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Full text of "Die Beichte Stawrogins; drei unveröffentlichte Kapitel aus dem Roman "Die Teufel". Zum erstenmal ins Deutsche übertragen und hrsg. von Alexander Eliasberg"

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ii 


^r^.M.  DOSTOJEWSKI! 

DIE  BEICHTE  STAWROGINS 


i| 


lUSARION  VERLAG/  MÜNCHE]S| 


K 


F.M.DOSTOJEWSKIJ 
DIE  BEICHTE  STAWROGINS 


Die  Umschlagszeichnung  ist 
die  Wiedergabe  eines  Original- 
holzschnittes   von  W.  Masjulin 


FJODOR  DOSTOJEWSKI] 

DIE  BEICHTE 
STAWROGINS 

DREI  UNVERÖFFENTLICHTE  KAPITEL 
AUS  DEM  ROMAN  „DIE  TEUFEL" 


ZUM   ERSTENMAL   INS   DEUTSCHE   ÜBER- 
TRAGEN    UND      HERAUSGEGEBEN     VON 

ALEXANDER  ELIASBERG 


M     U     S     A     R     I     O     N       V     li:     R     L     A     G 
MÜNCHEN 

1929 


PS- 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


I0V3    1972 


VORWORT 

Literaturkennern  war  es  immer  bekannt,  daß 
Dostojewski]  in  die  endgültige  Fassung  seines 
Romans  ,,Die  Teufel"  (von  anderen  auch  ,,Dä- 
monen"  genannt)  ein  größeres,  aus  mehreren 
Abschnitten  bestehendes  Stück  nicht  aufgenom- 
men hatte,  und  daß  sich  der  Text  dieser  Kapitel 
im  Besitze  der  Witwe  des  Dichters  befand.  Ein 
kleines  Stuck  der  in  ihrem  Besitz  befindlichen 
Abschrift  (den  Seiten  12,  Zeile  10  bis  Seite  33, 
Zeile  18  der  vorliegenden  Ausgabe  entsprechend, 
von  ,, Gegen  halb  elf  erreichte  er  das  Tor"  bis: 
,,Tichon  las  also  folgendes" )  hatte  dieWitwe  im 
VIII.  Band  der  Jubiläumsausgabe  der  Werke 
(Petersburg,  1906)  veröffentlicht,  und  aus  die- 
ser Ausgabe  wurde  es  auch  in  den  Nachtrag  der 
deutschen  Ausgabe ( Piper )übernommen.  Sonst 
gewährte  aber  die  Witwe  auch  Forschern  kei- 
nen Einblick  in  das  Manuskript. 

Heute,    wo    sich    Dostojewskijs    Geburtstag 
zum  hundertstenmal  gejährt  hat  und  die  Witwe 

5 


schon  tot  ist,  zogen  die  russischen  Behörden 
das  geheimnisvolle  Roman f rag ment  ans  Licht. 
Am  12.  November  1921  wurde  im  Moskauer 
Zentral-Staatsarchiv  eine  Kiste  mit  Papieren 
Dostojewskijs  geöffnet,  und  in  dieser  fand  sich 
u.a.  ein  Notizbuch  mit  fünfzehn  eingeklebten 
Korrekturfahnen  zum  Roman  ,,Die  Teufel', 
von  denenwir  zwei(den  Seiten  11  /12und6äi  66 
der  vorliegenden  Ausgabe  entsprechend)  in  Re- 
produktion bringen.  Die  Fahnen  waren  für  den 
Abdruck  des  Romans  in  der  Monatsschrift,,Rus- 
sischerBote"  in  den  Jahren  1871—72  bestimmt, 
aber  aus  unbekanntem  Grunde  nicht  zum  Ab- 
druck gebracht.  Es  wird  angenommen,  dafS  der 
Redakteur  dieser  Zeitschrift,  der  bekannte  Sla- 
wophile  Katkow,  gegen  die  Veröffentlichung 
war.  Die  Verwaltung  des  Zentral-Staatsarchivs 
hat  nun  den  Text  dieser  Korrekturfahnen  (Mos- 
kau, 1922)  veröffentlicht,  und  auf  dieser  Pu- 
plikation  beruht  auch  unsere  Ausgabe. 

Außer  in  den  Korrekturfahnen  existieren 
diese  Kapitel  auch  noch  in  einem  Manuskript 
von  der  Hand  der  Witwe  des  Dichters,  das  jetzt 
im  Puschkinhause  der  Russischen  Akademie  der 
Wissenschaften  zu  Petersburg  verwahrt  wird. 
Dieses  Manuskript,  aus  dem  dieWitwe  das  schon 
erwähnte  Bruchstück  in  der  Jubiläumsausgabe 

6 


von  1906  veröffentlicht  hat,  scheint  die  ur- 
sprüngliche Fassung  darzustellen  und  den  Mos- 
kauer Korrekturfahnen  zugrundezuliegen;  ein 
Original  von  der  Hand  Dostojewskijs  ist  nicht 
erhalten  geblieben. 

Die  Petersburger  und  die  Moskauer  Fassung 
weichen  nicht  unerheblich  voneinander  ab. 
So  enthält  z.B.  die  erstere  den  großen  mit  ,15' 
bis  ,16'  bezeichneten  Passus  auf  Seite  12, Zeile  10 
bis  Seite  33,  Zeile  18,  der  in  den  Moskauer  Fah- 
nen fehlt;  dagegen  fehlt  im  Petersburger  Ma- 
nuskript die  ganze  Episode  mit  dem  Diebstahl 
beim  Beamten  (Seite  W,  Zeile  6  von  unten  bis 
Seite  U3,  Zeile  2). 

Der  Moskauer  Veröffentlichung  entnahmen 
wir  auch  die  wichtigsten  Korrekturen  Dosto- 
jewskijs und  den  im  II.  Teil  des  Anhangs  wie- 
dergegebenen Aufsatz  W .  Fritsches. 

München,  den  2.  April  1922. 

A.  E. 


DIE  BEICHTE  ST AWROGINS 


ERSTES  KAPlTELi 

Bei  T  i  c  h  o  11 

I 

Nikolai  Wsewolodowitsch  schlief  diese  ganze 
Nacht  nicht,  sondern  saß  auf  dem  Sofa,  den  un- 
beweglichen Blick  auf  einen  Punkt  in  der  Ecke 
neben  der  Kommode  gerichtet.  Die  ganze  Nacht 
brannte  bei  ihm  die  Lampe.  Gegen  sieben  Uhr 
morgens  schlief  er  im  Sitzen  ein,  und  als  Alexej 
Jegorowitsch  nach  der  ein  für  allemal  einge- 
führten Sittejjm  punkt  halb  zehn  Uhr  mit  einer 
Tasse  Morgenkaffee  bei  ihm  eintrat  und  ihn 
durch  sein  Erscheinen  weckte,  schien  er,  als  er 
die  Augen  geöffnet,  unangenehm  erstaunt,  daß 
er  so  lange  hatte  schlafen  können,  und  daß  es 
schon  so  spät  sei.  Er  trank  schnell  den  Kaffee, 
kleidete  sich  schnell  an  und  verließ  eilig  das 
Haus.  Auf  die  vorsichtige  Frage  Alexej  Jego- 
rowitschs,  ,,ob  er  nicht  irgendwelche  Befehle 
hätte,"  gab  er  keine  Antwort.  Er  ging  durch  die 
Straße,  zu  Boden  blickend,  tief  nachdenklich 

II 


und  hob  nur  ab  und  zu  den  Kopf  und  zeigte  eine 
unbestimmte,  aber  sehr  große  Unruhe.  An  einer 
Straßenecke,  nichtweit  von  seinem  Hause,  durch- 
kreuzte eine  Gesellschaft  von  Bauern,  etwa 
fünfzig  Mann  oder  sogar  noch  mehr,  seinen 
Weg ;  sie  gingen  fast  schweigend,  in  auffallen- 
der Ordnung.  Neben  dem  Laden,  wo  er  eine 
Weile  warten  mußte,  sagte  jemand,  es  seien 
,,die  Schpigulinschen  Arbeiter".  Er  schenkte 
ihnen  kaum  Beachtung.  Endlich  gegen  halb  elf 
erreichte  er  das  Tor  des  Spasso- Jef im j ewschen 
Muttergottesklosters,  am  Flußufer,  am  Rande 
der  Stadt.  Erst  jetzt  schien  er  sich  plötzlich  auf 
etwas  zu  besinnen,  auf  etwas  Beunruhigendes 
und  Schwieriges;  er  blieb  stehen,  betastete  et- 
was in  seiner  Seitentasche  und  lächelte.  Als  er 
in  die  Klosterumfriedung  eingetreten  war,  fragte 
er  den  ersten  besten  Klosterdiener,  auf  den  er 
stieß,  wie  er  zu  dem  in  diesem  Kloster  im  Ruhe- 
stande lebenden  Bischof  Tichon  gelangen  könne. 
Der  Diener  übernahm  unter  vielen  Verbeugun- 
gen sofort  die  Führung.  An  der  Treppe  am  Ende 
des  langen  zweistöckigen  Klostergebäudes  nahm 
ihn  dem  Diener  schnell  und  gebieterisch  ein 
dicker  grauhaariger  Mönch  ab,  der  ihn  durch 
einen  langen,  schmalen  Korridor  führte,  eben- 
falls unter  fortwährenden  Verbeugungen  (ob- 


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wohl  er  infolge  seiner  Dicke  sich  nicht  tief  ver- 
beugen konnte,  sondern  nur  oft  und  schnell  mit 
dem  Kopf  nickte),  ihn  immer  wieder  aufforr 
dernd,  ihm  zu  folgen,  obwohl  Nikolai  Wsewo- 
lodowitsch  ihm  auch  ohnehin  folgte.  Der  Mönch 
stellte  irgendwelche  Fragen  und  sprach  vom  P . 
Archimandriten ;  da  er  keine  Antwort  erhielt, 
wurde  er  immer  ehrerbietiger.  Stawrogin 
merkte,  daß  ihn  hier  alle  kannten,  obwohl  er,  so- 
weit er  sich  erinnerte,  nur  als  Kind  hier  gewesen 
war.  Als  sie  die  Tür  ganz  am  Ende  des  Korridors 
erreichten,  stieß  sie  der  Mönch  mit  einer  her- 
rischen Gebärde  auf,  erkundigte  sich  familiär 
bei  dem  herbeigeeilten  Zellendiener,  ob  man 
eintreten  dürfe,  machte  dann,  ohne  eine  Ant- 
wort abzuwarten,  die  Tür  weit  auf  und  ließ 
unter  einer  Verbeugung  den  ,, lieben"  Gast  ein- 
treten; als  jener  sich  bedankt  hatte,  verschwand 
er  schnell,  wie  fluchtartig.  Nikolai  Wsewolo- 
dowitsch  trat  in  ein  kleines  Zimmer,  und  fast 
im  gleichen  Augenblick  erschien  ein  großer,  ha- 
gerer Mann  von  etwa  fünfundfünfzig  Jahren 
in  einer  einfachen  Soutane,  dem  Aussehen  nach 
kränklich,  mit  einem  unbestimmten  Lächeln 
und  einem  seltsamen,  gleichsam  schüchternen 
Blick.  Das  war  jener  Tichon,  von  dem  Niko- 
lai Wsewolodowitsch  zum  erstenmal  von  Scha- 

i3 


low  gehört,  und  über  den  er  seitdem  auch  selbst 
nebenbei  einige  Auskünfte  eingezogen  hatte. 

Die  Auskünfte  waren  verschieden  und  sogar 
einander  widersprechend,  hatten  aber  alle  auch 
etwas     gemeinsames,    nämlich,   daß    alle,    die 
Tichon  liebten  und  auch  die  ihn  nicht  liebten 
(denn  es  gab  auch  solche),  sich  über  ihn  irgend- 
wie ausschwiegen;  die  Nichtliebenden  wohl  aus 
I  Geringschätzung,  die  Anhänger  aber  und  selbst 
j  die  glühendsten  unter  ihnen  aus  Bescheidenheit, 
j  als  wollten  sie  etwas  verheimlichen,  irgendeine 
]  Schwäche    von   ihm,    vielleicht,  daß   er   einen 
^  Narren  in  Christo  spiele.  Nikolai  Wsewolodo- 
witsch   erfuhr,   daß  er   schon  seit  etwa  sechs 
Jahren  im  Kloster  lebte  und  wie  von  Leuten  aus 
den  einfachsten  Ständen,  so  auch  von  den  vor- 
nehmsten   Personen    besucht    werde;   daß     er 
selbst  im  fernen  Petersburg  glühende  Verehrer 
und  vorwiegend  Verehrerinnen  habe.  Dafür  be- 
kam er  auch  von  einem  unserer  sich  vornehm  ge- 
bärdenden ,, Klubgreise",  sogar  einem  frommen 
Greise,  zu  hören,  daß  ,, dieser  Tichon  so  gut  wie 
verrück  t^  sei  und  zweifellos  trinke".  Ich  füge  vor- 
ausgreifend hinzu,  daß  das  letztere  absoluter 
Unsinn  ist;  wahr  ist  nur,  daß  er  eine  veraltete 
rheumatische  Krankheit  in  den  Füßen  und  zeit- 
weise nervöse  Zuckungen  hatte.  Nikolai  Wsewo- 

i4 


lodowitsch  hatte  auch  erfahren,  daß  der  im  Klo- 
ster im  Ruhestande  lebende  Bischof  infolge  Cha- 
rakterschwäche oder  einer  ,,bei  seinem  Range 
unverzeihlichen  und  unpassendenZerstreutheit" 
es  nicht  verstanden  habe,  im  Kloster  selbst 
einen  besonderen  Respekt  vor  sich  zu  wecken. 
Man  sagte,  daß  der  P.  Archimandrit,  ein  rauher 
und  in  seinen  Pflichten  sehr  strenger,  außer- 
dem wegen  seiner  Gelehrsamkeit  berühmter 
Mann,  ein  gewisses  feindseliges  Gefühl  gegen 
ihn  hegte  und  ihm  sogar  (nicht  offen,  sondern 
indirekt)  ein  nachlässiges  Leben  und  beinahe 
sogar  Ketzerei  vorwerfe.  Die  Klosterbrüder- 
schaft verhielt  sich  aber  zum  kranken  Bischof 
nicht  gerade  nachlässig,  aber  sozusagen  fami- 
liär. Die  beiden  Zimmer,  die  die  Zelle  Tichons 
bildeten,  waren  gleichfalls  sonderbar  ausgestat- 
tet. Neben  klotzigen  altertümlichen  Möbeln  mit 
durchgewetzten  Ledersitzen  standen  auch  meh- 
rere höchst  elegante  Gegenstände :  ein  prunk- 
voller bequemer  Lehnsessel,  ein  großer  Schreib- 
tisch von  vortrefflicher  yVrbeit,  ein  schöner  ge- 
schnitzter Bücherschrank,  Tischchen,  Etageren, 
natürlich  lauter  Geschenke.  Es  gab  auch  einen 
kostbaren  bucharischen  Teppich,  daneben  aber 
auch  einfache  Matten.  An  den  Wänden  hingen 
Stiche  ,, weltlichen"  Inhalts,  auch  mit  mjtho- 

i5 


logischen  Sujets,  gleich  daneben  aber  stand  in 
der  Ecke  ein  großer  Schrein  mit  gold-  und 
silberfunkelnden  Heiligenbildern,  darunter  ei- 
nem sehr  alten  mit  eingeschlossenen  Reliquien. 
Man  sagte,  daß  auch  seine  Bibliothek  allzu  bunt 
und  widerspruchsvoll  zusammengestellt  sei: 
neben  den  Werken  der  großen  Kirchenlehrer 
und  Helden  der  Christenheit  befanden  sich  da- 
rin auch  ,, Theaterstücke  und  Romane,  viel- 
leicht sogar  noch  viel  schlimmere  Sachen". 

Nach  den  ersten  Begrüßungsw^orten,  die  aus 
irgendeinem  Grunde  mit  einer  beiderseitigen 
Verlegenheit,  schnell  und  sogar  kaum  verständ- 
lich gesprochen  worden  waren,  führte  Tichon 
den  Gast  in  sein  Kabinett,  setzte  ihn  aufs  Sofa 
vor  dem  Tisch  und  nahm  selbst  in  einem  ge- 
flochtenen Sessel  daneben  Platz  3.  Seltsamer- 
weise verlor  hier  Nikolai  Wsewolodowitsch  jede 
Fassung.  Es  sah  so  aus,  als  gebe  er  sich  die 
größte  Mühe,  sich  zu  etwas  Außergewöhnlichem 
und  Unwiderlegbarem,  dabei  aber  für  ihn  fast 
Unmöglichem  zu  entschließen.  Er  ließ  seinen 
Blick  etwa  eine  Minute  im  Kabinett  schweifen, 
offenbar  ohne  etwas  zu  sehen ;  er  wurde  nach- 
denklich, w^ußte  aber  vielleicht  selbst  nicht,  wo- 
ran er  dachte.  Ihn  weckte  die  Stille,  und  es 
kam  ihm  plötzlich  vor,  als  schlage  Tichon  die 

i6 


Augen  wie  vor  Scham  mit  einem  eigentümlichen, 
ganz  überflüssigen  Lächeln  nieder.  Dies  rief 
in  ihm  sofort  Abscheu  und  Protest  hervor;  er 
wollte  aufstehen  und  weggehen;  er  war  über- 
zeugt, Tichon  sei  betrunken.  Jener  erhob  aber 
plötzlich  die  Augen  und  sah  ihn  mit  einem  so 
festen  und  gedankenvollen  Blick,  zugleich  aber 
mit  einem  so  unerwarteten  und  rätselhaften 
Ausdruck  an,  daß  er  fast  zusammenfuhr.  Da 
hatte  er  plötzlich  einen  ganz  anderen  Eindruck : 
daß  Tichon  schon  wisse,  wozu  er  gekommen 
sei,  daß  er  schon  darauf  vorbereitet  sei  (ob- 
wohl kein  Mensch  in  der  Welt  den  Grund  wis- 
sen konnte),  und  daß  er  nur  darum  nicht  als 
erster  zu  sprechen  anfange,  weil  er  ihn  schone 
und  ihn  zu  erniedrigen  fürchte. 

„Sie  kennen  mich?"  fragte  er  plötzlich  kurz. 
„Ich  weiß  nicht,  ob  ich  mich  beim  Eintreten 
vorgestellt  habe.  Entschuldigen  Sie,  ich  bin  so 
zerstreut. . ." 

,,Sie  haben  sich  nicht  vorgestellt,  aber  ich 
habe  schon  einmal  vor  vier  Jahren  das  Ver- 
gnügen gehabt,  Sie  hier  in  diesem  Kloster  zu 
seheii  .  .  .  zufällig." 

Tichon  sprach  sehr  langsam  und  gleichmäßig, 
mit  einer  weichen  Stimme,  und  artikuherte  die 
Worte  klar  und  deutlich. 

a  17 


,,Ich  bin  nicht  vor  vier  Jahren  hier  im  Klo- 
ster gewesen",  entgegnete  Nikolai  Wsewolodo- 
witsch  mit  einer  ganz  unnötigen  Grobheit.  ,,lch 
bin  hier  nur  als  Kind  gewesen,  als  Sie  noch  gar 
nicht  hier  w^aren." 

,, Vielleicht  haben  Sie  es  vergessen?"  fragte 
Tichon  vorsichtig  und  ohne  darauf  zu  bestehen. 

,,Nein,  ich  habe  es  nicht  vergessen;  und  es 
wäre  auch  lächerlich,  wenn  ich  mich  dessen 
nicht  mehr  erinnerte,"  bestand  Stawrogin  mit 
übertriebenem  Trotz  auf  dem  seinen.  ,, Viel- 
leicht haben  Sie  von  mir  nur  gehört  und  sich 
dann  irgendeine  Meinung  über  mich  gebildet 
und  glauben  darum,  daß  Sie  inich  gesehen 
haben." 

Tichon  sagte  darauf  nichts.  Nikolai  Wsewo- 
lodowitsch  merkte  jetzt,  daß  über  sein  Gesicht 
zuweilen  ein  nervöses  Zucken  lief,  das  Zeichen 
einer  veralteten  Nervenschwäche. 

,,Ich  sehe  nur,  daß  Sie  heute  nicht  ganz  wohl 
sind,"  sagte  er,  ,,und  daß  es  besser  wäre,  wenn 
ich  wegginge." 

Er  erhob  sich  sogar  von  seinem  Platz. 

„Ja,  ich  fühle  heute  wie  auch  gestern  einen 
heftigen  Schmerz  in  den  Beinen  und  habe  nachts 
sehr  wenig  geschlafen  ..." 

Tichon  hielt  inne.   Sein  Gast  verfiel  plötz- 

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lieh  in  eine  eigentümliche  Nachdenklichkeit. 
Das  Schweigen  dauerte  lange,  vielleicht  zwei 
Minuten. 

,, Haben  Sie  mich  eben  beobachtet?"  fragte 
er  plötzlich  unruhig  und  argwöhnisch. 

,,Ich  sah  Sie  an  und  erinnerte  mich  dabei 
der  Gesichtszüge  Ihrer  Frau  Mutter.  Bei  aller 
äußeren  Unähnlichkeit  ist  doch  viel  innere,  gei- 
stige Ähnlichkeit  vorhanden." 

„Nicht  die  geringste  Ähnlichkeit,  am  aller- 
wenigsten eine  geistige.  Überhaupt  keine !"  regte 
sich  Nikolai  Wsewolodowitsch  ganz  unnötiger 
Weise  auf;  er  wußte  selbst  nicht,  warum  er  so 
heftig  widersprach.  ,,Sie  sagen  es  bloß  .  .  .  aus 
Mitleid  mit  mir  und  meiner  Lage!"  platzte  er 
plötzlich  heraus.  ,,Ach!  Kommt  denn  meine 
Mutter  zu  Ihnen?" 

„Ja." 

,,Das  habe  ich  nicht  gewußt.  Habe  es  von 
ihr  nie  gehört.  Kommt  sie  oft  her?" 

,,Fast  jeden  Monat  und  auch  öfter." 

,,Das  habe  ich  wirklich  niemals  gehört.  Nie- 
mals gehört!  ..."  Er  schien  durch  diese  Tat- 
sache furchtbar  beunruhigt.  ,,Sie  haben  aber 
natürlich  von  ihr  gehört,  daß  ich  verrückt 
bin?"  platzte  er  wieder  heraus. 

,,Nein,  ich  habe  nichts  von  Verrücktheit  ge- 

a*  19 


hört.  Wohl  aber  von  dieser  Ansicht,  doch  nicht 
von  ihr,  sondern  von  anderen." 

,,Sie  haben  also  ein  gutes  Gedächtnis,  wenn 
Sie  sich  solchen  Unsinn  gemerkt  haben.  Haben 
Sie  auch  das  von  der  Ohrfeige  gehört?" 

,, Etwas  habe  ich  wohl  gehört." 

,,Das  heißt  alles.  Sie  haben  furchtbar  viel 
Zeit,  um  sich  das  alles  zu  merken.  Auch  das 
vom  Duell?*" 

„Auch  vom  Duell." 

,,Da  sind  wirklich  die  Zeitungen  überflüssig. 
Hat  Schatq\y  Sie  auf  mein  Kommen  vorbe- 
reitet?" 

,,Nein.  Ich  kenne  übrigens_Herrn  Schatow, 
habe  ihn  aber  schon  seit  langem  nicht  gesehen." 

„Hm  .  .  .  Was  haben  Sie  hier  für  eine  Karte? 
Ach,  es  ist  doch  die  Karte  des  letzten  Krieges! 
Was  brauchen  Sie  sie?" 

„Ich  habe  die  Landkarte  mit  dem  Text  ver- 
glichen .  Eine  überaus  in  teressante  Schilderung . ' ' 

,, Zeigen  Sie  her.  Ja,  die  Schilderung  ist  nicht 
schlecht.  Es  ist  aber  eine  sonderbare  Lektüre 
für  Sie." 

Er  rückte  das  Buch  zu  sich  heran  und  blickte 
flüjglitig  hinein.  Es  war  eine  umfangreiche  und 
talentvolle  Schilderung  der  Umstände  des  letz- 
ten Krieges,  talentvoll  übrigens  weniger  in  mili- 

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tärischer  als  in  rein  literarischer  Beziehung.  Er 
hielt  das  Buch  eine  Weile  in  den  Händen  und 
warf  es  plötzlich  mit  Ungeduld  weg. 

„Ich  weiß  absolut  nicht,  wozu  ich  hergekom- 
men bin!"  sagte  er  wie  angeekelt,  Tichon  ge- 
rade in  die  Augen  blickend,  als  erwartete  er 
von  ihm  eine  Antwort. 

„Sie  scheinen  auch  nicht  ganz  wohl  zu  sein." 

,,Ja,  vielleicht." 

Und  er  erzählte  plötzlich,  übrigens  nur  in 
wenigen  abgerissenen  Worten,  so  daß  man  eini- 
ges schwer  verstehen  konnte,  daß  er  zuweüenj 
besonders  nachts  an  gewissen  Halluzinationen 
leide,  daß  er  an  seiner  Seite  manchmal  irgend- 
ein boshaftes,  spöttisches  und  ,, vernünftiges" 
Wesen  sehe  oder  fühle:  ,,in  verschiedenen  Ge- 
stalten und  von  verschiedenem  Charakter,  aber 
immer  ein  und  dasselbe,  ich  ärgere  mich  aber !" 

Wild  und  verworren  waren  diese  Erklärun- 
gen und  schienen  wirklich  von  einemVerrückten 
zu  kommen.  Nikolai  Wsewolodowitsch  sprach 
aber  dabei  mit  einer  so  sonderbaren  Aufrichtig- 
keit, die  man  an  ihm  noch  niemals  wahrgenom- 
men, mit  einer  solchen,  ihm  sonst  so  gar  nicht 
eigenen  ßinfalt,  daß  der  frühere  Mensch  in  ihm 
plötzlich  und  unversehens  verschwunden  zu  sein 
schien.  Er  schämte  sich  gar  nicht,  das  Entap.t/.en, 

21 


zu  zeigen,  mit  dem  er  von  seiner  Vision  sprach. 
Aber  all  das  war  nur  augenblicklich  und  ver- 
schwand ebenso  schnell,  wie  es  gekommen  war. 

,,Das  ist  alles  Unsinn",  unterbrach  er  sich 
schnell  mit  verlegenerji  Ärger.  ,,lch  will  zu 
einem  Arzt  gehen." 

,, Gehen  Sie  unbedingt  hin ",bestätigieTichon. 

,,Sie  sagen  es  so  bestimmt . . .  Haben  Sie  schon 
solche  Menschen  wie  mich  gesehen,  die  solche 
Visionen  haben?" 

„Ich  habe  wohl  welche  gesehen,  aber  selten. 
Ich  besinne  mich  auf  einen  einzigen  Fall  in 
meinem  Leben,  es  war  ein  Offizier,  der  nach 
dem  Tode  seiner  Frau,  der  für  ihn  unersetz- 
lichen Lebensgefährtin,  dasselbe  hatte.  Den  an- 
deren Fall  kenne  ich  nur  vom  Hörensagen.  Beide 
ließen  sich  dann  im  Auslande  behandeln^.  .  .  . 
Leiden  Sie  schon  lange  daran?" 

,,Seit  etwa  einem  Jahr,  aber  das  alles  ist  Un- 
sinn. Ich  werde  zum  Arzt  gehen.  Es  ist  Un- 
sinn, furchtbarer  Unsinn.  Das  bin  nur  ich  selbst 
in  verschiedenen  Gestalten  und  weiter  nichts. 
Da  ich  soeben  diese  .  .  .  Phrase  hinzugefügt 
habe,  so  glauben  Sie  sicher,  daß  ich  immer  noch 
zweifle  und  nicht  ganz  davon  überzeugt  bin, 
daß  ich  es  bin  und  nicht  wirklich  der  Teufel." 

Tichon  sah  ilin  fragend  an. 

22 


,,Uncl  .  .  .  Sie  sehen  ihn  wirklich?"  fragte  er, 
jeden  Zweifel  ausschaltend,  daß  es  eine  trü-_ 
^erischfi- .Jund    krankhafte    Halluzination    sei, 
,, sehen  Sie  wirklich  irgendeine  Gestalt?" 

,, Merkwürdig,  daß  Sie  darauf  bestehen,  wäh- 
rend ich  Ihnen  schon  gesagt  habe,  daß  ich  eine 
sehe",  sagte  Stawrogin,  der  nach  jedem  Wort 
noch  mehr  gereizt  war.  ,, Natürlich  sehe  ich  ihn, 
ich  sehe  ihn,  so  wie  ich  jetzt  Sie  sehe  . . .  manch- 
mal sehe  ich  ihn  aber  und  bin  dabei  nicht  über- 
zeugt, daß  ich  ihn  sehe,  obwohl  ich  ihn  wirk- 
lich sehe  .  .  .  manchmal  weiß  ich  auch  nicht, 
was  wirklich  ist:  ich  oder  er  .  .  .  All  das  ist  Un- 
sinn. Können  Sie  denn  unmöglich  annelmi^ftr 
daß  es  in  Wirklichkeit  der  Teufel  ist!"  fügte 
er  lachend  hinzu,  allzu  schnell  in  einen  spöt- 
tischen Ton  verfallend;,, Das  würde  ja  zu  Ihrem 
Metier  besser  passen," 

,,Am  wahrscheinlichsten  ist  es  eine  Krank- 
heit, obwohl ..." 

,,Was,  obwohl?" 

,, Teufel  existieren  zweifellos,  aber  die.jlui»- 
fassung.von  ihnen  kann  sehr  verschieden  sein." 

,, Sie  haben  eben  Ihren  Blick  gesenkt",  fiel 
ihm  Stawrogin  mit  einem  gereizten  Lächeln  ins 
Wort,  ,,da  Sie  sich  für  mich  schämten,  weil 
ich  an  den  Teufel  glaube,  Ihnen  aber  unter  Yor- 

23 


Spiegelung,  daß  ich  an  ihn  nicht  glaube,  die 
listige  Frage  stelle,  ob  er  in  Wirklichkeit  exi- 
stiert?" 

Tichon  lächelte  unbestimmt. ^ 

,, Hören  Sie  also:  ich  schäme  mich  gar  nicht, 
und  um  Ihre  Grobheit  heimzuzahlen,  will  ich 
Ihnen  ersthaft  und  frech  sagen:  ich  glaube  an 
den  Teufel,  ich  glaube  an  ihn  kanonisch,  an 
den  persönlichen  Teufel,  nicht  an  die  Allegorie, 
und  ich  brauche  niemand  auszuforschen;  da 
haben  Sie  alles. ^" 

Er  lachte  nervös  und  unnatürlich  auf.  Tichon 
sah  ihn  neugierig  an,  mit  einem  etwas  scheuen, 
wenn  auch  milden  Blick. 

,, Glauben  Sie  an  Gott?"  platzte  plötzlich  Ni- 
kolai Wsewolodowitsch  heraus. 

„Ich  glaube!" 

,,Es  steht  doch  geschrieben,  wenn  du  glaubst 
und  dem  Berge  befiehlst,  von  der  Stelle  zu 
rücken,  so  wird  er  von  der  Stelle  rücken  .  .  . 
entschuldigen  Sie  übrigens  den  Unsinn.  Aber 
ich  möchte  Sie  dennoch  fragen:  werden  Sie 
einen  Berg  versetzen  können  oder  nicht?" 

„Wenn  Gott  es  befiehlt,  werde  ich  ihn  ver- 
setzen", sagte  Tichon  leise  und  zurückhaltend 
und  fing  an,  seinen  Blick  wieder  zu  senken. 

,,Nun,  das  ist  ja  dasselbe,  wie  wenn  ihn  Gott 

24 


selbst  versetzte.  Nein,  Sie,  Sie  selbst  zum  Lohne 
für  Ihren  Glauben  an  Gott?" 

„Vielleicht  versetze  ich  ihn." 

,,,Vielleicht'?äNun,auchdas  ist  nicht  schlecht. 
Sie  zw^eifeln  übrigens  immer  noch?" 

„Infolge  derUnvollkomnißiihßit  meines  Glau- 
bens zweifle  ich." 

,,Wie,  auch  Ihr  Glaube  ist  unvollkommen?" 

,,Ja  .  .  .  vielleicht  ist  er  auch  unvollkommen", 
antwortete  Tichon. 

,,Das  kann  man  Ihnen  unmöglich  ansehen  1" 
Er  musterte  ihn  plötzlich  mit  einem  geradezu 
naiven  Erstaunen,  was  mit  dem  spöttischen  Ton 
der  vorhergehenden  Fragen  gar  nicht  harmo- 
nierte. 

,,rVber  Sie  glauben  immerhin,  daß  Sie,  wenn 
auch  mit  Gottes  Hilfe,  den  Berg  versetzen  wer- 
den, und  das  ist  nicht  wenig.  Jedenfalls  wollen 
Sie  glauben.  Auch  den  Berg  fassen  Sie  buchstäb- 
lich auf.  Das  ist  ein  gutes  Prinzip.  Ich  habe  be- 
merkt, daß  die  Führenden  unter  unseren  Leviten 
stark  dem  Luthertum  zuneigen.  Das  ist  immerhin 
mehr  als  das  ,tres  peu'  eines  Erzbischofs,  das 
allerdings  unter  einem  Säbel  gesprochen  wor- 
den war.  Sie  sind  natürlich  auch  Christ." 
Stawrogin  sprach  schnell,  die  Worte  fielen  bald 
ernsthaft,  bald  spöttisch. 

25 


,, Deines  Kreuzes,  Herr,  werde  ich  mich  nicht 
schämen",  versetzte  Tichon  in  einem  sonder- 
baren, leidenschaftHchen  Flüsterton,  den  Kopf 
noch  tiefer  senkend.^ 

,,Kann  man  an  den  Teufel  glauben,  ohne  an 
Gott  zu  glauben?"  fragte  Stawrogin  lachend. 

,,Das  kann  man  sogar  sehr,  man  sieht  es  auf 
Schritt  und  Tritt."  Tichon  hob  die  Augen  und 
lächelte. 

,,lch  bin  auch  überzeugt,  daß  Sie^einen  sol- 
chen Glauben  immerhin  für  ehrenwerter  halten 
als  den  völligen  Unglauben  .  .  .^^"  rief  Staw- 
rogin und  lachte  auf. 

,,Im  Gegenteil,  vollständiger  Atheismus  ist 
ehrenwerter  als  die  weltliche  Gleichgültigkeit", 
antwortete  Tichon  scheinbar  heiter  und  treu- 
herzig. 

,,Oho,  so  denken  Sie!" 

,,Der  vollkommene  Atheist  steht  auf  der  vor- 
letzten höchsten  Stufe  vor  dein  vollständigen 
Glauben  (ganz  gleich,  ob  er  den  Schritt  tut  oder 
nicht),  der  Gleichgültige  hat  aber  gar  keinen 
Glauben  mehr,  nur  eine  üble  Angst,  und  auch 
die  nur  ab  und  zu,  wenn  er  ein  gefühlvoller 
Mensch  ist." 

,,Hm  . . .  Haben  Sie  die  Apokalypse  gelesen?" 

,, Gewiß." 

36 


„Erinnern  Sie  sich  an  die  Stelle :  ,Und  schreibe 
dem  Engel  der  Gemeinde  zu  Laodicea  .  .  .'?" 

„Gewiß.  "11 

,, Wo  haben  Sie  das  Buch?"  Stawrogin  wurde 
auf  einmal  seltsam  ungeduldig  und  aufgeregt 
und  suchte  das  Buch  mit  den  Augen  auf  dem 
Tisch.  ,,Ich  möchte  es  Ihnen  vorlesen  .  .  .  haben 
Sie  eine  russische  Übersetzung?" 

,,Ich  kenne  die  Stelle",  sagte  Tichon. 

„Kennen  Sie  sie  auswendig?  Sagen  Sie  sie ... " 

Er  senkte  schnell  die  Augen,  drückte  beide 
Hände  gegen  die  Knie  und  wartete  mit  Unge- 
duld. Tichon  zitierte  wörtlich: 

,,Und  schreibe  dem  Engel  der  Gemeinde  zu 
Laodicea:  Also  spricht  Amen,  der  treue  und 
wahrhaftige  Zeuge,  der  Anfang  der  Kreatur 
Gottes:  ich  kenne  deine  Werke,  daß  du  weder 
kalt,  noch  warm  bist.  Ach,  daß  du  kalt  oder 
warm  wärest!  Weil  du  aber  nur  lau  bist,  und 
weder  kalt  noch  warm,  werde  ich  dich  aus- 
speien aus  meinem  Munde.  Du  sprichst:  Ich 
bin  reich,  bin  gar  satt  und  bedarf  nichts,  und 
weißt  doch  nicht,  daß  du  elend  bist  und  jäm- 
merlich, arm,  blind  und  bloß  ..." 

,, Genug",  unterbrach  ihn  Stawrogin. i^^^Wis- 
sen  Sie,  ich  liebe  Sie  sehr." 

„Und  ich  Sie",  antwortete  Tichon  halblaut. 

27 


Stawrogin  verstummte  und  versank  plötzlich 
in  seine  frühere  Nachdenklichkeit.  Das  kam  wie 
ein  Anfall  schon  zum  drittenmal.  Auch  das 
,,ich  liebe  Sie"  hatte  er  zu  Tichon  wie  in  einem 
Anfall  gesagt,  jedenfalls  ganz  unerwartet  für 
sich  selbst.  Es  verging  mehr  als  eine  Minute. 

,, Zürnen  Sie  nicht",  flüsterte  Tichon,  seinen 
Ellenbogen  ganz  leise  mit  dem  Finger  berüh- 
rend, beinahe  schüchtern. 

Jener  fuhr  zusammen  und  runzelte  böse  die 
Brauen. 

,, Woran  erkannten  Sie,  daß  ich  zürne?" 
fragte  er  schnell.  Tichon  wollte  etwas  erwidern, 
aber  er  unterbrach  ihn  plötzlich  in  unbegreif- 
licher Erregung. 

,, Warum  haben  Sie  angenommen,  daß  ich 
unbedingt  zürnen  müsse? !  Ja,  ich  war  wohl 
böse  geworden,  Sie  haben  recht,  und  zwar  ge- 
rade weil  ich  Ihnen  gesagt  habe,  daß  ich  Sie 
liebe.  Sie  haben  Recht,  aber  Sie  sind  ein  roher 
Zyniker,  Sie  denken  niedrig  von  der  mensch- 
lichen Natur.  Es  hätte  auch  kein  Zorn  sein 
können,  wenn  an  meiner  Stelle  ein  anderer 
Mensch  wäre  .  .  .  Die  Rede  ist  übrigens  nicht 
vom  andern  Menschen,  sondern  von  mir. 
Sie  sind  immerhin  ein  Kauz  und  ein  JNarr  in 
Christo  ..." 

28 


Er  regte  sich  immer  mehr  auf  und  kümmerte 
sich  seltsamerweise  gar  nicht  um  die  Wahl  der 
Worte : 

,, Hören  Sie:  ich  kann  Spione  und  Psycho- 
logen nicht  leiden,  jedenfalls  solche  nicht,  die 
mir  in  die  Seele  dringen.  Ich  fordere  niemand 
auf,  mir  in  die  Seele  einzudringen,  ich  brauche 
niemand,  ich  werde  mir  auch  selbst  zu  helfen 
wissen.  Sie  glauben,  daß  ich  Sie  fürchte",  sagte 
er,  die  Stimme  erhebend  und  ihn  herausfor- 
dernd ansehend:  ,,Sie  sind  vollkommen  davon 
überzeugt,  daß  ich  gekommen  bin,  um  Ihnen 
ein  »schreckliches'  Geheimnis  zu  eröffnen,  und 
warten  darauf  mit  der  ganzen  klösterlichen  Neu- 
gier, deren  Sie  fähig  sind.  Hören  Sie  also:  ich 
werde  Ihnen  nichts  eröffnen,  gar  keine  Ge- 
heimnisse, denn  ich  kann  mich  ausgezeichnet 
auch  ohne  Sie  behelfen  ..." 

Tichon  sah  ihm  fest  ins  Gesicht. 

,,Es  hat  Sie  erschüttert,  daß  das  Lamm  den 
Kalten  dem  Lauen  vorzieht",  sagte  er.  ,,Sie 
wollen  nicht  nur  lau  sein.  Ich  ahne,  daß  Sie 
von  einer  außerordentlichen,  vielleicht  entsetz- 
lichen Absicht  besessen  sind.  Ich  flehe  Sie  an, 
quälen  Sie  sich  nicht  und  sagen  Sie  alles. *^ 

,, Haben  Sie  denn  genau  gewußt,  daß  ich  mit 
irgendetwas  gekommen  bin?" 

29 


,,Ich  .  .  .  ich  habe  es"  erraten",  flüsterte  Ti- 
chon,  die  Augen  senkend. 

Nikolai  Wsewolodowitsch  war  etwas  blaß, 
seine  Hände  zitterten  ein  wenig.  Einige  Sekun- 
den blickte  er  unbeweglich  und  stumni,  als 
fasse  er  einen  endgültigen  Entschluß.  Schließ- 
lich zog  er  aus  der  Seitentasche  seines  Rockes 
irgendwelche  bedruckte  Blätter  und  legte  sie 
auf  den  Tisch. 

,, Diese  Blätter  sind  zur  Veröffentlichung 
bestimmt",  sagte  er  mit  stockender  Stimme. 
,,Wenn  sie  auch  nur  ein  Mensch  liest,  so  kön- 
nen Sie  versichert  sein,  daß  ich  sie  nicht  mehr 
verbergen  werde,  und  daß  alle  sie  lesen  werden. 
Ich  bedarf  Ihrer  nicht,  gar  nicht,  denn  ich  habe 
schon  alles  beschlossen.  Aber  lesen  Sie  es  .  .  . 
Während  Sie  es  lesen,  sagen  Sie  nichts,  und 
wenn  Sie  es  gelesen  haben,  sagen  Sie  alles  ..." 

,,Soll  ich  es  lesen?"  fragte  Tichon  zögernd. 

,, Lesen  Sie,  ich  bin  ruhig." 

,,Nein,  ohne  Brille  kann  ich  es  nicht  entzif- 
fern, der  Druck  ist  zu  klein,  wohl  ausländisch." 

,,Hier  ist  die  Brille!"  Stawrogin  reichte  sie 
ihm  vom  Tisch  und  warf  sich  in  die  Sofalehne 
zurück.  Tichon  sah  ihn  nicht  an  und  versenkte 
sich  in  die  Lektüre. 


3o 


II 

Es  war  tatsächlich  ausländischer  Druck  -  drei 
bedruckte  und  zusammengeheftete  Blättchen 
gewöhnlichen  Briefpapiers  in  kleinem  Format. 
Es  war  wohl  in  irgendeiner  geheimen  russischen 
Druckerei  im  Auslande  gedruckt,  und  die  Blätt- 
chen glichen  auf  den  ersten  Blick  einer  Pro- 
klamation. Als  Überschrift  stand:  ,,Von  Staw- 
rogin". 

Dieses  Dokument  nehme  ich  in  meine  Chro- 
nik unverändert  auf.^*  Ich  erlaubte  mir  nur, 
die  orthographischen  Fehler  zu  korrigieren,  die 
ziemlich  zahlreich  waren  und  mich  sogar  in 
einiges  Erstaunen  versetzten,  da  der  Autor  im- 
merhin ein  gebildeter  und  sogar  belesener 
Mensch  war  (natürlich  nur  relativ).  Im  Stile 
änderte  ich  dagegen  nichts,  trotz  einiger  Un- 
regelmäßigkeiten. Jedenfalls  ist  es  klar,  daß  der 
Autor  vor  allen  Dingen  kein  Literat  ist. 

1"'  Ich  erlaube  mir  noch  eine  Bemerkung,  ob- 
wohl ich  damit  vorausgreife.  Dieses  Dokument 
ist  meiner  Ansicht  nach  eine  krankhafte  Sache, 
ein  Werk  des  Teufels,  der  sich  dieses  Herrn  be- 
mächtigt hat.  Man  denkt  an  einen  Menschen,  der 
sich,  von  einem  stechenden  Schmerz  gepeinigt, 
im  Bette  hin-  und  herwälzt,  bemüht,  eine  Lage 
zu  finden,  in  der  er  wenigstens  für  einen  Augen- 

3i 


blick  Erleichterung  finden  könnte.  Dabei  ist  es 
ihm  natürlich  nicht  um  die  Schönheit  oder  Yer- 
nünf  tigkeit  dieser  Lage  zu  tun.  Der  Grundge- 
danke des  Dokuments  ist  ein  schreckliches,  un- 
geheucheltes  Bedürfnis  nach  einer  Strafe,  nach 
dem  Kreuz,  nach  einer  öffentlichen  Hinrich- 
tung. Und  dieses  Verlangen  nach  dem  Kreuz 
empfindet  ein  Mensch,  der  an  das  Kreuz  nicht 
glaubt,  und  schon  das  allein  stellt  eine  ,,Idee" 
dar,  wie  sich  Stepan  Trofimowitsch  einmal, 
übrigens  bei  anderer  Gelegenheit,  ausgedrückt 
hat.  Andererseits  ist  dieses  ganze  Dokument  et- 
was Rasendes  und  Wahnwitziges,  obwohl  es  an- 
scheinend mit  einer  anderen  Absicht  abgefaßt 
worden  ist.  Der  Autor  erklärt,  daß  es  ihm  un- 
möglich gewesen  sei,  es  nicht  zu  schreiben,  daß 
er  dazu  „gezwungen"  worden  sei,  und  das 
klingt  recht  wahrscheinlich :  er  wäre  froh,  die- 
sen Kelch  nicht  zu  trinken,  wenn  er  es  könnte, 
aber  es  war  ihm  anscheinend  in  der  Tat  nicht 
möglich,  sich  die  Gelegenheit  zu  einer  neuen 
Raserei  entgehen  zu  lassen.  Ja,  der  Kranke  wälzt 
sich  auf  seinem  Lager  hin  und  her  und  will  den 
einen  Schmerz  durch  einen  anderen  ersetzen; 
der  Kampf  gegen  die  Gesellschaft  erschien  ihm 
als  die  leichteste  Lage,  und  so  wirft  er  ihr  die 
Herausf  orderung  j:u^ 


Und  in  der  Tat:  schon  die  Tatsache  dieses 
Dokuments  läßt  eine  neue  unerwartete  und 
unverzeihUche  Herausforderung  an  die  Ge- 
sellschaft ahnen.  Es  ist  das  Verlangen,  so 
bald  als  möglich  auf  irgendeinen  Feind  zu 
stoßen. 

Wer  weiß :  vielleicht  sind  diese  zur  Veröffent- 
lichung bestimmten  Blätter  nichts  anderes  als 
,,das  gebissene  Gouverneursohrs",  nur  in  einer 
anderen  Form.  Warum  es  jetzt,  wo  vieles  sich 
schon  geklärt  hat,  sogar  mir  in  den  Sinn  kommt, 
vermag  ich  nicht  zu  erklären.  Ich  führe  auch 
keine  Beweise  an  und  behaupte  durchaus  nicht, 
daß  das  Dokument  gefälscht,  d.  h.  vollkommen 
aus  der  Luft  gegriffen  und  frei  erfunden  sei. 
Die  Wahrheit  wird  am  ehesten  in  der  Mitte  lie- 
gen. Ich  habe  aber  schon  zu  weit  vorgegriffen; 
richtiger  wäre  es,  zum  Dokument  selbst  zurück- 
zukehren. Tichon  las  also  folgendes  :^^ 

Von  Stawrogin. 

Ich,  Nikolai  Stawrogin,  Offizier  a.D.,  lebte 
im  Jahre  i86*  in  Petersburg,  der  Unzucht  er- 
geben, in  der  ich  keinen  Genuß  fand.  Eine  Zeit- 
lang hatte  ich  drei  Wohnungen.  In  der  einen, 
die  ich  möbliert,  mit  Verpflegung  und  Bedie- 
nung mietete,  wohnte  ich  selbst ;  in  dieser  wohnte 
auch  Mar  ja  Lebjadkina,  meine  jetzige  legitime 

3  33 


Gattin.  Die  anderen  Wohnungen  hielt  ich  mir 
monatlich  für  meine  Intrigen:  in  der  einen 
empfing  ich  eine  Dame,  die  mich  liebte,  und  in 
der  anderen  ihr  Dienstmädchen;  eine  Zeitlang 
beschäftigte  mich  sehr  der  Plan,  die  beiden  zu- 
sammenzuführen, so  daß  die  Dame  und  die  Dirne 
sich  bei  mir"  begegneten.  Da  ich  die  Charak- 
tere der  beiden  kannte,  erwartete  ich  von  diesem 
Scherz  ein  großes  Vergnügen. 

Als  ich  auf  diese  Begegnung  nach  und  nach 
hinarbeitete,  mußte  ich  eine  dieser  beiden  Woh- 
nungen, die  sich  in  einem  großen  Hause  in  der 
Gorochowaja  befand,  öfter  aufsuchen,  da  das 
Dienstmädchen  hierher  zu  kommen  pflegte. 
Hier  hatte  ich  nur  ein  Zimmer  im  vierten  Stock, 
das  ich  bei  einer  russischen  Kleinbürgersfamilie 
mietete.  Die  Leute  selbst  wohnten  nebenan  im 
anderen  Zimmer,  das  so  eng  war,  daß  die  Tür 
zwischen  den  beiden  Zimmern  immer  offen 
stand,  und  das  war  mir  gerade  erwünscht.  Der 
Mann  war  in  irgendeinem  Kontor  angestellt  und 
vom  Morgen  bis  zum  Abend  nicht  zu  Hause.  Die 
Frau,  eine  etwa  vierzigjährige  Person,  schnitt 
etwas  zu  und  nähte  alte  Sachen  zu  neuen  um; 
auch  sie  ging  oft  aus  dem  Hause,  um  ihre  Näh- 
arbeit abzuliefern.  Ich  blieb  dann  allein  mit 
ihrer  18  Tochter,  die  noch  ganz  wie  ein  Kind 

34 


aussah,  in  der  Wohnung.  Sie  hieß  Matrjoscha. 
Die  Mutter  hatte  sie  lieb,  schlug  sie  aber  oft  und 
schrie  sie  schrecklich  an,  wie  es  solche  Men- 
schen zu  tun  pflegen.  Dieses  Mädchen  bediente 
mich  und  räumte  bei  mir  hinter  der  spanischen 
Wand  auf.  Ich  erkläre,  daß  ich  die  Nummer  des 
Hauses  vergessen  habe.  Jetzt  weiß  ich,  nach  Er- 
kundigungen, daß  das  alte  Haus  abgebrochen 
worden  ist,  und  daß  an  Stelle  von  zwei  oder 
drei  alten  Häusern  ein  neues,  sehr  großes  steht. 
Ich  habe  auch  den  Familiennamen  meiner 
Kleinbürger  vergessen  (vielleicht  habe  ich  ihn 
auch  damals  nicht  gewußt).  Ich  erinnere  mich 
nur,  daß  dieKleinbürgerinStepanida,  ich  glaube, 
Michailowna  hieß.  Seiner  erinnere  ich  mich 
nicht  mehr.  Ich  denke,  daß  man,  wenn  man  or- 
dentlich suchen  und  die  nötigen  Erkundigungen 
bei  der  Petersburger  Polizei  einziehen  wollte, 
die  Spuren  leicht  auffinden  könnte.  Die  Woh- 
nung befand  sich  im  Hofe,  in  einer  Hausecke. 
Dies  alles  war  im  Juni.  Das  Haus  war  von  hell- 
blauer Farbe. 

Einmal  verschwand  von  meinem  Tisch  ein 
Federmesser,  das  ich  gar  nicht  brauchte,  und 
das  nur  so  herumlag.  Ich  sagte  es  der  Wirtin, 
dachte  aber  dabei  nicht  im  entferntesten,  daß 
sie  die  Tochter    mit  Ruten    züchtigen  würde. 

3*  35 


Die  Frau  hatte  aber  soeben  die  Kleine  wegen 
irgendeines  verlorengegangenen  Lumpens  aus- 
geschimpft ^^  und  sogar  an  den  Haaren  gezerrt, 
weil  sie  sie  im  Verdacht  hatte,  ihn  gestohlen  zu 
haben.  Als  aber  dieser  selbe  Lumpen  sich  unter 
dem  Tischtuch  fand,  wollte  die  Kleine  kein 
Wort  des  Vorwurfes  sagen  und  blickte  nur 
schweigend  vor  sich  hin.  Ich  sah  es  und  merkte 
mir  bei  dieser  Gelegenheit  zum  erstenmal  or- 
dentlich das  Gesicht  der  Kleinen,  das  ich  bis- 
her nur  flüchtig  mit  den  Blicken  gestreift  hatte. 
Sie  war  hellblond  und  hatte  viele  Sommer- 
sprossen, das  Gesicht  war  gewöhnlich,  es  war 
aber  viel  Kindliches  und  Stilles,  außerordent- 
lich Stilles  darin.  Der  Mutter  mißfiel  es,  daß 
die  Tochter  ihr  wegen  der  unverdienten  Strafe 
kein  Wort  sagte,  und  hob  über  sie  die  Faust, 
schlug  sie  aber  nicht.  Da  kam  gerade  die  Ge- 
schichte mit  meinem  Federmesser.  Die  Frau 
wurde  wütend,  weil  sie  das  Kind  zuerst  unge- 
rechterweise geschlagen  hatte ;  sie  lief  zum  Be- 
sen, riß  mehrere  Ruten  heraus  und  züchtigte 
das  Mädchen  vor  meinen  Augen  so,  daß  es  rote 
Striemen  bekam,  obwohl  das  Kind  schon  bei- 
nahe zwölf  Jahre  alt  war.  Matrjoscha  schrie 
während  der  Rutenstrafe  nicht,  wahrscheinlich, 
weil  ich  zugegen  war,  schluchzte  aber  sonder- 

36 


bar  bei  jedem  Schlage.  Dann  schluchzte  sie 
noch  eine  ganze  Stunde  später  sehr  laut. 

Vorher  hatte  sich  aber  dieses  ereignet :  im  sel- 
ben Augenblick,  als  die  Wirtin  sich  zum  Besen 
stürzte,  um  Ruten  daraus  zu  reißen,  fand  ich 
das  Federmesser  auf  meinem  Bett,  auf  das  es 
irgendwie  vom  Tische  gefallen  war.  Mir  kam 
sofort  der  Gedanke,  es  ihnen  nicht  zu  sagen, 
damit  die  Kleine  ihre  Ruten  bekomme.  Dieser 
Entschluß  war  in  mir  augenblicklich  gereift; 
in  solchen  Fällen  stockt  mir  immer  der  Atem. 
Aber  ich  will  dies  alles  in  bestimmteren  Worten 
berichten,  damit  nichts  mehr  verborgen  bleibe. 

Jede  schändliche,  maßlos  erniedrigende,  ge- 
meine und  vor  allem  lächerliche  Lage,  in  der  ich 
mich  in  meinem  Leben  befand,  erregte  in  mir 
immer  neben  einem  grenzenlosen  Zorn  auch 
einen  grenzenlosen  Genuß.  Ebenso  war  es  auch 
inden  Augenblicken,  wenn  ich  einVerbrechenbe- 
gingoder  mich  in  Lebensgefahr  befand.  Hätte  ich 
etwas  gestohlen,  so  würde  ich  beim  Verüben  des 
Diebstahls  einen  Rausch  in  der  Erkenntnis  der 
Tiefe  meiner  Gemeinheit  empfunden  haben. 
Ich  liebte  nicht  die  Gemeinheit  (meineVernunft 
blieb  dabei  immer  intakt),  aber  mir  gefiel  der 
Rausch,  den  ich  im  schmerzvollen  Bewußtsein 
meiner  Niedrigkeit  fand.  Ebenso  hatte  ich  diese 

37 


selbe  schändliche  und  tolle  Empfindung,  so  oft 
ich  an  der  Barriere  in  der  Erwartung  des 
Schusses  eines  Gegners  stand;  einmal  war  es 
ganz  besonders  stark.  Ich  gestehe,  daß  ich  die- 
ses Gefühl  oft  selbst  suchte,  denn  es  war  für 
mich  stärker  als  alle  ähnlichen.  Wenn  ich  eine 
Ohrfeige  bekam  (ich  bin  in  meinem  Leben 
zweimal  geohrfeigt  worden),  so  hatte  ich  auch 
dann,  trotz  des  schrecklichen  Zornes,  dasselbe 
Gefühl.  Wenn  ich  aber  dabei  den  Zorn  zurück- 
hielt, so  übertraf  der  Genuß  alles,  was  man  sich 
vorstellen  kann.  Ich  habe  es  noch  keinem  Men- 
schen erzählt,  selbst  andeutungsweise  nicht, 
habe  es  immer  als  eine  Schmachund  Schande  ver- 
heimlicht. Als  man  mich  einmal  in  einer  Peters- 
burger Kneipe  fürchterlich  prügelte  und  an  den 
Haaren  herumzerrte,  hatte  ich  dieses  Gefühl 
nicht,  sondern  empfand  nur,  ohne  betrunken 
zu  sein,  eine  maßlose  Wut  und  wehrte  mich 
gegen  die  Schläge.  Hätte  mich  aber  im  Aus- 
lande jener  französische  Yicomte,  der  mich 
einmal  geohrfeigt  hat,  und  dem  ich  dafür  den 
Unterkiefer  weggeschossen  habe,  bei  den  Haa- 
ren gepackt  und  niedergedrückt,  so  würde  ich 
einen  berauschenden  Genuß  und  dabei  vielleicht 
gar  keinen  Zorn  empfunden  haben.  So  schien 
mir  damals. 

38 


Das  alles  sage  ich,  damit  jedermann  wisse, 
daß  dieses  Gefühl  mich  niemals  ganz  gefangen 
nahm,  und  daß  ich  vielmehr  immer  beim  voll- 
sten Bewußtsein  blieb  (alles  beruhte  ja  auf  dem 
Bewußtsein).  Es  bemächtigte  sich  meiner  zwar 
bis  zum  Wahnsinn,  oder  sozusagen  bis  zum 
Trotz,  aber  niemals  bis  zur  Bewußtlosigkeit. 
Wenn  es  in  mir  sogar  in  hellen  Flammen  stand, 
konnte  ich  es  dennoch  vollständig  beherrschen 
und  selbst  auf  seinem  höchsten  Punkt  zum 
Stillstand  bringen;  allein  ich  wollte  es  niemals 
zum  Stillstand  bringen.  Ich  bin  überzeugt,  daß 
ich  mein  ganzes  Leben  wie  ein  Mönch  leben 
könnte,  trotz  der  tierischen  Lüsternheit,  mit 
der  ich  begabt  bin,  und  die  ich  auch  in  den  an- 
deren immer  weckte. ^o  Wenn  ich  will,  bin  ich 
immer  Herr  meiner  selbst.  Ich  erkläre  also,  daß 
ich  meine  Verbrechen  weder  durch  das  Milieu 
noch  durch  Krankheiten  zu  rechtfertigen  suche. 

Als  die  Exekution  zu  Ende  war,  steckte  ich  das 
Messer  in  meineWestentasche, ging, ohne  einWort 
zu  sagen,  aus  dem  Hause  und  warf  es,  als  ich  mich 
weit  vom  Hause  entfernt  hatte,  auf  die  Straße, 
damit  es  kein  Mensch  erfahre.  Dann  wartete 
ich  zwei  Tage  ab.  Die  Kleine  war,  nachdem  sie 
sich  ausgeweint  hatte,  noch  schweigsamer  ge- 
worden ;  gegen,  mich  hegte  sie  aber,  ich  bin  da- 

39 


von  überzeugt,  kein  feindseliges  Gefühl.  Es 
war  übrigens  wohl  auch  einige  Scham  dabei, 
daß  man  sie  auf  diese  Weise  in  meiner  Gegen- 
wart bestraft  hatte. 21  Aber  auch  für  diese 
Schande  machte  sie,  da  sie  noch  ein  Kind  war, 
sicher  nur  sich  selbst  verantwortlich. 22 

Damals,  in  diesen  zwei  Tagen,  stellte  ich  mir 
einmal  die  Frage,  ob  ich  im  Stande  sei,  einen 
gefaßten  Entschluß  aufzugeben,  und  ich  fühlte 
sofort,  daß  ich  dazu  wohl  im  Stande  sei  und 
es  in  jedem  Augenblick  tun  könne.  Um  jene 
Zeit  trug  ich  mich  auch  mit  Selbstmordgedan- 
ken herum,  infolge  einer  krankhaften  Gleich- 
gültigkeit; ich  weiß  übrigens  selbst  nicht,  war- 
um. An  einem  dieser  zwei  oder  drei  Tage  ver- 
übte ich  (da  ich  unbedingt  abwarten  wollte,  daß 
die  Kleine  alles  vergesse),  und  wohl  auch,  um 
mich  von  den  mich  verfolgenden  Gedanken  ab- 
zulenken, oder  auch  nur  zum  Spaß,  in  meiner 
Pension  einen  Diebstahl.  Es  war  der  einzige 
Diebstahl  meines  Lebens. 

In  dieser  Pension  nisteten  viele  Leute.  Unter 
anderem  wohnte  hier  mit  seiner  Familie  in  zwei 
möblierten  Zimmerchen  ein  Beamter  von  etwa 
vierzig  Jahren,  nicht  dumm,  von  anständigem 
Aussehen,  aber  arm.  Ich  verkehrte  mit  ihm 
nicht,  und    er    fürchtete    die  Gesellschaft,  die 

40 


mich  dort  umgab.  Er  hatte  soeben  seinen  Ge- 
halt von  fünfunddreißig  Rubel  bekommen.  Vor 
allem  bewegte  mich  dazu,  daß  ich  in  jenem 
Augenblick  tatsächlich  Geld  brauchte  (obwohl 
ich  nach  vier  Tagen  welches  mit  der  Post  er- 
hielt), so  daß  ich  gleichsam  aus  wirklicher  Not 
und  nicht  zum  Spaß  den  Diebstahl  beging.  Ich 
machte  es  frech  und  offen:  ich  trat  einfach  in 
sein  Zimmer,  als  er,  seine  Frau  und  die  Kin- 
der in  der  anderen  Kammer  zu  Mittag  aßen. 
Auf  dem  Stuhle  dicht  neben  der  Tür  lag  zusam- 
mengefaltet sein  Uniformrock.  Dieser  Gedanke 
hatte  mich  schon  im  Korridor  durchzuckt.  Ich 
steckte  die  Hand  in  die  Tasche  des  Rockes  und 
zog  ein  Portemonnaie  hervor.  Der  Beamte  hörte 
aber  das  Geräusch  und  sah  aus  der  Kammer 
heraus.  Er  hatte  es,  glaube  ich,  sogar  gesehen, 
jedenfalls  etwas  davon;  da  er  aber  nicht  alles 
gesehen  hatte,  so  traute  er  natürlich  seinen 
Augen  nicht.  Ich  sagte,  daß  ich  aus  dem  Korri- 
dor in  sein  Zimmer  hineingeschaut  hätte,  um 
auf  seine  Wanduhr  zu  sehen.  ,,Sie  steht",  ant- 
wortete er,  und  ich  ging  hinaus. 

Um  jene  Zeit  trank  ich  viel  und  hatte  in  der 
Pension  eine  ganze  Kumpanei,  zu  der  auch  Leb- 
jadkin  gehörte.  Das  Portemonnaie  mit  dem 
Kleingeld  warf  ich  fort  und  behielt  mir  nur  die 

kl 


Banknoten.  Es  waren  zweiunddreißig  Rubel, 
drei  rote  und  zwei  gelbe  Scheine.  Ich  ließ  so- 
fort einen  roten  Schein  wechseln  und  Cham- 
pagner bringen ;  dann  schickte  ich  auch  den  an- 
deren roten  Schein  wechseln  und  nach  ihm  den 
dritten.  Nach  etwa  vier  Stunden,  es  war  schon 
Abend,  fing  mich  der  Beamte  im  Korridor  ab. 

,, Nikolai  Wsewolodowitsch,  als  Sie  vorhin  zu 
mir  hereinkamen,  haben  Sie  da  nicht  zufällig 
meinen  Rock  vom  Stuhle  geworfen?  ...  er  lag 
neben  der  Tür." 

,,Nein,  ich  kann  mich  nicht  erinnern.  Lag 
denn  ein  Rock  da?" 

„Gewiß." 

„Auf  dem  Fußboden?" 

,,Erst  auf  dem  Stuhle,  und  dann  auf  dem 
Fußboden." 

„Haben  Sie  ihn  aufgehoben?" 

,, Gewiß." 

,,Was  wollen  Sie  dann  noch?" 

,,Nun,  in  diesem  Falle  nichts  ..." 

Er  wagte  nicht  zu  Ende  zu  sprechen,  wagte 
auch  nicht,  es  jemand  in  der  Pension  zu  erzählen, 
so  scheu  sind  oft  diese  Menschen.  In  der  Pension 
hatten  vor  mir  übrigens  alle  große  Angst  und 
einen  tiefen  Respekt.  Später  liebte  ich  es,  ihm 
mit  den  Blicken  zu  begegnen,  an  die  zwei  Mal 

42 


im  Korridor.  Bald  wurde  ich  aber  dessen  über- 
drüssig. 

Nach  drei  Tagen  kehrte  ich  in  die  Gorocho- 
waja  zurück.  Die  Mutter  war  eben  im  Begriff, 
mit  einem  Pack  Sachen  fortzugehen ;  der  Klein- 
bürger war  natürlich  nicht  zu  Hause ;  so  blieben 
nur  ich  und  Matrjoscha  in  der  Wohnung.  Die 
Fenster  standen  offen.  Im  Hause  wohnten  lau- 
ter Handwerker,  und  den  ganzen  Tag  hörte 
man  in  allen  Stockwerken  hämmern  und  sin- 
gen. Wir  waren  schon  eine  Stunde  zusammen. 
Matrjoscha  saß  in  ihrer  Kammer  auf  einem 
Schemel  mit  dem  Rücken  zu  mir  und  machte 
etwas  mit  einer  Nadel.  Plötzlich  fing  sie  leise 
zu  singen  an,  sehr  leise,  wie  sie  es  manchmal 
zu  tun  pflegte.  Ich  zog  die  Uhr  aus  der  Tasche, 
es  war  zwei.  Mein  Herz  fing  an  zu  klopfen. 23 
Ich  stand  auf  und  schlich  mich  an  sie  heran. 
Sie  hatten  auf  den  Fensterbrettern  viele  Gera- 
nientöpfe stehen,  und  die  Sonne  schien  schreck- 
lich grell  herein.  Ich  setzte  mich  leise  auf  den 
Boden  neben  sie.  Sie  fuhr  zusammen  und  er- 
schrak im  ersten  Augenblick  furchtbar  und 
sprang  auf.  Ich  nahm  ihre  Hand  und  küßte  sie 
leise ;  dann  zwang  ich  sie  wieder  auf  den  Sche- 
mel und  fing  an,  ihr  in  die  Augen  zu  schauen. 
Daß  ich  ilir  die  Hand  geküßt  hatte,  kam  ihr 

43 


als  einem  Kinde  plötzlich  komisch  vor,  aber  das 
dauerte  nur  eine  Sekunde,  denn  sie  sprang  gleich 
wieder  auf,  diesmal  so  sehr  erschrocken,  daß 
ihr  durchs  Gesicht  ein  Krampf  lief.  Sie  sah 
mich  mit  entsetzlich  unbeweglichen  Augen  an, 
ihre  Lippen  zuckten,  als  wollte  sie  weinen,  aber 
sie  schrie  dennoch  nicht  auf.  Ich  küßte  ihr  wie- 
der die  Hand  und  nahm  sie  auf  den  Schoß. ^^ 
Da  rückte  sie  plötzlich  mit  ganzem  Körper  weg 
und  lächelte  wie  vor  Scham,  es  war  aber  ein 
eigentümliches  schiefes  Lächeln.  Ihr  ganzes  Ge- 
sicht glühte  vor  Scham.  Ich  flüsterte  ihr  im- 
mer etwas  zu,  wie  betrunken.  Schließlich  ge- 
schah etwas  so  Seltsames,  was  ich  niemals  ver- 
gessen werde,  und  was  mich  in  Erstaunen  setzte : 
die  Kleine  umschlang  meinen  Hals  mit  den  Ar- 
men und  fing  plötzlich  selbst  an,  mich  wahn- 
sinnig abzuküssen.  Ihr  Gesicht  drückte  voll- 
kommenes Entzücken  aus.  Ich  war  nahe  daran, 
aufzustehen  und  wegzugehen,  -  so  unangenehm 
war  es  mir  an  dem  kleinen  Geschöpf,  aus  Mit- 
leid, das  ich  plötzlich  spürte. ^^ 

Als  alles  zu  Ende  war,  wurde  sie  verlegen.  Ich 
versuchte  gar  nicht,  ihr  etwas  auszureden,  und 
liebkoste  sie  nicht  mehr.  Sie  sah  mich  an  und 
lächelte  scheu.  Ihr  Gesicht  kam  mir  auf  einmal 
dumm  vor.  Schließlich  bedeckte  sie  das  Gesicht 

44 


mit  den  Händen  und  stellte  sich  unbeweglich  in 
die  Ecke,  mit  dem  Gesicht  zur  Wand.  Ich  fürch- 
tete, sie  würde  wieder  wie  vorhin  erschrecken, 
und  ging  schweigend  aus  dem  Hause. 

Ich  glaube,  sie  hat  das  Vorgefallene  zuletzt 
mitTodesgrauen,  als  etwas  grenzenlos  Häßliches 
aufgenommen.  Trotz  der  russischen  unflätigen 
Schimpf  Worte  und  aller  sonderbaren  Gespräche 
die  sie  von  denWindeln  an  gehört  haben  mußte, 
bin  ich  vollkommen  davon  überzeugt,  daß  sie 
nichts  davon  verstand.  Zuletzt  hatte  sie  sicher 
den  Eindruck,  ein  ungeheures  Verbrechen  be- 
gangen zu  haben,  an  dem  sie  die  Todsünde 
trüge,  als  hätte  sie  ,,Gott  ermordet". 

In  der  folgenden  Nacht  hatte  ich  die  Prügelei 
in  der  Kneipe,  die  ich  schon  flüchtig  erwähnt 
habe.  Aber  ich  erwachte  am  nächsten  Morgen  in 
meiner  Pension;  Lebjadkin  hatte  mich  heimge- 
bracht. Mein  erster  Gedanke  nach  dem  Erwa- 
chen war:  ob  sie  es  gesagt  hatte  oder  nicht ^  Es 
war  der  Augenblick  einer  wirklichen  Angst, 
wenn  auch  keiner  allzu  großen.  Ich  war  sehr 
heiter  an  jenem  Morgen  und  ungewöhnlich  gut 
gegen  alle,  und  die  ganze  Kumpanei  war  mit 
mir  sehr  zufrieden.  Ich  verließ  sie  aber  und 
ging  in  die  Gorochowaja.  Ich  traf  sie  schon  un- 
ten im  Flur.  Sie  kam  eben  aus  dem  Laden,  wo- 

/»5 


hin  man  sie  nach  Cichorie  geschickt  hatte.  Als 
sie  mich  erblickte,  schoß  sie  in  unsagbarer  Angst 
die  Treppe  hinauf.  Als  ich  eintrat,  hatte  ihr  die 
Mutter  bereits  eine  Ohrfeige  gegeben,  weil  sie 
,,wie  verrückt**  in  die  Wohnung  gestürzt  sei, 
und  das  verdeckte  die  wahre  Ursache  ihres 
Schreckens.  Also  war  vorläufig  alles  ruhig.  Sie 
hatte  sich  irgendwohin  verkrochen  und  kam, 
während  ich  in  der  Wohnung  war,  nicht  zum 
Vorschein.  Ich  blieb  eine  Stunde  da  und  ging. 
Gegen  Abend  fühlte  ich  wieder  Angst,  aber 
schon  unvergleichlich  stärker.  Natürlich  hätte 
ich  alles  leugnen  können,  aber  man  könnte  mir 
das  Verbrechen  dennoch  nachweisen,  und  mir 
schwebte  schon  das  Zuchthaus  in  Sibirien  vor. 
Ich  habe  in  meinem  ganzen  Leben,  außer  die- 
sem einen  Fall,  weder  vorher  noch  nachher 
Angst  gehabt.  Am  allerwenigsten  vor  Sibirien, 
obwohl  ich  schon  mehr  als  einmal  verschickt 
werden  konnte.  Diesmal  war  ich  aber  wirklich 
erschrocken  und  empfand  eine  wirkliche  Angst, 
ich  weiß  selbst  nicht  warum,  zum  erstenmal  in 
meinem  Leben,  ein  sehr  qualvolles  Gefühl. 
Außerdem  überkam  mich  am  Abend  in  meiner 
Pension  ein  solcher  Haß  gegen  sie,  daß  ich  mich 
entschloß,  sie  zu  töten.  Mein  Haß  beruhte  vor 
allen  Dingen  auf  der  Erinnerung  an  ihr  Lächeln. 

46 


In  mir  wuchs  eine  Verachtung,  verbunden  mit 
einem  grenzenlosen  Abscheu,  bei  der  Erinne- 
rung daran,  wie  sie  sich  nach  demVorgef allenen 
in  die  Ecke  gestürzt  und  das  Gesicht  mit  den 
Händen  bedeckt  hatte ;  meiner  bemächtigte  sich 
eine  unbeschreibUche  Wut,  darauf  folgte  ein 
Schüttelfrost,  und  als  ich  gegen  Morgen  Fieber 
bekam,  fühlte  ich  wieder  Angst,  diesmal  mit 
einer  solchen  Qual,  wie  ich  sie  vorher  nie  ge- 
kannt habe.  Ich  haßte  aber  nicht  mehr  das  Mäd- 
chen, jedenfalls  erreichte  der  Haß  nicht  mehr 
den  Paroxjsmus  wie  am  Abend.  Ich  habe  be- 
merkt, daß  eine  große  Angst  den  Haß  und 
Rachedurst  vollkommen  vertreibt. 

Ich  erwachte  gegen  Mittag,  gesund,  und  wun- 
derte mich  sogar  über  die  Kraft  meiner  gestri- 
gen Eindrücke.  Ich  war  jedoch  schlechter  Laune 
und  mußte,  trotz  meines  Absehens,  wieder  in 
die  Gorochowaja  gehen.  Ich  erinnere  mich  noch, 
daß  ich  damals  ein  großes  Verlangen  spürte, 
unterwegs  einen  Streit  mit  irgendjemand  zu 
haben,  aber  nur  einen  ernsthaften.  Als  ich  in 
die  Gorochowaja  kam,  traf  ich  in  meinem 
Zimmer  Nina  Ssaweljewna  an,  das  Dienst- 
mädchen, das  schon  seit  etwa  einer  Stunde 
auf  mich  wartete.  Dieses  Mädchen  liebte 
ich    gar     nicht,     und     sie    hatte    darum     ein 

47 


wenig  gefürchtet,  daß  ich  ihr  wegen  des  uner- 
warteten Besuches  zürnen  würde.  Aber  ich  freute 
mich  plötzHch,  sie  bei  mir  zu  sehen.  Sie  war 
gar  nicht  übel,  aber  bescheiden  und  hatte  Ma- 
nieren, wie  sie  den  Kleinbürgern  gefallen,  so 
daß  meine  Wirtin  sie  mir  schon  seit  langem 
lobte.  Ich  traf  sie  beide  beim  Kaffeetrinken  an, 
meine  Wirtin  war  mit  der  angenehmen  Unter- 
haltung außerordentlich  zufrieden.  In  der 
Ecke  ihrer  Kammer  bemerkte  ich  Matrjoscha. 
Sie  stand  da  und  sah  ihre  Mutter  und  den  Be- 
such regungslos  an.  Als  ich  eintrat,  versteckte 
sie  sich  nicht  mehr  wie  damals  und  lief  auch 
nicht  davon.  Mir  schien  bloß,  daß  sie  sehr  ab- 
gemagert sei  und  Fieber  habe.  Ich  war  freund- 
lich zu  Nina  und  schloß  die  Tür  zu  der  Wirtin, 
was  ich  schon  lange  nicht  getan  hatte,  so  daß 
Nina  sehr  erfreut  wegging.  Ich  begleitete  sie 
selbst  hinaus  und  kam  dann  zwei  Tage  nicht 
mehr  in  die  Gorochowaja.  Es  langweilte  mich 
schon.  Ich  hatte  mich  entschlossen,  allem  ein 
Ende  zu  machen,  die  Wohnung  zu  kündigen 
und  Petersburg  zu  verlassen. ^e 

Als  ich  aber  kam,  um  die  Wohnung  zu  kün- 
digen, traf  ich  die  Wirtin  in  Unruhe  und  Kum- 
mer an:  Matrjoscha  war  schon  den  dritten  Tag 
krank,  hatte  jede  Nacht  Fieber  und  phantasierte. 

48 


Natürlich  fragte  ich,  worüber  sie  phantasiere 
(wir  sprachen  ganz  leise  in  meinem  Zimmer), 
unddieWirtin  flüsterte  mir  zii,esseien,,schreck- 
■  liehe  Dinge":  ,,sie  hätte  Gott  ermordet".  Ich 
schlug  ihr  vor,  auf  meine  Kosten  einen  Arzt  zu 
holen,  aber  sie  wollte  es  nicht:  ,,So  Gott  will, 
wird  es  auch  so  vorübergehen;  sie  liegt  ja  auch 
nicht  immer  zu  Bett,  am  Tage  geht  sie  aus  und 
ist  sogar  vorhin  unten  im  Laden  gewesen".  Ich 
entschloß  mich,  Matrjoscha  allein  anzutreffen, 
und  da  mir  die  Wirtin  verraten  hatte,  daß  sie 
gegen  fünf  Uhr  auf  der  Petersburger  Seite  zu 
tun  habe,  nahm  ich  mir  vor,  am  Abend  wie- 
derzukommen. 

Ich  aß  in  einem  Gasthause  zu  Mittag.  Punkt 
fünf  und  ein  Viertel  kam  ich  wieder.  Ich  pflegte 
die  Wohnung  immer  mit  meinem  eigenen 
Schlüssel  zu  öffnen.  Außer  Matrjoscha  war  nie- 
mand da.  Sie  lag  in  der  Kammer  hinter  der 
spanischen  Wand,  und  ich  sah,  wie  sie  heraus- 
blickte; aber  ich  tat  so,  als  merkte  ich  es  nicht. 
Alle  Fenster  standen  offen.  Die  Luft  war  warm, 
es  war  sogar  heiß.  Ich  ging  eine  Weile  auf  und  ab 
und  setztemich  dann  aufsSofa.Ich  erinneremich 
noch  an  alles  bis  zum  letzten  Augenblick.  Es 
verschaffte  mir  einen  ausgesprochenen  Genuß, 
Matrjoscha  nicht  anzusprechen,  sondern  sie  ver- 

^'  49 


schmachten  zu  lassen ;  ich  weiß  selbst  nicht,  war- 
um. Ich  wartete  eine  ganze  Stunde,  und  plötz- 
lich sprang  sie  selbst  hinter  der  spanischen 
Wand  heraus.  Ich  hörte,  wie  ihre  beiden  Soh- 
len auf  den  Boden  stießen,  als  sie  aus  dem  Bette 
sprang,  dann  recht  schnelle  Schritte,  und  da 
stand  sie  schon  an  der  Schwelle  meines  Zim- 
mers. Sie  stand  da  und  sah  mich  schweigend 
an.  Ich  war  so  gemein,  daß  mein  Herz  vor 
Freude  darüber  erzitterte,  daß  ich  mich  be- 
herrscht und  abgewartet  hatte,  daß  sie  den  ersten 
Schritt  mache.  In  diesen  Tagen,  als  ich  sie  seit 
damals  kein  einziges  Mal  in  der  Nähe  gesehen 
hatte,  war  sie  wirklich  entsetzlich  abgemagert. 
Ihr  Gesicht  war  wie  ausgetrocknet,  und  der 
Kopf  sicher  heiß. 

Die  Augen  waren  groß  geworden  und  sahen 
mich  unverwandt  an,  mit  einer  stumpfen  Neu- 
gier, wie  es  mir  anfangs  vorkam.  Ich  saß  da, 
sah  sie  an  und  rührte  mich  nicht.  Da  spürte  ich 
wieder  Haß.  Aber  ich  merkte  sehr  bald,  daß 
sie  mich  gar  nicht  fürchtete,  höchstwahrschein- 
lich war  es  das  Fieber.  Aber  es  war  auch  kein 
Fieber.  Sie  fing  plötzlich  an,  mir  sehr  schnell 
mit  dem  Kopfe  zuzunicken,  wie  es  naive  Men- 
schen ohne  Manieren  zu  tun  pflegen,  wenn  sie 
jemand  etwas  vorwerfen;  plötzlich  erhob  sie 

5o 


gegen  mich  ihre  kleine  Faust  und  begann  mir, 
ohne  näher  zu  kommen,  zu  drohen.  Im  ersten 
Augenbhck  erschien  mir  diese  Bewegung  ko- 
misch, aber  dann  konnte  ich  sie  nicht  ertragen. ^^ 
Ihr  Gesicht  drückte  solche  Verzweiflung  aus, 
wie  man  sie  im  Gesicht  eines  Kindes  unmöglich 
sehen  kann.  Sie  schwang  immer  ihre  kleine 
Faust  drohend  gegen  mich  und  nickte  vorwurfs- 
voll mit  dem  Kopf.  Ich  stand  auf,  rückte  er- 
schrocken zu  ihr  heran  und  begann  vorsichtig, 
freundlich  und  nicht  allzu  laut  zu  sprechen, 
merkte  aber,  daß  sie  mich  nicht  verstehen  würde. 
Dann  bedeckte  sie  plötzlich  das  Gesicht  genau 
wie  damals  schnell  mit  beiden  Händen,  ging 
weg  und  stellte  sich  ans  Fenster  mit  dem  Rücken 
zu  mir.  Ich  kehrte  in  mein  Zimmer  zurück  und 
setzte  mich  ebenfalls  ans  Fenster.  Ich  kann  un- 
möglich begreifen,  warum  ich  damals  nicht 
weggegangen  sondern  geblieben  bin,  als  war- 
tete ich  auf  etwas.  Bald  hörte  ich  wieder  ihre 
schnellen  Schritte:  sie  trat  durch  die  Tür  auf 
die  hölzerne  Galerie,  von  der  die  Treppe  hin- 
unterführte, ich  aber  lief  sofort  zu  meiner  Türe, 
machte  sie  etwas  auf  und  konnte  noch  sehen, 
wie  Matrjoscha  in  die  winzige  Kammer  ging, 
die  an  einen  Hühnerstall  erinnerte  und  sich 
neben  einem  anderen  Ort  befand.   Ein  inter- 

h*  5i 


essanter  Gedanke  ging  mir  plötzlich  durch  den 
Sinn.  Ich  kann  auch  heute  nicht  begreifen,  war- 
um er  mir  zuerst  in  den  Sinn  kam;  folglich 
ging  alles  darauf  hinaus.  Ich  schloß  die  Türe 
und  setzte  mich  wieder  ans  Fenster.  Natürlich 
durfte  ich  dem  Gedanken,  der  mich  durchzuckte, 
noch  nicht  glauben;  ,,aber  immerhin"  .  .  .  (ich 
erinnere  mich  an  alles,  mein  Herz  klopfte  sehr 
stark) . 

Nach  einer  Minute  sah  ich  auf  die  Uhr  und 
merkte  mir  so  genau  wie  möglich  die  Zeit.  Wo- 
zu ich  diese  Genauigkeit  brauchte,  weiß  ich 
nicht,  aber  ich  hatte  die  Kraft,  es  zu  tun  und 
wollte  mir  in  jenem  Augenblick  überhaupt  alles 
merken.  So  erinnere  ich  mich  an  alles,  was  ich 
mir  gemerkt  hatte,  und  sehe  es  deutlich  vor 
Augen.  Der  Abend  rückte  heran.  Über  mir 
summte  eine  Fliege,  die  sich  mir  immer  wieder 
aufs  Gesicht  setzte.  Ich  fing  sie  ein,  hielt  sie 
eine  Weile  in  den  Fingern  und  ließ  sie  dann 
zum  Fenster  hinaus.  Unten  fuhr  geräuschvoll 
ein  Wagen  in  den  Hof.  Sehr  laut  (und  zwar 
schon  seit  langem)  sang  ein  Handwerker,  ein 
Schneider,  im  Fenster  in  einem  Winkel  des 
Hofes  sein  Lied.  Er  saß  bei  der  Arbeit,  und  ich 
konnte  ihn  sehen.  Es  fiel  mir  ein,  daß,  da  mich 
niemand  gesehen  hatte,  als  ich  ins  Tor  einge- 

52 


treten  und  die  Treppe  hinaufgegangen  war,  - 
es  natürlich  auch  gar  nicht  nötig  sei,  daß  mir 
jemand  begegne,  wenn  ich  hinuntergehn  würde ; 
so  rückte  ich  meinen  Stuhl  vorsichtig  vom  Fen- 
ster weg,  damit  mich  die  Hausbewohner  nicht 
sähen.  Ich  griff  nach  einem  Buch,  legte  es  aber 
weg  und  fing  an,  eine  winzige  rote  Spinne  auf 
einem  Geranienblatt  zu  beobachten ;  darin  fand 
ich  Vergessen.  Ich  erinnere  mich  an  alles  bis 
zum  letzten  Augenblick. 

Plötzlich  zog  ich  wieder  die  Uhr  aus  der 
Tasche.  Es  waren  genau  zwanzig  Minuten  ver- 
gangen, seitdem  sie  das  Zimmer  verlassen  hatte. 
Meine  Hypothese  erschien  immer  wahrschein- 
licher. Aber  ich  entschloß  mich,  noch  genau 
eine  Viertelstunde  zu  warten.  Mir  kam  auch 
der  Gedanke,  daß  sie  schon  zurückgekehrt  sei, 
und  ich  es  vielleicht  überhört  habe;  aber  es 
konnte  nicht  sein :  es  herrschte  eine  Grabesstille, 
und  ich  konnte  das  Summen  jeder  Fliege  hören. 
Plötzlich  klopfte  mir  wieder  das  Herz.  Ich  zog 
die  Uhr :  es  fehlten  noch  drei  Minuten ;  ich  war- 
tete sie  ab,  obwohl  mein  Herz  so  klopfte,  daß 
es  weh  tat.  Da  erhob  ich  mich,  setzte  den  Hut 
auf,  knöpfte  den  Mantel  zu  und  sah  mich  im 
Zimmer  um,  ob  nicht  irgendwelche  Spuren  mei- 
ner Anwesenheit  geblieben  seien.  Ich  stellte  den 

53 


Stuhl  näher  ans  Fenster,  wie  er  früher  gestan- 
den hatte.  SchHeßlich  öffnete  ich  leise  die  Tür, 
schloß  sie  mit  meinem  Schlüssel  ab  und  ging 
zu  der  Kammer.  Die  Tür  war  angelehnt,  aber 
nicht  geschlossen ;  ich  wußte,  daß  sie  sich  gar 
nicht  absperren  ließ,  wollte  aber  nicht  öffnen, 
sondern  stellte  mich  nur  auf  die  Fußspitzen 
und  blickte  durch  eine  Ritze  hinein.  In  dem 
Augenblick,  als  ich  mich  auf  die  Fußspitzen 
stellte,  erinnerte  ich  mich,  daß  ich,  als  ich  am 
Fenster  gesessen  und  die  kleine  rote  Spinne  be- 
obachtet, schon  daran  gedacht  hatte,  wie  ich 
mich  auf  die  Fußspitzen  stellen  und  mein  Auge 
an  die  Ritze  drücken  werde.  Indem  ich  hier 
dieses  kleine  Detail  eintrage,  will  ich  unbedingt 
beweisen,  bis  zu  welchem  Grade  ich  meiner  gei- 
stigen Fähigkeiten  mächtig  war,  und  daß  ich 
alles  verantworte.  Ich  sah  lange  durch  die  Ritze, 
denn  es  war  darin  sehr  dunkel,  aber  doch  nicht 
ganz  dunkel,  so  daß  ich  schließlich  das  sah,  was 
ich  wollte  ... 

Endlich  entschloß  ich  mich  fortzugehen.  Auf 
der  Treppe  traf  ich  niemand.  Nach  etwa  drei 
Stunden  saßen  wir  alle  beisammen  ohne  Röcke 
in  der  Pension,  tranken  Tee  und  spielten  mit 
alten  Karten;  Lebjadkin  las  Verse  vor.  Man  er- 
zählte sehr  viel,  zufällig  waren  es  lauter  gelun- 

54 


gene  und  komische  Erzählungen,  und  nicht  so 
dumme  wie  immer.  Auch  Kirillow  war  damals 
da.  Niemand  trank,  obwohl  eine  Flasche  Rum 
auf  dem  Tische  stand;  nur  Lebjadkin  allein 
machte  von  ihr  Gebrauch. 

Prochor  Malow  bemerkte,  daß  ,,wenn  Niko- 
lai Wsewolodowitsch  zufrieden  sei  und  keine 
Grillen  fange,  auch  alle  andern  lustig  seien  und 
klug  sprechen".  Ich  merkte  mir  dies  schon  da- 
mals, folglich  war  ich  damals  lustig,  zufrieden 
und  fing  keine  Grillen.  Das  war  aber  nur 
äußerlich  so.  Aber  ich  erinnere  mich,  gewußt  zu 
haben,  daß  ich  ein  niedriger  und  gemeiner  Feig- 
ling bin,  weil  ich  mich  so  über  meine  Befreiung 
freute,  und  niemals  mehr  edel  sein  werde. 

Aber  schon  gegen  elf  kam  die  Kleine  des 
Hausknechtes  aus  der  Gorochowaja  zu  mir  mit 
der  Nachricht  von  der  Wirtin  gelaufen,  daß  Ma- 
trjoscha  sich  erhängt  habe.  Ich  ging  mit  der 
Kleinen  mit  und  sah,  daß  die  Wirtin  selbst 
nicht  wußte,  weshalb  sie  nach  mir  geschickt 
hatte.  Sie  schrie  und  warf  sich  hin  und  her,  es 
war  eine  Menge  Leute  da,  auch  die  Polizei.  Ich 
blieb  eine  Weile  und  ging  dann  weg. 

Man  belästigte  mich  während  der  ganzen  Zeit 
fast  gar  nicht  und  stellte  an  mich  nur  die  not- 
wendigsten Fragen.  Aber  außer  dem,  daß  das 

55 


Kind  krank  gewesen  sei  und  phantasiert  habe, 
so  daß  ich  vorgeschlafen  hätte,  auf  meine  Ko- 
sten einen  Arzt  zu  holen,  sagte  ich  nichts  aus. 
Man  fragte  auch  etwas  wegen  des  Federmessers; 
ich  sagte,  die  Wirtin  hätte  sie  deswegen  mit  Ru- 
ten gezüchtigt,  aber  das  habe  nichts  auf  sich. 
Daß  ich  am  Abend  dagewesen  war,  wußte  nie- 
mand.^s 

Acht  Tage  lang  ging  ich  nicht  hin.  Ich  kam 
wieder,  als  man  sie  schon  längst  beerdigt  hatte, 
um  die  Wohnung  zu  kündigen.  Die  Wirtin 
weinte  noch  immer,  machte  sich  aber  schon  wie- 
der wie  früher  mit  ihren  Lumpen  und  der  Näh- 
arbeit zu  schaffen.  ,,lch  habe  sie  damals  wegen 
Ihres  Messers  so  gekränkt",  sagte  sie  mir,  aber 
ohne  großen  Vorwurf.  Ich  rechnete  mit  ihr  ab, 
unter  dem  Yorwande,  daß  ich  doch  in  dieser 
Wohnung  nicht  länger  bleiben  könne,  um  Nina 
Ssaweljewna  zu  empfangen.  Zum  Abschied 
lobte  sie  die  Nina  Ssaweljewna  noch  einmal. 
Ich  schenkte  ihr  fünf  Rubel  außer  dem,  was  ich 
für  die  Wohnung  schuldete. 

Vor  allen  Dingen  langweilte  mich  das  Leben 
zum  Verrücktwerden.  Den  Vorfall  in  der  Goro- 
chowaja  hätte  ich,  nachdem  die  Gefahr  vorüber 
war,  gänzlich  vergessen,  ebenso  wie  alle  ande- 
ren Erlebnisse  jener  Zeit,  wenn  ich  mich  nicht 

56 


nach  einiger  Zeit  mit  Wut  daran  erinnerte,  wie 
feige  ich  damals  war. 

Ich  Heß  meine  Wut  an  jedem  aus,  an  dem  ich 
nur  konnte.  Um  jene  Zeit  kam  mir,  aber  nicht 
aus  irgendeinem  bestimmten  Grunde,  der  Ge- 
danke, mein  Leben  irgendwie  zu  verunstalten, 
und  zwar  möglichst  abscheulich.  Schon  vor 
einem  Jahre  hatte  ich  mich  einmal  erschießen 
wollen;  nun  bot  sich  mir  etwas  Besseres. 

Als  mein  Blick  einmal  auf  die  lahme  Mar  ja 
Timofejewna  Lebjadkina  fiel,  die  uns  in  un- 
seren Zimmern  manchmal  bediente,  und  die 
damals  noch  nicht  verrückt,  sondern  bloß  eine 
begeisterte  Idiotin  war,  heimlich  in  mich  ver- 
liebt (wie  es  die  unsrigen  ausgekundschaftet 
hatten),  faßte  ich  den  plötzlichen  Entschluß, 
sie  zu  heiraten.  Der  Gedanke  an  die  Verheira- 
tung Stawrogins  mit  diesem  letzten  aller 
Geschöpfe  reizte  meine  Nerven.  Etwas  Häß- 
licheres war  gar  nicht  auszudenken. 29  Jedenfalls 
heiratete  ich  sie  nicht  nur  wegen  einer  W'ette 
nach  einem  Trinkgelage.  Der  Trauung  wohn- 
ten Kirillow  und  Pjotr  Werchowenskij  bei,  der 
zufällig  in  Petersburg  war;  dann  auch  Lebjad- 
kin  selbst  und  Prochor  Malow  (jetzt  ist  er  tot). 
Sonst  erfuhr  niemand  etwas  davon,  diese  ga- 
ben mir  aber  das  Wort  zu  schweigen.  Dieses 

57 


Schweigen  kam  mir  immer  als  eine  Gemeinheit 
vor,  aber  es  ist  bis  heute  noch  nicht  verletzt, 
obwohl  ich  die  Möglichkeit  hatte,  es  publik  zu 
machen;  jetzt  gebe  ich  es  mit  allem  anderen 
bekannt. 

Nach  der  Trauung  fuhr  ich  in  die  Provinz  zu 
meiner  Mutter.  Ich  fuhr  zur  Zerstreuung. ^o  In 
unserer  Stadt  ließ  ich  den  Eindruck  zurück, 
daß  ich  verrückt  sei,  einen  Eindruck,  der  auch 
heute  noch  besteht  und  mir  zweifellos  schadet, 
was  ich  weiter  erklären  werde.  Dann  fuhr  ich 
ins  Ausland  und  blieb  dort  vier  Jahre. 

Ich  war  im  Orient,  auf  dem  Berge  Athos, 
wo  ich  Abendgottesdiensten  von  acht  Stunden 
Dauer  stehend  beiwohnte,  in  Ägypten,  hielt 
mich  in  der  Schweiz  auf,  war  sogar  auf  Island, 
und  absolvierte  ein  ganzes  Jahr  in  Göttingen. 
Im  letzten  Jahr  befreundete  ich  mich  mit  einer 
vornehmen  russischen  Familie  in  Paris  und  mit 
zwei  russischen  jungen  Mädchen  in  der  Schweiz. 
Vor  zwei  Jahren  ging  ich  einmal  in  Frankfurt 
an  einer  Schreibwarenhandlung  vorbei  und  sah 
zwischen  den  zum  Verkauf  ausgestellten  Photo- 
graphien das  Bild  eines  hübschgekleideten  klei- 
nen Mädchens,  das  aber  große  Ähnlichkeit  mit 
Matrjoscha  hatte.  Ich  kaufte  mir  sofort  das 
Bild  und  legte  es,  ins  Hotel  zurückgekehrt,  auf 

58 


den  Kaminsinis.  Hier  blieb  es  an  die  acht  Tage 
unberührt  Hegen,  ich  sah  es  kein  einziges  Mal 
an,  und  als  ich  Frankfurt  verließ,  vergaß  ich 
es  mitzunehmen. 

Ich  trage  dies  ein,  um  zu  zeigen,  in  welchem 
Maße  ich  die  Erinnerungen  in  meiner  Gewalt 
hatte,  und  wie  gefühllos  ich  gegen  sie  geworden 
war.  Ich  wies  sie  alle  als  ganze  Masse  zurück, 
und  die  ganze  Masse  verschwand  gehorsam,  so- 
bald ich  es  nur  wollte.  Es  war  mir  immer  lang- 
weilig, an  das  Vergangene  zu  denken,  und  ich 
konnte  auch  niemals  vom  Vergangenen  spre- 
chen, wie  es  fast  alle  Menschen  tun,  umsomehr 
als  es  mir,  wie  alles,  was  mit  mir  zusammen- 
hing, verhaßt  war.  Was  aber  Matrjoscha  be- 
trifft, so  habe  ich  sogar  ihr  Bild  auf  dem  Ka- 
minsims vergessen.  Als  ich  im  vorigen  Jahre, 
im  Frühling  durch  Deutschland  reiste,  ver- 
paßte ich  aus  Zerstreutheit  eine  Station,  auf  der 
ich  umsteigen  mußte,  um  mein  Reiseziel  zu  er- 
reichen, und  kam  so  auf  eine  andere  Strecke. 
Man  setzte  mich  auf  der  folgenden  Station  aus 
dem  Zuge ;  es  war  die  dritte  Nachmittagsstunde, 
der  Tag  war  heiter.  Es  war  ein  kleines  deutsches 
Städtchen.  Man  zeigte  mir  einen  Gasthof.  Ich 
mußte  warten.  Der  nächste  Zug  ging  erst  um 
elf  Uhr  abends.  Ich  freute  mich  sogar  über  das 

59 


Abenteuer,  denn  ich  hatte  keine  Eile.  Der  Gast- 
hof war  klein  und  schlecht,  lag  aber  ganz  im 
Grünen  und  von  Blumenbeeten  umgeben.  Ich 
bekam  ein  enges  Zimmerchen.  Ich  aß  gut  zu 
Mittag  und  schlief,  da  ich  die  ganze  Nacht  un- 
terwegs gewesen  war,  um  vier  Uhr  nachmittags 
prachtvoll  ein. 

Ich  hatte  einen  für  mich  durchaus  unerwar- 
teten Traum,  dergleichen  hatte  ich  noch  nie  ge- 
träumt. In  der  Dresdner  Galerie  hängt  ein  Bild 
A-^on  Claude  Lorrain,  das  nach  dem  Katalog, 
glaube  ich,  ,,Acis  und  Galatea"  heißt;  ich 
pflegte  es  aber,  ich  weiß  selbst  nicht  warum, 
,, Goldenes  Zeitalter"  zu  nennen.  Ich  hatte  es 
auch  schon  früher  gesehen  und  es  mir  vor  drei 
Tagen,  als  ich  durch  Dresden  kam,  wieder  ge- 
merkt. Ich  war  sogar  eigens  zu  diesem  Zweck 
in  die  Galerie  gegangen,  um  es  zu  sehen;  viel- 
leicht hatte  ich  auch  nur  wegen  dieses  Bildes 
den  Abstecher  nach  Dresden  gemacht.  Dieses 
Bild  sah  ich  nun  im  Traume,  aber  nicht  als  ein 
Gemälde,  sondern  als  Wirklichkeit. 

Es  war  ein  Winkel  des  Griechischen  Ar- 
chipel; freundliche,  blaue  Wellen,  Inseln  und 
Felsen,  ein  blühender  Strand,  ein  zauberhaf- 
tes Panorama  in  der  Ferne,  eine  untergehende, 
lockende  Sonne  -  mit  Worten  kann  man  es  gar 

60 


nicht  wiedergeben.  Hier  hatte  sich  die  Mensch- 
heit ihre  Wiege  gedacht,  hierher  versetzte  sie 
die  ersten  Szenen  der  Mythologie,  hier  war  ihr 
irdisches  Paradies  . . .  Hier  lebten  herrliche  Men- 
schen. Beim  Erwachen  und  Einschlafen  waren 
sie  gleich  glücklich  und  unschuldig;  die  Ge- 
hölze widerhallten  von  ihren  freudigen  Liedern, 
der  große  Überfluß  unverbrauchter  Kräfte  wan- 
delte sich  in  Liebe  und  einfältige  Freude.  Die 
Sonne  übergoß  mit  ihren  Strahlen  diese  Inseln 
und  das  Meer  und  freute  sich  ihrer  schönen 
Kinder.  Ein  herrlicher  Traum,  eine  erhabene 
Täuschung !  Ein  Traum,  unwahrscheinlicher  als 
alle,  die  die  Menschheit  je  gehabt,  dem  sie  aber 
ihr  ganzes  Leben  lang  alle  ihre  Kräfte  hingab, 
dem  sie  alles  opferte,  dem  zuliebe  ihre  Prophe- 
ten an  Kreuzen  starben  und  getötet  wurden, 
ohne  den  die  Völker  nicht  leben  wollen  werden 
und  selbst  nicht  sterben  können.  Diese  ganze 
Empfindung  durchkostete  ich  gleichsam  in  die- 
sem Traume ;  ich  weiß  nicht  genau,  was  ich  alles 
träumte,  aber  die  Felsen  und  das  Meer  und  die 
schrägen  Strahlen  der  untergehenden  Sonne 
glaubte  ich  auch  dann  noch  zu  sehen,  als  ich  er- 
wachte und  die  Augen  öffnete,  die  zum  ersten 
Male  in  meinem  Leben  voller  Tränen  waren. 
Das  Gefühl  einer  mir  noch  unbekannten  Freude 

6i 


durchdrang  mein  Herz  so,  daß  es  sogar  weh  tat. 
Es  war  schon  Abend ;  ins  Fenster  meines  kleinen 
Zimmers  drang  durch  das  Grün  der  auf  dem 
Fensterbrett  stehenden  Blumenstöcke  eine  ganze 
Garbe  greller,  schräger  Strahlen  der  untergehen- 
den Sonne,  die  mich  mit  ihrem  Lichte  überflu- 
tete. Ich  beeilte  mich,  die  Augen  wieder  zu 
schließen,  als  wollte  ich  den  entschwundenen 
Traum  zurückrufen,  aber  inmitten  des  unsag- 
bar grellen  Lichtes  sah  ich  plötzlich  einen  win- 
zigen Punkt.  Dieser  Punkt  fing  plötzlich  an, 
Gestalt  anzunehmen,  und  plötzlich  sah  ich  vor 
mir  eine  winzige  rote  Spinne.  Ich  erinnerte 
mich  ihrer  sofort,  wie  sie  auf  demGeraniumblatt 
gesessen,  als  die  Strahlen  der  untergehenden 
Sonne  ebenso  hereinfluteten.  Etwas  bohrte  sich 
in  mich,  ich  erhob  mich  und  setzte  mich  aufs 
Bett .  .  . 

(Das  ist  alles,  wie  es  damals  geschah!) 
Ich  sah  vor  mir  -  (oh,  nicht  im  Wachen! 
wenn  es  doch  eine  wirkliche  Vision  gewesen 
wäre!)  -  ich  sah  Matrjoscha,  abgemagert,  mit 
fiebernden  Augen,  genau  so  wie  damals,  als  sie 
bei  mir  auf  der  Schwelle  stand,  mir  zunickte 
und  ihr  kleines  Fäustchen  gegen  mich  erhob. 
Mir  ist  noch  nichts  so  qualvoll  erschienen!  Die 
elende  Verzweiflung  eines  hilflosen  si  Geschöpfs 

62 


mit  noch  unfertigem  Verstand,  das  mir  drohte 
(womit?  was  hätte  es  mir  tun  können?  -  mein 
Gottl),  das  aber  natürhch  nur  sich  allein  an- 
klagte 1  Dergleichen  hatte  ich  noch  nie  erlebt. 
Ich  saß  bis  zum  späten  Abend  da,  ohne  mich  zu 
rühren  und  dachte  nicht  an  die  Zeit.  Ob  man 
das  Gewissensbisse  oder  Reue  nennt,  weiß  ich 
nicht  und  könnte  es  auch  jetzt  nicht  sagen. ^2 
Unerträglich  ist  mir  aber  nur  dieses  eine  Bild, 
wie  sie  an  der  Schwelle  mit  der  erhobenen  und 
drohenden  kleinen  Faust  gestanden  hatte,  nur 
ihr  damaliges  Aussehen,  nur  jener  Augenblick, 
nur  das  Nicken  mit  dem  Kopfe.  Das  ist  es,  was 
ich  nicht  ertragen  kann,  denn  es  erscheint  mir 
auch  jetzt  noch  jeden  Tag.  Es  erscheint  nicht 
von  selbst,  sondern  ich  rufe  es  selbst,  und  es 
ist  mir  unmöglich,  es  nicht  zu  rufen,  obwohl 
ich  damit  nicht  leben  kann.  Oh,  wenn  ich  sie 
doch  nur  einmal  im  Wachen  sehen  könnte,  und 
sei  es  auch  nur  in  einer  Halluzination  I^s 

Warum  erregt  keine  der  anderen  Erinnerun- 
gen meines  Lebens  in  mir  etwas  Ähnliches?  - 
ich  hatte  aber  ihrer  viele,  die  vor  dem  Gerichts- 
stuhle der  Menschen  noch  schlimmer  erscheinen 
mögen. 

Höchstens  den  Haß,  der  aber  von  meiner 
jetzigen  Lage  hervorgerufen  ist;  früher  konnte 

63 


ich  ihn  aber  kaltblütig  vergessen  und  von  mir 
weisen. 

Nachher  trieb  ich  mich  fast  ein  ganzes  Jahr 
herum  und  bemühte  mich,  eine  Beschäftigung 
zu  finden.  Ich  v^eiß,  daß  ich  Matrjoscha  auch 
jetzt  von  mir  weisen  könnte,  wenn  ich  es  wollte. 
Ich  bin  noch  immer  vollständig  Herr  meines 
Willens,  genau  wie  früher.  Das  ist  aber  die 
Sache,  daß  ich  es  niemals  habe  tun  wollen,  es 
selbst  nicht  will  und  auch  nicht  wollen  werde. 
So  wird  es  bleiben,  bis  ich  wahnsinnig  werde. 

Zwei  Monate  später,  in  der  Schweiz,  über- 
kam mich  wieder  solch  ein  Anfall  von  Leiden- 
schaft, wie  ich  sie  nur  einst,  in  der  ersten  Zeit, 
erfahren  hatte. 3*  Ich  fühlte  eine  schreckliche 
Versuchung  zu  einem  neuen  Verbrechen,  und 
zwar  zur  Bigamie  (denn  ich  bin  schon  verhei- 
ratet) ;  aber  ich  floh  davon  auf  Rat  eines  an- 
deren Mädchens,  dem  ich  alles  eröffnet  und  so- 
gar gestanden  hatte,  daß  ich  jene,  die  ich  so  be- 
gehrte, gar  nicht  liebte  und  auch  niemals  lieben 
können  würde.  -  Dieses  neue  Verbrechen  würde 
mich  außerdem  niemals  von  Matrjoscha  erlösen. 

So  entschloß  ich  mich  denn,  diese  Blätter 
drucken  zu  lassen  und  in  dreihundert  Exem- 
plaren nach  Rußland  einzuführen;  wenn  die 
Zeit  kommt,  schicke  ich  sie  der  Polizei  und  den 

64 


lokalen  Behörden;  gleichzeitig  schicke  ich  sie 
an  die  Redaktionen  aller  Zeitungen  mit  der  Bitte 
um  Veröffentlichung  und  an  die  vielen  Leute 
in  Petersburg  und  ganz  Rußland,  die  mich  ken- 
nen. Gleichzeitig  wird  es  im  Auslande  in  Über- 
setzung erscheinen.  Ich  weiß,  daß  man  mich 
juristisch  vielleicht  nicht  behelligen  wird,  je- 
denfalls nicht  fühlbar;  ich  klage  mich  selbst ^n 
und  habe  keinen  anderen  Ankläger,  außerdem 
gibt  es  gar  keine  oder  nur  sehr  wenige  Beweise. 
Schließlich  hat  sich  überall  die  Ansicht  festge- 
setzt, daß  ich  geistesgestört  sei,  und  meine  Ver- 
wandten werden  sich  das  zunutze  machen  und 
jede  für  mich  gefährliche  juristische  Verfol- 
gung im  Keime  ersticken.  Das  erkläre  ich  u.a., 
um  zu  zeigen,  daß  ich  jetzt  bei  vollem  Verstand 
bin  und  meine  Lage  wohl  begreife.  Mir  bleiben 
aber  diejenigen,  die  alles  wissen  werden;  sie 
werden  auf  mich  sehen,  und  ich  auf  sie.  Ich 
will,  daß  alle  auf  mich  sehen.  Ob  es  mich  er- 
leichtern wird,  weiß  ich  nicht.  Ich  greife  da- 
nach als  nach  dem  letzten  Mittel. 

Noch  einmal:  wenn  man  bei  der  Petersbur- 
ger Polizei  ordentlich  nachforschen  wollte,  so 
könnte  man  vielleicht  alles  finden.  Die  Klein- 
bürger können  auch  jetzt  noch  in  Petersburg 
leben.  Auf  das  Haus  wird  man  sich  natürlich 

5  65 


besinnen.  Es  war  von  hellblauer  Farbe.  Ich  aber 
werde  nirgends  verreisen  und  mich  einige  Zeit 
(ein  Jahr  oder  zwei)  ständig  in  Skworeschniki, 
dem  Gute  meiner  Mutter,  aufhalten.  Wenn  man 
mich  aber  ruft,  will  ich  überall  erscheinen. 

Nikolai  Stawrogin 


66 


NEUNTES  KAPITEL35 

Das  Lesen  dauerte  etwa  eine  Stunde.  Tichon 
las  langsam  und  überflog  vielleicht  einige  Stellen 
zweimal.  Stawrogin  saß  die  ganze  Zeit  schwei- 
gend und  unbeweglich.  Seltsam:  der  Ausdruck 
von  Ungeduld,  Zerstreutheit  und  einer  Art  Deli- 
rium, den  sein  Gesicht  diesen  ganzen  Morgen 
gezeigt  hatte,  war  fast  ganz  verschwunden  und 
hatte  denn  Ausdruck  von  Ruhe  und  einer  Art 
Aufrichtigkeit  Platz  gemacht,  was  ihm  ein  fast 
würdiges  Aussehen  verlieh. 3g  Tichon  nahm  die 
Brille  ab,  wartete  eine  Weile,  richtete  auf  ihn 
schließlich  seinen  Blick  und  begann  als  erster 
mit  einiger  \orsicht: 

,, Könnte  man  nicht  in  diesem  Dokument  eini- 
ges korrigieren?" 

„Wozu?  Ich  habe  es  aufrichtig  geschrieben", 
antwortete  Stawrogin. 

,,Ein  wenig  den  Stil ..." 

,,Ich  vergaß,  Sie  darauf  aufmerksam  zu  ma- 
chen", sagte  er  schnell  und  scharf,  sich  mit  dem 

5*  G7 


ganzen  Rumpf  vorbeugend,  ,,daß  alle  Ihre 
Worte  vergebens  sein  w^erden;  ich  w^erde  meine 
Absicht  nicht  aufgeben;  bemühen  Sie  sich 
nicht,  sie  mir  auszureden.  Ich  w^erde  es  ver- 
öffentlichen." 

„Sie  haben  nicht  versäumt,  mir  es  schon  vor- 
her, vor  dem  Lesen  zu  sagen." 

,,Gan7  gleich",  unterbrach  ihn  Stawrogin 
scharf,  ,,ich  wiederhole  noch  einmal:  wie  groß 
auch  die  Kraft  Ihrer  Einwände  sein  mag,  ich 
werde  meine  Absicht  nicht  aufgeben.  Merken 
Sie  sich  auch,  daß  ich  Sie  mit  dieser  ungeschick- 
ten oder  geschickten  Wendung  -  denken  Sie 
sich,  was  Sie  wollen  -  durchaus  nicht  provo- 
zieren will,  damit  Sie  schneller  mit  Ihren  Ein- 
wänden und  Bitten  kommen."" 

,,Ich  könnte  Ihnen  gar  nichts  einwenden  und 
noch  viel  weniger  Sie  bitten,  daß  Sie  Ihre  Ab- 
sichten aufgeben.  Diese  Idee  ist  groß,  und  der 
christliche  Gedanke  kann  gar  nicht  vollständi- 
ger zum  Ausdruck  kommen.  Die  Reue  kann 
gar  nicht  weiter  als  zu  der  wunderbaren  Tat, 
die  Sie  planen,  gehen,  wenn  es  nur  ..." 

,,Wenn  was?" 

,,Wenn  es  nur  wirklich  Reue  und  ein  christ- 
licher Gedanke  wäre." 

,,Ich  habe  es  aufrichtig  geschrieben." 

68 


,,Sie  wollen  anscheinend  sich  selbst  mit  Ab- 
sicht roher  hinstellen,  als  es  Ihr  Herz  möchte ..." 
fuhr  Tichon  immer  kühner  fort.  Das  ,, Doku- 
ment" hatte  auf  ihn  wohl  einen  starken  Ein- 
druck gemacht. 

„Mich  hinstellen?  -  Ich  wiederhole:  ich  will 
mich  als  nichts  ,hinstellen'  und  am  allerwenig- 
sten Komödie  spielen." 

Tichon  senkte  schnell  den  Blick. 

„Dieses  Dokument  kommt  direkt  aus  dem 
Bedürfnis  eines  tödlich  verwundeten  Herzens,  - 
ich  verstehe  Sie  doch  richtig?"  sagte  er  ein- 
dringlich mit  ungewöhnlichem  Feuer.  ,,Ja,  es 
ist  die  Reue  und  das  natürliche  Bedürfnis  nach 
Reue,  das  Sie  besiegt  hat,  und  Sie  haben  einen 
großen  Weg  betreten,  einen  unerhörten  Weg. 
Aber  Sie  scheinen  schon  im  voraus  alle  zu  has- 
sen und  zu  verachten,  die  das  hier  Beschriebene 
lesen  werden,  und  sie  zum  Kampfe  herauszu- 
fordern. Wenn  Sie  sich  nicht  schämen,  das  Ver- 
brechen zu  gestehen,  warum  schämen  Sie  sich 
dann  der  Reue?" 

,,lcli  schäme  mich?" 

,,Sie  schämen  sich  und  fürchten." 

,,Ich  fürchte  mich?" 

„Bis  zur  Todesangst.  Sollen  sie  nur  auf  mich 
sehen,  sagen  Sie ;  nun,  und  Sie  selbst,  wie  wer- 

69 


den  Sie  auf  sie  sehen?  Gewisse  Stellen  Ihrer 
Schilderung  sind  durch  den  Stil  unterstrichen; 
Sie  scheinen  Ihre  Psychologie  zu  bewundern 
und  klammern  sich  an  jede  Kleinigkeit,  nur  um 
den  Leser  durch  die  Gefühllosigkeit  in  Erstau- 
nen zu  setzen,  die  Ihnen  gar  nicht  eigen  ist. 
Was  ist  es  denn,  wenn  nicht  eine  hochmütige 
Herausforderung  des  Schuldigen  an  den  Rich- 
ter." 

,,Wo  ist  denn  die  Herausforderung?  Ich  habe 
ja  alle  persönlichen  Betrachtungen  ausgeschal- 
tet." 

Tichon  sagte  nichts.  Seine  blassen  Wangen 
röteten  sich  sogar. 

„Lassen  wir  das",  brach  Stawrogin  scharf 
ab.  ,, Gestatten  Sie  auch  mir,  eine  Frage  zu  stel- 
len: wir  sprechen  schon  fünf  Minuten  darüber 
(er  wies  mit  einer  Kopfbewegung  auf  die  Blät- 
ter), und  ich  sehe  an  Ihnen  keinerlei  Ausdruck 
von  Abscheu  oder  Scham  .  .  .  Sie  scheinen  nicht 
heikel  zu  sein  ..." 

Er  kam  nicht  weiter. ^s 

,,Ich  will  vor  Ihnen  nichts  verheimlichen :  i:h 
entsetzte  mich  vor  der  großen  müßigen  Kraft,  die 
mit  7\l)sicht  zu  Gemeinheiten  verschwendet  wor- 
den ist.  Und  was  das  Verbrechen  selbst  betrifft, 
so  begehen  viele  dieselbe  Sünde,  leben  aber  in 

70 


Frieden  mit  ihrem  Gewissen  und  in  Ruhe  und 
sehen  es  sogar  als  unvermeidliche  Vergehen  der 
Jugend  an.  Es  gibt  auch  Greise,  die  ebenso  sün- 
digen, sogar  mit  Genuß  und  Frivolität.  Die 
ganze  Welt  ist  voll  solcher  Schrecken.  Sie  ha- 
ben aber  die  ganze  Tiefe  erkannt,  was  in  diesem 
Maße  sehr  selten  vorkommt." 

,, Haben  Sie  mich  vielleicht  nach  dieser  Lek- 
türe zu  achten  angefangen?"  fragte  Stawrogin 
mit  einem  schiefen  Lächeln. 

,, Darauf  gebe  ich  keine  direkte  Antwort.  Aber 
ein  größeres  und  schrecklicheres  Verbrechen  als 
Ihre  Tat  an  der  Kleinen  ist  natürlich  unmög- 
lich." 

,,Wir  wollen  nicht  mit  Ellen  messen. 3»  Viel- 
leicht leide  ich  wirklich  nicht  so  sehr,  wie  ich  es 
hier  beschrieben  habe,  vielleicht  habe  ich  auch 
vieles  über  mich  erlogen",  fügte  er  ganz  uner- 
wartet hinzu. 

Tichon  sagte  darauf  wieder  nichts.*" 

,,Und  das  junge  Mädchen",  fing  Tichon  von 
neuem  an,  ,,mit  dem  Sie  in  der  Schweiz  ge- 
brochen haben,  wo  befindet  sie  sich  jetzt,  wenn 
ich  fragen  darf  ...  in  diesem  Augenblick?" 

,,Hier." 

Er  sagte  wieder  nichts. 

„Vielleicht  habe  ich  über  mich  sehr  viel  ge- 

71 


logen",  wiederholte  Stawrogin  eindringlich. 
,,Was  macht  es  übrigens,  daß  ich  die  Leute 
durch  die  Roheit  meiner  Beichte  herausfor- 
dere, wenn  Sie  die  Herausforderung  bereits  be- 
merkt haben? !  Ich  werde  sie  zwingen, mich  noch 
mehr  zu  hassen,  das  ist  alles.  Aber  davon  würde 
mir  nur  leichter  werden." 

„Das  heißt,  der  Haß  gegen  Sie  wird  in  Ihnen 
einen  Gegenhaß  wecken,  und  wenn  Sie  hassen, 
wird  es  Ihnen  leichter  sein,  als  wenn  Sie  ihr 
Mitleid  annehmen." 

,,Sie  haben  recht.  Wissen  Sie",  sagte  er  plötz- 
lich lachend:  ,,man  wird  mich  nach  diesem  Do- 
kument vielleicht  einen  Jesuiten  und  einen 
frommen  Heuchler  nennen,  ha  ha  ha!  Nicht 
wahr?" 

,,Eswird  unbedingt  auch  diese  Ansicht  geben. 
Hoffen  Sie  Ihre  Absicht  bald  auszuführen?" 

,, Heute,  morgen,  übermorgen,  woher  soll  ich 
es  wissen?  Aber  sehr  bald.  Sie  haben  recht,  es 
wird  gerade  so  kommen,  daß  ich  es  ganz  plötz- 
lich veröffentliche,  und  zwar  gerade  in  einem 
Augenblick  von  Haß  und  Rachedurst,  wo  ich 
sie  am  meisten  hassen  werde." 

,, Beantworten  Sie  mir  eine  Frage,  aber  auf- 
richtig, nur  mir  allein",  sagte  Tichon  mit  einer 
ganz  anderen  Stimme:  ,,Wenn  Ihnen  jemand 

72 


beim  Lesen  Ihrer  schrecklichen  Beichte  dies  da 
(Tichon  zeigte  auf  die  Blätter)  vergeben  würde, 
und  zwar  nicht  einer  von  denen,  die  Sie  achten 
oder  fürchten,  sondern  ein  Fremder,  ein  Mensch, 
den  Sie  niemals  kennen  lernen  werden,  stumm 
vor  sich  hin,  -  würde  Ihnen  bei  diesem  Ge- 
danken leichter  werden,  oder  wäre  es  Ihnen  ganz 
gleich?" 

,,Es  wäre  mir  wohl  leichter",  antwortete 
Stawrogin  halblaut.  ,,Wenn  Sie  mir  verziehen, 
so  wäre  mir  viel  leichter",  fügte  er  hinzu,  die 
Augen  senkend. 

„Auf  daß  auch  Sie  mir  ebenso  verzeihen!" 
versetzte  Tichon  mit  bewegter  Stimme. ^^ 

,,Das  ist  eine  üble  Demut.  Wissen  Sie,  diese 
mönchischen  Formeln  sind  so  gar  nicht  hübsch. 
Ich  werde  Ihnen  die  ganze  Wahrheit  sagen :  ich 
möchte,  daß  Sie  mir  verzeihen.  Zugleich  mit 
Ihnen  auch  ein  anderer,  ein  dritter,  aber  alle 
zusammen  sollen  mich  lieber  hassen.  Das  möchte 
ich,  um  es  mit  Demut  zu  tragen  ..." 

,,Das  allgemeine  Mitleid  würden  Sie  aber 
nicht  mit  Demut  tragen  können?" 

,, Vielleicht  könnte  ich  es  nicht.  Warum  .  .  ." 

,,Ich  fühle  den  Grad  Ihrer  Aufrichtigkeit, 
und  es  ist  natürlich  meine  große  Schuld,  daß 
ich  an  die  Menschen  nicht  richtig  heranzutreten 

73 


verstehe.  Ich  habe  es  immer  als  einen  Mangel 
empfunden",  sagte  Tichon  aufrichtig  und  aus 
tiefem  Herzen,  Stawrogin  gerade  in  die  Augen 
blickend.  ,,Ich  sagte  das  nur,  weil  ich  für  Sie 
fürchte",  fügte  er  hinzu:  ,,Vor  Ihnen  gähnt 
ein  fast  unüberbrückbarer  Abgrund." 

,,Ich  werde  es  nicht  aushalten?  Ich  werde 
ihren  Haß  nicht  ertragen  können?"  fuhr  Staw- 
rogin auf. 

,, Nicht  den  Haß  allein." 

„Was  denn  noch?" 

„Auch  ihr  Lachen",  brachte  Tichon  mühevoll 
im  Flüsterton  hervor. 

Stawrogin  wurde  verlegen;  sein  Gesicht 
zeigte  Unruhe. 

,,Ich  habe  es  vorausgeahnt",  sagte  er.  ,, Folg- 
lich erscheine  ich  Ihnen  nach  der  Lektüre  mei- 
nes , Dokuments*  als  eine  sehr  komische  Figur. *2 
Seien  Sie  unbesorgt,  und  genieren  Sie  sich 
nicht,  ich  habe  es  erwartet." 

,,Das  Entsetzen  wird  allgemein  und  natür- 
lich mehr  geheuchelt  als  aufrichtig  sein.  Die 
Menschen  entsetzen  sich  nur  vor  dem,  was  ihre 
persönlichen  Interessen  direkt  bedroht.  Ich 
spreche  nicht  von  den  reinen  Seelen :  diese  wer- 
den nur  innerlich  erschaudern  und  sich  selbst 
anklagen;  da  sie  aber  schweigen  werden,  wird 

74 


man  sie  nicht  merken.  Das  Lachen  wird  aber 
allgemein  sein.*^" 

,,Ich  muß  mich  wundern,  daß  Sie  so  schlecht 
und  mit  solchem  Abscheu  von  den  Menschen 
denken",  sagte  Stawrogin  mit  einiger  Gehässig- 
keit. 

,, Glauben  Sie  mir:  ich  habe  eben  mehr  an 
mich  selbst  gedacht  als  an  die  Menschen!"  rief 
Tichon  aus. 

,, Wirklich?  Ist  denn  auch  in  Ihrer  Seele  et- 
was, was  sich  an  meinem  Unglück  belustigt?" 

,,Wer  weiß,  vielleicht  ist  so  etwas  in  ihr. 
Vielleicht  ist  es  wirklich  so!" 

„Genug.  Zeigen  Sie  mir  nun,  wo  ich  in  mei- 
nem Manuskript  lächerlich  bin !  Ich  weiß  selbst, 
wo  ich  es  bin,  aber  ich  will,  daß  Sie  es  mir  mit 
Ihrem  Finger  zeigen.  Und  erklären  Sie  es  mir 
möglichst  zynisch,  mit  der  ganzen  Aufrichtig- 
keit, zu  der  Sie  fähig  sind.  Ich  aber  sage  Ihnen 
noch  einmal,  daß  Sie  ein  merkwürdiger  Kauz 
sind." 

,, Schon  in  der  Form  Ihrer  großen  Beichte 
selbst  ist  etwas  Lächerliches  enthalten.  Glauben 
Sie  nur  nicht,  daß  Sie  nicht  siegen  werden!" 
rief  er  plötzlich  beinahe  begeistert.  ,, Selbst 
diese  Form  (er  zeigte  auf  die  Blätter)  wird  sie- 
gen, wenn  Sie  sich  nur  aufrichtig  ins  Gesicht 

75 


schlagen  und  anspeien  lassen.  Alles  hat  immer 
damit  geendet,  daß  das  schändlichste  Kreuz  zu 
einem  großen  Ruhme  und  einer  großen  Kraft 
wurde,  wenn  die  Demut  der  Tat  wirklich  auf- 
richtig gewesen  ist.  Vielleicht  werden  Sie  schon 
bei  Ihren  Lebzeiten  getröstet  sein!  ..." 

,,Sie  finden  also  vielleicht  nur  in  der  Form 
allein  etwas  Lächerliches?"  drang  Stawrogin  in 
ihn  ein. 

„Und  im  Wesen  selbst.  Die  Häßlichkeit  wird 
Sie  morden",  flüsterte  Tichon,  die  Augen  sen- 
kend. 

„Die  Häßlichkeit ! Was  für  eine  Häßlichkeit?" 

„Des  Verbrechens.  Es  gibt  wahrhaft  häß- 
liche Verbrechen.  Jedes  Verbrechen,  wie  es  auch 
sein  mag,  ist  umso  eindrucksvoller  und  sozu- 
sagen malerischer,  je  mehr  Blut  und  Schrecken 
dabei  ist;  aber  es  gibt,  abgesehen  von  jedem 
Schrecken,  auch  beschämende,  schmähliche,  so- 
gar allzu  unschöne  Verbrechen  ..." 

Tichon  sprach  den  Satz  nicht  zu  Ende. 

,,Das  heißt",  fiel  ihm  Stawrogin  erregt  ins 
Wort,  ,,Sie  finden  also,  daß  ich  höchst  lächer- 
lich war,  als  ich  dem  schmierigen  Mädel  die 
Hände  küßte.*^  Ich  verstehe  Sie  vollkommen, 
und  Sie  verzweifeln  an  mir  nur  deshalb,  weil 
es  unschön  und  ekelhaft,  nein,  nicht  ekelhaft, 

76 


sondern  beschämend  und  lächerlich  war,  und 
glauben,  daß  ich  gerade  dies  am  wenigsten  er- 
tragen werde." 

Tichon  sagte  nichts.*^ 

„Ich  verstehe,  warum  Sie  sich  nach  dem 
Fräulein  aus  der  Schweiz  erkundigt  haben,  ob 
sie  hier  ist." 

,,Sie  sind  nicht  vorbereitet,  Sie  sind  nicht 
abgehärtet",  flüsterte  Tichon  schüchtern,  die 
Augen  senkend:  ,,Sie  sind  vom  Boden  losgeris- 
sen, Sie  glauben  nicht." 

,, Hören  Sie,  P.  Tichon:  ich  will  mir  selbst 
verzeihen,  und  das  ist  mein  Hauptziel,  mein 
einziges  Ziel!"  sagte  plötzlich  Stawrogin  mit 
einem  düsteren  Entzücken  im  Blick.  „Ich  weiß, 
daß  die  Vision  nur  dann  verschwinden  wird. 
Darum  suche  ich  auch  das  maßlose  Leid, 
darum  suche  ich  es  selbst.  Erschrecken  Sie 
nicht,  sonst  gehe  ich  in  Bosheit  zugrunde." 

Diese  Aufrichtigkeit  war  so  unerwartet,  daß 
Tichon  sich  erhob. 

,,Wenn  Sie  glauben,  daß  Sie  sich  selbst  ver- 
zeihen und  diese  Selbstverzeihung  in  dieserWelt 
durch  Leid  erlangen  können,  wenn  Sie  sich  die- 
ses Ziel  gläubig  setzen,  so  glauben  Sie  schon  an 
alles  I"  rief  Tichon  begeistert.  ,,Wie  können  Sie 
nur  sagen,  daß  Sie  nicht  an  Gott  glauben?" 

77 


Stawrogin  gab  keine  Antwort. 

„Gott  wird  Ihnen  Ihren  Unglauben  verzei- 
hen, denn  Sie  verehren  den  Heihgen  Geist,  ohne 
ihn  zu  kennen." 

,,Wird  mir  übrigens  Christus  verzeihen?" 
fragte  Stawrogin  mit  einem  schiefen  Lächeln 
und  in  einem  veränderten  Ton,  in  dem  etwas 
wie  Ironie  lag. 

„Es  steht  in  der  Schrift:  ,Wer  aber  ärgert 
dieser  Geringsten  einen'.  Sie  erinnern  sich  doch. 
Nach  dem  EvangeHum  gibt  es  kein  größeres 
\  erbrechen  ..." 

,,Sie  wollen  einfach  keinen  Skandal  und  stel- 
len mir  eine  Falle,  mein  guter  P.  Tichon",  sagte 
Stawrogin  wegwerfend  und  ärgerlich  durch  die 
Zähne  und  wollte  schon  aufstehen.  ,,Kurz,  Sie 
wollen,  daß  ich  solid  werde,  vielleicht  auch  hei- 
rate, mein  Leben  als  Mitglied  des  hiesigen  Klubs 
beschließe  und  an  jedem  Feiertag  Ihr  Kloster 
besuche.  Sie  werden  mir  höchstens  eine  Kir- 
chenbuße auferlegen !  Nicht  wahr?  1  Vielleicht 
ahnen  Sie  als  Herzenskenner  schon  voraus,  daß 
es  zweifellos  gerade  so  kommen  wird,  und  es 
bleibt  nur  noch,  mich  jetzt,  des  Anstandes  hal- 
ber, ordentlich  zu  bitten,  da  ich  doch  selbst  nur 
danach  lechze,  nicht  wahr?!" 

Er  lächelte  unnatürKch. 

78 


,,Nein,  es  ist  nicht  diese  Kirchenbuße,  ich 
habe  für  Sie  eine  andere  bereit!"  fuhr  Tichon 
mit  Feuer  fort,  ohne  dem  Lachen  und  der  Be- 
merkung Stawrogins  auch  die  geringste  Beach- 
tung zu  schenken. 

,,lch  kenne  einen  Starez,  nicht  hier,  aber 
nicht  weit  von  hier,  einen  Einsiedler  und  Aske- 
ten von  so  tiefer  christUcher  Weisheit,  wie  wir 
beide  sie  nicht  begreifen  werden.  Er  wird  auf 
meine  Bitten  hören.  Ich  werde  ihm  alles  von 
Ihnen  sagen.  Gehen  Sie  zu  ihm,  unterwerfen 
Sie  sich  seiner  Leitung  für  fünf  oder  sieben 
Jahre,  soviel  Sie  in  der  Zukunft  selbst  als  nötig 
erachten  werden.  Leisten  Sie  ein  Gelübde,  und 
mit  diesem  großen  Opfer  werden  Sie  alles  er- 
kaufen, wonach  Sie  lechzen,  und  selbst  was  Sie 
nicht  erwarten,  denn  Sie  können  jetzt  gar  nicht 
begreifen,  was  Sie  gewinnen  werden." 

Stawrogin  hörte  ihn  mit  ernster  Miene  an. 

,,Sie  schlagen  mir  vor,  in  jenes  Kloster  als 
Mönch  einzutreten?  "*6 

,,Sie  brauchen  gar  nicht  im  Kloster  zu 
sein  und  die  Mönchsweihen  zu  empfangen; 
werden  Sie  bloß  heimlicher,  kein  offizieller 
Novize;  Sie  können  dabei  sogar  ganz  in  der 
Welt  leben..." 

„Lassen  Sie  das,  P.  Tichon",  unterbrach  ihn 

79 


Stawrogin  angeekelt  und  erhob  sich  von  seinem 
Stuhl,  Auch  Tichon  stand  auf. 

,,Was  ist  mit  Ihnen?"  schrie  er  plötzlich  auf, 
Tichon  fast  erschrocken  ansehend.  Jener  stand 
vor  ihm,  die  Hände  wie  im  Gebet  gefaltet,  und 
ein  krankhafter,  wie  vom  höchsten  Entsetzen 
hervorgerufener  Krampf  durchzuckte  sein  Ge- 
sicht. 

,,Was  ist  mit  Ihnen?  Was  ist  mit  Ihnen?" 
wiederholte  Stawrogin,  sich  zu  ihm  stürzend, 
um  ihn  zu  stützen.  Er  glaubte,  daß  jener  um- 
fallen würde. 

,,lch  sehe  .  .  .  ich  sehe  ganz  deutlich",  rief 
Tichon  mit  einer  herzdurchdringenden  Stimme 
und  mit  dem  Ausdruck  der  tiefsten  Trauer,  ,,daß 
Sie,  armer,  verlorener  Jüngling  einem  neuen, 
noch  größeren  Verbrechen  noch  nie  so  nahe  ge- 
wesen sind  wie  in  diesem  Augenblick." 

,, Beruhigen  Sie  sich!"  beschwichtigte  ihn 
Stawrogin,  der  um  ihn  aufrichtig  besorgt  war. 
,, Vielleicht  werde  ich  es  noch  aufschieben  .  .  . 
Sie  haben  recht ..." 

,,Nein,  nicht  nach  der  Veröffentlichung,  son- 
dern vorher,  einen  Tag,  vielleicht  eine  Stunde 
vor  dem  großen  Schritt  werden  Sie  sich  in  ein 
neues  \  erbrechen  stürzen,  werden  däLnacn~als 
naclf  einem  Ausweg  greifen  und  werden  es  ein- 

"8^7 


zig  zu  dem  Zweck  verüben,  um  die  Veröffent- 
lichung dieser  Blätter  zu  vermeiden."         -    •• 

Stawrogin  erbebte  sogar  vor  Wut  und  fast 
vor  Schreck. 

„Verfluchter  Psycholog!"  rief  er  plötzlich 
w^ie  rasend  und  ging,  ohne  sich  umzusehen,  aus 
der  Zelle. 


8i 


ANHANG 


Die  wichtigsten  der  von  Dostojewski]  in 

den  Korrekturfahnen  gestrichenen 

Stellen  und,  Lesarten 

1  Die  ursprüngliche  Überschrift  lautete  ,,Neun- 
tes  Kapitel". 

2  Nach  ,,verrückt"  gestrichen:  ,, jedenfalls  ein 
vollkommen  talentloses  Geschöpf . 

3  Hier  stand  ursprünglich:  ,,Nikolai  Wsewo- 
lodowitsch  war  noch  immer  sehr  zerstreut 
infolge  irgendeiner  inneren,  ihn  erdrücken- 
den Erregung/' 

*  IS  ach  ,, Duell"  gestrichen:  ,,Sie  haben  hier 
sehr  viel  gehört" . 

ö  Statt ,, ließen  sich  behandeln"  stand  ursprüng- 
lich: ,,wurden  geheilt". 

6  Nach  ,, unbestimmt*'  gestrichen:  „Lnd  wissen 
Sie,  es  steht  Ihnen  gar  nicht  an,  die  Augen 
zu  senken:  es  ist  unnatürlich,  komisch  und 
maniriert" . 

85 


^  Nach  ,,alles"  gestrichen:  ,,Sie  müssen  furcht- 
bar froh  sein" . 

8  Nach  ,,Vielleicht"  gestrichen:  ,,Das  ist  nicht 
schlecht.  Warum  zweifeln  Sie  denn?"  -  ,,Ich 
glaube  nicht  vollkommen" . 

^  Nach  ,, senkend"  gestrichen:  ,,Seine  Mund- 
winkel begannen  plötzlich  nervös  und  schnell 
zu  zucken" . 

10  Nach  ,,Unglauben"  gestrichen:  „Oh,  Pf  äff!" 

"  Nach ,, Gewiß" gestrichen :  „Herrliche  Worte" . 
Weiter:  „Herrliche  und  für  einen  Bischof 
sonderbare  Worte,  und  Sie  sind  überhaupt 
ein  Kauz."  -  gestrichen. 

12  Nach  ,,Stawrogin"  gestrichen:  ,,Das  ist  für 
die  Mittelschicht,  für  die  Gleichgültigen,  nicht 
wahr?" 

"  Nach  ,,Ich  habe  es"  gestrichen:  ,,an  Ihrem 
Gesicht" . 

1^  Nach  ,,unverändert  auf"  gestrichen:  „Es  ist 
anzunehmen,  daß  es  jetzt  schon  vielen  be- 
kannt ist." 

i5_i6  Dieser  ganze  lange  Passus  fehlt  in  den 
Moskauer  Korrekturfahnen  und  ist  nur  im 
Petersburger  Manuskript  enthalten.  (Siehe 
Einleitung.) 

"  Nach  ,,bei  mir"  gestrichen:  „in  Gegenwart 
der  Freunde  und  ihres  Mannes" . 

86 


18  Nach  „mit  ihrer"  gestrichen:  ,,ich  glaube 
vierzehnjährigen" . 

19  Nach  ,, ausgeschimpft"  gestrichen:  „(ich  lebte 
einf  ach, und  sie  genierten  sichvor  mir  nicht)" . 

20  Nach  „immer  weckte"  gestrichen:  „Nachdem 
ich  bis  zu  meinem  sechzehnten  Lebensjahr 
in  ungewöhnlicher  Unmäßigkeit  dem  Laster 
gefröhnt  hatte,  das  J .  J .  Rousseau  in  seiner 
Beichte  erwähnt,  hörte  ich  damit  in  dem 
Augenblick  auf,  als  ich  es  mir  vorgenommen, 
in  meinem  siebzehnten  Lebensjahre" . 

21  Nach  ,,bestraft  hatte"  gestrichen:  ,,sie  schrie 
nicht,  sondern  schluchzte  nur  unter  den 
Schlägen,  natürlich  weil  ich  dabei  stand  und 
alles  sah" . 

22  Nach  ,, verantwortlich"  gestrichen:  ,, Bisher 
hatte  sie  mich  vielleicht  nur  gefürchtet,  aber 
nicht  meine  Person,  sondern  nur  den  Zim- 
merherrn, den  fremden  Menschen  in  mir, 
und  war  wohl  auch  sehr  schüchtern" . 

23  Nach  ,,zu  klopfen"  gestrichen:  ,,aber  da 
fragte  ich  mich  plötzlich,  ob  ich  mir  noch 
halt  gebieten  könne,  und  antwortete  mir  so- 
fort, daß  ich  es  wohl  könne" . 

2*  Ursprünglich:  ,,ich    küßte    ihr   das  Gesicht 

und  die  Füße:  als  ich  ihr  die  Füße  küßte". 

2^  Ursprünglich:  ,,Ich  wäre  beinahe  aufgestan- 

87 


den  und  lueqgegangen:  so  unangenehm  war 
es  mir  aus  Mitleid  an  einem  so  kleinen  Kind. 
Aber  ich  überwand  dieses  plötzliche  Angstge- 
fühl und  blieb." 

Im  Petersburger  Manuskript  fehlt  dasWei- 
terevon: ,,Als  alles  zuEnde  war . .  ."bis  zu  den 
Worten:  ,,Es  war  der  Augenblick  einer  wirk- 
lichen Angst.  . ." (Seite ^5, Zeile?  von  unten). 
Dafür  enthält  dieses  Manuskript  folgenden, 
das  Lesen  der  ,,Beichte"  unterbrechenden,  in 
den  Moskauer  Korrekturfahnen  nicht  enthal- 
tenen Dialog  zwischen Stawrogin  und  Tichon: 

Hier  endete  das  Blatt,  und  der  Satz  brach 
ab.  Da  geschah  etwas,  was  man  nicht  uner- 
wähnt lassen  darf. 

Es  waren  im  Ganzen  fünf  Blätter;  Tichon 
hielt  das  eine,  das  er  eben  zu  Ende  gelesen 
hatte,  und  das  mitten  in  einem  Satze  abbrach, 
in  der  Hand,  und  die  übrigen  vier  behielt 
Stawrogin  in  seinen  Händen.  Auf  einen  fra- 
genden Blick  Tichons  reichte  ihm  Stawro- 
gin, der  darauf  schon  gewartet  hatte,  sofort 
die  Fortsetzung. 

,,Aber  auch  hier  ist  eine  Lücke?"  fragte 
Tichon,  sich  das  Blatt  ansehend.  ,,Ach,  es  ist  ja 
das  dritte  Blatt,  und  ich  brauche  das  zweite." 


88 


,,Ja,  das  zweite  Blatt,  aber  dieses  Blatt .  .  . 
Dieses  Blattwird  vorläufig  von  derZensur  zu- 
rückgehalten", antwortete  Stawrogin  schnell 
mit  einem  verlegenen  Lächeln.  Er  saß  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  unbeweglich  in  einer 
Ecke  des  Sofas  und  beobachtete  mit  fiebern- 
den Blicken  den  lesenden  Tichon. 

,,Sie  werden  es  später  bekommen,  wenn 
Sie . . .  sich  als  dessen  würdig  erweisen",  fügte 
er  mit  einer  ungeschickten  familiären  Geste 
hinzu.  Er  lachte,  bot  aber  dabei  einen  jam- 
mervollen Anblick. 

,,Jetzt  ist  es  wohl  ganz  gleich,  ob  ich  das 
zweite  oder  das  dritte  Blatt  lese",  versuchte 
Tichon  einzuwenden. 

,,Wieso  ist  es  ganz  gleich?  Warum?"  rief 
Stawrogin,  in  großer  Erregung  auffahrend. 
,,Es  ist  gar  nicht  gleich.  Ach  so!  Sie  wollen 
auf  mönchische  Manier  gleich  das  Gemeinste 
annehmen.  Ein  Mönch  wäre  wohl  der  beste 
Untersuchungsrichter!" 

Tichon  musterte  ihn  stumm. 

,,Beruhigen  Sie  sich...  es  ist  nicht  meine 
Schuld,  daß  das  Mädel  so  dumm  war  und 
mich  mißverstanden  hat .  .  .  Nichts  ist  ge- 
schehen.  Gar  nichts!" 

,,Gott  sei  Dank!"  Tichon  bekreuzigte  sich. 

89 


,Jch  müßte  es  lange  erklären  .  .  .  hier .  .  . 
hier  liegt  einfach  ein  psychologisches  Miß- 
verständnis vor ..." 

Plötzlich  errötete  er.  Sein  Gesichtsausdruck 
verriet  das  Gefühl  von  Abscheu,  Qual  und 
Verzweiflung.  Er  brach  jäh  ab  und  ver- 
stummte. Beide  schwiegen  und  sahen  ein- 
ander mehr  als  eine  Minute  nicht  an. 

,,Wissen  Sie  was,  lesen  Sie  lieber",  sagte 
er,  sich  mit  den  Fingern  mechanisch  den 
Schweiß  aus  der  Stirne  wischend.  ,,Und 
schauen  Sie  mich  dabei  lieber  gar  nicht 
an  .  .  .  Mir  ist,  als  wäre  es  ein  Traum  .  .  .  Und 
bringen  Sie  mich  nicht  um  den  letzten 
Rest  meiner  Geduld",  fügte  er  im  Flüsterton 
hinzu. 

Tichon  sah  schnell  weg,  ergriff  das  dritte 
Blatt  und  las  nun  ohne  Unterbrechungen  zu 
Ende.  Aber  auch  das  dritte  Blatt  fing  mitten 
in  einem  Satze  an: 

Es  war  der  Augenblick  einer  wirklichen 
Angst  usw. 

26  Im  Original  steht:  „Nach  Petersburg  zu  fah- 
ren   . 

27  Nach  „ertragen"  gestrichen:  „ich  stand  auf 
und  ging  auf  sie  zu" . 

28  Nach  „niemand"  gestrichen:  „Über  das  Re- 

90 


sultat  der  ärztlichen  Untersuchung  habe  ich 
nichts  gehört". 

29  Nach  ,, aus  zudenken"  gestrichen:  ,,aber  ich 
vermag  nicht  zu  entscheiden,  ob  mein  Ent~ 
Schluß,  wenn  auch  unbewußt,  (natürlich  un- 
bewußt) mit  meiner  Erbostheit  wegen  der 
niedrigen  Feigheit,  die  sich  meiner  nach  der 
Geschichte  mit  Matrjoscha  bemächtigt  hatte, 
zusammenhing.  Ichglaube  es  wirklich  nicht." 

30  Nach  ,,zur  Zerstreuung"  gestrichen:  „und 
weil  es  mir  unerträglich  war" . 

=*i  Nach ,, hilf  losen"  gestrichen : ,, zehn  jährigen  ' . 

32  Nach  ,,sagen"  gestrichen:  ,,Die  Erinnerung 
an  die  Tat  selbst  ist  mir  vielleicht  auch  jetzt 
nicht  ekelhaft.  Vielleicht  enthält  diese  Erin- 
nerung etwas,  was  meinen  Leidenschaften 
auch  jetzt  noch  angenehm  ist". 

33  Nach  ,, Halluzination"  gestrichen:  „Ich  habe 
auch  andere  alte  Erinnerungen,  die  vielleicht 
besser  sind  als  diese.  An  einer  gewissen  Frau 
habe  ich  noch  schlimmer  gehandelt,  und  sie 
ist  daran  gestorben.  Ich  habe  im  Duell  zwei 
Menschen  getötet,  die  vor  mir  unschuldig 
waren.  Einmal  war  ich  tödlich  beleidigt  wor- 
den, habe  mich  aber  am  Gegner  nicht  ge- 
rächt. Ich  habe  einen  vorbedachten  und  ge- 
lungenen Giftmord  auf  dem  Gewissen,  von 

9^ 


dem  niemand  etwas  weiß.  Wenn  es  nötig  sein 
wird,  werde  ich  über  alles  berichten" . 

•"^4  Ursprünglich:  ,,In  der  Schweiz  war  ich  zwei 
Monate  später  imstande,  mich  in  ein  junges 
Mädchen  zu  verlieben,  oder,  genauer  gesagt, 
ich  fühlte  usw." 

^^  So  auch  im  Original. 

•■^•^  Dieser  ganze  Satz  gestrichen. 

"  Nach  ,,kommen"  gestrichen:  ,,fügte  er  hin- 
zu, als  könnte  er  sich  nicht  mehr  beherrschen, 
und  wieder  in  seinen  früheren  Ton  fallend; 
aber  er  lächelte  gleich  darauf  traurig  über 
seine  Worte". 

38  Nach,, Er  kam  nicht  weiter" gestrichen:  „  ,Das 
heißt,  sie  möchten,  daß  ich  Ihnen  schneller 
meine  Verachtung  ausspreche' ,  sprach  Ti- 
chon  sehr  bestimmt  zu  Ende" . 

■^9  Gestrichen:  ,,Ich  wunderte  mich  ein  wenig 
über  ihre  Ansicht  von  den  anderen  Menschen 
und  von  der  Gewöhnlichkeit  eines  solchen 
Verbrechens" . 

*o  Nach  ,,wieder  nichts"  gestrichen:  ,,Stawro- 
gin  dachte  gar  nicht  daran,  wegzugehen;  im 
Gegenteil,  er  versank  zeitweise  in  tiefe  Nach- 
denklichkeit". 

*^  Nach  ,,mit  bewegter  Stimme"  gestrichen: 
,,Was  soll  ich  verzeihen?  Was  haben  Sie  mir 

92 


getan?  Ach  ja,  es  ist  ja  eine  klösterliche  For- 
mel!" (Tichon:)  ,,Was  ich  mit  Absicht  und 
ohne  Absicht  begangen  habe.  Jeder  Mensch, 
der  einmal  gesündigt,  hat  gegen  alle  gesün- 
digt, und  jeder  Mensch  ist  irgendwie  an  jeder 
fremden  Sünde  schuld.  Es  gibt  keine  Ein- 
zelsünde. Ich  aber  bin  ein  großer  Sünder, 
vielleicht  noch  größer  als  Sie" . 

*2  Nach  ,,Figur"  gestrichen:  „trotz  der  ganzen 
Tragik" . 

^3  Nach  ,,allgemein  sein"  gestrichen:  ,,beden- 
ken  Sie  auch  den  Ausspruch  des  Denkers, 
daß  im  fremden  Leid  stets  etwas  für  uns 
Angenehmes  enthalten  sei" .  -  ,,Ein  richtiger 
Gedanke."  -  ,,Aber  Sie  .  .  .  Sie  selbst ..." 

^*  Nach  ,,die Hände  küßte" gestrichen:  ,,undalles, 
was  ich  von  meinem  Temperament  sagte 
und  alles  übrige  .  .  .  ich  verstehe  nicht .  .  ." 

*^  Nach  ,,sagte  nichts"  gestrichen:  ,,Ja,  Sie  ken- 
nen die  Menschen,  d.h.  Sie  wissen,  daß  ich 
es  nicht  ertragen  werde" . 

^^  Nach  ,, einzutreten"  gestrichen:  ,,Wie  sehr 
ich  Sie  auch  achte,  aber  ich  habe  gerade  das 
erwarten  müssen.  Nun,  ich  will  Ihnen  also 
gestehen,  daß  mir  in  Augenblicken  von  Klein- 
mut schon  der  Gedanke  gekommen  ist,  mich 
nach  Veröffentlichung  dieser  Blätter  in  ein 

93 


Kloster  zu  verstecken,  wenig stesns  für  eine 
Zeitlang.  Aber  ich  errötete  dann  sofort  über 
diese  Niedrigkeit.  Doch  Mönch  werden,  das 
war  mir  selbst  in  Augenblicken  der  kleinmü- 
tigsten Angst  nicht  in  den  Sinn  gekommen." 


94 


// 

Die  Zusammenkunft  zwischen  Stawrogin 

und  Tichon  nach  den  Notizbüchern 

Dostojewskijs 

Der  Bischof  Tichon,  dem  Stawrogin  seine 
Beichte  einhändigt,  war  von  Dostojewski]  ur- 
sprünglich als  eine  der  handelnden  Personen  im 
großen,  aus  fünf  Erzählungen  bestehenden  Ro- 
man gedacht,  über  dessen  Plan  er  im  Jahre 
1870  Maikow  schrieb.  Die  zweite  dieser  Erzäh- 
lungen, auf  die  Dostojewski]  ,,seine  ganze 
Hoffnung"  setzte,  sollte  in  einem  Kloster  han- 
deln, in  das  ein  Knabe,  der  ein  Verbrechen  be- 
gangen hat,  von  seinen  Eltern  gegeben  worden 
ist,  ein  ,,geistig  hochentwickelter  und  verdor- 
bener" Knabe  (ein  Dostojewskij  gut  bekannter 
Typus,  wie  er  selbst  hinzufügt),  ,,ein  junger 
Wolf  und  Nihilist",  der  später  den  wohltätigen 
Einfluß  des  Bischofs  Tichon  erfährt.  ,,In  der 
zweiten  Erzählung  soll  der  heilige  Tichon  der 
Sadon'sche  auftreten",  schrieb  Dostojewskij 
Maikow, ,, selbstverständlich  unter  einem  andern 
Namen,  doch  er  wird  gleichfalls  ein  Bischof  sein, 
der  sich  zur  Ruhe  in  ein  Kloster  zurückgezogen 
hat.  Vielleicht  wird  es  mir  gelingen,  eine  maje- 
stätische, positive,  heilige  Gestalt  zu  schaffen. 

95 


Etwas  ganz  anderes  als  Kostanschoglo  und  als 
der  Deutsche  (ich  habe  seinen  Namen  vergessen) 
im  ,Oblomow' ,  als  Lopuchow  oder  Rachmetow. 
Ich  werde  allerdings  nichts  schaffen,  sondern 
nur  den  echten  Tichon  darstellen,  den  ich  längst 
mit  Wonne  in  mein  Herz  geschlossen  habe." 

Als  später  im  Geiste  Dostojewskijs  der  Plan 
zu  dem  gleichfalls  nicht  ausgeführten  Roman 
,,Leben  eines  großen  Sünders"  entstand,  so 
sollte  der  Held  dieses  Werkes,  ,,bald  Gläubiger 
und  bald  Atheist"  in  einem  Kloster  unter  dem 
Einflüsse  der  ,, majestätischen"  und  ,,heiligen" 
Gestalt  Tichons  eine  geistige  Wiedergeburt  er- 
fahren und  als  ,,der  größte  unter  den  Men- 
schen" in  die  Welt  zurückkehren. 

Als  Dostojewski]  schließlich  endgültig  beim 
Plan  zum  Roman  ,,Die  Teufel"  stehen  blieb, 
beabsichtigte  er  anfangs,  darin  einen  bedeuten- 
den Platz  Tichon  einzuräumen,  dem  Staw- 
rogin  (der  Fürst)  seine  ,,Beichte"  übergeben 
sollte,  die  den  Bericht  Werchowenskijs  von  der 
Petersburger  Lebensperiode  Nikolai  Wsewolo- 
dowitschs  bedeutend  ergänzte  und  abänderte. 
(„Die  Teufel",  1.  Teil,  V.  Kapitel.) 

In  den  im  Moskauer  Historischen  Museum 
aufbewahrten  Notizbüchern  Dostojewskijs  fin- 
den sich  Hinweise  auf  eine  Zusammenkunft 

96 


zwischen  Statur ogin (dem  Fürsten )und  Tichon, 
auf  den  Inhalt  ihres  Gesprächs  und  schließlich 
auch  auf  das  Verbrechen,  das  Stawrogin  in  sei- 
ner ,,Beichte"  gesteht. 

So  sollte  in  den  ,,  Auf  Zeichnungen"  Sta^vro- 
gins  folgende  Stelle  stehen: 

„Das  alles  machte  ich  als  verwöhnter  Herr,  als 
ein  müßiger,  vom  Boden  losgerissener  Mensch. 
Ich  gebe  zwar  zu,  daß  die  Hauptursache  doch 
in  meinem  bösen  Willen  lag  und  nicht  in  dem 
Milieu  allein:  natürlich  verübt  niemand  solche 
Verbrechen.  Aber  alle  vom  Boden  Losgerissenen 
tun  dasselbe,  wenn  auch  in  kleinerem  Maßstabe. 
Viele  merken  ihre  Gemeinheiten  gar  nicht  und 
halten  sich  für  anständig." 

Tichon,  der  in  dieser  Notiz  als  ,,der  Bischof" 
auftritt,  rät,  diese  Stelle  ,,auszuschließen" ,  wor- 
auf Stawrogin  in  einem  unzufriedenen  Ton 
erklärt:  ,,ich  bin  kein  Literat". 

Diese  Stelle  fehlt  in  der  ,, Beichte" .  Der  Ge- 
danke, daß  ,,viele  ebenso  sündigen,  aber  in 
Frieden  mit  ihremGewissen  und  inRuhe  leben", 
wird  hier  nicht  von  Stawrogin,  sondern  von  Ti- 
chon ausgesprochen,  ebenso  wie  Tichon  und 
nicht  Stawrogin  den  Gedanken  äußert,  daß  der 
moralische  Fall  des  letzteren  das  Resultat  der 
Losgerissenheit  vom  Boden  sei. 

7  97 


In  den  Notizen  Dostojewskijs  finden  sich 
auch  Hinweise  darauf,  warum  Stawrogin  sich 
entschlossen  hatte,  seine  Aufzeichnungen  der 
Öffentlichkeit  zu  übergeben. 

,,Tichon  sagt:  man  muß  auf  Erden  glücklich 
sein. 

„(Fürst:)  Ich  bin  ein  müßiger  Geist  und 
langweile  mich.  Ich  weiß,  daß  man  auf  Erden 
glücklich  sein  kann  (und  muß),  und  daß  es  et- 
was gibt,  worin  das  Glück  ist,  aber  ich  weiß 
nicht,  was  es  für  eine  Sache  ist.  -Nein,  ich  ge- 
höre nicht  zu  den  Enttäuschten.  Ich  glaube,  ich 
gehöre  zu  den  Verdorbenen  und  Müßigen. 

,,Der  Fürst  zu  ihm:  ich  will  meine  Kraft  er- 
proben und  das  von  dem  Mädchen  erzählen." 

Wie  man  aus  der  Beichte  Stawrogins  ers3hen 
kann,  verübt  er  sein  Verbrechen  tatsächlich 
,,aus  Langweile" .  Dostojewski]  begnügt  sich 
nicht  mit  diesem  Geständnis  Stawrogins  im 
Texte  und  versucht  am  Rande  der  Korrektur 
dieses  Motiv  noch  durch  folgende  Worte  zu  ver- 
stärken: 

,,Ich  sage  es  offen:  manchmal  war  ich  gar 
nicht  weit  vom  Gedanken,  nach  Sibirien  ver- 
schickt zu  werden.  Vor  allen  Dingen  -  lang- 
weilte ich  mich.  Ich  langweilte  mich  so,  daß  ich 
mich,  wie  ich  glaube,  aufhängen  hätte  können. 

98 


Ich  erinnere  mich,  daß  ich  mich  damals  viel 
mitTheologie  beschäftigte.  Dies  zerstreute  mich 
allerdings  ein  wenig,  aber  dann  wurde  es  mir 
noch  langweiliger," 

In  einer  der  Notizen  Dostojewskijs  findet  sich 
auch  eine  Erklärung  dafür,  daß  Stawrogin  im 
letzten  Augenblick  doch  auf  die  Veröffent- 
lichung seiner  ,,Beichte"  verzichtet: 

„Der  Bischof  sagt,  der  Katechismus  des  Glau- 
bens sei  gut,  aber  der  Glaube  ohne  Tat  sei  tot 
und  verlange  nicht  die  höchste  Tat,  sondern 
auch  noch  die  schwierigste  moralische  Arbeit. 
D.  h.:  Nun,  Herr,  bist  du  dazu  imstande?  Und 
der  Fürst  gesteht,  daß  er  ein  verwöhnter  Herr 
sei,  behauptet  gelogen  zu  haben,  und  das  Re- 
sultat ist  Uri"  (d.h.  der  Gedanke,  mit  Dascha 
in  die  Schweiz  zu  gehen). 

Aus  dem  hier  abgedruckten  ,,neunten  Kapi- 
tel" ist  zu  ersehen,  daß  es  zwischen  Tichon  und 
Stawrogin  zu  einem  Gespräch  über  ,,moralische 
Arbeit"  gar  nicht  kommt;  auch  ist  das  Motiv, 
warum  Stawrogin  Tichon  verläßt  und  seine  Auf- 
zeichnungen nicht  veröffentlicht,  ein  ganz  an- 
deres. 

In  den  Notizbüchern  Dostojewskijs  finden 
sich  noch  folgende  Hinweise  auf  die  Zusam- 
menkunft zwischen  Tichon  und  Stawrogin: 

7*  99 


,,Facit.  Stawrogin  als  Charakter. 
Alle  edlen  Anwandlungen  bis  zu  unge- 
heuren Extremen  (Tichon)  und  alle  Lei- 
denschaften (bei  grenzenloser  Lang- 
weile). Er  stürzt  sich  auf  die  Pflege- 
tochter* und  auf  die  Schönheit.**  Die 
Schönheit  hat  er  wirklich  verachtet  und 
nicht  geliebt,  ist  aber  plötzlich  in  einer 
(trügerischen  und  vorübergehenden 
aber  grenzenlosen)  Leidenschaft  ent- 
brannt und  sieht  sich,  nachdem  er  das 
Verbrechen  verübt,  enttäuscht.  Er  ent- 
ging der  Strafe,  erhängte  sich  aber 
selbst." 
An  einer  anderen  Stelle  finden  wir: 

,,Er  gesteht  Tichon,  daß   es    ihm   eine 
Freude  sei,  sich  über  die  Schönheit  lu- 
stig zu  machen." 
In  Wirklichkeit  macht  sich  Stawrogin  über 
Jelisaweta  Nikolajewna  gar   nicht   lustig   und 
erwähnt  sie   überhaupt  nur  ganz  flüchtig   in 
der  ,,Beichte"  und   in    seinem    Gespräch   mit 
Tichon. 

Es  findet  sich  auch  ein  Hinweis  auf  das  von 
Stawrogin  verübte  Verbrechen: 

*  Darja  Pawlowna,  Dascha. 
**  Jelisaweta  Nikolajewna. 

lOO 


„Das  Geheimnis  von  der  Heirat  weiß  nie- 
mand außer  der  Pflegetochter  und  der  Schön- 
heit. 

„Das  von  der  Kleinen  weiß  Tichon  allein." 

Schließlich  findet  sich  auch  ein  Hinweis  auf 
die  Stelle  im  Roman,  wo  die  Begegnung  zwi- 
schen Stawrogin  und  Tichon  einzuschalten 
wäre : 

„Stawrogin  rät  der  Pflegetochter,  ,S.  T .*  zu 
verlassen  und  mit  ihm  in  die  Schweiz,  nach 
Uri  zu  fliehen.  Das  war  noch  früher.  Hier  pas- 
siert das  Mißverständnis  mit  Step.  T-sch,**  der 
sich  pikiert  fühlt,  weil  ihm  angeblich  Hörner 
aufgesetzt  seien  .  .  .  und  die  Pflegetochter  geht 
zum  Bruder,  Schatow,  über.  In  diesem  Moment 
(die  Schönheit  zeigt  Eifersucht)  teilt  er  ihr  mit, 
daß  Stawrogin  mit  der  Lahmen  verheiratet  ist. 
Jene  gerät  in  Verzweiflung,  weil  alle  ihre  Hoff- 
nungen zusammengestürzt  seien  (denn  sie  ver- 
mutet, daß  der  Fürst  in  sie  verliebt  sei;  sie  selbst 
ist  aber  in  ihn  bis  zum  Wahnsinn  verliebt); 
sie  lacht  über  die  Pflegetochter,  läuft  weg  und 
gibt  sich  dem  Fürsten  hin.  Gleich  darauf  folgt 
die  Ermordung  der  Lahmen. 

„(Er  ist  bei  Tichon  gewesen.)"' 

*  Stepan  Trofimowitsch. 

'^'*'  Der  Vater  Werchowenskijs. 

lOI 


Das  sind  die  Notizen,  aus  denen  später  die 
hier  abgedruckten  Kapitel  „Bei  Tichon'  ent- 
standen sind,  die  aus  unbekanntem  Grunde  im 
Roman  ,,Die  Teufel"  fehlen.  Einige  Details 
der  ,, Beichte"  Stawrogins  hat  Dostojewski] 
später  für  die  Gestalt  Werssilows  im  ,,Halb- 
wüchsigen"  verwendet. 

W .  Pritsche 


I02 


INHALT 

Vorwort 5 

Die  Beichte  Stawrogins ii 

Anhang  1 83 

Anhang  II gS 

Beilagen 
Wiedergabe  zweier  Korrekturfahnen  mit  Ein- 
tragungen Dostojewskijs 


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Dostoevskii,  Fedor  Mik- 
hailovich 

Die  Beichte  Stawrogins