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Full text of "Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch. Vollständige Sammlung der von Karl Kautsky zusammengestellten amtlichen Aktenstücke mit einigen Ergänzungen im Auftrage des Auswärtigen Amtes nach gemeinsamer Durchsicht mit Karl Kautsky hrsg. von Max Montgelas und Walter Schücking"

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Die  Deutschen  Dokumente 
zum  Kriegsausbruch 


Herausgegeben 
im  Auftrage  des  Auswärtigen  Amtes 


Kommentar 


Fünfter  Band: 


Kommentar 


zu  den 


Deutschen  Dokumenten 
zum  Kriegsausbruch 


Inhalt: 

1. 

B.  W.  von  Bülow 

Die  Grundlinien  der  diplomatischen 
Verhandlungen   bei   Kriegsausbruch 

2. 
Graf  Max  Montgelas 

Glossen  zu  den  Vorkriegsakten 


Deutsche  Verlagsgesellschaft  für  Politik  und 
Geschichte  m.  b.  H.  in  Berlin  W8 


Vorbemerkung  des  Verlages 

Der  Verfasser  des  ersten  Teiles  dieses  Bandes  kann  als  der  berufenste 
Fachmann  in  der  Frage  der  Schuld  am  Kriege  gelten.  Er  war  bei  Kriegsaus- 
bruch in  der  Politischen  Abteilung  des  Auswärtigen  Amtes  tätig,  besaß  persön- 
liche Beziehungen  zu  den  handelnden  und  leitenden  Personen  und  konnte  die 
Entstehung  der  einzelnen  Dokumente  aus  nächster  Nähe  verfolgen.  Während 
des  Krieges  bekleidete  er  die  Stellung  eines  politischen  Archivars.  In  diesem 
Amte  verwaltete  er  während  des  Krieges  das  gesamte  Aktenmaterial,  aus  dem 
Karl  Kautsky  nach  der  Revolution  die  „Deutschen  Dokumente  zum  Kriegs- 
ausbruch" auswählte.  Auf  Grund  dieses  langjährigen  Studiums  übertreffen 
Bülows  Kenntnisse  der  Einzelheiten  der  politischen  Vorgänge  der  letzten  Jahre 
und  Jahrzehnte  sowohl  die  der  meisten  Beamten  wie  auch  der  späteren  Forscher, 
denen  das  Urkundenmaterial  sämtlich  erst  später  bekannt  geworden  ist.  Der 
Verfasser  war  auch  Sachverständiger  und  Kommissar  bei  der  Deutschen  Friedens- 
delegation und  ständiger  Berater  des  Grafen  Brockdorff-Rantzau  in  Versailles. 
Sein  Buch  gibt  ein  klares  und  jedermann  verständliches  Bild  des  diplomatischen 
Verlaufes  der  Krisis,  die  zum  Weltkriege  führte.  Obwohl  es  alle  bekannten 
amtlichen  Urkunden  berücksichtigt,  stellt  es  doch  in  erster  Linie  einen  Führer 
durch  die  verwirrende  Fülle  des  Aktenmaterials  dar,  das 
von  Kautsky,  Montgelas  und  Schücking  herausgegeben  wurde.  Bisher  wurden  die 
politischen  Vorgänge  bei  Ausbruch  des  Krieges  fast  ausschließlich  unter  dem  Ge- 
sichtswinkel der  Schuld  einzelner  Personen  oder  Regierungen  erörtert.  Die  Frage 
der  diplomatischen  Zusammenhänge  ist  nur  recht  ungenügend  behandelt  worden. 
Gerade  zur  Beurteilung  der  Frage  der  Verantwortlichkeit  ist  aber  eine  richtige 
Erkenntnis  des  Ineinandergreifens  der  verschiedenen  diplomatischen  Aktionen 
in  den  kritischen  13  Julitagen  unerläßlich.  Aus  ihnen  allein  vermag  man  das 
Wollen  der  verantwortlichen  Staatsmänner  zu  erkennen  und  zu  ermessen,  ob 
und  wie  weit  sie  sich  schuldig  gemacht  haben.  In  dieser  Schrift  werden  die  Fragen 
des  Willens  zum  Kriege  in  den  einzelnen  Ländern,  des  Defensiv-  und  Präventiv- 
krieges, eingehend  erörtert.  Das  Schicksal  der  verschiedenen  Vermittlungs- 
vorschläge, ihr  zeitlicher  und  örtlicher  Verlauf^  wird  restlos  aufgeklärt.  Vor 
allem  aber  wird  gezeigt,  was  an  den  diplomatischen  Verhandlungen  wesentlich 
und  bedeutungsvoll  war  und  was  nur  als  Beiwerk  auzusehen  ist.  Die  Darstellung 
klärt  die  Zwangsläufigkeit  der  meisten  politischen  Ge- 
schehnisse auf  und  weist  die  Grenzen  nach,  die  dem  bewußten  Handeln 
der  Regierenden  gezogen  sind.  In  einem  Schlußwort  wird  die  Frage  der  Ver- 
antwortlichkeit aer  deutschen  Staatsmänner  vor  dem  Ausland  in  einen 
Gegensatz  zu  ihrer  Verantwortlichkeit  vordem  eigenen  Volke  gestellt, 
eine  Unterscheidung,  auf  die  im  Zeitalter  des  Versailler  Friedens  besonders 
hingewiesen  werden  muß. 

Verfasser  des  zweiten  Teiles  dieses  Kommentarbandes  ist  Graf  Montgelas, 
der  Mitherausgeber  der  „Deutschen  Dokumente  zum  Kriegsausbruch".  Er 
gibt  in  seiner  Schrift  eine  Antwort  auf  das  Buch,  das  Karl  Kautsky,  der  ur- 
sprüngliche Bearbeiter  des  amtlichen  deutschen  Aktenmaterials,  über  diese 
Dokumente  verfaßt  hat.  Diese  erste  Buchveröffentlichung  des  Grafen  Mont- 
gelas zur  Schuldfrage  ist  geeignet,  die  einseitige  Darstellung  Karl  Kautskys 
in  wesentlichen  Punkten  zu  widerlegen.  Kautskys  Schrift  kann  nach  der  Unter- 
suchung des  Grafen  Montgelas  nicht  als  das  Ergebnis  unparteiischer  Forscher- 
tätigkeit gewertet  werden.  Was  der  Montgelasschen  Schrift  besondere  Be- 
deutung verleiht,  ist  die  Tatsache,  daß  ihr  Verfasser  die  Kautskysche  Darstellung 
ohne  persönliche  Angriffe  in  völlig  unpolemischer  Form  und  in  vornehmstem 
Tone  widerlegt. 


Die  Grundlinien 

der  diplomatischen  Verhandlungen 

bei  Kriegsausbruch 


Von 

B.  W.  von  Bülow 


Deutsche  Verlagsgesellschaft  für  Politik  und 
Geschichte  m.  b.  H.  in  Berlin  W8 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

Vorbemerkung 9 

I.  Die  Weltlage  1914     13 

II.  Der  österreichisch-serbische  KonfHkt 16 

1.  Zur   Vorgeschichte     der    österreichisch -serbischen 
Krise 16 

2.  Die  Folgen  der  Ermordung  des  Erzherzog-Thron- 
folgers    17 

3.  Deutschlands  Stellungnahme 23 

4.  Die  Haltung  der  Dreiverbandsmächte     39 

5.  Serbiens  Antwortnote 41 

III.  Das  Verhalten  der  Mächte 46 

1.  Der  deutsche  Lokalisierungsvorschlag 46 

A.  Die  deutsche  Auffassung 46 

B.  Die  Aufnahme  in  Frankreich 47 

C.  Die  Aufnahme  in  England 48 

D.  Die  Aufnahme  in  Rußland 48 

2.  Rußlands    Stellungnahme    zum    austro-serbischen 
Konflikt 49 

A.  Aufnahme  der  österreichisch-ungarischen  Note 

in  Petersburg 49 

B.  Der  russische  Europäisierungsvorschlag     ...  50 

C.  Die  Gefahren  der  russischen  Haltung    ....  51 

3.  Englands    Stellungnahme    zum    austro-serbischen 
Konflikt 53 

4.  Frankreichs  Stellungnahme  zum  austro-serbischen 
Konflikt 59 


D98694 


8 

Seite 

IV.  Der  österreichisch-russische  Konflikt 62 

1.  Direkte  Besprechungen  zwischen  Wien  und  Peters- 
burg        62 

2.  Vermittlungsvorschläge 63 

3.  Rußlands  Unnachgiebigkeit 75 

V.  Die  deutsch-russische  Krise     78 

1.  Die  Gefahren  militärischer  Maßnahmen 78 

2.  Die  russische  Teilmobilmachung 80 

3.  Die  russische  Gesamtmobilmachung      85 

VI.  Die  deutsch-französische  Krise 96 

1 .  Frankreichs  Haltung  in  der  deutsch-russischen  Krise  96 

2.  Französische  Kriegsvorbereitungen 97 

3.  Die  Kriegserklärung  an  Frankreich 100 

VII.  Die  Haltung  Englands 103 

1.  Deutsch-englische  Vermittlungstätigkeit 103 

2.  England  und  Rußland 106 

3.  England  und  Frankreich 109 

4.  Englands  Kriegserklärung  an  Deutschland     ...  112 
VIII.  Die  Frage  der  Verantwortlichkeit 115 

1.  Der  Standpunkt  der  deutschen  Regierung  von  1914  115 

2.  Der  Dreiverband 116 

3.  Schlußbetrachtung 117 


Vorbemerkung 


Die  Erörterung  der  Schuld  am  Ausbruch  des  Krieges  ist  durch 
die  VeröffentHchung  des  deutschen  und  österreichisch-ungarischen 
Aktenmaterials  in  ein  neues  Stadium  getreten.  Urkunden  allein 
vermögen  zwar  kein  vollständiges  Bild  der  Geschehnisse  zu  geben 
und  die  treibenden  Kräfte  und  Motive  der  Staatsmänner  nur  zum 
Teil  zu  enthüllen.  Immerhin  kann  man  aber  auf  Grund  einer 
vollständigen  Aktenkenntnis  der  Wahrheit  ein  gutes  Stück  näher- 
kommen , 

Andererseits  wirkt  die  Fülle  des  Materials  verwirrend.  Heute 
liegen  der  Öffentlichkeit  über  900  deutsche  Urkunden  aus  der 
Zeit  der  Krisis  von  1914  vor;  ferner  350  österreichisch-ungarische. 
Diesen  stehen  400  Dokumente  der  Ententemächte  gegenüber. 
Von  vielen  der  letzteren  ist  bekannt,  daß  sie  verfälscht  sind. 
Keins  der  früheren  Farbbücher  gab  ein  wahrheitsgetreues  Bild 
der  Begebenheiten  des  Juli  1914.  Sie  sind  alle  mit  einer,  be- 
stimmten, mehr  oder  weniger  offenbaren  Tendenz  zusammen- 
gestellt, um  die  Haltung  der  eigenen  Regierung  zu  rechtfertigen 
und  den  Gegner  zu  belasten.  Gegenüber  den  Schönfärbereien 
der  Buntbücher  müssen  natürlich  die  vollständigen  Berliner 
und  Wiener  Aktensammlungen  sehr  ungünstig  wirken,  da  sie 
einen  unverhüllten  Einblick  in  die  Werkstätten  der  ,, Staatskunst" 
gewähren,  in  denen  wir  reichlich  viel  Schmutz  und  Unrat  erblicken. 
Die  Leser  der  deutschen  Aktenveröffentlichungen  können  sich 
aber  überzeugen,  daß  es  in  Paris,  Petersburg  und  London  nicht 
reinlicher  zugegangen  ist,  als  in  Berlin,  und  daß  vielleicht  die 
dort  geübten  Methoden  die  der  deutschen  Staatsmänner  an  Frag- 
würdigkeit um  vieles  übertrafen.  Das,  was  wir  gesehen  haben, 
als  Pokrowski*)  ein  wenig  den  Vorhang  lüftete,  berechtigt  zu 
diesem  Schluß. 


*)  Veröffentlichungen  in  der  Prawda  vom  23.  2.,  6.  und  9.  3.  1919.  Siehe 
deutsche  Denkschrift  über  die  Schuldfrage,  Versailles,  den  27.  Mai  1919, 
Anl.  XI. 


10 

Die  Veröffentlichung  des  deutschen  Aktenmaterials  wird 
keineswegs  den  Streit  der  Meinungen  über  die  Schuldfrage  zum 
Schweigen  bringen.  Aus  900  Dokumenten  kann  jedermann 
leicht  eine  Zusammenstellung  der  Urkunden  machen,  die  seine 
vorgefaßte  Meinung  zu  rechtfertigen  scheinen.  Für  einen  Kenner 
des  gesamten  Materials  wäre  es  eine  Kleinigkeit,  fünf  oder  mehr 
verschiedene  Darstellungen  der  diplomatischen  Hergänge  des 
Juli  1914  zu  schreiben  und  sie  ,, überzeugend"  mit  Material  zu 
belegen.  Eine  dieser  Versionen  hat  in  weitherziger  Auslegung 
der  mit  Ablegung  des  Beamteneides  von  ihm  übernommenen 
Verpflichtungen  Karl  Kautsky  zugleich  mit  der  deutschen  Akten- 
sammlung erscheinen  lassen.  Der  Geschäftssinn  von  Journalisten 
und  Verlegern  sorgte  dafür,  daß  die  ewig  sensationslüsterne  Mit- 
welt, die  stets  bereit  ist,  Deutschland  Ungünstiges  ihr  Ohr  zu 
leihen,  die  Auffassung  Kautskys  vernahm,  ehe  sie  Gelegenheit 
hatte,  sich  selbst  ein  Urteil  zu  bilden. 

Der  Streit  der  Meinungen  über  die  Entstehung  des  Welt- 
krieges wird  zu  unseren  Lebzeiten  nie  zur  Ruhe  kommen,  und 
wir  Deutschen  können  und  dürfen  die  Erörterung  dieser  Frage 
nicht  einschlafen  lassen,  da  der  Friedensvertrag  von  Versailles, 
der  unsere  Zukunft  bestimmt,  auf  dem  erzwungenen  Geständnis 
von  Deutschlands  alleiniger  Schuld  am  Kriege  aufgebaut 
ist.  Jede  Aussicht  auf  Revision  des  Vertrages  ist  bedingt  von  der 
Möglichkeit,  diesen  Grundpfeiler  des  ,, Straffriedens"  zu  er- 
schüttern. 

Die  Aufgabe  der  folgenden  Schrift  ist  nicht,  eine  Lesart  des 
deutschen  Aktenmaterials  zu  geben ;  sie  soll  vielmehr  dem  Ver- 
such dienen,  die  Prüfung  des  Materials  vom  Buchstaben  loszu- 
lösen, die  diplomatisch  wichtigsten  Vorgänge  herauszugreifen 
und  den  Rahmen  der  Erörterung  so  weit  zu  stecken,  daß  eine 
objektive  Beurteilung  der  Vorgänge  bei  Kriegsausbruch  möglich 
wird.  Von  dem  Nachwort  abgesehen,  sind  Schlußfolgerungen 
vermieden  worden,  wo  sie  entbehrt  werden  konnten.  Absichtlich 
ist  stets  nur  voraugustischen  Anschauungen  Rechnung  getragen 
worden,  denn  dies  ist  für  eine  gerechte  Würdigung  der  Gescheh- 
nisse erforderlich.  Daß  die  deutsche  Regierung  1914  nicht  aus 
Pazifisten  zusammengesetzt  war,  ist  bekannt.  Ihr  dies  nachträglich 
zum  Vorwurf  zu  machen,  wäre  ungerecht.  Die  Regierungen 
unserer  Gegner  waren  ebensowenig,  und  noch  viel  weniger,  pazi- 
fistisch. Jede  Schuldfrage  ist  relativ,  nicht  absolut.  Für  die 
Beurteilung  politischer  Handlungen  gibt  es  kein  Strafgesetzbuch. 
Pazifisten,  die  der  Wechsel  der  Zeiten  zum  Richter  der  früher 
Regierenden  erhoben  hat,  können  auch  beim  besten  Willen  nur 
ungerecht  urteilen.     Schuld  und   Unschuld  lassen  sich   niemals 


11 

von  einer  Welt-  und  Lebensauffassung  ableiten,  sondern  nur  mit 
Handlungen  und  Unterlassungen  begründen. 

Dem  Zwecke  der  Klärung  der  Frage  der  Verantwortlichkeit 
soll  diese  Schrift  nur  in  letzter  Linie  dienen.  Ihr  Ziel  ist,  die  Er- 
kenntnis der  Zusammenhänge  zu  fördern.  Lehren  für  die  Zukunft 
aus  den  heißen  Julitagen  1914  zu  ziehen,  ist  der  Sinn  und  End- 
zweck jeder  geschichtlichen  und  politischen  Untersuchung  der 
Vorgänge  bei  Kriegsausbruch.  Je  eher  diese  begonnen  wird, 
desto  besser.  Grundlage  der  Erkenntnis  ist  aber  das  Streben 
nach  Wahrheit. 


I.  Die  Weltlage  1914 


Das  Vorgehen  von  Deutschlands  Gegnern,  als  sie  t  ünf  Jahre 
lang  die  These  verfochten,  der  Weltkrieg  habe  Europa  im  tiefsten 
Frieden  überrascht,  zeugt  von  einem  weitgehenden  Verständnis 
für  propagandistische  Grundregeln  und  beweist  den  Erfolg  von 
Kontrastwirkungen  bei  geschickter  Darstellung.  Es  zeugt  auch 
von  der  Gedankenlosigkeit  der  Menschen;  denn  die  Behauptung, 
das  Jahr  1914  habe  eine  friedlich-stille  Welt  vorgefunden,  ist 
ganz  falsch,  wie  jedermann  auf  Grund  seiner  eigenen  Erinnerungen 
selbst  feststellen  kann.  Die  Balkankriege,  die  fast  zu  einer  euro- 
päischen Konflagration  geführt  hätten,  waren  eben  erst  vorüber. 
Ihr  äußerer  Abschluß,  der  Bukarester  Frieden,  datiert  vom  10.  Au- 
gust 1913.  Im  Verlauf  der  durch  die  Balkankriege  hervorgerufenen 
Krisis  hat,  wie  wir  heute  aus  den  serbischen  Archiven*)  wissen, 
„eine  kompetente  Persönlichkeit"  dem  serbischen  Gesandten  in 
Paris  gesagt,  der  europäische  Krieg  sei  „mit  gewissen  moralischen 
Opfern  für  jetzt  vermieden  worden".  Hierfür  sei  unter  anderem 
der  Wunsch  maßgebend  gewesen,  ,,den  Balkanverbündeten  Ge- 
legenheit zur  Erholung,  Sammlung  und  Vorbereitung  für  Even- 
tualitäten, die  in  einer  nicht  fernen  Zukunft  eintreten  könnten,, 
zu  gewähren".  (Bericht  des  serbischen  Gesandten  in  Paris,  Nr.  177, 
vom  9.  4.  1913.)  Bereits  im  Jahre  1911  hat  der  französische  Bot- 
schafter in  London,  Paul  Cambon,  dem  damaligen  serbischen 
Geschäftsträger  erklärt,  der  europäische  Krieg  sei  nur  um  drei 
bis  vier  Jahre  aufgeschoben  worden,  denn  Frankreich  und  seine 
Verbündeten  seien  der  Ansicht,  daß  der  Krieg,  selbst  um  den  Preis 
größerer  Opfer,  auf  einen  entfernteren  Zeitraum,  ,,d.  h.  auf  1914 
bis  1915",  verschoben  werden  müsse  (Bericht  des  serbischen 
Geschäftsträgers  in  London,  Nr.  144,  vom  21.  9.  1911).  Die 
russische  Regierung  hat  unablässig  Serbien  auf  einen  kommenden 
Weltkrieg  hingewiesen.    „Serbien  hat",  schrieb  Sasonow  am  6.  Mai 


*)  Anlage  VI  der  vorbenannten  deutschen  Denkschrift  vom  27.  5.  1919, 


14 

1913  an  Hartwig,  „erst  das  erste  Stadium  seines  historischen 
Weges  durchlaufen.  Zur  Erreichung  seines  . . .  Zieles  muß  es  noch 
einen  furchtbaren  Kampf  aushalten,  bei  dem  seine  ganze  Existenz 
in  Frage  gestellt  ist.  Serbiens  verheißenes  Land  liegt  im  Gebiet 
des  heutigen  Österreich-Ungarn."  Es  möge  sich  ,,in  zäher  und 
geduldiger  Arbeit  mit  dem  erforderlichen  Grad  der  Bereitschaft 
für  den  in  Zukunft  unausweichlichen  Kampf  versetzen".  Auch 
der  russische  und  französische  Gesandte  in  Bukarest  rieten  Serbien, 
seine  Kräfte  zu  sammeln,  „um  möglichst  vorbereitet  die  gewich- 
tigen Ereignisse  zu  erwarten,  die  unter  den  Großmächten  eintreten 
müssen".  (Telegramm  des  serbischen  Gesandten  in  Bukarest 
vom  26.  11.  1912.)  ,, Wiederum  sagte  Sasonow,"  nach  dem  Tele- 
gramm des  serbischen  Gesandten  in  Petersburg  vom  12.  Mai  1913, 
,,daß  wir  (Serben)  für  die  zukünftige  Zeit  arbeiten  müssen,  wenn 
wir  viel  Land  von  Österreich-Ungarn  bekommen  werden." 

So  sah  der  Frieden  Europas  aus.    Entsprechend  hat  das  Jahr 

1914  begonnen.  Am  7.  Januar  unterbreitete  Sasonow  dem  Zaren 
ein  Memorandum,  in  dem  er  vorschlug,  die  Türkei  gewaltsam, 
nämlich  durch  eine  ,, ernste  militärische  Aktion  und  die  Besetzung 
türkischer  Häfen"  an  der  Reorganisation  ihrer  Armee  mit  Hilfe 
der  deutschen  Militärmission  zu  hindern.  Dabei  rechnete  er  darauf, 
daß  Deutschland  der  Türkei  aktiv  beistehen  werde.  Er  wollte 
einen  Ministerrat  einberufen,  ,,der  darüber  zu  beraten  haben  würde, 
ob  Rußland  für  die  Eventualität  militärischer  Aktionen  bereit 
sei,  unter  der  Voraussetzung,  daß  es  von  Frankreich  mit  allen 
Kräften  unterstützt  werde,  und  auch  England  ihm  tatkräftig 
beistehe".  (Denkschrift  vom  27.  5.  1919,  Anlage  IX.)  In  ihrer 
Sitzung  vom  14.  Januar  1914  beschloß  die  Stadtverwaltung  von 
Paris,  mit  Hilfe  namhafter  Aufwendungen,  in  die  sie  sich  mit  den 
Militärbehörden  geteilt  hat,  die  Mehlvorräte  von  Paris  so  weit 
zu  erhöhen,  daß  die  Stadt  während  der  Verkehrssperre  einer 
Mobilmachung  keinen  Mangel  zu  leiden  brauche.  Der  Militär- 
gouverneur von  Paris,  General  Michel,  erklärte  anläßlich  dieser 
Beratung:  „Die  Zeit  drängt.  Dieses  Jahr  ist  ein  ganz  besonderes 
Jahr.  Wir  wissen  nicht,  was  es  uns  bringen  wird.  Wir  wissen 
nicht,  ob  wir  nicht  die  Mobilmachung  im  März  oder  April  haben 
werden,"*) 

Rußland  bewilligte,  ebenfalls  im  Januar,  15  Millionen  Rubel 
für  die  Ausrüstung  der  montenegrinischen  Truppen  mit  Artillerie 
und  Kriegsmaterial,  weitere  4  Millionen  für  die  Versorgung  des 
montenegrinischen  Heeres  und  eine  halbe  Million  für  russische 
Instrukteure  (Bericht  des  russischen  Geschäftsträgers   in   Cetinje 


*)  Siehe  die  Mitteilungen  des  Botscliafters  von  Schoen,  Berliner  Lokal- 
anzeiger vom  21,  12.  1918,  Nr.  646. 


15 

vom  23.  2.  1914,  Boghitschewitsch,  Kriegsursachen,  S.  122).  Am 
21.  Februar  fand  in  Petersburg  ein  erweiterter  Ministerrat  statt, 
in  dem  die  Vorbereitung  einer  Aktion  zur  Eroberung  der  Darda- 
nellen beraten  wurde.  Es  sind  damals  militärische  Maßnahmen 
hierfür  beschlossen  worden,  obwohl  sich  die  Teilnehmer  an  dieser 
geheimen  Sitzung  darüber  klar  waren,  daß  eine  Aktion  wie  die 
geplante  nur  im  Rahmen  eines  europäischen  Krieges  unternommen 
werden  könne.  Dem  russischen  Ministerium  des  Äußeren  wurde 
die  Aufgabe  gestellt,  in  zielbewußter  Arbeit  einen  günstigen 
politischen  Boden  für  den  geplanten  Angriff  vorzubereiten.  Daß 
die  militärischen  Vorbereitungen  gut  vorschritten,  wurde  auch 
der  nicht  eingeweihten  Öffentlichkeit  in  den  Auslassungen  des 
Kriegsministers  Suchomlinow  in  der  Birschewija  Wjedomosti 
vom  12.  März  und  vom  13.  Juni  mitgeteilt. 

Anfang  Mai  eröffnete  die  französische  Regierung  ganz  unver- 
mittelt in  Bern  Verhandlungen  über  die  Versorgung  der  Schweiz 
mit  Lebensmitteln  im  Falle  eines  europäischen  Krieges*).  Im 
Mai  und  Juni  schließlich  wurden  in  London  die  bekannten  Ver- 
handlungen zwischen  England  und  Rußland  über  den  Abschluß 
einer  Marine- Konvention  geführt,  die  sich  gegen  Deutschland 
richtete. 

Daß  die  Julikrisis  1914  aus  diesem  Boden  erwachsen  ist, 
zeigt  auch  das  neue  deutsche  Weißbuch.  Obwohl  es  die  weitere 
Vorgeschichte  des  Krieges  nicht  behandelt,  da  diese  einem  späteren 
Bande  vorbehalten  blieb,  so  beginnt  es  doch  mit  dem  zweiten  der 
berüchtigten  Zeitungsartikel  Suchomlinows  (Nr.  1,  2  und  3)  und 
zeigt  auch  deutlich  die  Beunruhigung  der  deutschen  Regierung 
über  die  englisch-russischen  Verhandlungen  (Nr.  3,  5.  6,  56). 

Die  vorstehende  Skizze  kann  natürlich  das  Bild  der  damaligen 
Weltlage  keineswegs  erschöpfen.  Es  fehlen  in  erster  Linie  die 
diesbezüglichen  deutschen  Akten.  Die  wenigen  Beispiele  genügen 
aber,  um  zu  zeigen,  daß  Europa  durchaus  nicht  das  Bildjeines 
friedlichen  Idylls  darstellte,  ein  Idyll,  das  erst  durch  einen  plötz- 
lichen Überfall  Deutschlands  auf  die  europäische  Kulturwelt 
zerstört  wurde. 

Es  kann  uns  nicht  obliegen,  die  Erklärung  für  die  mannig- 
fachen militärischen  Maßnahmen  der  Entente  im  Jahre  1914  zu 
geben  und  ihre  Vorbereitungen  auf  einen  nahen  Krieg  zu  be- 
gründen. Dies  bleibt  Aufgabe  unserer  Gegnfer.  Aber  heute  be- 
reits kann  man  sagen,  daß  die  Entente  nicht  in  der  Lage  sein  wird, 
ihre  Haltung  mit  der  Angst  vor  aggressiven  Absichten  Deutsch- 
lands zu  begründen,  denn  Deutschland  hat  keine  analogen  Maß- 


•=)  Siehe  Schoen,  a.  a.  0. 


16 

nahmen  getroffen.  Die  Schuldkommission  der  Pariser  Friedens- 
konferenz hat  in  dieser  Hinsicht  keine  andere  Anschuldigung 
aufbringen  können,  als  die,  daß  der  deutsche  Kaiser  „schon  viele 
Monate  vor  der  im  Juli  1914  zum  Ausbruch  gekommenen  Krisis" 
aufgehört  habe,  ,,als  Schutzherr  des  Friedens  aufzutreten".  In 
bemerkenswertem  Kontrast  zu  den  Maßnahmen  der  Entente 
steht  das  Schreiben  des  deutschen  Armee-Verwaltungs-Departe- 
ments an  die  Intendantur  des  XV.  Armeekorps  vom  9.  Juli  1914*), 
demzufolge  die  vorschriftsmäßige  Verproviantierung  der  Festungen 
Straßburg  und  Neubreisach  bis  zum  1.  April  1915  hinausgeschoben 
wurde. 


IL  Der  österreichisch-serbische  Konflikt 


1.  Zur  Vorgeschichte  der  österreichisch-serbischen  Krise 

Die  Krisis,  die  zum  Weltkriege  geführt  hat,  ist  aus  dem 
österreichisch-serbischen  Konflikte  hervorgegangen,  der,  seit 
langem  latent,  infolge  der  Ermordung  des  Erherzog-Thronfolgers 
Franz  Ferdinand  und  seiner  Gemahlin  zum  Ausbruch  kam  und  zur 
Überreichung  der  Note  vom  23.  Juli  1914  führte.  Die  Vorgeschichte 
dieser  Note  beginnt  nicht  mit  dem  Attentate  von  Sarajevo,  auch 
nicht  mit  der  bosnischen  Annexionskrise  von  1908/09,  wie  es  von 
gegnerischer  Seite  meist  dargestellt  wird,  sondern  reicht  weiter 
zurück.  Man  muß  auf  die  Spannung  in  den  austro-serbischen 
Beziehungen  zurückgehen,  die  1903  bei  der  Thronbesteigung 
König  Peters  einsetzte,  nachdem  schon  unter  dessem  Vorgänger 
Alexander  nach  dem  Rücktritt  König  Milans  im  Jahre  1889  die 
Beziehungen  Österreich-Ungarns  zu  Serbien  die  frühere  Herzlich- 
keit eingebüßt  hatten. 

Am  1.  März  1906  brach  ein  Zollkrieg  zwischen  Österreich- 
Ungarn  und  Serbien  aus,  der  sich  nach  kurzer  Unterbrechung 
durch  ein  Handelsprovisorium  bis  zum  1.  September  1908  fort- 
setzte und  sich  für  die  Zeit  vom  1.  April  1909  bis  zum  24.  Januar 
1911  in  verschärfter  Form  wiederholte.  Diese  handelspolitischen 
Konflikte  gaben  den  Serben  nicht  nur  zur  wirtschaftlichen  Emanzi- 
pation von  Österreich-Ungarn  Anlaß,  sondern  auch  zur  handels- 
und  verkehrspolitischen  Annäherung  an  den  werdenden  Vier- 
verband. 


*)  Helfferich,  Vorgeschichte  des  Weltkrieges,  S.  184. 


17 

Die  Loyalitätserklärung  Serbiens  vom  31.  März  1909  blieb 
auf  dem  Papier.  Zwar  haben  der  Friedjung-Prozeß  und  der 
Agramer  Hochverratsprozeß  von  1909  nicht  zur  Überführung 
Schuldiger  und  zur  Entlarvung  der  Urheber  der  großserbischen, 
gegen  den  Bestand  der  Donau-Monarchie  gerichteten  Bewegung 
geführt.  Ziel  und  Ursprung  dieser  Bestrebungen  lassen  sich  aber 
deutlich  aus  dem  seither  veröffentlichten  serbischen  und  russischen 
Urkundenmaterial  erkennen. 

Obwohl  Österreich-Ungarn  durch  die  Räumung  und  Nicht- 
wiederbesetzung  des  Sandschaks  auch  Serbien  gegenüber  Ent- 
gegenkommen bewies  und  die  durch  den  Bukarester  Frieden  vom 
10.  August  1913  erfolgte  erhebliche  Machtsteigerung  Serbiens 
schließlich  ruhig  hinnahm,  trieb  letzteres  seine  dem  ausdrück- 
lichen Willen  der  Großmächte  widersprechenden  albanischen 
Aspirationen  schon  im  Herbst  1913  wieder  so  weit,  daß  ein  auf 
acht  Tage  befristetes  Ultimatum  erforderlich  wurde.  Weitere 
feindliche  Handlungen  lassen  sich  für  die  erste  Hälfte  des  Jahres 
1914  ermitteln*). 

Die  ganze  Außenpolitik  Serbiens  basierte,  wie  sich  heute  nach- 
weisen läßt,  damals  aber  schon  offenbar  geworden  war,  auf  der 
Hoffnung,  bei  einer  künftigen  Aufteilung  Österreich-Ungarns 
große  Gebietsteile  des  Nachbarstaates  zu  erwerben.  In  diesen 
Hoffnungen  wurde  Serbien  von  Rußland  bestärkt,  und  zwar  nicht 
allein  von  panslawistischen  Kreisen,  sondern  auch  von  den  ver- 
antwortlichen Leitern  der  russischen  Politik.  Auf  Grund  dieses 
großserbischen  Programms  wurde  von  Belgrad  aus  in  Österreich 
und  Ungarn  eine  intensive  Propaganda  betrieben,  welche  die  Los- 
reißung der  Serbien  von  Rußland  in  Aussicht  gestellten  Gebietsteile 
anläßlich  des  mit  Sicherheit  erwarteten  kriegerischen  Konfliktes 
vorbereiten  sollte. 


2.  Die  Folgen  der  Ermordung  des  Erzherzog-Thronfolgers 

Der  Mord  von  Sarajevo  war  eine  unmittelbare  Folge  der 
serbischersei ts  seit  Jahren  offen  betriebenen,  von  der  serbischen 
Regierung  unterstützten  großserbischen  Propaganda.  Er  wurde 
durch  aktive  serbische  Beamte  und  Offiziere  angestiftet,  be- 
günstigt und  ermöglicht.  Ein  serbischer  Major  händigte  den 
Attentätern  Waffen  aus  serbischen  Armeebeständen  aus,  übte  sie 
in  deren  Gebrauch  und  versah  sie  mit  Reisemitteln.  Ein  Beamter 
im  serbischen  Eisenbahnministerium  bestimmte  ihren  Reiseweg 
nach  Sarajevo.     Serbische  Grenzbeamte  ermöglichten  den  heim- 


^)  Siehe  Hashagen,  Umrisse  der  Weltpolitik,  Bd.  II,  S.  125  ff. 


18 

liehen  Übertritt  der  Attentäter  auf  österreichisch-ungarisches 
Gebiet  und  sorgten  für  das  Herüberschmuggeln  der  Mordwaffen. 
Die  österreichisch-ungarische  Regierung  hat  die  serbischen 
Treibereien  die  längste  Zeit  gewähren  lassen.  Als  aber  die  Gefahren 
und  Schäden  der  großserbischen  Propaganda  durch  den  Mord 
von  Sarajevo  aller  Welt  offenbar  geworden  waren,  entschloß  sie 
sich  zu  einem  Vorgehen  in  Belgrad.  Niemand  erwartete  etwas 
anderes.  Der  belgische  Gesandte  in  Berlin,  ein  gewiß  unver- 
dächtiger Zeuge,  berichtete  am  2.  Juli  1914: 

„Das  Kabinett  Paschitsch,  das  die  Augen  schloß,  um  den  Herd 
anarchistischer  Propaganda  in  Beigrad  nicht  zu  sehen,  darf  nicht  überrascht 
sein,  daß  man  von  ihm  verlangt,  energisch  gegen  die  Schuldigen  vorzugehen, 
anstatt  sie  immer  weiter  mit  blinder  Duldung  zu  behandeln."  (Belgische 
Aktenstücke  1905-1914,  Nr.  119.) 

Die  Österreichisch-ungarische  Regierung  zögerte  ganz  un- 
gebührlich mit  dem  erwarteten  Schritt  und  verlor  dadurch  viel  von 
der  moralischen  Unterstützung,  die  ihr  unter  dem  frischen  Ein- 
druck der  allgemein  verabscheuten  Mordtat  sicher  gewesen  wäre. 
Die  öffentliche  Meinung  Europas,  die  eine  aus  dem  ersten  Impuls 
geborene  Sühneaktion  geduldet  hätte,  auch  wenn  hierbei  sehr 
scharfe  Bedingungen  gestellt  wurden,  war  weniger  geneigt,  sich 
mit  einem  Vorgehen  abzufinden,  welches  offensichtlich  kaltüber- 
legter politischer  Berechnung  entsprang.  Daß  man  sich  in  Wien 
zu  einem  Vorgehen  gegen  Serbien  entschlossen  hatte,  war  freilich 
aller  Welt  aus  den  Reden  Tiszas  im  Abgeordnetenhause  vom 
8.  und  vom  15.  Juli  1914  bekannt.  Am  15.  Juli  antwortete  der 
ungarische  Ministerpräsident  auf  eine  Interpellation:  Die  Be- 
ziehungen zu  Serbien  müßten  geklärt  werden;  er  könne  sich  aber, 
da  die  Frage  in  der  Schwebe  sei,  über  die  Methode  noch  nicht 
definitiv  äußern.  Der  serbischen  Regierung  war  hierdurch  bekannt 
gegeben,  daß  ihr  Forderungen  gestellt  werden  würden.  Deren 
Formulierung  erfolgte  aber  erst  am  19.  Juli  1914. 

Das  Wiener  Kabinett  hat  der  serbischen  Regierung  somit 
sehr  ausreichende  Zeit  gelassen,  ihrerseits  etwaigen  österreichisch- 
ungarischen Schritten  dadurch  zuvorzukommen,  daß  sie  aus 
eigenem  Antriebe  gegen  die  an  dem  Morde  des  Erzherzog-Thron- 
folgers Mitschuldigen  vorging  und  Maßnahmen  traf,  die  eine  Ge- 
währ für  die  Zukunft  boten.  Nichts  dergleichen  geschah*).  Der 
Anstiftung  des  Mordes  dringend  Verdächtige  konnten  rechtzeitig 
aus   Belgrad   verschwinden,   ohne   daß   die   serbischen    Behörden 


*)  Die  von  Ententeseite  oft  hervorgehobene  Erklärung  Jovanowitsch' 
an  Macchio  vom  30.  Juni  (serbisches  Blaubuch  Nr.  5)  erfolgte  nicht  im 
Auftrag  der  serbischen  Regierung  und  ist  nur  als  Kondolenzbesuch  zu 
bewerten. 


19 

ihnen  nachstellten.  Serbischerseits  ist  der  Einwand  erhoben 
worden,  die  österreichisch-ungarische  Regierung  habe  während 
dieser  Zeit  keinerlei  Ersuchen  an  Serbien  gerichtet,  in  Belgrad  eine 
Untersuchung  einzuleiten,  und  daß  ihr  auch  nicht  die  Ergebnisse 
der  Vernehmung  der  Attentäter  in  Sarajevo  amtlich  mitgeteilt 
worden  seien.  Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  aus  den  Mitteilungen 
der  Presse  aller  Welt  bekannt  war,  daß  die  Fäden  der  Verschwörung, 
der  der  Erzherzog-Thronfolger  zum  Opfer  fiel,  nach  Belgrad  führten. 
Auch  hat  der  österreichisch-ungarische  Geschäftsträger  in  Belgrad 
bereits  am  30.  Juni  auf  dem  Ministerium  des  Äußern  angefragt, 
welche  Schritte  seitens  der  serbischen  Polizei  ergriffen  worden 
seien  (Rotbuch  1914,  Nr.  2,  Weißbuch  Nr.  12). 

Die  serbische  Regierung  unternahm  keinerlei  derartigen 
Schritte.  Serbien  bekundete  auch  nicht  den  Willen,  dem  Nachbar- 
staate so  weit  entgegenzukommen,  wie  dies  der  Anstand  im  inter- 
nationalen Verkehr  geboten  hätte.  Während  der  ersten  drei 
Wochen  des  Juli  1914  hallten  die  serbischen  Blätter  von  Schmä- 
hungen gegen  Österreich-Ungarn  wieder,  während  kaum  eine 
Stimme  laut  wurde,  welche  mehr  als  ein  formelles  Bedauern  für 
die  nationale  Trauer  der  Donau-Monarchie  aussprach.  Die  ser- 
bische Regierung  ihrerseits  hat  weder  Rechtshilfe  angeboten, 
noch  irgend  einen  Versuch  unternommen,  den  beleidigenden 
Hetzereien  gegen  den  Nachbarstaat  entgegenzutreten.  Die  Mit- 
glieder der  Regierung  wetteiferten  auf  ihren  Wahlreisen  mit  den 
Abgeordneten  aller  Parteien  in  Kundgebungen  der  Feindschaft 
und  Unnachgiebigkeit  gegen  Österreich-Ungarn.  Es  stand  somit 
zu  erwarten,  daß  die  serbische  Regierung  selbst  angesichts  der 
verbrecherischen  Folgen  ihrer  Österreich-Ungarn  gegenüber  ge- 
führten PoHtik  nicht  bereit  und  geneigt  war,  andere  Bahnen  ein- 
zuschlagen und  das  Ihre  beizutragen,  um  ihr  Verhältnis  zur  Nach- 
barmonarchie in  ein  friedliches  und  erträgliches  umzugestalten. 

Österreich-Ungarn  faßte  daher  von  vornherein  scharfe  Mittel 
ins  Auge.  Allem  Anschein  nach  hat  die  Haltung  Serbiens  während 
der  ersten  Juli-Wochen  zu  einem  besonders  energischen  Vorgehen 
der  Wiener  Regierung  beigetragen.  Das  neue  österreichische 
Rotbuch  und  die  quellenkritische  Studie  von  Gooss*)  enthüllen 
interessante  Einzelheiten  über  die  Entstehung  der  österreichisch- 
ungarischen Note  und  die  Verhandlungen  zwischen  Wien  und 
Budapest.  Diesen  Interna  ist  nicht  allzu  große  Bedeutung  bei- 
zumessen. Ein  schwankender  Charakter  mehr  oder  weniger,  eine 
List  oder  eine  Lüge  zuviel  haben  auf  das  Vorgehen  der  Wiener 
Regierung  sicherlich  weniger   Einfluß  gehabt,  als  die  allgemeine 


*)  Roderich  Gooss:  Das  Wiener  Kabinett  und  die  Entstehung  des  Welt- 
krieges.   (Wien,  1919.) 

2* 


20 

Stimmung  in  den  Donauländern.  Das  Gesamtbild,  das  sich  aus 
den  österreichisch-ungarischen  Akten  ergibt,  ist  das  folgende: 
Berchtold  strebte  eine  kriegerische  Lösung  an.  Weshalb  er  eine 
andere  Lösung  von  vornherein  ablehnte,  ist  nicht  recht  erkennbar. 
Tisza  wollte  anfangs  eine  Lösung,  wie  sie  damals  wohl  jeder  ver- 
nünftige Politiker  —  auch  in  Berlin  —  erwartet  hatte,  ein  Ver- 
fahren, das  möglicherweise  den  beabsichtigten  Erfolg  erzielt 
haben  würde.  Er  empfahl  ,,ein  ernstes  und  energisches  Vorgehen 
in  Belgrad"  in  Gestalt  einer  ,,in  gemessenem,  aber  nicht  drohendem 
Tone  gehaltenen  Note",  welche  ,, konkrete  Beschwerden"  und 
,, präzise  Petita"  enthielt,  so  daß  Serbien  die  Möglichkeit  bliebe, 
„den  Krieg  im  Wege  einer,  allerdings-  schweren,  diplomatischen 
Niederlage  zu  vermeiden".  (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  12.)  Weshalb 
sich  der  ungarische  Ministerpräsident  im  Ministerrat  vom  14,  Juli 
(Rotbuch  1919,  I,  Nr.  19)  umstimmen  ließ,  ist  nicht  recht  ersicht- 
lich, doch  scheint  die  Haltung  der  Belgrader  Regierung  das  Wesent- 
lichste hierzu  beigetragen  zu  haben  (Weißbuch  Nr.  49).  Berchtold 
hat  sowohl  Tisza  wie  den  Kaiser  Franz  Joseph  besonders  dadurch 
im  Sinne  des  von  ihm  angestrebten  scharfen  Vorgehens  zu  be- 
einflussen gesucht,  daß  er  darauf  hinwies,  die  deutsche  Regierung 
erwarte  ein  energisches  Einschreiten  gegen  Serbien.  Es  ist  zweifel- 
los richtig,  daß  in  Berlin  eine  radikale  Lösung  erwartet  und  ge- 
wünscht wurde.  Dafür,  daß  Wien  deutscherseits  zu  einem  schär- 
feren Vorgehen  gedrängt  worden  ist,  als  es  selbst  beabsichtigte, 
fehlt  jeder  Anhalt  im  Weißbuch.  Hingegen  fällt  die  Unterlassung 
jeder  Warnung  auf,  die  man  auf  die  zahlreichen  Berichte  der  Wiener 
Botschaft  hin,  welche  über  Berchtolds  Absicht  einer  kriegerischen 
Lösung  des  Konflikts  Mitteilungen  machten,  erwarten  könnte. 
Berchtold  hat  aber  die  deutsche  Regierung  immer  nur  zu  einem 
geringen  Teil  in  seine  Pläne  eingeweiht.  Er  hat  ihr  keinen  reinen 
Wein  eingeschenkt.  Über  die  im  Wiener  Ministerrat  vom  19.  Juli 
(Rotbuch  1919,  I,  Nr.  26)  vorgesehenen  Annexionen  oder  ,, Grenz- 
berichtigungen" ist  offenbar  nie  ein  Wort  nach  Berlin  gelangt. 
Auch  sonst  waren  die  Mitteilungen  über  das  beabsichtigte  öster- 
reichisch-ungarische Vorgehen  im  Ausdruck  wenig  bestimmt  ge- 
halten, so  daß  Jagow  wiederholt  fragen  mußte,  wohin  eigentlich 
der  Weg  führen  solle  (Weißbuch  Nr.  61,  Rotbuch  1919,  I,  Nr.  41). 

Im  übrigen  muß  bei  der  Beurteilung  der  Haltung  der  Wiener 
Regierung  berücksichtigt  werden,  daß  nach  der  damals  herrschen- 
den, anscheinend  gerechtfertigten  Auffassung  durch  eine  Be- 
strafung der  Mitschuldigen  an  dem  Morde  in  Sarajevo  eine  dauernde 
Klärung  der  austro-serbischen  Beziehungen  nicht  erreicht  werden 
würde,  daß  vielmehr  die  Lage  es  als  unumgänglich  erheischte, 
das  Übel  der  großserbischen  Agitation  an  der  Wurzel  zu  packen, 


21 

wenn  es  gelingen  sollte,  in  diesem  Wetterwinkel  Europas  Ruhe  zu 
schaffen. 

Österreich-Ungarn  sah  sich  demgemäß  veranlaßt,  die  Forde- 
rungen, die  es  zur  Sühnung  des  Mordes  von  Sarajevo  und  zur 
Erreichung  von  Sicherungen  für  Serbiens  künftiges  Wohlverhalten 
stellte,  in  eine  scharfe  Form  zu  kleiden,  in  Kenntnis  der  von 
Serbien  beliebten  Methoden,  für  ihre  Annahme  eine  bestimmte 
Frist  zu  setzen  und  ihre  in  Belgrad  überreichte  Note  zu  veröffent- 
lichen. 

Die  Bekanntgabe  der  an  Serbien  gerichteten  Forderungen 
(die  vielfach  als  eine  unnötige  Verschärfung  des  österreichisch- 
ungarischen Schrittes  angesehen  worden  ist)  erscheint  selbstver- 
ständlich, da  Serbien  durch  sein  Verhalten  nicht  nur  die  Pflichten 
eines  friedlichen  Nachbarn  verletzt  hatte,  sondern  auch  die  Zu- 
sicherungen, die  es  auf  Drängen  der  Mächte  in  der  am  31.  März 
1909  in  Wien  überreichten  Note  übernommen  hatte.  In  dieser 
Note  verpflichtete  sich  Serbien,  ,,die  Richtung  seiner  gegenwärtigen 
Politik  gegenüber  Österreich-Ungarn  zu  ändern  und  künftighin 
mit  diesem  letzteren  auf  dem  Fuße  freundnachbarlicher  Be- 
ziehungen zu  leben".  Die  serbische  Regierung  tat  jedoch  so  gut 
wie  nichts,  um  ein  friedliches  Verhältnis  zur  Nachbarmonarchie 
herbeizuführen.  Sie  pflegte  vielmehr  den  Geist  des  Hasses  gegen 
Österreich-Ungarn  und  zettelte  in  den  Grenzländern  der  Mon- 
archie eine  wohlorganisierte  subversive  Bewegung  an.  Gegen 
diese  großserbische  Propaganda  richtete  sich  letzten  Endes  die 
österreichisch-ungarische  Aktion  von  1914.  Insoweit  die  pan- 
serbische Agitation  nicht  als  Ursache  des  Attentates  von  Sarajevo 
anzusehen  ist,  kann  man  sagen,  daß  die  Ermordung  des  Erz- 
herzogs zum  ,, Vorwand"  genommen  wurde.  Sofern  dieser  Zu- 
sammenhang aber  bestand,  und  das  ist  damals  in  Berlin  jedenfalls 
angenommen  worden,  war  jener  Mord  ein  berechtigter  Anlaß 
zum  Einschreiten  und  zur  Behebung  der  Ursachen  des  Übels. 
Fragwürdig  erscheint,  auch  vom  damaligen  Standpunkt  aus,  in 
erster  Linie  die  Wahl  der  Mittel. 

Eine  Kritik  der  Note  selbst  dürfte  sich  heute  aber  erübrigen, 
zumal  die  deutsche  Regierung  seinerzeit  an  der  Abfassung  selbst 
nicht  beteiligt  war.  Nur  zwei  Fragen  sind  bezüglich  des  Ultimatums 
noch  von  Interesse:  ob  diese  Note  eine  friedliche  Lösung  des 
Konfliktes  überhaupt  zuließ,  und  ob  sie  ohne  Vorgang  in  der 
neueren  Geschichte  gewesen  ist.  Die  dritte  Frage,  ob  Serbien 
seinen  eigenen  Entschließungen  folgend,  eine  andere  Stellung 
zum  österreichisch-ungarischen  Ultimatum  eingenommen  hätte, 
als  geschehen  ist,  kann  heute  noch  nicht  beantwortet  werden. 


22 

Zur  Frage,  ob  die  Note  eine  friedliche  Lösung  zuließ,  gehört 
die  Vorfrage,  ob  ihre  Annahme  denkbar  gewesen  wäre.  Es  sei 
deshalb  auf  den  Vorschlag  der  italienischen  Regierung  vom  27.  Juli 
hingewiesen,  daß  die  vier  Mächte  Serbien  den  Rat  erteilen  sollten, 
die  Note  uneingeschränkt  anzunehmen  (Blaubuch  Nr.  57);  ferner 
auf  die  Mitteilung  des  serbischen  Geschäftsträgers  in  Rom  vom 
28.  Juli,  wonach  Serbien  die  österreichische  Note  nach  Erläuterung 
der  Punkte  5  und  6  nachträglich  noch  annehmen  würde  (Blau- 
buch Nr.  64;  Weißbuch  Nr.  357;  vgl.  auch  Weißbuch  Nr.  249). 
Anscheinend  hat  San  Giuliano  diese  Erklärung  nur  nach  London 
und  Grey  dieselbe  nur  nach  Berlin  weitergegeben.  Bethmann 
Hollweg  bezeichnete  „ein  derartiges  Nachgeben  Serbiens  als  ge- 
eignete Basis  für  Verhandlungen".  (Weißbuch  Nr.  384.)  Warum 
Grey  sich  nicht  in  ähnlichem  Sinne  in  Petersburg  und  Belgrad 
äußerte,  ist  nicht  ersichtlich.  Diese  Grundlage  einer  Verständigung 
hätte  alle  Kriegsabsichten  Berchtolds  vereitelt.  Sie  würde  eine 
sichere  Verhandlungsbasis  abgegeben  haben. 

Befristete  Noten,  die  von  Kriegsdrohungen  begleitet  waren, 
sind  in  der  neueren  Geschichte  nicht  selten  gewesen.  Es  sei  an 
die  Note  Englands  und  Frankreichs  an  Ägypten  1882,  Englands 
an  Portugal  1890,  der  Vereinigten  Staaten  von  Amerika  an  Spanien 
1898,  Englands  an  Frankreich  1898,  Englands  an  die  Türkei  1906, 
Italiens  an  die  Türkei  1911  erinnert.  Wie  bereits  oben  erwähnt, 
hat  Österreich-Ungarn  am  18.  Oktober  1913  ein  Ultimatum  an 
Serbien  gerichtet  mit  der  Forderung,  binnen  acht  Tagen  Albanien 
zu  räumen.  Einzelne  der  genannten  Ultimaten  haben  zu  Kriegen 
geführt,  ohne  aber,  ebensowenig  wie  die  Balkankriege,  eine  all- 
gemeine Konflagration  zu  verursachen.  Keine  von  ihnen  war 
durch  die  Bedrohung  vitaler  Interessen  des  angreifenden  Staates 
hervorgerufen,  ein  Moment,  das  immerhin  bei  der  Beurteilung 
des  österreichisch-ungarischen  Vorgehens  1914  zu  berücksichtigen 
wäre.  So  weitgehend  auch  die  Wiener  Forderungen  an  Serbien 
waren,  so  werden  sie  doch  erheblich  von  den  Noten  übertroffen, 
die  England,  Frankreich  und  Rußland  zu  wiederholten  Malen 
1916  und  1917  an  das  damals  neutrale  Griechenland  gerichtet  haben. 
Ob  der  österreichisch-serbische  Krieg  von  irgend  einem  Gesichts- 
punkte aus  gerechtfertigt  erscheinen  kann,  mag  dahingestellt 
bleiben.  Der  Krieg  der  Vereinigten  Staaten  mit  Spanien,  der 
Burenkrieg,  der  russisch-japanische  Krieg,  der  italienisch-türkische 
Krieg  und  die  Balkankriege  sind  jedenfalls  aus  geringeren  An- 
lässen entstanden. 


23 


3.  Deutschlands  Stellungnahme 


Nach  der  Bluttat  von  Sarajevo  war  auch  in  Deutschland 
jedermann  überzeugt,  daß  Österreich-Ungarn  Serbien  zur  Rechen- 
schaft ziehen  werde,  denn  niemand  zweifelte  daran,  daß  dies  Ver- 
brechen ein  Ausfluß  der  großserbischen  Propaganda  sei.  Dieser 
ein  Ende  zu  machen,  erschien  geboten.  Mit  seiner  Randglosse 
vom  4.  Juli  ,, Jetzt  oder  nie"  (Weißbuch  Nr.  7)  bewegte  sich  der 
Kaiser  ganz  auf  dem  Boden  der  öffentlichen  Meinung  Deutsch- 
lands. 

Was  die  Haltung  der  deutschen  Regierung  anlangt,  so  ist 
der  Ausgangspunkt  für  die  Betrachtung  der  damaligen  Lage  in 
dem  österreichisch-ungarischen  Memorandum  zu  suchen,  das  am 
5.  Juli  in  Berlin  überreicht  wurde  (Weißbuch  Nr.  14).  Diese 
Denkschrift  verdient  deshalb  sorgfältiges  Studium,  weil  sie  die 
Auffassung  des  Wiener  —  und  soweit  unwidersprochen  —  des 
Berliner  Kabinetts  über  die  politische  Gesamtlage  wiedergibt. 
Nur  über  einen  Punkt  erteilt  sie  keinen  Aufschluß,  und  auch  die 
Akten  schweigen  hierüber.  Das  ist  die  Frage,  wie  sich  Deutsch- 
land zur  früheren  österreichisch-ungarischen  Balkanpolitik,  und 
insbesondere  zu  Serbien,  gestellt  hat.  Wir  wissen  aber  aus  dem 
österreichischen  Rotbuch  1919  (I,  Nr.  2),  daß  sich  Tisza 
am  1.  Juli  über  die  ,, Eingenommenheit"  des  deutschen  Kaisers 
für  Serbien  beklagt  hat.  Er  bat,  die  Anwesenheit  Kaiser  Wilhelms 
in  Wien  zu  benutzen,  um  seine  Sympathie  für  Serbien  ,,an  der 
Hand  der  letzten  empörenden  Ereignisse  zu  bekämpfen".  Der 
Kaiser  kam  nicht  nach  Wien.  Die  Weitergabe  der  Gerüchte  von 
einem  gegen  ihn  geplanten  Attentat  (Weißbuch  Nr.  6a,  6b,  9; 
Rotbuch  1919,  I,  Nr.  3)  hat  aber  anscheinend  dem  Zwecke  dienen 
sollen,  ihn  gegen  Serbien  einzunehmen. 

Auch  der  englische  Botschafter  in  Wien  hat  unter  dem  5.  Juli 
berichtet,  daß  der  „deutsche  Kaiser  mit  der  Serbien  feindlichen 
Politik  Österreich-Ungarns  nicht  einverstanden  gewesen  sei" 
(Oman*),  S.  14;  vgl.  auch  Weißbuch  Nr.  16,  41).  Bethmann 
Hollweg  hatte,  wie  aus  dem  Rotbuch  1919  (I,  Nr.  7)  hervorgeht, 
Österreich-Ungarn  „bisher  stets  den  Rat  erteilt,  sich  mit  Serbien 
zu  vertragen".  Berlin  scheint  nach  der  Wiener  Auffassung  die 
Ausführung  österreichisch-ungarischer  Balkanpläne  wiederholt  be- 
einträchtigt zu  haben.  Nach  dem  Umschwung  schrieb  deshalb 
Tisza,  am  8.  Juli,  von  dem  „langersehnten  vollen  Erfolg  in  Berlin" 
(Rotbuch  1919,  I,  Nr.  12). 


*)  „The  Outbreak  of  the  War  of  1914-1918."  Eine  offiziöse  Dar- 
stellung auf  Grund  der  Akten  des  englischen  Ministeriums  des  Äußern,  die 
1919  erschien. 


24 

In  Deutschland  bestand  kein  Grund  zu  zweifeln,  daß  die 
Regierung  in  Belgrad  für  das  Attentat  gegen  den  Erzherzog- 
Thronfolger  verantwortlich  zu  machen  sei.  Es  schien  eine  ernst- 
hafte Untersuchung  in  Sarajevo  stattzufinden  (Weißbuch  Nr.  7, 
8,  13).  Von  dem  Bericht  Wiesners  über  das  zweifelhafte  Ergebnis 
der  Vernehmungen  (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  17)  hat  Berlin  keine 
Kenntnis  erhalten.  Die  deutschen  Berichte  aus  Belgrad  (Weiß- 
buch Nr.  10,  19a)  schienen  die  Wiener  Auffassung  von  der  Schuld 
Serbiens  zu  bestätigen.  Es  ist  auch  nicht  zu  vergessen,  daß  die 
serbische  Presse  in  jenen  Tagen  eine  maßlose  Hetze  gegen  Öster- 
reich-Ungarn betrieb,  daß  serbische  Diplomaten  sich  zu  unge- 
hörigen Äußerungen  hinreißen  ließen,  und  daß  nach  glaubwürdigen 
Nachrichten  damals  in  Belgrad  wiederholt  österreichfeindliche 
Demonstrationen  stattgefunden  haben.  Alles  dies  war  geeignet, 
BerHn  von  der  Notwendigkeit  eines  Einschreitens  gegen  Serbien 
zu  überzeugen. 

Was  nun  den  Inhalt  des  österreichisch-ungarischen  Memo- 
randums (Weißbuch  Nr.  14)  anlangt,  so  wird  hinsichtlich  der  all- 
gemeinen Lage  in  Europa  darauf  hingewiesen,  daß  die  Mittel- 
mächte eine  konservative  Politik  betrieben,  während  der  Zwei- 
bund Frankreich-Rußland  einer  offensiven  Tendenz  huldigte. 
Der  europäische  Friede  sei  bisher  nur  dank  der  militärischen 
Überlegenheit  des  durch  Rumänien  verstärkten  Dreibundes  er- 
halten worden.  Die  Wiener  Regierung  zog  ferner  eine  Bilanz  der 
Ergebnisse  des  Balkankrieges,  in  der  die  Passivposten  die  Aktiva 
überwogen.  Zwar  sei  ein  albanischer  Staat  gegründet  worden, 
Griechenland  nehme  eine  dem  Dreibund  freundliche  Haltung 
ein,  und  Bulgarien  habe  sich  von  dem  russischen  Einfluß  befreit. 
Dagegen  sei  die  Türkei  sehr  geschwächt  und  Serbien  außerordent- 
lich vergrößert  worden.  Die  Union  Serbiens  mit  Montenegro 
stehe  bevor.  Die  bedenklichste  Erscheinung  sei  aber  die  Ent- 
fremdung Rumäniens,  seine  Annäherung  an  Rußland  und  sein 
enges  Einvernehmen  mit  Serbien.  Das  Bündnis  der  Mittelmächte 
mit  Rumänien  sei  nahezu  entwertet.  Durch  diese  Verschiebung 
der  Kräfte  und  des  politischen  Gesamtbildes  sei  die  Hauptfriedens- 
garantie Europas,  die  militärische  Überlegenheit  der  Mittelmächte, 
im  Begriff  zu  verschwinden. 

Dazu  komme,  daß  Rußland  und  Frankreich  sich  mit  dem 
ihnen  günstigen  Ergebnisse  der  Balkankriege  nicht  zufrieden 
gäben.  Ihre  Politik  gehe  offenbar  darauf  aus,  die  gegenwärtig 
vorhandene  Spaltung  der  Balkanvölker  zu  beseitigen  und  den 
neu  zusammengeschlossenen  Balkanbund  als  Waffe  gegen  Mittel- 
europa zu  gebrauchen,  um  die  militärische  Überlegenheit  des 
Dreibundes  zu  beseitigen.     Als  Mittel  zu  diesem  Zwecke  diene 


25 

anscheinend  (dies  wurde  übrigens  inzwischen  durch  russische  und 
serbische  Dokumente  bestätigt)  das  Versprechen  einer  Vergröße- 
rung der  Balkanstaaten  auf  Kosten  Österreich-Ungarns  im  Wege 
einer  allgemeinen  Grenzverschiebung  von  Ost  nach  West.  Eine 
solche  Politik  sei  um  so  gefährlicher,  als  die  Revanchepläne  Frank- 
reichs zur  Genüge  bekannt  seien,  und  Rußland  außerordentliche 
Rüstungen  betriebe,  die  sich  offensichtlich  gegen  Deutschland 
richteten. 

Als  Mittel,  diese  Gefahren  zu  beschwören,  schlug  die  Wiener 
Regierung  vor,  Bulgarien  an  Stelle  von  Rumänien  zum  Balkan- 
exponenten der  Mittelmächte  zu  machen.  Werde  Bulgarien  vor 
der  von  Rußland  und  Frankreich  erstrebten  Isolierung  be- 
wahrt, so  könne  es  vom  Anschluß  an  den  neuen  Balkanbund 
abgehalten  werden.  Hierzu  sei  ein  Vertragsverhältnis  mit  Bulgarien 
erforderlich,  das  durch  ein  bulgarisch-türkisches  Bündnis  zu  er- 
gänzen sei.  Auf  diese  Weise  lasse  sich  die  russisch-französische 
Balkanpolitik  und  ihre  aggressiven  Absichten  vereiteln, 

Serbien  wird  in  dieser  Denkschrift  nur  ganz  kurz  erwähnt. 
Österreich-Ungarns  Stellung  zu  diesem  Nachbar  wird  dagegen 
in  einem  Schlußabsatz,  der  nach  der  Mordtat  von  Sarajevo  ge- 
schrieben ist,  dargelegt.  Wie  wir  heute  wissen,  liegt  das  Bedenk- 
liche in  Österreich-Ungarns  Stellungnahme  zu  Serbien  weniger 
in  dem,  was  in  dieser  Denkschrift  gesagt  worden  ist,  als  in  dem, 
was  sie  nicht  enthält.  Denn  sowohl  in  dem  ersten  Entwurf  des 
Memorandums  (vom  Mai),  wie  auch  in  seiner  zweiten  Fassung 
(vom  Juni)  ist  die  Möglichkeit  einer  Wiederannäherung  Serbiens 
an  Österreich-Ungarn  durch  rumänische  Vermittlung  noch  vor- 
gesehen. Durch  die  Streichung  dieses  Punktes,  die  natürlich  in 
Berlin  nicht  bekannt  war,  gewinnen  im  Anhang  zur  Denkschrift 
die  Worte  ,, Unüberbrückbarkeit  des  Gegensatzes  zwischen  der 
Monarchie  und  Serbien"  und  ,,die  Notwendigkeit,  mit  entschlossener 
Hand  die  Fäden  zu  zerreißen"  eine  Bedeutung,  die  ohne  Kenntnis 
der  Vorgeschichte  des  Memorandums  nicht  ersichtlich  war. 

Das  Handschreiben  des  Kaisers  Franz  Joseph  vom  2.  Juli 
(Weißbuch  Nr.  13)  faßt  den  Inhalt  des  Memorandums,  der  ein 
an  sich  einwandfreies  politisches  Programm  darstellt,  noch  einmal 
zusammen  und  verschärft  seine  Grundgedanken,  namentlich  in 
der  serbischen  Frage.  Es  bleibt  aber  als  Hauptinhalt  das  durchaus 
friedUche  Ziel,  einen  neuen,  den  Mittelmächten  freundlichen 
Balkanbund  zu  schaffen.  Wenn  das  Wiener  Kabinett,  das  hierin 
mit  Petersburg  und  Paris  übereinstimmte,  die  Besitzverhältnisse 
auf  dem  Balkan  so  kurz  nach  den  Balkankriegen  noch  nicht  als 
endgültig  ansah,  so  ist  dies  nur  natürlich.  Bulgarien  war  im  Frieden 
von  Bukarest  schweres  Unrecht  geschehen.     Nichts  ist  begreif- 


26 

lieber,  als  daß  man  in  Wien  geneigt  war,  aus  dieser  Tatsache 
politischen  Nutzen  zu  ziehen.  Wenn  es  demnach  in  dem  Schreiben 
des  Kaisers  Franz  Josef  heißt,  das  Bestreben  Österreich-Ungarns 
müsse  ,,in  Hinkunft  auf  die  Isolierung  und  Verkleinerung  Serbiens 
gerichtet  sein",  so  ist  dies  ebenfalls  nicht  befremdlich.  Zu  Un- 
recht ist  hieraus  die  erklärte  Absicht  eines  österreichisch-unga- 
rischen Eroberungskrieges  gefolgert  worden.  Eine  solche  Absicht 
konnte  dem  Schreiben  nicht  entnommen  werden,  denn  es  heißt 
anschließend:  ,,die  erste  Etappe  auf  diesem  Wege  wäre  in  einer 
Stärkung  der  Stellung  der  gegenwärtigen  bulgarischen  Regierung 
zu  suchen".  Dies  bedeutete  ein  Programm,  das  sich  erst  in  Jahr 
und  Tag  verwirklichen  ließ.  Hält  man  dieser  Stelle  die  des  Memo- 
randums gegenüber,  in  der  es  heißt,  Bulgarien  müsse  vor  russischen 
Lockungen  eines  Wiedererwerbes  Mazedoniens  bei  einer  staffel- 
weisen Verrückung  der  Grenzen  von  Ost  nach  West  bewahrt  werden, 
so  scheint  es,  daß  in  V/ien  die  Absicht  bestanden  hat,  Bulgarien 
in  der  Hoffnung  auf  einen  künftigen  Krieg  gegen  Serbien  zu 
bestärken. 

Was  schließlich  die  Haltung  Deutschlands  gegenüber  den 
österreichisch-ungarischen  Vorschlägen  anlangt,  so  ist  zunächst 
festzustellen,  daß  zwischen  dem  Kaiser,  dem  Kanzler  und  dem 
Auswärtigen  Amt  Übereinstimmung  geherrscht  hat.  Eine  Stellung- 
nahme zur  Wiener  Darlegung  der  allgemeinen  europäischen  Lage 
erfolgte  nicht,  doch  ist  die  Auffassung  der  deutschen  Regierung 
und  ihre  Beunruhigung  aus  dem  Erlaß  nach  London  vom  16.  Juni 
(Weißbuch  Nr.  3)  ersichtlich.  Die  österreichisch-ungarischen 
Sorgen  wegen  der  Lage  auf  dem  Balkan,  und  insbesondere  Serbiens, 
wurden  als  berechtigt  anerkannt.  Die  russischen  und  serbischen 
Urkunden  haben  ja  auch  die  Wiener  Darstellungen  in  allen  wesent- 
lichen Punkten  bestätigt.  Die  Berliner  Regierung  erklärte  ihr 
Einverständnis  mit  jedem  Vorgehen  Österreich-Ungarns  gegen 
Serbien,  also  auch  mit  einem  Kriege.  Sie  gab  der  Wiener  Regierung 
freie  Hand.  übrigens  war  auch  die  österreichisch-ungarische 
Regierung  der  Ansicht,  daß  sie  allein  zu  entscheiden  habe,  was 
gegen  Serbien  unternommen  werden  müsse  (Rotbuch  1919,  I, 
Nr.  3).  Deutscherseits  ist  aber  nicht  die  Einwilligung  zu  einer 
machtpolitischen  Aktion  im  Sinne  einer  Expansionspolitik  gegeben 
worden.  Von  der  Absicht  eines  „Vormarsches  auf  Konstantinoper ', 
von  der  die  Entente  zu  berichten  weiß,  ist  nach  Maßgabe  der  Ber- 
liner und  Wiener  Akten  keine  Rede.  Die  Aktion  war  als  rein  de- 
fensives Unternehmen  gedacht.  Sie  wurde  deutscherseits  ge- 
billigt trotz  der  Gefahr  einer  Verwicklung  mit  Rußland  (Weiß- 
buch, Band  I,  S.  XV,  XVI;  Reichstag-Denkschrift  vom  3.  8.  1914; 
Rotbuch  1919,  I,  Nr.  6). 


27 

^  Hinsichtlich  der  speziellen  Vorschläge  Österreich-Ungarns 
wurden  deutscherseits  zwar  Bedenken  gegen  einen  Anschluß 
Bulgariens  an  den  Dreibund  erhoben,  schließlich  diesem  aber 
zugestimmt.  Die  Berliner  Regierung  wollte  jedoch  ihre  früheren 
guten  Beziehungen  zu  Rumänien  nicht  aufgeben,  ohne  noch  ein- 
mal den  Versuch  zu  machen,  Rumänien  vom  Anschluß  an  einen 
den  Mittelmächten  feindlichen  Balkanbund  abzuhalten.  Sie 
verlangte  auch,  daß  der  Vertrag  mit  Bulgarien  keine  Spitze  gegen 
Rumänien  haben  dürfe.  Eine  Stellungnahme  zur  schwebenden 
österreichisch-serbischen  Frage,  also  eine  Erörterung  der  Mittel 
und  Wege,  wurde  ausdrücklich  abgelehnt,  Österreich-Ungarn 
jedoch  nahegelegt,  rasch  zu  handeln,  um  für  seine  Aktion  gegen 
Serbien  die  günstige  Konstellation  des  Augenblickes  auszunutzen. 
Dieser  letztere  Rat,  der  politisch  zweifellos  richtig  war,  ist  im  Laufe 
der  nächsten  Wochen  mehrfach  wiederholt  worden. 

Bei  diesem  entscheidenden  Wendepunkt  vom  5.  und  6.  Juli 
ist  zunächst  festzustellen,  daß  von  der  Absicht,  einen  allgemeinen 
Krieg  zu  entfesseln,  wie  die  Entente  dies  unterstellt  hat,  keine 
Rede  gewesen  ist.  Dies  zeigt  einmal,  daß  in  Wien  und  Berlin 
Pläne  einer  Balkanpolitik  in  Aussicht  genommen  wurden,  die  zu 
ihrer  Verwirklichung  längere  Zeit  erforderten.  Über  die  Möglich- 
keit, daß  aus  einer  österreichisch-ungarischen  Aktion  gegen  Serbien 
ein  allgemeiner  Krieg  entstehen  könne,  war  man  sich  natürlich  im 
klaren.  Von  einem  dolus  eventualis  der  deutschen  Regierung  zu 
sprechen,  ist  nicht  berechtigt,  denn  dieser  juristische  Begriff  ist 
auf  politische  Erwägungen  nicht  anwendbar,  bei  denen  natur- 
gemäß alles  relativ  ist.  Die  Gefahr  der  Entfesselung  eines  euro- 
päischen Krieges  bestand  seit  Jahren  bei  jeder  politischen  Aktion. 
Selbst  die  Entsendung  der  Militärmission  nach  der  Türkei  hat  im 
Januar  1914  fast  zum  europäischen  Kriege  geführt,  und  es  ist  sehr 
zu  fürchten,  daß  sich  die  europäischen  Staatsmänner  allzusehr 
an  den  Gedanken  der  immer  vorhandenen  Kriegsgefahr  gewöhnt 
hatten.  Für  die  Beurteilung  der  deutschen  Politik  zu  Anfang  des 
Juli  1914  ist  nicht  ausschlaggebend,  ob  sie  die  Möglichkeit  eines 
Krieges  voraussah,  sondern,  wie  ernst  sie  diese  Gefahr  einschätzte. 
Hierüber  geben  die  Akten  genügenden  Aufschluß.  Offensichtlich 
sah  man  eine  Gefahr  für  den  Frieden  nur  auf  Seiten  Rußlands. 
Ein  Eingreifen  seitens  Englands  erwartete  man  nicht,  und  merk- 
würdigerweise hat  man  auch  von  französischer  Seite  nichts  be- 
fürchtet. Über  die  Haltung  der  Petersburger  Regierung  scheint 
die  übereinstimmende  Ansicht  geherrscht  zu  haben,  daß  Rußland 
nicht  genügend  gerüstet  sei  und  deshalb  keinen  Krieg  führen  könne 
und  werde.  Zudem  setzte  man  außerordentlich  große  und,  wie 
sich  bald  zeigen  sollte,  ganz  ungerechtfertigte  Hoffnungen  auf  das 
Gefühl  monarchischer  Solidarität,  das  den  Zaren  abhalten  werde, 
„sich  auf  die  Seite  der  Prinzenmörder  zu  stellen". 


28 

Es  sei  übrigens  darauf  hingewiesen,  daß  in  den  Dokumenten 
die  Erörterung  der  Kriegsgefahr  vermutlich  mehr  Raum  einnimmt, 
als  den  Umständen  entsprach.  Denn  der  ungünstigste  Fall  wird 
stets  ausführlich  behandelt,  während  man  die  Selbstverständlich- 
keiten  einer  günstigen   Lösung  kaum  berührt. 

Die  deutsche  Regierung  hat  aus  den  wesentlichsten  Ge- 
sichtspunkten ihrer  damaligen  Haltung  kein  Hehl  gemacht.  In 
der  Reichstags-Denkschrift  vom  3.  August  1914  wurde  über  die 
Lage  zu  Anfang  Juli  zutreffend  gesagt: 

„Die  k.  u.  k.  Regierung  benaciirichtigte  uns  von  dieser  Auffassung  (daß 
es  weder  mit  der  Würde  nocli  mit  der  Seibsterhaltung  der  Monarcliie  verein- 
bar wäre,  dem  Treiben  jenseits  der  Grenze  noch  länger  tatenlos  zuzusehen) 
und  erbat  unsere  Ansicht.  Aus  vollem  Herzen  konnten  wir  unserem  Bundes- 
genossen unser  Einverständnis  mit  seiner  Einschätzung  der  Sachlage  geben 
und  ihm  versichern,  daß  eine  Aktion,  die  er  für  notwendig  hielte,  um  der  gegen 
den  Bestand  der  Monarchie  gerichteten  Bewegung  in  Serbien  ein  Ende  zu 
machen,  unsere  Billigung  finden  würde.  Wir  waren  uns  hierbei  wohl  bewußt, 
daß  ein  etwaiges  kriegerisches  Vorgehen  Österreich-Ungarns  gegen  Serbien 
Rußland  auf  den  Plan  bringen  und  uns  hiermit,  unserer  Bundespflicht  ent- 
sprechend, in  einen  Krieg  verwickeln  könnte.  Wir  konnten  aber  in  der  Erkennt- 
nis der  vitalen  Interessen  Österreich-Ungarns,  die  auf  dem  Spiele  standen, 
unserem  Bundesgenossen  weder  zu  einer  mit  seiner  Würde  nicht  zu  verein- 
barenden Nachgiebigkeit  raten,  noch  auch  ihm  unseren  Beistand  in  diesem 
schweren  Moment  versagen.  Wir  konnten  dies  um  so  weniger,  als  auch  unsere 
Interessen  durch  die  andauernde  serbische  Wühlarbeit  auf  das  empfindlichste 
bedroht  waren.  Wenn  es  den  Serben  mit  Rußlands  und  Frankreichs  Hilfe 
noch  länger  gestattet  geblieben  wäre,  den  Bestand  der  Nachbarmonarchie 
zu  gefährden,  so  würde  dies  den  allmählichen  Zusammenbruch  Österreichs 
und  eine  Unterwerfung  des  gesamten  Slawentums  unter  russischem  Szepter 
zur  Folge  haben,  wodurch  die  Stellung  der  germanischen  Rasse  in  Mitteleuropa 
unhaltbar  würde.  Ein  moralisch  geschwächtes,  durch  das  Vordringen  des 
russischen  Panslawismus  zusammenbrechendes  Österreich  wäre  für  uns  kein 
Bundesgenosse  mehr,  mit  dem  wir  rechnen  könnten  und  auf  den  wir  uns  ver- 
lassen könnten,  wie  wir  es  angesichts  der  immer  drohender  werdenden  Haltung 
unserer  östlichen  und  westlichen  Nachbarn  müssen.  Wir  ließen  daher  Öster- 
reich völlig  freie  Hand  in  seiner  Aktion  gegen  Serbien.  Wir  haben  an  den  Vor- 
bereitungen dazu  nicht  teilgenommen." 

Die  deutsche  Regierung  hat  bei  der  Aufstellung  der  an  Serbien 
zu  richtenden  Forderungen  nicht  mitgewirkt  und  hat  dadurch 
in  kurzsichtiger  Weise  die  Mitverantwortung  zu  vermeiden  ge- 
sucht. Bereits  am  4.  Juli  schrieb  der  Kaiser  an  den  Rand  eines 
Berichtes  aus  Wien  (Weißbuch  Nr.  7) :  Es  sei  ,, lediglich  Österreichs 
Sache,  was  es  zu  tun  gedenkt.  Nachher  heißt  es  dann,  wenns 
schief  geht,  Deutschland  hat  nicht  gewollt."  Die  Haltung  der 
deutschen  Regierung  Österreich-Ungarn  gegenüber  hat  der  baye- 
rische Gesandte  in  Wien,  Freiherr  von  Tucher,  seinerzeit  sehr 
treffend  gekennzeichnet : 

,,Unsere  Stellung  Österreich-Ungarn  gegenüber  ist  sehr  heikel;  wir  müssen 
uns  hüten,  seine  Empfindlichkeit  zu  verletzen,  und  bei  Fragen  dieser  Art  ent- 


29 

halten  wir  uns  sorgfältig,  ihm  Ratschläge  im  einen  oder  im  anderen  Sinne  zu 
erteilen,  um  uns  nicht  in  der  Folge  Vorwürfen  auszusetzen,  falls  die  Ereignisse 
eine  unerwünschte  Wendung  nehmen.  Auch  diesmal  hat  Deutschland  seinem 
Verbündeten  erklärt,  dieser  müsse  lediglich  seine  eigenen  Interessen  berück- 
sichtigen und  so  handeln,  wie  er  es  für  notwendig  erachte.  Es  hat  sich  darauf 
beschränkt,  hinzuzufügen,  daß  es  ihm  nötigenfalls  zur  Seite  stehen  würde." 
(Bericht  des  belgischen  Gesandten  in  Wien  vom  27.  Juli  1914,  Nr.  403/149, 
Deutsche  Allgemeine  Zeitung  vom  22.  Mai  1919.) 

Die  deutsche  Regierung  ist  gemäß  den  bei  Beginn  der  Krise 
mit  Wien  vereinbarten  Richtlinien  vorgegangen,  Sie  hat  ihren 
Gesandten  in  Bukarest  und  Sofia  entsprechende  Weisungen 
erteilt  und  sich,  von  gelegentlichen  Warnungen  an  Serbien  abge- 
sehen, der  Einmischung  in  die  serbische  Frage  enthalten.  Die 
Wiener  Regierung  machte  allerdings  den  Versuch,  Berlin  zur 
Stellungnahme  zu  veranlassen.  Am  10.  Juli  telegraphierte  der 
deutsche  Botschafter  in  Wien,  Berchtold  würde  gern  wissen,  wie 
man  in  Berlin  über  die  Formulierung  geeigneter  Forderungen 
gegenüber  Serbien  denke.  Er  meinte,  man  könnte  unter  anderem 
verlangen,  daß  in  Belgrad  ein  Organ  der  österreichisch-ungarischen 
Regierung  eingesetzt  werde,  um  von  dort  aus  die  großserbischen 
Umtriebe  zu  überwachen  (der  spätere  Punkt  5  der  Note),  eventuell 
auch  die  Auflösung  von  Vereinen  (Punkt  2)  und  Entlassung 
einiger  kompromittierter  Offiziere  (Punkt  4).  Die  Frist  zur  Be- 
antwortung müsse  möglichst  kurz  bemessen  werden,  wohl  mit 
48  Stunden  (Weißbuch  Nr.  29). 

Wie  aus  dem  Bericht  des  bayerischen  Geschäftsträgers  vom 
18.  Juli  (Weißbuch,  Anhang  IV,  Nr.  2)  bekannt  ist,  hatte  man  in 
Berlin  Kenntnis  von  weiteren  Punkten  der  beabsichtigten  öster- 
reichisch-ungarischen Note,  und  zwar  von  der  Forderung  einer 
Proklamation  und  von  den  späteren  Punkten  6  und  4.  Woher 
diese  Kenntnis  stammte,  ist  weder  aus  den  deutschen,  noch  aus 
den  österreichisch-ungarischen  Akten  ersichtlich.  Demnach  war 
in  Berlin  über  die  Note  bekannt:  die  Absicht,  sie  auf  48  Stunden 
zu  befristen,  die  Forderung  einer  Proklamation  (die  von  Serbien 
angenommen  wurde),  die  Punkte  2,  4,  5  und  6  in  Umrissen.  (Von 
diesen  wurde  Punkt  2  angenommen,  gegen  Punkt  4,  5  und  be- 
sonders 6  wurden  mehr  oder  weniger  ernste  Bedenken  erhoben.) 

Wie  aus  dem  Blaubuch  (Nr.  161)  bekannt  ist,  hat  der  eng- 
lische Botschafter  in  Wien  bereits  am  16.  Juli  telegraphisch  über 
die  beabsichtigte  österreichisch-ungarische  Demarche  berichtet 
(siehe  auch  Oman,  S.  14),  und  der  französische  Konsulatskanzler 
in  Wien,  der  vielleicht  einen  tschechischen  Freund  im  Ministerium 
des  Äußeren  hatte,  schrieb  am  20.  Juli  einen  Bericht  über  die  be- 
absichtigte Note,  der  den  Inhalt  der  Punkte  1,  2  und  3  und  8 
ziemlich  zutreffend  wiedergibt  (Gelbbuch  Nr.  14).  Paris  war 
demnach  annähernd  ebenso  gut  unterrichtet  wie  Berlin. 


30 

Die  deutsche  Regierung  lehnte  es  am  11.  Juli  ab,  zu  Berchtolds 
Fragen  Stellung  zu  nehmen  (Weißbuch  Nr.  31)  und  beschränkte 
sich  darauf,  nach  Möglichkeit  für  einen  glatten  Verlauf  der  Krise 
zu  sorgen.  So  erteilte  sie  den  Rat,  den  geplanten  Schritt  vor  der 
Öffentlichkeit  eingehend  zu  begründen  und  befürwortete  den 
österreichisch-ungarischen  Entschluß,  die  Abreise  Poincares  aus 
Petersburg  abzuwarten,  damit  nicht  in  der  damaligen  Verbrüde- 
rungsstimmung dort  übereilte  Schritte  beschlossen  würden. 

Die  verantwortlichen  Persönlichkeiten  in  Berlin  hätten  eine 
baldige  Demarche  in  Belgrad  begrüßt,  weil  diese  naturgemäß 
unter  dem  frischen  Eindruck  des  Attentats  von  Sarajevo  mehr 
Verständnis  und  Sympathie  finden  mußte,  und  haben  auch  dieser 
Auffassung  wiederholt  Ausdruck  gegeben.  Ferner  zeigten  sie 
eine  nur  aus  der  noch  unbekannten  Geschichte  der  deutsch-öster- 
reichischen Beziehungen  begreifliche  Sorge,  in  Wien  nicht  als 
hemmender  Faktor  zu  erscheinen  (Weißbuch  Nr.  61,  70).  Eine 
Beeinflussung  Österreich-Ungarns  durch  die  Berliner  Regierung 
im  Sinne  einer  Verschärfung  der  zu  stellenden  Forderungen  ergibt 
sich,  wie  gesagt,  aus  den  deutschen  Akten  nicht.  Berlin  hat  keinen 
direkten  Einfluß  auf  den  Inhalt  der  Note  an  Serbien  ausgeübt. 
Auch  der  deutsche  Botschafter  in  Wien  hat  an  den  Beratungen 
über  die  in  Belgrad  zu  stellenden  Forderungen  nicht  teilgenommen. 
Dies  bestätigte  übrigens  Tisza  kurz  vor  seinem  Tode  in  einer  Rede 
im  ungarischen  Abgeordnetenhause  am  22.  Oktober  1918.  Bis 
er  durch  das  Telegramm  vom  6.  Juli  (Weißbuch  Nr.  15)  verständigt 
wurde,  daß  Deutschland  „zu  den  zwischen  Österreich-Ungarn 
und  Serbien  schwebenden  Fragen  naturgemäß  keine  Stellung 
nehme",  hat  Tschirschky  in  Wien  zur  Mäßigung  und  Vorsicht  ge- 
raten. Bereits  am  30.  Juni  berichtet  er,  daß  er  jeden  Anlaß  be- 
nutze, um  nachdrücklich  und  ernst  vor  übereilten  Schritten  zu 
warnen  (Weißbuch  Nr.  7).  Er  empfahl,  vor  allem  die  europäische 
Gesamtlage  in  Rechnung  zu  ziehen.  Ähnlich  äußerte  er  sich  am 
2.  Juli  dem  Kaiser  Franz  Joseph  gegenüber  (Weißbuch  Nr.   11). 

In  Berlin  war  aus  den  Berichten  Tschirschkys  bekannt,  daß 
Berchtold  persönlich  eine  kriegerische  Lösung  des  Konfliktes  be- 
vorzugte. Ebenso  wußte  man,  daß  Tisza  zur  Mäßigung  riet. 
In  diesen  Konflikt  der  Meinungen  wurde  deutscherseits  nicht  ein- 
gegriffen. Die  deutsche  Regierung  scheint  selbst  der  Auffassung 
gewesen  zu  sein,  daß  eine  Lösung  des  österreichisch-serbischen 
Konfliktes  ohne  kriegerische  Auseinandersetzung  möglich  sei, 
wenn  Serbien  sich  bereit  erklärte,  die  Mordtat  von  Sarajevo  zu 
sühnen  und  ausreichende  Garantien  für  die  Zukunft  zu  geben*). 


*)    Siehe    Gelbbuch    Nr.  9;    serbisches    Blaubuch    Nr.    19,    26;    Weiß- 
buch Nr.  91. 


31 

Zeigte  sich  Serbien  nicht  gewillt,  die  diesbezüglichen  österreichisch- 
ungarischen  Forderungen  zu  erfüllen,  so  sah  man  in  Berlin  in  der 
Anwendung  militärischer  Zwangsmittel  offenbar  ein  geringeres 
Übel  als  in  der  Fortdauer  des  durch  die  großserbischen  Um- 
triebe geschaffenen  Zustandes  dauernder  Beunruhigung. 

Da  über  die  Absichten  der  Wiener  Regierung  und  den  Inhalt 
der  Note  nichts  Näheres  bekannt  war  (Weißbuch  Nr,  61),  wurde 
deutscherseits  am  19.  Juli  telegraphisch  um  Mitteilung  ihres 
Wortlautes  gebeten  (Weißbuch  Nr.  77).  Dieser  lag  aber  erst 
am  Abend  des  22.  Juli  in  Berlin  vor*).  Da  die  Note,  wie  der 
österreichisch-ungarische  Botschafter  erklärte,  bereits  nach  Belgrad 
abgegangen  war  (am  20.  Juli!  —  Rotbuch  1919,  I,  Nr.  27),  wäre 
es  nicht  möglich  gewesen,  eine  Abänderung  ihres  Wortlautes  zu 
erwirken.  Die  österreichisch-ungarischen  Forderungen  wurden 
jedoch  von  Bethmann  Hollweg  und  von  Jagow  als  zu  weitgehend 
und  die  Sprache  der  Note  als  zu  scharf  beurteilt**).  Daß  man  in 
Berlin  den  Vertretern  des  Dreiverbandes  von  dieser  Einschätzung 
keine  Mitteilung  machte,  ist  ganz  natürlich.  Die  Meldung:  Szö- 
gyenys,  Jagow  habe  ihm  versichert,  „daß  die  deutsche  Regierung 
mit  dem  Inhalt  dieser  Note  selbstverständlich  ganz  einverstanden 
sei"  (Rotbuch  1919,  II,  Nr,  6),  stimmt  mit  der  Darstellung  Jagows 
nicht  überein. 

Bei  der  Haltung  der  Belgrader  Regierung  in  der  Vergangenheit 
sowohl  wie  während  der  Krisis  1914  konnte  es  deutscherseits 
nicht  als  wahrscheinlich  angesehen  werden,  daß  Serbien  den  Wiener 
Forderungen  nachkommen  würde.  Von  vornherein  war  also  damit 
zu  rechnen,  daß  militärische  Operationen  Österreich-Ungarns 
gegen  Serbien  stattfinden  würden.  Es  verdient  aber  hervorgehoben 
zu  werden,  daß  die  deutsche  Regierung  keineswegs  einen  Krieg 
gegen  Serbien  unter  allen  Umständen  wünschte  oder  gar  ihn 
herbeizuführen  suchte.  Dies  geht  zur  Genüge  aus  ihrer  Stellung- 
nahme  zur   serbischen   Antwortnote   hervor,      (Siehe   die    Rand- 


*)  Der  Bericht  aus  Wien  vom  21.  Juli  (Weißbuch  Nr.  106),  mit  dem  der 
Text  der  Note  eingereicht  wurde,  ist  im  Weißbuch  als  erstes  Dokument  vom 
22.  Juli  eingeordnet  worden.  Dadurch  wird  der  Eindruck  hervorgerufen, 
daß  diese  „nachmittags"  registrierte  Urkunde  frühzeitig  eingegangen  sei.  Dies 
ist  nach  Jagow:  „Ursachen  und  Ausbruch  des  Weltkrieges,"  Seite  109,  nicht 
der  Fall,  denn  sie  wurde  ihm  erst  in  den  Abendstunden  vorgelegt  (vgl.  auch 
Rotbuch  1919,  I,  Nr.  46). 

**)  Vgl.  Weißbuch,  Anhang  IX,  Jagow,  a.  a.  O.,  Bethmann  Hollweg: 
„Betrachtungen  zum  Weltkriege",  S.  138  f.  —  Die  Darstellung  BethmannS 
und  Jagows  bestätigt  eine  Textveränderung  bei  der  ersten  Veröffentlichung 
des  Runderlasses  vom  21.  Juli  (Weißbuch  Nr,  100).  In  diesem  ohne  Kenntnis 
des  Wortlauts  der  Wiener  Note  geschriebenen  Erlasse  werden  die  österreichisch- 
ungarischen Forderungen  als  „billig  und  maßvoll"  bezeichnet,  in  der  Anlage 
zur  Reichstagsdenkschrift  vom  3.  8.  1914  dagegen  nur  als  „gerechtfertigt". 


32 

bemerkung  des  Kaisers  unter  der  serbischen  Antwortnote  Weiß- 
buch Nr.  271,  sein  Schreiben  an  Jagow  vom  28.JuH,  Weißbuch 
Nr.  293,  das  Schreiben  des  Generals  von  Plessen  an  den  General- 
stabschef vom  gleichen  Tage,  ,, Deutsche  Politik",  IV,  29,  vom 
28.  7.  1919,  und  das  Telegramm  des  Reichskanzlers  nach  Wien, 
ebenfalls  vom  28.  Juli,  Weißbuch  Nr.  323.) 

Die  Haltung  der  deutschen  Regierung  in  der  Zeit  bis  zum 
österreichisch-ungarischen  Ultimatum  an  Serbien  setzt  sie  mancher- 
lei berechtigten  Kritik  aus.  Das  letzte  Wort  hierüber  wird  aber 
erst  nach  der  Vernehmung  der  Beteiligten  zu  sagen  sein.  Zu 
allen  wesentlichen  Punkten  der  Anklagen  der  Entente  kann  man 
jedoch  heute  bereits  Stellung  nehmen.  In  ihrer  Note  vom  16.  Juni 
1919  haben  die  Alliierten  und  Assoziierten  Mächte  behauptet, 
„während  langer  Jahre  hätten  die  Regierenden  Deutschlands, 
getreu  der  preußischen  Tradition,  die  Vorherrschaft  in  Europa 
angestrebt. ...  Sie  hätten  getrachtet,  sich  dazu  fähig  zu  machen, 
ein  unterjochtes  Europa  zu  beherrschen  und  zu  tyrannisieren.... 
Als  sie  festgestellt  hätten,  daß  ihre  Nachbarn  entschlossen  wären, 
ihren  anmaßenden  Plänen  Widerstand  zu  leisten,  da  hätten  sie 
beschlossen,  ihre  Vorherrschaft  mit  Gewalt  zu  begründen". 

In  den  deutschen  und  österreichisch-ungarischen  Akten  findet 
sich  nicht  der  geringste  Beleg  für  diese  Behauptungen.  Deutscher- 
seits ist  die  Aktion  gegen  Serbien  stets  nur  als  Präventivmaßnahme 
betrachtet  worden. 

Ferner  haben  die  Alliierten  und  Assoziierten  Mächte  in  ihrer 
Antwort  auf  die  deutschen  Gegenvorschläge  erklärt:  Die  Mittel- 
mächte hätten  versucht,  „die  Lösung  einer  europäischen  Frage 
den  Nationen  Europas  durch  die  Drohung  eines  Krieges  aufzu- 
zwingen.... Die  serbische  Frage  wäre  nicht  und  hätte  niemals 
eine  rein  österreichisch-serbische  Frage  sein  können ....  Sie  war 
ihrem  Wesen  nach  eine  europäische  Frage,  da  sie  die  Kontrolle 
des  Balkans  aufs  Spiel  setzte  und  daher  nicht  nur  den  Frieden 
auf  dem  Balkan,  sondern  den  ganz  Europas  betraf". 

Die  Berechtigung  dieser  Auffassung  vom  Standpunkt  des 
Dreiverbandes  aus  läßt  sich  vertreten,  sobald  man  zugibt,  daß 
Serbien  der  Exponent  einer  aggressiven  Balkänpolitik 
des  Dreiverbandes  war.  Sicher  ist  aber,  daß  man  in  Berlin  im 
Juli  1914  nicht  eine  Lösung  der  serbischen  Frage  im  Sinne  einer 
europäischen  Balkanfrage  anstrebte,  sondern  allein  eine  nach- 
haltige Klärung  der  unhaltbar  gewordenen  austro-serbischen 
Beziehungen.  Gewiß  kann  man  der  deutschen  Regierung  den 
Vorwurf  machen,  daß  sie  die  europäische  Gesamtlage  nicht  richtig 
einschätzte.  Die  Unterstellung  weitgehender  Pläne,  die  ihr  jetzt 
nachträglich   von    ihren    Gegnern   vorgeworfen   werden,    entbehrt 


33 

jedoch  offensichtlich  jeder  Begründung.  Vergegenwärtigt  man 
sich  all  die  Hilflosigkeit,  Angst  und  Planlosigkeit,  die  in  dem 
deutschen  Aktenmaterial  offenbar  wird,  dann  wirkt  die  Auffassung 
der  Alliierten  und  Assoziierten  Mächte  wie  ein  Hohn,  wenn  diese 
in  der  vorgenannten  Denkschrift  behaupten :  ,,Das  autokratische 
Deutschland  wollte  unter  dem  Einfluß  seiner  Lenker  mit  aller 
Macht  die  Vorherrschaft  erlangen.  Die  Nationen  Europas  waren 
entschlossen,  ihre  Freiheit  zu  retten.  Die  Furcht  der  Führer 
Deutschlands,  es  möchten  ihre  Pläne  der  Weltherr- 
schaft durch  die  wachsende  Flut  der  Demokratie  zunichte 
gemacht  werden,  führte  sie  dazu,  alle  ihre  Bemühungen  darauf 
zu  richten,  jeden  Widerstand  mit  einem  Streiche  zu  brechen,  indem 
sie  Europa  in  einen  Weltkrieg  stürzten...  In  der  Erkenntnis, 
daß  es  seine  Ziele  nicht  anders  erreichen  konnte,  entwarf  und  be- 
gann Deutschland  den  Krieg".  Wenn  diese  Absichten  bestanden 
hätten,  müßten  sie  sich  bereits  in  der  Zeit  vor  der  Überreichung 
des  österreichisch  -  ungarischen  Ultimatums  deutlich  offenbaren. 
Wir  finden  aber  in  den  Akten  ebensowenig  Spuren  von  Plänen 
der  Weltherrschaft  wie  von  der  wachsenden  Flut  der  Demokratie. 
Die  internen  Meinungsäußerungen  der  Dreiverbandsmächte  lassen 
sich  weit  eher  als  autokratisch,  denn  als  demokratisch  be- 
zeichnen. 

Schließlich  ist  die  Pariser  Schuldkommission  in  ihrem  Bericht 
vom  29.  März  1919  zu  dem  Ergebnis  gekommen:  ,,Der  Krieg  ist 
von  den  Zentralmächten  ebenso  wie  von  ihren  Verbündeten,  der 
Türkei  und  Bulgarien,  mit  Vorbedacht  geplant  worden.  Er  ist 
das  Ergebnis  von  Handlungen,  die  vorsätzlich  und  in  der  Absicht 
begangen  wurden,  ihn  unabwendbar  zu  machen".  Von  diesem 
Vorsatz  zum  Weltkriege  fehlt,  wie  gesagt,  in  dem  deutschen  Ur- 
kundenmaterial  jede  Spur.  Daß  die  Türken  und  Bulgaren  an 
der  Entstehung  des  Weltkrieges  nicht  beteiligt  waren,  ist  nun- 
mehr ebenfalls  erwiesen.  Die  Berliner  und  Wiener  Absichten, 
die  auf  einem  Anschluß  Bulgariens  und  der  Türkei  an  den  Drei- 
bund abzielten,  sollten  in  einer  Zeit  verwirklicht  werden,  die  erst 
nach  der  Regelung  des  austro-serbischen  Konfliktes  lag.  Eine 
Berechtigung  der  Hauptanklagen  unserer  Gegner  kann  also  nicht 
zugegeben  werden. 

Von  anderer,  namentlich  von  deutscher  Seite  ist  ferner  der 
Vorwurf,  der  nicht  immer  als  Vorwurf  gemeint  ist,  erhoben  worden, 
die  deutsche  Regierung  hätte  einen  Präventivkrieg  plan- 
mäßig herbeigeführt.  Die  Anhänger  dieser  Auffassung  berufen 
sich  unter  anderem  auf  die  Reichstags-Denkschrift  vom  3.  August 
1914,  in  der  es  heißt:  ,,Wir  waren  uns  hierbei  wohl  bewußt,  daß 
ein    etwaiges    kriegerisches    Vorgehen    Österreich-Ungarns    gegen 


34 

Serbien  Rußland  auf  den  Plan  bringen  und  uns  hiermit,  unserer 
Bundespflicht  entsprechend,  in  einen  Krieg  verwickeln  könnte". 
Diese  Schlußfolgerung  läßt  aber  außer  acht,  daß  eine  Kriegsgefahr 
in  jenen  Jahren  immerwährend  bestand.  In  der  Politik  ist  alles 
relativ.  Es  darf  daher  nicht  gefragt  werden:  Bestand  bei  einem 
Vorgehen  gegen  Serbien  die  Gefahr  eines  Weltkrieges?  Die  Frage 
muß  vielmehr  lauten:  Wie  groß  war  diese  Gefahr,  bzw.  wie  hoch 
wurde  sie  deutscherseits  eingeschätzt?  Nun  hat  die  deutsche 
Regierung  ganz  offensichtlich  geglaubt,  daß  Rußland  nicht  ge- 
nügend gerüstet  sei  und  deshalb  auch  nicht  zum  Kriege  schreiten 
werde.  Dies  geht  nicht  nur  aus  deutschen  Aktenstücken,  sondern 
auch  aus  denen  unserer  Gegner  hervor  (z.  B.  aus  Blaubuch  Nr.  32, 
161).  An  die  Möglichkeit,  daß  Frankreich  und  England  vielleicht 
die  Gelegenheit  benutzen  würden,  einen  Krieg  herbeizuführen, 
falls  Österreich-Ungarns  Vorgehen  Deutschland  ins  Unrecht  setzte, 
hat  man  offenbar  überhaupt  nicht  gedacht;  ebensowenig  daran, 
daß  Österreich-Ungarn  weitergehende  Pläne  haben  könnte,  als  die, 
welche  es  nach  Berlin  mitteilte. 

Die  Regierung  Bethmann  Hollwegs  hat  zweifellos  viele  Mängel 
gehabt.  Durch  bewußten  Leichtsinn  wird  sie  aber  nicht  gekenn- 
zeichnet. Deshalb  muß  man  als  sicher  annehmen,  daß  sie  für  einen 
beabsichtigten  Präventivkrieg  Vorbereitungen  getroffen  haben 
würde.  Von  derartigen  Vorbereitungen  ist  aber  nichts  bekannt. 
Im  Gegenteil  wissen  wir,  daß  Maßnahmen,  die  im  Falle  eines  bevor- 
stehenden Krieges  unerläßlich  gewesen  wären,  nicht  ausgeführt 
worden  sind.  Es  sei  nur  an  die  obenerwähnte  Verproviantierung 
der  Festungen  Straßburg  und  Neubreisach  erinnert.  Tisza  hat  am 
1.  Juli  gefordert,  daß,  wenn  es  zum  Kriege  kommen  solle,  vorerst 
eine  diplomatische  Konstellation  geschaffen  werden  müßte,  welche 
das  Kräfteverhältnis  weniger  ungünstig  für  die  Mittelmächte  ge- 
staltete (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  2).  Diese  Forderung  ist  so  selbst- 
verständlich, daß  sich  aus  ihrer  Nichterfüllung  folgern  läßt,  die 
Absicht  eines  europäischen  Krieges  habe  in  Berlin  nicht  bestanden. 
Das  Verhalten  der  Ententemächte  zur  Zeit  der  Balkankriege  ver- 
anschaulicht, was  Tisza  mit  diplomatischer  Vorbereitung  eines 
Krieges  meinte.  Nach  Vermittelung  des  grundlegenden  serbisch- 
bulgarischen Vertrages  umspannte  Rußland  im  Sommer  1912 
den  Balkan  mit  einem  ganzen  Netz  von  Bündnissen  und 
Militärkonventionen.  Dann  schloß  es  am  8.  Juli  einen  Ge- 
heimvertrag mit  Japan,  der  ihm  den  Rücken  sicherte.  Am 
16.  Juli  desselben  Jahres  wurde  das  erste  russisch-französische 
Marine- Abkommen  getroffen,  das  durch  englisch-französische  Ab- 
machungen ergänzt  wurde,  denen  die  englisch-russische  Aussprache 
vom  September  1912  folgte  (Besuch  Sasonows  in  Baimoral,  23.  bis 


35 

28.  September).  Ihren  Abschluß  scheint  diese  Entwickslung 
in  der  diplomatischen  Bestätigung  d^r  militärischen  und  maritimen 
Abmachungen  zwischen  England  und  Frankreich  durch  den  be- 
kannten Notenwechsel  vom  22.  und  23,  November  1912  gefunden 
zu  haben.  Wenn  die  deutsche  Regierung  den  Weltkrieg  auch 
'nur  im  Sinne  eines  Präventivkrieges  gewollt  hätte,  maSte  sie  ähn- 
liche Vorbereitungen  treffen.  Dies  ist  jedoch  offenbar  nicht 
geschehen. 

Selbst  die  beabsichtigte  Defensiv-Aktion  gegen  Serbien  hätte 
diplomatisch  besser  vorbereitet  werden  mässen.  Berlin  hat  auch 
jin  dieser  Hinsicht  eingegriffen,  als  es  sah,  da3  Wien  das  Notwen- 
digste versäumte.  Am  15.  Juli  wies  Jagow  den  deutschen  Bot- 
schafter in  Wien  an,  die  dortige  Regierung  darauf  hinzuweisen, 
daß  es  unerläßlich  sei,  sich  mit  Italien  über  die  Aktion  gegen 
Serbien  zu  verständigen,  die  Frage  der  Kompensationen,  des  Ar- 
tikels VII  des  Dreibundvertrages  und  des  Bündnisfalles  zu  regeln 
(Weißbuch  Nr.  46).  In  der  Folgezeit  ist  in  dieser  Hinsicht  deutscher- 
seits noch  viel  veranlaßt  worden,  und  fast  der  ganze  Schriftwechsel 
zwischen  Berlin  und  Rom  behandelt  die  Frage  der  Kompensation 
für  Italien.  Berchtold  hat  aber  für  den  von  Jagow  vertretenen, 
durchaus  richtigen  Gesichtspunkt  kein  Verständnis  gezeigt.  Wie 
aus  dem  neuen  österreichischen  Rotbuch  hervorgeht,  hat  auch 
der  Botschafter  Merey  in  Rom  in  dieser  Hinsicht  eine  unheilvolle 
Rolle  gespielt  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  50,  85,  86,  III,  Nr.  10,  60). 
Noch  am  28.  Juli  vertrat  er  den  Standpunkt:  ,,Mein  ceterum  censeo 
ist,  Kompensationsansprüche  rundweg  in  Abrede  zu  stellen  und 
uns  ja  in  keine  heiklen  Verhandlungen  oder  Engagements  einzu- 
lassen." Diese  Verhandlungen  betrafen  aber  immer  nur  die  Stellung- 
nahme Italiens  zum  austro-serbischen  Konflikt.  Erst  am  30.  Juli 
ist  davon  die  Rede,  daß  Österreich-Ungarn  seinen  Standpunkt 
in  der  Kompensationsfrage  wegen  der  italienischen  Haltung  im 
^drohenden  Weltkriege  aufgeben  bzw.  abändern  müsse  (Rotbuch 
•1919,  III,  Nr.  32). 

I  Die  beabsichtigte  Annäherung  an  Bulgarien  trug  eben- 
ifalls  nicht  den  Charakter  einer  Vorbereitung  auf  den  Weltkrieg. 
Der  geolante  Bündnisschluß  wurde  zunächst  auf  unbestimmte 
Zeit  verschoben  (Weißbuch  Nr.  19,21,22;  Rotbuch  1919,  I,  Nr.  11). 
Um  eine  Ausdehnung  des  Konfliktes  zu  verhüten,  wurden  sehr 
zahlreiche  Schritte  unternommen,  die  die  Neutralität  Bulgariens 
in  dem  österreichisch  -  serbischen  Streit  zum  Ziel  hatten.  In  der 
ersten  Periode  der  Krisis  geschah  dies  lediglich  in  dem  Streben 
nach  Lokalisierung,  später  allerdings  erschien  die  neutrale  Haltung 
Bulgariens  als  Vorbedingung  für  die  Bündnistreue  Rumäniens 
(Weißbuch  Nr.  544,  549).    Auf  Bulgarisn,  einen  für  den  Weltkrieg 

3* 


36 

wertvollen  Bundesgenossen,  hat  man  in  dieser  Periode  offensicht- 
lich nicht  gerechnet.  Nur  einmal  —  am  26.  Juli  —  erkundigte 
sich  Jagow  in  Wien  nach  dem  Stand  der  Angelegenheit  (Weiß- 
buch Nr.  228).  Die  Verhandlungen  über  einen  österreichisch- 
bulgarischen Vertrag  haben  bekanntlich  erst  am  2.  August  begonnen 
(Weißbuch  Nr.  673). 

Im  Falle  der  Absicht  eines  Weltkrieges  hätte  Deutschland 
sich  gewiß  auch  frühzeitig  die  Unterstützung  der  Türkei  ge- 
sichert. Am  14.  Juli  wurde  jedoch  die  Frage  des  Anschlusses  der 
Türkei  an  den  Dreibund  verneint.  Wie  aus  dem  Telegramm  Jagows 
nach  Wien  und  Konstantinopel  hervorgeht,  rechnete  dieser  damals 
nicht  mit  einem  Weltkriege  (Weißbuch  Nr.  45).  Im  ersten  Stadium 
der  Verhandlungen  war  überdies  nur  von  einem  Anschluß  der 
Türkei  an  Österreich  -  Ungarn  die  Rede.  Die  Anregung  zu  einem 
deutsch  -  türkischen  Bündnis  gegen  Rußland  ging  von  der  Türkei 
aus  (Weißbuch  Nr.  285).  Deutscherseits  wurde  dieser  Vorschlag 
am  28.  Juli  angenommen  (Weißbuch  Nr.  320).  Da  aber  der  mili- 
tärische Wert  des  türkischen  Bündnisses  sehr  gering  eingeschätzt 
wurde,  ist  anzunehmen,  daß  bei  diesem  Vertragsschluß  die  Furcht 
vor  einem  Abschwenken  der  Türkei  zum  Dreiverband  (siehe 
Randvermerk  des  Kaisers  zu  Weißbuch  Nr.  149),  und  nicht 
der  Gedanke,  die  Zahl  der  Mitkämpfer  zu  erhöhen,  den  Aus- 
schlag gab. 

Wäre  deutscherseits  ein  Präventivkrieg  geplant  worden, 
dann  hätte  man  sich  in  erster  Linie  der  Bundestreue  Rumä- 
niens versichert.  Nichts  dergleichen  geschah.  Alle  beabsich- 
tigten und  vollzogenen  Verhandlungen  mit  Rumänien  drehten 
sich  um  die  Frage  der  künftigen  politischen  Zusammenhänge  auf 
dem  Balkan.  Vom  Kriege  und  Rumäniens  Teilnahme  am  Kriege 
ist  in  der  Zeit  vor  dem  Wiener  Ultimatum  niemals  die  Rede  ge- 
wesen. Am  26.  und  wiederum  am  29.  Juli  bat  die  rumänische 
Regierung,  ,, rechtzeitig  informiert  zu  werden,  wenn  die  Ereignisse 
zum  Kriege  drängen  sollten"  (Weißbuch  Nr.  208,  351).  Eine  Ant- 
wort ist  anscheinend  nicht  gegeben  worden.  Die  Frage  des  Bündnis- 
falles und  des  rumänischen  Eingreifens  in  den  Krieg  wurde  erst  nach 
der  allgemeinen  russischen  Mobilmachung  zur  Sprache  gebracht 
(Weißbuch  Nr.  506,  582). 

Von  deutschen  militärischen  Maßnahmen  aus  dieser  Zeit  ist 
nichts  bekannt;  dasselbe  gilt  von  wirtschaftlichen  Kriegsvorbe- 
reitungen. Gewiß  war  ,,das  Heer,  wie  immer,  bereit",  wie  der 
Generalleutnant  Graf  Waldersee  in  seinem  Schreiben  vom  25.  Ok- 
tober 1919  (Weißbuch,  Band  I,  Seite  XV)  sagte.  Im  Falle  eines 
beabsichtigten  Krieges  gibt  es  jedoch  neben  der  allgemeinen  Be- 
reitschaft  der  Armee  zahllose   militärpolitische   Maßnahmen,   die 


37 

getroffen  werden  müssen.  Wir  wissen  aber  aus  dem  ersten  Ent- 
wurf eines  Schreibens  des  Generals  Conrad  vom  1 .  August  (Gooss, 
Seite  311),  daß  bis  zu  diesem  Tage  nicht  einmal  eine  Verständigung 
zwischen  den  deutschen  und  österreichisch-ungarischen  General- 
stäben über  den  Aufmarsch  gegen  Rußland  herbeigeführt  worden 
war. 

Gewiß  zeugen  alle  diese  Tatsachen  gegen  die  Behauptung, 
Deutschland  habe  den  Weltkrieg  gewollt,  bzw.  einen  Präventiv- 
krieg herbeigeführt.  Andererseits  ist  nicht  zu  bestreiten,  daß 
sich  die  Reichsregierung  in  eine  außerordentlich  große  Gefahr 
begeben  hat,  ohne  genügende  politische  und  militärische  Vorbe- 
reitungen getroffen  zu  haben.  Es  wäre  sehr  viel  besser  gewesen, 
der  so  oft  behauptete  Potsdamer  Kronrat  hätte  stattgefunden, 
und  es  spricht  für  die  bessere  politische  Schulung  unserer  Gegner, 
daß  sie  so  lange  an  diesem  Märchen  festgehalten  haben  und  gar 
nicht  fassen  können,  daß  Deutschland  bei  Kriegsausbruch  derartig 
mangelhaft  vorbereitet  war. 

Der  Weltkrieg  ist  aus  dem  österreichisch-ungarischen  Kriege 
gegen  Serbien  hervorgegangen,  und  an  der  Entstehung  des  letzteren 
ist  die  deutsche  Regierung  zweifellos  mitschuldig.  Daraus  zu 
folgern,  daß  sie  den  Weltkrieg  verschuldet  habe,  wäre  nur  zulässig, 
wenn  einwandfrei  festgestellt  würde,  daß  die  europäische  Kon- 
flagration eine  unausbleibliche  und  unabwendbare  Folge 
des  österreichisch  -  ungarischen  Vorgehens  gegen  Serbien  war. 
Dieser  Nachweis  ist  noch  nicht  erbracht.  Die  Berliner  Regierung 
scheint  sich  jedenfalls  zugetraut  zu  haben,  die  Gefahr  des  Welt- 
krieges bannen  zu  können.  Dies  Problem  gehört  zu  den  politischen 
Wahrscheinlichkeitsrechnungen,  für  die  es  eine  objektive  Lösung 
nicht  gibt. 

Die  deutsche  Regierung  hat  ihre  Einwilligung  zu  einem  Kriege 
Österreich-Ungarns  gegen  Serbien  gegeben.  Das  Ziel,  das  ihr 
hierbei  vorschwebte,  war  einzig  und  allein  die  Unterdrückung 
der  großserbischen  Bewegung,  zur  Erhaltung  des  Bestandes  und 
der  Bündnisfähigkeit  der  Donaumonarchie.  Es  fragt  sich  zunächst, 
v/eshalb  Deutschland  seinen  Verbündeten  in  dieser  ihn  nur  mittel- 
bar berührenden  Angelegenheit  unterstützte,  und  ob  es  notwendig 
war,  wegen  der  serbischen  Frage  Gefahren  zu  laufen.  Das  letztere 
wird  von  der  weiteren  Frage  der  Notwendigkeit  seiner  Aktion  ab- 
hängen. Darüber,  daß  Deutschland  ,,im  Einklang  mit  seinen 
Bündnispflichten  und  seiner  alten  Freundschaft  treu  an  der  Seite 
Österreich-Ungarns  stehen  werde",  bestand  damals  weder  bei  der 
Regierung,  noch  —  daran  sei  besonders  erinnert  —  bei  der  deutschen 
Öffentlichkeit  der  geringste  Zweifel.  Tschirschky  hat  bereits 
am  2.  JuU   erklärt,   Kaiser   Franz   Joesph   könne   ,, sicher   darauf 


38 

bauen,  Deutschland  geschlossen  hinter  der  Monarchie  zu  finden 
sobald  es  sich  um  die  Verteidigung  eines  ihrer  Lebensinteressen 
handele"  (Weißbuch  Nr.  1 1).    Was  Tschirschky  hier  o  h  n  e  A  u  f 
trag  erklärte,  war  richtig,  selbst  im  weitesten  Sinne,  wenn  dies 
auch  heute  mancher  nicht  wahr  haben  mag.    Ebenso  haben  offenbar 
weder  der  Kaiser,  noch  der  Kanzler,  noch  das  Auswärtige  Amt 
am  5.  und  6.  Juli  irgendwie  gezögert,  die  deutsche  Unterstützung 
zuzusagen.  Klug  und  überlegt  war  diese  Haltung  wohl  nicht,  sie 
entsprach  aber  jedenfalls  dem  Empfinden  der  allgemeinen  Meinung 
Sedann    ist    die  Frage  ^zu    stellen,   ob    ein    Vorgehen    gegen 
Serbien    von    dem     Gesichtspunkte    der    Erhaltung    Österreich- 
Ungarns  aus  notwendig  war.     In  Berlin  und  Wien  hat  man  diese 
Frage  seinerzeit  übereinstimmend  bejaht.    Daß  Österreich-Ungarn 
Grund  und  Anlaß  hatte,  gegen  Serbien  vorzugehen,  ist  früher  auch 
in  anderen  Ländern  anerkannt  worden.    Zum  Beispiel  hat  das  eng- 
lische Ministerium  des  Äußeren  selbst  nach   Kriegsausbruch  dies 
nicht  bestritten.    Es  heißt  in  der  Einleitung  zum  Blaubuch:  ,, Öster- 
reich war  provoziert.    Es  hatte  über  eine  gefährliche  Volksbewegung 
gegen  seine  Regierung  zu  klagen."     Im  übrigen  scheinen  die  rus- 
sischen   und    serbischen    Veröffentlichungen    die    Auffassung    der 
österreichisch  -  ungarischen  Regierung  zu  rechtfertigen.     Die  En 
tentemächte    nehmen    heute    den    entgegengesetzten    Standpunkt 
ein.    Sie  sind  aber  Partei,  da  sie  zum  Teil  Anstifter  Serbiens  waren 
während  den  Mittelmächten  als  Geschädigten  ebenfalls  das  objek 
tive  Urteil  mangelt.    Dieses  kann  erst  die  Geschichte  fällen. 

Ferner  fragt  es  sich,  ob  bei  dem  beabsichtigten  Vorgehen 
gegen  Serbien  Methoden  vorgesehen  wurden,  die  zu  den  damals 
üblichen  und  erlaubten  gehörten.  Dies  wird  man  an  der  Hand 
der  eben  (S.  20)  angeführten  Beispiele  kaum  verneinen  können. 
Selbst  im  Rahmen  des  Pariser  Völkerbundes  ist  der  Krieg  als  Mittel 
der  Politik  zulässig. 

Schließlich  und  vor  allem  ist  zu  fragen,  ob  das  Serbien  gegen- 
über beabsichtigte  Verfahren  zweckentsprechend  und  daher  politisch 
klug  war.  Dies  muß  verneint  werden,  und  zwar  nicht  allein  im 
Hinblick  auf  die  eingetretenen  Folgen.  Jedoch  fehlt  jeder  Anhalt 
für  einen  dolus  malus  der  Beteiligten, 

Selbst  die  Nolw^endigkeit  und  (um  von  der  Unzweckmäßig- 
keit  abzusehen)  die  Zulässigkeit  des  Vorgehens  gegen  Serbien  zu 
gegeben,  bleibt  aber  unerklärlich,  weshalb  die  Berliner  Regierung 
Österreich-Ungarn  ihre  unbedingte  Unterstützung  gewährte,  und 
weshalb  sie  —  trotz  des  zu  gewärtigenden  Wiener  Widerstrebens  — 
nicht  eine  Kontrolle  über  das  beabsichtigte  Vorgehen  ausbedungen 
hat.  Gewiß,  der  Hochmut  und  die  Empfindlichkeit  der  Hofburg 
kreise  waren  ungeheuer.    Auch  werden  diese  Wiener  Herren  wohl 


39 

geltend  gemacht  haben,  daß  sie  sich  auf  Balkanfragen  besser  ver- 
stünden und  schon  Ruhe  schaffen  würden,  wenn  man  ihnen  nur 
freie  Hand  Heße.  Das  genügt  aber  nicht  als  Erklärung.  Entweder 
schenkte  man  in  Berlin  der  Wiener  Regierung  ein  unbegreifliches 
und  ganz  unverdientes  Vertrauen,  oder  man  sah  den  Bundesgenossen 
als  so  schwach  an,  daß  sein  größter  Aufwand  an  Energie  nur  eben 
dem  gedachten  Zweck  genügen  werde.  Frühere  Erfahrungen 
mögen  auch  gelehrt  haben,  daß  man  am  Ballhausplatz  wohl  gerne 
große  Worte  machte,  denen  aber  nicht  die  entsprechenden  Taten 
folgen  ließ.  Tatsächlich  war  ja  auch  zuerst  von  einer  völligen 
Aufteilung  Serbiens  die  Rede  (Weißbuch  Nr.  18),  während  schließ- 
lich aus  eigenem  Antriebe  Verzicht  auf  Annexionen  ausgesprochen 
wurde  —  wenigstens  Berlin  gegenüber  (Weißbuch  Nr.  94).  Auf 
jeden  Fall  ist  aber  diese  Passivität  der  deutschen  Regierung  und 
die  gleichmütige  Aufnahme  aller  beunruhigenden  Nachrichten 
aus  Wien  unbedingt  zu  verurteilen. 


4.  Die  Haltung  der  Dreiverbandsmächte 

Über  die  Haltung  der  Regierungen  der  Dreiverbandsmächte 
in  der  Zeit  vor  Überreichung  des  österreichisch-ungarischen  Ulti- 
matums ist  aus  naheliegenden  Gründen  wenig  bekannt.  Sie  werden 
die  Pressemeldungen  über  die  Untersuchung  in  Sarajevo  verfolgt 
haben  und  besaßen,  wie  bereits  erwähnt,  auch  Berichte  ihrer  Wiener 
Vertreter  über  den  bevorstehenden,  von  aller  Welt  erwarteten 
Schritt  in  Belgrad.  Sie  kannten  aber  auch,  offenbar  sehr  viel  besser 
als  die  Berliner  Regierung,  die  russischen  Versprechungen  an  Serbien. 
Die  Alliierten  und  Assoziierten  Mächte  haben  in  Versailles  in  ihrer 
Note  vom  16.  Juni  1919  ausdrücklich  erklärt,  daß  das  deutscher- 
seits vorgelegte  Anklagematerial  keine  für  sie  neuen  Tatsachen 
enthülle.  Infolgedessen  mußte  sie  die  Zuspitzung  der  austro- 
serbischen  Beziehungen  mit  Sorge  erfüllen,  wenn  sie  die  Erhaltung 
des  europäischen  Friedens  wünschten.  War  ihnen  die  Gelegenheit 
zum  Kriege  als  eine  günstige  willkommen,  dann  mußten  sie  von 
vornherein  die  Konstellation  ausnutzen,  um  Deutschland  in  eine 
Falle  zu  locken.  Der  russischen  Diplomatie  war  ihre  Haltung  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  durch  die  Beschlüsse  der  Petersburger 
Konferenz  vom  8./21.  Februar  1914  vorgeschrieben.  Es  heißt  in 
dem  betreffenden  Protokoll:  ,, Einen  günstigen  politischen  Boden 
(für  die  Operationen  zur  Besetzung  der  Meerengen  während  eines 


40 

europäischen  Krieges)  vorzubereiten,  bildet  gegenwärtig  die  Auf- 
gabe der  zielbewußten  Arbeit  des  Ministeriums  des  Äußeren." 
Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  viele  russische  Politiker  den 
Augenblick  für  diese  Aktion  gekommen  sahen,  als  sich  Österreich- 
Ungarn  durch  sein  übermäßig  schroffes  Vorgehen  gegen  Serbien 
ins  Unrecht  setzte. 

Die  Ursache  der  Beunruhigung,  die  sich  in  England  offen- 
barte, ist  nicht  darauf  zurückzuführen,  daß  man  befürchtete,  Serbien 
könnte  ein  Unrecht  geschehen.  Man  sah  vielmehr,  daß  Österreich- 
Ungarns  Vorgehen  Rußland  veranlassen  werde,  wegen  seiner  ge- 
heimen Versprechungen  an  Serbien  einzuschreiten  und  unter  nahezu 
allen  Umständen  einzugreifen.  Buchanan  telegraphierte  auch 
bereits  am  18.  Juli  aus  Petersburg,  Sasonow  habe  ihm  unum- 
wunden erklärt,  ein  Ultimatum  Wiens  an  Belgrad  könne  Rußland 
nicht  hinnehmen.  Es  werde  vielleicht  (schon  damals!)  zu  vor- 
bereitenden militärischen  Maßnahmen  greifen  müssen  (Oman, 
S.  18).  Aus  Pokrowskis  Veröffentlichungen  wissen  wir,  daß  Grey 
in  jener  Zeit  wiederholt  im  Sinne  der  Mäßigung  auf  Sasonow  ein- 
zuwirken suchte,  und  daß  er  ihn  besonders  auf  die  Möglichkeit 
hinweisen  ließ,  daß  die  serbische  Regierung  nachlässig  gewesen 
sei,  und  die  Untersuchung  in  Sarajevo  ergeben  könnte,  der  Plan 
der  Ermordung  des  Erzherzogs  sei  auf  serbischem  Gebiete  aus- 
geheckt worden  (Telegramm  nach  Petersburg  vom  20.  Juli,  Oman, 
S.  18). 

In  seiner  Unterredung  mit  dem  deutschen  Botschafter  vom 
gleichen  Tage  (Weißbuch  Nr.  92,  Blaubuch  Nr.  1)  sprach  Grey 
von  der  Möglichkeit  eines  Krieges  zwischen  den  Großmächten 
als  Folge  des  austro  -  serbischen  Konfliktes.  Er  sah  eben  die  Ge- 
fahr, die  in  den  russischen  Versprechungen  an  Serbien  lag,  ohne 
aber  den  Grund  seiner  Befürchtungen  anzugeben.  Am  gleichen 
Tage  und  dann  wieder  am  23.  Juli  (Oman,  S.  19)  sandte  er  nach 
Petersburg  den  Rat,  sich  mit  Wien  zu  verständigen. 

Solche  Vorschläge  fielen  aber  nicht  auf  günstigen  Boden. 
Poincare  und  sein  Ministerpräsident  und  Minister  des  Äußeren, 
Viviani,  befanden  sich  in  Petersburg.  Daß  dort  die  russisch-fran- 
zösische Haltung  zum  österreichisch  -  ungarischen  Konflikt  mit 
Serbien  erörtert  wurde,  geht  aus  der  Bemerkung  Poincares  zu 
Szapary  hervor,  man  dürfe  nicht  vergessen,  ,,daß  Serbien  Freunde 
habe"  und  daß  durch  die  Forderung  einer  Sühne  für  den  Mord 
von  Sarajevo  ,,eine  für  den  Frieden  gefährliche  Situation  ent- 
stehen würde"  (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  45;  Weißbuch  Nr.  131,  134). 
Über  die  damaligen  Petersburger  Unterredungen  und  Beschlüsse 
ist  nur  das  bekannt,  was  die  französische  Regierung  im  Gelbbuch 
(Nr.  22)  zu  veröffentlichen  für  gut  fand.    Danach  ist  unter  anderem 


41 

vereinbart  worden,  gemeinsam  einen  Rat  zur  Mäßigung  in  Wien 
erteilen  zu  lassen  und  vor  einer  Bedrohung  Serbiens  zu  warnen. 
Niemals  hätte  ein  derartiger  Schritt,  der  keine  praktischen  Vor- 
schläge enthielt  und  keine  Sicherheiten  anbot,  die  angeblich  beab- 
sichtigte Wirkung  haben  können.  Er  gelangte  anscheinend,  weil 
verspätet,  nicht  zur  Ausführung,  jedoch  berichtete  Bunsen  (am 
23.  Juli,  siehe  Oman,  S.  18),  daß  der  russische  Geschäftsträger  am 
22.  Juli  beauftragt  gewesen  sei,  freundschaftlich,  aber  bestimmt, 
Österreich-Ungarn  davor  zu  warnen,  an  Serbien  eine  Note  zu  richten, 
die  letzteres  nicht  ohne  Demütigung  annehmen  könne.  Auch  der 
französische  Botschafter  sprach  an  diesem  Tage  auf  dem  Ministerium 
des  Äußeren  in  Wien  vor.  Dieser  Schritt  erfolgte  offenbar  auf  Grund 
von  Weisungen  aus  Paris  und  stand  deshalb  möglicherweise  mit 
dem  russischen  in  Zusammenhang  (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  53,  Gelb- 
buch Nr.  20). 

Der  ,, unversöhnliche  Haß  Sasonows  gegen  Österreich-Ungarn" 
und  sein  frühzeitiges  Bestreben,  die  Ergebnisse  der  Untersuchung 
in  Sarajevo  in  Zweifel  zu  ziehen,  waren  der  deutschen  Regierung 
aus  der  Berichterstattung  ihres  Botschafters  in  Petersburg  (Weiß- 
buch Nr.  53)  bekannt.  Die  Erklärung  des  Ministers  an  Pourtales: 
„Rußland  würde  einen  Schritt  in  Belgrad,  der  es  auf  eine 
Erniedrigung  Serbiens  absehe,  nicht  gleichgültig  hinnehmen  können", 
und  seine  Äußerung  zum  italienischen  Botschafter:  ,, Rußland 
würde  es  nicht  dulden  können,  daß  Österreich  Serbien  gegenüber 
eine  drohende  Sprache  führe  oder  militärische  Maßnahmen  treffe", 
gelangten  aber  erst  am  23.  Juli  nach  Berlin  (Weißbuch  Nr.  120). 
Ebenso  seine  Drohung:  ,,La  politique  de  la  Russie  est  pacifique, 
mais  pas  passive."  Wie  wenig  passiv  diese  Politik  gewesen  ist, 
zeigen  die  russischen  Machenschaften  in  Belgrad.  Daß  sie  auch 
nicht  friedfertig  war,  sollte  sich  bald  herausstellen. 


5.  Serbiens  Antwortnote 

Von  einer  Untersuchung  und  Bewertung  der  serbischen  Ant- 
wortnote kann  hier  abgesehen  werden,  zumal  1914  die  deutsche 
Regierung  erst  spät,  am  27.  Juli,  hierzu  Gelegenheit  erhielt,  also 
zu  einer  Zeit,  wo  die  Einzelheiten  der  serbischen  Note  gegenüber 
der  Entwickelung  cl^r  Spannung  zwischen  Wien  und  Petersburg 
viel  an  Bedeutung  verloren  hatten.  Die  Beurteilung  war  jedenfalls 
günstig;  aber  es  ist  möglich,  daß  dieses  Urteil  weniger  ein  begrün- 
detes als  ein  opportunistisches  war,  denn  am  30.  Juli  fragte  Beth- 
mann  Hollweg  im  Auswärtigen  Amt  an,  ,, welche  Punkte  des  öster- 
reichisch -  ungarischen    Ultimatums   Serbien   überhaupt   abgelehnt 


42 

habe"  (Weißbuch  Nr.  421,  Anm.  2).  Ein  eingehender  Ver- 
gleich der  Antwortnote  mit  dem  Ultimatum  ist  also,  falls  ein 
solcher  deutscherseits  überhaupt  vorgenommen  wurde,  dem  Reichs- 
kanzler allem  Anscheine  nach  bis  dahin  nicht  vorgelegt  worden, 
Berlin  hat  sich  wohl  zunächst  mit  der  Wiener  Mitteilung  vom 
25.  Juli:  ,,in  der  Antwort  seien  mehrere  Punkte  unbefriedigend" 
(Weißbuch  Nr.  188),  zufrieden  gegeben  und  dann  die  österreichische 
Erläuterung  der  Note  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  96),  die  erst  am  29.  Juli 
einging  (Weißbuch  Nr.  347),  nicht  weiter  nachgeprüft.  Ein  ge- 
wisses Mißtrauen  gegen  Wien  hat  aber  anscheinend  bestanden, 
denn  am  27.  Juli  verlangte  Jagow  die  telegraphische  Über- 
mittlung des  Textes  der  serbischen  Antwort  (Weißbuch 
Nr.  246). 

Nach  Auffassung  der  Wiener  Regierung  hat  Serbien  weder 
die  gestellten  Forderungen  in  der  durch  die  Note  vom  23.  Juli 
gesetzten  Frist  erfüllt,  noch  in  der  nachher  gelassenen  Zeit  den 
Willen  bekundet,  sich  friedlich  mit  Österreich  -  Ungarn  zu  ver- 
ständigen. Die  Antwortnote,  die  am  25.  Juli  dem  österreichisch- 
ungarischen Gesandten  überreicht  wurde,  formulierte  in  den 
meisten  Punkten  Vorbehalte,  welche  den  Wert  der  gemachten 
Zugeständnisse  wesentlich  herabdrückten.  Die  Ablehnung  betraf 
aber  gerade  jene  Punkte,  welche  nach  österreichisch  -  ungarischer 
Auffassung  einige  Garantie  für  die  faktische  Erreichung  des  ange- 
strebten Zweckes  enthielten  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  25,  Weiß- 
buch Nr.  400). 

Die  Kabinette  in  Petersburg,  Paris  und  London  haben  wieder- 
holt behauptet,  daß  sie  in  Belgrad  zur  Nachgiebigkeit  gegenüber 
den  österreichisch-ungarischen  Forderungen  geraten  hätten.  Ein 
Beweis  hierfür  ist  nicht  erbracht;  nach  den  veröffentlichten  Doku- 
menten ließe  sich  eher  das  Gegenteil  annehmen. 

Weder  im  russischen  Orangebuch  noch  im  serbischen  Blau- 
buch ist  von  irgendeinem  Ratschlag  die  Rede,  der  von  Petersburg 
nach  Belgrad  gelangt  wäre.  Pokrowski  teilt  mit,  daß  in  der  Zeit 
zwischen  dem  Mord  von  Sarajevo  und  dem  22.  Juli  Sasonow  von 
London  aus  wiederholt  wegen  der  unvorsichtigen  Handlungsweise 
des  russischen  Vertreters  in  Belgrad  gewarnt  wurde.  Am  22.  Juli 
telegraphierte  Benckendorff,  Grey  sei  besorgt,  der  Nachfolger 
Hartwigs  würde  plötzlich  ,,eine  bestimmte  Haltung  annehmen", 
und  das  würde  ,,eine  außerordentlich  schwer  gutzumachende  Tat- 
sache" sein  (Prawda  Nr.  7  vom  9.  März  1919).  Der  englische  Ge- 
schäftsträger in  Belgrad  berichtete  am  25.  Juli,  weder  sein  russischer 
Kollege  noch  der  französische  Gesandte  hätten  Anweisungen  ihrer 
Regierungen  erhalten,  Serbien  Ratschläge  zu  erteilen.  Er  fügt 
allerdings  hinzu,  er  halte  es  für  „höchst  wahrscheinlich",  daß  die 


43 

russische  Regierung  bereits  die  serbische  zu  äußerster  Mäßigung 
veranlaßt  habe  (Blaubuch  Nr.  22).  Ein  Beweisstück  für  diese 
Annahme  liegt  jedoch  nicht  vor.  In  seinem  Telegramm  nach  Wien 
vom  24.  Juli  (Orangebuch  Nr.  4)  erklärte  Sasonow  vielmehr,  die 
Mächte  würden  erst,  im  Falle  sie  sich  von  der  Berechtigung  ge- 
wisser österreichisch  -  ungarischer  Forderungen  durch  Einsicht 
in  die  Ergebnisse  der  Untersuchung  in  Sarajevo  überzeugt  hätten, 
in  der  Lage  sein,  der  serbischen  Regierung  dementsprechende 
Ratschläge  zu  erteilen.  Am  25.  Juli  bemerkte  er  zu  Greys  Vorschlag 
der  Erteilung  bedingter  Ratschläge  in  Belgrad  (Blaubuch  Nr.  12), 
es  sei  hierzu  zu  spät  (Blaubuch  Nr.  17).  Hieraus  geht  ebenfalls 
hervor,  daß  Petersburg  nicht  im  Sinne  der  Mäßigung  auf  Belgrad 
eingewirkt  hatte.  (Das  Gegenteil  behauptete  freilich  Grey  nach 
Weißbuch  Nr.  258,  Schebeko  nach  Blaubuch  Nr.  118  und  Bienvenu 
Martin  in  Gelbbuch  Nr.  36  und  61,  ohne  aber  Belege  zu  erbringen.) 
Nach  einem  Bericht  des  belgischen  Geschäftsträgers  in  Petersburg 
vom  26.  Juli  1914  (Nr,  782/396)  hätte  Sasonow  der  serbischen 
Regierung  nahegelegt,  „jenen  Forderungen  des  Ultimatums,  welche 
rechtlicher  Art  seien,  nachzukommen,  während  ihr  zu  verstehen 
gegeben  wurde,  daß  jene  Forderungen,  welche  durch  ihren  poli- 
tischen Inhalt  die  Souveränität  und  Unabhängigkeit  der  Nation 
berührten,  nicht  den  Gegenstand  einer  Kapitulation  bilden  dürften". 
(Deutsche  Allgemeine  Zeitung  vom  22.  5.  1919.)  Eine  zur  Unnach- 
giebigkeit  neigende  Regierung  mußte  in  diesem  Ratschlag  die 
Aufforderung  sehen,  die  österreichisch  -  ungarischen  Forderungen 
abzulehnen. 

Der  serbische  Gesandte  in  Petersburg  hat  in  der  ,,Nowoje 
Wremja"  vom  23.  Dezember  1914  mitgeteilt,  Sasonow  habe  am 
24.  Juli  ,, große  Entschlossenheit"  an  den  Tag  gelegt  und  ihm  gesagt, 
daß  Rußland  in  keinem  Fall  aggressive  Handlungen  Österreichs 
gegen  Serbien  zulassen  könne.  Er  —  Sasonow  —  habe  Pourtales 
erklärt  (was  aber  nicht  zutrifft,  vgl.  Weißbuch  Nr.  160,  204),  daß 
ein  Überfall  auf  Serbien  die  größten  Lebensinteressen  Rußlands 
berühre,  und  deshalb  die  russische  Regierung  gezwungen  sein 
werde,  diejenigen  Maßregeln  zu  ergreifen,  die  sie  im  gegebenen 
Moment  für  notwendig  befinden  werde  (Norddeutsche  All- 
gemeine Zeitung  vom  3.  Januar  1915).  Eine  derartige  Erklärung, 
die  in  Belgrad  natürlich  mit  den  früheren  Hinweisen  auf  einen 
kommenden  Krieg  mit  Österreich  -  Ungarn  in  Verbindung  gebracht 
wurde,  muß  als  Gegenteil  einer  Aufforderung  zur  Nachgiebigkeit 
angesehen  werden.  Überdies  hat  der  griechische  Gesandte  in 
Belgrad  am  25.  Juli  berichtet,  es  sei  der  dortigen  Regierung  be- 
kannt, daß  der  Ministerrat  in  Petersburg  die  militärische  Unter- 
stützung Serbiens  beschlossen  habe,  daß  aber  die  Entscheidung 
des  Zaren  noch  ausstehe  (Griechisches  Weißbuch  1913-1917 
Nr.  12). 


44 

Die  französische  Regierung  riet  Serbien  nicht  zum  Nach- 
geben, sondern  zu  versuchen,  Zeit  zu  gewinnen,  Einwände  zu  er- 
heben und  sich  dem  direkten  Eingriff  Österreich-Ungarns  dadurch 
zu  entziehen,  daß  es  sich  bereit  erklärte,  sich  einem  Schiedsgericht 
Europas  zu  unterwerfen  (Gelbbuch  Nr.  26). 

Grey  wies  den  englischen  Geschäftsträger  in  Belgrad  an,  der 
serbischen  Regierung  den  Rat  zu  geben,  ,, Teilnahme  und  Bedauern" 
darüber  auszusprechen,  daß  serbische  Beamte  an  dem  Morde  von 
Sarajevo  mitschuldig  seien.  Sie  sollte  ,, versprechen",  vollste  Ge- 
nugtuung zu  geben,  aber  im  übrigen  müsse  sie  so  antworten,  wie  sie 
es  im  serbischen  Interesse  für  das  beste  halte  (Blaubuch  Nr.  12; 
siehe  den  richtiggestellten  Wortlaut  bei  Oman,  S.  40).  Der  Ge- 
schäftsträger nahm  davon  Abstand,  selbst  diesen  sehr  bedingten 
Rat  zum  Einlenken  zu  erteilen,  da  seine  Dreiverbandskollegen  ohne 
Instruktionen  waren  (Blaubuch  Nr.  22). 

Die  österreichisch  -  ungarische  Regierung  hat  die  serbische 
Antwortnote  als  ungenügend  erachtet  und  die  diplomatischen 
Beziehungen  zu  Serbien  noch  am  25.  Juli  abgebrochen.  Eine 
Kriegserklärung  erfolgte  zunächst  nicht,  obwohl  Serbien  dadurch, 
daß  es  bereits  vor  Überreichung  der  Antwortnote  mobilisierte 
(Weißbuch  Nr.  158,  Rotbuch  1919,  II,  Nr.  26),  zeigte,  welches 
seine  künftige  Haltung  sein  werde.  Diese  Mobilmachung  verriet 
auch,  daß  die  serbische  Regierung  selbst  in  ihrer  Antwort  keine 
Erfüllung  der  österreichisch  -  ungarischen  Forderungen  sah,  und 
,,daß  in  Belgrad  zu  einer  friedlichen  Austragung  der  Sache  keine 
Neigung  bestand".    (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  57.) 

Die  deutsche  Regierung  ist  nicht  in  der  Lage  gewesen,  zur 
österreichisch  -  ungarischen  Beurteilung  der  serbischen  Antwort 
Stellung  zu  nehmen,  da  letztere  erst  am  27.  Juli  zu  ihrer  Kenntnis 
gelangte  (Weißbuch  Nr.  271),  die  Gründe  für  die  Ablehnung  Wiens 
sogar  erst  am  29.  Juli  (Weißbuch  Nr.  347).  Berlin  hat  offenbar 
ein  Einlenken  Serbiens  gar  nicht  erwartet  und  deswegen  mit  einer 
militärischen  Aktion,  die  von  vornherein  als  wahrscheinlich  an- 
genommen worden  war,  gerechnet.  Von  diesen  Gesichtspunkten 
ausgehend,  ließ  man  deutscherseits  am  25.  Juli  den  Rat  nach  .Wien 
gelangen,  im  Falle  einer  ablehnenden  Antwort  Serbiens  die^>kriege- 
rischen  Operationen  sofort  zu  beginnen  und  die  Welt  vor  ein  fait 
accompli  zu  stellen,  um  so  der  Einmischung  dritter  Mächte  vor- 
zubeugen (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  32,  Weißbuch  Nr.  213).  In  ähn- 
lichem Sinne  hatte  sich  Tisza  bereits  am  24.  Juli  ausgesprochen 
(Rotbuch  1919,  II,  Nr.  21).  Vom  Standpunkt  des  Wiener  und 
Berliner  Kabinetts  erschien  es  notwendig,  Serbien  einen  Denkzettel 
zu  geben,  um  der  fortwährenden  Beunruhigung  ein  Ende  zu  machen. 
Die   Einmischung  der  Mächte   brachte   die   Gefahr,   daß  Serbien 


45 

wieder,  wie  im  Jahre  1909,  unter  dem  Drucke  Europas  leere  Ver- 
sprechungen abgab.  An  diese  hätte  es  sich  noch  weniger  gehalten, 
als  an  die  früheren,  wenn  es  aus  jener  gefährlichen  Lage  durch 
seine  Freunde  „errettet"  worden  wäre.  Im  Rahmen  der  damals 
befolgten  Politik  erscheint  der  deutsche  Vorschlag  als  ein  durch- 
aus vernünftiger.  Hätte  Österreich-  Ungarn,  wie  viele  erwarteten, 
sogleich  nach  Abbruch  der  Beziehungen  zu  Serbien  Belgrad  besetzt, 
so  würden  die  Ereignisse  wohl  einen  ganz  anderen  Verlauf  ge- 
nommen haben.  Rußland  hätte  nicht  durch  den  Druck  seiner 
Mobilmachung  den  Schwerpunkt  der  Geschehnisse  so  frühzeitig 
nach  Petersburg  verlegen  können.  Im  Besitz  eines  Faustpfandes 
wäre  Wien  sicherlich  viel  eher  bereit  gewesen,  den  Vermittlungs- 
vorschlägen der  Mächte,  auch  Rußlands,  Gehör  zu  schenken.  Für 
die  deutsche  Regierung  wäre  es  dann  auch  ungleich  leichter  ge- 
wesen, mit  Rücksicht  auf  die  allgemeine  Lage  Einstellung  der  Opera- 
tionen zu  fordern.  Der  Gedanke  einer  Erledigung  des  Konfliktes 
durch  einen  militärischen  Anfangserfolg  lag  so  nahe,  daß  damals 
sogar  russischerseits  die  Frage  einer  freiwilligen  Räumung  Belgrads 
durch  die  Serben  erörtert  worden  ist  (Weißbuch  Nr.  345,  Blau- 
buch Nr.  56). 

Die  militärischen  Vorbedingungen  zu  einem  derartigen  raschen 
Vorgehen  waren  jedoch  nicht  gegeben.  Als  Termin  für  einen 
österreichisch  -  ungarischen  Vormarsch  kam  erst  der  12.  August 
in  Frage  (Weißbuch  Nr.  213).  Die  Wiener  Regierung  hat  dann 
in  unabsichtlicher  oder  bewußter  Verkennung  des  Sinnes  der 
deutscherseits  gemachten  Anregung  versucht,  durch  die 
Kriegserklärung  an  Serbien  ein  fait  accompli  zu  schaffen 
und  „jedem  Interventionsversuch  den  Boden  zu  entziehen"  (Weiß- 
buch Nr.  257).  Dieses  Vorgehen  war  das  denkbar  verkehrteste. 
Es  provozierte  geradezu  die  Intervention  Rußlands,  während  es 
die  Lage  im  Hinblick  auf  die  Vermittlungsabsichten  der  anderen 
Mächte  sehr  viel  schwieriger  gestaltete.  Wurde  Serbien  nach 
erfolgter  Kriegserklärung  und  ohne  eine  ,, Lektion"  erhalten  zu 
haben,  von  seinen  Freunden  „gerettet",  dann  konnte  es  mit  Recht 
glauben,  sich  künftig  Österreich  -  Ungarn  gegenüber  alles  heraus- 
nehmen zu  dürfen.  Die  Wiener  Regierung  hat  also  selbst  die 
Zwangslage  geschaffen,  in  der  sie  sich  am  Wendepunkt  des  30.  Juli 
befand  und  nicht  nachgeben  konnte,  ohne  wesentUchen  Schaden 
an  ihrer  innerpolitischen  und  außenpolitischen  Geltung  zu  erleiden. 
Mit  Befremden  entnimmt  man  ferner  den  österreichisch-unga- 
rischen Akten  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  78,  97,  III,  Nr.  26), 
daß  überdies  unwahre  Nachrichten  über  die  Eröffnung  der  Feind- 
seligkeiten durch  Serbien  als  Vorwand  zur  Kriegserklärung 
dienten. 


46 

Die  Berliner  Regierung  wäre  wohl  kaum  in  d^r  L^g3  g3W333n, 
die  Kriegserklärung,  die  ihr  bereits  am  27.  Juli  ang3kiifiiigt  wjrde 
(Weißbuch  Nr.  257),  zu  verhindern,  selbst  w^nn  sie  das  Fehbrhafte 
des  Wiener  Vorgehens  rechtzeitig  erkannte,  denn  sie  mj3t3  an- 
nehmen, daß  Österreich-Ungarn  die  Bitte,  von  dieser  papierenen 
Kriegserklärung  abzusehen,  mit  deren  Möglichkeit  von  Anfang 
an  gerechnet  worden  war,  ablehnen  und  D3utschland  für  sich  die 
aus  einem  derartigen  Schritte  ergebenden  politischen  Nachteile 
sicherlich  verantwortlich  machen  würde. 


III.  Das  Verhalten  der  Mächte 

1.  Der  deutsche  Lokalisierungsvorschlag 

A.  Die  deutsche  Auffassung 

Die  deutsche  Regierung  ist  offenbar  der  Ansicht  gewesen, 
daß  auch  im  Falle  einer  kriegerischen  Auseinandersetzung  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Serbien  die  Möglichkeit  einer  Gefährdung 
des  europäischen  Friedens  durch  Lokalisierung  des  Konfliktes 
ausgeschlossen  werden  könne.  Bei  einem  österreichisch-serbischen 
Krieg  ließen  sich  die  Rechte  und  legitimen  Interessen  dritter 
Staaten  auf  dem  Wege  diplomatischer  Verhandlungen  wahren, 
wenn  nur  ein  direktes  Eingreifen  in  den  österreichisch-serbischen 
Streit  unterblieb.  Der  Gang  der  Ereignisse  hat  dieser  Auffassung 
insofern  recht  gegeben,  als.  durch  die  vermittelnde  Tätigkeit  der 
deutschen  Regierung  die  Grundlage  für  eine  Verständigung  ge- 
funden wurde,  die  alle  Beteiligten  befriedigen  konnte.  Lediglich 
ciie  Haltung  der  russischen  Regierung,  die  ohne  jegliche  Provo- 
kation deutscherseits  Heer  und  Flotte  gegen  das  die  Vermittlung 
betreibende  Deutsche  Reich  mobilisierte,  hat  die  Möglichkeit  ver- 
nichtet, einen  Ausgleich  zu  schaffen. 

Andererseits  war  es  von  vornherein  klar,  daß  jed33  Eingreifen 
dritter  Mächte  infolge  der  verschiedenen  Bündnispflichten  unab- 
sehbare Folgen  nach  sich  ziehen  würde.  Die  deutsche  Regierung 
wies  daher,  noch  ehe  sie  den  Wortlaut  des  österreichisch-ungarischen 
Ultimatums  kannte,  ihre  Botschafter  an,  bei  den  Regierungen  der 
Dreiverbandsmächte  zu  erklären,  daß  es  das  ernste  Bestreben  der 
Mächte  sein  müsse,  den  ausbrechenden  Konflikt  auf  die  beiden 
direkt  Beteiligten  zu  beschränken,  da  es  sich  in  der  vorliegenden 
Frage  um  eine  lediglich  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Serbien 
zum  Austrag  zu  bringende  Angelegenheit  handele  (Weißbuch 
Nr.  100). 


47 

Es  sei  daran  erinnert,  daß  die  französische  Regierung,  die  über 
die  Entstehung  des  Balkanbundes  und  seine  Ziele  genau  unter- 
richtet war,  zu  Anfang  des  ersten  Balkankrieges  eine  sicherlich 
mit  Petersburg  vereinbarte  Formel  für  eine  allseitige  Desinter- 
essementserklärung  vorschlug.  Dies  entspricht  dem  deutschen 
Lokalisierungsvorschlag,  der  gegen  Rußland  gerichtet  war,  ebenso 
wie  die  französische  Formel  von  1912  sich  gegen  Österreich- 
Ungarn  richtete. 


B.  Aufnahme  in  Frankreich 

Der  deutsche  Lokalisierungsvorschlag  fand  in  Paris  zunächst 
eine  freundliche  Aufnahme.  Der  deutsche  Botschafter  konnte 
am  24.  Juli  berichten: 

„Der  den  Ministerpräsidenten  vertretende  Justizminister,  bei  dem  ich 
mich  im  Sinne  Erlasses  918  aussprach,  war  sichtlich  erleichtert  von  unserer 
Auffassung,  daß  österreichisch-serbischer  Konflikt  lediglich  zwischen  den 
beiden  Beteiligten  zum  Austrag  zu  bringen.  Französische  Regierung  teile 
aufrichtig  Wunsch,  daß  Konflikt  lokalisiert  bleibe,  und  werde  sich  in  diesem 
Sinne  im  Interesse  der  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  bemühen.  Sie 
verhehle  sich  dabei  freilich  nicht,  daß  es  einer  Macht  wie  Rußland,  die  mit 
panslawistischer  Strömung  zu  rechnen  habe,  nicht  leicht  fallen  könnte,  sich 
vollständig  zu  desinteressieren,  namentlich  dann,  wenn  Österreich-Ungarn 
auf  sofortige  Erfüllung  aller  Forderungen  bestehen  sollte,  auch  solchen,  welche 
mit  serbischer  Souveränität  schwer  vereinbar  oder  materiell  nicht  sogleich 
ausführbar..."  (Weißbuch  Nr.  154). 

Die  Anhänger  einer  Einmischungspolitik  am  Quai  d'Orsay 
haben  es  aber  nicht  bei  der  verständigen  Auffassung  des  stellver- 
tretenden Ministers  des  Äußeren,  Bienvenu-Martin,  bewenden 
lassen.  Das  Gelbbuch  (Nr.  28)  gibt  bereits  eine  Darstellung  der 
Unterredung  des  Botschafters  mit  dem  Minister,  die  von  der 
Schoens  nicht  unwesentlich  abweicht.  Das  französische  Ministe- 
rium des  Äußeren  glaubte  damals  anscheinend,  der  deutsche  Loka- 
lisierungsvorschlag sei  allein  in  Paris  unterbreitet  worden,  und 
legte  ihn  als  Drohung  gegen  Frankreich  aus  (Orangebuch  Nr.  29). 
Diese  Auffassung  teilte  es  der  Presse  mit.  Am  25.  Juli  früh  brachte 
der  „Echo  de  Paris"  eine  in  diesem  Sinne  entstellte  Wiedergabe 
der  Erklärung  des  deutschen  Botschafters;  andere  Blätter  haben 
sich  diese  Darstellung  ebenfalls  zu  eigen  gemacht.'  Die  Schritte, 
die  Schoen  unternahm,  um  diese  irrige  Auffassung  richtig  zu 
stellen,  haben  im  Gelbbuch  (Nr.  36,  ebenso  Orangebuch  Nr.  19) 
eine  gehässige  und  offensichtlich  tendenziös  entstellte  Auslegung 
erfahren. 


48 

C.  Aufnahme  in  England 

Der  deutsche  Lokalisierungsvorschlag  entsprach  insofern  der 
damaligen  Auffassung  der  englischen  Regierung,  als  diese  wieder- 
holt erklärte,  sich  in  den  österreichisch-serbischen  Streit  nicht 
einmischen  und  nur  im  Falle  eines  österreichisch-russischen  Kon- 
fliktes eingreifen  zu  wollen.  Am  24.  Juli  sagte  Grey  dem  deutschen 
Botschafter:  ,,wenn  das  österreichische  Ultimatum  an  Serbien 
nicht  zu  Schwierigkeiten  zwischen  Österreich  und  Rußland  führe, 
hätte  er  nichts  damit  zu  tun".  (Blaubuch  Nr.  11,  Weißbuch 
Nr.  157.)  Ebenso  sagte  er  am  25.  Juli,  daß  er  „kein  Recht  habe, 
sich  zwischen  Österreich  und  Serbien  einzumischen"  (Blaubuch 
Nr.  25),  da  dieser  Streit  ,,ihn  nichts  angehe"  (Weißbuch  Nr.  180), 

Die  englische  Regierung  ist  jedoch  nicht  bei  dieser  Auffassung 
verblieben.  Sie  hat  sie  aus  bisher  unbekannten  Gründen  am 
26.  Juli  aufgegeben.  Aus  dem  englischen  Blaubuch  (Nr.  10)  geht 
aber  hervor,  daß  der  französische  Botschafter  bereits  am  24.  Juli 
versuchte,  Grey  zu  einer  Intervention  in  Wien  zu  bewegen. 


D.  A  u  f  n  ah  m  e  i  n  R  u  ß  1  a  n  d 

Die  russische  Regierung  stellte  sich  von  vornherein  auf  einen 
dem  deutschen  entgegengesetzten  Standpunkt.  Sie  hat,  offenbar 
in  dem  fünfstündigen  Ministerrat  vom  24.  Juli  nachmittags,  also 
noch  vor  der  Mitteilung  des  deutschen  Lokalisierungsvorschlages, 
die  Einmischung  in  den  austro-serbischen  Konflikt  beschlossen. 
Ein  amtliches  Kommunique  vom  24.  Juli  abends  besagte,  ,,die 
Regierung  verfolge  aufs  aufmerksamste  den  Verlauf  des  öster- 
reichisch-serbischen Konfliktes,  dem  Rußland  nicht  gleichgültig 
gegenüberstehen  könne".  (Rotbuch  1914,  Nr.  15,  Orangebuch 
Nr.  10.)  Die  russische  Einmischungspolitik  sollte  durch  mili- 
tärischen Druck  unterstützt  werden.  In  dem  vorerwähnten 
Ministerrat  hat  ,,der  Kriegsminister  (Suchomlinow)  sehr  energisch 
gesprochen  und  bestätigt,  daß  Rußland  zum  Kriege  bereit  sei, 
und  die  übrigen  Minister  haben  sich  voll  angeschlossen;  es  wurde 
in  entsprechendem  Geist  ein  Bericht  an  den  Zaren  fertiggestellt, 
und  dieser  Bericht  wurde  an  demselben  Abend  bestätigt".  (Schrei- 
ben des  Adjutanten  eines  Großfürsten  vom  25.  Juli  1914,  Akten- 
stücke zum  Kriegsausbruch,  1915,  S.  57.  Vgl.  auch  Weißbuch 
Nr.  205.) 

Bereits  am  25.  Juli  wurden  umfassende  militärische  Maß- 
nahmen gegen  Österreich-Ungarn  angeordnet  (Telegramm  des 
Zaren  an  den  Kaiser  vom  30.  Juli,  Weißbuch  Nr.  390).  Diese 
Haltung  entsprach,  wie  das  Gelbbuch  (Nr.  22)  zeigt,  der  bereits 


49 

vor  Überreichung  der  österreichisch-ungarischen  Note  zwischen 
Rußland  und  Frankreich  vereinbarten  EinmischungspoHtik.  Diese 
wiederum  hat,  wie  die  serbischen  Enthüllungen  ergeben,  ihre 
Ursache  in  den  russischerseits  Serbien  seit  Jahren  gemachten 
Zusicherungen  hinsichtlich  einer  dereinst  zu  gewährenden  Unter- 
stützung gegen  Österreich-Ungarn  und  des  Erwerbs  österreichisch- 
ungarischer Gebietsteile. 


2.  Rußlands  Stellungnahme  zum  austro-serbischen  Konflikt 

A.  Aufnahme   der  ös  t  e  r  r  e  i  c  h  i  s  c  h  -  u  n  ga  r  i  s  c  h  e  n 
Note  in  Petersburg 

Die  am  24.  Juli  in  Petersburg  bekannt  gewordenen  öster- 
reichisch-ungarischen Forderungen  an  Serbien  riefen  bei  der 
dortigen  Regierung  eine  außerordentliche  Erregung  hervor  (Weiß- 
buch Nr.  160,  204,  291).  Allem  Anschein  nach  wurde  angenommen, 
daß  Österreich-Ungarn  machtpolitische  Ziele  auf  dem  Balkan 
verfolge.  Es  ist  in  Petersburg  von  einer  Revision  des  Bukarester 
Friedens,  von  einer  Besetzung  des  Sandschak,  einem  Vormarsch 
auf  Saloniki  oder  Konstantinopel  und  ähnlichem  die  Rede  ge- 
wesen (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  73).  Sasonow  sprach  am  24.  Juli 
zu  Pourtales  von  den  weitgehenden  Plänen,  die  Österreich-Ungarn 
habe:  ,,Erst  solle  Serbien  verspeist  werden,  dann  werde  Bulgarien 
darankommen,  und  dann  werden  wir  sie  am  Schwarzen  Meer 
haben".    (Weißbuch  Nr.  204.) 

Rußland  war  von  Anfang  an  bereit,  Krieg  zu  führen,  um  seinen 
Anspruch  durchzusetzen,  die  Art  der  Regelung  des  austro-serbischen 
Konfliktes  selbst  zu  bestimmen.  Am  24.  Juli  früh  erklärte  Sasonow 
dem  englischen  Botschafter,  daß  Krieg  drohe.  Die  russische 
Mobilmachung  werde  auf  jeden  Fall  ausgeführt  werden  müssen 
(Blaubuch  Nr.  6).  Der  Ministerrat,  der  am  24.  Juli  nachmittags 
tagte,  befaßte  sich  in  erster  Linie  mit  der  Frage,  ob  die  innere 
Lage  Rußland  den  Krieg  gestatte.  Diese  Frage  wurde  anscheinend 
bejaht  (Weißbuch  Nr.  205).  Am  25.  Juli  fand  ein  Kronrat  statt, 
in  dem  (nach  Gelbbuch  Nr.  50)  die  Mobilmachung  von  13  Armee- 
korps gegen  Österreich-Ungarn  ,,ins  Auge  gefaßt"  wurde.  Der 
Schönfärber  Paleologue  berichtete  hierüber:  „Diese  Mobilisation 
würde  jedoch  nur  ausgeführt,  wenn  Österreich  Serbien  mit  Waffen- 
gewalt zwingen  wollte,  und  nur  nach  Einholung  der  Ansicht  des 
Ministers  des  Äußern,  dem  die  Aufgabe  zufällt,  das  Datum  fest- 
zusetzen, wobei  ihm  freistehe,  die  Verhandlungen  selbst  in  dem 
Falle  fortzuführen,  daß  Belgrad  besetzt  würde." 


50 

P^  Tatsächlich  ist  jedoch  diese  TeilmobiUsation  bereits  am 
25.  JuH  in  die  Wege  geleitet  worden.  Der  Zar  telegraphierte  am 
30.  Juli,  also  nach  Bekanntgabe  der  Mobilmachung  gegen  Öster- 
reich-Ungarn, an  den  Kaiser:  ,,Die  militärischen  Maßnahmen, 
die  jetzt  in  Kraft  getreten  sind,  wurden  vor  fünf  Tagen  zum  Zwecke 
der  Verteidigung  wegen  der  Vorbereitung  Österreichs  (gegen  Ser- 
bien!) getroffen."  (Weißbuch  Nr.  390.)  Im  Anschluß  an  den 
Kronrat  vom  25.  Juli  wurden  die  Truppenübungen  abgebrochen, 
die  Manöver  abgesagt  und  die  Kriegsschüler  vorzeitig  zu  Offizieren 
befördert  (Weißbuch  Nr.  194,  291),  Maßnahmen,  die  die  Bedeutung 
der  getroffenen   Entscheidungen   kennzeichneten. 

Hierbei  ist  besonders  hervorzuheben,  daß  spätestens  im  Laufe 
des  25.  Juli  das  im  Orangebuch  nicht  wiedergegebene  Telegramm 
des  russischen  Geschäftsträgers  in  Wien  über  seine  Unterredung 
mit  Berchtold  vom  24.  Juli  eingegangen  sein  muß,  in  der  ihm 
der  Minister  erklärte,  das  Ziel  der  österreichisch-ungarischen 
Aktion  bestehe  darin,  die  unhaltbare  Situation  Serbiens  zu  Öster- 
reich-Ungarn zu  klären  und  zu  diesem  Zwecke  die  serbische  Re- 
gierung zu  veranlassen,  einerseits  die  gegen  den  derzeitigen  Bestand 
der  Monarchie  gerichteten  Strömungen  öffentlich  zu  desavouieren 
und  durch  administrative  Maßnahmen  zu  unterdrücken,  anderer- 
seits Österreich-Ungarn  die  Möglichkeit  zu  bieten,  sich  von  der 
gewissenhaften  Durchführung  dieser  Maßnahmen  Rechenschaft 
zu  geben.  Österreich-Ungarn  bezwecke  keine  Gebietserwerbung, 
sondern  lediglich  die  Erhaltung  des  Bestehenden  (Rotbuch  1919, 
II,  Nr.  23).  Darin,  daß  Berchtold  mit  dieser  Erklärung  die  Initia- 
tive ergriff,  lag  ein  bedeutendes  Entgegenkommen.  Der  Umstand, 
daß  allein  Rußland  gegenüber  die  Demarche  in  Belgrad  in  dieser 
Weise  erläutert  wurde,  zeigte,  daß  die  Wiener  Regierung  bereit 
war,  auf  das  besondere  Verhältnis  Serbiens  zu  Rußland  Rücksicht 
zu  nehmen.  Trotz  dieses  Entgegenkommens  und  der  Erklärung 
über  die  Wiener  Absichten  ergriff  jedoch  Rußland  am  25.  Juli 
weitgehende  militärische  Maßnahmen  gegen  Österreich-Ungarn. 


B,     Der    russische     Europäisierungsvorschlag 

Die  russische  Regierung  richtete  am  24.  Juli  das  Ersuchen 
nach  Wien,  die  Serbien  gestellte  Frist  zu  verlängern  und  den 
Mächten  Gelegenheit  zu  geben,  nach  Prüfung  der  Untersuchungs- 
ergebnisse von  Sarajevo  ihrerseits  der  serbischen  Regierung 
Ratschläge  zu  erteilen  (Orangebuch  Nr.  4).  Die  englische,  deutsche, 
italienische  und  französische  Regierung  wurden  gleichzeitig  ge- 
beten, den  russischen  Vorschlag  in  Wien  zu  unterstützen  (Orange- 
buch Nr.  5). 


Trotzdem  sie  sich  grundsätzlich  auf  den  Standpunkt  der 
Nichteinmischung  gestellt  hatte,  erklärte  sich  die  deutsche  Re- 
gierung am  25.  Juli  bereit,  den  russischen  Wunsch  nach  Frist- 
verlängerung nach  Wien  weiterzugeben,  ebenso  wie  sie  dies  mit 
einem  analogen  englischen  Vorschlag  (Blaubuch  Nr.  11,  Weiß- 
buch Nr.  157)  bereits  getan  hatte  (Orangebuch  Nr.  14).  Die  Mit- 
teilung unterblieb  jedoch,  anscheinend,  weil  inzwischen  die  Meldung 
einging,  daß  die  österreichisch-ungarische  Regierung  diese  russische 
Forderung  abgelehnt  habe  (Weißbuch  Nr,  178).  Die  englische, 
französische  und  italienische  Regierung  sandten  ihren  Botschaftern 
in  Wien  entsprechende  Instruktionen  (Blaubuch  Nr.  26,  Gelbbuch 
Nr.  39  und  44).  Diese  Weisungen  gelangten  jedoch  nicht  zur 
Ausführung  (Blaubuch  Nr.  40,  Gelbbuch  Nr.  48). 

Das  Wiener  Kabinett  lehnte  das  russische  Ersuchen  am 
25.  JuH  ab  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  27,  29,  30,  Orangebuch  Nr.  11, 
12),  da  ,,die  von  Rußland  verlangte  Verlängerung  der  Serbien  zur 
Antwort  auf  die  österreichisch-ungarischen  Forderungen  gestellten 
Frist  der  Belgrader  Regierung  die  Möglichkeit  zu  neuen  Winkel- 
zügen und  zur  Verschleppung  geboten  und  der  Einmischung 
einzelner  Mächte  zu  ihrem  Gunsten  Tür  und  Tor  geöffnet  hätte". 
(Rotbuch  1914,  Einleitung.)  Gleichzeitig  wurde  jedoch  dem  russi- 
schen Geschäftsträger  eröffnet,  daß  Serbien  auch  nach  Abbruch 
der  diplomatischen  Beziehungen  durch  uneingeschränkte  Annahme 
der  österreichisch-ungarischen  Forderungen  eine  friedliche  Lösung 
herbeiführen  könne  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  27). 


C.  Die  Gefahren  der  russischen  Haltung 

Angesichts  der  militärischen  Maßnahmen  Rußlands  wies  die 
deutsche  Regierung  die  Kabinette  in  London,  Paris  und  Peters- 
burg auf  die  Erklärung  der  österreichisch-ungarischen  Regierung 
hin,  daß  sie  keinen  territorialen  Gewinn  in  Serbien  beabsichtige, 
den  Bestand  des  Königreichs  nicht  antasten,  sondern  nur  Ruhe 
schaffen  wolle.  Die  englische  und  die  französische  Regierung 
wurden  an  die  Gefahren  erinnert,  die  eine  russische  Mobilmachung 
für  den  Frieden  Europas  bedeutete,  und  gebeten,  in  Petersburg 
einen  mäßigenden  und  beruhigenden  Einfluß  auszuüben.  Ruß- 
land gegenüber  erklärte  sich  die  deutsche  Regierung  bereit,  den 
russischen  Wunsch,  daß  der  Bestand  des  serbischen  Königreichs 
nicht  angetastet  werde,  zu  unterstützen,  und  betonte  zugleich, 
daß  eine  Mobilisierung  der  russischen  Armee  unausbleiblich  einen 
europäischen  Krieg  zur  Folge  haben  müsse  (Weißbuch  Nr.  198, 
199,  200,  219). 

4* 


52 

Dieser  Schritt  der  deutschen  Regierung  begegnete  in  London 
keinem  Entgegenkommen.  Die  enghsche  Regierung  war  inzwischen 
von  ihrem  ursprüngHchen  Standpunkt  der  Nichteinmischung 
abgegangen  und  wünschte,  die  Regelung  des  österreichisch-serbi- 
schen Konfliktes  im  Wege  einer  Botschafterkonferenz  in  London 
herbeizuführen.  Das  einzige  bekannte  Telegramm,  das  Grey 
am  26.  und  27.  Juli  nach  Petersburg  richtete  (Blaubuch  Nr.  47), 
enthält  keinerlei  Rat  zur  Mäßigung  (siehe  auch  Weißbuch  Nr.  218, 
236). 

In  Paris  fand  dagegen  der  deutsche  Vorschlag  zunächst  eine 
günstige  Aufnahme.  Der  deutsche  Botschafter  meldete  unter 
dem  26.  Juli: 

„Der  stellvertretende  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten  ver- 
sicherte mir,  daß  unser  Appell  an  Solidarität  des  Bestrebens  um  Friedens- 
erhaltung hier  ungemein  wohltuend  berühre  und  gebührend  beachtet  werde. 
Er  für  seine  Person  sei  gern  bereit,  in  Petersburg  beruhigend  einwirken  zu 
lassen,  nachdem  durch  österreichisch-ungarische  Versicherung,  daß  keine 
Annexion  beabsichtigt,  Vorbedingung  geschaffen  sei.  Er  könne  mir  aller- 
dings noch  nicht  förmliche  Erklärung  namens  der  französischen  Regierung 
über  Modus  der  Einwirkung  geben,  da  er  zunächst  mit  abwesendem  Minister- 
präsidenten ins  Benehmen  treten  müsse..."  (Weißbuch  Nr.  235). 

Diese  günstige  Aufnahme  verwandelte  sich  jedoch  nachträg- 
lich in  ihr  Gegenteil.  Der  Schritt  des  deutschen  Botschafters  ist, 
ebenso  wie  der  vom  24.  Juli,  im  Gelbbuch  (Nr.  56  und  besonders 
Nr.  57,  61,  62)  entstellt  wiedergegeben  und  verdächtigt  worden. 
Die  französische  Regierung  gab  vor,  der  deutsche  Vorschlag 
gemeinsamer  Tätigkeit  zur  Erhaltung  des  Friedens  sei  ein  Ver- 
such, Frankreich  einzuschüchtern  (Orangebuch  Nr.  29),  Frank- 
reich und  Rußland  zu  veruneinigen  und  Rußland  dadurch  bloß- 
zustellen, daß  die  französische  Regierung  zu  Vorstellungen  in  Peters- 
burg verleitet  würde  (Orangebuch  Nr,  35). 

In  Petersburg  hatten  die  deutschen  Mahnungen  anscheinend 
Erfolg.  Sasonow  versicherte  den  deutschen  Botschafter  seiner 
Friedensliebe : 

„Minister  bat  mich,  Euerer  Exzellenz  für  beide  Mitteilungen,  die  einen 
sehr  guten  Eindruck  machten,  zu  danken  und  dabei  zu  versichern,  daß  der 
Appell  an  unsere  altbewährten  guten  Beziehungen  warmen  Widerhall  bei  ihm 
findet  und  ihn  tief  rührt.  Euere  Exzellenz  könnten  versichert  sein,  daß  Ruß- 
land das  Vertrauen  in  seine  Friedensliebe  nicht  täuschen  werde.  Er  sei  bereit, 
in  seinem  Entgegenkommen  gegen  Österreich  bis  zur  Grenze  zu  gehen  und 
alle  Mittel  zu  erschöpfen,  um  Krisis  friedlicher  Lösung  entgegenzuführen." 
(Weißbuch  Nr.  282.) 

Die  russischen  Kriegsvorbereitungen  wurden  aber,  wie  sich 
bald  herausstellen  sollte,  unverändert  fortgesetzt.  Am  27.  und 
28.  Juli  liefen  zahlreiche  Meldungen  über  Mobilmachungsmaß- 
nahmen in  allen  Teilen  Rußlands  ein.  Sogar  in  Kowno  wurde  der 
Kriegszustand  erklärt  (Weißbuch  Nr.  264). 


53 


3.  Englands  Stellungnahme  zum  austro-serbischen  Konflikt 


Die  englische  Regierung  faßte  von  vornherein  die  MögHchkeit 
ins  Auge,  daß  ein  Konflikt  der  Mächte  aus  dem  österreichisch- 
serbischen Streit  hervorgehen  könne.  Während  sie  sich  auf  den 
Standpunkt  stellte,  sich  in  den  letzteren  nicht  einmischen  zu 
wollen,  machte  sie  frühzeitig  Vorschläge,  um  die  Gefahr  einer 
Ausdehnung  dieses  Konfliktes  zu  vermindern  und  für  den  Fall 
einer  österreichisch-russischen  Spannung  eine  Vermittlung  der 
Mächte  herbeizuführen.  Am  24.  Juli  erklärte  Grey,  falls  das 
österreichisch-ungarische  Ultimatum  zu  keinem  Zwist  zwischen 
Österreich-Ungarn  und  Rußland  führe,  so  habe  er  nichts  damit 
zu  tun.  Für  den  anderen  Fall  aber  regte  er  an,  daß  eine  Ver- 
mittlung der  vier  Mächte  Deutschland,  England, 
Frankreich  und  Italien  im  Sinne  einer  Mäßigung  zugleich  in  Wien 
und  Petersburg  stattfinden  solle.  Grey  bat  ferner,  im  Sinne  einer 
Fristverlängerung  in  Wien  vorstellig  zu  werden,  d.  h.  um  Ein- 
wirkung auf  Österreich-Ungarn,  daß  es  seine  mili- 
tärischen Maßnahmen  gegen  Serbien  nicht  über- 
stürze, damit  Zeit  gewonnen  werde  (Weißbuch  Nr.  157,  Blau- 
buch Nr.  11).  Dieser  Doppelvorschlag  lag  am  25.  Juli  in  Berlin 
vor.  Er  wurde  unverzüglich  nach  Wien  weitergegeben  (Weiß- 
buch Nr.  171)  und  zugleich  Lichnowsky  mitgeteilt,  daß  der  Vor- 
schlag auf  Fristverlängerung  wenig  Aussicht  auf  Annahme  habe 
(Weißbuch  Nr.  164).  Der  Vorschlag  einer  Vermittlung  der  vier 
Mächte  zwischen  Wien  und  Petersburg  wurde  deutscherseits 
angenommen.  Jagow  erklärte  sofort  dem  englischen  Geschäfts- 
träger, ,,wenn  die  Beziehungen  zwischen  Österreich  und  Rußland 
drohend  würden,  sei  er  durchaus  bereit,  auf  Greys  Vorschlag  der 
Zusammenarbeit  der  vier  Mächte  zugunsten  von  Mäßigung  in  Wien 
und  Petersburg  einzugehen".    (Blaubuch  Nr.  18.) 

Eine  Antwort  aus  Wien  erfolgte  nicht.  Unabhängig  von  diesen 
englischen  Vorschlägen  ließ  jedoch  die  österreichisch-ungarische 
Regierung  am  24.  Juli  in  London  erklären,  sie  beabsichtige  nicht, 
sofort  nach  Ablauf  des  Ultimatums  militärisch  gegen  Serbien 
vorzugehen  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  13,  Blaubuch  Nr.  14).  Damit 
war  bereits  dem  ersten  Teil  des  Vorschlages  Greys  Rechnung  ge- 
tragen (vgl.  Weißbuch  Nr.  180).  Eine  englische  Demarche  in 
Wien  im  Sinne  von  Weißbuch  Nr.  157,  Blaubuch  Nr.  11  ist  an- 
scheinend nicht  erfolgt. 

Am  25.  Juli  erweiterte  Grey  in  Weisungen  nach  Petersburg, 
Berlin  und  Wien  seinen  Vermittlungsvorschlag  dahin,  daß  die 
vier  Mächte,  wenn  es  zu  einer  Mobilmachung  der  russischen 
und     österreichisch-ungarischen     Streitkräfte     käme,    gemeinsam 


54 

Rußland  und  Ö  s  t  e  r  r  e  i  c  h  -  U  n  g  a  r  n  bitten  soll- 
ten, die  Grenze  nicht  zu  überschreiten,  und 
den  Mächten  Zeit  zu  geben  zwischen  ihnen  zu  vermitteln  (Blau- 
buch Nr.  24,  25,  26,  Orangebuch  Nr.  22).  Diesen  erweiterten 
Vorschlag  teilte  er  ebenfalls  Lichnowsky  mit  (Weißbuch  Nr.  180). 
Die  deutsche  Regierung  antwortete  hierauf  am  gleichen  Tage, 
sie  sei,  falls  ein  österreichisch-russischer  Streit  entstehen  sollte, 
bereit,  vorbehaltlich  ihrer  bekannten  Bündnispflichten,  zwischen 
Österreich  und  Rußland  mit  den  anderen  Großmächten  zusammen 
eine  Vermittlung  eintreten  zu  lassen  (Weißbuch  Nr.  192).  Die 
Annahme  dieser  beiden  Vermittlungsvorschläge  seitens  der  deut- 
schen Regierung  bedeutete  ein  größeres  Entgegenkommen,  weil 
hierin  eine  ausgesprochene  Rücksichtnahme  auf  Rußlands  Sonder- 
stellung in  bezug  auf  Serbien  und  seine  besonderen  Balkaninter- 
essen lag.  Sie  bildete  ferner  die  Grundlage  für  eine  gemeinsame 
deutsch-englische  Tätigkeit  im  Sinne  der  Erhaltung  des  euro- 
päischen Friedens. 

Am  25.  Juli  trat  Grey  mit  einer  weiteren  Anregung  hervor: 
Deutschland  möge  auf  Wien  einwirken,  damit  die  (weder  in  London 
noch  in  Berlin  bekannte)  serbische  Antwort  als  be- 
friedigend angesehen  werde  (Weißbuch  Nr.  186).  Die 
Minister  unternahmen  diesen  Schritt  auf  Grund  eines  Telegramms 
des  englischen  Geschäftsträgers  in  Belgrad  vom  gleichen  Tage 
(Blaubuch  Nr.  21,  Weißbuch  Nr.  191a),  das,  wie  sich  herausstellen 
sollte,  den  Inhalt  der  serbischen  Note  wenig  zutreffend  wiedergab. 
Auch  diese  Anregung  wurde  noch  in  der  Nacht  zum  26.  Juli  von 
Berlin  nach  Wien  weitergegeben,  war  jedoch  von  den  Ereignissen 
überholt,  als  sie  dort  eintraf. 

Auf  diesen  Vorschlag  muß  sich  die  Äußerung  Jagows  gemäß 
dem  Telegramm  Szögyenys  vom  27.  Juli  (Rotbuch  I9l9,  II, 
Nr.  68)  beziehen : 

„So  sei  bereits  gestern  die  englische  Regierung  durch  den  deutschen  Bot- 
schafter in  London  und  direl<t  durch  ihren  hiesigen  Vertreter  an  ihn,  Staats- 
sekretär, herangetreten,  um  ihn  zu  veranlassen,  den  Wunsch  Englands  betreffs 
unserseitiger  Milderung  der  Note  an  Serbien  zu  unterstützen.  Er,  Jagow, 
habe  darauf  geantwortet,  er  wolle  wohl  Sir  E.  Greys  Wunsch  erfüllen,  Eng- 
lands Begehren  an  Euer  Exzellenz  weiterzuleiten;  er  selbst  könne  dasselbe 
aber  nicht  unterstützen,  da  der  serbische  Konflikt  eine  Prestigefrage  der  öster- 
reichisch-ungarischen Monarchie  sei,  an  der  auch  Deutschland  partizipiere. 

Er,  Staatssekretär,  habe  daher. die  Note  Sir  E.  Greys  an  Herrn  von 
Tschirschky  weitergegeben,  ohne  ihm  aber  Auftrag  zu  erteilen,  dieselbe  Euer 
Exzellenz  vorzulegen;  darauf  hätte  er  dann  dem  englischen  Kabinett  Mit- 
teilung machen  können,  daß  er  den  englischen  Wunsch  nicht  direkt  ablehne 
sondern  sogar  nach  Wien  weitergegeben  habe." 


55 

Offenbar  hat  der  englische  Geschäftsträger  auf  Grund  des 
Telegramms  Greys  vom  25.  Juli  (Blaubuch  Nr.  27,  die  Annahme 
der  serbischen  Antwort  betreffend)  einen  Schritt  beim  Auswärtigen 
Amt  unternommen,  über  dessen  Erfolg  sein  Telegramm  vom  26.  Juli 
(Blaubuch  Nr.  34)  berichtet.  Die  Art  der  Weitergabe  der  englischen 
Anregung  nach  Wien  läßt  sich  aus  der  Anmerkung  zu  Nr.  186  des 
Weißbuches  nicht  erkennen.  Aus  dem  Rotbuch  1919  (II,  Nr.  57) 
geht  aber  hervor,  daß  der  deutsche  Botschafter  in  Wien  den  Wunsch 
Greys  dort  zur  Sprache  gebracht  hat.  Worin  also  die  von  Szögyeny 
gemeldete  Irreführung  Englands  bestehen  soll,  ist  nicht  ersichtlich. 

Der  26.  Juli  war  ein  Sonntag  und  infolgedessen  ,, niemand 
im  Foreign  Office  zu  sprechen"  (Weißbuch  Nr.  218).  Trotzdem 
fand  an  diesem  Tage  ein  völliger  Umschwung  der  Haltung  der 
englischen  Regierung,  d.  h.  Greys,  statt.  Was  an  diesem  Tage 
in  London  vor  sich  ging,  wird  wohl  ewig  Geheimnis  bleiben.  Be- 
zeichnend ist,  daß  das  englische  Blaubuch  kein  Telegramm  nach 
Petersburg  und,  außer  Nr.  36,  den  Vorschlag  einer  Botschafter- 
konferenz, der  weiter  unten  zu  behandeln  ist,  nur  ein  Telegramm 
(Nr.  37)  nach  Paris  wiedergibt,  das  um  Antwort  auf  den  Vorschlag 
einer  Vermittlung  der  vier  Mächte  bittet.  Auch  nach  Rom  (Nr.  36 
ausgenommen)  und  nach  Wien  gingen  angeblich  keine  Telegramme 
von  Bedeutung.  In  irgendeiner  Form  ist  aber  der  englische 
Vorschlag  vom  26.  Juli  (Blaubuch  Nr.  36)  auch  nach  Petersburg 
mitgeteilt  worden  (siehe  Blaubuch  Nr.  53  und  Orangebuch  Nr.  32). 
Die  Weisung  von  Buchanan  ist  jedoch  niemals  veröffentlicht 
worden.  Oman,  der  englische  Offiziosus,  täuscht  über  die  Lücken 
des  Blaubuches  und  den  Umschwung  vom  26.  Juli  dadurch  hin- 
weg, daß  er  bei  der  Erörterung  der  englischen  Vorschläge  die  ver- 
schiedenen Daten  absichtlich  durcheinander  wirft. 

Wir  besitzen  aber  einen  russischen  Situationsbericht  aus 
London  von  diesem  Tage.  In  dem  Bericht  Benckendorffs  vom 
26.  Juli  heißt  es: 

„Sir  E.  Grey  hört  nicht  auf,  mir  zu  wiederholen,  daß  seine  nach  Berlin 
gerichteten  Erklärungen  dort  auf  keinen  Fall  gestatten,  auf  die  Neutralität 
Englands  im  Falle  eines  Krieges  zu  rechnen.  Lichnowsky  war  in  der  Tat  sehr 
verwirrt,  aber  das  kommt  daher,  weil  es  ihm  weh  tat,  daß  es  zum  Kriege  kommt. 
Ich  bin  gar  nicht  sicher,  daß  er  die  Worte  Greys  so  verstanden  hat,  wie  Grey 
es  wünschte.  Das  wiederhole  ich  Grey  daher  täglich  und  in  den  verschiedensten 
Tonarten.  Er  versteckt  sich  hinter  der  Hoffnung  auf  Verhandlungen.  Mir 
gelingt  es  nicht,  ihn  vorwärts  zu  bringen. 

Zum  Unglück  ist  Cambon  nicht  hier,  er  wird  erst  Dienstag  morgen  zurück- 
kommen. Ich  habe  ihn  gebeten,  seine  Rückkehr  zu  beschleunigen.  Ich  hege 
die  Besorgnis,  daß  Grey  seiner  öffentlichen  Meinung  nicht  ganz  sicher  ist  und 
befürchtet,  daß  man  ihn  nicht  unterstützen  werde,  wenn  er  zu  früh  hervor- 
tritt. Sie  haben,  glaube  ich,  Buchanan  gesagt,  daß  die  ganze  englische  Presse, 
die  ,Times'  ausgenommen,  nichts  tauge.  Das  ist  nicht  ganz  richtig.  ,Evening 
Post'    und    andere    Regierungsblätter   gehen    weiter,     ,Westminster  Gaze  te' 


56 

verwandelt  sich  allmählich.  Die  Radikalen  revoltieren  aus  anderen  Gründen 
offen  gegen  das  Kabinett  und  tun  alles  mögliche,  um  die  serbische  Frage  der 
allgemeinen  Teilnahme  zu  entziehen.  Es  muß  aber  hinzugefügt  werden,  daß 
in  diesem  Lager  nicht  ein  Wort  laut  wird,  das  unsere  Haltung  tadelte  oder 
gegen  den  Dreiverband  als  solchen  gerichtet  wäre.  Übrigens,  von  da  bis  zum 
Kriege  ist  es  noch  weit.  Hieraus  entsteht  alles  Zaudern,  so  scheint  mir  wenig- 
stens. Ganz  England  ist  vollständig  von  Ulster  in  Anspruch  genommen 
und  fängt  kaum  an,  zu  erwachen.  Seit  gestern  fängt  es  an,  zu 
begreifen,  daß  der  Krieg  möglich  ist;  seit  gestern  beunruhigt  es  sich  erst  darüber. 
Daß  auch  England  in  den  Krieg  hineingezogen  werden  könnte,  das  kann  die 
langsame  englische  Einbildungskraft  noch  nicht  fassen.  Das  ist  alles  sehr 
traurig,  aber  es  ist  so.  Es  ist  klar,  daß  man  im  englischen  Auswärtigen  Amt 
weiter  sieht,  an  anderen  Stellen  jedoch  nicht.  Es  will  mir  nicht  gelingen,  Grey 
die  Maske  abzunehmen.  Ich  kann  ihnen  nicht  versprechen,  daß  mir  dies  ge- 
lingen wird.  Ihre  Stellung  ist  prächtig.  Die  Zurückhaltung  in  Ihren  Aus- 
drücken und  die  Vorsicht,  mit  der  Sie  das  Ziel  Ihrer  zukünftigen  Handlungen 
vorbereiten,  sind  wunderbar.  Es  ist  nötig,  unumgänglich  notwendig  für  Sie, 
sich  die  englische  Mitarbeiterschaft  zu  sichern.  Wenn  sie  auch  spät  kommen 
wird,  so  wird  sie  doch  unausbleiblich  kommen.  Ich  wiederhole  jedoch:  Eng- 
land ist  noch  nicht  erwacht.  Es  ist  leicht  möglich,  daß  Grey  darunter  nicht 
weniger  leidet  als  wir;  das  hilft  uns  jedoch  wenig. 

Es  ist  wahr,  daß  Österreich,  wie  man  sagt,  nicht  auf  einmal  den  Krieg 
beginnen  wird.  Vorläufig  besteht  noch  ein  kleiner  Hoffnungsstrahl.  Was 
die  Rolle  Deutschlands  anbetrifft,  so  erscheint  mir  dieselbe  in  dunklerem  Lichte 
als  allen  übrigen.  Und  darauf  stütze  ich  mich  eben  hier;  England  fürchtet 
sich  nicht  so  vor  dem  Vorrang  Österreichs  auf  der  Balkanhalbinsel,  wie  vor  dem 
Vorrang  Deutschlands  in  der  Welt."  (Deutsche  Allgemeine  Zeitung  vom 
28.  8.  1919.) 

Am  27.  Juli  telegraphierte  Benckendorff  dagegen: 

,,Die  Sprache  Greys  ist  seit  heute  viel  klarer  und  merkbar  fester  als  bis- 
her. Er  rechnet  sehr  auf  den  Eindruck,  der  durch  die  bei  der  Flotte  veranlaßten, 
heute  veröffentlichten  und  Sonnabend  (25.  Juli)  abend  beschlossenen  Maß- 
nahmen hervorgerufen  wurde.  Das  gestern  eingetroffene  Telegramm  Buchanans 
machte  anscheinend  einen  sehr  nützlichen  Eindruck.  Jedenfalls  hat 
die  Zuversicht  Berlins  und  Wiens  in  bezug  auf  die 
Neutralität  Englands  keinen  Grund  meh  r."  (Prawda 
Nr.  7  vom  9.  März  1919.) 

Das  Telegramm  Buchanans,  das  den  „nützlichen  Eindruck" 
hervorrief,  fehlt  im  englischen  Blaubuch! 

Der  Umschwung  in  der  Haltung  der  englischen  Regierung 
machte  sich  sofort  in  den  diplomatischen  Verhandlungen  be- 
merkbar. Während  sie  bisher  erklärt  hatte,  sich  in  den  öster- 
reichisch-serbischen Zwist  nicht  hineinmischen  zu  wollen,  schlug 
sie  nunmehr  eine  Botschafterkonferenz  in  London 
zur  Lösung  der  österreichisch  -serbischen  Frage  vor.  Die 
erste  Nachricht  von  diesem  Vorschlag  Greys  gelangte  am  27.  Juli 
in  dem  wenig  klaren  Telegramm  Lichnowskys  (Weißbuch  Nr.  236) 
nach  Berlin.  Seine  Annahme  hätte  die  Aufgabe  der  Lokalisierungs- 
politik bedeutet.   Die  deutsche  Regierung  lehnte  es  ab,  die  Schwen- 


57 

kung  Englands  mitzumachen  und  erklärte,  daß  sich  ihre  Vermittler- 
tätigkeit auf  die  Gefahr  eines  österreichisch-russischen  Konfliktes 
beschränken  müsse:  es  sei  ihr  nicht  möglich,  ihren  Bundesgenossen 
in  seinen  Auseinandersetzungen  mit  Serbien  vor  ein  europäisches 
Gericht  zu  ziehen  (Weißbuch  Nr.  248).  Der  englische  Botschafter, 
der  ebenfalls  noch  am  27.  Juli  auf  Grund  von  Greys  Weisung 
(Blaubuch  Nr.  36)  den  Konferenzvorschlag  vertrat  (Weißbuch 
Nr.  304),  erhielt  von  Jagow  einen  analogen  Bescheid  (Blaubuch 
Nr.  43). 

Das  Verfahren  einer  Botschafterkonferenz  wäre  überhaupt 
nur  mit  Einwilligung  der  meistinteressierten  Parteien  anwendbar 
gewesen.  Österreich-Ungarn  hat  es  abgelehnt,  diesen  Weg  zu  be- 
schreiten (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  81),  da  ,, dieser  Vorschlag  an  und 
für  sich  nicht  geeignet  war,  die  Interessen  der  Monarchie  sicher- 
zustellen". (Rotbuch  1914,  Einleitung.)  Rußland  erklärte  sich 
zwar  mit  diesem  Vorschlage  im  Prinzip  einverstanden,  zog  aber 
den  Weg  direkter  Besprechungen  mit  Wien  vor,  den  auch  die 
deutsche  Regierung  als  den  besten  ansah  (Orangebuch  Nr.  32, 
Blaubuch  Nr.  53,  Weißbuch  Nr.  248).  Die  russische  Antwort 
bedeutete  eine  Ablehnung  des  Konferenzvorschlages,  Es  ist  be- 
zeichnend, daß  das  Telegramm  Buchanans  über  den  ihm  von 
Sasonow  erteilten  Bescheid  im  Blaubuch  fehlt.  Die  Ablehnung 
wird  darin  sicherlich  viel  klarer  als  in  dem  russischen  Telegramm 
zum  Ausdruck  gekommen  sein.  Im  übrigen  meldete  der  fran- 
zösische Botschafter  am  29.  Juli,  er  sei  n  u  n  m  e  h  r  in  der  Lage, 
versichern  zu  können,  daß  sich  die  russische  Regierung  jedem 
Vorgehen  anschließe,  das  Frankreich  und  England  zur  Erhaltung 
des  Friedens  vorschlagen  würden".  (Gelbbuch  Nr.  86.)  Zunächst 
hatte  Rußland  dies  also  abgelehnt. 

Für  die  deutsche  Regierung  lag  noch  weniger  Grund  vor, 
sich  für  diesen  englischen  Vorschlag  einzusetzen.  Da  Italien 
politisch  auf  der  Seite  Serbiens  stand,  hätte  sich  Deutschland 
bei  der  Konferenz  der  Majorität  der  drei  anderen  Konferenz- 
teilnehmer gegenüber  befunden.  Hiervon  abgesehen  aber  konnten 
die  Erfahrungen'  der  Londoner  Botschafterkonferenz  während  der 
Balkankriege,  wo  man  sich  in  den  von  allen  Beteiligten  als  qual- 
voll empfundenen  endlosen  Verhandlungen  in  Wochen,  ja  Monaten 
nicht  über  ein  einziges  Dorf  einigen  konnte,  unmöglich  zu  einer 
Wiederholung  dieses  Verfahrens  ermutigen.  Die  Verhandlungen 
hätten  sich  auch  in  diesem  Falle  zweifellos  lange  hingezogen, 
während  gleichzeitig  die  militärischen  Vorbereitungen  Rußlands, 
die  bereits  am  25.  Juli,  begonnen  hatten,  ihren  raschen  Fortgang 
nahmen.  Das  hätte  schließlich  zu  Gegenmaßnahmen  der  Mittel- 
mächte  führen   müssen,   und   es  wäre   eine   nervöse   Atmosphäre 


58 

geschaffen  worden,  die  einen  friedlichen  Ausgang  schwerUch 
gefördert  hätte.  Gerade  aus  dieser  Erwägung  heraus,  aus  der 
Sorge  vor  einer  Europäisierung  des  KonfHktes,  ist  das  Bestreben 
der  deutschen  Regierung  vom  ersten  Augenblick  darauf  gerichtet 
gewesen,  die  Auseinandersetzung  zwischen  Österreich-Ungarn 
und  Serbien  zunächst  auf  diese  beiden  Staaten  zu  beschränken  und, 
falls  dies  nicht  gelang,  wenn  Rußland  sich  nicht  bewegen  ließ, 
auf  eine  Einmischung  in  die  Streitfrage  zu  verzichten,  dann  wenig- 
stens zu  verhindern,  daß  der  Konflikt  sich  zu  einer  Machtfrage 
zwischen  den  beiden  Gruppen  auswachse,  in  die  Europa  geteilt 
war  (Weißbuch  Nr.  279,  314).  Dieser  Gefahr  konnte  nach  An- 
sicht der  deutschen  Regierung  am  zweckmäßigsten  durch  einen 
direkten  Ausgleich  zwischen  Österreich-Ungarn  und  Rußland 
begegnet  werden,  da  diese  beiden  Mächte  als  nächstbeteiligte  am 
ehesten  in  der  Lage  waren,  eine  befriedigende  Lösung  zu  finden, 
viel  leichter  jedenfalls  und  viel  schneller,  als  die  Vertreter  der  vier 
nicht  unmittelbar  beteiligten  Mächte  in  London. 

Von  gegnerischer  Seite  ist  der  deutschen  Regierung  aus  der 
Ablehnung  des  Londoner  Konferenzvorschlages  ein  besonderer 
Vorwurf  gemacht  worden,  und  es  ist  behauptet  worden,  damit  se 
die  einzige  Möglichkeit,  den  europäischen  Frieden  zu  erhalten, 
verabsäumt  worden.  Diese  Darstellung,  die  dem  wahren  Sach- 
verhalt nicht  Rechnung  trägt,  begründet  sich  lediglich  mit  der 
Tatsache,  daß  dies  der  einzige  der  zahlreichen  englischen  Vor- 
schläge gewesen  ist,  den  die  deutsche  Regierung  nicht,  annahm. 
Grey  hat  sich  den  deutschen  Bedenken  gegen  den  Konferenzvor- 
schlag nicht  verschlossen.  Er  zog  ihn  selbst  zugunsten  der  in- 
zwischen eingeleiteten  direkten  Besprechungen  zwischen  Wien 
und  Petersburg  zurück  (Blaubuch  Nr.  67,  68).  Auch  der  fran- 
zösische Botschafter  in  Berlin  stellte  sich  auf  den  Standpunkt, 
daß  eine  formelle  Konferenz  unnötig,  und  daß  ein  gemeinsames 
Vorgehen  der  vier  Mächte  in  Wien  und  Petersburg,  dem  Deutsch- 
land zugestimmt  hatte,  sich  auf  diplomatischem  Wege  ausführen 
ließe  (Gelbbuch  Nr.  73),  Desgleichen  äußerten  die  Botschafter 
der  Verbandsmächte  in  Wien  sogleich  Zweifel  an  der  Durchführ- 
barkeit des  Konferenzvorschlages  (Blaubuch  Nr.  40). 

An  diesen  Konferenzvorschlag  knüpft  das  machiavellistische 
Telegramm  Szögyenys  vom  27.  Juli  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  68) 
an.  Die  Unterredung  mit  Jagow  fand  offenbar  zwischen  dem 
Eingang  des  Telegramms  Lichnowskys  (Weißbuch  Nr.  236)  und 
der  Demarche  des  englischen  Botschafters  (Weißbuch  Nr.  304, 
Blaubuch  Nr.  43)  statt: 

„Staatssekretär  erklärte  mir  in  streng  vertraulicher  Form  sehr  entschieden, 
daß  in  der  nächsten  Zeit  eventuell  Vermittlungsvorschläge  Englands  durch 
die  deutsche  Regierung  zur  Kenntnis  Euer  Exzellenz  gebracht  würden. 


59 

Die  deutsche  Regierung  versicherte  auf  das  bündigste,  daß  sie  sich  in  keiner 
Weise  mit  den  Vorschlägen  identifiziere,  sogar  entschieden  gegen  deren  Be- 
rücksichtigung sei  und  dieselben  nur,  um  der  englischen  Bitte  Rechnung  zu 
tragen,  weitergebe. 

Sie  gehe  dabei  von  dem  Gesichtspunkt  aus,  daß  es  von  der  größten  Be- 
deutung sei,  daß  England  im  jetzigen  Moment  nicht  gemeinsame  Sache  mit 
Rußland  und  Frankreich  mache.  Daher  müsse  alles  vermieden  werden,  daß 
der  bisher  gut  funktionierende  Draht  zwischen  Deutschland  und  England 
abgebrochen  werde.  Würde  nun  Deutschland  Sir  E.  Grey  glatt  erklären,  daß 
es  seine  Wünsche  an  Österreich-Ungarn,  von  denen  England  glaubt,  daß  sie 
durch  Vermittlung  Deutschlands  eher  Berücksichtigung  bei  uns  finden,  nicht 
weitergeben  will,  so  würde  eben  dieser  vorerwähnte,  unbedingt  zu  vermeidende 
Zustand  eintreten. 

Die  deutsche  Regierung  würde  übrigens  bei  jedem  einzelnen  derartigen 
Verlangen  Englands  in  Wien  demselben  auf  das  ausdrücklichste  erklären, 
daß  es  in  keiner  Weise  derartige  Interventionsverlangen  Österreich-Ungarn 
gegenüber  unterstütze  und  nur,  um  Wunsch  Englands  zu  entsprechen,  die- 
selben weitergebe." 

Die  Mehrzahl  —  Vorschläge  —  ist  natürlich  Unsinn.  Kein 
Politiker  wird  zu  Anregungen  bindend  Stellung  nehmen,  die  er 
überhaupt  noch  nicht  kennt.  Jagow  hat  offensichtlich  nur  von 
der  Botschafterkonferenz  gesprochen,  die  Nicolson  und  Tyrrell 
Lichnowsky  gegenüber  erwähnt  hatten,  die  aber  noch  nicht  offiziell 
angeregt  worden  war.  Was  die  weitere  Behandlung  dieses  eng- 
lischen Vorschlags  anlangt,  so  ist  seine  Weitergabe  von  Berlin 
nach  Wien  deutscherseits  überhaupt  nicht  erfolgt.  Darum  hat 
London  auch  niemals  gebeten.  Der  englischen  Regierung  ist  auch 
die  Berliner  Stellungnahme  klipp  und  klar  mitgeteilt  worden 
(Weißbuch  Nr.  248,  Blaubuch  Nr.  43).  Jagow  kam  es  anscheinend 
darauf  an,  daß  Österreich-Ungarn  nicht  durch  Eingehen  auf  den 
englischen  Vorschlag  einer  Botschafterkonferenz  Deutschland  in 
die  schwierige  Lage  bringe,  den  Strauß  in  London  allein  durch- 
zufechten und  Forderungen  zu  vertreten,  die  es  selbst  nicht  völlig 
billigte.  Wie  Lichnowsky  damals  (im  Gegensatz  zu  1916)  über 
diese  Möglichkeit  dachte,  geht  aus  seinem  Telegramm  vom  30.  Juli 
1914  (Weißbuch  Nr.  418)  hervor,  in  dem  es  heißt: 

„Halte  Berlin  für  geeigneter  als  London  zur  Vermittlung  einer  Einigung 
zwischen  Wien  und  Petersburg,  da  Sir  E.  Grey  weniger  mit  ganzer  Frage  ver- 
traut, auch  weniger  Einfluß  in  Wien  besitzt,  und  ich  langwierige  Verhand- 
lungen hier  voraussehe,  namentlich  falls  Botschafterkonferenz  stattfinden  sollte. 
Graf  Mensdorff  auch  zu  ängstlich  und  ohne  Einfluß  in  Wien  oder  eigene 
Initiative." 

4.  Frankreichs  Stellungnahme  zum  austro-serbischen   Konflikt 

Die  Haltung  der  französischen  Diplomaten  gegenüber  dem 
heraufziehenden  austro-serbischen  Konflikt  ist  in  der  Zeit  vor 
Überreichung  der  österreichisch-ungarischen  Note  durchweg  par- 
teiisch serbenfreundlich  gewesen.  Schon  am  2.  Juli  wußte  Dumaine 


60 

aus  Wien  zu  berichten,  daß  die  Untersuchung,  die  Österreich- 
Ungarn  von  Serbien  fordern  möchte,  Bedingungen  enthalten  werde, 
die  für  die  Würde  Serbiens  unerträglich  seien  (Gelbbuch  Nr.  8). 
Als  Paleologue  am  6.  Juli  aus  Petersburg  meldete,  Sasonow  habe 
erklärt,  es  sei  unzulässig,  daß  Österreich-Ungarn  den  Anstiftern 
des  Mordes  von  Sarajevo  auf  serbischem  Gebiet  nachspüre,  und 
Österreich-Ungarn  gewarnt,  sich  auf  diesen  Weg  zu  begeben, 
fügte  er  hinzu:  „Möge  diese  Warnung  nicht  vergeblich  sein." 
(Gelbbuch  Nr.  10.) 

Andererseits  erklärte  aber  Poincare  am  4.  Juli,  er  sei  über- 
zeugt, ,,die  serbische  Regierung  werde  bei  der  gerichtlichen  Unter- 
suchung und  der  Verfolgung  eventueller  Mitschuldiger  das  größte 
Entgegenkommen  zeigen.  Einer  solchen  Pflicht  könne  sich  kein 
Staat  entziehen".  (Rotbuch  1914,  Nr.  4.)  Auch  Dumaine  sah 
noch  am  22.  Juli  Österreich-Ungarns  Forderungen  wegen  der  Be- 
strafung des  Attentates  und  gewisser  Garantien  für  die  Über- 
wachung und  die  Polizeiaufsicht  als  „für  die  Würde  Serbiens 
nicht  unannehmbar"  an  (Gelbbuch  Nr.  18). 

Der  Pariser  Regierung  wurde  jedoch  ihre  Haltung  im  austro- 
serbischen  Konflikt  durch  ein  Telegramm  des  Ministerpräsidenten 
und  Ministers  des  Äußern  Viviani  vorgezeichnet,  das  dieser  ohne 
Kenntnis  der  österreichisch-ungarischen  Demarche  in  Belgrad  in 
der  Nacht  vom  23.  zum  24.  Juli  aus  Reval  absandte  (Gelbbuch 
Nr.  22).  Aus  diesem  Telegramm  geht  hervor,  daß  Frankreich  und 
Rußland  eine  gemeinsame  Intervention  in  Wien  zugunsten  Ser- 
biens vereinbart  und  England  aufgefordert  hatten,  sich  an  diesem 
Schritt  zu  beteiligen.  Trotzdem  fand  der  deutsche  Lokalisierungs- 
vorschlag, wie  bereits  erwähnt,  am  24.  Juli  in  Paris  beim  stellver- 
tretenden Ministerpräsidenten  zunächst  eine  günstige  Aufnahme. 
Auch  Österreich-Ungarn  gegenüber  zeigte  Bienvenu-Martin  Ent- 
gegenkommen, indem  er  erklärte,  die  Ereignisse  der  letzten  Zeit 
und  die  Haltung  der  serbischen  Regierung  ließen  ein  energisches 
Einschreiten  Österreich-Ungarns  ganz  begreiflich  erscheinen  (Rot- 
buch 1919,  H,  Nr.  9). 

Zugleich  aber  machte  sich  das  Bestreben  geltend,  den  Kon- 
flikt zu  europäisieren,  Deutschland  in  denselben  hineinzuziehen 
und  Deutschland  in  Gegensatz  zu  Rußland  zu  bringen.  Die  fran- 
zösischen Vertreter  im  Ausland  wetteiferten  mit  der  Regierung 
in  Paris  in  Verdächtigungen  der  deutschen  Haltung  vor  und  nach 
der  Überreichung  der  österreichisch-ungarischen  Note  in  Belgrad. 

Der  französische  Botschafter  in  Berlin  meldete  seiner  Regie- 
rung, Deutschland  habe  Österreich-Ungarn  zum  Kriege  (gegen 
Serbien)  gedrängt  (Weißbuch  Nr.  415).  Er  verbreitete,  Berlin 
habe  Wien  zu  der  scharfen  Note  an  Serbien  veranlaßt  und  sei  an 


61 

deren  Abfassung  beteiligt.  Hartnäckig  hielt  er  an  dieser  Ansicht 
fest  (Weißbuch  Nr.  153,  Gelbbuch  Nr.  15,  17,  30,  35). 

Der  französische  Botschafter  in  Wien  knüpfte  am  28.  Juli 
an  die  Kriegserklärung  Österreich-Ungarns  an  Serbien  die  Ver- 
dächtigung, „daß  Deutschland  zum  Angriff  auf  Serbien  gedrängt 
habe,  um  selbst  unter  den  nach  seinem  Dafürhalten  günstigsten 
Umständen  und  unter  wohlerwogenen  Bedingungen  mit  Rußland 
und  Frankreich  in  den  Kampf  eintreten  zu  können".  (Gelb- 
buch Nr.  83.) 

Der  französische  Botschafter  in  London  bemühte  sich  von 
Anfang  an,  Grey  zum  Eingreifen  anzutreiben.  Bereits  am  24.  Juli 
befürwortete  er  eine  Intervention  der  Mächte  in  Wien.  Während 
er  eine  Einwirkung  auf  Petersburg  als  unangebracht  hinstellte, 
schlug  er  vor,  daß  Deutschland  eine  Vermittlung  der  Mächte 
zwischen  Wien  und  Belgrad  herbeiführen  solle  (Blaubuch  Nr.  10). 

Der  französische  Botschafter  in  Petersburg  hat  sich  vollends 
als  Kriegshetzer  erwiesen.  In  der  aus  dem  Blaubuch  (Nr.  6)  be- 
kannten Unterredung  vom  24.  Juli  zwischen  Sasonow,  Buchanan 
und  Paleologue  erklärte  letzterer,  Frankreich  sei  zum  Kriege 
um  die  serbische  Frage  bereit.  Frankreich  würde  alle  Verpflich- 
tungen erfüllen,  die  das  Bündnis  mit  Rußland  nach  sich  ziehen 
müßte.  Obwohl  Sasonow  in  dieser  Unterredung  (gemäß  Blaubuch 
Nr.  6)  von  Krieg  und  Mobilmachung  sprach,  berichtete  Paleologue 
nach  Paris:  ,,Die  Absichten  des  Zaren  und  seiner  Minister  sind 
die  friedlichsten."  (Gelbbuch  Nr.  31.)  Er  verbreitete  in  Peters- 
burg die  Auffassung,  Deutschland  treibe  zum  Konflikt.  Es  handele 
sich  schon  jetzt  nicht  mehr  um  einen  austro-serbischen,  sondern 
um  einen  russisch-deutschen  Konflikt  (Weißbuch  Nr.  215).  In- 
folgedessen sah  sich  der  deutsche  Botschafter  veranlaßt,  eine  Er- 
klärung an  die  Presse  abzugeben  und  am  25.  Juli  die  aus  dem 
Orangebuch  (Nr.  18)  bekannte  Note  zu  überreichen.  Die  Wetscher- 
noje  Wremja  mußte  am  26.  Juli,  einem  Sonntag,  eine  Extra- 
Ausgabe  veranstalten,  um  Paleologues  Kriegstrompete  erschallen 
zu  lassen  (Weißbuch  Nr.  289,  290).  Dieser  wußte  auch  als  erster 
die  russische  Gesamtmobilmachung  zu  melden. 

Die  Veröffentlichungen  unserer  Gegner  zeigen  ferner,  daß 
die  französischen  Botschafter  in  Berlin,  Petersburg  und  London 
in  den  ersten  Tagen  der  Verhandlungen  nahezu  gar  nichts  getan 
haben,  um  einer  friedlichen  Lösung  die  Wege  zu  ebnen.  Von  einer 
mäßigenden  Einwirkung  auf  den  russischen  Bundesgenossen  war 
keine  Rede.  Vielmehr  zeigten  sie  sich  bemüht,  das  Revaler  Aktions- 
programm vom  24.  Juli  (Gelbbuch  Nr,  22)  mit  seiner  serbenfreund- 
lichen, europäisierenden,  gegen  die  Mittelmächte  gerichteten  Tendenz 
in  die  Wirklichkeit  umzusetzen. 


62 


IV.  Der  österreichisch-russische  Konflikt 

1.  Direkte  Besprechungen  zwischen  Wien  und  Petersburg 

Die  deutsche  Regierung  erwartete  die  Beilegung  des  drohenden 
österreichisch-russischen  Konfliktes  von  den  direkten  Besprechun- 
gen, die  der  russische  Minister  des  Äußern  am  26.  Juli  unter  Auf- 
gabe seiner  ursprünglichen,  unversöhnlichen  Haltung  im  Anschluß 
an  seine  Unterredungen  mit  dem  österreichisch-ungarischen  und 
dem  deutschen  Botschafter  vorgeschlagen  hatte.  Sasonow  hat 
später  erklärt,  daß  er  diese  Anregung  Pourtales'  Rate  verdanke 
(Blaubuch  Nr.  78,  vgl.  Weißbuch  Nr.  238).  Deutscherseits  war 
allerdings  wohl  nicht  bekannt,  daß  Sasonow  in  seinem  Telegramm 
nach  Wien  (Orangebuch  Nr,  25)  das  Ansinnen  gestellt  hatte, 
den  österreichisch-ungarischen  Botschafter  in  Petersburg  zu  er- 
mächtigen, gemeinsam  mit  ihm  ,, einige  Artikel  der  Note  vom 
23.  Juli  umzuarbeiten".  Sonst  würde  man  in  Berlin  wohl  keine 
großen  Hoffnungen  an  diese  Besprechungen  geknüpft  haben. 
Daß  die  Wiener  Regierung  in  eine  Abänderung  der  von  ihr  gestellten 
Forderungen  gemäß  den  nicht  näher  bezeichneten  Wünschen 
Sasonows  einwilligte  und  damit  Rußland  zum  Richter  in  ihrem 
Streit  mit  Serbien  einsetzte,  war  nicht  zu  erwarten.  Hingegen 
wäre  eine  Verständigung  über  die  Wahrung  berechtigter  Interessen 
Rußlands  bei  der  Durchführung  der  österreichisch-ungarischen 
Aktion  sehr  wohl  möglich  gewesen.  In  diesem  Sinne  wurde  auch 
der  russische  Vorschlag  am  27.  Juli  deutscherseits  nach  Wien 
weitergegeben  (vgl.  Weißbuch  Nr.  238,  277)  und  am  28.  Juli  nach 
Petersburg  mitgeteilt,  man  hoffe,  daß  Österreich-Ungarns  terri- 
toriale Desinteressementserklärung  Rußland  genügen  und  als  Basis 
für  weitere  Verständigung  dienen  werde  (Weißbuch  Nr.  300). 

In  Wien  war  man  aber,  wie  heute  bekannt  ist,  fest  entschlossen, 
unter  allen  Umständen  es  zum  Kriege  gegen  Serbien  kommen  zu 
lassen.  Am  28.  Juli  erfolgte  die  Kriegserklärung,  und  am  gleichen 
Tage  lehnte  die  österreichisch-ungarische  Regierung  es  nicht  nur 
ab,  ihre  Note  vom  23.  Juli  zu  erörtern  oder  abzuändern,  sondern 
auch  über  den  Wortlaut  der  serbische  Antwort  zu  verhandeln 
(Rotbuch  1919,  II,  Nr.  95,  Orangebuch  Nr.  45).  Österreich- 
Ungarn  hatte  aber  seit  der  Erklärung  Berchtolds  vom  24.  Juli 
(Rotbuch  1919,  II,  Nr.  23)  wiederholt  sich  bestrebt  gezeigt,  Ruß- 
land über  seine  Absichten  gegen  Serbien  zu  beruhigen  und  eine 
Verständigung  über  sein  Vorgehen  herbeizuführen.  Am  25,  Juli 
wurde  der  österreichisch-ungarische  Botschafter  in  Petersburg 
angewiesen,   zu   erklären,   daß   die   Monarchie   in    Serbien    keine 


63 

eigennützigen  Motive  verfolge,  keinen  territorialen  Gewinn  an- 
strebe und  auch  die  Souveränität  Serbiens  nicht  anzutasten  ge- 
dächte (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  42).  Die  von  Sasonow  am  24.  Juli 
(Rotbuch  1919,  II,  Nr.  17,  18)  besonders  beanstandete  Forderung, 
betreffend  die  Beteiligung  von  österreichisch-ungarischen  Funktio- 
nären bei  der  Unterdrückung  der  subversiven  Bewegung  in  Serbien, 
wurde  am  25.  Juli  in  entgegenkommendem  Sinne  erläutert  (Rot- 
buch 1919,  II,  Nr.  38).  Am  26.  Juli  erklärte  der  österreichisch- 
ungarische Botschafter  in  Petersburg,  die  anscheinend  dort  viel- 
fach gehegten  Befürchtungen,  daß  es  sich  bei  dem  Vorgehen  gegen 
Serbien  um  einen  Eroberungsfeldzug  oder  einen  Präventivkrieg 
gegen  Rußland  handele,  seien  gänzlich  unbegründet.  ,, Niemand 
in  Österreich-Ungarn  falle  es  ein,  russische  Interessen  bedrohen 
oder  gar  Händel  mit  Rußland  suchen  zu  wollen"  (Rotbuch  1919, 

II,  Nr.  73).  Trotzdem  sah  Sasonow  in  der  Ablehnung  der  öster- 
reichisch-ungarischen Regierung,  in  eine  Erörterung  der  Noten- 
texte einzutreten,  eine  Weigerung  des  Wiener  Kabinetts,  über- 
haupt in  einen  Meinungsaustausch  mit  Rußland  zu  willigen  (Orange- 
buch Nr.  50).  Diese  Auslegung  der  Wiener  Antwort  bildete 
jedoch  nur  einen  Vorwand,  um  die  direkten  Besprechungen  zwischen 
Wien  und  Petersburg  als  gescheitert  hinzustellen;  denn  bereits 
am  28.  Juli  hatte  Sasonow  erklärt,  die  Kriegserklärung  an  Serbien 
mache  diesen  Verhandlungen  ein  Ende  (Blaubuch  Nr.  70,  Orange- 
buch Nr.  48). 

Das  Abbrechen  des  direkten  Meinungsaustausches  zwischen 
Petersburg  und  Wien  bedeutete  eine  für  Berlin  unerwartete  und 
ernste  Verschärfung  der  österreichisch-russischen  Spannung,  Nicht 
nur  die  deutsche  Regierung  hatte  von  den  direkten  austro-russi- 
schen  Verhandlungen  die  Lösung  des  Konfliktes  erwartet.  Auch 
Grey  sprach  sich  mehrfach  dafür  aus  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  92, 

III,  Nr.  42,  Blaubuch  Nr.  67,  68,  74,  84,  Gelbbuch  Nr.  80),  und 
sogar  der  französische  Botschafter  in  Petersburg  hat  sie  befür- 
wortet (Gelbbuch  Nr.  54). 

Dank  dem  Eingreifen  der  deutschen  Regierung  wurde  das 
Mißverständnis,  betreffend  die  österreichisch-ungarische  Ablehnung, 
beseitigt  und  die  direkte  Aussprache  zwischen  Wien  und  Petersburg 
wieder  aufgenommen  (Weißbuch  Nr.  396,  448,  Rotbuch  1919, 
III,  Nr.  45). 

2.  Vermittlungsvofschläge 

Am  27.  Juli  ging  die  serbische  Antwortnote  in  Berlin,  Peters- 
burg, Paris  und  London  ein.  Die  Regierungen  der  Drei  Verbands- 
länder sahen  sie  als  ausreichend  und  sehr  entgegenkommend  an. 


64 

In  absichtlicher  und  unabsichtUcher  Verkennung  der  Methoden 
der  serbischen  Pohtik  verschlossen  sie  sich  der  Hinterhältigkeit 
und  Zweideutigkeit  der  Antwort  auf  manche  der  österreichisch- 
ungarischen Forderungen.  Es  ist  auch  ganz  natürlich,  daß  sich 
alle  Fernerstehenden  nur  dem  günstigen  Gesamteindruck  hin- 
gaben, während  das  unmittelbar  beteiligte  Wiener  Kabinett  mit 
unerfreulicher  Akribie  nach  Unzulänglichkeiten  forschte. 

Am  27.  Juli  wandte  sich  Gray  nach  Berlin  mit  der  Bitte,  die 
deutsche  Regierung  möge  in  Wien  befürworten,  daß  sich  Wien 
entweder  mit  der  serbischen  Antwort  begnüge  oder 
aber  sie  als  Grundlage  für  Unterhandlungen  be- 
trachte (Weißbuch  Nr.  258,  Blaubuch  Nr.  46).  Die  deutsche 
Regierung  ist  diesem  Wunsche  sogleich  nachgekommen  und  hat 
die  Annahme  des  englischen  Vorschlages  in  Wien  mit  folgenden 
Worten  empfohlen: 

„Nachdem  wir  bereits  einen  englischen  Konferenzvorschlag  abgelehnt 
haben,  ist  es  uns  unmöglich,  auch  diese  englische  Anregung  a  limine  abzu- 
weisen. Durch  eine  Ablehnung  jeder  Vermittlungsaktion  würden  wir  von 
der  ganzen  Welt  für  die  Konflagration  verantwortlich  gemacht  und  als  die 
eigentlichen  Treiber  zum  Kriege  hingestellt  werden.  Das  würde  auch  unsere 
eigene  Stellung  im  Lande  unmöglich  machen,  wo  wir  als  die  zum  Kriege  Ge- 
zwungenen dastehen  müssen.  Unsere  Situation  ist  um  so  schwieriger,  als 
Serbien  scheinbar  sehr  weit  nachgegeben  hat.  Wir  können  daher  die  Rolle 
des  Vermittlers  nicht  abweisen  und  müssen  den  englischen  Vorschlag  dem 
Wiener  Kabinett  zur  Erwägung  unterbreiten,  zumal  London  und  Paris  fort- 
gesetzt auf  Petersburg  einwirken.  Erbitte  Graf  Berchtolds  Ansicht  über  die 
englische  Anregung,  ebenso  wie  über  Wunsch  Herrn  Sasonows,  mit  Wien  direkt 
zu  verhandeln."    (Weißbuch  Nr.  277.) 

Die  österreichisch-ungarische  Regierung  lehnte  diesen  Vor- 
schlag jedoch  am  29.  Juli  unter  Hinweis  auf  die  Eröffnung  der 
Feindseligkeiten  durch  Serbien  und  die  inzwischen  erfolgte  Kriegs- 
erklärung ab  (Weißbuch  Nr.  400,  Rotbuch  1919,  HI,  Nr.  25). 

Berchtold  hat  anscheinend  die  von  Szögyeny  (in  Rotbuch  H, 
Nr.  68)  gemeldete  Warnung  Jagows  vor  englischen  Vorschlägen, 
mit  denen  er  sich  „in  keiner  Weise  identifiziere",  auf  diese  An- 
regung bezogen,  obwohl  sie  von  Bethmann  Hollweg  ,,zur  Er- 
wägung unterbreitet",  also  empfohlen  wurde  (Rotbuch  1919,  H, 
Nr.  82,  HI,  Nr.  25).  Wie  diese  Auffassung  entstehen  konnte, 
ist  nicht  recht  verständlich,  da  Szögyeny  berichtet  hatte,  ,,die 
deutsche  Regierung  würde  bei  jedem  einzelnen  der- 
artigen Verlangen  Englands  in  Wien  demselben  (?)  auf  das 
ausdrücklichste  erklären,  daß  es  in  keiner  Weise 
derartige  Interventionsverlangen  Österreich-Ungarn  gegenüber 
unterstütze  und  nur,  um  dem  Wunsche  Englands  zu  entsprechen, 
dieselben  weitergebe",  überdies  erfolgte  die  Ablehnung  in  Wien 
am  29.  Juli  abends  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  25),  also  zu  einer  Zeit, 


65 

wo  der  nachstehend  behandelte  deutsche  Vorschlag  vom 
28.  JuH  (Weißbuch  Nr.  323),  der  ebenfalls  auf  das  von  Serbien 
gezeigte  Entgegenkommen  Bezug  nahm,  bereits  in  Wien  bekannt 
gewesen  sein  muß. 

Nach  der  Ablehnung  dieses  englischen  Vorschlages  und  nach 
erfolgter  Kriegserklärung  an  Serbien  war  jede  Aussicht  auf  eine 
friedliche  Beilegung  des  österreichisch  -serbischen  Streites 
vorerst  beseitigt.  Die  deutsche  Regierung  unterbreitete  daraufhin 
sogleich  in  Wien  einen  Vorschlag,  der  geeignet  war,  sowohl  dem 
berechtigten  Verlangen  Österreich-Ungarns  nach  Genugtuung 
und  Sicherheiten  für  die  Zukunft  Rechnung  zu  tragen,  wie  auch 
die  Erhaltung  Serbiens  und  die  Wahrung  der  russischen  Interessen 
am  Balkan  zu  gewährleisten.  Es  ist  dies  der  auf  Anregung  des 
Kaisers  (Weißbuch  Nr.  293)  zurückzuführende  Vorschlag  einer 
Besetzung  Belgrads  oder  anderer  serbischer  Gebietsteile  als  Faust- 
pfand (Weißbuch  Nr.  323),  der  mit  den  Worten  schließt: 

„Erkennt  die  russische  Regierung  die  Berechtigung  dieses  Standpunktes 
nicht  an,  so  wird  sie  die  öffentliche  Meinung  ganz  Europas  gegen  sich  haben, 
die  im  Begriffe  steht,  sich  von  Österreich  abzuwenden.  Als  eine  weitere  Folge 
wird  sich  die  allgemeine  diplomatische  und  wahrscheinlich  auch  die  militärische 
Lage  sehr  wesentlich  zugunsten_österreich-Ungarns  und  seiner  Verbündeten 
verschieben. 

Euere  Exzellenz  wollen  sich  umgehend  in  diesem  Sinne  dem  Grafen 
Berchtold  gegenüber  nachdrücklich  aussprechen  und  eine  entsprechende  De- 
marche in  St.  Petersburg  anregen.  Sie  werden  es  dabei  sorgfältig  zu  vermeiden 
haben,  daß  der  Eindruck  entsteht,  als  wünschten  wir  Österreich  zurückzuhalten. 
Es  handelt  sich  lediglich  darum,  einen  Modus  zu  finden,  der  die  Verwirklichung 
des  von  Österreich-Ungarn  erstrebten  Zieles,  der  großserbischen  Propaganda 
den  Lebensnerv  zu  unterbinden,  ermöglicht,  ohne  gleichzeitig  einen  Weltkrieg 
zu  entfesseln  und,  wenn  dieser  schließlich  nicht  zu  vermeiden  ist,  die  Bedingungen, 
unter  denen  er  zu  führen  ist,  für  uns  nach  Tunlichkeit  zu  verbessern." 

Am  29.  Juli  wurde  erneut  auf  diesen  Ausweg  hingewiesen 
(Weißbuch  Nr.  384). 

Daß  diese  von  der  deutschen  Regierung  vorgeschlagene 
Lösung  wohl  am  besten  geeignet  war,  die  Erweiterung  des  Kon- 
fliktes zu  verhüten  und  den  Interessen  aller  Parteien  Rechnung 
zu  tragen,  geht  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  Grey  (der  von  dem 
Telegramm  nach  Wien,  Weißbuch  Nr.  323,  wußte  —  siehe  Blau- 
buch Nr.  75,  Einleitung  §  6,  letzter  Absatz,  und  Oman,  S,  54) 
am  folgenden  Tage  mit  einem  ähnlich  lautenden  Vorschlage 
hervortrat  (Weißbuch  Nr.  368,  Blaubuch  Nr.  88).  .  Dieser  wurde 
von  Berlin  nach  Wien  gleichfalls  weitergegeben  und  energisch  be- 
fürwortet (Weißbuch  Nr.  395),  ebenso  wie  das  Telegramm  des 
Königs  von  England  an  den  Prinzen  Heinrich  von  Preußen  vom 
30.  Juli,  das  den  gleichen  Vorschlag  enthielt  (Weißbuch  Nr.  452, 464). 


66 

Schließlich  hat  auch  Kaiser  Wilhelm  in  einem  persönlichen 
Telegramm  an  Kaiser  Franz  Joseph  auf  eine  baldige  Entscheidung 
für  die  deutschen  Vorschläge  gedrängt  (Weißbuch  Nr.  437). 

Auf  die  Nachricht  hin,  daß  die  direkten  Besprechungen 
zwischen  Wien  und  Petersburg  zum  Stillstand  gekommen  seien, 
telegraphierte  Bethmann  Hollweg  am  29.  Juli  nach  Wien: 

„Rußland  beschwert  sich,  daß  die  Unterhaltungen  weder  durch  Herrn 
Schebeko  noch  durch  Graf  Szapary  Fortlauf  genommen  hätten.  Wir  müssen 
daher,  um  eine  allgemeine  Katastrophe  aufzuhalten  oder  jedenfalls  Rußland 
ins  Unrecht  zu  setzen,  dringend  wünschen,  daß  Wien  Konversationen  (gemäß 
Weißbuch  Nr.  323)  beginnt  und  fortsetzt."     (Weißbuch  Nr.  385.) 

Als  ebenfalls  nach  London  gemeldet  wurde,  daß  Sasonow  die 
direkten  Besprechungen  als  abgebrochen  betrachte,  schlug  ferner 
Grey  am  29.  Juli  abermals  die  Vermittlung  der  vier 
Mächte  vor.  (Blaubuch  Nr.  84.  In  dem  entsprechenden  Tele- 
gramm Lichnowskys  —  Weißbuch  Nr.  357  —  ist  der  Vorschlag 
nicht  enthalten.)  Die  deutsche  Regierung,  die  sich  bereits  am 
24.  und  25.  Juli  mit  einer  Vermittlung  zu  vieren  einverstanden 
erklärt  hatte,  gab  der  österreichisch-ungarischen  Regierung  bei 
der  Mitteilung  des  englischen  Vorschlages,  die  Besetzung  Belgrads 
betreffend,  den  dringlichen  Rat,  die  Vermittlung  der  Mächte 
anzunehmen.    Es  heißt  in  diesem  Telegramm  (Weißbuch  Nr.  395): 

,,Wir  stehen  somit,  falls  Österreich  jede  Vermittlung  ablehnt,  vor  einer 
Konflagration,  bei  der  England  gegen  uns,  Italien  und  Rumänien  nach  allen 
Anzeichen  nicht  mit  uns  gehen  würden,  so  daß  wir  zwei  gegen  vier  Großmächte 
ständen.  Deutschland  fiele  durch  Gegnerschaft  Englands  das  Hauptgewicht 
des  Kampfes  zu.  Österreichs  politisches  Prestige,  die  Waffenehre  seiner  Armee, 
sowie  seine  berechtigten  Ansprüche  Serbien  gegenüber  könnten  durch  die 
Besetzung  Belgrads  oder  anderer  Plätze  hinreichend  gewahrt  werden.  Es 
v/ürde  durch  Demütigung  Serbiens  seine  Stellung  im  Balkan  wie  Rußland  gegen- 
über wieder  stark  machen.  Unter  diesen  Umständen  müssen  wir  der  Erwägung 
des  Wiener  Kabinetts  dringend  und  nachdrücklich  anheim- 
stellen, die  Vermittlung  zu  den  angegebenen  ehrenvollen  Be- 
dingungen anzunehmen.  Die  Verantwortung  für  die  sonst  eintretenden 
Folgen  wäre  für  Österreich-Ungarn  und  uns  eine  ungemein   schwere." 

Die  deutsche  Regierung  hat  gleichzeitig  mit  vorstehendem 
Telegramm  auf  die  Meldung  ihres  Botschafters  in  Petersburg  hin, 
daß  das  Wiener  Kabinett  nach  Mitteilung  Sasonows  den  Weg 
direkten  Gedankenaustausches  mit  Petersburg  nicht  beschritten 
habe,  folgende  ernste  Warnung  nach  Wien  gesandt : 

„Wir  können  Österreich-Ungarn  nicht  zumuten,  mit  Serbien  zu  ver- 
handeln, mit  dem  es  im  Kriegszustand  begriffen  ist.  Die  Verweigerung  jeden 
Meinungsaustausches  mit  Petersburg  aber  würde  ein  schwerer  Fehler  sein, 
da  er  kriegerisches  Eingreifen  Rußlands  geradezu  provoziert,  das  zu  vermeiden 
Österreich-Ungarn  in  erster  Linie  interessiert  ist.  Wir  sind  zwar  be- 
reit, unsere  B  u  n  d  e  s  p  f  1  i  c  h  t  zu  erfüllen,  müssen  es 
aber    ablehnen,    uns    von   Wien   leichtfertig    und    ohne 


67 

Beachtung  unserer  Ratschläge  in  einen  Weltbrand 
hineinziehen  zu  lassen.  Auch  in  italienischer  Frage  scheint  Wien 
unsere  Ratschläge  zu  mißachten.  Bitte  sich  gegen  Graf  Berchtold  sofort  mit 
allem  Nachdruck  und  großem  Ernst  aussprechen."     (Weißbuch  Nr.  396.) 

Schließlich  sandte  Bethmann  Hollweg  am  30.  Juli  noch 
folgendes  Telegramm  nach  Wien: 

„Wenn  Wien,  wie  nach  dem  telephonischen  Gespräch  Euerer  Exzellenz 
mit  Herrn  von  Stumm  anzunehmen,  jedes  Einlenken,  insonderheit  den  letzten 
Greyschen  Vorschlag  (Weißbuch  Nr.  395)  ablehnt,  ist  es  kaum  mehr  mög- 
lich, Rußland  die  Schuld  an  der  ausbrechenden  europäischen  Konflagration 
zuzuschieben.  S.  M.  hat  auf  Bitten  des  Zaren  die  Intervention  in  Wien  über- 
nommen, weil  er  sie  nicht  ablehnen  konnte,  ohne  den  unwiderleglichen  Ver- 
dacht zu  erzeugen,  daß  wir  den  Krieg  wollten.  Das  Gelingen  dieser  Intervention 
ist  allerdings  erschwert  dadurch,  daß  Rußland  gegen  Österreich  mobilisiert  hat. 
Dies  haben  wir  heute  England  mit  dem  Hinzufügen  mitgeteilt,  daß  wir  eine 
Aufhaltung  der  russischen  und  französischen  Kriegsmaßnahmen  in  Petersburg 
und  Paris  bereits  in  freundlicher  Form  angeregt  hätten,  einen  neuen  Schritt  in 
dieser  Richtung  also  nur  durch  ein  Ultimatum  tun  könnten,  das  den  Krieg  be- 
deuten würde.  Wir  haben  deshalb  Sir  Edward  Grey  nahegelegt,  seinerseits 
nachdrücklich  in  diesem  Sinne  in  Paris  und  Petersburg  zu  wirken,  und  erhalten 
soeben  seine  entsprechende  Zusicherung  durch  Lichnowsky.  Glücken  England 
diese  Bestrebungen,  während  Wien  alles  ablehnt,  so  dokumentiert  Wien,  daß 
es  unbedingt  einen  Krieg  will,  in  den  wir  hineingezogen  sind,  während  Ruß- 
land schuldfrei  bleibt.  Das  ergibt  für  uns  der  eigenen  Nation  gegenüber  eine 
ganz  unhaltbare  Situation.  Wir  können  deshalb  nur  dringend  empfehlen, 
daß  Österreich  den  Greyschen  Vorschlag  annimmt,  der  seine  Position  in  jeder 
Beziehung  wahrt. 

Euer  Exzellenz  wollen  sich  sofort  nachdrücklichst  in  diesem  Sinne  Graf 
Berchtold,  eventuell  auch  Graf  Tisza  gegenüber,  äußern."    (Weißbuch  Nr.  441.) 

Die  deutschen  Vorschläge  konnten,  bei  aller  Halsstarrigkeit 
der  Wiener  Regierung,  doch  nicht  ganz  unberücksichtigt  bleiben. 
Am  29.  Juli  meldete  der  deutsche  Botschafter,  Berchtold  sei  (auch 
jetzt,  nach  der  Kriegserklärung  an  Serbien)  bereit,  die  Erklärung 
des  territorialen  Desinteressements  nochmals 
zu  wiederholen.  Bezüglich  des  deutschen  Vorschlages  einer  Be- 
schränkung der  militärischen  Operationen  behielt  er  sich  die  Ant- 
wort vor  (Weißbuch  Nr.  338).  Am  folgenden  Tage,  dem  30.  Juli, 
meldete  der  Botschafter  in  bezug  auf  die  angeblich  abgebrochenen 
Verhandlungen  mit  Petersburg,  Berchtold  habe  nur  die  Besprechung 
des  serbisch  -  österreichischen  Streites  mit  Rußland  abgelehnt, 
sei  aber  bereit,  alle  Österreich-Ungarn  und  Rußland  direkt  tangie- 
renden Fragen  mit  letzterem  zu  besprechen  (Weißbuch  Nr.  432), 
Am  gleichen  Tage  meldete  er,  es  liege  in  bezug  auf  die  angeblich 
abgebrochenen  Besprechungen  ein  Mißver- 
ständnis vor,  und  Berchtold  habe  bereits  entsprechende 
Instruktionen  nach  Petersburg  gesandt  (Weißbuch  Nr.  448).  Der 
österreichisch-ungarische  Botschafter  hatte  übrigens  inzwischen 
schon    von    sich    aus    die    Verhandlungen    wieder    aufgenommen 


68 

und  die  seinerseits  bereits  gemachten  Zusicherungen  erneuert 
(Rotbuch  1919,  III,  Nr.  19).  Berchtold  selbst  empfing  am  30.  Juli 
den  russischen  Botschafter  zu  einer  beide  Teile  befriedigenden 
Aussprache  über  die  Lage  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  45).  Das  diese 
Unterredung  betreffende  Telegramm  Schebekos  ist  in  der  Deut- 
schen Allgemeinen  Zeitung  vom  20.  Mai  1919  veröffentlicht 
worden.    Es  schließt  mit  den  Worten: 

„Das  ganze  Gespräch  trug  den  freundschaftlichsten  Charakter,  und  ich 
erhielt  den  Eindruck,  daß  Österreich  wirklich  den  Wunsch  hegt,  zu  einer  Ver- 
ständigung mit  uns  zu  gelangen,  es  aber  nicht  für  angängig  hält,  seine  Operationen 
gegen  Serbien  einzustellen,  bevor  man  nicht  volle  Genugtuung  und  ernste 
Garantien  für  die  Zukunft  erhalten  habe.  Zum  Schluß  betonte  der  Minister 
nochmals,  daß  Österreich  jede  aggressive  Absicht  gegen  Rußland  fern  läge." 

Auch  der  französische  Botschafter  in  Wien  berichtete,  daß 
diese  „hochwichtige  Unterredung"  zu  einer  Klärung  der  Lage 
und  zur  Wiederaufnahme  der  direkten  Besprechungen  geführt  habe 
(Gelbbuch  Nr.  104);  ebenso  der  englische  Botschafter,  welcher 
meldete,  daß  sein  russischer  Kollege  ,,im  ganzen  nicht  unzufrieden" 
war  (Blaubuch  Nr.  96).  Die  deutsche  Regierung  konnte  noch 
am  30.  Juli  ihrem  Botschafter  in  London  die  Meldung  aus  Wien 
über  diesen  Erfolg  der  deutschen  Schritte  mitteilen  (Weißbuch 
Nr.  433,  444).  Sie  sprach  hierbei  die  Erwartung  aus,  ,,daß  Eng- 
land in  Petersburg  auf  gleiches  Entgegenkommen,  und  nament- 
lich auf  Einstellung  seiner  Kriegsmaßnahmen  wirken  werde". 
Diese  Erwartung  ging,  trotz  der  englischen  Zusage  an  Lichnowsky 
(Weißbuch  Nr.  4-89)  nicht  in  Erfüllung,  wie  Greys  Telegramm  nach 
Petersburg  vom  31.  Juli  (Blaubuch  Nr.   110)  zeigt. 

Auf  die  deutschen  Vorstellungen  hin  nahm  die  österreichisch- 
ungarische  Regierung  schließlich  auch  die  von  England  gewünschte 
Vermittlung  der  Mächte  an. 

Das  betreffende  Telegramm  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  65),  das 
aber  erst  am  1.  August  nach  Berlin  abging,  nach  London  und 
Petersburg  nur  ,,zur  persönlichen  Information"  des  Bot- 
schafters gesandt  wurde,  schloß  mit  den  Worten: 

„Ich  ersuche  Euer  Exzellenz,  dem  Herrn  Staatssekretär  für  die  uns  durch 
Herrn  von  Tschirschky  gemachten  Mitteilungen  verbindlichst  zu  danken  und 
ihm  zu  erklären,  daß  wir  trotz  der  Änderung,  die  in  der  Situation  seither  durch 
die  Mobilisierung  Rußlands  eingetreten  sei,  in  voller  Würdigung  der  Bemühungen 
Englands  um  die  Erhaltung  des  Weltfriedens  gerne  bereit  seien,  dem 
Vorschlag  Sir  E.  Greys,  zwischen  uns  und  Serbien  zu 
vermitteln,  näherzutreten. 

Die  Voraussetzungen  unserer  Annahme  seien  jedoch  natürlich,  daß  unsere 
militärische  Aktion  gegen  Serbien  einstweilen  ihren  Fortgang  nehme  und  daß 
das  englische  Kabinett  die  russische  Regierung  vermöge,  die  gegen  uns  ge- 
richtete Mobilisierung  seiner  Truppen  zum  Stillstand  zu  bringen,  in  welchem 
Falle  wir  selbstverständlich  die  uns  durch  die  russische  Mobilisierung  aufge- 
zwungenen defensiven  militärischen  Gegenmaßregeln  in  Galizien  sofort  rück- 
gängig machen  werden." 


^      69 

Am  Abend  des  30.  Juli  hatte  also  die  österreiciiisch-ungarische 
Regierung  die  deutschen  Vorschläge  immerhin  teilweise  ange- 
nommen, mit  Ausnahme  allerdings  der  Beschränkung  der  Ope- 
rationen gegen  Serbien  auf  die  Besetzung  eines  Faustpfandes.  -^ 
Die  Antwort  auf  diesen  Vorschlag,  dessen  Annahme  vom  deutschen 
Botschafter  am  30.  Juli  an  der  Hand  der  analogen  englischen 
Anregung  erneut  warm  befürwortet  wurde  (Weißbuch  Nr.  465), 
wurde  deutscherseits  für  den  31.  Juli  erwartet  (Weißbuch  Nr.  440). 
Die  Nachricht  von  der  allgemeinen  Mobilmachung  in  Rußland, 
die  den  Krieg  bedeutete,  hat  den  deutschen  Bemühungen  ein 
Ende  gemacht.  Anderenfalls  wäre,  wenn  die  russische  Kriegs- 
partei dies  noch  zugelassen  hätte,  eine  Einigung  zwischen  Peters- 
burg und  Wien  erzielt  worden,  denn  Sasonow  hat  sich  von  den 
Eröffnungen,  die  ihm  der  österreichisch-ungarische  Botschafter 
am  31.  Juli  machte  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  97),  befriedigt  erklärt. 
In  einer  in  London  am  1.  August  übergebenen  russischen  Note 
heißt  es: 

„Der  österreichisch-ungarische  Botschafter  erl<lärte  die  Bereitwilligkeit 
seiner  Regierung,  den  Inhalt  des  österreichischen  Ultimatums  an  Serbien  zu 
erörtern.  In  seiner  Antwort  sprach  Herr  Sasonow  seine  Befriedigung  aus 
und  sagte,  es  sei  wünschenswert,  daß  die  Besprechungen  in  London  unter  Teil- 
nahme der  Großmächte  stattfänden."    (Blaubuch  Nr.  133.) 

Dank  der  deutschen  V e r  m  i  1 1 1 u n g s t ä t i g - 
keit  war  somit  eine  genügende  Grundlage  für  eine 
Verständigung  erreicht.  Der  europäische  Frieden 
wäre  erhalten  worden,  wenn  nicht  Rußland  durch  seine  gegen 
das  die  Vermittlung  betreibende  Deutsche  Reich  gerichtete  Mobil- 
machung den  Krieg  herbeigeführt  hätte. 

Die  Wiener  Regierung  hat  aber  an  dem  Teilerfolg  der  deutschen 
Vermittlungstätigkeit  kein  Verdienst.  Sie  war,  wie  aus  dem 
Protokoll  des  Ministerrats  vom  31.  JuU  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  79) 
klar  hervorgeht,  fest  entschlossen,  die  Operationen  gegen  Serbien 
auf  keinen  Fall,  auch  nicht  mit  Rücksicht  auf  die  Gefahr  eines 
Weltkrieges,  einzustellen.  Sie  wollte  sogar  von  dem 
deutschen  Vorschlag  der  Beschränkung  der 
Operationen  auf  die  Besetzung  eines  Faust- 
pfandes nichts  wissen.  Berchtold  erklärte,  Österreich- 
Ungarn  ,, hätte  von  einer  einfachen  Besetzung  Belgrads  gar  nichts". 
Diese  Auffassung  ist  aber  niemals  nach  Berlin 
mitgeteilt  worden.  Auf  den  ursprünglichen  deutschen 
Vorschlag  erfolgte  keine  weitere  Antwort,  als  die  in  dem  Tele- 
gramm des  Kaisers  Franz  Joseph  vom  31.  Juli  enthaltene: 

„Die  im  Zuge  befindliche  Aktion  meiner  Armee  gegen  Serbien  kann  durch 
die  bedrohliche  und  herausfordernde  Haltung  Rußlands  keine  Störung  erfahren." 
(Weißbuch  Nr.  432.) 


70         *>o<s>«oo<; ' 

Dies  bedeutete  die  glatte  Ablehnung  des  deutschen  Vorschlages. 
Durch  die  inzwischen  bekannt  gewordene  russische  Gesamtmobil- 
machung wurde  aber  jede  weitere  deutsche  Vermittlungstätigkeit 
illusorisch  gemacht  (Weißbuch  Nr.  502,  503). 

In  Wien  entschloß  man  sich  am  31.  Juli  mit  Rücksicht  auf 
das  deutsche  Drängen  lediglich  dazu,  auf  die  englischen  Vor- 
schläge einzugehen ;  man  wollte  dabei  zwar  in  der  Form  Entgegen- 
kommen zeigen,  aber  ,, sorgsam  vermeiden,  den  englischen  Antrag  in 
meritorischer  Hinsicht  anzunehmen".  Die  Antwort  auf  Tschirschkys 
Ersuchen  vom  29.  Juli  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  65)  wurde  so 
spät  nach  Berlin  gesandt,  daß  sie  erst  am  1.  August  dort  an- 
langte. In  den  deutschen  und  österreichisch-ungarischen  Akten 
hat  sie  weiter  keine  Spur  hinterlassen.  Es  ist  also  anzunehmen, 
daß  sie  der  deutschen  Regierung  bis  zum  Erscheinen  des  ersten 
österreichisch-ungarischen  Rotbuches  unbekannt  geblieben  ist. 
Nur  der  österreichisch-ungarische  Botschafter  in  London  hat  von 
jener  Weisung  seiner  Regierung  Gebrauch  gemacht  und  Grey 
bewogen,  im  Sinne  dieses  bedingten  Entgegenkommens  nach 
Petersburg  zu  telegraphieren  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  94,  Blau- 
buch Nr.  135). 

Um  nicht  in  ihrer  Aktion  gegen  Serbien  gestört  zu  werden, 
knüpfte  die  Wiener  Regierung  ihr  Entgegenkommen  auf  die 
englischen  Vorschläge  an  die  Bedingung,  daß  die  russische  Mo- 
bilisierung gegen  Österreich-Ungarn  eingestellt  werde.  Diese 
Forderung  läßt  sich  immerhin  vertreten,  denn  es  wäre  für  Öster- 
reich-Ungarn doppelt  nachteilig  gewesen,  unter  dem  militärischen 
Druck  Rußlands  nachgeben  zu  müssen.  Ein  solches  Zurück- 
weichen Wiens  vor  der  russischen  Kriegsdrohung  mag  ursprünglich 
das  Ziel  der  Petersburger  Regierung  gewesen  sein.  Dann  ist  die 
gefährliche  Maßnahme  der  am  25.  Juli  beschlossenen  Teilmobil- 
machung als  Erwiderung  auf  den  schroffen  Ton  und  die  weit- 
gehenden Forderungen  der  österreichisch-ungarischen  Note  an 
Serbien  anzusehen.  Inzwischen  waren  aber  Sasonow  die  mili- 
tärischen Pferde  durchgegangen,  die  er  in  sein  diplomatisches 
Gefährt  eingespannt  hatte.  Die  russische  Gesamtmobilmachung 
änderte  die  Dinge  von  Grund  auf.  Die  militärischen  Druckmittel 
wurden  Selbstzweck,  während  die  diplomatischen  Verhandlungen 
nur  noch  zur  Bemäntelung  der  Mobilmachung  dienten. 

Gänzlich  von  der  Auseinandersetzung  mit  Serbien  hypno- 
tisiert, konnte  oder  wollte  die  Wiener  Regierung  den  Ernst  der 
Lage  nicht  erkennen.  Sie  hatte  sich  anscheinend  ganz  mit  der 
Möglichkeit  abgefunden,  daß  ,, Rußland  den  Moment  für  die  große 
Abrechnung  mit  den  europäischen  Zentralmächten  bereits  für  ge- 
kcmimen  erachtete"  (Rotbuch  1919,  II,  Nr.  42).     Die  ungeheuren 


71 

Lasten  des  Weltkrieges  sollten  dann  auf  die  breiten  Schultern 
des  wehrhaften  deutschen  Bundesgenossen  abgebürdet  werden. 
Bella  gerant  alii. . . . 

Sehr  befremdlich  erscheint,  daß  Berchtold  —  möglicherweise 
mit  Absicht  —  eine  Antwort  nach  Berlin  (London  und  Peters- 
burg) sandte,  die  sich  nicht  mit  dem  englischen  Vorschlag  deckte 
(siehe  Gooss,  S.  237  ff.).  Unverantwortlich  ist,  daß  man  in  Wien 
auf  den  ursprünglichen  deutschen  Vorschlag  der  Besetzung 
eines  Faustpfandes  überhaupt  nicht  einging.  Mit  einer  Leicht- 
fertigkeit, die  fast  den  Verdacht  der  Böswilligkeit  aufkommen 
lassen  könnte,  setzte  man  den  Bundesgenossen  den  Gefahren 
eines  Weltkrieges  aus,  um  einiger  Gradunterschiede  willen,  die 
bei  dem  Erfolge  gegen  Serbien  auf  dem  Spiele  standen.  Das 
Wiener  Verhalten  hat  zudem  den  festwurzelnden  Verdacht  erzeugt, 
daß  Berlin  die  Vermittlung  nicht  ernstlich  betrieben  oder  gar 
seinerseits  vereitelt  habe. 

Bei  der  Beurteilung  der  deutschen  Vermittlungstätigkeit 
in  Wien  muß  zunächst  der  Gedanke  abgelehnt  werden,  den  die 
Alliierten  und  Assoziierten  Mächte  in  ihrer  Erwiderung  auf  die 
deutschen  Gegenvorschläge  ausgesprochen  haben,  es  sei  der  Ber- 
liner Regierung  mit  ihren  Vorstellungen  nicht  ernst  gewesen, 
und  m.an  könne  annehmen,  ,,daß  nach  einem  in  dem  deutschen 
Auswärtigen  Amte  üblichen  Brauche  offiziöse  Mitteilungen  oder 
eine  vorherige  Vereinbarung  zwischen  denjenigen  stattgefunden 
hätten,  die  tatsächlich  die  Macht  besaßen,  und  daß  diese  Mit- 
teilungen oder  diese  Vereinbarung  anders  gelautet  hätten,  als  die 
durch  den  amtlichen  Draht  übermittelten  Botschaften".  Man 
mag  dem  Umstand  keine  Beweiskraft  zumessen,  daß  keinerlei 
Anzeichen  für  derartige  geheime  Verabredungen  und  für  den 
Einfluß  von  Personen  vorhanden  sind,  die  außerhalb  des  Kreises 
der  wirklich  Verantwortlichen  standen,  jedoch  „tatsächlich  die 
Macht  besaßen".  Es  kann  sich  aber  niemand  der  Sinnlosigkeit 
der  Vorstellung  verschließen,  daß  Bethmann  Hollweg  mit  seinen 
so  häufig  wiederholten  ernsten  Mahnungen  nicht  das  bezweckt 
hätte,  was  seine  Worte  sagten.  Es  ist  auch  unzutreffend,  was  die 
Herausgeber  des  Deutschen  Weißbuches,  Montgelas  und  Schücking, 
in  ihren  Vorbemerkungen  sagen,  daß  gerade  ,, besonders  delikate 
Angelegenheiten  zunächst  in  Privatbriefen  zwischen  den  be- 
teiligten Personen  besprochen  werden,"  und  daß  dieser  Brauch 
,,auch  in  Angelegenheiten  der  auswärtigen  Verwaltung  eine  be- 
deutsame Rolle  gespielt  habe".  Der  Umstand,  daß  außenpolitische 
Fragen  in  den  allermeisten  Fällen  eine  schnelle  Behandlung  er- 
fordern, verbietet  bereits,  daß  sie  ,, zunächst"  privatim  zwischen 
den   Beteiligten  erörtert   werden.      Im  deutschen   diplomatischen 


72 

Dienst  sind  Privatbriefe  verhältnismäßig  selten  zur  Ergänzung 
der  amtlichen  Berichterstattung  benutzt  worden.  Telegramme, 
die  nur  an  eine  bestimmte  Person  gerichtet  sind,  kommen  kaum 
vor.  Im  auswärtigen  Dienst  anderer  Länder  ist  dies  wesentlich 
anders.  Die  von  Oman  zitierten  Telegramme  sind  fast  zur  Hälfte 
„Sir  E.  Grey,  private"  adressiert.  Im  deutschen  diplomatischen 
Dienst  wurden  Privatbriefe  in  der  Regel  nur  zwischen  befreundeten, 
also  meist  gleichaltcrigen  Beamten  gewechselt.  In  den  Akten 
findet  sich  kein  einziges  persönliches  Schreiben  von  Pourtales  an 
Jagow,  der  einem  jüngeren  Jahrgang  angehörte.  Wohl  aber  finden 
sich  solche  vor,  die  Tschirschky,  Flotow  und  Lichnowsky,  die  aus 
derselben  Altersklasse  hervorgegangen  sind,  an  ihn  gerichtet 
haben.  Die  weitaus  meisten  Privatbriefe  betreffen  den  Klatsch, 
der  vor  dem  Krieg  die  große  internationale  Familie  der  Diplomaten 
aller  Länder  interessierte,  und  andere  Nachrichten,  die  sich  nicht 
für  eine  ernste  Berichterstattung  eigneten.  In  sonstigen  Fällen 
wurde  dieser  Weg  meist  nur  dann  beschritten,  wenn  sich  jemand 
seiner  Sache  nicht  recht  sicher  fühlte  und  so  zu  vermeiden  hoffte, 
sich  gewissermaßen  aktenmäßig  zu  blamieren:  wenn  z.  B.  seine 
Voraussagen  nicht  eintrafen.  In  diesem  letzteren  Sinne  führte  der 
Nebenweg  meist  nicht  zum  Ziel,  denn  Briefe  von  politischem  Belang 
sind  in  der  Regel  zu  den  Akten  genommen  worden,  zum  mindesten 
im  Auszuge. 

Der  ernsteste  Einwand,  der  seitens  der  Alliierten  und  Asso- 
ziierten Mächte  gegen  den  Wert  und  die  Bedeutung  der  deutschen 
Vermittlungstätigkeit  in  Wien  zwischen  dem  27.  und  30,  Juli 
erhoben  wird,  ist  der,  daß  diese  Vermittlung  zu  spät  eingesetzt 
habe.  Aber  nicht  Deutschland,  sondern  Rußland  trägt  die  Schuld 
daran,  daß  sich  die  Ereignisse  so  sehr  überstürzt  haben.  Bereits 
am  27.  Juli,  ehe  sie  sich  von  der  Nachgiebigkeit  Serbiens  selbst 
überzeugt  hatte,  forderte  die  deutsche  Regierung  Wien  zum  Ein- 
lenken auf  (Weißbuch  Nr,  277).  Unter  Hinweis  auf  das  serbische 
Entgegenkommen  machte  sie  am  28.  Juli  ihren  an  sich  recht 
glücklichen  Vorschlag,  es  mit  der  Besetzung  eines  Faustpfandes 
bewenden  zu  lassen  (Weißbuch  Nr.  323).  Dies  geschah,  ehe  die 
russische  Teilmobilmachung  bekannt  geworden  war  (Weißbuch 
Nr.  343,  385)  und  bevor  Lichnowsky  meldete,  Grey  habe  ihm 
mitgeteilt,  England  werde  im  Fall  einer  europäischen  Konflagration 
nicht  neutral  bleiben  (Weißbuch  Nr.  368). 

Der  deutschen  'Regierung  war  bekannt,  daß  für  die  öster- 
reichisch-ungarische Mobilmachung  gegen  Serbien  sechzehn  Tage 
zu  rechnen  seien  (Weißbuch  Nr.  19)  und  daß  die  eigentlichen  Ope- 
rationen nicht  vor  dem  12.  August  beginfien  würden  (Weißbuch 
Nr.  213,  245,  323).     Sie  durfte  also  glauben,  daß  reichlich  Zeit 


73 

zur  Vermittlung  vorhanden  sei.  Daß  ein  ernstes  militärisches 
Vorgehen  gegen  Serbien  nicht  unmittelbar  auf  die  Kriegserklärung 
folgen  könne,  wußten  zweifellos  auch  die  anderen  europäischen 
Kabinette.  Jeder  Generalstab  kannte  die  Schwierigkeiten  des 
Geländes  und  die  Unzulänglichkeit  der  Bahnen  in  diesem  Auf- 
marschgebiet. Der  Vorwurf  des  zu  späten  Handelns  stellt  also 
nur  einen  Versuch  der  Dreiverbandsmächte  dar,  die  Schuld  an 
der  Überstürzung  der  Entwickelung,  die  sie  in  erster  Linie  traf, 
auf  Deutschland  abzuwälzen. 

Die  Telegramme  Bethmann  Hollwegs  zeigen  eine  stetige 
Steigerung  des  Ernstes  und  der  Dringlichkeit  der  Sprache.  Im 
wesentlichen  handelt  es  sich  aber  um  Variationen  der  gleichen 
Argumente.  Zunächst  erklärt  er,  daß  Deutschland  Vermittlungs- 
vorschläge anderer  Mächte  eben  wegen  seiner  Beziehungen  zu 
diesen  Mächten  nicht  ablehnen  könne.  Dieses  Argument  verstärkt 
er  mit  dem  Hinweis  darauf,  daß  Deutschland  und  Österreich  bei 
der  Ablehnung  einer  Vermittlung  als  Kriegstreiber  erscheinen 
würden.  Die  Folge  wäre,  daß  sich  die  öffentliche  Meinung  Europas 
von  Österreich-Ungarn,  bzw.  von  den  Mittelmächten  abkehren 
würde.  Daraus  würde  eine  ungünstige  diplomatische  Situation 
erwachsen.  Ferner  würden  die  Verbündeten  bei  einer  ablehnenden 
Haltung  für  die  etwaige  Entstehung  eines  Weltbrandes  verant- 
wortlich werden.  Ihre  Aufgabe  müsse  sein,  diese  Katastrophe 
aufzuhalten.  Ihre  Stellung  im  eigenen  Lande  würde  anderenfalls 
unhaltbar.  Zum  mindesten  müßte  die  Verantwortung  auf  Rußland 
abgewälzt  werden.  Schließlich  als  letztes  und  stärkstes  Argument 
drohte  Bethmann  mit  der  Kündigung  der  bundesgenössischen 
Unterstützung.  „Wir  müssen  es  ablehnen,  uns  von  Wien  leicht- 
fertig und  ohne  Beachtung  unserer  Ratschläge  in  einen  Weltbrand 
hineinziehen  zu  lassen." 

Bethmann  Hollweg  schwankte  offensichtlich  zwischen  der 
Aufgabe  einen  ,, Modus  zu  finden,  der  die  Verwirklichung  des  von 
Österreich-Ungarn  erstrebten  Zieles  ermöglichte,  der  großserbischen 
Propaganda  den  Lebensnerv  zu  unterbinden,"  und  zu  verhindern, 
daß  gleichzeitig  ein  Weltkrieg  entfesselt  werde,  bzw.  wenn  dieser 
nicht  zu  vermeiden  sei,  die  Bedingungen,  unter  denen  er  zu  führen 
wäre,  nach  Tunlichkeit  zu  verbessern  (Weißbuch  Nr.  323).  Zweifel- 
los wünschte  er,  den  Weltkrieg  zu  vermeiden.  Er  wollte  aber, 
wenn  irgend  möglich,  das  ursprüngliche  Ziel,  die  Unterbindung 
der  großserbischen  Propaganda,  nicht  opfern.  Von  Tag  zu  Tag, 
fast  von  Stunde  zu  Stunde,  trat  das  größere  Ziel,  die  Erhaltung 
des  Weltfriedens,  mehr  in  den  Vordergrund.  Daß  dies  dem  Kanzler 
zum  Bewußtsein  kam,  sieht  man  in  der  Steigerung  seiner  Argu- 
mentation.   Der  Hinweis  auf  die  Gefahr,  daß  die  Mittelmächte  als 


74 

Kriegstreiber  erscheinen  würden  und  daß  dies  die  Stellung  der 
deutschen  Regierung  im  eigenen  Lande  unmöglich  mache,  ist  der 
Auftakt  zu  der  Erklärung,  daß  Berlin  Wien  nicht  unter  allen  Um- 
ständen Gefolgschaft  leisten  werde.  Die  Warnung  vor  der  Abkehr 
der  öffentlichen  Meinung  Europas  ist  im  Grunde  die  gleiche  Ar- 
gumentation, wie  die,  daß  Rußland  ins  Unrecht  gesetzt  werden 
müsse.  Letztere  wurde  ja  auch  gelegentlich  unterstrichen  durch 
einen  Hinweis  auf  den  (angeblich)  von  London  und  Paris  auf  Peters- 
burg ausgeübten  Druck.  Dies  ,,ins  Unrecht  setzen"  spielte  in 
jenem  Augenblick,  wie  überhaupt  in  der  Politik,  eine  besonders 
große  Rolle.  Dieselbe  Warnung,  die  von  Berlin  nach  Wien  ging, 
ist  auch  von  Paris  nach  Petersburg  gerichtet  worden.  Die  fran- 
zösische Regierung  hat  die  russische  gewarnt,  sich  nicht  durch 
offenkundige  Mobilmachung  gegenüber  Deutschland  ins  Unrecht 
zu  setzen.  Ursprünglich  hatte  sich  Serbien  gegen  Österreich- 
Ungarn  ins  Unrecht  gesetzt.  Dies  suchte  die  Wiener  Regierung 
zu  benutzen,  um  den  großserbischen  Treibereien  ein  Ende  zu  machen. 
Da  sie  in  ihrem  Vorgehen  das  Maß  des  Erwarteten  und  Zugebilligten 
erheblich  überschritt,  setzte  sie  sich  ins  Unrecht.  Dies  benutzte 
Rußland,  um  seinerseits  durch  Mobilmachung  und  scharfes  Vor- 
gehen gegen  Österreich-Ungarn,  sowie  durch  einen  Appell  an  die 
Solidarität  seiner  Verbündeten  eine  europäische  Krisis  herbeizu- 
führen, die  mit  einem,  zum  mindesten  diplomatischen  Erfolg  des 
Dreiverbandes  enden  sollte.  Grey  hat  Lichnowsky  am  31.  Juli 
(Weißbuch  Nr.  489)  auf  die  Notwendigkeit  hingewiesen,  daß  Wien 
seinerseits  Rußland  ins  Unrecht  setzte,  damit  das  Gleichgewicht 
wieder  hergestellt  werde,  und  er  die  Möglichkeit  erhielte,  auf  Peters- 
burg und  Paris  einen  Druck  auszuüben.  Fraglich  erscheint,  ob 
es  Grey  mit  seinen  Absichten  ernst  war.  Seine  Argumentation 
stimmt  aber  jedenfalls  mit  der  von  Bethmann  Hollweg  überein. 
Den  Gegner  ins  Unrecht  zu  setzen,  war  namentlich  bei  dem  etwaigen 
Eintritt  in  den  Krieg  von  überragender  Bedeutung.  Wie  sehr  sich 
Rußland  durch  seine  ungerechtfertigte  Mobilmachung  gegen  Deutsch- 
land ins  Unrecht  gesetzt  hat,  zeigen  deutlich  die  Bemühungen 
der  Ententemächte,  diese  Tatsache  zu  bemänteln  bzw.  totzu- 
schweigen. 

Allmählich  scheint  die  deutsche  Regierung  zu  der  Auffassung 
gekommen  zu  sein,  daß  ihre  Bundestreue  von  der  Wiener  Regierung 
mißbraucht  werde.  Diese  Einsicht,  verbunden  mit  der  Erkenntnis, 
daß  Rußland  auf  das  schnellste  mobilisiere,  und  der  Mitteilung, 
daß  England  nicht  neutral  bleiben  werde,  haben  jene  Kopflosigkeit 
verursacht,  von  der  die  deutschen  Akten  ein  so  beredtes  Zeugnis 
ablegen.  Die  deutsche  Regierung,  die  einen  Weltkrieg  nicht  ge- 
wollt hatte,  deren  Präventivaktion  gegen  Serbien  letzten   Endes 


75 

nur  den  Zwecken  der  Erhaltung  des  europäischen  Friedens  dienen 
sollte,  sah  sich  plötzlich  in  einer  Falle.  Die  Haltung  ihres  Bundes- 
genossen, den  sie  unterstützt  hatte,  versetzte  sie  ins  Unrecht. 
Während  sie  bisher  wohl  geglaubt  hatte,  um  den  Weltkrieg  zu 
vermeiden,  genüge  es,  wenn  Deutschland  selbst  ihn  nicht  wolle, 
sah  sie  sich  jetzt  diplomatisch  eingefangen  und  erkannte,  daß  ihre 
Gegner  sie  um  keinen  Preis,  auch  nicht  um  den  Preis  einer  diplo- 
matischen Niederlage,  herauslassen  würden.  Denn  der  Entschluß 
zum  Nachgeben,  der  überdies  mit  einer  beispiellosen  Schnelligkeit 
hätte  gefaßt  werden  müssen,  hing  nicht  von  Berlin,  sondern  von 
Wien  ab,  und  in  Wien  war  man,  wie  wir  heute  wissen,  wie  man 
damals  aber  schon  geahnt  haben  muß,  zum  Einlenken  in  diesem 
Sinne  nicht  bereit.  Der  Kaiser  hat  die  Lage  ebenfalls  so  emp- 
funden und  am  30.  Juli  in  der  Sprache  seiner  Marginalien  folgender- 
maßen ausgedrückt:  ,, England  dekouvriert  sich  im  Moment,  wo 
es  der  Ansicht  ist,  daß  wir  im  Läpp  jagen  eingestellt 
sind  und  sozusagen  erledigt!"  (Weißbuch  Nr.  368).  ,, Dabei 
wird  uns  die  Dummheit  und  Ungeschicklichkeit  un- 
seres Verbündeten  zum  Fallstrick  gemacht.... 
Das  Netz  wird  uns  plötzlich  über  den  Kopf  gezogen.. . ."  (Weiß- 
buch Nr.  401). 

3.  Rußlands  Unnachgiebigkeit 

Bezeichnend  für  die  Haltung  der  russischen  Regierung  gegen- 
über dem  österreichisch-serbischen  Konflikt  ist  der  Umstand,  daß 
der  Minister  des  Äußern  seinen  Standpunkt  im  Laufe  der  kritischen 
Tage  andauernd  geändert  hat.  Seine  Sprache  gegenüber  dem 
österreichisch-ungarischen  Botschafter  wurde  zwar  scheinbar  ver- 
söhnlicher, tatsächlich  schraubte  er  seine  Forderungen  mehr  und 
mehr  hinauf  und  erfand  immer  neue  Einwände  an  Stelle  derer, 
die  von  der  Wiener  Regierung  aus  dem  Wege  geräumt  waren. 

Sasonow  erklärte  am  24.  Juli  Pourtales,  daß  dasjenige,  was 
Rußland  nicht  gleichgültig  hinnehmen  könne,  die  eventuelle  Absicht 
Österreichs  wäre,  ,, Serbien  zu  verschlingen"  (Weißbuch  Nr.  160, 
204).  Am  25.  Juli  sagte  der  Minister  dem  englischen  Botschafter, 
Rußland  könne  nicht  zulassen,  daß  Österreich  Serbien  zermalme 
und  die  Vormacht  auf  dem  Balkan  würde.  Er  sprach  bei  dieser 
Gelegenheit  von  der  Eventualität  eines  militärischen  Vorgehens 
Österreich  -  Ungarns  gegen  Serbien,  ohne  irgendwelche  Folge- 
rungen für  Rußland  daraus  zu  ziehen  (Blaubuch  Nr.  17).  Auch 
gegenüber  dem  italienischen  Botschafter  beschränkte  sich  Sasonow 
am  gleichen  Tage  nach  Angabe  des  Gelbbuches  (Nr.  52)  auf  die 
Erklärung,  man  könne  von  Rußland  nicht  verlangen,  zuzulassen, 
daß  Serbien  zertreten  werde. 


76 

Am  26.  Juli  äußerte  Sasonow  zu  Pourtales,  Rußland  „könne 
eine  Herabwürdigung  Serbiens  zum  Vasallenstaat  Österreichs 
unmöglich  dulden"  (Weißbuch  Nr.  217).  Noch  am  selben  Tage 
erhielt  er  durch  Szapary  erneut  beruhigende  Zusicherungen  über 
die  Absichten  Österreich-Ungarns.  Es  handele  sich  ebensowenig 
um  einen  Vorstoß  auf  dem  Balkan,  wie  um  die  Absicht,  mit  Ruß- 
land Händel  zu  suchen.  Daß  Österreich-Ungarn  keinen  terri- 
torialen Gewinn  anstreben  und  auch  nicht  die  Souveränität  Serbiens 
anzutasten  gedächte,  war  ihm  ebenfalls  zugesichert  worden  (Weiß- 
buch Nr.  238,  339). 

Infolge  dieser  Aussprachen,  die  durch  Unterredungen  mit 
Pourtales  ergänzt  wurden,  trat  eine  merkliche  Entspannung  ein 
(Weißbuch  Nr.  282),  die  auch  der  englische  und  französische  Bot- 
schafter am  27.  Juli  feststellten  (Blaubuch  Nr.  55,  Gelbbuch  Nr.  64). 
Sasonow  formulierte  an  diesem  Tage  Buchanan  gegenüber  seine 
Forderungen  dahin,  daß  die  territoriale  Integrität  Serbiens  und 
seine  Rechte  als  die  eines  souveränen  Staates  gewährleistet  werden 
müßten,  so  daß  es  kein  Vasallenstaat  Österreichs  würde.  Auch 
Pourtales  gegenüber  verlangte  er  nur  die  Schonung  der  serbischen 
Souveränitätsrechte,  während  er  zugab,  daß  Serbien  eine  ,, Lektion" 
verdient  habe. 

Diese  Entspannung  sollte  aber  nicht  von  langer  Dauer  sein. 
Am  26.  und  27.  Juli  wurden  in  Rußland  umfassende  militärische 
Maßnahmen  getroffen.  Auch  in  Paris,  das  bis  dahin  eine  fried- 
fertige Haltung  gezeigt  hatte,  trat  ein  Stimmungsumschlag  ein, 
der  in  dem  Telegramm  Bienvenu-Martins  an  den  Ministerpräsidenten 
vom  27,  Juli  (Gelbbuch  Nr.  62)  zum  Ausdruck  kommt.  Am  gleichen 
Tage  sicherte  Grey  überdies  dem  russischen  Botschafter  unter 
Hinweis  auf  die  Kriegsbereitschaft  der  Flotte  ,, diplomatische" 
Unterstützung  zu  (Blaubuch  Nr.  47).  Benckendorff  konnte  be- 
richten, daß  Greys  Sprache  ,,viel  klarer,  merkbar  fester"  ge- 
worden sei. 

Als  Folge  dieser  Vorgänge  änderte  Sasonow  am  28.  Juli,  so- 
bald er  von  der  Kriegserklärung  an  Serbien  erfuhr,  seine  Sprache 
und  gab  wieder  Befürchtung  vor  wegen  der  Zerschmetterung  Serbiens 
und  der  Einnahme  einer  beherrschenden  Stellung  auf  dem  Balkan 
durch  Österreich-Ungarn.  Er  verlang-te  jetzt  die  unverzügliche 
Einstellung  der  (noch  gar  nicht  begonnenen)  militärischen  Opera- 
tionen gegen  Serbien  (Orangebuch  Nr.  48,  Blaubuch  Nr.  70).  Die 
erhaltenen  Zusicherungen  bezüglich  Serbiens  Unabhängigkeit  und 
Integrität  waren,  so  erklärte  er  nunmehr  dem  englischen  Bot- 
schafter, unbefriedigend,  falls  Serbien  von  Österreich  -  Ungarn 
angegriffen  werde;  der  Mobilmachungsbefehl  gegen  Österreich 
werde  an  dem  Tage  ausgegeben  werden,  an  dem  Österreich  die  ser- 
bische Grenze  überschritte  (Blaubuch  Nr.  72). 


77 

Dieses  Ereignis  wartete  die  russische  Regierung  jedoch  keines- 
wegs ab,  sondern  schritt  ungesäumt  zur  Mobilisierung  von  vier 
Armeebezirken  gegen  Österreich  -  Ungarn.  Dem  englischen  Bot- 
schafter gegenüber  aber  stellte  Sasonow  am  29.  Juli  das  Verlangen 
nach  einer  nachträglichen  Feststellung  oder  Erklärung,  um  den 
scharfen  Ton  des  Ultimatums  herabzustimmen  (Blaubuch  Nr.  78). 
Er  forderte  also  nunmehr  ein  Zurückweichen  Österreich-Ungarns 
vor  der  russischen  Drohung.  Szarpary  gegenüber  behauptete  er 
jedoch,  Wien  lehne  jeden  weiteren  Gedankenaustausch  ab.  Als 
dieser  Irrtum  ihm  als  solcher  nachgewiesen  und  er  an  die  bereits 
erhaltenen  Versprechungen  erinnert  wurde,  erklärte  er  endlich, 
in  territorialer  Hinsicht  habe  er  sich  überzeugen  lassen,  aber  was 
die  serbische  Souveränität  anbelange,  müsse  er  an  dem  Stand- 
punkt festhalten,  daß  die  Aufzwingung  der  österreichisch-unga- 
rischen Bedingungen  für  Serbien  ein  Vasallentum  bedeute  (Rot- 
buch 1919,  III,  Nr.  19).  Ebenso  sagte  er  zu  Pourtales,  ,, Rußlands 
vitale  Interessen  verlangten  nicht  nur  Schonung  der  territorialen 
Integrität  Serbiens,  sondern  auch,  daß  Serbien  nicht  durch  An- 
nahme der  seine  Souveränitätsrechte  antastenden  österreichischen 
Forderungen  zum  Vasallenstaat  Österreichs  herabsinke.  Serbien 
dürfe  keine  Buchara  werden."  (Weißbuch  Nr.  412.)  Dem  eng- 
lischen und  französischen  Botschafter  erklärte  er  unter  Bezug- 
nahme auf  dies  Gespräch,  auch  die  deutsche  Bürgschaft,  daß  Öster- 
reich-Ungarn die  serbische  Integrität  respektieren  werde,  genüge 
ihm  nicht  (Blaubuch  Nr.  97).  Als  ,, äußerstes  Maß  des  Entgegen- 
kommens" stellte  der  Minister  am  30.  Juli  die  sogenannte  Sasonow- 
formel  (Weißbuch  Nr.  421,  Orangebuch  Nr.  69)  auf,  in  der  von 
Österreich-Ungarn  die  Aufgabe  aller  jener  Forderungen  verlangt 
wurde,  die  (nach  russischer  Ansicht)  die  souveränen  Rechte  Serbiens 
verletzten.  Unter  diesen  Umständen  wäre  Rußland  bereit,  seine 
militärischen  Vorbereitungen  einzustellen.  Diese  Bedingungen 
sind  in  Berlin  als  unannehmbar  angesehen  worden  (Orange buch 
Nr.  63).  Auch  Grey  suchte  ihre  Abänderung  zu  erreichen  (Blau- 
buch Nr.  103).  Sogar  Poincare  ist  der  Ansicht  gewesen,  daß  Öster- 
reich-Ungarn diese  Forderungen  nicht  annehmen  werde  (Blau- 
buch Nr.  99). 

Trotz  der,  allerdings  sehr  wenig  energischen  Bitte  Greys, 
seine  Forderung  im  Sinne  der  englischen  Vorschläge,  die  angeblich 
auch  von  Frankreich  befürwortet  wurden  (siehe  Gelbbuch  Nr.  112), 
abzuändern  und  Österreich-Ungarn  so  viel  Spielraum  zu  lassen, 
daß  es  durch  Besetzung  Belgrads  oder  eines  anderen  Faustpfandes 
Sicherheit  für  die  zu  gewährende  Genugtuung  erlange  (Blau  buch 
Nr.  103),  milderte  Sasonow  am  31.  Juli  seine  Formel  nur  unwesent- 
lich.    Er  begnügte  sich   nunmehr  mit  der  Festsetzung   der   von 


78 

Serbien  zu  gewährenden  Genugtuung  durch  die  Großmächte,  ver- 
langte aber  die  Einstellung  der  Operationen  gegen  Serbien,  während 
er  seinerseits  lediglich  eine  abwartende  Haltung  in  Aussicht  stellte 
(Orangebuch  Nr.  67).  Die  russische  Mobilmachung  sollte  also  auf 
jeden  Fall  ihren  Fortgang  nehmen. 

In  jener  Zeit  hatten  die  österreichisch-ungarischen  Truppen 
die  Donau  und  Save  noch  nicht  überschritten.  Die  russische  Formel 
bedeutete  also  die  Ablehnung  des  von  Berlin  und  London  aus- 
gegangenen Vorschlages,  daß  Österreich-Ungarn  nach  Besetzung 
Belgrads  oder  eines  anderen  Gebietsteiles  als  Faustpfand  die  Ver- 
mittlung der  Mächte  annehmen  solle.  Der  Minister  war  selbst 
mit  einer  formellen  Erklärung,  Österreich-Ungarn  werde  weder 
das  serbische  Territorium  schmälern,  noch  die  serbische  Souveränität 
antasten,  noch  russische  Balkan-  oder  sonstige  Interessen  ver- 
letzen, nicht  zufriedengestellt  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  74).  Nach- 
dem seine  sonstigen  Bedenken  durch  österreichische  Zusicherungen 
zerstreut  waren,  verschanzte  er  sich  hinter  der  angeblichen  Be- 
fürchtung eines  serbischen  Vasallentums,  weil  er  wußte,  daß  einer 
derartigen  unbeweisbaren  und  unwiderlegbaren  Behauptung  mit 
keinen  greifbaren  Garantien  entgegengetreten  werden  konnte. 
Als  schließlich  Wien  die  direkten  Besprechungen  mit  Petersburg 
auf  Drängen  Deutschlands  wieder  aufgenommen  hatte  (Rotbuch 
1919,  III,  Nr.  44,  Blaubuch  Nr.  133),  machte  Sasonow  in  seinen 
Runderlassen  vom  2.  August  (Orangebuch  Nr.  77  und  78)  die  ,, Würde 
Serbiens"  geltend,  zu  deren  Wahrung  Rußland  die  Maßnahmen 
treffen  müsse,  die  sich  für  die  ganze  Welt  so  verhängnisvoll  erwiesen 
haben. 


V.  Die  deutsch-russische  Krise 

1.  Die  Gefahren  militärischer  MaSnalim^n 

Der  deutsche  Lokalisierungsvorschlag  (Weißbuch  Nr.  100), 
der  am  24.  Juli  in  Paris,  London  und  Petersburg  mitgeteilt  wurde, 
schloß  mit  den  Worten:  ,,Wir  wünschen  dringend  die  Lokalisierung 
des  Konfliktes,  weil  jedes  Eingreifen  einer  anderen  Macht  infolge 
der  verschiedenen  Bündnisverpflichtungen  unabsehbare  Konse- 
quenzen nach  sich  ziehen  würde".  Mit  der  Möglichkeit  eines  Ein- 
greifens Rußlands  war  von  vornherein  gerechnet  worden.  Die 
deutsche  Regierung  war  aber  entschlossen,  dieser  Gefahr  mit  diplo- 
matischen Mitteln  entgegenzutreten,  und  hat  hierzu  ihren  ursprüng- 
lichen Standpunkt  (der  Nichteinmischung  in  den  austro-serbischen 


^•i>-o'       "79 

Streit)  aufgegeben,  sobald   feststand,  daß  eine  friedliche   Lösung 
des  austro-serbischen  Konfliktes  nicht  möglich  sei. 

Für  die  Beurteilung  der  deutschen  Haltung  ist  wesentlich, 
daß  man  in  Berlin  nicht  mit  der  raschen  Ausdehnung  des  Kon- 
fliktes zu  einer  europäischen  Krise  rechnete  (Weißbuch  Nr.  115, 
116,  125).  Ungeachtet  der  Gefahr,  die  für  den  Frieden  Europas 
hiermit  verbunden  war,  ergriff  jedoch  die  russische  Regierung 
unmittelbar  nach  Bekanntwerden  des  österreichisch-ungarischen 
Ultimatums  an  Serbien  weitgehende  militärische  Maßnahmen.  An 
Warnungen  hat  es  nicht  gefehlt.  Am  25.  Juli  sprach  der  englische 
Botschafter  Sasonow  gegenüber  persönlich  ,,die  ernste  Hoffnung 
aus,  Rußland  würde  nicht  durch  Mobilisierung  den  Krieg  beschleu- 
nigen," und  ,, warnte  ihn,  daß,  wenn  Rußland  mobili- 
siere, Deutschland  nicht  mit  bloßer  Mobili- 
sierungzufrieden sein,  noch  Rußland  Zeit  lassen  würde, 
die  seinige  auszuführen,  sondern  wahrscheinlich  so- 
gleich den  Krieg  erklären  würde"  (Blaubuch  Nr.  17). 
Am  27.  Juli  ermahnte  Buchanan  den  Minister  nochmals,  ,, nichts 
zu  tun,  was  einen  Konflikt  beschleunigen  könnte"  und  ,,den  Mobil- 
machungsukas  so  lange  als  möglich  hinauszuschieben"  (Blaubuch 
Nr.  44).  Grey  hat  Lichnowsky,  als  dieser  auf  die  Gefahren  einer 
russischen  Mobilmachung  hinwies,  wiederholt  versichert,  daß  er 
einen  beruhigenden  Einfluß  auf  Petersburg  ausübe  (Weißbuch 
Nr.  258,  357,  435).  Das  Blaubuch  enthält  aber  kein  einziges  Tele- 
gramm aus  London,  das  eine  Warnung  vor  der  Mobilmachung 
ausspricht.  Auch  Oman  weiß  hierüber  nichts  zu  berichten.  Der 
englische  Botschafter  in  Petersburg  hat  also  lediglich  aus  eigenem 
Antriebe  gehandelt.  Seine  Warnungen  hörten  am  27.  Juli  auf. 
Es  gibt  keinen  Anhalt  dafür,  daß  er  seine  Zusage  an  Pourtales 
vom  28.  Juli  erfüllt  habe,  Sasonow  die  Gefahr  der  militärischen 
Maßnahmen  vor  Augen  zu  halten  (Weißbuch  Nr.  338). 

An  freundschaftlichen  Warnungen  von  deutscher  Seite  hat 
es  jedenfalls  nicht  gefehlt  (Weißbuch  Nr.  198,  219,  230,  338,  342, 
343,  365,  378,  380,  401).  Sie  hatten  zur  Folge,  daß  Sasonow  nicht 
nur  wiederholt  die  friedlichen  Absichten  Rußlands  betonte  und  die 
getroffenen  militärischen  Maßnahmen  in  Abrede  stellte,  sondern 
auch,  daß  er  am  26.  Juli  den  Kriegsminister  beauftragte,  den 
deutschen  Militärattache  über  die  Lage  zu  beruhigen.  Suchom- 
linow  versicherte  demgemäß  dem  Major  von  Eggeling,  daß  lediglich 
Vorbereitungsmaßnahmen  getroffen  würden,  und  daß  keine  Mobil- 
machungsorder ergangen  sei.  Erst  wenn  Österreich  die  serbische 
Grenze  überschritte,  würden  die  vier  südwestlichen  Militärbezirke 
mobilisiert  werden,  „unter  keinen  Umständen"  aber  jene  an  der 
deutschen  Front  (Weißbuch  Nr.  242).    Diese  Angaben  waren  jedoch 


80 

unzutreffend.  Am  26.  Juli  hatte  die  Mobilmaciiung  in  Südrußland 
zweifellos  bereits  begonnen.  Sogar  der  Befehl,  der  die  Festung 
Kowno  in  Kriegszustand  versetzte,  datiert  vom  26.  Juli,  d.  h.  zwei 
Tage  vor  der  österreichisch  -  ungarischen  Kriegserklärung  an 
Serbien,  ein  Beweis  dafür,  daß  sich  Rußland  in  der  Erweiterung 
seiner  militärischen  Maßnahmen  durch  die  Entwickelung  der  diplo- 
matischen Verhandlungen  in  keiner  Weise  mehr  stören  ließ,  und 
daß  diese  diplomatischen  Verhandlungen  selbst  russischerseits 
vornehmlich  dem  Zwecke  dienten,  für  die  in  rascherem  Fortgange 
befindliche  Mobilmachung  Zeit  zu  gewinnen. 

Allein  die  französische  Regierung  hat  es  abgelehnt,  in  Peters- 
burg zu  Besonnenheit  zu  mahnen.  Sie  gab  auch  der  russischen 
Regierung  bekannt,  daß  sie  dieselbe  nicht  zurückzuhalten  beab- 
sichtige (Orangebuch  Nr.  28,  Blaubuch  Nr.  53,  Schlußabsatz). 
Diese  Stellungnahme  muß  auf  die  Petersburger  Entschließungen 
ebenso  verhängnisvoll  gewirkt  haben,  wie  die  Zurückbehaltung  der 
englischen  Flottenreserven,  auf  die  Benckendorff  durch  Grey 
am  27.  Juli  ausdrücklich  hingewiesen  wurde  (Blaubuch   Nr.  47), 


2.  Die  russische  Teilmobilmachung 

Die  am  25.  Juli  beschlossene  Teilmobilmachung  gegen  Öster- 
reich-Ungarn wurde  am  28.  Juli  bekanntgegeben  (Blaubuch 
Nr.  70,  I). 

Obwohl  Österreich-Ungarn  nur  8  Korps,  und  diese  ausschließ- 
lich gegen  Serbien  mobilisiert  hatte,  von  einer  militärischen  Be- 
drohung Rußlands  also  keine  Rede  sein  konnte,  mobilisierte 
Rußland  13  Armeekorps  allein  gegen  Österreich  -  Ungarn.  Als 
Grund  hierfür  wurde  die  österreichische  Kriegserklärung  an 
Serbien  angegeben  (Blaubuch  Nr.  70,  I).  Nachträglich  wurden 
auch  die  österreichisch-ungarischen  Rüstungen  und  die  angebliche 
,, Weigerung  des  Grafen  Berchtold,  die  Unterhandlungen  zwischen 
Wien  und  Petersburg  fortzusetzen",  zur  Begründung  angeführt 
(Weißbuch  Nr.  343,  385,  Gelbbuch  Nr.  95,  101,  Orangebuch 
Nr.  58,  77). 

Bereits  die  ersten  Nachrichten  von  militärischen  Maßnahmen 
Rußlands  haben  in  Berlin  am  26.  Juli  eine  gewisse  Beunruhigung 
hervorgerufen.  Diese  äußerte  sich  einmal  in  den  bereits  erwähnten 
Mahnungen  zur  Besonnenheit,  die  nach  Petersburg,  London  und 
Paris  gerichtet  wurden  (Weißbuch  Nr.  198,  199,  200,  219).  Dann 
aber   auch   in   dem  Telegramm   Jagows   nach   Bukarest   mit   der 


81 

leisen  Andeutung,  daß  möglicherweise  der  Bündnisfall  eintreten 
könnte  (Weißbuch  Nr.  214),  sowie  in  seiner  Anfrage  in  Wien  nach 
dem  Stand  der  österreichisch-bulgarischen  Verhandlungen  (Weiß- 
buch Nr.  228). 

Am  27.  Juli  scheint  die  deutsche  Regierung  weniger  unter 
dem  Eindruck  des  unmittelbaren  Bevorstehens  einer  europäischen 
Krisis  gestanden  zu  haben.  Am  28.  Juli  wird  aber  ihre  Besorgnis 
wegen  der  Mobilmachungsnachrichten  aus  Rußland  deutlich  er- 
kennbar. Wie  nicht  anders  zu  erwarten,  wurde  jetzt  auch  die 
Ansicht  des  Generalstabes  gehört.  Moltke  faßte  aber  die  Lage 
noch  sehr  ruhig  auf.  Er  teilte  nicht  die  Wiener  Ansicht,  daß  eine 
ernste  Warnung  in  Petersburg  angezeigt  sei,  und  machte  sich  hierin 
die  Auffassung  der  Reichsregierung  zu  eigen  (Weißbuch  Nr.  281, 
299).  Auch  sein  Urteil  über  die  serbische  Antwortnote  lautete 
dahin,  daß  nunmehr  jeder  Kriegsgrund  für  Österreich-Ungarn 
fortfalle.    (Weißbuch  Nr.  293).    Gründe  zur  Besorgnis  blieben  aber. 

Diese  vermehrten  sich  am  29.  Juli  mit  den  immer  zahlreicher 
einlaufenden  russischen  Mobilmachungsnachrichten,  zu  denen  nun- 
mehr auch  Anzeichen  französischer  Kriegsvorbereitungen  traten. 
Die  Beunruhigung  in  Berlin  äußerte  sich  in  einer  Warnung  nach 
Petersburg  und  Paris.  Der  russischen  Regierung  wurde  mit- 
geteilt, daß  Deutschland  durch  weiteres  Fortschreiten  der  Mobil- 
machungsmaßnahmen zur  Mobilmachung  gezwungen  würde,  und 
daß  dann  der  europäische  Krieg  kaum  noch  aufzuhalten  sein 
werde  (Weißbuch  Nr.  342).  Der  Botschafter  in  Paris  wurde  an- 
gewiesen, darauf  aufmerksam  zu  machen,  daß  sich  Deutschland 
durch  französische  Kriegsvorbereitungen  zu  Schutzmaßregeln  ge- 
zwungen sehen  würde  (Weißbuch  Nr.  341).  Sonst  ist  aber  bis 
zum  Eintreffen  der  Nachricht  von  der  russischen  Teilmobilmachung 
nichts  von  Belang  veranlaßt  worden. 

Eine  unmittelbare  Bedrohung  der  Sicherheit  Deutschlands 
bedeutete  diese  Teilmobilmachung  nicht.  Die  russische  Re- 
gierung versicherte  ferner  am  29.  Juli  sowohl  in  Petersburg  (Orange- 
buch Nr.  49,  Blaubuch  Nr.  93,  II)  als  auch  in  Berlin  (Weißbuch 
Nr.  399,  Orangebuch  Nr.  51),  daß  die  militärischen  Maßnahmen 
Rußlands  keineswegs  gegen  Deutschland  gerichtet  seien.  Sasonow 
hat  Pourtales  feierlich  beteuert,  daß  gegen  Deutschland  nicht  das 
geringste  geschehe  (Weißbuch  Nr.  343).  Zu  gleicher  Zeit  wurden 
jedoch  in  den  nordwestlichen  Gouvernements  umfassende  Kriegs- 
vorbereitungen getroffen,  die  ausschließlich  Deutschland  gelten 
mußten.  Am  28.  Juli  waren  sogar  im  Hafen  von  Petersburg  die 
Funkenapparate  eines  deutschen  Dampfers  entfernt  worden. 

Die  russische  Regierung  wurde  noch  am  29.  Juli  auf  die  ver- 
hängnisvollen Folgen  hingewiesen,  welche  die  Mobilmachung  gegen 


82 

Österreich-Ungarn   für  die   deutsche  Vermittlungstätigkeit   haben 
müsse.     Das  betreffende  Telegramm  Bethmann  Hollwegs  lautet: 

„Russische  Mobilmachung  an  österreichischer  Grenze  wird,  wie  ich  an- 
nehme, entsprechende  österreichische  Maßregel  zur  Folge  haben.  Wie  weit 
dann  die  rollenden  Steine  noch  aufzuhalten  sind,  ist  schwer  zu  sagen,  und  ich 
fürchte,  daß  friedliche  Absichten  Herrn  Sasonows  dann  nicht  mehr  verwirk- 
licht werden  können.  Um,  wenn  möglich,  drohende  Katastrophe  abzuwenden, 
wirken  wir  in  Wien  darauf  hin,  daß  die  österreichisch-ungarische  Regierung 
in  Bestätigung  ihrer  früheren  Versicherung  Rußland  noch  einmal  formell  er- 
klärt, daß  ihr  territoriale  Erwerbungen  in  Serbien  fernliegen  und  ihre  mili- 
tärischen Maßnahmen  lediglich  eine  vorübergehende  Besetzung  bezwecken, 
um  Serbien  zur  Schaffung  von  Garantien  für  künftiges  Wohlverhalten  zu  zwingen. 

Gibt  Österreich-Ungarn  eine  solche  Erklärung  ab,  so  hat  Rußland  alles 
erreicht,  was  es  will.  Denn  daß  Serbien  die  , verdiente  Lektion'  erhalten  müsse, 
hat  Herr  Sasonow  Euerer  Exzellenz  gegenüber  selbst  zugegeben. 

Wir  erwarten  daher,  daß  Rußland,  falls  unser  Schritt  in  Wien  Erfolg 
hat,  keinen  kriegerischen  Konflikt  mit  Österreich  herbeiführt."  (Weißbuch 
Nr.  380.) 

Kaiser  Wilhelm  machte  ebenfalls  am  29.  Juli  den  Zaren  durch 
ein  persönliches  Telegramm  auf  die  verhängnisvolle  Wirkung  auf- 
merksam, welche  die  russische  Teilmobilmachung  auf  die  von 
Deutschland  betriebene  Vermittlung  ausüben  müßte  (Weißbuch 
Nr.  359). 

Die  russische  Regierung  ließ  sich  aber  von  der  planmäßigen 
Fortsetzung  ihrer  Kriegsmaßnahmen  nicht  abbringen.  Die  dem 
österreichisch-ungarischen  Botschafter  in  Petersburg  in  Aussicht 
gestellte  ,,note  explicative",  welche  die  russische  Teilmobilmachung 
rechtfertigen  sollte,  ist  niemals  ergangen  (Weißbuch  Nr.  378,  723, 
Rotbuch  1919,  III,  19,  71).  Die  russischen  Generäle  drängten 
zum  Kriege ;  der  Zar  und  seine  Minister  ließen  sich  von  ihnen  auf 
die  Bahn  unwiderruflicher  und  verhängnisvoller  Maßnahmen 
treiben. 

Die  russische  Teilmobilmachung,  die  offensichtlich  ganz 
unerwartet  frühzeitig  erfolgte,  muß  der  Berliner  Regierung  den 
ungeheuren  Ernst  der  Lage  plötzlich  vor  Augen  geführt  haben. 
Es  sind  zwar  am  29.  Juli  keine  ernsthaften  militärischen  Maß- 
nahmen getroffen  worden,  doch  erfolgten  am  29.  und  30.  Juli 
politische  Schritte  von  Bedeutung. 

Bekanntlich  fand  am  29.  Juli  abends  in  Potsdam  eine  Be- 
ratung statt.  Wie  die  Lage  beurteilt  wurde,  ist  aus  dem  ersicht- 
lich, was  anschließend  geschah.  Der  Kaiser  sandte  ein  zweites 
Telegramm  an  den  Zaren,,  in  dem  er  auf  die  deutsche  Vermitt- 
lungstätigkeit hinwies  und  vor  den  Folgen  der  Mobilmachung 
warnte  (Weißbuch  Nr.  359).  Bethmann  Hollweg  ließ  den  eng- 
lischen Botschafter  kommen  und  machte  ihm  ein  Angebot  für  die 


83 

Neutralität  Englands  (Weißbuch  Nr.  373,  Blaubuch  Nr.  85). 
Dieser  Schritt  erfolgte  ohne  Kenntnis  der  Erklärung  Greys  an 
Lichnowsky,  England  werde  im  Fall  eines  europäischen  Kon- 
fliktes nicht  neutral  bleiben  (Weißbuch  Nr.  368).  Er  zeugt  von 
einer  so  weit  gehenden  Verkennung  der  tatsächlichen  Haltung 
Englands,  daß  man  selbst  unter  Berücksichtigung  der  Irreführung 
durch  London  annehmen  könnte,  daß  die  russische  Teilmobil- 
machung an  diesem  Abend  eine  gewisse  Kopflosigkeit  zur  Folge 
hatte.  Um  so  bemerkenswerter  ist  es,  daß  keine  militärischen 
Maßnahmen  von  Bedeutung  angeordnet  worden  sind. 

Ebenfalls  an  diesem  Abend  gingen  eine  Reihe  der  oben  be- 
sprochenen Mahnungen  zum  Einlenken  nach  Wien  (Weißbuch 
Nr.  377,  384,  385,  395,  396).  Ebenso  die  Mitteilung  nach  Peters- 
burg und  London,  daß  deutscherseits  die  Vermittlung  weiter 
betrieben  werde  (Weißbuch  Nr.  392,  393,  397). 

Ferner  wurde  das  Ultimatum  an  Belgien  in  einem  verschlosse- 
nen Umschlag  nach  Brüssel  gesandt  (Weißbuch  Nr.  375,  376). 
Es  sollte  hier  gewissermaßen  auf  Eis  liegen.  Die  Regierung  be- 
hielt es  in  ihrer  Hand,  diesen  Erlaß  zurückzuziehen,  ohne  daß 
sein  Inhalt  auch  nur  zur  Kenntnis  des  Gesandten  gelangte,  wenn 
der  Lauf  der  Ereignisse  sich  günstig  entwickelte.  Dieses  Ulti- 
matum ist  bereits  am  26.  Juli  von  Moltke  entworfen  worden. 
Es  gehörte  offensichtlich  zu  den  Mobilmachungsvorbereitungen 
des  Generalstabs.  Wie  wenig  das  Auswärtige  Amt  auf  einen 
Krieg  gerüstet  war,  sieht  man  daran,  daß  es  seinerseits  keine  Vor- 
bereitungen für  einen  Durchmarsch  durch  Belgien  getroffen  hatte 
und  auch  in  den  folgenden  Tagen  bei  den  Verhandlungen  mit 
London  niemals  auf  die  frühere  Haltung  Englands  in  dieser  Frage 
hingewiesen  hat.  Infolgedessen  konnte  die  englische  Regierung 
die  Verletzung  der  belgischen  Neutralität  als  Hauptgrund  für  ihren 
Eintritt  in  den  Krieg  hinstellen. 

Am  29.  Juli  wurde  ferner  ein  Telegramm  nach  Kopenhagen 
gesandt,  das  die  Möglichkeit  eines  europäischen  Krieges  vorsieht 
(Weißbuch  Nr.  371),  ebenso  wie  eine  Weisung  nach  Stockholm 
vom  30.  Juli  (Weißbuch  Nr.  406).  Dagegen  wurde  auf  die  Bitte 
des  rumänischen  Gesandten,  rechtzeitig  von  dem  etwaigen  Eintritt 
des  Bündnisfalles  verständigt  zu  werden,  nichts  veranlaßt  (Weiß- 
buch Nr.  351).  Vielmehr  wurde  dem  König  Carol  nahegelegt, 
im  Sinne  des  Friedens  auf  Petersburg  einzuwirken  (Weißbuch 
Nr.  389).  Erst  in  einem  Telegramm  an  den  König  vom  31.  Juli 
appellierte  der  Kaiser  an  Rumäniens  Vertragstreue  (Weißbuch 
Nr.  472).  Tatsächlich  ist  aber  schon  am  30.  Juli  nicht  mehr  auf 
Rumänien  gerechnet  worden  (vgl.  Weißbuch  Nr.  456). 

6* 


84 

Am  29.  Juli  beurteilte  auch  der  deutsche  Generalstab  die 
Lage  ungünstig.  In  seiner  Denkschrift  (Weißbuch  Nr.  349), 
die  vor  der  amtlichen  Bestätigung  der  russischen  Teilmobilmachung 
geschrieben  worden  ist,  sah  er  voraus,  daß  das  Vorgehen  Ruß- 
lands notwendig  die  Gesamtmobilmachung  in  Österreich-Ungarn 
zur  Folge  haben  werde.  Dies  bedeute  den  österreichisch-russischen 
Konflikt,  der  für  Deutschland  den  Bündnisfall  mit  sich  bringe 
und  die  Mobilmachung  nach  sich  ziehe.  Diese  wiederum  werde 
die  allgemeine  Mobilmachung  in  Rußland  und,  wegen  der  franko- 
russischen Allianz,  auch  in  Frankreich  zur  Folge  haben.  Mit  der 
Möglichkeit,  daß  Rußland  ohne  äußeren  Anlaß  und  Notwendigkeit 
zur  allgemeinen  Mobilmachung  schreiten  werde,  ist  trotz  der  Maß- 
nahmen an  der  deutschen  Grenze  offenbar  in  Berlin  kaum  ge- 
rechnet worden.  Den  russischen  Friedensbeteuerungen  wurde 
wohl  noch  immer  Gewicht  beigemessen. 

Am  30.  Juli  nahm  nach  der  Darstellung  des  Weißbuches 
in  Berlin  die  Besorgnis  zu.  Bethmann  Hollweg  ließ  Grey  bitten, 
Frankreich  zu  bewegen,  seine  Kriegsvorbereitungen  anzuhalten, 
und  in  Petersburg  die  Annahme  seiner  eigenen  Vorschläge  durch- 
zusetzen. Mit  einem  russischen  Vorgehen  gegen  Deutschland 
scheint  man  noch  immer  nicht  gerechnet  zu  haben;  denn  England 
wird  nur  aufgefordert,  einen  russischen  Aufmarsch  gegen 
die  österreichische  Grenze  zu  verhindern.  (Weiß- 
buch Nr.  409.)  Gleichzeitig  richtete  der  eben  erst  aus  London 
zurückgekehrte  Prinz  Heinrich,  wohl  im  Auftrage  des  Kaisers, 
einen  Appell  an  den  König  von  England,  der  den  gleichen  Ge- 
dankengängen folgte:  Wenn  der  Frieden  erhalten  bleiben  solle, 
müßten  die  Kriegsvorbereitungen  in  Frankreich  und  Rußland 
angehalten  werden  (Weißbuch  Nr.  417).  Auch  wandte  sich  der 
Kaiser  nochmals  an  den  Zaren  (Weißbuch  Nr.  420).  Ferner  tele- 
graphierte er  an  den  Kaiser  Franz  Joseph  und  drang  auf  die  An- 
nahme der  deutschen  Vermittlungsvorschläge  (Weißbuch  Nr.  437). 

In  der  Sitzung  des  preußischen  Staatsministeriums  vom 
30.  Juli  bezeichnete  Bethmann  Hollweg  die  Lage  als  nicht  aus- 
sichtslos. ,,Als  Politiker  gäbe  er....  die  Hoffnungen  und  Be- 
mühungen auf  Erhaltung  des  Friedens  noch  nicht  auf."  (Weiß- 
buch Nr.  456.) 

Im  Laufe  des  30.  Juli  sind  auch  Meldungen  eingegangen, 
die  die  Lage  wieder  hoffnungsvoller  erscheinen  ließen.  Die  Wiener 
Regierung  begann  einzulenken  (Weißbuch  Nr.  432,  433,  448). 
Die  englische  Regierung  stellte  ihre  Einwirkung  auf  Petersburg 
in  Aussicht  (Weißbuch  Nr.  435).  Ihr  Versuch  hierzu  fiel  aller- 
dings äußerst  unbefriedigend  aus  (Weißbuch  Nr.  460).  Die  Hal- 
tung Rußlands  war  nach  wie  vor  bedrohlich.  Sasonow  blieb  un- 
nachgiebig, versprach  aber,  daß  Feindseligkeiten  gegen  Österreich- 
Ungarn    einstweilen    unterbleiben    würden    (Weißbuch    Nr.    449). 


85 

Das  Gesamtbild  der  Lage  stellt  ein  Wettrennen  zwischen  den 
russischen  Rüstungen  und  der  deutschen  Vermittlungstätigkeit 
dar.  Die  Aussichten  für  Deutschland  waren  angesichts  der  Kriegs- 
treibereien in  Petersburg  von  vornherein  sehr  gering.  Berlin 
hat  aber  Wien  immer  wieder  angestachelt,  das  erforderliche  Ent- 
gegenkommen zu  beweisen.  England  dagegen  trieb  zwar  Deutsch- 
land zu  einer  erhöhten  Vermittlungstätigkeit  an,  machte  aber 
von  seinem  Einfluß  auf  Petersburg  nur  den  denkbar  geringsten 
Gebrauch.  Grey  sah  dem  Rennen  gespannt  zu,  es  war  ihm  aber 
offenbar  gleichgültig,  wie  es  auslief.  Frankreich  verhielt  sich 
bestenfalls  passiv.  Da  Wien  zu  einem  weitgehenden  Entgegen- 
kommen nicht  bereit  war,  mußte  der  russische  Kriegswille  siegen. 
Es  mag  sein,  daß  das  Rennen  von  vornherein  aussichtslos  gewesen 
ist.  Die  deutsche  Regierung  hat  sich  aber  trotzdem  bis  zuletzt 
um  die  Erhaltung  des  Friedens  bemüht.  Auch  waren  ihre  Maß- 
nahmen im  wesentlichen  zweckmäßig  und  erfolgversprechend, 
was  sich  von  den  englischen  Schritten  in  diesen  letzten  Tagen  nicht 
sagen  läßt  (vgl.  Blaubuch  Nr,  111).  Daß  man  in  Berlin  den  Welt- 
krieg nicht  wollte,  geht. aus  diesem  Abschnitt  der  Verhandlungen 
so  deutlich  hervor,  daß  sich  jede  Ausführung  hierzu  erübrigt. 
Man  darf  aber  auch  anerkennen,  daß  nahezu  nichts  unversucht 
gelassen  wurde,  was  den  Frieden  erhalten  konnte. 

3.  Die  russische  Gesamtmobilmachung 

Am  29.  Juli  mittags  teilte  Sasonow  dem  deutschen  Bot- 
schafter mit,  daß  die  russische  Mobilmachung  gegen  Österreich- 
Ungarn  beschlossen  sei  und  in  wenigen  Stunden  veröffentlicht 
werden  solle.  Der  Botschafter  bezeichnete  diesen  Schritt  als  für 
den  Frieden  äußerst  gefährlich  und  wies,  wie  er  dies  schon  wieder- 
holt an  den  vorhergehenden  Tagen  getan  hatte,  darauf  hin,  daß 
die  Mobilmachung  gegen  Österreich-Ungarn  sich  auch  gegen 
Deutschland  richte,  da  Deutschlands  vertragsmäßige  Verpflich- 
tungen gegen  diese  Macht  allgemein  bekannt  seien  (Weißbuch 
Nr.  343). 

Noch  am  gleichen  Tage  wurde  jedoch  die  Gesamtmobilmachung 
beschlossen*).  Mit  dem  Befehl  des  Zaren  in  der  Tasche,  versicherte 
der  russische  Generalstabschef  um  3  Uhr  nachmittags  dem  deut- 
schen Militärattache,  in  den  militärischen  Vorkehrungen  Ruß- 
lands sei  keine  Änderung  eingetreten.  Nirgends  sei  bisher  eine 
Mobilmachung  erfolgt  und  werde  auch  an  den  deutschen 
Grenzen  nicht  beabsichtigt  (Weißbuch  Nr.  370). 


*)  Rene  Puaux:  Les  Etudes  de  la  Guerre,  Heft  2,  S.  131.     (Amtliche 
russische  Mitteilung  vom  5.  9.  1917.) 


86 

Abends  zwischen  6  und  7  Uhr  warnte  der  deutsche  Botschafter 
gemäß  dem  Telegramm  vom  selben  Tage  (Weißbuch  Nr.  342) 
erneut  vor  den  Folgen  einer  Mobilmachung  (Weißbuch  Nr.  378). 
Sasonow  hat  diese  Mitteilung  sehr  erregt  entgegengenommen 
und  sie,  obwohl  ihr  Inhalt  genau  mit  den  früheren  Warnungen 
übereinstimmte,  als  Drohung  ausgelegt,  die  er  als  Rechtfertigung 
der  bereits  beschlossenen  Mobilmachung  gegen  Deutschland  zu 
benutzen  suchte.     Er  telegraphierte  nach  Paris  und  London: 

„Der  deutsche  Botschafter  erklärte  mir  heute  den  Beschluß  seiner  Re- 
gierung, die  eigene  Mobilisierung  durchzuführen,  wenn  Rußland  die  von  ihm 
betriebenen  militärischen  Vorbereitungen  nicht  einstellt.  Indessen  sind  diese 
von  uns  nur  infolge  der  bereits  stattgefundenen  Mobilisation  von  acht  Korps 
in  Österreich  und  infolge  der  offenbaren  Unlust  des  letzteren,  auf  irgendwelche 
Weise  der  friedlichen  Beilegung  des  eigenen  Streites  mit  Serbien  zuzustimmen, 
vorgenommen  worden. 

Da  wir  den  Wunsch  Deutschlands  nicht  erfüllen  können,  bleibt  es  uns 
nur  übrig,  unsere  Bewaffnung  zu  beschleunigen  und  mit  der 
wahrscheinlichen  Unvermeidlichkeit  des  Krieges  zu 
rechnen.  Wollen  Sie  die  französische  Regierung  davon  in  Kenntnis  setzen 
und  ihr  gleichzeitig  unseren  aufrichtigen  Dank  aussprechen  für  die  mir  gegen- 
über im  Namen  der  französischen  Regierung  erfolgte  Erklärung 
des  französischen  Botschafters,  daß  wir  im  vollen 
Maße  auf  die  Unterstützung  des  verbündeten  Frank- 
reichs rechnen  können.  Unter  den  gegenwärtigen  Umständen  ist 
diese  Erklärung  für  uns  besonders  wertvoll.  Es  wäre  äußerst  wünschens- 
wert, daß  auch  England,  ohne  Zeit  zu  verlieren, 
sich  Frankreich  und  Rußland  anschließt,  denn  nur  auf 
diese  Weise  wird  es  ihm  gelingen,  die  gefährliche  Störung  des  europäischen 
Gleichgewichts  abzuwenden."  (Prawda  Nr.  7  vom  9.  3.  1919,  Orangebuch 
Nr.  58.) 

Ebenso  wie  er  den  Verbündeten  gegenüber  den  Sachverhalt 
fälschte,  um  den  Eintritt  des  Bündnisfalles  auch  formell  herbei- 
zuführen, gab  Sasonow  dem  Zaren  eine  falsche  Darstellung  der 
Erklärung  des  deutschen  Botschafters.  Dies  geht  deutlich  aus 
dem  Telegramm  des  Zaren  an  den  Kaiser  vom  29.  Juli  abends 
hervor,  in  dem  es  heißt:  ,, Danke  für  Dein  versöhnliches  und 
freundschaftliches  Telegramm.  Dagegen  war  die  heute  von  Deinem 
Botschafter  meinem  Minister  übergebene  offizielle  Mitteilung  in 
einem  ganz  anderen  Tone  gehalten."  (Weißbuch  Nr.  366.)  Der 
Unterschied  bestand  lediglich  in  der  Auslegung  Sasonows,  nicht 
im  Wortlaut  der  Telegramme.  Denn  abgesehen  davon,  daß  dienst- 
liche Telegramme  naturgemäß  anders  stilisiert  werden  als  persön- 
liche Mitteilungen  regierender  Herrscher,  besteht  kein  Wider- 
spruch zwischen  der  Warnung,  ,,daß  weiteres  Fortschreiten  der 
russischen  Mobilmachungsmaßnahmen  Deutschland  zur  Mobil- 
machung zwingen  würde,  und  daß  dann  der  europäische  Krieg 
kaum  noch  aufzuhalten  sein  werde",  und  den  Worten  Kaiser 
Wilhelms:  ,, Natürlich  würden  militärische  Maßnahmen  von  selten 


87 

Rußlands,  die  Österreich  als  Drohung  ansehen  würde,  ein  Unheil 
beschleunigen,  das  wir  beide  zu  vermeiden  wünschen,  und  meine 
Stellung  als  Vermittler  gefährden. . .".  Das  Telegramm  des  Kaisers 
enthält  sogar  eine  weitergehende  Mahnung  als  das  des  Kanzlers. 

Der  Zar  ist  anscheinend  von  Anfang  der  Krise  an  zum  Kriege 
gedrängt  worden.  Bereits  am  29.  Juli  telegraphierte  er  dem 
Kaiser:  ,,Ich  sehe  voraus,  daß  ich  sehr  bald  dem  auf  mich  aus- 
geübten Druck  erliegen  und  gezwungen  sein  werde,  äußerste  Maß- 
nahmen zu  ergreifen,  die  zum  Kriege  führen  werden."  (Weiß- 
buch Nr.  332.)  Noch  am  gleichen  Tage  erlag  er  dem  Druck  und 
genehmigte  die  Gesamtmobilmachung.  Abends  ging  das  Tele- 
gramm ein,  in  dem  der  Kaiser  erklärte,  daß  er  den  Wunsch  des 
Zaren  nach  Erhaltung  des  Friedens  teile,  und  daß  die  deutsche 
Regierung  ihre  Bemühungen  fortsetze,  eine  direkte  Verständigung 
zwischen  Petersburg  und  Wien  zu  fördern  (Weißbuch  Nr.  359).  Die 
Wirkung  dieses  ,, versöhnlichen  und  freundschaftlichen  Telegramms" 
auf  den  Zaren  ist  aus  den  Verhandlungen  des  Suchomlinow- 
prozesses  bekannt.  Der  Zar  rief  in  der  Nacht  vom  29.  zum  30.  Juli 
sowohl  den  Kriegsminister  wie  auch  den  Generalstabschef  tele- 
phonisch an  und  befahl,  die  allgemeine  Mobilmachung  rück- 
gängig zu  machen  und  es  bei  der  Teilmobilmachung  gegen  Öster- 
reich-Ungarn bewenden  zu  lassen.  Die  beiden  Generäle  beschlossen, 
diesem  Befehl  nicht  Folge  zu  leisten.  Zusammen  mit  Sasonow 
stimmten  sie  am  folgenden  Tage  den  Zaren  um,  und  die  Gesamt- 
mobilmachung nahm  ihren  Fortgang.  Der  russische  General- 
adjutant Fürst  Trubetzkoi  erklärte  am  30.  Juli  dem  General  von 
Chelius,  das  Telegramm  des  Kaisers  habe  einen  tiefen  Eindruck 
auf  den  Zaren  gemacht,  aber  dieser  könne  leider  nichts  mehr 
ändern,  denn  die  Mobilisierung  gegen  Österreich  sei  bereits  be- 
fohlen worden,  und  Sasonow  habe  wohl  den  Zaren  überzeugt, 
daß  ein  Zurückweichen  nicht  mehr  möglich  sei  (Weißbuch  Nr.  445). 
Doch  sagte  er  nichts  von  einer  allgemeinen  Mobilmachung.  Pourta- 
les  berichtete  ebenfalls  am  30.  Juli,  ,,daß  das  Telegramm  des  Kaisers 
seine  Wirkung  auf  den  Zaren  nicht  verfehlt  habe,  daß  aber  Sasonow 
eifrig  bemüht  sei,  daran  zu  arbeiten,  daß  der  Zar  fest  bleibe". 
(Weißbuch  Nr.  401.)  Die  Gesamtmobilmachung  wurde  den 
30.  Juli  über  geheim  gehalten.  Sasonow  verhandelte  mit  dem 
deutschen  Botschafter  über  die  Vermittlung  in  Wien  und  stellte 
die  bekannte  Formel  auf,  die  in  ihrer  Anmaßung  bereits  von  den 
Entschlüssen  zeugte,  die  jede  Vermittlungstätigkeit  vereiteln 
sollten.    Die  allgemeine  Mobilmachung  verschwieg  er. 

Diese  Geheimhaltung  des  Mobilmachungsbeschlusses  ist  viel- 
leicht auf  den  Rat  Vivianis  vom  30.  Juli  zurückzuführen,  ,,bei 
den  Vorsichts-  und  Verteidigungsmaßnahmen  unmittelbar  keinerlei 


88 

Anordnungen  zu  treffen,  die  Deutschland  einen  Vorwand  zu  einer 
ganzen  oder  teilweisen  Mobilmachung  seiner  Kräfte  bieten  würde". 
(Gelbbuch  Nr.  101.)  Im  gleichen  Sinne  berichtete  Iswolski  unter 
Nr.  210,  ebenfalls  am  30.  JuH: 

,,Margerit,  den  ich  eben  gesprochen  habe,  sagte  mir,  die  französische 
Regierung,  die  sich  keineswegs  in  unsere  militärischen  Vorbereitungen  ein- 
mischen will,  würde  in  Anbetracht  der  fortgesetzten  Verhandlungen  wegen 
Wahrung  des  Friedens  es  für  äußerst  wünschenswert  halten,  daß  diese 
Vorbereitungen  einen  möglichst  wenig  offenen  und 
herausfordernden  Charakter  tragen.  Der  Kriegsminister,  der 
denselben  Gedanken  entwickelte,  sagte  seinerseits  Graf  Ignatjew  (dem  russischen 
Militärattache),  wir  könnten  erklären,  daß  wir  im  höchsten  Interesse  des  Friedens 
bereit  seien,  die  Mobilisationsmaßnahmen  zeitweilig  zu  verlangsamen,  was  uns 
nicht  hindern  würde,  die  militärischen  Vorbereitungen  fort- 
zusetzen und  sie  sogar  zu  verstärken,  indem  wir  uns  nach 
Möglichkeit  der  Massentruppentransporte  enthalten.  Um  Ql'o  Uhr  findet  eine 
Ministerberatung  unter  Vorsitz  Poincares  statt,  nach  der  ich  sofort  mit  Viviani 
zusammenkommen  werde".    (Prawda  Nr.  7  vom  9.  3.  1919.) 

Dieser  Freundesrat  blieb  aber  unbeachtet.  Am  3  I.Juli  früh 
prangten  die  Mobilmachungsanschläge  an  allen  Straßenecken 
Petersburgs.  Jeder  Zweifel  war  nunmehr  ausgeschlossen,  und 
der  deutsche  Botschafter  meldete  die  Tatsache  der  allgemeinen 
Mobilmachung  nach  Berlin  (Weißbuch  Nr.  473).  Zugleich  unter- 
nahm er  von  sich  aus  Schritte,  um  die  Rückgängigmachung  dieses 
verhängnisvollen  Befehls  zu  erwirken  (Weißbuch  Nr.  535,  539). 
Diese  Schritte  hatten  keinen  Erfolg. 

Die  russische  Regierung  suchte  auch  jetzt  noch  die  Tatsache 
der  Gesamtmobilmachung  im  Ausland  geheim  zu  halten,  ver- 
mutlich, um  die  deutschen  Gegenmaßnahmen  als  Provokation 
hinstellen  zu  können,  wie  dies  in  Frankreich  mit  Erfolg  geschehen 
ist.  Asquith  erklärte  am  31.  Juli  im  Unterhaus:  ,,Wir  haben  soeben, 
nicht  aus  Petersburg,  sondern  aus  Deutschland  erfahren,  daß 
Rußland  eine  allgemeine  Mobilmachung  seines  Heeres  und  seiner 
Flotte  verkündet  hat."  (Weißbuch  Nr.  576;  vgl.  auch  Nr.  518.) 
Sogar  der  russische  Botschafter  in  Berlin  war  ohne  Nachricht 
(2.  belg.  Graubuch  Nr.  20).  Nur  in  Paris  wußte  man  Bescheid. 
Abends  um  7  Uhr  erklärte  zwar  die  französische  Regierung,  noch 
keine  Kenntnis  der  Mobilmachung  zu  haben  (Weißbuch  Nr.  528, 
Gelbbuch  Nr.  117).  Aber  diese  Angabe  war  erlogen.  Denn  Is- 
wolski hat  am  31.  Juli  berichtet,  am  Morgen  sei  ein  Telegramm 
von  Paleologue  eingetroffen,  ,,das  die  volle  Mobilisation  der  russi- 
schen Armee  ohne  jede  Ausnahme  bestätigt".  (Prawda  Nr.  7, 
vom  9.  3.  1919.) 

Von  den  zahlreich  einlaufenden  Mobilmachungsmeldungen. 
der  Botschaft  und  der  Konsulate  in  Rußland  abgesehen,  war  die 


89 

deutsche  Regierung  auf  die  russische  Gesamtmobilmachung  nicht 
vorbereitet.  Der  Kaiser  äußerte  am  1.  August  zum  österreichisch- 
ungarischen Legationsrat  Graf  Larisch,  „daß  die  Tatsache  der 
allgemeinen  Mobilmachung  Rußlands  ihn  vollkommen  überrascht 
hätte".  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  84.)  Sasonow  hat  niemals 
von  dieser  Möglichkeit  gesprochen.  Russischerseits  war  vielmehr 
wiederholt  versichert  worden,  daß  eine  Mobilmachung  gegen 
Deutschland  nicht  in  Frage  komme.  Diese  Tatsache  ist  wesent- 
lich zur  Beurteilung  der  russischen  Absichten,  und  zweifellos  wird 
man  damals  in  Berlin  gerade  aus  der  Unaufrichtigkeit  dieser  Er- 
klärungen den  Kriegswillen  Rußlands  gefolgert  haben. 

Die  deutsche  Regierung  wurde  durch  die  allgemeine  Mobil- 
machung in  Rußland  vor  eine  schwere  Entscheidung  gestellt. 
Nicht  nur  Rußland  hatte  mobilisiert,  auch  in  Frankreich  waren 
die  Kriegsvorbereitungen  weit  vorgeschritten.  Deutschland  hatte 
seinerseits  lediglich  Maßnahmen  vorbeugender  Art  getroffen. 
Es  waren  (am  29.  Juli)  die  Truppen  von  den  Übungsplätzen  in  ihre 
Garnisonen  zurückbeordert  und  die  Urlauber  zurückberufen  worden. 
Am  30.  Juli  wurde  mit  der  Aufstellung  des  Grenzschutzes  be- 
gonnen. Keinerlei  Mobilmachungsbefehl  war  ergangen.  Nun- 
mehr wurde,  am  31.  Juli  mittags,  ,, Drohende  Kriegsgefahr"  ver- 
kündet und  Rußland  in  einem  mit  zwölf  Stunden  befristeten  Ulti- 
matum aufgefordert,  seine  Kriegsmaßnahmen  einzustellen  (Weiß- 
buch Nr.  490).  Es  erschien  notwendig,  von  der  russischen  Re- 
gierung hierbei  auch  die  Einstellung  der  gegen  Österreich-Ungarn 
getroffenen  Maßnahmen  zu  verlangen,  um  der  Antwort  vorzu- 
beugen, die  Mobilmachung  sei  lediglich  gegen  Österreich  gerichtet 
(Jagow  zu  Goschen,  Blaubuch  Nr.  121).  Da  aus  Petersburg  keiner- 
lei Antwort  einging,  wurde  der  deutsche  Botschafter  am  1.  August 
angewiesen,  den  Krieg  zu  erklären  (Weißbuch  Nr.  542).  Diesen 
Auftrag  führte  er  am  1.  August,  7  Uhr  abends,  aus  (Weißbuch 
Nr.  588,  Orangebuch  Nr.  76). 

Es  hat  niemals  irgendein  Zweifel  darüber  bestehen  können, 
daß  die  Gesamtmobilmachung  der  russischen  Armee  den  Krieg 
mit  Deutschland  bedeuten  würde.  Auch  im  Lager  unserer  Gegner 
urteilte  man  nicht  anders. 

Nach  dem  französischen  Gelbbuch  über  die  französisch- 
russische Allianz  (Nr.  71)  erklärte  der  französische  General  Bois- 
deffre  am  18.  August  1892  bei  den  Verhandlungen  über  die  Militär- 
konvention dem  Zaren  Alexander  III.,  daß  die  Mobilmachung 
der  Kriegserklärung  gleichkomme.  Mobilisieren  heiße,  seinen 
Gegner  zwingen,  das  gleiche  zu  tun.  Die  Mobilmachung  habe 
die  Ausführung  der  strategischen  Transporte  und  der  Truppen- 
zusammenziehungen   zur   Folge.      Eine   Million   Mann   an   seiner 


90 

Grenze  mobilisieren  lassen,  ohne  gleichzeitig  dasselbe  zu  tun, 
hieße,  sich  jeder  Möglichkeit  der  Sicherung  begeben.  Es  hieße, 
sich  in  die  Lage  eines  Menschen  zu  versetzen,  der  mit  einer  Pistole 
in  der  Tasche  sich  die  seines  Nachbarn  an  die  Stirn  drücken  ließe, 
ohne  die  seine  hervorzuziehen.  Der  Zar  Alexander  pflichtete  dieser 
Auffassung  bei. 

Der  Aufmarsch  der  zahlenmäßig  weit  überlegenen  russischen 
Streitkräfte  bedeutete  eine  Bedrohung,  welche  die  deutsche  Re- 
gierung niemals  und  unter  keinen  Umständen  untätig  mit- 
ansehen konnte.  Es  mußten  in  solchem  Falle  unbedingt  Gegen- 
maßregeln getroffen  werden,  und  diese  Gegenmaßregeln  konnten 
nur  in  einem  kriegerischen  Vorgehen  bestehen.  Denn,  wie  der 
ganzen  Welt  bekannt  war,  lag  die  Überlegenheit  der  deutschen 
Armee  in  ihrer  größeren  Beweglichkeit.  Die  Sicherheit  des  Reiches 
beruhte  auf  der  schnellen  Mobilmachung.  Die  Aussicht  der  deut- 
schen Truppen,  den  Millionenheeren  des  Zaren  erfolgreich  zu 
begegnen,  begründete  sich  mit  der  Möglichkeit,  sie  nach  rascher 
vollzogenem  Aufmarsch  zu  schlagen,  ehe  sie  vollständig  zusammen- 
gezogen waren.    Dies  wußte  alle  Welt. 

Rußland  war  es  bekannt.  Um  Deutschland  gegenüber  einen 
möglichst  großen  Vorsprung  zu  gewinnen,  wurde  die  Tatsache 
der  Mobilmachung  zunächst  ängstlich  geheim  gehalten.  Die 
diplomatischen  Verhandlungen  scheinen  zum  sehr  großen  Teil 
den  Zweck  verfolgt  zu  haben,  die  militärischen  Vorbereitungen 
Rußlands  zu  verschleiern.  Dementsprechend  heißt  es  in  dem 
,, Protokoll  einer  besonderen  Beratung  über  die  vorbereitenden 
Kriegsarbeiten  bezüglich  Organisation  des  rückwärtigen  Dienstes 
an  der  Südwestfront  gemäß  Plan  A",  Petersburg,  den  8.  No- 
vember 1912: 

„Es  ist  unbedingt  erforderlich,  daß  die  Anordnung,  die  Verkündung 
der  Mobilmachung  sei  auch  die  Verkündung  des  Krieges,  geändert  wird.  Eine 
solche  Anordnung  kann  zu  schweren  Mißverständnissen  in  den  Beziehungen 
zu  denjenigen  Mächten  führen,  mit  denen  auf  Grund  dieser  oder  jener  politisclien 
Umstände  Krieg  oder  die  Eröffnung  der  Feindseligkeiten,  wenigstens  nicht 
gleich  von  Anfang  an,  beabsichtigt  ist. 

Andererseits  kann  es  sich  als  vorteilhaft  erweisen,  den  Aufmarsch  zu 
vollziehen,  ohne  die  Feindseligkeiten  zu  beginnen,  damit  dem  Gegner  nicht 
unwiederbringlich  die  Hoffnung  genommen  wird,  der  Krieg  könne  noch  ver- 
mieden werden.  Unsere  Maßnahmen  müssen  hierbei  durch  diplomatische 
Scheinverhandlungen  maskiert  werden,  um  die  Befürchtungen  des 
Gegners  möglichst  einzuschläfern. 

Wenn  solche  Maßnahmen  die  Möglichkeit  geben,  einige  Tage  zu  gewinnen, 
so  müssen  sie  unbedingt  ergriffen  werden."  („Rußlands  Mobilmachung  für 
den  Weltkrieg,"  Anlage  5.) 

In  Frankreich  haben  sich  Politiker  und  Militärschriftsteller 
seit    Begründung   des   Zweibundes    mit    jener    Frage  beschäftigt, 


91 

und  Milliarden  französischen  Geldes  sind  allein  zu  dem  Zwecke 
verausgabt  worden,  die  russische  Mobilmachung  zu  beschleunigen. 

In  England  war  man  sich  über  diese  Lage  der  Dinge  nicht 
weniger  im  klaren.  Der  englische  Botschafter  hat,  wie  bereits 
erwähnt,  am  25.  Juli  Sasonow  die  ernste  Hoffnung  ausgesprochen, 
Rußland  werde  nicht  durch  Mobilisierung  den  Krieg  beschleunigen. 
Er  warnte  ihn,  wie  das  Blaubuch  (Nr.  17)  angibt,  daß,  wenn  Ruß- 
land mobilisiere,  Deutschland  nicht  mit  bloßer  Mobilisierung 
zufrieden  sein,  noch  Rußland  Zeit  lassen  werde,  die  seinige  aus- 
zuführen, sondern  wahrscheinlich  sogleich  den  Krieg  erklären  werde. 

Die  deutsche  Regierung  hat  über  ihre  Haltung  im  Falle 
einer  russischen  Mobilmachung  von  Anfang  an  keinen  Zweifel 
gelassen  und  frühzeitig  darauf  hingewiesen,  daß  eine  derartige 
Bedrohung  der  Sicherheit  des  Reiches  nicht  nur  allen  Verhand- 
lungen ein  Ende  bereiten,  sondern  auch  unabwendbar  zum  Kriege 
führen  müsse.  Auf  die  ersten  sicheren  Nachrichten  von  russischen 
Kriegsvorbereitungen  an  der  deutschen  Grenze  hin  hat  der  Reichs- 
kanzler den  Botschaftern  in  Petersburg,  Paris  und  London  am 
26.  Juli  jene  inhaltlich  gleichlautenden  Telegramme  gesandt 
(Weißbuch  Nr.  198,  199,  200),  in  denen  er  auf  die  ernsten  Folgen 
hinwies,  die  ein  derartiges  Vorgehen  haben  müsse.  Frankreich 
und  England  wurden  gebeten,  einen  beruhigenden  Einfluß  auf 
Rußland  auszuüben.  In  einem  weiteren  Telegramm  nach  Peters- 
burg vom  gleichen  Tage  heißt  es  wörtlich :  ,,D  i  e  M  o  b  i  1  i  - 
sierung  aber  bedeutet  den  Krie  g."  (Weißbuch 
Nr.  219.) 

Als  am  31,  Juli  die  Meldung  des  deutschen  Botschafters 
einlief,  daß  in  Rußland  die  allgemeine  Mobilmachung  angeordnet 
sei,  hat  Deutschland  weder  sofort  seinerseits  mobilisiert,  noch 
sogleich  den  Krieg  erklärt.  Die  deutsche  Regierung  sah  sich  aber 
genötigt,  ,, Drohende  Kriegsgefahr"  zu  verkünden  und  in  Form 
eines  Ultimatums  Einstellung  der  militärischen  Maßnahmen  zu 
verlangen.  Die  russische  Regierung  ließ  diese  Aufforderung  un- 
beantwortet. Sasonow  erklärte  dem  deutschen  Botschafter, 
die  Mobilmachung  könne  nicht  mehr  aufgehalten  werden  (Weiß- 
buch Nr,  536).  Das  gleiche  sagte  der  Zar  in  seinem  Telegramm 
vom  31.  Juli  (Weißbuch  Nr.  487).  Am  1.  August  telegraphierte 
er  dem  Kaiser:  ,,Ich  verstehe,  daß  Du  gezwungen  bist,  mobil  zu 
machen."  (Weißbuch  Nr.  546.)  Auch  ein  letzter  Versuch  des 
Botschafters,  den  Zaren  zur  Abwendung  des  Krieges  zu  bewegen, 
blieb  vergebens. 

An  Rußlands  Willen,  den  Weltkrieg  herbeizuführen, 
konnte  mit  dem  Augenblick  kein  Zweifel  mehr  bestehen,  wo  die 
Petersburger    Regierung     sich     zur     allgemeinen     Mobilmachung 


92 

entschloß.  Diese  Absicht  bestätigt  auch  ein  Telegramm  Sasonows 
nach  London  vom  2.  August  1914,  in  dem  er  seinen  Schritt  zu 
rechtfertigen  suchte.     Er  telegraphierte: 

„Deutschland  ist  offen  bemüht,  die  Verantwortung  für  den  Bruch  auf 
uns  zu  schieben.  Unsere  allgemeine  Mobilmachung  ist  durch  die  riesige  Ver- 
antwortung hervorgerufen,  die  auf  uns  fallen  würde,  wenn  wir  nicht  alle  Vor- 
sichtsmaßregeln treffen  würden,  während  Österreich,  sich  auf  Verhandlungen, 
die  den  Charakter  des  Aufschubs  trugen,  beschränkend,  Belgrad  bombardiert. 
Der  Zar  verpflichtete  sich  durch  das  Wort  vor  dem  deutschen  Kaiser,  daß 
er  keine  herausfordernden  Handlungen  unternehmen  werde,  solange  die  Ver- 
handlungen mit  Österreich  fortgesetzt  werden.  Nach  einer  solchen  Bürgschaft 
und  nach  allen  Friedensbeweisen  Rußlands  hatte  Deutschland  gar  kein  Recht 
und  konnte  nicht  unsere  Behauptung  bezweifeln,  daß  wir  mit  Freude  jede 
friedliche  Lösung,  die  mit  der  Würde  und  der  Unabhängigkeit  Serbiens  vereinbar 
ist,  annehmen  würden.  Ein  andererAuswegwäremit  unserer 
eigenen  Würde  gänzlich  unvereinbar  und  würde 
natürlich  das  europäische  Gleichgewicht  durch  Be- 
festigung der  Hegemonie  Deutschlands  erschüttern. 
Dieser  europäische  und  Weltcharakter  des  Konfliktes 
ist  unendlich  wichtiger  als  der  Anlaß,  der  ihn  ge- 
schaffen ha  t."     (Prawda  Nr.  7  vom  9.  März  1909.) 

Weil  Rußland  in  erster  Linie  die  Prestigefrage  im  Auge  hatte, 
wollte  es  nicht  die  Tage  und  Stunden  warten,  die  eine  diplomatische 
Lösung  des  Konfliktes  ermöglicht  hätten ! 

Das  vom  Zaren  in  seinem  Telegramm  vom  31.  Juli  (Weiß- 
buch Nr.  487)  gegebene  Ehrenwort,  die  russischen  Truppen  würden 
keine  herausfordernde  Aktion  unternehmen,  solange  die  Verhand- 
lungen mit  Österreich-Ungarn  andauerten,  konnte  den  bedroh- 
lichen Charakter  der  russischen  Mobilmachung  in  keiner  Weise 
verringern.  Denn  es  hätte  ja  ganz  in  Rußlands  Hand  gelegen, 
diese  Verhandlungen  zum  Scheitern  zu  bringen,  sobald  seine 
gewaltigen  Heere  fertig  aufmarschiert  waren,  und  dann  mit  er- 
drückender Übermacht  in  Deutschland  einzufallen.  Bethmann 
Hollweg  telegraphierte  am  31.  Juli  nach  London: 

„Eine  russische  mobilisierte  Armee  an  unserer  Grenze,  ohne  daß  wir 
mobilisiert  haben,  ist  auch  ohne  ,provocative  action'  eine  Lebensgefahr  für 
uns.  Die  Provokation,  deren  sich  Rußland  dadurch  schuldig  gemacht  hat, 
daß  es  in  einem  Augenblick  gegen  uns  mobilisiert  hat,  wo  wir  auf  seine  Bitten 
in  Wien  vermittelten,  ist  überdies  so  stark,  daß  kein  Deutscher  es  verstehen 
würde,  wenn  wir  dagegen  nicht  mit  scharfen  Maßregeln  antworteten."  (Weiß- 
buch Nr.  529.) 

Am  2.  August  telegraphierte  er: 

„Widerspruch  zwischen  den  nicht  anzuzweifelnden  Erklärungen  des 
Zaren  und  Handlungen  seiner  Regierung  im  ganzen  Verlauf  der  Krisis  so  offen- 
kundig, und  Haltung  der  Regierung  trotz  entgegenstehender  Versicherungen 
faktisch  so  unfreundlich,  daß  wir  uns  trotz  Versicherung  Zaren  durch  Ge- 
samtmobilmachung schwer  provoziert  fühlen  mußten."     (Weißbuch  Nr.  696.) 


93 

Die  gegen  Österreich-Ungarn  gerichtete  Mobilmachung  be- 
deutete bereits  für  unsere  Verbündeten  eine  sehr  ernste  Gefahr. 
Bei  einer  solchen  teilweisen  Mobilmachung  hätte  Rußland  aber 
mit  dem  Angriff  zögern  müssen,  solange  es  nicht  gegen  Deutsch- 
land gerüstet  war,  da  es  wußte,  daß  Deutschland  in  solchem 
Falle  mobilisieren  und  seinem  Bundesgenossen  zu  Hilfe  kommen 
würde.  Eine  derartige  Rückversicherung  bestand  für  das  Reich 
nicht,  sowie  die  russische  Mobilmachung  allgemein  war.  Deshalb 
sind  auch  alle  Vergleiche  mit  der  russischen  und  österreichisch- 
ungarischen Mobilisation  im  Jahre  1912  hinfällig.  Keine  Groß- 
macht stand  bereit,  für  Deutschland  ins  Feld  zu  ziehen,  wenn  die 
russischen  Heere  sich  in  Marsch  setzten,  während  im  Gegenteil 
andere  Mächte  auf  diesen  Augenblick  warteten,  um  ebenfalls  über 
uns  herzufallen.  Deshalb  konnte  das  Versprechen  des  Zaren 
Deutschland  keine  Sicherheit  bieten.  Es  bedurfte  auch  nicht 
erst  der  Enthüllungen  des  Suchomlinowprozesses,  um  zu  zeigen, 
wie  wenig  damals  das  Wort  des  Zaren  in  Rußland  galt.  Denn, 
obwohl  Kaiser  Wilhelm  am  1.  August  in  seinem  letzten  Telegramm 
an  den  Zaren  (Weißbuch  Nr.  600)  diesen  dringend  bat,  seine 
Truppen  anzuweisen,  auf  keinen  Fall  die  deutsche  Grenze  zu  ver- 
letzen, fielen  noch  am  selben  Tage  russische  Abteilungen  in  deut- 
sches Gebiet  ein.    (Weißbuch  Nr.  629,  662,  664.) 

Im  übrigen  mag  das  Wort  regierender  Herrscher  in  jenen 
Tagen  in  Berlin  niedrig  im  Kurse  gestanden  haben,  nachdem  sich 
die  Zusage  des  Königs  von  England  an  Prinz  Heinrich,  England 
werde  sich  in  einem  europäischen  Konflikt  neutral  verhalten 
(Weißbuch  Nr.  207,  374),  als  gänzlich  wertlos  erwiesen  hatte, 
Kaiser  Wilhelm  zum  mindesten  scheint  das  Wort  König  Georgs 
ernst  genommen  zu  haben  (Weißbuch  Nr.  474;  siehe  auch  seine 
Aufzeichnung  für  den  amerikanischen  Botschafter  vom  10.  August 
1914). 

Rußlands  allgemeine  Mobilmachung  bedeutete  den  Krieg, 
und  zwar  den  Weltkrieg,  denn  an  dem  Eingreifen  Frankreichs 
bestand  kein  Zweifel.  Auch  über  die  Haltung  Englands  war  man 
sich  in  Berlin  offenbar  im  klaren,  trotz  der  widerspruchsvollen 
Berichterstattung  Lichnowskys.  Von  den  Versuchen  abgesehen, 
den  Krieg  auf  Rußland  zu  beschränken,  sind  daher  alle  politischen 
Handlungen  vom  31.  Juli  mittags  an  als  Kriegsmaßnahmen  an- 
zusprechen, bzw,  als  Versuche,  die  bestmöglichen  Vorbedingungen 
für  den  bevorstehenden  Kampf  zu  schaffen.  Unter  der  Wirkung 
der  ungeheuren  Erregung  und  der  beginnenden  Kriegspsychose 
ist  dann  manches  geschehen,  das  befremden  muß  und  sicherlich 
besser  unterblieben  wäre. 


94 

Die  Auseinandersetzung  mit  Frankreich  und  der  Versuch, 
England  wenigstens  vorläufig  neutral  zu  erhalten,  werden  weiter 
unten  zu  behandeln  sein.  Die  nächsten  Aufgaben  der  politischen 
Leitung  waren,  sich  mit  den  Verbündeten  zu  verständigen,  wenn 
möglich,  neue  Bundesgenossen  zu  werben  und  neutrale  Staaten 
zu  einer  wohlwollenden  Haltung  zu  bewegen.  Die  weitere  Auf- 
gabe, Deutschlands  Recht  auf  Selbstverteidigung  der  öffentlichen 
Meinung  der  Welt  gegenüber  zu  vertreten  und  den  Charakter  des 
Krieges  als  Defensivkrieg  vor  der  Geschichte  zu  dokumentieren, 
ist  nicht  genügend  berücksichtigt  und  jedenfalls  nicht  mit  Erfolg 
gelöst  worden. 

Es  scheint  zunächst  eine  gewisse  Besorgnis  geherrscht  zu 
haben,  ob  Österreich-Ungarn  auch  sofort  seine  Haupt- 
kräfte gegen  Rußland  einsetzen  und  den  Aufmarsch  gegen  Serbien 
abbrechen  werde  (Weißbuch  Nr.  503,  627).  Bereits  am  29.  Juli 
war  in  Berlin  eine  Verbalnote  übergeben  worden,  in  der  es  heißt: 
,,Der  Chef  des  k.  und  k.  Generalstabs  hält  es  nun  für  unbedingt 
geboten,  ohne  Verzug  Klarheit  darüber  zu  gewinnen,  ob  wir  mit 
starken  Kräften  gegen  Serbien  marschieren  können  oder  unsere 
Hauptmacht  gegen  Rußland  zu  verwenden  haben  werden." 
(Weißbuch  Nr.  352.)  In  Berlin  hoffte  man  aber  bis  zuletzt  auf 
einen  günstigen  Ausgang  der  Vermittlungsaktion  und  ging  auf 
die  Frage  des  Generals  von  Conrad  nicht  ein.  Hieraus  entstand 
bei  Kriegsausbruch  ein  gewisses  Dilemma.  Auch  ist  die  späte 
Kriegserklärung  Österreich-Ungarns  an  Rußland  (5.  August,  Weiß- 
buch Nr.  878,  879)  auf  den  Wunsch  zurückzuführen,  die  nun- 
mehr recht  verwickelte  Mobilmachung  ungestört  durchführen 
zu  können  (Weißbuch  Nr.  772).  Russischerseits  herrschte  übrigens 
das  gleiche  Bestreben  (Weißbuch  Nr.  704). 

Obwohl  die  Haltung  Italiens  nicht  zweifelhaft  sein 
konnte,  wurde  von  Berlin  aus  der  Appell  an  die  Bundestreue 
immer  wieder  erneuert  (Weißbuch  Nr.  492,  628,  694).  Auch  wurde 
der  Flügeladjutant  von  Kleist  entsandt,  um  insbesondere  auf  den 
König  einzuwirken  (Weißbuch  Nr.  745,  771,  850).  Ob  Italien 
überhaupt  in  der  Lage  gewesen  wäre,  seinen  Vertragspflichten 
nachzukommen,  erscheint  zweifelhaft.  Sicher  ist,  daß  das  hart- 
näckige Festhalten  des  Wiener  Kabinetts  an  seiner  verfehlten 
Auslegung  des  Art.  VII  des  Dreibundvertrages  jede  Möglichkeit 
ausschloß.  Die  italienische  Regierung  hat  bereits  frühzeitig 
darauf  hingewiesen,  daß  ihre  Auffassung  darüber,  ob  der  Bündnis- 
fall gegeben  sei  oder  nicht,  von  der  Frage  der  Kompensationen 
abhängig  sein  werde  (Weißbuch  Nr.  150).  Österreich-Ungarns 
Hartnäckigkeit  und  seine  Abneigung  gegen  den  erpresserischen 
Verbündeten  ließ  alle  deutschen  Bemühungen  scheitern. 


95 

Auch  darüber  bestand  kein  Zweifel,  daß  Rumänien 
seinen  Bündnisverpflichtungen  nicht  nachkommen  werde.  Trotz- 
dem wurde  alles  versucht,  die  rumänische  Regierung  zum  Ein- 
greifen zu  veranlassen.  Um  ihr  dies  zu  ermöglichen,  wurde  Bul- 
garien zu  bindenden  Erklärungen  über  seine  Haltung  gedrängt 
(Weißbuch  Nr.  544,  549,  729).  Man  verstieg  sich  auch  zu  einem 
Angebot  Bessarabiens  als  Belohnung  für  erfüllte  Bundespflicht 
(Weißbuch  Nr.  506,  830).  In  Anbetracht  der  intimen  Beziehungen 
zwischen  Rom  und  Bukarest  war  aber  nicht  daran  zu  denken, 
daß  Rumänien  eine  andere  Haltung  einnehmen  werde,  als  Italien 
(Weißbuch  Nr.  868). 

Die  noch  schwebenden  Verhandlungen  über  ein  Bündnis 
mit  der  Türkei  wurden  sofort  zum  Abschluß  gebracht  (Weiß- 
buch Nr.  508,  547,  726).  Auch  der  Vertragsschluß  mit  Bul- 
garien wurde  beschleunigt  (Weißbuch  Nr.  673,  697). 

Von  Dänemark  wurde  nichts  anderes  als  eine  neutrale 
Haltung  erwartet  (Weißbuch  Nr.  494) ;  ebenso  von  Holland 
(Weißbuch  Nr.  674)  und  der  Schweiz  (Weißbuch  Nr.  500). 
Dagegen  scheint  man  mit  der  Möglichkeit  gerechnet  zu  haben, 
daß  Schweden  in  den  Krieg  eingreifen  könnte  (Weißbuch 
Nr.  123,  319,  406,  520).  In  der  Mitteilung  nach  Stockholm,  daß 
Finnland  von  russischen  Truppen  entblößt  sei  (Weißbuch  Nr.  552), 
liegt  die  Aufforderung  versteckt,  sich  dieser  ehemals  schwedischen 
Provinz  zu  bemächtigen.  Es  bedarf  keiner  Ausführung,  wie  aus- 
sichtslos ein  derartiges  Vorgehen  war.  Cooperation  im  Kriegs- 
falle ist  nur  nach  gründlichen  politischen  und  militärischen  Vor- 
bereitungen denkbar.  An  solchen  Vorbereitungen  für  den  Welt- 
krieg hat  es  jedoch  deutscherseits  ganz  gefehlt. 

Die  Aussichtslosigkeit  allein  hielt  aber  die  Berliner  Regierung 
nicht  vom  Versuch  ab,  hat  sie  doch  sogar  Japan  aufgefordert, 
„in  richtiger  Würdigung  des  großen  Momentes  die  gegebenen  Kon- 
sequenzen zu  ziehen"  (Weißbuch  Nr.  545).  In  Wien  wollte  man 
bereits  am  23.  Juli  (!)  Tokio  ,,auf  die  sich  bietende  günstige  Ge- 
legenheit" aufmerksam  machen  (Rotbuch  1919,  I,  Nr.  70). 

Die  Festsetzung  des  Termins  für  die  Mobilmachung  muß  als 
rein  militärische  Frage  angesehen  werden.  Ursprünglich  wurde 
anscheinend  der  2.  August  als  erster  Mobilmachungstag  in  Aus- 
sicht genommen  (Weißbuch  Nr,  479).  Weshalb  dieser  Beschluß 
geändert  worden  ist,  geht  aus  dem  Weißbuch  nicht  hervor. 

Daß  nach  der  Kriegserklärung  der  Generalstab  ausgiebig 
zu  Worte  kam,  ist  nur  natürlich.  Die  Vorschläge,  die  er  an- 
brachte, sind  aber  zum  Teil  sehr  befremdlich.  Der  Gedanke  an 
eine  Revolutionierung  Indiens,  Ägyptens,  Südafrikas,  Polens  und 
des   Kaukasus  mutet   wie  ein   schlechter   Roman   an   (Weißbuch 


96 

Nr.  662,  751,  876).  Das  Weißbuch  gibt  nur  einige  Beispiele  des 
planlosen  Vorgehens  militärischer  Stellen,  wie  die  Absicht  der 
„Verhaftung  verschiedener  hoher  luxemburgischer  Beamter" 
(Weißbuch  Nr.  684)  und  des  geplanten  Vorgehens  des  Oberkom- 
mandos in  den  Marken  gegen  die  französische  Botschaft  (Weiß- 
buch Nr.  721).  Man  kann  nur  sagen  :  ,,Wehe,  wenn  sie  losgelassen  !" 
Andererseits  ist  diese  Planlosigkeit  und  das  Fehlen  eines  engen 
Zusammenhanges  zwischen  politischer  und  militärischer  Leitung 
ein  weiterer  Beweis  dafür,  daß  der  Krieg  nicht  langer  Hand  vor- 
bereitet, also  auch  nicht  gewollt  war. 

Daß  die  Verletzung  der  luxemburgischen  und  belgischen 
Neutralität  nur  aus  militärischen  Gründen  erfolgte,  geht  aus  dem 
Weißbuch  einwandfrei  hervor.  Hierüber  abschließend  zu  ur- 
teilen, wird  erst  möglich  sein,  wenn  die  Geschichte  des  Schlieffen- 
planes  und  seiner  Behandlung  bekannt  wird.  Man  möchte  an- 
nehmen, daß  eine  genügende  Verständigung  zwischen  der  poli- 
tischen Leitung  und  den  militärischen  Stellen  nicht  stattgefunden 
hat.  Denn  es  ist  bekannt,  daß  1914  ein  anderer  Kriegsplan,  der 
die  Schonung  der  belgischen  Neutralität  vorgesehen  hätte,  gar 
nicht  vorhanden  war  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  114).  Der  deutschen 
Regierung  blieb  also  keine  Wahl.  Es  fragt  sich  aber,  ob  sie  nicht 
bereits  in  früheren  Jahren,  zum  mindesten  seit  Einführung  der 
schweren  Mörser,  dem  vorbeugen  konnte,  daß  sie  im  Kriegsfalle 
gezwungen  würde,  eine  Völkerrechtsverletzung  zu  begehen  und 
den  Feldzug  mit  einem  derartig  unheilvollen  Schritt  zu  beginnen. 

Erfreulich  ist  immerhin,  daß  offenbar  die  politische  Leitung 
und  die  militärischen  Stellen  in  dem  Wunsche  übereinstimmten, 
Belgien  die  größtmögliche  Schonung  angedeihen  zu  lassen. 


VI.  Die  deutsch-französische  Krise 

1.  Frankreichs  Haltung  in  der  deutsch-russischen  Krise 

Die  französische  Regierung  und  ihre  Auslandsvertreter  zeigten 
sich  von  Anfang  an  bestrebt,  den  österreichisch-serbischen  Konflikt 
zu  einem  deutsch-russischen  zu  machen.  Die  Politik  der  Ver- 
dächtigung der  Haltung  Deutschlands  und  der  Handlungen  seiner 
Regierung  wurde  während  des  ganzen  Verlaufs  der  Krise  kon- 
sequent fortgesetzt. 

Gleichzeitig  mit  dem  am  28.  Juli  nach  Wien  gerichteten  Vor- 
schlag, nach  Besetzung  eines  Faustpfandes  in  Erörterung  der 
serbischen    Antwortnote    einzutreten    (Weißbuch    Nr.    323),    tele- 


graphierte  die  deutsche  Regierung  ihren  Botschaftern  in  Peters- 
burg, Paris  und  London,  sie  bemühe  sich  unausgesetzt,  Wien  zu 
veranlassen,  in  Petersburg  Zweck  und  Umfang  des  österreichisch- 
ungarischen Vorgehens  in  Serbien  in  einer  unanfechtbaren  und 
hoffentlich  Rußland  befriedigenden  Weise  klarzulegen.  Hieran 
ändere  auch  die  inzwischen  erfolgte  Kriegserklärung  nichts  (Weiß- 
buch Nr.  315). 

Schoen  gab  am  Morgen  des  29.  Juli  eine  entsprechende  Er- 
klärung ab  (Weißbuch  Nr.  345,  Gelbbuch  Nr.  94).  Der  franzö- 
sischen Regierung  war  ferner  spätestens  seit  dem  28.  Juli  bekannt, 
daß  Deutschland  einer  Vermittlung  zu  vieren  grundsätzlich  zu- 
gestimmt hatte  (Weißbuch  Nr.  310,  Gelbbuch  Nr.  92),  und  daß 
es  die  direkten  Besprechungen  zwischen  Wien  und  Petersburg  zu 
fördern  suchte  (Gelbbuch  Nr.  81,  92).  Sie  wußte  auch,  daß  die 
deutsche  Regierung  die  serbische  Antwortnote  als  mögliche  Grund- 
lage zu  Unterhandlungen  ansah  (Gelbbuch  Nr.  92).  Trotzdem  er- 
klärte der  Ministerpräsident  Viviani  am  31.  Juli,  die  Haltung 
Deutschlands  ,, dränge  einem  die  Überzeugung  auf,  Deutschland 
habe  es  auf  die  Demütigung  Rußlands,  die  Sprengung  des  Drei- 
verbandes und,  wenn  diese  Ziele  nicht  zu  erreichen  seien,  den  Krieg 
abgesehen"  (Gelbbuch  Nr.  114).  Wahrheitswidrig  behauptete  er, 
Deutschland  habe  alle  Verständigungsversuche  zum  Scheitern 
gebracht  und  nicht  aufgehört,  Wien  in  seiner  Unversöhnlichkeit 
zu  bestärken. 


2.  Französische  Kriegsvorbereitungen 

Die  französische  Regierung  hat  sehr  frühzeitig  militärische 
Maßnahmen  getroffen.  Diese  standen  offensichtlich  mit  denen 
Rußlands  in  Zusammenhang.  Am  27.  Juli  wurden  die  Manöver 
abgebrochen  und  die  Truppen  in  ihre  Standorte  zurückgeführt. 
In  Rußland  war  dies  bereits  am  25.  Juli  geschehen.  In  Deutsch- 
land wurde  diese  Maßnahme  erst  am  29.  Juli  verfügt.  Am  28.  Juli 
fanden  offenkundige  Mobilmachungsvorbereitungen  statt.  Als 
die  Meldung  über  schnell  fortschreitende  militärische  Maßnahmen 
Frankreichs  sich  mehrten,  insbesondere  auch  Truppenverschie- 
bungen an  der  Ostgrenze  bekannt  wurden,  sah  sich  die  deutsche 
Regierung  veranlaßt,  am  29.  Juli  eine  freundschaftliche  Warnung 
nach  Paris  zu  richten  und  darauf  hinzuweisen,  daß  derartige  Maß- 
nahmen Deutschland  zu  Gegenmaßregeln  zwingen  und  dadurch 
die  Spannung  erhöhen  würden  (Weißbuch  Nr.  341).  Viviani  stellte 
die  französischen  Kriegsvorbereitungen  noch  am  gleichen  Tage 
nicht  in  Abrede,  versicherte  jedoch,  daß  sie  keinen  bedrohlichen 
Charakter  hätten  (Weißbuch  Nr.  367,  Gelbbuch  Nr.  101). 


98 

Tatsächlich  standen  jedoch  die  französischen  Kriegsvor- 
bereitungen mit  den  russischen  offenbar  im  engsten  Zusammen- 
hange. Ob  diese  Übereinstimmung  auf  den  französisch-russischen 
Verträgen  oder  auf  besonderen  Vereinbarungen  beruhte,  ist  noch 
nicht  ersichtUch.  Es  ist  keineswegs  gesagt,  daß  anläßlich  des 
Besuchs  Poincares  hierüber  eine  Abrede  getroffen  wurde.  Artikel  II 
der  französisch  -  russischen  Militärkonvention  vom  17.  August 
1892  lautet: 

,,Im  Falle  der  Mobilisation  der  Streitkräfte  des  Dreibundes  oder  einer 
der  ihm  angehörigen  Mächte  werden  Frankreich  und  Rußland,  bei  der  ersten 
Nachricht  von  diesem  Ereignis  und  ohne  vorhergehende  Vereinbarung,  un- 
verzüglich und  gleichzeitig  ihre  gesamten  Streitkräfte  mobilisieren  und  sie  in 
möglichster  Nähe  ihrer  Grenzen  konzentrieren." 

In  Österreich-Ungarn  war  die  Mobilisierung  von  8  Korps 
gegen  Serbien  im  Gange.  Rußland  hat  mit  dieser  Tatsache  Frank- 
reich gegenüber  seine  Teilmobilmachung  begründet  (Gelbbuch 
Nr.  95,  101),  während  es  dieselbe  in  Berlin  lediglich  mit  der  Kriegs- 
erklärung an  Serbien  motivierte  (Blaubuch  Nr.  70,  I).  Diese  Tat- 
sache oder  die  falschen  Meldungen  über  eine  österreichisch-unga- 
rische Mobilisierung  gegen  Rußland  (Gelbbuch  Nr.  77,  90,  91)  mögen 
die  französischen  Kriegsmaßnahmen  auf  Grund  des  Bündnisvertrages 
herbeigeführt  haben. 

Andererseits  hat  aber  der  französische  Botschafter  in  Peters- 
burg bereits  am  24.  Juli  erklärt,  Frankreich  werde  alle  Verpflich- 
tungen erfüllen,  die  das  Bündnis  mit  Rußland  nach  sich  ziehen 
müßte  (Blaubuch  Nr.  6).  Noch  ehe  die  russische  Ge- 
sa m  t  m  o  b  i  1  m  a  c  h  u  n  g  beschlossen  war,  gab  er 
im  Auftrage  seiner  Regierung  (das  betreffende  Tele- 
gramm fehlt  im  Gelbbuch)  die  Erklärung  ab,  daß  Ruß- 
land vollständig  auf  die  Unterstützung  des 
verbündeten  Frankreichs  zählen  könne.  Sa- 
sonow  dankte  für  diese  Zusicherung  am  29.  Juli  (Orangebuch  Nr.  58) 
und  erklärte,  daß  er  mit  der  wahrscheinlichen  Unvermeidlichkeit 
des  Krieges  rechne.  Viviani  bestätigte  hierauf  noch  am  selben 
Tage  seine  frühere  Zusage,  „Frankreich  ist  entschlossen,  alle  seine 
Bündnispflichten  zu  erfüllen"  (Gelbbuch  Nr.  101).  Statt  Rußland 
vor  übereilten  Schritten  zu  warnen,  ließ  er  am  30.  Juli  in  Peters- 
burg ledigHch  den  Rat  erteilen,  ,, unmittelbar  keinerlei  Anordnungen 
zu  treffen,  die  Deutschland  einen  Vorwand  zu  einer  ganzen  oder 
teilweisen  Mobilmachung  seiner  Kräfte  bieten  würde"  (Gelbbuch 
Nr.  101).  Dieser  Rat  konnte  die  russische  Gesamtmobilmachung 
nicht  aufhalten,  sollte  es  auch  nicht.  Diese  verspätete  Warnung 
änderte  ebenfalls  nichts  an  der  Tatsache,  daß  Frankreich  augen- 
scheinlich von  vornherein  bereit  war,  Rußland  beizustehen  und 
es  wegen  der  serbischen  Frage  zum  europäischen  Kriege  kommen 
zu  lassen. 


99 

Nach  Bekanntwerden  der  russischen  Gesamtmobilmachung 
nötigten  die  weit  vorgeschrittenen  Kriegsvorbereitungen  Frank- 
reichs ebenso  wie  seine  bekannten  Bündnisverpfhchtungen  gegen- 
über Rußland  die  deutsche  Regierung,  von  der  französischen  eine 
Erklärung  darüber  zu  verlangen,  ,,ob  sie  in  einem  russisch-deutschen 
Kriege  neutral  bleiben  wolle"  (Weißbuch  Nr.  491). 

Über  die  französische  Haltung  konnte  in  Anbetracht  der  vor- 
geschrittenen militärischen  Maßnahmen  kein  Zweifel  bestehen. 
Viviani  telegraphierte  noch  am  31.  Juli  nach  Petersburg: 

„Ich  habe  nicht  die  Absicht,  dem  deutschen  Botschafter  eine  Erklärung 
über  Frankreichs  Haltung  im  Falle  eines  Konfliktes  zwischen  Deutschland 
und  Rußland  abzugeben,  und  ich  werde  mich  darauf  beschränken,  ihm  zu  sagen, 
Frankreich  werde  sich  durch  seine  Interessen  leiten 
lassen.  Die  Regierung  der  Republik  schuldet  in  der  Tat  nur  ihren  Ver- 
bündeten über  ihre  Absichten  Rechenschaft."     (Gelbbuch  Nr.  117.) 

Tatsächlich  erteilte  Viviani  dem  deutschen  Botschafter  am 
1.  August  mittags  diese  unzweideutige  Antwort  (Weißbuch  Nr.  571). 
Schoen  hatte  deshalb  keinen  Anlaß,  die  Frage  der  Gewährung  von 
Bürgschaften  für  Frankreichs  Neutralität  zu  berühren.  Gleich- 
zeitig mit  der  Anfrage  nach  der  französischen  Haltung  im  Kriegs- 
falle war  ihm  folgende  Weisung  zugegangen: 

„Wenn,  wie  nicht  anzunehmen,  französische  Regierung  erklärt,  neutral 
zu  bleiben,  wollen  Euere  Exzellenz  französischer  Regierung  erklären,  daß 
wir  als  Pfand  für  Neutralität  Überlassung  der  Festungen  Toul  und  Verdun 
fordern  müssen,  die  wir  besetzen  und  nach  Beendigung  des  Krieges  mit  Ruß- 
land zurückgeben  würden."     (Weißbuch  Nr.  491.) 

Die  zweifellos  sehr  weitgehende  Forderung  der  Besetzung 
französischer  Festungen  durch  deutsche  Truppen  war  angesichts 
der  politischen  und  militärischen  Lage  nicht  ungerechtfertigt.  Mit 
einer  widerruflichen  Neutralitätserklärung  konnte  sich  Deutsch- 
land nicht  begnügen.  Für  ihre  Innehaltung  hätten  seitens  Frank- 
reichs greifbare  Bürgschaften  geboten  werden  müssen. 

In  der  ersten  Sitzung  der  Pariser  Friedenskonferenz  hat  Poin- 
care  am  18.  Januar  1919  in  seiner  Eröffnungsrede,  einem  welt- 
geschichtlichen Dokument  des  Hasses,  ausgeführt,  der  deutsche 
Botschafter  sei  angewiesen  worden  zu  erklären :  ,,Wir  werden  von 
Euch  eine  Neutralitätserklärung  nur  annehmen,  wenn  Ihr  uns 
B  r  i  e  y  ,  Toul  und  Verdun  ausliefert."  Die  Forderung  nach  realen 
Garantien  ist  der  französischen  Regierung  seinerzeit  nicht  bekannt 
gewesen,  hat  also  auf  ihre  Haltung  keinen  Einfluß  ausüben  können. 
Im  übrigen  hat  sich  die  deutsche  Regierung  am  1.  August  bereit 
gezeigt,  für  die  französische  Neutralität  die  Garantie  Englands 
anzunehmen  (Weißbuch  Nr.  575,  578  und  579). 

Die  Lage  in  Paris  am  1.  August  kennzeichnet  das  Telegramm 
Iswolskis  von  diesem  Tage,  in  dem  es  heißt: 


100 

„Ungeachtet  der  heute  mäßigeren  Demarche  des  deutschen  Botschafters 
ist  die  französische  Regierung  wegen  der  außerordentliciien  miütärischen  Maß- 
nahmen Deutschlands  an  der  französischen  Grenze  äußerst  besorgt,  denn  sie 
ist  davon  überzeugt,  daß  unter  der  Hülle  des  sogenannten  ,Kriegs(gefahr)- 
zustandes'  die  wirkliche  Mobilmachung  vor  sich  geht,  was  die  französische  Armee 
in  eine  ungünstige  Lage  bringen  kann.  Andererseits  ist  es  a  u  s  p  o  1  i  t  i  s  c  h  e  n 
Erwägungen  in  bezug  sowohl  auf  Italien  als  auch 
England  für  Frankreich  sehr  wichtig,  daß  seine  Mo- 
bilmachung derjenigen  Deutschlands  nicht  voraus- 
geht, sondern  als  eine  Antwort  auf  die  letztere  er- 
scheint. Diese  Frage  wird  augenblicklich  im  Elysee  im  Ministerrat  erwogen, 
und  es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  er  die  allgemeine  Mobilmachung  beschließen 
wird."  (Orangebuch  Nr.  73,  vervollständigter  Text  nach  der  deutschen  All- 
gemeinen Zeitung  vom  20.  Mai  1919.) 

Als  die  französische  Regierung  am  1.  August  um  3,40  Uhr 
nachmittags  Pariser  Zeit  (Blaubuch  Nr.  136),  die  allgemeine  Mobil- 
machung verfügte,  hat  sie  diese  Maßnahme  unzutreffenderweise 
mit  der  angeblich  vorher  erfolgten  deutschen  Mobilmachung  be- 
gründet (Gelbbuch  Nr.  127).  Diese  letztere  wurde  erst  am  1 .  August, 
5  Uhr  nachmittags  mitteleuropäischer  Zeit,  angeordnet.  In  Wirk- 
lichkeit wurde  die  französische  Mobilmachung,  wie  aus  dem  Orange- 
buch (Nr.  74)  bekannt  ist,  auf  die  Nachricht  hin  verfügt,  die  deutsche 
Regierung  habe  die  Einstellung  der  russischen  Rüstungen  gefordert 
und  angekündigt,  daß  widrigenfalls  die  deutsche  Mobilisierung 
erfolgen  müsse. 


3.  Die  Kriegserklärung  an  Frankreich 

Die  Ablehnung  der  deutschen  Forderung  durch  Rußland  und 
die  Antwort  auf  die  Frage  nach  Frankreichs  Haltung  kamen 
bereits  dem  tatsächlichen  Eintritt  des  Kriegszustandes  mit  Ruß- 
land und  Frankreich  gleich.  Daß  aber  die  deutsche  Regierung, 
die  den  Konflikt  mit  Rußland  nicht  herbeigeführt  hatte,  auch  den 
Krieg  mit  Frankreich  nicht  wollte,  hat  sie  noch  am  1.  August  be- 
wiesen. Auf  die  Meldung  des  deutschen  Botschafters  in  London, 
daß  England  anscheinend  die  Neutralität  Frankreichs  zu  garan- 
tieren bereit  sei,  wenn  Deutschland  letzteres  nicht  angriffe  (Weiß- 
buch Nr.  562,  570),  telegraphierte  der  Kaiser  an  den  König  von 
England: 

,,Ich  habe  von  Deiner  Regierung  soeben  die  Mitteilung  erhalten,  worin 
sie  die  französische  Neutralität  unter  der  Garantie  Großbritanniens  anbietet. 
Diesem  Anerbieten  war  die  Frage  angefügt,  ob  unter  diesen  Bedingungen 
Deutschland  von  einem  Angriff  auf  Frankreich  absehen  würde.  Aus  technischen 
Gründen  muß  meine  heute  nachmittag  schon  angeordnete  Mobilmachung  nach 
zwei  Fronten,  nach  Osten  und  Westen,  vorbereitungsgemäß  vor  sich  gehen. 
Gegenbefehl  kann  nicht  gegeben  werden,  weil  Dein  Telegramm  leider  so  spät  ein- 
traf. Aber  wenn  Frankreich  mir  seine  Neutralität  anbietet,  die  durch  die  britische 
Flotte  und  Armee  garantiert  werden  muß,  werde  ich  natürlich  von  einem  Angriff 


101 

auf  Frankreich  absehen  und  meine  Truppen  anderweitig  verwenden.  Ich  hoffe, 
Frankreich  wird  nicht  nervös  werden.  Die  Truppen  an  meiner  Grenze  werden 
soeben  telegraphisch  und  telephonisch  abgehalten,  die  französische  Grenze 
zu  überschreiten."    (Weißbuch  Nr.  575.) 

Gleichzeitig  telegraphierte  Bethmann  Hollweg  an  den  Bot- 
schafter in  London: 

„Deutschland  ist  bereit,  auf  englischen  Vorschlag  einzugehen,  falls  Eng- 
land sich  mit  seiner  gesamten  Streitmacht  für  die  unbedingte  Neutralität  Frank- 
reichs im  deutsch-russischen  Konflikt  verbürgt,  und  zwar  für  eine  Neutralität 
bis  zum  völligen  Austrag  dieses  Konfliktes.  Darüber,  wann  der  Austrag  erfolgt 
ist,  hat  Deutschland  allein  zu  entscheiden. 

Deutsche  Mobilmachung  ist  auf  Grund  der  russischen  Herausforderung 
heute  erfolgt,  bevor  Telegramm  Nr.  205  eintraf.  Infolgedessen  ist  unser  Auf- 
marsch auch  an  der  französischen  Grenze  nicht  mehr  zu  ändern.  Wir  verbürgen 
uns  aber,  die  französische  Grenze  bis  Montag,  3.  August,  abends  7  Uhr,  nicht 
zu  überschreiten,  falls  bis  dahin  Zusage  Englands  erfolgt  ist."  (Weißbuch 
Nr.  578.) 

Der  englische  Vorschlag,  der  diesem  Angebot  zugrunde  lag, 
beruhte  jedoch  auf  einem  Mißverständnis.  Lichnowsky  meldet 
am  2,  August: 

„Anregungen  Sir  E.  Greys,  die  auf  Wunsch  beruhten,  möglichst  dauernde 
Neutralität  Englands  zu  schaffen,  sind  ohne  vorherige  Fühlungnahme  mit 
Frankreich  und  ohne  Kenntnis  Mobilmachung  erfolgt,  inzwischen  als  aus- 
sichtslos völlig  aufgegeben."    (Weißbuch  Nr.  631.) 

Der  Krieg  mit  Frankreich  war  nunmehr  unvermeidlich.  Daß 
die  Franzosen  die  Lage  ebenfalls  in  diesem  Lichte  sahen,  beweist 
unter  anderem  ihre  planmäßige  Verstümmelung  der  deutschen 
Telegramme  (Weißbuch  Nr.  734,  749,  776,  809).  Das  „Cabinet 
noir"  ließ  keine  Meldungen  über  französische  und  deutsche  Grenz- 
verletzungen durch,  um  der  Pariser  Regierung  die  Möglichkeit  zu 
geben,  den  letzten  Akt  des  Dramas  nach  eigenem  Belieben  wirkungs- 
voll zu  gestalten.  Man  legte  nicht  nur  wegen  der  Stimmung  im 
eigenen  Lande,  sondern  auch  mit  Rücksicht  auf  die  öffentliche 
Meinung  Englands  das  größte  Gewicht  darauf,  als  die  Angegriffenen 
zu  erscheinen.  Die  französische  Regie  war  der  deutschen  weit 
überlegen. 

In  Berlin  und  in  Paris  war  man  gleichermaßen  bemüht,  das 
Odium  der  Kriegserklärung  dem  anderen  Teile  zuzuschieben,  ob- 
schon  dieser  Akt  nur  noch  formale  Bedeutung  hatte.  Deutscher- 
seits bestand  kein  Interesse  an  der  sofortigen  Herbeiführung  des 
Kriegszustandes  (Weißbuch  Nr.  629).  In  Paris  war  beabsichtigt, 
am  4.  August  den  Kriegszustand  mit  Deutschland  zu  erklären. 
Der  russische  Botschafter  telegraphierte  am  2.  August: 

„Die  Deutschen  überschreiten  in  einzelnen  kleinen  Abteilungen  die  fran- 
zösische Grenze,  und  auf  dem  französischen  Territorium  erfolgten  bereits  einige 
Zusammenstöße.    Das  wird  der  Regierung  die  Möglichkeit  geben,  vor  den  zu 


Dienstag  einberufenen  Kammern  zu  erklären,  daß  auf  Frankreich  ein  Überfall 
verübt  worden  sei,  und  so  die  formale  Kriegserklärung  zu 
vermeide  n."    (Prawda  Nr.  7  vom  9.  März  1919.) 

Die  Statistik  der  Grenzzwischenfälle  schneidet  aber  zugunsten 
Deutschlands  ab.  Die  französischen  Übergriffe  häuften  sich  schließ- 
lich derart,  daß  der  Zustand  unhaltbar  wurde.  Am  2.  August 
wurden  über  fünfzig  französische  Grenzverletzungen  verzeichnet. 
Diese  nahm  die  deutsche  Regierung  zum  Anlaß  ihrer  Kriegserklärung 
vom  3.  August  (Weißbuch  Nr.  734).  Wie  sich  nachträglich  heraus- 
gestellt hat,  beruhten  einige  der  weniger  wesentlichen  Vorfälle» 
auf  die  sich  die  deutsche  Kriegserklärung  berief,  auf  Falschmel- 
dungen. Die  Nachrichten  von  Fliegerangriffen  auf  die  Bahnen 
bei  Wesel,  Karlsruhe  und  Nürnberg  haben  sich  nicht  bestätigt. 
Es  besteht  jedoch  keinerlei  Zweifel  darüber,  daß  seit  dem  2.  August 
französische  Truppen  auf  deutschem  Boden  standen.  Auch  Frank- 
reich hat  Klagen  über  deutsche  Grenzverletzungen  geführt  (Weiß- 
buch Nr.  705,  722).  Der  deutsche  Generalstab  hat  seinerzeit  einen 
Fall  als  richtig  zugegeben  (Weißbuch  Nr.  869).  Im  übrigen  wurden 
unter  Wirkung  der  Kriegspsychose  beiderseits  viele  unwahre  Behaup- 
tungen geglaubt  (die  Automobile  an  der  holländischen  Grenze, 
Weißbuch  Nr.  670,  768;  Brunnenvergiftungen,  Weißbuch  Nr.  690, 
710;  die  Sprengung  des  Cochemer  Tunnels,  Weißbuch  Nr.  693). 
Die  Franzosen  beschwerten  sich  in  London  über  einen  deutschen 
Vormarsch  auf  Nancy  (Weißbuch  Nr.  689) ;  eine  Meldung,  die  völlig 
aus  der  Luft  gegriffen  war.  Sie  sind  auch  niemals  darauf  zurück- 
gekommen. 

Für  den  Kriegszustand  waren  nach  der  russischen  Mobil- 
machung und  der  Kriegserklärung  an  Rußland  die  Grenzver- 
letzungen im  Westen  nur  von  ganz  untergeordneter  Bedeutung. 
Sie  waren  nur  der  Anlaß,  nicht  der  Grund  zur 
Kriegserklärung  an  Frankreich.  Kriegsgrund  war 
die  Tatsache,  daß  unzweifelhaft  feststand,  Frankreich  werde  an 
einem  deutsch-russischen  Kriege  an  Rußlands  Seite  teilnehmen. 
Wir  wissen  aus  den  russischen  Urkunden,  daß  bereits  1912  sich 
die  französische  Regierung  bereit  erklärt  hat,  wegen  einer  Balkan- 
frage in  einen  europäischen  Krieg  einzutreten.  1914  ist  es  nicht 
anders  gewesen.  Der  wahre  Grund  zur  Kriegserklärung  Deutsch- 
lands an  Frankreich  war  der  als  sicher  vorauszusetzende  fran- 
zösische Kriegswille  und  die  Verpflichtung  des  französisch-russischen 
Bündnisses.  Dem  trägt  der  erste  Entwurf  einer  Kriegserklärung 
an  Frankreich  (Weißbuch  Nr.  608)  Rechnung,  und  es  ist  sehr  zu 
bedauern,  daß  deutscherseits  nicht  der  Wahrheit  die  Ehre  gegeben 
und  von  diesem  Entwurf  Gebrauch  gemacht  wurde.  Den  Umweg 
über    die    tatsächlichen    und   angeblichen    Grenzverletzungen    hat 


103 

man  offenbar  in  der  Hoffnung  eingeschlagen,  daraus  den  Bündnis- 
fall für  Italien  konstruieren  zu  können.  Dafür  sprechen  die  zahl- 
reichen Telegramme  nach  Rom,  die  auf  französische  Übergriffe 
hinweisen  (Weißbuch  Nr.  664,  690,  694,  713,  725,  774).  Wie  sinn- 
los und  unbegründet  die  Hoffnung  war,  mit  diesen  Mittein  auf 
Italien  einzuwirken,  bedarf  keiner  Erläuterung. 


VII.  Die  Haltung  Englands 

1.  Deutsch-englische  Vermittlungstätigkeit 

Da  es  in  erster  Linie  der  Zusammenarbeit  Deutschlands  und 
Englands  zu  danken  war,  daß  die  kritische  Zeit  der  Balkankriege 
1912/13  ohne  ernsteren  Konflikt  der  Mächte  vorübergegangen 
war,  so  lag  es  nahe,  daß  diese  beiden  Mächte  auch  bei  der  Krise 
von  1914  gemeinsam  der  Sache  des  Friedens  dienen  würden.  Wegen 
des  Bündnisses  mit  Österreich  -  Ungarn  besaß  Deutschland  zwar 
in  diesem  Falle  nicht  dieselbe  Handlungsfreiheit  wie  in  der  vorher- 
gehenden Krise,  in  der  es  sich  in  erster  Linie  um  Konflikte  zwischen 
den  Balkanstaaten  handelte.  Die  deutsche  Regierung  konnte 
aber  annehmen,  daß  sich  jeder  im  Interesse  des  Friedens  notwendige 
Schritt  mit  der  Erfüllung  ihrer  Bündnispflichten  vereinigen  lassen 
werde.  Bis  zum  letzten  Augenblick  hat  sie  sich  bemüht,  gemeinsam 
mit  England  die  Gefahren  eines  europäischen  Krieges  zu  beschwören. 
Noch  in  der  Denkschrift  vom  3.  August  wurde  gesagt:  ,, Schulter 
an  Schulter  mit  England  haben  wir  unausgesetzt  an  der  Vermitt- 
lungsaktion fortgearbeitet  und  jeden  Vorschlag  in  Wien  unter- 
stützt, von  dem  wir  die  Möglichkeit  einer  friedlichen  Lösung  des 
Konfliktes  erhoffen  zu  können  glaubten."  Damals  war  noch  nicht 
bekannt,  daß  die  englische  Regierung  weder  mit  der  gleichen  Ehr- 
lichkeit noch  mit  derselben  Tatkraft  für  die  Erhaltung  des  Welt- 
friedens gewirkt  hatte,  wie  die  deutsche.  Durch  die  Widersprüche, 
in  die  sich  der  ewig  schwankende  Grey  verwickelte,  wurde  seine 
Politik  zu  einem  Doppelspiel.  Stärkere  Charaktere,  die  ihn  vor- 
wärts drängten,  mögen  den  Ausschlag  gegeben  haben.  Sie  waren 
alle  deutschfeindlich.  Grey  hat  sich  während  des  ganzen  Verlaufs 
der  Verhandlungen  bemüht,  Berlin  zu  einem  energischen  Eingreifen 
in  Wien  anzustacheln.  Die  deutsche  Regierung  wird  ihre  Ver- 
mittlung nicht  allein  um  der  Erhaltung  oder  Befestigung  der  guten 
Beziehungen  zu  England  willen  betrieben  haben,  sondern  vor  allem 
im  Interesse  des  europäischen  Friedens.    Sie  hegte  hierbei  jedoch 


104 

offensichtlich  die  Erwartung,  daß  England  ebenfalls  das  seine  zur 
Erhaltung  des  Friedens  tun,  also  in  erster  Linie  Rußland  und 
Frankreich  vor  militärischen  Maßnahmen  zurückhalten  werde, 
die  nicht  wieder  gut  zu  machende  Folgen  haben  mußten.  Dieses 
Vertrauen  in  Englands  Verantwortlichkeitsgefühl  ist  jedenfalls 
getäuscht  worden.  Ü 

Berlin  hat,  wie  oben  dargelegt  wurde,  alle  Londoner  Vor- 
schläge angenommen  und  befolgt,  mit  Ausnahme  des  als  unzweck- 
mäßig erachteten  Vorschlages  einer  Botschafterkonferenz,  den 
Grey  selbst  fallen  ließ.  Der  Vorschlag,  (1)  in  Wien  eine  Verlängerung 
der  Serbien  gestellten  Frist  zu  befürworten,  wurde  befolgt,  (2)  dem 
einer  Vermittlung  zwischen  Wien  und  Petersburg  zugestimmt.  Der 
österreichisch  -  ungarischen  Regierung  wurde  (3),  dem  englischen 
Wunsche  entsprechend,  am  25,  Juli  nahegelegt,  die  serbische  Ant- 
wortnote günstig  aufzunehmen,  ebenso  (4)  die  englische  Anregung 
vom  27.  Juli,  die  serbische  Antwortnote  möge  als  Grundlage  für 
Unterhandlungen  angenommen  werden.  Der  am  29.  Juli  erneuerte 
Verschlag  Greys,  eine  Vermittlung  der  vier  unbeteiligten  Mächte 
eintreten  zu  lassen,  wurde  (5)  auf  das  wärmste  befürwortet.  Eben- 
so wurde  (6)  die  Meldung  aus  London,  daß  Grey  Wien  bitten  lasse, 
die  angeblich  unterbrochenen  direkten  Besprechungen  mit  Peters- 
burg wieder  aufzunehmen,  mit  einer  ernsten  Warnung  vor  den 
Folgen  einer  unberechtigten  Unnachgiebigkeit  nach  Wien  weiter- 
gegeben. Der  englische  Vorschlag  der  Verhandlungen  auf  Grund 
der  Besetzung  serbischer  Gebietsteile  als  Faustpfand  wurde  (7) 
sowohl  in  der  Fassung  der  Erklärung  Greys  vom  29.  Juli,  wie  in 
der  des  Telegramms  des  Königs  von  England  an  den  Prinzen 
Heinrich  von  Preußen  vom  30.  Juli,  in  Wien  warm  empfohlen. 

Die  englische  Regierung  hat  den  deutschen  Vorschlag  der  Lokali- 
sierung zwar  zunächst  freundlich  aufgenommen  und  einen  Eingriff 
in  den  austro  -  serbischen  Konflikt  abgelehnt,  ihre  Auffassung 
aber  am  26.  Juli  völlig  geändert,  indem  sie  eine  Botschafterkonferenz 
zur  Regelung  der  austro  -  serbischen  Frage  vorschlug.  Der  deutschen 
Bitte  vom  26.  Juli,  in  Petersburg  im  Sinne  einer  besonnenen  Hal- 
tung zu  wirken  und  vor  militärischen  Maßnahmen  zu  warnen, 
hat  sie  nicht  Folge  geleistet.  Ihren  eigenen  Vorschlag  der  Verhand- 
lungen auf  Grund  der  Besetzung  serbischer  Gebietsteile  als  Faust- 
pfand hat  sie  erst  am  30.  Juli  nach  Petersburg  mitgeteilt,  als  sie 
aus  Berlin  erfuhr,  daß  ein  ähnlicher  Vorschlag  bereits  deutscher- 
seits nach  Wien  gerichtet  worden  sei  (Blaubuch  Nr.  103).  Statt 
in  Petersburg  energisch  auf  die  Annahme  dieses  Vorschlages  und 
auf  die  Einstellung  militärischer  Maßnahmen  zu  dringen,  tele- 
graphierte Grey  am  30.  Juli  lediglich: 


105 

„Wenn  Österreich  nach  Besetzung  von  Belgrad  und  angrenzendem  ser- 
bischen Gebiet  sich  bereit  erl<iärt,  im  Interesse  des  europäischen  Friedens 
seinen  Vormarsch  einzustellen  und  zu  erörtern,  wie  eine  vollständige  Regelung 
erzielt  werden  kann,  hoffe  ich,  daß  Rußland  sich  auch  zu  einer  Erklärung 
und  zur  Einstellung  weiterer  militärischer  Vorbereitungen  bereit  erklären  wird, 
vorausgesetzt,  daß  andere  Mächte  das  gleiche  tun."  (Weißbuch  Nr.  460,  Blau- 
buch Nr.  103.) 

Das  Telegramm,  mit  dem  die  deutsche  Regierung  den  gleichen 
englischen  Vorschlag  nach  Wien  weitergegeben  hatte,  schloß  mit 
den  Worten: 

„Wir  müssen  der  Erwägung  des  Wiener  Kabinetts  dringend  und  nach- 
drücklich anheimstellen,  die  Vermittlung  zu  den  angegebenen  ehrenvollen 
Bedingungen  anzunehmen.  Die  Verantwortung  für  die  sonst  eintretenden 
Folgen  wäre  für  Österreich-Ungarn  und  uns  eine  ungemein  schwere."  (Weiß- 
buch Nr.  395.) 

Der  Unterschied  in  der  Sprache  kennzeichnet  die  Haltung 
beider  Regierungen  gegenüber  der  Gefahr  eines  europäischen 
Krieges. 

Der  deutsche  Schritt  hatte  das  Einlenken  Wiens  zur  Folge, 
der  englische  hingegen  wurde  in  Petersburg  erst  am  31.  Juli  unter- 
nommen, als  die  Gesamtmobilmachung  bereits  öffentlich  ver- 
kündet war.  Er  blieb  ergebnislos.  Sasonow  gab  seine  Forderung 
auf  Einstellung  der  österreichisch-ungarischen  Operationen  nicht 
auf  und  lehnte  es  ab,  die  Besetzung  eines  Faustpfandes  zuzulassen. 
Hinsichtlich  der  militärischen  Maßnahmen  gab  er  lediglich  die  Zu- 
sicherung einer  abwartenden  Haltung  Rußlands  für  den  Fall,  daß 
Österreich-Ungarn  die  russischen  Bedingungen  (2.  Sasonow- Formel) 
annehme  (Blaubuch  Nr.  120). 

Es  trifft  die  englische  Regierung  also  die  schwere  Schuld,  nichts 
unternommen  zu  haben,  um  Rußland  von  der  allgemeinen  Mobil- 
machung abzuhalten,  deren  Bedeutung  sie  kennen  mußte,  und 
auf  deren  Gefahr  deutscherseits  wiederholt  hingewiesen  war.  Noch 
am  31.  Juli,  nachdem  er  von  dem  Einlenken  der  Wiener  Regierung 
erfahren  hatte,  telegraphierte  Grey  nach  Petersburg: 

„Dem  deutschen  Botschafter  teilte  ich  mit,  daß,  was  militärische  Vor- 
bereitungen beträfe,  ich  nicht  einsehe,  wie  Rußland  bewogen  werden  könne, 
sie  einzustellen,  wenn  nicht  Österreich  dem  Vormarsch  seiner  Truppen  in  Serbien 
gewisse  Grenzen  setze."     (Blaubuch  Nr.  110.) 

Das  Londoner  Kabinett  hat  möglicherweise  in  diesem  Augen- 
blick die  Lage  nicht  richtig  erfaßt  und  die  Bedeutung  der  russischen 
Kriegsmaßnahmen  unterschätzt.  In  Petersburg  konnte  diese 
Stellungnahme  der  englischen  Regierung  nur  als  eine  Billigung 
der  im  Gange  befindlichen  Mobilmachung  angesehen  werden.  Aber 
selbst  als  Grey  (aus  Weißbuch  Nr.  477,  488  und  Blaubuch  Nr.  113) 
Kenntnis  von  der  russischen  Gesamtmobilmachung  hatte  und  die 
Zustimmung   Österreich  -  Ungarns   zu    dem   englischen    Vorschlag 


106 

einer  Vermittlung  der  Mächte  in  Händen  hielt  (Rotbuch  1919, 
III,  Nr.  65,  94),  sah  er  sich  nicht  veranlaßt,  gegen  das  Vorgehen 
Rußlands  Einspruch  zu  erheben.  Er  telegraphierte  am  1.  August 
den  Inhalt  der  Wiener  Erklärung  nach  Petersburg  und  setzte  ledig- 
lich hinzu: 

„Bitte  den  Minister  des  Äußern  zu  benachrichtigen  und  ihm  zu  sagen, 
daß,  wenn  in  Anbetracht  der  Annahme  der  Vermittlung  seitens  Österreichs 
Rußland  in  die  Einstelkmg  seiner  Mobilisierung  einwilligen  könne, 
es  noch  immer  möglich  schiene,  den  Frieden  zu  bewahren.  Voraussicht- 
lich würde  die  Angelegenheit  auch  von  der  russischen  Regierung  mit  der  deut- 
schen Regierung  zu  erörtern  sein."    (Blaubuch  Nr.  135.) 

So  entsprach  Grey  der  wiederholten  deutschen  Bitte,  auf 
Petersburg  einzuwirken,  nachdem  Berlin  in  Wien  sein  möglichstes 
getan  und  viel  erreicht  hatte.  Diese  nur  sehr  bedingte  Bekundung 
des  englischen  Friedenswillens  kam  überdies  viel  zu  spät.  Eng- 
land hatte  es  versäumt,  rechtzeitig  in  Peters- 
burg einzugreifen  und  die  allgemeine  Mobil- 
machung aufzuhalten.  Die  deutsche  Regierung  hat  in 
der  Nacht  vom  29.  zum  30.  Juli  nach  Wien  telegraphiert: 

„Wir  sind  zwar  bereit,  unsere  Bündnispflicht  zu  erfüllen,  müssen  es  aber 
ablehnen,  uns  von  Wien  leichtfertig  und  ohne  Beachtung  unserer  Ratschläge 
in  einen  Weltbrand  hineinziehen  zu  lassen."     (Weißbuch  Nr.  396.) 

Eine  ähnliche  Erklärung  der  englischen  Regierung  in  Peters- 
burg würde  den  Weltfrieden  erhalten  haben. 

Grey  hat  dabei  die  Gefahren  der  Lage  durchaus  rechtzeitig 
erkannt.  Am  29.  Juli  sagte  er  zum  österreichisch  -  ungarischen 
Botschafter,  ,, heute  spreche  Petersburg  noch  mit  Berlin,  wie  würde 
es  morgen  sein?"  (Rotbuch  1919,  III,  Nr.  14).  Überdies  hat  er 
noch  am  31.  JuH  Lichnowsky  zugesichert,  er  werde  einen  Druck 
auf  Paris  und  Petersburg  ausüben,  wenn  ,, Österreich  ein  derartiges 
Zugeständnis  mache,  daß  Rußland  ins  Unrecht  versetzt  werde" 
(Weißbuch  Nr.  489).  Am  1.  August  wußte  er,  daß  Wien  die  Ver- 
mittlung der  Mächte  annehme,  und  Rußland  hatte  sich  nicht  nur 
Österreich  -  Ungarn,  sondern  auch  Deutschland  gegenüber  durch 
seine  allgemeine  Mobilmachung  im  höchsten  Grade  ins  Unrecht 
gesetzt.  Grey  hat  aber  nicht  seiner  Zusage  gemäß  gehandelt  und 
bewies  damit,  daß  seine  Verhandlungen  mit  Berlin  nur  eine  diplo- 
matische Kriegslist  darstellten. 

2.  England  und  Rußland 

Die  englische  Regierung  hat  ursprünglich  erklärt,  daß  sie 
wegen  der  serbischen  Frage  nicht  zum  Kriege  schreiten  würde. 
Wenn  sie  trotzdem  der  Gefährdung  des  europäischen  Friedens 
durch  Rußland  untätig  zusah  und  sich  anscheinend  ohne  Wider- 


107 

streben  der  sicheren  Gefahr  aussetzte,  selbst  in  einen  Weltbrand 
hineingezogen  zu  werden,  so  ist  dies  nur  aus  der  Tendenz  der  eng- 
lischen Ententepolitik  der  letzten  Jahre  zu  erklären.  Daß  die 
Regierung  des  Zaren  mit  ihren  übereilten  Maßnahmen  auf  den 
Krieg  zusteuerte,  konnte  weder  in  London  noch  in  Paris  verborgen 
bleiben,  und  man  mußte  hier  ebenso  wie  in  Berlin  erkennen,  daß 
das  Vorgehen  Rußlands  jede  Vermittlungsaktion  zu  vereiteln  be- 
stimmt war.  England  und  Frankreich  ließen  dieses  gefährliche 
Treiben  gewähren,  indes  sich  die  deutsche  Regierung  während  des 
ganzen  Verlaufs  der  Krise  bestrebt  zeigte,  in  enger  Fühlung  mit 
der  englischen  die  Gefahr  eines  Weltkrieges  abzuwenden.  Sie  hat 
mit  dem  nach  Wien  gerichteten  Vorschlag,  sich  mit  der  Besetzung 
eines  Faustpfandes  zu  begnügen,  und  auf  dieser  Basis  eine  Ver- 
mittlung anzunehmen,  eine  Ausgleichsmöglichkeit  gefunden,  die 
auch  nach  englischer  Auffassung  die  friedliche  Beilegung  des 
Konfliktes  herbeiführen  mußte.  Dieser  Ausgleich  konnte  deshalb 
nicht  verwirklicht  werden,  weil  Rußland  trotz  der  dringenden 
Warnungen  der  deutschen  Regierung  nicht  das  Ergebnis  der  Ver- 
mittlung abwarten  wollte,  sondern  darauf  bestand,  den  Konflikt 
durch  Anwendung  militärischer  Druckmittel  zu  lösen,  während 
die  englische  Regierung,  obwohl  sie  von  den  deutschen  Schritten 
in  Wien  fortlaufend  unterrichtet  worden  war,  es  unterließ,  Ruß- 
land auch  nur  für  die  Tage  und  Stunden  zurückzuhalten,  deren 
es  bedurfte,  um  die  Einigung  herbeizuführen. 

Sie  konnte  sich  nicht  entschließen,  eine  Warnung  nach  Peters- 
burg zu  richten,  die  dort  unwillkommen  gev/esen  wäre  und  mög- 
licherweise den  Abschluß  der  geheimen  englisch-rus- 
sischen Marinekonvention  beeinträchtigt  hätte.  Die 
Sorge  um  die  Aufrechterhaltung  der  Entente  mit  Rußland,  des 
Schlußsteins  in  dem  Bau  der  englischen  Einkreisungspolitik, 
verhinderten  Grey  daran,  in  seinen  Friedensbemühungen  in  Pe- 
tersburg ,,bis  an  die  äußerste  Grenze  dessen  zu  gehen,  was  einem 
verbündeten  und  souveränen  Staat  zugemutet  werden  konnte", 
wie  es  die  deutsche  Regierung  getan  hatte  (Weißbuch  Nr.  513, 
553).  Die  Erhaltung  des  eisernen  Ringes,  den  er  um  Deutschland 
gelegt  hatte,  stand  ihm  eben  höher  als  die  Erhaltung  des  Welt- 
friedens I 

Es  ist  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Regierung  des  Zaren  zum 
Kriege  bereit  gewesen  wäre,  wenn  sie  nicht  mit  Sicherheit  auf  die 
Unterstützung  Englands  gerechnet  hätte.  Ganz  gewiß  wäre 
jedoch  der  Frieden  erhalten  worden,  wenn  die  englische  Re- 
gierung dem  Kriegswillen  Rußlands  und  Frankreichs  entgegen- 
getreten wäre. 

In  Petersburg  waren  die  englisch-französischen  Abmachungen 


108 

bekannt,  die  England  die  moralische,  wenn  auch  nicht  vertrag- 
liche Verpflichtung  auferlegten,  Frankreich  in  jedem  Kriege  mit 
Deutschland  beizustehen,  der  nicht  offensichtlich  von  Frankreich 
provoziert  war.  Die  russische  Regierung  durfte  also  mit  Gewiß- 
heit auf  die  englische  Unterstützung  in  einem  Kriege  gegen  Deutsch- 
land rechnen,  wenn  England  nicht  ausdrücklich  die  Waffenhilfe 
ablehnte.  Rußland  konnte  durch  Mobilisierung  seiner  gesamten 
Streitkräfte  Deutschland  zur  Mobilmachung  und  Kriegserklärung 
zwingen  und  hierdurch  für  Frankreich  den  Bündnisfall  herbei- 
führen. Deutschland,  zum  Zweifrontenkrieg  gezwungen,  sah  sich 
dann  vor  die  Notwendigkeit  gestellt,  Frankreich  den  Krieg  zu 
erklären,  wodurch  angesichts  der  englisch-französischen  Ab- 
machungen der  deutsch-englische  Krieg  unvermeidlich  wurde. 
Dieser  Weg  zum  Weltkriege  war  der  russischen  Kriegspartei  klar 
vorgezeichnet.     Die  Petersburger   Regierung  hat  ihn  beschritten. 

Für  Rußland  bestand  zunächst  nur  die  einzige  Sorge,  ob 
nicht  die  enghsche  Regierung,  für  die  diese  Zusammenhänge  nicht 
weniger  klar  erkennbar  waren,  erklären  würde,  in  einen  über  den 
serbischen  Streit  entbrennenden  Krieg  nicht  eingreifen  zu  wollen. 
Daher  bemühte  sich  Sasonow,  vom  französischen  Botschafter 
unterstützt,  bereits  am  24.  Juli,  von  der  englischen  Regierung 
eine  Erklärung  ihrer  Solidarität  mit  den  Zweibundsmächten  zu 
erwirken  (Blaubuch  Nr.  6).  Am  25.  Juli  erneuerte  er  seine  Bitte 
(Blaubuch  Nr.  17).  Keinerlei  englisches  Dokument  aus  Peters- 
burg vom  26.  Juli  ist  bekannt  gegeben  worden.  Am  27.  Juli 
(Blaubuch  Nr.  44,  45)  und  an  allen  späteren  Tagen  ist  von  dem 
Wunsche  nach  einer  Solidaritätserklärung  Englands  nicht  mehr 
die  Rede. 

Am  25.  Juli  lehnte  es  Grey  noch  ab,  über  einen  serbischen 
Streit  zum  Kriege  zu  schreiten  (Blaubuch  Nr.  24).  Ein  Tele- 
gramm von  London  nach  Petersburg  vom  26.  Juli  ist  nicht  bekannt, 
doch  zeigt  der  englische  Vorschlag  einer  Botschafterkonferenz  in 
London  (Weißbuch  Nr.  304,  Blaubuch  Nr.  36)  eine  grundsätzliche 
Änderung  in  der  Haltung  der  englischen  Regierung  an.  Am 
27.  Juli  telegraphierte  (gemäß  Blaubuch  Nr.  47)  Grey  nach  Peters- 
burg, der  russische  Botschafter  habe  sich  bei  ihm  darüber  beklagt, 
daß  England  in  seiner  Haltung  die  Zugehörigkeit  zum  Dreiverband 
nicht  deutlich  genug  bekunde.  Als  Antwort  habe  er  den  Bot- 
schafter darauf  hingewiesen,  daß  die  englische  Flotte  nach  Be- 
endigung ihrer  Manöver  nicht  demobilisiere  und  nicht  auseinander- 
gehe. Diese  Tatsache  konnte  Petersburg  vollauf  befriedigen, 
trotz  der  Einschränkung  des  englischen  Ministers,  er  könne  Ruß- 
land nur  ,, diplomatisches"  Vorgehen  versprechen.  Benckendorff 
berichtete  ebenfalls  über  dies  Gespräch.     Sein  Telegramm  schloß 


109 

mit  den  Worten:  „Die  Zuversicht  Berlins  und  Wiens  in  bezug  auf 
die  Neutralität  Englands  hat  keinen  Grund  mehr." 

Jeder  Zweifel,  ob  Frankreich  und  damit  Rußland  im  Kriegs- 
falle auf  Englands  Unterstützung  rechnen  könne,  war  jedenfalls 
am  29.  Juli  bereits  behoben.  Das  Blaubuch  (Nr.  87)  gibt  an, 
daß  Grey  an  diesem  Tage  dem  französischen  Botschafter  erklärte, 
er  beabsichtige,  die  deutsche  Regierung  zu  warnen,  daß  England 
nicht  bei  Seite  stehen  würde,  wenn  es  zum  Kriege  kommen  sollte. 
Frankreich  gegenüber  behalte  er  sich  jedoch  die  Entscheidung 
über  das  Eingreifen  Englands  noch  vor.  Diese  Erklärung  an 
Deutschland  konnte  jedenfalls  für  die  Zwecke  des  Zweibundes 
vollauf  genügen.  Der  französische  Botschafter  antwortete  daher, 
Grey  habe  ,,die  Lage  sehr  deutlich  auseinandergesetzt". 

Der  Umschwung  in  der  ursprünglichen  Haltung  Englands, 
die  Entschlüsse,  die  es  angesichts  der  drohenden  Kriegsgefahr 
gefaßt  hatte,  und  die  Rückwirkung  dieser  Stellungnahme  in  Ruß- 
land sind  nicht  verborgen  geblieben.  Der  belgische  Geschäfts- 
träger in  Petersburg  berichtete  am  30.  Juli : 

„England  gab  anfänglich  zu  verstehen,  daß  es  sich  nicht  in  einen  Konflikt 
hineinziehen  lassen  werde.  Sir  George  Buchanan  sprach  das  offen  aus.  Heute 
aber  ist  man  in  St.  Petersburg  fest  davon  überzeugt,  ja,  man  hat  sogar  die  Zu- 
sicherung, daß  England  Frankreich  beistehen  wird.  Dieser  Beistand  fällt 
ganz  außerordentlich  ins  Gewicht  und  hat  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  der 
Kriegspartei  Oberwasser  zu  verschaffen."  (Norddeutsche  Allgemeine  Zeitung 
vom  12.  September  1914.) 

Der  Entschluß  zur  allgemeinen  Mobilmachung,  die  nur  den 
Zweck  haben  konnte,  den  Krieg  mit  Deutschland  herbeizuführen, 
war  gefaßt  worden,  als  die  Gewißeit  bestand,  daß  England  an 
der  Seite  Frankreichs  und  Rußlands  eingreifen  werde.  Das  hat 
auch  der  Petersburger  Reuter-Korrespondent  erkannt,  der  am 
30.  Juli  telegraphierte: 

,,Das  Auslaufen  der  englischen  Flotte  aus  Portland  hat  einen  ungeheuren 
Eindruck  hervorgerufen  und  hat,  in  Verbindung  mit  den  friedlichen  Versiche- 
rungen Japans,  den  festen  Entschluß  Rußlands,  es  auf  eine  kriegerische  Ent- 
scheidung ankommen  zu  lassen,  mehr  als  bekräftigt." 

Die  Würfel  waren  gefallen.  Die  Schwankungen  in  der  Haltung 
Englands  während  der  folgenden  Tage  sind  nur  auf  innerpolitische 
Gründe  und  taktische  Erwägungen  zurückzuführen. 

3.  England  und  Frankreich 

Als  Grey  am  29.  Juli  dem  französischen  Botschafter  die  be- 
deutungsvolle Mitteilung  machte,  er  werde  Deutschland  warnen, 
daß  es  im  Kriegsfalle  nicht  auf  Englands  Neutralität  zählen  dürfe, 
wies  er  ihn  zugleich  darauf  hin,  daß  die  öffentliche  Meinung  wenig 
geneigt  sein  werde,  wegen  der  serbischen  Frage  in  einen    Krieg 


110 

einzugreifen,  in  den  Frankreich  lediglich  durch  sein  Bündnis  mit 
Rußland  hineingezogen  würde.  Eine  Verpflichtung  bestehe  für 
England  nicht,  und  er  (Grey)  müsse  sich  noch  die  Entscheidung 
über  das,  was  Englands  Interesse  geböte,  vorbehalten  (Blau- 
buch Nr.  87). 

Daß  es  in  Englands  Belieben  gestanden  hätte,  Frankreich 
beizuspringen  oder  nicht,  wäre  wohl  nur  dem  Buchstaben  der 
Vereinbarungen  nach  richtig  gewesen.  Denn  schon  die  Tatsache, 
daß  Frankreich  auf  Grund  der  englisch-französischen  Abmachungen 
seine  Flotte  im  Mittelmeer  zusammengezogen  hatte,  begründete 
für  England  eine  Verpflichtung  zum  Schutze  der  französischen 
Nordküsten,  der  sich  keine  englische  Regierung  jemals  hätte  ent- 
ziehen können.  Asquith  erklärte  am  2.  August  dem  deutschen 
Botschafter,  durch  zwei  Dinge  würde  die  „neutrale  Haltung  der 
englischen  Regierung  sehr  erschwert",  durch  die  Verletzung  der 
Neutralität  Belgiens  und  ,, durch  einen  etwaigen  Angriff  deutscher 
Kriegsschiffe  auf  die  gänzlich  unbeschützte  Nordküste  Frank- 
reichs, die  die  Franzosen  in  gutem  Glauben  auf 
die  britische  Unterstützung  zugunsten  ihrer  Mittel- 
meerflotte entblößt  hätten"  (Weißbuch  Nr.  676).  Tatsächlich 
hat  ja  England  auch  bereits  am  2.  August  den  Schutz  der  fran- 
zösischen Küsten  und  der  französischen  Schiffahrt  gegen  die 
deutsche  Flotte  förmlich  übernommen  (Blaubuch  Nr.  148,  Weiß- 
buch Nr.  784),  zu  einem  Zeitpunkt  also,  als  Kriegszustand  zwischen 
Deutschland  und  Frankreich  nicht  bestand. 

Die  geheimen  englisch-französischen  Abmachungen,  welche 
Armee  und  Marine  betrafen,  stammen  aus  der  Zeit  der  ersten 
Marokkokrise.  Sie  wurden  im  Laufe  der  Jahre  ergänzt  und  1912 
durch  einen  Notenaustausch  bestätigt.  Wann  sich  die  französische 
Regierung  zum  erstenmal  auf  das  ihr  aus  diesen  Abmachungen 
zustehende  Recht  auf  englische  Waffenhilfe  berufen  hat,  ist  nicht 
bekannt.  Nach  Angabe  des  Blaubuches  (Nr.  105)  wäre  dies  am 
30.  Juli  geschehen,  also  erst,  nachdem  (am  29.  Juli)  französischer- 
seits  in  Petersburg  die  Erklärung  abgegeben  worden  war,  Ruß- 
land könne  „vollständig  auf  die  Unterstützung  des  verbündeten 
Frankreichs  rechnen".  (Orangebuch  Nr.  58.)  Die  Anlage  3 
der  Nr.  105  des  Blaubuches  stellt  aber  eine  notorische  Fälschung 
dar;  es  erscheint  deshalb  fraglich,  ob  die  übrigen  Angaben  dieses 
Dokuments  zutreffen.  Der  russische  Botschafter  hat  ebenfalls 
über  diese  Unterredung  berichtet.  Seine  Darstellung  gibt  ihr 
einen  wesentlich  anderen  Sinn,  als  die  englische.  Er  telegraphierte 
am  30.  Juli  nach  Petersburg: 

„Cambon  fragte  bei  Grey  an,  ob  er  der  Meinung  sei,  daß  der 
Moment  eingetreten  sei?     Grey  antwortete  ihm,  daß  der  Moment 


111 

eintreten  wird,  sobald  die  Stellungnahme  Deutschlands  sich  völlig  klärt.  Cambon 
bestand  nicht  weiter  darauf,  da  von  England  ernste  Maßnahmen  nicht  nur 
zur  See,  sondern  auch  auf  dem  Lande  getroffen  worden  sind.  Cambon  sagte, 
daß  nach  seiner  Meinung  die  Lage  sich  in  den  Augen  des  Parlaments  noch  nicht 
genügend  geklärt  hat,  damit  Grey,  ohne  zu  riskieren,  noch  heute  offen  auf- 
treten könnte."    (Prawda  Nr.  7  vom  9.  März  1919.) 

P.  Cambon  selbst  berichtete,  er  habe  Grey  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  ,,daß  es  sich  heute  nicht  mehr  um  einen  Streit 
um  Einfluß  zwischen  Rußland  und  Österreich-Ungarn  handele. 
Es  bestehe  Gefahr  eines  Angriffs,  der  einen  allgemeinen  Krieg 
heraufbeschwören  konnte.  —  Sir  E.  Grey  hat  meine  Empfindung 
völlig  verstanden,  und,  wie  ich,  hält  er  den  Augenblick  für 
gekommen,  alle  Möglichkeiten  ins  Auge  zu  fassen  und  sie 
gemeinsam  zu  erörtern".    (Gelbbuch  Nr.  108.) 

Wollte  auch  Grey  am  29.  Juli  das  entscheidende  Wort  noch 
nicht  sprechen,  so  haben  doch  offenbar  andere  es  für  ihn  getan. 
Vielleicht  spielten  im  konstitutionellen  England  die  Militärs  eine 
ebenso  große  oder  noch  größere  Rolle,  als  im  absolutistischen 
Deutschland.  Der  belgische  Gesandte  in  Paris  berichtete  am 
31.  Juli: 

„Der  Chef  des  zweiten  Bureaus  des  Generalstabs  der  Armee  hat  dem 
(belgischen  Militärattache)  Major  Collon  bestätigt,  daß  England  die  förmliche 
Versicherung  gegeben  hat,  daß  es  Frankreich  in  dem  gegenwärtigen  Konflikt 
im  vollen  Maße  und  mit  den  Waffen  beistehen  werde,  wenn  Deutschland  mili- 
tärisch eingriffe."    (Deutsche  Allgemeine  Zeitung  vom  22.  Mai  1919.) 

Bezeichnend  für  die  englisch-französischen  Anschauungen 
ist  die  von  P.  Cambon  (Blaubuch  Nr.  105)  gegebene  Auslegung 
des  Begriffs  ,, Angriff  auf  Frankreich",  der  als  Voraussetzung 
für  die  englische  Waffenhilfe  zu  gelten  habe.  Ein  „Angriff  auf 
Frankreich"  wurde  nämlich  von  ihm  schon  in  einer  Forderung 
der  Neutralität  Frankreichs  in  einem  deutsch-russischen  Kriege 
erblickt.  In  London  und  Paris  hat  man  den  Begriff  „defensiv" 
recht  weitherzig  ausgelegt! 

In  England  gab  es  damals  offenbar  zwei  Strömungen :  Die 
eine,  welche  weder  einen  Krieg  wollte,  noch  einsehen  konnte, 
daß  England  die  Politik  seiner  festländischen  Verbündeten  mit- 
machen müsse.  Noch  am  2.  August  sagte  Asquith  zu  Lichnowsky, 
ein  Krieg  zwischen  England  und  Deutschland  sei  ganz  undenkbar 
(Weißbuch  Nr.  676).  Die  andere  Richtung  sah  den  Augenblick 
gekommen,  um  die  Ziele  zu  verwirklichen,  die  England  im  Ver- 
sailler  Frieden  erreicht  hat.     Benckendorff  meldete  am  31.  Juli: 

,,Grey  versteht  die  Lage  ausgezeichnet  und  sieht  völlig  klar,  daß  eine 
gewisse  Reaktion  im  Parlament  ernste  Schwierigkeiten  für  ihn  schafft  und 
ihn  zu  großer  Vorsicht  zwingt." 


112 

Noch  am  gleichen  Tage  telegraphierte  er: 

„Die  Ereignisse  können  sich  so  rasch  entwickeln,  daß  jede  übereilige 
Beurteilung  der  Haltung  Englands  im  gegenwärtigen  Moment  schädlich  sein 
und  insbesondere  Grey  paralysieren  würde,  dessen  Einfluß  in  einigen  Stunden 
wiederhergestellt  sein  könnte." 

Welche  Ereignisse  in  Frage  standen,  sagt  der  Schluß  des 
erstgenannten  Telegramms: 

,,Die  Krisis  wird  an  jenern  Tage  eintreten,  wo  die  europäische  Seite  der 
Frage  infolge  der  Gefahr  eines  Überfalles  auf  Frankreich  augenfällig  sein  wird. 
Dies  ist  wenigstens  meine  Meinung  und  die  Meinung  Cambons."  (Prawda, 
Nr.  7  vom  9.  März  1919.) 

Frankreich  lag  daher  nicht  weniger  daran,  einen  deutschen 
Überfall  nachzuweisen,  wie  es  der  englischen  Regierung  darauf 
ankam,  ihr  Eingreifen  in  den  Krieg  mit  einem  deutschen  Angriff 
auf  Frankreich  zu  rechtfertigen.  Diesem  Gesichtspunkt  dienten 
die  zahlreichen  französischen  Meldungen  nach  London  über  deutsche 
Rüstungen  und  Grenzverletzungen,  die  zum  mindesten  im  Datum 
alle  unrichtig  waren,  und  ebenso  die  Anlage  3  der  Nr.  105  des 
Blaubuches,  eine  bekannte  Fälschung,  die  der  offiziöse  Historiker 
Oman  mit  Stillschweigen  übergeht. 


4.  Englands  Kriegserklärung  an  Deutschland 

Am  29.  Juli  erklärte  Grey  dem  deutschen  Botschafter,  wenn 
Deutschland  und  Frankreich  in  den  Konflikt  hineingezogen 
würden,  dann  würde  ,,die  britische  Regierung  unter  Umständen 
sich  zu  schnellen  Entschlüssen  gedrängt  sehen".  (Weißbuch 
Nr.  368,  Blaubuch  Nr.  89.)  Der  Sinn  dieser  Erklärung,  England 
werde  Frankreich  im  Kriegsfall  beistehen,  war  nicht  mißzuver- 
stehen.  Die  deutschen  Bemühungen  zur  Erhaltung  des  Friedens 
sind  jedoch  offensichtlich  nicht  wegen  der  Gefahr  einer  Verwicke- 
lung mit  England  betrieben  worden,  sondern  bezweckten,  den 
Krieg  überhaupt  zu  vermeiden.  Nachdem  aber  alle  Versuche, 
den  Krieg  mit  Rußland  zu  verhindern,  vereitelt  waren,  und  auch 
die  letzte  Aussicht,  mit  der  Neutralität  Frankreichs  rechnen  zu 
können,  zunichte  geworden  war,  bemühte  sich  die  deutsche  Re- 
gierung, wenigstens  England  zu  einer  neutralen  Haltung  zu  be- 
wegen, obwohl  die  Aussicht  auf  Erfolg  von  vornherein  äußerst 
gering  war. 

Kriegsgrund  für  England  mußten  in  erster  Linie  die  Ab- 
machungen mit  Frankreich  bilden  und  sein  poli- 
tisches Interesse,  das  eine  Vernichtung  Frankreichs  nicht  zu- 
lassen konnte.  Einen  zweiten  Grund  bildete  Englands  besonderes 
Interesse  an  B  e  1  g  i  e  n  ,  dessen  Neutralität  im  Falle  eines  deutsch- 


113 

französischen  Krieges  die  Kriegführenden  nicht  vom  Durchmarsch 
abgehalten  hätte. 

Diesen  Gesichtspunkten  entsprechend  machte  Bethmann 
Hollweg  am  Abend  des  29.  Juli,  als  die  russische  Teilmobilmachung 
die  Lage  äußerst  bedrohlich  gestaltet  hatte,  dem  englischen  Bot- 
schafter ein  Neutralitätsangebot.  Er  stellte  der  englischen  Re- 
gierung Sicherheiten  dafür  in  Aussicht,  daß  Deutschland  keine 
Gebietserwerbungen  auf  Kosten  Frankreichs  erstrebe.  Diese 
Garantie  sollte  sich  allerdings  auf  die  französischen  Kolonien 
nicht  erstrecken.  Desgleichen  sicherte  er  England  die  Achtung 
der  Neutralität  und  die  Integrität  der  Niederlande,  sowie  die 
Integrität  Belgiens  zu  für  den  Fall,  daß  Deutschland  zum  Durch- 
marsch durch  Belgien  gezwungen  würde,  vorausgesetzt,  daß  es 
nicht  gegen  Deutschland  Partei  ergreife  (Weißbuch  Nr.  372,  Blau- 
buch Nr.  85).  Dieses  Neutralitätsangebot  wurde  von  England 
abgelehnt  (Blaubuch  Nr.  101,  Weißbuch  Nr.  497). 

Trotzdem  hat  die  deutsche  Regierung,  als  der  Krieg  ausbrach, 
alle  nur  möglichen  Schritte  getan,  um  eine  neutrale  Haltung 
Englands  herbeizuführen.  Sie  hat  sich  am  1.  August,  wie  oben 
dargelegt,  bereit  erklärt,  jeden  Angriff  auf  Frankreich  zu  unter- 
lassen, wenn  England  die  französische  Neutralität  garantieren 
würde.  Am  3.  August  wies  sie  den  Botschafter  in  London  an, 
zu  erklären,  daß  deutscherseits  eine  Bedrohung  der  französischen 
Nordküste  nicht  erfolgen  werde,  solange  England  neutral  bliebe 
(Weißbuch  Nr.  714).  Der  Botschafter  gab  Grey  noch  am  gleichen 
Tage  eine  dementsprechende  Versicherung  ab  (Weißbuch  Nr.  764). 
England  ließ  sich  hiermit  jedoch  nicht  zufriedenstellen.  Es  hatte 
bereits  am  2.  August  Frankreich  den  Schutz  seiner  Küsten  und 
Handelsschiffahrt  zugesichert  (Blaubuch  Nr.  148,  Weißbuch 
Nr.  784)  und  war  offensichtlich  entschlossen,  auch  weitergehende 
Waffenhilfe  zu  gewähren. 

Je  geringer  die  Aussicht  schien,  daß  Deutschland  durch  einen 
Überfall  auf  Frankreich  die  Voraussetzungen  für  ein  Eingreifen 
Englands  schaffen  würde,  desto  mehr  betonte  Grey  den  belgischen 
Kriegsgrund.  Bereits  in  der  Antwort  auf  das  deutsche  Neutrali- 
tätsangebot hatte  er  am  30.  Juli  erklärt,  daß  England  eine  Ver- 
ständigung über  Belgien  ablehnen  müsse  (Weißbuch  Nr.  497, 
Blaubuch  Nr.  101).  In  der  Folgezeit  zeigte  er  sich  unter  dem  Ein- 
druck der  russischen  Mobilmachung  und  der  Unvermeidlichkeit 
des  Krieges  bestrebt,  die  belgische  Frage  als  Kriegsanlaß  in  den 
Vordergrund  zu  schieben.  Nach  Ansicht  des  deutschen  General- 
stabs war  es  nicht  angängig,  abzuwarten,  ob  und  wann  französische 
oder  französisch-englische  Heere  durch  Belgien  marschieren  und 
einen  Stoß  gegen  die  verwundbarste  Stelle  der  deutschen  West- 


114 

front  führen  würden.  Die  deutschen  Heere  mußten  dem  Gegner 
unbedingt  zuvorkommen.  Aus  diesem  Grunde  iconnte  die  deut- 
sche Regierung  auf  die  englische  Anfrage  vom  31.  Juli  (Weißbuch 
Nr.  522,  Blaubuch  Nr.  114),  ob  Deutschland  bereit  sei,  sich  zur 
Respektierung  der  belgischen  Neutralität  zu  verpflichten,  keine 
Antwort  geben  (Blaubuch  Nr,  122).  England  konnte  Belgien 
dadurch  schützen,  daß  es  die  französische  Neutralität  gewähr- 
leistete. Es  hat  diesen  Weg  nicht  beschreiten  wollen.  England 
war  auch  nicht  bereit,  die  Achtung  der  belgischen  Neutralität 
dadurch  zu  sichern,  daß  es  sich  selbst  zur  Neutralität  verpflichtete 
(Weißbuch  Nr.  596).  Es  wollte  Frankreich  unter  allen  Umständen 
Waffenhilfe  leisten.  Deshalb  hat  am  1.  August  Grey  es  abgelehnt, 
Bedingungen  für  die  Neutralität  Englands  aufzustellen,  auch  als 
ihm  der  deutsche  Botschafter  eine  Garantie  der  Integrität  Frank- 
reichs und  seiner  Kolonien  anbot  (Blaubuch  Nr.  123).  Ängstlich 
wartete  man  in  London  auf  den  Kriegsgrund,  die  Verletzung  der 
belgischen  Neutralität,  die  es  der  englischen  Regierung  ermöglichen 
sollte,  die  Erfüllung  ihrer  französischen  Bündnispflichten  vor  dem 
Parlament  und  vor  der  Öffentlichkeit  zu  rechtfertigen.  Der  bel- 
gische Gesandte  in  London  telegraphierte  am  3.  August: 

„Gesandtschaft  hat  größtes  Interesse,  Nachricht  betreffend  Neutralitäts- 
verletzung zu  erhalten.  Auswärtiges  Amt  hat  mich  heute  wiederholt  zur  Über- 
mittlung diesbezüglicher  Nachricht  aufgefordert."  (Deutsche  Allgemeine 
Zeitung  vom  22.  Mai  1919.) 

Die  englische  Regierung  hat  Deutschland  am  4.  August  auf 
Grund  des  Einmarsches  in  Belgien  den  Krieg  erklärt.  Tatsächlich 
bestand  jedoch  bereits  Kriegszustand  zwischen  Deutschland  und 
England,  da  England  schon  am  2.  August  den  Schutz  der  fran- 
zösischen Küste  und  Schiffahrt  übernommen  hatte. 

Wie  schv/ierig  es  für  England  gewesen  ist,  den  Krieg  mit 
Deutschland  zu  rechtfertigen,  sieht  man  u.  a.  auch  an  den  unge- 
bührlich vielen  Telegrammen  des  Blaubuches,  die  sich  mit  dem 
Festhalten  englischer  Schiffe  in  deutschen  Häfen  befassen.  Nicht 
weniger  als  sechs  Urkunden  haben  diese  ganz  nebensächliche 
Frage  zum  Gegenstand.  Die  englische  Hoffnung  auf  eine  deutsche 
Provokation  ging  aber  nicht  in  Erfüllung.  Die  deutsche  Marine 
wurde  ängstlich  zurückgehalten.  So  blieb  schließlich  nur  Belgien 
als  Kriegsgrund. 

Das  Märchen,  England  habe  Deutschland  den  Krieg  wegen 
der  Verletzung  der  belgischen  Neutralität  erklärt,  wurde  zwar 
anfangs  geglaubt,  ist  aber  längst  fallen  gelassen  worden.  Viele 
Einzelheiten  aus  jenen  kritischen  Tagen  sind  in  der  englischen 
Presse  bekannt  gegeben  worden.  Immer  spielt  Belgien  nur  die 
Rolle  eines  Vorwandes.    Die  Lage  Englands  wird  durch  den  Brief 


115 

gekennzeichnet,  den  Bonar  Law  und  Lansdowne,  die  Führer  der 
konservativen  Opposition,  am  2.  August  an  Asquith  sandten. 
Er  lautete: 

„Lord  Lansdowne  und  ich  empfinden  es  als  unsere  Pflicht,  Sie  zu  ver- 
ständigen, daß  unserer  Ansicht  nach,  ebenso  wie  nach  der  anderer  Kollegen, 
die  wir  zu  befragen  in  der  Lage  waren,  es  für  die  Ehre  und  Sicherheit  des  Ver- 
einigten Königreichs  verhängnisvoll  wäre,  unter  den  gegenwärtigen  Verhält- 
nissen mit  der  Unterstützung  Frankreichs  und  Rußlands  zu  zögern.  Wir  bieten 
der  Regierung  unsere  bedingungslose  Hilfe  für  alle  Maßnahmen  an,  die  sie  für 
diesen  Zweck  als  nötig  erachtet." 

Für  England  sind  es,  ganz  wie  für  Rußland,  machtpolitische 
Fragen  und,  wie  für  Frankreich,  Bündnisverpflichtungen  gewesen, 
die  es  zum  Eintritt  in  den  Krieg  veranlaßten.  Seine  machtpoli- 
tischen Ziele  sind  aber  mehr  als  Prestige-Fragen  gewesen.  Der 
Versailler  Vertrag  hat  sie  enthüllt. 


VIII.  Die  Frage  der  Verantwortlichkeit 

1.  Der  Standpunkt  der  deutschen  Regierung  von  1914 

Wenn  man  von  der  lächerlichen  Beschuldigung  absieht, 
Deutschland  habe  die  Weltherrschaft  durch  einen  Weltkrieg  er- 
ringen wollen,  sind  die  Hauptvorwürfe,  die  der  Feindbund  gegen 
uns  erhebt,  daß  Deutschland  das  Ultimatum  an  Serbien  veran- 
laßt bzw.  zugelassen  hat,  daß  es  den  Konferenzvorschlag  Greys 
ablehnte,  daß  es  Österreich  nicht  davon  abhielt,  gegen  Serbien 
militärisch  vorzugehen,  schließlich,  daß  es  auf  die  russische  Mobil- 
machung hin  Rußland  den  Krieg  erklärte. 

Diese  Anklagen  gehen  von  der  falschen  Voraussetzung  aus, 
daß  die  österreichisch-ungarische  Politik  in  Berlin  bestimmt  wurde. 
Die  Balkankriege  haben  deutlich  genug  gezeigt,  daß  der  deutsche 
Einfluß  auf  Wien  seine  Grenzen  hatte.  Die  Note  an  Serbien  ist 
ohne  deutsche  Mitwirkung  abgefaßt  worden.  Deutschland  billigte 
ein  Vorgehen  Österreich-Ungarns  gegen  Serbien,  weil  es  in  seinem 
eigenen  Interesse  lag,  daß  den  großserbischen  Treibereien  ein  Ende 
bereitet  würde.  Die  Wahl  der  Mittel  wurde  Wien  überlassen,  zu- 
mal die  ganze  Angelegenheit  als  eine  interne  Frage  der  Donau- 
monarchie angesehen  worden  ist. 

Der  Konferenzvorschlag  wurde  abgelehnt,  weil  er  eine  Ein- 
mischung in  den  österreichisch  -  serbischen  Streit  bedeutete  und 
nicht  als  ein  Mittel  angesehen  wurde,  die  Krise  rasch  und  befrie- 
digend  zu   lösen,     Grey   hat   selbst   diesen   Vorschlag   zugunsten 

8* 


116     -^ 

der    direkten    Besprechungen    zwischen    Wien    und    Petersburg 
fallen  lassen. 

Abgesehen  davon,  daß  es  ein  gefährliches  Beginnen  gewesen 
wäre,  einer  Großmacht  in  den  Arm  zu  fallen,  die  entschlossen  war, 
ihr  Recht  durchzusetzen,  hätte  jeder  Versuch,  Österreich-Ungarn 
an  einem  militärischen  Vorgehen  gegen  Serbien  zu  verhindern, 
ehe  nicht  alle  friedlichen  Mittel  erschöpft  waren,  eine  nicht  gerecht- 
fertigte Begünstigung  Serbiens  dargestellt.  Sobald  in  Berlin  be- 
kannt wurde,  daß  Österreich-Ungarn  Serbien  den  Krieg  erklärt 
und  Verhandlungen  auf  Grund  der  serbischen  Antwortnote  ab- 
gelehnt hatte,  richtete  (am  28.  Juli)  die  deutsche  Regierung*den 
Vorschlag  nach  Wien,  die  Operationen  auf  die  Besetzung  ^ eines 
Faustpfandes  zu  beschränken.  Durch  ein  unbedingtes  Veto  gegen 
einen  Krieg  mit  Serbien  hätte  Deutschland  seinen  einzigen  verläß- 
lichen Bundesgenossen  verloren.  Nicht  einmal  Italien  hat  einen 
derartigen  Schritt  unternommen. 

Die  russische  Gesamtmobilmachung  war,  wie  die  sie  veran- 
lassenden Generäle  im  Suchomlinowprozeß  bestätigt  haben,  gegen 
Deutschland  gerichtet.  Sie  ist  durch  keinerlei  deutsche  Maßnahme 
provoziert  worden.  Die  russischen  Nachrichten  von  angeblichen 
weitgehenden  Kriegsvorbereitungen  Deutschlands  waren  unzu- 
treffend. Die  russische  Regierung  hat  anläßlich  der  Gesamtmobil- 
machung der  deutschen  keinerlei  Erklärungen  oder  Zusicherungen 
abgegeben,  obwohl  sie  wußte,  daß  Deutschland  eine  derartige 
Bedrohung  als  Kriegsgrund  ansehen  mußte.  Das  Wort  des  Zaren, 
seine  Truppen  würden  die  Grenzen  nicht  überschreiten,  solange 
verhandelt  würde,  bot  keinerlei  Sicherheit  und  Gewähr  für  die 
Zukunft. 

2.  Der  Dreiverband 

Die  russische  Kriegspartei  wollte  den  Krieg  und  hat  deshalb 
die  Mobilmachung  gegen  das  die  Vermittlung  betreibende  Deutsche 
Reich  durchgesetzt,  obgleich  kein  Anlaß  vorlag,  an  dem  günstigen 
Ausgang  der  deutschen  Vermittlung  zu  zweifeln,  und  obwohl  sie 
sich  völlig  bewußt  war,  daß  die  Mobilmachung  den  Weltkrieg 
bedeutete.  Sie  nahm  den  Streit  mit  Österreich-Ungarn  wegen 
Serbien  zum  Anlaß,  um  die  von  ihr  seit  langem  angestrebte  euro- 
päische Abrechnung  herbeizuführen. 

Die  französische  Regierung  hat  die  russische  Politik  gebilligt 
und  unterstützt,  obwohl  sie  deren  Ziele  und  Folgen  klar  erkennen 
mußte.  Sie  hielt  den  Augenblick  für  günstig,  um  die  alte  Rech- 
nung mit  Deutschland  zu  begleichen.  Schon  während  der  Balkan- 
kriege wäre  sie  bereit  gewesen,  loszuschlagen.  Die  Beweise  hierfür 
sind  zahlreich.  Unter  anderem  berichtete  Iswolski  am  30.  Januar 
1913  zusammenfassend: 


117 

„Man  ist  hier  entschlössen,  seine  Verpflichtungen  als  Verbündete  in  bezug 
auf  uns  in  vollem  Umfange  zu  erfüllen.  Die  französische  Regierung  gibt  voll- 
kommen bewußt  und  kaltblütig  zu,  daß  das  Endresultat  der 
gegenwärtigen  Verwicklungen  für  sie  die  Notwendigkeit  bedeuten 
könne,  am  allgemeinen  Kriege  teilzunehmen.  Der  Augenblick,  in 
dem  Frankreich  das  Schwert  zu  ziehen  hat,  ist  durch  die  französisch-russische 
Konvention  genau  festgestellt,  und  in  dieser  Hinsicht  hegen  die  französischen 
Minister  keinerlei  Zweifel."     (Deutsche  Allgemeine  Zeitung  vom  28.  8.  1019.) 

Im  Jahre  1914  ist  es  nicht  anders  gewesen. 

Die  englische  Regierung,  der  die  Kriegstreibereien  ihrer  Ver- 
bandsgenossen nicht  verborgen  bleiben  konnten,  hat  es  unterlassen, 
Frankreich  und  Rußland  von  gefährlichen  militärischen  Maß- 
nahmen zurückzuhalten.  Die  Gewißheit  der  Teilnahme  Eng- 
lands an  einem  Kriege  gegen  Deutschland  hat  mehr  als  alles  andere 
den  Kriegswillen  der  Zweibundmächte  gefestigt. 

Am  2.  Dezember  1914  erklärte  Bethmann  Hollweg  im 
Reichstage : 

,,Die  Verantwortung  an  diesem  größten  aller  Kriege  liegt  für  uns  klar. 
Die  äußere  Verantwortung  tragen  diejenigen  Männer  in  Rußland,  die  die  all- 
gemeine Mobilmachung  der  russischen  Armee  betrieben  und  durchgesetzt 
haben.  Die  innere  Verantwortung  liegt  bei  der  großbritannischen  Regierung. 
Das  Londoner  Kabinett  konnte  den  Krieg  unmöglich  machen,  wenn  es  un- 
zweideutig in  Petersburg  erklärte,  England  sei  nicht  gewillt,  aus  dem  öster- 
reichisch-serbischen Konflikte  einen  kontinentalen  Krieg  der  Großmächte 
herauswachsen  zu  lassen.  Eine  solche  Sprache  hätte  auch  Frankreich '■'ge- 
zwungen, Rußland  energisch  von  allen  kriegerischen  Maßnahmen  abzuhalten. 
Dann  aber  gelang  unsere  Vermittlungsaktion  zwischen  Wien  und  Petersburg, 
und  es  gab  keinen  Krieg.  England  hat  das  nicht  getan.  England  kannte  die 
kriegslüsternen  Treibereien  einer  zum  Teil  nicht  verantwortlichen,  aber  mächtigen 
Gruppe  um  den  Zaren.  Es  sah,  wie  das  Rad  ins  Rollen  kam,  aber  es  fiel  ihm 
nicht  in  die  Speichen." 

Diese  Worte  werden  vor  der  Geschichte  weit  eher  Bestand 
haben,  als  die  Denkschrift  der  Pariser  Kommission  für  die  Fest- 
stellung der  Verantwortlichkeit  der  Urheber  des  Krieges. 


3.  Schlußbetrachtung 

Zu  einem  gerechten  Urteil  in  der  Frage  der  Verantwortlich- 
keit ist  es  unerläßlich,  der  Untersuchung  nur  die  Gesichtspunkte 
von  1914,  und  nicht  die  von  1919  zugrunde  zu  legen.  Für  den  rück- 
blickenden Beschauer  ist  es  leicht,  heute  klüger  und  gerechter 
zu  sein  als  die  Männer,  die  in  den  kriegsentscheidenden  Tagen  die 
Geschicke  der  Welt  bestimmten.  Ihrem  Handeln  und  Unterlassen 
darf  der  Maßstab  der  durch  den  langen  Krieg  veränderten  Auf- 
fassung nur  angelegt  werden,  wo  es  gilt,  aus  der  Vergangenheit 
Lehren  für  die  Zukunft  zu  ziehen.     Ausgangspunkt  für  die  Be- 


118 

trachtung  des  Schuldproblems  darf  ferner  nicht  die  Frage  sein, 
wer  recht  und  wer  unrecht  hatte.  Von  seinem  Standpunkt  aus 
hatte  Serbien  recht,  wenn  es  seinen  nationalistischen  Zielen  nach- 
strebte. Österreich  -  Ungarn  hatte  nicht  minder  recht,  wenn  es 
seinen  Besitzstand  zu  wahren  suchte.  Rußland  hatte  die  Pflicht, 
die  Versprechungen  einzulösen,  die  es  Serbien  gegeben  hatte. 
Deutschland  mußte  die  gewaltsame  Auflösung  seines  einzigen  ver- 
läßlichen Bundesgenossen  zu  verhindern  suchen.  Frankreich  und 
England  waren  gezwungen,  ihren  Vertragspflichten  nachzukommen. 
,, Recht"  hatte  ein  jeder.  Die  Frage,  die  gestellt  werden  muß,  ist, 
ob  ein  jeder  das  tat,  was  von  seinem  Standpunkt  aus  berechtigt 
und  nach  den  allgemeinen  Begriffen  erlaubt  war.  In  erster  Linie 
ist  aber  zu  erforschen :  Was  haben  die  einzelnen  Regierungen  ge- 
wollt und  beabsichtigt? 

Von  diesen  Gesichtspunkten  ausgehend,  ist  festzustellen,  daß 
Deutschland  kein  Unrecht  beging,  wenn  es  Österreich-Ungarn 
zum  Zwecke  der  Erhaltung  seines  Besitzstandes  bündnisgemäße 
Unterstützung  zusagte.  Es  hat  den  Krieg  gegen  Serbien  gebilligt 
und  zugelassen.  Der  Krieg  war  und  ist  ein  erlaubtes  Mittel  der 
Politik.  Sein  Grund,  die  Selbstverteidigung,  ist  durchaus  zulässig. 
Andere  Länder  haben  aus  geringeren  Anlässen  Krieg  geführt.  Auch 
der  Weltkrieg  stand  mehr  als  einmal  bevor.  Frankreich  war  z.  B. 
1912  bereit,  es  wegen  der  russischen  Balkaninteressen  zum  euro- 
päischen Kriege  kommen  zu  lassen.  Deutschland  hat  1914  mit 
dieser  Möglichkeit,  nicht  aber  mit  der  Wahrscheinlichkeit  eines 
Weltbrandes  gerechnet. 

Deutschland  hat  die  Vermittlung  in  Wien  lau  betrieben,  so- 
lange keine  Gewähr  dafür  bestand,  daß  der  Zweck  der  österreichisch- 
ungarischen Aktion  gegen  Serbien  erreicht  würde,  und  bis  zu  dem 
Augenblick,  wo  die  Gefahr  eines  Weltkrieges  offenbar  wurde.  In 
dieser  Haltung  kann  ein  Unrecht  nicht  erblickt  werden,  denn  es 
war  in  Berlin  nicht  vorauszusehen,  daß  sich  die  Ereignisse  infolge 
der  russischen  Mobilmachung  überstürzen  würden.  Es  bestand 
kein  Grund,  die  Berechtigung  der  Absichten  Rußlands,  die  letzten 
Endes  auf  die  Vernichtung  Österreich-Ungarns  abzielten,  anzu- 
erkennen. 

Deutschlands  Kriegserklärung  an  Rußland  war  die  natur- 
gemäße Folge  der  allgemeinen  Mobilmachung.  Dieser  Schritt  der 
Petersburger  Regierung  konnte  nur  den  Krieg  mit  Deutschland 
bezwecken.  Es  ist  deshalb  auch  unsinnig,  zu  streiten,  ob  der  deutsche 
Mobilmachungsbefehl  und  die  Kriegserklärung  um  einige  Tage  zu 
früh  oder  zu  spät  erfolgte.  Andere  Daten  hätten  an  dem  politischen 
Gesamtbilde  nichts  Wesentliches  geändert,  da  der  Wille  zum  Kriege 
beim  Gegner  vorhanden  war. 


119 

Die  Unvermeidlichkeit  des  Krieges  mit  Frankreich  konnte 
angesichts  der  Haltung  der  französischen  Regierung  sowohl  1912 
wie  1914  nicht  bezweifelt  werden.  Die  Kriegserklärung  selbst 
hatte  deshalb  nur  formale  Bedeutung. 

Deutschland  hat  nichts  getan,  was  andere  Länder  nicht  eben- 
falls zur  Erreichung  politischer  Zwecke  unternommen  hätten.  Es 
hat  weder  unzulässige  Ziele  verfolgt,  noch  unerlaubte  Handlungen 
begangen,  immer  von  der  Verletzung  der  belgischen  Neutralität 
abgesehen,  die  als  Kriegsmaßnahme  nicht  in  den  Rahmen  dieser 
Untersuchung  der  diplomatischen  Vorgänge  fällt.  Die  Entente- 
mächte sind  deshalb,  von  ihrer  eigenen  Schuld  ganz  zu  schweigen, 
nicht  berechtigt,  Deutschland  anzuklagen.  Sie  haben  es  auch 
nicht  gewagt,  im  Versailler  Friedensvertrag  den  Auslieferungs- 
paragraphen auf  die  für  den  Ausbruch  des  Krieges  Verantwortlichen 
auszudehnen. 

Anders  liegt  die  Frage  der  Verantwortlichkeit,  wenn  das 
deutsche  Volk  seine  frühere  Regierung  zur  Rechenschaft  zieht. 
Hier  handelt  es  sich  nicht  um  das,  was  in  zwischenstaatlicher  Be- 
ziehung erlaubt  und  unzulässig  ist.  Die  Regierung  war  damit  be- 
traut, den  Geschicken  des  deutschen  Volkes  die  bestmögliche  Ge- 
staltung zu  geben.  Diese  Aufgabe  ist  ihr  nicht  gelungen.  Daß  sie 
Fehler  begangen  hat,  ist  menschlich.  Mängel  der  Erkenntnis  können 
nicht  als  strafbare  Schuld  zur  Verurteilung  gelangen .  Die  zu  stellende 
Frage  ist  auch  nicht,  ob  anders  gehandelt  werden  konnte,  denn  das 
ist  selbstverständlich.  Es  gibt  für  alle  Entscheidungen  zahlreiche 
Möglichkeiten.  Die  Frage  ist  vielmehr,  ob  die  damalige  Regierung 
leichtfertig  oder  gegen  besseres  Wissen  Handlungen  und  Unter- 
lassungen beging,  die  Deutschland  zum  Schaden  gereichen 
mußten. 

Aus  den  veröffentlichten  Akten  ist  nicht  ersichtlich,  weshalb 
die  Berliner  Regierung  Österreich-Ungarn  freie  Hand  gegenüber 
Serbien  ließ.  Es  erscheint  heute  unbegreiflich,  daß  sie  Deutsch- 
lands Sicherheit  und  Zukunft  in  dieser  Weise  aufs  Spiel  setzte. 
Aus  den  Wiener  Akten  ist  jetzt  bekannt,  daß  die  österreichisch- 
ungarische  Regierung  bei  ihrem  Vorgehen  die  deutschen  Interessen 
nahezu  gänzlich  außer  acht  ließ  und  das  Bundesverhältnis  bis  zum 
äußersten  mißbrauchte.  Es  ist  beschämend,  zu  sehen,  daß  eine 
Handvoll  Ungarn  und  Tschechen,  ohne  Rücksicht  auf  die  Folgen, 
Deutschlands  politische  Größe  und  militärische  Macht  für  ihre 
lokalen  Interessen  ausspielten  —  und  verspielten.  Worauf  be- 
gründete sich  das  unangebrachte  Vertrauen  Berlins  zu  Wien? 
War  der  Gang  der   Ereignisse  in  keiner  Weise  vorauszusehen? 

Nur  infolge  einer  ungerechtfertigten  Vertrauensseligkeit  konnte 
der  Zustand  eintreten,  daß  die  Wiener  Regierung  trotz  des  starken 


120 

deutschen  Druckes  nicht  zeitig  genug  einlenkte,  um  wenigstens 
das  Odium  der  Schuld  am  Kriege  voll  und  ganz  unseren  Gegnern 
aufzubürden.  Daß  ein  loyales  Eingehen  der  Wiener  Regierung 
auf  die  deutschen  Vorstellungen  den  Krieg  hätte  verhindern  können, 
ist  angesichts  der  Haltung  Rußlands  wenig  wahrscheinlich. 

Die  versuchte  Einwirkung  auf  Rußland  blieb  wegen  der  Doppel- 
züngigkeit der  Zivilgewalten  und  des  ausschlaggebenden  Einflusses 
der  militärischen  Stellen  ergebnislos.  Auch  Verhandlungen  mit 
Paris  konnten  zu  keinem  Erfolge  führen.  Diesen  beiden  Gegnern 
gegenüber  gab  es  nur  die  Möglichkeit  frühzeitiger  diplomatischer 
Kapitulation,  zu  der  umsoweniger  Anlaß  vorlag,  als  die  deutsche 
Regierung  offensichtlich  von  der  Rechtmäßigkeit  ihres  Stand- 
punktes und  der  Notwendigkeit,  ihn  aufrecht  zu  erhalten,  über- 
zeugt war.    Anders  lagen  die  Verhältnisse  England  gegenüber. 

Für  England  v/aren  die  fragwürdigen  Balkaninteressen  seiner 
Verbündeten  kein  an  sich  ausreichender  Kriegsgrund.  Es  stand 
daher  der  österreichisch-ungarischen  Aktion  gegen  Serbien  nicht 
bedingungslos  ablehnend  gegenüber.  In  London  lag  offensichtlich 
mehrere  Tage  lang  die  Entscheidung  über  Krieg  und  Frieden. 
Denn  vom  25.  Juli,  dem  Beginn  der  russischen  Mobilmachung, 
an  handelte  es  sich  nicht  mehr  um  einen  Streit  wegen  einzelner 
Punkte  der  österreichisch-ungarischen  Forderungen,  sondern  um 
die  Frage,  ob  ,,der  Moment"  gekommen  sei.  Darüber  hatte  Eng- 
land zu  bestimmen.  Trotz  der  in  Berlin  bekannten  Unaufrichtig- 
keit  Greys  mußte  hier  der  Hebel  angesetzt  werden,  und  zwar  in 
dem  Augenblick,  wo  in  Berlin  die  große  Gefahr  offenbar  wurde. 
Diese  mußte  man  erkennen,  als  der  ewig  schwankende  Grey  seine 
Haltung  zum  austro-serbischen  Konflikt  von  Gi*und  auf  änderte, 
also  am  27.  Juli,  als  der  Vorschlag  einer  Botschafterkonferenz  nach 
Berlin  gelangte.  Diesen  Umschwung  hätte  die  deutsche  Regierung 
sofort  mit  positiven  Vorschlägen  beantworten  müssen,  die  keinen 
Zweifel  darüber  ließen,  daß  Deutschland  den  Krieg  nicht  wollte. 
Dies  ist  geschehen,  aber  zu  spät,  nämlich  zu  einem  Zeitpunkt,  wo 
die  englische  Regierung  die  Zügel  fast  ganz  verloren  und  sich,  wie 
man  annehmen  muß,  mit  dem  Gedanken  an  einen  Krieg  bereits 
abgefunden  hatte.  Allem  Anschein  nach  ist  man  sich  in  Berlin 
erst  am  29.  Juli  des  vollen  Ernstes  der  Lage  bewußt  geworden. 
An  diesem  Tage  hatte  Bethmann  Hollweg  jenes  vertrauliche  Ge- 
spräch mit  dem  englischen  Botschafter,  das  erst  bei  Oman  (S.  54, 
vgl.  Blaubuch  Nr.  75)  in  seinem  vollen  Wortlaut  veröffentlicht 
worden  ist,  in  dem  er  darlegte,  wie  er  die  Krisis  zu  lösen  gedenke. 
Diese  Eröffnungen  kamen  zu  spät. 

Weshalb  wurde  die  Lage  nicht  rechtzeitig  erkannt?  Gewiß 
hat   man  von   der   Berichterstattung   Lichnowskys   Abstriche   ge- 


121 

macht,  weil  man  wußte,  daß  er  von  Grey  regelmäßig  ,, eingewickelt" 
wurde,  und  seine  aus  persönlichen  Motiven  entspringende  Vor- 
eingenommenheit gegen  Österreich  -  Ungarn  kannte,  Abstriche, 
die  nicht  ganz  unberechtigt  waren,  wie  ein  Vergleich  der  Tele- 
gramme der  Londoner  Botschaft  mit  den  entsprechenden  eng- 
lischen Urkunden  ergibt.  Es  blieb  aber  immer  noch  genügend 
Grund  zur  Beunruhigung,  und  es  fragt  sich,  ob  hier  nicht  sehr  mit 
dem  Feuer  gespielt  worden  ist.  Was  nutzten  die  dringlichsten 
Telegramme  nach  London  (Weißbuch  Nr.  279,  314),  wenn  dort, 
wie  man  wußte,  ein  Botschafter  saß,  der  für  die  Gesichtspunkte 
der  Berliner  Regierung  kein  genügendes  Verständnis  hatte?  Am 
28.  Juli  hat  Bethmann  Hollweg  dem  englischen  Botschafter  lediglich 
seine  Auffassung  der  Lage  entwickelt  (Blaubuch  Nr.  71).  Dies 
konnte  einem  friedfertigen  England  genügen,  der  Vormacht  des 
zum  Kriege  drängenden  Dreiverbandes  aber  nicht.  Erst  am  29.  Juli 
machte  der  Kanzler  dem  durchaus  loyalen  Goschen  konkrete  Vor- 
schläge.    Er  handelte  richtig,  aber  wie  so  oft  —  zu  spät. 

Auf  die  zahlreichen  Mängel  der  politischen  Geschäftsführung 
soll  hier  nicht  weiter  eingegangen  werden.  Sie  liegen  zum  Teil 
offen  zutage;  in  den  weitaus  meisten  Fällen  sind  sie  überwiegend 
diplomatisch-technischer  Natur  und  können  ein  allgemeines  Interesse 
nicht  beanspruchen.  Weitgehende  Akribie  wäre  auch  unangebracht 
Dokumenten  gegenüber,  die  in  wenigen  Minuten  (oft  recht  flüchtig) 
aufgesetzt  worden  sind.  Urkunden,  die  nicht  den  Gegenstand  einer 
Beratung  gebildet  haben,  dürfen  nicht  als  Monumente  der  Zeit- 
geschichte angesehen  werden.  Für  die  Erörterung  der  Schuldfrage 
kommen  überdies  nur  die  großen  Gesichtspunkte  in  Frage,  denn 
nur  diese  waren  entscheidend. 

Die  Haltung  der  deutschen  Regierung  in  den  kritischen  Juli- 
tagen zeugt  von  viel  gutem  Willen,  zeugt  aber  auch  von  einer  Ver- 
kennung der  Absichten  unserer  Gegner,  die  als  ganz  außerordentlich 
angesehen  werden  muß.  Die  Kriegslüsternheit  unserer  Feinde 
kann  in  Berlin  nicht  ganz  unbekannt  geblieben  sein.  Es  ist  offenbar 
versäumt  worden,  die  erforderlichen  Konsequenzen  zu  ziehen. 
Dies  ist  die  Hauptfrage  hinsichtlich  der  Verantwortlichkeit  gegen- 
über dem  deutschen  Volke.  Wie  war  es  möglich,  daß  in  so  gespannter 
Lage  ein  gefährliches  Unternehmen,  wie  die  Regelung  der  austro- 
serbischen  Beziehungen,  gewagt  wurde?  Unvollendete  Rüstungen 
sind  für  Rußland  bei  der  Entscheidung  zum  Kriege  ebensowenig 
ausschlaggebend  gewesen,  wie  für  andere  Staaten  im  Laufe  der 
Geschichte.  Die  Spekulation  auf  den  Gemeinschaftssinn  der  Sou- 
veräne und  die  persönlichen  Beziehungen  des  Kaisers  zum  Zaren 
sind  einer  ernsthaften  Politik  unwürdig.  Es  war  vorauszusehen, 
daß  im  Kriegsfalle  die  monarchische  Solidarität  ebenso  versagen 


122 

würde,  wie  die  rote  und  die  goldene  Internationale,  von  denen  so 
viele  geglaubt  haben,  sie  würden  einen  Weltbrand  verhindern 
können.  Wenn  es  sich  aber  als  notwendig  herausstellte,  ein  so  ge- 
fährliches Unternehmen  zu  wagen,  dann  mußte  für  alle  Möglich- 
keiten auf  das  beste  vorgesorgt  werden.  Deutschlands  mangelnde 
Vorbereitung  in  diplomatischer,  wirtschaftlicher  und  sogar  mili- 
tärischer Beziehung  ist  ein  vollgültiger  Beweis  dafür,  daß  der  Krieg 
nicht  gewollt  war.  Sie  begründet  aber  eine  schwere  Anklage  gegen 
seine  Regierung  wegen  ungenügender  Vorsorge  und  leichtfertiger 
Geschäftsführung.  Nach  den  Akten  gewinnt  es  den  Anschein,  daß 
sie  in  den  Krieg  hineingeglitten  ist,  wie  ein  ahnungsloser  Fußgänger 
durch  dünnes  Eis  bricht.  Rings  um  diesen  See  waren  aber  genügend 
Warnungszeichen  angebracht.  Die  Gefahr  des  Weltkrieges  lag  seit 
Jahren  in  greifbarer  Nähe. 

Wegen  der  Feindschaften,  die  sich  Deutschland  durch  seinen 
natürlichen  Ausdehnungsdrang  zugezogen  hatte,  und  angesichts 
der  vollzogenen  Einkreisung  gab  es  für  eine  erfolgreiche  Politik 
nur  zwei  Wege: 

Es  galt  entweder  abzuwarten,  sich  ganz  ruhig  zu  verhalten, 
bis  sich  die  Koalition  der  Gegner  lockerte,  und  die  Gesundung 
der  Beziehungen  zu  England,  Rußland  oder  Frankreich  durch 
große  Opfer  zu  erkaufen. 

Oder  aber,  es  mußte  zu  einem  selbstgewählten  Zeitpunkt  ein 
Präventivkrieg  geführt  werden,  nachdem  ein  Höhepunkt  politischer, 
wirtschaftlicher  und  militärischer  Vorbereitung  erreicht  war.  Dies 
wäre  eine  schlechte  Politik  gewesen,  aber  immerhin  Politik. 

Die  deutsche  Regierung  suchte  aber  einen  Mittelweg  einzu- 
schlagen, um  eine  dritte  Lösung  zu  finden,  die  es  nicht  gab.  Das 
Ziel  der  Erhaltung  des  Weltfriedens,  an  dem  Deutschland  ja  mehr 
als  allen  anderen  Großmächten  gelegen  sein  mußte,  wollte  sie  durch 
eine  Präventivaktion  am  Balkan  erreichen.  Hierdurch  glaubte 
sie  den  Angriffsabsichten  der  gegnerischen  Koalition  vorbeugen 
zu  können.  Die  deutsche  Regierung  war  dabei  vielleicht  von  einer 
unbegreiflichen  Megalomanie  besessen  und  nahm  an,  daß  sie  die 
Lokalisierung  des  austro-serbischen  Konfliktes  erzwingen  könne, 
und  daßesnichtzumKriegekommenwerde,wenn 
nursieden  Friedenwolle.  Denn  von  ,, einigem  Gepolter" 
bis  zum  Weltkrieg  ist  ein  weiter  Weg.  Ob  hier  Schuld  vorhanden 
und  Raum  zur  Anklage  gegeben,  erscheint  zweifelhaft.  Ob  es  sich 
hier  um  Leichtsinn  oder  Unverstand  handelte,  ist  jedoch  ganz 
gleich:  Jede  Politik,  die  so  sehr  die  gegebenen  Zusammenhänge, 
vorhandenen  Bestrebungen  und  kriegstreiberischen  Kräfte  ver- 
kannte, war  falsch  und  verkehrt.  Nur  ein  Wunder  konnte  sie  vor 
dem  Schiffbruch  retten. 


123 

Zweierlei  muß  man  aber  bei  der  Beurteilung  der  diplomatischen 
Verhandlungen  zu  Kriegsausbruch  stets  im  Auge  behalten.  Ein- 
mal sind  die  Vorgänge  des  Juli  aus  den  Geschehnissen  der  vorher- 
gehenden Jahre  geboren,  also  nur  im  Zusammenhang  mit  diesen 
richtig  zu  verstehen.  Die  auswärtige  Politik  ist  in  viel  höherem 
Grade  zwangsläufig,  als  vielfach  angenommen  wird. 

Ferner  aber  ist  der  Krieg  letzten  Endes  nicht  aus  einer  Reihe 
von  kleinen  Einzelhandlungen  und  Zufälligkeiten  entstanden, 
sondern  aus  dem  Willen  zum  Kriege.  Unsere  Gegner  seien 
deshalb  daran  erinnert,  daß  Deutschland  keine  Ziele  kannte,  die 
durch  den  Krieg  zu  verwirklichen  waren.  Es  gab  im  Frieden  bei 
uns  keine  Kriegsziele.  Dies  wissen  auch  unsere  Feinde,  und  das 
ist  die  Lücke,  an  der  ihre  ganze  Beweisführung  scheitert.  Deshalb 
erfanden  sie  auch  das  lächerliche  Märchen  von  dem  deutschen 
Streben,  die  Welt  zu  unterjochen.  Kriegsziele,  wie  die  Eroberung 
der  Dardanellen,  die  Aufteilung  Österreich-Ungarns,  die  Rück- 
gewinnung Elsaß  -  Lothringens,  die  Vernichtung  des  deutschen 
Wettbewerbes,  bestanden  bei  unseren  Gegnern  schon  seit  Jahren 
und  Jahrzehnten.  Bei  der  Beurteilung  der  Schuld  am  Kriege 
spielt  die  Frage  ,,cui  bono"  eine  ausschlaggebende  Rolle.  Die  Ant- 
wort auf  diese  Frage  gibt  der  Versailler  Vertrag.  Denn  er  ver- 
wirklicht Ziele,  die  unsere  Feinde  schon  vor  dem  Kriege  verfolgt 
haben,  und  die  nur  durch  den  Krieg  verwirklicht  werden  konnten. 


Glossen  zu  den 
Vorkriegsakten 

Von 

Graf  Max  Montgelas 


Mit  einem  Anhang: 

Die  französisch-russische 
Miütärkonvention 


Deutsche  Verlagsgesellschaft  für  Politik  und 
Geschichte  m.  b.  H.  in  Berlin  V/  8 


Vorwort 


Der  Augenblick  für  eine  zusammenhängende  Darstellung  der 
letzten  Vorgänge  vor  Ausbruch  des  Weltkrieges  scheint  mir  noch 
nicht  gekommen  zu  sein.  Die  deutschen  Akten  sind  zwar  jetzt 
vollständig  veröffentlicht,  und  die  Aussicht  ist  gering,  daß  die 
Ententeregierungen  diesem  Beispiel  folgen  werden ;  denn  sie  haben 
allzuviel  ihren  Völkern  zu  verbergen.  Aber  die  sicher  angekündigte 
Publikation  der  österreichischen  Akten  ist  wieder  verschoben 
worden;  und  wenn  sie  endlich  erschienen  sind,  wird  zunächst  eine 
gewisse  Zeit  erforderlich  sein,  um  die  Berliner  und  Wiener  Publika- 
tionen genau  miteinander  zu  vergleichen.  Sodann  ist  zu  erwarten, 
daß  die  deutsche  parlamentarische  Untersuchungskommission 
manche  wertvolle  Ergänzung  wird  liefern  können.  Hingegen  reicht 
jetzt  schon  das  vorliegende  Material  aus,  um  zuweitgehende  An- 
klagen gegen  die  Leitung  der  deutschen  Politik  zu  entkräften. 


Baden-Baden,  Ende  Dezember  1919 


Max  Graf  Montgelas 


J  iv...^ 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

I.  Die  Vorgeschichte 9 

II,  Die  Rüstungen 13 

III.  Der  5.  und  6.  Juli  1914 15 

IV.  Das  Ultimatum  an  Serbien 17 

V.  Die  Vermittlungsversuche 20 

VI.  Die  Mobilmachungen 23 

VII.  Die  Ultimaten  nach  Petersburg  und  Paris 27 

VIII.  Die  Kriegserklärungen  an  Rußland  und  Frankreich 30 

IX.  Der  Einmarsch  in  Belgien 36 

X.  Der  Bericht  der  Ententekommission  vom  29.  März  1919 38 

XI.  Schlußbemerkungen 40 

Anhang 

Die  französisch-russische  Militärkonvention  vom  27^ezemberJ893 

4.  Januar  1894 

1.  Französischer  Text  des  Entwurfs  vom  17.  August  1892 44 

2.  Übersetzung 45 

3.  Die  Ansicht  des  Souschefs  des  französischen  Generalstabes  ....  46 

4.  Die  Ansicht  des  russischen  Generalstabschefs 47 


I.   Die  Vorgeschichte 

Das  Jahr  1919  hat  zahlreiche  amtliche  Veröffentlichungen  über 
den  Ursprung  des  Weltkrieges  gebracht.  Die  deutschen  Akten 
sind  vollständig  erschienen,  von  den  österreichischen  der  erste  Teil, 
aus  den  russischen  Archiven  ist  manches  wichtige  Dokument  hervor- 
gezogen worden ;  der  serbische  Diplomat  Boghitschewitsch  hat  dazu 
mehrfache  Ergänzungen  geliefert.  Selbst  das  Dunkel  in  Frankreich 
ist  wenigstens  etwas  gelichtet  worden  durch  das  dritte  französische 
Gelbbuch,  das  allerdings  erstaunlich  wenig  beachtet  worden,  in 
Deutschland  sogar  fast  gänzlich  unbekannt  geblieben  ist.  Wer 
heute  über  den  Ursprung  des  Krieges  schreiben  will,  muß  diese 
Publikationen  in  ihrer  Gesamtheit  berücksichtigen.  Kautsky  tut 
das  nicht,  sondern  stützt  sich  ausschließlich  auf  das  deutsche  und 
österreichische  Material.  Das  deutsche  Weißbuch  vom  Juni  1919 
wird  zwar  erwähnt  (K.  Seite  45)*)  und  an  mehreren  Stellen  heftig 
bekämpft,  die  darin  enthaltenen  russischen  Enthüllungen  aber 
werden  mit  Stillschweigen  übergangen.  Das  Kautskysche  Buch 
ist  daher  ein,  noch  dazu  nicht  immer  unparteiischer,  Kommentar 
zu  den  deutschen  und  österreichischen  Akten,  aber  der  Titel  ,,Wie 
der  Weltkrieg  entstand"  ist  nicht  gerechtfertigt. 

Ein  einleitendes  Kapitel:  „Die  Schuldigen"  vertritt  den  meiner 
Auffassung  nach  völlig  begründeten  Standpunkt,  daß  man  sich 
nicht  damit  begnügen  dürfe,  den  Kapitalismus  und  den  dadurch 
erzeugten  Imperialismus,  das  Streben  nach  gewaltsamer  Ausdehnung 
des  Staatsgebiets,  für  die  ungeheure  Katastrophe  verantwortlich 
zu  machen.  Ich  teile  die  Auffassung,  daß  es  trotz  Kapitalismus 
und  Imperialismus  möglich  gewesen  wäre,  das  Unheil  zu  vermeiden. 
Die  geschichtliche  Forschung  darf  sich  nicht  auf  so  allgemeine 
Redensarten  beschränken.  Sie  muß  versuchen  festzustellen,  in- 
wieweit besondere  politische  Institutionen  oder  bestimmte  Träger 
solcher  Institutionen  als  Ursache  und  Urheber  des  Völkerringens 
anzusehen  sind. 


*)  Es  werden  bezeichnet  das  Kautskysche  Buch  mit  K., 
die  „Deutschen  Dokumente  zum  Kriegsausbruch"  mit  D., 
die  Schrift  von  Dr.  Roderich  Gooss:  „Das  Wiener  Kabinett  und  die 
Entstehung  des  Weltkrieges"  mit  G. 


—    10   — 

Kautsky  verfällt  ferner  nicht  in  den  Fehler  vieler  anderer  An- 
kläger der  Zentralmächte,  seine  Betrachtung  erst  mit  dem  Attentat 
von  Sarajewo  zu  beginnen,  sondern  geht  auch  auf  die  Vorgeschichte 
des  Krieges  ein.  Aber  gerade  dabei  macht  sich  die  Beschränkung 
der  Quellen  nachteilig  fühlbar.  Gewiß  kann  man  vielem,  was  ge- 
sagt wird,  beistimmen.  Es  ist  eine  traurige  Wahrheit,  daß  Deutsch- 
land schließlich  nur  noch  mit  Staaten  befreundet  und  verbündet 
war,  ,,die  ihre  Lebensfähigkeit  verloren  hatten"  (K.  Seite  24),  mit 
Österreich  und  der  Türkei.  Die  inneren  Verhältnisse  des  morschen, 
von  rivalisierenden  und  sich  befeindenden  Nationalitäten  bewohnten 
Donaustaates  und  die  harte,  selbstsüchtige  Wirtschaftspolitik  der 
ungarischen  A.Sirarier  gegen  das  vergeblich  zum  Meere  strebende 
Serbien  sind  zutreffend  gekennzeichnet.  Aber  es  heißt  doch  die 
Grenze  gerechter  Kritik  überschreiten,  wenn  man  von  einem  öster- 
reichischen ,, Imperialismus"  spricht  (K.  Seite  26),  und  die  Schilde- 
rung der  Persönlichkeit  des  slawenfreundlichen,  die  Wiederher- 
stellung des  Dreikaiserbündnisses  anstrebenden  Erzherzogs  Franz 
Ferdinand  als  eines  Mannes,  ,,der  allein  auf  die  Gewalt,  baute" 
(a.  a.  O.),  wird  manchem  Widerspruch  begegnen;"^-.  ^•'' -i;'-'^''' " - 

Bei  der  Entwicklung  der  Balkankrisen  wird  die  „frivole  'Ge- 
fährdung des  Weltfriedens"  durch  die  Annexion  von  Bosnien  und 
der  Herzegowina  scharf  gebrandmarkt  (K.  Seite  27),  aber  die  friedens- 
gefährdenden Bestrebungen  Rußlands  und  seiner  Ententefreunde 
werden  nicht  ei-wähnt.  Das  Streben  nach  der  Herrschaft  über  die 
Meerengen,  einem  Ziele,  von  dem  die  politischen  und  militärischen 
Leiter  des  Zarenreichs  wohl  wußten  und  sogar  protokollarisch  fest- 
legten, man  könne  nicht  voraussetzen,  daß  es  ,, außerhalb  eines 
europäischen  Krieges"  erreicht  werden  könnte  (Weißbuch  Juni  1919, 
Seite  175),  die  unter  russischer  Patronanz  erfolgende  Gründung 
des  Balkanbundes,  der  zuerst  gegen  die  Türkei,  dann  gegen  die 
Donaumonarchie  als  Sturmbock  dienen  sollte,  die  Einweihung 
Frankreichs  und  Englands  in  die  Ziele  dieses  Bundes,  nach  seiner 
Auflösung  die  weitgehenden  russischen  Versprechungen  an  Serbien, 
um  sich  dessen  Mitwirkung  als  Stoßtruppe  gegen  die  österreichische 
Südflanke  zu  sichern  —  all  das  sind  seit  dem  Frühsommer  1919 
bekannte  Tatsachen,  an  denen  der  objektive  Forscher  nicht  schwei- 
gend vorübergehen  kann.  Wie  würde  es  gegen  die  politischen 
Leiter  Deutschlands  ausgenützt  werden,  wenn  von  ihnen  der  Minister 
eines  verbündeten  Staates  ähnliche  kriegsdrohende  Äußerungen 
berichten  könnte  wie  Sasonow  von  König  Georg  und  Sir  Edward 
Grey  anläßlich  der  Verhandlungen  über  eine  englisch-russische 
Marinekonvention    im    September    1912    (Weißbuch    Juni    1919, 

Seite  195)1  ■:\/::'::n'T:' ::'::.]"'  :-i  ^ 

Auch  von  Widersprüchen  ist  die  Kautskysche  Darstellung  nicht 
frei.    Er  erzählt  selbst,  daß  er  im  Jahre  1902  in  einer  Schrift:  „Die 


—  II  — 

soziale  Revolution"  nachstehendes  Urteil  abgegeben  hat  (K.  Seite  31 
und  32,  Sperrdruck  von  Kautsky): 

„Die  einzige  Friedensbürgschaft  liegt  heute  in  der  Angst  vor  dem 
revolutionären  Proletariat.     Es  bleibt  abzuwarten,  wie  lange  diese  den 
sich  häufenden  Konfliktsursachen  gegenüber  standhalten  wird.    Und  es 
gibt  eine  Reihe  von  Machten,  die  noch  kein  selbständiges  revolutionäres 
Proletariat  zu  fürchten  haben,  und  manche  von  ihnen  werden  völlig 
von  einer  skrupellosen,  brutalen  Clique  von  Männern  der  hohen  Finanz 
beherrscht.     Diese  Mächte,  bisher  in  der  internationalen  Politik  unbe- 
deutend oder  friedliebend,  treten  jetzt  als  internationale  Störenfriede 
immer  mehr  hervor.     So  vor  allem  die  Vereinigten  Staaten, 
daneben  England  und  Japan.     Rußland  figurierte  ehedem  In  der 
Liste  der  internationalen  Störenfriede  an  erster  Stelle,  sein  heldenmütiges 
Proletariat  hat  es  augenblicklich  von  ihr  abgesetzt.    Aber  ebenso  wie 
der  Übermut  eines  im  Innern  schrankenlosen  Regimes,  das  keine  revolu- 
tionäre Klasse  in  seinem  Rücken  scheut,  kann  auch  die  Verzweiflung 
eines  wankenden  Regimes  einen  Krieg  entzünden,  wie  es  1870  bei  Na- 
poleon III.  der  Fall  war  und  vielleicht  noch  bei  Nikolaus  II,  der  Fall 
sein  wird.     Von  diesen  Mächten  und  ihren  Gegensätzen,  und 
nicht  etwa  von  dem  zwischen  Deutschland  und  Frankreich,  zwischen 
Österreich  und  Italien,  droht  heute  dem  Weltfrieden  die  größte  Gefahr." 
Mit  diesem  in  den  späteren  Auflagen  gestrichenen   Urteil   — 
eine  genaue  Zeitangabe  der  Streichung  wird  leider  unterlassen  — 
stimmt  es  nicht  überein,  wenn  das  vorliegende  Buch  schon  in  den 
bescheidenen  Anfängen  des  deutschen  Flottenbaues  im  Jahre  1897 
den  Übergang  zu  einer  Weltpolitik  sehen  will,  die,  ,,wenn  sie  einen 
Sinn  hatte,  nur  den  haben  konnte:  Aufrichtung  der  Beherrschung 
der  Welt  durch  Deutschland !"  (K.  Seite  17).   Wer  solches  behauptet, 
hat  sich  wohl  nie  mit  Bleistift  und  Papier  klar  gemacht,  über  welche 
Land-   und   Seestreitkräfte   Deutschland    gegenüber    der    ,,WeIt'* 
verfügte,  die  es  angeblich  gewaltsam  unterjochen  wollte.     Darauf 
wird  im  nächsten,  von   den   ,, Rüstungen"   handelnden  Abschnitt 
noch  eingegangen  werden.     Hier  sei  nur  erwähnt,  daß  niemand, 
der  das  Flottenprogramm  von  1897  kennt,  ernstlich  glauben  kann, 
es  habe  die  Einleitung  des  „Wettrüstens  mit  England"  (a.  a.  O.) 
bedeutet.     Daß  die  spätere  deutsche   Flottenpolitik,  weniger 
wegen  ihres  Umfangs  als  wegen  mancher  lärmenden  Begleiterschei- 
nungen, ein  Haupthindernis  für  eine  Verständigung  mit  England 
bildete,  soll  nicht  bestritten  werden.    Auch  ist  zuzugeben,  daß  die 
insulare  Lage  des  Vereinigten  Königreichs  das  Streben  erklärt  und 
rechtfertigt,  sich  die  Zufuhr  zur  See  von  Lebensmitteln  und  Roh- 
stoffen auch  im  Kriegsfalle  unbedingt  zu  sichern.     Ein  Vertreter 
des  Pazifismus  aber  sollte,  wenn  er  in  solcher  Weise  den  britischen 
Marinismus  verteidigt,  den  Hinweis  nicht  unterlassen,  daß  Eng- 
lands Versorgung  zur  See  nicht  nur  ebenso  gut,  sondern  weit  besser 


—    12   — 

durch  das  Bekenntnis  zur  Freiheit  der  Meere  zu  sichern  gewesen 
wäre,  wie  sie  Cobden  1862  gefordert  hatte:  Beseitigung  des  See- 
beuterechts, Beschränicung  der  Blockade  mit  Ausnahme  der  Konter- 
bande auf  befestigte  oder  verteidigte  Hafenplätze,  Beseitigung 
des  Visitationsrechts  neutraler  Schiffe.  Die  furchtbare  Waffe  der 
rücksichtslosen  Blockade  hat  zudem  gezeigt,  daß  es  ein  Irrtum  ist, 
zu  glauben,  nur  die  Insel  England  sei  ,,im  Falle  eines  Krieges  dem 
Hungertode  ausgeliefert"  (K.  Seite  18).  Das  kontinentale  Deutsch- 
land hat  nicht  nur  im  Kriege,  sondern  gegen  alle  Gesetze  von  Mensch- 
lichkeit und  Völkerrecht  auch  nach  Einstellung  der  Feindselig- 
keiten unter  dieser  schrecklichsten  aller  Kriegswaffen  furchtbar 
gelitten  und  bleibt  selbst  nach  Abschluß  des  schmählichsten  und 
demütigendsten  Friedens  von  einer  Erneuerung  dieses  teuflischen 
Mittels  ständig  bedroht.  Auffallend  im  Munde  eines  Vorkämpfers 
internationaler  Verständigung  sind  auch  die  Ausführungen  auf 
Seite  19,  wo  England  mehr  oder  minder  das  Recht  zu  einem  Prä- 
ventivkrieg gegen  Deutschland  wegen  dessen  Flottenbauten  zuge- 
sprochen wird. 

Aber  nicht  nur  der  Flottenbau  von  1897,  sondern  auch  die 
meisten  anderen  ,, deutschen  Provokationen",  die  auf  Seite  21—23 
aufgezählt  sind,  fallen  in  die  Zeit  vor  dem  1902  gefällten  Urteil, 
nämlich  das  Telegramm  an  den  Burenpräsidenten  Krüger  1896, 
die  Proklamation  Kaiser  Wilhelms  an  die  Mohammedaner  1898,  das 
Verhalten  Deutschlands  auf  der  ersten  Haager  Konferenz  1899,  die 
Kaiserrede  an  die  nach  China  ziehenden  Truppen  1900.  An  ,, Provo- 
kationen" nach  1902  werden  nur  die  Tangerfahrt  1905  und  die 
Entsendung  des  ,, Panther"  nach  Agadir  1911  aufgezählt,  zwei 
Ereignisse,  die,  so  sehr  man  sie  bedauern  mag,  an  sich  wohl  kaum 
ausreichen,  um  die  1902  ausgesprochene  Auffassung  von  Grund  aus 
umzustoßen. 

Immerhin  ist  Kautsky,  im  Gegensatz  zu  manchem  seiner  Partei- 
freunde, gerecht  genug,  zuzugeben,  daß  der  Militarismus  nicht  eine 
auf  Deutschland  beschränkte  Erscheinung  war,  sondern  daß  auch 
Frankreich  und  Rußland  ,, davon  mehr  als  genug"  hatten 
(K.  Seite  33).  Wenn  aber  unmittelbar  vorher  gesagt  wird,  daß  die 
1902  noch  in  erster  Linie  als  ,, internationale  Störenfriede"  bezeich- 
neten angelsächsischen  Staaten  ,,bis  zum  Weltkriege  überhaupt 
keinen  Militarismus  kannten",  so  mag  das  wohl  für  die  nordameri- 
kanische Union  gelten.  Wer  aber  das  Buch  von  Lord  Roberts: 
,,41  Jahre  in  Indien"  kennt,  wer  gelesen  hat,  welche  Überfalls- 
pläne gegen  Deutschland  Lord  Fisher  schmiedete,  wie  Lord  (damals 
Mr.)  Haidane,  nachdem  er  im  Januar  1906  die  Besprechungen 
zwischen  dem  französischen  und  englischen  Generalstabe  eingeleitet 
hatte,  sich  im  September  desselben  Jahres  im  preußischen  Kriegs- 
ministerium Belehrung  holte,  um  den  Hauptmangel  der  englischen 


—    13   - 

Heeresorganisation,  die  langsame  Mobilmachung  der  britischen 
Hilfstruppen  in  einem  etwaigen  deutsch-französischen  Kriege,  zu 
beheben,  der  muß  zugeben,  daß  England  seine  militaristische  Periode, 
die  durch  die  Namen  Irland,  Indien,  Ägypten  gekennzeichnet  ist, 
auch  während  der  letzten  Generation  noch  nicht  überwunden  hatte. 
Die  entsetzlichen  Nachrichten  über  das  Blutbad  von  Amritsar  im 
April  1919  bilden  dafür  einen  neuen  Beleg. 


IL   Die  Rüstungen 


Im  vorliegenden  Buche  ist  von  „ungenügenden  Rüstungen"  der 
Entente  die  Rede  (K.  Seite  179).  Dieser  Auffassung  seien  einige 
Zahlen  entgegengehalten,  die  auf  Grund  zuverlässigen  amtlichen, 
genau  geprüften  Materials  zusammengestellt  sind.  Im  Jahre  1914 
betrugen : 


Die 
Friedens- 
stärke der 
Landheere 

Die  Heran- 
ziehung der 
Bevölkerung 
zum  aktiven 
Militärdienst 

Die 
planmäßigen 

Kriegs- 
stärken der 
Landheere 

(nur  I.  u.U. Linie) 

Die  Anzahl  der 
militärisch  Aus- 
gebildeten, im 
wehrpflichtigen 
Alterstehenden 

Deutschland    .... 
Oesterreich-Ungarn 

761  000 
478  000 

1,17% 
0,94% 

2,020  000 
1,338  000 

4,84  Million. 
2,99       „     *) 

L  Zentralmächte  .    .    . 

Frankreich**)  .... 

Rußland:  Sommer  .    . 

Winter      .    . 

1,239  000 

794  000 
1,445  000 
1,845  000 

2,0    % 
0,85  % 
1,09% 

3,358  000 

1,650  000 
l  3,420  000 

7,83      „ 

5,35      „ 

5,70      „ 
(ohne  Kasaken) 

II.  Zweibund:  Sommer 
Winter  . 

2,239  000 
2,639  000 

— 

5,070  000 

11,05      „ 

*)  Einschließlich  etwa  1  Million  (?)  Ersatzreservisten  mit  nur 
zehnwöchiger  Ausbildung. 

**)  Bei  der  Friedens  stärke  sind  86  000  Eingeborene  (Unteroffiziere 
und  Mannschaften)  in  Nordafrika  (einschl.  Marokko)  und  Fremdenlegionäre 
nicht  mit  eingerechnet.  Die  hohe  Zahl  der  verfügbaren  ausgebildeten  Wehr- 
pflichtigen erklärt  sich  aus  der  Ausdehnung  der  Wehrpflicht  bis  zum 
48.  Lebensjahre. 


—    14    — 

Sonach  war  die  Heeresfriedensstärke  des  Zweibundes  im 
Sommer  fast  doppelt  so  groß,  im  Winter  mehr  als 
doppelt  so  groß  wie  die  der  Zentralmächte.  Die  Anspannung 
der  Volkskraft  für  Zwecke  des  Landheeres  betrug  in  Frankreich  das 
Doppelte  des  Maßes  in  Österreich-Ungarn.  Die  planmäßigen 
Kriegsstärken  der  Heere  des  Zweibundes  überstiegen  die  der  Heere 
der  Zentralmächte  um  50  Prozent;  ihre  Mobilmachung  war 
begünstigt  dadurch,  daß  die  Friedensstärken  sich  im  Verhältnis 
den  Kriegsstärken  mehr  näherten  als  bei  den  Zentralmächten.  Die 
Zahl  der  im  Heeresdienst  ausgebildeten,  noch  im  wehrpflichtigen 
Alter  stehenden  Männer  war  in  den  Zweibundstaaten  um  40% 
größer  als  in  der  anderen  Mächtegruppe.  Die  russische 
Friedensstärke  erreichte  für  sich  allein  schon,  ohne  jede 
Einziehung  von  Reservisten,  die  volle  Kriegsstärke  der 
österreichisch-ungarischen  Formationen  I .  und 
H.  Linie. 

Was  sodann  die  Heeresvermehrungen  in  den  letzten  Jahren 
vor  Kriegsausbruch  betrifft,  so  ist  dabei  folgender  Unterschied  zu 
betonen :  Die  Erhöhung  der  jährlichen  Rekruten- 
kontingente, wie  sie  in  sehr  bescheidenem  Umfange  in  Öster- 
reich-Ungarn, etwas  stärker  in  Deutschland,  außerordentlich  in 
Rußland  stattfand,  war  eine  Maßnahme,  die  ihre  volle  Wirksamkeit 
auf  alle  Jahresklassen  erst  nach  einem  langen  Zeitraum  ausüben 
konnte,  in  Deutschland  nach  24,  in  Österreich-Ungarn  und  Ruß- 
land nach  20  Jahren.  Hingegen  waren  die  Zurückhaltung 
eines  vierten  Jahrgangs  während  des  Winters  in  Ruß- 
land und  die  Rückkehrzu  dreijähriger  Dienstzeit 
in  Frankreich  Organisationsänderungen,  die  sofort  die  Kriegs- 
bereitschaft in  hohem  Maße  steigerten,  da  sie  die  Ergänzung  des 
Friedensheeres  auf  Kriegsstärke  sehr  erleichterten.  Die  lange 
Dienstzeit  in  Frankreich,  von  der  es  keine  Ausnahme  gab,  legte 
zudem  der  Bevölkerung,  insbesondere  den  gebildeten,  politisch 
führenden  Klassen  so  schwere  Opfer  auf,  daß  ein  langes  Ertragen 
solcher  Belastung  wenig  wahrscheinlich  war.  Manche  erblickten 
darin  ein  den  Frieden  stark  gefährdendes  Moment,  so  der  frühere 
russische  Minister  Graf  Witte,  der  im  Juli  1914  in  Bad  Salzschlirf 
zum  bayerischen  Gesandten  in  Stuttgart,  Grafen  K,  Moy,  sich  in 
diesem  Sinne  äußerte. 

„Ungenügend  gerüstet"  waren  sonach  weder  Frankreich  noch 
Rußland,  sondern  Österreich-Ungarn. 

Man  darf  die  übermäßigen  Rüstungen  des  Zweibundes  auch 
nicht  damit  rechtfertigen,  daß  man  nach  dem  Beispiele  einiger  ein- 
seitiger Ankläger  des  deutschen  Militarismus  sagt,  nach  dem  ab- 
lehnenden Verhalten  Deutschlands  auf  der  zweiten  Haager  Kon- 
ferenz  1907  gegen  jede  Rüstungsminderung  sei  ein  solches  Vor- 


—    15   — 

gehen  der  Entente  wohl  erklärlich.  So  sehr  man  die  Stellungnahme 
Deutschlands  in  der  Frage  der  Einschränkung  des  militärischen 
Kraft-  und  Kostenaufwands  mißbilligen  mag,  so  darf  man  doch 
nicht  übersehen,  daß  schon  vor  dieser  Konferenz  das  Verhältnis 
der  Heeresstärken  der  beiden  Staatengruppen  zwar  noch  nicht 
so  ungleich,  aber  immerhin  für- 4ie;..^entralmächte  schon  recht 
ungünstig  war.  ,,[:.,.--., 


III.  Der  .5,  und  6.  Juli  1914 

Zur  unmittelbaren  Vorgeschichte  des  Krieges  übergehend, 
legt  Kautsky  großes  Gewicht  auf  die  Zusammenkünfte  Kaiser  Wil- 
helms mit  dem  Erzherzog-Thronfolger  in  Miramare  im  April  1914 
und  zwei  Monate  später  in  Konopischt.  Er  weiß  ebensowenig  wie 
andere,  was  dort  verhandelt  wurde,  und  kennt  nur  den  Bericht 
Tschirschkys  vom  17.  Juni  (D.  Nr.  4),  daß  in  Konopischt  über  alle 
möglichen  Fragen  eingehend  gesprochen  wurde,  und  daß  auch  die 
verfehlte  Politik  Tiszas  gegenüber  den  ungarländischen  Rumänen 
einen  Gegenstand  der  Unterredungen  bildete.  Ebenso  steht,  wie 
Kautsky  zugibt,  in  dem  am  5.  Juli  in  Berlin  überreichten  Memoran- 
dum der  österreichisch-ungarischen  Regierung  (D.  Nr.  14)  die 
rumänische  Frage  im  Vordergrund.  Wenn  nun  aber  aus  dem 
Schlußsatz,  daß  es  ein  gemeinsames  Interesse  der  Zentralmächte 
sei,  ,,im  jetzigen  Stadium  der  Balkankrise  rechtzeitig  und  energisch 
einer  von  Rußland  planmäßig  angestrebten  und  geförderten  Ent- 
wicklung entgegenzutreten,  die  später  vielleicht  nicht  mehr  rück- 
gängig zu  machen  wäre",  die  Folgerung  gezogen  wird,  das  Memo- 
randum sei  „kaum  anders  aufzufassen,  als  daß  es  in  der  Sprache 
der  Diplomatie  den  Präventivkrieg  gegen  Rußland  fordert"  (K. 
Seite  39),  so  bietet  die  Denkschrift  für  eine  solche  Auslegung  keinen 
Anhalt,  denn  sie  bezeichnet  im  Hinblick  auf  die  veränderte,  vom 
Dreibund  wegstrebende  Haltung  Rumäniens  folgende  Maßnahmen 
als  nötig  (D.  Nr.  14,  Seite  28,  Absatz  3  und  4): 

In  militärischer  Beziehung  andere  Dispositionen  für 
den  Fall  eines  Krieges  mit  Rußland  und  die  Anlage 'Voiif';; 
Befestigungen  gegen  Rumänien,  '    "'■ 

in  politischer  Hinsicht  den  Anschluß  Bulgariens  an^ 
den  Dreibund  und  ein  bulgarisch-türkisches  Bündnis. 

Diese  vier  Vorschläge:  Änderung  des  Aufmarsches  im  Mobil- 
machungsfalle, Anlage  von  Befestigungen  und  Abschluß  von  zwei 
Bündnissen  sind  Maßnahmen  auf  lange  Sicht  und  sprechen 
nicht  für,  sondern  eher  gegen   das  Vorhandensein  eines  Planes, 


—    16   — 

Rußland  in  nächster  Zeit  zum  Entscheidungskampf  herauszu- 
fordern. Daß  jedenfalls  auf  deutscher  Seite  „die  Absicht,  einen 
europäischen  Krieg  zu  entfesseln,  damals  (am  5.  Juli,  am 
Tage  der  Überreichung  des  Memorandums)  nicht  bestand",  erklärt 
der  Verfasser  selbst  auf  Seite  48.  Ein  Irrtum  ist  es,  wenn  er  an- 
fügt, das  deutsche  Weißbuch  vom  Juni  1919  ,, verschweige,  daß 
man  damals  schon  den  Österreichern  freie  Hand  zu  einem  Kriege 
gegen  Serbien  gab  auf  die  Gefahr  hin,  damit  einen  Krieg 
gegen  Rußland  hervorzurufen".  Der  Bericht  der  deutschen  Vierer- 
kommission erinnert  vielmehr  daran,  daß  die  deutsche  Regierung 
schon  in  der  am  3.  August  1914  dem  Reichstag  vorgelegten  Denk- 
schrift offen  aussprach,  ,,daß  sie  der  nach  dem  Attentat  von  Sara- 
jevo in  Wien  gehegten  Auffassung  zugestimmt  und  eine  dort  für 
nötig  erachtete  Aktion  gebilligt  habe"  (Weißbuch  Juni  1919,  Seite  57). 
Der  Bericht  wiederholt  später  nochmals,  Deutschland  habe  der 
österreichischen  Auffassung,  auf  dem  Eindruck  einer  militärischen 
Expedition  zu  bestehen,  ,, zugestimmt  und  Österreich  dabei  er- 
mutigt". Daß  dies  auf  die  Gefahr  eines  Krieges  mit  Rußland  hin 
geschah,  wurde  schon  am  3.  August  1914  amtlich  niedergelegt. 
Aber  Kautsky  selbst  führt  in  dem  Bericht  Szögyenys  vom  6.  Juli 
(Seite  47),  dem  Briefe  Jagows  vom  18.  Juli  (Seite  66),  dem  bayeri- 
schen Bericht  vom  gleichen  Tage  (Seite  80)  und  dem  des  belgischen 
Gesandten  Baron  Beyens  vom  28.  Juli  (Seite  65)  überzeugende 
Beweise  dafür  an,  daß  in  den  leitenden  politischen  Kreisen  Berlins 
die  Gefahr  einer  russischen  Intervention  sehr  stark  unterschätzt 
wurde. 

Bei  dieser  Auffassung  ist  es  schwer  verständlich,  daß  einer 
mehr  als  drei  Jahre  nach  den  Ereignissen,  am  30.  August  1917, 
von  dem  in  der  kritischen  Zeit  nicht  in  Europa  weilenden  späteren 
Unterstaatssekretär  Freiherrn  von  dem  Bussche  gemachten  Auf- 
zeichnung besonderes  Gewicht  beigelegt  wird,  wonach  am  6.  Juli 
eine  „Beratung  militärischer  Stellen"  in  Potsdam  stattgefunden, 
„auf  alle  Fälle  vorbereitende  Maßnahmen  für  einen  ,, Krieg"  be- 
schlossen worden  und  „entsprechende  Befehle"  ergangen  sein  sollen 
(D.  Anhang  VIII  und  K.  Seite  49).  Die  Bewertung  dieser  nach- 
träglichen Aktennotiz  steht  nicht  im  Einklang  mit  dem  Ergebnis 
der  Nachforschungen,  die  das  Auswärtige  Amt  im  Oktober  1919 
bei  den  in  Betracht  kommenden  Behörden  und  Persönlichkeiten 
über  den  Inhalt  dieser  Besprechungen  hatte  anstellen  lassen,  wobei 
sich  ergab,  daß  es  sich  lediglich  um  kurze  Informationen  einer  An- 
zahl von  Offizieren  handelte  (Anhang  zu  den  Vorbemerkungen  der 
deutschen  Vorkriegsakten).  Wie  soll  man  schließlich  die  schon  er- 
wähnte Auffassung,  daß  ,,die  Absicht,  einen  europäischen  Krieg 
zu  entfesseln,  damals  nicht  bestand"  (K.  Seite  48)  in  Einklang 
bringen  mit  der  Behauptung,  daß  zu  derselben  Zeit  ,,eine  Ver- 


—    17    — 

schwörung  zum  mindesten  gegen  Serbien  und  Rußland,  wenn  nicht 
gegen  den  Frieden  der  Welt"  (K.  Seite  50)  stattgefunden  hat? 

Das  Hauptargument  für  die  These  des  bewußt  herbeigeführten 
Präventivkrieges,  nämlich  der  Potsdamer  „Kronrat"  oder  „Kriegs- 
rat" unter  Teilnahme  der  Generalstabschefs  beider  Kaiserreiche, 
ist  hinfällig  geworden,  denn  nicht  darauf  kommt  es  an,  ob  einige 
Offiziere  mehr  oder  weniger  über  das  Vorhaben  Österreich-Ungarns 
unterrichtet  wurden,  sondern  darauf,  daß  nicht  von  deutscher  Seite 
eine  gemeinsame  Beratung  der  politisch  und  militärisch  leitenden 
Persönlichkeiten  beider  Länder  veranlaßt  worden  ist.  Vom  r  e  a  1  - 
politischen  Standpunkt  aus  muß  es  sogar  als  ein  Fehler  be- 
zeichnet werden,  daß  nicht  wenigstens  die  deutschen  Zivil-  und 
Militärbehörden  in  gemeinsamer  Beratung  unter  sich  die  Lage  be- 
sprochen haben,  wie  es  in  Österreich-Ungarn  geschehen  ist.  In 
militärischer  Beziehung  ferner  war  es  ein  schweres  Ver- 
säumnis, daß  man  sich  nicht  vergewisserte,  welche  Vorsorge  der 
österreichisch-ungarische  Generalstab  getroffen  hatte,  um  im  Falle 
des  Mißlingens  der  ,, Lokalisierung"  des  Konflikts  die  Masse  der 
Truppen  rasch  gegen  Norden  zu  werfen,  gegen  Serbien  aber  nicht 
mehr  als  3—4  Armeekorps  mit  rein  defensivem  Auftrag  zu  lassen. 
Vom  moralischen  Gesichtspunkte  sind  diese  politischen  und 
militärischen  Versäumnisse  eine  große  Rechtfertigung  der  deutschen 
Haltung,  aber  es  war  für  die  Einleitung  des  Kampfes  gegen  die 
russische  Übermacht  ein  ungemein  erschwerender  Umstand,  daß 
nach  der  eigenhändigen  Niederschrift  des  österreichisch-ungarischen 
Generalstabschefs  am  1.  August  infolge  der  Einleitung  des  Auf- 
marsches gegen  Serbien  mit  zu  starken  Kräften  ,, große  technische 
Schwierigkeiten"  bestanden,  ,,die  überwiegenden  Hauptkräfte  gegen 
Rußland  zu  versammeln"  (G.  Seite  311,  Anm.  2). 


IV.   Das  Ultimatum  an  Serbien 

Eine  Verkennung  der  politisch-militärischen  Zusammenhänge 
ist  es,  wenn  Deutschland,  nachdem  einmal  die  moralisch  ge- 
wißnichtzubilligende  Aktion  gegen  Serbien  beschlossen 
war,  ein  besonderer  Vorwurf  daraus  gemacht  wird,  daß  es  Öster- 
reich zu  einem  raschen  Vorgehen  drängte.  Denn  wenn  Öster- 
reich-Ungarn politisch  und  militärisch  rascher  gehandelt  hätte, 
so  würde  vermutlich  ein  Eingreifen  Rußlands  und  damit  die  Aus- 
dehnung des  Konflikts  nicht  erleichtert,  sondern  erschwert 
worden  sein.  Kautsky  selbst  schreibt,  daß  man  hoffte,  ,, durch 
Überrumpelung   mit    der    Kriegserklärung   (ergänze:   an    Serbien) 


—  la- 
den Weltfrieden  zu  erhalten"  (K.  Seite  64).  Es  ist  zudem  vom 
realpolitischen  Standpunkte  aus  gar  nicht  erwiesen,  daß 
diese  Rechnung  „falsch"  war:  die  Probe  darauf  wurde  nicht  gemacht, 
denn  es  ist  ja  zu  dem  in  Berlin  gewünschten  raschen  Handeln  nicht 
gekommen. 

Daß  die  an  Serbien  zu  stellenden  Forderungen  in  Berlin,  ob- 
wohl nicht  in  allen  Einzelheiten  bekannt,  als  unannehmbar  an- 
gesehen wurden,  ist  längst  kein  Geheimnis  mehr.  Daß  man  über- 
haupt in  Berlin,  ebenso  wie  in  Wien,  die  kriegerische  Auseinander- 
setzung mit  Serbien  wünschte,  hat  auch  die  deutsche  Vierer- 
kommission in  Versailles  mit  aller  Deutlichkeit  ausgesprochen  und 
hinzugefügt,  daß  ,, heute  die  Welt  sich  nach  einem  Völkerbund 
sehne,  in  dem  militärische  Maßnahmen  nicht  mehr  zulässig  sind, 
und  in  dem  alle  Nationen,  ob  groß  oder  klein,  ob  stark  oder  schwach, 
die  gleichen  politischen  und  wirtschaftlichen  Rechte  genießen". 
Seitdem  ist  durch  die  österreichischen  Veröffentlichungen  als  neue 
Tatsache  noch  bekannt  geworden,  daß  man  in  Wien  die  in  Potsdam 
erhaltene  Zusage  der  Rückendeckung  durch  Deutschland  in  einem 
sehr  weitgehenden  Sinne  auslegte,  und  daß  die  österreichischen 
Beteuerungen,  serbisches  Gebiet  nicht  annektieren  zu  wollen,  mit 
der  durchaus  verwerflichen  und  heuchlerischen  doppelten  reservatio 
mentalis  ,, strategisch  notwendiger  Grenzberichtigungen"  — 
worunter  natürlich  alles  mögliche  verstanden  werden  kann  —  und 
der  ,, Verkleinerung  Serbiens  zugunsten  anderer  Staaten"  gemacht 
worden  sind  (Protokoll  vom  19.  Juli  1914,  Rotbuch  1919  Nr.  26). 

Aber  so  scharf  man  auch  solche  Hintergedanken  und  das  am 
23.  Juli  in  Belgrad  übergebene,  nach  Form  und  Inhalt  das  berech- 
tigte Selbstgefühl  der  Serben  aufs  tiefste  verletzende  Ultimatum 
verdammen  muß,  so  bleibt  heute,  nach  dem  Versailler  Frieden, 
ein  solches  Urteil  einseitig  und  parteiisch,  wenn  man  nicht  hinzu- 
fügt, daß  seitdem  die  Welt  viel  Schlimmeres  erlebt  hat,  so  daß  die 
österreichische  Note  weit  zurücksteht  hinter  den  unzähligen  Ulti- 
maten, mit  denen  die  Entente  das  wehrlose  deutsche  Volk  über- 
schüttet hat.  Worüber  hat  die  öffentliche  Meinung  im  Juli  1914 
sich  am  meisten  aufgeregt?  Über  die  Punkte  5  und  6,  denen  zufolge 
die  Teilnahme  österreichisch-ungarischer  Beamter  an  der  Unter- 
drückung der  großserbischen  Agitation  und  an  den  gerichtlichen 
Untersuchungen  gegen  die  der  Mithilfe  am  Attentat  vom  28.  Juni 
verdächtigen  serbischen  Beamten  und  Offiziere  gefordert  wurde. 
Heute  wird  von  Deutschland  verlangt,  daß  es  zur  Überwachung 
seiner  gesamten  militärischen  und  finanziellen  Maßnahmen  einen 
Schwärm  von  Ententekommissionen  aufnimmt  und  besoldet,  daß 
es  ferner  eine  noch  nicht  bekannte,  allem  Anschein  nach  sehr  große 
Anzahl  deutscher  Staatsangehöriger  an  fremde  Gerichte  ausliefert, 
ein  in  der  Geschichte  aller  Zeiten  unerhörter  Vorgang.    Es  wird  ferner 


—    19   — 

bei  der  Kritik  des  Ultimatums,  wohl  mehr  aus  Unwissenheit  als  in 
böswilliger  Absicht,  ständig  übersehen,  daß  Graf  Berchtold  schon 
am  25.  Juli  nach  Petersburg  —  leider  nur  streng  vertraulich  und 
nicht  öffentlich  —  hatte  wissen  lassen,  er  denke  bei  Punkt  5  an 
die  Errichtung  eines  geheimen  „Bureau  de  Sürete"  in  Belgrad, 
das  nach  Art  der  analogen  russischen  Einrichtungen  in  Paris  und 
Berlin  funktionieren  und  mit  der  serbischen  Polizei  und  Verwal- 
tungsbehörde kooperieren  würde,  wovon  Sasonow  am  27.  Juli 
verständigt  wurde  (Rotbuch  1915,  Nr.  27;  G.  Seite  164  und  208). 
Der  russische  Außenminister  war  also  ziemlich  bald  über  einen  der 
beiden  am  meisten  beanstandeten  Punkte  des  Ultimatums  in  be- 
friedigender Weise  aufgeklärt  und  dadurch,  wie  er  sich  selbst  aus- 
drückte, „wesentlich  beruhigt"  (G.  Seite  209).  Wer  heute  noch 
das  österreichische  Ultimatum  kritisiert,  ohne  die  vorerwähnten 
Umstände  zu  berücksichtigen,  der  kennt  die  Akten  und  den  Ver- 
sailler  Frieden  nicht. 

Bei  der  Vorgeschichte  des  Ultimatums  begeht  Kautsky  eine 
ähnliche  ,, Unvorsichtigkeit",  wie  er  sie  bei  Eisners  Publikation  des 
bayerischen  Gesandtschaftsberichts  vom  18.  Juli  bedauert  (K, 
Seite  35).  Dem  Beispiel  der  Ententekommission  folgend,  gibt  er 
von  dem  Bericht  des  österreichischen  Sektionsrates  von  Wiesner, 
der  in  Sarajevo  Einsicht  in  die  Akten  des  Prozesses  gegen  die  Atten- 
täter zu  nehmen  hatte,  nur  den  einen  Absatz  wieder,  wonach  die 
Mitwisserschaft  der  serbischen  Regierung  an  der  Leitung  und  Vor- 
bereitung des  Attentats  als  ausgeschlossen  anzusehen  sei  (K.  Seite  40), 
erwähnt  jedoch  nicht,  daß  dieser  selbe  Bericht,  der  nach  Berlin 
nicht  mitgeteilt  worden  ist,  im  übrigen  sehr  schwere  Anklagen 
erhebt,  nämlich  nicht  nur  Betreibung  der  großserbischen  Propa- 
ganda von  Serbien  aus,  und  zwar  nach  der  Überzeugung  aller  maß- 
gebenden Kreise  „unter  Förderung  sowie  mit  Wissen  und  Billigung" 
der  serbischen  Regierung,  sondern  auch  Mitwirkung  eines  serbischen 
Beamten  und  eines  serbischen  Offiziers  bei  Vorbereitung  des  Atten- 
tats und  Bereitstellung  von  Bomben,  Pistolen,  Munition  und  Gift, 
endlich  Schmuggel  der  Attentäter  und  ihrer  Waffen  über  die  Grenze 
durch  serbische  Grenz-  und  Finanzwachorgane  (Rotbuch  1919, 
Nr.  17). 


2* 


—    20 


V.   Die  Vermittlungsversuche 

Bei  den  Bestrebungen,  die  darauf  ausgingen,  zu  verhüten, 
daß  aus  dem  österreichisch  -  serbischen  Konfükt  ein  allgemeiner 
Weltbrand  entstehe,  traten  sich  von  Anfang  an  zwei  Auffassungen 
gegenüber : 

Deutschland  wünschte  Lokalisierung  des  Streites  unter 
Durchführung  eines  begrenzten  serbisch-österreichischen   Krieges, 

England  wünschte  Einmischung  der  Mächte  unter  Ver- 
meidung auch  des  lokalisierten  Waffengangs. 

Die  Ereignisse  haben  gezeigt,  daß  das  Streben  nach  Lokali- 
sierung, wie  Fürst  Lichnowsky  in  einer  Reihe  eindringlich  war- 
nender Berichte  vorhergesagt  hatte,  gänzlich  verfehlt  war.  Aber 
es  ist  kaum  gerechtfertigt,  diesen  intellektuellen  Irrtum,  der  haupt- 
sächlich auf  einer  UnterschätzungdesKriegswillens 
und  der  Kriegsbereitschaft  des  russisch-fran- 
zösischen Waffenbundes  beruhte,  als  eine  „Sabotierung 
der  Friedensbemühungen"  zu  brandmarken  (K.  Seite  81).  Es  darf 
daran  erinnert  werden,  daß  auch  König  Georg  von  England,  wohl 
nicht  ohne  Einvernehmen  mit  seinen  verfassungsmäßigen  Beratern, 
noch  am  26.  Juli  dem  Prinzen  Heinrich  von  Preußen  versicherte, 
„er  und  seine  Regierung  würden  nichts  unversucht  lassen,  um  den 
Kampf  zwischen  Österreich  und  Serbien  zu  lokalisieren" 
(D.  Nr.  374,  K.  Seite  106),  und  daß  zwei  Tage  früher  Sir  Edward 
Grey  dem  deutschen  Botschafter  erklärt  hatte,  ,, solange  es  sich 
um  einen  ...  lokalisierten  Streit  zwischen  Österreich  und 
Serbien  handle,  ginge  ihn,  Sir  Edward  Grey,  die  Sache  nichts  an" 
(D.  Nr.  157,  K.  Seite  110).  Der  französische  Botschafter  in  Wien 
vertrat  am  22.  Juli  die  Auffassung,  Rußland  werde  ,,im  Falle  eines 
Waffenganges  zwischen  der  Donaumonarchie  und  Serbien  nicht 
aktiv  eingreifen,  sondern  anstreben,  daß  der  Krieg  lokalisiert 
bleibe"  (G.  Seite  129).  Der  stellvertretende  französische  Minister 
des  Auswärtigen  äußerte  noch  zwei  Tage  später,  nach  Kenntnis 
des  österreichischen  Ultimatums,  die  ,, französische  Regierung  teile 
aufrichtig  den  (zu  ergänzen :  von  deutscher  Seite  geäußerten)  Wunsch, 
daß  Konflikt  lokalisiert  bleibe"  (D.  Nr.  154).  Der  Glaube 
an  die  Möglichkeit  der  Lokalisierung  war  also  nicht  ausschließlich 
auf  die  deutsche  Reichsleitung  beschränkt.  Dabei  sei  nochmals 
betont,  daß  diese  Auffassung  hier  in  keiner  Weise,  weder  moralisch 
noch  politisch,  verteidigt  werden  soll. 

Kautsky  verfällt  nun  zwar  nicht  in  den  Fehler,  zu  behaupten, 
daß  die  deutsche  Regierung  „systematisch  alle  vermittelnden  Be- 


—    21    — 

mühungen  zunichte  gemacht  habe",  wie  der  Bericht  der  Entente- 
kommission vom  29.  März  1919  (Weißbuch  vom  Juni  1919,  Seite  35), 
sei  es  infolge  seiner  erstaunlichen  Unkenntnis  der  Akten,  sei  es 
wider  besseres  Wissen,  glauben  zu  machen  versucht.  Aber  auch 
die  Angabe  ist  unrichtig,  daß  Österreich  ,,alle  Vermittlungsvor- 
schläge" abgelehnt  habe,  und  daß  ,, keiner  von  Deutschland"  aus- 
gegangen sei  (K.  Seite  83).  Was  zunächst  Deutschland  betrifft, 
so  hatte  Sir  Edward  Grey  schon  am  23.  Juli  dem  österreichisch- 
ungarischen Botschafter  gesagt,  ,,das  beste  wäre  wohl,  wenn  zwischen 
Wien  und  Petersburg  direkter  Gedankenaustausch  geführt  werden 
könnte"  (Rotbuch  1919  Nr.  59).  Gerade  diesen  direkten  Gedanken- 
austausch nun  regte  Graf  Pourtales  am  26.  Juli  in  Petersburg 
an,  Sasonow  ging  darauf  ein  (D.  Nr.  238,  Orangebuch  Nr.  32),  Berlin 
gab  die  Anregung  nach  London  und  Wien  weiter  (D.  Nr.  238,  An- 
merkung 2,  Nr.  248  und  277),  Grey  bezeichnete  diese  Methode 
wie  am  23.,  so  auch  am  28.  Juli  als  ,,die  beste  von  allen"  und  ver- 
trat diesen  Standpunkt  noch  am  29.  (Blaubuch  Nr.  67,  D. 
Nr.  357). 

Dieser  in  Berlin,  Petersburg  und  London  als  gangbarster  Weg 
angesehene  Vorschlag  wurde  auch  in  Wien  nach  wiederholter  dringen- 
der deutscher  Befürwortung  angenommen  (D.  Nr.  396,  433  und 
448,  Rotbuch  1915,  Nr.  49  und  50).  Die  Nachricht  von  der  öster- 
reichischen Annahme  wurde  sofort  nach  London  und  Petersburg 
weitergegeben  (D.  Nr.  444  und  dortige  Anmerkung  3),  veranlaßte 
aber  leider  London  nicht  dazu,  einen  ähnlichen  Druck  auf  Peters- 
burg auszuüben,  wie  er  von  Berlin  auf  Wien  erfolgt  war  (D.  Nr.  489, 
Blaubuch  Nr.  110). 

Daß  die  viel  besprochene,  für  die  deutsche  Diplomatie  sehr 
belastend  lautende  Depesche  des  Grafen  Szögyeny  vom  27.  Juli 
(K.  Seite  87—89)  energische  deutsche  Vermittlungsaktionen  in 
Wien  nicht  verhindert  hat,  gibt  auch  die  Kautskysche  Dar- 
stellung zu,  denn  es  wird  dort  über  die  Tätigkeit  der  Berliner  Re- 
gierung gesagt: 

,,Ein  Wechsel  in  ihrer  hartnäckigen  Sabotierung  jeglicher 
Friedensarbeit  bereitet  sich  vor  am  28.  Juli"  (K.  Seite  90)  —  ge- 
nauer: mit  der  Depesche  vom  27.  Juli,  11°°  abends  (D.  Nr.  277) 
und  ferner: 

,,Nach  dem  29.  Juli  suchte  sie  den  Frieden  zu  retten"  (K. 
Seite  126)  —  richtiger:  nachdem  die  entgegenkommende  serbische 
Antwortnote  am  28.  Juli  genau  geprüft  worden  war. 

Man  muß  sich  vdrklich  fragen,  wie  die  Behauptung  einer  Ver- 
schwörung ,,zum  mindesten  gegen  Serbien  und  Rußland,  wenn 
nicht  gegen  den  Frieden  der  Welt"  noch  aufrechterhalten  werden 
kann,  wenn  man  die  Randbemerkungen  Kaiser  Wilhelms  zur  ser- 
bischen Antwortnote  und  sein  Schreiben  an  den  Staatssekretär  des 


-   22  - 

Auswärtigen  vom  28.  Juli,  10''  vormittags,  kennt  (D.  Nr.  271,  293; 
K.  Seite  91  und  92).  Es  handelt  sich  hier  nicht  um  eine  jener  impul- 
siven, rasch  wechselnden  Eingebungen  des  Augenblicks,  die  nach 
Ausweis  der  Akten  häufig  keinerlei  Beachtung  fanden,  sondern  um 
einen  ausdrücklichen  Befehl  zur  Einleitung  einer  bestimmten  Aktion 
in  Wien  auf  der  Grundlage,  daß  Österreich  seine  militärischen  Opera- 
tionen auf  eine  Besetzung  von  Belgrad  nebst  angrenzendem  Gebiet 
beschränke,  das  ist  auf  derselben  Basis,  wie  sie  der  englische  Staats- 
sekretär 30  Stunden  später  vorschlug  (Blaubuch  Nr.  88),  und  wie 
sie  nach  dem  Scheitern  des  Konferenzgedankens  wohl  von  aUen 
eingeweihten  und  einsichtigen  Politikern  als  der  beste  Ausweg  aus 
der  Gefahr  angesehen  wurde.  Zu  bedauern  bleibt  dabei 
immerhin,  daß  nicht  sofort  die  bevorstehende 
Kriegserklärung  an  Serbien  verhindert  wurde. 

Dieser,  am  27.  Juli  abends  beginnende,  am  folgenden  Tage 
deutlicher  in  die  Erscheinung  tretende  Umschwung  der  Stimmung 
beweist  auch,  daß  die  energischen  Mahnnoten  nach  Wien  in  der 
Nacht  vom  29.  zum  30.  Juli  nicht  ausschließlich  auf  die  drohende 
Haltung  Englands  zurückgeführt  werden  dürfen,  über  die  Fürst 
Lichnowsky  am  29.  Juli  in  zwei  Depeschen  berichtete  (D.  Nr.  357 
und  368).  Selbstverständlich  waren  die  Londoner  Drohungen  ein 
mächtiger  Ansporn,  die  Bemühungen  um  Erhaltung  des  Friedens 
zu  verdoppeln,  aber  den  ausschließlichen  Anlaß  dazu  bildeten  sie 
nicht. 

Wie  sehr  damals  die  deutschen  Bemühungen  von  England 
anerkannt  wurden,  zeigt  der  Leitartikel  der  ,, Times"  vom  30.  Juli, 
in  dem  gesagt  wurde:  ,,Es  ist  ein  offenes  Geheimnis,  daß  Deutsch- 
land sein  möglichstes  tut,  um  den  Draht  zwischen  der  russischen 
und  der  österreichischen  Hauptstadt  zu  knüpfen"  (it  is  an  open 
secret  that  Germany  is  doing  her  best  ,,to  restore  the  wire"  between 
the  Russian  and  Austrian  capitals). 

Nebenbei  bemerkt,  zeigt  sich  gerade  an  diesem  Tage,  wie  leicht 
der  Einfluß  der  kaiserlichen  Marginalien  überschätzt  werden  kann. 
So  werden  auf  Seite  114—116  ausführlich  die  Bemerkungen  des 
Kaisers  zur  letzten  Depesche  Lichnowskys  vom  29.  Juli  mitgeteilt. 
Diese  Notizen  wurden  aber  erst  am  30.  Juli,  1^  nachmittags,  ge- 
schrieben, dem  Auswärtigen  Amt  also  noch  später  bekannt.  Jedoch 
schon  am  frühen  Morgen,  um  2°^,  war  die  englische  Warnung  fast 
in  vollem  Wortlaut  unter  Anfügung  einer  sehr  deutlichen  deutschen 
Warnung  nach  Wien  telegraphiert  worden  (D.  Nr.  395),  worauf 
5  Minuten  später,  um  3°  morgens,  eine  zweite  Mahnung  wegen  Auf- 
nahme der  direkten  Besprechungen  Wien-Petersburg  folgte  (D. 
Nr.  396). 

Die  Kautskysche  Darstellung  rückt  immerhin  weit  ab  von 
jenen  Verleumdern,  die  in  den  Mahndepeschen  Berlin— Wien  nur 


—   23   — 

Lug  und  Trug  und  Heuchelei  sehen  wollen  oder  die  mit  dem  scham- 
losen Ultimatum  vom  16.  Juni  1919  behaupten,  sie  seien  im  voraus 
durch  geheime  Weisungen  unwirksam  gemacht  worden.  Ein  Zweifel 
an  der  Ehrlichkeit  des  Friedenswillens  wird  nicht  geäußert,  aber  die 
Hindernisse,  an  denen  er  scheiterte,  sind  nicht  erschöpfend  ge- 
würdigt. Das  eine  Hindernis  wird  in  der  österreichischen  Regierung, 
das  andere  in  der  Einwirkung  des  deutschen  Generalstabes  gesehen 
(K.  Seite  126). 

Hinsichtlich  des  ersten  Hindernisses  muß  dem  ausgesprochenen 
Urteil  auf  Grund  der  Veröffentlichungen  von  Dr.  R.  Gooss  zuge- 
stimmt werden.  Der  von  Deutschland  so  dringend  empfohlene 
Greysche  Vorschlag  wurde  von  Wien  in  außerordentlich 
dilatorischer  Weise  behandelt,  vom  Ministerrat  am  31.  Juli  nur 
zum  Schein  unter  Vorbehalt  angenommen,  auch  diese  bedingte 
Annahme  erst  am  1.  August  3*^  vormittags  nach  Berlin,  London 
und  Petersburg  mitgeteilt  und  vom  österreichisch-ungarischen  Bot- 
schafter in  Berlin,  soweit  bis  jetzt  festgestellt  werden  kann,  nicht 
mehr  an  das  Auswärtige  Amt  weitergegeben  (G.  Seite  301—304, 
Seite  235-340). 

Auf  die  Wiederaufnahme  der  direkten  Besprechungen 
war  das  Wiener  Kabinett  infolge  des  deutschen  Druckes, 
wie  schon  erwähnt,  zwar  eingegangen,  aber  die  entsprechenden 
Weisungen  nach  Petersburg  wurden  unbegreiflicherweise  erst  am 
31.  Juli,  H°  morgens,  expediert  und  trafen  daher  erst  im  Laufe  des 
späten  Nachmittags  beim  dortigen  Botschafter  ein  (G.  Seite  292, 
Anmerkung  1  und  Seite  297),  also  erst  zu  einer  Zeit,  da  die  Lage 
durch  die  allgemeinen  Mobilmachungen  in  Rußland  und  Österreich- 
Ungarn  und  die  Absendung  der  deutschen  Ultimaten  schon  äußerst 
bedrohlich  geworden  war. 

Bei  dem  zweiten  Hindernis  aber,  dem  Drängen  des 
deutschen  Generalstabes  auf  eine  baldige  Ent- 
scheidung, wird  übersehen,  daß  die  militärischen  Maßnahmen  in 
Rußland  dieses  Drängen  sehr  begreiflich  machten. 


VI.   Die  Mobilmachungen 

Damit  gelangt  die  Besprechung  zu  einem  Abschnitt,  der  im 
vorliegenden  Buch  unzulänglich  dargestellt  ist,  den  militärischen 
Maßnahmen  im  Juli  1914.  Zunächst  liegt  das  Versehen  vor,  die 
Mobilmachungen,  die  1912/13  in  Österreich-Ungarn  und  Ruß- 
land stattfanden,  denen  des  Jahres  1914  gleichzustellen  (K.  S.  29 
und  135).    Im  ersten  Falle  aber  handelte  es  sich  um  Maßnahmen, 


—   24   — 

die  auf  Grund  von  Sonderbefehlen  allmählich  die  Präsenz- 
stärke bei  einer  Anzahl  von  Truppenteilen  erhöhten,  von  einem 
Aufmarsch,  das  ist:  der  Versammlung  außerhalb  der  Friedensgarni- 
sonen an  den  bedrohten  Grenzen,  jedoch  absahen.  So  wurden  da- 
mals in  Österreich-Ungarn  die  beiden  bosnischen  Armeekorps 
(XV.  und  XVi.)  auf  vollen  Kriegsstand  gebracht,  bei  drei  weiteren 
Korps  im  Innern  der  Monarchie  (IV.,  VII.,  XIII.)  durch  Einziehung 
einer  Klasse  der  Reserve  und  dreier  Jahrgänge  der  Ersatzreserve 
eine  erhebliche,  bei  den  drei  galizischen  Korps  (I,,  X.,  XI.)  sowie 
bei  sechs  Kavalleriedivisionen  eine  geringere  Erhöhung  des  Friedens- 
standes durchgeführt.  Ähnlich  war  es  damals  in  Rußland;  dort 
handelte  es  sich  im  Winter  1912/13  hauptsächlich  um  die  zum  ersten 
Male  angewendete  Maßnahme  der  Zurückbehaitung  des  ältesten 
Jahrgangs  bei  den  Fahnen,  ferner  um  ,, Probemobilmachungen" 
(opytnaja  mobilisazija),  bei  denen  die  einzuziehenden  Reservisten 
und  Pferde  durch  Abgaben  anderer  Truppenteile  dargestellt  wurden, 
sowie  um  ,, Kontrollmobilmachungen"  (powjerotschnaja  mobili- 
sazija), bei  denen  nach  den  1911  aufgestellten  ,, Grundsätzen"  die 
zur  Ergänzung  auf  Kriegsstärke  nötigen  Reservisten  wirklich 
einberufen,  Pferde  und  Fahrzeuge  von  der  Bevölkerung  gestellt 
wurden. 

Im  Jahre  1914  aber  werden  die  fürbestimmte  Kriegs- 
fälle vorgesehenen  Mobilmachungsbefehle  er- 
lassen, auf  Grund  deren  nach  lange  festgelegtem,  sorgfältig  vor- 
bereitetem Plane  nicht  nur  die  Ergänzung  der  Truppen  auf  Kriegs- 
stärke, sondern  auch  die  Beschaffung  des  gesamten  Kriegsgeräts 
und  in  unmittelbarem  Anschluß  daran,  teilweise  schon  gleichzeitig 
damit,  der  Aufmarsch  durchgeführt  werden,  die  kriegerischen 
Operationen  beginnen  sollten. 

Ein  weiterer  Irrtum  ist  es,  wenn  aus  einer  der  von  Eisner  weg- 
gelassenen Stellen  des  bayerischen  Gesandtschaftsberichts  vom 
18.  Juli  (D,  Anhang  IV.  2)  gefolgert  wird,  nach  deutscher  Auf- 
fassung habe,  „wenn  Österreich  mobilisierte",  dies  „automatisch" 
die  russische  Mobilisierung  nach  sich  ziehen  müssen  (K.  Seite  128, 
129).  Das  wird  von  der  österreichischen  Gesamt  mobilmachung, 
insbesondere  von  der  in  Galizien,  gesagt,  nicht  aber  von  der  am 
25.  Juli  verfügten  Teil  mobilmachung,  die  Galizien  nicht  be- 
rührte. Die  österreichische  Gesamt  mobilmachung,  von  der 
die  automatische  Gegenwirkung  befürchtet  wurde,  ist,  wie  jetzt 
doch  allgemein  bekannt  sein  sollte,  nicht  vor,  sondern  nach  der 
russischen  Totalmobilisierung  erfolgt,  obwohl  sie  schon  gegenüber 
der  am  29.  Juli  offiziell  mitgeteilten  Teilmobilmachung  von  13  Armee- 
korps eine  völlig  gerechtfertigte,  rein  defensive  Maßnahme  bildete; 
denn  damit  wurden  lediglich  50  Truppen-,  Landwehr-  und  Honved- 
divisionen   —   mehr  zählte  das  Heer  des  Donaustaates  nicht  — 


—    25    — 

gegen  54  (50)  russische  und  serbische  Divisionen  —  39  russische 
Feld-  und  Reservedivisionen  und  15  (nach  deutscher  Berechnung  1 1) 
serbische  —  bereitgestellt.  Auch  eine  streng  pazifistische  Regierung 
hätte  auf  diese  Maßnahme  nicht  verzichten  können,  die  der  deutsche 
Generalstabschef  am  30.  Juli  nachmittags  dem  k.  u.  k.  Militär- 
attache dringend  empfahl,  und  die,  reichlich  spät,  am  31.  Juli, 
12-3  nachmittags,  angeordnet  wurde  (G.  Seite  307  Abs.  2  und  6), 
also  fastzweivolleTage,  nachdem  in  Rußland  die  Mobili- 
sierung des  gesamten  Heeres  insgeheim  und  gegen  den  Willen  des 
Zaren  nicht  nur  angeordnet,  sondern  auch  begonnen  (Bericht  des 
britischen  Botschafters  in  Petersburg  vom  15.  September  1917), 
und  mehrere  Stunden  später,  als  die  allgemeine  Mobil- 
machungsorder in  den  Straßen  von  Petersburg  angeschlagen  worden 
war. 

Daß  die  Einbeziehung  von  zwei  Korps  im  Norden  (K.  Seite 
129),  nämlich  in  Böhmen  und  Mähren  (VIII.  und  IX.)  in  die  öster- 
reichisch-ungarische Teilmobilmachung  vom  25.  Juli,  keinerlei  Be- 
drohung Rußlands  bedeuten  konnte,  sollte  bei  einem  Blick  auf  die 
Karte  auch  dem  militärischen  Laien  zum  Bewußtsein  kommen. 
Was  den  Bericht  des  französischen  Botschafters  in  Petersburg  über 
die  Begründung  der  allgemeinen  russischen  Mobilmachung  betrifft 
(a.  a.  O.),  so  ist  seit  den  Enthüllungen  Pokrowskis  in  der  ,,Prawda" 
ziemlich  allgemein  bekannt,  daß  dieser  Bericht  nicht  nur  der  Wahr- 
heit widerspricht,  sondern  auch  im  französischen  Gelbbuch  in  ge- 
fälschter Weise  eingeordnet  ist,  da  schon  am  frühen  Morgen  des 
31.  Juli  in  Paris  ein,  die  Mobilisierung  der  ganzen  russischen  Armee 
„ohne  jede  Ausnahme"  mitteilendes  Telegramm  des  Petersburger 
Botschafters  eingetroffen  war  (Weißbuch  Juni  1919  Seite  207), 
Durch  die  erwähnten  russischen  Enthüllungen  sind  ja  eine  ganze 
Reihe  auch  anderer  Nummern  des  französischen  Gelbbuches  sowie 
des  russischen  Orangebuches  als  großenteils  absichtliche  Irrefüh- 
rungen entlarvt. 

Wenig  überzeugend  wirkt  der  Versuch,  zu  beweisen,  daß  man 
die  russische  Mobilmachung  ,,in  deutschen  Regierungskreisen  selbst 
nicht  aus  kriegerischen  Absichten  der  russischen  Regierung"  er- 
klärte (K.  Seite  129/130).  Das  Telegramm  des  deutschen  Militär- 
bevollmächtigten in  Petersburg  vom  30.  Juli,  man  habe  ,,aus  Angst 
vor  kommenden  Ereignissen  ohne  aggressive  Absichten"  mobilisiert 
(D.  Nr.  445),  bezieht  sich  nämlich  nicht  etwa  auf  die  damals  noch 
verheimlichte  allgemeine  Mobilisierung,  sondern  auf  die  T  e  i  1  - 
mobilmachung  gegen  Österreich.  Doch  auch  von  dieser  sagt  General 
von  Chelius  in  derselben  Depesche,  ,, diese  frühzeitige  Mobilisierung 
gegen  Österreich  in  einem  lokalen  Kriege  desselben  gegen  Serbien 
trage  nunmehr  die  Schuld  an  unabsehbaren  Folgen",  und 


—   26  — 

der  angeführte  Satz  über  das  Fehlen  aggresiver  Absichten  endet 
damit,  daß  man  auch  in  Petersburg  ,, erschreckt  ist  darüber, 
was  man  angerichtet  hat". 

Das  Telegramm  des  Reichskanzlers  an  die  Londoner  Botschaft, 
es  sei  ,, nicht  unmöglich",  daß  die  russische  allgemeine  Mobilmachung 
durch  in  Berlin  ,, kursierende  falsche  und  sofort  amtlich  dementierte 
Gerüchte"  über  eine  deutsche  Mobilisierung  verursacht  worden  sei 
(D.  Nr.  488)  —  gemeint  ist  das  Extrablatt  des  ,, Lokal-Anzeigers"  — 
äußert  eine  Vermutung,  deren  Unrichtigkeit  längst  erwiesen  ist; 
denn  sogar  das  russische  Orangebuch  (Nr.  62)  sagt,  daß  die  Nach- 
richt von  der  deutschen  Mobilmachung  sich  sofort  als  irrig  heraus- 
gestellt habe.  Damit  kommt  auch  dieses  Telegramm  als  Entlastungs- 
beweis für  das  verbrecherische  Treiben  der  Januschkjewitsch  und 
Suchomlinow  in  Wegfall.  Wie  ernst  gerade  in  deutschen 
R  e  g  i  e  r  u  n  g  s  k  r  e  i  s  e  n  die  russischen  Mobilisie- 
rung s  m  a  ß  n  a  h  m  e  n  von  Anfang  an  aufgefaßt 
wurden  ,  ist  schon  am  26.  Juli  viermal  in  den  Akten  zu  lesen 
(D.  Nr.  198,  199,  200,  219),  und  dort  am  29.  sogar  achtmal  nieder- 
gelegt (D.  Nr.  342,  343,  359,  365,  370,  378,  380,  387). 

In  der  ganzen  Darstellung  wird  die  russische  Teilmobilmachung 
von  13  Armeekorps  am  29.  Juli  überhaupt  nicht  erwähnt,  das 
Datum  der  allgemeinen  russischen  Mobilmachung,  deren  Beginn 
selbst  nach  englischen  Quellen  (Oman :  ,,The  Outbreak  of  the  War 
1914—1918")  auf  denselben  29.  verlegt  wird,'  ist  unrichtig  ange- 
geben. Kein  Leser  kann  aus  der  gebotenen  Schilderung  entnehmen, 
daß  in  der  Zeit  vom  26.  Juli,  \2^°  vormittags,  bis  zum  29.  Juli, 
10^*  nachm.  —  abgesehen  von  einer  Anzahl  weniger  wichtiger,  in 
die  amtliche  Publikation  nicht  aufgenommener  Nachrichten  —  nicht 
weniger  als  vierundzwanzig  Meldungen  über  russische 
Mobilmachungsmaßnahmen  beim  Auswärtigen  Amt  eingegangen 
sind,  von  denen  sich  mehr  als  die  Hälfte,  nämlich  vierzehn, 
auch  auf  die  von  russischer  Seite  beharrlich  abgeleugnete 
deutsche  Front  bezogen.  Dadurch  mußte  ein  Gefühl  von  Un- 
sicherheit entstehen,  das  ein  Drängen  militärisch  verantwortlicher 
Stellen  auf  eine  Entscheidung  wohl  erklärlich  macht.  Was  sollte 
werden,  wenn  Rußland  unter  dem  Vorwand  der  ,, Mobilmachung 
nur  gegen  Österreich"  ein  Korps  nach  dem  anderen  auch  gegenüber 
Deutschland  mobilisierte?  Wer  damals  die  Verantwortung  nicht 
zu  tragen  hatte,  kann  nachträglich  leicht  kritisieren.  Zudem  können, 
seitdem  im  Mai  1919  die  französisch-russische  Militärkonvention 
von  1893/4  veröffentlicht  worden  ist,  die  russischen  Vorspiegelungen, 
daß  die  Mobilmachung  in  Rußland  etwas  anderes  bedeute  als  in  den 
westlichen  Ländern,  und  daß  sie  nicht  unmittelbar  von  militärischen 
Operationen  gefolgt  sein  werde,  nicht  mehr  als  glaubhaft  angesehen 
werden.     Die  politischen   und   militärischen   Ratgeber  des  Zaren 


-    27    — 

konnten  nicht  im  Unklaren  darüber  sein,  daß  in  Anbetracht  der 
Stärkeverhältnisse  Österreich-Ungarn  schon  auf  die  russische  Teil- 
mobilmachung  mit  seiner  Gesamtmobilmachung  zu  antworten  ge- 
nötigt war.  Sie  mußten  wissen,  daß  die  Mobilmachung 
auch  nur  eines  Dreibundstaates  vertragsmäßig 
dieMobilisierungdergesamten,nichtnurrus- 
sischen,  sondern  auch  französischen  Streit- 
kräfte und  deren  ungesäumten  Einsatz  zu  ent- 
scheidendem Kampfe  nach  sich  zu  ziehen  hatte  (Artikel  2 
und  3  der  im  Anhang  abgedruckten  französisch-russischen  Militär- 
konvention). Schon  die  russische  Teilmobilmachung  zog  daher 
„automatisch"  die  österreichisch-ungarische  und  damit  ,, vertrags- 
gemäß" die  französische  Gesamtmobilisierung  nach  sich;  Mobil- 
machung in  Rußland  bedeutete  somit  nicht  ,, etwas  anderes"  als  in 
westlichen  Ländern.  Zudem  hatte  schon  1892  der  russische  General- 
stabschef gesagt:  „Im  Falle  eines  Krieges  gegen  Österreich  ist  es 
für  Rußland  unbedingt  unmöglich,  eine  Teilmobilmachung  durch- 
zuführen, Rußland  muß  und  wird  zu  einer  Gesamtmobilmachung 
schreiten"  (3.  französisches  Gelbbuch  Nr.  53). 


VII.   Die  Ultimaten  nach  Petersburg 
und  Paris 

Kaiser  Franz  Josef  sah  schon  nach  Empfang  des  Telegramms 
seines  Petersburger  Botschafters  über  die  russische  Teil  mobil- 
machung,  das  am  29.  Juli  10"  abends  in  Wien  eintraf  (G.  Seite  247, 
Anm.  2),  dem  Monarchen  aber  vielleicht  erst  am  30.  zur  Kenntnis 
gebracht  wurde,  die  Fortsetzung  der  Vermittlung  als  aussichtslos 
an  und  telegraphierte  am  31.  Juli,  1^  nachm.,  nach  Berlin: 

„Eine  neuerliche  Rettung  Serbiens  durch  Rußlands  Inter- 
vention müßte  die  ernstesten  Folgen  für  meine  Länder  nach 
sich  ziehen,  und  ich  kann  daher  eine  solche  Intervention  un- 
möglich zugeben"  (D.  Nr.  482). 

Inzwischen  hatte  mit  dem  Bekanntwerden  der  allgemeinen 
russischen  Mobilmachung  in  Berlin  am  31.  Juli,  11*  vormittags, 
auch  dort  die  politische  Leitung  ihren  Widerstand  gegen  das  Drängen 
der  militärisch  verantwortlichen  Stellen  wenigstens  teilweise  auf- 
gegeben. Um  1°  nachmittags  wurde  zwar  noch  nicht  die  Mobil- 
machung mit  Mobilmachung  beantwortet,  sondern  einstweilen  nur 
der  „Zustand  drohender  Kriegsgefahr"  erklärt.  Immerhin  trat 
das  ein,  was  Oberst  Repington  tags  vorher  —  für  Rußland  damals 
schon  zutreffend,  für  Deutschland  noch  nicht  —  geschrieben  hatte: 


—   28   — 

„Militärische  Forderungen  haben  jetzt  den  Vorrang  vor  politischen 
Erwägungen"  (military  exigencies  now  override  political  conside- 
rations),  und  auch  seine  andere  Vorhersage  bewahrheitete  sich: 
,,Es  wird  ein  Wunder  sein,  wenn  nicht  sehr  bald  nach  Ankündigung 
einer  russischen  Mobilmachung  ganz  Europa  in  Flammen  stehen 
wird"  (in  a  very  Short  time  after  a  Russian  mobilisation  is  announced, 
it  will  be  a  miracle  if  all  Europe  is  not  aflame).  Er  hatte  wohl  schon 
eine  Ahnung,  wenn  nicht  eine  genaue  Kenntnis,  von  dem,  was  die 
französich-russische  Militärkonvention  über  Mobilmachungen  ver- 
einbart hatte.  Spätestens  am  31.,  vermutlich  aber  schon  am  30., 
hatte  auch  Frankreich  den  letzten  Schritt  vor  der  Mobil- 
machung getan,  nämlich  den  Befehl  zur  Aufstellung  des 
Grenzschutzes  (ordre  de  depart  en  couverture)  erlassen, 
demzufolge  1 1  Infanterie-  und  3  Kavalleriedivisionen  mobilisiert 
wurden  und  an  die  Grenze  abrückten  (Weißbuch  Juni  1919,  Seite  74). 

Da  Deutschland  die  russische  Mobilmachung  nicht  sofort,  wie 
es  auch  der  strengste  Pazifist  als  berechtigt  anerkennen  müßte,  mit 
Mobilmachung,  sondern  mit  Erklärung  des  Zustandes  drohender 
Kriegsgefahr  beantwortete,  erging  um  3-°  nachmittags  ein  zwölf- 
stündiges  Ultimatum  nach  Petersburg,  das  die  Einstellung  aller 
Kriegsmaßnahmen  gegen  Deutschland  und  Österreich  for- 
derte (D.  Nr.  490).  Dieser  Zusatz  „und  Österreich"  wurde  für 
nötig  erachtet,  um  allen  Einwänden  Rußlands,  seine  Mobilmachung 
richte  sich  nur  gegen  Österreich,  den  Boden  zu  entziehen  (Blau- 
buch Nr.  121),  und  im  Hinblick  auf  die  nunmehr  erwiesene  Doppel- 
züngigkeit der  amtlichen  russischen  Angaben  über  die  getroffenen 
militärischen  Maßnahmen  kann  diese  Begründung  nicht  mehr  ais 
ungerechtfertigt  angesehen  werden.  Immerhin  wäre  es  wohl  rich- 
tiger gewesen,  eine  solche  Anfrage  nicht  ohne  Mitwirkung  Öster- 
reichs zu  stellen  oder  wenigstens  anzufügen,  daß,  falls  Rußland  seine 
Mobilmachung  einstelle,  Deutschland  sich  dafür  verbürge,  daß 
auch  Österreich  gegenüber  Rußland  das  gleiche  tun  werde.  Tat- 
sächlich scheint  man  sich  Wien  gegenüber  auf  die  telephonische 
Mitteilung  beschränkt  zu  haben,  daß  die  Absicht  bestehe,  ,,ein  Ulti- 
matum an  Rußland  wegen  Einstellung  der  Mobilmachung  zu  richten" 
(G.  Seite  308,  Abs.  6). 

Weit  verhängnisvoller  war  etwas  anderes.  Der  deutsche  Kriegs- 
plan wollte,  wie  wohl  den  Generalstäben  aller  Länder  bekannt  war, 
im  Osten  nur  eine  geringe  Anzahl  Korps  belassen,  die  Masse  aber 
ohne  Zeitverlust  gegen  Westen  werfen.  Deshalb  wurde  gleichzeitig 
mit  dem  nach  Petersburg  gehenden  zwölfstündigen  Ultimatum  auch 
nach  Paris  eine  auf  18  Stunden  befristete  Anfrage  gerichtet,  ob 
Frankreich  ,,in  einem  russisch-deutschen  Kriege  neutral  bleiben 
wolle"  (D.  Nr.  491).  Besonders  schlimm  war  es,  daß  man  in  einem 
geheimen  Zusatz  für  den  wenig  wahrscheinlichen  Fall  einer  franzö- 


—   29   — 

sischen  Neutralitätserklärung  die  Besetzung  der  Festungen  Toul 
und  Verdun  ,,als  Pfand"  fordern  zu  müssen  glaubte,  was  zweifels- 
ohne eine  gänzlich  unannehmbare  Forderung  bedeutete,  die  auch 
ein  Jaures  mit  Entrüstung  zurückgewiesen  hätte.  Man  darf  die 
Frage  aufwerfen,  ob  das  Ultimatum  an  Frankreich  so  früh  nötig 
war.  Gab  Rußland  innerhalb  einer  bestimmten  Frist  keine  oder  eine 
abschlägige  Antwort,  so  erging  der  deutsche  Mobilmachungsbefehl, 
und  diesem  folgte  doch  zweifelsohne  sofort  der  französische,  worauf 
die  Stellung  der  Anfrage  in  Paris,  ohne  den  unannehmbaren  ge- 
heimen Zusatz,  gerechtfertigt  gewesen  wäre. 

Man  kann  daher  zu  dem  Schlüsse  kommen,  daß  die  Anfrage  in 
Petersburg  anders  zu  fassen,  die  nach  Paris  aber  vorläufig  entbehr- 
lich gewesen  wäre.  Aber  auch  in  solchem  Falle  würden  die  Er- 
eignisse kaum  anders  verlaufen  sein.  Rußland  hätte  seine  Mobil- 
machung nicht  rückgängig  gemacht,  denn  die  Demobilisierung  von 
Millionenheeren  ist  nicht  so  einfach,  wie  Kautsky  auf  Seite  136  an- 
nimmt. Die  militärische  Begründung,  die  Zurücknahme  einer 
Mobilmachung  sei  ,, technisch  unmöglich",  ist  zwar  nicht  wörtlich 
dahin  zu  verstehen,  daß  ein  solcher  Gegenbefehl  überhaupt  nicht 
durchführbar  sei,  aber  die  Unterbrechung  oder  Einstellung  einer 
Massenmobilmachung  ruft  derartige  Störungen  in  den  militärischen 
Vorbereitungen  und  im  Verkehrswesen  hervor,  daß  der  betreffende 
Staat  für  längere  Zeit  in  einen  Zustand  operativer  Unterlegenheit 
gerät,  den  während  politischer  Krisen  kein  Staatsmann  wird  ver- 
antworten können.  Wenn  aber  Rußland  nicht  demobilisierte, 
mußte  Deutschland  mobil  machen,  Frankreich  mußte  folgen. 

Bei  dem  Vergleich  der  nach  Petersburg  und  Paris  gerichteten 
Anfragen  wird  hervorgehoben,  daß  in  der  ersteren  der  „entschei- 
dende Satz"  fehlte,  „die  Mobilmachung  bedeute  unvermeidlich 
Krieg"  (K.  Seite  137).  Dazu  ist  zu  bemerken,  daß  die  Auffassung 
über  die  Tragweite  der  deutschen  Mobilmachung  schon  einmal 
am  26.  Juli  und  dreimal  am  29.  nach  Petersburg  gedrahtet  worden 
war  (D.  Nr.  219,  342,  359,  380),  so  daß  eine  nochmalige  Wieder- 
holung überflüssig  war  und  dem  deutschen  Ultimatum  eine 
weitere,  unerwünschte  Schärfe  gegeben  hätte. 


30   — 


VIII.   Die  Kriegserklärungen  an 
Rußland  und  Frankreich 


Die  auf  zwölf  Stunden  befristete  Anfrage  an  R  u  ß  1  a  n  d  wurde 
vom  deutschen  Botschafter  in  Petersburg  um  Mitternacht  vom 
31.  Juli  zum  1.  August  übergeben  (D.  Nr.  536).  Der  russische 
Außenminister  „verwies  wieder  auf  technische  Unmöglichkeit, 
Kriegsmaßnahmen  einzustellen,  und  versuchte,  mich  (den  Bot- 
schafter), von  neuem  zu  überzeugen,"  daß  die  russische  Mobil- 
machung mit  der  deutschen  „nicht  zu  vergleichen  sei".  Sasonow 
erinnerte  sich  also  sehr  wohl  an  das,  was  ihm  viermal  über  die  Be- 
deutung der  deutschen  Mobilmachung  gesagt  worden  war.  Die 
Kritik,  daß  ,, selbst  der  leiseste  Hinweis"  fehlte,  daß  „die  Mobil- 
machung Deutschlands  gleichbedeutend  sei  mit  einer  Kriegser- 
klärung" (K,  Seite  139)  —  genauer:  mit  ,, Krieg"  —  ist  sonach  unbe- 
gründet und  verfehlt.  Auf  die  Frage  nun,  ob  Rußland  Frieden 
zu  halten  gewillt  sei,  „auch  falls  eine  Einigung  mit  Österreich  nicht 
erfolge",  wurde  keine  bejahende  Antwort  erteilt.  Die  Stunde  des 
Eintreffens  der  am  1.  August  1"  vormittags  abgesandten  Meldung 
über  die  vorstehende  Unterredung  ist  ausnahmslos  in  den  Akten 
nicht  vermerkt.  Der  Bericht  muß  jedoch  bei  der  um  die  Mittagszeit 
abgehaltenen  Sitzung  des  Bundesrats  (D.  Nr.  553)  schon  vorgelegen 
haben,  wurde  jedoch  nicht  als  Antwort  auf  den  Inhalt  der  gestellten 
Frage  angesehen,  denn  der  Reichskanzler  erklärte  einerseits,  die 
Antwort  sei  um  12°  mittags  fällig  gewesen,  was  die  Kenntnis  der 
Anfrage  um  Mitternacht  voraussetzt,  andererseits  erklärte  er,  noch 
nicht  zu  wissen,  wie  die  Antwort  laute. 

Die  auf  18  Stunden  befristete  Anfrage  an  Frankreich  wurde  in 
Paris  am  31.  Juli,  7°  abends,  gestellt  (D.  Nr.  528).  Der  französische 
Ministerpräsident  leugnete  hierbei,  von  der  russischen  allgemeinen 
Mobilmachung  Kenntnis  zu  haben,  obwohl,  wie  wir  jetzt  wissen, 
schon  am  frühen  Morgen  ein  Telegramm  der  Petersburger  Botschaft 
mit  dieser  Nachricht  eingetroffen  war  (Weißbuch  Juni  1919,  Seite 
207).  Die  Frist  lief  also  bis  1.  August,  1°  nachmittags.  Um  diese 
Stunde  gab  der  französische  Ministerpräsident  die  Antwort,  ,, Frank- 
reich werde  das  tun,  was  seine  Interessen  geböten",  setzte  aber 
hinzu,  er  sehe  ,,seit  gestern  Lage  als  verändert"  an,  denn  nach  amt- 
licher Mitteilung  sei  ,,der  Vorschlag  Sir  Edward  Greys  allseitiger 
Einstellung  kriegerischer  Vorbereitungen  von  Rußland  im  Prinzip 
angenommen"  und  Österreich-Ungarn  habe  erklärt,  daß  es  „ser- 


—   31    — 

bisches  Territorium  und  Souveränität  nicht  antasten  werde".  Der 
kurze,  nur  76  Worte  zählende,  1^  nachmittags  abgesandte  tele- 
graphische Bericht  des  Botschafters  über  diese  Unterredung  (Nr. 
571)  traf  erst  6^^  abends  in  Berlin  ein,  war  sonach  unter  Berück- 
sichtigung der  Uhrendifferenz  sieben  Stunden  unterwegs,  so  daß 
mit  größter  Wahrscheinlichkeit  eine  absichtliche  Verzögerung  der 
Übermittlung  durch  die  französischen  Telegraphenbehörden  anzu- 
nehmen ist. 

In  der  erwähnten  Bundesratssitzung  (D.  Nr.  553, 
Seite  60)  hatte  der  Reichskanzler  als  Absicht  der  deutschen  Re- 
gierung bekanntgegeben,  den  Krieg  an  Rußland  zu  erklären,  ,,wenn 
die  russische  Antwort  ungenügend  ausfällt",  ebenso  an  Frankreich, 
„wenn  nicht  eine  absolut  einwandfreie  Neutralitätserklärung 
kommt".  Als  nun  die  Fristen  abgelaufen  waren*),  verfuhr  man 
jedocn  anders  als  angekündigt. 

Nach  Petersburg  ging  12^^  nachmittags  eine  Kriegs- 
erklärung ab  (D.  Nr.  542),  obwohl  eine  ungenügende  Antwort 
nicht  vorlag,  sondern  nur  die  besprochene,  als  Antwort  über- 
haupt nicht  angesehene,  um  1°  morgens  abgesandte  Meldung  (D. 
Nr.  536). 

Nach  Paris  wurde  die  vorbereitete  Kriegserklärung  (Nr.  608) 
nicht  abgeschickt,  sondern  es  wurde  1*^  nachmittags  für  die  Beant- 
wortung des  ,,Eventualvorschlages"  —  worunter  die  Überlassung 
der  Festungen  Toul  und  Verdun  zu  verstehen  ist  —  eine  weitere 
Frist  von  zwei  Stunden,  also  bis  3°  nachmittags  gewährt  (D.  Nr. 
543).  Das  Telegramm  konnte  trotz  der  Uhrendifferenz  unmöglich 
noch  rechtzeitig  (1*^  =  12*^  Pariser  Zeit)  in  die  Hände  des  Botschafters 
gelangen,  der  es  denn  auch  erst  nach  3°  (=  4"  Berliner  Zeit)  erhielt 
(D.  Nr.  598). 

Um  5°  nachm.  erging  sodann  der  Mobilmachungs- 
befehl für  Heer  und  Flotte  in  Deutschland  (D. 
Nr.  554,  Anmerkung  4).  Die  Berechtigung  dieser  Maßnahme  kann 
nach  der  seit  mehr  als  29  Stunden  offiziell  bekannten  russischen 
allgemeinen  Mobilmachung  auch  der  strengste  Pazifist  nicht  be- 
streiten. Zwanzig  Minuten  vorher,  um  3^"  westeuropäischer  (=  4*" 
mitteleuropäischer  Zeit)  hatte  auch  Frankreich  mobil  gemacht 
(Blaubuch  Nr.  136),  ohne  daß  seine  Grenzen  bedroht  waren,  und 
ohne  Kenntnis  von  der  deutschen  Kriegserklärung  an  Rußland. 
Die  Erklärung  des  ,,Zustandes  drohender  Kriegsgefahr"  in  Deutsch- 
land war  auch  kein  zwingender  Grund;  die  entsprechende  Gegen- 
maßnahme, Aufstellung  des  Grenzschutzes,  war  ja,  wie  oben  (auf 


*)  Unter  Berücksichtigung  der  Uhrendifferenz  wäre  der  genaue  Zeitpunkt 
für  Ablauf  der  Fristen  nach  mitteleuropäischer  Zeit  gewesen:  für 
die  Anfrage  in  Petersburg  11°  vormittags,  nicht  12°  mittags;  für  die  Anfrage 
in  Paris  2°,  nicht  1°  nachmittags. 


—   32  — 

Seite  28)  erwähnt,  schon  spätestens  am  31 ,  Juli  getroffen.  Hingegen 
bestand  immerhin  die  Verpflichtung  gemäß  Artikel  2  der  franzö- 
sisch-russischen Militärkonvention,  denn  eine  Macht  des  Drei- 
bundes, nämlich  Österreich-Ungarn,  hatte  ja  in  Beantwortung  der 
russischen  Maßnahmen  um  12-^^  nachmittags  den  Mobilmachungs- 
befehl erlassen.  Ob  freilich  die  Meldung  des  französischen  Bot- 
schafters in  Wien  (Gelbbuch  Nr.  115)  schon  in  Paris  eingetroffen 
sein  konnte,  ist  zweifelhaft.  Bekannt  wurde  die  Tatsache  der  fran- 
zösischen Mobilmachung  in  Berlin  erst  9^  abends  durch  ein  Tele- 
gramm des  Militärattaches  (D.  Nr.  590),  worin  die  Stunde  der 
Mobilisierungsorder  ungenau  auf  5°  (=  6°  Berliner  Zeit)  an- 
gegeben ist. 

Anders  liegt  die  Berechtigungsfrage  hinsichtlich  der  Kriegs- 
erklärungan  Rußland.  Daß  sie  vom  pazifistischen  Stand- 
punkte aus  nicht  verteidigt  werden  kann,  bedarf  keiner  weiteren 
Ausführung.  Aber  auch  vom  realpolitischen  wirkte  sie 
sicher  in  höchstem  Grade  nachteilig,  denn  sie  schob  die  formelle 
Schuld  des  letzten  Schrittes  auf  Deutschland.  Selbst  nach  mili- 
tärischen Gesichtspunkten  lag  ein  zwingender  Grund  nicht  vor. 
Der  auf  den  zwei  Voraussetzungen  der  langsamen  Mobilmachung 
Rußlands  und  des  raschen  Sieges  über  Frankreich  aufgebaute 
deutsche  Kriegsplan  forderte  den  schleunigen  Beginn  der  Opera- 
tionen im  Westen,  nicht  aber  im  Osten,  wo  im  Gegenteil 
in  Anbetracht  der  Stärkeverhältnisse  ein  tunlichst  später  Beginn 
des  Kriegszustandes  erwünscht  war.  Da  man  nun  die  ursprüng- 
liche Absicht  der  gleichzeitigen  Kriegserklärung  an  Frankreich 
nicht  ausführte,  scheint  mir,  soweit  die  bisherigen  Veröffentlichungen 
ein  Urteil  zulassen,  in  der  Kriegserklärung  an  Rußland  auch  in  rein 
militärischer  Beziehung  ein  Denkfehler  vorzuliegen.  Darüber, 
warum  die  beabsichtigte  und  vorbereitete  Kriegserklärung  an 
Frankreich  nicht  abgesandt  wurde,  geben  die  Akten  keinen  er- 
schöpfenden Aufschluß.  Zunächst  war  es  wohl  das  Ausbleiben 
einer  französischen  Antwort,  vor  deren  Empfang  man  sich  scheute, 
diesen  Schritt  zu  unternehmen.  Als  sie  endlich  Q^'^  eintraf,  hatte 
sich  folgendes  ereignet: 

Um  2^  nachmittags  hatte  Kaiser  Wilhelm  ein  Telegramm  des 
Zaren  erhalten  (D.  Nr.  546),  worin  dieser,  obwohl  damals  Deutsch- 
land noch  gar  nicht  mobilisiert  hatte,  zugab,  daß  Deutschland  zu 
einer  solchen  Maßnahme  ,, gezwungen"  sei,  gleichzeitig  aber 
um  eine  Zusicherung  bat,  daß  die  Mobilmachung  ,,n  i  c  h  t  Krieg 
bedeute",  —  ein  weiterer  Beweis  dafür,  wie  ungerechtfertigt  die 
Unterstellung  ist  (K.  Seite  139),  als  wäre  Rußland  über  die  deutsche 
Auffassung  hinsichtlich  dieses  Punktes  im  Zweifel  gelassen  worden. 

Etwa  zwei  Stunden  später,  um  4-^,  traf  sodann  von  der  Lon- 
doner  Botschaft   ein   Telegramm   ein,   das   die   Möglichkeit  einer 


—   33   — 

, (Neutralität  Frankreichs"  in  einem  deutsch-russischen 
Kriege  in  Aussicht  stellte  (D.  Nr.  562).  Zur  Kenntnis  der  maß- 
gebenden Stellen  gelangte  diese  Depesche  nach  beendeter  Dechiff- 
rierung anscheinend  erst,  nachdem  um  5°  die  Mobilmachung  aus- 
gesprochen worden  war. 

Eifrig  wurde  das  unerwartete  Angebot  aufgegriffen  und  — 
in  weitgehender  Unterschätzung  der  französisch-russischen  Soli- 
darität —  die  Eventualität  eines  deutsch-russischen  Krieges  ohne 
Beteiligung  Frankreichs  ins  Auge  gefaßt  (D.  Nr.  575,  578  und  579). 
Die  vorbereitete  Kriegserklärung  an  Frankreich  wurde  zwar  nach 
Eintreffen  der  Antwort  aus  Paris  um  6^°  noch  ergänzt  (D.  Nr.  608), 
aber  wiederum  nicht  abgesandt.*)  Auch  militärische  Anordnungen, 
die  jedes  Überschreiten  der  französischen  Grenze,  selbst  durch 
Patrouillen,  verhindern  wollten,  wurden  erlassen. 

Weiterhin  ging  um  7°  abends  im  Berliner  Schloß  ein  Telegramm 
des  Königs  von  England  ein,  worin  er  den  Empfang  der  deutschen 
Beschwerde  über  die  russische  Mobilmachung  (D.  Nr.  477)  be- 
stätigte und  mitteilte,  daß  er  dem  Zaren  seine  Bereitwilligkeit  aus- 
gedrückt habe,  alles  zu  tun,  „um  die  Wiederaufnahme  der  Be- 
sprechungen zwischen  den  beteiligten  Mächten  zu  fördern"  (D. 
Nr.  574).  Endlich  überreichte  zu  einer  aus  den  Akten  nicht  ersicht- 
lichen Zeit  der  britische  Botschafter  eine  Aufzeichnung,  wonach 
Sir  Edward  Grey  wissen  ließ,  ,,er  höre  von  der  russischen  Regierung, 
daß  die  österreichisch-ungarische  Regierung  bereit  sei,  die  Lage 
mit  der  russischen  Regierung  zu  besprechen,  und  daß  die  russische 
Regierung  bereit  sei,  eine  Vermittlung  auf  der  Grundlage  einer 
solchen  Besprechung  anzunehmen"  (D.  Nr.  595). 

War  es  nun  die  Einwirkung  dieser,  teils  vor,  teils  nach  der 
Pariser  Antwort  erhaltenen  Nachrichten,  oder  waren  es  andere  Ein- 
flüsse; am  späten  Abend  scheint  sich  die  Ansicht  durchgerungen 
zu  haben,  daß  vielleicht  nicht  nur  der  Krieg  mit  Frankreich,  sondern 
auch  der  mit  Rußland  zu  vermeiden  sei.  Um  9*°  wurde  nämlich 
im  Auswärtigen  Amt  auf  das  2^  eingetroffene  Telegramm  des  Zaren 
eine  Antwort  entworfen,  die  trotz  der  abgesandten  Kriegserklärung 
einen  neuen  Anknüpfungspunkt  für  Unterhandlungen  bieten  konnte 
(D.  Nr.  600).  Die  um  10°  vom  Kaiser  unterzeichnete  Depesche 
ging  10^°  dringend  und  offen  ab.  Hoffte  man  vielleicht,  daß  sie  die 
vor  zehn  Stunden  abgesandte  chiffrierte  Kriegserklärung  noch  über- 
holen könnte?  Nach  den  deutschen  Weißbüchern  vom  August  1914 
und  Mai  1915  mußte  man  annehmen,  daß  dieses  Telegramm  schon 
etwa  um  2°  nachmittags  abgeschickt  worden  war;  seine  Bedeutung 
konnte  daher  bis  jetzt  nicht  richtig  eingeschätzt  werden. 


*)  Auch  die  schon  verstrichene  Zeit  für  Übergabe  der  Note  (6°)  wurde 
nicht  mehr  berichtigt. 


—    34    — 

■^  Diese  letzten  Schritte  waren  vergebens.  Nachdem  9^  "nach- 
mittags die  französische  Mobilmachung  gemeldet  war  (D.  Nr.  590), 
berichtete  Fürst  Lichnowsky  10^,  daß  nach  Ansicht  des  Londoner 
Kabinetts  „die  Antwort  der  deutschen  Regierung  bezüglich  der 
Neutralität  Belgiens  sehr  bedauerlich  sei"  (D.  Nr.  596),  und  um 
IP"  nachm.,  daß  die  Anregung  wegen  der  Neutralität  Frankreichs 
hinfällig  wäre  (D.  Nr.  603).  Die  Bedeutung  des  Telegramms  an  den 
Zaren  aber  wurde  weder  vom  russischen  Außenminister  noch  vom 
deutschen  Botschafter  richtig  gewürdigt.  Dieser  glaubte  sogar, 
es  handle  sich  wohl  um  ein  schon  24  Stunden  früher  aufgegebenes, 
in  der  Übermittlung  verzögertes  Telegramm  (D.  Nr.  666). 

Von  all  diesen  Zusammenhängen  findet  sich  in  der  Kautsky- 
schen  Darstellung  außerordentlich  wenig.  Die  Bundesratssitzung 
vom  1.  August,  deren  Protokoll  doch  eines  der  wichtigsten  Akten- 
stücke der  ganzen  Sammlung  bildet,  wird  überhaupt  nicht  erwähnt. 
Die  Wirkung,  die  das  Londoner  Telegramm  über  die  Möglichkeit 
der  Neutralität  Frankreichs  spielte,  wird  nicht  erkannt.  Für  das 
letzte  Telegramm  an  den  Zaren  gibt  es  nur  Spott  und  Hohn.  ,, Ab- 
sonderlichste Episode",  ,, Komödie  der  Irrungen  und  Wirrungen", 
,, unerklärlich",  der  Kaiser  und  alle  seine  Ratgeber  hatten  ,,den 
Kopf  verloren"  (K.  Seite  140  und  141),  das  sind  die  Aufklärungen, 
die  dem  Leser  geboten  werden. 

Kautsky  weiß  auch  ebenso  wenig,  wie  ich  es  bis  vor  kurzem 
gewußt  habe,  daß  die  von  ihm  als  ,, schwächlich  und  verschroben" 
bezeichnete  Formel  der  Kriegserklärung  an  Rußland :  , .betrachtet 
sich  als  im  Kriegszustande  mit  Rußland  befindlich",  nach  Ansicht 
mancher  Völkerrechtslehrer  eine  Form  darstellt,  die  der  Gegenpartei 
noch  eine  Möglichkeit  zu  Verhandlungen  bieten  soll.  Wenn  man 
auch  diese,  wohl  etwas  spitzfindige  juristische  Interpretation  nicht 
anerkennt,  so  sollte  man  doch  wissen,  daß  Napoleon  III.  1870  und 
Wilson  1917  in  ihren  Kriegserklärungen  an  Deutschland  sich  ebenso 
„schwächlich  und  verschroben"  ausgedrückt  haben. 

Zur  Kriegserklärung  an  Frankreich  kam  es  dann  am 
3.  August  (D.  Nr.  734— 734c).  Sie  beruhte  nicht  „vor  allem"  auf 
den  Bombenwürfen  ,, mysteriöser  Flieger"  (K.  Seite  155),  sondern 
auf  Grenzverletzungen  zu  Lande,  die  aus  dem,  von  den  französischen 
Behörden  völkerrechtswidrig  und  anscheinend  unter  genauer  Kennt- 
nis des  deutschen  Chiffres  stark  verstümmelten  Text  der  Kriegs- 
erklärung nicht  entnommen  werden  konnten.  Über  den  Umfang 
dieser  Grenzverletzungen  zu  Lande  geben  die  Anlage  II  des  deutschen 
Weißbuches  vom  Juni  1919  und  die  „Deutsche  Allgemeine  Zeitung" 
vom  25.  Juni   1919  Nr.  297  näheren  Aufschluß. 

Es  bleibt  noch  die  Frage,  wie  wohl  die  Dinge  gekommen  wären, 
wenn  der  übereilte  Schritt  der  Kriegserklärung  an  Rußland  nicht 
erfolgt  wäre.    Eine  bestimmte  Antwort  darauf  ist  schwer  möglich. 


—   35   — 

Aber  nach  dem,  was  seit  dem  Frühsommer  1919  einerseits  durch 
die  russischen  Enthüllungen,  andererseits  über  die  französisch- 
russische Militärkonvention  bekannt  geworden  ist,  spricht  die 
Wahrscheinlichkeit  dafür,  daß  der  Krieg  nicht  vermieden  worden 
wäre.  Rußland  war  nicht  bereit  zu  demobilisieren  und  auch  nicht 
bereit,  eine  Zusicherung  dafür  zu  geben,  daß  es  nicht  später  zu  den 
Waffen  greifen  würde,  falls  eine  Einigung  mit  Österreich-Ungarn 
nicht  zustande  käme  (D.  Nr.  536).  Frankreich  mobilisierte  un- 
abhängig von  und  zeitlich  etwas  vor  der  deutschen  Mobil- 
machung und  ohne  Kenntnis  der  deutschen  Kriegserklärung  an 
Rußland,  in  Ausführung  von  Artikel  2  der  Militärkonvention  von 
1892.  Man  kann  wohl  kaum  bezweifeln,  daß  auch  der  3.  Artikel 
dieser  Konvention  befolgt  worden  wäre,  wonach  die  mobilgemachten 
Streitkräfte  ,, ungesäumt  (in  aller  Eile)  zu  entscheidendem  (nach- 
drücklichstem) Kampf  einzusetzen  waren"  (ces  forces  s'engageront 
ä  fond,  en  toute  diligence).  Diese  Auffassung,  daß  Mobilmachung 
gleichbedeutend  mit  Krieg  sei,  war  also  nicht,  wie  man  lange  glauben 
konnte,  ja,  nach  den  amtlichen  französischen  und  russischen  Ver- 
sicherungen annehmen  mußte,  ein  deutsches  Reservat,  sondern 
war  schon  22  Jahre  vor  dem  Kriege  vertraglich  zwischen  Frankreich 
und  Rußland  festgelegt  worden.  Sie  wurde  am  Tage  nach  der  Unter- 
zeichnung der  Konvention  durch  den  französischen  Unterhändler, 
General  Boisdeffre,  noch  bekräftigt,  der  dem  Zaren  auseinander- 
setzte, ,, Mobilmachung  bedeutet  Kriegserklärung"  (la  mobilisation 
c'est  ia  declaration  de  guerre)  und  diesen  Satz  dann  noch  näher 
erläuterte  (Anhang  Nr.  3) ;  noch  schärfer  hatte  nach  einem  Bericht 
des  französischen  Militärattaches  vom  16.  Juli  1892  der  russische 
Generalstabschef  sich  ausgedrückt,  der  die  Mobilmachung  sogar 
als  „untrennbar  von  einem  Angriff"  (inseparable  d'une  agression) 
angesehen  wissen  wollte  (Anhang  Nr.  4). 

Tatsächlich  wurden  Versuche  zu  Grenzüberschrei- 
tungendurchrussischeTruppen  schon  am  2.  August, 
4®  vormittags  (=  5  Uhr  osteurop.  Zeit),  also  10  Stunden  nach  Über- 
gabe der  deutschen  Kriegserklärung  in  Petersburg,  gemeldet.  Hier- 
wegen ergeben  sich  manche  Fragen,  deren  Beantwortung  die  weitere 
Forschung  trotz  der  entstehenden  großen  Schwierigkeiten  versuchen 
muß.  Es  kommt  in  Betracht,  wann  die  Nachricht  von  der  deutschen 
Kriegserklärung  zu  den  russischen  Befehlshabern  an  der  Grenze 
gelangt  sein  kann,  wann  diese  ihre  Anordnungen  erließen,  welche 
Stärke  die  betreffenden  Abteilungen  hatten.  Der  Vorwurf  des 
deutschen  Weißbuches  vom  August  1914,  die  Russen  hätten  die 
Grenze  überschritten,  bevor  in  Berlin  eine  Meldung  über  die  Über- 
gabe der  Kriegserklärung  eingetroffen  war,  ist  selbstverständlich 
nicht  gerechtfertigt,  denn  der  Kriegszustand  trat  ein  mit  Über- 
gabe der  Kriegserklärung,  nicht  mit  dem  Eintreffen  der  M  e  I  - 


—  36  — 

düng  über  die  Ausführung  dieses  Auftrags.  Es  liegt  hier  eine 
Flüchtigkeit  vor,  wie  sie  bei  einer  in  größter  Eile  angefertigten 
Denkschrift  wohl  erklärlich  ist. 

Von  französischer  Seite  fanden,  wie  bei  der  deutschen 
Kriegserklärung  an  Frankreich  erwähnt,  schon  bald  nach  Erlaß 
des  Mobilmachungsbefehls  vielfache  Verletzungen  deutschen  Ge- 
biets statt,  obwohl  vorsorglich  die  Anordnung  getroffen  worden 
war,  die  Truppen  sollten  10  km  von  der  Grenze  abbleiben.  Nach 
mehr  als  vierzigjährigem  Frieden  können  eben  Millionenheere  ohne 
solche  Zwischenfälle  sich  nicht  auf  nächste  Entfernung  gegen- 
überstehen. Daß  jedoch  in  Frankreich  auch  Ernsteres  erwogen 
wurde,  beweist  nachstehende  Depesche  des  russischen  Botschafters 
in  Paris  an  das  Ministerium  in  Petersburg  (Weißbuch  Juni  1919, 
Seite  207/8): 

„Die  Deutschen  überschreiten  in  einzelnen  kleinen  Ab- 
teilungen die  französische  Grenze,  und  auf  dem  französischen 
Territorium  erfolgten  bereits  einige  Zusammenstöße.  Das  wird 
der  Regierung  die  Möglichkeit  geben,  vor  den  zu  Dienstag 
(4.  August)  einberufenen  Kammern  zu  erklären,  daß  auf  Frank- 
reich ein  Überfall  verübt  worden  sei,  und  so  die  formale  Kriegs- 
erklärung zu  vermeiden." 

Dieser  Gedanke,  man  könne  ohne  das  überflüssige  Zwischen- 
glied der  ,, formalen  Kriegserklärung"  den  Beginn  der  Operationen 
unmittelbar  an  die  Mobilmachung  anschließen,  wird  wohl  kaum 
ohne  das  Einverständnis  der  französischen  Militärs  und  der  fran- 
zösischen Regierung  nach  Petersburg  gemeldet  worden  sein. 

Auf  deutscher  Seite  stehen  dem  freilich  gegenüber  der 
Einmarsch  in  das  neutrale  Luxemburg  mit  schwachen  Abteilungen 
schon  am  Abend  des  1.,  mit  stärkeren  Truppen  am  frühen  Morgen 
des  2.  August,  ferner  am  Morgen  des  4.  das  viel  verhängnisvollere 
Betreten  belgischen  Gebietes. 


IX.   Der  Einmarsch  in  Belgien 

Die  Verletzung  der  luxemburgischen  und  belgischen  Neutra- 
lität bildet  zweifellos  das  für  Deutschland  am  meisten  belastende 
Moment.  Die  Frage  kann  aber  nicht  mit  einer  einfachen  Anklage 
erledigt  werden,  namentlich  dann  nicht,  wenn  man  wie  Kautsky 
die  Ansicht  ausspricht:  „rein  militärisch  betrachtet  war  also  der 
Durchbruch  durch  Belgien  sicher  geboten"  (K.  Seite  156).  Ich  stehe 
nicht  mehr  auf  diesem  Standpunkt,  der  früher  auch  der  meinige 
war,  und  glaube,  daß  sogar  vom  rein  militärischen  Gesichtspunkt 
ein  anderes  Verfahren  möglich  gewesen  wäre. 


—   37   — 

Hingegen  ist  es  fraglich,  ob  Frankreich  und  England  das  Recht 
zusteht,  sich  zu  Richtern  über  das  deutsche  Vorgehen  aufzuwerfen. 
Im  April  1919  ist  vor  der  französischen  Untersuchungskommission 
über  die  vorzeitige  Räumung  des  Beckens  von  Briey  zur  Sprache 
gekommen,  daß  von  1911  bis  1913  ein  Operationsplan  in  Kraft  war, 
wonach  die  französischen  Armeen  nicht  wie  1914  korrekterweise 
südlich  der  belgischen  Grenze,  sondern  auf  der  ganzen  Strecke 
„von  Beifort  bis  zur  Nordsee"  aufmarschieren  sollten.  Wo  war 
damals,  wenn  die  Franzosen  diese  ganze  Strecke  einnahmen,  die 
Versammlung  der  Engländer  gedacht,  über  die  ja  seit  dem  Januar 
1906  ständig  Besprechungen  zwischen  den  beiden  Generalstäben 
stattfanden?  Wie  war  die  Erfüllung  des  Artikels  3  der  französisch- 
russischen Militärkonvention  geplant,  in  aller  Eile  zu  nachdrück- 
lichsten Operationen  zu  schreiten?  Das  war  doch  nur  möglich 
durch  einen  Vormarsch  auf  der  ganzen  Front,  also  durch  einen  Ein- 
marsch in  Belgien. 

Das  ist  keine  Rechtfertigung  Deutschlands  und  keine  Anklage 
Belgiens,  das  nach  dem  gesamten  bisher  vorliegenden  Material  sich 
durchaus  loyal  benommen  hat  und  auch  einem  französischen  Ein- 
bruch Widerstand  geleistet  haben  würde.  Aber  Frankreich  und 
England  können  nicht  mehr  als  Kläger  gegen  Deutschland  in  dieser 
Frage  auftreten.  Daß  man  in  Frankreich  über  die  Verletzung  der 
luxemburgischen  und  belgischen  Neutralität  auch  1914  innerlich 
keineswegs  entrüstet  war,  sie  vielmehr  als  einen  großen  Glücksfall 
betrachtete,  beweist  die  schon  angeführte  Depesche  Iswolskis  vom 
2.  August.    Der  russische  Botschafter  fährt  nämlich  fort: 

,, Heute  ist  die  Nachricht  eingetroffen,  daß  deutsche  Truppen 
das  luxemburgische  Territorium  betreten  und  so  die  Neutralität 
des  Großherzogtums  verletzt  haben,  die  durch  den  u.  a.  von 
England  und  Italien  unterzeichneten  Traktat  von  1867  garantiert 
wurde.  Dieser  Umstand  wird  für  sehr  vorteilhaft  für  Frankreich 
betrachtet,  denn  er  wird  unvermeidlich  (Lücke  im  Telegramm) 
seitens  Englands  hervorrufen  und  es  zu  einer  energischeren 
Handlungsweise  veranlassen.  Es  liegt  auch  die  Nachricht  vor, 
daß  die  deutschen  Truppen  sich  angeblich  in  Richtung  Arlon 
bewegen,  was  auf  die  Absicht  hinweist,  auch  die  belgische  Neu- 
tralität zu  verletzen.  Das  wird  noch  fühlbarer  für  England  sein. 
Der  Vorsitzende  des  Ministerrats  telegraphierte  sofort  nach  Lon- 
don und  beauftragte  Cambon,  die  Aufmerksamkeit  Greys  darauf 
zu  lenken." 

Ein  Kommentar  zu  diesen  Ausführungen  ist  entbehrlich. 


—    38    — 


xrs     

X.  Der  Bericht  der  Ententekotnmission 
vom  29.  März  1919 

Von  dem  in  jeder  Beziehung  kläglichen,  mit  der  Kautskyschen 
Darstellung  selbst  häufig  in  Widerspruch  stehenden  Bericht  der 
Ententekommission  vom  29.  März  1919  (Weißbuch  Juni  1919, 
Nr.  5)  wird  gesagt,  daß  er  ,,eine  ebenso  kurze,  wie  im  wesentlichen 
zutreffende  Skizze  der  Entstehung  des  Krieges  gibt"  (K.  Seite  86). 
Die  Schwäche  dieses  Machwerks  wurde  nun  aber  bekanntlich  auch 
in  den  Ententeländern  so  stark  empfunden,  daß  man  sich  scheute, 
es  der  deutschen  Regierung  mitzuteilen,  sondern  in  einer  Note  vom 
20.  Mai  es  als  eine  ,, Urkunde  interner  Natur"  bezeichnete,  die  nicht 
übermittelt  werden  könne  (Weißbuch  Juni  1919  Seite  7).  Einige 
der  Ungeheuerlichkeiten  des  Pamphlets,  das  als  eine  seiner  Haupt- 
quellen den  bayerischen  Gesandtschaftsbericht  vom  18.  Juli  in  der 
illoyalen  Eisnerschen  Kürzung  anführt,  seien  im  nachstehenden 
zusammengestellt : 

1 .  Dem  deutschen  Generalstabschef  werden  Äußerungen  in  den 
Mund  gelegt,  die  er  niemals  getan  hat. 

2.  Das  Wort  „Krieg"  wird  ständig  ohne  Zusatz  gebraucht, 
in  der  leicht  erkennbaren  Absicht,  den  Leser  zu  verleiten,  an 
,, Weltkrieg"  statt  an  den  ,, serbisch-österreichischen  Krieg" 
zu  denken. 

3.  Die  Behauptung,  daß  Österreich  direkte  Verhandlungen  mit 
Rußland  abgelehnt  habe,  ist  in  dieser  allgemeinen  Fassung 
unwahr.  Schon  am  25.  Juli  erging  eine  Aufklärung  über  den 
am  meisten  beanstandeten  Punkt  5  des  Ultimatums  nach 
Petersburg;  fast  täglich  fanden  Besprechungen  teils  in  Wien, 
teils  in  Petersburg  statt.  Endlich  wird  verschwiegen,  daß 
es  sich  bei  dem  direkten  Gedankenaustausch  um  eine  deutsche 
Anregung  handelte. 

4.  Ebenso  wird  nicht  erwähnt,  daß  Österreich  die  vorüber- 
gehend unterbrochenen  direkten  Besprechungen  mit  Peters- 
burg gerade  auf  Grund  des  von  Deutschland  geübten  Druckes 
wieder  aufnahm. 

5.  Daß  die  deutsche  Regierung  ,,alle  Vermittlungsversuche  zu- 
nichte gemacht  habe",  ist  auch  im  Kautskyschen  Buche  über- 
zeugend widerlegt. 


--    39    — 

6.  Obwohl  in  Paris  bekannt  sein  muß,  daß  das  im  Weißbuch 
vom  3.  August  1914  nicht  enthaltene  Zaren telegramm  über 
das  Haager  Schiedsgericht  inzwischen  längst  auch  von 
deutscher  Seite  veröffentlicht  v/orden  ist,  wird  im  Bericht 
der  Ententekommission  der  Anschein  erweckt,  als  werde 
diese  Depesche  noch  immer  verleugnet. 

7.  Die  russischen  Mobilmachungen  werden  mit  Stillschweigen 
übergangen,  sowohl  die  Teilmobilmachung  von  13  Armee- 
korps, die  am  29.  Juli  amtlich  mitgeteilt  wurde,  als  auch 
die  Totalmobilisierung,  die  an  demselben  29.  insgeheim  be- 
gonnen, am  30.  abends  allgemein  angeordnet,  am  frühen 
Morgen  des  31.  öffentlich  bekanntgegeben  wurde. 

8.  Es  wird  verheimlicht,  daß  man  in  Paris  schon  am  Morgen 
des  31.  Juli  durch  eine  Depesche  des  französischen  Bot- 
schafters in  Petersburg  über  die  Tatsache  der  allgemeinen 
russischen  Mobilmachung  unterrichtet  war  (Weißbuch  Juni 
1919,  Seite  207).  Der  Bericht  hält  noch  immer  an  der  groben, 
seit  mehr  als  fünf  Jahren  in  den  Ententeländern  verbreiteten 
Unwahrheit  über  die  Reihenfolge  der  Mobilmachungen  fest, 
er  nimmt  keine  einzige  der  vielen  Fälschungen  des  russischen 
Orangebuches  und  des  französischen  Gelbbuches  über  diesen 
Punkt  zurück. 

9.  Daß  die  deutsche  Mobilmachung  am  21.  Juli  begonnen  habe, 
ist  eine  wider  besseres  Wissen  ausgesprochene  Unwahrheit. 

10.  Aus  dem  ins  Französische  entstellt  übersetzten  Telegramm 
des  deutschen  Kaisers  vom  1.  August,  7^  abends,  das  jede 
Überschreitung  der  französischen  Grenze  verhindern  wollte, 
v/ird  lächerlicher  Weise  gefolgert,  daß  „die  deutsche  Armee 
auf  Grund  vorhergehender  Befehle  mobilisiert  und  zusammen- 
gezogen worden  war".  Man  kann  sich  schwer  vorstellen, 
daß  die  15  Unterzeichner  des  Berichts  selbst  an  eine  solche 
Torheit  geglaubt  haben. 

1 1 .  Daß  die  deutsche  Flotte  Libau  vor  Beginn  des  Kriegszu- 
standes beschossen  habe,  ist  unwahr, 

12.  Von  einem  ,, Vormarsch"  deutscher  Truppen  über  die  fran- 
zösische Grenze  vor  Beginn  des  Kriegszustandes  kann  nicht 
gesprochen  werden. 

13.  Die  Grenzverletzungen  sind,  wie  bei  der  Ansammlung  von 
Millionenheeren  nach  mehr  als  vierzigjährigem  Frieden  leicht 
erklärlich,  auf  beiden  Seiten  sehr  zahlreich  gewesen,  auch 


—   40   — 

auf  deutscher  Seite  weit  zahlreicher,  als  die  jeder  Sach- 
kenntnis entbehrende  Ententekommission  annimmt,  aber 
immerhin  noch  nicht  so  zahlreich,  wie  die  Verletzungen 
deutschen  Gebiets  durch  französische  Truppen  (Weißbuch 
Juni  1919,  Anlage  II,  und  „Deutsche  Allgemeine  Zeitung" 
vom  25.  Juni  Nr.  297). 

14,  Daß  die  deutsche  Kriegserklärung  an  Frankreich  nicht  aus- 
schließlich auf  die  unzutreffenden  und  leider  nicht  genügend 
nachgeprüften  Meldungen  über  Bombenwürfe  aus  Flug- 
zeugen sich  stützte,  sondern  in  erster  Linie  Gebietsver- 
letzungen auf  dem  Landwege  anführte  (D.  Nr.  734— 734c), 
muß  der  französischen  Regierung  bei  Abfassung  des  Be- 
richts im  März  1919  bekannt  gewesen  sein,  da  sie  die  deutschen 
Chiffretelegramme  nicht  nur  im  August  1914  völkerrechts- 
widrig verstümmeln  ließ,  sondern  später  auch  selbst  zu  ent- 
ziffern in  der  Lage  gewesen  ist. 

Die  vorstehenden  Angaben,  die  noch  nicht  erschöpfend  sind, 
genügen  wohl,  um  zu  zeigen,  daß  der  Bericht  allerdings  ,,kurz"  ist, 
aber  trotz  seiner  Kürze  die  Aufgabe  löst,  auf  wenig  Raum  erstaunlich 
viel  Unrichtigkeiten  zu  häufen. 


XI.   Schlußbemerkungen 

Zusammenfassend  kann  man  sagen,  daß  das  Kautskysche  Buch 
wegen  seiner  Beschränkung  auf  nur  einen  Teil  der  längst  allgemein 
zugänglichen  Quellen  nicht  als  ein  Ergebnis  unparteiischer  For- 
schung gelten  kann.  Die  übertriebene  Bewertung  der  kaiserlichen 
Marginalien  gibt  dem,  in  den  Dienstgang  der  höheren  deutschen 
Behörden  nicht  eingeweihten  Leser  ein  durchaus  unrichtiges  Bild, 
denn  es  fehlt  jede  Aufklärung  darüber,  wann  die  Randglossen  ge- 
schrieben und  wie  oft  sie  nicht  beachtet  wurden.  Ein  Beispiel  ist 
schon  auf  Seite  22  angeführt,  daß  nämlich  die  Bemerkungen  Kaiser 
Wilhelms  zum  Telegramm  Lichnowskys  vom  29.  Juli,  9^^  nachm., 
erst  niedergeschrieben  wurden,  nachdem  dieses  Telegramm  längst 
mit  scharfem  Mahnwort  nach  Wien  weitergegeben  war  (D.  Nr.  368 
und  395).  Als  weiteres  Beispiel  sei  angeführt,  daß  die  wiederholte 
Randbemerkung,  Österreich  solle  doch  den  Sandschak  von  Serbien 
zurücknehmen,  die  deutsche  politische  Leitung  nicht  abgehalten 
hat,  gerade  den  Verzicht  des  Wiener  Kabinetts  auf  Annexionen 
nachdrücklichst  und  scheinbar  erfolgreich  zu  fordern  (D.  Nr.  29 
und  155,  andererseits  Nr.  104,  198-200,  323  und  361). 


—   41    — 

In  formeller  Beziehung  wirkt  störend,  daß  Kautsky  sein 
Buch  vor  Ausgabe  der  amtlichen  Aktenpublikation  geschrieben  hat 
und  daher  nicht  auf  die  zur  Zeit  der  Niederschrift  noch  nicht  end- 
gültig feststehenden  Nummern  der  Aktenstücke  hinweisen  konnte. 
Wer  genau  arbeiten  will,  sei  schließlich  noch  auf  folgende  kleinere 
Unstimmigkeiten  und  Druckfehler  aufmerksam  gemacht: 

Zur  Zeit  des  Abschlusses  der  französisch-russischen  Allianz 
(Seite  16)  im  Jahre  1891/92  war  die  Zahl  der  für  den  Kriegsdienst 
in  Betracht  kommenden,  über  20  Jahre  alten  Männer  in  Deutsch- 
land und  Frankreich  nahezu  gleich;  der  spätere  Überschuß  dieser 
Jahresklassen  in  Deutschland  wurde  auch  1914  durch  Verlängerung 
der  Wehrpflicht  noch  ausgeglichen  (Seite  13)  und  künftig  durch 
den  viel  bedeutenderen  Bevölkerungszuwachs  Rußlands  mehr  als 
aufgewogen. 

Wie  wenig  infolge  der  Anfänge  des  deutschen  Flottenbaues 
1897  „alle  Gegensätze  zwischen  den  einzelnen  Staaten  hinter  den 
einen  großen  Gegensatz  gegen  das  Deutsche  Reich"  zurücktraten 
(K.  Seite  17),  beweist  die  französisch-englische  Krise  wegen  Fa- 
schodas  (1898),  das  Bündnisangebot  Chamberlains.an  Deutschland 
(1899),  der  russisch-japanische  Krieg  (1904/05)  und  der  bis  zum 
Jahre  1907  andauernde  englisch-russische  Antagonismus. 

Die  Kriegserklärung  Österreichs  an  Rußland  wurde  am  5., 
nicht  6.  August  abgesandt  (K.  Seite  57,  D.  Nr.  878). 

Zu  den  Ausführungen  auf  Seite  88  ist  zu  bemerken,  daß  die 
Abberufung  des  österreichisch-ungarischen  Botschafters  in  Berlin 
anscheinend  schon  seit  längerer  Zeit  beschlossen  war  (D.  Nr.  324). 
Wegen  der  mehrfach  unklaren  und  irrigen  Berichterstattung  dieses 
einst  mit  Recht  hochangesehenen  Diplomaten  darf  auf  Gooss  S.  31, 
174,  235,  248,  253  Anm.  2  verwiesen  werden. 

Der  englische  Vorschlag  vom  27.  Juli  wurde  von  Berlin  nach 
Wien  nicht  ,,bloß  weitergegeben"  (K.  Seite  90),  sondern  „zur  Er- 
wägung unterbreitet",  mit  dem  Beifügen,  daß  Deutschland  „die 
Vermittlerrolle  nicht  abweisen  könne"  (D.  Nr.  277). 

Das  Schreiben  Kaiser  Wilhelms  vom  28.  Juli,  10°  vormittags 
(K.  Seite  91),  ist  an  den  Staatssekretär  des  Auswärtigen,  nicht  an 
den  Reichskanzler,  gerichtet. 

Serbien  zählte  allerdings  1909  nur  rund  3  Millionen  Einwohner 
(K.  Seite  98),  aber  die  beiden  Balkankriege  brachten  ihm  den  immer- 
hin nicht  unbeträchtlichen  Zuwachs  von  nahezu  2  Millionen;  sein 
Gebietsumfang  kam  seitdem  dem  von  Bayern  und  Sachsen  zu- 
sammen nahezu  gleich. 

Die  Abgangszeiten  der  beiden  Telegramme  nach  Wien  in  der 
Nacht  vom  29.  zum  30.  Juli  auf  Seite  123  sind  verwechselt. 


-     42     - 

Am  1,  August  mobilisierten  nicht  England  und  Frankreich 
(Seite  129),  sondern  Frankreich  und  Deutschland.  England  hatte 
für  seine  Flotte  schon  früher  umfassende  Maßnahmen  getroffen 
(Gelbbuch  Nr.  66,  Blaubuch  Nr.  47,  48  und  87;  D.  Nr.  484);  der 
Mobilisierungsbefehl  für  das  britische  Landheer  erging  am  3.  August, 
11  Uhr  vormittags,  etwa  18  Stunden,  bevor  deutsche  Truppen  bel- 
gischen Boden  betraten  (Lord  Haldane  im  ,, Atlantic  Monthly" 
vom  Oktober  1919). 

In  Petersburg  waren  Deutschland  und  Frankreich  durch  Bot- 
schafter, nicht  Gesandte,  vertreten  (Seite  117  und  129);  Herr  de 
l'Escaille  war  belgischer  Geschäftsträger,  nicht  Gesandter  (Seite 
127),  sondern  vertrat  diesen  bis  zu  dessen  Rückkehr  am  31.  Juli 
(IL  belgisches  Graubuch  Nr.  17). 

Es  wird  niemandem  gelingen,  die  schwierige  Materie  der  diplo- 
matisch-militärischen Geschichte  der  kritischen  13  Tage  ohne 
ähnliche  Irrtümer  zu  bearbeiten,  wie  sie  im  vorstehenden  aufgezählt 
sind.  Diese  Erkenntnis  sollte  aber  auch  nachsichtig  stimmen  gegen 
die  Abfassung  des  ersten  deutschen  Weißbuches  vom  3.  August 
1914,  das  nicht  in  monatelanger  Arbeit,  sondern  in  aller  Hast  binnen 
48  Stunden  fertiggestellt  werden  mußte.  Ein  schwerer  wiegender 
Irrtum  ist  es  jedoch,  wenn  Herr  Kautsky  sich  der  Meinung  hingibt, 
durch  seine  einseitige  Darstellung  der  Vorgänge,  die  alle  Fehler 
und  Schlechtigkeiten  der  Gegenpartei  verschweigt,  dem  deutschen 
Volke  einen  Dienst  erwiesen  zu  haben  (K.  Seite  180).  Die  aus  dem 
neutralen  und  feindlichen  Auslande  herüberklingenden  Stimmen 
beweisen  nur  allzu  deutlich  das  Gegenteil.  Mit  Wonne  haben  in 
England  gerade  die  deutschfeindlichsten  und  reak- 
tionärsten Blätter  die  Schrift  des  deutschen  Sozialistenführers 
ausgebeutet,  die  „Times"  und  die  ,,Morning  Post".  In  dem  letzt- 
genannten Blatte  war  folgende  Anklage  gegen  das  deutsche 
Volk  zu  lesen : 

„Noch  ein  anderes  geht  aus  diesen  Enthüllungen  hervor.  Welches 
war  in  Wirklichkeit  in  Deutschland  die  Macht,  die  auf  den  Untersee- 
bootskrieg bestand?  Dr.  von  Bethmann  Hollweg  hat  kürzlich  die  Ant- 
wort gegeben :  Es  war  das  deutsche  Volk.  Wer  war  es,  der 
sich  weigerte,  in  der  elsaß-lothringischen  Frage  nachzugeben,  als,  nach 
Graf  Czernin,  sogar  der  Ex-Kaiser  und  der  Ex-Kronprinz  einem  Kom- 
promiß geneigt  waren?  Wieder  das  deutsche  Volk,  dem  die  gestohlenen 
Provinzen  das  Symbol  früheren  Raubes  und  die  Verheißung  künftigen 
Raubes  waren.  Das  „Nein,  niemals"  des  Herrn  von  Kühlmann  war 
das  „Nein,  niemals"  des  deutschen  Volkes.  Jeder  feindliche  Militär 
oder  Staatsmann,  der  gesprochen  hat,  hat  es  vollkommen  klar  gemacht, 
daß  er,  mit  seinem  oder  gegen  seinen  Willen,  nur  ein  Werkzeug  in  der 
Hand  seiner  Nation  war,  die  Weltherrschaft  zu  erlangen.  Es  ist  darum 
die  Nation,  wie  unsere  französischen  Verbündeten  von  Anfang  an  ver- 
langten, die  bestraft  werden  muß." 


—    43    — 

Ganz  anders  urteilen  in  England  die  Führer  des  Pazifis- 
mus und  sozialen  Fortschritts.  So  schreibt 
Ph.  Snowden  in  der  Vorrede  zu  E.  D.  Morels  Aufsatz 
über  die  ,, Diplomatie  der  Vorkriegszeit"  mit  Beziehung  auf  dessen 
früheres  Buch  „Die  Wahrheit  und  der  Krieg" : 

„Dieses  während  des  Krieges  veröffentlichte  Buch  hat  viel  dazu 
beigetragen,  den  durch  die  Irreführungen  und  Unvvahr- 
heitenderalliiertenStaatsmänner  geförderten,  bequemen 
und  selbstgefälligen  Glauben  zu  erschüttern,  daß  der  Krieg  ausschließ- 
lich durch  die  Treibereien  des  deutschen  Militarismus  und  das  ehr- 
geizige Streben  Deutschlands  nach  Weltherrschaft  verursacht  worden  sei." 


—    44    — 


Anhang 

Die  französisch-russische  Mihtärkonvention 
27.  Dezember  1893 


vom 


4.  Januar  1894 


1.  Französischer  Text  des  Entwurfs  vom  17.  August  1892 

(3.  französisches  Gelbbuch  Nr.  71) 

La  France  et  la  Russie,  etant  animees  d'un  egal  desir  de  con- 
server  la  paix,  et  n'ayant  d'autre  but  que  de  parer  aux  necessites 
d'une  guerre  defensive,  provoquee  par  une  at  aque  des  forces  de  la 
Triple  AUiance  contre  l'une  ou  l'autre  d'entre  elles,  sont  convenues 
des  dispositions  suivantes: 

1°  Si  la  France  est  attaquee  par  rAllemagne,  ou  par  l'Italic 
soutenue  par  TAllemagne,  la  Russie  emploiera  toutes  ses  forces 
disponibles  pour  attaquer  rAllemagne, 

Si  la  Russie  est  attaquee  par  TAllemagne,  ou  par  l'Autriche 
soutenue  par  l'Allemagne,  la  France  emploiera  toutes  ses  forces 
disponibles  pour  attaquer  l'Allemagne. 

2°  Dans  le  cas  oü  les  forces  de  la  Triple  Alliance,  ou  d'une  des 
puissances  qui  ent  fönt  partie,  viendraient  ä  se  mobiliser,  la  France 
et  la  Russie,  ä  la  premiere  annonce  de  l'evenement,  et  sans  qu'il 
soit  besoin  d'un  concert  prealable,  mobiliseront  immediatement 
et  simultanement  la  totalite  de  leurs  forces,  et  les  porteront  le  plus 
pres  possible  de  leurs  frontieres. 

3°  Les  forces  disponibles  qui  doivent  etre  employees  contre 
l'Allemagne  seront,  du  cote  de  la  France,  de  1.300.000  hommes,  du 
cöte  de  la  Russie,  de  700.000  ä  800.000  hommes. 

Ces  forces  s'engageront  ä  fond,  en  toute  diligence,  de  mani^re 
que  l'Allemagne  ait  ä  lutter,  ä  la  fois,  ä  Test  et  ä  l'ouest. 

4°  Les  Etats-majors  des  armees  des  deux  pays  se  concerteront 
en  tout  temps  pour  preparer  et  faciliter  l  execution  des  mesures  pre- 
vues  ci-dessus. 

Ils  se  communiqueront,  des  le  temps  de  paix,  tous  les  renseigne- 
ments  relatifs  aux  armees  de  la  Triple  Alliance  qui  sont  ou  par- 
viendront  ä  leur  connaissance. 

Les  voies  et  moyens  de  correspondre  en  temps  de  guerre  seront 
etudies  et  prevus  d'avance. 


—   45   — 

5°  La  France  et  la  Russie  ne  concluront  pas  la  paix 
separement. 

6°  La  presente  Convention  aura  la  meme  duree  que  la  Triple 
Alliance. 

7°  Toutes  les  clauses  enumerees  ci-dessus  seront  tenues  rigou 
reusement  secretes. 

Signature  du  Ministre: 
Signatare  du  Ministre: 
L'Aide  de  camp  general, 
Chef  de  l'Etat-major  general, 

Signe :  Obroutcheff 

Le  general  de  division, 

Conseiller  d'Etat, 

Sous-chef  d'Etat-major  de  l'Armec 

Signe :  Boisdeffre*) 

2.  Übersetzung 

Frankreich  und  Rußland,  gleichmäßig  beseelt  von  dem  Wunsche, 
den  Frieden  zu  erhalten,  und  kein  anderes  Ziel  verfolgend,  als  den 
Notwendigkeiten  eines  Verteidigungskrieges  zu  begegnen,  der  durch 
einen  Angriff  der  Streitkräfte  des  Dreibundes  gegen  die  eine  oder 
andere  der  beiden  Mächte  veranlaßt  wäre,  sind  über  die  folgenden 
Abmachungen  übereingekommen : 

1.  Wenn  Frankreich  durch  Deutschland  oder  durch  Italien  mit 
Unterstützung  Deutschlands  angegriffen  wird,  so  wird  Rußland 
alle  seine  verfügbaren  Kräfte  zum  Angriff  auf  Deutschland  ver- 
wenden. 

Wenn  Rußland  durch  Deutschland  oder  durch  Österreich  mit 
Unterstützung  Deutschlands  angegriffen  wird,  so  wird  Frankreich 
alle  seine  verfügbaren  Kräfte  zum  Kampf  gegen  Deutschland  ver- 
wenden. 

2.  Falls  die  Streitkräfte  des  Dreibundes  oder  einer  der  Mächte 
des  Dreibundes  mobilisiert  werden  sollten,  werden  Frankreich  und 
Rußland  auf  die  erste  Nachricht  dieses  Vorgangs  und  ohne  daß 
es  eines  vorhergehenden  Einvernehmens  bedürfte,  unverzüglich 
und  gleichzeitig  die  Gesamtheit  ihrer  Streitkräfte  mobilmachen  und 
sie  so  nahe  als  möglich  an  ihren  Grenzen  versammeln. 

3.  Die  gegen  Deutschland  zu  verwendenden  verfügbaren  Streit- 
kräfte werden  auf  Seite   Frankreichs   1.300.000  Mann,  auf  Seite 


*)  Cs  documcnt  est  conserv6  dans  une  enveloppe  portant  cette  annotation 
autographe:  „La  Convention  milltaire  est  acceptöe  par  la  lettre  de  M.  de  Giers 
<l  M.  de  Montebello  donnant  force  de  traitö  ä  cette  Convention." 

(Sign6):  Felix  Faure,  15  octobre 


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Rußlands  700—800.000  Mann  betragen.  Diese  Streitkräfte  werden 
in  aller  Eile  zu  entscheidendem  Kampfe  eingesetzt  werden,  so  daß 
Deutschland  gleichzeitig  im  Osten  und  im  Westen  zum  Kampfe 
gezwungen  ist. 

4.  Die  Generalstäbe  der  Armeen  der  beiden  Länder  werden 
sich  ständig  ins  Benehmen  setzen,  um  die  Ausführung  der  oben  vor- 
gesehenen Maßnahmen  vorzubereiten  und  zu  erleichtern. 

Sie  werden  sich  schon  in  Friedenszeiten  alle  auf  die  Heere  des 
Dreibundes  bezüglichen  Nachrichten  mitteilen,  die  zu  ihrer  Kenntnis 
gelangt  sind  oder  noch  kommen  werden. 

Die  Mittel  und  Wege  des  Verkehrs  in  Kriegszeiten  werden 
studiert  und  im  voraus  geregelt  werden. 

5.  Frankreich  und  Rußland  werden  keinen  Sonderfrieden 
schließen. 

6.  Die  vorliegende  Konvention  soll  solange  dauern  wie  der 
Dreibund. 

7.  Alle  oben  aufgezählten  Festsetzungen  sind  streng  geheim 
zu  halten. 

Unterschrift  des  Ministers: 
Unterschrift  des  Ministers: 
Der  Generaladjutant, 
Chef  des  Generalstabes 
gez.:  Obroutcheff 

Der  Divisionsgeneral, 
Staatsrat, 
Unterchef  des  Generalstabes  der  Armee 
gez. :  Boisdeffre*) 
Der  endgültige  Briefwechsel  fand  erst  statt  am  27.  Dezember 
1893  (Giers-Montebello)  und  4.  Januar  1894  (Montebello-Giers). 

3.  Die  Ansicht  des  Sous-Chefs  des  französischen  Generalstabes 

(3.  französisches  Gelbbuch  Nr.  71) 
L'Empereur  m'a  parle  ensuite  de  la  mobilisation  au  sujet  de 

l'article  2. 

Je  lui  ai  fait  remarquer  que  la  mobilisation  c'etait  la  decla- 

ration  de  guerre;  que  mobiliser  c'etait  obliger  son  voisin  ä  en  faire 

autant;  que  la  mobilisation  entrainait  l'execution  des  transports 

strategiques  de  la  concentration. 

Sans  cela,  laiser  mobiliser  un  million  d'hommes  sur  sa  fron- 

tiere,  sans  en  faire  simultanement  autant,  c'etait  s'interdire  toute 


*)  Dieses  Schriftstück  ist  aufbewahrt  in  einem  Umschlag,  der  folgenden 
eigenhändigen  Vermerk  trägt:  „Die  Militärkonvention  ist  angenommen  durch 
den  Brief  des  Herrn  von  Giers  an  Herrn  von  Montebello,  wodurch  dieser  Kon- 
vention Vertragskraft  verliehen  ist."  gez.:  Felix  Faure,  15.  Oktober. 


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possibilite  de  bouger  cnsuite,  et  se  placer  dans  la  Situation  d'un 
individu  qui,  ayant  un  pistolet  dans  sa  pociie,  laisserait  son  voisin 
lui  en  mettre  un  arme  sur  le  front  sans  tirer  le  sicn. 

,,C'est  bien  comme  cela  que  je  le  comprends",  m'a  repondu 
l'Empereur. 

Übersetzung 

Der  Kaiser  sprach  mir  sodann  wegen  des  Artikels  2  über  die 
Mobilmachung. 

Ich  habe  ihm  auseinandergesetzt,  daß  die  Mobilmachung  die 
Kriegserklärung  ist;  daß  die  Mobilmachung  den  Nachbar  zwingt, 
das  Gleiche  zu  tun ;  daß  die  Mobilmachung  die  Durchführung  der 
strategischen  Transporte  und  des  Aufmarsches  nach  sich  zieht. 

Wenn  man  sonst  eine  Million  Soldaten  an  seiner  Grenze  mobil- 
machen läßt,  ohne  gleichzeitig  dasselbe  zu  tun,  so  heißt  das,  sich 
jede  spätere  Bewegungsfreiheit  nehmen  und  sich  in  die  Lage  eines 
Mannes  versetzen,  der  mit  einer  Pistole  in  der  Tasche  seinem  Nach- 
bar gestattet,  ihm  einen  geladenen  Revolver  auf  die  Brust  zu  setzen. 

„Das  ist  genau  auch  meine  Auffassung",  antwortete  der  Kaiser. 


4.  Die  Ansicht  des  russischen  Generalstabschefs 

(3.  französisches  Gelbbuch  Nr.  42) 

Am  16.  Juli  1892  berichtete  der  französische  Militärattache 
als  Ansicht  des  russischen  Generalstabschefs: 

,,I1  entend  du  reste  que  cette  mobilisation  de  la  France  et  de  la 
Russie  soit  suivie  immediatement  d'effets  actifs,  d'actes  de  guerre, 
en  un  mot  soit  inseparable  d'une  agression." 

Übersetzung 

Er   ist   übrigens   der  Ansicht,   daß  auf  diese  Mobilmachung 

Frankreichs    und     Rußlands    greifbare  Wirkungen,    kriegerische 

Handlungen   unmittelbar   folgen,   kurz,  daß   sie   untrennbar   von 
einem  Angriff  sei. 


Nachschrift 

Nach  der  mir  eben  zugehenden  Schrift  ,,Le  Plan  17"  von 
Andre  Morizet  blieb  der  französische  Plan  eines  Aufmarsches  „von 
Beifort  bis  zur  Nordsee"  nur  Projekt  und  ist  nicht  in  Kraft  getreten. 
Damit  werden  die  Fragen  auf  Seite  37  gegenstandslos. 


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