verharrenden Körper erfordert, ver- 
sucht er diese Annahme dadurch zu verifizieren, dass er 
sich selbst die Frage stellt, welche Konsequenzen sich aus 



204 XIL Kapitel. 

der Hypothese der blossen Relativität der Bewegung er- 
geben würden, wenn alle Körper bis auf einen vernichtet 
würden. „Nehmen wir an," fügt er hinzu [S. 27], „dass 
unter den Sternen sich einer befinde, der aus flüssiger 
Materie besteht, und der — ebenso etwa wie unsere Erd- 
kugel — in rotierender Bewegung begriffen ist, um eine 
durch seinen Mittelpunkt gehende Axe. Infolge einer 
solchen Bewegung, infolge der durch sie entstehenden 
Centrifugalkräfte wird alsdann jener Stern die Form eines 
abgeplatteten Ellipsoids besitzen. Welche Form wird 
- — fragen wir nun — der Stern annehmen, falls 
plötzlich alle übrigen Himmelskörper ver- 
nichtet (in nichts verwandelt) würden:" 

„Jene Centrifugalkräfte hängen nur ab von dem Zu- 
stande des Sternes selber; sie sind völlig unabhängig von 
den übrigen Himmelskörpern. Folglich werden — so lautet 
unsere Antwort — jene Centrifugalkräfte und die durch sie 
bedingte ellipsoidische Gestalt ungeändert fortbestehen, 
völlig gleichgiltig, ob die übrigen Himmelskörper fört- 
existieren oder plötzlich verschwinden." 

„Wir können aber, falls die Bewegung als etwas nur 
Relatives, nur als eine relative Ortsveränderung zweier 
Punkte gegen einander, definiert wird, die vorgelegte Frage 
noch von einer anderen Seite her in Erwägung ziehen, und 
gelangen alsdann zu einer ganz entgegengesetzten Antwort. 
Denken wir uns nämlich sämtliche übrigen Weltkörper ver- 
nichtet, so sind jetzt im Universum nur noch diejenigen 
materiellen Punkte vorhanden, aus denen der Stern selber 
besteht. Diese aber besitzen kfeine relative Ortsverände- 
rung, befinden sich also (auf Grund der für den Augen- 
blick acceptierten Definition) in Ruhe. Folglich wird der 
Stern — so lautet gegenwärtig unsere Antwort — von dem 
Augenblick an, wo die übrigen Weltkörper vernichtet sind. 



Charakter u, Ursprung der mechan, Theorie (Forts.), 203^ 

sich im Zustande der Ruhe befinden, mithin die diesem 
Zustande entsprechende Kugelgestalt annehmen." 

„Ein so unleidlicher Widerspruch kann nur dadurch 
vermieden werden, dass man jene Definition, die Bewegung 
sei etwas Relatives, fallen lässt, also nur dadurch, dass 
man die Bewegung eines materiellen Punktes als etwas 
Absolutes auffasst; wodurch man dann zu jenem Prinzip 
des Körpers Alpha hingeleitet wird." 

Welche Antwort ^ann nun auf diese Bedenken Professor 
Neumann's gegeben werden ? Keine, wenn wir die Zulässig- 
keit der Hypothese von der Vernichtung aller Körper im 
Räume bis auf einen und die Zulässigkeit der ferneren 
Annahme zugeben, dass ein absolut starrer Körper mit einem 
absolut fixen Standorte im Weltall möglich ist. Ein solches 
Zugeständnis verbietet sich jedoch durch das allgemeine 
Prinzip der Relativität. In erster Linie würde die Vernich- 
tung aller Körper bis auf einen nicht nur die Bewegung 
dieses einen zurückbleibenden Körpers zerstören und ihn 
zur Ruhe bringen, wie Professor Neumann bemerkt, sondern 
sie würde auch seine wahre Existenz zerstören und in 
ein Nichts verwandeln, was er nicht sieht. Ein Körper 
vermag das System von Beziehungeii , in denen allein sein 
Sein besteht, nicht zu überleben; seine Anwesenheit 
oder Lage im Räume ist ohne Beziehung auf andere 
Körper nicht mehr möglich, als es die Veränderung 
der Lage oder Gegenwart ohne solche Bezugnahme 
ist. Wie überreichlich bereits gezeigt worden ist, sind alle 
Eigenschaften eines Körpers, welche die Elemente seiner 
erkennbaren Anwesenheit im Räume ausmachen, ihrer Natur 
nach Beziehungen und schliessen Glieder in sich, die über 
den Körper selbst hinausgehen. 

In zweiter Linie ist die dem Körper Alpha zugeschriebene 
absolut feste Lage im Räume unter den bekannten Be* 
dingungen der. Realität unmöglich. Die feste Lage eines 



^o6 XII, Kapikl. 

Punktes im Räume bedingt die Beständigkeit der Grösse 
seiner Entfernungen von wenigstens vier festen Punkten im 
Räume, die sich nicht in einer Ebene befinden. Die fixe 
Lage dieser verschiedenen Punkte hängt ab&r wieder von 
der Konstanz der Entfernungen von anderen fixen Punkten 
ab und so weiter ad infinitum. Kurz, die fixe Lage eines 
Körpers im Räume ist nur unter der Voraussetzung der 
absoluten Endlichkeit des Weltalls möglich; und dies führt 
zur Lehre von der wirklichen Krtimrpung des Raumes und 
zu- den anderen Lehren der modernen transcendentalen 
Geometrie, die später zur Erörterung gelangen sollen. 

Es gibt nur eine Möglichkeit, den Verlegenheiten Euler's 
zu entrinnen, und das ist die Annahme, dass die Realität 
von Ruhe und Bewegung, weit entfernt im Absoluten zu 
bestehen, von ihrer Relativität abhänge. Die Quelle dieser 
Verlegenheiten ist leicht zu entdecken. Sie ist in der alten 
metaphysischen Lehre zu finden, dass das Reale nicht nur 
vom Phänomenalen verschieden, sondern sein gerades Gegen- 
teil sei. Erscheinungen sind Äusserungen der ginne, und 
von diesen heisst es, dass sie einander widersprechen und 
daher täuschend seien. Nun gibt es aber in Wahrheit keine 
physische Realität, die nicht phänomenaler Natur wäre. Der 
einzige Zeuge physischer Realität ist die sinnliche Erfahrung. 
Die Behauptung, dass das Zeugnis der Sinne trügerisch sei 
in dem Sinne, wie es von den Metaphysikern behauptet 
worden ist, ist grundlos. Das Zeugnis der Sinne ist ledig- 
lich deshalb widersprechend, weil die momentane Äusserung 
«ines Sinnes unvollständig ist. und der Kontrolle und Ver- 
besserung entweder durch andere Äusserungen desselben 
Sinnes oder durch Äusserungen anderer Sinne bedarf. Wenn 
der Wüstenreisende vor sich einen See erblickt, der be* 
■ständig vor ihm zurückweicht und schliesslich verschwindet, 
indem er sich als ein Erzeugnis der Luftspiegelung erweist, 
so sagt man , däss er durch seine Sinne getäuscht worden 



Charakter u. JJrspmng der median, Tlieorie (Forts.), 207 

ist, da sich ja die angenommene Wassermasse als ein blosser 
Schein ohne Wirklichkeit herausgestellt hat. Allein die 
Sinne haben nicht getäuscht. Der See war ebenso wirk- 
lich als sein Bild. Der Irrtum liegt in den trügerischen 
Schlüssen des Reisenden, der nicht alle Thatsachen in 
Rechnung zieht, indem er die Brechung der vom wirk- 
lichen Gegenstande kommenden Strahlen, durch die deren 
Richtung und die scheinbare Lage des Gegenstandes ver- 
ändert wird, vergisst oder sie nicht kennt. Der wahre 
Unterschied zwischen dem Schein und der Wirklichkeit 
liegt darin, dass ersterer eine unvollständige Sinnesäusserung 
ist, die fälschlicherweise für die vollständige genommen 
wird. Die Täuschung ergibt sich aus dem Umstände, dass 
die Sinne nicht geschickt und erschöpfend befragt worden 
sind und ihre ganze Erzählung nicht gehört worden ist. 
Die überwältigende Macht der herrschenden onto- 
logischen Begriffe' des EuLER'schen Zeitalters über den 
klaren Verstand des grossen Mathematikers zeigt sich am 
auffälligsten in seiner Behauptung, dass ohne Annahme eines 
absoluten Raumes und absoluter Bewegung keine Be- 
wegungsgesetze bestehen könnten, so dass alle Erschei- 
nungen physikalischer Wirkung ungewiss und unbestimmbar 
würden. Wäre diese Argumentation wohl begründet, so 
müsste a fortiori dasselbe von seinen wiederholten Zusiche- 
rungen im ersten Kapitel seines Buches gelten, dass wir 
keine wirkliche Kenntnis von Ruhe und Bewegung ausser 
jener besitzen, die von Körpern herstammt, die sich in 
Bezug auf andere Körper in Ruhe oder Bewegung befinden. 
Euler's Behauptung kann keinen anderen Sinn als den 
haben, dass die Gesetze der Bewegung nicht aufgestellt 
oder bestätigt werden können, wenn wir nicht deren abso- 
lute Richtung und deren absolutes Wachstum kennen. Eine 
solche Kenntnis ist aber, wie er selbst zeigt, unerreichbar. 
Daraus folgt, dass die Aufstellung und Bestätigung der Be- 



2o8 XIL KapiteL 

wegungsgesetze unmöglich ist. Und doch wusste niemand 
besser als Euler selbst, dass alle experimentelle Bestim- 
mung und Bestätigung dynamischer Gesetze, gleich allen 
Erkenntnisakten von der Isolierung der Erscheinungen 
abhängt; dass dieselbe nur dadurch ausgeführt werden 
kann, dass die Wirktmgen gewisser Kräfte von den Wir- 
kungen anderer Kräfte (die aliunde, d. h. durch andere 
Wirkungen zu bestimmen sind), mit denen sie verwickelt 
erscheinen, gesondert werden — ein Verfahren, das in 
vielen Fällen durch den Umstand erleichtert wird, dass diese 
letzteren Wirkungen unmerklich klein sind. Sicherlich hängt 
die Bestätigung des Trägheitsgesetzes durch die Einwohner 
unseres Planeten nicht von ihrer Kenntnis des genauen 
. Masses seiner Winkelgeschwindigkeit um die Sonne in 
einem gegebenen Momente ab! Und die Giltigkeit der 
NEWTON'schen Theorie der Himmelsbewegung wird nicht 
darum in Frage gestellt, weil ihr Urheber annimmt, dass 
der Schwerpunkt unseres Sonnensystems sich in irgend 
einer elliptischen Bahn bewegt, deren Elemente nicht nur 
unbekannt sind, sondern wahrscheinlich niemals werden ent- 
deckt werden ! Ebenso gut könnte auch behauptet werden, 
dass die mathematischen Lehrsätze über die Eigenschaften 
der Ellipse von zweifelhafter Giltigkeit wären, da ja keine 
solche Kurve genau von irgend einem Himmelskörper be- 
schrieben wird, noch auch in exakter Weise von einer 
menschlichen Hand gezogen werden kann! 

Wiewohl wir bei besonderen Denkakten für den Augen- 
blick gezwungen sein können, das Zusammengesetzte als 
einfach, das Veränderliche als konstant, das Vorübergehende 
als beständig und somit in einem gewissen Sinne die Er- 
scheinungen „sub quadam specie absoluti" zu betrachten,*®) 



**) „De natura rationis est res sub quadam aeternitatis specie 
percipere." Spinoza, Eth., Pars II, Prop. XLIV, Coroll. 2. 



Charakter u, Ursprung der mechan. Tfieorie (Forts,), 209 

so ist doch dessen ungeachtet nichts Wahres an der alten 
ontologischen Maxime, dass die wahre Natur der Dinge 
nur durch Entblössung derselben von ihren Beziehungen 
entdeckt werden könne — dass dieselben, um wirklich be- 
kannt zu sein, uns so bekannt sein müssten, wie sie an 
sich sind in ihrer absoluten Existenz. Eine solche Kenntnis 
ist unmöglich, nachdem sich alle Erkenntnis auf eine Er- 
kenntnis von Beziehungen richtet; und diese Unmöglich- 
keit tritt nirgends schärfer hervor, als in der Auseinander- 
setzung, die Newton und Euler von der Realität der Ruhe 
und Bewegung unter den Bedingungen ihrer Bestimmbarkeit 
gegeben haben. 

Natürlich folgt aus der wesentlichen Relativität von 
Ruhe und Bewegung, dass die alte ontologische Unter- 
scheidung zwischen beiden hinfallig wird, und dass in einem 
doppelten Sinne sich die Ruhe von der Bewegung nach 
den Worten Euler's ^'') „so wie eine Bewegung von der 
anderen" unterscheidet, oder, wie es moderne Mathematiker 
und Physiker ausdrücken, „die Ruhe nur ein besonderer 
Fall der Bewegung ist." -^) Und es folgt daraus weiter, 
dass die Ruhe nicht das logische oder kosmologische 
primum materieller Existenz ist^ dass sie nicht den natür- 
lichen und ursprünglichen Zustand des Weltalls vorstellt, 
der keiner Erklärung bedürfen würde, während seine oder 
seiner Teile Bewegung eine solche erheischen sollte. Was 
einer Erklärung bedarf und einer solchen auch fähig ist, 
ist stets eine Veränderung des gegebenen Zustandes rela- 
tiver Ruhe oder Bewegung eines endlichen materiellen 
Systems; die Erklärung besteht immer in der Hervor- 
hebung einer äquivalenten Veränderung in einem anderen 
materiellen System. Die Frage nach dem Ursprünge der 

*') jjNeque motus a quiete aliter differt, atque alius motus ab 
alio." Theoria motus, etc., p. 8. 

'^^) Kirchhoff, Vorl. über math. Physik [Mechanik], S. 32. 
StalLO, Begriffe u. Theorieen. I4 



2IO XIL Kapitel, 

Bewegung im Weltall als einem Ganzen lässt somit keine 
Beantwortung zu, da sie eine Frage ohne verständlichen 
Sinn ist. 

Die nämlichen Betrachtungen, welche die Relativität 
der Bewegung erweisen, bezeugen auch die Relativität ihrer 
begrifflichen Elemente Raum und Zeit. In betreff des 
Raumes ist dies sofort einleuchtend. Und was die Zeit 
betrifft, „die grosse unabhängige Variable", deren ange- 
nommener konstanter Fluss als das letzte Mass aller Dinge 
gilt, so reicht es aus, zu bemerken, dass sie selbst* durch 
die Wiederkehr gewisser relativer Lagen von Gegenständen 
oder Punkten im Räume gemessen wird, und dass die 
Perioden dieser Wiederkehr veränderlich sind, abhängig 
von veränderlichen physikalischen Bedingungen. Dies gilt 
ebensogut von unseren modernen Zeitmessern, der Uhr 
und dem Chronometer, wie von der Wasseruhr und dem 
Stundenglase der Alten, die alle Veränderungen der Reibung, 
Temperatur, der Schwere je nach dem Breitengrad und so 
fort unterworfen sind. In gleicher Weise gilt dies auch 
von den Aufzeichnungen der grossen himmlischen Zeit- 
messer, der Sonne und der Sterne. Nachdeni wir unseren 
scheinbaren Sonnentag auf den mittleren und diiesen wieder 
auf den Sterntag reduziert haben, finden wir, dass die 
Zwischenzeit zwischen zwei Durchgängen der Äquinoktial- 
punkte nicht konstant ist, sondern infolge der Nutation, der 
Präcession der Tag- und Nachtgleichen und zahlreicher 
anderer säkularen Störungen und Variationen, die durch die 
wechselseitigen Einwirkungen der Himmelskörper entstehen, 
unregelmässigen Schwankungen unterworfen ist. Die Kon- 
stanz des Flusses der Zeit ist wie die der räumlichen 
Lagen, . die als Grundlage für die Bestimmung des Masses 
und Betrages physischer Bewegung dienen, rein begriff- 
licher Natur. 

Auf die Relativität der Masse ist in den vorhergehenden 



Charakter u. Ursprung der nuchan, Theorie (Fo7is.). 211 

Kapiteln zu widerholten Malen aufmerksam gemacht worden. 
Es ist gezeigt worden, da^ das Mass der Masse der reci- 
proke Wert der durch eine gegebene Kraft an einem 
Körper hervorgebrachten Beschleunigung ist, während die 
Kraft wieder durch die einer gegebenen Masse erteilte Be- 
schleunigung gemessen wird. Es ist leicht einzusehen, dass 
der Begriff Masse derart erweitert werden kann, dass er 
nicht nur das Mass der Masse bei der mechanischen Be- 
wegung allein, sondern allgemein bei einer jeden physi- 
kalischen Wirkung, einschliesslich der Wärme und der 
chemischen Affinität bezeichnet. . Dies würde zu einer 
Äquivalenz von Massen führen, die verschieden sind je 
nach der Natur des als Grundlage der Vergleichung ge- 
wählten Agens. Thermisch äquivalente Massen wären die 
reciproken W^erte der spezifischen Wärmen der auf die 
jetzige Art bestimmten Massen: chemisch äquivalente Massen 
die sogenannten Atomgewichte. Es ist bemerkenswert, dass 
die Bestimmung der Massen auf Grundlage der Schwere 
statt einer Bewertung auf Grund thermischer, chemischer 
oder einer anderen physikalischen Wirkung, eine blosse 
Sache der Übereinkunft ist und in keinem eigentlichen 
Sinne sich auf die Natur der Dinge gründet. 

Aber selbst abgesehen davon wird die Relativität der 
Masse auch mit Rücksicht auf die gewöhnliche Methode 
der Bestimmung der Masse eines Körpers durch sein Ge- 
wicht offenkundig. Das Gewicht eines Körpers ist nicht 
nur eine Funktion seiner eigenen Masse allein, sondern 
auch eine des Körpers oder der Körper, von denen er 
angezogen wird, und der Entfernung zwischen denselben. 
Ein Körper, dessen durch eine Federwage oder ein Pendel 
bestimmtes Gewicht auf der Oberfläche der Erde ein Kilo- 
gramm wäre, würde auf dem Monde ein achtel, weniger 
als ein fünfzigstel auf mehreren der kleineren Planeten, 
fast ein halb am Mars und zweiundeinhalb Kilogramm am 

14* 



212 XIL Kapitel, 

Jupiter und mehr als 27 Kilogramm auf der Sonne wiegen. 
Und während der Fall von Körpern im Vacuum an der 
Oberfläche der Erde gegen 4,8 m (je nach der Breite etwas 
mehr oder weniger) in der ersten Sekunde ausmacht, er- 
streckt sich der entsprechende Fall an der Oberfläche der 
Sonne auf mehr denn 125 ra. 

Die Gedankenlosigkeit, mit der von Seite einiger der 
hervorragendsten Physiker angenommen wird, dass die Materie 
aus Teilchen zusammengesetzt ist, die ein absolutes, ur- 
sprüngliches, in allen Lagen und unter allen Umständen 
verbleibendes Gewicht besitzen, bildet eine der bezeich- 
nendsten Thatsachen in der Geschichte der Wissenschaft. 
„Das absolute Gewicht der Atome ist unbekannt", sagt 
Professor Redtenbacher ^®) — in der Meinung, wie aus 
dem Zusammenhange und dem ganzen Tenor seiner Aus- 
führungen hervorgeht, dass unsere Unkenntnis des absoluten 
Gewichtes lediglich durch die praktische Unmöglichkeit der 
Isolierung eines Atoms und einer ausreichenden Verfeinerung 
der Instrumente bedingt ist. 

Es gibt nichts Absolutes oder Unbedingtes in der 
Welt der objektiven Realität. So wie es keinen absoluten 
Massstab der Qualität gibt, so gibt es auch weder ein 
absolutes Mass der Dauer, noch ein absolutes System von 
Koordinaten im Räume, auf welches die Lagen der Körper 
und deren Veränderungen zu beziehen wären. Ein physi- 
kalisches ens per se und eine physikalische Konstante 
sind gleich unmöglich, denn alle physische Existenz zerfällt 
in Wirkung und Gegenwirkung und eine Wirkung bedeutet 
Veränderung. 



'^) Dynamidensystcm, Mannheim, Bassermann, 1857, S. 14. 



XIII. 

Die Theorie von der absoluten Endlichkeit der 
Welt und des Raumes. — Die Annahme eines 
absoluten Maximums materieller Existenz — ein 
notwendiges Korrelat der Annahme des Atoms als 
absoluten Minimums. — Ontologie in der Mathe- 
matik. — Die Verdinglichung des Raumes. — 
Moderne transcendentale Geometrie. — Nicht- 
homaloider (sphärischer und pseudosphärischer) 

Raum. 

Im letzten Abschnitt ist gezeigt worden, wie die 
Theorie, nach welcher Raum und Bewegung bloss unter 
der Bedingung absoluten Seins wirklich wären, die An- 
nahme der Existenz eines absolut festen Bezugspunktes be- 
dingt, und diese wieder mit Notwendigkeit zu der Lehre 
von der absoluten Endlichkeit der Welt führt. Wiewohl 
der Zusammenhang zwischen dieser Lehre und den herrschen- 
den ontologischen Lehrsätzen über Raum und Bewegung 
bis jetzt, so weit ich hiervon unterrichtet bin, nicht hervor- 
gehoben worden ist, ist auf die Lehre selbst vielfach zu 
Gunsten kosmologischer, auf die mechanische Atomtheorie 
gegründeter Spekulationen eingegangen worden, um die- 
selben dadurch von einigen unvermeidlichen Konsequenzen 
dieser Theorie, mit der diese Spekulationen sich schliess- 
lich als unvereinbar ergeben haben, zu befreien. Und in 
jüngster Zeit sind von Seite hervorragender Mathematiker 
mit grossem Eifer Betrachtungen über die wahre Natur des 
Raumes und den wirklichen Charakter der räumlichen Be- 
ziehungen vorgebracht worden. 



214 XIIL KapiteL 

Man sieht leicht ein, dass die Behauptung der ab- 
soluten Endlichkeit des materiellen Weltalls ein logisch 
integrierender Bestandteil der allgemeinen Behauptung ist, 
dass das, was reell, absolut ist, und dass die Annahme 
eines absoluten Maximums materieller Existenz ein not- 
wendiges Korrelat der Annahme ihres absoluten Minimums, 
des Atoms, ist. Die erste ausdrückliche Verkündigung 
eines wissenschaftlichen Glaubens an dieses Maximum scheint 
von K. F. Gauss ') in einem seiner Briefe an Schumacher 
gemacht worden zu sein, in dem er die Versuche seines 
siebenbürgischen Freundes Bolyai und die des russischen 
Geometers Lobatschewsky diskutiert, ein geometrisches 
System zu finden, das unabhängig von dem Euklidischen 
Parallelenaxiom wäre. Die von Gauss in den soeben ge- 
nannten Briefen wie in verschiedenen Teilen seiner anderen 
Schriften -) hingeworfenen Winke haben innerhalb der letzten 
zwanzig Jahre zu einer ergiebigen Diskussion über die Natur 



*) Gauss, Briefwechsel mit Schumacher, Bd. 2, S. 268 — 271. 
*) Vgl. ,,Disquisitiones generales circa seriem infinitam i -[~ 

— ^ X -{- . . ." etc. (Comm. recent. Soc. Gott., II, 1811 — 13); 
i . y 

„Theoria residuorum biquadriticorum Commentatio secunda" (ib., VII, 
1828 — 32). Jenen, die mit Herbarts Theorie, dass unsere Idee der 
räumlichen Ausdehnung ein psychisches Erzeugnis qualitaüver Data, 
d, h. Empfindungen ist, die an sich ohne Ausdehnung sind, vertraut 
sind, wird es nicht unwahrscheinlich erscheinen, dass Gauss' mathe- 
mathischer Transcendentalismus bis zu einem gewissen Grade den 
Spekulationen seines Kollegen in der philosophischen Fakultät von 
Göttingen zu verdanken ist, wiewohl Gauss gewöhnlich grosse Ver- 
achtung für das HERBART'schfe System bezeugte — gerade so wie 
Descartes durch die Lehren seines Gegners Gassendi beeinflusst 
wurde. Der Zusammenhang zwischen G.\uss' metageometrischen oder 
(wie sich Lobatschewsky ausdrückt) pangeometrischen Ansichten 
und seinen Forschungen über die geometrische Interpretation der 
imaginären Grössen und die Theorie der komplexen Zahlen ist augen- 
scheinlich. 



Die Theorie vmi d. absoluten Endlichkeit d, Welt etc, 215 

des Raumes, die Begründutig der Geometrie und den Ur- 
sprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome ge- 
führt, welche bereits eine ausgedehnte und rasch anwach- 
sende Literatur hervorgebracht hat. ^) Der erste wirkliche 
Anstoss zu diesem Betreten neuer Bahnen in der mathe- 
matischen Theorie wurde von Riemann in einer bemerkens- 
werten Dissertation*) gegeben, die am 10. Juni 1854 vor 
der philosophischen Fakultät Göttingen gelesen (und 1866 
nach Riemann's Tod durch Dedekind veröffentlicht wurde), 
sowie durch Helmholtz in einer gleichfalls bemerkenswerten 
zwei Jahre später erschienenen Arbeit. ^) Diesen Publikationen 
folgten zahlreiche Artikel, Flugschriften und Bücher, die 
sich mit der Auseinandersetzung der vorgebrachten Lehren 
befassten, und wie zu erwarten stand, gab es keinen Mangel 
an« Schriften, die diesen Lehren mit abweisender Kritik 
entgegentraten. 

Die Glaubenssätze des neuen geometrischen Glaubens 
sind sicherlich überraschend. Unter diesen befinden sich 
Sätze, wie die : dass unser gewöhnlicher „euklidische", drei- 
dimensionale und „homaloide" (ebene) Raum nur ein Spezial- 
fall mehrerer möglicher Raumformen sei; dass der Vor- 
rang dieses Euklidischen Raumes vor anderen Raumformen 
nur aus empirischen Gründen aufrecht erhalten werden 
kann , und im Sinne der logischen und psychologischen 
Grundsätze der sensualistischen Schule bloss von Zufällig- 
keiten der Begriffsassociation abhängt, die umgestossen 

^) Vgl. Halsteadt, Bibliogräphy of Hyper-Space and rioh- 
Euclideän Geonietry. American Journal of Mathematics , vol. I., 
pp. 261 seq. and. 384 seq.; ib., vol. II, p. 65 seq. 

*) „Über die Hypothesen, welche der Geoftietrie zu Grunde 
liegen" (Abhandlungen der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu 
Göttingen, Bd. 13, S. 133 ff.). 

^) Über die Thatsachen, die der Geometrie zu Gründe liegen'* 
(Nachrichten der kgl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingeii, 
3. Juni. 1865). 



2i6 XIIL Kapitel, 

werden • könnten (und nach der Meinung einiger enthusiasti- 
scher Verteidiger der neuen Lehren es auch sind) durch 
die Entdeckung, dass die Existenz mehrerer Dimensionen 
ein notwendiger Schluss aus gewissen Thatsachen der Er- 
fahrung ist, die nicht anders erklärt werden können, — 
gerade so wie auch von der dritten Dimension gesagt wird, 
dass sie nicht direkt wahrnehmbar ist, sondern einfach aus 
bekannten Thatsachen der Gesichts- und Tastempfindung 
erschlossen wird, fiir deren Erklärung die dritte Dimension 
ein unabweisliches Postulat bildet; dass deshalb der wahre 
und wirkliche Raum nicht drei, sondern vier oder selbst 
eine grössere Zahl von Dimensionen hat oder wenigstens, 
so viel wir urteilen können, haben* könnte ; dass der Raum, 
in dem wir uns bewegen, nicht homaloidal oder eben ist 
oder sein muss, sondern seinem Wesen nach nicht homaloidal, 
gekrümmt, sphärisch oder pseudosphärisch ist oder sein 
kann, so dass jede Linie, die wir bisher als Gerade be- 
trachtet haben, bei hinlänglicher Verlängerung sich als ge- 
schlossene Kurve erweisen könnte; dass infolge der wirk- 
lich vorhandenen Krümmung des Raumes das Weltall, wie- 
wohl unbegrenzt, doch nicht unendlich, sondern endlich 
sein kann und wahrscheinlich auch ist; dass auf Grund 
der Voraussetzung des pseudosphärischen Charakters des 
Raumes ein ganzes Büschel „kürzester Linien" durch den- 
selben Punkt gezogen werden kann , die alle zu einer ge- 
gebenen anderen „kürzesten Linie" in dem Sinne parallel 
sind, dass sie sich mit ihr, wie weit sie auch verlängert 
werden mögen, niemals schneiden; dass nicht nur das 
Krümmungsmass des Raumes, wie die Zahl seiner Dimen- 
sionen in verschiedenen Gegenden des Raumes verschieden 
sein kann und vermutlich auch ist, so dass kein giltiger 
Schluss aus unseren Erfahrungen in den Gegenden, in 
denen wir uns zufällig aufhalten, auf die Krümmung oder 
die Dimensionen unmesSbar entfernten oder unmessbar 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeil d. Welt etc, 217 

kleinen Raumes gezogen werden kann, sondern dass auch 
in einer bestimmten Gegend sowohl die Krümmung des 
Raumes wie der Grad oder die Zahl seiner Dimensionen 
eine allmähliche Änderung erleiden mag und wahrscheinlich 
auch erleidet, u. s. w. ®) 



®) Die vorsichtigsten Pangeomcter haben kürzlich Neigung ge- 
zeigt , einige der hier aufgezählten Lehren , insbesondere jene , die 
sich auf die Vermehrung der Zahl der Dimensionen des Raumes und 
die lokalen Unterschiede und Veränderungen in der Beschaffenheit 
des Raumes beziehen , als Erfindungen ihrer Feinde oder als Cber- 
schwänglichkeiten von Personen, die durch ihren Enthusiasmus zu 
weit fortgerissen wurden, zu brandmarken. Es mag mir daher ver- 
ziehen werden, eine Stelle aus einem Vortrag von Professor P. G. Tait 
zu citieren (der sicherlich hinlängliche Neigung hat, wie das Buch, 
aus dem ich citiere, es beweist, wenigstens auf Nüchternheit in 
Mathematik und Physik zu bestehen, wie auch immer seiner Meinung 
nach die passende Form des Geistes beschaffen sein mag, um das 
„unsichtbare Weltall" zu überblicken): ,,The properties of space," 
erklärt er, „involving (we know not why) the essential element of 
three dimensions, have recently been subjected to a careful scrutiny 
by mathematicians of the highest order, such as Riemann and Helm- 
HOLTZ; and the result of their inquiries leaves it as 
yet undecided wheter space may or may not have pre- 
cisely the same properties throughout the universe. 
To obtain an idea of what is meant by such a statement, consider 
that in crumpling a leaf of paper, which may be taken as representing 
Space of two dimensions, we may have some portions of it plane, 
and other portions more or less cylindrically or conically curved. 
But an inhabitant of such a sheet, though living in space of two 
dimensions only, and therefore, we might say beforehand, incapable 
of appreciating the third dimension, would certainly feel some difFe- 
rence of sensations in passing from portions of his space which were 
less to other portions which were more curved. So it is possible 
that, in the rapid march of the solar System through 
Space, we may be gradually passing to regions in 
which space has not precisely the same properties as 
we find here — where it may have something in three 
dimensions analogous to curvaturein two dimensions — 
something, in fact, which will necessarily imply a 



2i8 XIIL Kapitel, 

So sehr auch diese Lehren von der uns geläufigen 
Erfahrung abzuweichen scheinen, wird doch der Anspruch 



fourth-dimension change ofform in p ortion s of matter 
in Order that they may adapt themselves to their new 
locality." P. G. Tait, On Some Recent Advances in Physical 
Science, p. 5. Von derselben Art wie diese Stelle ist eine Note des 
berühmten Mathematikers, Professor J. J. Sylvester, zu seiner Err 
Öffnungsanrede bei der mathematisch - physikalischen Sektion der 
British Association zu Exeter 1869, die, wie folgt, lautet: „It is well 
known, to Ihose who have gone into these views, that the laws of 
motion accepted as a fact suffice to prove in a general way that 
the Space we live in is a flat or level space (a ,homaloid*), our 
existence therein being assimilable to the life of a bookworm in the 
flat Space; but what ifthe page should be undergoing a 
process of gradual bending into a curved form? Mr. 
W. K. Clifford has indulged in some remarkable speculations a§ 
to the possibility of our being able to infer, from certain unexplained 
phenomena of light and magnetism, the lact of our level space of 
three dimensions being in the act of undergoing in space of four 
dimensions (space as inconceivable to us as our space to our sup- 
posititious bookworm) a distortion analogous to the rumpling of the 
page. I know there are many who , like my honored and deeply 
lamented friend , the late eminent Professor DoNKiN , regard the 
alleged notion of generalized space as only a disguised form of 
algebraical formulization ; but the same might be said with equal 
truth of our notion of infinity in algebra, or of impossible lines, or 
lines making a zero angle in geometry , the Utility of dealing with 
which as positive substantiated notions no one will be found to dis-r 
pute. Dr. Salmon, in his -extensions of Chasles's theory of characte- 
ristics to surfaces, Mr. CUFFORD in a question of probability, and 
myself in my theory of partitions , and also in my paper on Bar 
rycentric Projection, in the Philosophical Magazine, haye all feit and 
given evidence of the practical Utility of handling space of four 
dimensions as if it were conceivable space. Moreover, it should be 
borne in mind, that every perspective representation of figured space 
of four dimensions is a figure in real space, and that the properties 
of figures admit of being studied, to a great extent, if not completely, 
in their perspective representations." Nature, vol. I, p. 237 seq. 
Diq gesperrte Schrift der obigen Stellen rührt von mir her. 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 219 

erhoben, dass dieselben keineswegs der empirischen Grund? 
läge entbehren. Es wird hervorgehoben, dass es zahlreiche 
optische, magnetische und andere physikalische Elrschei- 
nungen giebt, von denen sie die einzig ausreichende Er- 
klärung bilden. Überdies ist gesagt worden, dass sie allein 
den Schlüssel zu den Geheimnissen des modernen Spiri- 
tismus an die Hand geben, indem sie uns in den Stand 
setzen, gewisse magische Leistungen, die wir sonst ge-r 
zwungen wären, in das Gebiet des Übernatürlichen zu ver* 
weisen, in den natürlichen kausalen Zusammenhang einzu- 
reihen. In dem ersten Artikel der ersten Nummer des 
American Journal of Mathematics zeigt Professor Simon 
Newcomb analytisch, dass, „wenn eine vierte Dimension dem 
Räume hinzugefügt wird, eine geschlossene materielle Ober- 
fläche (oder eine Schale) durch einfache Biegung ohne 
Streckung oder Zerreissung umgewendet werden könne^*, 
nachdem Felix Klein bereits einige Zeit vorher . gezeigt 
hatte, dass Knoten in einem vierdimensionalen Räume nicht 
existieren können. Demgemäss erklärt Professor Zöllneh 
die bekannten Kunststücke des amerikanischen „Mediums'.' 
Slade auf Grund des Prinzips der vierten Dimension — r 
wobei eines dieser Kunststücke seltsam genug in der Herr 
Stellung eines wirklichen kleeblattförmigen Knotens in einein 
Seil, dessen Enden mit einander versiegelt und von Zöllner' s 
Hand gehalten wurden, bestand. Schliesslich ist behauptet 
worden, dass die Theoreme von Lobatschevvsky, Riemann, 
Helmholtz und Beltrami "') die einzig richtige Grundlage . 

') Ein italienischer Mathematiker, der die Eigenschaften der 
pseudosphärischen Oberflächen untersuchte, welche sich von anderen 
Oberflächen konstanter Krümmung durch die Thatsache unterscheiden, 
dass sie eine Sorte von Parallelismus im transcendentalen Sinne 
zwischen ihren- „kürzesten Linien" zulassen. Eine Bezugnahme auf 
Beltrami's Schriften und eine kurze Auseinandersetzung ihres In- 
haltes findet sich in Helmholtz's Abhandlung „The Origin and 
Meaning of Geometrical Axioms", Mind, vol. I, p. 306 vor. 



2 20 XIIL Kapitel, 

einer besonderen und erschöpfenden Theorie der Parallelen 
bilden. Im Vollgefühle ihres Vertrauens auf die Unein- 
nehmbarkeit ihrer Stellungen verkündeten die Anhänger des 
geometrischen Transcendentalismus stolz, dass mit dem Er- 
scheinen von LoBATSCHEWSKv's „geometrischen Unter- 
suchungen" *) eine neue Ära über die mathematische Welt 
aufgegangen sei, und dass im Lichte dieser Ära die Ge- 
samtheit der geometrischen Wahrheiten in ähnlicher Weise 
geordnet und vereinfacht würde, wie die Theorie der himm- 
lischen Bewegungen durch den grossen Gedanken von 
KoPERNiKus. „Was Vesauus im Vergleich zu Galen," 
ruft Professor Clifford*) aus, „was Kopernikus im Ver- 
gleich zu Ptolemaeus war, das war Lobatschewsky im Ver- 
gleich zu Euklid." 

Der Streit zwischen den Schülern der neuen transcen- 
dentalen oder pangeometrischen Schule und den Anhängern 
der alten geometrischen Überlieferung bietet ein Schauspiel 
dar, das nicht verfehlen kann, den gewöhnlichen Beob- 
achter in einiges Erstaunen zu versetzen. Die Schüler der 
neuen Schule nehmen ihren Standpunkt mit Festigkeit auf 
empirischem Boden ein; ihr eigentlich erster Satz ist der, 
dass alle geometrischen Wahrheiten empirischen Ursprungs 
sind, und dass alles, was wir vom Räume und seinen Eigen- 
schaften wissen, uns durch die sinnliche Erfahrung bekannt 
wird. Dieser Satz und die sich daraus ergebende Ver- 
leugnung des transcendentalen Ursprungs der geometrischen 
Axiome werden von Riemann und Helmholtz mit gleichena 
Nachdruck hervorgehoben. Und nun errichten sie auf 
dieser Grundlage eine Theorie, die uns in die entlegensten 
Gebiete des Transcendentalismus führt — in das Reich 



*) „Geometrische Untersuchungen zur Theorie der Parallellinien", 
von Nikolaus Lobatschewsky, Berlin, Fincke'sche Buchhandlung 1840. 

^) Philosophy of the Pure Sciences, W. K. Clifford's Lectures 
and Essays, vol. L 297. 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d» Welt etc. 221 

eines metageometrischen Raumes, in dem alle unsere ge- 
wohnten Kräfte der Einbildung und Begriifsbildung uns im 
Stiche lassen, und in dem die Thatsachen der täglichen 
Erfahrung wie deren gegenseitige Beziehungen völlig ausser 
acht gelassen werden. Andererseits berufen sich die be- 
rühmtesten Meister der alten geometrischen Glaubenslehre 
bei ihrer Verteidigung der bekannten Data der sinnlichen 
Erfahrung und in ihrem Gegensatz zu den „Ausschweifungen" 
der transcendentalen Geometrie auf die Lehre von dem 
nichtempirischen oder transcendentalen Ursprünge unserer 
Ideen vom Räume und seinen wesentlichen Beziehungen. 
Die Pangeometer errichten ein transcendentales Gebäude 
auf empirischen Grundlagen, während die gewöhnlichen 
Geometer ein den Daten der Erfahrung entsprechendes 
System auf transcendentalem Grunde errichten. Dieser 
Umstand wird indessen, so seltsam er auch auf den ersten 
Blick erscheint, schwerlich den denkenden Studierenden 
der Geschichte der Erkennsnislehre oder den verständigen 
Leser der Vorhergehenden Seiten überraschen. Es ist 
keineswegs etw^as Ungewöhnliches, wenn man findet, dass 
ontologische Spekulationen, mögen sie sith nun in der 
Maske physikalischer oder metaphysischer Theorien einstellen, 
sich schliesslich nicht nur für die Thatsachen, zu deren Er- 
klärung sie ersonnen worden sind, sondern auch für die 
Stützen selbst, durch die man sie aufrecht zu erhalten ver- 
meinte, vernichtend erweisen. 

Nachdem ich im allgemeinen Sinn und Zweck der 
transcendentalen Theorie des Raumes auseinandergesetzt 
habe, gehe ich nun an die Prüfung der Prämissen, auf 
denen sie beruht, und der Gründe, durch die man . sie zu 
stützen sucht. Hier stossen wir von allem Anfang an auf 
eine Annahme, die offenbar der ganzen Theorie zu Grunde 
Hegt: die Annahme, dass der Raum ein physisch reelles 
Ding ist — nicht bloss ein Gegenstand der Erfahrung, 



2 23 XIIL Kajy'äeL 

sondern ein selbständiger Gegenstand der direkten Empfin- 
dung, dessen Eigenschaften mit Hilfe der gewöhnlichen 
Instrumente physikalischer und astronomischer Forschung 
zu ermitteln wären — dessen Krümmungsmass z. B. mit 
Hilfe des Fernrohres zu bestimmen wäre. Diese Annahme 
ist von jedem der drei grossen Ausleger der fraglichen 
Theorie ausdrücklich gemacht worden. „Das einzige uns 
zur Verfügung stehende Mittel," sagt Lobatschewsky, ***) 
„um den Grad der Genauigkeit der Sätze dfer gewöhnlichen 
Geometrie zu bestimmen, ist die Berufung auf astronomische 
Beobachtungen." Ebenso Riemanx:^^) „Wenn wir an- 
nehmen, dass Körper unabhängig von ihrem Orte im Räume 
existieren, bleibt das Krümmungsmass überall konstant ; 
und dann folgt aus astronomischen Beobach- 
tungen, dass es nicht von Null verschieden ist." In 
demselben Sinne drückt sich Helmholtz aus:^-) „Alle 
Systeme praktisch ausgeführter geometrischer Messungen, 
bei denen die drei Winkel grosser geradliniger Dreiecke 
einzeln gemessen worden sind, also auch namentlich alle 
Systeme astronomischer Messungen, welche die . Parallaxe 
der unmessbar weit entfernten Fixsterne gleich Null 
ergeben (im pseudosphärischen Räume müssten auch 
die unendlich entfernten Punkte positive Parallaxe haben), 
bestätigen empirisch das Axiom von den Parallelen und 
zeigen, dass in unserem Räume und bei Anwendung 
unserer Messungsmethoden das Krümmungsmass des 
Raumes als von Null unterscheidbar' erscheint. Freilich 
muss mit Riemann die Frage aufgeworfen werden, ob 
sich dies nicht vielleicht anders verhalten würde, wenn 



^^) Geometrische Untersuchungen u. s. f., S. 60. 

^^) Über die Hypothesen u. s. f. 

^^) „On the Origin and Meaning of Geometrical Axioms", Mind, 
vol. I, p. 314. [Citiert nach „Über den Ursprung und die Natur der 
geometrischen Axiome", Vorträge u. Reden, II. Bd., S. 23]. 



Die Theorie von d, absoluten Endliehkeit d, Welt etc, 223 

wir statt unserer begrenzten Standlinien; deren grösste die 
grosse Axe der Erdbahn ist, grössere Standlinien benutzen 
könnten." 

Die hier eingenommenen Ansichten über die Natur 
des Raumes und den Ursprung der räumlichen Begriffe 
bedeuten offenbar eine entschiedene Überschreitung der 
äussersten Aussenposten des alten sensualistischen Terrains. 
Trotzdem finden sie, im Grunde genommen, eine Stütze 
in den Werken eines in diesem Buche schon wiederholt 
citierten englischen Denkers, J. St. Mill, der namentlich 
auf dem Kontinente als der geschickteste moderne Aus- 
leger und Verteidiger der Lehren des Sensualismus gilt, 
wenigstens soweit sich dieselben auf den in Rede stehenden 
Gegenstand beziehen. ^^) In wenigen Worten ausgedrückt * 
gehen diese Lehren dahin, dass die Idee oder der Begriff 
des Raumes direkt aus der sinnlichen Erfahrung abgeleitet 
ist; dass die Eigenschaften des Raumes durch Beobachtung 
oder Experiment zu ermitteln seien; dass die Grundwahr- 
heiten der Geometrie, gleich allen anderen Wahrheiten der 
physikalischen Wissenschaft, induktiven Ursprunges und von 
induktiver Giltigkeit seien ; und dass die den geometrischen 

^^) Ich will nicht sagen, dass sich Riemann und Helmholtz 
direkt auf Mill beziehen. Es gibt aber nur wenige deutsche Phy- 
siker und JVIathematiker, die nicht eifrig Mill's Logik studiert hätten, 
insbesondere seit dem Erscheinen der ScHiEL'schen Übersetzung und 
dem überschwänglichen Lobe Liebig's, und das kommt in den meisten 
Schriften der Pangeometer deutlich zum Vorschein. Das Interesse, 
mit dem jede neue Auflage von Mill's Logik von Seite der Männer 
der Wissenschaft aufgenommen wurde, verdankt sie ohne Zweifel 
ihrer häufigen Bezugnahme auf wissenschaftliche Methoden und Re- 
sultate. Thatsache ist, dass Mill durch eine Reihe von Jahren der 
offizielle Logiker i^ncj Metaphysik er der kontinentalen Naturforscher 
und Mathematiker gewesen ist. Die Achtung, die ihm von Seiten 
der zeitgenössischen Vertreter der Wissenschaft entgegengebracht 
wurde, ist nicht unähnlich jener, die Aristoteles unter den frühen 
mittelalterlichen Scholastikern genossen hatte. 



2 24 XIII. Kapitel, 

Sätzen zukommende Gewissheit, wenn auch möglicherweise 
dem Grade nach verschieden, der Art nach sich nicht von 
jener unterscheidet, die irgend einem allgemeinen Satze 
über physikalische Thatsachen zukommt. Nachdem sich 
die besonderen Sätze der Pangeometrie wenigstens zum 
grossen Teile auf die allgemeine sensualistische Theorie 
stützen, wird es von Nutzen sein, auf eine nähere Prüfung 
dieser Theorie einzugehen, bevor an die Erörterung der 
pangeometrischen Sätze selbst geschritten wird. Zu diesem 
Zweck wähle ich eine Auseinandersetzung dieser Theorie 
in dem oben citierten Buche, dem System der Logik von 
J. S. MiLL, in dem das fünfte Kapitel des zweiten Buches 
„Vom Beweise und den notwendigen Wahrheiten" eine 
ausführliche Darlegung der Ansichten des Verfassers über 
Grundlage und Methode der geometrischen Wissenschaft 
enthält. 

„Die Grundlage aller, selbst der deduktiven oder be- 
weisenden Wissenschaften," sagt Mill, ^ *) „ist die Induktion \ 
jeder Schritt in den Schlussfolgerungen der Geometrie ist 
ein Akt der Induktion Der Charakter der Not- 
wendigkeit, den man den Wahrheiten der Mathematik zu- 
schreibt, und sogar (mit einigen später vorzubringenden 
Einschränkungen) die eigentümliche Gewissheit, welche man 
ihnen zuschreibt, ist eine Täuschung, die man nicht anders 
aufrecht erhalten kann, als indem man annimmt, dass sich 
jene Wahrheiten auf rein imaginäre Gegenstände beziehen 
und nur deren Eigenschaften ausdrücken. Es ist anerkannt, 
dass die Sätze der Geometrie, zum Teil wenigstens, aus 
den sogenannten Definitionen hergeleitet werden, und dass 
diese Definitionen, soweit als sie sich erstrecken, für korrekte 
Darstellungen der Gegenstände gehalten werden, mit denen 
es die Geometrie zu thun hat. Nun haben wir nach- 



^*) A System of Logic (eight ed.), p. l68 seq. 



Die Iheorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 225 

gewiesen, dass aus einer Definition alis solcher niemals ein 
Satz, es wäre d6nn eifter in Betreff der Bedeutung eines 
Wortes, folgen kann, und dass alles, was anscheinend aus 
einer Definition folgt, in Wahrheit aus der stillschweigenden 
Voraussetzung folgt, dass eis ein dem entsprechendes wirk- 
liches Ding gibt. Diese Voraussetzung trifft in dem Falle 
der Definitionen der Geometrie nicht völlig zu^ es gibt 
keine wirklichen Dingie, die den Definitionen völlig ent- 
sprechen. Es gibt keine Punkte ohne Ausdehnung, keine 
Linien ohne Breite, keine Kreise, deren Halbmesser alle 
genau gleich gross sind, noch auch Quadrate, deren Winkel 
alle vollkommen rechte sind. Man wird vielleicht sagen, 
dass die Voraussetzung sich nicht auf das wirkliche, sondern 
nur auf das mögliche Dasein solcher Dinge erstreckt. Ich 
antworte, dass nach jedem Massstabe voii Möglichkeit, den 
wir besitzen, es nicht einmal mögliche Dinge sind. Ihr 
Dasein scheint, so weit wir irgend darüber urteilen können, 
mindestens mit der physischen Beschaffenheit unseres Pia-? 
neten, wenn nicht des Weltalls unvereinbar zu sein. Um 
diese Schwierigkeit zu beseitigen und zugleich das Ansehen 
des angeblichen Systems notwendiger Wahrheiten zu retten, 
pflegt man zu sagen, däss die Punkte, Linien, Kreise und 
Quadrate, die den Gegenstand der Geometrie bilden, 
bloss in unseren Vorstellungen vorhanden sind und einen 
Teil unseres Geistes ausmachen, der aus seinem eigenen 
Material heraus eine aprioristische Wissenschaft aufbaut, 
deren Gewissheit im Gedanken allein gelegen ist und mit 
äusserer Erfahrung nichts zu schaffen hat. Von so hoch- 
stehenden Autoritäten auch diese Lehre gebilligt worden sein 
mag, erscheint sie mir doch psychologisch unkorrekt. " Die 
Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die jemand in seinem 
Bewusstsein hat, sind (denke ich) bloss Abbilder der Punkte, 
Linien, Kreise und Quadrate, die er in seiner Erfahrung 
kennen gelernt hat. Unsere Vorstellung von einem Punkte 

StalLO, Begriffe u. Theorieen. 15 



226 XIII , Kapitel. 

ist, denke ich, einfach unsere Vorstellung von dem mini- 
mum visibile, dem kleinsten Teil einer Fläche, den 
wir sehen können. Eine Linie, wie sie in der Geometrie 
definiert wird, ist ganz undenkbar. Wir können über eine 
Linie sprechen, als wenn sie keine Breite hätte, weil wir 
eine Fähigkeit besitzen, welche die Grundbedingung der 
Herrschaft ist, die wir über unsere. Geistesthätigkeiten aus- 
üben, die Fähigkeit nämlich, wenn eine Anschauung unseren 
Rinnen oder eine Vorstellung unserem Geiste gegenwärtig 
ist, nur einen Teil dieser Anschauung oder Vorstellung statt 
des Ganzen zu beachten. Allein wir können uns nicht 
eine Linie ohne Breite vorstellen, wir können uns kein 
geistiges Bild von einer solchen Linie entwerfen; alle die 
Linien, die wir in unserem Bewusstsein haben, sind Linien, 
welche Breite besitzen. Wenn jemand daran zweifelt, so 
können wir ihn nur auf seine eigene Erfahrung verweisen. 
Schwerlich glaubt jemand, der sich einbildet, er könne sich 
das vorstellen, was man eine mathematische Linie nennt, 
dies auf Grund seines eigenen Bewusstseins ; er glaubt dies, 
wie ich vermute, vielmehr darum, weil er annimmt, die 
Mathematik könnte ohne die Möglichkeit einer solchen 
Vorstellung nicht als Wissenschaft bestehen, eine Annahme, 
deren völlige Grundlosigkeit darzuthun nicht schwer halten 
wird." 

„Da es also weder in der Aussenwelt, noch im mensch- 
lichen Geiste irgend welche Gegenstände gibt, die den 
Definitionen der Geometrie völlig entsprechen, während 
man doch nicht annehmen kann, dass es jene Wissenschaft 
mit NichtSeiendem zu thun hat, so bleibt nichts übrig, als 
zu denken, dass es die Geometrie mit solchen Winkeln, 
Linien und Figuren zu thun hat, wie sie in der Wirklich» 
keit vorhanden sind, und die Definitionen, wie man sie 
nennt, muss man als einige unserer frühesten und nächst- 
liegendsten Verallgemeinerungen in Betreff jener natürlichen 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc. 227 

<jegenstände betrachten. Die Korrektheit dieser Verall' 
.gemeinerungen a 1 s solcher ist makellos ; die Gleichheit 
^Uer Halbmesser eines Kreises ist von allen Kreisen wahr, 
-^o weit sie es von irgend einem ist, allein sie ist nicht 
von irgend einem einzigen Kreise genau wahr, sie ist es 
nur annähernd, — so annähernd, dass man praktisch keinen 
Irrtum von Bedeutung begehen wird, wenn man sie als 
^enau wahr annimmt. Wenn wir Veranlassung finden, diese 
Induktionen oder ihre Folgesätze auf Fälle auszudehnen, 
bei denen der Irrtum bemerklich wäre — auf Linien von 
wahrnehmbarer Breite oder Dicke, auf Parallele, die merk- 
lich von der gleichen Entfernung abweichen, und Ähnliches, 
iso berichtigen wir unsere Schlüsse dadurch, dass wir eine 
neue Reihe von Sätzen, die auf die Abweichung Bezug 
liaben, mit ihnen in Verbindung setzen, gerade wie wir 
auch Sätze in Betreif der physikalischen oder chemischen 
Eigenschaften des Materials mit einbeziehen, wenn jene 
Eigenschäften das Ergebnis irgendwie beeinflussen können, 
Amd sie können dies sehr leicht, selbst in Bezug auf Ge- 
-stalt und Grösse, wie z, B. in dem Fall der Ausdehnung 
^ines Körpers durch Wärme. So lange jedoch keine prak- 
tische Notwendigkeit vorhanden ist, andere Eigenschaften 
-des Gegenstandes als seine rein geometrischen, oder auch 
irgend welche von den natürlichen Unregelmässigkeiten in 
•diesen zu beachten, so ist es zweckmässig, die Betrachtung 
xlieser anderen Eigenschaften und Unregelmässigkeiten zu 
-vernachlässigen und so zu verfahren, als ob sie nicht vor- 
lianden wären ; demzufolge kündigen wir in den Definitionen 
^ausdrücklich unsere Absicht an, in dieser Weise vorzugehen. 
Irrig wäre jedoch die Voraussetzung, dass, weil wir unsere 
Aufmerksamkeit auf eine gewisse Anzahl von den Eigen- 
ischaften eines Gegenstandes zu beschränken beschliessen, 
wir uns darum den Gegenstand seiner anderen Eigenschaften 

-entkleidet denken oder eine dem entsprechende Vorstellung 

15* 



338 XIIL Kapitel, ' 

Von ihm haben. Wir denken die ganze Zeit über an genau 
solche Gegenstände, wie wir sie gesehen und getastet haben^ 
,und mit all den Eigenschäften, die ihnen von Natur aus 
zukommen, aber der wissenscliaftlichen Zweckmässigkeit zu 
Liebe nehmen wir an, sie* wären aller Eigenschaften mit 
Ausnahme derjenigen entkleidet, die fiir unseren Zweck 
wesentlich sind, und in Bezug auf welche wir sie zu unter- 
suchen gedenken." 

„Die eigentümliche Genauigkeit, die man fiir eine 
charakteristische Eigenschaft der ersten Grundsätze der Geo- 
metrie hält, scheint mithin auf einer Fiktion zu beruhen. 
Die Sätze, auf denen die Deduktionen der Wissenschaft 
beruhen, entsprechen so wenig als in anderen Wissenschaften 
den Thatsachen genau; allein wir nehmen an, dass sie 
es thtin, um die Konsequenzen, die sich aus dieser An- 
nahme ergeben, weiter zu verfolgen. Die Ansicht Dugali> 
Stewart's rücksichtlich der Grundlagen der Geometrie ist 
meines Erachtens wesentlich richtig ; dass diese , Wissenschaft 
nämlich auf Hypothesen gebaut ist, dass sie diesen allein 
die besondere Gewissheit verdankt, die man fiir ihre unter -^ 
scheidende Eigentümlichkeit hält und dass wir in jeder 
Wissenschaft ohne Ausnahme, sobald wir von einer Reihe 
von Hypothesen ausgehen, zu einem System von Lehren 
gelangen können, die ebenso gewiss wie die der Geometrie 
sind, d. h. sich ebenso streng im Einklang mit den »Hypo- 
thesen befinden und mit ebenso unwiderstehlicher Gewalt 

« 

unsere Beistimmung erzwingen, vorausgesetzt, dass 
jene Hypothesen wahr sind." 

Ich habe diese Stelle aus Mill's Logik ausfiihrlich 
citiert, nicht nur weil sie die durchgearbeitetste und zu- 
sammenhängendste Aufstellung der sensualistischen Theorieen 
über den Charakter notwendiger Wahrheiten, insbesondere 
der der Geometrie ist, sondern auch weil diese Auseinander^ 
Setzung gewisse Besonderheiten in sich birgt, die der Auf- 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc, i2(^ 

merksamkeit wert sind. Eine dieser Eigentümlichkeiten ist 
das Zugeständnis, dass der Geist das Vermögen der Ab-^ 
straktion besitzt und Verallgemeinerungen bilden und dis- 
kutieren kann, die „a 1 s Verallgemeinerungen makellos sind". 
Die Unverträglichkeit dieses Eingeständnisses mit der Be- 
hauptung, dass „die Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, 
die jemand in seinem Bewusstsein hat, bloss Abbilder der 
Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die er in seiner Er- 
fahrung kennen gelernt hat, seien", ist evident. Diese Un- 
verträglichkeit entging auch nicht der Kenntnisnahme anderer 
Verkünder der empirischen oder sensualistischen Lehre, 
wie es sich z. B. in den Schriften von Buckle zeigt, der 
nicht zögert, die wahren Konsequenzen (vor denen Mill 
selbst zurückgeschreckt zu haben scheint) aus Mill's Prä- 
missen zu ziehen* Buckle behauptet nicht nur kühn, dass 
es keine Linien ohne Breite gibt (auf die Dicke vergisst 
er seltsamerweise), sondern auch, dass die Vernachlässigung 
dieser Breite durch die Geonieter alle Ergebnisse geometrischer 
Schlüsse ungiltig macht und uns der einzige Trost bleibt, 
dass dieser Fehler im Grunde nicht sehr beträchtlich ist." 
„Nachdem ja," erklärt er, ^*) „die Breite -der feinsten Linie 
so unbedeutend ist, dass sie ausser durch ein Instrument 
unter dem Mikroskop einer Messung nicht fähig ist, so 
folgt, dass die Annahme, es körine Linien ohne Breite 
geben, so nahe der Wahrheit kommt, dass unsere Sinne, 
wenn sie nicht durch die Kunst unterstützt werden, deri 
Fehler nicht entdecken können. Früher, vor der Erfindung 
des Mikrometers, war es überhaupt unmöglich, ihn zu ent- 
decken. Infolgedessen kommen die Schlüsse der Geometer 
dei: Wahrheit so nahe, dass wir berechtigt sind, sie für 
richtig zu halten. Der Fehler ist zu klein, um wahrge- 



**) History of GiviliÄation in England, vol. II, p. 342 (Appleton's 
American edition)^ 



230 XIIL Kapitel, 

nommen werden zu können, Dass aber ein Fehler da ist^ 
scheint mir sicher zu sein. Es scheint gewiss, dass, wenn»- 
etwas in den Prämissen verschwiegen wird, etwas in den* 
Schlüssen mangelhaft sein muss. In allen solchen Fällen 
ist das Untersuchungsgebiet nicht vollständig berücksichtigt 
worden ; und da ein Teil der vorauszusetzenden Thatsachei» 
unterdrückt wurde, muss, glaube ich, zugegeben werden,, 
dass die ganze Wahrheit unerreichbar ist, und dass kein 
Problem der Geometrie eine erschöpfende Lösung ge- 
funden hat.*' 

Ob Buckle im Stande war, sich eine Linie als Grenze 
zweier Flächen zu denken und ob seiner Meinung nach' 
eine solche Grenze Breite besitzt (d. h. selbst wieder eine- 
Fläche ist, so dass wir von Grenze zu Grenze getrieben; 
würden, ad infinitum), sagt er uns nicht. Noch sagt er 
uns, ob in Anbetracht der Thatsache, als die Breite der 
Linie von dem Material, aus dem sie hergestellt ist, ab- 
hängt, wir eine Papp-, eine Holz-, eine Steingeometrie u. s. w^ 
als verschiedene Wissenschaften zu unterscheiden hätten 
oder nicht. 

Um jedoch Mill und dem unter Diskussion befind- 
lichen Gegenstand Gerechtigkeit widerfahren zu lassen,, 
müssen wir uns Mill's eigene Ausführung vor Augen halten. 
Kehren wir zu seiner Auseinandersetzung zurück, so erhebt 
sich sofort die Frage: Was meint er mit der Behauptung,, 
dass keine räumlichen Elemente in Wirklichkeit so sind^ 
wie sie in der Wissenschaft der Geometrie betrachtet 
werden — dass es z. B. keine vollkommen geraden Linien 
gibt? Der einzig mögliche Sinn ist der, dass keine der so- 
genannten geraden Linien , von denen wir empirische 
Kenntnis besitzen, mit den geraden Linien, von denen wir 
anderweitige Kenntnis haben, kongruent sind, — dass- 
sie nicht übereinstimmen mit den Normaltypen der Geraden 
in unserem Bewusstsein. Mill behauptet aber, dass ,,die 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 231 

Linien u. s. f., die jemand in seinem Bewusstsein hat, bloss 
Abbilder der Linien sind, die er in seiner Erfahrung kennen 
gelernt hat." Es gibt somit keinen Massstab, mit dem die 
Linien der Erfahrung verglichen werden und von dem sie 
sich als abweichend herausstellen könnten. Mill's Theorie 
bricht also gleich mit der ersten Thatsache, die er zu ihrer 
Unterstützung anfährt, in ^sich zusammen.^®) Es ist dies 
keine blosse tadelsüchtige Kritik; es ist eine einfache Dar- 
legung der völligen Sinnlosigkeit der Prämissen, aus denen 
Mill's Schlüsse gezogen worden sind. Die ganze Grund- 
lage seiner Theorie zerbröckelt in dem Augenblick, wo 
an ihr gerührt wird. Bei weiterer Prüfung zeigt sich, dass 
er vollständig die Bedeutung der Thatsachen verkennt, die 
er anführt. Die wirkliche Bedeutung der eben angeführten 
Behauptung Mill's ist ganz verschieden von der, welche 
er ihr beilegt. Die Wahrheit, welche dieser Behauptung 
zu Grunde liegt, ist, dass wir, im Sinne Mill's, überhaupt 
keine empirische Kenntnis von Linien, Kreisen und Quadraten 
besitzen. Wir haben empirische Kenntnis von sogenannten 
geraden Stäben, Seilen, Kanten oder Rinnen, von sphärischen 
und kubischen Körpern mit kreisförmigen oder quadratischen 
Durchschnitten oder Seiten ; unsere Kenntnis von Punkten, 



**) Dass ein so scharfer Denker wie J. St. Mill gegen die 
mannigfachen Widersprüche und Absurditäten blind war, an denen 
seine Logik und Teile seiner anderen Schriften so reich sind, ist 
lediglich aus der Thatsache erklärlich , dass er seine Erkenntnis- 
theorie auf gut Glauben als ein heiliges Vermächtnis von seinem 
Vater übernommen hatte, der sie wieder seinerseits von französischen 
und englischen Nominalisten und Sensualisten des 17. und 18. Jahr- 
hunderts übernommen hatte. Die Lehren dieser Sensualisten waren 
notwendigerweise roh und ungereift, da sie zu einer Zeit entstanden 
sind, wo die rationale Psychologie in ihrer Kindheit war und an 
die vergleichende nicht einmal noch gedacht worden war ; und sie 
waren überspannt, weil sie durch den Widerstand gegen einen ebenso 
überspannten Realismus erzeugt wurden. 



233 • XIIL Kapitel. 

Linien, Oberflächen und geometrischen Kjörpern kommt 
aber lediglich durch den Prozess der Abstraktion zu Stande. 
Nichts ist klarer und leichter zu beweisen, als dass die 
Elemente der geometrischen Wissenschaft — die Grund- 
lagen, auf denen die Wissenschaft der Geometrie beruht, — '■ 
nicht durch Induktion haben erhalten werden können, und 
dass es a fortiori nicht richtig ist/ wie Mill behauptet, 
dass „jeder Schritt in den Schlussfolgerungen der Geometrie 
ein Akt der Induktion ist." Induktion besteht in der An- 
häufung von Beispielen , die alle dasselbe Element oder 
denselben charakteristischen Zug unter anderen Elementen 
und Eigentümlichkeiten enthalten. Doch hat noch niemand 
zwei Körper gesehen, deren Kanten, wiewohl gerade ge- 
nannt, sich nicht durch eine Prüfung bei einer hinläng- 
lichen Vergrösserung als in verschiedenen Graden gebrochen 
erwiesen hätten. Die Erfahrung liefert nicht zwei Beispiele; 
die die Form der Geradheit in gleichem Grade darbieten. 
Noch weniger hat jemand eine grössere Zahl von/Körpern 
gesehen, deren Kanten genau übereinstimmend gewesen 
wären. Dasselbe gilt natürlich mutatis mutandis von Punkten^ 
Kurven, Oberflächen und Körpern. Die Unterschiede ihrer 
Formen wie ihrer Grössen werden in dem Masse offen- 
barer, als die Vergrösserung wächst, mit der sie betrachtet 
werden. Ihre wahren Gestalten bleiben aber unentdeckbar 
durch jede noch so grosse uns zur Verfugung stehende 
Vergrösserung. In Wirklichkeit können wir nie Einblick 
gewinnen in die wirkliche Gegenwart einer streng richtigen 
und vollständigen geometrischen Thatsache. Es ist also 
einfach ein Unsinn, mit Mill zu sagen, dass die Punkte; 
Linien, Flächen, Körper u. s. f., von welchen die Geometrie 
handelt und über die sie gütige Schlüsse ziehen kann, 
wirkliche, d. h. physische und nicht imaginäre Punkte, 
Linien, Flächen und Körper sind,, und dass die Punkte* 
Linien, Flächen und Körper unseres Bevirusstseins Kopien 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc, 233 

derselben vorstellen. Es ist allerdings richtig, dass die 
geometrischen Elemente nicht imaginärer Natur sind , da 
sie sich ja . auf wirkliche Thatsachen beziehen ; . auch sind 
sie in keinem eigentlichen Sinne hypothetischer Art, 
wie von Dugald Stewart behauptet worden ist; sie sind 
vielmehr Begriffe, Ergebnisse der Abstraktion. Wäre 
dies anders, so würde ein geometrisches deduktives Ver- 
fahren — und in der That jede andere Art eines Vernunft- 
schlusses — völlig unmöglich sein. Jedes deduktive Ver- 
fahren hängt von dem Vermögen der Abstraktion ab. Diese 
Wahrheit findet ihre Anwendung nicht nur in der Geometrie 
und in der Mathematik überhaupt, sondern auch in was 
immer für einer Wissenschaft. Es ist dies aus zwei Gründen 
so : Erstens wird uns kein physisches Ding (oder historisches 
Ereignis) je experimentell mit allen seinen Eigenschaften, 
Beziehungen und Nebensächlichkeiten bekannt ; Empfindung 
und Wahrnehmung teilen dem Verstände nie di6 voll- 
ständige Thatsache mit. Zweitens ist, wie ich oben-ge- 
zeigt habe, der. Verstand bei der Behandlung der sogenannten 
Thatsachen^ die die sinnliche Erfahrung liefert, an gewisse 
bestimmte Beziehungen eingeschränkt, die > er von' anderen 
absondert oder abstrahiert. In den Prozessen des diskur- 
siven Denkens hat der Verstand niemals die, sinnlichen 
Objekte oder die Gesamtheit von Beziehungen , die deren 
geistige Bilder oder Repräsentanten ausmachen, vor sich, 
sondern nur eine einzige Beziehung oder eine Klasse von 
Beziehungen. Er operiert nach den Richtungen der Ab- 
straktion, und das Endergebnis seiner Bemühungen enthält 
nie mehr als die Grundzüge. des vorgestellten Gegenstandes^ 
Während aller seiner Operationen^ ist der Verstand völlig 
eingedenk des- Umstandes , dass kein Glied seiner Kette 
von Abstraktiorien noch auch die Gruppe seiner Absträktions- 
ergebnisse, die wir einen Begriff nennen (in dem engeren 
Sinne einer Vereinigung von Merkmalen, die einen Gegen- 



234 XIII , Kapitel, 

stand der Anschauung oder Empfindung darstellt) eine 
Kopie oder ein genaues Abbild des dargestellten Gegen- 
standes ist. Er ist sich stets dessen bewusst, dass, um 
wahre Übereinstimmung zwischen Begriffen oder einem 
Teile ihrer Merkmale mit den Formen objektiver Realität 
herzustellen, die in den Begriffen verkörperte Gruppe von 
Beziehungen durch eine unbestimmbare Zahl anderer Be- 
ziehungen ergänzt werden müsste, die nicht wahrgenommen 
wurden und möglicherweise einer Wahrnehmung nicht fähig 
sind. Doch beeinträchtigt dies in keiner Weise die Giltig- 
keit der Denkhandlung. Wenn der Mathematiker die Eigen- 
schaften eines Kegelschnittes bestimmt, weiss er sehr wohl, 
dass er keinen Körper finden wird, dessen geometrischer 
Umriss eine genaue Verwirklichung des Gesetzes von der 
Konstanz des Verhältnisses zwischen den Entfernungen eines 
seiner Punkte von einem fixen Punkt und einer fixen Ge-. 
raden vorstellt, und dass es in der Natur keine Wurfbahn 
gibt, die genau mit einer solchen Kurve übereinstimmt. 
Diese Kenntnis erschüttert indes nicht im geringsten sein 
Vertrauen auf die uneingeschränkte Giltigkeit seiner Schlüsse. 
Kommt er dazu, die Ergebnisse seiner Schlüsse auf natür- 
liche Thatsachen anzuwenden, so ergänzt er sie, soweit er 
es vermag, durch die Ergebnisse anderer Schlussweisen, 
die sich auf andere bekannte Beziehungen derselben That* 
Sache stützen, und kommt so der Thatsache so nahe als 
möglich, ohne vor der stets vor Augen gehaltenen Über- 
legung zu erschrecken, dass es ihm niemals gelingen wird, 
biS: zum wirklichen Vorhandensein der ganzen Thatsache 
mit samt allen ihren Beziehungen vorzudringen. 

Es ist klar, dass die Übereinstimmung der Ergebnisse 
des abstrakten oder begrifflichen Denkens mit den Daten 
der Erfahrung in direktem Verhältnisse steht zu dem Grade 
der Unabhängigkeit der benützten ßeziehungen von anderen 
Beziehungen, welche die Bedingungen der wirklichen Existenz 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 235 

des durch das Denken dargestellten Gegenstandes ausmachen. 
Hierin liegt der Vorrang der Geometrie vor den physi- 
kalischen Wissenschaften. In den sogenannten physikalischen 
Wissenschaften stehen die Beziehungen, von denen diese 
Wissenschaften handeln, mit einander in einem engen Zu- 
sammenhang; die thermischen, elektrischen, magnetischen^ 
optischen und chemischen Eigenschaften bestimmen ein- 
ander in verschiedener Weise. Wenn die Natur und der 
Grad dieser gegenseitigen Abhängigkeit genau bekannt wäre 
und in den Bereich einer erschöpfenden begrifflichen Analyse 
gebracht werden könnte, würden diese Wissenschaften in 
demselben Masse deduktiv werden, wie es die Geometrie 
ist. Alle physikalischen Wissenschaften streben den Fort- 
schritt in dieser Richtung an, doch ist. derselbe so gering, 
dass wenig Hoffnung vorhanden ist, das hier gesteckte 
Ziel zu erreichen. Ein Grund dafür ist der, dass die Zahl 
der neu entdeckten Beziehungen . sich in demselben (wenn 
nicht in einem stärkeren) Verhältnis vervielfältigt wie die 
Natur und der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen 
den schon bekannten und ans Licht gebrachten Beziehungen. 
Die Schwierigkeit der Bestimmung der fjaglichen gegen- 
seitigen Abhängigkeit wächst im geometrischen Verhältnisse, 
wenn die Zahl der neuen Beziehungen im arithmetischen 
zunimmt. 

Die vorhergehenden Betrachtungen reichen meines Er- 
achtens nach aus, die Unhaltbarkeit der sensualistischen 
Ansicht über den Raum und die Natur der Berechtigung 
geometrischer Wahrheiten zum mindesten in der ihr von 
MiLL gegebenen Form darzuthun. Diese Überlegungen ver- 
mögen jedoch nicht im geringsten den allgemeinen Satz 
anzufechten, dass alle unsere Kenntnis der objektiven Welt 
aus der Erfahrung abgeleitet ist. Dieser Satz scheint mir 
unleugbar zu sein und wird ohne Zweifel, ausdrücklich oder 
mehr weniger indirekt, gegenwärtig von jedem Menschen 



i$6 XIIL Kapitel. 

gesunden Geistes gebilligt, nachdem sich die einzigen dies-» 
bezüglich vorhandenen Streitfragen nur um den Sinn von 
Worten bewegen. Die Sensualisten aber und besonders, 
wie ich bereits gezeigt habe, die Begründer und Förderer 
der transcendentälen Geometrie fugen noch einen Satz hin- 
zu, der sorgsam von dem eben aufgestellten zu unter- 
scheiden ist. Sie behaupten > dass der Raum nicht nur 
objektive Realität besitzt , sondern ein direkter ' und unab- 
hängiger Gegenstand der Empfindung ist, dessen Eigen- 
schaften in empirischer Weise wie die irgend eines anderen 
physischen Dinges ermittelt werden können. Dieser Be- 
hauptung ist von den Gegnern des geometrischen Trans- 
cendentsdismus die Gegenbehauptung entgegengestellt worden, 
dass der Raum gleich der Zeit kein unabhängiger Gegen- 
stand der Empfindung, sondern wie es Kant gelehrt oder 
gelehrt haben soll, eine blosse Form der Anschauung ist, 
ein Zustand oder eine Bedingung des Geistes, die unab- 
hängig von und vor aller sinnlichen Erfahrung vorhanden 
ist. . Der Streit zwischen den Verfechtern der neuen Lehre 
und ihren Gegnern ist in dem durchgängigen beiden Par- 
teien gemeinsamen Glauben gefuhrt worden, dass diese 
Ansichten strikte Alternativen sind, und dass keine andere 
Ansicht zulässig oder möglich ist. Es sei nun gestattet, diese 
zwei widerstreitenden Behauptungen durch Thatsacheil der 
Erkenntnis zu prüfen, über die keine Meinungsverschieden- 
heit besteht, oder die vernünftigerweise nicht angefochten 
werden können. 

Was nun zunächst die Behauptung von Riemann und 
Helmholtz angeht, s6 befindet sich der Raum, wenn er 
ein physischer reeller Gegenstand ist, sicherlich nicht ausser- 
halb der anderen physischen Gegenstände ,' ist denselben 
nicht koordiniert und von ihnen verschieden. Wenn wir 
sagen, dass sich alle Dinge im Räume befinden,^ so meinen 
wir damit nicht, dass sie in ihm enthalten sind 'wie Wasser 



Die Theorie von d. absoluten Endliöhkeii d, Welt etc. 237 

in einem Gef^Lsse, sondern wir meinen^ dass es keinen ob- 
jektiv reellen Gegenstand gibt, der nicht räumlich ausge- 
dehnt wäre oder, in der gewöhnlichen Sprechweise, dass 
die räumliche Ausdehnung eine primäre Eigenschaft aller 
Arten objektiver Existenz ist. Diese Thatsache ist so klar^ 
dass sich Descartes durch sie zu der Behauptung ver- 
leiten Hess, die räumliche Ausdehnung sei die einzige 
wahre Eigenschaft objektiver Existenz. In welcher Weise 
denn und durch welche Mittel unterscheiden wir den Raum 
von den gewöhnlich sogenannten physischen Dingen ? Sicher- 
lich nicht, oder wenigstens nicht direkt durch die Empfin- 
dung. Verschiedene Empfindungsakte können verschiedene 
Eigenschaften desselben Gegenstandes zeigen, und diese 
Eigenschaften können somit von einander getrennt werden. 
Kein Akt der Empfindung sondert die Ausdehnung eines. 
Körpers von allen seinen anderen Eigenschaften ab und 
zeigt die Eigenschaft der Ausdehnung für sich allein. Die 
Sensualisten behaupten aber (und hier stossen sie auf den 
Grund ihrer Gegner, der kantischen Idealisten), dass, wie- 
wohl es keine physischen Gegenstände ohne räumliche 
Ausdehnung gibt, und wiewohl die Ausdehnung in eineni 
Sinrie eine gemeinsame Eigenschaft aller physischen Gegen- 
stände ist, trotzdem diese Gegenstände nicht allen Raum 
erfüllen, indem sich zwischen ihnen reiner Raum befinde. 
Die Antwort darauf besteht darin, dass diese Behauptung,, 
auch wenn sie wahr ist, den Sensualisten nichts hilft. Denn 
eine Empfindung ist nur dann und dort möglich, wo eine 
objektive Verschiedenheit und Veränderung vorkommt ; wir 
haben direkte Empfindungen von den verschiedenen und 
veränderlichen sogenannten physikalischen Eigenschaftea- 
und nicht von jenen , die durchaus homogen und unver- 
änderlich sind. Hier kommt das HoBBEs'sche Gesetz zur 
Geltung : „Sentire semper idem et non sentire 
ad idem recidunt". Es ist gerade die Thatsache der 



^3^ • XIIL Kapitel. 

Homogeneität und Un Veränderlichkeit im Verein mit der 
der beständigen Anwesenheit bei allen physischen Gegen- 
ständen, welche die Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung 
von allen anderen charakteristischen Eigenschaften eines 
realen Dinges unterscheidet und den Sensualisten in den 
Stand setzt, von der Existenz des Raumes überhaupt zu 
reden. Könnte dieser Unterschied verwischt werden — 
könnte diese Schranke begrifflicher Art, welche die durch 
physische Wirkung erzeugten Empfindungen von den Be- 
wusstseinszuständen sondert, die den Raum vorstellen, ein- 
mal niedergerissen werden — dann wäre gar kein Grund 
mehr vorhanden fiir die Unterscheidung zwischen den 
„Eigenschaften" des Raumes und denen irgend einer Materie. 
Wir würden uns zu der Aussage genötigt sehen, dass die 
einzige Art objektiver Existenz entweder Raum oder Materie 
ist (wobei die Unterscheidung eine blosse Sache der Nomen- 
klatur wäre), und dass alle Eigenschaften, die wir jetzt der 
Materie zuschreiben, in Wahrheit und in der That Eigen- 
schaften des Raumes seien. 

Dass alles dies der Aufmerksamkeit von Riemann und 
Helmholtz entgangen sein sollte, ist erstaunlich in Anbe- 
tracht der von ihnen beiden zu dem Zwecke gemachten 
Annahme, um die angebliche Notwendigkeit zu rechtfertigen, 
dem Räume ein konstantes Krümmungsmass zuzuschreiben 
und so die Zahl der Arten des Raumes auf die drei zu 
beschränken, die ihrer Behauptung nach zulässig sein sollten, 
nämlich auf den sphärischen Raum mit einem positiven 
Krümmungsmass, den pseudosphärischen mit einem negativen 
Krümmungsmass, und den ebenen oder homaloidalen Raum 
mit dem Krümmungsmass Null. ^ "^ Ich meine die An- 
nahme, dass die Körper in der Sprache des bereits citierten 



^*) Feux Ki^in („Über die nicht-euklidische Geometrie", Mathe- 
matische Annalen, Bd. IV, S. 577) bezeichnet diese Arten des Raumes 
als elliptisch, parabolisch und hyperbolisch. 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d^ Welt etc. 239 

RiEMANN „unabhängig von ihrem Orte im Räume existieren", 
womit offenbar gemeint ist, dass sie eine vom Räume ver- 
schiedene, wenn nicht ganz unabhängige physikalische Be- 
schaffenheit besitzen. Auf dem Boden dieser Annahme 
lässt sich aber kein vernünftiger Grund, der auf den Prä- 
missen der transcendentalen Theorie beruhen oder mit 
denselben verträglich wäre, angeben, warum der Raum 
seinem Wesen nach nicht paraboloidal oder hyperboloidal 
oder polyhedral oder von sonst einer Form sein könnte, 
die die schöpferische Phantasie des nächsten nicht-homaloi- 
dalen Geistes auszusinnen vermöchte. 

Dies führt mich zu der Behauptung der Transcenden- 
talisten, dass die Eigenschaften des Raumes, wie z. B. der 
Grad und die Form seinei Krümmung, durch das Experi- 
ment zu bestimmen seien. Wie könnte eine solche Be- 
stimmung ausgeführt werden? Nehmen wir an, es würde 
ein Astronom in geeigneten Zwischenräumen sein Fernrohr 
auf einen Fixstern richten — von dessen Erdabstand er 
sich auf irgend eine Weise (sagen wir durch das Spektroskop) 
überzeugt hätte, das er grösser als der des Arcturus ist — 
um seine Parallaxe zu bestimmen. Nehmen wir an, er 
würde diese Parallaxe merklich kleiner finden als die des 
weniger weit entfernten 'Sterns — mit anderen Worten, 
nehmen wir an, er würde den Winkel seiner Visirlinien 
verschieden von dem durch die bekannten Thatsachen und 
Gesetze der Astronomie und Optik geforderten finden : was 
wäre sein Schluss? Es ist nicht schwer, die Antwort auf 
diese Frage vorauszusagen, denn der vorausgesetzte Fall 
ist nicht ohne Präcedenz in der Geschichte der Astronomie. 
Eine Veränderung in der Lage der Visirlinien ist wieder- 
holentlich von Astronomen beobachtet worden, die nicht 
im Stande waren, sie durch die ihnen bekannten That- 
sachen und Naturgesetze zu erklären. Im Anfange des ver- 
gangenen Jahrhundertes machte Bradley (mit Unterstützung 



?4Q XIIL Kapitel. 

von MoLYNEUx) eine Reihe teleskopischer Beobachtungen 
über den Stern y im Drachen, um den Betrag der schein-? 
baren Abweichung zu bestimmen, der durch die jährliche 
Bewegung der Sonne zu Stande kommt, und so die jähr-, 
liehe Parallaxe der Fixsterne zu entdecken — eine zu 
damaliger Zeit sehr wünschenswerte Leistung, um einea 
ständigen, dem kopemikanischen System wegen des an^. 
geblichen Fehlens einer solchen Parallaxe gemachten Vor- 
wurf zu beseitigen. Zu seiner Überraschung fand er eine 
der Richtung nach verschiedene und dem Grade nach bei 
weitem grössere Verschiebung als er erwartet hatte. Diese 
Unregelmässigkeit musste erklärt werden, und Bradley 
kannte keine physikalische Ursache, der er sie hätte zu- 
schreiben können. Er dachte einige Zeit an die Nutationy 
dann an die Refraktion; doch überzeugte er sich bald,, 
dass keine dieser Thatsachen eine Erklärung zu geben im 
Stande sei. Er wurde endlich durch ein sorgfaltiges Studium 
der Veränderungen in der Richtung und in dem Wachs-, 
tum der Verschiebung dazu geführt, eine Lösung des Ger 
heimnisses in der Zusammensetzung der Geschwindigkeit 
des Lichtes mit der der Erdbewegung zu finden, und wurde 
so der Entdecker dessen, was jetzt unter dem Namen der 
Aberration des Lichtes bekannt ist. In allen seinen Ver-' 
legenheiten kam er indessen nicht ein einziges Mal auf 
den Gedanken, die Unregelmässigkeit der Erscheinung könnte 
die Folge einer Krümmung des Raumes sein. Mit Be- 
stimmtheit kann auch behauptet werden,, dass keiner der 
heute lebenden Astronomen die unregelmässige Parallaxe^ 
deren Entdeckung ich supponiert habe, einer räumlichen 
Pseudosphäricität zuschreiben würde. Denn abgesehen von 
allen anderen Betrachtungen, würde d^r Astronom jeden 
Versuch dieser Art sofort mit der Entgegnung niederschlagen^ 
dass eine dem Räume . wesentlich zukommende Krümmung. 
Unterschiede zwischen seinen verschiedenen Teilen — Un- 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 241 

gleichmässigkeiten seiner inneren Beschaffenheit — bedingen 
würde, und dass die angenommene Hypothese somit nichts 
geringeres zur Folge hätte als die Beilegung von Eigen- 
schaften an den Raum, durch deren Fehlen er sich ja 
einzig und allein von der Materie unterscheidet. 

Die Theorie der geometrischen Transcendentalisten ist 
somit unmöglich wegen der Absurdität ihrer Grundvoraus- 
setzungen. Der Raum ist kein Gegenstand der Empfindung 
und kann es nicht sein. Dem Räume Beziehungen und 
sinnliche Wirkungen von der Art beizulegen, wie sie bei 
einer Empfindung zum Vorschein kommen, ist unmöglich 
ohne Verschiedenheiten zwischen seinen Bestandteilen an- 
zunehmen, deren Leugnung die Grundlage jeden Raum- 
begriffes bildet, welches auch immer die logische oder 
psychologische Lehre sein möge, auf die der Begriff be- 
zogen wird. Sind wir nun genötigt, die Gegenbehauptung 
der kantischen Idealisten anzunehmen, dass der Raum eine 
rein subjektive Form der Anschauung ist, die in unserem 
Geiste unabhängig und vor allen Empfindungsvorgängen 
vorhanden ist — die Lehre der metaphysischen und mathe- 
matischen Gegner? Untersuchen wir, auf welche Gründe 
diese Lehre sich stützt. 

Der kantische Idealist behauptet, dass die Idee des 
Raumes nicht nur ein unveränderliches Element einer jeden 
einzelnen Empfindung, sondern eine der Empfindung voraus- 
gehende Bedingung sei; dass, bevor wir im Stande sind, 
irgend einen subjektiven Eindruck auf eine objektive Ur- 
sache zu beziehen und somit überhaupt von der Existenz 
objektiv realer Dinge oder Erscheinungen zu reden, die 
Grundlage dieser Beziehung — der Beziehung nicht nur 
zwischen dem Drinnen und Draussen, sondern auch zwischen 
mindestens zwei Elementen des Draussen , deren gegen- 
seitige Einwirkung die Empfindung hervorbringt — bereits 
im Geiste vorhanden sein müsse. Die Empfindung, sagt 

StalLO, Begriffe u. Theorieen. l6 



242 . XIIL Kapitel, 

man, geht auf Objekte; sie ist im wesentlichen ein Schritt 
voa einer subjektiven Affektion oder einem subjektiven 
Gefühl zur objektiven Realität. Wo ist der Grund für 
diesen Schritt? Nicht in der objektiven Welt, behauptet 
der Kantianer; denn die Gegenstände werden lediglich 
durch Vermittlung dieses Schrittes erreicht und gelangen 
so in die Anschauung und Empfindung. Er muss somit 
im Subjekt, im Geiste gelegen sein; und er muss vor der 
einzelnen Empfindung da seih. Dass dem so ist, geht 
überdies (wie behauptet wird) aus der Thatsache hervor, 
dass die Idee des Raumes absolut unvernichtbar ist. Wir 
können in Gedanken den Raum seines sinnlichen Inhaltes 
entleeren; der Geist vermag alles wegzudenken, was Gegen- 
stand der Empfindung ist; doch vermag er nicht den 
Raum selbst wegzudenken. Der Raum ist ein integrierender 
Bestandteil aller möglichen Bewusstseinszustände. 

Die vorhergehende Darlegung ist eine gute und hin- 
länglich erschöpfende Auseinandersetzung der kantischen 
Ansicht. Diese Ansicht hat einen gemeinsamen Zug mit 
der der Sensualisten , auf den ich schon gelegen tUch an- 
gespielt habe — nämlich die Annahme, dass der Raiun 
entweder als Gegenstand der Empfindung oder als eine 
Form der Anschauung, als eine unabhängige That- 
sache existiert und somit an sich einer objektiven oder 
subjektiven Auffassung (apprehension) fähig ist. Ich habe 
bereits gezeigt, dass diese Annahme im sensualistischen 
Sinne unbegründet ist. Bei sorgfaltiger Prüfung erweist 
sie sich als ebenso unbegründet im Sinne der Idealisten. 
Es ist nicht wahr, dass wir in Gedanken den Raum seines 
ganzen Inhaltes entäussern und im Geiste oder vor dem 
Geiste die Form oder das Bild des reinen Raumes haben 
können. Im Gegenteil ist die Idee des Raumes stets im- 
wandelbar im Bewusstsein mit einer bestimmten Sinnes- 
qualität verknüpft. Wenn wir es versuchen, uns den Raum 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt etc, «43 

vorzustellen, erscheint er stets mit der Gesichtsvorstellung 
irgend einer, wenn auch noch so schwachen Farbenempfin- 
dung verknüpft. In ähnlicher Weise erweist er sich bei 
dem Versuche seiner Vorstellung nach der Tastsphäre hin 
als ebenso untrennbar von einer Reproduktion irgend einer 
Form des Druckes oder des Tastsinnes.^*) In dieser Be- 
ziehungen ist den Argumenten von Hume und Berkeley (die 
notwendigerweise einfache Berufimgen auf das Bewusstsein 
sind) nie mit Erfolg entgegengetreten worden. Die Scheidung 
zwischen der „Idee" der räumlichen Ausdehnung und den 
Erregungen ,. die eine Empfindung zusammensetzen, die 
wir im Stande — imd fiir die Zwecke des diskursiven 
Denkens gezwungen — waren, auszuführen, ist nicht eine 
in der Anschauung gelegene, sondern eine be- 
griffliche. Wenn wir ein objektiv reelles Ding be- 
trachten, so können wir kraft unseres Abstraktionsver- 
mögens auf die Eigenschaft der räumlichen Ausdehnung bei 
völliger Ausserach tlassung. seiner sinnlichen Qualitäten unsere 
Aufmerksamkeit richten; doch sobald wit es versuchen, 
uns seine Ausdehnung als wirklich vorzustellen — ein Ge- 
dankenbild der Ausdehnung zu bilden, oder sie als eine 
besondere Form der Anschauung vorzustellen — sind wir 
sofort gezwungen, sie mit einem Datum der Empfindung 
zu bekleiden oder zu vergesellschaften, das wir als eine 
zufallige Rückwirkung eines physikalischen Prozesses deuten. 
Anschauung (im kantischen Sinne) ist ein wesentlicher Teil 
der Empfindung und erscheint als solche in den Sinnes- 
äusserungen ebenso wie in deren gedanklichen Repro- 
duktionen. 

Dies genügt für die Beurteilung des kantischen Argu- 
mentes, dass der Raum eine subjektive Form der An- 

**) Vgl. Sir William Hamilton's Lectures on Metaphysics, 
Lect. 22; Stumpf, Über den psychologischen Ursprung der Raum- 
vorstellungen, Leipzig, Hirzel, 1873, S. 19. 

I6* 



^44 XIIL Kapitel, 

schauung sein müsse, weil der Geist nicht im Stande sei, 
ihn aus seinem Bewusstsein auszuscheiden. Eine zweite 
einfache Überlegung ist ebenso verhängnisvoll für die Be- 
hauptung, dass der Raum eine subjektive Form sein müsse, 
die vor allen einzelnen Empfindungen existiere 
und damit die unvermeidliche Grundlage für den Schritt 
sei, durch welchen der Verstand ein äusseres Objekt er- 
reicht. Die offenkundige Antwort darauf ist die, dass, wenn 
der Raum rein subjektiv und ganz im Geiste gelegen ist, 
er ganz gewiss keinen Grund für einen Schritt abgeben 
kann, der aus demGeisteherausführt. Diese Über- 
legung bildet die wahre Grundlage des nachkantischen 
Idealismus Fichte's und in einem gewissen Sinne auch 
Schopenhauer's. Das ganze Argument aber, so wie die 
aus demselben erwachsenen idealistischen Verwicklungen 
beruhen auf der alten ontologischen Annahme, dass Dinge 
oder Wesen unabhängig von einander und anders als Glieder 
einer Beziehung existieren können. Dass dies von objektiv 
realen Dingen nicht richtig ist, ist hinlänglich auf den 
vorhergehenden Seiten dieses Buches gezeigt worden; es 
ist gleicherweise unrichtig für das Verhältnis des erkennen- 
den Subjektes zu seinem Objekt. In jedem Akt primärer 
Erkenntnis entsteht die sogenannte objektive Erscheinung 
und ihr subjektives Gegenstück in demselben Augenblick, 
da die Realität des einen von der des anderen abhängig 
ist. Dies ist die ursprünglichste und nicht weiter zurück- 
führbare Thatsache der Erkenntnis, die deshalb nicht weniger 
eine Thatsache ist, weil sie von den Metaphysikern in 
mannigfachster Weise missverstanden worden ist und An? 
lass zur Entstehung einer Schar absurder Erkenntnistheorieen 
gegeben hat. 

Was ist denn nun die wirkliche Natur des Raumes 
und welches ist die wahre Quelle unserer Kenntnisse über 
ihn? Sind die vorausgegangenen Betrachtungen giltig und 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit rf. Welt etc. 245 

entscheidend, dann lässt diese Frage nur eine Antwort zu. 
Der Raum ist ein Begriff, ein Produkt der Abstraktion. 
Alle Gegenstände unserer sinnlichen Erfahrung zeigen die 
Eigenschaft der Ausdehnung in Verbindung mit einer Zahl 
verschiedener und veränderlicher Qualitäten der Empfindung ; 
und wenn wir nach und nach von diesen verschiedenen 
Empfindungen abstrahiert haben, kommen wir schliesslich 
zu der Abstraktion oder dem Begriff einer Form räumlicher 
Ausdehnung. Ich sage ausdrücklich Form der Aus- 
dehnung, und nicht einfach Ausdehnung oder Raum, 
denn das erstere und nicht das letztere ist das summum 
gen US der hier angeführten Abstraktionskette. Wenn das 
Wort „Begriff* in dem Sinne gebraucht wird, in welchem 
es den Repräsentanten eines möglichen Gegenstandes der 
Anschauung vorstellt, ist eine räumlich ausgedehnte 
Form das letzte Resultat des Verfahrens, durch welches 
ein Gegenstand oder eine Erscheinung begriffen werden 
kann. Die Abstraktion oder der Begriff (jetzt das Wort 
in einem weiteren Sinne gebrauchend) Ausdehnung im 
allgemeinen oder Raum, wird durch eine andere 
Reihe von Abstraktionen erreicht, von denen ich später 
etwas zu sagen haben werde. DiQ Unterlassung des Unter- 
scheidens dieser Begriffe, die keinen Bezug auf Grenzen 
und Formen haben, und den wahren summa genera der 
Klassifikation der sinnlichen Gegenstände ist eine der Quellen 
der Verwirrung, die überall die Theorie des transcendentalen 
Raumes erflillt, wie wir gleich sehen werden. 

Die Lehren der Idealisten (oder richtiger gesagt In- 
tellektualisten) über die Natur des Raumes sind also ebenso 
unhaltbar wie die der Sensualisten. Die Meinung der 
Schüler von Kant und Schopenhauer, dass die Lehren 
der transcendentalen Geometrie durch eine Berufung auf 
die „Transcendentale Ästhetik" der „Kritik der reinen Ver- 
nunft'* zurückgewiesen werden könnten, ist ein Irrtum. Der 



246 XIIL Kapitel, 

Satz, dass der Raum eine rein subjektive Form der An- 
schauung ist, kann nicht im geringsten die Position der 
geometrischen Transcendentalisten erschüttern. Ihre ein« 
fache Elrwiderung gegen die Kantianisten ist die, dass, 
wenn der Raum eine angeborene Form oder Bedingung 
des Geistes wäre, die die Wahrnehmung der äusseren Gegen- 
stände nach einer gewissen Ordnung oder nach gewissen 
Gesetzen bedingt, es wieder eine Frage der Thatsächlich- 
keit wäre, zu bestimmen, welches diese Ordnung und welches 
diese Gesetze wären. Mag der Raum geistiger Natur sein 
oder nicht, die Frage, ob er eben, sphärisch oder pseudo- 
sphärisch sei, bleibt bestehen. Mag die Form der im Räume 
möglichen Linien und Flächen das Ergebnis physikalischer 
Beschaffenheit ausserhalb des Geistes, oder der inneren 
Beschaffenheit des Geistes selbst sein — in jedem Falle 
ist die Thatsache dieselbe, wie auch immer sie zu beweisen 
sein mag. Dies steht in völligem Einklang zu Kant's eigener 
bestimmter Erklärung in seinen „Noten zur transcendentalen 
Ästhetik", ^•) worin er erklärt , dass unsere Art der An- 
schauung nicht notwendig beschränkt ist auf die be- 
sondere Beschaffenheit unseres Geistes, sondern auch von 
anderen denkenden Wesen geteilt werden kann, „wiewohl 
dies eine Materie ist, die wir ausser Stande sind zu ent- 
scheiden ^^ Aus dieser Erklärung ergibt sich der unwider- 
legbare Schluss, dass die Frage nach der bestimmten Form 
der Anschauung in einem gegebenen Geiste lediglich eine 
Frage der Thatsachen ist. In dieser Beziehung ist denn 
Helmholtz -^) unzweifelhaft im Recht gegen Land, Krause, 
Becker und die anderen Kantianer. 



^*) Kritik der reinen' Vernunft (her. v. Rosenkranz), S. 49. 

^^) Vgl- jjl"^^ Origin and Meaning of Geometrical Axioms'^ 
Mind, III. Bd., S. 212 ft [Deutscher Text in den „Wissenschaftlichen 
A-bhandlungen", Bd. II, S. 640; Anna. d. Herausg.], und „Die That 
Sachen in der Wahrnehmung", Berlin 1879 [Vorträge und Reden^ 
ßd. II, S. 213 ff. ; Anm. d. Herausg.]. 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d, Welt etc, «47 

Nachdem wir so zu dem Schlüsse gelangt sind, dass 
der Raum weder ein physischer Gegenstand der Empfindung, 
noch eine angeborene Form des Geistes, die unabhängig 
und vor aller Empfindung besteht, sondern ein Begriff ist, 
sind wir nun im Stande, auf eine Reihe von Betrachtungen 
einzugehen, die ähnlich denjenigen sind, die wir gegen die 
behauptete experimentelle Bestimmbarkeit der Krümmung 
des Raumes ins Feld geRihrt haben, und durch die der 
wahre Charakter der transcendentalen Theorie des Raumes 
so gründlich dargelegt wird, dass keine vernünftige Meinungs- 
verschiedenheit mehr über deren Verdienste bestehen bleiben 
kann. Die erste dieser Betrachtungen ist diese : Wenn die 
Lehren der Transcendentalisten wirklich begründet sind, 
so folgt, dass dem Räume eine zwingende Kraft inne wohnt, 
die sich aus seiner Beschaffenheit ergibt und die andere 
Linien und Flächen als die, welche sich der ihm zu- 
kommenden Form anpassen, unmöglich macht. Wenn der 
Raum nicht „eben" ist, sondern z. B. sphärisch — ich 
nehme für den Augenblick und zu dem Zwecke der Be- 
weisführung an, dass die Behauptung einer „Ebenheit" des 
gewöhnlichen „Euklidischen" Raumes einen Sinn hat — 
dann folgt jede Linie in ihm notwendig einer bestimmten 
Bahn, an die sie durch ein inneres Gesetz gebunden ist, 
das die Anordnung ihrer Teile bestimmt. Eine berechtigte 
und unvermeidliche Konsequenz davon ist die, dass in 
einem Räume von einer bestimmten besonderen Krümmung 
selbst Linien von verschiedenen Krümmungsgraden unmög- 
lich sind. Sobald einmal das Krümmungsmass eines solchen 
Raumes bestimmt ist, müssen alle Linien sich demselben 
anpassen. Es ist keine Antwort darauf zu entgegnen, dass 
LOBATSCHEWSKY Und Beltrami die praktische Möglichkeit 
der Herstelhmg eines in sich konsequenten und logisch 
zusammenhängenden Systems der Geometrie auf Grund des 
Nichtparallelismus der „kürzesten Linien" dargethan haben, 



248 XIII . Kapitel. 

und Professor Lipschitz gezeigt hat, dass die Gesetze der 
von bewegenden Kräften abhängigen Bewegungen konse- 
quent auf spärische oder pseudosphärische Räume über- 
tragen werden können, so zwar, dass der zusammenfassende 
Ausdruck aller Gesetze der Dynamik, das Prinzip von 
Hamilton, direkt auf Räume übertragen werden kann, deren 
Krümmungsmass von Null verschieden ist. Denn die Kon- 
struktionen von LoBATSCHEWSKY Und Beltrami (die auch 
als Grundlage den Untersuchungen von Lipschitz dienen), 
sind alle Konstruktionen von Linien und Flächen; und 
diese Konstruktionen beruhen auf Postulaten, die mit den 
Postulaten des nichteuklidischen Raumes ganz unverträglich 
sind. Eines dieser Postulate besteht darin, dass es im 
sphärischen so gut wie im pseudosphärischen Räume mög- 
lich sein soll, Linien von beliebigem Krümmungsmass und 
somit auch vom Krümmungsmass Null zu ziehen, d. h. 
gerade Linien im alten Sinne. Wie könnte in der That 
das „Krümmungsmass" anders bestimmt werden? Dieses 
Krümmungsmass hängt ab von dem Radius der Krümmung ; 
nach Gauss ist das zu einer jeden Fläche, die die Ver- 
schiebung von auf ihr gelegenen Figuren ohne Verände- 
rung ihrer Seiten und Winkel zulässt, gehörige Krümmungs- 
mass konstant gleich dem Produkte der reciproken Werte 
des grössten und kleinsten Krümmungsradius. Diese Radien 
sind gerade im alten Sinne; denn wenn sie nicht gerade 
wären, hätten sie ein gewisses Krümmungsmass, das wieder 
nur durch Bezugnahme auf andere besondere Radien be- 
stimmt werden könnte u. s. f. ad infinitum, bis wir schliess- 
lich zu der alten Euklidischen geraden Linie kommen 
würden. 

Die rechten Prämissen der Theorie des nichteuklidi- 
schen Raumes führen zu dem unausweichbaren Schlüsse, 
dass die Linien solch eines Raumes, wiewohl Kurven, weder 
Tangenten noch- Normalen haben, weder Halbmesser noch 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt eic, 349 

Sehnen, und dass sie auf Grund der nichteuklidischen Postu- 
late allein völlig unbestimmt sind. Es ist dies wieder ein 
bemerkenswertes Beispiel für den ontologischen Irrtum, dass 
Dinge und Formen an sich bestimmbar sind, ohne Bezug 
auf und Vergleich mit entsprechenden anderen Dingen und 
Formen. Was nach dieser Seite der Lehre der Trans- 
cendentalisten besonders bemerkenswert ist, ist die dem 
wirklichen Raum zugeschriebene wesentliche Unterscheidung 
zwischen den Formen seiner behaupteten Krümmung — 
die Behauptung, dass sein Krümmungsmass entweder 
positiv, oder negativ, oder Null sein müsse. Diese Be- 
hauptung ist um so bemerkenswerter, als die Transcenden- 
talisten den Anspruch erheben, dass die neue Lehre das 
alte System der Geometrie von seinen willkürlichen Be- 
schränkungen befreit hätte und eine Erweiterung, eine 
logische Ausdehnung der Idee des Raumes sei. 

Die Quelle aller dieser Verlegenheiten, in die wir uns 
durch die Annahmen und Theorieen der Transcendentalisten 
verwickelt finden, liegt so klar auf der Hand, dass es ein 
Wunder ist, wie sie so gänzlich von den Gegnern der neuen 
Lehre nicht weniger wie von ihren Anhängern übersehen 
werden konnte. Der Grundfehler dieser Lehre ist die Be- 
hauptung, dass der Raum, mit dem sich die gewöhnliche 
„Euklidische" Geometrie abgibt, ein „ebener" und nicht ein 
sphärischer oder pseudosphärischer sei. In Wahrheit 
ist der Raum, dessen Vor Stellung oder Begriff 
allen möglichen geometrischen Konstruktionen 
zu Grunde liegt, einschliesslich der der Pan- 
geometer, weder eben, noch sphärisch, noch 
pseudosphärisch, noch von einer anderen be- 
stimmten Gestalt, sondern er ist einfach die 
anschauliche und begriffliche Möglichkeit für 
die Konstruktion einiger oder aller charakte- 
ristischen Linien der ebenen, sphärischen. 



2 5© XI IL Kapitel, 

parabolischen, hyperbolischen u. s. f. und bis 
zu einem gewissen Masse der pseudosphäri- 
schen Flächen innerhalb seiner — eine Möglich- 
keit, die er dem Umstände verdankt, dass er nicht mehr 
und nicht weniger als ein Begriff ist, der durch die Weg- 
lassung unserer Gedankenbilder der physischen Gegenstände 
gebildet wurde und zwar nicht nur durch die Weglassung 
aller Merkmale, die deren physikalische Eigenschaften ausser 
der Ausdehnung ausmachen, sondern auch aller Ge- 
staltsbestimmungen, durch die sie sich unter- 
scheiden. Dies ist der einzige Sinn, in dem wir ein 
Recht haben, vom Raum als einem ebenen oder homaloiden 
zu sprechen. Der Raum besitzt keine innere Struktur oder 
bestimmte Gestalt, weil er kein physischer Gegenstand ist 
und somit keine „Eigenschaften" hat, die durch Experiment 
oder Beobachtung ermittelt werden . könnten. Noch besitzt 
er irgend welche Eigenschaften, die mit Recht so genannt 
werden könnten und a priori durch einen Akt der An- 
schauung bestimmbar wären. Raum ist eines der letzten Er- 
gebnisse der Abstraktion, bei welchem die begriffliche Unter- 
scheidung mit der Bezeichnung zusammenfallt und somit die 
begriffliche Bestimmung an ihrem Ende angelangt ist. Ich 
wiederhole : der Raum hat keine Eigenschaften, denn als ein 
Wesen betrachtet besitzt er keine Beziehungen, da sein wahres 
Wesen in der Verneinung oder Abstraktion von allen Be* 
Ziehungen besteht. Es ist aus diesem Grunde ein Missbrauch 
der Worte, die Geometrie (wie es so oft geschieht und erst 
kürzlich von Professor Henrici -^) geschehen ist) als eine 
Wissenschaft zu definieren, „deren Gegenstand die Unter- 
suchung der Eigenschaften des Raumes bildet". Gegen- 
stand der Geometrie ist die Untersuchung der möglichen 
Bestimmungen oder Beschränkungen des Raumes, d. h. der 



**) Encycl. Britan., Geometry. 



Die Theorie von d. obsoluten Endlichkeit d. Welt etc. 2S1 

Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Aus- 
dehnung oder der Eigenschaften der Figuren. ^'^) Die ganze 
Wissenschaft der Geometrie beschäftigt sich damit, was der 
Begriff Raum notwendig ausschliesst, nämlich mit Grenzen, 
Die Geometrie nimmt in der That nur so weit Rücksicht 
auf den Raum, als die Grenzen, von denen sie handelt, 
räumliche Grenzen sind. Aus dieser Thatsache entsteht 
der Unterschied zwischen dem Ziel der Geometrie und 
jenem der anderen Zweige der reinen Mathematik und die 
Nichtanwendbarkeit vieler Methoden und Resultate der 
mathematischen Analysis auf die Beziehungen zwischen den 
Formen des Raumes — ein Unterschied, dessen Missach- 
tung eine so ergiebige Quelle von Irrtümern bei jenen 
war, die Schlüsse über die ,,Eigenschaften" des Raumes 
(wie z. . B. über die mögliche Zahl seiner Dimensionen) 
aus dem abstrakten Begriff „Gross e" zu ziehen versuchten. 
Die Geometrie ist ohne Zweifel eine empirische Wissen- 
schaft, wiewohl nicht in dem Sinne, in dem der Ausdruck 
j,empirisch" gewöhnlich verstanden wird und besonders nicht 
in dem Sinne, in dem er von Mill und den geometrischen 
Transcendentalisten gedeutet wurde. Sie ist eine empirische 
Wissenschaft insofern, als sie von einer Eigenschaft physischer 
Dinge, der Ausdehnung, handelt, die ein letztes oder 
vielmehr ein erstes und nicht weiter zurückfuhrbares Datum 
des Empfindungsaktes ist — . gerade so ein Datum, wie es 
das der Farbenempfindung ist, mit der, wie ich gezeigt 
habe, die Gesiclitsanschauung des Raumes stets verknüpft 
ist. Alle Versuche, wie z. B. die von Herbart, die Idee 
der Ausdehnung durch eine Bearbeitung solcher Daten der 
Empfindung, die gewöhnlich als qualitative bezeichnet werden. 



*^) In diesem Sinne definiert D'Alembert (Elemens de Philo- 
sophie, § 15 — Oeuvres, tome i, p. 268) die Geometrie als die 
,, Wissenschaft von den Eigenschaften der Ausdehnung, insofern 
man diese bloss als ausgedehnt und begrenzt ansieht.'* 



252 XIIL Kapitel. 

zu erhalten, sind ebenso misslungen, wie die entsprechenden 
Versuche, die qualitativen Elemente der Empfindung aus 
den Formen der Ausdehnung abzuleiten. Das primäre Datum 
der Ausdehnung bildet das empirische Element in der 
Wissenschaft der Geometrie. Dieses primäre Datum ist 
nicht der Raum, sondern begrenzte Ausdehnung, 
denn Empfindung und Anschauung haben wir nur von be- 
sonderen Körpern, und somit von begrenzter Ausdehnung, 
und nicht von Ausdehnung überhaupt, oder vom Raum. 
Formen von begrenzter Ausdehnung geben hingegen Anlass 
zur Entstehung des Begrififes Raum durch Anwendung des 
bereits erwähnten Abstraktionsprozesses. Andererseits sind 
die Schlüsse der Geometrie nicht aus empirischen Daten 
allein abgeleitet und kommen nicht durch Induktion zu 
Stande, wie Mill behauptet. In diesem Sinne ist die Geo- 
metrie keine empirische Wissenschaft. Es gibt auch 
kein geometrisches Axiom, das rein durch die 
Empfindung gegeben Wäre, wie von den Sen- 
sualisten behauptet wird, oder durch Anschau- 
ung nach den Lehren der Idealisten oder In- 
tellektualisten. Alle geometrischen Axiome, die als 
Ausgangspunkte der Deduktion dienen, enthalten zwei Ele- 
mente : ein Element der Anschauung (als Teil der Empfin- 
dung) und ein Element willkürlicher Verstandesbestimmung, 
das man Definition nennt. Die Thatsachen der Aus- 
dehnung und ihre Grenzen — Oberflächen, Linien und 
Punkte — sind durch Anschauung gegeben; ohne sinnliche 
Erfahrung würden wir über geometrische Körper, Flächen, 
Linien und Punkte nichts wissen; es lässt sich jedoch aus 
der Existenz dieser Elemente, oder unserer Anschauung von 
denselben nichts herleiten, solange sie nicht definiert sind. 
Dies geht aus einer einfachen Betrachtung der geometrischen 
Axiome hervor. Das Axiom , das durch zwei Punkte* nur 
eine einzige Gerade gezogen werden kann (oder was das- 



Die Theorie von d, absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 255 

selbe ist, dass zwei Gerade keinen Raum einschliessen) ver- 
langt die Definition der Geraden — eine Definition, die 
nebenbei bemerkt, weit schwieriger auf rein geometrischer 
Grundlage herzustellen ist , als die von den Parallelen. *^) 
Das Axiom von den Parallelen in der ihm jetzt allgemein 
gegebenen Form, dass durch einen gegebenen Punkt nur 
eine Parallele zu einer gegebenen geraden Linie gezogen 
werden kann, setzt die Definition nicht nur von der geraden 
Linie, sondern vom Parallelsein überhaupt voraus, was in 
der Elementargeometrie die Schwierigkeit bietet, den Be- 
griff der unendlichen Ausdehnung in sich zu enthalten,, 
und das zu unzähligen Schwierigkeiten geführt hat (wie 
z. B. zu den unendlich fernen und doch reellen Schnitt- 
punkten) , worunter die von der . pangeometrischen Sorte 
nicht die geringsten sind. Euklid's Aufzählung von Defi- 
nitionen, Postulaten und Axiomen leidet nicht oder zum 
mindesten nicht nur an dem Fehler, dass die Grenzen 
zwischen diesen verschiedenen Vorbedingungen geometrischen 
Schliessens nicht korrekt gezogen sind — dass er Defi- 
nitionen mit Axiomen und Postulate mit beiden ^*) ver- 



^') Die wirkliche Quelle dieser Schwierigkeit liegt in einem, 
fundamentalen Mangel der gangbaren Erkenntnistheorieen — der 
mangelnden Einsicht, dass jede Art von Deduktion eine schliessliche 
Bezugnahme auf primäre Konstanten verlangt, die nicht durch Er- 
fahrung gegeben, sondern durch den Verstand bestimmt sind. Diese 
primäre Konstante ist in der Geometrie die gerade Linie oder -ein- 
fach die Richtung. Dass die sich beim 10. Axiom Euklids („zwei 
Gerade können keinen Raum einschliessen") aufwerfenden Schwierig- 
keiten derselben Art sind wie die des 12. (das gewöhnlich als das 
1 1 . bezeichnet wird — das Axiom von den Parallelen) ist schon lang 
erkannt worden. „La definition et les proprietes de la ligne droite,"^ 
sagt D'Alembert (Elemens de Philosophie, § 12 — Oeuvres, tome I, 
p. 280), „ainsi que des lignes paralleles sont donc l'ecueil et, pouc 
ainsi dire, le scandale des elemens de geometrie." 

**) Hankel (Vorlesungen über die komplexen Zahlen und ihre 
Funktionen, S. 52) macht darauf aufmerksam, dass diese Verwirrung 



2 54 ' XIIL Kapitel. 

wechselt, und es ausserdem * unterlässt, zwischen Axiomen 
der Grösse im allgenieinen und Axiomen räum- 
licher Grössezu unterscheiden — sondern an seiner 
Unkenntnis oder Missachtung der Thatsache, auf die ich 
bereits hingewiesen habe, dass jedes Axiom, das geometrisch 
fruchtbar ist, eine Definition enthält. Und diese Unkennt- 
nis — sehr entschuldbar zu Euklid's Zeiten — scheint 
unglücklicherweise noch heute von den Verfassern geo- 
metrischer Lehrbücher geteilt zu werden. 

Einer der Punkte, auf den die Debatte zwischen 
Helmholtz und seinen Gegnern in ausgedehntem Masse 
eingegangen ist, besteht in der Frage, ob Beltrami's pseudo- 
sphärischer Raum vorstellbar ist oder nicht; und um diese 
im bejahenden Sinne zu beantworten, schlägt Helmholtz 
eine bemerkenswerte Definition der Vorstellbarkeit vor. Er 
definiert das Vermögen, sich räumliche Formen vorzustellen, 
als „diie Fähigkeit, sich vollständig die Sinneseindrücke vor- 
zustellen, welche der Gegenstand in uns nach den be- 
kannten Gesetzen der Sinnesorgane unter allen denkbaren 
Bedingungen der Beobachtung erregen würde und durch 
die er von anderen ähnlichen Gegenständen unterschieden 
werden könnte.*' ^^) Wie immer auch der allgemeine Wert 

nicht EuKUD, sondern seinen Herausgebern und Kommentatoren zur 
Last zu legen ist. „In allen Manuskripten," sagt Hankel, die F. 
Peyrard bei der Vorbereitung seiner ausgezeichneten Ausgabe Euklid's 
(Oeuvres d'Euclide trad. en Latin et en Frangais, tome I, p. 454) 
gesammelt hat, erscheint das berühmte II. Prinzip der Parallelen- 
theorie nicht unter den xoivaa %woiai^ die sich auf gleiche und un- 
gleiche Grössen beziehen, sondern als das 5. Postulat {aXrrifKt), 
Ebenso erscheint das lo. Axiom in allen diesen Manuskripten als 
das 4. Postulat, während die Manuskripte in Betreff des 12. Axioms 
von einander abweichen , wodurch es evident wird , dass die drei 
Axiome den Platz, den sie imverantwortiicher Weise noch in der 
Liste der Axiome inne haben , einem Missverständnisse verdanken." 
**) jjOrigin and Meaning of Geometrical Axioms", Mind, vol. III, 
p. 215 [Wiss. Abh., Bd. II, S. 640 ff., Anm. d. Herausg.]. 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d. Welt etc. 255 

dieser Definition beschaffen sein mag, so verfällt sie doch 
sicherlich dem Vorwurfe der Unerheblichkeit für die be- 
treffende Sache. In der Sprache der alten Logiker beruht 
dieselbe auf einer ignoratio elenchi, einem Missverständnis 
der Fragestellung. Geben wir zum Zwecke der Beweis- 
fuhnmg zu, dass der Akt der Vorstellung einer räumlichen 
Form richtig als eine Anticipation von Sinnesieindrücken 
beschrieben wird, so geht die Frage nach dem Vorhanden- 
sein der gesuchten Fähigkeit nicht dahin, worin die Natur 
dieser Eindrücke besteht, sondern ob sie in der Vorstellung 
in der verlangten räumlichen Ordnung und in der Form, 
die den bekannten Gesetzen des Vorstellungsvermögens ent- 
spricht, existieren können oder nicht Helmholtz beruft 
sich auf die Versuche von Beltrami, den pseudosphärischen 
Kaum durch Projektion seiner Punkte, Linien und Flächen 
auf das Innere einer gewöhnlichen Kugeloberfläche, „deren 
Punkte den imendlich fernen Pimkten des pseudosphärischen 
Raumes entsprechen", vorstellbar zu machen und behauptet, 
dass dieser Versuch erfolgreich sei. In demselben Sinne 
bemerkt Professor Sylvester in der Note zu seiner bereits 
erwähnten Exeter Ansprache, dass „jede perspektivische Dar- 
stellimg einer vierdimensionalen räumlichen Figur eine Figur 
des wirklichen Raumes sei, und dass die Eigenschaften der 
Figuren in ausgedehntem Masse, wenn nicht gar vollständig 
an deren perspektivischen Darstellungen studiert werden 
können." So wurde es eine ständige Behauptung der 
Pangeometer, dass die Raumformen irgend einer gegebenen 
Dimension in einen Raum der nächst niederen Dimension 
projiciert werden könne. Wenn eine gerade Linie ortho- 
gonal auf eine andere Gerade projiciert wird , die zu ihr 
senkrecht steht, so erscheint sie als ein Punkt; eine Form 
der ersten Dimension erscheint so gewissermassen auf die 
nullte Dimension reduziert. Der sie darstellende Punkt be- 
fähigt uns aber an sich nicht, die Linie wieder zu erzeugen 



256 XIII. Kapitel 

und über sie zu urteilen, von der er die Projektion ist. 
Man könnte sagen, dass wir zum mindesten wissen, dass 
die Linie eine gerade ist; das ist aber ein Schluss, der 
nur aus den von anderswo uns bekannten Eigenschaften 
der Linien folgt; aus der blossen Betrachtung des Punktes 
lässt sich nicht einmal schliessen, dass er eine Projektion 
einer Linie überhaupt ist. In ähnlicher Weise kann eine 
Ebene so auf eine andere projiciert werden, dass sie als 
eine Linie erscheint, wodurch eine Form von zwei Dimen- 
sionen auf eine von einer Dimension reduziert erscheint; 
doch folgt daraus nicht, dass wir die Eigenschaften der 
Ebene durch blosse Betrachtung oder Analyse der Linie 
studieren können. Die sogenannten Projektionen von Körpern 
auf Flächen sind in Wirklichkeit Projektionen verschiedener 
Flächen, die mit einander verschiedene Winkel einschliessen, 
auf eine Normalfläche, und die Schlüsse aus solch' einer 
Projektion auf die Eigenschaften geometrischer Körper 
hängen von unseren Associationen der Gesichts- mit den 
Tasteindrücken ab, auf der unsere Auffassung der geo- 
metrischen Körperlichkeit beruht. Nachdem es eingestan- 
denermassen keine Tast- oder andere Eindrücke gibt, welche 
die Existenz einer vierten Dimension beweisen, ist die 
Analogie, auf der die behauptete Vorstellbarkeit trans- 
cendentaler Raumformen beruht, ohne Grund. 

Es kommt aber wenig darauf an, welcher Grund fiir 
die (kürzlich in anderer Form durch Felix Klein ^®) vor- 
gebrachte) Behauptung vorhanden ist, dass die Hilfsmittel 



^^) „Über die nicht-euklidische Geometrie", Math. Ann., Bd. 4, 
S. 573. In diesem Artikel wird wie in fast allen Schriften der 
Pangeometer, die ad libitum von imaginären und unendlich fernen 
Punkten handeln, die analytische Darstellbarkeit (mit Hilfe von 
Symbolen , wobei unendliche und imaginäre Elemente als gleich- 
berechtigt mit reellen behandelt werden) mit der Vorstellbarkeit ver- 
wechselt. 



Die Theorie von d. absoluten Endlichkeit d, Welt etc, 257 

der projektiven Geometrie ausreichend sind, uns eine Vor- 
stellung der Eigenschaften des mehr als dreidimensionalen 
Raumes im dreidimensionalen Räume zu verschaffen; denn 
die Frage nach der Vorstellbarkeit ist dem erörterten Gegen- 
stande völlig fremd. Wenn z. B. gezeigt würde, dass eine 
pseudosphärische Fläche in Gedanken oder wirklich im 
Räume konstruiert werden könnte, so würde dies sicherlich 
nicht beweisen oder zu beweisen trachten, dass der Raum 
an sich pseudosphärisch ist. Es- liegt kein Zweifel über 
die Vorstellbarkeit einer sphärischen Fläche vor, es folgt 
daraus aber nicht, dass der Raum an sich sphärisch ist. 
Als Grimdbedingung des Schlusses auf die wesentliche 
Pseudosphäricität des Raumes würde die Behauptung not- 
wendig sein, dass nur pseudosphärische Flächen existieren 
und demnach (in Gemässheit der Lehren des Sensualismus) 
in demselben als existierend vorgestellt werden können. 
Und in Anbetracht dessen hört nicht nur das ganze Argu- 
ment von Helmholtz auf, als Stütze des geometrischen 
Transcendentalismus verwendbar zu sein, sondern prallt auf 
ihn selbst zurück. Wenn pseudosphärische Flächen als 
existierend vorgestellt werden können und somit auf Grund 
seiner eigenen Prinzipien in einem „ebenen" Räume mög- 
lich sind, warum können nicht gewöhnliche gerade Linien 
und ebene Flächen im pseudosphärischen Räume existieren? 
Und was wird dann aus dem teleskopischen Nachweis der 
Krümmung des Raumes ? Oder missverstehe ich Helmholtz' 
wahre Meinung? — behauptet er einfach, dass pseudo- 
sphärische Oberflächen vorstellbar sein würden durch pseudo- 
sphärische Wesen mit pseudosphärischen Sinnesorganen und 
daraus sich ergebendem pseudosphärischen Verstände in 
einem pseudosphärischen Räume, falls er existierte? Das 
wäre eine Behauptung, die selbst Land und Krause schwer- 
lich bezweifeln würden. 

Die Geschichte der Erkenntnis bietet vielleicht kein 

StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 17 



258 XIIL Kapitel, 

zweites Beispiel dar, das für die Unüberwindbarkeit in- 
tellektueller Überlieferungen instruktiver wäre als die Lehren 
der transcendentalen Geometrie. Werfen wir noch einen 
Blick zurück auf den Inhalt dieses Kapitels, so sehen wir, 
dass selbst die Wissenschaft der Mathematik — die exakteste 
von .allen, deren Methoden ebenso unfehlbar sein sollen, 
als ihre Grundlagen ewig, und die stets seit den Zeiten 
des Erwachens menschlicher Intelligenz ihre gerade Bahn 
durch alle Wechsel der Spekulation hindurch verfolgt hat — 
von den Vorurteilen des ontologischen Realismus nicht aus- 
genommen ist. Die Verselbstständigung des Raumes durch 
die Mathematiker steht in einer strikten Analogie zu der 
Verselbständigung der Masse und Bewegung durch die 
Physiker. 

Der ganze Umfang der Verwirrung, in die die Sinne 
der zeitgenössischen Mathematiker durch das falsche Licht 
der Ontologie gefilhrt worden sind, kann indessen in noch 
viel helleres Licht durch eine weitere Prüfung des speku- 
lativen Hintergrundes der Transcendentalgeometrie gerückt 
werden, wie er in der berühmten bereits citierten Abhand- 
lung von RiEMANN zu Tage tritt. 



XIV. 

Der metageometrische Raum im Lichte 
er modernen Analysis. — Ribmann's Abhandlung. 

Die Abhandlung Bernhard Riemann's „Über die Hypo- 
lesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen" verdankt 
ire grosse Berühmtheit der Thatsache, dass ihr Verfasser 
in Mathematiker ersten Ranges, einer der Lieblingsschüler 
)n Gauss war. Unter dem Einfluss seiner Lehren, wenn 
icht auf seinen besonderen Rat hin, ist sie geschrieben 
orden und von ihm kurz vor seinem (Gauss') Tode 1854 
er philosophischen Fakultät von Göttingen vorgelegt worden. 
ire Hauptsätze wurden ausdrücklich als Ausdruck seiner 
igenen spekulativen Ideen anerkannt. Jeder verständige 
,eser dieser Abhandlung wird mit mir, denke ich, darin 
bereinstimmen, dass ihr wahrer Wert in keinem richtigen 
erhältnis zu der Aufmerksamkeit steht, mit der sie auf- 
^nommen wurde und dem Interesse, das ihr noch allgemein 
itgegengebracht wird. Nicht nur, dass ihre Darlegungen 
»wohl bezüglich des Problems, wie der vorgeschlagenen 
«3sungsmethoden, roh und verworren sind, tragen sie durch- 
is den Stempel von Riemann's sehr unvollkommener Ver- 
autheit mit der Natur logischer Prozesse und selbst mit 
er Bedeutung logischer Ausdrücke an sich. Aus dem 
ganzen Gedankengang der Abhandlung geht hervor, dass 
ihr Verfasser den Diskussionen über die Natur des Raumes, 
die von den besten Denkern unserer Zeit seit den Tagen 
Kant's so eifrig betrieben wurden, völlig fremd gegenüber- 
stand, und dass er so wenig mit der Geschichte der Logik 

17* 



26o XIV. Kapitel. 

vertraut war, dass er weder den geringsten Argwohn gegen 
die Vieldeutigkeit solcher Ausdrücke wie „Begriff* und 
„Grösse", noch die Notwendigkeit empfand, dass ihre exakte 
Definition der Untersuchung über die wahren Grundlagen 
menschlicher Erkenntnis vorhergehen müsse. ') 

Der Beweisgang der Abhandlung ist im allgemeinen 
der, dass die Natur des Raumes aus seinem Begriffe her- 
zuleiten ist; dass die Bildung eines solchen Begrififes not- 
wendig die Subsumption unter einen höheren Begriff ver- 
langt; dass dieser höhere Begriff der einer „mehrfach aus- 
gedehnten Grösse ist"; dass, um zu bestimmen, wie viele 



^) RiEMANN selbst entschuldigt sich bescheiden wegen der philo- 
sophischen Mängel seiner Abhandlung auf Grund seiner Unerfahren- 
heit in philosophischen Dingen. Die Plumpheit seiner Spekulationen 
bietet meines Erachtens ein sehr schlagendes Beispiel für die wohl- 
bekannte Thatsache , dass die ausschliessliche Hingabe an ana- 
lytische Arbeiten die Neigung hervortreten lässt, gewisse besondere 
Verstandeskräfte auf Kosten der Allgemeinheit und Stärke des Ver- 
standes zu entwickeln. Wiewohl Sir WiLUAM Hamilton ohne Zweifel 
die Sachlage zu Ungunsten der Mathematiker übertrieben hatte, glaube 
ich , dass seine Vermutungen der Aufmerksamkeit nicht völlig un- 
wert sind, und dass eine gewisse Stärke in den (von Sir Wiluam 
Hamilton citierten) Worten D'Alembert's gelegen ist, die wohl am 
besten im Original ohne Übersetzung angeführt werden mögen: „II 
semble que les grands geom^tres devraient ^tre excellens metaphysi- 
ciens, au moins sur les objets dont ils s'occupent; cependant il s'en 
faut bien qu'ils le soient toujours. La logique de quelques 
uns d'^tre eux est renfermee dans leurs formules et 
ne s'etend pas au dela. . On peut les comparer ä un homme 
qui aurait le sens de la vue contraire ä celui du toucher, ou dans 
lequel le second de ces sens ne se perfectionnerait qu'aux depens 
de l'autre. Ces mauvais metaphysiciens dans une science oü il est 
si facile de ne le pas etre , le seront k plus forte raison infailUble- 
ment, comme l'experience le prouve, sur les matieres ou ils n'auront 
pas le calcul pour guide. Ainsi la geometrie qui mesure les corps, 
peut servir en certains cas ä mesurer les esprits meme." D'Alembert, 
Element de Philosophie, § 1 1 ; Oeuvres, tome I, p. 276. 



Der metageometr, Baum im Lichtf, d, modern, Analysis. 261 

Arten des Raumes möglich sind, es notwendig ist zu er- 
mitteln, auf wie viel Arten eine Glosse „mehrfach ausge- 
dehnt" sein könne; und dass, nachdem die Zahl der be- 
grifflich möglichen Arten mehrfacher Ausdehnung auf diese 
Art festgestellt worden ist, es eine Sache der experimentellen 
Untersuchung ist, festzustellen, welche dieser Arten durch 
unseren Raum dargestellt ist, d. h^ durch den Raum, in 
dem sich die Welt, wie wir sie kennen, befiMdet. Nach- 
dem auf diese Weise Riemann versichert hat, dass der 
Begriff „Raum" unter den Begriff „Grösse" zu subsumieren 
sei, geht er zu der Erklärung über, dass alle Grössen ihrer 
Natur nach Mannigfaltigkeiten sind , welche stetig heissen, * 
wenn ein stetiger Übergang von einer „Bestimmungsweise" 
zu einer anderen stattfindet, und diskret, wenn ein solcher 
nicht vorhanden ist; dass ferner die „B^stimmungsweisen** 
diskreter Grössen „Punkte" heissen und die der stetigen 
„Elemente" dieser Mannigfaltigkeit; und dass stetige Grössen 
durch Messung, diskrete durch Zählung bestimmt werden. 
Der Raum ist nach Riemann, wiewohl eine stetige Grösse,, 
eine Grösse n facher Ausdehnung und ist somit eine Mannig- 
faltigkeit und daher eine Grösse trotz seiner Stetigkeit. 
Der Grad der Mannigfaltigkeit seiner Ausdehnung — d. h. 
ob derselbe einfach, zweifach, dreifach oder allgemein n-fach 
ausgedehnt ist — bestimmt den logischen Umfang des 
Begriffes Raum. 

Wir haben hier fünf verschiedene Sätze, die aus Gründen 
der Zweckmässigkeit der Bezugnahme und Erörterung, in 
deutlich geschiedener Form, wie folgt, hier aufgezählt 
werden mögen: 

1 . Die Natur des Raumes ist aus dem Begriff desselben 
abzuleiten. 

2. Der Begriff des Raumes kann nur durch Subsumption 
unter einen höheren Begriff gebildet und bestimmt werden. 

3. Unser Raum ist eine dreifach ausgedehnte Mannig- 



202 XIV. Kajntel. 

faltigkeit; der höhere Begriff, unter den dieser Begriff zu 
subsumieren kommt, ist der einer n-fach ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit; der Umfang dieses höheren Begriffes be- 
stimmt, wenn man Riemann's Ausdrucksweise auf ihre ein- 
fache logische Bedeutung zurückführt, die Zahl der möglichen 
Arten des Raumes. 

4. Die begriffliche Möglichkeit des Raumes ist gleich- 
bedeutend mit seiner empirischen Realität. 

5. Stetige und diskrete Grössen sind einander beige- 
ordnet, d. h. sie sind Arten derselben Gattung, indem beide 
ihrer Natur nach Mannigfaltigkeiten sind. *) 

•) Die Ordnung und Aufzählung dieser Sätze ist natürlich meine 
eigene; in Riemann's Abhandlung erscheinen sie in sehr gemischter 
Reihenfolge. Zum Beweise der Korrektheit meiner Darstellung der 
RiEMANN'schen Lehren im allgemeinen wird es vielleicht gut sein, 
wenn ich den einleitenden Teil seiner Abhandlung im Original eitlere 
und dabei die wichtigsten Stellen durch gesperrten Druck hervorhebe : 

„Über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen." 

„Plan der Untersuchung.** 

„Bekanntlich setzt die Geometrie sowohl den Begriff des Raumes, 
als die ersten Grundbegriffe für die Konstruktionen im Räume als 
etwas Gegebenes voraus. Sie gibt von ihnen nur Nominaldefinitionen, 
während die wesenüichen Bestimmungen in Form von Axiomen auf- 
treten. Das Verhältnis dieser Voraussetzungen bleibt dabei im Dunkeln ; 
man sieht weder, ob und in wie weit ihre Verbindung notwendig, 
noch a priori, ob sie möglich ist.*' 

„Diese Dunkelheit wurde auch von Euklid bis Legendre, um 
den berühmtesten neueren Bearbeiter der Geometrie zu nennen, weder 
von den Mathematikern, noch von den Philosophen, welche sich 
damit beschäftigten, gehoben. Es hatte dies seinen Grund wohl 
darin, dass der allgemeine Begriff mehrfach ausgedehn- 
ter Grössen, unter welchen die Raumgrössen enthal- 
ten sind, ganz unbearbeitet blieb. Ich habe mir daher 
zunächst dieAufgabe gestellt, den Begriff einer mehr- 
fach ausgedehnten Grösse aus allgemeinen Grössen- 
b e g r i f f e n zu konstruieren. Es wird daraus hervorgehen, dass 
eine mehrfach ausgedehnte Grösse verschied euer Mass- 
verhältnisse fähig ist, und der Raum also nur einen 



Dei' metagomdr, Raum im Lichte d. modern. Änalysis, 263 

Ich gehe nun daran, diese Sätze der Reihe nach in 
Betracht zu ziehen. 



besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Grösse 
bildet. Hiervon ist aber eine notwendige Folge , dass die Sätze 
der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Grössenbegriffen ableiten 
lassen, sondern dass diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der 
Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Grössen unter- 
scheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können. Hieraus 
entsteht die Aufgabe, die einfachsten Thatsachen aufzusuchen, aus 
denen sich die Massverhältnisse des Raumes bestimmen lassen — 
eine Aufgabe, die der Natur der Sache nach nicht völlig bestimmt 
ist; denn es lassen sich mehrere Systeme einfacher Thatsachen an- 
geben, welche zur Bestimmung der Massverhältnisse des Raumes hin- 
reichen ; am wichtigsten ist für den gegenwärtigen Zweck das von 
Euklid zu Grunde . gelegte. Diese Thatsachen sind wie alle 
Thatsachen, nicht notwendig, sondern nur von empi- 
rischer Gewissheit, sie sind Hypothesen, man kann also 
ihre Wahrscheinlichkeit, welche innerhalb der Grenzen der Beobach- 
tung allerdings sehr gross ist, untersuchen, und hiernach über die 
Zulässigkeit ihrer Ausdehnung jenseits der Grenzen der Beobachtung 
sowohl nach der Seite des Unmessbargrossen, als nach der Seite des 
Ünmessbarkleinen urteilen." 

,,I. Begriff einer n-fach ausgedehnten Grösse." 

„Indem ich nun von diesen Aufgaben zunächst die erste, die 
Entwicklung des Begriffes mehrfach ausgedehnter Grössen, zu lösen 
versuche , glaube ich um so mehr auf eine nachsichtige Beurteilung 
Anspruch machen zu dürfen, da ich in dergleichen Arbeiten philo- 
sophischer Natur, wo die Schwierigkeiten mehr in den Begriffen, als 
in den Konstruktionen liegen, wenig geübt bin, und ich ausser einigen 
ganz kurzen Andeutungen, welche Herr Hofrat Gauss in der zweiten 
Abhandlung über die biquadratischen Reste, in den göttingischen ge- 
lehrten Anzeigen, und in seiner Jubiläumsschrift darüber veröffent- 
licht hat, und einigen philosophischen Untersuchungen Herbart's 
durchaus keine Vorarbeiten benutzen konnte. 

„Grössenbegriffe sindnurda möglich, wo sich ein 
allg^emeiner Begriff vorfindet, der verschiedene Be- 
stimmungsweisen zulässt. Je, nachdem unter diesen 
Bestimmungsweisen von einer zu einer anderen ein 
stetiger Übergang stattfindet oder nicht, bilden sie 



204 XIV, Kapitel. 

I. Der erste Satz ist in klaren Worten ein Ausdruck 
des allgemeinen ontologischen Irrtums (der im neunten 



eine stetige oder diskrete Mannigfaltigkeit; die ein- 
zelnen Bestimmungsweisen heissen im ersten Fall 
Punkte, in letzterem Elemente dieser Mannigfaltig- 
keit. Begriffe, deren Bestimmungsweisen eine diskrete Mannigfaltig- 
keit bilden , sind so häufig , dass sich für beliebig gegebene Dinge 
wenigstens in den gebildeteren Sprachen immer ein Begriff auffinden 
lässt, unter welchem sie enthalten sind (und die Mathematiker konnten 
daher in der Lehre von den diskreten Grössen unbedenklich von der 
Forderung ausgehen , gegebene Dinge als gleichartig zu betrachten), 
dagegen sind die Veranlassungen zur Bildung von Begriffen, deren 
Bestimmungsweisen eine stetige Mannigfaltigkeit bilden, im gemeinen 
Leben so selten, dass die Orte der Sinnengegenstände und die Farben 
wohl die einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen 
eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden. Häufigere Ver- 
anlassung zur Erzeugung und Ausbildung dieser Begriffe findet sich 
erst in der höheren Mathematik." 

,, Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze 
unterschiedene Teile einer Mannigfaltigkeit heissen 
Quant a. Ihre Vergleichung der Quantität nach ge- 
schieht bei den diskreten Grössen durch Zählung, bei 
den stetigen durch Messung... Für den gegenwärtigen Zweck 
genügt es, aus diesem allgemeinen Teile der Lehre von 
den ausgedehnten Grössen, wo weiter nichts voraus- 
gesetzt wird, als was in dem Begriffe derselben ent- 
halten ist, zwei Punkte hervorzuheben, wovon der erste die Er- 
zeugung des Begriffs einer mehrfach ausgedehnten 
Mannigfaltigkeit, der zweite die Zurückführung der 
Ortsbestimmungen in einer gegebenen Mannigfaltig- 
keit aufQuantitätsbestimmungen betri f f t , und das wesent- 
liche Kennzeichen einer n fachen Ausdehnung deutlich machen wird." 

Ich muss bemerken, dass meine Auffassungen mehrerer Stellen 
dieses Textes mehr oder weniger Mutmassungen sind. Es ist Raum 
für ernste Zweifel vorhanden, z. B. ob der Ausdruck ,, Bestimmungs- 
weisen" in dem Sinne gemeint ist, dass er die zu einer Gattung ge- 
hörige Art bezeichnet, oder aber die Teile eines Ganzen. — Eine 
schlechte Übersetzung der RiEMANN'schen Abhandlung, die durch ihre 
plumpe Buchstäblichkeit viel zur Erhöhung der Dunkelheit und Ver- 



Der metageometr, Rau7n im Lichte d. modern. Änalysis, 265 

Kapitel hinlänglich zur Sprache gekommen ist), dass Dinge 
und deren Eigenschaften aus den Begriffen von denselben 
abzuleiten sind. Wie ich bereits hervorgehoben habe, de- 
finiert RiEMANN den Ausdruck „Begriff" nicht; noch unter- 
sucht er die Frage, wie Begriffe gebildet werden oder wie 
sie Eigentum des Verstandes werden. Er behauptet in der 
That, dass Grössenbegriffe nur möglich sind, wenn sie unter 
höhere Begriffe subsumiert werden können, oder wie er sich 
ausdrückt, „wenn sich ein allgemeiner Begriff vorfindet, der 
verschiedene Bestimmungsweisen zulässt". Die Frage aber, 
wo dieser Prozess der Subsumption beginnt oder endet, und 
worin die Natur und der Ursprung der höchsten Begriffe 
oder des summum genus gelegen ist, von dem alle 
niederen Gattungen oder Arten Spezialisierungen sein müssen, 
fallt ihm nicht auf. Es ist indessen eine unvermeidliche 
Schlussfolgerung aus Riemann's erstem Satz, dass er den 
allgemeinsten Begriff für eine a priori'sche Form oder einen 
a priori'schen Besitz des Geistes hält, und dass er den 
Prozess der Deduktion, durch welchen seine „Bestimmungs- 
weisen" abgeleitet werden, für eine Reihe synthetischer 
Urteile a priori (im Sinne Kant's) ansieht. Angesichts 
dessen erscheint eine weitere Betrachtung des Satzes über- 
flüssig; er wird durch den ganzen Gedankengang der vor- 
hergehenden Kapitel dieses Buches widerlegt. Es mag in- 
dessen gestattet sein zu bemerken, dass er in der ganzen 



worrenheit des Originals beiträgt, ist 1873 von W. K. Clifford 
veröffentlicht worden (Nature, vol. VIII, p. 14 u. 36 seq.). Diese 
Übersetzung ist ohne Zweifel nicht von, sondern für Professor 
Clifford von irgend wem gemacht worden, der eine höchst unzu- 
reichende Kenntnis des Deutschen besessen hat. Die Verdienste 
dieser Übersetzung werden nicht schlecht illustriert durch die Wieder- 
gabe des RiEMANN'schen Ausdruckes „Mannigfaltigkeiten" (Helm- 
HOLTZ übersetzt „aggregates") durch „manifoldnesses", der „Grössen- 
begriffe" durch „magnitude-notions", etc. An einer Stelle ist der 
ganze Sinn verkehrt, indem ,, könnten" statt „konnten" gelesen wurde. 



266 XIV. Kapitel 

Geschichte des Intellektualismus (gewöhnlich Idealismus ge- 
nannt) ohne Parallele dasteht; Kant z. B. verwirft aus- 
drücklich jeden Glauben an die Lehre, dass der Geist von 
allem Anfange an mit fertigen Begriffen versehen sei. 

2. Der zweite Satz, dass Grössenbegriffe nur durch 
Subsumption unter allgemeinere Begriffe gebildet werden 
können, ist wahrscheinlich eine vage Reminiscens der alten 
logischen Regel, nach der alle Definition per genus et 
differentiamzu geschehen habe. Trotz des von Riemann 
im zweiten Satze seiner Abhandlung ausgesprochenen Be- 
dauerns, dass die Wissenschaft der Geometrie bis jetzt nur 
Nominaldefinitionen des Raumes und der räumlichen Kon- 
struktionen gegeben habe — ein Bedauern das, beiläufig 
bemerkt, so weit es die räumlichen Konstruktionen angeht, 
unbegründet ist — scheint er keine besonders klare Ein- 
sicht in die Natur des Unterschiedes zwischen Definitionen 
und Begriffen zu besitzen. Denn wenn er wirklich sich 
diesen Unterschied vergegenwärtigt haben würde, hätte er 
nicht umhin können, sich die Frage zu stellen, was bei seiner 
Definition aus dem summum genus „Grösse" geworden 
ist, das den logischen Endpunkt des von ihm besprochenen 
Prozesses der Subsumption vorstellt. Ist dieses summum 
genus auch ein Begriff? Dann müsste es in Gemässheit 
seiner Regel unter einem noch höheren Begriff subsumierbar 
sein, der ex vi termini nicht vorhanden sein kann, da 
er selbst dann der höchste wäre. Oder ist dieses Etwas 
ein Gegebenes der Erfahrung? Wenn es dies ist, wie ist 
dann der zweite Satz mit dem ersten in Einklang zu bringen, 
nach dem alles aus dem Begriff herzuleiten ist, ebensowohl 
wie es unter einen solchen zu subsumieren ist? Oder ist 
dies der alte Fall der Henne von Newmarket, die ein Ei 
legt, aus dem dieselbe Henne eben als ein Küchlein her- 
vorkommt ? 

Der hier zur Sprache gebrachte Satz bringt unseren 



Der metageometr, Ratim im Lichte d. modern, Analysis, 267 

Autor von allem Anfang an in die unerträglichste Verlegenheit. 
„Begriffe", erklärt er, „deren Bestimmungsweisen eine dis- 
krete Mannigfaltigkeit bilden, sind so häufig, dass sich für 
beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebildeteren 
Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem 
sie enthalten sind". Der Sinn dieser Stelle ist meines Er- 
achtens der, dass von diskreten Mannigfaltigkeiten stets 
mehrere ähnliche oder verwandte Arten bestehen, die sich 
leicht unter einen höheren Begriff bringen lassen. „Da- 
gegen", fährt RiEMANN fort, „sind die Veranlassungen zur 
Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige 
Mannigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass 
die Orte der Sinnengegenstände und die Farben wohl die 
einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen 
eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltigkeit bilden" — das 
heisst, wie ich annehme, es gibt nur eine Art stetiger Man- 
nigfaltigkeit ausser dem Räume, die mit ihm eine Coordi- 
nation und Subsumption unter den Begriff einer „mehrfach 
ausgedehnten Mannigfaltigkeit'* gestattet, nämlich die Farbe. 
Diese sonderbare Behauptung (die, wie nebenbei bemerkt 
werden mag, das gerade Gegenteil der Wahrheit ist, die, 
wie wir später sehen werden, die ist, dass es nur eine Art 
diskreter Grössen, nämlich Zahlen, gibt, hingegen unzählige 
Arten stetiger) ist mit einem ausserordentlichen Aufwände 
analytischer Kunst von Benno Erdmann ausgearbeitet 
worden^), der zu dem Ergebnisse kommt, dass es zwei 
dreifach ausgedehnte Mannigfaltigkeiten gibt, die dem drei- 
dimensionalen Raum beigeordnet sind und sich mit ihm 
unter den Begriff einer stetigen mehrfach ausgedehnten 
„Mannigfaltigkeit" unterordnen lassen, nämlich Ton und 
Farbe. Ton ist nach Erdmann eine Funktion dreier un- 
abhängiger Variablen, der Höhe, Stärke und Klangfarbe. 



*^) Die Axiome der Geometrie, Leipzig 1877, P* 4^ seq. 



268 XJV, Kapitel, 

Ähnlich hängt die Farbe von den Variablen Farbenton, 
Sättigungsgrad und Stärke ab. ^) 

Dies alles ist einfach kindisch. Sich einzubilden, dass 
Schlüsse über die Natur des Raumes und den Ursprung 
seiner Begriffe aus der blossen Thatsache, dass der Raum 
eine Funktion dreier Variablen ist, gezogen werden können 
und derselbe daher in eine Linie mit ähnlichen Funktionen 
gestellt werden könne, ist ein Hohn auf alles vernünftige 
Schliessen, von dem sich ein alter Scholastiker mit der 
verächtlichen Bemerkung abgewandt hätte, dass Coordination 
und Subsumption zum Zwecke einer wirksamen Hilfe bei 
der Büdung eines besonderen Begriffes nicht nur unter ein 
g e n u s , sondern unter das genus proximum stattfinden 
müsse. *) Weissenborn's Bemerkung, •) dass aus denselben 
logischen Gründen der Raum mit dem von einem Kapital 
gelieferten Zinsenbetrage in eine Reihe gestellt werden 
könnte, der eine Funktion der drei Variablen Kapital, 
Prozentsatz und Zeit ist, ist vollkommen zutreffend. 
Die Zahl der dem Räume in demselben Sinne gleichgestellten 
Arten kann ins Unendliche vermehrt werden. So kann z. B. 
der Raum mit der Geschwindigkeit eines Eisenbahnzuges 
auf einer geraden Strecke in eine Linie gestellt werden, da 
ja diese Geschwindigkeit eine Funktion der bewegenden 



*) Es ist in diesem Zusammenhange bezeichnend , dass nach 
Helmholtz (der mit der RiEMANN'schen Theorie der Begriffsbildung 
übereinstimmt) die drei Variablen der Funktion „Farbe" die drei 
Grundfarben sind, von denen jede andere eine Mischung darstellen 
soll. ,,The Origin and Meaning" etc., Mind, vol. I, p. 309. 

*) Davon scheint Erdmann eine gewisse Ahnung zu haben, 
denn er bemerkt, dass sich der Raum von Farbe und Schall durch 
clen Umstand der unbedingten Gleichwertigkeit seiner drei Dimensionen 
unterscheidet, während die „Dimensionen" von Farbe und Schall nicht 
gleichbedeutend sind. 

*) „Über die neueren Ansichten vom Raum", Vierteljahrsschrift 
für wissenschaftliche Philosophie, 2. Band, S. 321. 



Der metageometr. Raum im Lichte d. modern, Analysis. 269 

Kraft der Maschine, des Zuggewichtes und der Steigung 
des Geleises ist ; oder mit der Verdunstung einer Flüssigkeit, 
die eine Funktion der Natur dieser Flüssigkeit, ihrer 
Temperatur und des athmosphärischen Druckes ist; oder 
mit der Arbeitsfähigkeit eines Mannes, die von seiner all- 
gemeinen .Gesundheit und Stärke , der Menge der einge- 
nommenen Nahrung und des genossenen Schlafes abhängt; 
u. s. w. bis ins Unendliche. All' dies ist ganz absurd, doch 
nicht mehr als die Gleichstellung des Raumes mit Ton 
und Farbe auf Grund der blossen gemeinsamen Abhängigkeit 
von drei Variablen, die willkürlich „Dimensionen" genannt 
werden. 

3. Ich komme nun zu Riemann's drittem Satze, dass 

« 

der Raum „eine mehrfach oder n-fach ausgedehnte Mannig- 
faltigkeit" sei. Der Ausdruck „Mannigfaltigkeit", wie er hier 
zur Verwendung kommt, bildet eine standige Verlegenheit fiir 
die Leser der RiEMANN'schen Abhandlung. Weissenborn, der 
mit Recht den Gebrauch eines Eigenschaftswortes zur Be- 
zeichnung eines Substantivums tadelt , vermutet, dass der 
Ausdruck von Riemann eigens zu dem Zwecke ersonnen 
worden ist, um den Begriff „Raum" dem zweiten seiner Sätze 
gemäss unter einen zweiten Begriff unterordnen zu können. ') 
Dies ist indessen ein Irrtum. Riemann tibernahm den Aus- 
druck von Gauss, der wahrscheinlich der Erfinder seines 
Gebrauches zur Bezeichnung des „allgemeinen Raumes" 
(zum Unterschied vom „flachen Räume" im metageome- 
trischen Sinne) gewesen ist.®) Gauss wieder entnahm den 



"') 1. c, S. 320. 

*) In seiner Anzeige der Theoria residuorum biquadraticorum, 
Commentatio secunda, sagt Gauss: „Der Verfasser hat sich vorbe- 
halten , den Gegenstand , welcher in der vorliegenden Abhandlung 
eigentlich nur gelegentlich berührt ist, künftig vollständig zu be- 
arbeiten, wo dann auch die Frage, warum die Relationen 
zwischen Dingen, die eine Mannigfaltigkeit von mehr 



270 XIV. KapUeL 

Ausdruck ohne Zweifel Herbart®), dessen Versuche, die 
Vorstellung des Raumes aus den mannigfach verschiedenen 
Sinnesempfindungen zu konstruieren, ich bereits erwähnt 
habe, und dessen Philosophie grösstenteils eine Art von 
Reproduktion der alten eleatischen Schwierigkeiten „über 
das Eine und das Viele" darstellt. Herbart endlich hat 
den Ausdruck von Kant übernommen, dessen Schüler er 
war oder zu sein glaubte, und dessen Phrase „Mannig- 
faltigkeiten der Empfindung" sich zu verschiedenen Malen 
nicht nur in seinen eigenen Schriften, sondern auch in denen 
seiner Nachfolger findet. 

Der einzige Kommentar, den ich über diesen Satz für 
nötig erachte, ist die Bemerkung, dass der Raum überhaupt 
keine Mannigfaltigkeit ist, sondern dass sein wahres Wesen 
in der Stetigkeit besteht. Dies folgt, wie mehr als zur Ge- 
nüge gezeigt worden, sowohl aus der Natur seines Begriffes, 
wie aus seiner Relativität. Die Bestimmung von Punkten 
im Räume oder von „Elementen" des Raumes erfolgt durch 
die Aufstellung quantitativer Beziehungen zwischen seinen 
Teilen, d. h. rein willkürlichen Zerteilungen, mit Hilfe von 
Zahlen auf die sofort in Betracht zu ziehende Weise. Ich 
habe bereits im letzten Kapitel gezeigt, dass der Raum 
nicht in irgend einem vernünftigen Sinne als Grösse be- 
zeichnet werden kann. 

4. Riemann's vierter Satz beruht auf einer Verwechselung 
begrifflicher mit reeller oder empirischer Mög- 



ais zwei Dimensionen darbieten, nicht noch andere, 
in der allgemeinen Arithmetik zulässige Arten von 
Grössen liefern können, ihre Beantwortung finden 
wird." Gauss, Werke, 2. Bd., S. 178. Diese Note erschien ur- 
sprünglich in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen vom 25. April 1831. 
•) In seiner Synechologie spricht Herba&T über „die Mannig- 
faltigkeit der irrationalen Fortschreitungen in Bezug auf den Raum." 
Herbart's Werke, 4. Bd., S. 153. 



Der metageometr. Baum hn Lichte d. modern, Analysis. 271 

lichkeit. Die begriffliche Möglichkeit ist lediglich durch die 
Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung der Elemente 
des zu bildenden Begriffes bestimmt — sie wird einfach 
durch das logische Gesetz des Widerspruches geprüft ; während 
die empirische Möglichkeit von der Verträglichkeit des 
wahrzunehmenden Dinges mit verschiedenen Bedingungen der 
Sinneswelt oder, was dasselbe bedeutet, den Naturgesetzen 
abhängt. Auch dieser Gegenstand ist schon im letzten 
Kapitel einigermassen erörtert worden, woselbst hervor- 
gehoben wurde, dass Begreifbarkeit eines Dinges oder einer 
Erscheinung (im strengen Sinne des Wortes) kein Beweis 
ihrer Vorstellungs- oder Darstellungsmöglichkeit unter den 
Bedingungen unserer physischen und intellektuellen Organi- 
sation ist. Auf dieser Unterscheidung beruht die Nützlich- 
keit und der Zweck des in gewissen analytischen Unter- 
suchungen nicht selten angewandten Kunstgriffes, die Exi- 
stenz einer vierten Dimension des Raumes anzunehmen, um 
gewisse Funktionen auf eine symmetrische Form zu bringen ; 
und diese Unterscheidung bildet auch die Grundlage der 
von Bügle ^^) vor 2 6 Jahren gemachten Beobachtung: 

„Der Raum stellt sich uns in der Wahrnehmung in 
den drei Dimensionen der Länge, Breite und Tiefe dar. 
Bei einer grossen Zahl von Problemen, die sich auf die 
Eigenschaften krummer Flächen, die Rotation starrer Körper 
um Axen, die Schwingung elastischer Medien u. ä. ä. be- 
ziehen, scheint diese Beschränkung in der analytischen 
Untersuchung von einem willkürlichen Charakter zu sein, 
und, wenn auf die Auflösungsverfahren allein 
das Augenmerk gerichtet wird, kann kein Grund 
entdeckt werden, weshalb der Raum nicht auch in vier 
oder mehr Dimensionen existieren könnte. Das Verfahren 
des Verstandes in dieser so entstandenen imaginären Welt 



^^) Laws of Thought, S. 175 Anm. 



272 XIV. Kapitel. 

kann durch Analogie in völlig durchsichtiger Weise ver- 
standen werden/^ Aus demselben Grunde und in demselben 
Sinne hat Hermann Grassmann, der zuweilen als einer der 
Gründer der transcendentalen Geometrie angeführt wird, 
die Theorie der Ausdehnung in ihrer allgemeinen An- 
wendung auf eine unendliche Zahl von Dimensionen ent- 
wickelt, wiewohl er sicher nicht (wie es Victor Schlegel ^^) 
vorauszusetzen scheint) sich der Täuschung hingibt, dass 
dies zu einer Quelle von Schlüssen über die Zahl der 
wirklichen oder empirisch möglichen Dimensionen des Raumes 
werden könnte. Diesbezüglich liegt Grassmann's eigene 
ausdrückliche Erklärung vor^*): „Es ist klar*', sagt er, 
„wie der Begriff des Raumes keineswegs durch das Denken 
erzeugt werden kann, sondern demselben als ein Gegebenes 
gegenübertritt. Wer das Gegenteil behaupten wollte, müsste 
sich der Aufgabe unterziehen, die Notwendigkeit der drei 
Dimensionen des Raumes aus den reinen Denkgesetzen 
abzuleiten- — eine Aufgabe, deren Lösung sich sofort als 
unmöglich darstellt." 

5. Nahe verwandt dem dritten und vierten ist der 
fünfte Satz Riemanns, dass stetige Grössen den diskreten 
beigeordnet sind, indem beide ihrer Natur nach Mannig- 
faltigkeiten und somit Arten derselben Gattung vorstellen. 
Dieser verderbliche Trugschluss ist einer der gangbaren 
traditionellen Irrtümer der Mathematiker und ist die Quelle 
zahlloser Täuschungen gewesen. Dieser Irrtum ist es, der 
der Bildung einer vernünftigen, verständigen und konse- 
quenten Theorie der irrationalen und imaginären Grössen 
im Wege gestanden ist, und der die wahren Prinzipien der 
Lehre von den „komplexen Zahlen" und der Quatemionen^ 
rechnung in unergründlichen Nebel gehüllt hat. 



^^) System der Raumlehre, Vorrede, S. VL 

^*) Die lineare Ausdehnungslehre (1844), Einleitung S. 20 fF. 



Der metageometr, Raum im Lichte d, modern. Analysis, 273 

Der Satz, dass diskrete und stetige Grössen beige* 
ordnete Arten derselben Gattung sind, läuft auf nichts 
weniger als den Satz hinaus, dass die Zeichen logisch 
gleichwertig mit dem Bezeichneten sind. Es gibt -keine 
anderen „diskreten Grössen" als die, welche in der be- 
sondem (gewöhnlichen) und allgemeinen Arithmetik be- 
handelt werden, nämlich die Zahlen. Nun ist eine Zahl 
ein Aggregat oder eine Vereinigung von Einheiten, von 
denen jede einfach einen Akt der Apprehension 
vorstellt, wie auch inuner die Ausdehnung und die Natur 
des vorgestellten Objektes beschaffen sein mag. Wird 
dieses Objekt als Grösse bezeichnet, so ist die Zahl 
überhaupt keine Grösse, noch auch ein MxsS der Grösse, 
sondern nur ein Hilfsmittel des Geistes zur Aufnahme von 
Grössen, — ein rein subjektives Instrument für deren Ver* 
gleichung und Messung. All die Unsicherheit und Ver- 
wirrung, die fiir die zahlreichen Versuche Grössen zu de- 
finieren und zu klassifizieren charakteristisch ist, verdanken 
ihre Entstehung der Unkenntnis oder Vernachlässigung 
dieser elementaren Wahrheit. Grösse („quantity") ist definiert 
worden als das, „was einer Vermehrung, Verminderung und 
Teilung f^hig ist*', und als die „Gattung, von der Aus- 
dehnung („magnitude") und Vielheit Arten sind"; oder 
es sind Grössen vorerst in extensive (Raum) und in- 
tensive (Kräfte, Farben, Töne und alle subjektiven Em- 
pfindungen) und die extensiven hernach in stetige und 
diskrete geteilt worden. Thatsache ist nun, dass alle 
Gegenstände der Wahrnehmung, einschliesslich aller Daten 
der Sinne an sich, d. i. beim Akt der Wahrnehmung 
wesentlich stetig sind. Sie werden bloss dadurch diskret, 
dass sie, willkürlich oder notwendig , mehreren Akten der 
Wahrnehmung unterworfen und dadurch in Teile geschieden 
oder anderen auf ähnliche Weise als Ganzes wahrgenonunenen 
Gegenständen beigeordnet werden. Die Behauptung, dass 

StaLLO> Begriffe u. Theorieen. l8 



2 74 XIV, Kapitel. 

ein Gegebenes der Empfindung oder des subjektiven Ge- 
fühls an sich diskret ist, ist gleichbedeutend mit der Aus- 
sage, dass es absolut ist, und mit der Verleugnung .der 
prinzipiellen Relativität der Grösse. Und (mit denen, die 
von positiven, negativen, gebrochenen, irrationalen, imaginären, 
komplexen, linearen oder gerichteten Zahlen sprechen) zu 
behaupten, dass die Zahl stetig sein kann, heisst die klarste 
und nichtmisszuverstehendste Thatsache aller unserer Denk- 
handlungen zu ignorieren imd alle Lehren der Geschichte 
der Mathematik zu missdeuten. Zahlen an sich, die ja nur 
Gruppen oder Reihen intellektueller Apprehensionen ohne 
Bezug auf deren Inhalt sind, sind nicht positiv oder negativ, 
poch weniger gebrochen, irrational oder imaginär imd können 
es nicht sein. Sie können in Wirklichkeit nicht nur auf 
die Daten der Empfmdung und des subjektiven Gefühls, 
^sondern auch durch Analogie auf Beziehungen zwischen 
ihnen, einschliesslich der durch den Verstand aufgestellten, 
angewandt werden. Sie können demnach nicht nur fiir 
Dinge, sondern auch für deren Wirkungen und Gegen- 
wirkungen und für die Operationen stehen, denen sie unter- 
worfen werden. Eine Zahl kann Bewegung in einer ge- 
gebenen Richtung und in der ihr entgegengesetzten dar- 
stellen und erhält dementsprechend die Vorzeichen plus 
und minus; diese Zeichen bedeuten aber keine Veränderung 
in der Natur der Zahlen, sondern bloss eine Besonderheit 
ihrer Anwendung. In ähnlicher Weise können Zahlen Ver- 
hältnisse darstellen imd die Form von Brüchen annehmen; 
doch hören die Zahlen deshalb nicht auf zu sein, was sie 
sind, nämlich Einheiten oder Verbindungen von Einheiten 
und somit ihrem Wesen nach Ganze. Brüche können 
eigentlich nur Zahlen genannt werden in dem Sinne, als 
sie auf eine Teilung nicht der anfänglichen, die 
ursprünglichen Akte der Apprehension dar- 
stell endenEinheiten, sondern deraufgefassten 



Dei' Dietageometr, Baum im Lichte d. modern. Analysis, 275 

Objekte in Untereinheiten ausgehen. Dann 
können Zahlen Zeichen für Grössenoperationen sein, die 
nicht wirklich ausgeführt werden können, wie die Zurück- 
ftihrung der Diagonale und der Seite eines Quadrates auf eiu 
gemeinsames Mass — mit anderen Worten die Aufstellung 
eines bestimmten Zahlenverhältnisses zwischen zwei Grössen, 
die kein solches Verhältnis zulassen. In diesem Falle 
findet die Vergeblichkeit des Versuches Ausdruck in einem 
der Zahl vorgesetzten Zeichen, welches zugleich mit dem 
dadurch Bezeichneten gewöhnlich als eine irrationale Grösse 
hingestellt wird; die Irrationalität liegt aber nicht in der 
Zahl, sondern in dem Versuche ihrer Anwendung auf in- 
kommensurable Grössen. Dasselbe lässt sich mutatis mu- 
tandis von den „imaginären Grössen'' tmd den „komplexen 
Zahlen" sagen. Der Gegenstand des ApprehensionsakteSy 
der durch eine numerische Einheit dargestellt wird, kann 
nicht nur geradlinige Bewegung oder Übertragung nach einer 
gegebenen Richtung, sondern auch eine Drehung sein; wie 
sich die Quaternionenrechnung ausdrückt, kann die Einheit 
der Operation ein Tensor oder ein Ver3or oder beides sein ; 
woraus sich ergibt, dass, sobald der Versuch gemacht wird, 
solch eine Operation in Ausdrücken linearer Einheiten mit 
ihren positiven oder negativen Vorzeichen darzustellen, die 
eine bestimmte Richtung der Bewegung anzeigen, deren 
Mass diese Linien sind, dieser Versuch misslingt imd diese 
Thatsache in. der Form eines Symbols zum Vorschein 
kommt, das (weil es nm einen Teil eines symbolischen 
Systems bildet, der nicht umfassend genug ist, die neue 
Operation mit zu enthalten) eine sogenannte' imaginäre 
*Form annimmt. Aber auch hier ist es wieder nicht die 
Zahl, die imaginär ist, sondern die Operation, die 
nach den konventionellen Regeln der sym- 
bolischen Darstellung gedeutet wird, infolge- 
dessen diese Regeln auf sie auszudehnen und der Sinn der 



276 XIV. Kapitel. 

Symbole zu erweitem ist Dies bedingt aber wieder eine 
Änderung, nicht der Natur der Zeichen d. i. der Zahlen, 
sondern der Natur und Bedeutung des Bezeichneten. Auf 
diese Weise wird der Spielraum der arithmetischen (und 
natürlich auch der algebraischen) Symbole beständig er- 
weitert nicht nur durch Ausdehnung, sondern auch durch 
völlige Veränderung der Dinge, Beziehungen oder Opera- 
tionen, die nach und nach zu Gegenständen der intellektuellen 
Apprehension werden. Alles dieses ist vollkommen richtig 
und berechtigt, sofern nur die Veränderung in der Be- 
deutung der Symbole in Gemässheit des logischen Gesetzes 
der Einstimmigkeit vor sich geht und mit gebührender 
Rücksichtnahme auf die Wirkung geschieht, welche eine 
solche Änderung auf die Regeln ausübt, denen die Synthese 
und Analyse der Symbole imterliegt. So ist z. B. in dem 
Verfahren der gewöhnlichen arithmetischen oder algebraischen 
Multiplikation das Gesetz der Vertauschbarkeit der Faktoren 
von allgemeiner Giltigkeit. Da die Multiplikation nichts 
anderes als eine abgekürzte Addition ist, können der 
Multiplikand und der Multiplikator ihre Plätze oder Funk- 
tionen ohne Einfluss auf das Ergebnis vertauschen. In der 
Quaternionenrechnung verallgemeinert der Mathematiker 
das Prinzip der Multiplikation dahin, dass er sie als das 
Verfahren der Aufsuchung einer Grösse definiert, die auf 
demselben Wege aus dem Multiplikand entsteht oder sich 
zu ihm verhält, wie der Multiplikator aus der positiven Ein- 
heit entsteht oder sich zu ihr verhält. Unter Zugrunde- 
legung dieser neuen Definition multipliziert er Linien und 
andere Grössen mit einander; jetzt aber wird das Gesetz 
der Vertauschbarkeit nicht mehr allgemein anwendbar. Der 
Grund dafür liegt darin, dass die scheinbare Ausdehnung 
des Prinzips der Multiplikation in Wirklichkeit auch eine 
Beschränkung, oder vielmehr eine Veränderung des Sinnes 
der arithmetischen oder algebraischen Symbole bedeutet — 



Der metageometr, Raum im Lichte d, modern, Analysis, 277 

eine Entfernung der Bedingung, von der die Giltigkeit des 
Vertauschungsgesetzes abhängt. Ich will hier nebenbei be- 
merken, dass es ein Irrtum ist, mit Kelland und anderen 
zu sagen, dass der Quaternionenkalkül aus dem gewöhn- 
lichen arithmetischen oder algebraischen Kalkül durch Be- 
seitigung der Beschränkungen hervorgehe. Das eben an? 
geführte Beispiel zeigt, dass er ebenso wohl eine Auferlegung 
von Beschränkung in sich schliesst. Aus diesem Grunde 
erfordert Peacock's Gesetz, ^^) das er das „Prinzip von der 
Permanenz aequivalenter Formen'* nennt in dem Sinne, dass 
„alle die algebraischen Formen, die aequivalent sind, wenn 
die Symbole von allgemeiner Form und besonderem Werte 
sind, es auch sind, wenn die Symbole sowohl dem Werte 
als der Form nach allgemein sind", um als Grundprinzip 
für die „Theorie der komplexen Zahlen" verwendbar zu 
sem, eine viel tiefergreifende Abänderung als ihm in Hankel's 
neuer Formulierung als „Prinzip von der Permanenz der 
formalen Rechengesetze" zu Teil wird. Denn der Ausdruck 
„formale Gesetze" ist zweideutig und lässt dem Zweifel Raum, 
ob die Gesetze in dem Sinne formal sind, dass sie sich 
auf alle Operationen anwenden lassen, die in irgend einer 
Weise durch arithmetische oder algebraische Symbole dar- 
zustellen sind. 

Der Irrtum über die wahre Natur und Rolle der 
arithmetischen und algebraischen Grössen ist beinahe im- 
ausrottbar geworden durch den eingewurzelten Gebrauch des 
Wortes „Grösse*' zum Zwecke der unterschiedslosen Be- 
zeichnung ausgedehnter Gegenstände, oder Formen der Aus- 
dehnung und abstrakter numerischer Einheiten, oder Aggregate, 
durch die ihre Massverhältnisse bestimmt werden. Die Wirkung 
dieses unterschiedslosen Gebrauches ist ein weiteres Beispiel 
für die in der Geschichte der Erkenntnis wohlbekannte 



^*) Peacock, Symbolical Algebra, S. 59. 



278 XIV. Kapitel. 

Thatsache, dass Worte einen mächtigen Einfluss auf die 
Gedanken der Menschen geübt haben, und dadurch zu 
einer ergiebigen Quelle unberechenbarer Irrtümer und Ver- 
wirrungen geworden sind. Es ist natürlich nicht zu er- 
warten, dass die Mathematiker heutigen Tages aufhören 
würden, von arithmetischen oder algebraischen Symbolen 
als „Grössen" zu reden; doch dürfte eine kleine Hoffnung 
für die Befolgung des Rates bestehen, zu dem alten Aus- 
druck „geometrische (und andere) Grössen" zurückzukehren. 
Der Unfug liegt nicht so sehr in dem Gebrauche eines be- 
sonderen Wortes, als in der Verwendung desselben Wortes 
zur Bezeichnung von Gegenständen, die von einander toto 
genere verschieden sind. ^*) 

Die Unkenntnis oder das Vergessen dieses eben her- 
vorgehobenen Unterschiedes illustriert auch eine Phase in 
der Geschichte des Irrtums, von dem ich bereits zu wider- 
holten Malen in den vorhergehenden Seiten auf Beispiele 
gestossen bin : die Vermengung rein konventioneller Formen 
des Denkens und der Sprache mit Formen oder Gesetzen 
objektiver Existenz. Diese Vermengung, die der alten An- 
nahme zu Grunde liegt, dass unsere willkürlichen oder kon- 
ventionellen Klassifikationen der Naturerscheinungen mit 
wirklichen Unterschieden derselben übereinstimmen und als 
Quelle von Schlüssen über ihre Natur und ihren Ursprung 
benützt werden können — dass, wie sich irgend wer aus- 



**) Die durch den Gebrauch ungeeigneter und irreführender Aus- 
drücke in der Mathematik hervorgerufenen Verlegenheiten sind von 
Gauss selbst in der bereits citierten Notiz (Werke, 2. Bd., S. 178) 
bemerkt worden , woselbst er von der der Deutung „negativer und 
imaginärer Zahlen" anhaftenden Schwierigkeit spricht und bemerkt: 

„Wenn -\- ly — I, V i nicht positive, negative, imaginäre (oder 

selbst unmögliche) Einheiten, sondern z. B. direkte, inverse, 
laterale Einheiten genannt würden, so würde diese Dunkelheit ver- 
schwinden.** 



Der metageomeir. Baum ijn Lichte d, modern» Analysis. 279 

gedrückt hat, der Plan der Schöpfung des Herrn wie die 
Partitur der Schöpfung von Haydn in Takte geteilt ist [that, 
as some on has said, the score of the Lord's creation, like 

that of Haydn's Creation, is crossed with bars] hat eine 

endlose Reihe wunderlicher Einbildungen zur Folge, durch 
die der Fortschritt der Wissenschaft unaufhörlich gehemmt 
wird. 

Aus den hier auseinander gesetzten Gründen sind auch 
die Ausdrücke „abstrakte und konkrete Zahlen"' trügerisch 
und irreführend. Die Zahlen sind an sich ihrem Wesen 
nach abstrakt. In einem anderen Sinne sind sie notwendig 
konkret : sie stehen stets für irgend ein besonderes Objekt, eine 
Beziehung oder Operation. Sie sind nichts an sich. Diese * 
Bemerkung ist doppelt wahr von algebraischen Symbolen, 
die zuerst einer Deutung durch Beilegung besonderer nume- 
rischer Werte bedürfen, die wieder ohne Bedeutung bleiben, 
so lange nicht die Einheiten, aus denen sie bestehen, auf 
besondere Gegenstände, Beziehungen oder Operationen be- 
zogen werden können. Dies ist ohne Zweifel die Ansicht 
Dühring's, wenn er irgendwo in seiner Geschichte der Prinzipien 
des Mechanik bemerkt, dass das System der algebraischen Sym- 
bole an einem Grundfehler leidet, insofern es nicht die 
numerischen Einheiten zur Schau trägt, welche die wesent- 
lichen Koeffizienten eines jeden Buchstabensymbols ausmachen. 
Er hätte diese Bemerkung dahin ausdehnen können, dass 
der Gebrauch von Buchstaben als algebraischer Symbole 
d. h. als Stellvertreter von Zahlen an sich schon eine ernst- "" 

liehe (wenn auch vielleicht unvermeidliche) Schwäche der 
mathematischen Bezeichnungsweise ist. In der einfachen 
Formel, die z. B. die Geschwindigkeit eines sich bewegen- 
den Körpers in ihrer Abhängigkeit von Raum und Zeit 

s 
ausdrückt (v = — ), haben die Buchstaben eine Tendenz, dem 

Mathematiker zu suggerieren, dass er vor sich direkte Stell- 



28o XIV. Kapitel. 

Vertreter der Dinge oder Elemente hat, mit denen er sich 
))eschäftigt und nicht bloss deren in Zahlen ausgedrückte 
Verhältnisse. In jeder algebraischen Operation verdunkelt 
der Gebrauch von Buchstaben die wirkliche Natur sowohl 
des Prozesses wie des Resultates und ist geneigt, ontologi- 
sehe Vorurteile zu stärken. 

Die richtige Theorie von den Beziehungen arithmeti- 
scher oder algebraischer Grössen und Ausdehnungsgrössen 
ist schon vor langer Zeit in Deutschland von Martin Ohm 
und in England von George Peackok (dem Dekan von 
Ely), August de Morgan, D, F. Gregory u. a. aufgestellt 
worden; die Schriften dieser Denker haben indes wenig 
Eindruck auf die zeitgenössischen und die nachfolgenden 
Generationen der Mathematiker ausgeübt. Dies erscheint 
namentlich sonderbar in den Büchern und Artikeln, welche 
die Theorien über „imaginäre Grössen" und „komplexe 
Zahlen'* und die Lehren der Quaternionenrechnung aus- 
einandersetzen. Die ungeheuere Ausdehnung des Bereichs 
der Analysis seit Descartes* neuer Anwendung der Algebra 
zur Bestimmung geometrischer Grössen ist grösstenteils der 
wachsenden Einsicht in den wahren Charakter der „arithmeti- 
schen Grössen" und der fortschreitenden Entwickelung der 
wesentlichen Verwickelungen der Zahlen zugeschrieben worden, 
Man nahm an, dass Euklid's Leugnung der Existenz nume- 
rischer Verhältnisse zwischen inkommensurablen Grössen, 
ebenso wie die Proteste der frühen abendländischen Arith- 
metiker und Algebraiker gegen die negativen oder irrationalen 
Zahlen als „numeri absurdi infra nil" oder „numeri fipti", 
oder Girolamo Cardano's Bezeichnung der negativen Wurzeln 
einer Gleichung als „aestimationes fictae", als Lösungen 
„vere sophisticae", insgesamt einfach als Beweise für die 
Unkenntnis dieser verschiedenen Schriftsteller über die 
wahre Natur der Zahlen hinzunehmen sind. Es ist nichts 
Ungewöhnliches, in Lehrbüchern über die Theorie der 



Der metageometr, Raum im Lichte d, modern. Analysis. 281 

yykomplexen Zahlen'' auf das Dogma zu stossen, dass Arith- 
metik und Algebra wesentlich linear sind, da das Zählen 
nur durch das Fortschreiten um gleiche Schritte in Richtung 
einer Geraden möglich sei.^*) Ich kann noch hinzufügen, 
dass der Glaube keineswegs ungewöhnlich ist, die Meta- 
geometrie wäre ein Fortschritt über die alten Lehren be- 
treffs der Beziehungen der geometrischen Formen im ge- 
wöhnlichen Raum in demselben Sinne! tmd nach derselben 
Logik, nach der die Quatemionenrechnung einen Fortschritt 
über die gewöhnliche analytische Geometrie bedeutet. 

Die vorausgegangene Diskussion hat uns bis zu dem 
Punkte geführt, wo, wie ich hoffe, der Leser in der Lage 
ist, die grosse fundamentale Absurdität des RiEMANN'schen 
Versuches sich zu vergegenwärtigen, Schlüsse über die 
Natur des Raumes und den Umfang seines Begriffes aus 
algebraischen Darstellungen von „Mannigfaltigkeiten" zu 
ziehen. Ein algebraisch Mannigfaltiges und eine räumliche 
Grösse sind völlig disparat. Dass kein Schluss über Formen 
räumlicher Ausdehnung oder Grösse aus Formen algebrai- 
scher Funktionen möglich ist, erhellt aus den elementarsten 
Betrachtungen. Dieselbe algebraische Formel kann für die 
verschiedensten Dinge gelten. Gleichungen zweiten Grades 
können z. B. entweder geometrische Flächen oder Kurven 
darstellen. Die Gleichung y = x- kann entweder den 
Flächeninhalt eines Quadrates mit der Seite x oder eine 
(auf ein Koordinatensystem bezogene) Parabel mit dem 
Parameter i vorstellen. Wäre Riemann's Beweisführung im 
Grunde richtig, so könnte sie in eine sehr bündige und 
einfache Form gekleidet werden. Sie würde weiter nichts 
bedeuten als einen Hinweis darauf, dass, weil algebraische 
Grössen ersten, zweiten und dritten Grades beziehungsweise 
geometrische Grössen erster, zweiter und dritter Dimension 



^^) Vgl. RiECKE, Die Rechnung mit Richtungszahlen, Stuttgart 1856. 



282 XIV, Kapitel. 

bezeichnen, es auch geometrische Grössen von vier, fünf, sechs 
u. s. f. Dimensionen geben muss, die den algebraischen 
Grössen vierten, fünften, sechsten Grades u. s. w. ent- 
sprechen.^*) 

Es ist kaum nötig nach air dem zu bemerken, dass 
das analytische Argument zu Gunsten der Existenz oder der 
•Möglichkeit eines transzendentalen Raumes ein weiteres^ 
offenkundiges Beispiel für die Verdinglichung von Begriffen 
bietet. 



^*) Es ist hier nicht unwert einer Bemerkung, dass die Gewohn- 
heit, X* und x'* als „x Quadrat" und „x zum Kubus'* zu lesen, statt 
X zur zweiten oder dritten Potenz, auf der stillschweigenden oder 
ausdrücklichen Annahme beruht, dass einer algebraischen Grösse eine 
eigene geometrische Bedeutung zukommt. Die Gewohnheit ist daher 
eine irreführende und verdiente ausser Gebrauch zu kommen. Prio- 
cipiis obstal 



XV. 

Kosmologische undkosmogenetische Spekulationen. 

Die Nebularhypothese. 

Wie alle metaphysischen Theorien hat auch die mecha- 
nische Atomtheorie ihre Kosmogönien. ' Alle metaphysischen 
Kosmogonien sind Versuche, das Weltall und seine Er- 
scheinungen aus ein oder mehreren Urelementen durch 
Verwendung einiger allgemeiner Prinzipien abzuleiten. Die 
Kosmogonien der mechanischen Atomtheorie sind Versuche, 
das Weltall und seine Erscheinungen aus den Elementen 
der Masse und Bewegung durch Anwendung mechanischer 
Prinzipien, welche die einfachen Bewegungsgesetze aus- 
drücken, abzuleiten. Wie gezeigt worden ist, bildet das 
letzte Problem der mechanischen Atomtheorie, dessen 
schliesslicher und vollständiger Losung die heutigen Physiker 
mit einem grösseren oder geringeren Grad von Vertrauen 
entgegensehen — wiewohl manche unter ihnen einsichtig 
genug sind, dieses Streben für ein nie erfüllbares zu halten 
— die Darstellung aller organischer und aller Lebens- 
erscheinungen als Resultate gewöhnlicher chemischer und 
physischer Wirkung, und die der chemischen und physischen 
Wirkung wieder als Austausch und Übertragung mecha- 
nischer Bewegung zwischen konstanten und gleichförmigen 
Massenelementen. 

Eine notwendigerweise kosmologischen Spekulationen 
jedweder Art vorausgehende Frage ist kürzlich von Mathe- 
matikern wie von Physikern sehr ausführlich diskutiert 
worden — die Frage über die Endlichkeit oder Unendlich- 



284 XV, Kapitel 

keit des Weltalls in Zeit, Raum und Masse. ^) Eine Kosmo- 
logie im eigentlichen Sinne des Wortes enthält unvermeid- 
licherweise die Annahme in sich, dass das Weltall wenig- 
stens der Zeit nach endlich ist, denn sie ist ja eine Theorie 
über den Ursprung oder Beginn des Weltalls. Der Blick 
kosmogenetischer Theoretiker wendet sich zurück entweder 
bis zum absoluten Nichts oder bis zu einem Zustande 
physischer Gleichförmigkeit, der völlig bar aller Unterschiede 
und Veränderungen in den Erscheinungen ist, die ein 
wesentliches Vorerfordernis des Zeitbegriffes bilden. Diese 
allgemeine kosmogenetische Annahme der endlichen Dauer 
des Weltalls in der Vergangenheit ist vor kurzem durch 
die Behauptung einer endlichen Dauer in der Zukunft er- 
gänzt worden — eine Behauptung, die sich auf verschiedene 
physikalische Betrachtungen stützt, von denen die bemerkens- 
werteste die Lehre von der fortschreitenden Zerstreuung 
der Energie ist. Diese Lehre ist vielleicht in ihrer ver- 
nünftigsten Form von Lord Kelvin (Sir William Thomson) -) 
aufgestellt worden und besteht aus folgenden Sätzen: 

1. „In der materiellen Welt ist eine allgemeine Ten- 
denz zur Zerstreuung mechanischer Energie vorhanden." 

2. „Eine Wiederherstellung mechanischer Energie ist 
ohne Verbrauch eines das Äquivalent übersteigenden Be- 
trages derselben, in keinem unbelebten materiellen Prozesse 
möglich und hat wahrscheinlich auch nie bei materiellen 
Massen stattgefunden, die mit vegetativem Leben ausge- 
stattet oder dem Willen eines belebten Wesens, unter- 
worfen sind." 

3. „In einer endlichen Zeit der Vergangenheit muss 
die Erde ungeeignet gewesen sein und innerhalb einer end- 



') Vgl. WUNDT, „über das kosmologische Problem," Viertelj. 
f. wiss. Philos., I. Bd., S. Soff. 

*) ,,On a Universal Tendency in Nature.to the Dissipation of 
Mechanical Energy," Phil. Mag., series IV, vol. IV, p. 304 seq. 



Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 285 

Mchen Zeitperiode muss sie wieder ungeeignet werden als 
Wohnsitz von Menschen gegenwärtiger Beschaffenheit, wenn 
nicht Vorgänge stattgefunden haben oder stattfinden werden, 
die unter der Herrschaft der Gesetze, denen jetzt die be- 
kannten Vorgänge in der materiellen Welt unterworfen sind, 
unmöglich hätten geschehen können." 

Das Schlussverfahren, durch welches man zu diesen 
Schlüssen (die, nebenbei bemerkt, vorsichtig und ausdrück- 
lich auf unseren Planeten oder wenigstens unser Planeten- 
system beschränkt sind) gelangt ist, besteht in der Er- 
wägung, dass alle Vorgänge der Natur, die ihr Leben und 
Treiben bilden, auf Transformationen der Energie beruhen, 
und jede solche Transformation in Gemässheit des zweiten 
Hauptsatzes der Thermodynamik in Wirklichkeit (um einen 
Ausdruck von P. G. Taih zu gebrauchen) ein Sinken von 
einem höheren auf ein tieferes Niveau der Umformbarkeit 
oder Disponibilität bedeutet, so dass der schliessliche Effekt 
in einer Verwandlung aller Energie der Welt in Wärme 
und einer Zurückführung ihrer Temperatur auf vollständige 
Gleichförmigkeit bestehen muss. Von diesem Zustande der 
Gleichförmigkeil in der Verteilung der Wärme aus ist keine 
Wiederherstellung verwandelbarer Energie möglich; denn 
die Wärme gestattet keine andere Umwandlung in andere 
Energieformen als durch Übergang von einem Körper 
höherer zu einem Körper tieferer Temperatur.*^) 



*) Die Lehre von der Zerstreuung der Energie ist ausführlich 
von Clausius entwickelt worden, welcher die Summe der möglichen 
Umformungen der Energie der Welt ihre „Entropie" nennt und 
verkündet , dass „die Entropie der Welt einem Maximi m zustrebe". 
(Pogg. Ann., Bd. 121, S. 1 ; Abhandlungen über die mechanische 
Wärmetheorie, Bd. 2, S. 44). Es ist zu bedauern, dass Tait, während 
er das Wort „Entropie" annimmt, es, wie er selbst sagt (Thermo- 
dynamics, § 14; ib., § 178), „in dem entgegengesetzten Sinne wie 
Clausius" gebraucht; und dass Maxwell (Theory ofHeat, pp. 186, 
188) ihm folgt. Nichts ist verwerflicher als ein willkürlicher Wechsel 



3 86 XV, KapM. 

Es ist klar, dass, wenn das Gesetz von der Zerstreuung 
der Energie auf das Weltall im allgemeinen angewandt 
wird — d. h. wenn es erlaubt ist, die Dynamik eines end- 
lichen materiellen Systems auf den Kosmos als unendliches 
Ganzes auszudehnen, es früher oder später ein Ende finden 
wird, so wie. es, nach der mechanischen Atomtheorie, einen 
Anfang gehabt hat. Die Vorgänge in der Natur endigen 
in eine gänzliche Gleichförmigkeit ihrer Elemente — in eine 
völlige Abwesenheit von Unterschieden und Veränderungen, 
welche Zeugen ihrer realen oder wirklichen Existenz sind. 
Diesem Schlüsse hat man durch die Annahme einer End* 
lichkeit des Weltalls der Masse oder dem Räume nach oder 
durch beide Annahmen zu entgehen gesucht. Der erste 
Antrieb in dieser Richtung kam wahrscheinlich von einem 
Artikel von W. M. Rankine *) (der kurz vor dem Erscheinen 
des von Lord Kelvin veröffentlicht wurde), in welchem 
dargelegt wird, dass „wenn sich zwischen den Atmosphären 
der himmlischen ' Körper ein interstellares vollkommen 
durchsichtiges und wärmedurchlässigen Medium vorfinden 
würde, — d. h. ein solches, das nicht imstande wäre, 
Licht und Wärme aus der strahlenden Form in die der 
sogenannten körperlichen Wärme überzuführen und das so- 
mit ausser Stande wäre, irgend einen Temperaturgrad zu 
erreichen — , und wenn dies interstellare Medium Grenzen 
hätte, jenseits deren leerer Raum sein würde, die strahende 
Wärme der Welt vollständig reflektiert und zuletzt in 



in der wissenschaftlichen Terminologie, namentlich wenn mit Vor- 
bedacht der tiberlieferte Sinn eines Ausdruckes geändert wird. Ich 
kann noch hinzufugen, dass Tait bei seinem Versuche, den Clausiüs- 
schen Sinn umzukehren, nicht einmal glücklich ist, imd dass Max- 
well sich im Irrtum befindet, wenn er sagt, dass „Clausius das 
Wort (Entropie) gebrauche, um den nicht verwandelbaren Teil der 
Energie zu bezeichnen." 

*) „On the Reconcentration of the Mechanical Energy of the 
Universe," Phil. Mag. (IV), vol. IV, p. 358 seq. 



Kosmologische und kpamogenetische Spekulationen, 287 

Biennptinkte' rückkonzentriert werden würde, in denen ein 
Stern (d. i., eine erloschene Masse träger Zusammensetzung) 
verdampft und in seine Bestandteile aufgelöst werden würde, 
und auf diese Weise chemische Kraft auf Kosten eines 
entsprechenden Betrages strahlender Wärme aufgespeichert 
werden würde." 

Die Annahme der Endlichkeit der Masse des Weltalls 
war nicht neu; sie ist oft zuvor gemacht worden. Hier 
aber bot sie sich in einer neuen Form dar. Bisher ging 
die Annahme dahin, dass die Masse, wiewohl begrenzt, 
durch den unbegrenzten Raum zertreut sei; und in dies^ 
Form ist sie von Wundt wiederbelebt worden, der sich 
Vorstellt, dass die Endlichkeit der Masse sich mit der Un- 
endlichkeit ihres Volumens vereinbare lasse durch die 
Annahme einer endlos fortschreitenden Abnahme ihrer 
Dichte derart, dass die Masse als die endliche Summe einer 
unendlichen konvergenten Reihe zu nehmen wäre. Hingegen 
verlangt Rankine vom Physiker das Zugeständnis, dass die 
Masse des Weltalls auch ihrer Ausdehnung nach endlich 
und überall von leerem Räume begrenzt sei. Der Begriff 
eines solcherart im unbegrenzten Räume abgegrenzten 
materiellen Weltalls bietet offenbar unüberwindbare Schwierig- 
keiten; und angesichts dieser Schwierigkeiten haben viele 
Astronomen und Physiker den Satz der Metageometer mit 
Vergnügen begrüsst, dass der Raum selbst, wiewohl infolge 
der ihm anhaftenden Krümmung unbegrenzt, nicht unend- 
lich ist, dass daher die Masse des Weltalls trotz ihrer Zer- 
streuimg endlich sein müsse. Dieser Satz war doppelt 
willkommen, weü er auf den ersten Blick die Mittel zu 
enthalten schien, einer anderen von den Astronomen auf- 
geworfenen Schwierigkeit zu entkommen. Im Jahre 1826 
bemerkte Olbers*), dass, wenn die Zahl der im Welträum 



*) Bode's astron. Jahrbuch, 1826, S. iiof. Citiert bei Zöllner. 



288 XV. Kapitel. 

Wärme und Licht ausstrahlenden Körper unendlich ist, jeder 
Punkt des Raumes eine unendliche Zahl von Licht- und 
Wärmestrahlen empfangen und somit unendlich heiss und 
glänzend sein müsste — wobei er allerdings hinzufügte, dass 
diese Folge durch die Annahme einer Absorption des 
grössten Teiles dieser Strahlen durch die dunklen und 
kalten Körper im Räume vermieden werden könnte. Doch 
diese Rettung erschien mit einem Male fraglich durch die 
Überlegung, dass die zwischen den leuchtenden Sternen 
verstreuten dunklen und kalten Körper rasch die Glühhitze 
erreichen müssten, und ihr Absorptionsvermögen bald er- 
schöpft sein müsste. 

Eine weitere Schwierigkeit ähnlicher Art soll noch, wie 
angenommen wurde, aus der Thatsache der Gravitation 
entspringen, insbesondere wegen ihrer augenblicklichen 
Wirkungsweise. Es ist gesagt worden, dass ein Weltall, das 
aus einer unendlichen Anzahl von einander gegenseitig an- 
ziehenden Körpern besteht, nicht nur ohne einen bestimmten 
Schwerpunkt wäre, auf welchen alle kosmischen Bewegungen 
bezogen werden könnten — da ja sein Schwerpunkt über- 
all und somit nirgends wäre — sondern auch dass sich in 
jedem Punkte des Raumes ein unendlicher Druck ergeben 
würde. (Ich folge hier der Ausdrucksweise von Wundt 
wiewohl es vielleicht korrekter wäre, von einer unendlichen 
Spannung zu reden.) Diese Schwierigkeit ist speziell von 
Wundt als eine solche hingestellt worden, die unüberwindbar 
ist, solange man die Masse des Weltalls für eine unendliche 
ansieht; sie kann seiner Meinung nach nur durch die 
Annahme der Begrenztheit der Masse überwunden werden. 

Es ist nicht notwendig, auf eine eingehende Prüfung 
der Giltigkeit dieser Betrachtungen, die zur Stütze der Theorie 
von der Endlichkeit des materiellen Weltalls herangezogen 
worden sind, einzugehen. Was die letzte derselben betrifft, 
die sich auf die Wirkung der Strahlung und Gravitation 



Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 289 

bezieht, so ist leicht zu sehen, wie von Lasswitz hervor- 
gehoben wurde ^), dass sie ihre Kraft verlieret], sobald wir 
uns erinnern, dass die Intensität beider, der Strahlung und 
der Gravitation, abnimmt, wie das Quadrat der Entfernung 
wächst, und dass die unendlichen Reihen, welche die ver- 
schiedenen Wirkungen der Wärme, des Lichtes und der 
Gravitation ausdrücken, konvergent sind, ihre Summation 
somit zu endlichen Resultaten führt. Was die Anwendung 
der Lehre von der Zerstreuung der Energie auf ein un- 
endliches Weltall betrifft, so ist von ihr zu bemerken, dass 
sie ganz und gar unzulässig ist. Diese Lehre ist ohne 
Zweifel in ihrer Anwendung auf ein endliches materielles 
System nicht zu verwerfen. Ein jedes solches System muss 
ein Ende nehmen, sowie es einen Anfang gehabt hat. Das 
gilt von jedem solchen System, so ausgedehnt es auch sein 
mag. Es ist aber nicht wahr von einem absolut unbegrenzten 
Weltall. Weder das Gesetz von der Erhaltung der Energie, 
noch dass von ihrer Zerstreuung kann rechtmässigerweise 
darauf angewendet werden. Das Weltall, aufgefasst als ab- 
solute Unendlichkeit, ist kein konservatives System und ist 
in keinem eigentlichen Sinne physikalischen Gesetzen unter- 
worfen. Wir können mit dem Unendlichen nicht rechnen, 
wie mit einem physischen reellen Ding, weil eine bestimmte 
physische Realität an die Gleichzeitigkeit von Wirkung und 
Gegenwirkung gebunden ist, und physikalische Gesetze auf 
dasselbe nicht angewendet werden können, da sie ja Be- 
stimmungen der Art der gegenseitigen Wirkung zwischen 
bestimmten endlichen Körpern sind. Das sogenannte 
Weltall ist kein bestimmter Körper, und es gibt keine 
Körper ausserhalb desselben, mit denen es in Wechs^el- 
wirkung treten könnte. Operationen mit dem Ausdruck 
„Unendlich" analog den Operationen mit endUchen Aus- 



•) Viertel], f. wiss. Philos., Bd. i, S. 329 ff. 
StALLO, Begriflfe u. Theorieen. 19 



290 . XV. Kapitel. 

drücken siiad in der Physik ebensowenig berechtigt wie 
in der Mathematik. Das Unendliche ist einfach ein Aus- 
druck der wesentlichen Relativität aller materiellen Dinge 
und ihrer Eigenschaften und haftet somit in einem ge^^ 
wissen Sinne jeder endlichen Form an. Es bildet die 
Grundlage aller Beziehungen, welche die sinnliche Wirklich- 
keit ausmachen, aber es ist nicht selbst eine Gruppe solcher 
Beziehungen. Es bildet den Hintergnmd aller materieller 
Wirkungen und Formen; kein System von Elementen oder 
Kräften kann ohne dessen bestehen, oder ist ohne Bezug 
darauf erkennbar ; und in diesem Sinne, aber auch in diesem: 
Sinne allein ist das Weltall notwendig unendlich der Masse 
wie dem Räume und der Zeit nach. 

Daraus folgt, dass alle Kosmogonieen, die zu ihrem In- 
halte Theorieen über den Ursprung des Weltalls als eines 
absoluten Ganzen haben, im Lichte physikalischer oder 
dynamischer Gesetze als völlig absurd erscheinen. Die 
einzige Frage, zu der eine Reihe oder Gruppe von Er- 
scheinungen berechtigten Anlass gibt, bezieht sich auf dereü 
Verzweigung und wechselseitige Abhängigkeit ; und die Ver- 
suche, die Grundlage dieses Zusammenhanges und der gegen- 
seitigen Abhängigkeit zu überschreiten — die Bedingungen des 
Auftauchens der Naturerscheinungen jenseits der Grenzen des 
Raumes und der Zeit zu bestimmen -r- sind ebenso eitel 
als (um ein glückliches Gleichniss Sir William Hamilton's. 
zu gebrauchen) die Versuche des Adlers, sich aus der 
Atmosphäre emporzuschwingen, in der er schwebt und 
durch die er allein getragen wird. 

Dies führt mich zur Diskussion einer kosmogenetischen 
Theorie, die unter dem Namen der Nebularhjrpothese grosse 
Berühmtheit und sehr allgemeine Anerkennung erlangt hat' 
In ihrer heute allgemein üblichen Form kann diese Theorie 
kurz wie folgt skizziert werden: 

Im Uranfange waren die Stoffe, welche sich . jetzt, 



Kosmologische und kosniogeneiische^ Spekulationen, 2^9 1 

wenigstens zürn Teile, in den Körpern der Stem-, Sonnen-, 
Planeten-, Satelliten- und Meteoritensysteme auifgehäuft vor- 
finden, gleichförmig durch den Raum ausgebreitet. Auf 
irgend eine Weise kam es durch die Wirkung kosmischer 
(Anziehungs- oder anderer) Kräfte dazu, dass diese gleich- 
förmig zerteilte und sehr verdünnte Materie sich in grosse 
nebelige Kugeln teilte , die sich langsam zu drehen be- 
gannen, nachdem die Drehung vielleicht bei der Teilung 
oder aus inneren Unterschieden ihrer Dichten und Unregel- 
mässigkeiten in der Form, welche die Richtungen der Schwere 
von den gerade radialen ablenkten, entstanden war, so dass 
die Mittelpunkte der Anziehung nicht mehr mit den geo- 
metrischen Mittelptmkten übereinstimmten. In dem Masse 
als diese Kugeln ihre Wärme verloren, zogen sie sich zu- 
sammen^ diese Zusammenziehung hatte aber wieder ein 
Wachsen der Umdrehungsgeschwindigkeit zur Folge in Ge- 
mässheit eines unter dem Namen des Gesetzes der Er- 
haltung der Flächen oder des Winkelmomentes 
bekannten mechanischen Satzes. Dieses Gesetz ist in seinem 
allgemeinsten Ausdruck einfach eine Folge des Trägheits- 
gesetzes, aus welchem folgt, dass das resultierende Winkel- 
moment irgend eines materiellen Systems weder der Grösse 
noch der Richtung der Axe nach durch die gegenseitige 
Einwirkung seiner Bestandteile geändert werden könne.') 



^ Alle mechanischen oder dynamischen Gesetze der Erhaltung — 
die Erhaltung des Moments, des Winkelmomentes und der Energie — 
sind (wie ich bereits im. sechsten Kapitel gezeigt habe) iin Grunde 
nichts anderes, als Anwendungen des Trägheitsprinzips auf zusammen- 
gesetzte materielle Systeme. Es ist das grosse Verdienst von PoiNSOT, 
die formalen Anälogieen zwischen den Gesetzen der drehenden und 
der fortschreitenden Bewegung (die bis zu einem gewissen Masse in 
Euler's Schriften vorgebildet wurden) ans Licht gebracht zu haben. 
Es ist kaum notwendig hinzuzufügen, dass das Gesetz der Erhaltung 
der Flächen seiner Form nach eine Verallgemeinerung des zweiten 
K£PL£R^schen Gesetzes ist. 

19* 



292 XV, Kapitel» 

Zum Zwecke seiner Anwendung auf eine rotierende Nebel- 
masse mag indessen das Gesetz besser in einer anderen 
Form aufgestellt werden, nämlich in der, dass, welche Ver^ 
änderung des Volumens oder der Form auch immer in 
einem materiellen System durch die gegenseitige Wirkung 
seiner Bestandteile hervorgerufen werden mag, die Summe 
aus allen von den Radienvektoren der verschiedenen Ele- 
mente oder Teile um den Mittelpunkt der Rotation in der 
Zeiteinheit beschriebenen Flächen konstant ist. Nachdem 
nun die Flächen den Quadraten der Durchmesser proportional 
sind, folgt, dass die Winkelgeschwindigkeit mit grosser Be- 
schleunigung wächst, wie die Kontraktion der Nebelmasse 
fortschreitet. Eine unmittelbare Folge des Wachstums der 
Geschwindigkeit war eine proportionale Zunnahme der Flieh- 
kraft in den äquatorialen Gegenden der rotierenden Kugel, 
so dass im Verlaufe der Zeit diese Kraft der centripetal 
wirkenden Gravitation das Gleichgewicht hielt und sie her- 
nach übertraf. Dies führte zunächst zu einer unverhältnis- 
mässigen Zusammenziehung der Kugel an den Polen und zur 
Annahme einer an den Polen abgeplatteten sphärischen oder 
linsenförmigen Form und eventuell auch nach und nach 
zu einer fortdauernden Abscheidung äquatorialer Ringe oder 
Zonen, die zuerst um die übrige Masse in der Richtung 
der ursprünglichen Rotation rotierten, später aber — infolge 
der Unbeständigkeit im Falle der geringsten Abweichung 
von der vollständigsten Regelmässigkeit der Form und Be- 
schaffenheit — sich in Teile auflösten und eine oder meh- 
rere kleinere Kugeln oder Sphäroide bildeten. Diese fuhren 
fort sich um die Sonne mit einer Geschwindigkeit zu drehen^ 
die nahezu der Umdrehungsgeschwindigkeit ihres Materials 
im Momente seiner Abscheidung und Zusammenballung 
gleich kam. In den meisten Fällen vereinigte sich die 
ganze Masse eines solchen Ringes in einen einzigen Körper^ 
d. i. in einen Planeten, während in einigen Fällen mehrere 



Kosmologische und kasmogenetisdie Spekulationen. 295 

Körper gebildet wurden, wie sie uns z. B. in dem Planeten- 
^Stem in der Zone der Asteroiden entgegentreten. Jieder 
dieser Planeten begann während der Umdrehung um die 
übrige Masse, deren Kondensation die Sonne erzeugt haben 
soll, sich auch um eine eigene Axe zu drehen, wobei die 
Richtung dieser Rotation mit jener der Bewegung in seiner 
Bahn übereinstimmte. Er wurde so denselben <lynamischen 
Bedingungen unterworfen, welche die Entwicklung des ihn 
erzeugenden Systems bestimmten; auch aus ihm schieden 
sich Ringe ab, die entweder ihre Form behielten (wie im 
Falle der Ringe des Saturns) oder sich in kleinere Satelliten 
umbildeten. 

Die Gründe, welche zur Stütze dieser Hypothese ins 
Feld geführt worden sind, sind so allgemein bekannt, dass 
es kaum notwendig ist, sie zu wiederholen. Zu ihnen zählt 
die Existenz von Nebelmassen in den Sternregionen von 
verschiedenen Graden der Kondensation; die Beweise vom 
Wachstum der Temperatur von der Oberfläche unseres 
Planeten gegen das Innere; die kjthe Übereinstimmung der 
ümdrehimgen der verschiedenen Planeten, sowohl der Rich- 
tung als der Ebene nach, und die weitere Übereinstimmung 
ihrer Bahnbewegung mit der Richtung und Ebene der 
Rotation der Sonne; die ähnliche Übereinstimmung der 
Richtungen der Bahnbewegung der Satelliten mit den Axen- 
drehtmgen ihrer Planeten ; die an den Polen abgeplattete Form 
der Erde und, so weit als wir davon Kenntnis haben, auch 
die der anderen Planeten, die nicht nur theoretisch, sondern 
auch experimentell diu-ch Plateau als die besondere Form 
nachgewiesen worden ist, die ein rotierender Körper im 
flüssigen oder halbflüssigen Zustande annehmen muss. Diese 
Betrachtungen wurden zumeist in derselben Reihenfolge 
und Form von Kant und Laplace angeführt und sind seit- 
her durch eine Mannigfaltigkeit anderer mehr oder weniger 
plausibler Betrachtungen ergänzt worden, von denen die 



294 X^' Kapitel, 

Übereinstinimung der theoretischen Konsequenzen der That- 
sache, .dass das Wegschleüdern der planetarischen Massen 
von der sie erzeugenden Kugel mit stets wachsender Ge-. 
schwindigkeit entsprechend dem Fortschreiten der Zusammen- 
Ziehung der Kugel stattgefunden haben muss, mit gewissen 
wohlbekannten Eigentümlichkeiten unseres eigenen Planeten- 
systems hervorgehoben werden mag. . Nicht ganz erfolglose 
Versuche sind auch gemacht worden, um aus den Elementen 
dieser Theorie das empirische Gesetz über die Entfernung 
der verschiedenen Planeten von der Sonne, das unter dem 
Namen des Gesetzes von Bode oder Tixius bekannt ist, 
herzuleiten. 

Die Nebularhypothese, als eine Theorie von dem Ur- 
sprünge nicht nur unseres Planetensystems, sondern der 
Planeten- und Stemsysteme im Weltall überhaupt, wird ge- 
wöhnlich Laplace zugeschrieben, dem die Thatsache unbe- 
kannt gewesen sein soll, dass die Hypothese, welche er vor- 
führt, von Kant in seiner „Naturgeschichte des Himmels" 
im Jahre 1755 fast ein halbes Jahrhundert vor dem ersten 
Erscheinen der „Exposition du Systeme du Mond" im Jahre 
1796 veröffentlicht wurde. In Wahrheit ist aber die Nebular- 
hypothese in ihrer jetzt allgemein angenommenen Form 
Kant zu verdanken und imterscheidet sich in verschiedenen 
wesentlichen Einzelnheiten von der Hypothese Laplace's, 
Diese letztere Hypothese beschränkt sich ausschliesslich auf 
unser Planetensystem, und es findet sich keine Andeutung 
in irgend einer der Schriften des französischen Astronomen 
— ganz gewiss keine in seiner „Exposition du Systeme du 
Monde** — vor, dass er dazu gelangt wäre, sie auf das 
ganze Weltall auszudehnen, wie es ausdrücklich von Kant 
geschehen ist. Aber auch ein noch viel wichtigerer Unter- 
schied findet sich zwischen den Hypothesen der zwei Denker. 
Kantus Annahme ging dahin, „dass alle Materien, daraus 
die Kugeln, die zu unserer Sonn*enwelt ge- 



Kosmologische und kosmogenetisehe Spekulationen. 295 

boren, alle Planeten und Kometen bestehen, 
dm Anfange aller Dinge in ihren elementarischen Grundstoff 
Aulgelöset, den ganzen Raum des Weltgebäudes erfüllt haben, 
darin .jetzt diese gebildeten Körper heirumlaufen." ®) Diese 
.'Annahme ist allen neuen Formen der Nebularhypothese, 
die mir bekannt geworden sind, gemeinsam, — sie alle ver- 
langen eine Zerstreuung der ganzen Masse der Sonne, 
Planeten, Kometen und Satelliten^ die unser Planetensystem 
ausmachen, durch den ganzen Planetenraum, Die Annahme 
Lapläce's besteht hingegen einfach darin, dass d i e Atmo- 
sphäre der Sonne sich einstens bis über die Bahnen 
der äüssersten Planeten hinaus erstreckt habe, und dass 
die Bildung der Planeten mit ihren Satelliten ebenso wie 
die der Kometen der allmählichen Abkühlung und Zu- 
sammenziehung dieser Atmosphäre zu verdanken ist. •) 

Es ist kaum nötig hinzuzufügen, dass die LAPLACE'sche 
Form der Nebularhypothese viel zu eng ist, um den 
Zwecken einer allgemeinen kosmologischen Theorie dienen 
.zu können. Eine solche Theorie verlangt die Ableitung 
der verschiedenen Zusammenballungen kosmischer Materie 
aus einer ursprünglichen homogenen Materie. Diese Forde- 
rung wird durch die Hypothese von Kant erfüllt ; sie wird 
aber nur sehr zum Teil, wenn überhaupt, durch die von 
Laplace befriedigt. " Und dies zeigt uns das Vorhandensein 
einer sehr bedenklichen Schwierigkeit. Es steht zu fürchten, 
dass die Nebularh)rpothese in dem Masse, als sie auf kosmo- 
genetisehe Dimensionen erweitert wird, ihre Giltigkeit als 



®) „Naturgeschichte des Himmels," Kant's Werke [her. v. 
Rosenkranz] 6. Bd., S. 95. 

®) „La consideraüon des mouvemens planetaires nous conduit 
donc a penser qu'en vertu d'une chaleur excessive l'atmosph^re 
du'soleil s'est primitivement etendue äu dela des orbes de toutes 
les planstes, et qu'elle s'est resserree successivement jusqu'ä ses limites 
actuelles." Systeme du Monde [2^^ ed.), p. 345. 



296 XV, Kapitel, 

physikalische Theorie verliert. Diese Sache ist vor fast 
zwanzig Jahren von Babinet in einem Artikel über die 
Kosmogonie des Laplace ^^) untersucht worden, in welchem 
er zeigt, dass die wirklichen Rotationsgeschwindigkeiten der 
verschiedenen Planeten thatsächlich bedeutend grösser sind 
als die mit Hilfe des Gesetzes von der Erhaltung der 
Flächen aus der Nebularhypothese abzuleitenden, wenn diese 
Hypothese die Annahme einer Zerstreuung der Sonnen- 
masse durch den ganzen Raum unseres Planetensystems in 
sich schliesst. „Verschiedene Personen," sagt Babinet, „haben 
gedacht, dass die Sonne selbst sich ursprünglich so weit 
erstreckt habe, dass sie den ganzen jetzt von den Planeten 
eingenommenen Raum erfüllt hat, wiewohl Laplace aus- 
drücklich erwähnt, dass im Augenblicke der Bildung dieser 
Körper es einzig und allein die Atmosphäre der Sonne 
war, die eine so weite Ausdehnung hatte. Wir sind im 
Stande, diese Frage mathematisch zu prüfen, indem wir 
aus der wirklichen Umdrehungszeit der Sonne, die 253 
Tage beträgt, die berechnen, welche statthaben müsste, 
wenn unter Erhaltung der Summe der von allen materiellen 
Punkten beschriebenen Flächen die Sonne sich soweit 
ausgedehnt hätte, dass ihr Radius, der jetzt 112 mal so 
gross als der der Erde ist, gleich der Entfernung der Erde 
von der Sonne, oder gleich der des Neptuns von der Soime 

geworden wäre Die Berechnung auf Grund der 

ersten Annahme ergibt eine Umdrehungsdauer von 1,162 00© 
Tagen, d. h. mehr als dreitausend (3 181) Jahre. Die auf 
Grund der zweiten Annahme berechnete Umlaufszeit würde 



^®) „Note sur un Point de la Cosmogonie de Laplace," Comptes 
Rendus, vol. 52, p. 481 seq. Meine Aufmerksamkeit wurde auf diesen 
Artikel durch eine Stelle in einer interessanten kleinen Broschüre 
von Dr. E. Büdde aus Bonn „Zur Kosmogonie der Gegenwart" 
(Bonn, Weber, 1872) gelenkt, auf die ich noch später Gelegenheit 
haben werde zurückzukommen. 



Kosmologisclie und kosmogenetische Spekulationen. 297 

offenbar 900 000 mal grösser sein, d. h. mehr als 2 7 000 
Jahrhunderte umfassen/' 

„Da diese Zahlen unendlich grösser als die der 
wirklichen Umlaufszeiten der Erde und des Neptuns 
sind, ist es offenbar unmöglich, die Annahme zuzulassen, 
dass diese Planeten aus der über die Planetenbahnen 
hinausreichenden Sonnenmasse gebildet worden wären. 
Dies schliesst' indessen nicht den Gedanken aus, dass die 
Sterne sich auf Kosten einer allgemeinen kosmischen Materie 
gebildet hätten, die mit ausserordentlich schwachen Rotations- 
bewegungen um den Schwerpunkt jeder Masse ausgestattet 
war, die im Prozess der Bildung als unabhängige Sonne 
begriffen war." 

Daraus ergibt sich der Schluss, dass, wenn die ganze 
Masse der Sonne sich bis zu den Grenzen des Planeten- 
systems erstreckt hätte, sie eine so schwache Rotations- 
bewegung gehabt haben müsste, dass die Fliehkraft im 
Stande war, der Schwerkraft derart Gleichgewicht zu halten, 
dass die Abscheidung eines äquatorialen Ringes von der 
ganzen Masse stattfinden konnte." 

Die hier ans Licht tretenden Widersprüche zwischen 
den wirklichen Umlaufszeiten der Planeten und den ihnen 
entsprechenden, durch Rechnung in Übereinstimmung mit 
den Fordenmgen der Nebularhypothese gefundenen sind 
so gross, dass keine Möglichkeit vorhanden zu sein scheint, 
dieselbe durch die Annahme einer fortschreitenden Kon- 
traktion der Bahnen der verschiedenen Planeten seit ihrer 
Bildung und die daraus folgende Verstärkung ihrer Um- 
laufsbewegungen zu erklären. 

Die Berechnungen von Babinet bilden nicht die einzige 

Schwierigkeit, welche die Nebularhypothese, sei es in ihrer 

allgemein kosmogenetischen oder in ihrer speziell Laplace- 

-schen Form besjtzt Im Fortschritte der astronomischen 

Entdeckungen hat es sich gezeigt, dass mehrere der voraus- 



29S XV. Kapitel, 

gesetzten Übereinstimmungen zwischen den Thatsacben und 
der Hypothese nicht zutreffen. So gibt ies eine Ausnahnie 
zu der Gleichförmigkeit der Richtung dei* Umdrehungs- und 
.Umlaufsbewegungen der Planeten und Satelliten in dem 
Falle des Uranus, bei dem die Bahnebenen seiner SäteJlUto 
nahezu senkrecht zur .Ekliptik stehen, während die . Be- 
wegungen der Satelliten um den Planeten, wie die Achsen- 
drehung des Planeten retrograd sind — eine Thatsache, dte 
schon lange vorher von Sir Willian Herschel entdeckt 
und durch -verschiedene nachfolgende Beobachtungen be- 
stätigt worden ist. Eine andere Schwierigkeit entstand 
durch die kürzliche (1877) Entdeckung zweier Marssatelliten 
durch Professor Asaph Hall und die annähernde Bestim- 
mung ihrer bezüglichen Entfernungen vom Hauptplaneten^ 
sowie auch durch die ihrer Umlaufszeiten. Es stellte sich 
heraus, dass die Entfernungen des inneren imd äusseren 
Satelliten vom Mittelpunkt des Planeten dreimal, beziehungs- 
weise sechsmal so gross als der Radius desselben sind, und 
dass die Umlaufszeit beziehungsweise 7-65 und 30.25 
Stunden beträgt, während die Zeit einer Umdrehung des 
Planeten (Mars) selbst 24 • 62 3 Stunden ausmacht. Es scheint 
so, dass der eine der Satelliten um den Planet in wenige 
als ein Drittel der für die Achsendrehung desselben er- 
forderlichen Zeit einen Umlauf vollendet. 

Auf den ersten Blick scheint diese Thatsache mit der 
Nebularhypothese ganz unverträglich zu sein. Im Lichte 
dieser Hypothese erscheinen die Umlaufszeiten der Satelliten 
als Fortsetzungen der Achsendrehungen der Materie, aus 
der die Satelliten gebildet wurden ; ihre Umlaufszeit müsste 
somit, wenigstens annäherungsweise, der Dauer gleich sein^ 
in der der Planet zur Zeit der Bildung des Satelliten seine 
Achsendrehung ausgeführt hatte. Diese Zeitdauer ist aber 
wegen der durch die nachfolgende Zusammenziehung er- 



Kosmohgische und kosmogenetisclie Spekulationen. 299 

zeugten Beschleunigung notwendigerweise grösser als die 
Dauer der gegenwärtigen Umdrehung des Planeten. 

Bisher sind zwei Versuche gemacht worden, um diese 
Unregelmässigkeit mit den Anforderungen der Nebular- 
hypothese zu versöhnen. Einer derselben gründet sich, auf 
die Annahme, dass die Bahnen der Satelliten durch den 
Widerstand des Äthermediums, von dem man früher an- 
nahm,, dass er die Umlaufsdauer des ENCKE'schen Kometen 
verkürzt hätte, zusammengezogen worden seien. .Dieser 
Widerstand ist jedoch ganz und gar unzureichend, diese 
Unregelmässigkeit zu erklären, selbst werm die sehr zweifel- 
hafte Existenz eines interstellaren und interplanetarischen 
Mediums, das der Bewegung der Planeten einen wesent- 
lichen Widerstand entgegenstellen könnte, begründet wäre. 
Der zweite Versuch sucht die Unregelmässigkeit auf eine 
Verzögerung oder Umdrehung des Planeten imd eine eiit- 
sprechende Verstärkung der Umlaufsbewegung der Satelliten 
durch die Wirkung von Ebbe und Flut zurückzuführen. 
Während zugegeben wird, dass die Verzögerung der Rota- 
tionsdauer des Planeten durch die Wirkung der durc.h den 
Satelliten an ihm erzeugten Ebbe und Flut. im Stande ist, 
eine Übereinstimmung dieser Dauer mit der Umlaufszeit 
des Satelliten hervorzubringen, wird von G. H. Darwin 
behauptet, dass die Rotationsdauer des Planeten über die 
Umlaufszeit des Satelliten hinaus durch die Reibung der 
von der Sonne erzeugten Gezeiten verlängert werden könne. 
Die Wirkimg, auf die hier angespielt wird, bildet das Er- 
gebnis einer Umwandlung der Energie der Planetendrehung 
in Wärme und einer Übertragung des Winkelmomentes der 
Drehung auf das. des Umlaufes jener Körper, durch deren 
gegenseitige Anziehung die Gezeiten um ihren gemeinsamen 
Massenmittelpunkt erregt werden \ da aber ein grosser 
Planet mehr Rotationsenergie und ein grösseres Winkel- 
moment besitzt als ein kleiner, werden die schnellsten 



300 XV. Kapitel. 

Veränderungen in der Dauer der Umdrehung und des Um- 
laufes im Falle des kleinsten Planeten hervorgerufen werden. 
Da nun Mars der kleinste von Satelliten begleitete Planet 
ist, so wurde behauptet, dass die Langsamkeit seiner Rota- 
tion im Vergleich mit der Umlaufszeit seines inneren 'Satel- 
liten auf die eben angeführte Art innerhalb des Zeitraumes, 
den die Verteidiger der Nebularhypothese für die Geschichte 
imseres Planetensystems zulassen, bewirkt worden seL 

Welches nun auch immer das Gewicht der verschie- 
denen gegen gewisse mehr oder weniger wesentliche Eigen- 
tümlichkeiten der Nebularhypothese erhobenen Einwendtmgen 
sein mag, so gibt es doch einen Vorwurf, der von grund- 
legender Bedeutung ist: die bereits hervorgehobene Unzu- 
lässigkeit aller Spekulationen über den Ursprung des Weit- 
aus als eines unbegrenzten Ganzen. Aber auch abgesehen 
davon ist es klar, dass die Ableitung der Formen und Be- 
wegungen der Stern- und Planetensysteme aus einer ur- 
sprünglichen homogenen durch den Raum verstreuten Masse 
immöglich ist. Erstens müsste sich eine solche Masse ent- 
weder in Ruhe oder in gleichförmiger Bewegung befinden ; 
dieser Zustand der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung 
könnte aber in Gemässheit der elementarsten Prinzipien sich 
nur durch äussere Antriebe oder Anziehungen ändern. Und 
nachdem es kein „Ausserhalb'' dem allumfassenden Kosmos 
oder Chaos gegenüber gibt, müsste der ursprüngliche Zu- 
stand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung not- 
wendigerweise ewig bestehen bleiben. ^*) Zweitens würde 
ein solches Nebelweltall von völlig gleichförmiger Tempe- 
ratur sein ; alle Teile würden gleich heiss (oder kalt) sein, 
und es könnte keine Strahlung oder Verlust an Wärme 



*^) Wie sich DÜHRING ausdrückt (Kritische Geschichte der all- 
gemeinen Prinzipien der Mechanik, 2. Aufl., § 151): „Wenn je ein 
vollkommenes Gleichgewicht zwischen den Teilen (der Nehelmasse) 
bestanden hat, müsste es fortfahren, auch jetzt zu existieren!" 



Kosmologiscke und kostnogenetisehe Spekulationen» 30X 

stattfinden, der zu einer Zusatnmenziehung irgend eines 
Teiles der Nebelmasse führen würde. Sein therraodynamischer 
Zustand würde aus dem gleichen Grunde konstant bleiben 
wie sein dynamischer. 

Die Häufung der in der Nebularhypothese sich dar- 
bietenden Schwierigkeiten wurde so gross und begann sich 
in so ausgedehntem Masse fühlbar zu. machen, dass eine 
Neigung entstand, sie durch eine andere Hypothese abzu^ 
ändern oder zu ergänzen, welche die H3rpothese der mete- 
orischen Anhäufung genannt wurde. Diese Hypothese 
empfiehlt sich dem modernen Physiker als Fall einer äugen* 
scheinlichen Dokumentierung der allgemeinen Lehre, dass, 
sobald es sich darum handelt, die Natur der Agentien zu 
ermitteln, welche eiü besonderes physikalisches System oder 
eine besondere Form gebildet haben, wir zuerst nach 
Agentien Umschau halten müssen, die an ihrer Erhaltung 
oder Zerstörung beteiligt sind — eine Lehre, die in die 
Regel gefasst werden kann : quod sustinet vel delet, 
formavit. Diese Lehre ist in Wirklichkeit nichts anderes 
als eine neue Aufstellung des alten Gesetzes der Ökonomie 
[the old law of parsimony], welches die unnötige Mehrung 
erklärender Elemente und Agentien verbietet. Es ist in 
ausgedehntem Masse mit Erfolg in der Geologie zur Ver- 
wendung gelangt, welche nun alle vergangenen Phasen 
der Erdgeschichte durch die regelmässige und gewöhnliche 
Wirkung der Kräfte zu erklären sucht, die gegenwärtig an 
der Arbeit sind, die jetzige Gestalt der Erde zu erhalten 
oder abzuändern. Die Theorie der meteorischen Anhäufimg 
ist zuerst von Julius Robert Mayer ^^) aufgestellt und auf 
die Überlegimg gegründet worden, dass der grosse jährliche 
Fall meteorischer Massen auf die Erde die Cirkulation oder 
Bewegung einer grossen Zahl kleiner Körper innerhalb 

^■) In seinen „Beiträgen zur Mechanik des Himmels" (1848 zu- 
erst veröffentlicht), Mechanik der Wärme [i. Aufl.], S. 157. 



302^ XV. Kapitel 

unseres Planetenraumes anzeigt und dass ein grosser Körper, 
wie die Sonne, in einer bedeutend grösseren Zahl als die 
Erde getroffen werden muss, da die Zahl sowohl mit ^ der 
Oberfläche wie mit der Masse der grösseren Körper wächst. 
Diese Meteore bilden nach Mayer in einem gewissen Sinne 
die Feuerung der Sonne, und sind alle Körper innerhalb 
unseres' Planetensystemes Zuwüchsen sowohl an Masse wie 
an Temperatur infolge ihrer Zusammenstösse mit ihnen 
imterworfen. Nun wird angenommen, dass in astronomisch 
frühen Epochen das Verhältnis dieser meteorischen Massen 
zu den Massen der grossen Sonnen- und Planetenkörper 
weit grösser gewesen sein mag als jetzt — dass in der 
That es eine Zeit gegeben haben mag, in welcher der jetzt 
von unserem Planetensystem eingenoihmene Raum den 
Anblick eines Schwarmes solcher Meteore aller möglichen 
Gestalten und Grade des Zusammenhangs geboten hat, die 
sich mit allen möglichen Geschwindigkeitsgraden, nach allen 
Richtungen hin und in Bahnen jedweden Grades von Ex- 
centrizität bewegt haben. Diese Massen hätten sich kon- 
solidiert und aus deren Zusammenstoss seien in den so ge- 
bildeten Körpern Drehungs- wie Umlaufsbewegungen ent- 
standen. 

Hier drängt sich von selbst die Frage auf: Wie kann 
eine Theorie, welche die geordnete, symmetrische und har- 
monische Welt, wie wir sie kennen, aus dem wüstesten 
Durcheinander ursprünglicher Unterschiede und Unregel- 
mässigkeiten — aus einer Quelle äüsserster Ungeftigtheit 
und Unordnung — abzuleiten sucht, Rechenschaft geben 
für die Regelmässigkeiten und Übereinstimmungen, deren 
einfache und natürliche Erklärung das deutlich ersichtliche 
Verdienst der Hypothese von Laplace gewesen ist? 

Auf diese Frage ist von den Verteidigern der neuen 
Theorie eine Antwort in der Berufung auf ein P'rinzip ge- 
sucht worden, das lange vorher von Laplace selbst aufge- 



Kosmohgiscfie und kosmogenetische Spekulationen, 3*03 

stellt worden ist. Dieses Prinzip bezieht sich auf die That- 
sache, dass bei allen durch die gegenseitige Anziehung 
planetarischer Massen verursachten Störungen es eine un- 
veränderliche durch den Schwerpunkt des ganzen Systems 
hindurchgehende Ebene gibt, um welche diese Körper be- 
ständig mit nur beiderseits geringen Abweichungen auf und 
ab schwingen. Wenn wir auf diese unveränderliche Ebene 
die von den Radienvektoren der verschiedenen Massen- 
elemente in einer gegebenen Zeit beschriebenen Flächen- 
räume projizieren und jede Masse mit der Grösse des be- 
züglichen Flächenraumes multiplizieren, so ist die Summe 
dieser Produkte ein Maximum, und der Grad ihres Wachs- 
tums ist konstant. '*) Solch' eine Ebene existiert nicht nur 
für das Sonnensystem, sondern für jedes System von Körpern, 
die nur ihrer gegenseitigen Anziehung unterliegen. Nun ist 
es evident, dass sowohl die Summe der Produkte der Massen 
in die Projektionen der von ihren Radienvektoren be-^ 
schriebenen Flächenräume wie das Mass ihres Wachstums' 
kleiner als die Summe der Produkte der Massen in' die von 
den Radien Vektoren selbst beschriebenen Flächenräume, bez. 
das Mass ihres Wachstums sein müssen, da ja diese Radien 
(ausgenommen den Fall, wo sie parallel sind) durch die 
Projektion verkürzt werden ; femer steht die Differenz zwischen 
diesen beiden Summen im direkten Verhältnis zu den Ab- 
weichungen der Bewegungen von der Richtung der totalen 
Zunahme, wobei diese Richtung zum Zwecke der Bezug- 
nahme als positiv, die entgegengesetzte natürlich als negativ 
genommen wird. Wenn nun einige der Bewegungen auf Wider- 
stand stossen, werden einige Komponenten der Geschwindig- 
keiten der bewegten Massen notwendigerweise zerstört, so dass 



*') Vgl. Laplace, Mecanique Celeste, I ere partie, liv. II, chap. 
VII. („Des inegalites seculaires des mouvemens Celestes"). Die Theorie 
ist zuerst im „Journal de l'Ecole Polytechnique" 1798 veröffentlicht 
worden. 



304 XV, Kapitel 

die fragliche Differenz verkleinert und eventuell vernichtet 
wird. Wenn dies geschehen ist, werden die absoluten Werte 
der von den Radienvektoren der Massen in einer gegebenen 
Zeit beschriebenen Flächenräume ihren Maximalprojektionen 
gleich ; mit anderen Worten, ihre Ebenen fallen in die Laplace- 
sche unveränderliche Ebene oder werden ihr parallel. Daraus 
ergibt sich das allgemeine Prinzip, dass die Bewegungen der 
irgend ein endliches System zusammensetzenden Körper, wie 
auch immer die ursprüngliche Abweichung der Richtung sei (mit 
Ausnahme sehr weniger besonderer Fälle), infolge irgend wel- 
chen Widerstandes gegen diese Bewegungen parallel oder tiber- 
einstimmend zu werden strebt mit einer unveränderlichen 
Ebene. ^^) 

Bevor ich diesen Gegenstand verlasse, will ich be- 
merken, dass das eben aufgestellte Prinzip, welches eine 
weitere Verallgemeinerung zulässt, so dass es die Form 
annimmt — dass alle Bewegungen von Elementen endlicher 
materieller Systeme, die von der gegenseitigen Wirkung 
solcher Elemente abhängen, infolge irgend welcher ständiger 
Beeinflussungen oder Beschränkungen dieser Bewegungen 
von aussen, von Unregelmässigkeit und Unordnimg zur 
Regelmässigkeit und Ordnung streben — meines Erachtens 
eines der bedeutendsten Prinzipien im ganzen Bereiche der 
mathematischen Physik ist. Denn die hier bezeichnete 
Bedingung — dass die inneren Bewegungen des Systems 
ständiger Beeinflussung von aussen unterworfen seien — 
ist thatsächlich von jedem materiellen System unzertrennlich, 
da es kein solches System gibt, das zu irgend einer Zeit 



**) Mögliche Ausnahmen von diesem Gesetz sind natürlich jene 
Fälle, in denen die zerstörten Komponenten genau gleich und ent- 
gegengesetzt sind. Die Unwahrscheinlichkeit des Eintreffens solcher 
Fälle ist so gross, dass Budde, der das Gesetz im wesentlichen so 
aufstellt, wie ich es im Texte gethan habe (1. c, S. 30) nicht einmal 
auf die Möglichkeit einer Ausnahme anspielt. 



Kosmohgische und kosmogenetische Spekulationen. 305 

tinter dem ausschliesslichen Einflüsse seiner eigenen inneren 
Kräfte stünde. Infolgedessen herrscht in jedem endlichen 
Teile der Welt eine angeborene Neigung vom Unregel- 
mässigen zum Regelmässigen, eine innewohnende Tendenz 
vom Chaos zum Kosmos; eine Tendenz, welche, die ein- 
fache und direkte Folge der Relativität aller materiellen 
Formen ist — der Thatsache, dass jedes endliche Ganze 
stets ein Teil eines noch grösseren Ganzen ist — kurz der 
Thatsache, dass das Endliche bloss als der stets zurück- 
weichende Hintergrund des Unendlichen existiert. Es ist 
sogar möglich, dass dieses Prinzip umfassender ist und 
über den Bereich der Physik hinaus gilt, und dass es bis 
zu einem gewissen Masse seine Anwendungen innerhalb der 
Domäne jener Wissenschaften finden mag, die gewöhnlich 
als historische bezeichnet werden. Wiewohl Versuche einer 
Übertragung von Gesetzen über die gegenseitige Abhängigkeit 
von Erscheinungen, deren Zusammenhang einfach und leicht 
zu verfolgen ist (wie z. B. von Bewegungen anorganischer 
Massen), auf eine Gruppe von Erscheinungen, deren Be- 
ziehungen kompliziert und unvollkommen verstanden sind 
(wie z. B. die organischen und die Lebenserscheinungen), 
äusserst gefahrlich sind und niemals ohne sorgfältiger Be- 
zugnahme auf die Natur und den Grund der Analogieen, 
durch die sie sich Eingang verschaffen, unternommen werden 
sollen,, bleibt es dessen ungeachtet richtig, dass ein grosser 
Teil des Fortschrittes, der jetzt in verschiedenen Abteilungen 
der Wissenschaft stattfindet, dem freien Austausch nicht nur 
der Ergebnisse, sondern auch der Prinzipien und Methoden 
zu verdanken ist.**) 



^'*) Beispiele für die Anwendung dynamischer und , allgemein, 
physikalischer Gesetze nicht nur auf die Lebens-, sondern auch auf 
die psychischen Erscheinungen sind kürzlich durch die Auseinander- 
setzungen von AVENARIUS über die Entwicklung des Denkens gemäss 
dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses (Die Philosophie als Denken 
StalLO, BegrifTe u. Theorieen. 20 



5o(5 XV. KapiteL 

Die Theorie von der meteorischen Zusammenballung 
unternimmt es, noch weitere Elemente des allgemeinen 
Problems der Erklärung der wirklichen Gestalt unseres 
Planetensystems in Angriff zu nehmen, wie z. B. <lie ver« 
hältnismässige Kleinheit der der Sonne zunächst steheliden 
Planeten. Die Schlussweise ist ungefähr diese: Irgendwo 
innerhalb des Raumes, der die verschiedenen Bewegungen 
der Körper lunfasst, deren Materien sich, im 'Ballungspro- 
zesse befinden, wird sich wahrscheinlich eine Masse bilden; 
welche die anderen überragt. Diese Masse • — der Kern 
der künftigen Sonne des Systems — muss nach und njfcch 
in seine Nähe die Perihele aller bewegten meteorischen 
Massen oder Gruppen von solchen ziehen. In dieser Gegend 
müssen somit die Bewegungen aller Körper die grösste 
Geschwindigkeit besitzen ; hier müssen die Meteore an ein- 
ander mit grösster Schnelligkeit vorbeifliegen, und ihre An- 
näherung und Zusammenballung am schwierigsten sein -^r- 
ein Umstand, der auch das rasche Wachstum der Körper 
dieser Gegend nach ihrer anfänglichen Bildung verhindert 
An den Grenzen des Systems hingegen, wo die Bewegungen 
der Meteore träge sind, sind die Bedingungen fiir die 
Bildung grosser Massen verhältnismässig günstig« In 
ähnlicher Weise lässt sich eine grobe Erklärung der That- 
sache geben, dass die Dichten der Planeten im all- 
gemeinen ihrer Grösse verkehrt proportional sind. Ein 
grösserer Körper zieht einen Meteor mit grösserer Stärke an 
als ein kleiner; seine Zunahme erfolgt somit durch heftigere 



der Welt gemäss dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses, Leipzig^ 1876) 
und die vorausgegangenen Auseinandersetzungen von Schleicher 
über die Entwicklung der Sprache im Lichte der Lehre von der 
natürlichen Zuchtwahl — die, wie nebenbei bemerkt werden mag, 
nicht ohne Analogie zu dem im Texte auseinandergesetzten Prinzipe 
ist — beigebracht worden. (Die Darwin'sche Theorie und die Sprach-^ 
Wissenschaft, Weimar 1863.) 



Kosmologische und kosmogenetische Spekulationen, 307 

Stösse/die eine heuere Temperatur und eine dementsprechende 
Ausdehnung erzeugen. 

Es ist nicht meine Absicht, die Verdienste dieser 
Theorie im einzelnen durchzugehen, oder eine Meinung 
über ihre ^ Richtigkeit und Zulänglichfceit auszudrücken ; 
doch finde ich es für schicklich zu erklären, dass sie mir 
in einem vorteilhaften Gegensatz zur Nebularhypothese 
gerade wegen des Fehlens einiger charakteristischer Eigen- 
heiten der letzteren erscheint, denen diese Hypothese ihren 
Anschein der Wahrheit verdankt. Die Nebularhypothese 
fand willige und zumeist begeisterte Aufnahme nicht so sehr 
aus physikalischen wie aus metaphysischen Gründen. Die 
Geneigtheit, das Vielfältige aus dem absolut Einfachen, das 
Mannigfache aus dem absolut Gleichförmigen abzuleiten, 
hat ihre Wurzel in dem zweiten der grossen Strukturfehler, 
die ich im 9. Kapitel erörtert habe — nämlich in der 
Annahme, dass das abstrakte Resultat einer Verallgemeinerung, 
d. i. ein allgemeiner Begriff vorteühaft zum Ausgangspunkt 
für die Entwicklung der besonderen unter ihm subsumierten 
Dinge gemacht werden könne. Der Enthusiasmus für die 
Nebularhypothese war in dieser Beziehung eine ontologische 
Nachwirkung. Und in einer anderen Beziehung war er 
selbst noch mehr als das — bedeutete er ein Wiederauf- 
leben der alten Traditionen über den Ursprung des Welt- 
alls aus dem Nichts. Der anfängliche Nebel der Nebular- 
hypothese wird von äusserster Feinheit angenommen — 
von einer Dichte, die kleiner als ein hunderttausendstel der 
des Wasserstoffes, des leichtesten der dem Chemiker be- 
kannten gasförmigen Körper, ist. Infolge dieser äthe- 
rischen Feinheit wurde er leicht in den Begriffen des ge- 
wöhnlichen Volkes an die Stelle des alten leeren Raumes 
gesetzt, aus dem die Welt entstanden ist, und in den Ein- 
bildungen jener, welche die Materie als eine Art von Ver- 
dichtung des Geistes ansehen, an Stelle des allumfassenden, 

20* 



3o8 XV. Kapitel, 

vorweltlichen, unpersönlichen Geistes. So hat er sich der 
Annahme einer jeden Weltbildungshjrpothese angepasst, nach 
der es im Anfange ein Etwas „ohne Form und Gehalt" 
gegeben haben muss und hat zur gleichen Zeit dem mystischen 
Gejammer nach dem Ätherischen und „Spiritualistischen" 
entsprochen, das ein besonderes Kennzeichen jener breiten 
Klasse von Philosophen bildet, deren Philosophie dort be- 
ginnt, wo klares Denken aufhört. 



XVL 

Schluss. 

Die Betrachtungen der vorhergehenden Seiten fuhren 
zu dem Schlüsse, dass die mechanische Atomtheorie die 
wahre Grundlage der modernen Physik weder ist noch sein 
kann. Bei näherer Prüfimg erscheint diese Theorie nicht 
niu:, wie allgemein zugegeben wird, als unzureichend für die 
Erklärung der Erscheinungen des organischen Lebens, sondern 
sie erweist sich gleicherweise auch als unzulänglich, um 
als Grundlage für die Erklärung der allergewöhnlichsten 
Fälle unorganischer physischer Wirkung dienen zu können. 
Ihr Anspruch, dass sie im Gegensatze zu metaphysischen 
Theorien keine Annahmen zulässt und mit keinen anderen 
Elementen rechnet als mit den Daten der sinnlichen Er- 
fahrung, erweist sich als ganz und gar unbegründet. Bei der 
Verkündigung dieses Schlussergebnisses ist es indessen von 
nöten, sich vor zwei fundamentalen Missverständnissen zu 
hüten. In erster Linie schliesst die Leugnung der Theorie , 
vpn der atomistischen Konstitution der Materie, wie sie all- 
gemein von Physikern und Chemikern angenommen wird, 
keine Behauptung über die wirkliche Konstitution der 
Körper in sich — der Elemente wie der chemischen Ver- 
bindungen — und sicherHch enthält sie nicht die meta- 
physische Behauptung von der absoluten Kontinuität der 
Materie in sich. Welches die wirkliche Beschaffenheit be- 
sonderer Körper ist, ist eine Frage, die in jedem einzelnen 
Falle durch Experiment und Beobachtung zu entscheiden 
ist. Es gibt ohne Zweifel eine grosse Klasse von Körpern, 



3IO XVL KapiteL 

die eine molekulare Konstitution besitzen ; daraus folgt jedoch 
nicht, dass diese Molekeln ursprüngliche, unveränderliche Ein- 
heiten sind, die unabhängig und vor aller physischen Wirkimg 
existieren und folglich von jeder Veränderung unbedingt 
ausgeschlossen sind. Auf Grund empirischer Betrachtungen 
ist der Schluss aus der molekularen Struktur eines Körpers 
auf die beständige Existenz absolut unveränderlicher und un- 
zerstörbarer Atome oder Molekeln ebenso unvernünftig, als 
es die Behauptung sein würde, dass ursprünglich und vor 
aller Bildung organischer Körper eine unbestimmte Zahl von 
Elementarzellen vorhanden gewesen wäre, weil alle organischen 
Körper aus Zellen zusammengesetzt sind. 

In zweiter Linie darf die Abweichung von dem Satze, 
dass alle physische Wirkung in dem Sinne eine mechanische 
sei, als sie in einer Übertragung von Bewegung zwischen 
verschiedenen Massen durch Stoss oder Berührung bestehe, 
nicht als ein Zweifel an der Beständigkeit physikalischer 
Gesetze oder der Allgemeinheit ihrer Anwendung aufgefasst 
werden. Nicht die allgemeine Gütigkeit und die be- 
herrschende Stellung des Gesetzes physischer Verursachung 
ist es, die geleugnet wird, sondern die Lehre, dass die ein- 
zige Form dieser Verursachung die Übertragung von Be- 
wegung durch unmittelbare Berührung von Massen sei, die 
an sich absolut träge sind. Bezeichnet man physische 
Wirkungen, die nach beständigen und gleichförmigen Ge- 
setzen vor sich gehen, als mechanische, dann ist alle physische 
Wirkung unzweifelhaft eine mechanische. 

Es könnte eingewendet werden, dass ein physikalischer 
Vorgang völlig unbestimmbar ist, wenn nicht eine molekulare 
oder atomistische Konstitution der Materie vorausgesetzt 
wird. Dies ist nur in dem Sinne richtig, als wir ausser 
Stande sind, Formen physikaHscher Vorgänge anders in 
Betracht zu ziehen wie als Wirkungen zwischen verschiedenen 
physischen Teilen, Ein physischer Vorgang kann nicht 



Schluss. 5x1 

quantitativen Bestimmimgen -unterworfen werden ohne logische 
Isolierung der begrifflichen Elemente der Materie und, ohne 
schllessliche Bezugnahme auf die begriftiichen Konstanten 
der Masse und Energie. Alles diskursive Denken beruht 
auf der Bildung von Begriffen, auf. der intellektuellen 
Scheidung .und Gruppierung von Merkmalen — init an- 
deren Worten, auf der Betrachtung von Erscheinungen von 
einer besonderen Seite aus. • In diesem Sinne bestehen die 
Schritte zur Erreichung einer wissenschaftlichen, so gut wie 
einer anderen Erkenntnis in einer Reihe logischer Fiktionen, 
die bei den Operationen des Denkens ebenso berechtigt 
wie unvermeidlich sind, deren Beziehungen zu den Er- 
scheinungen, von denen sie nur eine teilweise und nicht 
selten bloss symbolische Darstellung bilden, nie aus den 
Augen gelassen werden dürfen. Wenn der alte Grieche 
die Eigenschaften eines Kreises zu bestimmen suchte, so 
begann er mit der Konstruktion eines Polygons, dessen 
Seiten so lange immer wieder geteilt wurden, bis sie als 
unendlich klein angenommen werden konnten; und seiner 
Ansicht nach war jede Linie von bestimmter Grösse und 
Gestalt — d. h. jede Linie, die Gegenstand einer mathe- 
matischen Untersuchung werden konnte — aus einer un- 
endlichen Zahl unendlich kleiner gerader Linien zusammen- 
gesetzt. Doch fand er rasch, dass, während diese Fiktion 
ihn in den Stand setzte, eine Regel zur Berechnung des 
Flächeninhaltes des Kreises abzuleiten und ausserdem eine 
Reihe seiner Eigenschaften zu bestimmen, dessenunge- 
achtet der Kreis und sein geradliniger Durchmesser im 
Grunde inkommensurabel sind, und die Quadratur des 
Kreises unmöglich ist. Der moderne Analytiker bestimmt 
in ähnlicher Weise den Ort einer Kurve durch das Ver- 
hältnis kleiner beliebig gewählter Zuwüchse der Koordinaten ; 
doch bleibt er dabei dessen wohl eingedenk, dass die Kurve 
selbst mit dieser willkürlichen Darstellung nichts zu thun 



312 XVL Kapitel. 

hat, und anerkennt ganz ausdrücklich die Kontinuität der 
Kurve durch die Differentiierung oder den Grenzübergang 
dieser Zuwüchse — wobei er zu gleicher Zeit seine Ko-, 
ordinaten durch Veränderung des Anfangspunktes oder 
ihres Neigungswinkels umformt oder selbst ihr System, z. B. 
vom bilinearen zum polaren, ändert, wenn er es für pausend 
findet, ohne daran zu denken, dass es im geringsten die 
Natur der Kurve berühren kann, deren Eigenschaften unter 
Diskussion stehen. Der Astronome beginnt bei der Be- 
rechnimg der Anziehung einer homogenen Kugel auf einen 
materiellen Punkt mit der Annahme der atomistischen oder 
molekularen Konstitution der anziehenden Kugel; hernach 
ninamt er aber die Reihe als unendlich und die Differenzen 
als unendlich klein an und entledigt sich völlig des piole- 
kularen Gerüstes, indem er integriert, anstatt die Summe 
einer Reihe endlicher Differenzen zu bilden. Man beachte : 
Der Astronom heginnt mit zwei Fiktionen — der Fiktion 
eines „materiellen Punktes" (der in Wirklichkeit eine con- 
tradictio in adjecto bedeutet), um so die Anziehungskraft 
zu isolieren und sie als von der Kugel allein herrührend zu 
betrachten, und der Fiktion endlicher Differenzen, welche 
die molekulare Konstitution der Kugel darstellen; die 
Giltigkeit seines Resultates hängt aber von der schliess- 
lichen Aufhebung dieser Fiktionen und der Wiederherstellung 
der Thatsache her. In ähnlicher Weise stellt der Chemiker 
die Gewichtsverhältnisse, in denen sich die Substanzen ver- 
binden, als Atome von bestimmtem Gewichte und die aus 
ihnen gebildeten Verbindungen als Gruppen solcher Atome 
dar^ und diese mythische Münze ist in mannigfacher Weise 
dienlich gewesen. Abgesehen jedoch davon, dass die Sym- 
bole zu einem ganz unzulänglichen Mittel für eine natür- 
liche Darstellung der Thatsachen geworden sind, ist es 
wichtig, sich stets vor Augen zu halten, dass das Symbol 
nicht die Thatsache ist, Newton leitete viele Hauptsätze 



Schluss. 313 

der Optik aus der Corpusculartheorie des Lichtes und- aus 
seiner Hypothese von den „Anwandlungei;! leichten Durchr 
ganges und leichter Reflexion" ab. Seine Theorie diente 
eine Zeit lang einem guten Zwecke ; dessen ungeachtet war 
sie aber nicht mehr als eine passende Art von Symbolisierung 
der bekannten Erscheinimgen und hätte verworfen werden 
müssen, nachdem die Erscheinung der Interferenz beobachtet 
worden war. Im Jahre 1824 leitete Sadi Carnot das noch 
heute nach seinem Namen benannte Gesetz der Wirkungs- 
weise der Wärme aus einer Hypothese über die Natur der 
Wärme ab (die von ihm, wie fast von allen Physikern seiner 
Zeit als ein unwägbarer Stoff angesehen wurde), welche 
gegenwärtig als irrig anerkannt oder allgemein angesehen 
wird. Für gewisse Zwecke wie für die mathematische Be- 
stimmung des Druckes und der Ausdehnung der Gase finden 
die thermischen Erscheinungen eine passende Darstellung 
durch die Hypothese, dass ein Gas aus einer Gruppe von 
Atomen oder Molekeln im Zustande unaufhörlicher Bewegung 
besteht Einige von den Eigenschaften der Gase ^ind mit 
Erfolg von Clausius und anderen aus auf dieser Hypothese 
beruhenden Formeln abgeleitet worden und Maxwell glückte 
es selbst, die Erscheinung der alimählichen Abnahme der 
schwingenden Bewegung einer zwischen zwei anderen auf- 
gehängten Scheibe, die sich infolge der Reibung des gas- 
förmigen Mediums und unabhängig von dem Grade seiner 
Dichte vollzieht, vorherzusagen, was seitdem durch das Ex- 
periment bestätigt worden ist ; aber weder Clausius' Formeln 
noch Maxwell's Experimente beweisen etwas über die wirk- 
liche Natur der Gase. Dass kein giltiger Schluss auf die 
wirkliche Beschaffenheit der Körper und die wahre Natur 
physischer Wirkung aus den Formen gezogen werden . kann, 
in denen man es für nötig oder passend findet, sie darzu- 
stellen oder zu begreifen, wird durch die Thatsache illustriert, 
dass wir gewöhnlich und zwar nicht nur beim gewöhnlichen 



314 XVL Kapitel . 

Denken und Sprechen, sondern auch für Zwecke wissen- 
schaftlicher Diskussion auf Darstellungsarten von Natur- 
erscheinungen zurückgreifen, die auf längst als unhaltbar 
aufgegebene Ansichten und Hypothesen gegründet sind. 
Gerade so wie wir gewöhnlich von den Bewegungen der 
Sonne und der Sterne in Ausdrücken der alten geocentrischen 
Lehre denken und sprechen, wiewohl niemand in unseren 
Tagen die Wahrheit der heliocentrischen Theorie bezweifelt, 
so würde es auch der moderne Astronome für schwierig 
finden, sich dieser geocentrischen Fiktionen zu enthalten, 
wenn er diese Bewegungen der Rechnung unterwirft. Selbst 
die alten Epicykeln leben in einigen der analytischen Formeln, 
durch die jene Berechnung ausgeführt wird, wieder auf. 
Der Fortschritt der modernen theoretischen Physik be- 
steht in der allmählichen Zurückführung der verschiedenen 
Formen physikalischer Vorgänge auf das Prinzip von der 
Erhaltung der Energie. Behufs didaktischer Darlegung dieses 
Prinzips nehmen wir unsere Zuflucht zu erdichteten Systemen 
von Molekeln oder Partikeln, deren Bewegungen einfache 
Funktionen ihrer gegenseitigen Entfernungen sind. Wie 
wir gesehen haben, ergibt sich jedoch sofort ein Widerstreit 
dieser Fiktion mit den Thatsachen der Erfahrung, wenn 
wir eine durchgreifende Unterscheidung zwischen den Molekeln 
and ihren Bewegungen durchzufuhren suchen. Die Erhaltung 
der Energie würde sich als unmöglich herausstellen, wenn 
die letzten Bestandteile eines materiellen Systems an sich 
vollständig träge wären. Genau das Nämliche hat sich auch 
in schlagender Weise bei den jüngsten Versuchen einer 
Ausdehnung des Prinzips von der Erhaltung der Energie 
auf die chemischen Erscheinungen herausgestellt. Diese 
Versuche sind durch die Beobachtung eingegeben worden, 
dass jeder chemische Vorgang von der Absorption oder 
Entwicklung von Wärme abhängt oder doch wenigstens von 
einer solchen begleitet wird, und dass der Betrag der ab- 



• Schltiss. 315 

sorbierten oder frei gewordenen Wärme das Mass solcher 
Wirkung abgibt. Die Bestimmung chemischer Erscheinungen 
mit Hilfe ihrer thermischen Begleitumstände, die bis vor 
kurzem unter dem Namen der Thermochemie bekannt war 
und als ein verhältnismässig unbedeutender Teil der che- 
mischen Wissenschaft behandelt wurde, ist nun nahe daran, 
als die wahre Grundlage der theoretischen Chemie ange- 
sehen zu werden. Die Prinzipien dieser neuen Wissenschaft 
sind bereits bis zu einem gewissen Grade in verschiedenen 
Lehrbüchern systemisiert worden, unter denen Mohr's 
„Mechanische Theorie der chemischen Affinität", ^) Nau- 
mann'» „Grundriss der Thermochemie" ^) und Berthelot's 
„Chenodsche Mechanik auf Grund der Thermodynamik"*) 
erwähnt werden mögen.*) 

Die Wichtigkeit der Rolle, welche der Wärme bei 
chemischen Umwandlungen zukommt, hat sich zum ersten 
Male deutlich herausgestellt bei der Verkündigung des 
Empirischen Gesetzes von Dulong und Petit im Jahre 18 19, 
nach dem die spezifischen Wärmen der Elemente umgekehrt 
proportional ihren Atomgewichten sind, oder wie man sich 
in der Sprache der Atomtheorie gewöhnlich ausdrückt, die 
Atome aller elementaren Körper dieselbe spezifische Wärme 
haben. Wiewohl es augenfällige Ausnahmen dieses Gesetzes 
gibt (wie in dem Falle von Kohlenstoff, Bor und Silicium), 
bewährt es sich in so vielen Fällen so gut, dass Hofihung 
auf eine solche Erklärung dieser Ausnahmen vorhanden ist, 
die dieselben schliesslich als Bestätigungen des 'Gesetzes 



^) Braunschweig 1868. 

*) Braunschweig 1869. 

') M. Berthelot, Essai de Mecanique Chimique fondee sur 
la Thermochimie, Paris 1879. 

*) Die Fortschritte, welche seither die Termochemie über Berthe- 
Lot hinaus gemacht hat, sind in dem Folgenden nicht berücksichtigt. 
Anm. d. Her. 



31 6 XVL Kapitel. 

erweisen wird; thatsächlich ist auch einiger Fortschritt in 
dieser Richtung bereits geschehen. Neumann, Regnault 
und Kopp haben gezeigt, dass das Gesetz nicht nur auf 
Elemente, sondern auch auf Verbindungen anwendbar ist, 
indem sich die spezifische Wärme einer Verbindung gleich 
der Sunune der spezifischen Wärmen ihrer Elemente ergibt. 

Das Gesetz von Dulong und Petit würde, falls es 
allgemein giltig wäre, auf ein bemerkenswertes Gesetz 
chemischer Verbindung führen. Denn es ist offenbar identisch 
mit dem Satze, dass sich chemische Elemente nur dann 
verbinden, wenn sie bei der Verbindung die gleiche Tempe- 
raturerhöhung erfahren. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass, 
wenn das wahre Verhältnis der Temperatur eines Körpers 
zu seiner gesamten physikalischen und chemischen Energie 
völlig bekannt wäre, dieses Gesetz eines der Grundprinzipien 
der theoretischen Chemie werden würde. 

Das nächste bemerkenswerte Ergebnis thermochemischer 
Forschung war die Entdeckung, dass die Natur chemischer 
Reaktionen zwischen verschiedenen Substanzen von den 
Verhältnissen zwischen den spezifischen Energien der Re- 
agentien, wie sie durch die Mengen der beim Prozesse ent- 
wickelten oder verbrauchten Wärmen gegeben sind, ab- 
hängig ist. Es stellte sich heraus, dass es gewisse Elemente 
gibt, wie z. B. Sauerstoff und Wasserstoff — die sich leicht 
und unter gewissen Bedingungen von selbst mit einander 
verbinden, deren Verbindung, wie sich Berthelot ausdrückt, 
direkt vor sich geht, ohne Zuhilfenahme äusserer Energie, 
und von einer Entwicklung von Wärme oder Licht oder 
beider begleitet ist. Derartige Verbindungen bezeichnet 
Berthelot als e x o t h e r m i s c h e. Sie führen zur Bildung 
von Verbindungen, die nicht wieder in ihre ursprünglichen 
Elemente ohne Zurückerstattung der bei ihrer Verbindung 
verloren gegangenen Energie aufgelöst werden können* 
Andererseits gibt es Fälle endothermischer Yerbindung, 



Schluss, 317 

in denen umgekehrt die Vereinigung der Elemente von 
«iner Absorption, und die Zerlegung der erhaltenen Ver- 
bindung von einem Freiwerden der Wärme begleitet ist. 
Die Verbindung von Kohle und Schwefel ist z. B. endo- 
thermisch. Schwefelkohlenstoff bildet sich beim Vorüber- 
streichen schwefliger Dämpfe über rotglühende Kohlen ; die 
Vereinigung von Schwefel und Kohle ist nur unter der 
Bedingung fortwährender Zufuhr an Wärme während der 
Verbindung möglich, die wieder bei der Auflösung der 
Verbindung in ihre Elemente frei wird. Diese Thatsachen 
werden von der modernen Chemie auf Grund der Theorie 
erklärt, dass die chemische Affinität umgewandelte Wärme 
ist, indem beide, Wärme wie chemische Affinität, Formen 
der Energie vorstellen, dass im Falle exothermischer Ver- 
bindung die Summe der spezifischen Energien der Elemente 
die spezifische Energie der gebildeten Verbindimg über- 
steigt, während bei einer endothermischen Verbindung die 
spezifische Energie der Verbindung grösser ist als die ver- 
einigten spezifischen Energien der Komponenten. Es hat 
sich herausgestellt, dass, wenn wir eine Anzahl von Elementen 
oder Verbindungen durch eine Reihe von chemischen Re- 
aktionen verfolgen, der Gesamtbetrag an Energie (der vor 
der Absorption oder nach dem Freiwerden in Form von 
Wärme erscheint), der frei wird oder verschluckt wird, genau 
gleich der Differenz zwischen den spezifischen Energien der 
anfanglichen und der schliesslichen Verbindungen oder Ele- 
mente ist. Zu beachten ist, dass diese Regel nicht nur 
auf die Fälle sogenannter chemischer Verbindung oder Zer- 
legung, sondern auch auf die der Allotropie und des Poly- 
merismus anwendbar ist, da es sich ja gezeigt hat, dass 
allotropische Formen der Elemente und isomerische Formen 
der Verbindungen in einander durch Hinzufügung oder Ent- 
ziehung bestimmter Wärmemengen verwandelbar sind. 

Ein drittes Ergebnis des Studiums der thermischen 



3i8 XVL Kapitel 

Verhältnisse von Elementen und Verbindungen l^ildet die 
Aufstellung des bemerkenswerten Prinzipes, dass der Über- 
gang irgend eines Körpers oder Körpersystemes von ge- 
ringerer zu grösserer Stabilität stets von einer Wärmeent- 
wicklung begleitet ist, „mag nun," wie sich Odling aus- 
drückt, „solch' eine Veränderung für gewöhnlich als Ver- 
bindung oder als Zerlegung bezeichnet werden,*' und dass 
jeder chemische Vorgang, der ohne Vermittlung einer äusseren 
Energie vor sich geht, die Erzeugung eines oder mehrerer 
Körper anstrebt, deren Bildung den grössten Betrag an 
Wärme frei werden lässt.^) 

Diese kurze Skizze zeigt zur Genüge die Thatsachen 
und Verallgemeinerungen, auf die man die neue Theorie 
einer „chemischen Mechanik" zu gründen suchte. Wenig 
Gebrauch ist bisher vom Gesetze von Dulong und Petit 
gemacht worden; die anderen Ergebnisse experimenteller 
Induktion auf dem Felde der Thermochemie sind aber von 
Berthelot in der Einleitung seines Werkes ^) in folgender 
Weise, übersichtlich zusammengestellt worden: 

„I. Das Prinzip der Molekulararbeit. — Die 
bei irgend einer Reaktion auftretetide Wärmemenge bildet 



*) Eine Art Anticipation dieses Prinzipes findet sich in einem 
der wohlbekannten Gesetze, die Berthollet am Anfang dieses Jahr- 
hunderts in seiner „Statique Chimique" aufgestellt hat — nämlich 
in dem Gesetze, nach dem sich zwei in einer Lösung befindliche 
lösbare Salze zersetzen, sobald die entstehende Verbindung oder 
Mischung von Verbindungen unlöslich oder weniger löslich als die 
gemischten Salze ist. Die Beziehung dieses Gesetzes zu dem im 
Texte aufgestellten Prinzip vom Maximum der Wärmeentwicklung 
wird bei Berücksichtigung der Thatsache verstanden werden, dass 
sich — allgemein gesprochen — die Löslichkeit der Substanzen bei 
Anwendung von Wärme vermehrt. Berthollet's Gesetz ist indes 
Ausnahmen unterworfen ; es gibt Fälle, in denen lösbare Basen durch 
unlösbare ersetzt werden und das Ergebnis trotzdem die Bildung lös- 
licher Salze ist. 

«) Mecanique Chimique, pp. XXVIII, XXIX. 



Schluss, ^i^ 

ein Mass ' der bei dieser Reaktion geleisteten chemischen 
oder physikalischen Arbeit." 

„2. Das Prinzip der Wärmeäquivalenz che* 
mische r Umwandlungen. — Wenn ein System ein- 
facher oder zusammengesetzter Körper, die sich unter be- 
stimmten Bedingungen befinden, physischen oder chemischen 
Veränderungen unterworfen wird, die im Stande sind, es 
in einen neuen Zustand zu versetzen, ohne irgend einen 
mechanischen Effekt ausserhalb des Systemes hervorzurufen^ 
hängt die durch diesen Wechsel erzeugte oder verbrauchte 
Wärmemenge bloss von dem Anfangs- imd Ekidzustande des 
Systems ab; sie bleibt die gleiche, welches auch immer 
die Natur und die Aufeinanderfolge der Zwischenzustände 
sein mag." 

„3. Das Prinzip des Arbeitsmaximums. — 
Alle chemischen Veränderungen, die sich ohne Dazwischen- 
kunft äusserer Energie vollziehen, streben die Erzeugung 
jenes Körpers oder Körpersystems an, das den grössten 
Betrag an Wärme frei werden lässt." 

Dieses dritte Prinzip kann auch, wie Berthelot be- 
merkt, in der Form aufgestellt werden, dass „jede chemische 
Reaktion,, die ohne Mitwirkung vorgängiger Arbeit und ohne 
Dazwischenkunft äusserer Energie ausführbar ist, mit Not- 
wendigkeit stattfindet, sobald sie zu einer Entwicklung von 
Wärme führt." 

Die Beziehung dieser Sätze zur Lehre von der Er- 
haltung der Energie liegt auf der Hand. Sie bilden offen- 
bar Anwendungen der zwei Hauptsätze dieser Theorie auf 
die Erscheinungen der chemischen Umwandlung, indem die 
beiden ersten Sätze von Berthelot das Prinzip der Wechsel- 
wirkung, Äquivalenz und gegenseitigen Verwandelbar keit der 
verschiedenen Arten der Energie und das dritte die Tendenz 
aller Energie zur Zerstreuung darstellt. 

Das Studium der chemischen Veränderungen unter 



320 XVL Kapitel. 

dem Gesichtspunkte der Lehre von der Erhaltung der 
Energie lässt diese Veränderungen in einem völlig neuen 
Lichte erscheinen. Es zeigt, dass die Frage über die Mög- 
lichkeit einer chemischen „Verbindung" oder „Zersetzung^' 
ebenso eine Frage bestimmter Energie-, wie bestimmter 
Massenverhältnisse ist; dass jedes Element so gut wie jede 
Verbindung ebenso einen bestimmten und unveränderlichen 
Betrag an Energie, wie an „Materie" (d. i. Masse) enthält, 
und dass diese Energie ein ebenso wesentlicher Bestand- 
teil der Existenz eines solchen Elementes oder einer solchen 
Verbindung ist, wie deren Gewicht. 

Und nun erhebt sich die Frage: Wie ist all dies zu 
deuten mit Hilfe der gewöhnlichen Bewegungsgesetze und 
der mechanischen Prinzipien überhaupt, in Übereinstimmung 
mit der Annahme, dass alle Erscheinungen chemischer Um- 
wandlung auf Bewegimgen absolut träger Atome oder Massen - 
elemente zurückfiihrbar sind? Denn dies ist die Annahme, 
welche der neuen Theorie chemischer Mechanik zu Grunde 
liegt. Naumann erklärt ausdrücklich sowohl in einem der 
ersten, wie in dem allerletzten Satze seines Buches, dass 
„die Chemie in der für sie zu erstrebenden Gestaltimg eine 
Mechanik der Atome sein müsse.** •) Und wiewohl Berthe- 
lot den Gebrauch des Wortes Atom vermeidet, erklärt er 
nicht weniger deutlich, dass zwei Daten zur Erklärung der 
Mannigfaltigkeit chemischer Stoffe ausreichend sind: Die 
Massen der Elementarteile und die Natur ihrer Bewegung. "^ 



^) Thermochemie, S. 150. 

') „La matiere multiforme dont la chimie etudie la diversite 
obeit aux lois d'une mecanique commune . . . Au poitit de vue 
mecanique, deux donnees fondamentales caracterisent cette diversite 
en apparence indefinie des substances chimiques, savoir: la masse 
des particules elementaires, c'est-ä-dire leur equivalent, et la nature 
de leurs mouvements. La connaissance de ces deux donnees doit 
suffir pour tout expliquer." Mecanique Chimique, tome II, p. 757. 



)S€hlU88. 321 

Die Erklärung chemischer Erscheinungen durch die 
Theorie der chemischen Mechanik hätte also durch Zurück- 
führung derselben auf Masse und Bewegung zu geschehen* 
Auf Grund welcher mechanischen Prinzipien ist diese Zurück- 
fuhrung möglich? Die zu erklärende fundamentale That* 
Sache ist die Umwandlung von Wärme in chemische Energie, 
Diese Umwandlung hat aber nicht nur eine Veränderung 
der einen Art von Bewegung in eine andere im Gefolge, 
sondern auch eine Einschränkung einer bestimmten Be* 
wegungsgrösse auf eine bestimmte Masse. Nach der mecha- 
nisdien Theorie besteht die Wärme wenigstens in der Form, 
in der sie allgemein Gasen bei chemischen Prozessen zu- 
geführt wird, in geradlinigen atomistischen oder molekularen 
Bewegungen von allen möglichen Geschwindigkeiten und 
Richtungen. Der Bereich dieser Bewegimgen ist lediglich 
durch die Zusammenstösse der bewegten Massen beschränkt. 
Durch diese Zusanamenstösse ändern sich die Ordnung, die 
Geschwindigkeit und die Richtung der Bahn eines jeden 
Atoms oder Molekels unaufhörlich. Welches auch immer 
nun die Natur jener Bewegungsform sein mag, welche wir 
chemische Energie nennen, so wissen wir doch wenigstens, 
dass ein bestimmter imwandelbarer Betrag derselben zu 
eiiier bestimmten Masse oder Atomenanzahl einer gegebenen 
Substanz gehört. Wenn sich daher Wärme in chemische 
Energie verwandelt, muss die oben beschriebene Bewegung 
sich notwendigerweise derart ändern, dass ein bestimmter 
Betrag derselben in eine Art von Synthese oder Vereinigung 
mit einer bestimmten Zahl von Partikeln gebracht wird. 
Das ist aber sicherlich immöglich, wenn die Partikeln bloss 
träge Massen sind, deren Bewegungen nur durch den Stoss 
anderer Massen bestimmt sind, wie es die mechanische 
Theorie anninunt. Die verlangte Spezialisierung oder In- 
dividualisierung von Bewegung kann in keiner anderen 

StaLLO, Begriffe u. Theorieen. 21 



32 2 XVL Kapitel, 

Weise erklärt werden als dadurch, dass man den Massen 
selbst eine ihnen innewohnende einschränkende Kraft bei- 
legt. Selbst wenn eine Individualisierung der Wärmebe- 
wegung sich in mechanischer Weise aus dem Zusamraen- 
stosse träger Partikel — z. B. durch Umwandlung gerad- 
liniger in drehende Bewegung infolge schiefer Stösse — 
ergeben könnte, würde noch immer die Unmöglichkeit be- 
stehen bleiben, die Thatsache zu erklären, dass eine solche 
Umwandlung stets in dem Augenblicke aufhört, wo jedes 
Atom oder Molekel den ihm zukommenden Betrag an 
Energie erreicht hat. 

Angesichts aller dieser Umstände berührt es sonder- 
bar, in den Schriften ausgezeichneter Physiker Sätze wie 
diese zu lesen : „Die allein wirklichen Dinge im physischen 
Weltall sind Materie und Energie, und von diesen ist die 
Materie rein passiv ," ^) und „Wir sehen , dass , während 
(wenigstens nach unserer jetzigen Kenntnis) die Materie 
überall dieselbe ist, wiewohl sie sich in verschiedenen Ver- 
bindungen verbirgt, die Energie fortwährend die Form 
wechselt, in der sie uns entgegentritt.' Das eine ist wie 
das ewige imveränderliche Fat um oder die Necessitas 
der Alten-, das andere der Proteus selbst in der Mannig- 
faltigkeit und Schnelligkeit seiner Verwandlungen."*) 

Es besteht nicht viel Zweifel daran, dass das Prinzip 
von der Erhaltung der Energie sich als das grosse theoretische 
Hilfsmittel zur Erklärung der chemischen wie der physischen 
Erscheinungen erweisen wird ; bisher wenigstens haben sich 
aber die Versuche, die Gesetze der chemischen Vorgänge 
in Ausdrücken der Masse und Bewegung oder der kinetischen 
Energie darzustellen, in der Chemie ebenso als misslungen 
herausgestellt wie in der Physik. Bis zu welchem Grade 



®) The Unseen Universe, § 104. 
•) Ib., § 103. 



Schlu$s. \ 323 

es möglich sein möchte, sßäter die ' Erscheinungien- dei» 
Chemie unter die Herrschaft der die gegenseitige Wirkung 
fester Körper bestimmenden mechanischen Gesetze zu bringen, 
ist schwer zu sagen. Es gibt indessen verschiedene wohl- 
bekannte Thatsacheh, die zu zeigen scheinen, 4ass,^ welches 
auch, immer die Natur der chemischen Energie sein möge, 
sie sich schwerlich aus dem Stossei" fester Teilchen ergeben 
dürfte. Die chemischen Energien der. Elemente sind wedey 
ihren nach dem Gewichte noch nach dem Volumen ge- 
messenen Massen proportional; und ihre mechanischen 
Äquivalente sind so ungeheuer gross, dass sie sich ausser 
aller Analogie zur gewöhnlichen mechanischen Wirkimg zu 
befinden scheinen. Im Jahre 1856 veröffentlichten W. Weber 
und R. Kohlrausch die Ergebnisse einer Reihe von Unter- 
suchungen, diurch die sie zu einem mechanischen Masse 
für die Stärke eines elektrischen Stromes zu gelangen 
suchten. Sie wandten diese Resultate auf die elektrolytische 
Zersetzung des Wassers an, um so die durch die chemische 
Vereinigung von Sauerstoff und Wasserstoff dargestellte 
Energie zu bestimmen. Sie verkündeten nun ihre Schlüsse 
mit den folgenden Worten: ^^) „Wenn alle Wasserstoffteilchen 
von I Milligramm Wasser, die in einem Würfel von der 
Länge eines Millimeters enthalten sind, auf ein Band be- 
festigt werden würden, und die Sauerstoffteilchen auf ein 
anderes, müsste sich jedes Band unter einem Zuge befinden, 
der dem des anderen entgegengesetzt gerichtet wäre und 
147830 kg betragen müsste, um eine Zersetzung des 
Wassers mit einer Geschwindigkeit von i Milligramm für 
die Sekunde zu bewirken." Sucht man aber nach dem 
Äquivalente der chemischen Energie in Wärmeeinheiten, 
so findet man, dass die Verbindung von i g Wasserstoff 
™i* 35>5 Z Chlor, die 36,5 g Chlorwasserstoff gibt, von 



^^) Pogg. Ann., Bd. 99, S. 24. 

21' 



324 XVL Kapitel. 

einer Wärmeentwicklung begleitet ist, durch welche die 
Temperatur von 24 kg Wasser um i ® erhoben werden 
kann; da nun die zu einer Temperaturerhöhung von i kg 
Wasser um i ^ erforderliche Wärmemenge im mechanischen 
Masse 425 Kilogrammetem äquivalent ist, gibt die Bildung 
von 36,5 g Chlorwasserstoffgas Anlass zur Entstehung einer 
Kraft, durch die ein Gewicht von 10 000 kg zur Höhe 
eines Meters in einer Sekunde erhoben werden kann. 



Register. 



Aberration 88, 239. 
Absolute, das 160. 
Actio in distans 40, 144. 
Adams, Mbndbeschleunigung 50. 
Aether 108. 

Akin, Geschichte der Kraft 66. 
Allotropie 317. 
Ampere, Gesetz von 19. 

— Atome 75, 161. 
Andetssohn, Mechanik der Gravi* 

tation 46, 47. 
Antipoden 144. 
Arago, Gravitation 48, 51. 
Aristoteles , Dynamische Theorie 

der Materie 162. 

— Hypothesen II 6. 

— Maxime von 159. 
Astronomie 88. 
Atomtheorie 14, 75 flf. 
Atomvolumen 176. 

Atome, Elasticität der 27, 28. 

Avenarius, Die Philosophie als 
Denken der Welt gemäss dem 
Prinzip des kleinsten Kraftmasses 

305- 
Avogadro, Gesetz von 19, 23, 12 1. 

Axiome, geometrische 252. 

Babinet, Kosmogonie von Laplace 

296. 
Bacon, Anticipation der modernen 

Wärmetheorie 73. 



Bacon, Materie als Samenkorn 1 54. 

— über Mathematik 99. 
Bain, Erklärung 98. 

— Hypothesen iii. 

— Materie, Kraft und Trägheit 163. 
Baumhauer, Atomgewichte 176. 
Becker 200, 246. 

Begriffe, Natur der 128. 
Beltrami, Pseudo-sphärischer Raum 

213, 219, 247, 255. 
Berkeley 243. 
BemouUi, Daniel, Bewegung als 

Ergebnis von Schwingungen 48. 

— Gezeiten 49. 

— Johann, Gravitation 42. 

— — Erhaltung der lebendigen 
Kraft 66. 

Starrheit der Atome 184. 

Berthelot, chemische Mechanik 318, 

320. 
Berthold, Erhaltung der Energie 

58, 72. 
BerthoUet, Gesetz der chemischen 

Reaktion 318. 
Bertrand 34. 

Bohn, Erhaltung der Energie 66. 
Boltzmann, zweiter Hauptsatz der 

Thermodynamik 12. 

— molekularer Bau 22. 

— kinetische Gastheorie 98, II 9. 
Boole, Denkgesetze 271. 
Boscovich, Atome 75, 161, 163. 



326 



Eegister, 



Bolyai 21 4. 

Boyle's Gesetz 19, 82, 1 12, 1 13, 119. 

Bradley, Aberration des Lichtes 239. 

Briot, Lichttheorie 89. 

Brodie, Atomtheorie 96. 

Buckle, Grundlagen der Geometrie 

229. 
Budde, Nebularhypothese 296. 

Calorisches Äquivalent chemischer 

Prozesse 318 f. 
Cardan, negative Wurzeln einer 

Gleichung 280. 
Cauchy, Undurchdringlichkeit 83, 

84, 182. 

— Dispersion des Lichtes 85, 87 f. 
Causalität, Gesetz der 189. 
Challis, Gravitation 43, 47, 48. 
Charles, Gesetz von 19, 113, 119, 

121. 

Chase, Gravitation 47. 

Chasles, 218. 

Clarke, F. W., Planetenentwicklung 

19. ' 
Clausius, molekularer Bau 22. 

— 2. Hauptsatz der Wärmetheorie 
12. 

— kinetische Gastheorie 28, 98. 

— molekulare Rotation 118 f. 

— Entropie 285. 
Clifford, Lichttheorie 156, 

— Pangeonietrie 217, 220. 
Coleridge 82. 
Conservatives System 68. 
Cöoke, Avogadro's Gesetz 19. 

— Atomgewichte 176. 

Coriolis, Dispersion des Lichtes 85. 
Corpusculartheorie der Materie 161. 
Cotes , Materie ohne Trägheit 30. 
Coumot, Atome 95. 

— Hypothesen 107. 



Cournot, Starrheit der Materie i8o, 
182. 

— mathematische Analyse loi. 
CroU, Gravitation 44 f. 

— Kraft 171. 

D'Alembert, Gravitation 43. 

— über Mathematik 260. 

— Geometrie 251, 253. 
Dalton 82, iii?. . • 
Darwin 200. 

— G. H., Gezeiten 299. 
D^vy 73. 

Delboeuf 180. 

Dellingshausen 160. 

Demokrit 58. 

De Morgaij, algebraische Grössen 

280. 
Deseartes; Philosophische u. wissen-. 

schaftliche Würdigung 58. 
-~ mechanische Theorie 2. 

— GleiQhfbrtnigkeit der Materie 15. 

— Wirbeltheorie 42. 

— Unbestimmtheit seiner mecha- 
nischen Begriffe 61. 

— Erhaltung .der Bewegung 64. 

— Materie, blosse Ausdehnung 173, 

237- 

— Relativität der Bewegung 199 ff. 

— ujid Leibniz 72. 
-— und Gasäen<;)i 214. 
Diderot 72. 

Ding an sich 160. 
Diogenes von Apollonia 58.. 
Donkin 218. 
Drobisch 129. 

Du Bois-Reymond , Emil, mecha- 
nische Theorie 6, 8. . 

— Gravitation 45. 

— Kraft eine primäre Qualität der 
Materie 153. 



Register. 



•325 



Du.Bois-Reymond, Paul 97. 
Dühring, Prinzipien der. Mechanik 

300. 
Dülong und Petit, Gesetz von, 23, 

318. 

— Ausdehnung der Gase 112. 

DumflS'j Atomgewichte 18, 176. 
Dynamische Theorie der Materie 
.162. 

Eddy,. 2. Gesetz der Thermodyna- 
mik 12. 
Edleston 43. 
Elasticität von Atomen 28. 

— von Wirbelringen 29 f. 

— die sich aus der Drehung er- 
gibt 31 fr. 

Empedokles 58. 

Endothermische Verbindung 316.- 
Energid, Erhaltung von 55 ff. 
-^ kinetische 14, 55 ff., 68, 69. 

— potentielle 14, 55 ff. 

— Zerstreuung von 284. 
Epikur 58. 

Erdmann, Benno, Raumdimensionen 

267 f. 
Erklärung, Natur der 98. 
Euklid, geometrische Axiome 253. 
Euler, Gravitation 42. . 

— Relativität der Bewegung 195 ff., 
209. 

— Isolierung der Erscheinungen 208. 
Evolutionismus 159. 
Exothermische Verbindung 316. 

Faraday, Atome 75, 161, 162. 
Fatio de Duillers, Gravitation 51. 
Fechner, Atome 75, 163. 
Fermat 2. 

Fichte 's Idealismus 244. 
Fiktionen, logische 311. 



Fitzgcsrald, El. L. 89. 

Fresnel, Polarisation des Lichtes 

86, 110.. ^ 
Fries, Starrheit der Matede 185. - 
Fritsch, Gravitation 46, 

felilei 2, 201. 
Gä&e, Diffusion 82. 

— kinetische Theorie 97 ff. 
Gassendi 58, 214. 

Gauss, Gesetz des kleihsten Zwanges 
189. '- - ^ 

— Transcendentalgeometrie 214. 
269 

— Imaginäre Zahlen 278. 
Gay-Lussac, Gesetz' von 19, II2, 

121, 176.1 
Gedanken, Verhältnis zu den Dingen 

126. 
Geometrie 253. 

— transcendentale 21 3. 
Geometrische Axiome 252. 

— Induktiver Ursprung nach Mill 
223 ff. 

George 160. 

Graham Thomas, Gleichheit von 
Atomen 17. 

— Hypothese zur Erklärung des 
Avogadroschen Gesetzes 20. 

— Wasserstoff ein Metall 134. 
Grassmann , Dimensionen des 

Raumes nicht ableitbar aus den 

Denkgesetzen 272. 
Gregory 280. 
Grössen, imaginäre 272. 
Guthrie, Gravitation 47. 
Guyot, Guthrie's Experimente 47. 

Haeckel, mechanische Theorie 6. 
Halley, Beschleunigung der Mond- 
bewegung 49. 



32» 



Register, 



Hall, Asaph, Marssatelliten 298. 
Halstead^Bibliographie des n-dimen- 

sionalen Raumes 214. 
Hamilton, Sir William, Erkenntnis 

98. 

— Hypothesen lil. 

— Definition eines Begriffes 130. 

— Unsere Gedanken Symbole 132. 

— Verhältnis von Urteilen und Be- 
griffen 133. 

— Raum 243. 

— Analysis 260. 

Hamilton, William Rowan, Prinzip 
der variierenden Wirkung 12. 

— konische Refraktion iio. 
Hankel 253, 277. 
Hartmann 's Philosophie 160. 
Hegel's Philosophie li, 159, 160. 
Helmholtz, mechanische Theorie 4. 

— Wirbelbewegung 24, 29. 

— elektromagnetische Lichttheorie 

— jede Eigenschaft relativ 186. 

— Transcendentalgeometrie 215, 
219, 222, 246, 268. 

— Begreifbarkeit eines pseudo- 
sphärischen Raumes 254, 257. 

Henrici, Geometrie 250. 
Heraklit 135. 

Herbart, Verhältnis von Urteil und 
Begriff 134. 

— Idee der Ausdehnung 251. 

— und Gauss '214. 

— Mannigfaltigkeit 270. 
Herschel, Sir William, Satelliten 

des Uranus 298. 

— Sir John, Äther 108. 

Molekeln 122. 

Raum 192. 

Hipparch's Cyclus 103. 

Hobbes, mechanische Theorie 2, 184. 



Hobbes, Empfindung 127, 237. 

Hooke 47. 

Holtzmann 89. 

Hudson, Wellentheorie des Lichtes 

109. 
Hume 243. 

Hunt, T. Sterry, Lösung 134. 
Huygens, mechanische Theorie 3. 

— Beschaffenheit des Äthers 32. 

— Gravitation 42, 46, 47. 

— Erhaltung der lebendigen Kraft 
66. 

Huxley, mechanische Theorie 6. 

Isenkrahe, Gravitation 35. 

Jevons, Gravitation 50. 

— wissenschaftliche Kenntnis 99. 

— Natur von Hypothesen 104. 

— Planetenmolekel Il8. 

— Spektroskopie von Gasen 123. 

Kant, Kraflmars 62. 

— seine Anticipation wissenschaft- 
licher Entdeckungen und Theorien 
199. 

— Pangeometrie 200. 

— Absoluter Schwerpunkt des Welt- 
alls 201. 

— Natur des Raumes 236, 241, 246. 

— Nebularhypothese 294 ff. 
Kekule, Atomstösse 95. 

Kelvin, Lord, (Sir William Thom- 
son) Wirbelatomtheorie 29. 

— Elasticität von Molekeln 28, 31. 

— Atome 94. 

— Guthrie's Experimente 47. 

— Elektromagnetische Lichttheorie 

89. 

— Zerstreuung von Energie 284, 
Kepler, species iramateriata 167. 



Eegister, 



329 



Ketteier, Dispersion des Lichtes 89. 
Kirchhofi, mechanische Theorie 4. 

— Vorlesungen über mathematische 
Physik 170. 

— Ruhe ein besonderer Fall von 
Bewegung 209. 

Klein, Felix, nicht-euklidische Geo- 
metrie 218, 256. 

Kohlrausch R., Intensität chemischer 
Energie 323. 

Kosmogenetische Spekulationen 
283 fr. 

Kraft, Definitionen 168, 169. 

^ Mass 63. 

Kroenig, kinetische Gastheorie 28, 

97. 
Krümmungsmass 248. 

Kundt und Warburg, Verhältnis der 
spezifischen Wärme des Queck- 
silberdampfes bei konstantem 
Druck zu dem bei konstantem 
Volumen 23. 

Land, Transcendentalgeometrie 

246, 257. 
Laplace, Verzögerung der Gezeiten 

49. 

— Mondbeschleunigung 49. 

— Nebularhypothese 294 ff. 

— unveränderliche Ebene 303. 
Lasswitz , kosmische Gravitation 

und Wärme 289. 
Lea, H. Carey, Atomgewichte 176. 
Leibniz, mechanische Theorie 2. 

— Erhaltung der Energie 58, 62, 
64, 66. 

•^ Brief an Clarke 72. 

— Hypothesen lio. 

~- Symbolischer Charakter der Ge- 
danken 132. 

— Einfachheit von Elementen 188. 



Leibniz, Relativität der Bewegung 

192. 
Le Sage, Theorie der Gravitation 

51, 54. 
Lewes, G. H. 104. 

Liebig 138, 223. 

Licht, Wellentheorie 84, I07. 

— Dispersion 84, 89. 

— Polarisation 85. 

Lipschitz, transcendentale Mechanik 
248. 

Lloyd, konische Refraktion lio. 

Lobatschewsky, Pangeometrie 214, 
219 f., 247. 

Locke 73, 162. 

Lockyer, Planetenentwicklung 19. 

Lorentz, elektromagnetische Licht- 
theorie 89. 

Lotze, Begriffe 130. 

Ludwig, mechanische Theorie 5. 

Lukrez, Atome 75. 

— Erhaltung der Materie "58. 

Magnus, Ausdehnung von Gasen 

112. 
Mansel, Theorie des Begriffes 129. 
Mariotte's Gesetz 19, 82, 112. 
Masse, Relativität derselben 78, 21 if. 

— Erhaltung derselben 12, 13. 
Materie, Unzerstörbarkeit 12, 77. 

— Starrheit 174. 
Mathematik 10 1, 260. 
Matthieu 34. 

Maximum an Arbeit, Prinzip des 

319- 
Maxwell, James Clerk, mechanische 

Theorie 4. 

— molekularer Bau 22. 

— Wirbelbewegung 24. 

— Wirbelringe 30. 

— Gravitation 53. 



330 



JRegister. 



Maxwell, elektromagnetische Licht- 
theorie 89. 
^ — Lichtäther 90. 

— kinetische Gastheorie 28, 98, 
119, 121. 

— Molekeln 123. 

— Dämon 125. 

— Definition der Kraft 168, 172. 

— Entropie 285, 

Mayer, Julius Robert, Theorie der 
meteorischen Anhäufung 301 if. 

Mendelejeff, Atomgewichte 176. 

Metaphysik, Charakter der 135 f. 

Meyer L., Atomgewichte 176. 

Mill J, St., Gavitatipn 43. 

Natur einer Erklärung 104, 106, 

110, III. 

— Relativität der Kenntnis 127. 

— Nominalismus und Konzeptu- 
alismus 130. 

— Begreifbarkeit ein Prüfstein auf 
die Wahrheit 136 flf. 

— Äther 156. 

' — Reihenfolge der Gegenstände 
der Natur und unserer Gedanken 
von denselben 180. 

— Induktiver Ursprung der geo- 
metrischen Axiome 223 ff. 252. 

Mohr, Gravitation 45. 

— mechanische Theorie der Affini- 
tät 315. 

Molekulararbeit, Prinzip der 318. 

Moment, Erhaltung desselben 67. 

f — Erhaltung des Winkelm. 67, 
291. 

Montaigne, Hypothesen 117. 

Musschenbroek, mechanische Theo- 
rie 3. 

Naumann, Thermochemie 315. 
Nebularhypothese 290 ff. 



Neumann C, Dispersion des Lichtes 

89. 

— Körper Alpha 201. 
Newcomb, transcendentaler Raum 

218. 
Newton, Sir Isa^Jc, Trägheit 25, 
162, 164. 

— Gravitation 37i 39; 40. 

— Gleichförmigkeit der Masse 16» 

— Brief an Bentley. 40. 

— Fragen 41. 

— Undurchdringlichkeit 26, 8l; 
•*— Er.haltung des Schwerpunkts 65, 

— Verlust von Energi.e 71. 
-^ regula philosophandi 103. 

— Relativität der Bewegung. ,192.. 
Norton, W. A., Äther 108. 

r 
/> 

Occam's Re^el 117. 
Odling 318. 

Ökonomie, Gesetz der 301. 
Ohm, Martin, Beziehung der Zahlen 
zu geometrischen Grössen 280. 
Olbers, kosmische Hitze 287. 

Pangeometrie 215. . 

Parmenides 58. 

Peacock, Prinzip von der Perma- 
nenz äquivalenter Formen 277, 
280. 

Petit 23, 318. 

Peyrard, Ausgabe Euklids 254. 

Pfaundler 98. 

Plateau 293. 

Poinsot, Theorie der drehenden 
Bewegung 291. 

— Abprallen rotierender Körper 

32 ff-» 47. . 

— mathematische Analysis lol. , 

Polymerismus 317. . 
Poisson, Trägheit 165. 



Begister. 



331 



Poisson, Polarisation des Lichtes S6. 
Pott, Entwicklung der Sprache 177. 
Preston 53. 
Prout, Atomgewichte 18. 

Huatemionen , Theorie der 272, 
277, 280. 

Rankine, 2. Gesetz der Thermo- 
dynamik 12. 

— Definition der Kraft 172. 

— Endlichkeit des materiellen Welt- 
alls 286. 

Raum, Natur desselben 245, 247. 

— Eigenschaften desselben 249. 

— Relativität desselben 2lo. 

— ein Begriff 245. 

— nicht-homaloidaler 213 ff. 
Rayleigh, Lord, elektromagnetische 

Theorie des Lichtes 89. 

Realismus, mittelalterlicher 151. 

Redtenbacher, Dispersion des Lich- 
tes 89. 

— absolute Atomgewichte 212. 
Reductio ad absurdum 147. 
Kegnault, Ausdehnung der Gase 

82, 112. 

Relativität, Prinzip der 132, 186 ff. 

Riemann, über die Hypothesen, 
welche der Geometrie zu Grunde 
liegen 215, 21 9, 222, 259 ff. 

Rohmer 160. 

Rudberg, Ausdehnung der Gase 1 12. 

Rumford 73. 

Sachs, Uranus 171. 
Salmon 218. 
Saurin 43. 
Schellbach 47. 

Schelling, Materie als Samenkorn 
des Weltalls 154. 



Schelling, dynamische Theorie der 

Materie 162. 
Schlegel, Theorie des Raumes 272. 
Schleicher 306. 
Schopenhauer 's Philosophie 160, 

244. 
Schramm, Gravitation 46. 
Schulze 200. 
Schumacher 214. 
Secchi, Elasticität der Atome 31 ff. 

— Gravitation 38, 45. 

Sigwart, Theorie des Begriffes 130. 
Somoff, Definition der Kraft 169. 
Spencer, Herbert, Gleichheit der 
Elemente 16. 

— symbolischer Charakter der Ge- 
danken 132. 

— Begreifbarkeit als Prüfstein der 
Wahrheit 136. 

Spiller, Gravitation 36, 46. 

— Äther 166. 

Spinoza, Philosophie von 60. 

— Reihenfolge der Gegenstände 
der Natur und unserer Gedanken 
von denselben 180. 

— das Absolute 208. 
Stas, Atomgewichte 176. 
Stefan, kinetische Gastheorie 98, 

119. 
Stevin 2. 
Stewart, Balfour, Gravitation 46, 51. 

— Ausdehnung der Gase 112. 

— kinetische Natur aller Energie 

55- 

— Energieverlust 71. 

Stewart, Dugald 233. 

Stumpf, Ursprung des Raumbegriffes 

243- 
Sylvester , transcendentaler Raum 

217. 

Szikly 12. 



332 



Begister. 



Tait, P. G., kinetische Natur aller 
Energie 55. 

— Gravitation 46, 51. 

— Kraft und Moment 168. 

— transcendentaler Raum 217. 

— Energieverlust 71. 

— Elntropie 285. 

— Sinken der Energie 285. 
Tauschinsky, Theorie des Begriffes 

130. 
Taylor, Gravitation 36, 46, 50. 
Thermometer, Graduierung 112. 
Thomson, J. J., elektromagnetische 

Lichttheorie 89. 
Tyndall, Belfaster Ansprache 154. 

— Liverpooler Ansprache 155. 

— Atome 157, 161. 

— Starrheit der Molekeln 173. 

Universalia ante rem 151. 

— in re 151. 

Van Helmont 178. 
Varignon, Gravitation 51. 
Virtuellen Geschwindigkeiten, Prin- 
zip der 67. 
Vis viva 62. 

— Erhaltung derselben 64. 

Wallace 200. 

Walter , Arwed , Planetenmolekel 

118. 
Warburg 23. 
Wärme, Verwandlung in chemische 

Energie 316 f. 



Weber, W., Intensität der chemi- 
schen Energie 323. 

Weissenborn 2CX), 268. 

Weltall, Endlichkeit desselben 283 f. 

Werder 160. 

Whately, Theorie des Begriffes 133. 

Whewell, Begreifbarkeit als Prüf- 
stein auf die Wahrheit 136. 

— Trägheit 164. 

— Bedingungen einer Hypothese 
104, 108. 

— Äther 156. 

— Kraft 168. 

Wittwer, Elasticität von Atomen 26. 
Wolff, Mechanische Theorie 3. 
Wrede 108. 

Wright, Allotropie der Elemente 18. 
Wundt, mechanische Theorie 5. 

— Gleichheit von Atomen 16. 

— Theorie des Begriffes 135. 

— Hypothesen 98. 

— kosmologisches Problem 284. 

Young, Trägheit 164. 

Zahlen, komplexe 277. 
Zeit, Relativität derselben 210. 
Zöllner, Erfordernisse einer giltigen 
Hypothese 102. 

— Newton's Brief an Bentley 41. 

— Begriff der Kraft 169. 

— über Kant 199. 

— 4. Dimension 218. 



Lippert & Co. (G. Pätz'sche Buchdr.), Naumburg a. S. 



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bclow« 



A fine ofj^r Cents a day is inciined by 
retaining it beyond the spedfied time. 

Platte retum piompdy. 







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