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Die Deutschen Dokumente
zum Kriegsausbruch
Herausgegeben
im Auftrage des Auswärtigen Amtes
Kommentar
Fünfter Band:
Kommentar
zu den
Deutschen Dokumenten
zum Kriegsausbruch
Inhalt:
1.
B. W. von Bülow
Die Grundlinien der diplomatischen
Verhandlungen bei Kriegsausbruch
2.
Graf Max Montgelas
Glossen zu den Vorkriegsakten
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und
Geschichte m. b. H. in Berlin W8
Vorbemerkung des Verlages
Der Verfasser des ersten Teiles dieses Bandes kann als der berufenste
Fachmann in der Frage der Schuld am Kriege gelten. Er war bei Kriegsaus-
bruch in der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes tätig, besaß persön-
liche Beziehungen zu den handelnden und leitenden Personen und konnte die
Entstehung der einzelnen Dokumente aus nächster Nähe verfolgen. Während
des Krieges bekleidete er die Stellung eines politischen Archivars. In diesem
Amte verwaltete er während des Krieges das gesamte Aktenmaterial, aus dem
Karl Kautsky nach der Revolution die „Deutschen Dokumente zum Kriegs-
ausbruch" auswählte. Auf Grund dieses langjährigen Studiums übertreffen
Bülows Kenntnisse der Einzelheiten der politischen Vorgänge der letzten Jahre
und Jahrzehnte sowohl die der meisten Beamten wie auch der späteren Forscher,
denen das Urkundenmaterial sämtlich erst später bekannt geworden ist. Der
Verfasser war auch Sachverständiger und Kommissar bei der Deutschen Friedens-
delegation und ständiger Berater des Grafen Brockdorff-Rantzau in Versailles.
Sein Buch gibt ein klares und jedermann verständliches Bild des diplomatischen
Verlaufes der Krisis, die zum Weltkriege führte. Obwohl es alle bekannten
amtlichen Urkunden berücksichtigt, stellt es doch in erster Linie einen Führer
durch die verwirrende Fülle des Aktenmaterials dar, das
von Kautsky, Montgelas und Schücking herausgegeben wurde. Bisher wurden die
politischen Vorgänge bei Ausbruch des Krieges fast ausschließlich unter dem Ge-
sichtswinkel der Schuld einzelner Personen oder Regierungen erörtert. Die Frage
der diplomatischen Zusammenhänge ist nur recht ungenügend behandelt worden.
Gerade zur Beurteilung der Frage der Verantwortlichkeit ist aber eine richtige
Erkenntnis des Ineinandergreifens der verschiedenen diplomatischen Aktionen
in den kritischen 13 Julitagen unerläßlich. Aus ihnen allein vermag man das
Wollen der verantwortlichen Staatsmänner zu erkennen und zu ermessen, ob
und wie weit sie sich schuldig gemacht haben. In dieser Schrift werden die Fragen
des Willens zum Kriege in den einzelnen Ländern, des Defensiv- und Präventiv-
krieges, eingehend erörtert. Das Schicksal der verschiedenen Vermittlungs-
vorschläge, ihr zeitlicher und örtlicher Verlauf^ wird restlos aufgeklärt. Vor
allem aber wird gezeigt, was an den diplomatischen Verhandlungen wesentlich
und bedeutungsvoll war und was nur als Beiwerk auzusehen ist. Die Darstellung
klärt die Zwangsläufigkeit der meisten politischen Ge-
schehnisse auf und weist die Grenzen nach, die dem bewußten Handeln
der Regierenden gezogen sind. In einem Schlußwort wird die Frage der Ver-
antwortlichkeit aer deutschen Staatsmänner vor dem Ausland in einen
Gegensatz zu ihrer Verantwortlichkeit vordem eigenen Volke gestellt,
eine Unterscheidung, auf die im Zeitalter des Versailler Friedens besonders
hingewiesen werden muß.
Verfasser des zweiten Teiles dieses Kommentarbandes ist Graf Montgelas,
der Mitherausgeber der „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch". Er
gibt in seiner Schrift eine Antwort auf das Buch, das Karl Kautsky, der ur-
sprüngliche Bearbeiter des amtlichen deutschen Aktenmaterials, über diese
Dokumente verfaßt hat. Diese erste Buchveröffentlichung des Grafen Mont-
gelas zur Schuldfrage ist geeignet, die einseitige Darstellung Karl Kautskys
in wesentlichen Punkten zu widerlegen. Kautskys Schrift kann nach der Unter-
suchung des Grafen Montgelas nicht als das Ergebnis unparteiischer Forscher-
tätigkeit gewertet werden. Was der Montgelasschen Schrift besondere Be-
deutung verleiht, ist die Tatsache, daß ihr Verfasser die Kautskysche Darstellung
ohne persönliche Angriffe in völlig unpolemischer Form und in vornehmstem
Tone widerlegt.
Die Grundlinien
der diplomatischen Verhandlungen
bei Kriegsausbruch
Von
B. W. von Bülow
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und
Geschichte m. b. H. in Berlin W8
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorbemerkung 9
I. Die Weltlage 1914 13
II. Der österreichisch-serbische KonfHkt 16
1. Zur Vorgeschichte der österreichisch -serbischen
Krise 16
2. Die Folgen der Ermordung des Erzherzog-Thron-
folgers 17
3. Deutschlands Stellungnahme 23
4. Die Haltung der Dreiverbandsmächte 39
5. Serbiens Antwortnote 41
III. Das Verhalten der Mächte 46
1. Der deutsche Lokalisierungsvorschlag 46
A. Die deutsche Auffassung 46
B. Die Aufnahme in Frankreich 47
C. Die Aufnahme in England 48
D. Die Aufnahme in Rußland 48
2. Rußlands Stellungnahme zum austro-serbischen
Konflikt 49
A. Aufnahme der österreichisch-ungarischen Note
in Petersburg 49
B. Der russische Europäisierungsvorschlag ... 50
C. Die Gefahren der russischen Haltung .... 51
3. Englands Stellungnahme zum austro-serbischen
Konflikt 53
4. Frankreichs Stellungnahme zum austro-serbischen
Konflikt 59
D98694
8
Seite
IV. Der österreichisch-russische Konflikt 62
1. Direkte Besprechungen zwischen Wien und Peters-
burg 62
2. Vermittlungsvorschläge 63
3. Rußlands Unnachgiebigkeit 75
V. Die deutsch-russische Krise 78
1. Die Gefahren militärischer Maßnahmen 78
2. Die russische Teilmobilmachung 80
3. Die russische Gesamtmobilmachung 85
VI. Die deutsch-französische Krise 96
1 . Frankreichs Haltung in der deutsch-russischen Krise 96
2. Französische Kriegsvorbereitungen 97
3. Die Kriegserklärung an Frankreich 100
VII. Die Haltung Englands 103
1. Deutsch-englische Vermittlungstätigkeit 103
2. England und Rußland 106
3. England und Frankreich 109
4. Englands Kriegserklärung an Deutschland ... 112
VIII. Die Frage der Verantwortlichkeit 115
1. Der Standpunkt der deutschen Regierung von 1914 115
2. Der Dreiverband 116
3. Schlußbetrachtung 117
Vorbemerkung
Die Erörterung der Schuld am Ausbruch des Krieges ist durch
die VeröffentHchung des deutschen und österreichisch-ungarischen
Aktenmaterials in ein neues Stadium getreten. Urkunden allein
vermögen zwar kein vollständiges Bild der Geschehnisse zu geben
und die treibenden Kräfte und Motive der Staatsmänner nur zum
Teil zu enthüllen. Immerhin kann man aber auf Grund einer
vollständigen Aktenkenntnis der Wahrheit ein gutes Stück näher-
kommen ,
Andererseits wirkt die Fülle des Materials verwirrend. Heute
liegen der Öffentlichkeit über 900 deutsche Urkunden aus der
Zeit der Krisis von 1914 vor; ferner 350 österreichisch-ungarische.
Diesen stehen 400 Dokumente der Ententemächte gegenüber.
Von vielen der letzteren ist bekannt, daß sie verfälscht sind.
Keins der früheren Farbbücher gab ein wahrheitsgetreues Bild
der Begebenheiten des Juli 1914. Sie sind alle mit einer, be-
stimmten, mehr oder weniger offenbaren Tendenz zusammen-
gestellt, um die Haltung der eigenen Regierung zu rechtfertigen
und den Gegner zu belasten. Gegenüber den Schönfärbereien
der Buntbücher müssen natürlich die vollständigen Berliner
und Wiener Aktensammlungen sehr ungünstig wirken, da sie
einen unverhüllten Einblick in die Werkstätten der ,, Staatskunst"
gewähren, in denen wir reichlich viel Schmutz und Unrat erblicken.
Die Leser der deutschen Aktenveröffentlichungen können sich
aber überzeugen, daß es in Paris, Petersburg und London nicht
reinlicher zugegangen ist, als in Berlin, und daß vielleicht die
dort geübten Methoden die der deutschen Staatsmänner an Frag-
würdigkeit um vieles übertrafen. Das, was wir gesehen haben,
als Pokrowski*) ein wenig den Vorhang lüftete, berechtigt zu
diesem Schluß.
*) Veröffentlichungen in der Prawda vom 23. 2., 6. und 9. 3. 1919. Siehe
deutsche Denkschrift über die Schuldfrage, Versailles, den 27. Mai 1919,
Anl. XI.
10
Die Veröffentlichung des deutschen Aktenmaterials wird
keineswegs den Streit der Meinungen über die Schuldfrage zum
Schweigen bringen. Aus 900 Dokumenten kann jedermann
leicht eine Zusammenstellung der Urkunden machen, die seine
vorgefaßte Meinung zu rechtfertigen scheinen. Für einen Kenner
des gesamten Materials wäre es eine Kleinigkeit, fünf oder mehr
verschiedene Darstellungen der diplomatischen Hergänge des
Juli 1914 zu schreiben und sie ,, überzeugend" mit Material zu
belegen. Eine dieser Versionen hat in weitherziger Auslegung
der mit Ablegung des Beamteneides von ihm übernommenen
Verpflichtungen Karl Kautsky zugleich mit der deutschen Akten-
sammlung erscheinen lassen. Der Geschäftssinn von Journalisten
und Verlegern sorgte dafür, daß die ewig sensationslüsterne Mit-
welt, die stets bereit ist, Deutschland Ungünstiges ihr Ohr zu
leihen, die Auffassung Kautskys vernahm, ehe sie Gelegenheit
hatte, sich selbst ein Urteil zu bilden.
Der Streit der Meinungen über die Entstehung des Welt-
krieges wird zu unseren Lebzeiten nie zur Ruhe kommen, und
wir Deutschen können und dürfen die Erörterung dieser Frage
nicht einschlafen lassen, da der Friedensvertrag von Versailles,
der unsere Zukunft bestimmt, auf dem erzwungenen Geständnis
von Deutschlands alleiniger Schuld am Kriege aufgebaut
ist. Jede Aussicht auf Revision des Vertrages ist bedingt von der
Möglichkeit, diesen Grundpfeiler des ,, Straffriedens" zu er-
schüttern.
Die Aufgabe der folgenden Schrift ist nicht, eine Lesart des
deutschen Aktenmaterials zu geben ; sie soll vielmehr dem Ver-
such dienen, die Prüfung des Materials vom Buchstaben loszu-
lösen, die diplomatisch wichtigsten Vorgänge herauszugreifen
und den Rahmen der Erörterung so weit zu stecken, daß eine
objektive Beurteilung der Vorgänge bei Kriegsausbruch möglich
wird. Von dem Nachwort abgesehen, sind Schlußfolgerungen
vermieden worden, wo sie entbehrt werden konnten. Absichtlich
ist stets nur voraugustischen Anschauungen Rechnung getragen
worden, denn dies ist für eine gerechte Würdigung der Gescheh-
nisse erforderlich. Daß die deutsche Regierung 1914 nicht aus
Pazifisten zusammengesetzt war, ist bekannt. Ihr dies nachträglich
zum Vorwurf zu machen, wäre ungerecht. Die Regierungen
unserer Gegner waren ebensowenig, und noch viel weniger, pazi-
fistisch. Jede Schuldfrage ist relativ, nicht absolut. Für die
Beurteilung politischer Handlungen gibt es kein Strafgesetzbuch.
Pazifisten, die der Wechsel der Zeiten zum Richter der früher
Regierenden erhoben hat, können auch beim besten Willen nur
ungerecht urteilen. Schuld und Unschuld lassen sich niemals
11
von einer Welt- und Lebensauffassung ableiten, sondern nur mit
Handlungen und Unterlassungen begründen.
Dem Zwecke der Klärung der Frage der Verantwortlichkeit
soll diese Schrift nur in letzter Linie dienen. Ihr Ziel ist, die Er-
kenntnis der Zusammenhänge zu fördern. Lehren für die Zukunft
aus den heißen Julitagen 1914 zu ziehen, ist der Sinn und End-
zweck jeder geschichtlichen und politischen Untersuchung der
Vorgänge bei Kriegsausbruch. Je eher diese begonnen wird,
desto besser. Grundlage der Erkenntnis ist aber das Streben
nach Wahrheit.
I. Die Weltlage 1914
Das Vorgehen von Deutschlands Gegnern, als sie t ünf Jahre
lang die These verfochten, der Weltkrieg habe Europa im tiefsten
Frieden überrascht, zeugt von einem weitgehenden Verständnis
für propagandistische Grundregeln und beweist den Erfolg von
Kontrastwirkungen bei geschickter Darstellung. Es zeugt auch
von der Gedankenlosigkeit der Menschen; denn die Behauptung,
das Jahr 1914 habe eine friedlich-stille Welt vorgefunden, ist
ganz falsch, wie jedermann auf Grund seiner eigenen Erinnerungen
selbst feststellen kann. Die Balkankriege, die fast zu einer euro-
päischen Konflagration geführt hätten, waren eben erst vorüber.
Ihr äußerer Abschluß, der Bukarester Frieden, datiert vom 10. Au-
gust 1913. Im Verlauf der durch die Balkankriege hervorgerufenen
Krisis hat, wie wir heute aus den serbischen Archiven*) wissen,
„eine kompetente Persönlichkeit" dem serbischen Gesandten in
Paris gesagt, der europäische Krieg sei „mit gewissen moralischen
Opfern für jetzt vermieden worden". Hierfür sei unter anderem
der Wunsch maßgebend gewesen, ,,den Balkanverbündeten Ge-
legenheit zur Erholung, Sammlung und Vorbereitung für Even-
tualitäten, die in einer nicht fernen Zukunft eintreten könnten,,
zu gewähren". (Bericht des serbischen Gesandten in Paris, Nr. 177,
vom 9. 4. 1913.) Bereits im Jahre 1911 hat der französische Bot-
schafter in London, Paul Cambon, dem damaligen serbischen
Geschäftsträger erklärt, der europäische Krieg sei nur um drei
bis vier Jahre aufgeschoben worden, denn Frankreich und seine
Verbündeten seien der Ansicht, daß der Krieg, selbst um den Preis
größerer Opfer, auf einen entfernteren Zeitraum, ,,d. h. auf 1914
bis 1915", verschoben werden müsse (Bericht des serbischen
Geschäftsträgers in London, Nr. 144, vom 21. 9. 1911). Die
russische Regierung hat unablässig Serbien auf einen kommenden
Weltkrieg hingewiesen. „Serbien hat", schrieb Sasonow am 6. Mai
*) Anlage VI der vorbenannten deutschen Denkschrift vom 27. 5. 1919,
14
1913 an Hartwig, „erst das erste Stadium seines historischen
Weges durchlaufen. Zur Erreichung seines . . . Zieles muß es noch
einen furchtbaren Kampf aushalten, bei dem seine ganze Existenz
in Frage gestellt ist. Serbiens verheißenes Land liegt im Gebiet
des heutigen Österreich-Ungarn." Es möge sich ,,in zäher und
geduldiger Arbeit mit dem erforderlichen Grad der Bereitschaft
für den in Zukunft unausweichlichen Kampf versetzen". Auch
der russische und französische Gesandte in Bukarest rieten Serbien,
seine Kräfte zu sammeln, „um möglichst vorbereitet die gewich-
tigen Ereignisse zu erwarten, die unter den Großmächten eintreten
müssen". (Telegramm des serbischen Gesandten in Bukarest
vom 26. 11. 1912.) ,, Wiederum sagte Sasonow," nach dem Tele-
gramm des serbischen Gesandten in Petersburg vom 12. Mai 1913,
,,daß wir (Serben) für die zukünftige Zeit arbeiten müssen, wenn
wir viel Land von Österreich-Ungarn bekommen werden."
So sah der Frieden Europas aus. Entsprechend hat das Jahr
1914 begonnen. Am 7. Januar unterbreitete Sasonow dem Zaren
ein Memorandum, in dem er vorschlug, die Türkei gewaltsam,
nämlich durch eine ,, ernste militärische Aktion und die Besetzung
türkischer Häfen" an der Reorganisation ihrer Armee mit Hilfe
der deutschen Militärmission zu hindern. Dabei rechnete er darauf,
daß Deutschland der Türkei aktiv beistehen werde. Er wollte
einen Ministerrat einberufen, ,,der darüber zu beraten haben würde,
ob Rußland für die Eventualität militärischer Aktionen bereit
sei, unter der Voraussetzung, daß es von Frankreich mit allen
Kräften unterstützt werde, und auch England ihm tatkräftig
beistehe". (Denkschrift vom 27. 5. 1919, Anlage IX.) In ihrer
Sitzung vom 14. Januar 1914 beschloß die Stadtverwaltung von
Paris, mit Hilfe namhafter Aufwendungen, in die sie sich mit den
Militärbehörden geteilt hat, die Mehlvorräte von Paris so weit
zu erhöhen, daß die Stadt während der Verkehrssperre einer
Mobilmachung keinen Mangel zu leiden brauche. Der Militär-
gouverneur von Paris, General Michel, erklärte anläßlich dieser
Beratung: „Die Zeit drängt. Dieses Jahr ist ein ganz besonderes
Jahr. Wir wissen nicht, was es uns bringen wird. Wir wissen
nicht, ob wir nicht die Mobilmachung im März oder April haben
werden,"*)
Rußland bewilligte, ebenfalls im Januar, 15 Millionen Rubel
für die Ausrüstung der montenegrinischen Truppen mit Artillerie
und Kriegsmaterial, weitere 4 Millionen für die Versorgung des
montenegrinischen Heeres und eine halbe Million für russische
Instrukteure (Bericht des russischen Geschäftsträgers in Cetinje
*) Siehe die Mitteilungen des Botscliafters von Schoen, Berliner Lokal-
anzeiger vom 21, 12. 1918, Nr. 646.
15
vom 23. 2. 1914, Boghitschewitsch, Kriegsursachen, S. 122). Am
21. Februar fand in Petersburg ein erweiterter Ministerrat statt,
in dem die Vorbereitung einer Aktion zur Eroberung der Darda-
nellen beraten wurde. Es sind damals militärische Maßnahmen
hierfür beschlossen worden, obwohl sich die Teilnehmer an dieser
geheimen Sitzung darüber klar waren, daß eine Aktion wie die
geplante nur im Rahmen eines europäischen Krieges unternommen
werden könne. Dem russischen Ministerium des Äußeren wurde
die Aufgabe gestellt, in zielbewußter Arbeit einen günstigen
politischen Boden für den geplanten Angriff vorzubereiten. Daß
die militärischen Vorbereitungen gut vorschritten, wurde auch
der nicht eingeweihten Öffentlichkeit in den Auslassungen des
Kriegsministers Suchomlinow in der Birschewija Wjedomosti
vom 12. März und vom 13. Juni mitgeteilt.
Anfang Mai eröffnete die französische Regierung ganz unver-
mittelt in Bern Verhandlungen über die Versorgung der Schweiz
mit Lebensmitteln im Falle eines europäischen Krieges*). Im
Mai und Juni schließlich wurden in London die bekannten Ver-
handlungen zwischen England und Rußland über den Abschluß
einer Marine- Konvention geführt, die sich gegen Deutschland
richtete.
Daß die Julikrisis 1914 aus diesem Boden erwachsen ist,
zeigt auch das neue deutsche Weißbuch. Obwohl es die weitere
Vorgeschichte des Krieges nicht behandelt, da diese einem späteren
Bande vorbehalten blieb, so beginnt es doch mit dem zweiten der
berüchtigten Zeitungsartikel Suchomlinows (Nr. 1, 2 und 3) und
zeigt auch deutlich die Beunruhigung der deutschen Regierung
über die englisch-russischen Verhandlungen (Nr. 3, 5. 6, 56).
Die vorstehende Skizze kann natürlich das Bild der damaligen
Weltlage keineswegs erschöpfen. Es fehlen in erster Linie die
diesbezüglichen deutschen Akten. Die wenigen Beispiele genügen
aber, um zu zeigen, daß Europa durchaus nicht das Bildjeines
friedlichen Idylls darstellte, ein Idyll, das erst durch einen plötz-
lichen Überfall Deutschlands auf die europäische Kulturwelt
zerstört wurde.
Es kann uns nicht obliegen, die Erklärung für die mannig-
fachen militärischen Maßnahmen der Entente im Jahre 1914 zu
geben und ihre Vorbereitungen auf einen nahen Krieg zu be-
gründen. Dies bleibt Aufgabe unserer Gegnfer. Aber heute be-
reits kann man sagen, daß die Entente nicht in der Lage sein wird,
ihre Haltung mit der Angst vor aggressiven Absichten Deutsch-
lands zu begründen, denn Deutschland hat keine analogen Maß-
•=) Siehe Schoen, a. a. 0.
16
nahmen getroffen. Die Schuldkommission der Pariser Friedens-
konferenz hat in dieser Hinsicht keine andere Anschuldigung
aufbringen können, als die, daß der deutsche Kaiser „schon viele
Monate vor der im Juli 1914 zum Ausbruch gekommenen Krisis"
aufgehört habe, ,,als Schutzherr des Friedens aufzutreten". In
bemerkenswertem Kontrast zu den Maßnahmen der Entente
steht das Schreiben des deutschen Armee-Verwaltungs-Departe-
ments an die Intendantur des XV. Armeekorps vom 9. Juli 1914*),
demzufolge die vorschriftsmäßige Verproviantierung der Festungen
Straßburg und Neubreisach bis zum 1. April 1915 hinausgeschoben
wurde.
IL Der österreichisch-serbische Konflikt
1. Zur Vorgeschichte der österreichisch-serbischen Krise
Die Krisis, die zum Weltkriege geführt hat, ist aus dem
österreichisch-serbischen Konflikte hervorgegangen, der, seit
langem latent, infolge der Ermordung des Erherzog-Thronfolgers
Franz Ferdinand und seiner Gemahlin zum Ausbruch kam und zur
Überreichung der Note vom 23. Juli 1914 führte. Die Vorgeschichte
dieser Note beginnt nicht mit dem Attentate von Sarajevo, auch
nicht mit der bosnischen Annexionskrise von 1908/09, wie es von
gegnerischer Seite meist dargestellt wird, sondern reicht weiter
zurück. Man muß auf die Spannung in den austro-serbischen
Beziehungen zurückgehen, die 1903 bei der Thronbesteigung
König Peters einsetzte, nachdem schon unter dessem Vorgänger
Alexander nach dem Rücktritt König Milans im Jahre 1889 die
Beziehungen Österreich-Ungarns zu Serbien die frühere Herzlich-
keit eingebüßt hatten.
Am 1. März 1906 brach ein Zollkrieg zwischen Österreich-
Ungarn und Serbien aus, der sich nach kurzer Unterbrechung
durch ein Handelsprovisorium bis zum 1. September 1908 fort-
setzte und sich für die Zeit vom 1. April 1909 bis zum 24. Januar
1911 in verschärfter Form wiederholte. Diese handelspolitischen
Konflikte gaben den Serben nicht nur zur wirtschaftlichen Emanzi-
pation von Österreich-Ungarn Anlaß, sondern auch zur handels-
und verkehrspolitischen Annäherung an den werdenden Vier-
verband.
*) Helfferich, Vorgeschichte des Weltkrieges, S. 184.
17
Die Loyalitätserklärung Serbiens vom 31. März 1909 blieb
auf dem Papier. Zwar haben der Friedjung-Prozeß und der
Agramer Hochverratsprozeß von 1909 nicht zur Überführung
Schuldiger und zur Entlarvung der Urheber der großserbischen,
gegen den Bestand der Donau-Monarchie gerichteten Bewegung
geführt. Ziel und Ursprung dieser Bestrebungen lassen sich aber
deutlich aus dem seither veröffentlichten serbischen und russischen
Urkundenmaterial erkennen.
Obwohl Österreich-Ungarn durch die Räumung und Nicht-
wiederbesetzung des Sandschaks auch Serbien gegenüber Ent-
gegenkommen bewies und die durch den Bukarester Frieden vom
10. August 1913 erfolgte erhebliche Machtsteigerung Serbiens
schließlich ruhig hinnahm, trieb letzteres seine dem ausdrück-
lichen Willen der Großmächte widersprechenden albanischen
Aspirationen schon im Herbst 1913 wieder so weit, daß ein auf
acht Tage befristetes Ultimatum erforderlich wurde. Weitere
feindliche Handlungen lassen sich für die erste Hälfte des Jahres
1914 ermitteln*).
Die ganze Außenpolitik Serbiens basierte, wie sich heute nach-
weisen läßt, damals aber schon offenbar geworden war, auf der
Hoffnung, bei einer künftigen Aufteilung Österreich-Ungarns
große Gebietsteile des Nachbarstaates zu erwerben. In diesen
Hoffnungen wurde Serbien von Rußland bestärkt, und zwar nicht
allein von panslawistischen Kreisen, sondern auch von den ver-
antwortlichen Leitern der russischen Politik. Auf Grund dieses
großserbischen Programms wurde von Belgrad aus in Österreich
und Ungarn eine intensive Propaganda betrieben, welche die Los-
reißung der Serbien von Rußland in Aussicht gestellten Gebietsteile
anläßlich des mit Sicherheit erwarteten kriegerischen Konfliktes
vorbereiten sollte.
2. Die Folgen der Ermordung des Erzherzog-Thronfolgers
Der Mord von Sarajevo war eine unmittelbare Folge der
serbischersei ts seit Jahren offen betriebenen, von der serbischen
Regierung unterstützten großserbischen Propaganda. Er wurde
durch aktive serbische Beamte und Offiziere angestiftet, be-
günstigt und ermöglicht. Ein serbischer Major händigte den
Attentätern Waffen aus serbischen Armeebeständen aus, übte sie
in deren Gebrauch und versah sie mit Reisemitteln. Ein Beamter
im serbischen Eisenbahnministerium bestimmte ihren Reiseweg
nach Sarajevo. Serbische Grenzbeamte ermöglichten den heim-
^) Siehe Hashagen, Umrisse der Weltpolitik, Bd. II, S. 125 ff.
18
liehen Übertritt der Attentäter auf österreichisch-ungarisches
Gebiet und sorgten für das Herüberschmuggeln der Mordwaffen.
Die österreichisch-ungarische Regierung hat die serbischen
Treibereien die längste Zeit gewähren lassen. Als aber die Gefahren
und Schäden der großserbischen Propaganda durch den Mord
von Sarajevo aller Welt offenbar geworden waren, entschloß sie
sich zu einem Vorgehen in Belgrad. Niemand erwartete etwas
anderes. Der belgische Gesandte in Berlin, ein gewiß unver-
dächtiger Zeuge, berichtete am 2. Juli 1914:
„Das Kabinett Paschitsch, das die Augen schloß, um den Herd
anarchistischer Propaganda in Beigrad nicht zu sehen, darf nicht überrascht
sein, daß man von ihm verlangt, energisch gegen die Schuldigen vorzugehen,
anstatt sie immer weiter mit blinder Duldung zu behandeln." (Belgische
Aktenstücke 1905-1914, Nr. 119.)
Die Österreichisch-ungarische Regierung zögerte ganz un-
gebührlich mit dem erwarteten Schritt und verlor dadurch viel von
der moralischen Unterstützung, die ihr unter dem frischen Ein-
druck der allgemein verabscheuten Mordtat sicher gewesen wäre.
Die öffentliche Meinung Europas, die eine aus dem ersten Impuls
geborene Sühneaktion geduldet hätte, auch wenn hierbei sehr
scharfe Bedingungen gestellt wurden, war weniger geneigt, sich
mit einem Vorgehen abzufinden, welches offensichtlich kaltüber-
legter politischer Berechnung entsprang. Daß man sich in Wien
zu einem Vorgehen gegen Serbien entschlossen hatte, war freilich
aller Welt aus den Reden Tiszas im Abgeordnetenhause vom
8. und vom 15. Juli 1914 bekannt. Am 15. Juli antwortete der
ungarische Ministerpräsident auf eine Interpellation: Die Be-
ziehungen zu Serbien müßten geklärt werden; er könne sich aber,
da die Frage in der Schwebe sei, über die Methode noch nicht
definitiv äußern. Der serbischen Regierung war hierdurch bekannt
gegeben, daß ihr Forderungen gestellt werden würden. Deren
Formulierung erfolgte aber erst am 19. Juli 1914.
Das Wiener Kabinett hat der serbischen Regierung somit
sehr ausreichende Zeit gelassen, ihrerseits etwaigen österreichisch-
ungarischen Schritten dadurch zuvorzukommen, daß sie aus
eigenem Antriebe gegen die an dem Morde des Erzherzog-Thron-
folgers Mitschuldigen vorging und Maßnahmen traf, die eine Ge-
währ für die Zukunft boten. Nichts dergleichen geschah*). Der
Anstiftung des Mordes dringend Verdächtige konnten rechtzeitig
aus Belgrad verschwinden, ohne daß die serbischen Behörden
*) Die von Ententeseite oft hervorgehobene Erklärung Jovanowitsch'
an Macchio vom 30. Juni (serbisches Blaubuch Nr. 5) erfolgte nicht im
Auftrag der serbischen Regierung und ist nur als Kondolenzbesuch zu
bewerten.
19
ihnen nachstellten. Serbischerseits ist der Einwand erhoben
worden, die österreichisch-ungarische Regierung habe während
dieser Zeit keinerlei Ersuchen an Serbien gerichtet, in Belgrad eine
Untersuchung einzuleiten, und daß ihr auch nicht die Ergebnisse
der Vernehmung der Attentäter in Sarajevo amtlich mitgeteilt
worden seien. Dem ist entgegenzuhalten, daß aus den Mitteilungen
der Presse aller Welt bekannt war, daß die Fäden der Verschwörung,
der der Erzherzog-Thronfolger zum Opfer fiel, nach Belgrad führten.
Auch hat der österreichisch-ungarische Geschäftsträger in Belgrad
bereits am 30. Juni auf dem Ministerium des Äußern angefragt,
welche Schritte seitens der serbischen Polizei ergriffen worden
seien (Rotbuch 1914, Nr. 2, Weißbuch Nr. 12).
Die serbische Regierung unternahm keinerlei derartigen
Schritte. Serbien bekundete auch nicht den Willen, dem Nachbar-
staate so weit entgegenzukommen, wie dies der Anstand im inter-
nationalen Verkehr geboten hätte. Während der ersten drei
Wochen des Juli 1914 hallten die serbischen Blätter von Schmä-
hungen gegen Österreich-Ungarn wieder, während kaum eine
Stimme laut wurde, welche mehr als ein formelles Bedauern für
die nationale Trauer der Donau-Monarchie aussprach. Die ser-
bische Regierung ihrerseits hat weder Rechtshilfe angeboten,
noch irgend einen Versuch unternommen, den beleidigenden
Hetzereien gegen den Nachbarstaat entgegenzutreten. Die Mit-
glieder der Regierung wetteiferten auf ihren Wahlreisen mit den
Abgeordneten aller Parteien in Kundgebungen der Feindschaft
und Unnachgiebigkeit gegen Österreich-Ungarn. Es stand somit
zu erwarten, daß die serbische Regierung selbst angesichts der
verbrecherischen Folgen ihrer Österreich-Ungarn gegenüber ge-
führten PoHtik nicht bereit und geneigt war, andere Bahnen ein-
zuschlagen und das Ihre beizutragen, um ihr Verhältnis zur Nach-
barmonarchie in ein friedliches und erträgliches umzugestalten.
Österreich-Ungarn faßte daher von vornherein scharfe Mittel
ins Auge. Allem Anschein nach hat die Haltung Serbiens während
der ersten Juli-Wochen zu einem besonders energischen Vorgehen
der Wiener Regierung beigetragen. Das neue österreichische
Rotbuch und die quellenkritische Studie von Gooss*) enthüllen
interessante Einzelheiten über die Entstehung der österreichisch-
ungarischen Note und die Verhandlungen zwischen Wien und
Budapest. Diesen Interna ist nicht allzu große Bedeutung bei-
zumessen. Ein schwankender Charakter mehr oder weniger, eine
List oder eine Lüge zuviel haben auf das Vorgehen der Wiener
Regierung sicherlich weniger Einfluß gehabt, als die allgemeine
*) Roderich Gooss: Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Welt-
krieges. (Wien, 1919.)
2*
20
Stimmung in den Donauländern. Das Gesamtbild, das sich aus
den österreichisch-ungarischen Akten ergibt, ist das folgende:
Berchtold strebte eine kriegerische Lösung an. Weshalb er eine
andere Lösung von vornherein ablehnte, ist nicht recht erkennbar.
Tisza wollte anfangs eine Lösung, wie sie damals wohl jeder ver-
nünftige Politiker — auch in Berlin — erwartet hatte, ein Ver-
fahren, das möglicherweise den beabsichtigten Erfolg erzielt
haben würde. Er empfahl ,,ein ernstes und energisches Vorgehen
in Belgrad" in Gestalt einer ,,in gemessenem, aber nicht drohendem
Tone gehaltenen Note", welche ,, konkrete Beschwerden" und
,, präzise Petita" enthielt, so daß Serbien die Möglichkeit bliebe,
„den Krieg im Wege einer, allerdings- schweren, diplomatischen
Niederlage zu vermeiden". (Rotbuch 1919, I, Nr. 12.) Weshalb
sich der ungarische Ministerpräsident im Ministerrat vom 14, Juli
(Rotbuch 1919, I, Nr. 19) umstimmen ließ, ist nicht recht ersicht-
lich, doch scheint die Haltung der Belgrader Regierung das Wesent-
lichste hierzu beigetragen zu haben (Weißbuch Nr. 49). Berchtold
hat sowohl Tisza wie den Kaiser Franz Joseph besonders dadurch
im Sinne des von ihm angestrebten scharfen Vorgehens zu be-
einflussen gesucht, daß er darauf hinwies, die deutsche Regierung
erwarte ein energisches Einschreiten gegen Serbien. Es ist zweifel-
los richtig, daß in Berlin eine radikale Lösung erwartet und ge-
wünscht wurde. Dafür, daß Wien deutscherseits zu einem schär-
feren Vorgehen gedrängt worden ist, als es selbst beabsichtigte,
fehlt jeder Anhalt im Weißbuch. Hingegen fällt die Unterlassung
jeder Warnung auf, die man auf die zahlreichen Berichte der Wiener
Botschaft hin, welche über Berchtolds Absicht einer kriegerischen
Lösung des Konflikts Mitteilungen machten, erwarten könnte.
Berchtold hat aber die deutsche Regierung immer nur zu einem
geringen Teil in seine Pläne eingeweiht. Er hat ihr keinen reinen
Wein eingeschenkt. Über die im Wiener Ministerrat vom 19. Juli
(Rotbuch 1919, I, Nr. 26) vorgesehenen Annexionen oder ,, Grenz-
berichtigungen" ist offenbar nie ein Wort nach Berlin gelangt.
Auch sonst waren die Mitteilungen über das beabsichtigte öster-
reichisch-ungarische Vorgehen im Ausdruck wenig bestimmt ge-
halten, so daß Jagow wiederholt fragen mußte, wohin eigentlich
der Weg führen solle (Weißbuch Nr. 61, Rotbuch 1919, I, Nr. 41).
Im übrigen muß bei der Beurteilung der Haltung der Wiener
Regierung berücksichtigt werden, daß nach der damals herrschen-
den, anscheinend gerechtfertigten Auffassung durch eine Be-
strafung der Mitschuldigen an dem Morde in Sarajevo eine dauernde
Klärung der austro-serbischen Beziehungen nicht erreicht werden
würde, daß vielmehr die Lage es als unumgänglich erheischte,
das Übel der großserbischen Agitation an der Wurzel zu packen,
21
wenn es gelingen sollte, in diesem Wetterwinkel Europas Ruhe zu
schaffen.
Österreich-Ungarn sah sich demgemäß veranlaßt, die Forde-
rungen, die es zur Sühnung des Mordes von Sarajevo und zur
Erreichung von Sicherungen für Serbiens künftiges Wohlverhalten
stellte, in eine scharfe Form zu kleiden, in Kenntnis der von
Serbien beliebten Methoden, für ihre Annahme eine bestimmte
Frist zu setzen und ihre in Belgrad überreichte Note zu veröffent-
lichen.
Die Bekanntgabe der an Serbien gerichteten Forderungen
(die vielfach als eine unnötige Verschärfung des österreichisch-
ungarischen Schrittes angesehen worden ist) erscheint selbstver-
ständlich, da Serbien durch sein Verhalten nicht nur die Pflichten
eines friedlichen Nachbarn verletzt hatte, sondern auch die Zu-
sicherungen, die es auf Drängen der Mächte in der am 31. März
1909 in Wien überreichten Note übernommen hatte. In dieser
Note verpflichtete sich Serbien, ,,die Richtung seiner gegenwärtigen
Politik gegenüber Österreich-Ungarn zu ändern und künftighin
mit diesem letzteren auf dem Fuße freundnachbarlicher Be-
ziehungen zu leben". Die serbische Regierung tat jedoch so gut
wie nichts, um ein friedliches Verhältnis zur Nachbarmonarchie
herbeizuführen. Sie pflegte vielmehr den Geist des Hasses gegen
Österreich-Ungarn und zettelte in den Grenzländern der Mon-
archie eine wohlorganisierte subversive Bewegung an. Gegen
diese großserbische Propaganda richtete sich letzten Endes die
österreichisch-ungarische Aktion von 1914. Insoweit die pan-
serbische Agitation nicht als Ursache des Attentates von Sarajevo
anzusehen ist, kann man sagen, daß die Ermordung des Erz-
herzogs zum ,, Vorwand" genommen wurde. Sofern dieser Zu-
sammenhang aber bestand, und das ist damals in Berlin jedenfalls
angenommen worden, war jener Mord ein berechtigter Anlaß
zum Einschreiten und zur Behebung der Ursachen des Übels.
Fragwürdig erscheint, auch vom damaligen Standpunkt aus, in
erster Linie die Wahl der Mittel.
Eine Kritik der Note selbst dürfte sich heute aber erübrigen,
zumal die deutsche Regierung seinerzeit an der Abfassung selbst
nicht beteiligt war. Nur zwei Fragen sind bezüglich des Ultimatums
noch von Interesse: ob diese Note eine friedliche Lösung des
Konfliktes überhaupt zuließ, und ob sie ohne Vorgang in der
neueren Geschichte gewesen ist. Die dritte Frage, ob Serbien
seinen eigenen Entschließungen folgend, eine andere Stellung
zum österreichisch-ungarischen Ultimatum eingenommen hätte,
als geschehen ist, kann heute noch nicht beantwortet werden.
22
Zur Frage, ob die Note eine friedliche Lösung zuließ, gehört
die Vorfrage, ob ihre Annahme denkbar gewesen wäre. Es sei
deshalb auf den Vorschlag der italienischen Regierung vom 27. Juli
hingewiesen, daß die vier Mächte Serbien den Rat erteilen sollten,
die Note uneingeschränkt anzunehmen (Blaubuch Nr. 57); ferner
auf die Mitteilung des serbischen Geschäftsträgers in Rom vom
28. Juli, wonach Serbien die österreichische Note nach Erläuterung
der Punkte 5 und 6 nachträglich noch annehmen würde (Blau-
buch Nr. 64; Weißbuch Nr. 357; vgl. auch Weißbuch Nr. 249).
Anscheinend hat San Giuliano diese Erklärung nur nach London
und Grey dieselbe nur nach Berlin weitergegeben. Bethmann
Hollweg bezeichnete „ein derartiges Nachgeben Serbiens als ge-
eignete Basis für Verhandlungen". (Weißbuch Nr. 384.) Warum
Grey sich nicht in ähnlichem Sinne in Petersburg und Belgrad
äußerte, ist nicht ersichtlich. Diese Grundlage einer Verständigung
hätte alle Kriegsabsichten Berchtolds vereitelt. Sie würde eine
sichere Verhandlungsbasis abgegeben haben.
Befristete Noten, die von Kriegsdrohungen begleitet waren,
sind in der neueren Geschichte nicht selten gewesen. Es sei an
die Note Englands und Frankreichs an Ägypten 1882, Englands
an Portugal 1890, der Vereinigten Staaten von Amerika an Spanien
1898, Englands an Frankreich 1898, Englands an die Türkei 1906,
Italiens an die Türkei 1911 erinnert. Wie bereits oben erwähnt,
hat Österreich-Ungarn am 18. Oktober 1913 ein Ultimatum an
Serbien gerichtet mit der Forderung, binnen acht Tagen Albanien
zu räumen. Einzelne der genannten Ultimaten haben zu Kriegen
geführt, ohne aber, ebensowenig wie die Balkankriege, eine all-
gemeine Konflagration zu verursachen. Keine von ihnen war
durch die Bedrohung vitaler Interessen des angreifenden Staates
hervorgerufen, ein Moment, das immerhin bei der Beurteilung
des österreichisch-ungarischen Vorgehens 1914 zu berücksichtigen
wäre. So weitgehend auch die Wiener Forderungen an Serbien
waren, so werden sie doch erheblich von den Noten übertroffen,
die England, Frankreich und Rußland zu wiederholten Malen
1916 und 1917 an das damals neutrale Griechenland gerichtet haben.
Ob der österreichisch-serbische Krieg von irgend einem Gesichts-
punkte aus gerechtfertigt erscheinen kann, mag dahingestellt
bleiben. Der Krieg der Vereinigten Staaten mit Spanien, der
Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch-türkische
Krieg und die Balkankriege sind jedenfalls aus geringeren An-
lässen entstanden.
23
3. Deutschlands Stellungnahme
Nach der Bluttat von Sarajevo war auch in Deutschland
jedermann überzeugt, daß Österreich-Ungarn Serbien zur Rechen-
schaft ziehen werde, denn niemand zweifelte daran, daß dies Ver-
brechen ein Ausfluß der großserbischen Propaganda sei. Dieser
ein Ende zu machen, erschien geboten. Mit seiner Randglosse
vom 4. Juli ,, Jetzt oder nie" (Weißbuch Nr. 7) bewegte sich der
Kaiser ganz auf dem Boden der öffentlichen Meinung Deutsch-
lands.
Was die Haltung der deutschen Regierung anlangt, so ist
der Ausgangspunkt für die Betrachtung der damaligen Lage in
dem österreichisch-ungarischen Memorandum zu suchen, das am
5. Juli in Berlin überreicht wurde (Weißbuch Nr. 14). Diese
Denkschrift verdient deshalb sorgfältiges Studium, weil sie die
Auffassung des Wiener — und soweit unwidersprochen — des
Berliner Kabinetts über die politische Gesamtlage wiedergibt.
Nur über einen Punkt erteilt sie keinen Aufschluß, und auch die
Akten schweigen hierüber. Das ist die Frage, wie sich Deutsch-
land zur früheren österreichisch-ungarischen Balkanpolitik, und
insbesondere zu Serbien, gestellt hat. Wir wissen aber aus dem
österreichischen Rotbuch 1919 (I, Nr. 2), daß sich Tisza
am 1. Juli über die ,, Eingenommenheit" des deutschen Kaisers
für Serbien beklagt hat. Er bat, die Anwesenheit Kaiser Wilhelms
in Wien zu benutzen, um seine Sympathie für Serbien ,,an der
Hand der letzten empörenden Ereignisse zu bekämpfen". Der
Kaiser kam nicht nach Wien. Die Weitergabe der Gerüchte von
einem gegen ihn geplanten Attentat (Weißbuch Nr. 6a, 6b, 9;
Rotbuch 1919, I, Nr. 3) hat aber anscheinend dem Zwecke dienen
sollen, ihn gegen Serbien einzunehmen.
Auch der englische Botschafter in Wien hat unter dem 5. Juli
berichtet, daß der „deutsche Kaiser mit der Serbien feindlichen
Politik Österreich-Ungarns nicht einverstanden gewesen sei"
(Oman*), S. 14; vgl. auch Weißbuch Nr. 16, 41). Bethmann
Hollweg hatte, wie aus dem Rotbuch 1919 (I, Nr. 7) hervorgeht,
Österreich-Ungarn „bisher stets den Rat erteilt, sich mit Serbien
zu vertragen". Berlin scheint nach der Wiener Auffassung die
Ausführung österreichisch-ungarischer Balkanpläne wiederholt be-
einträchtigt zu haben. Nach dem Umschwung schrieb deshalb
Tisza, am 8. Juli, von dem „langersehnten vollen Erfolg in Berlin"
(Rotbuch 1919, I, Nr. 12).
*) „The Outbreak of the War of 1914-1918." Eine offiziöse Dar-
stellung auf Grund der Akten des englischen Ministeriums des Äußern, die
1919 erschien.
24
In Deutschland bestand kein Grund zu zweifeln, daß die
Regierung in Belgrad für das Attentat gegen den Erzherzog-
Thronfolger verantwortlich zu machen sei. Es schien eine ernst-
hafte Untersuchung in Sarajevo stattzufinden (Weißbuch Nr. 7,
8, 13). Von dem Bericht Wiesners über das zweifelhafte Ergebnis
der Vernehmungen (Rotbuch 1919, I, Nr. 17) hat Berlin keine
Kenntnis erhalten. Die deutschen Berichte aus Belgrad (Weiß-
buch Nr. 10, 19a) schienen die Wiener Auffassung von der Schuld
Serbiens zu bestätigen. Es ist auch nicht zu vergessen, daß die
serbische Presse in jenen Tagen eine maßlose Hetze gegen Öster-
reich-Ungarn betrieb, daß serbische Diplomaten sich zu unge-
hörigen Äußerungen hinreißen ließen, und daß nach glaubwürdigen
Nachrichten damals in Belgrad wiederholt österreichfeindliche
Demonstrationen stattgefunden haben. Alles dies war geeignet,
BerHn von der Notwendigkeit eines Einschreitens gegen Serbien
zu überzeugen.
Was nun den Inhalt des österreichisch-ungarischen Memo-
randums (Weißbuch Nr. 14) anlangt, so wird hinsichtlich der all-
gemeinen Lage in Europa darauf hingewiesen, daß die Mittel-
mächte eine konservative Politik betrieben, während der Zwei-
bund Frankreich-Rußland einer offensiven Tendenz huldigte.
Der europäische Friede sei bisher nur dank der militärischen
Überlegenheit des durch Rumänien verstärkten Dreibundes er-
halten worden. Die Wiener Regierung zog ferner eine Bilanz der
Ergebnisse des Balkankrieges, in der die Passivposten die Aktiva
überwogen. Zwar sei ein albanischer Staat gegründet worden,
Griechenland nehme eine dem Dreibund freundliche Haltung
ein, und Bulgarien habe sich von dem russischen Einfluß befreit.
Dagegen sei die Türkei sehr geschwächt und Serbien außerordent-
lich vergrößert worden. Die Union Serbiens mit Montenegro
stehe bevor. Die bedenklichste Erscheinung sei aber die Ent-
fremdung Rumäniens, seine Annäherung an Rußland und sein
enges Einvernehmen mit Serbien. Das Bündnis der Mittelmächte
mit Rumänien sei nahezu entwertet. Durch diese Verschiebung
der Kräfte und des politischen Gesamtbildes sei die Hauptfriedens-
garantie Europas, die militärische Überlegenheit der Mittelmächte,
im Begriff zu verschwinden.
Dazu komme, daß Rußland und Frankreich sich mit dem
ihnen günstigen Ergebnisse der Balkankriege nicht zufrieden
gäben. Ihre Politik gehe offenbar darauf aus, die gegenwärtig
vorhandene Spaltung der Balkanvölker zu beseitigen und den
neu zusammengeschlossenen Balkanbund als Waffe gegen Mittel-
europa zu gebrauchen, um die militärische Überlegenheit des
Dreibundes zu beseitigen. Als Mittel zu diesem Zwecke diene
25
anscheinend (dies wurde übrigens inzwischen durch russische und
serbische Dokumente bestätigt) das Versprechen einer Vergröße-
rung der Balkanstaaten auf Kosten Österreich-Ungarns im Wege
einer allgemeinen Grenzverschiebung von Ost nach West. Eine
solche Politik sei um so gefährlicher, als die Revanchepläne Frank-
reichs zur Genüge bekannt seien, und Rußland außerordentliche
Rüstungen betriebe, die sich offensichtlich gegen Deutschland
richteten.
Als Mittel, diese Gefahren zu beschwören, schlug die Wiener
Regierung vor, Bulgarien an Stelle von Rumänien zum Balkan-
exponenten der Mittelmächte zu machen. Werde Bulgarien vor
der von Rußland und Frankreich erstrebten Isolierung be-
wahrt, so könne es vom Anschluß an den neuen Balkanbund
abgehalten werden. Hierzu sei ein Vertragsverhältnis mit Bulgarien
erforderlich, das durch ein bulgarisch-türkisches Bündnis zu er-
gänzen sei. Auf diese Weise lasse sich die russisch-französische
Balkanpolitik und ihre aggressiven Absichten vereiteln,
Serbien wird in dieser Denkschrift nur ganz kurz erwähnt.
Österreich-Ungarns Stellung zu diesem Nachbar wird dagegen
in einem Schlußabsatz, der nach der Mordtat von Sarajevo ge-
schrieben ist, dargelegt. Wie wir heute wissen, liegt das Bedenk-
liche in Österreich-Ungarns Stellungnahme zu Serbien weniger
in dem, was in dieser Denkschrift gesagt worden ist, als in dem,
was sie nicht enthält. Denn sowohl in dem ersten Entwurf des
Memorandums (vom Mai), wie auch in seiner zweiten Fassung
(vom Juni) ist die Möglichkeit einer Wiederannäherung Serbiens
an Österreich-Ungarn durch rumänische Vermittlung noch vor-
gesehen. Durch die Streichung dieses Punktes, die natürlich in
Berlin nicht bekannt war, gewinnen im Anhang zur Denkschrift
die Worte ,, Unüberbrückbarkeit des Gegensatzes zwischen der
Monarchie und Serbien" und ,,die Notwendigkeit, mit entschlossener
Hand die Fäden zu zerreißen" eine Bedeutung, die ohne Kenntnis
der Vorgeschichte des Memorandums nicht ersichtlich war.
Das Handschreiben des Kaisers Franz Joseph vom 2. Juli
(Weißbuch Nr. 13) faßt den Inhalt des Memorandums, der ein
an sich einwandfreies politisches Programm darstellt, noch einmal
zusammen und verschärft seine Grundgedanken, namentlich in
der serbischen Frage. Es bleibt aber als Hauptinhalt das durchaus
friedUche Ziel, einen neuen, den Mittelmächten freundlichen
Balkanbund zu schaffen. Wenn das Wiener Kabinett, das hierin
mit Petersburg und Paris übereinstimmte, die Besitzverhältnisse
auf dem Balkan so kurz nach den Balkankriegen noch nicht als
endgültig ansah, so ist dies nur natürlich. Bulgarien war im Frieden
von Bukarest schweres Unrecht geschehen. Nichts ist begreif-
26
lieber, als daß man in Wien geneigt war, aus dieser Tatsache
politischen Nutzen zu ziehen. Wenn es demnach in dem Schreiben
des Kaisers Franz Josef heißt, das Bestreben Österreich-Ungarns
müsse ,,in Hinkunft auf die Isolierung und Verkleinerung Serbiens
gerichtet sein", so ist dies ebenfalls nicht befremdlich. Zu Un-
recht ist hieraus die erklärte Absicht eines österreichisch-unga-
rischen Eroberungskrieges gefolgert worden. Eine solche Absicht
konnte dem Schreiben nicht entnommen werden, denn es heißt
anschließend: ,,die erste Etappe auf diesem Wege wäre in einer
Stärkung der Stellung der gegenwärtigen bulgarischen Regierung
zu suchen". Dies bedeutete ein Programm, das sich erst in Jahr
und Tag verwirklichen ließ. Hält man dieser Stelle die des Memo-
randums gegenüber, in der es heißt, Bulgarien müsse vor russischen
Lockungen eines Wiedererwerbes Mazedoniens bei einer staffel-
weisen Verrückung der Grenzen von Ost nach West bewahrt werden,
so scheint es, daß in V/ien die Absicht bestanden hat, Bulgarien
in der Hoffnung auf einen künftigen Krieg gegen Serbien zu
bestärken.
Was schließlich die Haltung Deutschlands gegenüber den
österreichisch-ungarischen Vorschlägen anlangt, so ist zunächst
festzustellen, daß zwischen dem Kaiser, dem Kanzler und dem
Auswärtigen Amt Übereinstimmung geherrscht hat. Eine Stellung-
nahme zur Wiener Darlegung der allgemeinen europäischen Lage
erfolgte nicht, doch ist die Auffassung der deutschen Regierung
und ihre Beunruhigung aus dem Erlaß nach London vom 16. Juni
(Weißbuch Nr. 3) ersichtlich. Die österreichisch-ungarischen
Sorgen wegen der Lage auf dem Balkan, und insbesondere Serbiens,
wurden als berechtigt anerkannt. Die russischen und serbischen
Urkunden haben ja auch die Wiener Darstellungen in allen wesent-
lichen Punkten bestätigt. Die Berliner Regierung erklärte ihr
Einverständnis mit jedem Vorgehen Österreich-Ungarns gegen
Serbien, also auch mit einem Kriege. Sie gab der Wiener Regierung
freie Hand. übrigens war auch die österreichisch-ungarische
Regierung der Ansicht, daß sie allein zu entscheiden habe, was
gegen Serbien unternommen werden müsse (Rotbuch 1919, I,
Nr. 3). Deutscherseits ist aber nicht die Einwilligung zu einer
machtpolitischen Aktion im Sinne einer Expansionspolitik gegeben
worden. Von der Absicht eines „Vormarsches auf Konstantinoper ',
von der die Entente zu berichten weiß, ist nach Maßgabe der Ber-
liner und Wiener Akten keine Rede. Die Aktion war als rein de-
fensives Unternehmen gedacht. Sie wurde deutscherseits ge-
billigt trotz der Gefahr einer Verwicklung mit Rußland (Weiß-
buch, Band I, S. XV, XVI; Reichstag-Denkschrift vom 3. 8. 1914;
Rotbuch 1919, I, Nr. 6).
27
^ Hinsichtlich der speziellen Vorschläge Österreich-Ungarns
wurden deutscherseits zwar Bedenken gegen einen Anschluß
Bulgariens an den Dreibund erhoben, schließlich diesem aber
zugestimmt. Die Berliner Regierung wollte jedoch ihre früheren
guten Beziehungen zu Rumänien nicht aufgeben, ohne noch ein-
mal den Versuch zu machen, Rumänien vom Anschluß an einen
den Mittelmächten feindlichen Balkanbund abzuhalten. Sie
verlangte auch, daß der Vertrag mit Bulgarien keine Spitze gegen
Rumänien haben dürfe. Eine Stellungnahme zur schwebenden
österreichisch-serbischen Frage, also eine Erörterung der Mittel
und Wege, wurde ausdrücklich abgelehnt, Österreich-Ungarn
jedoch nahegelegt, rasch zu handeln, um für seine Aktion gegen
Serbien die günstige Konstellation des Augenblickes auszunutzen.
Dieser letztere Rat, der politisch zweifellos richtig war, ist im Laufe
der nächsten Wochen mehrfach wiederholt worden.
Bei diesem entscheidenden Wendepunkt vom 5. und 6. Juli
ist zunächst festzustellen, daß von der Absicht, einen allgemeinen
Krieg zu entfesseln, wie die Entente dies unterstellt hat, keine
Rede gewesen ist. Dies zeigt einmal, daß in Wien und Berlin
Pläne einer Balkanpolitik in Aussicht genommen wurden, die zu
ihrer Verwirklichung längere Zeit erforderten. Über die Möglich-
keit, daß aus einer österreichisch-ungarischen Aktion gegen Serbien
ein allgemeiner Krieg entstehen könne, war man sich natürlich im
klaren. Von einem dolus eventualis der deutschen Regierung zu
sprechen, ist nicht berechtigt, denn dieser juristische Begriff ist
auf politische Erwägungen nicht anwendbar, bei denen natur-
gemäß alles relativ ist. Die Gefahr der Entfesselung eines euro-
päischen Krieges bestand seit Jahren bei jeder politischen Aktion.
Selbst die Entsendung der Militärmission nach der Türkei hat im
Januar 1914 fast zum europäischen Kriege geführt, und es ist sehr
zu fürchten, daß sich die europäischen Staatsmänner allzusehr
an den Gedanken der immer vorhandenen Kriegsgefahr gewöhnt
hatten. Für die Beurteilung der deutschen Politik zu Anfang des
Juli 1914 ist nicht ausschlaggebend, ob sie die Möglichkeit eines
Krieges voraussah, sondern, wie ernst sie diese Gefahr einschätzte.
Hierüber geben die Akten genügenden Aufschluß. Offensichtlich
sah man eine Gefahr für den Frieden nur auf Seiten Rußlands.
Ein Eingreifen seitens Englands erwartete man nicht, und merk-
würdigerweise hat man auch von französischer Seite nichts be-
fürchtet. Über die Haltung der Petersburger Regierung scheint
die übereinstimmende Ansicht geherrscht zu haben, daß Rußland
nicht genügend gerüstet sei und deshalb keinen Krieg führen könne
und werde. Zudem setzte man außerordentlich große und, wie
sich bald zeigen sollte, ganz ungerechtfertigte Hoffnungen auf das
Gefühl monarchischer Solidarität, das den Zaren abhalten werde,
„sich auf die Seite der Prinzenmörder zu stellen".
28
Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß in den Dokumenten
die Erörterung der Kriegsgefahr vermutlich mehr Raum einnimmt,
als den Umständen entsprach. Denn der ungünstigste Fall wird
stets ausführlich behandelt, während man die Selbstverständlich-
keiten einer günstigen Lösung kaum berührt.
Die deutsche Regierung hat aus den wesentlichsten Ge-
sichtspunkten ihrer damaligen Haltung kein Hehl gemacht. In
der Reichstags-Denkschrift vom 3. August 1914 wurde über die
Lage zu Anfang Juli zutreffend gesagt:
„Die k. u. k. Regierung benaciirichtigte uns von dieser Auffassung (daß
es weder mit der Würde nocli mit der Seibsterhaltung der Monarcliie verein-
bar wäre, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen)
und erbat unsere Ansicht. Aus vollem Herzen konnten wir unserem Bundes-
genossen unser Einverständnis mit seiner Einschätzung der Sachlage geben
und ihm versichern, daß eine Aktion, die er für notwendig hielte, um der gegen
den Bestand der Monarchie gerichteten Bewegung in Serbien ein Ende zu
machen, unsere Billigung finden würde. Wir waren uns hierbei wohl bewußt,
daß ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien
Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer Bundespflicht ent-
sprechend, in einen Krieg verwickeln könnte. Wir konnten aber in der Erkennt-
nis der vitalen Interessen Österreich-Ungarns, die auf dem Spiele standen,
unserem Bundesgenossen weder zu einer mit seiner Würde nicht zu verein-
barenden Nachgiebigkeit raten, noch auch ihm unseren Beistand in diesem
schweren Moment versagen. Wir konnten dies um so weniger, als auch unsere
Interessen durch die andauernde serbische Wühlarbeit auf das empfindlichste
bedroht waren. Wenn es den Serben mit Rußlands und Frankreichs Hilfe
noch länger gestattet geblieben wäre, den Bestand der Nachbarmonarchie
zu gefährden, so würde dies den allmählichen Zusammenbruch Österreichs
und eine Unterwerfung des gesamten Slawentums unter russischem Szepter
zur Folge haben, wodurch die Stellung der germanischen Rasse in Mitteleuropa
unhaltbar würde. Ein moralisch geschwächtes, durch das Vordringen des
russischen Panslawismus zusammenbrechendes Österreich wäre für uns kein
Bundesgenosse mehr, mit dem wir rechnen könnten und auf den wir uns ver-
lassen könnten, wie wir es angesichts der immer drohender werdenden Haltung
unserer östlichen und westlichen Nachbarn müssen. Wir ließen daher Öster-
reich völlig freie Hand in seiner Aktion gegen Serbien. Wir haben an den Vor-
bereitungen dazu nicht teilgenommen."
Die deutsche Regierung hat bei der Aufstellung der an Serbien
zu richtenden Forderungen nicht mitgewirkt und hat dadurch
in kurzsichtiger Weise die Mitverantwortung zu vermeiden ge-
sucht. Bereits am 4. Juli schrieb der Kaiser an den Rand eines
Berichtes aus Wien (Weißbuch Nr. 7) : Es sei ,, lediglich Österreichs
Sache, was es zu tun gedenkt. Nachher heißt es dann, wenns
schief geht, Deutschland hat nicht gewollt." Die Haltung der
deutschen Regierung Österreich-Ungarn gegenüber hat der baye-
rische Gesandte in Wien, Freiherr von Tucher, seinerzeit sehr
treffend gekennzeichnet :
,,Unsere Stellung Österreich-Ungarn gegenüber ist sehr heikel; wir müssen
uns hüten, seine Empfindlichkeit zu verletzen, und bei Fragen dieser Art ent-
29
halten wir uns sorgfältig, ihm Ratschläge im einen oder im anderen Sinne zu
erteilen, um uns nicht in der Folge Vorwürfen auszusetzen, falls die Ereignisse
eine unerwünschte Wendung nehmen. Auch diesmal hat Deutschland seinem
Verbündeten erklärt, dieser müsse lediglich seine eigenen Interessen berück-
sichtigen und so handeln, wie er es für notwendig erachte. Es hat sich darauf
beschränkt, hinzuzufügen, daß es ihm nötigenfalls zur Seite stehen würde."
(Bericht des belgischen Gesandten in Wien vom 27. Juli 1914, Nr. 403/149,
Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1919.)
Die deutsche Regierung ist gemäß den bei Beginn der Krise
mit Wien vereinbarten Richtlinien vorgegangen, Sie hat ihren
Gesandten in Bukarest und Sofia entsprechende Weisungen
erteilt und sich, von gelegentlichen Warnungen an Serbien abge-
sehen, der Einmischung in die serbische Frage enthalten. Die
Wiener Regierung machte allerdings den Versuch, Berlin zur
Stellungnahme zu veranlassen. Am 10. Juli telegraphierte der
deutsche Botschafter in Wien, Berchtold würde gern wissen, wie
man in Berlin über die Formulierung geeigneter Forderungen
gegenüber Serbien denke. Er meinte, man könnte unter anderem
verlangen, daß in Belgrad ein Organ der österreichisch-ungarischen
Regierung eingesetzt werde, um von dort aus die großserbischen
Umtriebe zu überwachen (der spätere Punkt 5 der Note), eventuell
auch die Auflösung von Vereinen (Punkt 2) und Entlassung
einiger kompromittierter Offiziere (Punkt 4). Die Frist zur Be-
antwortung müsse möglichst kurz bemessen werden, wohl mit
48 Stunden (Weißbuch Nr. 29).
Wie aus dem Bericht des bayerischen Geschäftsträgers vom
18. Juli (Weißbuch, Anhang IV, Nr. 2) bekannt ist, hatte man in
Berlin Kenntnis von weiteren Punkten der beabsichtigten öster-
reichisch-ungarischen Note, und zwar von der Forderung einer
Proklamation und von den späteren Punkten 6 und 4. Woher
diese Kenntnis stammte, ist weder aus den deutschen, noch aus
den österreichisch-ungarischen Akten ersichtlich. Demnach war
in Berlin über die Note bekannt: die Absicht, sie auf 48 Stunden
zu befristen, die Forderung einer Proklamation (die von Serbien
angenommen wurde), die Punkte 2, 4, 5 und 6 in Umrissen. (Von
diesen wurde Punkt 2 angenommen, gegen Punkt 4, 5 und be-
sonders 6 wurden mehr oder weniger ernste Bedenken erhoben.)
Wie aus dem Blaubuch (Nr. 161) bekannt ist, hat der eng-
lische Botschafter in Wien bereits am 16. Juli telegraphisch über
die beabsichtigte österreichisch-ungarische Demarche berichtet
(siehe auch Oman, S. 14), und der französische Konsulatskanzler
in Wien, der vielleicht einen tschechischen Freund im Ministerium
des Äußeren hatte, schrieb am 20. Juli einen Bericht über die be-
absichtigte Note, der den Inhalt der Punkte 1, 2 und 3 und 8
ziemlich zutreffend wiedergibt (Gelbbuch Nr. 14). Paris war
demnach annähernd ebenso gut unterrichtet wie Berlin.
30
Die deutsche Regierung lehnte es am 11. Juli ab, zu Berchtolds
Fragen Stellung zu nehmen (Weißbuch Nr. 31) und beschränkte
sich darauf, nach Möglichkeit für einen glatten Verlauf der Krise
zu sorgen. So erteilte sie den Rat, den geplanten Schritt vor der
Öffentlichkeit eingehend zu begründen und befürwortete den
österreichisch-ungarischen Entschluß, die Abreise Poincares aus
Petersburg abzuwarten, damit nicht in der damaligen Verbrüde-
rungsstimmung dort übereilte Schritte beschlossen würden.
Die verantwortlichen Persönlichkeiten in Berlin hätten eine
baldige Demarche in Belgrad begrüßt, weil diese naturgemäß
unter dem frischen Eindruck des Attentats von Sarajevo mehr
Verständnis und Sympathie finden mußte, und haben auch dieser
Auffassung wiederholt Ausdruck gegeben. Ferner zeigten sie
eine nur aus der noch unbekannten Geschichte der deutsch-öster-
reichischen Beziehungen begreifliche Sorge, in Wien nicht als
hemmender Faktor zu erscheinen (Weißbuch Nr. 61, 70). Eine
Beeinflussung Österreich-Ungarns durch die Berliner Regierung
im Sinne einer Verschärfung der zu stellenden Forderungen ergibt
sich, wie gesagt, aus den deutschen Akten nicht. Berlin hat keinen
direkten Einfluß auf den Inhalt der Note an Serbien ausgeübt.
Auch der deutsche Botschafter in Wien hat an den Beratungen
über die in Belgrad zu stellenden Forderungen nicht teilgenommen.
Dies bestätigte übrigens Tisza kurz vor seinem Tode in einer Rede
im ungarischen Abgeordnetenhause am 22. Oktober 1918. Bis
er durch das Telegramm vom 6. Juli (Weißbuch Nr. 15) verständigt
wurde, daß Deutschland „zu den zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung
nehme", hat Tschirschky in Wien zur Mäßigung und Vorsicht ge-
raten. Bereits am 30. Juni berichtet er, daß er jeden Anlaß be-
nutze, um nachdrücklich und ernst vor übereilten Schritten zu
warnen (Weißbuch Nr. 7). Er empfahl, vor allem die europäische
Gesamtlage in Rechnung zu ziehen. Ähnlich äußerte er sich am
2. Juli dem Kaiser Franz Joseph gegenüber (Weißbuch Nr. 11).
In Berlin war aus den Berichten Tschirschkys bekannt, daß
Berchtold persönlich eine kriegerische Lösung des Konfliktes be-
vorzugte. Ebenso wußte man, daß Tisza zur Mäßigung riet.
In diesen Konflikt der Meinungen wurde deutscherseits nicht ein-
gegriffen. Die deutsche Regierung scheint selbst der Auffassung
gewesen zu sein, daß eine Lösung des österreichisch-serbischen
Konfliktes ohne kriegerische Auseinandersetzung möglich sei,
wenn Serbien sich bereit erklärte, die Mordtat von Sarajevo zu
sühnen und ausreichende Garantien für die Zukunft zu geben*).
*) Siehe Gelbbuch Nr. 9; serbisches Blaubuch Nr. 19, 26; Weiß-
buch Nr. 91.
31
Zeigte sich Serbien nicht gewillt, die diesbezüglichen österreichisch-
ungarischen Forderungen zu erfüllen, so sah man in Berlin in der
Anwendung militärischer Zwangsmittel offenbar ein geringeres
Übel als in der Fortdauer des durch die großserbischen Um-
triebe geschaffenen Zustandes dauernder Beunruhigung.
Da über die Absichten der Wiener Regierung und den Inhalt
der Note nichts Näheres bekannt war (Weißbuch Nr, 61), wurde
deutscherseits am 19. Juli telegraphisch um Mitteilung ihres
Wortlautes gebeten (Weißbuch Nr. 77). Dieser lag aber erst
am Abend des 22. Juli in Berlin vor*). Da die Note, wie der
österreichisch-ungarische Botschafter erklärte, bereits nach Belgrad
abgegangen war (am 20. Juli! — Rotbuch 1919, I, Nr. 27), wäre
es nicht möglich gewesen, eine Abänderung ihres Wortlautes zu
erwirken. Die österreichisch-ungarischen Forderungen wurden
jedoch von Bethmann Hollweg und von Jagow als zu weitgehend
und die Sprache der Note als zu scharf beurteilt**). Daß man in
Berlin den Vertretern des Dreiverbandes von dieser Einschätzung
keine Mitteilung machte, ist ganz natürlich. Die Meldung: Szö-
gyenys, Jagow habe ihm versichert, „daß die deutsche Regierung
mit dem Inhalt dieser Note selbstverständlich ganz einverstanden
sei" (Rotbuch 1919, II, Nr, 6), stimmt mit der Darstellung Jagows
nicht überein.
Bei der Haltung der Belgrader Regierung in der Vergangenheit
sowohl wie während der Krisis 1914 konnte es deutscherseits
nicht als wahrscheinlich angesehen werden, daß Serbien den Wiener
Forderungen nachkommen würde. Von vornherein war also damit
zu rechnen, daß militärische Operationen Österreich-Ungarns
gegen Serbien stattfinden würden. Es verdient aber hervorgehoben
zu werden, daß die deutsche Regierung keineswegs einen Krieg
gegen Serbien unter allen Umständen wünschte oder gar ihn
herbeizuführen suchte. Dies geht zur Genüge aus ihrer Stellung-
nahme zur serbischen Antwortnote hervor, (Siehe die Rand-
*) Der Bericht aus Wien vom 21. Juli (Weißbuch Nr. 106), mit dem der
Text der Note eingereicht wurde, ist im Weißbuch als erstes Dokument vom
22. Juli eingeordnet worden. Dadurch wird der Eindruck hervorgerufen,
daß diese „nachmittags" registrierte Urkunde frühzeitig eingegangen sei. Dies
ist nach Jagow: „Ursachen und Ausbruch des Weltkrieges," Seite 109, nicht
der Fall, denn sie wurde ihm erst in den Abendstunden vorgelegt (vgl. auch
Rotbuch 1919, I, Nr. 46).
**) Vgl. Weißbuch, Anhang IX, Jagow, a. a. O., Bethmann Hollweg:
„Betrachtungen zum Weltkriege", S. 138 f. — Die Darstellung BethmannS
und Jagows bestätigt eine Textveränderung bei der ersten Veröffentlichung
des Runderlasses vom 21. Juli (Weißbuch Nr, 100). In diesem ohne Kenntnis
des Wortlauts der Wiener Note geschriebenen Erlasse werden die österreichisch-
ungarischen Forderungen als „billig und maßvoll" bezeichnet, in der Anlage
zur Reichstagsdenkschrift vom 3. 8. 1914 dagegen nur als „gerechtfertigt".
32
bemerkung des Kaisers unter der serbischen Antwortnote Weiß-
buch Nr. 271, sein Schreiben an Jagow vom 28.JuH, Weißbuch
Nr. 293, das Schreiben des Generals von Plessen an den General-
stabschef vom gleichen Tage, ,, Deutsche Politik", IV, 29, vom
28. 7. 1919, und das Telegramm des Reichskanzlers nach Wien,
ebenfalls vom 28. Juli, Weißbuch Nr. 323.)
Die Haltung der deutschen Regierung in der Zeit bis zum
österreichisch-ungarischen Ultimatum an Serbien setzt sie mancher-
lei berechtigten Kritik aus. Das letzte Wort hierüber wird aber
erst nach der Vernehmung der Beteiligten zu sagen sein. Zu
allen wesentlichen Punkten der Anklagen der Entente kann man
jedoch heute bereits Stellung nehmen. In ihrer Note vom 16. Juni
1919 haben die Alliierten und Assoziierten Mächte behauptet,
„während langer Jahre hätten die Regierenden Deutschlands,
getreu der preußischen Tradition, die Vorherrschaft in Europa
angestrebt. ... Sie hätten getrachtet, sich dazu fähig zu machen,
ein unterjochtes Europa zu beherrschen und zu tyrannisieren....
Als sie festgestellt hätten, daß ihre Nachbarn entschlossen wären,
ihren anmaßenden Plänen Widerstand zu leisten, da hätten sie
beschlossen, ihre Vorherrschaft mit Gewalt zu begründen".
In den deutschen und österreichisch-ungarischen Akten findet
sich nicht der geringste Beleg für diese Behauptungen. Deutscher-
seits ist die Aktion gegen Serbien stets nur als Präventivmaßnahme
betrachtet worden.
Ferner haben die Alliierten und Assoziierten Mächte in ihrer
Antwort auf die deutschen Gegenvorschläge erklärt: Die Mittel-
mächte hätten versucht, „die Lösung einer europäischen Frage
den Nationen Europas durch die Drohung eines Krieges aufzu-
zwingen.... Die serbische Frage wäre nicht und hätte niemals
eine rein österreichisch-serbische Frage sein können .... Sie war
ihrem Wesen nach eine europäische Frage, da sie die Kontrolle
des Balkans aufs Spiel setzte und daher nicht nur den Frieden
auf dem Balkan, sondern den ganz Europas betraf".
Die Berechtigung dieser Auffassung vom Standpunkt des
Dreiverbandes aus läßt sich vertreten, sobald man zugibt, daß
Serbien der Exponent einer aggressiven Balkänpolitik
des Dreiverbandes war. Sicher ist aber, daß man in Berlin im
Juli 1914 nicht eine Lösung der serbischen Frage im Sinne einer
europäischen Balkanfrage anstrebte, sondern allein eine nach-
haltige Klärung der unhaltbar gewordenen austro-serbischen
Beziehungen. Gewiß kann man der deutschen Regierung den
Vorwurf machen, daß sie die europäische Gesamtlage nicht richtig
einschätzte. Die Unterstellung weitgehender Pläne, die ihr jetzt
nachträglich von ihren Gegnern vorgeworfen werden, entbehrt
33
jedoch offensichtlich jeder Begründung. Vergegenwärtigt man
sich all die Hilflosigkeit, Angst und Planlosigkeit, die in dem
deutschen Aktenmaterial offenbar wird, dann wirkt die Auffassung
der Alliierten und Assoziierten Mächte wie ein Hohn, wenn diese
in der vorgenannten Denkschrift behaupten : ,,Das autokratische
Deutschland wollte unter dem Einfluß seiner Lenker mit aller
Macht die Vorherrschaft erlangen. Die Nationen Europas waren
entschlossen, ihre Freiheit zu retten. Die Furcht der Führer
Deutschlands, es möchten ihre Pläne der Weltherr-
schaft durch die wachsende Flut der Demokratie zunichte
gemacht werden, führte sie dazu, alle ihre Bemühungen darauf
zu richten, jeden Widerstand mit einem Streiche zu brechen, indem
sie Europa in einen Weltkrieg stürzten... In der Erkenntnis,
daß es seine Ziele nicht anders erreichen konnte, entwarf und be-
gann Deutschland den Krieg". Wenn diese Absichten bestanden
hätten, müßten sie sich bereits in der Zeit vor der Überreichung
des österreichisch - ungarischen Ultimatums deutlich offenbaren.
Wir finden aber in den Akten ebensowenig Spuren von Plänen
der Weltherrschaft wie von der wachsenden Flut der Demokratie.
Die internen Meinungsäußerungen der Dreiverbandsmächte lassen
sich weit eher als autokratisch, denn als demokratisch be-
zeichnen.
Schließlich ist die Pariser Schuldkommission in ihrem Bericht
vom 29. März 1919 zu dem Ergebnis gekommen: ,,Der Krieg ist
von den Zentralmächten ebenso wie von ihren Verbündeten, der
Türkei und Bulgarien, mit Vorbedacht geplant worden. Er ist
das Ergebnis von Handlungen, die vorsätzlich und in der Absicht
begangen wurden, ihn unabwendbar zu machen". Von diesem
Vorsatz zum Weltkriege fehlt, wie gesagt, in dem deutschen Ur-
kundenmaterial jede Spur. Daß die Türken und Bulgaren an
der Entstehung des Weltkrieges nicht beteiligt waren, ist nun-
mehr ebenfalls erwiesen. Die Berliner und Wiener Absichten,
die auf einem Anschluß Bulgariens und der Türkei an den Drei-
bund abzielten, sollten in einer Zeit verwirklicht werden, die erst
nach der Regelung des austro-serbischen Konfliktes lag. Eine
Berechtigung der Hauptanklagen unserer Gegner kann also nicht
zugegeben werden.
Von anderer, namentlich von deutscher Seite ist ferner der
Vorwurf, der nicht immer als Vorwurf gemeint ist, erhoben worden,
die deutsche Regierung hätte einen Präventivkrieg plan-
mäßig herbeigeführt. Die Anhänger dieser Auffassung berufen
sich unter anderem auf die Reichstags-Denkschrift vom 3. August
1914, in der es heißt: ,,Wir waren uns hierbei wohl bewußt, daß
ein etwaiges kriegerisches Vorgehen Österreich-Ungarns gegen
34
Serbien Rußland auf den Plan bringen und uns hiermit, unserer
Bundespflicht entsprechend, in einen Krieg verwickeln könnte".
Diese Schlußfolgerung läßt aber außer acht, daß eine Kriegsgefahr
in jenen Jahren immerwährend bestand. In der Politik ist alles
relativ. Es darf daher nicht gefragt werden: Bestand bei einem
Vorgehen gegen Serbien die Gefahr eines Weltkrieges? Die Frage
muß vielmehr lauten: Wie groß war diese Gefahr, bzw. wie hoch
wurde sie deutscherseits eingeschätzt? Nun hat die deutsche
Regierung ganz offensichtlich geglaubt, daß Rußland nicht ge-
nügend gerüstet sei und deshalb auch nicht zum Kriege schreiten
werde. Dies geht nicht nur aus deutschen Aktenstücken, sondern
auch aus denen unserer Gegner hervor (z. B. aus Blaubuch Nr. 32,
161). An die Möglichkeit, daß Frankreich und England vielleicht
die Gelegenheit benutzen würden, einen Krieg herbeizuführen,
falls Österreich-Ungarns Vorgehen Deutschland ins Unrecht setzte,
hat man offenbar überhaupt nicht gedacht; ebensowenig daran,
daß Österreich-Ungarn weitergehende Pläne haben könnte, als die,
welche es nach Berlin mitteilte.
Die Regierung Bethmann Hollwegs hat zweifellos viele Mängel
gehabt. Durch bewußten Leichtsinn wird sie aber nicht gekenn-
zeichnet. Deshalb muß man als sicher annehmen, daß sie für einen
beabsichtigten Präventivkrieg Vorbereitungen getroffen haben
würde. Von derartigen Vorbereitungen ist aber nichts bekannt.
Im Gegenteil wissen wir, daß Maßnahmen, die im Falle eines bevor-
stehenden Krieges unerläßlich gewesen wären, nicht ausgeführt
worden sind. Es sei nur an die obenerwähnte Verproviantierung
der Festungen Straßburg und Neubreisach erinnert. Tisza hat am
1. Juli gefordert, daß, wenn es zum Kriege kommen solle, vorerst
eine diplomatische Konstellation geschaffen werden müßte, welche
das Kräfteverhältnis weniger ungünstig für die Mittelmächte ge-
staltete (Rotbuch 1919, I, Nr. 2). Diese Forderung ist so selbst-
verständlich, daß sich aus ihrer Nichterfüllung folgern läßt, die
Absicht eines europäischen Krieges habe in Berlin nicht bestanden.
Das Verhalten der Ententemächte zur Zeit der Balkankriege ver-
anschaulicht, was Tisza mit diplomatischer Vorbereitung eines
Krieges meinte. Nach Vermittelung des grundlegenden serbisch-
bulgarischen Vertrages umspannte Rußland im Sommer 1912
den Balkan mit einem ganzen Netz von Bündnissen und
Militärkonventionen. Dann schloß es am 8. Juli einen Ge-
heimvertrag mit Japan, der ihm den Rücken sicherte. Am
16. Juli desselben Jahres wurde das erste russisch-französische
Marine- Abkommen getroffen, das durch englisch-französische Ab-
machungen ergänzt wurde, denen die englisch-russische Aussprache
vom September 1912 folgte (Besuch Sasonows in Baimoral, 23. bis
35
28. September). Ihren Abschluß scheint diese Entwickslung
in der diplomatischen Bestätigung d^r militärischen und maritimen
Abmachungen zwischen England und Frankreich durch den be-
kannten Notenwechsel vom 22. und 23, November 1912 gefunden
zu haben. Wenn die deutsche Regierung den Weltkrieg auch
'nur im Sinne eines Präventivkrieges gewollt hätte, maSte sie ähn-
liche Vorbereitungen treffen. Dies ist jedoch offenbar nicht
geschehen.
Selbst die beabsichtigte Defensiv-Aktion gegen Serbien hätte
diplomatisch besser vorbereitet werden mässen. Berlin hat auch
jin dieser Hinsicht eingegriffen, als es sah, da3 Wien das Notwen-
digste versäumte. Am 15. Juli wies Jagow den deutschen Bot-
schafter in Wien an, die dortige Regierung darauf hinzuweisen,
daß es unerläßlich sei, sich mit Italien über die Aktion gegen
Serbien zu verständigen, die Frage der Kompensationen, des Ar-
tikels VII des Dreibundvertrages und des Bündnisfalles zu regeln
(Weißbuch Nr. 46). In der Folgezeit ist in dieser Hinsicht deutscher-
seits noch viel veranlaßt worden, und fast der ganze Schriftwechsel
zwischen Berlin und Rom behandelt die Frage der Kompensation
für Italien. Berchtold hat aber für den von Jagow vertretenen,
durchaus richtigen Gesichtspunkt kein Verständnis gezeigt. Wie
aus dem neuen österreichischen Rotbuch hervorgeht, hat auch
der Botschafter Merey in Rom in dieser Hinsicht eine unheilvolle
Rolle gespielt (Rotbuch 1919, II, Nr. 50, 85, 86, III, Nr. 10, 60).
Noch am 28. Juli vertrat er den Standpunkt: ,,Mein ceterum censeo
ist, Kompensationsansprüche rundweg in Abrede zu stellen und
uns ja in keine heiklen Verhandlungen oder Engagements einzu-
lassen." Diese Verhandlungen betrafen aber immer nur die Stellung-
nahme Italiens zum austro-serbischen Konflikt. Erst am 30. Juli
ist davon die Rede, daß Österreich-Ungarn seinen Standpunkt
in der Kompensationsfrage wegen der italienischen Haltung im
^drohenden Weltkriege aufgeben bzw. abändern müsse (Rotbuch
•1919, III, Nr. 32).
I Die beabsichtigte Annäherung an Bulgarien trug eben-
ifalls nicht den Charakter einer Vorbereitung auf den Weltkrieg.
Der geolante Bündnisschluß wurde zunächst auf unbestimmte
Zeit verschoben (Weißbuch Nr. 19,21,22; Rotbuch 1919, I, Nr. 11).
Um eine Ausdehnung des Konfliktes zu verhüten, wurden sehr
zahlreiche Schritte unternommen, die die Neutralität Bulgariens
in dem österreichisch - serbischen Streit zum Ziel hatten. In der
ersten Periode der Krisis geschah dies lediglich in dem Streben
nach Lokalisierung, später allerdings erschien die neutrale Haltung
Bulgariens als Vorbedingung für die Bündnistreue Rumäniens
(Weißbuch Nr. 544, 549). Auf Bulgarisn, einen für den Weltkrieg
3*
36
wertvollen Bundesgenossen, hat man in dieser Periode offensicht-
lich nicht gerechnet. Nur einmal — am 26. Juli — erkundigte
sich Jagow in Wien nach dem Stand der Angelegenheit (Weiß-
buch Nr. 228). Die Verhandlungen über einen österreichisch-
bulgarischen Vertrag haben bekanntlich erst am 2. August begonnen
(Weißbuch Nr. 673).
Im Falle der Absicht eines Weltkrieges hätte Deutschland
sich gewiß auch frühzeitig die Unterstützung der Türkei ge-
sichert. Am 14. Juli wurde jedoch die Frage des Anschlusses der
Türkei an den Dreibund verneint. Wie aus dem Telegramm Jagows
nach Wien und Konstantinopel hervorgeht, rechnete dieser damals
nicht mit einem Weltkriege (Weißbuch Nr. 45). Im ersten Stadium
der Verhandlungen war überdies nur von einem Anschluß der
Türkei an Österreich - Ungarn die Rede. Die Anregung zu einem
deutsch - türkischen Bündnis gegen Rußland ging von der Türkei
aus (Weißbuch Nr. 285). Deutscherseits wurde dieser Vorschlag
am 28. Juli angenommen (Weißbuch Nr. 320). Da aber der mili-
tärische Wert des türkischen Bündnisses sehr gering eingeschätzt
wurde, ist anzunehmen, daß bei diesem Vertragsschluß die Furcht
vor einem Abschwenken der Türkei zum Dreiverband (siehe
Randvermerk des Kaisers zu Weißbuch Nr. 149), und nicht
der Gedanke, die Zahl der Mitkämpfer zu erhöhen, den Aus-
schlag gab.
Wäre deutscherseits ein Präventivkrieg geplant worden,
dann hätte man sich in erster Linie der Bundestreue Rumä-
niens versichert. Nichts dergleichen geschah. Alle beabsich-
tigten und vollzogenen Verhandlungen mit Rumänien drehten
sich um die Frage der künftigen politischen Zusammenhänge auf
dem Balkan. Vom Kriege und Rumäniens Teilnahme am Kriege
ist in der Zeit vor dem Wiener Ultimatum niemals die Rede ge-
wesen. Am 26. und wiederum am 29. Juli bat die rumänische
Regierung, ,, rechtzeitig informiert zu werden, wenn die Ereignisse
zum Kriege drängen sollten" (Weißbuch Nr. 208, 351). Eine Ant-
wort ist anscheinend nicht gegeben worden. Die Frage des Bündnis-
falles und des rumänischen Eingreifens in den Krieg wurde erst nach
der allgemeinen russischen Mobilmachung zur Sprache gebracht
(Weißbuch Nr. 506, 582).
Von deutschen militärischen Maßnahmen aus dieser Zeit ist
nichts bekannt; dasselbe gilt von wirtschaftlichen Kriegsvorbe-
reitungen. Gewiß war ,,das Heer, wie immer, bereit", wie der
Generalleutnant Graf Waldersee in seinem Schreiben vom 25. Ok-
tober 1919 (Weißbuch, Band I, Seite XV) sagte. Im Falle eines
beabsichtigten Krieges gibt es jedoch neben der allgemeinen Be-
reitschaft der Armee zahllose militärpolitische Maßnahmen, die
37
getroffen werden müssen. Wir wissen aber aus dem ersten Ent-
wurf eines Schreibens des Generals Conrad vom 1 . August (Gooss,
Seite 311), daß bis zu diesem Tage nicht einmal eine Verständigung
zwischen den deutschen und österreichisch-ungarischen General-
stäben über den Aufmarsch gegen Rußland herbeigeführt worden
war.
Gewiß zeugen alle diese Tatsachen gegen die Behauptung,
Deutschland habe den Weltkrieg gewollt, bzw. einen Präventiv-
krieg herbeigeführt. Andererseits ist nicht zu bestreiten, daß
sich die Reichsregierung in eine außerordentlich große Gefahr
begeben hat, ohne genügende politische und militärische Vorbe-
reitungen getroffen zu haben. Es wäre sehr viel besser gewesen,
der so oft behauptete Potsdamer Kronrat hätte stattgefunden,
und es spricht für die bessere politische Schulung unserer Gegner,
daß sie so lange an diesem Märchen festgehalten haben und gar
nicht fassen können, daß Deutschland bei Kriegsausbruch derartig
mangelhaft vorbereitet war.
Der Weltkrieg ist aus dem österreichisch-ungarischen Kriege
gegen Serbien hervorgegangen, und an der Entstehung des letzteren
ist die deutsche Regierung zweifellos mitschuldig. Daraus zu
folgern, daß sie den Weltkrieg verschuldet habe, wäre nur zulässig,
wenn einwandfrei festgestellt würde, daß die europäische Kon-
flagration eine unausbleibliche und unabwendbare Folge
des österreichisch - ungarischen Vorgehens gegen Serbien war.
Dieser Nachweis ist noch nicht erbracht. Die Berliner Regierung
scheint sich jedenfalls zugetraut zu haben, die Gefahr des Welt-
krieges bannen zu können. Dies Problem gehört zu den politischen
Wahrscheinlichkeitsrechnungen, für die es eine objektive Lösung
nicht gibt.
Die deutsche Regierung hat ihre Einwilligung zu einem Kriege
Österreich-Ungarns gegen Serbien gegeben. Das Ziel, das ihr
hierbei vorschwebte, war einzig und allein die Unterdrückung
der großserbischen Bewegung, zur Erhaltung des Bestandes und
der Bündnisfähigkeit der Donaumonarchie. Es fragt sich zunächst,
v/eshalb Deutschland seinen Verbündeten in dieser ihn nur mittel-
bar berührenden Angelegenheit unterstützte, und ob es notwendig
war, wegen der serbischen Frage Gefahren zu laufen. Das letztere
wird von der weiteren Frage der Notwendigkeit seiner Aktion ab-
hängen. Darüber, daß Deutschland ,,im Einklang mit seinen
Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an der Seite
Österreich-Ungarns stehen werde", bestand damals weder bei der
Regierung, noch — daran sei besonders erinnert — bei der deutschen
Öffentlichkeit der geringste Zweifel. Tschirschky hat bereits
am 2. JuU erklärt, Kaiser Franz Joesph könne ,, sicher darauf
38
bauen, Deutschland geschlossen hinter der Monarchie zu finden
sobald es sich um die Verteidigung eines ihrer Lebensinteressen
handele" (Weißbuch Nr. 1 1). Was Tschirschky hier o h n e A u f
trag erklärte, war richtig, selbst im weitesten Sinne, wenn dies
auch heute mancher nicht wahr haben mag. Ebenso haben offenbar
weder der Kaiser, noch der Kanzler, noch das Auswärtige Amt
am 5. und 6. Juli irgendwie gezögert, die deutsche Unterstützung
zuzusagen. Klug und überlegt war diese Haltung wohl nicht, sie
entsprach aber jedenfalls dem Empfinden der allgemeinen Meinung
Sedann ist die Frage ^zu stellen, ob ein Vorgehen gegen
Serbien von dem Gesichtspunkte der Erhaltung Österreich-
Ungarns aus notwendig war. In Berlin und Wien hat man diese
Frage seinerzeit übereinstimmend bejaht. Daß Österreich-Ungarn
Grund und Anlaß hatte, gegen Serbien vorzugehen, ist früher auch
in anderen Ländern anerkannt worden. Zum Beispiel hat das eng-
lische Ministerium des Äußeren selbst nach Kriegsausbruch dies
nicht bestritten. Es heißt in der Einleitung zum Blaubuch: ,, Öster-
reich war provoziert. Es hatte über eine gefährliche Volksbewegung
gegen seine Regierung zu klagen." Im übrigen scheinen die rus-
sischen und serbischen Veröffentlichungen die Auffassung der
österreichisch - ungarischen Regierung zu rechtfertigen. Die En
tentemächte nehmen heute den entgegengesetzten Standpunkt
ein. Sie sind aber Partei, da sie zum Teil Anstifter Serbiens waren
während den Mittelmächten als Geschädigten ebenfalls das objek
tive Urteil mangelt. Dieses kann erst die Geschichte fällen.
Ferner fragt es sich, ob bei dem beabsichtigten Vorgehen
gegen Serbien Methoden vorgesehen wurden, die zu den damals
üblichen und erlaubten gehörten. Dies wird man an der Hand
der eben (S. 20) angeführten Beispiele kaum verneinen können.
Selbst im Rahmen des Pariser Völkerbundes ist der Krieg als Mittel
der Politik zulässig.
Schließlich und vor allem ist zu fragen, ob das Serbien gegen-
über beabsichtigte Verfahren zweckentsprechend und daher politisch
klug war. Dies muß verneint werden, und zwar nicht allein im
Hinblick auf die eingetretenen Folgen. Jedoch fehlt jeder Anhalt
für einen dolus malus der Beteiligten,
Selbst die Nolw^endigkeit und (um von der Unzweckmäßig-
keit abzusehen) die Zulässigkeit des Vorgehens gegen Serbien zu
gegeben, bleibt aber unerklärlich, weshalb die Berliner Regierung
Österreich-Ungarn ihre unbedingte Unterstützung gewährte, und
weshalb sie — trotz des zu gewärtigenden Wiener Widerstrebens —
nicht eine Kontrolle über das beabsichtigte Vorgehen ausbedungen
hat. Gewiß, der Hochmut und die Empfindlichkeit der Hofburg
kreise waren ungeheuer. Auch werden diese Wiener Herren wohl
39
geltend gemacht haben, daß sie sich auf Balkanfragen besser ver-
stünden und schon Ruhe schaffen würden, wenn man ihnen nur
freie Hand Heße. Das genügt aber nicht als Erklärung. Entweder
schenkte man in Berlin der Wiener Regierung ein unbegreifliches
und ganz unverdientes Vertrauen, oder man sah den Bundesgenossen
als so schwach an, daß sein größter Aufwand an Energie nur eben
dem gedachten Zweck genügen werde. Frühere Erfahrungen
mögen auch gelehrt haben, daß man am Ballhausplatz wohl gerne
große Worte machte, denen aber nicht die entsprechenden Taten
folgen ließ. Tatsächlich war ja auch zuerst von einer völligen
Aufteilung Serbiens die Rede (Weißbuch Nr. 18), während schließ-
lich aus eigenem Antriebe Verzicht auf Annexionen ausgesprochen
wurde — wenigstens Berlin gegenüber (Weißbuch Nr. 94). Auf
jeden Fall ist aber diese Passivität der deutschen Regierung und
die gleichmütige Aufnahme aller beunruhigenden Nachrichten
aus Wien unbedingt zu verurteilen.
4. Die Haltung der Dreiverbandsmächte
Über die Haltung der Regierungen der Dreiverbandsmächte
in der Zeit vor Überreichung des österreichisch-ungarischen Ulti-
matums ist aus naheliegenden Gründen wenig bekannt. Sie werden
die Pressemeldungen über die Untersuchung in Sarajevo verfolgt
haben und besaßen, wie bereits erwähnt, auch Berichte ihrer Wiener
Vertreter über den bevorstehenden, von aller Welt erwarteten
Schritt in Belgrad. Sie kannten aber auch, offenbar sehr viel besser
als die Berliner Regierung, die russischen Versprechungen an Serbien.
Die Alliierten und Assoziierten Mächte haben in Versailles in ihrer
Note vom 16. Juni 1919 ausdrücklich erklärt, daß das deutscher-
seits vorgelegte Anklagematerial keine für sie neuen Tatsachen
enthülle. Infolgedessen mußte sie die Zuspitzung der austro-
serbischen Beziehungen mit Sorge erfüllen, wenn sie die Erhaltung
des europäischen Friedens wünschten. War ihnen die Gelegenheit
zum Kriege als eine günstige willkommen, dann mußten sie von
vornherein die Konstellation ausnutzen, um Deutschland in eine
Falle zu locken. Der russischen Diplomatie war ihre Haltung bis
zu einem gewissen Grade durch die Beschlüsse der Petersburger
Konferenz vom 8./21. Februar 1914 vorgeschrieben. Es heißt in
dem betreffenden Protokoll: ,, Einen günstigen politischen Boden
(für die Operationen zur Besetzung der Meerengen während eines
40
europäischen Krieges) vorzubereiten, bildet gegenwärtig die Auf-
gabe der zielbewußten Arbeit des Ministeriums des Äußeren."
Es ist mehr als wahrscheinlich, daß viele russische Politiker den
Augenblick für diese Aktion gekommen sahen, als sich Österreich-
Ungarn durch sein übermäßig schroffes Vorgehen gegen Serbien
ins Unrecht setzte.
Die Ursache der Beunruhigung, die sich in England offen-
barte, ist nicht darauf zurückzuführen, daß man befürchtete, Serbien
könnte ein Unrecht geschehen. Man sah vielmehr, daß Österreich-
Ungarns Vorgehen Rußland veranlassen werde, wegen seiner ge-
heimen Versprechungen an Serbien einzuschreiten und unter nahezu
allen Umständen einzugreifen. Buchanan telegraphierte auch
bereits am 18. Juli aus Petersburg, Sasonow habe ihm unum-
wunden erklärt, ein Ultimatum Wiens an Belgrad könne Rußland
nicht hinnehmen. Es werde vielleicht (schon damals!) zu vor-
bereitenden militärischen Maßnahmen greifen müssen (Oman,
S. 18). Aus Pokrowskis Veröffentlichungen wissen wir, daß Grey
in jener Zeit wiederholt im Sinne der Mäßigung auf Sasonow ein-
zuwirken suchte, und daß er ihn besonders auf die Möglichkeit
hinweisen ließ, daß die serbische Regierung nachlässig gewesen
sei, und die Untersuchung in Sarajevo ergeben könnte, der Plan
der Ermordung des Erzherzogs sei auf serbischem Gebiete aus-
geheckt worden (Telegramm nach Petersburg vom 20. Juli, Oman,
S. 18).
In seiner Unterredung mit dem deutschen Botschafter vom
gleichen Tage (Weißbuch Nr. 92, Blaubuch Nr. 1) sprach Grey
von der Möglichkeit eines Krieges zwischen den Großmächten
als Folge des austro - serbischen Konfliktes. Er sah eben die Ge-
fahr, die in den russischen Versprechungen an Serbien lag, ohne
aber den Grund seiner Befürchtungen anzugeben. Am gleichen
Tage und dann wieder am 23. Juli (Oman, S. 19) sandte er nach
Petersburg den Rat, sich mit Wien zu verständigen.
Solche Vorschläge fielen aber nicht auf günstigen Boden.
Poincare und sein Ministerpräsident und Minister des Äußeren,
Viviani, befanden sich in Petersburg. Daß dort die russisch-fran-
zösische Haltung zum österreichisch - ungarischen Konflikt mit
Serbien erörtert wurde, geht aus der Bemerkung Poincares zu
Szapary hervor, man dürfe nicht vergessen, ,,daß Serbien Freunde
habe" und daß durch die Forderung einer Sühne für den Mord
von Sarajevo ,,eine für den Frieden gefährliche Situation ent-
stehen würde" (Rotbuch 1919, I, Nr. 45; Weißbuch Nr. 131, 134).
Über die damaligen Petersburger Unterredungen und Beschlüsse
ist nur das bekannt, was die französische Regierung im Gelbbuch
(Nr. 22) zu veröffentlichen für gut fand. Danach ist unter anderem
41
vereinbart worden, gemeinsam einen Rat zur Mäßigung in Wien
erteilen zu lassen und vor einer Bedrohung Serbiens zu warnen.
Niemals hätte ein derartiger Schritt, der keine praktischen Vor-
schläge enthielt und keine Sicherheiten anbot, die angeblich beab-
sichtigte Wirkung haben können. Er gelangte anscheinend, weil
verspätet, nicht zur Ausführung, jedoch berichtete Bunsen (am
23. Juli, siehe Oman, S. 18), daß der russische Geschäftsträger am
22. Juli beauftragt gewesen sei, freundschaftlich, aber bestimmt,
Österreich-Ungarn davor zu warnen, an Serbien eine Note zu richten,
die letzteres nicht ohne Demütigung annehmen könne. Auch der
französische Botschafter sprach an diesem Tage auf dem Ministerium
des Äußeren in Wien vor. Dieser Schritt erfolgte offenbar auf Grund
von Weisungen aus Paris und stand deshalb möglicherweise mit
dem russischen in Zusammenhang (Rotbuch 1919, I, Nr. 53, Gelb-
buch Nr. 20).
Der ,, unversöhnliche Haß Sasonows gegen Österreich-Ungarn"
und sein frühzeitiges Bestreben, die Ergebnisse der Untersuchung
in Sarajevo in Zweifel zu ziehen, waren der deutschen Regierung
aus der Berichterstattung ihres Botschafters in Petersburg (Weiß-
buch Nr. 53) bekannt. Die Erklärung des Ministers an Pourtales:
„Rußland würde einen Schritt in Belgrad, der es auf eine
Erniedrigung Serbiens absehe, nicht gleichgültig hinnehmen können",
und seine Äußerung zum italienischen Botschafter: ,, Rußland
würde es nicht dulden können, daß Österreich Serbien gegenüber
eine drohende Sprache führe oder militärische Maßnahmen treffe",
gelangten aber erst am 23. Juli nach Berlin (Weißbuch Nr. 120).
Ebenso seine Drohung: ,,La politique de la Russie est pacifique,
mais pas passive." Wie wenig passiv diese Politik gewesen ist,
zeigen die russischen Machenschaften in Belgrad. Daß sie auch
nicht friedfertig war, sollte sich bald herausstellen.
5. Serbiens Antwortnote
Von einer Untersuchung und Bewertung der serbischen Ant-
wortnote kann hier abgesehen werden, zumal 1914 die deutsche
Regierung erst spät, am 27. Juli, hierzu Gelegenheit erhielt, also
zu einer Zeit, wo die Einzelheiten der serbischen Note gegenüber
der Entwickelung cl^r Spannung zwischen Wien und Petersburg
viel an Bedeutung verloren hatten. Die Beurteilung war jedenfalls
günstig; aber es ist möglich, daß dieses Urteil weniger ein begrün-
detes als ein opportunistisches war, denn am 30. Juli fragte Beth-
mann Hollweg im Auswärtigen Amt an, ,, welche Punkte des öster-
reichisch - ungarischen Ultimatums Serbien überhaupt abgelehnt
42
habe" (Weißbuch Nr. 421, Anm. 2). Ein eingehender Ver-
gleich der Antwortnote mit dem Ultimatum ist also, falls ein
solcher deutscherseits überhaupt vorgenommen wurde, dem Reichs-
kanzler allem Anscheine nach bis dahin nicht vorgelegt worden,
Berlin hat sich wohl zunächst mit der Wiener Mitteilung vom
25. Juli: ,,in der Antwort seien mehrere Punkte unbefriedigend"
(Weißbuch Nr. 188), zufrieden gegeben und dann die österreichische
Erläuterung der Note (Rotbuch 1919, II, Nr. 96), die erst am 29. Juli
einging (Weißbuch Nr. 347), nicht weiter nachgeprüft. Ein ge-
wisses Mißtrauen gegen Wien hat aber anscheinend bestanden,
denn am 27. Juli verlangte Jagow die telegraphische Über-
mittlung des Textes der serbischen Antwort (Weißbuch
Nr. 246).
Nach Auffassung der Wiener Regierung hat Serbien weder
die gestellten Forderungen in der durch die Note vom 23. Juli
gesetzten Frist erfüllt, noch in der nachher gelassenen Zeit den
Willen bekundet, sich friedlich mit Österreich - Ungarn zu ver-
ständigen. Die Antwortnote, die am 25. Juli dem österreichisch-
ungarischen Gesandten überreicht wurde, formulierte in den
meisten Punkten Vorbehalte, welche den Wert der gemachten
Zugeständnisse wesentlich herabdrückten. Die Ablehnung betraf
aber gerade jene Punkte, welche nach österreichisch - ungarischer
Auffassung einige Garantie für die faktische Erreichung des ange-
strebten Zweckes enthielten (Rotbuch 1919, III, Nr. 25, Weiß-
buch Nr. 400).
Die Kabinette in Petersburg, Paris und London haben wieder-
holt behauptet, daß sie in Belgrad zur Nachgiebigkeit gegenüber
den österreichisch-ungarischen Forderungen geraten hätten. Ein
Beweis hierfür ist nicht erbracht; nach den veröffentlichten Doku-
menten ließe sich eher das Gegenteil annehmen.
Weder im russischen Orangebuch noch im serbischen Blau-
buch ist von irgendeinem Ratschlag die Rede, der von Petersburg
nach Belgrad gelangt wäre. Pokrowski teilt mit, daß in der Zeit
zwischen dem Mord von Sarajevo und dem 22. Juli Sasonow von
London aus wiederholt wegen der unvorsichtigen Handlungsweise
des russischen Vertreters in Belgrad gewarnt wurde. Am 22. Juli
telegraphierte Benckendorff, Grey sei besorgt, der Nachfolger
Hartwigs würde plötzlich ,,eine bestimmte Haltung annehmen",
und das würde ,,eine außerordentlich schwer gutzumachende Tat-
sache" sein (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919). Der englische Ge-
schäftsträger in Belgrad berichtete am 25. Juli, weder sein russischer
Kollege noch der französische Gesandte hätten Anweisungen ihrer
Regierungen erhalten, Serbien Ratschläge zu erteilen. Er fügt
allerdings hinzu, er halte es für „höchst wahrscheinlich", daß die
43
russische Regierung bereits die serbische zu äußerster Mäßigung
veranlaßt habe (Blaubuch Nr. 22). Ein Beweisstück für diese
Annahme liegt jedoch nicht vor. In seinem Telegramm nach Wien
vom 24. Juli (Orangebuch Nr. 4) erklärte Sasonow vielmehr, die
Mächte würden erst, im Falle sie sich von der Berechtigung ge-
wisser österreichisch - ungarischer Forderungen durch Einsicht
in die Ergebnisse der Untersuchung in Sarajevo überzeugt hätten,
in der Lage sein, der serbischen Regierung dementsprechende
Ratschläge zu erteilen. Am 25. Juli bemerkte er zu Greys Vorschlag
der Erteilung bedingter Ratschläge in Belgrad (Blaubuch Nr. 12),
es sei hierzu zu spät (Blaubuch Nr. 17). Hieraus geht ebenfalls
hervor, daß Petersburg nicht im Sinne der Mäßigung auf Belgrad
eingewirkt hatte. (Das Gegenteil behauptete freilich Grey nach
Weißbuch Nr. 258, Schebeko nach Blaubuch Nr. 118 und Bienvenu
Martin in Gelbbuch Nr. 36 und 61, ohne aber Belege zu erbringen.)
Nach einem Bericht des belgischen Geschäftsträgers in Petersburg
vom 26. Juli 1914 (Nr, 782/396) hätte Sasonow der serbischen
Regierung nahegelegt, „jenen Forderungen des Ultimatums, welche
rechtlicher Art seien, nachzukommen, während ihr zu verstehen
gegeben wurde, daß jene Forderungen, welche durch ihren poli-
tischen Inhalt die Souveränität und Unabhängigkeit der Nation
berührten, nicht den Gegenstand einer Kapitulation bilden dürften".
(Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. 5. 1919.) Eine zur Unnach-
giebigkeit neigende Regierung mußte in diesem Ratschlag die
Aufforderung sehen, die österreichisch - ungarischen Forderungen
abzulehnen.
Der serbische Gesandte in Petersburg hat in der ,,Nowoje
Wremja" vom 23. Dezember 1914 mitgeteilt, Sasonow habe am
24. Juli ,, große Entschlossenheit" an den Tag gelegt und ihm gesagt,
daß Rußland in keinem Fall aggressive Handlungen Österreichs
gegen Serbien zulassen könne. Er — Sasonow — habe Pourtales
erklärt (was aber nicht zutrifft, vgl. Weißbuch Nr. 160, 204), daß
ein Überfall auf Serbien die größten Lebensinteressen Rußlands
berühre, und deshalb die russische Regierung gezwungen sein
werde, diejenigen Maßregeln zu ergreifen, die sie im gegebenen
Moment für notwendig befinden werde (Norddeutsche All-
gemeine Zeitung vom 3. Januar 1915). Eine derartige Erklärung,
die in Belgrad natürlich mit den früheren Hinweisen auf einen
kommenden Krieg mit Österreich - Ungarn in Verbindung gebracht
wurde, muß als Gegenteil einer Aufforderung zur Nachgiebigkeit
angesehen werden. Überdies hat der griechische Gesandte in
Belgrad am 25. Juli berichtet, es sei der dortigen Regierung be-
kannt, daß der Ministerrat in Petersburg die militärische Unter-
stützung Serbiens beschlossen habe, daß aber die Entscheidung
des Zaren noch ausstehe (Griechisches Weißbuch 1913-1917
Nr. 12).
44
Die französische Regierung riet Serbien nicht zum Nach-
geben, sondern zu versuchen, Zeit zu gewinnen, Einwände zu er-
heben und sich dem direkten Eingriff Österreich-Ungarns dadurch
zu entziehen, daß es sich bereit erklärte, sich einem Schiedsgericht
Europas zu unterwerfen (Gelbbuch Nr. 26).
Grey wies den englischen Geschäftsträger in Belgrad an, der
serbischen Regierung den Rat zu geben, ,, Teilnahme und Bedauern"
darüber auszusprechen, daß serbische Beamte an dem Morde von
Sarajevo mitschuldig seien. Sie sollte ,, versprechen", vollste Ge-
nugtuung zu geben, aber im übrigen müsse sie so antworten, wie sie
es im serbischen Interesse für das beste halte (Blaubuch Nr. 12;
siehe den richtiggestellten Wortlaut bei Oman, S. 40). Der Ge-
schäftsträger nahm davon Abstand, selbst diesen sehr bedingten
Rat zum Einlenken zu erteilen, da seine Dreiverbandskollegen ohne
Instruktionen waren (Blaubuch Nr. 22).
Die österreichisch - ungarische Regierung hat die serbische
Antwortnote als ungenügend erachtet und die diplomatischen
Beziehungen zu Serbien noch am 25. Juli abgebrochen. Eine
Kriegserklärung erfolgte zunächst nicht, obwohl Serbien dadurch,
daß es bereits vor Überreichung der Antwortnote mobilisierte
(Weißbuch Nr. 158, Rotbuch 1919, II, Nr. 26), zeigte, welches
seine künftige Haltung sein werde. Diese Mobilmachung verriet
auch, daß die serbische Regierung selbst in ihrer Antwort keine
Erfüllung der österreichisch - ungarischen Forderungen sah, und
,,daß in Belgrad zu einer friedlichen Austragung der Sache keine
Neigung bestand". (Rotbuch 1919, II, Nr. 57.)
Die deutsche Regierung ist nicht in der Lage gewesen, zur
österreichisch - ungarischen Beurteilung der serbischen Antwort
Stellung zu nehmen, da letztere erst am 27. Juli zu ihrer Kenntnis
gelangte (Weißbuch Nr. 271), die Gründe für die Ablehnung Wiens
sogar erst am 29. Juli (Weißbuch Nr. 347). Berlin hat offenbar
ein Einlenken Serbiens gar nicht erwartet und deswegen mit einer
militärischen Aktion, die von vornherein als wahrscheinlich an-
genommen worden war, gerechnet. Von diesen Gesichtspunkten
ausgehend, ließ man deutscherseits am 25. Juli den Rat nach .Wien
gelangen, im Falle einer ablehnenden Antwort Serbiens die^>kriege-
rischen Operationen sofort zu beginnen und die Welt vor ein fait
accompli zu stellen, um so der Einmischung dritter Mächte vor-
zubeugen (Rotbuch 1919, II, Nr. 32, Weißbuch Nr. 213). In ähn-
lichem Sinne hatte sich Tisza bereits am 24. Juli ausgesprochen
(Rotbuch 1919, II, Nr. 21). Vom Standpunkt des Wiener und
Berliner Kabinetts erschien es notwendig, Serbien einen Denkzettel
zu geben, um der fortwährenden Beunruhigung ein Ende zu machen.
Die Einmischung der Mächte brachte die Gefahr, daß Serbien
45
wieder, wie im Jahre 1909, unter dem Drucke Europas leere Ver-
sprechungen abgab. An diese hätte es sich noch weniger gehalten,
als an die früheren, wenn es aus jener gefährlichen Lage durch
seine Freunde „errettet" worden wäre. Im Rahmen der damals
befolgten Politik erscheint der deutsche Vorschlag als ein durch-
aus vernünftiger. Hätte Österreich- Ungarn, wie viele erwarteten,
sogleich nach Abbruch der Beziehungen zu Serbien Belgrad besetzt,
so würden die Ereignisse wohl einen ganz anderen Verlauf ge-
nommen haben. Rußland hätte nicht durch den Druck seiner
Mobilmachung den Schwerpunkt der Geschehnisse so frühzeitig
nach Petersburg verlegen können. Im Besitz eines Faustpfandes
wäre Wien sicherlich viel eher bereit gewesen, den Vermittlungs-
vorschlägen der Mächte, auch Rußlands, Gehör zu schenken. Für
die deutsche Regierung wäre es dann auch ungleich leichter ge-
wesen, mit Rücksicht auf die allgemeine Lage Einstellung der Opera-
tionen zu fordern. Der Gedanke einer Erledigung des Konfliktes
durch einen militärischen Anfangserfolg lag so nahe, daß damals
sogar russischerseits die Frage einer freiwilligen Räumung Belgrads
durch die Serben erörtert worden ist (Weißbuch Nr. 345, Blau-
buch Nr. 56).
Die militärischen Vorbedingungen zu einem derartigen raschen
Vorgehen waren jedoch nicht gegeben. Als Termin für einen
österreichisch - ungarischen Vormarsch kam erst der 12. August
in Frage (Weißbuch Nr. 213). Die Wiener Regierung hat dann
in unabsichtlicher oder bewußter Verkennung des Sinnes der
deutscherseits gemachten Anregung versucht, durch die
Kriegserklärung an Serbien ein fait accompli zu schaffen
und „jedem Interventionsversuch den Boden zu entziehen" (Weiß-
buch Nr. 257). Dieses Vorgehen war das denkbar verkehrteste.
Es provozierte geradezu die Intervention Rußlands, während es
die Lage im Hinblick auf die Vermittlungsabsichten der anderen
Mächte sehr viel schwieriger gestaltete. Wurde Serbien nach
erfolgter Kriegserklärung und ohne eine ,, Lektion" erhalten zu
haben, von seinen Freunden „gerettet", dann konnte es mit Recht
glauben, sich künftig Österreich - Ungarn gegenüber alles heraus-
nehmen zu dürfen. Die Wiener Regierung hat also selbst die
Zwangslage geschaffen, in der sie sich am Wendepunkt des 30. Juli
befand und nicht nachgeben konnte, ohne wesentUchen Schaden
an ihrer innerpolitischen und außenpolitischen Geltung zu erleiden.
Mit Befremden entnimmt man ferner den österreichisch-unga-
rischen Akten (Rotbuch 1919, II, Nr. 78, 97, III, Nr. 26),
daß überdies unwahre Nachrichten über die Eröffnung der Feind-
seligkeiten durch Serbien als Vorwand zur Kriegserklärung
dienten.
46
Die Berliner Regierung wäre wohl kaum in d^r L^g3 g3W333n,
die Kriegserklärung, die ihr bereits am 27. Juli ang3kiifiiigt wjrde
(Weißbuch Nr. 257), zu verhindern, selbst w^nn sie das Fehbrhafte
des Wiener Vorgehens rechtzeitig erkannte, denn sie mj3t3 an-
nehmen, daß Österreich-Ungarn die Bitte, von dieser papierenen
Kriegserklärung abzusehen, mit deren Möglichkeit von Anfang
an gerechnet worden war, ablehnen und D3utschland für sich die
aus einem derartigen Schritte ergebenden politischen Nachteile
sicherlich verantwortlich machen würde.
III. Das Verhalten der Mächte
1. Der deutsche Lokalisierungsvorschlag
A. Die deutsche Auffassung
Die deutsche Regierung ist offenbar der Ansicht gewesen,
daß auch im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen
Österreich-Ungarn und Serbien die Möglichkeit einer Gefährdung
des europäischen Friedens durch Lokalisierung des Konfliktes
ausgeschlossen werden könne. Bei einem österreichisch-serbischen
Krieg ließen sich die Rechte und legitimen Interessen dritter
Staaten auf dem Wege diplomatischer Verhandlungen wahren,
wenn nur ein direktes Eingreifen in den österreichisch-serbischen
Streit unterblieb. Der Gang der Ereignisse hat dieser Auffassung
insofern recht gegeben, als. durch die vermittelnde Tätigkeit der
deutschen Regierung die Grundlage für eine Verständigung ge-
funden wurde, die alle Beteiligten befriedigen konnte. Lediglich
ciie Haltung der russischen Regierung, die ohne jegliche Provo-
kation deutscherseits Heer und Flotte gegen das die Vermittlung
betreibende Deutsche Reich mobilisierte, hat die Möglichkeit ver-
nichtet, einen Ausgleich zu schaffen.
Andererseits war es von vornherein klar, daß jed33 Eingreifen
dritter Mächte infolge der verschiedenen Bündnispflichten unab-
sehbare Folgen nach sich ziehen würde. Die deutsche Regierung
wies daher, noch ehe sie den Wortlaut des österreichisch-ungarischen
Ultimatums kannte, ihre Botschafter an, bei den Regierungen der
Dreiverbandsmächte zu erklären, daß es das ernste Bestreben der
Mächte sein müsse, den ausbrechenden Konflikt auf die beiden
direkt Beteiligten zu beschränken, da es sich in der vorliegenden
Frage um eine lediglich zwischen Österreich-Ungarn und Serbien
zum Austrag zu bringende Angelegenheit handele (Weißbuch
Nr. 100).
47
Es sei daran erinnert, daß die französische Regierung, die über
die Entstehung des Balkanbundes und seine Ziele genau unter-
richtet war, zu Anfang des ersten Balkankrieges eine sicherlich
mit Petersburg vereinbarte Formel für eine allseitige Desinter-
essementserklärung vorschlug. Dies entspricht dem deutschen
Lokalisierungsvorschlag, der gegen Rußland gerichtet war, ebenso
wie die französische Formel von 1912 sich gegen Österreich-
Ungarn richtete.
B. Aufnahme in Frankreich
Der deutsche Lokalisierungsvorschlag fand in Paris zunächst
eine freundliche Aufnahme. Der deutsche Botschafter konnte
am 24. Juli berichten:
„Der den Ministerpräsidenten vertretende Justizminister, bei dem ich
mich im Sinne Erlasses 918 aussprach, war sichtlich erleichtert von unserer
Auffassung, daß österreichisch-serbischer Konflikt lediglich zwischen den
beiden Beteiligten zum Austrag zu bringen. Französische Regierung teile
aufrichtig Wunsch, daß Konflikt lokalisiert bleibe, und werde sich in diesem
Sinne im Interesse der Erhaltung des europäischen Friedens bemühen. Sie
verhehle sich dabei freilich nicht, daß es einer Macht wie Rußland, die mit
panslawistischer Strömung zu rechnen habe, nicht leicht fallen könnte, sich
vollständig zu desinteressieren, namentlich dann, wenn Österreich-Ungarn
auf sofortige Erfüllung aller Forderungen bestehen sollte, auch solchen, welche
mit serbischer Souveränität schwer vereinbar oder materiell nicht sogleich
ausführbar..." (Weißbuch Nr. 154).
Die Anhänger einer Einmischungspolitik am Quai d'Orsay
haben es aber nicht bei der verständigen Auffassung des stellver-
tretenden Ministers des Äußeren, Bienvenu-Martin, bewenden
lassen. Das Gelbbuch (Nr. 28) gibt bereits eine Darstellung der
Unterredung des Botschafters mit dem Minister, die von der
Schoens nicht unwesentlich abweicht. Das französische Ministe-
rium des Äußeren glaubte damals anscheinend, der deutsche Loka-
lisierungsvorschlag sei allein in Paris unterbreitet worden, und
legte ihn als Drohung gegen Frankreich aus (Orangebuch Nr. 29).
Diese Auffassung teilte es der Presse mit. Am 25. Juli früh brachte
der „Echo de Paris" eine in diesem Sinne entstellte Wiedergabe
der Erklärung des deutschen Botschafters; andere Blätter haben
sich diese Darstellung ebenfalls zu eigen gemacht.' Die Schritte,
die Schoen unternahm, um diese irrige Auffassung richtig zu
stellen, haben im Gelbbuch (Nr. 36, ebenso Orangebuch Nr. 19)
eine gehässige und offensichtlich tendenziös entstellte Auslegung
erfahren.
48
C. Aufnahme in England
Der deutsche Lokalisierungsvorschlag entsprach insofern der
damaligen Auffassung der englischen Regierung, als diese wieder-
holt erklärte, sich in den österreichisch-serbischen Streit nicht
einmischen und nur im Falle eines österreichisch-russischen Kon-
fliktes eingreifen zu wollen. Am 24. Juli sagte Grey dem deutschen
Botschafter: ,,wenn das österreichische Ultimatum an Serbien
nicht zu Schwierigkeiten zwischen Österreich und Rußland führe,
hätte er nichts damit zu tun". (Blaubuch Nr. 11, Weißbuch
Nr. 157.) Ebenso sagte er am 25. Juli, daß er „kein Recht habe,
sich zwischen Österreich und Serbien einzumischen" (Blaubuch
Nr. 25), da dieser Streit ,,ihn nichts angehe" (Weißbuch Nr. 180),
Die englische Regierung ist jedoch nicht bei dieser Auffassung
verblieben. Sie hat sie aus bisher unbekannten Gründen am
26. Juli aufgegeben. Aus dem englischen Blaubuch (Nr. 10) geht
aber hervor, daß der französische Botschafter bereits am 24. Juli
versuchte, Grey zu einer Intervention in Wien zu bewegen.
D. A u f n ah m e i n R u ß 1 a n d
Die russische Regierung stellte sich von vornherein auf einen
dem deutschen entgegengesetzten Standpunkt. Sie hat, offenbar
in dem fünfstündigen Ministerrat vom 24. Juli nachmittags, also
noch vor der Mitteilung des deutschen Lokalisierungsvorschlages,
die Einmischung in den austro-serbischen Konflikt beschlossen.
Ein amtliches Kommunique vom 24. Juli abends besagte, ,,die
Regierung verfolge aufs aufmerksamste den Verlauf des öster-
reichisch-serbischen Konfliktes, dem Rußland nicht gleichgültig
gegenüberstehen könne". (Rotbuch 1914, Nr. 15, Orangebuch
Nr. 10.) Die russische Einmischungspolitik sollte durch mili-
tärischen Druck unterstützt werden. In dem vorerwähnten
Ministerrat hat ,,der Kriegsminister (Suchomlinow) sehr energisch
gesprochen und bestätigt, daß Rußland zum Kriege bereit sei,
und die übrigen Minister haben sich voll angeschlossen; es wurde
in entsprechendem Geist ein Bericht an den Zaren fertiggestellt,
und dieser Bericht wurde an demselben Abend bestätigt". (Schrei-
ben des Adjutanten eines Großfürsten vom 25. Juli 1914, Akten-
stücke zum Kriegsausbruch, 1915, S. 57. Vgl. auch Weißbuch
Nr. 205.)
Bereits am 25. Juli wurden umfassende militärische Maß-
nahmen gegen Österreich-Ungarn angeordnet (Telegramm des
Zaren an den Kaiser vom 30. Juli, Weißbuch Nr. 390). Diese
Haltung entsprach, wie das Gelbbuch (Nr. 22) zeigt, der bereits
49
vor Überreichung der österreichisch-ungarischen Note zwischen
Rußland und Frankreich vereinbarten EinmischungspoHtik. Diese
wiederum hat, wie die serbischen Enthüllungen ergeben, ihre
Ursache in den russischerseits Serbien seit Jahren gemachten
Zusicherungen hinsichtlich einer dereinst zu gewährenden Unter-
stützung gegen Österreich-Ungarn und des Erwerbs österreichisch-
ungarischer Gebietsteile.
2. Rußlands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
A. Aufnahme der ös t e r r e i c h i s c h - u n ga r i s c h e n
Note in Petersburg
Die am 24. Juli in Petersburg bekannt gewordenen öster-
reichisch-ungarischen Forderungen an Serbien riefen bei der
dortigen Regierung eine außerordentliche Erregung hervor (Weiß-
buch Nr. 160, 204, 291). Allem Anschein nach wurde angenommen,
daß Österreich-Ungarn machtpolitische Ziele auf dem Balkan
verfolge. Es ist in Petersburg von einer Revision des Bukarester
Friedens, von einer Besetzung des Sandschak, einem Vormarsch
auf Saloniki oder Konstantinopel und ähnlichem die Rede ge-
wesen (Rotbuch 1919, II, Nr. 73). Sasonow sprach am 24. Juli
zu Pourtales von den weitgehenden Plänen, die Österreich-Ungarn
habe: ,,Erst solle Serbien verspeist werden, dann werde Bulgarien
darankommen, und dann werden wir sie am Schwarzen Meer
haben". (Weißbuch Nr. 204.)
Rußland war von Anfang an bereit, Krieg zu führen, um seinen
Anspruch durchzusetzen, die Art der Regelung des austro-serbischen
Konfliktes selbst zu bestimmen. Am 24. Juli früh erklärte Sasonow
dem englischen Botschafter, daß Krieg drohe. Die russische
Mobilmachung werde auf jeden Fall ausgeführt werden müssen
(Blaubuch Nr. 6). Der Ministerrat, der am 24. Juli nachmittags
tagte, befaßte sich in erster Linie mit der Frage, ob die innere
Lage Rußland den Krieg gestatte. Diese Frage wurde anscheinend
bejaht (Weißbuch Nr. 205). Am 25. Juli fand ein Kronrat statt,
in dem (nach Gelbbuch Nr. 50) die Mobilmachung von 13 Armee-
korps gegen Österreich-Ungarn ,,ins Auge gefaßt" wurde. Der
Schönfärber Paleologue berichtete hierüber: „Diese Mobilisation
würde jedoch nur ausgeführt, wenn Österreich Serbien mit Waffen-
gewalt zwingen wollte, und nur nach Einholung der Ansicht des
Ministers des Äußern, dem die Aufgabe zufällt, das Datum fest-
zusetzen, wobei ihm freistehe, die Verhandlungen selbst in dem
Falle fortzuführen, daß Belgrad besetzt würde."
50
P^ Tatsächlich ist jedoch diese TeilmobiUsation bereits am
25. JuH in die Wege geleitet worden. Der Zar telegraphierte am
30. Juli, also nach Bekanntgabe der Mobilmachung gegen Öster-
reich-Ungarn, an den Kaiser: ,,Die militärischen Maßnahmen,
die jetzt in Kraft getreten sind, wurden vor fünf Tagen zum Zwecke
der Verteidigung wegen der Vorbereitung Österreichs (gegen Ser-
bien!) getroffen." (Weißbuch Nr. 390.) Im Anschluß an den
Kronrat vom 25. Juli wurden die Truppenübungen abgebrochen,
die Manöver abgesagt und die Kriegsschüler vorzeitig zu Offizieren
befördert (Weißbuch Nr. 194, 291), Maßnahmen, die die Bedeutung
der getroffenen Entscheidungen kennzeichneten.
Hierbei ist besonders hervorzuheben, daß spätestens im Laufe
des 25. Juli das im Orangebuch nicht wiedergegebene Telegramm
des russischen Geschäftsträgers in Wien über seine Unterredung
mit Berchtold vom 24. Juli eingegangen sein muß, in der ihm
der Minister erklärte, das Ziel der österreichisch-ungarischen
Aktion bestehe darin, die unhaltbare Situation Serbiens zu Öster-
reich-Ungarn zu klären und zu diesem Zwecke die serbische Re-
gierung zu veranlassen, einerseits die gegen den derzeitigen Bestand
der Monarchie gerichteten Strömungen öffentlich zu desavouieren
und durch administrative Maßnahmen zu unterdrücken, anderer-
seits Österreich-Ungarn die Möglichkeit zu bieten, sich von der
gewissenhaften Durchführung dieser Maßnahmen Rechenschaft
zu geben. Österreich-Ungarn bezwecke keine Gebietserwerbung,
sondern lediglich die Erhaltung des Bestehenden (Rotbuch 1919,
II, Nr. 23). Darin, daß Berchtold mit dieser Erklärung die Initia-
tive ergriff, lag ein bedeutendes Entgegenkommen. Der Umstand,
daß allein Rußland gegenüber die Demarche in Belgrad in dieser
Weise erläutert wurde, zeigte, daß die Wiener Regierung bereit
war, auf das besondere Verhältnis Serbiens zu Rußland Rücksicht
zu nehmen. Trotz dieses Entgegenkommens und der Erklärung
über die Wiener Absichten ergriff jedoch Rußland am 25. Juli
weitgehende militärische Maßnahmen gegen Österreich-Ungarn.
B, Der russische Europäisierungsvorschlag
Die russische Regierung richtete am 24. Juli das Ersuchen
nach Wien, die Serbien gestellte Frist zu verlängern und den
Mächten Gelegenheit zu geben, nach Prüfung der Untersuchungs-
ergebnisse von Sarajevo ihrerseits der serbischen Regierung
Ratschläge zu erteilen (Orangebuch Nr. 4). Die englische, deutsche,
italienische und französische Regierung wurden gleichzeitig ge-
beten, den russischen Vorschlag in Wien zu unterstützen (Orange-
buch Nr. 5).
Trotzdem sie sich grundsätzlich auf den Standpunkt der
Nichteinmischung gestellt hatte, erklärte sich die deutsche Re-
gierung am 25. Juli bereit, den russischen Wunsch nach Frist-
verlängerung nach Wien weiterzugeben, ebenso wie sie dies mit
einem analogen englischen Vorschlag (Blaubuch Nr. 11, Weiß-
buch Nr. 157) bereits getan hatte (Orangebuch Nr. 14). Die Mit-
teilung unterblieb jedoch, anscheinend, weil inzwischen die Meldung
einging, daß die österreichisch-ungarische Regierung diese russische
Forderung abgelehnt habe (Weißbuch Nr, 178). Die englische,
französische und italienische Regierung sandten ihren Botschaftern
in Wien entsprechende Instruktionen (Blaubuch Nr. 26, Gelbbuch
Nr. 39 und 44). Diese Weisungen gelangten jedoch nicht zur
Ausführung (Blaubuch Nr. 40, Gelbbuch Nr. 48).
Das Wiener Kabinett lehnte das russische Ersuchen am
25. JuH ab (Rotbuch 1919, II, Nr. 27, 29, 30, Orangebuch Nr. 11,
12), da ,,die von Rußland verlangte Verlängerung der Serbien zur
Antwort auf die österreichisch-ungarischen Forderungen gestellten
Frist der Belgrader Regierung die Möglichkeit zu neuen Winkel-
zügen und zur Verschleppung geboten und der Einmischung
einzelner Mächte zu ihrem Gunsten Tür und Tor geöffnet hätte".
(Rotbuch 1914, Einleitung.) Gleichzeitig wurde jedoch dem russi-
schen Geschäftsträger eröffnet, daß Serbien auch nach Abbruch
der diplomatischen Beziehungen durch uneingeschränkte Annahme
der österreichisch-ungarischen Forderungen eine friedliche Lösung
herbeiführen könne (Rotbuch 1919, II, Nr. 27).
C. Die Gefahren der russischen Haltung
Angesichts der militärischen Maßnahmen Rußlands wies die
deutsche Regierung die Kabinette in London, Paris und Peters-
burg auf die Erklärung der österreichisch-ungarischen Regierung
hin, daß sie keinen territorialen Gewinn in Serbien beabsichtige,
den Bestand des Königreichs nicht antasten, sondern nur Ruhe
schaffen wolle. Die englische und die französische Regierung
wurden an die Gefahren erinnert, die eine russische Mobilmachung
für den Frieden Europas bedeutete, und gebeten, in Petersburg
einen mäßigenden und beruhigenden Einfluß auszuüben. Ruß-
land gegenüber erklärte sich die deutsche Regierung bereit, den
russischen Wunsch, daß der Bestand des serbischen Königreichs
nicht angetastet werde, zu unterstützen, und betonte zugleich,
daß eine Mobilisierung der russischen Armee unausbleiblich einen
europäischen Krieg zur Folge haben müsse (Weißbuch Nr. 198,
199, 200, 219).
4*
52
Dieser Schritt der deutschen Regierung begegnete in London
keinem Entgegenkommen. Die enghsche Regierung war inzwischen
von ihrem ursprüngHchen Standpunkt der Nichteinmischung
abgegangen und wünschte, die Regelung des österreichisch-serbi-
schen Konfliktes im Wege einer Botschafterkonferenz in London
herbeizuführen. Das einzige bekannte Telegramm, das Grey
am 26. und 27. Juli nach Petersburg richtete (Blaubuch Nr. 47),
enthält keinerlei Rat zur Mäßigung (siehe auch Weißbuch Nr. 218,
236).
In Paris fand dagegen der deutsche Vorschlag zunächst eine
günstige Aufnahme. Der deutsche Botschafter meldete unter
dem 26. Juli:
„Der stellvertretende Minister der auswärtigen Angelegenheiten ver-
sicherte mir, daß unser Appell an Solidarität des Bestrebens um Friedens-
erhaltung hier ungemein wohltuend berühre und gebührend beachtet werde.
Er für seine Person sei gern bereit, in Petersburg beruhigend einwirken zu
lassen, nachdem durch österreichisch-ungarische Versicherung, daß keine
Annexion beabsichtigt, Vorbedingung geschaffen sei. Er könne mir aller-
dings noch nicht förmliche Erklärung namens der französischen Regierung
über Modus der Einwirkung geben, da er zunächst mit abwesendem Minister-
präsidenten ins Benehmen treten müsse..." (Weißbuch Nr. 235).
Diese günstige Aufnahme verwandelte sich jedoch nachträg-
lich in ihr Gegenteil. Der Schritt des deutschen Botschafters ist,
ebenso wie der vom 24. Juli, im Gelbbuch (Nr. 56 und besonders
Nr. 57, 61, 62) entstellt wiedergegeben und verdächtigt worden.
Die französische Regierung gab vor, der deutsche Vorschlag
gemeinsamer Tätigkeit zur Erhaltung des Friedens sei ein Ver-
such, Frankreich einzuschüchtern (Orangebuch Nr. 29), Frank-
reich und Rußland zu veruneinigen und Rußland dadurch bloß-
zustellen, daß die französische Regierung zu Vorstellungen in Peters-
burg verleitet würde (Orangebuch Nr, 35).
In Petersburg hatten die deutschen Mahnungen anscheinend
Erfolg. Sasonow versicherte den deutschen Botschafter seiner
Friedensliebe :
„Minister bat mich, Euerer Exzellenz für beide Mitteilungen, die einen
sehr guten Eindruck machten, zu danken und dabei zu versichern, daß der
Appell an unsere altbewährten guten Beziehungen warmen Widerhall bei ihm
findet und ihn tief rührt. Euere Exzellenz könnten versichert sein, daß Ruß-
land das Vertrauen in seine Friedensliebe nicht täuschen werde. Er sei bereit,
in seinem Entgegenkommen gegen Österreich bis zur Grenze zu gehen und
alle Mittel zu erschöpfen, um Krisis friedlicher Lösung entgegenzuführen."
(Weißbuch Nr. 282.)
Die russischen Kriegsvorbereitungen wurden aber, wie sich
bald herausstellen sollte, unverändert fortgesetzt. Am 27. und
28. Juli liefen zahlreiche Meldungen über Mobilmachungsmaß-
nahmen in allen Teilen Rußlands ein. Sogar in Kowno wurde der
Kriegszustand erklärt (Weißbuch Nr. 264).
53
3. Englands Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
Die englische Regierung faßte von vornherein die MögHchkeit
ins Auge, daß ein Konflikt der Mächte aus dem österreichisch-
serbischen Streit hervorgehen könne. Während sie sich auf den
Standpunkt stellte, sich in den letzteren nicht einmischen zu
wollen, machte sie frühzeitig Vorschläge, um die Gefahr einer
Ausdehnung dieses Konfliktes zu vermindern und für den Fall
einer österreichisch-russischen Spannung eine Vermittlung der
Mächte herbeizuführen. Am 24. Juli erklärte Grey, falls das
österreichisch-ungarische Ultimatum zu keinem Zwist zwischen
Österreich-Ungarn und Rußland führe, so habe er nichts damit
zu tun. Für den anderen Fall aber regte er an, daß eine Ver-
mittlung der vier Mächte Deutschland, England,
Frankreich und Italien im Sinne einer Mäßigung zugleich in Wien
und Petersburg stattfinden solle. Grey bat ferner, im Sinne einer
Fristverlängerung in Wien vorstellig zu werden, d. h. um Ein-
wirkung auf Österreich-Ungarn, daß es seine mili-
tärischen Maßnahmen gegen Serbien nicht über-
stürze, damit Zeit gewonnen werde (Weißbuch Nr. 157, Blau-
buch Nr. 11). Dieser Doppelvorschlag lag am 25. Juli in Berlin
vor. Er wurde unverzüglich nach Wien weitergegeben (Weiß-
buch Nr. 171) und zugleich Lichnowsky mitgeteilt, daß der Vor-
schlag auf Fristverlängerung wenig Aussicht auf Annahme habe
(Weißbuch Nr. 164). Der Vorschlag einer Vermittlung der vier
Mächte zwischen Wien und Petersburg wurde deutscherseits
angenommen. Jagow erklärte sofort dem englischen Geschäfts-
träger, ,,wenn die Beziehungen zwischen Österreich und Rußland
drohend würden, sei er durchaus bereit, auf Greys Vorschlag der
Zusammenarbeit der vier Mächte zugunsten von Mäßigung in Wien
und Petersburg einzugehen". (Blaubuch Nr. 18.)
Eine Antwort aus Wien erfolgte nicht. Unabhängig von diesen
englischen Vorschlägen ließ jedoch die österreichisch-ungarische
Regierung am 24. Juli in London erklären, sie beabsichtige nicht,
sofort nach Ablauf des Ultimatums militärisch gegen Serbien
vorzugehen (Rotbuch 1919, II, Nr. 13, Blaubuch Nr. 14). Damit
war bereits dem ersten Teil des Vorschlages Greys Rechnung ge-
tragen (vgl. Weißbuch Nr. 180). Eine englische Demarche in
Wien im Sinne von Weißbuch Nr. 157, Blaubuch Nr. 11 ist an-
scheinend nicht erfolgt.
Am 25. Juli erweiterte Grey in Weisungen nach Petersburg,
Berlin und Wien seinen Vermittlungsvorschlag dahin, daß die
vier Mächte, wenn es zu einer Mobilmachung der russischen
und österreichisch-ungarischen Streitkräfte käme, gemeinsam
54
Rußland und Ö s t e r r e i c h - U n g a r n bitten soll-
ten, die Grenze nicht zu überschreiten, und
den Mächten Zeit zu geben zwischen ihnen zu vermitteln (Blau-
buch Nr. 24, 25, 26, Orangebuch Nr. 22). Diesen erweiterten
Vorschlag teilte er ebenfalls Lichnowsky mit (Weißbuch Nr. 180).
Die deutsche Regierung antwortete hierauf am gleichen Tage,
sie sei, falls ein österreichisch-russischer Streit entstehen sollte,
bereit, vorbehaltlich ihrer bekannten Bündnispflichten, zwischen
Österreich und Rußland mit den anderen Großmächten zusammen
eine Vermittlung eintreten zu lassen (Weißbuch Nr. 192). Die
Annahme dieser beiden Vermittlungsvorschläge seitens der deut-
schen Regierung bedeutete ein größeres Entgegenkommen, weil
hierin eine ausgesprochene Rücksichtnahme auf Rußlands Sonder-
stellung in bezug auf Serbien und seine besonderen Balkaninter-
essen lag. Sie bildete ferner die Grundlage für eine gemeinsame
deutsch-englische Tätigkeit im Sinne der Erhaltung des euro-
päischen Friedens.
Am 25. Juli trat Grey mit einer weiteren Anregung hervor:
Deutschland möge auf Wien einwirken, damit die (weder in London
noch in Berlin bekannte) serbische Antwort als be-
friedigend angesehen werde (Weißbuch Nr. 186). Die
Minister unternahmen diesen Schritt auf Grund eines Telegramms
des englischen Geschäftsträgers in Belgrad vom gleichen Tage
(Blaubuch Nr. 21, Weißbuch Nr. 191a), das, wie sich herausstellen
sollte, den Inhalt der serbischen Note wenig zutreffend wiedergab.
Auch diese Anregung wurde noch in der Nacht zum 26. Juli von
Berlin nach Wien weitergegeben, war jedoch von den Ereignissen
überholt, als sie dort eintraf.
Auf diesen Vorschlag muß sich die Äußerung Jagows gemäß
dem Telegramm Szögyenys vom 27. Juli (Rotbuch I9l9, II,
Nr. 68) beziehen :
„So sei bereits gestern die englische Regierung durch den deutschen Bot-
schafter in London und direl<t durch ihren hiesigen Vertreter an ihn, Staats-
sekretär, herangetreten, um ihn zu veranlassen, den Wunsch Englands betreffs
unserseitiger Milderung der Note an Serbien zu unterstützen. Er, Jagow,
habe darauf geantwortet, er wolle wohl Sir E. Greys Wunsch erfüllen, Eng-
lands Begehren an Euer Exzellenz weiterzuleiten; er selbst könne dasselbe
aber nicht unterstützen, da der serbische Konflikt eine Prestigefrage der öster-
reichisch-ungarischen Monarchie sei, an der auch Deutschland partizipiere.
Er, Staatssekretär, habe daher. die Note Sir E. Greys an Herrn von
Tschirschky weitergegeben, ohne ihm aber Auftrag zu erteilen, dieselbe Euer
Exzellenz vorzulegen; darauf hätte er dann dem englischen Kabinett Mit-
teilung machen können, daß er den englischen Wunsch nicht direkt ablehne
sondern sogar nach Wien weitergegeben habe."
55
Offenbar hat der englische Geschäftsträger auf Grund des
Telegramms Greys vom 25. Juli (Blaubuch Nr. 27, die Annahme
der serbischen Antwort betreffend) einen Schritt beim Auswärtigen
Amt unternommen, über dessen Erfolg sein Telegramm vom 26. Juli
(Blaubuch Nr. 34) berichtet. Die Art der Weitergabe der englischen
Anregung nach Wien läßt sich aus der Anmerkung zu Nr. 186 des
Weißbuches nicht erkennen. Aus dem Rotbuch 1919 (II, Nr. 57)
geht aber hervor, daß der deutsche Botschafter in Wien den Wunsch
Greys dort zur Sprache gebracht hat. Worin also die von Szögyeny
gemeldete Irreführung Englands bestehen soll, ist nicht ersichtlich.
Der 26. Juli war ein Sonntag und infolgedessen ,, niemand
im Foreign Office zu sprechen" (Weißbuch Nr. 218). Trotzdem
fand an diesem Tage ein völliger Umschwung der Haltung der
englischen Regierung, d. h. Greys, statt. Was an diesem Tage
in London vor sich ging, wird wohl ewig Geheimnis bleiben. Be-
zeichnend ist, daß das englische Blaubuch kein Telegramm nach
Petersburg und, außer Nr. 36, den Vorschlag einer Botschafter-
konferenz, der weiter unten zu behandeln ist, nur ein Telegramm
(Nr. 37) nach Paris wiedergibt, das um Antwort auf den Vorschlag
einer Vermittlung der vier Mächte bittet. Auch nach Rom (Nr. 36
ausgenommen) und nach Wien gingen angeblich keine Telegramme
von Bedeutung. In irgendeiner Form ist aber der englische
Vorschlag vom 26. Juli (Blaubuch Nr. 36) auch nach Petersburg
mitgeteilt worden (siehe Blaubuch Nr. 53 und Orangebuch Nr. 32).
Die Weisung von Buchanan ist jedoch niemals veröffentlicht
worden. Oman, der englische Offiziosus, täuscht über die Lücken
des Blaubuches und den Umschwung vom 26. Juli dadurch hin-
weg, daß er bei der Erörterung der englischen Vorschläge die ver-
schiedenen Daten absichtlich durcheinander wirft.
Wir besitzen aber einen russischen Situationsbericht aus
London von diesem Tage. In dem Bericht Benckendorffs vom
26. Juli heißt es:
„Sir E. Grey hört nicht auf, mir zu wiederholen, daß seine nach Berlin
gerichteten Erklärungen dort auf keinen Fall gestatten, auf die Neutralität
Englands im Falle eines Krieges zu rechnen. Lichnowsky war in der Tat sehr
verwirrt, aber das kommt daher, weil es ihm weh tat, daß es zum Kriege kommt.
Ich bin gar nicht sicher, daß er die Worte Greys so verstanden hat, wie Grey
es wünschte. Das wiederhole ich Grey daher täglich und in den verschiedensten
Tonarten. Er versteckt sich hinter der Hoffnung auf Verhandlungen. Mir
gelingt es nicht, ihn vorwärts zu bringen.
Zum Unglück ist Cambon nicht hier, er wird erst Dienstag morgen zurück-
kommen. Ich habe ihn gebeten, seine Rückkehr zu beschleunigen. Ich hege
die Besorgnis, daß Grey seiner öffentlichen Meinung nicht ganz sicher ist und
befürchtet, daß man ihn nicht unterstützen werde, wenn er zu früh hervor-
tritt. Sie haben, glaube ich, Buchanan gesagt, daß die ganze englische Presse,
die ,Times' ausgenommen, nichts tauge. Das ist nicht ganz richtig. ,Evening
Post' und andere Regierungsblätter gehen weiter, ,Westminster Gaze te'
56
verwandelt sich allmählich. Die Radikalen revoltieren aus anderen Gründen
offen gegen das Kabinett und tun alles mögliche, um die serbische Frage der
allgemeinen Teilnahme zu entziehen. Es muß aber hinzugefügt werden, daß
in diesem Lager nicht ein Wort laut wird, das unsere Haltung tadelte oder
gegen den Dreiverband als solchen gerichtet wäre. Übrigens, von da bis zum
Kriege ist es noch weit. Hieraus entsteht alles Zaudern, so scheint mir wenig-
stens. Ganz England ist vollständig von Ulster in Anspruch genommen
und fängt kaum an, zu erwachen. Seit gestern fängt es an, zu
begreifen, daß der Krieg möglich ist; seit gestern beunruhigt es sich erst darüber.
Daß auch England in den Krieg hineingezogen werden könnte, das kann die
langsame englische Einbildungskraft noch nicht fassen. Das ist alles sehr
traurig, aber es ist so. Es ist klar, daß man im englischen Auswärtigen Amt
weiter sieht, an anderen Stellen jedoch nicht. Es will mir nicht gelingen, Grey
die Maske abzunehmen. Ich kann ihnen nicht versprechen, daß mir dies ge-
lingen wird. Ihre Stellung ist prächtig. Die Zurückhaltung in Ihren Aus-
drücken und die Vorsicht, mit der Sie das Ziel Ihrer zukünftigen Handlungen
vorbereiten, sind wunderbar. Es ist nötig, unumgänglich notwendig für Sie,
sich die englische Mitarbeiterschaft zu sichern. Wenn sie auch spät kommen
wird, so wird sie doch unausbleiblich kommen. Ich wiederhole jedoch: Eng-
land ist noch nicht erwacht. Es ist leicht möglich, daß Grey darunter nicht
weniger leidet als wir; das hilft uns jedoch wenig.
Es ist wahr, daß Österreich, wie man sagt, nicht auf einmal den Krieg
beginnen wird. Vorläufig besteht noch ein kleiner Hoffnungsstrahl. Was
die Rolle Deutschlands anbetrifft, so erscheint mir dieselbe in dunklerem Lichte
als allen übrigen. Und darauf stütze ich mich eben hier; England fürchtet
sich nicht so vor dem Vorrang Österreichs auf der Balkanhalbinsel, wie vor dem
Vorrang Deutschlands in der Welt." (Deutsche Allgemeine Zeitung vom
28. 8. 1919.)
Am 27. Juli telegraphierte Benckendorff dagegen:
,,Die Sprache Greys ist seit heute viel klarer und merkbar fester als bis-
her. Er rechnet sehr auf den Eindruck, der durch die bei der Flotte veranlaßten,
heute veröffentlichten und Sonnabend (25. Juli) abend beschlossenen Maß-
nahmen hervorgerufen wurde. Das gestern eingetroffene Telegramm Buchanans
machte anscheinend einen sehr nützlichen Eindruck. Jedenfalls hat
die Zuversicht Berlins und Wiens in bezug auf die
Neutralität Englands keinen Grund meh r." (Prawda
Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Das Telegramm Buchanans, das den „nützlichen Eindruck"
hervorrief, fehlt im englischen Blaubuch!
Der Umschwung in der Haltung der englischen Regierung
machte sich sofort in den diplomatischen Verhandlungen be-
merkbar. Während sie bisher erklärt hatte, sich in den öster-
reichisch-serbischen Zwist nicht hineinmischen zu wollen, schlug
sie nunmehr eine Botschafterkonferenz in London
zur Lösung der österreichisch -serbischen Frage vor. Die
erste Nachricht von diesem Vorschlag Greys gelangte am 27. Juli
in dem wenig klaren Telegramm Lichnowskys (Weißbuch Nr. 236)
nach Berlin. Seine Annahme hätte die Aufgabe der Lokalisierungs-
politik bedeutet. Die deutsche Regierung lehnte es ab, die Schwen-
57
kung Englands mitzumachen und erklärte, daß sich ihre Vermittler-
tätigkeit auf die Gefahr eines österreichisch-russischen Konfliktes
beschränken müsse: es sei ihr nicht möglich, ihren Bundesgenossen
in seinen Auseinandersetzungen mit Serbien vor ein europäisches
Gericht zu ziehen (Weißbuch Nr. 248). Der englische Botschafter,
der ebenfalls noch am 27. Juli auf Grund von Greys Weisung
(Blaubuch Nr. 36) den Konferenzvorschlag vertrat (Weißbuch
Nr. 304), erhielt von Jagow einen analogen Bescheid (Blaubuch
Nr. 43).
Das Verfahren einer Botschafterkonferenz wäre überhaupt
nur mit Einwilligung der meistinteressierten Parteien anwendbar
gewesen. Österreich-Ungarn hat es abgelehnt, diesen Weg zu be-
schreiten (Rotbuch 1919, II, Nr. 81), da ,, dieser Vorschlag an und
für sich nicht geeignet war, die Interessen der Monarchie sicher-
zustellen". (Rotbuch 1914, Einleitung.) Rußland erklärte sich
zwar mit diesem Vorschlage im Prinzip einverstanden, zog aber
den Weg direkter Besprechungen mit Wien vor, den auch die
deutsche Regierung als den besten ansah (Orangebuch Nr. 32,
Blaubuch Nr. 53, Weißbuch Nr. 248). Die russische Antwort
bedeutete eine Ablehnung des Konferenzvorschlages, Es ist be-
zeichnend, daß das Telegramm Buchanans über den ihm von
Sasonow erteilten Bescheid im Blaubuch fehlt. Die Ablehnung
wird darin sicherlich viel klarer als in dem russischen Telegramm
zum Ausdruck gekommen sein. Im übrigen meldete der fran-
zösische Botschafter am 29. Juli, er sei n u n m e h r in der Lage,
versichern zu können, daß sich die russische Regierung jedem
Vorgehen anschließe, das Frankreich und England zur Erhaltung
des Friedens vorschlagen würden". (Gelbbuch Nr. 86.) Zunächst
hatte Rußland dies also abgelehnt.
Für die deutsche Regierung lag noch weniger Grund vor,
sich für diesen englischen Vorschlag einzusetzen. Da Italien
politisch auf der Seite Serbiens stand, hätte sich Deutschland
bei der Konferenz der Majorität der drei anderen Konferenz-
teilnehmer gegenüber befunden. Hiervon abgesehen aber konnten
die Erfahrungen' der Londoner Botschafterkonferenz während der
Balkankriege, wo man sich in den von allen Beteiligten als qual-
voll empfundenen endlosen Verhandlungen in Wochen, ja Monaten
nicht über ein einziges Dorf einigen konnte, unmöglich zu einer
Wiederholung dieses Verfahrens ermutigen. Die Verhandlungen
hätten sich auch in diesem Falle zweifellos lange hingezogen,
während gleichzeitig die militärischen Vorbereitungen Rußlands,
die bereits am 25. Juli, begonnen hatten, ihren raschen Fortgang
nahmen. Das hätte schließlich zu Gegenmaßnahmen der Mittel-
mächte führen müssen, und es wäre eine nervöse Atmosphäre
58
geschaffen worden, die einen friedlichen Ausgang schwerUch
gefördert hätte. Gerade aus dieser Erwägung heraus, aus der
Sorge vor einer Europäisierung des KonfHktes, ist das Bestreben
der deutschen Regierung vom ersten Augenblick darauf gerichtet
gewesen, die Auseinandersetzung zwischen Österreich-Ungarn
und Serbien zunächst auf diese beiden Staaten zu beschränken und,
falls dies nicht gelang, wenn Rußland sich nicht bewegen ließ,
auf eine Einmischung in die Streitfrage zu verzichten, dann wenig-
stens zu verhindern, daß der Konflikt sich zu einer Machtfrage
zwischen den beiden Gruppen auswachse, in die Europa geteilt
war (Weißbuch Nr. 279, 314). Dieser Gefahr konnte nach An-
sicht der deutschen Regierung am zweckmäßigsten durch einen
direkten Ausgleich zwischen Österreich-Ungarn und Rußland
begegnet werden, da diese beiden Mächte als nächstbeteiligte am
ehesten in der Lage waren, eine befriedigende Lösung zu finden,
viel leichter jedenfalls und viel schneller, als die Vertreter der vier
nicht unmittelbar beteiligten Mächte in London.
Von gegnerischer Seite ist der deutschen Regierung aus der
Ablehnung des Londoner Konferenzvorschlages ein besonderer
Vorwurf gemacht worden, und es ist behauptet worden, damit se
die einzige Möglichkeit, den europäischen Frieden zu erhalten,
verabsäumt worden. Diese Darstellung, die dem wahren Sach-
verhalt nicht Rechnung trägt, begründet sich lediglich mit der
Tatsache, daß dies der einzige der zahlreichen englischen Vor-
schläge gewesen ist, den die deutsche Regierung nicht, annahm.
Grey hat sich den deutschen Bedenken gegen den Konferenzvor-
schlag nicht verschlossen. Er zog ihn selbst zugunsten der in-
zwischen eingeleiteten direkten Besprechungen zwischen Wien
und Petersburg zurück (Blaubuch Nr. 67, 68). Auch der fran-
zösische Botschafter in Berlin stellte sich auf den Standpunkt,
daß eine formelle Konferenz unnötig, und daß ein gemeinsames
Vorgehen der vier Mächte in Wien und Petersburg, dem Deutsch-
land zugestimmt hatte, sich auf diplomatischem Wege ausführen
ließe (Gelbbuch Nr. 73), Desgleichen äußerten die Botschafter
der Verbandsmächte in Wien sogleich Zweifel an der Durchführ-
barkeit des Konferenzvorschlages (Blaubuch Nr. 40).
An diesen Konferenzvorschlag knüpft das machiavellistische
Telegramm Szögyenys vom 27. Juli (Rotbuch 1919, II, Nr. 68)
an. Die Unterredung mit Jagow fand offenbar zwischen dem
Eingang des Telegramms Lichnowskys (Weißbuch Nr. 236) und
der Demarche des englischen Botschafters (Weißbuch Nr. 304,
Blaubuch Nr. 43) statt:
„Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr entschieden,
daß in der nächsten Zeit eventuell Vermittlungsvorschläge Englands durch
die deutsche Regierung zur Kenntnis Euer Exzellenz gebracht würden.
59
Die deutsche Regierung versicherte auf das bündigste, daß sie sich in keiner
Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Be-
rücksichtigung sei und dieselben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu
tragen, weitergebe.
Sie gehe dabei von dem Gesichtspunkt aus, daß es von der größten Be-
deutung sei, daß England im jetzigen Moment nicht gemeinsame Sache mit
Rußland und Frankreich mache. Daher müsse alles vermieden werden, daß
der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland und England
abgebrochen werde. Würde nun Deutschland Sir E. Grey glatt erklären, daß
es seine Wünsche an Österreich-Ungarn, von denen England glaubt, daß sie
durch Vermittlung Deutschlands eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht
weitergeben will, so würde eben dieser vorerwähnte, unbedingt zu vermeidende
Zustand eintreten.
Die deutsche Regierung würde übrigens bei jedem einzelnen derartigen
Verlangen Englands in Wien demselben auf das ausdrücklichste erklären,
daß es in keiner Weise derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn
gegenüber unterstütze und nur, um Wunsch Englands zu entsprechen, die-
selben weitergebe."
Die Mehrzahl — Vorschläge — ist natürlich Unsinn. Kein
Politiker wird zu Anregungen bindend Stellung nehmen, die er
überhaupt noch nicht kennt. Jagow hat offensichtlich nur von
der Botschafterkonferenz gesprochen, die Nicolson und Tyrrell
Lichnowsky gegenüber erwähnt hatten, die aber noch nicht offiziell
angeregt worden war. Was die weitere Behandlung dieses eng-
lischen Vorschlags anlangt, so ist seine Weitergabe von Berlin
nach Wien deutscherseits überhaupt nicht erfolgt. Darum hat
London auch niemals gebeten. Der englischen Regierung ist auch
die Berliner Stellungnahme klipp und klar mitgeteilt worden
(Weißbuch Nr. 248, Blaubuch Nr. 43). Jagow kam es anscheinend
darauf an, daß Österreich-Ungarn nicht durch Eingehen auf den
englischen Vorschlag einer Botschafterkonferenz Deutschland in
die schwierige Lage bringe, den Strauß in London allein durch-
zufechten und Forderungen zu vertreten, die es selbst nicht völlig
billigte. Wie Lichnowsky damals (im Gegensatz zu 1916) über
diese Möglichkeit dachte, geht aus seinem Telegramm vom 30. Juli
1914 (Weißbuch Nr. 418) hervor, in dem es heißt:
„Halte Berlin für geeigneter als London zur Vermittlung einer Einigung
zwischen Wien und Petersburg, da Sir E. Grey weniger mit ganzer Frage ver-
traut, auch weniger Einfluß in Wien besitzt, und ich langwierige Verhand-
lungen hier voraussehe, namentlich falls Botschafterkonferenz stattfinden sollte.
Graf Mensdorff auch zu ängstlich und ohne Einfluß in Wien oder eigene
Initiative."
4. Frankreichs Stellungnahme zum austro-serbischen Konflikt
Die Haltung der französischen Diplomaten gegenüber dem
heraufziehenden austro-serbischen Konflikt ist in der Zeit vor
Überreichung der österreichisch-ungarischen Note durchweg par-
teiisch serbenfreundlich gewesen. Schon am 2. Juli wußte Dumaine
60
aus Wien zu berichten, daß die Untersuchung, die Österreich-
Ungarn von Serbien fordern möchte, Bedingungen enthalten werde,
die für die Würde Serbiens unerträglich seien (Gelbbuch Nr. 8).
Als Paleologue am 6. Juli aus Petersburg meldete, Sasonow habe
erklärt, es sei unzulässig, daß Österreich-Ungarn den Anstiftern
des Mordes von Sarajevo auf serbischem Gebiet nachspüre, und
Österreich-Ungarn gewarnt, sich auf diesen Weg zu begeben,
fügte er hinzu: „Möge diese Warnung nicht vergeblich sein."
(Gelbbuch Nr. 10.)
Andererseits erklärte aber Poincare am 4. Juli, er sei über-
zeugt, ,,die serbische Regierung werde bei der gerichtlichen Unter-
suchung und der Verfolgung eventueller Mitschuldiger das größte
Entgegenkommen zeigen. Einer solchen Pflicht könne sich kein
Staat entziehen". (Rotbuch 1914, Nr. 4.) Auch Dumaine sah
noch am 22. Juli Österreich-Ungarns Forderungen wegen der Be-
strafung des Attentates und gewisser Garantien für die Über-
wachung und die Polizeiaufsicht als „für die Würde Serbiens
nicht unannehmbar" an (Gelbbuch Nr. 18).
Der Pariser Regierung wurde jedoch ihre Haltung im austro-
serbischen Konflikt durch ein Telegramm des Ministerpräsidenten
und Ministers des Äußern Viviani vorgezeichnet, das dieser ohne
Kenntnis der österreichisch-ungarischen Demarche in Belgrad in
der Nacht vom 23. zum 24. Juli aus Reval absandte (Gelbbuch
Nr. 22). Aus diesem Telegramm geht hervor, daß Frankreich und
Rußland eine gemeinsame Intervention in Wien zugunsten Ser-
biens vereinbart und England aufgefordert hatten, sich an diesem
Schritt zu beteiligen. Trotzdem fand der deutsche Lokalisierungs-
vorschlag, wie bereits erwähnt, am 24. Juli in Paris beim stellver-
tretenden Ministerpräsidenten zunächst eine günstige Aufnahme.
Auch Österreich-Ungarn gegenüber zeigte Bienvenu-Martin Ent-
gegenkommen, indem er erklärte, die Ereignisse der letzten Zeit
und die Haltung der serbischen Regierung ließen ein energisches
Einschreiten Österreich-Ungarns ganz begreiflich erscheinen (Rot-
buch 1919, H, Nr. 9).
Zugleich aber machte sich das Bestreben geltend, den Kon-
flikt zu europäisieren, Deutschland in denselben hineinzuziehen
und Deutschland in Gegensatz zu Rußland zu bringen. Die fran-
zösischen Vertreter im Ausland wetteiferten mit der Regierung
in Paris in Verdächtigungen der deutschen Haltung vor und nach
der Überreichung der österreichisch-ungarischen Note in Belgrad.
Der französische Botschafter in Berlin meldete seiner Regie-
rung, Deutschland habe Österreich-Ungarn zum Kriege (gegen
Serbien) gedrängt (Weißbuch Nr. 415). Er verbreitete, Berlin
habe Wien zu der scharfen Note an Serbien veranlaßt und sei an
61
deren Abfassung beteiligt. Hartnäckig hielt er an dieser Ansicht
fest (Weißbuch Nr. 153, Gelbbuch Nr. 15, 17, 30, 35).
Der französische Botschafter in Wien knüpfte am 28. Juli
an die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien die Ver-
dächtigung, „daß Deutschland zum Angriff auf Serbien gedrängt
habe, um selbst unter den nach seinem Dafürhalten günstigsten
Umständen und unter wohlerwogenen Bedingungen mit Rußland
und Frankreich in den Kampf eintreten zu können". (Gelb-
buch Nr. 83.)
Der französische Botschafter in London bemühte sich von
Anfang an, Grey zum Eingreifen anzutreiben. Bereits am 24. Juli
befürwortete er eine Intervention der Mächte in Wien. Während
er eine Einwirkung auf Petersburg als unangebracht hinstellte,
schlug er vor, daß Deutschland eine Vermittlung der Mächte
zwischen Wien und Belgrad herbeiführen solle (Blaubuch Nr. 10).
Der französische Botschafter in Petersburg hat sich vollends
als Kriegshetzer erwiesen. In der aus dem Blaubuch (Nr. 6) be-
kannten Unterredung vom 24. Juli zwischen Sasonow, Buchanan
und Paleologue erklärte letzterer, Frankreich sei zum Kriege
um die serbische Frage bereit. Frankreich würde alle Verpflich-
tungen erfüllen, die das Bündnis mit Rußland nach sich ziehen
müßte. Obwohl Sasonow in dieser Unterredung (gemäß Blaubuch
Nr. 6) von Krieg und Mobilmachung sprach, berichtete Paleologue
nach Paris: ,,Die Absichten des Zaren und seiner Minister sind
die friedlichsten." (Gelbbuch Nr. 31.) Er verbreitete in Peters-
burg die Auffassung, Deutschland treibe zum Konflikt. Es handele
sich schon jetzt nicht mehr um einen austro-serbischen, sondern
um einen russisch-deutschen Konflikt (Weißbuch Nr. 215). In-
folgedessen sah sich der deutsche Botschafter veranlaßt, eine Er-
klärung an die Presse abzugeben und am 25. Juli die aus dem
Orangebuch (Nr. 18) bekannte Note zu überreichen. Die Wetscher-
noje Wremja mußte am 26. Juli, einem Sonntag, eine Extra-
Ausgabe veranstalten, um Paleologues Kriegstrompete erschallen
zu lassen (Weißbuch Nr. 289, 290). Dieser wußte auch als erster
die russische Gesamtmobilmachung zu melden.
Die Veröffentlichungen unserer Gegner zeigen ferner, daß
die französischen Botschafter in Berlin, Petersburg und London
in den ersten Tagen der Verhandlungen nahezu gar nichts getan
haben, um einer friedlichen Lösung die Wege zu ebnen. Von einer
mäßigenden Einwirkung auf den russischen Bundesgenossen war
keine Rede. Vielmehr zeigten sie sich bemüht, das Revaler Aktions-
programm vom 24. Juli (Gelbbuch Nr, 22) mit seiner serbenfreund-
lichen, europäisierenden, gegen die Mittelmächte gerichteten Tendenz
in die Wirklichkeit umzusetzen.
62
IV. Der österreichisch-russische Konflikt
1. Direkte Besprechungen zwischen Wien und Petersburg
Die deutsche Regierung erwartete die Beilegung des drohenden
österreichisch-russischen Konfliktes von den direkten Besprechun-
gen, die der russische Minister des Äußern am 26. Juli unter Auf-
gabe seiner ursprünglichen, unversöhnlichen Haltung im Anschluß
an seine Unterredungen mit dem österreichisch-ungarischen und
dem deutschen Botschafter vorgeschlagen hatte. Sasonow hat
später erklärt, daß er diese Anregung Pourtales' Rate verdanke
(Blaubuch Nr. 78, vgl. Weißbuch Nr. 238). Deutscherseits war
allerdings wohl nicht bekannt, daß Sasonow in seinem Telegramm
nach Wien (Orangebuch Nr, 25) das Ansinnen gestellt hatte,
den österreichisch-ungarischen Botschafter in Petersburg zu er-
mächtigen, gemeinsam mit ihm ,, einige Artikel der Note vom
23. Juli umzuarbeiten". Sonst würde man in Berlin wohl keine
großen Hoffnungen an diese Besprechungen geknüpft haben.
Daß die Wiener Regierung in eine Abänderung der von ihr gestellten
Forderungen gemäß den nicht näher bezeichneten Wünschen
Sasonows einwilligte und damit Rußland zum Richter in ihrem
Streit mit Serbien einsetzte, war nicht zu erwarten. Hingegen
wäre eine Verständigung über die Wahrung berechtigter Interessen
Rußlands bei der Durchführung der österreichisch-ungarischen
Aktion sehr wohl möglich gewesen. In diesem Sinne wurde auch
der russische Vorschlag am 27. Juli deutscherseits nach Wien
weitergegeben (vgl. Weißbuch Nr. 238, 277) und am 28. Juli nach
Petersburg mitgeteilt, man hoffe, daß Österreich-Ungarns terri-
toriale Desinteressementserklärung Rußland genügen und als Basis
für weitere Verständigung dienen werde (Weißbuch Nr. 300).
In Wien war man aber, wie heute bekannt ist, fest entschlossen,
unter allen Umständen es zum Kriege gegen Serbien kommen zu
lassen. Am 28. Juli erfolgte die Kriegserklärung, und am gleichen
Tage lehnte die österreichisch-ungarische Regierung es nicht nur
ab, ihre Note vom 23. Juli zu erörtern oder abzuändern, sondern
auch über den Wortlaut der serbische Antwort zu verhandeln
(Rotbuch 1919, II, Nr. 95, Orangebuch Nr. 45). Österreich-
Ungarn hatte aber seit der Erklärung Berchtolds vom 24. Juli
(Rotbuch 1919, II, Nr. 23) wiederholt sich bestrebt gezeigt, Ruß-
land über seine Absichten gegen Serbien zu beruhigen und eine
Verständigung über sein Vorgehen herbeizuführen. Am 25, Juli
wurde der österreichisch-ungarische Botschafter in Petersburg
angewiesen, zu erklären, daß die Monarchie in Serbien keine
63
eigennützigen Motive verfolge, keinen territorialen Gewinn an-
strebe und auch die Souveränität Serbiens nicht anzutasten ge-
dächte (Rotbuch 1919, II, Nr. 42). Die von Sasonow am 24. Juli
(Rotbuch 1919, II, Nr. 17, 18) besonders beanstandete Forderung,
betreffend die Beteiligung von österreichisch-ungarischen Funktio-
nären bei der Unterdrückung der subversiven Bewegung in Serbien,
wurde am 25. Juli in entgegenkommendem Sinne erläutert (Rot-
buch 1919, II, Nr. 38). Am 26. Juli erklärte der österreichisch-
ungarische Botschafter in Petersburg, die anscheinend dort viel-
fach gehegten Befürchtungen, daß es sich bei dem Vorgehen gegen
Serbien um einen Eroberungsfeldzug oder einen Präventivkrieg
gegen Rußland handele, seien gänzlich unbegründet. ,, Niemand
in Österreich-Ungarn falle es ein, russische Interessen bedrohen
oder gar Händel mit Rußland suchen zu wollen" (Rotbuch 1919,
II, Nr. 73). Trotzdem sah Sasonow in der Ablehnung der öster-
reichisch-ungarischen Regierung, in eine Erörterung der Noten-
texte einzutreten, eine Weigerung des Wiener Kabinetts, über-
haupt in einen Meinungsaustausch mit Rußland zu willigen (Orange-
buch Nr. 50). Diese Auslegung der Wiener Antwort bildete
jedoch nur einen Vorwand, um die direkten Besprechungen zwischen
Wien und Petersburg als gescheitert hinzustellen; denn bereits
am 28. Juli hatte Sasonow erklärt, die Kriegserklärung an Serbien
mache diesen Verhandlungen ein Ende (Blaubuch Nr. 70, Orange-
buch Nr. 48).
Das Abbrechen des direkten Meinungsaustausches zwischen
Petersburg und Wien bedeutete eine für Berlin unerwartete und
ernste Verschärfung der österreichisch-russischen Spannung, Nicht
nur die deutsche Regierung hatte von den direkten austro-russi-
schen Verhandlungen die Lösung des Konfliktes erwartet. Auch
Grey sprach sich mehrfach dafür aus (Rotbuch 1919, II, Nr. 92,
III, Nr. 42, Blaubuch Nr. 67, 68, 74, 84, Gelbbuch Nr. 80), und
sogar der französische Botschafter in Petersburg hat sie befür-
wortet (Gelbbuch Nr. 54).
Dank dem Eingreifen der deutschen Regierung wurde das
Mißverständnis, betreffend die österreichisch-ungarische Ablehnung,
beseitigt und die direkte Aussprache zwischen Wien und Petersburg
wieder aufgenommen (Weißbuch Nr. 396, 448, Rotbuch 1919,
III, Nr. 45).
2. Vermittlungsvofschläge
Am 27. Juli ging die serbische Antwortnote in Berlin, Peters-
burg, Paris und London ein. Die Regierungen der Drei Verbands-
länder sahen sie als ausreichend und sehr entgegenkommend an.
64
In absichtlicher und unabsichtUcher Verkennung der Methoden
der serbischen Pohtik verschlossen sie sich der Hinterhältigkeit
und Zweideutigkeit der Antwort auf manche der österreichisch-
ungarischen Forderungen. Es ist auch ganz natürlich, daß sich
alle Fernerstehenden nur dem günstigen Gesamteindruck hin-
gaben, während das unmittelbar beteiligte Wiener Kabinett mit
unerfreulicher Akribie nach Unzulänglichkeiten forschte.
Am 27. Juli wandte sich Gray nach Berlin mit der Bitte, die
deutsche Regierung möge in Wien befürworten, daß sich Wien
entweder mit der serbischen Antwort begnüge oder
aber sie als Grundlage für Unterhandlungen be-
trachte (Weißbuch Nr. 258, Blaubuch Nr. 46). Die deutsche
Regierung ist diesem Wunsche sogleich nachgekommen und hat
die Annahme des englischen Vorschlages in Wien mit folgenden
Worten empfohlen:
„Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt
haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzu-
weisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von
der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die
eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere
eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Ge-
zwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist um so schwieriger, als
Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir können daher die Rolle
des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen Vorschlag dem
Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fort-
gesetzt auf Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berchtolds Ansicht über die
englische Anregung, ebenso wie über Wunsch Herrn Sasonows, mit Wien direkt
zu verhandeln." (Weißbuch Nr. 277.)
Die österreichisch-ungarische Regierung lehnte diesen Vor-
schlag jedoch am 29. Juli unter Hinweis auf die Eröffnung der
Feindseligkeiten durch Serbien und die inzwischen erfolgte Kriegs-
erklärung ab (Weißbuch Nr. 400, Rotbuch 1919, HI, Nr. 25).
Berchtold hat anscheinend die von Szögyeny (in Rotbuch H,
Nr. 68) gemeldete Warnung Jagows vor englischen Vorschlägen,
mit denen er sich „in keiner Weise identifiziere", auf diese An-
regung bezogen, obwohl sie von Bethmann Hollweg ,,zur Er-
wägung unterbreitet", also empfohlen wurde (Rotbuch 1919, H,
Nr. 82, HI, Nr. 25). Wie diese Auffassung entstehen konnte,
ist nicht recht verständlich, da Szögyeny berichtet hatte, ,,die
deutsche Regierung würde bei jedem einzelnen der-
artigen Verlangen Englands in Wien demselben (?) auf das
ausdrücklichste erklären, daß es in keiner Weise
derartige Interventionsverlangen Österreich-Ungarn gegenüber
unterstütze und nur, um dem Wunsche Englands zu entsprechen,
dieselben weitergebe", überdies erfolgte die Ablehnung in Wien
am 29. Juli abends (Rotbuch 1919, III, Nr. 25), also zu einer Zeit,
65
wo der nachstehend behandelte deutsche Vorschlag vom
28. JuH (Weißbuch Nr. 323), der ebenfalls auf das von Serbien
gezeigte Entgegenkommen Bezug nahm, bereits in Wien bekannt
gewesen sein muß.
Nach der Ablehnung dieses englischen Vorschlages und nach
erfolgter Kriegserklärung an Serbien war jede Aussicht auf eine
friedliche Beilegung des österreichisch -serbischen Streites
vorerst beseitigt. Die deutsche Regierung unterbreitete daraufhin
sogleich in Wien einen Vorschlag, der geeignet war, sowohl dem
berechtigten Verlangen Österreich-Ungarns nach Genugtuung
und Sicherheiten für die Zukunft Rechnung zu tragen, wie auch
die Erhaltung Serbiens und die Wahrung der russischen Interessen
am Balkan zu gewährleisten. Es ist dies der auf Anregung des
Kaisers (Weißbuch Nr. 293) zurückzuführende Vorschlag einer
Besetzung Belgrads oder anderer serbischer Gebietsteile als Faust-
pfand (Weißbuch Nr. 323), der mit den Worten schließt:
„Erkennt die russische Regierung die Berechtigung dieses Standpunktes
nicht an, so wird sie die öffentliche Meinung ganz Europas gegen sich haben,
die im Begriffe steht, sich von Österreich abzuwenden. Als eine weitere Folge
wird sich die allgemeine diplomatische und wahrscheinlich auch die militärische
Lage sehr wesentlich zugunsten_österreich-Ungarns und seiner Verbündeten
verschieben.
Euere Exzellenz wollen sich umgehend in diesem Sinne dem Grafen
Berchtold gegenüber nachdrücklich aussprechen und eine entsprechende De-
marche in St. Petersburg anregen. Sie werden es dabei sorgfältig zu vermeiden
haben, daß der Eindruck entsteht, als wünschten wir Österreich zurückzuhalten.
Es handelt sich lediglich darum, einen Modus zu finden, der die Verwirklichung
des von Österreich-Ungarn erstrebten Zieles, der großserbischen Propaganda
den Lebensnerv zu unterbinden, ermöglicht, ohne gleichzeitig einen Weltkrieg
zu entfesseln und, wenn dieser schließlich nicht zu vermeiden ist, die Bedingungen,
unter denen er zu führen ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbessern."
Am 29. Juli wurde erneut auf diesen Ausweg hingewiesen
(Weißbuch Nr. 384).
Daß diese von der deutschen Regierung vorgeschlagene
Lösung wohl am besten geeignet war, die Erweiterung des Kon-
fliktes zu verhüten und den Interessen aller Parteien Rechnung
zu tragen, geht aus der Tatsache hervor, daß Grey (der von dem
Telegramm nach Wien, Weißbuch Nr. 323, wußte — siehe Blau-
buch Nr. 75, Einleitung § 6, letzter Absatz, und Oman, S, 54)
am folgenden Tage mit einem ähnlich lautenden Vorschlage
hervortrat (Weißbuch Nr. 368, Blaubuch Nr. 88). . Dieser wurde
von Berlin nach Wien gleichfalls weitergegeben und energisch be-
fürwortet (Weißbuch Nr. 395), ebenso wie das Telegramm des
Königs von England an den Prinzen Heinrich von Preußen vom
30. Juli, das den gleichen Vorschlag enthielt (Weißbuch Nr. 452, 464).
66
Schließlich hat auch Kaiser Wilhelm in einem persönlichen
Telegramm an Kaiser Franz Joseph auf eine baldige Entscheidung
für die deutschen Vorschläge gedrängt (Weißbuch Nr. 437).
Auf die Nachricht hin, daß die direkten Besprechungen
zwischen Wien und Petersburg zum Stillstand gekommen seien,
telegraphierte Bethmann Hollweg am 29. Juli nach Wien:
„Rußland beschwert sich, daß die Unterhaltungen weder durch Herrn
Schebeko noch durch Graf Szapary Fortlauf genommen hätten. Wir müssen
daher, um eine allgemeine Katastrophe aufzuhalten oder jedenfalls Rußland
ins Unrecht zu setzen, dringend wünschen, daß Wien Konversationen (gemäß
Weißbuch Nr. 323) beginnt und fortsetzt." (Weißbuch Nr. 385.)
Als ebenfalls nach London gemeldet wurde, daß Sasonow die
direkten Besprechungen als abgebrochen betrachte, schlug ferner
Grey am 29. Juli abermals die Vermittlung der vier
Mächte vor. (Blaubuch Nr. 84. In dem entsprechenden Tele-
gramm Lichnowskys — Weißbuch Nr. 357 — ist der Vorschlag
nicht enthalten.) Die deutsche Regierung, die sich bereits am
24. und 25. Juli mit einer Vermittlung zu vieren einverstanden
erklärt hatte, gab der österreichisch-ungarischen Regierung bei
der Mitteilung des englischen Vorschlages, die Besetzung Belgrads
betreffend, den dringlichen Rat, die Vermittlung der Mächte
anzunehmen. Es heißt in diesem Telegramm (Weißbuch Nr. 395):
,,Wir stehen somit, falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer
Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen
Anzeichen nicht mit uns gehen würden, so daß wir zwei gegen vier Großmächte
ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht
des Kampfes zu. Österreichs politisches Prestige, die Waffenehre seiner Armee,
sowie seine berechtigten Ansprüche Serbien gegenüber könnten durch die
Besetzung Belgrads oder anderer Plätze hinreichend gewahrt werden. Es
v/ürde durch Demütigung Serbiens seine Stellung im Balkan wie Rußland gegen-
über wieder stark machen. Unter diesen Umständen müssen wir der Erwägung
des Wiener Kabinetts dringend und nachdrücklich anheim-
stellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen Be-
dingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden
Folgen wäre für Österreich-Ungarn und uns eine ungemein schwere."
Die deutsche Regierung hat gleichzeitig mit vorstehendem
Telegramm auf die Meldung ihres Botschafters in Petersburg hin,
daß das Wiener Kabinett nach Mitteilung Sasonows den Weg
direkten Gedankenaustausches mit Petersburg nicht beschritten
habe, folgende ernste Warnung nach Wien gesandt :
„Wir können Österreich-Ungarn nicht zumuten, mit Serbien zu ver-
handeln, mit dem es im Kriegszustand begriffen ist. Die Verweigerung jeden
Meinungsaustausches mit Petersburg aber würde ein schwerer Fehler sein,
da er kriegerisches Eingreifen Rußlands geradezu provoziert, das zu vermeiden
Österreich-Ungarn in erster Linie interessiert ist. Wir sind zwar be-
reit, unsere B u n d e s p f 1 i c h t zu erfüllen, müssen es
aber ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne
67
Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand
hineinziehen zu lassen. Auch in italienischer Frage scheint Wien
unsere Ratschläge zu mißachten. Bitte sich gegen Graf Berchtold sofort mit
allem Nachdruck und großem Ernst aussprechen." (Weißbuch Nr. 396.)
Schließlich sandte Bethmann Hollweg am 30. Juli noch
folgendes Telegramm nach Wien:
„Wenn Wien, wie nach dem telephonischen Gespräch Euerer Exzellenz
mit Herrn von Stumm anzunehmen, jedes Einlenken, insonderheit den letzten
Greyschen Vorschlag (Weißbuch Nr. 395) ablehnt, ist es kaum mehr mög-
lich, Rußland die Schuld an der ausbrechenden europäischen Konflagration
zuzuschieben. S. M. hat auf Bitten des Zaren die Intervention in Wien über-
nommen, weil er sie nicht ablehnen konnte, ohne den unwiderleglichen Ver-
dacht zu erzeugen, daß wir den Krieg wollten. Das Gelingen dieser Intervention
ist allerdings erschwert dadurch, daß Rußland gegen Österreich mobilisiert hat.
Dies haben wir heute England mit dem Hinzufügen mitgeteilt, daß wir eine
Aufhaltung der russischen und französischen Kriegsmaßnahmen in Petersburg
und Paris bereits in freundlicher Form angeregt hätten, einen neuen Schritt in
dieser Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, das den Krieg be-
deuten würde. Wir haben deshalb Sir Edward Grey nahegelegt, seinerseits
nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken, und erhalten
soeben seine entsprechende Zusicherung durch Lichnowsky. Glücken England
diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt, so dokumentiert Wien, daß
es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Ruß-
land schuldfrei bleibt. Das ergibt für uns der eigenen Nation gegenüber eine
ganz unhaltbare Situation. Wir können deshalb nur dringend empfehlen,
daß Österreich den Greyschen Vorschlag annimmt, der seine Position in jeder
Beziehung wahrt.
Euer Exzellenz wollen sich sofort nachdrücklichst in diesem Sinne Graf
Berchtold, eventuell auch Graf Tisza gegenüber, äußern." (Weißbuch Nr. 441.)
Die deutschen Vorschläge konnten, bei aller Halsstarrigkeit
der Wiener Regierung, doch nicht ganz unberücksichtigt bleiben.
Am 29. Juli meldete der deutsche Botschafter, Berchtold sei (auch
jetzt, nach der Kriegserklärung an Serbien) bereit, die Erklärung
des territorialen Desinteressements nochmals
zu wiederholen. Bezüglich des deutschen Vorschlages einer Be-
schränkung der militärischen Operationen behielt er sich die Ant-
wort vor (Weißbuch Nr. 338). Am folgenden Tage, dem 30. Juli,
meldete der Botschafter in bezug auf die angeblich abgebrochenen
Verhandlungen mit Petersburg, Berchtold habe nur die Besprechung
des serbisch - österreichischen Streites mit Rußland abgelehnt,
sei aber bereit, alle Österreich-Ungarn und Rußland direkt tangie-
renden Fragen mit letzterem zu besprechen (Weißbuch Nr. 432),
Am gleichen Tage meldete er, es liege in bezug auf die angeblich
abgebrochenen Besprechungen ein Mißver-
ständnis vor, und Berchtold habe bereits entsprechende
Instruktionen nach Petersburg gesandt (Weißbuch Nr. 448). Der
österreichisch-ungarische Botschafter hatte übrigens inzwischen
schon von sich aus die Verhandlungen wieder aufgenommen
68
und die seinerseits bereits gemachten Zusicherungen erneuert
(Rotbuch 1919, III, Nr. 19). Berchtold selbst empfing am 30. Juli
den russischen Botschafter zu einer beide Teile befriedigenden
Aussprache über die Lage (Rotbuch 1919, III, Nr. 45). Das diese
Unterredung betreffende Telegramm Schebekos ist in der Deut-
schen Allgemeinen Zeitung vom 20. Mai 1919 veröffentlicht
worden. Es schließt mit den Worten:
„Das ganze Gespräch trug den freundschaftlichsten Charakter, und ich
erhielt den Eindruck, daß Österreich wirklich den Wunsch hegt, zu einer Ver-
ständigung mit uns zu gelangen, es aber nicht für angängig hält, seine Operationen
gegen Serbien einzustellen, bevor man nicht volle Genugtuung und ernste
Garantien für die Zukunft erhalten habe. Zum Schluß betonte der Minister
nochmals, daß Österreich jede aggressive Absicht gegen Rußland fern läge."
Auch der französische Botschafter in Wien berichtete, daß
diese „hochwichtige Unterredung" zu einer Klärung der Lage
und zur Wiederaufnahme der direkten Besprechungen geführt habe
(Gelbbuch Nr. 104); ebenso der englische Botschafter, welcher
meldete, daß sein russischer Kollege ,,im ganzen nicht unzufrieden"
war (Blaubuch Nr. 96). Die deutsche Regierung konnte noch
am 30. Juli ihrem Botschafter in London die Meldung aus Wien
über diesen Erfolg der deutschen Schritte mitteilen (Weißbuch
Nr. 433, 444). Sie sprach hierbei die Erwartung aus, ,,daß Eng-
land in Petersburg auf gleiches Entgegenkommen, und nament-
lich auf Einstellung seiner Kriegsmaßnahmen wirken werde".
Diese Erwartung ging, trotz der englischen Zusage an Lichnowsky
(Weißbuch Nr. 4-89) nicht in Erfüllung, wie Greys Telegramm nach
Petersburg vom 31. Juli (Blaubuch Nr. 110) zeigt.
Auf die deutschen Vorstellungen hin nahm die österreichisch-
ungarische Regierung schließlich auch die von England gewünschte
Vermittlung der Mächte an.
Das betreffende Telegramm (Rotbuch 1919, III, Nr. 65), das
aber erst am 1. August nach Berlin abging, nach London und
Petersburg nur ,,zur persönlichen Information" des Bot-
schafters gesandt wurde, schloß mit den Worten:
„Ich ersuche Euer Exzellenz, dem Herrn Staatssekretär für die uns durch
Herrn von Tschirschky gemachten Mitteilungen verbindlichst zu danken und
ihm zu erklären, daß wir trotz der Änderung, die in der Situation seither durch
die Mobilisierung Rußlands eingetreten sei, in voller Würdigung der Bemühungen
Englands um die Erhaltung des Weltfriedens gerne bereit seien, dem
Vorschlag Sir E. Greys, zwischen uns und Serbien zu
vermitteln, näherzutreten.
Die Voraussetzungen unserer Annahme seien jedoch natürlich, daß unsere
militärische Aktion gegen Serbien einstweilen ihren Fortgang nehme und daß
das englische Kabinett die russische Regierung vermöge, die gegen uns ge-
richtete Mobilisierung seiner Truppen zum Stillstand zu bringen, in welchem
Falle wir selbstverständlich die uns durch die russische Mobilisierung aufge-
zwungenen defensiven militärischen Gegenmaßregeln in Galizien sofort rück-
gängig machen werden."
^ 69
Am Abend des 30. Juli hatte also die österreiciiisch-ungarische
Regierung die deutschen Vorschläge immerhin teilweise ange-
nommen, mit Ausnahme allerdings der Beschränkung der Ope-
rationen gegen Serbien auf die Besetzung eines Faustpfandes. -^
Die Antwort auf diesen Vorschlag, dessen Annahme vom deutschen
Botschafter am 30. Juli an der Hand der analogen englischen
Anregung erneut warm befürwortet wurde (Weißbuch Nr. 465),
wurde deutscherseits für den 31. Juli erwartet (Weißbuch Nr. 440).
Die Nachricht von der allgemeinen Mobilmachung in Rußland,
die den Krieg bedeutete, hat den deutschen Bemühungen ein
Ende gemacht. Anderenfalls wäre, wenn die russische Kriegs-
partei dies noch zugelassen hätte, eine Einigung zwischen Peters-
burg und Wien erzielt worden, denn Sasonow hat sich von den
Eröffnungen, die ihm der österreichisch-ungarische Botschafter
am 31. Juli machte (Rotbuch 1919, III, Nr. 97), befriedigt erklärt.
In einer in London am 1. August übergebenen russischen Note
heißt es:
„Der österreichisch-ungarische Botschafter erl<lärte die Bereitwilligkeit
seiner Regierung, den Inhalt des österreichischen Ultimatums an Serbien zu
erörtern. In seiner Antwort sprach Herr Sasonow seine Befriedigung aus
und sagte, es sei wünschenswert, daß die Besprechungen in London unter Teil-
nahme der Großmächte stattfänden." (Blaubuch Nr. 133.)
Dank der deutschen V e r m i 1 1 1 u n g s t ä t i g -
keit war somit eine genügende Grundlage für eine
Verständigung erreicht. Der europäische Frieden
wäre erhalten worden, wenn nicht Rußland durch seine gegen
das die Vermittlung betreibende Deutsche Reich gerichtete Mobil-
machung den Krieg herbeigeführt hätte.
Die Wiener Regierung hat aber an dem Teilerfolg der deutschen
Vermittlungstätigkeit kein Verdienst. Sie war, wie aus dem
Protokoll des Ministerrats vom 31. JuU (Rotbuch 1919, III, Nr. 79)
klar hervorgeht, fest entschlossen, die Operationen gegen Serbien
auf keinen Fall, auch nicht mit Rücksicht auf die Gefahr eines
Weltkrieges, einzustellen. Sie wollte sogar von dem
deutschen Vorschlag der Beschränkung der
Operationen auf die Besetzung eines Faust-
pfandes nichts wissen. Berchtold erklärte, Österreich-
Ungarn ,, hätte von einer einfachen Besetzung Belgrads gar nichts".
Diese Auffassung ist aber niemals nach Berlin
mitgeteilt worden. Auf den ursprünglichen deutschen
Vorschlag erfolgte keine weitere Antwort, als die in dem Tele-
gramm des Kaisers Franz Joseph vom 31. Juli enthaltene:
„Die im Zuge befindliche Aktion meiner Armee gegen Serbien kann durch
die bedrohliche und herausfordernde Haltung Rußlands keine Störung erfahren."
(Weißbuch Nr. 432.)
70 *>o<s>«oo<; '
Dies bedeutete die glatte Ablehnung des deutschen Vorschlages.
Durch die inzwischen bekannt gewordene russische Gesamtmobil-
machung wurde aber jede weitere deutsche Vermittlungstätigkeit
illusorisch gemacht (Weißbuch Nr. 502, 503).
In Wien entschloß man sich am 31. Juli mit Rücksicht auf
das deutsche Drängen lediglich dazu, auf die englischen Vor-
schläge einzugehen ; man wollte dabei zwar in der Form Entgegen-
kommen zeigen, aber ,, sorgsam vermeiden, den englischen Antrag in
meritorischer Hinsicht anzunehmen". Die Antwort auf Tschirschkys
Ersuchen vom 29. Juli (Rotbuch 1919, III, Nr. 65) wurde so
spät nach Berlin gesandt, daß sie erst am 1. August dort an-
langte. In den deutschen und österreichisch-ungarischen Akten
hat sie weiter keine Spur hinterlassen. Es ist also anzunehmen,
daß sie der deutschen Regierung bis zum Erscheinen des ersten
österreichisch-ungarischen Rotbuches unbekannt geblieben ist.
Nur der österreichisch-ungarische Botschafter in London hat von
jener Weisung seiner Regierung Gebrauch gemacht und Grey
bewogen, im Sinne dieses bedingten Entgegenkommens nach
Petersburg zu telegraphieren (Rotbuch 1919, III, Nr. 94, Blau-
buch Nr. 135).
Um nicht in ihrer Aktion gegen Serbien gestört zu werden,
knüpfte die Wiener Regierung ihr Entgegenkommen auf die
englischen Vorschläge an die Bedingung, daß die russische Mo-
bilisierung gegen Österreich-Ungarn eingestellt werde. Diese
Forderung läßt sich immerhin vertreten, denn es wäre für Öster-
reich-Ungarn doppelt nachteilig gewesen, unter dem militärischen
Druck Rußlands nachgeben zu müssen. Ein solches Zurück-
weichen Wiens vor der russischen Kriegsdrohung mag ursprünglich
das Ziel der Petersburger Regierung gewesen sein. Dann ist die
gefährliche Maßnahme der am 25. Juli beschlossenen Teilmobil-
machung als Erwiderung auf den schroffen Ton und die weit-
gehenden Forderungen der österreichisch-ungarischen Note an
Serbien anzusehen. Inzwischen waren aber Sasonow die mili-
tärischen Pferde durchgegangen, die er in sein diplomatisches
Gefährt eingespannt hatte. Die russische Gesamtmobilmachung
änderte die Dinge von Grund auf. Die militärischen Druckmittel
wurden Selbstzweck, während die diplomatischen Verhandlungen
nur noch zur Bemäntelung der Mobilmachung dienten.
Gänzlich von der Auseinandersetzung mit Serbien hypno-
tisiert, konnte oder wollte die Wiener Regierung den Ernst der
Lage nicht erkennen. Sie hatte sich anscheinend ganz mit der
Möglichkeit abgefunden, daß ,, Rußland den Moment für die große
Abrechnung mit den europäischen Zentralmächten bereits für ge-
kcmimen erachtete" (Rotbuch 1919, II, Nr. 42). Die ungeheuren
71
Lasten des Weltkrieges sollten dann auf die breiten Schultern
des wehrhaften deutschen Bundesgenossen abgebürdet werden.
Bella gerant alii. . . .
Sehr befremdlich erscheint, daß Berchtold — möglicherweise
mit Absicht — eine Antwort nach Berlin (London und Peters-
burg) sandte, die sich nicht mit dem englischen Vorschlag deckte
(siehe Gooss, S. 237 ff.). Unverantwortlich ist, daß man in Wien
auf den ursprünglichen deutschen Vorschlag der Besetzung
eines Faustpfandes überhaupt nicht einging. Mit einer Leicht-
fertigkeit, die fast den Verdacht der Böswilligkeit aufkommen
lassen könnte, setzte man den Bundesgenossen den Gefahren
eines Weltkrieges aus, um einiger Gradunterschiede willen, die
bei dem Erfolge gegen Serbien auf dem Spiele standen. Das
Wiener Verhalten hat zudem den festwurzelnden Verdacht erzeugt,
daß Berlin die Vermittlung nicht ernstlich betrieben oder gar
seinerseits vereitelt habe.
Bei der Beurteilung der deutschen Vermittlungstätigkeit
in Wien muß zunächst der Gedanke abgelehnt werden, den die
Alliierten und Assoziierten Mächte in ihrer Erwiderung auf die
deutschen Gegenvorschläge ausgesprochen haben, es sei der Ber-
liner Regierung mit ihren Vorstellungen nicht ernst gewesen,
und m.an könne annehmen, ,,daß nach einem in dem deutschen
Auswärtigen Amte üblichen Brauche offiziöse Mitteilungen oder
eine vorherige Vereinbarung zwischen denjenigen stattgefunden
hätten, die tatsächlich die Macht besaßen, und daß diese Mit-
teilungen oder diese Vereinbarung anders gelautet hätten, als die
durch den amtlichen Draht übermittelten Botschaften". Man
mag dem Umstand keine Beweiskraft zumessen, daß keinerlei
Anzeichen für derartige geheime Verabredungen und für den
Einfluß von Personen vorhanden sind, die außerhalb des Kreises
der wirklich Verantwortlichen standen, jedoch „tatsächlich die
Macht besaßen". Es kann sich aber niemand der Sinnlosigkeit
der Vorstellung verschließen, daß Bethmann Hollweg mit seinen
so häufig wiederholten ernsten Mahnungen nicht das bezweckt
hätte, was seine Worte sagten. Es ist auch unzutreffend, was die
Herausgeber des Deutschen Weißbuches, Montgelas und Schücking,
in ihren Vorbemerkungen sagen, daß gerade ,, besonders delikate
Angelegenheiten zunächst in Privatbriefen zwischen den be-
teiligten Personen besprochen werden," und daß dieser Brauch
,,auch in Angelegenheiten der auswärtigen Verwaltung eine be-
deutsame Rolle gespielt habe". Der Umstand, daß außenpolitische
Fragen in den allermeisten Fällen eine schnelle Behandlung er-
fordern, verbietet bereits, daß sie ,, zunächst" privatim zwischen
den Beteiligten erörtert werden. Im deutschen diplomatischen
72
Dienst sind Privatbriefe verhältnismäßig selten zur Ergänzung
der amtlichen Berichterstattung benutzt worden. Telegramme,
die nur an eine bestimmte Person gerichtet sind, kommen kaum
vor. Im auswärtigen Dienst anderer Länder ist dies wesentlich
anders. Die von Oman zitierten Telegramme sind fast zur Hälfte
„Sir E. Grey, private" adressiert. Im deutschen diplomatischen
Dienst wurden Privatbriefe in der Regel nur zwischen befreundeten,
also meist gleichaltcrigen Beamten gewechselt. In den Akten
findet sich kein einziges persönliches Schreiben von Pourtales an
Jagow, der einem jüngeren Jahrgang angehörte. Wohl aber finden
sich solche vor, die Tschirschky, Flotow und Lichnowsky, die aus
derselben Altersklasse hervorgegangen sind, an ihn gerichtet
haben. Die weitaus meisten Privatbriefe betreffen den Klatsch,
der vor dem Krieg die große internationale Familie der Diplomaten
aller Länder interessierte, und andere Nachrichten, die sich nicht
für eine ernste Berichterstattung eigneten. In sonstigen Fällen
wurde dieser Weg meist nur dann beschritten, wenn sich jemand
seiner Sache nicht recht sicher fühlte und so zu vermeiden hoffte,
sich gewissermaßen aktenmäßig zu blamieren: wenn z. B. seine
Voraussagen nicht eintrafen. In diesem letzteren Sinne führte der
Nebenweg meist nicht zum Ziel, denn Briefe von politischem Belang
sind in der Regel zu den Akten genommen worden, zum mindesten
im Auszuge.
Der ernsteste Einwand, der seitens der Alliierten und Asso-
ziierten Mächte gegen den Wert und die Bedeutung der deutschen
Vermittlungstätigkeit in Wien zwischen dem 27. und 30, Juli
erhoben wird, ist der, daß diese Vermittlung zu spät eingesetzt
habe. Aber nicht Deutschland, sondern Rußland trägt die Schuld
daran, daß sich die Ereignisse so sehr überstürzt haben. Bereits
am 27. Juli, ehe sie sich von der Nachgiebigkeit Serbiens selbst
überzeugt hatte, forderte die deutsche Regierung Wien zum Ein-
lenken auf (Weißbuch Nr, 277). Unter Hinweis auf das serbische
Entgegenkommen machte sie am 28. Juli ihren an sich recht
glücklichen Vorschlag, es mit der Besetzung eines Faustpfandes
bewenden zu lassen (Weißbuch Nr. 323). Dies geschah, ehe die
russische Teilmobilmachung bekannt geworden war (Weißbuch
Nr. 343, 385) und bevor Lichnowsky meldete, Grey habe ihm
mitgeteilt, England werde im Fall einer europäischen Konflagration
nicht neutral bleiben (Weißbuch Nr. 368).
Der deutschen 'Regierung war bekannt, daß für die öster-
reichisch-ungarische Mobilmachung gegen Serbien sechzehn Tage
zu rechnen seien (Weißbuch Nr. 19) und daß die eigentlichen Ope-
rationen nicht vor dem 12. August beginfien würden (Weißbuch
Nr. 213, 245, 323). Sie durfte also glauben, daß reichlich Zeit
73
zur Vermittlung vorhanden sei. Daß ein ernstes militärisches
Vorgehen gegen Serbien nicht unmittelbar auf die Kriegserklärung
folgen könne, wußten zweifellos auch die anderen europäischen
Kabinette. Jeder Generalstab kannte die Schwierigkeiten des
Geländes und die Unzulänglichkeit der Bahnen in diesem Auf-
marschgebiet. Der Vorwurf des zu späten Handelns stellt also
nur einen Versuch der Dreiverbandsmächte dar, die Schuld an
der Überstürzung der Entwickelung, die sie in erster Linie traf,
auf Deutschland abzuwälzen.
Die Telegramme Bethmann Hollwegs zeigen eine stetige
Steigerung des Ernstes und der Dringlichkeit der Sprache. Im
wesentlichen handelt es sich aber um Variationen der gleichen
Argumente. Zunächst erklärt er, daß Deutschland Vermittlungs-
vorschläge anderer Mächte eben wegen seiner Beziehungen zu
diesen Mächten nicht ablehnen könne. Dieses Argument verstärkt
er mit dem Hinweis darauf, daß Deutschland und Österreich bei
der Ablehnung einer Vermittlung als Kriegstreiber erscheinen
würden. Die Folge wäre, daß sich die öffentliche Meinung Europas
von Österreich-Ungarn, bzw. von den Mittelmächten abkehren
würde. Daraus würde eine ungünstige diplomatische Situation
erwachsen. Ferner würden die Verbündeten bei einer ablehnenden
Haltung für die etwaige Entstehung eines Weltbrandes verant-
wortlich werden. Ihre Aufgabe müsse sein, diese Katastrophe
aufzuhalten. Ihre Stellung im eigenen Lande würde anderenfalls
unhaltbar. Zum mindesten müßte die Verantwortung auf Rußland
abgewälzt werden. Schließlich als letztes und stärkstes Argument
drohte Bethmann mit der Kündigung der bundesgenössischen
Unterstützung. „Wir müssen es ablehnen, uns von Wien leicht-
fertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge in einen Weltbrand
hineinziehen zu lassen."
Bethmann Hollweg schwankte offensichtlich zwischen der
Aufgabe einen ,, Modus zu finden, der die Verwirklichung des von
Österreich-Ungarn erstrebten Zieles ermöglichte, der großserbischen
Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden," und zu verhindern,
daß gleichzeitig ein Weltkrieg entfesselt werde, bzw. wenn dieser
nicht zu vermeiden sei, die Bedingungen, unter denen er zu führen
wäre, nach Tunlichkeit zu verbessern (Weißbuch Nr. 323). Zweifel-
los wünschte er, den Weltkrieg zu vermeiden. Er wollte aber,
wenn irgend möglich, das ursprüngliche Ziel, die Unterbindung
der großserbischen Propaganda, nicht opfern. Von Tag zu Tag,
fast von Stunde zu Stunde, trat das größere Ziel, die Erhaltung
des Weltfriedens, mehr in den Vordergrund. Daß dies dem Kanzler
zum Bewußtsein kam, sieht man in der Steigerung seiner Argu-
mentation. Der Hinweis auf die Gefahr, daß die Mittelmächte als
74
Kriegstreiber erscheinen würden und daß dies die Stellung der
deutschen Regierung im eigenen Lande unmöglich mache, ist der
Auftakt zu der Erklärung, daß Berlin Wien nicht unter allen Um-
ständen Gefolgschaft leisten werde. Die Warnung vor der Abkehr
der öffentlichen Meinung Europas ist im Grunde die gleiche Ar-
gumentation, wie die, daß Rußland ins Unrecht gesetzt werden
müsse. Letztere wurde ja auch gelegentlich unterstrichen durch
einen Hinweis auf den (angeblich) von London und Paris auf Peters-
burg ausgeübten Druck. Dies ,,ins Unrecht setzen" spielte in
jenem Augenblick, wie überhaupt in der Politik, eine besonders
große Rolle. Dieselbe Warnung, die von Berlin nach Wien ging,
ist auch von Paris nach Petersburg gerichtet worden. Die fran-
zösische Regierung hat die russische gewarnt, sich nicht durch
offenkundige Mobilmachung gegenüber Deutschland ins Unrecht
zu setzen. Ursprünglich hatte sich Serbien gegen Österreich-
Ungarn ins Unrecht gesetzt. Dies suchte die Wiener Regierung
zu benutzen, um den großserbischen Treibereien ein Ende zu machen.
Da sie in ihrem Vorgehen das Maß des Erwarteten und Zugebilligten
erheblich überschritt, setzte sie sich ins Unrecht. Dies benutzte
Rußland, um seinerseits durch Mobilmachung und scharfes Vor-
gehen gegen Österreich-Ungarn, sowie durch einen Appell an die
Solidarität seiner Verbündeten eine europäische Krisis herbeizu-
führen, die mit einem, zum mindesten diplomatischen Erfolg des
Dreiverbandes enden sollte. Grey hat Lichnowsky am 31. Juli
(Weißbuch Nr. 489) auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß Wien
seinerseits Rußland ins Unrecht setzte, damit das Gleichgewicht
wieder hergestellt werde, und er die Möglichkeit erhielte, auf Peters-
burg und Paris einen Druck auszuüben. Fraglich erscheint, ob
es Grey mit seinen Absichten ernst war. Seine Argumentation
stimmt aber jedenfalls mit der von Bethmann Hollweg überein.
Den Gegner ins Unrecht zu setzen, war namentlich bei dem etwaigen
Eintritt in den Krieg von überragender Bedeutung. Wie sehr sich
Rußland durch seine ungerechtfertigte Mobilmachung gegen Deutsch-
land ins Unrecht gesetzt hat, zeigen deutlich die Bemühungen
der Ententemächte, diese Tatsache zu bemänteln bzw. totzu-
schweigen.
Allmählich scheint die deutsche Regierung zu der Auffassung
gekommen zu sein, daß ihre Bundestreue von der Wiener Regierung
mißbraucht werde. Diese Einsicht, verbunden mit der Erkenntnis,
daß Rußland auf das schnellste mobilisiere, und der Mitteilung,
daß England nicht neutral bleiben werde, haben jene Kopflosigkeit
verursacht, von der die deutschen Akten ein so beredtes Zeugnis
ablegen. Die deutsche Regierung, die einen Weltkrieg nicht ge-
wollt hatte, deren Präventivaktion gegen Serbien letzten Endes
75
nur den Zwecken der Erhaltung des europäischen Friedens dienen
sollte, sah sich plötzlich in einer Falle. Die Haltung ihres Bundes-
genossen, den sie unterstützt hatte, versetzte sie ins Unrecht.
Während sie bisher wohl geglaubt hatte, um den Weltkrieg zu
vermeiden, genüge es, wenn Deutschland selbst ihn nicht wolle,
sah sie sich jetzt diplomatisch eingefangen und erkannte, daß ihre
Gegner sie um keinen Preis, auch nicht um den Preis einer diplo-
matischen Niederlage, herauslassen würden. Denn der Entschluß
zum Nachgeben, der überdies mit einer beispiellosen Schnelligkeit
hätte gefaßt werden müssen, hing nicht von Berlin, sondern von
Wien ab, und in Wien war man, wie wir heute wissen, wie man
damals aber schon geahnt haben muß, zum Einlenken in diesem
Sinne nicht bereit. Der Kaiser hat die Lage ebenfalls so emp-
funden und am 30. Juli in der Sprache seiner Marginalien folgender-
maßen ausgedrückt: ,, England dekouvriert sich im Moment, wo
es der Ansicht ist, daß wir im Läpp jagen eingestellt
sind und sozusagen erledigt!" (Weißbuch Nr. 368). ,, Dabei
wird uns die Dummheit und Ungeschicklichkeit un-
seres Verbündeten zum Fallstrick gemacht....
Das Netz wird uns plötzlich über den Kopf gezogen.. . ." (Weiß-
buch Nr. 401).
3. Rußlands Unnachgiebigkeit
Bezeichnend für die Haltung der russischen Regierung gegen-
über dem österreichisch-serbischen Konflikt ist der Umstand, daß
der Minister des Äußern seinen Standpunkt im Laufe der kritischen
Tage andauernd geändert hat. Seine Sprache gegenüber dem
österreichisch-ungarischen Botschafter wurde zwar scheinbar ver-
söhnlicher, tatsächlich schraubte er seine Forderungen mehr und
mehr hinauf und erfand immer neue Einwände an Stelle derer,
die von der Wiener Regierung aus dem Wege geräumt waren.
Sasonow erklärte am 24. Juli Pourtales, daß dasjenige, was
Rußland nicht gleichgültig hinnehmen könne, die eventuelle Absicht
Österreichs wäre, ,, Serbien zu verschlingen" (Weißbuch Nr. 160,
204). Am 25. Juli sagte der Minister dem englischen Botschafter,
Rußland könne nicht zulassen, daß Österreich Serbien zermalme
und die Vormacht auf dem Balkan würde. Er sprach bei dieser
Gelegenheit von der Eventualität eines militärischen Vorgehens
Österreich - Ungarns gegen Serbien, ohne irgendwelche Folge-
rungen für Rußland daraus zu ziehen (Blaubuch Nr. 17). Auch
gegenüber dem italienischen Botschafter beschränkte sich Sasonow
am gleichen Tage nach Angabe des Gelbbuches (Nr. 52) auf die
Erklärung, man könne von Rußland nicht verlangen, zuzulassen,
daß Serbien zertreten werde.
76
Am 26. Juli äußerte Sasonow zu Pourtales, Rußland „könne
eine Herabwürdigung Serbiens zum Vasallenstaat Österreichs
unmöglich dulden" (Weißbuch Nr. 217). Noch am selben Tage
erhielt er durch Szapary erneut beruhigende Zusicherungen über
die Absichten Österreich-Ungarns. Es handele sich ebensowenig
um einen Vorstoß auf dem Balkan, wie um die Absicht, mit Ruß-
land Händel zu suchen. Daß Österreich-Ungarn keinen terri-
torialen Gewinn anstreben und auch nicht die Souveränität Serbiens
anzutasten gedächte, war ihm ebenfalls zugesichert worden (Weiß-
buch Nr. 238, 339).
Infolge dieser Aussprachen, die durch Unterredungen mit
Pourtales ergänzt wurden, trat eine merkliche Entspannung ein
(Weißbuch Nr. 282), die auch der englische und französische Bot-
schafter am 27. Juli feststellten (Blaubuch Nr. 55, Gelbbuch Nr. 64).
Sasonow formulierte an diesem Tage Buchanan gegenüber seine
Forderungen dahin, daß die territoriale Integrität Serbiens und
seine Rechte als die eines souveränen Staates gewährleistet werden
müßten, so daß es kein Vasallenstaat Österreichs würde. Auch
Pourtales gegenüber verlangte er nur die Schonung der serbischen
Souveränitätsrechte, während er zugab, daß Serbien eine ,, Lektion"
verdient habe.
Diese Entspannung sollte aber nicht von langer Dauer sein.
Am 26. und 27. Juli wurden in Rußland umfassende militärische
Maßnahmen getroffen. Auch in Paris, das bis dahin eine fried-
fertige Haltung gezeigt hatte, trat ein Stimmungsumschlag ein,
der in dem Telegramm Bienvenu-Martins an den Ministerpräsidenten
vom 27, Juli (Gelbbuch Nr. 62) zum Ausdruck kommt. Am gleichen
Tage sicherte Grey überdies dem russischen Botschafter unter
Hinweis auf die Kriegsbereitschaft der Flotte ,, diplomatische"
Unterstützung zu (Blaubuch Nr. 47). Benckendorff konnte be-
richten, daß Greys Sprache ,,viel klarer, merkbar fester" ge-
worden sei.
Als Folge dieser Vorgänge änderte Sasonow am 28. Juli, so-
bald er von der Kriegserklärung an Serbien erfuhr, seine Sprache
und gab wieder Befürchtung vor wegen der Zerschmetterung Serbiens
und der Einnahme einer beherrschenden Stellung auf dem Balkan
durch Österreich-Ungarn. Er verlang-te jetzt die unverzügliche
Einstellung der (noch gar nicht begonnenen) militärischen Opera-
tionen gegen Serbien (Orangebuch Nr. 48, Blaubuch Nr. 70). Die
erhaltenen Zusicherungen bezüglich Serbiens Unabhängigkeit und
Integrität waren, so erklärte er nunmehr dem englischen Bot-
schafter, unbefriedigend, falls Serbien von Österreich - Ungarn
angegriffen werde; der Mobilmachungsbefehl gegen Österreich
werde an dem Tage ausgegeben werden, an dem Österreich die ser-
bische Grenze überschritte (Blaubuch Nr. 72).
77
Dieses Ereignis wartete die russische Regierung jedoch keines-
wegs ab, sondern schritt ungesäumt zur Mobilisierung von vier
Armeebezirken gegen Österreich - Ungarn. Dem englischen Bot-
schafter gegenüber aber stellte Sasonow am 29. Juli das Verlangen
nach einer nachträglichen Feststellung oder Erklärung, um den
scharfen Ton des Ultimatums herabzustimmen (Blaubuch Nr. 78).
Er forderte also nunmehr ein Zurückweichen Österreich-Ungarns
vor der russischen Drohung. Szarpary gegenüber behauptete er
jedoch, Wien lehne jeden weiteren Gedankenaustausch ab. Als
dieser Irrtum ihm als solcher nachgewiesen und er an die bereits
erhaltenen Versprechungen erinnert wurde, erklärte er endlich,
in territorialer Hinsicht habe er sich überzeugen lassen, aber was
die serbische Souveränität anbelange, müsse er an dem Stand-
punkt festhalten, daß die Aufzwingung der österreichisch-unga-
rischen Bedingungen für Serbien ein Vasallentum bedeute (Rot-
buch 1919, III, Nr. 19). Ebenso sagte er zu Pourtales, ,, Rußlands
vitale Interessen verlangten nicht nur Schonung der territorialen
Integrität Serbiens, sondern auch, daß Serbien nicht durch An-
nahme der seine Souveränitätsrechte antastenden österreichischen
Forderungen zum Vasallenstaat Österreichs herabsinke. Serbien
dürfe keine Buchara werden." (Weißbuch Nr. 412.) Dem eng-
lischen und französischen Botschafter erklärte er unter Bezug-
nahme auf dies Gespräch, auch die deutsche Bürgschaft, daß Öster-
reich-Ungarn die serbische Integrität respektieren werde, genüge
ihm nicht (Blaubuch Nr. 97). Als ,, äußerstes Maß des Entgegen-
kommens" stellte der Minister am 30. Juli die sogenannte Sasonow-
formel (Weißbuch Nr. 421, Orangebuch Nr. 69) auf, in der von
Österreich-Ungarn die Aufgabe aller jener Forderungen verlangt
wurde, die (nach russischer Ansicht) die souveränen Rechte Serbiens
verletzten. Unter diesen Umständen wäre Rußland bereit, seine
militärischen Vorbereitungen einzustellen. Diese Bedingungen
sind in Berlin als unannehmbar angesehen worden (Orange buch
Nr. 63). Auch Grey suchte ihre Abänderung zu erreichen (Blau-
buch Nr. 103). Sogar Poincare ist der Ansicht gewesen, daß Öster-
reich-Ungarn diese Forderungen nicht annehmen werde (Blau-
buch Nr. 99).
Trotz der, allerdings sehr wenig energischen Bitte Greys,
seine Forderung im Sinne der englischen Vorschläge, die angeblich
auch von Frankreich befürwortet wurden (siehe Gelbbuch Nr. 112),
abzuändern und Österreich-Ungarn so viel Spielraum zu lassen,
daß es durch Besetzung Belgrads oder eines anderen Faustpfandes
Sicherheit für die zu gewährende Genugtuung erlange (Blau buch
Nr. 103), milderte Sasonow am 31. Juli seine Formel nur unwesent-
lich. Er begnügte sich nunmehr mit der Festsetzung der von
78
Serbien zu gewährenden Genugtuung durch die Großmächte, ver-
langte aber die Einstellung der Operationen gegen Serbien, während
er seinerseits lediglich eine abwartende Haltung in Aussicht stellte
(Orangebuch Nr. 67). Die russische Mobilmachung sollte also auf
jeden Fall ihren Fortgang nehmen.
In jener Zeit hatten die österreichisch-ungarischen Truppen
die Donau und Save noch nicht überschritten. Die russische Formel
bedeutete also die Ablehnung des von Berlin und London aus-
gegangenen Vorschlages, daß Österreich-Ungarn nach Besetzung
Belgrads oder eines anderen Gebietsteiles als Faustpfand die Ver-
mittlung der Mächte annehmen solle. Der Minister war selbst
mit einer formellen Erklärung, Österreich-Ungarn werde weder
das serbische Territorium schmälern, noch die serbische Souveränität
antasten, noch russische Balkan- oder sonstige Interessen ver-
letzen, nicht zufriedengestellt (Rotbuch 1919, III, Nr. 74). Nach-
dem seine sonstigen Bedenken durch österreichische Zusicherungen
zerstreut waren, verschanzte er sich hinter der angeblichen Be-
fürchtung eines serbischen Vasallentums, weil er wußte, daß einer
derartigen unbeweisbaren und unwiderlegbaren Behauptung mit
keinen greifbaren Garantien entgegengetreten werden konnte.
Als schließlich Wien die direkten Besprechungen mit Petersburg
auf Drängen Deutschlands wieder aufgenommen hatte (Rotbuch
1919, III, Nr. 44, Blaubuch Nr. 133), machte Sasonow in seinen
Runderlassen vom 2. August (Orangebuch Nr. 77 und 78) die ,, Würde
Serbiens" geltend, zu deren Wahrung Rußland die Maßnahmen
treffen müsse, die sich für die ganze Welt so verhängnisvoll erwiesen
haben.
V. Die deutsch-russische Krise
1. Die Gefahren militärischer MaSnalim^n
Der deutsche Lokalisierungsvorschlag (Weißbuch Nr. 100),
der am 24. Juli in Paris, London und Petersburg mitgeteilt wurde,
schloß mit den Worten: ,,Wir wünschen dringend die Lokalisierung
des Konfliktes, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge
der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konse-
quenzen nach sich ziehen würde". Mit der Möglichkeit eines Ein-
greifens Rußlands war von vornherein gerechnet worden. Die
deutsche Regierung war aber entschlossen, dieser Gefahr mit diplo-
matischen Mitteln entgegenzutreten, und hat hierzu ihren ursprüng-
lichen Standpunkt (der Nichteinmischung in den austro-serbischen
^•i>-o' "79
Streit) aufgegeben, sobald feststand, daß eine friedliche Lösung
des austro-serbischen Konfliktes nicht möglich sei.
Für die Beurteilung der deutschen Haltung ist wesentlich,
daß man in Berlin nicht mit der raschen Ausdehnung des Kon-
fliktes zu einer europäischen Krise rechnete (Weißbuch Nr. 115,
116, 125). Ungeachtet der Gefahr, die für den Frieden Europas
hiermit verbunden war, ergriff jedoch die russische Regierung
unmittelbar nach Bekanntwerden des österreichisch-ungarischen
Ultimatums an Serbien weitgehende militärische Maßnahmen. An
Warnungen hat es nicht gefehlt. Am 25. Juli sprach der englische
Botschafter Sasonow gegenüber persönlich ,,die ernste Hoffnung
aus, Rußland würde nicht durch Mobilisierung den Krieg beschleu-
nigen," und ,, warnte ihn, daß, wenn Rußland mobili-
siere, Deutschland nicht mit bloßer Mobili-
sierungzufrieden sein, noch Rußland Zeit lassen würde,
die seinige auszuführen, sondern wahrscheinlich so-
gleich den Krieg erklären würde" (Blaubuch Nr. 17).
Am 27. Juli ermahnte Buchanan den Minister nochmals, ,, nichts
zu tun, was einen Konflikt beschleunigen könnte" und ,,den Mobil-
machungsukas so lange als möglich hinauszuschieben" (Blaubuch
Nr. 44). Grey hat Lichnowsky, als dieser auf die Gefahren einer
russischen Mobilmachung hinwies, wiederholt versichert, daß er
einen beruhigenden Einfluß auf Petersburg ausübe (Weißbuch
Nr. 258, 357, 435). Das Blaubuch enthält aber kein einziges Tele-
gramm aus London, das eine Warnung vor der Mobilmachung
ausspricht. Auch Oman weiß hierüber nichts zu berichten. Der
englische Botschafter in Petersburg hat also lediglich aus eigenem
Antriebe gehandelt. Seine Warnungen hörten am 27. Juli auf.
Es gibt keinen Anhalt dafür, daß er seine Zusage an Pourtales
vom 28. Juli erfüllt habe, Sasonow die Gefahr der militärischen
Maßnahmen vor Augen zu halten (Weißbuch Nr. 338).
An freundschaftlichen Warnungen von deutscher Seite hat
es jedenfalls nicht gefehlt (Weißbuch Nr. 198, 219, 230, 338, 342,
343, 365, 378, 380, 401). Sie hatten zur Folge, daß Sasonow nicht
nur wiederholt die friedlichen Absichten Rußlands betonte und die
getroffenen militärischen Maßnahmen in Abrede stellte, sondern
auch, daß er am 26. Juli den Kriegsminister beauftragte, den
deutschen Militärattache über die Lage zu beruhigen. Suchom-
linow versicherte demgemäß dem Major von Eggeling, daß lediglich
Vorbereitungsmaßnahmen getroffen würden, und daß keine Mobil-
machungsorder ergangen sei. Erst wenn Österreich die serbische
Grenze überschritte, würden die vier südwestlichen Militärbezirke
mobilisiert werden, „unter keinen Umständen" aber jene an der
deutschen Front (Weißbuch Nr. 242). Diese Angaben waren jedoch
80
unzutreffend. Am 26. Juli hatte die Mobilmaciiung in Südrußland
zweifellos bereits begonnen. Sogar der Befehl, der die Festung
Kowno in Kriegszustand versetzte, datiert vom 26. Juli, d. h. zwei
Tage vor der österreichisch - ungarischen Kriegserklärung an
Serbien, ein Beweis dafür, daß sich Rußland in der Erweiterung
seiner militärischen Maßnahmen durch die Entwickelung der diplo-
matischen Verhandlungen in keiner Weise mehr stören ließ, und
daß diese diplomatischen Verhandlungen selbst russischerseits
vornehmlich dem Zwecke dienten, für die in rascherem Fortgange
befindliche Mobilmachung Zeit zu gewinnen.
Allein die französische Regierung hat es abgelehnt, in Peters-
burg zu Besonnenheit zu mahnen. Sie gab auch der russischen
Regierung bekannt, daß sie dieselbe nicht zurückzuhalten beab-
sichtige (Orangebuch Nr. 28, Blaubuch Nr. 53, Schlußabsatz).
Diese Stellungnahme muß auf die Petersburger Entschließungen
ebenso verhängnisvoll gewirkt haben, wie die Zurückbehaltung der
englischen Flottenreserven, auf die Benckendorff durch Grey
am 27. Juli ausdrücklich hingewiesen wurde (Blaubuch Nr. 47),
2. Die russische Teilmobilmachung
Die am 25. Juli beschlossene Teilmobilmachung gegen Öster-
reich-Ungarn wurde am 28. Juli bekanntgegeben (Blaubuch
Nr. 70, I).
Obwohl Österreich-Ungarn nur 8 Korps, und diese ausschließ-
lich gegen Serbien mobilisiert hatte, von einer militärischen Be-
drohung Rußlands also keine Rede sein konnte, mobilisierte
Rußland 13 Armeekorps allein gegen Österreich - Ungarn. Als
Grund hierfür wurde die österreichische Kriegserklärung an
Serbien angegeben (Blaubuch Nr. 70, I). Nachträglich wurden
auch die österreichisch-ungarischen Rüstungen und die angebliche
,, Weigerung des Grafen Berchtold, die Unterhandlungen zwischen
Wien und Petersburg fortzusetzen", zur Begründung angeführt
(Weißbuch Nr. 343, 385, Gelbbuch Nr. 95, 101, Orangebuch
Nr. 58, 77).
Bereits die ersten Nachrichten von militärischen Maßnahmen
Rußlands haben in Berlin am 26. Juli eine gewisse Beunruhigung
hervorgerufen. Diese äußerte sich einmal in den bereits erwähnten
Mahnungen zur Besonnenheit, die nach Petersburg, London und
Paris gerichtet wurden (Weißbuch Nr. 198, 199, 200, 219). Dann
aber auch in dem Telegramm Jagows nach Bukarest mit der
81
leisen Andeutung, daß möglicherweise der Bündnisfall eintreten
könnte (Weißbuch Nr. 214), sowie in seiner Anfrage in Wien nach
dem Stand der österreichisch-bulgarischen Verhandlungen (Weiß-
buch Nr. 228).
Am 27. Juli scheint die deutsche Regierung weniger unter
dem Eindruck des unmittelbaren Bevorstehens einer europäischen
Krisis gestanden zu haben. Am 28. Juli wird aber ihre Besorgnis
wegen der Mobilmachungsnachrichten aus Rußland deutlich er-
kennbar. Wie nicht anders zu erwarten, wurde jetzt auch die
Ansicht des Generalstabes gehört. Moltke faßte aber die Lage
noch sehr ruhig auf. Er teilte nicht die Wiener Ansicht, daß eine
ernste Warnung in Petersburg angezeigt sei, und machte sich hierin
die Auffassung der Reichsregierung zu eigen (Weißbuch Nr. 281,
299). Auch sein Urteil über die serbische Antwortnote lautete
dahin, daß nunmehr jeder Kriegsgrund für Österreich-Ungarn
fortfalle. (Weißbuch Nr. 293). Gründe zur Besorgnis blieben aber.
Diese vermehrten sich am 29. Juli mit den immer zahlreicher
einlaufenden russischen Mobilmachungsnachrichten, zu denen nun-
mehr auch Anzeichen französischer Kriegsvorbereitungen traten.
Die Beunruhigung in Berlin äußerte sich in einer Warnung nach
Petersburg und Paris. Der russischen Regierung wurde mit-
geteilt, daß Deutschland durch weiteres Fortschreiten der Mobil-
machungsmaßnahmen zur Mobilmachung gezwungen würde, und
daß dann der europäische Krieg kaum noch aufzuhalten sein
werde (Weißbuch Nr. 342). Der Botschafter in Paris wurde an-
gewiesen, darauf aufmerksam zu machen, daß sich Deutschland
durch französische Kriegsvorbereitungen zu Schutzmaßregeln ge-
zwungen sehen würde (Weißbuch Nr. 341). Sonst ist aber bis
zum Eintreffen der Nachricht von der russischen Teilmobilmachung
nichts von Belang veranlaßt worden.
Eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit Deutschlands
bedeutete diese Teilmobilmachung nicht. Die russische Re-
gierung versicherte ferner am 29. Juli sowohl in Petersburg (Orange-
buch Nr. 49, Blaubuch Nr. 93, II) als auch in Berlin (Weißbuch
Nr. 399, Orangebuch Nr. 51), daß die militärischen Maßnahmen
Rußlands keineswegs gegen Deutschland gerichtet seien. Sasonow
hat Pourtales feierlich beteuert, daß gegen Deutschland nicht das
geringste geschehe (Weißbuch Nr. 343). Zu gleicher Zeit wurden
jedoch in den nordwestlichen Gouvernements umfassende Kriegs-
vorbereitungen getroffen, die ausschließlich Deutschland gelten
mußten. Am 28. Juli waren sogar im Hafen von Petersburg die
Funkenapparate eines deutschen Dampfers entfernt worden.
Die russische Regierung wurde noch am 29. Juli auf die ver-
hängnisvollen Folgen hingewiesen, welche die Mobilmachung gegen
82
Österreich-Ungarn für die deutsche Vermittlungstätigkeit haben
müsse. Das betreffende Telegramm Bethmann Hollwegs lautet:
„Russische Mobilmachung an österreichischer Grenze wird, wie ich an-
nehme, entsprechende österreichische Maßregel zur Folge haben. Wie weit
dann die rollenden Steine noch aufzuhalten sind, ist schwer zu sagen, und ich
fürchte, daß friedliche Absichten Herrn Sasonows dann nicht mehr verwirk-
licht werden können. Um, wenn möglich, drohende Katastrophe abzuwenden,
wirken wir in Wien darauf hin, daß die österreichisch-ungarische Regierung
in Bestätigung ihrer früheren Versicherung Rußland noch einmal formell er-
klärt, daß ihr territoriale Erwerbungen in Serbien fernliegen und ihre mili-
tärischen Maßnahmen lediglich eine vorübergehende Besetzung bezwecken,
um Serbien zur Schaffung von Garantien für künftiges Wohlverhalten zu zwingen.
Gibt Österreich-Ungarn eine solche Erklärung ab, so hat Rußland alles
erreicht, was es will. Denn daß Serbien die , verdiente Lektion' erhalten müsse,
hat Herr Sasonow Euerer Exzellenz gegenüber selbst zugegeben.
Wir erwarten daher, daß Rußland, falls unser Schritt in Wien Erfolg
hat, keinen kriegerischen Konflikt mit Österreich herbeiführt." (Weißbuch
Nr. 380.)
Kaiser Wilhelm machte ebenfalls am 29. Juli den Zaren durch
ein persönliches Telegramm auf die verhängnisvolle Wirkung auf-
merksam, welche die russische Teilmobilmachung auf die von
Deutschland betriebene Vermittlung ausüben müßte (Weißbuch
Nr. 359).
Die russische Regierung ließ sich aber von der planmäßigen
Fortsetzung ihrer Kriegsmaßnahmen nicht abbringen. Die dem
österreichisch-ungarischen Botschafter in Petersburg in Aussicht
gestellte ,,note explicative", welche die russische Teilmobilmachung
rechtfertigen sollte, ist niemals ergangen (Weißbuch Nr. 378, 723,
Rotbuch 1919, III, 19, 71). Die russischen Generäle drängten
zum Kriege ; der Zar und seine Minister ließen sich von ihnen auf
die Bahn unwiderruflicher und verhängnisvoller Maßnahmen
treiben.
Die russische Teilmobilmachung, die offensichtlich ganz
unerwartet frühzeitig erfolgte, muß der Berliner Regierung den
ungeheuren Ernst der Lage plötzlich vor Augen geführt haben.
Es sind zwar am 29. Juli keine ernsthaften militärischen Maß-
nahmen getroffen worden, doch erfolgten am 29. und 30. Juli
politische Schritte von Bedeutung.
Bekanntlich fand am 29. Juli abends in Potsdam eine Be-
ratung statt. Wie die Lage beurteilt wurde, ist aus dem ersicht-
lich, was anschließend geschah. Der Kaiser sandte ein zweites
Telegramm an den Zaren,, in dem er auf die deutsche Vermitt-
lungstätigkeit hinwies und vor den Folgen der Mobilmachung
warnte (Weißbuch Nr. 359). Bethmann Hollweg ließ den eng-
lischen Botschafter kommen und machte ihm ein Angebot für die
83
Neutralität Englands (Weißbuch Nr. 373, Blaubuch Nr. 85).
Dieser Schritt erfolgte ohne Kenntnis der Erklärung Greys an
Lichnowsky, England werde im Fall eines europäischen Kon-
fliktes nicht neutral bleiben (Weißbuch Nr. 368). Er zeugt von
einer so weit gehenden Verkennung der tatsächlichen Haltung
Englands, daß man selbst unter Berücksichtigung der Irreführung
durch London annehmen könnte, daß die russische Teilmobil-
machung an diesem Abend eine gewisse Kopflosigkeit zur Folge
hatte. Um so bemerkenswerter ist es, daß keine militärischen
Maßnahmen von Bedeutung angeordnet worden sind.
Ebenfalls an diesem Abend gingen eine Reihe der oben be-
sprochenen Mahnungen zum Einlenken nach Wien (Weißbuch
Nr. 377, 384, 385, 395, 396). Ebenso die Mitteilung nach Peters-
burg und London, daß deutscherseits die Vermittlung weiter
betrieben werde (Weißbuch Nr. 392, 393, 397).
Ferner wurde das Ultimatum an Belgien in einem verschlosse-
nen Umschlag nach Brüssel gesandt (Weißbuch Nr. 375, 376).
Es sollte hier gewissermaßen auf Eis liegen. Die Regierung be-
hielt es in ihrer Hand, diesen Erlaß zurückzuziehen, ohne daß
sein Inhalt auch nur zur Kenntnis des Gesandten gelangte, wenn
der Lauf der Ereignisse sich günstig entwickelte. Dieses Ulti-
matum ist bereits am 26. Juli von Moltke entworfen worden.
Es gehörte offensichtlich zu den Mobilmachungsvorbereitungen
des Generalstabs. Wie wenig das Auswärtige Amt auf einen
Krieg gerüstet war, sieht man daran, daß es seinerseits keine Vor-
bereitungen für einen Durchmarsch durch Belgien getroffen hatte
und auch in den folgenden Tagen bei den Verhandlungen mit
London niemals auf die frühere Haltung Englands in dieser Frage
hingewiesen hat. Infolgedessen konnte die englische Regierung
die Verletzung der belgischen Neutralität als Hauptgrund für ihren
Eintritt in den Krieg hinstellen.
Am 29. Juli wurde ferner ein Telegramm nach Kopenhagen
gesandt, das die Möglichkeit eines europäischen Krieges vorsieht
(Weißbuch Nr. 371), ebenso wie eine Weisung nach Stockholm
vom 30. Juli (Weißbuch Nr. 406). Dagegen wurde auf die Bitte
des rumänischen Gesandten, rechtzeitig von dem etwaigen Eintritt
des Bündnisfalles verständigt zu werden, nichts veranlaßt (Weiß-
buch Nr. 351). Vielmehr wurde dem König Carol nahegelegt,
im Sinne des Friedens auf Petersburg einzuwirken (Weißbuch
Nr. 389). Erst in einem Telegramm an den König vom 31. Juli
appellierte der Kaiser an Rumäniens Vertragstreue (Weißbuch
Nr. 472). Tatsächlich ist aber schon am 30. Juli nicht mehr auf
Rumänien gerechnet worden (vgl. Weißbuch Nr. 456).
6*
84
Am 29. Juli beurteilte auch der deutsche Generalstab die
Lage ungünstig. In seiner Denkschrift (Weißbuch Nr. 349),
die vor der amtlichen Bestätigung der russischen Teilmobilmachung
geschrieben worden ist, sah er voraus, daß das Vorgehen Ruß-
lands notwendig die Gesamtmobilmachung in Österreich-Ungarn
zur Folge haben werde. Dies bedeute den österreichisch-russischen
Konflikt, der für Deutschland den Bündnisfall mit sich bringe
und die Mobilmachung nach sich ziehe. Diese wiederum werde
die allgemeine Mobilmachung in Rußland und, wegen der franko-
russischen Allianz, auch in Frankreich zur Folge haben. Mit der
Möglichkeit, daß Rußland ohne äußeren Anlaß und Notwendigkeit
zur allgemeinen Mobilmachung schreiten werde, ist trotz der Maß-
nahmen an der deutschen Grenze offenbar in Berlin kaum ge-
rechnet worden. Den russischen Friedensbeteuerungen wurde
wohl noch immer Gewicht beigemessen.
Am 30. Juli nahm nach der Darstellung des Weißbuches
in Berlin die Besorgnis zu. Bethmann Hollweg ließ Grey bitten,
Frankreich zu bewegen, seine Kriegsvorbereitungen anzuhalten,
und in Petersburg die Annahme seiner eigenen Vorschläge durch-
zusetzen. Mit einem russischen Vorgehen gegen Deutschland
scheint man noch immer nicht gerechnet zu haben; denn England
wird nur aufgefordert, einen russischen Aufmarsch gegen
die österreichische Grenze zu verhindern. (Weiß-
buch Nr. 409.) Gleichzeitig richtete der eben erst aus London
zurückgekehrte Prinz Heinrich, wohl im Auftrage des Kaisers,
einen Appell an den König von England, der den gleichen Ge-
dankengängen folgte: Wenn der Frieden erhalten bleiben solle,
müßten die Kriegsvorbereitungen in Frankreich und Rußland
angehalten werden (Weißbuch Nr. 417). Auch wandte sich der
Kaiser nochmals an den Zaren (Weißbuch Nr. 420). Ferner tele-
graphierte er an den Kaiser Franz Joseph und drang auf die An-
nahme der deutschen Vermittlungsvorschläge (Weißbuch Nr. 437).
In der Sitzung des preußischen Staatsministeriums vom
30. Juli bezeichnete Bethmann Hollweg die Lage als nicht aus-
sichtslos. ,,Als Politiker gäbe er.... die Hoffnungen und Be-
mühungen auf Erhaltung des Friedens noch nicht auf." (Weiß-
buch Nr. 456.)
Im Laufe des 30. Juli sind auch Meldungen eingegangen,
die die Lage wieder hoffnungsvoller erscheinen ließen. Die Wiener
Regierung begann einzulenken (Weißbuch Nr. 432, 433, 448).
Die englische Regierung stellte ihre Einwirkung auf Petersburg
in Aussicht (Weißbuch Nr. 435). Ihr Versuch hierzu fiel aller-
dings äußerst unbefriedigend aus (Weißbuch Nr. 460). Die Hal-
tung Rußlands war nach wie vor bedrohlich. Sasonow blieb un-
nachgiebig, versprach aber, daß Feindseligkeiten gegen Österreich-
Ungarn einstweilen unterbleiben würden (Weißbuch Nr. 449).
85
Das Gesamtbild der Lage stellt ein Wettrennen zwischen den
russischen Rüstungen und der deutschen Vermittlungstätigkeit
dar. Die Aussichten für Deutschland waren angesichts der Kriegs-
treibereien in Petersburg von vornherein sehr gering. Berlin
hat aber Wien immer wieder angestachelt, das erforderliche Ent-
gegenkommen zu beweisen. England dagegen trieb zwar Deutsch-
land zu einer erhöhten Vermittlungstätigkeit an, machte aber
von seinem Einfluß auf Petersburg nur den denkbar geringsten
Gebrauch. Grey sah dem Rennen gespannt zu, es war ihm aber
offenbar gleichgültig, wie es auslief. Frankreich verhielt sich
bestenfalls passiv. Da Wien zu einem weitgehenden Entgegen-
kommen nicht bereit war, mußte der russische Kriegswille siegen.
Es mag sein, daß das Rennen von vornherein aussichtslos gewesen
ist. Die deutsche Regierung hat sich aber trotzdem bis zuletzt
um die Erhaltung des Friedens bemüht. Auch waren ihre Maß-
nahmen im wesentlichen zweckmäßig und erfolgversprechend,
was sich von den englischen Schritten in diesen letzten Tagen nicht
sagen läßt (vgl. Blaubuch Nr, 111). Daß man in Berlin den Welt-
krieg nicht wollte, geht. aus diesem Abschnitt der Verhandlungen
so deutlich hervor, daß sich jede Ausführung hierzu erübrigt.
Man darf aber auch anerkennen, daß nahezu nichts unversucht
gelassen wurde, was den Frieden erhalten konnte.
3. Die russische Gesamtmobilmachung
Am 29. Juli mittags teilte Sasonow dem deutschen Bot-
schafter mit, daß die russische Mobilmachung gegen Österreich-
Ungarn beschlossen sei und in wenigen Stunden veröffentlicht
werden solle. Der Botschafter bezeichnete diesen Schritt als für
den Frieden äußerst gefährlich und wies, wie er dies schon wieder-
holt an den vorhergehenden Tagen getan hatte, darauf hin, daß
die Mobilmachung gegen Österreich-Ungarn sich auch gegen
Deutschland richte, da Deutschlands vertragsmäßige Verpflich-
tungen gegen diese Macht allgemein bekannt seien (Weißbuch
Nr. 343).
Noch am gleichen Tage wurde jedoch die Gesamtmobilmachung
beschlossen*). Mit dem Befehl des Zaren in der Tasche, versicherte
der russische Generalstabschef um 3 Uhr nachmittags dem deut-
schen Militärattache, in den militärischen Vorkehrungen Ruß-
lands sei keine Änderung eingetreten. Nirgends sei bisher eine
Mobilmachung erfolgt und werde auch an den deutschen
Grenzen nicht beabsichtigt (Weißbuch Nr. 370).
*) Rene Puaux: Les Etudes de la Guerre, Heft 2, S. 131. (Amtliche
russische Mitteilung vom 5. 9. 1917.)
86
Abends zwischen 6 und 7 Uhr warnte der deutsche Botschafter
gemäß dem Telegramm vom selben Tage (Weißbuch Nr. 342)
erneut vor den Folgen einer Mobilmachung (Weißbuch Nr. 378).
Sasonow hat diese Mitteilung sehr erregt entgegengenommen
und sie, obwohl ihr Inhalt genau mit den früheren Warnungen
übereinstimmte, als Drohung ausgelegt, die er als Rechtfertigung
der bereits beschlossenen Mobilmachung gegen Deutschland zu
benutzen suchte. Er telegraphierte nach Paris und London:
„Der deutsche Botschafter erklärte mir heute den Beschluß seiner Re-
gierung, die eigene Mobilisierung durchzuführen, wenn Rußland die von ihm
betriebenen militärischen Vorbereitungen nicht einstellt. Indessen sind diese
von uns nur infolge der bereits stattgefundenen Mobilisation von acht Korps
in Österreich und infolge der offenbaren Unlust des letzteren, auf irgendwelche
Weise der friedlichen Beilegung des eigenen Streites mit Serbien zuzustimmen,
vorgenommen worden.
Da wir den Wunsch Deutschlands nicht erfüllen können, bleibt es uns
nur übrig, unsere Bewaffnung zu beschleunigen und mit der
wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit des Krieges zu
rechnen. Wollen Sie die französische Regierung davon in Kenntnis setzen
und ihr gleichzeitig unseren aufrichtigen Dank aussprechen für die mir gegen-
über im Namen der französischen Regierung erfolgte Erklärung
des französischen Botschafters, daß wir im vollen
Maße auf die Unterstützung des verbündeten Frank-
reichs rechnen können. Unter den gegenwärtigen Umständen ist
diese Erklärung für uns besonders wertvoll. Es wäre äußerst wünschens-
wert, daß auch England, ohne Zeit zu verlieren,
sich Frankreich und Rußland anschließt, denn nur auf
diese Weise wird es ihm gelingen, die gefährliche Störung des europäischen
Gleichgewichts abzuwenden." (Prawda Nr. 7 vom 9. 3. 1919, Orangebuch
Nr. 58.)
Ebenso wie er den Verbündeten gegenüber den Sachverhalt
fälschte, um den Eintritt des Bündnisfalles auch formell herbei-
zuführen, gab Sasonow dem Zaren eine falsche Darstellung der
Erklärung des deutschen Botschafters. Dies geht deutlich aus
dem Telegramm des Zaren an den Kaiser vom 29. Juli abends
hervor, in dem es heißt: ,, Danke für Dein versöhnliches und
freundschaftliches Telegramm. Dagegen war die heute von Deinem
Botschafter meinem Minister übergebene offizielle Mitteilung in
einem ganz anderen Tone gehalten." (Weißbuch Nr. 366.) Der
Unterschied bestand lediglich in der Auslegung Sasonows, nicht
im Wortlaut der Telegramme. Denn abgesehen davon, daß dienst-
liche Telegramme naturgemäß anders stilisiert werden als persön-
liche Mitteilungen regierender Herrscher, besteht kein Wider-
spruch zwischen der Warnung, ,,daß weiteres Fortschreiten der
russischen Mobilmachungsmaßnahmen Deutschland zur Mobil-
machung zwingen würde, und daß dann der europäische Krieg
kaum noch aufzuhalten sein werde", und den Worten Kaiser
Wilhelms: ,, Natürlich würden militärische Maßnahmen von selten
87
Rußlands, die Österreich als Drohung ansehen würde, ein Unheil
beschleunigen, das wir beide zu vermeiden wünschen, und meine
Stellung als Vermittler gefährden. . .". Das Telegramm des Kaisers
enthält sogar eine weitergehende Mahnung als das des Kanzlers.
Der Zar ist anscheinend von Anfang der Krise an zum Kriege
gedrängt worden. Bereits am 29. Juli telegraphierte er dem
Kaiser: ,,Ich sehe voraus, daß ich sehr bald dem auf mich aus-
geübten Druck erliegen und gezwungen sein werde, äußerste Maß-
nahmen zu ergreifen, die zum Kriege führen werden." (Weiß-
buch Nr. 332.) Noch am gleichen Tage erlag er dem Druck und
genehmigte die Gesamtmobilmachung. Abends ging das Tele-
gramm ein, in dem der Kaiser erklärte, daß er den Wunsch des
Zaren nach Erhaltung des Friedens teile, und daß die deutsche
Regierung ihre Bemühungen fortsetze, eine direkte Verständigung
zwischen Petersburg und Wien zu fördern (Weißbuch Nr. 359). Die
Wirkung dieses ,, versöhnlichen und freundschaftlichen Telegramms"
auf den Zaren ist aus den Verhandlungen des Suchomlinow-
prozesses bekannt. Der Zar rief in der Nacht vom 29. zum 30. Juli
sowohl den Kriegsminister wie auch den Generalstabschef tele-
phonisch an und befahl, die allgemeine Mobilmachung rück-
gängig zu machen und es bei der Teilmobilmachung gegen Öster-
reich-Ungarn bewenden zu lassen. Die beiden Generäle beschlossen,
diesem Befehl nicht Folge zu leisten. Zusammen mit Sasonow
stimmten sie am folgenden Tage den Zaren um, und die Gesamt-
mobilmachung nahm ihren Fortgang. Der russische General-
adjutant Fürst Trubetzkoi erklärte am 30. Juli dem General von
Chelius, das Telegramm des Kaisers habe einen tiefen Eindruck
auf den Zaren gemacht, aber dieser könne leider nichts mehr
ändern, denn die Mobilisierung gegen Österreich sei bereits be-
fohlen worden, und Sasonow habe wohl den Zaren überzeugt,
daß ein Zurückweichen nicht mehr möglich sei (Weißbuch Nr. 445).
Doch sagte er nichts von einer allgemeinen Mobilmachung. Pourta-
les berichtete ebenfalls am 30. Juli, ,,daß das Telegramm des Kaisers
seine Wirkung auf den Zaren nicht verfehlt habe, daß aber Sasonow
eifrig bemüht sei, daran zu arbeiten, daß der Zar fest bleibe".
(Weißbuch Nr. 401.) Die Gesamtmobilmachung wurde den
30. Juli über geheim gehalten. Sasonow verhandelte mit dem
deutschen Botschafter über die Vermittlung in Wien und stellte
die bekannte Formel auf, die in ihrer Anmaßung bereits von den
Entschlüssen zeugte, die jede Vermittlungstätigkeit vereiteln
sollten. Die allgemeine Mobilmachung verschwieg er.
Diese Geheimhaltung des Mobilmachungsbeschlusses ist viel-
leicht auf den Rat Vivianis vom 30. Juli zurückzuführen, ,,bei
den Vorsichts- und Verteidigungsmaßnahmen unmittelbar keinerlei
88
Anordnungen zu treffen, die Deutschland einen Vorwand zu einer
ganzen oder teilweisen Mobilmachung seiner Kräfte bieten würde".
(Gelbbuch Nr. 101.) Im gleichen Sinne berichtete Iswolski unter
Nr. 210, ebenfalls am 30. JuH:
,,Margerit, den ich eben gesprochen habe, sagte mir, die französische
Regierung, die sich keineswegs in unsere militärischen Vorbereitungen ein-
mischen will, würde in Anbetracht der fortgesetzten Verhandlungen wegen
Wahrung des Friedens es für äußerst wünschenswert halten, daß diese
Vorbereitungen einen möglichst wenig offenen und
herausfordernden Charakter tragen. Der Kriegsminister, der
denselben Gedanken entwickelte, sagte seinerseits Graf Ignatjew (dem russischen
Militärattache), wir könnten erklären, daß wir im höchsten Interesse des Friedens
bereit seien, die Mobilisationsmaßnahmen zeitweilig zu verlangsamen, was uns
nicht hindern würde, die militärischen Vorbereitungen fort-
zusetzen und sie sogar zu verstärken, indem wir uns nach
Möglichkeit der Massentruppentransporte enthalten. Um Ql'o Uhr findet eine
Ministerberatung unter Vorsitz Poincares statt, nach der ich sofort mit Viviani
zusammenkommen werde". (Prawda Nr. 7 vom 9. 3. 1919.)
Dieser Freundesrat blieb aber unbeachtet. Am 3 I.Juli früh
prangten die Mobilmachungsanschläge an allen Straßenecken
Petersburgs. Jeder Zweifel war nunmehr ausgeschlossen, und
der deutsche Botschafter meldete die Tatsache der allgemeinen
Mobilmachung nach Berlin (Weißbuch Nr. 473). Zugleich unter-
nahm er von sich aus Schritte, um die Rückgängigmachung dieses
verhängnisvollen Befehls zu erwirken (Weißbuch Nr. 535, 539).
Diese Schritte hatten keinen Erfolg.
Die russische Regierung suchte auch jetzt noch die Tatsache
der Gesamtmobilmachung im Ausland geheim zu halten, ver-
mutlich, um die deutschen Gegenmaßnahmen als Provokation
hinstellen zu können, wie dies in Frankreich mit Erfolg geschehen
ist. Asquith erklärte am 31. Juli im Unterhaus: ,,Wir haben soeben,
nicht aus Petersburg, sondern aus Deutschland erfahren, daß
Rußland eine allgemeine Mobilmachung seines Heeres und seiner
Flotte verkündet hat." (Weißbuch Nr. 576; vgl. auch Nr. 518.)
Sogar der russische Botschafter in Berlin war ohne Nachricht
(2. belg. Graubuch Nr. 20). Nur in Paris wußte man Bescheid.
Abends um 7 Uhr erklärte zwar die französische Regierung, noch
keine Kenntnis der Mobilmachung zu haben (Weißbuch Nr. 528,
Gelbbuch Nr. 117). Aber diese Angabe war erlogen. Denn Is-
wolski hat am 31. Juli berichtet, am Morgen sei ein Telegramm
von Paleologue eingetroffen, ,,das die volle Mobilisation der russi-
schen Armee ohne jede Ausnahme bestätigt". (Prawda Nr. 7,
vom 9. 3. 1919.)
Von den zahlreich einlaufenden Mobilmachungsmeldungen.
der Botschaft und der Konsulate in Rußland abgesehen, war die
89
deutsche Regierung auf die russische Gesamtmobilmachung nicht
vorbereitet. Der Kaiser äußerte am 1. August zum österreichisch-
ungarischen Legationsrat Graf Larisch, „daß die Tatsache der
allgemeinen Mobilmachung Rußlands ihn vollkommen überrascht
hätte". (Rotbuch 1919, III, Nr. 84.) Sasonow hat niemals
von dieser Möglichkeit gesprochen. Russischerseits war vielmehr
wiederholt versichert worden, daß eine Mobilmachung gegen
Deutschland nicht in Frage komme. Diese Tatsache ist wesent-
lich zur Beurteilung der russischen Absichten, und zweifellos wird
man damals in Berlin gerade aus der Unaufrichtigkeit dieser Er-
klärungen den Kriegswillen Rußlands gefolgert haben.
Die deutsche Regierung wurde durch die allgemeine Mobil-
machung in Rußland vor eine schwere Entscheidung gestellt.
Nicht nur Rußland hatte mobilisiert, auch in Frankreich waren
die Kriegsvorbereitungen weit vorgeschritten. Deutschland hatte
seinerseits lediglich Maßnahmen vorbeugender Art getroffen.
Es waren (am 29. Juli) die Truppen von den Übungsplätzen in ihre
Garnisonen zurückbeordert und die Urlauber zurückberufen worden.
Am 30. Juli wurde mit der Aufstellung des Grenzschutzes be-
gonnen. Keinerlei Mobilmachungsbefehl war ergangen. Nun-
mehr wurde, am 31. Juli mittags, ,, Drohende Kriegsgefahr" ver-
kündet und Rußland in einem mit zwölf Stunden befristeten Ulti-
matum aufgefordert, seine Kriegsmaßnahmen einzustellen (Weiß-
buch Nr. 490). Es erschien notwendig, von der russischen Re-
gierung hierbei auch die Einstellung der gegen Österreich-Ungarn
getroffenen Maßnahmen zu verlangen, um der Antwort vorzu-
beugen, die Mobilmachung sei lediglich gegen Österreich gerichtet
(Jagow zu Goschen, Blaubuch Nr. 121). Da aus Petersburg keiner-
lei Antwort einging, wurde der deutsche Botschafter am 1. August
angewiesen, den Krieg zu erklären (Weißbuch Nr. 542). Diesen
Auftrag führte er am 1. August, 7 Uhr abends, aus (Weißbuch
Nr. 588, Orangebuch Nr. 76).
Es hat niemals irgendein Zweifel darüber bestehen können,
daß die Gesamtmobilmachung der russischen Armee den Krieg
mit Deutschland bedeuten würde. Auch im Lager unserer Gegner
urteilte man nicht anders.
Nach dem französischen Gelbbuch über die französisch-
russische Allianz (Nr. 71) erklärte der französische General Bois-
deffre am 18. August 1892 bei den Verhandlungen über die Militär-
konvention dem Zaren Alexander III., daß die Mobilmachung
der Kriegserklärung gleichkomme. Mobilisieren heiße, seinen
Gegner zwingen, das gleiche zu tun. Die Mobilmachung habe
die Ausführung der strategischen Transporte und der Truppen-
zusammenziehungen zur Folge. Eine Million Mann an seiner
90
Grenze mobilisieren lassen, ohne gleichzeitig dasselbe zu tun,
hieße, sich jeder Möglichkeit der Sicherung begeben. Es hieße,
sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der mit einer Pistole
in der Tasche sich die seines Nachbarn an die Stirn drücken ließe,
ohne die seine hervorzuziehen. Der Zar Alexander pflichtete dieser
Auffassung bei.
Der Aufmarsch der zahlenmäßig weit überlegenen russischen
Streitkräfte bedeutete eine Bedrohung, welche die deutsche Re-
gierung niemals und unter keinen Umständen untätig mit-
ansehen konnte. Es mußten in solchem Falle unbedingt Gegen-
maßregeln getroffen werden, und diese Gegenmaßregeln konnten
nur in einem kriegerischen Vorgehen bestehen. Denn, wie der
ganzen Welt bekannt war, lag die Überlegenheit der deutschen
Armee in ihrer größeren Beweglichkeit. Die Sicherheit des Reiches
beruhte auf der schnellen Mobilmachung. Die Aussicht der deut-
schen Truppen, den Millionenheeren des Zaren erfolgreich zu
begegnen, begründete sich mit der Möglichkeit, sie nach rascher
vollzogenem Aufmarsch zu schlagen, ehe sie vollständig zusammen-
gezogen waren. Dies wußte alle Welt.
Rußland war es bekannt. Um Deutschland gegenüber einen
möglichst großen Vorsprung zu gewinnen, wurde die Tatsache
der Mobilmachung zunächst ängstlich geheim gehalten. Die
diplomatischen Verhandlungen scheinen zum sehr großen Teil
den Zweck verfolgt zu haben, die militärischen Vorbereitungen
Rußlands zu verschleiern. Dementsprechend heißt es in dem
,, Protokoll einer besonderen Beratung über die vorbereitenden
Kriegsarbeiten bezüglich Organisation des rückwärtigen Dienstes
an der Südwestfront gemäß Plan A", Petersburg, den 8. No-
vember 1912:
„Es ist unbedingt erforderlich, daß die Anordnung, die Verkündung
der Mobilmachung sei auch die Verkündung des Krieges, geändert wird. Eine
solche Anordnung kann zu schweren Mißverständnissen in den Beziehungen
zu denjenigen Mächten führen, mit denen auf Grund dieser oder jener politisclien
Umstände Krieg oder die Eröffnung der Feindseligkeiten, wenigstens nicht
gleich von Anfang an, beabsichtigt ist.
Andererseits kann es sich als vorteilhaft erweisen, den Aufmarsch zu
vollziehen, ohne die Feindseligkeiten zu beginnen, damit dem Gegner nicht
unwiederbringlich die Hoffnung genommen wird, der Krieg könne noch ver-
mieden werden. Unsere Maßnahmen müssen hierbei durch diplomatische
Scheinverhandlungen maskiert werden, um die Befürchtungen des
Gegners möglichst einzuschläfern.
Wenn solche Maßnahmen die Möglichkeit geben, einige Tage zu gewinnen,
so müssen sie unbedingt ergriffen werden." („Rußlands Mobilmachung für
den Weltkrieg," Anlage 5.)
In Frankreich haben sich Politiker und Militärschriftsteller
seit Begründung des Zweibundes mit jener Frage beschäftigt,
91
und Milliarden französischen Geldes sind allein zu dem Zwecke
verausgabt worden, die russische Mobilmachung zu beschleunigen.
In England war man sich über diese Lage der Dinge nicht
weniger im klaren. Der englische Botschafter hat, wie bereits
erwähnt, am 25. Juli Sasonow die ernste Hoffnung ausgesprochen,
Rußland werde nicht durch Mobilisierung den Krieg beschleunigen.
Er warnte ihn, wie das Blaubuch (Nr. 17) angibt, daß, wenn Ruß-
land mobilisiere, Deutschland nicht mit bloßer Mobilisierung
zufrieden sein, noch Rußland Zeit lassen werde, die seinige aus-
zuführen, sondern wahrscheinlich sogleich den Krieg erklären werde.
Die deutsche Regierung hat über ihre Haltung im Falle
einer russischen Mobilmachung von Anfang an keinen Zweifel
gelassen und frühzeitig darauf hingewiesen, daß eine derartige
Bedrohung der Sicherheit des Reiches nicht nur allen Verhand-
lungen ein Ende bereiten, sondern auch unabwendbar zum Kriege
führen müsse. Auf die ersten sicheren Nachrichten von russischen
Kriegsvorbereitungen an der deutschen Grenze hin hat der Reichs-
kanzler den Botschaftern in Petersburg, Paris und London am
26. Juli jene inhaltlich gleichlautenden Telegramme gesandt
(Weißbuch Nr. 198, 199, 200), in denen er auf die ernsten Folgen
hinwies, die ein derartiges Vorgehen haben müsse. Frankreich
und England wurden gebeten, einen beruhigenden Einfluß auf
Rußland auszuüben. In einem weiteren Telegramm nach Peters-
burg vom gleichen Tage heißt es wörtlich : ,,D i e M o b i 1 i -
sierung aber bedeutet den Krie g." (Weißbuch
Nr. 219.)
Als am 31, Juli die Meldung des deutschen Botschafters
einlief, daß in Rußland die allgemeine Mobilmachung angeordnet
sei, hat Deutschland weder sofort seinerseits mobilisiert, noch
sogleich den Krieg erklärt. Die deutsche Regierung sah sich aber
genötigt, ,, Drohende Kriegsgefahr" zu verkünden und in Form
eines Ultimatums Einstellung der militärischen Maßnahmen zu
verlangen. Die russische Regierung ließ diese Aufforderung un-
beantwortet. Sasonow erklärte dem deutschen Botschafter,
die Mobilmachung könne nicht mehr aufgehalten werden (Weiß-
buch Nr, 536). Das gleiche sagte der Zar in seinem Telegramm
vom 31. Juli (Weißbuch Nr. 487). Am 1. August telegraphierte
er dem Kaiser: ,,Ich verstehe, daß Du gezwungen bist, mobil zu
machen." (Weißbuch Nr. 546.) Auch ein letzter Versuch des
Botschafters, den Zaren zur Abwendung des Krieges zu bewegen,
blieb vergebens.
An Rußlands Willen, den Weltkrieg herbeizuführen,
konnte mit dem Augenblick kein Zweifel mehr bestehen, wo die
Petersburger Regierung sich zur allgemeinen Mobilmachung
92
entschloß. Diese Absicht bestätigt auch ein Telegramm Sasonows
nach London vom 2. August 1914, in dem er seinen Schritt zu
rechtfertigen suchte. Er telegraphierte:
„Deutschland ist offen bemüht, die Verantwortung für den Bruch auf
uns zu schieben. Unsere allgemeine Mobilmachung ist durch die riesige Ver-
antwortung hervorgerufen, die auf uns fallen würde, wenn wir nicht alle Vor-
sichtsmaßregeln treffen würden, während Österreich, sich auf Verhandlungen,
die den Charakter des Aufschubs trugen, beschränkend, Belgrad bombardiert.
Der Zar verpflichtete sich durch das Wort vor dem deutschen Kaiser, daß
er keine herausfordernden Handlungen unternehmen werde, solange die Ver-
handlungen mit Österreich fortgesetzt werden. Nach einer solchen Bürgschaft
und nach allen Friedensbeweisen Rußlands hatte Deutschland gar kein Recht
und konnte nicht unsere Behauptung bezweifeln, daß wir mit Freude jede
friedliche Lösung, die mit der Würde und der Unabhängigkeit Serbiens vereinbar
ist, annehmen würden. Ein andererAuswegwäremit unserer
eigenen Würde gänzlich unvereinbar und würde
natürlich das europäische Gleichgewicht durch Be-
festigung der Hegemonie Deutschlands erschüttern.
Dieser europäische und Weltcharakter des Konfliktes
ist unendlich wichtiger als der Anlaß, der ihn ge-
schaffen ha t." (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1909.)
Weil Rußland in erster Linie die Prestigefrage im Auge hatte,
wollte es nicht die Tage und Stunden warten, die eine diplomatische
Lösung des Konfliktes ermöglicht hätten !
Das vom Zaren in seinem Telegramm vom 31. Juli (Weiß-
buch Nr. 487) gegebene Ehrenwort, die russischen Truppen würden
keine herausfordernde Aktion unternehmen, solange die Verhand-
lungen mit Österreich-Ungarn andauerten, konnte den bedroh-
lichen Charakter der russischen Mobilmachung in keiner Weise
verringern. Denn es hätte ja ganz in Rußlands Hand gelegen,
diese Verhandlungen zum Scheitern zu bringen, sobald seine
gewaltigen Heere fertig aufmarschiert waren, und dann mit er-
drückender Übermacht in Deutschland einzufallen. Bethmann
Hollweg telegraphierte am 31. Juli nach London:
„Eine russische mobilisierte Armee an unserer Grenze, ohne daß wir
mobilisiert haben, ist auch ohne ,provocative action' eine Lebensgefahr für
uns. Die Provokation, deren sich Rußland dadurch schuldig gemacht hat,
daß es in einem Augenblick gegen uns mobilisiert hat, wo wir auf seine Bitten
in Wien vermittelten, ist überdies so stark, daß kein Deutscher es verstehen
würde, wenn wir dagegen nicht mit scharfen Maßregeln antworteten." (Weiß-
buch Nr. 529.)
Am 2. August telegraphierte er:
„Widerspruch zwischen den nicht anzuzweifelnden Erklärungen des
Zaren und Handlungen seiner Regierung im ganzen Verlauf der Krisis so offen-
kundig, und Haltung der Regierung trotz entgegenstehender Versicherungen
faktisch so unfreundlich, daß wir uns trotz Versicherung Zaren durch Ge-
samtmobilmachung schwer provoziert fühlen mußten." (Weißbuch Nr. 696.)
93
Die gegen Österreich-Ungarn gerichtete Mobilmachung be-
deutete bereits für unsere Verbündeten eine sehr ernste Gefahr.
Bei einer solchen teilweisen Mobilmachung hätte Rußland aber
mit dem Angriff zögern müssen, solange es nicht gegen Deutsch-
land gerüstet war, da es wußte, daß Deutschland in solchem
Falle mobilisieren und seinem Bundesgenossen zu Hilfe kommen
würde. Eine derartige Rückversicherung bestand für das Reich
nicht, sowie die russische Mobilmachung allgemein war. Deshalb
sind auch alle Vergleiche mit der russischen und österreichisch-
ungarischen Mobilisation im Jahre 1912 hinfällig. Keine Groß-
macht stand bereit, für Deutschland ins Feld zu ziehen, wenn die
russischen Heere sich in Marsch setzten, während im Gegenteil
andere Mächte auf diesen Augenblick warteten, um ebenfalls über
uns herzufallen. Deshalb konnte das Versprechen des Zaren
Deutschland keine Sicherheit bieten. Es bedurfte auch nicht
erst der Enthüllungen des Suchomlinowprozesses, um zu zeigen,
wie wenig damals das Wort des Zaren in Rußland galt. Denn,
obwohl Kaiser Wilhelm am 1. August in seinem letzten Telegramm
an den Zaren (Weißbuch Nr. 600) diesen dringend bat, seine
Truppen anzuweisen, auf keinen Fall die deutsche Grenze zu ver-
letzen, fielen noch am selben Tage russische Abteilungen in deut-
sches Gebiet ein. (Weißbuch Nr. 629, 662, 664.)
Im übrigen mag das Wort regierender Herrscher in jenen
Tagen in Berlin niedrig im Kurse gestanden haben, nachdem sich
die Zusage des Königs von England an Prinz Heinrich, England
werde sich in einem europäischen Konflikt neutral verhalten
(Weißbuch Nr. 207, 374), als gänzlich wertlos erwiesen hatte,
Kaiser Wilhelm zum mindesten scheint das Wort König Georgs
ernst genommen zu haben (Weißbuch Nr. 474; siehe auch seine
Aufzeichnung für den amerikanischen Botschafter vom 10. August
1914).
Rußlands allgemeine Mobilmachung bedeutete den Krieg,
und zwar den Weltkrieg, denn an dem Eingreifen Frankreichs
bestand kein Zweifel. Auch über die Haltung Englands war man
sich in Berlin offenbar im klaren, trotz der widerspruchsvollen
Berichterstattung Lichnowskys. Von den Versuchen abgesehen,
den Krieg auf Rußland zu beschränken, sind daher alle politischen
Handlungen vom 31. Juli mittags an als Kriegsmaßnahmen an-
zusprechen, bzw, als Versuche, die bestmöglichen Vorbedingungen
für den bevorstehenden Kampf zu schaffen. Unter der Wirkung
der ungeheuren Erregung und der beginnenden Kriegspsychose
ist dann manches geschehen, das befremden muß und sicherlich
besser unterblieben wäre.
94
Die Auseinandersetzung mit Frankreich und der Versuch,
England wenigstens vorläufig neutral zu erhalten, werden weiter
unten zu behandeln sein. Die nächsten Aufgaben der politischen
Leitung waren, sich mit den Verbündeten zu verständigen, wenn
möglich, neue Bundesgenossen zu werben und neutrale Staaten
zu einer wohlwollenden Haltung zu bewegen. Die weitere Auf-
gabe, Deutschlands Recht auf Selbstverteidigung der öffentlichen
Meinung der Welt gegenüber zu vertreten und den Charakter des
Krieges als Defensivkrieg vor der Geschichte zu dokumentieren,
ist nicht genügend berücksichtigt und jedenfalls nicht mit Erfolg
gelöst worden.
Es scheint zunächst eine gewisse Besorgnis geherrscht zu
haben, ob Österreich-Ungarn auch sofort seine Haupt-
kräfte gegen Rußland einsetzen und den Aufmarsch gegen Serbien
abbrechen werde (Weißbuch Nr. 503, 627). Bereits am 29. Juli
war in Berlin eine Verbalnote übergeben worden, in der es heißt:
,,Der Chef des k. und k. Generalstabs hält es nun für unbedingt
geboten, ohne Verzug Klarheit darüber zu gewinnen, ob wir mit
starken Kräften gegen Serbien marschieren können oder unsere
Hauptmacht gegen Rußland zu verwenden haben werden."
(Weißbuch Nr. 352.) In Berlin hoffte man aber bis zuletzt auf
einen günstigen Ausgang der Vermittlungsaktion und ging auf
die Frage des Generals von Conrad nicht ein. Hieraus entstand
bei Kriegsausbruch ein gewisses Dilemma. Auch ist die späte
Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Rußland (5. August, Weiß-
buch Nr. 878, 879) auf den Wunsch zurückzuführen, die nun-
mehr recht verwickelte Mobilmachung ungestört durchführen
zu können (Weißbuch Nr. 772). Russischerseits herrschte übrigens
das gleiche Bestreben (Weißbuch Nr. 704).
Obwohl die Haltung Italiens nicht zweifelhaft sein
konnte, wurde von Berlin aus der Appell an die Bundestreue
immer wieder erneuert (Weißbuch Nr. 492, 628, 694). Auch wurde
der Flügeladjutant von Kleist entsandt, um insbesondere auf den
König einzuwirken (Weißbuch Nr. 745, 771, 850). Ob Italien
überhaupt in der Lage gewesen wäre, seinen Vertragspflichten
nachzukommen, erscheint zweifelhaft. Sicher ist, daß das hart-
näckige Festhalten des Wiener Kabinetts an seiner verfehlten
Auslegung des Art. VII des Dreibundvertrages jede Möglichkeit
ausschloß. Die italienische Regierung hat bereits frühzeitig
darauf hingewiesen, daß ihre Auffassung darüber, ob der Bündnis-
fall gegeben sei oder nicht, von der Frage der Kompensationen
abhängig sein werde (Weißbuch Nr. 150). Österreich-Ungarns
Hartnäckigkeit und seine Abneigung gegen den erpresserischen
Verbündeten ließ alle deutschen Bemühungen scheitern.
95
Auch darüber bestand kein Zweifel, daß Rumänien
seinen Bündnisverpflichtungen nicht nachkommen werde. Trotz-
dem wurde alles versucht, die rumänische Regierung zum Ein-
greifen zu veranlassen. Um ihr dies zu ermöglichen, wurde Bul-
garien zu bindenden Erklärungen über seine Haltung gedrängt
(Weißbuch Nr. 544, 549, 729). Man verstieg sich auch zu einem
Angebot Bessarabiens als Belohnung für erfüllte Bundespflicht
(Weißbuch Nr. 506, 830). In Anbetracht der intimen Beziehungen
zwischen Rom und Bukarest war aber nicht daran zu denken,
daß Rumänien eine andere Haltung einnehmen werde, als Italien
(Weißbuch Nr. 868).
Die noch schwebenden Verhandlungen über ein Bündnis
mit der Türkei wurden sofort zum Abschluß gebracht (Weiß-
buch Nr. 508, 547, 726). Auch der Vertragsschluß mit Bul-
garien wurde beschleunigt (Weißbuch Nr. 673, 697).
Von Dänemark wurde nichts anderes als eine neutrale
Haltung erwartet (Weißbuch Nr. 494) ; ebenso von Holland
(Weißbuch Nr. 674) und der Schweiz (Weißbuch Nr. 500).
Dagegen scheint man mit der Möglichkeit gerechnet zu haben,
daß Schweden in den Krieg eingreifen könnte (Weißbuch
Nr. 123, 319, 406, 520). In der Mitteilung nach Stockholm, daß
Finnland von russischen Truppen entblößt sei (Weißbuch Nr. 552),
liegt die Aufforderung versteckt, sich dieser ehemals schwedischen
Provinz zu bemächtigen. Es bedarf keiner Ausführung, wie aus-
sichtslos ein derartiges Vorgehen war. Cooperation im Kriegs-
falle ist nur nach gründlichen politischen und militärischen Vor-
bereitungen denkbar. An solchen Vorbereitungen für den Welt-
krieg hat es jedoch deutscherseits ganz gefehlt.
Die Aussichtslosigkeit allein hielt aber die Berliner Regierung
nicht vom Versuch ab, hat sie doch sogar Japan aufgefordert,
„in richtiger Würdigung des großen Momentes die gegebenen Kon-
sequenzen zu ziehen" (Weißbuch Nr. 545). In Wien wollte man
bereits am 23. Juli (!) Tokio ,,auf die sich bietende günstige Ge-
legenheit" aufmerksam machen (Rotbuch 1919, I, Nr. 70).
Die Festsetzung des Termins für die Mobilmachung muß als
rein militärische Frage angesehen werden. Ursprünglich wurde
anscheinend der 2. August als erster Mobilmachungstag in Aus-
sicht genommen (Weißbuch Nr, 479). Weshalb dieser Beschluß
geändert worden ist, geht aus dem Weißbuch nicht hervor.
Daß nach der Kriegserklärung der Generalstab ausgiebig
zu Worte kam, ist nur natürlich. Die Vorschläge, die er an-
brachte, sind aber zum Teil sehr befremdlich. Der Gedanke an
eine Revolutionierung Indiens, Ägyptens, Südafrikas, Polens und
des Kaukasus mutet wie ein schlechter Roman an (Weißbuch
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Nr. 662, 751, 876). Das Weißbuch gibt nur einige Beispiele des
planlosen Vorgehens militärischer Stellen, wie die Absicht der
„Verhaftung verschiedener hoher luxemburgischer Beamter"
(Weißbuch Nr. 684) und des geplanten Vorgehens des Oberkom-
mandos in den Marken gegen die französische Botschaft (Weiß-
buch Nr. 721). Man kann nur sagen : ,,Wehe, wenn sie losgelassen !"
Andererseits ist diese Planlosigkeit und das Fehlen eines engen
Zusammenhanges zwischen politischer und militärischer Leitung
ein weiterer Beweis dafür, daß der Krieg nicht langer Hand vor-
bereitet, also auch nicht gewollt war.
Daß die Verletzung der luxemburgischen und belgischen
Neutralität nur aus militärischen Gründen erfolgte, geht aus dem
Weißbuch einwandfrei hervor. Hierüber abschließend zu ur-
teilen, wird erst möglich sein, wenn die Geschichte des Schlieffen-
planes und seiner Behandlung bekannt wird. Man möchte an-
nehmen, daß eine genügende Verständigung zwischen der poli-
tischen Leitung und den militärischen Stellen nicht stattgefunden
hat. Denn es ist bekannt, daß 1914 ein anderer Kriegsplan, der
die Schonung der belgischen Neutralität vorgesehen hätte, gar
nicht vorhanden war (Rotbuch 1919, III, Nr. 114). Der deutschen
Regierung blieb also keine Wahl. Es fragt sich aber, ob sie nicht
bereits in früheren Jahren, zum mindesten seit Einführung der
schweren Mörser, dem vorbeugen konnte, daß sie im Kriegsfalle
gezwungen würde, eine Völkerrechtsverletzung zu begehen und
den Feldzug mit einem derartig unheilvollen Schritt zu beginnen.
Erfreulich ist immerhin, daß offenbar die politische Leitung
und die militärischen Stellen in dem Wunsche übereinstimmten,
Belgien die größtmögliche Schonung angedeihen zu lassen.
VI. Die deutsch-französische Krise
1. Frankreichs Haltung in der deutsch-russischen Krise
Die französische Regierung und ihre Auslandsvertreter zeigten
sich von Anfang an bestrebt, den österreichisch-serbischen Konflikt
zu einem deutsch-russischen zu machen. Die Politik der Ver-
dächtigung der Haltung Deutschlands und der Handlungen seiner
Regierung wurde während des ganzen Verlaufs der Krise kon-
sequent fortgesetzt.
Gleichzeitig mit dem am 28. Juli nach Wien gerichteten Vor-
schlag, nach Besetzung eines Faustpfandes in Erörterung der
serbischen Antwortnote einzutreten (Weißbuch Nr. 323), tele-
graphierte die deutsche Regierung ihren Botschaftern in Peters-
burg, Paris und London, sie bemühe sich unausgesetzt, Wien zu
veranlassen, in Petersburg Zweck und Umfang des österreichisch-
ungarischen Vorgehens in Serbien in einer unanfechtbaren und
hoffentlich Rußland befriedigenden Weise klarzulegen. Hieran
ändere auch die inzwischen erfolgte Kriegserklärung nichts (Weiß-
buch Nr. 315).
Schoen gab am Morgen des 29. Juli eine entsprechende Er-
klärung ab (Weißbuch Nr. 345, Gelbbuch Nr. 94). Der franzö-
sischen Regierung war ferner spätestens seit dem 28. Juli bekannt,
daß Deutschland einer Vermittlung zu vieren grundsätzlich zu-
gestimmt hatte (Weißbuch Nr. 310, Gelbbuch Nr. 92), und daß
es die direkten Besprechungen zwischen Wien und Petersburg zu
fördern suchte (Gelbbuch Nr. 81, 92). Sie wußte auch, daß die
deutsche Regierung die serbische Antwortnote als mögliche Grund-
lage zu Unterhandlungen ansah (Gelbbuch Nr. 92). Trotzdem er-
klärte der Ministerpräsident Viviani am 31. Juli, die Haltung
Deutschlands ,, dränge einem die Überzeugung auf, Deutschland
habe es auf die Demütigung Rußlands, die Sprengung des Drei-
verbandes und, wenn diese Ziele nicht zu erreichen seien, den Krieg
abgesehen" (Gelbbuch Nr. 114). Wahrheitswidrig behauptete er,
Deutschland habe alle Verständigungsversuche zum Scheitern
gebracht und nicht aufgehört, Wien in seiner Unversöhnlichkeit
zu bestärken.
2. Französische Kriegsvorbereitungen
Die französische Regierung hat sehr frühzeitig militärische
Maßnahmen getroffen. Diese standen offensichtlich mit denen
Rußlands in Zusammenhang. Am 27. Juli wurden die Manöver
abgebrochen und die Truppen in ihre Standorte zurückgeführt.
In Rußland war dies bereits am 25. Juli geschehen. In Deutsch-
land wurde diese Maßnahme erst am 29. Juli verfügt. Am 28. Juli
fanden offenkundige Mobilmachungsvorbereitungen statt. Als
die Meldung über schnell fortschreitende militärische Maßnahmen
Frankreichs sich mehrten, insbesondere auch Truppenverschie-
bungen an der Ostgrenze bekannt wurden, sah sich die deutsche
Regierung veranlaßt, am 29. Juli eine freundschaftliche Warnung
nach Paris zu richten und darauf hinzuweisen, daß derartige Maß-
nahmen Deutschland zu Gegenmaßregeln zwingen und dadurch
die Spannung erhöhen würden (Weißbuch Nr. 341). Viviani stellte
die französischen Kriegsvorbereitungen noch am gleichen Tage
nicht in Abrede, versicherte jedoch, daß sie keinen bedrohlichen
Charakter hätten (Weißbuch Nr. 367, Gelbbuch Nr. 101).
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Tatsächlich standen jedoch die französischen Kriegsvor-
bereitungen mit den russischen offenbar im engsten Zusammen-
hange. Ob diese Übereinstimmung auf den französisch-russischen
Verträgen oder auf besonderen Vereinbarungen beruhte, ist noch
nicht ersichtUch. Es ist keineswegs gesagt, daß anläßlich des
Besuchs Poincares hierüber eine Abrede getroffen wurde. Artikel II
der französisch - russischen Militärkonvention vom 17. August
1892 lautet:
,,Im Falle der Mobilisation der Streitkräfte des Dreibundes oder einer
der ihm angehörigen Mächte werden Frankreich und Rußland, bei der ersten
Nachricht von diesem Ereignis und ohne vorhergehende Vereinbarung, un-
verzüglich und gleichzeitig ihre gesamten Streitkräfte mobilisieren und sie in
möglichster Nähe ihrer Grenzen konzentrieren."
In Österreich-Ungarn war die Mobilisierung von 8 Korps
gegen Serbien im Gange. Rußland hat mit dieser Tatsache Frank-
reich gegenüber seine Teilmobilmachung begründet (Gelbbuch
Nr. 95, 101), während es dieselbe in Berlin lediglich mit der Kriegs-
erklärung an Serbien motivierte (Blaubuch Nr. 70, I). Diese Tat-
sache oder die falschen Meldungen über eine österreichisch-unga-
rische Mobilisierung gegen Rußland (Gelbbuch Nr. 77, 90, 91) mögen
die französischen Kriegsmaßnahmen auf Grund des Bündnisvertrages
herbeigeführt haben.
Andererseits hat aber der französische Botschafter in Peters-
burg bereits am 24. Juli erklärt, Frankreich werde alle Verpflich-
tungen erfüllen, die das Bündnis mit Rußland nach sich ziehen
müßte (Blaubuch Nr. 6). Noch ehe die russische Ge-
sa m t m o b i 1 m a c h u n g beschlossen war, gab er
im Auftrage seiner Regierung (das betreffende Tele-
gramm fehlt im Gelbbuch) die Erklärung ab, daß Ruß-
land vollständig auf die Unterstützung des
verbündeten Frankreichs zählen könne. Sa-
sonow dankte für diese Zusicherung am 29. Juli (Orangebuch Nr. 58)
und erklärte, daß er mit der wahrscheinlichen Unvermeidlichkeit
des Krieges rechne. Viviani bestätigte hierauf noch am selben
Tage seine frühere Zusage, „Frankreich ist entschlossen, alle seine
Bündnispflichten zu erfüllen" (Gelbbuch Nr. 101). Statt Rußland
vor übereilten Schritten zu warnen, ließ er am 30. Juli in Peters-
burg ledigHch den Rat erteilen, ,, unmittelbar keinerlei Anordnungen
zu treffen, die Deutschland einen Vorwand zu einer ganzen oder
teilweisen Mobilmachung seiner Kräfte bieten würde" (Gelbbuch
Nr. 101). Dieser Rat konnte die russische Gesamtmobilmachung
nicht aufhalten, sollte es auch nicht. Diese verspätete Warnung
änderte ebenfalls nichts an der Tatsache, daß Frankreich augen-
scheinlich von vornherein bereit war, Rußland beizustehen und
es wegen der serbischen Frage zum europäischen Kriege kommen
zu lassen.
99
Nach Bekanntwerden der russischen Gesamtmobilmachung
nötigten die weit vorgeschrittenen Kriegsvorbereitungen Frank-
reichs ebenso wie seine bekannten Bündnisverpfhchtungen gegen-
über Rußland die deutsche Regierung, von der französischen eine
Erklärung darüber zu verlangen, ,,ob sie in einem russisch-deutschen
Kriege neutral bleiben wolle" (Weißbuch Nr. 491).
Über die französische Haltung konnte in Anbetracht der vor-
geschrittenen militärischen Maßnahmen kein Zweifel bestehen.
Viviani telegraphierte noch am 31. Juli nach Petersburg:
„Ich habe nicht die Absicht, dem deutschen Botschafter eine Erklärung
über Frankreichs Haltung im Falle eines Konfliktes zwischen Deutschland
und Rußland abzugeben, und ich werde mich darauf beschränken, ihm zu sagen,
Frankreich werde sich durch seine Interessen leiten
lassen. Die Regierung der Republik schuldet in der Tat nur ihren Ver-
bündeten über ihre Absichten Rechenschaft." (Gelbbuch Nr. 117.)
Tatsächlich erteilte Viviani dem deutschen Botschafter am
1. August mittags diese unzweideutige Antwort (Weißbuch Nr. 571).
Schoen hatte deshalb keinen Anlaß, die Frage der Gewährung von
Bürgschaften für Frankreichs Neutralität zu berühren. Gleich-
zeitig mit der Anfrage nach der französischen Haltung im Kriegs-
falle war ihm folgende Weisung zugegangen:
„Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral
zu bleiben, wollen Euere Exzellenz französischer Regierung erklären, daß
wir als Pfand für Neutralität Überlassung der Festungen Toul und Verdun
fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Ruß-
land zurückgeben würden." (Weißbuch Nr. 491.)
Die zweifellos sehr weitgehende Forderung der Besetzung
französischer Festungen durch deutsche Truppen war angesichts
der politischen und militärischen Lage nicht ungerechtfertigt. Mit
einer widerruflichen Neutralitätserklärung konnte sich Deutsch-
land nicht begnügen. Für ihre Innehaltung hätten seitens Frank-
reichs greifbare Bürgschaften geboten werden müssen.
In der ersten Sitzung der Pariser Friedenskonferenz hat Poin-
care am 18. Januar 1919 in seiner Eröffnungsrede, einem welt-
geschichtlichen Dokument des Hasses, ausgeführt, der deutsche
Botschafter sei angewiesen worden zu erklären : ,,Wir werden von
Euch eine Neutralitätserklärung nur annehmen, wenn Ihr uns
B r i e y , Toul und Verdun ausliefert." Die Forderung nach realen
Garantien ist der französischen Regierung seinerzeit nicht bekannt
gewesen, hat also auf ihre Haltung keinen Einfluß ausüben können.
Im übrigen hat sich die deutsche Regierung am 1. August bereit
gezeigt, für die französische Neutralität die Garantie Englands
anzunehmen (Weißbuch Nr. 575, 578 und 579).
Die Lage in Paris am 1. August kennzeichnet das Telegramm
Iswolskis von diesem Tage, in dem es heißt:
100
„Ungeachtet der heute mäßigeren Demarche des deutschen Botschafters
ist die französische Regierung wegen der außerordentliciien miütärischen Maß-
nahmen Deutschlands an der französischen Grenze äußerst besorgt, denn sie
ist davon überzeugt, daß unter der Hülle des sogenannten ,Kriegs(gefahr)-
zustandes' die wirkliche Mobilmachung vor sich geht, was die französische Armee
in eine ungünstige Lage bringen kann. Andererseits ist es a u s p o 1 i t i s c h e n
Erwägungen in bezug sowohl auf Italien als auch
England für Frankreich sehr wichtig, daß seine Mo-
bilmachung derjenigen Deutschlands nicht voraus-
geht, sondern als eine Antwort auf die letztere er-
scheint. Diese Frage wird augenblicklich im Elysee im Ministerrat erwogen,
und es ist sehr wahrscheinlich, daß er die allgemeine Mobilmachung beschließen
wird." (Orangebuch Nr. 73, vervollständigter Text nach der deutschen All-
gemeinen Zeitung vom 20. Mai 1919.)
Als die französische Regierung am 1. August um 3,40 Uhr
nachmittags Pariser Zeit (Blaubuch Nr. 136), die allgemeine Mobil-
machung verfügte, hat sie diese Maßnahme unzutreffenderweise
mit der angeblich vorher erfolgten deutschen Mobilmachung be-
gründet (Gelbbuch Nr. 127). Diese letztere wurde erst am 1 . August,
5 Uhr nachmittags mitteleuropäischer Zeit, angeordnet. In Wirk-
lichkeit wurde die französische Mobilmachung, wie aus dem Orange-
buch (Nr. 74) bekannt ist, auf die Nachricht hin verfügt, die deutsche
Regierung habe die Einstellung der russischen Rüstungen gefordert
und angekündigt, daß widrigenfalls die deutsche Mobilisierung
erfolgen müsse.
3. Die Kriegserklärung an Frankreich
Die Ablehnung der deutschen Forderung durch Rußland und
die Antwort auf die Frage nach Frankreichs Haltung kamen
bereits dem tatsächlichen Eintritt des Kriegszustandes mit Ruß-
land und Frankreich gleich. Daß aber die deutsche Regierung,
die den Konflikt mit Rußland nicht herbeigeführt hatte, auch den
Krieg mit Frankreich nicht wollte, hat sie noch am 1. August be-
wiesen. Auf die Meldung des deutschen Botschafters in London,
daß England anscheinend die Neutralität Frankreichs zu garan-
tieren bereit sei, wenn Deutschland letzteres nicht angriffe (Weiß-
buch Nr. 562, 570), telegraphierte der Kaiser an den König von
England:
,,Ich habe von Deiner Regierung soeben die Mitteilung erhalten, worin
sie die französische Neutralität unter der Garantie Großbritanniens anbietet.
Diesem Anerbieten war die Frage angefügt, ob unter diesen Bedingungen
Deutschland von einem Angriff auf Frankreich absehen würde. Aus technischen
Gründen muß meine heute nachmittag schon angeordnete Mobilmachung nach
zwei Fronten, nach Osten und Westen, vorbereitungsgemäß vor sich gehen.
Gegenbefehl kann nicht gegeben werden, weil Dein Telegramm leider so spät ein-
traf. Aber wenn Frankreich mir seine Neutralität anbietet, die durch die britische
Flotte und Armee garantiert werden muß, werde ich natürlich von einem Angriff
101
auf Frankreich absehen und meine Truppen anderweitig verwenden. Ich hoffe,
Frankreich wird nicht nervös werden. Die Truppen an meiner Grenze werden
soeben telegraphisch und telephonisch abgehalten, die französische Grenze
zu überschreiten." (Weißbuch Nr. 575.)
Gleichzeitig telegraphierte Bethmann Hollweg an den Bot-
schafter in London:
„Deutschland ist bereit, auf englischen Vorschlag einzugehen, falls Eng-
land sich mit seiner gesamten Streitmacht für die unbedingte Neutralität Frank-
reichs im deutsch-russischen Konflikt verbürgt, und zwar für eine Neutralität
bis zum völligen Austrag dieses Konfliktes. Darüber, wann der Austrag erfolgt
ist, hat Deutschland allein zu entscheiden.
Deutsche Mobilmachung ist auf Grund der russischen Herausforderung
heute erfolgt, bevor Telegramm Nr. 205 eintraf. Infolgedessen ist unser Auf-
marsch auch an der französischen Grenze nicht mehr zu ändern. Wir verbürgen
uns aber, die französische Grenze bis Montag, 3. August, abends 7 Uhr, nicht
zu überschreiten, falls bis dahin Zusage Englands erfolgt ist." (Weißbuch
Nr. 578.)
Der englische Vorschlag, der diesem Angebot zugrunde lag,
beruhte jedoch auf einem Mißverständnis. Lichnowsky meldet
am 2, August:
„Anregungen Sir E. Greys, die auf Wunsch beruhten, möglichst dauernde
Neutralität Englands zu schaffen, sind ohne vorherige Fühlungnahme mit
Frankreich und ohne Kenntnis Mobilmachung erfolgt, inzwischen als aus-
sichtslos völlig aufgegeben." (Weißbuch Nr. 631.)
Der Krieg mit Frankreich war nunmehr unvermeidlich. Daß
die Franzosen die Lage ebenfalls in diesem Lichte sahen, beweist
unter anderem ihre planmäßige Verstümmelung der deutschen
Telegramme (Weißbuch Nr. 734, 749, 776, 809). Das „Cabinet
noir" ließ keine Meldungen über französische und deutsche Grenz-
verletzungen durch, um der Pariser Regierung die Möglichkeit zu
geben, den letzten Akt des Dramas nach eigenem Belieben wirkungs-
voll zu gestalten. Man legte nicht nur wegen der Stimmung im
eigenen Lande, sondern auch mit Rücksicht auf die öffentliche
Meinung Englands das größte Gewicht darauf, als die Angegriffenen
zu erscheinen. Die französische Regie war der deutschen weit
überlegen.
In Berlin und in Paris war man gleichermaßen bemüht, das
Odium der Kriegserklärung dem anderen Teile zuzuschieben, ob-
schon dieser Akt nur noch formale Bedeutung hatte. Deutscher-
seits bestand kein Interesse an der sofortigen Herbeiführung des
Kriegszustandes (Weißbuch Nr. 629). In Paris war beabsichtigt,
am 4. August den Kriegszustand mit Deutschland zu erklären.
Der russische Botschafter telegraphierte am 2. August:
„Die Deutschen überschreiten in einzelnen kleinen Abteilungen die fran-
zösische Grenze, und auf dem französischen Territorium erfolgten bereits einige
Zusammenstöße. Das wird der Regierung die Möglichkeit geben, vor den zu
Dienstag einberufenen Kammern zu erklären, daß auf Frankreich ein Überfall
verübt worden sei, und so die formale Kriegserklärung zu
vermeide n." (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Die Statistik der Grenzzwischenfälle schneidet aber zugunsten
Deutschlands ab. Die französischen Übergriffe häuften sich schließ-
lich derart, daß der Zustand unhaltbar wurde. Am 2. August
wurden über fünfzig französische Grenzverletzungen verzeichnet.
Diese nahm die deutsche Regierung zum Anlaß ihrer Kriegserklärung
vom 3. August (Weißbuch Nr. 734). Wie sich nachträglich heraus-
gestellt hat, beruhten einige der weniger wesentlichen Vorfälle»
auf die sich die deutsche Kriegserklärung berief, auf Falschmel-
dungen. Die Nachrichten von Fliegerangriffen auf die Bahnen
bei Wesel, Karlsruhe und Nürnberg haben sich nicht bestätigt.
Es besteht jedoch keinerlei Zweifel darüber, daß seit dem 2. August
französische Truppen auf deutschem Boden standen. Auch Frank-
reich hat Klagen über deutsche Grenzverletzungen geführt (Weiß-
buch Nr. 705, 722). Der deutsche Generalstab hat seinerzeit einen
Fall als richtig zugegeben (Weißbuch Nr. 869). Im übrigen wurden
unter Wirkung der Kriegspsychose beiderseits viele unwahre Behaup-
tungen geglaubt (die Automobile an der holländischen Grenze,
Weißbuch Nr. 670, 768; Brunnenvergiftungen, Weißbuch Nr. 690,
710; die Sprengung des Cochemer Tunnels, Weißbuch Nr. 693).
Die Franzosen beschwerten sich in London über einen deutschen
Vormarsch auf Nancy (Weißbuch Nr. 689) ; eine Meldung, die völlig
aus der Luft gegriffen war. Sie sind auch niemals darauf zurück-
gekommen.
Für den Kriegszustand waren nach der russischen Mobil-
machung und der Kriegserklärung an Rußland die Grenzver-
letzungen im Westen nur von ganz untergeordneter Bedeutung.
Sie waren nur der Anlaß, nicht der Grund zur
Kriegserklärung an Frankreich. Kriegsgrund war
die Tatsache, daß unzweifelhaft feststand, Frankreich werde an
einem deutsch-russischen Kriege an Rußlands Seite teilnehmen.
Wir wissen aus den russischen Urkunden, daß bereits 1912 sich
die französische Regierung bereit erklärt hat, wegen einer Balkan-
frage in einen europäischen Krieg einzutreten. 1914 ist es nicht
anders gewesen. Der wahre Grund zur Kriegserklärung Deutsch-
lands an Frankreich war der als sicher vorauszusetzende fran-
zösische Kriegswille und die Verpflichtung des französisch-russischen
Bündnisses. Dem trägt der erste Entwurf einer Kriegserklärung
an Frankreich (Weißbuch Nr. 608) Rechnung, und es ist sehr zu
bedauern, daß deutscherseits nicht der Wahrheit die Ehre gegeben
und von diesem Entwurf Gebrauch gemacht wurde. Den Umweg
über die tatsächlichen und angeblichen Grenzverletzungen hat
103
man offenbar in der Hoffnung eingeschlagen, daraus den Bündnis-
fall für Italien konstruieren zu können. Dafür sprechen die zahl-
reichen Telegramme nach Rom, die auf französische Übergriffe
hinweisen (Weißbuch Nr. 664, 690, 694, 713, 725, 774). Wie sinn-
los und unbegründet die Hoffnung war, mit diesen Mittein auf
Italien einzuwirken, bedarf keiner Erläuterung.
VII. Die Haltung Englands
1. Deutsch-englische Vermittlungstätigkeit
Da es in erster Linie der Zusammenarbeit Deutschlands und
Englands zu danken war, daß die kritische Zeit der Balkankriege
1912/13 ohne ernsteren Konflikt der Mächte vorübergegangen
war, so lag es nahe, daß diese beiden Mächte auch bei der Krise
von 1914 gemeinsam der Sache des Friedens dienen würden. Wegen
des Bündnisses mit Österreich - Ungarn besaß Deutschland zwar
in diesem Falle nicht dieselbe Handlungsfreiheit wie in der vorher-
gehenden Krise, in der es sich in erster Linie um Konflikte zwischen
den Balkanstaaten handelte. Die deutsche Regierung konnte
aber annehmen, daß sich jeder im Interesse des Friedens notwendige
Schritt mit der Erfüllung ihrer Bündnispflichten vereinigen lassen
werde. Bis zum letzten Augenblick hat sie sich bemüht, gemeinsam
mit England die Gefahren eines europäischen Krieges zu beschwören.
Noch in der Denkschrift vom 3. August wurde gesagt: ,, Schulter
an Schulter mit England haben wir unausgesetzt an der Vermitt-
lungsaktion fortgearbeitet und jeden Vorschlag in Wien unter-
stützt, von dem wir die Möglichkeit einer friedlichen Lösung des
Konfliktes erhoffen zu können glaubten." Damals war noch nicht
bekannt, daß die englische Regierung weder mit der gleichen Ehr-
lichkeit noch mit derselben Tatkraft für die Erhaltung des Welt-
friedens gewirkt hatte, wie die deutsche. Durch die Widersprüche,
in die sich der ewig schwankende Grey verwickelte, wurde seine
Politik zu einem Doppelspiel. Stärkere Charaktere, die ihn vor-
wärts drängten, mögen den Ausschlag gegeben haben. Sie waren
alle deutschfeindlich. Grey hat sich während des ganzen Verlaufs
der Verhandlungen bemüht, Berlin zu einem energischen Eingreifen
in Wien anzustacheln. Die deutsche Regierung wird ihre Ver-
mittlung nicht allein um der Erhaltung oder Befestigung der guten
Beziehungen zu England willen betrieben haben, sondern vor allem
im Interesse des europäischen Friedens. Sie hegte hierbei jedoch
104
offensichtlich die Erwartung, daß England ebenfalls das seine zur
Erhaltung des Friedens tun, also in erster Linie Rußland und
Frankreich vor militärischen Maßnahmen zurückhalten werde,
die nicht wieder gut zu machende Folgen haben mußten. Dieses
Vertrauen in Englands Verantwortlichkeitsgefühl ist jedenfalls
getäuscht worden. Ü
Berlin hat, wie oben dargelegt wurde, alle Londoner Vor-
schläge angenommen und befolgt, mit Ausnahme des als unzweck-
mäßig erachteten Vorschlages einer Botschafterkonferenz, den
Grey selbst fallen ließ. Der Vorschlag, (1) in Wien eine Verlängerung
der Serbien gestellten Frist zu befürworten, wurde befolgt, (2) dem
einer Vermittlung zwischen Wien und Petersburg zugestimmt. Der
österreichisch - ungarischen Regierung wurde (3), dem englischen
Wunsche entsprechend, am 25, Juli nahegelegt, die serbische Ant-
wortnote günstig aufzunehmen, ebenso (4) die englische Anregung
vom 27. Juli, die serbische Antwortnote möge als Grundlage für
Unterhandlungen angenommen werden. Der am 29. Juli erneuerte
Verschlag Greys, eine Vermittlung der vier unbeteiligten Mächte
eintreten zu lassen, wurde (5) auf das wärmste befürwortet. Eben-
so wurde (6) die Meldung aus London, daß Grey Wien bitten lasse,
die angeblich unterbrochenen direkten Besprechungen mit Peters-
burg wieder aufzunehmen, mit einer ernsten Warnung vor den
Folgen einer unberechtigten Unnachgiebigkeit nach Wien weiter-
gegeben. Der englische Vorschlag der Verhandlungen auf Grund
der Besetzung serbischer Gebietsteile als Faustpfand wurde (7)
sowohl in der Fassung der Erklärung Greys vom 29. Juli, wie in
der des Telegramms des Königs von England an den Prinzen
Heinrich von Preußen vom 30. Juli, in Wien warm empfohlen.
Die englische Regierung hat den deutschen Vorschlag der Lokali-
sierung zwar zunächst freundlich aufgenommen und einen Eingriff
in den austro - serbischen Konflikt abgelehnt, ihre Auffassung
aber am 26. Juli völlig geändert, indem sie eine Botschafterkonferenz
zur Regelung der austro - serbischen Frage vorschlug. Der deutschen
Bitte vom 26. Juli, in Petersburg im Sinne einer besonnenen Hal-
tung zu wirken und vor militärischen Maßnahmen zu warnen,
hat sie nicht Folge geleistet. Ihren eigenen Vorschlag der Verhand-
lungen auf Grund der Besetzung serbischer Gebietsteile als Faust-
pfand hat sie erst am 30. Juli nach Petersburg mitgeteilt, als sie
aus Berlin erfuhr, daß ein ähnlicher Vorschlag bereits deutscher-
seits nach Wien gerichtet worden sei (Blaubuch Nr. 103). Statt
in Petersburg energisch auf die Annahme dieses Vorschlages und
auf die Einstellung militärischer Maßnahmen zu dringen, tele-
graphierte Grey am 30. Juli lediglich:
105
„Wenn Österreich nach Besetzung von Belgrad und angrenzendem ser-
bischen Gebiet sich bereit erl<iärt, im Interesse des europäischen Friedens
seinen Vormarsch einzustellen und zu erörtern, wie eine vollständige Regelung
erzielt werden kann, hoffe ich, daß Rußland sich auch zu einer Erklärung
und zur Einstellung weiterer militärischer Vorbereitungen bereit erklären wird,
vorausgesetzt, daß andere Mächte das gleiche tun." (Weißbuch Nr. 460, Blau-
buch Nr. 103.)
Das Telegramm, mit dem die deutsche Regierung den gleichen
englischen Vorschlag nach Wien weitergegeben hatte, schloß mit
den Worten:
„Wir müssen der Erwägung des Wiener Kabinetts dringend und nach-
drücklich anheimstellen, die Vermittlung zu den angegebenen ehrenvollen
Bedingungen anzunehmen. Die Verantwortung für die sonst eintretenden
Folgen wäre für Österreich-Ungarn und uns eine ungemein schwere." (Weiß-
buch Nr. 395.)
Der Unterschied in der Sprache kennzeichnet die Haltung
beider Regierungen gegenüber der Gefahr eines europäischen
Krieges.
Der deutsche Schritt hatte das Einlenken Wiens zur Folge,
der englische hingegen wurde in Petersburg erst am 31. Juli unter-
nommen, als die Gesamtmobilmachung bereits öffentlich ver-
kündet war. Er blieb ergebnislos. Sasonow gab seine Forderung
auf Einstellung der österreichisch-ungarischen Operationen nicht
auf und lehnte es ab, die Besetzung eines Faustpfandes zuzulassen.
Hinsichtlich der militärischen Maßnahmen gab er lediglich die Zu-
sicherung einer abwartenden Haltung Rußlands für den Fall, daß
Österreich-Ungarn die russischen Bedingungen (2. Sasonow- Formel)
annehme (Blaubuch Nr. 120).
Es trifft die englische Regierung also die schwere Schuld, nichts
unternommen zu haben, um Rußland von der allgemeinen Mobil-
machung abzuhalten, deren Bedeutung sie kennen mußte, und
auf deren Gefahr deutscherseits wiederholt hingewiesen war. Noch
am 31. Juli, nachdem er von dem Einlenken der Wiener Regierung
erfahren hatte, telegraphierte Grey nach Petersburg:
„Dem deutschen Botschafter teilte ich mit, daß, was militärische Vor-
bereitungen beträfe, ich nicht einsehe, wie Rußland bewogen werden könne,
sie einzustellen, wenn nicht Österreich dem Vormarsch seiner Truppen in Serbien
gewisse Grenzen setze." (Blaubuch Nr. 110.)
Das Londoner Kabinett hat möglicherweise in diesem Augen-
blick die Lage nicht richtig erfaßt und die Bedeutung der russischen
Kriegsmaßnahmen unterschätzt. In Petersburg konnte diese
Stellungnahme der englischen Regierung nur als eine Billigung
der im Gange befindlichen Mobilmachung angesehen werden. Aber
selbst als Grey (aus Weißbuch Nr. 477, 488 und Blaubuch Nr. 113)
Kenntnis von der russischen Gesamtmobilmachung hatte und die
Zustimmung Österreich - Ungarns zu dem englischen Vorschlag
106
einer Vermittlung der Mächte in Händen hielt (Rotbuch 1919,
III, Nr. 65, 94), sah er sich nicht veranlaßt, gegen das Vorgehen
Rußlands Einspruch zu erheben. Er telegraphierte am 1. August
den Inhalt der Wiener Erklärung nach Petersburg und setzte ledig-
lich hinzu:
„Bitte den Minister des Äußern zu benachrichtigen und ihm zu sagen,
daß, wenn in Anbetracht der Annahme der Vermittlung seitens Österreichs
Rußland in die Einstelkmg seiner Mobilisierung einwilligen könne,
es noch immer möglich schiene, den Frieden zu bewahren. Voraussicht-
lich würde die Angelegenheit auch von der russischen Regierung mit der deut-
schen Regierung zu erörtern sein." (Blaubuch Nr. 135.)
So entsprach Grey der wiederholten deutschen Bitte, auf
Petersburg einzuwirken, nachdem Berlin in Wien sein möglichstes
getan und viel erreicht hatte. Diese nur sehr bedingte Bekundung
des englischen Friedenswillens kam überdies viel zu spät. Eng-
land hatte es versäumt, rechtzeitig in Peters-
burg einzugreifen und die allgemeine Mobil-
machung aufzuhalten. Die deutsche Regierung hat in
der Nacht vom 29. zum 30. Juli nach Wien telegraphiert:
„Wir sind zwar bereit, unsere Bündnispflicht zu erfüllen, müssen es aber
ablehnen, uns von Wien leichtfertig und ohne Beachtung unserer Ratschläge
in einen Weltbrand hineinziehen zu lassen." (Weißbuch Nr. 396.)
Eine ähnliche Erklärung der englischen Regierung in Peters-
burg würde den Weltfrieden erhalten haben.
Grey hat dabei die Gefahren der Lage durchaus rechtzeitig
erkannt. Am 29. Juli sagte er zum österreichisch - ungarischen
Botschafter, ,, heute spreche Petersburg noch mit Berlin, wie würde
es morgen sein?" (Rotbuch 1919, III, Nr. 14). Überdies hat er
noch am 31. JuH Lichnowsky zugesichert, er werde einen Druck
auf Paris und Petersburg ausüben, wenn ,, Österreich ein derartiges
Zugeständnis mache, daß Rußland ins Unrecht versetzt werde"
(Weißbuch Nr. 489). Am 1. August wußte er, daß Wien die Ver-
mittlung der Mächte annehme, und Rußland hatte sich nicht nur
Österreich - Ungarn, sondern auch Deutschland gegenüber durch
seine allgemeine Mobilmachung im höchsten Grade ins Unrecht
gesetzt. Grey hat aber nicht seiner Zusage gemäß gehandelt und
bewies damit, daß seine Verhandlungen mit Berlin nur eine diplo-
matische Kriegslist darstellten.
2. England und Rußland
Die englische Regierung hat ursprünglich erklärt, daß sie
wegen der serbischen Frage nicht zum Kriege schreiten würde.
Wenn sie trotzdem der Gefährdung des europäischen Friedens
durch Rußland untätig zusah und sich anscheinend ohne Wider-
107
streben der sicheren Gefahr aussetzte, selbst in einen Weltbrand
hineingezogen zu werden, so ist dies nur aus der Tendenz der eng-
lischen Ententepolitik der letzten Jahre zu erklären. Daß die
Regierung des Zaren mit ihren übereilten Maßnahmen auf den
Krieg zusteuerte, konnte weder in London noch in Paris verborgen
bleiben, und man mußte hier ebenso wie in Berlin erkennen, daß
das Vorgehen Rußlands jede Vermittlungsaktion zu vereiteln be-
stimmt war. England und Frankreich ließen dieses gefährliche
Treiben gewähren, indes sich die deutsche Regierung während des
ganzen Verlaufs der Krise bestrebt zeigte, in enger Fühlung mit
der englischen die Gefahr eines Weltkrieges abzuwenden. Sie hat
mit dem nach Wien gerichteten Vorschlag, sich mit der Besetzung
eines Faustpfandes zu begnügen, und auf dieser Basis eine Ver-
mittlung anzunehmen, eine Ausgleichsmöglichkeit gefunden, die
auch nach englischer Auffassung die friedliche Beilegung des
Konfliktes herbeiführen mußte. Dieser Ausgleich konnte deshalb
nicht verwirklicht werden, weil Rußland trotz der dringenden
Warnungen der deutschen Regierung nicht das Ergebnis der Ver-
mittlung abwarten wollte, sondern darauf bestand, den Konflikt
durch Anwendung militärischer Druckmittel zu lösen, während
die englische Regierung, obwohl sie von den deutschen Schritten
in Wien fortlaufend unterrichtet worden war, es unterließ, Ruß-
land auch nur für die Tage und Stunden zurückzuhalten, deren
es bedurfte, um die Einigung herbeizuführen.
Sie konnte sich nicht entschließen, eine Warnung nach Peters-
burg zu richten, die dort unwillkommen gev/esen wäre und mög-
licherweise den Abschluß der geheimen englisch-rus-
sischen Marinekonvention beeinträchtigt hätte. Die
Sorge um die Aufrechterhaltung der Entente mit Rußland, des
Schlußsteins in dem Bau der englischen Einkreisungspolitik,
verhinderten Grey daran, in seinen Friedensbemühungen in Pe-
tersburg ,,bis an die äußerste Grenze dessen zu gehen, was einem
verbündeten und souveränen Staat zugemutet werden konnte",
wie es die deutsche Regierung getan hatte (Weißbuch Nr. 513,
553). Die Erhaltung des eisernen Ringes, den er um Deutschland
gelegt hatte, stand ihm eben höher als die Erhaltung des Welt-
friedens I
Es ist sehr zweifelhaft, ob die Regierung des Zaren zum
Kriege bereit gewesen wäre, wenn sie nicht mit Sicherheit auf die
Unterstützung Englands gerechnet hätte. Ganz gewiß wäre
jedoch der Frieden erhalten worden, wenn die englische Re-
gierung dem Kriegswillen Rußlands und Frankreichs entgegen-
getreten wäre.
In Petersburg waren die englisch-französischen Abmachungen
108
bekannt, die England die moralische, wenn auch nicht vertrag-
liche Verpflichtung auferlegten, Frankreich in jedem Kriege mit
Deutschland beizustehen, der nicht offensichtlich von Frankreich
provoziert war. Die russische Regierung durfte also mit Gewiß-
heit auf die englische Unterstützung in einem Kriege gegen Deutsch-
land rechnen, wenn England nicht ausdrücklich die Waffenhilfe
ablehnte. Rußland konnte durch Mobilisierung seiner gesamten
Streitkräfte Deutschland zur Mobilmachung und Kriegserklärung
zwingen und hierdurch für Frankreich den Bündnisfall herbei-
führen. Deutschland, zum Zweifrontenkrieg gezwungen, sah sich
dann vor die Notwendigkeit gestellt, Frankreich den Krieg zu
erklären, wodurch angesichts der englisch-französischen Ab-
machungen der deutsch-englische Krieg unvermeidlich wurde.
Dieser Weg zum Weltkriege war der russischen Kriegspartei klar
vorgezeichnet. Die Petersburger Regierung hat ihn beschritten.
Für Rußland bestand zunächst nur die einzige Sorge, ob
nicht die enghsche Regierung, für die diese Zusammenhänge nicht
weniger klar erkennbar waren, erklären würde, in einen über den
serbischen Streit entbrennenden Krieg nicht eingreifen zu wollen.
Daher bemühte sich Sasonow, vom französischen Botschafter
unterstützt, bereits am 24. Juli, von der englischen Regierung
eine Erklärung ihrer Solidarität mit den Zweibundsmächten zu
erwirken (Blaubuch Nr. 6). Am 25. Juli erneuerte er seine Bitte
(Blaubuch Nr. 17). Keinerlei englisches Dokument aus Peters-
burg vom 26. Juli ist bekannt gegeben worden. Am 27. Juli
(Blaubuch Nr. 44, 45) und an allen späteren Tagen ist von dem
Wunsche nach einer Solidaritätserklärung Englands nicht mehr
die Rede.
Am 25. Juli lehnte es Grey noch ab, über einen serbischen
Streit zum Kriege zu schreiten (Blaubuch Nr. 24). Ein Tele-
gramm von London nach Petersburg vom 26. Juli ist nicht bekannt,
doch zeigt der englische Vorschlag einer Botschafterkonferenz in
London (Weißbuch Nr. 304, Blaubuch Nr. 36) eine grundsätzliche
Änderung in der Haltung der englischen Regierung an. Am
27. Juli telegraphierte (gemäß Blaubuch Nr. 47) Grey nach Peters-
burg, der russische Botschafter habe sich bei ihm darüber beklagt,
daß England in seiner Haltung die Zugehörigkeit zum Dreiverband
nicht deutlich genug bekunde. Als Antwort habe er den Bot-
schafter darauf hingewiesen, daß die englische Flotte nach Be-
endigung ihrer Manöver nicht demobilisiere und nicht auseinander-
gehe. Diese Tatsache konnte Petersburg vollauf befriedigen,
trotz der Einschränkung des englischen Ministers, er könne Ruß-
land nur ,, diplomatisches" Vorgehen versprechen. Benckendorff
berichtete ebenfalls über dies Gespräch. Sein Telegramm schloß
109
mit den Worten: „Die Zuversicht Berlins und Wiens in bezug auf
die Neutralität Englands hat keinen Grund mehr."
Jeder Zweifel, ob Frankreich und damit Rußland im Kriegs-
falle auf Englands Unterstützung rechnen könne, war jedenfalls
am 29. Juli bereits behoben. Das Blaubuch (Nr. 87) gibt an,
daß Grey an diesem Tage dem französischen Botschafter erklärte,
er beabsichtige, die deutsche Regierung zu warnen, daß England
nicht bei Seite stehen würde, wenn es zum Kriege kommen sollte.
Frankreich gegenüber behalte er sich jedoch die Entscheidung
über das Eingreifen Englands noch vor. Diese Erklärung an
Deutschland konnte jedenfalls für die Zwecke des Zweibundes
vollauf genügen. Der französische Botschafter antwortete daher,
Grey habe ,,die Lage sehr deutlich auseinandergesetzt".
Der Umschwung in der ursprünglichen Haltung Englands,
die Entschlüsse, die es angesichts der drohenden Kriegsgefahr
gefaßt hatte, und die Rückwirkung dieser Stellungnahme in Ruß-
land sind nicht verborgen geblieben. Der belgische Geschäfts-
träger in Petersburg berichtete am 30. Juli :
„England gab anfänglich zu verstehen, daß es sich nicht in einen Konflikt
hineinziehen lassen werde. Sir George Buchanan sprach das offen aus. Heute
aber ist man in St. Petersburg fest davon überzeugt, ja, man hat sogar die Zu-
sicherung, daß England Frankreich beistehen wird. Dieser Beistand fällt
ganz außerordentlich ins Gewicht und hat nicht wenig dazu beigetragen, der
Kriegspartei Oberwasser zu verschaffen." (Norddeutsche Allgemeine Zeitung
vom 12. September 1914.)
Der Entschluß zur allgemeinen Mobilmachung, die nur den
Zweck haben konnte, den Krieg mit Deutschland herbeizuführen,
war gefaßt worden, als die Gewißeit bestand, daß England an
der Seite Frankreichs und Rußlands eingreifen werde. Das hat
auch der Petersburger Reuter-Korrespondent erkannt, der am
30. Juli telegraphierte:
,,Das Auslaufen der englischen Flotte aus Portland hat einen ungeheuren
Eindruck hervorgerufen und hat, in Verbindung mit den friedlichen Versiche-
rungen Japans, den festen Entschluß Rußlands, es auf eine kriegerische Ent-
scheidung ankommen zu lassen, mehr als bekräftigt."
Die Würfel waren gefallen. Die Schwankungen in der Haltung
Englands während der folgenden Tage sind nur auf innerpolitische
Gründe und taktische Erwägungen zurückzuführen.
3. England und Frankreich
Als Grey am 29. Juli dem französischen Botschafter die be-
deutungsvolle Mitteilung machte, er werde Deutschland warnen,
daß es im Kriegsfalle nicht auf Englands Neutralität zählen dürfe,
wies er ihn zugleich darauf hin, daß die öffentliche Meinung wenig
geneigt sein werde, wegen der serbischen Frage in einen Krieg
110
einzugreifen, in den Frankreich lediglich durch sein Bündnis mit
Rußland hineingezogen würde. Eine Verpflichtung bestehe für
England nicht, und er (Grey) müsse sich noch die Entscheidung
über das, was Englands Interesse geböte, vorbehalten (Blau-
buch Nr. 87).
Daß es in Englands Belieben gestanden hätte, Frankreich
beizuspringen oder nicht, wäre wohl nur dem Buchstaben der
Vereinbarungen nach richtig gewesen. Denn schon die Tatsache,
daß Frankreich auf Grund der englisch-französischen Abmachungen
seine Flotte im Mittelmeer zusammengezogen hatte, begründete
für England eine Verpflichtung zum Schutze der französischen
Nordküsten, der sich keine englische Regierung jemals hätte ent-
ziehen können. Asquith erklärte am 2. August dem deutschen
Botschafter, durch zwei Dinge würde die „neutrale Haltung der
englischen Regierung sehr erschwert", durch die Verletzung der
Neutralität Belgiens und ,, durch einen etwaigen Angriff deutscher
Kriegsschiffe auf die gänzlich unbeschützte Nordküste Frank-
reichs, die die Franzosen in gutem Glauben auf
die britische Unterstützung zugunsten ihrer Mittel-
meerflotte entblößt hätten" (Weißbuch Nr. 676). Tatsächlich
hat ja England auch bereits am 2. August den Schutz der fran-
zösischen Küsten und der französischen Schiffahrt gegen die
deutsche Flotte förmlich übernommen (Blaubuch Nr. 148, Weiß-
buch Nr. 784), zu einem Zeitpunkt also, als Kriegszustand zwischen
Deutschland und Frankreich nicht bestand.
Die geheimen englisch-französischen Abmachungen, welche
Armee und Marine betrafen, stammen aus der Zeit der ersten
Marokkokrise. Sie wurden im Laufe der Jahre ergänzt und 1912
durch einen Notenaustausch bestätigt. Wann sich die französische
Regierung zum erstenmal auf das ihr aus diesen Abmachungen
zustehende Recht auf englische Waffenhilfe berufen hat, ist nicht
bekannt. Nach Angabe des Blaubuches (Nr. 105) wäre dies am
30. Juli geschehen, also erst, nachdem (am 29. Juli) französischer-
seits in Petersburg die Erklärung abgegeben worden war, Ruß-
land könne „vollständig auf die Unterstützung des verbündeten
Frankreichs rechnen". (Orangebuch Nr. 58.) Die Anlage 3
der Nr. 105 des Blaubuches stellt aber eine notorische Fälschung
dar; es erscheint deshalb fraglich, ob die übrigen Angaben dieses
Dokuments zutreffen. Der russische Botschafter hat ebenfalls
über diese Unterredung berichtet. Seine Darstellung gibt ihr
einen wesentlich anderen Sinn, als die englische. Er telegraphierte
am 30. Juli nach Petersburg:
„Cambon fragte bei Grey an, ob er der Meinung sei, daß der
Moment eingetreten sei? Grey antwortete ihm, daß der Moment
111
eintreten wird, sobald die Stellungnahme Deutschlands sich völlig klärt. Cambon
bestand nicht weiter darauf, da von England ernste Maßnahmen nicht nur
zur See, sondern auch auf dem Lande getroffen worden sind. Cambon sagte,
daß nach seiner Meinung die Lage sich in den Augen des Parlaments noch nicht
genügend geklärt hat, damit Grey, ohne zu riskieren, noch heute offen auf-
treten könnte." (Prawda Nr. 7 vom 9. März 1919.)
P. Cambon selbst berichtete, er habe Grey darauf aufmerk-
sam gemacht, ,,daß es sich heute nicht mehr um einen Streit
um Einfluß zwischen Rußland und Österreich-Ungarn handele.
Es bestehe Gefahr eines Angriffs, der einen allgemeinen Krieg
heraufbeschwören konnte. — Sir E. Grey hat meine Empfindung
völlig verstanden, und, wie ich, hält er den Augenblick für
gekommen, alle Möglichkeiten ins Auge zu fassen und sie
gemeinsam zu erörtern". (Gelbbuch Nr. 108.)
Wollte auch Grey am 29. Juli das entscheidende Wort noch
nicht sprechen, so haben doch offenbar andere es für ihn getan.
Vielleicht spielten im konstitutionellen England die Militärs eine
ebenso große oder noch größere Rolle, als im absolutistischen
Deutschland. Der belgische Gesandte in Paris berichtete am
31. Juli:
„Der Chef des zweiten Bureaus des Generalstabs der Armee hat dem
(belgischen Militärattache) Major Collon bestätigt, daß England die förmliche
Versicherung gegeben hat, daß es Frankreich in dem gegenwärtigen Konflikt
im vollen Maße und mit den Waffen beistehen werde, wenn Deutschland mili-
tärisch eingriffe." (Deutsche Allgemeine Zeitung vom 22. Mai 1919.)
Bezeichnend für die englisch-französischen Anschauungen
ist die von P. Cambon (Blaubuch Nr. 105) gegebene Auslegung
des Begriffs ,, Angriff auf Frankreich", der als Voraussetzung
für die englische Waffenhilfe zu gelten habe. Ein „Angriff auf
Frankreich" wurde nämlich von ihm schon in einer Forderung
der Neutralität Frankreichs in einem deutsch-russischen Kriege
erblickt. In London und Paris hat man den Begriff „defensiv"
recht weitherzig ausgelegt!
In England gab es damals offenbar zwei Strömungen : Die
eine, welche weder einen Krieg wollte, noch einsehen konnte,
daß England die Politik seiner festländischen Verbündeten mit-
machen müsse. Noch am 2. August sagte Asquith zu Lichnowsky,
ein Krieg zwischen England und Deutschland sei ganz undenkbar
(Weißbuch Nr. 676). Die andere Richtung sah den Augenblick
gekommen, um die Ziele zu verwirklichen, die England im Ver-
sailler Frieden erreicht hat. Benckendorff meldete am 31. Juli:
,,Grey versteht die Lage ausgezeichnet und sieht völlig klar, daß eine
gewisse Reaktion im Parlament ernste Schwierigkeiten für ihn schafft und
ihn zu großer Vorsicht zwingt."
112
Noch am gleichen Tage telegraphierte er:
„Die Ereignisse können sich so rasch entwickeln, daß jede übereilige
Beurteilung der Haltung Englands im gegenwärtigen Moment schädlich sein
und insbesondere Grey paralysieren würde, dessen Einfluß in einigen Stunden
wiederhergestellt sein könnte."
Welche Ereignisse in Frage standen, sagt der Schluß des
erstgenannten Telegramms:
,,Die Krisis wird an jenern Tage eintreten, wo die europäische Seite der
Frage infolge der Gefahr eines Überfalles auf Frankreich augenfällig sein wird.
Dies ist wenigstens meine Meinung und die Meinung Cambons." (Prawda,
Nr. 7 vom 9. März 1919.)
Frankreich lag daher nicht weniger daran, einen deutschen
Überfall nachzuweisen, wie es der englischen Regierung darauf
ankam, ihr Eingreifen in den Krieg mit einem deutschen Angriff
auf Frankreich zu rechtfertigen. Diesem Gesichtspunkt dienten
die zahlreichen französischen Meldungen nach London über deutsche
Rüstungen und Grenzverletzungen, die zum mindesten im Datum
alle unrichtig waren, und ebenso die Anlage 3 der Nr. 105 des
Blaubuches, eine bekannte Fälschung, die der offiziöse Historiker
Oman mit Stillschweigen übergeht.
4. Englands Kriegserklärung an Deutschland
Am 29. Juli erklärte Grey dem deutschen Botschafter, wenn
Deutschland und Frankreich in den Konflikt hineingezogen
würden, dann würde ,,die britische Regierung unter Umständen
sich zu schnellen Entschlüssen gedrängt sehen". (Weißbuch
Nr. 368, Blaubuch Nr. 89.) Der Sinn dieser Erklärung, England
werde Frankreich im Kriegsfall beistehen, war nicht mißzuver-
stehen. Die deutschen Bemühungen zur Erhaltung des Friedens
sind jedoch offensichtlich nicht wegen der Gefahr einer Verwicke-
lung mit England betrieben worden, sondern bezweckten, den
Krieg überhaupt zu vermeiden. Nachdem aber alle Versuche,
den Krieg mit Rußland zu verhindern, vereitelt waren, und auch
die letzte Aussicht, mit der Neutralität Frankreichs rechnen zu
können, zunichte geworden war, bemühte sich die deutsche Re-
gierung, wenigstens England zu einer neutralen Haltung zu be-
wegen, obwohl die Aussicht auf Erfolg von vornherein äußerst
gering war.
Kriegsgrund für England mußten in erster Linie die Ab-
machungen mit Frankreich bilden und sein poli-
tisches Interesse, das eine Vernichtung Frankreichs nicht zu-
lassen konnte. Einen zweiten Grund bildete Englands besonderes
Interesse an B e 1 g i e n , dessen Neutralität im Falle eines deutsch-
113
französischen Krieges die Kriegführenden nicht vom Durchmarsch
abgehalten hätte.
Diesen Gesichtspunkten entsprechend machte Bethmann
Hollweg am Abend des 29. Juli, als die russische Teilmobilmachung
die Lage äußerst bedrohlich gestaltet hatte, dem englischen Bot-
schafter ein Neutralitätsangebot. Er stellte der englischen Re-
gierung Sicherheiten dafür in Aussicht, daß Deutschland keine
Gebietserwerbungen auf Kosten Frankreichs erstrebe. Diese
Garantie sollte sich allerdings auf die französischen Kolonien
nicht erstrecken. Desgleichen sicherte er England die Achtung
der Neutralität und die Integrität der Niederlande, sowie die
Integrität Belgiens zu für den Fall, daß Deutschland zum Durch-
marsch durch Belgien gezwungen würde, vorausgesetzt, daß es
nicht gegen Deutschland Partei ergreife (Weißbuch Nr. 372, Blau-
buch Nr. 85). Dieses Neutralitätsangebot wurde von England
abgelehnt (Blaubuch Nr. 101, Weißbuch Nr. 497).
Trotzdem hat die deutsche Regierung, als der Krieg ausbrach,
alle nur möglichen Schritte getan, um eine neutrale Haltung
Englands herbeizuführen. Sie hat sich am 1. August, wie oben
dargelegt, bereit erklärt, jeden Angriff auf Frankreich zu unter-
lassen, wenn England die französische Neutralität garantieren
würde. Am 3. August wies sie den Botschafter in London an,
zu erklären, daß deutscherseits eine Bedrohung der französischen
Nordküste nicht erfolgen werde, solange England neutral bliebe
(Weißbuch Nr. 714). Der Botschafter gab Grey noch am gleichen
Tage eine dementsprechende Versicherung ab (Weißbuch Nr. 764).
England ließ sich hiermit jedoch nicht zufriedenstellen. Es hatte
bereits am 2. August Frankreich den Schutz seiner Küsten und
Handelsschiffahrt zugesichert (Blaubuch Nr. 148, Weißbuch
Nr. 784) und war offensichtlich entschlossen, auch weitergehende
Waffenhilfe zu gewähren.
Je geringer die Aussicht schien, daß Deutschland durch einen
Überfall auf Frankreich die Voraussetzungen für ein Eingreifen
Englands schaffen würde, desto mehr betonte Grey den belgischen
Kriegsgrund. Bereits in der Antwort auf das deutsche Neutrali-
tätsangebot hatte er am 30. Juli erklärt, daß England eine Ver-
ständigung über Belgien ablehnen müsse (Weißbuch Nr. 497,
Blaubuch Nr. 101). In der Folgezeit zeigte er sich unter dem Ein-
druck der russischen Mobilmachung und der Unvermeidlichkeit
des Krieges bestrebt, die belgische Frage als Kriegsanlaß in den
Vordergrund zu schieben. Nach Ansicht des deutschen General-
stabs war es nicht angängig, abzuwarten, ob und wann französische
oder französisch-englische Heere durch Belgien marschieren und
einen Stoß gegen die verwundbarste Stelle der deutschen West-
114
front führen würden. Die deutschen Heere mußten dem Gegner
unbedingt zuvorkommen. Aus diesem Grunde iconnte die deut-
sche Regierung auf die englische Anfrage vom 31. Juli (Weißbuch
Nr. 522, Blaubuch Nr. 114), ob Deutschland bereit sei, sich zur
Respektierung der belgischen Neutralität zu verpflichten, keine
Antwort geben (Blaubuch Nr, 122). England konnte Belgien
dadurch schützen, daß es die französische Neutralität gewähr-
leistete. Es hat diesen Weg nicht beschreiten wollen. England
war auch nicht bereit, die Achtung der belgischen Neutralität
dadurch zu sichern, daß es sich selbst zur Neutralität verpflichtete
(Weißbuch Nr. 596). Es wollte Frankreich unter allen Umständen
Waffenhilfe leisten. Deshalb hat am 1. August Grey es abgelehnt,
Bedingungen für die Neutralität Englands aufzustellen, auch als
ihm der deutsche Botschafter eine Garantie der Integrität Frank-
reichs und seiner Kolonien anbot (Blaubuch Nr. 123). Ängstlich
wartete man in London auf den Kriegsgrund, die Verletzung der
belgischen Neutralität, die es der englischen Regierung ermöglichen
sollte, die Erfüllung ihrer französischen Bündnispflichten vor dem
Parlament und vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Der bel-
gische Gesandte in London telegraphierte am 3. August:
„Gesandtschaft hat größtes Interesse, Nachricht betreffend Neutralitäts-
verletzung zu erhalten. Auswärtiges Amt hat mich heute wiederholt zur Über-
mittlung diesbezüglicher Nachricht aufgefordert." (Deutsche Allgemeine
Zeitung vom 22. Mai 1919.)
Die englische Regierung hat Deutschland am 4. August auf
Grund des Einmarsches in Belgien den Krieg erklärt. Tatsächlich
bestand jedoch bereits Kriegszustand zwischen Deutschland und
England, da England schon am 2. August den Schutz der fran-
zösischen Küste und Schiffahrt übernommen hatte.
Wie schv/ierig es für England gewesen ist, den Krieg mit
Deutschland zu rechtfertigen, sieht man u. a. auch an den unge-
bührlich vielen Telegrammen des Blaubuches, die sich mit dem
Festhalten englischer Schiffe in deutschen Häfen befassen. Nicht
weniger als sechs Urkunden haben diese ganz nebensächliche
Frage zum Gegenstand. Die englische Hoffnung auf eine deutsche
Provokation ging aber nicht in Erfüllung. Die deutsche Marine
wurde ängstlich zurückgehalten. So blieb schließlich nur Belgien
als Kriegsgrund.
Das Märchen, England habe Deutschland den Krieg wegen
der Verletzung der belgischen Neutralität erklärt, wurde zwar
anfangs geglaubt, ist aber längst fallen gelassen worden. Viele
Einzelheiten aus jenen kritischen Tagen sind in der englischen
Presse bekannt gegeben worden. Immer spielt Belgien nur die
Rolle eines Vorwandes. Die Lage Englands wird durch den Brief
115
gekennzeichnet, den Bonar Law und Lansdowne, die Führer der
konservativen Opposition, am 2. August an Asquith sandten.
Er lautete:
„Lord Lansdowne und ich empfinden es als unsere Pflicht, Sie zu ver-
ständigen, daß unserer Ansicht nach, ebenso wie nach der anderer Kollegen,
die wir zu befragen in der Lage waren, es für die Ehre und Sicherheit des Ver-
einigten Königreichs verhängnisvoll wäre, unter den gegenwärtigen Verhält-
nissen mit der Unterstützung Frankreichs und Rußlands zu zögern. Wir bieten
der Regierung unsere bedingungslose Hilfe für alle Maßnahmen an, die sie für
diesen Zweck als nötig erachtet."
Für England sind es, ganz wie für Rußland, machtpolitische
Fragen und, wie für Frankreich, Bündnisverpflichtungen gewesen,
die es zum Eintritt in den Krieg veranlaßten. Seine machtpoli-
tischen Ziele sind aber mehr als Prestige-Fragen gewesen. Der
Versailler Vertrag hat sie enthüllt.
VIII. Die Frage der Verantwortlichkeit
1. Der Standpunkt der deutschen Regierung von 1914
Wenn man von der lächerlichen Beschuldigung absieht,
Deutschland habe die Weltherrschaft durch einen Weltkrieg er-
ringen wollen, sind die Hauptvorwürfe, die der Feindbund gegen
uns erhebt, daß Deutschland das Ultimatum an Serbien veran-
laßt bzw. zugelassen hat, daß es den Konferenzvorschlag Greys
ablehnte, daß es Österreich nicht davon abhielt, gegen Serbien
militärisch vorzugehen, schließlich, daß es auf die russische Mobil-
machung hin Rußland den Krieg erklärte.
Diese Anklagen gehen von der falschen Voraussetzung aus,
daß die österreichisch-ungarische Politik in Berlin bestimmt wurde.
Die Balkankriege haben deutlich genug gezeigt, daß der deutsche
Einfluß auf Wien seine Grenzen hatte. Die Note an Serbien ist
ohne deutsche Mitwirkung abgefaßt worden. Deutschland billigte
ein Vorgehen Österreich-Ungarns gegen Serbien, weil es in seinem
eigenen Interesse lag, daß den großserbischen Treibereien ein Ende
bereitet würde. Die Wahl der Mittel wurde Wien überlassen, zu-
mal die ganze Angelegenheit als eine interne Frage der Donau-
monarchie angesehen worden ist.
Der Konferenzvorschlag wurde abgelehnt, weil er eine Ein-
mischung in den österreichisch - serbischen Streit bedeutete und
nicht als ein Mittel angesehen wurde, die Krise rasch und befrie-
digend zu lösen, Grey hat selbst diesen Vorschlag zugunsten
8*
116 -^
der direkten Besprechungen zwischen Wien und Petersburg
fallen lassen.
Abgesehen davon, daß es ein gefährliches Beginnen gewesen
wäre, einer Großmacht in den Arm zu fallen, die entschlossen war,
ihr Recht durchzusetzen, hätte jeder Versuch, Österreich-Ungarn
an einem militärischen Vorgehen gegen Serbien zu verhindern,
ehe nicht alle friedlichen Mittel erschöpft waren, eine nicht gerecht-
fertigte Begünstigung Serbiens dargestellt. Sobald in Berlin be-
kannt wurde, daß Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt
und Verhandlungen auf Grund der serbischen Antwortnote ab-
gelehnt hatte, richtete (am 28. Juli) die deutsche Regierung*den
Vorschlag nach Wien, die Operationen auf die Besetzung ^ eines
Faustpfandes zu beschränken. Durch ein unbedingtes Veto gegen
einen Krieg mit Serbien hätte Deutschland seinen einzigen verläß-
lichen Bundesgenossen verloren. Nicht einmal Italien hat einen
derartigen Schritt unternommen.
Die russische Gesamtmobilmachung war, wie die sie veran-
lassenden Generäle im Suchomlinowprozeß bestätigt haben, gegen
Deutschland gerichtet. Sie ist durch keinerlei deutsche Maßnahme
provoziert worden. Die russischen Nachrichten von angeblichen
weitgehenden Kriegsvorbereitungen Deutschlands waren unzu-
treffend. Die russische Regierung hat anläßlich der Gesamtmobil-
machung der deutschen keinerlei Erklärungen oder Zusicherungen
abgegeben, obwohl sie wußte, daß Deutschland eine derartige
Bedrohung als Kriegsgrund ansehen mußte. Das Wort des Zaren,
seine Truppen würden die Grenzen nicht überschreiten, solange
verhandelt würde, bot keinerlei Sicherheit und Gewähr für die
Zukunft.
2. Der Dreiverband
Die russische Kriegspartei wollte den Krieg und hat deshalb
die Mobilmachung gegen das die Vermittlung betreibende Deutsche
Reich durchgesetzt, obgleich kein Anlaß vorlag, an dem günstigen
Ausgang der deutschen Vermittlung zu zweifeln, und obwohl sie
sich völlig bewußt war, daß die Mobilmachung den Weltkrieg
bedeutete. Sie nahm den Streit mit Österreich-Ungarn wegen
Serbien zum Anlaß, um die von ihr seit langem angestrebte euro-
päische Abrechnung herbeizuführen.
Die französische Regierung hat die russische Politik gebilligt
und unterstützt, obwohl sie deren Ziele und Folgen klar erkennen
mußte. Sie hielt den Augenblick für günstig, um die alte Rech-
nung mit Deutschland zu begleichen. Schon während der Balkan-
kriege wäre sie bereit gewesen, loszuschlagen. Die Beweise hierfür
sind zahlreich. Unter anderem berichtete Iswolski am 30. Januar
1913 zusammenfassend:
117
„Man ist hier entschlössen, seine Verpflichtungen als Verbündete in bezug
auf uns in vollem Umfange zu erfüllen. Die französische Regierung gibt voll-
kommen bewußt und kaltblütig zu, daß das Endresultat der
gegenwärtigen Verwicklungen für sie die Notwendigkeit bedeuten
könne, am allgemeinen Kriege teilzunehmen. Der Augenblick, in
dem Frankreich das Schwert zu ziehen hat, ist durch die französisch-russische
Konvention genau festgestellt, und in dieser Hinsicht hegen die französischen
Minister keinerlei Zweifel." (Deutsche Allgemeine Zeitung vom 28. 8. 1019.)
Im Jahre 1914 ist es nicht anders gewesen.
Die englische Regierung, der die Kriegstreibereien ihrer Ver-
bandsgenossen nicht verborgen bleiben konnten, hat es unterlassen,
Frankreich und Rußland von gefährlichen militärischen Maß-
nahmen zurückzuhalten. Die Gewißheit der Teilnahme Eng-
lands an einem Kriege gegen Deutschland hat mehr als alles andere
den Kriegswillen der Zweibundmächte gefestigt.
Am 2. Dezember 1914 erklärte Bethmann Hollweg im
Reichstage :
,,Die Verantwortung an diesem größten aller Kriege liegt für uns klar.
Die äußere Verantwortung tragen diejenigen Männer in Rußland, die die all-
gemeine Mobilmachung der russischen Armee betrieben und durchgesetzt
haben. Die innere Verantwortung liegt bei der großbritannischen Regierung.
Das Londoner Kabinett konnte den Krieg unmöglich machen, wenn es un-
zweideutig in Petersburg erklärte, England sei nicht gewillt, aus dem öster-
reichisch-serbischen Konflikte einen kontinentalen Krieg der Großmächte
herauswachsen zu lassen. Eine solche Sprache hätte auch Frankreich '■'ge-
zwungen, Rußland energisch von allen kriegerischen Maßnahmen abzuhalten.
Dann aber gelang unsere Vermittlungsaktion zwischen Wien und Petersburg,
und es gab keinen Krieg. England hat das nicht getan. England kannte die
kriegslüsternen Treibereien einer zum Teil nicht verantwortlichen, aber mächtigen
Gruppe um den Zaren. Es sah, wie das Rad ins Rollen kam, aber es fiel ihm
nicht in die Speichen."
Diese Worte werden vor der Geschichte weit eher Bestand
haben, als die Denkschrift der Pariser Kommission für die Fest-
stellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges.
3. Schlußbetrachtung
Zu einem gerechten Urteil in der Frage der Verantwortlich-
keit ist es unerläßlich, der Untersuchung nur die Gesichtspunkte
von 1914, und nicht die von 1919 zugrunde zu legen. Für den rück-
blickenden Beschauer ist es leicht, heute klüger und gerechter
zu sein als die Männer, die in den kriegsentscheidenden Tagen die
Geschicke der Welt bestimmten. Ihrem Handeln und Unterlassen
darf der Maßstab der durch den langen Krieg veränderten Auf-
fassung nur angelegt werden, wo es gilt, aus der Vergangenheit
Lehren für die Zukunft zu ziehen. Ausgangspunkt für die Be-
118
trachtung des Schuldproblems darf ferner nicht die Frage sein,
wer recht und wer unrecht hatte. Von seinem Standpunkt aus
hatte Serbien recht, wenn es seinen nationalistischen Zielen nach-
strebte. Österreich - Ungarn hatte nicht minder recht, wenn es
seinen Besitzstand zu wahren suchte. Rußland hatte die Pflicht,
die Versprechungen einzulösen, die es Serbien gegeben hatte.
Deutschland mußte die gewaltsame Auflösung seines einzigen ver-
läßlichen Bundesgenossen zu verhindern suchen. Frankreich und
England waren gezwungen, ihren Vertragspflichten nachzukommen.
,, Recht" hatte ein jeder. Die Frage, die gestellt werden muß, ist,
ob ein jeder das tat, was von seinem Standpunkt aus berechtigt
und nach den allgemeinen Begriffen erlaubt war. In erster Linie
ist aber zu erforschen : Was haben die einzelnen Regierungen ge-
wollt und beabsichtigt?
Von diesen Gesichtspunkten ausgehend, ist festzustellen, daß
Deutschland kein Unrecht beging, wenn es Österreich-Ungarn
zum Zwecke der Erhaltung seines Besitzstandes bündnisgemäße
Unterstützung zusagte. Es hat den Krieg gegen Serbien gebilligt
und zugelassen. Der Krieg war und ist ein erlaubtes Mittel der
Politik. Sein Grund, die Selbstverteidigung, ist durchaus zulässig.
Andere Länder haben aus geringeren Anlässen Krieg geführt. Auch
der Weltkrieg stand mehr als einmal bevor. Frankreich war z. B.
1912 bereit, es wegen der russischen Balkaninteressen zum euro-
päischen Kriege kommen zu lassen. Deutschland hat 1914 mit
dieser Möglichkeit, nicht aber mit der Wahrscheinlichkeit eines
Weltbrandes gerechnet.
Deutschland hat die Vermittlung in Wien lau betrieben, so-
lange keine Gewähr dafür bestand, daß der Zweck der österreichisch-
ungarischen Aktion gegen Serbien erreicht würde, und bis zu dem
Augenblick, wo die Gefahr eines Weltkrieges offenbar wurde. In
dieser Haltung kann ein Unrecht nicht erblickt werden, denn es
war in Berlin nicht vorauszusehen, daß sich die Ereignisse infolge
der russischen Mobilmachung überstürzen würden. Es bestand
kein Grund, die Berechtigung der Absichten Rußlands, die letzten
Endes auf die Vernichtung Österreich-Ungarns abzielten, anzu-
erkennen.
Deutschlands Kriegserklärung an Rußland war die natur-
gemäße Folge der allgemeinen Mobilmachung. Dieser Schritt der
Petersburger Regierung konnte nur den Krieg mit Deutschland
bezwecken. Es ist deshalb auch unsinnig, zu streiten, ob der deutsche
Mobilmachungsbefehl und die Kriegserklärung um einige Tage zu
früh oder zu spät erfolgte. Andere Daten hätten an dem politischen
Gesamtbilde nichts Wesentliches geändert, da der Wille zum Kriege
beim Gegner vorhanden war.
119
Die Unvermeidlichkeit des Krieges mit Frankreich konnte
angesichts der Haltung der französischen Regierung sowohl 1912
wie 1914 nicht bezweifelt werden. Die Kriegserklärung selbst
hatte deshalb nur formale Bedeutung.
Deutschland hat nichts getan, was andere Länder nicht eben-
falls zur Erreichung politischer Zwecke unternommen hätten. Es
hat weder unzulässige Ziele verfolgt, noch unerlaubte Handlungen
begangen, immer von der Verletzung der belgischen Neutralität
abgesehen, die als Kriegsmaßnahme nicht in den Rahmen dieser
Untersuchung der diplomatischen Vorgänge fällt. Die Entente-
mächte sind deshalb, von ihrer eigenen Schuld ganz zu schweigen,
nicht berechtigt, Deutschland anzuklagen. Sie haben es auch
nicht gewagt, im Versailler Friedensvertrag den Auslieferungs-
paragraphen auf die für den Ausbruch des Krieges Verantwortlichen
auszudehnen.
Anders liegt die Frage der Verantwortlichkeit, wenn das
deutsche Volk seine frühere Regierung zur Rechenschaft zieht.
Hier handelt es sich nicht um das, was in zwischenstaatlicher Be-
ziehung erlaubt und unzulässig ist. Die Regierung war damit be-
traut, den Geschicken des deutschen Volkes die bestmögliche Ge-
staltung zu geben. Diese Aufgabe ist ihr nicht gelungen. Daß sie
Fehler begangen hat, ist menschlich. Mängel der Erkenntnis können
nicht als strafbare Schuld zur Verurteilung gelangen . Die zu stellende
Frage ist auch nicht, ob anders gehandelt werden konnte, denn das
ist selbstverständlich. Es gibt für alle Entscheidungen zahlreiche
Möglichkeiten. Die Frage ist vielmehr, ob die damalige Regierung
leichtfertig oder gegen besseres Wissen Handlungen und Unter-
lassungen beging, die Deutschland zum Schaden gereichen
mußten.
Aus den veröffentlichten Akten ist nicht ersichtlich, weshalb
die Berliner Regierung Österreich-Ungarn freie Hand gegenüber
Serbien ließ. Es erscheint heute unbegreiflich, daß sie Deutsch-
lands Sicherheit und Zukunft in dieser Weise aufs Spiel setzte.
Aus den Wiener Akten ist jetzt bekannt, daß die österreichisch-
ungarische Regierung bei ihrem Vorgehen die deutschen Interessen
nahezu gänzlich außer acht ließ und das Bundesverhältnis bis zum
äußersten mißbrauchte. Es ist beschämend, zu sehen, daß eine
Handvoll Ungarn und Tschechen, ohne Rücksicht auf die Folgen,
Deutschlands politische Größe und militärische Macht für ihre
lokalen Interessen ausspielten — und verspielten. Worauf be-
gründete sich das unangebrachte Vertrauen Berlins zu Wien?
War der Gang der Ereignisse in keiner Weise vorauszusehen?
Nur infolge einer ungerechtfertigten Vertrauensseligkeit konnte
der Zustand eintreten, daß die Wiener Regierung trotz des starken
120
deutschen Druckes nicht zeitig genug einlenkte, um wenigstens
das Odium der Schuld am Kriege voll und ganz unseren Gegnern
aufzubürden. Daß ein loyales Eingehen der Wiener Regierung
auf die deutschen Vorstellungen den Krieg hätte verhindern können,
ist angesichts der Haltung Rußlands wenig wahrscheinlich.
Die versuchte Einwirkung auf Rußland blieb wegen der Doppel-
züngigkeit der Zivilgewalten und des ausschlaggebenden Einflusses
der militärischen Stellen ergebnislos. Auch Verhandlungen mit
Paris konnten zu keinem Erfolge führen. Diesen beiden Gegnern
gegenüber gab es nur die Möglichkeit frühzeitiger diplomatischer
Kapitulation, zu der umsoweniger Anlaß vorlag, als die deutsche
Regierung offensichtlich von der Rechtmäßigkeit ihres Stand-
punktes und der Notwendigkeit, ihn aufrecht zu erhalten, über-
zeugt war. Anders lagen die Verhältnisse England gegenüber.
Für England v/aren die fragwürdigen Balkaninteressen seiner
Verbündeten kein an sich ausreichender Kriegsgrund. Es stand
daher der österreichisch-ungarischen Aktion gegen Serbien nicht
bedingungslos ablehnend gegenüber. In London lag offensichtlich
mehrere Tage lang die Entscheidung über Krieg und Frieden.
Denn vom 25. Juli, dem Beginn der russischen Mobilmachung,
an handelte es sich nicht mehr um einen Streit wegen einzelner
Punkte der österreichisch-ungarischen Forderungen, sondern um
die Frage, ob ,,der Moment" gekommen sei. Darüber hatte Eng-
land zu bestimmen. Trotz der in Berlin bekannten Unaufrichtig-
keit Greys mußte hier der Hebel angesetzt werden, und zwar in
dem Augenblick, wo in Berlin die große Gefahr offenbar wurde.
Diese mußte man erkennen, als der ewig schwankende Grey seine
Haltung zum austro-serbischen Konflikt von Gi*und auf änderte,
also am 27. Juli, als der Vorschlag einer Botschafterkonferenz nach
Berlin gelangte. Diesen Umschwung hätte die deutsche Regierung
sofort mit positiven Vorschlägen beantworten müssen, die keinen
Zweifel darüber ließen, daß Deutschland den Krieg nicht wollte.
Dies ist geschehen, aber zu spät, nämlich zu einem Zeitpunkt, wo
die englische Regierung die Zügel fast ganz verloren und sich, wie
man annehmen muß, mit dem Gedanken an einen Krieg bereits
abgefunden hatte. Allem Anschein nach ist man sich in Berlin
erst am 29. Juli des vollen Ernstes der Lage bewußt geworden.
An diesem Tage hatte Bethmann Hollweg jenes vertrauliche Ge-
spräch mit dem englischen Botschafter, das erst bei Oman (S. 54,
vgl. Blaubuch Nr. 75) in seinem vollen Wortlaut veröffentlicht
worden ist, in dem er darlegte, wie er die Krisis zu lösen gedenke.
Diese Eröffnungen kamen zu spät.
Weshalb wurde die Lage nicht rechtzeitig erkannt? Gewiß
hat man von der Berichterstattung Lichnowskys Abstriche ge-
121
macht, weil man wußte, daß er von Grey regelmäßig ,, eingewickelt"
wurde, und seine aus persönlichen Motiven entspringende Vor-
eingenommenheit gegen Österreich - Ungarn kannte, Abstriche,
die nicht ganz unberechtigt waren, wie ein Vergleich der Tele-
gramme der Londoner Botschaft mit den entsprechenden eng-
lischen Urkunden ergibt. Es blieb aber immer noch genügend
Grund zur Beunruhigung, und es fragt sich, ob hier nicht sehr mit
dem Feuer gespielt worden ist. Was nutzten die dringlichsten
Telegramme nach London (Weißbuch Nr. 279, 314), wenn dort,
wie man wußte, ein Botschafter saß, der für die Gesichtspunkte
der Berliner Regierung kein genügendes Verständnis hatte? Am
28. Juli hat Bethmann Hollweg dem englischen Botschafter lediglich
seine Auffassung der Lage entwickelt (Blaubuch Nr. 71). Dies
konnte einem friedfertigen England genügen, der Vormacht des
zum Kriege drängenden Dreiverbandes aber nicht. Erst am 29. Juli
machte der Kanzler dem durchaus loyalen Goschen konkrete Vor-
schläge. Er handelte richtig, aber wie so oft — zu spät.
Auf die zahlreichen Mängel der politischen Geschäftsführung
soll hier nicht weiter eingegangen werden. Sie liegen zum Teil
offen zutage; in den weitaus meisten Fällen sind sie überwiegend
diplomatisch-technischer Natur und können ein allgemeines Interesse
nicht beanspruchen. Weitgehende Akribie wäre auch unangebracht
Dokumenten gegenüber, die in wenigen Minuten (oft recht flüchtig)
aufgesetzt worden sind. Urkunden, die nicht den Gegenstand einer
Beratung gebildet haben, dürfen nicht als Monumente der Zeit-
geschichte angesehen werden. Für die Erörterung der Schuldfrage
kommen überdies nur die großen Gesichtspunkte in Frage, denn
nur diese waren entscheidend.
Die Haltung der deutschen Regierung in den kritischen Juli-
tagen zeugt von viel gutem Willen, zeugt aber auch von einer Ver-
kennung der Absichten unserer Gegner, die als ganz außerordentlich
angesehen werden muß. Die Kriegslüsternheit unserer Feinde
kann in Berlin nicht ganz unbekannt geblieben sein. Es ist offenbar
versäumt worden, die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.
Dies ist die Hauptfrage hinsichtlich der Verantwortlichkeit gegen-
über dem deutschen Volke. Wie war es möglich, daß in so gespannter
Lage ein gefährliches Unternehmen, wie die Regelung der austro-
serbischen Beziehungen, gewagt wurde? Unvollendete Rüstungen
sind für Rußland bei der Entscheidung zum Kriege ebensowenig
ausschlaggebend gewesen, wie für andere Staaten im Laufe der
Geschichte. Die Spekulation auf den Gemeinschaftssinn der Sou-
veräne und die persönlichen Beziehungen des Kaisers zum Zaren
sind einer ernsthaften Politik unwürdig. Es war vorauszusehen,
daß im Kriegsfalle die monarchische Solidarität ebenso versagen
122
würde, wie die rote und die goldene Internationale, von denen so
viele geglaubt haben, sie würden einen Weltbrand verhindern
können. Wenn es sich aber als notwendig herausstellte, ein so ge-
fährliches Unternehmen zu wagen, dann mußte für alle Möglich-
keiten auf das beste vorgesorgt werden. Deutschlands mangelnde
Vorbereitung in diplomatischer, wirtschaftlicher und sogar mili-
tärischer Beziehung ist ein vollgültiger Beweis dafür, daß der Krieg
nicht gewollt war. Sie begründet aber eine schwere Anklage gegen
seine Regierung wegen ungenügender Vorsorge und leichtfertiger
Geschäftsführung. Nach den Akten gewinnt es den Anschein, daß
sie in den Krieg hineingeglitten ist, wie ein ahnungsloser Fußgänger
durch dünnes Eis bricht. Rings um diesen See waren aber genügend
Warnungszeichen angebracht. Die Gefahr des Weltkrieges lag seit
Jahren in greifbarer Nähe.
Wegen der Feindschaften, die sich Deutschland durch seinen
natürlichen Ausdehnungsdrang zugezogen hatte, und angesichts
der vollzogenen Einkreisung gab es für eine erfolgreiche Politik
nur zwei Wege:
Es galt entweder abzuwarten, sich ganz ruhig zu verhalten,
bis sich die Koalition der Gegner lockerte, und die Gesundung
der Beziehungen zu England, Rußland oder Frankreich durch
große Opfer zu erkaufen.
Oder aber, es mußte zu einem selbstgewählten Zeitpunkt ein
Präventivkrieg geführt werden, nachdem ein Höhepunkt politischer,
wirtschaftlicher und militärischer Vorbereitung erreicht war. Dies
wäre eine schlechte Politik gewesen, aber immerhin Politik.
Die deutsche Regierung suchte aber einen Mittelweg einzu-
schlagen, um eine dritte Lösung zu finden, die es nicht gab. Das
Ziel der Erhaltung des Weltfriedens, an dem Deutschland ja mehr
als allen anderen Großmächten gelegen sein mußte, wollte sie durch
eine Präventivaktion am Balkan erreichen. Hierdurch glaubte
sie den Angriffsabsichten der gegnerischen Koalition vorbeugen
zu können. Die deutsche Regierung war dabei vielleicht von einer
unbegreiflichen Megalomanie besessen und nahm an, daß sie die
Lokalisierung des austro-serbischen Konfliktes erzwingen könne,
und daßesnichtzumKriegekommenwerde,wenn
nursieden Friedenwolle. Denn von ,, einigem Gepolter"
bis zum Weltkrieg ist ein weiter Weg. Ob hier Schuld vorhanden
und Raum zur Anklage gegeben, erscheint zweifelhaft. Ob es sich
hier um Leichtsinn oder Unverstand handelte, ist jedoch ganz
gleich: Jede Politik, die so sehr die gegebenen Zusammenhänge,
vorhandenen Bestrebungen und kriegstreiberischen Kräfte ver-
kannte, war falsch und verkehrt. Nur ein Wunder konnte sie vor
dem Schiffbruch retten.
123
Zweierlei muß man aber bei der Beurteilung der diplomatischen
Verhandlungen zu Kriegsausbruch stets im Auge behalten. Ein-
mal sind die Vorgänge des Juli aus den Geschehnissen der vorher-
gehenden Jahre geboren, also nur im Zusammenhang mit diesen
richtig zu verstehen. Die auswärtige Politik ist in viel höherem
Grade zwangsläufig, als vielfach angenommen wird.
Ferner aber ist der Krieg letzten Endes nicht aus einer Reihe
von kleinen Einzelhandlungen und Zufälligkeiten entstanden,
sondern aus dem Willen zum Kriege. Unsere Gegner seien
deshalb daran erinnert, daß Deutschland keine Ziele kannte, die
durch den Krieg zu verwirklichen waren. Es gab im Frieden bei
uns keine Kriegsziele. Dies wissen auch unsere Feinde, und das
ist die Lücke, an der ihre ganze Beweisführung scheitert. Deshalb
erfanden sie auch das lächerliche Märchen von dem deutschen
Streben, die Welt zu unterjochen. Kriegsziele, wie die Eroberung
der Dardanellen, die Aufteilung Österreich-Ungarns, die Rück-
gewinnung Elsaß - Lothringens, die Vernichtung des deutschen
Wettbewerbes, bestanden bei unseren Gegnern schon seit Jahren
und Jahrzehnten. Bei der Beurteilung der Schuld am Kriege
spielt die Frage ,,cui bono" eine ausschlaggebende Rolle. Die Ant-
wort auf diese Frage gibt der Versailler Vertrag. Denn er ver-
wirklicht Ziele, die unsere Feinde schon vor dem Kriege verfolgt
haben, und die nur durch den Krieg verwirklicht werden konnten.
Glossen zu den
Vorkriegsakten
Von
Graf Max Montgelas
Mit einem Anhang:
Die französisch-russische
Miütärkonvention
Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und
Geschichte m. b. H. in Berlin V/ 8
Vorwort
Der Augenblick für eine zusammenhängende Darstellung der
letzten Vorgänge vor Ausbruch des Weltkrieges scheint mir noch
nicht gekommen zu sein. Die deutschen Akten sind zwar jetzt
vollständig veröffentlicht, und die Aussicht ist gering, daß die
Ententeregierungen diesem Beispiel folgen werden ; denn sie haben
allzuviel ihren Völkern zu verbergen. Aber die sicher angekündigte
Publikation der österreichischen Akten ist wieder verschoben
worden; und wenn sie endlich erschienen sind, wird zunächst eine
gewisse Zeit erforderlich sein, um die Berliner und Wiener Publika-
tionen genau miteinander zu vergleichen. Sodann ist zu erwarten,
daß die deutsche parlamentarische Untersuchungskommission
manche wertvolle Ergänzung wird liefern können. Hingegen reicht
jetzt schon das vorliegende Material aus, um zuweitgehende An-
klagen gegen die Leitung der deutschen Politik zu entkräften.
Baden-Baden, Ende Dezember 1919
Max Graf Montgelas
J iv...^
Inhaltsverzeichnis
Seite
I. Die Vorgeschichte 9
II, Die Rüstungen 13
III. Der 5. und 6. Juli 1914 15
IV. Das Ultimatum an Serbien 17
V. Die Vermittlungsversuche 20
VI. Die Mobilmachungen 23
VII. Die Ultimaten nach Petersburg und Paris 27
VIII. Die Kriegserklärungen an Rußland und Frankreich 30
IX. Der Einmarsch in Belgien 36
X. Der Bericht der Ententekommission vom 29. März 1919 38
XI. Schlußbemerkungen 40
Anhang
Die französisch-russische Militärkonvention vom 27^ezemberJ893
4. Januar 1894
1. Französischer Text des Entwurfs vom 17. August 1892 44
2. Übersetzung 45
3. Die Ansicht des Souschefs des französischen Generalstabes .... 46
4. Die Ansicht des russischen Generalstabschefs 47
I. Die Vorgeschichte
Das Jahr 1919 hat zahlreiche amtliche Veröffentlichungen über
den Ursprung des Weltkrieges gebracht. Die deutschen Akten
sind vollständig erschienen, von den österreichischen der erste Teil,
aus den russischen Archiven ist manches wichtige Dokument hervor-
gezogen worden ; der serbische Diplomat Boghitschewitsch hat dazu
mehrfache Ergänzungen geliefert. Selbst das Dunkel in Frankreich
ist wenigstens etwas gelichtet worden durch das dritte französische
Gelbbuch, das allerdings erstaunlich wenig beachtet worden, in
Deutschland sogar fast gänzlich unbekannt geblieben ist. Wer
heute über den Ursprung des Krieges schreiben will, muß diese
Publikationen in ihrer Gesamtheit berücksichtigen. Kautsky tut
das nicht, sondern stützt sich ausschließlich auf das deutsche und
österreichische Material. Das deutsche Weißbuch vom Juni 1919
wird zwar erwähnt (K. Seite 45)*) und an mehreren Stellen heftig
bekämpft, die darin enthaltenen russischen Enthüllungen aber
werden mit Stillschweigen übergangen. Das Kautskysche Buch
ist daher ein, noch dazu nicht immer unparteiischer, Kommentar
zu den deutschen und österreichischen Akten, aber der Titel ,,Wie
der Weltkrieg entstand" ist nicht gerechtfertigt.
Ein einleitendes Kapitel: „Die Schuldigen" vertritt den meiner
Auffassung nach völlig begründeten Standpunkt, daß man sich
nicht damit begnügen dürfe, den Kapitalismus und den dadurch
erzeugten Imperialismus, das Streben nach gewaltsamer Ausdehnung
des Staatsgebiets, für die ungeheure Katastrophe verantwortlich
zu machen. Ich teile die Auffassung, daß es trotz Kapitalismus
und Imperialismus möglich gewesen wäre, das Unheil zu vermeiden.
Die geschichtliche Forschung darf sich nicht auf so allgemeine
Redensarten beschränken. Sie muß versuchen festzustellen, in-
wieweit besondere politische Institutionen oder bestimmte Träger
solcher Institutionen als Ursache und Urheber des Völkerringens
anzusehen sind.
*) Es werden bezeichnet das Kautskysche Buch mit K.,
die „Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" mit D.,
die Schrift von Dr. Roderich Gooss: „Das Wiener Kabinett und die
Entstehung des Weltkrieges" mit G.
— 10 —
Kautsky verfällt ferner nicht in den Fehler vieler anderer An-
kläger der Zentralmächte, seine Betrachtung erst mit dem Attentat
von Sarajewo zu beginnen, sondern geht auch auf die Vorgeschichte
des Krieges ein. Aber gerade dabei macht sich die Beschränkung
der Quellen nachteilig fühlbar. Gewiß kann man vielem, was ge-
sagt wird, beistimmen. Es ist eine traurige Wahrheit, daß Deutsch-
land schließlich nur noch mit Staaten befreundet und verbündet
war, ,,die ihre Lebensfähigkeit verloren hatten" (K. Seite 24), mit
Österreich und der Türkei. Die inneren Verhältnisse des morschen,
von rivalisierenden und sich befeindenden Nationalitäten bewohnten
Donaustaates und die harte, selbstsüchtige Wirtschaftspolitik der
ungarischen A.Sirarier gegen das vergeblich zum Meere strebende
Serbien sind zutreffend gekennzeichnet. Aber es heißt doch die
Grenze gerechter Kritik überschreiten, wenn man von einem öster-
reichischen ,, Imperialismus" spricht (K. Seite 26), und die Schilde-
rung der Persönlichkeit des slawenfreundlichen, die Wiederher-
stellung des Dreikaiserbündnisses anstrebenden Erzherzogs Franz
Ferdinand als eines Mannes, ,,der allein auf die Gewalt, baute"
(a. a. O.), wird manchem Widerspruch begegnen;"^-. ^•'' -i;'-'^''' " -
Bei der Entwicklung der Balkankrisen wird die „frivole 'Ge-
fährdung des Weltfriedens" durch die Annexion von Bosnien und
der Herzegowina scharf gebrandmarkt (K. Seite 27), aber die friedens-
gefährdenden Bestrebungen Rußlands und seiner Ententefreunde
werden nicht ei-wähnt. Das Streben nach der Herrschaft über die
Meerengen, einem Ziele, von dem die politischen und militärischen
Leiter des Zarenreichs wohl wußten und sogar protokollarisch fest-
legten, man könne nicht voraussetzen, daß es ,, außerhalb eines
europäischen Krieges" erreicht werden könnte (Weißbuch Juni 1919,
Seite 175), die unter russischer Patronanz erfolgende Gründung
des Balkanbundes, der zuerst gegen die Türkei, dann gegen die
Donaumonarchie als Sturmbock dienen sollte, die Einweihung
Frankreichs und Englands in die Ziele dieses Bundes, nach seiner
Auflösung die weitgehenden russischen Versprechungen an Serbien,
um sich dessen Mitwirkung als Stoßtruppe gegen die österreichische
Südflanke zu sichern — all das sind seit dem Frühsommer 1919
bekannte Tatsachen, an denen der objektive Forscher nicht schwei-
gend vorübergehen kann. Wie würde es gegen die politischen
Leiter Deutschlands ausgenützt werden, wenn von ihnen der Minister
eines verbündeten Staates ähnliche kriegsdrohende Äußerungen
berichten könnte wie Sasonow von König Georg und Sir Edward
Grey anläßlich der Verhandlungen über eine englisch-russische
Marinekonvention im September 1912 (Weißbuch Juni 1919,
Seite 195)1 ■:\/::'::n'T:' ::'::.]"' :-i ^
Auch von Widersprüchen ist die Kautskysche Darstellung nicht
frei. Er erzählt selbst, daß er im Jahre 1902 in einer Schrift: „Die
— II —
soziale Revolution" nachstehendes Urteil abgegeben hat (K. Seite 31
und 32, Sperrdruck von Kautsky):
„Die einzige Friedensbürgschaft liegt heute in der Angst vor dem
revolutionären Proletariat. Es bleibt abzuwarten, wie lange diese den
sich häufenden Konfliktsursachen gegenüber standhalten wird. Und es
gibt eine Reihe von Machten, die noch kein selbständiges revolutionäres
Proletariat zu fürchten haben, und manche von ihnen werden völlig
von einer skrupellosen, brutalen Clique von Männern der hohen Finanz
beherrscht. Diese Mächte, bisher in der internationalen Politik unbe-
deutend oder friedliebend, treten jetzt als internationale Störenfriede
immer mehr hervor. So vor allem die Vereinigten Staaten,
daneben England und Japan. Rußland figurierte ehedem In der
Liste der internationalen Störenfriede an erster Stelle, sein heldenmütiges
Proletariat hat es augenblicklich von ihr abgesetzt. Aber ebenso wie
der Übermut eines im Innern schrankenlosen Regimes, das keine revolu-
tionäre Klasse in seinem Rücken scheut, kann auch die Verzweiflung
eines wankenden Regimes einen Krieg entzünden, wie es 1870 bei Na-
poleon III. der Fall war und vielleicht noch bei Nikolaus II, der Fall
sein wird. Von diesen Mächten und ihren Gegensätzen, und
nicht etwa von dem zwischen Deutschland und Frankreich, zwischen
Österreich und Italien, droht heute dem Weltfrieden die größte Gefahr."
Mit diesem in den späteren Auflagen gestrichenen Urteil —
eine genaue Zeitangabe der Streichung wird leider unterlassen —
stimmt es nicht überein, wenn das vorliegende Buch schon in den
bescheidenen Anfängen des deutschen Flottenbaues im Jahre 1897
den Übergang zu einer Weltpolitik sehen will, die, ,,wenn sie einen
Sinn hatte, nur den haben konnte: Aufrichtung der Beherrschung
der Welt durch Deutschland !" (K. Seite 17). Wer solches behauptet,
hat sich wohl nie mit Bleistift und Papier klar gemacht, über welche
Land- und Seestreitkräfte Deutschland gegenüber der ,,WeIt'*
verfügte, die es angeblich gewaltsam unterjochen wollte. Darauf
wird im nächsten, von den ,, Rüstungen" handelnden Abschnitt
noch eingegangen werden. Hier sei nur erwähnt, daß niemand,
der das Flottenprogramm von 1897 kennt, ernstlich glauben kann,
es habe die Einleitung des „Wettrüstens mit England" (a. a. O.)
bedeutet. Daß die spätere deutsche Flottenpolitik, weniger
wegen ihres Umfangs als wegen mancher lärmenden Begleiterschei-
nungen, ein Haupthindernis für eine Verständigung mit England
bildete, soll nicht bestritten werden. Auch ist zuzugeben, daß die
insulare Lage des Vereinigten Königreichs das Streben erklärt und
rechtfertigt, sich die Zufuhr zur See von Lebensmitteln und Roh-
stoffen auch im Kriegsfalle unbedingt zu sichern. Ein Vertreter
des Pazifismus aber sollte, wenn er in solcher Weise den britischen
Marinismus verteidigt, den Hinweis nicht unterlassen, daß Eng-
lands Versorgung zur See nicht nur ebenso gut, sondern weit besser
— 12 —
durch das Bekenntnis zur Freiheit der Meere zu sichern gewesen
wäre, wie sie Cobden 1862 gefordert hatte: Beseitigung des See-
beuterechts, Beschränicung der Blockade mit Ausnahme der Konter-
bande auf befestigte oder verteidigte Hafenplätze, Beseitigung
des Visitationsrechts neutraler Schiffe. Die furchtbare Waffe der
rücksichtslosen Blockade hat zudem gezeigt, daß es ein Irrtum ist,
zu glauben, nur die Insel England sei ,,im Falle eines Krieges dem
Hungertode ausgeliefert" (K. Seite 18). Das kontinentale Deutsch-
land hat nicht nur im Kriege, sondern gegen alle Gesetze von Mensch-
lichkeit und Völkerrecht auch nach Einstellung der Feindselig-
keiten unter dieser schrecklichsten aller Kriegswaffen furchtbar
gelitten und bleibt selbst nach Abschluß des schmählichsten und
demütigendsten Friedens von einer Erneuerung dieses teuflischen
Mittels ständig bedroht. Auffallend im Munde eines Vorkämpfers
internationaler Verständigung sind auch die Ausführungen auf
Seite 19, wo England mehr oder minder das Recht zu einem Prä-
ventivkrieg gegen Deutschland wegen dessen Flottenbauten zuge-
sprochen wird.
Aber nicht nur der Flottenbau von 1897, sondern auch die
meisten anderen ,, deutschen Provokationen", die auf Seite 21—23
aufgezählt sind, fallen in die Zeit vor dem 1902 gefällten Urteil,
nämlich das Telegramm an den Burenpräsidenten Krüger 1896,
die Proklamation Kaiser Wilhelms an die Mohammedaner 1898, das
Verhalten Deutschlands auf der ersten Haager Konferenz 1899, die
Kaiserrede an die nach China ziehenden Truppen 1900. An ,, Provo-
kationen" nach 1902 werden nur die Tangerfahrt 1905 und die
Entsendung des ,, Panther" nach Agadir 1911 aufgezählt, zwei
Ereignisse, die, so sehr man sie bedauern mag, an sich wohl kaum
ausreichen, um die 1902 ausgesprochene Auffassung von Grund aus
umzustoßen.
Immerhin ist Kautsky, im Gegensatz zu manchem seiner Partei-
freunde, gerecht genug, zuzugeben, daß der Militarismus nicht eine
auf Deutschland beschränkte Erscheinung war, sondern daß auch
Frankreich und Rußland ,, davon mehr als genug" hatten
(K. Seite 33). Wenn aber unmittelbar vorher gesagt wird, daß die
1902 noch in erster Linie als ,, internationale Störenfriede" bezeich-
neten angelsächsischen Staaten ,,bis zum Weltkriege überhaupt
keinen Militarismus kannten", so mag das wohl für die nordameri-
kanische Union gelten. Wer aber das Buch von Lord Roberts:
,,41 Jahre in Indien" kennt, wer gelesen hat, welche Überfalls-
pläne gegen Deutschland Lord Fisher schmiedete, wie Lord (damals
Mr.) Haidane, nachdem er im Januar 1906 die Besprechungen
zwischen dem französischen und englischen Generalstabe eingeleitet
hatte, sich im September desselben Jahres im preußischen Kriegs-
ministerium Belehrung holte, um den Hauptmangel der englischen
— 13 -
Heeresorganisation, die langsame Mobilmachung der britischen
Hilfstruppen in einem etwaigen deutsch-französischen Kriege, zu
beheben, der muß zugeben, daß England seine militaristische Periode,
die durch die Namen Irland, Indien, Ägypten gekennzeichnet ist,
auch während der letzten Generation noch nicht überwunden hatte.
Die entsetzlichen Nachrichten über das Blutbad von Amritsar im
April 1919 bilden dafür einen neuen Beleg.
IL Die Rüstungen
Im vorliegenden Buche ist von „ungenügenden Rüstungen" der
Entente die Rede (K. Seite 179). Dieser Auffassung seien einige
Zahlen entgegengehalten, die auf Grund zuverlässigen amtlichen,
genau geprüften Materials zusammengestellt sind. Im Jahre 1914
betrugen :
Die
Friedens-
stärke der
Landheere
Die Heran-
ziehung der
Bevölkerung
zum aktiven
Militärdienst
Die
planmäßigen
Kriegs-
stärken der
Landheere
(nur I. u.U. Linie)
Die Anzahl der
militärisch Aus-
gebildeten, im
wehrpflichtigen
Alterstehenden
Deutschland ....
Oesterreich-Ungarn
761 000
478 000
1,17%
0,94%
2,020 000
1,338 000
4,84 Million.
2,99 „ *)
L Zentralmächte . . .
Frankreich**) ....
Rußland: Sommer . .
Winter . .
1,239 000
794 000
1,445 000
1,845 000
2,0 %
0,85 %
1,09%
3,358 000
1,650 000
l 3,420 000
7,83 „
5,35 „
5,70 „
(ohne Kasaken)
II. Zweibund: Sommer
Winter .
2,239 000
2,639 000
—
5,070 000
11,05 „
*) Einschließlich etwa 1 Million (?) Ersatzreservisten mit nur
zehnwöchiger Ausbildung.
**) Bei der Friedens stärke sind 86 000 Eingeborene (Unteroffiziere
und Mannschaften) in Nordafrika (einschl. Marokko) und Fremdenlegionäre
nicht mit eingerechnet. Die hohe Zahl der verfügbaren ausgebildeten Wehr-
pflichtigen erklärt sich aus der Ausdehnung der Wehrpflicht bis zum
48. Lebensjahre.
— 14 —
Sonach war die Heeresfriedensstärke des Zweibundes im
Sommer fast doppelt so groß, im Winter mehr als
doppelt so groß wie die der Zentralmächte. Die Anspannung
der Volkskraft für Zwecke des Landheeres betrug in Frankreich das
Doppelte des Maßes in Österreich-Ungarn. Die planmäßigen
Kriegsstärken der Heere des Zweibundes überstiegen die der Heere
der Zentralmächte um 50 Prozent; ihre Mobilmachung war
begünstigt dadurch, daß die Friedensstärken sich im Verhältnis
den Kriegsstärken mehr näherten als bei den Zentralmächten. Die
Zahl der im Heeresdienst ausgebildeten, noch im wehrpflichtigen
Alter stehenden Männer war in den Zweibundstaaten um 40%
größer als in der anderen Mächtegruppe. Die russische
Friedensstärke erreichte für sich allein schon, ohne jede
Einziehung von Reservisten, die volle Kriegsstärke der
österreichisch-ungarischen Formationen I . und
H. Linie.
Was sodann die Heeresvermehrungen in den letzten Jahren
vor Kriegsausbruch betrifft, so ist dabei folgender Unterschied zu
betonen : Die Erhöhung der jährlichen Rekruten-
kontingente, wie sie in sehr bescheidenem Umfange in Öster-
reich-Ungarn, etwas stärker in Deutschland, außerordentlich in
Rußland stattfand, war eine Maßnahme, die ihre volle Wirksamkeit
auf alle Jahresklassen erst nach einem langen Zeitraum ausüben
konnte, in Deutschland nach 24, in Österreich-Ungarn und Ruß-
land nach 20 Jahren. Hingegen waren die Zurückhaltung
eines vierten Jahrgangs während des Winters in Ruß-
land und die Rückkehrzu dreijähriger Dienstzeit
in Frankreich Organisationsänderungen, die sofort die Kriegs-
bereitschaft in hohem Maße steigerten, da sie die Ergänzung des
Friedensheeres auf Kriegsstärke sehr erleichterten. Die lange
Dienstzeit in Frankreich, von der es keine Ausnahme gab, legte
zudem der Bevölkerung, insbesondere den gebildeten, politisch
führenden Klassen so schwere Opfer auf, daß ein langes Ertragen
solcher Belastung wenig wahrscheinlich war. Manche erblickten
darin ein den Frieden stark gefährdendes Moment, so der frühere
russische Minister Graf Witte, der im Juli 1914 in Bad Salzschlirf
zum bayerischen Gesandten in Stuttgart, Grafen K, Moy, sich in
diesem Sinne äußerte.
„Ungenügend gerüstet" waren sonach weder Frankreich noch
Rußland, sondern Österreich-Ungarn.
Man darf die übermäßigen Rüstungen des Zweibundes auch
nicht damit rechtfertigen, daß man nach dem Beispiele einiger ein-
seitiger Ankläger des deutschen Militarismus sagt, nach dem ab-
lehnenden Verhalten Deutschlands auf der zweiten Haager Kon-
ferenz 1907 gegen jede Rüstungsminderung sei ein solches Vor-
— 15 —
gehen der Entente wohl erklärlich. So sehr man die Stellungnahme
Deutschlands in der Frage der Einschränkung des militärischen
Kraft- und Kostenaufwands mißbilligen mag, so darf man doch
nicht übersehen, daß schon vor dieser Konferenz das Verhältnis
der Heeresstärken der beiden Staatengruppen zwar noch nicht
so ungleich, aber immerhin für- 4ie;..^entralmächte schon recht
ungünstig war. ,,[:.,.--.,
III. Der .5, und 6. Juli 1914
Zur unmittelbaren Vorgeschichte des Krieges übergehend,
legt Kautsky großes Gewicht auf die Zusammenkünfte Kaiser Wil-
helms mit dem Erzherzog-Thronfolger in Miramare im April 1914
und zwei Monate später in Konopischt. Er weiß ebensowenig wie
andere, was dort verhandelt wurde, und kennt nur den Bericht
Tschirschkys vom 17. Juni (D. Nr. 4), daß in Konopischt über alle
möglichen Fragen eingehend gesprochen wurde, und daß auch die
verfehlte Politik Tiszas gegenüber den ungarländischen Rumänen
einen Gegenstand der Unterredungen bildete. Ebenso steht, wie
Kautsky zugibt, in dem am 5. Juli in Berlin überreichten Memoran-
dum der österreichisch-ungarischen Regierung (D. Nr. 14) die
rumänische Frage im Vordergrund. Wenn nun aber aus dem
Schlußsatz, daß es ein gemeinsames Interesse der Zentralmächte
sei, ,,im jetzigen Stadium der Balkankrise rechtzeitig und energisch
einer von Rußland planmäßig angestrebten und geförderten Ent-
wicklung entgegenzutreten, die später vielleicht nicht mehr rück-
gängig zu machen wäre", die Folgerung gezogen wird, das Memo-
randum sei „kaum anders aufzufassen, als daß es in der Sprache
der Diplomatie den Präventivkrieg gegen Rußland fordert" (K.
Seite 39), so bietet die Denkschrift für eine solche Auslegung keinen
Anhalt, denn sie bezeichnet im Hinblick auf die veränderte, vom
Dreibund wegstrebende Haltung Rumäniens folgende Maßnahmen
als nötig (D. Nr. 14, Seite 28, Absatz 3 und 4):
In militärischer Beziehung andere Dispositionen für
den Fall eines Krieges mit Rußland und die Anlage 'Voiif';;
Befestigungen gegen Rumänien, ' "'■
in politischer Hinsicht den Anschluß Bulgariens an^
den Dreibund und ein bulgarisch-türkisches Bündnis.
Diese vier Vorschläge: Änderung des Aufmarsches im Mobil-
machungsfalle, Anlage von Befestigungen und Abschluß von zwei
Bündnissen sind Maßnahmen auf lange Sicht und sprechen
nicht für, sondern eher gegen das Vorhandensein eines Planes,
— 16 —
Rußland in nächster Zeit zum Entscheidungskampf herauszu-
fordern. Daß jedenfalls auf deutscher Seite „die Absicht, einen
europäischen Krieg zu entfesseln, damals (am 5. Juli, am
Tage der Überreichung des Memorandums) nicht bestand", erklärt
der Verfasser selbst auf Seite 48. Ein Irrtum ist es, wenn er an-
fügt, das deutsche Weißbuch vom Juni 1919 ,, verschweige, daß
man damals schon den Österreichern freie Hand zu einem Kriege
gegen Serbien gab auf die Gefahr hin, damit einen Krieg
gegen Rußland hervorzurufen". Der Bericht der deutschen Vierer-
kommission erinnert vielmehr daran, daß die deutsche Regierung
schon in der am 3. August 1914 dem Reichstag vorgelegten Denk-
schrift offen aussprach, ,,daß sie der nach dem Attentat von Sara-
jevo in Wien gehegten Auffassung zugestimmt und eine dort für
nötig erachtete Aktion gebilligt habe" (Weißbuch Juni 1919, Seite 57).
Der Bericht wiederholt später nochmals, Deutschland habe der
österreichischen Auffassung, auf dem Eindruck einer militärischen
Expedition zu bestehen, ,, zugestimmt und Österreich dabei er-
mutigt". Daß dies auf die Gefahr eines Krieges mit Rußland hin
geschah, wurde schon am 3. August 1914 amtlich niedergelegt.
Aber Kautsky selbst führt in dem Bericht Szögyenys vom 6. Juli
(Seite 47), dem Briefe Jagows vom 18. Juli (Seite 66), dem bayeri-
schen Bericht vom gleichen Tage (Seite 80) und dem des belgischen
Gesandten Baron Beyens vom 28. Juli (Seite 65) überzeugende
Beweise dafür an, daß in den leitenden politischen Kreisen Berlins
die Gefahr einer russischen Intervention sehr stark unterschätzt
wurde.
Bei dieser Auffassung ist es schwer verständlich, daß einer
mehr als drei Jahre nach den Ereignissen, am 30. August 1917,
von dem in der kritischen Zeit nicht in Europa weilenden späteren
Unterstaatssekretär Freiherrn von dem Bussche gemachten Auf-
zeichnung besonderes Gewicht beigelegt wird, wonach am 6. Juli
eine „Beratung militärischer Stellen" in Potsdam stattgefunden,
„auf alle Fälle vorbereitende Maßnahmen für einen ,, Krieg" be-
schlossen worden und „entsprechende Befehle" ergangen sein sollen
(D. Anhang VIII und K. Seite 49). Die Bewertung dieser nach-
träglichen Aktennotiz steht nicht im Einklang mit dem Ergebnis
der Nachforschungen, die das Auswärtige Amt im Oktober 1919
bei den in Betracht kommenden Behörden und Persönlichkeiten
über den Inhalt dieser Besprechungen hatte anstellen lassen, wobei
sich ergab, daß es sich lediglich um kurze Informationen einer An-
zahl von Offizieren handelte (Anhang zu den Vorbemerkungen der
deutschen Vorkriegsakten). Wie soll man schließlich die schon er-
wähnte Auffassung, daß ,,die Absicht, einen europäischen Krieg
zu entfesseln, damals nicht bestand" (K. Seite 48) in Einklang
bringen mit der Behauptung, daß zu derselben Zeit ,,eine Ver-
— 17 —
schwörung zum mindesten gegen Serbien und Rußland, wenn nicht
gegen den Frieden der Welt" (K. Seite 50) stattgefunden hat?
Das Hauptargument für die These des bewußt herbeigeführten
Präventivkrieges, nämlich der Potsdamer „Kronrat" oder „Kriegs-
rat" unter Teilnahme der Generalstabschefs beider Kaiserreiche,
ist hinfällig geworden, denn nicht darauf kommt es an, ob einige
Offiziere mehr oder weniger über das Vorhaben Österreich-Ungarns
unterrichtet wurden, sondern darauf, daß nicht von deutscher Seite
eine gemeinsame Beratung der politisch und militärisch leitenden
Persönlichkeiten beider Länder veranlaßt worden ist. Vom r e a 1 -
politischen Standpunkt aus muß es sogar als ein Fehler be-
zeichnet werden, daß nicht wenigstens die deutschen Zivil- und
Militärbehörden in gemeinsamer Beratung unter sich die Lage be-
sprochen haben, wie es in Österreich-Ungarn geschehen ist. In
militärischer Beziehung ferner war es ein schweres Ver-
säumnis, daß man sich nicht vergewisserte, welche Vorsorge der
österreichisch-ungarische Generalstab getroffen hatte, um im Falle
des Mißlingens der ,, Lokalisierung" des Konflikts die Masse der
Truppen rasch gegen Norden zu werfen, gegen Serbien aber nicht
mehr als 3—4 Armeekorps mit rein defensivem Auftrag zu lassen.
Vom moralischen Gesichtspunkte sind diese politischen und
militärischen Versäumnisse eine große Rechtfertigung der deutschen
Haltung, aber es war für die Einleitung des Kampfes gegen die
russische Übermacht ein ungemein erschwerender Umstand, daß
nach der eigenhändigen Niederschrift des österreichisch-ungarischen
Generalstabschefs am 1. August infolge der Einleitung des Auf-
marsches gegen Serbien mit zu starken Kräften ,, große technische
Schwierigkeiten" bestanden, ,,die überwiegenden Hauptkräfte gegen
Rußland zu versammeln" (G. Seite 311, Anm. 2).
IV. Das Ultimatum an Serbien
Eine Verkennung der politisch-militärischen Zusammenhänge
ist es, wenn Deutschland, nachdem einmal die moralisch ge-
wißnichtzubilligende Aktion gegen Serbien beschlossen
war, ein besonderer Vorwurf daraus gemacht wird, daß es Öster-
reich zu einem raschen Vorgehen drängte. Denn wenn Öster-
reich-Ungarn politisch und militärisch rascher gehandelt hätte,
so würde vermutlich ein Eingreifen Rußlands und damit die Aus-
dehnung des Konflikts nicht erleichtert, sondern erschwert
worden sein. Kautsky selbst schreibt, daß man hoffte, ,, durch
Überrumpelung mit der Kriegserklärung (ergänze: an Serbien)
— la-
den Weltfrieden zu erhalten" (K. Seite 64). Es ist zudem vom
realpolitischen Standpunkte aus gar nicht erwiesen, daß
diese Rechnung „falsch" war: die Probe darauf wurde nicht gemacht,
denn es ist ja zu dem in Berlin gewünschten raschen Handeln nicht
gekommen.
Daß die an Serbien zu stellenden Forderungen in Berlin, ob-
wohl nicht in allen Einzelheiten bekannt, als unannehmbar an-
gesehen wurden, ist längst kein Geheimnis mehr. Daß man über-
haupt in Berlin, ebenso wie in Wien, die kriegerische Auseinander-
setzung mit Serbien wünschte, hat auch die deutsche Vierer-
kommission in Versailles mit aller Deutlichkeit ausgesprochen und
hinzugefügt, daß ,, heute die Welt sich nach einem Völkerbund
sehne, in dem militärische Maßnahmen nicht mehr zulässig sind,
und in dem alle Nationen, ob groß oder klein, ob stark oder schwach,
die gleichen politischen und wirtschaftlichen Rechte genießen".
Seitdem ist durch die österreichischen Veröffentlichungen als neue
Tatsache noch bekannt geworden, daß man in Wien die in Potsdam
erhaltene Zusage der Rückendeckung durch Deutschland in einem
sehr weitgehenden Sinne auslegte, und daß die österreichischen
Beteuerungen, serbisches Gebiet nicht annektieren zu wollen, mit
der durchaus verwerflichen und heuchlerischen doppelten reservatio
mentalis ,, strategisch notwendiger Grenzberichtigungen" —
worunter natürlich alles mögliche verstanden werden kann — und
der ,, Verkleinerung Serbiens zugunsten anderer Staaten" gemacht
worden sind (Protokoll vom 19. Juli 1914, Rotbuch 1919 Nr. 26).
Aber so scharf man auch solche Hintergedanken und das am
23. Juli in Belgrad übergebene, nach Form und Inhalt das berech-
tigte Selbstgefühl der Serben aufs tiefste verletzende Ultimatum
verdammen muß, so bleibt heute, nach dem Versailler Frieden,
ein solches Urteil einseitig und parteiisch, wenn man nicht hinzu-
fügt, daß seitdem die Welt viel Schlimmeres erlebt hat, so daß die
österreichische Note weit zurücksteht hinter den unzähligen Ulti-
maten, mit denen die Entente das wehrlose deutsche Volk über-
schüttet hat. Worüber hat die öffentliche Meinung im Juli 1914
sich am meisten aufgeregt? Über die Punkte 5 und 6, denen zufolge
die Teilnahme österreichisch-ungarischer Beamter an der Unter-
drückung der großserbischen Agitation und an den gerichtlichen
Untersuchungen gegen die der Mithilfe am Attentat vom 28. Juni
verdächtigen serbischen Beamten und Offiziere gefordert wurde.
Heute wird von Deutschland verlangt, daß es zur Überwachung
seiner gesamten militärischen und finanziellen Maßnahmen einen
Schwärm von Ententekommissionen aufnimmt und besoldet, daß
es ferner eine noch nicht bekannte, allem Anschein nach sehr große
Anzahl deutscher Staatsangehöriger an fremde Gerichte ausliefert,
ein in der Geschichte aller Zeiten unerhörter Vorgang. Es wird ferner
— 19 —
bei der Kritik des Ultimatums, wohl mehr aus Unwissenheit als in
böswilliger Absicht, ständig übersehen, daß Graf Berchtold schon
am 25. Juli nach Petersburg — leider nur streng vertraulich und
nicht öffentlich — hatte wissen lassen, er denke bei Punkt 5 an
die Errichtung eines geheimen „Bureau de Sürete" in Belgrad,
das nach Art der analogen russischen Einrichtungen in Paris und
Berlin funktionieren und mit der serbischen Polizei und Verwal-
tungsbehörde kooperieren würde, wovon Sasonow am 27. Juli
verständigt wurde (Rotbuch 1915, Nr. 27; G. Seite 164 und 208).
Der russische Außenminister war also ziemlich bald über einen der
beiden am meisten beanstandeten Punkte des Ultimatums in be-
friedigender Weise aufgeklärt und dadurch, wie er sich selbst aus-
drückte, „wesentlich beruhigt" (G. Seite 209). Wer heute noch
das österreichische Ultimatum kritisiert, ohne die vorerwähnten
Umstände zu berücksichtigen, der kennt die Akten und den Ver-
sailler Frieden nicht.
Bei der Vorgeschichte des Ultimatums begeht Kautsky eine
ähnliche ,, Unvorsichtigkeit", wie er sie bei Eisners Publikation des
bayerischen Gesandtschaftsberichts vom 18. Juli bedauert (K,
Seite 35). Dem Beispiel der Ententekommission folgend, gibt er
von dem Bericht des österreichischen Sektionsrates von Wiesner,
der in Sarajevo Einsicht in die Akten des Prozesses gegen die Atten-
täter zu nehmen hatte, nur den einen Absatz wieder, wonach die
Mitwisserschaft der serbischen Regierung an der Leitung und Vor-
bereitung des Attentats als ausgeschlossen anzusehen sei (K. Seite 40),
erwähnt jedoch nicht, daß dieser selbe Bericht, der nach Berlin
nicht mitgeteilt worden ist, im übrigen sehr schwere Anklagen
erhebt, nämlich nicht nur Betreibung der großserbischen Propa-
ganda von Serbien aus, und zwar nach der Überzeugung aller maß-
gebenden Kreise „unter Förderung sowie mit Wissen und Billigung"
der serbischen Regierung, sondern auch Mitwirkung eines serbischen
Beamten und eines serbischen Offiziers bei Vorbereitung des Atten-
tats und Bereitstellung von Bomben, Pistolen, Munition und Gift,
endlich Schmuggel der Attentäter und ihrer Waffen über die Grenze
durch serbische Grenz- und Finanzwachorgane (Rotbuch 1919,
Nr. 17).
2*
— 20
V. Die Vermittlungsversuche
Bei den Bestrebungen, die darauf ausgingen, zu verhüten,
daß aus dem österreichisch - serbischen Konfükt ein allgemeiner
Weltbrand entstehe, traten sich von Anfang an zwei Auffassungen
gegenüber :
Deutschland wünschte Lokalisierung des Streites unter
Durchführung eines begrenzten serbisch-österreichischen Krieges,
England wünschte Einmischung der Mächte unter Ver-
meidung auch des lokalisierten Waffengangs.
Die Ereignisse haben gezeigt, daß das Streben nach Lokali-
sierung, wie Fürst Lichnowsky in einer Reihe eindringlich war-
nender Berichte vorhergesagt hatte, gänzlich verfehlt war. Aber
es ist kaum gerechtfertigt, diesen intellektuellen Irrtum, der haupt-
sächlich auf einer UnterschätzungdesKriegswillens
und der Kriegsbereitschaft des russisch-fran-
zösischen Waffenbundes beruhte, als eine „Sabotierung
der Friedensbemühungen" zu brandmarken (K. Seite 81). Es darf
daran erinnert werden, daß auch König Georg von England, wohl
nicht ohne Einvernehmen mit seinen verfassungsmäßigen Beratern,
noch am 26. Juli dem Prinzen Heinrich von Preußen versicherte,
„er und seine Regierung würden nichts unversucht lassen, um den
Kampf zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren"
(D. Nr. 374, K. Seite 106), und daß zwei Tage früher Sir Edward
Grey dem deutschen Botschafter erklärt hatte, ,, solange es sich
um einen ... lokalisierten Streit zwischen Österreich und
Serbien handle, ginge ihn, Sir Edward Grey, die Sache nichts an"
(D. Nr. 157, K. Seite 110). Der französische Botschafter in Wien
vertrat am 22. Juli die Auffassung, Rußland werde ,,im Falle eines
Waffenganges zwischen der Donaumonarchie und Serbien nicht
aktiv eingreifen, sondern anstreben, daß der Krieg lokalisiert
bleibe" (G. Seite 129). Der stellvertretende französische Minister
des Auswärtigen äußerte noch zwei Tage später, nach Kenntnis
des österreichischen Ultimatums, die ,, französische Regierung teile
aufrichtig den (zu ergänzen : von deutscher Seite geäußerten) Wunsch,
daß Konflikt lokalisiert bleibe" (D. Nr. 154). Der Glaube
an die Möglichkeit der Lokalisierung war also nicht ausschließlich
auf die deutsche Reichsleitung beschränkt. Dabei sei nochmals
betont, daß diese Auffassung hier in keiner Weise, weder moralisch
noch politisch, verteidigt werden soll.
Kautsky verfällt nun zwar nicht in den Fehler, zu behaupten,
daß die deutsche Regierung „systematisch alle vermittelnden Be-
— 21 —
mühungen zunichte gemacht habe", wie der Bericht der Entente-
kommission vom 29. März 1919 (Weißbuch vom Juni 1919, Seite 35),
sei es infolge seiner erstaunlichen Unkenntnis der Akten, sei es
wider besseres Wissen, glauben zu machen versucht. Aber auch
die Angabe ist unrichtig, daß Österreich ,,alle Vermittlungsvor-
schläge" abgelehnt habe, und daß ,, keiner von Deutschland" aus-
gegangen sei (K. Seite 83). Was zunächst Deutschland betrifft,
so hatte Sir Edward Grey schon am 23. Juli dem österreichisch-
ungarischen Botschafter gesagt, ,,das beste wäre wohl, wenn zwischen
Wien und Petersburg direkter Gedankenaustausch geführt werden
könnte" (Rotbuch 1919 Nr. 59). Gerade diesen direkten Gedanken-
austausch nun regte Graf Pourtales am 26. Juli in Petersburg
an, Sasonow ging darauf ein (D. Nr. 238, Orangebuch Nr. 32), Berlin
gab die Anregung nach London und Wien weiter (D. Nr. 238, An-
merkung 2, Nr. 248 und 277), Grey bezeichnete diese Methode
wie am 23., so auch am 28. Juli als ,,die beste von allen" und ver-
trat diesen Standpunkt noch am 29. (Blaubuch Nr. 67, D.
Nr. 357).
Dieser in Berlin, Petersburg und London als gangbarster Weg
angesehene Vorschlag wurde auch in Wien nach wiederholter dringen-
der deutscher Befürwortung angenommen (D. Nr. 396, 433 und
448, Rotbuch 1915, Nr. 49 und 50). Die Nachricht von der öster-
reichischen Annahme wurde sofort nach London und Petersburg
weitergegeben (D. Nr. 444 und dortige Anmerkung 3), veranlaßte
aber leider London nicht dazu, einen ähnlichen Druck auf Peters-
burg auszuüben, wie er von Berlin auf Wien erfolgt war (D. Nr. 489,
Blaubuch Nr. 110).
Daß die viel besprochene, für die deutsche Diplomatie sehr
belastend lautende Depesche des Grafen Szögyeny vom 27. Juli
(K. Seite 87—89) energische deutsche Vermittlungsaktionen in
Wien nicht verhindert hat, gibt auch die Kautskysche Dar-
stellung zu, denn es wird dort über die Tätigkeit der Berliner Re-
gierung gesagt:
,,Ein Wechsel in ihrer hartnäckigen Sabotierung jeglicher
Friedensarbeit bereitet sich vor am 28. Juli" (K. Seite 90) — ge-
nauer: mit der Depesche vom 27. Juli, 11°° abends (D. Nr. 277)
und ferner:
,,Nach dem 29. Juli suchte sie den Frieden zu retten" (K.
Seite 126) — richtiger: nachdem die entgegenkommende serbische
Antwortnote am 28. Juli genau geprüft worden war.
Man muß sich vdrklich fragen, wie die Behauptung einer Ver-
schwörung ,,zum mindesten gegen Serbien und Rußland, wenn
nicht gegen den Frieden der Welt" noch aufrechterhalten werden
kann, wenn man die Randbemerkungen Kaiser Wilhelms zur ser-
bischen Antwortnote und sein Schreiben an den Staatssekretär des
- 22 -
Auswärtigen vom 28. Juli, 10'' vormittags, kennt (D. Nr. 271, 293;
K. Seite 91 und 92). Es handelt sich hier nicht um eine jener impul-
siven, rasch wechselnden Eingebungen des Augenblicks, die nach
Ausweis der Akten häufig keinerlei Beachtung fanden, sondern um
einen ausdrücklichen Befehl zur Einleitung einer bestimmten Aktion
in Wien auf der Grundlage, daß Österreich seine militärischen Opera-
tionen auf eine Besetzung von Belgrad nebst angrenzendem Gebiet
beschränke, das ist auf derselben Basis, wie sie der englische Staats-
sekretär 30 Stunden später vorschlug (Blaubuch Nr. 88), und wie
sie nach dem Scheitern des Konferenzgedankens wohl von aUen
eingeweihten und einsichtigen Politikern als der beste Ausweg aus
der Gefahr angesehen wurde. Zu bedauern bleibt dabei
immerhin, daß nicht sofort die bevorstehende
Kriegserklärung an Serbien verhindert wurde.
Dieser, am 27. Juli abends beginnende, am folgenden Tage
deutlicher in die Erscheinung tretende Umschwung der Stimmung
beweist auch, daß die energischen Mahnnoten nach Wien in der
Nacht vom 29. zum 30. Juli nicht ausschließlich auf die drohende
Haltung Englands zurückgeführt werden dürfen, über die Fürst
Lichnowsky am 29. Juli in zwei Depeschen berichtete (D. Nr. 357
und 368). Selbstverständlich waren die Londoner Drohungen ein
mächtiger Ansporn, die Bemühungen um Erhaltung des Friedens
zu verdoppeln, aber den ausschließlichen Anlaß dazu bildeten sie
nicht.
Wie sehr damals die deutschen Bemühungen von England
anerkannt wurden, zeigt der Leitartikel der ,, Times" vom 30. Juli,
in dem gesagt wurde: ,,Es ist ein offenes Geheimnis, daß Deutsch-
land sein möglichstes tut, um den Draht zwischen der russischen
und der österreichischen Hauptstadt zu knüpfen" (it is an open
secret that Germany is doing her best ,,to restore the wire" between
the Russian and Austrian capitals).
Nebenbei bemerkt, zeigt sich gerade an diesem Tage, wie leicht
der Einfluß der kaiserlichen Marginalien überschätzt werden kann.
So werden auf Seite 114—116 ausführlich die Bemerkungen des
Kaisers zur letzten Depesche Lichnowskys vom 29. Juli mitgeteilt.
Diese Notizen wurden aber erst am 30. Juli, 1^ nachmittags, ge-
schrieben, dem Auswärtigen Amt also noch später bekannt. Jedoch
schon am frühen Morgen, um 2°^, war die englische Warnung fast
in vollem Wortlaut unter Anfügung einer sehr deutlichen deutschen
Warnung nach Wien telegraphiert worden (D. Nr. 395), worauf
5 Minuten später, um 3° morgens, eine zweite Mahnung wegen Auf-
nahme der direkten Besprechungen Wien-Petersburg folgte (D.
Nr. 396).
Die Kautskysche Darstellung rückt immerhin weit ab von
jenen Verleumdern, die in den Mahndepeschen Berlin— Wien nur
— 23 —
Lug und Trug und Heuchelei sehen wollen oder die mit dem scham-
losen Ultimatum vom 16. Juni 1919 behaupten, sie seien im voraus
durch geheime Weisungen unwirksam gemacht worden. Ein Zweifel
an der Ehrlichkeit des Friedenswillens wird nicht geäußert, aber die
Hindernisse, an denen er scheiterte, sind nicht erschöpfend ge-
würdigt. Das eine Hindernis wird in der österreichischen Regierung,
das andere in der Einwirkung des deutschen Generalstabes gesehen
(K. Seite 126).
Hinsichtlich des ersten Hindernisses muß dem ausgesprochenen
Urteil auf Grund der Veröffentlichungen von Dr. R. Gooss zuge-
stimmt werden. Der von Deutschland so dringend empfohlene
Greysche Vorschlag wurde von Wien in außerordentlich
dilatorischer Weise behandelt, vom Ministerrat am 31. Juli nur
zum Schein unter Vorbehalt angenommen, auch diese bedingte
Annahme erst am 1. August 3*^ vormittags nach Berlin, London
und Petersburg mitgeteilt und vom österreichisch-ungarischen Bot-
schafter in Berlin, soweit bis jetzt festgestellt werden kann, nicht
mehr an das Auswärtige Amt weitergegeben (G. Seite 301—304,
Seite 235-340).
Auf die Wiederaufnahme der direkten Besprechungen
war das Wiener Kabinett infolge des deutschen Druckes,
wie schon erwähnt, zwar eingegangen, aber die entsprechenden
Weisungen nach Petersburg wurden unbegreiflicherweise erst am
31. Juli, H° morgens, expediert und trafen daher erst im Laufe des
späten Nachmittags beim dortigen Botschafter ein (G. Seite 292,
Anmerkung 1 und Seite 297), also erst zu einer Zeit, da die Lage
durch die allgemeinen Mobilmachungen in Rußland und Österreich-
Ungarn und die Absendung der deutschen Ultimaten schon äußerst
bedrohlich geworden war.
Bei dem zweiten Hindernis aber, dem Drängen des
deutschen Generalstabes auf eine baldige Ent-
scheidung, wird übersehen, daß die militärischen Maßnahmen in
Rußland dieses Drängen sehr begreiflich machten.
VI. Die Mobilmachungen
Damit gelangt die Besprechung zu einem Abschnitt, der im
vorliegenden Buch unzulänglich dargestellt ist, den militärischen
Maßnahmen im Juli 1914. Zunächst liegt das Versehen vor, die
Mobilmachungen, die 1912/13 in Österreich-Ungarn und Ruß-
land stattfanden, denen des Jahres 1914 gleichzustellen (K. S. 29
und 135). Im ersten Falle aber handelte es sich um Maßnahmen,
— 24 —
die auf Grund von Sonderbefehlen allmählich die Präsenz-
stärke bei einer Anzahl von Truppenteilen erhöhten, von einem
Aufmarsch, das ist: der Versammlung außerhalb der Friedensgarni-
sonen an den bedrohten Grenzen, jedoch absahen. So wurden da-
mals in Österreich-Ungarn die beiden bosnischen Armeekorps
(XV. und XVi.) auf vollen Kriegsstand gebracht, bei drei weiteren
Korps im Innern der Monarchie (IV., VII., XIII.) durch Einziehung
einer Klasse der Reserve und dreier Jahrgänge der Ersatzreserve
eine erhebliche, bei den drei galizischen Korps (I,, X., XI.) sowie
bei sechs Kavalleriedivisionen eine geringere Erhöhung des Friedens-
standes durchgeführt. Ähnlich war es damals in Rußland; dort
handelte es sich im Winter 1912/13 hauptsächlich um die zum ersten
Male angewendete Maßnahme der Zurückbehaitung des ältesten
Jahrgangs bei den Fahnen, ferner um ,, Probemobilmachungen"
(opytnaja mobilisazija), bei denen die einzuziehenden Reservisten
und Pferde durch Abgaben anderer Truppenteile dargestellt wurden,
sowie um ,, Kontrollmobilmachungen" (powjerotschnaja mobili-
sazija), bei denen nach den 1911 aufgestellten ,, Grundsätzen" die
zur Ergänzung auf Kriegsstärke nötigen Reservisten wirklich
einberufen, Pferde und Fahrzeuge von der Bevölkerung gestellt
wurden.
Im Jahre 1914 aber werden die fürbestimmte Kriegs-
fälle vorgesehenen Mobilmachungsbefehle er-
lassen, auf Grund deren nach lange festgelegtem, sorgfältig vor-
bereitetem Plane nicht nur die Ergänzung der Truppen auf Kriegs-
stärke, sondern auch die Beschaffung des gesamten Kriegsgeräts
und in unmittelbarem Anschluß daran, teilweise schon gleichzeitig
damit, der Aufmarsch durchgeführt werden, die kriegerischen
Operationen beginnen sollten.
Ein weiterer Irrtum ist es, wenn aus einer der von Eisner weg-
gelassenen Stellen des bayerischen Gesandtschaftsberichts vom
18. Juli (D, Anhang IV. 2) gefolgert wird, nach deutscher Auf-
fassung habe, „wenn Österreich mobilisierte", dies „automatisch"
die russische Mobilisierung nach sich ziehen müssen (K. Seite 128,
129). Das wird von der österreichischen Gesamt mobilmachung,
insbesondere von der in Galizien, gesagt, nicht aber von der am
25. Juli verfügten Teil mobilmachung, die Galizien nicht be-
rührte. Die österreichische Gesamt mobilmachung, von der
die automatische Gegenwirkung befürchtet wurde, ist, wie jetzt
doch allgemein bekannt sein sollte, nicht vor, sondern nach der
russischen Totalmobilisierung erfolgt, obwohl sie schon gegenüber
der am 29. Juli offiziell mitgeteilten Teilmobilmachung von 13 Armee-
korps eine völlig gerechtfertigte, rein defensive Maßnahme bildete;
denn damit wurden lediglich 50 Truppen-, Landwehr- und Honved-
divisionen — mehr zählte das Heer des Donaustaates nicht —
— 25 —
gegen 54 (50) russische und serbische Divisionen — 39 russische
Feld- und Reservedivisionen und 15 (nach deutscher Berechnung 1 1)
serbische — bereitgestellt. Auch eine streng pazifistische Regierung
hätte auf diese Maßnahme nicht verzichten können, die der deutsche
Generalstabschef am 30. Juli nachmittags dem k. u. k. Militär-
attache dringend empfahl, und die, reichlich spät, am 31. Juli,
12-3 nachmittags, angeordnet wurde (G. Seite 307 Abs. 2 und 6),
also fastzweivolleTage, nachdem in Rußland die Mobili-
sierung des gesamten Heeres insgeheim und gegen den Willen des
Zaren nicht nur angeordnet, sondern auch begonnen (Bericht des
britischen Botschafters in Petersburg vom 15. September 1917),
und mehrere Stunden später, als die allgemeine Mobil-
machungsorder in den Straßen von Petersburg angeschlagen worden
war.
Daß die Einbeziehung von zwei Korps im Norden (K. Seite
129), nämlich in Böhmen und Mähren (VIII. und IX.) in die öster-
reichisch-ungarische Teilmobilmachung vom 25. Juli, keinerlei Be-
drohung Rußlands bedeuten konnte, sollte bei einem Blick auf die
Karte auch dem militärischen Laien zum Bewußtsein kommen.
Was den Bericht des französischen Botschafters in Petersburg über
die Begründung der allgemeinen russischen Mobilmachung betrifft
(a. a. O.), so ist seit den Enthüllungen Pokrowskis in der ,,Prawda"
ziemlich allgemein bekannt, daß dieser Bericht nicht nur der Wahr-
heit widerspricht, sondern auch im französischen Gelbbuch in ge-
fälschter Weise eingeordnet ist, da schon am frühen Morgen des
31. Juli in Paris ein, die Mobilisierung der ganzen russischen Armee
„ohne jede Ausnahme" mitteilendes Telegramm des Petersburger
Botschafters eingetroffen war (Weißbuch Juni 1919 Seite 207),
Durch die erwähnten russischen Enthüllungen sind ja eine ganze
Reihe auch anderer Nummern des französischen Gelbbuches sowie
des russischen Orangebuches als großenteils absichtliche Irrefüh-
rungen entlarvt.
Wenig überzeugend wirkt der Versuch, zu beweisen, daß man
die russische Mobilmachung ,,in deutschen Regierungskreisen selbst
nicht aus kriegerischen Absichten der russischen Regierung" er-
klärte (K. Seite 129/130). Das Telegramm des deutschen Militär-
bevollmächtigten in Petersburg vom 30. Juli, man habe ,,aus Angst
vor kommenden Ereignissen ohne aggressive Absichten" mobilisiert
(D. Nr. 445), bezieht sich nämlich nicht etwa auf die damals noch
verheimlichte allgemeine Mobilisierung, sondern auf die T e i 1 -
mobilmachung gegen Österreich. Doch auch von dieser sagt General
von Chelius in derselben Depesche, ,, diese frühzeitige Mobilisierung
gegen Österreich in einem lokalen Kriege desselben gegen Serbien
trage nunmehr die Schuld an unabsehbaren Folgen", und
— 26 —
der angeführte Satz über das Fehlen aggresiver Absichten endet
damit, daß man auch in Petersburg ,, erschreckt ist darüber,
was man angerichtet hat".
Das Telegramm des Reichskanzlers an die Londoner Botschaft,
es sei ,, nicht unmöglich", daß die russische allgemeine Mobilmachung
durch in Berlin ,, kursierende falsche und sofort amtlich dementierte
Gerüchte" über eine deutsche Mobilisierung verursacht worden sei
(D. Nr. 488) — gemeint ist das Extrablatt des ,, Lokal-Anzeigers" —
äußert eine Vermutung, deren Unrichtigkeit längst erwiesen ist;
denn sogar das russische Orangebuch (Nr. 62) sagt, daß die Nach-
richt von der deutschen Mobilmachung sich sofort als irrig heraus-
gestellt habe. Damit kommt auch dieses Telegramm als Entlastungs-
beweis für das verbrecherische Treiben der Januschkjewitsch und
Suchomlinow in Wegfall. Wie ernst gerade in deutschen
R e g i e r u n g s k r e i s e n die russischen Mobilisie-
rung s m a ß n a h m e n von Anfang an aufgefaßt
wurden , ist schon am 26. Juli viermal in den Akten zu lesen
(D. Nr. 198, 199, 200, 219), und dort am 29. sogar achtmal nieder-
gelegt (D. Nr. 342, 343, 359, 365, 370, 378, 380, 387).
In der ganzen Darstellung wird die russische Teilmobilmachung
von 13 Armeekorps am 29. Juli überhaupt nicht erwähnt, das
Datum der allgemeinen russischen Mobilmachung, deren Beginn
selbst nach englischen Quellen (Oman : ,,The Outbreak of the War
1914—1918") auf denselben 29. verlegt wird,' ist unrichtig ange-
geben. Kein Leser kann aus der gebotenen Schilderung entnehmen,
daß in der Zeit vom 26. Juli, \2^° vormittags, bis zum 29. Juli,
10^* nachm. — abgesehen von einer Anzahl weniger wichtiger, in
die amtliche Publikation nicht aufgenommener Nachrichten — nicht
weniger als vierundzwanzig Meldungen über russische
Mobilmachungsmaßnahmen beim Auswärtigen Amt eingegangen
sind, von denen sich mehr als die Hälfte, nämlich vierzehn,
auch auf die von russischer Seite beharrlich abgeleugnete
deutsche Front bezogen. Dadurch mußte ein Gefühl von Un-
sicherheit entstehen, das ein Drängen militärisch verantwortlicher
Stellen auf eine Entscheidung wohl erklärlich macht. Was sollte
werden, wenn Rußland unter dem Vorwand der ,, Mobilmachung
nur gegen Österreich" ein Korps nach dem anderen auch gegenüber
Deutschland mobilisierte? Wer damals die Verantwortung nicht
zu tragen hatte, kann nachträglich leicht kritisieren. Zudem können,
seitdem im Mai 1919 die französisch-russische Militärkonvention
von 1893/4 veröffentlicht worden ist, die russischen Vorspiegelungen,
daß die Mobilmachung in Rußland etwas anderes bedeute als in den
westlichen Ländern, und daß sie nicht unmittelbar von militärischen
Operationen gefolgt sein werde, nicht mehr als glaubhaft angesehen
werden. Die politischen und militärischen Ratgeber des Zaren
- 27 —
konnten nicht im Unklaren darüber sein, daß in Anbetracht der
Stärkeverhältnisse Österreich-Ungarn schon auf die russische Teil-
mobilmachung mit seiner Gesamtmobilmachung zu antworten ge-
nötigt war. Sie mußten wissen, daß die Mobilmachung
auch nur eines Dreibundstaates vertragsmäßig
dieMobilisierungdergesamten,nichtnurrus-
sischen, sondern auch französischen Streit-
kräfte und deren ungesäumten Einsatz zu ent-
scheidendem Kampfe nach sich zu ziehen hatte (Artikel 2
und 3 der im Anhang abgedruckten französisch-russischen Militär-
konvention). Schon die russische Teilmobilmachung zog daher
„automatisch" die österreichisch-ungarische und damit ,, vertrags-
gemäß" die französische Gesamtmobilisierung nach sich; Mobil-
machung in Rußland bedeutete somit nicht ,, etwas anderes" als in
westlichen Ländern. Zudem hatte schon 1892 der russische General-
stabschef gesagt: „Im Falle eines Krieges gegen Österreich ist es
für Rußland unbedingt unmöglich, eine Teilmobilmachung durch-
zuführen, Rußland muß und wird zu einer Gesamtmobilmachung
schreiten" (3. französisches Gelbbuch Nr. 53).
VII. Die Ultimaten nach Petersburg
und Paris
Kaiser Franz Josef sah schon nach Empfang des Telegramms
seines Petersburger Botschafters über die russische Teil mobil-
machung, das am 29. Juli 10" abends in Wien eintraf (G. Seite 247,
Anm. 2), dem Monarchen aber vielleicht erst am 30. zur Kenntnis
gebracht wurde, die Fortsetzung der Vermittlung als aussichtslos
an und telegraphierte am 31. Juli, 1^ nachm., nach Berlin:
„Eine neuerliche Rettung Serbiens durch Rußlands Inter-
vention müßte die ernstesten Folgen für meine Länder nach
sich ziehen, und ich kann daher eine solche Intervention un-
möglich zugeben" (D. Nr. 482).
Inzwischen hatte mit dem Bekanntwerden der allgemeinen
russischen Mobilmachung in Berlin am 31. Juli, 11* vormittags,
auch dort die politische Leitung ihren Widerstand gegen das Drängen
der militärisch verantwortlichen Stellen wenigstens teilweise auf-
gegeben. Um 1° nachmittags wurde zwar noch nicht die Mobil-
machung mit Mobilmachung beantwortet, sondern einstweilen nur
der „Zustand drohender Kriegsgefahr" erklärt. Immerhin trat
das ein, was Oberst Repington tags vorher — für Rußland damals
schon zutreffend, für Deutschland noch nicht — geschrieben hatte:
— 28 —
„Militärische Forderungen haben jetzt den Vorrang vor politischen
Erwägungen" (military exigencies now override political conside-
rations), und auch seine andere Vorhersage bewahrheitete sich:
,,Es wird ein Wunder sein, wenn nicht sehr bald nach Ankündigung
einer russischen Mobilmachung ganz Europa in Flammen stehen
wird" (in a very Short time after a Russian mobilisation is announced,
it will be a miracle if all Europe is not aflame). Er hatte wohl schon
eine Ahnung, wenn nicht eine genaue Kenntnis, von dem, was die
französich-russische Militärkonvention über Mobilmachungen ver-
einbart hatte. Spätestens am 31., vermutlich aber schon am 30.,
hatte auch Frankreich den letzten Schritt vor der Mobil-
machung getan, nämlich den Befehl zur Aufstellung des
Grenzschutzes (ordre de depart en couverture) erlassen,
demzufolge 1 1 Infanterie- und 3 Kavalleriedivisionen mobilisiert
wurden und an die Grenze abrückten (Weißbuch Juni 1919, Seite 74).
Da Deutschland die russische Mobilmachung nicht sofort, wie
es auch der strengste Pazifist als berechtigt anerkennen müßte, mit
Mobilmachung, sondern mit Erklärung des Zustandes drohender
Kriegsgefahr beantwortete, erging um 3-° nachmittags ein zwölf-
stündiges Ultimatum nach Petersburg, das die Einstellung aller
Kriegsmaßnahmen gegen Deutschland und Österreich for-
derte (D. Nr. 490). Dieser Zusatz „und Österreich" wurde für
nötig erachtet, um allen Einwänden Rußlands, seine Mobilmachung
richte sich nur gegen Österreich, den Boden zu entziehen (Blau-
buch Nr. 121), und im Hinblick auf die nunmehr erwiesene Doppel-
züngigkeit der amtlichen russischen Angaben über die getroffenen
militärischen Maßnahmen kann diese Begründung nicht mehr ais
ungerechtfertigt angesehen werden. Immerhin wäre es wohl rich-
tiger gewesen, eine solche Anfrage nicht ohne Mitwirkung Öster-
reichs zu stellen oder wenigstens anzufügen, daß, falls Rußland seine
Mobilmachung einstelle, Deutschland sich dafür verbürge, daß
auch Österreich gegenüber Rußland das gleiche tun werde. Tat-
sächlich scheint man sich Wien gegenüber auf die telephonische
Mitteilung beschränkt zu haben, daß die Absicht bestehe, ,,ein Ulti-
matum an Rußland wegen Einstellung der Mobilmachung zu richten"
(G. Seite 308, Abs. 6).
Weit verhängnisvoller war etwas anderes. Der deutsche Kriegs-
plan wollte, wie wohl den Generalstäben aller Länder bekannt war,
im Osten nur eine geringe Anzahl Korps belassen, die Masse aber
ohne Zeitverlust gegen Westen werfen. Deshalb wurde gleichzeitig
mit dem nach Petersburg gehenden zwölfstündigen Ultimatum auch
nach Paris eine auf 18 Stunden befristete Anfrage gerichtet, ob
Frankreich ,,in einem russisch-deutschen Kriege neutral bleiben
wolle" (D. Nr. 491). Besonders schlimm war es, daß man in einem
geheimen Zusatz für den wenig wahrscheinlichen Fall einer franzö-
— 29 —
sischen Neutralitätserklärung die Besetzung der Festungen Toul
und Verdun ,,als Pfand" fordern zu müssen glaubte, was zweifels-
ohne eine gänzlich unannehmbare Forderung bedeutete, die auch
ein Jaures mit Entrüstung zurückgewiesen hätte. Man darf die
Frage aufwerfen, ob das Ultimatum an Frankreich so früh nötig
war. Gab Rußland innerhalb einer bestimmten Frist keine oder eine
abschlägige Antwort, so erging der deutsche Mobilmachungsbefehl,
und diesem folgte doch zweifelsohne sofort der französische, worauf
die Stellung der Anfrage in Paris, ohne den unannehmbaren ge-
heimen Zusatz, gerechtfertigt gewesen wäre.
Man kann daher zu dem Schlüsse kommen, daß die Anfrage in
Petersburg anders zu fassen, die nach Paris aber vorläufig entbehr-
lich gewesen wäre. Aber auch in solchem Falle würden die Er-
eignisse kaum anders verlaufen sein. Rußland hätte seine Mobil-
machung nicht rückgängig gemacht, denn die Demobilisierung von
Millionenheeren ist nicht so einfach, wie Kautsky auf Seite 136 an-
nimmt. Die militärische Begründung, die Zurücknahme einer
Mobilmachung sei ,, technisch unmöglich", ist zwar nicht wörtlich
dahin zu verstehen, daß ein solcher Gegenbefehl überhaupt nicht
durchführbar sei, aber die Unterbrechung oder Einstellung einer
Massenmobilmachung ruft derartige Störungen in den militärischen
Vorbereitungen und im Verkehrswesen hervor, daß der betreffende
Staat für längere Zeit in einen Zustand operativer Unterlegenheit
gerät, den während politischer Krisen kein Staatsmann wird ver-
antworten können. Wenn aber Rußland nicht demobilisierte,
mußte Deutschland mobil machen, Frankreich mußte folgen.
Bei dem Vergleich der nach Petersburg und Paris gerichteten
Anfragen wird hervorgehoben, daß in der ersteren der „entschei-
dende Satz" fehlte, „die Mobilmachung bedeute unvermeidlich
Krieg" (K. Seite 137). Dazu ist zu bemerken, daß die Auffassung
über die Tragweite der deutschen Mobilmachung schon einmal
am 26. Juli und dreimal am 29. nach Petersburg gedrahtet worden
war (D. Nr. 219, 342, 359, 380), so daß eine nochmalige Wieder-
holung überflüssig war und dem deutschen Ultimatum eine
weitere, unerwünschte Schärfe gegeben hätte.
30 —
VIII. Die Kriegserklärungen an
Rußland und Frankreich
Die auf zwölf Stunden befristete Anfrage an R u ß 1 a n d wurde
vom deutschen Botschafter in Petersburg um Mitternacht vom
31. Juli zum 1. August übergeben (D. Nr. 536). Der russische
Außenminister „verwies wieder auf technische Unmöglichkeit,
Kriegsmaßnahmen einzustellen, und versuchte, mich (den Bot-
schafter), von neuem zu überzeugen," daß die russische Mobil-
machung mit der deutschen „nicht zu vergleichen sei". Sasonow
erinnerte sich also sehr wohl an das, was ihm viermal über die Be-
deutung der deutschen Mobilmachung gesagt worden war. Die
Kritik, daß ,, selbst der leiseste Hinweis" fehlte, daß „die Mobil-
machung Deutschlands gleichbedeutend sei mit einer Kriegser-
klärung" (K, Seite 139) — genauer: mit ,, Krieg" — ist sonach unbe-
gründet und verfehlt. Auf die Frage nun, ob Rußland Frieden
zu halten gewillt sei, „auch falls eine Einigung mit Österreich nicht
erfolge", wurde keine bejahende Antwort erteilt. Die Stunde des
Eintreffens der am 1. August 1" vormittags abgesandten Meldung
über die vorstehende Unterredung ist ausnahmslos in den Akten
nicht vermerkt. Der Bericht muß jedoch bei der um die Mittagszeit
abgehaltenen Sitzung des Bundesrats (D. Nr. 553) schon vorgelegen
haben, wurde jedoch nicht als Antwort auf den Inhalt der gestellten
Frage angesehen, denn der Reichskanzler erklärte einerseits, die
Antwort sei um 12° mittags fällig gewesen, was die Kenntnis der
Anfrage um Mitternacht voraussetzt, andererseits erklärte er, noch
nicht zu wissen, wie die Antwort laute.
Die auf 18 Stunden befristete Anfrage an Frankreich wurde in
Paris am 31. Juli, 7° abends, gestellt (D. Nr. 528). Der französische
Ministerpräsident leugnete hierbei, von der russischen allgemeinen
Mobilmachung Kenntnis zu haben, obwohl, wie wir jetzt wissen,
schon am frühen Morgen ein Telegramm der Petersburger Botschaft
mit dieser Nachricht eingetroffen war (Weißbuch Juni 1919, Seite
207). Die Frist lief also bis 1. August, 1° nachmittags. Um diese
Stunde gab der französische Ministerpräsident die Antwort, ,, Frank-
reich werde das tun, was seine Interessen geböten", setzte aber
hinzu, er sehe ,,seit gestern Lage als verändert" an, denn nach amt-
licher Mitteilung sei ,,der Vorschlag Sir Edward Greys allseitiger
Einstellung kriegerischer Vorbereitungen von Rußland im Prinzip
angenommen" und Österreich-Ungarn habe erklärt, daß es „ser-
— 31 —
bisches Territorium und Souveränität nicht antasten werde". Der
kurze, nur 76 Worte zählende, 1^ nachmittags abgesandte tele-
graphische Bericht des Botschafters über diese Unterredung (Nr.
571) traf erst 6^^ abends in Berlin ein, war sonach unter Berück-
sichtigung der Uhrendifferenz sieben Stunden unterwegs, so daß
mit größter Wahrscheinlichkeit eine absichtliche Verzögerung der
Übermittlung durch die französischen Telegraphenbehörden anzu-
nehmen ist.
In der erwähnten Bundesratssitzung (D. Nr. 553,
Seite 60) hatte der Reichskanzler als Absicht der deutschen Re-
gierung bekanntgegeben, den Krieg an Rußland zu erklären, ,,wenn
die russische Antwort ungenügend ausfällt", ebenso an Frankreich,
„wenn nicht eine absolut einwandfreie Neutralitätserklärung
kommt". Als nun die Fristen abgelaufen waren*), verfuhr man
jedocn anders als angekündigt.
Nach Petersburg ging 12^^ nachmittags eine Kriegs-
erklärung ab (D. Nr. 542), obwohl eine ungenügende Antwort
nicht vorlag, sondern nur die besprochene, als Antwort über-
haupt nicht angesehene, um 1° morgens abgesandte Meldung (D.
Nr. 536).
Nach Paris wurde die vorbereitete Kriegserklärung (Nr. 608)
nicht abgeschickt, sondern es wurde 1*^ nachmittags für die Beant-
wortung des ,,Eventualvorschlages" — worunter die Überlassung
der Festungen Toul und Verdun zu verstehen ist — eine weitere
Frist von zwei Stunden, also bis 3° nachmittags gewährt (D. Nr.
543). Das Telegramm konnte trotz der Uhrendifferenz unmöglich
noch rechtzeitig (1*^ = 12*^ Pariser Zeit) in die Hände des Botschafters
gelangen, der es denn auch erst nach 3° (= 4" Berliner Zeit) erhielt
(D. Nr. 598).
Um 5° nachm. erging sodann der Mobilmachungs-
befehl für Heer und Flotte in Deutschland (D.
Nr. 554, Anmerkung 4). Die Berechtigung dieser Maßnahme kann
nach der seit mehr als 29 Stunden offiziell bekannten russischen
allgemeinen Mobilmachung auch der strengste Pazifist nicht be-
streiten. Zwanzig Minuten vorher, um 3^" westeuropäischer (= 4*"
mitteleuropäischer Zeit) hatte auch Frankreich mobil gemacht
(Blaubuch Nr. 136), ohne daß seine Grenzen bedroht waren, und
ohne Kenntnis von der deutschen Kriegserklärung an Rußland.
Die Erklärung des ,,Zustandes drohender Kriegsgefahr" in Deutsch-
land war auch kein zwingender Grund; die entsprechende Gegen-
maßnahme, Aufstellung des Grenzschutzes, war ja, wie oben (auf
*) Unter Berücksichtigung der Uhrendifferenz wäre der genaue Zeitpunkt
für Ablauf der Fristen nach mitteleuropäischer Zeit gewesen: für
die Anfrage in Petersburg 11° vormittags, nicht 12° mittags; für die Anfrage
in Paris 2°, nicht 1° nachmittags.
— 32 —
Seite 28) erwähnt, schon spätestens am 31 , Juli getroffen. Hingegen
bestand immerhin die Verpflichtung gemäß Artikel 2 der franzö-
sisch-russischen Militärkonvention, denn eine Macht des Drei-
bundes, nämlich Österreich-Ungarn, hatte ja in Beantwortung der
russischen Maßnahmen um 12-^^ nachmittags den Mobilmachungs-
befehl erlassen. Ob freilich die Meldung des französischen Bot-
schafters in Wien (Gelbbuch Nr. 115) schon in Paris eingetroffen
sein konnte, ist zweifelhaft. Bekannt wurde die Tatsache der fran-
zösischen Mobilmachung in Berlin erst 9^ abends durch ein Tele-
gramm des Militärattaches (D. Nr. 590), worin die Stunde der
Mobilisierungsorder ungenau auf 5° (= 6° Berliner Zeit) an-
gegeben ist.
Anders liegt die Berechtigungsfrage hinsichtlich der Kriegs-
erklärungan Rußland. Daß sie vom pazifistischen Stand-
punkte aus nicht verteidigt werden kann, bedarf keiner weiteren
Ausführung. Aber auch vom realpolitischen wirkte sie
sicher in höchstem Grade nachteilig, denn sie schob die formelle
Schuld des letzten Schrittes auf Deutschland. Selbst nach mili-
tärischen Gesichtspunkten lag ein zwingender Grund nicht vor.
Der auf den zwei Voraussetzungen der langsamen Mobilmachung
Rußlands und des raschen Sieges über Frankreich aufgebaute
deutsche Kriegsplan forderte den schleunigen Beginn der Opera-
tionen im Westen, nicht aber im Osten, wo im Gegenteil
in Anbetracht der Stärkeverhältnisse ein tunlichst später Beginn
des Kriegszustandes erwünscht war. Da man nun die ursprüng-
liche Absicht der gleichzeitigen Kriegserklärung an Frankreich
nicht ausführte, scheint mir, soweit die bisherigen Veröffentlichungen
ein Urteil zulassen, in der Kriegserklärung an Rußland auch in rein
militärischer Beziehung ein Denkfehler vorzuliegen. Darüber,
warum die beabsichtigte und vorbereitete Kriegserklärung an
Frankreich nicht abgesandt wurde, geben die Akten keinen er-
schöpfenden Aufschluß. Zunächst war es wohl das Ausbleiben
einer französischen Antwort, vor deren Empfang man sich scheute,
diesen Schritt zu unternehmen. Als sie endlich Q^'^ eintraf, hatte
sich folgendes ereignet:
Um 2^ nachmittags hatte Kaiser Wilhelm ein Telegramm des
Zaren erhalten (D. Nr. 546), worin dieser, obwohl damals Deutsch-
land noch gar nicht mobilisiert hatte, zugab, daß Deutschland zu
einer solchen Maßnahme ,, gezwungen" sei, gleichzeitig aber
um eine Zusicherung bat, daß die Mobilmachung ,,n i c h t Krieg
bedeute", — ein weiterer Beweis dafür, wie ungerechtfertigt die
Unterstellung ist (K. Seite 139), als wäre Rußland über die deutsche
Auffassung hinsichtlich dieses Punktes im Zweifel gelassen worden.
Etwa zwei Stunden später, um 4-^, traf sodann von der Lon-
doner Botschaft ein Telegramm ein, das die Möglichkeit einer
— 33 —
, (Neutralität Frankreichs" in einem deutsch-russischen
Kriege in Aussicht stellte (D. Nr. 562). Zur Kenntnis der maß-
gebenden Stellen gelangte diese Depesche nach beendeter Dechiff-
rierung anscheinend erst, nachdem um 5° die Mobilmachung aus-
gesprochen worden war.
Eifrig wurde das unerwartete Angebot aufgegriffen und —
in weitgehender Unterschätzung der französisch-russischen Soli-
darität — die Eventualität eines deutsch-russischen Krieges ohne
Beteiligung Frankreichs ins Auge gefaßt (D. Nr. 575, 578 und 579).
Die vorbereitete Kriegserklärung an Frankreich wurde zwar nach
Eintreffen der Antwort aus Paris um 6^° noch ergänzt (D. Nr. 608),
aber wiederum nicht abgesandt.*) Auch militärische Anordnungen,
die jedes Überschreiten der französischen Grenze, selbst durch
Patrouillen, verhindern wollten, wurden erlassen.
Weiterhin ging um 7° abends im Berliner Schloß ein Telegramm
des Königs von England ein, worin er den Empfang der deutschen
Beschwerde über die russische Mobilmachung (D. Nr. 477) be-
stätigte und mitteilte, daß er dem Zaren seine Bereitwilligkeit aus-
gedrückt habe, alles zu tun, „um die Wiederaufnahme der Be-
sprechungen zwischen den beteiligten Mächten zu fördern" (D.
Nr. 574). Endlich überreichte zu einer aus den Akten nicht ersicht-
lichen Zeit der britische Botschafter eine Aufzeichnung, wonach
Sir Edward Grey wissen ließ, ,,er höre von der russischen Regierung,
daß die österreichisch-ungarische Regierung bereit sei, die Lage
mit der russischen Regierung zu besprechen, und daß die russische
Regierung bereit sei, eine Vermittlung auf der Grundlage einer
solchen Besprechung anzunehmen" (D. Nr. 595).
War es nun die Einwirkung dieser, teils vor, teils nach der
Pariser Antwort erhaltenen Nachrichten, oder waren es andere Ein-
flüsse; am späten Abend scheint sich die Ansicht durchgerungen
zu haben, daß vielleicht nicht nur der Krieg mit Frankreich, sondern
auch der mit Rußland zu vermeiden sei. Um 9*° wurde nämlich
im Auswärtigen Amt auf das 2^ eingetroffene Telegramm des Zaren
eine Antwort entworfen, die trotz der abgesandten Kriegserklärung
einen neuen Anknüpfungspunkt für Unterhandlungen bieten konnte
(D. Nr. 600). Die um 10° vom Kaiser unterzeichnete Depesche
ging 10^° dringend und offen ab. Hoffte man vielleicht, daß sie die
vor zehn Stunden abgesandte chiffrierte Kriegserklärung noch über-
holen könnte? Nach den deutschen Weißbüchern vom August 1914
und Mai 1915 mußte man annehmen, daß dieses Telegramm schon
etwa um 2° nachmittags abgeschickt worden war; seine Bedeutung
konnte daher bis jetzt nicht richtig eingeschätzt werden.
*) Auch die schon verstrichene Zeit für Übergabe der Note (6°) wurde
nicht mehr berichtigt.
— 34 —
■^ Diese letzten Schritte waren vergebens. Nachdem 9^ "nach-
mittags die französische Mobilmachung gemeldet war (D. Nr. 590),
berichtete Fürst Lichnowsky 10^, daß nach Ansicht des Londoner
Kabinetts „die Antwort der deutschen Regierung bezüglich der
Neutralität Belgiens sehr bedauerlich sei" (D. Nr. 596), und um
IP" nachm., daß die Anregung wegen der Neutralität Frankreichs
hinfällig wäre (D. Nr. 603). Die Bedeutung des Telegramms an den
Zaren aber wurde weder vom russischen Außenminister noch vom
deutschen Botschafter richtig gewürdigt. Dieser glaubte sogar,
es handle sich wohl um ein schon 24 Stunden früher aufgegebenes,
in der Übermittlung verzögertes Telegramm (D. Nr. 666).
Von all diesen Zusammenhängen findet sich in der Kautsky-
schen Darstellung außerordentlich wenig. Die Bundesratssitzung
vom 1. August, deren Protokoll doch eines der wichtigsten Akten-
stücke der ganzen Sammlung bildet, wird überhaupt nicht erwähnt.
Die Wirkung, die das Londoner Telegramm über die Möglichkeit
der Neutralität Frankreichs spielte, wird nicht erkannt. Für das
letzte Telegramm an den Zaren gibt es nur Spott und Hohn. ,, Ab-
sonderlichste Episode", ,, Komödie der Irrungen und Wirrungen",
,, unerklärlich", der Kaiser und alle seine Ratgeber hatten ,,den
Kopf verloren" (K. Seite 140 und 141), das sind die Aufklärungen,
die dem Leser geboten werden.
Kautsky weiß auch ebenso wenig, wie ich es bis vor kurzem
gewußt habe, daß die von ihm als ,, schwächlich und verschroben"
bezeichnete Formel der Kriegserklärung an Rußland : , .betrachtet
sich als im Kriegszustande mit Rußland befindlich", nach Ansicht
mancher Völkerrechtslehrer eine Form darstellt, die der Gegenpartei
noch eine Möglichkeit zu Verhandlungen bieten soll. Wenn man
auch diese, wohl etwas spitzfindige juristische Interpretation nicht
anerkennt, so sollte man doch wissen, daß Napoleon III. 1870 und
Wilson 1917 in ihren Kriegserklärungen an Deutschland sich ebenso
„schwächlich und verschroben" ausgedrückt haben.
Zur Kriegserklärung an Frankreich kam es dann am
3. August (D. Nr. 734— 734c). Sie beruhte nicht „vor allem" auf
den Bombenwürfen ,, mysteriöser Flieger" (K. Seite 155), sondern
auf Grenzverletzungen zu Lande, die aus dem, von den französischen
Behörden völkerrechtswidrig und anscheinend unter genauer Kennt-
nis des deutschen Chiffres stark verstümmelten Text der Kriegs-
erklärung nicht entnommen werden konnten. Über den Umfang
dieser Grenzverletzungen zu Lande geben die Anlage II des deutschen
Weißbuches vom Juni 1919 und die „Deutsche Allgemeine Zeitung"
vom 25. Juni 1919 Nr. 297 näheren Aufschluß.
Es bleibt noch die Frage, wie wohl die Dinge gekommen wären,
wenn der übereilte Schritt der Kriegserklärung an Rußland nicht
erfolgt wäre. Eine bestimmte Antwort darauf ist schwer möglich.
— 35 —
Aber nach dem, was seit dem Frühsommer 1919 einerseits durch
die russischen Enthüllungen, andererseits über die französisch-
russische Militärkonvention bekannt geworden ist, spricht die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Krieg nicht vermieden worden
wäre. Rußland war nicht bereit zu demobilisieren und auch nicht
bereit, eine Zusicherung dafür zu geben, daß es nicht später zu den
Waffen greifen würde, falls eine Einigung mit Österreich-Ungarn
nicht zustande käme (D. Nr. 536). Frankreich mobilisierte un-
abhängig von und zeitlich etwas vor der deutschen Mobil-
machung und ohne Kenntnis der deutschen Kriegserklärung an
Rußland, in Ausführung von Artikel 2 der Militärkonvention von
1892. Man kann wohl kaum bezweifeln, daß auch der 3. Artikel
dieser Konvention befolgt worden wäre, wonach die mobilgemachten
Streitkräfte ,, ungesäumt (in aller Eile) zu entscheidendem (nach-
drücklichstem) Kampf einzusetzen waren" (ces forces s'engageront
ä fond, en toute diligence). Diese Auffassung, daß Mobilmachung
gleichbedeutend mit Krieg sei, war also nicht, wie man lange glauben
konnte, ja, nach den amtlichen französischen und russischen Ver-
sicherungen annehmen mußte, ein deutsches Reservat, sondern
war schon 22 Jahre vor dem Kriege vertraglich zwischen Frankreich
und Rußland festgelegt worden. Sie wurde am Tage nach der Unter-
zeichnung der Konvention durch den französischen Unterhändler,
General Boisdeffre, noch bekräftigt, der dem Zaren auseinander-
setzte, ,, Mobilmachung bedeutet Kriegserklärung" (la mobilisation
c'est ia declaration de guerre) und diesen Satz dann noch näher
erläuterte (Anhang Nr. 3) ; noch schärfer hatte nach einem Bericht
des französischen Militärattaches vom 16. Juli 1892 der russische
Generalstabschef sich ausgedrückt, der die Mobilmachung sogar
als „untrennbar von einem Angriff" (inseparable d'une agression)
angesehen wissen wollte (Anhang Nr. 4).
Tatsächlich wurden Versuche zu Grenzüberschrei-
tungendurchrussischeTruppen schon am 2. August,
4® vormittags (= 5 Uhr osteurop. Zeit), also 10 Stunden nach Über-
gabe der deutschen Kriegserklärung in Petersburg, gemeldet. Hier-
wegen ergeben sich manche Fragen, deren Beantwortung die weitere
Forschung trotz der entstehenden großen Schwierigkeiten versuchen
muß. Es kommt in Betracht, wann die Nachricht von der deutschen
Kriegserklärung zu den russischen Befehlshabern an der Grenze
gelangt sein kann, wann diese ihre Anordnungen erließen, welche
Stärke die betreffenden Abteilungen hatten. Der Vorwurf des
deutschen Weißbuches vom August 1914, die Russen hätten die
Grenze überschritten, bevor in Berlin eine Meldung über die Über-
gabe der Kriegserklärung eingetroffen war, ist selbstverständlich
nicht gerechtfertigt, denn der Kriegszustand trat ein mit Über-
gabe der Kriegserklärung, nicht mit dem Eintreffen der M e I -
— 36 —
düng über die Ausführung dieses Auftrags. Es liegt hier eine
Flüchtigkeit vor, wie sie bei einer in größter Eile angefertigten
Denkschrift wohl erklärlich ist.
Von französischer Seite fanden, wie bei der deutschen
Kriegserklärung an Frankreich erwähnt, schon bald nach Erlaß
des Mobilmachungsbefehls vielfache Verletzungen deutschen Ge-
biets statt, obwohl vorsorglich die Anordnung getroffen worden
war, die Truppen sollten 10 km von der Grenze abbleiben. Nach
mehr als vierzigjährigem Frieden können eben Millionenheere ohne
solche Zwischenfälle sich nicht auf nächste Entfernung gegen-
überstehen. Daß jedoch in Frankreich auch Ernsteres erwogen
wurde, beweist nachstehende Depesche des russischen Botschafters
in Paris an das Ministerium in Petersburg (Weißbuch Juni 1919,
Seite 207/8):
„Die Deutschen überschreiten in einzelnen kleinen Ab-
teilungen die französische Grenze, und auf dem französischen
Territorium erfolgten bereits einige Zusammenstöße. Das wird
der Regierung die Möglichkeit geben, vor den zu Dienstag
(4. August) einberufenen Kammern zu erklären, daß auf Frank-
reich ein Überfall verübt worden sei, und so die formale Kriegs-
erklärung zu vermeiden."
Dieser Gedanke, man könne ohne das überflüssige Zwischen-
glied der ,, formalen Kriegserklärung" den Beginn der Operationen
unmittelbar an die Mobilmachung anschließen, wird wohl kaum
ohne das Einverständnis der französischen Militärs und der fran-
zösischen Regierung nach Petersburg gemeldet worden sein.
Auf deutscher Seite stehen dem freilich gegenüber der
Einmarsch in das neutrale Luxemburg mit schwachen Abteilungen
schon am Abend des 1., mit stärkeren Truppen am frühen Morgen
des 2. August, ferner am Morgen des 4. das viel verhängnisvollere
Betreten belgischen Gebietes.
IX. Der Einmarsch in Belgien
Die Verletzung der luxemburgischen und belgischen Neutra-
lität bildet zweifellos das für Deutschland am meisten belastende
Moment. Die Frage kann aber nicht mit einer einfachen Anklage
erledigt werden, namentlich dann nicht, wenn man wie Kautsky
die Ansicht ausspricht: „rein militärisch betrachtet war also der
Durchbruch durch Belgien sicher geboten" (K. Seite 156). Ich stehe
nicht mehr auf diesem Standpunkt, der früher auch der meinige
war, und glaube, daß sogar vom rein militärischen Gesichtspunkt
ein anderes Verfahren möglich gewesen wäre.
— 37 —
Hingegen ist es fraglich, ob Frankreich und England das Recht
zusteht, sich zu Richtern über das deutsche Vorgehen aufzuwerfen.
Im April 1919 ist vor der französischen Untersuchungskommission
über die vorzeitige Räumung des Beckens von Briey zur Sprache
gekommen, daß von 1911 bis 1913 ein Operationsplan in Kraft war,
wonach die französischen Armeen nicht wie 1914 korrekterweise
südlich der belgischen Grenze, sondern auf der ganzen Strecke
„von Beifort bis zur Nordsee" aufmarschieren sollten. Wo war
damals, wenn die Franzosen diese ganze Strecke einnahmen, die
Versammlung der Engländer gedacht, über die ja seit dem Januar
1906 ständig Besprechungen zwischen den beiden Generalstäben
stattfanden? Wie war die Erfüllung des Artikels 3 der französisch-
russischen Militärkonvention geplant, in aller Eile zu nachdrück-
lichsten Operationen zu schreiten? Das war doch nur möglich
durch einen Vormarsch auf der ganzen Front, also durch einen Ein-
marsch in Belgien.
Das ist keine Rechtfertigung Deutschlands und keine Anklage
Belgiens, das nach dem gesamten bisher vorliegenden Material sich
durchaus loyal benommen hat und auch einem französischen Ein-
bruch Widerstand geleistet haben würde. Aber Frankreich und
England können nicht mehr als Kläger gegen Deutschland in dieser
Frage auftreten. Daß man in Frankreich über die Verletzung der
luxemburgischen und belgischen Neutralität auch 1914 innerlich
keineswegs entrüstet war, sie vielmehr als einen großen Glücksfall
betrachtete, beweist die schon angeführte Depesche Iswolskis vom
2. August. Der russische Botschafter fährt nämlich fort:
,, Heute ist die Nachricht eingetroffen, daß deutsche Truppen
das luxemburgische Territorium betreten und so die Neutralität
des Großherzogtums verletzt haben, die durch den u. a. von
England und Italien unterzeichneten Traktat von 1867 garantiert
wurde. Dieser Umstand wird für sehr vorteilhaft für Frankreich
betrachtet, denn er wird unvermeidlich (Lücke im Telegramm)
seitens Englands hervorrufen und es zu einer energischeren
Handlungsweise veranlassen. Es liegt auch die Nachricht vor,
daß die deutschen Truppen sich angeblich in Richtung Arlon
bewegen, was auf die Absicht hinweist, auch die belgische Neu-
tralität zu verletzen. Das wird noch fühlbarer für England sein.
Der Vorsitzende des Ministerrats telegraphierte sofort nach Lon-
don und beauftragte Cambon, die Aufmerksamkeit Greys darauf
zu lenken."
Ein Kommentar zu diesen Ausführungen ist entbehrlich.
— 38 —
xrs
X. Der Bericht der Ententekotnmission
vom 29. März 1919
Von dem in jeder Beziehung kläglichen, mit der Kautskyschen
Darstellung selbst häufig in Widerspruch stehenden Bericht der
Ententekommission vom 29. März 1919 (Weißbuch Juni 1919,
Nr. 5) wird gesagt, daß er ,,eine ebenso kurze, wie im wesentlichen
zutreffende Skizze der Entstehung des Krieges gibt" (K. Seite 86).
Die Schwäche dieses Machwerks wurde nun aber bekanntlich auch
in den Ententeländern so stark empfunden, daß man sich scheute,
es der deutschen Regierung mitzuteilen, sondern in einer Note vom
20. Mai es als eine ,, Urkunde interner Natur" bezeichnete, die nicht
übermittelt werden könne (Weißbuch Juni 1919 Seite 7). Einige
der Ungeheuerlichkeiten des Pamphlets, das als eine seiner Haupt-
quellen den bayerischen Gesandtschaftsbericht vom 18. Juli in der
illoyalen Eisnerschen Kürzung anführt, seien im nachstehenden
zusammengestellt :
1 . Dem deutschen Generalstabschef werden Äußerungen in den
Mund gelegt, die er niemals getan hat.
2. Das Wort „Krieg" wird ständig ohne Zusatz gebraucht,
in der leicht erkennbaren Absicht, den Leser zu verleiten, an
,, Weltkrieg" statt an den ,, serbisch-österreichischen Krieg"
zu denken.
3. Die Behauptung, daß Österreich direkte Verhandlungen mit
Rußland abgelehnt habe, ist in dieser allgemeinen Fassung
unwahr. Schon am 25. Juli erging eine Aufklärung über den
am meisten beanstandeten Punkt 5 des Ultimatums nach
Petersburg; fast täglich fanden Besprechungen teils in Wien,
teils in Petersburg statt. Endlich wird verschwiegen, daß
es sich bei dem direkten Gedankenaustausch um eine deutsche
Anregung handelte.
4. Ebenso wird nicht erwähnt, daß Österreich die vorüber-
gehend unterbrochenen direkten Besprechungen mit Peters-
burg gerade auf Grund des von Deutschland geübten Druckes
wieder aufnahm.
5. Daß die deutsche Regierung ,,alle Vermittlungsversuche zu-
nichte gemacht habe", ist auch im Kautskyschen Buche über-
zeugend widerlegt.
-- 39 —
6. Obwohl in Paris bekannt sein muß, daß das im Weißbuch
vom 3. August 1914 nicht enthaltene Zaren telegramm über
das Haager Schiedsgericht inzwischen längst auch von
deutscher Seite veröffentlicht v/orden ist, wird im Bericht
der Ententekommission der Anschein erweckt, als werde
diese Depesche noch immer verleugnet.
7. Die russischen Mobilmachungen werden mit Stillschweigen
übergangen, sowohl die Teilmobilmachung von 13 Armee-
korps, die am 29. Juli amtlich mitgeteilt wurde, als auch
die Totalmobilisierung, die an demselben 29. insgeheim be-
gonnen, am 30. abends allgemein angeordnet, am frühen
Morgen des 31. öffentlich bekanntgegeben wurde.
8. Es wird verheimlicht, daß man in Paris schon am Morgen
des 31. Juli durch eine Depesche des französischen Bot-
schafters in Petersburg über die Tatsache der allgemeinen
russischen Mobilmachung unterrichtet war (Weißbuch Juni
1919, Seite 207). Der Bericht hält noch immer an der groben,
seit mehr als fünf Jahren in den Ententeländern verbreiteten
Unwahrheit über die Reihenfolge der Mobilmachungen fest,
er nimmt keine einzige der vielen Fälschungen des russischen
Orangebuches und des französischen Gelbbuches über diesen
Punkt zurück.
9. Daß die deutsche Mobilmachung am 21. Juli begonnen habe,
ist eine wider besseres Wissen ausgesprochene Unwahrheit.
10. Aus dem ins Französische entstellt übersetzten Telegramm
des deutschen Kaisers vom 1. August, 7^ abends, das jede
Überschreitung der französischen Grenze verhindern wollte,
v/ird lächerlicher Weise gefolgert, daß „die deutsche Armee
auf Grund vorhergehender Befehle mobilisiert und zusammen-
gezogen worden war". Man kann sich schwer vorstellen,
daß die 15 Unterzeichner des Berichts selbst an eine solche
Torheit geglaubt haben.
1 1 . Daß die deutsche Flotte Libau vor Beginn des Kriegszu-
standes beschossen habe, ist unwahr,
12. Von einem ,, Vormarsch" deutscher Truppen über die fran-
zösische Grenze vor Beginn des Kriegszustandes kann nicht
gesprochen werden.
13. Die Grenzverletzungen sind, wie bei der Ansammlung von
Millionenheeren nach mehr als vierzigjährigem Frieden leicht
erklärlich, auf beiden Seiten sehr zahlreich gewesen, auch
— 40 —
auf deutscher Seite weit zahlreicher, als die jeder Sach-
kenntnis entbehrende Ententekommission annimmt, aber
immerhin noch nicht so zahlreich, wie die Verletzungen
deutschen Gebiets durch französische Truppen (Weißbuch
Juni 1919, Anlage II, und „Deutsche Allgemeine Zeitung"
vom 25. Juni Nr. 297).
14, Daß die deutsche Kriegserklärung an Frankreich nicht aus-
schließlich auf die unzutreffenden und leider nicht genügend
nachgeprüften Meldungen über Bombenwürfe aus Flug-
zeugen sich stützte, sondern in erster Linie Gebietsver-
letzungen auf dem Landwege anführte (D. Nr. 734— 734c),
muß der französischen Regierung bei Abfassung des Be-
richts im März 1919 bekannt gewesen sein, da sie die deutschen
Chiffretelegramme nicht nur im August 1914 völkerrechts-
widrig verstümmeln ließ, sondern später auch selbst zu ent-
ziffern in der Lage gewesen ist.
Die vorstehenden Angaben, die noch nicht erschöpfend sind,
genügen wohl, um zu zeigen, daß der Bericht allerdings ,,kurz" ist,
aber trotz seiner Kürze die Aufgabe löst, auf wenig Raum erstaunlich
viel Unrichtigkeiten zu häufen.
XI. Schlußbemerkungen
Zusammenfassend kann man sagen, daß das Kautskysche Buch
wegen seiner Beschränkung auf nur einen Teil der längst allgemein
zugänglichen Quellen nicht als ein Ergebnis unparteiischer For-
schung gelten kann. Die übertriebene Bewertung der kaiserlichen
Marginalien gibt dem, in den Dienstgang der höheren deutschen
Behörden nicht eingeweihten Leser ein durchaus unrichtiges Bild,
denn es fehlt jede Aufklärung darüber, wann die Randglossen ge-
schrieben und wie oft sie nicht beachtet wurden. Ein Beispiel ist
schon auf Seite 22 angeführt, daß nämlich die Bemerkungen Kaiser
Wilhelms zum Telegramm Lichnowskys vom 29. Juli, 9^^ nachm.,
erst niedergeschrieben wurden, nachdem dieses Telegramm längst
mit scharfem Mahnwort nach Wien weitergegeben war (D. Nr. 368
und 395). Als weiteres Beispiel sei angeführt, daß die wiederholte
Randbemerkung, Österreich solle doch den Sandschak von Serbien
zurücknehmen, die deutsche politische Leitung nicht abgehalten
hat, gerade den Verzicht des Wiener Kabinetts auf Annexionen
nachdrücklichst und scheinbar erfolgreich zu fordern (D. Nr. 29
und 155, andererseits Nr. 104, 198-200, 323 und 361).
— 41 —
In formeller Beziehung wirkt störend, daß Kautsky sein
Buch vor Ausgabe der amtlichen Aktenpublikation geschrieben hat
und daher nicht auf die zur Zeit der Niederschrift noch nicht end-
gültig feststehenden Nummern der Aktenstücke hinweisen konnte.
Wer genau arbeiten will, sei schließlich noch auf folgende kleinere
Unstimmigkeiten und Druckfehler aufmerksam gemacht:
Zur Zeit des Abschlusses der französisch-russischen Allianz
(Seite 16) im Jahre 1891/92 war die Zahl der für den Kriegsdienst
in Betracht kommenden, über 20 Jahre alten Männer in Deutsch-
land und Frankreich nahezu gleich; der spätere Überschuß dieser
Jahresklassen in Deutschland wurde auch 1914 durch Verlängerung
der Wehrpflicht noch ausgeglichen (Seite 13) und künftig durch
den viel bedeutenderen Bevölkerungszuwachs Rußlands mehr als
aufgewogen.
Wie wenig infolge der Anfänge des deutschen Flottenbaues
1897 „alle Gegensätze zwischen den einzelnen Staaten hinter den
einen großen Gegensatz gegen das Deutsche Reich" zurücktraten
(K. Seite 17), beweist die französisch-englische Krise wegen Fa-
schodas (1898), das Bündnisangebot Chamberlains.an Deutschland
(1899), der russisch-japanische Krieg (1904/05) und der bis zum
Jahre 1907 andauernde englisch-russische Antagonismus.
Die Kriegserklärung Österreichs an Rußland wurde am 5.,
nicht 6. August abgesandt (K. Seite 57, D. Nr. 878).
Zu den Ausführungen auf Seite 88 ist zu bemerken, daß die
Abberufung des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin
anscheinend schon seit längerer Zeit beschlossen war (D. Nr. 324).
Wegen der mehrfach unklaren und irrigen Berichterstattung dieses
einst mit Recht hochangesehenen Diplomaten darf auf Gooss S. 31,
174, 235, 248, 253 Anm. 2 verwiesen werden.
Der englische Vorschlag vom 27. Juli wurde von Berlin nach
Wien nicht ,,bloß weitergegeben" (K. Seite 90), sondern „zur Er-
wägung unterbreitet", mit dem Beifügen, daß Deutschland „die
Vermittlerrolle nicht abweisen könne" (D. Nr. 277).
Das Schreiben Kaiser Wilhelms vom 28. Juli, 10° vormittags
(K. Seite 91), ist an den Staatssekretär des Auswärtigen, nicht an
den Reichskanzler, gerichtet.
Serbien zählte allerdings 1909 nur rund 3 Millionen Einwohner
(K. Seite 98), aber die beiden Balkankriege brachten ihm den immer-
hin nicht unbeträchtlichen Zuwachs von nahezu 2 Millionen; sein
Gebietsumfang kam seitdem dem von Bayern und Sachsen zu-
sammen nahezu gleich.
Die Abgangszeiten der beiden Telegramme nach Wien in der
Nacht vom 29. zum 30. Juli auf Seite 123 sind verwechselt.
- 42 -
Am 1, August mobilisierten nicht England und Frankreich
(Seite 129), sondern Frankreich und Deutschland. England hatte
für seine Flotte schon früher umfassende Maßnahmen getroffen
(Gelbbuch Nr. 66, Blaubuch Nr. 47, 48 und 87; D. Nr. 484); der
Mobilisierungsbefehl für das britische Landheer erging am 3. August,
11 Uhr vormittags, etwa 18 Stunden, bevor deutsche Truppen bel-
gischen Boden betraten (Lord Haldane im ,, Atlantic Monthly"
vom Oktober 1919).
In Petersburg waren Deutschland und Frankreich durch Bot-
schafter, nicht Gesandte, vertreten (Seite 117 und 129); Herr de
l'Escaille war belgischer Geschäftsträger, nicht Gesandter (Seite
127), sondern vertrat diesen bis zu dessen Rückkehr am 31. Juli
(IL belgisches Graubuch Nr. 17).
Es wird niemandem gelingen, die schwierige Materie der diplo-
matisch-militärischen Geschichte der kritischen 13 Tage ohne
ähnliche Irrtümer zu bearbeiten, wie sie im vorstehenden aufgezählt
sind. Diese Erkenntnis sollte aber auch nachsichtig stimmen gegen
die Abfassung des ersten deutschen Weißbuches vom 3. August
1914, das nicht in monatelanger Arbeit, sondern in aller Hast binnen
48 Stunden fertiggestellt werden mußte. Ein schwerer wiegender
Irrtum ist es jedoch, wenn Herr Kautsky sich der Meinung hingibt,
durch seine einseitige Darstellung der Vorgänge, die alle Fehler
und Schlechtigkeiten der Gegenpartei verschweigt, dem deutschen
Volke einen Dienst erwiesen zu haben (K. Seite 180). Die aus dem
neutralen und feindlichen Auslande herüberklingenden Stimmen
beweisen nur allzu deutlich das Gegenteil. Mit Wonne haben in
England gerade die deutschfeindlichsten und reak-
tionärsten Blätter die Schrift des deutschen Sozialistenführers
ausgebeutet, die „Times" und die ,,Morning Post". In dem letzt-
genannten Blatte war folgende Anklage gegen das deutsche
Volk zu lesen :
„Noch ein anderes geht aus diesen Enthüllungen hervor. Welches
war in Wirklichkeit in Deutschland die Macht, die auf den Untersee-
bootskrieg bestand? Dr. von Bethmann Hollweg hat kürzlich die Ant-
wort gegeben : Es war das deutsche Volk. Wer war es, der
sich weigerte, in der elsaß-lothringischen Frage nachzugeben, als, nach
Graf Czernin, sogar der Ex-Kaiser und der Ex-Kronprinz einem Kom-
promiß geneigt waren? Wieder das deutsche Volk, dem die gestohlenen
Provinzen das Symbol früheren Raubes und die Verheißung künftigen
Raubes waren. Das „Nein, niemals" des Herrn von Kühlmann war
das „Nein, niemals" des deutschen Volkes. Jeder feindliche Militär
oder Staatsmann, der gesprochen hat, hat es vollkommen klar gemacht,
daß er, mit seinem oder gegen seinen Willen, nur ein Werkzeug in der
Hand seiner Nation war, die Weltherrschaft zu erlangen. Es ist darum
die Nation, wie unsere französischen Verbündeten von Anfang an ver-
langten, die bestraft werden muß."
— 43 —
Ganz anders urteilen in England die Führer des Pazifis-
mus und sozialen Fortschritts. So schreibt
Ph. Snowden in der Vorrede zu E. D. Morels Aufsatz
über die ,, Diplomatie der Vorkriegszeit" mit Beziehung auf dessen
früheres Buch „Die Wahrheit und der Krieg" :
„Dieses während des Krieges veröffentlichte Buch hat viel dazu
beigetragen, den durch die Irreführungen und Unvvahr-
heitenderalliiertenStaatsmänner geförderten, bequemen
und selbstgefälligen Glauben zu erschüttern, daß der Krieg ausschließ-
lich durch die Treibereien des deutschen Militarismus und das ehr-
geizige Streben Deutschlands nach Weltherrschaft verursacht worden sei."
— 44 —
Anhang
Die französisch-russische Mihtärkonvention
27. Dezember 1893
vom
4. Januar 1894
1. Französischer Text des Entwurfs vom 17. August 1892
(3. französisches Gelbbuch Nr. 71)
La France et la Russie, etant animees d'un egal desir de con-
server la paix, et n'ayant d'autre but que de parer aux necessites
d'une guerre defensive, provoquee par une at aque des forces de la
Triple AUiance contre l'une ou l'autre d'entre elles, sont convenues
des dispositions suivantes:
1° Si la France est attaquee par rAllemagne, ou par l'Italic
soutenue par TAllemagne, la Russie emploiera toutes ses forces
disponibles pour attaquer rAllemagne,
Si la Russie est attaquee par TAllemagne, ou par l'Autriche
soutenue par l'Allemagne, la France emploiera toutes ses forces
disponibles pour attaquer l'Allemagne.
2° Dans le cas oü les forces de la Triple Alliance, ou d'une des
puissances qui ent fönt partie, viendraient ä se mobiliser, la France
et la Russie, ä la premiere annonce de l'evenement, et sans qu'il
soit besoin d'un concert prealable, mobiliseront immediatement
et simultanement la totalite de leurs forces, et les porteront le plus
pres possible de leurs frontieres.
3° Les forces disponibles qui doivent etre employees contre
l'Allemagne seront, du cote de la France, de 1.300.000 hommes, du
cöte de la Russie, de 700.000 ä 800.000 hommes.
Ces forces s'engageront ä fond, en toute diligence, de mani^re
que l'Allemagne ait ä lutter, ä la fois, ä Test et ä l'ouest.
4° Les Etats-majors des armees des deux pays se concerteront
en tout temps pour preparer et faciliter l execution des mesures pre-
vues ci-dessus.
Ils se communiqueront, des le temps de paix, tous les renseigne-
ments relatifs aux armees de la Triple Alliance qui sont ou par-
viendront ä leur connaissance.
Les voies et moyens de correspondre en temps de guerre seront
etudies et prevus d'avance.
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5° La France et la Russie ne concluront pas la paix
separement.
6° La presente Convention aura la meme duree que la Triple
Alliance.
7° Toutes les clauses enumerees ci-dessus seront tenues rigou
reusement secretes.
Signature du Ministre:
Signatare du Ministre:
L'Aide de camp general,
Chef de l'Etat-major general,
Signe : Obroutcheff
Le general de division,
Conseiller d'Etat,
Sous-chef d'Etat-major de l'Armec
Signe : Boisdeffre*)
2. Übersetzung
Frankreich und Rußland, gleichmäßig beseelt von dem Wunsche,
den Frieden zu erhalten, und kein anderes Ziel verfolgend, als den
Notwendigkeiten eines Verteidigungskrieges zu begegnen, der durch
einen Angriff der Streitkräfte des Dreibundes gegen die eine oder
andere der beiden Mächte veranlaßt wäre, sind über die folgenden
Abmachungen übereingekommen :
1. Wenn Frankreich durch Deutschland oder durch Italien mit
Unterstützung Deutschlands angegriffen wird, so wird Rußland
alle seine verfügbaren Kräfte zum Angriff auf Deutschland ver-
wenden.
Wenn Rußland durch Deutschland oder durch Österreich mit
Unterstützung Deutschlands angegriffen wird, so wird Frankreich
alle seine verfügbaren Kräfte zum Kampf gegen Deutschland ver-
wenden.
2. Falls die Streitkräfte des Dreibundes oder einer der Mächte
des Dreibundes mobilisiert werden sollten, werden Frankreich und
Rußland auf die erste Nachricht dieses Vorgangs und ohne daß
es eines vorhergehenden Einvernehmens bedürfte, unverzüglich
und gleichzeitig die Gesamtheit ihrer Streitkräfte mobilmachen und
sie so nahe als möglich an ihren Grenzen versammeln.
3. Die gegen Deutschland zu verwendenden verfügbaren Streit-
kräfte werden auf Seite Frankreichs 1.300.000 Mann, auf Seite
*) Cs documcnt est conserv6 dans une enveloppe portant cette annotation
autographe: „La Convention milltaire est acceptöe par la lettre de M. de Giers
<l M. de Montebello donnant force de traitö ä cette Convention."
(Sign6): Felix Faure, 15 octobre
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Rußlands 700—800.000 Mann betragen. Diese Streitkräfte werden
in aller Eile zu entscheidendem Kampfe eingesetzt werden, so daß
Deutschland gleichzeitig im Osten und im Westen zum Kampfe
gezwungen ist.
4. Die Generalstäbe der Armeen der beiden Länder werden
sich ständig ins Benehmen setzen, um die Ausführung der oben vor-
gesehenen Maßnahmen vorzubereiten und zu erleichtern.
Sie werden sich schon in Friedenszeiten alle auf die Heere des
Dreibundes bezüglichen Nachrichten mitteilen, die zu ihrer Kenntnis
gelangt sind oder noch kommen werden.
Die Mittel und Wege des Verkehrs in Kriegszeiten werden
studiert und im voraus geregelt werden.
5. Frankreich und Rußland werden keinen Sonderfrieden
schließen.
6. Die vorliegende Konvention soll solange dauern wie der
Dreibund.
7. Alle oben aufgezählten Festsetzungen sind streng geheim
zu halten.
Unterschrift des Ministers:
Unterschrift des Ministers:
Der Generaladjutant,
Chef des Generalstabes
gez.: Obroutcheff
Der Divisionsgeneral,
Staatsrat,
Unterchef des Generalstabes der Armee
gez. : Boisdeffre*)
Der endgültige Briefwechsel fand erst statt am 27. Dezember
1893 (Giers-Montebello) und 4. Januar 1894 (Montebello-Giers).
3. Die Ansicht des Sous-Chefs des französischen Generalstabes
(3. französisches Gelbbuch Nr. 71)
L'Empereur m'a parle ensuite de la mobilisation au sujet de
l'article 2.
Je lui ai fait remarquer que la mobilisation c'etait la decla-
ration de guerre; que mobiliser c'etait obliger son voisin ä en faire
autant; que la mobilisation entrainait l'execution des transports
strategiques de la concentration.
Sans cela, laiser mobiliser un million d'hommes sur sa fron-
tiere, sans en faire simultanement autant, c'etait s'interdire toute
*) Dieses Schriftstück ist aufbewahrt in einem Umschlag, der folgenden
eigenhändigen Vermerk trägt: „Die Militärkonvention ist angenommen durch
den Brief des Herrn von Giers an Herrn von Montebello, wodurch dieser Kon-
vention Vertragskraft verliehen ist." gez.: Felix Faure, 15. Oktober.
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possibilite de bouger cnsuite, et se placer dans la Situation d'un
individu qui, ayant un pistolet dans sa pociie, laisserait son voisin
lui en mettre un arme sur le front sans tirer le sicn.
,,C'est bien comme cela que je le comprends", m'a repondu
l'Empereur.
Übersetzung
Der Kaiser sprach mir sodann wegen des Artikels 2 über die
Mobilmachung.
Ich habe ihm auseinandergesetzt, daß die Mobilmachung die
Kriegserklärung ist; daß die Mobilmachung den Nachbar zwingt,
das Gleiche zu tun ; daß die Mobilmachung die Durchführung der
strategischen Transporte und des Aufmarsches nach sich zieht.
Wenn man sonst eine Million Soldaten an seiner Grenze mobil-
machen läßt, ohne gleichzeitig dasselbe zu tun, so heißt das, sich
jede spätere Bewegungsfreiheit nehmen und sich in die Lage eines
Mannes versetzen, der mit einer Pistole in der Tasche seinem Nach-
bar gestattet, ihm einen geladenen Revolver auf die Brust zu setzen.
„Das ist genau auch meine Auffassung", antwortete der Kaiser.
4. Die Ansicht des russischen Generalstabschefs
(3. französisches Gelbbuch Nr. 42)
Am 16. Juli 1892 berichtete der französische Militärattache
als Ansicht des russischen Generalstabschefs:
,,I1 entend du reste que cette mobilisation de la France et de la
Russie soit suivie immediatement d'effets actifs, d'actes de guerre,
en un mot soit inseparable d'une agression."
Übersetzung
Er ist übrigens der Ansicht, daß auf diese Mobilmachung
Frankreichs und Rußlands greifbare Wirkungen, kriegerische
Handlungen unmittelbar folgen, kurz, daß sie untrennbar von
einem Angriff sei.
Nachschrift
Nach der mir eben zugehenden Schrift ,,Le Plan 17" von
Andre Morizet blieb der französische Plan eines Aufmarsches „von
Beifort bis zur Nordsee" nur Projekt und ist nicht in Kraft getreten.
Damit werden die Fragen auf Seite 37 gegenstandslos.
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