Skip to main content

Full text of "Die Bilanz des russischen Bolschewismus, auf grund authentischer Quellen dargestellt von Dimitry Gawronsky"

See other formats


JK 
"^65 

i375 


DIE  BILANZ 
E$  RUftlSCHEN 


TT 


T 


lUF  GRUHD  AUTHENTISCHER  QUELLEN 
DARGESTELLT  VON 

DIMITRY 
GAWRONtKY 


DIE  BILANZ 
DES  RUSSISCHEN  BOLSCHEWISMUS 


DIE  BILANZ 
DES  RUSSISCHEN 
BOLSCHEWISMUS 


AUF  GRUND 
AUTHENTISCHER  QUELLEN  DARGESTELLT  VON 

DIMITRY  GAWRONSKY 

DELEGIERTER 

DER  RUSSISCHEN  SOZIALREVOLUTIONÄREN  PARTEI 

ZUR  INTERNATIONALEN  SOZIALISTISCHEN 

KONFERENZ 


r 


i'  > 


VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER  /  BERLIN 

1919 


UBRA7f^->.^,_ 


DECl  2  W?       i 


'&Lm 


3)K 


Vorrede. 

Nicht  aus  Haß  gegen  den  Bolschewismus,  sondern  aus 
tiefer  Liebe  zum  russischen  Volk  und  aus  der  größten  Sorge 
um  das  Schicksal  des  Sozialismus  ist  diese  Broschüre 
geschrieben. 

Sechzehn  Jahre  betätige  ich  mich  in  der  russischen  sozia- 
listischen Bewegung.  Auch  durch  den  Krieg  wurde  diese  Tätig- 
keit in  keiner  Weise  unterbrochen.  Von  seinen  Anfängen  an 
bis  zum  Ende  war  ich  überzeugter  Internationalist,  habe  an  der 
Zimmerwalder  Bewegung  aktiv  teilgenommen  und  war  einer 
der  offiziellen  Vertreter  in  Kienthal.  Aber  gerade  weil  mir 
der  Sozialismus  so  sehr  am  Herzen  liegt,  bin  ich  ein  über- 
zeugter Gegner  des  Bolschewismus. 

Man  lese  das  vierte  Kapitel  dieser  Broschüre:  Sein  ganzes 
Material  ist  ausschließlich  den  authentischen  bolschewistischen 
Quellen  entnommen.  Man  lese  es  und  frage  sich:  Ist  es 
Sozialismus,  was  in  Rußland  jetzt  herrscht? 

Im  Januar  1919,  Pimitry  Gawronsky. 


L 

Rußland  vor  der  Revolution, 

Der  Beginn  der  revolutionären  Bewegung  in  Rußland  in 
ihrer  planmäßigen  und  organisierten  Form  liegt  etwa 
50  Jahre  zurück.  In  den  ersten  3  Jahrzehnten  hatte  diese 
Bewegung  nicht  den  Charakter  einer  Massenerscheinung. 
Sie  ging  völlig  in  der  Tätigkeit  unterirdischer  Organisationen 
auf,  die  eine  lebhafte  Propaganda  in  der  breiten  Volksmasse 
betrieben  und  sich  in  der  Periode  verschärften  politischen 
Kampfes  von  1878  bis  1882  in  weitem  Maße  der  Kampfmethode 
terroristischer  Akte  gegen  einzelne  besonders  hervorragende 
Vertreter  des  Absolutismus  bedienten.  Während  dieser  ganzen 
Zeit  lag  die  revolutionäre  Bewegung  fast  völlig  in  den  Händen 
der  russischen  Intellektuellen,  nur  vereinzelt  schlössen  sich 
ihr  gelegentlich  auch  Angehörige  des  Bauern-  und  Arbeiter- 
standes an.  So  handelte  es  sich  um  einen  Kampf  der  Intellek- 
*tuellen  für  die  Befreiung  des  Volkes,  noch  nicht  um  einen 
Kampf   des   Volkes   selbst   um    seine    eigene   Befreiung. 

Gegen  Ende  der  90er  Jahre  des  19.  Jahrhunderts  beginnt 
sich  die  Lage  zu  verändern.  Nunmehr  treten  auch  die  breiten 
Schichten  der  Volksmasse,  in  erster  Linie  des  Arbeiterstandes, 
in  die  Arena  des  sozialen  Kampfes.  Die  revolutionäre  Be- 
wegung, die  immer  mehr  anwächst  und  sich  verschärft,  um- 
faßt jetzt  auch  immer  weitere  Kreise  und  führt  schließlich  zu 
dem  gewaltigen  Ausbruch  vom  Jahre  1905,  der  um  ein  kleines 
mit  einem  vollen  Siege  der  Arbeitermasse  geendigt  hätte. 
Aber  in  dem  letzten  Augenblick  gelingt  es  dem  Selbst- 
herrschertum,  noch  standzuhalten.  Mit  verdoppelter  Hart- 
näckigkeit wirft  es  sich  nun  auf  die  Volksmasse  und  ihre 
Führer  —  die  sozialistischen  Parteien,  und  so  gelingt  es  ihm 
mit  Hilfe  eines  schrankenlosen  Terrorismus,  dieses  eine  Mal 
noch   des  Aufruhrs  Herr  zu  werden.     Allein  es  vermochte  ihn 


nur  vorübergehend  zu  unterdrücken.  Denn  die  Wurzeln  der 
revolutionären  Bewegung  in  Rußland  waren  zu  tief  in  den 
objektiven  Bedingungen  der  ganzen  staatlichen  Struktur  dieses 
Landes   gegründet. 

Das  kaiserliche  Rußland  bietet  während  mehrerer  Jahr- 
hunderte ein  Beispiel  der  allerintensivsten  und  rücksichts- 
losesten Ausbeutung  der  großen  arbeitenden  Volksmasse  durch 
die  zahlenmäßig  äußerst  schwache  besitzende  Klasse  dar.  Die 
russische  Industrie  steckte  schon  seit  ihren  ersten  Gehver- 
suchen, bei  denen  sie  die  Arbeit  der  weißen  Sklaven,  d.  h. 
der  an  die  Fabrik  gebundenen  Bauern,  ausbeutete,  gewaltige 
Profite  in  der  Weise  ein,  daß  sie  sich  der  Staatshilfe  in  Form 
von  Subsidien  und  staatlichen  Aufträgen  bediente  und  hierbei 
ihre  Arbeiter  in  uneingeschränkter  Weise  ausnutzte.  Gegen 
jede  auswärtige  Konkurrenz  sicherte  sie  sich  durch  eine  hohe 
Mauer  von  Schutzzöllen,  Daher  hatte  sie  es  auch  nicht  nötig, 
ihre  Produktionsweisen  besonders  zu  verbessern.  Der  Absatz 
war  ihr  ja  ohnedies  gewiß,  und  so  konnte  sie  denn  ihr  ganzes 
System  statt  auf  dem  Prinzip  rationeller  Produktion,  auf  dem 
des  Raubbaus  begründen.  Da  sie  einen  so  mächtigen  Gönner 
wie  die  russische  Staatsmacht  besaß,  die  alle  Arbeiterorgani- 
sationen systematisch  verfolgte  und  zerstörte  und  zum  Teil 
auch  mit  Hilfe  der  bewaffneten  Macht  niederhielt,  schuf  die 
russische  Industrie  der  Arbeiterschaft  Lebensbedingungen,  wie 
sie  sonst  innerhalb  der  Gemeinschaft  der  Kulturvölker  nirgends 
anzutreffen  ^waren.  Die  Fabrikgesetzgebung  befand  sich  noch 
in  einem  embryonalen  Zustande.  Die  Rechte  des  Arbeiters 
waren  überhaupt  nicht  geschützt,  und  der  russische  Arbeiter 
erhielt  bei  dem  längsten  Arbeitstage  den  allerniedrigsten  Lohn, 
wobei  noch  in  Betracht  kommt,  daß  sich  seine  Arbeit  unter 
den  unhygienischsten  Verhältnissen  vollzog.  Frauenarbeit  und 
die  Arbeit  Minderjähriger  durfte  hierbei  im  weitesten  Maße 
und  ohne  jede  Aufsicht  und  Kontrolle  verwendet  werden.  Der 
niedrige  Arbeitslohn  zwang  die  Arbeiter  dazu,  ihre  Familie 
hinzuopfern  und  bot  dem  Kapitalisten  neue  Möglichkeiten  der 
Ausbeutung  und  neue  Quellen  des  Profits. 

Aber  so  schwer  auch  die  Lage  der  Arbeiter  war,  die  der 
Bauern  war  noch  unerträglicher.  Bei  ihrer  Befreiung  vt)n  der 
Leibeigenschaft  hatten   sie  einen  völlig  unztjreichenden  Land- 


anteil  erhalten,  für  den  noch,  als  Ablösungspreis,  eine  Summe 
zu  bezahlen  war,  die  seinen  wirklichen  Wert  dreimal  über- 
stieg. So  litten  sie  während  der  letzten  Jahrzehnte  ganz  be- 
sonders unter  dem  großen  Landmangel  und  unter  den  über- 
mäßig hohen  Steuern.  Sie  konnten  nicht  von  dem  Ertrag  ihrer 
Länder  leben  und  waren  genötigt,  um  jeden  Preis  noch  Land 
von  den  benachbarten  Gutsbesitzern  hinzuzupachten.*) 

Die  Gutsbesitzer  kamen  den  Bauern  in  dieser  Richtung 
gern  entgegen.  Von  den  Pachtpreisen  aber  legt  schon  das  in 
Rußland  übliche  Wort  „Hungerpacht'*  ein  genügendes  Zeugnis 
ab.  Nach  den  Berechnungen  russischer  Statistiker  trat  der 
Bauer  dem  Gutsbesitzer  als  Pachtzins  nicht  nur  seinen  ganzen 
Ueberschuß,  sondern  auch  noch  20  bis  40  Prozent  des  Ertrages 
ab,  der  ihm  in  Form  von  Arbeitslohn  hätte  zustehen  sollen. 
Um  den  Pachtzins  und  die  staatlichen  Steuern  zu  bezahlen, 
war  der  russische  Bauer  genötigt,  den  größten  Teil  seiner  Ernte 
sofort  nach  ihrer  Einbringung  zu  verkaufen.  Gegen  Ende  des 
Winters  mußte  er  dann  sein  eigenes  Getreide,  nunmehr  aber 
zu  einem  weit  höheren  Preise,  zurückkaufen.  Dieses  führte  zu 
der  berühmten  Paradoxie  im  Leben  Rußlands,  daß  unsere 
Bauernschaft,  dieser  größte  Getreideproduzent,  zugleich  der 
Hauptgetreidekäufer  auf  dem   Markte   war. 

Aber  um  Getreide  kaufen  zu  können,  braucht  man  Geld, 
und  woher  sollte  man  es  nehmen?  Man  mußte  es  sich  zu  un- 
geheueren Wucherzinsen  oder  nach  dem  äußerst  verbreiteten 
System  der  Fronarbeit  verschaffen,  bei  dem  die  Arbeiter  für 
das  entliehene  Geld  mit  ihrer  Arbeit  bezahlten.  Dazu  mußten 
sie  jedoch  nach  einer  so  räuberischen  Kostenberechnung  zahlen, 


*)  Hierbei  ist  zu  beachten,  daß  von  der  russischen  Bauern- 
schaft, die  mehr  als  80  Prozent  der  Gesamtbevölkerung 
Rußlands  beträgt,  10  Prozent  fast  völlig  besitzlos  war  und 
60  Prozent  nur  über  sehr  wenig  Land  verfügte.  Diese  beiden 
Gruppen  waren  dazu  gezwungen,  fremdes  Land  in  Pacht  zu 
nehmen.  Von  den  übrigen  30  Prozent  waren  nur  10  Prozent 
selbständige  und  wohlhabende  Bauern,  die  übrigen  20  Prozent 
vermochten  sich  nur  mit  Mühe  von  den  Erträgnissen  ihres 
Landes  zu  nähren  und  nahmen  gleichfalls  gerne  zur  Pachtung 
fnemden  Landes  ihre  Zuflucht. 


daß  sie   häufij^   zehnmal  soviel   wiedererstatten  mußten,  als   sie 
in   Wahrheit    entliehen  hatten. 

Kann  man  sich  da  wundern,  daß,  als  die  russische  Statistik 
in  den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriej^e  die  Bilanz  des  Wohl- 
standes der  russischen  Bauernschaft  ziehen  wollte,  sich  folj^en- 
des  Bild  ergab?  Nimmt  man  als  Erfordernis,  um  annähernd 
menschlich  leben  zu  können,  auf  den  Kopf  der  ländlichen  Be- 
völkerung Rußlands  jährlich  424  kg  Getreide  an  (wobei  alle 
sonstigen  Bedürfnisse  in  diesen  Betrag  eingeschlossen  sind),  so 
verfügten  10  Prozent  der  Bevölkerung  über  weniger  als  300  kg, 
80  Prozent  über  mehr  als  300  kg,  aber  über  weniger  als 
jenes  Minimalquantum,  und  nur  10  Prozent  über  mehr  als  jene 
Minimalmenge.  Das  bedeutete  eine  tatsächliche  physische 
Degeneration  eines  großen  Volkes.  Die  Kindersterblichkeit  er- 
reichte auf  dem  Lande  die  für  ein  Kulturvolk  unerhörte  Höhe 
von  30  bis  35  Prozent.  Die  Menschen  alterten  schnell,  starben 
frühzeitig,  und  da  der  geschwächte  Organismus  nicht  imstande 
war,  gegen  Krankheiten  anzukämpfen,  so  wüteten  in  den 
Dörfern  alle  möglichen  Epidemien.  Jedes  Jahr  erschien  in 
Rußland,  eine  größere  oder  geringere  Zahl  von  Provinzen  er- 
greifend, der  furchtbare  asiatische  Gast,  die  Cholera,  die  aus 
den  meisten  Kulturstaaten  bereits  endgültig  verschwunden  ist. 

Um  es  aber  dem  russischen  Bauern  unmöglich  zu  machen,  die 
ganzen  Schrecknisse  seiner  Lage  zu  verstehen,  und  um  ihn 
leichter  in  der  Knechtschaft  zu  erhalten,  wurde  er  in  ein 
dichtes  Netz  von  Finsternis  und  Unwissenheit  eingehüllt.  Der 
Staat  tat  nicht  nur  nichts  für  seine  Bildung  und  Aufklärung, 
sondern  er  sorgte  in  jeder  Weise  dafür,  daß  kein  Lichtstrahl 
bis  in  das  Innere  der  Dörfer  dringen  konnte.  Der  Verkehr 
zwischen  Stadt  und  Land  war  außerordentlich  erschwert. 
Jegliche  kulturelle  Bestrebungen,  jeder  Versuch  einer  Annähe- 
rung an  den  Bauern,  um  ihm  einige  wenige  Kenntnisse  und 
einiges  Wissen  zu  vermitteln,  stieß  auf  schier  unübersteigbare 
Hindernisse.  Selbst  die  Veranstaltung  von  landwirtschaft- 
lichen Vorträgen  erregte  Verdacht  und  wurde  nur  in  äußerst 
seltenen  und  außergewöhnlichen  Fällen   genehmigt. 

So  lebte  das  große  russische  Volk,  das  zu  80  Prozent  aus 
Analphabeten  bestand,  in  tiefer  Finsternis  dahin,  indem  es 
hungernd    und    an    seinem    körperlichen    und    geistigen  Wohle 

10 


V 

Schaden  leidend,  in  schier  übermenschlicher  Arbeit  Wohlstand 
und  Reichtum  für  die  besitzende  Klasse  schuf.  Ein  furcht- 
barer Haß  gegen  seine  Unterdrücker  sammelte  sich  und  kochte 
in  seinen  Adern  —  ein  Haß,  der  sich  hie  und  da  in  elemen- 
taren Ausbrüchen  und  Revolten  Luft  machte.  Um  sich  aber 
gegen  derartige  Explosionen  zu  schützen,  bedienten  sich  die 
herrschenden  Klassen  der  gewaltigen  Staatsmaschinerie,  mit 
deren  Hilfe  sie  jeden  Auflehnungsversuch  schonungs-  und  rück- 
sichtslos unterdrückten. 

Indessen  die  Rechnung  der  besitzenden  Klassen  war  falsch. 
Schon  wenige  Jahre  nach  der  Niederwerfung  der  ersten  russi- 
schen Revolution  vom  Jahre  1905  begann  die  Welle  der  revo- 
lutionären Bewegung  von  neuem  zu  steigen  und  anzuschwellen. 
Mit  jedem  Jahre  wurde  sie  stärker  und  mächtiger.  Wieder 
begannen  die  Bauernrevolten,  und  aber  und  abermals 
strömten  auch  die  Arbeiter  auf  die  Straße  oder  gaben  ihren 
Protest  in  mächtigen  Streikbewegungen  kund.  Im  Jahre  1914 
schien  die  unausweichliche  Auseinandersetzung  nicht  mehr  zu 
umgehen.  Der  Konflikt  schien  seinen  Höhepunkt  erreicht  zu 
haben,  die  Lösung  ganz  nahe  zu  sein.  ,  .  .  Da  brach  der  Welt- 
krieg aus. 

In  den  ersten  Jahren  des  Krieges  faßte  sich  die  tiefe  Un- 
gerechtigkeit und  das  ganze  räuberische  Wesen  des  Zarismus 
wie  in  einem  Brennpunkt  zusammen.  Die  gewaltige  Masse  von 
Bauern  und  Arbeitern,  schlecht  ausgebildet,  fast  gänzlich  un- 
bewaffnet und  geführt  von  teils  unfähigen,  teils  verräterischen 
Anführern,  stieß  mit  dem  nach  allen  Regeln  der  modernen 
Technik  bewaffneten  deutschen  Imperialismus  zusammen. 
Gegen  die  schwere  Artillerie  und  die  giftigen  Gase,  gegen  das 
überlegene  Flugzeugwesen  ihrer  Feinde  war  sie  fast  gänzlich 
wehrlos  und  m.ußte  das  mit  Tausenden  von  Menschenleben  be- 
zahlen. Unterdessen  aber  feierte  im  Hinterlande  über  den 
Leichen  von  Millionen  sterbender  Soldaten  das  Kriegs- 
gewinnlertum  wilde  Bacchanalien,  Die  russische  Beamten- 
schaft, deren  Unehrlichkeit  und  Bestechlichkeit  schon  längst 
sprichwörtlich  geworden  war,  schien  von  den  untersten  bis  zu 
den  obersten  Schichten  jeden  Rest  von  Schamgefühl  und  Ge- 
wissen verloren  zu  haben.  Milliarden  von  Volksvermögen,  die 
für  die  Ernährung  und  Bewaffnung  der  Armee  bestimmt  waren, 

n 


blieben  an  ihren  klebrigen  Fingern  haften,  und  dieses  ver- 
brecherische Treiben  mußte  der  Soldat  mit  seinem  Blute  be- 
zahlen. Die  Mobilisation  der  Industrie  raubte  dem  Arbeiter 
die  letzte  Spur  von  Freiheit  und  vermehrte  zugleich  den 
Profit  der  Kapitalisten  ins  Ungemessene.  Im  ganzen  Lande 
verbreiteten  sich  Lebensmittelspekulation  und  Wucher  mit  den 
notwendigsten  Subsistenzmitteln  wie  eine  gewaltige  Epidemie 
und  dienten  zur  weiteren  Bereicherung  der  Reichen  und  zu  noch 
gewaltigerer  Verarmung  der  breiten  Volksmassen.  Für  die 
Reichen  existierte  die  Mobilisation  nur  auf  dem  Papier.  Nur 
diejenigen  von  ihnen,  die  es  selbst  wünschten,  zogen  in  den 
Krieg,  während  die  anderen  sich  begnügten,  ein  einträgliches 
und  gänzlich  ungefährliches  Pöstchen  hinter  der  Front  einzu- 
nehmen. Endlich  aber  riß  die  Geduld  des  Volkes,  und  der 
russische  Zarismus  brach,  geschwächt  durch  seine  Niederlagen 
an  der  Front  und  durch  die  zahllosen  Krankheiten  im  Innern,  im 
März  des  Jahres  1917  unter  dem  bloßen  Andrang  der  Volks- 
massen mit  einem  Schlage  und  fast  völlig  unblutig  zusammen. 
Das  große  Gefängnis,  in  dem  das  russische  Volk  im  Laufe  von 
Jahrhunderten  gelitten  und  sich  gequält  hatte,  stürzte  ein.  Die 
schweren  Fesseln  fielen  von  seinen  Händen  ab,  und  nun  konnte 
es  mit  dem  Aufbau  eines  neuen  Lebens  in  der  Freiheit  be- 
ginnen. 

Welches  aber  waren  die  Kräfte,  über  die  es  zu  diesem 
Werke  verfügte?  Wie  waren  die  Verhältnisse,  in  denen  es 
damals  lebte? 


12 


n. 

Die  innere 
Schwäche  der  russischen  Revolution« 

Das  von  dem  Joch  des  zarischen  Regimes  befreite  russische 
Volk  hatte  eine  schwere  Erbschaft  übernommen.  Der  sich 
immer  mehr  in  die  Länge  ziehende  Weltkrieg  lag  wie  eine 
drückende  Last  auf  seinen  Schultern.  Das  Land,  dessen 
Industrie  noch  schwach  entwickelt  war  und  das  vor  dem  Kriege 
60  Prozent  seiner  Nachfrage  nach  Industrieprodukten  durch 
auswärtige  Einfuhr  befriedigte,  war  fast  gänzlich  von  der  Welt 
abgeschnitten,  noch  dazu  in  einem  Moment,  wo  seine  eigene 
Industrie  sich  völlig  in  den  Dienst  des  Krieges  stellen  mußte. 
Die  Desorganisation  des  Transportwesens  auf  der  einen,  die 
ungehemmte  Spekulation  auf  der  anderen  Seite  riefen  eine 
schwere  Lebensmittelkrise  hervor,  unter  der  die  Städte  und 
die  auf  Einfuhr  angewiesenen  Provinzen  hart  zu  leiden  hatten. 
Drei  dringende  Aufgaben  erforderten  eine  sofortige  Lösung: 
der  Friede  mußte  angebahnt,  das  Volk  mit  Brot  versorgt  und 
die  errungene  Freiheit  befestigt  werden.  Diese  gewaltigen 
Aufgaben  konnte  nur  das  Volk  selbst  lösen,  wenn  es  alle 
Kräfte,  über  die  es  verfügte,  in  Bewegung  setzte.  Indessen 
das  Volk  war  dem  zaristischen  Gefängnis  ohne  jede  gewerk- 
schaftliche imd  politische  Organisation,  ohne  jegliche  Erfahrung 
und  Bildung  entstiegen.  Gänzlich  entkräftet  und  mit  Wunden 
bedeckt  war  es,  wie  ein  Held  des  Märchens,  aus  dem  finsteren 
unterirdischen  Gewölbe  entsprungen,  in  dem  es  jahrhunderte- 
lang ohne  einen  Lichtstrahl  zugebracht  hatte.  Die  Sonne  der 
Freiheit  blendete  es;  fassungslos  stand  es  da  und  wußte  nicht, 
was  es  tun  sollte.     Aber  eine  mächtige  Freude  und  eine  un- 

/  ^  13 


^ 


j^chcuerc  Begeisterung  ergriff  dieses  Volk  mit  dem  Augenblick 
seiner  Befreiung.  Es  vergaß  alle  seine  Leiden,  seinen  Haß 
gegen  seine  ehemaligen  Unterdrücker  und  erfüllte  sich  schnell 
mit  Gefühlen  tiefer  Humanität  und  sozialistischer  Solidarität. 
Es  richtete  alle  seine  Kräfte  und  seine  Energie  auf  das  eine 
Ziel,  den  Aufbau  seines  neuen  Lebens.  So  sehen  wir  denn, 
wie  die  Bauern,  die  ihr  Brot  dem.  Zaren  nur  ungern  lieferten, 
mit  einem  Male  ihre  Lieferungen  merklich  erhöhten,  wie  die 
durch  eine  übermäßige  Arbeit  erschöpften,  halb  verhungerten 
Arbeiter,  die  fortwährend  unter  der  Fuchtel  arbeiten 
mußten,  in  dem  Augenblick,  als  die  Peitsche  den  Händen 
ihrer  Unterdrücker  entfiel,  nicht  etwa  zu  arbeiten  auf- 
hörten, sondern  vielfach,  erfüllt  von  der  Idee  einer 
herrlichen  Zukunft,  in  strenger  Selbstdisziplin  die  Intensität  und 
Produktivität  ihrer  Arbeit  noch  steigerten.  Die  Desertionen 
an  der  Front  begannen  mit  einem  Male  abzunehmen,  ja,  die 
Soldaten  schienen  sich  gewissermaßen  mit  der  Tatsache  des 
Krieges  auszusöhnen.  Die  sozialistischen  Parteien  gaben  sofort 
all  ihre  Streitigkeiten  und  ihr  Gezänk  auf  und  gingen  ein- 
trächtig an  die  gemeinsame  Arbeit.  Das  gesamte  werktätige 
Volk  folgte  willig  der  Führung,  die  ihm  in  den  ersten  Wochen 
der  Revolution  in  der  sogenannten  ,, revolutionären  Demokratie" 
erstand.  Diese  revolutionäre  Demokratie,  die  sich  aus  den 
fortgeschrittensten  Elementen  der  Intellektuellen,  der  Armee, 
der  Bauern-  und  Arbeiterschaft  zusammensetzte,  wandte  sich 
nunmehr  an  die  arbeitende  Masse:  ,, Jahrhundertelang 
unterdrückt,"  so  rief  sie  ihr  zu,  ,,habt  Ihr  in  Finsternis  und 
Hungersnot  gelebt;  in  jenem  ungeheuren  Gefängnis,  das  man 
das  absolutistische  Rußland  nannte.  Doch  nun  ist  dieses  Ge- 
fängnis eingestürzt,  jetzt  gilt  es  alle  Kräfte  anzuspannen,  um 
den  Neubau  des  arbeitenden  Rußlands  aufzurichten.  Und  so- 
lange diese  gewaltige  Aufgabe,  die  noch  dadurch  unendlich 
kompliziert  wird,  daß  sie  unter  dem  harten  Druck  des  äußeren 
Feindes  vollbracht  werden  muß,  durch  Euch  nicht  erfüllt  ist, 
ehe  dieses  Gebäude  nicht  vollendet  ist,  darf  niemand  von  Euch 
auf  einen  schönen  hellen  Wohnraum  in  ihm,  auf  ein  reines, 
ruhiges,  glückliches  Leben  rechnen.  Jedermann  muß  jetzt  seine 
Kraft  verzehnfacht  einsetzen:  nicht  mehr  zum  Nutzen  fremder 
Unterdrücker,   sondern   zum   Nutzen    der   Unterdrückten.      Die 

14 


Zeit  der  großen  Opfer  und  der  Entsagung  ist  noch  nicht  vor- 
über." Und  in  der  Tat,  in  den  ersten  Wochen  schien  es  so, 
als  ob  das  Volk  trotz  aller  Finsternis  und  dem  Mangel  an 
Organisation  diesen  einfachen,  aber  grundlegenden  und  ent- 
scheidenden Gedanken  begriffen  hätte  und  sich  ganz  von  ihm 
durchdringen  ließ;  als  ob  es  verstanden  hätte,  daß  die  Revo- 
lution kein  Feiertag,  sondern  verdoppelte  Arbeit,  daß  sie  nicht 
bloß  eine  Zerstörung  und  ein  Einreißen  von  Altem,  sondern 
systematische,  unablässige,  intensivste  Schöpfung  von  Neuem 
sein  muß;  daß  die  Revolution  dadurch,  daß  sie  alte  Fesseln 
zerbrach,  noch  kein  Brot  und  keine  Freiheit  bringen,  daß  nur 
konzentrierteste  unaufhörliche  Arbeit  der  befreiten  Hände  eine 
bessere  Zukunft  schaffen  konnte.  Aber  leider  war  diese  Er- 
leuchtung des  Volkes  nur  von  kurzer  Dauer  -  .  . 

Die  russische  Revolution  gab  gleich  am  ersten  Tage  die 
Losung  des  allgemein  demokratischen  Friedens,  eines  Friedens 
ohne  Sieger  und  ohne  Besiegte,  ohne  gewaltsame  Annexionen 
und  Kontributionen  aus.  Aber  einen  solchen  allgemeinen 
Frieden  zu  schließen,  war  damals  nicht  möglich.  Einen 
Separatfrieden  abzuschließen,  war  jedoch  die  russische  Revo- 
lution nicht  geneigt.  Sie  hätte  darin  einen  Verrat  an  ihren 
grundlegenden  Prinzipien  erblickt.  Sie  strebte  nach  einer  Ver- 
brüderung aller  Völker  und  wollte  in  einem  Augenblick,  als 
auf  den  zahllosen  Fronten  die  Arbeitermassen  fast  sämtlicher 
Kulturnationen  der  Welt  fortfuhren,  sich  gegenseitig  zu  ver- 
nichten, keineswegs  bloß  das  Blut  des  russischen  Volkes  allein 
schonen.  Die  russische  Revolution  blieb  sich  selbst  treu  und 
rief  die  Arbeiterdemokratie  der  ganzen  Welt  zum  Kampf  für 
einen  allgemeinen  gerechten  Frieden  auf.  Aber  sie  wollte  auch 
nicht  von  dem  triumphierenden  Imperialismus  der  mitteleuro- 
päischen S.taaten  erdrückt  werden.  Daher  setzte  sie  mit  ihren 
letzten  Kräften  den  Krieg  zur  Verteidigung  des  Landes  fort. 
Eine  gewaltige  Aufgabe  erhob  sich  vor  der  revolutionären 
Demokratie,  in  deren  Händen  die  Staatslenkung  lag.  In  diesem 
Augenblick  wurde  es  aber  angesichts  der  geradezu  tragisch  ver- 
wickelten äußeren  und  inneren  Lage  ganz  offenkundig,  über 
wie  geringe  Kräfte  Rußland  verfügte,  um  die  ihm  gestellte  Auf- 
gabe zu  bewältigen.  Das  Bedürfnis  nach  sachkundigen  und  er- 
fahrenen     Arbeitskräften      war      ungeheuer,       man      brauchte 

15 


Tausende  von  energischen,  arbeitsfreudigen  und  kenntnisreichen 
Männern  und  hatte  doch  kaum  Hunderte  zur  Verfügung.  Dieses 
Bedürfnis  war  darum  so  besonders  groß,  weil  die  breite  Masse 
des  Volkes,  das  jahrhundertelang  in  finsterster  Unwissenheit 
und  bitterer  Knechtschaft  geschmachtet  hatte,  sich  nicht  so 
schnell  an  eine  selbständige  Tätigkeit  gewöhnen  konnte  und 
die  notwendige  Initiative  in  sich  nicht  zu  entwickeln  ver- 
mochte. Auf  Schritt  und  Tritt  bedurfte  man  der  Lehrer  und 
Führer,  und  gerade  sie  waren  schwer  zu  finden.  Aber  wenn 
die  Schwierigkeit  lediglich  darin  bestanden  hätte,  daß  das  Volk 
noch  nicht  zur  genügenden  Selbständigkeit  erwacht  wäre,  so 
wäre  sie  vielleicht  noch  zu  überwinden  gewesen:  denn  ein  ein- 
ziger Revolutionstag  leistet  oft  für  die  Entwicklung  des  Volkes 
mehr  als  viele  Jahre  dumpfen  Dahinvegetierens.  Leider  aber 
lagen  die  Verhältnisse  weit  schlimmer,  und  schon  nach  einigen 
Revolutionswochen  wurde  es  völlig  klar,  daß  die  breiten  Volks- 
schichten Rußlands  zu  einer  sozialen  Tätigkeit  nicht  bloß  un- 
fähig, sondern  gar  nicht  einmal  geneigt  waren. 

Kaum  waren  die  ersten  Wochen  voll  allgemeinen  Jubels 
und  Begeisterung  vorüber,  da  begann  der  völlige  Zerfall  aller 
staatlichen  und  nationalen  Bande,  aller  Bande  der  Solidarität, 
sich  mit  furchtbarer  Klarheit  abzuzeichnen.  Dies  war  viel- 
leicht die  bitterste  Folge  der  Erbschaft  des  Zarismus.  Jahr- 
hundertelang hatten  sich  die  breiten  Volksmassen  daran  ge- 
wöhnt, in  dem  Staat  nur  einen  Mechanismus  zu  ihrer  unbarm- 
herzigsten Unterdrückung  zu  sehen.  Der  Staat  fiel  für  sie  zu- 
sammen mit  der  Vorstellung  von  Steuern,  Polizeibehörden, 
kurzum  mit  dem  ganzen  System  eines  unerhörten  Druckes  und 
Zwanges.  Der  Zarismus  war  zerfallen,  der  russische  Staat  ver- 
wandelte sich  in  einen  Volksstaat,  aber  in  den  breiten  Massen 
konnte  die  entsprechende  psychologische  Wandlung  sich  nicht 
mit  der  gleichen  Schnelligkeit  vollziehen.  Es  war  für  sie  nicht 
so  leicht,  sich  mit  dem  Gedanken  zu  erfüllen,  daß  der  Staat 
jetzt  den  Willen  und  das  Interesse  der  gesamten  Arbeitermasse 
personifiziere,  und  daß  daher  die  staatlichen  Interessen  über 
den  persönlichen  und  den  Gruppeninteressen  stehen  müßten. 
Dies  war  für  sie  um  so  schwerer  zu  begreifen,  weil  alles,  was 
sie  vor  der  Revolution  um  sich  herum  beobachtet  hatten, 
lediglich    eine    wilde    Orgie    der    persönlichen    Interessen    ge- 

16 


Wesen  war,  wobei  alle  lebendigen  Bedürfnisse  des  Volkes 
als  solche,  insbesondere  die  der  arbeitenden  Volksraassen 
einer  dünnen  Oberschicht  zum  Opfer  gebracht  wurden.  Ja, 
auch  nach  der  Revolution  sahen  sie  nichts  anderes  vor  sich: 
sie  sahen,  wie  die  besitzenden  Klassen  sich  zäh  an  alle  ihre 
Privilegien  und  an  ihren  Reichtum  klammerten,  wie  mühsam 
sie  dazu  gebracht  werden  konnten,  auch  nur  einen  kleinen  Teil 
dessen,  was  sie  sich  während  des  Krieges  erworben  hatten,  dem 
allgemeinen  Wohl  zugute  kommen  zu  lassen.  Mußten  doch 
die  englischen  Fabrikanten  in  Rußland  im  Sommer  des 
Jahres  1917  freiwillig  auf  einen  Teil  ihres  Profites  verzichten, 
um  durch  ihr  Beispiel  die  russischen  Kapitalisten  zu  einem 
ähnlichen  Vorgehen  zu  veranlassen! 

Aeußerlich  schien  alles  auch  weiter  gut  zu  stehen.  Ganz 
Rußland  bedeckte  sich  rasch  mit  einem  Netz  revolutionärer  Or- 
ganisationen. Ueberall  fanden  Wahlen  in  die  lokalen  Körper- 
schaften auf  Grundlage  eines  äußerst  demokratischen  Wahlrechtes 
statt,  und  diese  Wahlen  führten  stets  zu  einer  so  erdrückenden 
sozialistischen  Mehrheit,  wie  sie  die  Geschichte  der  Parteien 
noch  in  keinem  Lande  aufzuweisen  gehabt  hatte.  Es  schien, 
daß  ganz  Rußland  von  einer  gewaltigen  demokratischen  und 
sozialistischen  Welle  erfaßt  worden  sei.  In  der  Tat  aber  war 
die  russische  Revolution  äußerst  arm  an  allen  demokratischen 
und  sozialistischen  Elementen.  Freilich,  ihr  Vortrupp,  die 
revolutionäre  Demokratie,  war  aufs  tiefste,  bis  zu  ihrem  letzten 
Vertreter,  von  diesen  Idealen  durchdrungen,  aber  sie  war  doch 
nur  wie  eine  dünne  Schicht  auf  der  Oberfläche  der  ganzen 
gewaltigen  Volksmasse.  Und  diese  Masse  nahm  zwar  äußerst 
regen  Anteil  an  den  Abstimmungen  und  entsandte  auf  alle 
führende  Stellungen  Sozialisten,  aber  damit  erschöpfte  sich 
auch  ihre  ganze  Tätigkeit  zum  Wohle  der  Gemeinschaft.  Ihre 
ganze  sonstige  Haltung  dagegen  war  von  Grund  aus  undemo- 
kratisch und  unsozialistisch.  Das  gilt  leider  in  gleichem  Maße 
von  allen  drei  Truppengattungen  der  russischen  Revolution: 
den  Bauern,  den  Arbeitern  und  den  Soldaten.  Wir  wollen,  um 
dies  zu  zeigen,  zunächst  mit  dem  Beispiel  der  Bauern  beginnen. 

In  den  ersten  Revolutionswochen  teilten  die  Bauern,  wie 
ich  schon  erwähnt  habe,  ihren  Ueberschuß  gerne  mit  den 
anderen   Bevölkerungsklassen.     Die   Lieferungen    an    die   Front 

17 


und  an  das  Hinterland  nahmen  beträchtlich  zu.  Aber  das  alles 
hielt  nicht  lange  an.  Das  Getreidemonopol  und  die  Einführung 
von  Höchstpreisen  auf  Brot  war  nicht  nach  dem  Geschmack  der 
Getreide  produzierenden  Bauern.  Bald  wurden  Klagen  darüber 
laut,  daß  die  Stadt  dem  Dorf  fast  gar  nichts  zurückerstatte,  und 
daß  sie  ihm  das,  was  sie  ihm  liefere,  zu  übermäßig  hohen  und 
willkürlichen  Preisen  gewähre.  An  und  für  sich  waren  diese 
Klagen  vollkommen  berechtigt:  das  Problem  der  Höchstpreise 
auf  alle  Gegenstände  des  notwendigen  Bedarfs  erhob  sich  vor 
der  revolutionären  Demokratie  gleich  in  den  ersten  Revo- 
lutionsmonaten in  seiner  ganzen  Größe.  Ganz  unverständlich 
und  falsch  war  dagegen  das,  was  nun  weiter  geschah.  Die 
Lieferung  von  Getreide  an  die  Städte  nahm  mit  einem  Male 
stark  ab,  und  hierin  lag  immerhin  noch  eine  gewisse,  wenngleich 
ungesunde  und  verderbliche  Konsequenz.  Es  war  die  Rache, 
die  der  Bauer  an  dem  Städter  nahm.  Allein  auch  auf  dem 
Dorfe  nahmen  die  Getreidelieferungen  ab,  und  die  Land- 
bevölkerung in  den  zwölf  zentralen  Gouvernements,  die  im 
vergangenen  Jahr  von  einer  Mißernte  betroffen  waren,  wurde 
von  einer  Hungersnot  bedroht.  Diese  Bevölkerung  war  gänz- 
lich unschuldig  an  den  Zuständen.  Im  Unterschied  von  den 
Städten  war  von  ihr  ohnedies  eine  Lieferung  irgendwelcher 
Waren  nicht  zu  erwarten,  und  sie  begann  nur  deshalb  zu 
hungern,  weil  die  Bauern  der  anderen  Provinzen  ihr  Brot  nicht 
mit  ihr  teilen  wollten.  Was  aber  das  Schrecklichste  war,  die 
Getreidezufuhr  begann  an  der  Front  gleichfalls  stark  abzu- 
nehmen. Große  Heeresteile  blieben  ohne  Proviant,  ließen 
Alarmrufe  an  das  Hinterland  ergehen  und  sandten  ihm  oft  ihre 
Flüche  zu.  So  entstand  eine  Lage,  wie  wir  sie  im  Buch  der 
Geschichte  vergeblich  suchen  würden:  das  Hinterland  ver- 
weigerte denen,  die  es  mit  ihrem  Blut  verteidigten,  die  ihr 
Leben  für  es  hingegeben  hatten,  Brot  und'  Nahrung.  Und  dies 
geschah  in  einer  Zeit,  als  die  Bauern  gar  nicht  einmal  daran 
dachten^  den  Widerstand  an  der  Front  aufzugeben,  als  sie  sogar 
in  einem  eigentümlich  verstandenen  Patriotismus  zuweilen  die 
von  der  Front  zurückkehrenden  Soldaten  dafür  mißhandelten, 
weil  sie  angeblich  nicht  tapfer  genug  gekämpft  hätten.  Aber 
während  sie  dieses  Opfer  an  Blut  und  Leben  wie  etwas  ganz 
Selbstverständliches    von    den   Soldaten   forderten,    waren   sie 

18 


selbst  nur  mit  Mühe  dazu  zu  veranlassen,  das  weit  geringere 
und  so  natürliche  Opfer  zu  bringen,  einen  Teil  ihrer  Getreide- 
vorräte der  Front  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Allerdings  weit  mehr  politisches  Verständnis  zeigten  die 
Bauern  in  der  Frage  der  Aufteilung  des  Landes.  In  einem  so 
ungeheuren  Lande  wie  Rußland  mit  seinen  außerordentlich 
mannigfaltigen  Formen  des  Landbesitzes,  seiner  äußerst  un- 
gleichmäßigen Bevölkerungsdichte,  der  Verschiedenheit  der 
Bodenqualität  kann  eine  grundlegende  Bodenreform  sich  nur 
dann  in  gerechter  Weise  vollziehen  und  gute  Resultate  er- 
geben, wenn  ihre  Durchführung  in  den  Fländen  einer  wohl- 
organisierten und  zentralisierten  Staatsmaschinerie  liegt.  Und 
das  fühlten  die  Bauern  instinktiv.  Sie  fürchteten  sich  vor 
inneren  Unruhen,  vor  Kämpfen  zwischen  den  einzelnen 
Kreisen,  Dörfern  und  Dorfparteien,  die  unausweichlich  waren, 
sobald  die  endgültige  Verteilung  des  Landes  nicht  durch  über 
ihnen  stehende  und  autoritative  Institutionen  vollzogen  wurde. 
Daher  warteten  sie  geduldig  auf  die  konstituierende  Versamm- 
lung. Dagegen  war  ihr  Verhalten  zu  den  sogenannten  , .Muster- 
farmen" gänzlich  unvernünftig.  Die  Leidenschaft,  mit  der 
sie  diese  hochkulturellen  und  wertvollen  Wirtschaftsgüter  zer- 
störten, erschien  auf  den  ersten  Blick  ganz  unbegreiflich.  Die 
im  Frühjahr  des  Jahres  1917  beginnenden  Zerstörungen  und 
Verwüstungen  der  Rittergüter  hatten  noch  einen  ganz  be- 
stimmten Zweck:  hier  spielte  der  Wunsch  nach  Rache  für 
früheres  Unrecht  und  das  Verlangen,  den  Gutsherren  für  alle 
Zukunft  die  Macht  zu  entreißen,  die  entscheidende  Rolle.  Was 
für  einen  Sinn  aber  konnte  die  Vernichtung  des  Viehbestandes, 
die  Zerstörung  der  Rübenaussaat  sowie  die  Verwüstung  wert- 
voller Versuchsstationen,  die  zum  Staatseigentum  erklärt 
worden  waren,  haben?  Und  doch  war  die  Sache  sehr  einfach. 
Die  Bauern  wußten,  daß  alle  diese  fortgeschrittenen  landwirt- 
schaftlichen Gründungen  in  den  Händen  des  Staates  bleiben 
würden,  dagegen  meinten  sie,  daß,  wenn  sie  diese  Güter  wert- 
los machten,  ihnen  dann  wenigstens  das  Land  als  solches  über- 
lassen bleiben  würde.  Daß  das  ganze  Volk  hierdurch  große 
Verluste  erlitt,  regte  sie  nicht  im  geringsten  auf,  ebensowenig 
wie  der  Umstand,  daß  sie  hierbei  mit  den  einmütig  gefaßten  Be- 
schlüssen der  verschiedensten   demokratischen   Organisationen, 

19 


in    denen    ihre    Beauftragten    saßen,    in    Widerspruch    gerieten. 
—   Leider    aber   müssen    wir    feststellen,     daß    auch     die     Ar- 
beiterklasse in  ihrer  großen  Masse  nicht  viel  mehr  sozialistische 
Solidarität  bewiesen  hat.    Mit  furchtbarer  Schnelligkeit  begann 
vom  zweiten  Revolutionsmonat  an  die  Produktivität  der  Arbeit 
zu   sinken.    Allerdings  war   sie   schon  zu  Beginn  der  Revolution 
aus  verschiedenen  sehr  natürlichen  Gründen,  wie  schlechte  Er- 
nährung der  Arbeiter,  große  vermehrte  Einstellung  von  Frauen, 
Kindern  und  Greisen,  Abnutzung  der  Maschinen,  häufige  Unter- 
brechung  der   Arbeit  aus    Mangel    an    Rohstoffen,    beträchtlich 
zurückgegangen.     Aber  selbst  bei  Berücksichtigung  aller  dieser 
Umstände  erkennen  wir  doch,  daß  an  dem  Sinken  der  Produk- 
tivkraft in  der  unmittelbar  auf  die  Revolution  folgenden  Periode 
die    Arbeiter    selbst    die    Hauptschuld    tragen.      Schon    allein 
der  Umstand,  daß  dieser  Niedergang   der  Produktivität   in  der 
Periode  von  März  bis  Juni  sich  so  schnell  und  sprunghaft  voll- 
zog, daß  er  in  keinem  Verhältnis  zu  der  Verschlechterung  der 
allgemeinen   Lebenshaltung   stand,  beleuchtet    die    ganze    Lage 
mit  außerordentlicher  Deutlichkeit.     Es  ist  von   Interesse,  das 
Sinken  der  Produktivität  in  den  einzelnen  Fabriken  und  indu- 
striellen  Unternehmungen   zu   verfolgen.     So   stellte  die  Aero- 
.planfabrik    Dux  in    Moskau   statt    der   üblichen    50    Aeroplane 
in  einem  Monat  nur  noch  5  her.     Die  großen  Eisenbahnwerk- 
stätten in  Perowo   bei  Moskau  lieferten  statt  der  üblichen  25 
bis   30   ausgebesserten   Lokomotiven   im   April   3   und   im   Mai 
nicht  eine  einzige  ab.     Im  Sommer  des  vorigen  Jahres  wurde 
in  der  Nähe  von  Moskau  eine  gewaltige  Fabrik  errichtet.    Noch 
im  Februar  schichtete  ein  Maurer  von  mittlerer  Geschicklich- 
keit mit  zwei  Gehilfen  bei   10  stündiger  Arbeitszeit  über   1000 
Ziegelsteine  auf.    Im  Juni  brachte  er  es  bei  einem  achtstündigen 
Arbeitstag  auf  nicht  mehr  als  120.    Bald  stellte  sich  heraus,  daß 
bei  einem  solchen  Arbeitstempo  ein  jeder  Ziegelstein  ungefähr 
auf   1    Rubel   zu    stehen   kam    und   der  Weiterbau    der   Fabrik 
mußte   unterbrochen  werden.     Nicht  nur   die   Soldaten   an  der 
Front,  die  dem  mächtigen  Feinde  Aug  in  Aug  gegenüberstanden, 
erhielten  immer  weniger  und  weniger  Munition:  das  ganze  Land, 
das   nach   Industrieprodukten   förmlich   dürstete,   wurde   nur   in 
notdürftigster    Weise    mit    Gegenständen    des    Lebensbedarfes 
versorgt. 

20 


Zugleich  aber  begann  sich  im  ganzen  Lande  mit  ele- 
mentarer Gewalt  eine  mächtige  Streikbewegung  zu  ent- 
wickeln. Soweit  dieses  Kampfmittel  unter  Leitung  und 
Kontrolle  der  Arbeiterorganisationen  zur  Anwendung  kam, 
soweit  also  eine  solche  Organisation,  d.  h.  eine  Gewerk- 
schaft oder  irgendein  Arbeiterrat,  die  Notwendigkeit  eines 
Streikes  anerkannte,  konnte  die  Bewegung  auf  die  allgemeine 
Sympathie  und  Unterstützung  aller  sozialistischen  Parteien 
rechnen.  Allein  nur  allzuoft  wurden  Streiks  zur  Durchführung 
völlig  unmöglicher  Forderungen  inszeniert.  Es  fanden  fortwäh- 
rende Kämpfe  statt,  um  den  neugeschlossenen  Tarifverträgen 
rückwirkende  Kraft  zu  verleihen,  damit  auf  Grund  dieser  Ver- 
träge nicht  nur  die  Löhne  für  das  Jahr  1917,  sondern  auch  für 
das  Jahr  1916  nachgezahlt  würden.  In  der  großen  amerika- 
nischen Fabrik  Singer  in  Podolsk  (im  Moskauer  Gouvernement) 
verlangten  die  Arbeiter  sogar,  daß  ihnen  je  15  Kopeken  für  jede 
Arbeitsstunde  während  der  ganzen  Kriegszeit  nachgezahlt 
würden.  Auf  Grund  dieser  Forderung  hätte  die  Fabrik  sofort 
12  Millionen  an  Arbeitslohn  auszahlen  müssen.  Sie  zog  es  aber 
vor,  den  Betrieb  zu  schließen,  wodurch  8000  Arbeiter  arbeitslos 
wurden.  Immerfort  drohten  auch  die  Arbeiter  solcher  Betriebe 
mit  Streiks,  deren  ununterbrochene  Tätigkeit  durch  die  aller- 
dringlichsten  Bedürfnisse  der  gesamten  Bevölkerung  geboten 
war,  und  sie  setzten  ihre  Worte  in  Taten  um.  Wir  brauchen 
nur  an  die  fortwährenden  Drohungen  der  Eisenbahner  zu  er- 
innern, den  gesamten  Verkehr  in  ganz  Rußland  zum  Stillstand 
zu  bringen;  eine  Bestrebung,  mit  der  die  revoluiionäre  Demo- 
kratie in  der  Person  des  Zentral-Exekutiv-Komitees  während 
mehrerer  Monate  auf  das  hartnäckigste  und  nicht  immer  glück- 
lich zu  kämpfen  hatte. 

Dieser  eigentümliche  Partikularismus  der  Arbeiter  trat  auch 
in  der  ungerechten  Weise  zutage,  in  der  sie  die  eintreffenden 
Rohprodukte  und  Heizmaterialien  zur  Verteilung  brachten. 
Jede  Fabrik  und  jede  Werkstatt  suchte  sich  soviel  als  mög- 
lich davon  zu  sichern,  ohne  sich  im  geringsten  um  ihre  Ge- 
nossen zu  kümmern.  Und  nur  die  Intervention  der  Zentralräte 
war  imstande,   die  hierdurch  entstehenden  Konflikte  beizulegen. 

Das  Resultat  dieses  eigenmächtigen  Vorgehens  im  wirt- 
schaftlichen Kampfe,    des  Mangels    an  Sölidaritätsgefühl    sowie 

21 


einer  strengen  Disziplin  und  einer  tätigen  gegenseitigen  Hilfe 
führte  zu  dem  überraschenden  Ergebnis  einer  bis  zum  äußersten 
ungerechten  Verteilung  der  Arbeitslöhne.  Einzelne  Arbeiter- 
gruppen eroberten  sich  eine  tatsachlich  glänzende  materielle 
Lage.  Die  Lastträger  an  der  Wolga  erhielten  für  die  Ausladung 
eines  jeden  Sackes  75  Kopeken,  und  so  verdienten  sie  in  2 — 3 
Stunden  weit  mehr  als  sie  für  ihren  Lebensunterhalt  brauchten.*) 
In  Moskau  gab  es  im  Sommer  1917  gewisse  Kategorien  von 
Arbeitern,  die  13  000  Rubel  jährlich,  d.  h.  4000  Rubel  mehr  ver- 
dienten als  der  Bürgermeister  von  Moskau,  und  in  dieser  selben 
Zeit  hatte  der  mittlere  tägliche  Arbeitslohn  noch  keine  5  Rubel 
überstiegen,  während  er  in  der  Provinz  noch  weit  tiefer  stand. 


*  * 

* 


Am  tragischsten  und  schwierigsten  aber  war  die  Lage  des 
russischen  Soldaten  nach  der  Revolution,  d.  h.  der  Kampftrup- 
pen, die  noch  weiter  an  der  Front  aushielten.  Das  Hinlerland 
hatte  sie  scheinbar  ganz  plötzlich  vergessen,  sie  gänzlich  im  Stiche 
gelassen,  und  dies  war  in  erster  Linie  durch  diejenigen  geschehen, 
deren  direkte  Aufgabe  es  doch  sein  mußte,  ihnen  zu  helfen  und 
an  ihre  Stelle  zu  treten.  Ich  spreche  hier  von  dem  Verhalten 
der  Garnisonen  in  der  Etappe.  Schon  allein  die  Verfügung, 
nach  der  die  Garnison  von  Petersburg,  gewissermaßen  zum  Dank 
für  ihre  Haltung  in  den  Märztagen,  das  Recht  erhielt,  bis  zum 
Kriegsende  in  der  Hauptstadt  zu  bleiben,  um  die  Revolution  zu 
beschützen,  war  höchst  ungerecht.  Die  Soldaten  an  der  Front 
konnten  das  nur  als  eine  Kränkung  auffassen,  wie  wenn  sie 
weniger  Bereitwilligkeit  gezeigt  hätten,  die  Revolution  zu 
schützen.  Aber  auch  in  anderer  Beziehung  hatte  diese  Ver- 
fügung sehr  verderbliche  Folgen:  scfern  nämlich  alle  Garni- 
sonen der  Etappe  nunmehr  den  heftigen  Wunsch  kundgaben, 
dem  Beispiele  Petersburgs  zu  folgen  und  zu  Hause  zu  bleiben, 
um  die  Revolution  zu  beschützen.    Natürlich  war  dieser  ,, Schutz 


*)  Es  ist  charakteristisch,  daß  diese  Lastträger  nach  2  bis  3 
Stunden  die  Arbeit  von  selbst  einstellten,  aber  auch  keinem 
Aushilfsarbeiter  gestatteten,  sich  weiter  mit  der  Ausladung  zu 
beschäftigen,  was  dazu  führte,  daß  die  Waren  sich  in  großer 
Menge  ansammelten:  ein  Zustand,  unter  den)  das  ganze  Land 
zu  leiden  hatte. 

22 


der  Revolution"  nichts  als  ein  Vorwand;  der  Grund,  warum  sie 
nicht  an  die  Front  gehen  wollten,   war  weit  einfacher. 

Man  sagt  oft  vom  russischen  Volk,  es  hätte  nicht  gewußt 
und  nicht  verstanden,  wofür  es  eigentlich  kämpfte,  aber  das  ist 
nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wahr.  Es  verstand  dies  sehr 
wohl.  Aber  es  wurde  in  keiner  Weise  tiefer  davon  ergriffen. 
Jener  Aufschwung  des  nationalen  Gefühls,  der  den  kriege- 
rischen Enthusiasmus  weckt,  der  zahlreiche  Freiwillige  der 
Armee  zuströmen  läßt  usw.,  war  am  Ende  des  3.  Kriegsjahres 
vollkommen  verlorengegangen.  Freilich,  ein  großes  Stück 
russischen  Gebietes  war  vom  Feinde  besetzt.  Aber  das  okku- 
pierte Land  stellte  nur  einen  verschwindenden  Bruchteil  von 
Rußland  dar,  und  das  Volk,  das  keinen  Begriff  von  der  Einheit 
und  Unteilbarkeit  des  Reiches  hatte,  hatte  auch  gar  kein  Ge- 
fühl dafür,  daß  der  Feind  in  sein  Land  eingebrochen  war.  Es 
ist  höchst  merkwürdig,  wie  hierbei  jene  Eigenschaft  des  russi- 
schen Volkes  zum  Ausdruck  kam,  von  der  ich  schon  früher 
gesprochen  habe:  jener  vollkommene  Mangel  an  Verständnis 
für  den  Staat,  ja  selbst  für  seine  eigene  Klasse  als  ein  Ganzes. 
Jeder  einzelne  Russe  fühlt  sich  als  ein  einzelner  viel  zu 
schwach,  um  sich  auf  seine  eigenen  Kräfte  verlassen  zu  können; 
aber  sobald  er  sich  als  zugehörig  zu  irgendeiner  Gruppe  oder 
Korporation  fühlt,  wird  er  schnell  von  einem  engherzigen 
Gruppenpatriotismus  ergriffen.  Bald  kennt  er  nichts  mehr 
außer  ihr  und  will  auch  nichts  außer  ihr  kennen.  Die  einzelnen 
Dörfer,  Fabriken,  Regimenter  und  andere  größere  oder  kleinere 
gesellschaftliche  Einheiten  stellen  solche  Gruppen  dar.  Sein 
Dorf,  seinen  Fetzen  Land  ist  der  russische  Bauer  bereit,  mit 
dem  Mute  des  Löwen  zu  verteidigen.  Aber  schon  das  Los  der 
benachbarten  Provinz  bewegt  ihn  nicht  im  geringsten,  gar  nicht 
erst  zu  reden  von  dem  Schicksale  des  Staates  oder  des  Vater- 
landes. Hierfür  bietet  die  Antwort  eines  Trupps  von  Soldaten, 
der  während  des  deutschen  Vormarsches  im  Süden  Rußlands 
Mitte  Juli  die  Front  verlassen  hatte  und  ins  Innere  des  Landes  ent- 
flohen war,  ein  charakteristisches  Beispiel,  Als  ein  Kommissar  ihn 
durch  den  Hinweis  darauf,  daß  die  Deutschen  Moskau  besetzen 
würden,  zurückzuhalten  versuchte,  bekam  er  folgende  Antwort 
zu  hören:    „Was  geht  das  uns  an,  wir  sind  doch  aus  Tambow," 

Der    russische    Soldat    verstand    sehr    wohl,    was   für    eine 

33 


Niederlande  ihm  der  deutsche  Imperialismus  bereiten  wollte, 
welche  Gefahr  seinem  Lande  drohte,  aber  das  alles  ging 
ihm  nicht  nahe.  Nur  eine  eiserne  Disziplin  konnte  ihn  dazu 
bringen,  weiter  zu  kämpfen,  diese  aber  begann  sich  mit  jedem 
Tage  in  der  russischen  Armee  immer  mehr  zu  verflüchtigen. 
Am  schnellsten  entledigten  sich  die  Garnisonsoldaten  jeden 
Restes  von  Disziplin.  Kaum  waren  einige  Wochen  seit  der  Re- 
volution vergangen,  da  war  der  Heimatsoldat  nicht  mehr 
wiederzuerkennen.  Alles  Exerzieren  hatte  aufgehört,  die 
Soldaten  strömten  vom  frühen  Morgen  an  in  Massen  aus  der 
Kaserne,  um  sich  mit  kleinen  Spekulationen  abzugeben,  für 
Geld  nach  Lebensmitteln  zu  stehen,  Gepäck  an  den  Bahnhof 
zu  tragen  usw.  Die  Kranken,  die  sich  noch  bewegen  konnten, 
spazierten  in  ihren  Anstaltskitteln  in  der  ganzen  Stadt  herum, 
darunter  solche  mit  allen  möglichen  ansteckenden  Krankheiten, 
die  das  Krankheitsgift  überall  verbreiteten.  Kein  Mensch 
wollte  mehr  an  die  Front  gehen.  So  erhielt  der  Moskauer  Be- 
zirk, der  zu  jener  Zeit  800  000  Mann  Reservemannschaften 
zählte,  gegen  Ende  Mai  den  Befehl,  10  Kompagnien  zum  Ab- 
marsch an  die.  Front  zu  stellen.  Alle  10  Kompagnien,  die  zum 
Transport  bestimmt  waren,  weigerten  sich  jedoch,  diesem  Be- 
fehl nachzukommen;  sie  mit  Gewalt  dazu  zu  zwingen,  war  un- 
möglich, da  man  keinen  Truppenteil  finden  konnte,  der  bereit 
gewesen  wäre,  diesen  Auftrag  zu  übernehmen,  ja  mehr  noch, 
alle  Regimenter  am  Ort  sagten  den  Aufrührern  ihre  Unter- 
stützung zu.  So  war  man  genötigt,  zu  der  einzigen  Waffe,  über 
die  die  revolutionäre  Demokratie  verfügte,  seine  Zuflucht  zu 
nehmen,  nämlich  zur  Ueberredung,  Aber  das  Resultat  war 
kläglich.  Von  diesen  10  Kompagnien  marschierte  nur  eine  ein- 
zige ab,  aber  auch  diese  gelangte  nur  bis  Wjasma:  hier  zwang  sie 
den  Lokomotivführer,  die  Lokomotive  an  das  Ende  des  Zuges 
anzukoppeln  und  sie  zurückzufahren.  Aehnliche  Vorgänge 
wurden  bald  gang  und  gäbe.  Und  wenn  trotzdem  noch  ein- 
zelne Truppenteile  bis  an  die  Front  gelangten,  so  trafen  sie  hier 
in  einem  so  demoralisierten  Zustande  ein,  daß  sie  gar  keine 
Kampfkraft  mehr  besaßen,  sondern  höchstens  als  eine  negative 
Größe,  d,  h,  als  Faktor  der  moralischen  Zersetzung  in  Betracht 
kamen.  In  der  Heimat  aber  weigerten  sich  die  Garnison- 
soldatcn   nicht    nur,    an    die    Front    abzugehen,    sondern   veran- 

24 


stalteten  häufig  als  Antwort  auf  die  bloße  Aufforderung  sinn- 
lose Straßenaufstände.  Ein  charakteristischer  Vorfall  er- 
eignete sich  z.  B.  in  Simbirsk.  Eine  Felddivision,  die 
mehrere  Monate  lang  die  vordersten  Linien  gehalten 
hatte,  vi^andte  sich  an  ihre  Reserveformation,  die  in 
Simbirsk  stand,  mit  dem  kameradschaftlichen  Wunsch, 
ja  noch  mehr,  mit  der  flehentlichen  Bitte,  sie  abzulösen. 
Das  Ergebnis  war  außerordentlich  überraschend.  Eine  furcht- 
bare Aufregung  bemächtigte  sich  der  Truppen,  sie  meu- 
terten und  ließen  an  der  unglücklichen,  völlig  unschuldigen 
Stadt  ihren  Zorn  aus,  indem  sie  sie  zweimal  in  einer  Woche 
in  der  blutigsten  Weise  ausplünderten  und  verwüsteten. 
Hierauf  nahmen  sie  eine  Resolution  an,  in  der  unter  anderem 
wörtlich  folgendes  zu  lesen  war:  „Wir  sind  gegen  jeden  Krieg, 
wir  halten  alle  weiteren  Opfer  für  zwecklos  und  daher  werden 
wir  nicht  an  die  Front  gehen,"  Gewiß  ein  außerordentlich 
lehrreicher  Fall  für  den  ,,Divisions-Partikularismus". 

Die  Frontarmee  löste  sich  weit  langsamer  auf.  Angesichts 
des  gefährlichen  Feindes  wurde  es  ihr  viel  schwerer,  jegliche 
Disziplin  mit  derselben  Schnelligkeit  abzuschütteln.  Lange  Zeit 
hindurch  bot  daher  die  Front  ein  äußerst  buntes  Bild. 
Einzelne  Regimenter  verließen  einfach  ihre  Stellungen,  ohne 
sich  daran  zu. stoßen,  daß  sie  hierdurch  Verrat  an  den  Nach- 
barregimentern begingen.  Ja,  noch  mehr:  sie  unterrichteten 
niemand  von  ihrem  Fortgehen,  schlössen  dafür  aber  einen 
,, Separatfrieden"  mit  dem  Feinde  ab.  Andere  Regimenter  da- 
gegen gaben  ein  Beispiel  hoher  Selbstaufopferung  und  machten 
dem  Feinde  hartnäckig  kämpfend  jeden  Fußbreit  Land  streitig. 
Diese  freilich  ziemlich  seltenen  Ausnahmen  von  heldenhaftem 
Ausharren  müssen  um  so  höher  gewertet  werden,  als  hierbei 
jeder  Schritt  von  Anbeginn  bis  zu  Ende  absolut  freiwillig  ge- 
schah. Ein  solcher  Truppenteil  entschied  in  einer  allgemeinen 
Versammlung  selbständig  darüber,  ob  er  angreifen  solle  oder 
nicht,  ob  er  die  Stellung  halten  oder  aufgeben  solle  und  es 
ereigneten  sich  Fälle,  wo  ganze  Regimenter  sich  durch  Hand- 
aufheben dem  sicheren  Tode  weihten.  Es  gab  Fälle,  wo  solche 
Truppen,  unter  dem  mörderischen  Feuer  des  Feindes  immer 
weiter  nach  vorne  drängend,  in  einem  Augenblick,  wo  sie  in 
einer     Schlucht     vorübergehend     Deckung     gefunden     hatten, 

25 


wiederum  durch  Handaufheben  beschlossen,  weiter  vorzugehen. 
Vom  strategischen  Standpunkt  gibt  es  freilich  kaum  etwas 
Törichteres  als  eine  solche  Kriegführung,  aber  kann  man  wohl 
leugnen,  daß  in  ihr,  abgesehen  von  allem,  ein  gewaltiges  Helden- 
tum imponierend  zum  Ausdruck  kommt? 

Gegen  Ende  des  Jahres  1917  hatte  die  Auflösung  der 
Armee  bereits  ungeheure  Dimensionen  erreicht.  Da  versetzte 
der  Putsch  Korniloffs  dem  Heere  einen  tödlichen  Schlag.  Nicht 
nur  die  Armeeführer,  auch  die  Soldatenräte  verloren  von  da 
an  jede  Autorität.  Jedes  Regiment,  jede  Kompagnie  entschied 
selbständig  über  alle  Fragen,  ohne  im  geringsten  auf  die  Ver- 
fügungen des  Kric^^sministeriums  und  des  von  den  Soldaten 
selbst  gewählten  allgemeinen  Armeekomitecs  Rücksicht  zu 
nehmen.  Die  Desertionen  von  der  Front  nahmen  den  Charakter 
einer  Massenflucht  an  .  .  . 

* 
So  dachte  innerhalb  der  russischen  Revolution  jede  der 
großen  Kampfgruppen  lediglich  an  ihr  eigenes  Wohl  und  zeigte 
nicht  nur  wenig  Verständnis  für  die  Nöte  der  andern,  sondern 
oft  sogar  ein  durchaus  feindseliges  Verhalten  gegen  die  Ge- 
nossen. Ganz  besonders  deutlich  trat  dies  in  dem  Verhältnis 
der  Bauern  und  Soldaten  zu  den  Arbeitern  in  Erscheinung.  Die 
Bauern  waren  nicht  so  sehr  über  die  Städte,  als  vielmehr  über 
die  Arbeiter  entrüstet.  Alles  an  diesen  empörte  sie:  die  hohen 
Arbeitslöhne  und  die  Streiks.  Auf  den  Bauernkongressen  be- 
schäftigte man  sich  damit,  unter  Zugrundelegung  des  künstlich 
niedrig  gehaltenen  Höchstpreises  für  Getreide  die  Löhne  aus- 
zurechnen, die  die  Bauern  für  jeden  Arbeitstag  erhielten.  Hier- 
bei stellte  es  sich  heraus,  daß  der  Tageslohn  des  Bauern  nur 
wenige  Kopeken  pro  Tag  betrug.  Was  aber  das  merkwürdigste 
ist:  am  meisten  empörte  die  Bauern  der  achtstündige  Arbeits- 
tag. Darauf  hatten  sie  immer  nur  eine  Antwort:  , »Nächstens 
werden  wir  auch  nur  noch  8  Stunden  arbeiten  —  dann  werdet 
ihr  alle  verhungern."  Den  Mangel  an  Manufaktur-  und  Fabrik- 
waren erklärten  sich  die  Bauern  ausschließlich  durch  das  Ver- 
halten der  Arbeiter.  Es  ist  bezeichnend,  daß  auch  die  Soldaten 
deswegen  mit  den  Arbeitern  unzufrieden  waren.  Auf  einem 
Kongreß  gab  ein  Vertreter  der  Armee  diesem  Gefühl  in  folgen- 
den  drastischen  Worten   Ausdruck:    ,,Wir   zählen   die   Stunden 

26 


bis    zu    unserem    Tode    nicht,      ihr    aber    zählt    die    Stunden 
bis  zum  Glockenzeichen."     Die  ganze   Schuld  an   dem  Mangel 
an    Munition    und    an    der    unzureichenden    technischen   Aus-   ■ 
rüstung  im  allgemeinen  schoben  die  Soldaten  auf  die  Arbeiter. 
Es  ist  daher  auch  nicht  wunderbar,  daß  selbst  eine  so  einfache 
icncl  l  «^grenzte  Frage,  wie  die  Eirziehung  eines  Teiles  der  Ar- 
beiter v'l  ihr  Ersratz  durch  heimgeschickte  Soldaten,  in  einem 
s^  unwahrscheinlichen  Maße  kompliziert  werden  konnte.     So- 
fort bildeten  sich  zwei  parallele  Kommissionen  nebeneinander, 
eine   Arbeiter-    und  eine   Soldatenkommission.      Und    während 
die  Kommission  der  Soldaten  ganze  Massen  von  Arbeitern  aus 
den  Fabriken  zurückzog,  wobei  gar  kein  Unterschied  zwischen 
Qualitätsarbeitern  und  einfachen  Handlangern  gemacht  wurde, 
ja  selbst  die  feinsten  Spezialisten  herausgezogen  wurden,  was 
unausweichlich   zum    Stillstand    ganzer    äußerst    wichtiger   Be- 
triebe   führen    mußte,    war    die  Arbeiterkommission    nur    mit 
Mühe   dahin   zu   bringen,    auch   nur   die    einfachen   Handlanger 
freizugeben.      Das    Ergebnis    waren    allerhand    Reibungen    und 
Streitigkeiten,  durch  die  sich  die  Sache  sehr  in  die  Länge  zog. 
Monate  vergingen,  ohne  das  geringste  Resultat  zu  ergeben.       ^ 
Endlich  kam  der  Moment,   wo  die  ganze  auft,^häufte   Un- 
zufriedenheit   und    der    ganze   Groll   gegeneinander   zum   Aus- 
bruch kam.     In  der  demokratischen  Konferenz  über  die  natio- 
nale Verteidigung,  die  Anfang  August  in  Petersburg  stattfand, 
war  die  revolutionäre  Demokratie  genötigt,  schier  unglaubliche 
Anstrengungen  zu  machen,  um  die  Vertreter  der  Bauernschaft 
und  der  Frontsoldaten  an   einem  offenen  Vorgehen  gegen   die 

Arbeiter  zu  verhindern. 

*  * 

* 

Umfassen  wir  das  ganze  Bild  der  russischen  Revolution  mit 
einem  Blick,  so  kommen  wir  zu  folgendem  Schluß;  Wenn  das 
Wesen  der  Demokratie  in  der  Selbständigkeit,  in  der  schöpfe- 
rischen Betätigung  der  gesamten  Volkskräfte  besteht,  bei  der 
die  soziale  Arbeit  durch  die  erwählten  Vertreter  des  Volkes 
geleitet  und  reguliert  und  durch  das  ganze  Volk  dagegen 
realisiert  und  kontrolliert  wird,  so  war  die  russische  Revolution 
als  Ganzes  ihrem  Wesen  nach  keineswegs  demokratisch.  Das 
Volk  betrachtete  seine  Erwählten  nicht  als  Führer,  deren  Kraft 
nur  in  ihm,  in  seiner  Hilfe  und  seiner  Unterstützung  liegt.     Es 

27 


betrachtete  sie  auch  nicht  als  die  Interpreten  des  Mehrheits- 
willens, denen  man  sich  eben  als  solchen  nicht  nur  unterordnet, 
sondern  die  man  auch  aktiv  fördern  und  unterstützen  muß. 
Ebenso  wie  der  beste  Feldherr  nichts  erreichen  kann,  wenn 
die  Armee  ihm  nicht  folgt,  sich  ihm  nicht  unteroidnet,  so  sind 
auch  die  Erwählten  des  Volkes  in  den  demokratischen  Insti- 
tutionen unfähig,  gegen  die  sie  von  allen  Seiten  bedrohende 
Auflösung  anzukämpfen,  wenn  die  arbeitenden  Massen  ihnen 
nicht  folgen  oder  sogar  gegen  sie  auftreten.  Diese  elementaren 
Gedanken  waren  sicherlich  leicht  genug  zu  verstehen.  Das 
Unglück  lag  nur  darin,  daß  die  Massen  sich  von  ihnen  nicht 
lenken   und   bestimmen  lassen   wollten. 

Nur  wenige  Wochen  hindurch,  in  der  Wärme  der  ersten 
Begeisterung  über  seine  Befreiung,  hatte  das  russische  Volk  all 
seine  großen  Leiden  vergessen,  all  die  furchtbaren  Wunden, 
die  ihm  die  Knechtschaft  des  Zarismus  und  die  Ausbeutung  der 
besitzenden  Klassen  geschlagen  hatten.  Aber  es  erinnerte  sich 
ihrer  bald  wieder  und  verlangte  nun  hartnäckig  und  ungeduldig 
nach  ihrer  Heilung.  Das  russische  Volk  sah  die  Revolution  als 
eine  Kraft  an,  die  ihm  sofort  ein  angenehmes,  ruhiges  und 
üppiges  Leben  ermöglichen  sollte.  Und  je  schlechter  seine 
Lage  ehemals  gewesen  war,  um  so  mehr  verlangte  es  jetzt.  Ein 
jeder  strebte  nunmehr  nicht  nach  der  allgemeinen  Gleichheit, 
sondern  nach  einem  möglichst  großen  persönlichen  Vorteil,  Das 
Land  aber  war  während  dieser  Zeit  in  einen  blutigen  Krieg 
hineingerissen  und  eingezwängt  zwischen  den  Massen  der 
beiden  gewaltigen  imperialistischen  Slaatenverbände,  von 
denen  keiner  zu  jener  Zeit  zu  einer  Verständigung  und  zur  An- 
erkennung der  Forderungen  der  russischen  Revolution  bereit 
war.  Die  russische  Volkswirtschaft  war  in  ihren  Grundfesten 
erschüttert,  und  die  Lebensmittelkrise  verschärfte  sich  immer 
mehr.  Und  in  einem  Augenblick,  wo  dem  Lande  nur  die  selbst- 
lose Arbeit  aller  Volksgenossen  und  die  Bereitschaft,  alles  zum 
Wohle  des  Ganzen  und  der  ganzen  Volksmasse  hinzugeben, 
helfen  konnte,  streckten  sich  Millionen  von  Händen,  statt  an 
die  notwendige  Arbeit  zu  gehen,  nach  der  Staatsgewalt  aus,  be- 
gannen Millionen  von  Stimmen  die  Aufteilung  erst  noch  zu 
schaffender,  noch  gar  nicht  vorhandener  Güter  zu  fordern. 
Psychologisch    ist    das    sehr    wohl    zu    verstehen.     Auch    ein 

28 


Schwerkranker  kann  nach  langem  Leiden  einmal  die  Geduld 
verlieren,  und  dann  verlangt  er  wohl  von  dem  Arzte  seine  so- 
fortige Heilung;  aber  der  Arzt  vermag  nur  das  eine  zu  tun: 
ihn  immer  wieder  aufs  neue  zur  Geduld  und  zum  harten  Kampf 
gegen  die  Krankheit  zu  ermahnen.  Wunder  vermag  er  nicht 
zu  tun.     Das  russische  Volk  aber  hoffte  auf  ein  Wunder. 

Die  breiten  Massen  des  arbeitenden  Volkes  in  Rußland 
sind  außerordentlich  leichtgläubig.  Ihrer  ganzen  Charakter- 
anlage nach  sind  sie  sehr  leicht  erregbar,  sie  besitzen  eine  große 
Phantasie  und  eine  starke  Empfänglichkeit.  Ihrer  reichen 
geistigen  Begabung  aber  hatte  bis  dahin  die  richtige  Ausbildung 
und  Entwickelung  gefehlt.  Diese  wurde  vielmehr  im  Laufe  von 
Jahrhunderten  künstlich  niedergehalten  und  nach  innen  zurück- 
gedrängt, wodurch  sie  oft  verkrüppelte  und  mißgestaltete 
Formen  annahm.  Das  Ergebnis  war  eine  fast  krankhafte 
Sensibilität  und  eine  äußerst  leicht  zu  entflammende  Erregbar- 
keit. Persönlich  und  einzeln  genommen,  ist  jeder  besonnen, 
taktvoll  und  gerecht,  aber  innerhalb,  der  großen  Masse  unter- 
liegt er  äußerst  schnell  fremdem  Einfluß  und  psychischen  In- 
fektionen jeglicher  Art,  und  so  wird  er  in  einem  Augenblick  zu 
allem  fähig.  Häufig  zum  Guten,  noch  häufiger  aber  zum  Bösen. 
Die  rationalen  Elemente  seines  Seelenlebens  sind  viel  zu 
schwach  entwickelt  und  durch  die  Kultur  zu  wenig  ausgebildet 
und  befestigt.  Auf  dieser  Grundlage  entwickelt  sich  jene  große 
Leichtgläubigkeit,  von  der  wir  sprechen.  Mit  der  größten  Ge- 
schwindigkeit faßt  irgendein  Glaube  in  ihm  Wurzel:  der  Glaube 
an  gewisse  Menschen,  an  bestimmte  Losungen  oder  an  die  Ver- 
wirklichung bestimmter  Ereignisse,  die  er  herbeiwünscht.  Man 
braucht  aber  wohl  nicht  erst  zu  erwähnen,  daß  ebenso  leicht 
auch  die  Enttäuschung  der  Begeisterung  auf  dem  Fuß  folgt, 
daß  ein  Glaube  durch  den  anderen,  die  Liebe  durch  den  Haß 
abgelöst  wird,  und  daß  dieser  Haß  häufig  unbezähmbar  ist. 
Dafür  bildet  die  Geschichte  Kerenskis  eine  glänzende  Illustra- 
tion. Monatelang  folgte  ihm  das  ganze  Volk;  freilich  durch- 
aus nicht  in  dem  Sinne,  daß  es  ihm  aktiv  half,  ihn  stützte  oder 
daß  es  seinem  Rate  folgte.  Nein,  aber  es  betete  ihn  blind  an, 
glaubte  ihm  aufs  Wort,  war  von  der  tiefsten  Ueberzeugung  er- 
füllt, daß  Kerenski  wie  durch  ein  Wunder  alles  vollbringen, 
daß  er  die  Armee  rekonstruieren,  das  Hinterland  reorganisieren 

29 


werde,  und  dies  alles  im  Grunde  genommen  ohne  jede  Beihilfe 
von  Seiten  der  breiten  Volksmasse.  So  stand  Kerenski  da,  wie 
ein  Steuermann  auf  einem  Dampfschiffe,  dessen  Maschinen  still- 
stehen, dessen  Schrauben  sich  nicht  bewegen:  er  kann  das 
Steuerrad  drehen,  wie  er  will,  nach  rechts  oder  nach  links,  der 
Dampfer  fliegt  jedoch  weiter  dorthin,  wohin  ihn  die  Gewalt 
des  Windes  treibt.  Als  es  sich  dann  auch  herausstellte,  daß 
Kerenski  nicht  imstande  war,  seine  Aufgabe  zu  erfüllen,  da 
verloren  die  Massen  schnell  den  Glauben  an  ihn  und  schenkten 
jeglicher  Verleumdung  gegen  ihn  ihr  Ohr.  Konnten  doch  die 
Bolschewik!  im  Oktober  des  Jahres  1917  auf  Hunderten  von 
Volksversammlungen  den  Anwesenden  versichern,  daß  Kerenski 
sich  mit  den  Engländern  gegen  die  roten  Matrosen  in  der  Ost- 
see verschworen  hätte.  Daher  wolle  die  englische  Flotte  ihnen 
nicht  zu  Hilfe  kommen  und  lasse  die  deutsche  Flotte  ruhig  die 
russischen  Schiffe  in  den  Grund  bohren.  Selten  wußte  irgend 
jemand  von  den  Anwesenden,  daß  die  englische  Flotte  über- 
haupt nicht  in  die  Ostsee  eindringen  konnte,  und  diese  ver- 
leumderischen Anklagen  fanden  leicht  Glauben. 

Oder  denken  wir  etwa  an  die  Erfolge  der  Sozialrevolu- 
tionären Partei.  Nur  aus  den  Gesetzen  der  Massenpsychologie 
heraus  läßt  sich  ihr  beispielloser  Erfolg  seit  den  ersten  Tagen 
der  russischen  Revolution  erklären.  Hier  trat  es  mit  unbe- 
zweifelbarer  Klarheit  ans  Licht,  daß  gewisse  psychologische  Zu- 
stände in  einem  geeigneten  Milieu  weit  ansteckender  wirken 
als  die  ansteckendste  physische  Krankheit.  Ganze  Gouverne- 
ments, ganze  Landesgebiete,  ganze  Frontteile  und  Arbeiter- 
viertel waren  von  dem  blinden  Glauben  an  die  Sozialrevolu- 
tionäre Partei  erfaßt,  von  dem  Glauben,  daß  sie  wie  durch  ein 
Wunder  Rußland  erretten  würde.  Ihre  Vertreter  wurden  in 
sämtliche  Institutionen  hineingewählt,  —  aber  das  war  auch 
alles.  Die  Volksmassen  unterstützten  sie  nicht  bei  ihrer 
schweren  Arbeit  und  sie  mußte  mit  schier  übermenschlicher 
Anstrengung  in  gemeinsamem  brüderlichen  Zusammenwirken 
mit  den  Menschewiki  an  dem  Werke  arbeiten,  das  nur  das  ganze 
Volk  vollbringen  konnte;  ja  noch  mehr,  das  Volk  hörte,  wie 
ich  schon  erwähnt  habe,  auf  seine  Auserwählten  nicht  und 
handelte  oft  im  Gegensatz  zu  ihnen.  Und  wie  oft  machte  es 
ihnen  dann  später  den  unter  diesen  Verhältnissen  nur  allzu  be- 

30 


greiflichen  Mißerfolg  ihrer  Tätigkeit  zum  Vorwurf,  ja  rächte 
sich  häufig  in  der  blutigsten  und  bestialischsten  Weise  an  ihnen; 
wie  oft  erschlug  es  seine  Vertreter  in  den  Verpflegungsämtern 
und  den  lokalen  Räten. 

Diese  psychische  Erkrankung  und  dieses  in  tiefstem  Grunde 
noch  unvernünftige,  noch  rein  instinktive  Verhalten  zu  den  wich- 
tigsten Fragen  der  Politik  wird  unter  anderem  auch  durch  den 
Umstand  illustriert,  daß  man  häufig  Fabriken  antreffen  konnte, 
deren  sämtliche  Arbeiter  Sozialrevolutionäre  und  wiederum 
andere,  deren  gesamte  Arbeiterschaft  Bolschewiki  waren, 
wobei  diese  Fabriken  sich  oft  am  selben  Ort  befanden  und  dem 
Einfluß  der  gleichen  Verhältnisse  unterlagen,  ja  sogar  dicht 
nebeneinander  standen.  Kurz,  hier  haben  wir  eine  vollständige 
Analogie  zu  den  Ansteckungsherden  epidemischer  Krank- 
heiten. 

Mit  einem  Wort,  die  breiten  Volksmassen  erwarteten  ein 
Wunder  von  der  Revolution;  sie  glaubten,  daß  sie,  die  bloß  alle 
Wege  zu  schöpferischer  Betätigung  öffnen  kann,  ihnen  sofort, 
ohne  jede  weitere  Anstrengung  von  ihrer  Seite,  alle  Früchte 
einer  noch  nicht  vollbrachten  Arbeit  in  den  Schoß  werfen 
werde.  Und  so  befand  sich  die  Partei  der  Sozialrevolutionäre 
in  der  Lage  eines  Führers,  der  sich  mit  seinen  Leuten  in  einem 
unübersehbaren,  nicht  endenwollenden  Schneefelde  verirrt  hat. 
Seine  Leute  geben  ihre  letzten  Kräfte  im  Kampf  mit  dem 
Hunger  und  der  Kälte  aus  und  gleichzeitig  zaubert  ihnen  ihre 
krankhaft  erregte  Einbildungskraft  inmitten  der  weiten  Schnee- 
ebene warme  Hütten  und  reiche,  bis  oben  mit  Lebensmitteln 
angefüllte  Speicher  vor  die  Augen.  Ein  seltsames  Wonnegefühl 
erfaßt  sie,  sie  wollen  sich  nicht  mehr  abquälen,  nicht  mehr  be- 
wegen, leise  senkt  sich  der  Schlaf  auf  ihre  Augen.  Aber  der 
Führer  weiß  nur  zu  gut,  daß  dieser  Schlaf  der  Vorbote  des 
Todes  ist,  daß  diese  Hütten,  diese  üppigen  Kornspeicher  eine 
Täuschung  sind  —  und  er  spornt  sie  an,  den  ganzen  Rest  ihrer 
Kräfte  zusammenzuraffen,  ihre  ganze  Energie  anzuspannen, 
ihrer  Ermüdung  Herr  zu  werden,  da  sonst  ihr  Untergang  un- 
vermeidlich sei.  .  .  .  Die  Sozialrevolutionäre  Partei  handelte 
ganz  wie  dieser  Führer  und  es  ist  schwer  zu  sagen,  wieviel  sie 
erreicht  hätte.  Aber  hier  trat  ein  neuer  Faktor  in  die  Er- 
scheinung: die  Partei  der  Bolschewiki. 

31 


iIL 

Die  Bolschewiki. 

In  den  ersten  Wochen  der  Revolution  arbeiteten  die  Bolsche- 
wiki einträchtig  mit  den  übrigen  sozialistischen  Parteien 
zusammen;  erst  mit  der  Ankunft  Lenins  in  Rußland  im  April 
des  Jahres  1917  nahmen  sie  einen  schnellen  Frontwechsel  vor. 
Ganz  plötzlich  begannen  sie,  den  tiefen  Mangel  an  Kultur  im 
russischen  Volke,  das  völlige  Fehlen  jeder  Organisation  gar 
nicht  mehr  zu  sehen  —  sie  nahmen  keine  Rücksicht  mehr 
darauf,  wie  schwach  noch  die  gesellschaftlichen  Solidaritäts- 
instinkte in  ihm  entwickelt  und  in  wie  beschränktem 
Maße  es  daher  für  jede  Art  von  Organisation  fähig  ist 
—  sie  hatten  mit  einem  Male  die  Ursache  aller  Uebel 
und  Fehler  im  Leben  Rußlands  entdeckt  und  kannten 
ein  unfehlbares,  patentiertes  Mittel  zu  ihrer  Beseitigung. 
Ihrer  Ansicht  nach  lag  die  Wurzel  des  Unglücks  darin, 
daß  die  Revolution  zu  langsam  fortschritt  und  nicht  tief  genug 
ging.  Die  Arbeiter  arbeiten  nur  darum  nicht,  weil  es  noch 
Kapitalisten  gäbe  und  weil  sie  sich  nicht  für  diese  abmühen 
wollen.  Die  Bauern  liefern  nur  darum  kein  Getreide  ab,  weil 
sie  noch  keine  genügende  Sicherheit  dafür  haben,  daß  das  Land 
unter  sie  verteilt  und  bei  ihnen  verbleiben  würde.  Die  Soldaten 
wollen  nur  darum  nicht  kämpfen,  weil  die  revolutionäre 
Demokratie  immer  noch  einen  imperialistischen  Krieg  führe. 
In  der  tiefen  Apathie  der  breiten  Volksschichten,  in  ihrer 
völligen  Gleichgültigkeit  gegen  jede  soziale  Tätigkeit  hatten 
sie  plötzlich  nur  das  unbefriedigte  Streben  nach  dem  Sozialis- 
mus erkannt.  In  den  elementaren  blutigen  Revolten  der 
Heimatgarnisonen,  in  den  Desertionen  von  der  Front  und  dem 
offenkundigen    Verrat    einzelner  Regimenter    wollten    sie  nicht 

32 


die  furchtbare  Müdigkeit,  geschweige  denn  die  Feigheit  sehen, 
sondern  sie  erklärten  diese  Erscheinungen  für  Aeußerungen 
eines  bewußten  Internationalismus. 

Während  die  Mehrheit  der  revolutionären  Demokratie,  in- 
dem sie  sich  nur  auf  ganz  bestimmte  Aufgaben  beschränkte 
und  ihre  ganze  Energie  auf  ihre  Verwirklichung  konzentrierte, 
hierbei  trotzdem  auf  Schritt  und  Tritt  mit  dem  Mangel  an 
organisierter  Kraft  in  Rußland  zu  kämpfen  hatte,  suchten  die 
Bolschewiki  zu  beweisen,  daß  gerade  darin  das  ganze  Unglück 
läge:  die  Ziele  seien  zu  eng  begrenzt  und  die  soziale  Basis  zu 
breit.  Man  müsse  kühn  und  offen  an  die  sofortige  und  gewalt- 
same Verwirklichung  des  Sozialismus  gehen;  dann  werde  die 
Industrie  wieder  in  Gang  kommen,  dann  werde  es  wieder  Brot 
geben,  dann  werde  der  Krieg  zu  Ende  gehen  —  denn  sogleich 
werde  das  internationale  Proletariat  sich  erheben  und  den 
Sozialismus  in  der  ganzen  Welt  in  die  Wirklichkeit  umsetzen. 
Wenn  sich  jedoch  die  soziale  Revolution  in  den  anderen  Ländern 
verzögern  sollte,  dann  würden  sich  nach  Lenins  Versicherung 
in  Rußland  Millionen  Freiwillige  um  das  sozialistische  Banner 
scharen,  um  den  Todeskampf  mit  dem  Weltimperialismus  auf- 
zunehmen. 

Die  arbeitende  Masse  befand  sich  zu  jener  Zeit  in  der 
Lage  einer  Armee,  die  eine  gewaltige,  machtvoll  ausgerüstete 
Festung  zur  Uebergabe  gezwungen  hat.  Diese  Armee  soll  von 
der  Festung  Besitz  ergreifen,  aber  je  weniger  Spezialisten  sie 
in  ihrer  Mitte  hat  und  je  komplizierter  die  Anlage  der  Festung 
ist,  um  so  schwieriger  ist  die  Aufgabe  ohne  die  Unterstützung 
ihrer  früheren  Verteidiger.  Eine  solche  Festung  stellte  der 
russische  Kapitalismus  dar.  Nachdem  die  Volksmassen  die 
Macht  errungen  hatten,  hatten  sie  sofort  die  Möglichkeit,  sich 
jeder  Art  von  Ausbeutung  durch  die  Kapitalisten  zu  erwehren; 
wie  aber  konnten  sie  mit  einem  Schlage  die  ganze  industrielle 
Klasse  beseitigen,  sie  über  Bord  werfen,  wie  konnten  sie  sich 
ohne  Hilfe  von  außen  des  ganzen  Apparates  der  kapitalistischen 
Produktion  bemächtigen  und  ihn  in  Gang  erhalten  —  sie,  die 
doch  nahezu  jeglicher  Organisation,  aller  kulturellen  Kräfte  ent- 
behrten und  in  ihrer  überwältigenden  Mehrheit  noch  An- 
alphabeten waren?  Ja,  auch  psychologisch  waren  sie  nicht 
darauf  vorbereitet.     Die  Idee  des  Sozialismus  in  ihrer  positiven 

33 


HcdcutunjJ,  als  planmäßiger  Aufbau  des  ArbclLciib.alcs,  war 
ihnen  noch  völlig  fremd.  Sie  verstanden  sie  lediglich  als  eine 
Befreiung  von  allen  Lasten  des  Lebens  und  schlössen  sich  nur 
deshalb  den  Sozialisten  an,  weil  sie  hofften,  von  ihnen  alles, 
was  sie  begehrten,  sofort  zu  erhalten.  Und  gerade  auf  diese 
Psychologie  war  die  ganze  Taktik  der  Bolschewiki  zuge- 
schnitten, alle  ihre  Kampfmethoden  und  ihre  gesamte  Agitatioji. 
Sie  suchten  in  jeder  Weise  die  heftige  Ungeduld  der  Volks- 
massen, ihren  engherzigen  Partikularismus  und  Egoismus  für 
ihre  Zwecke  nutzbar  zu  machen.  Wie  sie  schon  im 
November  des  Jahres  1917  in  ihrem  ersten  Manifest  an  die 
Armee  die  Soldaten  aufgefordert  hatten,  ,,kompagiiien-  und 
zugweise"  unverzüglich  mit  den  Deutschen  Frieden  zu 
schließen,  genau  so  hatten  sie  schon  im  Mai  des  Jahres  1917  die 
Bauern  ermuntert,  und  zwar  jedes  einzelne  Dorf  für  sich,  sich  des 
Landes  zu  bemächtigen.  Und  in  derselben  Weise  sollten  die 
Arbeiter  der  einzelnen  Fabriken  von  ihren  Betrieben  Besitz 
ergreifen.  Statt  der  revolutionären  Demokratie  behilflich  zu 
sein,  die  immer  mächtiger  anwachsende  Welle  der  anarchisti- 
schen, nur  auf  enge  egoistische  Ziele  gerichteten  Bestrebun- 
gen einzudämmen,  hetzten  sie  die  Volksmassen  systematisch 
auf,  unterstützten  prinzipiell  jeden  Streik,  jede  eigenmächtige 
und  separate  Bewegung,  ganz  unabhängig  davon,  ob  diese  der 
gesamten  Masse  des  Volkes  zum  Schaden  gereichte  oder  nicht. 
Welche  Arbeiterkategorie  auch  immer  streiken  mochte,  die 
Bäcker,  die  Arbeiter  der  Wasserleitungen,  die  Kohlenarbeiter, 
die  Eisenbahner,  immer  waren  die  Bolschewiki  dabei,  besonders 
aber  dann,  wenn  der  Streik  gegen  den  Willen  der  Mehrheit 
der  revolutionären  Demokratie  erklärt  wurde.  In  all  diesen 
Aktionen,  die  den  Ideen  der  Demokratie  und  des  Sozialismus 
einen  unwiederbringlichen  Schaden  eintrugen,  erblickten  sie  eine 
Aeußerung  der  , »revolutionären  Energie",  und  indem  sie  überall 
den  Partikularismus  und  den  Egoismus  förderten  und  die 
Anarchie  entfesselten,  glaubten  sie  selber  und  versicherten  es 
anderen  aufs  bestimmteste,  daß  sie  damit  der  Sache  des 
Sozialismus  dienten.  Statt  der  Revolution  einen  organisierten 
und  bewußten  Klassencharakter  zu  verleihen,  statt  die  Inter- 
essen der  ganzen  Arbeitermasse  auf  ein  gemeinsames  Ziel,  den 
Sozialismus,   zu  richten,   öffneten   sie   durch   eine  rohe,   plumpe 

34 


Demagogie  immer  wieder  die  alten  Wunden  und  versuchten, 
den  dumpfen,  jahrhundertelangen  Haß  der  Armen  gegen  die 
Reichen  und  der  Hungrigen  gegen  die  Satten  in  ihrem  Interesse 
auszumünzen.  Kann  man  sich  da  wundern,  daß  die  bolsche- 
wistische Agitation  in  einem  Volke,  das  von  vornherein  so 
wenig  von  den  Ideen  des  Sozialismus  und  der  Demokratie  er- 
füllt und  durchdrungen  war,  und  in  einem  Moment,  in  dem  sich 
die  Anarchie  wie  ein  mächtiger  Lavastrom  über  das  ganze  Land 
ergoß,  von  einem  fortwährend  wachsenden  Erfolge  gekrönt 
war?  Indem  sie  die  geradezu  ungeheure  Leichtgläubigkeit  der 
russischen  Volksmasse  in  ihrem  Interesse  ausbeuteten,  ver- 
sicherten die  Bolschewiki,  daß  die  Menschewiki  und  die 
Sozialrevolutionäre  den  Krieg  bewußt  in  die  Länge  zögen,  daß 
sie  den  Bauern  mit  Absicht  und  böswillig  das  Land  nicht  zu- 
teilen wollten  und  daß  sie  sich  weigerten,  den  Arbeitern  Brot 
zu  verschaffen.  Sie  behaupteten,  man  könne  alles  mit  einem 
Schlage  haben,  denn  alles  sei  im  Ueberfluß  vorhanden.  Man 
müsse  bloß  aufhören,  der  russischen  Bourgeoisie  zu  schmeicheln 
und  nachzulaufen,  man  müsse  nur  hingehen,  dreist  zugreifen  und 
mutig  handeln.  Man  könne  auch  dem  Kriege  mit  dem  äußeren 
Feind  sofort  ein  Ende  bereiten,  allerdings  nur,  indem  man  im 
eigenen  Lande  den  Bürgerkrieg  entfessele. 

Man  kann  sich  vorstellen,  wie  schnell  die  bolschewistische 
Agitation  in  der  wenig  kultivierten  Masse  des  russischen  Volkes 
einen  Widerhall  fand.  Besonders  stark  aber  war  die  Wirkung 
des  Bolschewismus  auf  die  Heimatsoldaten.  Sie  erfaßten  sein 
Wesen  sofort  als  volle  Rechtfertigung  ihrer  Unlust  am  weiteren 
Kampf  und  erfüllten  sich  mit  jedem  Tage  immer  mehr  und 
immer  schneller  mit  seinen  Ideen.  Aber  auch  die  Arbeiter 
blieben  nicht  weit  hinter  ihnen  zurück,  denn  auch  s  i  e  glaubten, 
daß  die  Bolschewiki  ihnen  sofort  das  Paradies  auf  Erden  er- 
schaffen würden.  Und  die  Sozialisten,  die  alle  ihre  Kräfte  dar- 
auf richteten,  die  Massen  vor  dem  Bolschewismus  zu  beschützen, 
um  diese  alles  unterspülende  Welle  der  Anarchie  und  des  un- 
organisierten Raubes  erfolgreich  bekämpfen  zu  können,  befanden 
sich  in  der  Lage  von  Menschen,  die  etwa  versuchen  wollten, 
einem  seit  langen  Zeiten  hungernden  Menschenhaufen  klar  zu 
machen,  daß  es  nicht  angehe,  den  ganzen  Vorrat  an  Korn  zu 
verzehren,    den  ihnen    plötzlich    ein    glücklicher    Zufall    zuteil 

35 


werden  ließ,  und  daß  man  etwas  Saatgut  übriglassen  müsse,  um 
im  nächsten  Jahre  nicht  zu  verhungern.  Gegen  den  ganzen 
Komplex  der  heißesten  und  wildesten  Leidenschaften,  gegen 
die  starke  Ermüdung,  die  Unlust,  zu  arbeiten,  gegen  das  Streben 
nach  einem  schnell  und  leicht  zu  erringenden  Gewinn,  gegen  die 
blinden  Gefühle  der  Rache  und  des  Hasses,  die  sich  in  sinnlosen 
und  zwecklosen  Pogroms  Luft  machten,  konnten  die  Sozialisten 
nur  mit  Vernunftargumenten  kämpfen.  Und  dieser  Kampf  war 
ebenso  hoffnungslos  wie  etwa  der  Wunsch,  einen  Lavastrom 
mit  hölzernen  Dämmen  aufhalten  zu  wollen. 

Tag  für  Tag  beschleunigten  die  Bolschewik!  durch  ihre 
Agitation  den  Zersetzungsprozeß  in  den  Volksmassen,  und  in- 
dem sie  sie  bald  hier,  bald  dort  ständig  zu  bewaffneten  Revolten 
aufstachelten,  zersplitterten  sie  die  ohnedies  schon  schwachen 
Kräfte  der  revolutionären  Demokratie,  gestalteten  sie  ihre  Lage 
noch  verworrener  und  ihre  Arbeit  noch  schwieriger. 

Aber  während  sie  auf  diese  Weise  objektiv  das  Werk  der 
Desorganisation  und  der  Zersetzung  förderten,  waren  die  Bol- 
schcwiki  subjektiv  in  dieser  ersten  Periode  der  russischen  Revo- 
lulion  lediglich  Träumer  und  Illusionisten.  Sie  glaubten  an  die 
Nr.  he  der  sozialen  Revolution  im  ganzen  Westen,  glaubten,  daß 
das  russische  Volk  sozialistisch  gestimmt  sei,  glaubten  an  die 
Tiefe  dieses  Instinktes  und  sahen  einen  Beweis  für  ihren  Glau- 
ben darin,  daß  die  Volksmassen  sich  ihnen  immer  mehr  und  in 
immer  wachsender  Anzahl  anschlössen.  Ihre  ganze  Ideologie 
war  aufs  tiefste  durchdrungen  von  den  Ideen  des  utopistischen 
Sozialismus  und  sogar  des  echtesten  Anarchismus.  Sie  glaubten, 
daß  alle  Bedingungen  für  einen  neuen,  gerechten  Gesellschafts- 
zustand  schon  vorhanden  seien,  daß  es  nur  eines  kleinen  Hau- 
fens aktiver,  aufopferungsfähiger  Leute  bedürfe,  um  das  Volk 
von  den  letzten  Fesseln  der  Sklaverei  und  der  Unterdrückung 
zu  befreien;  dann  w^erde  es  sich  sofort  in  einen  überzeugten, 
energischen  Baumeister  eines  neuen,  sozialistisch  geordneten 
Lebens  verwandeln.  Daher  war  auch  ihre  Taktik  im  Grunde 
genommen  anarchistisch.  Ohne  offen  mit  den  Prinzipien  der 
Demokratie  zu  brechen,  hatten  sie  doch  nicht  die  geringste 
Achtung  vor  dem  Prinzip  der  Mehrheit.  Die  breiten  Volks- 
massen betrachteten  sie  nicht  als  aktive  Kräfte  der  Revolution, 
sondern  als  ein  Objekt  ihrer  Wirksamkeit,  wobei  sie  von  der 

36 


Vorstellung  ausgingen,  daß  diese  Massen  immer  denen  folgen, 
in  deren  Händen  im  gegebenen  Augenblick  die  Macht  ist.  Dar- 
aus erklärt  sich  auch  das  Abenteuerliche  ihrer  ganzen  Taktik, 
dt  r  unbezwingliche  Wunsch,  die  Rolle  einer  aktiven  Minderheit 
zu  spielen.  War  denn  ihr  Versuch  am  16.  Juli  des  Jahres  1917, 
eine  Staatsumwälzung  durchzuführen,  nicht  ein  bloßes  Aben- 
teuer, da  sie  sich  doch  damals  nur  auf  einen  geringen  Teil  des 
Petersburger  Proletariats  und  der  Petersburger  Garnison 
stützen  konnten?  Ja,  auch  ihr  Novemberputsch  trug  den  Cha- 
rakter einer  reinen  Verschwörung.  Fand  er  doch  an  dem  Vor- 
abend des  allrussischen  Sowjetkongresses  statt,  den  sie  durch 
eine  revolutionäre  Aktion  vor  eine  vollendete  Tatsache  stellen 
und  sich  damit  die  Mehrheit  sichern  wollten.  Das  ist  ihnen 
ja  in  der  Tat  gelungen.  Sie  hatten  zwar  noch  weit  mehr  er- 
wartet: sie  glaubten,  daß  sie,  indem  sie  sich  der  Staats- 
gewalt bemächtigten  und  den  sofortigen  Uebergang  des  Grund 
und  Bodens  an  das  Volk  sowie  die  unverzügliche  Eröffnung 
von  Friedensverhandlungen  dekretierten,  damit  die  weitesten 
Sympathien  der  Volksmassen  gewinnen  und  die  Mehrheit  in  der 
konstituierenden  Nationalversammlung  erringen  würden.  Und 
erst,  als  sie  sich  überzeugen  mußten,  daß  diese  ihre  Rechnung 
falsch  war,  und  daß  sie  immer  noch  in  einer  allzu  deutlichen 
Minorität  blieben,  beschlossen  die  Bolschewiki  endgültig,  mit 
dem  Prinzip  der  Demokratie  zu  brechen,  und  jagten  die 
Nationalversammlung  auseinander. 

Das  schlimmste  Schicksal  hätte  den  Bolschewiki  nicht 
übler  mitspielen  können,  als  sie  sich  selbst,  indem  sie  sich  im 
November  der  Staatsgewalt  bemächtigten.  Von  den  Worten 
und  den  großartigen  Versprechungen  mußten  sie  nunmehr  zu 
Traten  schreiten.  Zuerst  waren  die  Bolschewiki  selbst  er- 
schrocken. In  den  ersten  Tagen  traten  sechs  von  den  Volks- 
kommissaren zurück,  da  sie  es  für  unmöglich  hielten,  ohne  die 
Hilfe  der  anderen  sozialistischen  Parteien  auskommen  zu  kön- 
nen. Ja,  man  begann  sogar  mit  diesen  Parteien  zu  verhandeln, 
aber  diese  Verhandlungen  wurden  schnell  abgebrochen,  da  die 
Bolschewiki  dennoch  entschlossen  waren,  ihr  Programm  in 
seiner  , »prinzipiellen  Reinheit"  durchzuführen.  Und  so  setzte 
denn  überall  bei  den  höchsten  Instanzen,  den  Zentralräten  und 
den  bolschewistischen  Parteiorganisationen  eine  lebhafte  Tätig- 

37 


keit  ein.  Ein  ganze.«  Füllhorn  von  Dekreten  und  Verfügungen 
ergoß  sich  über  das  Volk.  In  der  Volksmasse  selbst  aber 
nahm  der  alte  Prozeß  der  Zersetzung  seinen  Fortgang,  kochten 
nach  wie  vor  die  gleichen  anarchischen  Leidenschaften,  waren 
immer  noch  die  alten  zentrifugalen  Mächte  am  Werk,  und 
der  Unterschied  lag  bloß  darin,  daß  mit  dem  Uebergang  der 
Gewalt  an  die  Bolschewiki  die  letzten  Solidaritätsbande  rissen 
und  die  letzten  Hemmungen  verschwanden.  Die  schiefe  Ebene, 
auf  der  die  russische  Revolution  in  den  Abgrund  hinabglitt, 
führte  sprunghaft  in  die  Tiefe.  In  den  ersten  zwei  Wochen 
der  bolschewistischen  Herrschaft  fielen  die  Getreidelieferun- 
gen an  der  Front  und  für  die  Städte  bis  auf  45  Prozent  ihrer 
bisherigen  Höhe.  Ueberall  ging  eine  mächtige  Welle  der  Zer- 
störung und  Verwüstung  der  gutsherrlichen  Besitzungen  über 
das  Land.  Einzelne  Kreise,  Dörfer,  ja  sogar  Privatpersonen 
ergriffen  eigenmächtig  Besitz  vom  freien  Boden.  Die  Intensität 
der  Arbeit  sank  noch  weiter,  der  achtstündige  Arbeitstag 
wurde  von  den  Arbeitern  selbst  nur  noch  der  „achtstündige 
italienische  Streik"  genannt.  Die  Armee  begann  rasch  aus- 
einander zu  laufen,  indem  sie  dem  Feinde  ihre  ganze  Aus- 
rüstung und  Munition  verkaufte  oder  sie  mit  sich  nahm. 
Freilich,  man  verkaufte  sie  nicht  bloß  an  den  Feind;  so  konnte 
der  Verfasser  dieser  Zeilen  im  Dezember  des  Jahres  1917  wäh- 
rend seiner  Anwesenheit  an  der  Dünafront  sich  nur  mit  Mühe 
der  verschiedensten,  äußerst  vorteilhaften  Anerbietungen  er- 
wehren: man  konnte  ganze  Batterien  für  den  lächerlichen 
Preis  von  einigen  hundert  Rubeln  kaufen.  Die  Pferde  ver- 
kaufte man  gleichfalls,  teils  an  die  Deutschen,  teils  nahm  man 
sie  mit  und  veräußerte  sie  dann  an  die  Bevölkerung.  Die 
Matrosen  der  Ostseeflotte,  nach  der  Versicherung  Trotzkis 
,, diese  Zierde  und  dieser  Stolz  der  russischen  Revolution", 
raubten  zunächst  einmal  alles,  dessen  man  auf  den  Schiffen 
habhaft  werden  konnte,  und  suchten  erst  dieses  Material,  dann 
aber  die  Schiffe  selbst  nach  Möglichkeit  zu  verkaufen.  Die 
kleinbürgerlichen  Leidenschaften  erhoben  sich  mit  einem 
Schlage  und  unaufhaltsam  in  ganz  Rußland  und  schienen  es 
endlich  völlig  überschwemmen  zu  wollen.  Selbst  ein  Blinder 
hätte  ahnen  und  verstehen  können,  wie  wenig  bewußt,  wie 
unvernünftig    noch    unsere    Volksmasse,      wie    weit    sie    vom 

38 


Sozialismus,  ja  selbst  von  der  richtigen  Demokratie  entfernt 
sei.  Das  negative  Programm  des  Bolschewismus  hatten  die 
Massen  ohne  jede  Schw^ierigkeit  begriffen:  man  braucht  nicht 
zu  kämpfen,  braucht  keine  Pflichten  mehr  anzuerkennen,  man 
braucht  sich  nur  zu  nehmen,  zu  holen  und  anzueignen,  was 
man  bekommen  kann,  oder  wie  dies  Lenin  wundervoll  formu- 
liert hat,  man  „raube  das  Geraubte".  Indessen,  das  positive 
Programm  sogar  des  Bolschewismus,  so  primitiv  es  auch  sein 
mochte,  blieb  dieser  Masse  vollkommen  fremd.  Es  war  völlig 
klar,  daß  von  dem  Augenblick  an,  wo  die  Bolschewisten  auf- 
hören würden,  den  Volksmassen  blind  zu  folgen  und  ihren 
niedrigsten  Instinkten  zu  schmeicheln,  indem  sie  diesen  In- 
stinkten freilich  den  Charakter  hochherziger,  erhabener  Be- 
strebungen zu  geben  suchten,  daß  von  dem  Moment  an,  wo 
sie  den  Versuch  machen  würden,  ihr  Programm  auch  nur  im 
geringsten  Grade  zu  verwirklichen,  sie  jede  Hilfe  und  Unter- 
stützung der  Massen  verlieren  und  auf  ihren  passiven  oder  so- 
gar aktiven  Widerstand  stoßen  würden.  Aber  hierüber 
machten  sich  die  Bolschewisten  nicht  viel  Gedanken,  sie 
schreckten  eben  vor  nichts  zurück. 


Schon  mehr  als  ein  Jahr  lang  befinden  sich  heute  die 
Bolschewik!  an  der  Macht.  Die  Zeit  ist  gekommen,  die  Bilanz 
ihrer  Herrschaft,  ihrer  gesamten  Tätigkeit  in  der  inneren  und 
äußeren  Politik  zu  ziehen.  Beginjien  wir  zunächst  einmal  mit 
der  ersteren. 

Ich  habe  schon  erwähnt,  daß  der  Auflösungsprozeß  der 
Armee  sich  in  elementarer,  unaufhaltsamer  Weise  vollzog. 
Aber  statt  ihn  aufzuhalten,  statt  gegen  diese  Erscheinung  zu 
kämpfen,  trugen  die  Bolschewik!  durch  ihre  hartnäckige  Agita- 
tion und  ihre  Versicherung,  daß  Rußland,  dieses  hilflose,  von 
den  beiden  mächtigen  imperialistischen  Verbänden  bedrängte 
Land,  dennoch  einen  sofortigen  allgemeinen  gerechten  Frieden 
erreichen  könnte,  außerordentlich  viel  zur  schnellen  Zersetzung 
der  Armee  bei.  Die  Bolschewik!  glaubten  fest  daran,  daß  die 
soziale  Revolution  in  Deutschland  in  dem  Moment  ausbrechen 
werde,    wo    Rußland   den   Kampf   einstellen    würde.      Während 

■  39 


wir  Sozialrevolutionäre  von  Anfang  an  der  Ansicht  waren,  daß 
die  Revolution  in  Deutschland  nur  nach  einer  Niederlage  des 
deutschen  Imperialismus  möglich  sei,  und  daß  es  dem  deut- 
schen Volke  nicht  gelingen,  daß  es  ihm  sogar  gänzlich  unmög- 
lich sein  würde,  mit  dem  siegreichen  Imperialismus  seiner 
Machthaber  fertig  zu  werden,  redeten  die  Bolschewiki  sich 
selbst  und  anderen  ein,  daß  die  Revolution  in  Deutschland  in 
jedem  Falle  unvermeidlich  sei,  ja,  daß  sie  eigentlich  schon 
angefangen  hätte.  In  der  Hoffnung  auf  die  deutsche  Revo- 
lution begannen  und  führten  sie  die  Friedensunterhandlungen 
in  Brest-Litowsk,  in  dieser  Erwartung  gaben  sie  beim  Abbruch 
dieser  Verhandlungen  die  Erklärung  ab,  daß  sie  ihre  Armee 
demobilisieren  und  keinen  Krieg  mehr  führen,  allerdings  auch 
keinen  Frieden  schließen  wollten.  Sie  waren  überzeugt,  daß 
nach  dieser  Erklärung  sich  die  deutschen  Soldaten  weigern 
würden,  auch  nur  einen  Schritt  nach  Rußland  hinein  zu  tun. 
Als  jedoch  statt  dessen  Dünaburg,  Pleskau  und  Narva  fielen 
und  die  deutschen  Bataillone  an  der  Schwelle  Petersburgs  er- 
schienen, waren  die  Bolschewiki  selber  genötigt,  fieberhaft  zur 
Verteidigung  des  Landes  zu  schreiten.  Aber  es  war  schon  zu 
spät.  Sie  hatten  schon  zu  viel  zerstört,  in  der  Hoffnung  auf 
die  Millionen  Lenin  scher  Freiwilliger  hatten  sie  die  Armee 
gar  zu  gründlich  demoralisiert.  Als  statt  dieser  Millionen 
kaum  einige  tausend  Mann  zusammenkamen,  die  sich  bereit- 
erklärten, den  Widerstand  fortzusetzen,  da  waren  die  Bolsche- 
wiki nicht  nur  genötigt,  trotz  allem  und  alledem  einen  schmach- 
vollen Frieden  mit  dem  deutschen  Imperialismus  zu  schließen, 
sondern  sie  mußten  dies  auch  unter  weit  schwereren  Bedin- 
gungen tun,  als  dies  früher  möglich  gewesen  wäre. 

Haben  damit  nicht  die  Bolschewiki,  indem  sie  Rußland 
schwächten  und  zerstückelten  und  hierdurch  gerade  die  Posi- 
tion des  deutschen  Imperialismus  so  ungeheuer  stärkten,  auch 
für  das  deutsche  Volk  den  Kampf  mit  diesem  Imperialismus 
sehr  erschwert?  Aber  auch  dem  russischen  Volke  haben  sie 
den  Frieden  nicht  gebracht;  denn  dies  war  von  vornherein 
klar:  durch  die  volle  Kapitulation  vor  dem  deutschen  Imperialis- 
mus, durch  den  Frieden  von  Brest-Litowsk  führte  der  Weg 
unausweichlich  zum  Kriege  mit  der  Entente.  Dazu  aber  be- 
gannen die  Bolschewiki  noch  Oel  ins  Feuer  zu  gießen:   indem 

40 


sie  neue  Verträge  mit  dem  deutschen  Imperialismus  schlössen, 
zerrissen  sie  zugleich  auf  , .revolutionärem  Wege"  ausnahmslos 
alle  Verträge  mit  den  maßgebenden  Mächten  in  der  Entente. 
Indem  sie  dem  einen  Imperialismus  gewaltige  Geldsummen  und 
Warenmassen  auslieferten  und  solche  schmählichen  Forderun- 
gen des  Feindes  erfüllten,  wie  die  Entwaffnung  der  roten 
Finnischen  Garde,  die  sich  in  der  festen  Hoffnung  auf  die 
Unterstützung  der  russischen  Bolschewiki  erhoben  hatte,  wie  die 
militärische  Unterstützung  der  Türkei  in  ihrem  Kampf  gegen  die 
sozialistischen  Regierungen  des  nach  Selbständigkeit  streben- 
den Kaukasus,  annullierten  sie  um  dieselbe  Zeit  alle  Verpflich- 
tungen, die  Rußland  gegenüber  den  Staaten  der  Entente  über- 
nommen hatte.  Indem  sie  an  den  linken  Sozialrevolutionären, 
ihren  gestrigen  Freunden,  wegen  der  Ermordung  des  Grafen 
Mirbach  furchtbare  Rache  nahmen,  veranstalteten  sie  zu 
gleicher  Zeit  bewaffnete  Ueberfälle  auf  die  Gesandtschaften 
der  Entente,  die  oft  mit  Blutvergießen  endeten.  Und  während 
sie  alles  dies  taten,  die  ganze  Zeit  über  die  Entente  stark  pro- 
vozierten und  ihr  gegenüber  alle  Gesetze  des  Völkerrechtes  ver- 
letzten, ließen  sie  sich  nicht  einmal  so  sehr  von  ihrem  Glauben 
an  die  in  nächster  Zeit  bevorstehende  Revolution  in  diesen 
Ländern  als  durch  andere,  sehr  viel  praktischere  Erwägungen 
leiten.  Sie  waren  während  dieser  ganzen  Zeit  von  der  tiefen 
Ueberzeugung  durchdrungen,  daß  der  deutsche  Imperialismus, 
dieses  nach  ihrer  Ansicht  fortgeschrittenere  und  vollkom- 
menere System,  siegreich  aus  diesem  Kriege  hervorgehen 
müsse,  und  daß  sie  daher  von  den  Ländern  der  Entente  nichts 
zu  befürchten  hätten.  Indes  auch  hierin  befanden  sich  die 
Bolschewiki  in  einem  tiefen  Irrtum,  und  nun  muß  Rußland 
diesen  ihren   eigenartigen   ,, Internationalismus"   bezahlen. 

Wenn  jedoch  die  Bolschewiki  durch  ihre  Liquidation  des 
äußeren  Krieges  eine  Reihe  ungeheurer  Fehler  begingen,  so 
haben  sie  durch  die  Entfesselung  des  inneren,  des  Bürger- 
krieges eine  Reihe  nicht  mehr  von  Fehlern,  nein,  von  den 
schlimmsten  Verbrechen  begangen.  Dabei  muß  man  vor  allem 
eins  berücksichtigen  und  fest  im  Auge  behalten:  Das  Bürger- 
tum, die  Bourgeoisie,  führt  bei  uns  keinen  Bürgerkrieg.  Hierzu 
ist  es  viel  zu  schwach  und  viel  zu  wenig  organisiert.  Vom 
ersten  Tage  der  bolschewistischen  Umwälzung  an  hatte  es  be- 

41 


jjriffen,  daß  jeder  Widerstand  von  seiner  Seite  vergebens 
wäre,  und  alle  Positionen  kampflos  preisgegeben.  Sein  Ver- 
halten war  so  musterhaft,  daß  Lenin  es  sogar  im  Mai  des 
Jahres  1918  für  möglich  hielt,  mit  ihm  in  eine,  wenn  auch 
rein  geschäftliche  Verbindung  zu  treten.  Und  hätten  ihn  die 
linken  Bolschewiki  nicht  rechtzeitig  zur  Ordnung  gerufen,  so 
wäre  dies  Uebereinkommen  zwischen  dem  Bolschewismus  und 
der  Bourgeoisie  damals  zustande  gekommen. 

Andererseits  ist  der  ländliche  Großgrundbesitz  bei  uns 
in  einem  solchen  Maße  von  der  Bauernschaft  selbst 
zerstört  und  vollkommen  unschädlich  gemacht,  daß  die 
Bolschewiki  mit  ihm  nicht  mehr  zu  kämpfen  brauchten. 
Nein,  der  Bürgerkrieg  wird  bei  uns  nicht  von  zwei 
verschiedenen  Klassen,  sondern  von  zwei  verschiedenen 
Gruppen  derselben  revolutionären  Demokratie  ge- 
führt. Er  reifte  langsam  heran.  Zunächst  mißlangen  alle  Ver- 
si^che,  eine  einheitliche  sozialistische  Front  zu  bilden:  sie  miß- 
langen deshalb,  weil  die  anderen  sozialistischen  Parteien  eine 
Garantie  für  die  Aufrechterhaltung  der  demokratischen  Frei- 
heiten, den  Verzicht  auf  die  Methode  des  politischen  Terrors, 
zu  dem  die  Bolschewiki  vom  ersten  Tage  der  Besitz- 
ergreifung der  Gewalt  gegriffen  haben,  verlangten.  Sodann 
begannen  die  Verwickelungen  mit  der  Ukraine,  die  sich  damals 
gänzlich  in  den  Händen  der  , .ukrainischen  Sozialrevolutionäre" 
befand.  Bis  zur  Novemberrevolution  war  diese  Partei  eine 
treue  Verbündete  der  Bolschewiki.  Auch  jetzt  war  sie  bereit, 
die  Macht  der  bolschewistischen  Volkskommissare  anzuer- 
kennen, aber  lediglich  für  Großrußland;  für  die  Ukraine  aber 
verlangte  sie  Autonomie  und  eine  Vereinigung  mit  Rußland 
auf  föderativer  Grundlage.  Hierauf  antworteten  die  Bolsche- 
wiki, die  bis  dahin  alle  ,, großrussischen  Annexionen"  so  leiden- 
schaftlich bekämpft  und  sich  so  warm  für  die  volle  Selbst- 
bestimmung aller  Nationalitäten  eingesetzt  hatten,  damit,  daß 
sie  die  ukrainische  Delegation  in  Petersburg  verhafteten  und 
auseinandertrieben    und   der  Ukraine   den  Krieg   erklärten. 

Sodann  begann  der  Krieg  gegen  den  Kaukasus,  diese 
Zitadelle  der  Menschewiki:  ein  Krieg,  der  sich  gleichfalls 
keineswegs  gegen  die  kaukasiscj[>2  Bourgeoisie  oder  die  Groß- 
grundbesitzer —  sondern  gegen  die  Arbeiter-  und  Bauernräte 

42 


richtete,  die  eine  Autonomie  für  sich  selber  verlangten.  Dann 
folgte  der  Krieg  um  die  Autonomie  mit  dem  Sozialrevolutio- 
nären Sibirien,  ein  Kampf,  in  dem  bekanntlich  die  Tschecho- 
Slowaken  eingriffen-*) 

Es  ist  äußerst  interessant,  in  welchem  Maße  der  russische 
Bolschewismus  von  imperialistischen  Tendenzen  angesteckt 
wurde.  Er  sagte  sich  plötzlich  endgültig  vom  Selbstbestim- 
mungsrecht der  Nationen  los  und  beschloß,  in  die  anderen 
Völkerschaften  die  Fackel  der  sozialen  Revolution  gewaltsam 
zu  werfen.  Auch  sein  jetziges  Verhalten  auf  der  deutschen  Ost- 
front, sein  Versuch,  Estland,  Livland  und  Kurland  zu  okku- 
pieren, die  Konzentration  von  Truppen  an  der  Grenze  Polens, 
alles  das  beweist  mit  voller  Deutlichkeit,  daß  er  sich  nicht  im 
geringsten  geändert  und  nichts  hinzugelernt  hat.  Das  ist  die 
innere  Logik  des  Bolschewismus.  Nachdem  er  einmal  den  Ver- 
such gewagt,  den  Sozialismus  auf  seine  Art  gegen  den  klar 
ausgesprochenen  Willen  der  Mehrheit  durchzuführen,  und  hier- 
für zu  dem  einzigen  Mittel,  über  das  er  verfügte:  zur  Gewalt 
gegriffen  hatte,  vermochte  er  es  nicht  mehr,  sich  auf  dieser 
schiefen  Ebene  zu  halten.  Wenn  eine  Minderheit  die  Mehr- 
heit, diese  „träge  Masse  der  Revolution",  und  zwar  mit  der 
Waffe  in  der  Hand,  dazu  zwingen  kann,  ihr  zu  folgen,  warum 
sollte  dann  eine  Nationalität  nicht  auch  anderen  Nationen  mit 
Gewalt  ihre  Staatsform  aufnötigen;  um  so  mehr,  da  die  Bolsche- 


*)  Als  die  Bolschewiki  Frieden  mit  Deutschland  ge- 
schlossen hatten,  verlangten  die  tschecho-slowaki- 
sehen  Bataillone,  daß  ihnen  erlaubt  werde,  Rußland  zu  ver- 
lassen. Die  Bolschewiki  aber  beschlossen  auf  das  Drängen  der 
deutschen  Diplomatie  hin,  diese  Bataillone  zu  entwaffnen  und 
in  Rußland  festzuhalten.  Da  empörten  sich  die  Tschecho- 
Slowaken,  da  sie  befürchteten,  an  Deutschland  ausgeliefert  und 
als  Verräter  erschossen  zu  werden,  und  vereinigten  sich  mit' 
der  freiwilligen  sibirischen  Armee.  Oder  war  etwa  diese  ihre 
Furcht  unbegründet;  hatten  ihnen  vielleicht  die  Bolschewiki 
mindestens  Sicherheit  für  ihr  Leben  zugesagt?  Aber  dieses 
hätten  sie  doch  nur  bis  zum  ersten  Einspruch  von  selten  des 
offiziellen  Deutschlands  tun  können,  hatten  sie  doch  überhaupt 
nicht  die  mindeste  Möglichkeit,  ihr  Wort  zu  halten. 

43 


wisten  stets  versichern,  sie  brächten  den  Volksmasscn  dieser 
Nationalitäten  Glück  und  Freiheit.  Freilich  haben  auch  Kaiser 
Wilhelm  und  Nikolaus  IL  nie  etwas  anderes  behauptet;  richtig 
ist  es  auch,  daß  die  Bolschewisten  hierbei  immer  den 
Willen  der  Bevölkerung  vollständig  ignorieren  und  ebensowenig 
Rücksicht  auf  ihn  nehmen  wie  Kaiser  Wilhelm  und  Nikolaus  II. 
Aber  mit  solchen  Kleinigkeiten  geben  sich  die  Bolschewik! 
nicht  ab. 

Währenddessen  entbrannte  auch  in  Großrußland  der  Bürger- 
krieg mit  wachsender  Gewalt.  Wie  bekannt,  erklärten 
nach  der  November-Revolution  die  Beamten  und  die  Staats- 
angestellten den  Streik,  Dieses  gab  den  Bolschewiki  den  An- 
laß, die  sozialistischen  Parteien  der  Sabotage  anzuklagen.  Wie 
ungerecht  diese  Beschuldigung  aber  war,  ist  daraus  zu  ersehen, 
daß  schon  Anfang  Januar  1918  die  sozialistischen  Fraktionen 
der  Nationalversammlung  sich  gegen  jegliche  Art  der  Sabotage, 
auch  gegen  die  der  Staatsbeamten,  erklärt  hatten  und  ihnen 
allen  dazu  geraten  hatten,  die  Arbeit  wieder  aufzunehmen.  Die 
Sozialisten  selbst  aber  waren  vom  ersten  Tage  der  bolsche- 
wistischen Umwälzung  bereit,  jegliche  organisatorische  Arbeit, 
wie  etwa  die  in  den  Lebensmittelkomitees,  in  den  Gewerk- 
schaftsorganisationen usw.,  zu  übernehmen.  Das  einzige,  was 
sie  verweigerten,  war  die  Annahme  irgendwelcher  verantwort- 
licher politischer  Stellungen,  da  sie  die  Verantwortung  für  die 
Taten  der  Bolschewisten  weder  auf  sich  nehmen  konnten  noch 
wollten.  Aber  die  Bolschewiki  brauchten  ja  doch  nur  einen 
Vorwand  und  fanden  ihn  in  der  Sabotage.  Und  nun  setzte  ein 
gewaltiger  Feldzug  gegen  die  sozialistische  Presse,  nun  setzte 
die  Zerstörung  der  sozialistischen  Organisationen  usw.  ein,  und 
die  Gefängnisse  begannen  sich  aufs  neue  mit  Angehörigen  der 
sozialistischen  Parteien  zu  füllen.  Mit  jedem  Tage  verschärft 
sich  der  politische  Terror,  mit  jedem  Tage  zieht  er  weitere 
Kreise.  Erst  begannen  Füsiladen  einzelner  Sozialisten,  dann 
folgten  die  Massenhinrichtungen  von  Arbeitern  in  Kolpino,  in 
Moskau,  in  Petersburg,  In  dem  Maße,  als  sich  die  Arbeiter 
immer  mehr  von  den  Bolschewiki  abzuwenden  begannen,  wurde 
der  Druck  auf  sie  von  seiten  der  jetzigen  Machthaber  immer 
stärker  und  stärker.  Die  Bauern,  die  immer  weniger  Industrie- 
produkte aus  der  Stadt  erhielten,  zeigten  auch  ihrerseits  immer 

44 


weniger  Lust,  Getreide  an  die  Städte  zu  liefern.  So  fingen  die 
Bolschewiki  an,  bewaffnete  Expeditionen  gegen  die  Dörfer  aus- 
zurüsten. Die  vollständige  Unfähigkeit  der  Bolschewiki,  nicht 
nur  das  industrielle  Leben  in  bescheidenstem  Umfange  aufzu- 
bauen, sondern  es  wenigstens  vor  dem  endgültigen  Untergang« 
zu  bewahren,  die  furchtbare  Zunahme  der  Arbeitslosigkeit,  die 
Hungersnot  in  den  Städten  und  ganzen  Gouvernements  begann 
die  Arbeiterklasse  sehr  schnell  gegen  die  Bolschewisten  aufzu- 
bringen. Die  Arbeiterräte  gerieten  immer  häufiger  in  den 
Besitz  der  oppositionellen  Parteien.  Die  Bolschewiki  sahen 
sich  also  genötigt,  wie  dies  in  Tula,  Jaroslaw,  Sormoff,  Orel 
und  in  einer  ganzen  Reihe  anderer  Ortschaften  geschah,  zur 
gewaltsamen  Auflösung  der  Räte  und  zu  dem  allseitigen  Aus- 
schluß der  Opposition  zu  schreiten.  Die  zunehmende  Streik- 
bewegung stieß  auf  einen  erbarmungslosen  Widerstand  von 
selten  der  Bolschewiki.  Gegen  die  Streikenden  wurde  nicht 
nur  Waffengewalt  angewandt,  man  entzog  ihnen  auch  die 
Lebensmittel  und  gab  sie  dem  Hungertode  preis.*)  Je  mehr  aber 
die  Enttäuschung  über  die  Bolschewiki  Platz  griff,  je  enger  die 
soziale  Basis  wurde,  auf  die  sie  sich  stützten,  je  deutlicher  die 
vollkommene  Isolierung  wurde,  in  der  sie  sich  befanden,  um  so 
unversöhnlicher  und  verstockter  wurden  sie,  um  so  schonungs- 
loser und  unbarmherziger  wurde  ihre  Taktik.  Es  setzte  ein 
richtiger  Kreuzzug  gegen  die  gesamte  Bevölkerung  ein.  Ueberall 
wurden  außerordentliche  Kommissionen  mit  unbeschränkten 
Vollmachten  errichtet.  Ueberall  fanden  Massenhinrichtungen 
von  Bauern,  Arbeitern  und  Intellektuellen  statt.  Die  sozialisti- 
schen Parteien  wurden  für  vogelfrei  erklärt,  ihre  Mitglieder  auf 
der  Stelle  erschossen  oder  als  Geiseln  in  Konzentrationslagern 
untergebracht.  Eine  blutige  Welle  des  politischen  Terrors,  die 
eine  selbst  im  Vergleich  zu  den  Zeiten  des  Zarismus  unerhörte 
Ausdehnung     annahm,     schwoll    immer    mehr   an    und    über- 


*)  Man  lese  nur  den  einen  Beschluß  des  Twerskauer 
Sowjets,  der  im  speziellen  Einvernehmen  mit  Moskau  und 
Petersburg  gefaßt  wurde:  „Die  Streikenden  sind  zu  entlassen 
und  es  sollen  ihnen  alle  Lebensmittel  mit  Einschluß  ihrer  täg- 
lichen Brotration  von  50  Gramm  entzogen  werden."  (Petrog. 
Prawda  d.  J.   1918  Nr.   175.) 

45 


schwemmte  das  unglückliche  Land,  das  ohnmächtig  in  d«n 
Fesseln  der  wirtschaftlichen  Desorganisation,  Anarchie  und 
Hungersnot  schmachtete.  .  .  . 

Aber  ist  das  alles  nicht  nur  ein  böser  Traum,  eine  schreck- 
liche Fieberphantasie?  Hinrichtungen,  Hungersnot,  Desorgani- 
sation —  sind  das  nicht  bloß  schreckliche  Worte,  , .Verleum- 
dungen", Trugbilder  einer  parteipolitischen  Verblendung? 
Hören  wir,  wie  sich  die  Lage  Rußlands  nach  den  bolschewisti- 
schen Quellen  selbst  darstellt. 


46 


IV. 

Das  Bild  des  heutigen  Rußland. 

Solange  Rußland  mit  einem  Netz  ländlicher  Komitees  über- 
zogen war,  die  unter  der  Anleitung  der  Sozialrevolutionären 
Partei  an  der  Vorbereitung  der  großen  Bodenreform,  der 
Sozialisierung  von  Grund  und  Boden,  dieses  Lieblingskindes 
unserer  Partei,  arbeiteten,  hatten  die  Bolschewik!  für  uns  nichts 
als  Worte  der  Verdächtigung  und  des  Sarkasmus;  spottete 
doch  T  r  o  t  z  k  i  über  den  Landwirtschaftsminister  T  s  c  h  e  r  - 
noff,  weil  dieser  sich  mit  , .Statistik"  beschäftige!  Doch  nun 
lag  die  Macht  in  ihren  Händen:  sofort  lösten  sie  überall  die 
Bodenkomitees  auf,  trieben  sie  auseinander  und  ,, dekretierten" 
sogleich  das  Gesetz  über  die  Sozialisierung  von  Grund  und 
Boden.  Wer  aber  sollte  die  Verwirklichung  dieses  Gesetzes  an 
Ort  und  Stelle  durchführen?  Die  Bolschewiki  nahmen  auch 
hier  zu  der  berühmten  „Schöpferkraft  der  Massen",  d.  h.  zu 
der  ganz  systemlosen,  rein  zufälligen  Tätigkeit  einer  Unzahl 
kleiner  Gruppen  ihre  Zuflucht.  Und  es  ist  charakteristisch,  daß 
gerade  d  i  e  Partei  zu  diesem  elementaren  und  primitiven 
,, Schaffen"  des  Bauern  griff,  die  bis  zum  Ausbruch  der  Revolu- 
tion die  russische  Bauernschaft  für  absolut  antisozialistisch  hielt 
und  nur  von  der  Entwickelung  des  Kapitalismus  auf  dem  Lande 
die  Bekehrung  des  Bauern  zum  Sozialismus  erwartete.  Das  Er- 
gebnis war  ein  höchst  klägliches  und  trauriges.  Nachdem  eine 
mächtige  Welle  von  Revolten  und  Bürgerkämpfen  über  das 
Land  gegangen  war,  war  der  Grund  und  Boden  zwar  verteilt, 
aber  er  war  in  Wahrheit  in  den  Privatbesitz  einzelner  Personen 

47 


übergegangen.  Der  Arbeitswille*)  vom  23,  Oktober 
1918  schreibt:  ,,Die  ländliche  Arbeiterbevölkerung  weiß  nicht, 
was  sie  davon  denken  soll,  und  fragt  sich  voller  Unruhe,  was 
denn  aus  der  so  berühmten  Sozialisierung  des  Bodens  geworden 
ist.  So  wenig  ist  davon  heute  auf  dem  Lande  zu  verspüren." 
Die  Petersburger  Prawda  berichtet  in  Nr.  184,  daß  ein  ,,Kauf 
und  Verkauf"  von  Land  stattfinde.  In  dem  Leitartikel  des 
Organs  des  landwirtschaftlichen  Kommissariats  wird  die  be- 
scheidene Hoffnung  ausgesprochen:  ,,Man  muß  annehmen,  daß 
diese  Angelegenheit  (d.  h.  die  Sozialisierung  des  Bodens)  end- 
lich über  den  toten  Punkt  hinwegkommt  und  richtig  in  Gang 
gebracht  werden  wird,"^)  Und  diese  Hoffnung  äußert  dasselbe 
landwirtschaftliche  Zentral-Kommissariat,  das  der  Bericht- 
erstatter der  Versammlung  des  Exekutivkomitees  der  Provinz 
Moskau  S  a  i  z  e  w  (ein  Bolschewik)  beschuldigt,  ,,es  sei  be- 
strebt, auf  dem  Lande  die  Entwickelung  der  kleinen  Bourgeoisie 
zu  fördern,  was  die  Revolution  zugrunde  richten  könnte".') 
Wie  seltsam  müssen  für  jemand,  der  da  glaubt,  daß  in  Rußland 
das  Land  tatsächlich  sozialisiert  und  daß  das  Privateigentum 
an  Grund  und  Boden  bereits  seit  einem  Jahre  endgültig  ver- 
schwunden sei,  Mitteilungen  wie  die  folgenden  klingen:  ,,Der 
Kongreß  der  ländlichen  Abteilungen  hat  für  das  nächste  Jahr 
eine  Verfügung  über  die  Einführung  der  allgemeinen  staatlichen 
Bearbeitung  des  Landes  auf  den  ehemaligen  Gütern  der  Groß- 
grundbesitzer erlassen,  um  damit  ihrer  Aufteilung  unter  die 
kleinen  Landeigentümer  ein  Ende  zu  machen."®)  Das  alles  sind 
charakteristische  Eingeständnisse  von  selten  der  Bolschewiki, 
die  sich  doch  so  sehr  vor  dem  gedruckten  Worte  fürchten,  daß 
sie  sämtliche  Zeitungen,  die  nicht  offenkundig  auf  dem 
bolschewistischen  Standpunkt  stehen,  samt  und  sonders  ver- 
boten haben. 

Was  haben  nun  die  Bolschewiki  für  die  Einführung  des 
Sozialismus  auf  dem  Lande  getan?  Wie  bekämpfen  sie  diese 
elementare  kleinbürgerliche  Eigentumsbewegung?  Sie  be- 
schlossen, zu  diesem  Zweck  Kommunen  zu  gründen.  Nur 
schade:  die  Bevölkerung  wollte  sich  nicht  daran  be- 
teiligen.    Man    mußte    daher  zu  ganz  besonderen  Maßnahmen 


*)  Das  Zentralorgan  des  revolutionären  Kommunismus. 
48 


greifen.  Dieses  Mal  waren  es  allerdings  keine  Bajonette  und 
keine  Maschinengewehre,  sondern  besondere  „Vergünstigungen 
für  die  Kommunen:  Die  außerordentliche  Zuteilung  von 
Landparzellen  an  die  Kommunen  außer  der  Reihe, 
und  zwar  über  die  Bearbeitungs-  und  Bedürfnisnorm 
hinaus"/)  Diese  Maßnahme  wirkte.  Auf  den  Dörfern 
begannen  in  der  Tat  Kommunen  zu  entstehen.  Aller- 
dings machte  ihre  Organisation  nur  langsame  Fortschritte. 
So  gibt  es  in  dem  ganzen  Wladimirschcn  und 
Saratoffschen  Gouvernement  im  ganzen  je  3  Kommunen.^)  In 
den  andern  Gouvernements  gibt  es  deren  etwas  mehr:  so  in 
Tamboff  24,  in  Witebsk  31.  Indessen,  was  bedeuten  diese 
30  Kommunen  mit  ihren  3000  Mitgliedern  für  ein  Gouvernement 
mit  einer  Bevölkerung  von  einigen  Millionen?  Allerdings 
könnte  man  hoffen,  daß  sich  das  Verhältnis  im  weiteren  Ver- 
laufe bessern  wird.  Aber  das  Schlimme  ist  auch  nicht,  daß  die 
Zahl  der  Kommunen  noch  so  klein  ist,  das  Traurige  ist,  daß  die 
Mitglieder  der  Kommune  mehr  Land  erhalten,  als  sie  nach  der 
Norm  beanspruchen,  d.  h.  mehr  als  sie  bearbeiten  können.  Wie 
also  können  sie  es  trotzdem  bestellen?  Nun,  das  Problem  löst 
sich  sehr  einfach.  Sie  nehmen  ihre  Zuflucht  zur  Lohnarbeit! 
Und  das  in  einem  sozialistischen  Staate,  in  dem  die  Lohnarbeit 
bereits  seit  mehr  als  einem  Jahr  endgültig  abgeschafft  ist.  Es 
stellt  sich  heraus,  daß  in  Form  von  Kommunen  , »künstliche  .  .  - 
Latifundien  geschaffen  werden,  durch  welche  die  um  sie  herum- 
wohnende Landbevölkerung  nach  dem  System  der  Lohnarbeit 
ausgebeutet  wird".")  Das  hat  nun  schon  sehr  wenig  Aehnlich- 
keit  mit  der  Schaffung  von  sozialistischen  Keimzellen.  Indessen 
erwiesen  sich  die  Kommunen  nicht  nur  in  dieser  Beziehung  als 
noch  sehr  weit  vom  Sozialismus  entfernt.  Wir  lesen  z.  B.  fol- 
gendes über  sie  in  der  „Stimme  des  ländlichen  Ar- 
beiters" vom  13.  Oktober  1918:  „Die  Möglichkeit  der 
Spekulation  verleitet  die  Mitglieder  der  Kommune  gegen- 
wärtig, die  Produkte  ihrer  Landwirtschaft  zu  den  räuberischen 
Marktpreisen  abzusetzen.  Sie  hüten  sich,  ihre  Erzeugnisse  an 
die  Organe  des  Proviantamts  zu  Richtpreisen  freiwillig  abzu- 
liefern." Das  sind  die  russischen  Kommunen.  Liest  man  da- 
gegen die  Dekrete  über  die  Kommunen  (sie  sind  sicherlich 
schon   längst   ins  Deutsche   übersetzt),   dann  kann   man   gewiß 

49 


nicht  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  sie  Zentren  der  Aus- 
beutung und  der  Spekulation  sind,  dann  wiegt  man  sich  sicher- 
lich in  dem  Glauben,  daß  in  ihnen  das  sozialistische  Himmel- 
reich auf  Erden  verwirklicht  ist! 

Aber  die  reichen  Kommunen  sind  keineswegs  die  einzigen 
Quellen  der  Ausbeutung  auf  dem  Lande,  Die  Bauern  haben 
zwar  Land  erhalten,  aber  die  ,, Armen  haben  keine  Mittel  und 
keine  Inventare,  um  es  zu  bearbeiten"/)  So  lesen  wir  unauf- 
hörlich Mitteilungen,  wie  die  folgende:  ,,In  dem  Wienenburger 
Kreise  versuchen  ,die  ländlichen  Wucherer'  die  Bauern,  welche 
keine  Pferde  besitzen,  zu  bedrücken  und  leihen  ihnen  Pferde 
zur  Benutzung  gegen  die  Verpflichtung  zur  Fronarbeit,  trotz 
des  Dekretes,  nach  dem  es  auf  dem  Lande  verboten  ist,  Lohn- 
arbeiter zu  beschäftigen".") 

Der  Leser  ersieht  daraus,  daß  es  auf  dem  Lande  auch  noch 
reiche  Dorfwucherer  gibt.  Aber  das  sind  nicht  die  reichen 
Wucherer  von  früher,  aus  der  vorrevolutionären  Zeit,  denn  der 
Reichtum  dieser  ist  von  den  Bauern  längst  aufgeteilt  und  zer- 
stört. Das  sind  neue  Wucherer,  bolschewistischer  Provenienz, 
von  denen  behauptet  wird,  daß  sie  „es  fertig  bringen,  sich  an 
die  Spitze  der  Komitees  armer  Bauern"")  zu  stellen.  Woher 
diese  reichen  Wucherer  stammen,  davon  wird  später  die  Rede 
sein.  Jetzt  wollen  wir  uns  vor  allem  einmal  klar  machen, 
warum  die  Bolschewiki  den  armen  Bauern  gar  nicht  zu  Hilfe 
kommen.  Ganz  einfach  darum,  weil  sie  nicht  nur  nicht  imstande 
sind,  organisatorisch  das  Leben  einer  nach  Millionen  zählenden 
Bauernbevölkerung  zu  umfassen,  sondern  weil  sie  nicht  einmal 
die  wenigen  Kommunen,  die  sie  geschaffen  haben,  zu  organi- 
sieren vermögen. 

Ich  habe  soeben  von  den  „reichen"  Kommunen  gesprochen, 
und  das  ist  nicht  etwa  ein  Zufall,  denn  es  gibt  auch  arme  Kom- 
munen. Und  was  das  merkwürdigste  ist,  innerhalb  der  Grenzen 
des  gleichen  Gouvernements  finden  wir  Kommunen,  wo  auf  jedes 
arbeitende  Mitglied  mehrals  9  Deßjatinen  kommen,  und 
wiederum  andere  Kommunen,  in  denen  jedes  arbeitende  Mit- 
glied über  weniger  als  eine  halbe  Deßjatine  ver- 
fügt. Das  sind  die  Kommunen,  denen  man  bloß  Land  ver- 
sprochen, aber  keines  gegeben  hat.  Das  ist  ein  Beispiel 
bolschewistischer  Organisation:   während  die  einen  Kommunen 

50 


notwendig  zur  Ausnutzung  der  Lohnarbeit  greifen  müssen, 
müssen  die  Mitglieder  der  anderen  sich  ebenso  notwendig  in 
die  Knechtschaft  der  reichen  Bauern  begeben. 

Aber  viel  kritischer  als  die  Landfrage  ist  die  Frage  der 
Verprovianticrung,  die  Brotfrage.  Das  allgemeine  Bild  der 
Lebensmittelversorgung  stellt  sich  im  Sommer  des  Jahres  1918 
nach  offiziellen  bolschewistischen  Quellen  folgendermaßen 
dar:*^)  Bei  einer  normalen  Zufuhr  von  32  Waggons  Getreide 
pro  Tag  erhielt  Petersburg  täglich  nur  4,6,  Moskau  statt  der 
ihm  zukommenden  25,8  Waggons  bloß  5,1  Waggons  pro  Tag; 
und  bei  alledem  befanden  sich  diese  beiden  Städte  noch  in  der 
relativ  günstigsten  Lage.  Andere  auf  .Zufuhr  angewiesene  Ge- 
genden, nämlich  die  von  einer  Hungersnot  betroffenen  Gou- 
vernements Zentral-  und  Nordrußlands,  erhielten  nur  14  Wag- 
gons statt  der  erforderlichen  Gesamtnorm  von  234,7  Waggons 
geliefert.  Freilich,  diese  Angaben  enthalten  nicht  die  Zufuhr 
durch  einige  Nebenlinien  der  Eisenbahnen.  Aber  auch  wenn 
man  diese  einrechnet,  so  wurden  doch  nicht  einmal  10  Proz. 
der  Verpflegungsnorm  geliefert.  Man  braucht  sich  daher  nicht 
zu  wundern,  daß  z.  B.  das  Petersburger  Gouvernement,  das  in 
dem  verflossenen  Rechnungsjahr  einer  Zufuhr  von  11  Millionen 
Pud  Getreide  bedurfte,  im  ganzen  nur  folgende  Lebensmittel- 
zufuhren erhielt:  864  000  Pud  Getreide,  110  000  Pud  Dörr- 
gemüse und  gegen  250  000  Pud  Kartoffeln.  Zucker  wurden  je 
100  g  monatlich  pro  Person  zugeteilt.  An  Eiern  kamen  wäh- 
rend der  ganzen  Zeit  8  Stück  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung. 
An  Schuhwerk  wurden  im  ganzen  Gouvernement  7016  Paar  aus- 
geteilt.^") Die  Bolschewiki  müssen  selber  konstatieren,  daß  „der 
Verpflegungszustand  in  dem  Gouvernement  verzweifelt  ist.  In 
der  Gegend,  von  der  die  Rede  ist,  konnte  vom  21.  Dezember 
des  Jahres  1917  bis  Anfang  September  1918  von  dem  Proviant- 
amt nicht  ein  einziges   Stück   Brot  verteilt  werden".**) 

Nicht  besser,  ja  sogar  zeitweilig  noch  schlechter  ist  die  Lage 
in  den  andern  Gouvernements.  So  schreibt  der  revolutionäre 
Kommunist  G  o  1  u  b  e  w  über  die  Gouvernements  O  1  o  n  e  z 
und  Nowgorod:  „Ich  selbst  war  Augenzeuge,  wie  die 
Menschen  dazu  übergingen,  sich  nach  Art  von  Tieren  zu  nähren, 
wie  sie  auf  den  Feldern  wilden  Klee  suchten,  trockneten,  zer- 
rieben und  aus  ihm  Fladen  buken.     Und  was  steht  ihnen  erst 


51 


in  dem  kommenden  Winter  und  sodann  im  Frühling  bevor? 
Die  Sterblichkeit,  insbesondere  die  der  Kinder,  war  schon 
im  Frühling  und  Sommer  dieses  Jahres  außergewöhnlich 
hoch."'"')  Und  die  ,,Istwestja  des  Z,  E.  A,"  bestätigen  dieses: 
„Die  Lage  des  Gouvernements  O  1  o  n  e  z  ist,  was  die  Lebens- 
mittelversorgung betrifft,  verzweifelt.  .  .  .  Die  Bevölkerung  des 
Powelezer  Kreises  ging,  nur  um  ein  Stück  Brot  zu  er- 
halten, zu  den  Engländern  über  und  läßt  sich  in  die  Truppen 
einreihen,  die  gegen  uns  kämpfen."*')  Auch  im  Gouvernement 
W  o  1  o  g  d  a  „wird  die  Lage  gänzlich  unhaltbar.  Die  Hungersnot 
hat  schon  begonnen".*^)  Aehnliche  Mitteilungen  kann  man  in 
der  bolschewistischen  Presse  über  alle  Gouvernements,  die  auf 
Einfuhr  angewiesen  sind,  d.  h.  über  die  Hälfte  des  ganzen 
Sowjet-Rußlands,  hören.  Ja,  während  die  Bolschewik!  durch 
ihre  ausländischen  Agitationskomitees  die  ganze  Welt  glauben 
machen  wollen,  daß  die  Lebensmittelversorgung  in  Rußland  gar 
nicht  so  schlecht  sei  und  daß  alle  verzweifelten  Alarmrufe  hier- 
über nichts  wie  die  üblichen  ,,konter-revolutionären  Manöver" 
und  „bürgerlichen  Verleumdungen"  seien,  sprechen  sie  sich  im 
Innern  des  Landes  schon  deutlicher  hierüber  aus.  Und  das  ist 
durchaus  kein  Wunder:  In  einem  Lande,  in  dem  man  so  Hunger 
leidet,  daß  die  Menschen  in  Massen  vor  Hunger  sterben  und  auf 
der  Straße  vor  Erschöpfung  hinfallen,  läßt  sich  die  Wahrheit 
ja  ohnedies  nicht  verheimlichen. 

Aber  so  tragisch  auch  die  Lage  der  Bauern  in  den  aut 
Einfuhr  angewiesenen  Gouvernements  ist,  die  Lage  der  Arbeiter 
in  bezug  auf  die  Lebensmittelversorgung  ist  noch  weit  schlechter. 
So  schreiben  die  Arbeiter  von  Iwano-Wosnessensk  in 
einer  offiziellen  Deklaration:  „Seit  dem  Juni  ist  im  Gouverne- 
ment kein  Brot  ausgeteilt  worden.  Weiter  zu  hungern  haben 
die  Arbeiter  keine  Kraft;  die  Geduld,  die  sie  dank  ihrer  Orga- 
nisation solange  bewiesen  haben,  ist  erschöpft.  Wir  protestieren 
gegen  die  Politik  der  Zentralgewalt,  die  die  Arbeiterschaft  des 
Gouvernements  Iwano-Wosnessensk,  diese  Hauptstütze  der 
Arbeiter-  und  Bauemregierung  (d.  h.  der  Sowjetmacht  —  d.  Verf.), 
an  den  Rand  des  Hungertodes  gebracht  hat."")  Aus  Jegor- 
j  e  w  s  k  im  Gouvernement  R  a  s  a  n  teilt  der  Volkskommissar 
für  das  Verpflegungswesen  mit,  daß  „bereits  3  Monate  lang 
keine   Brotration   mehr  verteilt   wird   und  daß   sich  unter  den 


52 


Arbeitern  infolge  der  Unterernährung  allerhand  Krankheiten 
verbreiten".'®)  „Im  Gouvernement  Twcr,  Wladimir, 
Nowgorod,  Kostroma  u.  a.  haben  die  Post-  und  Tele- 
graphenarbeiter .  .  .  schon  3  Monate  lang  von  nirgendher  irgend- 
welche Lebensmittel  erhalten."^")     Usw.  in  infinitum.  .  .  . 

Nicht  besser  steht  es  auch  um  die  russische  Industrie. 
Schon  seit  mehr  als  einem  Jahre  geht  der  Prozeß  ihrer  Soziali- 
sierung vor  sich.  Hunderte  von  den  allerradikalsten  Dekreten 
wurden  zu  diesem  Zweck  erlassen.  Auf  dem  Papier  ist  alles 
sozialisiert  und  alles  von  dem  Geist  des  Sozialismus  durch- 
drungen, aber  leider  auch  nur  auf  dem  Papier  ...  in  Wirk- 
lichkeit steht  alles  ganz  anders.  Ueber  die  Ursachen  wollen 
wir  später  noch  besonders  sprechen;  zuerst  wollen  wir  hier 
einen  Blick  auf  die  tatsächliche  Lage  der  russischen  Industrie 
während  des  letzten  Jahres  werfen. 

Irgendwelche  Zahlen  und  Daten,  die  die  gesamte  In- 
dustrie betreffen,  geben  die  Bolschewiki  nicht  heraus.  So  sind 
wir  gezwungen,  das  Bild  nur  mit  einzelnen  Pinselstrichen  zu 
skizzieren. 

Die  Metallindustrie  des  Moskauer  Rayons: 
Schon  am  1.  April  des  Jahres  1918  wurden  von  den  registrierten 
211  Unternehmungen  79,  d.h.  38  Proz.,  geschlossen,  aber  auch 
die  Produktion  in  den  übrigen  hat  stark  abgenommen.  Die 
Zahl  der  beschäftigten  Arbeiter  hat  sich  um  60  Proz.  vermindert, 
der  Prozeß  des  Rückganges  geht  weiter.^*) 

Die  Textilindustrie:  Mitte  Oktober  1918  wurden 
mit  einem  Schlage  161  Betriebe  mit  18  Proz.  aller  in  dieser 
Branche  beschäftigten  Arbeiter  geschlossen.  Aber  auch  die  an- 
deren Fabriken  hatten  nur  Vorräte  an  Rohstoffen,  die  höchstens 
für  3  Monate  reichten.^") 

Die  Zementindustrie  :  Von  14  Fabriken,  die  inner- 
halb Sowjet-Rußlands  liegen,  arbeitet  nicht  eine  einzige.  Von 
den  Fabriken,  die  künstlichen  Schiefer  herstellen,  arbeitet  nur 
eine.") 

Die  Gummiindustrie:  Nach  den  offiziellen  Ver- 
öffentlichungen des  obersten  Volkswirtschaftsrats  arbeiteten 
noch  vor  einigen  Monaten  in  dieser  Branche  32  000  Arbeiter, 
jetzt  dagegen  nur  7  500  Arbeiter.")  Die  größten  Fabriken  sind 
geschlossen,  aber  bald  sollen  auch  alle  anderen  geschlossen  wer- 

53 


den,  da  ,,die  Gummiindustrie  höchstens  noch  für  die  nächsten 
2  Monate  mit  Benzin  versehen  ist".'*) 

Die  Lage  der  Naphthaindustrie  wurde  auf  dem  Kon- 
greß der  Naphthaarbeiter  folgendermaßen  geschildert:  „Die 
Lage  der  Naphthaindustrie  ist  sehr  traurig,  Heizmaterial  ist  gar 
nicht  vorhanden,  Petroleum  reicht  nach  offiziellen  Mitteilungen 
nur  noch  bis  zum  Februar,  den  Naphtha-Destillationswerken 
droht  eine  schwere  Arbeitslosigkeit  infolge  von  mangelndem 
Rohstoff.  .  .  .  Ueberall  droht  massenhafte  Arbeitslosigkeit, 
überall  fehlt  es  an  den  notwendigsten  Produkten."") 

Man  kann  jede  beliebige  Industriebranche  nehmen,  die 
Zuckerindustrie,  die  Papierindustrie,  die  Streichholzindustrie, 
die  Maschinenindustrie,  kurz,  welche  man  auch  ins  Auge  fassen 
will,  überall  ergibt  sich  das  gleiche  Bild  einer  rapiden  Zerrüt- 
tung, ja  einer  völligen  Vernichtung.  Das  „Oekonomische 
Leben"  (Nr.  12)  schreibt  in  einer  Charakteristik  der  wirt- 
schaftlichen Gesamtlage'.  ,,Die  Lage  unserer  Industrie  kann  im 
gegebenen  Moment  mit  dem  einen  Worte  »katastrophal*  charak- 
terisiert werden." 

Was  sind  nun  die  Ursachen  dieser  Zustände?  Die  aus- 
ländischen Freunde  der  Bolschewiki  werden  uns  sofort  erklären, 
woran  das  liege:  Das  Sowjetrußland  ist  von  einem  eisernen 
Ringe  von  Feinden  umgeben,  von  seinen  Rohstoffquellen  und 
jedem  Heizmaterial  abgeschnitten,  von  allen  Seiten  von  den 
Flammen  des  Bürgerkrieges  erfaßt;  es  verblutet  in  dem 
Kampfe  für  die  großen  Ideen  des  Sozialismus.  Was  kann  man 
da  von  ihm  erwarten?    Wie  kann  es  in  Rußland  anders  stehen? 

Sind  aber  diese  Erklärungen  auch  richtig?  Gibt  es  nicht 
andere,  vielleicht  noch  tieferliegende  wichtigere  Ursachen  für 
die  Zerrüttung  des  wirtschaftlichen  Lebens? 

Zunächst  einmal  einige  Tatsachen:  Die  in  Baku  im  Winter 
stattfindende  Vorbereitung  von  Naphtha  für  die  Sommerschiff- 
fahrt auf  der  Wolga  weist  folgende  Zahlen  auf.  Im  Winter  1916 
auf  1917  waren  noch  2  Millionen  45  000  Pud  Naphtha  angesam- 
melt, im  Winter  1917  auf  1918  belief  sich  der  Ertrag  auf 
60  000  Pud.")  Und  doch  war  zu  jener  Zeit  in  jenen  Gegenden 
noch  alles  ruhig.  Oder  nehmen  wir  diese  Wolgaschiffahrt 
selbst:  Im  April  des  Jahres  1917  wurden  bei  der  Eisenbahn- 
briicke  von  Kasan  nach  offiziellen  Zählungen  645  Dampfer  ge- 

54 


zählt,  im  April  1918  —  41.  Und  dabei  war  auch  auf  der  Wolga 
noch  alles  ruhig,  kein  Bürgerkrieg,  keine  Tschecho-Slowaken. 
Wie  sind  nun  solche  Tatsachen  zu  erklären? 

Wir  haben  oben  von  der  Metallindustrie  gesprochen.  Wie 
steht  es  eigentlich  dort  mit  der  Intensivität  der  Arbeit?  Sie 
fiel  in  einer  großen  Kesselfabrik  um  das  Vierfache,  in  einer 
andern  gar  um  das  Siebenfache.  Im  Durchschnitt  sank  ,die 
Produktivität  der  Arbeit  in  dieser  Industrie  um  das  Vierfache, 
wobei  sie  zum  Beispiel  in  den  Walzwerken,  wo  die  Rolle  der 
Arbeiter  unbedeutend  ist,  in  weit  geringerem  Grade  sank."**)  In 
der  Gummiindustrie  sank  die  Produktivität  nur  um  50  Prozent. 
Anders  in  der  Tuchindustrie;  so  wurden  z.  B.  in  der  Fabrik 
von  T  o  rn  t  o  n,  „die  sich,  was  die  Versorgung  mit  Rohstoffen 
tmd  Heizmaterial  betrifft,  in  den  günstigsten  Verhältnissen  be- 
findet"''), im  Oktober  1918  58  000  Arschin  Tuch  hergestellt, 
während  im  Jahre  1917  im  Durchschnitt  220 — 250  tausend 
Arschin  monatlich  erzeugt  wurden.  Für  eine  Gruppe  der 
Tuchfabriken  wurden  folgende  Zahlen  ermitelt:  500 — 550  000 
Arschin   statt   einer  normalen   Produktion   von   2    Millionen."*) 

Das  Transportwesen  ist  in  Rußland  völlig  zerrüttet,  ,,etwa 
die  Hälfte  der  Lokomotiven  ist  ausrangiert"")  und  man  hat  so- 
gar beschlossen,  die  Produktion  jener  minimalen  Anzahl  von 
Lokomotiven  und  Waggons,  die  es  in  dem  Sowjetrußland  noch 
gab,  gänzlich  einzustellen,  um  sich  statt  dessen  ganz  auf  die 
Reparatur  der  beschädigten  Lokomotiven  und  Waggons  zu  be- 
schränken;''^) das  Land  stirbt  den  Hungertod,  kann  nicht  ein- 
mal die  kleine  Menge  Getreide  transportieren,  die  es  ab  und 
zu  noch  erhält,  tmd  u'm  dieselbe  Zeit  stößt  man  in  den  Zeitun- 
gen auf  Schritt  und  Tritt  auf  Mitteilungen  nach  Art  der  folgen- 
den: „Kursk.  Die  tägliche  Produktion  auf  der  Station  Kursk 
ist  in  der  letzten  Zeit  in  geradezu  unglaublicher  Weise  gesunken. 
Es  ist  nicht  eine  einzige  brauchbare  Lokomotive  vorhanden, 
trotz  der  ausnahmsweise  gesteigerten  Bedürfnisse,  Infolge- 
dessen müssen  die  zur  Abfahrt  bereiten  Getreidetransportzüge 
liegen  bleiben."^') 

Rußland  soll  von  den  Gegenden,  von  denen  es  Rohstoffe 
erhielt,  abgeschnitten  sein?  Warum  plant  man  aber  in  diesem 
Lande,  das  so  reich  an  Wäldern  ist,  das  fast  seiner  ganzen  Aus- 
dehnung nach  von  ihnen  bedeckt  ist»  die  Herstellung  von  Streich- 

55 


hölzern  aus  Pappe,  indem  man  sich  auf  den  „Mangel  an  Holz- 
materialien'"") beruft?  Warum  macht  sich  in  fast  allen  Städten 
ein  großer  Holzmangel  bemerkbar,  während  die  Menschen 
zähneklappernd  am  Fenster  stehen  und  am  Anblick  der  unend- 
lichen Wälder  sich  erfreuen?  Ja,  das  Transportwesen  ist  bei 
uns  zerstört,  die  Fabriken  arbeiten  nicht  aus  Mangel  an  Me- 
tallen, und  dabei  lesen  wir: 

„Das  Metall  fährt  auch  heute  noch  fort,  in  allen  Richtungen 
herumzuwandern.  In  den  Eisenbahndepots,  auf  den  Stationen 
befinden  sich  noch  bedeutende  Metallvorräte,  von  denen  nie- 
mand etwas  weiß."")  Oder:  „Das  gleiche  Bild  bietet  sich  uns 
hdnsichtUch  der  übrigen  Metalle  oder  Materialien  dar;  so 
mußten  z.  B.  aus  Mangel  an  Draht  sämtliche  Nagelfabriken  ihren 
Betrieb  einstellen,  und  doch  gab  es  in  den  Depots  in  Wjasma 
eine  so  beträchtliche  Menge  Draht,  daß  die  Möglichkeit,  weiter- 
zuarbeiten, sehr  wohl  bestanden  hätte."") 

In  Rußland  wird  so  wenig  produziert,  und  die  Bedürfnisse 
der  Bevölkerung  werden  nur  zu  geringen  Teilen  befriedigt. 
Und  dabei  stoßen  wir  auf  eine  höchst  merkwürdige  und  auf 
den  ersten  Blick  vollkommen  unbegreifliche  Tatsache:  Selbst 
das,  was  produziert  wird,  gelangt  nur  mit  äußerster  Mühe  zur 
Verteilung.  Ein  Mitglied  des  Präsidiums  des  obersten  Volks- 
wirtschaftsrates hat  einen  langen  Artikel  über  die  „Abnormi- 
täten bei  der  Verteilung  der  produzierten  Waren"  geschrieben. 
„Diese  Waren  werden  keineswegs  immer  dem  Verbraucher  zu- 
geführt. Sie  bleiben  lange  Zeit  in  den  Fabrikdepots,  indem  sie 
sich  hier  hindernd  anstauen  und  die  Produktion  äußerst  schwer 
belasten."''^)  Nachstehend  einige  Beispiele  aus  diesem  Artikel: 
„Trotz  der  großen  Nachfrage  nach  Streichhölzern  hatten  die 
Streichholzfabriken  nicht  nur  sehr  stark  unter  Mangel  an  Geld 
und  Zahlungsmitteln  zu  leiden,  sondern  mußten  wegen  Ueber- 
lastung  ihrer  Depots  den  Betrieb  schließen."  Und  weiter: 
„Die  Bevölkerung  begann  große  Not  an  Streichhölzern  zu 
leiden,  die  Spekulation  erreichte  eine  noch  nie  dagewesene 
Höhe,  und  die  Fabriken,  die  mit  fertigen  Erzeugnissen  voll- 
gestopft waren,  mußten,  da  sie  keine  Order*)  zur  Liefe- 
rung   von   Streichhölzern   erhielten,    ihren   Betrieb   schließen." 


*)   Eine  Order  von  der  bolschewistischen  Regierung. 
56 


Von  der  bedeutendsten  Fabrik,  der  von  Lapschin,  traf  fol- 
gende Depesche  ein:  „Da  keine  Orders  zur  Lieferung  von 
Streichhölzern  ausgegeben  werden,  ist  unsere  Finanzlage  aufs 
äußerste  erschüttert;  wir  haben  schon  keine  Mittel  mehr,  um 
die  Arbeiter  zu  bezahlen,  und  uns  drohen  die  allergrößten 
Gefahren." 

Solche  Telegramme  treffen  nach  Erklärung  des  Verfassers 
„in  endloser  Zahl"  ein.  Aber  es  stellt  sich  heraus,  daß  „genau 
dasselbe  auf  dem  Gebiete  der  Verteilung  der  Webstoffe  zutrifft" 
und  daß  „auch  unsere  Gummifabriken  in  einer  ganz  ähnlichen 
Lage  sind"  usw.  .  .  . 

Dies  alles  beweist  mit  unzweifelhafter  Klarheit,  daß  es  mit 
der  Organisation  der  Industrie  in  Rußland  sehr  schlecht  bestellt 
ist  und  daß  die  sozialistische  Staatsmaschine  große  Schäden 
aufweist.  Das  steht  also  unzweifelhaft  fest.  Aber  warum  ist 
das  so?  Ist  es  der  ununterbrochene  Bürgerkrieg,  der  den  Bol- 
schewiki  ihre  letzten  Kräfte  raubt,  sie  nicht  die  genügende  An- 
zahl notwendiger  Mitarbeiter  finden  läßt?  0  nein!  Die  bol- 
schewistische Bure§iukratie  ist  außerordentlich,  ja  übermäßig 
zahlreich;  darüber  beklagt  sich  bitter  der  Volkskommissar  für 
Justiz  Stutschk  a"),  während  der  Volkskommissar  für  die 
Staatskontrolle  behauptet,  daß  direkt  unendlich  viel  mehr  Ar- 
beitskräfte vorhanden  sind,  als  man  braucht.  Er  führt  eine  Reihe 
von  Tasachen  an:  In  einem  Gouvernement  wird  dem  Justizmini- 
sterium ein  Kredit  für  495  Beamte  für  allein  5  Kreise  ange- 
wiesen, während  früher  12  Kreise  dieses  Gouvernements  und 
2  weitere  der  benachbarten  Provinz  mit  275  Beamten  auskamen. 
Es  stellt  sich  heraus,  daß  in  einer  Fürsorgeanstalt  der  Provinz 
auf  144  der  Fürsorge  unterliegende  Personen  44  Verwaltungs- 
beamte kommen;  in  einer  anderen  Anstalt  kommen  auf  10  Pfleg- 
linge ....  13  Angestellte!  Nicht  wahr,  es  gibt  scheinbar  genug 
Arbeitskräfte?     Also  woran  fehlt's  denn? 

Die  Antwort  ist  sehr  einfach.  In  den  „I  s  t  w  e  s  t  j  a"  vom 
1.  Dezember  1918  lesen  wir:  „Mit  wenigen  Ausnahmen  stellt  die 
ganze  amorphe  Masse  unserer  Angestellten,  matt,  apathisch 
und  entnervt,  wie  sie  sind,  die  nur  zweimal  im  Monat,  wenn  sie 
ihr  Gehalt  erhalten,  ein  wenig  aufleben,  ein  passives  Element 
dar,  unfähig  zu  einem  lebendigen  Gedanken,  zu  jeglicher  Initia- 
tive und  schöpferischer  Arbeit."    Das  macht  es  begreiflich,  wie 

57 


der  Volkskommissar  des  Verkehrswesens  N  e  w  s  k  i  die  kata- 
strophale Lage  des  Wassertransports  mit  der  Verwirrung  und 
Unfähigkeit  der  zentralen  Instanzen  erklären  kann'"),  wie  in  den 
,,I  s  t  w  e  s  t  j  a  s"  des  Zentralrats  behauptet  werden  kann,  daß 
,,die  Sozialisierung  und  die  Requisition  der  Fabriken  ...  zu 
einem  vollen  Chaos"'*)  der  ganzen  Holz-  und  Papierfabrikation 
geführt  hätte,  wie  die  Konferenz  des  Fabrik-Komitees  der  ge- 
samten Textilindustrie  und  der  Delegierten  von  277  000  Arbei- 
tern dieser  Industrie  so  scharf  gegen  das  ganze  Benehmen  und 
die  ganze  Geschäftsführung  des  »Zentrotextils'  protestieren 
und  mit  der  Abberufung  ihrer  Vertreter  drohen  kann^")  usw., 
usw.,  ins  Unendliche. 

Und  doch:  diese  Unfähigkeit  der  bolschewistischen  Organi- 
satoren ist  nur  eine  der  Ursachen  des  allgemeinen  Zerfalls. 
Aber  nun  erst  komme  ich  zu  einem  andern,  und  zwar  wahr- 
haft tragischen  Umstand  .... 

Der  Leser  hat  schon  gesehen,  daß,  (  während  in  den 
Fabriken  der  äußerste  Mangel  an  Metall  herrscht,  im  Lande 
selbst  ungezählte,  „niemandem  bekannte"  Vorräte  davon  vor- 
handen sind.  Um  diese  Vorräte  aufzufinden  und  zu  verteilen, 
wurde  eine  außerordentliche  Kommission  von  5  Mitgliedern 
eingesetzt.  Kaum  waren  wenige  Monate  vergangen:  und  alle 
diese  fünf  standen  vor  Gericht.  E^  erwies  sich,  daß  sie  sämt- 
lich Bestechungsgeldcr  angenommen  hatten  und  daß  aus- 
schließlich durch  deren  Höhe  und  nicht  durch  die  Bedürfnisse 
der  Produktion  bestimmt  wurde,  welche  Fabriken  das  Metall 
erhielten  und  welche  nicht.  .  ,  .  Von  diesen  fünf  wurden  drei 
erschossen;  einer  erhielt  10  Jahre  Zwangsarbeit;  —  der  fünfte, 
der  Hauptschuldige,  ist  entflohen.^") 

Im  Frühjahr  1918  wurde  eine  außerordentliche  Kommission 
zur  Evakuierung  Archangelsks  gebildet.  Statt  dessen  beschäf- 
tigte sich  aber  diese  Kommission  mit  Requisitionen  der  Waren 
und  ihrem  Verkauf  zu  ihrem  eigenen  Nutzen.  Die  ganze 
Kommission  sollte  verhaftet  werden;  es  gelang  jedoch  einem 
Teile  von  ihr,  zu  entfliehen.*^) 

Aus  einigen  nationalisierten  Fabriken  in  Moskau  wurde 
eine  „Manufakturgesellschaft"  gebildet.  Die  ganze  Leitung 
dieser  Gesellschaft  wurde  unter  Anklage  gestellt,  weil  sie  sich 
,, Mißbrauche     und     Räubereien"     hätte     zuschulden     kommen 

58 


lassen,  weil  sie  auf  ungerechtem  Wege  Millionen  verdient 
hätte.  Dabei  hat  sie  durch  Verteilung  von  Riesensuramen 
auch  alle  Angestellten  bestochen:  —  nach  dem  Abschluß 
eines  einzigen  Verkaufes  kamen  200  000  Rubel  unter  die  An- 
gestellten zur  Verteilung.  Jetzt  sind  die  gesamte  Leitung 
und  alle  Angestellten  verhaftet."^) 

Bei  der  Revision  der  Kasse  des  Kriegsrates  in  Brjansk 
wurde  ein  Fehlbetrag  von  426  000  Rubel  entdeckt;  115  000 
Rubel,  die  eingegangen  waren,  waren  nicht  gebucht  worden; 
zwei  Mitglieder  der  Brjanskschen  Sowjets  hatten  ohne  jeden 
Ausweis  405  000  Rubel  erhalten,  zwei  andere  310  000  Rubel; 
—  im  ganzen  aber  waren  ohne  jeden  Ausweis  ...  2  840  000 
Rubel  zur  Verteilung  gebracht  worden.^') 

In  Kaluga  stellte  die  Kontrollkommission  fest,  daß  für 
viele  Ausgaben  weder  der  Kommissar  noch  sein  Sekretär 
„irgendwelche  Erklärungen  abgeben  konnte;  für  121  500  Rubel 
sind  überhaupt  keine  Ausweise  vorhanden";  in  einem  andern 
Kommissariat  wurden  326  000  Rubel  Ausgaben  festgestellt,  für 
die  jeder  Beleg  fehlte.  Die  Vorräte  des  Kriegsamtes  waren 
systematisch  geraubt  worden.  Selbstverständlich  sind  auch 
hier  „alle  verantwortlichen  Personen  dem  Gericht  übergeben 
worden".''*) 

Der  Bericht  der  außerordentlichen  Kommission  in  Kursk 
beklagt  sich  ü'>er  die  Spekulation  ,  .  .  des  „Rats  für  die  Volks- 
wirtschaft". Nachdem  er  über  eine  interessante  „Zucker- 
machinaticn"  berichtet  hat,  teilt  er  mit,  daß  „nicht  weniger 
interessant  auch  die  Akten  über  die  Operationen  mit  Hanf 
und  Bindfaden"  seien,  wobei  die  Tätigkeit  des  Rates  für  die 
Volkswirtschaft  sich  auch  in  der  Richtung  der  „Förderung  der 
Spekulation  bewegt  habe."*^)  Das  klingt  sehr  dunkel  —  aber 
die  Sache  selbst  ist  sehr  einfach.  Es  handelt  sich  bei  diesen 
„Operationen"  immer  um  eine  Selbstbereicherung  in  den 
mannigfaltigsten  Formen. 

Im  Bericht  einer  anderen  außerordentlichen  Kommission 
lesen  wir  Klagen  darüber,  daß  „die  Mitarbeiter  der  Friedens- 
delegation (für  die  Ukraine)  sich  unter  Ausnutzung  ihrer  Stel- 
lung mit  Schmuggel  beschäftigen".*')  Eine  Fülle  von  Tatsachen 
wird  als  Beweis  hierfür  angeführt:  man  habe  bei  ihnen  Schmuck- 
sachen, Brillanten,  Gold,  Silber  entdeckt;  im  Sonderwagen  der 

59 


Delegation  hätten  sich  17  Personen,  zwar  ohne  alle  Doku- 
mente, aber  mit  einer  Menge  von  Manufakturwaren  befunden. 
Achnliche  Tatsachen  ließen  sich  in  unbegrenzter  Zahl  an- 
führen, und  zwar  Tatsachen,  bei  denen  es  sich,  wie  der  Leser 
sieht,  keineswegs  bloß  um  subalterne  Beamte  handelt.  Nur 
einige  Fakta  allgemeiner  Natur  seien  hier  noch  angeführt: 

Ein  Rundschreiben  der  allrussischen  außerordentlichen 
Kommission  beklagt  sich  über  ,,die  ganz  chaotische  Buchführung 
betreffs  der  konfiszierten  Gelder,  Waren  und  anderer  Wert- 
gegenstände, was  zu  einer  Unmenge  von  Irrtümern  und  Miß- 
bräuchen führe"/')  Das  Ministerium  für  die  Staatskontrolle  be- 
klagt sich,  daß  jetzt,  ,,wo  nicht  nur  Möbel,  sondern  auch  Lebens- 
mittel, Kleider,  Wertgegenstände,  Gelder  konfisziert"  werden, 
,, absolut  keine  Buchführung  für  die  beschlagnahmten  Güter  vor- 
handen ist  und  es  vollkommen  unbekannt  bleibt,  wohin  alle 
diese  Güter  kommen"/®) 

Die  russischen  Eisenbahnen  arbeiten  außerordentlich 
schlecht;  zu  gleicher  Zeit  aber  lesen  wir  in  der  Wochenschrift 
der  außerordentlichen  Kommission:  „Nicht  alle  machen  sich 
völlig  klar,  bis  zu  welchem  Maße  die  Adern  des  sozialistischen 
Rußland  von  der  Epidemie  der  Spekulation,  der  Konter-Revo- 
lution und  massenhafter,  sich  in  den  mannigfachsten  Formen 
äußernder  Mißbräuche  ergriffen  sind"/') 

Der  Leser  wird  vielleicht  nicht  verstehen,  was  hier  diese 
politische  Nuance,  diese  Anspielung  auf  die  Konter-Revolution 
bedeuten  soll.  Aber  dies  ist  eben  einfach  der  bolschewistische 
Stil.  So  lesen  wir  z.  B.  im  Befehl  des  Vorsitzenden  der  außer- 
ordentlichen Kommission  zur  Evakuierung  Moskaus:  ,,Die 
Lebensmittelfrage  in  Moskau  ist  nicht  deshalb  so  kritisch,  weil 
es  uns  an  Nahrungsmitteln  fehlt;  Tausende  von  Waggons  stehen 
unausgeladen.  Vielmehr  liegt  der  Hauptgrund  darin,  daß  überall 
offen  oder  im  stillen  Sabotage  getrieben  wird".")  Wieder 
eine  feine  politische  Anspielung!  Aber  schon  im  nächsten  Be- 
fehl steht  zu  lesen:  „Beim  Besuch  der  Güterbahnhöfe  Moskaus 
stellte  ich  eine  offene,  massenhafte  Plünderung  von  Lebens- 
mitteln fest";  und  weiter:  „Der  Arbeitsertrag  auf  einigen  Eisen- 
bahnen stellt  sich  auf  weniger  als  200  Pud  pro  Arbeiter",  und 
das  „bei  einer  normalen  Durchschnittsleistung  von  y^  Waggon 
pro  Tag".")     Der  Leser  sieht,  daß  die  Politik  hier  gar  keine 

60 


Rolle  spielt  und  daß  die  wahre  Erklärung  auf  einem  ganz  an- 
deren Gebiete  zu  suchen  ist. 

Angesichts  dieser  unzähligen  Tatsachen  kann  man  sich 
nicht  darüber  wundern,  wenn  man  in  den  bolschewistischen 
Zeitungen  von  fortwährenden  Verhaftungen  und  Hinrichtungen 
der  bolschewistischen  Funktionäre  liest;  und  zwar  Hinrich- 
tungen, die  sowohl  Einzelpersonen  wie  ganze  Gruppen  be- 
treffen; wenn  man  erfährt,  daß  in  der  einen  Stadt  Wjatka 
mit  einem  Schlage  32  Funktionäre  verhaftet  wurden**),  daß  die 
Rjasanskauer  außerordentliche  Kommission  sich  mit  313  Pro- 
zessen wegen  Amtsmißbrauchs  zu  beschäftigen  hat"),  daß  in 
einer  einzigen  Nummer  der  obenerwähnten  Wochenschrift  über 
die  Hinrichtung  von  12  Bolschewiki  berichtet  wird,  unter 
welchen  sich  ein  Kommissar,  ein  Unter-Kommissar,  ein  Kassen- 
führer befinden.  .  .  .  Aber  wer  beschäftigt  sich  denn  mit 
allen  diesen  Verhaftungen  und  Hinrichtungen,  in  wessen  Händen 
liegt  denn  das  Schicksal  all  dieser  Menschen,  wer  trifft  die 
Entscheidung  über  Tod  und  Leben?  O,  in  dieser  Beziehung  ist 
es  den  Bolschewiki  wirklich  gelungen,  wenigstens  etwas  zu 
organisieren:  ganz  Rußland  ist  mit  einem  Netz  von  ,, außer- 
ordentlichen Kommissionen  zur  Bekämpfung  der  Konter-Revo- 
lution, der  Spekulation  und  der  Sabotage"  bedeckt.  Diese  Kom- 
missionen entfalten  eine  energische  Tätigkeit.  Sie  erschießen 
nicht  nur  einzeln  und  dutzendweise  ihre  eigenen  bolschewisti- 
schen Anhänger:  zu  Hunderten  und  Tausenden  werden  von 
ihnen  die  sogenannten  „Konter-Revolutionäre"  gemordet,  in 
erster  Linie  Sozialisten  anderer  Parteien,  streikende  Arbeiter, 
meuternde  Bauern.  .  .  . 

Aber  was  sind  denn  nun  eigentlich  diese  Kommissionen? 
Man  braucht  diese  Frage  nur  aufzuwerfen,  und  sofort  rollt 
sich  vor  uns  wieder  ein  endloses  trauriges  Schauspiel  ab;  aber 
diesmal  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  Geld,  um  gewöhnlichen 
Diebstahl,  sondern  um  Menschenblut  und  um  das  wahnsinnige 
Leiden  ohne  Gericht  und  ohne  Wahl  zusammengeraffter,  in  der 
Mehrzahl  völlig  unschuldiger  Menschen.  In  der  angeführten 
Wochenschrift,  Nr.  4,  S.  6,  lesen  wir:  „Von  allen  Seiten  ge- 
langen an  uns  Nachrichten,  daß  in  die  Gouvernements-  und 
besonders  in  die  Bezirkskommissionen  sich  nicht  nur  unwür- 
dige, sondern  direkt  verbrecherische  Elemente  einzuschleichen 

61 


suchen".  In  die  verantwortungsvollen  Posten  der  Vorsitzenden 
und  Mitglieder  dieser  Kommissionen  „versuchen  nicht  nur 
parteilose,  sondern  direkt  unehrliche  Elemente  einzudringen, 
und  je  tiefer  das  moralische  Niveau  dieser  Leute  ist,  desto  trau- 
riger ist  das  Ergebnis  ihrer  Arbeit".  Versuchen  sich  einzu- 
schleichen? Und  gelingt  es  ihnen  denn  auch?  Folgendes  lesen 
wir  an  einer  anderen  Stelle:  ,,In  aller  Erinnerung  sind  noch 
Fälle,  in  denen  die  lokalen  Sowjets  durch  die  .Außerordent- 
lichen' buchstäblich  terrorisiert  wurden.  Es  fand  eine  natür- 
liche Auslese  statt:  in  den  Sowjets  blieben  die  besseren  Ele- 
mente, während  sich  in  den  außerordentlichen  Kommissionen 
.hergelaufene  Menschen'  ansammelten,  die  für  jede  Art  von 
Banditentum  sofort  zu  haben  waren.  Wie  oft  waren  die  Gou- 
vernements-Sowjets gezwungen,  Untersuchungskommissionen 
und  sogar  Strafexpeditionen  zur  Aburteilung  der  Bezirks- 
Außerordentlichen  zu  entsenden.  Aber  auch  bei  den  Gouverne- 
ments-Außerordentlichen ging  es  nicht  immer  gut  her:  als  Bei- 
spiel diene  die  Ausübung  der  subtilsten  und  ausgesuchtesten 
Foltern   in   der  Smolensker   außerordentlichen   Kommission."*') 

Hier  wird  von  Foltern  gesprochen  —  ist  denn  etwas  Der- 
artiges in  einem  sozialistischen  Staate  möglich?  Es  handelt 
sich  wohl  um  einen  Mißbrauch,  um  einen  Zufall,  um  einen 
Exzeß?  Nein  —  leider  handelt  es  sich  um  etwas  ganz 
anderes.  .  ,  . 

In  Nr.  3  der  gleichen  Wochenschrift  ist  ein  offener  Brief 
dreier  angesehener  Bolschewiki,  die  auf  verantwortungsvollen 
Posten  stehen,  abgedruckt;  ein  Brief  an  die  allrussische  Außer- 
ordentliche, der  den  bezeichnenden  Titel  führt:  ,,Wozu  soviel 
Federlesen?"  In  diesem  Brief  wird  die  Außerordentliche  an- 
gefragt, warum  sie  zu  keinen  Foltern  greife.  Warum  ließ  sie 
den  englischen  Konsul  Lockart  laufen,  ohne  ihn  ,, solchen  Foltiem 
zu  unterwerfen,  daß  ihre  bloße  Lektüre  genügt  hätte,  um  allen 
Konter-Revolutionären  ein  eisiges  Grauen  einzuflößen"?  Die 
Kommission  wird  beschuldigt,  daß  sie,  indem  sie  auf  diese  Fol- 
terung Lockarts  verzichtete,  ,,den  marxistischen  Standpunkt  in 
bezug  auf  die  äußere  Politik  verlassen  habe".  Leser,  du  willst 
lachen,  und  doch  kann  man  hier  noch  die  Trauer  darüber  zurück- 
halten, muß  man  nicht  in  völlige  Verzweiflung  darüber  geraten, 
in   wie   wahnsinniger,    wie    schändlicher,    wie    verbrecherischer 

62 


Weise  die  Menschen  auch  die  größten  Ideen  verunstalten 
können? 

Was  antwortet  nun  aber  die  allrussische  außerordentliche 
Kommission,  dieses  Leitorgan  für  alle  lokalen  Außer- 
ordentlichen? Erhebt  sie  entrüsteten  Protest,  —  weist  sie 
mit  Verachtung  diese  ungeheure  Zumutung  zurück? 

O  nein!  Ohne  gegen  das  Verfahren  der  Folterung  i  m 
allgemeinen  etwas  einzuwenden,  halten  sie  es  nur  i  n 
diesem  besonderen  Falle  für  unzweckmäßig!  Braucht 
man  nach  alledem  noch  von  den  unzähligen  Fällen  von  Unter- 
schlagung oder  sogar  von  „Folterung  der  Bevölkerung"")  zu 
sprechen?  Aber  unwillkürlich  fragt  man  sich:  Will  wirklich 
der  Sozialismus  nichts  anderes  bedeuten,  als  die  Auferstehung 
der  mittelalterlichen  Inquisition? 

Lassen  wir  die  zweite  Konferenz  der  außerordentlichen 
Kommissionen  hysterisch  ausrufen,  „damit  es  alle  hören,  daß  sie 
alle  Mitarbeiter  der  Außerordentlichen  und  die  Sowjet-Mitglie- 
der überhaupt,  die  den  verbrecherischen  und  für  die  Sowjet- 
Regierung  so  verderblichen  Weg  der  Zuchtlosigkeit,  der  Selbst- 
bereicherung, der  Trunksucht  betreten  haben,  aufs  schärfste 
verurteilt  und  daß  sie  hierfür  die  schonungsloseste  Sühne  ver- 
langt".") Man  möchte  ihr  entgegenrufen:  „Nein,  lieber  trinkt, 
bereichert  euch  lieber,  requiriert  alles  ohne  Maß  und  ohne 
Rechenschaft,  behaltet  alles  für  euch,  aber  foltert,  quält  nicht 
die  Menschen,  schont  nur  ein  wenig  das  menschliche  Blut, 
schändet  nicht  den  menschlichen  Namen!" 

Und  das  russische  Volk  schweigt,  protestiert  nicht,  erduldet 
alles:    das  Foltern,    die  Hinrichtungen? 

Ehe  wir  diese  Frage  beantworten,  müssen  wir  uns  Rechen- 
schaft darüber  ablegen,  wer  überhaupt  in  Rußland  noch  im- 
stande ist,  gegen  die  Bolschewiki  zu  kämpfen. 

Der  Zerfall  der  Industrie  und  die  Lebensmittelkrise  lasten 
schwer  auf  der  Arbeiterschaft.  Zum  größten  Teil  ist  sie  aus- 
einandergelaufen, hat  sich  in  die  Dörfer  verstreut.  Nur  einige 
wenige  Zahlen  mögen  dies  belegen.  Die  Statistische  Abteilung 
der  Sowjets  für  die  Volkswirtschaft  der  nördlichen  Regionen 
veranstaltete  eine  Untersuchung  über  die  Anzahl  der  Arbeiter 
in  Petersburg.  Untersucht  wurden  673  Unternehmungen.  Dabei 
stellte  sich  heraus,  daß  in  ihnen  am  1.  Januar  1918  277  986  Ar- 

63 


heiter  beschäftigt  waren;  am  1.  April  1918  dagegen  120  495. 
Die  Ahnahme  betrug  also  57  Proz.  in  3  Monaten.  Dasselbe  Bild 
beobachten  wir  auch  in  Moskau.  Die  Gewerkschaften,  die  jetzt 
alle  möglichen  staatlichen  Vorrechte  genießen  und  die  fast  alle 
an  dem  betreffenden  Ort  befindlichen  Arbeiter  umfassen, 
schmelzen  trotzdem  mit  unglaublicher  Geschwindigkeit  zu- 
sammen: Während  der  vier  Monate  Januar — Mai  1918  verlor 
die  Gewerkschaft  der  Metallarbeiter  im  Moskauschen  Rayon 
von  183  000  Mitgliedern  123  000.  Der  Verband  der  chemischen 
Arbeiter  verlor  von  40  000  Mitgliedern  30  000,  d.  h.  75  Prozent 
seines  Bestandes! 

Solche  Nachrichten  kommen  von  allen  Seiten.  ,, Infolge  des 
Mangels  an  Lebensmitteln  verlassen  die  Arbeiter  fluchtartig 
die  Werkstätten"  —  dies  wird  auf  allen  Gebieten  der  Produk- 
tion, der  Zementprodiiktion^'),  der  Papierproduktion""*),  der 
Streichhölzerproduktion'^)  und  aller  anderen  konstatiert.  Aller- 
dings laufen  nicht  nur  die  Arbeiter  auseinander:  mit  er- 
schreckender Geschwindigkeit  zerfallen  und  schmelzen  alle 
großen  Städte  überhaupt  dahin.  So  übersteigt  nach  den  letzten 
statistischen  Angaben  die  Bevölkerung  Moskaus  nicht  einmal 
die  Zahl  von  900  000  Menschen^"),  d.  h.  sie  hat  sich  in  einem 
Jahre  bolschewistischer  Herrschaft  um  fast  zwei  Drittel  ver- 
mindert! In  Petersburg  verminderte  sich  während  des  gleichen 
Jahres  nach  den  offiziellen  Angaben  die  Bevölkerung  um  60 
Proz.  Man  überlege  sich  den  Sinn  dieser  Zahlen.  Der  Zerfall 
der  Arbeiterklasse  —  das  ist  der  Ruin  des  Sozialismus;  der 
Zerfall  der  Städte  —  das  ist  der  Tod  der  Kultur! 

So  kann  es  auch  nicht  wundernehmen,  daß  die  Städte, 
die  durch  den  tödlichen  Griff  des  Hungers  und  durch  die  eiserne 
Zange  des  bolschewistischen  Terrors  fast  erdrückt  werden,  sich 
still  verhalten  und  daß  sie  nur  im  stillen  einen  elementaren  und 
schonungslosen  Haß  gegen  die  Bolschewiki  in  sich  ansammeln. 

Anders  steht  es  auf  dem  Lande.  Nach  Hunderten  und 
aber  Hunderten  könnte  ich  Beispiele  von  ununterbrochenen, 
aller  Orten  stattfindenden  Bauernaufständen  anführen.  Selten 
findet  sich  eine  Nummer  einer  bolschewistischen  Zeitung,  wo 
nicht  über  einige  dieser  Aufstände  berichtet  wird.  Mußte  doch 
Lenin  selbst  zugeben,  daß  ,,im  Sommer  1918  die  Bauernaufstände 
sich  über  ganz  Rußland  fortpflanzten".*)     Aber  indem  sie  über 

64 


diese  Aufstände  berichten,  vergessen  die  Bolschcwiki  niemals 
hinzuzufügen,  daß  dies  alles  „konter-revolutionäre"  Anschläge 
der  „ländlichen  Wucherer"  seien.  Nun  —  ist  dies  schon  wieder 
eine  stilistische  Uebung,  oder  haben  wenigstens  für  diesmal  die 
Bolschewiki  recht?     Wir  werden  es  gleich  sehen. 

Zweifellos;  es  gibt  reiche  Bauern  und  Wucherer  im  Dorfe, 
und  zwar  solche  von  allerneuester  Prägung.  Woher  sie  stammen, 
ist  nicht  schwer  zu  zeigen.  Noch  niemals  erreichte,  nach  dem 
Eingeständnis  der  Bolschewiki  selbst,  die  Spekulation  in  Ruß- 
land eine  derart  grandiose  Höhe  wie  jetzt.  Mußte  doch  der  Be- 
richterstatter auf  der  Konferenz  der  Lederarbeiter  zugeben,  daß 
„bis  80  Prozent  aller  Lederwaren  sich  der  Kontrolle  entziehen 
und  zu  einem  spekulativen  Preise  verkauft  werden".  Und  wie 
solle  dies  auch  anders  sein?  Wenn  man  bedenkt,  daß  in  den 
Großstädten  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  an  Lebensmitteln 
100—400  Gramm  Brot,  3—8  Heringe  und  das  f  ü  r  2  T  a  g  e  ent- 
fallen (s.  eine  beliebige  Nummer  der  offiziellen  „Nachrichten") 
und  daß  dieses  Quantum  dasjenige  ist,  was  die  Bürger  des 
Sowjetstaates  im  bestenFalle  erhalten,  —  daß  in  vielen 
andern  Orten  monatelang  überhaupt  nichts  gegeben 
wird,  und  daß  auf  legalem  Wege  überhaupt  nichts  zu  bekommen 
ist,  so  wird  man  sofort  verstehen,  wie  stark  sich  der  Schleich- 
handel entwickeln  mußte.  Nur  dank  dem  Schleichhandel  leben 
noch,  soweit  sie  überhaupt  leben,  die  Untertanen  der  Bolsche- 
wiki. Lesen  wir  doch  in  der  ,, Nördlichen  Kommune":  ,, Aus- 
schließlich mittels  des  Schleichhandels  konnten  die  hungernden 
Teile  unseres  Departements  sich  vor  einer  wahren  Katastrophe 
retten."'")  Allerdings,  viele  betreiben  den  Schleichhandel  aus- 
schließlich für  den  eigenen  Gebrauch;  andere  dagegen  gewinnen 
dabei  riesige  Summen.  Solche  gibt  es  in  den  Städten,  wie  in 
den  Dörfern. 

Es  gibt  allerdings  noch  einen  zweiten,  wie  ich  zeigte,  außer- 
ordentlich verbreiteten  Weg,  sich  zu  bereichern:  nämlich 
einen  der  unzähligen  Posten  anzunehmen,  die  ein  Anrecht  auf 
,, Requisitionen"  geben.  Und  doch  gibt  es  der  Reichen  nicht 
allzu  viele.  Ferner  aber  sind  es  eben  diese  Reichen,  die  am 
stärksten  daran  interessiert  sind,  die  bolschewistischen  Zustände 
bestehen  zu  lassen.  Und  endlich:  wenn  sie  auch  meutern 
wollten,   so   verstehen  diese   Elemente   sehr   gut,   daß   man  mit 

65 


einem  Aufsland  in  einem  einzelnen  Dorf  oder  sogar  in  einem 
ganzen  Bezirk  nichts  erreichen  kann,  daß  man  aber  Gefahr 
läuft,  alles,  auch  das  eigene  Leben,  dabei  zu  verlieren. 

Wie  oft  müssen  auch  die  Bolschewiki  selbst  gestehen,  daß 
diese  Bauernaufstände  einen  ,, elementaren  Charakter"  tragen/*) 
Und  in  der  Tat:  man  vergegenwärtige  sich  die  Lage  des  Dorfes! 
Ein  völliger  Zerfall,  ein  vollständiges  Chaos  der  Agrarverhält- 
nisse, eine  völlige  Unmöglichkeit,  von  der  Stadt  nicht  nur  eine 
Sense,  sondern  auch  einen  einzigen  Nagel  zu  bekommen  —  und 
dabei  ein  Hunger,  ein  fürchterlicher,  hoffnungsloser,  erschöpfen- 
der Hunger!  Man  wird  dann  den  Worten  Sinowicws,  dieser 
rechten  Hand  Lenins,  zustimmen;  ,, Betrachtet  man  die  Lage  im 
Dorfe  näher,  so  sträuben  sich  einem  manchmal  geradezu  die 
Haare!"®")  Man  wird  hieraus  aber  auch  ersehen,  daß  man  zu 
keinen  tiefsinnigen  und  spitzfindigen  politischen  Erwägungen  zu 
greifen  braucht,  um  die  Bauernaufstände  zu  erklären.  Auf 
Schritt  und  Ttitt  stößt  man  auf  Nachrichten,  wie  die  folgende: 
,,Im  Dorf  Basarnoe-Karabulaka  (Gouv.  Saratow)  brach  ein 
konter-rcvolutionärer  Aufstand  der  ländlichen  Wucherer  aus, 
die  3000  politisch  verständnislose  Bauern  verleiteten,  sich  ihnen 
anzuschließen.  Die  Ursache  des  Aufstandes:  —  Lebensmittel- 
krisis."®^)  Also  die  Ursache  des  Aufstandes:  der  Hunger!  Wo- 
zu dann  also  schon  wieder  diese  , .politische  Verständnislosig- 
keit",  diese  , »Konterrevolution",  diese  ,, ländliche  Wucherer"? 
Wozu  all  diese  Blütenlese  der  politischen  Phraseologie,  wenn  es 
sich  um  eine  so  einfache  Tatsache  wie  den  Hungertod  handelt? 
Wozu  dies  alles,  —  wenn  sogar  die  Iwano-Wosnesenskauer 
Arbeiter,  diese  ,, Hauptstützen  der  Arbeiter-  und  Bauernregie- 
rung" damit  drohen,  daß  ,,ihre  Geduld  sich  erschöpft  habe", 
wenn  es  sich  herausstellt,  daß  man  „auf  der  Suche  nach  einem 
Stück  Brot"  sogar  ,,zu  den  Engländern  übergeht"?  Soll  man 
sich  da  noch  immer  darüber  wundern,  daß  bei  den  russischen 
Bauern  der  Protest  gegen  den  Hungertod  ,, einen  elementaren 
Charakter"  annimmt? 

Und  doch  muß  man  gestehen,  daß  in  Rußland  beständig 
die  Bauern  auch  in  solchen  Gouvernements  meutern,  in  denen 
Brot  zur  Genüge,  ja  im  Ueberfluß,  vorhanden  ist.  Diese  Bauern 
meutern  darum,  weil  die  Bolschewiki,  die  auf  dem  Gebiet  der 
Produktion  nichts  zu  leisten  vermochten,  und  die  daher  keine 

66 


Möglichkeit  besitzen,  das  Brot  von  den  Bauern  freiwillig  auf 
dem  Wege  des  Warenaustausches  zu  bekommen,  auch  hier  zu 
dem  einzigen  Mittel  gegriffen  haben,  das  ihnen  immer  zur  Ver- 
fügung steht  und  das  sie  so  gern  anwenden:  zur  Gewalt.  Sie 
organisierten  spezielle  bewaffnete  Abteilungen  und  schickten 
sie  in  die  Dörfer,  um  Brot  zu  holen.  Nun:  diesmal  wenigstens 
richten  sich  diese  Expeditionen  doch  wohl  sicher  gegen  die 
„ländlichen  Wucherer"?  Und  doch,  wie  seltsam  dies  auch  klingen 
mag,  in  diesem  Falle  verzichten  sogar  die  Bolschewiki  selbst  bis- 
weilen auf  ihre  beliebte  Phraseologie.  Es  erweist  sich,  daß  in 
diesen  Gouvernements  ,,das  Brot  nicht  nur  bei  den  Reichen, 
sondern  auch  bei  dem  ganzen  mittleren  Bauernstand"  zu  haben 
ist,")  —  daß  „man  es  hier  mit  den  breiten  Massen  des  Bauern- 
tums zu  tun  hat"."'')  Und  gegen  diese  „breite  Masse  des  Bauern- 
tums" gehen  die  Bolschewiki  mit  ihren  „Requisitions-Abteilun- 
gen" vor.  Was  das  für  Abteilungen  sind,  kann  man  sich  leicht 
vorstellen.  Nicht  umsonst  gesteht  derselbe  Sinowiew,  daß  „ein 
guter  Teil  der  anti-bolschewistischen  Zustände  durch  die 
Taktlosigkeit  und  Unfähigkeit  unserer  Agenten  hervorgerufen 
wird";"*)  nicht  umsonst  wurde  in  der  Plenarsitzung  des  Mos- 
kauer Sowjets  von  den  Führern  dieser  Requisitions-Abteilungen 
gesagt:  „Ihre  ganze  Arbeit  besteht  darin,  daß  sie  Bestechungs- 
gelder annehmen  und  sich  wie  Banditen  benehmen.""*)  Aber 
das  letztere  ist  zweifellos  falsch:  denn  sie  beschäftigen  sich  ja 
auch  mit  der  Unterdrückung  der  konter-revolutionären  Auf- 
stände der  „ländlichen  Wucherer"  —  d.  h.  auf  gut  deutsch;  sie  er- 
schießen die  Bauern  in  Massen,  wenn  diese,  durch  alle  diese 
„Requisitionen"  und  „Konfiskationen",  all  diese  „Unter- 
drückungen" und  „Folterungen"  völlig  zur  Verzweiflung  ge- 
trieben, zu  den  elementaren,  blutigen  und  zugleich  sinnlosen 
Mitteln  der  Selbstverteidigung  greifen.  .  .  . 


Nimmt  man  die  bolschewistischen  Dekrete,  diese  Tausende 
von  Dekreten,  zur  Hand  —  so  könnte  man  sich  vielleicht  wirk- 
lich einbilden,  daß  in  Rußland  der  sozialistische  Staat  aufgebaut 
wird.  Nicht  umsonst  waren  die  Führer  der  Bolschewiki  immer 
so  produktive  und  talentvolle  Journalisten  und  Literaten.  In 
Wahrheit   aber    vollzieht    sich    doch    etwas    ganz    anderes:     ein 

67 


völliger  Zerfall  der  Volkswirtschaft,  und  zwar  nicht  ein  einfacher 
Zerfall,  sondern  ein  typischer  und  deutlicher  Zerfall  ins 
Kleinbürgerliche. 

Als  die   Bolschewiki  gezwungen  waren,  die  Industrie  „auf 
einer  neuen  Basis"  zu  organisieren,  konnten  sie  auch  hier  nichts 
anderes  tun,    als    zu    ihrem    bewährten  Mittel  der  , .Schöpfung 
der  Massen"    zu    greifen.     Die   Arbeiterkontrolle    wurde    ein- 
geführt;   d.  h.    die    einzelnen    Unternehmungen    wurden    unter 
die  Aufsicht    der    Fabrikkomitees    der  Arbeiter    dieser  Unter- 
nehmungen   gestellt.     Ein  Jahr  ist  vergangen  —  und  die  Ver- 
treter der  Staatskontrolle  behaupten,  daß  die  Arbeiterkontrolle 
völlig  ausgeartet  sei.    Sie  sei  die  , »Eigentümerin  der  Unterneh- 
mung, nicht  eine  bloße  Kontrolle"  geworden."*)     Der  eine  Be- 
sitzer, der  Fabrikant,  wurde  durch  eine  Gruppe  von  Besitzern 
ersetzt.    Daß  dabei  aber  die  ganze  Produktion  nicht  zum  Nutzen 
des  Staates  gedeiht  und  auch  nicht  gedeihen  kann,  daß  sie  viel- 
mehr zu  seinem  direkten  Schaden,  d.  h.  zum  Schaden  der  brei- 
testen Massen  des  werktätigen  Volkes  ausschlägt,  das  erkennt 
man    schon    aus    folgendem:     In    der    ganzen    Metallarbeiter- 
industrie  beanspruchte    schon    im   Sommer  dieses   Jahres   der 
Lohn  der  Arbeiter  und  Angestellten  105   Prozent  des   Brutto- 
wertes der  Produktion."^)    Für  eine  ganze  Gruppe  von  Fabriken 
wurde  festgestellt,  daß  die  ganze  von  ihr  hergestellte  Ware  den 
Wert  von  70   Prozent  des  Betriebskapitals  nicht  übersteige.*®) 
In   aller  Erinnerung  ist   noch  die  Tatsache,   die   Sinowiew   auf 
einer    Plenarsitzung    des  Petersburger  Sowjets    mitgeteilt  hat. 
Die  Putilowsche  Fabrik  erhielt  für  eine  bestimmte  Zeit  96  Mil- 
lionen Rubel  Staatsunterstützung;   davon  wurden  66  Millionen 
als  Arbeitslohn  verbraucht,  während  der  Gesamtwert  der  Pro- 
duktion  noch   nicht    die    Summe   von    15    Millionen    erreichte! 
Hierin  liegt  eben  das  Wesen  der  Sache:  die  ganze  Industrie  der 
Sowjet-Republik,  sofern  sie  überhaupt  noch  besteht,  hält  sich 
ausschließlich   mit    Hilfe    staatlicher   Unterstützung,     aber    der 
Gesamtwert  ihrer  Produktion  beträgt  nicht  einmal  die  Hälfte 
des  Betrages  dieser  Unterstützung.    Unter  solchen  Bedingungen 
ist   der   Staatsbankerott   unvermeidlich:    —  ja,   noch   richtiger, 
er  ist  schon  längst  eingetreten.    Erreichte  doch  das  Halbjahrs- 
Budget,  das  vom  Finanzminister  Gukowsky  aufgestellt  wurde, 
die    wahrhaft    astronomische    Ziffer   von    80    Milliarden    Rubel 

68 


—  und  das  bei  völligem  Mangel  an  irgendwelchen 
Einkommensquellen!  Aber  nein,  eine  Einkommensquelle 
existiert:  die  Druckmaschine.  Sie  liefert  täglich  etwa  200 
Millionen  Rubel.  Ist  es  da  zu  verwundern,  daß  jetzt  schon  der 
russische  Rubel  auf  dem  inneren  Markt  95  Prozent  seines 
Wertes  verloren  hat  und  daß  auf  dem  auswärtigen  Markt  das 
gegenwärtige  russische  Geld  überhaupt  nicht  mehr  angenom- 
men wird?*) 

Der  Staat,  die  Gesamtheit  des  Volkes  erleidet  also  durch 
die  Industrie  ungeheure  Verluste;  einzig  und  allein  eine  kleine 
Gruppe  der  in  ihr  noch  beschäftigten  Arbeiter  findet  bei  ihr 
einen  Vorteil.  Einen  Vorteil  erstens  in  Gestalt  eines  sehr 
hohen  Arbeitslohnes,  dann  in  Gestalt  besonderer  Vorzüge  bei 
der  Verteilung  der  von  der  betreffenden  Fabrik  gelieferten 
Waren.  Die  Menge  dieser  Waren,  die  jeder  Arbeiter  erhält, 
steht  zu  seinem  Bedürfnis  in  gar  keinem  Verhältnis.  So  er- 
innere ich  mich,  daß  im  Sommer  1918  die  Arbeiter  der  Procho- 
rowschen  Fabrik  in  Moskau  für  sich  und  für  jeden  Angehörigen 
ihrer  Familie  monatlich  je  30  m  Stoff  erhielten.  Unter  solchen 
Umständen  ist  es  auch  ganz  natürlich,  daß,  wie  die  Textil- 
gewerkschaft  des  Wolgaer  Gebiets  feststellt,  die  Bauern  und 
vor  allem  die  früheren  Soldaten  sich  in  Hoffnung  auf  hohen 
Lohn  und  auf  den  Anteil  am  Stoff  gewaltsam  in  die  Fa- 
briken einstellen  lassen,  ohne  von  der  Produktion  auch  nur 
das  Geringste  zu  verstehen:  ,,was  hier  vorgeht,  ist  ein  Raub, 
eine  wahrhafte  Plünderung  der  Fabriken."^*) 

Allerdings  ist  dies  nicht  der  einzige  Weg,  auf  dem  man 
sich  bei  der  russischen  Industrie  bereichern  kann.  Im  „öko- 
nomischen Leben""^)  lesen  wir:  „Alle  Kraft  und  Anstrengung 
unserer  Volkswirtschaftsräte,  die  ganze  Energie  unserer  selbst- 
bewußten Arbeiterschaft  muß  darauf  gerichtet  werden,  .  .  . 
daß  es  in  den  Fabrikkomitees  den  einzelnen  parasitenhaften 
Elementen  nicht   gelingt,   indem   sie   mit   den   Spekulanten   ge- 


*)  Einen  gewissen  Wert  stellten  nur  noch  das  zaristische  Geld 
und  die  Kerenski-lOOO-Rubelnoten  dar.  Dies  erklärt  sich  da- 
durch, daß  die  Bolschewiki  völlig  unfähig  sind,  den  Nachdruck 
dieser  Geldsorten  in  größerem  Umfange  zu  organisieren. 

69 


meinsame  Sache  machen,  den  Aufbau  unserer  kommunistischen 
Volkswirtschaft  zu  untergraben." 

So  ist  denn  die  russische  Arbeiterklasse  der  Eigentümer 
der  industriellen  Unternehmungen  geworden  —  aber  nicht  für 
lange.  Wie  Schnee  schmelzen  diese  Unternehmungen  in  seinen 
Händen  dahin.  Die  Arbeitslosigkeit  wächst,  der  Hunger  in 
den  Städten  verschärft  sich  und  auch  sie  selbst  als  Klasse 
schmilzt  zusammen  und  löst  sich  über  ganz  Rußland  auf.  Nur 
kleineren  Gruppen  von  ihr  und  , .einzelnen  parasitenhaften  Ele- 
menten" gelingt  es,  aus  diesem  völligen  Zerfall,  aus  dieser 
gänzlichen  Vernichtung  der  Industrie  und  ihres  Hauptträgers, 
der  Arbeiterklasse,  Vorteil  zu  ziehen.*) 

Und  in  den  Dörfern?  Es  trat  dasselbe  ein,  was  in  der 
französischen  Revolution  geschah  und  worunter  noch  heute  die 
gesamte  soziale  Bewegung  in  Frankreich  so  stark  leidet,  — 
das,  was  wir,  die  Sozialrevolutionäre,  immer  so  befürchtet 
hatten:  der  Boden  ging  in  den  faktischen  Besitz  unzähliger 
kleiner  Eigentümer  über.  Für  lange  Zeit  ist  damit  jede  Hoff- 
nung auf  die  planmäßige  Sozialisierung  des  Bodens,  diesen  Eck- 
stein des  Agrar-Sozialismus,  untergraben. 

Aber  auch  der  Besitz  des  Bodens  wurde  den  Bauern  nicht 
zum  Heil:  in  dem  größeren  Teile  des  bolschewistischen  Ruß- 
land sterben  sie  Hungers,  in  anderen  dagegen,  wo  Brot  im 
Ueberfluß  vorhanden  ist,  ist  das  Dorf  zwar  von  Geld  buchstäb- 
lich überschwemmt,  aber  welchen  Wert  stellen  diese  Papier- 
rubel dar,  von  denen  man  schon  jetzt  sagt,  daß  man  sie  nur 
noch  nach  Gewicht  in  Zahlung  nehmen  kann?  Schnell  verarmt 
die  ganze  Masse  des  russischen  Bauerntums  —  und  wiederum 


*)  Wer  noch  immer  nicht  überzeugt  ist,  wer  noch  immer 
glaubt,  daß  die  Bolschewiki  mit  der  Behauptung,  daß  die  rus- 
sische Arbeiterschaft  schon  von  den  Ideen  des  Sozialismus 
durchdrungen  sei,  im  Recht  sind,  der  möge  über  folgende 
Tatsache  nachdenken:  Es  ist  den  Bolschewiki  gelungen,  einige 
Assoziations-Fabriken  zu  begründen  —  und  schon  müssen  sie 
feststellen,  daß  diese  Fabriken  , »unter  dem  ehrenwerten  Schilde 
einer  sozialen  Organisation  die  grenzenloseste  Spekulation 
betreiben."^^) 

70 


bereichern  sich  nur  einzelne  Gruppen,  die  Spekulanten  und  die 
Agenten  der  bolschewistischen  Regierung. 

Der  große  private  Reichtum  ist  in  Rußland  verschwunden: 
und  das  ist  sehr  gut.  Das  Unglück  besteht  nur  darin,  daß  dieser 
Reichtum  dem  werktägigen  Volke  nicht  zum  Nutzen  gereicht, 
—  daß  vielmehr  auch  die  breiten  Volksmassen  schnell  ver- 
armen. An  Stelle  von  Hunderten  und  Tausenden  großer  Ver- 
mögen erheben  sich  jetzt,  über  den  breiten  Untergrund  des 
verelendenden  Volkes,  Hunderttausende  von  neuen,  zwar 
weniger  bedeutenden,  aber  nicht  weniger  starken  und  wider- 
standsfähigen Besitzern  .  .  \ 

Bei  der  Plünderung  eines  großen  Gutes  fiel  einmal  den 
Bauern  ein  alter,  außerordentlich  wertvoller  Spiegel  in  die 
Hand.  Lange  wußten  sie  nicht,  was  sie  mit  ihm  anfangen  sollten: 
schließlich  aber  entschlossen  sie  sich,  ihn  zu  zerschlagen,  und 
jeder  nahm  ein  kleines  Stückchen  an  sich.  Das  ist  das  Bild 
und  das  Symbol  dessen,  was  jetzt  in  Rußland  unter  dem  Regime 
des  Bolschewismus  vor  sich  geht. 


71 


V- 


Rückblick  und  Ausblick. 


Aber  ich  höre  schon  einen  wichtigen  Einwand:  „Gut,  mag  das 
^  alles  auch  richtig  sein;  mag  die  Lage  Rußlands  tief  tra- 
gisch, mögen  die  Leiden  der  breiten  Volksmassen  unerträglich 
sein:  was  hat  das  alles  mit  den  Bolschewiki  zu  tun?"  Und 
in  der  Tat,  habe  ich  denn  nicht  selber  betont,  daß  die  russische 
Revolution  fast  von  ihren  ersten  Tagen  an  dem  Abgrund  zu- 
lollte,  daß  der  Zarismus  und  seine  Erbschaft  das  russische  Volk 
zu  Boden  gedrückt  hat,  daß  er  ihm  beinahe  das  Rückgrat  brach? 
Ist  es  denn  nicht  ein  Wahnsinn,  dies  den  Bolschewiki  zum  Vor- 
wurf zu  machen? 

Ja,  in  der  Tat  wäre  dies  ein  Wahnsinn,  aber  es  ist  etwas 
völlig  anderes,  dessen  ich  sie  anklage: 

Während  die  russische  Revolution  dem  Abgrund  zurollte, 
haben  sie  diese  Bewegung,  statt  sie  zu  hemmen,  noch  zu  be- 
schleunigen gesucht;  sie  machten  sich  an  das  in  der  langen 
Knechtschaft  erblindete,  noch  unvernünftige  russische  Volk 
heran,  und  statt  es  von  der  Richtung,  die  es  einschlug,  abzu- 
halten, hypnotisierten  sie  es  mit  dem  Bilde  eines  Himmelreiches, 
das  in  dieser  Richtung  liegen  sollte.  Ja,  sie  taten  noch  mehr: 
sie  verleumdeten  in  unglaublichster  Art  und  Weise  alle,  di^ 
das  Volk  von  dieser  Richtung  ablenken  wollten,  indem  sie  be- 
haupteten, sie  seien  Volksfeinde,  denn  sie  wollten  das  Volk 
vom  Himmelreich  abhalten.  Alles,  was  das  Volk  aus  Feigheit, 
aus  Apathie,    aus   tiefem   Egoismus   tat,   unterstützten   und  för- 

72 


derten  sie;  ja,  man  möchte  sagen,  sie  organisierten  förmlich  den 
Prozeß  der  Anarchie  und  des  Zerfalls  und  steigerten  ihn  da- 
durch ins  Ungemessene.  Wir  haben  es  hier  mit  einer  Erschei- 
nung zu  tun,  die  dem  analog  ist,  was  in  der  Physik  unter  dem 
Namen  ,, erzwungene  Schwingungen"  bekannt  ist.  Eine  Brücke, 
die  imstande  ist,  ein  Gewicht  von  mehreren  tausend  Menschen 
zu  tragen,  kann  beim  Durchmarsch  eines  einzigen  Bataillons 
einstürzen,  wenn  dieses  sich  im  Taktschritte  bewegt  und  wenn 
dieser  Takt  seiner  Schritte  mit  den  Schwingungen  der  Brücke 
zusammenfällt.  In  so  ungeheurem  Maße  verstärkt  dieses 
Gleichmaß  die  Schwingungen  der  Brücke. 

Der  Zarismus  zerrüttete  den  Gesamtbau  der  russischen  Ge- 
sellschaft, weckte  alle  Leidenschaften  auf,  brachte  sie  in  Be- 
wegung. Die  Bolschewiki  aber  fingen  in  ihrer  regelmäßigen, 
organisierten  Arbeit  den  Takt  dieser  Bewegung  auf  und  riefen 
dadurch  erzwungene  Schwingungen  von  einer  derartigen  Span- 
nung, einer  derartigen  Kraft  hervor,  daß  das  ganze  Gebäude 
notwendig  einstürzen  mußte. 

Zweifellos  dachten  die  Bolschewiki,  indem  sie  mit  ihrer 
ganzen  Agitation  für  ein  sofortiges  Zugreifen  einzelner  kleiner 
Gruppen  eintraten,  daß  sie  an  der  Verwirklichung  des  Sozialis- 
mus in  Rußland  arbeiteten;  wie  sie,  indem  sie  den  Zerfall  der 
Armee  förderten  und  das  ganze  Land  dem  deutschen  Imperialis- 
mus als  leichte  Beute  preisgaben,  davon  überzeugt  waren,  daß 
sie  damit  der  Verwirklichung  des  Sozialismus  in  der  ganzen 
Welt  dienten.  So  lassen  sich  alle  Gründe  der  bolschewistischen 
Handlungen  als  ein  tiefer  und  grundlegender  Fehler  charakteri- 
sieren; als  der  Gedanke,  daß  die  ganze  Welt  für  den  Sozialis- 
mus schon  vollkommen  reif  sei,  daß  er  unmittelbar  bevorstehe 
und  außerordentlich  leicht  zu  verwirklichen  sei. 

Wenn  aber  die  Gründe  der  bolschewistischen  Hand- 
lungen als  Fehler  zu  bezeichnen  sind,  so  sind  ihre  Hand- 
lungen selbst,  alle  ihre  Kampfmethoden  nicht  mehr  als 
ein  Fehler,  sondern  nur  als  ein  Verbrechen  zu  bezeichnen;  denn 
sie  alle  bestehen  in  der  Anwendung  der  Gewalt,  des  zügel- 
losen, blutigen  Terrors.*) 


*)    Soeben  erhalte  ich  die  fünfte  Nummer  der   ,, Wochen- 
schrift der  außerordentlichen  Kommission  zur  Bekämpfung  der 

\ 

73 


Der  Bürgerkrieg,  den  die  Bolschcwiki  führen  (erinnert  sich 
noch  der  Leser  des  berühmten  Wortes  Trotzkys:  ,, Bolschewis- 
mus ist  Bürgerkrieg"?),  ist  so  fürchterlich,  so  grausam,  daß  man 
seine  Dimensionen  und  seine  Intensität  nur  durch  die  moralische 
Verwilderung  nach  einem  vierjährigen  Weltkrieg  erklären 
kann.  Nur  so  kaniV  man  auch  erklären,  daß  die  ganze  Welt 
bei  seinem  Anblick  nicht  von  einem  Entsetzen  ergriffen  wird, 
nicht  laut  aufschreit,  nicht  protestiert.  Wie  oft  haben  auch  die 
Bolschewiki  schon  ganz  offen  ausgesprochen,  daß  sie  nach  den 
hundcrttausenden  Opfern  des  Weltkrieges  vor  den 
zehptausenden  Opfern  des  Bürgerkrieges  nicht  zurück- 
schrecken würden.     Aber  dieser  Weltkrieg  war  doch  eben  der 


Konter-Revolution".  Unwillkürlich  wird  man  von  der  Kälte 
des  Grausens  erfaßt,  wenn  man  diese  Schrift  liest.  Hier  die 
Chronik:  Die  Pcschechonsche  Bezirkskommission  (also  eine  von 
denjenigen,  die  besonders  stark  zum  Banditentum  neigen  sollen), 
erstattete  den  periodischen  Bericht  über  ihre  Tätigkeit:  Hin- 
gerichtet sind  30  Menschen,  darunter  eine  ganze  Familie  Scha- 
laeff  (3  Männer,  2  Frauen),  eine  Familie  Wolkoff  (2  Männer, 
2  Frauen).  Die  überwiegende  Mehrzahl  ist  hingerichtet  für  ,,die 
Agitation  gegen  die  Sowjetgewalt",  die  anderen  „für  konter- 
revolutionäre Tätigkeit".  Dann  folgt  ein  Bericht  einer  anderen 
Kommission  über  eine  ihrer  Sitzungen:  54  Prozesse  erledigt, 
31  Menschen  hingerichtet.  Dann  nur  eine  ganz  kurze  Mitteilung: 
„Die  Petersburger  Kommission  ließ  500  Menschen  erschießen" 
usw.  Und  weiter  natürlich  wieder  eine  ganze  Reihe  von  Mit- 
teilungen über  die  hingerichteten  bolschewistischen  Funktio- 
näre, die  verantwortungsvolle  Posten  einnahmen. 

Und  wenn  man  bedenkt:  Heute  sind  diese  Funktionäre 
hingerichtet,  aber  erst  gestern  haben  sie  hinrichten  lassen! 
Erst  gestern  floß  doch  auf  Befehl  ihrer,  dieser  Banditen  und 
Verbrecher  das  menschliche  Blut! 

So  ist  die  Chronik.  .  .  .  Und  ihr  folgt,  man  denke  nur,  ein 
humoristisches  Feuilleton,  betitelt:  „Das  zweite  außerordent- 
liche Feuilleton". 


74 


Ausdruck  des  ganzen  Zerfalls,  der  tiefen  Verderbtheit  des  im- 
perialistischen Kapitalismus.  Und  wie  konnte  es  bloß  ge- 
schehen, daß  gerade  diejenigen,  die  sich  ,, radikale  Sozialisten" 
nennen,  sich  in  einer  so  radikalen  Weise  an  dieser  Seuche 
des  Imperialismus  angesteckt  haben? 

Wie  konnte  es  geschehen,  daß  gerade  sie,  die  sich  für  ganz 
prinzipielle  Sozialisten  halten,  den  Boden  Rußlands  mit  dem 
Blute  der  Arbeiter,  der  Bauern,  der  sozialistisch  gesinnten  In- 
tellektuellen tränken,  und  zwar  in  einem  solchen  Maße,  daß 
man  beim  Anblick  der  bolschewistischen  roten  Fahnen  nicht 
mehr  an  die  Morgenröte,  an  das  neue  Leben,  sondern  nur  noch 
an  das  Blut  und  an  das  traditionelle  rote  Hemd  der  russischen 
Henker  denkt? 

Und  doch,  wenn  man  näher  zusieht,  muß  man  sagen;  beides, 
jener  grundlegende  Fehler  der  Bolschewiki  und  dieses  ihr  grau- 
sames Verbrechen  haben  eine  und  dieselbe  tiefliegende 
Wurzel  .  .  . 

In  der  Politik  wie  in  der  Religion  spielt  der  Glaube  eine 
große,  oft  die  entscheidende  Rolle.  Die  starke  materielle  Ab- 
hängigkeit der  Massen,  der  Ehrgeiz,  aber  auch  der  Enthusias- 
mus und  der  Drang  zur  Selbstaufopferung  bei  den  Führern 
erfüllen  die  politische  Atmosphäre  mit  unzähligen  Leidenschaf- 
ten, umnebeln  die  Vernunft  und  drängen  sie  zurück.  Und  das 
geschieht  um  so  leichter,  als  die  Position  der  Vernunft  in  der 
Politik  von  vornherein  nicht  so  stark  ist;  denn  Politik  ist  eben 
keine  Wissenschaft:  die  Gesetzmäßigkeit  des  sozialen  Lebens 
ist  noch  nicht  genügend  tief  erkannt;  die  Vernunft  hat  es  hier 
mit  einer  zu  großen  Anzahl  von  unbestimmten,  leicht  veränder- 
lichen, launenhaften  Faktoren  zu  tun.  Meist  ist  sie  nicht  nur 
nicht  imstande,  etwas  in  der  Politik  vorauszusagen,  sondern 
auch  nur  das  tatsächlich  Vorliegende  objektiv  zu  erkennen  und 
einzuschätzen.  Aber  je  weniger  die  Politik  von  der  Vernunft 
beherrscht  wird,  und  je  stärker  in  ihr  die  Leidenschaften  und 
die  Wünsche  toben,  eine  um  so  größere  Rolle  muß  in  ihr  der 
Glaube  spielen.  Mit  dem  Glauben  aber  sind  der  Fanatismus 
und  die  Intoleranz  eng  verbunden.  Auch  das  sehen  wir  in  der 
Religion  wie  in  der  Politik;  denn  wo  man  so  wenig  beweisen 
kann  und  wo  man,  bewußt  oder  unbewußt,  so  viel  glauben 
muß,  sind  unsere  starken  Wünsche  zu  leicht  dazu  geneigt,  die 

75 


Form  unumstößlicher,  absoluter  Dogmen  anzunehmen.  Und 
je  stärker  diese  Dogmen  uns  am  Herzen  liegen,  aber  zugleich 
je  unbeweisbarer  ihre  Realität,  desto  unduldsamer  werden  wir 
gegenüber  jedem  Wort  der  Kritik.  Wo  man  einander  nicht  über- 
zeugen kann,  da  fangen  die  Menschen  zu  oft  und  zu  leicht  an, 
einander  zu  hassen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkt  betrachte  man  die  moralische 
Welt,  in  der  ein  Lenin  oder  ein  Lunatscharsky  lebt,  einmal 
etwas  näher.  Das  sind  Menschen,  die  an  ihre  Idee  tief  glauben, 
die  ihr  grenzenlos  hingegeben,  für  sie  zu  jedem  Opfer  bereit 
sind.  .  .  .  Nun  höre  ich  schon  von  allen  Seiten  die  leidenschaft- 
lichsten Zwischenrufe  und  Einwände:  Was,  diese  Menschen,  die 
den  schrecklichsten  Terror  billigen,  die  ihn  zulassen,  ja,  im 
Grunde  selbst  organisieren,  die  von  allen  diesen  Grausam- 
keiten wissen  und  sie  dulden  —  wie  können  solche  Menschen 
ehrlich,  wie  können  sie  selbstaufopferungsfähig  sein?  Und 
doch  ist  das  weder  sonderbar  noch  unverständlich.  Es  genügt, 
an  die  mittelalterliche  Inquisition  zu  denken.  Gab  es  denn 
nicht  auch  unter  den  Inquisitoren  eine  ganze  Reihe  wirklich 
entsagungsfähiger,  aufrichtig  und  tief  gläubiger  Menschen,  die 
auch  nicht  einen  Augenblick  zweifelten,  daß  sie  mit  all  ihren 
Grausamkeiten  Gott  dienten,  sein  Reich  verherrlichten?  In  der 
Tat  ist  es  geradezu  unglaublich,  wie  die  Ideologen  des  Bolsche- 
wismus in  a  1 1  e  m,  in  großem  und  in  kleinem,  diesen  Inquisitoren 
gleichen.  Wie  jene  fanatisch  glaubten,  daß  nur  sie  die  absolut 
wahre  Erkenntnis  Gottes  und  den  allein  seligmachenden  Weg 
hatten,  so  glauben  diese  felsenfest  daran,  daß  nur  sie  die  wahren 
Sozialisten  seien  und  daß  nur  auf  ihrem  Wege  der  Sozialis- 
mus zu  verwirklichen  sei.  Wie  jene  keine  anderen  Lehren  an- 
erkennen wollten,  wie  sie  die  Anhänger  derselben  folterten 
und  hinrichteten,  so  verfolgen  diese  schonungslos,  so  foltern  und 
richten  sie  die  Sozialisten  anderer  Parteien  hin.  Und  wie  jene 
dachten,  daß  sie  damit  Gott  dienten,  weil  all  diese  unglück- 
lichen, zu  Tode  gequälten  Menschen  ,, Gotteslästerer",  ,, Ketzer" 
wären,  so  denken  auch  diese,  daß  sie  damit  die  Sache  des  Sozia- 
lismus fördern,  da  sie  doch  lauter  ,, Konter-Revolutionäre"  und 
,, Verräter  am  Sozialismus"  zu  Tode  martern  und  erschießen. . . . 

Wie  für  einen  elementar  glaubenden  Menschen  alles  in 
dieser  Welt  so  einfach,  so  verständlich  ist,  so  scheint  es  auch 

76 


den  Boischewiki,  daß  es  nichts  Leichteres  gäbe,  als  den  Sozialis- 
mus sofort  auf  dem  Wege  der  Dekrete  und  der  Gewalt  zu  ver- 
wirklichen. Die  ganze  Schwierigkeit  und  Kompliziertheit  der 
Aufgabe  sehen  sie  nicht,  denn  ihre  Vernunft  ist  durch  ihren 
leidenschaftlichen  Wunsch  geblendet.  Aber  der  Glaube  an 
diese  Einfachheit  vermehrt  ihre  Energie  außerordentlich  stark 
und  spornt  sie  zu  einer  unablässigen  Tätigkeit  an. 

Nun  ist  aber,  zum  Unterschiede  vom  blinden  Glauben, 
die  wahre  Religion  mit  der  Toleranz  untrennbar  verbunden. 
Denn  wer  von  dieser  Religion  durchdrungen  ist,  der  erkennt 
deutlich  den  Unterschied,  der  zwischen  Gott  selbst  und  einer 
individuellen,  beschränkten  Vorstellung  von  ihm  besteht.  Für 
ihn  erschöpft  sich  das  objektive  Wesen  Gottes  nicht  in  einer 
subjektiven  Vorstellung  von  ihm.  Ja,  noch  mehr,  eben  ange- 
sichts dieses  unendlich  höheren  Wesens  lernt  er  die  ganze  Sub- 
jektivität, Zufälligkeit  und  Beschränktheit  seiner  eigenen,  ein- 
zelnen Persönlichkeit  kennen;  und  aus  dieser  Selbsteinschrän- 
kung heraus,  fängt  er  an,  auch  andere  Vorstellungen  von 
Gott,  auch  andere  Erkenntniswege  zu  ihm  anzuerkennen;  mit 
einem  Worte:  er  wird  tolerant.  Denn  die  Intoleranz  beruht  im 
Grunde  auf  einer  Selbstvergötterung;  *sie  besteht  darin,  daß  das 
ganze  objektive  Wesen  Gottes  in  einer  einzelnen,  subjektiven 
Vorstellung  aufgelöst,  durch  diese  Vorstellung  ersetzt  wird. 
Darum  war  eben  die  ganze  Ideologie  der  Inquisition  gar  nicht 
religiös  in  diesem  wahrhaften,  tiefen  Sinne  des  Wortes,  denn 
sie  war  nicht  von  einer  Idee  Gottes,  sondern  von  Selbstver- 
götterung durchdrungen,  sie  gipfelte  nicht  in  einem  objektiven 
Gottesbegriffe,  sondern  in  einer  rein  menschlichen,  ganz  subjek- 
tiven Gottesvorstellung.  Dies  alles  gilt  auch  für  die  Boische- 
wiki. Ja,  es  ist  ein  blinder,  fanatischer  Glauben,  von  dem  sie 
ganz  ergriffen  sind,  aber  das  ist  nur  der  Glaube  an  ihre  Vor- 
stellung vom  Sozialismus,  an  i  h  r  e  n  Weg  zu  ihm.  Und  während 
sie  glauben,  nur  dem  Sozialismus,  ja,  der  ganzen  Menschheit 
zu  dienen,  geben  sie  ein  erschütterndes  Beispiel  eines  unbe- 
wußten Egoismus  und  einer  grenzenlosen  Beschränktheit,  indem 
sie  dieser  ihrer  Auffassung  vom  Sozialismus  die  unzähligen 
menschlichen  Opfer  bringen. 

Und  das  ist  auch  die  Erklärung  dafür,  wie  es  kommt, 
daß      diese      Ideologen,       diese      ehrlichen      Menschen      von 


einem  so  festen  Ringe  von  Dieben,  von  Räubern  und 
Halunken  umgeben  sind.  Sie  sind  vollkommen  geblendet 
durch  ihre  Selbslverliebtheit:  es  genügt,  daß  ein  Mensch  zu 
ihnen  kommt  und  sagt,  er  sei  mit  ihnen  vollkommen  einver- 
standen, sie  hätten  da  eine  herrliche  Sache  ins  Werk  gesetzt 
und  er  wolle  ihnen  dabei  helfen,  —  und  er  erhält  sofort  einen 
oft  sehr  verantwortlichen  Posten.  Daß  dieser  Mensch  auch 
fähig,  ehrlich  und  klug  ist,  dies  alles  ist  selbstverständlich:  wie 
könnte  er  sonst  mit  ihnen  einverstanden  sein,  wie  könnte  er 
sie  begreifen  und  anerkennen?  Der  Blutgeruch  aber  lockt 
alle  Schakale  und  Hyänen  des  menschlichen  Geschlechtes 
heran,  mit  ungeheurer  Macht  entfesselt  er  alle  tierischen  In- 
stinkte des  Menschen.  Was  ist  also  Wunderbares  daran,  daß 
der  Sowjetstaat  sich  allmählich  in  eine  Folterkammer  ver- 
wandelt? 

Wie  steht  es  aber  mit  der  Politik?  Hat  sie  sich  denn  von 
der  Religion  so  gründlich  überholen  lassen  und  gar  nichts  Objek- 
tives, was  die  Toleranz  in  ihr  bedingen  sollte,  geschaffen? 
Nein,  so  ist  es  nicht,  auch  in  der  Politik  gibt  se  Toleranz;  und 
wir  gelangen  zu  ihr  auf  einem  ähnlichen  Wege  wie  in  der 
Religion. 

Wer  von  dem  Gedanken  durchdrungen  ist,  daß  die  Mensch- 
heit ein  höherer  Begriff  ist  als  das  Individuum,  wer  den  tiefen 
Egoismus  und  die  Selbstverliebtheit  der  menschlichen  Natur 
von  sich  abgestreift  hat,  wer  nicht  allein  für  sich  und  seinen 
engen  Kreis  das  Beste  wünscht,  wer  aber  auch  nicht  in  sich  die 
absolute  Autorität  in  allen  Fragen  erblickt,  mit  einem  Worte: 
wer  imstande  ist,  den  materiellen  Egoismus  wie  auch  jede 
geistige  Ueberhebung  seiner  Persönlichkeit  an  der  Idee  der 
Menschheit  einzuschränken  und  zu  regulieren,  der  übt  auch  in 
der  Politik  die  Toleranz.  Denn  er  versteht,  daß  seine  Wünsche 
nur  seine  Wünsche,  daß  seine  Vorstellungen  nur  seine  Vor- 
stellungen sind,  und  daß,  auch  wenn  er  die  ganze  Welt  be- 
glücken will,  er  es  doch  nur  so  zu  tun  bestrebt  ist,  wie  e  r  sich 
dieses  Weltglück  subjektiv  vorstellt.  So  fängt  er  an,  das 
gleiche  Recht  wie  sich  selbst,  auch  allen  anderen  Menschen 
einzuräumen:  das  Recht  aufs  Leben,  das  Recht  aufs  Denken 
und  Wollen. 


78 


Diese  einfache,  aber  entscheidende  Idee  liegt  dem  So- 
zialismus zugrunde:  er  verlangt  das  gleiche  Recht  aufs  Leben 
für  alle  Menschen,  also  eine  radikale  Einschränkung  jedes  indi- 
viduellen Egoismus  durch  die  Idee  der  Menschheit.  Und  seine 
Verwirklichung  strebt  der  Sozialismus  auf  einem  demo- 
kratischen Wege  an,  d.  h.  in  dem  klaren  und  freien  Willen 
der  Mehrheit  sieht  er  etwas,  was  über  jedem  individuellen 
Willen  steht.  Mag  jeder  an  seine  Ideen  glauben,  mag  er  glauben 
so  stark  und  so  tief,  wie  er  nur  kann;  mag  er  unablässig  ver- 
suchen, alle  Menschen  von  der  Wahrheit  seiner  Idee  zu  über- 
zeugen und  für  sie  zu  werben;  aber  er  soll  immer  dessen  ein- 
gedenk bleiben,  daß  jede  politische  Idee  im  letzten  Grunde 
doch  nur  seine  individuelle  Idee  ist.  In  dem  Augen- 
blick, in  dem  er  anfängt,  von  der  ganzen  Welt  die  Anerkennung 
seiner  Idee  zu  fordern,  in  dem  er  versucht,  seine  Idee  ge- 
waltsam zu  verwirklichen,  zeigt  er  nur,  daß  er  sich  höher 
stellt  als  jeden  anderen,  höher  sogar  als  die  Gesamtheit  der 
Menschen,  zeigt  er  nur,  daß  er  ein  Tyrann  ist,  und  dies  gänz- 
lich unabhängig  von  dem  Gehalt  und  Wesen  seiner  Idee. 

Und  eben  diese  Erkenntnis,  dieses  Grundlegende  und  Be- 
stimmende, wodurch  die  ganze  Weltanschauung  des  Sozialis- 
mus in  erster  Linie  charakterisiert  wird,  fehlt  den  Ideologen 
des  Bolschewismus  vollkommen.  Sie  sprechen  so  viel  von  So- 
zialismus, vom  Glück  der  ganzen  Menschheit,  aber  bei  ihnen 
läuft  das  auf  bloße  Worte  hinaus,  denn  nicht  diesem  allen 
dienen  sie,  sondern  einzig  und  allein  ihren  subjektiven  be- 
schränkten Vorstellungen  von  diesen  zweifelhaft  großen  ge- 
waltigen Dingen;  und  sie  dienen  ihnen  verbrecherisch  auf  dem 
Wege  der  grausamen  Gewalt. 

Nur  zwei  Wege  gibt  es  überhaupt  in  der  Politik:  der  Weg 
einer  freien  Kundgebung  des  Volkswillens  und  der  Weg  eines 
ununterbrochenen,  versteckten  oder  offenen,  chronischen  oder 
akuten  Bürgerkrieges.  Der  materielle  Egoismus,  der  verblen- 
dete Fanatismus,  der  unvernünftige  Glaube,  —  das  ist  es,  was 
die  Menschen  auf  diesen  zweiten  Weg  führt.  Dort,  wo  eine 
Gruppe  von  Menschen  ihre  engen  materiellen  oder  sogar  ideo- 
logischen Ziele  über  das  Allgemeine  und  Reinmenschliche  stellt 
und  sich  für  berechtigt  hält,  die  Verwirklichung  dieser  Ziele 
mit  Waffengewalt  anzustreben,  —  wie  soll  man  da  den  Bürger- 

79 


krieg  vermeiden?  Wo  ist  dann  jene  „dritte  Macht",  die  imstande 
wäre,  diesen  leidenschaftlichen  und  bliilij^en  Streit  einzelner 
Gruppen  beizulegen?  Und  doch,  diese  Macht  ist  vorhanden: 
sie  besteht  in  dem  freien  Volkswillen,  in  der  Anerkennung 
dieses  Willens  und  seines  autoritativen  und  endgültigen  Be- 
schlusses. 

Das  ist  der  Punkt,  an  dem  unsere  Partei  radikal  und  end- 
gültig mit  den  Bolschewiki  gebrochen  hat:  im  Kampfe  zwischen 
der  klaren  Vernunft  und  dem  blinden  Glauben,  zwischen  der 
Freiheit  und  der  Intoleranz,  zwischen  der  wahren  Volksherr- 
schaft und  der  Tyrannei  stellte  sich  unsere  Partei  mit  aller 
Kraft  auf  die  erste  Seite.  Und  diesen  unseren  Standpunkt 
wollen  wir  bis  zum  Ende  verteidigen,  fanatisch;  aber  nicht 
mit  dem  Fanatismus,  der  mit  der  Intoleranz,  der  Tyrannei  ver- 
bunden ist,  sondern  mit  dem  Fanatismus  der  Toleranz,  der 
Freiheit.  Dieser  Fanatismus  ist  eine  herrliche  Sache,  ja  noch 
mehr:  wir  sind  tief  überzeugt,  daß  nur  unter  seinem  Banner  die 
Vernunft  in  der  Geschichte  der  Menschheit  endgültig  siegen 
kann  und  siegen  wird. 

Wie  oft  hatten  wir  den  Bolschewiki  den  Vorschlag  ge- 
macht, in  unserem  Streit  diese  dritte  Macht,  den  Volkswillen, 
anzurufen,  sie  als  Schiedsrichter  gelten  zu  lassen.  Wie  oft 
haben  wir  ihnen  vorgeschlagen,  über  jede  beliebige  Frage  ein 
Referendum  zu  veranstalten.  Aber  sie  wollten  nichts  davon 
hören:  denn  sie  haben  den  Volkswillen  geknechtet  und  fürchten 
sich  jetzt,  seine  offene  und  freie  Stimme  zu  hören.  Umsonst 
rufen  sie  jetzt  in  die  ganze  Welt  triumphiernd  die  Nachricht 
hinaus,  wir  hätten  uns  mit  ihnen  vereinigt.  Das  ist  eine  Lüge, 
ein  Ding  der  Unmöglichkeit.  Und  zwar  nicht,  weil  sie  unsere  Ge- 
nossen nach  Hunderten  hingerichtet  und  gefoltert  haben,  weil  sie 
sie  nach  Tausenden  in  den  Gefängnissen  verschmachten  lassen, 
sondern  weil  wir  kein  Vertrauen  mehr  zu  ihnen  a.ls  Sozialisten 
haben  können.  Heute  geht  es  ihnen  schlecht:  sie  fühlen  das 
nahe  gewaltsame  Ende.  Sie  fürchten  den  heiligen  Zorn  der 
breiten  Volksmassen  —  und  in  dieser  Angst  sind  sie  bereit,  Zu- 
geständnisse zu  machen,  mit  uns,  diesen  , »Verrätern  und  Kontre- 
Revolutionären"  zusammen  zu  arbeiten.  Aber  dieses  Verhalten 
wird  nicht  lange  dauern  —  und  sollte  es  ihnen  nur  gelingen, 
sich  wieder  zu  befestigen,  so  werden  sie  sofort  wieder  anfangen, 

80 


im  Namen  irgendeiner  neuen  Idee,  die  ihnen  kommt,  das  Volk 
mittels  der  Gewalt  der  Kanonen  und  der  Bajonette  zu  beglücken. 
Nein:  solange,  bis  der  freie  Volkswille  wieder  in  alle  seine 
Rechte  eingesetzt  ist,  solange  bis  Garantien  für  die  grundlegen- 
den demokratischen  Freiheiten  geschaffen  sind,  solange  wie  in 
dieser  erstickenden  Atmosphäre  der  Verantwortungslosigkeit 
und  des  Terrors  der  Zerfall  aller  Pfeiler  des  Sozialismus  fort- 
dauert, ist  für  uns  eine  Versöhnung  mit  den  Bolschewiki  un- 
möglich. Die  Lage  unserer  Partei  ist  jetzt  schwer,  sogar 
tragisch:  aber  im  Namen  der  großen  Idee  des  demokratischen 
Sozialismus  sind  wir  zu  allen  Opfern,  zu  allen  Leiden,  selHst 
zum  Tode  bereit. 

Auch  in  Zukunft  erwarten  wir  die  Auferstehung  des  rus- 
sischen Volkes  nur  von  dieser  Seite.  Falsch  und  lächerlich  ist 
die  Behauptung,  das  russische  Volk  sei  dem  demokratischen 
Regime  entwachsen:  es  war  ihm  einfach  noch  nicht  gewachsen. 
Nur  so  läßt  es  sich  erklären,  daß  es  den  Bolschewiki  ver- 
hältnismäßig so  leicht  gelungen  ist,  alle  Keime  der  demokra- 
tischen Institutionen  und  Freiheiten  zu  vernichten.  Aber  das 
russische  Volk  ist  nun  schon  länger  in  eine  harte  Schule  ge- 
gangen. Es  hat  am  eigenen  Leibe  erfahren,  wohin  das  Fehlen 
jeder  Solidarität,  der  Kampf  der  Leidenschaften  und  der  zügel- 
losen Wünsche  führt.  Es  fängt  an,  sich  mit  der  bitteren  Wahr- 
heit zu  durchdringen,  daß  dort,  wo  jeder  nur  an  sich  selbst 
oder  an  seine  kleine  Gruppe  denkt,  alle  zugrunde  gehen  müssen 
—  und  zugleich  beginnt  es  zu  verstehen,  daß  es  sich  nur  auf 
einem  Pfad,  der  vom  Licht  des  demokratischen  Sozialismus  be- 
leuchtet wird,  aus  dem  Abgrund,  den  zu  umgehen,  ihm  doch 
nicht  gelungen  ist,  erretten  kann.  Jede  Intervention  von  außen 
könnte  hiergegen  nur  negative  Resultate  ergeben.  Denn  auf 
diese  Weise  würde  nur  eine  Gewalt  durch  eine  andere  ersetzt. 
Das  russische  Volk  aber  hat  so  stark  unter  der  jahrhunderte- 
langen Herrschaft  der  Knute  und  des  Stocks  gelitten  und  leidet 
noch  jetzt  darunter,  daß  es  nicht  von  Knute  und  Stock  seine 
Befreiung  erwarten  kann,  .  .  . 


Wird  man  mir   erlauben,   zum  Schlüsse   einige  Worte   über 
die  deutsche  Revolution  zu  sagen? 


81 


Wie  oft  mußte  ich,  mich  an  russische  Arbeiter  und  Bauern 
wendend,  zu  ihnen  sagen:  ,,Das  ganze  Unglück  Rußlands,  die 
letzte  Wurzel  alles  Uebels  besteht  darin,  daß  ihr  ein  noch  nicht 
genügend  vernünftiges,  noch  nicht  genug  aufgeklärtes  Volk  seid. 
Wäre  an  eurer  Stelle  ein  anderes  Volk,  das  von  der  Idee  der 
sozialistischen  Solidarität  tief  ergriffen  wäre,  das  bereit  wäre, 
im  Namen  dieser  Solidarität  nicht  nur  mit  roten  Fahnen  zu 
demonstrieren,  sondern  in  angestrengter  Arbeit  für  sie  alle 
Opfer  zu  bringen,  so  wäre  es  mit  seiner  Lage  fertig  geworden, 
und  wenn  sie  noch  zehnmal  schwieriger   wäre." 

Und  nun  ist  die  Revolution  in  Deutschland  ausgebrochen. 
Sie  ist  unter  Bedingungen  ausgebrochen,  die  in  vielem  den 
unsrigen  ähnlich  sind,  in  vielem  aber  sich  von  ihnen  unter- 
scheiden. Das  ganze  Volk  ist  hier  viel  kultivierter,  viel  höher 
stehend;  die  Arbeiterklasse  viel  zahlreicher,  organisierter,  soli- 
darischer gesinnt.  Aber  auch  hier  trat  die  Revolution  in  einem 
Augenblick  ein,  in  dem  die  Arbeitermassen  ihre  letzten  Kräfte 
zu  verlieren  schienen.  Auch  hier  kam  die  Befreiung,  nachdem 
die  Arbeitermassen  auf  sich  jahrzehntelang  die  starke  Faust 
des  Kapitalismus  gefühlt,  nachdem  sie  jahrelang  unsägliche  Lei- 
den und  Opfer  im  Weltkrieg  getragen  hatten.  Auch  hier  traten 
die  sozialistischen  Parteien  die  schwere  Erbschaft  eines  voll- 
kommen bankrotten  Regimes  an.  Von  allen  Seiten,  von  außen 
wie  von  innen,  werden  sie  von  Gläubigern  bedrängt:  von  un- 
berechtigten und  legitimen,  von  rachsüchtigen  und  ungeduldigen. 
Hier  kann  es  nur  eine  Rettung  geben:  den  Sozialismus-  Freilich 
ist  es  schwer,  den  Aufbau  eines  Gebäudes  in  einem  Augenblick 
vorzunehmen,  in  dem  man  fast  keine  Materialien  besitzt,  in 
dem  die  Arbeiter  übermüdet  und  erschöpft  sind,  und  diejenigen, 
die  nach  ihren  Erfahrungen  und  Kenntnissen  helfen  könnten, 
an  dem  neuen  Bau  nicht  teilnehmen  wollen,  sondern  sich  nur 
dazu  bereit  erklären,  ihre  Kräfte  an  die  Reparatur  des  alten, 
zerrütteten,  jeden  Fundaments  entbehrenden  Gebäudes 
zu  setzen. 

So  sieht  sich  auch  das  deutsche  Volk  vor  eine  unendlich 
schwierige,  fast  tragische  Aufgabe  gestellt.  Es  wird  sie  um  so 
leichter  bewältigen,  je  stärker  die  Gebildeten  folgende  außer- 
ordentlich klare  und  einfache  Tatsache  einsehen  werden:  Das 
eingestürzte  soziale  Gebäude  beruhte  auf  einer  Herrschaft  der 

82 


Gewalt,  auf  einer  tiefen  Ungleichheit  der  Klassen,  In  ihm  be- 
stand fortwährend  der  versteckte  chronische  Bürgerkrieg.  Der 
ganze  Bau  war  tief  ungerecht,  und  so  mußte  er  einstürzen. 
Denn  jede  Gewalt  hat  in  der  Geschichte  früher  oder  später 
Schiffbruch  gelitten,  indem  sie  auf  eine  andere,  größere  Macht 
stieß,  die  sie  beseitigte.  Nur  die  vollkommene  Gleichheit  des 
Rechts  aller  auf  Freiheit,  Arbeit  und  Leben  kann  Bedingungen 
für  eine  harmonische  Entwicklung  der  Gesellschaft  schaffen. 

So  hat  es  wenig  Zweck,  sich  'nun  darüber  zu  entrüsten, 
daß  diejenigen,  die  so  viel  unter  der  Gewalt  gelitten  haben, 
selbst  so  leicht  zu  ihr  neigen.  Jetzt  handelt  es  sich  darum,  wie 
man  seine  Schuld  am  schnellsten  und  am  besten  abträgt.  Es 
handelt  sich  darum,  nicht  nur  jeden  aktiven  Widerstand  oder 
jede  passive  Resistenz  aufzugeben,  sondern  man  muß  den  breiten 
Massen  in  ihrer  schwierigen  Aufgabe  aufrichtig  und  ehrlich  zu 
Hilfe  kommen.  Hier  bietet  sich  eine  vortreffliche  Gelegenheit, 
die  Tiefe  seines  Patriotismus  zu  zeigen,  und  zwar  des  wahren 
Patriotismus,  der  nicht  immer  ,die  größten  Opfer  von  den  arbei- 
tenden Massen  verlangt,  sondern  selbst  bereit  ist,  zugunsten 
dieser  Massen  die  größten  Opfer  zu  bringen. 

Aber  auch  auf  den  sozialistischen  Parteien  liegt  eine  große 
Verantwortung.  Diese  Parteien  scheinen  sich  jetzt  endgültig 
miteinander  veruneinigt  zu  haben  —  und  menschlich  ist  dies 
auch  ganz  begreiflich-  Man  denke  sich  einen  Haufen  von 
Menschen,  der  sich  in  den  Bergen  in  Nacht  und  Nebel  auf 
einem  breiten  Gletscher  verirrt  hat.  Solange  diese  Menschen 
noch  des  Weges  sicher  waren,  gingen  sie  ganz  friedlich  neben- 
einander. Aber  nun  sind  sie  in  eine  kritische  Lage  geraten: 
sie  haben  den  Weg  verloren,  und  sofort  erhebt  sich  ein  leiden- 
schaftlicher Streit.  Die  einen  sagen,  man  müsse  möglichst  weit 
nach  links  gehen;  die  anderen  —  nach  rechts.  Wieder  andere 
aber,  die  schwächsten  und  ungeduldigsten,  wollen,  in  tiefem 
Glauben,  die  Richtung  des  gemeinsamen  Zieles  zu  kennen,  im 
Laufschritt  dahineilen,  ohne  an  die  Gefahren  zu  denken,  die 
ihrer  bei  jedem  Schritte  harren.  Alle  sind  erschöpft  und  über- 
reizt —  und  nun  tritt  der  Augenblick  ein,  wo  sie  alle  beginnen, 
einander  zu  verdächtigen,  daß  jeder  absichtlich  alle  anderen 
zugrunde  richten  wolle  und  daß  er  nur  darum  seinen  Weg  vor- 
schlage.     Die   Erbitterung,    der   Haß   wachsen    mehr   und   mehr 

83 


an  —  noch  einen  Augenblick,  und  sie  werfen  sich  aufeinander. 
Auf  dem  Glatteis,  auf  dem  sie  kaum  stehen  können,  fangen  sie, 
die  Brüder,  die  Freunde  von  gestern,  einen  mörderischen  Kampf 
an  und  verschwinden  alle  in  den  Spalten. 

So  war  es  in  Rußland  .  .  ,     Muß  es  denn  auch  in  Deutsch- 
land so  sein?     Gibt  es  denn  wirklich  keine   Worte  und  Argu- 
mente, keine  tiefere  Einsicht,  die  die  Menschen  in  einem  solchen 
Falle  noch  im  letzten  Augenblick  zur  Vernunft  bringen  könnte? 
Vieles   ist   schon   damit   erreicht,   wenn   man   nur   das    eine 
einsieht:   übermüdete  Arbeiter  mit  blutigen  Schwielen  auf  den 
Händen  kann  man  nur  so  zur  Arbeit  bringen,  daß  man  bei  ihnen 
die  tiefe,  fest  begründete  Ueberzeugung  erweckt,  daß  sie  fortan 
für  den  Sozialismus  arbeiten.     Um  diese  Ueberzeugung  zu  be- 
festigen, verlohnt  es  sich,  auch  große  Opfer  zu  bringen.   Es  ver- 
lohnt sich,  sofort  eine  Reihe  von  grundlegenden  ökonomischen 
Reformen    vorzunehmen,    ohne    davor   zurückzuschrecken,    daß 
man  sie   im  gegenwärtigen  Augenblick  richtig   und   ohne   jeden 
Schaden   für  den   Staat   vielleicht  gar  nicht   durchführen   kann. 
Denn  während  der  Revolution  kommt  es  in  erster  Linie  auf  das 
politische,  nicht  auf  das   ökonomische  Moment  an.     Man  darf 
den  Verlust  eines  Teiles  nicht  scheuen,  wenn  auf  der  anderen 
Seite  der  Zerfall  des  Ganzen  droht.     Mit  der  Organisation  und 
der  Aufgeklärtheit  der  Massen  darf  man  nicht  zu  stark  rechnen; 
besonders  nicht   in    einem  Augenblick,    in    dem    alle    Voraus- 
setzungen für  psychische  Erkrankungen  gegeben  sind.    Der  Bol- 
schewismus: das  ist  eben  eine  Krankheit  dieser  Art.     Sie  mit 
Waffengewalt  zu  heilen,  ist  unmöglich,  wie  es  unmöglich  ist,  auf 
chirurgischem  Wege  gegen  Geschwüre  am  Körper  eines  Men- 
schen   zu    kämpfen,    der    an    einer   Blutvergiftung    leidet.      Sie 
werden  doch  immer  wieder  kommen  —  und  so  bleibt  nur  der 
Versuch  übrig,  die  Krankheit  selbst  zu  heilen.     Dies 
aber  ist  nur  auf  einem  Wege  zu  erreichen:  indem  man  versucht, 
wenigstens   provisorisch    ein    Gebäude    des    Sozialismus    aufzu- 
führen, in  welchem  die  hungernde  und  auf  der  Straße  frierende 
Masse  eine  vorläufige  Unterkunft  findet.     Später  kann  man  in 
Ruhe  und  Frieden  dieses   Gebäude  vervollkommnen,  wie  man 
will.    Aber  natürlich:  auch  das  fordert  Zeit,  auch  das  muß  mit 
Umsicht  geschehen,   damit   das   Gebäude  nicht  sofort   einstürzt 
und  die  Massen  unter  seinen  Trümmern  begräbt. 

84 


Und  darum  möchte  ich  auch  euch,  Genossen  von  der  äußer- 
sten Linken,  einige  Worte  sagen:  In  Rußland  haben  die  Bolsche- 
wiki  versucht,  den  Sozialismus  sofort  zu  verwirklichen,  indem 
sie  ihn  einfach  dekretierten  und  dann  blindlings  mit  Waffen- 
gevc^alt  losschlugen.  Dieser  Versuch  mißlang  vollkommen;  aber 
etwas  anderes  gelang  ihnen  dafür  um  so  besser,  lieber  der 
breiten  Fläche  des  verwüsteten,  verhungernden,  vom  äußeren 
Feind  und  durch  den  Bürgerkrieg  zerfleischten  Rußlands  brach- 
ten sie  es  fertig,  in  den  Augen  der  ausländischen  Genossen  die 
Fata  Morgana  eines  neuen,  wunderbaren  Lebens  hervorzu- 
zaubern. Ueber  dem  Erdboden,  von  dem  das  Blut  hoch  hervor- 
spritzt, von  dem  sich  Verzweiflungsrufe  und  das  tiefe  Stöhnen 
des  Leidens  erheben,  haben  sie  ein  aus  Dekreten  bestehendes 
sozialistisches   Luftschloß   errichtet. 

Die  Bolschewiki  hatten  keine  Geduld,  zu  warten,  bis  der 
blühende  Baum  des  neuen  Lebens,  indem  er  tiefer  und  tiefer 
die  Wurzel  in  den  Boden  schlug,  immer  höher  emporwachsend 
der  Menschheit  seine  herrlichen  Früchte  brachte.  Statt  ihn  zu 
pflegen,  beschlossen  sie,  diesen  organischen  Prozeß  seines 
Wachstums  auf  gewaltsamem  Wege  zu  beschleunigen.  Und  sie 
ließen  nicht  ab,  ihn  mit  einer  solchen  Kraft,  mit  einer  solchen 
,, revolutionären  Energie"  hochzuziehen,  bis  sie  ihn  aus  dem 
Boden  herausgerissen  hatten.  Nun  liegt  er  da,  mit  den  Wurzeln 
an  der  Sonne,  verwelkt,  verdorrt  und  abgestorben.  .  .  . 


85 


Anmerkungen. 


')  Nachrichten     des      Zentral-Exekutiv-Ausschusses      vom 
9.  November  1918. 

')  Arbeitswille  vom   16.  Oktober   1918. 

')  Nachrichten      des     Zentral-Exekutiv-Ausschusses      vom 
18.  Oktober  1918. 

^)  Deklaration  des  Landwirtschaftskommissars  Meschtschcr- 
jakoff;  Arbeitswille  vom  8.  Oktober  1918. 

']  Arbeitswille  vom  4.   und  9.  Oktober   1918. 
")  Nördliche  Kommune  vom  6.  Oktober  1918, 
')  Arbeitswille  vom  8.  Oktober  1918, 
')  Ibid.  vom  3.  Oktober  1918. 
•')  Die  Armut  vom  17.  Oktober  1918, 

^°)  Aus  der  Rede  einer  Bäuerin  auf  der  allrussischen  Kon- 
ferenz der  Arbeiterinnen.  (Nachrichten  des  Zentral-Exekutiv- 
Ausschusses  vom  19.  November  1918,) 

'')  Arbeitswille  vom   24.   Oktober    1918. 
'^)  Die  Handels-  und  Industriezeitung,  Nr.  50  (Juni  1918). 
')  Petersburger  Wahrheit  vom  28.  August   1918. 
*)  Ibid.  vom  30.  Oktober  1918. 
')  Arbeitswille  vom   13.   Oktober   1918. 
^"j  Nachrichten     des     Zentral-Exekutiv-Ausschusses     vom 
3.  November  1918. 
'')  Ibid. 

**)  Oekonomisches  Leben  (das  offizielle  Blatt  des  höchsten 
Rates  für  Volkswirtschaft)  Nr.  8 

*')  Arbeitswille  vom  2.   Oktober   1918. 

'']  Ibid.  vom  24.  Oktober  1918. 

"■')  Die  Handels-   und  Industriezeitung,   Nr.  40. 

86 


151 


"1 

:)81 


"')  Nachrichten  des  Höchsten  Rates  für  Volkswirtschaft,  Nr.  3. 

'']  Ibid.,  Nr.   1. 

-*)  Arbeitswille  vom  22.   Oktober   1918. 

"')  Nachrichten  des  Höchsten  Rates  für  Volkswirtschaft,  Nr.  3. 

'^)  Oekonomisches  Leben,   Nr,  2. 

'^)  Handels-  und  Industriezeitung,  Nr.   38. 

-*)  Ibid.,  Nr.  40. 

"'")  Oekonomisches  Leben,  Nr,   12, 

■''•)  Nachrichten  des  Höchsten  Rates  für  Volkswirtschaft,  Nr.  2. 
-)  Arbeitswille   vom   15.   Oktober   1918. 
')  Nachrichten  des  Höchsten  Rates  für  Volkswirtschaft,  Nr.  3. 

'*)  Ibid.,  Nr.  1. 

'']  Ibid.,  Nr.  3. 

'*')  Nachrichten     des      Zentral-Exekutiv-Ausschusses      vom 
21.  November  1918. 

")  Das  Neue  Leben,  Nr,  113  für  das  Jahr  1918. 

'*)  Nachrichten  des  Höchsten  Rates  für  Volkswirtschaft,  Nr.  1. 

■'")  Oekonomisches  Leben,   Nr,   12. 

'"')  Nachrichten     des     Zentral-Exekutiv-Ausschusses      vom 
1.  November  1918. 

*']  Ibid.   vom  3.   Dezember   1918. 

'*')  Wochenschrift  der  Außerordentlichen  Kommission,  Nr.  1, 
Seite  28. 

''^)  Nachrichten      des      Zentral-Exekutiv-Ausschusses      vom 
1.  November  1918. 

')  Ibid.  vom  3,  November  1918. 
')  Ibid. 

*^)  Wochenschrift  der  Außerordentlichen  Kommission,  Nr.  4, 
Seite  28. 

'']  Ibid.,   Seite   15. 

*^)  Nachrichten    des    Zentral  -  Exekutiv  -  Ausschusses    vom 
19.  November  1918. 

'*')  Wochenschrift  der  Außerordentlichen  Kommission,  Nr,  1, 
Seite  26, 

''")  Nachrichten    des    Zentral  -  Exekutiv  -  Ausschusses    vom 
5.  November  1918. 

'*)  Wochenschrift  der  Außerordentlichen  Kommission,  Nr.  1, 
Seite   18. 

'')  Ibid.,   Nr.   3,   Seite    15. 

(  87 


44^ 
4  51 


")  Arbeitswille  vom   10.  Oktober   1918. 

'^]  Nachrichten    des    Zentral  -  Exekutiv  -  Ausschusses    vom 
21.  November  1918. 

'")  Ibid.  vom  28.  November   1918. 

")  Oekonomisches   Leben,   Nr.   4;    Nachricht  aus   der  Stadt 
Tula. 

")  Nachrichten    des    Höchsten    Rates    der    Volkswirtschaft, 
Nr.  1. 

"')  Ibid..  Nr.  2. 

'")  Arbeitswille   vom   2.   Oktober    1918. 
•  "")  Oekonomisches  Leben,  Nr.   12. 

^^)  Nachrichten    des    Zentral  -  Exekutiv  -  Ausschusses    vom 
18.  November  1918. 

'-]  Die  Petersburger  "Wahrheit  vom  27.  August   1918. 

«")  Ibid.  vom  19.  November  1918. 

")  Ibid.  vom  3.  Oktober  1918. 

"')  Ibid.  vom  24.  August  1918. 

'")  Arbeitswille  vom  15.  Oktober   1918. 

"')  Handels-  und  Industriezeitung,  Nr.  40. 

"T  Nachrichten    des   Höchsten   Rates    der   Volkswirtschaft, 
Nr.  1. 

•»)  Nr.  4. 

'")  Handels-  und  Industriezeitung,  Nr.  38, 

'*)  Nachrichten    des    Höchsten   Rates    der    Volkswirtschaft, 
Nr.  3. 

")  Handels-  und  Industriezeitung,  Nr.  38. 


88 


Sozialistische   Schriften    zur   Revolution 


Soeben  erschienen: 

EDUARD  BERNSTEIN 

VÖLKERBUND  ODER  STAATENBUND 

PREIS  1.50  MARK 

KARL  KAUTSKY 

HABSBURGS  GLÜCK  UND  ENDE 

PREIS  3.-  MARK 

KARL  KAUTSKY 

DEMOKRATIE  ODER  DIKTATUR 

PREIS  2.-  MARK 

GUSTAV  LANDAUER 

AUFRUF  ZUM  SOZIALISMUS 

PREIS  6.—  MARK 

LUDWIG  BAUER 

DER  KAMPF  UM  DEN  FRIEDEN 

(Verlag    der    „Weissen  Blätter",     Bern) 
PREIS  6.-  MARK 


Ausführlicher  Prospekt   steht  auf 
Verlangen  kostenlos  zur  Verfügung 


PAUL  CASSIRER  VERLAG  /  BERLIN 


Sozialistische   Schriften    zur   Revolution 


Demnächst  erscheinen : 

DER  ADLER-PROZESS 

FRIEDRICH  ADLER  VOR  SEINEN  RICHTERN 

EDUARD  BERNSTEIN 

VÖLKERRECHT  ODER  VÖLKERPOLITIK 

KURT  EISNER 

VOR  DER  REVOLUTION 

GUSTAV  LANDAUER 

RECHENSCHAFT 

HEINRICH  STROEBEL 

DIE  ERSTE  MILLIARDE 
DER  ZWEITEN  BILLION 

DIE    GESELLSCHAFT    DER    ZUKUNFT 


Ausführlicher    Prospekt     steht     auf 
Verlangen    kostenlos    zur  Verfügung 


i 


ir 


PLEASE  DO  NOT  REMOVE 
CARDS  OR  SLIPS  FROM  THIS  POCKET 


UNIVERSITY  OF  TORONTO  LIBRARY 


DK  Gawronsky,   Dimitiy 

265  Die  bilanz  des  russischen 

G375         Bolschewismus 


•-•  ^.